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]]> nsee, von Theodor Storni. (19.
fl. ebenda.) S. 399.
farrdorf. (2. Aufl.) Wilhelm J e Il¬
, (ebenda ) S. 399.
dor Storm'sGedichte, (5.Aufl. eben¬
S, 400.
mors gesammelteDichtungen. (2,Aufl.
da) l^. 400.
elmine v. Hillern, Geyer-Wally.
Aufl. ebenda) S 400.
rmann's Oberhof, in. Zeichnungen
W o ldemar Frie d rieb, (Berlin, G.
e,) S. 400.
che Jugend, von Julius L o hin eher
Oscar Pietsch. (Leipz., Alphons
r.) S. 436.
Gang durch's Dörfchen, Oscar
tsch. (Leipz., Alphons Dürr ) S. 437.
la v. Gumpert, Herzblättchens
vertreib (20, Jahrg.) u, Töchter-Al¬
(21. Bd. Carl Flemming, Gloqau,>
437.
n's Märchenbuch, (Flemming, Glo-
) S 4S7.
ich Jahde. Roggenkörnlein. 2, Aufl.
mming. Glogau.) Ä. 438.
Grimm verschiedene Märchen-
mlnngen. (Berlin, Ferd. Dümmler
Will), Hertz.) S. 438,
lph Reichenau, Aus unsern vier
den. (Leipzig, Fr. Wilh. Grunow.)
38.
ne S es anz, Aus des Lebens Mai,
r, v, Oha Pietsch. «Leipzigs Grunow.)
39,
e's Erzählungen und Jean
l's Erzählungen für erwachsene
chen, (Leipzig, F. W. Grunow.)
39.
t Reinick's Märchen, Lieder- und
ichtenbnch. (Leipzig, Velhagcn und
ng) S. 44«.
Wyß, schweizerischer Robinson v. I.
ert bearbeitet, (ebenda), S 440.
und Niederley, des deutschen
en Handwcrksbuch. «ebenda) S. 440.
a n n und D am in e r, des deutschen
en Experimcntirbuch und der junge
niker. S. 440. (ebenda).
t Koenigs Walter Scott-Ausgabe,
worth. (ebenda). S. 440.
chweiz von Gsell-Fels, Pracht¬
München, Fr. Bruckmann.) S 48«.
s Werke illustrirt, (Berlin, G. Grote.)
80.
ich Nos, „Elsaß-Lothringen" und
eutsche Alpenbuch. «Flemming, Glo¬
S. 480.
Auf der einen Seite römisches Jmperatorenthum in das Gebiet des
Glaubens übertragen, auf der anderen die Forderung nationaler Selbständig¬
keit auch in religiösen Dingen; dort eine hierarchische Dictatur, die das mensch¬
liche Gewissen einstrickt und zusammenschnürt, die jeden Culturfortschritt des
aufstrebenden Geistes mit Fluch und Bann belegt, hier Denkfreiheit und wissen¬
schaftliche Forschung; dort ein weltlicher Sinn im Gewand des Geistes, der
eines Patrimonium Petri, reicher Einkünfte u. f. rv. nicht glaubt entbehren
zu können', ja der am liebsten alle Hilfsmittel des Staates sich dienstbar
machen möchte, hier ein Staat, der alle Wege frei macht zum Wettlauf nach
der Wahrheit und in ihm ohne Prunk und Pracht abseits vom großen
Markte des Lebens ein Streit des Geistes mit geistigen Mitteln, ein Ringen
nach Erkenntnis um der Erkenntnis willen — das find die Gegensätze im
Culturkampf unserer Tage, Gegensätze aber, die zugleich tief begründet find
im römischen und deutschen Charakter und den geschichtlichen Bedingungen
dieser beiden Völkerstämme. Konnte auch in den ersten Jahrhunderten des
Christenthums von einem Auflehnen der geistlichen Gewalt gegen die weltliche,
wie wir es jetzt erleben, nicht die Rede sein, so wurden doch unsere Vor¬
fahren schon damals, als sie die erste Verkündigung des Evangeliums emvfin-
3^u. durch einen ähnlichen, langsam sich erweiternden Riß von der Kirche des
römische« Reichs getrennt.
Nichts fernliegendes also unternehmen wir, wenn wir jetzt das Andenken
eines deutschen Mannes erneuern, zu dessen Zeit und durch den vorzüglich sich
jene Trennung vollzog; ich meine den Mfilas, den Apostel der Gothen. Ein
späterer Bischof unter diesem Wolke, verblendet im Eifer seines Katholicismus,
nennt ihn einen Feind des wahren Glaubens und unzweifelhaften Antichrist
in Schafskleidern. Sehen wir, was wir von diesem Ausbruch geistlichen
Zornes zu halten haben.
Von dem Leben jenes Mannes kann nicht geredet werden, ohne die
Weltbegebenheiten, die Gährung in den Gemüthern und die wilden Stürme
zu erwähnen, von denen es zwar äußerlich und innerlich ergriffen, aber nicht
mit fortgerissen und in seinem Frieden dauernd gestört ward. — Im Anfang des
4. Jahrhunderts, als im römischen Reiche Constantin der Große unter harten
Kämpfen gegen seine Mitkaiser sich die Weltherrschaft gewann und dem
Christenthume die Mittel dazu in die Hand gab, gelangte auch das Volk der
Gothen zu einer Bedeutung, die es früher nicht besessen hatte. Von einem
versprengten Theil derselben berichtet Tacitus um das Jahr 100 n. Eh., daß
er an der Weichsel seßhaft sei. Die Hauptmasse aber wohnte bei ihrem Ein¬
tritt in die Geschichte an der Nordküste des schwarzen Meeres und schied sich
in 2 Theile, Ostgothen östlich vom Dniepr und Dniestr und Westgothen
westlich davon. Bereits im 3. Jahrhundert werden ostgothtsche Könige ge¬
nannt, wie Ostrogotha, Culpa, die über beide Stämme herrschten. Unter
einem Nachfolger derselben, Ermcmrich, breiteten sich die Ostgothen auch über
die benachbarten slavischen und sarmatischen Völker aus und sollen sich sogar
bis zur Ostsee erstreckt haben. Die Westgothen blieben in Abhängigkeit und
daher wurden ihre Angelegenheiten nicht von einem Stammeskönig, sondern
von mehreren Richtern und Vögten verwaltet. Wenn man blos den aus¬
gedehnten Raum bedenkt, in dem die Gothen auftreten, die Fülle ihrer Heere,
so muß man sich überzeugen, daß sie einen Hauptbestandtheil des deutschen
Volkes ausmachten. Kein deutscher Stamm erscheint edler als die Gothen
und nichts konnte irrthümlicher sein, als sich dieselben als rohe ungebildete
Barbaren vorzustellen.
Schon der große Wortreichthum der Sprache beweist, daß sich das Leben
derselben nicht auf die einfachen Gewohnheiten halbwilder Völker beschränkte.
Von Alters her besaßen sie in Runen geschriebene Gesetze, nämlich ethische
und politische Spruchgedichte, wie wir ähnliches bei den nordischen Völkern
finden. Die Thaten der Väter, wie die Geschichte der Wanderung von Asien
her lebte in Gesängen fort. Schlachtlieder begeisterten zum Kampf und
Klagelieder umtönten die Leichen der Gefallenen. Harfe, Horn und Flöte
waren einheimische Instrumente und Harfensänger von Beruf und Ruhm
fehlten nicht bei Fest und Tanz. Selbst Könige verschmähten es nicht, die
Sangeskunst zu üben. Kein deutsches Volk zeigte sich ferner so anerkennend
gegen fremde Kunst und Gelehrsamkeit, keines so begierig und befähigt, sie
zu erlernen, wie die Gothen. An Berührungen mit dem römischen Reiche
fehlte es nicht. Dieselben waren anfangs feindlicher Natur und bestanden in
zahlreichen Streifzügen der abenteuer- und beutelustigen gothischen Krieger.
Diese setzten über die Donau und Propontis und drangen in Kleinasien bis
Ephesus und Kappadocien und an den Küsten Griechenlands bis Sparta vor.
Der Kaiser Decius hatte im Kampfe gegen sie sein Leben verloren. Dem
Kaiser Claudius glückte es zwar, die Schaaren derselben zu zerstreuen und sich
mit dem Ehrennamen Gothicus zu schmücken, aber bald darauf erlag er
einer Seuche. Erst Aurelian vermochte sie für längere Zeit über die Donau
zurückzudrängen. Wichtiger waren die vielfachen freundschaftlichen Beziehungen,
die zwischen ihnen und den Römern obwalteten. Schon früh traten kriegs¬
lustige Gothen in römische Heere, und gegen Ende des 3. Jahrhunderts
dienten viele unter Diocletian gegen die Perser. Besonders aber nachdem
Byzanz zur zweiten Hauptstadt des Reichs erhoben worden war, mehrte sich
dieser Verkehr und ging gewiß auch auf andere Lebensgebiete als die des
Krieges über.
Unsere Vorfahren, die in jener Zeit trotz nachhaltiger Arbeit doch nur
die nothwendigsten Bedürfnisse den rauhen Landstrichen abzugewinnen ver¬
mochten, die sie bewohnten, wurden mächtig angelockt durch die herrlichen frucht¬
reichen Gegenden des Südens, die prachtvollen Städte der Römer und Grie¬
chen und den bis dahin ungeahnten Glanz des römischen Kaiserthums. Ein¬
zeln oder in Schaaren, aus freiem Antrieb oder geworben wanderten sie in
die Hauptstädte des Römerreiches, bis sie die Sättigung an den neuen Ein¬
drücken und die Sehnsucht nach heimischem Heerd und Hain in das Vater¬
land zurückführte. Aber die märchenhaften Berichte von der fernen Wun¬
derwelt trieben Andere in die Fremde, und so wurde römische Bildung jen¬
seits der Donau immer bekannter, wenn auch nicht in ihrem Zusammenhange
begriffen.
Unter diesen Umständen erblickte Ulfilas 311 n. Eh. im Lande der West-
»other das Licht der Welt. Schon der echt deutsche Name, welcher Wölflein
bedeutet, bekundet die deutsche Abstammung des Knaben. *) Wie Könige und
Helden seines Volks, ein Adaulf. Wolfing, Wolfsart, nach dem Wolf, dem
streitbaren Thiere des Odin, genannt wurden, so auch er. Er gehörte einer
angesehenen Gothenfamilie an und wuchs unter denselben kriegerischen Uebun¬
gen auf, denen sich jeder deutsche Knabe und Jüngling mit gleichem Eifer
unterzog. Speerwerfen, Schwertertanz und Jagd übten seinen Körper und
machten ihn hart gegen die Mühen späterer Jahre. Die Kunde von den
fernen Ländern und Menschen weckten seinen Geist, die Sagen von den heimi¬
schen Göttern und Helden belebten seine Phantasie, und die Lieder, welche er
von Eltern und Gespielen oder von Priestern und Sängern vernahm, bil¬
deten seine Sprache. Auch die Lehren des Christenthums kennen zu lernen,
fehlte es nicht an Gelegenheit.
Viele von den Volksgenossen, die unter den Feldzeichen des römischen
Kaisers in den Krieg zogen, schlössen sich dieser Religion an. Mancher, der
in die alte Heimath zurückkam, war bekehrt und warb im kleinen Kreise für
die neue Lehre. Mancher aus dem Römerreiche geraubte Christ diente bei
Vornehmen als Sclave. Gerade aber diese streuten den Samen des Evange¬
liums zunächst in die Herzen der Jugend, mit der sie im Hause ihres Herrn
am ungezwungensten und vertraulichsten verkehrten. Wie leicht aber war es,
die Lehre von dem gekreuzigten Gottessohne gerade einem im deutschen Heiden-
thume Erzogenen faßbar zu machen. Der ernste sittliche Sinn, der die ganze
Mythologie der Germanen durchdringt, der Glaube an die Sühne jeder Schuld,
die paradiesische Reinheit der Götter am Anfang, ihr Sündenfall und Unter¬
gang im allgemeinen Weltbrande, das Wiedererstehen einer neuen Erde voll
seligen Glücks, besonders aber der Tod des guten Gottes, des lichten Balders,
den die Verderbnis der anderen zur Unterwelt sendet, das alles waren ahnungs¬
reiche, aber undeutliche Bilder, die im Christenthume ihre schönste Lösung
fanden. Mit welch begeistertem Staunen mochte Ulfilas, der hochbegabte
Jüngling, die erste Kunde von dieser neuen Weisheit empfangen haben!
Höher schlug ihm daher das Herz, als es bestimmt war, daß er nach Constan-
tinopel wandern sollte, diesem Sitz nicht nur aller irdischen Pracht, sondern
auch aller geistigen Schätze. Als er das 21ste Jahr erreicht hatte, gelang es
dem Heere des Kaisers Constantin, der in den Jahren 322, 328 und 332
drei große Kriege gegen die Gothen führte, so siegreich gegen dieselben vor¬
zudringen, daß sie um Frieden bitten mußten. Sie schickten eine Gesandt¬
schaft nach Constantinopel, in welcher sich auch Ulfilas befand, und als die¬
selbe sich ihres Auftrages entledigt hatte und nach Hause zurückkehrte, blieb
er in der Hauptstadt zurück.
Damals war unter den Christen ein heftiger Streit über Glaubenssätze
entbrannt, für den unser Jahrhundert nur noch geringes Verständnis besitzt,
obwohl doch die Neuzeit der katholischen Dogmatik so manche merkwürdige
Bereicherung gebracht hat. Die Ansicht des alexandrinischen Presbyters
Arius, daß Christus nicht desselben Wesens mit dem Vater, sondern von
diesem in der Zeit aus Nichts geschaffen worden sei, fand die erbittertsten
Gegner bei denen, welche die Wesensgleichheit zwischen Beiden behaupteten
und in dem Bischof Athanasius von Alexandrien ihren Hauptstimmführer
hatten. Aller Orten wurde von Geistlichen und Laien über diesen Gegenstand
gestritten und nicht etwa blos mit den Waffen des Geistes, sondern auch mit
Schwertern und Fäusten- Durch den Einfluß Constantin's war zwar zu
Nicäa von 300 Bischöfen die Lehre des Athanasius bestätigt und jeder Wider¬
spruch zum Schweigen gebracht worden, aber nur für den Augenblick. Viele
Eingeschüchterte suchten später ihrer wahren Meinung wieder Geltung zu ver¬
schaffen, und namentlich im Orient, wo man den ganzen Auseinandersetzungen
keinen so hohen Werth beimaß, herrschte nach wie vor der Arianismus. Eine
Hauptstütze desselben war Eusebius von Nikomedien, jener alte Freund des
Arius und schlaue um die Mittel nie verlegene Well- und Hofmann im
Priesterkleide, der auf dem Concil zu Nicäa für die Lehre des Athanasius,
jedoch gegen die Verdammung des Arius gestimmt hatte und den darüber
unwilligen Kaiser durch verhüllende Ausdrücke wieder für sich zu gewinnen
wußte. Bald stand er bei diesem und der kaiserlichen Familie in so hoher
Gunst, daß Constantin der Große kurz vor seinem Tode in Nikomedien von
ihm die Taufe empfing und Constantius, der Sohn des Verstorbenen, ihn
338 als Bischof nach Constantinopel berief. Dadurch war auf eine Reihe von
Jahren für das Morgenland der Sieg des Arianismus entschieden, und die
Geistlichen, welche am nicäischen Bekenntnisse festhielten, wurden so viel wie
möglich entsetzt und vertrieben. Doch suchte der Melgewandte vorsichtig die
Härten jener Lehren zu mildern. Er sprach nicht von einer Wesensver¬
schiedenheit zwischen Vater und Sohn, sondern von einer Aehnlichkeit zwischen
beiden und legte damit den Grund zur semiarianischen Richtung. Wenn
er auf diese Weise zu vermitteln und zu versöhnen hoffte, so irrte er —
Wesensgleichheit der Athanasianer. Wesensverschiedenheit der Arianer, Wesens¬
ähnlichkeit der Eusebianer —^ die Welt war um ein Losungswort des
Kampfes reicher geworden und die Parteien standen sich schroff wie vorher
gegenüber.
Ulfilas aber, der in Constantinopel so recht am Heerdfeuer dieses Krieges
^"d, hatte sich gleich anfangs entschieden. Sein Glaube war im Wesent¬
lichen der artanische. doch so wenig vermochte er die Selbstständigkeit seiner
Überzeugung unter eine fremde Formel zu beugen, daß er in wichtigen
Punkten von den Hauptvertretern jener Lehren abwich. Christus ist ihm
wegen der unzweideutigen Ausdrücke der Schrift geborener, unwandelbarer
^oll. während derselbe nach Arius göttlichen Namen und göttliche Eigen¬
schaften erst durch sittliche Würdigung gewinnt; er ist ihm seinem Wesen nach
gezeugt von dem ewigen, ungezeugten Vater und daher diesem keineswegs
ähnlich, wie Eusebius meinte, er ist als zweiter Gott ein Mittelwesen zwischen
dem ersten unendlichen und der endlichen Welt, unfaßbar, unnahbar, unsicht¬
bar, ein großes Geheimnis, also nichterkennbar, wie Eunomius lehrte, jener
beredte kampflustige Kappadocier, der durch Schroffheit und Spitzfindigkeit
nachmals als Parteihaupt der strengen Arianer eine sich und den Seinen ver¬
derbliche Wirksamkeit übte. Wie schon in der deutschen Mythologie die
Dreiheit der Götter eine große Rolle spielt, so glaubte Ulfilas nun an drei
gesonderte Gottheiten verschiedenen Wesens und Ranges, den Vater, Sohn
und heiligen Geist, nur daß er sie über die Schranken menschlichen Erkennens
und sinnlichen Wahrnehmens erhob. Ohne Rücksicht auf äußere Verhältnisse
und die Gunst des Kaiserhofs wurde er ein so eifriger Anhänger des Christen¬
thums in der von ihm für richtig erkannten Form, daß er sich zum Ueber¬
tritt in den geistlichen Stand entschloß. Er erhielt zunächst die kleine Weihe
eines Lectors, als welcher er das Vorlesen oder Vorsingen von Abschnitten
aus der heiligen Schrift während des Gottesdienstes besorgen mußte.
Wenn er auch in erster Linie seinen in Constantinopel lebenden Volks¬
genossen in diesem Amte diente, so brachte dasselbe doch durch Seelsorge und
Kirchenversammlungen den Umgang mit Angehörigen anderer Nationen und
durch die Beschäftigung mit der heiligen Schrift das Studium der griechischen
und lateinischen Sprache mit sich. Bald erreichte er darin eine solche Fertig¬
keit, daß er ebenso gut griechisch und lateinisch, als in heimischer Rede sich
zu unterhalten vermochte. Ohne Zweifel verschaffte ihm nicht nur seine
Stellung als ehemaliger Gesandter, seine angesehene Geburt und die Rück¬
sicht, welche man von Seiten der Regierung gegen das mächtige Gothenvolk
nahm, sondern auch der Reichthum des Geistes, den dieser merkwürdige Fremd¬
ling zu erkennen gab, Eingang und Gunst selbst bei der kaiserlichen Familie.
Auch jener Eusebius von Nikomedien wurde aus ihn aufmerksam und erkannte
in ihm ein ausgezeichnetes Werkzeug zur Förderung und Ausbreitung der
Kirche. Auf der arianischen Synode zu Antiochien 341, wo man wenigstens
in einem der 4 dort berathenen und beschlossenen Glaubensformeln alle Streit¬
fragen der Zeit vorsichtig umging, oder in einer anderen Versammlung von
hohen Würdenträgern der Kirche weihte er ihn daher in besonders feierlicher
Weise zum Bischof für das Gothenvolk.*)
Auffallend immerhin war dies Ereignis, denn selten geschah es, wenn
nicht besonders 'günstige Verhältnisse mitwirkten, daß ein Lector ohne die
Zwischenstufen eines Diakonen und Presbyters durchlaufen zu haben, die da-
mals höchste Würde der Kirche empfing. Vielleicht hatte Ulfilas diese Er¬
hebung nächst seinen persönlichen Eigenschaften der Huld und Empfehlung des
Kaisers Constantius zu verdanken, der bald nach dem Tode seines Vaters
Constantin im Osten des Reiches zur Herrschaft gelangt war. Derselbe
mochte hoffen, daß der junge Würdenträger unter seinen Volksgenossen dem
Christenthums zum Siege verhelfen, diese dadurch dem römischen Reiche enger
verbünden und von weiteren feindlichen Einfällen abhalten werde. In der
That lag es dem Ulfilas fern, den bischöflichen Schmuck blos als einen Zu<
wachs an äußerlichen Glänze zu betrachten und den Anforderungen seines
Amtes nur in Bezug auf die in der Hauptstadt lebenden Gothen zu genügen.
Die Nothwendigkeit, sich in der freien Aeußerung seiner religiösen Ueberzeu¬
gung zu beschränken, die haarspaltenden Streitigkeiten seiner griechischen Um¬
gebung über das göttliche Wesen, die Herrschsucht der Priester, die Sitten¬
verderbnis bei Hoch und Gering, dies alles verleidete ihm seinen Aufenthalt
in Konstantinopel. Ihm lag vor Allem das praktische Christenthum am
Herzen, selbst „göttlich zu leben" und andere zu einem göttlichen Leben zu
führen. Als nun gar nach dem Tode des Eusebius die Feindschaft der Par¬
teien aus den Straßen Constantinopels zum blutigen Ausbruch kam, hielt ihn
nichts hier länger zurück.
Unter den Westgothen waren damals 2 Vögte zu besonderem Ansehen ge¬
langt. Fritigern und Athanarich. Namentlich dieser letztere trug sich mit
hochfliegenden Plänen, zum mindesten beabsichtigte er die Aufrichtung eines
westgothischen Königthums, ohne Zweifel aber im Anschluß daran auch Ero¬
berungszüge ins römische Gebiet. Wie nun die Herrscher dieses letzteren früher
das Heidenthum, jetzt aber das Christenthum schützten, nicht etwa immer aus
Gründen der Wahrheit, sondern oft aus politischen Rücksichten, so suchte
Athanarich den christlichen Neuerungen gegenüber die Stütze seiner Macht in
der altehrwürdigen heimischen Religion. Gerade hier nun begann Ulfilas
seine apostolische Wirksamkeit. Unter unzähligen Mühsalen und Gefahren,
die ihm die Natur des Ortes und die Feindseligkeit der Menschen bereiteten,
durchwanderte er das unwegsame Land und entwickelte im Anfang vorsichtig
und im Stillen die Keime des Christenthums, die er hier und dort vorfand.
Erst als er eine große Schaar seiner Landsleute im Glauben befestigt hatte,
trat er mehr in die Oeffentlichkeit hervor, um die ganze Masse des Volkes zu
gewinnen. Sieben Jahre lang war er in dieser Weise thätig. Als aber
Athanarich bemerkte, welche bedeutende Ausdehnung das Christenthum ge¬
wonnen h^e, ordnete er eine blutige Verfolgung der Neubekehrten an und viele
derselben erlitten rühmlichen Märtyrertod. Einige starben gerichtlich ver¬
urtheilt, andere, ohne auch nur gehört worden zu sein. Sobald irgend Je¬
mand eine Gabe zur christlichen Kirche trug, wurde er ergriffen und dem
Flammentode preisgegeben. Ferner führten die Leute des Athanarich Götzen¬
bilder von Haus zu Haus, und wo die Verehrung verweigert wurde, ver¬
brannten sie die Wohnungen sammt den Bewohnern. Ja, als sich um die
Presbyter Vereka und Batvins im Gotteshaus die Gemeinde gesammelt hatte,
ließ Athanarich Feuer anlegen, so daß diese 2 Geistlichen und 24 Gläubige
den Tod fanden. Einem anderen Theile des von Ulfilas bekehrten Volkes
aber gelang es, zu entkommen, und wie einst „die Kinder Israel vor dem
tyrannischen Wüthen des ägyptischen Pharao über das rothe,Meer gerettet
wurden", so wußte Ulfilas die Flüchtigen um sich zu sammeln und eine große
Menge von Confefsoren über die Donau zu führen 348. Er sandte Boten
an den Kaiser, die um Aufnahme des vertriebenen Volkes in >le Grenzen des
römischen Reiches bitten sollten. Constantius war damals in einem harten
Wassergange mit der immer furchtbarer aufstrebenden Persermacht begriffen
und hatte in der Schlacht bei Singara in Mesopotamien eine schimpfliche
Niederlage erlitten. Gerade jetzt, wo es mit Aufbietung aller Hilfsmittel
nicht gelang, die Verwüstung unbezwinglicher Feinde von den Ostgrenzen des
Reichs fern zu halten, mußte dem Kaiser, sollte man meinen, alles daran
gelegen sein, das im Norden drohende Unwetter, das sein Vater kaum be¬
schworen hatte, abzulenken und durch Abweisung der Hilfeflehenden den
mächtigen Gothenfürsten Athanarich zu gewinnen. Doch hinderte ihn daran
das Wohlwollen, welches er gegen Ulfilas noch von früher her hegte, und
der Umstand, daß derselbe ja in seinem Sinne unter den Gothen gewirkt
hatte. Ehrenvoll und mit unzweideutigen Zeichen seiner Huld nahm er ihn
aus und nannte ihn später noch oft den Moses seines Volkes. Südlich von
dem durch Trajan erbauten Nikopoli an der Donau in Moslem, der jetzigen
Bulgarei, wurden den Ankömmlingen Wohnsitze angewiesen. Diese Gegend
hat viel Aehnlichkeit mit dem jetzigen Königreich Sachsen. Wie das Erz¬
gebirge nach Süden rasch abfällt, nach Norden allmählich sich zur Tiefebene
senkt, so dort der Hanns oder Balkan. Wie hier die nördliche Abdachung
rauhes unfreundliches Klima hat, das südliche Egergebiet sich weit größerer
Wärme erfreut, so fühlt man sich nördlich vom Balkan noch in Mitteleuropa,
an der entgegengesetzten Seite des Gebirgs, im Gebiete der Maritza aber
gedeiht der üppige Pflanzenwuchs des Südens. Wie hier von den rundlichen
und langgestreckten Bergen des Kammes tief eingefurchte Flußthäler mit
saftigen Viehweiden und reichlichen Wäldern nach den Tiefebenen des Nordens
herabführen, so auch dort, nur daß damals vor dem großem Reichthum an
Bäumen und dem Mangel an Menschen in diesem den feindlichen Einfällen
häufig'ausgesetzten Lande der Ruhm desselben als Kornkammer des Ostens noch
nicht auskommen konnte.
Auf dieser nördlichen Abdachung des Balkan also ließ sich Ulfilas mit
den Seinigen nieder. Die Ansiedler. trotz ihres Namens Kleingothen ein
zahlreiches Volk, fanden hier Alles was sie wünschten, den deutschen Wald
mit seiner Jagdlust und grasreiche Triften für ihre Rinder und Lämmer-
heerden. Ackerbau wurde wenig getrieben. Sie bildeten einen eigenen Staat,
der, solange Ulfilas lebte, unter dessen patriarchalischer Leitung stand und noch
bis ins sechste Jahrhundert sich erhielt. Die für das Christenthum Gewonnenen
mochten anfangs dasselbe in ihrem Wandel noch wenig bewähren und in Be-
gierde nach Kampf und Waffenklang das Liebesgebot Jesu vergessen. Aber
Ulfilas, der eine Bethätigung des Glaubens als eine nothwendige und uner-
läßliche Frucht desselben ansah. suchte sie vor allem zu einer milden Lebens¬
weise zu bewegen. Zu diesem Zwecke nahm er sich, schon der jugendlichen
Seelen an. Sein Nachfolger im Bischofsamt Selenas und der spätere
Bischof von Dorostorus, jetzt Silistria. Auxentius, der in einem Schreiben
über des Ulfilas Leben und Lehre mit hoher Verehrung von diesem spricht,
hatten seinen Unterricht genossen. Obgleich ich ihn, so sagt letzterer, nicht
würdig genug zu loben vermag, so kann ich doch auch nicht schweigen von
dem. welchem ich mehr als Allen schulde und der mich vom frühesten Alter
an von meinen Eltern als Schüler aufgenommen, in der heil. Schrift und
der Wahrheit unterrichtet und durch das Erbarmen Gottes und die Gnade
Christi leiblich und geistig in Treue wie seinen Sohn erzogen hat. So
mehrten sich ihm die Helfer in seinem Werk und durch seine Umsicht, die
Würde seines Wesens, die Weihe seiner Worte und die Reinheit seines Wan¬
dels brachte er es dahin, „daß ihm jeder leicht in allen Stücken folgte und
überzeugt war. nichts von dem. was er sagte oder thäte, sei schlecht und alles
müsse denen, die ihm nacheiferten, zum Guten ausschlagen." Das aber, was
Ulfilas hier in der Stille seiner Berge säete und pflegte, trug reichliche Frucht.
Jener Sittenstrenge gallische Presbyter Salvianus, der fast 100 Jahre später
lebte, hätte ohne Zweifel noch mehr die christliche Tugend dieser Gothen be¬
wundert als die ihrer Stammverwandten, die nachmals Europa über¬
schwemmten, nachdem ihnen von den Thälern des Hanns her das Licht des
Evangeliums entzündet worden war. Wir Römer, sagt er. sind Ketzer im
Wandel, während die Gothen ein katholisches Leben führen. Wenn er außer-
hinzufügt, sie sind nur bei uns Ketzer, bet sich aber durchaus nicht; weil
sie sich ^r rechtgläubig halten, sind wir ihnen Ketzer, so bezeichnet er damit
^gleich die Gesinnung des Ulfilas. Weil derselbe die durch veränderliche
Gunst der Kaiser immer weitergehenden Spaltungen in der Kirche des römi-
chen Reiches verabscheute und den verfolgungssüchtigen Eifer ehrbegieriger
Parteigänger, die ihm wie reißende Wölfe und Hunde verheerend in die Heerde
Christi einzubrechen schienen, von Grund seines Herzens verdammte, hielt er
die ihm anvertrauten Seelen von der Berührung mit diesen äußeren Wirren
fern und mischte'sich selbst gewiß nur selten in dieselben ein. Dabei getrö¬
stete er sich der unerschütterlichen Ueberzeugung, daß er im Besitz des wahren
Christenthums und Anhänger der wahren Kirche sei. da es doch nur eine
Wahrheit geben könne. Dieses starke Bewußtsein von der Zugehörigkeit zu
der einen und alleinigen Kirche, stützte und stärkte er durch die in jahre¬
langem Studium erworbene Erkenntnis, die Lehre der heil. Schrift aus seiner
Seite zu haben. Auch andere Parteien freilich beriefen sich auf dieselbe, aber
nicht mit solcher Entschiedenheit und Ehrlichkeit. Wie hätte sonst der Streit
über das Wesen Gottes, dessen Gegenstand von manchen Seiten schon damals
als unbiblisch erkannt wurde, solche Ausdehnung gewinnen können! Fern
von menschlicher Spitzfindigkeit und philosophischer Voreingenommenheit
stellte Ulfilas das Schriftwort in den Vordergrund. Um aber diesen Hort
des Heils seinen Anhängern zu erhalten, kam er mit naturgemäßer Noth¬
wendigkeit zu dem Entschluß, die Bibel in seine heimische Sprache zu über¬
setzen. Mit dem Plane dazu mag er sich schon als Lector in Constantinopel
getragen haben, aber die Ausführung wurde nicht so rasch bewerkstelligt und
wohl erst in Moslem begonnen. Die gothische Sprache mit ihren volltö¬
nenden, klangreichen Worten besaß zwar einen seltenen Reichthum an Formen
für die verschiedensten Schätzungen der Begriffe zutreffende Bezeichnungen
und eine wunderbare Geschmeidigkeit des Satzbaues, so daß man schwer be¬
greift, wie römische Zeitgenossen den Klang deutscher Rede und deutschen Ge¬
sanges mit dem rauhen Gekrächze wilder Vögel vergleichen konnten. Sie gab
an Fülle, Beweglichkeit und Schönheit der römischen nichts, der griechischen
wenig nach. Aber etwas anderes ist es, ob sich die Sprache eines Volkes in
altgewohnten heimischen Geleisen ohne Zwang dahinbewegt, oder ob sie eine
Menge neuer Ideen in sich aufnehmen und fremder Weise sich anschmiegen
soll. Ehe das dem Ulfilas gelang und so vortrefflich gelang, war manche
Uebung und Erfahrung nöthig, und ohne schöpferisches Talent wäre es ihm
nicht möglich gewesen, sein Volk mit der gelungenen Uebersetzung eines Bu¬
ches zu beschenken, das alles Hohe und Tiefe des Menschengemüthes in
Worte faßt und in der Färbung des Stiles alle Stufen vom einfachen
Ausdrucke bis zum begeisterten Schwunge durchmißt. Hieronymus erklärt sich
einmal über die Weise, wie man übersetzen müsse. Es gebe einen Uebereifer
der Auslegung, bei dem die Anmuth der Rede verloren gehe, und dieser bestehe
in allzu wörtlicher Wiedergabe. Wir beabsichtigen deshalb, sagt er, überall,
wo ein Streit über den Sinn nicht möglich ist, die Eleganz unserer Sprache
zu bewahren. Während aber seine Uebersetzung der Bibel, die Vulgata, sich
einer übermäßigen Feinheit des Lateins nicht rühmen kann, ist bei unserem
gothischen Uebersetzer in völliger Beherrschung seiner Aufgabe eine edele Frei¬
heit vom Buchstaben mit der treuesten Wiedergabe des Sinnes verbunden.
Nirgends, auch bet schwierigen Wendungen, legt er seiner heimischen Sprache
Zwang an, nirgends, abgesehen etwa von einigen ganz vereinzelten Stellen
verletzt er die ihr eigenthümlichen Regeln.
Er mußte aber nicht nur die obschon biegsame Sprache förmlich schmelzen
und in andere Form gießen, sondern auch erst eine Schrift erfinden. Zwar
besaßen die Gothen wie bereits erwähnt die Kunst Laute durch Zeichen wie¬
derzugeben. Diese Runen waren aber nicht geeignet zu schneller und um¬
fangreicher Verwendung, sie dienten hauptsächlich zum geheimnisvollen Ge¬
brauche des Looswerfens und der Weissagung und wurden außerdem zur Auf¬
zeichnung kurzer Sprüche auf Holz geritzt. Theils weil Ulfilas durch mög¬
lichste Beibehaltung dieser altehrwürdigen Zeichen die Scheu vor der Bibel
zu vermehren hoffte, theils weil die griechische Schrift die Laute der hei¬
mischen Sprache nicht völlig wiedergab, stellte er durch Verschmelzung dieser
2 Bestandtheile ein neues Alphabet her, welches aus 27 Zeichen be¬
stand. Aus den alten Runen stammen ohne Zweifel die Zeichen für u, i, r,
wahrscheinlich auch andere, dem Griechischen entlehnte er das g, x>, g., <z, K, I, w,
n, t, und gebrauchte, ebenfalls nach griechischem Muster, diese gewonnenen
Buchstaben in bestimmter Reihenfolge als Ziffern. Von da an erst war den
Gothen die Möglichkeit gegeben zu literarischen Erzeugnissen größeren Um¬
fanges und die Anwendung des neuen Alphabets wurde bald so allgemein,
daß sich aus ihm eine noch schneller fließende Cursivschrift für das Alltags-
leben entwickelte, die uns in den gothischen Verkaufsurkunden von Neapel
und Arezzo erhalten ist.
Von dem großen Bibelwerke des Ulfilas besitzen wir nur Bruchstücke,
nämlich den größten Theil der 4 Evangelien und der Paulinischen Briefe, und
vom alten Testament nur wenige Verse von Esra und Nehemia in Hand¬
schriften aus dem 6. Jahrhundert, die vermuthlich sämmtlich in Bobbio,
dem von Columban gestifteten Kloster an der Trebbia vereinigt waren,
jetzt aber nach Upsala. Wolfenbüttel, Turin und Mailand verstreut
sind. Und doch hatten die Gothen eine vollständige Bibelübersetzung, die bis
auf einen kleinen Rest von Ulfilas herrührte, wenn er wirklich nicht der Ver¬
fasser des Ganzen sein sollte. **)
Hatte er auch bei diesem Werke dem deutschen Geiste so viel als möglich
nachgegeben, so daß er zum Beispiel nicht in jüdischer Weise nach Jahren,
sondern nach Wintern zählte, nicht von dem Feste der Neumonde, sondern
der Vollmonde sprach, statt des Kreuzes den deutschen Galgen und die Ele¬
mente der Welt Stäbe der Runenschrift nannte, so folgte er doch andrerseits
auch nicht dem Beispiel mancher Kirchenlehrer, die ihre theologische Ansicht
eher in die Bibel hineintrugen als daraus schöpften. Seinem Arianismus
gestattete er, etwa abgesehen von einer einzigen Stelle"), keinen Einfluß auf
den gothischen Wortlaut. In seiner gewissenhaften Sorgsamkeit überlieferte
er den Gothen das unverfälschte Wort Gottes und wurde dadurch der ver¬
dienteste und verehrteste Wohlthäter derselben. Mit Bewunderung betrachten
wir die durch das Alterthum geheiligten Reste seines Werkes, an denen die
Fluth der Zeit sich brach und die im Schutze der deutschen Völker nun für
immer vor Untergang gesichert sind.
Mit diesem Werke des Ulfilas steht ein anderes von ebenso hoher Be¬
deutung in Zusammenhang. Während in den folgenden Jahrhunderten des
Mittelalters die germanischen Stämme des Westens mit den gottesdienstlichen
Einrichtungen auch die Sprache, das ihnen unverständliche Latein, aus Rom
empfingen und in Folge dessen ihre Frömmigkeit im äußeren Thun erstarren
mußte, richtete Ulfilas einen kirchlichen Cultus in seiner Sprache ein. Die
Bestandtheile desselben, wie die Formeln für die heiligen Handlungen, stellte
er in heimischer Rede her und wurde nicht müde durch häufige Predigt die
Seinigen zu erschüttern und zu erheben. Doch suchte er nicht nur durch das
Wort auf die große Menge, sondern auch durch lateinische, griechische und
gothische Schriften auf den engeren Kreis seiner Schüler zu wirken. Leider
ist nichts derart auf uns gekommen und die Fragmente einer gothischen Er¬
klärung des Johannesevangeliums in der ambrosianischen Bibliothek zu Mai¬
land und der vaticanischen zu Rom gehören einer späteren Zeit an."*) Obgleich
aber die literarische Thätigkeit des unermüdlichen Mannes von staunens¬
werthen Umfang war, so dürfen wir doch nicht meinen, daß er dieselbe
nur unterbrochen habe, um die Jugend zu unterrichten und Gottesdienst ab¬
zuhalten.
Im Jahre 360 veranstalteten die strengen Arianer, welche durch kluge
Benutzung der Umstände und durch vorsichtige Ausdrücke den Kaiser Con-
stantius für sich gewonnen hatten, zu Konstantinopel eine Synode ab, durch
die sie ihren Sieg über die anderen Parteien zu befestigen gedachten. Alle
anderen Anhänger ihrer Glaubensrichtung wurden deshalb herbeigezogen und
unter ihnen auch Ulfilas. welcher in der Hoffnung, daß seine Herzensüber¬
zeugung nun allgemein in der Kirche herrschen werde, gerne dem Rufe Folge
leistete. Ob ihn die Ergebnisse der Versammlung befriedigten, die das ari-
anische Bekenntnis doch nicht scharf und deutlich auszusprechen wagte, darf
bezweifelt werden.
Nach seiner Rückkehr in die Heimath beschäftigten ihn wieder Pläne für
eine allgemeine Bekehrung der Gothen. Sein erster Erfolg war ja groß ge¬
nug und mußte trotz oder vielmehr wegen des Todes so vieler Märtyrer zu
neuen Anstrengungen auffordern. Dazu kam die Nachbarschaft des Ulfilas
mit den heidnischen Volksgenossen, von denen er nur durch die Donau ge-
trennt war. Der Fluß bildete aber fast ebenso einen Verkehrsweg, wie eine
Grenze, und aus dem Umstände, daß in dem späteren Friedensverträge des
Kaisers Valens mit Athanarich aus dem Jahre 369 diesem nur 2 Städte
des rechten Ufers als zugängliche Handelsplätze zugestanden wurden, leuchtet
ein, daß die heidnischen Gothen hier mit dem Süden einen lebhaften Handel
unterhielten. Hier suchte Ulfilas unter der Hand anzuknüpfen, aber diesmal
weniger mit den Unterthanen des Athanarich, als mit denen Fritigern's.
Bald fand er, daß der Boden für die Sache des Christenthums günstig sei
und schritt langsam theils selbst, theils durch seine Schüler zu immer aus-
gebreiteterer Thätigkeit vor. Ja am Ende glückte es sogar, die Predigt des
Evangeliums vor Fritigern selbst zu bringen und diesen zunächst wenigstens
für die neue Lehre günstig zu stimmen. Indes war auch in das Gebiet des
Athanarich das Christenthum von Neuem vorgedrungen, hauptsächlich aber
von Kleinasien her und aus katholischem Lager. Die Bekehrten waren an
Zahl jedoch anfangs so gering und hielten sich so versteckt, daß ihr Treiben
sich der Aufmerksamkeit jenes alten Christenfeinds völlig entzog. Doch bald
sollte es anders kommen.
Als Procopius, ein Verwandter von Constantius' Nachfolger Julianus
Apostat«, einen Aufruhr gegen Kaiser Valens erregte und Anspruch auf
dessen Würde erhob, erhielt er von Athanarich ein Hilfsheer von 3000 Mann,
denen er noch andere 7000 nachzuschicken versprach. Offenbar war diesem
dabei nicht nur um Sold zu thun, sondern um Ausführung alter Eroberungs¬
pläne gegen das römische Reich, dessen Entzweiung er ausnutzen zu können
hoffte. Über Proeop wurde gefangen und enthauptet und das Gothenheer,
das in Thracien plünderte und brandschatzte, gefangen. Es kam zum Krieg,
den der Kaiser in das Gebiet des Athanarich hinübertrug und welcher nach
drei Jahren mit der Demüthigung dieses Fürsten 369 endigte. Athanarich
suchte dieselbe dadurch zu verdecken, daß er sich weigerte auf römischem Gehecke
Frieden zu schließen, weil er seinem Vater versprochen habe niemals das jen¬
seits der Donau gelegene Römerland zu betreten. So kam man denn aus
einer Insel dieses Flusses zusammen. Die Christen aber, welche meinten, daß
nach solchen Erfahrungen Athanarich nicht wagen werde, gewaltthätiger gegen
sie aufzutreten, erhoben freier ihr Haupt. In ihrer Erwartung jedoch wurden
sie bitter getäuscht. Gerade mit um so größerer Hitze strebte jener nach Er¬
weiterung seiner Macht und suchte den Königstitel zu rechtfertigen, den er
sich schon vorher, vielleicht mit Einwilligung des Ostgothenkönigs Ermanrich
beigelegt hatte. Um sich alle heidnischen Elemente im Westgothenvolke zu
verbünden, ordnete er wiederum Christenverfolgungen an, die womöglich noch
blutiger verliefen wie das erstemal. Es starben bei dieser Gelegenheit nicht
nur Männer aus niederem Stande wie der heilige Saba, sondern auch aus
den edelsten Geschlechtern, die großes Ansehen im Volke genossen und durch
nichts bewogen werden konnten ihren Glauben zu verleugnen, wie ein Nike-
tas. Diejenigen, die der Verfolgung entrannen, wandten sich theils nach
Asien, theils zu ihren Volksgenossen in das Gebiet Fritigern's oder nach Mo-
slem zum Ulfilas.
Ein Abscheu vor dem Arianismus dieser lag ihnen völlig fern, da ihnen
der Unterschied zwischen ihrem und diesem Bekenntniß sicher nicht allzuschwer
wog und nicht viel Ueberredung kostete es, sie für den veränderten Glauben
zu gewinnen. Wenn man überhaupt diesen Vorgang eine Verführung ni-
cäischer Gothen zur arianischen Lehre nennen darf, so ist hier der Grund zu
den Anschuldigungen katholischer Schriftsteller gegen Ulfilas als einen Ver¬
führer rechtgläubiger Christen zu suchen.
Je mehr es nun schon früher im Plane des Athanarich gelegen hatte,
das Ansehen, das Fritigern in einem Theile der Westgothen behauptete, zu
vernichten, umsomehr erschien es ihm nun bedenklich, dem Zuwachs an
Macht, den jener durch den Uebertritt der Christen erlangte, ruhig mit an-
zusehn. Daher kam die alte Eifersucht zu gewaltsamen Ausbruch und Friti¬
gern, der. sich dem mächtigen Feinde gegenüber zu schwach fühlte, nahm seine
Zuflucht zu den Römern. Zu diesem Schritte ermuthigte ihn wahrscheinlich
Ulfilas selbst, der von dem arianisch gesinnten Kaiser geehrt wurde und in
dem Gothenfürsten die Hoffnung nährte, daß er in Constantinopel Hülfe er¬
langen werde, zumal er den Entschluß zu erkennen gab, zum arianischen
Glauben überzutreten. Wirklich befahl Valens den in Moslem stehenden
römischen Truppen über die Donau zu setzen und Fritigern beizustehen.
Dank dieser Unterstützung wurde Athanarich besiegt und zum Frieden ge¬
zwungen. Aber freilich brach kurz darauf ein weit entsetzlicheres Unwetter
los, das Europa furchtbar erschütterte, Städte und Staaten zertrümmerte
und ganze Völker völlig vertilgte. Im Jahre 376 wälzten sich die wilden
Schaaren der Hunnen aus den Steppen Mittelasiens über Wolga und Don
und machten dem Ostgothenreiche Ermanrich's ein Ende. Dann stürzte sich
der durch die Unterworfenen verstärkte Schwarm auf die Westgothen. Atha-
narich rüstete zu kräftigem Widerstand, wurde aber von den Hunnen über¬
fallen und vollständig geschlagen. Erschreckt flüchtete er sich mit den Trüm-
mern seines Heeres in die Höhenzüge zwischen Siebenbürgen und Moldau
und suchte sich durch Verschanzungen zu sichern. Aber es fehlte dem Ver¬
stecke an Lebensmitteln und nach langen Berathungen beschloß ein Theil sei¬
nes Volkes die Grenze des römischen Reiches zu überschreiten und jenseits der
Donau neue Wohnsitze zu suchen. Zu diesem Entschlüsse waren auch die
Fritigern'schen Gothen gekommen und hatten eine Gesandtschaft unter Führ¬
ung des Ulfilas nach Antiochien geschickt um den dort weilenden Valens um
Aufnahme zu bitten. Eine bejahende Antwort mußte bei der Masse des
Volks bedenklich erscheinen, aber mit Rücksicht auf das freundschaftliche Ver¬
hältnis von früher wurde sie doch ertheilt in der Hoffnung, den damit ver-
bundenen Gefahren durch Klugheit vorbeugen zu können. Zuerst sollten die
Weiber und Kinder übergesetzt und in fernen Gegenden als Geiseln ver¬
wahrt, die Männer jedoch entwaffnet werden. Aber die Menge der Gothen
war ungeheuer angeschwollen, da sich die Versprengten und Flüchtigen aus
Gebiet und Heer des Athanarich unter einem besonderen Führer angeschlossen
hatten. Im Herbst des Jahres 376 erschienen 200,000 Männer, also ge¬
wiß gegen 800,000 Menschen. Als nun gar noch ein Zug Ostgothen an¬
langte, war der Uebergang nicht mehr zu hemmen und die Maßregeln der
Vorsicht nicht mehr durchzuführen. Wohl aber erlaubten sich die römischen
Beamten unerhörte Willkürlichkeiten, Frauen und Kinder wurden als Sclaven
entführt, das Wasserträger gegen hohe Bestechung erlaubt. Lebensmittel nur
gegen theure Preise verkauft oder ganz vorenthalten, so daß bald Hungersnoth
entstand. Mit bewundernswerther Geduld ertrugen die Gothen das Alles,
ohne zum Schwerte zu greifen und vielleicht dürfen wir in dieser Selbstbe¬
herrschung den Einfluß des Ulfilas erkennen. Dieser war mit den Seinen
im Hanns für Aufrechterhaltung des Friedens entschieden und beharrte
auch später bet diesem Entschlüsse. Für den Frieden nun wirkte er auch bei
den übrigen Gothen besonders durch Fritigern. Als aber auch dessen Sicher¬
heit von den Römern bedroht wurde, gab's kein Halten mehr und die bisher
gezügelte Wuth entbrannte mit um so furchtbarerer Heftigkeit. Was die
Hunnen den Gothen, waren diese den Römern und durch Macedonien und
Thessalien fraß grauenhafte Verheerung. Im Mai des Jahres 378 kam
Valens selbst auf den Kriegsschauplatz. Aus kleinlicher Eifersucht gegen seinen
Neffen Gratian, der eben einen großen Sieg über die Alemannen erfochten
und dem Onkel ein Hilfsheer versprochen hatte, beschloß er. ohne die An¬
kunft desselben abzuwarten, die Entscheidungsschlacht. Da trat ein christ¬
licher Bischof. ,,der dem Fritigern treu und dessen geheimer Absichten kundig
war", ohne Zweifel Ulfilas selbst als Sendbote jenes Fürsten mit einem
offenen Schreiben ein, das gegen Ueberlassung von Wohnsitzen nebst Vieh und
Getreide in Thracien immerwährenden Frieden anbot. Zugleich überreichte
er einen vertraulichen Privatbrief, in dem Fritigern den Kaiser bat mit
Heeresmacht scheinbar feindlich heranzurücken. damit es um so sicherer gelinge
das wilde Volk zur Achtung des Vertrags zu bringen. Valens konnte sich
nicht sofort zur Gewährung des Geforderten entschließen; da ihm aber ein so
ehrwürdiger Ueberbringer der Vorschläge für die Aufrichtigkeit derselben bürgte,
zeigte er sich zu weiteren Verhandlungen geneigt. Er stellte zwar sein Heer
bei Adrianopel in Schlachtordnung auf, aber schickte auch den Nichomer, den
Befehlshaber der römischen Garde, als Bürgen ab, daß Fritigern des passiven
Verhaltens der Römer sicher sein könne, wenn er sein Volk für den Frieden
gewinnen wolle. Schon war jener unterwegs, als der römische Vortrab vor¬
eilig angriff. Da erschienen auch wie ein Blitz die gothischen Reiter und
hieben im ersten Angriff Alles vor sich nieder. Die Blutarbeit begann auf
der ganzen Linie und endete mit einer furchtbaren Niederlage der Römer. Der
verwundete Valens wurde zwar in ein Bauernhaus gerettet, aber von ver¬
folgenden Gothen daselbst verbrannt. Der Strom der Sieger ergoß sich nun
bis vor Constantinopel, ohne daß man hier etwas unternahm. Aber alles
platte Land bis zum adriatischen und ägäischen Meere wurde entsetzlich aus-
geplündert und verwüstet. Da bekleidete Gratian in edler Selbstüberwindung
seinen Feind Theodosius, einen Mann von hervorragender Umsicht und That¬
kraft, mit dem Purpur und überließ ihm den Osten. Dieser wußte über die
in einzelne Raubschaaren aufgelöste Gothen einzelne Vortheile zu gewinnen,
bis ihn eine längere Krankheit in Thefsalonien darniederwarf. Während der¬
selben gelang es Fritigern die zerstreuten Schwärme zu sammeln und da¬
durch beschwor er wieder die größte Gefahr über das Reich herauf. Theodo¬
sius wandte sich daher an Gratian um Hülfe, aber noch ehe derselbe erschien,
gab ein unerwartetes Ereignis den Dingen eine andere Wendung.
Athanarich, der sich nicht länger in den Karpathen zu halten vermochte,
bewirkte den Uebergang seines Volkes über die Donau. Er vergaß dabei sein
früheres Vorgeben auf Geheiß seines Vaters römischen Boden nicht betreten
zu dürfen. Aber freilich gedachte er jetzt nicht als Bittender, sondern als
Eroberer zu erscheinen. Die Nachricht von der Zerrüttung des römischen
Reichs und der Verwirrung unter dem eingewanderten Volk des Fritigern hatte
in ihm die Hoffnung erweckt des alten Nebenbuhlers Ansehen ganz vernichten
und die Zerstreuter wieder unter seinen Oberbefehl vereinigen zu können.
Weniger wohl um die römischen Grenzwachen zu täuschen, als um die
Christen unter den Gothen anzulocken, bediente er sich eines Gaukelspiels, in¬
dem er sich und die Seinen als Christen ausgab und einige als Bischöfe und
Mönche verkleidete. Aber Fritigern drängte ihn mit Uebermacht nach dem
Osten von Thracien zurück. In diesem kritischen Augenblicke erschien Gratian
und bedrohte das Heer des ersteren im Rücken. Nachdem der weströmische
Kaiser schon über einige Abtheilungen desselben Vortheile erlangt hatte, ent¬
schied sich der ebenso besonnene, als kriegstüchtige Fritigern zum Friedens¬
schlüsse mit den Römern, den Theodosius durch Landverleihuug und Aufnahme
der Kampflustigen in kaiserlichen Sold möglichst erleichterte. Im November
des Jahres 380 als dieser in Constantinopel einzog, konnte er die Einwohner
mit der frohen Botschaft des wichtigen Sieges erfreuen.
Freilich schweiften noch zahlreiche Raubschaaren der Gothen, die sich dem
Hauptheere Fritigern's nicht angeschlossen hatten, im Lande umher und auch
Athanarich war noch zu bezwingen. Gleichwohl glaubte Theodosius jetzt schon
eine Angelegenheit in die Hand nehmen zu müssen, deren rasche und kräftige
Durchführung er für die Festigung des Reichs als höchst förderlich ansah.
Während seiner Krankheit in Thessalonich hatte er sich von dem dortigen
Bischof Ascholius, der ihm vorstellte, daß der apostolische und nachmals in
Nicäa bekräftigte Glaube im römischen Reiche das Uebergewicht besitze und trotz
der Feindseligkeit des Valens sich im ganzen Westen bis über Macedonien
hinaus behauptet habe, auf dieses Bekenntnis taufen lassen, offenbar in der
Hoffnung demselben schnell unter der widerstrebenden Minderheit Anerkennung
verschaffen zu können. Im Eifer für diese Sache war er bereits Ende Februar
380 schlüssig geworden, ein Edict an das Volk von Constantinopel zu senden,
in welchem er dasselbe aufforderte, sich nach der nicänischen Lehre zu richten.
Nur diejenigen, welche die Wesensgleichheit des Vaters und Sohnes bekennten,
seien katholische Christen, alle anderen aber Ketzer, die sich auf Bestrafung
gefaßt machen möchten. Er traute dem kaiserlichen Ansehen Einfluß genug
zu, um sich der Hoffnung hinzugeben, daß durch diese entschiedenen und
drohenden Worte der Arianismus erschüttert und die Hauptstadt noch vor
seinem Einzug im Glauben geeinigt werden könne. In dieser Erwartung
wurde er bestärkt durch das, was man über die Thätigkeit des Gregor von
Nazianz, eines der drei großen Kappadocier, berichtete. Das kleine Häuflein
"ieänisch Gesinnter in Konstantinopel, das von den anderen Secten auf das
äußerste bedrängt wurde, hatte denselben zu Hülfe gerufen, und durch kluges
Auftreten in der Hauptstadt, indem er zuerst, ganz ähnlich wie aus anderer
Seite Ulfilas, vor der herrschenden Sittenlosigkeit und der rechthaberischen
Streitsucht warnte, mehrte er die Zahl seiner Anhänger von Tag zu Tag.
Wunder, daß unter solchen Umständen Theodosius, besonders nachdem
er triumphirend in Constantinopel eingezogen war, die Zeit gekommen wähnte,
entschiedene Maßregeln zu ergreifen. Schon am 2. Tage nach seiner Ankunft
befahl er dem Demophilus, dem Bischof der Arianer, der sich weigerte zum
nicänischen Glauben überzugehn, daß er die Kirchen räume, und überließ die
größte Basilika dem Gregor von Nazianz. 40 Jahre lang hatten die Arianer
die Gotteshäuser der Hauptstadt besessen und war man auch über die Absichten
des Kaisers unterrichtet, so glaubte man doch nicht an solchen Ernst derselben.
Leicht läßt sich denken, wie groß der Unwille und die Empörung unter den
Bedrängten war. Noch 8 Jahre später nach dem Tode des Demophilus, als
Theodosius gegen den Usurpator Marinus kämpfte, kam der in den Gemüthern
der Arianer gährende Zorn in Constantinopel zum gewaltsamen Ausbruch.
Damals aber gelang es jenem besonnenen Bischof die Aufgebrachten zu be¬
schwichtigen und zu bewegen, daß sie außerhalb der Stadt ihre Zusammenkünfte
abhielten. Doch gerade diese Wanderungen zahlreicher Arianer nach entfernten
Versammlungsorten mochte den Gegnern die Stärke der Betheiligten näher vor
Augenführen. Dem Kaiser selbst waren die Verhältnisse in der Ferne durch die
Berichte seiner Umgebung in anderem Lichte erschienen, als sie nun sich zeigten.
Noch drohte der äußere Feind und schon erweckte er sich im Herzens des
Reichs einen neuen, vielleicht nicht minder starken, da Leute aus allen Stän¬
den, selbst viele von den Beamten des eigenen Palastes und vor allem ein
großer Theil von den in Sold genommenen Gothen der Gegenpartei ange¬
hörten. Die Lage forderte zu größter Vorsicht auf und Theodosius beschloß
sie zu üben.
Mehr als ein Beispiel kluger Milde bietet seine folgende Geschichte.
Man denke nur an den Aufstand in Antiochien 387, auf dessen blutige
Unterdrückung bald gnädige Vergebung folgte. Man denke an das Blutbad
von Thessalonich 390, welches der Kaiser in demüthiger Selbstverleugnung
öffentlich büßte. Auch bei der schon erwähnten Empörung der Arianer in
Konstantinopel ließ der Kaiser verzeihende Milde walten. Die Rücksicht auf
die Gothen aber bestimmte fortwährend so seine Regierungshandlungen, daß
ihm in unverholener Misstimmung ungerechte Bevorzugung derselben vorge¬
worfen wird. Wenn sich daher bei so entschiedenem Eintreten für den nicä¬
nischen Glauben nun ein Schwanken des Kaisers bemerklich macht, so erklärt
sich das genügend aus seinem Charakter und den Umständen. Dazu kam
noch, daß die einflußreichen und hochgestellten Anhänger des Arianismus alles
in Bewegung setzten, um das Staatsoberhaupt ihrer Partei günstiger zu
stimmen. In der That zeigte sich der Kaiser sogar dem arianischen Eiferer
Eunomius geneigt, der in Folge der beleidigenden Schroffheit seines Auftretens
ein fortwährend zwischen Anerkennung und Verbannung wechselndes Leben
geführt hatte. Jetzt war er herbeigekommen, um bei dem allgemeinen Wett¬
lauf um des Kaisers Gunst auch seine Sache zu fördern, und hielt sich in
Bithynien Constantinopel gegenüber auf. Viele fuhren zu ihm hinüber, um
den, durch ungewöhnliche Kraft seiner Beredtsamkeit. berühmten Mann zu
hören, und auch Theodosius beabsichtigte eine Unterredung mit ihm, doch
gewiß mehr, um ihn zu gewinnen als sich von ihm gewinnen zu lassen. Zu
demselben Zweck beschloß der Kaiser den ehrwürdigen Ulfilas herbeizurufen.
Eine an sich wenigbedeutende Spaltung unter den hauptstädtischen Gothen,
mit denen er eine Besprechung abhalten sollte, bot dazu eine geeignete Ver¬
anlassung. Gelang es den allverehrten Oberhirten des Gothenvolkes mit der
neuen nicänischen Strömung der Regierungspolitik zu versöhnen, so war Alles
gewonnen. Doch wußte Theodosius von diesem Manne wohl wenig mehr,
als daß er zu früheren Beherrschern des Reichs in wichtigen Beziehungen
gestanden hatte. Wäre ihm die Gesinnung desselben bekannt, wäre er dar¬
über unterrichtet gewesen, daß die Arianer die Ankunft dieses durch Apostel-
und Confessorenruhm geheiligten Mannes zu einem Triumphzug ihres Glau¬
bens zu machen gedachten, so hätte er ihn schwerlich nach Constantinopel ge¬
laden. Ulfilas. besorgt, es möchten die unter seinen Volksgenossen ausbre¬
chenden Irrlehren den Frieden seiner Gemeinde stören, folgte, von seinem
Anhange begleitet, eilig dem kaiserlichen Rufe. Doch gleich nachdem er die
Hauptstadt betreten hatte, erkrankte er und wieder alles Erwarten rasch er¬
eilte ihn der Tod.") Noch kurz vor seinem Ende theilte er seinen Freunden,
die ängstlich ihn umstanden, die Grundzüge seines Glaubens mit, als Ver¬
mächtnis für sein Volk, damit es in der reinen Lehre der heiligen Schrift
erhalten werde. In feierlichem Gepränge geleitet von Bischöfen, Priestern
und einer großen Menge der Arianer wurde seine Leiche zu Grabe getragen.
Das Verdienst des Mannes brachte auf einen Augenblick den Parteihaß
zum Schwelgen und in einer den Genossen des Verstorbenen gewährten
Audienz erklärte sich der Kaiser bereit ein Concil zu berufen, auf dem über
die streitigen Sätze verhandelt werden sollte. Das reizte die nicänisch Ge¬
sinnten, an ihrer Spitze die Kaiserin zu erneuten Anstrengungen für ihr Be¬
kenntnis. Diesen Bemühungen kam ein anderer unvorhergesehener Umstand
on Hilfe. Fritigern war am Schluß des Jahres 380 gestorben und Atha-
narich iMte nun keinen Nebenbuhler mehr. Trotzdem zog er es vor sein
Kindliches Verhältnis zum römischen Reiche aufzugeben und Theodusias wußte
durch freundliches Benehmen den Trotz des alten Gegners in unbedingte Er¬
gebung zu verwandeln. Als derselbe am 11, Januar 384 sich der Haupt¬
stadt näherte, eilte ihm der Kaiser ein gutes Stück entgegen und führte den
Gast in festlicher Weise an seinen Hof.
Nicht lange freilich genoß er solche Ehrenbezeugungen. Wenige Wochen
später verschied er; aber das änderte nichts an dem unverhofft großen Er¬
folge des Kaisers. Abgesehen von vereinzelten Schwärmen erkannte das
Gothenvolk die kaiserliche Obmacht an und der Arianismus der meisten unter
ihnen, die bet der Freundschaft ihrer Fürsten mit dem Hofe zu Konstantinopel
auf ihre Verschiedenheit im Glauben kein großes Gewicht legten, erregte nach
dem Tode des Ulfilas keine Besorgnis mehr. Bereits den Tag vor der An¬
kunft Athanarich's war daher Theodosius wenigstens in Bezug auf die römi¬
schen Bürger auf seine früheren Pläne zurückgekommen und hatte in der gegen
Häretiker üblichen Sprache gegen das Gift der arianischen Kirchenschändung
und das Verbrechen der eunomianischen Gottlosigkeit ein Gesetz erlassen, in
dem das gegebene Versprechen eines Concils zurückgenommen, die nicänische
Lehre als katholische Rechtgläubigkeit anerkannt und die bereits angeordnete
Vertreibung der Ketzer aus den Kirchen bestätigt wurde, Damit war das
Verhältnis der Bekenntnisse für die Zukunft entschieden und der Arianismus
verlor sich allmählich unter den Völkern römischer Herrschaft, ohne daß jenes
Gesetz namentlich den Gothen gegenüber mit rücksichtsloser Härte angewendet
worden wäre. Unter diesen aber wirkte der Geist ihres großen Apostels
mächtig fort und sein Glaube, jenes Vermächtnis seiner letzten Stunde, wurde
von ihnen und ihren Stammverwandten als theure Erbschaft hochgehalten.
Ostgothen und Vandalen blieben bis zu ihrem Untergang seinem Be¬
kenntnis treu. Die Westgothen traten unter Reccared auf der Kirchen¬
versammlung zu Toledo und die Burgunden unter ihrem König Siegmund
kurz vor der Unterwerfung ihres Reichs durch die Franken zum Katholicis¬
mus über. Bei den Longobarden fand derselbe Eingang, als um S90 der
König Authari die bairische Königstochter Theudelinda heimführte. Erst
744 aber unter König Liutprand wurde unter jenen norditalienischen Ger¬
manen das nicänische Bekenntnis herrschend.
Es hat so sein sollen, daß sich während des Mittelalters die deutschen
Völker eine Zeitlang unter den geistigen Einfluß Roms stellten und sich in
der strengen Schule der lateinischen Literatur bildeten. Doch als sich ihnen
das volle Verständnis der altclasstschen Humanität eröffnete, da war es aus
mit dieser zweiten Römerherrschaft und der Sturmwind der Reformation
wehte neues Leben in die gefesselten Geister. Die Deutschen Nordeuropas
sagten sich vom Katholicismus los. ganz ähnlich wie der erste Deutsche, der
seinen Wissensdurst stillte aus den reineren Quellen der griechischen Kultur.
Man darf es nicht übersehen, daß die germanischen Nationen ihr christ¬
liches Leben mit einer Häresie begannen und im 16. Jahrhundert mit einer
solchen erneuerten, und muß es als einen Vorzug ihres selvstständigen Cha¬
rakters und freiforschenden Geistes preisen, daß sie sich nicht auf die Dauer
den Bannformeln fremder Herrschaft willenlos fügten und das Licht der Heils¬
lehre nur in der ihrem Auge angemessenen Brechung aufnehmen wollten.
Schon in dieser Hinsicht waren Ulfilas und Luther Männer echt deutschen
Gepräges. Beide suchten die Wahrheit auf eigenen Wegen, beide erkannten
in der Bibel und nur in ihr den belebenden Quell der Religiosität und über¬
lieferten sie daher ihrem Volke in heimischer Rede. In diesen sprachbildenden
Werken schufen Beide ein Band, welches ihre Nationen enger zusammen¬
schlang und wie Luther durch Erschaffung der Schriftsprache den Grund zur
ganzen folgenden Kulturentwickelung in dem Lande zwischen Rhein und
Weichsel legte, so ist erst durch die Uebersetzung des Ulfilas der Neuzeit die
Möglichkeit geboten zur großartigen wissenschaftlichen Erforschung des Deut¬
schen. Beide aber waren nicht nur Glaubensboten und Lehrer, sondern griffen
auch in entscheidenden Augenblicken mit Rath und Ermahnung wirksam in
die politischen Schicksale ihres Volkes ein und niemals sollten wir vergessen,
daß in alter und neuer Zeit zweimal das deutsche Leben seinen Aufschwung
Geburt und Wiedergeburt, religiösen Einflüssen verdankte, niemals diese beiden
Männer, von denen jene Wirkungen ausgingen.
In Landschaften mit stark gemischter Bevölkerung ist die Frage, welche
Sprache in den Schulen als Unterrichtssprache anzuwenden oder wie die Sprache
der beherrschten Minderheit sonst zu behandeln sei, sicher eine der schwierig¬
sten und verwickeltsten; sie hat oft den Gegenstand lebhaftesten Kampfes
Zwischen den verschiedenen Nationalitäten gebildet, und ist sehr häufig von Ge¬
sichtspunkten aus beurtheilt und entschieden worden, die eher alles andere
sind als pädagogische. Unter den europäischen Culturstaaten hat sicherlich
Oesterreich-Ungarn am meisten mit dieser Frage zu thun, da es fast in allen
seinen Kronländer eine mehr oder weniger große Vielheit von Volksstämmen
aufweist. Das deutsche Reich ist glücklicher dran; zählt es doch unter 41
Millionen Einwohner nur etwas über 3 Millionen (3,240,000) Köpfe nicht-
deutschen Stammes, und diese vertheilen sich obendrein auf nur wenige Land¬
schaften. Indessen erscheint für diese die Frage als immerhin wichtig genug,
ist auch deshalb gelegentlich durch allgemeine Bestimmungen geregelt worden.
Diese haben jedoch eine große Mannigfaltigkeit der Verhältnisse nicht gehin¬
dert, und so bietet sich denn ein ziemlich buntes Bild. Ein solches soll hier
zunächst von den norddeutschen Gymnasien aufgestellt werden. Die elsässisch-
lothringischen Verhältnisse werden hier nicht berührt, da sie auf ganz anderer
Grundlage wie die übrigen beruhen, auch noch kaum als endgiltig abge¬
schlossen gelten können. Zu Grunde gelegt aber soll der Stand von Ostern
1874 werden, da bei der bis jetzt bestehenden Einrichtung des Programmen¬
tausches, in dem fast alle norddeutschen Gymnasien mit einander stehen, die
Programme von 1875 noch nicht zu meiner Kenntniß gelangt sein konnten,
die einschneidenden Veränderungen aber fast nur vor dem angegebenen Ter¬
mine erfolgt sind.
Wir haben in Norddeutschland Bruchstücke von 6 fremden Nationalitäten
(wenn man von der schwachen wallonischen Niederlassung in der Rheinpro¬
vinz um Malmedy) absieht), nämlich der polnischen (2,460,000 E.), wendisch,
serbischen (140,000 E,), tschechischen (30,000 E.), lithauischen (180,000 E.) und
dänischen (130,000 E.), also 2,790.000 Seelen slavisch-litthauischen und 150.000
skandinavischen Stammes. Die Polen, ihrer Zahl und Bedeutung nach die
stärkste fremde Nationalität auf deutschem Neichsboden, vertheilen sich be¬
kanntlich auf drei Provinzen. Ost- und Westpreußen, Polen, Oberschlesien;
die Wenden haben sich in der Ober- und Nieder-Lausitz preußischen wie säch¬
sischen Antheils behauptet, die Tschechen greifen in geringer Stärke von Böhmen
und Mähren her nach Oberschlesien und Glatz über, die Litthauer bewohnen
von deutschen Sprachinseln vielfach durchsetzt, die nordöstliche Ecke Ostpreußens
und stützen sich dabei auf ein ausgedehntes Hinterland gleicher Nationalität,
die Dänen endlich sitzen noch in beträchtlicher Zahl im nördlichen Schleswig.
Wir wenden uns zunächst zu den Landschaften, in denen die Slaven und
Litthauer einen mehr oder weniger beträchtlichen Bruchtheil der Bevölkerung
bilden.
Gerade für die deutsch-polnischen Lande haben allgemeine Verfügungen
die Verhältnisse fest zu regeln gesucht. Die cultusministerielle Instruction
vom 24. Mai 1842 bestimmte für die katholischen (d. h. die wesentlich von Polen
besuchten) Gymnasien Posens, an denen die Schüler polnischen Stammes über¬
wogen, daß für die drei unteren Classen als Haupt-Unterrichtssprache das Polnische
anzuwenden, von Tertia an dagegen etwa ^/z der Lectionen in deuscher, ^/z in
polnischer Sprache zu ertheilen sei; außerdem sollten der katholische Religions¬
unterricht, das Hebräische, sowie polnische Sprache und Literatur in polnischer
Sprache gelehrt, auch das Polnische als Gegenstand besonderen Wissenschaft-
lichen Unterrichts behandelt werden.") Analog war in Preußen und Schlesien
da wo nöthig, zu verfahren. Eine Ministerialverfügung vom 10. Okto¬
ber 1860, den Lehrplan für die katholischen Gymnasien der Provinz Polen
betreffend, erweiterte die Anwendung des Polnischen als Unterrichtssprache
noch insofern, als nach ihr auch die Geographie in den drei Unterklassen in
dieser Sprache vorgetragen werden sollte.^) Kurz darauf, 19. Oktober 1860.
bestimmte eine zweite Verfügung, daß die Directoren überwiegend polnischer
Schulen des Polnischen kundig sein sollten."**) Sicherlich konnten sich die
Polen also nicht über Vernachlässigung ihrer Sprache oder gar über Sprachen¬
zwang beklagen und weit ab steht dies milde Verfahren des deutschen Staats
einer Nation gegenüber, die nie ihre Feindschaft gegen das Deutschthum ver¬
leugnet hat, von der rücksichtslosen gewaltsamen Einführung des Russischen,
wie sie die Petersburger Regierung in ihrem Polen seit der Niederwerfung
des letzten Aufstandes durchzusetzen bestrebt ist.
Wenn in letzterer Zeit seit der Uebernahme des Unterrichtsministeriums
durch Dr. Falk (22. Januar 1872) eine Umgestaltung zu Ungunsten des
Polnischen Elements, eine Verdrängung bez. Beschränkung des Polnischen als
Unterrichtssprache und Unterrichtsgegenstand eingetreten ist, so tragen daran
die Polen selber die Schuld, insofern überall national polnische Agitation
mit clericaler Widersetzlichkeit Hand in Hand ging. So sind sich denn rasch
hintereinander mehrere einschneidende Maßregeln gefolgt. Die Ministerial¬
verfügung vom 16. November 18721-) hob die Ausnahmestellung des Reli¬
gionsunterrichts in sprachlicher Beziehung für die höheren Anstalten auf und
ordnete an, daß derselbe fortan nicht anders zu behandeln sei, als die übrigen
Lehrgegenstände, d. h. daß er wesentlich deutsch zu ertheilen sei. Die Folge
war ein heftiger, noch nicht beigelegter Conflict mit dem erzbischöflichen Stuhle
von Gnesen - Posen; denn da der damalige Erzbischof Ledochowski die katho¬
lischen Religionslehrer Posens und Westpreußens anwies, den Religions¬
unterricht nur in den beiden Oberklassen deutsch, sonst durchweg polnisch zu
ertheilen, der Staat aber diejenigen, die sich seiner Anordnung nicht fügten,
entsetzte, so vor der Hand dieser Unterricht ganz aufgehört.
Weiter beseitigte eine Verordnung vom 6. December desselben Jahres
die bisherige Ungleichheit in der Behandlung der Theilnahme am polnischen
Unterricht in den höheren Schulen der Provinz Posen, indem sie bestimmte,
daß derselbe überall als faeultativ zu behandeln und nur für die den beson¬
deren polnischen Abtheilungen angehörigen Schüler des Mariengymnasiums
zu Posen oder des Gymnasiums zu Ostrowo obligatorisch zu machen sei.
Noch weiter ging die Verfügung des k. Provinzialschulcollegs 1873, welche
das Deutsche als die alleinige Unterrichtssprache für die oberen Classen selbst
dieser beiden Anstalten festsetzte, bis endlich im Juni 1874 angeordnet wurde,
daß in eben diesen beiden Schulen auch in den unteren Classen die Lehrgegen¬
stände mit Ausnahme der katholischen Religionslehre und der polnischen
Sprache überwiegend deutsch vorgetragen, das Polnische nur z^r Aushilfe
angewandt werden sollte.*) Seitdem ist in keiner höheren Schule der drei
deutsch-polnischen Provinzen das Polnische in größerem Umfange Unterrichts¬
sprache, die Grundlage also, welche 1842 gelegt worden war, hat sich völlig
verändert, sicherlich nicht im Interesse polnischen Volksthums, gewiß aber im
Interesse der Culturentwicklung überhaupt.
Auf Grundlage jener allgemeinen Verordnungen haben sich zunächst in
der Provinz Posen, die 1772 theilweise, 1793—1806 ganz, aber erst 1815
definitiv mit Preußen vereinigt, das stärkste polnische Element enthält, nach
den örtlichen Bedürfnissen sehr verschiedene Verhältnisse entwickelt. Die Pro¬
vinz zählt gegenwärtig im Ganzen 13 Gymnasien, von denen auf den Re¬
gierungsbezirk Posen 8, auf den Regierungsbezirk Bromberg 5 entfallen. Auf
ihnen zeigt sich, abgesehen von den durch die ministeriellen Verfügungen ge¬
ordneten Verhältnissen der Unterrichtssprache, die Pflege des Polnischen in
speziell polnischem Sprachunterricht, in der Berücksichtigung desselben bei den
Abiturientenarbeiten, und den freien Aufsätzen überhaupt, ferner bei der Ab¬
fassung des Jahresberichts, der unter Umständen zweisprachig geschrieben ist,
endlich in der Förderung des Polnischen durch Stipendien, polnische Schüler¬
bibliotheken u. s. w. Nach diesen Gesichtspunkten läßt sich am Ehesten
ein Urtheil über den gegenwärtigen Stand der Behandlung des Polnischen
gewinnen.
Unter allen Posen'schen Gymnasien hat allein das königliche zu Schneide-
mühl, 1868 eröffnet und simultan als in einem wesentlich deutschen Kreise gelegen
gar keinen polnischen Unterricht. Von den übrigen tragen das tgi. katholische
Mariengymnasium zu Posen und das tgi. katholische Gymnasium zu Ostrowo
auch jetzt noch mehr polnische Färbung, weniger die beiden tgi. simultanen
Gymnasien zu Sabrina und Gnesen, endlich das tgi. evangelische zu Lissa.
Auf dem erstgenannten, welches Ostern 1874 unter 692 Schülern 674 Polen
Zählte*), galt bis 1873 das Polnische in den unteren und mittleren Classen
als Hauptunterrichtssprache **): außerdem werden noch jetzt dem polnischen
Sprachunterricht in jeder Classe 2 Stunden gewidmet und Ausätzfe in dieser
Sprache angefertigt, auch zur Reifeprüfung ein solcher gefordert. Während
jedoch noch zu Ostern 1873 beim Entlassungsaetus polnische Gedichte und
Reden vorgetragen wurden, geschah dies Ostern 1874 nicht mehr, auch ist der
Jahresbericht 1873 noch zweisprachig, 1874 nur deutsch abgefaßt. Dagegen
besteht eine besondere polnische Schülerbibliothek In Ostrowo zerfallen
die drei Unterclassen in deutsche und polnische Paralleleöten, in den oberen
Classen herrschte jedoch — bis 1873 — nur in 10 Wochenstunden pol¬
nische Unterrichtssprache 5). Der polnische Sprachunterricht wird in allen
Classen in je 2 Stunden ertheilt und bis zur Leistung polnischer Aufsätze -
auch zur Reifeprüfung — gefördert, ist aber seit der Verordnung vom 6. De¬
cember 1872 für Deutsche sacultativ. Der Jahresbericht 1874 war polnisch
und deutsch. In Sabrina findet sich früher dieselbe Bevorzugung des
Polnischen als Unterrichtssprache der 3 Unterclassen sowie von Tertia an
das Vorwiegen der deutschen Unterrichtssprache 55). während jetzt natürlich
überall das Deutsche herrscht, ebenso noch jetzt der in 2 Stunden durch alle
Classen ertheilte polnische Sprachunterricht mit Aufsätzen und Abiturienten¬
arbeiten, sowie der zweisprachige Jahresbericht. Dagegen ist zu Gnesen schon
seit 1864 das Deutsche die herrschende Sprache in allen Lectionen 55-1-). ähnlich
in Lissa. In dieser Anstalt jedoch wird der polnische Unterricht für Deutsche
und Polen getrennt und die Fertigung freier Aufsätze nur von den Polen
gefordert, in Gnesen wiederum kommen nicht nur polnische Aufsätze überhaupt
sondern auch zur Reifeprüfung vor. sowie dort noch 1874 ein Abiturient in
polnischer Sprache auftrat. Beide Anstalten gaben ihren Bericht in beide
Landessprachen.
Sehr verschieden von diesen mehr polnisch gefärbten Schulen erscheint
die zweite Gruppe, welche 7 Gymnasien umfaßt: die königlichen evangelischen
Gymnasien zu Posen (Friedrich-Wilhelm's-Gymnasium), Krotoschin, Bromberg,
Meseritz, das tgi. katholische zu Wongrowitz *) und die königlichen simultanen
Anstalten in Rogasen und Inowraclaw. Alle diese Schulen publicirten ihren
Bericht nur in deutscher Sprache, haben ganz deutsche Unterrichtssprache und
treiben das Polnische gewöhnlich in 2 Stunden für die einzelnen Classen, die
meist zu größeren Abtheilungen combinirt sind. In Wongrowitz, das 1874
erst bis Untersecunda entwickelt war, waren dabei Deutsche und Polen ge¬
trennt**), Rogasen widmete in seinen Oberclassen nur 1 Stunde dem polni¬
schen Unterricht. Hier, sowie in Posen, Wongrowitz, Bromberg, Meseritz,
Inowraclaw wird dies Fach überdies, entsprechend den Verfügungen von 1872,
als faeultativ behandelt, doch zu Rogasen und zu Krotoschin (hier nur für
die Polen) der polnische Aufsatz cultivirt. Im Rückgange erscheint das Pol¬
nische geradezu in Bromberg und Inowraclaw. Dort nämlich fiel, weil die bis
dahin bestehenden Stipendien für besonders gute Leistungen im Polnischen
entzogen wurden, dieser Unterricht in Prima und Secunda ganz aus, aus
Mangel an Theilnehmern ***), und dasselbe geschah aus demselben Grunde,
aber ohne die gleiche Veranlassung, zu Inowraclaw.
Weniger Berücksichtigung findet naturgemäß das Polnische in der be¬
nachbarten Provinz Preußen, wo nur im Weichsellande, in West Preußen,
die polnische Bevölkerung von achtungsgebietendem Umfang und Einfluß er¬
scheint und obendrein durch das katholische Bekenntnis einen stärkeren Halt
dem wesentlich protestantischen Deutschthume gegenüber besitzt. Von den beiden
westpreußischen Regierungsbezirken besitzt Danzig 4, Marienwerder 7 Gymna¬
sien. Von diesen schließen 7, nämlich die königlichen und evangelischen zu
Marienwerder, Graudenz und Elbing, die städtischen und evangelischen in
Danzig, Marienburg und Thorn, endlich das königliche simultane Gymna¬
sium in Straßburg das Polnische gänzlich von ihrem Unterrichtsplane aus.
Nur in Elbing ist von 1804—1820 Polnisch gelehrt worden-j-). Dieser
exclusiv deutsche Charakter der höheren Schulen einer gemischten Landschaft
erklärt sich hinlänglich einmal daraus, daß sie alle — mit Ausnahme von
Straßburg — im geschlossenen deutschen Sprachgebiete liegen, sodann, wenig¬
stens bei mehreren, daß sie Anstalten deutscher Städte sind, die sie gegründet
haben und noch unterhalten. Nur 4 Gymnasien Westpreußens tragen einen
mehr polnischen Charakter, sämmtlich königlicher Collatur und katholischer
Confession, unter überwiegend katholischer und polnischer Bevölkerung gele¬
gen, nämlich Kulm, Konitz, Deutsch-Crome und Neustadt. Bon diesen er¬
schienen besonders die beiden erstgenannten lange Zeit als überwiegend pol¬
nische Anstalten; jetzt freilich hat sich dieser Charakter sehr modificirt. In
Kulm 1837 ausdrücklich für die Districte polnischer Zunge gestiftet"), wurde
der (katholische) Religionsunterricht in beiden Sprachen ertheilt bis auf die
Verfügung von 1872. seitdem nur deutsch mit Ausnahme der VI. und V.
Wo bis Michaelis 1875 das^Polnische gestattet ist**). Dem Polnischen selbst
sind jetzt als facultativen Fache in jeder Classe 2 Stunden gewidmet, auch
eine polnische Schülerbibliothek ist vorhanden, dagegen war der Jahresbericht
1874 nur deutsch abgefaßt. Ganz ähnlich erscheinen die Verhältnisse in Konitz.
nur daß hier die sprachliche Trennung des Religionsunterrichts stets auf die
Sexta sich beschränkt hat. Wie überwiegend hier die Schüler polnischer Na¬
tionalität sein müssen, läßt sich u. a. daraus erkennen, daß in der Vorelasfe
11 Stunden wöchentlich aus deutschen Sprachunterricht verwandt werden.
Dagegen betreibt das wesentlich deutsche Gymnasium Deutsch-Crome wie Neu-
stadt das Polnische nur in 3 Abtheilungen mit je 2 Stunden; beide An¬
stalten fördern ihre Schüler bis zur Fertigung polnischer Aufsätze (in Neustadt
wurde ein solcher noch 1873 von den Abiturienten verlangt), aber in beiden
gilt jetzt das Polnische als facultativ. und erscheint der Jahresbericht aus¬
schließlich in deutscher Form. Doch besteht in Neustadt eine polnische Schü-
erbibliothek ***).
Noch mehr tritt in den oft preußischen Schulen der fremdsprachliche
Charakter zurück. Allerdings ist die Landschaft ganz überwiegend deutsch,
doch zieht sich im Süden ein breiter Gürtel polnischen Gebietes hin (Masuren)
und im Nordosten reichen die Litthauer bis über die Memel herein. Allein
bei der niedrigen Culturstufe des einen wie des andern Stammes ist hier
gewiß das Bedürfniß nach höherer Bildung so gering, daß der Cötus der
Gymnasien sich von dorther sicherlich sehr wenig rekrutirt, selbst in solchen
deutschen Städten, die von fremdem Sprachgebiet umschlossen sind. Als be¬
deutsames Moment kommt noch hinzu, daß die polnischen Masuren evange¬
lisch sind, also den protestantischen Deutschen weniger fremd gegenüberstehen,
als ihre katholischen Landsleute in Westpreußen oder Posen. Es ist deshalb
erklärlich, wenn von den 13 Gymnasien der Regierungsbezirke Königsberg
und Gumbinnen gegenwärtig nur ein einziges das Polnische in seinen Lehr¬
plan aufgenommen hat, nämlich das königliche katholische Gymnasium zu
Braunsberg und auch dies nicht mit Rücksicht auf die sprachlichen Bedürfnisse
der nächsten Umgebung — denn Ermland ist durchaus deutsch — sondern
wesentlich im Hinblick auf die Ausbildung katholischer Theologen für pol¬
nische Striche, denn für die Zöglinge des katholischen Priesterseminars, dessen
Fortexistenz übrigens jetzt zweifelhaft geworden, ist der in 2 Abtheilungen zu
2 Stunden ertheilte polnische Sprachunterricht obligatorisch. *) Zu Rastenburg,
dicht an der polnischen Sprachgrenze, ist nur bis etwa 1820 das Polnische
facultativ gelehrt worden, aber selbst die beiden Gymnasien, welche auf deut¬
scher Sprachinsel mitten in Masuren zu Hohenstein und Lyck bestehen, und
beide königlich und evangelisch sind, schließen das Polnische als besonderen
Unterrichtsgegenstand aus.**) Dagegen bildet das königliche evangelische
Gymnasium im altlitthauischen Tilsit eine merkwürdige Specialität. Hier
besteht seit 1807, wo dieser deutsch-litthauische Winkel die letzte Zuflucht des
preußischen Königspaares wurde, eine königliche Stiftung für Schüler li¬
thauischer Zunge***), und wird deshalb für diese, mit Rücksicht namentlich auf
künftige Theologen, in 4 Stunden Litthauisch gelehrt, bis zur Fertigkeit im
schriftlichen Gebrauch, sicherlich ein Beweis für die schonende Rücksicht, mit
welcher der preußische Staat nicht-deutscher Bevölkerung gegenüber zu ver¬
fahren pflegt.
Die nächste in Betracht kommende Landschaft ist Schlesien. Dies alt¬
polnische Gebiet, die schwerste Eroberung Preußens, kann aber nur noch in
ihrem südlichsten Theile, im Regierungsbezirk Oppeln, als zwiesprachig ^gelten.
Hier überwiegt allerdings bei weitem das polnische Element, obwohl auch
hier die Städte deutschen Charakter tragen, und findet seine stärkste Stütze
in seinem katholischen Bekenntniß oder vielmehr in seiner Priesterschaft. Zu
den Polen gesellt hier sich noch ein schwacher Bruchtheil tschechischer Bevölkerung
südlich von Ratibor. Im Regierungsbezirk Breslau sind nur einige an
Posen grenzende Striche polnisch, doch wohnen auch hier Tschechen um Codowa
in der Grafschaft Glatz. Dagegen hat der Regierungsbezirk Liegnitz, wenn
man von den erst 1815 damit verbundenen Theilen der Oberlausitz absieht,
rein deutschen Charakter.
Polnische Sprache kommt demnach vor allem für die oberschlesischen Schu¬
len in Frage. Von diesen räumen 7. Beuthen (se. k.*). Kattowitz (se. s.),
Kreuzburg (se. s.). Neustadt (se. k.). Patschkau (se. k.). Pleß (kath. sürstl.).
Gr. Strehlitz (k. s.) dem Polnischen keine Stelle in ihrem Lehrplane ein. Das
königliche katholische Gymnasium zu Neisse hat eine Zeit lang seit 1849 pol¬
nischen Unterricht gehabt**), doch geschieht desselben 1874 nicht mehr Erwäh¬
nung. Dagegen wird das Polnische noch gegenwärtig auf den beiden königl.
kathol. Schulen zu Gleiwitz und Oppeln sowie auf dem königl. simultanen
Gymnasium zu Ratibor gepflegt, in den beiden ersten seit 1849, im letzteren
seit 1866***), in allen natürlich als facultatives Fach mit geringer Stunden¬
zahl von Tertia an. so daß Gleiwitz in Tertia und Secunda je 2. in Piima
1 Stunde. Oppeln in allen Oberclassen je 1 Stunde, Ratibor in der untern
aus Tertia und Secunda combinirten Abtheilung 1. in der oberen 2 Stunden
diesem Fache widmet. Aufsätze erscheinen in keiner dieser Anstalten. Eine
Sonderstellung behauptet noch das königl. kath. Gymnasium Leobschütz. Es
lehrt das Polnische facultativ in 2 Abtheilungen zu 1 Stunde die Polen, in
1 Abtheilung zu 2 Stunden die Deutschen. Außerdem aber bietet es, als
das einzige norddeutsche Gymnasium, Unterricht im Tschechischen (2 Abtheilungen
zu 1 Se.). mit Rücksicht offenbar auf die schwache tschechische Bevölkerung des
Kreises und auf den Grenzverkehr mit Mähren.
Von den 13 Gymnasien des ganz überwiegend deutschen Regierungsbe¬
zirks Breslau berücksichtigen das Polnische nur die Breslauer Gymnasien, weil
die auch von Polen besucht werden und weil die Hauptstadt der ganzen Pro¬
vinz überhaupt der größte Stapelplatz für den Handel mit Polen ist. Am
königl. kathol. Matthiasgymnasium wird dies Fach in 2 Abtheilungen zu je
2 Stunden gelehrt, auch Fertigkeit im schriftlichen Ausdruck gefordert; die
Schüler der 3 städtischen Gymnasien zu Se. Maria Magdalena (evang.), zu
Se. Elisabeth (evang.) und zu Se. Johannes (hiante.) dagegen genossen zu¬
sammen in 2 Abtheilungen vereinigt 2 Stunden polnischen Unterricht, der
Michaelis 1873 nach einjähriger durch persönliche Gründe herbeigeführter Un¬
terbrechung wieder aufgenommen wurde. Kein Polnisch treibt das königliche
reformirte Friedrichsgymnasium.
Im Regierungsbezirke Liegnitz (ohne die Lausitz), der 9 Gymnasien be-
siht, hat nur das königl. kathol. Gymnasium in Groß-Glogau nahe der
Sprachgrenze von 1858 ab polnischen Unterricht facultativ gewährt'!), doch
wird derselbe 1874 nicht mehr erwähnt, muß also beseitigt worden sein.
Wir kommen zur Lausitz preußischen und sächsischen Antheils. Hier
wohnen etwa 140.000 Wenden nieder- und oberlausitzer Zunge, rings von
Deutschen umgeben und von deutschen Sprachinseln bereits vielfach, nament¬
lich in der Niederlausitz, durchsetzt, schon fast durchgängig ein zweisprachiges
Volk, da auch in der Volksschule das Deutsche die vorherrschende, wenn nicht
die. alleinige Unterrichtssprache ist und außerdem die allgemeine Wehrpflicht
mit dem wachsenden Verkehr verbunden die Erhaltung dieses nationalen Son¬
derlebens wenig begünstigt. Von den 4 Gymnasien der sächsischen und preu¬
ßischen Ober-Lausitz (Görlitz, Lauban, Zittau, Bautzen) berücksichtigt demnach
nur noch das zu Bautzen. mitten im wendischen Sprachgebiete, aber in einer
deutschen Stadt gelegen das Wendische, indem hier facultativ. wesentlich für
künftige Theologen, in 2 Abtheilungen je 1 Stunde diese Sprache gelehrt
wird. In der zum Regierungsbezirk Frankfurt, Provinz Brandenburg ge¬
hörigen Nieder-Lausttz. deren wendischer Dialekt von dem oberlausitzer we¬
sentlich sich unterscheidet, kommt unter 4 Gymnasien (Guben. Sorau. Cottbus.
Luckau) nur das evangelische Städtische Gymnasium zu Cottbus, dem Mittelpunkte
der ganzen Landschaft, das „mjesto", die „Stadt", schlechtweg bei den Wenden
heißt, für das Wendische in Betracht. Diese Anstalt, welche früher wohl „die
Universität der Wenden" sich nannte, bietet jetzt facultativen wendischen Un¬
terricht in 3 Abtheilungen zu 2 Stunden der wie der in Bautzen, wesentlich
von künftigen Theologen benützt wird *). Daß das Wendische nirgends als
Unterrichtssprache fungirt, versteht sich nach dem Gesagten von selbst.
Noch bleiben nun die Verhältnisse Schleswigs zu erörtern. Be¬
kanntlich läuft hier die Sprachgrenze nördlich von Flensburg, indem sie das
Sundewitt und die Insel Alsen mit zum dänischen Gebiete zieht. Darüber
südlich hinaus ist Flensburg wenigstens eine halbdänische Stadt, umgekehrt
tragen die größeren Städte nördlich dieser Linie, Apenrade, Hadersleben,
Christiansfeld durchaus deutschen Charakter. In dänischen Interesse hatte
hier seit 18S1 die Kopenhagener Regierung das deutsche Wesen zum Theil ganz
bei Seite gedrängt, nur die Domschule zu Schleswig als deutsche Anstalt be¬
stehen lassen, dagegen die Schule zu Hadersleben in eine ganz dänische, die
zu Flensburg in" eine gemischte verwandelt. Erst 1864 brachte die Umgestal¬
tung aller in deutsche Anstalten. Den Bedürfnissen der national gemischten
Landschaft entsprechend gewähren jedoch laut Verfügung des Provinzialschul-
eollegiums vom 20. Februar 1869. die nur schon vorhandene Zustände be¬
stätigte**), alle 4 Gymnasien des Herzogthums. die sämmtlich evangelisch sind
und königlicher Collatur unterstehen. Flensburg, Hadersleben. Schleswig
und Husum dänischen Unterricht und zwar Flensburg in der mit dem Gym¬
nasium verbundenen Realschule facultativ in 3 Abtheilungen zu 2 Stunden,
in der Gymnasialsecunda obligatorisch mit 3 Stunden, in O. Prima mit
1 Stunde, Hadersleben durch alle Classen mit je 2 Stunden obligatorisch,
Schleswig (Domschule) in der Gymnasialprima und -secunda mit je 2 Stunden
(oblig.), in der 2. und 3. Realclasse mit je 2 Stunden (facult.), Husum*)
in den beiden Oberclassen ebenfalls mit je 2 Stunden (oblig.). Von der
Verwendung des Dänischen als Unterrichtssprache oder von einem zwei
sprachigen Jahresbericht ist naturgemäß keine Rede.
Bei der Beurtheilung der deutschen Politik gegenüber der im deutschen
Reichsgebiete vorhandenen fremden Nationalitäten wird man die aus der vor¬
stehenden Skizze ersichtliche Behandlung der Sprachverhältnisse an den höheren
Schulen als einen gewichtigen Factor mit in Rechnung zu ziehen haben. So
wenig die deutsche Verwaltung darauf ausgeht, fremdes Volt'slhum gewalt¬
sam zu unterdrücken, so wenig verkennt sie die Culturmission, die das Deutsch-
thum heute wie seit Jahrhunderten im slawischen Osten zu erfüllen hat.
Wie sie deshalb den Sprachen der nichtdeutschen Nationalitäten, selbst denen
der kleinsten Bruchtheile, wie der Wenden und Litthauer, deren völlige Ger-
manisirung nur eine Frage der Zeit sein kann, in den vom Staate geleiteten
Anstalten eine hinlängliche Pflege angedeihen läßt, so sorgt sie durch die Ver-
Wendung des Deutschen als der hauptsächlichsten oder alleinigen Unterrichts¬
sprache, daß den unter deutscher Herrschaft stehenden fremden Volksgenossen
der Zugang zur deutschen Cultur eröffnet werde, d. i. für die überwiegende
Mehrzahl derselben zur Cultur überhaupt. Wird dadurch — was die Polen
immerhin beklagen mögen — die Entnationalistrung und Germanisirung dieser
slawischen Trümmer beschleunigt, so vollzieht sich nur ein weiteres Stadium
des Prozesses, dem viele Millionen Slawen schon — zu ihrem eignen Heile —
"legen sind. Der deutsche Staat aber hat sicherlich nicht den Beruf diesen
vor langen Jahrhunderten begonnenen Entwicklungsgang aufzuhalten, und
einen Stegeslauf deutscher Gesittung zu hemmen, der in allererster Linie auf
^ cultureller Ueberlegenheit unseres Volksthums beruht und nicht auf der
^acht
jüngst von den „Hess. Bl.", dem Organe der rennenden Geistlichen, veröffent¬
lichten Notizen aus dem Nachlasse des verstorbenen Consistorialraths Vilmar
aufgenommen. Dieselben betreffen die Verlegung des Sitzes der kurfürstlichen
Regierung, 12 — 17. Sept. 1850 von hier nach Wilhelmsbad und sind mehr¬
fach von allgemeinerem Interesse. Vilmar war der Freund Hassenvflug's und
dessen eifrigster Genosse im damaligen Umsturze der kurhessischen Verfassung.
Seine Angaben tragen durchaus das Gepräge der Wahrheit und geben ein
deutliches Bild des damals in den maßgebenden Kreisen Hessens herrschenden
Zustandes. Bekanntlich versetzte Hassenpflug im August 1850 die Stände in
die Lage, entweder gegen die Verfassung zu verstoßen oder einen Beschluß zu
fassen, welcher von der Regierung, unter Verdrehung der Begriffe, als Steuer¬
verweigerung ausgelegt werden würde. Im Vertrauen auf die volle Loyalität
ihrer Handlungsweise und auf die Durchsichtigkeit der verfassungswidrigen
Zumuthungen der Regierung faßten die Stände muthig letzteren Beschluß.
Nun berichtet Vilmar, wie gierig die Minister in ihren Bureaus dieser Ent¬
scheidung entgegen sahen. Es dauerte ihnen zu lange, sie begaben sich nach
Haus und ließen Vilmar zurück mit dem Austrage, die entscheidende Nachricht
entgegenzunehmen. Als dann der Landtagscommissar klagend mit der Mel¬
dung kam, jener Beschluß sei wirklich gesaßt, rief Vilmar aus: „Das ist recht
gut, für uns das Beste, was sie hätten thun können! nun ist's fertig!" In
der That folgte die Proclamirung des Kriegszustandes, von dem sich Hassenpflug,
wie Vilmar sagt, eine einschneidende Wirkung versprach. Wir haben also nun
das offene Geständniß eines der Hauptbetheiligten an dem schmählichen Attentate.
Wie bekannt, scheiterten aber vorerst alle Anschläge Hassenpflug's an der Ver¬
fassungstreue des Volks, der Civil - und Militärbeamten. Man hoffte nun
wie Vilmar sagt, auf das vom König Ernst August von Hannover ver¬
sprochene Einrücken hannöverscher Truppen. Aber bevor der zur Beschleu¬
nigung dieser Maßregel abgesandte Adjutant zurückgekehrt war, stieg die
Angst der Minister vor der ihnen drohenden Anklage Seitens des ständigen
Ausschusses der aufgelösten Stände und ihrer Verhaftung. Es traten
daher, wie Vilmar berichtet, die Minister am 12. Sept. Abends zu einer
Berathung darüber zusammen, wie sie wohl den Kurfürsten zur Verlegung
des Regierungssitzes bestimmen könnten. Niemand sollte von dieser Berath¬
ung wissen, auch nicht der Kurfürst. Es mußten eben geschickte Lügen aus¬
gedacht werden. Vilmar berichtet nun, daß er den Thürhüter gespielt habe;
er nahm den Schlüssel zur einen, ein Pedell den zur anderen Thür des Vor-
gauges; letzterem wurde bedeutet, Niemanden, wer es auch sei, einzulassen.
Gleichwohl vernahm man plötzlich Schritte im Vorgange. Wüthend stürzt
Vilmar hinaus und steht vor dem Kurfürsten. „Ich wollte blos einmal
sehen, was die Herren machen" sagte dieser. Nun galt es erst recht, den
sauberen Plan durchzuführen. Der Kurfürst ließ sich denselben vortragen.
Wodurch man ihn zu dessen Annahme bestimmte, sagt Vilmar nicht; viel¬
leicht hatte Hassenpflug es ihm verborgen. Man weiß aber jetzt durch das
Zeugniß des Ministers Braun in Hannover, über die Unterredung des Kur¬
fürsten mit Ernst August, daß Hassenvflug eine Revolte des Militärs erlogen
hatte. „Wir reisen noch diese Nacht", sagte der Kurfürst zu Vilmar, als er
das Berathungszimmer verließ. Nun ging, Hals über Kopf, andern Mor¬
gens 4 Uhr eine abenteuerliche Fahrt los. Hassenvflug reiste durch Westfalen,
um über Köln Frankfurt zu erreichen. Der Kurfürst sollte über Münden,
Hannover und Köln dasselbe Ziel erreichen, ebenso mit Extrapost die Mini¬
ster des Aeußern und des Kriegs, v. Baumbach und v. Haynau nebst Vilmar.
Man fürchtete, wie Vilmar berichtet, die vorzeitige Entdeckung der Maßregel,
dieser allerlei auf Täuschung berechneten Vorkehrungen. „Ganz wohl war
mir bei der Sache nicht, weil ich an der prompter Ausführung zweifelte",
erzählt Vilmar. Baumbach traute dem Erfolge noch weniger als ich";
er setzte sogar bedenkliche Zweifel in den Kurfürsten. Und allerdings, hätte
dieser noch in Kassel das Lügengewebe durchschaut, er wäre gewiß nicht mit¬
gegangen. In Münden schon bemerkte Baumbach, wie Vilmar erzählt, als
die Ankunft des Wagens des Kurfürsten sich verzögerte, und die drei Flüchtlinge
bei offenen Fenstern im Wirthshauszimmer, das eben gekehrt wurde, standen,
„der Kurfürst werde wohl Alles aufgegeben haben; wer wisse, ob er jetzt
nicht schon Wippermann habe kommen lassen und ein neues Ministerium viel¬
leicht schon fertig sei". Letzterer , die Seele des durch Hassenpflug ersetzten März.
Ministeriums, war nämlich der Hauptförderer obigen Beschlusses der Stände
gewesen. Der Kurfürst erreichte jene drei noch in Münden, aber je weiter man
fuhr, desto mehr entfiel den Fliehenden der Muth. Schon in Dransfeld
sagte der Kurfürst zu Vilmar: „Ich habe Sie einmal allein sprechen wollen;
was sagen Sie zu der Sache?" Nun berichtet Vilmar. wie er dem Kur¬
fürsten Muth zu machen gesucht und diese Reise als das einzig Nichtige dar¬
gestellt Hat Vilmar obige Lüge gewußt, so hat er sie hier aufgefrischt,
denn er berichtet, daß er dem Kurfürsten vorgestellt habe, wie längeres Blei¬
ben in Kassel „zu den bedenklichsten Folgen" nicht nur für die Regierung,
sondern auch für den Kurfürsten selbst geführt haben würde. Das einzige
Bedenken, welches der Letztere nur noch vorzubringen wagte, war. wie Vilmar
erzählt, die Aeußerung: „Ja, wenn man mich nur nicht für feig hält und es für
eme Flucht ausgiebt!" Vilmar entgegnete, wenn nur von Bockenheim aus
energisch regiert werde, so würde dieses Bedenken schon fallen. Damit war
der Kurfürst einverstanden. Bei Einbeck begegnete den Flüchtigen der von
Hannover zurückkehrende Adjutant. Dieser bemerkte, die Hannoveraner wür¬
den schon eingerückt sein, allein jetzt, nach der Entfernung der Regierung
„könne die ganze Sache ein anderes Gesicht bekommen". Und Vilmar fügt
hinzu: „Der Erfolg zeigte, daß er mit der letzten Bemerkung Recht gehabt
hatte." AIs in Amensen umgespannt wurde, begab sich Vilmar mal auf die
Miststätte. Dort erschien auch der Kurfürst und begann, wie Vilmar be¬
richtet, mit ihm „dasselbe Gespräch von der Feigheit und Flucht". Vilmar
suchte nun auf dieser würdigen Stätte dem flüchtigen und belogenen Fürsten
noch eindringlicher als zuvor Muth einzusprechen, Fort gings nach Hanno¬
ver, wo der Kurfürst andern Tags schon um 7 Uhr früh die Unterredung
mit dem Könige hatte. Wirklich zog dieser nach dem, was inzwischen ge¬
schehen , seine Zusage wegen des Einschreitens in Hessen zurück. Vilmar be¬
richtet, nach des Kurfürsten Erzählung habe der König eingesehen, daß keine
Steuerverweigerung der steuerzahlenden vorliege und erklärt, zur Ausführ¬
ung einer politischen Maßregel gebe er das Militär nicht her. Nun hielten
die Flüchtlinge Alles verloren. Die Hoffnung auf Hannover war bisher der
Leitstern gewesen; der Gedanke einer Anlehnung an den kaum erst von Oester¬
reich für reactivirt erklärten Bundestag war zwar von Hafsenpflug gehegt,
hierauf aber den ganzen Plan zu verstellen, war keinem der übrigen Minister
bis jetzt eingefallen. Baumbach gab Alles „rein, rein" verloren, Haynau
erklärte, er wisse nun kein Mittel, als alles preis zu geben und sofort mit
dem für Minden bestellten Extrazug nach Berlin zu gehen. Der Kurfürst
wußte auch nicht bessers, hatte jedoch zu letzterem keine besonderliche Lust.
In diesem entscheidenden Augenblicke rühmt Vilmar sich seines Eingreifens.
Er habe sich zu einem der inbrünstigsten Gebete, die er jemals im Leben ge¬
betet, auf den Fußboden geworfen, sei völlig klar und fest wieder ausge¬
standen und habe jede Abweichung von der mit dem vorangeeilten Ha'ssen-
pflug verabredeten Reise nach Frankfurt als Verrath «n Amt und Land be¬
zeichnet.
Das habe Eindruck auf Haynau gemacht und so sei die abenteuerliche Reise
fortgesetzt worden, Vilmar giebt nun viele Details über die zahlreichen und
sehr kräftigen Zeichen der Entrüstung, denen der Kurfürst und seine Begleiter von
Minden an Seitens großer an den Bahnhöfen versammelter Menschenmassen
ausgesetzt waren. Der Telegraph hatte die Nachricht von der Flucht längst ver¬
breitet und überall rief man dem Kurfürsten zu, er sei durchgegangen. Welchen
Eindruck dies nach dem Obigen auf den Kurfürsten machen mußte, kann man
sich denken, aber das Fatum zog ihn immer weiter fort, und seine ganze
Stimmung kam zum Ausdruck, als er, auf dem Bahnhofe zu Dortmund aus-
steigend, Vilmar ins Coupefenster zurief: „es ist doch aber recht ekelig!"
Auf Station Langenberg bei Düsseldorf verließen die Flüchtigen auf dringende
Bitte des Polizeidirectors letzterer Stadt den Zug, um Insulten bereits ver¬
sammelter großer Massen in Köln zu entgehen. Nachts auf freiem Felde
wurde Berathung gehalten und dann mit Extrapost auf den Namen „Ge¬
brüder Müller" rheinaufwärts weiter nach Frankfurt gereist, wo dann Hassen-
pflug und der auf diese Art erst zu eigentlichem Leben wieder kommende
Bundestag für das Weitere in bekannter Weise sorgten! — Die hiermit
endenden Notizen Vilmar's zeigen in einer bisher noch unbekannten Weise,
wie unglaublich unsicher die kurfürstliche Regierung bei ihrem frevelhaften
Beginnen zu Werke ging, wie Hassenpflug und Genossen in echt abenteuer¬
licher und leichtfertiger Weise den Kurfürsten ins Verderben zogen und wie
die ganze für die damalige Entwicklung der deutschen Frage wichtige Frage
öfters nur an einem Haare gehangen hat.
Mit dem Zeitpunkte der Tag- und Nachtgleiche ist auch bei uns kalen¬
dermäßig der Herbst eingezogen. Er macht allerdings einstweilen noch ein
etwas saures und trübes Gesicht, das gar nicht passen will zu dem hellen,
heitern Sonnenschein der letzten Tage und Wochen. Die Weinberge sind
ringsum geschlossen, die Trauben gehen ihrer Reife entgegen. Man sagt
zwar, diese Reise trete bei den einzelnen Weinstöcken an einigen Beeren etwas
unregelmäßig hervor und deshalb dürfe man auf die Qualität des Heu¬
tigen nicht zu hohe Hoffnungen setzen. Um so ergiebiger wird sich aber dieses
Icchr in der Quantität der Trauben zeigen und das ist — leider Gottes
freilich! — für den Elsässer immer noch die Hauptsache. Ob darum auch der
Wein so bjllig wird, wie in alten Tagen, das bleibt freilich bei den theuren
reichsländischen Zeiten sehr die Frage. So billig wie im Jahre des Heils
1739 wird er wohl nicht mehr werden. Damals schrieb Dominikus Schmutz,
Bürger von Colmar, in sein noch im städtischen Archive aufbewahrtes „Hand¬
buch"-. „Ist im ganzen Elsaß ein so großer Herbst gewesen, daß bei Mannes¬
gedenken kein so reicher gewesen ist; man hat ihn schier nicht aufheben können;
der Ohmen besten Wein galt 2 Franken !" Soviel kostet jetzt der Liter mittel¬
mäßigen Weines.
Der internationale Weinbaucongreß in Colmar, ein theilweiser
Rivale des Kölner Gartenbaufestes, scheint wirklich ein großartiges und ele¬
gantes Fest werden zu wollen. Festtheilnehmer aus aller Herren Länder, be¬
rühmte önologische Capazitäten aus Deutschland, Frankreich, Italien und sogar
Spanien. haben ihre Zusage gegeben und eilen schon von allen Seiten herbei
zu der oberelsässischen Hauptstadt. Die Stadt Colmar macht rühmenswerthe
Anstrengungen, um das Fest ihrer würdig werden zu lassen. Der Park des
„Marsfeldes", ein prächtiges Unicum im Elsaß, das der Stadt sehr zur
Zierde gereicht, ist fast wie im Handumdrehen in einen Bazar für alle mög¬
lichen Geräthschaften des Acker- und Weinbaus, bedeckte Hallen für die ver¬
schiedenen Weinsorten, riesige Blumenbeete u. s. w. umgewandelt worden. Auf
die Sonntage verspricht man sich eine großartige Illumination desselben und
Gartenconzerte, Selbst in das schon so lange leer stehende Theater sollen wieder
einmal die lustigen Kinder Polyhymniens und Euterpens auf kurze Zeit
ihren Einzug halten, wenn auch die hierüber mit der kaiserl. Direction des
Straßburger Stadttheaters geführten Verhandlungen einige Schwierigkeiten zu
machen scheinen.
Die verschiedenen Bezirkstage des Ober- und Unter-Elsaß, sowie
Lothringens sind indessen von den betreffenden Bezirks-Präsidenten eröffnet
und nach kurzer Session wieder geschlossen worden. Allenthalben merkt
man den günstigen Eindruck, den der glückliche Verlauf der Verhandlungen
im ..Landesausschuß" sowohl im Lande als auf dessen Mitglieder, die größten-
theils auch Mitglieder der Bezirkstage sind, hinterlassen hat. Bei Eröffnung
des lothringischen und unterelsässischen Bezirkstages ist diesem Gefühle sogar
öffentlicher, lebhafter und dankbarer Ausdruck gegeben worden. Diese all-
mälige Anbahnung eines freundschaftlichen und cordialen Verhältnisses zwi¬
schen den Delegirten und der Verwaltung des Landes muß Jedem wohlthun,
der es mit dem Reichslande und dessen Interessen gut meint und zu demselben
in nähere oder entferntere Beziehungen getreten ist. Man sollte deshalb auch
in der außerreichsländischen Presse diesem Verhältnisse billig Rechnung tragen
und endlich einmal aufhören, zu schüren und zu Hetzen. Auf diese Weise wird
man nimmer gute Früchte erzielen.
Wenn nun jüngsthin ein „Wandervogel von der preußischen Grenze",
der hin und wieder die Reichslande mit seinem Besuche beehrt, größere Stramm¬
heit des Regiments und sogar einen frohen, frischen „Kulturkampf" gegen die
katholischen Geistlichen im Elsaß oder Krieg mit den Franzosen empfiehlt, um
dadurch den jungen Elsässern deutschen Patriotismus einzuimpfen, dann weiß
man wirklich nicht, was man in gegenwärtiger Zeit zu einem solchen Hexen¬
rezept sagen soll. Wer hier im Lande lebt und hier sein Heim freiwillig oder
gezwungen gefunden hat, der weiß zur Genüge, wie nöthig sowohl dem Be-
amten. als dem Eingebornen das gegenseitige wohlwollende Verständniß und
ein billigdenkendes „Einander-Fügen", wie nöthig dem lange genug aufge¬
regten Lande überhaupt die Ruhe auf allen Gebieten ist. Wer aber bloß
ab und zu einmal „die Nase hineinsteckt" - sit venia vordo! - und von
einzelnen persönlich unangenehmen Erfahrungen, die übrigens jeder Fremde
im fremden Lande machen kann, nun einen Schluß auf das Ganze ziehen,
gute Rathschläge ertheilen und Maßregeln empfehlen will, die seiner subiec-
twen Empfindung als die angemessensten erscheinen möchten, - dessen UrtyeU
kann gewiß kein competentes genannt werden.
Dazu gehört denn n. A. auch die Empfehlung. das strammere und
straffere norddeutsche Element im Elsaß zu verstärken. Warum acht gar?
Etwa, weil das süddeutsche Element sich besser mit den Anschauungen des
Landes zu vertragen und dessen Sitten sich anzuschmiegen vermag? Was
man damit für Früchte erzielt, davon wissen wir. die längere Zeit hier an¬
sässig sind, manches rührende Geschichtchen zu erzählen. Wir meinen umge¬
kehrt, es sei jetzt an der Zeit, den Reichsländer das neue Regiment, welches
ohnehin sehr viel straffer ist. als das frühere französische. liebgewinnen zu
lassen. Nur der Tyrann kann empfehlen, zuerst mit Geißeln und dann mit
Scorpionen zu züchtigen. Deutsche Milde und Gemüthlichkeit ist deshalb im
jetzigen Zeitpunkte eher zu empfehlen, als Strenge und Barschheit. Uebri-
gens wird unsere weise Landesverwaltung darin schon die richtigen Mittel
und Wege zu finden wissen. Und gerade in Kleinigkeiten sollte man fich nicht
gar so kleinlich zeigen und hier und da etwas durch die Finger sehen, wo es
dem Ganzen nicht schaden kann. So existirt z. B. ein älteres französisches
Gesetz, welches verbietet auf dem platten Lande, in Dörfern und Weilern, die
Strohdächer zu renoviren. Statt dessen sollen Schiefer oder Dachpfannen
angewandt werden. Jedermann leuchtet der Nutzen eines solchen auch sonst
w Deutschland in den meisten Bezirken geltenden Gesetzes ein. Wenn man
nun aber den Wortlaut dieses Gesetzes auch auf das biedere Völkchen der
Hochvogesen. das meist 800 — 900 Meter über dem Meeresspiegel in einzeln
zerstreut liegenden Ferner haust, die lebhaft an die Schweizer Sennhütten
erinnern, in seiner ganzen Strenge anwenden will, so hat das absolut keinen
Sinn und keinen denkbaren Nutzen. Umgekehrt ist dabei zu berücksichtigen,
daß die meisten dieser Ferner und Melkerhütten, die oft Viertelstunden weit
auseinander liegen. durch ihre eigenthümliche Bauart gar nicht einmal im
Stande sind, ein schweres Schieferdach zu tragen und daß sie namentlich im
Winter gar zu ungastlich und unwohnlich sein würden. wenn ihnen das
wärmende Strohdach fehlte. — der Romantik gar nicht zu gedenken. Man
möchte fast solch heißspornigen Herren empfehlen, sich einmal einen kalten
Winter lang hoch oben in eine solche Fern mit Schieferdach zwischen hohen
Schnee- und Eismassen einzumischen. Unzweifelhaft würden sie dann schon
finden, weßhalb der welsche Bauer der Hochvogesen seine Strohdächer nicht
missen mag. Solcher Punkte — Bagatellen mit Rücksicht auf das Ganze —
giebt es noch sehr viele, wo in der That eine allzu rigorose Strenge und
S
Die vor Kurzem erfolgte Eröffnung des Görlitz-Reichenberger Schienen¬
wegs wird zweifelsohne einen Theil des allsommerlich von Berlin und Nord¬
deutschland den Sudeten zustrebenden Touristenzugs in andre Bahnen lenken
oder ihn doch das Ziel von andrer Richtung her gewinnen lassen, durch Land¬
schaften, die den am Nordfuße von Riesen- und Jsergebirge sich ausbreitenden
an natürlicher Schönheit und wechselvollen Reizen nicht nur nicht nachstehen,
sondern in vieler Beziehung den Rang ablaufen und außerdem durch ihr
reiches und eigenartiges gewerbliches Leben ein besonderes Interesse gewähren.
Es sind dies Gegenden von überraschender Anmuth und malerischer Ro¬
mantik, die um ihrer selbst willen, nicht blos als Durchgangsstationen auf¬
gesucht zu werden verdienen und mit der Zeit gewiß eine ansehnliche Sommer¬
bevölkerung erhalten. Denn jede ihrer Dorf- und Ortschaften in den Thälern
wie an den Berghalden und auf den waldgesäumten Höhen eignet sich in
vorzüglichem Maße zur Errichtung von Sommersrischgelegenheiten; nirgends
läßt die Luft zu wünschen übrig, allenthalben badet man sich im ozonge¬
tränkten Hauche von Fichten und Tannen und im Frühjahr zugleich im
wonnesamen Dufte der Lindenblüthe, der von rechts und links auf uns ein¬
strömt in einer Intensität, wie ihn vorher geathmet zu haben ich mich nicht
zu entsinnen weiß; überall schlängeln sich durch Busch und Wiese bequeme und
liebliche Pfade und weit und breit giebt es Häuser und Häuschen, wo man
sich ausruhen und erquicken kann, wenn man müd' und hungrig und durstig
ist vom Wandern und Fußgehen.
Diese Raststätten und Herbergen — Einkehrhäuser, Schanknahrungen,
Bier- und Rosogliowirthschaften, wie sie sich verschiedenartig tituliren —sind
schier zahllos wie die Sandkörnchen am Meere, oft hart nebeneinander, häufig
sich unmittelbar gegenüber, nicht selten gar in Gruppen zusammenstehend,
sicher aber darf man darauf rechnen, daß man alle hundert Schritt auf ein
dergleichen gastliches Etablissement stößt - ein Beweis von Bevölkerungs¬
dichtigkeit und Verkehr der Gegend. Wandelt man doch von Reichenberg ins
Land hinein viele Stunden lang zwischen fast ununterbrochenen Gebäude¬
zeilen, während rundum über alle Vorhügel bis zu den Bergkuppen hinan
Colonien von kleinen Wohnstätten ausgestreut sind, vorwiegend Holzhäuser
oder doch zum Theil aus Brettern und Bohlen erbaut.
Sauber finden wir es in den meisten dieser Anwesen. Reinlichkeit ist ja
ein Charakterzug der nordböhmischen Gebirgsbevölkerung, in vielen Wohn-
und Wirthshäusern streifen Sauberkeit und Nettigkeit der innern Anordnung.
Reinheit an Geräth und Geschirr selbst an die berühmten holländischen Leist¬
ungen dieser Art. Die holzgetäfelten Stuben sind in der Regel hell gestr-
niht und immer blank gescheuert, die finsteren Tische von tadelloser Weihe
und die klaren kleinen, häufig miniaturmäßig winzigen Fenster gewöhnlich
mit lichten Gardinen umhängen; von sonstigem Comfort dagegen kennt man
wenig genug, auch darf das landübliche Getränk, ein leichtes, hellgelbes Bier,
nicht groß gerühmt werden. Nur in den Dörfern, die eine Reihe unzähliger
Fabrikanlagen und demzufolge eine beträchtlichere Anzahl von „Honeratioren",
Glashütten- und Glasschleisen-, Spinnerei- und Webereibesitzer sammt ihren
mannigfaltigen Angestellten, umschließen, wo die Berg und Thal massenhaft
abgrasenden „Reiseonkels" Quartier zu nehmen pflegen, die Stellwagen Sta¬
tion machen und allabendlich jene feinere Männerwelt sich am Stammtische
versammelt — nur da trifft man wol Gasthöfe von etwas vornehmeren
Schlage, die den Ruf der böhmischen Küche bethätigen und uns köstliches
Pilsener — „bürgerlichen" Ursprungs — und Reichenberg - Maffersdorfer
Gebräu vorsetzen, das mit dem erstgenannten erfolgreich wetteifert, auch
mit österreichischen. böhmischen und ungarischen Weinen in schönster Aus¬
wahl aufwarten können. Mit den wohnlichen Bequemlichkeiten ist es vor
der Hand freilich selbst in diesen besseren Häusern nicht sonderlich bestellt,
zumal wenn, was gelegentlich der Fall, eine tschechische Wirthin das Regi¬
ment führt oder dasselbe doch dem fast durchgängig dem edlen Tschechien
entstammenden Dienstpersonale überläßt. Denn die stolzen Söhne und Töchter
des heiligen Wenzelreiches haben bekanntlich Besseres und Höheres zu thun.
°is sich gemeiner Ordnung und Reinlichkeit zu befleißigen, und wer die eigen¬
thümlich lotterigen und schlampigen Gestalten gesehen hat. die in dergleichen
böhmischen Herbergen umherspuken, der wird keine übermäßige Zimmer¬
behaglichkeit erwarten, vielmehr sich darauf gefaßt machen, manchen kategori¬
schen Imperativ aufbieten zu müssen, bevor er sich in seinen zeitweiligen
Räumlichkeiten etwas minder slavisch installirt sieht. Im nordböhmischen Ge¬
birge sind dergleichen tschechische Anklänge indeß immer nur Ausnahmen von
der Regel.
Doch greifen wir nicht vor. Die obigen Bemerkungen sollten blos an¬
deuten , daß in dem reizenden Berglande, von dem die nachfolgenden Blätter
einiges Nähere berichten werden, auf Sommergäste im Allgemeinen einstweilen
nicht gerechnet ist. Allein keine lange Zeit dürfte wohl dahin gehen, bis der
mit der neuen Bahn unfehlbar eindringende Touristenstrom, wie nördlich (in
Schlesien, so auch südlich in Böhmen an allen dazu passend gelegenen Orten
Villeggiaturveranstaltungen ins Leben ruft. Für diese künftigen Sommer¬
frischler an den südlichen und südwestlichen Abhängen am Riesen - und Jser-
gebirge sind meine Schilderungen mehrerer besonders schöner und anmuthender
Punkte der gedachten Landschaft zunächst bestimmt.
Wer gewohntermaßen von der schlesischen Seite kommt, a^s dem berühm¬
ten Hirschberger Thale , das von Alters her ein Hauptcentrum des Touristen¬
verkehrs und Sommerlebens in den Sudeten bildet, der überschreitet bei Neu¬
welt, einem gräflich Harrach'schen Glasindustriedorfe, die österreichische
Grenze. In der That gemahnt es uns da wie eine neue Welt. Nicht als
ob sich die Landschaft jählings verändert hätte, Naturscenerie und Staffage
bleiben im Gegentheil hüben und drüben vorerst ganz die nämlichen: rings
dunkle Nadelholzwände, auf dem Wiesengehänge des Grundes, so weit der
Blick reicht, die netten kleinen Gebirgshäuser ausgesäet, als wären sie einer
Nürnberger Spielzeugschachtel entnommen, zur Seite der über wildes Gestein
rauschende Bach, der die Glasschleifen in Gang setzt — das Alles steht unge¬
fähr ebenso aus wie jenseit des schwarzgelben Grenzpfahls das Bild von
Schreibersau, dem wie Neuwelt das Glas den Lebensathem einhaucht, nur
daß dort die erhabeneren Gipfel des Koppenzugs zum Vorschein kommen,
die hier hinter den näheren Höhen zurücktreten.
Im Uebrigen jedoch ist wirklich Alles, oder doch sehr Vieles, anders als
am Nordrande des Gebirges: die Menschen und ihre Denk- und Bildungs¬
weise, die Mundart, die Namendezeichnung einer Menge von Dingen und Ver¬
richtungen, Speise und Trank u. s. w., als trennte nicht eine imaginäre Linie,
sondern ein weites Zwischenland die beiden Gebirgsflanken.
Mit diesem SSefte beginnt diese Zeitschrift das IV. Quartal ihres
34. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Post-
anstalte'n des In- und Muslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 7 Mark 50 Pfennige.
Privatpersonen, geselttge Bereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Eonditoreien werden um gefällige'Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, im October 1876. Die Berlagshandlung.
Die folgenden Betrachtungen sind ein ausführlicher Auszug aus einem
Artikel Emil de Laveleye's, der unter dem Titel „I.e xroteLt-intismo (>t, in
cMwIieism« äans Ivurs rü-pports g-pee In. libe-ren et 1.i prospörito nes
pvnplvs» im ersten Heft des laufenden Jahrgangs der ,Mone ä« LÄLicinv'°
erschien. Wir schließen uns den Gedanken desselben im Wesentlichen an und
ergänzen die Beweisgründe für die in ihm ausgestellten Behauptungen hin
und wieder durch Zusätze aus eigener Beobachtung. Gelegentlich, doch selten,
werden wir auch in den Fall kommen, hervorheben zu müssen, daß die Regeln,
die uns der Verfasser zeigt, einige Ausnahmen haben.
Der Verfasser unseres Artikels beginnt damit, daß er sich gegen die Mei¬
nung erklärt, die Ursachen des nicht zu leugnenden Rückganges der Völker
lateinischer Race seien dem Blute, den Eigenschaften und Anlagen, kurz der
Natur dieser Völkerfamilie zuzuschreiben. Er sagt: Gewiß hängt das Geschick
der Nationen theilweise von ihrer körperlichen Beschaffenheit ab. Geht man
gar auf die Urzeit zurück, so erklären sich die verschiedenen Schicksale derselben
nur aus ihrer Race und ihrer Umgebung, mit andern Worten aus der Anlage und
dem Wesen des betreffenden Menschenkreises auf der einen und aus dem Ein¬
flüsse der Natur, die ihn in seinem Wohnsitze umgiebt, des Klimas, der Land¬
schaft, der größeren oder geringeren Fruchtbarkeit des Bodens und dergl. auf
der andern Seite. Bergvölker werden anderen Gepräges als Steppenvölker
sein, die Bewohner warmer Länder werden ein anderes Wesen zeigen, als die
der gemäßigten oder kalten Zone, die Inseln und Küstengegenden werden ein
anderes Geschlecht herausbilden als die Regionen tief im Binnenlande. An¬
drerseits aber wird in den Urzeiten ganz entschieden auch die Race. die dann
noch rein ist, die Körperbeschaffenheit, der Familiengeist der einzelnen Völker,
für die Gestaltung der Geschicke derselben von bedeutendem Einflüsse sein.
Aber heutzutage, wo es sich um Nationen handelt, deren Blut so gemischt ist,
wie das der europäischen Völker, und die überdies; von einem und demselben
Urvolke stammen, ist es äußerst schwierig, mit einiger wissenschaftlichen
Sicherheit die socialen Zustände auf die Wirkung der Race zurückzuführen.
„Die Engländer verstehen sich besser auf das parlamentarische Regiment
und die praktischen Freiheiten als die Franzosen. Ist das der Einfluß des
Blutes? Ich glaube nicht; denn bis zum sechzehnten Jahrhundert hatte
Frankreich provinzielle Freiheiten, die den englischen Freiheiten sehr ähnlich
waren. —- Wenn man sieht, wie die Protestanten lateinischer Race germa¬
nische Bevölkerungen katholischen Bekenntnisses überflügeln, wenn man bemerkt,
wie in demselben Lande, demselben Volks- und Sprachkreise die Reformirten
raschere und regelmäßigere Fortschritte machen als die Katholischen, so fällt
es schwer, die Ueberlegenheit der einen über die andern einer anderen Ursache
zuzuschreiben, als dem Bekenntnisse. Die Schotten (des Nordens) und die Ir-
länder sind anerkanntermaßen keltischen Ursprungs. Beide sind von den Englän¬
dern unterworfen worden. Im frühen Mittelalter war das grüne Erin viel
civilisirter als Schottland, jenes war ein Herd der Gesittung, dieses noch eine
Wohnstätte von Barbaren. Seit die Schotten sich der Reformation ange¬
schlossen haben, haben sie sogar die Engländer überholt. Klima und Natur
des Bodens stellten sich dem entgegen, aber Macaulay zeigt, daß die Schotten
seit dem siebzehnten Jahrhundert die südlichen Nachbarn in allen Beziehungen
überflügeln. Irland Vagegen, dem Ultramontanismus ergeben, arm, verkommen,
vom Geiste der Rebellion bewegt, scheint unfähig, sich durch eigne Kraft aus
seinem Elend herauszuhelfen. Welch ein Unterschied in Irland selbst zwischen
dem ausschließlich katholischen Connaught und dem vorwiegend protestantischen
Ulster: hier ein durch Gewerbfleiß bereichertes Land, dort das Bild des tief¬
sten menschlichen Elends.
Gehen wir in die Schweiz und vergleichen wir die Lage der Kantone
Neuchatel, Waadt und Genf, die von französischen Protestanten bewohnt sind,
mit der von Wallis, Luzern und den Waldcantonen, wo der Katholicismus
herrscht. Die ersteren sind den letzteren in allen Stücken, in Bezug auf Bil¬
dung und Unterricht, auf Literatur, auf schöne Künste, auf Gewerbfleiß, auf
Handel, auf Reichthum, auf Gesittung ganz außerordentlich überlegen. Ver¬
setzen wir uns in den durchweg von Deutschen bewohnten Kanton Appenzell,
so finden wir zwischen dem katholischen Immer-Rhoden und dem protestanti¬
schen Außer-Rhoden denselben Contrast wie zwischen den Bewohnern von Uri
und denen von Neuchatel. Auf der einen Seite Unbildung, Hangen am Her¬
kommen, Trägheit und Armuth, auf der andern gute Schulen, rühriges
Streben, Gewerbefleiß, Verkehr mit der Außenwelt und infolge dessen
Wohlstand."
Dem könnte man freilich Böhmen entgegenhalten. Ganz Böhmen ist
katholisch, der Nordrand deutsch, der Süden fast durchweg tschechisch, jener in¬
dustriereich, gesittet und wohlhabend, dieser vielfach trag, halb wild in Betreff
von Bräuchen und Lebensgewohnheiten und trotz trefflichen Bodens Vergleichs-
weise arm. Indeß ist das eine Ausnahme, welche die vom Verfasser auf-
gestillte Regel nur beschränkt, nicht umstößt.,
In den Vereinigten Staaten ist nach Tocqueville die Mehrzahl der Katho¬
liken arm. In Canada sind alle großen Geschäfte, die Fabriken, der Handel,
die besten Kaufläden in den Städten in der Hand von Protestanten.
Audiganne in seinen Studien über die Arbeiterbevölkerungen Frankreichs
bemerkt die Überlegenheit der Protestanten in der Industrie, und sein Zeug¬
niß ist um so unverdächtiger, als er dieselbe nicht dem Protestantismus zu¬
schreibt. Die Mehrheit der Arbeiter von Nismes, sagt er, namentlich die
Taffetweber, sind Katholiken, während die Chefs der Fabriken und Handels¬
häuser in der Regel der reformirten Confession angehören. Wenn eine und
dieselbe Familie in zwei Zweige zerfällt, von denen der eine beim Glauben
seiner Väter verblieben ist, der andere sich den neuen Lehren angeschlossen hat,
so bemerkt man fast immer bei jenem einen abnehmenden, bei diesem einen
wachsenden Wohlstand. Zu Mazamet, dem Elboeuf des südlichen Frankreich,
sind alle Fabrikherren mit einer einzigen Ausnahme Protestanten, während die
große Mehrzahl der Arbeiter aus Katholiken besteht. Es ist eben weniger
Bildung unter diesen als unter den fleißigen Familien der Protestanten. Vor
dem Widerruf des Edicts von Nantes waren die Reformirten in allen Zwei¬
gen der Arbeit obenauf, und die Katholiken, die ihre Concurrenz nicht bestehen
konnten, ließen ihnen von 1662 an durch mehrere Erlasse den Betrieb ver¬
schiedener Gewerbe untersagen, in denen sie sich auszeichneten. Nach ihrer Aus¬
treibung aus Frankreich trugen diese Protestanten den Unternehmungsgeist
und das haushälterische Wesen, die sie beseelten nach Holland , nach Preußen
und nach England. Sie bereicherten den Boden, wo sie sich niederließen.
Sie trugen nicht unwesentlich zum Gedeihen der deutschen Städte bei, die
ihnen eine neue Heimath geboten. Sie führten in England verschiedene Ge-
werbszweige, z. B. die Seidenweberei ein. Diese französischen Schüler Cal¬
vin's halfen wesentlich bei der Civilisation Schottlands.
Wir könnten noch viele Beispiele hinzufügen, die für die Regel des Ver¬
fassers sprechen, wollen uns aber mit einigen wenigen begnügen. Das ka¬
tholische Polen ist trotz reicher Hülfsquellen verhältnißmäßig arm geblieben
und als Staat untergegangen, ohne Hoffnung, wieder aufzuleben. Das von
der Natur nur karg bedachte Brandenburg-Preußen mit seiner überwiegend
protestantischen Bevölkerung ist zu hohem Wohlstand gelangt, es hat ganz
Deutschland unter seiner Fahne gesammelt, es hat zwei katholische Kaiserreiche
niedergeworfen, die beide doppelt so bevölkert waren als der Hohenzollern-
staat, das erste fast nur mit eigner Kraft in sieben Wochen, das andere im
Verein mit den deutschen Bundesgenossen in sieben Monaten, es ist jetzt
thatsächlich der leitende Staat Europas. Berlin in seinem Sande und ohne
großen Fluß ist so groß wie Wien in seiner überreichen Umgebung und an
seiner mächtigen Donau.
Aber lassen wir de Laveleye weiter reden. „Vergleiche man den Stand
der öffentlichen Fonds der protestantischen und der katholischen Staaten an
der Börse, so ist der Unterschied ungemein groß. Die dreiprocentigen eng¬
lischen Papiere stehen über 92, die französischen schwanken um 60 Proc.; die
holländische, die preußische, die dänische Rente steht wenigstens alpari, die
österreichische, die italienische, die spanische erhebt sich wenig über die Hälfte.
In ganz Deutschland befindet sich der Handel mit Geistesproducten, Büchern,
Karten, Wochenschriften und Zeitungen fast ganz in den Händen der Pro--
testanten. Die Reformation hat den Ländern, die sich ihr anschlössen, eine
Kraft verliehen, die sich die Geschichte kaum zu erklären vermag. Man sehe
sich die Niederlande an: zwei Millionen Menschen auf einem Boden, der halb
Dünensand, halb Sumpf war. Sie widerstehen Spanien, der weltbeherrschen¬
den Macht, und kaum befreit-vom kastilischen Joche, bedecken sie alle Meere
mit ihrer Flagge, stellen sich an die Spitze der geistigen Welt, besitzen so viel
Schiffe als das ganze übrige europäische Festland zusammen, machen sich zur
Seele aller großen Bündnisse West- und Nordeuropas, treten den gegen sie
alliirten Kronen von Frankreich und England entgegen, bieten den Vereinig¬
ten Staaten den Typus des Bundesstaates dar, welcher der großen Republik
ein unbegrenztes Wachsthum gestattet, und geben der Welt in den Noten¬
banken und Actiengesellschaften das erste Beispiel finanzieller Combinationen,
die mächtig zur gegenwärtigen Entwickelung des Reichthums beitragen.
Schweden, eine Million Menschen auf einem granitnen Boden, der sechs
Monate im Jahre im Schnee begraben ist, mischt sich unter Gustav Adolf
in die Angelegenheiten des Festlands, schlägt Oesterreich und seine Verbün¬
deten und rettet die Reformation. England ist heutzutage die Königin der
Meere, die erste Nation in Industrie und Handel. Es beherrscht in Asien
zweihundert Millionen Menschen und wird diese Herrschaft, wenn überhaupt,
sicher nie an ein katholisches Volk verlieren. Die Vereinigten Staaten wachsen
mit schwindelerregender Raschheit (allerdings nicht allein infolge dessen, daß
Protestanten hier den Kern und die Mehrzahl der Bevölkerung bilden, sondern
auch infolge ihres Reichthums an Wald und fruchtbarem Boden, an Eisen-
und Kohlenlagern, an Gold- und Silberadern, an großen Strömen und
guten Häfen). Sie zählen 42 Millionen Einwohner, und gegen das Ende
des Jahrhunderts werden sie deren hundert Millionen zählen. In zwei
Jahrhunderten werden Amerika, Australien und Südafrika den ketzerischen
Angelsachsen und Asien den schismatischen Slaven gehören.
Die Rom unterworfenen Völker scheinen mit Unfruchtbarkeit geschlagen
zu sein. Sie colonisiren nicht mehr (der Versuch der Franzosen in Algerien
ist kläglich abgelaufen), sie haben durchaus keine Expansionskraft. Das Wort,
das Thiers auf ihre religiöse Hauptstadt angewendet hat, um deren Wesen
zu bezeichnen, viüuiws et swriliws, ließe sich auch in Bezug auf sie selbst
gebrauchen. Ihre Vergangenheit ist glänzend, ihre Gegenwart düster, ihre
Zukunft beunruhigend. Giebt es eine traurigere Lage als die des heutigen
Spanien? Ebenso sehr ist Frankreich zu beklagen, nicht wegen seiner Nieder¬
lagen auf dem Schlachtfelde, sondern weil es bestimmt zu sein scheint, un¬
aufhörlich die Anarchie und den Despotismus mit sich Fangeball spielen zu
sehen. Der Ultramontanismus aber ist die Ursache (sagen wir lieber, eine
der Hauptursachen) der Mißgeschicke Frankreichs. Er ist's, der durch seine
vergiftende Wirkung das Land geschwächt hat. Er ist's, der durch die clerical
gesinnte Kaiserin Eugenie auf die Expedition nach Mexiko hindrängte, die
dem Katholicismus in Amerika aufzuhelfen bestimmt war. Er ist's, der durch
dieselbe Mittelsperson — wir erinnern uns an ihre Aeußerung „evei We um
--^rrv« und daran, wie sie in der letzten Stunde zu Se. Cloud den un¬
schlüssiger , ja den Krieg fürchtenden Gemahl zu dem Wagniß zu bestimmen
wußte — Frankreich in den Kampf mit Preußen trieb, um damit dem Fort¬
schritt der protestantischen Staaten in Europa Hindernisse in den Weg zu
werfen."
Italien und Belgien scheinen glücklicher als Spanien und Frankreich.
Aber mit Recht fragt der Verfasser, ob die Freiheit in diesen Ländern Dauer
haben werde, und mit Recht stimmt er dem „Diritto" bei. wenn es auf diese
Frage antwortet: „die Völker, die sich zur päpstlichen Religion halten, sind
entweder schon todt oder im Begriff zu sterben. Wenn Italien weniger krank
erscheint, so ist es. weil der Clerus, indem er zuerst von einer österreichischen
und jetzt von einer französischen Einmischung die Wiedereinsetzung des Papstes
erwartet, die Freiheit und die Verfassung noch nicht angegriffen hat. Bei
den Wahlen hat sich die clericale Partei noch nicht betheiligt, aber das wird
sich ändern. Schon ist sie zu Neapel, zu Rom und zu Bologna in die Arena
herabgestiegen. Die Kirche bedeckt das Land mit Genossenschaften, die vom
Geiste der Jesuiten erfüllt sind, und die Congregationen bemächtigen sich des
aufwachsenden Geschlechts, um es im Hasse gegen Italien und seine Ein¬
richtungen zu erziehen." Es ist aber auch noch etwas Anderes, was das
Hervortreten der Geistlichkeit gegen den Staat noch hindert. Italien befindet
steh jetzt in einer Lage wie Belgien nach 1830. Der Hauch der Freiheit
durchweht die Nation, soweit sie ein politisches Interesse hat, selbst einen
großen Theil der Priester. Man sieht unter diesen Umständen über die tiefe
Kluft hinweg, welche die neue Welt von Rom trennt. Aber bald wird zu
Tage treten, daß die moderne Gesittung und die römischen Gedanken und
Ansprüche unvereinbar sind. Die Geistlichkeit und vor Allem die Jesuiten
sind bereits am Werke, das kaum aufgerichtete Gebäude der politischen Frei¬
heiten- zu untergraben, ganz wie das seit 1840 in Belgien der Fall ist.
„Wir haben geglaubt", so sagte einer der Urheber der belgischen Verfassung
kürzlich zu unserm Essayisten, „daß es, um die Freiheit zu gründen, genüge,
sie unter Trennung der Kirche vom Staate zu proclamiren. Ich fange an,
zu glauben, daß wir uns getäuscht haben. Die Kirche strebt, gestützt auf das
Landvolk, ihre unbeschränkte Herrschaft geltend zu machen. Die großen
Städte, den modernen Ideen gewonnen, werden sich gegen die Knechtung ver¬
theidigen. Wir treiben einem Bürgerkriege entgegen wie Frankreich." Das
heißt kaum, zu trüb sehen. Die letzten Wahlen für die belgischen Kammern
haben die clericale, die Gemeindewahlen haben die liberale -Partei in den
großen Städten gestärkt. Der Antagonismus zwischen Stadt und Land tritt
in ganz Belgien immer deutlicher hervor. So lange kluge Leute am Ruder
stehen, die mehr geneigt sind, dem Lande als den Bischöfen zu dienen, sind
ernste Störungen nicht zu fürchten. Sollten aber die Fanatiker, die den
Syllabus zu ihrem politischen Programm gemacht haben, zur Regierung ge¬
langen, so können furchtbare Zusammenstöße nicht ausbleiben.
Die katholischen Länder sind also die Beute innerer Kämpfe, die ihre
Kräfte aufzehren oder sie mindestens hindern, so regelmäßig und so rasch fort¬
zuschreiten wie die protestantischen Völker. Vor zweihundert Jahren gehörte die
Suprematie unbestritten den katholischen Staaten, die andern waren, etwa von
den Niederlanden abgesehen, Mächte zweiten Ranges. Heutzutage ist das
Uebergewicht, wenn wir in die eine Wagschale das Deutsche Reich, Rußland,
England und Nordamerika und in die andere Frankreich, Spanien, Italien,
Oesterreich und Südamerika werfen, offenbar auf die Häretiker und Schisma¬
tiker übergegangen. 1700 stellte Frankreich nach Levasseur 31, jetzt stellt es
nur 18 Procent der Kraft der sechs europäischen Großmächte dar.
Es steht also fest, daß der Protestantismus der Wohlfahrt der Völker
günstiger ist als der Katholicismus. Was ist aber die Ursache dieser
Erscheinung?
Alle Welt giebt heutzutage zu, daß die Verbreitung von Bildung die
erste Bedingung des Fortschritts ist. Die Arbeit ist um so viel ergiebiger,
als sie von Kenntniß und Umsicht begleitet ist. Die Anwendung der Wissen¬
schaft auf die Produktion ist's, was den civilisirten Menschen reich werden
läßt. Sodann aber ist für die Ausübung der verfassungsmäßigen Freiheiten
allgemein verbreitete Bildung ebenso unumgänglich nothwendig. Die Macht
geht in konstitutionellen Ländern mehr oder minder aus den Wahlen hervor,
und die Wähler müssen wenigstens eine gewisse Bildung haben, um nach ihrem
wahren Interesse wählen zu können. Andernfalls werden sie abhängig vom
Egoismus Anderer, und das Land bekommt eine schlechte Regierung und geht
dem Ruin entgegen. Der Unterricht ist somit die Grundlage der Freiheit und
des Gedeihens der Völker. Nun aber sind die protestantischen oder doch stark
vom Protestantismus beeinflußten Staaten bis auf den heutigen Tag die
einzigen, welche Allen den Unterricht gesichert haben. Wenn das von England
nicht gilt, so mag es daher rühren, daß die anglicanische Kirche sich nicht so weit
von Rom entfernt hat als die übrigen Formen des Protestantismus. Die andern
Protestantischen Staaten weisen nur wenige Erwachsene auf, die ohne Elemen¬
tarkenntnisse sind, in den katholischen bilden diese Ignoranten einen starken
Procentsatz, in Belgien und Frankreich z. B. wenigstens ein Drittel, in Spa¬
nien und Portugal sogar dreiviertel der Bevölkerung. Die Ursache dieses
Contrastes liegt auf der Hand. Der Protestantismus beruht in wesentlichen
Stücken auf einem Buche, auf der Bibel, der Protestant muß also lesen kön¬
nen. So war das erste und letzte Wort Luther's: Lehret die Kinder, das ist
die Schuldigkeit der Eltern und Obrigkeiten, das ist das Gebot Gottes. Der
katholische Cultus dagegen beruht auf den Sacramenten und gewissen Bräu¬
chen, der Beichte, der Messe, der Heiligenverehrung, zu denen man das Lesen
nicht nöthig hat. Dasselbe ist sogar schädlich und gefährlich; denn es er¬
schüttert nothwendig den passiven Gehorsam, auf den das ganze katholische
Gebäude gegründet ist; die Lectüre ist der Weg, der zur Ketzerei führt. Die
Folge ist, daß der katholische Priester, wo er nicht, wie in der alten guten Zeit
in Deutschland, von protestantischen Einwirkungen beeinflußt ist. dem Unter¬
richt im Grunde des Herzens feindselig sein oder sich doch nicht in dem
Maße wie der protestantische Pastor bemühen wird, für seine Verbreitung zu
sorgen.
Alle Welt ist ferner darin einverstanden, daß die Kraft der Nationen von
ihrer Sittlichkeit abhängt. Wo die Sitten der Verderbniß anheimfallen, ist
der Staat verloren. Nun aber scheint ausgemachte Thatsache zu sein, daß
das moralische Niveau bei den protestantischen Völkern erheblich höher steht,
als bei den katholischen. Man lese die literarischen Erzeugnisse Frankreichs,
"^n wohne in den Theatern den besonders beliebten Stücken bei: fast im¬
mer liegt ihnen Lüderlichkeit und Ehebruch zu Grunde, sodaß man diese Ro¬
mane und Komödien streng von dem Kreise der Familie fern zu halten ge-
"üthigt ist. In Deutschland und England ist es nicht so. Die Werke der
Dichtung, in denen hier nicht das Ausland nachgeahmt ist, haben einen Ton
und Stil, vor dem keusche Ohren nicht zurückzuschrecken brauchen.
In den katholischen Ländern haben die, welche die Allmacht der Kirche
ZU bekämpfen strebten, ihre Waffen nicht wie die alten Protestanten dem
Evangelium entnommen, sondern sie sich vom Geiste der Renaissance und des
Heidenthums geliehen. Man kann die Kirche auf zweierlei Art angreifen:
dadurch, daß man zeigt, daß sie sich vom Geiste Christi entfernt hat. und
daß man ein reineres und strengeres Christenthum, daß man gegenüber den
Zaubermitteln der Sacramente das Heil predigt, das aus dem reinen Ge¬
wissen quillt, andrerseits, aber dadurch, daß man dabei ihre Dogmen mit
Ironie behandelt und die Sinne gegen ihre Moralvorschriften ins Feld führt.
Luther, Calvin und Knox haben jenen, Rabelais und Voltaire diesen Weg
eingeschlagen. Es ist aber klar, daß die Einen das sittliche Gefühl stärken,
die Anderen dasselbe schwächen mußten. Daher kommt, daß fast alle französischen
Schriftsteller, die an der Befreiung der Geister von Rom arbeiteten, einen
mehr oder minder unsittlichen Zug an sich haben. Diejenigen aber, welche
die Moral achten, und die man daher der Jugend in die Hände geben kann,
Bossuet, Fenelon, Racine z. B. fast immer der Kirche ergeben und von ab¬
solutistischen Lehren durchdrungen sind. In England und Amerika verhält
sieh's hierin anders: die entschiedensten Freunde der Freiheit sind hier zugleich
die, welche es mit der Moral am strengsten nehmen. Während Bossuet die
Theorie des Absolutismus formulirte, schrieb Milton die der Republik nieder.
Man sehe davon die Folgen. Man vergleiche das Privatleben der Männer,
die 1K48 die englische Revolution herbeiführten, und derer, die später die nord¬
amerikanische Republik gründeten, mit dem derjenigen, welche 1789 in Frank¬
reich dieDauptrollen spielten. Jene sind durchgehends rechtschaffne Leute von
fleckenloser Sitte, diese dagegen, von einigen Fanatikern wie Se. Just und
Robespierre abgesehen, äußerst lockere und lüderliche Gesellen. Der bedeu¬
tendste unter ihnen, der geniale Mirabeau, dieser eigentlichste Vertreter der
französischen Revolution, verkauft sich dem Hofe, schreibt obscöne Bücher und
treibt seine Ausschweifungen bis zu den letzten Grenzen. Edgar Quinet
bemerkt in seinem Buche über die französische Revolution, daß die Männer
dieser Epoche, anfangs so voll Begeisterung, so bald in ihren Anstrengungen
ermüdeten und die Ruhe der Knechtschaft unter dem Kaiserreiche verlangten
oder sie sich doch gefallen ließen. Die Gueusen Hollands haben länger ge¬
kämpft und ohne sich entmuthigen zu lassen schwerere Prüfungen durchgemacht.
Ihre Städte wurden erstürmt, ganze Bevölkerungen niedergemetzelt, sie stritten
fort, eine Handvoll Menschen, gegen eine Weltmacht, sie fühlten weder Er¬
schlaffung noch Entmuthigung, und sie errangen endlich den Sieg — sie hatten
den Glauben.
Der Stolz, der Ehrgeiz, die Eitelkeit waren Hauptbeweggründe bei den
hervorragenden Geistern der französischen Revolution, sie brachten einander um
statt sich zur Gründung der Republik zu vereinigen. In Holland, in England,
in Amerika kannte man diese Motive nicht; demüthig, anspruchslos, verstän¬
digten sich die Männer, die ihr Vaterland von der Tyrannei befreit hatten,
zur Befestigung ihres Werkes. Zur Begründung eines Staatswesens lieferte
der bescheidene, selbstlose Sinn eines Washington einen besseren Mörtel als die
Philosophie eines Vergniaud oder Mirabeau. Wo das religiöse Gefühl, der
Wunsch, Gott im Himmel oder Gott im Gewissen zu gefallen, sich abschwächt,
bleibt als ein einziger Antrieb zum Guthandeln der Ehrenpunkt, der Wunsch,
den Menschen zu gefallen. So steht es in Frankreich. Hier ist, wie Taine
in seinen „Notes sur I'^ug-lLtori-L" hervorhebt, die Sittlichkeit rein auf die
Ehrliebe gegründet, in England dagegen auf das Pflichtgefühl. In der
»l^Areo iwuvello" schreibt Prevost: „In den Augen jedes klarblickender Be¬
obachters bietet unser Land jetzt das in der Welt beinahe einzige Schauspiel
einer Menschengemeinschaft dar, in welcher der Ehrenpunkt die Hauptbürg¬
schaft der Ordnung geworden ist und die meisten Pflichten erfüllen, die meisten
Opfer bringen läßt, welche Religion und Patriotismus aufzuerlegen nicht
mehr die Macht haben. Wenn unsere Gesetze geachtet werden, wenn der junge
Soldat geduldig seiner Fahne folgt und ihr treu bleibt, wenn der Einnehmer
nicht in die öffentliche Kasse greift, kurz, wenn der Franzose sich gebührend
seiner Schuldigkeit gegen den Staat und seine Mitbürger entledigt, so haben
wir dieß vor Allem dem Ehrenpunkte zuzuschreiben. Es ist nicht die Achtung
vor dem göttlichen Gesetze , das lange schon zum Problem herabgesunken ist.
Es ist nicht die philosophische Hingebung an eine unbestimmte Pflicht und
noch weniger an das abstracte, durch so viele Revolutionen auf den Kopf
gestellte und discreditirte Wesen, das sich Staat nennt; es ist einzig und
allein die Furcht, öffentlich über eine Handlung, die für unehrenhaft gilt, er¬
böthen zu müssen, wenn heutzutage unter uns noch in genügender Stärke der
Wunsch vorhanden ist, gut zu handeln. Ach, Nichts als den Ehrenpunkt zur
Stütze zu haben und zu fühlen, wie er unter unserer Hand schwankt gleich
dem zerbrechlichen Rohr, von dem die Schrift spricht!"
Man lese die Proclamationen an das Volk und die Armee: wenn man
sie fortreißen, ihre Begeisterung erwecken will, so wendet man sich an ihren
Ehrgeiz, an ihre Eitelkeit. So ruft Napoleon dem Heere in Aegypten zu:
»Von der Höhe der Pyramiden blicken vierzig Jahrhunderte auf euch herab."
So sagt er ihnen anderswo: „Soldaten, an euren Herd zurückgekehrt, könnt
'hr sagen: ich war mit bei Jena, bei Austerlitz." Von sich reden oder Andere
"on sich reden machen, ist hier der Zweck und Beweggrund der Pflichterfüllung.
Nelson dagegen sagte vor Trafalgar ganz einfach: „Das Land erwartet, daß
jedermann seine Pflicht thun wird." Ebenso stellten sich die Führer der
Preußen 1870 zu ihren Truppen: sie setzten in ihnen Soldaten voraus, von
denen jeder — wie Graf Bismarck uns zu Schloß Ferneres in einer merk¬
würdigen Tischrede erklärte, „seine Schuldigkeit that, auch wo ihn der Lieut-
nant nicht sah." I« den Ausrufen der Revolutionsmänner der Niederlande
und Nordamerikas wird der Vaterlandsliebe, der Pflicht des göttlichen Gebotes,
niemals aber des Lobes oder der Bewunderung der Betreffenden durch die
Mit-oder Nachwelt gedacht.
Die französischen Schriftsteller haben fast alle die Renaissance auf Kosten
der Reformation erhoben, weil jene von weiterem Blicke gewesen sei und der
Menschheit eine vollständigere Befreiung gebracht habe. Die Thatsachen
geben ihnen hierin nicht Recht. Die Länder, welche sich der Reformation
angeschlossen haben, überholen ganz offenbar die, welche sich an die Renaissance
hielten, weil die Reformation eine sittliche Kraft hat, die der Renaissance fehlt.
Nun aber ist die sittliche Kraft neben dem Wissen die zweite Grundquelle der
Wohlfahrt der Völker. Die Renaissance war eine Rückkehr in das Alterthum,
die Reformation eine Rückkehr zum Evangelium, und da da^ Evangelium
besser war als die Ueberlieferung aus dem Alterthume, so mußte es auch bessere
Früchte geben.
Die Reformation hat den Fortschritt der Völker, die sich ihr anschlössen,
dadurch begünstigt, daß sie ihnen freisinnige Einrichtungen zu treffen gestattete,
während der Katholicismus zum Despotismus oder zur Anarchie oder zu
einem fortwährenden Wechsel beider führt. Die natürliche Negierung der
protestantischen Völker ist die repräsentative, die congeniale Negierung der
katholischen Völker ist die despotische. So lange sie sich unterwerfen, bleiben
sie in Ruhe, sie haben das Regime das ihnen gebührt; so bald sie sich aber zu
befreien streben, verfallen sie der Unordnung und schwächen sich; sie befinden
sich dann in einem unnatürlichen Zustande. So behaupten „Univers" und
„Civilta CatMica", und die Thatsachen scheinen ihnen Recht zu geben.
Man hat sich oft gefragt, warum die Revolutionen in den Niederlanden
in England und in Nordamerika gelungen sind, während die in Frankreich
schließlich gescheitert ist. Unser Essayist zögert nicht, zu antworten: weil jene
in protestantischen Ländern stattfanden, diese aber in einem katholischen Lande,
und er hat damit wohl nicht Unrecht; denn Spanien hat ebenso wenig ver¬
mocht, sich aus dem steten Schwanken zwischen Despotie und Anarchie heraus
zu helfen. Schon Voltaire hat das anerkannt. Er fragt sich, wie es kommt,
daß die Regierungen von Frankreich und England sich so verschieden gestaltet
haben, wie die von Marokko und Venedig. „Ist es", sagt er, „nicht aus
dem Grunde, „weil die Engländer, stets über Rom klagend, das schändliche
Joch endlich abgeschüttelt haben, während ein leichtfinnigeres Volk es weiter
getragen hat, indem es that, als lache es darüber und tanze mit seinen
Ketten?" Voltaire sprach die Wahrheit, aber war er's denn nicht, der zu
diesem Lachen anreizte und zum Tanze aufspielte?
Heutzutage sehen wir deutlich, was scharfsinnige Leute im achtzehnten
Jahrhundert nur ahnten. Die Wirkung, welche die Religion auf die Men¬
schen ausübt, ist eine so tiefe, daß sie der Organisation des Staates stets
Formen gaben, die der religiösen Organisation entlehnt waren. Wo der
Souverän als Repräsentant der Gottheit gilt, kann es zu keiner Freiheit
kommen, weil die Macht dessen, der im Namen Gottes spricht und handelt,
nothwendig unbeschränkt sein muß. Ueber die Befehle Gottes discutirt man
nicht. In den alten asiatischen Reichen, in den muhamedanischen Sultanaten,
in den Monarchien nach dem Muster des Königthums Ludwig's des Vier¬
zehnten, wo die Fürsten kraft göttlichen Rechtes regierten, war das Volk voll¬
ständig unfrei. Das Urchristenthum mußte die Aufrichtung freier Institutionen
begünstigen." Es lenkte zwar die Menschen von irdischen Interessen ab und
trieb sie nicht an, ihre Rechte als Bürger in Anspruch zu nehmen. Aber in¬
dem es ihre Sitten läuterte und erhob, indem es das Gewissen weckte und
die Selbstsucht verbannte, befähigte es sie, sich selbst zu regieren. Im Schooße
der ersten Christengemeinden herrschte eine große Gleichheit, und alle Gewalt
ging vom Volke aus. Diese Gemeinden waren demokratische Republiken, und
so fanden sich die Presbyterianer, als sie im sechzehnten Jahrhundert die alte
Organisation der Kirche wieder herstellten, bewogen, republikanische Institu¬
tionen auf den Staat zu übertragen.
Sowohl die Vertheidiger als die Gegner der römischen Kirche verwechseln
oder vermischen das Christenthum mit dem Katholicismus. Die, welche das
Christenthum angreifen, schreiben ihm die Grundsätze, die Mißbräuche und die
Verbrechen der römischen Kirche zu, und die, welche die Kirche vertheidigen,
berufen sich dabei auf die Verdienste, die Tugenden und die Wohlthaten des
Christenthums. Beide Theile irren. Das Christenthum ist der Freiheit günstig,
der Katholicismus ist ihr Todfeind, das haben wir aus dem Munde seines
unfehlbaren Oberhauptes selbst. Die Geschichte der kirchlichen Einrichtungen
zeigt uns ein stetes Hinstreben auf eine immer größere Concentration der Ge¬
walten. Sie hat die Gleichheit der ersten christlichen Gemeinden und das
Repräsentativsystem der alten Zeit immer mehr verlassen, um endlich im neun¬
zehnten Jahrhundert mit der Verkündigung der Unfehlbarkeit des Papstes bei
dem unbeschränktesten Despotismus, den man sich denken kann, anzulangen.
Anfangs eine demokratische Republik, wurde die Kirche, als die Bischöfe ihre
Macht ausdehnten, ohne ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Papste zu ver¬
lieren, eine aristokratisch-constitutionelle Monarchie, und sie blieb dieß, so
lange der Schwerpunkt in den Concilien lag. Heutzutage verwirklicht sie das
Ideal der theokratischen Despotie. Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich nach
der religiösen zu bilden strebt, wie die Thatsachen es zeigen, so muß sie sich
hier einer rein despotischen Regierung unterwerfen. So haben es auch die
Parteigänger der Kirche aufgefaßt, und zwar nicht erst jetzt, wo der spanische
Prätendent ihr Günstling ist. Bossuet, in seiner „?o1it,i<Mo tires I'Not-
n-
ur<z seüntv" zeichnet uns die Verhältnisse, die sich für ein katholisches Land
passen. „Gott setzt seine Könige als Diener ein und herrscht durch sie über
die Völker." — „Die Macht des Königs ist unbeschränkt." — „Der Fürst
braucht von dem, was er befiehlt, niemandem Negenschaft zu geben." —
„Man muß den Fürsten wie der Gerechtigkeit selb se gehorchen.
Sie sind Götter und in gewissem Maaße der göttlichen Unab¬
hängigkeit theilhaftig." — „Die Unterthanen haben einem gewalt¬
thätigen Verfahren der Fürsten nur ehrfurchtsvolle Vorstellungen entgegen
zu setzen ohne Meuterei und ohne Murren." So muß logischerweise in einem
katholischen Lande die Regierung despotisch sein. weil sie in der Kirche despo¬
tisch ist, die als Typus dient; dann weil die Fürsten hier ihre Gewalt direct
von Gott oder dem Papste haben und diese Gewalt keine Schranke haben
und keiner Controle unterworfen sein darf.
Die Reformation dagegen gebar, indem sie eine Rückkehr zum Urchristen-
thum war. überall den Geist der Freiheit und des Widerstandes gegen den
Absolutismus. Sie ließ republikanische und konstitutionelle Einrichtungen
entstehen. Der Protestant erkannte in Religionsscichen nur eine Autorität
an. die Bibel. Er beugte sich nicht wie der Katholik vor der Autorität eines
Menschen, er prüfte und erörterte selbst, was ihm gelehrt wurde. Nachdem
die Calvinisten und Presbytenaner der Kirche eine republikanische Einrichtung
gegeben hatten, übertrug der Protestant in logischer Folge dieselben Grund¬
sätze und Gewohnheiten auf die bürgerliche Gesellschaft. Die Anklage. diL
Lamennais gegen die Reformation richtet, ist vollkommen wahr. „Man
hatte die Gewalt", so sagt er, „in der religiösen Gesellschaft verneint, man
hätte sie nothwendigerweise auch in der politischen Gesellschaft verneinen und
in der einen wie in der andern an die Stelle der Vernunft und des Willens
Gottes die Vernunft und den Willen des einzelnen Menschen setzen sollen;
jeder mußte, jetzt nur von sich selbst abhängend, sich voller Freiheit erfreuen,
sein eigner Herr, sein König, sein Gott sein." Ebenso sagt Montesquieu:
„Die katholische Religion paßt sich mehr für eine Monarchie, der Protestan¬
tismus bequemt sich besser einer Republik an." Luther und Calvin predigen
den Widerstand gegen die Tyrannei nicht, sie verdammen ihn vielmehr und
sprechen den Gehorsam heilig. Sie gestehen selbst die volle Gewissensfreiheit
nicht zu. Trotzdem aber geht das Prinzip der politischen und religiösen Frei¬
heit mit logischer Nothwendigkeit aus der Reformation hervor. Der Beweis
ist. daß sie überall diese Frucht getragen hat. Die reformirten Schriftsteller
waren in der Folge Vertheidiger der Volksrechte, und wo die Protestanten
rriumphirten, gestaltete sich die bürgerliche Gesellschaft nach freisinnigen
Grundsätzen.
„Die Reformatoren", sagt ein venetianischer Gesandter am französischen
Hofe im sechzehnten Jahrhundert, „predigen, daß der König keine Autorität
über seine Unterthanen habe. So geht man einer Regierung ähnlich der in
der Schweiz und dem Sturze der monarchischen Verfassung des Königreiches
entgegen."
„Die Geistlichen", sagt Montluc, „predigen, daß die Könige keine andere
Macht haben könnten als die, welche dem Volke gefiele, andere predigten, daß
der Adel nicht mehr sei, als sie selbst." Da sehen wir deutlich den auf Frei¬
heit und Gleichheit gerichteten Hauch des Calvinismus. Tavannes kam häufig
auf den demokratischen Geist der Hugenotten zurück. „Es sind", sagt er, „in
den königlichen Staaten Republiken, die ihre getrennten Mittel, Kriegsleute
und Finanzen haben und ein demokratisches Volksregiment aufrichten wollen."
Der große Rechtsgelehrte Dumoulin klagte die protestantischen Pastoren vor
dein Parlament an, indem er sagte: „Sie haben keine andere Absicht, als
Frankreich zu einem Volksstaat und einer Republik gleich der von Genf zu
Aachen, von wo sie den Grafen und den Bischof vertrieben haben, und sie
bemühen sich gleichermaßen, das Recht der Erstgebornen abzuschaffen, indem
sie die Gemeinen den Edlen und die nachgebornen den Erstgebornen gleich¬
stellen wollen, da sie allesammt Kinder Adams und durch göttliches und na¬
türliches Recht gleich seien." Das sind offenbar die Ideen der französischen
Revolution, und wenn Frankreich im sechszehnten Jahrhundert die Reformation
^genommen hätte, so würde es sich von da an der Freiheit und Selbstre¬
gierung erfreut haben.
Man hat dem protestantischen Adel den Vorwurf gemacht, Frankreich
W kleine republikanische Staaten, wie die der Schweiz, zu zertheilen, und man
hat es der Ligue als Verdienst angerechnet, die französische Einheit erhalten
zu haben. Die Thatsache ist richtig; ob der Tadel berechtigt ist. wird sich
bis zu einem gewissen Maße bestreikn lassen. Die Hugenotten wollten in
der That die locale Autonomie, die Decentralisation und ein föderales Re¬
giment, welches die communalen und provinziellen Freiheiten achtete. Das
^ aber noch jetzt das, was man in Frankreich vergeblich erstrebt; die blinde
^'denschaft der Mehrzahl, die auf ungegliederte Einheit und Einförmigkeit
sichtet ist, war es, die jede Revolution scheitern ließ und immer den Despo¬
tismus wieder an das Staatsruder brachte.
Calvin will, daß „der Diener des heiligen Evangeliums mit Einwilligung
und Gutheißung des Volkes gewählt werde, die Pastoren sollen bei der Wahl
den Vorsitz führen." Dieß ist die Regierung, welche seine Anhänger in Frank¬
reich einführen wollten. „Im Jahre 1620". sagt Tavannes. „war ihr Staat
^n wahrer Volksstaat, alle Gewalt war in den Händen der Bürgermeister
und der Prediger, und sie gaben davon dem Adel ihrer Partei nur scheinbar
einen Theil ab, so daß, wenn sie ihr Ziel erreichten, der Zustand Frank-
reich gleich dem der Schweiz zum Untergang der Fürsten und des Adels
führen würde."
Sobald die Reformation das Evangelium in die Hände der Bauern ge¬
legt hatte, forderten sie die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Anerken¬
nung ihrer alten Rechte im Namen der „christlichen Freiheit". Wie diesseits
des Rheines geschah dieß auch jenseits. Ueberall verlangte man infolge der
Reformation energisch seine natürlichen Rechte. Freiheit, Duldung, Gleichheit
vor dem Gesetze u. s. w. zurück. Eine große Menge Schriften aus dieser
Zeit enthalten diese Ansprüche. Unser Verfasser nennt nur die berühmte
Flugschrift Languet's: „^null IZruti eeltae, Vincliemv contra l^raimos"
und den Dialog: „vo 1'a.utoi'it6 du prinev et as 1a likortö^äos peuplos."
Diese Ideen, welche die Grundlage der modernen Freiheiten bilden, haben
allezeit im Protestantismus beredte Vertheidiger gefunden. Der Prediger
Jurieu hat sie gegen Bossuet vertheidigt, und Locke hat sie in wissenschaftlicher
Form auseinander gesetzt. Von ihm haben sie Montesquieu, Voltaire und
die politischen Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts entnommen, und
so wurden sie der Ausgangspunkt der französischen Revolution. Aber lange
vorher schon hatten sie mit dauerndem Erfolge in protestantischen Staaten,
zunächst in Holland, dann in England und vor Allem in Amerika Anwen¬
dung gefunden.
Das berühmte Edict vom 16. Juli 1581, durch welches die Generalstaaten
der Niederlande die Absetzung des Königs von Spanien verkündigen, erklärt
mit deutlichen Worten die Souveränetät des Volkes (die wir Deutschen bei¬
läufig bis auf Weiteres nicht wollen, weil wir sie nicht brauchen können).
Um einen König zu entthronen, mußten sie nothwendig dieses Prinzip anrufen.
„Die Unterthanen", so sagen sie dort, „sind nicht für den Fürsten von Gott
geschaffen, um ihm in allem, was ihm zu befehlen beliebt, zu gehorchen,
sondern der Fürst ist vielmehr für die Unterthanen geschaffen, ohne welche er
kein Fürst sein könnte, um sie nach Recht und Vernunft zu regieren." Das
Edict fügt hinzu, daß die Landesbewohner genöthigt gewesen seien, um sich
der Tyrannei des Tyrannen zu entziehen, ihm den Gehorsam aufzukündigen.
„Es bleibt ihnen kein anderes Mittel, als dieses, zur Erhaltung ihrer alten
Freiheit und derjenigen ihrer Weiber, Kinder und Nachkommen, für die sie
nach dem Rechte der Natur verpflichtet sind, ihr Leben und ihr Gut zu wa¬
gen." Die englische Revolution von 1L48 vollzog sich im Namen derselben
Grundsätze. Milton und die andern Republikaner dieser Epoche haben sie mit
großer Geistesschärfe und Entschiedenheit vertheidigt.
Wir sind gewohnt, vor den berühmten Principien der französischen Re¬
volution von 1789 den Hut abzunehmen. Der Verfasser nennt das einen
schweren Irrthum, indem er sagt: „In Frankreich hat man beredte Reden
und Abhandlungen über den Gegenstand losgelassen , aber niemals hat man
die Freiheiten geachtet, nicht einmal die heiligste von allen, die Gewissens¬
freiheit. Die Puritaner und Quäker haben sie proclamirt und seit zwei¬
hundert Jahren in Amerika ausgeübt , und von da sowie aus England hat
Europa sie gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts empfangen. Schon
1K20 stellte die Verfassung von Virginien die Repräsentativregierung, das
Schwurgericht und den Grundsatz fest, daß die Steuern nur von denen be¬
willigt werden können, die sie bezahlen. Von allem Anfang an richtet Massa¬
chusetts den Schulzwang und die Trennung der Kirche vom Staate ein (die
wir Deutschen nicht brauchen können, so lange der Wille des Papstes für die
Mehrzahl der Katholiken die Stelle des Gewissens ausfüllt). Die verschiedenen
Seelen leben frei unter dem gemeinschaftlichen Gesetze und wählen sich ihre
Seelsorger selbst. Die repräsentative Demokratie existirt hier schon damals so voll¬
ständig wie in unsern Tagen. Selbst die Richter werden von den Bürgern alljährlich
neu gewählt. Ein Mann tritt auf (1633), der nicht nur die Duldung, son¬
dern die vollständige Gleichheit der Culte vor dem Gesetz fordert und auf
dieses Prinzip hin einen Staat gründet. Es ist Roger Williams, der unter
die Wohlthäter der Menschheit eingereiht zu werden verdient. Nach mehr
"is einem Jahrtausend blutiger Verfolgungen um der Religion willen, erhebt
^' noch vor der Zeit, wo Descartes die freie Forschung aus dem Gebiete der
Philosophie beansprucht, die Glaubensfreiheit zum politischen Rechte. „Die
Verfolgung in Gewissenssachen ist", so sagt er wiederholt, „ein offener und
beklagenswerther Widerspruch gegen die Lehre Jesu Christi."— „Der, wel¬
cher das Staatsschiff lenkt, kann die Ordnung an Bord erhalten und es nach
den Hafen führen, wenn auch die ganze Mannschaft nicht verpflichtet ist, dem
Gottesdienste beizuwohnen." — „Die bürgerliche Obrigkeit hat nur Macht
über die Leiber und Güter der Menschen, sie darf sich nicht in Glaubenssachen
mischen, selbst da nicht, wo es zu verhindern gilt, daß eine Kirche in Abfall
und Ketzerei versinkt." — „Das Joch der Tyrannei von den Seelen nehmen,
heißt nicht nur eine Pflicht der Gerechtigkeit gegen die unterdrückten Völker
erfüllen, sondern auch die Freiheit und den öffentlichen Frieden im Interesse
des Gewissens Aller herstellen." Auf diesen, damals nur noch in den Nieder¬
landen bekannten und theilweise verwirklichten Grundgedanken gründete,
wie man bei Bancroft nachlesen kann, Roger Williams die Stadt Providence
und die bürgerliche Gesellschaft, aus der später der Staat Rhode Island her¬
vorging. Es war die reine Demokratie, wie sie Rousseau verstand, das radi-
calste Selfgovernment, welches die Menschheit bis dahin gesehen, welches aber
wohlverstanden sich nur in Kleinstaaten durchführen und aufrecht erhalten läßt,
die durch ihre Lage vor Vergewaltigung von außen her geschützt sind.
Auf ähnlichen Grundsätzen baute um dieselbe Zeit der protestantische
Geist die Gemeinschaften auf, die nach der Unabhängigkeitserklärung zu den
Staaten Pensylvanien, Connecticut und Newjersey wurden. Fast überall in
Nordamerika, wo die Puritaner und die Quäker die Mehrheit bildeten,
herrschte mehr oder minder politische und religiöse Freiheit, während umge¬
kehrt überall in der Welt, wo der Katholicismus die Völker gefangen hielt,
die alte Freiheit und Selbstregierung mehr und mehr der Concentration unter
der absolutistischen Monarchie anheimfiel.
Theilnahme des Volkes an den öffentlichen Ereignissen ist kein Produkt
erst der neueren Zeit. Sie wird zurückgedrängt und unterdrückt in Zeiten der
Reaktion, lebt aber immer wieder auf, sobald das politische Leben wieder kräf¬
tiger zu Pulsiren beginnt. In erregten Zeiten aber ist die öffentliche Mei¬
nung eine Macht, welche gebieterisch zum Ausdruck zu kommen verlangt. Und
sie fand ihren Ausdruck auch in dem so gewaltig bewegten 16. Jahrhundert,
aber nicht in der damals sich allmählich entwickelnden Zeitungsliteratur, deren
elende Erzeugnisse nur der bloßen Neugierde dienten: sie fand ihn in
dem politischen Volksliede und ihre äußere Erscheinung meist in der Form
des Flugblattes. Der Sitz des politischen Volksgesanges der damaligen Zeit ist
nicht in dem niedergeworfenen und zertretenen Bauernstande, auch nicht im
Adel, der nur dem Solde nachging, er ist in den Städten und in dem ge¬
bildeten Bürgerstande zu suchen. Hier entstanden jene zahlreichen Lieder, die
sich mit warmer Parteinahme an die Ereignisse des Tages anschlössen und
diese oft nicht ohne politischen Schwung behandelten; hier wurden sie auf
Flugblätter gedruckt und rasch und wirkungsvoll in alle Gaue des Reiches
verbreitet. Die politische Literatur der Städte in damaliger Zeit verdient als
unabhängige Presse im besten Sinne bezeichnet zu werden.
Welche Wichtigkeit dieser unabhängigen Presse auch von Seiten der Re¬
gierungen beigemessen wurde, geht daraus hervor, daß es die Fürsten oft nicht
verschmähten, zu ihr in eine Art Opposition zu treten und von ihren Höfen
offiziöse Kundgebungen in derselben volksthümlichen und beliebten Form aus¬
gehen zu lassen. Selbst der kaiserliche und königliche Hos verschmähte es
nicht, in verwickelten Zeitläuften, wie z. B. beim Herannahen des großen
deutschen Krieges, der gewöhnlich den viel zu engen Namen des schmalkal-
dischen führt, neben seinen offiziellen Manifesten dergleichen offiziöse Ver¬
öffentlichungen zu veranstalten, um dadurch die öffentliche Meinung nach sei¬
nem Willen zu lenken. Am besten aber war die offiziöse Presse in dieser
Zeit am sächsisch - albertinischen Hofe organisirt, namentlich seitdem Herzog
Moritz angefangen hatte, sich auf die große Politik einzulassen.
Dieser Fürst, der die verschlungensten Wege ging, um seine ehrgeizigen
und selbstsüchtigen Absichten zu erreichen und dabei die heiligsten Interessen
des Baterlandes nicht schonte"), erfuhr natürlich die meisten Angriffe von
Seiten der unbeeinflußten Presse und fühlte daher am meisten das Bedürfniß,
sich vor dem Richterstuhle der öffentlichen Moral zu rechtfertigen. Hierzu trieb
")n theile ein Rest moralischen Gefühls und sein böses Gewissen, theils auch
das Bemühen seine eigentlichen Absichten zu verschleiern; überhaupt aber
lehrte ihn seine politische Klugheit, die Macht der öffentlichen Meinung nicht
unterschätzen. Dabei hatte er geschickte und begabte Leute in seinem Preß-
bureau, das zeigt die für jene Zeit kunstvolle Technik und die mitunter un¬
leugbare poetische Vortrefflichkeit der von da ausgegangenen Erzeugnisse. Der
H^zog aber, der jene Erzeugnisse gewiß direkt inspirirte, war ein Mann von
großen Gaben und zeigt sich in einem Liede, als dessen Verfasser die Ueberliefe-
^ug ihn bezeichnet, als einen Dichter von Energie des Ausdrucks und einer
^arme der Empfindung, wie man sie dem kaltherzigen Politiker nicht m¬
enen sollte**).
Schon vor dem eigentlichen Ausbruch des Krieges fand sich Herzog Moritz
veranlaßt, seine Zwitterstellung inmitten der Parteien durch eine offiziöse
Kundgebung zu vertheidigen. Die „jungen Fürsten", welche damals aus ein¬
seitigem persönlichen Interesse die Sache ihrer Glaubensgenossen im Stiche
Aeßen: Markgraf Hans von Küstrin, Herzog Moritz, Markgraf Albrecht von
^ ulrnbach und Herzog Erich von Kalenberg, erfuhren natürlich von Seiten
^ Protestantischen Presse, um bei dem einmal angenommenen Ausdrucke zu
^°'ben, die heftigsten Angriffe und schonungslose Bloßstellung. Damals hatte
kcüserlichen Lager nicht nur durch offizielle Rescripte und Manifeste,
>on ern auch durch inspirirte Flugblätter ***) das Stichwort ausgegeben:
Kaiserliche Majestät denke niemanden in Sachen der Religion zu kränken,
werde aber die, so gegen ihre Befehle sich als Ungehorsame erwiesen, zu
strafen wissen. Herzog Moritz' offiziöse Presse eignete sich natürlich dieses
Stichwort an und erließ ungefähr um die Zeit, da ihr Herr sein Bündniß
mit dem Kaiser abschloß (19. Juni 1346), zur Rechtfertigung desselben das
nachfolgende „neue Lied" mit dem Akrostichon „Moritz, Herzog zu Sachsen
nach dem Tone:Ein neu Lied
Nun will ich niir nit grauen la'n (lassen).Murr' wie du willst, du arge Welt,
Auf, Gott hab' ich mein'n Trost gestellt,
Der wird mich wohl erhalten;
Und wär es gleich dem Teufel leid,
Ich thu nit wider die Obrigkeit:
Gott wolle ihrer walten. Herzlich mir das zuwider ist,
Dieweil Gott uns zu aller Frist
Die Obrigkeit heißt ehren.
„Gebt Gotte stets, was Gott gebührt,
Dem Kaiser auch, was ihm gehört,"
Thut Christus selbst uns lehren.O Gott, verleih' mir deine Gnad,
Daß ich mich halt' auf rechtem Pfad!
So lange währt mein Leben,
Will ich dein Wort bekennen so,
Wie steht in der Confessio,
Zu Augsburg übergeben. Zu aller Zeit will ich auch mehr,
Ob viele gleich drob zürnen sehr,
Was sein, dem Kaiser geben,
Erkennen ihn als Obrigkeit,
Wie einem Lehnsmann wol ansteht,
Und Majestät daneben. Sachsen, Schwaben, wer da woll',
Mir beides nit verdenken soll,
Gott helfen treulich bitten,
Daß er im heil'gar ron'schen Reich
Sein Wort, gut Fried' erhalt' zugleich,
Vor Krieg uns woll' behüten.Jtzt aber steht's wol und ist fein,
Daß jeder eigner Herr will sein,
Hochmüthiglich stolzieren;
Schmähbücher und Lieder erdenckt man viel,
Ein jed'r die Obrigkeit lüstern will,
Dem gemeinen Mann hofieren.
Es ist bezeichnend für den Herzog, daß er in dieser Kundgebung seinen
religiösen Standpunkt, sein Verbleiben bet der Augsburger Konfession in den
Vordergrund stellt, denn in dieser Hinsicht wurde er von seinen eigenen streng
lutherischen Ständen bemißtraut. Außerdem aber spricht er seinen Entschluß,
mit dem Kaiser zusammengehen zu wollen, aufs Bestimmteste aus und mo-
tivirt ihn durch eine sehr geschickte Wendung, indem er die Gegenpartei als
die revolutionäre und sich als den Freund der Ordnung und des Friedens
darstellt. Ebenso verschleierte er seine eigentliche Absicht, als er am 8. Okto¬
ber zu Freiberg seinen Ständen die Versicherung gab, er wolle die ernestini-
schen Lande nur um sie vor den Verwüstungen der ungarischen und böhmi¬
schen Truppen des Königs zu bewahren, besetzen und bis zum Frieden unter
seine Obhut nehmen; ja, er erließ mit seinen getreuen Ständen ein Recht-
fertigungsschreiben gleiches Inhalts an seinen Oheim, den Kurfürsten. Aber
die öffentliche Meinung seines eigenen Landes erklärte sich schon jetzt energisch
tilgen seine zweideutige Politik, und nachdem er am 27. Oktober sich den säch¬
sischen Kurhut vom Kaiser hatte zusichern lassen, beschuldigte ihn die gegne¬
rische Presse öffentlich und geradezu des Verraths, der Lüge und des Betruges.
Zwar nahm er bis zum Ende des Jahres an der Spitze seiner eigenen und
königlichen Truppen die Kurlande bis auf die Städte Gotha und Witten-
^erg in Besitz und zog dadurch den Kurfürsten vom Kriegsschauplatze in Ober-
deutschland ab; als aber dieser mit überlegener Heeresmacht in Eilmärschen
zurückkehrte, da war das rasch Gewonnene ebenso schnell wieder verloren, und
^ Herzog mußte sich schleunigst in seine Lande zurückziehen. Damals sang
iun>n ihm von Wittenberg aus mit Anspielung auf das sächsische Wappen und
"uf den Winterfeldzug des Kurfürsten die folgenden Spottverse nach:
^>e Nesseln wachsen lang und groß,
Der Winter giebt ihn'n einen Stoß,
Thut sie ^ Boden legen;
darf sich vor der Sommerzeit
'"'in Nessel wieder regen.Die Raute bleibt im Winter grün,
Und mancher Landsknecht trägt sie kühn,
Sie dürfen's fröhlich wagen.
Vor Herzog Moritz' zorn'gen Muth
Thut noch kein Landsknecht zagen.
Aber des Herzogs Noth stieg noch, als der Kurfürst, den Winterfeldzug
Ersetzend, sich Anfang Januar 1547 mit seiner ganzen Macht und beten-
" ^ Artillerie vor die Stadt Leipzig legte. Jetzt war Moritz seiner eigenen
nicht ""hr sicher; er klagt wiederholt in Briefen an König Ferdinand
aus dieser Zeit, ^. könne seinen Unterthanen nicht mehr trauen, sie liefen
dem täglich anwachsenden Heere des Kurfürsten zu, und sei ein allgemeiner
Aufstand zu befürchten. In dieser Bedrängniß fühlte er natürlich das drin¬
gendste Bedürfniß, sich vor der öffentlichen Meinung und gewissermaßen vor
sich selbst zu rechtfertigen, und inspirirte das folgende, nicht ohne Schwung
und Geschick abgefaßte Gedicht, welches das Akrostichon „Mauritius, Herzog
zu Sachsen hochgebor'n" als offiziöse Signatur trägt:
Ein schön neu Lied, zu Ehren dem Durchlauchtigen u, s. w. Herrn Moritzen,
Herzogen zu Sachsen, zur Ablehnung unwahrhaftiger Nachred gemacht. ")
Nach dem Tone: Mag ich Unglück itzt haben viel. Mag ich Nachrcd itzt haben viel,
So tutt' ich still,
Es wird sich wol verkehren;
Als Glaubcnsfeind man mich betraut,
schimpft meine Leut:
Wer mag den Menschen wehren?
Mein Herz nicht lenge,
Mein G'wissen zeugt;
Laß fahren hin,
Gott weiß mein'n Sinn,
Der uns thut all' ernähren. A es, Mcnschcnwahn trifft's wahrlich nich
Der Ansehn richt't
Und forscht nicht nach dem Herzen.
Der Teufel zwar ist voller List
Zu aller Frist,
Mit ihm ist nicht zu scherzen.
Er hat's erdacht
Und ausgebracht,
Als übt' ich Mord
An Gottes Wort
Und hülfe es umstürzen.
Auf solchen Grund er Unglück Stift't,
Groß Leid anricht't,
Reizt auf mich Stadt' und Lande;
Noch trau ich Gott, der mein Herz richt'
Verzweifle nicht,
Er macht mein Feind' zu Schanden,"
Die falschen Schein
Erdichten fein,
Schmücken ihr' Sach',
Thun Ungemach;
Der Schad ist schon vorhanden.
Ruh'. Fried' hab' ich allzeit begehrt,
Dem Krieg gewehrt,
Verhofft Dank zu erwerben,
Göttliches Wort treulich gemeint,
Mit Gott vereint,
Darauf will ich wol sterben.Noch hilft es nicht;
Mit falschem G'dicht
Mein Widerpart
Nach seiner Art
Mein' Sach' thut gar verderben.
Ich hab' zu gut ganz deutschem Land,
Ist wol bekannt.
Schuln, Kirchen hoch begäbet,
Damit gepreist würd' Gottes Wort.
An allein Ort,
Und falsche Lehr' nicht schadet.
Noch man itzt spricht:
„Vertraut ihm nicht!
Er ist der Feind,
Den Gott's Wort meint."
Solch's mir unbillig schadet. t, C hnrfiirstenthum ich schätzen thät,
Nahm ein die Stadt',
Vor Fremden sie zu wahren.
In meinem Sinn hätt ich bedacht:
„Wird Fried' gemacht,
Laß ich die Lande fahren.
Kann sie nicht sehn
Zu Grunde gehn;
Es ist mein Erb',
Trutz, wer's Verderb'!
Mein' Ehr' muß ich bewahren. t. Itzt giebt man drum mir meinen Lohn<
Zu großem Hohn
Thut man mein Land berauben,
Beschwert, schätzt meine Unterthan'«,
Wer geben kann;
Heißt das noch Treu und Glauben?
Von mir man weiß:
Um keinen Preis,
Gewalt zu thun,
Ich der ohn' Ruhm,
Wollt' ich jemand erlauben.
Uns gab Gott über Land und Leut'
Die Obrigkeit,
Die wir nicht übergeben;
Dabei bleib' ich, so fest ich kann,
Steht mir wol an.
Weil Gott mir frist't mein Leben,
Gewalt muß sein,
Die Gott setzt ein;
Ein Unterthan
He.le' sich daran.
An Gottes Wort daneben. Herzog zu S
Von Gott erkor'n
Bin meines Volk
Was ich jetzt hab
Durch Krieg geth
Das wissen meine
Die stimmten drei
Die Ursach mein
Ist allbereit
Durch Schrift gez
Das sei des LiedeSo ich nun bien' dem Kaiser mein,
Geb' Gott, was sein.
Wer will darum mich meiden?
Der Glaub wird angefochten nicht,
Ob man's auch spricht;
Im Glauben will ich leiden.
Nichts hilft der Schein.
Den man führt ein;
Das Wort ist hie.
Das trüget die.
So Mensch und Wort nicht scheiden.
achsen hochgebor'n,
,
s Negente.
gefangen an.
an.
Stände.
n;
eigt;
s Ende.
Und nach diesem offiziösen Schluß, der einer gewissen Energie, die Ge¬
genpartei mochte sagen Frechheit, nicht ermangelt, hält es der Verfasser für
nöthig, seine eigene Gesinnungstüchtigkeit in einer besonderen Strophe hervor¬
zuheben, um den Eindruck seines Liedes zu verstärken:
Der uns dies Lied gesungen hat,
Mit gutem Rath
Gedicht't in Gottes Namen,
Der Wahrheit ist er stets geneigt,
Sein Herz das zeugt,
Und haßt des Teufels Samen,
Der Krieg sät ein.
Gott schützt die Sein'n.
Geb' Einigkeit
In Ewigkeit.
Wünscht er von Herzen. Amen.
Man steht, die offiziöse Presse verstand schon damals ihr Geschäft, und
der Herzog war gut bedient. Was für einen biedern Ton weiß sein scribere
anzuschlagen! Wie versteht er seinen Herrn rein zu waschen und als den
Mißkannten. Beleidigten hinzustellen! Wie geschickt weiß er. die religiöse
Stimmung des Landes benutzend, die Unterthanen an ihre Pflicht gegen den
Herzog, ihren Herrn „von Gottes Gnaden", zu erinnern und zugleich dessen
Verdienste um das Land, namentlich um Kirche und Schule, hervorzuheben!
Noch mehr wird des Herzogs Religiosität, seine väterliche Sorge für
Land und Leute und das Unrecht, das er von dem Kurfürsten erlitten,
in dem folgenden Gedichte betont, das sogar mit theologischer Gelehr¬
samkeit wider diesen zu Felde zieht. Der Kurfürst hatte zwar Leipzig nicht
erobern können, dafür aber fast das ganze herzogliche Land besetzt und mit
Einquartierung belegt. Moritz, der mit Joachim II. von Brandenburg und
dem Könige im Bündniß stand, konnte von keinem von beiden Hülse erlangen;
Joachim zögerte und empfahl dem Herzog, sich auf „gütliche Handlung" ein¬
zulassen ; der König aber ward durch die Gährung in Böhmen aufgehalten,
seine Stände weigerten sich der Hülfe und rüsteten, um das Eindringen des
„fremden unchristlichen hispanischen Volkes" zu verhindern. Damals entstand
dies neue
Lied, aus was Ursachen mein gnädiger Herr, Herzog Moritz, mit dem
Kurfürsten-Herzog Johann Friedrichen nicht wider den Kaiser hat wollen
ziehen, dadurch ihm der Kurfürst feind geworden u. f. w. Nach den Buch¬
staben „Moritz Herzog zu Sachsen" gesetzt im Jahr 1647.*)
Im Ton: Es gehet ein frischer Sommer daher.
M ich wundert sehr, was Glück und Ehr'
Der Kurfürst mit so großem Heer
Im Winter will erjagen.
Den Krieg hat er gefangen an.
Muß drüber noch verzagen. verzagen.
Mich feindet drum der Kurfürst an,
Daß ich ihm nicht hab' Hülf' gethan
Wider'n Kaiser, meinen Herren.
Ich thu nicht wider die Obrigkeit,
Niemand soll mir'S verkehren.
O Vetter, hätt'se du dich besonnen
Und wärst nicht widern Kaiser kommen,
Wie Luther hat gerathen!
Dich hätt' der Kaiser g'nommer an
Zu friedlichen Geraden.Wer ihm die Ehr' entziehen will,
Der folgt nicht Paulus' Lehre.
Ach «n mein'in Theil, dieweil ich leb'.
Der Obrigkeit nicht widerstreb'.
Die mir Gott hat gegeben;
Der will ich auch gehorsam sein,
Weil ich noch hab' das Leben.
T hat' ich wider den Herren mein.
So müßt' ich wider Gott auch sein.
Sein Wort that ich nicht halten;
Denn er mir ja geboten hat.
Soll ihn in Ehren halten. Z °g ich wider den Herren mein.
So müßt' ich em Aufrührer sein.
Deß hätt' ich ewig Schande.
Viel lieber bleibe ich daheim
Und schütze Leut' und Lande.
N on'sah kaiserliche Majestät
Der liebe Gott verordnet hat,
Daß er soll sein ein Herre;
Hab' ich das Land genommen ein,
Dieweil ich bin ein Erben.Hab' ich Gott's Wort genommen an,
So soll mich nimmer auch kein Mann,
Ja nimmermehr bereden,
Daß ich demselben widerstreb';
Wollt' eh'r mich lassen todten.E hr' den König, gebeut uns Gott;
So wir denn nun sein heilig Wort
Haben in unserm Lande:
Wenn wir davon je fielen ab,
Es war' uns ewig Schande.
Gott woll' erleuchten deinen Sinn
Und weisen deine Lieb' dahin.
Daß du's recht wogst' vernehmen:
Dein Land hab ich genommen ein,
Brauch' deß mich nicht zu schämen.Zu retten unser Land und Leut,
Daß es nicht wird zu einer Bent'
Und kriegt' ein'n fremden Herren,Und wär' ich gleich gesessen still,
So hätt' es nicht geholfen viel,
Der König hätt's genommen;
Hätt' ich mich darnach widersetzt.
In Ung'nad wär' ich kommen.S ein'r königlichen Majestät
Zuwider fechten ich nicht thät,
Ist auch mein Lehcnsherre;
Von dem ich's Les'n empfangen hab',
Den ich auch billig ehre.Alles, was ich zu thun vermocht',
Das ließ ich nimmer unversucht',
Die Lande that ich schützen;
Ich ließ erschlagen nicht ein Huhn,
Was thut's mir jetzund nützen?C lärlich die Sache ist am Tag,
Ein jeder es wol greifen mag,
Es ist ein alter Grolle,
Der jetzund allererst ausbricht;
Versteh' es, wer da wolle!Hätt' er sein Land genommen ein
Und mir gelassen auch das mein',
Ich hätt' ihm zugesehen.
Er meint, er wollt' es haben ganz;
Will's Gott, soll's nicht geschehen.
Sein Land und Leut' die schont ich s
Zog auch keine Brandschatzung ein,
Kein Schad' ist ihm geschehen,
Als wie Hans Friedrich jetzund thut ;
Gott wird nicht lang' zusehen.Er hat berannt Leipzig die Stadt;
Was er dabei gewonnen hat
Mag an die Schuh' er schmieren.
Es wird ihm kosten Land und Leut',
Sein Lob wird er verlieren.
Die weiteren politischen Ereignisse können wir hier nur in großen Zügen
andeuten. Der Herzog war bald wieder oben. Auf der Lochauer Heide ver¬
lor Hans Friedrich Kur und Freiheit, und Moritz war nun Kurfürst und
Herr aller sächsischen Lande, dazu des Kaisers erklärter Günstling. Aber wie
dieser mit seinen Günstlingen umzugehen gesonnen war, das zeigte die Ge¬
fangennahme des Landgrafen, der, durch „geschwinde Praktiken" herbeigelockt,
wider Moritz' und des Kurfürsten zu Brandenburg Wort und Bürgschaft
festgehalten, und gleich dem armen Hans Friedrich, im Triumphe fortgeschleppt
wurde. Dann folgte zu Augsburg der „geharnischte Reichstag" den des
Kaisers Spanier mit blanken Waffen umstanden, damit der spanisch-öster¬
reichische Absolutismus Rechtsbestand gewinne. Hier zeigte sich, wie der
Kaiser in Sachen der Religion es zu halten gedachte. Alle Versprechungen,
die er seinen evangelischen Verbündeten gemacht, waren vergessen, und das
Interim wurde in einer von spanischen Theologen revidirten Form den Prote¬
stanten octroyirt. Hans von Küstrin, der dem Kaiser bisher geholfen, blieb
seinem Worte treu und verweigerte die Unterzeichnung.
„Lieber Beil als Feder, lieber Blut als Tinte"; seitdem gehörte auch
er zu den „Ungehorsamen".
Wo aber blieben Herzog Moritz' biedermännische Betheuerungen, er wollte
dem Augsburgischen Bekenntniß treu bleiben, am Glauben solle nichts geän¬
dert werden, im Glauben wolle er sterben? Er fügte sich, obwol zögernd.
Seine und Joachim's Hoftheologen brachten das Leipziger Interim zu Stande,
das der Kaiser genehmigte und die Kurfürsten durchzuführen versprachen.
Jetzt freilich schwieg des Herzogs offiziöse Presse; was gab's auch noch zu be¬
schönigen, zu verhüllen nach solchem Wortbruch? Aber von der Gegenseite
kamen die bittersten Angriffe; von Magdeburg aus, wohin sich die unab-
hängige protestantische Presse geflüchtet hatte, regnete es Spott- und Schmäh¬
gedichte auf die Fürsten, welche dem Kaiser zur Unterdrückung der Religion
die Hand boten. Am härtesten ward natürlich Kurfürst Moritz angegriffen.
Wir setzen aus einem im Tone des „armen Judas" gegen ihn und seine Räthe ge¬
sungenen Liede einige besonders kräftige Strophen hierher, in denen der Aus¬
druck sittlicher Entrüstung einen poetischen Schwung annimmt:
Moritz, du rechter Judas,
Was hast du gethan?
Du bringst zu uns die Spanier.
Die schänden Frau und Mann;
Du bringst her die Maraner")
In unser Vaterland,
Dazu die Italiener;
Es ist dir ewig Schand.
Kyrieleison. Moritz, du armer Judas,
Wie hast du'S doch gemacht,
Daß du an des Kurfürsten
Wolthatcn nicht gedacht?
Hat er dir doch gegeben
Einst Kleider, Speis und Trank,
Er hielt dich als sein eigen Kind ;
So ist nun das der Dank.Kyriel.Moritz bei allen Menschen
Hat alle Gunst verlor'n.
Hat über sich gehauset
Des großen Gottes Zorn.
Wie kann man für ihn beten?
Es thut's kein Biedermann,
So wenig man für Judas
Christus anrufen kann.Kyriel. Moritz, du großer Judas,
Du wollt'se nit haben Ruh,
Wollt'se gerne werden Kurfürst,
Du bist geschickt dazu:
Verrathen und verkaufen,
Das kannst du meisterlich;
Man wird dich wieder raufen,
Laß nit verlangen dich.Kyriel.
Noch heftiger flammte der Ingrimm der öffentlichen Meinung auf, als
die beiden Kurfürsten als Vollstrecker der kaiserlichen Acht sich mit Heeresmacht
vor Magdeburg legten, um dieses stärkste Bollwerk des Protestantismus zu
«rechen. Damals verbreitete sich auf dem Reichstage von 1350 in Augsburg
co neuer Spruch vom Herzog Moritz, von dem man nicht wußte, woher er
kam. ^ enthielt in seltsam durchgereimter Form, eine fingirte Beichte und
reumüthiges Bekenntniß dieses Fürsten. in welchem er sich selbst einen Schelm
und Verräther an seinem väterlichen Oheim und am allerheiligsten Glauben
nannte und zum Schluß erklärte, er verdiene eigentlich dafür vom Teufel ge¬
holt zu werden.
Und doch stand Moritz schon damals im Begriff vom Kaiser abzufallen.
Er hatte erreicht und auch nicht erreicht, was er wollte. Was half es ihm
jetzt, daß er Kurfürst geworden, wenn der Kaiser Alleinherrscher sein wollte?
Die persönliche Beleidigung, die für ihn in der fortdauernden Gefangenhal-
^
tung des Landgrafen lag, dessen wehwüthiges „Schwer langweilig ist mir
mein' Zeit" gerade damals anklagend gegen seine Bürgen erscholl*), war doch
nur ein äußerer Grund, eine Handhabe; die Religion kam ihm kaum in
dritter Linie, das Baterland gar nicht in Rechnung. Wie er vordem in
Sachen der Religion seinen früheren Betheuerungen ins Gesicht geschlagen,
so that er es jetzt hinsichtlich seiner so oft hervorgehobenen Treue gegen die
von Gott gesetzte Obrigkeit, gegen Kaiser und Reich. Was er jetzt trieb, war
radikale Politik; was er wollte, war Auflösung der alten Reichseinheit in
einen lockeren Fürstenbund, dessen einzelne Glieder mit ungemessener Libertät
ausgestattet sein sollten. Dazu aber mußte er zuerst das Bündniß der klei¬
nen norddeutschen Fürsten und Städte sprengen, an dessen Spitze Hans von
Küstrin stand; denn die waren ihm nicht radikal genug, sie wollten ja nur
gesetzliche Abwehr kaiserlicher Uebergriffe. Dazu mußte er ferner mit den
Fremden Bündnisse schließen und diese ins Land laden, den Preis zählend
von deutschem Reichsgebiet, als ob er darüber zu verfügen hätte.
Alles dies aber fühlte und erwog die öffentliche Meinung in Deutschland
sehr wol, und es klang ihm kein Hauch der Sympathie aus dem protestanti¬
schen Lager entgegen, als er, angeblich um den Glauben zu retten und
Deutschland von „viehischer Tyrannei" zu befreien, mit Frühlingsanfang
1352 gegen den Kaiser losbrach; aus dem gegnerischen Lager aber sang man
ihm bald darauf einen neuen „armen Judas" zu.**) Um so mehr mochte er
jetzt die Nothwendigkeit fühlen, seinen retterischen Standpunkt zu betonen
und sich als den Hort des Glaubens und der Freiheit hinzustellen; auch mochte
er persönlich geneigt sein, sich selber in diese Rolle hineinzudenken und seine
wahren Beweggründe vor sich zu beschönigen. Daher das folgende Lied, als
dessen Verfasser die Ueberlieferung den Kurfürsten selbst bezeichnet und das
gleichzeitig mit seinem unverhofften Losbruch aus seiner offiziösen Presse her¬
vorging. Es führt den Titel:
Herzog Moritzen des Kurfürsten zu Sachsen Lied, welches er gemacht hat.
eh' er aus seinem Land hinweg ist geritten. In dem Tone:
Ob ich gleich arm und elend bin, So trag' ich doch ein'n steten Sinn.***)
Mein Herz das hat kein Trauern nicht,
Der lieb Gott weiß, was mich anficht,
Der frischt mir mein Gemüthe;
Zu ihm ich mein Vertrauen hab'.
Er wird mich wol behüten.Ob ich schon hab' der Neider viel,
So thu' ich, was Gott haben will,
Bei sein'in Wort will ich bleiben;
Dabei laß ich Land, Leut und Gut,
Ob sie mich schon drum meiden.
Interim den Teufel bringt man her.
Hilf Gott, daß ich mich deß erwehr'!
Damit will man mich lohnen.
Ich kenn' die Münz und die ist falsch.
Sie hat ein' dreifach Krone.
Z u aller Zeit war ich bereit,
Gehorsam zu leisten der Obrigkeit;
Ach. hätt' ich's unterlassen
Und HM' bedacht Anfang und End',
Albr' besser meiner Straßen. Herr Gott, du weißt mein G'müthnnd Sin
Wie ich sogar betrogen bin
Durch welsch' und span'sche Ränke,
Die man mir zugeschrieben hat,
^ut ließ mich damit lenken.
-3og ich dahin und darnach her
Der Zusag glaubt' ich allzu sehr:
^»gehorsam wollt'n sie strafen,
Gottes Wort meinten sie nicht.
Geschah durch Teufels Schaffen. Zu aller Zeit steht mein Gemüth.
Daß ich mein Land und Leut' behüt',
Daß sic nicht leiden Schaden;
Darum fing ich den Landtag an,
TW' mich des Raths befragen. Bürgermeister,
Laßt euch mein'n
Erkennt ihn für
Damit Scheit' ich.
Werd' mich desKur, Land und Laut' setz' ich daran,
Gott's Wort nicht untergehen kann,
Darauf so thu' ich bauen;
Wär' es gleich Papst und Kaiserleid,
Zu Gott steht mein Vertrauen! Fürst oder Papst, sei wer du sollst
Ob du mir gleich drum zürnen woM'se,
Nach dir thu' ich nicht fragen;
Was du mir zu Trient gethan,
Will ich dir noch wol sagen.
Burg 'n, Heer und Stadt' in Sachsen hin,
Ihr' Zusag' halten treulich sie,
Mit mir thun sie es wagen;
Daß sie nur bleiben bei Gottes Wort,
Thut keiner nicht verzagen. Grafen und die von Adel sein,
Die thäten ungern will'gen drein,
Aufschub wollten sie nehmen.
Ließ ich den Kaiser rüsten sich,
Müßt' ich mich ewig schämen. n, Z um' und murr' davun, wer da woll',
Niemand mich überreden soll,
Ich fahr' dahin mein Straßen;
Ich hab' auch manchen Landsknecht gut ,
Dazu fromm Unterfassen. Mag ich's mit solchen richten aus,
Zu zieh'n dem Interim in'S Haus,
Gar ernstlich will ich's fragen.
Was ich mit ihm zu schaffen hab'
Dem Teufel soll es klagen.
Demnach ich nun die Bitte hätt',
Daß sich ein jeder rüsten thät';
Der jetzt daheim will bleiben,
Der hab' in Acht Gut, Weib und Kind
Bis auf mein Wiederschreiben.
lieber Getreuer mein,
Bruder befohlen sein,
euren Herren.
denn es ist Zeit.
Jut'rims wehren. —
Recht will ich's erstlich sahen an,
Der lieb' Gott wird mir Beistand thun,
Er kennt mein Herz und Sinne;
Wie ich treulich gedienet hab',
Daß werd' ich jetzund inne.
Sachsen das Haus ist es genannt.
In welsch' ^d deutschem Land bekannt,
Darin ist aufgekommen
Das rein' und klare Gotteswort.
Hat jedermann vernommen.
Des Kurfürsten Geschichte weiter zu verfolgen ist für uns kein Anlaß,
weil wir bis zu seinem Ende keine Probe von der Thätigkeit seiner offiziösen
Presse mehr beizubringen haben. Es ist bekannt, wie er zu Passau kaum die
Hälfte von dem erreichte, was er gewollt, wie er mit einer mageren, an allen
Enden beschnittenen Kapitulation zufrieden sein mußte, weil er weder bei den
Fürsten noch bei dem Volke Unterstützung fand, und der Kaiser sich von
seiner Ueberraschung allgemach erholte; wie es ferner der kaiserlichen Politik
oder besser Perfidie gelang, gerade auf Grund jener Passauer Kapitulation den
Kurfürsten mit seinem besten Bundesgenossen, dem tollen Albrecht von Kulm¬
bach zu verfeinden, wie er gegen diesen zu Felde ziehen mußte, um die wilden
Elemente, die er selber entfesselt, zur Ruhe zu bringen, und wie er zuletzt im
blutigen Handgemenge einen ruhmlosen Tod fand. Nun ließ es natürlich die
offiziöse Presse an Klageliedern nicht fehlen, in denen der Kurfürst als der
Held des Volkes, als der Retter des Vaterlandes und grosz^ Friedenbringer
gefeiert wurde, aber die Geschichte") und die unbestochene Mitwelt urtheilten
anders. Zum Schluß noch eine Probe eines solchen offiziösen Nekrologs:
Klaglied Deutschlands
in dem Tone: Ich stund an einem Morgen.
Mit Schwarz thu Dich bekleiden,
O deutsche Nation,
Neu', klag', hab' großes Leiden:
Ätzt ist dein Held davon,
Dein's Reiches Schutz und Vater gut,
Moritz der Fürst von Sachsen,
Der hatt' ein'n starken Muth. Hätt' er noch solle
Viel Freud gewese
Im ganzen Reich,
Nun kommt mit
Gen Freiberg in s
Den Leib dort zu
Die Seel' hat Go
n leben,
n wär'
merkt eben;
Trauern her
ein Vaterland,
begraben;
ttes Hand. —Oft kam er triumphiren
Mit Fahnen aus dem Krieg,
Da halfst du jubiliren,
Denn Frieden war sein Sieg;
Nun sich um's Grab die Fahnen an!
Weil er im Krieg geblieben,
So trauert jedermann.
In der nordamerikanischen Union finden im Oktober d. I. ver¬
schiedene Staatswahlen statt, auf deren Ausfall man aus mehr als einem
Grunde sehr gespannt sein darf. Es kommen nämlich dabei verschiedene Fra¬
gen zur Entscheidung, die nicht nur auf die Entwickelung einzelner Bundes¬
staaten, sondern auf das Wohl und Wehe der ganzen Union den größten
Einfluß ausüben. Zu diesen Fragen gehören vor Allem, abgesehen von der
Zoll- und Steuerfrage, die Geldfrage und die Kirchen frage. Bei aller-
^rschiedenheit der Verhältnisse in Europa und Amerika kommen doch diessiit
^le jenseit des atlantischen Oceans gegenwärtig in der staatlichen Entwicke
lung der einzelnen Länder nahezu dieselben Cardinalfragen zur Lösung, selbst¬
verständlich modificirt durch die besonderen Zustände aus den Gebieten der
Schule, der Kirche, des Staates und der Gesellschaft. Es ist dies ein neuer
beweis für die Gemeinsamkeit der Interessen, wodurch die civilisirten Völker,
Mancher widerstreitender Elemente, mit einander verbunden sind.
^s ist unsere Absicht, in Nachstehendem die finanziellen und die kirch¬
lichen Zustände in den Vereinigten Staaten etwas näher zu beleuchten.
Der frühere Finanzsekretär der Verein. Staaten, Hugh M c. Culloch,
^ sich seit längerer Zeit in England aufhält und von dort aus zeitweise
den europäischen Continent bereist, gilt in finanziellen Dingen^ in mancher
Hinsicht als eine Autorität. Me. Culloch veröffentlicht nun seit Kurzem von
ondon aus in der weitverbreiteten, einflußreichen „New-Uork Tribune" eine
^else von Briefen, in denen er die Nationalschulden, den öffentlichen Credit
°er nordamerikanischen Union und die finanziellen Verhältnisse seines Vater¬
landes überhaupt, mit großer Sachkenntniß bespricht. Er macht u. A. auf
°le Thatsache aufmerksam, daß eine möglichst schnelle Abzahlung der öffent¬
lichen Schulden eine traditionelle Politik der Vereinigten Staaten sei und daß
letztere in diesem Punkte von keinem anderen Volke übertroffen würden. Trotz¬
dem kann er nicht leugnen, daß der Credit der Vereinigten Staaten, obschon
diese ihre Schulden prompt und sicher abzuzahlen bemüht sind, im Allgemei¬
nen kein zu günstiger ist. Die Frage, warum der Credit der nordamerikani¬
schen Union nicht höher ist, als er es in der That ist, warum er nicht höher
'se, als der Credit der anderen Nationen, von denen doch keine in der Re-
duction der Nationalschulden den Verein. Staaten gleichkommt, beantwortet
Me. Culloch dahin, daß die Einzelstaaten der großen transatlantischen
Republik hiervon die Schuld tragen. Privatpersonen und Corporationen,
wie z. B. Eisenbahncompagnien, stellen in Amerika wie in Europa ihre Zahl¬
ungen ein; und in England, diesem klugen und mächtigen Geldstaate, pflegt
man fallirenden Personen und Instituten gegenüber, wenn sie sonst zahlen
was in ihrer Macht steht, sehr nachsichtig und liberal zu sein. Ganz anders
aber ist es, wenn ein einzelner Unionsstaat sich weigert, seine Contracte oder
Obligationen zu erfüllen, wenn er, wie der technische Ausdruck lautet „repu-
diirt". Die Repudiation, mochte sie eine theilweise oder ganze sein, welche
einzelne Unionsstaaten sich zu Schulden kommen ließen, ist es gewesen, welche
einen starken Schatten aus den Credit der Vereinigten Staaten geworfen hat.
Die Sünden dieser Einzelstaaten müssen setzt vielfach von der ganzen Union
gebüßt werden. indem sie für einen großen Theil ihrer nationalen Schulden
c;"/„ statt 4°/g Zinsen zu zahlen hat. Die Mehrheit der europäischen Geld¬
männer hat zu der Zahlungsfähigkeit und Ehrlichkeit der Verein. Staaten als
einer Nation volles Vertrauen; denn es ist eine unleugbare Thatsache, daß
die Unionsregierung in den trübsten und dunkelsten Tagen des Bürgerkrieges
und gleich nach dessen Beendigung mit gutem Gelde die verfallenen Bonds
und fälligen Zinsen zahlte und keine Verzögerung eintreten ließ. Auf der
andern Seite hat indessen das ungleiche Verfahren vieler Einzelstaaten den
bisher wohlverdienten Credit der Verein. Staaten geschädigt, und es hat
wenig genützt, daß z. B. Massachusetts, welches, wie die meisten übrigen
Unionsstaaten, eine nicht geringe Summe von eigenen Staatsschulden zu
tragen hat, seine Zinsen stets in baarem Gelde bezahlte und allen seinen ve--
sonderer Obligationen gerecht geworden ist. Wohl konnte der Staat Massa¬
chusetts, weil er zu allen Zeiten Creditoren in der ehrlichsten Weise befriedigte,
die Integrität seines eigenen Rufes in Finanzangelegenheiten sich bewahren,
die Repudiationssünden anderer Unionsstaaten und deren bittere Folgen für
die ganze Union vermochte er nicht zu verwischen und gut zu machen.
Das Vorstehende dürste unzweifelhaft zu dem Schlüsse berechtigen, daß,
wenn die sogenannten „Jnflationisten" in den Verein. Staaten, d! h. die
Partei, welche stets auf Vermehrung des Papiergeldes dringt und die Zinsen
der Unionsobligationen und der Verein. Staaten-Bonds in Papiergeld zahlen
will, bei den kommenden Staatswahlen und bei der im nächsten Jahre statt¬
findenden Präsidentenwahl den Sieg davon tragen, der Credit der nord¬
amerikanischen Union dadurch arg erschüttert werden muß; denn „Inflation"
ist, wie Me. Culloch mit Recht bemerkt, ziemlich gleichbedeutend mit „Re¬
pudiation".
Der Gedanke, die bekannten Fünfzwanziger Bonds in Greenbacks, d. h-
in Papiergeld, zu bezahlen und die Mittel dazu durch eine ungeheuerliche
Inflation der papiernen Werthzeichen zu beschaffen, hatte nun vornehmlich im
Staate Ohio unter der Führung eines gewissen Pendleton. wenn nicht seinen
Ursprung, so doch in der Demokratie dieses mächtigen Staates eine seiner
stärksten Stützen. Diese grundfalsche Stellung in der Finanzpolitik hat nun
in den letzten Jahren dort nicht an Boden verloren, vielmehr haben die ver-
hängnißvollen Beschlüsse der demokratischen Staatsconvention von Ohio, die
am 17. Juni d. I. zu Columbus, der Hauptstadt dieses Staates, tagte, jene
Stellung befestigt Auf der andern Seite darf aber nicht vergessen wer¬
den, daß die Beschlüsse der Demokraten in Ohio in der demokratischen und
liberalen Presse des Ostens der Union, den Staat New-York mit eingeschlossen,
einen Sturm des Unwillens erregten. Selbst in der entschieden demokratisch
gesinnten „New-York World" wurde unmittelbar nach der genannten Staats-
eonvention" zu Columbus. der demokratischen Partei von Ohio und der west¬
lichen Demokratie überhaupt, falls sie auf dem Jnflationsprogramme bestehen
würde, die Parteigemeinschaft aufgekündigt. Man verhehlte sich in New-York
und in andern östlichen Staaten der Union nicht, daß die Geldfrage für die
Zukunft der Verein. Staaten von zu großer Wichtigkeit sei. als daß die
Differenzen zwischen der Hartgeld-Demokratie und den inflationistischen Demo¬
kraten von der Ohio-Schule in einer N all o n al convention der ganzen Partei
^norirt oder, wie dies sonst wohl zu geschehen pflegt, durch irgend eine viel¬
deutig? und gewundene Redensart verkleistert werden könnten.
„Entweder", meinte die „N.-Y. World", „kommen die Jnflationisten in
der demokratischen Partei des Westens von ihren eben so undemokratischen
"is gemeingefährlichen Forderungen in der Geldfrage zurück oder ein Bruch
der demokratischen Partei und ihre Niederlage in der nächsten Präsidenten¬
wahl ist unvermeidlich." Dies ist, allem Anschein nach, noch jetzt die Stim¬
mung im Osten, und ihr entsprechend, geht der in den dortigen demokratischen
blättern offen ausgesprochene Wunsch dahin, daß die Demokraten des Westens,
wenn durch kein anderes Mittel, so durch eine gesunde Niederlage in Ohio
curirt werden möchten. In diesem Sinne schrieb z. B. auch die ziemlich un¬
abhängige „N.-Y. Staatszeitung": „Die politische Situation wird durch das
Verhalten der Demokraten in Ohio ungewisser als je. Ein Sieg der Demo¬
kratie von Ohio mit dem Jnflationsprogramm würde eine neue gewaltige
Reaction gegen die Demokratie in einem großen Theile der Union hervor¬
rufen und die Demokratie — um so mehr, als dann die Jnflationisten wahr¬
scheinlich in der nächsten demokratischen Nationalconvention die Oberhand ge¬
wännen — bei der National- oder Präsidentenwahl im Jahre 1876 unmög¬
lich machen. Jedenfalls kann die östliche Demokratie unter den obwaltenden
Umständen nur Eines retten, nämlich eine entschiedene Lossagung von der
verblendeten Ohio-Demokratie. Die letztere ist für die östliche keine Partei¬
genossin mehr. Wenn die „N.-Y. World" und die anderen Organe der oft
lichen Demokratie dieß sofort kühn proclamiren, wenn die demokratischen Or¬
ganisationen nach dieser Parole handeln wollen, dann können sie allenfalls
das Odium, welches in Ohio auf die ganze Demokratie geworfen ist, von sich
abwälzen, aber sonst niemals."
Diese und ähnliche Mahnungen der demokratischen und unabhängigen
Presse des Ostens der Union, denen sich einige westliche Blätter, z. B. der
in Se. Louis im Staate Missouri erscheinende „Anzeiger des Westens" und
die „Wesel. Post" anschlössen, sind denn auch nicht ohne alle Wirkung ge¬
wesen. Wie kürzlich ein Kabeltelegramm meldete, hat am 18. September
die demokratische Staatsconvention von New-Uork sich, im Widerspruch mit
den bezüglichen Beschlüssen der demokratischen Staatsconvention von Ohio
und der republikanischen Staatsconvention von Pennsylvanien für die Wieder¬
aufnahme der Baarzählung und gegen eine Vermehrung des Pa¬
piergeldes, welche letztere der Nation zur Unehre gereichen würde, aus¬
gesprochen. New-Uork ist der mächtigste Staat der Union, der sogenannte
„lüinM-e State", und seine Stimme wird nicht ungehört verhallen.
Die Papiergeldfrage scheint in der That, ähnlich wie früher die Sklaverei¬
frage, einen „irropressidlö eonüiet" in sich zu enthalten. Die „New-Uork
Tribune" zog deshalb kürzlich einen treffenden Vergleich zwischen diesen beiden
Fragen und kam zu dem Schlüsse, daß die Union einzig und allein durch eine
schnelle und durchgreifende Lösung' dieses neuen „unabweisbaren Confliktes"
vor großem Unheil bewahrt bleiben könnte. Schon bei Gründung der Re¬
publik habe man die Sklaverei als ein Uebel (an coll) erkannt, und doch sei die
Zeit gekommen, wo die öffentliche Meinung, wenigstens im Süden der Union,
dieses Institut für einen Segen (g. dlizssing) statt für einen Fluch der Ge¬
sellschaft (g. cursg to sociale^) erklärt habe. Die zögernde Scheu der Politiker
habe die Sklavereifrage zu einer solchen Macht heranwachsen lassen, daß die¬
selbe endlich nur durch viel Blut, Elend und große finanzielle Opfer gelöst
werden konnte; denselben Weg scheine man jetzt in der Papiergeldfrage be¬
treten zu wollen. Papiergeld sei gegenwärtig eine Thatsache, wie dies früher
mit der Sklaverei der Fall gewesen; wenn man den Vertheidigern der unbe¬
grenzten Vermehrung des Papiergeldes nicht bald mit der äußersten Ent¬
schiedenheit gegenüberträte und die Rückkehr zur Baarzählung ebenfalls zur
Thatsache mache, so sei Gefahr im Verzüge, daß die Papiergeldfreunde im
Laufe der Zeit ebenso die Oberhand gewinnen könnten, wie früher die Freunde
der Sklaverei. Ehre und Rechtschaffenheit, der Sinn für Sittlichkeit und die
Liebe zur Gerechtigkeit geböten dem Umsichgreifen des Papierschwindels ein
gründliches Ende zu machen. Es ist Aussicht vorhanden, daß die Ansichten
der „N.-Y. Tribune" bei der Majorität des Volkes der Vereinigten Staaten
Anklang ^finden und das Uebel der Papierfrage nicht weiter wachsen lassen
werden. Und wenn Männer. wie Henry C. Carey für das Papiergeld ein¬
treten , so mehren sich auf der andern Seite die Vertheidiger der Hartgeld-
Basis ; so haben sich Ende August Ex-Gouverneur Hoffmann von New-York,
William S. Groesbeck von Ohio und Reverdy Johnson, der frühere ameri¬
kanische Gesandte am Hofe zu Saint-James. auf das Entschiedenste gegen
die Jnflationspolitik ausgesprochen. Reverdy Johnson hat an die „N.-N-
Tribune" einen längern Brief über die Geldfrage geschrieben, der in folgenden
Sätzen gipfelt: 1) das einzige der Bundesconstitution bekannte Geld ist Gold
und Silber oder Papier, das auf Verlangen darin umgetauscht werden muß;
2) Nichts als Gold und Silber kann zu einem gesetzlichen Zahlungsmittel
gemacht werden; 3) da die Unionsregierung jetzt vollständig sicher ist, keine
Gefahr sie bedroht, noch zu befürchten steht, so hat der Congreß kein Recht,
zur Ausgabe uneinlösbaren Geldes Vollmacht zu geben und es zu einem ge¬
setzlichen Zahlungsmittel zu machen; 4) der Credit der Nation, der wahre,
dauernde Wohlstand aller Klassen von Bürgern, die Beendigung der Corrup-
Uon und Demoralisation, welche eine Folge der jetzigen Lage der Dinge in
den Verein. Staaten sind, gebieten sämmtlich eine möglichst schleunige Nükkehr
^r Baarzcchlung".
Wenden wir uns jetzt noch mit einigen Worten zur Besprechung der
kirchen-politischen Verhältnisse in der nordamerikanischen Union, — denn der
Ultramontanismus hat nicht verfehlt, auch dort die Saat des Unfriedens
auszustreuen.
Wie in der Geldfrage, so ist auch in der politisch-religiösen Frage der
Staat Ohio der Schauplatz gewesen, wo durch die römisch-katholische Kirche
neuerdings der Kampf gegen den Fortschritt der Kultur eröffnet wurde. Im
Frühjahr d. I. tagte z. B. in Cincinnati die zwanzigste Jahresversammlung
desdeutsch en römisch-katholischen Centralvereins, dessen Zweck die Förderung
^ religiösen Lebens im Sinne der römischen Papstkirche und gegenseitige
Unterstützung ist. Das wahre religiöse Leben innerhalb der römisch-katho¬
lischen Kirche zu fördern, ist ein sehr zeitgemäßes Streben, und sich gegen¬
seitig zu unterstützen, ist an sich ebenfalls ein edler Zweck. Allein die Ver¬
handlungen des genannten Centralvereins, der seine Zweigvereine in fast allen
Unionsstaaten zahlreich verstreut hat, haben, wie deutsch-amerikanische Blätter
melden, bewiesen, daß dieser Verein sich von dem Ultramontanismus''vollständig
hat ins Schlepptau nehmen lassen. Er hat. so berichtet der „Anzeiger des
Westens", eine Constitution angenommen und den Zweigvereinen zur Annahme
empfohlen, „deren Inhalt jedem deutschen Mann und jedem wahren Amerikaner
die Schamröthe ins Gesicht treiben muß. Die Mitglieder des deutschen
römisch-katholischen Centralverems haben mit der Annahme der in Cincinnati
entworfenen Konstitution aufgehört, freie Männer zu sein. Sie haben auf
das durch die Institutionen der Verein. Staaten gewährleistete Recht der
Gedanken- und Redefreiheit verzichtet und durch diese bodenlos sklavische
Handlungsweise den deutschen Namen und den Ruf der nordamerikanischen
Republik geschändet. Sie haben Alles, was einem Manne heilig ist, die
selbstständige religiöse Ueberzeugung und die freie Verfügung in Bezug auf
die Kindererziehung freiwillig aufgegeben und offen zugestanden, daß sie
Knechte der Kirche, daß sie willenlose Werkzeuge der Priesterherrschaft sein
und bleiben wollen." So urtheilt der anerkannt gut redigirte „Anzeiger des
Westens", ein gemäßigt demokratisches Blatt. Die von ihm so scharf ver-
urtheilte Konstitution des deutschen römisch-katholischen Centralverems überläßt
nämlich den Priestern die vollständige Leitung der einzelnen Zweigvereine.
Wenn der Priester in der Versammlung erscheint, müssen die weltlichen
Vereinsmitglieder schweigen. Die betreffenden Untersuchungs - Commirtee's
haben dem Geistlichen die Namen, der angemeldeten Mitglieder einzuhändigen,
und er allein hat zu entscheiden, ob die Angemeldeten gute Katholiken sind
oder nicht. Wer sein Kind nicht in eine römisch-katholische Schule schickt,
wird auf Verlangen des Priesters ausgestoßen. Der Priester controllirt die
Beamten des Vereins, genehmigt die Protokolle und hat das entscheidende
Wort in allen Bereinsangelegenheiten. Nicht einmal ein Pic-Nie darf abge¬
halten werden ohne die Zustimmung des Priesters. Er ist das Alpha und
Omega der ganzen Organisation, die ein vollständiges lap^rinn imxorio,
eine ausgebildete Theokratie in der nordamerikanischen Republik darstellt.
Die Priester-Controlle erstreckt sich zudem weit über die Grenzen des Vereins
hinaus. So darf z. B. ein Mitglied des Centralveretns keiner Gesellschaft
angehören, die mit den Gesetzen der römisch-katholischen Kirche in Widerspruch
steht oder von ihr gemißbilligt wird. Es giebt aber bekanntlich viele Gesell¬
schaften, welche die römisch-katholische Kirche mißbilligt.
Wir könnten noch eine Menge von Beispielen anführen, die beweisen,
wie sehr der Ultramontanismus in den Vereinigten Staaten bemüht ist,
die Massen durch einen denkträgen Autoritätsglauben zu beherrschen, und wie
sehr es ihm bereits gelungen ist, nicht bloß unter den Deutschen, sondern
noch weit mehr unter den Jrländern, aber auch unter den eingebornen Ameri¬
kanern, ja selbst unter den Negern, Propaganda zu machen; aber das vor¬
stehende Beispiel mag genügen, da gerade die Deutschen in der nordameri¬
kanischen Union es sind, die noch am meisten Sympathie für den Riesenkampf
haben, den ihr europäisches Mutterland gegenwärtig mit der römischen Curie
auszufechten im Begriff steht. ^
Zunächst hat die römisch-katholische Hierarchie in den Vereinigten Staaten
ihren Angriff auf die dortige freie confessionslose Volksschule gerichtet; bald
genug aber dürften ihre Cohorten in geschlossener Phalanx an den Stimm¬
kästen erscheinen, um die Pläne ihrer geistlichen Führer auch in politischen
Dingen zu verwirklichen. Namentlich hat der katholische Clerus von Ohio
sich entschlossen, den konfessionslosen Freischulen den Krieg zu erklären, auch
>se er in der ganzen Union sehr bemüht, die demokratische Partei für sich zu
gewinnen; daß bereits „ein Bündniß der Ultramontanen mit der demokratischen
Partei abgeschlossen sei", wie kürzlich ein Correspondent der „Allg. Ztg." aus
Washington (vergl. „Allg. Zgt." Ur. 220) behauptete, müssen wir, nach den
uns vorliegenden Nachrichten, entschieden bezweifeln.
Der „Calhoun Telegraph", das amtliche Organ des amerikanischen Erz-
^jchofs Purcell, schürt das Feuer gegen die Freischulen ohne Unterlaß.
Acme Artikel, welche mit specieller Approbation des genannten Kirchenfürsten
^scheinen und zuweilen aus dessen eigener Feder fließen, haben das negative
Verdienst, daß sie über die Stellung der Ultramontanen zur Schulsrage nicht
geringsten Zweifel aufkommen lassen. Protestanten mögen sich das
^"fessionslose Schulsystem gefallen lassen, ruft der „Telegraph" aus, denn
^ Protestantismus sei nur eine Vorschule für den Unglauben und führe
, zur Verdammnis;. Aber Katholiken würden sich der „Staatstyrannei"
" Betreff der öffentlichen Schulen niemals unterwerfen. Der „Telegraph"
^ge wörtlich: „Katholiken können nicht zugeben, daß der Religionsunterricht
"us den öffentlichen Schulen ausgeschlossen werde, ohne aufzuhören Katholiken
^ sein. Der 47. und 48. Satz des Syllabus haben es autoritativ für
^ Zeiten festgestellt, daß die Ausschließung der religiösen Unterweisung aus
^ täglichen Unterricht ein verdammenswerther Irrthum ist, welchen Katho-
ohne Verleugnung des Glaubens und ohne Begehung einer großen Sünde
"icht billigen können."
Das Auftreten des katholischen Clerus von Ohio hat in der ganzen Union
liehen erregt und selbst die Blätter, welche geneigt waren, die ganze „ka-
^lische Fxg^,. für Amerika zu ignoriren, in Harnisch gebracht. Die „Jllin.
antsztg.-^ welche in der deutsch-amerikanischen Presse an der Spitze derer
l"ut. welche den kirchlich-politischen Kampf nicht so bald aufkommen lassen,
""eh. wo er bereits angefacht war, sehen wollten, antwortete auf die obigen
Auslassungen des „Calhoun Telegraph" u. A. wie folgt: „Das heißt denn
och den großen amerikanischen Verfassungsgrundsätzen der Trennung von
'""'che und Staatsschule und der Trennung von Kirche und Staat überhaupt
aufs Frechste ins Gesicht schlagen! Und wenn Herr Purcell sich ernstlich
^dreisten sollte, den mittelalterlichen Syllabus des Papstes dem amerikanischen
76
Verfassungs- und Rechtsleben entgegenzusetzen, so würde er einen Wind säen,
aus dem über kurz oder lang ein Sturm entstehen würde, welchem die
Grundfesten der römisch-katholischen Kirche in Amerika nicht Stand halten
könnten."
Diesen Anschauungen der „Illinois Staatzeitung" schließen wir uns an.
Wir mögen von Königsberg in Preußen bis nach sera^burg im Elsaß reisen,
die Unterschiede in den Volkseigenthümlichkeiten der einzelnen deutschen Gaue, die
wirpassiren, sind lange nicht so schroff, treten uns bei Weitem nicht so unvermittelt
entgegen, als wenn wir nur einen viertelstündigen Spaziergang aus Schlesien
oder Sachsen nach dem ersten böhmischen Orte vollführen. In dieser uns
fast so urplötzlich wie eine Theaterverwandlung zur Wahrnehmung kommenden
Metamorphose von ^so mannigfaltigen Lebenserscheinungen und Lebensformen
liegt unstreitig ein gewisser pikanter Reiz, der jedesmal von Neuem seine An¬
ziehungskraft auf uns ausübt, wenn wir aus Norddeutschland den Boden
der österreichisch-ungarischen Monarchie beschreiten. Der Genuß des Reifens
beruht ja nicht zum kleinsten Theile in den Contrasten, in der raschen Folge
von Gegensätzen und Abwechselungen, die an uns vorüberziehen; und von
Beiden haben wir diesseit der böhmischen Landmarken die Fülle zu gewärtigen.
Daß auf die Dauer dies „Anderssein" als daheim nicht zu unserm Behagen
beiträgt, bleibt hier außer Betracht.
Das Wirthshaus in Neuwelt hat sich neuerdings das stolze Schild bei¬
gelegt „Hotel zum Mummelfall" — von einer unweit davon schäumenden
Cascade des westlich vom Orte plätschernden Mummelbachs, welche, nach
Regengüssen im Hochgebirge, wohl die halbstündige Promenade lohnt, die
man bis zum Wassersturze aufwenden muß — von moderner Hotelcivilisation
aber nicht das Geringste an sich, ist vielmehr die simpelste Dorfschenke, in
die man nur gerathen mag, so augenfällig die im zierlichen Schweizer Alpen-
style erbaute Herberge sich äußerlich auch präsentirt. Ueberdies findet man
sich darin plötzlich mitten in das Ultraalttschechenthum verschlagen, von nichts
als böhmischen Sprachlauten umklungen. Der Eigenthümer des Hauses ist
der bereits erwähnte Herrschaftsbesitzer Graf Harrach; derselbe — wenn ich
nicht irre, ein Neffe der vorm Jahre verstorbenen Fürstin Liegnitz — zählt
zur böhmischen Feudalpartei, die im Verein mit der Geistlichkeit bekanntlich
das jetzige Tschechenthum groß gezogen hat und noch stützt, und hat in seinen
Beamten, Arbeitern, Pächtern u. s. w. ausschließlich Tschechen lautersten Wassers
in die ehedem rein deutschen Bezirke gesandt. Einer dieser eingewanderten
Slaven ist auch der Wirth der „gräflichen Schenke", wie das Gasthaus trotz
seiner Hotelprätensionen allgemein genannt wird, und ein fanatischer Deutschen¬
fresser dazu. Bei ihm spricht das ganze Tschechien aus näherem und ferne¬
rem Umkreise ein, und der Deutsche, den sein Weg zufällig in das Haus
führt, kommt, um einen treffenden Trivialausdruck zu gebrauchen, sich in
dieser fremden Atmosphäre vor „wie verrathen und verkauft". Müssen doch
sogar leblose Dinge dazu dienen, um, wenn gleich in läppischster Weise,
tschechisch zu demonstriren. So wird die Billardtafel der Gaststube von einem
mächtigen Löwen getragen, der gekrönt, und doppelschweifig, das Wappenthier
Böhmens vorstellen soll.
Wenn der Leser einen Blick auf die Karte wirft, so wird er bemerken,
daß sich im Nordosten des Landes ein Zipfel des preußischen Schlesiens gleich
einem Keil in den Rand Böhmens hineinschiebt; an der Spitze dieses Kens,
da, wo Jser- und Riesengebirge zusammenstoßen, beginnt das Gebiet, welches
wir durchwandern wollen. Eine halbe Stunde südlich von Neuwelt gelangt
Wan an den dem erstern der beiden Bergzüge seinen Namen leidenden Fluß ; er
scheidet sie von einander, die schmale Thalsohle fast ausfüllend, und bildet
^gleich die Grenze dreier umfänglicher Grundherrschaften. Vom linken Ufer
der Jser steigen die Wälder der Grafen Schaffgotsch und Harrach empor, am
rechten dehnen sich die Forsten des Fürsten Rohan aus, dessen prachtvolles
Schloß Sichrow bei Turnau, während der Kriegsrvochen von 1866 eine Zeit
lang Hauptquartier sowohl des Königs als des Prinzen Friedrich Carl von
Preußen war, es ist von einem der schönsten Gärten der Welt umgeben.
Der Graf Schaffgotsch ist der eigentliche Dynast des Riesengebirgs, die
ganze Nordseite desselben und nahezu das gesammte Jsergebirge gehören ihm;
^nein könnte ihn als den heutigen Rübezahl bezeichnen; jedenfalls ist er einer
der Wald- und Bergkönige Deutschlands. Seine Besitzungen sind es, die sich
^'ilartig ins Böhmerland hinein zwängen, ein mit dichten Fichtenholzungen
bedecktes Terrain, voller versteckter Pfade und schwer zugänglicher Schlupf¬
winkel , welches dem in früheren Tagen schwunghaft betriebenen Schmuggler¬
gewerbe fördersam zu statten kann. Jetzt ist die Pascherei nur noch ein kleines
Geschäft, das nicht viel abwirft, höchstens geht man über die Brücke nach
Preußen hinüber, sich feinen Wirthschaftsbedarf an Salz zu holen, wie um¬
gekehrt ab und zu wohl eine Taglast böhmischen Flachs- oder Baumwollge-
spinnstes einem schlesischen Weber unverzollt ins Haus wandert. Sonst aber
zieht diese in Böhmen einschneidende schlesische Ecke mancherlei seltsame Eigen¬
thümlichkeiten nach sich. Auf dem rechten Jsergestade wird der Lauf von Zeit
und Welt aus den Prager und Reichenberger Blättern studirt, jenseit des
Wassers, keinen Steinwurf davon, sind es Hirschberger und Görlitzer Zeitungen,
nach denen man der Tagesgeschichte folgt und seine Anschauungen modelt; hier
herrscht die singende schlesische Mundart mit entschieden norddeutschen Aus¬
drucksformen, dort das kurz abgestoßn? Deutschböhmisch mit Wiener Wort¬
bildungen und Redewendungen. Am übelsten fährt bei diesen Grenzwunderlich¬
keiten der preußische Postbote. Von dem volle drei Stunden entfernten
Schreibersau aus, dem nächsten deutschen Neichspostamte, muß er Sommer
und Winter, Tag für Tag, die an den steilen Berghalden der linken Flu߬
seite hängenden Häuser und Einzelhöfe belaufen, die der österreichische Brief¬
träger — augenblicklich ist's eine Briefträgerin — von drüben in wenigen
Minuten mit versorgen könnte. Und mit dem bedauernswerthen Postboten
leidet selbstverständlich das auf seine Marschfähigkeit angewiesene Publicum.
Die Grafen Schaffgotsch und Harrach sind die beiden bedeutendsten
Glasproducenten des Gebirges, soweit die Fabrikation am Luxushohlglas in
Frage kommt. Die Werke in Neuwelt bestehen schon mehr denn fünfzig Jahre;
von dahaben böhmische Glasmacher die Industrie nach den benachbarten Thä¬
lern und Höhen, Wäldern und Gründen am Schreibersau verpflanzt, wo, auf
dem Boden ihrer freien Standesherrschaft Hermsdorf unter dem Kynast, die
Reichsgrafen von Schaffgotsch ihre Josephinenhütte anlegten, jenes Lieb-
lingsausflugsziel aller Touristen und Sommerfrischler im Hirschberger Thale.
Mittlerweile hat sich die Mutter von der Tochter weit überflügeln lassen; die
Neuweiler Produktion ist sowol quantitativ als namentlich qualitativ er¬
heblich hinter den Erzeugnissen der Josephinenhütte zurück geblieben , die zur
Zeit als die vorzüglichsten ihrer Art gelten. Daß dieser Ruf ein wohl be¬
gründeter ist, davon wird sich Jeder überzeugen, der die Magazine des Schaff-
got'schen Etablissements in Augenschein nimmt; die dort ausgestellten großen
Basen, manchmal wol von Künstlerhand bemalt, die reich vergoldeten Scha¬
len, und die mannigfaltigen Trinkgefäße der verschiedensten Gattung und in
den verschiedensten Farben gewähren in der That einen herrlichen Anblick,
glänzen jedoch nicht minder durch die Höhe ihrer Preise. Die geschäftsstille
Zeit lastet indeß mit schwerer Hand auch auf den Schaffgot'schen und
Harrach'schen Glashütten; in beiden brennt momentan nur ein Theil ihrer
sonst'im Gange befindlichen Oefen, und manchen Tag glüht hier und dort wohl
gar kein Feuer.
Neuwelt wie Josephinenhütte liefert die Waaren fix und fertig zum Ge-
rauche. Neben ihnen aber sitzt das angrenzende Gebirge voll größerer und
kleinerer Raffineure, d. h. Zwischenfabrikanten, welche das rohe Glas aus den
Hütten kaufen, es schleifen, bemalen, vergolden lassen undIihrerseits dann in
den Handel bringen. Wo die Wasserader dazu reich genug ist, da hat man
sicher eine Glasschleifmühle daran erbaut, und fast in jedem der schmucken Berg¬
häuschen wird Glas bemalt und Glas polirt. Das Glas ist es zunächst, was
ringsum die Ortschaften gegründet hat, oder ihnen doch ihren hauptsächlichen
Lebensunterhalt gewährt; nur einzelne der unmittelbar an oder in den Wald
gerückten Häuserbündel beherbergen eine anderer Hantirung obliegende Be¬
wohnerschaft, das Völklein der Holzfäller und Holzsahrer, einen derben, aber
wackern Menschenschlag, dessen saures Handwerk einen ganz erträglichen Bo¬
den hat, so daß hier zwischen den rauhen hohen Bergen die Noth selten
so grimm an die Thüre pocht wie im fruchtbaren Flachlande und in den Ort¬
schaften der Ebene. Mit den Glashütten stockt freilich auch die Industrie der
Holzarbeiter, die jenen ihr Brennmaterial Herrichten, und wie man in den
Bädern und Fremdenorten des Gebirgs für die Unergiebigkeit der heurigen
Saison immer zunächst den „großen Krach" verantwortlich macht, so führt
auch wohl der Holzhauer die leidige Allerweltsschwindelepoche der jüngsten
Jahre als Ursache seines spärlichen Verdienstes im Munde.
In schmalem Waldgrunde, der forellenreichen Mummel zur Seite, läuft
unser Weg gen Süden weiter, bis wir nach halbstündigen Marsche die von
Westen kommende mächtige Jser erreichen und auf einer stattlichen Brücke
von hell schimmerndem Granit überschreiten. Zur Rechten strecken sich
wiederum die rauchgeschwärzten Baulichkeiten einer Glashütte am Wasser hin,
von gewaltigen Haufen geschnittener Holzklaftern flankirt, denn das Glas ist
ein arger Waldverwüster, vor uns zeichnen sich die weißen Mauern einer
tiesigen Spinnmühle vom stahlblauen Fichtenhintergrunde ab, schräg über an
der Straße winkt ein freundliches kleines Wirthshaus — wir sind an unserm
nächsten Ziele angelangt, in Wurzelsdorf. Das überaus romantisch
gelegene Dorf ist neuerdings als ländlicher Curort in einige Aufnahme ge¬
kommen und vereinigt in Wahrheit viele der Eigenschaften in sich, die ein
^ad- und Sommerfrischort in den Bergen besitzen soll. Wir erwählen es
darum fürs Erste zum Standquartiere, schlagen in dem vor zwei Jahren
errichteten schmucken Badehause unser Zelt aus und streifen von hier in die
an schönen und interessanten Punkten überreiche und allenthalben lebensvoll
staffirte Landschaft hinaus.
Geschichte d er neuesten Zeit, 1816—1871. Von Dr. Constantin
Bulle. Erster Band. Von 1813 bis 1848. Bremen, Herrn. Credner 1876. - -
Unser geehrter Mitarbeiter, der den Lesern der Grenzboten noch in frischer
Erinnerung steht durch seine gediegenen Abhandlungen „Aus der Bastille"
und über den „Cölner Bischvfsflreit", hat in den jüngsten Wochen das oben
eingeführte Werk herausgegeben, das seit längerer Zeit bereits vollendet und
dessen Manuscript der Grenzboten-Artikel über die Cölner Wirren s. Z. ent¬
nommen war. Das vorliegende Werk genügt einem in weiten Kreisen em¬
pfundenen Bedürfniß. Die populär gehaltenen Geschichtswerke, welche die
neueste Geschichte gründlich behandeln, sind außerordentlich dünn gesät. Bücher
aber, welche außer dem Streben das Interesse des gesammten Volkes anzu¬
regen auch ernstlich bemüht sind, die Ergebnisse der deutschen Wissenschaft,
vor allem die Resultate der archivalischen Forschungen der letzten Jahre, zum
Gemeingut der Nation zu machen, giebt es kaum noch. In dieser Hinsicht
ist Bulle's Werk der wärmsten Empfehlung und des allgemeinsten Studiums
werth. Keine Epoche der Geschichte ist so reich an archivalischen Enthüllungen
gewesen, als unsere Tage. Man bricht heute mit einem Jahrhunderte lang
ängstlich bewahrten System. Das geheimnißvolle Dunkel der Staatsarchive
lichtet sich. Kaum ist ein diplomatisches Gewebe vollendet, so enthüllen sich
die kunstvoll geschlungenen Fäden dem Auge der Welt. Ueber die Staatsactionen,
welche zur Zeit unserer Großväter und wieder vor wenig Jahren spielten,
werden wir zum ersten Mal aus den besten Quellen authentisch unterichtet, zu
gleicher Zeit und nicht selten aus verschiedenen Quellen zugleich. Denn die
Liberalität und die klare Würdigung der Interessen der Geschichtsforschung,
welche die deutsche Centralregierung zuerst übte, erwecken Nachahmung überall.
So ist die dunkelste Epoche unserer Geschichte, die Zeit, welche Friedrich Wil¬
helm III. bei seinem Scheiden erst nach fünfzig Jahren allmählich zu enthüllen
gedachte, jetzt schon fast vollständig archivalisch erschlossen. Dadurch ist mancher
Vorgang, mancher Charakter in ein anderes Licht gerückt, als der „gebildete"
Deutsche in seiner Jugend gelernt hat. Und doch giebt es kaum wichtigere Ar¬
beit zum Verständnisse der Gegenwart, als die, der archivalischen Ausbeute über
die vaterländische neueste Geschichte zu folgen. Freilich Wenigen ist die Zeit
und der Beruf gegeben, diese Arbeit zu thun. Und deßhalb eben empfehlen
wir Bulle's Werk dem eifrigen Studium weitester Kreise. Bescheiden und
ohne jeden gelehrt scheinenden Quellenapparar, hat Bulle doch die neuesten
archivalischen Forschungen berücksichtigt. Mit Abschluß des Werkes — der
Schluß-Band soll längstens zu Ostern 1876 erscheinen — wird man ein Ge¬
schichtswerk besitzen, das in geschmackvoller, fesselnder Darstellung über die
Man liebt es unsere deutschen Dome mit unseren deutschen Wäldern
zu vergleichen, die Säulen mit den schlanken Stämmen, die Gewölbrippen
mit luftigem Gezweig, den bunten Schein mit dem andachtsvollen Dämmer¬
lichte des Waldes; man preist den idealen Schwung der himmelansteigenden
Linien, der selbst bis zur Negation der Schwere fortschreitet; man findet
darin ein Abbild des transcendentalen Geistes der Zeit der Scholastik; man
denkt sich diese Kirchenbauten aus der Erde hervorgewachsen als unmittel¬
barer Ausdruck des christlich germanischen Geistes, als Verkörperung des
hierarchischen Gedankens, wie die würdigen Fronten der Rathhäuser das
Bürgerthum des fünfzehnten Jahrhunderts und die kolossalen Dimensionen
der Renaissance-Schlösser die zum Bewußtsein ihrer selbst kommende Souve¬
ränität der Fürsten kennzeichnen u. s. w. Der geneigte Leser wird sich vielleicht
erinnern, solche in genialen Zügen ausgeführte Raisonnements über Kunst-
und Welthistorie gelesen zu haben; er wird auch den Eindruck behalten haben,
daß unter so hohen und allgemeinen Gesichtspunkten es ungemein leicht ist
Geschichte zu schreiben und zu verstehen. Vielleicht liegt auch eben hierin der
Grund, warum diese Methode moderner Geschäftsforschung soviel Anklang
gefunden hat. —
Was mich betrifft, so muß ich gestehen, daß ich an dieser Art nicht allzu¬
viel Vergnügen finde. Sie kommt mir so vor, als wollte Jemand Geschichte
schreiben und benügte sich mit den Kapitel-Ueberschriften, oder als wollte
einer eine Rede halten mit lauter Worten, die auf „ung" endigen. Die
Geschichte vollzieht sich keineswegs in Abstractionen- Darum kann es leicht genug
geschehen, daß speeialgeschichtliche Untersuchungen auch von den wohlklin-
gendsten Theoremen soviel wegstreichen, daß kaum nennenswerthes übrig bleibt.
Dagegen zeigt sich, daß sich, wie die Welt, so auch die Cultur und Kunstge¬
schichte aus concreten Unterlagen nach concreten Zwecken und mit ebensolchen
Mitteln entwickelt.
Wenn aber Style der Ausdruck von Volks- oder Zeitcharakteren sein sollen,
so müßte bei plötzlicher Aenderung des Geschmackes auch eine solche des
Volkscharakters zu bemerken sein, was sich keineswegs nachweisen läßt. Ich
wenigstens habe nicht die Kühnheit die italienische Renaissance mit der deutschen
Reformation in Verbindung zu bringen. Viel wichtiger ist die Rücksichtnahme
auf das jeweilige Bedürfniß, mehr noch auf das architektonische Können, auf
Material, Stand der Technik und Aehnliches. Dome wachsen nicht aus der
Erde wie Pilze; Anlage, Gewölbconstruction, das System der Widerlager
und Strebepfeiler muß durch viele Versuche und Generationen lang währende
Uebung gelernt sein, die ungeheuere Größe der Dimensionen muß sich durch
viele gelungene kleinere Versuche erst als ausführbar erwiesen haben, um
riskirt zu werden, das Ornament muß sich allmählich den Construetionslinien
anfügen und sich durch lange Uebung und Bildung des Auges so rein und edel
gestalten, um jenen classischen Charakter zu gewinnen, den wir an jenen
Meisterwerken mit Recht bewundern. Es muß sich ein tüchtiges Volk von
Steinmetzen, Zimmerleuten, Schlossern und Metallgießern bilden, die sich
gegenseitig zu stützen und fördern wissen, wie eine gut eingespielte Capelle;
vor Allem müssen die Mittel zu solchen Bauten flüssig sein, wenn auch nicht
reichlich, so doch continuirlich, um Tradition und Erfahrung stets frisch zu
erhalten. Dies alles sind Vorbedingungen, welche mit dem geistigen Leben
der Nation eigentlich wenig genug zu thun haben.
Auch Aenderungen des Styls von so tiefgreifender Gestalt, wie wir sie
mit dem Auftreten der Gothik und der Renaissance zu verzeichnen haben,
haben ihre eigene ziemlich complicirte Geschichte, die sich mit einigen Schlag¬
worten nicht abmachen läßt. Ich habe wiederholt gelesen das Auftreten des
Spitzbogens — beiläufig gesagt ein nur secundäres Merkmal des gothischen
Styles — bezeichne den Uebergang der bis dahin geistlichen Baukunst in
weltliche Hände. Das mag der Zeit nach ziemlich zutreffen, nur ist's uner¬
findlich, wie der innere Zusammenhang dieser zwei Thatsachen erwiesen wer¬
den soll. Dazu bauen auch nach dieser Zeit geistliche Laienbrüder spitze Fenster
und weltliche Steinmetzen runde. Ich muß mir versagen eine detaillirte Er¬
klärung dieser übrigens oft besprochenen Erscheinung zu geben, was ohne Bei¬
fügung von Illustrationen doch nicht durchführbar sein würde, und begnüge
mich im Allgemeinen nur zu bemerken, daß die Entstehung des Spitzbogens
aus rein technischen Gründen zu erklären ist. Und zwar bildet die Veran¬
lassung eine Aenderung, die man in der Gewölbeeonstruction eintreten ließ.
Das romantische Kreuzgewölbe bestand aus vier zusammen gelegten rund-
bogigen Kappen, welche ebenso von Pfeiler zu Pfeiler übers Kreuz wie bei
ihrer Berührung an den Seitenwänden Halbkreise bilden. In den rund-
bogigen Abschnitt der Außenwand paßt natürlich ein rundbogiges Fenster.
Dies war eine leichte Construction bei quadratischer Grundform, aber sie wurde
schwer, sobald ein Rechteck und fast unmöglich, sobald eine unregelmäßige
Grundform zu überwölben war. Sobald man aber den runden Bogen brach
und das Gewölbe in lauter sphärische Dreiecke zerlegte, gab's keine Schwierig¬
keiten mehr. In letzterem Falle zeichnet sich das Gewölbe an der Seiten-
Wand als Spitzbogen ab. In ein solches Feld setzte man zwar anfänglich
noch das rundbogige Fenster, aber die einfache Consequenz mußte dahin drän¬
gen auch die Fenster und Thürgebälke spitzbogig zu brechen. Dies ist die
Entstehung des Gothischen Styles. Die Meister Nordfrankreichs finden's
zuerst, andere machen's nach, und am Ende tritt der neue Styl mit der Herrsch¬
sucht einer neuen Mode auf. Man ist im Mittelalter von sehr moderner
Neigung, vielmehr wie wir, die wir auch einen vergangenen Geschmack zu
würdigen wissen. Darum wird ein angefangenes Gebäude nie nach dem alten
Plane vollendet, der neue Geschmack drängt sich dem Alten unvermittelt auf.
Wünscht man eine Kirche älterer Form zu erweitern, so lehnt sich an die
Westseite des älteren Baues unvermittelt der neue mit seinen spitzen Bogen
oder reicheren Ornamenten oder gestreckteren Wölbungen. Oder es schiebt sich
durch die schlichten romanischen Thürme der hohe Chor mit seinem zierlichen
Maßwerk und weit durchbrochenen Wänden hindurch. So baut jedes Jahr¬
hundert, ja jedes Jahrzent ohne Rücksicht auf das vorhergehende, was denn
sur Folge hat, daß diejenigen unserer Dome, die eine lange Bauzeit gehabt
haben, verkörperte Geschichten der Architektur darstellen. Dies ist dem Kenner
Zwar interessant aber für den Gesammteindruck ziemlich störend. Nachdem
aber im sechszehnten Jahrhundert der römisch-italienische Styl nach Deutsch¬
land importirt wurde, machte er der deutschen Tradition um so schneller den
Garaus, als er sowohl den Geschmack als auch die Bauhütten in Auflösung
begriffen vorfand.
Vielleicht trägt es zum Verständnisse für diese Erscheinungen und zur
Vermehrung des Interesses an denselben bei, wenn ich versuche, wie bei der
Malerei so auch bei der Baukunst aus quellenmäßigen Einzelheiten ein
^lib zu skizziren, welches uns zeigt, wie denn eigentlich gebaut wurde, mit
welchen Mitteln, welcher Technik, welchen Löhnen und welcher zunftmäßigen
Ordnung der Werkleute. Wir halten uns hierbei meist an kirchliche Bau¬
denkmäler, welche bedeutender und bekannter sind als Profanbauten', und
über die wir auch besser unterrichtet werden.
Es ist natürlich, daß wir an kirchlichen Metropolen auch die schönsten
und imposantesten Baudenkmäler finden. Es ist natürlich, daß jene Kirchen-
fürsten mit ihren reicheren Mitteln und größeren Bezirken, welche zum Bau
beizutragen verpflichtet waren, auch größere Werke zu unternehmen und durch¬
zuführen vermochten. Ebenso sind reiche und mächtige Städte im Stande
schönere und zahlreichere Bauten auszuführen, umsomehr da das Hauptinteresse
des öffentlichen Lebens sich auf kirchliche Feiern erstreckte, und weder Denk¬
male noch Theater noch Promenaden noch Museen zu bauen und zu unter¬
halten waren. Dennoch darf man nicht denken, daß die Mittel so reichlich
und mühelos zuflössen, als die Bauunternehmer wünschten. Die Willigkeit der
Beisteuernden muß durch Spendung kirchlicher Gnadengüter in Form von
Ablaßbriefen für alle, welche zum Bau beitragen, sei es mit Geld oder Dienst¬
leistung oder Arbeit, erkauft werden. Und in der That besteht ein ansehn¬
licher Theil der Documente, welche man über diese Bauten hat, in Abla߬
briefen. Jede neue Bauperiode pflegt sich mit Ausschreibung eines solchen
Briefes einzuleiten. Dazu werden die Einkünfte gewisser Liegenschaften oder
Stiftungen, ebenso kirchliche Stolgebüren zum Bau verwendet, wohl auch auf
bessere Zeiten Schulden gemacht.
Ein besonders klares und farbiges Bild dieser Manipulationen gewähren
die Baurechnungen des Doms zu Regensburg aus der Mitte des
fünfzehnten Jahrhunderts") (14S9). In diesem Jahre in der dritten Woche
nach Dominien misoricoräi^s ciomim wurde der (üanomeus IdooäeriouK <1o
ILamsdeiZ vom Kapitel zum maxister t'adrieav erwählt und fing mit diesem
Tage an Buch über Einnahme und Ausgabe zu führen.
Es folgen zunächst die Collectenerträge aus einundzwanzig Decanaten
derart, daß dem Decanatsort die Namen der Pfarrdörser in senkrechter Reihe
folgen, während die Erträge zu rechts und links an den Rand geschrieben
sind. Also zum Beispiel:
^Itdork. ^Itäork. ni-M)1l1i»g <le iij «ol oj ki. i.j. coll. ^Itnaim
alt ih' sol xvj R»t,. IloI,<zntg.um <1t xx?es' Il,g,t. tom. (Ap>on <1t
xx 15. ,j otia. I>s«>ob!Z.^Lou <It viij j odi. ^VL^donmicdel.
Ledat^dovon. LvoLMed- Lüning, viiij /? on^j den ^ odi.
Dies ist eins der faulsten Decanate. Eine Anzahl von Pfarrdörfern
leisten nichts, andere nicht gerade viel. Der größeste Beitrag wird aus der
Se. Ulrichsparochie geleistet, wie aus folgender origineller Position des Aus¬
gabeetats hervor geht: Item sociis dominorum in xaroedia, L. Väo.diei
pro didkliduL (Trinkgeld) ^roptor domain nromotionvm kadrieaiz in
oolleewris (die Summe hatte betragen 5 M. 4 solid. 1 den.) X gr. Item
Duo Oceano In Volidurg gr. dibales vrox>ter äiligentiam in eoU«e-
turis in Luv DeeiZ.ng.tu (die Summa war gewesen oj O 47 den).
Uebrigens scheinen die Herren Decane ihre Beiträge persönlich überbracht
zu haben. Ich kann mir denken, daß sie ihre didales in Natura zu sich
nahmen. Da einmal der Decan von Schwarzhoven nicht kommen konnte,
wird dies ausdrücklich bemerkt und sein Bote mit X Rat. belohnt. Die
Gesammtsumme dieser jährlichen Collecten beträgt 110 Pfund, 6 Schilling,
6 Regensburger Pfennige.
Hierbei werde erwähnt, daß der Opferstock (des Domes) ,17 ^. 7 /?,
21 Rat. einbringt: „allerlei Münz böser und guter." Da haben wir die
alte Klingelbeutelnoth und den alten praktischen Sinn des Bauern, welche
am liebsten ein gutes Werk mit schlechter Münze thut, um so zwei Vortheile
aus einmal zu haben. Der Abgang an schlechtem Gelde ist nicht unbedeutend.
»Der Veit, Krämer hat gekauft an egrern saltem, hanntlern saltem, Spenglern
saltem, ungarischen saltem und falschen helbling cet. 37 lib. an- ratis."
(37 Gewichtpfund Regensburger Pfennige,) indem je 18 Heller für einen
Groschen gerechnet wurden, was einen Abgang von 6 ^/ 3 /?. 6 den ver¬
ursacht.
Es kommt, um auch dies gleich vornweg zu nehmen, ein weiterer Verlust
von 8 /?. welche weniger da sind als der Zettel angiebt: „es war ein Gries
darein geschen." Wo bleibst du Poesie des begeisterten Schaffens
an den herrlichen Werken mittelalterlicher Kunst?
Hierzu kommen an regelmäßigen Einnahmen gewisse servitute und
Naturalleistungen. Hier hat ein Haus 6 dort eine Wiese ein Fuder
Heu (gab dafür 3 ^S), dort eine Mühle zwei Schott Flachs zu liefern, da
haben Bürger und Bauern den Decem in Korn zu leisten. Der Erlös aus
dem Getreide beträgt 12 M 74 dn.")
Dies sind die ordinären Einnahmen. Die extraordinären bestehen
zunächst in dem Erlös aus allerlei Hausgeräth, Kleidern und Mänteln,
welche dem Bau zu liebe geopfert wurden. Es ist dies eine der ältesten und
verbreiterten Formen der Beisteuer. Ferner kann nahezu ein Centner Wachs
verkauft werden. Ergiebiger sind die Einkünfte av testumentis et xreventis.
Das erstere sind testamentarische Schenkungen, das zweite sind Bu߬
gelder. Letzteres ist so zu verstehen: In einer causa mixti tori hat das Ge¬
richt, weltliches oder geistliches, welches zuerst die Klage erhebt das Vor¬
recht der eompetenx (pi-ieventie). Die kirchlichen Bußen bestehen prak-
tischer Weise in Geldzahlungen. Es finden sich z. B. folgende zum Theil
recht billige Ansätze: alt pro pona, pro puero suo interompto per so
ipsum 60 cien . . . pro uxors sua in toute sudmorsÄ in infamia
prev enlg, eum Oro Lenenlc lune vieario 9 sol. item pleoa-nus in ^inpruelc
at pro Sartore interkeeto.. vat. — Einnahme 33 4 /?, 2 Rat,
Es kommen noch hinzu einige kleinere Einnahmen, Decem aus Weinbergen
und der Ertrag von zwei Steinbrüchen. Gesammtsumme 323 223 asu.
Ein ähnliches Bild zeigt sich uns, wenn wir unseren Blick auf andre
kirchliche Bauwerke richten. Ein Heilthum, ein Ablaßbrief muß den Stamm
des Capitals schaffen. Dann aber sind es Collekten, Legate und Schenkungen,
von denen ein Fonds zusammen fließt, aus dem langsam aber unermüdlich
weiter gebaut wird. Rührend sind einige Schenkungen, welche zum Ulm er
Dome gemacht werden. Heinrich Kraft des Bürgermeisters Mantel wird
verkauft um 20 si. ein Bettlein von der Dunkinin der Sreinmetzlin, verkauft
um 1 ^ Heller, ein Barchenttuch von der Zollerin verkauft um 2 si. 3 /?.
Der Mantel von der Magd des Heinrich Kraft verkauft um 6 si. Millers
Wams und Hosen verkauft um 6 /? 6 ^. Heinrich Schribers Panzer und
Goller verkauft um 6 si. ein Kappenzipfel und ein Filzhut „von den ge¬
fangenen Leuten im Elend." Auch Karten, Bretspiel und Schachgabel befinden
sich unter den Schenkungen. Letztere sind offenbar als Sühne für Spiel¬
sünden und auf Veranlassung gehaltener Strafpredigten gegeben werden.
Wo eigenes Kirchenvermögen vorhanden war, vereinfacht sich das Geld¬
geschäft. Ein Anlehen ist um so leichter zu verzinsen und zu tilgen, je
prächtiger der Bau wird und je mehr Altäre, Heilige und Reliquien er enthält.
Ich führe beispielsweiese folgendes aus der Baugeschichte Nürnberger
Kirchen an.
Im Jahre 1403 beschloß man die Erweiterung der Lorenzkirche zu
Nürnberg, weil sie bei dem Wachsthum der Stadt den Zudrang der Gläubigen
besonders an den Festtagen nicht zu fassen vermochte. Man beschloß die
Erweiterung des Chors und legte 1439 den Grundstein. Wie aber sollten
die Mittel geschafft werden ? denn die der Kirchenfabrica zufließenden Geschenke
reichten nicht im entferntesten zu. Der Kirchenmeister wendet sich dem zu¬
folge an die damals tagende Synode zu Basel mit der Bitte ihm zu ge¬
statten, daß das Einkommen des Kirchenvermögens zehn Jahre lang zum
Baue verwendet werde. Nur zur Unterhaltung des Pfarrers sollten die
nöthigen Mittel aus der Einnahme vorbehalten bleiben. Die Synode gab
durch eine Bulle vom 16. September 1440 ihre Zustimmung. Die Mittel
aber flössen nicht so reichlich, als man erwartet hatte, und der Bau wurde
mit wenigen Arbeitern, sechs bis acht Gesellen in der Bauhütte und ebenso
Vielen in den Steinbrüchen langsam geführt und erst 1472 beendet.
Zum Aufbau der beiden Thürme der Seb alduskirch'e 1481 entlehnt
die Kirche mit Bewilligung des Rathes aus der Losungsstube (städtische
Kämmerei) 11853 <N. 4 /S 4; die übrigen Kosten sollten durch milde Beiträge
aufgebracht werden, die auch reichlich flössen, da hohe und schöne Thürme als
ein Schmuck und Stolz der Stadt angesehen wurden.
Die dritte der Nürnberger Kirchen, die Marienkirche, wurde auf Kaiser
Karl's Veranlassung aber schwerlich mit kaiserlichem Gelde gebaut. Sieg-
Mund Meist erim berichtet hierüber in seiner Chronik III. Buch 28 Cap.
unter dem Jahre 1360 (?), daß der ehrbare Patrizier Strömer mit dem
Kaiser conferirt habe. Dieser hatte die Stadt belobt, daß sie ihm mit ihren
schönen Häusern, weiten Gassen und Plätzen hoch wohl gefallen habe, aber es
sei eine Kirche unserer lieben Frauen zu vermissen. Strömer entgegnete: Gar
leicht möchte solches zu löblichem Ende gebracht werden, wenn die Judenschaft
nicht innen hätte die «verlustigsten besten und schönsten Häuser und Flecken.
Aber des jüdischen Volkesvolkes ist soviel, daß man schier zweifeln möcht, ob
Christus bei uns den Sieg hätte oder Moses. Der Kaiser läßt sich bewegen
und befiehlt den Juden in Jahresfrist die Häuser um den Markt zu verkaufen
und ihre Shragen und Buden zu entfernen. Auch die Judenschule wird ab¬
gebrochen und an ihrer Stelle die Marienkirche gebaut. Ein bei diese Gelegen¬
heit gewährter großer Ablaß scheint die Mittel geschafft zu haben.
Die angeführten Beispiele gehören sämmtlich dem Ende der gothischen Peri¬
ode an. Man würde aber Unrecht thun diesem Jahrhundert, das freilich eine De¬
generation des Geschmackes zu erkennen giebt, Mangel an kirchlichem oder Bau-
Interesse überhaupt zuzuschreiben. Man baute auch in diesem Jahrhunderte
fleißig. Ja wir haben keinen Grund anzunehmen, daß in der Entstehungs-
ieit unserer großen Dome die Mittel so überreich vorhanden gewesen wären,
^cum auch der Beginn eines großen Werkes mehr Interesse voraussetzen läßt,
die Fortführung einer Arbeit deren Vollendung ganz aussichtslos zu sein
Wen. Um so kühner aber sind jene früheren Anlagen, und von um so
stolzerem oder idealeren Streben geben sie Kunde.
Nun möge der geneigte Leser auch einen Blick werfen auf die Art der
Arbeit und die verwendeten Kosten. Die Sache sieht viel bescheidener,
ich möchte sagen spießbürgerlicher aus als jene stolzen Bauwerke uns heute
ahnen lassen. Wir kehren zu unserem ersten Gegenstande dem Baue des Regens¬
burger Domes im Jahre 1458 zu 1459 zurück. Es kann natürlich nicht die
Absicht sein alle Details mitzutheilen; ich beschränke mich also auf das Haupt¬
sächliche und Charakteristische.
Die Rechnung beginnt Pfingsten 1458 und endet Judica 1459. Die
Zahlungstermine sind für die Arbeiter in der Bauhütte, die Zimmerleute und
Schieferdecker wöchentliche, für die Steinbrecher monatliche und für den Schmied
Schlosser sowie für die Fuhrleute finden Abrechnungen von unbestimmten
Terminen statt. Hierzu kommen noch vierteljährliche Trinkgelder für die
Meister. Wir befinden uns nämlich in dieser Zeit auf den klassischem Boden
der Trinkgelder, Spenden, Ehrentränke, Liebungen und Ver¬
ehrungen. Es begehrt und nimmt jeder sein Trinkgeld, Kaiser, Kanzler,
Bischöfe, Meister und Knechte. Jedes nicht bedungene Geschäft, das ausge¬
führt wird, wird mit einem Trinkgelde belohnt, jeder Kauf fordert einen Leih¬
haus d. h. Trinkgeld oder Trinkstoff als Commissionsgebühr. So sind auch
die vorliegenden Rechnungen gleichsam mit einem reichen Kranze von Trink¬
geldern garnirt.
Zuerst die Bauhütte. An der Spitze des Baues steht damals ein
bekannter und um die Organisation der Hütte hochverdienter Mann; Conrad
Roritzer, von dem hernach noch mehr zu sagen sein wird. Unter ihm
arbeiten ein Pour und sieben bis zehn Gesellen. Auch Lehrlinge kommen
ab und zu vor, doch ist ihres Bleibens nicht lange. So etliche Tage
nach Pfingsten; dann Dominica Is", das ist Ende August, ein ge¬
wisser Michel Knittelmair vier Tage „sea maxister (üonraäus male
tuit evntöntus", dann Hansen Mautner Lehrjunge, welcher aushält.
Dazu ist das ganze Jahr hindurch ein Hüttenknecht angestellt.
Folgendes sind die Löhne: Meister Conrad erhält wöchentlich 6 an
also pro Tag 10^/z «In. Hierzu kommen an Trinkgeldern: Item zu ver¬
trinken Meister Conrad und dem Glaser 16 ohl. aufzuhängen die Tafel im
Chor. Item dem Meistern zu vertrinken S den von der Glocken wegen,"
nämlich die Sanct Peters Glocke, welche in diesem Jahr aufgehängt wurde-
Dazu die Koteinmer (Quatember) zu Pfingsten Emerani Nativitatis und
Fasten je zu 6 /?. Der Glaser, — natürlich nicht ein gewöhnlicher Bau¬
glaser sondern Glasmaler — erhält je 1 O..
Bei Roritzer ist der Pfingsttermin nicht in Ansatz gebracht. Wir müssen
annehmen, daß er zu dieser Zeit auswärts beschäftigt gewesen ist, und zwar
aller Wahrscheinlichkeit nach in Nürnberg. Wenigstens erfahren wir aus
Rathsacten zu Nürnberg, daß er den Chorbau der Lorenzoktrche daselbst
1445 — 48 führte und von da an wenigstens periodisch beaufsichtigte. Er
übertrug später dies Geschäft seinem Barlier Hanns Pauer von Ochsen¬
furt, mit welchem der Rath einen Contract über Ausbau des Chores schloß-
Dieser Contract, bei dessen Schließung sicher Conrad zugegen war, ist datirt
vom 17. Mai 1458. Die ausfallende Quatember zu Regensburg aber trifft
auf den 21. Mai, wie sich unschwer berechnen läßt. — Die Competenzen,
welche Meister Conrad von Nürnberg bezog, betrugen zu jeder Quatember
20 si. in Gold und ein jährlicher Hauszins von 8 si. Es wäre also das
Jahreseinkommen eines Baumeisters von bekanntem Namen 88 si. in Gold,
abgesehen von etlichen Nebensporteln, die etwa auf 6 si. zu veranschlagen sind.
Dagegen betragen die Gesamteinnahmen zu Regensburg 133 A — /? 28 ^Z.,
was aber factisch etwa dasselbe sein mag, da, das L/. damals den Werth eines
Goldguldens nicht mehr hatte.
Der Gesell erhält pro Tag 8 der Barbier 9 ^. der Lehrjunge
8der Hütten knecht 5 auch 4 dazu wird jedem nach allgemeinem
Gebrauche, auch dem Hüttenknechte, wöchentlich ein Badpfennig gegeben.
Besonders bezahlt werden plastische Arbeiten, als Kapitale Sockel und so
Weiter, wie folgende Position zeigt.
liatio eum miigistro Lonracl lumbmeister.
^.uno on . . . 1ix""> In vel. van. Lanetorum de>.b ich gg-unen abge-
rs.it mit Im van berna,eb geschrieben Stube. Item vnd ein gross Oiivitell
<1aiAuk ale maria stett alatur x/S üg.t. Item vmb et^ in^xtel äar^ut Land
I>eder jL/. asu Kat. Item vmb ale ^larig. xich/? den, Item vena am^o-
Ng.nes xiij/? am. Item vmb ein Oaptell mit ein Lg.>ol<0jzk neben äem turn
am. Item vmb vij OapteU In das (Fibeigebenng (?) ora In ale Muter
5oren on äem nerven turn ora .in äas gebenng ä^rneben on äem hohen-
^verte lo tur «.ins oj gr. Item vmb vier banngenä possen in aer Mutter
^oren oben In Äer Leu^pedem je Mr e>.in oj gr kaeit to viiij lib Ixxviij am.
Die Termini technici sind meist verständlich. Die vier Hangenden Possen
in der Plinthenform bin ich geneigt zu erklären als vier aus den Sockelenden
hervorragende Ungeheuer oder Fratzenköpfe, wie sie an Kirchenbauten häufig
getroffen werden. Eigentlich sind Possen Holzschnitzwerke, welche zur figu-
ralen Verzierung verwendet wurden. Auch die carrikirten Häscher auf Passions-
seulpturen werden Possen genannt. Uebertragen heißen auch die Puppen
Puppentheater Possen; und da sie an Fäden geführt, oder wie man sagte
"gerissen" wurden, so bedeutet unser Sprichwort: Possen reißen eigentlich Nar-
renspiele aufführen. Dies nebenbei.
Ob diese oben genannten Stücke von der Hand des Baumeisters selbst
herrühren, ob sie von den Gesellen gefertigt und von Roritzer nur verrechnet
send, ob artistische Leistungen noch extra honorirt worden, oder ob die Kapi-
^e u. s. w. über Feierabend gearbeitet sind, alles dies ist aus den vorlie¬
genden Rechnungen nicht ersichtlich. Jedenfalls dürfen wir annehmen, daß eine be¬
sondere Species von Bildhauern in der Domhütte neben den Steinmetzen
nicht bestanden hat. Es sind dieselben Leute, welche die Werkstücke, wie die
Verzierungen und Figuren liefern. Dagegen giebt es Bildhauer, welche selb¬
ständige Werke wie Brunnen, Stationen, Sacramenthäuser u. s. w. in Stein
ausführen. Diese haben aber mit der Bauhütte nichts zu thun, sondern
rangiren unter den städtischen Zünften, sei es den Malern oder Steinmetzen
oder Bauleuten der Städte. Zu ihnen gehört als einer der bekanntesten Adam
Kraft. Ich werde später auf diese Art von bildenden Künstlern und speciell
auf ihre Kontrakte und Bestellungen zu kommen haben. Zuvor indessen mö¬
gen die weiteren Ausgaben der Bauhütte dargestellt werden.
Es sind zwei Steinbrüche zum Regensburger Bau im Gange. Die Stein¬
brecher zu Ab ach sind auf Tagelohn angestellt. Sie erhalten 4 <1u Winterlohn
oder 5 6n Sommlohn. Der Meister, Peter Sun er erhält 0 an. Neben ihm
arbeiten drei Gesellen : Tönet, Comez und Michel. Summa der Jahresaus¬
gabe 13 M 7 20 <in. Die Steinbrecher zu Käpselberg arbeiten auf eigne
Rechnung. Der Preis eines Schaf guter weißer Steine — wieviel mag ein
Schaf sein? unser Schüssel ist offenbar ein Diminutivum davon —ist durchschnitt¬
lich 1 F/. 24 ein^- 9 /?. Die verkaufenden Steinbrecher heißen Keyll, der
kleine Püchsel und der lange Püchsel. Summa 11 3 /? 9 ^v. Natürlich
fehlen auch hier wieder Leihkauf und Trinkgelder für die Frau nicht.
Die Schaftende, unter welchen ein Eunz, Bauer vielfach figurirt erhalten
für die Bruckschaf von Abach zur Hütte zu führen ^ M und 10 ^v. Der
genannte Bauer fährt auch die Hölzer aus dem Walde und Bretter aus der
Stadt zum Bau u Fuhre 5 ebenso den Schutt weg vom Platze 71 Truhen
d. h. Kastenwagen u 4 an. endlich aufzuschleifen 31 groß 8 kleine Hölzer, eins
in das andere 25
Der Schmidt erhält für Städten der Meissel und etliche Eisenarbeiter zu
Se. Peters und zur Bierglocke 8 M 5 /? 2 an., der Schlosser für 30 Wind¬
eisen in die Fenster ^ L/„ Keile,und '/z, Glasnägel 5 /?.
Ungefähr von gleicher Höhe als die der Steinmetzen sind die Löhne, der
Zimmerleute. Meister Conrad, Zimmermann erhält täglich 7 an. der Ge¬
sell 5 An pro Tag,.dazu wöchentlich den üblichen Pfennig zum Baden. Letz¬
teres ist nicht eine Luxusausgabe, sondern ein dringendes Lebensbedürfniß.
Wir müssen bedenken, daß die Seife damals noch unerfunden war; man
mußte sich mit häufigem Baden in starker Wärme und mit Lauge zu helfen
suchen. Darum ist der Badpsennig eine Löhnung, die wir überall finden, wo
Arbeiter bezahlt werden. — Eine Erhöhung des Lohnes trat ein, wenn in
gefährlicher Höhe gearbeitet wurde, wie denn auch für je vier Tage für
Meister und Gesellen 8 dn Rat. extra in Ansatz gebracht sind „nan Li Ka-
dtmt. in aer Köcki vdcnuull MarbAtet". Die Löhne der Schieferdecker
betragen für den Meister 10 dr> (sehr hoch, fast gleich demjenigen des Bau¬
meisters!), für den Gesellen 5 an. Folgende Aufsätze unter der Rubrik gvin
wult belehren uns über Preise und Ankauf des Holzes: „Der Christian Flu-
drärin für 44 gar groß Hölzer, je für eins 35 gr und 8 kleine Hölzer
zusammen 1 M (oder 10 gr für eins). In heutige Werthe ungerechnet
würde das. für das kleine Holz 2 Thaler, für das große 6V2 Thaler aus¬
machen. Hieran hängen sich aber sogleich wieder die üblichen Spesen und
Trinkgelder. Der Dom-Baumeister, der Polirer, Meister Conrad Swab und
Hanser Hurter hatten den Preis begutachtet und werden honorirt: den Mei¬
stern als Leihkauf d. i. Commission 4 gr; dem Fluder, die Meister in den
Wald zu fahren, ebenfalls 4 gr. dem benannten Hurter gen Wald zu gehen
8 gr. Item umb Wein 8 ki^t. (<in) facit 20 ^ 3 /S 2« <In.
Endlich wird für Kalk ausgegeben für je 2 Schaf Kalk 14 du zu führen
3 an fg-eit totum 2 g ein.
Daß nun ferner in die Kasse der Domfabrika Zitazen (Mahnbriefe),
Botenlöhne, Trinkgelder u. f. w. verrechnet werden, ist ja erklärlich; aber auf¬
fallend ist, daß auch reine kirchendienstliche Ausgaben unter den baulichen ver¬
zeichnet finden, z. B. 18 ^ Kerzen zu unser Frauen Bild eircu ke»wen
Falli. (ÜÄntoi'idus pro Lalve reginu eireg, ungÄrium ^/z M an u. s. w. Wir
müssen fast annehmen, daß wie in dem ähnlichen Falle in Nürnberg eine be¬
sondere Kirchenrechnung gar nicht geführt wurde. Wenn endlich noch in
Ausgabe gestellt wird: Item geschickt ».6 euriam pro iuäulgentiis ein Un¬
garischer Gulden, welchen ich gekauft für 46 gr. so kam dies wohl der
Fabrik» unter dem Titel der volleeturae zu Gute, wie schon oben bemerkt
wurde.
Der Gesammtabschluß ist also:
Von diesen Posten mag der erste, nach welchem sich die andern leicht fest¬
stellen lassen, nach unseren Werthen 2 — 3000 Thlr. betragen.
Es werden wohl obige Rechnungsangaben ein Bild der Bauthätigkeit
des ausgehenden Mittelalters geben können. Aehnliche Verhältnisse und Zahlen
finden wir überall, wo uns urkundliches Material über Kirchenbauten dieser
Zeit zur Hand find. Die Summen find sehr bescheiden; die Leistung eines
wahres kann auch bei der geringen Zahl der Arbeiter nicht bedeutend gewesen
sein. Dagegen verdient die zähe Ausdauer, mit welcher ein Menschenalter
nach dem andern an den angefangenen Riesenbauten früherer Jahrhunderte
weiter gearbeitet wird, alle Achtung. Uebrigens werden wir zu einer rich¬
tigeren Schätzung der angewandten Kosten gelangen, wenn wir uns fragen,
Was würde wohl heute die Unterhaltung von so oder soviel Bauleuten und
die Beschaffung des Materials kosten. Wir dürfen auch nicht verschweigen,
daß dies Jahrhundert durch seine langsame Stätigkeit manches wirklch vollendet
hat, was uns freilich nicht immer auf urkundlichen Wege, sondern durch An¬
schauung , nämlich durch die Eigenthümlichkeiten des Mtgothischen Styles
berichtet wird. Mancher Thurm, manche Westfasade, manches Querhaus giebt
Zeugniß von dem Baueifer des soviel gescholtenen fünfzehnten Jahrhunderts.
Man kann nicht sagen, daß dies Jahrhundert einen besonderen Ueberfluß
an Phantasie gehabt habe; darin stehen ihm jene Zeiten, welche unsere
Dome erdachten weit voran; aber das leuchtete seinem praktischen Sinne ein,
daß Kirchen auch einmal fertig werden müssen, um brauchbar zu sein, und
um der Stadt und dem Lande zum Ruhme zu gereichen.
Fragen wir nun, woher es kam, daß auch diese Bauthätigkeit im sechs¬
zehnten Jahrhundert ins Stocken gerieth, so werden wir nicht antworten kön¬
nen — wie nicht selten geschieht — der Grund liegt in der Abnahme des
kirchlichen Lebens oder in dem Auftreten der Reformation. Einmal ist ein
Abnehmen des kirchlichen Lebens in dieser Zeit überhaupt Nicht zu constatiren,
und sodann findet sich eine Stockung auch in denjenigen Theilen Deutschlands,
die von der Reformation nicht berührt wurde. Der Hauptgrund ist die herein¬
brechende Geldnoth, die Verarmung der Städte; nächst diesem die auftretende
neue „welsch' Manier" und das Ersterben der gothischen Tradition. Aber
das erste ist das Wichtigere. Wo, wie z. B. in Frankreich, ein Rückgang des
Wohlstandes nicht so fühlbar war, oder wo Kirchenfürsten mit ansehnlichen
eigenen Mitteln trotz der auftretenden Renaissance an gothischen Werken
weiter bauten, zeigt sich sogleich ein gothisch-italienischer Uebergangsstyl, der
manches Originale hat, und der beweist, daß das Aufhören der gothischen
Tradition den Stillstand nicht in erster Linie verschuldet.
Im vorigen Artikel hatten wir nach dem Verfasser unseres Originals
gezeigt, daß die modernen Ideen der Freiheit und der Gleichheit vor dem
Gesetz, von denen die letztere aus der im Gegensatz zu der katholischen Schei¬
dung der Christen in Laien und Priester von der Reformation aufgestellten
Idee des allgemeinen Priesterthums hervorgegangen ist, Früchte des Protestan¬
tismus sind, und dieß mit zahlreichen Beispielen belegt. Im Folgenden
fahren wir zunächst hierin fort, um dann Herrn de Laveleye in weiterer Aus¬
führung der Gründe nachzugehen, aus denen die protestantischen Völker den
katholischen gegenwärtig in wesentlichen Dingen voraus sind.
Jene Ideen, nach denen der Mensch sich selbst angehört, nach denen er
frei ist, nach denen man von ihm keinen Dienst und keine Steuer fordern
darf, wenn er durch seine Vertreter nicht einwilligt, nach denen die Regierung,
die Gerechtigkeitspflege, alle Gewalten vom Volke ausgehen, stammen unbe¬
streitbar aus altgermanischer Ueberlieferung. Aber sie waren im Mittelalter
durch das Feudalsystem und vom fünfzehnten Jahrhundert an durch die cen-
tralisirte und unbeschränkte Monarchie, dieses Abbild des Papstthums, unter¬
drückt, und wenn sie in der Schweiz, in den Niederlanden, in England und
Amerika wieder auflebten, so danken wir dieß dem demokratischen Geiste der
Reformation. Nur in protestantischen Ländern haben sie sich behauptet und
Früchte getragen. Hätte Frankreich diejenigen von seinen Kindern, die sich
dem Protestantismus zuwendeten, nicht verfolgt, umgebracht oder vertrieben,
so würde es die Keime der Freiheit und Selbstregierung, die sich in den
Provinzialstaaten erhalten hatten, zu entwickeln im Stande gewesen sein. In
den Versammlungen von la Rochelle und Grenoble, in den Generalstaaten
von Orleans zeigt sich der parlamentarische Geist in derselben Stärke wie im
englischen Parlament, man redet hier jene deutliche und feste Sprache Calvin's,
die so wohl angethan ist zur Behandlung der großen Interessen der Religion
und Politik.
„Wir werden unsere Städte ohne König gegen den König zu vertheidigen
wissen", sagten die Hugenotten, und es ist nicht daran zu zweifeln, daß sie.
Wenn sie gesiegt hätten, eine constitutionelle Monarchie wie in England ge¬
gründet haben würden. Hätte der französische Adel den Geist der Unab¬
hängigkeit und des gesetzlichen Widerstandes bewahrt, den ihm der Protestan¬
tismus eingeflößt, so würde er der Königsmacht Schranken gesetzt und jenen
orientalischen Despotismus Ludwig's des Vierzehnten und seiner Nachfolger
der die Charaktere gebrochen hat, unmöglich gemacht haben. Franz der Erste,
indem er das Zeichen zur Verfolgung der Reformirten gab, und Heinrich der
Bierte, indem er den Protestantismus abschwor, haben das wahre Interesse
Frankreichs verrathen wie der französische Adel. Das von den meisten fran¬
zösischen Schriftstellern als ein Beweis praktischen Sinnes gepriesene Wort
»I^aris of.ut Kien uns messe" ist vielmehr ein empörender Cynismus. Ein
redlicher Geist wäre dazu nicht fähig gewesen. Frankreich trägt noch jetzt den
Schaden davon, wie es noch von den Folgen der Bartholomäusnacht und
der Aufhebung des Edicts von Nantes leidet. Was ihm am meisten fehlt,
sind Männer, die, ohne mit der Ueberlieferung zu brechen, die neuen Ideen
annehmen, wie dieß Fürst Bismarck gethan hat. Die Republikaner sind
Feinde jeder religiösen Idee oder wenigstens gleichgültig gegen jede solche
Idee, und es fehlt ihnen, wie ihren Vorgängern, den Revolutionsmännern
des vorigen Jahrhunderts, an einer festen Grundlage zur Errichtung eines
soliden Baues. Die, welche die religiösen Ideen vertheidigen, wollen das
alte Regiment wieder aufleben lassen und widersetzen sich jeder Reform. Frank-
reich hätte in diesem Augenblicke Gelegenheit, sich eine freiheitliche Gestalt zu
geben. Aber die Anhänger der Monarchie ebnen der Rückkehr der napoleo-
niden den Weg oder stürzen das Land durch ihren blinden Eiser für ein
bigottes Bourbonenthum in Anarchie. Die Republik ist dermalen die einzig
mögliche Regierungsform in Frankreich, aber die Republikaner verhindern sie,
Wurzel zu schlagen, weil der Katholicismus sie mit dem Geiste des Despo¬
tismus und der Unduldsamkeit erfüllt hat, und so wird das Land kaum einer
neuen Aufrichtung des Absolutismus entgehen. Katholiken können keine Re¬
publikaner sein, weil die römische Religion die Völker nicht innerlich frei
werden läßt, sie nicht duldsam macht, sie nicht vorbereitet, sich selbst zu
regieren.
Bei den katholischen Völkern steht die Duldung bisweilen in den Ge¬
setzen, nie aber lebt sie bei ihnen in den Sitten. Wehe dem, welcher von
der Gewissensfreiheit Gebrauch machen will und den Eingebungen des seinigen
zu gehorchen beschließt. Er wird von den Gleichgültigen mehr verspottet als
von den Gläubigen. Die Ungläubigen finden es bequemer, den Priester aus¬
zulachen oder anzugreifen, was sie nicht abhält, sich in allen wichtigen Lagen
des Lebens vor ihm zu beugen. Indem sie das Joch der Orthodoxie dulden,
über das sie sich lustig machen, und dem sie sich doch unterwerfen, erlauben
sie nicht, daß andere, die es zu schwer finden, sich ihm offen entziehen. Durch
Einschüchterung und Verspottung drängt sich die Uniformität auf, und die
Freiheit ist nur ein leerer Schall."
Alle modernen Völker bestreben sich, die constitutionelle Regierung einzu¬
führen. Aber dieselbe scheint sich in den katholischen Ländern nicht auf die
Dauer halten zu können, und zwar deshalb nicht, weil das Staatsoberhaupt,
König oder Präsident, wenn er der Kirche ergeben ist, kein verfassungsmäßiger
Herrscher sein kann. Er wird dann von seinem Beichtvater gelenkt werden,
der seinerseits wieder dem Papste gehorcht. Vermittelst des Beichtstuhls wird
also der Papst in den wichtigsten Angelegenheiten der eigentliche Souverain
sein, das heißt, wenn dieser nicht wieder von den Jesuiten beherrscht ist. Die
Rechte, welche die Verfassung dem Inhaber der vollziehenden Gewalt einräumt,
werden dann von einer auswärtigen Macht und zum Schaden des Landes
ausgeübt. Die Geschichte ist voll von Beispielen hiervon. Zu gehorsam ge¬
gen seinen Beichtvater, widerruft Ludwig der Vierzehnte das Edict von Nantes,
verliert Jacob der Zweite von England seine Krone, stirbt Ludwig der Sech¬
zehnte aus dem Schaffst, ruinirt Ferdinand von Oesterreich durch Verfolgung
der Protestanten seine Staaten, bereitet Sigismund von Polen die Theilung
dieses Landes durch Begünstigung der Jesuiten vor, muß Karl der Zehnte
vom Throne Frankreichs ins Exil gehen. Unter einem frommen, gut katho¬
lischen, seine Pflicht als Beichtkind gehörig erfüllenden Souverain ist die ver-
fassungsmäßige Regierung eine Einbildung und ein Trug; denn entweder
unterwirft sie dann die Nation den Anmaßungen des römischen Oberpriesters,
oder sie führt, wenn das Land sich diesem erniedrigenden Joche zu unter¬
werfen ansteht, zur Revolution. Das heutige Oesterreich läßt sich dagegen
nicht anführen; denn noch lange ist dort nicht aller Tage Abend gekommen,
und ungefähr dasselbe gilt von Italien. In protestantischen Lande dagegen
entwickelt sich das constitutionelle Regiment immer naturgemäß, wenn auch
bisweilen langsam, denn es ist hier auf heimathlichen Boden.
„Eine andere Ursache der Inferiorität der katholischen Völker ist, daß
das religiöse Gefühl bei den gebildeten und leitenden Klassen schwächer, als bei
denen in protestantischen Ländern ist. Diese Thatsache, von Niemand geläug-
net, erklärt sich unschwer. Zunächst tritt der Katholicismus mit vielen seiner
starren Dogmen, mit seinen zum Theil kindischen Ceremonien, seinen Wundern
und Wallfahrten aus der Atmosphäre des modernen Denkens hinaus, wo¬
gegen der Protestantismus kraft seiner Einfachheit und seinen der Vervoll¬
kommnung fähigen Formen sich demselben anbequemen kann. Renan sagt sehr
richtig: „Die Bildung neuer Secten, die von den Katholiken am Protestan¬
tismus getadelt und als Zeichen der Schwäche behandelt wird, erweist im
Gegentheile/ daß das religiöse Gefühl in den Protestanten noch lebt, da
es schöpferisch ist. Es giebt nichts Todteres als das, was sich nicht mehr
rührt."
Die tiefe Gleichgültigkeit, mit welcher die große Mehrzahl der gebildeten
Katholiken neuerdings zwei neu erfundene Dogmen aufgenommen hat, welche
früher die lebhafteste Opposition wachgerufen und zur Kirchenspaltung geführt
haben würden, ist das Symptom einer unglaublichen Abschwächung des geisti¬
gen Lebens im Schooße des Katholicismus. Zumuthungen an den Glauben,
wie sie die Lehre von der unbefleckten Empfängnis; Marias und von der Un¬
fehlbarkeit des Papstes enthalten, müssen unfehlbar zum Unglauben führen.
Die Mißachtung der Vernunft von Seiten der Kirche gebiert die Mißachtung
der Kirche von Seiten der Vernünftigen. „Ein Familienvater", sagt Geruzet,
»welcher an Gott, aber nicht an den heiligen Cupertin glaubt, steht in Ver¬
legenheit zwischen bigotten und atheistischen Töchtern. Gott bewahre uns vor
dem Atheismus und der Cupertinage." Offenbar hat diese Cupertinage den
Atheismus zur Folge gehabt, und beide haben Frankreich dahin geführt,
wo wir es sehen; denn es ist dort kein Platz mehr für eine vernünftige
Religion.
„Der Katholicismus erzeugt eine so vollkommene Theilnahmlosigkeit in
religiösen Dingen, daß selbst die Kraft, welche zu offenem Austritt aus der
Kirche nöthig wäre, fast allenthalben mangelt. Man sieht, daß Protestanten
katholisch werden, weil sie, einigen Glauben bewahrend, den echten Cultus
suchen und wähnen, daß Rom ihnen denselben darbiete. Dagegen sind Ueber¬
tritte vom Katholicismus zum Protestantismus selten, weil der gebildete
Katholik mit wenigen Ausnahmen jeder Art von Religion feindlich oder gleich¬
gültig gegenüber steht. Diese Theilnahmlosigkeit kommt der Kirche noch zu
statten, denn sie verhindert, daß man sich ihrer Autorität ganz entzieht, und
immer gelangt sie bei ihr schließlich dahin, sich der Kinder ihrer Gegner
wieder zu bemächtigen.
Der zweite Beweggrund, der die katholischen Völker zum Unglauben führt,
liegt darin, daß die Kirche sich den modernen Ideen und Freiheiten feind¬
selig zeigt, und daß infolge dessen alle diejenigen, die denselben anhängen, oft
gegen ihren Willen, dahin gelangen, die Kirche zu verabscheuen und zu be¬
kämpfen. Der Aufschrei des Hasses Voltaire's: „Lerasong 1'iiMme« wird
nothwendig und überall eingestandnermaßen oder nicht zum Feldruf des Libe¬
ralismus. Ohne Unterlaß greift der liberale Katholik die Priester und die
Mönche an, weil sie die bürgerliche Gesellschaft dem Papste und seinen Sa¬
telliten und Trabanten, den Bischöfen unterwerfen wollen. Er kann keine
Achtung vor dem Dogma haben, mittelst dessen man ihm die Freiheit rau¬
ben will."
Nachdem der Verfasser die Thatsache, daß die protestantischen Völker den
katholischen überlegen sind, und die Ursachen davon dargethan hat, zeigt er
die Folgen auf. „Die erste ist, daß man erfolglos bestrebt gewesen ist, die
Länder von der Herrschaft Roms zu befreien, welche man im Namen einer
einfachen Negation unverständigen Zweifels gegen die Kirche aufruft. Niemals
hat eine Nation zu diesem Zwecke heftigere Anstrengungen gemacht als Frank¬
reich. Es hat alle Mittel mit unvergleichlicher Kraft und Gewalt hierzu an¬
gewendet: philosophische Gründe und den Scherz des Romans, die Satire
der Komödie und die Beredsamkeit der Rednerbühne, die Fackel der Brand¬
stifter, Mine der Zerstörer und das Beil des Scharfrichters. Alles vergeblich,
In diesem Augenblicke herrschen die Ultramontanen zu Versailles, sie spielen
den Unterricht den Jesuiten in die Hände, sie nehmen die Schmeicheleien der
Minister Mac Mahon's entgegen, sie bereiten die Rückkehr eines der römischen
Kirche völlig ergebenen Königthums vor. Ihr Einfluß wächst mit reißender
Schnelligkeit und scheint, wie in Belgien, unwiderstehlich. Das kommt davon,
daß man in Sachen der Religion nur das aufgiebt, was man ersetzen kann.
Das Freidenkerthum wird die Herrschaft der Kirche nicht brechen, es wird sie
vielmehr befestigen; denn es entspricht den Herzensbedürfnissen der niedern
Klasse und namentlich denen der Frauen nicht.
Der Versuch, den Katholicismus zu zerstören, ohne ihn durch etwas An¬
deres zu ersetzen, erreicht also seinen Zweck nicht, ruft aber den revolutionären
Geist hervor. Man bemerke, wie dieser Geist sich unter den katholischen Vol-
kerr in Europa wie in Amerika allenthalben äußert, während der Beobachter
erstaunt ist, ihm nicht einmal in den radicalen Demokratien der Vereinigten
Staaten zu begegnen. Die Protestanten achten das Gesetz und die Autorität.
Die Katholiken, weder im Stande, die Freiheit zu begründen, noch sie zu ent¬
behren, machen den Despotismus nothwendig, ohne sich zur Unterwerfung
unter denselben zu fügen. Daher eine stets arbeitende Gährung, die auf Ex¬
plosion hintreibt. Wenn das Uebel seinen höchsten Grad erreicht, rollt das
Land in den Despotismus hinein und vom Despotismus in die Anarchie
und verzehrt seine Kräfte im Kampfe unversöhnlicher Parteien. Dieß ist das
Bild, welches uns Spanien und andere katholische Staaten darbieten, die bei
diesem Zustande angelangt sind. Frankreich scheint sich ihnen zugesellen
zu sollen. Wo kommt das Uebel her? Ich glaube die Ursache erkannt
zu haben.
Eine geregelte Freiheit ist nicht ohne gute Sitten möglich. Nun aber
sind die Seelsorger in Wirklichkeit die Einzigen, die dem Volke von der Moral
und der Pflicht sprechen, und wer ersetzt sie, wenn sie vor dem Geiste der
Massen keine Beachtung mehr finden? Die Freidenker sicherlich nicht. Vor¬
trefflich hat Guizot gesagt: das Christenthum ist eine große Schule der
Achtung vor dem Gesetz. Wenn der liberale Voltairianismus die Autorität
des Katholicismus erschüttert, wie dieß mit Nothwendigkeit durch ihn geschieht,
so verschwindet auch die Achtung vor der geschichtlichen Autorität und macht
einem Geiste des Widerspruchs, der Verunglimpfung, des Hasses und der Un-
botmäßigkeit Platz. So erzeugt sich die revolutionäre Stimmung in den ka¬
tholischen Völkern. Freiheit und Revolution werden ihnen gleichbedeutende
Dinge, wie es bei ihnen nur zu häufig Autorität und Unterdrückung sind.
Sie leben nur ruhig, wenn sie Rom vollständig unterworfen sind, wie einst
Spanien und wie jetzt Tyrol. Versuchen sie sich zu emancipiren, so entgehen
sie nur schwer der Anarchie.
In Sachen der gesellschaftlichen Reformen geht Alles leicht, wenn man
sich auf den Klerus stützt, ohne ihn oder gegen ihn ist Alles schwierig und
Vieles unmöglich. Betrachten wir zum Beispiel den Elementarunterricht.
Man decretire den obligatorischen Schulbesuch unter Beiziehung des Pfarrers,
wie er in protestantischen Ländern besteht, und man wird rasch zum Ziele
kommen. Wo dagegen, wie in katholischen Staaten, der Priester der Sache
feindselig oder gleichgültig gegenüber steht, wird das Gesetz nicht beachtet.
Man braucht, um das bestätigt zu finden, nur die Schulstatistik Italiens
anzusehen. Läßt man, wie in Belgien, den Priester als Aufseher die Schule
betreten, so bereitet er den Sieg der Theokratie vor. Vertreibe man ihn da¬
raus, so richtet er die Schule zu Grunde; denn er bewirkt dann, daß sie
nicht besucht wird. Wollte man übrigens in den Normalschulen den Lehrern
den Geist des Widerstandes und der Feindseligkeit gegen den Klerus ein¬
flößen, damit sie ihn ihren Zöglingen mittheilten, so würde man in der
Jugend unausbleiblich das religiöse Gefühl vernichten und ein atheistisches
Volk entstehen lassen, und das kann niemand wollen, der es mit dem Staate
gut meint. In einem großen Theile der protestantischen Länder, in Amerika,
in Holland, in manchen Gegenden des deutschen Reichs hat man confessions-
lose Schulen, die aber immerhin von christlichem Geiste durchdrungen sind.
In einem katholischen Lande kann die confessionslose Schule nur in stetem
Kampfe mit der auf ihre Vernichtung bedachten Geistlichkeit leben, sie wird
also unausbleiblich antireligiös sein.
Für die gewaltigen Fragen, welche die Arbeiter und die Kapitalisten
entzweien, hat das Christenthum Lösungen zur Hand, denn einestheils
lehrt es die Bruderliebe, anderntheils die Entsagung, und so führt es beide
Theile zur Herabstimmung ihrer Ansprüche und damit zur Verständigung,
zur Herrschaft der Gerechtigkeit. Zwischen wahrhaft christlichen Arbeitern
und Arbeitgebern könnte ein dauernder Zwiespalt, eine ernste Schwierigkeit
sich nicht erheben; denn bei ihnen würde immer die Billigkeit über die Ver-
theilung des Gewinnes entscheiden. Wir Katholiken fühlen nur zu sehr die
furchtbare Kluft, welche die Abschwächung der religiösen Gefühle hat entstehen
lassen, die das nothwendige Ergebniß des Kampfes gegen die einzige uns
bekannte Form des Cultus war."
Der Versasser meint dann, daß in protestantischen Ländern die Geist¬
lichen bei allen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft wohl angesehen seien,
und daß durch ihre Einwirkung die Conflicte gemildert würden. Wir wissen
aber nur zu wohl, daß dieß gegenwärtig nur zum Theil wahr ist, indem es
nur von der Mehrzahl der ländlichen Arbeiter und einem verhältnißmäßig
geringen Theile der in den Fabriken beschäftigten gilt. Doch muß immerhin
zugegeben werden, daß in mehreren protestantischen Ländern, zum Beispiel
in England, die socialistischen Bestrebungen nicht den gehässigen und anarchischen
Geist zeigen, den sie in den katholischen fast allenthalben bekunden.
„In seinem schönen Buche über die französische Revolution zeigt Quinet
deulich und klar, daß, wenn jene gewaltige Anstrengung zur Befreiung mi߬
lungen ist, der Grund davon in religiösen Hindernissen liegt, und er zieht
daraus den Schluß, daß man die bürgerliche Gesellschaft und die politische
Verfassung eines Landes nicht reformiren könne, ohne zugleich den Cultus
zu reformiren. Der Grund hiervon ist, daß die bürgerliche und politische
Gesellschaft die Formen der religiösen Gesellschaft anzunehmen strebt. Der
Priester hat eine solche Macht über die Seelen, daß er ihnen sein Ideal
aufnöthigt. Wenigstens ist das so lange der Fall, als man nicht das
religiöse Gefühl ausrottet, durch das er herrscht, und der Versuch, dasselbe
auszurotten, würde die Nation der Gefahr unterzugehen aussetzen.
Der regelmäßige Fortschritt ist in den katholischen Ländern sehr schwierig,
weil, indem die Kirche in allen Dingen ihre Herrschaft geltend zu machen
bestrebt ist, die Lebenskräfte der Nation fast unausschließlich mit der Zurück¬
drängung der Anmaßungen des Klerus verbraucht werden. Man betrachte
die Vorgänge in Belgien. Alle Anstrengung der Parteien ist in dieser einzigen
Frage, concentrirt, alle andern Interessen, selbst das unsrer nationalen Ver¬
theidigung und unserer unabhängigen Existenz sind ihr untergeordnet. Der
Kampf brennt so heiß, daß wir schon zwei Mal am Vorabend eines gewalt¬
samen Ausbruchs standen, und daß wir es nur der Klugheit unseres Souverains
danken, wenn wir der Gefahr entgangen sind. Die Kräfte aber, die auf
den Kampf mit der clericalen Partei verwendet werden, sind für den Fort¬
schritt verloren; denn selbst wenn sie den Sieg davon tragen, so hat es kein
anderes Ergebniß als das negative, daß wir nicht unter das Joch der
Bischöfe gerathen.
Die Ehelosigkeit der Priester, die unbedingte Unterwerfung der ganzen
kirchlichen Hierarchie unter den Willen eines Einzigen und die Vermehrung
der Mönchsorden bilden für die katholischen Länder eine Bedrohung, welche
die protestantischen nicht kennen.
Ich bewundere es, wenn ein Mann aus die Freuden der Familie ver¬
zichtet, um sich seinen Pflichten und dem zu widmen, was ihm die Wahrheit
ist. Der Apostel Paulus hat Recht, wenn er meint, daß der, welcher eine
schwierige Aufgabe zu erfüllen hat, nicht heirathen soll. Wenn aber alle
Priester gezwungenermaßen ehelos leben, so erwächst daraus, abgesehen von
der Gefahr für die gute Sitte, eine große Gefahr für den Staat. Denn diese
Priester bilden eine Kaste, die ein besonderes Interesse, verschieden von dem
der Nation hat. Das wahre Vaterland der katholischen Geistlichkeit ist Rom,
das sagt sie selbst offen und ungescheut. Sie wird also, wenn es sein muß,
das Land, dem sie angehört, dem Wohle und der Herrschaft des Papstes
opfern, des unfehlbaren Oberhauptes ihrer Kirche und des Vertreters Gottes
auf Erden. In erster Linie Katholik, dann erst, wenn es das Interesse des
Katholicismus gestattet, Belgier, Franzose oder Deutscher, so muß es sein
vom katholischen Gesichtspunkte. Der richtige katholische Priester kann nicht
anders.
Als in Belgien die liberale Partei am Ruder war und Napoleon der
Dritte vor dem italienischen Kriege sich als Vertheidiger der Kirche geberdete,
hat mir mehr als ein vlämischer Priester gesagt: „Von Süden her wird uns
die Befreiung kommen." Heutzutage verhehlen die deutschen Ultramontanen
nicht, daß sie im Interesse der Kirche Deutschland verrathen würden. Ein
baierischer Abgeordneter hat offen vor dem ganzen Reiche geäußert: „Umsonst
hebt ihr Regimenter aus; wenn sie Katholiken find, werden sie zum Feinde
übergehen."
Der Mönch kennt noch weniger ein Vaterland als der Priester. Ein
Diener des Papstthumes, losgelöst von örtlichen Banden, lebt er lediglich in
der Kirche, die universell ist, und hat kein anderes Ziel, als die Herrschaft
derselben, die ja zugleich seine eigene Herrschaft ist. Wie wird der Staat im
Stande sein, Angesichts der Geistlichkeit und des Mönchthums, welche die
Herren spielen wollen, und welche mit den mächtigsten und unwiderstehlichsten
Actionsmitteln aus die Massen einwirken, seine Unabhängigkeit aufrecht zu
erhalten? In den protestantischen Ländern sind die Pastoren verheirathet und
haben Kinder, sie haben dieselben Interessen und dieselbe Lebensweise wie die
andern Staatsangehörigen, sie zerfallen in eine Anzahl von Secten, sie ge¬
horchen also nicht einer und derselben Parole. Sie sind nicht hierarchisch dem
Willen eines im Auslande lebenden Oberhauptes unterworfen, das den Traum
der Weltherrschaft zu verwirklichen strebt. Sie sind national, weil ihre Kirche
eine nationale Kirche ist. Sie sind entweder unabhängig vom Staate, wie
in Amerika, oder dem Staate unterworfen, wie in Deutschland und England,
sie streben nicht darnach, die Herren im Staate zu sein, wie in Frankreich
und Belgien.
Die Trennung der Kirche vom Staate ist ein Prinzip, welches man
überall zur Geltung zu bringen bestrebt ist. Man kann dasselbe in protestan¬
tischen Ländern mit Erfolg durchführen, wie wir das in Amerika sehen; denn
die Geistlichkeit fügt sich hier den Bedürfnissen und Anforderungen des Staates.
Aber in katholischen Ländern (sowie in solchen, wo wie in Deutschland eine
starke Minderheit katholisch ist) würde man sie nur zum Schaden des Staates
decretiren können. Die Kirche, welche verlangt, daß das Zeitliche dem Ewigen
und Geistigen (womit sie das Geistliche meint) unterworfen sei, wie der Körper
der Seele, wird diese Herrschaft des Getrenntseins nur so weit annehmen,
als sie sich ihrer bedienen kann, um ihre Zwecke zu erreichen. Die Trennung
wird also nichts als eine Falle, eine Täuschung für den Staat sein. Man
kann nicht in demselben Menschen den gläubigen und gehorsamen Sohn der
Kirche vom guten und getreuen Staatsbürger trennen, und gewöhnlich werden
die Gefühle des Ersteren die Oberhand über die des Letzteren gewinnen und
seine Handlungen bestimmen. Die Seelsorger üben auf die, welche sie für
Dolmetscher des göttlichen Willens halten, einen viel größeren Einfluß aus
als die Behörden, welche den Staat vertreten; denn der Priester verheißt dem
Gehorsamen die ewige Seligkeit und bedroht den Widerspenstigen mit Strafen,
die nie endigen, während der Laie nur über irdische und endliche Strafen und
Belohnungen verfügt. Durch den Beichtstuhl hat der Priester den Souverain,
die Behörden und die Wähler und durch die Wähler die Volksvertretung in
der Hand. So lange er über die Sacramente verfügt, ist die Trennung der
Kirche vom Staate nichts als eine gefährliche Täuschung.
Mit der Geistlichkeit regieren, heißt das Volk knechten; gegen sie regieren,
heißt alle Ordnung in Gefahr bringen. Neben ihr regieren, wie wenn
sie nicht vorhanden wäre, würde das Klügste sein, aber das erlaubt ihre
Denkweise nicht. Wer nicht für mich ist. der ist wider mich, sagt sie. Man
ist also darauf beschränkt. ihr zu gehorchen oder ihr Widerstand zu leisten.
Die katholischen Völker des Kontinents haben von England und Amerika
Grundsätze und Einrichtungen entliehen, die, aus dem Protestantismus her¬
vorgegangen . unter seinem Einflüsse gute Ergebnisse liefern. Aber man be¬
ginnt auf dem Continent einzusehen, wohin sie führen, wenn sie von einer
ultramontanen Geistlichkeit bekämpft oder ausgebeutet werden. Sie endigen
mit allmählicher Auflösung der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung, wenn
die Massen den Glauben verlieren, wie in Spanien und Frankreich. oder mit
der Herrschaft der Bischöfe, wenn sie ihn bewahren, wie in Belgien.
Ein aufmerksames und unparteiisches Studium der gegenwärtigen Lage
der Dinge scheint also zu dem niederschlagenden Schlüsse führen. daß die ka¬
tholischen Völker nicht zur Bewahrung der aus dem Protestantismus hervor- ,
gegangenen Freiheiten gelangen werden. Wenn sie sich der uneingeschränkten
Herrschaft der Kirche unterwerfen wollten. könnten sie sich vielleicht eines fried¬
ichen Wohlergehens und eines mittelmäßig behaglichen Lebens erfreuen, wo¬
ern sie isolirt wären. Aber das ist nicht der Fall, und so scheint sie aus
naher Zukunft her eine Gefahr von außen zu bedrohen, es wäre denn, daß
sie sich weigerten, der Stimme des Episkopats zu gehorchen.
Buckle rechnet unter die Vorzüge unseres Jahrhunderts die religiöse Gleich¬
gültigkeit, die uns vor Glaubenskriegen bewahrt habe. Es scheint, als ob
^e letzte Hälfte dieses Jahrhunderts diesen Zug nicht bewahren sollte. Alles
scheint sich zu einem großen Zusammenstoße vorzubereiten, bei dem die Reli¬
gion einer der Hauptbeweggründe sein würde. Schon 1870 war es in erster
Linie der Ultramontaniswus. der Deutschland den Krieg erklärte. Wenn
Heinrich der Fünfte oder Napoleon der Vierte auf den Thron kommen, so
wird es unter Mitwirkung der Geistlichkeit geschehen, und diese wird dann
auf einen neuen Kreuzzug hindrängen. der die jenseits des Rhein verfolgten
Brüder befreien soll. Die Staaten. in denen die clericale Partei herrscht,
Werden wahrscheinlich in diesen heiligen Krieg mit verwickelt werden. Das ist
die Politik, welche in Frankreich das „Univers" predigt, und die anderwärts
Von Blättern ähnlichen Calibers empfohlen wird. Die Wiedereinsetzung der
Vourbonen und der andern vertriebenen Dynastien in Spanien, Italien und
Frankreich, die Rückgabe des Kirchenstaates an den Papst, die Aufrichtung
der Herrschaft desselben womöglich allenthalben in West- und Mitteleuropa,
die Rückkehr zu den wahren Regierungsgrundsätzen, das heißt zu denen, die
der Syllabus und die katholische Ueberlieferung verkünden, das ist der gro߬
artige Plan, dessen Ausführung mit Gewalt der Waffen die Ultramontanen
aller Orten vorbereiten. Wird es ihnen gelingen? —"
Der Verfasser weiß darauf nicht zu antworten. Wir aber wollen uns
rüsten und bereit halten, damit wir auf die Frage, wenn die Stunde der
Entscheidung schlägt, durch die That mit einem niederschmetternder, für lange
Zeit entscheidenden Nein erwidern können. Wir werden in der Minderzahl
sein, wie einst die Geusen im Streit mit dem großen Drachen. Sie waren
aber getrost, und sie siegten endlich; denn sie „hatten den Glauben". Sei uns
das ein Licht, wenn dunkle Tage kommen.
Den geographischen Kongreß und die mit demselben verbundene Ausstel¬
lung, welche vor kurzem geschlossen worden ist, hatte der Palast der Tuile-
rien in seine historisch denkwürdigen Räume aufgenommen. Insbesondere
war der Pavillon de Flore, nachdem man ihn aus seinem von der Commune
herstammenden ruinenhaften Zustande wieder aufgerichtet hatte, zu diesem
Zwecke hergerichtet worden. Es kann nur die Aufgabe einer geographischen
Fachschrift sein, alle die von dem Kongresse behandelten wissenschaftlichen
Detailfragen einer Betrachtung zu unterziehen. Wir können hier nur Interesse
nehmen an denjenigen zum Vortrag und zur Abhandlung gekommenen Gegen¬
ständen, die eine allgemeine Anziehung darzubieten vermögen.
In der 7. Gruppe (Forschungen und Reisen) des geographischen Kon¬
gresses hielt unser berühmter Afrika-Retsender Nachtigal einen von dem ge¬
wählten Auditorium mit außerordentlicher Spannung verfolgten Vortrag über
die interessanten aber zugleich höchst mühseligen und gefährlichen Forschungs¬
reisen, welche der unermüdliche Gelehrte in den südlich von uns gelegenen
Erdtheil unternahm. Wir können diesen Vortrag, der zwei Stunden lang
währte und der eine Reise von 4^ jähriger Dauer behandelte, natürlich nur
in der Skizze wiedergeben.
Ueber Fezzam, welches er, von Tripolis kommen, durchschritt, hat
Dr. Nachtigal keine Details gegeben, weil, wie er sagte, dieses Land zu be-
kannt sei. Dagegen hat er seine Reise durch Tibesti erzählt, eine Reise, die
wie außerordentlichen Gefahren verbunden ist, was schon daraus hervorgeht,
daß Reisende wie Handelsleute sich bis dahin stets gehütet haben, von der nach
Süden führenden Straße abzuweichen und sich in dieses Land Tibesti zu wagen,
welches die Araber das verwünschte Tibesti nennen. Das Land hat nicht mehr, als
10,000 Einwohner, die die ärgsten Fanatiker, Barbaren und Feinde der Fremden
sind. Nachtigal wurde von ihnen sehr mißhandelt und während mehrer Monate
als Gefangener zurückgehalten. Doch gelang es ihm eines Tags zu ent¬
kommen, und nach langen und erschöpfenden Märschen durch unfruchtbare
und dürre Gegenden langte er am Thaad - See an. Dort hört die heiße
Wüstenzone auf und es beginnt die Zone des Regens und der Sumpfpflanzen¬
wälder. Nach den Feststellungen Nachtigal's ist der Thaad See das Pro¬
dukt eines großen Wasserlaufes, welcher Chan genannt wird. Es ist dies
nicht im eigentlichen Sinne des Wortes ein See, sondern eine ungeheuere
Lagune, auf der sich eine Menge von Inseln befinden. Dieselben sind stark
bevölkert und ihre Hauptstadt ist Kuka, die Residenz des Sultans Omar,
für welchen Nachtigal reiche Geschenke mit sich brachte. Südlich vom Thaad-
See wohnt das Volk der Bagirini, die ihren Nachbarn, den Wadai, tribut-
Wchttg waren, doch ihr Joch, da sie tapfer und stolz sind, nur mit Unge¬
duld ertrugen. Eines Tags .erhob ihr König Abu-Ukir die Fahne des
Aufstands und erklärte dem König der Wadai, der von den Arabern der
"Bater des Wassers" genannt wird, den Krieg. Abur-Ukir wurde geschlagen
und in seiner Hauptstadt von dem König der Wadai belagert. Letzterem
öelang, Minen unter die Mauern der Stadt zu legen und dieselben mit
einem Theil der Krieger in die Luft zu sprengen. Aber in dem Augen-
blick, wo die Belagerer durch die Bresche eindringen wollten, warf sich
Abu-Ukir mit der Lanze in der Faust allein auf sie und schuf sich
einen Durchgang durch Hunderte von Feinden. Er entfloh nach dem
Süden, wohin seine Anhänger ihm folgten. Nachtigal entschloß sich, diesem
Opferer Flüchtling einen Besuch abzustatten. Er folgte seiner Spur,
und den Chart stromaufwärts wandernd, traf er ihn in Gurpara. Bei
diesem Punkte tritt man in eine dritte Zone, in die Aequatorialzone,
°in. Ueberall trifft man die Bombas, die Brotbäume und jene kolossale
Vegetation an, die nur unter dem Aequator gedeiht. Nach einigen Tage-
Wärschen von Gurgara erreichte Nachtigal Gondi, den äußersten Punkt, bis
ZU welchem er im Süden vorgedrungen ist. Er befand sich in diesem Augen¬
blick mehr als 2400 Kilometer südlich von Tripolis, seinem Ausgangspunkte.
Der König Abu-Ukir faßte eine solche Zuneigung zu dem europäischen
Forschungsreisenden, daß er sich nicht wieder von ihm trennen wollte, und
Mächtig«! war gezwungen, ihn sechs Monate lang zu begleiten, während
deren er das Leben eines Sklavenjägers führte, denn Abu-Ukir hielGfich in
jenen Gegenden nur auf, um sich Sklaven, d. h. Geld zur Fortführung des
Kriegs zu verschaffen. Als Nachtigal Abu-Ukir endlich verlassen konnte, be¬
fand man sich in voller Regensaison, und hatte der Reisende unbeschreibliche
Leiden zu überstehen, bevor er den Tsaad-See erreichte.
Das Hauptziel Nachtigal's bestand darin, in das Land der Wadai, wel¬
ches mehre Millionen Einwohner zählt und vom geographischen Gesichtspunkte
ein hohes Interesse darbietet, vorzudringen. Die Bewohner der Ufer des
Tsaad-Sees, namentlich diejenigen von Kuka, sagten dem Reisenden einen ge¬
wissen Tod voraus, wenn er es wagte, seinen Fuß in das Wadai-Land zu
setzen. Aber Nachtigal hatte von der Großmuth Ali's, des Sultans der
Wadai erzählen hören, und darauf hin beschloß er, sich demselben anzu¬
vertrauen und seine Gastlichkeit in Anspruch zu, nehmen. Der Reisende ge¬
brauchte zwei Wochen, um zu einem andern, minder bedeutenden See, dem
Fitri-See, zu gelangen. Unsägliche Leiden hatte er in diesen Gegenden aus¬
zustehen, die von Muskitos und von Myriaden von Fliegen, deren Stich ihm
keinen Augenblick Ruhe ließen, bevölkert waren. Seine Pferde und Kameele
krepirten fast sämmtlich; und es scheint, daß die Bewohner des Landes die
ihrigen nur dadurch erhalten, daß sie dieselben den ganzen Tag über in Häuser ein¬
schließen, in denen sie fortwährend Rauch unterhalten. Während der Nacht allein
führen sie das Vieh auf die Weide und bedecken die Ochsen mit einer Art Stroh-
küraß, welcher denselben mehr oder minder Schutz gewährt. Indem Nachtigal
den Fitri-See aufs Eiligste wieder verließ, traf er nahe an hundert Dörfer an,
welche die Trümmer eines ehedem mächtigen Königreichs sind, von dem heute aber
fast nichts übrig geblieben ist. Endlich gelangte er dann in das Wadai-Land,
welches ungefähr drei Millionen eine Seelen zählt, Zahl, die sich auf fünf
Millionen erhöht, wenn man die von dem Sultan Ali abhängigen Stämme
noch hinzurechnet. Die Wadai haben einen hochfahrenden, wilden, grausamen
Charakter, sie sind der Trunkenheit ergeben und verabscheuen die Fremden.
Der Vater des gegenwärtigen Sultans war, wie alle Angehörigen des Stam¬
mes der Wada oder Vornehmen, zu dem er zählte, von einer Wildheit ohne
Gleichen; aber so verabscheuenswürdig, sagt öl-. Nachtigal, der Vater war,
so ausgezeichnet war der Sohn. Dieser hat bereits eine Menge von barbari¬
schen Gewohnheiten abgeschafft: so war es z. B. vor seiner Zeit unmöglich,
nach zwei Uhr Nachmittags sich in die Straßen hinaus zu wagen, denn schon
um diese Zeit waren dieselben mit Trunkenen angefüllt, die mit dem Messer
in der Hand sich den blutigsten Unthaten Hingaben. Trotz der Feindseligkeit
seines Volkes gewährte Ali dem öl-. Nachtigal Hilfe und Schutz.
Der Reisende wurde bei den Wadai lange Zeit durch ein bedeutendes
Ereigniß, den Tod des Sultans von Darfur, zurückgehalten. Im Wadai-
Lande ist die Thronnachfolge bestimmt geregelt: der älteste Sohn der ersten
dem Stamme der Wada «»gehörigen Frau des Sultans ist der Nachfolger
des Vaters; in Darfur dagegen ist der Tod des Sultans das Signal zu
schrecklichen inneren Kriegen, während deren natürlich alle Verbindungen ab¬
geschnitten sind. Diese Verzögerung benutzte Nachtigal, um sehr wichtige
geographische Studien vorzunehmen. Nach Verlauf von mehreren Monaten
wurde die Straße nach Darfur wieder frei, nachdem es dem Sohne des Sul¬
tans gelungen war, seine Anerkennung zu erzwingen. Fast waren vier Jahre
vergangen, seitdem Nachtigal Tripolis verlassen; seine Gesundheit war er¬
schöpft und er fühlte daher eine begreifliche Eile, wieder in civilisirte Land¬
striche zu gelangen. Er schlug also in starken Märschen die Richtung auf
Darfur ein. Dieses Land ist außerordentlich reich an Wild und Wasservögeln;
mit jedem Schritt stößt man auf ungeheuere Heerden von Antilopen; der Ele¬
phant, der nach Norden immer seltener wird, findet sich dort in großer Zahl;
or. Nachtigal hat in jenen Gegenden auch das Rhinoceros mit zwei
Hörnern angetroffen, er hat mehrere getödtet und einige Specimina mitgebracht.
Man findet in Darfur wahre Wälder von Tänarium; von Zeit zu Zeit
stößt man auf große Ströme von 2 — 300 Meter Breite; ihre Betten sind
vollständig trocken, aber man hat in dieselben nur eine Vertiefung einzugraben,
und man ist sicher, schon bei geringer Tiefe auf Wasser zu stoßen. Nachtigal
schätzt die Bevölkerung von Darfur auf ungefähr vier Millionen Einwohner;
der Reisende hat diese Zahl durch ziemlich genaue Anhaltspunkte feststellen
können, denn wenige Länder in jenem Erdtheile sind so gut verwaltet wie
jenes: das ganze Land ist in Provinzen eingetheilt, die Provinzen in Bezirke,
die Bezirke in Kreise, die Kreise in Dörfer. Die Hauptstadt von Darfur ist
Fashum, und befindet sich dieselbe zehn Tagemarsche von der Wadai-Grenze
entfernt. Ihre vornehmlichsten Einwohner sind Kaufleute, die Handel mit
den Nilgegenden treiben. Von Fashum aus richtete Nachtigal seinen Weg
auf Khastum und gelangte in eine weite Wüste, in welcher man 34 Tage
zu reisen hat, ohne auf einen Brunnen zu stoßen; die Araber ersetzen die
fehlenden Brunnen durch dicke Bäume, deren Stämme sich leicht aushöhlen
lassen und in welche sie das Wasser gießen, dessen sie unterwegs nöthig haben;
jeder dieser Bäume saßt an Wasser die Ladung von 30 bis 40 Kameelen,
d. h. von 3 bis 400 Centnern, in sich; es giebt deren, die selbst bis zu 1000
Centnern aufzunehmen vermögen.
An der Grenze von Darfur traf Dr. Nachtigal in einem Orte, welcher
den Namen El Maid führt, den General-Gouverneur von Sudan, welcher an
der Spitze der Truppen des Vizekönigs von Aegypten gegen Darfur marschirte.
Bekanntlich war das Resultat jenes Feldzuges die Eroberung von Darfur
durch Aegypten. Mehr als dreihundert Jahre lang hatte die durch diesen
Krieg abgesetzte Dynastie über Darfur geherrscht, dessen Geschichte sich bis
1000 Jahre rückwärts verfolgen läßt. Einige Zeit nach seiner Begegnung
mit dem General-Gouverneur von Sudan traf Nachtigall nachdem er so¬
mit vom Thaad-See aus abermals 2400 Kilometer zurückgelegt hatte in
Khartum ein, von wo aus er dem Nil folgte und endlich nach Alexandrien
gelangte.
Dem Vortrage des Dr. Nachtigal, den wir, wie gesagt, nur in allge¬
meinen Zügen skizzirt haben, folgte eine dreifache Beifallssalve von Seiten
eines Auditoriums, das sich aus Gelehrten und kühnen Forschern aller Länder
zusammensetzte.
Aus den afrikanischen Wüsten und Tropengegenden, in welche uns der
unerschrockene Forschungsreisende, Dr. Nachtigal, geführt hat, wollen wir dem
hervorragenden belgischen Gelehrten und Naturforscher, van Beneden, in das
Reich des Meeres folgen. Van Beneden unterhielt in interessanter und geist¬
reicher Weise die Mitglieder des Kongresses über einen der gewaltigsten Mee¬
resbewohner, den Wallfisch, und über die Wanderungen, welche dieses unge¬
heure Säugethier im Laufe der Zeiten ausgeführt hat.
Die Cetaceen gehören bekanntlich zu den von den Fischern meistverfolgten
Meeresbewohnern, und diese unausgesetzte Jagd, welche man gegen sie richtete,
hat diese Thiere aus den belebten Meerestheilen wie z. B. aus dem mittel¬
ländischen Meere, wo sie sich früher in zahlreichen Banden aufhielten, voll¬
ständig vertrieben, sie haben sich mehr und mehr dem Pole genähert, wo sie
einer verhältnißmäßig größeren Sicherheit genießen, indem dort ihre Verfol¬
gung mühseliger und gefährlicher wird. Die Hartnäckigkeit, mit welcher diese
unglücklichen Thiere von dem Menschen verfolgt werden, hat zur Folge ge¬
habt, daß gewisse Arten derselben fast gänzlich verschwunden sind. Jene
Hartnäckigkeit ist allerdings leicht erklärlich. Wenn man bedenkt, wie viel
mit Nutzen zu verwendende Dinge ein Wallfisch enthält, und welcher Vor¬
theil sich aus einer solchen Beute ziehen läßt, so begreift man, daß der Wall¬
fischfang im 16. Jahrhundert Hunderte von französischen Schiffen beschäftigte,
während diese Industrie heutzutage für Frankreich wie auch für andere euro¬
päische Länder vollständig todt ist.
Es ist Niemandem unbekannt, daß das, was man als Fischbein in den
Regenschirmen, Corsets, Roben u. s. w. verwendet, durch die Barten des Wall¬
fisches geliefert wird. Die Barten bekleiden nach rechts und links die Rachen¬
öffnung des Thieres; sie gleichen einem Sieb, durch welches das Wasser, das
der Wallfisch in seinen ungeheuern Rachen eingeschluckt hat, passirt, aber wel¬
ches in der Mitte die kleinen Seethiere, Crustaceen und Muschelthiere zurück¬
hält, von denen sich der Wallfisch nährt, und die seine riesenhafte Zunge nach
dem Gaumen zu dirigirt. Dieser Gaumen ist so eng, daß eine einfache Ma-
trete denselben nicht Passiren könnte, während dagegen der Rachen sehr gut
eine ziemlich große Schaluppe mit seiner Mannchaft aufzunehmen im Stande
ist, und man kann daher recht wohl versichern, daß, wenn der Prophet Jonas,
wie die Bibel erzählt, durch einen riesenhaften Fisch verschlungen worden ist,
dies kein Wallfisch gewesen sein kann. Das Oel, welches man aus dem Fett
der Cetaceen fabrizirt, dient gewöhnlich zur Erleuchtung, zur Zurichtung des
Leders u. s. w. Für die Herstellung gewisser Webstoffe ist dieses Oel fast
einzig und allein verwendbar. Unglücklicherweise ist es mit der Zeit immer
seltener geworden und der Preis desselben hat eine ziemlich beträchtliche Höhe
erreicht. Nach statistischen Feststellungen hatte im Jahre 1839 der Wallfisch¬
fang 2078 Tonnen Oel geliefert, im Jahre 1860 dagegen nur 1909 und
l>n Jahre 1861 schon nur 1710 Tonnen; seitdem ist die Tonnenzahl immer
geringer geworden, und im Jahre 1864 haben mehrere Gesellschaften, welche
diesen Handel ausbeuten wollten. Bankerott gemacht. Nach Frankreich werden
jährlich ungefähr für zwei Millionen Wallfischbarden und für ein und eine
halbe bis zwei Millionen Oel eingeführt; die Ausfuhr ist gar nicht nen¬
nenswert!).
Außer jenen allgemein nützlichen Dingen liefert der Wallfisch auch Ma¬
terial für Feinschmecker. Das Fleisch des Wallfisches hat einen so delikaten
Geschmack, daß dasselbe, wie man sagt, lange Zeit ein Gericht auf der könig¬
lichen Tafel in England bildete. Im 16. Jahrhundert servirte man von
diesem Fleisch regelmäßig an der Tafel der Gräfin Leicester, und diejenigen
Wallfische, welche in der Themse gefangen wurden, gehörten von Rechtswegen
dem Lord-Mayor, der dieselben bei den Gemeindefestlichkeiten serviren ließ.
Im Jahre 1243 forderte Heinrich III. die Sheriff von London auf, für seine
Tafel 100 Stück Wallfische zu liefern.
Heutzutage fängt man den Wallfisch nicht mehr mit jener primitiven
Harpune wie ehedem. Der Fang mit jenem Instrument war äußerst lang¬
wierig. Wenn man den Wallfisch mit der Harpune gefaßt hatte, und die¬
selbe in das Fleisch des Thieres fest eingezogen war, begann ein tolles
Jagen; das Opfer floh mit unglaublicher Schnelligkeit, tauchte auf den Grund
des Meeres unter, schoß wieder bis zum Spiegel in die Höhe, um Lust zu
schöpfen und so dauerte das Rennen fort, bis das Thier, durch die Anstrengung
und den Blutverlust erschöpft auf der Meeresoberfläche schwimmend unter den
Lanzenstichen seiner unerbittlichen Feinde erlag. Die Neuzeit hat diese Jagd
UM Einiges vereinfacht. Die Amerikaner, erfindungsreich wie sie sind, haben
den Hakenspieß durch eine „Bomben-Lanze", wie sie die Vorrichtung nennen,
ersetzt. Es ist dies ein explosibles Projektil, welches aus einem Gewehr ge¬
worfen wird, das 24 bis 48 Meter, d. h. in seemännischer Rechnung 16 bis
3v Faden weit trägt. Diese Bombe ist nichts anderes als eine gegossene
Röhre von 30 bis 40 Centimeter Länge und von 2 bis 3 Centimeter Durch¬
messer, welche mit ungefähr 100 Gramm Jagdpulver angefüllt ist. Nach
vorn läuft sie in drei hohlen sehr scharfkantigen und spitzigen Zacken aus;
an der Hinteren Seite ist eine schmalere Röhre angebracht, welche eine Lunte
enthält. Zum Gebrauch ladet man das Gewehr mit einer gewissen Quan¬
tität Pulver bringt einen in der Mitte durchbohrten Stopfen darauf und legt
dann die Bombe in das Gewehr ein, sodaß die Lunte den Stopfen berührt,
wonach die Spitze des Geschosses aus dem Rohr um ungefähr ein bis zwei
Centimeter herausragt. Die ganze Vorrichtung ist, wie man sieht, gleichfalls
noch sehr primitiv. Die Anwendung derselben ist folgende. Man faßt den
Wallfisch zunächst mit der Harpune, was auch nicht ganz leicht ist, denn auf
zwanzig Wallfische entkommen oft fünfzehn. Die Harpune ist durch Strick¬
werk an der Schaluppe befestigt und wird mit der Hand geworfen. Hat man
den Wallfisch mit der Harpune gefaßt, so sucht man demselben die Breitseite
abzugewinnen und in dem Momente, wo er einen beträchtlichen Theil seines
Körpers bloßstellt, giebt man Feuer auf ihn. Obwohl der Wallfisch eine
ziemlich umfangreiche Zielscheibe darbietet, so verfehlen doch selbst geschickte
Wallfischfänger auf drei Schüsse zweimal ihr Ziel. Vorausgesetzt also, daß
der Schuß getroffen hat, dringt die Bombe in die fleischigen Theile ein, und
da die Lunte durch die explodirende Gewehrladung Feuer gefangen hat, so
platzt wenige Secunden später die Bombe unter einem dumpfen Knall. Der
unglückliche Wallfisch schnellt in heftigem Satze in die Höhe und stirbt fast
augenblicklich, wenn die Erploston in den Lungen stattgefunden hat. Letzteres
ist aber auch eine eouäitio sine yug, non. Ist die Lunge nicht getroffen, so
mag die Bombe immerhin krepiren, — der Wallfisch jagt noch im Meere aus
und nieder mit halb zerschmettertem Kopfe, mit geöffnetem Leibe. Grausame
Jagd! Uebrigens giebt es kein Thier, welches sich durch eine zärtlichere Liebe
für seine Jungen auszeichnete. Der Wallfisch in der That läßt sich für seine
Jungen tödten, und nichts ist rührender, wie man sagt, als ein Junges seiner
Mutter, welche es säugt, folgen, mit ihr spielen und tändeln zu sehen, in¬
mitten der Wellen, die unter diesen monströsen Lust- und Freudenbezeugungen
aufschäumen.
(Fortsetzung folgt).
Ein reicher Herbst! Das muß man sehen, dieses Leben und Weben
in den Weinbergen, dieses Jubeln und Jauchzen, diese freudige Bewegung
allüberall ob der ausgezeichneten Ernte. Die kleineren Städte und wein¬
bauenden Ortschaften des Elsasses gleichen fast, um mich einer, allerdings wie
immer, hinkenden Metapher zu bedienen, einer einzigen großen Kelter und
durch die Straßen weht jener eigenthümlich gesättigte, faß-säuerliche Geruch,
welcher an ausgepreßte Traber erinnert. Noch ein einziges solches Wein- und
Obstjahr, und alle Mühen und Nöthen der verflossenen trüben Zeiten sind
vergessen. Das wirkt mehr, als selbst die besten Erfolge der Politik und
Verwaltung.
Der Weinbaukongreß in Colmar ist indessen seinem Ende entgegen
gegangen. Von den durch den Kaiser von Deutschland gewidmeten Ehren¬
preisen ist der erste, ein prachtvolles, künstlerisch ausgezeichnetes Trinkhorn,
der oberelsässischen Gemeinde Rcichenweier zu Theil geworden. Auch sonst
ist der Kongreß nicht zu karg gewesen mit der Austheilung von Preisen, an
die Aussteller. Zuerkennung von Medaillen 2c. In den gleichzeitigen Sitz¬
ungen des allgemeinen deutschen Weinbauvereins, welche in dem Colmarer
Stadttheater abgehalten worden, sind viele gute Worte gesprochen und Reden
gehalten worden über die Meinfälschung und wie man ihr am Energisch¬
sten entgegen wirken, über die Reblaus, und wie man sich vor ihr schützen
könne, über rationellen Weinbau, Bodenbearbeitung, Düngung u. s. w.
Es traf sich gut, daß gerade einige Tage vor Eröffnung des Kongresses
das Urtheil des Zuchtpolizeigerichtes gegen zwei der hauptsächlichsten elsässi-
schen Weinfabrikanten verkündet worden war. Ueber den Verlauf dieses inter¬
essanten Monstre - Prozesses habe ich Ihnen seiner Zeit genaueres berichtet.
Das Urtheil lautete für Beide auf je 6 Mon. Gefängniß und 1000 resp.
300 M. Geldbuße. Es ist bis in die weitesten Kreise des Publikums mit
großer Befriedigung aufgenommen worden. Da indessen dem Antrag der
Staatsbehörde auf Confiscation der noch vorhandenen und in den Kellern
der beiden Delinquenten mit Beschlag belegten sog. Weine seitens des Tribu¬
nals nicht stattgegeben worden, so ist, wie ich vernehme, von der erstern
Cassationsrecurs gegen das Urtheil ergriffen worden. Die Sache kommt also
nach Leipzig. Unter den verschiedenen Toasten, welche bei dem Festessen der
Dinologen ausgebracht worden sind, brachte u. A. Herr Buhl aus Deides-
heim in der Rheinpfalz, eine anerkannte Koryphäe in Sachen des Weinbaus,
der Stadt Colmar einen Gruß aus der Pfalz, betonte aber dabei, daß gleich¬
wohl das Elsaß in der rationellen Behandlung des Weines noch sehr hinter
den übrigen weinproduzirenden Gegenden zurückstehe. Wenn künftig die El-
sässer die erprobten BeHandlungsweisen der Weine in den andern deutschen
Weingegenden sich angeeignet hätten, so würde dem weinbauenden Deutsch¬
land in dem neuen elsässischen Bruder ein sehr beachtenswerther Concurrent
erstehen, den man man trotz der widerstreitenden Interessen mit Freuden will»
kommen heiße. Ein Colmarer Blatt hat darauf eine etwas sehr unartige
Antwort gegeben, die in der Behauptung gipfelt, der Elsässer brauche über¬
haupt von den Deutschen in Sachen der Weincultur nichts zu lernen; eher
umgekehrt. Auch das ist wieder einer der Ausflüsse des bekannten elsässischen
Provinzialdünkels.
Nichtsdestoweniger muß sich jeder Weinkenner selbst bei den feinern el¬
sässischen Marken sagen, daß er es noch mit einem ziemlich rohen Getränk zu
thun hat, dem es an der eigentlichen höhern Cultur noch gar sehr gebricht
Der Elsässer Wein ist und bleibt einstweilen noch, wie gesagt, der Bauer
unter den Weinen. Das liegt zum Theil an dem zu frühzeitigen Herbsten,
dann an der Methode des Weinbaues, der Düngung, der Kelterung und
vielem, vielem Andern. Auch viele Elsässer sehen das heutzutage zum Theil
selber ein, wenn sie einen Vergleich mit unsern herrlichen Rhein- und Mosel¬
weinen anzustellen in der Lage sind. Und ich erinnere mich eines klassischen
Satzes eines Straßburger Wirthes, der gelegentlich des heurigen Mostes be¬
theuerte, indem er dabei zur Bekräftigung mit der Faust auf den Tisch schlug!
„Li 1o vin 6kalt ä'uno Hualit6 Luxörikuio — so thät' die Ohm mindeschtens
drißig Franke löschte!" ?robu.tum est! —
Von der theilweisen Aenderung, die in der Redaction des Elsässer Journals
eingetreten ist, werden Sie aus den öffentlichen Blättern wissen. Das Blatt
hat sich dadurch eine bedeutende publicistische Kraft wiedererobert, die, mit>
den elsässischen Verhältnissen in ihren feinsten Nuancirungen vertraut, es stets
verstanden hat, den Nagel auf den Kopf zu treffen, ohne dabei zu weit nach
rechts oder nach links auszufallen. August Schneegans, dessen Autorschaft
der bekannten „Briefe aus dem Elsaß" in der „Augsburg. Allgemeinen" hier
zu Lande ein offnes Geheimniß ist, repräsentirt gewissermaßen diejenige Partei
im Elsaß, die, fern von aller unfruchtbaren Avstractions- und phrasenhaften
Protestations-Politik, sich auf den Boden der gegebenen Verhältnisse stellt,
dabei aber treu und fest an ihren alten „liberal-demokratischen" Principien und
altelsässischen Traditionen festhält. Jedenfalls ist von seiner directen Einwir¬
kung auf das einflußreichste Organ des Reichslandes manches Ersprießliche
zu hoffen.
Ich kann an dieser Stelle eine Reminiscenz des genannten Blattes nicht
mit Stillschweigen übergehen, welche dasselbe an die jüngste Rundreise des
Decernenten für Elsaß-Lothringen im Reichskanzleramt, des Herrn Geh. Ober-
regierungsrathes Hertzog. im Reichslande anknüpft. Dieselbe betrifft einen
"och immer ziemlich wunden Fleck in der Landesverwaltung. Herr Hertzog
soll nämlich bei jener Gelegenheit eine Unterredung mit einigen elsässischen
Notabilitäten gehabt haben, wobei u. A. das Thema von den Schulen und
dem Unterricht im Französischen in denselben aufs Tapet gebracht worden
s^n soll. Da habe nun einer der Elsässer Herrn Hertzog an die „große
Duldsamkeit" erinnert, welche die französische Regierung während zwei voller
^hrhunderte in Sachen des Unterrichts in der Deutschen Sprache gezeigt,
^as die Elsässer nicht verhindert habe, „sehr gute Franzosen zu werden",
wiewohl sie fortfuhren Deutsch zu reden. „Wir wollen hoffen , bemerkte das
^kalt hierzu, daß diese Betrachtungen einigen Eindruck auf Herrn Hertzog
^welche haben und daß, wenn er darüber nachdenkt, er einsehen wird, welchen
Mißgriff die deutsche Regierung in Sachen der Schule und des französischen
Unterrichts gemacht hat." Schwerlich! Wie wir gleich sehen werden, liegt
Sache denn doch ein Bischen anders, und man hat ihr einfach ein
Mäntelchen umgehangen und dabei, wie gewöhnlich, schöne Farben nicht
Seschont.
Ohne mich hier auf irgend einen prinzipiellen Standpunkt in der be¬
rittenen Sprachenfrage, die ja in utram^us Mrtom oft genug ventilirt
worden, stellen zu wollen, muß man doch sagen, daß es in Hinblick auf ge¬
wisse Thatsachen mit jener gepriesenen französischen Duldsamkeit nicht so weit
^ gewesen ist. Vor und kurz nach der französischen Revolution mochte
seine Richtigkeit haben. Damals war eben das Nationalitäts-Prinzip,
essen Kern und Grundstock ja eben die Conservirung der nationalen Sprache
^' noch nicht in dem Maße als das eigentlich staatenbildende Prinzip an-
^arme, wie heutzutage. Die Nationen als solche standen sich noch nicht
^° schroff und abgeschlossen einander gegenüber, wie zu unserer Zeit.
^Mals mochte also ein derartiges l^isser kg.irv se passer hier und da
^atz greifen. Ganz anders aber in unserm Jahrhundert, namentlich in
^ 30er und 40er Jahren, der Blüthezeit des Chauvinismus. Wie man's
^Mals im Elsaß mit dem Unterricht in der deutschen Sprache in der Volks¬
schule gehalten hat, darüber möge statt meiner folgendes wahre Histörchen
^ Belege dienen, das ich aus dem Munde einer ehrlichen oberelsässischen
^uerin aus K . .s. . heim habe:
In K----heim lehrten zu jener Zeit, wie allenthalben, die frommen
^chulschmestern in den Mädchenschulen. Es war von denselben den Kindern
^uf das All erstrengste verboten worden, in der Schule auch nur ein
^5ort Deutsch zu sprechen. Wer gegen dieses Verbot sündigte, mußte für
iedes Wort 1 Sou bezahlen, was theils dem Borromäus-Verein zur Ber¬
atung des Glaubens, theils dem armen heiligen Vater als Peterspsennig
oder sonstigen gottseliger Zwecken zu Gute kommen sollte. Meine Gewährs¬
männin, damals ein Mädchen von 13 —14 Jahren, die Tochter eines armen
Schuhmachers, die in ihrem elterlichen Hause nie anders als Elsässer-Deutsch
sprechen gelernt hatte, verfiel nun so oft in die greuliche Sünde des Deutsch¬
sprechens, daß die fromme Schwester sich vor Aerger und Bosheit kaum mehr
kannte, zumal die Strafsous von dem dürftigen Pechdrathkünstler nur mit
genauer Noth beigetrieben werden konnten. Eines Tages diktirte sie denn
dem Mädchen im Berein mit einem andern, das in derselben Lage war, eine
Strafe von 10 Sous für jedes Wort, im Falle der Zahlungsunfähigkeit aber
Einsperrung ins Loch. Weinend theilt das Kind diesen Ukas der Schul¬
tyrannei dem Vater mit. Der aber spuckt in die Hände und ruft voll Aerger:
,,nom ä« visu! 10 Su uf emol! Tel zahl ich net! Mag sie dich ein¬
sperren!" Und richtig, das Kind wird mit ihrer Leidensgefährtin, wegen des
Capitalverbrechens des Deutschsprechens auf 8 Stunden ewzesperrt und zwar,
da die Schule, wie gewöhnlich, mit der Mairie in einem Gebäude sich befand,
auf dem Söller der Mairie. Als die Kinder Hunger bekommen, bemerken sie
plötzlich das Seil eines Glöckchens — es war das Brandglöckchen der Ge¬
meinde — und nun fangen sie an, aus Leibeskräften zu läuten. Das ganze
Dorf läuft zusammen, Bürgermeister und Adjunkt an der Spitze; überall der
Ruf: „Fürio! Fürio!" und die Frage: „Wo brennt's? Wo brennt's?" die
überall ohne Auskunft bleibt. Endlich eilt man auf den Söller der Mairie
und findet dort die beiden unglücklichen Kinder. Natürlich werden sie sofort
entlassen. Am andern Morgen aber werden sie von der frommen und sanft-
müthigen Nonne, um einen ähnlichen Spektakel zu verhüten, vor dem Schul¬
lokal mit Seilen an einen Treppenpfosten gebunden, weil sie — wieder
Deutsch gesprochen hatten. War das nicht barbarisch? Ist das nicht eine
herrliche Probe französischer Duldsamkeit in Sachen der Sprachenfrage?
Wie es heutzutage die deutschen Schulmeister im Elsaß machen, darüber ein
Kulturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang aus Asien nach Griechenland
und Italien sowie in das übrige Europa.
Historisch-linguistische Skizzen von Victor Hehn. 2. Aufl. Verl. 1874.
Es ist gewiß eine seltene Erscheinung, wenn in jetziger Zeit, wo der
Mangel an Absatz mit wenigen Ausnahmen zu den stehenden Klagen der
Verleger gehört, ein kulturhistorisches Werk, noch dazu ein solches, wie das
obige, das nicht für ein größeres Publikum geschrieben ist, binnen Kurzem
zwei Auflagen erlebt. Und doch ist dies der Fall bei dem vorliegenden Buche,
welches 1870 zum ersten Mal an das Licht der Oeffentlichkeit- trat und be¬
reits im vorigen Jahr in einer neuen gänzlich umgearbeiteten Ausgabe erschien.
Allerdings ist der Stoff, den das Werk behandelt, ein höchst interessanter,
selbst für weitere Kreise, und wenn der Herr Verfasser sich entschließen könnte,
seinen zahlreichen Citaten aus lateinischen und griechischen Schriftstellern überall
die Uebersetzungen beizufügen, wie er es in dieser Auflage schon bei den meisten
griechischen Stellen gethan, so würde das Buch sicherlich ein äußerst popu¬
läres werden. Denn von allen Denjenigen, die überhaupt Sinn fürs Lesen
und für Belehrung haben, dürste es nur Wenige geben, die nicht zu wissen
wünschten, woher die Pflanzen und die Thiere stammen, die sie fast täglich
UM sich sehen, und wenn auch einige der in Hehn's Werk behandelten Pflanzen,
wie der Oelbaum, der Lorbeer, die Myrte, der Granatapfelbaum, die Dattel¬
palme, der Oleander, die Cypresse, die Pinie, die Platane, der Feigen- und
^ohannisbrodbaum, die Pistazie und die Agrumi nicht heimisch in Deutsch¬
land sind, so trifft man sie doch überall als Zierpflanzen oder in botanischen
Bärten, und Jedermann kennt ihren Namen, zum Theil auch ihre Früchte.
Ebenso sind von allen in diesem Buch vorkommenden Thieren bloß die
Büffel, die schwarzen, schwerfälligen Bewohner der heißen Malaria-Ebenen
Italiens, den Deutschen fremd. Die übrigen, wie die Tauben, Hühner.
Pfauen, Perlhühner, Fasanen, Kaninchen und Katzen, sind nicht minder wohl¬
bekannt, als von den Pflanzen die Rose. Lilie und Mole, die Linsen und
Erbsen, der Hanf und Flachs, der Kümmel, Lauch und Senf, die Kürbisse
und Gurken, die Quitte, Pflaume und Kirsche, die Pfirsich und Aprikose, die
Walruß und Kastanie, die Mandeln und Maulbeeren, der Buchweizen, das
^ohr und der Weinstock. Manche von ihnen haben sich selbst so einge¬
bürgert, daß man sie gar nicht für ausländisch halten würde, wenn nicht
^- Hehn, meist auf das Unwiderleglichste, nachwiese, in welcher Weise und zu
welcher Zeit sie aus ihrem wirklichen Vaterlande nach Europa gebracht
worden sind. Er entwickelt bei diesen Untersuchungen eine Fülle von natur¬
wissenschaftlichen, culturhistorischen, geographischen und linguistischen Kennr-
uissen, welche wahrhaft erstaunenswerth ist, und vereinigt damit zugleich eine
Quellenkunde, wie sie Wenigen zu Gebote steht. Es dürfte wohl kaum in
sämmtlichen Classikern des Alterthums, sowie in den Schriftstellern des Mittel-
"lters und der neueren Zeit eine auf den Gegenstand bezügliche Stelle geben,
^e nicht von ihm ausgebeutet worden wäre, und wo bestimmte Nachrichten
^hier, weiß er, wie kein Anderer, durch scharssinnige Combinationen und
Schlüsse aus einzelnen Angaben das Mangelnde zu ergänzen. Oft ist ihm
der Name allein genügend, den Ursprung, die Geschichte, oder den Weg der
Einführung eines Thieres oder einer Pflanze zu enthüllen. So folgert er
mit Recht aus der deutschen Benennung Apfelsine (d. h. chinesischer Apfel)
und der italienischen portvMlIo, daß die süße Pomeranze erst durch die Portu¬
giesen aus China nach Europa gebracht worden ist, während das vom per¬
sischen nkrvng abgeleitete arabische on-rang, von welchem das italienische arg.»-
eio und das durch den hineinspielenden Begriff von or, Gold, etwas ab¬
weichend lautende französische oranM herrührt, darauf hindeutet, daß Europa
die Orange der Epoche der Araber verdankt, die sie in Persien kennen ge¬
lernt hatten.
Aus dem Umstand, daß eatus in allen romanischen Sprachen vorhanden
ist und nur im Walachischen fehlt, schließt unser Versasser, daß es erst auf¬
gekommen sein kann, als Dazien bereits eine Beute der Barbaren geworden
und die dortige lateinische Sprache isolirt war, und die allgemein europäische
Benennung „Marmelade", welche vom portugiesischen ma-rmolv (spanisch
mömdi'illo). Quitte, Quittenmus, hergeleitet ist, führt ihn zu der Annahme,
daß die Quitten die ersten zum Einkochen benutzten Früchte waren.
Der Lorbeer und die Myrte, heutiges Tages so verbreitet im südlichen
Europa, gelangten im Gefolge der religiösen Culte des Apollo und der Aphrodite
von Ort zu Ort weiter nach Westen, und sogar der immergrüne Buchsbaum,
der jetzt unbedenklich zur südeuropäischen Flora gerechnet wird, scheint ur¬
sprünglich nicht in Italien heimisch gewesen zu sein, da sein lateinischer Name
dem griechischen entlehnt ist.
Religiöser Verkehr hat auch in alter Zeit den Granatbaum nach Europa
gebracht, und die griechische Benennung der Granatäpfel legt hinläng'
kleb Zeugniß für die Herkunft dieses Gewächses aus semitischem Sprach'
und Culturkreis ab, indem der phönizische Name rimmon lautet.
"
Daß die Kirschen, „die Lust der Knaben und der Vögel, wie V. Hehn
sie nennt, zuerst vom reichen Lucullus in Italien eingeführt worden sind,
ist eben so bekannt, wie die Abstammung der Pfirsich und Aprikose aus dern
inneren Asien. Letztere beide wurden im ersten Jahrhundert der Kaiser-
Herrschaft in Italien verbreitet und hießen anfangs „persische Früchte".
Um sie jedoch besser zu unterscheiden, erhielt eine früh reifende Art derselben
den Beinamen pra,vno<zug., praoeveia, welcher sich in mittelgriechischem Munde
allmählich in berilcukg,, borlkoka verwandelte. Aus dieser entstellten ForB
bildeten die Araber mit Vorsetzung des Artikels ihr a1-ba,r<züci, das
Bezeichnung der Aprikose nun wiederum von den Abendländern angenommen
und spanisch in aldÄrico^us, italienisch in tüdvreoeeo, albicoceo, französisch in
n,drin<it, und aus diesem deutsch in Aprikose verändert wurde. Aus dem alten
jM-sinum aber ist das italienische porZici., p-.!ete!>., das französische pomo, das
deutsche Pfirsich, das russische porsil: entstanden. Unter den populäre.,,,^.
Nennungen der Aprikose sind die eigenthümlichsten das neapolitanische Misvinvlci
oder erisuommolo, dem das griechische /^vo'vM^o^ goldner Apfel, (ursprüng¬
lich der Name einer Quitte.) zu Grunde liegt, und das tirolische marille, wo¬
runter man anderwärts eine Kirschenart versteht.
Von den Mandeln, Walnüssen und Kastanien tritt die Mandel am
frühesten auf, da ihr Name schon bei den attischen Komikern gewöhnlich ist.
Die Kastanie soll zwar nach der Behauptung der Naturforscher stets zu den
heimischen Gewächsen der Apenninischen Halbinsel gehört haben, kann aber
erst im Augusteischen Zeitalter nach Italien gekommen sein, da bis dahin
sogar eine bestimmte Benennung ihrer Frucht fehlt. Auch schreiben ihr die
Alten ausdrücklich kleinasiatischen Ursprung zu. Erwähnung unter ihrem
jetzigen Namen finden die Kastanien zuerst bei Mrgil. und seit jener Zeit
haben sie sich so verbreitet, daß es in Italien, Frankreich und Spanien
wirkliche Kastanienwälder gibt, und der Gebirgsbewohner im rauhen Apennin,
wo der Ackerbau unmöglich ist, in große Noth geräth, wenn die Kastanien-
ernte spärlich ausfällt.
Der populäre Name „Jupiter's Eichel" (^'5 /?«^e>?), den in Griechen¬
land meistens die Kastanie führte, ging in der lateinischen Uebersetzung juglan-z
auf die Walruß über, deren deutsche Benennung wiederum sie als Produkt
Italiens kennzeichnet.
Der Oleander oder Lorbeerrosenbaum, der schon zu Pltnius Zeiten in
Italien und Griechenland „den Schein eines freien Naturkindes" angenommen
hatte, ist wahrscheinlich aus Kleinasien nach Griechenland gekommen, und
galt bereits damals für giftig. Der bis zum heutigen Tage in Süditalien
übliche Name amas^s, 1'asino. Eselstödter, bekundet deutlich das alte Vor¬
urtheil des Volkes, und in Venedig schreibt man noch jetzt dem Oleander .die
Macht zu, großes Unheil in einer Familie nach sich zu ziehen, wenn er ein¬
geht. In Sicilien dagegen pflegen die Landleute am Aetna das Holz des
Oleanders zu benutzen, um Stöcke für Greise daraus zu schnitzen.
Rose und Lilie dienten schon zur Zeit des Epos den Griechen zu mannig¬
fachen Vergleichen, obgleich die Blumen selbst erst in der Mitte des 7. Jahr¬
hunderts v. Chr. erwähnt werden. Hundert Jahr später ward die Rose von
der Dichterin Sappho gepriesen und verherrlicht, und von da an gehörten
Nosen und Lilien zum Fest- und Blumenschmuck der Griechen. Ihre Namen
lassen uns Medien als Heimath beider Blumen erkennen, und noch jetzt ge°
^ihm die Rosen nirgends in solcher Vollkommenheit, wie in Persien. Nach
Italien kamen sie mit den griechischen Colontsten, und von dort aus ver¬
breiteten sie sich unter den lateinischen Benennungen, die sich aus den griechi-
^ -gebildet hatten, weiter nach Norden. Nur die Spanier und Portugiesen
Icheinen, wenigstens die Lilie, von den Arabern bekommen zu haben.
Nicht minder früh berühmt, als die Rose, war der orientalische Safran,
„der vornehme und erlauchte Verwandte des europäischen bescheidenen Früh-
lingscrocus." Der althebräische Name 1?arlwm bezeugt uns, daß die Griechen
ihn durch den Verkehr mit semitischen Ländern kennen lernten, aus denen sie
zunächst wohl nur die gelben oder gelbgestickten Kleider als kostbare Waare
empfangen hatten. Ob die homerischen Sänger selbst schon die „goldleuchten¬
den Krokosblüten" erblickt hatten, die sie überall auf den mythischen Wiesen
wachsen ließen, ist schwer zu sagen. Erst Theophrast unterscheidet den wil¬
den, nicht duftenden Krokus von dem kultivirten und duftenden, der jedoch
in dem kälteren Europa einen Theil seines Aromas einbüßte, und noch bei
den Römern galt es für einen Triumph der Acclimatisationskunst, in den
Gärten echten Krokus zu ziehen. Den Arabern gelang es, die Kultur des¬
selben im südlichen Spanien einzuführen, und seit jener Aelt hat auch die
arabische Benennung Safran die griechisch-römische mehr und mehr verdrängt.
Die Dattelpalme ist nach Ritter der echte „Repräsentant der subtropischen
Zone ohne Regenniederschlag in der Alten Welt". Man hat es zwar ver¬
sucht, sie auf den Inseln und an den Küsten des mittelländischen und asi¬
atischen Meeres anzupflanzen, aber nach den klimatischen Bedingungen, von
denen sie abhängig ist, kann von einer wirklichen Uebertragung nach Europa
nicht die Rede sein. Daher finden wir außer den bekannten Palmenwäldern
zu Bordighera an der Straße von Genua nach Nizza und zu Elche in Süd¬
spanien nur vereinzelte Exemplare in den Ländern des südlichen Europas,
und wenn in Reisehandbüchern von „zahlreichen Palmen" bei Galipoli die
Rede ist, so liegt dieser Angabe eine Verwechselung des Namens zu Grunde,
indem die Italiener auch die Oelzweige zMme zu nennen pflegen, weil sie am
Palmsonntag statt der eigentlichen Palmzweige geweiht werden.
Die Cypresse, welche nach dem sehn-H-Rauch aus dem Paradiese stammt,
gelangte früh schon aus Persien in die Länder des aramäisch-kanaanitischen
Stammes, und galt im Orient Jahrhunderte hindurch für einen heiligen Baum,
aus dessen Holz bei den Griechen und Römern vorzugsweise die Bilder der
Götter geschnitzt wurden. Den Dichtern des Augusteischen Zeitalters diente
sie bereits als Baum der Trauer, den sie gern in Gegensatz zum Genuß der
Gegenwart stellten, und seit jener Zeit hat sich die Cypresse in Italien ein¬
gebürgert, obwohl eigentliche Cypressenhaine dort vergeblich gesucht werden.
Ihr populärer Name auf Sicilien (nueixersieu) erinnert deutlich an ihre
ursprüngliche Heimath, während ihre griechische Bezeichnung xvTre^lo'o'o^ (alt-
hebräisch goMor) verräth, daß die Griechen sie aus semitischem Gebiet be¬
kommen haben.
In derselben Weise, wie die Pflanzen, hat B. Hehn auch die Hausthiere
behandelt, die wir der Fremde verdanken. Denn selbst der Haushahn ist in
Europa viel jünger, als man denken sollte, und die Haustaube kam erst mit
dem Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. von der syrischen Küste den
Griechen zu. Wie die Taube am Euphrat und in Kleinasien als heilig verehrt
wurde, so hegten sie die Griechen als Vogel der Aphrodite, und mit dem
Cultus dieser Göttin ward die Haustaube in Italien eingeführt, von wo sie
sich über ganz Europa ausbreitete.
Auch der Pfau scheint mit dem Heradienst zuerst auf griechischen Boden
gelangt zu sein, und ward dort selner Schönheit wegen so gesucht, daß ein
Paar mit 10000 Drachmen bezahlt wurde. Merkwürdiger Weise muß der
Pfau, der aus Ostindien stammt, mit der griechischen Herrschaft und Koloni¬
sation nach Alexander's des Großen Zeiten eine Rückwanderung ins innere
Asien angetreten haben, indem sämmtliche asiatischen Pfauennamen dem Grie¬
chischen entlehnt sind. Den späteren Römern diente der Pfau als Leckerbissen
bei üppigen Mahlen, und wurde deshalb ein Gegenstand landwirthschaftlicher
Industrie. Es wurden mit großen Kosten Pfauenparks angelegt, und von
der Apenninenhalbinsel kamen nun die Pfauen in das übrige Europa.
Ebenso wurden die Fasanen, deren Heimath „im Zauberlande Kolchis
am mythusberühmten Flusse ?Ka.8is« war, für die Tafeln der reichen Römer
massenhaft in Italien gezüchtet und das ganze Mittelalter hindurch in den
fürstlichen Fasanerien gehalten, so daß sie jetzt in Europa gänzlich eingebürgert
sind, und in manchen Gegenden, namentlich in Böhmen, im Zustande voll¬
kommener Freiheit leben.
Wie man aus diesen kurzen Andeutungen sieht, enthält das vorliegende
Werk einen wahren Schatz von neuen Aufschlüssen über alle in Betracht kom¬
menden Fragen, und die Resultate der ernstesten Forschungen sind dabei in
so anziehender Weise geschildert, daß kein Leser das Buch ohne großen gei¬
Im Laufe der jüngstverflossenen Wochen haben wir hier in rascher Auf¬
einanderfolge eine Anzahl von Aufführungen der Oper „die Folkunger",
gehört. Zu diesem Werke hat H. S. Mosenthal das Textbuch gedichtet und
Edmund Kretschmer nennt sich der bisher noch fast unbekannte Componist
der Musik. Der Erfolg, den die Oper hier errungen, ist ein ganz bedeutender
zu nennen.
Betrachten wir zuerst das Mosenthal'sche Textbuch, so können wir nicht
umhin, dasselbe zu den besten Opernbüchern zu zählen. Ein warmer poetischer
Hauch durchweht das Ganze, das reich an tiefergreifender Situationen ist.
Naturgemäß aber weist auch dieses Libretto all' die Fehler und Uebelstände
auf, welche in höherm oder geringerm Grade einem jeden Opernbuche an¬
haften müssen. Das Zusammenwirken von dramatischer Poesie und von
Musik wird stets die eine oder die andre der beiden Künste bevorzugen müssen.
Die eine von Beiden wird der andern dienende Magd sein. So ist das
psychologische Verhältniß der Musik beim Drama, wo allenfalls Ouvertüre.
Euer'alte, Melodram, einzelne Lieder und Chöre gewisse Stimmungen erzeugen,
welche mit der vom Dichter beabsichtigten Wirkung in Wechselwirkung treten.
Der Dramatiker wird sogar selbst in den Fall kommen die Musik als noth¬
wendige Bundesgenossin zu Hülfe rufen zu müssen. Gewisse Stimmungen
lassen sich durch das gesprochene Wort allein nicht genügend zum Ausdruck
bringen, sie fordern gebieterisch Musik, So wunderbar schön und ergreifend
die Worte der Thekla „der Eichwald brauset, die Wolken ziehn" auch sind,
so tief und mächtig sie auch auf jedes empfängliche Gemüth wirken werden,
so verlangt doch Schiller selbst, daß Thekla diesen lyrischen Erguß „spielt
und singt". Es gehört eben zur künstlerischen Vollendung des Dramas, daß
gewisse Momente, welche allerdings stets nur lyrische sein werden, nicht ge¬
sprochen, sondern gesungen, oder durch Musik begleitet werden müssen. Die
Aufgabe eines möglichst guten Operntextes wird nun zunächst darin bestehen,
möglichst viel solcher lyrischer Momente zu einem Ganzen zusammen zu stellen
und zu verknüpfen. Daß der dramatische Gehalt einer solchen durch viele
lyrische Momente aufgehaltenen und in ihrer Wirkung wesentlich beeinträch¬
tigten Handlung kein sehr hoher sein kann, liegt auf der Hand. Dazu tritt
für den Dichter noch der erhebliche Uebelstand, die Einzelheiten seiner Dichtung
weniger nach den Gesetzen des Dramas, als vielmehr für das Bedürfniß des
componirenden Musikers einzurichten. Der Poet muß sich hier allerorten
unterordnen, er darf und kann eben nicht ein selbständiges Meisterwerk geben;
er muß sich darauf beschränken dem Musiker einen Stoff, eine Unterlage,
einen „Text" für die Komposition zu unterbreiten. Danach kann es uns
nicht Wunder nehmen, wenn unsre Opernbücher eine Menge dramatischer
Gebrechen mit zur Welt bringen. Für diese Thatsache sehen wir den augen¬
fälligen Beweis darin, daß unsre größten und bedeutendsten Dichter sich
überhaupt entweder gar nicht zur Dichtung von Opernbüchern herbeiließen.
oder aber, wenn sie dies gelegentlich thaten, sich nicht zu den nothwendigen
Concessionen verstehen wollten und konnten.
Unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, müssen wir den Mosenthal'schen
Operntext trotz mannigfacher dramatischer Schwächen und Gebrechen, die er
in sich trägt, dennoch als einen ganz vorzüglichen Vorwurf für den Compo-
nisten bezeichnen. Allerdings ist diejenige Person des Dramas, um die sich
das Hauptinteresse dreht, von vornherein durch bindenden Eidschwur lahm¬
gelegt. Prinz Magnus ist kein „Held"; er greift nicht in die Handlung ein.
Vielmehr sind es die andern Personen, der Lars, der Seen Petrik, Berge von
Schooner, der Abt Ansgar und die Prinzessin Maria, welche handeln, und
die Handlung in Bewegung setzen. Magnus bleibt durch die ganze Oper der
willenlose Spielball des Geschicks, dem er einen Widerstand entgegenzusetzen
nicht vermag. Auch die Wiederholung eines und desselben dramatischen
Effektes, das Erkanntwerden des Magnus und seine Weigerung sich als den,
der er in Wirklichkeit ist, zu nennen, dürfen wie als eine wesentliche Schwäche
des Stückes nicht verschweigen. Immerhin aber macht das Ganze einen echt
poetischen Eindruck.
Was nun die Musik Edmund Kretschmer's anlangt, so schicken wir vor¬
aus, daß wir es hier allerdings nicht mit dem geistigen Erzeugnisse eines
epochemachenden Gerdes zu thun haben. Wohl aber sehen wir in Kretschmer
ein tüchtiges Talent, das vollkommen klar über sich und seine Fähigkeiten,
mit sicherster Beherrschung aller technischen Mittel nur das giebt, was es zu
geben und zu leisten wirklich im Stande ihl, Kretschmer hat die guten Meister
aller Zeiten, ja auch der neuesten Neuzeit mit Nutzen und Erfolg studirt. Er
hat sich in den Besitz aller musikalischen Errungenschaften gesetzt, und schaltet
und waltet mit diesem Materials frei und selbstständig, ohne sich an bestimmte
Vorbilder in irgendwie ausfallender Weise anzulehnen. Daß er den ganzen
Wagner'schen Orchester-Apparat für die musikalische Illustration benutzt, kann
ihm nicht zum Vorwürfe gemacht werden. Welcher Musiker wollte, oder
könnte auch heutzutage sich in soweit dem Einflüsse Wagner's entschlagen, daß
er bet der Composition einer Oper von vornherein auf eine Anzahl instru¬
mentaler Effekte, die Wagner theils erfunden, theils weiter ausgebildet hat,
Verzicht leistete. Nur ein beschränkter Dilettantismus, oder ein böswilliges
Aburtheilen wird darin ein schwächliches, unselbstständiges Nachahmen sehen
wollen.
Bon den fünf Akten der Oper sind die drei mittleren die musikalisch
inhaltreichsten. Es finden sich darin Momente von ausgezeichneter Schönheit
vor. Als den großartigsten derselben heben wir das Ensemble: „Sprich', bist
Du Erik's Sohn" im zweiten Akte hervor. Fast ebenso bedeutend ist im
dritten Akte das Sextett mit Chor: „O blick' in dieses Auges Strahl."
Gleichfalls recht gelungen sind im vierten Akte das Arioso der Maria: „O Liebe,
die vom Himmel stammt," und das Gebet des Magnus: „Du Unerforschlicher
da droben." Daß sich im Laufe der ganzen Oper auch hin und wieder
Einzelheiten zeigen, die mehr schablonenhaft gemacht, als frei erfunden er¬
scheinen, wollen wir neben dem vielen Guten, Vortrefflichen und stellenweise
selbst sehr Bedeutenden, das die Oper enthält, nicht zu schwer in die Wag-
schaale werfen. Wir glauben vielmehr nach diesem ersten sehr glücklichen
Wurfe der Kretschmer'schen Muse eine recht erfolgreiche Thätigkeit in Aussicht
stellen zu können. Vorab hat Kretschmer mit seinen „Folkungern" eine kern¬
gesunde, lebensfähige Composition geschaffen, die sich auf allen deutschen
Bühnen bald Bürgerrecht erwerben wird.
Die Leipziger Aufführungen der Oper sind in allen Theilen und in jeder
Beziehung des höchsten Lobes würdig. Das größte Verdienst um dieselben
hat sich der Capellmeister Gustav Schmidt erworben. Allerdings konnten
seine künstlerischen Bemühungen um das Werk nur dadurch von einem so
großen Erfolge gekrönt werden, daß er zunächst in den Trägern aller Rollen
solche Künstler und Künstlerinnen zur Seite hat, wie sie die Leipziger Oper
gegenwärtig besitzt. Wir haben für die Herren Gura (Lars), Müller (Ma¬
gnus), Reß (Ansgar), Lißmann ^Berge), Ehrke (Seen), und für die Damen
Frl. Mahlknecht (Maria) und Frl. von Hartmann (Karln) nur Worte der
Anerkennung ihrer Leistungen. Nicht minder gebührt dem Chöre und dem
Orchester das uneingeschränkteste Lob, denn alle diese Faktoren haben ver¬
eint dahin gewirkt, das neue Werk eines deutschen Meisters zu einer durch¬
weg abgerundeten und glanzvollen Darstellung zu bringen.
Illustrationen zu Fidelio von Moritz v. Schwind (Verlag
von I. Rieter-Biedermann, Leipzig und Winterthur). Nahezu die letzten
Blätter, die der große Maler hinterlassen, waren Zeichnungen zu Beethoven's
Fidelio, gedacht und ausgeführt ganz in dem stilvollen feinen Sinn und der
gemüthswarmen Auffassung, die Schwind's hervorragende Eigenthümlichkeit
waren. Nun, da die Verlagshandlung eine Prachtausgabe des Fidelio ver¬
anstaltet, treten diese vier Blätter als ehrende Begleiter der Tondichtung, in sau¬
berem Stich und würdigster Ausstattung vor das Publikum. Vier tiefempfundene
Gedichte von Hermann Lingg, die ihnen beigegeben sind, enthalten in
kurzen Strichen die Handlung der Oper und emancipiren dadurch diese Kunst¬
Die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien, welche nicht die abstrakten
Beziehungen der Ideen, sondern der konkreten Verhältnisse objektiver Erschei¬
nungen zum Gegenstande haben, sind mehr oder minder abhängig von wechseln¬
den praktischen Bedürfnissen und ein Ausdruck von Stimmungen, welche die
eigenthümlichen Zustände der jedesmaligen Gegenwart hervorgebracht haben.
Auch die Theorien über die Stellung, welche Staat und Kirche im Verhält¬
niß zu einander eignen, sind Kinder der Zeit und verrathen deutlich ihren
Ursprung aus dem Vorwalten gewisser Parteiströmungen. Sie sind Versuche,
eine geschichtlich gewordne oder im Werden begriffne Situation durch allge¬
meinere prinzipielle Erörterungen zu legitimiren und ihnen so eine ideale Basis
W geben.
Als die Gewässer der revolutionären Bewegungen, welche 184-8 und
1849 über die Ufer gestiegen waren und die Dämme durchbrochen hatten,
wieder zurückflutheten, vergegenwärtigte man sich, welche Faktoren zur Be¬
ruhigung der Völker entscheidend gewirkt hatten, erkannre als solche außer der
um'litairischen Macht die christliche Kirche der beiden privilegirten Confessionen
Und suchte dieselben daher in den engsten Zusammenhang mit dem staatlichen
Organismus zu bringen. Die Idee des christlichen Staats, welche bis dahin
uur in engeren Kreisen gepflegt war, kam jetzt zu allgemeinerer Geltung.
Die Vertreter des Gedankens sahen in der Trennung von Staat und
Kirche, im Begriff der Freikirche eine Ausgeburt der Revolution. „Die Forde¬
rung der Abschaffung der Staatsreligion, sagt Stahls, der beredte Anwalt
des „christlichen Staates", ist der liberalen Partei allein eigen. Die Parteien
der Legitimität halten, wie sich von selbst versteht, am Christenthum als
Staatsreligion und zwar als von Gott gebotner Staatsreligion.--Nur
die liberale Partei will Freigebung der Kulte an die Individuen. Es ist das
dieselbe Stellung, wie sie auf dem nationalökonomischen Gebiete die Erwerbs¬
thätigkeit völlig den Individuen frei giebt und sie weder durch Institutionen,
die der Sache dienen, noch durch die Gesammtheit des Volkes beschränken oder
leiten läßt. Trennung von Staat und Kirche und freie Konkurrenz sind die
beiden Forderungen, welche specifisch die Parteistellung der Liberalen bezeich¬
nen." Und in der Rede „Was ist die Revolution" erklärt er ausdrücklich:
„Die Revolution fordert die Trennung von Staat und Kirche."*)
Sehen wir hier die streng kirchlich konservative Partei die Trennung von
Staat und Kirche energisch zurückweisen und einer engen Verbindung beide
das Wort reden, so zeigt uns die französische Schweiz und Schottland in der
ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ein ganz andres Bild. In der Genfer
Staatskirche herrschte der Rationalismus, ihr gegenüber trat eine lebendige
evangelische Bewegung, freilich etwas methodistisch gefärbt und separatistischen
Bestrebungen geneigt. Zwischen beiden Seiten entwickelte sich ein heftiger
Kampf. Die VöiuZiÄdlö compagnie Ass I^stkurs, in deren Hand das Kirchen¬
regiment lag, suchte denselben dadurch zu beschwichtigen, daß sie 1817 die
Predigt über Grunddogmen der reformirten, zum Theil der christlichen Kirche
überhaupt, über die Vereinigung der Gottheit und Menschheit in Christo, über
die Erbsünde, über die Wirkung der göttlichen Gnade und über die Prädesti¬
nation verbot. Es ist begreiflich, daß ein solches Verhalten der Staatskirche
dieselbe in ein durchaus ungünstiges Licht für die Augen der gläubigen Partei
stellte und dieser eine Trennung von Staat und Kirche als wünschenswerth er¬
scheinen ließ. Ihr begeisterter und unermüdlicher Vertreter war Alexander
Vince. Man kann die kirchenpolitische Theorie der Freikirche nicht rücksichts¬
loser, konsequenter und abstracter ausbilden, als er es gethan hat. Er sieht
in Staat und Kirche, um feine eignen Worte zu gebrauchen „zwei Maschinen,
bestimmt, parallel sich auf derselben Fläche neben einander fort zu bewegen,
ohne sich zu berühren oder zu stören. Die eine hat sich die Körperwelt vor¬
behalten, die andre will bloß die Geister beherrschen. Als Gesellschaft naße
sich keine ein Recht über die andre an, ihre Thätigkeiten sind völlig getrennt,
sie wollen, so zu sagen, nichts von einander wissen, und sie sind schlechter¬
dings unfähig — der Staat, Unruhe in die Kirche zu bringen, und die Kirche,
im Staate die mindeste Störung zu veranlassen."^) So wurde der Boden
bereitet, aus dem 1843 die freie Kirche des Waadtlandes gegründet werden
konnte. Die Weigerung einer namhaften Zahl von Geistlichen, eine Prokla¬
mation der radikalen Regierung vorzulesen, welche die neue Verfassung em¬
pfahl, gab den Anlaß zur Trennung.
Schottlands Vorgang zwei Jahre vorher war nicht ohne Einfluß auf
diesen Schritt geblieben. Hier hatten die Verhältnisse etwas anders gelegen,
aber die letzte Entscheidung war doch auch hier durch religiöse Bestimmungs¬
gründe hervorgebracht worden. Es handelte sich bekanntlich um die Aufhebung des
Patronats und die Herstellung der freien Pfarrwahl. Das waren die For¬
derungen der lebendig evangelischen, streng orthodoxen Partei. Dieselben
ruhten aus historischem Boden und hatten eine rechtliche Basis. Die freie
Pfarrerwahl war der schottischen Kirche 1690 und 1707 versprochen, aber
schon 1712 von Königin Anna durch Einführung des Patronats entzogen
worden. Die schottische Kirche protestirte dagegen und zwar ohne Unterschied
der Parteien. Indessen allmählich trat eine Wandlung ein. Im 18. Jahr¬
hundert verbreitete sich auch in Schottland eine rationalisirende Richtung,
welche sich mit dem Patronat befreundete. Die Patrone zogen Pfarrer,
welche ihr angehörten, vor. Es kam noch hinzu, daß Patrone, die der bischöf¬
lichen anglikanischen Kirche zugethan waren, auch Pfarrer beriefen, welche für
diese, aber nicht für die presbyterianische Kirche, Sympathien hegten. So
konnte es dahin kommen, daß der Kampf für das Patronat und gegen dasselbe
ziemlich identisch wurde mit dem Gegensatz theils zwischen Rationalismus
und Orthodoxie, theils zwischen Anglikanismus und Presbyterianismus. Als
daher der Staat fortfuhr, das Patronat aufrecht zu erhalten, so erschien
das Band zwischen Kirche und Staat als ein Mittel, die Entwicklung eines
tieferen christlichen Lebens zu hemmen und den Bestand der unter schweren
Kämpfen gebildeten Form der Kirche zu erschüttern. Nur so sind die Aeuße¬
rungen zu begreifen, welche wir von Vertretern der schottischen Freikirche
vernehmen. „Das Patronat ist ein Gewächs, welches unser himmlischer
Vater nicht gepflanzt hat, das folglich mit der Wurzel herausgerissen werden
muß," erklärte ein Geistlicher, Cunningham auf der General-Synode von 1841.
Und Chalmers begründete die Grundsätze, aus denen die schottische Freikirche
erwachsen ist, auf der General-Synode von 1840, mit den energischen Worten:
„das unterscheidende Merkmal des Presbyterianismus besteht darin, daß die
Kirche ihr eigenes Regiment besitzt und in der Leitung ihrer Angelegenheiten
von jeder weltlichen Beaufsichtigung so unabhängig sein muß, als ob sie aus
dem Staatsschatze keinen Heller erhielte. Diesen Grundsatz betrachte ich als
einen besonderen Ruhm der schottischen Kirche. Für seine Aufrechthaltung
haben wir gestritten und länger als ein Jahrhundert hindurch Kämpfe und
Verfolgungen ausgehalten. Derselbe kostet uns zu viel, als daß wir ihn jetzt
wieder aufgeben sollten; er hat vielleicht geschlummert, ist aber keineswegs
untergegangen. Es ist möglich, daß eine alte Verfassungsurkunde lange Zeit
in den Archiven ruht, ohne daß man ihr große Aufmerksamkeit zollt. Man
mache aber gewaltthätige Angriffe auf dieselbe, so wird sich das Volk ihrer
augenblicklich erinnern. So die großen Prüfungen, welche zu dieser Stunde
über unsere Kirche kommen; es ist ihr erhabner Zweck, das Volk mächtig auf-
zuwecken aus seinem langen und schweren Schlafe. Unsere Arche schwankt
mitten auf den sturmbewegten Wogen: doch ohne Furcht! Der Sturm wird
unsre glorreiche Flagge nur noch mehr entfalten; er wird sie ihrem ganzen
Umfange nach ausbreiten, damit man um so deutlicher den Wahlspruch lese,
den ihre majestätischen Falten bergen: der Herr Jesus Christus ist der einzige
König, das einzige Oberhaupt unserer Kirche. Wir haben diese Flagge an
unserm Maste befestigt; wir werden sie auch aufrecht erhalten mitten in der
furchtbaren Nacht des Orkans wie beim Glanz der Sonne."")
Dieser Gegensatz kirchenpolitischer Theorien entspricht dem Gegensatz des
Staatsbegriffs, wie er sich auf der einen Seite im Katholizismus, auf der
andern Seite im Protestantismus gestaltet hat. Der freikirchliche und katho¬
lische, der staatskirchliche und protestantische Staatsbegriff sind einander ver¬
wandt. Die Freikirche und der Katholizismus gestehen dem Staat ein sehr
geringes Maß sittlichen Gehaltes zu. Die katholische Theorie des Mittel¬
alters sieht im Staat eine Institution, die an sich nur den natürlichen und
vergänglichen Interessen des irdischen Lebens gewidmet ist und einer weihen¬
den sittlichen Idee entbehrt. Diese empfängt er nur mittelst der Kirche, in
welcher er die begeisterte Seele seines ohne sie sittlich todten Körpers zu
erkennen hat. „Um wieviel werthvoller die Seele als der Körper, um soviel
werthvoller ist das Priesterthum als das Königthum, schreibt Innocenz III.**)
Auch die Freikirche erkennt dem Staate nur einen geringen sittlichen
Werth zu. Nach Vince hat die Gesellschaftsmoral nur drei Güter zu pflegen,
die Sicherheit, das Eigenthum und die Schamhaftigkeit, und er erklärt daher:
„die Regierung beruht nicht auf moralischen Ideen; sie ist nur Repräsentant,
oder, wenn ich wagen darf zu sagen, der Agent des Wechselgeschäfts, das
man zur Erhaltung und gegenseitigen Vertheidigung errichtet hat."***)
Der Protestantismus, welcher die natürlichen Ordnungen des menschlichen
Lebens in ihr göttliches Recht eingesetzt und die ihnen von Gott verliehene
Herrlichkeit wieder zur Geltung gebracht hat, mußte auch für die Würde des
Staats, oder, um mit den Reformatoren zu sprechen, der Obrigkeit eintreten.
„Weltliche Herrschaft, sagt Luther, ist ein Mitglied worden des christlichen
Körpers. Und wiewohl sie ein leibliches Werk hat, doch geistlichen Standes
ist; darum ihr Werk soll frei ungehindert gehen in allen Gliedmaßen des
ganzen Körpers, strafen und treiben, wo es die Schuld verdienet oder Noth
fordert, unangesehen Pabst, Bischöfe, Priester, sie dräuen oder bannen, wie
sie wollen."'I')
So konnten denn die Reformatoren schon ein enges Band zwischen
Staat und Kirche knüpfen, und es fehlte nicht an Rechtstiteln für die Auf¬
gaben, Vollmachten und Pflichten, welche sie der Obrigkeit überantworteten.
Die Obrigkeit ist die Hüterin der beiden Tafeln des Gesetzes, insofern dasselbe
die äußere Zucht fordert, und hat als solche ihre Unterthanen in der Wahr¬
heit des Evangeliums und für sie zu erziehen. Dazu verpflichtet sie auch ihre
Stellung als (praeeipuum insmbruw eeelösias) hervorragendes Glied der christ¬
lichen Gemeinde. Und denselben Beruf giebt ihnen ihr Amt, die Grundlagen
der Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Denn diese hat in der Begründung
und Pflege der wahren Gotteserkenntniß ihre wichtigste Ausgabe zu erblicken.
Das ist die kirchenpolitische Theorie Melanchthon's.*) „Staat und Kirche
sind ihm zwei Hälften eines Ganzen, die Kirche soll die innere freie An¬
eignung, der Staat die äußere nothwendige Darstellung des Evangeliums
verwirklichen. Kirche und Staat sind zu gleichen Zielen berufen, wenn sie
dieselben auch in verschiedener Weise erreichen. In der Kirche tritt die innere,
im Staate die äußere Seite des Evangeliums in die Erscheinung."**)
So tritt denn auch in den späteren kirchenpolitischen Theorien immer mit
Rücksicht auf die sittlichen Aufgaben des Staats die Obrigkeit als status
politious neben den Status eedesiastieus und oseonoinieus.
Es läßt sich nicht leugnen, daß die protestantische Kirche und die protestan¬
tische kirchenpolitische Theorie die sittlichen Kräfte des Staats überschätzt und
eben daher Aufgaben gestellt haben, deren Lösung außerhalb seiner Compe-
tenz liegt. So lange der status Lcelosiustieus der Kirchenpolitik des
Staats die innere Richtung gab, hatte die Kirche wenig Anlaß, sich über un¬
günstige Folgen zu beklagen. Dies änderte sich, als der stg-tus seelssiustieus
Seite geschoben wurde, und der Staat ohne ihn die ihm zuerkannten
Zechte auszuüben unternahm. Denn das war allerdings die bald stillschwei¬
gende bald ausgesprochene Voraussetzung sowohl der Reformatoren wie der
hervorragenden Lehrer der protestantischen Kirche in den folgenden Generationen
gewesen, daß die Kirchenpolitik gemäß dem Rathe des solus «zeelesiastieus
geschehe. Diese Voraussetzung beseitigte der Territorialismus und identifizirte
schlechthin Kirche und Staat. Hugo Grotius legte die gesammte Kirchengewalt
^s einen Theil der Souveränität in die Hände des Staatsoberhauptes, und
Hobbes erklärte den Souverän für den obersten Pastor, dessen Diener die
Adrigen Pastoren ebensowohl seien, wie alle weltlichen Beamten. Und der
^ollegialismus, der prinzipiell die Selbständigkeit der Kirche gewährleistete,
konnte doch die Mission, die ihm zugefallen war, nicht lösen, da er durch die
Fiktion eines, stillschweigend geschlossenen Subjektionsvertrags vielmehr dem
Territorialismus in die Hände arbeitete.*) Dem Territorialismus lag eine
einseitige Ueberspannung des Staatsbegriffs zu Grunde, welche in der kirchen¬
politischen Theorie der Reformatoren einen Anlaß, aber nicht den zureichenden
Grund hatte. Er war aber in andrer Hinsicht ein Abfall vom protestantischen
Staatsbegriff. Während dieser denselben vertiefte, entleerte ihn jener. Der
Territorialismus sah weder in dem Staat noch in der Kirche den Träger
eines höheren sittlichen Lebens, sondern suchte dieses vielmehr ausschließlich im
Individuum. Das Subjekt war ihm die einzige Stätte, wo er es zu finden
glaubte, eine Ausprägung desselben in öffentlichen Institutionen kannte er
nicht und schätzte er nicht. Er vermochte nicht die sittliche Gestaltung des
Gemeinschaftslebens in Staat und Kirche zu würdigen. Die Vertragstheorie,
aus welcher er beide, Staat und Kirche erklärte, legen dafür einen unwider-
leglicher Beweis ab. In dieser Beziehung wurzelte er in einer hyperprote¬
stantischen Auffassung des Wesens der Religion, in einer einseitigen Ueber¬
spannung des Werthes der subjektiven Religion. Der Territorialismus ist
religiöser Individualismus.
Der neueren spekulativen Philosophie und der an sie sich anschließenden
Theorie ist es gelungen, dem Staatsbegriff die verlorene sittliche Würde wieder
zu gewinnen, und darin zeigt sie ihren protestantischen Charakter, aber sie ist
allerdings theilweise auch der Gefahr nicht entgangen, die Grenzen der staat¬
lichen Aufgaben zu weit zu ziehen und der berechtigten Selbständigkeit der
Kirche die Anerkennung zu versagen. Hegel folgend, der im Staat die To¬
talität des Sittlichen sah, hat Rothe die Auslösung der Kirche in den Staat
als eine Nothwendigkeit erklärt. Die Kirche ist ihm ihrem Begriff zufolge
eine nur transitorische Gemeinschaft, die als abstrakt religiös dem Staat
als religiös-sittlicher Gemeinschaft weichen muß.**) Diesem Grundgedanken,
daß die Kirche auf dem Aussterbeetat stehe, hat Rothe freilich keine unmittel¬
bar praktische Folge gegeben, vielmehr weist er jedes gewaltsame Einschreiten
des Staates gegen die Kirche zurück und verlangt, so lange sie besteht, das
Recht freier Entwicklung für sie. Aber es steht ihm fest, daß, sobald der
Staat sich seinem Begriffe gemäß vollendet hat, die Kirche das Existenzrecht
verloren hat. Und dies Bewußtsein muß die Arbeit am Ausbau der Kirche
und die Pflege der kirchlichen Güter lähmen und schädigen.
Während Rothe durch die begriffliche Identität des Staats und der
Kirche nicht gehindert wurde, an der Auseinandersetzung beider Institutionen
und an der Herstellung einer synodalen Verfassung für die evangelische Kirche
sich zu betheiligen, so gelangte ein andrer Hegel'scher Theologe, Marheineke.
von einer ähnlichen Ueberschätzung des Staatsbegriffs ausgehend, dahin, in
der Konsistorialverfassung den Ausdruck einer vollkommenen, der Idee ent¬
sprechenden Gestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche zu finden.
In der hierarchischen Verfassung stellte sich ihm die abstrakte Identität beider
im Territorialismus und Collegialismus, der sich in der Presbyterial-
und Synodalverfassung zur Geltung bringe, ihr Versuch sich von einander zu
unterscheiden, in der Konsistorialverfassung endlich ihre konkrete vermittelte
Einheit dar. So hatte für ihn die Synodalverfassung nur eine vorüber¬
gehende Bedeutung, sie war ihm nur ein Durchgangspunkt für die Konsi¬
storialverfassung.*)
Es ist eine ähnliche Begriffsbestimmung des Staats, welche Trendelen¬
burg aufgestellt hat. Er bezeichnet ihn als die Verwirklichung des univer¬
sellen Menschen in der individuellen Form des Volks.**) Diese Definition
fällt ja allerdings formell wesentlich mit der Hegel'schen zusammen, ist aber
materiell wesentlich von ihr unterschieden. Für Hegel ist der Staat der
Complex der Organe der Regierung, Gesetzgebung und Verwaltung, durch
Welche sich die öffentliche Ordnung bildet und bewahrt. Trendelenburg da¬
gegen sieht im Staat das organisirte Volk, er nimmt das sittliche und geistige
Leben desselben in den Begriff des Staates auf, und was Hegel Staat nennt,
ist ihm nur ein Moment desselben. Daher hat es bei Trendelenburg einen
ganz andern Sinn, wenn er die Kirche als eine besondere Seite des Staats
ansieht, und seine Darstellung des Verhältnisses von Staat und Kirche wird
uns keine Bedenken einflößen. „Wenn der Staat, sagt er, im weitern Sinne
des Wortes ein Mensch im Großen ist und alle menschlichen Richtungen sich
in ihm in der Einheit der Idee ausleben: so ist die Kirche das Organ für
die Belebung der Gesinnung aus dem Göttlichen, und die sich in der Gemein¬
schaft gleichsam objektivirende Gesinnung so gewiß sein nothwendiges Moment,
als der einzelne Mensch erst durch seine Gesinnung sittlich wird."***) „Der
Staat prägt seinen sittlichen Geist in seinen Gesetzen, seinen Einrichtungen
und in denen aus, welche sie handhaben, und es ist unmöglich, daß das
Menschliche, das sie beseelt, ohne die sittliche Gesinnung, welche die stille Em¬
pfindung eines Göttlichen in sich hat, geblieben sei. Unwillkürlich geht die
letzte Auffassung alles Sittlichen von dem, der die Institutionen einsetzt, und
von dem Volke, das sie annimmt, in sie selbst über; und insofern hat der
Staat die Richtung zur Kirche nicht außer sich, sondern in seinem Wesen;
und wenn die Kirche die Einzelnen nach dem Zuge ihrer eigenthümlichen Idee
bewegt, so gewinnt sie mit der Macht über das Gemüth auch eine stille Macht
über den Geist der Gesetzgebung und Verwaltung. Es liegt darin ihr eigentlicher
Beruf."*) „Die Theorie von Trennung der Kirche und des Staates entsteht nur
als Nothbehelf in den Zeiten unweiser Conflikte, in den Zeiten der hart¬
näckigen Anmaßungen, sei es von Seiten der Kirche oder des Staates. Beide
bedürfen einander. Die Kirche bedarf des Staates, damit ihr die äußern
Gesetze — der sittliche Nachdruck des Staates, der Arm der weltlichen Ge¬
rechtigkeit, die bürgerlichen Einrichtungen — den Boden bereiten und das
Gebiet einer Wirksamkeit sichern. Der Staat bedarf umgekehrt der Kirche,
um sich selbst und seine Genossen aus dem innersten Grunde des menschlichen
Wesens zu beleben und sich vor dem Verderben zu bewahren, in das ihn
sonst die ungehemmte Moral der Selbstliebe und des Wohlseins hineinzieht.
Es ist dem Staate zum Heil, wenn die Kirche fortwährend daran arbeitet,
die Menschen, die seine Glieder sind, aus dem Gefängniß augenblicklicher und
selbstischer Stimmungen und Gedanken zu befreien und das harte selbstsüchtige
Herz in Empfindungen des Ewigen zu schmelzen."**)
Je höher der sittliche Werth des Staats gestellt wird, das ist das Re¬
sultat, welches sich uns ergibt, desto mehr Neigung ist auch vorhanden, ein
enges und inniges Band zwischen ihm und der Kirche zu knüpfen; je ge¬
ringer dagegen der sittliche Werth des Staats geschätzt wird, desto mehr zeigt
sich auch das Bedürfniß, das Band zwischen Staat und Kirche zu lösen.
Und diese verschiedene Würdigung des Staats ist meistens durch die konkrete
Gestaltungen der jedesmaligen Richtung desselben bedingt. Daß die katho¬
lische Kirche des Mittelalters dem Staat ein höheres sittliches Leben absprach,
war wohl begründet. Der mittelalterliche Staat, der überhaupt nur wer¬
dender Staat war, besaß in der That nur ein geringes Maß sittlicher Kräfte,
und die Kirche, welcher er die Kultur zu danken hatte, konnte sich mit gutem
Recht als den Kanal ansehen, durch welchen er allein einen sittlichen Inhalt
empfange. Gegenwärtig freilich kann die katholische Kirche diese Behauptung
nicht ohne verschuldete Selbsttäuschung aussprechen. Wenn sie es thut, so
geschieht es, weil sie vermöge des sie beherrschenden Stabilitätsprinzips sich
immer noch im Mittelalter wähnt. Und ebenfalls haben sich Freikirchen nur
da gebildet, wo Staaten, momentan wenigstens, sei es wirklich, sei es in der
Voraussetzung der die Staatskirche verlassenden, den ihnen eignenden sittlichen
Gehalt gemindert oder verleugnet hatten. Daß die Reformatoren aber dem
Staate eine so hohe sittliche Bedeutung zuerkannten und deßhalb eine so nahe
Beziehung der Kirche zu ihm herstellten, war die Folge davon, daß die Fürsten
die Einführung der Reformation ermöglicht und der jungen Pflanzung die
hingehendste Sorgfalt zugewandt hatten. Und es ist gewiß charakte¬
ristisch . daß Hegel. Marheineke, Rothe, Trendelenburg, welche dem
Staate eine so hohe, zum Theil über das rechte Maß hinausgehende
sittliche Würde zuerkennen und mehr oder weniger einem innigen Zusammen¬
hange desselben das Wort reden, einen großen Theil ihrer Wirksamkeit in
dem Staate verlebt haben, der sich allezeit so ernst seiner sittlichen Aus¬
gaben bewußt gewesen war, und der sich je länger je mehr als politischer
Hort des Protestantismus bewährt hatte. Eine singuläre Stellung in dieser
Hinsicht nimmt Schleiermacher ein. Er war ein glühender Patriot, ein be¬
geisterter Vertreter der Rechte Preußens und zugleich ein Denker, welcher den
Begriff des Staats tief erfaßte. Nichts desto weniger gehören seine Sympa¬
thien der Freikirche, und die Trennung von Kirche und Staat erscheint ihm
wünschenswerth. Um diese Richtung Schleiermacher's zu begreifen, müssen wir
uns vergegenwärtigen, daß für ihn die Religion wesentlich in die Sphäre des
subjektiven Gefühls fällt, und er daher der Kirche ihren Platz zugleich mit der
Kunst in der Form der individuell symbolisirenden Thätigkeit anweist. Er
stellt Religion und Kirche unter ästhetische Gesichtspunkte. Daher breitet sich für
ihn zwischen der Kirche und dem Staate, als der Form identisch organisi-
render Thätigkeit, eine weite Kluft. Nicht ohne Einwirkung auf diese Auf¬
fassung war wohl auch Schleiermacher's Erziehung in der Brüdergemeinde ge¬
wesen, in welcher der individuelle und subjektive Faktor den Typus des kirchlichen
Lebens bestimmt. Es kam noch hinzu, daß Schleiermacher in idealistischen
Optimismus glaubte, auch ohne Einwirkung des Staates werde das religiöse
und kirchliche Prinzip alle Bürger des Staates fesseln und anziehen. Er
hatte nicht immer der Staatskirche feindlich gegenüber gestanden, in Bezug
auf die Eventualität einer Trennung von Staat und Kirche hatte er noch 1817
ausgerufen: „Gott bewahre den Staat und die Kirche vor einem solchen
Rückschritt." Aber die Gewaltakte des staatskirchlichen Regiments, das terri-
lvrialistische Verfahren bei der Einführung der Agende, welchem er beinahe
das Opfer seines kirchlichen Amts hätte bringen müssen, hatte sein zartes für
jede Rechtsverletzung empfängliches Gefühl so tief verletzt, daß er seitdem die
Staatskirche mit großem Mißtrauen betrachtete und nur als ein vorläufig
nothwendiges Uebel ansah.*)
Unabhängig von einer mangelhaften Würdigung des Sittlichen im Staate
hat sich in der nordamerikanischen Union die Trennung von Staat und
Kirche vollzogen. Und die Freunde einer solchen berufen sich mit Vorliebe
auf die dort bestehenden Verhältnisse. Wie uns scheint, durchaus mit Unrecht.
Was wir Trennung von Staat und Kirche nennen, besteht in Nordamerika
keineswegs. Der Staat privilegirt dort freilich keine einzelne christliche De¬
nomination, aber er erklärt nicht formell, wohl aber thatsächlich die christliche
Kirche ohne Rücksicht auf ihre konfessionellen Sonderungen als Staatskirche.
Der Kongreß hält sich seinen eignen Kaplan, eröffnet jede Sitzung mit Gebet
und feiert im Senatssaal auf dem Capitol zu Washington einen sonntäg¬
lichen Gottesdienst. Kapläne werden ferner ernannt für Armee und Flotte.
Und in gewissem Sinne werden auch einzelne Confessionen bevorzugt.
Die Geistlichen, die hier funktioniren, gehören meistens der bischöflichen oder
presbyterianischer, mitunter auch der methodistischen Kirche an.*)
Auch die Staatschulen sind keineswegs absolut religionslos. „Lange Zeit
wurde die Bibel als tägliche Uebung gelesen, oder die Schulen wurden mit
dem Gesänge eines Kirchenliedes oder dem Aussagen eines Vaterunsers er¬
öffnet." Und diese Sitte ist nur theilweise jetzt verlassen oder modifizirt.
Der (noae ok pudlio Instruktion im Staate New-Uork bestimmt: „Das Ge¬
setz gestattet nicht, einen Theil der regelmäßigen Schulstunden zu religiösen
Uebungen, deren Besuch obligatorisch wäre, zu benutzen. Auf der andern
Seite hindert nichts das Lesen der Schrift oder die Vornahme andrer reli¬
giöser Uebungen Seitens des Lehrers mit denjenigen Schülern, die freiwillig
daran Theil nehmen wollen oder die von ihren Eltern oder Vormündern dazu
angehalten werden, vorausgesetzt, daß dies vor Anfang oder nach Schluß der
vorgeschriebenen Schulstunden geschieht." Und ein mit -den amerikanischen
Verhältnissen sehr vertrauter Schriftsteller fügt hinzu: „Der Lehrer ist sehr
wohl im Stande die historischen Theile der Bibelj, die Geschichte des Christen¬
thums und der anderen Religionen zu lehren, und ebenso, die Principien
der Ethik und die Regeln der Moral vorzutragen, wie diese sich unter dem
Einfluß der christlichen Civilisation entwickelt haben.""*)
Ferner, während die Gesammtverfassung der Union von der Forderung
religiöser Qualifikationen absieht, giebt es noch manche Einzelstaaten, welche
den Glauben an das Dasein eines Gottes und einen künftigen Zustand der
Belohnung und Bestrafung als Qualifikation zur Erlangung öffentlicher Aemter
und zur gerichtlichen Zeugnißfähigkeit fordern.***)
Erwägt man endlich die strengen Gesetze nicht bloß gegen Blasphemie,
sondern auch gegen Atheismus und Sonntagsentheiligung in den einzelnen
Staaten"), so wird man erkennen, daß in der Union das christliche Leben
nicht bloß auf die einzelnen Individuen und die einzelnen kirchlichen Vereine
beschränkt ist, sondern sich auch in den öffentlichen Institutionen einen objek¬
tiven Ausdruck gegeben hat.
Während früher die römischen Imperatoren von Tiberius bis auf Nero
der Welt einfach als bewußte Bösewichter galten, ist in der letzten Zeit viel¬
fach eine andere, Auffassung ihres Wesens und Lebens geltend zu machen ver¬
sucht worden. Nach den Einen sollte das Bild, welches die alten Geschicht¬
schreiber und namentlich Tacitus von ihnen gezeichnet, an parteiischer Aus¬
fassung oder an Uebertreibung leiden und theilweise geradezu auf Verläum-
dung hinaus laufen; nach den Andern waren die Greuel und Frevel, welche
jene von ihnen berichten, zwar vollständig begründet, aber Handlungen von
Geisteskranken, also weniger ein Gegenstand des Abscheus als des Mitleids.
Bon jener Auffassung hat uns Herr Adolf Stahr vor einigen Jahren in
seiner Biographie des Tiberius eine ungemein erheiternde Probe geliefert.
Dieser huldigten u. A. in Betreff Caligula's Niebuhr und in Bezug auf jenen
und seine nächsten Nachfolger Gregorovius. Man sprach von „Cäsarenwahn¬
sinn", den man sich damit erklärte, daß der Zufall jenen Männern die Herr¬
schaft über die Welt mit allen ihren Genüssen zu Füßen gelegt und sie da¬
durch, sowie durch die hündische Unterwürfigkeit und die Schmeichelei dieser
Welt um ihren Verstand gebracht habe, woraus ein bis zur Selbstvergötterung
gesteigerter ungeheuerlicher Egoismus, ein überall Verrath und Nachstellung
wilderndes Mißtrauen und daneben die Neigung zu widernatürlicher Vollere!
und Wollust hervorgegangen seien.
In dieselbe Klasse von Interpreten dieser grauenhaften Erscheinungen
der römischen Kaiserzeit gehört eine soeben erschienene Schrift des Osnabrücker
Irrenarztes Dr-. Wiedemeister, die den Titel führt: „Der Casa r en w a hn-
sinn der Julisch- Claudischen I aper a loren f am nie, geschildert
an den Kaisern Tiberius, Caligula. Claudius und Nero"**). Indeß sucht
der Verfasser derselben den Grund der geistigen Erkrankung jener Autokraten
in andern Verhältnissen als in ihrem plötzlichen Gelangen zur Weltherrschaft.
Derselbe liegt ihm nicht so sehr auf sittlichem, als auf naturhistorischen Ge¬
biete, nämlich in der krankhaften Steigerung jener Eigenthümlichkeiten, die in
der Vermischung des Blutes der Julier mit dem der Claudier zusammenge¬
troffen und in der Degeneration geendigt, welcher die so entstandene Familie
allmählich anheim gefallen sei. Ihm ist also der Wahnsinn jener Cäsaren
nicht die Folge moralischer Conflicte, erschütternder Combinationen und gro߬
artiger Weltverhältnisse in einer in faule Gährung übergegangnen Zeit, son¬
dern einfach eine Familienkrankheit. Der den Imperatoren über Nacht ge¬
kommene Besitz einer Welt oder die Eigenthümlichkeiten der damaligen sitt¬
lichen und politischen Zustände sind nach ihm nicht die Ursachen ihres Frevel¬
muthes, ihres wüsten Lebens und ihrer Grausamkeit, sondern sie bilden ihm
„nur den Boden, auf dem der Cäsarenwahnsinn seine grotesken und gran¬
diosen Blüthen treiben konnte." Tiberius war geisteskrank, bevor er Kaiser
wurde, Caligula zeigte die Keime zur Verrücktheit bereits als Knabe, Claudius
war längst schon blödsinnig, als er auf den Thron gelangte, und ein Seelen¬
kenner hätte auch Nero voraussagen können, daß er in Wahnsinn verfallen
würde. Auch wenn diese Glieder des Julisch - Claudischen Geschlechts nicht
Kaiser der Welt geworden wären, geisteskrank wären sie doch geworden.
„Ihre Machtstellung ließ ihrer Krankheit nur das Kleid; ihr Wesen bedingte
sie nicht. Tiberius würde, wenn ihn das Geschick zum simpeln römischen
Bürger bestimmt hätte, sich vielleicht von den Juden oder der Polizei verfolgt
gewähnt haben. Caligula hätte, wenn er als Sklave geboren gewesen, denk¬
barer Weise seinen Wahnsinn nur bis zu der Höhe emporgeschraubt, sich für
den Schulzen seines Dorfes zu halten. Claudius hätte auch als bloßer Ge¬
richtsdiener sich für einen größeren Juristen als den Präsidenten eines hohen
Tribunals gehalten und zur Feder gegriffen, um die Welt mit seiner Rechts¬
weisheit zu beglücken. Nero hätte, wenn er als Schuster in Pompeji zur
Welt gekommen wäre, vielleicht sein Genüge daran gefunden, durch Gesang
und Tanz den Neid seiner Mttgesellen zu erregen."
Tiberius ist der Sproß einer Consanguinetätsheirath: er entstammt
von väterlicher wie mütterlicher Seite dem patrieischen Geschlechte der Clau¬
dier. Diese gehörten dem höchsten römischen Adel an und zählten in ihrem
Stammbaum eine lange Reihe von Namen, die mit Würden verbunden
waren, darunter achtundzwanzig Consuln und fünf Dictatoren. Immer zeigten
sie sich aber als starre Aristokraten und als trotzige, gewaltthätige, das niedere
Volk verachtende, bisweilen selbst vor Verletzung von Heiligthümern nicht zu¬
rückscheuende Geister. Von seinem Vater und dessen Ahnen erbte Tiberius
rauhe Härte, adeligen Hochmuth, souveräne Mißachtung der Plebejer und
Neigung zum Blutdurst, von seiner Mutter kalte Berechnung und eisige
Herzlosigkeit bei der Verfolgung ehrgeiziger Zwecke. Beide aber übertrugen
auf ihn zugleich die Degeneration, welche die Familie der Claudier sich durch
wiederholte Heirathen in der eignen Verwandtschaft zugezogen hatte, eine De¬
generation, welche sich noch heute in manchen bürgerlichen und adeligen Ge¬
schlechtern geltend macht und in geometrischer Progression manche Dynastien
derartig heimsucht, daß nach einer Angabe Esquirol's auf sechzig Angehörige
dieser Familien ein Geisteskranker fällt, während man sonst einen solchen erst
unter sechshundert Menschen antrifft. Diese geistige Erkrankung zeigte sich bei
Tiberius schon in seiner Jugend. Er war ein scheuer, verschlossner, mürrischer
Knabe, der wegen seines unjugendlichen Wesens frühzeitig „der Alte" genannt
wurde. Er war nicht blos unliebenswürdig, sondern auch von wilder,
tückischer Gemüthsart, ein Menschen- und Thierquäler, so daß ihn sein Haus¬
lehrer „einen mit Blut durchkneteten Thonklumpen" schalt. Später entwickelte
sich neben glänzenden Talenten diese Krankheit immer mehr zur Melancholie
und zuletzt zum Verfolgungswahn. Die Entwicklungsgeschichte derselben giebt
Ättedemeister in folgendem Ueberblick über die von ihm vorher ausführlich
dargestellten Ereignisse und Wendungen im Leben dieses Kaisers:
„Durch seine Geburt dem Throne nahe gestellt, durch seine Vorfahren
Erbe eines so trotzigen und hoffährtigen Sinnes, daß die meisten neuern
Schriftsteller darin eine der Geisteskrankheit wenigstens nahestehende krankhafte
Charaktereigenthümlichkeit seiner Ahnen entdecken, durch seine strategischen und
diplomatischen Talente zu einer hervorragenden Rolle in dem ersten Reiche
der Welt bestimmt, verläßt er, mitten im Glücke und bekränzt mit Ehren, wie
sie nur Erdenruhm zu gewähren vermag, in einem Augenblicke, wo der Staat
und seine eigne Zukunft seine Anwesenheit dringend erfordern, Rom, um sich
^f der abgelegnen Insel Rhodus dem Treiben der Weltstadt zu entziehen.
Ein charakteristisches Symptom der Melancholie, eine viertägige Nahrungs¬
verweigerung, eröffnet die Scene. Das Gefühl, unglücklich und unwürdig zu
sein, bemächtigt sich des kaiserlichen Prinzen so sehr, daß er sich verächtlichen
^riechen im Range gleichstellt, seine Dienerschaft bis auf wenige entläßt, seine
Kleidung vernachlässigt, sich des römischen Namens für unwerth hält und,
UM jedes Verkehrs mit den Inselbewohnern und Besuchern enthoben zu sein,
steh auf entlegenen Aeckern versteckt. Die Intensität der nicht erkannten
Krankheit nimmt hierauf für eine Weile ab. Nicht geheilt, denn er leidet
Uvah an Hallucinationen, sondern dem Zuge aller Melancholiker folgend, die
steh immer nach einem Wechsel ihres Wohnortes sehnen, verläßt er Rhodus
Um eine demüthigende Stellung in Rom einzunehmen. Der Groll seiner
von der Krankheit seines Gemüthes nichts ahnenden Verwandten läßt nach.
Und er wird von Neuem mit wichtigen diplomatischen und militärischen
Aufgaben betraut, deren er sich trotz seiner geschwächten Gesundheit mit aus¬
gezeichnetem Erfolg entledigt. Erschöpft an Körper und Geist wird er auf
den Thron berufen. Die ersten Verlegenheiten werden von seiner Mutter aus
dem Wege geräumt, und er wird von ihr gedrängt, die Zügel der Regierung
in die Hände zu nehmen. Widerwillig und voll Furcht, weder den politischen
Umtrieben noch den Gefahren der Herrschaft gewachsen zu sein, besteigt er
endlich den Thron, aber nicht als stolzer Imperator, sondern als der Erste
unter Gleichen, vor denen er so ängstlich und demüthig auftritt, daß er sie
sogar als seine „Herren" anredet. Theilnehmenden Freunden gelingt es, in¬
dem die Krankheit wieder einmal abnimmt, ihm etwas mehr Lebensmuth und
Selbstvertrauen zu verschaffen, und in der Milde seiner Stimmung verwendet
er jetzt sein ganzes Bestreben darauf, Recht zu üben, eingerissene Mißbräuche
abzustellen und die Noth der Unterdrückten und Unglücklichen zu lindern-
Aber diese relative Besserung ist nicht von Dauer. Er verfällt abermals in
Verstimmung, und die schwankenden Zustände seines Gemüthes spiegeln sich
in Unentschlossenheit, in ungleichmäßiger Handhabung des Rechtes, sein Mi߬
trauen wächst und nimmt zuletzt die Gestalt des Verfolgungswahnes an.
Ueberall sieht er sich von Feinden umgeben, Ankläger werden ermuthigt, ihm
solche aufzuspüren, die Verdächtigen straft er mit Tod oder Verbannung, zehn¬
tausend Mann Soldaten scheinen nicht mehr im Stande, sein Leben zu
schützen. Da endlich entflieht er dem Sammelplatz aller Verschwörer gegen
sein Leben und sucht die Felseninsel Capri auf. Hier verfällt er in Hirnwutl)
und schließlich in ierminalen Blödsinn, wobei seine psychischen Kräfte zwar
nicht absolut darniederliegen und er noch immer regiert, seine Regierungshand-
lungen aber das Gepräge geistiger Schwäche und des Widerspruchs tragen."
Der Nachfolger des Tiberius war der erste römische Herrscher, in dessen
Adern das verdorbene Blut der Claudier sich mit dem nicht weniger ver¬
dorbenen der Julier mischte. Wir geben später sein Bild nach Wiedemeister's
Darstellung in einem eignen Artikel und führen hier, um den Hauptgedanken
der hier besprochenen Schrift noch deutlicher hervortreten zu lassen, nur das
an, was unser Autor über jenes sein geistiges Familienerbtheil sagt: Caligula's
Mutter Agrippina gehörte nur dem Julischen, sein Vater Germanicus sowohl
dem Julischen als dem Claudischen Geschlechte an. Die schlimmen Eigen¬
schaften des letzteren blieben in Germanicus wie in dessen Vater latent, um
erst im Sohne und Enkel wieder hervorzutreten, und dazu kamen bei diesem
die gleich üblen Charaktereigenthümlichkeiten der Julier. Diese waren eben¬
falls eine vornehme Adelsfamilie, und es genügt, Julius Cäsar und Octavi-
anus Augustus zu nennen, um daran zu erinnern, daß sie unter ihren Ahnen
Männer von der höchsten Begabung zählten. Doch werden auch körperliche
und geistige Abnormitäten von der Familie berichtet, z. B. Schielen, Ver¬
krümmungen, Krampfkrankheiten und ein unnatürlicher Hang zu geschlechtli¬
chen Freuden. Julius Cäsar litt an Epilepsie; unter Claudius trieb sich «n
dessen Hofe der Julius Pelignus herum, der mit seiner Mißgestalt und Albern¬
heit die Zielscheibe von allerhand Späßen war. Agrippina übertrug mit
ihrem Blute auf Caligula die ganze Depravation, welcher die Julier verfallen
waren. Ihre Großmutter war wegen ekelerregender Sittenlosigkeit von Au-
t!»sens verlassen worden. Ihre Mutter, zwar geistig begabt, aber voller Ränke,
übertraf nächst der Messalina an Ausschweifungen alle Weiber der Welt.
Bon ihrem eignen Bater verbannt, starb sie in der Einsamkeit auf Rhegium.
Ihre Schwester glich der Mutter auf ein Haar und starb gleichfalls im Exil.
Ihre drei Brüder Cajus, Lucius und Agrippa pflegte Augustus seine „drei
Eiterbeulen und Krebsgeschwüre" zu nennen. Sie waren schon als Knaben
wollüstig und blutdürstig. Vorzüglich Agrippa zeichnete sich durch allerlei ab¬
geschmackte Neigungen und Triebe aus. Er war dumm, roh, brutal, jäh¬
zornig, aller edleren Gefühle unfähig und von einer solchen Verkehrtheit des
Geistes und Gemüthes, daß er mit den zunehmenden Jahren nicht nur keine
seiner Unarten ablegte, sondern sogar weniger tractabel und toller wurde.
Agrippina glich ihrer Stiefgroßmutter Livia, so kalt und leidenschaftslos wie
^ehe, übertraf sie dieselbe an Herrschsucht. Sie war Mannweib. Indem sie
'dren Gatten Germaniens auf seinen Feldzügen begleitete, trat sie wiederholt
selbst als Befehlshaber auf. Weichere Gefühle mangelten ihr gänzlich. Seer-
^ut beschwor sie ihr Gemahl, ihr unbändiges Wesen abzulegen, sich unter
die Hand des Schicksals zu beugen und nach der Rückkehr in die Hauptstadt
dicht durch Trachten nach Einfluß die höhere Gewalt gegen sich zu reizen,
vergebens, sie war unfähig, sich jemand zu fügen. Nach Herrschergewalt be>
öierig, hatte sie mit männlichem Trotze weibliche Schwächen ein für alle Mal
abgestreift. Dabei hatte sie eine ungemetn freche Zunge, der sie gegen jeder¬
mann am Hofe freien Lauf ließ. Das war die Familie, welcher Caligula an-
Kchörte, das die Erbschaft, die ihm von seinen Ahnen zu Theil wurde. Wir
^irfen uns nicht wundern, wenn sie bei ihm in vollständige Verrücktheit
Ausartete, zumal er überdieß schon in der Jugend von der fallenden Sucht
Keplagt war.
Sein Nachfolger Claudius, ein Sohn des Drusus und der Antonia, die
^me Tochter der jüngeren Schwester des Augustus war, gehörte von Geburt
zu derjenigen Klasse der Geisteskranken, die man als Blödsinnige bezeichnet,
^eine Mutter nannte ihn eine „Mißgeburt, die von der Natur nur angefangen,
^er nicht vollendet worden," und wenn sie von jemand recht wegwerfend
frechen wollte, so sagte sie, er sei dümmer als ihr Sohn Claudius. Eine
Herrenhausen befindliche Broneebüste von ihm rief dem Verfasser unsrer
Schrift „lebhaft die Züge eines verstorbenen Arztes ins Gedächtniß zurück,
Welcher in der Dummheit Unglaubliches leistete, und in dessen Mienen sich der
Ausdruck bewußter Inferiorität und dadurch bewirkter Angst seinen College»
gegenüber deutlich documentirte." Die Apokolokyntosis sagt von ihm, Her¬
kules sei beim Eintritt des Kaisers in den Olymp erschrocken; denn er habe
gesehen, daß nicht alle Ungeheuer von ihm ausgerottet worden seien. Sobald
er in Erregung gerieth, trat wie fast bei allen Blödsinnigen eine Menge von
ganz unnöthigen Bewegungen ein : der Kopf flog von einer Seite zur andern,
der Mund bedeckte sich mit Schaum, er lachte unanständig, an der Nase hingen
helle Tropfen, die fast farblosen Augen zeigten sich roth unterlaufen. Seine
Stimme war rauh und heiser wie die eines Seeungeheuers, er stammelte und
konnte sich überhaupt mit den Lippen weniger verständlich machen als mit
einem minder edlen Körpertheile. Kopf und Hände begleiteten den irrlichte-
lirenden Tanz seiner Gedanken mit unaufhörlichem Wackeln. Der Inhalt
seiner Gespräche war ganz und gar läppisch. Alle Augenblicke unterbrach er
sich mit der Frage: „Wie, hältst Du mich für einen Schafskopf?" Erhob er
sich, so konnten die schwachen Beine den übermäßig schweren Oberkörper kaum
tragen, wozu noch kam, daß er den rechten, von Geburt an gelähmten Fuß
nachschleppte. Augustus wie Tiberius sprachen sich unzweideutig dahin aus,
daß er blödsinnig sei, und verliehen ihm infolge dessen niemals ein Amt. z»
dem es des Verstandes bedürfte. Einsam, nur von Narren und Possenreißern
umgeben, die um ihn eine Academie für pöbelhafte Späße und Zoten bildete, verlebte
er die größere Hälfte seiner Jünglings- und Mannesjahre fern vom Hofe. (A
soll eine Anzahl historischer Werke geschrieben haben, aber dieselben hatten wohl
seine Lehrer zu Verfassern. Er selbst brachte es nie zu verständigem Denken.
Als sein Neffe Caligula ihn aus der Einsamkeit hervorzog und ihn zum Mit¬
gliede des Senates sowie zu seinem Collegen für das bevorstehende Consulat
ernannte, war dieß nur ein Act verwandtschaftlichen Wohlwollens, und es
dauerte nicht lange, so hatte der ganze Hof seine Geistesarmuth und sein
lächerliches Wesen durchschaut und machte ihn unter Vortritt des Kaisers selbst
zur Zielscheibe von Witzen und groben Neckereien. Selbst an thätlichen Mi߬
handlungen, Peitschenhieben, Stockschlägen und Ohrfeigen von Seiten Caligula's
soll es nicht gefehlt haben, und Sueton meint, derselbe habe ihn nur aw
Leben gelassen, um seinen Spott mit ihm treiben zu können.
Es war ein sonderbares Spiel des Zufalls, das gerade diesen ängstlichen
Troddel zum Kaiser berief, als Caligula ermordet worden, und er nahm sich
auf dem ersten Throne der Welt in der That immer recht kläglich aus. Nicht
wie ein triumphirender Imperator saß er er auf den Schultern der ihn zurn
Herrscher proclamirenden Prätorianer, sondern wie ein Opfer, das zur Schlacht¬
bank geführt wird. Dreißig Tage lang lag ihm der Schreck des 24. Januar
derartig in den Gliedern, daß er sich nicht aus seinem Zimmer wagte. Später
trat er gegen den Senat und hohe Beamte, wie Tiberius in seiner Melan¬
cholie, sehr devot auf. Unglücklicherweise hatte dieser Idiot als Kaiser die
Leidenschaft, Recht zu sprechen, und zwar war er dabei so pflichteifrig, daß
er nicht nur fast jeden Tag im Senate oder auch allein auf dem Markte oder
sonstwo mit Zuziehung von Schöffen zu Gericht saß, sondern auch ganze
Nächte diesem Geschäfte widmete. Gewiß fand er er dabei bisweilen zufällig
das Rechte, aber es wird selten geschehen sein. Ein treffendes Urtheil zu
fällen ging über seine Verstandeskräfte, er entschied nach Laune und Stim¬
mung, und die Strafen, die er verhängte, überschritten häusig das gesetzlich
bestimmte Maß. Mitunter gab er sein Urtheil ab, bevor er beide Parteien,
gehört hatte, einmal formulnte er es schriftlich dahin, er trete auf die Seite
der Partei, welche die Wahrheit gesagt habe. Unser Buch ist voll von cha¬
rakteristischen Anekdoten, die ihn auch in dieser Beziehung als albern bezeichnen.
Eine gleiche Leidenschaft zeigte er für die öffentlichen Spiele, nur mußte er
sich hier mit der passiven Rolle des Zuschauers begnügen. Doch fand er da¬
bei reichlich Gelegenheit, seine Taktlosigkeit und gemeine Dummheit und die
den Blödsinnigen nicht selten begleitende Grausamkeit in hervorragendem Grade
zu zeigen. Blut und Todesqualen waren die liebste Augenweide des Idioten
im Kaiserpurpur, der dabei nicht nur der Erste und der Letzte im Zuschauer¬
raume war, sondern nicht einmal wie die Uebrigen während der Frühstücks¬
pause fortging. Wahrhaft höllisch ist die Phantasie, die er mit einer See¬
schlacht auf dem Fuciner See zu verwirklichen gedachte, wo 19,000 Sklaven
blos zur Befriedigung seiner Mordlust einander bekämpfen und, wie er hoffte,
sich bis aus den letzten Mann niedermachen sollten, doch wurde der Plan nur
zum Theil ausgeführt.
Hand in Hand mit dieser Grausamkeit ging die gröbste Sinnlichkeit, die
sich besonders in zwei Punkten zeigte, in der Völlerei und im Geschlechts¬
genuß. Man könnte zweifeln, ob seine Leidenschaft, Recht zu sprechen, größer
gewesen, als die zu fressen und zu saufen. Fast täglich wurden großartige
Gastereien, in der Regel für sechshundert Personen, veranstaltet, und die¬
selben dauerten von 4 Uhr bis Mitternacht. Von Etikette war dabei nicht
die Rede, im Gegentheil, die größten Unschicklichkeiten galten hier für erlaubt.
Der Kaiser überlud sich mit Speisen und vergaß dabei das Trinken nicht,
sodaß er gegen das Ende des Gelages gewöhnlich sinnlos benebelt rückwärts
auf sein Polster sank und mit offnem Munde laut schnarchend im Angesicht
seiner Gäste dalag. Dann entledigte sich entweder noch auf dem Polster der
überfüllte Magen von selbst seines Inhaltes, oder man gab dem Kaiser ein
Brechmittel ein oder kitzelte den offenstehenden Schlund so lange mit einem
Federbarte, bis reichliches Erbrechen erfolgte. Auf zwei Sklaven gestützt
wankte der Abscheuliche darauf nach seinem Lager, um den unterbrochner
Schlaf fortzusetzen, bis er erwachte und nach einem Weibe verlangte. Messa-
lina, welche die Befriedigung ihrer Lüste außer dem Hause suchte, fand er
dann selten vor, aber sie hatte stets für Stellvertretung gesorgt. Auch seine
drei andern Frauen machten ihn zum Hahnrei und beherrschten ihn mit Hülfe
von Freigelassenen so vollständig als möglich. Die vierte aber, die stolze und
herrschsüchtige Agrippina, ließ ihn, als er ihr unbequem und gefährlich wer¬
den wollte, bei einem jener Gelage durch seinen Leibarzt Xenophon vergiften.
Goethe starb mit den Worten: „Mehr Licht!" Napoleon der Erste hauchte
seine Seele mit dem Ausruf: „I'ötL alö l'armvvl" aus. Claudius' letzter
Seufzer lautete, seines Lebens ebenso würdig: „Vae me, xuw, eonea-
ea-ol mel"
Nero, der Nachfolger des Vergifteten,'war ein Sohn des Cil. Domitius Aheno-
berbus und der soeben erwähnten Agrippina. Bei seiner Geburt waren von seinen
nähern Verwandten mütterlicherseits am Leben: der wahnsinnige Kaiser
Caligula, der Bruder, der blödsinnige Prinz Claudius, der Oheim seiner
Mutter, und zwei Schwestern derselben, Drustlla und Livilla, die mit ihrem
Bruder Caligula in Blutschande lebten. Verstorben waren seine Großmutter
Agrippina, die Aeltere, jenes hochfahrende Mannweib, deren wegen unzüch¬
tigen Lebens verbannte Schwester Julia und die obengenannten drei Brüder
Agrippa, Cajus und Lucius, deren Rohheit und Lüderlichkeit wir kennen.
Sein Vater Domitius Ahenoberbus entstammte einer Adelsfamilie, die ebenso
übermüthige und gewaltthätige Gesellen aufweist als die der Claudier. Sein Ur-
ältervater hatte, wie der Redner Crassus sich ausdrückte, „eine Stirn von Eisen
und ein Herz von Blei." Dessen Sohn zeichnete sich durch trotzige Sinnesart,
sein Enkel, der Großvater Nero's, durch Anmaßung und Verschwendung aus.
Der Vater Nero's endlich war in jeder Beziehung ein roher und wüster Mensch.
Er ließ einen Freigelassenen umbringen, weil er sich geweigert, eine über¬
mäßige Quantität Wein zu trinken, er tödtete durch absichtliches Ueberfahren
auf der Via Appia einen Knaben und schlug mitten auf dem Forum einer
unbedeutenden Meinungsverschiedenheit wegen ein Auge aus. Er betrog die
Bankiers um ihre Schuldforderungen an ihn, ja selbst die Wagenlenker um
die von ihnen gewonnenen Siegespreise. Wegen Majestätsbeleidigung, mehr¬
fachen Ehebruchs und Blutschande angeklagt, ward er unter Tiberius ins Ge¬
fängniß geworfen, aus dem ihn erst der Tod des Kaisers befreite. Seine
Ehe mit Agrippina war jahrelang kinderlos. Endlich, genau neun Monate
nach seiner Entlassung aus der Haft, wurde ihm sein einziger Sohn geboren,
welchem er für das Leben das Wort mitgab: „Du mußt ein Scheusal wer¬
den und das Verderben der Welt, wenn Du nach mir und Deiner Mutter
artest." Agrippina aber rief, als die Astrologen ihr später sagten, das Kind
werde einst den Thron besteigen, aber seine Mutter ermorden: „Mag er mich
tödten, wenn er nur Kaiser wird."
Wir wissen, daß Nero, als Agrippina nach dem Tode seines Vaters den
Claudius geheirathet, durch die Intriguen dieser ehrgeizigen Frau wirklich
Kaiser und daß er als solcher nach einiger Zeit auch das Scheusal wurde,
von dem sein Vater einst gesprochen. Auch die Prophezeiung, daß er seine
Mutter umbringen werde, erfüllte sich, und darauf brach bei ihm der inter-
mittirende Wahnsinn aus, der von Anfang an in ihm geschlummert hatte. Nur
dieser interessirt uns hier. Wie er sich im Allgemeinen äußerte, ist bekannt.
Wer die Einzelheiten sich in guter Darstellung zu vergegenwärtigen wünscht,
mag unsre Schrift, die wir hiermit bestens empfohlen haben wollen, zur Hand
nehmen und sie mit der folgenden Schilderung dieser besondern Art der Gei¬
stesstörung vergleichen und als Illustration derselben verbinden:
Jene besondere Art der Geisteserkrankung, welcher Nero zum Opfer wurde,
wird von der Psychiatrie periodische Manie genannt und „unterscheidet sich
durch drei oft sehr bestimmt von einander abgrenzbare Stadien: das Anfangs¬
stadium der Melancholie, das Kernstadium der Tobsucht und das Endstadium
einer zweiten Melancholie. Das erste und das letzte Stadium ist meist von
kurzer Dauer und wenig constanter und prägnanter Erscheinung, das mitt¬
lere ist das eigentlich charakteristische und der Krankheit ihren Namen ver¬
leihende.
In den ausgebildeten melancholischen Stadien wird der Kranke von
Appetit- und Schlaflosigkeit, von Angst, die namentlich in der Herzgrube ihren
Sitz hat, von allgemeiner Verzagtheit, gedrückter, vorwurfsvoller Stimmung, *
Gewissensbissen, von körperlicher und geistiger Schlaffheit und Ermattung,
Unlust zur Arbeit, dann von Sinnestäuschungen aller Art heimgesucht. Der
Kranke hängt seinen Gedanken und Grübeleien und immer derselben Be¬
schäftigung mit sich und einem kleinen Kreise von traurigen Vorstellungen
nach, zieht sich von der Welt zurück, beschränkt sich aus sich selbst und hält
sich für unwürdig, mit Andern zu verkehren. Wenn die Krankheit in diesem
Stadium noch keinen sehr hohen Grad erreicht hat, sucht er seine Angst und
Traurigkeit im Strudel rauschender Vergnügungen, häufig auch in über¬
mäßigem Genuß geistiger Getränke zu betäuben. Nicht selten macht er auch
durch Gewaltthätigkeiten gegen sich und Andere seiner Spannung Luft.
Allmählich tritt er dann in das zweite Stadium, das der Tobsucht, über,
und der Mensch ist wie verwandelt. Von Angst und Reue ist keine Rede
mehr. Er darf sich jetzt Alles erlauben. Er glaubt mehr leisten zu können
als früher, mehr als alle Andern, und er leistet in der That viel. Die
frühere Erschlaffung seiner Muskeln hat nerviger Spannung Platz gemacht.
Er kann jetzt Wochen und Monate Strapatzen ertragen, unter denen sonst
sein Körper in einer Stunde zusammengebrochen wäre. Die Kraft seiner
Arme und Beine erlahmt nicht mehr, die Muskeln der Brust und des Kehl-
kopfs erlauben ihm, zu reden und zu singen soviel und so lange er will.
Wenn er früher gar keine oder nur denselben kleinen Kreis von Gedanken
stets wieder zu produciren pflegte, so jagt sich jetzt die Fluth der Gedanken
in seinem Gehirn wie ein stürzender Waldbach. Er scheint deshalb nicht nur
geistreicher, witziger und beredter als sonst, er ist es auch. In unaufhörlichem
Strome fließen ihm stets neue Gedanken zu, und da er sie mit einer Schnellig¬
keit verarbeitet und gruppirt, der Andere kaum zu folgen vermögen, so über¬
rascht er durch Witz und Beredsamkeit. Aber doch weniger vor dem kritischen
Blick eines nüchternen Beobachters, als vor seinem eignen Urtheile. Dem
erscheint die Gestalt seines Körpers so groß und erhaben, seine Kraft so her¬
kulisch, seine Stimme so süß. melodisch und gewaltig zugleich, seine Bered¬
samkeit so hinreißend und überzeugend, daß ihn auch das grenzenloseste
Fiasco nicht über die der Nichtigkeit seiner eignen Schätzung zu belehren
vermag."
Der Grund beider Zustände liegt in der verkehrten Leistung der Sinnes¬
nerven und den falschen Eindrücken,. welche dieselben dem Gehirne zuführen.
Der Melancholische hört wirklich Stimmen, die ihm schlimme Dinge in Aus¬
sicht stellen oder ihm Vorwürfe machen, und er sieht Gestalten, die ihn
bedrohen. Er fühlt seine Muskeln geschwächt, und er riecht und schmeckt im
unschuldigsten Tränke das Gift des Feindes. Dem Tobsüchtigen klingt
wirklich seine Stimme lieblich wie Flötenton oder kräftig wie Meeres¬
brausen, er sieht sich wirklich groß und schön, fühlt sich wirklich stark, er
schmeckt und riecht wirklich seiner, und alles das erzeugt in ihm die Em-
findung unsäglichen und unendlichen Behagens. Wie aber niemand sein Licht
unter den Scheffel stellt, so am wenigsten der Tobsüchtige. Es treibt ihn
unwiderstehlich, seine Stärke zu zeigen, seine Stimme ertönen und die Schön¬
heit seines Körpers bewundern zu lassen. Die Welt soll erfahren, welch ein
Mann er ist, und ihm huldigend zu Füßen zu fallen.
Doch führen auch dem Tobsüchtigen die Sinne unangenehme Empfin¬
dungen und Wahrnehmungen zu, nur mit anderer Wirkung als bei dem
Melancholischen. Dieser wird dadurch scheuer, ängstlicher und verschlossener. Der
Tobsüchtige dagegen betrachtet sich als von Andern nicht richtig erkannt, ge¬
würdigt und geehrt, ja als beleidigt, gehaßt und verfolgt, und so kommt
es in beiden Stadien zu den sogenannten Verfolgungsideen, die den Melan
cholischen bedrücken, den Tobsüchtigen aber zu Gewaltthätigkeiten reizen. Bei
dem letzteren ist es ein Verbrechen, nicht derselben Meinung zu sein wie er,
Zweifel an seiner Vortrefflichkeit und Erhabenheit zu hegen, bet seinen unver¬
gleichlichen Leistungen gleichgültig zu bleiben, ein Verbrechen, welches, wo die
Umstände es erlauben, mit dem Tode bestraft werden muß. Denn er ist ja
der Mittelpunkt der Welt, seinetwegen ist die Erde mit allem, was aus ihr,
erschaffen, und wer ihm nicht huldigt, ist ein Frevler, ein Verräther."
Das dritte Stadium gleicht dem ersten. Allmählich legt sich bei dem
Tobsüchtigen seine hochmüthige Erregtheit und der Taumel des Glückes, und
er versinkt wieder in Schwermuth, um zuletzt, wenn er nicht blödsinnig wird
oder stirbt, wieder verhältnißmäßig gesund zu werden. Indeß kann sowohl
das erste als auch das dritte Stadium fehlen. Auch ist zu bemerken, daß
die Tobsucht nicht immer mit Toben, Lärmen und maßloser Muskelbewegung
verbunden ist, sondern bisweilen allein auf dem Gebiete psychischen Geschehens
verläuft, und daß sich die aufgezählten Symptome fast niemals in einem
Menschen und in jedem Anfalle beisammen finden.
Ein Blick auf das Leben Nero's, wie unsere Schrift es entwickelt, läßt
erkennen, daß die Geschichtschreiber des Alterthums uns Anhaltpunkte in
Menge geliefert haben, um in dem Bilde des Kaisers die Züge zu finden,
welche zu der Behauptung berechtigen, er habe an periodischer Manie ge¬
litten. Nero unterlag drei Anfällen dieser Geistesstörung, die sich der Zeit
nach folgendermaßen abgrenzen:
Der erste Anfall dauerte vom April 59 bis zum Herbst 61 also dritthalb
Jahre. Davon kommen auf die melancholischen Anfangs- und Ausgangs¬
stadien je vier und ein halber Monat, die eigentliche Tobsucht währte
also ein Jahr und neun Monate. Im Anfangsstadium quälten den
Kaiser schauerliche Gesichts- und Gehörshallucinationen, gespenstische Trom¬
petenklänge, wimmernde Klagetöne vom Grabe seiner Mutter her, wilde
Träume u. d. Im Stadium der Tobsucht ließ er sich vom Volke als
Wagenlenker und Harfenspieler bewundern,, feierte er den Tag, wo er
zum ersten Male rasirt wurde, durch ein prunkvolles Fest, forderte er für
seine schlechten Verse den Beifall der Welt. Im dritten Stadium endlich
versank er in Verzagtheit und Schwermuth und trug sich mit Todesgedanken.
Daraus trat wieder geistige Gesundheit ein, und Nero war im letzten Quar¬
tal des Jahres 61 und im ersten des folgenden Jahres weder ein Narr noch
ein Tyrann, sondern ein verständiger und milder Herrscher.
Der zweite Anfall währte vom Herbst 62 bis zum April 65, also wie¬
der zwei Jahre und sechs Monate. Der Kaiser litt diesmal zu Anfang der
Krankheit vorzüglich an Verfolgungswahn, ein melancholisches Endstadium ist
nicht nachzuweisen. Nero wurde jetzt von der Furcht heimgesucht, daß man
'hin nach der Krone und dem Leben trachte, und verfügte infolge dessen
Mehrere Hinrichtungen, darunter die seiner Gemahlin Octavia. Wieder betrat
^ dann die Bühne, dießmal, um seine „mächtige" Stimme bewundern zu
^sser. Er entehrte eine Vestalin im Tempel, feierte scheußliche Bacchanalien,
ergötzte sich jubelnd am Brande, der damals zwei Drittel Roms in Asche
^gte, plünderte die Welt, um seine Domus Aurea zu bauen, und raste gegen
die Christen mit entsetzlichen Martern. Nachdem hierbei überall seine tod-
süchtige Eitelkeit zu Tage getreten, versank er abermals in Verfolgungswahn,
und darauf folgte wieder eine kurze Periode relativer Gesundheit.
Der dritte Anfall umfaßte die Zeit vom Herbste 68 bis zum Frühjahr
68, also genau so viele Monate als der erste und der zweite, und begann
und endigte mit melancholischen Stimmungen, die zwischen sich eine Periode
der Tobsucht hatten, in welcher der Kaiser u. A. die Quellen des Nil auf¬
suchen, Rom verbrennen und als glanzvolle Neropolis wieder aufbauen, wie
Alexander der Große nach dem fernen Osten ziehen wollte, und in der er an
die Durchstechung des Isthmus von Korinth ging und in den Theatern
Griechenlands als Schauspieler und Harfenschläger um den Kranz warb,
während er zugleich den verrücktesten Lüsten fröhnte. Der darauf wieder ein¬
tretenden Schwermuth machte erst die Verschwörung ein Ende, die zugleich
seine Ermordung herbeiführte. Er hatte sich nach dem Tode gesehnt, sich
aber — ein Widerspruch, der bei Melancholischen oft vorkommt — zugleich
bis zum letzten Augenblicke auf das Jämmerlichste vor ihm gefürchtet.
Nachdem wir in dem vorigen Aufsatze die äußeren Verhältnisse erwogen
haben, unter denen das ausgehende Mittelalter seine Kirchenbauten förderte,
bitte ich den geneigten Leser nunmehr auch einen Blick auf die Organisation
zu werfen, die sich theils als städtische Zunft, theils als das Institut der
Bauhütre aus der Jahrhunderte alten Praxis herausgebildet hatte. Wir
brauchen nur das Wort Bauhütte auszusprechen, um uns auf ein ziemlich
controversereiches Gehler versetzt zu sehen. Wir begegnen den allerverschieden-
artigsten Vorstellungen von dieser übrigens oft genannten, aber doch ziemlich
unbekannten mittelalterlichen Einrichtung. Was war die Bauhütte? ein Ge¬
heimbund? eine religiöse Verbrüderung? eine Zunft? eine Künstlergesellschaft?
welches Ansehen hatte sie? welchen Einfluß auf die Stylbildung? welche Orga¬
nisation? Das sind Fragen, die sich uns allsogleich aufdrängen.
Wir werden auch hier wieder einige romantische Vorurtheile zu beseitigen
haben, die besonders durch die Kunstforschungen älteren Datums entstanden
sind und darauf hinauslaufen, in der Wiederaufrichtung dieser unübertreff¬
lichen Schule das Heil jeglicher Baukunst zu erblicken. Auch jenen Umschau-
ungen von dem geheimen und symbolischen Charakter der Bauhütte, welche
durch Studien der Vorgeschichte des Freimaurerordens Platz gegriffen haben,
werden wir entgegen zu treten haben. Diese Forschungen waren einer ob¬
jectiven Auffassung nicht günstig, da sie das Interesse hatten Dinge die theils
nebensächlich theils unerwiesen waren, zu sehr in den Vordergrund zu rücken
und so ein nicht zutreffendes Bild zu liefern.
Die Bauhütte des Mittelalters war, wie aus den zahlreichen vorhan¬
denen Documenten hervorgeht eine Zunftbildung desjenigen Theiles der
Steinmetzen, welche sich mit den größeren in specie mit den Kirchenbauten
beschäftigten. Sie ist in ihrer inneren Eigenschaft der Lucasbrüderschaft der
Maler ziemlich ähnlich, unterscheidet sich aber dadurch von den übrigen
Zünften, daß sie nach einer Organisation der einzelnen Hütten zu gemein¬
samen, ganze Bezirke, ja ganz Deutschland verbindenden Bestimmungen drängt.
Und das war ja mit der Besonderheit ihrer Verhältnisse gegeben.
Wir dürfen nicht in jene Zeit zurückgreifen, in welcher die Bauthätig¬
keit der klösterlichen Laienbrüder auf weltliche Corporationen überging. Wir
wissen aus dieser Zeit soviel wie nichts. Erst von da an fangen unsere
Quellen an zu fließen, daß die bereits fertig ausgebildeten Zünfte die staatliche
Sanction zu erhalten begonnen; das ist etwa die Mitte des vierzehnten Jahr¬
hunderts. Hier sind es die Concurrenzfrage. das Meisterstück, die Funktionen
der Gesellen, die Lehrzeit und das Coalitionsrechr, welche durch besondere
Statuten geregelt werden. Es ist kulturhistorisch höchst interessant zu sehen,
daß nachdem wir in unseren Tagen alle zunftmäßigen Gruppirungen — ich
Meine nicht allein die alten historischen Zünfte, die in ihrer Gestaltung nicht
wehr lebensfähig waren — aufgelöst haben, wir in Zustände versetzt sind,
welche zu einer Neuregelung genau derselben Fragen dringen, welche bereits
bei der ersten Bildung der Zünfte die maßgebenden waren. Unsere Gesetz¬
gebung beschäftigt sich mit Aufstellung gesetzlicher Bestimmungen über Muster¬
schutz . das geistige Eigenthumsrecht, und wird wohl noch eine Menge ähn¬
licher Dinge regeln müssen. Das ist trotz Gewerbefreiheit die alte Concurrenz¬
frage. Ob der Contractbruch strafrechtlich zu verfolgen sei oder nicht, hat
bei Gelegenheit der Novelle zum Handelsgesetzbuch neulich erst zu lebhaften
Debatten Anlaß gegeben. Und eben jetzt holt die Reichsregierung Gutachten
ein über Regelung des Dienst- und Lehrverhältnisses. Dazu mehren sich die Ge¬
nossenschaften der Meister, Gesellen, der Handwerker aller Klassen, welche ge¬
meinsame Interessen gemeinsam vertreten wollen in rapider Weise — ein Zeichen,
daß was die Grundlage einer richtig aufgefaßten Zunft ist, nicht entbehrt
Werden kann. Jetzt geht eine Gesetzgebung von der Centralgewalt aus; da¬
mals bildete sich ein Usus. der von den Landesherren in freierer oder be¬
schränkterer Weise sanctionirt wurde — wie es ja nach der politischen Lage
Deutschlands nicht anders möglich war. Erst da, wo es sich um die Zusam¬
menfassung mehrerer Localvereine zu einem Gesammtbunde handelt, tritt auch
die Kaiserliche Majestät mit Bestätigung und Garantie ein, obwohl natürlich
in den Reichsstädten und den Kaiserlichen Stammländern auch locale Bil¬
dungen seiner Bestätigung unterlagen.
Die Statuten der Bauhütte sind, wie wir bereits andeuteten, Zunft¬
statuten, wie andere auch. Indessen lag es, wie schon gesagt, in der Art der
Thätigkeit jener an Kirchenbauten beschäftigten Steinmetzen, sich von den
lokalen Zünften abzuzweigen. Diese Steinmetzen sind eine Art Nomaden-
volk und müssen es ja sein. Wo gerade Bauten entstehen, ziehen sie hin';
sind dieselben vollendet oder ins Stocken gerathen, verschwinden sie wieder.
Ihre Heimath ist die gesammte Bauwelt. Deutsche Bauhandwerker wandern
weit über die Grenzen Deutschlands hinaus, nach Ungarn nach Polen, ja
selbst bis nach Spanien. Wenn es auffällig erscheinen sollte, daß der gothische
Styl so selten provinzielle Sonderheiten ausbildet, daß vielmehr eine Neue¬
rung, eine Erfindung, die etwa in Nordfrankreich oder Straßburg oder Cöln
zuerst auftritt, sich in überraschend kurzer Zeit an den verschiedensten Bauten
wiederfindet, so erhält diese Erscheinung ihre ganz natürliche Erklärung darin, ^
daß Meister und Gesellen der verschiedensten Gegenden durch ihre Wanderun¬
gen in stete Berührung kamen, und daß jeder junge Meister seine Wanderzeit
dazu benutzte, an Ort und Stelle neue meisterliche Leistungen zu studiren.
Da es also eine ansässige Steinmetzenzunft gar nicht gab, da vielmehr
eine Bauhütte in jedem Augenblicke sich neu zu bilden hatte, so war das
dringende Bedürfniß vorhanden. Gesetze und Einrichtungen zu haben, die all¬
gemeingültig waren. Der Meister erhält neue Gesellen, aber er weiß, was er
von ihnen verlangen darf; der Geselle wandert, aber er tritt an dem neuen
Orte gleichsam in den alten Contract ein; der obstinate Lehrling oder Gesell,
der ungesetzlich handelnde Meister kann sich nicht halten, da er nach den
Statuten keiner anderen Hütte Aufnahme oder Unterstützung finden würde.
Dies Bedürfniß ist als Grund für die Bildung allgemeiner Bauhütten
anzusehen. Der Natur der Sache nach sind sie zunächst provinziell; es schließen
sich Gegenden zusammen, die besonders durch den geistigen und kommer¬
ziellen Verkehr aufeinander angewiesen sind; sie haben solche Städte zu Vor¬
orten, denen die größesten Bauten im Gange sind. „Und seynd dieß mahl
4 Haupthütten im Römischen Reich Aufgericht und bestättiget worden, die
Erste zu Straßburg, die Andere zu Wien, die Dritte zu Zürich, die
Vierte zu Köln am Rhein."
„Die Straß burger Haupthütte hat in Handwerksachen zu gebieten,
was abwendig der Mosel ist und Franken, läuft aus an den Thüringer Wald
und Pöbenberg bis an das Pistumb gen Aichstedt und von Aichstedt bis gen
Ulm, von Ulm bis gen Augsburg, dazu von Augsburg bis an den Adel (?),
PragF?) und bis an das Welschland, Meißnerland, Hessen und Schwabenland,
diese sollen der Straßburger Ordnung gehorsam sein und den 10 ten Pfennig
reichen."
„Die Wiener Haupthütte bei Se. Stephan hat ihr Gebiet: Ober-und
Nieder-Baierland, auch das Land ob der Enns, Böheimb, Mähren. Steyer-
mark, Kärndten und Krain und ganz nach der Donau obsin das soll ge¬
horsam sein der Haupthütten zu Wien und den 10 ten Pfennig reichen."
„Das Gebiet der Kölnischen Haupthütte hebt sich an, wo der Rhein
und Main zusammenfließen, geht abwärts bis ins Niederland, diese sollen
der Haupthütte zu Cöln bei der-Domkirche gehorsam sein und den 10 ten
Pfennig reichen."
„Das Züricher Haupthütten-Gebiet hat Bern, Basel, Lucern, Schaf¬
hausen , Se. Gallen und die ganze Eidgenossenschaft. die sollen der Haupt¬
hütten zu Zürich gehorsam sein und giebt auch die Steuern an."
Die geographische Abgrenzung bedarf keiner Erläuterung. Die nördliche
Grenze der Straßburger Hütte würde also längs der südlichen Grenze des
eigentlichen Nieder Deutschlands laufen, während die Ostgrenze der Cölner
Hütte bis zu den Gebirgen der Oberen Ems und mittleren Weser gehen
dürfte. Das ganze niederdeutsche Gebiet ist ausgeschlossen. Nicht als
ob in diesen Gegenden nicht auch große kirchliche und Monumentalbauten
aufgeführt worden wären — ich erinnere an Jerichow, Lübeck, Schwerin,
Rostock, Stralsund, Danzig u. a. — aber die Art des Materials schließt
letztere Kunstthätigkeit von der anderen ab. Es sind zum großen Theile
Backsteinbauten; und darum ist der ausführende Arbeiter der Maurer und
Ziegelbrenner, nicht der Steinmetz. Was Schlesien anbetrifft, so ist diese
Provinz, als ein Nebenland von Böhmen und Mähren, wohl von der Wiener
Hütte abhängig gewesen.
Indessen scheint die eben genannte Provinzial-Eintheilung erst dann eine
bestimmt abgegrenzte Form gewonnen zu haben, als auf Anregung des schon
früher erwähnten Conrad Roritzer ein Kapitel von Meistern aus allen
deutschen Landen zusammentrat, um eine gemeinsame Organisation zu be¬
rathen. Wenn man die traurige politische Zerfahrenheit, den engherzigsten
Particularismus, die Mangelhaftigkeit der Verkehrswege jenes Jahrhunderts
in Rechnung zieht, so wird man der Kühnheit dieses Unternehmens seine
Anerkennung nicht versagen können. Das genannte Kapitel fand im Jahre
1489 am Se. Markustage, als am 25. April zu Regensburg statt. Es ist
dasselbe Jahr, aus welchem ich in dem vorigen Aufsatze einige Mittheilungen
über die Regensburger Dombaurechnungen machte. Wir dürfen voraussetzen,
daß in obigen Rechnungen die Zusammenkunft auch ihr pecuniäres Echo findet.
Und in der That lesen wir folgende Kostenrechnung:
„Item gescheut den fremden meistern Steinmetzen oj kanndel wälisch
Wein je ^' Koph um xjv obul- oj tardi frankenwein je 1 Koph um obul.
facit iij/S v^' den."
Es war nämlich Sitte, daß den fremden zureisenden Meistern ein Ehren-
trunk zugebracht wurde, wozu ein schwerer italienischer Wein, Muscateller,
Malvasier und Rynfall (Rivoglio) genommen wurde. Auch Dürer berichtet
auf seiner Niederländischen Reise, daß ihm an verschiedenen Orten, wie Frank¬
furt, Mainz, Köln und Amsterdam der Ehrentrunk credenzt sei.
Auf dem Regensburger von vielen Meistern und Gesellen besuchten Ka¬
pitel wurde nun das Zunftstatut der allgemeinen deutschen Bauhütte festge¬
stellt. Eine Original-Urkunde befindet sich zu Insbruck im Schatzarchive,
Lade 130. Dieselbe ist von Feil in den Berichten des Wiener Alterthums¬
vereins Bd. III. S. 301. mitgetheilt. Es giebt indessen noch eine ganze An¬
zahl zum Theil abweichender Recensionen. Eine derselben ist von Heideloff
in seiner Bauhütte des Mittelalters S. 34 ff. abgedruckt. Diese letztere ist
indessen nicht diejenige von 1459, wie Heideloff meint, sondern von 1480, wie
aus einer Vergleichung beider Recensionen hervorgeht.
Die erste Versammlung zu Regensburg, welcher andere zu Speier und
Straßburg vorausgegangen waren, führte nämlich zu Differenzen mit der
Baseler Hütte, die sich nicht in allen Punkten einverstanden erklärte und den
berechtigten Eigenthümlichkeiten von Land und Leuten Rechnung getragen
wissen wollte. Die Sache wird in dem Bestätigungsbriese Kaiser Maximilian's
von 1498 folgendermaßen erwähnt:
So haben wir Meister und Gesellen desselben Handwerks alle die dann
in Capitelsweise bei einander gewesen sind zu Speier, zu Straßburg und
Regensburg in dem Jahr da man zählte tausend vierhundert neunundfünfzig
im Namen und anstatt unser und aller Meister und Gesellen unsres ganzen
gemeinen Handwerkes obgemeld solch alt Herkommen erneuert und geläutert,
diese Ordnung und Bruderschaft gütlichen und freundlichen vereint und die
einhelliglich aufgesetzt auch gelobt und versprochen für uns und für all unsre
Nachkommen getreulich zu halten. Nun ist etlich Irrung gewesen
unter unserm Handwerk, darumb etlich Meister und Gesellen
zu Basel zusammen sind kommen im Jahr als man zählte
Tausend vierhundertneunzig und sieben darnach zu Straßburg
im acht und neunzigsten Jahre aber viel Meister und Gesellen zusammen sind
kommen und dasselb etliche Artikel gemildert, die zu hart sind gewesen im
Buche, dadurch diese Bruderschaft gehindert ist worden und haben beschlossen
einhellig, daß diese Ordnung nach Inhalt dieses Briefes nun fürder gehalten
soll werden (folgen die Bestimmungen).
Schon in der oben angeführten Urkunde von 1480 findet sich folgender
Zusatzartikel: Wäre es daß etlicher Artikel in dieser Ordnung zu schwer und
zu hart, oder ettliche zu leicht und milde wären, so mögen die, die in dieser
Ordnung sind mit dem mehrentheil solcher Artikel milden, mindern oder
mehren je nach der Zeit und des Landes Nothdurft und nach
Läufen.."
Hieraus erklären sich also die vielerlei Abweichungen in den einzelnen
Statuten. Die festgestellten Ordnungen wurden dann von dem Kaiser be
stätige. So die von 1459 und 1462 von Friedrich, die von 1498 von
Maximilian, die von 1563 von Ferdin and l. u. s. w.
Wenn wir jetzt versuchen ein Bild dieser Ordnungen zu skizziren, so
kommt es uns, da wir nicht diplomatische Geschichte schreiben, sondern Cultur¬
bilder zeichnen, nicht darauf an die Bestimmungen der einzelnen nahe bei
einanderliegenden Statuten zu sondern, vielmehr das hervorzuheben, was für
die Organisation und Kunstübung bezeichnend ist. So soll also in den
Rahmen der allgemeineren Bestimmungen, wie sie die größeren Kapitel fest¬
stellten, Details und gewohnheitsmäßige Ueberlieferungen, welch in kleineren
Bezirkshütten vereinbart wurden, eingefügt werden.
Die Organisation der Localhütten und ihre Beziehungen zur Haupt¬
hütte ist eine überaus einfache. An der Spitze der Haupthütte steht der Bau-
Meister des Vorortes, also zu Straßburg zur Zeit des Kapitels von Regens¬
burg der Werkmeister Jost Dotzinger von Worms, zu Wien Meister
Lorenz Spenning u. s. w. Die drei Hauptmeister von Straßburg, Wien
Und Köln — denn Basel oder Zürich scheint nur in mittelbarem Zusammen¬
hang gestanden zu haben — sind die obersten Richter und Hauptleute der
Ordnung, die soll man nicht entsetzen ohne redliche Ursache, wie auf dem Tage
zu Regensburg 69 und zu Speier 63 erkannt worden ist. Innerhalb des
großen Provinzialkreises scheinen sich Bezirke gebildet zu haben von Gegenden,
die unter einander in näherem Verkehr standen. So giebt es die Speeial-
Urkunde, eine Versammlung der Meister von Magdeburg, Halber se abd,
Hildesheim, Mühlberg, Merseburg. Meißen, dem Vogitlande,
Thüringen und dem Harzlande — alles Gegenden die zur Stra߬
burger Hütte gehörten, die aber räumlich zu weit entfernt waren, um nicht
einer engeren Verbindung unter sich zu bedürfen.
Eine Localhütte entstand nun überall da, wo ein Meister sich etablirte,
der Gesellen beschäftigte, vorausgesetzt natürlich, daß beide Meister und Ge¬
sellen zu dem Bunde gehörten. Doch gab es einen Unterschied zwischen
dauernd fundirten und vorübergehend eingerichteten Hütten. Nur die ersteren
hatten ein Buch, das heißt ein Exemplar des Statuts, welches zugleich als
Meister- und Gesellenrolle diente. Da wo das Buch war, wurde auch der
Gottesdienst für die Hütte gehalten. Wenn also z. B. ein Gesell in einer
Hütte „ohne Buch" starb, so war der Meister jener Hütte verpflichtet an die
nächste, ordentliche Hütte Anzeige zu machen; dann wurde an der letzteren
die erforderliche Seelenmesse gehalten. Ebenso wurden Differenzen zwischen
Meister und Gesellen durch Urtheil der Hütte „mit Büchern" geschlichtet.
Alle Meister, welche Büchsen haben, wenn nicht in der Hütte Bücher sind,
sollen den Ueberschuß des Geldes an die Hütte abgeben, wo Bücher sind.
Ginge dem Meister einer Hütte der letzteren Art sein Bau aus und könnte
er keine Gesellen mehr halten, so soll er sein Buch und was er an Geld hat
nach Straßburg zum Werkmeister schicken.
Uebrigens war der Meister, welcher eines der Bücher hinter sich hatte
verpflichtet, bei seinem Gelübde der Ordnung dafür zu sorgen, daß es weder
durch ihn, noch durch jemand anders ausgeschrieben, gegeben oder geliehen
würde, damit die Bücher bei ihren- Kräften bleiben. Einzelne
Artikel können mündlich oder schriftlich denen mitgetheilt werden, die ihrer
bedürfen.
Abgrenzung und Zweck der Bauhütte wird wie üblich an der Spitze
des Statuts, hier also z. B. in der Bestätigungsurkund Maximilian's
folgendermaßen festgestellt: Es sind etliche Ordnungen des Steinmetzen¬
werks zu Straßburg und ihrer Bruderschaft, Uebung und Handelung
halben des abgemeldeten Handwerks Gott zu Lob und redlicher
Aufrichtung und Beständigkeit desselben aufgerichtet worden.
Nämlich, da rechte Freundschaft, Einhelligkeit und Gehorsam ein Fundament
alles guten ist — darum und um gemeinen Nutzen und Frommen aller Fürsten,
Grafen, freien Herrn, Städten, Stiftern und Klöstern, die Ki reden, C hö re
oder anderes großes Steinwerk und Gebäu jetzt machen oder in
künftigen Zeiten machen möchten, daß die destobefser versorgt und versehen
würden, und auch um Nutz und Nothdurft willen aller Meister und Gesellen
des ganzen gemeinen Handwerks des Steinwerks.....ist bestimmt worden,
was hernach folgt.
Hier finden wir also dieselben Motive wieder, welchen nicht allein bei den
verwandten Zünften der Kunsthandwerke, sondern bei allen Zünften angeführt
werden: ein gottesdienstlicher, technischer und wirthschaftlicher
Zweck.
Die Corporation sorgt also für Herstellung eines Altars, für die nöthigen
Lichter, Feierlichkeiten und Messen. Alles dies wird aus der gemeinschaftlichen
Kasse bestritten, in welche die Beiträge und Strafgelder fließen. Wir bemerk¬
ten schon früher einmal, daß die religiöse Seite des Bundes nicht eine neben-
sachliche Bedeutung habe, sondern daß die kirchliche Bruderschaft das Binde¬
mittel der einzelnen Bürger gleichen Standes und gleicher Beschäftigung ge¬
wesen sei, sodaß hieraus erst die gewerklichen Verbindungen entstanden seien.
Natürlich hat auch die Bauhütte ihre allgemeinen und speciellen Patrone.
Dies sind die heilige Dreifaltigkeit, die Mutter Gottes und die vier ge¬
krönten Märtyrer. Diese vier Coronati sind vier Jünglinge, welche
Wegen eines Tempelbaues — hier die Beziehung zum Baugewerke — den
Märtyrertod erlitten und also die Märtyrer kro ne erlangten. Ihre Namen
Waren unbekannt, doch wurde später einer Nonne die Offenbarung zu Theil,
daß sie Severins. Severinus, Carpophorus und Victorinus ge¬
hießen haben. Indessen müssen auch noch andere Offenbarungen stattgefun¬
den haben, da man mit Leichtigkeit ein Dutzend Varianten beibringen
könnte.
Die Meister waren verflichtst alle Geldfasten, das.ist wohl alle Quatember.
und am Tage von Petri Stuhlerhöhung je vier Messen lesen zu lassen; eine
von der heiligen Dreifaltigkeit, eine von unser lieben Frauen, die dritte von
den vier gekrönten Märtyrern, die vierte für die Seelen derer, die aus der
Ordnung gestorben sind. Außerdem sollen Messen gelesen werden an den
Frauenfesten d. i. an den Marientagen für die Seelen der Verstorbenen.
Das Geld zu diesen Messen soll aus der Büchse genommen werden, der et¬
wa übrigbleibende Rest wird an die Haupthütte abgeführt.
Wichtiger noch als diese gottesdienstlichen Leistungen ist die ausgeprägte
Tendenz sittliche Zucht in der Bruderschaft zu halten, wie es die Würde der
Hütte und der Ernst der Beschäftigung mit kirchlichen Dingen forderte. Es
soll kein Meister in der Ordnung aufgenommen werden, der des Jahrs nicht
Zum heiligen Sacrament ginge, oder nicht christliche Ordnung hielte, oder das
seine verspielte. Wäre ein solcher in der Ordnung aufgenommen, so sollen
weder Meister noch Gesellen mit ihm Gemeinschaft machen, bis er sich
bessert.
Es soll auch kein Meister einen Gesellen fördern, der den andern belügt
"der Unrecht thut oder sich mit offenbarltchen Frauen umführt. Welcher Ge-
h°it den andern spottet, stochert oder manet mit Hinderkosen, der soll 15 -H.
W Buße geben. Welcher Gesell sich übertrinkt oder überißt, der soll einen
Wochenlohn 1 Pfd Wachs geben. Welcher Geselle Hüttengeld unterschlägt
"der stielt oder mordet, raubet oder andere Unehre thut und sich mit bösen
Frauen im Lande umführt und nicht beichtet und Gottes Gebot nicht hält,
den soll man aus dem Handwerke verwerfen und ewiglich verweisen.
Wie schon die früher beigebrachten Baurechnungen zeigten, ist der M e i ster
uicht beauftragter Unternehmer des Baues auf eigene Rechnung und Gefahr.
Das verbot einerseits die Unsicherheit der Einnahme an Baugeldern, anderer-
seits auch die Größe und Endlosigkeit des Baues. So wird der Meister be¬
soldet, wie irgend einer der Gesellen; er garantirt nur die Qualität der Aus¬
führung. Geschieht durch seine Schuld an dem Werke ein Schaden, so hat
er dafür auszukommen. Aus der Absicht ein möglichst solides und meister¬
liches Werk zu liefern geht auch die Bestimmung hervor, daß kein Meister
an seinem Werke irgend etwas in Accord geben darf, was gehauenes Stein¬
werk betrifft. Doch Steine- und Kalkbrechen und Sandgräber darf im Tage¬
lohn geschehen oder verdungen werden.
Geht ein Meister mit dem Tode ab, so ist freie Concurrenz aller be¬
fähigten Werkleute gegeben. Wenn aber der neue Meister eintritt und findet
gehauenes Steinwerk vor, es sei versetzt oder noch nicht versetzt, so darf der¬
selbe solch Steinwerk nicht verwerfen oder wieder abheben lassen, damit nicht
unnöthige Kosten entstehen und der Meister, der solch Werk hinterlassen hat,
nicht im Grabe geschmäht werde. — Das trifft den Punkt, den wir bereits
Eingangs erwähnten, daß nämlich das Mittelalter wenig Verständniß hat für
die einheitliche Durchführung eines Werkes nach einem Style, wenn er auch
durch neue und nicht immer bessere Manieren überholt worden wäre. Da¬
gegen ist der Baumeister gehalten nicht von der von ihm vorgelegten Zeich¬
nung abzugehen — offenbar in der Absicht verhüten zu wollen, daß die ein¬
gegangenen Contrakte verdunkelt werden und Differenzen entstehen.
Es schließt sich hierin der allgemeine Schutzparagraph gegen unordent¬
liche Concurrenz — wie er wohl in allen Zunftstatuten gefunden wird. Wer
es ist, er sei Meister oder Geselle, der einem andern Meister, der in dieser
Ordnung der Werkleute ist, und ein Werk inne hat, seinem Werke nachstellt
heimlich oder öffentlich, ohne desselben Meisters Wissen und Willen, derselbe
soll vorgenommen werden, und soll auch kein Meister oder Geselle mit ihm
Gemeinschaft haben, und soll auch kein Geselle in der Ordnung in seine För¬
derung ziehen, solange er das Werk inne hat oder dem eigentlichen Meister
Genugthuung geschieht, dazu auch die verordnete Strafe nicht gezahlt ist. —
Also wie überall Selbsthülfe durch eine Art von Strike. — Der Meister hat
das Recht Buße aufzuerlegen, die Gesellen dürfen den Meister nicht strafen,
es steht ihnen jedoch frei die Arbeit einzustellen. Auf gleiche Weise werden
unkundige Meister vom Baue entfernt. Höhnte oder schändete ein Meister
den andern mit Worten oder Werken, ohne den Beweis der Wahrheit führen
zu können, der soll vom Bau verwiesen werden. Letztere Bestimmungen kehren
in vielen Variationen wieder, ein Beweis, daß sie nicht überflüssig waren.
Die Hütte ist gleichsam geweihter oder neutraler Boden, auf dem Streit und
Fehde nicht vorkommen dürfen. „Ein jeglicher Meister soll seine Hütte frei
halten, daß darinnen keine Zwietracht geschehe und soll die Hütte frei halten
wie eine Gerichtsstätte."
Zur Aufnahme in die Ordnung gehört als Bedingung wie bei allen
Zünften eheliche Geburt und ehrliches Herkommen. Als besondere der besondern
Beschäftigung angepaßte Forderung tritt hier ehrbarer Wandel, jährliche
Beichte, Besuch des Sacraments nach christlicher Ordnung hinzu. Auch so
jemand in dem Gerücht steht, daß er seine Kleider verspielt, soll er von der
Ordnung keine Förderung erhalten.
Die unterste Stufe der Hütte nimmt der Diener — was soviel sagen
will als Lehrling — ein. Der Meister ist wiederum nach allgemeiner Zunft¬
ordnung gehalten nur eine beschränkte Anzahl von Dienern aufzunehmen, damit
^ auch im Stande sei, ihnen den genügend sorgfältigen Unterricht zukommen
M lassen. Der Unterricht ist frei, er darf nicht bezahlt werden. Das gilt
kund von besonderen Kunstfertigkeiten, die ein Gesell vor dem anderen Boraus
hat. „Es soll kein Werkmann noch Meister von keinem Gesellen Geld neh¬
men, daß er ihm etwas lehre oder zeige, was das Steinwerk betrifft. Des¬
gleichen soll auch kein Parlirer oder Geselle keinen um Geld weisen oder lehren.
Will aber einer dem andern etwas unterweisen oder lehren, das mögen sie
Wohl thun ein Stück um das andere oder um Gesellen willen (aus Freund¬
schaft)." Die Dienstzeit währt fünf Jahre, wenn der Diener „vom ruhen"
lus angenommen ist. Tritt einer vom Maurergcwerke über, so muß er
dennoch mindestens drei Jahre dienen.
Es ist doch etwas Eigenes um dieses Straßburg! Die romantische Be¬
geisterung, welche wir just vor 5 Jahren der wiedergewonnenen oder gar
»wiederbefreiten" „wunderschönen Stadt" mit zügellosester Ueberschwäng-
ttchkeit entgegegentrugen, ist längst einer platten Ernüchterung gewichen.
Und dennoch fesselt Straßburg den Deutschen noch immer mit ganz be¬
sonderem Reiz. Das unvergleichliche Denkmal gothischer Baukunst allein
genügt nicht zur Erklärung des Räthsels; wohl kann man sich immer von
Neuem in diesen unergründlichen Formenreichthum versenken, aber den Wan¬
derer, der von längerer Sommerfahrt sehensmüde der Heimath zueilt, möchte
°'es Schauspiel schwerlich bestimmen, von der graden Straße abzulenken. Was
ihn bannt, ist jene geheimnißvolle Macht, mit welcher die spröde Schöne den
kalt zurückgewiesenen Bewerber ohne ihr Zuthun und gegen seinen eignen
Willen immer wieder in ihre Netze zieht. Das war wenigstens meine Em¬
pfindung, als ich mich Mitte September eines schönen Morgens wieder ein¬
mal auf dem Umwege nach Straßburg ertappte.
Im wonnigsten Frühsonnenschein stand die Münsterpyramide da, als ich
aus dem Bahnhof heraustrat. Wie oft hatte ich andachtstrunken zu ihr
hinausgeschaut, wenn in herbstlichen Tagen leichte Nebel sie mit gespenstischem
Schleier umwoben, wenn an klarem Wintermorgen es in der reifbedeckten Or¬
namentik blitzte und glühte, wie im Krystallpalast der Feenwelt, wenn in
lauer Sommernacht das Sternbild der Plejaden in feierlicher Pracht über
dem dunkeln Koloß emporstieg! Und dennoch mußt' ich mir jetzt die Augen
reiben bei dem plötzlichen Anblick und ich war auf dem besten Wege, mich
den poetischsten Empfindungen hinzugeben, wenn nicht das kauderwälsche Ge¬
schrei von ,Mg.i30n rouge", „II6W1 Ä'^riFltitorro", „VigmMo" u. s. w. — ab
und zu auch in deutscher Uebersetzung — noch allzusehr an des Lebens rauhe
Wirklichkeit errinnert hätte.
Im „Rothen Haus" war Alles beim Alten. Daß der nach dem Kriege
ganz außerordentlich gestiegene Touristenverkehr noch nicht wesentlich abge¬
nommen hat, kann man gleich beim Eintreten merken. Es scheint den Leuten,
zumal dem Oberkellner und dem Portier, schlechterdings unfaßbar zu sein,
daß das Wirthshaus eigentlich des Gastes wegen und nicht der Gast des
Wirthshauses wegen auf der Welt ist. Und in den meisten anderen Stra߬
burger Gasthöfen ist es nicht besser. Jene entgegenkommende Aufmerksamkeit,
welche man in einem guten Hotel erwartet, habe ich nur in dem größten,
der „Stadt Parks", gefunden. Dies ist auch das einzige, welches auf den
Namen eines Hauses ersten Ranges Anspruch machen kann; die anderen
haben von ihren Pariser Vorbildern nur die Preise angenommen, im Uebrt-
gen sind sie leider gut deutsch-reichsstädtisch geblieben, und zwar in schlimmeren?
Grade, als irgendwo anders. Ich erinnere mich, vor langen Jahren einmal
in Nürnberg in dem bescheidenen, aber eine gute Verpflegung spendenden
„Rothen Hahn" gewohnt zu haben; der wäre seinem reichsstädtischen Her¬
kommen nach ungefähr ein Seitenstück zum „Rebstöckl" und „Rothen Haus,"
nur daß er, trotz seiner dunkeln Gänge, im Vergleich zu diesen holperigen
Labyrinthen ein wahres Juwel von Comfort genannt werden kann. —
Am meisten hat sich in Straßburg während der letzten Jahre die PIM
siognomie der Stadt geändert. Neue Straßen und neue Menschen! Leider
hat sich an letzteren nur gar zu häufig die triviale Klage bewahrheitet, daß
das Neue nicht viel werth sei. Wer die eingewanderte deutsche Gesellschaft ^
vom Beamtenthum abgesehen — kennen gelernt hat, wie sie vor 2—3 Jahren
war, wird bei einem heutigen Besuche nicht wenig erstaunt sein, so manche
Persönlichkeit, die damals eine Rolle spielte, verschwunden zu sehen. Die
Einen „konnten sich nicht halten", Andere trieben es bis zum offenen Ban¬
kerott , noch Andere entpuppten sich als ganz gewöhnliche Schwindler. Man
klagt immer, daß die deutschen Beamten nicht verstünden, die Sympathie der
Elsaß-Lothringer zu erwerben; sicherlich noch weit weniger aber ist — na¬
türlich mit rühmlichen Ausnahmen — das nach dem Kriege eingewanderte
deutsche „Bürgerthum" dazu geeignet gewesen. Im Gegentheil, die ziemlich ge¬
ringe Meinung, welche unsere ganz und gar in französischen Anschauungen
aufgewachsenen Volksgenossen vordem von uns hegten, ist noch um einige Grade
gesunken. Zur französischen Zeit galt dem Durchschnitts-Straßburger als
Typus des Deutschthums der Bürger von Kehl. Nun, die Kehler haben ihre
linksrheinischen Nachbarn für das Amüsement, das sie bei ihnen genossen, reichlich
zahlen lassen, im übrigen aber machten sie ihnen doch den Eindruck von Bie¬
dermännern, die sich untereinander höchstens über die echte „Huerelle ä'^lle-
wanä": „ob durch die Freiheit zur Einheit oder durch die Einheit zur Freiheit,"
in die Haare geriethen. Heute dagegen beurtheilt der Straßburger den Deut¬
schen schlechtweg nach dem Maßstabe derer, die er unmittelbar vor Augen hat
und wenn er dann sieht, wie so mancher dunkle Ehrenmann, nachdem es ihm
nicht gelungen, die widerhaarigen Elsässer zu rupfen, fröhlichen Muthes seine
eigenen Landsleute begaunert, so ist nur zu erklärlich, daß er von den viel-
Mühmten Tugenden der deutschen Nation eine ganz eigenartige Vorstellung
gewinnt. —
Als ein Hauptmittel, die Elsässer mit deutschem Geist und deutschem Wesen
M befreunden, sollte das Straßburger Theater dienen. Es wird für dasselbe
sogar aus den Landesmitteln die respectable Subvention von 180,000 Francs
gezahlt. Ich war längst neugierig, mit eigenen Augen zu sehen, wie das In¬
stitut die von ihm gehegten Erwartungen erfüllt. Zu meiner nicht geringen
Freude traf ich es grade, einer Festvorstellung zu Ehren des Congresses deut¬
scher und österreichischer Bienenwirthe beiwohnen zu können. Man gab die
Zauberflöte. Andächtiger Erwartung voll saß ich in dem dichtbesetzten Hause,
das wie der Phönix strahlend aus der Asche des Bombardements entstanden
ist. Die Zeit war abgelaufen, das Orchester war vollzählig beisammen, aber
Man traf keine Anstalt zum Anfang. Eine volle halbe Stunde dauerte diese
Kunstpause. Ich benutzte sie, die grenzenlose Geduld des Straßburger Pu¬
blikums zu bewundern. In der ersten Viertelstunde auch nicht ein Hauch des
Unwillens; alsdann vernahm man wohl ab und zu ein etwas unheimliches
Säuseln, aber sofort ließ ein freundlicher Clarinettist einige Läufer erschallen
und jedesmal gelang ihm glänzend der Beweis, daß man sich zur Beschwich¬
tigung der Leidenschaften in Ermangelung einer zauberischen Flöte auch eines
andern Holzinstrumentes bedienen kann. Endlich gab der Kapellmeister das
Zeichen. Die Ouvertüre wurde sozusagen mit militärischer Strammheit durch¬
geführt; dann hob sich der Vorhang. Der wenig angenehme Eindruck der
unnatürlichen und meistens recht lächerlichen Ungethümsscene, mit welcher die
Zauberflöte beginnt, wird gewöhnlich durch das Erscheinen der drei Damen
der Königin der Nacht rasch verwischt; hier wurde er bedeutend gesteigert:
wie mit einem Zauberschlage sah man sich in die Hexenscene in Macbeth ver-
etzt. Nun, man läßt sich zur Noth auch diese Auffassung gefallen. Nur
machte sich von diesem Standpunkte aus ein gewisser Mangel an Homo¬
genität in dem Terzett bemerkbar. Und richtig, nachher stellte sich heraus, daß
die eine der Damen demselben nur leihweise eingefügt war, sintemalen sie
die Pamina zu singen hatte. Erst nach ihrem Ausscheiden hatte das schwarze
Trifolium seine volle Höhe erreicht, auf welcher es nur noch durch das lichte
Dreigestirn der Genien in Sarastro's Palast übertroffen wurde. In der
That erinnere ich mich nicht, jemals eine so vollendete Kindlichkeit des Ge¬
sanges mit einer solchen Reife an Jahren gepaart gesehen zu haben. —
Man könnte auf diese Weise ein ganzes Kaleidoskop der lustigsten Bilder
zusammenstellen. Ich verzichte darauf und begnüge mich mit der Bemerkung,
daß ich — und wie mir, ist es Allen ergangen, die ich darüber gesprochen —
das Theater noch nie mit größerer Niedergeschlagenheit verlassen habe — eine
Wirkung eines Mozartabends, die wahrhaftig ans Unglaubliche grenzt. Man
wird mir entgegenhalten, daß sich von einer einzelnen Aufführung nicht auf
die ganze Saison schließen lasse; aber die Bezeichnung als „Festvorstellung"
giebt ein mehr als ausreichendes Recht, diesen Abend als typisch zu betrachten.
Auch auf die außerordentlichen Schwierigkeiten, mit welchen ein deutsches Theater
im Elsaß zu kämpfen hat, wird man hinweisen; aber dem gegenüber cri nnere
ich an die hohe Subvention. Mit dieser letzteren hat es ohnehin schon seine
Bedenken. Die Vertreter Elsaß-Lothringens im Reichstage erklären: „Wir
wollen kein Theater von euch; wie kommt ihr dazu, uns zur Unterstützung
eines solchen zu zwingen?" Und Thatsache ist, daß das Straßburger Theater
von Eingebornen bisher nur in sehr seltenen Fällen, d. h. fast gar nicht be¬
sucht wird. Wir unsererseits erwidern aber: „Das Theater ist eine noth¬
wendige Bildungsanstalt; deshalb müßt ihr zu seiner Unterhaltung bei¬
tragen." Ueber diese Controverse läßt sich viel hin und her discutiren; nach¬
dem sie aber einmal zu Gunsten unseres Standpunktes entschieden ist, haben
wir auch darauf zu halten, daß das Theater wirklich eine Bildungsanstalt,
wirklich eine Stätte edeln und erhebenden Kunstgenusses sei. Nur unter dieser
Bedingung hat die Subvention überhaupt eine Berechtigung. Die Oper ge¬
nügt jedoch dieser Bedingung ganz entschieden nicht. Wenn die Direktion
etwa behauptet, sie könne bei ihren Einnahmen nichts Besseres leisten, so bin
ich selbstverständlich nicht in der Lage, darüber ein Urtheil abzugeben; aber
ist dem wirklich so, dann meine ich: lieber gar keine Oper, als eine solche
mit welcher man nicht einmal die Altdeutschen, geschweige denn die Elsässer
an das Theater fesseln kann. Als ein Haupthinderniß, bessere Gesangskräfte
zu erlangen, wurde mir bezeichnet, daß der Director verpflichtet sei, ab und
ZU in Metz zu spielen. In der That liegt auf der Hand, daß weder Sänger
noch Sängerinnen sich auf die aus dieser Verpflichtung entspringenden winter¬
lichen Delogements gern einlassen werden; nur bin ich sehr erstaunt, daß dieser
Uebelstand überhaupt noch fortbesteht. Im elsaß-lothringischen Landeshaus¬
haltsetat für 1875 ist nämlich für Metz eine besondere Theatersubvention im
Betrage von 40,000 Francs ausgeworfen mit der ausdrücklichen Motivirung:
»weil sich die früher beabsichtigte zeitweise Übersiedelung der Straßburger
Gesellschaft nach Metz als unthunlich und zu kostspielig herausgestellt hat."
Und dennoch hat ganz neuerdings wieder die Straßburger Gesellschaft in
Metz eine Reihe von Opernvorstellungen gegeben. — Ich kann^ nur bedauern,
daß an jenem Zauberflötenabend nicht statt der ehrwürdigen Bienenväter der
hohe Reichstag in den heiligen Hallen des Straßburger Theaters versammelt
Mar; jene würden alsdann nicht um eine schöne Illusion ärmer geworden
s^n, und dieser würde den Vorsatz gefaßt haben, bei der nächsten Budget¬
berathung die Bedingungen einer zweckentsprechenden Verwendung der Sub¬
Man muß zweierlei Gattung von Hausindustrie unterscheiden: 1. die
alte traditionelle, deren Ursprung sich in der grauen Vorzeit verliert und die
überhaupt so alt sein muß als das Menschengeschlecht selbst, der aber an der
Scheide dieses Jahrhunderts durch die Erfindung der Werkzeug- und Fabri¬
kationsmaschinen ein jähes Ende bereitet worden, wenn dieselbe auch in vom
großen Verkehr entlegeneren Gegenden fast ungeschmälert erhalten ist; 2. die
neue Hausindustrie, welche unter der Leitung großer Unternehmer für den
Weltmarkt arbeitet und welche in der Regel gemeint ist, wenn man schlechtweg
Kor Hausindustrie spricht. Diese letztere Gattung der gewerblichen Thätigkeit
ist für ein vorzugsweise Ackerbau treibendes Land von weit größerer Wichtig¬
keit als die Fabrikindustrie in geschlossenen Etablissements, weil sowohl das
Geschäft selbst, wie die darin beschäftigten Arbeiter viel unabhängiger von
den häufigen Schwankungen der Conjuncturen des Marktes sich behaupten
können. Denn da die Arbeiter der Hausindustrie gleichzeitig Landwirthschaft
treiben und deshalb nicht aus der Hand in den Mund leben, sondern einen
gewissen Rückhalt und einen Sparpfennig besitzen, so können sie unter schlechten
Conjuncturen auch mit geringerem Lohn vorlieb nehmen. Dadurch erhält der
Industriezweig eine zähe Dauerhaftigkeit, die den Arbeitern auch wieder einen
sicheren Rückhalt verleiht in Jahren, wo ihre Landwirthschaft von einer Mi߬
ernte oder einem anderen Naturereigniß heimgesucht wird. Dieser Art gewerb¬
licher Thätigkeit steht unserer Ansicht nach eine viel größere Anwendung
bevor, als sie bis jetzt noch gefunden hat, weil die alte Hausindustrie, da,
wo sie durch den Umschwung der Zeit zerstört, in den wenigsten Gegenden
noch durch die neue ersetzt worden ist.
Durch die erwähnte Erfindung und Einführung der Dampf-, Werkzeug-
und Fabrikationsmaschinen ist die Volks- und Hauswirthschaft seit Anfang
dieses Jahrhunderts von einer Umwälzung ergriffen worden, wie sie beim
Uebergang der großen Entwicklungsepochen der Menschheit aus dem Zeitalter
der Steinwerkzeuge in die Broncezeit und aus dieser in die Eisenperiode, wie
sie bei der Aufhebung der Sklaverei nicht größer gewesen sein kann. Bis zu
jenem Zeitpunkte wurde die Bekleidung so wie die häuslichen und landwirth-
schaftlichen Geräthe in der Hauptsache im Hause von Mitgliedern der Familie
producirt. Noch in der ersten Hälfte des Mittelalters wurde nicht blos
Bett- und Tischzeug, Leibwäsche und Frauenbekleidung, sondern auch sogar die
Männerkleidung unter Aufsicht der Hausfrau im Hause verfertigt. Bis zum
Anfange dieses Jahrhunderts aber wurde wenigstens im Hause gesponnen.
Das Spinnen war Jahrtausende lang die bevorzugte Beschäftigung des weib¬
lichen Theiles der gesammten Bevölkerung gewesen, von der armen Magd
bis zur Fürstentochter. Bei der ländlichen Bevölkerung füllt es namentlich
die lange Zeit des Winters aus und die Spinnstube spielt deshalb eine große
Rolle in der leiblichen, wie in der geistigen Thätigkeit des Landvolkes. In
früheren Zeiten war sogar das Weben in der Familie besorgt worden.
Später bildete sich dafür, sowie für die Verfertigung der Manneskleider ein
besonderer Gewerbestand aus, wie das auch mit vielen anderen Gewerbs-
zweigen zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse der Fall gewesen war,
aber so lange wurde die alte Sitte wenigstens sporadisch erhalten, daß noch
heute Zeitgenossen namentlich in Gebirgsgegenden Hausfrauen gekannt haben,
welche nicht blos mit Hilfe ihrer Mägde spannen und strickten, woben,
sämmtliche Kleider für Weib und Mann nähten und ihr Brod selbst bücken,
sondern auch Seife und Lichter verfertigten, Bier branden. Essig bereiteten,
den Zuckerbäcker und Anstreicher machten und noch in alle möglichen andern
Handwerke hineinpfuschten. Waren schon im Laufe der Jahrhunderte durch
die Theilung der Arbeit und die Vervollkommnung der Gewerbe die meisten
Productionszweige gewerbsmäßig ausgebildet worden und in die Hände von
special-Arbeitern oder Handwerkern übergegangen, so war doch der härteste
Vernichtungskampf. der gegen das Spinnrad im Hause, unserem Jahrhundert
vorbehalten. Manches arme Mütterlein mußte leider darüber zu Grunde
gehen. Allein, gegen die im wahren Sinne des Wortes eiserne Nothwendig¬
keit der Maschinen anzukämpfen, ist vergeblich, denn in der Maschine arbeitet
das in Jahrhunderten verdichtete Gedankenproduct von Tausenden hervor¬
ragender Menschen. Gegen diesen Geist kann die vereinsamte mechanische
Menschenkraft auf die Dauer nicht ankämpfen. Innerhalb weniger als einem
halben Jahrhundert hat die Spinnmaschine deshalb die Hausarbeit vollständig
brach gelegt und nur in sehr wenigen entlegenen, namentlich Gebirgsgegenden
hat sich das Spinnen und die Verfertigung von Webestoffen für Wäsche und
Kleidung noch bis zum heutigen Tag erhalten.
Es kann nun keine Frage sein, daß ein Ersatz für die alte Hausarbeit
gefunden werden muß. Selbst wenn die wirthschaftliche Nothwendigkeit diesen
Ersatz nicht gebieterisch erheischt, so würde schon die Rücksicht auf eine nütz¬
liche und anregende Beschäftigung darauf hinweisen. Steht aber die Noth-
Wendigkeit einer Reform der Hausbeschäftigung fest, so ist es besser, wenn sie so
^sah als möglich geschieht, so lange die betreffenden Bevölkerungsschichten
«och bei Kräften, noch bevor sie durch die Noth an Hab und Gut, Gesund¬
heit und moralischer Kraft so herabgekommen sind. daß sie sich schwer mehr
aufraffen können. Nun steht aber einem solchen schnelleren Verlauf des Haus-
Wirthschaftlichen Umschwungs ein schwer zu überwindendes Hinderniß in der
Gewohnheit und Indolenz der Bevölkerung entgegen, welche auf keinem Ge¬
bete des menschlichen Lebens größer ist, als in der Land- und Hauswirth¬
schaft. Wir wollen an die Thatsache erinnern, daß der Bau der Kartoffel
w vielen Ländern auf Befehl der Regierung eingeführt werden mußte und
daß die Verwüstung des Brennmaterials in den südlichen Ländern der ge¬
mäßigten Zone wegen des Mangels an zweckmäßigen Heiz-Vorrichtungen noch
heutzutage eine wahrhaft beklagenswerthe ist. In Frankreich und in der
Schweiz werden heute noch in Kaminen und Kachelofen Holzmassen unnöthig
vergeudet, mit deren Werth 1—2 yet. der Bevölkerung ernährt werden könnte,
während schon seit Generationen im nördlichen Europa die Ofen- und Herd-
Einrichtungen einen hohen Grad von Vollkommenheit erreicht haben und nur
nachgeahmt zu werden brauchen, um diese colossale Verschwendung des Brenn¬
materials, welche überdies in Folge Ausrottung der Wälder noch andere wirth-
schaftliche Nachtheile mit sich bringt, zu verhüten. In dieser Beziehung steht
man eben vor der Thatsache, daß die Menschen in Nichts conservativer sind,
als in ihrer Hauswirthschaft, daß sie lieber mit den Händen in dem Schoß
die Noth herannahen sehen, als sich zur Einführung einer bewährten und
nützlichen Neuerung darin zu entschließen.
Im Angesicht dieser allgemein menschlichen Eigenschaft, ist die Initiative
hervorragender Menschenfreunde zur Verbesserung der Hauswirthschaft eine
der wichtigsten und nothwendigsten Aufgaben. Da aber der Fall nur aus¬
nahmsweise eintritt, daß die hiezu erforderlichen Mittel aus freiem Antrieb
von Privatpersonen geboten und in Anwendung gebracht worden, so kann
selbst der eingefleischteste Gegner der Einmischung der Regierung in die Privat¬
wirthschaft nicht leugnen, daß die Initiative der Negierung in diesem Wir¬
kungskreis eine außerordentlich segensreiche werden und die Wohlthaten einer,
in künftiger Zeit doch sicher sich entwickelnden Einrichtung dem Volke vielleicht
um ganze Generationen früher zuführen kann.
Die Aufgabe, welche durch die große, in Folge der Einführung der Ma¬
schinen entstandnen Umwälzung sich bezüglich der Hauswirthschaft aufdrängt,
ist aber folgende: einen Ersatz zu finden für das Spinnen und ver¬
wandte häusliche Arbeiten,^welche bis vor Kurzem die Masse
der weidlichen und sogar der männlichen Bevölkerung, na¬
mentlich auf dem Lande, im größrer Theil des Jahres be¬
schäftigt haben.
Diese Aufgabe ist nicht theoretisch, sie ist nur praktisch zu lösen, und
zwar dadurch, daß man eine Untersuchung darüber anstellt, in welcher Weise
es unter günstigen Umständen in verschiedenen Gegenden bereits gelungen ist,
die alte Hausarbeit durch die neue Hausindustrie zu ersetzen. Die letztere
unterscheidet sich nämlich von der ersteren dadurch, daß sie, statt blos für die
Familie, — für den Weltmarkt arbeitet, daß sie statt gegen die Maschine und
die von ihr getragene Groß-Jndustrie einen ohnmächtigen Kampf zu verlän¬
gern, sich derselben anschmiegt, sich mit ihr verbindet und von ihr gestützt
und sie stützend gerade dadurch und durch die bessere technische Ausbildung
und intelligentere Führung der Arbeiter die Gesammt-Gewerbthätigkeit des
Landes mittelst größerer Güte und Wohlfeilheit der Producte auch dem Aus¬
lande gegenüber concurrenzfähiger macht. Die moderne Hausindustrie unter¬
scheidet sich von der alten Hausarbeit noch dadurch, daß sie den Familien,
welche sie betreiben, nicht blos eine Ausgabe für die Bekleidung, u. f. N>-
spart, sondern einen directen Verdienst zuführt, mit welchem sie unter Um¬
ständen sogar allein die Lebensbedürfnisse zu bestreiten im Stande ist, wäh¬
rend der Ertrag der Landwirthschaft zurückgelegt werden kann. Landwirth¬
schaft und Hausindustrie bilden dann eine Art gegenseitiger Versicherung,
welche über die schlechten Jahre der einen oder der anderen hinweghilft und
sie in den Stand setzt, einen ausgiebigen Nothpfennig zurückzulegen für Fälle,
wo in Folge außerordentlicher Nothstände die beiden Erwerbsquellen ge¬
schmälert werden oder vorübergehend verödenden.
Schon in vielen Gegenden sind gesunde Anfänge und glänzende Erfolge
in dieser Reform der Hausarbeit zur modernen Hausindustrie gemacht und
erzielt worden. Es gibt Gebirgsgegenden in Mittel-Europa, welche auf
rauhem Boden, in dem kaum der Hafer mehr gedeiht, blühende Gemeinwesen
entwickelt haben, welche an Wohlstand die üppigsten Weingegenden übertreffen.
Das hervorragendste Beispiel gewährt in dieser Beziehung die Uhren-
Industrie im Schwarzwald und im Jura, die Weißstickerei in den einzelnen
Thälern der Central-Alpen und des Erzgebirges, die Strohflechterei in Tos-
cana und im Aargau, die Spitzenklöppelei in Brüssel und Irland, die Holz¬
schnitzerei im baierischen und Bernischen Oberland, die Marmorschleiferei in
einzelnen Gegenden der baierischen und österreichischen Alpen, die Sensen-
Tabricativn in Steiermark, die Messer- und Waffenfabrikation in den Bezirken
'^emscheid und Solingen, die Jaquard-Weberei in der Schweiz und am Nie-
^rrhein, die Spielwaaren-Fabrikation in Nürnberg, Thüringen und Paris,
^e Tabetterie-Production in Frankreich. Wie Oasen in der Wüste, so erheben sich
^ehe Gegenden gesunder Hausindustrie aus der ungeheueren Masse am Ar-
^itsmangel ihrer Familien dahinsiechender Landstriche.
Indessen, allen bedürftigen Familien hausindustrielle Beschäftigung zu
Erschaffen, ist eine schwierige Ausgabe, weil nicht Alles für Jeden paßt und
^eil es schwer ist. Neues aufzufinden und ins Leben zu führen. Sowie über¬
haupt der erste Fortschritt im Gewerbewesen durch Theilung der Arbeit ge¬
macht wurde, so muß auch die zweite Hauptsache jeder Industrie, der Absatz,
durch Mannigfaltigkeit der Befriedigung der Bedürfnisse und des Ge-
schmackes erzielt werden. Es muß eine Verschiedenheit sowohl in den Arten,
in der inneren und äußeren Beschaffenheit der Erzeugnisse angestrebt
^rden, um dieses Ziel zu erreichen und jenen Absatz zu sichern, welcher die
°'Wge Basis fortschreitender Arbeitsentwicklung sein kann.
Je schwieriger es aber nun ist, die genügende Auswahl neuer Produc-
rionsweige zu finden und einzuführen, die Bevölkerung daraus einzulernen
und die erforderliche Kundschaft für die Erzeugnisse zu erwerben, um so wich-
^ger ist es, daß alle einzelnen Versuche, welche in dieser Richtung in den
verschiedenen Ländern gemacht worden sind, zur Kenntniß gelangen um mit
^Ise der dadurch gegebenen Erfahrungen und Winke möglichst viele Erwerbs-
^eige, welche sich für die Hausindustrie eignen, ausfindig zu machen und
'e Methode festzustellen, mittelst welcher deren Einführung in den Fa-
'^lien, sowie die Erzielung des Absatzes am zweckmäßigsten erreicht werden
^unen.
Da der wichtigste Factor dabei die technische Ausbildung der Bevölkerung
ist, so ist gleichzeitig eine Kenntniß aller der Anstalten wünschenswert!), welche
in verschiednen Ländern zur technischen Ausbildung der ländlichen Bevölkerung
getroffen und eingerichtet worden sind, z. B. Zeichnen-, Holzschnitzer- und Uhr-
macherschulen.
Das Gesammtresultat einer solchen Untersuchung würde, systematisch ge¬
sichtet, den Blick außerordentlich erweitern, es würde dazu dienen, die zweck¬
mäßigsten Erwerbszweige und Methoden für die Einführung der Hausindustrie
zu finden und was ebenso wichtig ist, zur allgemeinen Kenntniß zu bringen.
Denn gegenwärtig giebt es immer noch eine Menge von Gegenden, wo das
Landvolk noch seinen Stolz darin findet, während des Winters zu spinnen
und zu stricken. Männer finden allerdings noch hinreichende Winterbeschäfti¬
gung am Dreschen, Holzfällen, allein man darf sich keinen Illusionen hingeben,
daß im großen Ganzen genommen auch die Tage des Dreschens gezählt sind.
Wenn gegenwärtig Dampf-, Wasser- und Göppeldreschmaschinen nur von
größeren Gutsbesitzern verwendet werden, so kann man doch schon an ein¬
zelnen Beispielen in England, am Rhein und Mitteldeutschland wahrnehmen,
daß die Arbeit des Dreschens allmählich auch bei den Bauern der Maschine
zufallen wird, sei es daß einzelne Unternehmer mit wandernden Dampfdresch¬
maschinen dieses Geschäft lohnweise verrichten oder daß sich Genossenschaften
bilden oder daß die Gemeinde die betreffende Einrichtung trifft oder daß, rv»
die Wasserkräfte ausreichen, diese Verrichtung mit der Mühle verknüpft wird.
Es entsteht dann die Frage, welcher Ersatz kann für die entfallende Arbeit
geboten werden? Solange der Boden nicht gefroren oder von Schnee bedeckt
ist, giebt es in Feld und Wald für den umsichtigen Landwirth vollauf
thun. Es brauchen nur die Canalisirung und Drainirung der Aecker, sow^
die Berieselungsanstalten der Wiesen besser als es bisher geschieht, eingerichtet
und gepflegt zu werden und es giebt dann im Spätherbst und Frühjahr
neben den regelmäßigen Bestellungsarbeiten für die Männer genug zu thun-
Hingegen bleiben doch drei Wintermonate, für welche an die Stelle des
mählich wegfallenden Dreschens eine neue Beschäftigung für die Männer ge'
funden werden sollte. Die wichtigste Frage bleibt aber der Ersatz für die
bisher gewöhnliche Beschäftigung der Frauen, da das Spinnen allmählich
ganz unhaltbar geworden ist und die Frauen, obwohl sie in den ländlich^
Arbeiten namentlich im Sommer mitwirken, doch nicht so ständig dabei be-°
schäftigt zu werden Pflegen als die Männer.
(Fortsetzung folgt).
Die Gestaltung der Beziehung zwischen Kirche und Staat in der nord-
Kwerikanischen Union ruht auf eigenthümlichen geschichtlichen Voraussetzungen.
"Die Revolution und die sich konstituirende Republik fanden Staaten vor, in
denen privilegirte Kirchen bestanden. In Virginien hatte fast zweihundert
^hre lang die anglikanische Kirche die Rechte einer Staatskirche genossen.
Rew-Aork war unter holländischer Regierung die reformirte Kirche, die
^ an das Dortrechter Bekenntniß anschloß, unter englischer Regierung die
^«.Manische Kirche bevorzugt gewesen. Die Kolonisten von Plymouth hatten
puritanische Kirchcnsystem zur Geltung gebracht. In Massachusetts-Bai
^"d in New Haven war eine puritanische Theokratie errichtet worden. So
^ren in den einzelnen Theilen des Landes mannigfaltige Kirchensysteme
^wilegirt worden. Die Zustände, welche die Republik vorfand, erklären die
^ellung. welche sie zu den Kirchen einnimmt. Die Mannigfaltigkeit verschie-
erier kirchlicher Gemeinschaften, von denen keine eine dominirende Stellung
"nehmen konnte, verbot' irgend eine zu Privilegiren. Und wiederum forderte
^ Einfluß, welchen die christliche Kirche in den einzelnen Staaten bis dahin
^) errungen hatte, soviel als möglich dem allgemein christlichen Prinzip die
Institutionen des öffentlichen Lebens zu unterstellen. Die zahlreichen Ein¬
wanderungen, auf welche die Republik angewiesen war, mußten jenen kirch-
Jndifferentismus des Staates begünstigen, konnten durch die Aufrecht¬
erhaltung des allgemeinchristlichen Prinzips nicht geschädigt werden.*)
Suchen wir nun das Resultat festzustellen, das sich uns aus dieser ge¬
richtlichen Uebersicht ergiebt und sehen wir aus den angeführten Gründen
°n der amerikanischen Union ab, so kann dasselbe nur so lauten: Da wo
^r^Staar die Interessen der Kirche geschützt und gepflegt hat, ist von der
Kirche der Zusammenhang mit ihm festgehalten und durch die Anerkennung
seiner hohen sittlichen Aufgabe begründet worden. Wo dagegen der Staat
die wirklichen oder vermeintlichen Interessen der Kirche geschädigt hat, wo er
seine Grenzen überschritten und die Freiheit des religiösen Bekenntnisses ver¬
letzt hat, da ist der sittliche Gehalt des Staates gering geschätzt worden und
die Neigung zur Bildung von Freikirchen entstanden. Staatskirche und Frei¬
kirche sind in erster Linie Erzeugnisse besonderer geschichtlicher Entwicklungen,
nicht aber die Frucht heterogener Prinzipien verschiedener kirchenpolitischer Ueber¬
zeugungen. Diese begleiten jene; sie sind nur der ideelle Schatten, welchen die
kirchenpolitischen Realitäten werfen.
Und daß es sich so verhält, das hat seinen guten Grund. Die Kirche be¬
vorzugt an sich keine bestimmte Verfassung, sie hat die verschiedensten Gestaltungen
derselben hervorgebracht und in jeder die Segnungen des Evangeliums
christlicher Gesittung der Menschheit gespendet. Die elementaren Ordnungen
der Urkirche, die Nachbildung der Synagoge, die episkopale Hierarchie, die
päpstliche Theokratie, die konsistoriale Staatskirche — welche Wandlungen
hat die Verfassung der Kirche erfahren! Und jede Form derselben
war in gewisser Hinsicht zu bestimmter Zeit angemessen, das geeignete
Werkzeug, durch welches die Kirche unter den gegebenen Verhältnissen
am besten die ihr gestellten Aufgaben lösen konnte. Darin erweist sich die
Kirche als die Trägerin der ewigen Wahrheit, daß sie an keine zeitliche Er¬
scheinung ihrer Verwirklichung gebunden ist, sondern sie alle überlebt und zu
Momenten ihrer Entwicklung macht. Sie streift ein Gewand ab, das sie
lange Zeit getragen, ihre Gegner rufen: es geht mit ihr zu Ende; aber sie
haben sich geirrt, sie hat nur ein andres Kleid angelegt, wie es durch den
Wandel der Verhältnisse gefordert wird. Es giebt keine Kirchenverfassung'
die nicht ihrer Zeit als mustergültig gepriesen worden ist, es giebt keine Kir-
chenverfassung, die nicht ihrer Zeit als unbrauchbar bei Seite gelegt wurde.
Dieselben Beobachtungen drängen sich auf, wenn wir auf das wechselnde Ver¬
hältniß blicken, welches die Kirche im Laufe der Zeiten zum Staate eingenom¬
men hat. Denn dasselbe bildet eine Seite ihrer Verfassung, die Kirche h^
dreihundert Jahre lang ihn gefürchtet, geachtet, aber für ihre kirchenpolitischen Er¬
wägungen ignorirt. Das lag in der Natur der Sache. Die Märtyrerkirche konnte
nicht anders verfahren. Sie hat dann Jahrhunderte lang im engsten Zusammen'
hange mit ihm gelebt und hat ebenso ihm einen bald gesetzlich geregelten bald that¬
sächlich geduldeten Einfluß auf ihre Angelegenheiten eingeräumt, wie der
Staat seinerseits ihn von ihr empfing. In diesem Verhältnisse bildeten beide
Faktoren eine Einheit, in welcher die Uebergriffe des einen in das Gebiet des
andern wenig empfunden wurden. Und wer wollte leugnen, daß es diese Einheit
zwischen Kirche und Staat war, welcher Europa Christenthum und Cultur
dankte? Dieses System der Kirchenpolitik hatte sich erst abgenutzt, als die
Kirche wohl den Staat beherrschen, nicht aber diesem einen Einfluß auf sich
gestatten wollte, als sie sich zuzugestehen weigerte, daß unter ihrer Einwir¬
kung der Staat sich zu einem selbständigen Herde sittlichen Lebens gebildet
habe. Jetzt wurden die Uebergriffe auf beiden Seiten immer schmerzlicher und
peinlicher geführt und hier wie dort mußten die Grenzpfähle bald zurück¬
gesteckt, bald weiter geschoben werden. Ein solches Limitiren zwischen dem
Machtgebiet der Kirche und des Staates bei Aufrechterhaltung der wesentlichen
Einheit beider Institutionen durch die Vermittlung der Staatskirche war auch
bis auf die neueste Zeit der Charakter des Verhältnisses derselben zu ein¬
ander. Die Reformation hatte darin nichts geändert. Nur lag es in der
^atur der Sache, daß die Abhängigkeit der evangelischen Kirche vom Staat
größer werden mußte, als dies für die katholische Kirche der Fall war. Denn
^ehe besaß in der Hierarchie ein eignes Kirchenregiment und der Staat be¬
schränkte sich darauf, ihr gegenüber mehr oder weniger seine Kirchenhoheit zur
Geltung zu bringen. Die evangelische Kirche dagegen entbehrte eines eignen
^uchenregiments, und der Staat übte beides in ihr aus, die Funktionen der
^irchenhoheit und der Kirchengewalt, mochte auch formell jene dem Staat als
Scherr, diese dem Landesherrn als xrAeoipuum membrum eeelösiae zuerkannt
Werden. In Wirklichkeit fiel beides zusammen und die Scheidung mußte sich um so
>uehr als Illusion erweisen, wenn der Landesherr eben nicht ein prüeeipuum insm-
^um eeelcsi-is war, sondern einer anderen Konsesston angehörte. Diese Einheit
von Kirchenhoheit und Kirchengewalt in der Person des einen Landesherrn konnte
bei vorherrschend kirchlicher Zeitströmung ohne Schaden für die evangelische Kirche
bestehen bleiben, mußte ihr aber Gefahren bringen, wenn die Zeitrichtung sich der
Kirche abwandte. Dann wurde sie den störenden Einwirkungen einer territo-
"«listischen Kirchenpolitik unterworfen. Nichtsdestoweniger hat die evan-
Mche Kirche auch unter dieser Vormundschaft des Staats die ihr gestellten
Aufgaben erfüllen können; und so oft sie auch Anlaß gehabt hat, mit Recht
^) über die Behandlung zu beklagen, die ihr von Seiten des Staats zu
Theil wurden, so hat sie doch noch viel mehr Ursache gehabt, für die Hülfe
"ut Pflege, die sie empfangen, frommen Fürsten zu danken. Und auf der
andern Seite sind auch dem Staat von der evangelischen Kirche in dieser Zeit
viele Segnungen zu Theil geworden. Die Staaten, welche im hervorragenden
Sinne Kulturstaaten sind und das geistige Leben der gebildeten Welt be¬
stimmen , sind protestantisch. Die protestantische Staatskirche, welche durch
gesetzlich geordnete Institutionen den Bürgern den Geist des evangelischen Pro-
^stantismus einpflanzte, ist die Quelle ihrer nationalen Blüte geworden. Wir
kennen begreifen, daß das System der Staatskirche trotz vieler Mißstände,
^le es hervorgebracht hat, viele Freunde und warme Vertreter gefunden hat;
wir können begreifen, daß jetzt, wo es, vielleicht auf immer, begraben wird,
dieselben mit Wehmuth von ihm Abschied nehmen.
Die Staatskirche konnte nicht bestehen bleiben, sie hatte sich überlebt.
Sie trug schon seit mehr als einem Jahrhundert den Todeskeim in sich und
befand sich im Prozeß der Zersetzung. Die Staatskirche setzt voraus die
Identität des Umfangs von Kirche und Staat, die Herrschaft eines Glaubens¬
bekenntnisses im Volke. Sie war nur so lange ein in sich harmonischer und
konsequenter Organismus, als, wie im Mtttelalter, alle Bürger der euro¬
päischen christlichen Staaten der katholischen Kirche angehörten. Denn die
Sekten wurden ja mit Feuer und Schwert vernichtet, und die Juden waren
nur Halb- oder Viertelbürger. Auch da blieb noch der Begriff der Staats¬
kirche unversehrt, wo allerdings beiden christlichen Confessionen die Aufnahme
in ein Territorium gewährt, aber die eine ausschließlich durch Privilegien
ausgezeichnet wurde, während der andern nur Duldung zufiel. Den ersten
Stoß dagegen erhielt sie, wenn beide Kirchen, die evangelische wie die ka¬
tholische, gleiches Recht empfingen, und der Staat sich damit für paritätisch
erklärte. Er nahm dann einen Standpunkt ein, der sich weder mit dem Be¬
kenntniß seiner evangelischen noch seiner katholischen Bürger deckte. Er wählte
dann seinen Standort über den Konfessionen in der Abstraktion des
konfessionslosen Christenthums. Dieser Standpunkt wurde auch kirchenpoli¬
tisch bedenklich, denn es mußte die Frage aufgeworfen werden, wenn der
Staat nur am allgemein christlichen festhält, wie begründet er es, daß er nur
den Katholizismus und Protestantismus privilegirt, nicht aber die christlichen
Sekten. Was den Staat zu diesem Verhalten bewog, war offenbar keine
spezifisch religiöse, sondern eine allgemein moralische und politische Erwägung.
Er reflektirte einmal auf den sittlichen Kulturwerth, auf den die einzelnen
Confessionen Anspruch erheben konaten. sodann aus die numerische Größe
und den dadurch bedingten Werth derselben für das Ganze der Nation. Das
war aber ein neuer Standpunkt, den der Staat jetzt einnahm, ein moralischer
und politischer, nicht mehr ein kirchlicher.
Die Aufnahme der Sekten war ein zweiter Stoß, welcher der Staats¬
kirche versetzt wurde. So lange dieselben nur geduldet wurden, war ihre
Existenz gleichgiltig. Empfingen sie aber Corporationsrechte, — und konnten
sie ihnen auf die Dauer verweigert werden, wenn sie ihre Lebensfähigkeit er¬
wiesen hatten? — erhielten ihre Mitglieder gleiche politische Rechte, wie die
Angehörigen andrer Confessionen, so wurde das allgemein christliche Element,
welches der Staat als Basis seiner Kirchenpolitik gewählt hatte, immer weiter
und unbestimmter.
Die Emancipation der Juden — das war die dritte Erschütterung, die
verhängnißvollste, welche die Staatskirche erlitt. Je länger je mehr hatten
sich die Juden die Resultate der allgemeinen öffentlichen Bildung angeeignet,
.sie hatten Beiträge zu dem wissenschaftlichen und künstlerischen Schatz der
nationalen Bildung gegeben, sie hatten in den Reihen des nationalen Heeres
für die Interessen des Staates gekämpft, konnte man ihnen den Zugang zu
den öffentlichen Aemtern des Staates noch länger verweigern? Es war nicht
möglich. Der Begriff der Staatskirche aber mußte durch die Emancipation
der Juden von neuem verletzt werden, denn der christliche Charakter der
öffentlichen Institutionen mußte, ich will nicht sagen, fallen, aber manche
Beschränkungen erfahren. Eine Staatskirche, d. h. eine Kirche, welche vom
Staat in einem solchen Maße privilegirt ist. daß die Zugehörigkeit zu ihr die
Bedingung zur Theilnahme an der Gesammtheit der politischen Rechte bildet,
hatte damit aufgehört, zu existiren. Eine Kirche, welche vertrauensvoll dem
Staat einen Einfluß auf ihr inneres Leben einräumt, weil sie in den leiten¬
den Trägern des staatlichen Regiments nur Angehörige ihrer eignen Con-
fession, wenigstens Bekenner des Evangeliums findet, war widersinnig ge¬
worden. Lag doch die abstrakte Möglichkeit vor, daß auch einmal ein Jude
das Portefeuille des Kultusministeriums führe. Und wer bürgt dafür, daß
diese Möglichkeit nicht einmal Wirklichkeit wird. Aber schon die bloße That¬
sache, daß Nichtchristen in den gesetzgebenden Körpern sich befanden und je
länger je mehr in die öffentlichen Aemter des Staates einrückten, war ein
Grund, der Idee der Staatskirche definitiv Bakel zu sagen.
Es kam endlich noch hinzu, und das ist die vierte Ursache, welche die
Staatskirche gestürzt hat, die Differenz, welche sich zwischen dem kirchlichen
Bewußtsein auf der einen und den Anschauungen auf der andern Seite ge¬
bildet hat, von welchen ein großer Theil unsrer Zeitgenossen ausgeht. Man
wird demselben nicht Unrecht thun, wenn man erklärt, daß er nicht blos von
einzelnen Dogmen der Kirche, sondern von den Fundamenten derselben, also
vom Evangelium selbst, sich losgesagt hat. Wo die Ideen eines Schopen¬
hauer und Hartmann Anerkennung finden, da ist an Stelle des Christenthums
der Buddhismus in modernem Gewände getreten. Wo Strauß' Schrift „der
alte und der neue Glaube" Beifall entgegen kommt, da herrscht nicht mehr
das Christenthum, sondern ein in den Materialismus hinüber schillernder
Pantheismus. Wo eine materialistische Naturwissenschaft ihre Triumphe
feiert, hat das Christenthum seine Fahne gesenkt. Wo Zeitschriften und
Bücher verschlungen werden, die bald mit frivolem Spott, bald mit souverä¬
ner Verachtung über das Glaubensbekenntniß und die Weltanschauung des
Evangeliums zur Tagesordnung übergehen, da hat die Empfänglichkeit und
das Verständniß für die christliche Wahrheit aufgehört. Diesen Thatsachen
hat der Staat Rechnung getragen und das alte Band zerschnitten, das ihn
mit der Kirche verknüpfte. Er hat sich eine rein politische Rechtsbasis ge-
schaffen und das Mandat, welches er der Kirche gegeben, in seinem Namen
die Grundlegung der Familie zu vollziehen, und in seinem Namen die Ur¬
kunden über Anfang und Ausgang des Menschenlebens zu führen, zurück¬
gezogen. Jenes Wechselverhältniß zwischen Staat und Kirche, vermöge dessen jener
die äußeren Beziehungen dieser, die Kirche aber die mehr inneren Funktionen des
Staates ausübte,dahinter Staatskirche seinen charakteristischen Ausdruck fand, ist
beseitigt worden. Aber freilich, das ist die andere Seite der neuen Ordnung:
die Kirche hat die freie Verfügung über das ihr eigne Gebiet zurückerhalten,
sie hat Freiheit und Selbständigkeit gewonnen oder ist doch in dem Prozeß
begriffen, welcher ihr diese Güter bringen wird.
Ist sie damit Freikirche geworden oder auf dem Wege es zu werden?
Die erste Frage verneinen wir, hoffentlich wird es möglich bleiben, auch die
zweite zu verneinen. Noch mehr von der Kirche als von dem Staate wird
es abhängen, ob die Freikirche wird vermieden werden können. Die Auflösung
der Staatskirche involvirt keineswegs die Entstehung der Freikirche. Es ist
dem Staate keineswegs benommen, die evangelische und katholische Kirche vor
allen andern religiösen Gemeinschaften auszuzeichnen und zu Privilegiren, er
kann es thun, theils weil der größte Theil der Staatsbürger ihnen angehört,
theils weil eben deshalb das religiös-sittliche Leben des Volks als Einheit
aus den Quellen schöpft, welche diese Kirchen ihm vermitteln. So lange das
Volk seiner bei weitem überwiegenden Majorität nach, und wäre es auch nur
äußerlich, den Zusammenhang mit diesen Kirchen bewahrt, so lange kann, so
lange muß der Staat dieselben als Landeskirchen betrachten und demgemäß
Privilegiren. Und diese Privilegien sind auch jetzt noch nicht gering. Durch
sie erhalten beide Kirchen die Rechte öffentlicher Korporationen. Ihr Gottes¬
dienst ist ein öffentlicher. Ihre Gotteshäuser haben die Vorrechte öffentlicher
Staatsgebäude und sind von gemeinen Lasten sowie von der Grund- und Ge¬
bäudesteuer ausgenommen. Ihre Beamten stehen den Staatsbeamten gleich,
die Amtshandlungen derselben haben bürgerliche Giltigkeit, sie selbst sind von
gewissen Abgaben und Leistungen befreit, die Behörden der Kirchen genießen
den Rang höherer Staatsbehörden, für die Ausführung und Geltung der
kirchlichen Ordnungen tritt die Autorität und Macht des Staates ein, die
Bildungsanstalten der Kirche, die theologischen Facultäten, sind den Universi¬
täten eingegliedert und nehmen an allen Rechten derselben Theil. Das sind
werthvolle Privilegien, auf welche die Kirche nur Verzicht leisten dürfte, wenn
die Heiligthümer des Glaubens so allein gerettet werden könnten. Wir er¬
wähnen nicht die Unterstützungen, mit Geldmitteln, welche der Staat ge¬
währt, theils weil diese mit der moralischen Verpflichtung zusammenhängen,
welche der Staat förmlich bei der Säkularisation der Kirchengüter übernom-
men hat, theils, weit dieselben auch, wie wir sehen werden, vom Standpunkt
der Freikirche aus gefordert werden können.
Der Staat hat kein Interesse die Landeskirchen aufzuheben, er ist viel¬
mehr dabei interessirt, daß sie bleiben. Er hat sich mit schwerem Herzen zur
Einführung des Civilstandsrogisters entschlossen, und wie sehr er es wünscht,
daß die kirchlichen Akte den bürgerlichen regelmäßig folgen, hat er neuerdings
noch dadurch bewiesen, daß die preußischen Ministerien ihre Beamten darauf
hingewiesen haben, daß man von ihnen erwarte, sie würden die kirchlichen
Segnungen nicht unterlassen. Es kann ferner wohl geschehen, daß der kon¬
fessionelle Charakter der höheren und niederen Schulen beschränkt wird, aber
daß dieselben ihn schlechthin verlieren und die Beziehung zu Christenthum und
Kirche völlig aufgeben sollten, können wir nicht glauben. Der Staat kann
unmöglich vergessen , daß er nicht den wechselnden Strömungen des Volks¬
geistes zu folgen, sondern auch an dem Volke eine pädagogische Aufgabe zu
erfüllen hat. Er kann nicht vergessen, daß die Wissenschaft vielleicht
Sittlichkeit und Religion zu scheiden vermag, daß aber das wirkliche Leben
eine solche Scheidung nicht kennt. Die tiefsten und nachhaltigsten Motive
empfängt die Sittlichkeit von der Religion, und diese wird im Einzelnen nur
dann eine Macht, wenn sie im Glauben einer Gesammtheit einen Rückhalt
findet. Die hervorragendsten Nationalökonomen und Historiker haben einge¬
sehen, daß die Socialdemokratie ohne Hilfe der Religion und deshalb ohne
Hilfe der Kirche nicht überwunden werden kann. Es muß daher dem Staate
daran liegen, die Kirchen, welche geschichtlich im Volke Wurzel gefaßt und
seinem sittlichen Kulturleben die Richtung gegeben haben, zu stärken und
ihren Einfluß im Volk und für das Volk zu kräftigen. Es muß ihm daran
liegen, durch die Privilegien, welchen er diesen Kirchen ertheilt, den hohen
Werth, den er ihnen zuerkennt, öffentlich zu bezeugen. Aber hat die Kirche
etwa einen Grund, auf diese Privilegien zu verzichten und die Stellung der
Freikirche zu bevorzugen? Hat sie sich vielleicht von der Rückkehr in die
Gestalt des Privatvereins einen Gewinn zu versprechen? Um uns die Basis
für die Beantwortung dieser Frage zu beschaffen, vergegenwärtigen wir uns,
daß die Auflösung der Staatskirche Hand in Hand mit der Emancipation
der Kirche vom Staate gegangen ist. Dieselbe ist noch nicht vollendet, aber
sie wird, wie wir bestimmt hoffen, binnen Kurzem vollendet werden. Dann
werden die Bestandtheile der Kirchengewalt, welche bis dahin noch der Staat
ausgeübt hat, an spezifisch kirchliche Organe übergehen. Denn die Funktionen,
welche auch dann noch der Landesherr übernehmen wird, können nicht im
engeren Sinne als staatliche angesehen werden. Und wenn sich in denselben
mittelbar der Einfluß des Staates geltend machen wird, so kann die Kirche
dies nur dankbar begrüßen. Sie hat darin eine Aufforderung zu erkennen,
in ihren Entschließungen ein hohes Maß von Umsicht und Besonnenheit zu
beobachten, vor Einseitigkeiten und Uebereilungen sich zu hüten und mit den
Interessen des Staates Fühlung zu behalten. Die kirchlichen Kompetenzen
des Landesherrn werden sich im Wesentlichen auf die Mitwirkung bei der
Besetzung der kirchenregimentlichen Aemter, auf das Recht des Veto's gegen¬
über den Beschlüssen der Synode so wie auf die formelle Sanktion derselben
und auf die Ernennung einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern der Pro-
vinzial - und Generalsynode beschränken. *) Wenn sich das landesherrliche
Kirchenregiment in diesen gesetzlich normirten, sehr engen Grenzen bewegt, so
läuft die Selbständigkeit der evangelischen Kirche keine Gefahr, denn die
kirchlichen Behörden werden dann durch einen Wahlmodus entstehen, welcher
verbürgt, daß sie eben so wohl das Vertrauen des Landesherrn als der
Synoden genießen. Das Recht des Veto's aber gegenüber den Beschlüssen
derselben hat doch nur eine verzögernde Wirkung, indem es sie zu einer er¬
neuerten Berathung nöthigt. Und daß die formelle Sanktion des Landes¬
herrn hinzutreten muß, damit die Beschlüsse der Synoden gesetzliche Kraft
erhalten, darin können wir nur eine Stärkung, nicht eine Schwächung der
Kirche erkennen. Die landesherrliche Autorität verbürgt den Einklang
zwischen Kirche und Staat und verleiht so den kirchlichen Ordnungen einen
Werth, den wir im pädagogischen Interesse nicht gering anschlagen dürfen.
Die Beschickung der Synoden endlich durch Personen, denen der Landesherr
sein besonderes Vertrauen schenkt, wird eine Schutzwehr gegen das Vorwalten
extremer Richtungen bilden. Alles in Allem genommen, ist das landesherrliche
Kirchenregiment nicht sowohl eine Beschränkung der Freiheit der Kirche als
vielmehr eine Steigerung ihrer Kraft; sie ist weniger eine Erhöhung der
Machtvollkommenheit des Landesherrn, als ein schwieriger und mühevoller
Dienst desselben im Interesse der Kirche. Seine Einwirkung ist eine so be¬
schränkte, daß neuerdings, wenn auch, wie wir meinen, mit Unrecht behauptet
worden ist, es lohne sich nicht das landesherrliche Kirchenregiment festzu¬
halten.**)
Das wären also die einzigen Beschränkungen, von denen die Freikirche
sich entledigen würde. Denn die Maigesetze würden fast ausnahmslos auch
auf die Freikirche Anwendung finden, da dieselben nicht aus der Bethätigung
der Kirchengewalt, des Landesherrn, sondern der Kirchenhoheit des Staates
entsprungen sind. Sie würden wohl hier und da Modifikationen erleiden,
ihrem größten Theile nach aber bestehen bleiben. Nach wie vor würde der
Staat sein Aufsichtsrecht üben, von den Trägern des geistlichen Amts den
vorhergehenden Besuch von Gymnasien und Universitäten fordern, vielleicht auch
ihre Anstellung an die Voraussetzung eines vorausgegangnen Staatsexamens
knüpfen! nach wie vor würde er die Grenzen der kirchlichen Disziplin bestim¬
men, und wenn der kirchliche Gerichtshof wegfiele, so würden doch die Civil¬
gerichtshöfe Anlaß haben, bei Streitigkeiten unter den kirchlichen Parteien eine
Entscheidung zu geben, wie das auch in der nordamerikanischen Union der Fall
ist.*) Der Gewinn an Selbständigkeit für die Kirche wäre also ein sehr geringer.
Desto größer wären die Opfer, die von ihr verlangt würden. Sie müßte ausschließ,
lich das Geld aufbringen, um die theologischen Seminare, welche dann die Stelle
der theologischen Fakultäten vertreten würden, zu erhalten; sie müßte die Summen
beschaffen, um die kirchlichen Behörden zu besolden und die Synoden zu berufen.
Es ist ja an sich möglich, wie wir schon vorher angedeutet haben, daß der
Staat auch Freikirchen unterstützt. Selbst Venet billigt es, daß der Staat
jährlich eine Summe für kirchliche Zwecke auswirft, an der eine jede kirchliche
Gemeinschaft nach der Größe ihrer Mitgliederzahl Participiren könne**), aber
einmal wäre es doch ungewiß, ob der Staat sich dazu entschließen würde,
Heroiß dagegen, daß er seine Unterstützung an gewisse Bedingungen knüpfen
und zu Prämien für ein Wohlverhalten machen würde, welches bald so bald
so, je nach den herrschenden Richtungen und Parteiströmungen qualifizirt
werden würde. Die Kirche also geriethe wieder in die Abhängigkeit vom
Staat, die sie ja grade vermeiden wollte. Wenn sie dieser zu entgehen ent¬
schlossen wäre, bliebe ihr nichts andres übrig, als auf jede Staatssubvention
zu verzichten und sich auf die eignen Füße zu stellen. Wer nun weiß, daß
die Opferwilligkeit für kirchliche Zwecke unter uns nicht groß ist und die
Opferfähigkeit gering, denn wir sind ein sehr armes Volk, der kann nicht
daran zweifeln, daß die eventuelle Freikirche eine sehr dürftige Existenz führen
Müßte. Diese Dürftigkeit würde aber eine sehr ungünstige Rückwirkung auf
das innere geistige Leben der Kirche üben. Denn dasselbe setzt ein gewisses
Naß von Wohlhabenheit voraus. Man berufe sich nicht auf Nord-Amerika.
Erstens sind die Nordamerikaner reicher als wir, und zweitens haben die nord-
amerikanischen Freikirchen die Güter der früheren Staatskirchen ererbt. Sie
sind mit ungeschmälerten Besitzstand aus dem Stadium ver Staatskirche in
das Stadium der Freikirche übergegangen.***) Auch unsre Kirchen würden
ja als Freikirchen den Anspruch auf den Besitz erheben können, der ihnen
als Landeskirchen eigen gewesen war. Aber doch nur unter der Voraus¬
setzung, daß die Identität des besitzenden Subjekts nicht gestört werde.
Daran ist aber nicht zu denken. Die Bildung von Freikirchen würde
das Signal zur Auflösung der jetzt bestehenden kirchlichen Einheiten werden,
die einzelnen Parteien würden besondre kirchliche Complexe zu bilden suchen,
und so eine Vielheit kirchlicher Bildungen hervorbringen. Schon allein die
konfessionell-lutherische Partei, jetzt noch durch den Gegensatz zur .Union künst¬
lich zu einer Einheit zusammengehalten, würde die in ihr ruhenden Gegensätze
zu einzelnen kirchlichen Gestaltungen entwickeln; pietistisch-methodistische Kirch¬
lein, konservative und liberale Unionsgemeinden, radikal-protestantische Reli¬
gionsvereine würden hinzutreten. Von den schwärmerischen Sekten zu schwei¬
gen, welche vortrefflich im Trüben fischen würden.
Man sage nicht, diese Vielheit kirchlicher Denominationen sei unschädlich,
es handle sich hier nur um mannigfaltige Spieglungen des einen evangelischen
Geistes. Wenn in Nordamerika trotzdem ein reges kirchliches Leben besteht,
so hängt das mit Eigenthümlichkeiten zusammen, die sich eben nur dort finden,
mit geschichtlichen Voraussetzungen, die uns fehlen. Aber ein Schatten bleiben
sie auch dort, welcher dem flüchtigen Reisenden sich verbergen mag, während
wer länger dort weilt, ihn sieht und schmerzlich fühlt. Schafs*) erklärt:
„Näher betrachtet hat das Sektenwesen auch seine großen Schwächen und
Schattenseiten, setzt allerlei unlautere Triebfedern in Bewegung, befördert den
Parteigeist und die Parteileidenschaft, Selbstsucht und Bigotterie und ver¬
wandelt den Friedensacker des Reiches Gottes in ein Schlachtfeld, wo Bruder
gegen Bruder, zwar allerdings nicht mit Schwert und Bajonett, aber doch
mit liebloser Härte und allerlei Verleumdung kämpft und die Interessen der
allgemeinen Kirche gar häufig seinen Interessen unterordnet? Man kann
freilich entgegnen, daß das Bild, welches unsre Kirchen bieten, nicht günstiger
sei. Die Parteien in derselben Kirche befehden sich hier in demselben Maße
und in derselben Weise wie die Kirchen gegen einander dort. Allein die bloße
Thatsache, daß so entgegengesetzte Parteien in derselben Kirche bleiben, mil¬
dert die Schärfe ihres Vergehens. Denn sie ist ein Beweis, daß der Gegensatz
der Parteien doch nicht so tief geht, und nicht so ernst gemeint ist, als man
denken sollte. Es ist ein großer Gewinn, wenn die Zerklüftung der Kirche
durch Parteien an der Einheit der Kirche eine Schranke findet und nicht in
der Zerbröcklung der Kirche sich vollendet. Es ist dies ein Gewinn vor allem
im Interesse des Volks. Wie unendlich schwer wird es demselben gemacht,
wenn auf die Frage: wo ist die Wahrheit des Evangeliums? ein wirres Ge¬
schrei zahlreicher Sekten antwortet. Christus hat die Einheit der Kirche
als den Weg bezeichnet, auf welchem die Welt zur Erkenntniß der
Wahrheit des Evangeliums gelangen solle (Eo. Joh. 17,21). Jede Stei¬
gerung der Zerrissenheit der Kirche ist eine Erschwerung der Erkenntniß der
Wahrheit. Den Beweis dafür liefert Amerika. Mann in Philadelphia legt
das Zeugniß ab"): „Die religiöse Erziehung der Masse in den Vereinigten
Staaten war und ist entsetzlich vernachlässigt. Denn die Staatsschulen neh¬
men aus Prinzip den Religionsunterricht nicht in sich auf, die Sonntags¬
schulen aber ersetzen die in den meisten protestantischen Gemeinschaften so
gänzlich vernachlässigte Katechese keineswegs. Viele aus Europa Eingewan¬
derte werden in diesem Sektengewirre völlig confus und schwimmen zwischen
den verschiednen Kirchenparteien herum, bis sie endlich in dieser oder jener —
wer weiß von welchen zufälligen Einflüssen beherrscht — sich niederlassen."
Und Joseph Smith, der Gründer des Mormonismus bekennt? „Die Verwir¬
rung und der Kampf unter den verschiedenen religiösen Genossenschaften war
so groß, daß es für einen so jungen und mit der Welt so unbekannten Men¬
schen wie ich unmöglich war, zu irgend einem sicheren Schluß^ zu gelan¬
gen, wer Recht und wer Unrecht hatte. Mein Gemüth war mehrmals in
großer Aufregung, so gewaltig und so unablässig waren das Geschrei und
der Lärm."^)
Also Amerika wenigstens ist nicht geeignet zur Bildung von Freikirchen
einzuladen. Es zeigt uns allerdings ein lichtes Gemälde, wenn wir auf die
Intensität, welche die christliche Frömmigkeit in den Einzelnen erreicht, blicken,
ihre Opferfreudigst, ihre rege Kirchlichkeit; aber wir nehmen einen tiefen
Schatten wahr, wenn wir auf das Volk als Ganzes achten. Die Freikirche
gewinnt Einzelne für das Evangelium, verzichtet aber darauf, das Volk als
Ganzes zum Objekt der Mission zu machen. Auf die Wirkungen des frei¬
kirchlichen Systems in Schottland und Waadtland einzugehen, verzichten
wir. Die waadtländische Kirche ist sehr klein, und ihr Einfluß auf das Volk
gering. Die schottische Freikirche und die schottische Nationalkirche haben sich
Mit der Zeit sehr genähert, und ihre Wiedereinigung liegt nicht außerhalb der
Wahrscheinlichkeit. Der so ernste kirchlich strenge Nationalcharakter der Schotten
Macht es schwer zu bestimmen, ob die Staatskirche oder die Freikirche segens¬
reicher wirkt. Das christliche Leben ist hier wie dort ein gleich starkes. Auch
besteht die Freikirche eine verhältnißmäßig so kurze Zeit, daß wir gut thun,
unser Urtheil über ihre Erfolge zu suspendiren. Wir sind also nur auf
Amerika gewiesen, und die dortigen Zustände sind, wie wir gesehen haben,
keineswegs vorbildlich.
Was könnte uns also bestimmen, auch für uns die Bildung von Frei¬
kirchen ins Auge zu fassen? Für die Freunde derselben sind zwei Thatsachen
Maßgebend. Zuerst die Abhängigkeit, weniger von den Regierungen, als von
den Parlamenten. Und wer wollte läugnen, daß es peinliche Empfin¬
dungen hervorruft, wenn die Landtage, von denen ein Theil katholisch, der
andere Theil israelitisch ist, der ferner viel Mitglieder zählt, die längst den
Zusammenhang mit der Kirche abgebrochen haben, immer kirchliche Gesetze
mittelbar oder unmittelbar revidiren. Aber dieser Zustand wird, wenn erst
die Verfassung der Kirche legalisirt ist, was in Preußen hoffentlich sehr bald
geschehen wird, aufhören und die Landtage werden dann nur selten noch Ge¬
legenheit haben, über innerkirchliche Fragen Entscheidung abzugeben. Es wird
ferner schmerzlich empfunden, daß die landeskirchliche Einheit auch Parteien
Recht und Schutz gewährt, welche von dem Vollgehalt des christlich - evangeli¬
schen Bekenntnisses werthvollste Bestandtheile ausscheiden und schwerwiegende Irr¬
thümer verbreiten. Diese Parteien würden bei freikirchlichem System zu isolirter
selbständiger Kirchenbildung getrieben werden und da ihnen dazu die positiven
religiösen Realitäten fehlen, würden sie als kirchliche Erscheinungen allmählich
verschwinden. Das ist unläugbar richtig. Aber auf der anderen Seite dürfen
wir nicht vergessen, daß die Freikirchen sehr leicht Stätten einer dumpfen
Engherzigkeit werden, welche keinen frischen Luftzug duldet und der wissen¬
schaftlichen Forschung engste Grenzen anweist. Eine solche Beschränkung kann
aber die deutsche evangelische Kirche am wenigsten ertragen, sie würde grade
das ihr eigenthümliche Charisma verlieren. Wir betrachten daher eine relative
Duldung rationalistischer religiös-theologischer Richtungen als ein geringeres
Uebel gegenüber dem Opfer der wissenschaftlichen Freiheit, welches die Frei¬
kirchen uns auferlegen würden. Die evangelische Kirche hat schon einmal den
Rationalismus überwunden, es wird ihr auch zum zweiten Male gelingen.
Im Kampfe um das Dasein bleiben nur die starken Organisationen bestehen,
die schwachen aber gehen unter, lehrt der Darvinismus. Nun der Nationalismus
ist keine starke, sondern eine schwache Organisation. Er vermag weder eine
- religiös-sittliche Gesammtanschauung hervor zu bringen, welche die Erkenntniß
und das Gemüth gleichmäßig befriedigt und die Bürgschaft einer unerschütter¬
lichen Gewißheit in sich trägt, noch ist er im Stande, auf dem Gebiete des
kirchlichen Handelns schöpferische Kräfte zu entwickeln. Er erweist sich hier
wie da als unfruchtbar und ohnmächtig. Ihm fehlt der vollbewußte, starke
innige Glaube, welchem allein der Sieg beschieden ist.
Wir haben in einer der letzten Nummern dieser Zeitschrift (1. Oktober¬
heft, S. 69 ff.) darauf hingewiesen, daß die Geldfrage sehr wahrscheinlich
einen argen Riß in der nationalen Demokratie der Bereinigten Staaten her¬
vorrufen würde, insofern ein großer Theil der demokratischen Partei, nament¬
lich derjenige, welcher den Osten der Union repräsentirt, für möglichst baldige
Wiederaufnahme der Baarzahlung (sxeeie - Moment) und gegen Vermehrung
des Papiergeldes ist, während ein nicht minder großer, vielleicht noch größerer
Theil dieser Partei, derjenige, welcher die Mittelstaaten (Ohio und Pennsyl-
vanien) und den Westen der Union in seiner Gewalt hat oder zu haben
glaubt, für Vermehrung des Papiergeldes, d. h. Inflation und folgeweise
Nepudiätion der nationalen Staatsschuld, eintritt. Zugleich machten wir
darauf aufmerksam, daß die Staatswahl in Ohio, in der sich einerseits
Republikaner und andererseits Jnflations - Demokraten gegenüberstanden, so¬
wohl hinsichtlich der Geldfrage, als auch der im nächsten Jahre stattfindenden
Präsidentenwahl von der höchsten Bedeutung sein würde.
Unterdessen hat nun diese Staatswahl von Ohio in der ersten Hälfte des
Oktobermonats stattgefunden und, wie der Telegraph bereits gemeldet hat,
mit einem Siege der republikanischen Partei und einer entscheidenden Nieder¬
lage der Jnflalionsdemokratie geendigt. Die Tollheit und der Uebermuth
von inflationistischen Demokraten, wie Gouverneur Allen und Ex-Senator
Hendricks, sind bitter bestraft worden, und die ehrliche und gesunde Politik
der Hartgeld-Partei ist triumphirend aus der Ohio - Wahlschlacht hervor¬
gegangen. Es soll unsere Aufgabe sein, in Nachstehendem die Hauptursachen
der Niederlage der Ohio - Demokratie und ihre etwaigen Folgen etwas näher
Zu beleuchten.
Verschiedene Anzeichen in dem politischen Entwickelungsgange der Ver¬
einigten Staaten hatten schon seit längerer Zeit darauf hingedeutet, daß die
seit 15 Jahren am Stnatsruder befindliche Partei der Republikaner im ameri¬
kanischen Volke an Boden zu verlieren beginne. Die Frage der Neger¬
sklaverei, welche im Wesentlichen zur Entstehung und Bildung der republi¬
kanischen Partei, die im Jahre 1860 in Abraham Lincoln ihren ersten Präsi¬
denten erwählte, beigetragen hatte, durfte in der Hauptsache als gelöst er¬
scheinen. Die Nebenaufgaben ssiäs isLuos) dieser Partei waren mehr unter¬
geordneter Natur und konnten auch, ohne daß letztere die herrschende Partei
blieb, erfüllt werden. Dazu kam, daß die Mißregierung und die Corruption
republikanischen Partei von Jahr zu Jahr stiegen; ja, vielleicht wäre die¬
selbe schon bei der Präsidentenwahl im Jahre 1872 unterlegen, wenn nicht
die „Liberal-Republikaner" unter Lyman Trumbull, Karl Schurz u. A. ver¬
schiedene Fehler gemacht und namentlich Horace Greeley gegen Grant als
Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hätten. Bei den letzten Kongreßwahlen
trat nun die Unzufriedenheit des Volkes mit dem Regiments der „regulären"
oder „Grant-Republikaner" von Neuem gar deutlich dadurch hervor, daß
letztere die seit einer langen Reihe von Jahren innegehabte Mehrheit von
Sitzen im Repräsentantenhause der Bundeslegislatur verloren. Die Aus¬
sichten der Demokraten auf Erfolg besserten sich zusehends, und wenn die¬
selben im Stande waren, ihre alten verbissenen, abgenutzten und doppelzün¬
gigen Führer bei Seite zu werfen und an deren Stelle jüngere, ehrliche und
fähige Männer zu setzen, so durften sie wohl darauf rechnen, in der Präsi¬
dentenwahl des Jahres 1876 zu siegen. Sie durften dies um so mehr, wenn
es ihnen gelang, eine unbescholtene und geachtete Persönlichkeit als Präsident¬
schaftskandidaten zu finden und durch ein weises, zeitgemäßes Wahlprogramm
die in der Bildung begriffene Partei der „Unabhängigen" (IiiäepsmZents), zu
der u. A. Karl Schurz zählt, zu sich herüberzuziehen.
So ungefähr standen die Sachen, als plötzlich die Jnflationsdemokraten
in Ohio und Pennsylvanien durch ihre verhängnißvolle Geldpolitik der
nahezu abgewirthschafteten Partei der Republikaner neue Lebenskraft ein¬
flößten.
Man würde sich indessen, nach unserer Ansicht, sehr irren, wenn man
das Verdienst, die Jnflationisten in der Staatswahl von Ohio besiegt zu
haben, den dortigen Republikanern allein oder der regulär-republikanischen
Partei überhaupt zuschreiben wollte. Dies Verdienst gebührt zum großen,
wenn nicht zum größten Theile der muthigen und energischen Haltung der
vom Gouverneur Samuel I. Tilden geführten, durchgreifenden und zeit¬
gemäßen Reformen huldigenden Demokratie des Staates New-Aork und der
siegreichen Beredsamkeit von Karl Schurz, der mit staatsmännischem Blick
zur rechten Zeit der guten Sache zur Hülfe eilte. Indirekt mag auch der
Umstand zur Niederlage der Jnflationspartei in Ohio beigetragen haben,
daß letztere die vaterlandslosen Ultramontanen zu ihren Bundesgenos¬
sen zählte.
Die am 17. September d. I. zu Syraeuse im Staate New-Uork tagende
demokratische Staatsconvention stellte eine Platform auf, die nur Gold und
Silber als „Legat Tender", d. i. gesetzliches Zahlungsmittel, anerkennt. Diese
treffliche Platform verwirft außerdem jedes uneinlösbare Papiergeld, verlangt
schleunige Rückkehr zur Hartgeldwährung und findet die Ursachen der gegen¬
wärtig auch in der nordamerikanischen Union vielfach herrschenden Handels¬
krisis nicht, wie die meisten Führer der demokratischen Partei in Ohio und
Pennsylvanien es thaten und noch thun, darin, daß es in den Vereinigten
Staaten zu wenig, sondern darin, daß es dort zu viel Papiergeld giebt,
daß dies Papiergeld uneinlösbar und daher von schwankendem Werthe ist,
daß das amerikanische Volk mit seinem Reichthum schlecht gewirthschaftet hat
und daß die meisten öffentlichen Verwaltungen in Amerika die Städte und
Ernzelstaaten, ja die ganze Union leichtsinniger Weise mit Schulden überlastet
haben. Sie findet endlich, daß es die Ursache aller dieser großen Uebelstände
erneuern und noch vergrößern hieße, wenn man die Masse des uneinlösbaren
Papiergeldes vermehren wollte. Wir lassen die Platform der Demokraten
von New-Uork hier in wörtlicher Uebersetzung folgen; dieselbe lautet:
1) Gold und Silber sind das einzige gesetzliche Zahlungsmittel lMe puto
Iczgal tenäer), uneinlösbares Papiergeld ist nicht zulässig. — 2) Die Rückkehr
zur Baarzcrhlung ist unausgesetzt anzubahnen; kein Schritt darf hier rück¬
wärts gethan werden. — 3) Die Bundesschuld ist in klingender Münze
(coin) zu bezahlen; die Versprechungen der Nation müssen heilig gehalten
Werden. — 4) Zoll- und Steuerreform (reveinis rstorm): nur der Einkünfte
wegen sind Zölle und Bundessteuern zu erheben; keine Betheiligung der Re¬
gierung bei Monopolen und kein Schutz derselben durch sie.*) — 6) Selbst¬
regierung (Iioms rule): weise Beschränkung der Beamtenbesugnisse in den
Communen, den Einzelstaaten und der ganzen Union; keine übermäßige Cen¬
tralisation. — 6) Gleiche und prompte Justiz für Alle: keine einseitig par¬
teiische Gesetzgebung (no partM leZislÄtion), keine einseitig parteiische Be¬
steuerung (ne> xartial taxation). — 7) Eine freie Presse; keine Knebelungs¬
gesetze (no Mg la^of). — 8) Freiheit des Individuums; gerechte Accise-
gesetze; keine Aufwandsgesetze (ne> suinptUÄrv Ja>of). 9) Strenge Ver¬
antwortlichkeit der öffentlichen Beamten durch eine verbesserte Civil- und Cri-
Minalgesetzgebung; aus öffentlichen Geldern darf kein Privatvortheil gezogen
werden. — 10) Im Interesse des Gemeinwohls muß der Staat die Con¬
trolle über alle Corporationen haben, die von ihm Freibriefe oder Privilegien
erhalten haben. — 11) Die herrschende Partei ist für die durch sie veran¬
laßte Gesetzgebung verantwortlich zu halten. — 12) Das Präsidentenamt
ist ein öffentliches Vertrauensamt (a, xublio ernst), kein Privaterwerbniß (not
K private pöryuisitk); ein dritter Amtstermin des Präsidenten ist unzu¬
lässig. — 13) Sparsamkeit in allen öffentlichen Ausgaben, damit die Arbeit
Möglichst wenig belastet werde.
Dieses Wahlprogramm der demokratischen Partei hat sicherlich einen ge¬
sunden metallischen Klang, jenen Klang, von dem der bekannte amerikanische
Finanzmann M c. Cullo es sagte, daß er den bisherigen Hartgelderklärungen
amerikanischer Parteien gefehlt habe; es wirkte auch wie ein gewaltiger
Dämpfer auf das hohle, wilde Geschrei der Jnflationsdemagogen von Ohio,
rief die Vernünftigeren der dortigen Demokraten zur Besonnenheit zurück und
trug in rascher Linie zu der schweren, aber wohlverdienten und hoffentlich heil¬
samen Niederlage der für Vermehrung des Papiergeldes schwärmenden Partei
der Herren Allen, Hendricks u. s. w. bei. Auch ist es nicht unwahrscheinlich,
daß die Grundsätze der mitgetheilten New-Uorker Platform den Grundton der
im nächsten Jahre aufzustellenden demokratischen Nationalplatform bilden
werden, und daß, wenn mit ihr ein Mann wie Samuel I. Tilden zum Prä-
sidentschaftscandidaten nominirt wird, die so reformirte demokratische Partei
in der Nationalwahl, siegt.
Neben der Platform der Demokratie von New-Uork war es nun noch
Karl S'churz, welcher in der Oktoberwahl von Ohio den verderblichen Ueber¬
muth der demokratischen Jnflationspartei zu Fall brachte. Die in diesem
Staate nicht besonders beliebte Partei der alten Republikaner wäre sicherlich
allein nicht im Stande gewesen, dem durch blendende Versprechungen stets
anschwellenden Strom der Jnflationsdemokratie einen schützenden Damm ent¬
gegenzuwerfen; sie bedürfte dazu einer frischeren, unverdorbeneren Kraft, als
sie in ihren eigenen, von der Corruption so stark zerfressenen Reihen zu finden
vermochte.
Wenige Stunden, so meldet die „New-Uork Tribüne", nachdem Schurz,
von seiner Reise nach Europa zurückkehrend, in New-Uork gelandet war, er¬
hielt er von dem Vorsitzenden des republikanischen Wahlcomites in Ohio
eine Einladung, die ihn dringend bat, möglichst schnell dorthin zu eilen und
der republikanischen Partei seinen Beistand zu leihen. Und Schurz nahm
sofort diese Einladung an. Ein gewöhnlicher Mensch hätte vielleicht an
Schurz' Stelle anders gehandelt. Es ist nämlich keine lange Zeit verflossen,
da stießen dieselben Republikaner, die jetzt um seine Hülse flehten, Herrn
Schurz aus den Reihen ihrer Partei aus. Und weshalb? Aus keinem andern
Grunde, als weil er nicht, wie die Morton, die Conkling, die Butler, die
Carpenter, die Logan und das ganze übrige Heer herrschsüchtiger und beute¬
gieriger Politiker, ein blinder und unbedingter Anhänger der Grant-Ad¬
ministration war, sondern mit Männern, wie Charles Summer und Lyman
Trumbull, den Muth einer eigenen, ehrlichen Meiriung besaß, das Wohl des
Landes über das der Partei stellte und die Corruption bekämpfte, wo immer
er sie fand. Keiner der genannten Herrn besaß das Ansehen und die Macht,
mit Erfolg den inflationswüthigen Schaaren der Ohio-Demokratie entgegen¬
zutreten. Die bedrängten Republikaner von Ohio sahen sich gezwungen, zu
dem ebenso gefürchteten, wie geachteten Adoptivbürger ihre Zuflucht zu nehmen;
denn die ganze Administrationspartei hatte keinen Staatsmqnn und Redner
aufzuweisen, der mit demselben Talente und derselben moralischen Kraft, wie
Schurz es vermochte, den Jnflationisten die Spitze bieten konnte.
Karl Schurz besaß Edelmuth und Vaterlandsliebe genug, um ohne Zögern
den Kampf mit der Jnflationspartei aufzunehmen und siegreich zu Ende zu
führen. Am 27. September hielt er in der Turnhalle zu Cincinnati eine
seiner besten Reden, in welcher er mit ebenso viel logischer Schärfe, wie ora-
torischer Eindringlichkeit das Verwerfliche und Verderbliche der Papiergeld-
Politik bloßlegte. Seine zündenden Worte waren aber nicht nur an die
Tausende von Zuhörern gerichtet, zu denen er grade sprach, sondern an alle
Patriotischen und verständigen Männer in der ganzen Union. Schon am
nächsten Morgen, nachdem er seine Rede gehalten, hatte der Telegraph die
wichtige Kundgebung in ihrem Wortlaute über das ganze Land verbreitet;
ihre Besprechung aber und ihre Erörterung bilden seitdem in Amerika einen
der Hauptgegenstände des Tages.
Uns liegt die Schurz'sche Rede in extenso vor; der uns zugemessene Raum
läßt uns aber nur einige Stellen aus dem Eingange derselben mittheilen,
worin er seine gegenwärtige politische Stellung etwas näher definirt. Schurz
sagte U.A.: „Bei der Annahme der an mich ergangenen Einladung, das Volk
von Ohio zu Gunsten eines ehrlichen Zahlmittels anzureden, leistete ich meinem
eigenen Pflichtgefühl Folge, da ich mir der Tragweite der Frage und der
weitreichenden Wichtigkeit der Entscheidung, welche das Volk von Ohio binnen
Kurzem an der Stimmurne fällen soll, wohl bewußt bin. Ehe ich jedoch die
Fragen dieses Wahlkampses bespreche, schulde ich Ihnen, meine Mitbürger,
eine vorhergehende Erklärung persönlicher Natur. Es wurde mir nämlich
Mitgetheilt, daß mein Auftreten in dieser Wahlcampagne als Theil eines ver¬
abredeten Plans hingestellt worden ist, der dahin gehen soll, die unab¬
hängigen Stimmgeber des Landes in die Reihen der republikanischen
Partei zu führen und dieselben zur Unterstützung des Candidaten dieser Partei
in dem Prästdentschaftswahlkampfe des Jahres 1876 zu verpflichten. Diese
Behauptung ist eine leere Erfindung (an iäls invention). Mir ist kein der¬
artiger Plan bekannt. Sollte er aber wirklich existiren, so würde ich mich
nicht daran betheiligen. Die unabhängigen Wähler <Me irae^enäLut voters)
haben ihre eigenen Ansichten und ich respectire dieselben zu sehr, als daß ich
annehmen könnte, sie würden sich von einem einzelnen Individuum oder vor
einer Combination von Individuen auf die eine oder die andere Seite bringen
lassen. Außerdem aber suche ich nicht nur keinen Andern mit Bezug auf die
Präsidentenwahl des nächsten Jahres zu verpflichten (to eommit), sondern
ich beabsichtige auch, mich selbst nicht zu binden. Ich behalte mir in dieser
Frage die vollste Freiheit der Entscheidung vor, um eine solche zu treffen,
sobald die Nothwendigkeit dazu vorliegt; und ich rathe Jedem dasselbe zu
thun. Meine Stellung zur republikanischen Partei ist kein Geheimniß. Ich
hielt es für meine Pflicht, als Bundessenator und als Bürger den Irr¬
thümern und Ausschreitungen jener Politiker entgegenzutreten, welche die Con¬
trolle über die genannte Partei führten, sowie die Mißbräuche anzugreifen,
welche sich unter Führerschaft dieser Herren entwickelten. Ich war dabei im
Ernst. Ich war zur Zeit, wo ich so handelte, der Ansicht, daß ich Recht
hätte, und es ist keine bloße Halsstarrigkeit (not mers stubdorusLs), wenn
ich sage, daß ich auch jetzt noch derselben Ansicht bin. Ich habe nicht nur
Nichts zurückzunehmen, sondern ich bin auch dessen gewiß, daß die kürzlich
erfolgten Enthüllungen von Corrupttonen manchen guten und gewissenhaften
Republikaner davon überzeugt haben, daß die Organisation der republikanischen
Partei sich manche Erniedrigungen (dumiliativns) erspart haben würde, wenn
man meine und meiner Freunde Mahnrufe seiner Zeit beachtet hätte.— Es
ist deshalb keine sentimentale Parteinahme (no sentimental partis-litz?) für
die republikanische Partei, was mich hierher führt. Es bleibt abzuwarten,
ob die republikanische Partei eine solche Stellung einnehmen wird, daß sie bei
der nächsten Präsidentenwahl der Unterstützung werth ist. Es bleibt auch ab
zuwarten, ob die Demokraten dieses thun werden. Meine Ansicht war schon
seit längerer Zeit, und ich habe dieselbe niemals verheimlicht, daß die wahr¬
haft patriotischgesinnten Bürger der Republik sich auf keine von beiden Par¬
teien unbedingt verlassen sollten. Daß wohlmeinende Bürger sich so häufig
in der Lage befanden, eine Partei unterstützen zu müssen, nicht weil dieselbe
ihren Beifall oder ihr Vertrauen besaß, sondern weil die Gegenpartei noch
schlechter zu sein schien, das ist nicht nur eine politische Sachlage, die eines
freien, intelligenten und hochherzigen Volkes unwürdig ist, sondern es ist auch
eine der Hauptursachen der Corruption und Demoralisation unseres politischen
Lebens überhaupt. In dieser nicht beneidenswerthen Lage haben wir uns
seit Jahren befunden, und im Staate Ohio ist jetzt Etwas im Gange, das
diese Sachlage nur in noch verschlimmerter Form (in an SMr».va.tea tora)
auf den Wahlkampf von 1876 zu übertragen droht."
Nach dieser Einleitung ging dann Schurz auf die eigentliche Behandlung
der brennenden Geldfrage selbst ein und wies durch eine Unzahl schlagender
Argumente nach, daß nicht nur die materiellen Interessen, sondern auch der
Charakter, der gute Name und das innerste Wesen des amerikanischen Volkes
großen, unersetzlichen Schaden leiden würden, wenn die Befürworter der Jn-
flationspolitik zunächst in der Staatswahl den Sieg davon trügen.
Eine New-Uorker Correspondenz der „Köln. Zeitung", datirt vom An¬
fang dieses Monats, bestätigt unser Urtheil über die Schurz'sche Rede und
fügt dann hinzu, daß der frühere Senator von Missouri stets und unter
allen Umständen das Ohr der amerikanischen Nation haben, stets und unter
allen Umständen seinen mächtigen Einfluß auf sie würde geltend machen kön¬
nen, ganz gleich, ob er durch die Spalten eines Blattes, durch das Mund¬
stück einer sogenannten „Interview", bei einem Banket oder von der Redner¬
bühne einer Volksversammlung sprechen würde. „Einfacher Privatmann",
sagt der bezeichnete Correspondent, „wie Schurz doch jetzt wieder ist, durfte
er nur von Europa zurückkehren und sich bereit erklären, die Lippen zu öffnen,
um auch sofort wieder der Mann des Tages zu sein. Wie sehr auch der Senat
seiner bedürfen mag (und schon die nächste Sitzung des Kongresses wird zeigen,
was dieses „wie sehr" eigentlich bedeutet), Karl Schurz bedarf des Senates
nicht. Und zum Glück bedarf auch die Oeffentlichkeit seiner nicht im Senate.
Sie weiß, wo sie den unerschrockenen, nicht nur die Fülle staatsmännischer
Weisheit, sondern auch das Prinzip unantastbarer Ehrenhaftigkeit in der
Politik darstellenden Mann zu finden hat, wenn sie seiner bedarf. Und sie
wird ihn finden! Aber noch Eins hat dem Eintritt von Schurz in den
Wahlkampf Ohios ein ganz besonderes Interesse verliehen. Mit kaum min¬
derer Spannung, als seinem Erfolge in der brennenden Geldfrage, um die
es sich dabei handelt, sah man der Erklärung des Ex-Senators über seine
Persönliche Stellung zu den beiden Parteien entgegen. Zwar konnte von einer
Gemeinsamkeit mit den Demokraten von vorn herein keine Rede sein, da
gerade diese es in Ohio sind, die als Papiergeld-Fraction bekämpft werden
müssen. Um so lebhafter waren die Hoffnungen der Republikaner, den
im nämlichen Ohio in der Finanzfrage auf ihre Einladung hin und Seite
an Seite mit ihnen Kämpfenden auch in anderen Fragen in ihre Reihen zu¬
rückkehren zu sehen. Durch diese Hoffnungen nun hat Schurz einen gründ¬
lichen Strich gemacht. In den entschiedensten Worten erkärte er gleich im
Eingange seiner Rede (s. obiges Citat aus derselben) zu Cincinnati, daß er
lediglich in der Geldfrage, die er als höchste derzeitige Lebensfrage für die
amerikanische Nation erachte, Theil an dem Wahlfeldzuge nehme, und daß
diese Theilnahme nur insofern den Republikanern gelte, als diese in Ohio
auf jener Seite der Frage ständen, für die einzustehen sein Gewissen und
seine Bürgerpflicht auch ihn zwängen. Und nicht genug damit. Im selben
Athem spendete er den Demokraten von New-Uork für ihre Haltung in der
Geldfrage eben so warm ein aufrichtiges Lob, wie er über deren Partei¬
genossen in Ohio für ihre entgegengesetzte Haltung das Maß rückhaltslosester
Verurtheilung ausschüttete. Mannhafter und klarer hätte er seine Unab¬
hängigkeit nicht wahren, glänzender und siegreicher dem Volke und den
Politikern der Union nicht die Möglichkeit vorführen können, daß der
wahre Staats- und Volksmann auch ohne die Maschinerie einer Partei
hinter sich, lediglich durch sein Talent und seine Gesinnung eine Macht sein
könne."
Wer nach dem Gesagten unbefangenen Blicks die Oktoberwahl von Ohio
und die dabei hauptsächlich mitwirkenden Factoren ins Auge faßt, kann nicht
umhin zu gestehen, daß der Sieg der Republikaner in Ohio über die dortigen
Demokraten im Wesentlichen durch die Beschlüsse der New-Uorker Demokratie,
die man gegenwärtig meistens als die „Tilden-Demokratie" zu bezeichnen
pflegt, und die so bereitwillig und wirksam geleistete Hülfe von Karl Schurz
erfochten worden ist. Ganz ohne günstigen Einfluß sind natürlich auch einige
andere Umstände nicht gewesen. Wir rechnen hierher eine Volksabstimmung im
Staate New-Jersey über einige Zusätze zur dortigen Staatsverfassung, welche
den Ultramontanen jeden Einfluß aus die Volksschulen abschneiden und
allen Sectenschulen den Mitgenuß des öffentlichen Schulfonds versagen. Auch
eine Rede, welche Präsident Grant kurz vor der Ohiowahl in der Stadt
Desmoines im Staate Iowa hielt und worin er sehr bestimmt auf die von den
Ultramontanen den freiheitlichen Institutionen der Vereinigten Staaten drohen¬
den Gefahren hinwies, feuerte die patriotischen und freisinnigen Wähler von
Ohio an, gegen die demokratische Partei zu stimmen, da diese lebhaft von
den Ultramontanen unterstützt wurde. Die Hülfe der Römlinge hat somit
den Ohiodemokraten mehr geschadet, als genützt.
Was endlich noch die etwaigen Folgen des Resultates der Ohiowahl an¬
betrifft, so läßt sich darüber bis jetzt wenig Bestimmtes sagen. In Pennsyl-
vanien wird die Jnflationspartei unter allen Umständen siegen, denn dort
haben sowohl die Republikaner, als auch die Demokraten die Jnflations-
theorien auf ihr Banner geschrieben. Im Staate New-Aork triumphirt selbst¬
verständlich die Hartgeldpartei, weil dort beide Parteien, die Republikaner
wie auch die Demokraten, dieselbe vertreten. Auf die im nächsten Jahre statt¬
findende Präsidentenwahl aber kann und wird das Ergebniß der Ohiowahl nur
günstig einwirken, mag der Candidat der Demokraten oder der Candidat der Repu¬
blikaner siegreich aus der Wahlurne hervorgehen. Wenn aber der Telegraph,welcher
die Nachricht von dem Siege der Republikaner in Ohio brachte, auch als eine
Folge davon die Wiederherstellung der Einheit in der republikanischen Partei in
sichere Aussicht stellte, so ist diese Meldung jedenfalls zu gewagt und nach der
Parteistellung, die Schurz in seiner Rede vom 27. v. M. einnahm, ganz un¬
begründet. Viel eher wäre noch das Zustandekommen einer dritten Partei,
der Partei der „Unabhängigen" (^lläexenäöllts), der, wie gesagt, Schurz an¬
gehört, bis Mai des Jahres 1876 im Bereiche der Möglichkeit.
Nachdem der Diener ausgelernt hat, erhält er vom Meister das Zeichen.
Halt — hier wäre denn endlich die erste Andeutung eines freimaurerischen
Geheimbundes. Ja wenn es sich um ein geheimes Erkennungszeichen handelte!
aber es findet sich von alledem in den uns bekannten Statuten auch nicht die
geringste Spur. Es soll nicht bestritten werden, daß nicht aufgeschriebene
Ceremonien und Symbole dennoch bestanden haben könnten, indessen wäre
es doch wunderbar, wenn nicht hier und da eine Hinweisung auf Dinge zu fin¬
den wäre, die nicht im Buche niedergeschrieben sind. Ich bin der Meinung,
daß man der alten Bauhütte alles das, was sie zur Borlä uferin des moder¬
nen Freimaurerthums macht, angedichtet hat. Sie ist nichts weiter, als eine
Gesammtzunft von allgemein zünftigen Charakter mit deutlich ausgesprochenem
praktischem Zwecke. Nun giebt es ja symbolische An- und Umdeutungen in
der Lehrpoesie der Hütte, aber der Leser möge selbst entscheiden, ob hierbei
irgend etwas anderes gesagt wird, als was zum Handwerk gehört:
Was in Steinkunst zu sehen ist,
Daß kein jrr noch Abweg ist,
Sonder schnurrende ein Linial
Durchzogen den Cirkel überall,
So findest Du Drey in viere stehn,
^ut also durch eins ins Centrum
gehn,
Auch wieder auß dem Centro in
Drey,Durchdie vier imCirkel ganz frey.
Des Steinwerks Kunst und alle Ding
Zu forschen macht den Lehmen gring.
Ein Punkt der in das Cirkel geht
Der in Quadrat und Drey-angel steht,
Trefft ihr den Punkt, so habt ihr gar
Vnd kommt aus Noth Angst vnd Gefahr
Hiemit habt ihr die ganze Kunst
Versteht ihrs nit so ists vnibsonst. . .
Das ist doch offenbar weder Kabbala noch Gnostik sondern ein etwas
dunkel ausgedrücktes Lehrstück praktischer Geometrie, wie es eben der Steinmetz
in seinen geometrischen Figuren nöthig hatte. Auch da, wo man über
Wahlen und Maße der Kirchenbauten symbolisirt, ist das Symbol nicht das
Primäre sondern das Secundäre. Man baut aus technischen, praktischen und
ästhetischen Gründen mit den oder den Zahlen und Maßen, und erfreut sich
daran hinterher bedeutungsvolle Gedanken hineinzudichten.
Das vorhin erwähnte Zeichen, welches der Lehrling erhält, ist nichts
Anderes als das allbekannte Steinmetz zeichen.
Auch über die Bedeutung dieses Zeichens sind überaus verschiedene Mei¬
nungen laut geworden; die Frage hat sich aber geklärt, und besonders seit
trefflichen Arbeit Homeyer's, „die Haus und Hofmarken" (Berlin 1870)
kann als ausgemacht festgestellt werden, daß es sich nicht um eine Hiero¬
glyphe, eine Geheimschrift, sondern um ein Handzeichen handelt: das ist ein
Document über die Urheberschaft, welches auf dem Werke selbst eingehauen
wird. Dies geschieht einmal zum Zwecke der Abrechnung, sodann aber auch,
damit das Werk -den Meister lobe.
Die Marke vertritt das schriftliche Handzeichen , welches jetzt maßgebend
ist, das aber nicht allein eine allgemeine Verbreitung der Schreibekunst, son¬
dern auch eine so reichliche Uebung derselben voraussetzt, daß bestimmte sich
gleichbleibende Handschriften entstehen. So kann in den Städten weder der
Patrizier, noch der geringste Handwerker, auf dem Lande wenigstens kein
Stellenbesitzer der Marke entbehren. Auch Geistliche, Gelehrte, Kaufleute,
Frauen, selbst juristische Personen führen sie. — Ich mache auf ein berühmtes
Bild Holbein's (Berliner Museum 586), welches einen reichen Kaufmann vor¬
stellt, aufmerksam. Hier sind die Briefe, die der Kaufmann theils in der Hand
hält, theils hinter die Wandleiste gesteckt hat, auf der Adressenseite mit einem
Zeichen versehen, welches durchaus jenem der Steinmetzen gleicht. — Ebenda¬
selbst zeigt uns ein Bild Niederländer Schule (558) das Innere eines öffent¬
lichen Hauses. An der Wand befinden sich die angekreideten Zechen in noch jetzt
üblicher Form und eine Menge solcher Zeichen, die man Steinmetzzeichen zu nennen
pflegt. Wie also jetzt Narrenhände mit Namen Tisch und Wände beschmieren,
so geschah es damals mit der Marke, dem Namenzeichen.
Man kann eine doppelte Art von Steinmetzzeichen unterscheiden. Bis
zum Schluß des vierzehnten Jahrhunderts bestehen sie aus Buchstaben, Kreuzen,
Dreiecken, Eicheln, Sternen, Bundschuhen und einfachen geometrischen Figuren-
Von da an bemerkt man nur noch Zeichen, die aus kreuzweise oder schräg
zusammengestellten Linien bestehen. Auch in der Technik ist ein Unterschied.
Die ersteren sind „gerade gesetzt", d. h. mit senkrecht gestelltem Meißel tief ein¬
geschlagen, die letztern sind „schräg gesetzt", so daß die vertieften Seitenflächen
sich in einem Winkel treffen. Die Enden der Linien haben einen etwas stärker
vertieften Drucker.
Dies Zeichen also ist es, um welches es sich bei der Lossprechung der Diener
handelt. Folgendes sind die hierher gehörigen Bestimmungen. Es soll ein
Meister dem Diener das Zeichen nicht länger vorenthalten als vierzehn Tage,
es sei denn, daß der Diener dem Meister etliche Zeit versäumt hätte. Es ist
mit der Uebergabe des Zeichens eine gottesdienstliche Handlung, jedenfalls
Messe verbunden. Der Meister lädt den Geistlichen und höchstens zehn Ge¬
sellen — wenn nicht der Diener höher hinauf will, was ihm freisteht — zum
Mahle. Es werden dazu geliefert für einen Pfennig Semmeln, für 15 Groschen
(Pfennige?) Brod und 15 Groschen (?) Fleisch und zwei Stübchen Wein-
Nunmehr kann der neue Geselle wandern, wenn ihm der Meister nicht selbst
Förderung geben kann. Natürlich darf das Zeichen an unwürdige weder ver¬
bust noch verschenkt werden. Wäre das der Fall gewesen, so soll der be¬
treffende ausgeschlossen sein, bis er rite lernt.
Die Bestimmungen, welche die Verhältnisse der Gesellen regeln, haben die
Absicht zu verhüten, daß ein Gesell seinen Contract bricht und vor ver¬
strichener Kündigungsfrist vom Bau geht. Auch Vagabundiren statt wandern
soll nicht geduldet werden. Wer von Muthwillen Urlaub bittet, soll ein Jahr
^ng an derselben Hütte keine Förderung haben.
Aus dem bis ins Detail gehenden Rochlitzer Statut hebe ich das
hervor, was uns einen Blick in die Thätigkeit des Bauplatzes eröffnet.
Welcher Gesell sein Maßbrett unrecht auflegt, oder liegen läßt ohne Er¬
laubniß, oder es abnimmt, ehe der Meister oder Pollirer die Bereitung ge¬
sehen haben, wer Winkelmaße am Steine hängen läßt oder Richtscheite, die
Löcher haben, liegen läßt und nicht aufhängt, oder den Stein von der Bank
fallen läßt, wer die Hacken aus dem Helm fahren läßt oder sein Maß an¬
ders läßt, als an der Stätte, die dazu verordnet ist, wer die Fenster bei seiner
Bank nicht zuthut, der soll für alle diese angeschriebenen Stücke geben je 3 ^
iur Buße. Welcher Geselle nicht Hülfe bietet seinen Stein aus- und einzu¬
senden, zu bringen oder umzuwenden, wenn es noth ist, oder sein Zeichen
anschlägt, als sei es recht gemacht, ehe denn es besehen ist, der soll zur Buße
Leben ein halb Pfund Wachs. Welcher Geselle heilige Tage macht, wenn er
^Venen soll, welcher Pollirer oder Geselle am Montag Nachmittag, wenn es
^us schlägt (siehe da, blauer Montag!) nicht bei seinem Meister ist, und halte
^ne Vesper-Ruhe mit ihm, und verhöre, was er den Montag thun soll, der
soll geben alle Zechen (unklar — der Text ist wohl unrichtig gelesen, denn Zeche
!se die Versammlung der Bauhütte) setzt er sich darwider, so soll er Urlaub
(Kündigung) haben auf den Montag. Jeder Gesell kann Urlaub haben auf
jeden Lohnabend, wenn es ihm nicht gefällt, da ist niemand an den andern
^bunten. Wer sich aber den Winter über „durchgedrückt" hat in der Hütte,
soll auch wenigstens bis Johannis dableiben u. s. w.
Da zeigt sich uns ein Bild, das wir mit geringen Aenderungen heute
"och auf jedem größeren Steinmetzplatze sehen können.
Ueber dem Gesellen steht der Pallirer oder Polirer oder Parlirer
°der Paleyr oder Parlerz. . Was ist das richtige? Ist es ein Parlerez,
heißt Sprecher, oder ist es Polidor, das heißt Nacharbeit er oder
Feinarbeiter? Beide Ansichten werden vertreten. Doch ist wohl die erstere die
richtigere, wie sie denn auch die verbreitetere ist. Die französische Form hat
nichts befremdliches, da wie bekannt künstlerische und technische Bautradition
auf das nördliche Frankreich hinweisen. Dagegen ist völlig unerwiesen, daß
es überhaupt solche Politores, die entweder die feinere Arbeit machten, oder an
die Werke der Gesellen die letzte Hand anlegten, gegeben habe.
Mehr als alles andere werden die Functionen des Pallirers, wie sie uns
in den Statuten vorliegen, seinen Namen erklären.
Der Pallir ist der Adjutant, und in seiner Abwesenheit der Vertreter des
Meisters. Es mag nahe gelegen haben, daß der Meister jüngere Leute, die
seine besonderen Schüler gewesen sind, zum Pallir befördert. Dagegen hat
die Satzung nun nichts, doch soll ein Diener, wenn er befördert wird, wenig¬
stens ein Jahr gewandert, auch seine Freisprechung rief erlangt haben.
Der Pallir hat die Gesellen auf ihr Fragen gütlich zu unterweisen, hat
darauf zu sehen, daß allweg richtig nach Richtscheit und Hohlmaß gearbeitet
wird. Er soll dem Gesellen willig den Stein vorlegen, anreißen und wohl
besehen, ob er recht und wohl gemacht ist. Er ist verantwortlich, wenn un¬
genau gearbeitet wird, und würde der Stein verhauen durch seine Schuld,
hat er dafür auszukommen. ^ Er hat die Arbeitszeit zu controlliren und Ver¬
säumnisse ins Buch einzutragen, — thut er's nicht, bezahlt er's selbst doppelt.
Dem Gesellen und Diener wird sein Versäumniß unten auf den Stein an¬
gemalt. Jeder Pallir soll morgens der erste sein auf dem Platze wenn man
ausschließt, und der letzte heraus, sei es Mittags oder Abends. Diese und
ähnliche Functionen charakterisiren die Thätigkeit des Pallirers. Der Leser
möge sich selbst ein Urtheil bilden ob es sich unter diesem Namen um einen
xolitvr, Feinarbeiter — Nacharbeiter handelt, oder nicht vielmehr eine
den Meister vertretende Aufsichtsperson, die parieren d. i. Sprecher genannt
wird.
Uebrigens geht alles in aller Form und streng nach Amt und Würden.
Ruft der Meister, so thut man mit der Glocke drei Schläge, ruft der Pallirer,
so schlägt man zweimal, sonst für gewöhnlich einmal. Kommt ein Wander¬
gesell, so hat er die Anwesenden in der Hütte mit folgendem Gruße anzu¬
reden: Gott grüße euch — Gott weise euch— Gott lohne euch — euch Ober¬
meister Erwiderung, Pallirer und euch hübschen (welches Epitheton sich nicht
aufs Gesicht, sondern auf das Benehmen zu beziehen pflegt) Gesellen. Darauf
soll der höchste in der Hütte sei es Meister oder Pallirer danken, damit er
sieht, wem er Ehre zu erweisen habe. Hierauf hat ihn der Geselle bei Na¬
men anzureden und dann Umgang zu halten und jeden zu grüßen. Ebenso,
wenn er sein Geschenk erhalten hat und weiter zieht, hat er Reihe um zu
danken.
Den dritten Zweck der Bauhütte, den öconomischen dürfen wir kurz ab¬
machen , da diese Tendenz der Hütte mit den allgemein zünftigen Einrich¬
tungen zusammenfällt. Hierher gehört die Einrichtung von Kranken-, Be-
gräbnißkassen und dergleichen. Doch geht die Hütte als Brüderschaft noch
über die Zunftverpflichtung hinaus. Wer um der Hütte willen irgend in
Kosten kommt, dem soll es aus der Büchse ersetzt werden. „Und wäre es auch, daß
einer in Kummer käme mit Gerichten oder mit anderen Dingen, das die Ord¬
nung berührte, da soll je einer dem anderen, es sei Meister oder Geselle Hülfe
und Beistand thun, bei dem Gelübde der Ordnung. Wie weit diese Beihülfe
ging, ist aus der Bestimmung zu ersehen, daß von jeder ordentlichen Bau¬
hütte, „wo ein Buch ist/' alle Jahre ein halber Gulden in die Büchse von
Straßburg zu zahlen war; solange, bis daß die Schuld bezahlt ward, die
Man in dieselbe Büchse schuldig ist. Woher diese Schuld stammt, ist nicht zu
ersehen. Doch läßt nachstehendes Statut auch die Deutung zu, daß Straß-
burg die Organisationskosten übernommen hatte und sich dieselben ratenweise
wiedererstatten ließ.
Hier wäre nun der Ort einige Bemerkungen über die Technik der Stein-
hauerei und den Bildungsgang der Meister anzuschließen. Es müßte interessant
sein zu erfahren, wie sie diejenigen Kenntnisse erwarben, die sie befähigten so be¬
wunderungswürdige Werke zu schaffen. Indessen ist leider auf diesem Gebiete
Ausbeute noch viel dürftiger als auf dem der Malerei.
Was zunächst das Handwerkszeug und die Werkzeuge betrifft, so ist zu
bemerken, was ja gar nicht so wunderbar ist, daß sich alles dies bis aus den
^amen und die Form fast unverändert bis auf die Gegenwart erhalten hat.
Das vorhin angeführte Steinmetzbüchlein nennt folgende Werkzeuge:
Zirkels Kunst und Gerechtigkeit,
Den on Gott niemand uslait
Das Winkclmos hat Kunst genug
^cum man es braucht an Ortes Fug.Der Masstab hat Kunst mannigfalt,
Wird auch gebrucht von jung vnd alt.
Die Wog ist gar hoch zu loben,
Die zeigt an den rechten Kloben.
Und Grabsteine, Siegel, Wappen und Denkmale zeigten uns die noch jetzt
übliche Form. Es werden außerdem abgebildet und genannt Kelle, Order,
(Spitzmeißel — der Name findet sich noch als ein Schuhmacherwerkzeug),
3weispitze, Schröteisen und Garbaffen.
Die heute gebräuchlichen Schablonen aus Zinkblech wurden damals aus
Holz gearbeitet und hießen Maßbretter. Zum Aufwinden der Steine brauchte
Man die noch bis in neuere Zeit üblich gebliebenen Scheeren, deren sichelför¬
mige Arme den Stein fassen, während an den oberen beiden Enden das Seil
befestigt ist. Ich erinnere mich auf einer Miniatur der romanischen Periode
^nen solchen Apparat gesehen zu haben und möchte in ihm die Lösung einer
^ehe hinreichend erklärten Erscheinung finden. Man trifft an alten romani¬
schen Bauten bisweilen jeden Quader in der Mitte mit einem eingehauenen
Punkte versehen. Dies kann weder eine Verzierung, noch auch, wie man
Annimmt, ein Nichtezeichen sein, da sie ziemlich unregelmäßig stehen. Sie
erklären sich aber dadurch, daß man den Haken zum Aufwinden des Steines
in dieses Loch einsetzte. Später, als man die Erfahrung gemacht haben mochte,
daß es einer solchen Marke gar nicht bedürfte, da, je schwerer der Stein war,
desto fester die Scheere zugriff, verschwinden die genannten Punkte.
Wenn wir in den Studiengang der Meister einen Einblick gewinnen
wollten, so müßten wir uns nach Studien, Bauplänen, Entwürfen umsehen.
Es sind aber derartige Dinge in so geringer Anzahl vorhanden, daß sie leicht
aufgezählt sind. Von einem alten Plane des Klosters Se. Gallen vom Jahre
820 dürfen wir absehen. da derselbe mehr Situationsplan ist als Bauzeich-
nung. Auch das in übrigem höchst interessante Skizzenbuch des Vilars von
Honecourt aus dem dreizehnten Jahrhundert ist ein wenig zu sehr skizzen¬
haft, um das wirkliche Wollen und Können daran ersehen zu können. Be¬
achtenswert!) sind die mit mathematischen und architektonischen untermischten
plastischen Studien, welche erkennen lassen, daß der architektonische Aufbau und
der plastische Schmuck aus denselben Händen hervorging.
Die älteste noch vorhandene Bauzeichnung sind hier die berühmten sechs
Baupläne des Domes zu Köln. Nächst ihnen sind am ältesten zwei Blatt
der Se. Veitkirche zu Prag. Es sind außerdem zu nennen Baurisse vom
Regensburger und Ulm er Dom, drei Blatt des nicht vollendeten
Thurmes des Domes zu Frankfurt am Main, drei Blatt vom Münster
zu Straßburg und eine Zeichnung des Stephansthurmes zu Wien-
Hierzu kommen als überaus werthvolles Material circa fünfhundert Zeichnungen
aus der Bauhütte zu Wien, welche sich jetzt im Besitze der k. k. Aeademie be¬
finden. Es sind dies Zeichnungen auf Papier oder Pergament von sehr ver¬
schiedenem Werthe, Risse, Facaden, Details, Bogenconstructionen, Säulen¬
füße, selbst Tabernakel und Monstranzen.*) Eine genauere Untersuchung
) Man gestatte nur einen kleinen Excurs. Es ist für die Ausbildung des Sloth velo
Kunsthandwerk von ziemlicher Bedeutung, aus welchen Künstlerhänden die Entwürfe hervor¬
gehen; ich meine ob aus den Händen des Kunsthandwerkers selbst, oder des Malers oder des
Architekten. Wer ein Lager von Goldschmicdesachen ansieht, kann finden, daß Architekten sich
in unseren Tagen auch gern mit Entwürfen zum Kunsthandwerk abgeben. Es ist alles mehr
oder weniger constructiv, Platten. Säulen. Ketten, Knöpfe höchst solid verankert und ver¬
zapft. Sehr schön! man bedauert nur die armen Ohren und Arme die solche Lasten tragen
sollen. Der praktische Goldschmied, der leider meist nicht zu componiren versteht noch seltener
aber die alten vortrefflichen Vorbilder kennt, würde dem Herrn Goldbaumeister leicht zeig-"
können, daß aus dem Material viel leichteres und graziöseres zu machen wäre als Construc-
twnen. die sich auch aus Holz ober Gußeisen herstellen ließen. Das ist ein offenbarer Mangel,
über den übrigens schon oft geklagt worden ist.
Auf diesen Gedanken wurde ich geführt durch die Beobachtung daß die kirchlichen
rathe, Kelche, Monstranzen, Tabernakel, Altaraufsätze u. s, w. der ausgebildeten gothisch-"
Periode durchaus gothisch-architektonisch construirt sind, so sehr, daß darunter der eigentlich-
Zweck acht leiten verkümmert wird. Zum Beispiel ist der Kelch der romanischen Zeit eine
flachgewölbte Schale die auf einem Schafte ruht, welcher in geschwungener Linie aus einer
derselben, die wir hier nicht anstellen können, würde nicht allein zur Kunst¬
geschichte, sondern auch zur Culturgeschichte der Kunst, welche uns hier be¬
schäftigt, interessante Details liefern.
Uebersehen wir aber das ganze Material, so müssen wir sagen, es ist im
Verhältnisse zu der überaus großen Menge der Bauten eine verschwindend kleine
Zahl. Woher kommt das?
Erstlich hat auch das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert seine Per¬
gamentpest gehabt, ich meine eine Zeit, in der man durch Abwaschen und
Neubeschreiben alter Pergamente unendlich viel kostbares Material vernichtet
hat. So mögen Zeichnungen, die nur einen vorübergehenden Werth zu haben
schienen, in großer Menge verbraucht worden sein. Zu Rheims z. B. giebt
es einen Palimpsest, welcher eine Zeichnung von 1270 erkennen läßt.
Zweitens aber — und hierauf ist der Hauptnachdruck zu legen — hat
man wohl überhaupt nicht soviel gezeichnet als man heute thut. Aber wir
Würden heutzutage, wenn dem Baumeister in Details freiere Hand gelassen
würde, besonders wenn es eine fest ausgebildete Baustyltradition gäbe, auch
Mit viel weniger Zeichnungen auskommen. So wird das Werk in Zeichnung
Und Modell bis aufs kleinste vollendet, so kann dem ausführenden Arbeiter
nichts überlassen bleiben, so hört die schaffende Thätigkett mit dem Momente
auf, als die Ausführung beginnt.
Anders damals. Der Meister gab in seiner Bauzeichnung eigentlich nicht
viel mehr als die leitende Idee an. Kapitäle, Sockel, Dienste, das Maß.
Merk schuf die Bauhütte während der Arbeit, zwar nach allgemeinen Direktiven
des Meisters, aber nach Conception des ausführenden Arbeiters. Anders
ließe sich die Mannigfaltigkeit der Details auch schwer erklären. Uebrigens
brauchte auch bei der viel geübten Styl-Tradition der Meister auch nicht viel
Mehr als das Stichwort zu geben um von seinen Helfern verstanden und
fecundirt zu werden. Dies vorausgesetzt ist klar, daß man mit wenig Zeich¬
nungen auskommen müßte. Setzen wir also den Fall, es handele sich um
^ne einschiffige Kapelle mit polygonen Chorschluß, so ist außer dem Grundrisse,
^n Höhenmaßen und einem Wand-Pfeiler nebst Gewölbebogen nichts wesent¬
liches nöthig.
Man hat in vielen größeren Kirchenbauten beobachtet, daß sich Unge-
nauigkeiten in den Winkeln und Maßen findet und hat diese mit der Unzu¬
länglichkeit der Maßwerkzeuge zu erklären gesucht. Das mag in vielen Fällen
zutreffen; wo aber die Abweichungen z. B. des Chors aus der Längenaxe so deut¬
lich ist wie in der S ebaldkirche zu Nürnberg, dem Dom zu Erfurt, der
Stadtkirche zu Wittenberg u. a. müssen wir nach einer anderen Erklärung
suchen. Es kommt bei allen diesen Kirchen hinzu, daß das Chor einer an¬
deren Bauzeit angehört als das Schiff. Es ist wohl möglich, daß man mit
der alten Längenaxe nicht genau die östliche Richtung getroffen zu haben
glaubte und darum absichtlich die Hauptrichtung der Kirche änderte. Möglich
auch, daß locale Hindernisse dabei mitgewirkt haben. Jedenfalls dürfte sich
verlohnen zu untersuchen, ob nicht die von der ursprünglichen Längenachse
abweichenden Theile jüngerer Zeit als der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts,
in welche Zeit das Bekanntwerden der Magnetnadel fällt, angehören, und ob
die neuerdings beliebte Richtung nicht den Ostpunkt genauer trifft als die
ursprüngliche.
Den Bauhütten gegenüber stehen die zünftigen Steinmetzen unter ihrem
„Stadtmeister". Sie sind vielfach, wie wir das bei Tischlern. Malern und
Glasern schon früher einmal zeigten, mit anderen ihnen verwandten Hand¬
werkern, den Denkern, Maurern und anderen Bauhandwerkern zu einer Zunft
vereinigt. Ein solches Zunftstatut der Steinmetzen, Maurer und Decker 6o
anno 1514 (Verhandlungen des hist. Vereins von Oberpfalz und Regensburg
XVI. S. 193 f.) zeigt uns das Bild einer richtigen städtischen Zunft. Darum
nehmen in ihnen die Verpflichtungen, die der Theilhaber der Ordnung als
Bürger der Stadt zu erfüllen hat, eine hervorragende Stellung ein. Eheliche
Geburt und ehrliches Herkommen, Lehrjahre und Meisterstück sind Vorbedin¬
gungen zum Bürgerrechte. Auch soll der nicht verheirathete sich und andern
zum frommen eine wohlgeläumte Person heirathen. Als Bürger hat er sich
Wehr und Waffe anzuschaffen, einen Krebs, ein Krägel, ein Hirnhäubel und
zwei Harnasch-Handschuhe.
Die Zunft im Ganzen wiederum steht nach Sanctionirung ihrer Ord¬
nung durch den Kaiser unter dem Hansgrasen und den zwölf städtischen
Sitzern des Rathes. Es darf keine Versammlung gehalten werden ohne
Wissen des Rathes.
Aus der langen Reihe allgemein-zünftiger Bestimmungen, welche wie über¬
all die Gesellen-, Concurrenz- und Casfenfragen behandeln, heben wir nur
diejenigen heraus, welche sich aufs Meisterstück beziehen, da in der Ordnung
der Bauhütte von einem Meisterstücke nichts verlautete, und die Wahl des
Meisterstückes nicht ohne Interesse ist.
Er soll von alledem eine Zeichnung zu machen verstehen die der Sachen
Gestalt giebt, wenn er nicht vorzieht, die Auflösung im Modell vorzulegen.
Das Urtheil der Gildemeister über das Meisterstück soll dem Hansgrafen mit-
getheilt werden.
Man sollte eigentlich voraussetzen, daß die Beziehungen zwischen diesen
Stadtzünften und der Bauhütte gespannte gewesen seien; indessen ist dies
wenigstens aus den gesetzlichen Bestimmungen nicht zu erkennen. Vielmehr
find beiderseitig, seitens der Hütte und der Zunft nicht nur keine Beschrän¬
kungen, sondern Erleichterungen des Verkehres eingerichtet. Die Bauhütte
bestimmt: Welcher Meister auch noch nicht in der Ordnung der Werkleute ist,
Züge da ein Geselle zu einem solchen Meister, der Gesell soll darum nicht
strafwürdig sein. Desgleichen züge auch ein Gesell zu einem Stadt-
weister oder zu einem anderen Meister, mag der dort gefördert
Werden, das mag er wohl thun — nur daß der Geselle nicht desto weniger
Ordnung halte. Und die Zunft setzt fest:
Die Meister dürfen einheimische und fremde Gesellen fördern; doch hat
der letztere gleich den ersteren den Wochenhälbing in die Kasse der Bruder-
zu zahlen. Fremde Gesellen in der Domhütte sind von der Ordnung
eximirt — „wie dann von Alters Herkommen ist" ... auch in Lehrjahren und
Gesellenordnung heißt es: „einem Thommeister der Thomarbe're halben in den
Stücken vnuergriffen."
Die Functionen eines „Stadtbaumeisters" als städtischen Beamten be¬
stehen zunächst in der Ausführung aller kleineren Rathsbautem der Reparatur
und baulichen Aufficht der städtischen Gebäude, der Aufstellung der Tribünen.
Ehrenpforten und des übrigen bei Festen erforderlichen Apparates, endlich
in der Ausübung eines Theiles von Straßenpolizei. Es lag ihm nämlich
unter anderem ob, durch seine Leute die Sperrung der Straßen, was bei be¬
sonderen Gelegenheiten, Festen unruhigen Zeiten und Nachts nach Polizei¬
stunde durch vorgehängte große Ketten geschah, zu besorgen. Unter diesem
Stadtbaumeister ist also ein zünftiger Meister, der in städtischen Dienst getreten
ist, zu denken.
Natürlich liegt der städtischen Zunft ob, auch die Grenzregulirungen bei
Uebergriffen von verwandten Zünften zu besorgen. Letzteres sind z. B. Bild¬
schnitzer, welche durch ihre Beschäftigung mit plastischen Werken in Holz wohl
auch darauf geführt wurden den Steinmeißel zu schwingen. Dieser Uebergriff
ist verboten: Wenn Bildschnitzer, die in Steinwerk nicht gedient haben, Stein¬
werk arbeiten, so soll ihnen kein Meister und Geselle helfen. Doch darf er
Bildwerk, Grabstein, Schild und Helm hauen, dazu ihm denn einer (nämlich
Gesell) vergönnt werden soll. Aber Thür, Fenster, Sacramenrsgehäus oder
Gewölb ist ihm verboten.
Ebenso kam es vor, daß Maurer, die zu ihren Bauten erforderlichen
Steinmetzarbeiten selbst anfertigten. Dies ist gleichfalls untersagt, so weit
es sich nicht um Reparaturen handelt — letztere sollen sie ausführen dürfen.
Unter den zünftigen Steinmetzen haben wir jene Meister zu suchen, deren
unübertreffliche Altarwerke. Kanzeln, Sacramentshäuser und Grabsteine wir
noch heute bewundern. Es sind dies Kirchenausschmückungen, die selten mit
dem Bau des Gebäudes gleichzeitig ausgeführt wurden; vielmehr pflegen sie
als Verschönerungen von den Kirchenvorständen oder als fromme Stiftungen
von Privatpersonen ganz in gleicher Weise in Contract gegeben zu werden,
wie wir dies früher schon einmal von kirchlichen Malereien schilderten.
Es wird nicht uninteressant sein in dem Beispiele eines berühmten
Werkes durch den auszugsweise mitgetheilten Contract zu zeigen, wie detaillirt
nicht allein Preis und Lieferzeit, sondern auch die künstlerische Ausführung
contraclich festgestellt wurde.
Das mitzutheilende Document bezieht sich auf das berühmte Sacraments-
haus Adam Crafts in der Lorenzkirche in Nürnberg, welches von Hans
Jmhof laut Abred und Gebirg vom Pfintztag an Se. Marxtag 1493 dem
ebengenannten Meister zur Ausführung übertragen wurde.
Da dem Contracte keine ausgeführte Bauzeichnung sondern nur eine Skizze
zu Grunde liegt, werden die folgenden Bestimmungen ausdrücklich festgestellt.
Bekanntlich besteht das Kraft'sche Sacramentshaus aus einer Art niedriger
Tribüne, welche von gothischen Bogen und den knieenden Gestalten des
Meisters und zweier Gesellen getragen wird. Aus der Mitte dieser Tribüne
erhebt sich der Weihbrodschrank in vierseitiger aus seinen Ecksäulen und
Fensterwerk bestehenden Gestalt. Hierüber steigt die künstlich ausgearbeitete
Pyramide in höchst schlanker Form bis zu einer Höhe von vierundsechzig
Fuß empor.
Hiernach wird das folgende keine Erklärung weiter bedürfen.
Der Fuß soll ausgeführt werden „werklich doch nicht köstlich von Arbeit".
Darüber ein Gang mit zwei Stiegen, „welche Stiegen und Gang mit samt
allen Gelehnen subtil werklich ausgegraben und fast wohl gemacht werden
sollen." Folgt die Beschreibung des Corpus des Sacramenthauses mir den
drei Eingängen (nämlich vorn und rechts und links an der Seite, während
die Rückwand am Pfeiler lehnt). Hier werden als Skulpturen angebracht
Maria und Gabriel, oben Gott Vater in einem Gewölk mit Eingießung
Gottes des Sohnes. Ueber diesen drei Materien ein hübscher wohlgemachter
wohlgekleideter Auszug mit aller Zubehörung. Darauf die Geißelung mit
den zubehörenden Possen der Juden, Pilatus und Eccehomo mit zugehörenden
Gedräng der Juden; Beurtheilung mit einem zu gebührenden Gedräng. Da
dies Werk sich höher befindet, braucht es nicht so subtil gemacht zu werden
als das untere. Ganz Oben ein freier Auszug; darin Christus am Kreuz
nebst Johannes, Maria und Magdalena.
Der Meister soll „stetig verbunden sein mit sein selbs Leib zu ar¬
beiten und zusamt ihm bestellen vier, auf das mindeste drei Gesellen
redlich und künstlich zu solcher Arbeit". Zu seinen anderen Arbeiten und
zur Unterweisung seiner Gesellen soll der Meister täglich nur eine Stunde
verwenden, es wollte es ihm denn Jmhof verstatten. — Der Stein wird ihm
geliefert. Die übrigen Kosten hat er selbst zu tragen. Doch sagt betreffs
des Gerüstes der Stadtbaumeister zu Se. Lorenzen Hülfe zu.
Das Werk soll in drei Jahren vollendet sein und 700 si. kosten, welche
Summe Jmhof gehalten ist dem Meister zu zahlen, „wo er anders erkennen
kann, daß er solches an dem Werk verdient hab." Im Streitsalle soll ein
Schiedsgericht entscheiden; doch soll der Preis keinesfalls über 700 si. steigen.
Was sagt der geneigte Leser zu solchem Contract? Mir scheint er ge¬
mäß dem Charakter der Zeit, etwas hausbacken aber für den Künstler doch
viel handlicher und erfreulicher als das jetzt beliebte Chicaniren mit Con-
wrrenzen, bei denen doch bisweilen Menschliches zu geschehen pflegt, wenn nicht
die gesammte Leistung als „schätzbares Material" zu den Acten genommen
wird — mas auch vorkommt.
Einer zweckentsprechenden Reformarbeit, durch welche angemessene neue Be¬
schäftigungen ermittelt werden könnten, steht ein erst in neuerer Zeit aufgetauchtes
und Mode gewordenes Vorurtheil im Wege, welches die Frauen überhaupt
in ihrer Beschäftigung auf die Hauswirthschaft beschränken möchte. Die An¬
hänger dieser Richtung bewegen sich entweder in dem beschränkten Ideenkreise einer
bestimmten Berufs-Classe oder überhaupt in so kleinstädtischen Anschauungen,
daß sie die Bedürfnisse der Frauen in Beziehung auf Erwerb und Unterhalt im all¬
gemeinen z. B. nach den Verhältnissen der Frauen und Töchter der Beamten
beurtheilen. Die Vertreter dieser Richtung scheinen gar nicht zu wissen, daß bis
in den Anfang unseres Jahrhunderts hinein sämmtliche Frauen mit Ausnahme
der reichen im Hause strickten und spannen und überhaupt gewerbliche Erzeugnisse
herstellten, ja daß heute noch die große Mehrzahl der Frauen als Gehilfinnen
des Haushaltungsvorstandes in dessen Berufsarbeit thätig sind, sei es daß
sie, wie bei den Bauern, in der Landwirthschaft mithelfen, sei es daß sie ge¬
wisse Verrichtungen bei den Handwerken übernehmen, in Läden den Verkauf,
die Buchführung oder die Casse besorgen. Es handelt sich also bei der um¬
fangreicheren Einführung der neuen Hausindustrie nicht einmal um eine Na-
dikalreform, sondern nur um einen Ersatz und um eine Nachhilfe in einer
längst bestehenden, in ihren Verhältnissen nur etwas veränderten socialen
Einrichtung.
Es muß anerkannt werden, daß bereits die Gesetzgebungen vieler Länder
sich sowohl von diesem Vorurtheil freigehalten haben, als auch manche Staaten
große Anstrengungen im Interesse der Einführung und Verbreitung der neuen
Hausindustrie gemacht haben.
Bei der bekannten Indolenz der Landbevölkerung muß in Beziehung auf
die Verbreitung der neuen Hausindustrien der Regierung eine weitgehende
Initiative zugewiesen werden. In manchen Fällen kann dieselbe im Interesse
des allgemeinen Wohles sogar noch weiter gehen als die Pflege der Erziehung
überhaupt, mit welcher die Pflege der Gewerbe eigentlich einen Hauptberüh¬
rungspunkt hat. Es muß nämlich im Auge behalten werden, daß die Quelle
des Nationalwohlstandes weniger im beweglichen und un¬
beweglichen Vermögen als in der Bevölkerung selbst liegt und
daß das Nationaleinkommen durch sorgfältigere Erziehung, durch bessere tech¬
nische und wissenschaftliche Ausbildung leicht um das Doppelte und Mehr¬
fache gesteigert werden kann. Es läßt sich unter solchen Umständen leicht
begreifen, welche fruchtbaren Keime eine Regierung in ihr Land legen kann,
wenn sie seiner Bevölkerung die bewährten gewerblichen Erfahrungen aller
civUisirten Nationen sammelt und zugängig macht. Die Wahl des für eine
Gegend passenden Geschäftszweiges der neuen Hausindustrie muß einzelnen
Unternehmern oder Menschenfreunden überlassen werden, allein die Bildungs¬
mittel müssen vom Staat und der Gemeinde geboten werden, die Anregung
Muß von oben ausgehen.
Wir haben schon vor einem Jahr den Gedanken angeregt, wie nützlich
ein Lesebuch für die Gewerbeschulen oder sogar für die Volksschulen sein
würde, welches das Wesen der neuen Hausindustrie darlegen und damit die
Schilderung der hauptsächlichsten bereits glücklich durchgeführten Hausindustrien
in den verschiedenen Ländern Europas verknüpfen würde. Würde man damit
die Schilderung der Laufbahn einiger großer Erfinder verflechten, die sich von
der Pike auf emporgeschwungen — Vorbilder wie sie Sinnes den Englän¬
dern geliefert hat*) — wer weiß wie manches schlummernde industrielle
Genie durch solche Beispiele geweckt, erzogen und zu selbständigen Erfindungen
und Unternehmungen gebracht, oder zur Einführung von Hausindustrien ver¬
anlaßt werden könnte. War doch der Begründer der Uhrenindustrie im Jura
ein armer Bauernsohn! Wurde nicht erst in neuerer Zeit die Wiener Hut-,
Schuh- und Kleiderfabrikation von kleinen Leuten zur Exportindustrie auf
dem Weltmarkt erhoben? Nichts senkt fruchtbareren Samen in den Geist des
Kindes als vorausleuchtende Beispiele.
Fassen wir das Wesen der neuen Hausindustrie zusammen so erhalten
Wir folgendes Bild:
1. Dieselbe zerfällt in Gewerbe, welche in den Städten, und in solche
welche auf dem Lande betrieben werden.
2. Bei beiden Gattungen sind es entweder große Fabrikanten oder Gro߬
händler, welche die Unternehmungen für eigene Rechnung führen.
3. Die ersteren lassen entweder nur Theile ihrer Erzeugnisse von den
Arbeitern zu Hause anfertigen und verwenden dieselben dann zur Vervoll¬
ständigung der in ihren geschlossenen Etablissements mittelst Maschine ange¬
fertigten Theile oder sie setzen die von den Arbeitern zu Hause gemachten
Theile in ihren Anstalten zusammen. In dem einen Fall liefern sie das
Material, in dem anderen seltneren überlassen sie auch die Besorgung des
Materiales den Arbeitern. Bei der Uhrenindustrie im Jura z. B. beschäf¬
tigen sich die Fabrikanten und Großhändler in der Regel nur mit der Zu-
sammensetzung der von einzelnen Ardeitergruppen angefertigten Theile. Die
Theilung der Arbeit ist dort so groß geworden, daß das Uhrengewerbe wieder
in 120 specielle Beschäftigungen zerfällt, daß jeder Bestandtheil der Uhr von
besondern Arbeitern gemacht wird und manche Theile sogar durch die Hände
verschiedener special - Arbeiter laufen. Bei der Textil ° Industrie, wo
sie sich auf Hausindustrie gründet, wird in der Regel das Garn von den
Spinnereien oder den Großhändlern an die einzelnen Handweber, welche zu
Hause arbeiten, geliefert. Die fertige Waare wird stückweise abgeliefert und so¬
fort bezahlt, während der Unternehmer das Risico des Verkaufes auf dem Markte
übernimmt — bei den Tabletteriewaaren (Zahnbürsten, Fächer, Kämme ze. :c.)
stellt der Hausindustrielle in der Regel das Product für eigene Rechnung her
und verkauft es gegen baar an den Großhändler, welcher den Absatz auf dem
Weltmarkt übernimmt.
4. In den Städten oder dicht bevölkerten Districten, bürgern sich in der
Regel solche Gattungen von Hausindustrie ein, welche größere Kunstfertigkeit
oder Theilung der Arbeit erfordern, welche complicirr sind, oder mannig¬
fache Hilfsmittel brauchen. Dahin können wir z. B. zählen die Messer-
und Werkzeug-Industrie in Sheffield und Sohlingen, die Herstellung von
Kleidungsgegenständen in Paris, London, Berlin und Wien, die Spielwaaren¬
fabrikation in Nürnberg und Paris. Hier sind es gewöhnlich Handwerks¬
gehülfen und kleine Meister, welche von Unternehmern, meist Großhändlern,
beschäftigt werden. Dieselben müssen natürlich viel billiger arbeiten, als wenn
sie ihre Producte selbst verkaufen würden, aber dafür haben sie kein Risico
zu tragen und genießen überdieß den Vortheil einer möglichst sicheren, stän¬
digen Beschäftigung.
5. Von weit größerer Wichtigkeit und Bedeutung ist die auf dem Lande
betriebene Hausindustrie, weil sie die Bestimmung hat, als Ersatz für die alte
Hausindustrie, insbesondere für das Spinnen, zu dienen und weil sie überhaupt
dazu bestimmt ist, die Ausnutzung der durch die landwirtschaftliche Beschäf¬
tigung nicht ausgefüllten Zeit zu bewerkstelligen. Sie dient so zur Vermeh¬
rung des Erwerbes, sei es, daß die Landwirthschaft oder die Hausindustrie
als hauptsächliche Beschäftigung betrieben wird. Beide Beschäftigungen ver¬
einigen sich deßhalb sehr gut, weil die landwirtschaftliche Verrichtung ab¬
hängig, die gewerbliche unabhängig von dem Wetter ist, so daß auf die letztere
eben nur die bei der Landwirthschaft nicht verwendbare Zeit abfällt.
6. Beide Beschäftigungen bilden eine Art gegenseitiger Versicherung. Tritt
in der Landwirthschaft ein schlechtes Jahr ein, so bietet der Ertrag der Haus¬
industrie, welcher dann auch größere Aufmerksamkeit geschenkt werden kann,
einen gewissen Ersatz; und stockt wegen schlechter Handelsconjuncturen der ge-
werbliche Verdienst, so hat die Familie aus der Landwirthschaft wenigstens
das Nöthige, um sich vor Mangel zu schützen.
7. Durch die Hausindustrie kann die Thätigkeit sämmtlicher Familien¬
mitglieder, auch der Kinder und Greise besser ausgenützt werden. Bei ihrem
regen Nachahmungstrieb lernen die Kinder schon von der frühesten Zeit an
spielend die nöthige Fertigkeit und können schon früh anfangen, in ihren von
den Schulpflichten freien Stunden zum Verdienste der Familie beizutragen.
Trotz der in der Schweiz strenge eingehaltenen Schulpflicht ermöglichen es
Kinder von zehn bis zwölf Jahren schon täglich 40 bis 80 Pfennige zu ver¬
dienen. Statt einer Last, sind dort Großeltern oder kränkliche Verwandte
eher von Vortheil, weil sie die kleinen Kinder überwachen und die leichteren
Haushaltungsarbeiten besorgen können, während die Hausfrau im Felde,
Garten oder in der Werkstätte mithilft. Die schwierigeren landwirtschaft¬
lichen Arbeiten werden von den männlichen Mitgliedern der Familie ver¬
richtet, bei der Ernte helfen alle Hände zusammen, während der Regen die
Werkstätte bevölkert.
8. Ein wesentlicher Vortheil besteht in der außerordentlichen technischen
Geschicklichkeit, welche sich eine solche Bevölkerung, bei der eine Hausindustrie
eingebürgert ist, von Jugend auf durch das tägliche Beispiel unmerklich er¬
worben und die von Geschlecht zu Geschlecht weiter vervollkommnet wird. Die
gewerbliche Fertigkeit geht da gleich der Sprache spielend von den Eltern auf
die Kinder über und wird ohne Lehrgeld unter der Bevölkerung ganzer Ge¬
genden verbreitet, während junge Leute, die aus einer anderen Sphäre hinein¬
kommen, dieselbe Uebung sich nur mit vieler Mühe, mit großem Zeit- und
Kostenaufwand aneignen.
9. Der Hauptvortheil der Großindustrie, die Theilung der Arbeit, kann
bei der Hausindustrie in eben so großem, vielleicht noch in größerem Maße
durchgeführt werden, als in großen geschlossenen Anstalten.
10. Der Arbeitsertrag erhält eine größere Stetigkeit, was sowohl für die
Arbeiter als für die Arbeitgeber von Nutzen ist. Durch die feste Ansässigkeit
der Arbeiter wird ihr Interesse enger mit dem des Unternehmers verknüpft.
Sie werden nicht gereizt, in günstigen Conjuncturen zu hohe Forderungen zu
stellen, weil der Unternehmer sie in ihrem Hause aufsucht und es schwer ist
ein neues Verhältniß anzuknüpfen, wenn das eine plötzlich gelöst wird. Auf
der anderen Seite sind die Hausindustriellen durch ihre landwirtschaftlichen
Borräthe vor dem Leos bewahrt, von der Hand in den Mund zu leben
und deshalb nicht genöthigt in unbillige Forderungen der Arbeitgeber zu
willigen.
11. Da die Hausarbeiter nur nach dem Stück bezahlt werden können, so
haben sie einen weit größeren Antrieb ihre Zeit vollständig auszunützen, ihre
Geschicklichkeit auszubilden und ihre Production mit allen jenen neuen Vor¬
theilen zu betreiben, welche sich ihnen darbieten. Dadurch erzielen sie auch
wieder einen höheren Arbeitsertrag.
12. Die Hausindustrie übt sowohl in hygienischer als moralischer Be¬
ziehung eine vortheilhafte Wirkung aus. Durch die Abwechselung der Be¬
schäftigung bei gutem Wetter im Freien, bei schlechtem im Zimmer, wird ein
der Gesundheit zuträglicheres Leben geführt. Da der Besitz sparsam macht,
so fördert das kleine landwirthschaftliche Eigenthum die ökonomische Ver¬
wendung des Verdienstes. Während der aus der Hand in den Mund lebende
Arbeiter in der Regel nur eine Schlafstelle besitzt, die oft nur aus einem
elenden Loche besteht, welches ihn nicht reizt, länger darin zu verweilen, als
es zur Wiederherstellung der Kräfte unumgänglich nothwendig ist, deshalb
seine freie Zeit meistens im Wirthshause zubringt und da seinen ganzen
Verdienst verpraßt und statt einen Nothpfennig zurückzulegen oft noch dazu
Schulden macht, hat der Hausarbeiter auf dem Lande meist sein vom Vater
vererbtes Haus und Grundstück, die ihm schon durch die Gewohnheit von
Jugend auf eine liebe Heimstätte geworden sind. Zudem ist ihm die Werk¬
stätte und die in seiner Beschäftigung mitwirkende Familie eine viel reichere
Quelle der Unterhaltung, als das Wirthshaus. In solchen Verhältnissen
gehören Leute, die einen „blauen Montag" machen, schon zu den allerselten-
sten Ausnahmen. In dieser Lage werden die Arbeiter vielmehr durch die
innere Natur ihres Verhältnisses veranlaßt, Ersparnisse zurückzulegen und zur
Erweiterung und Verbesserung ihrer Wirthschaft zu verwenden.
Hält es in den meisten Fällen auch schwer, eine neue Hausindustrie in
einer Gegend einzuführen und sind dazu außerordentliche Bemühungen von
Staat und Privaten erforderlich, weil die Masse der Bevölkerung selbst wegen
ihrer bekannten gewohnheitsmäßigen Indolenz sich selten zu einer selbstän¬
digen Initiative aufrafft, so ist dabei doch wieder auf der anderen Seite die
Genugthuung zu finden, daß eine Gegend, in welcher es einmal gelungen ist,
eine neue Hausindustrie einzuführen, dieselbe dann selbständig fortbetreibc
und mit ihrer Hilfe zu Wohlstand und Bildung sich emporarbeitet. Jeder
gelungene Versuch wirkt dann als Beispiel zur ferneren Nachahmung und
so baut sich allmählich zeitenweise das Glück eines ganzen großen Lan¬
des auf.
Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes wäre es sehr wünschenswert!),
wenn der internationale statistische Congreß die Aufnahme einer Statistik der
alten und neuen Hausindustrie in den verschiedenen Ländern Europas an¬
regen würde. Dadurch würden die Regierungen Auskunft darüber erhalten.
wie viele Ueberbleibsel der alten Hausindustrie noch gepflegt werden und wie
viele Keime des Hausgewerbes der Zukunft bereits gelegt und entwickelt find.
Es würde dadurch die nothwendige Basis für die Beurtheilung der bestehen¬
den Verhältnisse und für die von den Regierungen zu ergreifenden Ma߬
regeln geschaffen.*)
Dem Grundsatze getreu, „Kxemxlg, äoeent,«, habe ich Ihnen in meinem
letzten Briefe ein Beispiel von der hochgepriesenen französischen „Duldsamkeit"
gegen die deutsche Sprache als Schul- und Umgangssprache im Elsaß mit¬
getheilt. Dieses Beispiel steht aber nicht vereinzelt da. Nach derselben. Me¬
thode war in allen größern und kleinern Städten und Ortschaften des jetzigen
Reichslandes den Schulkindern das Deutschsprechen stritte verboten, sogar auf
der Straße. Zuwiderhandlungen wurden streng geahndet durch Verweise, nach¬
sitzen und selbst Geldstrafen. Zeuge davon ist die jetzt lebende, durchschnittlich
nur nach französischem Zuschnitt und in französischer Sprache herangebildete
Generation. Waren doch selbst die deutschen Klassiker verpönt, außer Schiller
und Goethe die weniger Berühmten nur den höher Gebildeten, die sich aus¬
nahmsweise dafür interessirten, nach Namen und Werken bekannt. Die
deutsche Sprache oder vielmehr das Elsässer „Deutsch" blieb nur den untern
Klassen geläufig und beliebt, in den höheren meist nur im Schoße der Familie
und im engern Freundeskreise. So ging man während der französischen
Aera der beiden letzten Menschenalter mit diesem kostbarsten National-
eigenthum des schwäbisch-alemannischen Volksstammes diesseits der Vo-
gesen um.
Da sind denn doch die „Schwaben" in diesem Punkte etwas gemüth¬
licher - das müssen die Elsässer nolevs volens anerkennen, wenn sie nicht
gar zu verwelscht und verbissen sind. Zwar ist das Französische in den Un¬
terschulen als obligatorischer Unterrtchtsgegenstand verbannt, in den mittlern
auf ein Minimum reduzirt, aus guten und genügend bewiesenen Gründen.
Aber darum ist es den Schulkindern doch nicht verwehrt, zu Hause und auf
der Straße und selbst in den Zwischenpausen der Schule ihr schlechtes Fran¬
zösisch, das den gebornen Franzosen ein Greuel und den Deutschen ein
Aergerniß ist, zu plappern nach Herzenslust. Gefehlt mag wohl in diesem
Punkte von den untern Organen hier und da einmal werden; und mancher
gestrenge Dorfschulmonarch mag auch in Sachen des Deutschsprechens hier und
da des Guten etwas zu viel thun nach französischer Schablone. Aber im
Großen und Ganzen sind das Einzelheiten und können dem Systeme und der
Schulverwaltung als solcher nicht zur Last gelegt werden. Doch will ich zu
Nutz und Frommen meiner Leser und da ich als Jünger Justinian's dem
goldenen Sprüchlein huldige „anäiatur ot trlterg. p-u-L", auch in dieser Rich¬
tung ein Histörchen erzählen, wie ein oberelsässisches Dorfschulmeisterlein es
kurz nach dem Kriege in live citsu gemacht und wie er dabei — hinein¬
gefallen ist. Ich habe das höchst erbauliche Geschichtchen aus dem Munde
des betr. Schülers selbst, der damals 14 Jahr alt war, jetzt aber der Schule
entwachsen ist.
Jedermann hier im Elsaß, Schwob' wie Altelsäsfer, weiß, was er von
dem sog. Elsässischen Lesebuch für die Oberklassen der Elementarschulen ?c. zu
halten hat. Es thut mir leid, es sagen zu müssen — aber auch die zweite
Auflage dieses Lesebuchs taugt nach Inhalt, und Form nicht sehr viel, wiewohl
darin nach dem Rath der vielgenannten „Briefe aus dem Elsaß" in der
A. A. Z. Manches gestrichen und geändert worden ist. Die deutschen Päda¬
gogen, welche dieses Lesebuch verbrochen haben, mögen mir diesen Tadel zu
gute halten. Aber ich kann ihn um so weniger vorenthalten , als derselbe
schon mit Rücksicht auf den höchst mangelhaften und rohen Einband und die
unsystematische Systematik des Buches gerechtfertigt erscheint, namentlich aber
im Hinblick auf den höchst überflüssigen historischen Anhang zu demselben.
Daß darin die Revolution von 1789 nichts Anderes ist, als „der jacobinische
Terrorismus, die Guillotine und die Massenhinrichtungen von Paris, Nantes
u. s. w." — eine Darstellung, wie sie etwa „ein eingefleischter clerical-franzö-
sischer Legitimist von der Coblenzer Armee des Prinzen von Conde'" besonders
empfehlen würde — das ist schon von dem verständigen Verfasser der ge¬
nannten „Briefe" des genauern hervorgehoben worden. Auf den sechs letzten
Seiten dieses famosen Anhanges ist des Langem und Breitern die Geschichte
des „deutsch-französischen Krieges von 1870 — 71" behandelt. Die Fran¬
zosen, zu denen ja damals auch noch die Elsaß-Lothringer gehörten, sind
da, wie selbstverständlich, immer der „Feind" genannt, dem dort verschie¬
dene Kanonen und Geschütze, hier mehrere Tausend Gefangene abgenommen
werden, von den „siegreichen Helden". Namentlich aber in dem 1. Kapitel
von „des Krieges Anfang", wo die Schlacht bei Weißenburg geschildert wird,
in der bekanntlich auch mancher Elsässer als „Zuave" oder sonst den Heldentod
gefunden, begegnet dem harmlosen Leser fast in jeder Zeile dieser abscheuliche
„Feind". Der patriotische Schulmeister in dem obereljässischen Städtchen nun,
von dem ich erzählen will, war auf diesen überaus herrlichen Anhang so sehr
verpicht und versessen, daß er in der obersten Klasse seiner Elementarschule
das ganze Jahr hindurch, wie gesagt, kurz nach dem Kriege, diesen Anhang —
und nur diesen Anhang, worin der „Feind" so garstig wüthet, lesen und
wiederlesen ließ. Die Schüler mußten ihn sogar Seite für Seite wörtlich
auswendig lernen. Einer der begabtesten dieser Schüler, — eben mein Ge¬
währsmann — dem bei Weißenburg eine Kanonenkugel zwei Brüder er¬
schossen hatte und der in dem betr. Kapitel schon zum dritten Mal dem „Feind"
begegnet war, wirft plötzlich laut weinend das Buch aufs Pult und sagt:
..I las' nimmer!" ..Warum denn nicht?" fragt der erstaunte Schultyrann.
Der Knabe antwortet nicht, sondern weint bitterlich. Der Lehrer wird hef¬
tiger und droht sogar mit Kopsnüssen. Endlich bringt der Knabe es heraus:
»Weil — weil da immer vom „Feind" die Rede ist; und ich kann doch nicht
meine eigenen Brüder stets so tituliren!" War das nicht triftig? Am andern
Tage mußte der arme Junge aber doch wieder das Stückchen vom „Feind"
deklamiren.
Einen guten Griff hat die reichsländische Schulverwaltung damit gethan,
daß sie trotz aller anfänglichen Seufzer und Lamento's, aller Thränen und
Jeremiaden die Schulbrüder und Schulschwestern sans ka^on ihrer Pflichten
enthob und deren Aemter, wenigstens in den größern Städten, weltlichen
Lehrern und Lehrerinnen übertrug. Zwar haben namentlich die letztern, meist
junge, alleinstehende Mädchen von drüben, sehr viel zu leiden von allerhand
boshaften Klatschereien und Gerüchten, die mit Vorliebe von einer Partei im El¬
saß colportirt werden, welcher diese Persönlichkeiten aus Prinzip „contre coeur«
sind und die dem unfehlbaren Grundsatze huldigt: Verläumdet nur nach
Noten, es bleibt doch schließlich etwas hängen. Wer sich die Sache aber ge¬
nauer betrachtet, muß sagen, daß an all diesen böswilligen Gerüchten und
Verläumdungen feiler Lästerzungen meist nicht ein wahres Wort ist und mir
gerne zustimmen, wenn ich meine: Respect vor diesen muthigen Jüngerinnen
der Wissenschaft, die trotz der Schwierigkeiten, die man ihnen absichtlich in
den Weg legt und trotz der Mühen und Nöthe, welche ihr wenig beneidens-
werther Beruf mit sich bringt, treu und wacker ausharren auf ihrem Posten
und ihrem Amte in jeder Beziehung gewachsen sind. Sie selbst aber braucht
Man wohl kaum noch an den alten Trost zu erinnern: „Die schlechtsten
Früchte sind es nicht, woran die Wespen nagen."
Das eine Axiom ist durch unser Jahrhundert und den aufgeklärten Geist
der Neuzeit festgestellt und bis zur Evidenz erwiesen: Die Schule gehört dem
Staate und seinen Dienern. Er sei der alleinige Gebieter auf diesem Felde!
Der Ordensgeistliche, der das Leben nicht kennt, oder es höchstens nur durch
die Perspective seiner vier Klostermauern zu betrachten gelernt, hat in
diesen Pflanzstätten des bürgerlichen Lebens nichts zu schaffen,*) Maß und
Ziel sollte man aber auch in diesem Punkte halten. Denn hier vor Allem
gilt der Spruch des Weisen: ^»Mo Namentlich sollte man die Pfarr¬
geistlichkeit im Elsaß in ihrem meist humanen und toleranten Wirken unge¬
stört lassen. Eine Ausdehnung der preußischen „Kirchengesetze" auf das
Reichsland, wie dies von gewisser Seite vorgeschlagen worden ist, ein „Kul¬
turkampf" in diesem Genre, empfiehlt sich wirklich nicht hier zu Lande. Und
zwar aus zwei sehr einfachen Gründen: Erstens haben wir ihn nicht nöthig.
Denn der Einfluß der Pfaffen auf das Volk ist hier lange nicht so bedeutend,
wie sich dies manche reisende Gelegenheits-Correspondenten vielleicht einbilden
mögen; noch nicht zu einem Drittel so stark, wie beispielsweise in der preu¬
ßischen Rheinprovinz, der alten „Pfaffengasse des heiligen römischen Reichs"-
Wer hüben und drüben längere Zeit gelebt und sich um das eigentliche
Volksleben <zx xrotössv gekümmert hat, wie Schreiber dieser Zeilen, wird sich
darüber völlig klar sein. Zum Zweiten aber würde ein solcher Kulturkampf
hier auch nichts nützen. Denn ihm fehlte durchaus die Unterstützung und
die Sympathien der gebildeten Klassen der Gesellschaft aus naheliegenden
Gründen — ein Umstand, der der preußischen Kirchenpolitik in den Rhein¬
landen anerkanntermaßen zum Siege verholfen hat, oder doch über kurz oder
lang dazu verhelfen wird. Sogar der „Kanzelparagraph" des deutschen
Strafgesetzbuches macht hier zu Lande, wenn er einmal mit den Haaren her¬
beigezogen wird, um einem etwas redseligen Heißsporn auf der Kanzel ge¬
legentlich den Mund zu stopfen, durchschnittlich nur Ftasco. Dies möchten
die betreffenden Gerichtsverhandlungen an den hohen und höchsten Gerichts¬
höfen wohl zur Genüge darthun. Das Reichsland hat auch auf diesem
Gebiete — ich wiederhole es — einstweilen absolute Ruhe nothwendig
Wir wünschen unsre „Weihnachtsbücherschau" Anfang November zu be¬
ginnen, und bitten daher um baldigste Einsendung der zur Besprechung in
dieser Rubrik geeigneten Werke.
Am 17. September 1824 schrieb Beethoven an Schott in Mainz, der
in dieser letzten Zeit sein Hauptverleger ward: „Apollo und die Musen werden
mich noch nicht dem Knochenmann überliefern lassen, denn noch so vieles bin
ich ihnen schuldig und muß ich vor meinem Abgang in die Elysäischen Felder
hinterlassen, was mir der Geist eingiebt und vollenden heißt. Ist es mir doch
als hätte ich kaum einige Noten geschrieben!"
Die Geister waren nach der wenig gelungenen ersten Aufführung der
kurz zuvor geschaffenen Neunten Symphonie aufs neue gesammelt zu ernste¬
sten Thun und zu weiterem Schaffen frischer Muth gefaßt. Freilich von den
allumfassenden und recht eigentlich öffentlichen Leistungen seiner Kraft, wie
Oper und Oratorium, ist vorerst bei ihm selbst nicht mehr recht Rede. Er
saßt im Frühling des nächsten Jahres die jüngsten Erfahrungen mit der
Borführung seiner Werke und den Charakter der Kunstzustände der Kaiser¬
stadt überhaupt in dem Worte gegen L, Rellstab zusammen: „Seit die
Italiener hier so festen Fuß gefaßt haben, ist das Beste verdrängt. Das
Ballet ist dem Adel die Hauptsache vom Theater. Von Kunstsinn muß man
nicht sprechen, sie haben nur Sinn für Tänzerinnen, Die guten Tage haben
wir hier gehabt. Aber darnach frage ich nicht, ich will nur noch schreiben,
was mich selbst freut."
Das Schlimme dabei war: das so wirklich Vollendete jener Italiener,
unter denen außer David, Lablache und der Fodor damals noch Rubini
glänzte, hatte den Geschmack des Publikums nur verwöhnt, statt durch edlen
Wettstreit auch der einheimischen Kunst neu aufzuhelfen. Man muß die Ar¬
beite über diese Dinge hören, um zu begreifen, daß Beethoven sich vor allem
nicht mehr entschließen konnte, eine deutsche Oper zu schreiben, ja wie sein
Fam^us und erster Biograph A. Spindler sagt, manch hartes Wort über
deutsche Opernsänger ausstieß, bei ihnen die Begeisterung für die Kunst und
Eifer im Studium vermißte und sie der Selbstgenügsamkeit auf mittelmäßiger
Stufe der Ausbildung beschuldigte. Die Allgemeine musikalische Zeitung vom
Juni 1823 schreibt über die gleiche Darstellung von Rossini's „Barbier", der
Beethoven beigewohnt: „Ueberhaupt ist gerade dieses Zusammenwirken, dieses
Ineinandergreifen, diese engste Vereinigung aller einzelnen Theile zu einem
Gesammtkörper der erste allerwesentlichste Vorzug der Italiener, und was auch
deutsche Sänger, isolirt gestellt, bedeutendes zu leisten im Stande sind, — wenn
es sich um die präcise Ausführung einer mehrstimmigen Periode bis in das
kleinste Detail abgerundet, mit allen Nuancen gleichsam von einer Seele
ausgehaucht handelt, — wahrlich darin werden sie doch immer ihren Neben¬
buhlern das Feld räumen müssen. Ehre dem Ehre gebühret!"
Allerdings besaßen diese Italiener künstlerische Werke eines einheitlichen
nationalen Styls und wenn man dazu an Don Juan und Figaro's Hochzeit
denkt, Respect fordernde Werke. Ist es da begreiflich, daß auch Beethoven
sich mehr und mehr auf das Gebiet zurückzog, wo doch auch der Deutsche als
solcher Meister sein konnte? Seine instrumentale Kunst und die letzten
Quartette sind dem wahrhaft deutschen Styl denn auch selbst in der Oper im
Grunde mehr Anregung und Muster geworden als alle deutsche Opern jener
und späterer Zeit.
Aber auch hier hatte er stets mehr auf das Ausland zu schauen:
„Beethoven's herrliche Claviercompositionen kennen nur wenige unserer jungen
Claviervirtuosen", klagt ein Aufsatz „Wien im Jahr 1825" in der „Cäcilia"
die Schott in diesem Jahr 1824 mit Gottfried Weber an der Spitze gegründet
hatte. Die Theilnahme an Werken der „höheren Tonkunst", Oratorien
und Symphonien nehme bedeutend ab, der hohe Adel sei dem Auslän¬
dischen zugewendet und die „teutsche Oper" ausgelöst. Weiter heißt es dann'.
„Nach der Fodor verschwanden eine Grünbaum, eine Waldmüller, obwohl
im Auslande Lorbeeren sammelnd, gleichsam im Dunkel, — nach Lablache
mochte Niemand Forel singen hören. Daher suchten die Meisten Anstellung
bei fremden Bühnen, und die Wiener, gleich schlechten Hauswirthen von
theuern Lekerbissen übersättigt, haben nun kaum Kartoffeln zu essen."
Das Kärthnerthor-Theater wie das an der Wien waren seit längerer
Zeit geschlossen! Die besten Italiener und ihre Opern hatten schließlich nicht
mehr angesprochen, und jetzt beklatschte man Dlle. Heckermann und andere
Mitglieder des Borstadttheaters. Daß „bei so bewandren Umständen" auch
die Kirchenmusik nicht blühe, könne Niemand wundern heißt es dann;
„Fabrikarbeit" bekomme man hier wohl genug zu hören, aber das wahrhaft
Kirchliche verschwinde immer mehr. Der Musikverein vegetire fort; Anarchie
und Unthätigkeit hatte ihn gelähmt. Was indessen den Wiener noch trösten
müsse, sei, daß bis jetzt alle ihre musikalischen Talente im Ausland außeror¬
dentlich gefallen: „wodurch wenigstens unser relativer Werth außer Zweifel
gesetzt wird." Schließlich heißt es: „Die größte Besorgniß flößt der Umstand
ein, daß überhaupt der stille ruhige Genuß der Kunst, der öftere Zusammen¬
tritt der Künstler und bedeutenden Dilettanten um Musik zu machen immer
mehr in Abnahme und Verfall geräth. Die Quartettunterhaltungen
haben fast ganz aufgehört, selbst die von Schuppanzi gh gegebenen ließen
am Ende kalt, woran wohl zum Theil auch der Umstand Schuld trug, daß
neu einstudirte Werke aus Mangel an Proben schlecht gingen."
Und solchen Klagen fecundirt die A. M. Z. ebendamals mit den Worten :
„Seit Jahr und Tag ist kaum ein bedeutend interessantes Musikwerk er¬
schienen, nichts als Rossinische Opern im Clavierauszug.....Alles liegt
brach. Wohinaus?"
Wie anders klangen da die Nachrichten, die vom Fürsten Ga litzin in
Petersburg einliefen, der im Herbst 1822 bei Beethoven drei Quartette bestellt
hatte! Fürst Radziwill „auch ein Bewunderer Beethoven's", sei von Berlin
eingetroffen und habe das Vergnügen genossen bei der ersten Aufführung der
Missa solennis gegenwärtig zu sein. Am 16. Juni 1724 bittet er dann drin¬
gend um Abschrift von Beethoven's neuesten Werken als Symphonie, Ouver¬
türen :c.: „Fürstens Erkenntlichkeit werde extreme sein." Alle Monarchen
sollten thun, was Ludwig XVIII. gethan habe, der Beethoven zu Ehren eigens
eine große goldene Medaille hatte schlagen lassen: allein in Se. Petersburg
herrschte auch der Rossini'sche Charlatanismus. Er und Radziwill spielten
„ewig" Beethoven'sche Compositionen. Wenn immer der Meister in einer
Geldnoth sei, so möge er sich unverzüglich an ihn wenden, er werde sich glück¬
lich schätzen ihm nützlich zu sein.
Am 28. Juli 1824, nachdem der Bericht über die Aufführung der Neunten
Symphonie eingetroffen war, schreibt er, der Undank der Hauptstadt Wien
empöre ihn, Beethoven solle nur reisen und er werde sich mehr verdienen.
Seine Ungeduld wegen der Quartette sei unbeschreiblich. Die Kosten für
das von Beethoven Erbetene möge dieser von Stieglitz und Comp. „in jeder
beliebigen Summe" entnehmen.
„Fürstlicher" konnte kaum geredet werden, und Beethoven setzt sich denn
auch jetzt sogleich in volle Bereitschaft, solche schöne Wünsche zu erfüllen.
War ihm doch selbst diese „mehr eintragende" Arbeit zugleich „gelegener";
das heißt sie entsprach mehr seinem künstlerischen Gefühl als vor allem die
Ciaviermusik, in der doch ebenfalls dringendste Bestellung vorlag, nämlich
vierhändige Sonaten für den Verleger Dtabelli in Wien. Schindler schreibt
schon in der Zeit der Correctur der Sonate von Op. 111 und der Variationen
Op- 120 auf: „Es ist doch Salade. daß Ihr hoher Genius in Claviersachen
begraben wird, denn leider bleiben die ausgezeichnetsten Werke dieser Art lie-
gen, weil die Clavierspieler unserer Zeit immer mehr den Geschmack des
Guten verlieren." Ebenso steht auf einem losen Blatt im Besitz des Kunst¬
händlers Artaria in Wien, das unter Skizzen zu den Bagatellen Op. 126
liegt, die ja ebendamals entstanden, von Beethoven's Hand: „Gar keine Cla-
Viersachen als Conzerte, andere blos wenn ich darum angegangen werde." —
„Quintett in L moll für Fortepiano und Clarinett Violoncelli Horn Fagott
LvnxÄ sono-r s?j it L1ö,vie«mbg,1o missrabilc!."
Wir- wissen von einem „Quintett für Flöte" und vernehmen auch
von K. Holz, daß Beethoven das Clavier ein „ungenügendes Instrument"
nannte.
Andrerseits lagen für Quartettcomposition schon bestimmte Entwürfe vor.
Am 16. Juli 1823 heißt es zu F. Ries in London: „Ich schreibe ebenfalls
ein neues Violin-Quartett. Könnte man dieses den Londoner musikalischen
oder unmusikalischen Juden wohl anbieten?" Ein kleines Skizzenheft Arta-
ria's aber, dessen letztes Blatt die Worte „Brüder — Flügel" zeigt, enthält Ent¬
würfe zum 1. 2. und 3. Satz des ersten der letzten Quartett's Op. 127, unter
denen zugleich steht „Quartett für Peters". Es war also schon im Sommer
1822, wo mit Peters auch wegen eines Quartetts verhandelt ward und die
erste Idee zum Finale der Neunten Symphonie kam, dieses Werk erdacht worden,
und namentlich auch das wundervolle Adagio eben dafür bestimmt, das später
einmal in eine der vierhändigen Sonaten sollte. Im Sommer 1823 ward denn
auch daran weiter gearbeitet. Um das Ende von 1823 aber, in den gleichen
Tagen, wo das „Teufelsmädchen", die später so berühmte Caroline Unger
ihn aufs neue besucht, ist der Musikhändler Malb. Artaria — nicht zu ver¬
wechseln mit Artaria Comp. — ebenfalls bei ihm gewesen und hat Vor¬
schläge wegen der Gesammtausgabe seiner Werke gethan. Dabei fragt der¬
selbe: „Wie sieht es denn aus mit dem Quartett aus ^ moll?" d. h. mit
Op. 132, dem 2. der Quartette für Galitzin. Und in der Jahreswende weiß
der Referent der A. M. Z. sogar von 2 neuen Quartetten, die Beethoven
„vollendet" habe. Es war also auch dieses Op. 132 schon während der Arbeit
an der „Neunten" projectirt oder gar ausgedacht und mag daher den Keim
schmerzvollster Leidenschaft überkommen haben, der sich jetzt freilich zu einer
Tragik entfaltete, wie sie selbst die Symphonie kaum ernster und energischer
zeigt. Während anderseits das Adagio von Op. 127 aus dem gleichen Him-
melsfcioen mit dem Adagio der Symphonie gesponnen ist und in dem stets
vertiefter wiederkehrenden Nitornell seiner sehnsuchtsvoll gezogenen Haupt'
melodie ganz jenes thränenvolle Zusammensinken in das eigene nur zu mensch¬
liche Ich hat. das in der Nebenmelodie des Adagios der Symphonie auch
ein wahrhaft überirdisches Vermögen der Erhebung zum freiesten Schauen
ankündigte!
Wie viel aber auch von diesen beiden Werken schon vorempfunden war
und seinen Styl mit der Weise vor Vollendung der Neunten Symphonie,
namentlich des Freudensinales theilt, — die eigentliche Ausarbeitung beider
Quartette mit der Ausprägung des innewohnenden Gehalts ihrer Motive
gehört diesem Zeitraum vom Sommer 1824 bis dahin 1825 an. Wie denn
auch der im Besitz P. Mendelsohn's befindliche 1. Satz von Op. 127 eigen¬
händig besagt: „geschrieben 1824" und Op. 132, ebenfalls dort befindlich,
betitelt ist: „2tes Quartes 1825 von L v Bon." Wir haben also jetzt zu
den Begebenheiten dieses Jahres 1824 überzugehen und nachzusehen, wie der
Meister zu dem Beginn dieser ebenso innerlichst versöhnenden wie ernst¬
gemeinten Schlußarbeit seines Lebens sich zurecht setzt und sie vollendet.
Zunächst und vor allem nach den Anstrengungen und Aufregungen des
Winters handelt es sich um einen entsprechenden Landaufenthalt. Nur
am Busen der unendlichen Natur stimmte diese Seele sich völlig zu sich selbst
zurück.
Schon während der Plackereien mit der Akademie im April und Mai
hatte, wie der bekannte Neffe Beethoven's aufschreibt, Bruder Johann den
Vorschlag gemacht, Beethovensolle „die 4 Monathe" auf seinem Gute Gneixen-
dorf bei Krems an der Donau zubringen. Dabei erfahren wir, daß da
Zimmer zugebote standen, „sehr schön hoch und groß, alles gut ein¬
gerichtet." Die Gegend sei herrlich, eine eisenhaltige Quelle sei da und ein
»Hausbad". Allein obgleich es dabei heißt, die Frau werde nur als Wirt¬
schafterin angesehen und arbeite, sie sei ganz gezähmt und habe versprochen
sich ganz ordentlich zu betragen, ja obwohl Johann selbst drollig und be¬
zeichnend genug aufschreibt: „Wer soll die Wahns' besorgen, wer soll unsere
Launen ertragen?" so galt doch das „von xossibilö per me", das Beethoven
einmal von diesem Vorschlag gebraucht, jetzt mehr denn je. Waren doch ge¬
rade in dieser Zeit die üblen Geschichten mit jener Frau zu ihrem Höhepunkt
gediehen, und es trifft auch jetzt schon zu. was im nächsten Jahre Beethoven
selbst dem Neffen zuruft: „Gott ist mein Zeuge, ich träume nur, von dir
von diesem elenden Bruder und dieser mir zugeschusterten abscheulichen Familie,
gänzlich entfernt zu sein." Es mußten absolut zwingende Umstände eintreten,
ehe Beethoven hier das „non poZÄbilo" überwand. Und dann? — Seine
Empfindung hatte ihn nicht getäuscht, die persönliche Berührung mit dieser
Sphäre sollte ihre vorgeahnten Wirkungen nicht fehlen, sie trug viel zu seinem
frühzeitigen Ende bei.
Jetzt hatte sich bereits eine freundliche Wohnung in dem damals noch
völlig ländlichen Penzing nah der Wien gefunden, und er hoffte, in dem
isolirt gelegenen Hause am Fluß in stiller Beschäftigung mit seinen Musen
bald aller Lebenspein aufs neue zu genesen. Allein gefehlt! Berichtet schon
ein Wiener Musikfreund aus dieser letzten Zeit: „Jeder Drotschenkutscher
kannte ihn und die Leute wichen achtungsvoll zurück, wenn er einherwandelte,
das Notizbuch oder einen Bleistift in der Hand, mit aufgerichtetem Kopfe,
oder auch gemüthlich mit dem Stecher Land und Leute beobachtend", so hatten
die beiden Akademien mit der Neunten Symphonie und der Missa solennis den
sonst tief Verborgenen, und sei es auch nur „in oWgis", erst recht vor die Augen
der Menge gebracht. Sogar die Wiener A. M. Z. gab kurz nach der ersten
Akademie ein Portrait „nach der Natur" von ihm bei. So begreift man, wenn
Schindler erzählt: „Auf dem dicht neben diesem Hause über den Fluß ge¬
legten Steg erlaubten sich die Passanten aus Neugierde oder Interesse stehen
zu bleiben und nach seinen Fenstern zu schauen." Und was konnte dem in
sein „höheres Leben" versunkenen Meister widriger sein als müssige Gaffer,
denen Größe und Berühmtheit eine Curiosität ist wie die Geschöpfe fremder
Zonen, — zumal in diesem Moment, wo er den „Bürger", der ihm übri¬
gens schon aus dem Prozeß mit der Wittwe genügend bekannt schien, nun
auch nach dem Maß seiner Verehrung für das Hohe und Heilige seiner Kunst
völlig erkannt zu haben glaubte! Und abgesehen davon, daß solch stete Neu¬
versenkung in seine eigentliche Welt, ihn überhaupt am Dasein erhielt, das
um so mancher Ursachen willen ihm persönlich nur stets weniger Werth haben
konnte, hatte er ja, nachdem nun noch gar „nur Zeit und Geld verlohren bei
den „Akademien", von dieser seiner Geistesarbeit mit dem theuren „Sohn"
zu subsistiren". Dieser aber befand sich jetzt bereits im zweiten Semester auf
der Universität und hatte an den üblen Dingen, die das freie Jugendtreiben
mit sich bringt, bald genug Geschmack gefunden. Also wohl gewichtiger
Grund, die schöne Wohnung Ur. 43 in Penzing, im 1. Stock nach etwa
sechswöchentlicher Benutzung mit 180 si. C. M. für den ganzen Sommer zu
bezahlen und „mit Sack und Pack, Büchergeräthschaften. Broadwood-Flügel
und Hühnersteigen gegen Baden zu ziehen.
In diesem seinem eigentlichen Tusculum müssen wir ihn uns also auch in die¬
sem Sommer 1824 erst recht wieder durch Berg und Thal schweifend und Honig
sammelnd denken. Denn nur „rastlos bethätigt sich der Mann", und es lagen
obendrein ja dringendste „Verbindlichkeiten" vor. Für den Herbst aber wollte
man bestimmt zur Reise nach London frei sein. Also war auch jetzt vor
allem „Ruhe und Freiheit" nöthig, und so geht es jetzt zugleich ernstlich «n
den Verkauf der beiden „großen Werke", um endlich auch den Bruder „Pseudo"
vom Nacken zu haben, dem er in der Noth des Schreibens an den Werken
dieselben verpfändet hatte. Die Vorführung dieser geschichtlichen Correspondenz
aber leitet uns von selbst auch wieder zu jener eigentlichen Welt Beethoven's.
Zunächst Probst in Leipzig. Ihm wurde am 10. März 1824 außer dem
Opserlied. dem Bundeslied, dem Kuß und den VI Bagatellen Op. 126 die
Ouvertüre „zur Weihe des Hauses" (Op. 124) und die große Messe angeboten,
wobei denn nach des Meisters damaliger Stimmung über die letztere bemerkt
wird: „. . . . leider muß ich nun doch über mich selbst sprechen, indem ich
sage, daß sie wohl mein größtes Werk was ich geschrieben." Sogleich heißt
es weiter: „Eine neue große Simphonie. welche ein Finale hat mit eintreten¬
den Singstimmen. Solo und Chören mit den Worten von Schiller's unsterb¬
lichem Lied an die Freude auf die Art wie meine Clavierfantasie mit Chor,
jedoch weit größer gehalten als selbe." Und dieser Taxirung entsprechend ist
hier das Honorar nur 600 si., während es dort 1000 si. sind. Man stand
dem Werke mit der eigenen Empfindung noch zu nahe, um den rechten Werth-
wesser dafür zu finden, und bei der Messe wirkte der heilige Vorwurf das
eigene Urtheil bindend mit. Auch blieb die „Neunte" immer nur eine —
Simphonie, und eine solche wird selbst bei Beethoven damals mit blos
40—60 Duc. d. h. 2 — 300 si, taxirt. Also war 600 si. immer noch viel,
sehr viel.
Probst erbittet sich am 22. März die Lieder, die Bagatellen und die
Ouvertüre für „100 Stück vollwichtige Ducaten" und behält sich, wenn dieses
Geschäft zur beiderseitigen Zufriedenheit geordnet sei, den Entschluß wegen
Messe und Symphonie vor. Beethoven schreibt auf diesen Brief: „Glauben
Sie nur nicht, Gewäsche, ich habe jetzt keine Zeit um Sie darüber aufzu¬
klären, habe alle Beweise in Händen, nächstens." Die „Differenz" die Beethoven
Mit dem Leipziger Verleger Peters „in einem ähnlichen Unternehmen" ge¬
habt haben sollte, hatte nämlich diesen neuen Verleger erst die Manuscripte
sehen lassen wollen. Zu seiner Beschämung muß Beethoven auch darauf ein¬
gehen. Am 3. Juli meldet er die Vollendung der Abschrift der betreffenden
Sachen und bittet das Geld anzuweisen. Probst geht am 16. August 1824
auf den Handel ein. Allein derweilen hatte sich etwas besseres gefunden für
den Bruder „Judas Ischarioth". der all diese Sachen besaß.
Schott in Mainz nämlich hatte am 24. März 1824 dem Herrn „Hof-
Kapellmeister" von Beethoven auf seine Anträge in einer besonders ehrerbietig
offenen Weise geantwortet, sich zwar zunächst nur das angebotene Quartett um
60 Duc. aber dies auch bedingungslos erbeten und dabei gesagt: „Ihre
große solenne Messe sowie Ihre neue Sinfonie liegt uns zwar auch sehr am
Herzen und wir würden beide Werke nur mit großem Leid als solche glänzen¬
den Sterne in einem andern Catalog prangen sehen und fragen deßhalb an,
ob Sie wohl geneigt wären das Honorar in 4 Terminen von 6 zu 6 Monaten
in Empfang zu nehmen. Unter diesen Verhältnissen wagen wir den Verlag
dieser sehr großen und sehr mächtigen Werke und würden mit Stolz den Ver¬
lag derselben mit aller nur möglichen Schönheit ausstatten und zur augen¬
blicklichen Ausführung in Stimmen nebst Partitur stechen lassen." Das war
einmal wieder Respect und Anstand bei einem Verleger, zumal wenn man
an Steiner Comp. in Wien dachte. Allein man stand noch mit Probst in
Unterhandlung, und so erfolgt erst auf zwei weitere Briefe Schott's (19.
und 27. April 1824), worin sehnlichst um Rückantwort gebeten und unter
Einsendung des 1. Heftes der „Cäcilia" um Beiträge dafür ersucht wird,
am 20. Mai 1824 Entscheidung: Messe und Symphonie zu dem bekannten
Preise in kurzen Raten, das Quartett jedoch sei noch nicht sicher zuzusagen!
Dabei wird um rasche Entschließung gedrängt, da er sich auch Anderer wegen
entschließen müsse. Denn es lagen ja auch Anträge von Leidesdorf, Diabelli,
Artaria u. A. vor. So heißt es denn auch hier: „Da ich nicht von meinem
Gehalte hier leben kann, so muß ich dergleichen mehr als ich würde, nicht
außer Acht lassen." Schott acceptirt denn auch bereits am 27. Mai die Be¬
dingungen bestens, besteht aber auch auf dem Quartett, und Beethoven antwortet
„wegen Ueberhäufung mit Beschäftigung" erst am 3. Juli: er könne auch
dieses ganz sicher binnen 6 Wochen erhalten. Man hatte sich also unter
dem Schutze jener festen Annahme der „großen Werke", sogleich in Penzing
mit vollem Eifer „seinen Musen ergeben", und dies umsomehr, als Schott am
19. Juli meldet, daß Fries Comp. die Zahlung in den von Beethoven selbst
bestimmten Terminen leisten werden, wogegen er Messe wie Symphonie dort
zu übergeben habe. Von der gleichen Art aber wird der Brief vom
19. Aug. gewesen sein, den Beethoven „unerklärlicherweise" nicht erhielt. Es
hatten sich, wie wir sehen werden, auch hier rasch fremde Elemente dazwischen
geschoben, und bei Beethoven war ja leicht Mißtrauen zu säen, zumal gegen¬
über den „Höllenhunden, die sein Gehirn beleckten!" Man hat aber einstwei¬
len doch „diese Schott" sicher in der Hand und hätte so auch der Ausführung
der neuen Arbeiten mit andauernder Ruhe nachgehen können, wenn nicht
einerseits durch erneutes Unwohlsein, andrerseits durch die Sorge um und für
den geliebten Neffen stets wieder Hemmniß aller Art eingetreten wäre. Es ist
alle Kraft nothwendig, um nur auf der Höhe seiner selbst zu bleiben, und
gar um die Höhe seines Wesens völlig zu erreichen! Wir wollen zunächst
rein chronologisch aufzeichnen, was von Lebensäußerungen aus dieser Zeit
vorliegt. Es wird uns zu jenem Wesen selbst führen.
Am 23. August vernimmt der Erzherzog: „Ich lebe — wie?! — ein
Schneckenleben. Die so ungünstige Witterung setzt mich immer wieder zurück,
und unmöglich ist es bei diesen Bädern Herr seiner Haus-Kraft wie sonst zu
sein." Dabei wird um Subseription auf H. A. Nägeli's Gedichte gebeten.
In welcher liebenswürdigen Verwendung für den Herrn „Kunstbruder" in
Zürich mag man in dem Briefe selbst nachlesen. *) „Für Andere zu handeln"
hatte man immer noch Zeit. Tags darauf bekommt nun Dia belli folgende
mannigfach relevante Nachricht über seine wiederholt erbetene „große 4häutige
Sonate" in „Es liegt zwar nicht in meinem Wege d. g. zu schreiben,
aber ich will Ihnen gern meine Bereitwilligkeit hierin zeigen. — Was das
Honorar angeht, so fürchte ich, es wird Ihnen auffallen, allein in Betracht
daß ich andere Werke aufschieben muß, die mir mehr eintragen und
gelegener sind, werden Sie es vielleicht nicht zuviel finden, wenn ich das
Honorar auf 80 Duc. setze. Sie wissen, daß, wie ein tapferer Ritter von
seinem Degen, ich von meiner Feder leben muß. Dabei haben'mir die Akade¬
mien einen großen Verlust verursacht." Diabelli ist denn auch mit dem
Honorar zufrieden, weil er überzeugt sei, daß seine Werke nicht für den Augen¬
blick, sondern für die Ewigkeit geschaffen seien, und so mußte doch intermit-
tirend auch an diese Arbeit gedacht werden.
Weiter sehen wir jedenfalls auf solche eigenen Klagen des Meisters hin
am S. September 1824 Freunde wie A. Streicher allerhand Vorschläge
thun, auf welche Art er größere Vortheile aus seinem außerordentlichen Ta¬
lente ziehen könnte. Darunter sind „jeden Winter 6 Abonnementsconzerte"
und die „sämmtlichen Werke". „Nehmen Sie das Gesagte als die Meinung
eines Freundes auf, der Sie schon volle 36 Jahre kennt und welchen nichts
so freuen würde, als Sie außer Sorgen zu sehen", schrieb Streicher.
Am 9. September 1824 hören wir ihn selbst wieder gegen Nägeli, dem
die Subscription des Erzherzogs gemeldet wird, folgendes äußern: „Ein Un¬
bekannter subscribirt ebenfalls darauf und das bin ich. Denn da Sie mir
die Ehre erzeigen mein Panegyriker zu sein, darf ich wohl keineswegs mit
meinem Namen erscheinen. Wie gern hätte ich auf mehrere subscribirt, allein
meine Umstände sind zu beschränkt. Vater eines von mir angenommenen
Sohnes — muß ich sowohl für die Gegenwart wie für die Zukunft
seinentwegen denken und handeln." In dem gleichen Briefe erinnert er sich
auch früherer Anträge Nägeli's. Allein seine Kränklichkeit habe über 3 Jahre
gewährt; nun befinde er sich besser. Zugleich bittet, er um die 3 stimmige
Messe von Seb. Bach, die Nägeli herausgegeben. Und dabei heißt es:
»Denken Sie übrigens ja kein Interesse von mir irgendwo was ich suchte.
Frei bin ich von aller kleinlichen Eitelkeit. Nur die göttliche Kunst. nur in
ihr sind die Hebel, die mir Kraft geben, den himmlischen Musen den besten
Theil meines Lebens zu opfern. Von Kindheit an war mein größtes Glück
und Vergnügen für Andere wirken zu können." Es umweht uns der Athem
der „himmlischen" Weise des Adagio von Op. 127, und wie tief ist die
Empfindung eines All und Höheren in die höchste Empfindung des „Wirkens
für Andere" getränkt!
Um dieses Wirkens für Andere willen aber muß der Mensch sich auch
zuweilen „nach unten senken". A. Streicher hatte ferner den Vorschlag ge¬
macht, die große Messe für Chor mit Clavier zu arrangiren und sie den Ge¬
sangvereinen um 50 Duc. anzubieten. Ein solcher Vorschlag vom 17. Sept.
1824 an den Gesangverein von Zürich liegt vor. „Die große Messe des
Herrn L. van Beethoven ist nach einstimmigem Ausspruch aller Kenner die
merkwürdigste religiöse Composttion, welche seit dem Messias von Händel
erschienen, und zwar ebensowohl wegen Neuheit der Bearbeitung, ihrer har¬
monischen und melodischen Originalität als „was wohl das Wichtigste ist,
wegen dem frommen, Gott ergebenen Sinn, den jede Note derselben ausdrückt,"
so heißt es hier, und Beethoven selbst fügt dazu jenes Wort über seine „Haupt¬
absicht" mit diesem Werke und daß er einer solchen Verbreitung desselben
darum gern nachgebe, weil diese Vereine bei öffentlichen, besonders aber
„Gottesdienstlichen Feierlichkeiten" auf die Menge wirken könnten! Alles weist
aus zunehmende Richtung „nach oben". Ja unter Conversationen dieser
Herbstzeit über den Klavierauszug dieser Messe ist auch von einer neuen die Rede.
Denn Karl schreibt auf: „Länger dürfte sie nicht sein als die Voglersche."
Sollte der Plan der Messe für den Kaiser Franz vom Jahr 1823 wieder
aufgenommen sein? Es schien der inneren, wie der äußeren Lage des Meisters
immer noch besonders zu entsprechen. Er wünscht daher die fünfstimmige Messe
von Bach und ebenso schreibt er selbst dort oben auf: „Von Diabelli Offer-
torium jubilate, vev oirmis terra, Lalve i-sAma" u. s. w.
An dem gleichen 17. Sept. 1824 also meldet er Schott, daß er uner¬
klärlicher Weise den Brief vom 19. Aug. gar nicht erhalten habe. Wir hören
aber von ihm selbst, daß damals sein „Großsiegelbewahrer" niemand Anderer
als — Junker Tobias Haslinger war, und ebenfalls er selbst sagt später:
„Mir ward abgerathen von Jemanden hier, welchen Sie schwerlich vermuthen
(auch Verleger)" und nennt dann später wirklich den Haslinger. Jetzt aber
heißt es, Ende des Monats werde er sich nach Wien zurück begeben und dann
sogleich die beiden zugesagten Werke besorgen. Auch das Quartett werde
sicher bis Hälfte October erfolgen. Dabei äußert er eben in der uns jetzt
nur um so näher berührenden Weise: Gar zu sehr überhäuft und eine schwache
Gesundheit müsse man schon etwas Geduld mit ihm haben. Doch habe es
sich hier in Baden mit seiner Gesundheit gebessert. Apollo und die Musen
würden ihn wohl noch nicht dem Knochenmann überliefern lassen, denn noch
gar zu viel sei er ihnen schuldig und müsse er hinterlassen, was der Geist
ihm eingebe und heiße vollenden. Sei es ihm doch als habe er kaum
einige Noten geschrieben! Und zum Schluß: „Ich wünsche Ihnen allen guten
Erfolg Ihrer Bemühungen für die Kunst. Sind es diese und die Wissenschaft
doch, die uns ein höheres Leben andeuten und hoffen lassen."
Aeußeres Besserbefinden und erneute innere Harmonie durch Schauen und
Schaffen beleben endlich aufs neue Muth und Hoffnung, es weht wieder „das
Fähnlein auf dem weißen Thurme". Und Frau von Liezbaur notirte sich
ausdrücklich von Holz'Erzählungen aus: „Beethoven beendigte sein Quartett
in im September 1824." Und es ist nicht blos dies der Hauptsache nach
richtig; sondern auch von dem weiter projectirten Op. 132 woll) müssen
manche weiteren Entwürfe schon in diesem Sommer fertig geworden sein, denn
im Winter selbst ward nur „gearbeitet" d. h. in Partitur gesetzt, und sogar
Op. 130 (ZZ nur) muß schon in diesem Sommer Keime seiner Existenz an¬
gesetzt haben; denn im nächsten Frühjahr wird sogar schon an seinem ur¬
sprünglichen Finale Op. 133 gearbeitet. So heißt es denn auch am
23. Sept. unter allerhand Scherzen gegen den „großmächtigster Intendanten
aller Sing- und Brummvereine, des k. k. sah. General-Molonzello", den Di-
lettanten:c. Hau schla, der Secretatr des Musikvereins war: daß man, in die
Stadt gelangt, das Bernardische Oratorium „der Sieg des Kreuzes" ganz
gewiß in Musik setzen und baldigst beendigen werde, und obendrein am
26. Sept. gegen Diabelli: „Jetzt unterdessen verspreche ich Ihnen das Quar¬
tett etwas über 6 Wochen einhändigen zu können — Ihre Wünsche werde
ich beachten, ohne aber meiner künstlerischen Freiheit Eintracht s!Z zu
thun. — Mit dem Honorar von 100 Duc. in Gold bin ich zufrieden."
Allein so sehr der Künstler hier die Aufgabe stets ernster nimmt und
nur schreiben möchte „was ihm der Geist eingibt", so hat doch der Mensch
stets wieder an die nacktesten Nothwendigkeiten zu denken und zwar vor allem
um des Neffen willen, der obendrein die „Sorgen an die Zukunft" jetzt noch durch
bittere Sorgen für die Gegenwart zu vermehren beginnt. Schon in Penztng
schrieb dieser selbst von seinem 1. Jahr der Philosophie auf: „Ich will ganz
aufrichtig sein. Es ist jetzt zu weit gekommen um noch zurückzuhalten. Es
war gleich anfangs Mangel an Lust für die Gegenstände, der mich hinderte,
die Collegien gehörig zu besuchen und daher kam's auch, daß ich manche
schwärzte. Du selbst vermuthest, daß die Prüfung nicht gut ausfallen werde,
und leider! auch ich. — Von Anfang nochmal beginnen? Ich glaube nicht,
daß ich die Schande ertragen würde, hinter so vielen Andern zu sein, mit denen
ich zugleich angefangen habe. Zudem was werden Giarmatasios und viele
andere dazu sagen! Ich werde Gegenstand ihrer Spöttereien und leider nicht
mit Unrecht. Wie das mir schaden kann, weißt Du selbst." Er wünscht
Soldat zu werden, damals in Oesterreich wo der Volksmund sang: „Hunde,
H----. Kaffeehaus, Machen einen österreichischen Offizieren aus!" — Diesmal
wird jedoch das erforderliche Examen noch bestanden. Jetzt aber gar, wo der
Onkel auf dem Lande ist, hat man weit mehr Freiheit und benutzt sie, obwohl
nach seinem eigenen Bericht sein Tageslauf sehr regelmäßig erscheint, wie der
Onkel Johann später erzählt, hauptsächlich zum Spaztergehen. Und noch
ärger war es dem Vormund und Vater, daß der 17 jährige Jüngling jetzt
so ganz dem Einfluß seiner üblen Verwandten preisgegeben war. Er selbst
schreibt am 7. Oct. 1824 von Baden „ an Seine Wohlgeboren Hr. Philip
von Haslinger in Wien am Graben in der Paternostergäßlerischen Steiner'schen
Kunsthandlung allda: „Bester. Unser Benjamin ist heute früh schon hier
eingetroffen, weswegen ich 17 und eine halbe Kanone habe abfeuern lassen.
Frühere Begebenheiten ohne seine Schuld et sine in es, culpa haben mich
ängstlich gemacht. Dem Himmel sei Dank, es geht trotz meinen Agitatos
zuweilen alles gut und erwünscht. Es ist kein Wunder bei diesen arm¬
seligen Anstalten, daß man wegen eines sich entwickelnden jungen
Mannes in Angst ist. Dabei dieser vergiftende Athem der Drachen!"
In diesen Tagen in Baden findet denn auch folgende bedeutungsvolle
Conversation ohne Zweifel an einem öffentlichen Orte statt.
Beethoven: „Ich bin mit der Wahl dieses deines Freundes sehr übel
zufrieden. Armuth verdient freilich Theilnahme, jedoch nicht ohne Ausnahme
dabei. Ich möchte ihm nicht gern Unrecht thun, aber er ist mir ein lästiger
Gast, dem es gänzlich an Wohlstand und Anstand fehlt, was doch einiger¬
maßen für wohlgezogene Jünglinge und Männer gehört. Uebrigens habe
ich ihn in Verdacht, daß er es eher mit der Haushälterin als mit mir hält.
Uebrigens liebe ich die Stille, auch der Raum ist hier zu beschränkt für noch
mehrere, da ich ja beständig beschäftigt bin und er für mich gar kein In¬
teresse herbeiziehen kann. — Du bist noch sehr schwachen Charakters."
Der Neffe sagt, er kenne ihn 4 Jahre, die größte Aehnlichkeit des Cha¬
rakters und der Neigungen habe sie zusammengeführt.
Beethoven: „Ich finde ihn roh und gemein — und das sind keine
Freunde für mich." Neffe: „Wenn du ihn roh findest, irrst du dich, ich
wüßte wenigstens nicht, daß er dir Gelegenheit gegeben hätte, das zu glauben.
Auch bin ich nicht willens ihn mit einem Andern zu vertauschen, welches ge¬
rade ein Zeichen der Charakterschwäche wäre, die Du mir gewiß mit Unrecht
vorwirfst; denn ich habe von allen Zöglingen bei Bl lahlinger) keinen ge"
funden, der mir meinen oft traurigen Aufenthalt daselbst erleichtert hätte
als ihn, und ich glaube ihm also wenigstens Dank schuldig zu sein."
Beethoven: „Du bist noch nicht im Stande zu sichten". Neffe: „Es ist wohl
unnütz über einen Gegenstand, zumal über einen Charakter zu streiten, wo¬
rüber ich meine Ueberzeugung nie aufgeben werde, solange ich mich selbst
nicht für einen schlechten Menschen halten werde; denn ist ja
etwas Gutes an mir, so besitzt er's gewiß wenigstens in eben so hohem Grade
als ich und es wäre ungerecht ihm zu zürnen, wenn du nicht auch mich für
eben so hältst. Für mein Theil werde ich nicht aufhören ihn zu lieben wie
ich meinen Bruder lieben könnte, wenn ich einen hätte." Später beginnt
Beethoven nochmals: „Sobald du wahrnimmst, daß man von Seiten Niemez'
nicht gern so was thue, so laß es sein', denn ohnehin habe ich wenig Zu¬
trauen zu diesen Menschen d. h. daß sie etwas für mich gerne für mich
thun würden." Auch weiterhin kommt die Rede wieder auf diesen Freund,
den der Neffe lebhaft vertheidigt, der Onkel aber durchaus nicht um sich dul¬
den mag.
Er hatte nur zu Recht. War es doch eben dieser Niemetz der „bei
den nachhertgen groben Verirrungen des Neffen eine Rolle spielte". Allein
Beethoven betrachtete das Verhältniß zu dem jetzt 17 jährigen Jünglinge
mehr und mehr als ein „Paetum", d. h. als das Verhältniß der Gleichstellung
und Ebenbürtigkeit. Ja fast in der Kunst selbst steht dieses sein junges
„Fleisch und Blut" ihm näher als die Andern. Nach den Akademien dieses
Frühjahrs lautet eine Conversation: Beeth.: Wie fandest Du denn bei meiner
Musik, daß selbe Andere finden ?" Neffe: „Tiefer, nicht blos auf die Ohren."
Gar aber wo derselbe eigenen Willen oder Gefühl für Ehre zeigt,
ist die väterliche Gewalt sogleich in sich aufgehoben. Gerade dieser nach
einer hohen Anschauung von Würde und Selbstbestimmung geduldete und
Wohl gar gepflegte Unabhängigkeitssinn aber sollte es sein, was bei dem
leichtgeflügelten Naturell dieses Jünglings nicht blos zu schlimmen Aus¬
schweifungen führte, sondern bald auch die offenste Rücksichtslosigkeit gegen den
Oheim und Ernährer selbst hervorbrachte. So sah sich dieser stets aufs neue
gerade da mit schweren Sorgen belastet, wo er der Natur der Sache nach am
meisten Anrecht auf Erleichterung und Verschönerung des Daseins zu haben
glaubte, und dies in um so schönerem Maße, als in ihm selbst mit den Jahren
das reinste aller Menschenbedürfnisse, das der Liebe nur zunahm. Wir wer¬
den davon bald Wirkungen vernehmen, die etwas von der tragischen Peripetie
an sich haben. Hier berühren wir die Sache nur um das rein menschlich
erklärenden Grundes willen, weßhalb nicht allein wie stets mit allem Fleiß
und selbst ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit „geschafft", sondern jetzt
zugleich emsigst nach jedem annehmbaren Erwerb ausgeschaut und geradezu
„gehandelt" ward. Und dies alles in einer Lebenszeit, die sonst beginnt von
den Mühen auszuruhen und von den Früchten zu zehren, und von einem
Künstler der wie nur je einer einzig der Kunst gelebt und den Gewinn von
seinem Schaffen hauptsächlich Anderen überlassen hatte!
So klingt es uns wie Ironie, wenn Ende 1823 als einmal von Che¬
rubini Rede ist, der närrisch geworden sei, weil in einer Preisaufgabe die
Oper eines Andern vorgezogen worden, der Neffe aufschreibt: „Er mag schon
alt sein — Warte nur noch 20 Jahre, du wirst dann auch nicht mehr so
schnell schreiben." Und wahrlich wenn wir uns nicht verwundern oürfen, daß
Beethoven ebenfalls schon jetzt in der That „nicht mehr so schnell" schrieb, so
haben wir bei solcher Lage der Sache erst recht den hohen Grad der künst¬
lerischen Treue zu verehren, mit dem fortan fast mehr als jeder wirklich er¬
griffenen Aufgabe obgelegen und kaum zu dem Entschluß gekommen ward,
ein Werk als reif und vollendet auch wirklich von sich abzustoßen. Wir wer¬
den dies in allen folgenden Briefen erkennen, und ob er gleich weiß und be¬
kennt, daß oft durch ihn selbst die „Verzögerungen" entstehen, die ihn dann
in allerhand Bedrängnis) versetzen, so kann ihn doch nichts bestimmen eine
Sache eher hinzugeben als bis sie so ist, wie er sie seinem besten Freunde
nicht besser geben könnte.
Also nichts weniger als „Reflexion" und „Arithmetik" wie Freund
Schindler gemeint, beherrscht den Künstler in diesen letzten Lebensjahren-
Vielmehr ist es erst recht die höchste Auffassung von der Pflicht und dem
Werthe des künstlerischen Schaffens und das Bewußtsein, daß nur, wo dasselbe
in wirklicher Vollendung strahlt, auch den „andern Sterblichen" Erquickung
und Erhebung ihrer selbst gereicht wird. Ein wahrhaft ungeheurer Ernst er¬
füllt sein Wesen und läßt ihn trotz alles oft lebhaftesten Wünschens und
Wollens ferner nicht zum Ergreifen falscher, nicht zum vorzeitigen Abschluß der
einmal ergriffenen rechten Aufgaben kommen. Nur „was der Geist ihm ein¬
gibt" will er vollenden und sei es mit persönlichen Entbehrungen und Ver¬
zicht auf das äußere Glück. Und dem entspricht der Geist, der ihn jetzt er¬
füllt und der uns ebenso als ein unermeßlicher Weitblick über die Gefilde des
Daseins wie als ein unerschöpftcr Born der duldenden Güte und des schmerz¬
lichen Mitantheils an jedem Leid der Existenz erscheinen muß. Wir werden
auch äußerlich den Beweis für solchen Zustund seines Innern bald und nicht
am wenigsten unverkennbar auf seinem Tootenbette vernehmen.
Wie hat man also nur begehren können, daß dieser vielgeprüfte und in
Wesen und Zweck seiner Kunst so ernst versunkene Mann und Meister eben
auch nur gleich den Kunsthandwerkern die Menge der „Verbindlichkeiten" av-
solviren und je nach Verlangen Messe, Oper, Oratorium, Sonaten u. s. w-
rasch hätte schreiben sollen, um aller Noth des Tages ledig zu sein?
So wie durch jede neue Berührung mit der Welt des leidigsten Egois¬
mus seine Vorstellung einerseits von der Noth dieses Daseins, anderseits vom
Werth des wahren Guten und des wahren Schönen sich nur erhöhen konnte,
so mußte auch sein eigenes Schaffen stets mehr und sogar einzig das Bild
dieser höheren Welt werden, in der der Mensch erst zum richtigen Begriffe
und der wahren Erscheinung seiner selbst zugleich gelangt. Das „Duro in
Christo und Apollo", womit der obenberührte Brief an Hauschka schließt,
gewinnt uns hier einen ernsten Sinn, wie dieser Mann ihn gern in die
Form eines scherzenden Spottes kleidete, da wo die äußere Form und Er¬
scheinung einer Sache eben seiner hohen Vorstellung von derselben wenig ent>
sprechend erschien. Religion und Kunst waren ihm jetzt mehr als
je Eins. Ja es ist zu sagen: in seinem Inneren hatte sich die thatsächliche
Vereinigung einer ästhetischen Weltanschauung, wie er sie seiner Zeit und
seinem Berufe dankte, aufs Sicherste wie jener ethischen'Weltbewährung voll¬
zogen, die ihm das Leben selbst als die positive Substanz auch der kleinsten
Existenz aufgedeckt hatte und die der Kunst unseres Jahrhunderts auch erst
den wahren Sinn und vollen Gehalt gegeben hat. Und der inneren Durch¬
führung dieses Processes, der der eigentliche Sinn und Inhalt dieser letzten
Lebensepoche Beethoven's ist, verdankt eben das künstlerische Schaffen dersel¬
ben jenen wahrhaft ätherischen Glanz, seine Bedeutsamkeit weit über die
Grenze einer speciellen Kunst hinaus für alles Wirken und Leben unsere:
Tage. Der Sinn der Neunten Symphonie ist ihrem Erschaffer selbst völlig
zu Leben und That geworden, er kann nicht mehr anders, als in ihrem
Geiste wirken, ihre Substanz ergießt sich tausendfach durch alle Adern seiner
Existenz, und ist's ein Wunder, daß da Früchte sprießen, herrlich, nie ge¬
sehen, unerhört?
Unter dem Titel: „Aus halbvergessnem Lande" liegt uns, so.
eben bei Klie und spitzer in Wien erschienen, eine Sammlung von Cultur¬
bildern aus Dalmatien von Theodor Schiff vor, die wir den Freunden der
Ethnographie empfehlen können. Der Verfasser besitzt eine vortreffliche, auf
den Beobachtungen eines mehrjährigen Aufenthalts in jenem halb italienischen,
halb slavischen Küstenlande der Adria beruhende Kenntniß der Natur und der
Sitten Dalmatiens, er weiß gut zu erzählen und lebhaft zu schildern. er hat
einen gesunden Humor, und schreibt, von ein paar Austriacismen abgesehen,
ein achtbares Deutsch. Auch die beigegebnen Illustrationen sind zum Theil
recht hübsch, namentlich die Portraits der alten Zanetta, des Mädchens aus
Sette Castelli und des Morlaken aus Norddalmatien. Das Beste über blei¬
ben die, meist novellettenartigen. bisweilen recht stimmungsvollen Skizzen aus
dem Volksleben dieses wenig bekannten Erdwinkels mit dem seltsamen Ge-
misch von Denkart und Brauch, das hier in Stadt und Land aus den ver-
rotteten Resten venetianischer Ansiedelungen, dem urtümlichen, halbwilden
Wesen morlakischer Berghirten, dem Treiben einer rührigen Fischer- und
Schifferbevölkerung und dem Hereinragen böhmischen Türkenthums zusammen¬
geflossen ist. und „Don Martine von Karakaschitza", das Charakterbild eines
morlakischen Landpfarrers. „Türkischer Tabak", das Portrait eines Schmugg¬
lers der dalmatinischen Berge. „Der Frau Mare Kargotic Gesang" und „Ein
Gerichtstag in der Morlakei" sind, jedes in seiner Art. wahre kleine Kabinetts-
stücke. Ein besonderes Interesse aber gewinnen für uns gegenwärtig durch
den Aufstand in der Herzegowina die beiden Abschnitte des Buches, welche
uns der Verfasser von einem Ausfluge mitgebracht hat, den er in Begleitung
eines türkischen Beg nach dem böhmischen Grenzland Dalmatiens unternahm,
wo genau dieselben Zustände wie in der nahen Herzegowina herrschen, und so
geben wir aus demselben einen ausführlichen Auszug.
Dem Verfasser war vom Schicksale beschieden. eine Zeit lang in Sige,
dem nordöstlich von Spalato und nahe an der türkischen Grenze gelegenen Vor¬
orte der Morlakei. zu leben. Hier machte er dieWekanntschaft Mahmud Fir-
dus Begs. eines Gutsbesitzers im benachbarten Bosnien, der ihm allmäh¬
lich zu einer Art Hausfreund wurde. Derselbe war eine hohe, etwas vor¬
wärts gebeugte Gestalt, von deren Schultern ein langer dunkelrother Mantel
in malerischen Falten bis zur Erde floß. Auf dem von der Stirn bis zum
Scheitel rasirten Kopfe saß das Feß . das hinten eine Fülle blonden Haares
herausgleiten ließ. Dunkle, von scharfgezeichneten Brauen beschattete Augen,
ein kleiner Schnurrbart, eine reich mit Gold gestickte blaue Jacke, ein Paar
Pistolen und ein langes Messer in dem buntseidnen Gürtel, weitfaltige rothe
Beinkleider und nackte Füße in gelbledernen Pantoffeln vollendeten das Bild
des etwa fünfundzwanzigjährigen Mannes. Er war der Sohn eines Paschas,
der in den vierziger Jahren als Gouverneur von Bosnien bei einer kleinen
Revolution ermordet worden war. Der alte Firdus mochte gut und echt
türkisch gewirthschaftet haben: denn er hinterließ.seinem Mahmud ein Besitz-
thum, groß genug, um von seinem^ Ertrag besser leben und mehr Aufwand
machen zu können / als irgend ein anderer bosnischerWutsbesitzer. Mahmud
schlug aus seinen ausgedehnten Ländereien so viel als möglich heraus: er
lieferteWaumrinde, Harz sunt Eicheln aus iseinen Wäldern, Getreide von
seinen Feldern und Häute vonUeinen'Heerden nach Spalato an einen pfiffigen
Griechen, der natürlich that,^was Menschen können, um ihn zu Übervor¬
theilen. Er hielt sich ein Heer von faulenzenden, in^ Roth und Gold, bis an
die Zähne bewaffneten Dienern und einen Mächtigen ° Marstall, hatte aber
nur eine Frau; denn er war ein aufgeklärter Türke oder wollte wenigstens
für einen solchen gelten. Darum richtete er sich nach dem Grundsatze: „Je
weniger Weiber, desto mehr Aufklärung" und machte alljährlich eine Reise —
mindestens bis Trieft. Einmal war er sogar „u Been", d. h. in Wien, ge¬
wesen, es hatte ihm aber nicht gefallen. Bei seinen häusigen Reisen nach
und von Spalato kehrte er regelmäßig bei dem Verfasser ein, wurde dessen
Frau vorgestellt und half dann mit seinem in nahezu kindischer Urwüchsigkeit
vorgebrachten Geplauder über die Eintönigkeit so mancher Abendstunde
hinweg. Und nun soll das Buch mit einigen Kürzungen selbst weiter er¬
zählen :
„Einmal überraschte er uns, indem er gegen alle türkische Sitte uns
Grüße von seiner Frau und die Ankündigung überbrachte, daß dieselbe mit
dem Sticken eines Schnupftuchs für meine Ehegesponsin beschäftigt sei. Zu¬
gleich lud er mich ein, ihn in seine Heimath zu begleiten und das Tuch ab¬
zuholen. Seine Frau, meinte er, könne ich allerdings nicht sehen, weil das
die türkischen Sitten nicht zugäben, auch das Haus, in welchem er mit ihr
wohne, dürfe ich nicht betreten. Dafür aber wolle er mir das Gebäude zeigen,
das er für seine Dienerschaft errichtet, den Stall, seine Aecker und seine Wäl¬
der. Mich hatte es schon längst verlangt, einen Blick in die böhmische Wild-
niß zu werfen, und so nahm ich die Einladung nicht ungern an."
Am folgenden Tage brachen die beiden Freunde auf, überstiegen in hals^
brechendem Ritte das Felsgebirge Prolog, wurden in pechfinstrer Nacht von
den Wolfshunden einer Schafheerde angefallen, von denen Mahmud ohne
Weiteres einen über den Haufen schoß, durchschwammen reitend einen Waldfluß
und kamen endlich. von Regen und Kälte halb erstarrt, bet dem einsamliegen¬
den Besitz des Türken an.
„Ein Dutzend in rothe, goldgestickte Jacken und blaue Pumphosen ge¬
kleidete Gestalten, von denen jeder eine Kienfackel schwang, empfing uns vor
einem thurmähnlichen Gebäude, dessen unterstes Geschoß dem Gerüche nach
einen Pferdestall zu enthalten schien, und geleitete uns über eine hölzerne,
von außen angebrachte Treppe in ein vollkommen kreisrundes Gemach, das von
der in der Mitte desselben aufgehängten Oellampe und dem in in einem offnen
Kamine flackernden Feuer erleuchtet wurde. Vor letzterem kniete ein graubär¬
tiger Türke und kochte in einer großen kupfernen Pfanne Kaffee. Rund um
die roh angeworfene Wand lief ein gegen dieselbe sanft ansteigender Breter-
boden, der mit Teppichen bedeckt und mit Polstern als Kopfkissen belegt war
^ die Schlafstätte der Dienerschaft.
Die Diener — ich zählte deren sechsundzwanzig — nahmen uns die
Reisemantel ab und präsentirten jedem von uns einen Tschibbuk. Mahmud
Firdus Beg nahm auf zwei übereinandergelegten Polstern in der Mitte des
Zimmers mit untergeschlagnen Beinen Platz und lud mich mit würdevoller
Handbewegung ein, des Gleichen zu thun. Hierauf credenzte uns der Grau-
bart auf silbernen Untertassen zwei winzige Becher mit schwarzem Kaffee und
bediente dann ebenso der Reihe nach sämmtliche Diener, die, nachdem wir
uns gesetzt, mit der größten Ungenirlheit ihre Tschibbuks zur Hand nahmen
und rauchten, als ob sie unter sich wären.
Während ich noch das Gemach, die Leute und die an der Wand hän¬
genden prächtigen Waffen musterte, überraschte mich mein Wirth mit der Be¬
merkung, daß es bei ihnen nicht Sitte sei, des Abends etwas Anderes als
Kaffee zu genießen, daß er jedoch hoffe, ich werde mir morgen — das Mittags¬
mahl desto besser schmecken lassen. Das war ein sehr entlegner Trost für
meinen knurrenden Magen, aber ich mußte mich höflich in das Unvermeidliche
fügen und sofort mein Schlafgemach aufsuchen. Mahmud schritt voran und
führte mich mit feierlichem Wesen, als ob sich meinen erstaunten Augen jeden
Augenblick ein Prachigemach darbieten sollte, über eine zweite wackelige Treppe
in einen Raum, der dem innern Theile einer Kuppel glich, der aber auch,
wenn er die eine oder die andere lückenartige Oeffnung gehabt hätte, für ein
Taubenhaus hätte gehalten werden können. Er hatte aber außer der Thür
keine andere Oeffnung, als die fingerbreiten Risse in den Bietern, aus denen
dieses Denkmal neulürkischer Baukunst gezimmert war, und durch welche, als
ich mich schlafen gelegt, ein kalter Regen hereinströmte, der mich windelweich
durchnäßte." —
Am andern Morgen gab es wieder schwarzen Kaffee und Tschibbuk, auch
kam mit vielem Dank von Seiten der Türkenfrau für das Zuckerwerk, das
ihr die Frau des Verfassers durch diesen übersandt hatte, das versprochne
stickce Tuch an, welches später die Kinder des letzteren bedeckte, wenn sie zur
Taufe getragen wurden. Dann wurde ein Ritt durch die Besitzungen Mas/
und's angetreten, von dem uns das Buch wieder selbst berichten soll.
„Traurig und öde genug war das, was sich meinen Augen bot: stun¬
denweit sich hinstreckende Gründe, die nicht bearbeitet waren und Pflug und
Samen nicht eher sehen werden, als bis eine nicht türkische Regierung über
das Wohl und Wehe dieser jungfräulichen Länder zu entscheiden haben wird
— prächtige Eichenwälder in ungebrochenen Bestände, in denen hier und da
die alten Baumriesen todt und halbverfaull auf dem Boden lagen, während aus
ihrem ehrwürdigen Leibe ganze Generationen jungen Nachwuchses empor'-
sproßten — ungeschlachte, halbnackte, schmutzige Bauern, dem Anzug nach
böhmische Christen, deren Verkommenheit ihnen kaum erlaubt, dort des Lebens
dringendste Nothdurft einzuheimsen, wo der Natur verschwenderisch ausgestreute
Fülle sich ihrem blöden Augen bietet — elende Lehmhütten, spärlich auf der
Ebne sichtbar, in denen die Familien mit ihrem Viehstände gemeinsam Hausen
über dem Ganzen die grauen Regenwolken eines trüben Ocrobertagcs. ein¬
förmig, einfarbig, durch nichts unterbrochen als durch eine unzählbare Menge
schwarzer Punkte. Falken, die, ruhig an einer und derselben Stelle schwebend,
ihres Raubes harrten.
Und wie wir so dahinsprengten durch die düstere Landschaft, mein Wirth
auf seinem Rappen mit dem von seinen Schultern flatternden rothen Mantel,
ich mit trüben Gedanken die trostlose Wirthschaft ringsum betrachtend und
hinter uns ein kleiner affenartig aussehender Mohr auf unmäßig hohem
Gaule, da war mir beinahe, als ob wir nicht von Fleisch und Bein wären,
sondern als gespenstische Reiter in den Wind hineinjagten über die unabseh¬
bare öde Ebne. —
Nach einiger Zeit klärte das Wetter sich auf. Die Wolken zertheilten
sich, und die Sonne schien auf das Gelände. Die Gipfel des hohen zu unsrer
Rechten sich hinziehenden Prologgebirges, das ich Tags zuvor, von Dalmatien
kommend, überschritten, waren in leichte Nebelschleier gehüllt, die. ab und zu
vom Winde gehoben und verschoben, sich dann wieder an anderer Stelle über
die Hänge des Berges fein und duftig herabsenkten. Zwischendurch schim¬
merte das kräftige Roth und Braun der im Herbstschmucke prangenden Wälder,
und durch das struppige Unterholz hindurch, über das rauhe Gestein herab
sprangen und stürzten kleine Wildbäche, die sich dann auf der breiten Thalsohle
sammelten und sie gleich Silbcrbändern durchzogen. Sie waren hier zum
Theil sehr tief, aber weder Brücke noch Steg führte darüber; wem sie im
Wege waren, der mußte sie eben durchschwimmen.
Zu unsrer Linken begleitete uns eine andere Kette von Bergen, eben¬
falls Ausläufer der dinarischen Alpen, die vom Gipfel bis zum Fuße
herab mit prachtvollem Walde bedeckt waren, und vor uns dehnte sich das
lange Thal hin, an dessen südlichem Ende Livno, das Ziel unsrer heutigen
Reise, lag.
Mahmud Firdus Beg sagte mir. daß der größere Theile jener Wälder,
die droben im Gebirge aus Eichen und Buchen, unten in der Ebne aber aus
Apfel-, Kastanien- und Zwetschenbäumen bestehen, sein Eigenthum sei. Auch
^r waldlose Grund und Boden, auf dem wir dcihinritten. gehöre zu seinem
Landbesitze. Aber Alles trage nicht viel ein. Er habe sich allerdings von
einem Kroaten im Walde mehrere Bretmühlen bauen lassen und füttere mit
dem Ertrage der Obstbäume große Heerden von Schweinen, doch bekäme
er weder für die Breter noch für die Schweine viel Geld; denn in Bos¬
nien kaufe sie selten jemand, und bis sie auf den Markt nach Sige oder
Spalato kämen, hätten die Kosten des Transports den Werth der Waare
verzehrt.
Am besten bezahlen sich noch die Schweine; denn diese kaufen zu¬
weilen auch unsre Giauren — wenn sie Geld haben; fügte Mahmud Firdus
Beg hinzu, indem er bei dem Worte „Giauren" feierlich ausspuckte, aber nicht
nach der Seite hin, wo ich ritt; denn dazu war er zu höflich, und dann war
ich ja auch sein Gastfreund.
Vielleicht hatte ihn auch der Anblick der vier Najahs, welche in diesem
Augenblicke abseits unseres Weges um ein kleines Feuer saßen und ganze
Maiskolben zu ihrem Frühstück bereiteten, zu dieser symbolischen Gefühlsäuße¬
rung veranlaßt. Die Leute waren, als wir uns ihnen näherten, aufgestanden
und grüßten demüthig auf türkische Art, indem sie mit der rechten Hand
Brust, Mund und Stirne berührten. Mahmud Firdus Beg lachte ihnen hä¬
misch entgegen, ließ aber den Gruß unerwidert.
Ich habe mich später erkundigt, auf welche Weise Mahmud zu seinem
Reichthums und zu dem Titel Beg gekommen war, der ja eine Art Adel be¬
deutet. Für beides hatte man in echt türkischer Anschauungsweise nur eine
Erklärung. Der Vater Mahmud's war einst, wie gesagt. Gouverneur von
Bosnien und führte als solcher die Bezeichnung Beg. Er wurde ein reicher
Mann, indem er die Bauern des Landes, soweit sie Christen waren, solange
geschunden und ausgesogen hatte, bis sie nichts mehr besaßen, worauf sie
sich in ihrer Verzweiflung empörten und den Blutsauger ermordeten. Darauf
gingen Titel und Reichthum aus seine beiden Söhne über, und so wurde
Mahmud zum Beg und gelangte in den Besitz der herrlichen Wälder, die sich
auf den Hängen der dinarischen Alpen uns zur Rechten und zur Linken hin¬
zogen, sowie der breiten und fetten Niederung des Thales, durch das wir
hinabritten. Hin und wieder war ein Stückchen dieser Thalsohle roh bearbeitet
gewesen, und zeigten gelbe Stoppeln oder kleine aus den zurückgebliebenen
Wurzeln verspätet hervorgesproßte Pflanzen, daß hier Waizen oder Tabak
gebaut und eingeerntet worden war." —
Es hat in Bosnien mit dem Ackerbau seine eigene Bewandtniß. Der
Grund und Boden gehört niemals dem, der ihn bebaut. Die Begs — ge¬
wöhnlich Nachkommen der im siebzehnten Jahrhundert zum Islam überge¬
tretenen slavischen Adels-Geschlechter — haben alles fruchtbare Land durch ein¬
fache Besitznahme in Beschlag genommen, zuweilen auch durch Gewaltthat,
Raub und Mord erworben. Mitunter war das Besitzrecht auch der Preis, den
ihnen der Islam für ihren Uebertritt gewährte. Ein Kataster, ein Grund¬
buch, eine nachweisbare und klar ersichtliche Besitzgrenze gehören in den Ebenen
wie auf den Bergen Bosniens zu den unbekannten Dingen. Der Bauer —
Griechisch-Orthodoxer oder Katholik, immer aber Slave und zwar dem ser¬
bischen Stamme angehörig — hat eine elende Hütte in einer von den ins
Gebirg hineinlaufenden Mulden, er hat Weib und Kind, aber oft kaum zu
essen. Er spannt, wenn das Frühjahr gekommen ist, seine Ochsen ein und
bearbeitet damit ein beliebiges Stück Land in seiner Nachbarschaft. Das be¬
stellt er mit Getreide oder Tabak und nährt sich und die Seinen bis zur
Ernte kümmerlich von den Früchten der Wälder und in der Asche gebratenen
Maiskolben. Vielleicht hat er auch ein paar Hammel, in welchem Falle er
schon zu den Wohlhabenden gerechnet wird. Kommt nun die Zeit der Ernte,
so steht es ganz im Belieben des Begs, dessen Land er gepflügt und besät
hat, ob er selbst, der Bauer, oder der Beg. der Grundherr, das Gewachsene
hineinbringen soll. Vergleicht sich der Bauer mit dem Beg, leistet er diesem
eine Abgabe von der Ernte, welche dessen Ansprüchen genügt, so kann er sich
den Rest nach Hause schaffen und hat nun bei der außerordentlichen
Fruchtbarkeit des beinahe jungfräulichen Bodens und bei seiner unglaublichen
Mäßigkeit bis zum nächsten Sommer die nöthige Atzung. Gelingt es ihm
aber nicht, sich mit dem Beg zu verständigen, so erklärt dieser einfach, daß
der Grund und Boden, auf dem des Bauern Waizen. Mais oder Tabak
gewachsen, ihm, dem muslimischen Herrn, gehöre, und daß der verfluchte Giaur
denselben ohne jede Erlaubniß bebaut habe, und läßt die Ernte durch seine
Diener heimführen.
Zuweilen kommen aber auch noch andere abscheuliche Verhältnisse ins
Spiel. Die böhmischen Muslime machen von ihrem Rechte, sich mehrere
Frauen anzuschaffen, nicht immer und dann nur einen sehr mäßigen Gebrauch.
Sie sind eben keine Türken oder Araber, sondern, wie bemerkt, muhamedanische
Slaven, und finden schwerer die nöthige echt orientalische Gelassenheit, die man
bedarf, um es mit mehr als einem Weibe auszuhalten. Aber die Bauern,
die verachteten Mauren, haben oft hübsche Weiber und erwachsene Töchter,
die nicht übel sind, und der Beg — ist der Herr ! Das giebt -dann Meinungs¬
verschiedenheiten, und aus diesen entwickeln sich nicht selten Scenen wie die,
welche der Verfasser während seines Aufenthalts in Livno erlebte. Derselbe
erzählt:
„Der österreichische Consular-Agent in Livno war, wie mir bekannt, nach
Mostar gereist, und der Mudir, die höchste obrigkeitliche Person in jener
Stadt, hatte mir Tags zuvor durch einen Diener Mahmud Firdus Begs
seinen Gruß entbieten lassen und mich eingeladen, ihn zu besuchen. Seit mehr
als einer halben Stunde schon zeigte sich uns im Süden der Ebene auf einem
Hügel, der wie ein Vorgebirge in dieselbe hineinragte, das alte verfallene
Kastell, um welches herum die Stadt Livno liegt. Wir mußten einen kleinen
Umweg machen, weil gerade vor uns eine zahlreiche Heerde von riesigen
Büffeln weidete, durch welche zu reiten sehr bedenklich gewesen wäre. Als wir
in einem kleinen Halbkreise um dieselbe herum geritten waren, befanden wir
uns auch am Fuße der Anhöhe und unmittelbar vor den ersten erbärmlich
gebauten Häusern der Stadt. Mahmud Firdus Beg stemmte das Pfeifenrohr
auf den rechten Schenkel und stieß seinem Pferde die scharfen kellerartigen
Bügel in die Weichen. Ein Türke reitet in eine Stadt nie anders als
im Galopp. Und so sprengten wir denn den mit runden Steinen gepflasterten
Weg im scharfen Ritte hinan, daß die Funken stoben und das Pferd eines
unserer Diener elend auf Knie und Nase stürzte, während der Reiter über
den Kopf desselben ein paar Schritte weit bergauf flog.
Vor einem alterthümlichen einstöckigen Gebäude machten wir Halt. Das¬
selbe war aus Quadern gebaut, hatte im Erdgeschosse auf kurzen starken
Säulen ruhende Bogengänge und war offenbar nicht türkischen Ursprungs.
Es mochte wohl noch aus dem vierzehnten oder fünfzehnten Jahrhundert
stammen, als die Slaven noch Herrn des Landes waren und deutscher oder
italienischer Kunstsinn auch auf ihre Bauten seinen Einfluß ausübte. Daß
es jetzt in türkischen Händen war, dafür zeugten die Rundbogenfenster des
ersten Stockwerks, die zur Hälfte mit roh behauenen Steinen zugemauert
waren.
Wir übergaben die Pferde den Dienern und schritten die sehr schmutzige
Wendeltreppe hinan. Bor der Thür entledigte sich Mahmud Firdus Beg
seiner gelben Reitstiefeln und schritt, ohne anzuklopfen, in das Zimmer. Mir
als einem fremden „Effendi" war gestattet, meine Fußbekleidung zu behalten.
Wir traten in ein großes Gemach mit zwei Thüren und einem breiten
Fenster. Auf der einen Seite desselben war ein hoher, schwerer, aus irgend
einem schönen Holze ohne jede Kunstfertigkeit gezimmerter Glaskasten, in
welchem Pistolen, Gewehre, Handspeere, dann mit Silber beschlagener Kopf¬
schmuck für Pferde hingen, und der die eine Wand des Zimmers vollständig
einnahm. Längs der andern drei Wände lief ein niedriger, sanft gegen die
Mauer aufsteigender Breterverschlag, ähnlich den sogenannten Pritschen in
unsern Wachstuben hin. Derselbe war mit Teppichen bekleidet, auf denen
eine große Menge von Polstern lagen. Es war der „Divan". Auch den
steinernen Fußboden des Zimmers bedeckte ein schöner Teppich. Sonst war
von Einrichtungsstücken in dem Saale keine Spur zu bemerken. Das war
das Amtszimmer des Mudirs oder Amtmanns von Livno.
Der Mudir selbst saß mit untergeschlagenen Beinen gerade der Thür
gegenüber auf dem Divan und hatte den Schlauch einer türkischen Wasser¬
pfeife (Nargileh) in der Hand, mit dessen Mundstück er nachlässig spielte.
Rothe Pumphosen, ein rothes, mit Silber gesticktes und besetztes Leibchen und
über demselben eine grüne, mit Silverknvpfen verzierte und mit Pelz aus¬
geschlagene Jacke bildeten seine Bekleidung. Auf dem Kopfe trug er ein Feß
ohne Turban. Die Füße waren nackt. Neben ihm saß ein anderer Türke,
es war ein „ civilisirter". Er war mit schwarzen Pantalons und einem
schwarzen verschnürten Rocke bekleidet, wie ihn die Beamten in Konstantinopel
zu tragen pflegen. Auch hatte er lackirte schwarze Schuhe an und rauchte
keinen Tschibbuk, sondern eine Papiercigarette — in welchen Dingen die tur-
lische Civilisation im Wesentlichen besteht. Beiläufig gesagt, erfuhr ich später,
daß der Lackstiefel-Türke aus Konstantinopel gekommen war, um die Steuer¬
kasse des würdigen Mudir zu revidiren, und daß er bei dieser Gelegenheit
einen Abgang von zweimalhunderttausend Piastern — etwa vierzigtausend
Mark — gesunden hatte. Ob der Mudir diese Summe ersetzt hat oder nicht,
ist mir nicht bekannt geworden. Ich erfuhr nur nach einiger Zeit, daß er
später infolge dieser kleinen Unregelmäßigkeit seine Stelle mit einer andern
in Damaskus vertauschen mußte (wo man ihm vielleicht ein wenig besser auf
die Finger sehen konnte). Da ein Mudir in seiner Person den Ortsvorstand
oder Bürgermeister, den Richter, die politische Behörde und den Steuerein¬
nehmer vereinigt, so läßt sich die rücksichtsvolle Behandlung eines so wichtigen
Beamten wohl erklären" — zumal wenn man weiß, wie der Türke die öffent¬
lichen Kassen ansieht, und daß Mudire wie alle Angestellte im Reiche des
Padischa nur selten ihren Gehalt regelmäßig und vollständig ausgezahlt be¬
kommen.
„Der Mudir und sein Gast grüßten uns höflich, doch ohne aufzustehen,
und nachdem wir beide Platz genommen hatten, bot der Mudir mir, als
dem „fremden Effendi", den Schlauch seines eignen Nargilel) an. während er
sich selbst einen Tschibbuk geben ließ. Da gerade eine gerichtliche Verhand¬
lung vorgenommen werden sollte, so ersuchte er mich, ihm zu erlauben, daß
er dieselbe erledige, worauf er mir zu Diensten stehen oder, wie er sich artig
ausdrückte, „sich meiner Anwesenheit erfreuen wolle." Darauf klatschte er in
die Hände (was unter den Türken unser Klingeln vertritt), und zwei Diener
traten ein. Der eine zog aus dem Gürtel ein kleines metallnes Schreibzeug,
welches neben dem Tintenfaß zugleich das Federfutteral enthielt, und das er
stehend seinem Gebieter hinhielt. Der andere schob einen sehr defect geklei¬
deten alten Bauer vor sich her, der ein durchlöchertes Feß in den Händen
hielt, während von seinem von den Schläfen und dem Nacken bis zum Scheitel
glatt rasirten Kopfe rückwärts ein dünner Zopf herabbaumelte. Ein Mädchen
im Al^r von dreizehn oder vierzehn Jahren folgte. Sie trug weite Pump¬
hosen von blauer Leinwand, keine Schuhe und keine Strümpfe und ein enges,
vorne offnes, gleichfalls blaues Jäckchen. Zwei prachtvolle braune Zöpfe
hingen ihr fettgetränkt über die Schultern. Hände und Füße waren roth
vom Einflüsse der wechselnden Witterung und vielleicht auch von schwerer
Arbeit, aber ihr fein geschnittnes Gesicht war das einer Juno und ihr Wuchs
der einer Hebe. Sie weinte.
Die Verhandlung spielte sich sehr glatt ab. Ein gewisser Hussein Beg
hatte dem Bauer den Tabak wegnehmen lassen, den derselbe geerntet und zu¬
bereitet hatte. Dazu war er vollkommen berechtigt; denn der Tabak war
«uf seinem, Hussein Begs, Grund und Boden gewachsen. Vielleicht hätte
der türkische Herr mit dem unglücklichen christlichen Bauer Erbarmen gehabt,
aber es war ein kleiner Zwischenfall dazu getreten. Die Jele (Helene), die
Tochter des Bauern, hatte eines Tages in der Nähe von Hussein Begs
Wohnhaus die Schafe ihres Baders gehütet. Und als der Beg des Abends
nach Hause kam, gab er ihr beim Absteigen die Zügel seines Pferdes in die
Hand mit dem Auftrage, das Thier in den Stall zu führen. AIs aber Jele
im Stalle war, kamen zwei Diener Hussein's und schleppten sie in dessen
Zimmer. Des andern Morgens wurde sie entlassen, und weil sie ein Bündel
Maiskolben nicht annehmen wollte, die ihr der Beg hatte verabfolgen lassen,
so tractirten sie die Diener mit Faustschlägen. Am Tage nachher aber ließ
Hussein den Tabak aus der Hütte des Bauern wegnehmen — „seinen, Hussein
Begs, Tabak!"
Das Alles kam umständlich und klar an den Tag. Hussein Beg hatte
es nicht für nothwendig gehalten, zur Verhandlung zu erscheinen, er hatte
zwei Tage vorher eine Reise nach Serajewo angetreten. Der Mudir befragte
den Bauer und die Jele und notirte Einiges in die Schreibtafel, die er in
der linken Hand hielt. Dann sprach er das Urtheil. Hussein Beg ging
völlig straflos aus. Der alte Bauer aber mußte wegen Usurpirung fremden
Eigenthums fünfzig Piaster — zehn Mark — Strafe zahlen. Wenn er dazu
nicht im Stande sei, fügte der türkische Richter hinzu, so möge man ihm
drei Hammel confisciren. Da er und die Jele darüber in Weinen aus¬
brachen, so wurden sie beide zur Thür hinausgeworfen. Dann steckte der
Mudir seine Schreibtafel wieder in den Gürtel, und die Diener brachten uns
prächtig duftenden Kaffee." Nach der Arbeit das Vergnügen!
Der Verfasser schließt mit der Bemerkung: „Es giebt viele Husseins,
viele Bauern und sehr viel unbebautes Land in Bosnien. Auch haben dort
viele Bauern hübsche Töchter, aber kein Bauer hat Feld, keiner irgendwelchen
Grundbesitz. Wenn man darum von Unruhen in Bosnien (oder, wie wir
hinzufügen, in der anstoßenden und ähnlich gestellten, ähnlich auch verwal¬
teten Herzegowina) hört, so wolle man den richtigen Maßstab anlegen und
bedenken, daß ähnliche Dinge wie die, welche ich hier erzählte, dort fast alle
Tage vorkommen. Die Folgerungen sind dann leicht zu ziehen", und sie wür¬
den uns veranlassen, es aufrichtig zu bedauern, wenn wir hören sollten, daß
der Aufstand mißlungen und im Sande verlaufen sei, und zu wünschen, daß
bald ein Modus gefunden werde, eine Regierung, die solcher Schande nicht
steuern kann oder will, unter eine wirksame Curatel zu stellen.
Wenig Erfreuliches hat der Leser meinem Briefe entnehmen können. Um
so mehr beeile ich mich, zu gestehen, daß dem deutschen Besucher des Elsaß
doch auch Manches begegnet, was ihn mit aufrichtiger Befriedigung erfüllt.
Straßburg, obwohl unter allen französischen Städten von den Kriegsereig¬
nissen vielleicht am schwersten heimgesucht, hatte in seiner äußeren Physio¬
gnomie schon ein Jahr nach der Beschießung durchaus nicht mehr den Ausdruck
einer allgemeinen Niedergeschlagenheit; die Rolle eines Venedig, welche die
Pariser Regisseure es zwar zu gern hätten spielen lassen, war ihm schlechter¬
dings unmöglich, Was den El'sässern die Widerstandskraft von vornherein
gelähmt hat. das ist eben ihr deutsches Blut. Das zarte Geschlecht Straß-
burgs war im Jahre 1871 einig darüber, daß seine Reize dem Auge des
»brutalen Eroberers" ewig unter der düstern Hülle der Trauer verborgen
bleiben müßten; heute suche Einer, ob er in Straßburg auch nur ein
schwarzes Kleid mehr entdeckt, als in jeder entsprechend großen deutschen
Stadt! Man hat eben die innerliche Lächerlichkeit einer solchen permanenten
..National"-Trauer bald genug herausgefühlt. Oeffentlich zugestehen wird
Man dergleichen freilich niemals. Daß der trotz aller französischen Centrali¬
sation erhalten gebliebene deutsche Grundcharakter des Elsaß die Einverlei¬
bung in Deutschland des häßlichen Beigeschmacks der gewöhnlichen Eroberung
entkleide, ist in dem öffentlichen Raisonnement der Elsässer ein schlechterdings
unmöglicher Gedanke; selbst diejenige Partei, welche sich rückhaltslos und
ehrlich auf den Boden der gegebenen Thatsachen gestellt zu haben behauptet
und von diesem aus für ihr Heimathland eine autonome Stellung bean¬
sprucht, vermeidet ängstlich, auf ein Moment hinzuweisen, ^welches die neue
Provinz noch am ersten geeignet erscheinen lassen könnte, ein selbständiges
Glied des Reichs in der Weise der übrigen deutschen Particularstaaten zu
werden; ihr Preßorgan sucht seine Stärke noch immer darin, seine Leser, statt
sie über die reale Lage, über die praktischen Aufgaben einer verständigen
elsässischen Politik aufzuklären, des Langen und Breiten mit sentimentalen
Klagen über das „verlorene Baterland", ja die „verlorene Nationalität" (!)
Zu haranguiren und dann die nebelhafte Ermahnung daran zu knüpfen, „un¬
ablässig zu kämpfen, um unsere Freiheiten (!) wieder zu erobern". Allein
während der offene Markt wiederhallt von diesen nichtssagenden Decla-
Mationen, geht in der Stille die neue Entwicklung ihren langsamen,
aber sichern Gang. Ein erfreuliches Beispiel davon lieferte der bereits
erwähnte deutsch-österreichische Bienencongreß. An allerlei landwirth.
schaftlichen Festen hat es in den letzten Jahren im Elsaß nicht gefehlt, auch
nahm der elsässische Landmann regen Antheil an denselben; aber sie trugen
von A bis Z den Stempel des von deutschen Beamten künstlich Gemachtem.
Im vorliegenden Falle hatte sich das Beamtenthum möglichst zurückgehalten,
die Hauptsache lag in den Händen wirklicher Elsässer, und siehe da, der Er¬
folg war ein vollständiger. Eine Lust war es, zu sehen, wie ungezwungen
das eingeborne und das eingewanderte Element sich unter einander mischten;
vergebens suchte ich auf den Gesichtern der zahlreich herbeigeströmten Land¬
bevölkerung nach einem Anzeichen jenes tiefen Wehs, welches ihr nach der
Versicherung der Pariser Presse noch immer an der Seele nagen soll. Mäd¬
chengestalten wie jenes wunderbare Weib mit den feingeschnittenen Zügen,
dem edeln Profil und den großen dunkeln Augen, das man nicht allein in
allen französischen, sondern auch in den Berliner Bilderläden zu sehen ge¬
wohnt ist, waren in den reizenden Anlagen der Straßburger Orangerie reich¬
lich zu sehen; aber weder trugen sie die Tricolore im Haar, noch schwebte
ihnen das schwermüthige „^'g-ttenäs" auf den frischrothen Lippen.
Und wie es um den „finstern Groll" der männlichen Jugend steht, das
wissen wir längst aus den ärgerlichen Berichten der französischen Blätter über
die Fröhlichkeit, welche bei den elsässischen Recrutenaushebungen zu herrschen
pflegt. Der Militärdienst, weit entfernt, eine steigende Erbitterung verur¬
sacht zu haben, hat sich im Gegentheil als ein vortreffliches Germanisirungs-
mittel erwiesen. Ueber die Tüchtigkeit, Willigkeit und Anstelligkeit der clsässi'
schen Soldaten kann man von Offizieren, die mit ihnen zu thun hatten, viel
Lob hören. Aber auch die Rückwirkung auf die ältere Generation daheim
macht sich schon bemerkbar. So erzählte mir ein seit Jahrzehnten im Elsaß
wohnender und die Dinge mit nüchternem Blick beobachtender Freund von
einem Bauern, dessen Sohn soeben in Köln seine drei Jahre abgedient hatte.
Der, Alte hatte ihn lange Zeit über natürlich nicht gern entbehrt, aber er
gestand das mit schmunzelnder Miene, daß der Junge, der mit großer Lust
und Liebe Soldat war, bei jedem Urlaubsbesuch, „schöner" gewesen sei, und
nicht weniger stolz war der glückliche Vater darauf, daß der Sohn einmal bei
einem solchen Besuch von einem höheren Offizier, bei welchem er Bursch war,
einen Brief erhalten hatte mit der Bitte, bald wiederzukommen, man könne
ihn nicht entbehren. — Kurz, das deutsche Blut verlangt seine Rechte; das
werden alle Lamentationen der ganzen und halben Protestler nicht verhindern.
Bei den hochmüthigen Tiraden dieser Leute fällt mir immer jener schwäbische
Schneidergesell ein, der den Straßburgern vom Jahre 70 erinnerlich ist.
Dieser wackere Mann saß während der Belagerung in einer Kneipe, als plötz¬
lich zum allgemeinen Entsetzen die erste Bombe in die Stadt schlug. „So",
rief er fröhlich seinen Tischgenossen zu, „nun werden wir's schon kriegen!"
Die unmittelbare Folge war seine Verhaftung. Am nächsten Tage wurde er
mit einer strengen Verwarnung entlassen. Als er aus dem Verhörzimmer trat,
schlug gerade eine Bombe am Fenster vorbei. Unser braver Schneider jauchzte
laut auf und rief dem Schließer zu: „Und wir kriegen's doch!" Seine Zu¬
versicht hat ihn nicht betrogen. Die unsrige aus die endliche moralische Ein¬
nahme der Festung wird es ebensowenig thun. —
Inzwischen muß ich gestehen: so wohlthuend es dem patriotischen Herzen
ist, an den zahlreichen unscheinbaren Symptomen zu bemerken, daß es vorwärts
geht in dem theuer erkauften Lande. — ich athmete doch neu auf, als ich vom
Eisenbahnwagen aus den Bergen der bairischen Pfalz den Willkommengruß
zurufen konnte. Nach der ziemlich reizlosen Fahrt durch das nördliche Elsaß
ist der plötzliche Anblick der schöngeformten, imposanten Kegel des Trifels,
Rehberg u. f. w. doppelt wirksam. Und hat man erst die unter den Hammer
gebrachte Reichsfeste Landau im Rücken, und der Zug saust dahin durch die
unabsehbaren Nebgefilde, links die anmuthigen Höhen von Edenkoben und
darüber die ragende Kalan, dann aus herrlichem Waldesgrün sich erhebend
die wohlbekannte Burg Hambach, und endlich, am Fuße des schroff abfallen¬
den Rückens der Haardt, das immerfröhliche Neustadt mit dem unbeschreib¬
lichen Blick in das Thal des Scheierbachs — wer wollte, wenn dies paradiesische
Land sich in den zarten Duft eines sonnigen Septembertages zu seinen Füßen
breitet, nicht von ganzem Herzen einstimmen in den Ruf: „Fröhlich Palz,
Gott erhalt's!"
Man hat die Pfälzer, ganz besonders die linksrheinischen, prosaisch und
«aß-materialistisch genannt. Richtig ist, daß sie von den Schätzen dieser Welt eine
sehr hohe Meinung haben, daß sie im Dienste des Bachus des Guten häufiger
Zuviel thun, als zu wenig, und daß ihre Freude sich meistens in recht kräftigen
Formen Luft macht. Aber wer dem Herzen dieses Volkes einmal bis auf den
Grund geschaut hat, der weiß, daß dasselbe doch noch sehr anderer Regungen
fähig ist, als egoistischer Gewinn- und Genußsucht. Ich.habe die Pfalz ge¬
sehen in jenen bangen Wochen des Jahres 1870, da plötzlich und unerwartet,
Wie ein Gewitter am sonnenhellen Morgen, der Krieg hereinbrach. Wehrlos
lag das Land dem Feinde offen, jeden Augenblick gewärtig, von einem aus
dem Elsaß heranrückenden Armeecorps überflutet zu werden. Wäre der
Pfälzer wirklich jeder idealen Schwungkraft baar, was hätte ihn damals hin¬
dern sollen, sich der „französischen Zeit" seiner Heimath zu erinnern und sich
mit dem Gedanken zu trösten, daß man sich den Wein zur Noth auch unter
den Fittigen des gallischen Hahns munden lassen könnte? Allein, außer
einem gott- und ehrvergessenen Pfaffen hat. soviel ich weiß, kein Mensch
eine ähnliche Niederträchtigkeit auch nur angedeutet; überall inmitten der
schweren Gefahr glühte echte deutsche Treue, loderte die helle Flamme patrio-
tischer Begeisterung. Und dann, als sie endlich kamen, die heißersehnten
Preußen — wer beschreibt den grenzenlosen Jubel, wer die Freudenthränen
und die aufrichtigen Dankgebete! Aus Dorf und Stadt schleppte man von
dem guten Weine des Landes herbei, soviel, daß der des edeln Trankes un¬
gewohnte norddeutsche Krieger schier niedersank unter der Fülle der Liebe.
Zu einem ansehnlichen Berge lagen in Neustadt auf dem Bahnhof die Fässer
aufgespeichert und mit jener genialen Intuition, welche der echten Volks¬
bewegung eigen zu sein pflegt, den Ereignissen vorgreifend, unbekümmert darum
daß in der eigenen Landeshauptstadt die Staatsgelehrten soeben noch sich die Köpfe
zerbrochen hatten über den „en>suL toeäsris" und die „bewaffnete Neutralität",
gab man diesen Fässern die Inschrift: „Für das deutsche Heer!"
Nein, wer diese Scenen nicht mit erlebte, der lasse davon ab, über das pfäl¬
zische Gemüth ein Urtheil fällen zu wollen!
Man bestreitet den Pfälzern das tiefere geistige Interesse. Allerdings
sie sind in ihren Cirkeln nicht gewohnt, die höchsten Probleme der Weltweis¬
heit zu discutiren, aber soviel ist doch über allen Zweifel erhaben, daß sie
eher an der Spitze als am Schwänze der Civilisation marschiren. Eine Pro¬
vinz, die allen Anstrengungen der Haneberg, Molitor und Becker zum Trotz
in indirecten wie in directen Wahlen ausschließlich liberale Abgeordnete er¬
nennt, kann höchstens von einem Ultramontanen wegen geistiger Verwahr¬
losung beklagt werden. Die Köpse sind hell und rasch im Erfassen vernünf¬
tiger Gedanken; kaum irgendwo in deutschen Landen wird der Obscurantis-
mus jeder Art sich mehr Feinde gegenübecsehen, als dort in der Pfalz. Aber
man glaube nicht, daß es bei dem gewöhnlichen Niveau einer freisinnigen
Bildung sein Bewenden habe. Mit welchem Selbstbewußtsein sieht wohl so
mancher Reisende, besonders, wenn er an der Spree zu Hause ist, aus seinem
Coupe auf die winzigen Städtchen hinab, an denen die Eisenbahn in der
Unterpfalz vorüberführt. Ich erlaube mir, ihm zu versichern, daß er in einem
dieser Städtchen noch vor wenigen Jahren, ehe der dunkle Schoß der Erde
sie barg, das Urbild einer geistvollen und feingebildeten Frau hätte kennen
und verehren lernen können. Und in einem andern möchte ich ihn zu einem
Hause führen, das unter dem Walten einer trefflichen Dame sich zu einem
mit seinem Kunstsinn geordneten wahren Mikrokosmos gestaltet hat. „Aber
wenigstens die weibliche Jugend," so betheuerte mir noch auf dem Wege
nach der Pfalz ein in psychischen Dingen wohlerfahrener Mann, „ist entsetzlich
nüchtern und seicht." Lieber Freund, wie würdest Du Dich gewundert haben,
hättest Du zwei Tage später ein halb Stündchen mit meiner Tischnachbarin
plaudern können! Allerdings, für Blaustrümpfe ist unter den fröhlichen
Pfälzerinnen verzweifelt wenig Material, auch nicht für mordsüchtige Senti¬
mentalität, aber an tüchtiger Bildung des Geistes uno des Herzens, an guten
Gedanken und an gesundem Empfinden dürfen die Jungfrauen der Pfalz mit
ihren norddeutschen Altersgenossinnen den Wettkampf getrost aufnehmen.
Kurz, es ist ein auserlesenes Völkchen, diese Pfälzer. Und wer sie so¬
zusagen in'lines studiren will, dem rathe ich, nach Neustadt zu gehen.
Kaiserslautern hat seine große Industrie, Speyer ist Sitz der Regierung und
des Bischofs, Zweibrücken zehrt von seinem Appellationsgericht und seinen
residenzlichen Erinnerungen, aber das Herz der Pfalz schlägt in Neustadt.
Von seiner Bürgerschaft erzählen sich die Nachbarn freilich eine seltsame Ge¬
schichte. Eines Abends wurde bekannt gemacht, daß am nächsten Morgen
der Gescheiteste gehängt werden sollte; als der Tag anbrach, war es auf¬
fallend leer in der Stadt und die Ehefrauen rangen verzweifelt die Hände:
sie waren über Nacht sämmtlich Strohwittwen geworden. Der unbefangene
Kritiker erkennt indeß leicht, daß nur der bloße Neid diese Historie erfinden
konnte. Daß die Neustädter in der That gescheidte Leute sein müssen, beweist
schon der stolze „Saalbau", den der Fremde beim Austritt aus dem Bahn¬
hof verblüfft anstaunt; sie haben ihre gewaltige Gründung glücklich und
glänzend zu Ende geführt, während der „Metropole der Intelligenz" im Bä-
deker demnächst ein besonderes Kapitel über moderne Ruinen gewidmet werden
könnte. Freilich löst sich das Räthsel leicht genug. Die Neustädter »Gründer"
waren keine gewinnsüchtigen Beutelschneider, sondern solide Bürger, erfüllt
von thatkräftigen Gemeinsinn und fröhlichem Muth. „Wenn Frankfurt
seinen Saalbau hat, warum nicht auch Neustadt?" So dachten sie und
schufen einen Palast, um den die Reichshauptstadt sie beneiden kann. Ja¬
wohl, sie verstehen sich auf den großen Styl, diese Neustädter! Und auch
dem Geringfügigem, Alltäglichen wissen sie eine höhere, ja poetische Weihe zu
geben. Selbst durch die Hallen der Bierkneipen leuchtet ein Abglanz des
ewig Schönen, ja in einer derselben trifft der Wanderer eine Hebe, wie Rafael
selber schwerlich jemals ein schöneres Modell gekannt hat; drum hat ihr
auch ästhetische Andacht, anspielend auf die Stätte ihrer Geburt, den Namen
»Madonna von Oggershaine" gegeben. — In summa. suum^rum: „Fröhlich
Palz, Gott erhalt's!"
Die am 28. September begonnene und am 21. Oktober geschlossene Land¬
tagssession war eine kurze, aber eine der bedeutungsvollsten in der parlamen¬
tarischen Geschichte Bayerns. Der nun seit fast 6 Jahren auf und ab wo-
gente Kampf zwischen Ultramonianismus und Liberalismus, zwischen Rom
und Deutschland, der Kammer und Land in zwei Hälften theilt, hat innerhalb
dieser ganzen Zeit keinen so entschiedenen Standpunkt genommen, als wie in
diesen Wochen, in den letzten Tagen. Bisher konnten wenigstens die Kleri¬
kalen glauben, es sei ihnen, bei nur irgend wie ihnen günstigen Chancen,
möglich, an die Spitze der Regierung zu gelangen oder doch dem Könige die
Ueberzeugung beizubringen, daß die Majorität des Volkes wirklich eine solche
Regierung brauche und ersehne — heute liegt alles anders, alle ultramontanen
Träume sind verflattert, alle die schönen Hoffnungen der Herren Jörg und Ge¬
nossen begraben. Und das durch Ein Wort, ein Königswort, das zur rechten
Stunde, im Augenblick der größten Verwirrung und höchsten Noth gesprochen
worden ist.
Es ist bekannt, wie die Abgeordnetenwahlen dieses Sommers aus¬
gefallen sind. Beide Parteien hatten das Möglichste ausgeboten, das alte
Terrain zu behalten und neues zu gewinnen. In ersterer Beziehung war es
den Liberalen in der Pfalz, Mittelfranken und fast allen großen und größeren
Städten gelungen, in letzterer konnten sie neue Siege in Schwaben, Unter-und
Oberfranken verzeichnen und sogar die ultramontane Oberpfalz hatte sich, in¬
dem dort zwei freiheitliche Wahlkandidaten durchgingen, um den Ruhm ihrer
klerikalen Jungfräulichkeit gebracht. Aber doch standen den 77 liberalen Ab¬
geordneten 79 ultramontane gegenüber, eine streng geschlossene Schaar, von
der Herr Jörg, ihr bis an die Zähne gewappneter Führer, in der Adreß-
debatte zu behaupten sich vermaß, daß diesmal kein wurmstichiger Apfel „unter ihr
erfunden" werden würde, womit er in sehr collegialer Erinnerung auf die „An¬
gefallenen" der letzten Session zielte, d. h. die in den Stunden nationaler Ent¬
scheidung das Herz gehabt hatten, von der Seite Roms auf die Seite Deutsch¬
lands zu treten. Man war in den klerikalen Reihen sicher, diesmal nur „Ent¬
schiedene" gewählt zu haben, die diesem Ministerium, dieser Regierung
keinen Tag mehr gönnen würden, deren erste Handlung sein müsse, die rothen
Fauteuils von diesen „Friedensstörern", diesen „Verfolgern der Kirche", und welche
Epitheta man sonst für Herrn v. Lutz und seine Kollegen hatte, zu säubern und
sie mit würdigern Männern zu besetzen. Es war wahr: alle gemäßigten
Elemente der Rechten der letzten Kammer, mit denen im Laufe der Zeit we¬
nigstens für praktische Fragen ein ganz erträglicher moclus vivendi hergestellt
worden war, hatte man ausgemerzt: was auf jener Seite am 27. September
den Eid in die Hände des Stellvertreters des Königs ablegte, war schwarz,
kohlschwarz, untadelig vor den Augen der Führer des patriotischen Clubs und
des Nuntius in München. Man konnte sich auf die schönsten Reden gefaßt
machen, wenn Redakteure der extremsten Blätter, wie Kittler und Ratzinger,
Hetzkapläm- wie Hennemann, klerikale Beamte, wie Kopp und Schelo, fana-
lische Priester, wie Molitor und Nußwurm in die Arena eintreten würden.
Und die Erwartungen sollten nicht getäuscht werden.
Die Kammer wurde constituirt. Daß die Majorität von zwei Stimmen
gegenüber einer so namhaften Minorität doch irgend welche Rücksichtnahme
auf das letztere Verhältniß nehmen würde, hätte man allerdings nach gewöhn¬
lichen parlamentarischen Regeln voraussetzen sollen, allein man war einmal
nominell Sieger auf der Wahlstatt geblieben, man mußte das nun auch bei
Bestallung des Direktoriums ausnützen. So nahm man die beiden Präsidenten,
wie die zwei ersten Schriftführer, und zwar die Herren von Ow und Dr. Kurz,
sowie die Herren Jörg und v. Soden, aus der zweistimmigen Majorität und
bot der Linken großmüthig nur die beiden letzten Schriftführer an, aus welche
Großmuth aber zu verzichten letztere durch Abgabe weißer Stimmzettel documentirte.
Bei der Wahl der ständigen Ausschüsse verfuhr man schon etwas entgegenkom¬
mender; zwar sicherte man sich auch hier die Majorität, aber man brauchte doch
hier, namentlich für den Finanzausschuß, dem die Bearbeitung des Budgets obliegt,
wirkliche Kräfte, Arbeiter, erprobte, erfahrene Leute. Und mit denen konnten
die „Ganzen" und „Entschiedener" der herrschenden Partei doch nicht so gar dick
thun. Deshalb hatte man gar nichts dagegen, daß die, welche im letzten
Landtag den Löwenantheil der wahren Arbeit hatten, ihn diesmal wieder,
trotz ihres Liberalismus vom reinsten Wasser, zugetheilt erhielten.
Die Sitzungen begannen. In der ersten derselben schon brachte, wie ihre
Organe voraus feierlich angekündigt hatten, die Rechte durch den Mund des
zweiten Präsidenten, Dr. Kurz, k. Oberapellrathes in München, den Antrag,
auf Erlassung einer Adresse an den König ein. Der erste Posten zum Angriff
war damit vorgeschoben. Der Landtag war ohne Thronrede eröffnet worden,
also eine formale Veranlassung zu einer Adresse gar nicht vorhanden — und
die materielle Begründung: die Trauersälle, welche in der jüngsten Zeit das
königliche Haus betroffen — die umgestaltenden Ereignisse der letzten Jahre —
jedermann wußte, daß das nur eine sehr durchsichtige Schale für einen ganz
anders gearteten Kern war. Man mußte eine Handhabe für den Hebel haben,
der gegen das verhaßte Ministerium angesetzt werden sollte — und die war
die Adresse.
Die Liberalen erklärten sich gegen eine solche, indem, wie ihr Organ,
Freiherr von Stausfenberg ausführte, sie die eigentliche Absicht der Adresse
gar wohl durchschauten, aber gar keinen Anlaß fänden, an einem Sturmlauf
auf die gegenwärtige Regierung theilzunehmen, sondern für nöthig hielten,
sofort in die praktischen Geschäfte einzutreten, wobei genug Gelegenheit ge¬
geben sein würde, Wünsche und Beschwerden, die man man auf dem Herzen
habe, zur Sprache zu bringen.
Das war es aber eben nicht, was man wollte. Es sollte Staub aus-
gewirbelt, es mußte der lang verhaltene patriotische Schmerzensschrei an den
Stufen des Thrones zu Gehör gebracht werden. Die zwei Stimmen Majori¬
tät thaten ihre Schuldigkeit: Die Erlassung einer Adresse ward beschlossen
und der Ausschuß von Is Mitgliedern für die Berathung derselben gewählt,
Herr Jörg von diesem zu seinem Referenten ernannt. Als solcher schlug nun
dieser wiederum ein ganz eigenes, bisher unerhörtes Verfahren ein. Ohne,
wie er auf sein Wort behauptete, mit seinen Fraktionsgenossen in irgend welche
Communication zu treten, entwarf er ganz nach eigenen „historisch-politischen"
Heften die Adresse, ließ dieselbe unter höchsteigener Verantwortung autographiren,
ohne aber zuzugeben, daß diese Entwurfsexemplare an die einzelnen Ausschu߬
mitglieder zur Kenntnißnahme vertheilt würden, sondern muthete vielmehr
den Ministern, wie den liberalen Commissionsmitgliedern zu, sich einfach das
Aktenstück vorlesen zu lassen und dann sofort in die Discussion desselben ein¬
zutreten. Auf solche Ungeheuerlichkeit sich eine Anklage dieser Art, wie Jörg's
Adreßentwurf gegen die Regierung sowohl als gegen die andere Hälfte
der Kammer eine war, einfach zur Kenntnißnahme bringen zu lassen und
keine Minute Zwischenzeit zur Antwort haben zu sollen, ging man denn
doch nicht ein. Eine zweite Ausschußsitzung, bei welcher auch für die Mit¬
glieder des Hauses die Oeffentlichkeit ausgeschlossen war, folgte, und in dieser
kramte schon der päpstliche Schildknappe von der Trausnitz alles aus, was
in verschärfter Weise gegen dies unheilvolle Ministerium in öffentlicher Sitzung
gesagt werden sollte. Die Minister, wie die Liberalen verhielten sich schwei¬
gend, schon dadurch die Hoffnungen der Gegner auf eine leidenschaftliche Aus¬
schußdebatte enttäuschend.
Aber diese Enttäuschungen sollten noch bitterer kommen. Was sollten
die Liberalen sich mehr, als nur äußerst nothwendig an der Verhandlung
über eine Adresse betheiligen, deren Inhalt und Ton über alles bis daher
Dagewesene und Erlaubte hinausging? Wenn sie durch einen einzigen Redner
nur scharf und präcis ihren negativen Standpunkt zu dem Jörgischen Ent¬
wurf bezeichnen ließen, so war das genug. Und dieser Einzige — einzig in
jeder Beziehung — war Freiherr v. Stauffenberg. Vom Präsidentenstuhl
wieder an die Spitze der liberalen Fraktion getreten, ist dieser unübertreffliche
Mann wieder an seiner alten, rechten Stelle, an welcher er selner Partei mehr
nützen kann, denn selbst als Leiter der parlamentarischen Verhandlungen. Das
bewies wieder schlagend seine Rede am 13. d. M. Nachdem Jörg die Be¬
gründung seiner Adresse mit den heftigsten Angriffen auf die Wahlkreisein¬
theilung des Ministeriums, das trotz seiner in der Wahlschlacht erlittenen
Niederlage ganz ungenirt vor der Kammer erscheine, begonnen und die kühne
Behauptung aufgestellt, daß die zwei Stimmen ultramontaner Majorität nach
seinen statistischen Berechnungen 2 Millionen Bayern repräsentirten, daß das
Ministerium, weil der Justizminister von Nationalliberalen zum Abgeordneten
gewählt worden, selbst nationalliberal, also ein Parteiministerium sei, daß,
anstatt der 79, wenigstens 90 patriotische Abgeordnete da sein müßten, daß
die gegenwärtige Regierung eine der Corruption sei, welche die öffentliche
Meinung und das Volk vergewaltige u. s. w. trat diesen Expektorationen,
welche eben wieder einmal zeigten, daß der Herausgeber der „gelben" (historisch¬
politischer) Blätter ein gewandter Publizist, aber nichts weniger denn ein
Parteiführer in großem Style ist, daß ihm jeder große Zug, jede große
staatsmännische Auffassung abgeht —, Minister von Lutz entgegen. Er hielt
eine Rede, wie mir sie selten von diesem redegewandten Mann vernommen,
offener heraustretend, wie früher, und derber wie je. Der „Ton" der Adresse
schmeckte ihm nach „Bauernvereinen"; den gegenwärtigen Zustand kennzeichnete
er als den acuten Zustand des Kampfes zwischen Staats- und Kirchengewalt,
über welchen die Adresse hinwegzuschlüpfen suche; rücksichtslos deckte er die
sogar auf sozialistische Hülfstruppen recurrirende Wahlagitation der bayrischen
Bischöfe auf und in glänzender Weise vertheidigte er endlich die deutsche
Politik der bayrischen Regierung. Der Boden für den Führer der Liberalen
war bereitet.
Keiner der bedeutenden Redner der letzteren hätte das sagen können, was
Stauffenberg sagte, oder mit Gleichem gleichen Eindruck machen können, als
er —. Daß der bisherige Präsident der Kammer, der von der rechten Seite
des Hauses auch stets als ein Bild ritterlicher Untadeligkeit gepriesene Freiherr
es war, der dieser Rechten seine Worte des glühendsten, aus der tiefsten, hiel-
t'chsten Erregung seiner patriotischen Seele gebornen Zorns entgegenschleuderte
und ihr versicherte, daß sie es gewesen, die seit lange den Unfrieden ins
Land gebracht und daß von heut an das „Tischtuch zwischen ihr und den
Liberalen zerschnitten sei", konnte seinen Eindruck auch auf jener Seite nicht
verfehlen. Ganz verblüfft aber saß die schwarze Schaar, als der Redner am
Schluß den von sämmtlichen Liberalen unterzeichneten Protest gegen die
Adresse und ihre Erklärung, an der fernern Debatte sich mit keinem Zuge
wehr betheiligen zu wollen, vorlas. Damit war das ultramontane Concept
total verrückt: keine Redner von der Linken mehr? Was sollten die von der
Rechten allein noch sagen? Zwei von ihr, die Herrn Molitor und Kopp
versuchten es an dem Tage noch, aber armselig genug. Das Hauptfiasko aber
war ihr für den zweiten Tag aufbehalten.
Hier ritt der streitbarste der streitbaren geistlichen Herrn, Herr Rußwurm,
das „unterdrückte katholische Volk" auch im Reichstag in jammert, zuerst
Mit eingelegter Lanze auf das Turnwfeld. Kirchen-Religionsoerfolgung all¬
überall, wohin er sieht, wohingegen der Clerus ganz harmlos daheimsitzt und
sich von jeder politischen Agitation fern hält; Entgegnungen gegen Lutz und
Stauffenberg in schönster Oberpfälzer Manier und schließlich der catilinarische
Ruf: „hinaus mit den Wahlkreisgeometern aus dem Ministerium!" Aber
nicht Herrn Rußwurm sollte die Palme oratorischen Talents gebühren; seine
Lorbeern ihm vielmehr streitig gemacht werden von dem k. Bezirksgerichtsrathe
Herrn Schels zu Regensburg. Dieser brachte es zu einer Scene, wie sie die
bayrische Abgeordnetenkammer niemals, eine andere parlamentarische Versamm¬
lung selten erlebt hat. Gleich der Anfang seines sermons gipfelte in den
höflichsten Verdächtigungen und Verläumdungen der liberalen Partei ; als
jene sich aber bis dahin verstiegen, daß diese für gemeine Ausfälle fremder
Witzblätter auf den König von Bayern verantwortlich gemacht und des An-
strebens des Einheitsstaates begünstigt wurde, da war's mit der Geduld der
Linken zu Ende. Unter dem rauschenden Beifall der Tribünen, welche bis
auf den letzten Winkel hinein besetzt waren, verließ sie, wie Ein Mann, den
Saal, in welchem bei solchen Vorkommnissen länger zu bleiben ihre Ehre ihr
verbot. Der Präsident schien weniger feinfühlig zu sein, denn erst, nachdem
der Ministerpräsident das Wort ergrissen und unter dem Ausdruck der tiefsten
Entrüstung sein Bedauern ausgesprochen hatte, daß das Ministerium nicht
dem eben gegebenen Beispiele folgen könne, raffte er sich auf und ertheilte
dem frivolen Redner den, allerdings dann ziemlich scharf gefaßten Ordnungs¬
ruf. Aber es war geschehen: das «»taut tsrridls hatte der ultramontanen
Partei die schwerste Wunde geschlagen. Sprach auch noch der klerikale Ab¬
geordnete Freytag in der Richtung nach Ausgleich und Versöhnung hin,
kamen auch die Liberalen nach ausdrücklichen Protest gegen die Wiederholung
solcher Scenen wieder in den Saal zurück, — der Bankerott der Aoreßdebatte
war doch entschieden. Noch vertheidigte ver Minister des Innern v. Pfeuffer
sehr geschickt die Gesetzlichkeit seiner Wahlkreiseintheilung, dann kam es zur
Abstimmung, die freilich, da keine von den zwei Millionen repräsentirenden
Mehrheitsstimmen fehlte, die Annahme der Adresse entschied. „Wir flehen
Ew. Majestät an, geben Sie uns ein Ministerium, das den Frieden
sucht", hatte Jörg seine Schlußreplik geendet. Es kam nun darauf an,
ob dies patriotisch-klerikale Flehen den Weg in die Bergeinsamkeit des
Königs fand.
Das Entlassungsgesuch der Minister, die diesmal, im Gegensatz zu 1870,
doch solidarisch zusammenhielten, eilte dorthin, dem Gesuch des Kammerpräsi¬
diums um eine Audienz für die Adreßdeputation voraus. Sieben bange,
ungewisse Tage folgten. Die unbestimmtesten, sich widersprechendsten Gerüchte
durchbrausten die Residenz. Bald sollte jene Entlassung bewilligt sein und
man sah die Herren des katholischen Casinos, in welchen die patriotische
Kammerfraktion ihren Sitz hat, sehr gehobenen Hauptes herumgehen, bald
hieß es wieder dagegen, daß der Monarch gar nicht besonders gut auf die
heuchlerischen Loyalitätsversicherungen der Majorität zu sprechen sei und nicht
daran denke, die Minister fortzuschicken, sondern dies eher mit der hohen
Kammer zu thun vorhatte. Daß des Königs Stimmung in der That keine
Herrn Jörg und den hinter diesem Stehenden besonders günstige sein konnte,
dafür hatten — ein glücklicher Zwischenfall — die Herren Bischöfe Haneberg
von Speier und Emmanuel Ketteler von Mainz vorgearbeitet. Die famose
Oggersheimer Affaire konnte den Patrioten nicht ungelegener kommen. Weg¬
zuleugnen, wie sie sonst bei dergleichen Dingen stets bei der Hand sind, war
hier nichts. Es war Thatsache, daß Bischof Ketteler es gewagt hätte, eine
Nichtantwort des Königs, bet dem die telegraphische Anfrage, ob Hochwürden
von Mainz um 7 Uhr Abends in Oggersheim predigen dürfe, um 8 Uhr
eingelaufen war, für eine Antwort zu nehmen und so sammt seinem Speierer
Collegen dem bayrischen Cultusministerium ein Schnippchen zu schlagen. Und
so war man auf dem besten Wege, den aufs Aeußerste aufgebrachten König,
der in zwei rasch aufeinander folgenden, sehr decidirten Handschreiben Herrn
v. Lutz zu energischem Einschreiten gegen Haneberg aufforderte, für den
Empfang der Aoreßdeputation geneigt zu machen. König Ludwig entschied,
wie man von ihm, der schon mehr als einmal in schweren Krisen das allein
richtige, den auf allen Gemüthern lastenden Bann lösende Wort gesprochen,
keine andere Entscheidung erwarten konnte. In der letzten Sitzung der
Kammern am 21. October mußte Präsident v. Ow die bittere Pille des aller¬
höchsten Signals verschlucken, nach welchem der König sich nicht bewogen
fand, die Adresse entgegenzunehmen, und dem Kammerpräsidenten zugleich
sein ernstliches Befremden über den Ton, in den einzelne Kammerredner ver¬
fallen waren, aussprach. War damit schon der so siegesgewisser klerikalen
Partei eine empfindliche Zurechtweisung ertheilt, so traf sie aber noch mehr
und schwerer das gleichzeitig vom Cabinetssecretair von Eisenbart an das Ge-
sammtministerium überbrachte königliche Handschreiben, in welchem dieses des
vollsten, ungeschmälerten Vertrauens des Monarchen versichert und aufgefor¬
dert wurde, sich auf die maßvoll Denkenden im Lande zu stützen. Damit war
der zu Anfang von uns angedeutete Wendepunkt der jüngsten bayrischen
internen Geschichte eingetreten. Der König hat ganz entschieden, ohne da¬
durch irgendwie constitutionelle Formen zu verletzen, Stellung genommen,
die ultramontanen Anmaßungen, die ihm geradezu die alte Welfensahne in
die Hand, die Führerschaft im Kampfe gegen das Reich aufzwingen wollten,
ein für allemal ab- und zurückgewiesen und die Möglichkeit fürs erste
wenigstens gezeigt, wie der Kampf der Parteien im Lande zum Frieden sich
wenden kann. Es wird sich nun freilich zeigen müssen, ob der „maßvoll
Denkenden" auch auf der patriotischen Schlachtfelde mehr sein werden, als der
Verführten und Verhetzten, die nur auf die Schlagwörter gehen, die ihnen
von den klerikalen Agitatoren vorgesagt werden; ob sich namentlich die Be¬
amten und Staatsdiener in der Kammer besinnen werden, ob es mit der in
jedem geordneten Staate unabweisbar nothwendigen Disziplin vereinbar sei,
sich weiter in offenbar auflehnenden Widerspruch mit einer Regierung zu
setzen, die so deutlich des königlichen Vertrauens würdig bezeichnet worden ist.
Weil sich das bald zeigen wird und muß, deshalb hat man wohl auch die
Kammer nur vertagt, nicht, wie es von manchen Seiten angerathen wurde,
aufgelöst. Bis zum Januar, wenn der Schluß des Reichstages die Wider¬
berufung der Abgeordneten ermöglichen wird, wird man dafür sichere Fühlung
haben. Bis dahin muß ein proviforisches Steuergesetz vorgelegt werden. Ver¬
weigern dann, wie die Extremen wollen, die „Patrioten" die Forterhebung
der Steuern, dann freilich muß die Auflösung eintreten. „Aber", sagt das
Organ des Pfarrer Lucas, des größten Antipoden Jörg's im eignen ultramon¬
tanen Lager, die „Donauzeitung", „das", nämlich das Budget, nicht zu bewilligen,
„trauen sich die Patrioten nicht zu thun; nur nichts erwarten, was an
hundert Meilen einer Aktion gleich käme. Die Minister wären allerdings
entschlossen, an das Land zu appelliren, aber — wir sagen es mit aller Be¬
stimmtheit voraus — sie werden es nicht nöthig haben." Herr Lucas war
bisher nie ein so schlechter Prophet, als wie sich stets Jörg erwiesen — und
er wird auch diesmal Recht behalten.
Vorderhand ist der Vorhang über dem Theater der Prcmnersgasse zu
München gefallen. Wenn er wieder aufgeht, wird uns wohl manch ein
„andres Bild" gezeigt werden. Als salir- oder Zwischenspiel nach antiker
Weise wird inzwischen die Fehde zwischen dem Cultusminister v. Lutz und
dem Bischof von Regensburg, Ignatius von Senestrey agirt. Ersterer hatte
bekanntlich in seiner Adreßdebatte-Rede den würdigen Kirchenfürsten beschuldigt,
daß er an seine Diözesanen eine Weisung habe ergehen lassen, „daß der Clerus
seine kirchliche Gesinnung dadurch bethätigen möge, daß er unter Benutzung
der Unzufriedenheit der Bevölkerung über die in Folge der neuen Erschei¬
nungen aus dem socialen und polirischen Gebiete eingetretenen Mißstände in
Handel und Wandel die Leute zur Wahl von solchen Vertretern anzuleiten
suche, deren echt kirchliche Gesinnung die nöthige Bürgschaft gibt." Herr von
Senestrey ließ diese Insinuation erst durch ein in öffentlicher Sitzung der Kam¬
mer verlesenes Telegramm ableugnen und forderte dann in einem für solche
Zwecke nicht mehr ungewöhnlichen, „offenen Briefe" den „Minister zum Be¬
weise oder zum Widerrufe" auf. In einer, ebenfalls in offene Briefform ge¬
kleideten Antwort tritt nun Herr v. Lutz den erstern an, und bezeichnet als
„Zeugen der Nachricht seiner Behauptung" sämmtliche Mitglieder des
bischöflichen Ordinariats, die Dekane und Pfarrer des Bisthums, und fordert
den Bischof auf. diese alle vor einem zu bestellenden Schiedsgericht vernehmen
zu lassen. Denn erst dann, wenn diese Erhebung ihn Lügen strafen würde,
würde er, der Minister, öffentlich erklären, daß er falsch berichtet worden sei."
Auf die Duplik auf diese Replik sind wir eben so gespannt, wie auf das
Weitere, was sich vor und hinter den Coulissen bis zum 1. Januar entwickeln
wird. Jedenfalls werden die „Münchner Briefe" davon zu rechter Zeit
b
Im Augenblicke, wo zwischen den beiden Reichshälften der Monarchie
die ersten Vorposten zu dem Kampfe bei der Erneuerung des Ausgleiches
schon ausgestellt sind, scheinen die verschiedensten Faktoren, freilich aus eben
so verschiedenen Motiven, das Bedürfniß zu einem Rückblick auf die ab¬
gelaufene Ausgleichsepoche zu fühlen. So hat vor wenigen Tagen Finanz¬
minister öl'. Pretis einen Exkurs auf finanzpolitischem Gebiete unternommen,
und dabei einige interessante, in ihren Ergebnissen aber nichts weniger ale,
erfreuliche Thatsachen zu Tage gefördert, welche sich dahin zuspitzen, daß wir
wiederum bei dem „unsterblichen Deficit" angekommen sind, während nahezu
gleichzeitig von anderer Seite die ebenfalls unter der Last der wirthschaftlichen
Krisis seufzenden Arbeiter in ihrer Entwicklungsgeschichte in der angegebenen
Periode uns vorgeführt werden.
Dieser Aufgabe hat sich der bekannte Arbeiterführer und Publizist Hein¬
rich Oberwinder unterzogen. In seiner „Die Arbeiterbewegung in Oester¬
reich" betitelten Schrift, entwickelt der Autor einige bisher unbekannt gewesene
Beiträge zur Geschichte des Socialismus und bemüht sich, mit anerkennens-
werther Offenheit die Fehler desselben klarzulegen, zugleich aber auch zu zeigen,
daß das Gespenst, von der Nähe aus betrachtet, gar nicht so schrecklich sei.
Die Schilderung der Parteibildung, serner die Vertheidigung der „Inter¬
nationalen", welche jetzt schon die eigentlich radikalen Elemente von sich aus¬
geschlossen habe, sind indeß für uns weniger beachtenswerth, als die Darle¬
gungen betreffs der Verbindung zwischen den deutschen und den österreichischen
Arbeitern, die Hoffnungen und die Sympathien dieser beiden Parteien und
endlich ihr Kampf mit dem Ultramontanismus.
Die Verbindung zwischen den hiesigen Arbeitern und jenen des Deutschen
Reiches, insoweit es sich um die gemäßigten Elemente hier wie dort han¬
delt, entsprang der Erkenntniß der Gemeinsamkeit der Interessen und der
Strebungen. Der Autor der genannten Schrift war als Vertreter der öster¬
reichischen Arbeiterschaft auf den Congressen zu Basel, im Haag !c. anwesend,
und da sah er einerseits, daß die französischen, belgischen, italienischen und
selbst die englischen Arbeiter zum größten Theil destruktiven Tendenzen hul¬
digten, während unter allen den Arbeitervertretern der europäischen Staaten
lediglich der Deutsche im Stande war, einen höheren Standpunkt einzunehmen und
mit großem Blicke die Aufgabe der Arbeiter in der Zukunft zu ermessen, ohne
damit irgend welche Umsturzideen um jeden Preis zu verbinden. Allerdings
waren auch schon früher Berührungspunkte vorhanden, ja Heinrich Oberwin-
der war schon im Jahre 1866 Mitglied des Fünfer-Ausschusses des Frankfurter
Volksvereines, welcher damals die Eventualität eines Sieges Oesterreichs über
Preußen berieth, in welchem Falle in Oesterreich eine Revolution hätte statt¬
finden sollen, um die voraussichtlich zu erwartenden reaktionären Experimente
zu Paralysiren. Indessen fand, wie gesagt, der eigentliche Anschluß der österrei¬
chischen Arbeiter an die deutschen erst nach den erwähnten Congressen statt. Ihre
Tendenz lautete: wissenschaftliche Ausbildung der Arbeiter in deutschem Sinne,
Erstrebung allgemeinen Stimmrechtes auf legalem Wege und Bekämpfung des
Föderalismus und des Ultramontanismus.
Während nun die hiesigen Arbeiter ihre in das „Bürgerministerium"
gesetzten Hoffnungen scheitern sahen und von demselben sogar Verfolgungen
erfuhren, vereinigten sich wiederum die Hoffnungen und Sympathien der Ar¬
beiterparteien hier und in Deutschland, als der Krieg im Jahre 1870 aus¬
brach. Oberwinder erzählt, daß die Arbeiter sofort auf den Sturz Napoleon's
rechneten und sich von demselben sehr viel versprachen. Wie sie den Födera¬
lismus als ihren Interessen entgegenstehend betrachteten, ebenso mußten sie
wünschen, daß die Kleinstaaterei in Deutschland aufhöre, welche für die In-
dustrie nachtheilig war, und nur England und Frankreich zu Gute kam-
Gleichwohl schlug für eine kurze Weile die Sympathie der Arbeiter für
Deutschland in ihr Gegentheil um, als in Frankreich die Republik proklamirt
ward. Das Wort allein machte auf die Massen einen bedeutenden Eindruck,
und die Arbeiter gingen bekanntlich in ihrem Idealismus so weit, gegen die
Annektirung Elsaß-Lothringens eine Resolution zu fassen.
Allein dieser Umschwung der Meinungen sollte nicht lange vorhalten.
Man sah in Frankreich die ultramontanen Elemente an die Oberfläche treten
und in Oesterreich ein föderalistisches Cabinet (Graf Hohenwart. Februar 1871)
ans Ruder gelangen, während die Deutschen Armeen sichtlich den Grundstein
zur Einheit des Reiches noch auf den französischen Schlachtfeldern legten.
Da kamen die Arbeiterparteien hier und in Deutschland von ihrem „politischen
Fehler", wie der Autor sich selbst ausdrückt, zurück, und waren ihrer Ge¬
sinnung nach wieder „Deutsche Arbeiter". In der That war eine solche
Umkehr namentlich in Oesterreich geboten, und die Arbeiter hatten die Hände
vollauf zu thun, um einerseits dem Andrang der föderalistischen Elemente,
andererseits, den Maßregelungen von Seiten des Ministeriums Hohenwart zu
begegnen. Außerdem galt es, einen nicht minder gefährlichen und mächtigen
Gegner abzuwehren. Schon beim Beginne der Arbeiterbewegung war die
ultramontane Partei hier bemüht, die Massen an sich zu ziehen. Zwiste im
eigenen Lager verhinderten die Clericalen Oesterreichs, obgleich sie es mehrere-
male versuchten, auf rein politischem Gebiete eine geschlossene Partei, etwa
nach Muster des Centrums im Deutschen Reichstage, zu bilden, und so ver¬
suchte man wenigstens, die Arbeiter als Verstärkung heranzuziehen. Die
Thätigkeit auf diesem Gebiete war eine sehr lebhafte. Oberwinder erzählt
beispielswiese. wie der damalige Redakteur des hiesigen „Vaterland", der
Jesuitenpater Florencourt, persönlich und mit Hülfe einiger Getreuen, unter
denen auch eine „Freundin" des frommen Paters war, die Massen ent¬
sprechend zu präpariren und unter das ultramontane Banner zu vereinigen
sich bemühten. Obgleich die Clericalen dieses Streben nie aufgegeben und
bekanntlich auch im Momente noch eifrig auf seine Erreichung hin arbeiten,
war das Resultat damals und bis heute doch nur ein verhältnißmäßig sehr
geringes, höchstens daß sie sich rächten, indem sie bei einem großen Prozesse,
in welchen die Arbeiterführer verwickelt wurden, als Belastungszeugen gegen
dieselben auftraten. Genützt hat dieser „Dank der Ultramontanen" ihnen
allerdings sehr wenig, denn dieselben Arbeiter, die damals zum Theil der
jesuitischen Doppelzüngigkeit zum Opfer fielen, sind heute selbstverständlich die
energischste« Gegner aller ultramontanen Strebungen und vereiteln dieselben,
insoweit sie sich auf die Bethörung der Arbeiter beziehen, gründlich und leicht
durch die einfache Constatirung dessen, was die Ultramontanen den Arbeitern
angethan haben. Daß die Sympathie der deutschen Arbeiter und in gewissem
Sinne auch die Unterstützung derselben den hiesigen Arbeitern während dieser
Kämpfe in vollem Maße zu Theil geworden, braucht man kaum besonders
zu betonen.
Gleichwohl hat die sozialistische Bewegung hier bis zur Stunde nur sehr
relative Erfolge zu verzeichnen. Hindernd dabei war auch die kleinliche Else:.
süchtelei der Führer untereinander und ihre Befehdung, die manche „schmutzige
Wäsche" zu Tage förderte. Indeß sind diese internen Reibereien jetzt so ziem¬
lich beseitigt, und die Oeffentlichkeit, welche die gemäßigten Wünsche der von
Oberwinder geleiteten Partei kennt, hat ein freundliches Urtheil über dieselbe.
Gleichzeitig mit dem Erscheinen der Schrift, welche zur Einigkeit mahnt und
den Fortschritt predigt, fand hier auch eine große Versammlung unter der
Aegide des mehrgenannten Autors statt, auf welcher die alten Forderungen
der Arbeiter neuerdings eine Präcisirung erfuhren. Ja man glaubt, daß ein
Theil dieser Forderungen sogar die Legislative beschäftigen werde, was jeden¬
falls nur dazu beitragen dürfte, die hiesigen Arbeiter in ihrem Vorhaben,
auf legalem Boden zu beharren, auch für'fernerhin zu bestärken.
Das deutsche Theater — was es war, was es ist, was es werden
muß — v. Carl Fiedle r, Verlag v. T. O. Weigel. Leipzig 1875.
Der Verfasser hat sich den Lesern des offiziellen Organs der Genossen¬
schaft dramatischer Autoren und Componisten durch eine lange Reihe von
Artikeln über die Fragen, die der Titel des vorliegenden Buches andeutet, be¬
kannt gemacht. In diesem Buche sind jene mehr skizzenhaft hingeworfe¬
nen Gedanken ausführlicher dargelegt, um außerhalb der Fachkreise ein
„kunstsinniges" Publikum zu gewinnen. Der Verfasser Ist ein ernster, lei¬
denschaftlicher Gegner der jetzigen Theaterzustände, die er vor allem der Schuld
der Theaterleitungen zuschiebt, aber in zweiter Linie auch dem Cotterie-Unfug
der sog. Theaterkritik, der Dichter-Kritiker, der Kritiker-Dichter u. f. w. Sehn¬
süchtig schaut der Verfasser aus nach Abhülfe und verlangt sie vom Reiche;
er verlangt ,,ein deutsches Reichsministerium für schöne Künste", „reichö-
akademische Kritik aller dramatische Dichtungen" u, f. w., gewissermaßen eine
Centralanstalt für unfehlbaren Geschmack. Darin geht er sicherlich zu weit.
Das Beispiel der Meininger zeigt, wo und wie Reformbestrebungen praktisch
zu vollziehen sind, und lehrt, daß die viel gescholtene Theatergewerbefreiheit, welche
das Reich gegeben, das beste Hülff mittel ist, um auch die unfähige Theaterleitung der
ersten Bühne deutscher Hauptstadt mit dem einzigen Argument zu schlagen, das
allenfalls von ihr noch anerkannt wird, nämlich mit dem Argument leerer und voller
Häuser. Aber im Uebrigen wird man sich meist auf denselben principiellen Stand¬
punkt stellen, wie der Verfasser, und die Züchtigung, die er den bemitteltsten
deutschen und österreichischen Theaterleitung«n, den gegenseitigen Hand¬
langerdiensten der Theater-Leitung, -Dichtung und -Kritik angedeihen läßt,
und seinen ernsten Mahnungen an Städte wie Leipzig und Hamburg, ihre
Theater in städtische Verwaltung zu nehmen, nur beipflichten. Etwas zu
viel freilich wird für einen „kunstsinnigen Leserkreis" der Verfasser in persön¬
lichem Zank und saloppen Theaterklatsch geleistet haben. Es ist ja leider
wahr: man kann heutzutage kaum principielle Urtheile über die deutsche
Bühne fällen, ohne Personenfragen zu berühren und wenigstens persönlich
angefallen zu werden. Aber der Verfasser, der an solchen Zuständen rührt,
sollte sich zur Richtschnur machen, sich von dem Ton freizuhalten, den er
verurthetlt. Eine breitere Darlegung der Frage, was war das deutsche
Theater? hätte die Zwecke des Verfassers besser fördern können, als fingirte
Coulissengespräche u. dergl. Jedenfalls wird das energische Buch sehr viel
gelesen, besprochen und beschimpft — werden.
In dem Aufsatze „ Cäsarenwahnsinn" haben wir versprochen, den kurzen
und unvollständigen Charakteristiken der Kaiser Tiberius, Claudius und Nero,
die wir dort mittheilten, eine etwas vollständigere Wiedergabe der Zeichnung
des Lebens von Caligula in dem dabei benutzten Buche Dr. Wiedemeister's
folgen zu lassen. Wir wählten Caligula, weil er uns nächst Nero der inter¬
essanteste jener vier weltgeschichtlichen Tyrannen, zugleich aber nächst Claudius
der nach den Einzelheiten seines Lebens am wenigsten bekannte derselben zu
sein scheint. Hier ist unser Bild. Wer Ausführlicheres wünscht, dem sei die
Schrift selbst nochmals empfohlen").
Cajus Caesar Caligula wurde im Jahre 12 n.Chr. geboren. Als
Knabe begleitete er seinen Vater Germanicus auf dessen Feldzügen in Ger-
Manien und Syrien. Dann erzogen ihn seine Mutter und seine Großmutter,
bis Tiberius ihn 32 n. Chr. nach Capri berief, nach dessen fünf Jahre später
erfolgten, Tode er zur Regierung gelangte. Schon auf Capri zeigte er schlechte
Eigenschaften, weidete sich an Folterqualen und Hinrichtungen und ergab
sich groben geschlechtlichen Ausschweifungen. Daneben legte er eine stupide
Gleichgültigkeit und Fühllosigkeit an den Tag. die auch bei der Verbannung
seiner Mutter und der Ermordung seiner Brüder keine Klage laut werden
ließ. Tiberius soll von ihm gesagt haben, er erziehe an ihm eine Natter für
das römische Volk, und wiederholt dachte er daran, ihn umbringen zu lassen.
Seinem häßlichen Geiste entsprach ein unschöner Körper. Hochaufgeschossen
und dicken Leibes, ging er schleppend und schlenkernd auf dünnen Beinen und
ungewöhnlich großen Füßen. Ueberall sonst stark behaart, war er schon im
leiten Jahrzehnt seines Lebens ein Kahlkopf. Die Schläfen waren ihm
eingefallen, die starren Augen lagen unter einer breiten, finstern, faltenreichen
Stirn, die Züge waren durch Muskelcontractionen verzerrt, sein Gesicht ve-
deckte eine widerwärtige Blässe. Nimmt man dazu noch eine rauhe, kreischende
Stimme und häufig widerkehrende Anfälle von Epilepsie, so bekommt man
das Bild einer Persönlichkeit, die abstoßend genug war. Die Epilepsie, an
der er litt, bewirkt bei den meisten Menschen Schwäche des Verstandes,
tückische Gemüthsart, wilde, unnatürliche Triebe, besonders aus geschlechtlichem
Gebiete, und Caligula war davon keine Ausnahme. Er hat es nie zu selb¬
ständigem Denken, nie zu irgend welchem Interesse an Staatsangelegenheiten
gebracht, Sinn für andere ernste Beschäftigung lag ihm fern, nur in der
Beredsamkeit hatte er sich einige Fertigkeit erworben, als er Kaiser wurde.
In den ersten sieben Monaten seiner Regierung trat nur die erträgliche
Seite seines Charakters hervor, er lebte dem Vergnügen und verschwendete
viel Geld, auch mit Geschenken. Dann aber befiel ihn infolge seines zügel¬
losen und ungeregelten Lebens eine schwere Krankheit, aus der er als Scheusal
und Unmensch hervorging.
Sein Vetter Tiberius Gemellus, ein harmloser, geistig und körperlich
schwächlicher Mensch, war der Erste, der ihm zum Opfer fiel. Er sollte gesagt
haben, Caligula wolle ihn vergiften, auch sollte er dem Kaiser nach dem
Leben trachten. Der Zweite, dessen der Tyrann sich entledigte, war sein
Lehrer Maero, der ihn drei Mal vor der Mordlust des Tiberius gerettet
hatte, ihm aber verhaßt war, weil er ihn wiederholt zu anständigem Betragen
ermahnt und versucht, ihm das Regieren zu lehren. „Er will, daß ein Kaiser
seinen Unterthanen gehorchen soll," sagte Caligula. „Er will sich zum Lehrer
aufwerfen; von wem er aber die Kunst, zu regieren, gelernt hat, weiß ich
nicht. Ich habe von meiner Kindheit an sehr viele Lehrer gehabt; Väter,
Brüder, Oheime, Vettern, Großväter und Urgroßväter bis hinauf zu den
Stiftern unserer Familie haben mich unterrichtet, ganz abgesehen davon, daß
die erhabenen Vorzüge der Regenten durch die Geburt von den Ahnen aus
die Nachkommen übertragen werden. Mir ist die Kunst, zu regieren, ange"
boren, ich bin schon im Mutterleibe zum Regenten gebildet worden." Aus
einem ähnlichen Grunde zum Theil ließ er seinen Schwiegervater, den tapferen
und klugen Silanus, umbringen. Derselbe hatte dem Kaiser Borstellungen
wegen seines ungebührlichen Auftretens gemacht, die jener als Beschimpfungen
auffaßte; außerdem aber sollte er nach dem Throne streben. Wir sehen, Ca¬
ligula mordete jetzt noch nicht, wie später, aus reinem Blutdurst, sondern aus
krankhaftem Hochmuth und weil der Verfolgungswahn ihn dazu trieb. Jeder
hervorragende Mensch war ihm verhaßt, auf jeden, der sich einiger Beliebtheit
beim Volke erfreute, blickte er mit neidischen und mißtrauischen Augen, fort¬
während meinte er, von Nachstellungen und Gefahren umgeben zu sein.
Sein Hochmuth entwickelte sich allmählich zum Größenwahnsinn und
während er anfangs nur der weiseste, würdigste und gerechteste der Menschen
zu sein geglaubt hatte, genügte ihm dies jetzt nicht mehr, und seine kranke
Phantasie gaukelte ihm vor. er sei ein Gott. Er gelangte dahin durch sol-
gentes Raisonnement: „Die Bestimmung, die ihm die Natur übertragen, sei
die Aufsicht über die Menschen, aber wie der Ziegenhirt nicht ein Bock, der
Rinderhirt nicht ein Stier und der Schäfer nicht ein Widder sei, so stehe der
Herr der Welt auch seiner Natur nach über der Menschheit." Bevor sich das
Bewußtsein solcher Göttlichkeit bei ihm klar entwickelt hatte, nannte er sich
,,tius" oder ^?ater exereiwum" oder «vaesar optimus maximus". aber schon
behandelte er sein Volk wie eine Mehheerde, und namentlich befleißigte er sich,
die Bornehmen durch erniedrigende Zumuthung tief unter sich hinabzudrücken.
Senatoren ließ er in der Toga mehrere tausend Schritte neben seinem Wagen
herlaufen oder, wenn er tafelte, hinter seinem Polster wie Sklaven in Lein-
wandschürzen Aufwärterdienste verrichten. Bei Theatervorstellungen theilte er
die Freimarken ganz in der Frühe aus, damit die Ritterplätze von möglichst
gemeinem Volke besetzt würden. Den Adligen nahm er die alten Abzeichen
ihrer Familien: einem Torquatus die Halskette, einem Cincinnatus die Haar¬
locke u. d. in. Seinen Vetter Ptolomäus ließ er einfach deshalb ermorden,
weil er im Amphitheater die Augen der Zuschauer durch einen prächtigen
Mantel auf sich gelenkt hatte. Leuten mit reichem Haarwuchs wurde, wenn
sie ihm in den Weg kamen, auf seinen Befehl der Hinterkopf rasirt. Die
Bildsäulen berühmter Männer gebot er umzustürzen und bis zur Unkenntlich¬
keit zu verstümmeln. Er dachte sogar daran, die homerischen Gesänge zu
vernichten; „denn warum," sagte er, „soll mir nicht gestattet sein, was Plato
sich erlaubt hat, als er den Homer aus seinem Staate hinauswarf?" In
Betreff der Rechtsgelehrten vermaß er sich: „Ich werde es, beim Hercules!
dahin bringen, daß es keinem Juristen, an den man sich wenden könnte, mehr
giebt, als mich selber."
„Vom besten und größten Cäsar" führte ihn die nächste Stufe seines
Größenwahnes zu den Halbgöttern. Zuerst hielt er sich für den Trophonius,
dann für den Amphiaraus, darauf für den Hercules, zuletzt für Castor und
Pollux. Dann verwandelte ihn seine Phantasie in verschiedene wahre und
volle Götter, und er wurde bald zum Mereur, bald zum Bacchus, bald zum
Apollo, bald zum Neptun, selbst zum Götterkönig Jupiter, ja er erschien sich
sogar als Göttin, als Juno, Diana oder Venus. Als er Hercules war, ging
er mit einer Löwenhaut und einer Keule herum,, die beide vergoldet waren.
Castor und Pollux in einer Person stellte er dar, indem er zwei Hüte aufsetzte.
Als Bacchus erschien er mit Epheu geschmückt, den Thyrsusstab in der Hand.
Felle von Hirschkälbern um die Schultern gelegt. War er Mercur. so trug
er einen Hut und band sich Flügel an die lahmen Beine. Verwandelte ihn
sein Wahnsinn in Apollo, so umgab er seinen widerwärtigen Kops mit einer
Strahlenkrone, hielt in der linken Hand Bogen und Pfeile, in der rechten die
drei Grazien und ließ sich von eigens dazu bestellten Sängern mit Lodge-
sängen verherrlichen. Als Neptun spielte er seine Rolle mit einem goldenen
Dreizack und einem langen vergoldeten Barte. Am nächsten Tage hatte er
ein glattrasirtes Gesicht und ein Weiberkleid, um Diana oder Bellona dar¬
zustellen. AIs Jupiter schleuderte er aus einer Donnermaschine goldne Blitze,
wenn aber der echte Olympier donnerte, verkroch er sich in den Keller; doch
geschah es auch, daß er dann jeden herniederfahrenden Blitz mit einem in die
Höhe geschleuderten Steine beantwortete, und zuletzt erhob ihn seine Einbil¬
dung sogar hoch über den obersten der Götter. In den Nächten, wo Luna
in vollem Lichte glänzte, lud er sie regelmäßig ein, mit ihm das Lager zu
theilen. Bei einer solchen Gelegenheit fragte er den zufällig anwesenden
Vitellius, ob er wohl die Göttin in seinen Armen sehe, worauf dieser wie
betäubt und mit zitternder Stimme die schlaue Antwort gab: „Herr und hoch¬
gebietender Kaiser, ein sterblich Auge vermag das nicht, nur Euch Göttern ist
es vergönnt, Euch unter einander zu sehen."
Zuletzt ließ er allen berühmten Götterbildern den Kopf abschlagen und
den seinen als den des höchsten Gottes daraus setzen. Das Volk aber wurde an¬
gewiesen , ihm zu opfern und zwar nicht wie den alten Göttern die gewöhn¬
lichen Thiere, sondern das kostbarste Geflügel: Flamingos, Pfauen, Fasanen
und Perlhühner. Der Name, den er jetzt in alten Edicten als Gott führte,
und den er als officielle Anrede verlangte, war Dialios, eine Verschmel¬
zung der Namen des Himmels- und des Meeresbeherrschers. Als solcher nahm
er besondere Priester an, die aus den reichsten Personen, aus seiner Gemahlin
und seinem Oheim Claudius bestanden. In allen Theilen des Reiches befahl
er seine Bilder zur Anbetung aufzustellen, und alle Völker gehorchten, aus¬
genommen die Juden.
Mit keinem Gotte stand er auf schlechterem Fuße als .mit Morpheus.
Nie schlief er des Nachts länger als drei Stunden, und dann ängstigten ihn
schreckliche Träume. Erwachte er dann noch bei tiefer Finsterniß, so warf er
sich ruhelos auf seinem Lager herum oder durchwanderte eiligen Schrittes die
Gänge des Palastes und rief nach der Morgendämmerung. Sein Tagewerk
begann früh. Mit Tagesanbruch schon mußte der Hof auf den Beinen sein,
um den Kaiser zu begrüßen und sich nach seinem Befinden zu erkundigen.
Die Senatoren erschienen, um ihre Aufwartung zu machen, die Ritter, die
Supplicanten. Um acht Uhr ging es in den Senat oder zu den öffentlichen
Spielen, wo Caligula später sich selbst als Acteur, heute als Wagenlenker,
morgen als Gladiator, übermorgen als Tänzer oder Tragöde bethetligte. Um
zwölf Uhr begab er sich zum Frühstück, dann versuchte er es mit einer Siesta,
aber gewöhnlich vergebens. Rom schlief, sein Kaiser nicht. „Wer wagt es,
zu schlafen, wenn der Cäsar wacht?" sagte er da meist. „Selbst die Verbrecher
schlafen. Man gebe mir die Liste der Angeklagten." Es waren vierundvierzig
Namen. „Man führe sie zum Tode!" Und triumphirend weckte er die neben
ihm entschlummerte Cäsonia auf und rief ihr zu: „Sieh, während Ihr schlaft,
bringe ich meine Rechnung in Ordnung." Um zwei Uhr begannen die gym¬
nastischen Uebungen, denen sich der Kaiser in allen Zweigen mit unwürdigem
Eifer widmete. Dann verfügte er sich zur Tafel, um sich den Magen mit
ausgesuchten Speisen zu überladen, sich sinnlos zu betrinken und in den Pau¬
sen während der einzelnen Gänge mit der einen und der andern der von ihm
geladenen vornehmen Damen der Wollust zu fröhnen.
War Caligula ein Gott, so mußte er auch von Göttern abstammen.
Agripp« durfte daher nie als sein Großvater genannt werden, und seine
Mutter gab er für eine Frucht des Umgangs des Augustus mit dessen Tochter
Julia aus, um so sein Geschlecht von dem göttlichen Aeneas und der Venus
herleiten zu können. War er Jupiter, so mußte er auch wie dieser seine
Schwester zur Gattin nehmen, und das geschah, indem er wirklich seine
Schwester Drusilla heirathete. Da er indeß mehr als Jupiter war, so lebte
er mit allen seinen Schwestern in blutschänderischem Verkehr. Jene Drusilla
aber besaß sein Herz, wenn man bei ihm etwas der Art annehmen darf, und
als sie starb, war er untröstlich. Er ehrte sie durch Anordnung allgemeiner
Landestrauer, während welcher das Lachen mit dem Tode bedroht war, er
erhob sie unter dem Namen Panthea zur Göttin, erbaute ihr eine Kapelle
und befahl allen Orten des Reiches, ihr göttliche Ehre zu erweisen. Jedoch
war es sicher nicht die Neigung zu der Todten, was Caligula zu solchen
Thorheiten veranlaßte, sondern der Umstand, daß sie seine, des Kaisers und
Gottes, Schwester war. Was zu ihm irgendwie in Beziehung stand, von
ihm berührt worden, war dadurch erhaben und heilig. Hielt er doch sein
Leibpserd Irenaeus für so edel, daß er ihm nicht nur einen marmornen Stall
und eine elfenbeinerne Krippe gab, es mit Purpurdecken und Juwelenhals¬
bändern beschenkte, ihm vergoldeten Hafer reichte, vornehme Römer ihm die
Aufwartung zu machen zwang und es im Range den kaiserlichen Prinzen
gleichstellte, sondern es sogar zu seinem Priester machte und es zum Consul
ernannt haben würde, wenn ihn nicht der Tod daran verhindert hätte.
Seine ungeheure Geldgier, welche namentlich die Reichen aussog, aber
auch die Unbemittelten schwer besteuerte, erwähnen wir nur kurz. Seine un¬
natürlichen Ausschweifungen mögen mit dem bisher Gesagten charakterisirt sein,
obwohl sich von diesem Charakterzüge des tollen Imperators noch viel
Schmutzigeres und Ekelhafteres berichten ließe. Dagegen wollen wir seine
Grausamkeir, die fortwährend zunahm, in ihrem Wachsen ausführlich
schildern.
Mord und Blut war in den letzten Jahren seines Lebens seine höchste
Lust, das Gestöhn Gemarterter und Verwundeter, das Röcheln Sterbender
sein liebster Ohrenschmaus. Nur eine solche unerhörte Mordlust und Blutgier
konnte ihn fähig machen, bei einem Thiergefechte, wo keine zum Tode ver¬
dammten Missethäter mehr vorhanden waren, die ersten besten von den die
Schranken umstehenden Zuschauern ergreifen und den wilden Bestien vorwer¬
fen, vorher aber ihnen, damit sie nicht klagen und schelten könnten, die Zungen
ausschneiden zu lassen. Als einmal das Fleisch zur Fütterung der für den
Circus angeschafften Löwen und Tiger sehr im Preise gestiegen, bezeichnete er
unter den gefangen sitzenden Verbrechern diejenigen, mit welchen die Thiere
gefüttert werden sollten. Bei der Musterung, die er zu diesem Zwecke in
allen Gefängnissen vornahm, sonderte er diese Leute nicht nach der Schwere
ihrer Verschuldung aus, sondern stellte sich vor die in eine lange Reihe ge¬
ordneten Gefangnen hin und befahl, als einmal zufällig am obern und am
untern Ende derselben ein Kahlköpfiger stand, sie „von der einen Glatze bis
zur andern" nach den Thierzwingern abzuführen. Eine Menge achtbarer
Männer verurtheilte er zum Kampfe mit reißenden Bestien oder ließ sie zer¬
sägen oder auch den Hungertod sterben, nachdem er sie in Käfige gesperrt, die
so niedrig waren, daß sie darin nur auf allen Vieren herumkriegen konnten,
und häufig geschah dieß wegen keines schlimmeren Vergehens, als gering¬
schätziger Aeußerungen, die sie sich über ein von ihm veranstaltetes Fechterspiel
erlaubt, oder der Unterlassungssünde, daß sie niemals bei seinem Genius ge¬
schworen haben sollten. Väter zwang er, der Hinrichtung ihrer Söhne beizu¬
wohnen, und einem dieser Unglücklichen, der sich mit Krankheit entschuldigte,
schickte er eine Sänfte. Einen andern lud er unmittelbar von der Richtstätte,
wo sein Sohn vor seinen Augen verblutet, zu sich zur Tafel, um ihm Späße
vorzumachen. Dem Capito, welcher der Hinrichtung seines Sohnes Cassius
Betellinus beiwohnen mußte, kostete die Frage, ob er dabei die Augen zu¬
drücken dürfe, ebenfalls das Leben. Den Dichter eines Posfenspiels ließ er
wegen eines Verses, in welchem er eine Zweideutigkeit finden wollte, mitten
in der Arena verbrennen. Einmal fragte er einen Mann, der unter Tiberius
lange verbannt gewesen, was er im Exil gewöhnlich gethan habe. Die Ant¬
wort lautete schmeichlerisch: „Ich habe immer die Götter gebeten, Tiberius
sterben und Dich Kaiser werden zu lassen, und sie haben meine Gebete erhört."
Die Folge war, daß Caligula, in der Meinung, daß auch die von ihm Ver¬
bannten ihm den Tod wünschen würden, sofort nach allen Inseln Leute ab¬
schickte, um sie sammt und sonders niederzumachen.
Als er einmal auf den Einfall gerieth. einen Senator in Stücke gerissen
sehen zu wollen, stiftete er Menschen an, den Scribonius Proclus, als er in
die Curie trat, plötzlich mit dem Zurufe „Feind des Kaisers!" zu empfangen,
ihn mit ihren Schreibgriffeln zu durchstechen und ihn dann den Uebrigen zum
Zerreißen hinzustoßen. An diesen und ähnlichen gräßlichen Schauspielen
weidete sich der Wahnsinn des Kaisers mit höchstem Behagen, und bei Mar¬
tern und fließendem Blute keine anderen als wohlthuende Gefühle zu em¬
pfinden, hielt er für den größten Vorzug seines Charakters. Er nannte diese
mitleidlose Gleichgültigkeit gegen die Leiden andrer Menschen mit einem Schül-
ausdrucke der Stoiker „Adiatrepsie", unerschütterliche Standhaftigkeit. Er
war überhaupt, wie viele Wahnsinnige, nicht ohne grausamen Witz und cy-
nische Ironie. Einen Mann Prätorischen Ranges, der sich seiner Gesundheit
wegen nach Anticyra begeben hatte, um eine Nießwurzeur zu brauchen, und
der von dort aus mehrmals um Verlängerung seines Urlaubes nachsuchte,
ließ er tödten, „weil ein Aderlaß nöthig sei, wo die Nießwurz nicht anschlagen
wolle." So oft er alle zehn Tage die Liste der hinzurichtenden Gefangnen
unterschrieb, pflegte er zu sagen, er „bringe seine Rechnung ins Reine".
Wenn er seiner Gemahlin oder einer andern Dame seines Harems den Hals
küßte, fügte er hinzu: „Ein schöner Nacken, aber sobald ich befehle, wird er
durchgeschnitten." Einmal brach er bei einem fröhlichen Gelage plötzlich in
wildes Lachen aus, und als die beiden neben ihm sitzenden Consuln nach der
Ursache fragten, erwiderte Majestät: „Worüber sollt ich lachen, als darüber,
daß ich nur zu winken brauche, um Euch auf der Stelle abkehlen zu lassen."
Im Grimm über das Publikum, das einst beim Wettrennen einer andern
Partei als er Beifall zurief, schrie er: „Ich wollte doch, daß Ihr allesammt
nur eine Gurgel hättet!"
Ganz offen und ungescheut, pflegte Caligula sich zu beklagen, daß es
unter seiner Regierung gar keine großen Unglücksfälle geben wolle. Die des
Augustus sei durch die Niederlage des Barus. die des Tiberius durch den
Einsturz des Theaters in Fidenä, bei dem gegen zwanzigtausend Menschen
umkamen, denkwürdig geworden, die seine drohe, in Vergessenheit zu gerathen,
da überall Wohlergehen herrsche, und so wünschte er sich denn wiederholt
Verlust von Schlachten, Hungersnoth, Pest, Erdbeben und große Feuers¬
brünste herbei. Nicht leicht ließ er Jemand anders als mit vielen schwachen
Streichen köpfen, wobei seine Mahnung an den Scharfrichter lautete: „Triff
ihn so, daß er das Sterben auch fühlt." Einmal, als bei einem Opfer das
Thier, welches dargebracht werden sollte, bereits vor dem Altare stand, erschien
er in der Tracht des Opferschlächters (poxg,). schwang die Axt und schlug
damit nicht das Thier, sondern den Opferstecher (eultrarlus) nieder. Selbst
in den Stunden des Mahles, der Erholung und des Spieles war ihm das
Ergötzen an den Qualen von Menschen Bedürfniß. Oft wurden, wenn er
frühstückte oder bei einem Zechgelage saß. unter seinen Augen peinliche Ver¬
höre mit Anwendung der verschiedenen damals gebräuchlichen Folterwerkzeuge
der Stricke, der Druckbreter, des Marterpferdes, des glühenden Eisens u. d.
angestellt, oder ein Soldat mußte etlichen Gefangnen den Kopf abschlagen.
Jene^Folterungen fanden nicht zur Erpressung eines Schuldgeständnisses, son¬
dern lediglich zur Augenweide des Kaisers statt, und derselbe hatte eine solche
kanibalische Lust am Blutvergießen, daß er einst sogar noch nach Einbruch
der Nacht, in einer Säulenhalle vor dem Garten seiner Mutter auf und ab¬
wandelnd, eine Anzahl von Leuten, die während des Tages bereits halbtodt
gegeißelt worden waren, sammt ihren Frauen und obendrein einige Senatoren
enthaupten ließ.
Im festen Glauben an seine Göttlichkeit, unternahm Caligula die unge¬
heuersten und kostspieligsten Bauten. Er vollendete den von Tiberius be¬
gonnenen Tempel des Augustus, stellte das von einer Feuersbrunst zerstörte
Theater des Pompejus wieder her und ging an den Bau eines Amphitheaters
auf dem Marsfelde. Auch der großartige Aquäduct, welcher die Gewässer der
Aqua Claudia und des Anio nach Rom führte, wurde unter seiner Regierung
entworfen. Er dachte ferner an eine Wiederherstellung der Königsburg des
Polykrates auf Samos, an die Vollendung des riesigen Apollotempels Jm
Milet, an die Durchstechung der Landenge von Korinth und an die Erbauung
einer Stadt auf dem Kamme der Alpen. Bei den Bauten von Villen und
Schlössern ging sein sehnliches Verlangen stets dahin, mit Hintansetzung alles
gesunden Menschenverstandes vor allen Dingen das möglich zu machen, was
alle Welt für unmöglich hielt. So wurden denn gerade, wo das Meer un¬
ruhig und tief war, Dämme gelegt, Felsen des härtesten Gesteins ausgehauen,
Ebnen zu Bergen umgeschaffen, Berge abgetragen und das Alles geschah mit
der größten Geschwindigkeit, da jede Verzögerung mit dem Verluste des
Kopfes bedroht war. Nicht selten hatten solche Arbeiten keinen andern Zweck,
als die Befriedigung einer Laune des Cäsars. Ein Beispiel hierzu ist die
ungeheure, halb feste, halb aus Schiffen bestehende Brücke, die Caligula über
den Golf von Bajä schlagen ließ, die Gnlle einer wahnwitzigen Eitelkeit,
das ungereimteste Spielzeug, das menschliche Thorheit je erdachte, um einen
Tag damit zu spielen und es am nächsten für immer bet Seite zu werfen.
Endlich fing der Kaiser auch an, nach Kriegsruhm zu dürsten. Im
Jahre 39 bemerkte er aus einer Reise in Umbrien, daß seine batavischen Garde¬
reiter sehr zusammengeschmolzen waren. Sofort faßte er den Plan, sie durch
Kriegsgefangene zu vermehren und zu dem Zwecke einen Feldzug nach Germanien
zu unternehmen. Man zog Legionen und Hülfsvölker von überallher zu¬
sammen, sammelte ungeheure Kriegsvorräthe und setzte sich, den Kaiser an
der Spitze, in Marsch, wobei dieser von einer Menge von Schauspielern, Tän¬
zern, Fechtern und Weibern begleitet wurde. Caligula hatte verkündigen
lassen, daß die Barbaren über die Reichsgrenze vordrängen und er sie auf¬
halten müsse, aber als nun sein Heer am Rhein anlangte, war kein Feind
zu erblicken. Da einer nothwendig war, erhielten die Germanen der Leib-
wache Befehl, über den Strom zu setzen und sich drüben zu verstecken. Darauf
begab man sich zum Frühstück. Gegen Ende desselben hörte man plötzlich
das Geschrei, der Feind sei da. Hastig erhob sich der Kaiser, sprengte, nur
von einigen Freunden und Leibwächtern begleitet, in den Wald, zerstreute die
angeblichen Gegner und hing an den Bäumen Trophäen auf. Abends
kehrte er zurück und schalt die Zurückgebliebenen als Feiglinge aus, wogegen
er die Gefährten, die mit ihm gesiegt, mit den Bildern von Sonne, Mond
und Sternen beschenkte. Ein mit Lorbeern umwundener Brief meldete die
Großthat dem Senate, dem dabei zugleich ein derber Verweis ertheilt wurde,
daß er sich allen möglichen Vergnügungen hingebe, während der Kaiser draußen
im Barbarenlande Schlachten schlage und sich den Geschossen der Wilden aus¬
setze. Zuletzt wandte sich Caligula, nachdem er den ganzen Winter gewaltig
gerüstet, gegen Britannien. Mit 230,000 Mann erschien er am Kanal. Die
Truppen bekamen Befehl, bei Gessoriacum (dem heutigen Boulogne) eine mili¬
tärische Stellung einzunehmen und sich zur Schlacht bereit zu halten, obwohl
auch hier kein Feind zu sehen und zu bekriegen war. Caligula hielt von
einer Trireme aus Heerschau über die Soldaten. Darauf ging er ans Land
und bestieg eine Tribüne, wie wenn er das Zeichen zum Angriff geben wollte.
Schon feuerte der Schall der Tuba die Krieger zur Tapferkeit an, da hörten
sie plötzlich den Befehl, die Waffen zusammenzustellen, Muscheln aufzulesen
und ihre Helme damit zu füllen; denn das seien die Spolien des Oceans, die
der Kaiser dem Capitol und Palatium schulde. Und wie geboten, so geschah
es. Zu einem ungeheuren Haufen vor den Füßen des verrückten Imperators
Zusammengetragen, wurde diese Kriegsbeute des Meeres dem Senate mit der
Weisung zugeschickt, sie mit gebührender Feierlichkeit den Schätzen des Staates
einzuverleiben. Als Siegeszeichen am gallischen Strande aber ließ der Kaiser
einen riesigen Leuchtthurm aufführen.
Selbstverständlich empfahlen solche Albernheiten den Cäsar dem Heere
nicht, und noch weniger war dies mit folgendem Plan desselben der Fall.
An den Niederrhein zurückgekehrt, erinnerte sich Caligula an eine Meuterei,
bei der mehrere Legionen sich nach dem Tode des Augustus gegen Germanicus,
seinen Vater, aufgelehnt, ihn selbst bedroht und seine Mutter zur Flucht ge¬
lungen hatten. In seiner Wuth beschloß er, alle jene Legionen jetzt, nach¬
dem seit der Empörung mehr als zwanzig Jahre verflossen waren, Mann für
Mann niederhauen zu lassen. Mit Mühe brachte man ihn davon ab und
bewog ihn, sich mit einer Deeimirung der Leute zufrieden zu geben. Er ließ
dieselben also auffordern, sich unbewaffnet zu versammeln, worauf sie von
Reiterei umzingelt wurden. Als er indeß bemerkte, daß viele von ihnen die
Falle merkten und nach ihren Waffen liefen, machte er sich eilig von dannen
und ging nach Rom, wo er seine Galle am Senate anstieß. Er drohte, die
Mitglieder desselben sämtlich hinrichten zu lassen, weil die Ehrenbezeugungen,
die man ihm für seine Leistungen auf dem Feldzuge zuerkannt, „so ganz
menschlich wären". Siebenmal, so erklärte er, hätte das Heer ihn als Im¬
perator begrüßt und seine Siege anerkannt; er hätte seinen Fuß dem Ocean
auf den Nacken gelegt und ihn für alle Zeit überwunden und zur Abhängig¬
keit gebracht.
Caligula war durch die geschilderten Borgänge allmählich allen Ständen
Roms verhaßt und verächtlich geworden. Gegen die Reichen und Vornehmen
war er mit Plünderung und Mord vorgegangen, auch hatte er sich durch
Anlegung des Diadems unverhüllt zum Alleinherrscher und Tyrannen erklärt,
was seine Vorgänger gewesen waren, aber der Form nach nicht sein gewollt
hatten. Das Heer hatte er durch das militärische Possenspiel in Gallien und
Germanien mit Verdruß und durch die beabsichtigte Niedermetzelung der vor
langer Zeit meuterisch gewesenen Legionen mit Unwillen erfüllt. Der Pöbel
war es überdrüßig, die Fortsetzung zu oft schon gesehener Schauspiele, Wett¬
rennen und Gladiatorenkämpfe durch schwere Besteuerung der Eßwaaren, der
Processe und des Betriebes der Gewerbe bis herab zu den Lastträgern und
Lustdirnen zu erkaufen. Aber bei der Niedertracht aller Klassen der damaligen
Gesellschaft hätte Caligula sich noch eine gute Weile aus dem Throne be¬
haupten können, wenn der Tyrann nicht endlich gewöhnlicher Privatrache
zum Opfer gefallen wäre.
Selbst unter den Prätorianern rief Caligula zuletzt durch die ausgesucht
kränkende Behandlung, die er angesehenen Officieren dieser Truppe wiederholt
widerfahren ließ, tiefe Verstimmung hervor. Cassius Chärea, einer ihrer
Tribunen hatte das Mißgeschick, eine grelltönende Weiberstimme, die oft in
den höchsten Fisteltönen sich bewegte, zu besitzen. Der Kaiser verspottete ihn
deshalb, indem er ihn für einen weibischen Lüstling hielt. Wenn Chärea die
Parole für die Nacht holte, so bekam er Worte wie „Priapus" oder „Venus",
und wenn er sich für etwas zu bedanken kam, so reichte ihm sein Herr die
Hand mit einer unzüchtigen Geberde und Bewegung. Lange hatte der bereits
bejahrte Gardeoberst diese immer wiederkehrenden Beleidigungen mit Geduld
ertragen. Endlich aber übermannte ihn der Zorn, und er verabredete sich
mit Kameraden, die wegen ähnlicher Behandlung dem Kaiser grollten, seinen
Schimpf im Blute desselben abzuwaschen. Die Ausführung dieser Absicht
verzögerte sich einige Zeit, bis man sie auf das Fest der palatinischen Spiele
festsetzte. Dasselbe kam, und Caligula präsidirte dabei. Schon waren vier
Tage der Feier verflossen, ohne daß Etwas geschehen war. Da, am fünften
und letzten. Mittags nach ein Uhr, während einer Pause, erhob sich der Kaiser,
der mit einem schweren Katzenjammer vom Zechgelage der letztvergangenen
Nacht zu kämpfen hatte, und deshalb unschlüssig war, ob er zum Frühstück
gehen solle oder nicht, auf das Zureden von Freunden, um sich durch einen
unterirdischen Gang vom Circus nach seinem Palaste zu begeben. Hier be¬
gegnete er einer Schaar asiatischer Edelknaben, die auf der Bühne einen
Hymnus zu seinem Preise singen sollten. Caligula wollte vor der öffentlichen
Aufführung noch eine Probe hören, aber der Dirigent entschuldigte sich mit
Heiserkeit. Als der Kaiser sich darauf zum Gehen wandte, drängten sich Chärea,
ein zweiter Tribun, Sabinus, und etliche andere Theilnehmer der Verschwörung
Zwischen ihn und die Sänger. Sabinus bat um die Parole des Tages, und
kaum hatte er das Wort „Jupiter" erhalten, als Chärea dem Kaiser mit dem
Ausruf: „Nun, so treffe Dich sein Zorn!" von hinten einen Schwertschlag
über den Nacken versetzte. Caligula dreht sich um, da zerspaltet ihm ein
zweiter Hieb die Kinnlade. Er stürzt zu Boden, hüllt sich in seinen Mantel
und winselt: „Ich lebe noch!" darauf fällt die ganze Schaar der Verschwornen
über ihn her und macht ihm unter dem Geschrei der verabredeten Parole
„Noch einmal!" mit dreißig Wunden den Garaus.
So starb dieses Scheusal im Cäsarenpurpur im Alter von erst achtund¬
zwanzig Jahren, nachdem es vom 16. März 37, bis zum 24. Januar 41,
also drei Jahre zehn Monate und acht Tage regiert und dabei gezeigt, was
ewe tief herabgekommene Welt sich bieten ließ. Seine Leiche wurde halb ver¬
brannt nothdürftig eingescharrt, sein Andenken verflucht, sein Name auf
Monumenten ausgetilgt, der Tempel, den er sich frevelnd erbaut, niedergerissen,
seine Wittwe mit sammt ihrem Kinde ums Leben gebracht. Eine greuelvolle
Tragikomödie hatte ausgespielt: der Wahnsinn auf dem Throne des
^mischen Weltreiches.
Auch das äußere Leben, dem wir uns hier wieder zuwenden, um das
"gentliche Gebiet des Beethoven'schen Daseins mit völlig richtigem Verstehen
W betreten, zeigt uns bei ihm jetzt eine erhabene Milde der Gesinnung und
e ne wahrhaft schöne innere Menschenerscheinung. Jede Berührung mit dem
wirklichen Leben bringt fortan bei ihm auch dieses letzte Resultat menschlichen
Tugendbestrebens offen ans Licht, und dabei strahlt es von ihm selbst trotz
aller Leiden in reinster Heiterkeit der Seele aus. Und wenn uns allerdings
den vollen Grund dieser Stimmung und seine ganze Schönheit erst
das künstlerische Schaffen dieser Epoche selbst aufdeckt, gegen die alles Ge¬
sehene in den Hintergrund tritt, so erfahren wir doch selbst an dem äußer¬
lich so freundlosen Dasein dieses Künstlers in leiser Andeutung, welche innere
Entschädigungen ihm eben eine solche Anschauung der Welt und die Be¬
währung wahren Menschenthums bereitet.
Wir geben einige weitere Züge aus seiner Existenz in dieser Zeit. Von
Nägeli hörten wir schon oben. Derselbe empfängt im Nov. 1824 noch¬
mals Nachricht über die Subscription. Obwohl „überhäuft und bei der
späten Jahreszeit sich nicht genug schützend wieder kränklich" hat er doch
überall angespornt. Allein er muß hinzufügen: „Man ist wirklich arm hier
in Oesterreich und für Kunst, Wissenschaft bleibt wenig durch die durch den
Krieg immer fortdauernden drangvollen Zeiten." Wobei denn Bruder
Johannes Bemerkung Platz finde: „Die italienische Oper setzt diesen Sommer
100000 si. zu. Die Noth ist groß unter dem Volke und die Preise sind zu
hoch." Wir werden den Folgen solcher Zustände in Beethoven's Existenz
noch merklich begegnen.
Aber auch gegen oil mmorum Asntiuin wie K. Czerny, der mit Streicher
in diesem Frühling kam, wobei letzterer den 20 jährigen Franz Lachner mit
den Worten einführt: „Ein junger talentvoller Compositeur", — hören wir
Worte des schönsten Wohlwollens, und dies obwohl man mit der jetzigen
Richtung dieses Lehrers des „kleinen Lizst" nicht einverstanden war und von
Schindler unter anderm sich ausschreiben ließ: „Daß er Anlage zum Ueber¬
treiben hat, bemerkten Sie schon vor 3—4 Jahren."
Aber ob es gleich ein andermal von derselben Hand heißt: „Leider, daß
der Kleine in den Händen des Czerny ist", so muß doch wenigstens zuge-°
geben werden: „Czerny verdient wirklich alle Achtung, daß er unter allen
Clavierspielern der einzige ist, der noch classische Musik liebt und besonders
Ihre Werke mit Fleiß und Liebe — studirt und wirklich laut gesteht, daß
was er auch für die Composition leistet, nur dem Studiren Ihrer Werke
verdankt." Und so schreibt denn auch der Meister selbst, als es sich um den
Clavierauszug von Op. 124 handelt, jetzt (8. Oct. 1824) seinem werthen
Czerny „unendlichen Dank für seine ihm bezeigte Liebe" und schließt in seiner
herzlichen Weise: „Von dem Wunsche Ihnen dienen zu können habe ich Sie
schon längst unterrichtet. Wo also ein solcher Fall eintritt, übergehen Sie
mich ja nicht, da ich allezeit bereit bin Ihnen meine Liebe, Dankbarkeit und
Achtung zu bezeigen."
Schwieriger war natürlich die Sache beim Erzherzog Rudolph. Denn
hier kam zum innern Zwang die materielle Hemmung, die letzt natürlich
stets mehr empfunden ward. Wir beziehen auf dieses Verhältniß die folgende
Stelle eines Briefes an Haslinger (7 Oel. 1824): „Was nun meinen gnädig¬
sten Herrn betrifft, so kann er doch nicht anders als dem Beispiele Christi
folgen d. h. zu leiden ca 11 maestro nicht weniger. So ziemlich zollfreie
Gedanken — auf Freud Leid, — auf Leid Freud. —"
Später berichtet er selbst dem hohen Schüler die neue Erkrankung, die
ihn ans Bett fesselte, aber morgen werde er kommen: „Ich weiß, daß
I. K. K. ohnehin überzeugt sind, daß ich nie die Ihnen geziemende Ehrfurcht
außer Acht lassen kann. — An Mitteln wird es ohnehin nicht hier fehlen
den musikalischen Geist I. K. K. H. aufzuweisen, welches nicht anders als
ersprießlich für die Kunst sein kann — mein Asyl — Gott sei Dank!" Allein
wie hart das Dienstgeschäft ihm ist, der wirklich sein „Asyl" nur im eigenen
Schaffen haben kann, ersieht man aus dem Briefe an Schott in diesen
Novembertagen 1824, als derselbe wegen Verspätung der längst in Aussicht
gestellten Werke benachrichtigt werden muß. Denn dabei heißt es über dieses
„alle Tage 2 Stunden Leczion geben": „Dies nimmt mich so her, daß ich
beinahe zu allem andern unfähig bin, und dabei kann ich nicht leben von
dem was ich einzunehmen habe, wozu nur meine Feder helfen kann. Ohn¬
erachtet dessen nimmt man weder Rücksicht aus meine Gesundheit noch meine
kostbare Zeit."
Am 5. Dezember 1824 heißt es denn auch bitter genug: „Ich habe
mich derweil wieder so ziemlich von diesem Joche zu befreien gesucht. Frei¬
lich möchte man Autoritäten ausüben, an die man sonst nicht gedacht, die
aber diese neue Zeiten mit sich bringen wollen zu scheinen Danken wir
Gott für die zu erwartenden Dampfkanonen, und für die schon gegen¬
wärtige Dampfschifffahrt. Was für ferne Schwimmer wird's da geben, die
uns Luft und Freiheit verschaffen?!"
Am 17. Dezember wird die Stimmung versöhnlicher: „Der Erzherzog R.
ist gestern von hier fort, und manche Zeit mußte ich noch bei ihm zubringen.
Ich bin geliebt und ausgezeichnet geachtet von ihm, allein — davon lebt
man nicht und das Zurufen von mehreren Seiten: Wer eine Lampe hat
gießt Oel darauf! findet hier keinen Eingang."
Doch noch in das Jahresende 1824 spielt die Erinnerung an diesen
bittern Druck und Zwang mit den bezeichnenden Worten hinein: „Die
Ouvertüre, welche Sie von meinem Bruder erhalten, ward hier dieser Tage
aufgeführt. Ich erhielt deswegen Lobeserhebungen!e. Was ist das alles
gegen den großen Tonmeister oben — oben — oben — und mit Recht
allerhöchst, wo hier unten nur Spott damit getrieben wird. Die Zwerg¬
lein allerhöchst!!!!!! —"
Der Erzherzog war obenein persönlich eine gar unscheinbare Erscheinung.
„Das^Quartett anbelangend so ist nur an dem letzten Satze noch etwas zu
schreiben" heißt es in dem vorigen Briefe gegen Schott.. Der Thyrsosstab
jener Ouvertüre Op. 124, die soeben (26. Dec. 1824) aufs neue öffentlich
aufgeführt worden war, kehrt wieder, er ist aber in diesem Finale zur Pritsche
des Arlecchins geworden, der in gutmüthig neckendem Zorn alle übergreifende
Beschränktheit der Welt geißelt. Wir meinen die rhythmischen Schläge
im Finale.
Und so schließen wir diesen äußerlichen Vorbericht über das erste Werk,
das in oder vielmehr hinter der hier aufs neue vorübergerauschten bunten Bil¬
derreihe seine Entstehung zugleich fand und versteckte, mit den Zeilen an den
Ritter I. von Seyfried, der eben damals die Ouvertüre „zur Weihe des
Hauses" zum Besten der armen Bürger Wiens im großen Redoutensaale auf¬
geführt hatte. Wir werden ihren Sinn wie ihre Ausdrucksweise jetzt
doppelt gut verstehen: „Mein lieber werther Bruder in Apollo! — Meinen
herzlichen Dank für die Mühe, welche Sie sich um mein menschliches Werk
gegeben, und ich freue mich, daß auch das Gelingen allgemein anerkannt wor¬
den. Ich hoffe, daß Sie mich nie vorbeigehen, wo ich im Stande bin Ihnen
mit meinen geringen Kräften zu dienen. Die löbl. Bürgerschaftseommission
ist ohnehin von meinem guten Willen genugsam überzeugt. Um ihr diesen
neuerdings zu bethätigen, werden wir uns einmal freundschaftlich besprechen,
auf welche Art ihr am besten gedient sei. — Wenn Meister wie Sie an uns
Theil nehmen, so dürfen die Schwingen wohl nie lahm werden. Mit herz¬
licher Hochachtung Ihr Freund Beethoven."
Allerdings erzählt Seyfried selbst bei Besprechung der Rissa, solennis,
der Neunten Symphonie und des Lus moII-Quartetts kurz nach Beethoven's Tode,
ihre beiderseitige 30 jährige Bekanntschaft, die die Hälfte dieser Zeit hindurch
in der That ein freundschaftliches Verhältniß gewesen, sei nie irgend gelockert,
oder durch einen noch so geringfügigen Zwist gestört worden, und fügt hinzu:
„Nicht als ob wir beide stets und immerdar eines und desselben Sinnes ge¬
wesen wären oder hätten sein können; vielmehr sprach sich jeder frei und un-
verholen aus, wie er's eben aus geprüfter Ueberzeugung fühlte und als wahr
erfand, fern von allem sträflichen egoistischen Eigendünkel, diese seine differi-
renden Ansichten dem Gegenpart als infallibel aufdringen zu wollen." Allein
immer war doch hier nicht entfernt an ein Verhältniß der Ebenbürtigkeit zu
denken. Und wenn allerdings in Rechnung zu ziehen ist, daß mit jener Pro-
duction die erstmalige würdige Aufführung eines Werkes geschehen war, wei-
ches so viel von Beethoven's Geistesschwung athmet, und daß dies für das
Verständniß dieser späteren Werke und sogar für ihre materielle Verwerthung
nicht ganz gleichgültig war, so braucht man doch nur an Aeußerungen wie
„Kraft ist die Moral der Menschen, die sich vor andern auszeichnen" und das
ganze hohe Selbstbewußtsein früherer Tage zu denken, um zu erkennen, wie
sehr diesem Künstler jetzt selbst auf seinem eigensten Gebiete milde Duldung
und freie Anerkennung der andern Existenz und jeder wirklichen Leistung Be¬
dürfniß geworden. Wie schwer, auch nur das Geringste sei's im Leben, sei's
in der Kunst zu thun, was wirklich „gut" ist, sagt er sich. Und hier schien
dies nach beiden Seiten hin geschehen. So enthält uns dieses Schreiben
einerseits ebensowenig einen Zug der Uebertreibung wie es andrerseits durch¬
aus keine bloße Höflichkeitsbezeugung ist. Wir werden die Züge des freien
Zurücktretens der eigenen Existenz bald sich mehren sehen.
Anders, ganz anders war er jedoch, wo selbst die „liona voluntas" fehlte
und wie bei den „Paternostergäßlern" einzig Eigennutz und sogar „Arglist"
das Thun bestimmten. Da reckt sich der Löwe allerdings in seiner alten
Größe auf und das „Warst du auch heute geduldig mit allen Menschen?"
findet sein Ende. Allein selbst hier, wo die begreiflichste Menschenverachtung
hervorbricht, werden wir durch den entflammten Zorn noch den Strahl jenes
höheren Lichtes leuchten sehen, das ihn jetzt erfüllt und in Op. 127 einen
ersten weitleuchtenden Schein wirft. Wir gehen also jetzt zur näheren Ge¬
schichte und zur Charakterisirung des Werkes selbst über.
Wir erinnern zunächst an eine Besprechung der Sonaten Op. 109—11,
in der von Beethoven selbst gelesenen A. M. Z. vom 1. April 1824, die als
Resultat ihrer Betrachtung aufstellte: „nicht jeder Wendepunkt sei ein Kul¬
minationspunkt" :
„Es mögen ungefähr etwas über 30 Jahre sein, als die herrliche Er¬
scheinung des Beethoven'schen Genius in der musikalischen Kunstwelt zum
ersten Male die Empfänglichen und Gebildeten entzückte. Dieser Genius schuf
eine neue Epoche. Alle Bedingungen eines musikalischen Kunstwerkes: Er¬
findung, Geist und Gefühl in Melodie, Harmonie und Rhythmik wurden von
Hrn. v. B. auf eine neue ihm eigenthümliche Weise erfüllt. Daß bald eine
Opposition sich auch dieser Originalität entgegenstemmte, ist ebenso bekannt als
unter ähnlichen Umständen gewöhnlich. Die Bestrebungen zu mäkeln hatten
indessen nur einen geringen flüchtigen Erfolg. Der Heros B. siegte voll¬
ständig. Kaum waren noch einige seiner Kunstschöpfungen in die Welt ge¬
treten, so war auch dessen Ruhm für immer begründet. So steht auch heute
noch dieser originelle Geist unter seinen Zeitgenossen unerreicht da. Nur sehr
selten ist er auf seiner langen Künstlerbahn für kurze Augenblicke abgewichen
von der Richtung zu dem herrlichen Ziele, dem er stets entgegenstrebte. Es
mußte ja auch ihn, den Menschen, das Menschliche berühren."
So beginnt es dort, und wenn also auch mit Recht in dem besprochenen
Werke nicht die Höhe des Beethoven'schen Genius gefunden wird, dieser selbst
wird doch nach seiner ganzen Würde und Weihe erkannt, und war es nicht
soeben gewesen, daß er sich in der Rissa, solenms und der Neunten Symphonie
auch in seinem vollen Glänze öffentlich gezeigt hatte?
In einer Conversation nach der ersten Akademie im Mai d. I. bittet
der Musikschriftsteller Kann e Beethoven um „einige Blicke in seine Partitur,
um vernünftig zu schreiben", und in Ur. 38 seiner Wiener A. M. Z. beginnt
dann ein langer Bericht, dessen Sinn und Meinen also dem Meister selbst
nicht gar so fern steht. Wir theilen auch daraus Einiges mit, es fällt
bereits in den Sommer, als Beethoven längst wieder still bei seiner Ar¬
beit ist.
„Seine früheren Werke, besonders die Klavier- und Jnstrumentalcompo-
sitionen deuten allein schon mehr oder weniger sein ernstes Streben nach
einer innern, der Freiheit der Phantasie zur Seite gehenden Nothwendigkeit.
Selbst bei einer ans Wunderbare grenzenden Laune und unbegrenztem Streben
nach außen in die abenteuerlichste Form, wacht doch immer seine erhabene
Besonnenheit über den von ihm durchdrungenen Gegenstand und knüpft die
geistige Kette der Nothwendigkeiten und organischen Verwebungen an. So
schuf er seine herrlichen von dem größten Erfindungsgeiste zeugenden Clavier-
compositionen, in denen nicht allein der wahre Geist der Kunst in gediegener
Schönheit sich ausspricht, sondern die auch zugleich den Geist des Zeitalters,
dem sie ihre Entstehung verdanken, auf eine so entschiedene und wirklich ver¬
klärende Art repräsentiren."
Zum Schluß heißt es in Betreff des Eindrucks der Akademie selbst:
„Welcher Fühlende, der in den beiden Tagen der Aufführung gegenwärtig
war und den verklärten Meister an des dirigirenden Capellmeisters Umlauf die
Partitur nachlesen und jede kleine Nüance und Steigerung des Bortrags
doppelt mitempfinden und gleichsam andeuten sah u. s. w. Der berühmte
Beethoven kann diesen Tag als einen seiner schönsten im Leben betrachten,
denn der Enthusiasmus der Zuhörer erreichte nach jedem Tonstücke von seiner
Meisterhand den höchsten denkbaren Grad. Es war ein Tag der Feier für
alle wahren Freunde der Musik."
Noch fügen wir etwas aus der Leipziger A. M. Z. vom August d. I. 1824
bei, das , auch von dem Neffen in den Conversationen berührt wird. Ein
Conzertgeber hatte sich auf seinem Zettel „Ehrenbürger von Wien" genannt,
und so heißt es dort: „Ohne uns in eine weitere Untersuchung einzulassen,
durch welche Verdienste besagter Dichter und Tonsetzer wohl diesen Titel er«
worden hoben mag, so wird man doch dadurch ganz unwillkürlich daran er¬
innert, daß er diese Auszeichnung mit unserm herrlichen Beethoven theilt.
Also Louis van Beethoven und......., beide Componisten beide Ehren¬
bürger! Allein welch himmelweiter Abstand! Der sein greises Silberhaupt
w Wolken bergende Montblanc und ein Maulwurfshügel, der Straßburger-
Münster mit seinem Riesenthurm und ein winziges Dorfkirchthürmlein."
Ein solches Gefühl von seiner Größe also hatten doch wenigstens einzelne
seiner Zeitgenossen schon nach seinem bisherigen Schaffen — und er der dies
alles las, schreibt in dem gleichen Sommer auf: „Ist es mir doch als hätte
ich kaum einige Noten geschrieben!" Welches Gefühl von den Möglichkeiten
seiner Kunst oder vielmehr des Lebens, von der „der Freiheit der Phantasie
zur Seite gehenden Nothwendigkeit" und von der Fähigkeit in seiner Kunst
den Geist seines Zeitalters zu verklären, muß dieser Künstler gehabt haben!
In solchem Sinne sahen wir ihn denn auch oben handeln und leben, in sol¬
chem Sinne sehen wir ihn jetzt künstlerisch schaffen. Denn mag das Quartett
Op. 127, also das erste von den „noch ungeschriebenen Noten", nach den
Hauptmotiven aller und wenigstens seiner ersten 3 Sätze einer früheren Zeit
und zwar dem Jahre vor der Entstehung des so entscheidenden und eine ganze
innere Entwicklung abschließenden Finales der Neunten Symphonie angehören,—
seine Stimmung wie seine äußere Erscheinung theilt es mit dieser letzten Ar¬
beit oder zeigt vielmehr das völlig errungene Resultat dieses inneren Pro¬
cesses selbst.
Sogleich das kurze „NitöstoM" des 1. Satzes kündigt in ebenso energisch¬
abschneidenden Rhythmen wie in einfach fundamentalen Harmonien die neue
Welt an, in die seitdem eingetreten worden war, die Welt der vollzogenen
Zurückstimmung des eigenen Daseins in das Ganze, der Aufhebung jedes an¬
deren persönlichen Seins als um dieses Ganzen willen. Und dem entspricht
die volle Unschuld und das unbeschreiblich selig unbefangene Spiel des um
die Dominante schwebenden Hauptmotivs. Es ist nicht möglich den Charakter
dieses Motivs zu beschreiben, man wird nur auf mittelalterlichen Ma¬
donnenbildern diesen Eindruck höchster Zartheit und Reinheit der Empfindung
wiedergewinnen und zwar einer Empfindung, die etwas wahrhaft selig
Spielendes hat, weil sie aus einem innerlich heiligen Zustande her¬
vorgeht, aus dem Zustande nichts zu wollen, als was dem Andern Glück und
Dasein bereitet. Im wirklichen Leben erblickt man solchen Zustand oder viel¬
mehr sein Naturelement einzig in dem Blick und Wesen, womit die Mutter
dem Blick ihres Kindes begegnet: vom Manne ist derselbe nur aus seinen
letzten und geheimsten Seelenäußerungen zu erfahren.
Mag also dieser Satz in Bau und Gebahren sich nicht von anderen
ersten Quartett- und Sonatensätzen unterscheiden, — aus diesem Faden ist
in Gewebe gewoben, durch das geschaut, uns selbst die Welt verklärt,
eine neue Welt begonnen erscheint. Daher wir auch stets wieder durch jene
rhythmischen Schläge auf dieselbe verwiesen werden! Solch schwebende Zart¬
heit des Empfindens wie der Darstellung aber erreicht nur die größte Kraft,
das höchste Können: es muß die volle Höhe der innern Durchbildung ge¬
wonnen sein, ehe so etwas in der Kunst zu Tage tritt, und ihm verbirgt
Kritik wie Beschreibung sich schweigend.
Und wie wird sie bewährt, diese Ankündigung und rechte Beschreibung
jener neuen Welt, der Welt des Heiligen und Seligen, in der jede Span¬
nung der Selbstsucht gelöst ist!
Von dem Adagio der „Neunten" schrieb Kanne: „Ein höchst inniger, ge¬
müthvoller, in wonniger Wehmuth fließender Gesang, in welchem Beethoven's
Herzlichkeit in großer Klarheit erscheint!" Ja wohl Herzlichkeit, und
unendlich mehr. Mit welchem Blick schaut diese Weise Welt und Menschen
an! Unsägliche Güte ist in diesem Blick, und man darf sagen, ein Segens¬
born quillt aus diesen Tönen. Es kehrt die leuchtende Milde wieder, die
in der Musik zuerst aus der Sphäre Sarastro's in der Zauberflöte erklang.
Aber in demselben Maße intensiverer und weithin leuchtenden Glanzes,
als diese Manneskämpfe des Lebens ein Mozart nicht durchzukämpfen
gehabt!
Des Nitornells erwähnten wir schon. Nichts Seelenergreifenderes ist je
geschrieben worden. Es schluchzt und sinkt in sich zusammen. Aber man
weiß nicht, ist's Leid, ist's Wonne? Doch jedenfalls nicht eigenes Leid oder
Gedenken seiner, sondern Mit-Leid mit dem allgemeinen Leid, und in diesem lie¬
benden Aufnehmen — Wonne. Ausfluß des in der Ueberfülle seines Mit¬
empfindens fast erstickenden Herzens.
Und wie nun dieser Satz, auch nur ein Adagio nach oft gesehener Form,
sich weiter spinnt! Wahrlich hier findet die innere Glückseligkeit des Dichters
selbst kein Ende, denn sie ist die tiefste Wonne des Menschenherzens selbst.
Welche „Freiheit der Phantasie", welche Souveränität und sogar scheinbar ins
fernste schweifende „Abenteuerlichkeit" der Gestaltungen, und doch, ganz an¬
ders als in Op. 120, welch' fühlbarste „Nothwendigkeit" d. h. zwingender
Gehalt der Sache! Und dieser Inhalt von welcher Art er selbst! — Man
liebt und lobt den Frühling der Natur, wo alles blüht und Nachtigallen
schlagen, lobt den Mai des Lebens, wenn die volle Seligkeit des ersten Sich¬
findens und Sichgebens ausschlägt. Doch was sind ihre Freuden gegen die
Wonnen, die das Gemüth in solchem Zustande wie wir Beethoven hier fanden,
sich bereitet. Wahrhafte Unendlichkeit der Wonne quillt aus diesem Zustand
einer heiligen Liebe, und es ist begreiflich, sie mag nicht nachlassen ihrer selbst
stets spendend zu genießen! — Da aber, in diesem Zustande der vollen Er-
Hebung zu sich selbst, schlägt auch - in dem kleinen (Lclur) Satze — die
Seele !des Menschen selbst ihr Auge auf: es ist wie Gebet, aber
das betende Gefühl ist selbst in dem All enthalten, zu dem es bittet.
Beethoven hatte sich wie allbekannt drei Inschriften eines ägyptischen
Tempels ausgeschrieben und sie dann in Glas und Rahmen stets vor sich auf
dem Schreibtische stehen. Sie lauten:
„Ich bin was da ist.
Ich bin alles, was ist, was war und was sein wird. !
Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.
Er ist einzig von ihm selbst und diesem Einzigen sind alle Dinge ihr
Dasein schuldig."
Das Autograph trägt das Datum des 26. Juli dieses Jahres 1824, und
in dem Buch, dem die Inschriften entnommen sind, heißt es: „Es dürfte schwer
sein, eine erhabenere und religiösere Vorstellung von der erschaffenden Gott¬
heit zu geben. Die Göttin des Tempels selbst aber nahm an der Schöpfung
der Welt Theil und ist die „alles bewegende Kraft".
Nun wenn uns dieses „^äagio, molto ssprössioue" wie Erhebung und
Gebet anmuthet, — und es dürfte selbst in Beethoven's Schaffen schwer et¬
was gefunden werden, was mehr diesen Charakter hat, — so erkennen wir,
was denn unserm Meister die wahre „erschaffende Gottheit" die „alles bewe¬
gende Kraft" und die wirkliche Schöpfung der Welt gewesen. Denn hier
ist alles persönlichste Rede der Menschenseele. Und sie darf wirklich von
einem All und Ewigen reden, von jener Unendlichkeit und Unerschöpflichkeit
im menschlichen Herzen, die die Welt erst wirklich schafft. Sogar in dem
Dvlur des allerletzten Schlusses klingt diese tiefste und eigentliche religiöse
Grundempsindung des kleinen Stückes noch einmal ebenso überraschend wie
bestätigend an. Es ist alles ein innerer Logos, die Vernunft der Sache.
Daß nun an dieser Stelle nicht weiter von Scherzo und Finale
Rede ist?
Wenn auch nicht von andern Meistern so ist doch von Beethoven selbst
manches Stück dieser Art geschrieben worden. Es sind so recht normale
Quartettsätze, und an die Epoche von seinem Schaffen, die uns hier beschäf¬
tigt, erinnert im Grunde nur einerseits im Scherzo der kleine Zug der indi¬
viduellen Belebung in dem plötzlich eintretenden Allegro das allerdings
ein so echt Beethoven'sches Sichbesinnen und Reden ist, anderseits im Finale
das abschließende „^UöAro con moto», dessen Art durchaus an den Charakter
des 1. Satzes anknüpft, nur daß sich die innerlich beseligte Stimmung wie mit
neckischen Uebermuth nach außen kehrt und die Gemüther, die mit Ernst zu
bekehren sind, gleichsam mit heiterem Spott an ihre Befangenheit in solch
richtigen Genießen und Begehren gemahnt. Daß aber alles hier nach seiner
äußeren Form das scharf Ausgeprägte und knapp beieinander Gehaltene hat,
das mit der tieferen Durchdringung des Lebens selbst in all sein künstle¬
risches Schaffen kam , versteht sich von selbst, und durch diese Eigenschaft vor
allem nehmen auch Scherzo und Finale an dem Sinn und Meinen des
Ganzen Theil.
Das Werk selbst aber belehrt uns, daß bei diesem Gemüth der Zustand
einer inneren Heiligung beschritten worden ist. Freie Selbstausgebung und
innere Erflehung sind hier kein bloßes Dogma mehr. Es ist eine neue Welt
und wahrhaft die Welt der Seligkeit, nicht aber die Seligkeit der von
der Welt Geschiedenen, sondern der dem Leben und seinen Aufgaben erst recht
Zugewandten. So empfindet auch jedes unbefangene Gemüth sich hier wie
in einer andern Welt. Aber es ist nicht die „Welt der Seligen" sondern der
in sich selbst Beseligten, die nun ihr Glück auch auf alles was mit ihnen in
Berührung tritt, ausstrahlen. Sogar die eigene Umgebung beginnt diesen
inneren Bestand von des Künstlers Wesen zu begreifen. Am 24. Sept. 1824
empfiehlt Streicher einen „vortrefflichen deutschen Mann der schon 34 Jahre
in London lebe", er heißt Stumpf, — mit den Worten: „Die Ursache wa¬
rum er nach Baden kommt ist Sie, werthester Beethoven, den Mann zu
sehen, auf den Deutschland stolz ist. Nehmen Sie ihn gütig und freundlich
auf, so wie es dem Heiligen geziemt, zu welchem der andächtige Pilger aus
der Ferne eine Wallfahrt macht."
Und in diesem Winter 1824/25 schreibt der alte Zelter, dessen künstle¬
risches Auffassungsvermögen wir sonst zur Genüge kennen, an den „edlen be¬
rühmten großen Ludwig van Beethoven" einen Brief, den Rellstab „in vier
bis fünf Zeilen ein wahres Kunstwerk, hervorgegangen aus der Gluth der
Verehrung" nennt und so schildert: „Er der im Gespräch oft die Weise an¬
zunehmen pflegte, als habe er vor allen Größen der Kunst, Mozart, Haydn,
Beethoven, eben keine sonderliche Ehrfurcht und dürfe mit ihnen nur so wie
mit aller Welt obenhin umspringen, er nahm jetzt darin aus wahrhafter
Kunstwärme eine, ich kann es nicht anders nennen, anbetende Stellung
an: es war als ob er an einen Heiligen des Himmels schriebe."
Allein wenn dies auch so ist und bei Beethoven in Wahrheit jetzt das
Schöne aus dem Guten, die äußere Vollendung aus der inneren Tugend
strahlt, er sollte ihn sich doch noch schwer verdienen, diesen Zustand eines höhe¬
ren Menschenseins. Denn er selbst empfand es nur um so schmerzlicher, von
solchem eigentlichen Dasein des Menschen Andere und gerade die Geliebtesten
und die ihn durch Natur und Schicksal persönlich am innigsten verbunden
waren, dauernd ausgeschlossen sehen zu sollen. Zu einem wirklich leidenschaft¬
lichen Wehgesühl also mußte es ihn vor allem bringen, sein „Fleisch und
Blut", das Einzige, was er von leiblich Existirendem als sich persönlich zu-
gehörig erkannte und das auch durch Naturanlage und tägliches Rascheln trotz
alles scheinbar Entgegenstrebenden stets mehr zu einem ahnenden Verstehen
für sein eigenes Wollen und Wesen zu gedeihen schien, in dieser Hinsicht
bald am weitesten von ihm sich entfernen zu sehen. Und dies ist der Inhalt
der nächsten Ereignisse seines Lebens! Dies aber auch der Keim und Sub¬
stanz von Beethoven's weitaus erhabensten Schaffen. Ja die ferneren Erleb¬
nisse mit dem geliebten Neffen erscheinen als die eigentliche Probe von seinem
eigenen menschlichen Wesen, vor allem von der Stichhaltigkeit des Zustandes,
dem wir also zuerst in diesem Op. 127 begegneten. Ihnen verdanken wir
die eigenste Enthüllung seiner Seele, sowie sie auch selbst diesen Bestand
seines Wesens in seiner Tiefe aufrühren. Sie führen allerdings zu der Kata¬
strophe, der kein Schaffen weiter folgte, sie bereiten ihm aber auch zu guter
Letzt jene volle Concentrirung des Innern, aus der der geheimste Sang seines
Lebens erfolgt, zum Ergüsse des tiefsten Menschenseins, aus dem trotz aller
Herrlichkeit der Wortdichtung neuer wie alter Zeit unsere heutige Kunst die
Fähigkeit nahm, ihre Gebilde aus dem „intimsten Centrum der Welt" selbst
zu gestalten und dessen geheimes Leben selbst sozusagen greifbar vor uns aus¬
zubreiten. Wir nennen nur Wagner's „Tristan und Isolde".
Und wenn wir diesen äußerlich so nichtssagenden Dingen, die von den
großen Vorwürfen des Lebens wie der Kunst gleich weit abzuliegen scheinen,
dennoch eine solche Bedeutung beilegen, so gedenken wir als einer sichern
Wehr gegen jeden Einwand der kleinlich schwächlichen Sentimentalität des
modernen Empfindens auch hier wieder jener Dichtung, die mit ihrer Absicht
am reinsten am Busen des Denkens und Empfindens unserer Zeit gelegen, und
citiren das Bild jenes Gretchens, die ebenfalls „von ihrem Glauben voll sich
heilig quält, daß sie den liebsten Mann verloren halten soll". Mag es ein
Wahn sein, was sie beseelt, mag hier unbedacht erscheinen, was geltend ist:
„Alles ist nach seiner Art;
an ihr wirst Du nichts ändern,"
und zuletzt in vollem Ernst „Jeder nach seiner Facon selig werden", —es ist
doch das reinste und geradezu heiligste Gefühl, welches das Menschenherz per¬
sönlich bewegen kann. Und daß dasselbe in diesen letzten Lebensjahren auch
unsern Meister mit seiner vollen Macht erfüllt, dem verdanken wir was über¬
haupt davon innerhalb seiner Kunst wach und laut geworden und was demselben
an höherem Schauen und Bilden Herrliches folgte, zunächst jenes Op. 132
und dann die weiteren Op. 130, 131, 13S, die reichste Quelle der Seelendich¬
tung , die sich je erschloß.
Zu den hervorragendsten Namen der modernen italienischen Literatur
gehört unstreitig Angelo de Gubernatis. Zugleich Dichter und Gelehrter,
Professor des Sanskrit am Institut« <ti Ltuäii suxerivri in Florenz und
Herausgeber der Nivists, Duroxea, einer der gediegensten internationalen
Monatsschriften Europa's, Mitarbeiter an einigen der bedeutendsten Zeit¬
schriften und Encyklopädien des Auslandes und Verfasser zahlreicher Werke,
von denen das umfangreichste „Die zoologische Mythologie" bereits in mehrere
fremde Sprachen übersetzt worden ist**), zeichnet er sich eben so wohl durch
seinen klassischen Stil, wie durch sein eminentes Wissen und seine umfassen¬
den Sprachkenntnisse aus, und verbindet mit der Gründlichkeit des Forschens
die seltene Kunst, die wissenschaftlichsten Untersuchungen in einer so klaren
und anmuthigen Weise darzustellen, daß auch der Laie sie mit Vergnügen
und Interesse verfolgt.
Es ist daher kein Wunder, wenn die Vorlesungen, welche de Gubernatis
in Florenz über die „vedische Mythologie" hielt, so allgemeinen Beifall fanden,
daß der Wunsch laut wurde, sie gedruckt zu sehen. So entstand die vorliegende
Sammlung von 18 Vorlesungen, welche zwar die vedische Mythologie durch¬
aus nicht erschöpfend behandeln, uns aber doch die hauptsächlichsten vedischen
Mythen schildern und erklären. Da der Verfasser sich indessen bei diesen
Auslegungen nicht bloß auf die indische Götterlehre beschränkt, sondern die
Religionen aller alten into-europäischen Völker in den Kreis seiner Unter¬
suchungen zieht, und bald die Namen der Götter und Helden mit Hülse der
vergleichenden Sprachforschung, bald den Inhalt der Mythen durch Anführung
ähnlicher Züge aus den Märchen, Volksliedern und Gebräuchen der jetztleben¬
den Stämme zu erläutern sucht, so geben uns seine Vorlesungen ein tress¬
liches Gesammtbild von der Entstehung und Entwickelung der religiösen An¬
schauungen sämmtlicher Völker des into-europäischen Sprachstammes über¬
haupt, so wie der Mythe insbesondere. Deshalb folgt de Gubernatis bei
der Reihenfolge seiner Vorlesungen auch der Naturgeschichte der Mythe. Er
selbst sagt darüber in dem Briefe an Ernst Renan, dem er das Buch widmet:
„Die erste Mythe, welche entsteht, ist vorzugsweise ein Bild; die zweite ist
vorzugsweise eine Person und die dritte ist vorzugsweise eine Idee; die erste
ist eine leichte Figur, die zweite ein beweglicher Held, die dritte wird eine
Gottheit oder ein Götzenbild, das fest vor den Augen seines blinden Ver-
ehrers steht; die erste ist physisch, die zweite menschlich und die dritte wird
metaphysisch im Himmel, thierisch auf Erden."
Bei den Beschreibungen hat sich der Verfasser bemüht, möglichst nur
solche Töne und Bilder anzuwenden, welche der Sprache in den vedischen
Hymnen eigen sind, und sorgfältig alle Farben zu vermeiden, die nicht alt-
mdisch waren, um auch dadurch den Leser gewissermaßen in die Zeit des
Ursprungs der vedischen Mythen zu versetzen. In den Worterklärungen und
Auslegungen der Mythen ist er häufig von dem hergebrachten Wege abge¬
wichen, und hat namentlich in den Vorlesungen über das Wasser, das Feuer,
den Wind, über Indra, Brcchman und die Acrin ganz neue Untersuchungen
angestellt, welche ein wesentlich anderes Licht über die betreffenden Mythen
werfen. Ob er dabei immer das Richtige getroffen, müssen wir dem Urtheil
Derer überlassen, welche sich ausschließlich mit dem Text der Beden beschäftigt
haben. Jedenfalls ist es dem Verfasser schon als nicht geringes Verdienst
anzurechnen, daß er selbst in den Fällen, wo er sich geirrt haben sollte, die
Aufmerksamkeit der Forscher auf die Stellen gelenkt hat, die entweder noch
mißverstanden worden sind, oder wenigstens Anlaß zu verschiedenen Deutungen
geben können. Bevor nicht das ganze zu einer vergleichenden Mythologie der
into-europäischen Völker nöthige Material vorliegt, kann ohnedem nicht von
einer endgültigen Sicherstellung der bisherigen Annahmen die Rede sein, da
dieselben durch jede neue Sammlung von Sagen, Märchen und Glaubens-
Meinungen eines Stammes schwankend werden können. Was wir aber dahin
Gehöriges in den verschiedenen Literaturen der Germanen, Slaven, Kelten
und Romanen besitzen, hat de Gubernatis mit wahrhaft staunenswerthen
Reiß benutzt und mit großer Gewandtheit zu seinen scharfsinnigen Combr,
Nationen verwendet.
In der ersten Vorlesung wird das Problem gelöst: gab es zuerst einen
Gott oder mehrere Götter? Die ursprüngliche Bedeutung des vedischen Aus¬
drucks für Gott, I)evÄ8, beweist, daß man anfangs das Himmelsgewölbe
selbst als hell und glänzend dafür ansah, und es erst später zum Wohnsitz
von mehreren Göttern machte, die sich aus den Veränderungen und Natur¬
erscheinungen, welche man am Himmel beobachtete, ergaben. Der Himmel
mit seinen verschiedenen Namen und Gestaltungen ist daher der Gegenstand
der zweiten Vorlesung. Die dritte behandelt „die Morgenröthe", welche in
den vedischen Hymnen bald als prächtiges, rein physisches Phänomen, bald
in Frauengestalt als schönes Mädchen, als Tänzerin oder als Heldin, bald
als Göttin, welche „aufweckt" und „erleuchtet", dargestellt wird.
Die vierte Vorlesung beschäftigt sich mit der „Sonne", dem glanz¬
vollsten und mächtigsten Gestirn des Himmels, welchem die Erdenbewohner
Licht, Wärme und Fruchtbarkeit des Bodens verdanken. Zu ihrer Bezeichnung
hat die Sanskritsprache nicht weniger als tausend Benennungen, welche in
einem besonderen Kataloge verzeichnet sind, und diese Fülle von Namen
bekundet hinlänglich die Aufmerksamkeit, die man ihr in Indien geschenkt
und erklärt zugleich den Reichthum von Mythen, die sich um die Sonne
weben.
Der Sonne folgt naturgemäß in der fünften Vorlesung der „Mond",
der bald als männliches, bald als weibliches Wesen auftritt, und je nach
seinen Phasen andere Namen erhält. Wie die Sonne am Tage gilt der
Mond in der Nacht als Befruchter der Erde, weshalb beide als Gatten dar¬
gestellt werden und nicht selten eine und dieselbe Person bilden, und wie die
Sonne die Tage theilt, theilt der Mond die Monate und wird zum Zeit¬
messer des Jahres, indem die vedischen Worte mag und umsa, Mond und
Maß, von der Wurzel M, messen, herstammen.
Gegenstand der sechsten Vorlesung ist das „Feuer oder ^gri". Ob¬
wohl die nach Indra in den Veden am häufigsten angerufene Gottheit, ist
Agni doch einer der am wenigsten persönlichen Götter des vedischen Olymps,
dessen Wohnsitz am unbestimmtesten, dessen Gestalt am schwankendsten bleibt.
Er wird als lebendes Geschöpf vom trockenen Holz geboren, bringt seine
Eltern um, weil Feuer das Holz verzehrt, und wird, da die Mythe zur Ent¬
schuldigung dieser That die Eltern als grausam und als Verfolger der Jugend
schildert, zum Befreier und Erlöser.
Das himmlische Feuer dagegen, der Blitz, ist bald das erste Geschöpf der
Welt und Vater der Götter, bald identisch mit der Sonne und vom Himmel
herabgestiegen auf die Erde. Ihm werden Opfer gebracht, um es zum Freund
zu haben, ihm die irdischen Freuden des Tages und die Seligkeit des Todten
zugeschrieben, weshalb es auch von den Göttern selbst in seinem Versteck, dem
Wasser, gesucht wird.
Dieses wird in der siebenten Vorlesung besprochen. Es bildete den An¬
fang der Welt und erzeugte das El Brahman's, des Herrn der Schöpfung.
Meistens werden aber in den vedischen Hymnen die Gewässer gefeiert, als
liebreiche Mütter und Göttinnen begrüßt und als heilbringend gepriesen-
Aus den himmlischen Flüssen oder dem himmlischen Ocean entstand Agni, der
Schützer der Gewässer, aus ihnen schöpften Indra und andere kriegerische
Götter ihre Kräfte, aus ihnen erhoben sich die Wellen in Gestalt von Mäd¬
chen oder Nymphen, die nicht selten zu den Menschen herabsteigen und sich
mit ihnen vermischen.
Die achte Vorlesung behandelt den „Wind". Sein Ursprung ist eben
so unsicher, wie sein Wesen. Er erscheint in den Veden theils ehelich ver¬
bunden mit den rothen Wolken, mit den Gewässern und mit den Frauen,
theils als Erzeuger. Sein Sinnbild ist die Taube, welche im hellenischen
Alterthum der Vogel der Liebesgöttin, im Christenthum das Symbol des
heiligen Geistes ward. Wie die Worte emila. und g-nalÄ, Wind und Feuer,
aus derselben Wurzel an kommen, welches blasen, wehen, bedeutet, so ist auch
der Wind, gleich dem Feuer, die Seele der Götter und der Befruchter der
Welt; das griechische auomos (Wind) steht in engster Verwandtschaft mit dem
lateinischen Anima, und die Naruts-s, die Söhne des Windgottes, deren es
bald 27, bald 180 giebt, werden in der christlichen Mythe zu Seelen der Ver¬
storbenen. In der vedischen folgen sie dem Kriegsgott Indra oder KKma,
der zugleich Liebesgott ist.
Tvashtar. der Schmied der Götter, mit dem sich die neunte
Vorlesung beschäftigt, ist der erste rein persönliche Gott der Veden ohne all-
gemeinen Begriffsnamen. Er vermag nach Belieben Gestalten jeglicher Art
zu schassen, kann sich unsichtbar machen, besitzt die magische Kunst und ist der
Anfang zum vedischen Teufel. Er hat nicht nur Boten und Frauen in
seinem Gefolge, sondern auch Schüler, die ihrerseits meist unsterbliche Götter
werden und schmiedet für Indra, den Regen- und Donnergott, die Waffen.
Indra, von dem die zehnte Vorlesung handelt, ist von allen Göttern
des vedischen Olymps der mächtigste, charakteristischste und angerufenste, theils
aus Liebe, theils aus Furcht. Sein Name bedeutet ursprünglich innere oder
mittlere Schicht, und bezeichnete anfangs den Luftkreis oder die Region der
Winde und Gewitter, welche der Donnergott beherrscht. Als der heroischste
der Götter, ist auch seine Geburt die wunderbarste Schöpfung des Himmels.
Der Herr des Himmels ist zugleich der Sohn des Himmels und nach einer
Legende die Frucht der Buße. Kaum geboren, erscheint er als starker Held
der seine Kraft aus dem Wasser schöpft, das er trinkt. Alle Ungeheuer sind
ihm feindlich und werden von ihm erlegt, bis er durch die Liebe, den Lohn
seiner Thaten, zu Grunde geht.
Auf Indra folgen in der elften Vorlesung die beiden Acrin, die
..Reiter" und Vorbilder des echten Ritterthums, die Morgen- und Abend¬
dämmerung, häusig auch identisch mit Sonne und Mond, den beiden schnellen
Gestirnen, oder mit Tag und Nacht. Der Eine von ihnen ist stark und
siegreich im Kampf, der Andere reich, und beide Brüder sind jung, schön, be¬
hend und unermüdlich im Gutesthun.
Der Gott Uama, der Gegenstand der zwölften Vorlesung, ursprüng¬
lich die untergehende Sonne ist der Gott der Todten. Er heißt der „Ge¬
bundene", „Gezäumte", wird aber später selbst der Bindende oder Zäumende,
indem er den Sterbenden seinen Strick um den Hals wirft, und führt die
Seelen auf noch unbekannten Wegen ins Jenseits, wo sie ihren Lohn, oder
ihre Strafe empfangen.
Die dreizehnte Borlesung behandelt die Dämonen, welche bei den
Indern nicht wie anderwärts unveränderlich ihren boshaften Charakter bei¬
behalten, sondern die Beweglichkeit der Götter theilen und mit diesen häufig
die Rollen tauschen. Wie es anfangs noch keinen deutlich unterschiedenen
Gott gab, so existirte ursprünglich auch noch kein besonderer Teufel, sondern
nur Dämone, welche als Kinder eines und desselben Vaters sich gleich an
Macht und Ansetzn waren, und sich auch äußerlich nicht von einander unter¬
schieden. In der ersten Zeit waren sie sogar den Göttern nicht unähnlich,
bis sie durch Anmaßung und Selbstüberhebung ihre frühere Ueberlegenheit
einbüßten und im Kampfe mit den Göttern unterlagen.
In der vierzehnten Vorlesung wird Pragü,pati und Purusha be¬
sprochen, der „Herr der Schöpfung" und das „Allgemein-Männliche", zwei
Figuren der späteren Veden, während sich die drei folgenden Vorlesungen mit
Brahman, Vishnu und Rudra-Civa, den Gottheiten der indischen
Dreifaltigkeit, beschäftigen
Brahman, der „Weite", welcher „sich ausdehnt", steht an der Spitze der
Trias, obwohl manche Sekten Vishnu oder Civa über ihn stellen. Er ist
der Gott des Gebets und der Andacht, ohne den kein menschliches oder gött¬
liches Werk Fortgang hat, und der besondere Gott der Brahmanen, mit
deren Beistand man Alles erreichen kann. Nach ihm heißt der höchste Himmel
das Paradies der Seligen, Brahmaloka, und das El des Weltalls, welches
auf dem Wasser schwamm und den Herrn der Schöpfung in sich barg. Brah-
mllnda. Da er als kolossal groß dargestellt wurde, hielt man ihn nicht nur
für den Träger der Welt, sondern übertrug auch auf ihn die Herrschaft des
Himmels und setzte ihn allmählich an Indra's Stelle.
Unter Vishnu und Civa dagegen dachte man sich anfangs die Sonne
und den Mond, und wie von der Sonne, haben die Inder auch von Vishnu
tausend Namen. In der späteren Zeit jedoch mußten beide Gottheiten soviel
mythische Wandlungen durchmachen, daß ihr ursprünglicher Charakter schon
zu erkennen ist. Dem Wortlaut nach ist Vishnu der „Durchdringende", und
die Erklärer der Veden identificiren ihn bald mit Agni dem Feuer, bald mit
VKyu, dem Wind. Eben so häufig ist er eins mit Brahman, Civa und Indra
oder tritt als himmlischer Koch auf. Immer aber hat er Züge an sich, die
der Sonne angehören, und wenn er gewissermaßen, namentlich in brahma-
nischer Zeit, der eigentliche Universalgott ist, so wird Rudra-Civa, der sich vor¬
zugsweise als phallische Gottheit zeigt, zwar ebenfalls dazu erhoben, indessen
als allgemeiner Zerstörer mehr gefürchtet, als geliebt. In frühester Zeit stellte
er gleich Jama die untergehende Sonne dar, und hatte viel Aehnlichkeit mit
dem Gott der Todten. Später vermengt sich sein Bild mit dem des Mondes;
er ward der Herr aller Heilmittel und der Bogenschütze des Himmels, und
trat mehr und mehr an Stelle Indra's und der andern Götter.
Die Epochen dieser mannigfachen Umwandlungen des ursprünglichen Cha¬
rakters der verschiedenen Gottheiten in den vedischen Mythen bilden den Ge¬
genstand der letzten oder achtzehnten Vorlesung, welcher zur leichteren Benutzung
des ganzen Werkes noch ein ausführliches alphabetisches Verzeichnis) folgt,
das alle Namen und Dinge enthält, die in sämmtlichen Vorlesungen vor¬
kommen.
Da wir noch kein einziges populäres Buch über die vedische Mythologie
besitzen, wäre es wahrhaft wünschenswert!) die Vorlesung des Professors
A. de Gubernatis recht bald in einer deutschen Ausgabe erscheinen zu sehen,
damit sie auch den Lesern zugänglich wären, welche des Italienischen nicht
mächtig sind, wenn auch freilich ein Hauptvorzug dieses Werkes: der unnach
ähnliche Wohlklang der Sprache, in der es geschrieben ist im Deutschen
v. R. — d.
Am 27. Oktober ist der deutsche Reichstag eröffnet worden. Wenn seit
der Gründung des deutschen Reiches und seit der Eröffnung der ersten Reichs¬
tagssession jede folgende Session, Dank dem großen geschichtlichen Zug, den
Deutschlands Kanzler dieser Epoche gegeben, unter bedeutenden Anzeichen er¬
öffnet worden, so gilt dies von der gegenwärtigen Session nicht am wenigsten.
Ein sehr merkwürdiger Sommer, merkwürdig durch diplomatische Feldzüge
und Resultate, liegt hinter uns, dessen Wichtigkeit allerdings die zukünftige
Geschichtsschreibung mehr beschäftigen wird, als die ziemlich ahnungslose
Gegenwart. Ich habe in diesen parlamentarischen Briefen die auswärtige
Politik nur soweit zu beleuchten, als sie die parlamentarischen Dinge beein¬
flußt. In dieser Beziehung ist Folgendes anzumerken. Wir sind — wir
glauben nicht, daß es heißen muß: wir waren — in eine Friedensepoche ein¬
gelenkt, wie sie nach dem Ausdruck der Thronrede in den letzten zwanzig
Jahren vor der Herstellung des deutschen Reiches niemals so gesichert gewesen
ist. Zur Begründung dieses erfreulichen Satzes bezieht sich die Thronrede auf
das Dreikaiserbündniß und auf die in den Mailänder Oktobertagen neu be¬
siegelte Freundschaft Deutschlands und Italiens. Es wird keine indiskrete
Vermuthung sein, daß eine große Ursache der Fnedenszuversicht darin liegt,
daß Frankreich während dieses Sommers zur Einsicht gekommen, seine Ne-
vanchegedanken unter allen Umständen auf Jahre vertagen zu müssen. Das
einigermaßen uneigentlich sogenannte Bündniß der drei Kaiser — denn amt¬
lich wird ja fortwährend versichert, daß keine Verträge, sondern nur ein freies
EinVerständniß den Bund zusammenhalte — hat diese Einsicht wohl nicht
allein bewirkt. Die Gespräche französischer Staatsmänner mit dem Fürsten
Gortschakoff, unscheinbar während der Sommererholungsreisen in Scene ge¬
setzt , dürften ihren Antheil beanspruchen. Man würde aber schwerlich richtig
gehen, wenn man meinen wollte, der russische Kanzler habe im Interesse
Anderer, als in dem seines Reiches gesprochen.
Ein zweites außerordentlich wichtiges Moment der diplomatischen Geschichte
des Sommers war der slavische Aufstand auf der Balkanhalbinsel und seine
anfängliche Resultatlosigkeit. Es schien ganz, als wäre die alte heilige Alli¬
anz mit ihrer Auferhaltung des status amo, auch des schlechtesten, ausgelebt.
Die Türkei schiffte ihre Truppen auf östreichischen Boden aus, Oestreich ver¬
bot Serbien und Montenegro sich zu rühren bei Strafe seines militärischen
Einschreitens, und das nannte man Nichtintervention. Schon rühmte sich
die Türkei der gelungenen Unterdrückung des Aufstandes und benutzte die
Kosten des Gelingens zur Entschuldigung ihres Staatsbankerotts. Am 27.
Oktober sprach die deutsche Thronrede von der Sicherheit des tiefen Friedens,
am 30. Oktober treffen in Berlin die Telegramme von der Kundgebung des
russischen Regierungsanzeigers ein. Seitdem zeigt sich Europa, namentlich
London und Paris über den Frieden beunruhigt. Wir halten diese Besorg-
niß für affectirt. Ermüdet ist alle Welt, Niemand wünscht Krieg. Aber
Rußland hat die Energie und die Umsicht zu erkennen, daß der Müde vom
Sopha aufstehen muß, um den Schatz aufzuheben, wenn die Nebenbuhler
noch müder sind. Sie rufen freilich alle: störe uns doch nicht die Ruhe! Aber
aufstehen werden sie nicht, und Rußland begreift, daß es besser ist, mit An¬
strengung einige Schritte zu gehen, als bei erlangten Kräften mit einem
Heer ebenfalls gekräftigter Nebenbuhler einen harten Strauß auszufechten.
Uebrigens ist vorläufig nicht etwa die Rede von Annexionen. Es ist nur die
Rede von einer Regelung der Verhältnisse der slavischen Bevölkerungen der
Balkanhalbinsel, die noch unmittelbar unter dem türkischen Joche leben.
Wenn freilich die Pforte bei dieser Regelung Umstände verursachen und gar
ein kräftiges Zupfen am Arme unvermeidlich machen sollte, so könnte sich mit
ihr Manches ändern. Der europäische Friede aber wird auch durch diese
Aenderungen nicht bedroht werden. Nur diejenigen erblicken den Frieden ge¬
fährdet, denen der Gedanke fürchterlich ist. die orientalische Frage einen oder
mehrere bedeutende Schritte weiter geführt zu sehen, ohne daß sie eingreifen
und ihr Eingreifen um hohen Preis verkaufen können. Soviel zunächst von
auswärtiger Politik. Den Frieden zu gefährden gäbe es nun ein allerdings
unfehlbares Mittel. Das wäre die Unvernunft der Parteien anzunehmen,
welche aus ihrer Auffassung der friedlichen Lage den Schluß ziehen, daß
Deutschland seine Waffenrüstung ablegen könne und müsse. Wenn dies ge¬
schähe, so hätten wir allerdings morgen den Krieg. Aber es wird nicht ge-
schehen, weil wir die Regierung haben, die wir haben. Daher wird der
äußere Friede nicht gestört werden, aber dem innern Frieden könnte jenes
Parteiverlangen Gefahren bringen. Gefahren, vielleicht auch eine erwünschte
Klärung der inneren Lage.
Niemals sind einer Reichstagssession seit dem Bestehen des Reichstages
hinsichtlich der inneren Politik so düstere Erwartungen vorausgegangen, wie
der diesmaligen. Und warum? Es hatte verlautet von einer Novelle zum
Strafgesetzbuch, die allerhand sogenannte reaktionäre Vorschläge enthalten
würde. Der hierauf zum Theil veröffentlichte Entwurf dieser Novelle —
wohlgemerkt, der-Entwurf, wie er dem Bundesrath vorlag, nicht aber der,
wie er dem Reichstag vorliegen wird — gab dieser Befürchtung mit Recht oder
Unrecht reichliche Nahrung. Es verlautete zweitens von neuen Reichssteuern,
und die Thronrede hat mit der Ankündigung zweier solcher die betreffende
Voraussicht wahr gemacht. Neue Steuern erwecken aber immer düstere Gefühle.
Es verlautete endlich drittens von einer Reaktion auf dem Gebiet der Wirth¬
schaftspolitik, welche in Folge der wirthschaftlichen Krisis in die entscheiden¬
den Stellen der Reichsregierung eingedrungen sei. Alle Diejenigen, bei wel¬
chen solche Befürchtungen Eingang gesunden, sind in Jubel ausgebrochen über
das Wort der Thronrede: es liege nicht in der Macht der Regierungen, der
herrschenden Stagnation auf dem Gebiet der Wirthschaft abzuhelfen. Dieser
Jubel scheint uns ebenso vorzeitig. wie es die entgegengesetzte Befürchtung
war. Denn wenn von der Reichsregierung erklärt wird, daß sie nicht im
Stande sei. die wirthschaftliche Entwicklung zu beherrschen, so ist damit noch
lange nicht gesagt, daß diese Entwicklung lediglich, wie man dies fälschlich
nennt, sich selbst zu überlassen sei. Ueber die Maßregeln, die demnächst aus
dem Gebiet der Wirtschaftspolitik zu treffen oder zu unterlassen sein werden,
möchte schwerlich schon jetzt die Reichsregierung zu unabänderlichen Beschlüssen
gelangt sein. Wir halten die entsprechende Bedeutung der Thronrede für
durchaus irrig. Wie diese Beschlüsse ausfallen werden, ob man den in den
letzten Jahren eingeschlagenen Weg lediglich weiter geht, darüber wollen wir
keine Vermuthung wagen und ebensowenig vorläufig ein Urtheil aussprechen
über das, was rathsam und nothwendig ist. Wir wollen nur constatiren, daß
die öffentliche Meinung etwas künstlich in den Wahn gestürzt worden, als sei
die Devise der Reichsregierung: es bleibt beim Alten; schon unwiderruflich
ausgegeben. In diesem unserm Zweifel macht auch die Auslassung der
„Provinzial-Correspondenz", worin die erwähnte Deutung der Thronrede gut
geheißen wird, uns nicht irre.
Nehmen wir aber einmal an, von den drei schwarzen Punkten am Ho¬
rizont der gegenwärtigen Session wäre der wirthschaftliche Punkt verschwun¬
den — d. h. verschwunden aus den Entwürfen der Wirthschaftspolitik; mit
seinen praktischen Beschwerden wird er noch lange nicht verschwinden — so
bleiben noch die neuen Steuern und die Novelle zum Strafgesetzbuch. Was
die neuen Steuern betrifft, so läßt sich, abgesehen von dem selbstverständlichen
Widerstand derer, die getroffen werden sollen, nämlich der Brauer und der
Geschäftsmänner der Börse, so viel erkennen, daß diese Steuern nicht sehr viel
einbringen werden. Sie stellen sich demnach als Palliativmittel dar gegen¬
über den großen Anforderungen, welche an die Finanzleistung des Reiches
durch die Entwicklung des Reiches selbst gestellt werden. Dieser schwarze
Punkt also bleibt stehen. Aber warum ist er schwarz? Der Vergleich ist
nicht wenig beschämend zwischen der Zuversicht Frankreichs ungleich kolossaleren
Anforderungen gegenüber und dem Kleinmuth Deutschlands, das eben die
Milliarden geerntet. Will man auch behaupten, daß die Milliarden uns nur
den Kriegsaufwand ersetzt, so haben wir doch mindestens einen siegreichen
Krieg ohne Mehrbelastung der Staatsfinanzen geführt. Wir müssen uns aber
gegenüber den Anforderungen, welche die Zukunft und unsere eigene natur¬
gemäße Entwicklung an unsere Finanzen stellen, etwas entschlossener und
etwas erfinderischer! zeigen. Mit dem kleinlichen Spähen nach Objekten, die
wohl noch eine Steuer vertragen, ist nicht zu helfen, und noch viel weniger
mit dem Kleinmuth, der mit solchen Forderungen schon das Ende gekom¬
men glaubt.
Was endlich die Strafrechtsnovelle betrifft, so ist der ursprüngliche Ent¬
wurf, so weit er bekannt geworden, juristisch gewiß eine recht schwache Lei¬
stung. Aber über Reaktion schreien, sich in die Brust werfen, daß man solche
reaktionäre Maßregeln bis auf den letzten Blutstropfen bekämpfen werde, das
heißt wahrhaftig nicht der Situation gewachsen sein. Deutschland führt ei¬
nen großen innern Kampf zum Vorbild aller gebildeten Nationen. Das ist
die Ausnahmelage, die gewürdigt sein muß. Das Gerede von Gelegenheits¬
gesetzen ist nichtig. Kann man die Anforderungen der Gelegenheit nicht mit
Gesetzen erfüllen, oder hält man diesen Weg für verwerflich, so möge man
andere Mittel vorschlagen. Man könnte z. B. der Regierung auf bemessene
Fristen außerordentliche Vollmachten ertheilen, und noch andere Auswege
würden zu finden sein, wenn man nur suchen wollte, anstatt über die harten
Zumuthungen zu schreien.
Für die innere Politik wird die gegenwärtige Reichstagssession wie es
scheint von nachhaltiger aufklärender Bedeutung sein. Es wird sich zeigen, ob
der Reichskanzler im Reichstag, in diesem oder in dem nächst zu wählenden,
die hinlängliche Zahl zuverlässiger Freunde hat und wo er sie hat, die ihm die
Fortführung des großen Werkes im Einklang mit dem Reichstag ermöglichen.
Ueber die bisherigen Sitzungen des Reichstags dürfen wir kurz hinweg¬
gehen. In der ersten Sitzung die übliche Beschlußunfähigkeit und der Sto߬
seufzer, daß endlich die Einsicht zum Ausbruch gelangen möge von der Noth¬
wendigkeit, die Ziffer der Beschlußfähigkeit herabzusetzen. In der zweiten
Sitzung Wahl Forkenbeck's zum Präsidenten, Stauffenberg's zum ersten Vice¬
präsidenten; bei der Wahl des zweiten Vicepräsidenten Beschlußunfähigkeit.
In der dritten Sitzung wird Hänel zum zweiten Vicepräsidenten gewählt,
außerdem das Mandat der Justizkommission zur Vorberathung der drei
großen Reichsjustizgesetze für die Dauer der gegenwärtigen Session verlän¬
gert. In der vierten Sitzung erste Berathung eines Gesetzes über die Fort¬
dauer der Verpflichtungen der Eisenbahnen gegen die Post, für dessen Vorbe¬
rathung eine Kommisston von 14. Mitgliedern ernannt wird. In der fünften
Sitzung erste Berathung der Coneursordnung, die nicht der Reichsjustizkom¬
mission, sondern einer besonderen Kommission von 14 Mitgliedern überwiesen
Wird. Die Reichsjustizkommission hatte durch den Mund verschiedener Mit¬
glieder selbst gegen die Zuweisung dieser neuen Aufgabe Einspruch erhoben.
In der sechsten Sitzung erste Berathung der Gesetzentwürfe tU'er die gegen¬
seitigen Hülfskassen und über die Abänderung des auf diese Materie bezüg¬
lichen Titel VIII. der Gewerbeordnung. Die Gesetzentwürfe werden einer Kom¬
misston von 21 Mitgliedern überwiesen.
Diese ersten Berathungen boten manchen interessanten Jncidentpunkt.
Wir beobachten jedoch unsere alte Regel, die Materien erst bei der zweiten
Berathung zu erörtern und dann, wenn nöthig, auf die erste Berathung zu¬
<z. Kassel, Anfang November. Während in Altpreußen soeben begonnen
wird, in den Provinzen die Selbstverwaltung auf neuen Grundlagen einzu¬
führen, zeigen die Vorgänge auf unserem Communallandtage, daß dieser
sich immer mehr von dem gleichen Ziele entfernt hat, welches ihm 1867 bei
seiner Creirung gesteckt wurde. Die Wahrung der besonderen Interessen des
ehemaligen Kurhesseus ist allmählich ganz in die Hände des Adels gelangt,
welcher, wie von jeher in Hessen, vorwiegend egoistische Zwecke verfolgt und
gegenwärtig sogar mit den staatsfeindlichen hierarchischen Bestrebungen sym-
pathisirt. Dieser Adel hat an sich keine Bedeutung, denn wohl nirgends ist
derselbe so arm, namentlich an Grundbesitz, als hier zu Lande, aber er hat
verstanden, die Landbevölkerung für sich zu gewinnen. Ein ergiebiges Feld
hierfür bot ihm die Unzufriedenheit vieler Landwirthe, welche sich seit einigen
Jahren in den wunderbarsten Formen äußerte. Die Aufhetzung, welche demo¬
kratische und kurfürstliche Organe sich hatten zu Schulden kommen lassen, die
lange Zeit täglich laut gewordenen Rufe, daß lediglich unsere Nationallibe¬
ralen schuld an der Art der Annexion und damit an vielen kleinen Nach¬
theilen seien, welche Einzelne infolge derselben erlitten, hat eine gefährliche
Saat aufschießen lassen. Die Belehrungen über die Verkehrtheiten der länd¬
lichen Vorschläge zur Hebung der Landwirthschaft wurden mit Bosheit be¬
handelt und der größte Unverstand der sich zurückgesetzt fühlenden verschieden¬
artigen Elemente lechzte danach, sich in einer die liberalen und reichstreuen
Bestrebungen durchkreuzenden Weise geltend zu machen. Diese Stimmung ist
adliger Seits genährt und benutzt worden. Der Adel cultivirte die unselige
agrarische Richtung und entzog der liberalen Sache Elemente, welche derselben seit
langer Zeit gedient hatten. Dazu kam, daß die Organisation der national¬
liberalen Partei des Landes nicht wieder gelingen wollte, seit aus Anlaß der
Annexion die Führer sich in so bedenklicher Weise gespalten hatten. Nun
haben wir die Bescheerung: Der Adel im Landtag hat die Mehrzahl der Ab¬
geordneten bewogen, eine Adresse mit der Bitte um Ernennung des hiesigen
Regierungs-Präsidenten v. Hardenberg zum Oberpräsidenten an den König
zu erlassen. Es wird zu dieser Ernennung nicht kommen, denn die höchst be¬
denkliche Haltung des Genannten in der kirchenpolitischen Frage wird in
Berlin hinreichend bekannt sein und es handelt sich ja grade darum, an Stelle
Bodelschwingh's einen Mann zu setzen, der entschiedener in jener Frage das
Staatsinteresse wahrnimmt; allein der Adel hat gezeigt, wie weit seine Macht
schon gewachsen ist. Hardenberg, wie es immer hieß, einst blos deshalb hier¬
her versetzt, um an Stelle des damaligen Oberpräsidenten v. Möller mehr
für die Repräsentation zu sorgen, würde allerdings den Bestrebungen des
Adels sehr hold gewesen sein und ein kühnes Austreten in dieser Richtung
mochte diesem wohl als unschädlich erscheinen. Die Führer der Ritterschaft
sind Herr von Mibhling und Graf Berlepsch, daneben der Landesdirector v.
Bischofshausen. Herr v. d. Malsburg und Herr v. Wolff. Der erstere hat
als Präsident des Landtags noch manche besondere Mittel an der Hand, sich
die unselbständigen Abgeordneten dienstbar zu machen. So ist es, was wohl
vor nicht langer Zeit Niemand geahnt hätte, dahin gekommen, daß die früher
liberalgegoltene hessische Volksvertretung sich im Culturkampfe auf die Seite
der Hierarchie gestellt hat. Die Grundlage für die Macht des Adels ist
übrigens noch in kurfürstlicher Zeit gelegt. Als der Bundestag die Her¬
stellung der Verfassung von 1831 beschloß, legte er damit zugleich auf, die
bundeswidrigen Punkte zu beseitigen. Bundeswidrig war aber offenbar nur
die im Landtage fehlende Vertretung der früheren Reichsritterschaft; der Land¬
tag von 1864 ließ sich aber in übertriebener Rücksichtnahme herbei, auch die
hessische landsässige Ritterschaft wieder in den Landtag zu ziehen, die 1849
als ganz bedeutungslos glücklich aus derselben beseitigt war. Mit dieser
ganz unnöthigen Wiederhtzranziehung der armen Ritter des Landes hat sich
die liberale Volksvertretung eine schwere Ruthe aufgebunden, denn dem
Communallandtage wurde 1867 das also verballhornte Wahlgesetz von 1849
zu Grunde gelegt und zwar, auf Veranlassung der nachher agrarischen Ele¬
mente, sogar unter Begründung der Interessen-Vertretung von 4 Ständen.
Nun ist freilich unter den Liberalen der Unwille erwacht und als Zeichen
desselben ist die wahrhaft vernichtende Kritik anzusehen, welche der Versuch
der Landboten zur Erhöhung ihrer Diäten in der Presse gefunden hat. Ohne
den Hinblick auf jene allgemeine Wendung hätte man es wohl noch serner
ungerügt gelassen, daß die Abgeordneten ihre Sessionen auffallend in die
Länge zu ziehen Pflegen und daß die meisten derselben die Diäten auch für
die Tage nehmen, an welchen sie sich nicht hier, sondern zu Hause befinden;
und es finden wöchentlich höchstens 2 Sitzungen statt, zu denen die Herren
aus der Provinz auf wenige Stunden herkommen. Im kurhessischen Land¬
tage soll das freilich noch ärger gewesen sein; da pflegte sich der Landtag
Z. B. um Weihnachten nicht zu vertagen, sondern es wurde die nächste Sitzung
auf einen Tag in der drittnächsten Woche angesetzt. So bezog man die Di¬
äten, während diese bei Vertagung weggefallen wären. Auch nahmen Ab¬
geordnete Diäten selbst für die Zeit, in welcher sie, natürlich ohne Entschul¬
digung, weite Geschäftsreisen, z. B. bis Paris, machten. Die Rügen solchen
Verfahrens werden jetzt den ländlichen Abgeordneten zu Theil, die damit zu
ihrem Schrecken sehen, was sie im Gefolge des Adels für sich angerichtet.
Es ist wirklich hoch noth, daß die sogenannte Selbstverwaltung der Provinz
auf andere Beine gesteW'wird und nicht in eine Selbstversorgung der Ver-
treter ausartet.
Seit einiger Zeit wurden Stimmen laut, welche
die Wirthschafts- und Finanzpolitik, die bei der Gestaltung des deutschen
Reiches befolgt worden ist, in wesentlichen Stücken nicht in der Ordnung
finden und das Darniederliegen von Handel und Wandel, das gegenwärtig
allenthalben fühlbar ist und schwere Beängstigung hervorruft, zum Theil oder
ganz auf gewisse Maßnahmen dieser Politik zurückführen wollten. Gegnerische
Stimmen, zuerst sehr zuversichtlich im Bewußtsein, daß eine weitverbreitete
Schule, ein großer Theil der Presse und „maßgebende Kreise" hinter ihnen
standen, dann bisweilen etwas kleinlauter vor dem Zunehmen der Calamität
und den dringender und allgemeiner werdenden Klagen der von ihr zunächst
Betroffenen, blieben nicht aus und versuchten die Beschuldigung zu entkräften.
D. Bl. haben zu dem Streite bisher noch nicht Stellung genommen, und das
soll auch hier nicht in ausführlicher Weise geschehen. Später, wenn die Sache
sich mehr geklärt hat, vielleicht bald, denken wir mit Erlaubniß der Redaktion
nachzuholen, was unterlassen bleiben mußte. Für jetzt nur zweierlei:
Zunächst scheint allerdings von jener Politik in verschiedenen Richtungen
dem Manchesterthum zu viel zugestanden und unter Anderm nicht genügend
berücksichtigt worden zu sein, daß, was für andere Länder sich eignet, z. B.
für England, von Deutschland jetzt noch nicht getragen werden kann. Der
Trost, daß alle Reformen zuerst Mißstände erzeugen, aber in sich selbst auch
das Correctiv für dieselben tragen, daß die Freiheit, das „Gehenlassen" sich
trotz alledem und alledem zuletzt bewährt und lohnt, mag recht gut klingen,
wenn die betreffenden Mißstände nicht zu schwer sich fühlbar machen, und die
erwartete Correctur nicht zu lange ausbleibt und so die Befürchtung entsteht,
es sei überhaupt mit der Hoffnung auf sie mißlich bestellt. Das aber
scheint dermalen bei uns der Fall zu sein und Abhülfe zu fordern.
Zweitens aber — und das ist für uns hier die Hauptsache — wird ein
Mißverständniß in Betreff der Persönlichkeiten, die bet jenen wirthschaft¬
lichen Maßnahmen in Frage kommen, zu berichtigen sein. Ein Chor von
Zeitungen macht wieder und immer wieder Herrn Camphausen für das, was
nach den Folgen der Finanzpolitik des deutschen Reichs bei dieser verfehlt er¬
scheint, verantwortlich. Er soll die eigentliche treibende Kraft und somit der
Hauptsünder sein, wenn allenthalben jetzt Klagen über jene Folgen erschallen;
Herr Delbrück würde nach diesen Aeußerungen der Presse von ihm nur gezogen,
geschoben oder gar vorgeschoben. Dagegen müssen wir Einspruch erheben und
das wahre Verhältniß herstellen. Gerade das Umgekehrte ist nämlich der
Fall, wie sich schon aus der Persönlichkeit der beiden Minister erweisen läßt
welche wir denen, die mit ihnen verkehrten, nicht näher zu bezeichnen brauchen
und Andern für unsern Zweck dadurch genügend vorstellen werden, daß wir
Herrn Delbrück bereitwilligst das Lob ungewöhnlicher Gewandtheit und
Rührigkeit ertheilen. Sodann aber haben jene anscheinend nicht offiziösen,
am Ende aber doch wohl zwischen der Behren - und der Leipziger Straße tn-
formirten Preßstimmen einen andern Umstand außer Acht gelassen. Wir dach¬
ten nämlich immer, Herr Delbrück sei eigentlich der Finanz- und Handels¬
minister des Reiches, und wenn wir jetzt nachdenken und uns. vor jener
Verschiebung des Verhältnisses von Zweifeln befallen, bei Andern erkundigen,
finden wir, daß wir nicht irrten. Herr Delbrück ist wirklich unser deutscher
Handels- und Finanzminister, und der Reichskanzler hat ihm auf diesem Ge¬
biete durchaus freie Hand gelassen. Sind ihm doch auch immer die Lorveern
überreicht worden, so lange man deren in dem von ihm beherrschten Bezirk
M brechen fand. Herr Camphausen aber hat an der Verantwortlichkeit für
die preußische Finanzpolitik genug zu tragen, sodaß man schon aus Grün¬
den der Billigkeit sich enthalten sollte, ihm auch noch die für die deutsche
zuzumuthen.
Kant und Darwin. Ein Beitrag zur Geschichte der Entwickelungs¬
lehre von Fritz Schultze. Jena, Verlag von H. Dufft. 1875. Bei dem
großen und stets zunehmenden Interesse, welches die moderne Entwickelungs¬
lehre in den Kreisen der Gebildeten erregt, nimmt es einigermaßen Wunder,
daß wir noch keine Geschichte dieser zuerst von Darwin mit voller Bestimmt¬
heit vorgetragnen Lehre haben, und vermuthlich wird eine derartige Schrift
nicht lange mehr auf sich warten lassen. Das vorliegende Buch will einen
Beitrag zu einem solchen Unternehmen liefern, und es beweist in der That
aus den Schriften des Königsberger Denkers, des größten Philosophen der
Deutschen, daß die Grundgedanken der Entwickelungslehre sich bei demselben
bereits mit ziemlicher Deutlichkeit vorfinden.
Der Verfasser weist Parallelstellen zu dieser Lehre. die mehr oder minder
deutlich hervortreten, schon in der 1755 erschienenen „Allgemeinen Natur¬
geschichte und Theorie des Himmels" nach. Dann in den berühmten Vor-
Vorlesungen über physische Geographie, die Kant zwei Jahre später aus¬
arbeitete, und wo er u. A. sagt: „Die Geschichte ist eine Erzählung,
die Geographie eine Beschreibung. Daher können wir zwar auch eine
Naturbeschreibung, aber keine Naturgeschichte haben. Die letztere Be¬
nennung, wie sie von Vielen gebraucht wird, ist ganz unrichtig. Weil
wir aber gewöhnlich, wenn wir nur den Namen haben, auch die Sache zu
haben glauben, so denkt niemand daran, wirklich eine solche Naturgeschichte
zu liefern. Die Geschichte der Natur enthält die Mannigfaltigkeit der Geo¬
graphie, wie es nämlich in verschiedenen Zeiten damit gewesen ist, nicht aber
wie es jetzt zu gleicher Zeit ist; denn dies wäre ja eben Naturbeschreibung."
„Wahre Philosophie ist es, die Verschiedenheit einer Sache durch alle Zeiten
zu verfolgen." „Ginge man den Zustand der Natur in der Art durch, daß
man bemerkte, welche Veränderungen sie durch alle Zeiten erlitten hätte, so
würde dieses Verfahren eine eigentliche Naturgeschichte geben." „Es ist aus
der Verschiedenheit der Kost, der Luft und der Erziehung zu erklären, warum
einige Hühner ganz weiß werden, und wenn man unter den vielen Küchlein,
die von denselben Eltern geboren werden, nur die aussucht, die weiß sind,
und sie zusammen thut, so bekommt man endlich eine weiße Race. die nicht
leicht anders ausschlägt." „Wenn man nach den Ursachen der mancherlei
einem Volke angearteten Bildungen und Naturelle fragt, so darf man nur
auf die Ausartungen der Thiere Acht haben, sobald sie in ein anderes Klima
gebracht werden. Ein Eichhörnchen, das, hier braun war. wird in Sibirien
grau. Ein europäischer Hund wird in Guinea ungestaltet und kahl, sammt
seiner Nachkommenschaft. Die nordischen Völker, die nach Spanien überge¬
gangen sind, haben nicht allein eine Nachkommenschaft von Körpern, die lange
nicht so groß und stark, als sie waren, hinterlassen, sondern sind auch in ein
Temperament, das dem eines Dänen oder Norwegers sehr unähnlich ist, aus¬
geartet." Auch in der Kant'schen Schrift „der einzig mögliche Beweisgrund
zu einer Demonstration des Daseins Gottes" und in den kleinen Schriften
der Jahre 1764—1771 findet der Verfasser unseres Buches Spuren der Ent¬
wicklungslehre. Hier begegnen wir Aeußerungen, aus denen sich folgende Sätze
ergeben: 1. Die Philosophie soll sich nicht auf immaterielle Prinzipien be¬
rufen, sondern sich an die mechanischen Gründe halten, welche auf den Be-
wcgungsgesetzen der bloßen Materie ruhen, und welche allein der Begreiflichkeit
fähig sind. 2. Zwischen lebendiger Natur und lebloser, zwischen organischer
und unorganischer Welt läßt sich kaum eine sichere Grenze ziehen. 3. Ebenso
giebt es keine feste Grenze zwischen Thier- und Pflanzenreich. Wie sehr Kant
sich hier einem hylozoistischen Standpunkte zuneigt, liegt auf der Hand. Wenn
sich ihm aber die dualistische Grenzlinie zwischen dem Unorganischen und dem
Organischen, zwischen Thier und Pflanze hier verwischt, wenn er die Bern-
fung auf immaterielle Prinzipien als unwissenschaftlich verwirft, so bedarf es
nur eines kleinen Fortschrittes, und er wird auch den Dualismus zwischen
Thier und Mensch fallen lassen. Und das ist in der That geschehen. Schon
1771 ist er damit einverstanden, daß die ursprüngliche Gangart des Menschen
die vierfüßige gewesen sei, daß die zweifüßige sich erst allmählich entwickelt
habe, und daß der Mensch erst mit der Zeit „sein Haupt über seine alten
Kameraden (die Thiere) so stolz erhoben hat." 1777 aber macht er bereits
die Bemerkung (Werke II. S. 427): daß „wir thierische Geschöpfe nur durch
Ausbildung zu Menschen gemacht werden." Bon besonderem Interesse sind
die Sätze, die der Verfasser für seinen Zweck der „Pragmatischen Anthropo¬
logie" entnimmt. Es ergeben sich daraus ungefähr folgende Gedanken: 1. Die
Menschheit darf, wenn wir die ihr charakteristischen Merkmale gewinnen wol¬
len , nicht mit nichrirdischen Wesen verglichen werden, da solche unbekannt sind.
2. Der Mensch schafft sich seinen Charakter selbst und vervollkommnet sich
nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken. 5. Der Mensch ist ein mit
Vernunftfähigkeit begabtes Thier, er kann aus sich ein vernünftiges Thier ma¬
chen. 4. Die „Zwietracht" ist in dem Plane der Natur das Mittel,
die Vervollkommnung des Menschen durch fortschreitende Cultur, wenngleich
mit Aufopferung mancher Lebensfreuden desselben, zu bewirken. Der innere
und äußere Krieg, „ein Maschinenwesen der Vorsehung" (unter Vorsehung
ist kein höheres Prinzip zu verstehen, als das. welches wir für die Erhaltung
der Gewächse und Thiere annehmen) ist die Triebfeder, aus dem rohen Natur¬
zustande in den bürgerlichen überzugehen. (Kampf ums Dasein!) S. Der
Mensch ist ein Thier, welches sich allmählich zu seiner jetzigen Vollendung
entwickelt hat. Ein erstes völlig ausgebildetes, mit fertigen Instincten ver¬
sehenes Menschenpaar anzunehmen, ist unstatthaft. 6. Sollte nicht eine große
Naturrevolution eintreten können, wo „ein Orangoutang oder ein Chimpanse
die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zum Sprechen
dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein
Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche
Cultur sich allmählich entwickelte?" Wir müssen hier abbrechen und es dem Leser
überlassen, dem Verfasser bei seinen ferneren Untersuchungen der Kant'schen
Schriften, namentlich der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Ur¬
theilskraft, zu folgen, die ihm ebenfalls reichliche Ausbeute liefern.
Von Gottes Gnaden, Wir Ernst August. Nachdem Wir Ernst August
Herzog ze. aus dem vom 12. Mai anhero eingeschickten impertinenten Cam-
mer-Berichte mit höchst empfindlichen Verdruß ersehen, was gedachte Kammer
vor gefährliche Vorstellungen wegen mangelnder tonra-Fe vor Fürstl. Marstall
und des dahero zu leistenden Vorschusses von etwa 1000 Thlr. gethan und
Wir daraus und aus denen mit unterfließenden Marschallicmischen **) prinei-
Ms urtheilen müssen, daß dergleichen nur geschiehet, um Uns desto eher unter
die Erde zu bringen, um desto besser Kirmsschnitte nach Unserm Tode unter
der Vormundschaft zu machen, maßen Wir ja die Revenns nicht einnehmen
und auch seit Unserer Regierung keinen Heller Handgelder bekommen, sondern
die Cameralisten müssen wissen, wo selbe die Gelder hinthun: Als begehren
Wir hiermit gnädigst, daß gedachte Kammer sofort mit dem Oberstallmeister
von IroM wegen der ausrangirten Pferde und Einrichtung sich bespreche und
sofort ohne Anstand zu Anschaffung der nöthigen touraZs ohne weitere An¬
frage Anstalt mache, auch Wir mit dergleichen fernerweiten meenantsn und
impertinenten Berichten gänzlich verschonen, sonsten Wir uns gewiß an den
sämmtlichen Cameralisten ihr besitzendes Vermögen und Güther halten und
selbigen die Pferde zuschlagen wollen. Große Titel und Besoldungen seynd
zwar leicht verlangt, allein wenn man vor des Herrn Interesse arbeiten soll,
da ist Niemand zu Hause und seynd dieser ungegründete und feindselige Vor¬
stellungen daß alles assiZnirt seye, maßen Wir es der Kammer mit dem
Teufel danken, daß selbige also maronanäirt, maßen Wir keine ^ssiAnationes
vor Uns ausgefertigt haben und kann uns solche fernerhin damit ungeschoren
lassen, woferne Wir selbige nicht vor Unsere Feinde halten sollen. Wir seynd
lange genug in Weimar gewesen, da hat kein Teufel nichts gesagt, nun da
Wir den Rücken gewart. so verfolgt man Uns mit solchen impertinenten
Zuschriften, wogegen die Cammer aber Anstalten zu machen hat, widrigenfalls
Wir uns gewiß an selbige halten werden. Denen tun-valiers ist die kourage
in NÄturli. abzuziehen und solche an Gelde anzuschlagen welches von 6a,to an
geschehen soll,' dahero dem Oberjägermeister 3 und jedem Forstmeister 2 Pferde
Passiren, welche sie zum Reiten halten sollen und wird ihnen die tours-M
auf dem Lande hiermit gänzlich abgeschnitten. Hätte man vorigen Herbst bey
wohlfeiler Zeit vor Hafer gesorget, so müßte man solchen jetzo nicht so theuer
bezahlen, allein wenn man schmaussen und bei den Pächtern Forellen und
welsche Hähne fressen soll, da ist man parat und in zehn Jahren siehet Nie¬
mand nach der Wirthschaft und Felder, welches doch der Kammer verdammte
Schuldigkeit ist. Wir seynd kein Geldscheißer, sonsten wir denen Cameralisten
ein ziemliches Capital auf die Nase avaueirsu würden und haben auch Unser
Geld nicht gestohlen, allein wenn die Wirthschaft bei dem Bauwesen und Knab
und Keller besser eingerichtet würde, das wäre besser und hat der Oberjäger¬
meister darauf zu dringen, daß das sämmtliche Bauwesen dieses Jahr zu Ende
gehe, maßen Wir dabei abscheulich betrogen werden und die Baumeister mit
denen Handwerks- und arbeitsamen Leuted unter einer Decke stecken. Dem
Oberjägermeister passtren also nicht mehr als 3 tüchtige Reitpferde zum Dienst,
dem Oberstallmeister v. Iroiik 3, dessen beiden Forstmeistern jeden 2, welche
täglich nicht mehr als 2 leichte Metzen Hafer und 8 Pfund Heu bekommen
sollen und dieses ist ihnen zu Gude anzuschlagen. Die Anweisegebühren und
Lagerscheite sollen vom 1. Januar c g,. an sofort zur Fürstl. Scatoulle be¬
zahlet und berechnet werden und werden Wir dafür nicht das mindeste der
Cammer passiren lassen, welches auch dem groben Rath Hochhausen wider¬
fahren soll, der in großen Capitalien steht und nicht das mindeste vor die
Herrschaft vorschießen will und werden Wir Uns gewiß nachdrücklich an der
Kammer erholen, wenn diese Befehle nicht sofort gehorsamst sxLquirtZt
werden. Wornach man sich gehorsamst zu achten hat. Signatum Ilmenau
am 13. Mai 1740, Ernst August Herzog z. S. *)
Wir beginnen in diesem Jahre unsre Rundschau unter den Erzeugnissen
des Weihnachtsbüchermarktes mit dem Kunstverlag. Denn die Kunst vor
Allem bedarf in dieser schweren wirthschaftlichen Krise der Ermunterung wohl¬
wollender Beurtheilung. Die Kunst meint der ängstliche Rechner von des
Lebens Genüssen am ersten entbehren zu können. Da ist es denn erfreulich
zu sehen, wie viel Gutes deutsche Kunst und muthiger Sinn der Verleger
auch in schwerer Zeit geschaffen haben. An ihrem kühnen Wagen erkennt
man, daß der deutsche Idealismus glücklicherweise noch nicht das Haupt
sinken läßt, nicht die willenlose Beute der Baissespeculanten geworden ist, wie
die biedere Börse, der vor drei Jahren nichts theuer und verwegen genug war.
^rs IvnM, vitg, brevi»!
Wir sind gewohnt, aus dem Verlage von Breitenbach ckComp. in
Düsseldorf alljährlich reiche Gaben deutscher Poesie und Kunst zu empfangen.
Ungewöhnlich reich aber beschenkt uns dieser Verlag zur diesjährigen Weih'
nacht; vor Allem durch die zweite Auflage der Lieder der Heimath.
Wer die erste Auflage besaß, wird das Buch in der zweiten kaum wiederer¬
kennen. Denn nicht nur in der Auswahl der Lieder hat der Herausgeber
Ludwig Bund glückliche Aenderungen getroffen; auch „dem Bilderschmucke
deutscher Kunst", der diese „Sammlung der vorzüglichsten Dichtungen" be¬
gleitet, sind achtzig neue Holzschnitte und acht herrliche Blätter des „Arabesken-
Königs" Caspar Scheuren in Farbendruck hinzugefügt, die das Werk zu
werthvollen Besitz machen. Diese Blätter gehören zu dem Besten, was
Scheuren in Linie und Farbe geschaffen. Die Kunst der Chromolithographie
hat sich in bewunderungswürdiger Weise der Technik des Meisters dienstbar
gemacht. Die äußere Ausstattung des Werkes ist des Inhaltes würdig.
Zum ersten Male bietet uns Marie Remy unter dem Titel „Kennst
Du das Land?" (in demselben Verlag) i t a tierisch e Blumen und Früchte.
In den berühmtesten Pflegestätten edler Strebungen auf der appeninischen
Halbinsel, von Isola bella bis zur Villa Colonna und Villa Pamsili und
weiter bis zu den Kunstgärten, die den Busen von Sorrent zieren, hat die
Malerin nach der Natur ihre kleinen Meisterwerke in Gouache geschaffen, die
uns hier, mit Ausnahme des letzten Blattes, in treuester Nachahmung ihrer
Pinselführung wiedergegeben und zu eigen gemacht werden. Einige aben¬
teuerliche Fruchtformen von rother Majestät sind allerdings darunter, die uns
kühle Nordländer weniger anmuthen. Mit vollstem Herzen und mit größtem
Erfolg scheint die Künstlerin überhaupt dann geschaffen zu haben, wenn sie
im Süden den Blüthen und Früchten ihrer deutschen Heimath begegnete und
sie zum Gruße der Heimath senden konnte. Eine von der Malerin selbst
gezeichnete reiche Einbanddecke umgiebt die Mappe. — Das dritte Werk des
Verlags von Breitenbach Comp. ist ein lieber, nun zum neunten Male
erscheinender Bote der Weihnachtszeit, das deutsche Künstleralbum
von 1876, herausgegeben von Ernst Scherenberg, das seinen Vorgän¬
gern würdig an die Seite tritt. Die namhaftesten Dichter und Maler haben
sich vereinigt, um in diesem Buche ihre besten neuesten Erzeugnisse vorzuführen.
Die Verlagsanstalt hat eine glänzende Ausstattung hinzugefügt.
Zu den Sehenswürdigkeiten Jerusalems, die der gewissenhafte Reisende
nicht unbesucht lassen darf, gehört der sogenannte Klageplatz der Juden. Er
befindet sich unten an der Westseite des Moriah-Hügels, und man gelangt
dahin durch ein Gäßchen. das sich links von der Davidstraße abzweigt. Nach¬
dem wir die Windungen des engen Gäßchens eine Strecke verfolgt haben,
öffnet sich vor uns bei den Häusern der Mogrebin, das heißt der hier ange¬
siedelten Juden aus Nordafrika, eine schmale, niedrige Pforte, durch die wir
w einen vierzig bis fünfzig Schritt langen Hof oder, wenn man will, in
eine kleine Sackgasse treten, welche links von einer hohen, unten aus gewal¬
tigen Quadern bestehenden Mauer überragt wird. Diese Mauer, in der sich
fugengeränderte Werkstücke von drei bis vier Metern Länge und entsprechen¬
der Höhe finden, gehört aller Wahrscheinlichkeit nach zu den Substructionen
der Are«, auf der sich einst der Tempel erhob, und so ist die Stelle für die
hier wohnende Nachkommenschaft Israels eine heilige Stätte, an der sie
alle Freitage in den Stunden vor Sonnenuntergang ihre Andacht verrichtet,
über den Untergang ihres Heiligthums klagt und den Gott der Bäter um
baldige Sendung des Meschiach und Wiederaufrichtung ihrer Nationalität
anruft. Dieß geschieht in der Form von Antiphonien, bei denen das ver¬
sammelte Boll einem Vorsänger antwortet, und von welchen eine, von
Bädeker in seinem Reisehandbuche über Palästina und Syrien mitgetheilt,
folgendermaßen lautet:
„Wir bitten Dich, erbarme Dich Zions. — Sammle die Kinder Jerusa-
lems. Eile, o eile, Zions Erlöser! — Sprich zum Herzen Jerusalems. —
Schönheit und Herrlichkeit möge Zion umgeben. — Ach, wende Dich gnädig
Jerusalem! — Möge bald das Königreich wieder über Zion erscheinen. —
^ofte. die über Jerusalem weinen. — Möge Friede und Freude in Zion
einkehren. — Und der Zweig Jesse zu Jerusalem aufsprossen."
Als ich sie im April 1859 besuchte, waren etwa dreißig Männer und
vielleicht ebensoviel? Frauen dort versammelt. Jene trugen, mit Ausnahme
von zwei Sephardim. spanisch redenden Juden, die sich arabisch kleiden, die
Tracht der polnischen Jsraeliten, den Kaftan. die Pelzmütze oder den Spitz¬
hut und die langen Schläfenlocken, die wir früher zu den Merkwürdigkeiten
der leipziger Messe zählten. Die Weiber waren in weiße Baumwollenmäntel
gehüllt, die auch den Kopf und die untere Hälfte des Gesichts verbargen. Die
Männer standen der Tempelmauer zugekehrt, die Frauen kauerten ein Stück
davon wie ein Taubenschwarm auf dem Erdboden. Alle hatten die Schuhe
ausgezogen. Namentlich das weibliche Geschlecht soll bei diesen Andachts¬
übungen zuweilen die wildesten, erschütterndsten Wehklagen ausstoßen. Dies¬
mal aber verhielten sie sich still, und auch die Männer unterschieden sich nicht
wesentlich von einer unsrer orthodoxen Judenschulen in voller Gebetsarbeit.
Man hörte das bekannte Murmeln, mitunter eine Reihenfolge lauter Gaumen-
und Gurgeltöne, den üblich zitternden Gesang, und nur dann und wann
unterbrach ein besonders erregtes Gemüth den Chor mit einem Wimmern
durch die Nase oder einem gellenden Aufschrei. Einige hatten stumm die Stirn
an die verwitterten Steine gelegt, andere lasen oder sangen, taktmäßig mit
dem rechten Fuße vor- und wieder zurücktretend und sich verbeugend, aus ab¬
gegriffnen Büchern ihre Gebete ab.
Ich blickte dem Einen über die Schulter in sein Buch. Er fragte, ob
ich Hebräisch lesen könne, und als ich dies bejahte, entspann sich ein Gespräch,
an welchem bald auch Andere sich betheiligten. Leider verstand ich ihr Juden¬
deutsch nur halb. Doch erfuhr ich, daß hier „Molen Kodesch", heiliger Bo¬
den, sei, daß der Tempel nicht lange mehr eine Trümmerstätte bleiben werde,
und daß „nach den Büchern" in ungefähr dreihundert Jahren „Meschiach"
kommen, die Herrlichkeit „Jeruschalajims" wieder aufrichten und alle „Gojim"
zu Mosis Lehre bekehren werde. Alle großen Herren von „Chuzeleorez" (Aus¬
land. NichtPalästina) mit Einschluß des Kaisers in Wien und der Königin
von England würden dann Juden werden.
Man kennt die Entwickelung des Messiasglaubens. Er bildete sich schon
in den Tagen der alten Propheten aus der Erinnerung an die Glanzzeit des
Volkes unter David und Salomo und aus der Sehnsucht nach der Wiederkehr
dieser Zeit, einer Sehnsucht, die sich allmählich mit der Hoffnung auf allge¬
meine Weltherrschaft und den Genuß hohen irdischen Glückes verband, und
die mit dieser Hoffnung durch Jahrhunderte voll Erniedrigung und Leides
fortlebte, selbst das babylonische Exil überdauerte und auch dann nicht erstarb,
als die Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch Titus und die Zer¬
streuung des Volkes Gottes über die ganze Erde ihr alle Grundlagen entzogen
zu haben schienen. Die Messiasidee war eine rein politische, soweit sich dieß
von dem Gedanken an eine die Welt umfassende Theokratie behaupten läßt-
In der Zeit der Propheten erwartete man, Gott werde aus den Nachkommen
David'S einen Helden hervorgehen lassen, der als „Gesalbter des Herrn" das
Volk aus der Knechtschaft der Fremden befreien und es durch weitere Siege
zu Herren des Erdballs machen werde. Sein Erscheinen wurde stets als nahe
bevorstehend gedacht. Nach Einigen sollte ihm eine Periode schwerer Unglücks¬
fälle vorausgehen, in denen das Volk sich läutern und zur Versöhnung mit
dem ihm zürnenden Gotte gelangen würde. Endlich trat zu diesen Vor¬
stellungen auch noch die von einem Vorläufer des Messias, in welchem man
sich die Wiederkunft eines hervorragenden Propheten, zur Vorbereitung auf
die Tage neuer Herrlichkeit dachte. In dem späteren Judenthum, das den
Talmud und die Kabbala erzeugte, nahmen jene Hoffnungen und Meinungen
einen grotesk-phantastischen, zum Theil recht komischen Charakter an, von
dem ich später einige Proben geben werde.
Von Jahrhundert zu Jahrhundert erwarteten die Juden, nachdem sie
das geistige Messiasreich, das in der Gestalt des Christenthums die „.Welt zu
erobern begonnen, ihrer Mehrzahl nach verworfen halten, den ihrer Meinung
zufolge echten und wahren Messias, und wiederholt traten unter ihnen Schwär¬
mer oder Betrüger auf, welche die Erfüllung dieser Erwartung sein wollten.
Der erste und bedeutendste derselben war Simon Bar Kochba, der Führer
der großen Empörung, die 130 n. Chr. während Hadrian's Regierung unter
den palästinensischen Juden nusbrach. Simon hatte sich den Namen Bar
Kochba, Sternensohn, beigelegt, indem er die alte Weissagung 4. Mos. 24,17:
„Es wird ein Stern aus Jacob aufgehen und ein Scepter aus Israel auf¬
kommen, und wird zerschmettern die Fürsten der Moabiter und verstören
alle Kinder Seths" auf sich bezogen wissen wollte. Mit Erfolg kämpfte er
anfangs gegen die Römer, die sogar Jerusalem räumen mußten, sodaß er
zum König ausgerufen wurde. Der Krieg verbreitete sich über die Grenzen
des heiligen Landes hinaus, und fünfzig Städte nebst vielen Flecken und
Dörfern fielen in die Gewalt des siegreichen Messias. Als aber Hadrian's
Feldherr Julius Severus mit neuen Legionen aus Britannien heranrückte, wen¬
dete sich das Blatt. Jerusalem wurde wieder erobert, und einige Zeit später,
im August 135. wurde Bithur, das letzte Bollwerk Bar Kochba's. erstürmt.
Hunderttausende von Juden waren in dem verzweifelten Kampfe umgekommen,
andere wurden unter Martern hingerichtet, wie man denn unter Andern Rabbi
Allda. den berühmten Gesetzeslehrer, unter Sägen sterben ließ; der Pseudo¬
Messias selbst aber war bei dem Sturm auf Bithur erschlagen worden.
Die Messiasidee aber pflanzte sich fort und rrat schon in der Mitte des
fünften Jahrhunderts auf der Insel Cypern in einem gewissen Moses wieder
Mit dem Anspruch auf Verwirklichtsein auf, um wieder in Blut erstickt zu
werden. Hunderte von Juden gaben sich zu Ende des Aufstandes verzweifelnd
selbst den Tod, indem sie sich von Felsen in die See stürzten. Kaum hundert
Jahre später erhob sich in Palästina der Messias Julian, um ähnlich wie
Moses zu enden. Im zwölften Jahrhundert erschienen in Persten und Ara¬
bien mehrere Messiasse nach einander, und erst vor einigen Jahren trat in der
südarabischen Provinz Hadramaut ein jüdischer Lehrer auf, der in der Kad-
bala gelesen haben wollte, daß er bestimmt sei, das Volk Gottes aus allen
Weltgegenden um sich zu versammeln und nach dem heiligen Lande zurückzu¬
führen. Er berief sich dabei auf den sogenannten Segen Jacob's, aus dem
gewisse Kabbalisten herausgefunden hatten, daß der Islam, nachdem er das
dreizehnte Jahrhundert seines Bestehens erreicht, untergehen und seine Herr¬
schaft den Juden abtreten werde. Zahlreiche Gläubige strömten diesem neuesten
Messias zu, brachten ihm Geschenke und erboten sich, unter ihm gegen die
„Jsmaeliten" zu kämpfen. Schon dachte er ein Heer zu organistren, als die
Eroberung des benachbarten Jemen durch die Truppen des Sultans ihn be¬
denklich machte und seinen Plan vertagen ließ. Ibn David verschwand und
verscholl darauf. Jetzt aber soll er wieder aufgetaucht sein und zuversichtlich
darauf rechnen, die Judenheit um sich sammeln und sich die Krone Israels
aufs Haupt setzen zu können. Wüßte ich, daß mein Segen hierzu bei dem
Gotte mit dem unaussprechlichen Namen etwas gälte, so sollte ihm derselbe
nicht vorenthalten bleiben.
Die erwähnten Versuche, das Messiasreich des Talmud oder der Kabbala zu
begründen, waren bis auf den letzten, der bis jetzt noch nicht zur That ge¬
reift ist, Trauerspiele voll Blut und Schrecken. Ein anderer, den ich mir zu
ausführlicher Schilderung aufhob, begann und endigte wesentlich anders. Es
ist die Geschichte von Sabbathaj Zevi, die im siebzehnten Jahrhunderte spielt,
und aus der sich mit einigem Geschick eine ganz artige Komödie bauen ließe-
Ehe wir sie ins Auge fassen, sehen wir zu, wie sich der Messiasglaube um
die Zeit des Auftretens dieses Abenteurers gestaltet hatte, wobei wir uns
erinnern wollen, daß dieser Glaube in allem Wesentlichen noch heute von
allen Juden, denen der Talmud oder die Kabbala Richtschnur für ihr Denken
und Hoffen ist, also von der großen Mehrzahl des Volkes im Osten und
Süden Europas, in Asien und Nordafrika, festgehalten wird und mehr oder
minder auch der Trost der nicht von der Reform berührten unter uns Deut¬
schen wohnenden Enkel Großvater Abraham's ist.
Zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts also waren die Juden allent¬
halben der Meinung, daß der Messias bald erscheinen und daß er ein welt¬
licher König sein werde, dessen wunderbare Kräfte und Gaben das Volk
Gottes aus seiner Zerstreuung sammeln und wieder in das gelobte Land brin¬
gen würden, um sie hier eines bis dahin unerhörten irdischen Wohlergehens
theilhaft und zu Gebietern der Erde zu machen. Was man erwartete, war
ungefähr das Paradies, wie es sich der Phantasie darstellte, die einen Theil
des Talmud geschaffen hatte, ein sehr prächtiges und sehr sinnlich gedachtes
Stück Himmel, welches auf die Erde fallen und sie zu einer Art Schlaraffen¬
land machen sollte. Gott werde, so meinten diese frommen Seelen, fortan
unter seinem Volke wohnen und ihm Sonne und Mond ersetzen, sodaß es
keine Nacht mehr geben werde. Er werde die Todten Israels wieder aufwecken
und seine Feinde allenthalben ausrotten, er werde alle Plagen und Krank¬
heiten für das erwählte Volk aufhören lassen, ihnen die Gewalt über alle
Nationen geben, sie mit unerhörten Schätzen und Reichthümern beschenken
und ihnen den Tempel in der Gestalt wieder aufbauen, in der ihn der Pro¬
phet Ezechiel im Gesichte geschaut. Ferner glaubten sie. ihr Adonaj werde
ihnen auch alle sittlichen Gebrechen und Mängel, alle bösen Triebe und Ge¬
lüste, alle Anreizungen zur Sünde benehmen, was man sich etwa in der Weise
einer chirurgischen Operation oder wie die Entfernung der Rippe aus dem
Körper des schlafenden Adam vorgestellt haben wird, aus welcher dann Eva
wurde. Ein weiterer Segen der Bürger des Messiasreiches sollte langes Leben
sein, wobei die Meisten das Alter Methusalem's erreichen und die, welche im
hundertsten Jahre stürben, als frühzeitig von hinnen genommen angesehen
werden würden. Das gelobte Land sollte zunächst durch Feuer von aller Un¬
reinheit befreit werden, mit der es Heiden, Christen und Muhamedaner be¬
fleckt, und sich dann weiter ausdehnen, als es jemals gewesen, und
tausendmal schöner und fruchtbarer sein, als in der alten Zeit und in der
Gegenwart.
Der Messias sollte ewig leben und regieren. Zur Feier des Antritts
seiner Herrschaft gab es, so hoffte man. ein großes Gastmahl für alle Juden,
das zu Jerusalem veranstaltet wurde. Die Gäste bekamen dabei den köst¬
lichsten Wein zu trinken, der im Paradiese gewachsen und für jenen Zweck in
Adam's Keller aufbewahrt worden war. Sie speisten das Fleisch der größten
Thiere, Vögel und Fische, die Gott, der Herr, je erschaffen. Darunter be¬
fand sich namentlich der im Buch Hiob erwähnte Behemoth, ein Riesenochse, der
alle Tage tausend Berge abweidete und das von ihm abgefressene Gras des Nachts
wieder wachsen sah. Eine andere Zierde des Speisezettels war der ungeheuer
große Vogel Bar Juchne. der nur aus Bratenfleisch bestand, und von dem
ein einziges El. als es aus seinem Neste gefallen, dreihundert Cedernbäume
umgerissen und, als es dabei zerbrochen, sechzig Dörfer überschwemmt und
ersäuft haben sollte. Ein drittes Prachtstück unter den Festgerichten dieses
Krönungsschmauses war das Weibchen des Fisches Leviathan, welchen Gott,
damit er sich nicht vermehre, castrirt haben sollte, wogegen er jene seine bessere
Hälfte geschlachtet und für die gottesfürchtigen Juden der messianischen Zeit
eingepökelt hätte.
Alle diese Wunder wurden von der rechtgläubigen Judenheit so bestimmt er¬
wartet, wie die Christen wußten, daß der von den Propheten des Alten Testa¬
ments geweissagte Messias schon gekommen sei. Im Hinblick auf die Zer¬
streutheit Israels stützte diese Hoffnung sich auf den sogenannten „goldenen Affen",
die Thorastelle 3. Mos. 26, 44, die im Original mit p^i (Weaf, d. b. „und
dennoch") anfängt und in der Uebersetzung Luther's lautet: „Auch wenn sie
schon in der Feinde Land sind, habe ich sie gleichwohl nicht verworfen und
ekelt mich ihrer nicht also, daß es mit ihnen aus sein sollte und mein Bund
mit ihnen sollte nicht mehr gelten; denn ich bin der Herr, ihr Gott." Ferner
aber nahm man die Stelle Jesaj. 60, 10 ff. wörtlich, wo es von Jerusalem
heißt: „Fremde werden Deine Mauern bauen, und ihre Könige werden Dir
dienen. Denn in meinem Zorn habe ich Dich geschlagen, und in meiner
Gnade erbarme ich mich über Dich. Welche Heiden oder Königreiche Dir nicht
dienen wollen, die sollen umkommen und die Heiden verwüstet werden. Es
werden gebückt zu Dir kommen, die Dich unterdrückt haben, und alle, die
Dich gelästert haben, werden niederfallen zu Deinen Füßen. Denn darum,
daß Du bist die Verlassene und Verhaßte gewesen, da Niemand ging, will
ich Dich zur Pracht ewiglich machen und zur Freude für und für. Ich will
Gold anstatt des Erzes und Silber anstatt des Eisens bringen und Erz an¬
statt des Holzes und Eisen anstatt der Steine, und will machen, daß Deine
Vorsteher Frieden lehren sollen und Deine Pfleger Gerechtigkeit predigen.
Man soll keinen Frevel mehr hören in Deinem Lande noch Schaden oder
Verderben in Deinen Grenzen, sondern Deine Mauern sollen Heil und Deine
Thore Lob heißen. Die Sonne soll nicht mehr des Tages Dir scheinen, und
der Glanz des Mondes soll Dir nicht leuchten; sondern der Herr wird Dein
ewiges Licht und Dein Gott wird Dein Preis sein. Deine Sonne wird nicht
untergehen, noch Dein Mond den Schein verlieren; denn der Herr wird Dein
ewiges Licht sein, und die Tage Deines Leidens sollen ein Ende haben. Und
Dein Volk soll eitel Gerechte sein und werden das Erdreich ewig besitzen, als
die der Zweig meiner Pflanzung und ein Werk meiner Hände sind. Aus dem
Kleinsten sollen tausend werden und aus dem Geringsten ein mächtig Volk.
Ich, der Herr, will solches zu seiner Zeit eilends ausrichten."
Eigenthümlich war die Rolle, die man nach dem Talmud bei Begrün¬
dung des Messiasreiches dem Propheten Elias zuwies. Derselbe war und ist
der Lieblingsprophet der orthodoxen Juden und hat ein ewiges Leben, un¬
gefähr wie der Chider der muhammedanischen Legende. Nach der Hagada
tritt er allenthalben als Beschützer der bedrohten Unschuld auf, bald als
Araber, bald als Reiter, ja einmal sogar als römischer Statthalter. Nach
der Kabbala hat er die Obliegenheit. am Ausgang des Sabbaths, nachdem
das Schlußgebet Havdala gesprochen worden, die Seelen der Bösen in das
Gehinnom, die jüdische Hölle, zurückzuführen. Er war als „Engel des Bun¬
des" bei jedem Beschneidungsact zugegen, und so stellte man ihm bei solchen
Gelegenheiten einen besonderen Stuhl hin. Nach einigen Sagen hatte er
schon zur Zeit Abraham's gelebt und war dessen ältester Knecht gewesen.
Nach andern hatte er den Jsraeliten während ihres Aufenthalts in Aegypten
sichtbar und unsichtbar allerlei Dienste geleistet. Allgemein galt er den Juden
der Zeit, die wir hier vorzugsweise im Auge haben, als Hauptpatron und
oberster Schirmherr ihres Volkes, weshalb gottesfürchtige Leute ihn am
Sabbath durch Vorsetzung eines Bechers Wein zu ehren pflegten, eine Sitte,
die an den beiden Abenden des Osterfestes noch jetzt in vielen jüdischen Häu¬
sern beobachtet wird. Kein Wunder daher, daß er nach Ansicht der Kabbala
den Juden auch den Messias bringen und dessen oberster Diener, gleichsam
sein Premierminister, sein sollte.
Die Vorgänge bei dem Beginn des Messiasreiches dachte man sich ver¬
schieden. Die verbreitetste Vorstellung scheint folgende gewesen zu sein. Zu¬
nächst trat ein Erzengel, nach den Einen Uriel, nach den Andern Michael, auf
und stieß in ein großes Horn. Auf das erste Blasen erschien der Messias
mit dem Propheten Elias, um sich den Kindern Israel zu offenbaren. Alle
Juden, die von Angehörigen des Zweistämmereiches abstammten, hörten die
Stimme des Horns, und erkannten, daß Gott sein Volk heimzusuchen und zu
erlösen gekommen. Sie gürteten fröhlich ihre Lenden, machten sich auf die
Beine und zogen geführt von dem Messias und Elias nach Jerusalem. Darauf
stieß der Erzengel abermals in sein Horn und zwar sehr stark und lange,
und jetzt öffneten sich alle Gräber zu Jerusalem, um ihre Todten wieder dem
Leben zurückzugeben. Die Juden aber, welche noch in den Ländern der Go-
jim zurückgeblieben, wurden von den Königen dieser Länder auf ihren Feder¬
wagen den vorausgegangenen nach Jerusalem nachgefahren — sehr Stolze
wollten wissen, auf ihren Schultern nachgetragen. Wenn aber das Horn zum
dritten Mal ertönte, so führte Gott die Jsraeliten, die über den Wassern von
Gasan, Lachlach und Chobar wohnten, und unter denen vermuthlich die verloren
gegangenen zehn Stämme gemeint waren, herbei und brachte sie mit den
übrigen nach Jerusalem. Gott selbst zog ihnen in einer Wolken- oder Rauch¬
säule voran, und hinter und neben ihnen war nichts als Feuer und Flamme,
sodaß den andern Völkern ringsum nichts übrig blieb, wovon sie sich er¬
halten konnten.
Alle Freunde eines gesunden Humors kennen die allerliebste Geschichte in
Grimmelshcmsen's „Vogelnest", wo der Verfasser den reichen amsterdüiner
Juden Elteser und dessen schöne Tochter Esther auf Grund dieses Aberglau¬
bens vethören läßt, und wo sie einer nicht kennt, so sei sie ihm hiermit als
ergötzlichsten Inhalts und vortrefflich erzählt warm empfohlen. Aber nicht
nur in der Well novellistischer Erfindung ging man damals infolge seiner
Messiashoffnungen in die Falle arglistiger Gesellen, sondern auch in der Wirk¬
lichkeit , und während beim Vater des Simplicissimus nur Wenige dabei zu
Schaden kamen, hatte bei den Ereignissen, die ich nun erzählen will, ein großer
Theil der Judenheit, namentlich aber der in der Türkei und den Piraten¬
staaten Nordafrikas angesiedelte, am Schlüsse der Tragikomödie recht ver¬
drießliche Dinge erlebt.
Die Geschichte, um die es sich handelt, ist wie bereits angedeutet, die des
Smyrnensers Sabbathaj Zevi, der 1625 geboren, im Jahre 1666 sich für
den Messias ausgab und als solcher unter den Juden Kleinasiens, Syriens
und der Berberei einige Monate lang viele Anhänger zählte und ärgerliche
Verwirrung bis nach Holland hinauf anrichtete, endlich aber, im Jahre 1667,
von den Türken gefangen gesetzt und gezwungen wurde, den Islam anzu¬
nehmen, worauf sich die, welche an ihn geglaubt, theils ebenfalls dem Pro¬
pheten Muhammed zuwendeten, theils Christen wurden, der Mehrzahl nach
aber sich in der mystischen Secte der Chassidim verloren. Ludwig Storch hat
eine Episode seines Lebens in dem Roman „Der Jakobsstern" bearbeitet.
Neuerdings ist sein Auftreten von Herrn A. Wettiner in Feuilletons verwer¬
thet worden. Im Folgenden wollen wir die Thatsachen ins Auge fassen, die
diesen belletristischen Leistungen zu Grunde liegen.
In Smyrna lebte zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ein gewisser
Mardochaj Zevi, der sich als Factor eines englischen Hauses sein Brot er¬
warb. Er gehörte der dortigen Gemeinde der Sephardim an und hatte einen
begabten und ehrgeizigen Sohn Sabbathaj, den er Rabbiner werden lassen
wollte. Derselbe widmete sich demzufolge mit Eifer dem Studium der Wissen¬
schaft seines Volkes, das heißt der Thor«, der Propheten, der Auslegung der
heiligen Schriften, die in den verschiedenen Abhandlungen des Talmud nieder¬
gelegt ist, vor allem aber der Kabbala. Bald war er in seinem Wissen
weiter vorgeschritten als die Chachamim, die Gelehrten, seiner Vaterstadt.
Als er dann aber Miene machte, mit kabbalistischen Lehren, die auf einen
Umsturz des raboinischen Judenthums hinausliefen, hervorzutreten, erging es
ihm, um Großes mit Kleinen zusammenzustellen, ungefähr wie seinem Zeit¬
genossen Spinoza: die Chachamim peitschten ihn aus, stießen ihn aus der
Synagoge, und trieben ihn in die Verbannung. Er führte von jetzt an ein
unstetes Leben. Zunächst begab er sich nach Salonik, wo er heirathete, bald
aber wieder geschieden wurde. Auch eine zweite Frau verließ ihn nach
kurzer Ehe. Dann hielt er sich nach einander unter den spanisch redenden
Juden Südgriechenlands auf, später machte er durch seine Lehren in Tripolis
und Gaza von sich reden. Am letztgenannten Orte verheirathete er sich zum
dritten Male, aber wieder ohne Erfolg, da auch diese Frau auf Schei-
dung klagte und sie erreichte, weil ihr Gemahl die ehelichen Pflichten nicht
erfüllte.
Es scheint, daß Sabbathaj sich dieser Unterlassung schuldig machte, weil
^ mit Wichtigerem zu sehr beschäftigt war. Er glaubte oder gab vor, —
denn in diesen phantastischen Regionen ist schwärmerische Selbsttäuschung nicht
immer von bewußtem Betrug zu unterscheiden — daß er der den Juden ver¬
heißene Messias sei, der nach einer alten Prophezeiung in dieser Zeit auf¬
treten sollte. Eine Anzahl von Juden, unter denen auch Rabbiner waren,
hatten sich, ehrgeizig oder wie er durch kabbalistische Studien gehirnkrank ge¬
worden, zu ihm bekehrt. Mit diesen begab er sich endlich nach Jerusalem,
wo einer von jenen Rabbinern, Nathan von Gaza, die Rolle des Elias über¬
nahm , der nach dem Obigen den Messias dem Volke Gottes vorstellen und
bezeugen sollte. Nathan verkündete also den Juden aus Grund wunderbarer
Gesichte, daß ihnen in Sabbathaj Zevi der Wiederhersteller des Königthums
Davids erschienen sei, und als die Synagoge von Jerusalem darauf eine An¬
zahl Rabbiner entsandte, seine Prophezeiung zu prüfen, sano man, daß Alles
w der Ordnung war. Das Leben des Messias und seiner Umgebung war
gleichermaßen ohne Tadel, sie befolgten das Gesetz Mosis auf das Ge¬
wissenhafteste.
Auch die Synagoge zu Jerusalem war also jetzt überzeugt. Sie hätte
sich allerdings von Sabbathaj Zevi wieder abwenden sollen, als dessen Elias
weiter prophezeite, am 27. Kislar werde der Messias sich zum Großtürken in
Stambul verfügen, ihn entthronen und ihn in Ketten von dannen führen.
Solche Thaten ließen sich nur durch eine Kette von Wundern ausführen und
wußten ohne solche übel ablaufen, da der Padischah in derartigen Dingen
keinen Scherz verstand. Allein wer da weiß, was ein richtiger Talmudjude
"der gar ein Verehrer der Kabbala noch heute für möglich hält, wird es
begreiflich finden, wenn die Vorstände der jerusalemer Gemeinde sich durch jene
Ungeheuerlichkeiten von ihrer Meinung nicht abwendig machen ließen. Ein
Freudenrausch, wie man ihn lange nicht erlebt, hatte sich der Gemeinde be-
wächtigt, und Berauschte denken und handeln, auch wenn sie sonst ganz kluge
Leute sind, eben nicht wie verständige Menschen.
Nachdem der Boden für Sabbathaj Zevi's Auftreten so vorbereitet war,
trat er selbst mit einer hebräischen Proklamation an die gesammte Judenheit
der Welt auf die Bühne. In dem Schriftstücke nannte er sich den erstge-
bornen Sohn Gottes und den Heiland Israels, erwählt, dessen Befreiung zu
vollziehen und seine Traurigkeit in Freude zu verwandeln. Man solle daher
fortan alle Klage verstummen lassen und statt ihrer Triumphlieder anstimmen.
Man sollte sich nicht mehr fürchten; denn Israel werde binnen Kurzem die
Herrschaft erhalten über alle Gojim „auf Erden und im Meere". Man solle
Feste anstellen statt der Fasten und mit Spiel und Tanz den Herrn feiern,
der erfüllen wolle, was er den künftigen Zeiten verheißen habe.
Diese Ansprache that ihre Wirkung, wohin sie gelangte, zunächst in Je¬
rusalem, dann allmählich in der ganzen Levante. In weiten Kreisen ließ
man hier Gewerbe und Handel im Stich, um sich Lustbarkeiten hinzugeben
und Loblieder auf Adonaj zu singen, der die Trauer seines Volkes in Freude
verkehrt hatte. Niemand in Jerusalem zweifelte daran; denn der Messias
hatte sich inzwischen auch durch Wunder legitimirt.
Im Kidronthale unter dem Tempelhügel steht eine kleine Steinpyramide,
die das Grab des Zacharias heißt. Die christliche Sage hält sie für das
Grabmal des Matth. 23, 35 erwähnten Zacharias, des Sohns des Bara-
chias, den die Juden dort, wie die Stelle ohne weitere Angaben sagt, zwischen
Tempel und Altar getödtet. Die jüdische Tradition aber läßt hier einen
andern Zacharias begraben sein, von dem es 2. Chron. 24, 19 ff. heißt: »Er
sandte aber Propheten zu ihnen, daß sie sich zu dem Herrn bekehren sollten,
und die bezeugten ihnen, aber sie nahmen es nicht zu Ohren. Und der Geist
Gottes zog an Zacharias, den Sohn Jojadas, des Priesters. Der trat oben
über das Volk und sprach zu ihnen: So spricht Gott: Warum übertretet
ihr die Gebote des Herrn, das euch nicht gelingen wird? Denn ihr habt den
Herrn verlassen, so wird er euch wieder verlassen. Aber sie machten einen
Bund wider ihn und steinigten ihn nach dem Gebote des Königs im Hofe
am Hause des Herrn. Da er aber starb, sprach er: Der Herr wird ^s sehen
und suchen." Hier erschien eines Tages der Messias Sabbathaj Zevi im
Geleite seiner Rabbiner und vielen andern Volkes und gebot dem todten
Propheten, aufzustehen und zu bezeugen, daß er sich mit Israel ausgesöhnt
habe, und siehe da, der alte Märtyrer trat wirklich aus seinem Grabe,
einen Wasserkrug in der Hand, um seine Mörder von seinem Blute rein zu
waschen.
Weiterhin und beim Dorfe silva befinden sich große jüdische Begräbnis
Plätze und verschiedene Grabhöhlen, in denen berühmte Rabbiner der alten
Zeit liegen sollen, und hier erlebte die staunende Menge ein zweites Wunder:
Die längstverstorbenen Heiligen regten sich unter der Erde, und deutlich ver¬
nahm man, wie ^sie den Messias mit Hosiannah begrüßten. Der Prophet
Nathan aber, der als Elias auch andere große Dinge zu Stande brachte,
zum Beispiel Feuer vom Himmel fallen ließ, sah sogar die Leiber der Rabbiner
über ihren Grüften schweben.
Ein drittes Wunder war noch erstaunlicher, da es einen ungläubigen
Türken überzeugte oder wenigstens beschwichtigte. Die Kunde von dem
Messias der Juden hatte den Kadi veranlaßt, ihn zur Verantwortung vor sich
zu bescheiden. Derselbe erschien mit Nathan und anderen von seinen An-
Hangern. Als aber das Verhör beginnen sollte, schrie Nathan, er sehe eine
Feuersäule zwischen ihrem Messias und dem Richter stehen, die jenen vor
diesem beschützen werde. Die übrige jüdische Begleitung erklärte, die Säule
ebenfalls zu sehen. Das verblüffte den Kadi, und er entließ die lärmende
Gesellschaft mit dem Versprechen, den Messias und seine Anhänger fortan in
Frieden zu lassen.
Und immer weiter verbreitete sich die Kunde von der Gnade, die der
Herr seinem Volke widerfahren lassen, und überall schlug das Entzücken
darüber bei Einzelnen in Verzückung um. An verschiedenen Orten traten Pro¬
pheten auf, welche den Anbruch des Messiasreiches verkündeten. Allenthalben
fingen Gerüchte um von wunderbaren Begebenheiten. In Arabien sollten
sich Schaaren von Juden, den verlorenen zehn Stämmen angehörig, gerüstet
Wu Abzug nach Jerusalem gesammelt haben. Aus Persien trafen Nachrichten
en>, daß sich dort achttausend Haufen des auserwählten Volkes auf die Wall¬
fahrt nach Palästina begeben, um sich dem neuen König desselben zur Ver°
sügung zu stellen. In Nordafrika waren, so erzählte man sich, an die
hunderttausend jüdische Männer aus Marokko und Algier auf dem Wege
^ ihm.
Selbst im Norden der alten Welt regte die Kunde von den großen
Dingen, die sich vorbereiteten, die Gemüther in ungewöhnlicher Weise auf.
Namentlich war dies in der Amsterdamer Gemeinde der Fall, die aus spa¬
nischen Juden bestand, und der die Chachamim von Jerusalem die Ankunft
des Messias gemeldet hatten. Man beleuchtete die Häuser und Synagogen
'n festlicher Weise, man enthielt sich der Arbeit, excentrische Gemüther fingen
an, Gesichte zu sehen, und zu prophezeien. Häusig fielen die von dieser reli-
giösen Manier Ergriffnen in epileptischen Krämpfen auf offner Straße nieder,
Eckten und zappelten, die Augen verdrehend und Schaum vor dem Munde,
und erzählten^ wenn sie erwacht, von allerlei seltsamen Dingen, die sie ge¬
schaut. Es war genau so, dürfen wir annehmen, wie bei den französischen
Camisarden in den Cevennenkriegen, wie bei Convulsionärs auf dem Kirchhofe
heiligen Medardus zu Paris, bei den Revivals der Methodisten und den
ersten Anfängen des Mormonenthums.
Alles, was der Talmud, die Kabbala und die alten Propheten in Be.
dress des Messiasreichs enthielten, kam in den Aussprüchen jener Propheten zu
Tage, auch die im apokryphischen vierten Buch Esra niedergelegte Meinung,
daß dem Siege des Messias eine Zeit großer Trübsal vorhergehen werde, mit
der Andere die Ansicht verbanden, daß dieser selbst vor seinem Triumphe für
^ Sünden des Volkes leiden müsse. So verkündeten einige der Propheten:
nach neun Monaten werde der Messias wieder entrückt werden, und dann
^erde schwere Heimsuchung über die Judenheit verhängt werden. Darauf
aber werde ihr Heiland, sitzend auf dem Löwen Gottes, einen Zügel von
sieben Schlangen in der Hand, gefolgt von den zehn Stämmen, die inzwischen
in der Wüste hinter Mizrajim gewohnt, wieder erscheinen, um Alles zu
glücklichem Ende zu bringen. Vom Himmel werde sich in alter Pracht der
Tempel Melech Schelomos herniedersenken, und in diesem Tempel würden
die nun Erlösten dem Herrn, ihrem Gotte, Opfer darbringen bis ans Ende
der Welt.
Inzwischen that Sabbathaj Zevi in Jerusalem noch einige Wunder, von
denen das erste allerdings nicht recht mit dem prophezeiten Herniederkommen
des Tempels vom Himmel stimmte, aber, wie das in solchen aufgeregten Zeiten
zu gehen pflegt, geglaubt worden zu sein scheint. Auf seine Beschwörung stieg
nämlich der Tempel eines Tages aus der Erde des Moriah empor. Den
Pascha verdroß das, und er sandte Soldaten ab, um die Grundmauern des
Gebäudes zu zerstören, aber siehe da, kaum hatten sie sich an die Arbeit ge¬
macht, als sie todt zu Boden stürzten. Der Pascha schickte zornig neue Leute
zu demselben Zwecke ab, aber es erging ihnen nicht besser als jenen. Da
eilte der grimmige Türke selber herbei, um mit einem großen Hammer die
heiligen Mauern zu zertrümmern, doch als er dazu ausholte, fiel er betäubt
und gelähmt nieder, und nur die kräftigen Gebete eines Rabbiners brachten
ihn wieder ins Leben.
Bald nachher kehrte der Messias in seine Vaterstadt Smyrna zurück, wo
man ihm von Seiten seines Volkes als König huldigte, und wo sich von allen
Seiten, selbst aus Amsterdam, Juden um ihn sammelten, die ihre Habselig¬
keiten verkauft hatten und ihre Reichthümer ihm zu Füßen legten. Er lehnte
diese Geschenke ab; denn es scheint ihm mehr um die Ehre als um Geld
und Gut zu thun gewesen zu sein, und zudem konnte er sich ja als
Wundermann mit einem einzigen Worte so viel Schätze verschaffen als
er begehrte.
Auch in Smyrna war der Kadi anfangs geneigt, gegen das Hochver¬
rätherische Treiben des Messias und seiner Propheten einzuschreiten. Ader
der Himmel trat für sie ein. In der Nacht erschienen vor dem Lager des
Kadi drei Männer, die sich ihm als Abraham, Elias und der aus dem Buch
Esther bekannte Mardochaj vorstellten. Elias (der auch in christlichen Sage»
mit Feuer und Blitz in Verbindung gebracht wird und vermuthlich nur die
Verwandelung eines altsemitischen Gewittergottes in einen Propheten ist) saß
dabei auf einer Feuersäule. Der Kadi bot ihm seinen Divan an, und Elias
machte auch von der Einladung Gebrauch, aber die Säule stellte sich zwischen
ihn und den Kadi. Als diesem die Hitze zu stark wurde, bat er den Pro¬
pheten flehentlich, ihn nicht verbrennen zu lassen. Elias milderte darauf den
Brand, warnte aber dann den nunmehr von der Macht der Messiasbewegung
überzeugten Muselmann, dem Sabbathaj Zevi oder irgend einem seiner
Freunde etwas zu Leide zu thun, widrigenfalls er ihm — ein hübscher Ein¬
fall des Sendboten Adonajs — Eselsohren wachsen lassen werde. Da der
Kadi natürlich diesen Kopfschmuck nicht wünschte, verbot er am nächsten
Morgen bei schwerer Strafe seinen Leuten jede Belästigung der Juden.
So ging denn die Thorheit der verblendeten Judenheit ihren Gang
weiter und schwoll zu immer größeren Dimensionen an. Man überließ sich
dem Nichtsthun, aß auf, was man hatte, und verkaufte dann Haus und Hof,
Gefäß und Geräth an die Türken und Griechen, die ja doch, wenn die Welt¬
herrschaft der Juden errichtet war, Alles umsonst wieder herausgeben mußten.
Wer von Haus aus arm war, mußte inzwischen von den reichen Glaubens¬
genossen gespeist werden. Ferner kam über das Volk Gottes in der Levante
in diesen Tagen eine wahre Heirathswuth, die wohl den Zweck verfolgte,
dem Messias ein recht zahlreiches Volk für sein Königreich zu schaffen. Alle
Welt heirathete, Manche nahmen sich vermuthlich auch zwei und mehr Weiber,
da die spanisch redenden Juden, unter denen die Bewegung vorzugsweise
spielte, das von Rabbi Gerschom durchgesetzte Verbot der Polygamie nicht wie
die Brüder in Aschkenas (im Norden) respectiren. Selbst Kinder von zehn
Jahren wurden zu Eheleuten gemacht. In Smyrna gab es keine Hochzeit,
keine Beschneidung, die der Messias nicht mit seiner Gegenwart geehrt hätte.
Bei solchen Gelegenheiten bedeckte man die Straßen, durch die er zu gehen
hatte, mit kostbaren Teppichen. Er aber schritt bescheiden neben ihnen hin.
Welch ein demüthiger Messias! rief jubelnd das entzückte Volk.
Neben den sanguinischen Anhängern des Messias gab es aber auch solche
von melancholischen Temperament, und während jene ihn durch Lustbarkeiten
feierten, huldigten diese ihm durch Kasteiung ihrer Leiber. Die Einen fasteten
ihm zu Ehren bis zu sieben Tagen, ohne einen Bissen oder Tropfen zu sich
zu nehmen, so daß mehrere starben. Andere geißelten sich mit Peitschen und
dornigen Ruthen bis aufs Blut. Wieder Andere tröpfelten sich heißes Wachs
auf ihr Fleisch. Noch Andere ließen sich nackt bis an den Mund in Erde
ein graben.
Wehe dem, der an Sabbathaj's Sendung zu zweifeln wagte. Man blies
das Horn Schophar über ihm, zum Zeichen, daß er dem großen Banne ver¬
fallen, kein rechtlicher Jude durfte mehr mit ihm verkehren, und er hatte von
Glück zu sagen, wenn ihn die Fanatiker nicht in Stücke rissen. Ein gewisser
Pennia, der sich nicht ganz taktfest im Glauben an den neuen Messias be¬
wiesen, wäre beinahe diesem Schicksal verfallen, entkam aber und bekehrte sich
dann, ja seine Tochter wurde eine der Prophetinnen Sabbathaj's, deren in
diesem tollen Jahre allein zu Smyrna Hunderte erstanden.
Im Herbste 1666 ernannte der Messias die angesehensten Juden Smyr-
nah zu Fürsten des Reiches, welches in Palästina gegründet werden sollte.
Als aber die Zeit zum Aufbruch dahin kam, erklärte er plötzlich, eine Offen¬
barung von Adonaj erhalten zu haben, die ihm gebiete, zuerst nach Stambul
zu ziehen, den Sultan zum Glauben an sich zu bekehren und seine Huldigung
als Vasall entgegenzunehmen, und am 30. December schiffte er sich mit einem
Theil seiner Getreuen wirklich nach der Stadt am Goldner Horne ein. Die
Seereise scheint keine glückliche gewesen zu sein; denn erst nach neununddreißig
Tagen traf das Schiff, das die Gesellschaft trug, vor der Hauptstadt der
Türken ein. Um so angenehmer muß dem Messias der Empfang gewesen
sein, der seiner von Seiten der Juden hier wartete. Mit großem Gepränge
zogen sie ihm entgegen und geleiteten ihn in die Stadt. Hier aber wendete
sich das Blatt. Auch andere Leute waren nämlich zum Empfange des Wun¬
dermannes bereit, Kawassen des Großwessirs, die ihn schnurstracks ins Ge¬
fängniß abführten. Das Volk Gottes hing anfangs darüber den Kopf, aber
seine Propheten wußten Rath und Trost: war denn nicht geweissagt, daß der
Messias erst leiden sollte, bevor er verherrlicht wurde? Auch scheint die Haft
Sabbathaj's zuerst keine strenge gewesen zu sein; denn seine Anhänger durften
ihn besuchen und machten reichlichen Gebrauch von dieser Erlaubniß, was sie
fortsetzten, als er zu Anfang des Frühlings in ein anderes Gefängniß gebracht
wurde, das an den Dardanellen lag.
Jene Besuche wußten zu berichten, daß der Messias auch im Kerker aller¬
hand erstaunliche Dinge gethan. Schon bei seiner Verhaftung hatte er mi!
einer bloßen Handbewegung seine Häscher todt zu Boden gestreckt, sie aber
dann wieder aufgeweckt. Im Gefängniß hatten sich seine eisernen Ketten in
goldene verwandelt und waren auf ein Wort von ihm in eben soviele Ringe
zerfallen, als sie Glieder hatten, welche Ringe er den Besuchern dann zum
Andenken schenkte. Berührte er die Schlösser und Riegel des Thurmes, in
dem er saß, mit dem Finger, so sprangen sie auf, und er wandelte dann mit
seinen Freunden frei durch die Straßen, und wenn er zurückkehrte, geschah es
nur, „auf daß die Worte der Propheten erfüllt wurden."
Vielleicht hätte ihn der Sultan oder vielmehr dessen Wessir, der berühmte
Achmed Köprili, welcher damals der eigentliche Regent war, mit einer scharfen
Ermahnung, sich ferner abgeschmackten Treibens zu enthalten, und einer Dosis
Bastonade als Denkzettel laufen lassen — denn das Ganze war doch nicht
viel mehr als eine eitle, hohle Farce — wenn nicht auch dieser Messias seinen
Judas gefunden hätte. Unter den Wallfahrern, die Sabbathaj in seiner Haft
an den Dardanellen besuchten, war auch der Rabbi Nehemia Kober, ein ge¬
lehrter Herr, der selber gern Messias gewesen wäre, und der demzufolge Sab¬
bathaj vorstellte, daß nach der Schrift eigentlich zwei Messiasse sein müßten,
Ben Ephraim, der arme und leidende, und Ben David, der reiche, siegende
und herrschende*), woran er die nicht unbescheidne Bitte knüpfte, Sabbathaj
möge Ben David sein und ihn den Ben Ephraim spielen lassen. Mit diesem
Antrag abgewiesen und aus der Synagoge gestoßen, ging Kober mit einigen
Gesinnungsgenossen nach Adrianopel zum Sultan und stellte diesem den
Messias als einen Betrüger dar, der ihn vom Throne zu stoßen vorhabe.
Der Sultan soll daraus Sabbathaj sich haben vorführen lassen, um ihn auf
seine Wunderkraft zu prüfen, indem er befohlen hätte, ihn nackt den Pfeilen
seiner Schützen preiszugeben. Darnach hätte der Messias zitternd gebeten,
ihn mit dieser Probe zu verschonen, er sei nur ein armer Rabbiner. Wüthend
über ein so feiges Betragen nach so ungeheuerlicher Anmaßung, hätte der
Großtürke ihm hierauf die Wahl gestellt, entweder zum Islam überzutreten
oder gepfählt zu werden, und der erstgeborne Sohn Gottes, der Heiland und
Held der Juden, hätte das Erstere gewählt. Gewiß ist hiervon nur, daß
Sabbathaj Zevi wirklich aus Furcht vor dem Pfahle Muslim wurde und
darauf wieder in sein Gefängniß zurückkehren mußte, in welchem er nach einiger
Zeit starb.
So war denn die bunte Seifenblase geplatzt, das Judenreich mit seinem
Leviathans- und Behemoth-Schmause und seinen andern guten Dingen in
den Born gefallen, und zwar auf recht häßliche Weise. Eine Anzahl der An¬
hänger Sabbathaj's blieb ihm auch nach seiner Conversion treu, indem sie die
Fiction tröstete, daß nicht er selbst, sondern nur ein Scheinbild von ihm jetzt
den Turban, die „Krone des Islam", statt der Krone des Meschiach trüge.
Einige hiervon nahmen ebenfalls scheinbar den Islam an und wurden so
der Anfang einer Secte, die noch jetzt in Salonik Anhänger zählt.
Andere Gläubiggebliebene zogen nach Polen und dem südwestlichen Nu߬
land, wo sie noch heute in gewissen Rabbinern der Chassidim Nachfolger
Sabbathaj Zevi's als Könige verehren. Einer derselben, der für besonders
echt gilt, residirt zu Sadagura, einem Marktflecken der Bukowina, in einem
mit fürstlichem Luxus eingerichteten Hause. Hier empfängt er, namentlich an
hohen Festtagen, ein Heer von Verehrern, die ihm alle mehr oder minder
reiche Geschenke zu Füßen legen. Wie der Papst in Rom ertheilt er bei
solchen Gelegenheiten den Anwesenden seinen Segen, weiht er Kleider und
Gefäße und läßt er sich den Pantoffel küssen. Daß er wie Pius der Neunte
unfehlbar ist, versteht sich von selbst. Vor drei Jahren verheirathete er eine
Tochter an einen russischen Prinzen — nicht aus dem Hause Romanoff, son¬
dern Goldstängel, oder war's Kleinkerzel? — und da gab es in Sandagura
große Festlichkeiten. Um eine Borstellung von der Pracht derselben zu er-
möglichen, erwähnt mein Gewährsmann nur, daß zweihundert Chassidim, in
Kosaken verkleidet, dem Bräutigam mehre Meilen entgegenritten, und daß
ein Frommer aus Volhynien oder Podoline zehntausend Rubel für die Ehre
zahlte, beim Hochzeitsschmause den Aufwärter machen zu dürfen. „Und die
Speisen trug der Pfalzgraf des Rheins."
Die große Mehrzahl derer, die an unsern so jämmerlich gefallnen Messias
geglaubt hatten, ermangelten der zähen Zuversicht der Uebrigen. Sie schlugen
sich vor den Kopf, rauften sich den Bart, trauerten eine Weile in Sack und
Asche aus den Trümmern ihres Vermögens und standen dann auf, um wieder
Geschäfte und Geschäftchen zu machen.
Es giebt, glaub' ich. auch Leute nicht orientalischen Geblütes, die lebhast
bedauern werden, daß Sabbathaj Zevi's Unternehmen nicht geglückt ist. Ich
höre sie sagen, wenn der gute Mann sein Volk dort um Jerusalem gesammelt
und für immer festgehalten hätte, so würden wir Deutschen zwar gewisse
Stimulanzen entbehren, aber auch vor gewissen unerfreulichen Einflüssen be¬
wahrt geblieben sein, die namentlich in der neuesten Zeit sich mit jedem Jahre
fühlbarer machten. Ich selbst werde mich hüten, meine Meinung über solche
Stimmen laut werden zu lassen. Ich begnüge mich, nach guten Nachrichten
von dem neuesten Messias in Hadramaut auszuschauen und sein Unternehmen
in mein Abendgebet einzuschließen. Vivat, üvrög.t, crescat!
Ueber die ungeheuerlichen Thorheiten aber, die ich in der Geschichte des
Messias von 1666 mit ihrem kläglichen Ende geschildert, wollen wir uns
nicht allzusehr wundern und ereifern. Es ist wahr, dieses Ende ist ungemein
erbärmlich, aber in Betreff des Anfangs und des ihm zunächst Folgenden
haben wir vor unserer eignen Thür zu kehren. Was die Juden waren oder
sind, die auf ein mehr oder minder nahes Erscheinen des Meschiach hofften
oder noch hoffen, das sind die zahlreichen christlichen Secten, die einer mehr
oder minder entfernten Wiederkunft Christi entgegensehen. Dem Messiasglauben
der Talmudjünger und Kabbalaverehrer stehen die Phantasien der chiliasti-
schen Propheten und Bekenntnisse innerhalb der Christenheit ebenbürtig zur
Seite. Die Wiedertäufer von Münster waren schlimmer als die Sabbathianer
von Smyrna. Die amerikanischen Milleriten der vierziger Jahre unseres Sä-
culums verkauften und vergeudeten in Erwartung des tausendjährigen Reiches
ihr Hab und Gut ganz ebenso leichtsinnig, wie die Sephardim des siebzehnten
Jahrhunderts das ihre in Erwartung des Messiasreiches verkauften und ver¬
geudeten. Noch in unsern Tagen gab es im Bereiche des Christenthums und
der deutschen und englischen Nation Seitenstücke zu den jüdischen Thorheiten
von 1666.
Wie ich mit einem Bilde aus Jerusalem begonnen habe, so will ich auch
mit einem solchen schließen. Neben den Juden, die 1859 an der Stützmauer
des Moriah-Berges den Messias herbeibeteten, erwarteten, durch keine tausend
Schritt Weges von ihnen getrennt, Hunderte von christlichen Deutschen und
Engländern auf Grund von Elliot's Weissagungen, gewisser Zeichen der Zeit,
des Auftretens Napoleon's des Dritten, der Kriege in der Krim und in
Italien, und der damals in Amerika und Schottland rumorenden „Seelen-
crroeckungen" die Parufie Christi mit jedem Sonnenaufgange, und zwar gehörten
zu diesen komischen Leuten nicht blos Schuster und Schneider, sondern auch
nicht wenige Gebildete, Aerzte und Geistliche. In Einzelnen gipfelte diese
Manie in vollständiger Verrücktheit. Nicht weit vom Palaste des armenischen
Patriarchen auf der Fläche des Zionshügels wohnte damals unter einem
Feigenbaum ein englischer Sonderling, Jones oder Dickson, der sich für den
Johannes Baptista des wiederkehrenden Christus hielt. Jeden Morgen und ebenso
jeden Abend stieß er in die Posaune, um der heiligen Stadt die Nähe des tausend¬
jährigen Reiches zu melden, mit dessen Engeln er gelegentlich Zwiesprache
Pflog. Bisweilen sah man ihn mit einem Lamme, das er an einem Bande
spazieren führte, umherwandeln, und da er sich auf die Malerei verstand,
Porträtirte er das Thier und zwar, vermuthlich der Abwechselung halber,
bald weiß, bald himmelblau, bald in andern Farben. Zwei der protestan¬
tischen Geistlichen besuchten ihn einmal, um ihn durch verständigen Zuspruch
von seinen Einbildungen abzubringen. Er hörte sie geduldig an. Als sie
aber weggingen, fanden sie, daß ihre Einwürfe und Vorstellungen ihn nur
im Glauben an seine Misston bestärkt hatten. Der Besuch der „Schriftge-
lehrten" war ihm lediglich ein Zeichen gewesen, daß er der rechte neue Jo¬
hannes sei. Sein Ende war traurig. Im Herbst 1859 verstummte, wie
Consul Rosen mir schrieb, seine Auferstehungs- und Gerichtsposaune. Die
Nachbarn wunderten sich ein paar Tage, den wohlbekannten Ton nicht mehr
M hören, meinten indeß, das gehe sie nichts weiter an, bis endlich ein immer
unleidlicher werdender Verwesungsgeruch sie nachsehen ließ, was geschehen, und
man den Prodromos des wiederkehrenden Heilandes auf den Steinen unter
seinem Feigenbaum in einem Zustande fand, der jenen unbequemen Duft
rechtfertigte.
Nicht genug damit existirten damals neben den Chiliasten dieses Kalibers in
Jerusalem die Ameniten, eine Secte deutscher Juden-Christen, die, aus einigen
Dutzend Schwaben bestehend, ihren Propheten, den getauften Juden Samuel
Pick an der Spitze, 1858 in der Stadt der Verheißung angelangt war und
ebenfalls der Hoffnung lebte, daß die Wiederkunft Christi demnächst erfolgen
werde. Sie versuchten erst die protestantische Zionsgemeinde. dann die jerusa¬
lemer Rabbiner von der Wahrheit ihres neuen Evangeliums und der Echtheit
der Sendung Pick's zu überzeugen, und als beides mißlang, brach der Prophet
nach den Gebirgen südöstlich vom Todten Meer auf, wie Einige wissen wollten,
um mit dort sich aufhaltenden Engeln Rücksprache über sein weiteres Ver¬
halten zu nehmen, nach andern Berichten aber, um den Beduinen als dem
„Volke Moab" seine Lehre vorzutragen. Dort ist er verschwunden und ver¬
schollen. Wahrscheinlich schlugen ihn die Räuber des Jordanthales todt.
Vielleicht ist er, von diesen Unholden ausgeplündert, in irgend einem Wüsten-
wadi verschmachtet. Seine Anhänger hofften, als ich in Jerusalem verweilte,
noch immer auf sein Wiederkommen.
An andern hierher gehörigen mehr oder minder wunderlichen Verirr-
ungen des gesunden Menschenverstandes, mehr oder minder prächtigen Seiten¬
stücken zu unserm Sabbathaj Zevi ist kein Mangel. Aber wir wollen, denk'
ich, das tausendjährige Reich und seine Bürger nunmehr bei Seite lassen, um
uns an etwas Greifbarerem und nützlicheren zu erfreuen, an dem ebenfalls
von vielen Guten lange ersehnten, endlich erstandenen deutschen Reiche, und
es nach Kräften stärken, ausbauen, und festwurzeln zu helfen, auf daß es
gleichermaßen tausend Jahre währe.
Die Frage, ob außer der Erde auch andere Himmelskörper und zunächst
die unseres Sonnensystems von menschenähnlichen Wesen bewohnt sind
oder sein können, scheint im Vergleich mit andern Fragen der Naturwissen¬
schaft eine untergeordnete, um nicht zu sagen, eine müssige zu sein. Dennoch
ist sie nicht selten, und zwar selbst von sehr achtbaren Gelehrten und Philo¬
sophen, aufgeworfen worden, und lange vor der Zeit, wo man sich über das
irdische Jammerthal und den unentfliehbaren Tod, dessen letztes Uebel, mit
einem „Leben auf besseren Sternen" zu trösten begann, hat man sie auf mehr
oder weniger überzeugende Gründe hin bejahen hören.
Abgesehen von der altägyptischen Priesterweisheit, die nach neueren Unter¬
suchungen von der Natur und den Gesetzen des gestirnten Himmels mehr
gekannt zu haben scheint, als man früher annahm, begegnen wir in den
mystischen Dichtungen, die dem Orpheus zugeschrieben wurden, bereits der Mei-
mung, daß die Sterne bewohnte Welten wie die Erde seien. Anaximander
und Anaximenes trugen dieselbe Ansicht vor, und für Anaxagoras war der
Gedanke von der Bewohnbarkeit des Mondes geradezu ein philosophischer
Glaubensartikel. Aehnlichen Vorstellungen huldigten die späteren Pytha-
goräer und Xenophanes, der Gründer der Eleatenschule. Petronius von Hi-
mera schrieb ein Buch, in welchem er die Existenz von hundertdreiundachtzig
bewohnten Welten behauptete. Plutarch berichtet, daß diese Lehre im fernen
Südosten von einem wunderbaren Greise verkündigt werde, der sein ganzes
Leben der Erforschung des Alls gewidmet habe, und der, nachdem er unter
den Nymphen und Genien verweilt, sich alljährlich einen Tag an den Ge¬
staden des Erythräischen Meeres einfinde, um dort den Fragen von Fürsten
und deren Räthen Rede zu stehen. Daß es gerade hundertdreiundachtzig be¬
wohnte Himmelskörper geben sollte, gründete sich aus die Anschauung dieses
weisen Greises, nach welcher die Welt ein Dreieck bildete, dessen Seiten jede
sechzig Welten und dessen Ecken jede eine Welt bezeichneten, während sein Flächen¬
inhalt der Sitz der Kraft aller Dinge und die Wohnung der Wahrheit war.
Die Schule Epikur's lehrte gleichfalls eine Mehrheit bewohnter Welten, zu
der ihr namentlich die Planeten gehörten. Metrodor von Lampsakos unter
Anderen fand es ebenso widersinnig, nur eine einzige von geistigem Leben
erfüllte Welt im unendlichen Raum anzunehmen, als zu behaupten, daß auf
einem weiten Gefilde nur ein einziger Kornhalm wachsen könne. In gleicher
Weise sprach Anaxarch sich gegen Alexander aus, indem er sich verwundern
wollte, daß derselbe, da es doch so viele Welten gebe, nur eine mit seinem
Ruhm erfüllt habe. Ein besonders eifriger Anhänger Epikur's, der Dichter
Lucrez, glaubte fest an eine unermeßliche Menge bewohnter Welten, die er
indeß jenseits des uns sichtbaren Sternenhimmels versetzte, dessen Gestirne
ihm nur Ausströmungen des Erdballs waren. „Wenn die Wellen der schöpfe¬
rischen Materie", sagt er, „in tausend verschiedenen Gestalten den Ocean des
unendlichen Raumes durchwogen, sollten sie in ihrem zeugenden Ringen nur
den Erdball mit seinem Himmelsgewölbe gebildet haben? Soll man glauben,
daß die Weltmaterie jenseits des sichtbaren Himmels zu müßiger Ruhe ver¬
urtheilt sei? Nein, wenn die schöpferischen Elemente aus sich die Massen
entstehen ließen, aus denen der Himmel, die Gewässer und der Erdball her¬
vorgingen, so müssen diese Elemente die Materie auch in dem übrigen Raume
Himmel. Meere, Erden und zahllose belebte Wesen geboren und Welten im
Unendlichen ausgesät haben, die derjenigen gleichen, auf welcher wir die
Aetherfluthen durchsegeln."
Noch in den ersten Zeiten des Christenthums wurden ähnliche Lehren
vorgetragen. Origenes spricht in seinem Werke über den Grund aller Dinge
den Gedanken aus, daß Gott unzählige bewohnte Welten in wechselnder
Folge schaffe und wieder vernichte. Lactanz behauptete, daß der Mond be¬
wohnt sei, und daß seine Bewohner in breiten, tiefen Thälern lebten. Die
gnostische Secte der Valentiner bekannte sich nach einer Aeußerung des Ire-
näus zu der Ansicht Anaximander's. Das spätere Christenthum machte allen
diesen Speculationen ein Ende. Nach ihm war die Erde der Mittelpunkt der
Welt und die einzige, von denkenden und empfindenden Wesen bewohnte Welt
außer dem Paradiese und der Hölle. Ueber die Erde spannte sich die feste
Kuppel des Himmels, welche die Sterne wie eingeschlagne goldne Nägel trug,
jenseits dieses Gewölbes war das Empyräum, eine Region voll Feuer, und
darüber befanden sich Gott und das Paradies, während die Hölle unter der
Erdscheibe brannte.
Erst als die Nacht des Mittelalters auch in andern Dingen dem Auf¬
dämmern der neuern Zeit wich, wurde die Idee, daß es außer der Erde noch
andere von Menschen oder menschenähnlichen Wesen bewohnte Welten geben
müsse oder könne, wieder lebendig, und unter Anderen wurde dieselbe von
Nicolaus Cusanus, von Giordano Bruno, der dafür wie für andere ketzeri¬
sche Meinungen mit dem Tode auf dem Scheiterhaufen bestraft wurde, von
Michel de Montaigne, von Galilei, Tycho de Brahe und Kepler, endlich von
Descartes und seiner Schule vertreten. Letzterer meint zwar, es würde ver¬
messen sein, eine Mehrheit bewohnter Weltkörper im System der Sonne oder
dem der Fixsterne mit Bestimmtheit zu behaupten, er setzt aber sogleich hinzu,
da die Planeten unsrer Erde an Beschaffenheit gleich seien, so dürfe man sie
wohl mit Recht auch für bewohnt halten. Ferner gehören hierher aus dem
siebzehnten Jahrhunderte noch David Fabncius. der mit eignen Augen Mond¬
menschen gesehen haben wollte, Otto v. Guericke, der Erfinder der Luftpumpe,
Peter Gassendi, der englische Bischof Wilkins, der eine Abhandlung „Ueber
den bewohnbaren Mond" schrieb, und der Philosoph I. Locke. In Frank¬
reich verfaßte in dieser Periode Pierre Borel einen seltsamen Tractat, der be¬
wies, daß die Sterne bewohnte Welten seien wie die Erde, daß die letztere
nicht im Mittelpunkt des Alls, sondern im dritten Himmel sich be¬
finde, und daß sie sich um die feststehende Sonne bewege. In Eng¬
land veröffentlichte F. Godwin ein Buch: „Der Mensch im Monde oder
die von Dominik Gonzales, einem spanischen Abenteurer, unternommene
Reise in die Welt des Mondes", und diesem folgte Cyrano de Bergerac, der
Hervorragendste unter Allen, die astronomische Gegenstände in Romanen
behandelt haben, mit seiner „Reise in den Mond" und seiner „Geschichte der
Staaten in der Sonne".
In die Uebergangszeit zum nächsten Jahrhundert fällt Fontenelle mit
seiner der Marquise de la Mesangcre gewidmeten „Unterhaltung über die
Mehrheit von Welten", einem Buche, welches weniger wegen seiner Ansprüche
auf Wissenschaftlichkeit als wegen seiner hübschen Einfälle und geistreichen
Sprache Aufsehen machte und eine bedeutende Wirkung übte. Zehn Jahre
nach dem Erscheinen dieser Schrift schrieb Huyghens, der Entdecker der Saturn-
ringe, seinen „Weltbeschauer", in welchem Werke er die Frage der Bewohn¬
barkeit der Himmelskörper ernstlich behandelte. Er giebt einestheils eine Dar-
stellung des Planetensystems, wobei er mit einem Aufwands großer Gelehr¬
samkeit zeigt, in welcher Lage sich die Bewohner jedes einzelnen Planeten be¬
finden müssen, und sucht anderntheils seine Meinung, daß die Planetenmen¬
schen sowohl in physischer als in intellektueller und moralischer Hinsicht uns
Erdenmenschen ähnlich seien, durch verschiedene Argumente zu begründen. Nach
seiner Ansicht „wachsen und vervielfältigen sich die Gewächse und Thiere auch
dort wie auf der Erde". „Die Menschen, welche die andern Planeten bewohnen,
haben denselben Geist und Körper wie die, welche auf der Erde leben, ihre
Sinne sind den unsern ähnlich, sie sind ihnen an Zahl gleich und dienen dem¬
selben Zwecke." „Sie haben Hände wie wir, um mathematische Instrumente
anzufertigen und Gegenstände des Gewerbfleißes." „Der Kleider bedürfen sie
ebenfalls, Handel. Krieg, die verschiedenen Bedürfnisse und Leidenschaften des
Menschen finden sich dort wie hier, die Planetenbewohner bauen sich Häuser
nach Art der unsrigen, sie verstehen das Seewesen und treiben Schifffahrt,
kennen gleich uns die sicheren Regeln der Geometrie, die Lehrsätze der Mathe¬
matik, die Gesetze der Musik, pflegen die schönen Künste — kurzum, sie sind
das getreue Abbild der Menschheit dieser Erde."
Im achtzehnten Jahrhunderte angelangt, haben wir als Vertreter der
Meinung, daß außer der Erde auch die andern Himmelskörper bewohnbar
yder bewohnt seien, zunächst Bayle, Leibnitz, Bernoulli, dann Isaac Newton
w seiner „Optik", Christian Wolff in seiner „Allgemeinen Kosmologie". Wil¬
liam Derham in seiner „Astrotheologie", Lavier Eimmart in seiner „Abbild¬
lichen Beschreibung der neuen Beobachtungen der Sonne" und den Theoso-
phen Immanuel Swedenborg mit seinen „Himmlischen Geheimnissen" zu
verzeichnen.
Letzterer schreibt nach Visionen, die ihn nach verschiedenen „Erden im
gestirnten Himmel" geführt haben. Von der ersten derselben sagt er u. A.:
»Ich sah dort viele Wiesen Und Wälder mit Bäumen voll Blätter, auch
Schafe, die Wolle trugen. Nach diesem sah ich etliche Einwohner geringeren
Standes, die fast wie die Bauern in Europa gekleidet waren. Ich sah auch
einen Mann mit seinem Weibe, diese hatte eine schöne Gestalt und ein ehr¬
bares Wesen, der Mann gleichfalls, er schritt würdevoll und mit fast stolzem
Gange einher, das Weib aber demüthig. Die Engel sagten mir, daß dieß
Brauch auf jener Erde sei, und daß derartige Männer geliebt werden, weil
sie doch gut sind. Es wurde mir auch gesagt, daß sie nicht mehrere Weiber
haben dürfen, weil dies wider die Gesetze sei." Von der vierten Erde aber
berichtet er u. A.- „Als einst ein Geist, der auf unsrer Erde Vorsteher und
Prediger gewesen, bei den Menschen war, welche Kleider tragen — es giebt
dort nämlich auch unbekleidete Menschen — erschien eine Jungfrau mit äußerst
schönem Angesicht, sie trug ein schlichtes Kleid, der Nock hing wohlanständig
hinten herab, und die Arme waren bedeckt, ihr Kopfputz war sehr schön in
Gestalt eines Blumenkranzes. Als der Geist diese Jungfrau gesehen, gefiel
sie ihm, und er redete mit ihr und nahm sie bei der Hand. Da sie aber
merkte, daß er ein Geist und nicht von ihrer Erde war, schlich sie sich von
ihm weg. Darauf erschienen ihm zur Rechten mehrere andere Frauensperso¬
nen, welche Schafe und Lämmer weideten, die sie dann zur Tränke führten,
sie waren wie jene gekleidet und hatten Hirtenstäbe in den Händen. Die
Gesichter der Weiber waren rund und schön, die der Männer fleischfarbig,
nur mit dem Unterschied, daß der äußere Theil ihres Angesichts schwarz, die
Nase aber mehr schneeweiß als fleischfarben war."
Natürlich in sehr anderm Stil und Geist erklärte sich Voltaire in seinem
„Mikromegas" und seinen philosophischen Fragmenten für eine Mehrheit be¬
wohnter Welten. Ihm reihen sich Buffon in seinen „Epochen der Natur",
Condillac in seiner „Logik", Diderot und die hauptsächlichsten Mitarbeiter an
der „Encyklopädie" ungeachtet des Ausspruchs d'Alembert's: „Man weiß
nichts darüber," ferner Immanuel Kant in seiner „Allgemeinen Naturge¬
schichte des Himmels", dann die Astronomen Bode in seinen „Betrachtungen
des Weltalls", Lalande, Laplace, William Herrsche!, Brewster. endlich die
Dichter Marmontel, Bernardin de Saint-Pierre, Uoung und Thompson an;
auch die Schule der Fourieristen erging sich in allerlei zum Theil sehr selt¬
samen Speculationen über diesen Gegenstand.
Der Vater der neuesten Deutschen Philosophie äußerte sich in dem an¬
geführten, 1755 erschienenen Werke folgendermaßen: „Der Stoff, woraus
die Einwohner verschiedener Planeten, ja sogar die Thiere und Gewächse
auf denselben gebildet sind, muß überhaupt um desto leichterer und feinerer
Art und die Elasticität der Fasern sammt der vortheilhaften Anlage ihres
Baues um desto vollkommener sein, nach dem Maße als sie weiter von der
Sonne abstehen." — Dann: „Wir werden mit mehr als wahrscheinlicher
Vermuthung schließen können, daß die Trefflichkeit der denkenden Naturen,
die Hurtigkeit in ihren Vorstellungen, die Deutlichkeit und die Lebhaftigkeit
der Begriffe, die sie durch äußerlichen Eindruck bekommen, sammt dem Ver¬
mögen , sie zusammenzusetzen, endlich auch die Behendigkeit in der wirklichen
Ausübung, kurz der ganze Umfang ihrer Vollkommenheit unter einer ge'
wissen Negel stehen, nach welcher dieselben nach dem Verhältniß des Ab-
standes ihrer Wohnplätze von der Sonne immer trefflicher und vollkommener
Werden." — Ferner: „Wir wollen die Muthmaßungen nicht über die einer
Physischen Abhandlung vorgezeichneten Grenzen erstrecken. Wir bemerken nur
nochmals die oben angeführte Analogie: daß die Vollkommenheit der Geister-
Welt sowohl als der materialischen in den Planeten von dem Merkur an bis
zum Saturn oder vielleicht noch über ihn (wofern noch andere Planeten sind)
in einer richtigen Gradfolge nach der Proportion ihrer Entfernung von der
Sonne wachse und fortschreite." Dieser Theorie zufolge sind die Bewohner
der unteren Planeten Merkur und Venus vielleicht noch zu materiell, um ver¬
nünftig zu handeln, und ihre geistigen Anlagen noch nicht so weit ausgebil¬
det, um sie für ihre Handlungen verantwortlich zu machen. Die Bewohner
der Erde und des Mars leben in einem Mittelzustände zwischen Unvollkommen-
heit und Vollkommenheit, in fortwährendem Kampf der Materie, welche den
niedern Instinkten zugewendet ist, mit dem Geiste, welcher dem Guten sich
zuneigt, einem Zustande, der um so wahrscheinlicher ist, da beide in ihren
' astronomischen Verhältnissen ähnliche Planeten denselben Hang in einer mitt¬
leren Region der Sonnengruppe einnehmen. Die Bewohner der entfernteren
Planeten vom Jupiter an bis zu den Grenzen des Systems, das der Philo¬
soph, erst später gemachte Entdeckungen ahnend, über den Uranus hinaussetzt,
erfreuen sich eines Zustandes höherer Vollendung und Glückseligkeit. In Be¬
treff der Bewohner des Jupiter bemerkt Kant, daß die auf diesem Planeten
herrschenden Lebensbedingungen mit dem Zustande der Erdenbewohner unver¬
träglich sein würden. „Die Sehröhre lehren uns," sagt er, „daß die Ab¬
wechslung des Tages und der Nacht auf dem Jupiter in zehn Stunden ge¬
schehe. Was würde der Bewohner der Erde, wenn er in diesen Planeten
gesetzt würde, bei dieser Eintheilung wohl anfangen? Die zehn Stunden
Würden kaum zu derjenigen Ruhe zureichen, die diese grobe Maschine zu ihrer
Erholung durch den Schlaf gebraucht. Was würde die Vorbereitung zu den
Verrichtungen des Wachens, das Kleider, die Zeit, die zum Essen angewandt
wird, nicht für einen Antheil an der folgenden Zeit abfordern, und was
würde eine Creatur, deren Handlungen mit solcher Langsamkeit geschähen,
nicht zerstreut und zu etwas Tüchtigen unvermögend gemacht werden, deren
fünf Stunden Geschäfte plötzlich durch die Dazwischenkunft einer ebenso langen
Finsterniß unterbrochen würden? Dagegen, wenn Jupiter von vollkommneren
Creaturen bewohnt ist, die mit einer feineren Bildung mehr elastische Kräfte
Und eine größere Behendigkeit in der Ausübung verbinden, so kann man
glauben, daß diese fünf Stunden ihnen Ebendasselbe oder mehr sind, als
was die zwölf Stunden des Tages für die niedrige Klasse der Menschen
betragen."
Unter den Astronomen hat Bode eine ähnliche Ansicht in seiner „An¬
leitung zur Kenntniß des gestirnten Himmels" geäußert. Er sagt: „Viel-
leicht giebt es Weltkörper von unvollkommneren Wesen, als wir Erdenbürger
sind, bewohnt, dahingegen andere mit Bewohnern von weit höheren Fähig¬
keiten des Geistes und größeren Behendigkeiten des Körpers besetzt sein mögen.
Scheint es nicht unbegründet zu sein, was Lambert, Kant, Bonnet und an¬
dere Philosophen annehmen, daß die Seelenkräfte vernünftiger Geschöpfe nach
den verschiedenen Graden der Feinheit der körperlichen Materie, welche ihr
denkendes Wesen einschließt, nicht unmerkliche Abänderungen erleiden kön¬
nen, daß diese sich nach dem verschiedenen Abstände der Planetenkugeln von
dem Mittelpunkte ihres Systems richten und mit den zunehmenden Entfer¬
nungen von demselben sich veredeln; so giebt dieß eine ordentliche Stufenfolge
der Vollkommenheiten der organischen und lebendigen Geschöpfe auf den pla¬
netischen Kugeln unseres und aller übrigen Sonnensysteme. Nach dieser Vor¬
stellung wären also überhaupt die irdischen Stoffe, woraus ihre vernünftigen
Bewohner, ja selbst Thiere und Pflanzen geformt sind, um desto leichter,
feiner und elastischer, auch in der Zusammensetzung desto vortheilhafter ge¬
ordnet, weniger der Hinfälligkeit unterworfen und vornehmlich die Körper
denkender Wesen zum freien Gebrauch der Seele um desto geschickter, je weiter
der Planet vom Mittelpunkte seines Systems oder seiner Sonne entfernt ist.
Giebt es nun unzählbare Sonnensysteme, welche sämmtlich mit einander in Ver¬
bindung stehen und sich endlich zusammen auf eine gemeinschaftliche Central-
sonne oder auf einen im Mittelpunkte ihrer systematischen Verfassung befind¬
lichen Körper von ungeheurer Masse beziehen; so müssen die Denkkräfte aller
vernünftigen Weltbewohner um soviel erhabener sein, und in der Ausübung
rascher von Statten gehen, je weiter sie von diesem gemeinsamen Mittelpunkt
entfernt sind. Welch eine erstaunliche Gradfolge in den Fähigkeiten und An¬
wendungen der Seelen- und Lebenskräfte wird demnach nicht die organisirte
lebendige und gedankenfähige Schöpfung einschließen! Auf dieser unmeßbaren
Stufenleiter der Dinge sind die vernünftigen Geschöpfe der niedrigsten Klasse
vielleicht kaum mehr als körperliche Materie, die auf den erhabensten aber
werden den geringsten unter den höheren unkörperlichen Verstandeswesen zu¬
nächst angrenzen."
Nach diesen philosophischen Betrachtungen unsres Gegenstandes lassen
wir wieder einige Proben der Phantasien folgen, in denen sich Dichter und
Halbphilosophen über denselben ergangen haben. Eine sehr poetische Be¬
schreibung des Planeten Venus, die in Bernardin de Saint-Pierre's „Har¬
monien der Natur" zu lesen ist, mag den Anfang machen. Der Verfasser
von „Paul und Virginie" sagt: „Die Venus muß mit Inseln übersäet sein,
deren jede reich an Felsbergen fünf oder sechs Mal höher als der Ptc von
Teneriffa ist. Die von denselben sich ergießenden glänzenden Wasserbäche be¬
netzen und erfrischen ihre mit Grün geschmückten Ufer. Ihre Meere müssen
zugleich das erhabenste und anmuthigste Schauspiel gewähren. Man denke
sich die Gletscher der Schweiz mit ihren Gießbächen. Seen. Matten und Fichten
mitten in das Südmeer, man stelle ihnen an die Seite die mit Weinstöcken
und allerlei Fruchtbäumen bekränzten Hügel am Ufer der Loire, man versetze
an ihren Fuß die Gestade der Molukken mit ihren Hainen geschmückt mit
Bananen. Muskatbäumen und Nelkensträuchern, deren süßen Duft die Winde
weithin tragen, man bevölkere dieselben mit Colibris. Turteltauben und pracht¬
vollen Vögeln von Java, deren Gesang und liebliches Flüstern vom Echo
zurückgegeben wird. Man vergegenwärtige sich die von Kokospalmen be¬
schatteten, mit Perlenmuscheln und Bernstein bedeckten Ufer, die Sternkoralle
des indischen Oceans, die Korallen des Mittelmeeres in ununterbrochenem
Sommer bis zur Höhe der höchsten Bäume wachsend, inmitten der sie be¬
spülenden Meere und während einer vierundzwanzigtägiger Ebbe und Fluth
sich erhebend und senkend und ihre Scharlach- und Purpurfarben mit dem
Grün der Palmen mischend, endlich Ströme klaren Wassers, welche jene Berge,
Wälder und Vögel wiederspiegeln und während der zwölftägigen Ebbe und
zwölftägigen Fluth von Insel zu Insel gehen und kommen — und man wird
nur ein schwaches Bild von den Landschaften der Venus haben. Da die
Sonne zur Zeit der Sommerwende sich mehr als 71 Grad über ihren Aequator
erhebt, so muß der Pol, den dieselbe erhellt, eine weit angenehmere Tem¬
peratur haben, als unsere mildesten Frühlinge gewähren. Die langen Nächte
dieses Planeten werden zwar nicht durch Monde erhellt, aber Merkur durch
seinen Glanz bei seiner Nähe und die Erde durch ihre Größe ersetzen der
Venus die strahlenden Monde. Die Bewohner der Venus, von einem dem
unsern ähnlichen Wuchse, da sie einen Planeten bewohnen, welcher der Erde
an Größe fast gleich steht, aber in einer beglückteren Himmelsgegend wandelt,
müssen ihre ganze Zeit der Liebe widmen. Die Einen, auf den Bergen Heer-
den weidend, führen ein Schäferleben, die Andern ergötzen sich an den Ge¬
staden ihrer fruchtbaren Inseln durch Tanz. Festmahle und Gesänge oder
kämpfen um Preise des Schwimmens gleich den glücklichen Inselbewohnern
von Tahiti."
Im Gegensatze hierzu ist Saturn übel weggekommen. Schon der Pater
Athanastus Kircher, der ein Jahrhundert nach Copernicus seine „Verzückte
Himmelsretse" schrieb, in welcher er beiläufig Fragen erörtert, wie die. ob das
Wasser auf der Venus sich zur Kindertaufe eigne oder ob der Wein, der in
den Weinbergen des Jupiter geerntet werde. beim Sacrament der Eucharistie
sich verwenden lasse, weiß nur Düsteres von ihm zu berichten. Er gewahrt
auf ihm „finsterblickende Greise, welche, in Trauergewänder gehüllt, langsam
dahin schreiten und Leichenfackeln schwingen. Ihre hohlen tiefliegenden Augen,
ihr bleiches Antlitz und ihre gefurchte Stirn bekunden, daß sie Diener der Rache
sind, und daß dieser Planet böser Einwirkungen (auf die Menschheit der Erde)
voll ist". Neuerdings aber hat Victor Hugo noch Schauerlicheres von ihm
phantasirt, wenn er singt:
„Saturn, ein Niesenball, ein Stern mit Todcsstrahlen!
Des Himmels Pest! Ein Kerkerpfuhl der finstern Nacht!
Ein Reich verflucht zu Noth, zu Pein, zu Qualen!
Der Holle Frost und co'ge Nacht!"
So geht es noch drei Strophen weiter. Seine Ringe kreisen „gierig lodernd"
um ihn, an seinem „ehernen Himmel wohnen die Schrecken", „die Sonne
flieht vor ihm", die andern Welten „schauen zu ihm, dem Quell des Jam¬
mers, zitternd hin".
Sehr wunderlich sind die Behauptungen, die Fourier und seine Schule
sich von den Planeten und ihrem Leben zusammenphantasirt haben. Nach
ihrer Meinung sind die verschiedenen lebenden Organismen, die Menschen,
Thiere und Pflanzen Erzeugnisse von Ausströmungen aus den magnetischen
Polen der Planeten, auf denen sie sich befinden, und die selbst belebte Wesen
sind. Da jeder Planet seine besonder Seele, seine eigene Sinnesart, seine nur
ihm zukommenden Leidenschaften und Triebe besitzt, so folgt, daß die Bevöl¬
kerung eines jeden seinem Charakter entspricht. Der Mensch steht keineswegs
höher als das Gestirn, das er bewohnt, im Gegentheil wird die Menschenseele
von der Seele ihres Planeten beherrscht, die ihn mit dem Schöpfer verbindet,
Die Planeten leben und sterben wie alle andern Wesen, beim Hinscheiden un¬
serer Erde wird deren Seele alle Menschenseelen mit sich führen und empor¬
heben, damit sie eine neue Laufbahn auf einem andern Weltkörper beginnen, z. B.
auf einem Kometen, der dann verdichtet und geebnet sein wird. Die Welten
bilden eine himmlische Rangordnung nach den Gruppen oder Universen, deren
Glieder sie sind. Die Menschheit des Saturn z. B. ist sehr vorgeschritten,
was der strahlende Ring, eine Art Heiligenschein, andeutet, der diesen Pla¬
neten umgiebt, und den unsre Erde ebenfalls bekommen wird, sobald die
Menschheit derselben in die Zeit der allgemeinen Harmonie eingetreten sein
wird. Das Grundgesetz der Welt ist die Liebe, die Zuneigung, die nicht nur
die Seelen, sondern auch die von uns für unbeseelt gehaltene Dinge erfüllt und
bewegt. Alles vom Sandkorn bis zur Sonne empfindet Zuneigung. „Das
Prinzip der „Angelbewegung der Himmelsmechanik", sagt der Fourierist
Toussenel, „ist die Zuneigung. Das höchste Glück der Gestirne wie aller belebten
Wesen besteht darin, zu erzeugen, ihre schöpferische Kraft zu bethätigen. Ohne
dieses gebieterische Bedürfniß, zu lieben und zu schaffen würden die Welten zu
Grunde gehen. Die Planeten, höhere Wesen als ihre Menschen, erzeugen aus
und durch sich selbst, sie besitzen das Vermögen, durch Verbindung ihrer Grund-
kräfte zu schaffen. Sie haben die großen Pflichten, das Leben auf sich
entstehen zu lassen und es zu hegen und zu pflegen. Jede Schöpfung der
Gestirne ist in einem Grundcharakter, in einem Wesen, das den Haupt¬
punkt bildet, zusammengefaßt. Dieses Wesen ist für den Planeten Erde
der Mensch."
Nach der Theorie Fourier's schaffen die Planeten aber auch durch wech¬
selseitige Mittheilung ihrer Grundkräfte, welche die Schule als „Arome" be¬
zeichnet, die lebenden Wesen in verschiedenen Arten und mit verschiedenen Cha¬
rakteren. Das Pferd z. B. „dieses stolze, aristokratische, Schlachten und
Jagden liebende Thier, in dessen Haltung man Adel, Ehrgeiz und Ruhm
begier erkennt, ist ein Erzeugnis? der Ausströmung des Saturn. „Das Roß",
sagt er, „duftet von dem reinsten Arom des Hauptplaneten des Ehrgeizes,
dieses prunkenden Himmelsballs, der mit einem Gefolge von sieben Satelliten
dahinrollt, der wie ein Gemälde van Dyk's am Firmamente prangt, von dem
Arom des Saturn, dessen kriegerischen Sinn man schon an seiner stolzen Hal¬
tung und an der prächtigen Farbe der Doppelschärpe erkennt, mit der er so
gern seine Seiten umgürtet. Alles an diesem Gestirn ist funkelnd, schreiend
und in die Augen stechend, es liebt die Pracht wie das Vollblut." Saturn
der Hauptplanet des Ehrgeizes, duftet nach den Untersuchungen der Fou-
rieristen „nach Tulpe und Lilie". Jupiter ist der Hauptplanet des Familien¬
lebens ; „an Aroma minder reich als die Erde, duftet er nach Narzisse. Mars
ist ein schrecklicher Planet, die von ihm ausgehenden Gestalten des Häßlichen,
Giftigen, Garstigen und Abstoßenden sind nicht zu zählen. Uranus dagegen
ist der Hauptplanet der Liebe, „er erzeugte auf der Erde die blauen Blumen,
aber die Erde besaß moralische Theorien gegen die Liebe, und zur Strafe gab
Uranus den blauen Blumen der Erde heilende Kräfte statt des Duftes der
Liebe". Neptun endlich „duftet nach Tabak; denn er ist der Planet, von
welchem dieses Kraut stammt, dieses langsame Gift, welches uns durch den
Mund athmen und durch die Nase essen läßt" u. s. w.
Es wird Zeit, daß wir uns nach diesem Wust von Abgeschmacktheiten
einer Pseudoastronomie mit ein paar hübschen Scherzen erfrischen. Wir denken
dabei zunächst an den Luftschiffer Paal, der nach Edgar Poe's Bericht, ver¬
mittelst eines Ballons und eines Apparats mit athembarer Luft, von Rotter¬
dam in neunzehn Tagen in den Mond flog. Er verzeichnete alle seine Er¬
lebnisse und Beobachtungen auf der Reise mit Einschluß seines Aufenthaltes
droben auf dem Erdtrabanten, wo ihm winzige Menschlein mit seltsamen
Sitten und Gewohnheiten begegneten, und führte den Beweis, daß er wirklich
dort gewesen, durch einen vom 30. Februar 1830 datirten Brief, den
ihm ein Mondmensch für den Bürgermeister Superbus van Unterduck mit¬
gegeben.
Wahrscheinlicher klang Manchem der Inhalt einer Schrift, die angeblich
von John Herschel, in Wahrheit aber von dem Amerikaner Locke verfaßt.
1836 erschien und eine Beschreibung des Lebens auf dem Monde enthielt
welches Herschel vom Vorgebirge der Guten Hoffnung aus, wo er sich kurz
vorher, um astronomische Beobachtungen anzustellen, wirklich eine Zeit lang
aufgehalten, durch sein Riesenteleskop beobachtet haben sollte. Es heißt da
u. A.: „Nur die Einbildungskraft, auf den Flügeln der Dichtkunst getragen,
könnte Gleichnisse aufstellen, um die wilde Erhabenheit der Landschaften zu
schildern, wo dunkle Behemothklippen, gleich Wällen in der Luft, über dem Ab¬
sturz schroffer Abgründe ragten. Waldungen schienen sich mitten in die Lust
zu erstrecken." Prachtvolle Amphitheater, von größeren und kleineren Hügel»
gebildet, ließen Tausende von Rubinen in der Sonne erglänzen, Bäche in
Silberschetn ergossen sich von den Felsen herab, gelbe Behänge vom reinsten
Golde drängten sich als Netzwerk und in Form von Zweigen aus den hori¬
zontalen Felsenschichten hervor und umsäumten schmuckvoll die grünen Wald¬
gebirge. Schafe mit Hörnern weiß wie Elfenbein weideten auf den Wiesen
neben der Antilope und dem Zebra, Wasservögel in großer Menge schwam¬
men auf den Seen. Ja noch mehr: die Mondmenschen zeigten sich als eine
Art geflügelter Geschöpfe: „Sie waren ungefähr vier Fuß hoch und mit Aus¬
nahme des Gesichts mit kurzen, glatten kupferrothen Haaren bedeckt und hatten
Flügel, die aus einer dünnen elastischen Haut ohne Haare bestanden, welche
hinten zusammengerollt von der Schulterspitze bis zu den Waden herabhing."
Diese Flügel hatten eine große Ausdehnung, wenn sie ausgebreitet waren,
und glichen in ihrer Bauart denen der Fledermaus. Die Fledermausmenschen
wanderten, sich unterhaltend, von Hügel zu Hügel u. s. w. Alle diese Wun¬
der zeigten sich durch das Fernrohr so deutlich, als ob sie nur etliche hundert
Fuß entfernt wären.
Das Aufsehen'welches dieser Bericht erregte, veranlaßte Arago, denselben
öffentlich als Mystifikation zu mißbilligen und zu widerlegen. Für Fachleute
bedürfte es dessen nicht. Nichts, was über die Möglichkeit, mit andern Welt¬
körpern in physische Verbindung zu treten, ihnen mit unsern Sinnen viel näher
zu kommen, als jetzt nach den letzten Vervollkommnungen unsrer Beobachtungs¬
instrumente, behauptet wird, ist begründet. Der Physiker Brandes hat, gestützt
auf den Gedanken, daß jedes Vernunftwesen, gleichviel, wie es organisirt sei,
geometrische Begriffe haben müsse, den Vorschlag gemacht: Man veranstalte
in einer tropischen, ebnen und culturfähigen Gegend von möglichst gleich¬
mäßiger Naturbeschaffenheit eine große Anpflanzung, die in der Vogelperspek¬
tive eine geometrische Figur bildet und sich als solche möglichst scharf und
bestimmt von ihrer Umgebung unterscheidet. Ist diese nun groß genug, um
von den etwaigen Mondbewohnern deutlich gesehen zu werden, so werden diese
unsre Nachbarn unsre Absicht errathen und darauf bedacht sein, uns eine ent¬
sprechende Antwort zu geben. Die Kosten wären auch dann nicht verloren,
wenn die von uns eröffnete Correspondenz unbeantwortet bliebe; wir wüßten
dann wenigstens, daß es drüben keine Vernunftwesen gäbe." Mädler aber
sagt in Betreff eines derartigen Verkehrs zwischen den Erd- und Mond¬
menschen: „Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß nicht der Mond allein,
sondern jeder Weltkörper lebende Bewohner hat." „Wo wir Einrichtungen
treffen, welche Bewohner möglich machen, können wir diese auch als wirklich
annehmen und zugleich versichert sein, daß jeder Weltkörper mit solchen Be¬
wohnern versehen sei. die seiner Naturbeschaffenheit angemessen sind und sich
auf ihm ihres Lebens freuen können." Mit dieser allgemeinen, mehr ethischen
als astronomischen Beantwortung der Frage begnüge man, wie es dann
weiter heißt, sich höchst ungern, vielmehr wolle man eine möglichst specielle
Auskunft über die körperlichen und geistigen Fähigkeiten und die Lebensweise
der Bewohner fremder Welten haben. Insbesondere habe man bei dem uns
verhältnißmäßig so nahen Monde zu der Hoffnung berechtigt zu sein geglaubt,
durch verbesserte Fernröhre einst noch dessen Bewohner zu sehen, ja selbst die
Idee, mit ihnen correspondiren oder gar persönlich zu ihnen zu gelan¬
gen, sei ernstlich verfolgt worden. Diese Hoffnung werde sich aber wahr¬
scheinlich nicht erfüllen. „Wenigstens vergessen diejenigen." sagt Mädler, „welche
von einer fortschreitenden Vergrößerung der Ferngläser Alles erwarten, daß
ein größeres Sehwerkzeug die im Zustande der Erdatmosphäre und der täg¬
lichen Bewegung liegenden Schwierigkeiten nicht allein nicht hebt, sondern
sogar vermehrt, und daß überhaupt stärkere Vergrößerungen nur dann von
Nutzen sein können, wenn die Deutlichkeit des Lichtes sich in ganz gleichem
Maße erhöht. Schon bei den größten jetzt in Anwendung gebrachten Fern¬
röhren zeigen sich diese Schwierigkeiten dergestalt, daß man ihre volle Kraft
nicht bei allen Gegenständen in Anwendung bringen kann, wie denn na¬
mentlich der Mond' zu denjenigen Objecten gehört, für welche die stärksten
Vergrößerungen sich nicht als sonderlich vortheilhaft bewähren. Gelänge es
aber auch, mit einer tausendmaligen Vergrößerung noch gute Beobachtungen
auf der Mondfläche zu machen so würden die Gegenstände auf derselben im¬
mer noch nicht besser erscheinen als mit unbewaffneten Augen in fünfzig
Meilen Entfernung, und auch das schärfste Auge ist nicht im Stande, einen
Menschen, ein Pferd u. tgi. noch wahrzunehmen, wenn sie eine Meile entfernt
sind. Vielleicht aber könnte man Bauwerke auffinden, Heereszüge verfolgen
und Aehnliches? Auch hier ist schwerlich etwas zu erwarten. Wenn es uns
auch gelänge, ein architektonisches Product von der Größe der Cheops-
Pyramide oder der Peterskirche als ein feines Pünktchen wahrzunehmen, wer
deutet uns dieses Pünktchen? Die kleinsten der ihrer Gestalt nach mit einiger
Deutlichkeit wahrnehmbaren Gegenstände sind noch immer vier- bis sechstau¬
send Fuß lang und breit, und auch eine verhältnißmäßig nicht unbeträchtliche
Höhe darf ihnen nicht fehlen, wenn man sie von ihrer Umgebung unterscheiden
soll. Und daß diese Grenze der deutlichen Sichtbarkeit sich in weit langsameren
Verhältnissen vermindern werde, als die Größe und optische Kraft der Fern¬
röhre sich vermehrt, ist außer Zweifel."
So müßten wir denn darauf verzichten, uns mit unsern Sinnen und
den dieselben verstärkenden Instrumenten davon zu überzeugen, daß es auf
andern Weltkörpern Menschen oder menschenähnliche Wesen giebt. Selbst der
Mond wäre uns in dieser Beziehung verschlossen, die Planeten selbstverständlich
noch viel mehr, und von fernen kreisenden Welten derartige Kunde zu er¬
langen, würde noch mittionenmal unmöglicher sein. Die Wahrscheinlichkeit
aber, daß es außer der Erde, und zwar zunächst auf den Planeten unseres
Sonnensystems denkende und empfindende Wesen und infolge dessen eine Cul¬
tur und Geschichte giebt, ist dadurch nicht ausgeschlossen, ja sie grenzt an
Gewißheit. Die dafür sprechenden Gründe hat uns vor einiger Zeit der
französische Astronom Flammarion*), dessen Schrift wir im obigen geschicht¬
lichen Ueberblick ausgezogen haben, in wissenschaftlicher Weise ohne irgend¬
welche Zuthat aus dem Gebiete des Gefühls und der Phantasie vorgelegt,
und wir glauben nicht, daß sich gegen die Ergebnisse, zu denen er gelangt
ist, mit Grund etwas einwenden läßt. In einem zweiten Artikel werden wir
den Weg, den er einschlägt, und das Resultat, das er gewonnen hat, in der
Kürze mittheilen.
Vorgeschichte des Arnim'schen Processes. Erstes Heft. Zürich, Verlags¬
magazin. 1876.
Wenn man dem Grafen Arnim nach dem, was sein Proceß über ihn an
den Tag gebracht hatte, kaum irgendwelche hervorragende Eigenschaften zuzu¬
gestehen geneigt sein konnte, so belehrt uns diese Flugschrift eines Besseren.
Er besitzt eine Stirn, wie sie nicht vielen unter uns gegeben ist. Nicht blos
von den Gerichten, sondern auch von der öffentlichen Meinung fast ohne
Gegenstimmen verurtheilr. in seiner ganzen Blöße als dünkelhafter, selbst¬
süchtiger und überdies) sentimentaler Streber erkannt, dann der Vergessenheit
anheimgefallen, hat er, wo ein halbwegs schamhafter die Flügel der Morgen¬
röthe genommen hätte und nach dem äußersten Meere geflogen wäre, um
seine unrühmliche Nacktheit zu verstecken, die Dreistigkeit, nicht nur die Welt
an seine Person zu erinnern, sondern in einer breiten Broschüre wie er leibt
und lebt, in unsere reinliche Mitte zu treten.
Seine Freunde in den Kreisen der kaltgestellten Diplomatie werden das
den Muth der verkannten und verfolgten Unschuld nennen. Wir gewahren
in diesem Verhalten nur eine zweite hervorragende Eigenschaft des Herrn Ex-
Botschafters: unerhörte Naivetät. Diese Naivetät muthet uns zunächst zu, zu
glauben, daß hier ein Freund der Wahrheit und der gekränkten Gerechtigkeit
uneigennützig und mitleidig die Sache des falsch Beurtheilten führe und nicht
dessen bester Freund, er, der Graf Harry Arnim Plaidire, während doch jedem
der auch nur einige der früheren Elaborate des letzteren vor Augen gehabt
hat, über allem Zweifel klar sein muß, daß er selbst und nur er selbst von
Anfang bis zu Ende der Schrift die Feder geführt hat. In der That, einzig
und allein der Name fehlt, sonst haben wir hier die ganze Witzelet und Geist-
Macherei, die Neigung zu häufiger Anwendung von Bildern und Citaten, den
Hang, in superfeinen Phrasen, die aber gewöhnlich ohne erheblichen Inhalt
sind, sich zu expectoriren. endlich die aristokratisch klingen sollende Menschen¬
verachtung vor uns. die den Arnim'schen Stil dort charakterisieren. Nur
das Gesicht verbirgt sich, so möchten wir in diesem Stile sagen; sonst sieht
der ganze übrige Mensch aus diesem Gewirr von Verdrehungen, Vertuschungen
und Selbstberäucherungen hervor. Daß die letzteren sich unter diesen Um¬
ständen ganz besonders unschön ausnehmen, blieb jener naiven Kühnheit
ebenfalls unerfindlich, und so nimmt sie keinen Anstand, sich und ihre Leist¬
ungen bei jeder Gelegenheit, die sich bietet, mit einem Füllhorn von Lobes¬
erhebungen zu überschütten. „Durch dreißigjährige Dienstzeit bewährte Ge-
schicklichkeit", „Geschäftskunde", „diplomatischer Tact", „ruhiges Benehmen",
»feiner Verstand" sind noch keineswegs die größten und glänzendsten der
Lorbeerblätter, die der Graf Arnim hier der Büste des Grafen Arnim vor
aller Welt zum Kranze flicht. Nachdem der Verfasser seinen hohen Geist und
seinen Seherblick in vorausschauender Beurtheilung der Verhältnisse im Ver¬
ruf seiner Schrift wiederholt hat bewundern lassen, sagt er am Schlüsse:
"Graf Arnim hat sich während seiner dreißigjährigen Dienstzeit durch gewissen¬
hafte und geschickte Amtsführung die Anerkennung des Monarchen, der Ne¬
uerung, des Landes und, bevor seine Verdienste öffentlich gerühmt wurden,
sogar die des Reichskanzlers erworben. Wie sich aus der vorstehenden Dar-
Stellung ergiebt, hat er Anspruch auf die intellectuelle Urheberschaft mancher
politischen Maßregel, welcher der Herr Reichskanzler großen Ruhm verdankt.
Von Vielen wurde er als Nachfolger des Reichskanzlers bezeichnet." Gott,
welch ein Mann, welch ein Kleinod!
Als eine dritte bei dem Verfasser' unsrer Broschüre in ungewöhnlichem
Grade ausgebildete Gabe ist die Kunst hervorzuheben, die Dinge zu ver¬
schieben, auf den Kops zu stellen und nach seinen Zwecken zu färben. Er ist
mit dieser Eigenschaft ein Escamoteur ersten Ranges und ein Meister der
Schön - und zugleich Schwarzfärberei. Aber mit aller seiner Kunst bringt er
uns doch nicht dazu, zu glauben, was wir ihm glauben sollen. Einige nicht
sehr bedeutsame Nebendinge mögen durch die Beleuchtung, die ihnen hier zu
Theil wird, eine etwas andere Farbe und Gestalt annehmen, als sie bisher
zu haben schienen. Unser Urtheil über das, was die Hauptsache ist, wird
durch die Schrift nicht um ein Titelchen geändert oder doch nur insofern, als
es durch neue Gründe verstärkt und noch ungünstiger für den beseitigten Bot¬
schafter gemacht wird. „Mancher Erblasser", sagt der bilderfreundliche Ver¬
fasser, „haßt seinen Erben, zumal wenn er Ungeduld in ihm argwöhnt. Von
dem Augenblicke an, wo der Reichskanzler in dem Grafen Arnim einen Erben
vermuthen konnte, haßte er ihn" — „trat die Versuchung an ihn heran, den
Erben zu beschädigen, zu vernichten und bei Seite zu schaffen." Eifersucht
also auf einen ihm gewachsenen oder, wie die Schrift an verschiedenen Stellen
nachzuweisen sich bemüht, ihm sogar überlegnen Nachfolger im Amte hätte
den Fürsten Bismarck veranlaßt, den pariser Vertreter der preußischen und
deutschen Politik von seinem Posten wegzumanövriren und ihn schließlich wegen
einer durch die Pflicht der Selbstvertheidigung gebotenen Beiseiteschaffung und
theilweisen Benutzung geheimer Urkunden, die eigentlich keine solchen gewesen,
vor Gericht gebracht? — Das Gericht aber hätte „denjenigen verurtheilt,
welcher dieselben Schriftstücke einige Zeit dem Auswärtigen Amte absichtslos
vorenthalten, welche das Auswärtige Amt ohnehin schon besessen habe. Es
habe denjenigen freigesprochen, der dem Vaterlande einen Mann entzogen,
welcher (Gott behüte uns in Gnaden vor Ansteckung durch die Pest solchen
Selbstlobes!) befähigt und berufen war, dem Lande die größten Dienste zu
leisten."
Stolzes Bewußtsein, schöne stattliche Antithesen! Den Inhalt aber
glaube, wer ihn nach dem Buche noch zu glauben vermag. Für uns geht
aus demselben nur deutlicher und unwidersprechlicher hervor, was wir bereits
wußten, daß nämlich der Reichskanzler es in seinem Botschafter bei Thiers
und Mac Mahon mit einem eingebildeten, ungehorsamen Untergebnen zu thun
hatte, der seinen eignen Kopf haben wollte, der neben, nicht unter ihm Politik
treiben zu dürfen wähnte, der gegen ihn mit gleichgestnnten Freunden in
Berlin am Hofe Ränke spann, und der schließlich mit beispielloser Indis¬
kretion seinem ungehörigen Thun die Krone aufsetzte, indem er, um sich weiß-
zu brennen und zu rächen, mit Schriftstücken an die Oeffentlichkeit trat, die
derselben unter allen Umständen verborgen bleiben mußten. Und andrerseits
ersehen wir aus der Broschüre, trotz aller Verzerrung und Verdunkelung der
Thatsachen in Betreff des Reichskanzlers nur, daß er ein solches Treiben nicht
in der Ordnung fand, es nicht duldete und ohne Rücksicht auf die hohe
Stellung der Pariser Excellenz und deren Gönner, nach Gebühr strafte. Da¬
für aber können wir ihm nur unsern tiefempfundenen Dank sagen. Er hat
mit der alten preußischen Tradition, die noch unter den letzten seiner Vor¬
gänger, wie mancher andere Unfug fortlebte, gebrochen. Er hat mit rücksichts¬
loser Strenge und Festigkeit seine Stellung als allein verantwortlicher
Minister und damit das e onstitutionelle Princip für die auswärtigen An¬
gelegenheiten des deutschen Reichs zur Geltung gebracht und gegen die auf ab¬
solutistische Behandlung derselben abzielenden Schritte Arnim's zum Siege
geführt. Er hat, wie er sich im Erlasse vom 19. Juli 1873 selbst ausdrückt.
„Anträge an Seine Majestät, den Kaiser gerichtet, welche nothwendig waren,
um die Einheit und Disciplin im auswärtigen Dienste zu erhalten und die
Interessen des Reiches vor verfassungsmäßig unberechtigter Schädigung sicher
Zu stellen."
Der Herr Graf nennt das „Ministerialdespotismus". Wir nennen es
unbedingt erforderliche, streng aufrecht zu erhaltende Subordination. Jener
nimmt Anstoß daran, daß der Reichskanzler einmal gesagt hat: „Meine Bot¬
schafter müssen einschwenken auf Commando wie die Unteroffiziere, ohne zu
wissen, warum." Wir dagegen finden, daß dieß ganz vortrefflich das Ver¬
hältniß bezeichnet, das zwischen dem leitenden Geiste im Auswärtigen Amte
und seinen Filialen an den fremden Höfen immer bestehen sollte. namentlich
aber jetzt, wo ein ureignes Genie wie der Fürst Bismarck in diesem Amte
waltet. Wir hätten, mit Erlaubniß der Excellenzen und Großkreuze, um die
sich's handelt, auch nichts dagegen gehabt, wenn sie in jener Aeußerung als
die expedirenden Secretäre des Reichskanzlers bezeichnet worden wären. Je
mehr sie, ihren eignen Willen und ihr Selbstgefühl unterordnend, sich als Un¬
teroffiziere , als expedirende Secretäre betrachten und verhalten, je mehr sie
„dienen", desto besser werden sie arbeiten, und sind sie dazu noch unbefangene,
scharfblickende Beobachter und fleißige Berichterstatter — dem Grafen Arnim
läßt sich beiläufig von diesen Eigenschaften nur ein breitwandelnder Fleiß
nachrühmen — so werden sie so ziemlich alles erfüllen, was man billigerweise
von ihnen erwarten kann.
Vereitelte Strebsamkeit schlägt häufig in bittern Haß gegen den Störer
der betreffenden Pläne um. Je größer der Haß dann ist, desto heißer wird
in der Regel die Sehnsucht nach Erfolg bei dem Strebenden gewesen sein.
Hiernach zu schließen, muß die Sehnsucht nach baldigem Einzug in unser Aus¬
wärtiges Amt bei dem Grafen Arnim ungemein intensiv gewesen sein; denn
der Haß, den sein Buch ganze Seiten lang und immer und immer wieder
ganze lange Seiten athmet, riecht förmlich nach Brand und steigert sich bis¬
weilen geradezu zum Delirium. Die boshaftesten und geschmacklosesten I»'
vectiven werden in vollen Breitseiten gegen den Reichskanzler geschleudert, die
unsinnigsten Anklagen gegen seine Gemüthsart, seine Auffassung der Dinge
und seine ganze Politik erhoben. Wenn die Anspielung auf Herrn Bleichröder
S. 87 die Bedeutung hätte, die sie zu haben scheint, so würde darin ein un¬
erhört niederträchtiger Schmutzwurf nach dem Gehaßten zu rügen und zu
verachten sein. In andern Stellen dieser Sammlung von Ausfällen und Be¬
leidigungen heißt es vom Fürsten Bismarck: „Er findet die Wahrheit nicht,
er schafft sie" (S. 80); er will alle Regierungen und Nationen in chau¬
vinistischen Stile „Hofmeistern", und die Welt, die früher seiner Politik
herzlich wohlwollte, „betrachtet ihn jetzt mit dem Gefühl, mit welchem man
einen unliebenswürdigen Mann auf einem durchgehenden Pferde sieht" (S.114);
er ist, näher besehen, oft gegen seinen Willen und eigentlich nur durch un¬
gemeines Glück groß geworden (S. 131); er wird — el, wie unfein, hoch-
geborner Herr Gras! — S. 142 mit dem „nüchternen, phantasieloser
Elephanten" verglichen, „der mit demselben Instrumente Centner hebt und
Nadeln vom Boden aufliest", worauf wir erfahren, daß mit den Nadeln un¬
seres Bildermannes kleine Politiker wie Gerlach, Windthorst, Laster, Virchow
und — hier bricht wunderbarerweise einmal die Selbsterkenntniß bei dem Herrn
Exbotschafter durch — er selbst, Graf Arnim, gemeint sind. Der Reichs¬
kanzler ist endlich, um nicht zu viel Abgeschmacktheiten einer gallegeschwollenen
Seele nachzureden, wenn er in Varzin weilt, „Tibenus in Capri" (S. 143).
In diesem Tone geht es fort. Trumpf aus und Trumpf aus und noch einmal
Trumpf aus! Alle Parteien werden gegen den persönlichen unerträglichen
Despoten aufgehetzt, die Konservativen wider die Liberalen zur Rettung der
von ihm mit Füßen getretenen Freiheit (sollte heißen: Willkür und Anmaß-
lichkeit) zu den Waffen gerufen, selbst mit Sonnemann und der Centrums-
sraction wird geliebäugelt. Wo sich eine einflußreiche Persönlichkeit in den
Zusammenhang hereinziehen läßt, wird der Fürst als ihr Feind dargestellt.
Dem Kaiser aber soll er als der eigentliche Regent zuwider gemacht werden,
wenn die Schrift ihn S. 39 „den allmächtigsten Minister seit Stilichos und Pipins
Zeiten" nennt. Schließlich steht der schnaubende Ingrimm dieses mißkannten
edlen Angesichts vor der Majestät selbst nicht still, weil dieselbe der ungün¬
stigen Meinung seines obersten Rathes über den Grafen Arnim nach einigem
Zögern in echt konstitutionellem Sinne beizupflichten nicht umhin gekonnt
hat, und legt dem Kaiser dabei Motive unter, die wir auch dann nicht wie¬
derholen würden, wenn wir könnten.
Wir kommen zum Schluß. Wenn das Ganze nicht ein bloßer krank¬
hafter Wuthausbruch. nicht das sich zum Selbstzweck habende Toben eines
gedemüthigten Hochmüthigen ist, so muß es einen bestimmten Zweck haben.
Graf Arnim ist ein Politiker, und politisch handeln heißt zweckvoll handeln.
Von obigem Fall abgesehen, konnte er, so sollte man meinen, wohl nur die
Absicht verfolgen, sich vor dem Publicum zu rehabilitiren und sich nach
andrer Seite hin wenigstens einigermaßen wieder möglich zu machen.
Aber wenn er auch überzeugt hätte, daß sein Verhalten als Botschafter nicht
in allen Stufen den Tadel verdient, der ihm von der Wilhelmsstraße zu Theil
geworden ist, auch wenn wir ihn nun wirklich für den seinen Kopf halten
dürften, der er vor dem Spiegel seiner Phantasie ist, — nach den Leidenschaft¬
lichkeiten, die er massenhaft in seine Vertheidigung einsticht, müßten wir von
dieser verhältnißmäßig guten Meinung wieder zurücktreten. Die erste Tugend
des Diplomaten ist Selbstbeherrschung. Graf Arnim aber besitzt nach dieser
Schrift hiervon nicht ein Quentchen. Das Gericht hat ihn zu ein paar Mo¬
naten Einsperrung verurtheilt. Er hat sich mit dieser Schandschrift selbst
weiter gestraft, sich an den Pranger gestellt, sich für alle Zeiten und Umstände
unmöglich gemacht. Und das will ein guter Diplomat gewesen sein!
Allerdings giebt es noch eine Möglichkeit. Der Graf könnte mit vollem
Bewußtsein und kühlem Kopfe seine einstigen Vorgesetzten (außer dem Fürsten
Bismarck auch den Staatssecretär v. Bülow) und selbst den Kaiser beleidigt
haben. Er könnte — und das ist seiner Eitelkeit wohl zuzutrauen — sich
mit einem großen Skandal, gewissermaßen in Feuerwerksbeleuchtung, für immer
von der Bühne zurückzuziehen beabsichtigt haben. Dann danken wir ihm von
Herzen — nicht für den Skandal, aber für den ewigen Abschied. Il^dhat sibi!
Von den Verhandlungen dieser Woche ist nur die erste Berathung eines
Abänderungsgesetzes über die Einrichtung des Invalidenfonds erwähnenswert!),
welche in den Sitzungen vom 9. und 10. November stattfand. Das Gesetz
über die Gründung und Verwaltung des Reichsinvalidenfonds trägt das
Datum des 23. Mai 1873. Man erinnert sich dieser Verhandlungen, über
die auch an dieser Stelle ihrer Zeit berichtet worden. Die Partieularisten,
an ihrer Spitze Herr Windthorst, wollten überhaupt keinen Reichsfonds, son¬
dern wollten soviel als möglich von den Milliarden der französischen Kriegs¬
entschädigung an die Einzelstaaten vertheilen, denen durch Reichsgesetz nur die
Verpflichtung auferlegt werden sollte, für die Invaliden in bestimmter Weise
zu sorgen. Mit dieser Sorge wäre es ein sehr mißliches Ding gewesen und
die kläglichsten Streitereien würden die Fähigkeit der deutschen Nation, die
dringendste aller Ehrenpflichten zu erfüllen, in das traurigste Licht gestellt
haben. Diese Gefahr ging vorüber.
Große Schwierigkeit machten bet der Verhandlung im Reichstage die der
Verwaltung des Jnvalidenfonds hinsichtlich der Anlegung der Gelder zu
gebenden Vorschriften. Schließlich schien die Aufgabe, nach dieser Seite das
Nichtige zu finden, durch die getroffene Entscheidung sehr wohl gelöst. Man
hatte in dem Gesetz die theilweise Anlegung der Gelder des Fonds in Eisen¬
bahnprioritäten zugelassen, aber gleichzeitig bestimmt, daß am 1. Juli 1876
die vor länger als einem Jahre erworbenen Prioritäten realtsirt sein müßten.
Inzwischen ist der große Rückgang aller zinstragenden Papiere, von dem die
Eisenbahnprioritäten mit einem Vorzugsantheil betroffen sind, eingetreten.
Eine Besserung des niedrigen Standes dieser Papiere ist binnen Jahresfrist
und länger nicht vorauszusehen. Die Neichsregierung sucht also für die Ver¬
waltung des Fonds die Befugniß nach, die Veräußerung der im Besitz des
Fonds befindlichen Prioritäten um 4 Jahre zu verschieben. Dies ist der
Hauptpunkt des Abänderungsgesetzes; die anderen Punkte erwähnen wir bei
der zweiten Berathung.
Es war vorauszusehen, wie die Thatsache des Ankaufs einer großen
Menge von Eisenbahnprioritäten gegen die Verwaltung des Fonds und in-
direct gegen die Reichsregierung ausgebeutet werden würde. Und doch liegt
kein Anlaß zu begründetem Tadel vor. Die Verwaltung war in der Aus¬
wahl der anzukaufenden Papiere durch die Vorschriften des Gesetzes stark be¬
schränkt, wahrscheinlich ganz zweckmäßig beschränkt im Hinblick auf die Lage
der Verhältnisse, wie sie bei der Berathung des Gesetzes war. Nun ist die
unerwartete Verkehrskrisis und mit ihr der Rückgang der zinstragenden Papiere
eingetreten. Der Besitz der Eisenbahnprioritäten ist gleichwohl kein Unglück,
denn an den Zinsen wird nichts verloren. Nur die baldige Veräußerung ist
nicht wünschenswert!), theils wegen des niedrigen Kurses, theils wegen des
Verkehrs, um den Kurs nicht noch mehr zu drücken. Aber wie konnte es
anders sein, als daß Herr Windthorst die Gelegenheit benutzte, die Errichtung
eines solches Reichsfonds anzugreifen, als daß andere Redner die Verwaltung
des Fonds, den Einfluß der Seehandlung und wer weiß was beargwöhnten,
als daß vor Allem wieder der Reichskanzler herhalten mußte, daß er eine
Verantwortlichkeit haben wolle, wo er keine übernehmen könne, daß man
folglich ein collegialisches Neichsministerium haben müsse? Nachdem alle
diese schönen Dinge zur Sprache gekommen, wurde das Gesetz an die Bud¬
getcommission zur Vorberathung überwiesen.
Die vielfach vorausgesehenen Gewitter, welche sich in dieser Reichstags¬
session entladen sollen, scheinen näher zu rücken. Es ist wohl kein Zufall,
daß die Schrift „Vorgeschichte des Arnim'schen Prozesses" gerade jetzt erscheinen
mußte. Die Ultramontanen erkennen die Schwierigkeiten, welche der Reichs¬
kanzler nach vielen Seiten in diesem Augenblick zu überwinden hat. Sie ver¬
muthen, daß der Reichskanzler versuchen wird, diese Schwierigkeiten mit einem
energischen Stoß nach seiner Art zu beseitigen, und hoffen, den von seiner
Niesenaufgabe ermüdeten Heros durch geschickt gestellte Fallen zu stürzen. Sie
rechnen darauf, daß ein solcher Ausgang dem Manne, der mehr wie alle
andern ein Recht hat, müde zu sein, vielleicht nicht ganz und gar unwill¬
kommen wäre, und sie meinen, daß er unter solchen Umständen nicht das
gewohnte Geschick aufbieten oder finden werde, diesen Ausgang zu vermeiden.
Unter den deutschen Verlagsfirmen, welche sich die Pflege und Verbreitung
edler Kunst in ihren Verlagswerken zum Ziele setzen, verdient die Firma
Fr. Bruckmann in München und Berlin rühmlichste Erwähnung. Eine ganze
Reihe der bedeutendsten Lieferungswerke sind bereits früher aus dieser Kunst¬
handlung hervorgegangen, eine ebenso bedeutsame andere Reihe eben noch im
Erscheinen begriffen, von denen einzelne, wie z. B. Rottmann's Italienische
Landschaften in Farbendruck, in d. Bl. bereits Erwähnung in besondern Ar¬
tikeln gefunden haben. Heute ist uns Bedürfniß auf zwei im Erscheinen
begriffene Lieferungswerke dieses Verlags unter der Weihnachtsbücherschau
kurz hinzuweisen, mit dem Vorbehalte, nach Vollendung der Werke auf die¬
selben zurückzukommen. Das eine dieser Prachtwerke bietet uns den ersten Theil
von Goethe's „Faust", mit Bildern und Zeichnungen von A. v. Kreling.
dem Director der tgi. Kunstschule in Nürnberg. Kein Drama hat die bildende
Kunst wohl je zu soviel Schöpfungen angeregt, als Goethe's Faust. Nament¬
lich in Deutschland haben die größten Künstler wetteifernd gestrebt, die Ge-
statten der größten deutschen Tragödie nachzuschaffen. Die Hauptfiguren des
Stückes stehen auch in ihren äußeren Umrissen, wie in ihren Masken und
Kostümen bei der Aufführung auf dem Theater, typisch fest. Und dennoch
täglich neue Bilder zu Faust, weil das höchste Meisterwerk Goethe's Jeden
zu neuem Schaffen drängt und begeistert. A. v. Kreling's Bilder und
Vignetten zu Faust sind mit die erfreulichsten Beweise dieser nachwirkender,
stets lebendigen Kraft des Faust, welche die letzten Jahrzehnte aufzuweisen
haben. Seine Darstellung der Hauptfiguren läßt — leider liegen uns der¬
malen erst zwei Lieferungen vor, die bis zur Gartenscene reichen — trotz der
Anlehnung an den feststehenden Typus, die individuelle Auffassung und die
nüancirte Selbständigkeit des Künstlers in vortheilhaftester Weise erkennen.
Alle Bilder aber, sowohl die großen, in Photographie wiedergegebenen Zeich¬
nungen, wie die Holzschnitte, die dem Text eingefügt sind, und meist vortreff¬
liche Vignetten bilden, legen beredtes Zeugniß ab von dem hohen Wollen
und Können des Künstlers und der ernsten Sorgfalt aller mitwirkenden Kräfte,
diese Faust-Ausgabe zu der reichsten und künstlerisch-bedeutendsten zu machen,
die bisher erschienen.
Wenn man erwägt, wie groß die Fruchtbarkeit der deutschen Kunst an
Illustrationen und Nachbildungen zu Goethe's Faust gewesen, und fortwährend
noch ist, so möchte man erstaunen, daß bisher so wenig Künstler das Be¬
dürfniß empfanden, die Gestalten des hervorragendsten deutschen Romans
nachzuschaffen, der nun schon seit zwanzig Jahren als das Kleinod aller ge¬
bildeten Deutschen anerkannt und durch keine der zahlreichen Nachahmungen
auch nur im entferntesten erreicht ist: wir meinen natürlich Scheffel's
„Ekkehard".
Dieses Jllustrationswerk, welches längst erwartet werden durfte, ist im
Laufe dieses Jahres (in drei Lieferungen, die Schlußlieferung steht aus, und
dürfte zum Feste ausgegeben werden) erschienen, in einem Format und einer
Ausstattung, wie sie der großartigsten Dichtung Scheffel's gebühren. Wie
wir oben schon andeuteten, muß es einem besonderen Artikel vorbehalten
werden, nach Vollendung des Bildercyclus zu untersuchen, inwieweit diese
Blätter im Einzelnen die Gestalten und Charaktere des Dichters voll¬
ständig wiedergeben. Einstweilen mag die Versicherung genügen, daß
im Großen und Ganzen die hohe Aufgabe, welche dieses Bilderwerk sich
setzte, glücklich gelöst ist: der beste deutsche Roman hat die bildende Kunst
zu einer Reihe ebenbürtiger Bilder begeistert. Niemand wird ohne tiefsten
Eindruck diese Bilder beschauen. Was die Kunst des Dichters aus tausend¬
jähriger Vergangenheit uns deutlich und greifbar vor unser inneres Auge
führte, schaut das leibliche hierin edlen lebendigen Linien. Die außerordent¬
liche Größe des Formats und die naturtreue Wiedergabe der Originalcartons
der Künstler im Wege der Photographie erhöht den bedeutenden Eindruck
dieser Zeichnungen. Sie streben auch insoweit dem Charakter der Dichtung
nachzueifern, als sie gesunden Realismus, unverfälschte Natur mit idealer
Auffassung zu verbinden suchen. Aber auch auf einen Fehler des schönen
Werkes mag schon jetzt verwiesen werden. Nirgends zeigt sich gewiß die
Sprödigkeit der Muse so deutlich, als wenn ein bildender Künstler unter¬
nimmt, eine ganze Dichtung oder gar sämmtliche Werke eines Dichters zu
illustriren, oder umgekehrt, wenn ein Dichter einen ganzen Cyclus von Bil¬
dern mit Text begleiten soll. Darum ist es an sich als ein glücklicher Ge¬
danke zu begrüßen, daß eine Anzahl namhafter Künstler (I. Flüggen. Ga¬
briel Max, W. Diez, G. Grützner, I. Herterich. A. Liezen-Meyer, Cl. Schrau-
dolph, N. Lenz, I. Benczur) sich vereinigt hat, um im besten Sinne des
Wortes die Arbeit zu theilen. Aber darunter ist die Einheit der Charaktere
und namentlich der Gesichtszüge der handelnden Personen fast vollständig
verloren gegangen. Ekkehard, die Herzogin Hadwig u. s. w. sind, wenn man
die verschiedenen Blätter nebeneinander hält, nicht wiederzuerkennen. Ekke¬
hard z. B. durchläuft vom ersten Blatt bis zum vorletzten die Metamorphose
von einem recht strammen Klosterbruder zum Ebenbild Friedrich Schiller's
(in der Kapellenscene Hadwig gegenüber), und der Herzogin und Griechin
ergeht es nicht anders. Auch die Toilette (namentlich der Damen) er¬
innert manchmal ganz bedenklich an ein Modejournal. Aber das sind
immerhin untergeordnete Fehler, und namentlich sind die beiden herrlichen
Kindergestalten des "Romans, Audifax und Hadumoth geradezu ergreifend
wiedergegeben. Hadumoth im Gebet, als sie dem Hohentwiel den Rücken
kehrt, um den gefangenen Hirten in unbekannter Ferne bei den Hunnen auf¬
zusuchen, ist das beste aller Blätter. Wie wir hören, soll später die kleinere
Ausgabe dieser Bilder zugleich mit einer Druck-Prachtausgabe des Romans —
die freudig zu begrüßen wäre — erscheinen.
Karl Braun's Bilder aus der deutschen Kleinstaaterei sind
soeben in zweiter, stark vermehrter Auflage bei Carl Rümpler in Han¬
nover ausgegeben worden. Unter allen Schriften Braun's sind die Bilder aus
der Kleinstaaterei, die zuerst 1869 bei Wigand erschienen, am populärsten ge¬
worden. Der Politiker und Publicist, der Jahrzehntelang gegen die Misere
eines nun für immer verflossenen Kleinstaates von Napoleon's Gnaden an¬
gekämpft hatte, unternahm es 1869 zum ersten Mal, die kaum überwundene
und damals schon fast in nebelgraue Vergangenheit entrückte Welt der klein¬
staatlichen Gebilde und Zustände, die unter der Sonne des Bundestages ge¬
diehen, wahrheitsgetreu in Ernst und Scherz zu schildern. Aller Jammer der
alten Tage, all die Schmach und Schande, welche die germanische Libertät des
dynastischen Particularismus über unser Volk gebracht, die ganze unfreiwillige
Komik, die ein zwerghafter Caesarenwcchnfwn hervorbringt, all die stolze
deutsche Freude über die Wendung der Dinge in dem großen Jahre 1866
war hier, unmittelbar nach der weltgeschichtlichen Katastrophe in unverhülltester
Deutlichkeit und Klarheit vorgetragen und gehobenen Herzens und Angers
wies der siegreiche Kämpfer, dessen verhallten Mahnungen das Urtheil der
Geschichte zu Recht verholfen, in eine Zukunft, welche die Einheit unsres
Nationalstaates bald erfüllen würde.
Viel schonungslose Wahrheit war hier ausgesprochen. Viel Groll und
ungekühlter Haß gegen die nichtigen Menschen, die bis vor wenig Jahren
die Geschicke der Deutschen zu lenken vermeint, zitterte noch nach in jener
ersten Auflage der Bilder Karl Braun's aus der deutschen Kleinstaaterei. Hart
wurden die Liebhabereien und Thorheiten auch mancher deutschen Regierung
beurtheilt, die ihre Feindschaft gegen die deutsche Vormacht nicht mit der
Krone gebüßt hatte. Karl Braun schwang sein schneidiges Schwert im Namen
der solange verhöhnten Majestät des deutschen Volkes und das war ihm
gleich, wohin es traf. Dabei wurden freilich auch Zustände von untergeord¬
netster Wichtigkeit mit jener behaglichen Breite vorgetragen, die wir bei Er¬
eignissen des eben verflossenen Tages zulassen.
Die Gunst und die Gegnerschaft, welche die zwei Bändchen fanden, waren
groß. Aber auch die besten Freunde des Verfassers mußten bekennen, daß
viel von dem Inhalt, der das volle Interesse der damaligen Leser erregte an
Beifall und Verständniß verlieren werde mit dem Wandel der Scene auf der
Bühne unsrer öffentlichen Zustände. Der größere Theil des Buches freilich
beanspruchte dauernden Werth. Zu allen Zeiten sind die Bücher selten ge¬
wesen, die aus der lebendigen Gegenwart selbst geschaffen, die Eigenart einer
Kultur- oder Geschichtsepoche zu voller Anschauung brachten. Diese Werke
sind selten, weil der Verfasser die volle Erkenntniß der Signatur seiner Zeit
verbinden muß mit dem klaren Urtheil über ihren Werth oder Unwerth, über
die höchsten Zwecke, deren unvollkommener Ausdruck jede Stufe menschlicher
Entwickelung immer sein wird. Ein Werk, das in manchen Nummern diesen
seltenen Leistungen an die Seite zu stellen war, hatte Braun in den Bildern
aus der deutschen Kleinstaaterei geschaffen. Ein Späterer, der von deutschen
Zuständen vor dem Jahr 1866 nichts wüßte, wäre allerdings recht wohl in
der Lage, sich über diese Verhältnisse in der Richtung der Gebrechen der da¬
maligen Staatsverfassung aus Braun's Buch etwa so gut zu orientiren,
wie wir aus dem Simplicissimus über die socialen und politischen Zustände
während des großen Krieges.
Die Stücke von bleibendem Werth aus der ersten Auflage hinüberzu¬
nehmen in die zweite, das Veraltete auszuscheiden, das neugeschaffene hinzu¬
zufügen, war die Aufgabe des Verfassers bei Veranstaltung dieser zweiten
Auflage. Diese Aufgabe ist im Ganzen richtig und geschickt gelöst worden,
und wir erhalten dadurch, so wenig Braun selbst den Namen eines Historikers
beansprucht, ein Werk, welches vielleicht ein besseres Bild von den geschichtlichen
Verhältnissen Deutschlands vor zehn Jahren und von den altberechtigten Eigen¬
thümlichkeiten des kleinstaatlichen Particularismus gewährt, als ein hochge¬
lahrtes, trockenes geschichtliches Quellenwerk.
(Blätter im Winde. Von Johannes Scherr. Leipzig bei Günther 1875.)
Nach der Natur der Dinge hat jedes seine zwei Seiten, und es kommt
darauf an, welche von beiden der Auffassende von seinem Standpunkt und nach
seinen Interessen im Auge hat; aber so ist nach der Natur der Menschen der
eine mehr geneigt die Lichtseite zu betrachten, während der andere sich am
Schatten weidet, indem jenem das Positive, Gelungene, diesem das Negative
oder noch Mangelnde zunächst sich aufdrängt. Auch die Nähe und Ferne, die
zeitliche wie die räumliche, macht etwas aus. Wenn nun ein mit dem Doppel¬
klick des Humors begabter Mann siegreich pessimistisch die Verkehrtheiten und
das Elend des Lebens hervorhebt und doch optimistisch an das Gute und Schöne
glaubt, sich unter das Banner des Idealismus stellt und es sich zur Lebens¬
aufgabe macht, mit scherzenden Spott und zürnendem Ernst seinem Volke die
Wahrheit zu sagen, als theilnehmender Beobachter von draußen, wohin ihn
die Woge revolutionärer Bewegung verschlagen, so mögen seine Worte uns
sowohl zur Orientirung dienen, als wir sie auch berichtigen können. Wider¬
spruch und Prüfung allein führen zur Selbsterkenntniß. Johannes Scherr ist
ein solcher Mann. Er pflegt rasch zu sammeln, was er in Zeitschriften ver¬
öffentlicht , und in Vor- und Nachworten sich über die Weltlage, vornehmlich
über Deutschland zu verbreiten. So hat er diesmal einige historische Aufsätze,
wie über Lucrezia Borgia, über den letzten König von Peru, mit zwei treff¬
lichen literarischen Kritiken, über Sealssield und Annette von Droste, und
mit den Wanderungen eines Elysionärs zusammengestellt, die allzufrüh ab¬
brachen, als in der „Gegenwart" eine im Stil von Rabelais erzählte Parabel
dem Redacteur Paul Lindau den unfreiwilligen Aufenthalt in einer Zelle am
Plötzensee eingetragen. Das Buch betitelt er „Blätter im Winde", und leitet
es ein mit einem 99 Seiten langen Sendschreiben, in welchem er sM über
die Deutschland gegenwärtig bewegenden Fragen ausspricht. Dazu kommt, daß
er seine deutsche Cultur- und Sittengeschichte in der sechsten Auflage bis auf
unsre Tage führt, daß eine ältere Schrift über das Jahr 1848 neu erscheint,
und zwar bezeichnend genug nicht wieder als eine „Komödie", sondern als
„ein weltgeschichtliches Drama", mit Prolog und Epilog. Daraus will ich
das Wichtigste heranziehen und Einiges mit dem Verfasser besprechen.
Ohne den idealistischen, äußerlich gescheiterten Versuch der deutschen
Einigung und Befreiung im Jahr 1848 hätte die realistische That des Jahres
1866 und die Aufrichtung des neuen Reiches 1870 und 1871 nicht geschehen
können; beide Vorläufer waren nothwendig. Scherr ist berechtigt zu schreiben:
„Hätten wir nicht für den Gedanken der Demokratie gestritten und gelitten,
die constitutionell parlamentarische Staatsform wäre zur Stunde noch nicht
das politische System des civilisirten Europas. Und hätten wir nicht in unse¬
rer Weise die Verwirklichung der deutschen Einheitsidee angestrebt, hätten wir
nicht den Funken des Nationalgefühls zu einer unauslöschlichen Flamme an¬
schüren geholfen, so wäre jetzt nicht das deutsche Reich eine staatsrechtliche
Thatsache. Daß der deutsche Einheitsgedanke nicht mittels parlamentarischer
Theorie, sondern mittels politischer Praxis, nicht im sanften Gesäusel ruhiger
Bildung, sondern in tobenden Schlachtensturm, nicht mittels Worten und
Weisen, sondern mittels Blut und Eisen verwirklicht wurde, war ganz in der,
weltgeschichtlichen Ordnung;" — aber es konnte doch nur geschehen weil die
Ideen im Bewußtsein des Volkes klar geworden, weil die Bildung vorange¬
gangen; „das deutsche Schwert konnte auch 1870 nur so großes vollbringe"
weil das deutsche Buch ihm vorgearbeitet hatte." Es bedarf der Gedanken
und ihrer Ausbreitung im Volk, es bedarf der Tüchtigkeit des Volks und
zugleich der leitenden Männer. „So hat der Staatskünstler Bismarck zeigen
können, daß und wie man die Politik zu einer grohstilifirten Kunst der natio¬
nalen That zu machen vermöge, und der Kriegskünstler Moltke hat bei den
größten aller Zeiten seinen Stand genommen." Scherr bekennt offen, daß was
die deutschen Patrioten mit Ausschluß der Phantasie 1848 gewollt, heute er¬
füllt sei. Er schmollt nicht darüber, daß es auf anderem Wege geschehen als
viele gedacht. Der Fürstencongreß 1863 hatte die Einigung nicht gebracht,
und eine demokratische Revolution wer hätte die machen sollen? „Wie. wo,
wann, womit? Etwa aus dem Stegreif, auf der Bierbank, zwischen Früh-
und Vcsperschoppen und mittels Phrasen? Ah man kennt die Schwätzer, die
sich gegenseitig als große Männer beweihrauchten, aber nichts vor sich hatten
als ihre Dummheit, nichts in sich als ihre Eitelkeit, und nichts hinter sich
als die Makulatur ihrer Winkelblätter." Scherr bleibt für sich Republikaner-
aber er sieht, daß Deutschland zur Zeit monarchisch gesinnt ist; — und eine
niederbairische, oberpfälzische Republik der vo v Klerus gegängelten Bauern.---
davor sind wir Gottlob! noch sicher! Er stellt das Vaterland über die Par¬
tei, wie so viel tüchtige Männer. Demokraten und Großdeutsche, mit ihm ge-
^Han. „Um was es sich für denkende Männer handelt, ist die gewonnene
nationale Basis, nicht weil , sondern obgleich sie preußisch angestrichen ist,
festzuhalten und darauf weiter zu bauen. Das scheint mir verständiger und
patriotischer zu sein als mit schiefgezogenem Maul in einem Winkel zu stehn
und in lächerlich ohnmächtigem Groll zu greinen : Wir thun nicht mit, weil
der Ball schwarzweißroth statt schwarzrothgelb gefärbt ist! Die Hauptsache
ist doch wohl, daß man überhaupt einmal einen tüchtigen Ball hat, womit
man werfen und treffen kann."
Indeß Scherr selber fragt: „Hat die Größe des Kampfpreises die Opfer
vollständig gedeckt?" und er antwortet mit einem trocknen Nein. Mit freu¬
digem Stolz weist er auf die Ausrufung des deutschen Kaisers im Schloß
von Versailles, aber er beklagt, daß das ein militärisches Schauspiel geblieben,
das Volk sei nicht mit dabei gewesen. Nun, es war eben ein Krieg; wir
Volk daheim aber haben wenigstens im Süden unablässig gearbeitet, daß das
Reich noch vor dem Frieden aufgebaut werde, und waren mit Kopf und Herz
dabei, wenn auch uneingeladen. und es hat das keinen verdrossen. Wir haben
darum auch jenen Uhland'schen Tropfen demokratischen Oeles an der Kaiser¬
krone nicht vermißt; der war schon da, als der sieggekrönte König von Preußen
1866 von der Kammer dennoch Indemnität für ein Verfahren forderte, das
gegen den Willen der Kammer so großen Erfolg gehabt und durch die.That ge¬
rechtfertigt war; wir sahen ihn darin, daß die Reichsverfassung mit den ohne
alle Beschränkung vom Volk gewählten Männern berathen und beschlossen ward.
Sie soll nach Scherr ein leidiges Stück- und Flickwerk sein. Aber sie paßt auf
den Leib des Volkes und des großen Stammes, der sie entwarf und ausführte ;
das ist besser als eine vom Verstand regelrecht nach der Theorie gezeichnete
Schablone, der das Leben dann sich anbequemen soll. So bekennt denn
auch Scherr, daß die sehr gekünstelte Maschine für die politische und wirth¬
schaftliche Entwicklung des Reichs schon Vorzügliches geleistet hat; er hätte
hinzufügen sollen, daß auch das deutsche Rechtsbuch schon in Angriff genommen
ist; und wenn er nicht ohne Besorgniß meint, das gehe so gut unter dem
Obermaschinisten Bismarck, aber die Menschen seien kurz-, die Einrichtungen
langlebig, so wollen wir es der Zukunft überlassen, daß sie die Einrichtungen
den Menschen anpaßt. Indeß Scherr fordert den Einheitsstaat statt des Fö¬
deralismus; die Kleinwirthschaft wolle nirgens mehr gedeihen, auch in Ame¬
rika und der Schweiz gehe man dem Einheitstaate zu. und so hätte man in
Deutschland mit dem Siegesschwert die Vielstaaterei ein für allemal weg¬
schlagen sollen, — doch offenbar gegen den Willen der großen Mehrheit des
Volkes, nicht blos der Regierungen! Nein, wir wollen fortfahren in Deutsch¬
land erst geistig, in Wissenschaft und Dichtung wie in politischer Debatte zu
untersuchen was uns frommt, unsre Ziele und Wünsche zu formuliren. und
dann zur Ausführung zu schreiten ; das geht etwas langsamer, aber es ist
das Vernünftigere, und gegenwärtig ist für die überwiegende Mehrheit in
Deutschland der Bundesstaat die Losung, und zwar mit dem Augustinischen
Motto : In Not:ö8sg.i-us nullus, in Äudiis libörws, in oiniübus earitas! Freilich
gehört guter Wille dazu, und erschwert uns der Ultramontanismus und
eine reichsseindliche rothe Internationale die Sache.
Da weist denn auch Scherr aus den großen Unterschied des französischen
und deutschen Klerus hin. Die katholischen Geistlichen in Frankreich sind vor
allem Franzosen, der Ultramontanismus soll ihnen z. B. nur bei der Revanche
helfen, dann denken sie Rom doch unter Paris unterzuordnen; Deutsche aber
wollen mit Hilfe Roms, ja Frankreichs, das eigne Reich brechen, wenn wir
nicht nach Canossa gehen; sie verleugnen alles Beste und Schönste, was
der deutsche Genius geschaffen.
„Wenn uns etwas stolz machen darf, so ist es der gegen uns gerichtete
Haß der Unwissenheit, der Scheinheiligkeit, der Pfafferei und der gedankenlosen
Phrasendrescherei." Zur letztern zählt Scherr die Stimmen der liberalen Presse
gegen die russische Allianz; daß die französischen Republikaner eine solche
suchen das ist schon recht, aber Deutschland soll mit „dem verabscheuenswerthen
Kirchenstaat" keine Freundschaft haben. Indeß Alexander II., der Bauern¬
befreier, sieht das Ansehn Rußlands steigen, weil er das Culturwerk Peter's
des Großen mit Ernst und Aufrichtigkeit fortsetzt, und da zum Fortgang
dieses Werks Rußland des Friedens in Europa bedarf, so wird dieser durch
die deutsch-russische Allianz gesichert.
„Vorwärts! dies kurze deutsche Wort, welches wie ein Trompetenstoß
klingt, ist der sprachliche Ausdruck des weltgeschichtlichen Entwicklungsgesetzes.
Vorwärts! Langsam, aber rastlos, rüstig und regelrecht rollt das Rad der
Zeit, unbekümmert (??) um die beiden Hände, welche, eine schwarze und eine
rothe, von verschiednen Seiten her täppisch in seine Speichen zu greifen sich
bemühen. Die schwarze Hand möchte das Rad in weit hinter uns liegende
barbarische Finsternisse zurückwenden, aus welchen der Fels Petri gespenstig
lächerlich und der Scheiterhaufen des heiligen Arbues drohend aufragen. Die
rothe Hand will das Rad holterpolter den Berg hinunterjagen, und drunten
mitten in den pestilenzialischen Sumpf der Phalanstereherrlichkeitslüge, der
freien Liebe und anderweitiger Bestialität hinein. Der schwarze Jesuitismus spe-
culirt auf die Dummheit und Unwissenheit, der rothe auf die Selbstsucht und Ge¬
nußgier. Und beiden leistet eine gedankenlose, vermaterialisirte, im Dünkel stupid
gewordene PseudoWissenschaft eifrige Handlangerdienste. Das von einem gelehrten
Stubenhocker, welcher sein lebelang jede Berührung mit dem Volk ängstlich ver¬
mieden hat, erhobene Geplapper: ästhetische Anschauungen könnten und müßten
den Menschen, den Massen die religiösen Vorstellungen ersetzen, hat den Pfaffen
schon unzählige Schafe in den Kirchenpferch gejagt. Eines garstigen Tages
dürfte die „zahlungsfähige Moral" sich zu ihrer nicht geringen Ueberraschung
bankerott sehen, und dürfte der liberale Bildungsphilister, „der Träger der
Intelligenz und des Besitzes", sich genöthigt finden, an die vereinigten Syllabuse
des Pio Nouv und des Feist Löb zu glauben".
Daß in diesem doppelten Culturkampf nur geistige Bildung und sittliche
Zucht, nur der werkthätige Glaube an das Evangelium der Arbeit uns vor
dem Verfall retten und Deutschland weiterführen, den Sieg gewinnen können,
das weiß Scherr, darum will er, daß das Reich sich immer mehr der Volks¬
schule annehme; „die entscheidenden Schlachten in diesem Krieg werden nicht in
Ministercabinetten und Parlamentssälen, sondern in den Schulstuben geschlagen
werden". Nur die pflichttreu geführte Schule kann der furchtbar um sich
greifenden Verwilderung der Massen wirksam entgegenarbeiten. Jede Lehrstunde
in Physik oder Chemie arbeitet dem Syllabus entgegen; aber ebenso noth¬
wendig ist die sittlichreligiöse Erziehung gegen die Irrlehre des Socialismus.
„Wenn sich gegen den breitspurig einherwälzenden, alles vergemeinernden ver¬
schlammenden, versumpfenden und verpestenden Strom des Materialismus nicht
eine ideale Gegenströmung aufmacht, nicht bald und gewaltig aufmacht, so
wird das deutsche Reich nicht ausgebaut, der deutsche Rechtsstaat nicht
begründet, das dem romanisch-katholischen Autoritätsprincip entgegenzu¬
stellende germanisch-protestantische Freiheitsprineip nicht in Thätigkeit gesetzt
werden."
Die Hinwendung unsrer Zeit auf die materiellen Interessen, auf Er¬
forschung und Ausbeutung der Natur hält Scherr für kein Unglück, vielmehr
für heilsam, „weil die Expansion der Civilisation eine entsprechende Erwei¬
terung ihres materiellen Fundamentes schlechterdings voraussetzt, weil die
materielle Entwicklung den Kreis derer, welche für den Genuß der Güter des
Lebens und des höchsten derselben, der Bildung, befähigt sind, nothwendig
von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde erweitert, die
Elasticität des Menschengeistes ins Unendliche steigert, die Hilfsmittel der Ge¬
sellschaft vermehrt und so allmählich der Gesamtheit der Menschen eine mensch¬
liche Existenz zu schaffen verspricht, welche eben als solche die Neubethätigung
idealer Stimmungen und Kräfte in sich begreift". Die Ausschreitungen des theore¬
tischen Materialismus, meint er am Schluß der Culturgeschichte, werde die
sittliche Kraft unsrer Nation unschwer zu bändigen wissen; aber die Blätter
im Winde finden die Sache doch bedenklicher. „Kein unbefangner und ge¬
recht Urtheilender wird verneinen, daß die Folgen der von Kathedern und
Dächern und Entsteinen gepredigten materialistischen Weltanschauung in trau¬
rigster Weise sich spürbar machen. Wie ein hungriger Wolf geht der Genu߬
teufel um, und die Zahl seiner Anhänger heißt auch in Deutschland Legion.
Mas Geist? Aas Ideal? Das Gold ist der Gott und die Lust das höchste
Gut, die Tugend ist ein Thorenwahn. Wenn wir ausgeschwindelt und cms-
geschwelgt und die Bitterkeit der,j Daseinshefe unsern Lippen naht. dann
her mit der Cyankaliphiole oder dem Revolver! So die höllische Botschaft
und ihr Pesthauch hat auch schon angefangen die Zukunftssaat, die Jugend
zu vergiften." Aber wir müssen durch, und sollte die Schlammfluth aufs
ärgste toben; die Noth, die ihr folgen müßte, würde der Menschheit ihre
Sünden des Hochmuths abbüßen lassen, die besseren Kräfte, alles „was sterblich
nicht in uns", zu neuer Thätigkeit wecken, und unter Anrufung der unzer¬
störbaren Ideale, det'Ideen des Rechten und Schönen, würde die Culturarbeit
von frischem beginnen.'
In diesem Sinn ist von mir und einigen Gesinnungsgenossen öfters
geredet worden. Uebereinstimmend mit uns bekennt Schein „Der Menschheit-
tiche Lebensproceß bedarf nicht nur stofflicher, sondern auch südlicher Elemente.
Am Ende ist es doch immer wieder der menschliche Gedanke, weint)."r die An-
triebe materieller Nothwendigkeit civilifatvrisch wirksam macht. Ideen, Ideale,
Götter müssen sein, die Kraftstoffel mögen dagegen toben wie sie wollen.'
Die menschliche Gesellschaft kann die Religion nie und nirgends entbehren,
sie ist der Zdeallsmus des Volkes, sie bleibt das einzige Mittel, wodurch es
sich mit der idealen Welt, die ein sehr reales, eulturgeschichtliches Motiv ist.
in Beziehung setzen kann."
Aber wie in aller Welt kommt Scherr dazu, die Ideale für Illusionen
zu erklären, sich in Aeußerungen folgender Art zu gefallen, fast möchte man
sagen, sich damit zu brüsten. wenn man ihn in eine Classe mit mundfertigen
Feuilletonisten und andern Halbgebildeten setzen dürfte, die er selber be¬
kämpft? „Die höchsten Aufschwünge des Menschengeistes, die edelsten Jnstincte
und die süßesten Affecte der Menschenseele, die Fanatismen der Religion und
Politik, die verzückte Muth der Andacht und die keuschen Wonneschauer der
ersten Liebe, die blendenden Illusionen der Begeisterung und die stolzen
Triumphe der Wissenschaft, in den Himmel hinausfliegende Lust und in die
Erde sich hinabwühlendes Leid, der stachelnde Hunger nach Rang und Reich¬
thum, der lechzende Durst der Ehrsucht und die Sättigung mit Ruhm, der
berauschende Hochmuth der Herrschaft und der entzückende Traum von Frei¬
heit, Wahrheit und Gerechtigkeit, das Hochgefühl der Tugend und die Hoff¬
nung der Unsterblichkeit: - Seifenblasen'. ... Der Mensch hungert und
dürstet nach Illusionen. Weil sein Dasein ein schwerer Traum, fühlt er sich
unwiderstehlich getrieben die Schwere dieses Traumes der Wirklichkeit mittels
Träumen der Phantasie etwas zu erleichtern. Täuschung, Wahn, Lüge sind
sür M unavweisliche, weil naturnothwendige Bedürfnisse. Die höchste Illu¬
sion der Menschheit, das Gottesbedürsniß, erlischt nur mit ^hr selbst . - -
Allzeit will die Welt belogen und betrogen sein, was ganz naturgemäß und
logisch, sintemal sie selber eine große Lüge und ein plumper Betrug ist."
Scherr möge sich nur einen Augenblick daran erinnern, wie das Gesetz
der Gravitation, das im ganzen Universum herrscht, ein vernunftnothwendiges
ist. wie das organische Leben im gesetzlich harmonischen Ineinandergreifen der
unorganischen Kräfte sich aufbaut, wie das All in den für sich selbstbestehenden
Wesen empfunden und gewußt wird, um wenigstens darüber zu erröthen, daß
er die Natur für Lug und Trug ausgiebt. Aber wir sind selbst Naturwesen,
um das Gute zu verwirklichen, um durch eigne Willensthat ein Reich der
Freiheit aufzubauen, die sittliche Arbeit, die Selbstvervollkommnung ist unsre
Bestimmung, sie unsre Glückseligkeit. Das ist Wahrheit, nicht Lug und Trug,
das erkennt Scherr anderwärts selbst, wenn er den Vervollkommnungsdrang
und Glückseligkeitstrieb unsre großen, wahrhaft heiligen Nothhelfer nennt, die
uns die Gegenwart tüchtig fassen und führen lehren, wenn er mahnt unsre
Stelle auszufüllen, unsre Pflicht zu thun, Selbstbescheidung und Erbarmen
zu üben, wenn er selber so schön sagt: „Wie der biblischen Dichtung zufolge
die Feuerwolke den Kindern Israel vorwandelte, nächtlicher Weile den Weg
der Wüste ihnen zu weisen, so leuchteten und leuchten die Ideale der Mensch¬
heit voran beim Vorschritt aus der Nacht der Barbarei in die leise an¬
brechende Morgendämmerung der Humanität." Er selber läßt einen Funken
vom Centralfeuer in den Erdenkloß fallen, den Idealismus Licht in die
Masse bringen, und citirt Goethe's Verse nach dem Spruch des griechischen
Weisen:
Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Wär' in uns nickt des Gottes Kraft
Wie könnt' uns Göttliches entzücken?
Er selbst erkennt eine sittliche Weltordnung, eine Vernunft in der Ge¬
schichte an, gerade indem er behauptet, die Weltgeschichte arbeite nicht mit
Moral, sondern mit Nothwendigkeiten und Interessen: denn er setzt hinzu:
„Diese werden durch die menschlichen Leidenschaften, die guten wie die bösen,
flüssig und für die große, das Dasein der Menschheit beseelende Entwicklungs¬
idee verwandt." Und doch alles Seifenblase und Lug und Trug: Phidias
und Shakespeare, Jesus und Muhammed. Newton und Kant, Goethe, Schiller
und das Gottesurtheil am Tag von Sedan? Hungern und dürsten wir
wirklich nach Idealen und sind sie uns nothwendig wie Speise und Trank,
dann sind sie so wenig Illusionen wie Brot und Wein. Was wissen wir
denn unmittelbar und was ist uns unzweifelhaft gewiß? Unser Selbst, unsre
Empfindungen und Gedanken. Aus unsern Empfindungen (des Lichts, des
Tons, des Geschmacks, der gesammten Bewegung, des Gestoßenseins) schließen
wir auf Dinge außer uns, die sie veranlassen ; ebenso aus Gedanken und
sittlichen Thaten auf selbstseiende Wesen, die sie hervorbringen, aus dem Ge¬
bot der Pflicht, der Unterscheidung von Gut und Bös auf eine sittliche
Weltordnung, aus unserer Unbefriedigung am Endlichen auf ein Unendliches,
und nur darum können wir etwas mangelhaft und unvollkommen meinen,
weil die Kategorie des Vollkommenen als Gesichtspunkt und Richtmaß der Be¬
urtheilung in uns liegt. Nur dadurch ist der Vervollkommnungsdrang, die
Selbstvervollkommnung möglich. Den Werth der Ideen und Ideale fühlen
wir in der Beseligung, die sie uns gewähren, unsre Menschenwürde beruht
auf ihnen, wir sind durch sie ethische Naturen, und vermögen um dieses Adels
willen die sinnlichen Güter und Genüsse, ja das ganze Sinnendasein zu opfern;
und sie sollten nicht dieselbe Realität haben wie Anschauungen der Sinnen-
Welt? Der Vernunftschluß auf Dinge außer uns von unsern Empfindungen
und Anschauungen aus nach dem Causalgesetz ist nicht berechtigter als der
Vernunftschluß auf die Seele und auf Gott aus unserm Selbstgefühl und aus
den Ideen des Guten. Wahren und Schönen, aus unserer sittlichen Selbst¬
erfahrung, aus Gewissen und Selbstvervollkommnung.
Wie löst sich der Widerspruch bei Scherr? Eine wohlaufzuwerfende
Frage, da ein ähnlicher Widerspruch sich bei vielen Zeitgenossen findet. Scherr
ist Idealist mit dem Herzen, seine Praxis ist besser wie seine Theorie, in der
Welt, die er einen Humbug schimpft, kämpft er für Menschenwürde und
Menschenwohl, unbestechlich, unerschütterlich, mit dem Muthe der Ueber¬
zeugung, mit der Treue für das Ideal. Aber er hat wahrscheinlich einmal
Feuerbach und Schopenhauer gelesen und ihren blendenden Behauptungen
sich gefangen gegeben, und es schmeichelt ja dem Menschen ein Titane zu sein,
in Freigeistern den freien Geist zu erweisen, das weiß Jeder aus seinen Stu¬
dententagen. Dabei liebt Scherr die burschikose Redeweise. Schwerlich ist
er dem Entwicklungsgange der neueren Philosophie so gefolgt, daß er Schriften
von Ulrici (Gott und Natur, eben in dritter Auflage erschienen), Fichte,
Lotze und Andere unbefangen und gründlich studirt hat. Sind aber die
Ideale Täuschung, dann hat der Materialismus des Kopfes und Herzens
Recht, und wir sind schwachköpsige Thoren. Ist der Mensch, wie Feuerbach
sagt, was er ißt, dann hat der Idealismus keine Berechtigung. Aus der
Halbheit müssen die Zeitgenossen heraus zum Jdealrealismus, und da stütze
ich mit Kant die Realität des Idealen auf das Gewissen das sittliche Selbst¬
M. Carriere.
Die Gegner der Meinung, daß außer der Erde auch die andern Himmels¬
körper und zunächst die Planeten sowie deren Monde lebende und denkende
Bewohner haben, machen gegen dieselbe geltend, daß die Erde im Sonnen¬
system eine bevorzugte Stelle einnehme, die sie allein für solche Wesen geeignet
erscheinen lasse. Flammarion entkräftet diesen Einwurf. Die Erde ist, wenn
Wir die Entfernungen der Planeten von der Sonne ins Auge fassen, weder
der erste, noch der mittelste, noch der letzte der Planeten des Systems, dem
sie angehört; denn sie kreist dreimal weiter als der Merkur und dreißig Mal
Weniger weit als der Neptun von der Sonne, der Punkt aber, welcher den
Mittleren Abstand von jener bezeichnet, liegt zwischen den Bahnen des Saturn
und des Uranus. Forschen wir nach der Menge des Lichts und der Wärme,
welche die Planeten von der Sonne erhalten, so finden wir. daß dieselbe auf dem
Merkur sieben, auf der Venus zweimal größer, auf dem Mars halb so groß, auf dem
Jupiter 27, auf dem Saturn 90, auf dem Uranus 360 und auf dem Neptun
900 Mal geringer ist als auf der Erde. Die Entfernungen der Planeten
vom Quell des Lichtes und der Wärme bestimmen eine abgestufte Verringe¬
rung der Temperatur auf ihren Oberflächen vom Merkur bis zum Neptun.
Der Einfluß der innern Wärme der Erde auf ihre Oberfläche, einst ohne
Zweifel sehr bedeutend, ist jetzt im Vergleich mit der. welche ihr die Sonne
spendet, kaum merkbar. Sehr wohl möglich ist aber, daß bei andern Plane-
ten das Centralfeuer noch sehr mächtig auf die an ihrer Oberfläche sich zeigenden
organischen Erscheinungen einwirkt. Ferner können die Atmosphären der
andern Planeten so eingerichtet sein, daß sie die Sonnenstrahlen zur Erwärmung
und Erleuchtung derselben mehr oder weniger durchlassen und die durch Wärme¬
ausstrahlung entstehende Abkühlung mehr oder weniger verhindern als die
Atmosphäre der Erde. Endlich kann die Empfänglichkeit der andern Planeten
für Licht und Wärme, die Höhe der Gebirge, die Vertheilung der Feuchtig¬
keit auf denselben und vieles Andere, was hier in Betracht kommt, anders
few als auf unserm Weltkörper. Genug, alle Einwürfe, die sich auf große
Nähe oder Entfernung der andern Himmelskugeln unseres Systems stützen und
darauf hin das Vorhandensein lebender Wesen auf gewissen Welten leugnen, indem
dieselben entweder verbrennen oder erfrieren würden, sind werth- und gewicht¬
los. Die Natur kann entweder dem Zustand des Planeten entsprechende
lebende Wesen hervorbringen oder das Uebermaß der solchen Wesen gewöhn-
lich ungünstigen Verhältnisse mildern. und so zeichnet sich die Stellung der
Erde vor derjenigen der übrigen Planeten in keiner Weise aus.
Sodann ist die Erde auch darin kein vornehmeres Gestirn, daß sie einen
Mond besitzt; denn gewisse Planeten sind von mehrern Monden begleitet,
die in wirksamerer Weise als der unsere ihre Nächte erhellen, ihre
meteorologischen Verhältnisse beeinflussen und sich sonstwie dienstbar er¬
weisen.
Ferner zeigen alle andern Planeten, die kleine Vesta ausgenommen, daß
sie eine Atmosphäre wie die Erde haben. Unsre atmosphärische Luft, aus
79 Theilen Stickstoff und 21 Theilen Sauerstoff bestehend, ist das erste und
unentbehrlichste Nahrungsmittel des Lebens für die Thiere und den Menschen
wie für die Pflanzen. Sie vermittelt die durch die Sinne bewirkte Wahr¬
nehmung der Außenwelt, Die Erde ohne Atmosphäre würde eine lautlose,
schweigende Welt sein, sie würde nur blendenden Sonnenschein und dicht da¬
neben rabenschwarze Nacht, keine Farben, keine Morgenröthe, keine Himmels¬
bläue kennen. Die Atmosphäre umschließt unsern Erdball wie ein Treibhaus,
ohne sie würden Licht und Wärme der Sonne in den Himmelsraum zurück¬
kehren, und die Erde würde eine todte Eiswüste werden wie die Gipfel und
Kämme des Himalaya und der Anden. Das Wasser endlich bildet den Haupt¬
bestandtheil aller im Haushalt der Erde wirksamen Flüssigkeiten, ohne das¬
selbe würden weder im Thier- noch im Pflanzenreiche organische Bildungen
und Umwandlungen stattfinden können. Die Existenz einer Atmosphäre ist
aber nothwendige Bedingung für die des Wassers, da jede Wasseransammlung
zu ihrem Entstehen und Bestand irgend einen atmosphärischen Druck verlangt.
Weltkörper ohne Atmosphäre würden wasserlos sein, und wäre das Leben
auf ihrer Oberfläche zum Vorschein gekommen, so könnte es nur in einer Ge¬
stalt entstanden sein und fortbestehen, die unvereinbar, ja unvergleichbar aus
den Aeußerungen des Lebens auf der Erde wäre. Nun haben aber, wie ge'
sagt, alle andern Planeten, die Vesta ausgenommen, Atmosphären. Auf
der Venus beweisen Dämmerungserscheinungen und wolkenartige Flecken das
Vorhandensein einer solchen, auf dem Mars erkennen wir sie an den Dünsten,
die über seinen Meeren aufsteigen, als Wolkenhausen fortschweben und die
großen Schneefelder an den Polen erzeugen, auf dem Jupiter und dem Sa¬
turn bemerken wir zu beiden Seiten des Aequators ähnliche Wolken, die in
ihrer Lagerung weiße Streifen bilden.
Wenn unser Autor von Atmosphären und Wasseransammlungen der
andern Planeten spricht, so meint er damit nicht die Luft und das Wasser
unsrer Erde, er glaubt vielmehr, daß dieselben hiervon wesentlich verschieden
seien, da die meisten unsrer Flüssigkeiten auf dem Uranus und Neptun wegen
der dort herrschenden Kälte zu festen Körpern erstarren, und manche unsrer
festen Körper auf dem Merkur und der Venus durch die diesen Planeten
eigenthümliche große Wärmemenge flüssig werden und verdampfen würden-
Auch aus der Betrachtung der Größen der Planeten ergiebt sich, daß
unsre Erde unter den Welten des Sonnensystems weder die kleinste, noch die
größte ist, noch dazwischen die Mitte hält. Mars ist in der Erde 7, die
Erde im Saturn 772, im Jupiter 1414 Mal enthalten. Wenn die Bewohner
anderer Welten gleich denen der Erde die Neigung haben, im Universum ein
Gebäude zu erblicken, das nur für sie errichtet sei, wenn sie sich einbilden,
sie seien der Zielpunkt der ganzen Schöpfung, wie viel mehr Grund als wir
haben dann die Bewohner der zuletzt genannten beiden großen und prächtigen
Himmelskörper, zu glauben, die andern Planeten seien nur ihretwegen da!
Wie viel mehr Grund haben sie, die vermuthlich in Betreff ihrer körperlichen
und geistigen Beschaffenheit eben so gut bedacht sind als hinsichtlich ihres
Wohnortes, sich für die Könige der Welt zu halten! In der That, vergegen¬
wärtigen wir uns die Größe des Saturn mit seinen Ringen und Monden
und die Riesenhafttgkeit des inmitten seiner Satelliten hinwandelnden Ju¬
piter, so können wir wohl mit Fontenelle ausrufen: „Wie könnte man bei
dem Anblick dieser staunenerregenden Massen dem Gedanken Raum geben,
alle diese gewaltigen Körper seien erschaffen, um unbewohnt zu bleiben und
nur die Erde erfreue sich eines Ausnahmezustandes? Mag dieß glauben, wer
^ will, ich meinerseits kann mich dazu nicht entschließen."
Gedenken wir endlich der Dichtheit der einzelnen Planeten, der Schwere
der Körper an ihren Oberflächen und des Gewichtes, welches ein jeder von
diesen Weltkörpern hat, so werden wir auch hieraus erkennen, daß die Erde
sich in keiner Weise vor den übrigen Gliedern des Sonnensystems aus¬
zeichnet. Die Dichtheit jedes Planeten wird nach der Vergleichung seiner
Masse mit seiner Größe berechnet, und seine Masse findet man aus dem Ein-
fluß, welchen die Glieder des ganzen Sonnensystems auf seinen Lauf ausüben.
So erhält man aber nur solche Bestimmungen, welche angeben, wie viel Mal
die Masse des einen Gliedes in der Masse des andern, z. B. in der Masse der Erde
oder die Masse der Erde in ihm enthalten ist. Nun ermittelt man in der That die
Masse der Erde, indem man die beschleunigten Schwingungen eines Pendels in der
Nähe eines großen isolirten Berges, dessen Masse man berechnet hat, beob¬
achtet und die Vermehrung der Geschwindigkeit derselben mit der normalen
Geschwindigkeit der Pendelschwingungen vergleicht, woraus sich denn das Ver¬
hältniß der Masse des Berges zur Masse der Erde und schließlich die Größe
Erdmasse selbst ergiebt, die sodann als Schlüssel zur Gewinnung der
Massen der übrigen Glieder des Sonnensystems dient. Aus der Zusammen¬
stellung der ausgerechneten Massen und der durch Beobachtung ermittelten
Größen der Glieder unseres Sonnensystems aber werden endlich die Zahlen
^stimmt, welche das Verhältniß der Dichtheit eines jeden Planeten zur Dicht¬
heit der Erde ausdrücken. Nehmen wir statt dieser Zahlen gewisse Substanzen
an. die der Dichtheit der einzelnen Planeten annähernd entsprechen, so würde
der Merkur aus Silber, die Venus aus Jod, die Erde aus Antimon, der
Mars aus Schwerspat!), der Jupiter aus Ebenholz, der Sarurn aus Ahorn,
der Uranus etwa aus Wachs und der Neptun aus Bernstein bestehen können.
Der Merkur hat demzufolge die größte Dichtheit, aber nur dieser Planet ist
dichter als die Erde, und unter den übrigen Planeten ist der Saturn am
wenigsten dicht. Die Erde hat folglich auch in dieser Betrachtung keine Aus¬
zeichnung erhalten.
Bei Ermittelung der Schwere der verschiedenen Körper auf den Ober¬
flächen der Planeten, welche durch die Anziehungskraft der Massen derselben
verursacht wird, ist neben der Masse des betreffenden Weltkörpers immer auch
dessen Größe in Erwägung zu ziehen; denn die Gesammtmasse wirkt von dem in
ihrer Mitte gelegnen Schwerpunkte aus, und je weiter ein Gegenstand von diesem
Punkte entfernt ist, desto geringer ist die Einwirkung der ihn anziehenden Gesammt¬
masse aus ihn. Hieraus hat sich Folgendes ergeben: ein Gegenstand, der auf
der Erde 100 Pfund wöge, würde auf der Sonne 2840, aus dem Merkur
dagegen nur SO, auf der Venus 90, auf dem Mars wieder nur S0, auf dem
Jupiter am Aequator 217 und an den Polen 283, auf dem Saturn am
Aequator 75 und an den Polen 137, auf dem Uranus 76 und auf dem Neptun
blos 36 Pfund wiegen.
Ebenfalls von der Masse und Größe der Planeten ist die Geschwindig-
keit abhängig, mit welcher ein über deren Oberfläche befindlicher losgelassner
Körper nach dieser Oberfläche hinfällt, und zwar wird diese Geschwindigkeit
nach einem bestimmten Gesetze desto größer, je länger es währt, bis der Körper
die Oberfläche erreicht. Man bestimmt aber hierbei nur die Anfangsgeschwindig¬
keit, die in der ersten Secunde des Fallens. Ueber der Oberfläche der Erde
durchfällt ein Körper in der ersten Secunde Is Fuß, während er auf dem
Merkur nur 7. auf der Venus 14, auf dem Mars 7^, auf dem Jupiter
am Aequator 33 und an den Polen 41, auf dem Saturn am Aequator 14
und an den Polen 19, auf dem Uranus 11 und auf dem Neptun 20, auf
der Sonne aber 428 Fuß durchfällt. Auf letzterer würde uns ein Fa^
von der Höhe eines einzigen Fußes zerschmettern, während wir auf dem Mer¬
kur, wo wir nur die Hälfte des auf der Erde sich zeigenden Gewichtes haben,
und in der ersten Secunde nicht ganz halb so rasch als auf jener fallen, ohne
Schaden aus der zweiten Etage eines Hauses auf das Straßenpflaster hinab¬
springen könnten.
Fassen wir schlieMch die aus der Dichtheit und Größe folgende Schwere
der Sonne und der Planeten ins Auge, so finden wir, daß, nach Gewichten von
1 Billion Centnern gewogen, die Sonne über 54,000 Millionen, der Merkur
über 9000, die Venus mehr als 100,000, die Erde über 123,000, der Mars
mehr als 16,000. der Jupiter beinahe 45 Millionen. Saturn fast 12^ Mil¬
lionen, der Uranus nahezu 2 Millionen und der Neptun ziemlich 3 Millionen
solcher Gewichte schwer ist.
Ueberblicken wir nun die aus den Massen und Größen abgeleiteten An¬
gaben, so vermögen wir auch hier keinerlei Bevorzugung der Erde zu erkennen.
Wohl aber bemerken wir, daß die Dinge und Wesen aus manchen Planeten
sehr verschieden von den Dingen und Wesen der Erde gestaltet sein müssen,
wenn sie unter den dort stattfindenden Einflüssen der Masse und Größe Be¬
stand haben sollen. Doch folgt aus dieser Verschiedenheit keineswegs, daß die
Planetenwesen ohne geistiges Leben sind, ja die Menschen des Mars und der
Venus können denen auf der Erde sehr ähnlich sein. Schon auf der Erde
finden wir im Meere größere Thiere als auf dem Festlande. Jeder Körper
wird im Wasser um soviel leichter, als die Menge des Wassers wiegt, das
er durch sein Eindringen verdrängt, und so bewegen sich die Riesenthiere des
Oceans in ihrem Element viel leichter, als ihnen dieß auf dem Festlande
möglich sein würde, und diese Anschauung läßt sich leicht auf die Natur der
lebenden Wesen andrer Planeten übertragen. Von dem Augenblicke an, wo
die Bewegung der Erde und die Größe der feststehenden Sonne erkannt waren,
mußten die Astronomen und Philosophen es seltsam finden, daß ein so un¬
geheures Gestirn wie die letztere nur die Rolle einer Lampe und eines Ofens
für die kleine Erde zu spielen bestimmt sei, die fast unbemerkbar eingeordnet
ist in eine Reihe zum guten Theil viel größerer Planeten. Die Ungereimt¬
heit dieser Meinung trat noch klarer hervor, als man entdeckte, daß die Venus
ungefähr dieselbe Größe, dieselben Gebirge und Ebnen, Jahreszeiten und
Jahre, Tage und Nächte wie die Erde hat, und man schloß aus diesen Aehn-
lichkeiten, daß diese beiden Weltkörper wie in ihrer Gestaltung und Bewegung
sich auch nach ihrer Bestimmung im Universum ähnlich seien, mit andern
Worten, daß wie die Erde auch die Venus Bewohner haben müsse. Als man
aber dann die riesenhaften Welten des Jupiter und des Saturn, umgeben von
ihren glänzenden Monden und Ringen erblickte, wurde man unwiderstehlich
vor die Alternative gestellt, entweder jenen kleinen Planeten den Besitz lebender
Wesen abzusprechen oder dem Jupiter und Saturn Bewohner zuzuweisen,
welche in ihrer Natur denen der Erde und der Venus überlegen sind. Je¬
denfalls kann jetzt nur derjenige noch der Erde den obersten Rang unter den
Himmelskörpern anweisen und sie allein für den Sitz des organischen Lebens,
der Vernunft, der Cultur und der Geschichte halten, welcher mit dem Pastor
Knak der alten Ansicht huldigt, daß sie der feststehende Mittelpunkt
des Alls und dieses nur in Beziehung auf sie und ihre Bedürfnisse ge¬
schaffen sei.
Wenn alle Planeten, wie es scheint, sich eignen, gleich der Erde Träger
von Leben zu sein, so ist damit noch nicht bewiesen, daß die Bedingungen
welche den Lebenskeimen gestatten, sich zu entwickeln, und dem erwachten
Leben seinen Bestand sichern, wie der Erde so auch den andern Planeten zu¬
getheilt sind. Im Gegentheil sollte man meinen, daß hier beträchtliche Schwere
und Härte der Körper, dort übergroße Leichtigkeit und Lockerheit der Masse,
hier verheerende Gluth und blendendes Licht, dort eisige Kälte und ewige
Finsterniß dem Hervortreten des Lebens einen unbesiegbaren Widerstand ent¬
gegenstellen. Aber dieser Einwurf zerfällt in nichts, wenn man ihm entgegnet,
daß das Leben in Formen existiren kann, die mit den Formen des Lebens
auf der Erde nur wenig oder gar nichts gemein haben. Der Bewohner des
Merkur kann und muß nach der Gluth und der Lichtfülle, die dort herrschen,
der Bewohner des Neptun nach der Kälte und dem Halblicht dieses Gestirns
gestaltet sein und dennoch menschenartig empfinden und nach logischen Ge¬
setzen denken. Welch ein Unterschied schon zwischen den Wesen der Erde, dem
festgewurzelten Pflanzenthiere des Meeresbodens und dem Wandervogel, zwi¬
schen dem Rosse und dem Lurche! Welch eine Verschiedenheit selbst unter den
Stämmen und Racen der Menschheit nach Gestalt, Sitte und geistiger Macht!
Wie der Ort oder das Element, in dem die Erdenwesen leben, so sind diese
selbst, aber nirgends auf Erden, weder im Brande der Tropensonne, noch im
Eise der Polarregionen fehlt das Leben. Selbst in der Urzeit unseres Pla¬
neten, wo wegen der noch an dessen Oberfläche wirkenden innern Hitze keine
einzige der jetzt lebenden Thier- und Pflanzenarten existiren konnte, äußerte
sich auf ihm das Leben in verschiedenen den jeweiligen Entwickelungsperioden
desselben angemessenen, von Periode zu Periode anders und reicher werdenden
Gestalten. Die schöpferische Kraft der Natur weiß alle Hindernisse zu be¬
seitigen, indem sie sich in ihrem Schaffen denselben anbequemt. Zahllose Wasser¬
thiere erfreuen sich des Lebens in einem Elemente, wo andere Erdenwesen
ihren Tod finden würden. Amphibien gedeihen in einer Luft, wo höhere
Thiere und der Mensch nicht zu verweilen vermöchten. Der Adler, der über
den blendenden Gletschern der Alpen schwebt, richtet den Blick fest auf diese oder
auf die Sonne, ohne seine Sehkraft zu gefährden. Fische finden in den Ab¬
gründen des Oceans ihre Wege durch eine Nacht, wie wir sie auf der Ober¬
fläche der Erde nirgends so finster antreffen. Aus den Tiefen der See
hat das Senkblei Thierchen emporgehoben, die zweitausend Fuß unter dem
Meeresspiegel einem Wasserdruck von neun Centnern auf jeden Quadratzoll
Fläche ausgesetzt gewesen waren und sich doch in ihrer Art wohlbefunden
hatten. Wenn wir solche Beweise von der Unerschöpflichkeit und Unwider¬
stehlichkeit der schaffenden Naturkraft vor uns sehen, so dürfen wir auch über¬
zeugt sein, daß sich dem Hervortreten des Lebens auf den Planeten, deren
Bewohner unendlich verschieden sein können, nichts mit Erfolg entgegenstellen
kann. Der Bewohner des Neptun wird ein ganz anders Wesen sein, als der
des Merkur oder der Erdenmensch, aber Bewohner überhaupt werden diese
und alle andern Gestirne haben oder gehabt haben. Wenn wir eine richtige
Vorstellung von dem Wirken der Naturkraft haben, so wissen wir. daß die
der Sonne am fernsten stehenden Planeten im Verhältniß zu der ihnen eigen¬
thümlichen Organisation genau so viel Licht und Wärme empfangen, als dem
Merkur und der Erde im Verhältniß zu ihrer Beschaffenheit zu Theil wird,
und daß wir also durchaus nicht berechtigt sind, von weiter Entfernung von
der Sonne auf Unbewohntheit zu schließen. Wir erkennen serner, daß die in
der Masse dieses oder jenes Planeten vorhandenen Grundbestandtheile ver
Bewohnbarkeit ebenso wenig widerstreiten können, als die Elemente der Erde
unsre Existenz ausschließen. Sagt man, das Wasser würde in manchen Welten
nur als Dampf, in andern nur als Eis vorhanden sein können, die Mine¬
ralien würden dort geschmolzen, hier so hart sein, daß von Ackerbau und
Künsten nicht die Rede sein könne, so hätten solche Einwürfe nur Anspruch
auf Geltung, wenn sich auf allen Planeten die Bestandtheile der Erde wieder¬
fänden, was wissenschaftlich nicht erwiesen ist. Mögen die Untersuchungen
mittelst der Spectralanalyse aber auch in den Planeten Grundbestandtheile
zeigen, die den Substanzen der Erde gleichen, immer dürfen wir überzeugt
bleiben, daß auch die fernsten Planeten solche Elemente besitzen, die gemäß
ihrer Beschaffenheit organische Geschöpfe entstehen und bestehen lassen. Nur
seien wir vorsichtig hierbei; denn die Natur kann Gestirne haben, die aus¬
schließlich zum Dienst für andere da sind, und sie kann Welten enthalten,
die sich erst zur Bewohnbarkeit herausbilden oder dieselbe bereits wieder
verloren haben.
Das Meer bietet nach Humboldt bei tieferer Ergründung seines Innern
vielleicht eine reichere Fülle des organischen Lebens dar als das Land. Unsre
Wälder bergen nicht so viele Thiere als die niedrige Waldregion des Oceans;
in Tiefen, welche die Höhe unsrer mächtigsten Gebirgsketten übersteigen, ist
jede der aufeinander gelagerten Wasserschichten mit polygastrischen Seegewür¬
men, Cyklidien und Ophrydien belebt. Ein Sonnenblick genügt, um in einem
Tropfen ^Süßwassers Schwärme von winzigen Thierchen zu beleben. Im
Mineralreiche wimmeln Legionen von Wesen; auf den Blättern des Pflanzen¬
reiches weiden andere Legionen, selbst auf Thieren nähren sich zahllose Thiere,
und während auf Erden allenthalben das Leben in Ueberfülle quillt und
fluthet, sollten die Regionen der Planetenwelt, obwohl denselben astrono¬
mischen Gesetzen unterworfen, wie die Fluren unsrer Erde, düstere, lautleere,
frucht, und zwecklose Wüsten sein? Alle Wunder der Schöpfung wären auf
den Punkt gehäuft, den man Erde nennt, alle Weltkörper außerhalb dieses
Punktes wären nur ein Haufe trag und todt durch den Raum schwebender
Klumpen von Materie? Nein, selbst nur unbedeutende Wesen auf dem Schau-
platze der Schöpfung, haben wir das Unendliche unter uns in der mikrosko¬
pischen Welt der lebenden Organismen und ebenso über uns in den tele¬
skopischer Welten des Himmels. Wie es unter dem Menschen eine zahllose
Menge Geschöpfe giebt, auf deren Vorhandensein wir schließen, ohne uns
durch die Sinne überzeugen zu können, so ist auch der unermeßliche Him¬
mel mit Welten und Wesen bevölkert, die wir nie mit Augen schauen
werden.
Die uns unbekannten, in jenen verschiedenen Himmelsstätten gebornen
Menschen unterscheiden sich wie gesagt, von uns ohne Zweifel in ihrer phy¬
sischen Organisation, im Zustand ihrer Einsicht und Willensrichtung, in der
Entwicklung ihres Einzellebens und in der Fortbildung ihrer Gesammtheit,
d. h. in ihrer Geschichte. In dem engen Beobachtungskreise, in den wir ge¬
bannt sind, wäre es thöricht, die Organisation der Bewohner des Mars, der
Venus, des Jupiter u. s. w. sich als nach dem Grade geordnet vorzustellen,
in welchem diese Planeten dem unsern ähnlich sind. Unsre Betrachtung zielt
nur auf den allgemeinen Organismus, der auch auf der Erde verwirklicht ist, und
der sicher auf andern Weltkörpern unter glücklicherer Vereinigung der zu seiner
Herausbildung erforderlichen Verhältnisse einen entsprechenderen Ausdruck
erhalten hat.
Je länger und gleichmäßiger die Jahre und Jahreszeiten auf einem Pla¬
neten sind, desto günstigere Bedingungen bietet er den auf ihm lebenden Or¬
ganismen für die Verlängerung ihres Lebens, und umgekehrt, je kürzer jene
Perioden auf einander folgen, desto schneller werden diese Organismen ihre
Lebenskräfte verbrauchen. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, steht die
Erde hinter mehreren andern Planeten zurück. Bekanntlich sind bei den um
die erleuchtende und erwärmende Sonne kreisenden Planeten die Dauer der
Jahreszeiten, die Klimate und die Länge der Tage und Nächte von der
Stellung abhängig, welche die Achse der täglichen Umdrehung der Erde zur
Ebne der Jahresbahn hat. Wenn diese Achse senkrecht auf der Ebne der
Bahn steht, wird das Maß der Erleuchtung und Erwärmung an jedem Orte
des Planeten das ganze Jahr hindurch dasselbe sein, die heiße Zone wird sich
auf die Aequatorlinie, die kalten Zonen werden sich auf Pole beschränken, und
es wird vom Aequator bis an die Pole eine den Breiten entsprechende Ab¬
stufung der täglichen Wärmemenge statthaben, sodaß an jedem Orte das ganze
Jahr hindurch eine und dieselbe Temperatur herrscht. Der dem Leben der
Pflanzen und Thiere nachtheilige Temperaturwechsel wird also hier nie ein¬
treten , vielmehr werden Gewächse und Thiere, die am Aequator entstanden
sind, unaufhörlich in der ihnen zuträglichen Hitze, die in mittleren Breiten
erzeugten ununterbrochen in der ihrer Natur entsprechenden mittleren Wärme,
und die den Polarregkonen entsprossenen stets in der ihrem Wesen zusagenden
Kälte verweilen und durch diese Unveränderlichkeit ihr Gedeihen gefördert und
ihre Lebensdauer verlängert sehen. Tag und Nacht werden bei dieser Stellung
der Achse an allen Orten einander fortwährend gleich sein, und auch dieser
Umstand wird dem Bestände des Lebens nützen. Wenn hingegen die Dreh¬
ungsachse in der Bahnebne selbst liegt, so werden während des Jahres die
grellsten Gegensätze in der Erwärmung und Erleuchtung entstehen. In un¬
aufhörlicher Wiederkehr werden allerorten die kältesten Winter auf die hei¬
ßesten Sommer folgen, während des Winters wird lange Zeit finstre Nacht
Herrschen und während des Sommers ebenso lange eine blendende Sonne
leuchten. Lebende Organismen werden bei solchen Zuständen nur kümmerlich
ihr Dasein fristen, ja ganze Gattungen von Thieren und Pflanzen werden
dabei zu Unmöglichkeiten für den betreffenden Himmelskörper werden. Die
Erde steht zwischen diesen Gegensätzen in der Mitte: die Drehungsachse der¬
selben weicht nämlich um 23^ Grade von der senkrechten Stellung ab, und
daraus entstehen auf der nördlichen wie auf der südlichen Hälfte der Erde
die bekannten drei Zonen: die kalte, in welcher zu bestimmten Zeiten die
Sonne nicht über den Horizont steigt, die heiße, wo an zwei Tagen des
^"bref die Sonne senkrecht über den Bewohnern steht, und die zwischen diesen
beiden Zonen liegende, die wir die gemäßigte nennen. Während nun die
Muth der heißen Zone dem Thierleben einen schnelleren Verbrauch der Lebens¬
saft und ein rascheres Erblühen und Vergehen verursacht, ist der Frost der
kalten Zonen mit den Bedürfnissen der Organismen und der Bethätigung
des Lebens unvereinbar. Die Stellung der Drehungsachse oder, wie man
"und sagt, die Schiefe der Ekliptik übt also einen wesentlichen Einfluß auf
die Bedingungen der lebenden Wesen der Erde aus, und wenn sie sich ver¬
minderte, so würden Zustände eintreten, welche der Bewohnbarkeit der Erde
Kunstiger wären. Solche Zustände aber finden sich auf andern Planeten.
le Jahreszeiten weisen dort eine geringere Temperaturverschiedenheit auf,
die Klimate der Hemisphären sind dem Leben zuträglicher abgestuft, die
ages- und Nachklängen sind weniger ungleich als bei uns. So aber wird
) er das Leben in einem vorzüglicheren Zustande hervortreten, seine Kräfte
werden sich f^ier und nachhaltiger entwickeln, und es werden Geschöpfe ent¬
standen sein, die geeignet sind, in einer beständigen Prachtfülle zu leben. Der
erkur, die Venus und der Uranus haben wegen der sehr schiefen Stellung
Mr Drehungsachse zu ihrer Bahn sehr scharf ausgeprägte Klimate und
Jahreszeiten. Saturn und Mars gleichen in dieser Beziehung so ziemlich der
e, der Jupiter aber ist eine besondere, vor allen übrigen Planeten hierin
^vorzugte Welt: er erfreut sich während seines zwölf Erdenjahre dauernden
wahres allerorten einer und derselben Jahreszeit. Tag und Nacht sind auf^->v>
ihm allenthalben stets von gleicher Dauer, die jeder Breite zugetheilten Kli¬
mate herrschen in harmonischen Abstufungen vom Aequator bis zu den Polen-
Dieser riesige Himmelskörper zeigt sich in dieser Beziehung als im hohen
Grade begünstigt, er ist die Verwirklichung des Traumes, welchen unsre
Dichter träumten, wenn sie in der Vergangenheit der Erde oder in der fernen
Zukunft derselben sich ein goldnes Zeitalter ewigen Frühlings mit tausend
Wonnen dachten.
Die Erde ist nicht das Jammerthal, zu der sie manche machen, sie ist
aber auch nicht die beste der Welten. Von verschiedenen Seiten her kämpft
hier die Natur gegen den Menschen, und wenn es wahr ist, daß derselbe
hierdurch zur Arbeit getrieben wird und die Arbeit erzieht und veredelt, so
ist doch auch nicht zu leugnen, daß die Arbeit, die auf bloße Gewinnung des
Lebensunterhaltes verwendet werden muß, von der höheren Arbeit, die das
Wahre zu ergründen und das Schöne zu schaffen hat, abzieht. Vielfach ist
der Mensch, den man als das höchste Erzeugniß der Welt zu betrachten ge¬
wohnt war, gezwungen, sich mit niederem Thun zu beschäftigen, und Sklaven¬
dienste zu verrichten, statt sich der Ausbildung edler Menschlichkeit, wie sie die
hellenische Welt in einzelnen Kreisen verwirklichte, widmen zu können. Die
Pflanzen, die ihn nähren, müssen von ihm gesät, gepflegt und schließlich zu¬
bereitet werden, die Thiere, die zur Befriedigung seiner zahlreichen Bedürf¬
nisse dienen, muß er gegen die nachtheiligen Wittevungsverhältnisse schützen,
er muß sich und ihnen Behausungen bauen u. s. w. Er empfängt von der
Natur nur sehr wenig unmittelbare Unterstützung, er benutzt soviel wie mög¬
lich ihre blinden Kräfte, und wenn er seinen Unterhalt auf Erden findet, so
geschieht es nur infolge unablässiger, immer wiederkehrender Arbeit. Wie jene
Kräfte der Natur den Menschen, der arbeitet, nähren, so verschlingen sie auch
Tausende seines Geschlechtes, so vernichten sie durch Gluthhitze, durch Gewitter,
Sturm und Hagel, durch Wolkenbrüche und Überschwemmungen seine Ar¬
beiten. Mit einem Worte, immer kommt man wieder auf den Schluß zurück,
daß die Erde zwar nicht das am schlechtesten gestellte Gestirn des Sonnen¬
systems, daß sie aber auch noch weit davon entfernt ist, dasjenige zu sein,
welches der Entwickelung des Jdealwesens die günstigsten Bedingungen dar¬
bietet, und daß andere Planeten, namentlich der Jupiter, in dieser Hinsicht
weit höher stehen.
Einige Forscher haben nun versucht, die Art der Existenz, den Grad der
Bildung, ja selbst die Größe der uns unbekannten Planetenmenschen zu bestim¬
men. So verirrte sich Christian Wolff im Anfang des vorigen Jahrhunderts
in das Gebiet solcher Muthmaßungen. Er setzte bet den Bewohnern des Ju¬
piter voraus, daß die Pupille im Auge derselben größer sein müsse als im
Auge des Erdenmenschen, damit dieselben das Licht der auf sie wegen der
größeren Entfernung schwächer wirkenden Sonnenstrahlen ebenso stark empfän¬
den als wir. Aus dem Verhältnisse zwischen den Entfernungen des Jupiter
und der Erde von der Sonne folgerte er die Größe der Pupille, und aus
dieser wieder die Größe der Jupitermenschen, wobei sich ihm herausstellte, daß
dieselbe dreizehn und einen halben Fuß betragen müsse. Man darf wohl be¬
haupten, daß jeder, der im Ernste beabsichtigt, die Bewohner eines andern
Planeten zu bestimmen, ihre Existenzbedingungen aufzuzählen und ihren
körperlichen oder geistigen Zustand darzustellen, ein Ding der Unmög¬
lichkeit unternimmt. Er wird immer nur den Erdenmenschen als Riesen oder
Zwerg, als leichter oder schwerer, luftiger oder dichter, feiner oder gröber
wiederfinden, und das ist eben eine falsche Vorstellung. Um über die Schöpfung
auf den Planeten etwas Begründetes sagen, um über die Formen, welche
das Leben auf ihnen annehmen kann, ein Urtheil fällen zu können, müßte
man ein allgemeines und für alle gültiges Prinzip zur Grundlage haben.
Mittelst dieses absoluten Princips könnte man dann innerhalb gewisser Grenzen
vergleichen und folgern. Aber was besitzen wir Absolutes im ganzen Bereich
unseres Willen?
Wir können in dieser Beziehung nur mit Flammarion auf den ganz all¬
gemeinen Satz zurückkommen, daß die Natur der Planetenbewohner immer
der Natur ihres besondern Planeten entsprechen muß. Selbst wenn die ado¬
nischen Elemente für verschiedene Gestirne dieselben wären, selbst wenn es für
alle Himmelskörper eine Einheit der Substanz gäbe. so würden die Verbin¬
dungen derselben nicht auf jedem Planeten gleichmäßig erfolgt sein, denn die
zur Bildung der letzten erforderlichen Kräfte konnten bei jedem entstehenden
Gestirne sich in andern Verhältnissen und unter andern Bedingungen bethätigen.
Hier wurde dadurch die Wärme der Sonne, dort die innere Wärme des Pla¬
neten vorherrschend, hier gewann die Macht des Feuers, dort die des Wassers
die Herrschaft, hier gestatteten chemische Verbindungen die gleichzeitige Wirkung
der Elektricität, der Gase und Dünste, dort konnten diese Verbindungen nicht vor
sich gehen, und es traten an ihrer Stelle Kämpfe von Elementen ganz andrer Natur
ein. hier verbanden sich Sauerstoff und Stickstoff zu einer großen atmosphärischen
Hülle, und es entstanden Wesen, die unter dieser Umhüllung leben konnten,
dort herrschte die Kohlensäure vor, anderwärts bildeten andere Gase den atmos¬
phärischen Mantel des Planeten, und infolge dessen erschien die ganze Schöpfung
vom Mineral bis hinauf zum Vernunftwesen in andern Formen.
Schwierig scheint schließlich nur noch, sich eine von der unsrigen verschie¬
dene menschliche Urform für alle Planetenbewohner zu denken. Erwägen wir
jedoch. daß die menschliche Organisation die Summe aller thierischen Organi¬
sationen, welche nach einer bestimmten Stufenfolge bis zu ihr hinaufsteigen.
in sich schließt, so werden wir den Gedanken zulässig finden, daß auf den
Weltkörpern, deren physiologischer Zustand von dem unserer Erde abweicht,
und aus denen daher das Thierleben in einer von der bei uns zu beobachten¬
den ganz verschiedenen Weise eingerichtet ist, die menschliche Urform, welche
dort wie hier die Formen aller Arten des Thierreichs abspiegelt, in gleichem
Grade von dem Organismus des Erdenmenschen verschieden sein muß. Die
Meinung, die Natur habe alle denkenden und empfindenden Wesen der Welt
in eine und dieselbe Form gegossen, spricht gegen das Verfahren, das sie überall
auf der Erde einschlägt und gegen das Gesetz der Anbequemung, nach dem
sie herrscht und schafft.
Indeß will unser Autor damit die Möglichkeit menschlicher Individuali¬
täten, die der unsrigen ähnlich sind, für andere Gestirne nicht unbedingt von
der Hand weisen. „Bei allen diesen Betrachtungen und Erwägungen", so
schließt er das betreffende Kapitel, „muß man stets im Auge behalten, daß
der göttliche Plan für uns in tiefes Geheimniß gehüllt ist, und daß wir, UM
eine bestimmte Behauptung in vernünftiger Weise aufzustellen, uns nicht blos
auf die Unterweisung der Natur, wie dieselbe auf der Erde erscheint, stützen
dürfen. Gott kann gewollt haben, daß die Substanz der Seele überall die¬
selbe sei, und daß eine einzige Urform an allen denkenden Wesen sich aus¬
präge, er kann die Dinge so geordnet haben, daß diese Urform, je nach Be¬
schaffenheit des betreffenden Weltkörpers hier so, dort anders abgewandelt,
überall mehr oder minder deutlich hervortritt. Aber eine Begründung in der
Natur findet diese Annahme nicht. In zwingender Weise können wir aus
der Betrachtung der Welten nur folgende Sätze ableiten:
1. Die verschiedenen Kräfte, die beim Uranfange der Dinge wirkten,
erzeugten auf den Weltkörpern eine große Mannichfaltigkeit von Wesen und
Dingen;
2. Die belebten Wesen waren von Anfang an dem physiologischen Zu¬
stande der betreffenden Weltkörper entsprechend geformt und organisirt;
3. Die Menschen der andern Planeten sowie die der ferner kreisenden
Weltkugeln unterscheiden sich von uns sowohl in ihrer innern Organisation
als auch in ihrer physischen Urform.
Der Aufstand in der Herzegowina und in Bosnien lebt noch immer und
die frostigen Bemerkungen des Herrn Springer in den gelben Blättern über
diesen Aufstand haben sich in keiner Weise bewahrheitet. Mit dergleichen ab¬
sprechender Prophezeihungen ist das namenlose Elend und der Weheruf der
dortigen christlichen Bevölkerung nicht aus der Welt zu schaffen und acht
totzuschweigen. Ebensowenig tragen die in der „Gegenwart" mitgetheilten
Reise-Betrachtungen Karl Braun's, der in diesem Sommer dem Kriegsschau¬
platz nahe war. zur Lösung der Frage bei. Allgemein wird jetzt zugegeben,
daß die Lage der christlichen Bevölkerung im Vilayet Bosnien unerträglich
und menschenunwürdig ist und daß etwas zur Besserung derselben gethan
werden muß. Die Zustände sind dort in der That so unerträglich und so
empörend, daß wir sie uns gar nicht schlimm genug denken können. Die
öffentliche Meinung ist ferner darüber einig, daß auf die türkischen Reform-
Versprechungen nichts zu geben ist und daß andere Garantien geschaffen werden
müssen als'großherrliche Hatischeriss und Jrades. Rußland hat die Noth¬
wendigkeit dieser Garantien in seinem officiellen Organ zuerst klar ausge¬
sprochen und die österreichische Presse müht sich vergebens ab, die Bedeutung
dieser politischen Aeußerung abzuschwächen. Der russische Reichs - Anzeiger
erklärt bündig, daß Rußland dem Dreikaiserbunde nicht die Sympathien zum
Opfer gebracht habe, die es beständig für die unterdrückte christliche Bevölke¬
rung der Türkei gehegt. Die Opfer, die das russische Volk den Christen in
der Türkei gebracht, seien so groß, daß sie Rußland das Recht gäben, diese
Sympathien auch jetzt vor ganz Europa zu documentiren. Das kaiserliche
Cabinet könne jetzt, wie auch früher unter gleichen Verhältnissen, nicht ein
gleichgültiger und theilnahmloser Zuschauer der Ereignisse bleiben, die sich in
der Herzegowina vollzögen, die Serbien und Montenegro in einen ungleichen
Kampf verwickeln und einen Krieg zu entflammen drohten. Auf anderweite
Zugeständnisse der Pforte sei nach den bisherigen Erfahrungen nichts mehr
Zu geben und darum berechtige auch der jüngste Jrade zu keinerlei Hoffnungen.
Das Vertrauen zu derartigen Acten der Regierung ist in dem Grade er¬
schüttert, daß es der Pforte schwer werden dürfte, dasselbe sogleich ohne Mit¬
wirkung der europäischen Cabinette wieder herzustellen. Und diese Mitwirkungwürden die Mächte ohne Zweifel der Pforte nicht versagen. Ihrerseits werde
auch die Pforte nicht ermangeln, diesen Cabinetten greifbare Beweise ihrer
festen und unbeugsamen Entschlossenheit zu geben. die jetzigen feierlich über¬
nommenen Verpflichtungen hinsichtlich der Christen zu erfüllen. Jedenfallsdürfe man sich versichert halten, daß der klägliche Stand der Dinge, wie er
bis jetzt in der Türkei den Interessen der Pforte, ihrer Unterthanen und Eu¬
ropas zum Schaden fortgedauert hat, ein Ende finden müsse.
Das ist deutlich gesprochen, aber diese russischen Forderungen leiden an
der Schwierigkeit der Ausführung, denn wie soll die Mitwirkung der Cabi-
nette realisirt werden ? Etwa durch Residenten oder Consular - Agenten oder
gar durch eine theilweise militärische Besatzung? Sicherlich würde hierdurch
nicht ein Zustand geschaffen, der auf die Länge befriedigen würde, vielmehr
würde sich bald Veranlassung zu Eifersucht und Mißgunst finden und Streit
unter den Großmächten entstehen. Die böhmische Frage, ein Theil der großen
orientalischen Frage ist gründlicher zu lösen, sie steht im Bordergrund und
bedarf unserer gespannten Aufmerksamkeit.
Die einzig naturgemäße, alle billigen Ansprüche befriedigende Lösung er¬
giebt sich von selbst, wenn man die Landschaften, welche das Vilayet Bos¬
nien bilden, näher betrachtet. Das Vilayet besteht aus 3 Theilen, welche
religiös und geographisch geschieden sind: 1. Das katholische Türkisch-Croatien
mit einer Bevölkerung, die der in österreichisch Croatien religiös und sprachlich
völlig gleich ist. 2. Die Herzegowina, die griechisch orthodoxer Religion ist,
geographisch zum südlichen Nachbar Czerna g6ra gehört und mit diesem nach
dem adriatischen Meere gravitirt. 3. Das eigentliche Bosnien mit Novibazar,
das von griechischen Serben bewohnt ist und geographisch zu Serbien gehört.
Unter dieser christlichen Bevölkerung wohnt mehr oder weniger dicht eine
muhamedanisch slavische von gleicher Sprache wie die Christen und einige
Tausend Türken.
Aus dieser Zusammensetzung folgt, daß der Vorschlag der englischen
Blätter, aus dem Vilayet Bosnien einen neuen suzeränen Staat zu bilden,
unausführbar ist. Wenn nun gleichermaßen die russischen Vorschläge großen
Schwierigkeiten begegnen und doch nicht die Garantie gewähren, daß die
Ruhe in jenen Landschaften hergestellt und der christlichen Bevölkerung eine
menschliche Existenz geboten wird, so bleibt nichts übrig, als den Finger¬
zeigen, die Religion, Nationalität und geographische Lage geben, zu folgen
und türkisch Croatien mit Oesterreich, die Herzegowina mit Czerna g6ra und
das übrige Bosnien mit Serbien zu vereinigen. Wenn man das ganze Vi¬
layet zu 1100 HI Meilen veranschlagt, so hat Oesterreich türkisch Croatien bis
an die Bosra und Herzegowina, gegen 300 ^ Meilen, Czerna gora die Her¬
zegowina mit Ragusa und Cattaro, zusammen etwas über 200 ÜH Meilen, und
Serbien das übrige Bosnien mit etwa 600 Meilen zu erhalten.
Oesterreich wird durch solchen Landzuwachs so unerheblich vergrößert, daß
die übrigen Großmächte keine Ursache zur Mißgunst haben können. Oesterreich
selbst kann aus zwei Gründen diese Landschaften nicht zurückweisen; denn ein¬
mal wird durch dieselben die Reichsgrenze, trotz der Vergrößerung des Reichs-
gebiets, doch um 40 geographische Meilen abgekürzt, und sodann bekommt
durch diesen Zuwachs das langgestreckte Küstenland Dalmatien ein Hinter¬
land und wird dadurch mit dem Hauptkörper der Monarchie räumlich ver¬
bunden. Möchte doch Oesterreich sich nicht auch bei dieser Angelegenheit in
das Schlepptau der Magyaren nehmen und durch deren Geschrei sich verleiten
lassen, die gefährdete Position Dalmatien in seiner unglücklichen geographischen
Jsolirung zu lassen.
Die Herzegowina gehört naturgemäß zu Czerna g6ra, aber ebenso natur¬
gemäß gehört Ragusa zur Herzegowina. Der handelspolitische Werth dieser
ehemaligen Republik mit 25 Meilen ist nicht von solcher Bedeutung für
Oesterreich, daß letzteres nicht gern die Gelegenheit wahrnehmen müßte, das
widerhaarige weitabliegende Gebiet mit unverhältnißmäßig langen Grenzen
los zu werden und seinem südlichen Nachbar, der diese Meeresküste nicht ent¬
behren kann, mit wohlwollender Opferbereitschaft entgegen zu kommen.
Die böhmischen Landschaften östlich von der Bosra mit Novibazar werden
Serbien so abrunden, daß es wenigstens nach Westen und Süden seine natür¬
lichen Grenzen erreicht, aber sie werden Serbien deßhalb nicht zu einer Macht
zweiten Ranges und für Oesterreich furchtbar machen. Ob Serbien statt
790 ^Meilen künftig 1390 1^ Meilen haben wird, ist für alle Mächte, ins¬
besondere aber für die Nachbarn Oesterreich und Rumänien ganz gleich.
Oesterreich hat nicht im geringsten zu besorgen, daß seine serbische Bevölkerung
in der Woiwodina, die durch die mächtigen Wasseradern der Donau und save
von Serbien getrennt ist, später mehr nach Serbien gravitire als jetzt. Den
herrschsüchtigen und hochmüthigen Magyaren gegenüber ist es für Oesterreich
kein Schaden, wenn an der Südgrenze ein Wachtposten steht, der mehr auf
Wien als auf Pesth sieht.
Nun wird uns mancher Leser zwar zugeben, daß vorstehend angegebene
Lösung der böhmischen Frage die wünschenswertheste, aber er wird einwenden,
daß deren Realisirung nicht abzusehen sei. Wir glauben aber, daß zu der
Verwirklichung nur der erst ausgesprochene Wunsch der Großmächte gehört,
aß es so sein solle; das übrige werden sodann Serbien, Czerna g6ra und
" aufständische Bevölkerung sowie die Geldverlegenheit der Türken besorgen.
Hrerbei ist zu berücksichtigen, daß das ganze Mlayet Bosnien sür die Türkei
gar keinen reellen Werth hat und daß'es für sie stets ein Heerd der Unruhe,
es Aufstandes und der Verwicklungen war. Ueberdies ist es durch Serbien
und Montenegro fast ganz vom Hauptkörper der Monarchie abgeschnitten und
nur durch die Landzunge von Novibazar damit verbunden. Die Türkei hat
ve^i?"^""^^ °" Bosnien durch eine grauenhaft schlechte Verwaltung
selbst ^ Bosnien nicht halten und wird sich nicht halten,
> wenn die Großmächte auch diesmal so gleichgültig sein sollten, wie vor
einigen Jahren gegen die Cretenser. Die cretensische Frage wird sich in
vielleicht naher Zukunft doch wieder melden und dann wird ihr näher getreten
werden müssen, als das letzte Mal.
Dann wird Creta, Eptrus und Thefsalica den zweiten Theil der orien¬
talischen Frage bilden und man wird dann nicht umhin können, Landschaften,
in denen der Jda und Pindus, der Ossa, Olymp und Pelton aufragen, Do-
dona lag, der Acheron mit dem Kokytos in den See Acherufia fällt und der
Peneus durch Tempe's Felsenthal seine Wogen wälzt, Griechenland vor¬
zuenthalten.
Der Untergang zweier Dampfer an demselben Tag, an derselben Stelle
der Küste Englands, der Stelle, an welcher der Schiller mit Hunderten von
Menschen schrecklichen Untergang fand, drängt wohl Jedem die Frage auf:
Ist dieser Küstenpunkt nicht ausreichend geschützt, daß solche Katastrophen sich
so häufig wiederholen?
In meinem Artikel über das Urtheil, welches das Greenwicher Polizei-
Gericht beim Untergang des Schiller fällte (vgl. Grenzboten Ur. 39,
III. Quart. 1875.), sagte ich schon, daß uns täglich von neuem ein ebenso schreck¬
licher Schiffbruch von den Seitlich gemeldet werden könne; daß an jener Stelle
der englischen Küste alle wirklich zuverlässigen Warnungszeichen gegen die
Gefahren, welche der Nebel birgt, fehlen; und daß der einzige Grund dieses
Mangels wohl der Geiz der englischen Leuchtthurmbehörde sei.
Diese Knauserei hat nun abermals Menschenopfer gefordert, zu geschweigen
von den hohen Vermögenswerthen, die mit Schiff und Ladung an den Klippen
zu Grunde gingen. Ist denn nichts im Stande die englische Bequemlichkeit, den
Gleichmuth der Leuchtthurmsbehörde Englands, oder wenigstens die schlummernde
Sraatsaufficht aufzurütteln? Sollte es wirklich wahr sein, daß man sich nicht zu
rühren gedenkt, bis einmal ein englischer transatlantischer Dampfer, rat
Hunderten von nur englischen Passagieren, an derselben verhängnißvollen
Stelle den Untergang finden wird? Kann der Eigennutz und der Geiz dieses
Krämervolkes nur durch Elend und Jammer im eigenen Hause gebrochen
werden? Fast scheint es so.
Der Untergang zweier Dampfer, zu derselben Zeit, an derselben Stelle,
bietet einen neuen traurigen Beleg für die Wahrheit der in meinem früheren
Artikel ausgesprochenen Ansicht, daß nicht allein und in erster Linie die Fahr¬
lässigkeit des Capitain Thomas die Katastrophe des Schiller herbeiführte, sondern
vielmehr die zur Zeit aus See und an der Küste herrschenden Verhältnisse.
Auch in den letzten Tagen herrschte ein starker Nordwestwind vor; war die
englische Küste abermals durch Nebel verhüllt; der Nordwestwind erzeugte
wieder die bei Scilly nordwärts- und landeinwärts führende Strömung und
brachte zwei Handelsdampfer auf die Klippen. Sind die Führer beider wieder
zu vertrauenssicher gewesen? Kann man ihnen, den Leitern von Handels¬
dampfern ebenfalls den leeren Vorwurf machen, sie wären ohne Rücksicht auf
die ihnen anvertrauten Menschen und Güter in den Nebel hineingesteuert? Ge¬
rade dieser Untergang zweier Kauffarteifahrer beweist die Wahrheit der da¬
maligen Aussage der Lootsen vor dem Greenwicher Polizei-Gericht. Sie waren
Beide gleichzeitig, vielleicht ohne sich zu sehen, ohne mit einander verkehren
zu können, denselben heimtückischen Meeresströmungen ausgesetzt. In der
Sache selbst ist es wirklich ganz gleichgültig. ob das Scheitern der Dampfer
zehn Menschen das Leben kostete oder Hunderten; das Unglück ist im Cha-
rakter dasselbe. Doch erwägt man mit Grauen, daß die Schiffe ebenso gut
Dampfer und mit Hunderten von Menschen hätten besetzt sein können: dann
hätte der englische Geiz und Egoismus eben Hunderte in den Tod geschickt.
Die Scilly-Inseln sind, wie bekannt, eine Gruppe vieler felsiger Inseln
und Klippen, welche jäh und steil aus beträchtlicher Meerestiefe aufsteigen.
Jede felsige Insel-Gruppe ist der Schifffahrt gefährlich, doppelt gefährlich aber,
wenn an solcher Klippengruppe ein starker Verkehr vorbeizieht, bei den Seitlich
geradezu mindestens die Hälfte des ganzen europäischen Seehandels. Drei¬
fach gefährlich aber, wenn diese Küstenpunkte keilförmig und spitz meilenweit
in die See hinausreichen, wie es gerade bei den Seitlich der Fall ist und wenn
während wenigstens vier Monaten des Jahres dichter Nebel die Gefahren
dieser Inselgruppen verbirgt.
Wie schon früher entwickelt, ist der einzige, wirkliche Schutz gegen die Ge¬
fahren der Küste bei nebeligen Wetter das Nebelhorn mit Dampfbetrieb.
Die ersten Klippen der Seitlich. also die. welche den Schiffen am meisten Ge¬
fahr bringen, sind die Crim Rocks, die Felsen bei Bishop Rock und hinter
diesem letzteren die Retarrier Ledges. Alle diese sind entweder Klippen unter
Wasser. oder Klippen wovon nur wenige Felsen über Wasser steil aber
nicht hoch emporragen. Der Bishop-Rockfelsen, der westlichste Punkt der
ganzen englischen Küste, trägt einen Leuchtthurm, dessen Nebelglocke die Eigen¬
heit hat, wie die meisten Nebelglocken. wenigstens von Dampfern nicht gehört
zu werden. Zwischen diesen 3 Felsengruppen liegt der Meeresboden in einer
gleichmäßigen Tiefe von 17 bis 22 Faden, während derselbe westlich vor
Crim Bishop Rock nach Crim Rocks jäh bis 30 Faden Tiefe von 17 Faden
abfällt. Drei engl. Seemeilen östlich von Bishop Rock liegen die Felseninseln
von Rosevear. welche sichelförmig von Süd nach Nord östlich der Retarrier-
ledges sich erheben. In dieser Felsengruppe sind mehrere Inseln, welche so
hoch über das Wasser emporragen, daß sie gegen die Verheerungen der herein¬
brechenden See einigen Schutz gewähren. Besonders die Insel Rosevear selbst
liegt geschützt gegen hochgehende See, weil, nach der für sie gefährlichsten
Richtung, die Retarrier Ledges die Gewalt der Wogen brechen. Diese Insel
Rosevear bietet Raum und Höhe über der See genug, um das Aufstellen
eines Dampfnebelhorns zu gestatten. Die Erbauung eines Maschinenhauses,
das Aufstellen eines Nebelhorns oder einer Libelle mit einer Dampfmaschine
von hinreichender Kraft, circa 3 Pferdekräften, nebst allen Arbeiten, welche damit
verbunden sein mögen, kann unter den schwierigsten Verhältnissen doch kaum
200000 Mark oder 10000 L. Se. kosten. Ich weiß, daß die Nebelhörner, welche
die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika auf Sandy Hook, Cap bot,
Block Island, Race Point aufstellte, unter den schwierigsten Verhältnissen auf
35000 Dolls. oder 140,000 Mark zu stehen kamen. Der Untergang des
Schiller allein verschlang 300000 Dolls. Gold. 800000 Dolls. Werth an
Ladung und ebensoviel mindestens in dem Werth des Dampfers selbst, von
den vielen Menschen nicht zu sprechen. Und nun kommt zu diesem furcht¬
baren Debet noch der Werth zweier Dampfer hinzu.
Daß ein solches Dampfnebelhorn eine genügende Warnungskraft hat,
wird den Lesern der Grenzboten aus Nachstehendem erkenntlich. Im Früh¬
ling 1866 wurde die Frage der Errichtung von ausreichenden Nebelsignalen,
die gegen die Stürme, und gegen das stete Geräusch an Bord eines großen
Dampfers noch mehrere Meilen von der Küste gehört werden sollten, in den
maßgebenden Kreisen der amerikanischen Leuchthurmbehörden erwogen. Der dritte
Ingenieur des 3. Leuchtthurm-Distrikts, New York, ein geborner Badenser
Namens Joseph Lederle, erhielt den Auftrag, die Experimente zu machen. JH
war damals als ausführender Ingenieur ebenfalls in diesem Distrikt thätig
und begleitete die erste Versuchs-Erpedition. Auf Sandyhook war ein Dampf-
Nebelhorn mit einer Maschine von vier Pferdekräften aufgestellt worden. Wir
dampften gegen eine sehr kräftige Nordostbrise dem Ocean zu, während in
Sandyhook das Dampfhorn seine fürchterlichen Töne ins Weite schleuderte.
Wir fuhren nach Nordosten; mit Bezug auf die Lage des Horns hatte also
dessen Schall direcr gegen die besagte frische Brise anzukämpfen. Wir verloren
den Schall in einer Entfernung von über 7 engl. Meilen oder 14000 Meter.
Beim Zurückfahren lief unser Dampfer im Bogen nach Süden, und je mehr
wir Wind und Horn auf dieselbe Seite erhielten, um so stärker wurde der Schall,
bei gleicher Entfernung von Sandyhook. Dieses erste primitive Nebelhorn mit
einer Maschine von 4 Pferdekräften geblasen, ist seitdem so verbessert worden,
daß dessen Schall gegen den Sturm auf 7 bis 10 Seemeilen also 14 bis
20000 Meter Entfernung zu hören ist. Dieses jetzt in Amerika an vielen
Punkten aufgestellte Warnungssignal ist im Wesentlichen dasselbe, welches
auf der Wiener-Ausstellung zu sehen und zu hören war. Ein solches In¬
strument auf Rosevear aufgestellt, hätte sowohl dem Schiller, wie dem Aksai
und wie der Catharine Griffith die nöthigen Signale zu einer Zeit über¬
mittelt . in welcher eine Umkehr noch absolute Rettung bedeutet hätte. Ist
doch der Schiller in höchstens 1600 Meter Entfernung bei dem Leuchtthurm
von Bishop Rock vorbeigefahren, während ein Nebelhorn auf Rosevear dem
Dampfer in der ruhigen Nacht vom 7. Mai d. I. den Warnungston 10000
Meter weit vor Bishop Rock zugetragen hätte.
Dieser Artikel hat lediglich den Zweck, das große Publikum auf den
eigentlichen Grund der entsetzlichen Gefahren der Scilly-Jnseln aufmerksam
zu machen, und noch ein Mal hervorzuheben, auf welche einfache Weise einer
Wiederholung ähnlicher Katastrophen vorgebeugt werden kann. Möchten doch
meine Worte in recht vielen Tages- und Wochenblättern einen Wiederhall
finden, möchten sie bis über die Kreidefelsen Englands dringen und jenen
eigennützigen Knausern, welche sich die Leuchtthurmbehörde Englands nennen,
endlich Gewissen und Scham wecken, damit sie sich dazu aufraffen, mit wenig
Tausend Pfund künftig Tausende von Menschen, Millionen an Werth, gegen
Untergang und Vernichtung zu schützen. Auch heute wieder schließe ich mit
der Warnung: Geschieht an den Scilly-Jnseln nichts in der angedeuteten
Richtung, so kann uns der Telegraph täglich die Nachricht bringen, daß
die Katastrophen des Schiller, des Aksai und der Griffith nicht die letzten
„Ist es denn für einen Deutschen überhaupt schon wieder möglich, sich
in Paris unbelästigt aufzuhalten?" So fragte mich jeder Freund, der mir
Anfang Oktober bei meiner Rückkehr aus Frankreich begegnete. Ich mußte
fast lachen ob dieser Frage und vergaß ganz, daß ich noch zwei Monate vor-
her vollkommen dieselben Zweifel gehegt hatte. Und sie sind in der That
erklärlich genug. Ein Franzose, den ich von diesem in Deutschland herrschen¬
den Argwohn sprach, meinte, es sei eine Regung unseres „l-sser Gewissens".
Dem kann nun freilich nicht so sein, sintemalen wir Frankreich gegenüber
ein böses Gewissen durchaus nicht haben. Die Erscheinung liegt vielmehr in
dem Irrthum begründet, daß wir die chauvinistische Bärbeißigkeit der Pariser
Presse für den Ausdruck der constanten Gemüthsstimmung der französischen
Bevölkerung nehmen. Diese Stimmung beherrscht unsere Nachbarn nur,
wenn sie sozusagen ofsictell als Franzosen auftreten; im gewöhnlichen
Leben sind sie herzlich froh, sich des beengenden Apparats der „röLSl-ntiinöllts
patriotigues" entkleiden zu können.
Allerdings wird der Deutsche in Paris nicht mehr behandelt wie vor dem
Kriege, weder im guten noch im bösen Sinne. Die mit einem gewissen sou¬
veränen Mitleid gemischte Bonhommie, welche man uns damals entgegentrug,
hat selbstverständlich gründlich weichen müssen. Eine solche Haltung ist nur
möglich, wenn man seiner Ueberlegenheit vollkommen gewiß ist. Dies starke
Selbstgefühl ist aber — wie sehr auch die Prätension der Superiorität noch
immer aufrecht erhalten werden mag — heute arg erschüttert und damit ist
dem Franzosen in gewissem Sinne die Sicherheit des Auftretens dem Deutschen
gegenüber verloren gegangen. Es ist noch nicht der richtige Ton gefunden,
der fortan im gesellschaftlichen Verkehr mit den Siegern von 1870 anzuschlagen
wäre. Giebt man sich als Deutscher zu erkennen, ganz besonders als Preuße,
so kann man regelmäßig die Beobachtung machen, daß man eine ganze Menge
der verschiedensten Empfindungen hervorruft, unter denen jedoch das Erstaunen
zu überwiegen scheint. Offenbar kann sich der Franzose noch nicht recht vor¬
stellen, wie ein Deutscher bereits jetzt mitten in Frankreich offen mit der Er¬
wartung auftreten mag, als guter Freund behandelt zu werden und er ist im
ersten Augenblick über diese Zuversicht vielleicht recht ärgerlich. Alsbald ge¬
winnen aber die verständigeren Erwägungen die Oberhand und wenn man
uns gegenüber auch nicht den ganzen sprichwörtlichen Reichthum der fran¬
zösischen Liebenswürdigkeit entfaltet, so läßt man uns wenigstens ungeschmälert
die Wohlthat der eben so sprichwörtlichen französischen Höflichkeit genießen.
Allgemein verbreitet ist auch bei uns die Meinung, daß, wenn der Deutsche
heute in Paris auch nicht direct belästigt werde, er doch auf Schritt und
Tritt den gröbsten Schmähungen seines Vaterlandes begegnen und schon des¬
halb den Aufenthalt unerträglich finden müsse. Auch diese Ansicht entspricht
nicht der Wirklichkeit. Was von den lärmenden Ungezogenheiten der Presse
zu halten, ist bereits gesagt; indeß sind auch diese unter einem heilsamen
Drucke von oben seit einiger Zeit beträchtlich mäßiger geworden. Wenn
ferner vor Kurzem in deutschen Zeitungen über den in den neuesten frau-
Mischen Soldatenliedern gepredigten Preußenhaß Beschwerde erhoben ward,
so erinnere man sich doch nur unserer eigenen patriotischen Lieder aus den
ersten Jahren nach 1815; sie geben an Blutdürstigkeit den französischen wahr¬
lich nichts nach. Im Uebrigen wird aber jeder unbefangene Beobachter an¬
erkennen müssen, daß man in Paris in Ausfällen auf Deutschland sehr ent¬
haltsam ist. Ich habe mir das Vergnügen gemacht, unter diesem Gesichts-
punkte die Schaufenster der Buchläden zu prüfen. Nur ein einziges Mal —
es war in einer prononcirt demokratischen Buchhandlung — fand ich einen
stark verfänglichen Titel, nämlich: „vn petit-üls ä'^teils. Invasion as
1870 — 1871. ?pone en six emanes/ Die Aufschrift läßt über den Inhalt
keinen Zweifel. Dagegen trifft man in stockultramontanen Läden wohl aller¬
lei Schriften zur Verherrlichung ..Heinrich's V.". „Karl's VII.". des Papstes
u. f. w-, aber keine Pamphlete gegen Deutschland. Am ersten sollte man
erwarten, daß sich im Theater die Animosität gegen uns Luft machen werde.
Ich habe die lange Reihe der Tempel Thaliens gewissenhaft absolvirt und
kann versichern, niemals eine beleidigende Aeußerung über Deutschland be-
merkt zu haben; die einzige ironische Anspielung, welche ich gehört, befand
sich nicht in einer Novität, sondern in Adam's komischer Oper „le elMet,".
Auch von der den Franzosen nicht selten schuldgegebenen fanatischen Unduld¬
samkeit gegen Alles, was deutsch heißt, ist keine Spur zu entdecken. Die
Prachtausgabe von Goethe paradirt in den glänzenden Bücheretalagen der
Boulevards, auf den Empfehlungskarten der Gasthöfe, ja — wenn auch
ganz vereinzelt — an den Fenstern der Kaufläden sieht man neben „NnLlisIi
Spoken" und „se ng,b1a, esvemvl" ganz unverhohlen : „Man spricht deutsch",
und wenn der deutsche Wanderer vom Luxemburggarten zum Pantheon hin¬
aufsteigt, lacht ihm zur Rechten von den Fenstern der Brasserie Müller in
großen goldenen Lettern ein fehlerfreies „Sauerkraut" entgegen. Noch mehr
erstaunt, als über dies stumme Zeugniß des Vordringens deutscher Kultur
im „(Zugtier latin«, ist man aber, wenn man die Damenwelt des „^rdin
NaKille« untereinander mit einzelnen deutschen Brocken um sich werfen hört,
wobei freilich zu bedauern bleibt. daß das edle Samenkorn nicht auf etwas
minder zweifelhaften Boden gefallen ist.
Nun aber die Kehrseite des Bildes! Wer etwa aus den angeführten
und ähnlichen Symptomen schließen wollte, daß man in Paris auf dem besten
Wege zu einer herzlichen Aussöhnung mit uns begriffen sei, der würde durch
eine politische Unterhaltung mit dem ersten besten Franzosen bitter enttäuscht
werden. Es gelingt freilich nicht leicht, eine solche Unterhaltung anzuknüpfen.
Der Wirth auf der historisch berühmten Windmühle des Montmartre machte
einer Anzahl französischer Touristen eine interessante Schilderung der beiden
letzten Bombardements. Ich stand abseits. Als die Herren fort waren, ver-
suchte ich ihn auch meinerseits auf das Feld der Kriegserinnerungen zu locken.
Er aber erwiderte kurz: „O'est Mös6, on n> penso plus", und begann
vom schönen Wetter zu sprechen. Umgekehrt traf ich's am Se. Jakobsthurm.
Der Wächter desselben, dem ich mich durch einen Zufall als Preuße zu er-
kennen gab, überschüttete mich sofort mit einer solchen Fluth von politischer
Weisheit, daß ich alle Mühe hatte, dem entfesselten oratorischen Element
des Mannes ab und zu einen Augenblick Einhalt zu thun. Da ward ich
belehrt, daß Frankreich durch Bazaine verrathen und verkauft wurde; daß
Bismarck ohne Zweifel ein sehr kluger Mann sei, aber Frankreich gegen¬
über seine Klugheit am unrechten Orte gebraucht habe; daß, wenn er
wirklich der große Staatsmann sei, für den man ihn ausgebe, er als das
einzige Mittel zur Wiederherstellung guter Beziehungen mit Frankreich
die Herausgabe von Elsaß-Lothringen erkennen müsse u. s. w. Und als ich
dies Alles nicht einsehen wollte, da mußte ich hören, daß noch vor dem
Jahre 1880 der neue Krieg kommen und Frankreich unfehlbar siegen werde,
und nachdem mir der furibunde Declamator schließlich erklärt, daß die Preußen
keine Menschen, sondern Wilde seien, schlug er an sein Seitengewehr und gab
mir den Abschied mit den Worten: „Vous xouves monier, Nonsieur! Nous
us serons ^mais amisl» Als ich auf der Zinne des Thurmes stand und
von der schwindligen Höhe hinabsah, war ich wirklich froh, den Mann, der
alle seine vier Söhne als Werkzeuge der venseanee — revavens war ihm zu
gelinde — erzieht, nicht neben mir zu haben; da droben würde mir das fana¬
tische Feuer seiner dunklen Augen einigermaßen unheimlich erschienen sein.
Unten wieder angekommen, nahm ich mit einem ironischen ,,^u revoir ^
Lerlin!" von ihm Abschied; indeß, er würdigte mich keines Blickes mehr.
Hoffentlich schlummert nicht hinter einem jeden „Mräien nie ig, paix" der guten
Stadt Paris ein solcher Vulkan! Zur Entschuldigung des Mannes muß ich
jedoch anführen, daß er in Metz geboren, unter Bazaine dort eingeschlossen
und nach der Annexion ausgewandert war.
Der wirkliche Pariser ist von solch ungeberdigen Zornesausbrüchen weit
entfernt. Mit jedem gebildeteren Manne läßt sich über das Verhältniß zwischen
Deutschland und Frankreich in aller Ruhe discutiren. Derselbe wird sogar, be¬
sonders wenn er der Geschäftswelt angehört, unumwunden seinen Wunsch
einer möglichst langen Dauer des Friedens zu erkennen geben. Aber daß
früher oder später der Krieg mit Deutschland kommen muß, nicht sowohl
der Revanche, als der „Wiedereroberung der berechtigten Stellung Frankreichs
wegen", gilt Allen als unerschütterliches Axiom. Mit rückhaltlosester Offenheit
gesteht man ein, daß auf dieses Ziel mit planmäßiger Energie hingearbeitet
wird. Und wie in diesem Gedanken die neuen, bisher nicht gekannten Lasten
getragen werden, davon habe ich mich bei der im September auf Grund des
neuen Militärgesetzes zum ersten Mal erfolgten Einberufung der Reserve zu
vierwöchigen Uebungen überzeugt. Was diese Maßregel doppelt hart machte,
war der Umstand, daß die betreffenden Mannschaften bei weitem nicht zur
Hälfte der activen Armee, sondern höchstens während des Krieges eine Zeit¬
lang der Mobilgarde angehört hatten, also des wirklichen Militärdienstes gar
nicht kundig waren. Man konnte denn auch in den Wirthshäusern, namentlich
in der ländlichen Umgebung der Hauptstadt, allerlei Klagen über die schwere
Bürde hören, aber bis zum einfachsten Bauer und Arbeiter hinunter tröstete
man sich mit der „patriotischen Nothwendigkeit". In den leitenden Kreisen legt
man auf die Entwickelung und Kräftigung des Instituts der „Territorial¬
armee" den größten Werth. Unter dem Titel „I/a,rin(;e territoriale" erscheint
in Paris ein eigenes Blatt, welches, von einer tüchtigen Redaction geleitet,
diesen Zweck nach besten Kräften zu fördern bestrebt ist. Vereine zu gegen¬
seitiger Unterstützung, welche die unter die Waffen gerufenen Familienväter
für den entfallenden Verdienst nach Möglichkeit entschädigen sollen, sind
überall im Entstehen begriffen. Desgleichen werden, unter den Auspicien einer
Anzahl höherer Offiziere der activen Armee, Schützengesellschaften nach dem
Muster der schweizerischen und belgischen gebildet, um die Angehörigen der
Landwehr unausgesetzt in der Uebung des Waffenhandwerks zu erhalten. Wie
andrerseits die Sorgfalt in der Ausbildung der regulären Truppen sich im
Vergleich zur Vergangenheit gesteigert hat, kann man tagtäglich auf den
Exercierplätzen, besonders in Bincennes, beobachten.
Alle diese kriegerischen Anstrengungen machen auf die erregbare franzö¬
sische Phantasie einen solchen Eindruck, daß die ganze Nation fast auf dem
Punkte angelangt ist, das erstrebte Ziel für bereits erreichte Wirklichkeit zu
halten. Daß man die Ueberzeugung von einer im Jahre 1870 erlittenen
wahrhaften Niederlage, wenn sie überhaupt jemals vorhanden war, längst zum
alten Eisen geworfen hat, läßt sich aus den Kriegsbildern schließen, mit
welchen die Schaufenster und Trödelbuden überschwemmt sind. Die Deutschen
sind auf diesen Darstellungen entweder gar nicht oder nur in sehr bedenklicher
Lage zu sehen. Daß es nicht mit rechten Dingen zugeht, wenn die Franzosen
nicht überall Sieger bleiben, muß auch der Blödeste erkennen. Zum mindesten
aber werden solche sujets gewählt, auf welchen die Franzosen als Helden
untergehen. Dies Motiv wird auch in dem berühmten Panorama der Champs
Elise'es verfolgt, wo dermalen in vortrefflicher Ausführung die Vertheidigung
des Forts Jsfy zu sehen ist. In demselben Panorama wird noch eine schau¬
rige Scene aus der Belagerung gezeigt, die in ihrer künstlerischen Vollen¬
dung und packenden Lebenswahrheit dem Zwecke der Erregung und Er¬
haltung der Leidenschaft meisterhaft dient.
Kurz, es kann nicht geleugnet werden - wie harmlos vielleicht unsere Nach-
barn im Privatverkehr uns wieder erscheinen mögen, der rothe Faden in ihrem
öffentlichen Leben und Denken ist die Revanche. Ich kann nicht sagen,
mit welcher Wehmuth ich grade in den Tagen meiner Rückehr in die Hei¬
math jene von der deutschen Presse vielerwähnte Friedensbroschüre gelesen
habe, in welcher den Franzosen in so edelmüthiger Weise die Hand geboten
wurde. Wie die Dinge in Wirklichkeit liegen. könnte im besten Falle ein
stolzes Achselzucken über den sonderbaren Schwärmer als Antwort erwartet
werden. Und so ist es gekommen.
In der ersten Sitzung dieser Woche, am 17. November, behandelte der
Reichstag zmei technische Gesetzentwürfe und sodann in erster Berathung den
Landeshaushalt von Elsaß-Lothringen. Derselbe wurde einer Commission von
21 Mitgliedern zur Vorberathung überwiesen. Bei der ersten Berathung kamen
von ultramontaner Seite die üblichen Beschwerden über die Behandlung der
Reichslande zur Sprache. Wir übergehen dieselben, denn, um eine einiger¬
maßen nützliche Erwägung daran zu knüpfen, müßten sie von minder be¬
fangenen Sachwaltern vorgetragen werden.
Am 19. Nov. begann die erste Berathung des Reichshaushalts für 1876, '
welche in der Sitzung vom 20. Nov. fortgesetzt und mit dem Beschluß beendet
wurde, den .Reichshaushalt bis auf einzelne, durch weiteren Beschluß des
Reichstags an die Budgetkommission zu überweisende Theile im Plenum zu
berathen.
Die erste Berathung wies die bereits zur Regel gewordenen Jncident-
punkte auf. Nach dem Einleitungsvortrag des Präsidenten Delbrück die große
Rede des Abgeordneten Eugen Richter, dessen Finanzkunde ihre Bewunderer
hat, die große Rede also, worin der Abgeordnete der Reichsverwaltung nach¬
weist, daß sie viel mehr Geld hat, als sie zugesteht, daß sie gar nichts zu
fordern braucht und daß alle ihre Forderungen abzulehnen sind, daß im
Militärwesen sehr viel überflüssige und unzweckmäßige Ausgaben gemacht wer¬
den, daß die Aufstellung derselben der Durchsichtigkeit entbehrt, daß alle Uebel
aus der Alleinverantwortlichkeit des Reichskanzlers hervorgehen, und daß
nichts dringender ist, als ein collegialisches, verantwortliches Reichsministerium.
Zwischen dieser Rede und der Delbrück'schen lag ein Präludium zu der Richter'schen,
vorgetragen von Herrn Nickert-Danzig, und eine ultramontane Kritik der
Regierungsvorlage durch Herrn v. Schorlemer-Alse. Auf die Richter'sche Rede
folgte, wie üblich, der preußische Finanzminister Camphausen in seiner Eigen-
schaft als Bevollmächtigter zum Bundesrath. Auf diesen folgte Herr v. Kar-
dorff mit einer vom Reichstag sehr abgünsttg aufgenommenen Befürwortung
des Schuyzollsystems, auf diesen der Abgeordnete Laster.
Es war ein bedeutsames parlamentarisches Gefecht, diese erste Berathung,
aber wie bei manchem wirklichen Gefecht war die angegriffene und vertheidigte
Position nur Mittel zur Bedrohung auf der einen Seite, zum Schutz auf
der andern Seite für eine ganz andere Position. Dabei waren die Rollen
der Kämpfer von einer schönen Klarheit, wie man sie zum Verständniß eines
Gefechts nur wünschen kann, mit einer einzigen Ausnahme. Die Art, wie
der preußische Finanzminister in das Gefecht eingriff. wen er unterstützen,
wen er bekämpfen wollte, ist unserm Verständniß vollkommen unerreichbar
geblieben. Und doch fand der Abgeordnete Laster. daß die Rede des Ministers
„im höchsten Grade fördernd und klärend" gewirkt. Wir fürchten jedoch, der
treffliche Abgeordnete, dem wir zu der Genesung, die ihm die Wiederaufnahme
der parlamentarischen Thätigkeit erlaubt, den herzlichsten Glückwunsch bringen,
sieht und hört noch die ganze Welt mit dem Auge und Ohr des Reconvales-
centen, dem bekanntlich die Dinge im rosigen Licht und die Töne in wohllauten¬
der Harmonie erscheinen. Harmonie in der Camphausen'schen Rede zu ver¬
nehmen, kann wirklich nur dem Ohr eines selige Klänge ahnenden Recon-
valescenten gelingen.
Suchen wir mit wenig Worten den Gang des Gefechts aufzuklären.
Man stritt scheinbar darum, ob die Ausgaben für 1876 gedeckt werden kön¬
nen, ohne daß weder die Matrikularbeiträge erhöht, noch neue Reichssteuern
aufgelegt, also, ohne daß die Reichseinnahmen vergrößert werden. nachzu¬
weisen, daß diese Deckung möglich ist, hatte die Opposition leichtes Ziel. Man
braucht nur Ueberschüsse früherer Jahre aufzuwenden, und daS Budget für
1876 ist in Ordnung. Ein Budget freilich, das nicht aus regelmäßigen Ein¬
nahmen bestritten worden, enthält ein Defizit. Die Frage ist also, soll man jetzt
dem Defizit vorbeugen durch Vergrößerung der regelmäßigen Einnahmen, oder
soll man bis zum letzten Augenblick warten, d. h. bis zur Berathung des
Budgets für 1877. Bei der Lage des deutschen Reiches würde das letztere
Verfahren nur als ein leichtsinniges und vermessenes zu charakterisiren sein.
Zur Verhütung eines Defizits im letzten Moment bleibt nichts übrig, als
die Erhöhung der Matrikularbeiträge, womit der Haushalt vieler Einzelstaaten
w Verwirrung gebracht und vielseitige Unzufriedenheit hervorgerufen wird.
Es handelt sich um ganz andere Dinge, als um das Gleichgewicht eines
Grn
einzelnen Budgetjahres. Es handelt sich um die Entscheidung der wichtigenPrin-
cipfrage: soll der Reichshaushalt mit Beseitigung der Matrikularbeiträge auf
selbständige Einnahmen gestellt werden, und wie sind diese Einnahmen zu be¬
schaffen? Diese Frage, theoretisch längst aufgeworfen, war bisher nicht
aktuell, solange das Reich nicht nur ausreichende sondern sogar überschießende
Einnahmen hatte in Folge der Kriegsentschädigung, in Folge des Militär¬
pauschquantums, welches die Heeresausgaben auf einer niedrigen Stufe hielt,
in Folge der glänzenden Einnahmen, welche die Verkehrsexcesse unmittelbar
nach dem Frieden denZöllen und andern Neichsfinanzquellen brachten u. f. w. Jetzt
aber, wo keine neuen Ueberschüsse mehr erzeugt und die alten nahe daran sind,
aufgebraucht zu werden, jetzt ist es Zeit, sich mit der Frage nach der Beschaf¬
fung regelmäßiger und ausreichender Einnahmen für das Reich zu beschäftigen.
Da steckt sich nun die Opposition hinter die noch vorhandenen Bestände, welche
ausreichend sind, uns noch einmal über das Defizit eines Budgetjahres hin¬
wegzuführen. Der Opposition war das Spiel ziemlich leicht gemacht durch
zwei Umstände. Einmal dadurch, daß die Reichsregierung nicht mit genü¬
gendem Nachdruck den Standpunkt gewählt hat, daß es sich um dauernde
regelmäßige Einnahmen und nicht um die Deckung eines Jahresdefizit handelt,
für das man im schlimmsten Fall auf die Matrikularbeiträge greifen kann.
Der zweite erleichternde Umstand für die Opposition war die höchst mangel¬
hafte Beschaffenheit der vorgeschlagenen Steuerprojekte. Dieselben stehen in
der nächsten Woche zur Berathung, und wir haben noch Gelegenheit genug,
uns mit ihnen zu beschäftigen. Heute sei noch mit einigen Worten der Rede
des preußischen Finanzministers gedacht.
Er begann mit der Versicherung, es bestehe kein Gegensatz zwischen dem
Reichstag und der Reichsregierung, eine Versicherung, die nach der eben ge¬
hörten Rede des Herrn Eugen Richter auf die Fähigkeit schließen läßt, den
breitesten Abgrund zu überspringen oder zu übersehen. Denn unmöglich
konnte Herr Camphausen sicher sein, daß die Richter'schen Ansichten gar keinen
Anklang finden würden. Wenn diese Sicherheit bestände, so wäre das Schicksal
der Session entschieden, während wir in der That vor einer unberechenbaren
Entscheidung stehen.
Weiter sprach Herr Camphausen ganz beiläufig die Ueberzeugung aus:
wenn die Regierung mit dem Reichstag nicht übereinstimme, so müßten die
leitenden Männer weichen. Da es sich in der Form und in der Sache bei
der Neichsregierung um Einen leitenden Mann handelt, so hat Herr Camp¬
hausen ganz beiläufig eine Frage entschieden, deren Entscheidung manchem
Andern Kopf und Herz schwer macht. Es ist eine beneidenswerte, aber
manchmal eine bedenkliche Sache um ein oosur I6gsr.
Weiterhin äußerte Herr Camphausen sein Bedenken dagegen, mit der
Deckung des Defizit bis zur Berathung des Budgets für 1877 zu warten,
und gleich darauf äußerte er seine Freude, daß der Reichstag bei dem Budget
für 1875 das „schablonenhafte Vorgehen" verlassen und die Bedürfnisse zum
Theil durch Aufwendung vorhandener Bestände gedeckt; denn dadurch werde
der Reichstag lernen, sich in Zukunft an der Sorge für die Deckung der
Ausgaben zu betheiligen. In Sachsen giebt es ja wohl ein Volkslied mit
dem Refrain: wie reimt sich das zusammen? Wir fürchten sehr, ein großer
Theil des Reichstags wird sehr geneigt sein. Herrn Camphausen beim Wort
ZU nehmen und ihm zu sagen: ja wohl, trefflicher Minister, wir wollen uns
an der Sorge für die Deckung der Ausgaben jedes Jahr betheiligen, und
damit wir diese Sorge bald genug kennen lernen. wollen wir alle Bestände
so schleunig als möglich bis auf den letzten Rest aufzehren.
Weiter sagte Herr Camphausen: „Je schärfer Sie die Ausgaben limi-
tiren. desto willkommener werden sie dem Finanzminister sein." Das wird
sich der Reichstag nicht zwei Mal sagen lassen, dachten wir. Aber sogleich setzt
der Finanzminister hinzu „ohne Schädigung der Interessen des Reichs". Gewiß
der nöthigste aller Vorbehalte. Aber wenn man einen solchen Vorbehalt in
petto hat, sollte man nicht vorher streichsehnsüchtigen Reichsboten den Mund
wässrig machen durch ein Willkommen, das man ihren Streichungen entgegen¬
bringt. Aber Herr Camphausen sorgt dafür, daß das Wasser im Munde
"icht zu schnell zurückgeschluckt werden muß. durch die Worte: „damit spreche
ich nicht aus. daß jeder einzelne Titel der Militärausgaben unanfechtbar ist".
"Sehr gut" erscholl es von den Bänken des Reichstags. Ach so, erklang es
manchem Hörer.
„Und nun möchten denn doch die Steuervorlagen der Regierungen in
einem etwas andern Licht erscheinen"; damit wandte sich Herr Camphausen
zu den neuen Steuern. Wieso? müssen wir fragen. Mit einem unisono ge¬
fragten Wieso müssen wohl alle unbefangenen Leser diese Rede vom Anfang
b
Wenn man die Novitäten des deutschen Kunstverlags und der Pracht¬
ausgaben mustert, so möchte man fast, mit freier Benutzung der letzten Bu.-
getrede Eugen Richter's, ausrufen: daß die Produktion auf diesem Gebiete
opulenter sei, als in dem großen Gründerjahre 1872. Hoffentlich halten auch
die Einnahmen der Unternehmer Schritt mit ihrem Wagemuth. Jetzt giebt
es freilich für längere Zeit nicht mehr Salons pilzartig emporgeschossener Börsen¬
größen auszurüsten mit salonfähiger Literatur, bei deren Auswahl meist die
Arbeit des Buchbinders den Ausschlag gab. Aber der Geschmack an wirklich
Schönem und Gutem, die Förderung wahrhaft künstlerischer Bestrebungen ist
sicherlich seit dem großen Krach nicht geringer geworden. Solange junge
Herzen frisch und warm empfinden, werden z. B. Werke, wie sie die Arnol¬
dische Buchhandlung in Leipzig bietet „im Frühling, Lenzlieder deutscher
Dichter, mit acht Illustrationen in Farbendruck von Hermine Stille", nicht
unbeachtet bleiben. Beweis dafür ist, daß dieses Werk zum bevorstehenden
Feste schon in zweiter Ausgabe erscheint. Die Auswahl des Textes ist mit
feiner Empfindung getroffen. Die Illustrationen der Künstlerin, welche in
der lithographischen Anstalt von I. G. Bach in Leipzig mit rühmlicher Voll¬
endung in Farbendruck wiedergegeben wurden, stellen in sinnigster Anordnung
die deutsche Flora des Frühjahrs — theilweise in sehr gelungener und origi'
netter Verbindung mit landschaftlichen Motiven — zusammen. Die reiche
Ausstattung, welche allen Werken dieses Verlags eigen ist, fehlt natürlich
auch diesem Buche nicht.
Eine naturgemäß bei weitem größere Vielseitigkeit des Textes bietet das
Album deutscher Kunst und Dichtung von Friedrich Boden se ete,
mit Illustrationen (Holzschnitten) von Thumann, Ludwig Richter, Pietsch,
Riesstahl, Cloos, Vautier, Beyschlag. Piloty u. A., das nun schon in dritter
umgearbeiteter Auflage im Verlag der G. Grote'schen Verlagshandlung in
Berlin erschienen ist. Friedrich Bodenstedt, dessen Feder noch in späten
Jahren Gaben darbringt, welche den ungewöhnlichen Erfolg seiner früheren
Dichtungen zu erreichen versprechen, dürfte wohl einer der berufensten Her¬
ausgeber einer solchen Sammlung sein. Wir meinen, es ist zwar das Selbst¬
verständlichste, aber von den wenigsten der gleichartigen Sammlungen erreichte
Lob, das man dieser Auswahl darbringen kann, wenn man sagt, sie zwingt
den Leser dazu gelesen zu werden, mit nachhaltiger Freude gelesen zu werden,
und die Illustrationen stehen fast durchweg auf der Höhe der Dichtungen,
die Bodenstedt's feines Gefühl in dieser Sammlung vereinigte. Die vorzüg¬
lichsten deutschen Xylographen, Brend'amour u. A. haben ihr Bestes gethan,
um das Werk des Zeichners zu gebührender Geltung zu bringen.
Uebrigens ist bekanntermaßen dieses Album keineswegs das einzige Fest¬
geschenk, welches der Grote'sche Verlag uns bietet. Hier erschien die erste
illustrirte deutsche Ausgabe des Shakespeare in Lieferungen, die nun.
seit kurzer Zeit abgeschlossen, bereits in zweiter Auflage vor uns liegt. Die acht
geschmackvollen Bände werden allen Verehrern des großen Briten, der trotz
der kleinlichen Angriffe kleiner Geister immer als der vornehmste Vertreter des
germanischen Dramas gelten wird, eine hochwillkommene Weihnachtsgabe sein.
Selbstverständlich gilt dieses Lob nicht blos der äußeren Ausstattung dieser
Prachtausgabe, sondern vornehmlich ihrem inneren Gehalt, Zunächst ist er¬
freulicherweise die Uebersetzung von Schlegel und Tieck beibehalten worden, die
mit vollem Grunde seit Jahrzehnten Bürgerrecht in unserer deutschen Literatur
erlangt hat. und trotz einzelner neuerer vorzüglicher Leistungen, wie z. B.
einiger Uebersetzungen Shakespeare'scher Dramen von Gildemeister, noch heute
im Großen und Ganzen weitaus die erste Stelle unter den deutschen Shakes¬
peare-Uebersetzungen einnimmt. Ferner wird das Verständniß des Dichters
durch eingehende Abhandlungen von Richard Gosche und Benno Tschischwitz
über die Zeit und Umstände der Entstehung der einzelnen Dramen. die Ab¬
sichten des Dichters bei ihrer Abfassung, die verschiedenen Meinungen der
Literarhistoriker und Aesthetiker über die Ideen und die Charaktere des betr.
Dramas wesentlich gefördert, und wenn sich diese Abhandlungen oder „Ein¬
leitungen" auch durchaus auf der Höhe strenger Wissenschaft halten, so stehen
sie dafür auch weit über dem literarhistorischen Mittelgut, mit dem häufig
sogenannte Volksausgaben klassischer Dichter dotirt werden, und sind zudem
von jedem Gebildeten mit Nutzen zu lesen. Die Illustrationen (Holzschnitte)
sind von den hervorragendsten Malern Deutschlands gezeichnet, die künstlerische
Arbeitstheilung von den Herausgebern mit großem Verständniß geleitet worden.
Paul Thumann und Woldemar Friedrich haben hauptsächlich die bürgerlich¬
lyrischen Scenen. Alexander Wagner hat die römischen Dramen. Heinrich
Lossow die Roccoco-Scenerien. Adolf Menzel die Falstaff-Episoden illustrirt.
während Piloty. Gabriel Max. Grod Johann. Fritz Roher u. A. in ihren
Genres mit warmem Interesse an dem Bilderschmuck dieser schönen Ausgabe
mitgearbeitet haben. —
Ein Werk von hervorragendster Bedeutung und Würde der Ausstattung
bietet der Verlag von Alphons Dürr in Leipzig in den „sämmt¬
lichen Gedichten Michelangelo's" in Guasti's Text, mit deutscher
Uebersetzung von Sophie Hasenelever. Lange Zeit ist die Herstellung
dieses herrlichen Werkes beabsichtigt, seine Ausführung nun von allen Be¬
theiligten in ehrenvollster Weise bewerkstelligt worden. Wenn man einen sym¬
bolischen Ausdruck suchen wollte für die innigen Beziehungen. die zwischen
den vornehmsten Vertretern des italienischen und deutschen Geistes in frucht¬
barster Weise seit dem Ausgang des Mittelalters fast ununterbrochen stattge¬
funden . einen bezeichnenden Beleg ferner für das freundliche Verhältniß beider
Nationen in ihren höchsten nationalen Angelegenheiten, man dürfte mit Stolz
auf das vorliegende Buch verweisen. Der vielseitigste Genius, den Italien be¬
sessen, tritt uns hier von der Seite entgegen, in der er den Zeitgenossen noch
höher stand denn als Dichter und Bildner: als Charakter, als Mensch. Nie¬
mand wird diese Verse ohne den tiefsten nachhaltigsten Eindruck lesen. Denn
die schwersten und heiligsten Kämpfe, die einem Menschenherzen beschieden
sein können, hat Michelangelo durchkämpft, und diese Gedichte sind die bered¬
testen Zeugnisse dafür, mit welcher Hoheit und Wahrheit seine Natur diese Kämpfe
überwunden hat. Die Uebersetzerin hat in treuester Anlehnung an das italienische
Original — das gleichfalls dem Leser mitgetheilt wird — die schwierige Auf¬
gabe, welche die spröde Diction des Dichters bietet, vortrefflich gelöst. Man
wird ihrer Uebersetzung im Vergleich mit allen frühern unbedingt den Preis
zuerkennen dürfen. An Vollständigkeit steht diese Ausgabe einzig da, da sie
Guasti's Text, bekanntlich den zum ersten Mal leidlich authentischen, benutzen
durfte. Der Leser des Buches wird durch ein längeres Vorwort Max Jor¬
dan's über die Absicht der Herausgeber und die Vorzüge dieser Ausgabe sehr
gut orientirt. Die typische und künstlerische Ausstattung des Werkes ist mit
erlesensten Geschmacke und größter Munificenz geschehen.
Die erste Hülfe bei Verletzungen. Ein populärer Vortrag von
Dr. F. Esmarch. Professor der Chirurgie in Kiel. Mit 25 Holzschnitten.
Hannover, Carl Rümpler. 1875.
Das Thema, welches der Verfasser hier behandelt, ist in unsrer Zeit der
Kriege, der Eisenbahnen und Fabriken für jedermann von hohem Interesse,
und wenn dasselbe, wie hier, von einem der ersten Chirurgen der Gegenwart
behandelt wird und zwar in einer Weise, die es auch dem Laien, selbst dem
ungebildeten, verständlich macht, so ist das ein Unternehmen, dem der Erfolg
nicht fehlen kann, wenigstens nicht fehlen sollte, zumal die beigegebenen Holz¬
schnitte die kleine Schrift zu einem noch praktischeren Rathgeber in Nothfällen
machen. Der Verfasser bespricht nach der Reihe die verschiedenen Verletzungen,
welche vorkommen können, erklärt sie und giebt die einfachen Manipulationen
an, mit denen ihnen, bis ärztliche Hülfe zu erlangen, wirksam zu begegnen ist.
Zunächst werden die Quetschungen oder Contusionen, dann die Knochenbrüche
und Verrenkungen ins Auge gefaßt und deren Behandlungsarten, soweit der
Laie dazu befähigt, durchgenommen, und zuletzt kommt der Verfasser auf das
Gebiet der Wunden zu sprechen. Aus diesem Abschnitt wollen wir einen
Auszug als Probe geben.'
Bei der Stillung von Blutungen hilft ein Druck mitdem Finger, der die
Wunde eine Zeitlang zusammenpreßt, oft besser als Anderes. Um einen dau¬
ernden Druck auf die verwundete Stelle auszuüben, kann man das Glied mit
einer Binde oder einem Tuche fest einwickeln, und wenn man diese Verband¬
stücke vorher naß macht, so schmiegen sie sich besser an', verschieben sich nicht
leicht und wirken zugleich kühlend. Will man den Druck auf einen Punkt
concentriren, so macht man einen Knoten in das Tuch, mit dem man das
Glied umschnürt. Viel wirksamer als eine Binde oder ein Tuch ist ein elasti¬
scher Gurt oder Schlauch, der unter starker Dehnung um das Glied gewickelt
wird. Schon ein elastischer Hosenträger kann eine heftige Blutung stillen,
weshalb Soldaten sich mit solchen Tragbändern versehen sollten. Wo ein
elastischer Gurt nicht zur Hand ist, kann man ein Knebeltourniquet impro-
visiren, indem man ein Taschentuch, in welches man einen festen Knoten ge¬
schlagen, um das Glied wickelt, unter dasselbe einen kurzen Stock, Degen,
Ladestock u. d. schiebt und es durch Umdrehungen zusammenknebelt. Wenn
man bei Blutungen der Hand oder des Vorderarms dicken Stock, ein
Buch oder sonst einen harten Körper zwischen Arm und Brustseite des Ver¬
wundeten legt und dann den Arm mittelst eines Tuches fest an den Ober¬
körper anbindet, so muß die Blutung sofort aufhören. Aehnlich wirkt bei
muskulösen Menschen eine forcirte Beugung des Arms im Ellbogengelenk,
durch welche die Pulsader in der Ellenbeuge so geknickt wird, daß kein Blut
mehr hindurchpassiren kann.
Nach Stillung der Blutung ist ein Verband anzulegen, der die Wunde
während des Transports des Verletzten zum Arzte vor Staub, Insekten und
Sonnenstrahlen schützt, einen gleichmäßigen Druck auf dieselbe ausübt und
den verwundeten Theil in einer Lage fixirt, wo er nicht hin- und herschwanken
und in unsanfte Berührung mit andern Gegenständen kommen kann. Immer
ist hier wohl ein Tuch zur Hand, oder es läßt sich rasch eins durch Zerreißen
von Kleidern oder Hemden improvisiren. Durch geeignete Verwendung der
verschiedenen Zipfel eines dreieckigen Tuches kann man sehr zweckmäßige Deck¬
verbände und Tragetücher für verletzte Glieder herstellen, wie man sie in unsrer
Schrift auf Figur 24 und 25 angewendet sieht, und wenn man die Tücher
vor der Anwendung befeuchtet und dieß während des Transports wiederholt,
so wirken sie durch die Verdunstung zugleich angenehm kühlend auf den ver¬
wundeten Theil. Die Anlegung dieser Verbände ist so einfach, daß ein nicht
ganz ungeschickter Mensch dieselbe in einer Stunde zu erlernen vermag, und
der Verfasser hält es deshalb für sehr wünschenswert!), daß die, welche häu¬
siger in die Lage kommen, bei Verletzungen Hülfe leisten zu müssen, als Jäger,
Maschinenarbeiter, Eisenbahnbeamte, Reisende, besonders aber Soldaten, sich
diese Fertigkeit erwerben.
Von selbst versteht sich, daß man Wunden, welche durch Staub oder
Schmutz sichtbar verunreinigt sind, möglichst bald durch Auswaschen von diesen
schädlichen Stoffen zu befreien sucht. Man nimmt Wasser dazu, so rein als
man es gerade bekommen kann, und zieht, wenn es zu haben ist, gekochtes
Wasser, frisches Quellwasser oder reines Meerwasser anderm Wasser vor. Ein
sauberes Tuch ist einem für andere Zwecke schon gebrauchten Badeschwämme
bei weitem vorzuziehen. Wo aber eine sichtbare Verunreinigung der Wunden
nicht stattgefunden hat, sollten Laien sich des Auswaschens enthalten, weil
man nie sicher sein kann, ob das Wasser, die Schwämme oder Tücher, mit de¬
nen die Reinigung vorgenommen zu werden pflegt, nicht Stoffe enthalten,
welche, in frische Wunden gebracht, einen schädlichen Einfluß auf dieselben aus¬
üben könnten. Auch die Aerzte sind in dieser Beziehung in neuerer Zeit
immer vorsichtiger geworden. Sie reinigen die Wunden in der Regel nur mit
Wasser, welches durch einen Zusatz von Carbol- oder Salicylsäure desinficirt
worden ist, und zwar mit Hülfe einer Wunddouche, mit welcher man einen
sanften Strahl über die Wunden hinlaufen läßt. Und wenn sie sich der
Schwämme bedienen, so lassen sie dieselben vorher durch Liegen in Carbol¬
säurelösung vollständig von schädlichen Stoffen frei werden. Frisch geronnenes
Blut ist die beste Bedeckung für eine frische Wunde. Findet man eine solche
also mit einem Blutgerinnsel bedeckt, so entferne man dasselbe nicht, sondern
überlasse dem Arzte die Entscheidung, ob die Wunde gereinigt werden soll oder
nicht. Am besten würde es sein, auf frische Wunden sobald als möglich ein anti¬
septisches Mittel wie Salicylsäure zu bringen, um von vornherein der Wundfäul-
nifz entgegenzuwirken. Ein solches wird jedoch selten zur Hand sein. Da indeß
starke spirituöse Flüssigkeiten auch eine fäulniszwidrige Wirkung haben, so ist gegen
das Auswaschen frischer Wunden mit starkem Branntwein, welches in manchen
Gegenden und bei manchen Handwerken üblich ist, nicht viel einzuwenden-
Wenn durch Schnitte oder Hiebe ganze Stücke vom Körper abgetrennt
sind, z. B. Stücke von der Nase, den Lippen, den Fingern, so darf man die
Wiederanheilung derselben nicht für unmöglich halten. In nicht wenigen
Fällen sind solche Stücke, wenn sie gut und zweckmäßig befestigt und verbun¬
den wurden, wieder fest gewachsen, selbst nachdem sie schon stundenlang vom
Körper getrennt gewesen waren. Dem Verfasser selbst ist es noch vor Kur¬
zem gelungen, ein von einem Finger abgeschnittnes Stück, welches auf den
Boden gefallen war, zur AnHeilung zu bringen. Man lasse solche Stücke
also nicht auf der Erde liegen, sondern hebe sie sorgfältig auf und bringe
sie mit dem Verwundeten zum Arzte, damit dieser wenigstens den Versuch
machen kann, ihre AnHeilung zu bewirken.
Hiermit ist das kleine Buch mit seinen sauber ausgeführten Abbildungen
den Lesern d. Bl. mit dem Wunsche empfohlen, daß ein neuer Krieg, an den
dabei doch vorzugsweise gedacht sein wird, uns noch lange fern bleiben möge-
Die Kriegsverfassung der schweizerischen Eidgenossen¬
schaft im 15. Jahrhundert gewährt in doppelter Hinsicht hervorragendes
Interesse: einmal weil manche ihrer Wehreinrichtungen auf alle Zeiten, bis
auf den heutigen Tag. vorbildlich geworden sind für das ganze militärische
Europa, und zweitens, weil die Verhältnisse der schweizerischen Genossenschaft
mehr oder minder vollgiltige Anwendung auf die übrigen damaligen Städte¬
bünde Südwest-Deutschlands zulassen, diese also in jenen mittelbar ebenfalls
dargestellt werden.
Gegen das letzte Viertel des 15. Jahrhunderts bestand die Eidgenossen¬
schaft aus 8 Orten, deren Verbindung in der Weise erfolgt war. daß sich an
den Kern der Urkantone: Uri. Schwyz und Unterwalden. die Orte Luzern
Glarus. Bern und Zug jeder im einzelnen anschloß und dieselben auf solche
Art mittelbar auch untereinander in Verbindung traten. Diese acht Orte
hatten dann mit vereinigten Streitkräften einige. zum Theil nicht unbedeu¬
tende. Landesbezirke erobert. Dies waren die sogenannten „gemeinen Herr¬
schaften" oder „Unterthanenlande", wie die Grafschaft Baden nebst dem freien
Amte (1415). die Landgrafschaft Thurgau und ein Theil der Grafschaft Sar¬
gans (1460). sämmtlich ehemalige Besitzungen des habsburgisch-österreichischen
Hauses. Einen dritten Bestandtheil der Eidgenossenschaft bildeten die soge¬
nannten „zugewandten Orte", nämlich solche Landschaften und Gemeinden, die,
ohne Glieder des eigentlichen Bundes zu sein, doch mit einem oder mehreren
der acht Orte in Bündnis standen und daher indireet die Hilfe der Bundes¬
genossen in Anspruch nehmen konnten, wenn diese von dem. mit ihnen ver¬
bündeten Orte dazu aufgefordert wurden. Solcher zugewandten Orte gab es
viele, wie namentlich die fürstliche Abtei Se. Gallen mit der Stadt gleichen
Namens, sodann Appenzell mit sieben Orten, die Reichsstadt Solothurn, die
Städte Viel. Freiburg im Uechtland. die Stadt und Grafschaft Neuenburg.
die Herrschaft Valangin. die Stadt Murten (seit 1334). die Landschaften
Samen, Oesch und Rotenbuurg. — In der letzten Zeit hatten sich noch die
Städte Schaffhausen und Rottweil in Schwaben mit allen acht Orten auf
fünfzehn Jahre verbündet; die elsässische Reichsstadt Mühlhausen war mit
Bern in Bundesgenossenschaft.
Einige der zugewandten Orte befanden sich in dem besonderen Falle, daß
sie nicht freie Gemeinden bildeten, sondern unter der Landes- oder Schutz¬
herrlichkeit eigener Fürsten standen, deren Rechte dann in den Verträgen vor¬
behalten wurden, wie z. B. Toggenburg in Beziehung auf den Fürstabt von
Se. Gallen, Neuenburg in Hinsicht auf den Bischof von Basel. Freiburg be¬
züglich der österreichischen, später savoyischen Oberherrlichkeit*). Mit dem Frei¬
staate Graubünden, der sich eben erst in den rhätischen Gebirgen zu bilden
begann, bestand noch keine politische Verbindung; nur lose waren die Bezieh¬
ungen zu Wallis am Südfuße der bernerischen Hochalpen. Mit Savoyen
unterhielt allein Bern enge Verbindung, und unfriedlich war das Verhältniß
der drei Waldstätte zu dem Herzoge von Mailand, dem die Urner nach
wiederholtem blutigen Zwiste die Abtretung des Livinerthales abgerungen
hatten.
Das Kriegswesen war in allen Orten der schweizerischen Eidgenossenschaft
wohlgeordnet**), doch gab es kein eigentlich eidgenössisches Kriegswesen,
und bet der Beschaffenheit eines Bundes von selbständigen Staaten konnte
es keines geben. Die Mittel zum Kampfe aufzubringen, das Material an
Menschen, Pferden, Waffen, Kriegsgeräth und Ausrüstungsgegenständen zu
beschaffen, Befestigungen anzulegen, die ausgehobene Mannschaft angemessen
zu organisiren und unterhalten, blieb vollkommen den einzelnen Orten über¬
lassen. Auch die Einrichtungen des Kriegswesens waren in den verschie¬
denen Orten keineswegs die gleichen; aber sie basirten doch fast überall auf
den nämlichen Grundsätzen. Die Verschiedenheiten, welche ^hervortreten, be¬
stehen namentlich zwischen den Städtekantonen und den Bauerkantonen, wäh¬
rend zwischen den Städten selbst, trotz ihrer so verschiedenartigen aristokrati¬
schen oder demokratischen Verfassung kein namhafter Unterschied bemerkbar
wird.***)
Fassen wir zunächst die Wehrpflicht ins Auge. — Bei dem recht¬
losen Zustande des Mittelalters, da nur die Gewalt der Waffen den Bestand
der Städte und freien Gemeindewesen sichern konnte, sowie angesichts der
Nothwendigkeit, bei verhältnißmäßig schwacher Volkszahl dem Feinde doch
eine möglichst große.Menge von Streitern entgegenzusetzen, war jeder Bürger
oder freie Landmann unbedingt wehrpflichtig, in älterer Zeit
allerdings nur innerhalb des Gebietes der Stadt oder Landschaft. Weder
höheres Alter noch Stand befreiten von der Wehrpflicht; sogar die Leibei¬
genen wurden (den sonst fast überall geltenden Grundsätzen zu-
wider) ebenfalls zum Waffendienst herangezogen. — Die Aufnahme des
Jünglings zum Bürger oder Landmann erfolgte nach altgermanischer Sitte
zu der Zeit, in welcher er das wehrbare Alter erreichte. Bei Ablegung des
Bürger- oder Landeseides mußte er schwören, in Vaterlandesnöthen mit Gut
und Blut einzustehen. — Für Zuziehende war, um als Bürger oder Land¬
mann Aufnahme zu finden, Wehrhaftigkeit erste und unerläßliche Bedingung.
Kriegstüchtigen Männern ward die Erwerbung des Bürger- oder Landrechtes,
an dem Orte ihrer Niederlassung leicht. Stets wurde aber verlangt, daß sie
im Besitze der nöthigen Waffen und Rüstungen seien, um ihn zu beschützen. —
Bei dieser Auffassung der allgemeinen Wehrpflicht waren die 8 Orte (abgesehn
von den Unterthanen und Zugewandten) gegen Ende des 15. Jahrhunderts
den Angaben eines gleichzeitigen Schriftstellers") zufolge, in der Lage, eine
Streitmacht von 64.500 Mann aufzustellen, von denen 20,000 auf Bern.
10,000 auf Zürich, 9000 auf Luzern, 15,500 auf die andern 5 Orte fielen.
Unter Hinzurechnung der Unterthanen und Zugewandten mochte die Gesammt-
stärke des Bundes an streitbaren Männern wohl auf 70.000 steigen. — Wer
bei drohender Feindesgefahr das Land verließ oder sich der Wehrpflicht entzog,
der ging selbstverständlich seines Bürger, oder Landrechtes verlustig. Ueber-
dies waren sür solche Heeresflüchtige strenge Strafen bestimmt. In dem
Stiftsland Se. Gallen z. B. war im 14. und 15. Jahrhundert Leib und Gut
desjenigen, der bei ergebenden Landsturm zurückblieb, seinen Nachbarn „er¬
laubt". In Bern sollte einem solchen sein Haus von Grund aus zerstört
werden, und in Ovwalden war bestimmt, daß wer bei einem Auszuge (ehehafte
Noth vorbehalten) zu Hause bleibe oder das Landpanner verlasse, dadurch
ehrlos und meineidig werde.
Mit der steten Instandhaltung undUeberwachung der Wehran¬
stalten war meist der „Kleine" oder „Innere Rath" betraut und von diesem
wieder insbesondere der Landammann oder Bürgermeister, die Pannerherren
und Verner (d. h. die Fähnriche). In den Ländern ging sogar aus dem kriege,
rischen Amte des Anführers das des Landammanns im Frieden hervor. Wer
die Krieger im Felde führte, den stellten sie auch im Frieden an die Spitze
der Geschäfte, und wer im Frieden diese leitete, den wählten sie auch im Kriege
gewöhnlich zum Anführer. Aehnlich war es in den Städten; die Einrich¬
tungen des Staates waren hier ebenfalls durchaus zugleich auf den Krieg be¬
rechnet, und erst in späterer Zeit wurde der Rücksicht auf ruhige Entwickelung
des materiellen Wohlstandes das Hauptaugenmerk zugewendet. — Außer den
schon genannten Beamten waren der Zeugherr, der Bauherr und der Stadt¬
oder Landesseckelmeister mit den einzelnen Zweigen der Kriegsverwaltung
beschäftigt.
Wenn die oberste Landesbehörde nicht aus Kriegsmännern bestand, so
wurden die Hauptleute und Verner ihren Berathungen beigegeben oder ihr
zum Zweck der Leitung und Beaufsichtigung des Kriegswesens ein Kriegsrath
beigeordnet. Im 14. Jahrhundert hatten z. B. in Bern die Verner allen
Verhandlungen des Raths beizuwohnen, und in Unterwalden ward noch 1S87
festgesetzt: „Wenn ein Hauptmann und Pannerherr gesetzt werde, sollen sie
auch zu allen Räthen gehen und bei denselben handeln oder rathschlagen
helfen, es sei daheim oder im Feld, wie's an andern Orten auch geschehe."
In Uri wurde ebenfalls zu Ende des 16. Jahrhunderts ein Kriegsrath ge¬
bildet, welcher aus allen Vorsitzenden Herren und geheimen Räthen, den beiden
Oberst-Landes - Wachtmeistern, Rottenhauptleuten und den Proviant-Stück-
(Artillerie) und Troßhauptleuten bestand und welcher alle die Kriegssachen
betreffenden Beschlüsse zu fassen hatte. Diese Daten aus verschiedenen
Jahrhunderten zeigen deutlich, wie die Durchdringung der bürgerlichen Ver¬
waltungsmaßregeln mit der militärischen Intelligenz geschulter Soldaten den
Schweizern zur Zeit ihrer kriegerischen und europäischen Wirksamkeit durchaus
nothwendig erschien.
Einer so innigen Verschmelzung der bürgerlichen und militärischen Be¬
hörden entsprach es, daß die kriegerischen Einrichtungen mit den politischen
zusammenfielen. — Jedes Land und jede Stadt, jede Herrschaft und jedes Amt,
ja jede Zunft hatte ein eigenes Zeichen (Panner oder Fähnlein) und die
Mannschaft derselben bildete eine besondere Rotte. Weitere Unterabtheil¬
ungen fanden nicht statt, wohl aber wurde die Mannschaft sehr kleiner Land¬
gemeinden zuweilen vereinigt.*) Innerhalb jener engen, scharf abgegrenzten
Kreise wurde nun eigentlich Alles erledigt, was sich auf die personellen Ver¬
hältnisse des Kriegswesens bezieht.
In den Städten waren es die Zunft- oder Quartiermeister, in
den Ländern die Viertelsmeister, in Glarus die Vorsteher der Tagwen,
in Appenzell die Gemeinderäthe, welche die wehrfähige Mannschaft auf-
zeichneten, sich überzeugten, daß eines jeden Waffen vollständig und in gutem
Zustande seien und daß die Mannschaft sich ihrer Wehren gehörig zu be¬
helfen wisse. In den Herrschaften und Aemtern war die gleiche Thatet
den Vögten und Amtleuten übertragen. Die Nothwendigkeit nämlich,
sich in den erworbenen Herrschaften und Landschaften nicht nur zu be¬
haupten, sondern auch die Kräfte derselben für die Abwehr des fremden Fein¬
des nutzbar zu machen, hatte die Schweizer veranlaßt, diesen Gebieten eben¬
falls militärische Verfassung zu geben und Landvögte über dieselben zu setzen.
Wie alle ältern schweizerischen Einrichtungen war auch die der Vögte germa-
msch.kriegerischen und nicht römisch-juridischen Ursprungs. Die Landvögte
waren anfänglich Befehlshaber der Besatzungen von Burgen und festen Platzen,
die an strategisch wichtigen Punkten in dem erworbenen Lande vorgefunden
oder angelegt worden und denen die umliegenden Gemeinden burgpflichtig
waren. In solcher Stellung bekleideten die Vögte aber zugleich die Eigen¬
schaft von Statthaltern der Regierung und erschienen als die natürlichen
Führer des Aufgebotes jener Unterthanenlande. Die Stärke, in welcher diese
der herrschenden Stadt Kriegshilfe zu leisten hatten, war gewöhnlich durch
einen ganz genauen Vertrag bestimmt. - Dieselbe Stelle, wie die Landvögte
in den Vogteien und Herrschaften verwalteten in den Aemtern Amtleute.
Die unmittelbare Verbindung der kriegerischen mit der politischen Ein¬
teilung bot den Vortheil einer steten Überwachung des Kriegswesens durch
die gewöhnliche Obrigkeit. Die Auszüge konnten in beliebiger Stärke organi-
sirt und nach Maßgabe der Nothwendigkeit nach und nach verstärkt werden,
wobei die Last des Kriegsdienstes immer aus das ganze Land gleich vertheilt
bleiben und die genaue Kenntniß aller personellen Umstände das nothwendige
Erfordernis; mit der möglichsten Schonung verbinden konnte. Zumal bei
Aushebungen von geringerer Stärke war man im Stande, billige Rücksicht
auf die Verhältnisse zu nehmen. - Bei dem Kriegsvolk der Städte regelten
die Zünfte übrigens auch den ganzen inneren Dienst, und jeder Bürger
mußte einer Zunft angehören; denn selbst wenn er nicht waffenfähig war. so
War er doch immerhin anderweitig z. B. zu Geldleistungen für Kriegszwecke
verpflichtet.
Da nun die Gestellung der Mannschaft, die Bewaffnung und Ausrüstung
sowie die Vorsorge sür Mundvorrath und Zehrpfennig zunächst überall den
Zünften. Gesellschaften. Aemtern und Herrschaften zur Last fiel, so wurden
die finanziellen Kräfte des „Ortes", d. h. des Staates, nur für wenige be¬
sondere Gegenstände (Anwerbung' von Söldnern. Lieferung des Geschützes,Anlage von Befestigungen u. s. w.) in Anspruch genommen.
n
I demselben Verhältnis wie die kriegspflichtigen Aemter und Herrschaften
^ den herrschenden Städten und Ländern befanden sich die zugewandten und
eidgenössischen Orte zu einander. Die Bundesbriefe bestimmten, in welchen
Fällen, unter welchen Bedingungen und bis wohin die Mannschaft eines zu¬
gewandten Ortes aus ergangene Mahnung zu ziehen habe.
In Bezug auf die Art und Weise, wie die Mannschaft auf-
gebracht wurde, dürften folgende Fälle zu unterscheiden sein. Wo einer
Stadt oder einem Land unmittelbar Gefahr drohte und ein feindlicher Ein¬
fall plötzlich stattgefunden hatte oder zu erwarten stand, da wurden durch Hoch¬
wächter mit Feuer und Rauch, sowie durch Eilboten alle wehrhaften Männer
als „Landsturm" unter die Waffen gerufen. — Wenn ein zum Bund ge¬
höriger, eidgenössischer oder zugewandter Ort, vom Feind angegriffen, um
Hilfe und Zuzug mahnte, oder wenn die eidgenössischen Orte nach gemein¬
schaftlicher Uebereinkunft irgend eine Kriegsunternehmung beschlossen hatten,
so fand ein „Auszug" statt. Eben dasselbe geschah wenn eine vom Feinde
bedrohte Stadt oder Burg Besatzung erhalten oder erobertes Land bewacht
werden sollte. Der in diesen Fällen stattfindende Auszug bestand entweder
aus Freiwilligen oder einem Aufgebot. Bei Gelegenheiten von geringerer
Bedeutung genügte es auch wohl, daß die burgpflichtigen Gemeinden der
Umgegend die bedrohte Feste oder Letzemauer besetzten und den Nachtdienst
versahen.
Zu diesen das eigene Land und Volk angehenden Kriegslager traten
dann später noch die Fälle, daß ein Ort oder die gesammten Eidgenossen
fremden Städten oder Fürsten traktatmäßig Hilfstruppe n sendeten oder
auch die Werbung für den fremden Kriegsdienst bloß einzelnen Hauptleuten
gestatteten; und endlich der Fall, daß ein Einzelner nach uralter Germancn-
sitte auf eigene Faust einen „Freiharst" aufstellte, um die im Feld befindlichen
Truppen zu unterstützen oder zu irgend welchem Zwecke einen Abenteuerer-
Zug zu unternehmen.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Aufbringung des Auszuges, sei es
aus Freiwilligen, sei es aus Ausgehobenen. Die freiwillig Angeworbenen
hieß man nach damaligem Sprachgebrauch „Söldner"; diejenigen, welche aus¬
gehoben wurden „Knechte". Johannes Fründ z. B., ein Kriegsmann, der
im alten Züricherkrieg mitgefochten hat. unterscheidet in der Beschreibung
desselben immer genau Söldner und Knechte. Wo er von Besatzungen der
Burgen und Schlösser spricht, redet er stets von Söldnern, und wo er von
der Mannschaft spricht, die mit dem Panner ins Feld zieht, stets von Knechten.
Söldner, welche sich im bleibenden Dienst der Städte und Länder
befunden hätten, waren im Frieden nur in sehr geringer Zahl vorhanden;
ihre Aufgabe bestand darin, die nöthigen Besatzungen für die Städte und
Burgen in den Herrschaften zu stellen, die Thore der Städte zu bewachen,
den Polizeidienst zu versehen, Geleite zu geben und tgi. Im Fall eines
Kriegs scheint man jedoch die Zahl der Söldner durch Anwerbung Frei¬
williger oft nicht unbedeutend verstärkt zu haben; immerhin aber blieb ihre Zahl
auch bei wesentlicher Vermehrung, im Verhältniß zu der Gesammtmasse doch
nur gering; denn die Orte, welche die Eidgenossenschaft bildeten, waren wohl
geneigt, dem Vaterlande, wenn auch nur auf kurze Zeit, jedes nöthige per¬
sönliche Opfer zu bringen, welches den kriegerischen Erfolg sichern konnte,
aber nicht reich genug, um Soldheere zu unterhalten; thaten sie doch, um
Geld zu erwerben, dem Auslande bald selbst in ausgedehntester Weise Söld¬
nerdienst.
Die Hauptzahl der Streiter, welche in offenem Felde auftraten, bildeten
im 15. Jahrhundert die sogenannten „Aufgenommenen", d. h. die ausge¬
hobenen „Knechte". Die Art, wie die Orte ihre Aushebungen bewirkten,
war verschieden. In den Hochlanden strömten Viele freudig zu dem Land-
Panner, und ohne Zwang stellten diese Gebirgsorte meist ein weit zahlreicheres
Contingent, als ihnen vermöge ihrer Einwohnerzahl zugekommen wäre. An¬
ders war es in den Städten, wo die Bürgerschaft durch ihre Beschäftigungen
wehr gefesselt war, als die auf dem Gebirge umherziehenden Jäger und Hirten.
Da erschien der Kriegsdienst oft als eine Last, und das Gesetz bestimmte
die Art der Vertheilung derselben. Dies Gesetz aber war streng; denn die
Städte erschienen, schon um ihren eigenen Landgemeinden imponiren zu können,
gern so stark als möglich. Sie stellten daher meist die Hälfte bis zwei Drittel
ihrer waffenfähigen Mannschaft, während die von den Städten abhängigen
Landgemeinden nur durch ein Drittel vertreten waren.*)
Was die Form der Aushebung betrifft, so beauftragte der Rath
einige seiner Mitglieder, die Aushebung zu überwachen und die „Reiserödel"
anzufertigen. Solche Reiserödel enthielten die Namen der aufzuhebenden
Mannschaft und die Art der Bewaffnung. Dieselben wurden doppelt auf¬
gestellt; das eine Exemplar ward dem Hauptmann ins Feld mitgegeben, das
andere in die Kanzlei gelegt. — Die Archive der meisten schweizerischen Orte
bergen noch viele alte Reise- und Auszugsrödel.
Ursprünglich wurden Rödel nur angefertigt, wenn ein Kriegsfall vorlag;
"n Laufe des 16. Jahrhunderts aber kam es auf, die Mannschaft jährlich,
mochte ein Auszug stattfinden oder nicht, in die Reiserödel einzutragen; und
um im Falle des Bedarfs ohne Weiteres in das Feld rücken zu können,
^urbe mit der Zeit die ganze Mannschaft der Orte bleibend in 2 Auszugs-
^ntingente eingetheilt, von welchen das erste, schwächer an Zahl, mit dem
"Fähnlein", das zweite, stärkere, mit dem „Panner" ins Feld zog.
Wenn nicht die ganze wehrfähige Mannschaft, sondern nur ein Theil
derselben in das Feld ziehen sollte, bestimmte das Loos die, welche zu mar¬
schieren hatten, und diese konnten sich durch einen Stellvertreter vom persön¬
lichen Kriegsdienst frei machen. Damit jedoch das Heer durch zu häufige
Stellvertretung nicht an moralischem Gehalt einbüße, erschienen zuweilen Ver¬
ordnungen, welche die Zahl der Stellvertretungen beschränkten. — An einigen
Orten scheint übrigens die Vertheilung der Kriegspflicht nicht nach Personen,
sondern nach Feuerstellen stattgefunden zu haben, und dies erklärt den Um¬
stand, daß oft auch Greise oder Wittwen Söldner (d. h. Stellvertreter) stellen
mußten. — Bei länger andauernden Feldzügen war es üblich, die im Felde
stehende Mannschaft zeitweise durch die zu Hause gebliebene ablösen zu
lassen. — Um endlich bei lange andauernden, sehdeartigen Kriegen die Fa¬
milienväter zu schonen und sie nicht zu oft und zu lange ihren Heimwesen
und den häuslichen Beschäftigungen zu entziehen, wurden im 14. und dem
größten Theil des 16. Jahrhunderts aus Freiwilligen und kriegslustiger
Jünglingen oftmals die schon erwähnten Freiharste oder sogenannte „Frei¬
heiten" aufgestellt, welchen die Führung des kleinen Krieges oblag und welche
sich selbst verpflegten und keinen Sold erhielten. Auf dem Tage zu Luzern
1476 erging aber ein strenges Verbot gegen diese meist sehr zügellosen „Frei-
heits - Buben", und von da an blieb die Bildung von Freiheiten untersagt.
— Noch 1530, als Hans Frisching zu Bern die Erlaubniß zur Errichtung
freier Fähnlein verlangte, wurde sie verweigert: „weil solche freien Knechte
den Ungehorsam pflanzen, auch alles von dannen in Aesche ufrumen und
plündern und vorab die Spys, so daß die, so bei den Zeichen synd, Mangel
leiden müssen."
Besondere Elitecorps zu bilden, war für gewöhnlich nicht üblich!
doch finden sich auch hiervon einzelne Beispiele. Eine Elite war z. B. die
Gesellschaft der „Böcke" (d. h. der Vorfechter der Heerde), welche sich im alten
Zürcherkrieg einen ehrenvollen Namen erworben hat. Es waren das 16,
später 60 durch Eidschwur verbundene Männer von außerordentlicher Kraft
und Kühnheit, welche nicht nur wie andere ihr Leben in Schlachten gering¬
schätzten, sondern von dem Heldenmuthe begeistert waren, jedes große und
kühne Wagniß zu allererst zu bestehen. Wenn die Zahl dieses Corps auch
sehr gering war, so hat dasselbe doch im Zürcherkrieg bedeutende Dienste
geleistet.
Was das Verhältniß der Waffen innerhalb des Fußvolks
betrifft, so gibt ein Neisrödel des Ortes Zürich vom Jahre 1444 folgende
Einzelheiten: — Nach ihm stellte die Stadt zum Auszuge 639, die Landschaft
2131 Mann; der ganze Auszug zählte also 2770 Mann. Und zwar gab
die Stadt 127 Armbrustschützen, die Landschaft 331, die Stadt 45 Büchsen-
schützen, das Land 16, die Stadt 103 Spieße, das Land 346. die Stadt
361 Hellebarden, das Land 1238. Die Hellebardiere machten also in der
Stadt mehr als die Hälfte der Mannschaft aus. und auf dem Lande waren
sie noch stärker vertreten. Im Ganzen verhält sich die Summe der Helle¬
barden gegen alle übrigen Waffen wie 3 zu 2; von sämmtlichen blanken
Waffen machen die Spieße nur wenig mehr aus als den vierten Theil, und
die Fernwaffen verhalten sich zu den blanken Waffen überhaupt nur wie
ungefähr 1 zu 4. — Die Schützen erscheinen unter solchen Verhältnissen als
eine nicht zahlreiche. doch in großem Ansehn stehende SpezialWaffe, von der
in der Stadt ^, auf dem Lande nur V20 Feuerwaffen führte.*) Im Frieden
bildeten die Schützen Gesellschaften, welche sich namhafter Begünstigungen
von Seiten des Staates erfreuten. Im Felde formirter sie meist eine
besondere Abtheilung und zogen unter eigener Fahne, dem sogenannten
»Schützenvenly".
Die Reiterei der Eidgenossen war gleichfalls wenig zahlreich; doch
hat dieselbe zuweilen gute Dienste geleistet. Ihr Entstehen dürfte dem in
den Städten oder auf dem Lande angesessenen Adel, sowie überhaupt den
Besitzern lehenspflichtiger Güter zu verdanken sein. Mit der Zeit haben
dann auch die sogenannten „Junker"- oder „Constabel-Zünfte" und überhaupt
die vornehmeren oder reicheren Bürger, welche es vorzogen. zu Pferde zu die¬
nen, einen Beitrag zur Vermehrung der Reiterei geliefert. Schon im 14. Jahr¬
hundert geschieht des „Roßpanners" der Berner Erwähnung. Unter ihm
Zogen gewöhnlich (so z. B. 1415) fünfzig Reisige oder Lanzen. Daß Bern
unter allen Eidgenossen die zahlreichste Reiterei ins Feld stellen konnte, ist
sowohl durch die wette Ausdehnung des Gebiets. als durch den Umstand
erklärlich, daß gerade auf dem Berner Lande der meiste Adel, welcher lehens-
Pflichtige Güter besaß, angesessen war. Nebst der Reiterei der Berner wird
^ 2^hrhundert auch die der Freiburger und Solothurner erwähnt. —
Hauptwaffe der vollgerüsteten Reisigen ist auch bet den Eidgenossen die Lanze.
Was die Artillerie betrifft, so führten frühe schon die Schweizer eine
^re leicht beweglicher Geschütze kleinen Kalibers auch im offenen Feld mit,
^weilen so leicht, daß sie nur mit einem Pferde bespannt waren. — Das
elagerungsgeschütz anlangend, setzte im 15. Jahrhundert jede Stadt eine
vesondere Ehre darin, möglichst schwere Kanonen zu besitzen. Die großen
einbüchsen, welche ein oder mehrzentnerige Steinkugeln schössen, hieß man
»setzen", die langröhrigen Geschütze aber, welche eiserne Kugeln schössen, be-
annte man, wohl nach ihrer Gestalt, „Schlangen", und falls sie bet klei¬
nem Kaliber auch im Gefecht gebraucht wurden, „Feldschlangen". — Uebrigens
war das Geschütz, schon der Armuth der Schweizer wegen, nur schwach ver¬
treten, und namentlich die Feldartillerie wirkte bei dem noch höchst mangel¬
haften Bau der Geschütze gering. Dennoch pflegte ihr Feuer die Schlacht zu
eröffnen; nach deren Beginn hemmten die Bewegungen des eigenen Fußvolks
Wirksamkeit der Artillerie.*)
Wenn ein Auszug stattfinden sollte, fand sich die ausgehobene Mann¬
schaft am bezeichneten Tage auf dem bestimmten Sammelplatze ein. —
Die mit der Aushebung betrauten Beamten oder Räthe ließen den „Ring"
bilden, und nun wurden in feierlicher „Kriegsgemeinde" die Anführerstellen
und Kriegsbeamtungen besetzt. Diese sogenannten Kr le g s g einem d en sind
eine höchst eigenthümliche Erscheinung, welche, aus grauer Vorzeit der Ger¬
manen stammend, schon von Tacitus erwähnt werden. Sie hatten sich in
dem abgeschlossenen Gebirgslande der Waldstätte erhalten und gingen nach
Gründung der Eidgenossenschaft auch auf die andern Truppenaufgebote über.
Im 14. und Is. Jahrhundert war die Macht der Kriegsgemeinde sehr groß-
Ihr stand nicht nur die Ernennung der Anführer, sondern auch die Straf¬
gerichtsbarkeit zu; sie war es, die den Hauptleuten die Macht übertrug, und
nicht selten wurde durch Berathung in ihrem Ringe sogar der ganze Kriegs¬
plan festgestellt. Noch im 16. Jahrhundert gab die Stimmenmehrheit der
Gemeinde in solchen Fällen den Ausschlag, wo die Ansichten des Kriegsraths
getheilt waren. Nach der Ordnung der Berner von 1468 mußte der Haupt¬
mann ausdrücklich schwören: „Das Volk nicht zu weisen noch Jendt zu
führen, denn mit des Volkes Mehrentheils Wissen und Willen." Diese de¬
mokratische Macht der Kriegsgemeinde konnte natürlich nur so lange in
Geltung bleiben, als die Feldzüge der Schweizer verhältnißmäßig klein und
leicht übersichtlich blieben und als der wagliche, kühne Sinn der Knechte in
ihrer Mehrheit lebendig war und dem energischen Willen der Hauptleute
entgegenkam. Wie verderblich dennoch eine solche Macht der Gemeinde wirken
konnte, zumal wenn sie tumultarisch hervortrat, das hatte schon die Schlacht
von Se. Jakob gezeigt, und es sollte in der Folge noch oftmals hervortreten.
— Hoch interessant aber ist die Einrichtung der Kriegsgemeinde auch deshalb,
weil sie vorbildlich wurde für das deutsche Landsknechtswesen. Unser Aus¬
druck „Gemeiner" bezeichnet ursprünglich nichts anderes als das Mitglied
einer solchen Kriegsgemeinde. — Nachdem im Ringe der Gemeinde die Führer¬
stellen besetzt waren, wurden die Krtegsordnungen verlesen, wo es
nöthig schien, mit besondern Zusätzen versehen und dann die Hauptleute,
Söldner und Knechte in Eid genommen. Der „Hauptmann bei dem Panner"
war des Zuges oberster Hauptmann. Ihm schwor die Kriegsgemeinde, „ge-
horsam zu sein, nirgends hin zu laufen, noch etwas anzufangen, weder einen
Zug noch Antrag zu thun, als mit des Hauptmanns Wissen oder Willen."
Der Hauptmann dagegen schwor, „das Volk, so ihm befohlen, getreulich zu
führen und in guter Ordnung zu halten und in so ferne in seiner Vernunft
und Macht ist, solches vor Schaden und Verlust zu bewahren und dasselbe
nicht von einander sondern, noch theilen zu lassen." Bei dieser Eidesformel
fällt das soldatische derselben auf. Das gesammte Kriegsvolk mußte dem
Hauptmann schwören, die Landesobrigkeit ist nur am Schlüsse flüchtig
berührt. In dem Eid der Hauptleute wird dagegen die Pflicht gegen den
Staat voran gestellt. Das erscheint durchaus angemessen; denn der Soldat
erfüllt seine Pflicht lediglich durch den Gehorsam, der Hauptmann dagegen
muß über die Lösung der ihm auferlegten Pflichten seinem Gewissen und dem
Staate Rechenschaft ablegen. — Nach der Vereidigung schritten die Haupt¬
leute zur Organisation des Auszuges. Die Pannerherrn. Verner und
Borvenner waren ihnen dabei behilflich. — In dem Auszuge bildeten die
Städte, Gesellschaften, Zünfte, Aemter und Herrschaften, welche berechtigt
waren, eigene Zeichen (Panner oder Fähnlein) zu führen, die taktischen Ein¬
heiten. Diese wurden nach Maßgabe ihrer Stärke wieder in „Zileten" d. h.
w kleinere Genossenschaften oder Rotten von 6 bis 10 Mann eingetheilt.
Die Mannschaft ein und derselben Rotte war gewöhnlich gleich bewaffnet;
w den Hellebardier-Rotten kommt niemals noch eine andere Bewaffnung vor;
nur Spießer und Schützen sind zuweilen derselben Rotte vereint. Jede
Zunst der Gemeinde stellte in der Regel eine Rotte Schützen, eine Rotte
Spießer und eine oder mehrere Rotten Hellebardiere.")
Die Rangordnung wurde von dem rechten gegen den linken Flügel ge¬
macht . so daß das Panner der herrschenden Stadt oder des herrschenden Lan¬
des auf dem rechten und die Zeichen der zugewandten Orte auf dem linken Flügel
ZU stehen kamen. Die Mannschaft der Aemter und Herrschaften (also der
untertänigen Gebiete) stand zwischen beiden in der Mitte.
Der Pannerherr oder Verner war der nächste Gehülfe und nöthi-
gen Falls der Stellvertreter des Hauptmanns. Er schwur bei dem Auszug,
.,das Panner aufrecht zu erhalten, so lange er es vermöge und sich davon
nicht drängen zu lassen, bis in den Tod." Pannerherrn und Verner zogen
Zu Pferd ins Feld, doch fochten sie, wenn die Schlachthaufen gebildet wur¬
den und zum Angriff schritten, zu Fuß. Die Spielleute zum Banner be¬
soldete die Obrigkeit. Bei den Bernern waren es „Trummenschlaher" und
Pfeifer, welche das „Schwägle" (die Querpfeife) bliesen. — Die Luzernerund
Unterwaldner führten von alten Zeiten her „Harsthörner", und berühmt war
das uralte Heerhorn der Urner, der sogenannte „Uri-Stier". — Als allge¬
meines Feldzeichen unterschied die Eidgenossen das weiße Kreuz.
Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts wurde die Kriegsgemeinde nur
noch sehr selten zusammenberufen, um über den Gang der Operationen zu
berathschlagen; fast ausschließlich bestimmt nun der Kriegsrath, der aus
sämmtlichen Hauptleuten bestand, den Gang der vorzunehmenden Kriegshand-
lungen und bezeichnete, nach Festsetzung der Zug- und Schlachtordnung, wer
die Vorhut, wer den Gewalthaufen, die Nachhut und die Freiknechte zu
führen habe. — In dem Kriegsrath der Hauptleute entschied die Mehrheit der
Stimmen. Die Minderzahl mußte sich unweigerlich dem Beschluß der Mehr¬
heit fügen. Dieser Gebrauch wurde am Anfang des 15. Jahrhunderts zum
Gesetz erhoben und damit die Macht des Feldherrn ganz außerordentlich be¬
schränkt.
Wie im Alterthum in den Republiken Griechenlands und Roms so wur¬
den im 13. und 14. Jahrhundert Anführer und Kriegsbeamtete der Eidge¬
nossen nur bei stattfindenden Auszuge und bloß auf die Dauer des Krieges
ernannt. Gleich dem Soldaten kehrt auch der Anführer nach beendigtem Krieg
wieder in die Reihen der Bürger oder Landleute zurück, und zuweilen fand
man den Befehlshaber, der im vorhergehenden Feldzuge den Feldherrn¬
stab geführt, im nächstfolgenden mit dem Spieß oder der Hellebarde in der
Hand in den Reihen der Krieger. — Dieses Verhältniß änderte sich erst, als
im 16. Jahrhundert in allen Orten der schweizerischen Eidgenossenschaft üblich
wurde, die wehrpflichtige Mannschaft jährlich nach verschiedenen Aufgeboten
in die Kriegsrödel einzutragen und zu denselben die nöthigen Kriegsbeamteten
zu verordnen. Die Anführerstellen und Kriegsämter erhielten nunmehr wie
die politischen Staatsämter bei dem Uebergang zur aristokratischen Regierungs¬
form einen mehr bleibenden Charakter.
In Bezug auf die Art der Besetzung der Anführerstellen galt
bei den Schweizern im 14. und 15. Jahrhundert kein unabänderlicher Modus-
Ursprünglich wurden die „Aemter" allerdings, wie schon erwähnt, überall
von der Kriegsgemeinde gewählt! die mit einer solchen Wahl verbundenen
Unzuträglichkeiten haben aber wohl schon früh dahin geführt, wenigstens die
höheren Stellen anders zu besetzen, und da bot sich die Beibehaltung der
(allerdings auch gewählten) oberen Magistrate als Führer im Felde gewiß
zunächst willkommen dar. Wie innig diese Verbindung mit der Zeit wurde,
habe ich bereits erwähnt. Neben diesem Modus bestand indessen offenbar für
mittlere und untere Chargen die Wahl fort, und es herrschte überhaupt große
Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit.
In welcher Weise man aber auch bei der Besetzung der Anführerstellen
zu Werke ging, ob die Räthe, ob die versammelte Bürgerschaft oder ob die
ausziehenden Knechte die Anführer wählten. immer ging das Streben doch
aufrichtig dahin, dem Heere möglichst tüchtige Befehlshaber zugeben. Dieses
ernste Trachten und der Umstand, daß namentlich unter dem Adel eine große
Zahl von Männern war. welche sich in auswärtigen Kämpfen reiche Erfahrung
erworben hatten, erklären es. daß trotz des so bedenklichen Wahlmodus die
Heere der Eidgenossen im 14. und 15. Jahrhundert beinahe immer gut geführt
waren und fast stets sehr tüchtige Männer zu höhern oder niedern Anführern
hatten. „Denn nicht Hirten, wie die Dichtung uns glauben machen möchte,
haben den Freistaat der Schweiz gestiftet, sondern in der Welt erfahrene Män¬
ner, die in den lombardischen Städten als Söldner eine tiefere Einsicht in die
politischen Verhältnisse gewonnen hatten." *) „Nicht in der Ruhe seines hei¬
mathlichen Thales hatte jener alte Reding von Biberegg den strategischen
Ueberblick erworben, durch den er am Tage vor Morgarten seinen Landleuten
die Absichten des Feindes vorhergesagt und aus dem heraus er seinen Rath
ertheilt. Ebenso war es in fremden Diensten und Kriegen gewesen, daß Ru¬
dolf von Erlach, der Sieger bei Laupen. sechs Feldschlachten beigewohnt, in
denen jedesmal das größere Heer von dem kleineren geschlagen worden war."**)
Wo konnte man sich auch sonst in den zu jener Zeit noch in Blüthe stehen¬
den ritterlichen Künsten besser ausbilden, als im fürstlichen Herrendienst?!
»Die Höfe vertraten damals für den jungen Edelmann noch die Stelle der
Universitäten***), und auch der Schweizer Adel hat sich dieser Schule nicht
entzogen."
Einen gemeinsamen Oberbefehlshaber über die schweizerischen Bundes¬
heere hatte man im 14. und 15. Jahrhundert nicht. Wenn aber auch dieser,
sowie überhaupt die Einrichtung eines eigentlich eidgenössischen Kriegs¬
wesens fehlte und den bei Ausbruch eines Krieges auf der Tagsatzung ver¬
einigten Boten nur sehr beschränkte Verfügung über die Kontingente der
einzelnen Orte, nach Maßgabe der Verträge zu Gebote stand, so waren doch
über gewisse wichtige Vorgänge in Kriegssachen allgemein gültige Grundsätze
angenommen. Zuerst formulirt wurden solche Normen im Jahre 1393 zu
Zürich in dem sogenannten Sempach er-Brief, den die acht alten Orte
errichteten und beschworen und auf den ich gleich noch einmal zurückkommen
werde. Er blieb für ein Viertel-Jahrtausend die Grundlage der eidgenössischen
Wehrverfassung-!-). und seine wichtigste Bestimmung war die. „daß kein Ort
einzeln von sich aus Krieg anfangen, sondern ein solcher nötigenfalls ge¬
meinschaftlich erklärt werden sollte." Wäre ein Ort bedroht, so sollte
ihm der Zuzug unentgeltich geleistet werden, sei es, daß er für ihn selbst
oder für einen Verbündeten gefordert würde. Wäre es aber dabei um eine
Belagerung zu thun, so fielen deren Kosten dem mahnenden Orte zu; geschähe
die Belagerung zu gemeinsamem Nutzen, so seien die Kosten auf den ganzen
Bund zu vertheilen.*) — Praktisch stellten sich die Dinge folgendermaßen:
Um mit dem mahnenden Orte zu verhandeln, wurden „Boten" (Gesandte)
zu ihm geschickt, um dort zu tagen. Nach gemeinsamer Verabredung und
festem Beschluß dieser Tagherrn, wurde dann die Stärke der Kontingente, die
zum Bundesheer zu stoßen hatten und der gemeinsame Sammelplatz bestimmt.
Während des Krieges blieben die Boten auf der Tagsatzung zusammen, und
diese verfügte nach Ermessen über das Kriegsmaterial und die Wehrkräfte der
selbstherrlichen Orte.
Die Beschlüsse der Tagsatzungen zu vollziehen, blieb den verschiedenen
Ort sregierungen überlassen; doch diese setzten nicht selten ihren Stolz darein,
nicht nur das, wozu sie verpflichtet waren und was sie versprochen hatten, zu
leisten, sondern sie thaten oftmals mehr, und kein Ort wollte hinter dem
andern zurückbleiben. So machte der gute Wille und die Furcht vor der ge¬
meinsamen Gefahr die unläugbar großen Mängel der Bundes-Staats- und
Kriegsverfassung weniger schädlich.
Schon früh stellten die Schweizer Kriegsgesetze auf, sogenannte „Krigs-
ordnungen". Diese hatten der Mannschaft im Felde zur Richtschnur zu
dienen und mußten von ihr vor dem Auszuge beschworen werden. — Die
älteste Kriegsordnung der Eidgenossen enthält der bereits erwähnte Sempacher-
brief. Seine Bestimmungen sind die folgenden: „Wenn wir künftig zu Felde
ziehn mit offenen Pannern wider den Feind, sei es gemeinschaftlich oder eine
Stadt und Land allein, so sollen alle die mit dem Panner ziehn, bei ein¬
ander bleiben, wie biderbe Leute und unsere Vorfahren von jeher gethan, was
für eine Noth uns oder ihnen auch begegnen mag. — Wenn einer bei einem
Gefecht oder bei einem Angriff flüchtig würde, so soll sein Leben verfallen
sein, und diejenigen, welche ihn sehen, sollen ihn anklagen und sollen dieses
thun bei' den Eiden, die sie der Stadt oder dem Land geschworen haben,
damit sich jeglicher ein Beispiel daran nehme und sich vor ähnlichen Sachen
hüte. — Es ist auch unsere Meinung, ob Einer verwundet, gestochen oder
geworfen werde, es sei in einem Gefecht oder in einem Angriff und was ihm
auch geschehen mag, daß er unfähig würde, sich selber zu wehren oder andern
zu helfen, dieser soll dennoch bei den andern bleiben bis die Noth ein Ende
hat. Doch soll derselbe (wenn er zurück bleibt) nicht als flüchtig geschätzt
werden und man soll ihn unbekümmert lassen an Leib und an Gut. — Es
soll auch in keinem Gefecht eher als bis nach vollständig errungenen Sieg
und wenn es die Hauptleute gestatten, geplündert werden. — Jeder soll die
Beute, die er macht, dem Hauptmann unter den er gehört, überantworten,
und dieser soll sie unter seine Mannschaft, welche an dem Gefecht theilge¬
nommen, zu gleichen Theilen vertheilen. — Gotteshäuser, Kirchen, Klöster,
Kapellen und andere geweihte Orte, sollen nicht geplündert und erbrochen
und Mühlen nicht verbrannt werden. — Priester und Frauen soll man
schonen und keiner soll sie mit bewaffneter Hand anfallen, es wäre denn,
daß sie sich zur Wehre setzten, einen angreifen oder schädliches Geschrei erheben
würden."
Der Sempacherbrief blieb die Grundlage der schweizerischen Kriegsge¬
setzgebung; er ward indessen in der Folge durch verschiedene Zusätze ver¬
mehrt. Die Kriegsordnung wurde in den Heeren der schweizerischen Eidge¬
nossen streng gehandhabt und die Anwendung des Gesetzes blieb nicht hinter
seinem Wortlaute zurück.
Das Kriegsgertchrsverfahren entsprach im Allgemeinen dem
bürgerlichen Gerichtsverfahren. Die Procedur war kurz, und die Strafe folgte
dem Verbrechen auf dem Fuße. Die Hauptleute bestimmten, ob der Deliquent
vor Gericht gestellt werden sollte, und als Richter fungirten bis zum Ende
des is. Jahrhunderts stets die Kriegsgemeinden. Alle Krieger erschienen
dabei bewaffnet und formierten den Ring; der Hauptmann bei dem Panner,
welcher den Vorsitz führte, stützte sich auf das entblöste Schwert und stand,
alter Sitte nach, unter einem Baume. Ankläger und Beklagter traten vor,
der letztere durfte Anwälte wählen, und nachdem beide Theile gehört waren
schritt man zum Spruch und unmittelbar darauf zur Strafvollstreckung. —
^rst Ende des 16. Jahrhunderts wurde es üblich, statt durch die gesamte
Kriegggemeinde durch eine Anzahl aus der Truppe gezogener Männer das
Urtheil sprechen zu lassen, wobei der Zeugenbeweis eingeführt wurde, die
Kriegsgemeinde aber immer gegenwärtig war, „das da nieman enkeim vn-
gliches bescheche und widerfahre." Das Verfahren ward überaus umständlich
und ceremoniös. -- Die Strafen waren, um abzuschrecken, meist sehr streng.
Das Todesurtheil vollzog man durch Enthaupten. Verräther wurden ge¬
viertheilt.
Was dem Heere der Eidgenossen in Bezug auf die Kriegskunst eine
so hervorragende Bedeutung giebt, das ist die hier zuerst stattfindende rationelle
Durchbildung der Jnsanterietakttk. Macchiavelli stellt hierüber in seinen
sieben Büchern über Kriegskunst folgende Betrachtungen an: „Es giebt
zweierlei Arten von Bewegungen in einem Heere, nämlich die des einzelnen
Mannes im Bataillon und die jedes einzelnen Bataillons in Verbindung
mit den andern. Wenn der Kriegsmann in den ersteren geübt ist, so dürften
die letzteren nicht schwierig sein; nie aber werden sie ausgeführt werden
können, wenn die ersteren unbekannt sind. Jeder Schlachthaufen muß lernen,
bei allen Arten von Bewegungen und in jedem Terrain Reih und Glied zu
halten, sich in Schlachtordnung aufzustellen, die Töne der Instrumente zu
unterscheiden, durch die im Gefecht die verschiedenen Befehle mitgetheilt werden
u. s. w____DieDeutschen und unter ihnen besonders die Schweizer
haben zuerst ihr Fußvolk auf diese Art zgeübt und es ent¬
sprechend bewaffnet. Die Schweizer, arm und auf ihre Freiheit eiser¬
süchtig, waren und sind noch jetzt stets gezwungen, dem Ehrgeiz der deutschen
Fürsten zu widerstehn, welche leicht eine zahlreiche Reiterei unterhalten können.
Die Armuth der Schweizer versagte ihnen dies Vertheidigungsmittel, und so
nahmen sie zu der Schlachtordnung der Alten ihre Zuflucht, welche, nach
dem Urtheil verständiger Männer, allein im Stande ist, dem Fußvolk das
Uebergewicht zu verschaffen."
Schlachtordnung und Marschordnung fielen bei den Schweizern
— und das ist ein besonderer Vorzug — grundsätzlich zusammen. — Für
den Fall, daß das von einem Canton gestellte Panner auf sich selbst ange¬
wiesen blieb, war diese Ordnung von vornherein festgestellt.*) Und zwar
bildete dann die Hauptmasse (gewöhnlich die Hälfte der Mannschaft) einen
Gewalthaufen, bei dem sich das Banner befand und der deshalb auch
kurzweg „das Banner" genannt wurde. Seinen Grundstoff gaben die
Hellebarden ab. Unmittelbar um das Panner selbst ordneten sich die
Zileten (d. h. Rotten) der vornehmsten Zünfte, gewöhnlich die Constabler
oder Junker, und bei der ganzen Ausstellung wurde sorgsam danach gestrebt,
die als minder zuverlässig geltenden Rotten der Landgemeinden derart unter-
zusteckm, daß sie an jeder Stelle durchsetzt erschienen von den Rotten altbe¬
währter Bürgerzünste. — Die gewöhnliche Tiefe der Aufstellung ist
20 Mann. — Ein Theil der Spieße wird verwendet, um die Flanken des
Gewalthaufens einzurahmen; und eine Phalanx von 1200 Hellebardieren und
200 Pikenieren kann man sich also derart geordnet denken, daß im Centrum
60 Rotten Hellebardiere, auf jedem der beiden Flügel aber je 5 Rotten
Pikeniere stehn.
Diejenige Mannschaft, welche nicht in den Gewalthaufen gestellt war.
diente nun zur Formirung von Vor- und Nachhut, oder, wie es beiden
Schweizern hieß. der Abtheilungen „vor dem Banner" und „hinten am Ban¬
ner". — Die Abtheilung „vor dem Banner" hatte die wichtige Bestimmung,
stets das Gefecht einzuleiten; sie bestand daher aus den sämmtlichen
Schützen, einer reichlichen Beigabe von Spießen und einem geringen Trupp
Hellebardierer - wobei den blanken Waffen die Rolle eines souliers für die
Schützen zufiel, falls diese von Reiterei oder Pikenieren angegriffen wurden.
- Unter dem Schutz des Gefechtes der Vorhut ersah sich dann der Gewalt¬
haufe den Punkt, wo er in die feindliche Ordnung einbrechen konnte, und war
der einmal erkannt, so ging es auch ohne Zaudern drauf los. — Die Ab¬
theilung „hinten am Banner" ist (Nachhutsgefechte abgerechnet) meist sehr
schwach und wird fast nur als Deckung des Troffes angesehn.
Die Marsch- und Angriffsordnung war nun so. daß die Vorhut stets
seitwärts-vorwärts des Gewalthaufens blieb, um stets den An¬
griff in der Front mit einem auf die Flanke verbinden zu können, und
ebenso wurde die Nachhut immer seitwärts-rückwärts des Gewalt¬
haufens angeordnet.
Diese Maßregel, welche schon Macchiavelli') als gleich günstig für An°
griff wie für Vertheidigung rühmend hervorhebt, erscheint gegenüber den
Plumpen Formen, welche bisher in den Schlachtordnungen der Franzosen
und Deutschen geherrscht hatten, als ein großer Fortschritt. Bisher nämlich
standen überall die Heere in 3 Treffen stritte hintereinander und meist
in gleicher Stärke. Wenn dann das erste Treffen in Unordnung zurück¬
geworfen wurde, so theilte sich diese auch dem zweiten mit. worauf sich dann
gewöhnlich beide vereint auf das dritte warfen und auch dies fortriffen. Oder
es drängten von hinten her die Massen stier auf das erste Treffen nach, und
wenn dies nicht vorzugehn vermochte, so entstand eine bewegungslose stockende
Masse, der jegliche Manövrirfähigkeit und damit am Ende auch die Ver¬
theidigungsfähigkeit gebrach. Eclatante Beispiele solcher Taktik lehrt die Be¬
trachtung der Schlachten von Courtray. Crecy und Azincourt kennen. Wie
beweglich war dagegen die staffelförmige Gestaltung eines schweizerischen Aus¬
zugs! Und diese' praktische Anordnung findet man auch da beibehalten, wo
umfassendere Verhältnisse eintraten, d. h. wo die Truppen mehrer Orte ein
größeres eidgenössisches Heer bildeten. nur daß sie entsprechend ausgestattet
wurde. In diesem Falle werden nämlich, ganz analog den 3 „wtaillW«
der Franzosen, drei große Haupthäuser gebildet; jeder derselben wird wo¬
möglich aus allen Waffen zusammengesetzt, um zur selbstständigen Gefechts-
führung befähigt zu sein, und jeder bildet sich seine eigene Vorhut. Das
Gros des Heeres (meist die Hälfte der Gesammtmacht) wurde grundsätzlich
stets aus den Contingenten mehrerer Orte zusammengestoßen und dem Ge¬
walthaufen bei großer Stärke häufig eine Rottentiefe gegeben, welche über
20 Mann hinausging. Dazu zwang, wenn man den Haufen nicht theilen
wollte, oft genug schon das Terrain. Denn eine Phalanx von 6000 Mann
z. B. hatte bet 20 Mann Tiefe 300 Mann in der Front, und ent¬
wickelte, da für jeden Mann 3 Fuß Breite gerechnet wurde, bereits eine
Frontausdehnung von 900 Fuß. Räume solcher Art fehlten aber nicht selten
im Gebirgsland, und dann half man sich eben, indem man dem Häuser
größere Tiefe gab. Endlich wurde dies Verfahren sogar methodisch und der¬
art übertrieben, daß zu Anfang des 16. Jahrhunderts der gevierte Haufe,
welcher ebensoviel Front als Tiefe hat, für die normale Stellung galt.
Vorhut und Nachhut pflegten je ein Viertel der Gesammtmacht stark zu sein.
Was die Exerzierkunst betrifft, so läßt sich erkennen, daß die
Schweizer das rottenweise Abbrechen und Aufmarschieren aus der und in die
Phalanx wohl verstanden, daß sie zuweilen in der Ebene, um mehr Ter¬
rain einzunehmen und sie geschützt zu durchschreiten, das hohle Viereck und in
reiner Defensive das Kreuz formirter. Das hohle Viereck wurde wol auch
vorn offen gelassen, und dann marschirte zwischen den aus Vor- und Nachhut
gebildeten Hörnern die Bagage. Das Kreuz wurde hergestellt, indem Vor-
und Nachhut unmittelbar heranrückten an das Banner.
So war das schweizerische Wehrwesen beschaffen, als es in die Burgun¬
derkriege und mit ihnen in die weltgeschichtliche Periode der Eidgenossenschaft
eintrat.
Der Schöpfungsplan. Vorlesungen über die natürlichen Grund¬
lagen der Verwandtschaft unter den Thieren. Von Louis Agassi z. Deut¬
sche Uebersetzung, durchgesehen und eingeführt von C. G. Giebel. Mit 60
Holzschnitten. Leipzig, Quandt und Händel, 1875.
Unter den Naturforschern unsrer Zeit haben wenige so umfassende und
zugleich so gründliche Forschungen in der Zoologie und Paläontologie ge-
liefert als der vor zwei Jahren verstorbene Agassiz. Ein Gelehrter wie er,
der. selbst ein Bahnbrecher auf dem Gebiete der Wissenschaft, allen Fortschritten,
die Andere herbeiführten.' und allen Fragen. die laut wurden. seine eifrige
Aufmerksamkeit zuzuwenden gewohnt war. fühlte sich selbstverständlich veran¬
laßt, auch über die alle Welt aufregende Theorie Darwin's seine Meinung kund
zu geben. Ja er war gewissermaßen dazu genöthigt, insofern die Vertreter
dieser Lehre ein wichtiges. von ihm zuerst erkanntes und nachgewiesenes all¬
gemeines Naturgesetz, das der geologischen Entwickelung des thierischen Or¬
ganismus oder der gesetzmäßigen Aufeinanderfolge der Thiere auf der Erd¬
oberfläche in irrthümlicher Auffassung zur Stütze ihrer Theorie verwendeten.
1873 begann er jene Absicht mit zwölf Vorlesungen auszuführen, die von der
gegenwärtigen Thterschöpsung handelten, und die wir hier in der Uebersetzung
vor uns haben. Weitere Vorträge, welche die Entwickelung des thierischen
Organismus in früheren Schöpfungsperioden ins Auge fassen sollten, blieben
ungehalten, da Agassiz inzwischen mit Tod abging. Aber auch ohne diese
Ergänzung ist das vorliegende Buch von hohem Interesse selbst für Anhänger
der Darwinschen Transmutationslehre, gegen die es sich richtet. Agassiz war
ein Gegner derselben, einmal, weil er die Beständigkeit der Species als fest¬
stehend ansah, dann aber weil er die vielen Fälle der Paläontologie, in denen
ältere Formen früherer Epochen vollkommener sind, als die späterer Zeiten,
als mit einer allmählichen Entwickelung im Widerspruch stehend erkannte. Er
sagt, indem er sich gegen die Descendenztheorie erklärt:
„Die meisten Zoologen behaupten. daß es keine andere Verwandtschaft
giebt, als die der Abkunft von einem gemeinsamen Urstämme. Diese Abstam¬
mung aber können wir nicht in der Natur verfolgen. Wir können die Thiere
nur anatomisch und physiologisch mit einander vergleichen, können der Art
und Weise ihrer individuellen Entwickelung folgen, ihre Lebensweise beobachten,
ihre geographische Verbreitung ermitteln. ihre allmälige Aufeinanderfolge in
den verschiedenen geologischen Perioden erforschen, und indem wir die Resul¬
tate aller dieser Untersuchungen und Beobachtungen zusammenfassen, dann die
Thiere nach ihrer Aehnlichkeit, dem Grade der Verwandtschaft gruMren.
Aber weiter gehen und behaupten, daß die Thiere weil sie einander ähnlich
sind, auch von einander abstammen, heißt etwas behaupten, wovon wir ^rch-
aus keine Kenntniß haben." „Ich möchte klar und bestimmt, in einer Wnse,
die nicht mißverstanden werden kann, feststellen, daß die Naturforscher auf
der gegenwärtigen Stufe ihrer Wissenschaft keinen einzigen directen Beweis
für die ursprüngliche Herkunft irgendwelcher specifisch verschiedener Thiere bei¬
bringen können. Sie haben keine einzige unmittelbare Beobachtung, worauf
sie eine solche Theorie gründen können, ausgenommen den Grad der Aehnlich¬
keit der Organisation und der Funktionen der Thiere." Was sie sonst vor-
bringen, ist Hypothese und Schlußfolgerung aus Analogien. Aus natürlicher
Zuchtwahl im Kampfe um das Dasein sollen die Naturwesen sich fortwährend
zu Besserem verändern und ihre Modification erblich übertragen können,
woraus sich der Formenreichthum der jetzigen Welt erklären soll. Dagegen be¬
hauptet Agassiz eine auf Erhaltung der ursprünglichen Typen gerichtete Ten¬
denz der Natur, wobei er sich auf das beruft, was man in neuester Zeit
über die Entwickelung des Thieres in Erfahrung gebracht hat, „daß nämlich
alles thierische Leben zuletzt sich auf das El zurückführt und durch dieses fort¬
gepflanzt wird, und daß das El selbst schon das neue Wesen ist. mit einer
Individualität, d. h. mit einem typischen Charakter begabt, so entschieden,
daß nie und nimmer von Anbeginn der Welt an das El irgend eines Thieres
ein Thier erzeugt hat, welches im Wesentlichen sich von der Mutter unter¬
schied, oder daß das Samenkorn wesentlich abgewichen wäre von der Pflanze,
welche eben jenes Samenkorn erzeugte." Was das neue Wesen von seinen
Eltern hat, ist ihm durch das El vermittelt worden. Manches ist hierbei
noch Räthsel oder wenigstens unklar, aber die Thatsache steht fest, „daß die
Erhaltung der Idee, des Typus, die Beharrlichkeit gewisser Züge in der or¬
ganischen Welt der Urzweck und unabweisliche Erfolg ist." Diese Ueberzeugung
wird unterstützt und bekräftigt, wenn wir die Art und Weise betrachten, wie
die Thiere auf Sicherung ihrer Brut bedacht find. „Wir haben", sagt Agassiz.
„bis jetzt wirklich keinen Grund zu der Annahme, daß jemals ein Wesen sich
unter Verhältnissen entwickelt hätte, welche jene Bedingungen als bedeutungs¬
los sür die erste Entstehung erscheinen lassen." Dazu tritt schließlich der Um¬
stand, daß auch da, wo zu der Fortpflanzung durch das El andere Formen
der Vermehrung (Knospen oder Theilung) hinzutreten, dennoch die Ueberein¬
stimmung zwischen den erzeugenden und erzeugten Individuen gewahrt bleibt.
„Mag ein Korallenthier sich in einem El entwickelt haben oder als Knospe
entstanden oder durch Theilung erzeugt sein, mag das so gebildete Indivi¬
duum vom Stamme abfallen, um eine neue Colonie zu begründen, oder mag
es mit dem Mutterthier verbunden bleiben, das Ergebniß jeder dieser Processe
ist in Bezug auf seine Organisation und seine Gestalt ganz dasselbe wie das
im El erzeugte." „Dieses strenge Gesetz beherrscht noch auffälliger jene Thiere,
welche durch den höchst eigenthümlichen Generationswechsel sich fortpflanzen.
Derselbe besteht darin, daß die Jungen einer Art in Gestalt und Organi¬
sation weit von ihren Eltern abweichen, neue Brut erzeugen und erst diese,
in einigen Fällen sogar erst deren Junge, wieder den Individuen völlig glei¬
chen, von welchen sie selbst erzeugt sind. Dieser Kreislauf oder Wechsel der
Generationen ist aber so unabänderlich, wie bei jeder unmittelbaren Ueber-
tragung der specifischen Eigenschaften des Erzeugers aus seine Nachkommen-
Hier schon wir wiederum, wie die Natur ihre Typen mit Strenge zum Aus-
gangsvunkte zurückführt. Es giebt nach unsrer gegenwärtigen Kenntniß von
der Entstehung und Entwickelung der Thiere in der That nichts zur Recht¬
fertigung der Annahme, daß die Thiere stufenweise von ihrem ursprünglichen
Typus abgewichen wären und zu neuen verschiedenartigen sich umgestaltet
hätten."
Die Descendenztheorie stützt sich ferner auf den doppelten Parallelismus,
welcher die aufsteigende Stufenfolge der gegenwärtig lebenden Thiere einer¬
seits mit dem von der Geologie nachgewiesenen stufenweise erfolgten Auftreten
der verschiedenen Thierformen der Erdgeschichte, andrerseits mit der Entwicke¬
lung des höheren Thieres als Embryo verbindet, wodurch dieselben durch Zu¬
stände und Gestalten gehen. welche der bleibenden Erscheinung reifer Thiere
einer tieferstehenden Ordnung gleichen. Aber nach Agassiz spricht gerade dieser
doppelte Parallelismus gegen die Beweiskraft der Analogie. „Embryonische
Zustände der höheren Wirbelthiere der Jetztzeit erinnern uns an reife Formen
niedrer Wirbelthiere in früheren geologischen Zeiten. Auf diese Thatsache ge¬
stützt, wollen nun die Vertreter der Transmutationslehre folgern, daß in dem
langen Laufe der Zeiten eine reale Entwickelung des Einen aus dem Andern
stattgefunden habe. Aber die embryonischen Zustände der höheren Wirbel¬
thiere erinnern uns ganz ebenso lebhaft auch an reife Formen der gegenwärtig
lebenden niedern Wirbelthiere. Ja sie ähneln diesen ihren Zeitgenossen in eben
dem Grade und in eben der Weise, wie sie den fossilen Formen analog er¬
scheinen. Dürfen wir nun daraus folgern, daß. weil ein Hühnchen oder Hund
unsrer Tage aus einer gewissen Stufe der Entwickelung gleichsam einem aus¬
gewachsenen Knorpelfische ähnelt, daß. sage ich, Hühner und Hunde sich jetzt
unmittelbar aus Fischen entwickeln werden? Wir wissen recht wohl, daß
dieß nicht geschehen kann, und dennoch ist die Beweisführung genau dieselbe,
auf welche die Vertheidiger der Transmutationslehre ihre Theorie zu stützen
gewohnt sind." „Während wir ganz allgemein sagen können, daß niedere
Formen den höheren vorausgingen und daß die embryonische Entwickelung
denselben Fortschritt von der einfacheren zu der complicirteren Organisation
verfolgt, ist es dennoch in Einzelnen nicht wahr, daß alle früheren Thiere un-
vollkommener organisirt waren als die späteren. Im Gegentheil, einige der
niederen Thiere erscheinen unter höher organisirten Formen, als sie je seit¬
dem sich wieder gezeigt, und sind später verkümmert. So verhält es sich mit
den synthetischen Typen, welche Charaktere in sich vereinigten, die später auf
verschiedene Gruppen vertheilt ihren Ausdruck fanden. Jene Darstellung der
Paläontologischen Thatsachen, welche das ganze Thierreich in einer ununter-
brochnem Aufeinanderfolge, beginnend mit den unvollkommensten und endend
mit den höchstorganisirten Thieren, erscheinen läßt, ist eine Fälschung der
Natur. Es giebt keine unvermeidliche Wiederholung, keine mechanische Ent-
Wickelung in der geologischen Aufeinanderfolge des organischen Lebens. Hier
haben wir Uebereinstimmung in einem zusammenhängenden Plane. Hier ist
gerade jene Art von Aehnlichkeit in den Theilen, aber nur so viel und nicht
mehr, als sie stets intellectuelles, aus derselben Quelle entsprungnes Wirken
charakterisirt. Wenn wir dieses große Epos des organischen Lebens in seiner
Gesammtheit, so leicht und so mannichfaltig, ja sogar spielend in der Vielheit
der Erscheinungen durchgeführt betrachten, so will es uns bedünken, als wür¬
den wir an die große Composition eines Dichters oder Tonkünstlers erinnert,
in welcher der Grundton der Fundamentalharmonie durch alle Schattirungen
des Rhythmus oder des Liedes hindurchklingt. So groß ist diese Freiheit, so
unähnlich der physischen Evolution, daß wir endlose Widersprüche, endlose
Störungen, erstaunliche Anachronismen in jener ununterbrochen sein wollenden
Reihe fortschreitender Ereignisse finden, welche von den Vertretern des Trans¬
mutationsdogmas vertheidigt wird. Thiere, welche nach der Einfachheit und
UnVollkommenheit ihrer Organisation die Ahnen sein müßten, kennt man als
einer späteren Schöpfungsepoche angehörig, die vollkommen organisirten Typen
erscheinen häusig zuerst und die einfachen später." „Jene Behauptung ver¬
trägt nun einmal keine ernste Prüfung. Sie ist eben eines von jenen einge¬
bildeten Resultaten, welche aus der Ermittelung oder Darstellung eines großen
Gesetzes folgen, den Geist fesseln und ihn verführen, das für Wahrheit zu
nehmen, was er so gern für wahr halten möchte."
So weit Agassiz in seinen allgemeinen Aeußerungen. Auf die Details,
die zum Theil völlig neu sind und sehr vieles Interessante erhalten, können
wir nicht eingehen. Jene allgemeine Gedanken haben viel für sich, scheinen
uns aber doch noch sorgfältiger Prüfung durch Fachleute zu bedürfen, bevor
wir ein Urtheil über sie fällen können, wo es dann Zeit sein wird, sich für
oder gegen Darwin und seine Schule zu erklären.
Aus unserer kleinen Republik ist in letzter Zeit eigentlich wenig Tröst¬
liches zu vermelden. Der ewige Streit zwischen Religion und Staat hat zwar
für den Augenblick aufgehört zu branden und zu toben, aber er wird wieder¬
kehren, hier wie anderswo, und ist auch die Oberfläche scheinbar ruhiger ge¬
worden, so gährt und grollt es für den aufmerksamen Beobachter in der Tiefe
fort, und die Ruhe ist nur eine Pause, während welcher die streitenden Ele¬
mente ihre Kräfte sichten und sammeln zum neuen Angriff. Derjenige Canton,
welcher, wie billig, an der Spitze des Culturkampfes steht. Bern, hat zwar, auf
das Drängen des Bundesrathes hin, scheinbar einen Schritt zur Versöhnung
gethan, indem er den wegen Renitenz verwiesenen Geistlichen die Rückkehr
wieder gestattete, er konnte und durfte seiner Ehre unbeschadet die aus¬
gesprochene Strafe wieder aufheben, weil die neue Bundesverfassung dem
Wortlaut nach allerdings der von ihm verfügten Maßregel zuwider war.
allein es hat durchaus nicht den Anschein, als ob der fanatisirte Theil der
jurassischen Bevölkerung sich mit dieser, allerdings nicht ihr. sondern dem
Gesetz gemachten Concession zufrieden gebe: im Gegentheil, das bekannte
Sprichwort vom Schelmen und dem Finger wird sich auch hier bewahrheiten.
Die Angriffe auf das bernerische Regierungssystem folgen sich so hageldicht als
je aus den gewitterschwangeren Jurawolken; die Verläumdungssucht ist unter
der bigotten. Pfäffisch gesinnten Bevölkerung bereits zu einem Dogma, einer
Gewissenssache geworden, und die im Namen Gottes und der heiligen Jungfrau
aufgepflanzte Fahne des Fanatismus flattert so lustig, oder vielmehr so traurig
wie noch nie zuvor. „Jout evmms vues non8", werden unsere deutschen Leser
denken, auch diejenigen, welche uns Schweizer für selbständig und energisch genug
halten, auch ohne Bismarck's vielberufene Aufstifterrolle, uns gegen den Aus¬
satz zu wehren, der von Rom her auch unseren Leib zu überziehen und zu
vergiften droht. „Das Altweibermärchen von des Reichskanzlers intellectueller
Mitwirkung braucht ja gar nicht wahr zu sein, wenn's nur geglaubt wird",
so calculiren unsere ultramontanen Zeloten, und sie haben, schlau wie immer,
mit diesem Köder den Patriotismus vieler Schwachen im Geiste geangelt, welche
die Religionssrage an und für sich kaum aus dem Schlafe der Denkfaulheit
aufzurütteln vermocht hätte. Das Donnerwort „Bismarck" ertönt ja auch
zeitweise in Rathssälen aus dem Munde der katholischen Volksvertreter.
Der Glaube an den Fortschritt läßt uns zwar nicht zweifeln, daß die Berner
Regierung und die Schweiz überhaupt am Ende mit den Römlingen geradeso
gut fertig werden wird, als der große Reichskanzler in seinem Reiche und
Bereiche; aber wenn man bedenkt, daß gegen die Dummheit selbst Götter
vergebens kämpfen, so könnte immer doch der Gedanke an die Länge des
Kampfes bange machen; die Hauptgefahr liegt jedenfalls in der von den Ultra¬
montanen in Rechnung gezogenen endlichen Erschlaffung ihrer Gegner. In
ihren Reichen wird sich nie Müdigkeit einstellen, weil's ihnen dermalen an
Leib und Leben geht und sie ihre letzte Karte aufs Spiel gesetzt haben. Der
Kampf ums Dasein macht den Menschen ausdauernd und schasst ihm Knochen
von Eisen. Keine Frage, daß die freisinnige Schweiz mit Wohlgefallen auf
die deutschen Bundesgenossen blickt und sich moralisch dadurch gekräftigt fühlt!
Uebrigens, um wieder auf die Berner Zustände zurückzukommen, trägt doch
auch der Canton selbst einige Schuld an den traurigen Zuständen im Jura ;
weniger zwar die jetzige Regierung, als die früheren. Denn es unterliegt keinem
Zweifel, daß an dem religiösen Pfuhl, welcher dort die Luft verpestet, auch
die Unbildung redlich mitgearbeitet hat, und daß Schule und Unterricht
auf unverantwortliche Weise vernachlässigt wurden. In dieser Beziehung, das
heißt geradezu der wichtigsten für das Leben des wahren Staatsbürgers,
steht der große Canton Bern durchaus nicht an der Spitze schweizerischer
Civilisation: das Schulwesen auf dem Lande liegt noch sehr im Argen und es
thäte jetzt noch mehr als ein Jeremias Gotthelf noth! Alle Schuld rächt
sich auf Erden. Noch kürzlich ist ein neues Besoldungsgesetz für die Lehrer
mir knappen Mehr vom souveränen Volke angenommen worden und auch
die jetzigen Ansätze sind durchaus nicht so beschaffen, daß dem Lehrstand da¬
durch öl voraäo bereitet wäre. Aber wenn das Volk durch Generationen
hindurch in dem durch den täglichen Umblick großgezogenen Glauben befangen
war, befangen sein mußte, daß Kreuz und Elend und ein bischen Hunger
eine nothwendige Beigabe zum Lehrstand sei, so ist nicht zu verwundern, wenn
es an die Berechtigung einer Reformation aus diesem Gebiete nur ungern
glauben mag und lieber zu wenig als zu viel thut. Ganz abgesehen von
dieser Frage, hat der große freisinnige Canton Bern noch unlängst, zur
Zeit der Bundesrevision, bewiesen, daß er am liebsten da freisinnig ist, wo
es ihm am wenigsten kostet, mit anderen Worten: er hat die Bedingung
seiner Zustimmung zu der neuen Bundesverfassung an die Gewährung,
will sagen Belassung eines sehr materiellen Emolumentes geknüpft, eines Emo>
lumentes, das seiner Natur nach dem freiheitlichen und freihändlerischen Geiste
der Verfassung völlig widerspricht, das aber gleichwohl, contre evöur et ccm-
keiLncu, zugestanden wurde, weil man den großen Canton zur Durchführung
der Bundesrevision durchaus nöthig hatte!
Kleinere Cantone, welche ihre viel berechtigteren Ansprüche auf Berück-
sichtigung ihrer nationalöconomischen Interessen erhoben, fanden keine Gnade,
weil sie eidgenössisch genug waren, aus jenen Ansprüchen keine eoiulitio sinu
c>na von. zu machen! Auch an der gegenüber den Jurapfaffen erlittenen
Schlappe, das heißt, an der Nothwendigkeit der Zurücknahme seiner Aus¬
weisungsmaßregel trägt Bern mehr oder weniger selbst die Schuld, insofern
man nämlich jenes eine Schlappe, dieses eine Schuld nennen darf. Denn
die Spitze jenes Verfassungsparagraphen, welcher die Landesverweisung eines
Bürgers verbietet, ist, wenn auch nicht direct gegen jenen speziellen Fall, so
doch zunächst gegen den Canton Bern überhaupt gerichtet, weil dieser von
jeher von dieser Strafart einen allzuliberalen Gebrauch zu machen beliebte.
Und zwar war es nicht etwa ein Ostrakismos, welchen er gegen allzueinfluß-
reiche oder staatsgefährliche Bürger anwendete, wie weiland die Athener,
sondern es war die Verbannung eine Strafe für gewöhnliche Verbrechen,
und jedenfalls die für den Canton wohlfeilste und bequemste Art, sich solche
Leute vom Halse zu schaffen; weniger angenehm dagegen für die Nach-
barcantone, welche sich die Einwanderung besagter Colonisten gefallen lassen
mußten I
Lassen Sie mich, kurz und nothgedrungen, noch von einem andern Canton
sprechen, ehe ich zu den Personen übergehe, einem Canton, welcher bislang gern
sich den Culturcanton der Schweiz nennen ließ und nennen hörte, der in den
früheren Stadien des „Culturkampfes" auch wirklich, geführt von edlen und
erleuchteten Eidgenossen, in erster Reihe stand, und der jetzt so eben, und, zum
Zweiten Mal, ein Votum abgegeben hat, das allen seinen guten und den¬
kenden Bürgern die Schamröthe ins Gesicht treiben muß. ?oxu1us loeuws
est. Das vom großen Cantonsrath vorgeschlagene Gesetz über Erhöhung der
Lehrerbesoldung ist vom Souverän, trotz vorhergegangener gründlicher und
eindringlicher Belehrung durch Presse und Rede, zum zweiten Mal verworfen
worden! Zu diesem traurigen Resultat haben selbst wohlhabende Landstädte
mitgewirkt; mögen sie den stachlichten Distelkranz, den sie sich damit geflochten,
recht lange tragen! Ist es bäurischer Unverstand? Ist es krasser Egoismus,
der sich vor vermehrten Steuern fürchtet? Wir denken, beides; weil beides
gewöhnlich in brüderlicher Eintracht verbunden ist. Aber eins zeigt sich auch
hier wieder klar: die Volksbildung ist noch lange nicht auf der Höhe ange¬
langt, der Werth von Schule und Erziehung wird auch jetzt noch ungebührlich
unterschätzt und die Mittel zu einer intensiverer und humaneren Bildung
müssen von Seiten des Staats in noch viel reichlicherem Maaße fließen, als
bisher. Das dafür ausgeworfene Geld ist nicht weggeworfen, es
strömt mit Zinsen wieder zurück. Aber einstweilen ist es beschämend für die
ganze Schweiz, die da glaubte, in der Volksschule den ersten Rang unter
den Culturvölkern einzunehmen, wenn sie durch solche Ergebnisse in ihrem
guten Glauben erschüttert wird. Es ist doppelt traurig, wenn man weiß,
daß ein großer, ja vielleicht der größte Theil der Verwerfenden einer gewissen
Scheinbildung sich rühmen darf, wie man sie in unserer Republik für noth¬
wendig hält; aber gerade sie hat bewiesen, daß man über Verfassung und
besetze, über die Organisation staatlicher Gewalten und über das ganze Riemen-
und Räderwerk der Staatsmaschine sehr wohl Bescheid wissen, und neben und
unter dieser Scheinbildung, die eben doch bloß die Oberfläche streift, ein
)"esse ungebildeter, für Humanität unempfänglicher Mensch, sein kann. Die
eursirende Kurzsichtigkeit (auch in geistigen Dingen!) will dermalen nur
om R^im. vom Stofflichen und Handgreiflichen als „bildenden" Erziehungs-
Grenb
elementen wissen. Wie lange wird es noch dauern, und wie viele bittere
Früchte wird sie noch einheimsen, bis sie wieder lernt, was man vor ihrer
problematischen Glanzaera schon lange gewußt und gethan hat, bis sie also
unrer Seufzen und Schmerzen wieder lernt, daß die Saat, so in der Jugend
gestreut wird, auf idealen Boden fallen muß, wenn sie fröhlich aufgehen soll,
und daß, wenn es an dieser Vorbedingung fehlt, auch der correcteste und schul¬
gerechteste Republikanismus nichts helfen noch ersetzen kann! Möchten das
unsere Staatsmänner die wirklichen und die sogenannten, mit jedem Jahre
mehr beherzigen. Bei dem Worte „Staatsmann" aber überfällt Ihren Be¬
richterstatter ein schmerzliches Gefühl, denn wer müßte nicht eben jetzt
an zwei unsrer besten eidgenössischen Staatsmänner denken, welche der
unerbittliche Tod beinahe an demselben Tage weggerafft hat — Casimir
Psyffer von Luzern und Joh. Jac. Blumer von Glarus, beide von der
gesammten Eidgenossenschaft betrauert, verehrt von allen Farben unserer Re¬
publik als bidere echte Schweizercharaktere, als treue Arbeiter am Bau unserer
Verfassung, als energische Kämpfer für Freiheit, Recht und Fortschritt, als
Männer des Raths und der wissenschaftlichen That; der eine, Blumer, mitten
im kräftigsten, ersprießlichsten Wirken abberufen, der andere, Pfyffer, als
hochbetagter schon seit einigen Jahren in den Ruhestand zurückgetretener Greis.
Casimir Pfyffer war merkwürdiger Weise, als Sohn eines in päpstlichen
Diensten stehenden Hauptmanns gerade in der Stadt geboren (Rom, 1794),
gegen deren freiheitsmörderische Ansprüche sein Leben ein beständiger Kampf
war. Er machte seine Studien (theilweise schon als junger Ehemann) zuerst in
Tübingen, dann in Heidelberg um sich für einen in seiner Heimathstadt Luzern ge¬
gründeten Lehrstuhl der Rechte und der vaterländischen Geschichte vorzubereiten-
Diese Stellung dauerte indeß nur drei Jahre, dann trat Psyffer zurück, um sich
seinem Lieblingsberufe, dem des Advokaten zu widmen. Mit seiner Wahl in
den großen Rath seiner Vaterstadt im Jahre 1826 beginnt sein reiches politi¬
sches Wirken. Sein Bruder Eduard. damals Staatsrath und Erziehungs-
director. stand ihm getreulich zur Seite; beide bewirkten noch zur Zeit der
Restauration eine Verfassungsrevision in fortschrittlichen Sinn, und als vol¬
lends nach den Julitagen von 1830 ein neuer Freiheitsathem durch die Völker
ging, da stand Pfyffer wieder an der Spitze eines zweiten Verfassungssturmes,
welcher die Herrschaft der alten Patriziergeschlechter wegfegte und dem souve¬
ränen Volke die Macht in die Hände gab. Aber mit diesem cantonalen Pa¬
triotismus begnügte Pfyffer sich nicht: seine Ziele waren höher gesteckt, eine Re¬
vision der Bundesverfassung sollte angestrebt werden, und durch Wort und
Schrift regte er mächtig zu derselben an. Wirklich kam auch ein Ent¬
wurf zu Stande. Aber da dessen Hauptbestimmungen in dem alten Sumpf
der Cantonalsouveränitäten stecken blieben und sämmtlichen 22 Kantonen, ob
groß oder klein, gleichviel Stimmen zuerkannten, bekämpfte PfYffer diesen Ent¬
wurf, der denn auch von der Eidgenossenschaft verworfen wurde. Erst bei der
Bundesverfassung vom Jahre 1848, theilweise erst vom Jahre 1874 hatte
Pfyffer die allerdings große Genugthuung zu sehen, daß seine Ideen zum
Durchbruch gelangt waren.
Die Erstere ins Dasein zu rufen, dazu trug damals der Kanonendonner
vor dem antischweizenschen. den Jesuiten verkauften Luzern mächtig bei. Es
wäre Pfyffer ein Leichtes gewesen im Jahre 1834. als sein Bruder Eduard
einem Schlagfluß erlag, in dessen Fußstapfen zutreten und die Stellung eines
Präsidenten am Obergericht mit der ersten Stelle im Staat zu vertauschen;
allein er zog es vor, sein juridisches Amt beizubehalten und der Rechtspflege
treu zu bleiben. zu welcher er durch Kenntnisse und Begabung berufen war.
Auch schöpferisch trat er auf diesem Gebiete auf, indem er dem Canton uach
und nach ein ganzes bürgerliches Gesetzbuch, sowie einen vollständigen Stras-
codex ausarbeitete. Wenn er trotz dieser Verdienste unter dem verhängniß-
vollen Regiment Siegwart-Leu von seiner Stelle entfernt, ja sogar mit echter
Perfidie ver Mitschuld an dem Morde Leu's angeklagt und unschuldig ins
Gefängniß geworfen wurde, so kann sich nur der darüber wundern, der jene
edlen Regierungsseelen und ihre Beichtväter, die Jesuiten, nicht kennt. In
den Augen der ganzen Eidgenossenschaft stand Pfyffer von Anfang an makel¬
los da. noch ehe die richterlichen Beweise seine Unschuld glänzend darge¬
than hatten. Als das Jesuitenregiment in Folge des Sonderbundfeldzuges
gestürzt war. kehrte Pfyffer in seine frühere Stellung zurück. Die Eidgenossen¬
schaft aber ehrte den hervorragenden Juristen. Richter und Staatsmann, den
treuen Mitarbeiter am Bunde von 1848 durch die Wahl ins Bundesgericht
und durch wiederholte Berufung auf dessen Präsidentenstuhl. In diesen Stell¬
ungen verblieb er. bis der Sieg der Ultramontanen in Luzern ihn von neuem
im cantonalen Dienst bei Seite setzte und zunehmendes Alter ihm Ruhe
empfahl. Aber er blieb in seiner Zurückgezogenheit nicht vergessen und bleibt
es auch jetzt nach seinem Hinschied nicht; jeder echte Schweizer wird ihm eine
dankbare Erinnerung bewahren.
Durch Studien und Geistesrichtung aufs innigste mit ihm verwandt und
durch den nämlichen, unerschütterlichen Rechtssinn ausgezeichnet war Blumer,
der fast als Erbe seines Wirkens und Strebens bezeichnet werden kann.
Blumer war 25 Jahre jünger (1819 in Glarus geboren). Ausgebildet
auf dem Gymnasium zu Schaffhausen, auf den Universitäten von Zürich,
Bern und Berlin, war er kaum nach Hause zurückgekehrt, als er auch schon
ins öffentliche Leben o^oc;en wurde. In kleinen Cantonen ist dieß zwar nicht
immer ein Beweis der Befähigung, sondern meist Sache der Tradition. Wenn
aber Blumer zu der Stellung eines Gerichtspräsidenten erster und zweiter
Instanz als Nachfolger seines Vaters berufen wurde, so traf hier die Wahl
zugleich ein wirkliches Talent; er blieb seiner Stellung und auch der eines
glarnerischen Landrathes treu, bis vor kurzer Zeit, wo die ehrenvolle Wahl
zum Bundesgerichtspräsidenten ihn nöthigte, Amt und Heimath zu verlasse
und sich in Lausanne anzusiedeln. Früh schon hatte ihn das Vertrauen seiner
Mitbürger zum Abgesandten an die schweizerische Tagsatzung gesandt, in wel-
cher er den folgenreichen Sitzungen der Jahre 1847 und 48 beiwohnte, welche
die Auflösung des Sonderbundes und die Gründung der neuen Bundesver¬
fassung zu Stande brachten.
Seit dieser Zeit vertrat Blumer seinen Heimathcanton beinahe ohne
Unterbrechung, außer wenn er sich selber eine Wahl verbat, im Ständerath;
wiederholt bekleidete er die Würde eines Präsidenten in demselben. An den
wichtigsten Arbeiten und Berathungen nahm er stets als Commissionsmitglied
oder als Berichterstatter den hervorragendsten Antheil und nie wurde eine
Frage von etwelchem Belang im Schooße jener Behörde berathen, ohne daß
man sich in den politischen Kreisen der Eidgenossenschaft fragte oder im Stillen
dachte: „Was wird Blumer dazu sagen?" Schon bei der ersten Constituirung
des Bundesgerichtes 1848 war Blumer in dieses Collegium gewählt worden
und bekleidete seither mehreremals die Stelle eines Präsidenten. Hier war,
Wie im Ständerath, sein Ansehen und sein Einfluß so hervorragend, daß, als
jenes Gericht durch die 1874 er Bundesverfassung eine ständige Behörde
wurde, keinen Augenblick ein Zweifel darüber bestehen konnte, daß Blumer
zum Präsidenten desselben wie geschaffen und der eigentliche Mann dazu sei,
es beim Publikum zu accreditiren. Neben seiner eminenten staatsmännischen
und richterlichen Thätigkeit, vernachlässigte er aber auch das streng wissenschaft¬
liche Studium nicht. Beredte Zeugen dafür sind seine gediegene „Staats- und
Rechtsgeschichte der schweizerischen Demokratieen", sein „schweizerisches Bundes¬
staatsrecht" und zahlreiche kleinere Abhandlungen auf ähnlichen Gebieten. In
dieser ehrenvollen Stellung sollte ihm jedoch kein langes Wirken vergönnt
sein. Noch ist der Kreislauf eines Jahres nicht vollendet und aus dem
schönsten Wirken heraus reißt ihn die kalte Hand des Todes. In seinem
Am 22. November trat der Reichstag in die erste Berathung der Gesetz¬
entwürfe über die Erhöhung der Brausteuer und die Einführung einer Börsen¬
steuer ein. Der Erste, der das Wort nahm, war der Reichskanzler. Zwei
Tage vorher war er in Berlin eingetroffen, und nach der Rede, die am Tage
seines Eintreffens von seinem College» im Bundesrath und im preußischen
Staatsministerium, dem Finanzminister Camphausen gehalten worden, war
es die höchste Zeit, daß der Reichskanzler das Wort ergriff. Den Conflict¬
gerüchten gegenüber, welche die gegenwärtige Neichstagssession vor ihrer Er¬
öffnung umschwirrt haben und noch jetzt umschwirren. stellte der Reichskanzler
zunächst ins Licht, daß Niemand daran denkt, dem deutschen Reichstag das
Recht zu bestreiten, neue Steuervorlagen nach seinem Gutbefinden abzulehnen.
Wenn dann den reichsgesetzlich, nothwendigen Ausgaben gegenüber, die vor¬
handenen Deckungsmittel nicht zureichen, so bleibt eben nichts übrig, als die
Erhöhung der Matricularbeiträge. Folgendes war nun der zweite Punkt,
dem der Reichskanzler das volle Licht gab, dessen gerade dieser Punkt bedarf,
das ihm aber der preußische Finanzminister zwei Tage vorher in höchst schillern-
der. verwirrender Weise gespendet hatte. Matricularbeiträge sind der Verderb
des Reichs. Sie sind durch die Reichsverfassung eingeführt, weil man bei der
Gründung derselben nicht sogleich ein System eigener Reichseinnahmen auf¬
bauen konnte. Aber dieses System muß nunmehr Stein für Stein aufgebaut
werden. Der Reichstag kann den ersten und jeden nachfolgenden Stein des
Systems eigener Reichssteuern verweigern. Damit thut der Reichstag, was
in seinem Recht ist, aber er thut nicht, was seine Pflicht ist; denn indem er
die Matricularbeiträge verewigt, beschädigt er das Reich. Diesen Gedanken
führte der Kanzler mit dem Griffel aus, der gewohnt ist. nur unvergeßliche
Züge zu schreiben. Er sagte: die deutsche Einheit habe so viele Knochenbrüche
erlitten im Laufe der Jahrhunderte, deren Heilung eben jetzt versucht worden;
da sei der Callus noch nicht wieder fest geworden. Das sicherste Mittel, den
Callus aufs Neue zu zerreißen, sind aber parlamentarische Machtproben von
Seiten des Reichstags. und auf- und abschwellende Matricularbeiträge von
Seiten des Reichs. Die Matricularbeiträge sind eine ungerechte Auflage, weil
sie ohne Willkür nur nach dem Maaßstab der Kopfzahl den Bundesstaaten
aufgelegt werden können. In Folge dessen wehren sich zunächst die Bundes¬
staaten nach Kräften im Bundesrath gegen die Größe der Reichsausgaben
und damit gegen die Aufnahme und Versorgung der wahren Reichszwecke.
Soweit es den Bundesstaaten aber nicht gelingt, sich der Matricularbeiträge
zu erwehren, machen letztere die Bevölkerungen dem Reich abgeneigt. Denn
dieses wird auf dem Wege der Matrieularbeiträge den Bevölkerungen zur
Ursache drückender und ungerechter Besteuerung. So kann der Reichstag an
dem Auf- und Niederdrücken der Matrieularbeiträge seine Macht erproben
und genießen, aber nur um den Preis schwerer Beschädigung des Reichs.
Von dieser Verurtheilung der Matrieularbeiträge ging der Kanzler über
zu den positiven Grundzügen eines Steuersystems, wie er es für das Reich am
angemessensten hält. Er entschied sich durchaus für die indirecten Steuern.
Er hielt die Einkommensteuer nur erhebbar von einem Einkommen über 2000
Thaler an, und erklärte dieselbe für auflegbar nur um der Ehre der wohl¬
habenden Klassen, nicht um des finanziellen Ertrages willen.
Man könnte dem großen Staatsmann zu Gunsten der directen Steuern
vielleicht Erhebliches entgegenhalten. Aber es ist unmöglich, darüber mit ihm
zu streiten. daß das deutsche Reich keine andern Steuern auflegen darf, als
nur indirecte: aus dem ganz durchschlagenden Grunde, weil die indirecten
Steuern um der Einheit des deutschen Wirthschaftsgebietes willen den Ein¬
zelstaaten entzogen werden müssen. Die directen Steuern, soweit sie zulässig
und soweit ihre Auflegung möglich, müssen also in Folge der dringendsten
Nothwendigkeit den Einzelstaaten ausschließlich verbleiben.
Wenn nun der Kanzler unwidersprechlich den Nagel auf den Kopf ge¬
troffen mit den zwei Sayer: daß das Reich dahin streben muß. seinen Aus¬
gabebedarf mit eigenen Einnahmen zu decken, und daß zur Beschaffung dieser
Einnahmen nur ein System indirecter Steuern geeignet ist. so kann man doch
noch in Zweifel sein, ob mit der vorgelegten Brausteuer und Börsensteuer zu
dem System indirecter Reichssteuern ein guter Anfang gemacht ist. Unserer-
seits können wir diese letzte Frage nicht bejahen. Die beiden Steuergesetze
sind in Folge der ersten Berathung an die Budgetcommission verwiesen wor¬
den. Wenn letztere die Ablehnung der Steuern empfehlen sollte, so werden
wir die Commission darum nicht zu tadeln vermögen. Wir müssen aber der
entschiedenen Ueberzeugung Ausdruck geben, daß es die Pflicht der Budget¬
commission ist. die nothwendige Beseitigung der Matrieularbeiträge dem
Reichstag zu Gemüthe zu führen und demselben Fingerzeige zu geben über den
nach Ansicht der Commission richtigen Weg. zum Aufbau eines Systems
indirecter Reichssteuern zu gelangen. Die Gefahr, durch das Budget für 1877
plötzlich eine erdrückende Last von Matricularbeiträgen auf die Einzelstaaten
zu werfen, muß um jeden Preis vermieden werden, und nachdem zur Ver¬
meidung dieser Gefahr die Reichsregierung das Ihre versucht hat. wenn auch
nicht mit glücklichem Erfolg, ist es an der Budgetcommission, wenn sie die
Vorschläge der Reichsregierung zurückweist, den Weg anzudeuten, den sie ihrer¬
seits für den richtigen hält.
Die Fortsetzung der Berathung des Reichshaushalts in der Sitzung
vom 23. November ergab nichts Wichtiges. Dagegen kam am 24. November
beim Reichshaushalt aus Anlaß der Ausgaben für das Reichseisenbahnamt
die Uebernahme der Eisenbahnen durch das Reich zur Sprache. Der betreffende
Posten wurde schließlich ohne Anstand bewilligt und die Behandlung der
großen Frage, die in Folge desselben zum erstenmal im Reichstag angeregt
wurde, müssen wir uns auf eine Gelegenheit «ersparen, wo die Frage mit
eingehendem Nachdruck, nicht blos wie jetzt im Vorbeigehen, durch den Reichs¬
tag vorgenommen wird.
Die Sitzung vom 26. November, ebenfalls der fortgesetzten Berathung
des Reichshaushalts gewidmet, bot nichts Erwähnenswerthes dar.
Das öffentliche Leben der bayrischen Haupt- und Residenzstadt, das vor
wenigen Wochen noch so bedeutend erregt war. ist in ruhigere Bahnen ein¬
gelenkt. Die Politik hat sich etwas in den Hintergrund gestellt, es ist eine
Art Waffenruhe eingetreten. Der Kampf ums Dasein zwischen den zwei
großen Parteien, in die die Kammer und das Land getheilt sind, wirb so
bald genug wieder entbrennen. was soll man sich jetzt vorher schon viel
herumstreiten? So ist's auch in den Zeitungen verhältnißmäßig still, auch
der Telegrammen- und Adressensturm an S. Majestät den König, über dessen
Opportunist die Meinungen ziemlich getheilt waren, hat nachgelassen; die
Hauptorgane der Clerikalpatrioten besprechen höchstens schüchtern die Zukunfts¬
projekte ihrer Partei, ohne aber sich darüber selbst klar zu werden, obwohl
einige ihrer namhaften Führer ein Gutachten des alten Zöpfl in Heidel¬
berg über Steuerverweigerung, für welche die „Extremen" schwärmen, eingeholt,
allein ein von solchem Schritt abmahnendes Parere erhalten haben; und —
was das interessanteste Sujet des Augenblicks, der Handel zwischen dem
Minister v. Lutz und dem Bischof von Regensburg hat sich auch noch nicht
so weit abgewickelt, daß man von einem bestimmten Erfolg für einen der
beiden hohen Würdenträger sprechen könnte. Nach den sehr bestimmten, alle
Insinuationen des Ministers abweisender Erklärungen Senestrey's. hätte
man einen Moment wirklich glauben können. Ersterer habe zu viel bewiesen.
sei zu weit gegangen, allein da der Minister nun sogar die Persön¬
lichkeiten, von denen er seine Aussagen über das agitatorische Verhalten des
Bischofs zu haben behauptet, zu nennen bereit ist und letztern zur Bezeichnung
eines Schiedsrichters aufgefordert hat, so scheint er doch seiner Sache sicherer
zu sein, als manche glauben wollen. Inzwischen hat Herr v. Lutz schon
wieder Gelegenheit bekommen, auf die Besetzung eines erledigten Bischofstuhles
bedacht zu sein. Dr. Reißmann, Bischof von Würzburg, ist vor wenigen
Tagen plötzlich gestorben. Er war eines der traurigsten Thatzeugnisse des
„s-ÄLrineio act' iutelletto" ; einer der gebildetsten und mildesten bayrischen
Kirchenfürsten, als er sein Bisthum übernahm, hat er, als bei den letzten
Wahlen die berüchtigten Hirtenbriefe der bayrischen Oberhirten erschienen, den
leidenschaftlichsten und schärfsten derselben geschrieben. Wir wollen daraus
keinen Schluß auf einen andern Mann ziehen, dem auch das Zeugniß selbst¬
ständigen, vorurtheilsfreien Denkens und bisher erprobter Charakterfestigkeit
aus einem einfachen Landpfarrhaus auf den erzbischöflichen Stuhl von Bam-
berg begleitet hat — wir meinen den noch nicht sehr lang erst dort inthro-
nifirten Herrn v. Schreiber; er hat bisher verstanden, der heillosen, die
Kirche demoralisirenden „Kaplanokratie" zu widerstehen, allein er hat doch
schon auch die neueste Eingabe der bayrischen Bischöfe an den König mit
unterschrieben und damit, unsrer Meinung nach, den ersten Schritt jener
schiefen Ebene zu gethan, auf der es erfahrungsgemäß seit dem 19. Juli 1870
rapid abwärts geht. Diese bischöfliche Gesammt- und Jmmediat-Vorstellung.
deren wir eben gedacht, sollte wohl ein Surrogat für die nicht angenommene,
nun im seligen Frieden des Landtagsarchivs ruhende Kammeradresse sein.
Neues, was man nicht schon hundertmal aus hochwürdigen Munde gehört
hätte, bot sie nicht, höchstens war der Ton naiv-zudringlicher Entschieden¬
heit, in welcher der König gebeten wurde, „nicht an den segensreichen
Schöpfungen seines Vaters und Großvaters rütteln zu lassen", neu und ganz
dem Salon- und Hoffen der Jörgischen Adresse angemessen. Der König gab
denn auch hier die rechte Antwort, d. h. gar keine, indem er das umfang¬
reiche Aktenstück ohne irgend eine Bemerkung an das Cultusministerium über¬
geben ließ. —
Wann die Kammern wieder zusammentreten werden, hängt selbstverständlich
ganz von den Reichstagsverhandlungen ab. Gehen diese aber zur Zeit in
einem etwas langsamen Tempo, so darf man sich nicht wundern, wenn das
bayrische parlamentarische Zeitmaß sich noch mehr verlangsamt. Es ist ein
Glück eigentlich, daß das Haus in der Prannersgasse zu München gegenwärtig
leer steht, denn, wären die Landboten versammelt, sie wüßten, obwohl
sie nach dem Zweck des dermaligen Landtags, für den sie berufen sind, das
Budget zu berathen hätten, gar nicht, wie sie das anfangen sollten, denn das
am ersten Oktober verfassungsgemäß allerdings, aber nur geschrieben vor-
gelegte Budget ist zur Stunde, wo wir Ende November schreiben. noch nicht
in den Händen der Abgeordneten. Zwar soll es, wie man seit einigen Tagen
hört, endlich fertig gedruckt sein, allein ein so stattlicher Band mit fast 1000
Quartseiten, wie der Kostenvoranschlag des bayrischen Staatshaushalts ist.
will doch auch studirt sein, und das alles hätten Referenten und Nichtrese-
renten in der langen Wartezeit zwischen Kammervertagung und Wieder¬
berufung vornehmen können — allein wir haben uns diesseits und jenseits
der Donau und des Mains noch niemals überstürzt: warum sollte es dies¬
mal geschehen?
Lassen wir jetzt die Politik, die wir aber als gewissenhafter Briefsteller
doch nicht ganz übergehen konnten. und schauen wir einmal auf ein fried¬
licheres, heitereres Gebiet, sür dessen Cultivirung die trüben Vorwintertage,
deren wir uns jetzt erfreuen, besonders geartet sind. Bei solchem sonnenlosen,
ewig stürmenden und in allen Variationen rumorenden Wetter, ist es nirgends
schön und behaglich. aber am unschönsten und unbehaglichsten gewiß in
München. Ein guter Theil des Renommes, das der guten Stadt durch ihre
Gesund- oder vielmehr Krankheitsverhältnisse eingebracht worden ist. datirt von
solchen abscheulichen Herbst- und Wintertagen. Ein ordentlicher, klarer strenger
Winter ist in München nervenstärkend und erfrischend, solches „Sudelwetter"
aber niederdrückend und typhusschwanger. Aber wir wollen — man ist hier
sehr empfindlich dafür — um alles in der Welt nicht den Schein auf uns
nehmen, als gehörten wir zu denen, welche die Leute vor unsrer Hauptstadt
.fürchten machen" — wir wissen im Gegentheil recht gut. wie man sich, wenn
man nur will, auch bei solchen Zeiten hüten und schützen kann, aber der Un-
wuth, wenn man in Einem fort es regnen, höchstens einmal dazwischen hinein
schneien sieht, preßt einem schon manchmal ein bittres Wort aus. Um aber
gleich wieder einzulenken, so constatiren wir. daß man trotz Regnens. Schreiens
und Stürmens in München doch nicht ganz rathlos ist. wenn es sich z. B.
fragt, ob man nicht wenigstens ein Stück Wegs trockenen Hauptes und Fußes
»ehen kann. Da haben wir ja die Arcaden des Hofgartens, an deren
Wänden die herrlichen Landschaften Rottmann's nun, nachdem sie glücklich
von dem Verfall, dem sie bei dem, von dem italienischen doch etwas ab¬
stechenden Münchner Clima traurig schnell entgegengingen, durch eine gelungene
Restauration gerettet worden, in wohlverschlossenen Kästen abgesperrt sind, bis
die Sommertage wieder deren Oeffnung gestatten. — und unter diesen Hallen
einen Spazierweg, um den manche Stadt die darin geschützt und geborgen
Wandelnden beneiden würde. Darum sind sie auch an regnerischen Tagen von
all denen gefüllt, welche an schönen und sonnigen die Maximiliansstraße zu
ihrem Corso machen. Fast ist dann da noch schwerer durchzukommen, als
auf jener und. wenn auch ein scharfer Zugwind von den kahlen Bäumen des
Hofgartens hereinfährt, so ist man doch zufrieden, daß man nicht Gefahr läuft,
mit dem Regenschirm Andern die Augen auszustoßen oder die eigenen aus¬
gestoßen zu bekommen. Es ist ein Glück, daß es nicht immer so kommt,
wie manche Leute es sich denken. Dieser Hofgarten, an dem eigentlich gar
nichts Gartenähnliches ist, der aber eine hübsche Anzahl hoher, im Sommer
äußerst wohlthuenden Schatten gehender Bäume umfaßt, der den Münchnern
der unumgänglich nothwendige Durchgang zu seinem Juwel, dem englischen
Garten, ist — lief vor etlichen Jahren äußerste Gefahr, einfach aus der Liste der
öffentlichen Plätze gestrichen und dem verehrlichen Publikum vor der Nase zu¬
gemacht zu werden. Das war zur „traurigen Zeit der el-dsvant. Königs¬
braut". Die Dame trug gar hochfahrende Pläne im Kopf: die Absperrung
des Hofgartens, die Verwandlung desselben in einen für sie reservirten Park
gehörte zu diesen. Es war für den idealen König traurig, daß jene Verlobung so
schnell sich wieder löste, weil er vielleicht darin einen Anlaß mehr für seine
Neigung fand, der Menschen Gemeinschaft möglichst zu meiden, aber sein
Land hat es ihm gedankt, daß er gethan, wie er gethan.
Doch wir schweifen ab. wir wollten ja von dem reden. wohin man sich
gern vor Herbst- und Winterunbilden flüchtet — und zu so was sind wir in
den „Arcaden" auf dem Wege. Fast an ihrem äußersten Ende führt eine
Treppe in den „Kunstverein" hinauf. Die drei Säle desselben sind eigentlich
allerdings nur für die Mitglieder geöffnet, allein es ist leicht, eingeführt zu
werden. Und keinen Fremden wird es gereuen, hier, wenn er kann, alle
8 Tage einmal nachzuschauen. Denn alle Wochen wechselt die Ausstellung der
Bilder, welche hierher zu senden und sie hier zuerst der Kritik zu unterbreiten
jeder Künstler sich zur Ehre rechnet. So ist uns hier die Möglichkeit gegeben,
immer die neuesten, besten Erzeugnisse der Münchner Kunst bei einander zu
sehen. Allerdings sucht diese, um Beschauer und Käufer zu locken, auch noch
andere Ausstellungen auf. So war im entschwundenen Sommer das der
Glypthotek gegenüber liegende Kunstausstellungsgebäude, welches mit jener
und den Propyläen den früher von uns geschilderten schönsten Platz
Münchens begrenzt, mit einer großen Anzahl von Bildern angefüllt. Wir
fanden die ersten Namen der Münchner Malerrvelt, die ältere wie die jüngere
Schule derselben — aber wir sahen leider auf wenigen der Gemälde das den
Künstlern so ersehnte und erwünschte: „Verkauft" angeschrieben. Die in den
letzten Jahren so außerordentlich rege Kauflust, welche fast den Glanz der
mediceischen Möcensperiode aufzufrischen schien, hat auf einmal nachgelassen-
Der unglückselige „Krach" hält auch die Malerpinsel trocken. Zu den besten
Käufern in München selbst gehörte und gehört verhältnißmäßig noch die Fleijch-
mam.ische Kunsthandlung. In deren Auslage und noch mehr in der von
ihr im Odeon veranstalteten permanenten Ausstellung gewahrt man stets ganz
vortreffliche Bilder. In der letzten Zeit war unter diesen Hans Makart's
Kleopatra, wie sie dem Antonius auf dem Nil entgegenfährt, der Haupt¬
magnet . mit Recht. denn es war schwer von diesem Mysterium der Farbe,
das dies Bild, wie alle des genialen Meisters, ist. loszukommen. Unter den
Privaten, welchen ein gütiges Geschick es möglich macht, der Kunst den gol¬
denen Sold zu geben, steht hier Adolf von Schack obenan, der geistvolle
Kenner der persischen, spanischen, am Ende aller Literatur, welcher sich in
seinem etwas wunderlich stylisirten. schon äußerlich eine verschwenderisch reiche,
maurisch gefärbte Architektur zeigenden Palais jenseits der Propyläen eine
Galerie gebaut hat, welche zu den größten Sehenswürdigkeiten Münchens
gehört. Schon deshalb, weil sie eine Galerie der Specialitäten ist. Die Kleist
und Grabbe der neuern Malerei. Genelli, Anselm Feuerbach und Böcklin sind
hier so zahlreich und vollständig, für ihre eigenthümliche Richtung das rechte
Verständniß erst hier erschließend, vertreten, wie sonst nirgends. Diesen Perlen
neuester Kunst stehen — zu den interessantesten Vergleichen herausfordernd —
die echtesten und herrlichsten der ältern gegenüber, die Meisterwerke Titian's, van
Dyk's. Giorgione's, Ruben's u. A. von Lenvach's virtuoser Hand copirt.
Sind wir einmal bei den Malern und den Bildern, so wollen wir noch der
neuen Pinakothek gedenken, welche lange Zeit auf ganz unbegreifliche und schwer zu
entschuldigende Weise ihrem Namen nicht mehr gerecht ward, indem König
Ludwig I. zwar sie für die Künstler des 19. Jahrhunderts bestimmt hatte,
aber vielen der besten der lebenden derselben der Eintritt fast hermetisch
verschlossen war. Es giebt hervorragende Namen unter diesen, die der Ka¬
talog jener Sammlung nicht nennt. In neuester Zeit scheint es besser zu
werden: wenigstens ist ein Prachtbild des so früh verstorbenen Ramberg auf¬
genommen worden und Piloty's neuestes Collosalgemälde: „der Triumphzug
des Germanicus" schmückt einen der ersten Säle.
Im Odeon. in welchem im Erdgeschosse, wie schon erwähnt, die weiland
l'ebeglühende schöne Königin von Egypten in eM^le ihren temporären Aufent¬
halt genommen hat, ist jetzt wieder eine andere Königin, die, für deren Dienst
eigentlich jenes große, stattliche Gebäude errichtet ist. die Frau Mufika. ein¬
gezogen. Die Concertsaison hat am Allerheiligentage mit der Ausführung des
Elias begonnen. Die Abonnementsconcerte der „ musikalischen Academie".
welche im Winter in zwei Serien stattfinden. sind für München das, was
die Gewandhausconcerte für Leipzig sind, dieselbe Pflegstätte classischer Musik.
Waren letztere vor Jahrzehnten noch unbestritten die den Reigen aller Musik-
Aufführungen führenden, so kamen allmählich die Münchner Odeonsconcerte.
namentlich unter Meister Franz Lachner's unvergessener und unersetzter Di¬
rektion ihnen nach und hatten das große Verdienst, auch den in dieser Be-
ziehung etwas langsamer heranwachsenden Süden Deutschlands musikalisch,
d. h. classischmusikalisch anzuregen und ins rechte Geleise zu bringen. An
den Concertabenden der musikalischen Academie füllt sich der von Kaulbach's
und Eberle's Künstlerhänden ausgeschmückte Saal mit einem erlesenen, nicht
blos der Mode, sondern wirklich der Kunst willen kommenden und andachts¬
voll lauschenden Publikum. Es ist das ein wohlthuender Gegensatz gegen
manche andere Orte, so z. B. den Museumsconcerten in Frankfurt a/M., in
welchen man manchmal zu meinen versucht ist, man befinde sich in einem
italienischen Theater, bekanntlich dem unruhigsten der Welt: so schlagen die
Logenthüren zu, werden die Stühle gerückt, geht das Geschnatter und Ge-
plauder hin und her — man will eben häufig nur zeigen, daß man auch
darin, classische Musik zu hören, „machen" kann. In München hält Herr
v. Perfall, der Generalintendant, in Theatern und Concerten strenges Regiment;
wer während eines Musikstückes oder eines Aktes kommt, hat unerbittlich
vor der Thüre zu warten, bis die Pause eingetreten ist. Daß sich das Pro¬
gramm der Odeonsconcerte immer möglichst aus der eigentlichen Classicität
zusammensetzt, ist selbstverständlich und auch recht; allein hier und da dürfte
es schon mehr auch auf neuere, jugendliche Meister Rücksicht nehmen, wie das
im Gewandhaus von je üblich war. aber wieder, wenn es von Beethoven
und Mozart u. A. abgeht, sich nicht nur auf die nicht für aller Ohren tau¬
genden „symphonischen Dichtungen" K. Wagner's und Franz Lißt's beschränken-
Für den gefänglichen Theil der genannten Concerte werden nicht so häufig,
wie das in Leipzig der Fall ist, fremde, d. h. von fernher citirte Kräfte be¬
rufen, sondern gewöhnlich sind es die Koryphäen der Münchner Oper, welche
das Podium betreten. Freudige Erwartung geht jedesmal durch die Reihen
der Zuhörer, wenn die Altmeisterin der Münchner Gesangskunst, Frau Sophie
Diez, vorspricht, aus dem unerschöpften Born ihrer reichen, köstlichen Lieder
das zu geben, was ihr in dieser unverwüstlichen Frische, dieser wahren und
genialen Auffassung und vollendeten Technik keine ihrer jüngeren Kolleginnen
nachmacht.
Würdig zur Seite steht der „musikalischen Akademie" die königliche
Vocalkapelle, welche ebenfalls jeden Winter ein auserlesenes Publikum
in ihre Concerte lockt. Wir möchten fast sagen, es sei dies noch gewählter,
als das oben genannte: für den reinen, der begleitenden Instrumente ganz
entbehrenden Gesang sind nicht ganz so viele Leute begeistert, als wie für co
gemischtes Concert, darum ist es eine kleinere Gemeinde, die diesen wirklich
classischen Aufführungen lauscht. Der Dirigent der Vocalkapelle, Capellmeister
Wellner — bei den Concerten der musikalischen Academie alternirt er arn
Dirigentenpult mit seinem College» Levi — leistet mit den ihm zu Gebote
stehenden Kräften wirklich Außerordentliches. Man weiß gewöhnlich nicht,
welcher Nummer des jeweiligen, stets sehr reichhaltigen Programms man den
Preis zuerkennen soll, ob einer aus der ersten Hälfte, welche in der Regel
nur altclassische kirchliche Musik vorführt, oder einem der reizenden vier¬
stimmigen altenglischen, italienischen oder deutschen Volkslieder, welche den
Kern der zweiten bilden. Der Chor der Voealkapelle ist gewöhnlich durch
die obern Gesangsklassen der königlichen Musikschule verstärkt und so
bietet sich in diesen Concerten immer auch Veranlassung, die fortschreitenden
Leistungen derselben zu beobachten. Die aus dem früheren „Conservatorium"
unter dem Einfluß Wagner's - Bülow's umgebildete Musikschule hebt sich von
Jahr zu Jahr mehr und namentlich macht sich immer förderlicher ihr Ein¬
fluß und ihre Einwirkung auf die allgemeine, über die eigentlichen musika¬
lischen Berufskreise hinausgehende Musikpflege geltend, welche sie hauptsächlich
bezwecken will und für welche darum die liberalsten Veranstaltungen getroffen
sind, die auch jedem, der dazu Neigung hat, die Theilnahme an einzelnen
Unterrichtsgegenständen, namentlich im Chorgesang und im Clavierspiel er¬
möglichen. Die von Zeit zu Zeit stattfindenden öffentlichen Prüfungen oder
Musikabende der Musikschule, zu welchen der Zutritt in zuvorkommendster
Weise ermöglicht wird, sind von hohem Interesse, denn wir können vielleicht
in Jahresfrist Manchem oder Mancher begegnen, die sich in der Künstlerwelt
einen guten Namen errungen haben und die wir an jenen Abenden mit der
ganzen Schüchternheit des ersten Debüts an das Clavier treten oder das
Notenblatt in die Hand nehmen fachen.
Wir würden ein Unrecht begehen, wenn wir bei der Besprechung oder
kurzen Revue der Münchner Musiksaison der Quartettabende der Herren
Walter, Staiger, Müller und Thoas nicht Erwähnung thun wollten. Auch
an ihnen wird den Freunden der classischen Notenliteratur Treffliches geboten.
Nicht minder Ausgezeichnetes hört man in den erst seit allerneuester Zeit ein¬
geführten, aber rasch zu großer Beliebtheit gelangten Concerten des Hof-
theatersingchors, welche nicht die steife Feierlichkeit der andern genann¬
ten Aufführungen haben, sondern, da man in den Pausen auch der geselligen
Unterhaltung pflegen kann, einen außerordentlich gemüthlichen Charakter an
sich tragen, trotzdem aber wahrhaft Mustergültiges bieten.
Zwischen diese sozusagen reguläre Musik hinein nun noch die immer zahl¬
reichen außerordentlichen Virtuosen-, SpezialVereins- (obenan steht hier der
academische Gesangverein), Wohlthätigkeits- und tgi. Concerte — man wird
nicht sagen können, daß in München Kunst und Kunstfreunde auch nach dieser
R
Eines der erfreulichsten Beispiele tüchtiger Regsamkeit und Unternehmungs¬
lust auf dem Gebiete des Kunstverlags bietet die gute Firma I. Engelhorn
in Stuttgart. Kaum ist das Prachtwerk „Italien" in Lieferungen,
unter einer seltenen Gunst des Publikums, zu Ende geführt, so beginnt ein
neues, ebenso umfangreiches, und, nach der ersten Lieferung zu urtheilen,
ebenso gehaltvolles Werk: „Das Schweizerland", zu erscheinen. Wenn
diese Blätter bisher noch keine Notiz genommen von dem schönen Werke
„Italien, eine Wanderung von den Alpen bis zum Aetna", während alle
Tagesblätter bei jeder einzelnen neuen Lieferung voll des Lobes waren, so
mögen Leser und Verleger das unsrer Gewohnheit zu Gute halten, in der
Hauptsache nur abgeschlossene literarische Erscheinungen zu prüfen. Der
Charakter der Revue bringt es mit sich, daß ihr Urtheil langsamer sich ein¬
stellt, als in den Blättern, die der Tag bringt, die aber auch meist mit dem
Tage dahingehen. Nun aber, da das Werk abgeschlossen vor uns liegt, er¬
greifen wir mit Freuden das Wort an dieser Stelle, die vornehmlich den Zweck
hat, dem Leser gediegene, würdige Festgeschenke zu empfehlen, um aus dieses
herrliche Buch die Aufmerksamkeit zu lenken. Es ist wahrhaft erhebend zu
sehen, wie von den verschiedensten Seiten die Kräfte in unserm Volke sich regen,
um das ewig junge, ewig schöne Land, das unserm größten Dichter die Voll¬
endung des geistigen Adels gebracht, dessen nationale Entwickelung der unsern
so innig verwandt ist, dem deutschen Volke vertraut zu machen, uns mit
heißer Sehnsucht zu erfüllen, das Land und Volk der italischen Halbinsel selbst
zu schauen. Der alte treue Eckardt der deutschen Reisenden, Bädeker, hat eine
neue (von d. Bl. besonders besprochene) Ausgabe seines „Italien" veranstaltet.
Sein ehrenwerther Concurrent, Meyer's Bibl. Institut, hat die höchst ein¬
gehenden und gewissenhaften Studien von Gsell-Fels auf italischen Boden in
einer neuen starken Ausgabe soeben wieder erscheinen lassen — für zeitknappe
Reisende zusammengedrängt in einem praktischen Auszug „Italien in fünfzig
Tagen" —; unsere letzte Weihnachtsbücherschau wies am Schlüsse auf die gro߬
artige Ausgabe von Michelangelo's Gedichten bei Alphons Dürr. Aber das
vorliegende Werk füllt breit und ganz die Lücke aus, welche alle diese Bücher
noch lassen: es schildert und zeigt uns in Wort und Bild, die beide sich gleich-
werthig und gleichbedeutend gegenüberstehen, das reiche, glückliche Land in
dem ganzen Zauber seiner südlichen Eigenart, seiner ungeheuren Geschichte,
seiner unvergänglichen Poesie und Harmonie, und es wird wohl wenige Leser
geben, die, wenn sie das Buch aus der Hand legen, nicht sehnsüchtige Lust
verspüren, diese Herrlichkeit in Natur mit eigenen Augen zu schauen. Selten
ist ein so ausgedehntes Lieferungswerk mit Text und Bildern ausgestattet
worden. die fast ohne Ausnahme bis zuletzt ganz auf der Höhe der gegebenen
Zusagen stehen. Und durchgängig haben wir es in Text und Bild mit
Originalbeiträgen zu thun, die speciell für dieses Werk geschaffen oder dock
durch dasselbe zum ersten Male veröffentlicht wurden, nirgends mit alten
Cliches oder farblosem, gezwungenen Begleittext, die als Lückenbüßer ein¬
treten. Dieses Streben nach Originalität hat nur in wenigen Blättern zu
Leistungen geführt, die besser durch Nachbildungen älterer Meister ersetzt wor¬
den wären. So hätte z. B. das Meisterwerk Schirmer's, die Grotte der
Nymphe Egeria, das Werk weit mehr geziert als das vergleichsweise unbe¬
deutende Bild, welches jetzt die Grotte darstellt. Aber sonst beweisen die übri¬
gen Bilder wie sehr sich die Künstler gerade durch das löbliche Streben der
Verlagshandlung, nur Originalbilder zu bieten, zu wetteifernden höchstem
Streben angefeuert gefühlt haben. Ein erlesener Kreis von Kunstgenossen hat
hier zusammengewirkt: Namen wie G. Cloß. G. Bauernfeind. W. v. Kaulbach.
Arthur Calame. Friedr. Preller. W. Riefstahl. A. v. Werner hat dieses Werk ver¬
einigt. Und ihnen reihen sich an künstlerischer Auffassung und Darstellung die Ver¬
fasser des Textes: Karl Stieler, Eduard Paulus, Woldemar Kaden würdig an.
Ueber das neue Unternehmen des I. Engelhorn'schen Verlags, „das
Schweizerland, eine Sommerfahrt durch Berg und Thal", kann natürlich
noch kein endgültiges Urtheil gefällt werden. Doch scheinen Text und Bild,
nach den bisher uns vorliegenden Leistungen „Italien" ebenbürtig an die
Seite treten zu wollen. Den Text schreibt Woldemar Kaden allein. Zu
den Künstlern tritt der vornehme Name Alexander Calame's, aus dessen Nach¬
laß wir noch eine namhafte Ausbeute für dieses Werk erwarten dürfen. Zu
den Darstellern der Volksscenen ist u. A. auch Vautier gewonnen. Wir kommen
auf das zum Abonnement lebhaft einladende Unternehmen demnächst zurück.
Wiederholt haben wir auf die große Anzahl reizender kleiner Weihnachtü-
bücher aufmerksam gemacht, welche im Verlage von Gebr. Paetel in
Berlin — von vielen unter ihnen kann man sagen jedes Jahr in neuer
Auflage — erscheinen. Da steht voran unter den diesjährigen Ausgaben
Gustav zu Putlitz' liebliche Naturidylle „Was sich der Wald erzählt"
in 36. Auflage, die Irrlichter von Marie Petersen in 26.. das Harz¬
märchen Prinzessin Ilse von derselben Verfasserin in 17. Auflage,
Jmmensee vonTheodorStorm in 19. Auflage, und in zweiter Auflage
die „zwei Weihnachtsidyllen" desselbenVerfasfers und „im P farrdors"
von Wilhelm Imsen. Die Reinheit und Schönheit dieser Dichtungen ist
so allgemein anerkannt, sooft eingehend nachgewiesen worden, daß ein Wort
weiterer Empfehlung überflüssig erscheint. Die stete Vermehrung der Auflagen
dieser Werkchen beweist auch, daß die Neigung des Publikums zu diesen er¬
probten Lieblingen noch keineswegs in der Abnahme begriffen ist und das ist
für den Geschmack der Käufer und Leser nur ehrenvoll. TheodorStorm's
Gedichte bietet dieselbe Verlagshandlung in fünfter vermehrter Auflage.
Auch sie dürfen der Gunst des Publikums noch lange'sicher sein; denn wenige
der modernen Dichter verbinden in ihren Versen in solchem Maße wie Theo¬
dor Storm Kraft mit Feinheit, gesunden Realismus in Natur- und Stim¬
mungsbildern mit absoluter Reinheit der Empfindung, wenige achten so sorg¬
fältig wie dieser Dichter auf den strengen Rhythmus der Verse, den Wohl¬
laut der Sprache. In eingehender Weise haben die Grenzboten (1873. Heft 4)
sich anerkennend über „Dranmor's gesammelte Dichtungen" aus¬
gesprochen, die ihrem Charakter nach soweit abliegen von der friedlichen Lyrik,
die in den gewöhnlichen Dichtungen waltet. Daß auch Dranmor's Dichtun¬
gen die zweite Auflage erlebten, ist durchaus kein Wunder, wohl aber
ein rühmlicher Beweis dafür, daß auch die ernstesten und tiefsten Gedanken
in unsern verweltlichten Tagen noch gute Stätte finden bei einer großen
Anzahl deutscher Leser. Der Verlag der Gebr. Paetel bietet endlich in
zweiter Auflage eine Separatausgabe der „Geier-Wally" von Wilhelmine
von Hillern, „eine Geschichte aus den Tiroler Alpen", die von Manchem für
eine der besten Erzählungen gehalten wird, welche die vortreffliche „Deutsche
Rundschau" des Paetel'schen Verlags im Laufe ihres ersten Jahrgangs ge¬
bracht hat. Wir gestatten uns in dieser Hinsicht allerdings einer etwas ab¬
weichenden Meinung zu sein, insofern, als wir meinen, daß die novellistischen
Beiträge, die Theodor Storm, Höfer u. A. zur „Deutschen Rundschau" ge¬
liefert, einer Separatausgabe in höherem Grade würdig gewesen wären, als
dieses Erzeugniß der Frau v. Hillern'schen Muse. Aber dagegen soll gern
anerkannt werden, daß die „Geier-Wally" unter dem, was diese Schriftstellerin
bisher geschrieben, wohl den ersten Rang einnimmt und namentlich nicht
mehr an jenem Mangel leidet, der an einem weiblichen Schriftsteller am un¬
angenehmsten empfunden wird, dem Mangel an — Weiblichkeit.
Mit besonderer Freude ernähren wir endlich der Ausgabe von I in in er¬
mann's Oberhof mit Zeichnungen von Woldemar Friedrich, welche
die Grote'sche Verlagshandlung bietet. Mit Recht bemerkt die Einleitung von
Ernst Hermann, daß die Illustrationen Friedrich's „neben dem allgemein
künstlerischen Zweck zugleich den verfolgen, die localen Beziehungen des Werkes
zu veranschaulichen". Die Bilder Woldemar Friedrich's dürfen sich dreist
den in andrem Verlag erschienenen Oberhof-Illustrationen eines berühmten
rheinischen Malers an die Seite stellen. Die ergreifende menschliche Natür¬
lichkeit und Innigkeit der Charaktere und der Handlung weiß Friedrich viel¬
leicht noch zu unmittelbareren Ausdruck zu bringen, als Vautier.
Der Inhaber der Pfründe Mogilno, der Decan, Probst und Canonicus
Sylvester Suszcynski ist vor einiger Zeit zur altkatholischen Kirchen-Gemein¬
schaft übergetreten und hat sich kurz darauf verheirathet, sowohl bürgerlich
vor dem Civilstands-Amte in Königsberg als kirchlich durch eine von einem
altkatholischen Pfarrer in der Schweiz vollzogene Trauung.
Es ist damit eine Frage auf die Tagesordnung der Zeitinteresfen gesetzt
worden, welche nicht sobald wieder verschwinden, und je wichtigere Interessen,
berechtigte wie unberechtigte, dadurch berührt werden, oder vielmehr unmit¬
telbar bedingt sind, sicher an Wichtigkeit gewinnen wird.
Factisch ist freilich der Fall Suszcynski von den preußischen Behörden
bereits fo entschieden und geordnet worden, daß der königliche Verwalter des
Diöcesan-Vermögens Landrath Nollau den Kirchenvorstand zu Mogilno an¬
gewiesen hat, dem Probst Suszcynski das volle Pfarreinkommen weiter zu
zahlen, und daß ein Protest des Kirchenvorstandes nur die Folge gehabt hat,
daß derselbe aufs neue zur Auszahlung angewiesen wurde, und zugleich der
Kreis-Landrath den Auftrag erhielt, dieser Forderung allenfalls durch Execu-
tion Nachdruck zu geben.
Aber damit ist die Erörterung der Rechtsfrage nicht überflüssig geworden,
da diese, wie sich nach den verschiedenen Standpunkten und Interessen er¬
warten läßt, verschieden beurtheilt wird.*)
Daß die ultramontane Seite den Schutz des Probstes Suszcynski so
ungehörig und ungerecht findet, als das ganze Altkatholiken-Gesetz, kann nicht
weiter befremden, aber es sind auch Urtheile in solchen Blättern und von
solchen Männern, die sicher nicht zu den Ultramontanen gerechnet sein wollen,
dahin abgegeben worden: „daß das Vorgehen des Landraths Nollau ent¬
schieden ungesetzlich ist", d. h. also, daß die Haltung und das Vor¬
gehen der preußischen Staatsbehörde „entschieden ungesetzlich" sei, so daß die
Rechtsfrage doch wohl noch eine öffentliche genauere Erwägung verdient.
Von der Seite nun, welche das Verfahren der preußischen Staatsbehörde
„entschieden ungesetzlich" findet, kann so geurtheilt werden und ist thatsächlich
so geurtheilt worden.
Es gebe zwei Standpunkte, von denen aus man die gegen die römische
Hierarchie anwachsende Bewegung beurtheilen könne, 1) den altkatholischen,
2) den reformatorischen; und „je nachdem die Regierung den einen oder den
andern als denjenigen anerkenne, welchen die gesetzgebende Gewalt beim Alt¬
katholiken-Gesetz einnahm, finde sie einen verschiedenen Umfang des im Gesetz
ausgedrückten Willens". Vom altkatholischen Standpunkte habe nämlich die
Regierung nur zu untersuchen, ..ob de.r Betreffende die nothwendigen Eigen¬
schaften eines römisch-katholischen Geistlichen und Pfründenbesitzers (noch) in
sich vereinige oder nicht. Denn nur den in ihrem Glauben, in ihrer Reli¬
gionsübung bedrohten römischen Katholiken (römisch-katholischen Pfarrern)
solle Schutz gewährt und darum nachgewiesen werden, daß der Petent rö¬
mischer Katholik (römisch-katholischer Pfarrer) sei, bezw. noch sei. Dazu ge¬
höre der Kleriker-Stand, für diesen der Cölioat; wo diese Erfordernisse fehlten,
falle jeder Anspruch, jedes Recht des Petenten weg.
Etwas Anderes sei freilich der reformatorische Standpunkt. Dieser gebe
dem gesetzgeberischen Willen eine breitere Basis; es käme dabei gar nicht darauf
an, daß jemand noch römisch-katholisch, sondern daß er überhaupt noch ein
Christ bleibe. Freilich werde so das Altkatholiken-Gesetz aus einem Gesetze
zum Schutze bedrohter Rechte ein Gesetz der Beihülfe zur reformatorischen
Bewegung, es wehre nicht bloß ab, sondern es greife an, es zwinge der
katholischen Kirche materielle Vortheile ab für Leute, „die offenbar gar nicht
mehr zu ihr gehören, die sich selbst völlig von ihr losgesagt haben".
Herr von Suszcynski habe nun durch seine Verheirathung den Charakter
eines römisch-katholischen Geistlichen abgelegt, sich dazu nicht unter den Bi¬
schof der Altkatholiken gestellt, wäre da auch abgewiesen worden, weil die
letzte altkatholische Synode sich ausdrücklich für Beibehaltung des Cölibat-
Zwanges erklärt habe (was freilich nicht wahr ist, sie hat die Frage als zur
Zeit inopportun nur vertagt), ergo sei die Gewährung bezw. Fortgewäh¬
rung der Pfarreinkünfte an den Probst Suszcynski „entschieden unge¬
setzlich".
Wir haben die Beweisführung von dieser Seite möglichst vollständig
vorgeführt, um den Ernst der Frage mehr in das ihm gebührende Licht zu
stellen: versuchen wir nun von einem ganz unparteiischen Standpunkte,
wir dürfen im voraus sagen, vom Standpunkte des reinen wahren (wenn auch
nicht römischen) Katholicismus die Würdigung aller zur Frage gehörenden
Punkte.
Offenbar liegt der Schwerpunkt der ganzen Untersuchung in den zwei
Fragen: 1) ob ein katholischer Geistlicher, der si es v er h el rath et.
von dem katholischen Glauben abfalle. 2) wie das Altkatho¬
liken-Gesetz in seiner Anwendung auf diese Frage zu erklären sei?
Daß nun ein Altkatholik, der als solcher die Jnfalltbilität nicht aner¬
kennt, nach der preußischen Verfassung in seinem Rechte geschützt werden muh*),
und nach dem Altkatholiken-Gesetz geschützt werden soll, braucht nicht weiter
bewiesen zu werden. Die unverhüllte Wahrheit ist. daß die Altkatho¬
liken geschichtlich und rechtlich, d. h. nach den früher in der Kirche
bestehenden Zuständen wie gesetzlich gemachten und nicht gemachten Bestim¬
mungen (^kirchenrechtlich), so wie nach der preußischen Verfassung, die allein
wahren Katholiken sind, weil vordem Vaticanum das Episcopalsystem
neben dem Papalsystem factisch und rechtlich, also gleichberechtigt, bestanden
hat, weil die Unfehlbarkeit zwar auch von Rom und den Curialisten be¬
hauptet, zuweilen praktisch geltend gemacht, aber nie nass ÄeelarAw gewesen
ist. weil umgekehrt ebenso das Episcopalsystem sich praktisch und wissen¬
schaftlich geltend gemacht, und noch das Tridentinum keine größere Sorge
gehabt hat, als — irgend eine kirchliche Anerkennung der Unfehlbarkeit zu
verhüten.**) Daß nach dem Concil die Papalpartei, oder die Jesuiten, die
Unfehlbarkeit behauptet, die Päpste seit Karl dem Großen, wenn es die Um¬
stände möglich machten, so verfuhren, als wenn jeder Papst der einzige Bi¬
schof, die anderen sämmtlich nur seine Vikare wären (was bei richtiger Logik
aus der Unfehlbarkeit folgt), ändert an der Rechtsfrage nichts.
Tragikomisch ist aber für den Kenner des katholischen Dogmas und der
Kirchengeschichte, wenn die deutschen Bischöfe sich am Grabe des heiligen
Bonifacius zu Fulda versammeln, gleichsam Hülfe suchend bei dem „Apostel
der Deutschen", da Bonifacius selbst die Unfehlbarkeit der römi¬
schen Bischöfe verworfen hat und schwerlich die jetzigen deutschen Bi¬
schöfe als seine Nachfolger anerkennt.
Charakteristisch ferner und allein schon die Meinung des Tridentinischen
Concils entscheidend ist der Vorgang zwischen der 1. und 2. Session 1346.
Man verhandelte über den Titel, den das Concil selbst führen und seinen
Decreten vorsetzen sollte. Der Papst wünschte den Titel: Sa-erosg-meta oeeu-
meines, et seneralis svnoäus ^Mentina viÄesiäeutidus leMtis apostolieis,
die Bischöfe aber, besonders die französischen, wünschten den Zusatz: univer¬
salem ecelesiam rövrg,esentg.us, und beriefen sich dabei auf die Concilien von
Costnitz und Basel, in deren Titel auf jene Worte noch folgte: (Ls-eros. occ.
et gen. son., xrassicl. leZst. Äposwl., uno. eeeles. revraes. :) auae pote-
swtem illnueäiate a Linristo uaeta est, cui unusquis^ne, etiamsi
xontikieis. äiZnitate, obeäire teuetur, der Grundsatz, daß das
Concil über dem Papste stehe. Wer, der irgend in diesen Fragen
urtheilsfähig ist, sieht nicht, daß das Tridentin. Concil nicht daran gedacht
hat, die Unfehlbarkeit anzuerkennen, vielmehr verworfen hat? Es gelang nun
zwar dem Papste und seinen Creaturen, mit Hülfe der hungrigen von ihm
ernannten Bischöfe in Mrtibus inüäelium zu verhüten, daß das gleiche Recht
der Bischöfe — ihr jus äivivum nicht ausdrücklich im Gegensatze zum römischen
Bischöfe ausgesprochen wurde*), aber umgekehrt ließen doch die Bischöfe keinen
Ausdruck passiren, der die Frage im Sinne der Papstmacht entschieden hätte.
Und dieser Gegensatz bleibt dann das Hauptinteresse des ganzen Concils, der
rothe Faden, der sich durch alle Verhandlungen durchzieht.
Wer das leugnet, kennt entweder die Geschichte und die Verhandlungen
des Tridentinischen Concils nicht, oder er will sie nicht kennen, zwischen welcher
Alternative die deutschen Bischöfe und namentlich die Herren im Centrum des
deutschen Reichstags wählen müssen.
Daraus folgt aber unwidersprechlich, daß durch die Deklaration der Jn-
fallibilität der Glaube der katholischen Kirche verändert ist, wie das ja die
Bischöfe zuerst selbst durch ihre Opposition bezeugt haben, daß aber eben
darum die Bi schüfe durch ihre Unterwerfung vom katholischen
Glauben abgefallen, d. h. vom katholischen Standpunkte, wie ihn
Windthorst - Bielefeld im Reichstage offen ausgesprochen hat, Ketzer sind.
Doch ist diese Frage ja wenigstens in ihrer praktischen Bedeutung von
den Staatsregierungen bereits entschieden, und für unsere Untersuchung nicht
weiter zu erörtern.
Es fragt sich also nur, ob ein Priester, der außerdem, daß er die Jn-
fallibilität nicht anerkennt, sich nun auch verheirathet, dadurch wirklich vom
katholischen Glauben abfällt, d. h. aber nun, ob der Cölibat überhaupt,
und der des Priesterstandes im Besonderen zum katholischen
Glauben gehöre?
Der Apostel Petrus (Matth. 8. 14. Marc. 1. 29. Luc. 4. 38) war
verheirathet, nach Paulus (1. Korinth. 9. 5) sämmtliche"), wohl zu
merken, alle Apostel.
Ebenso waren natürlich, wie auch im alten Bunde, alle Geistlichen im
Christenthume verheirathet, durften sich verheirathen.
Erst im 2. und 3. Jahrhunderte ließ übertriebener Eifer für die Be¬
zähmung und Ertödtung der Sinnlichkeit der heidnischen viehischen Versunken-
heit gegenüber die Enthaltsamkeit von der Ehe als eine besondere christliche
Tugend, ja als eine höhere Tugend erscheinen. zusammenhängend ebenso mit
den Schmerzen der Verfolgungen, welche alles Irdische als unsicher, vergänglich
und nichtig empfinden ließen, als mit dem oben bezeichneten asketischen Geiste
der Zeit, der in dem Opfer der Befriedigung der sinnlichen Triebe ein höheres
christliches Verdienst sah und allmählich das Mönchthum gebar. Aufgebracht
wurde diese selbstgemachte Heiligkeit übrigens nicht von den Geistlichen, sondern
von Laien (eontmölltss, 7r«?A^<», Männer, wie Weiber), aber es war nur
natürlich, daß. wenn Laien, um Alles für Christus (in seiner wahren Nach¬
folge) zu opfern, alle ihre Güter den Armen gaben und ehelos lebten (um
den Brüdern zu dienen), man diese höhere Tugend auch von den Geistlichen
forderte. Freilich rächte sich früh genug die Verirrung durch Sünde, indem
sie nun zur höheren Tugendübung mit Jungfrauen in angeblich geschwister¬
lichen Verhältnisse zusammenlebten (sororss sudiuti-oäuetaö, <5^ses«xr<»,
Schwestern, Gehülfinnen, ohne Gattinnen zu sein), aber die einmal eingeleitete
Verirrung in dem Begriffe einer höheren Tugend des ehelosen Lebens wurde
dadurch nicht aufgehalten. So wurde denn mehr und mehr auf kleineren wie
größeren Kirchenversammlungen der Versuch gemacht, den Geistlichen das Joch
des Cölibats aufzulegen, aber lange umsonst.
Für immer bezeichnend bleibt die Aeußerung des greisen achtzigjähriger
Bischofs Paphnutius, der auf dem Concil zu Nicäa 325 so vor dem
Weitergehen der Verirrung warnte: er habe nie ein Weib berührt, wenn man
aber den Geistlichen ihre Weiber nehme, so werde bald keine Frau in den
Gemeinden vor ihnen sicher sein.
Indessen gingen nicht nur einzelne Bischöfe, sondern auch einzelne Sy¬
noden mit dem Verbote der Priesterehe weiter, ohne daß gleichwohl ein Recht,
geschweige ein allgemeines Recht des Verbotes der Priesterehe erwuchs. Nur
die Bischöfe von Rom steigerten mehr und mehr diese sündhafte Forderung,
aber es bildet sich nun auch schon der Gegensatz gegen den römischen Katholi¬
cismus in der griechischen Kirche, erscheint und behauptet sich lange im Abend¬
lande (alt-brittische Kirche), und der Cölibat konnte nicht durchgesetzt werden,
da bis auf Karl den Großen die alten freien Metropoliten des Abendlandes
dem römischen Bischöfe theils gar keine Vorrechte, theils nur sehr beschränkte
(seeunäum canones) zugestanden. Und selbst nachdem durch Karl den Großen
(gegen seinen Willen) und unter Nicolaus I. 8L8 — 867 die Macht des
römischen Stuhls einen weiteren Umfang und größere Stärke erlangt
hatte, kommen überall im Abendlande verheirathete Geistliche (besonders
geachtet, wie ihre Frauen, die ehrbaren pi'<Z8d?terissg,ö), ja selbst verheirathete
Bischöfe vor.
Erst Gregor VII. gab in hierarchischen Interesse das entscheidende Ver¬
bot der Priesterehe: non libsrari pvrest eedesia g, servitute laieorum, »ihl
liderentur eleriei ad uxorikus *).
Aber seitdem wird das Leben der Geistlichen ein Meer von Verbrechen.
In England ließen sich die Bischöfe von den Geistlichen eine Taxe bezahlen,
für welche sie sich Concubinen halten durften, die Bischöfe selbst aber hielten
an ihren Höfen förmliche Harems. Wer zählt aber die Verbrechen, die nun
in den Männer- und Frauenklöstern Statt fanden, und noch mehr in den
Pfarrhäusern, und von den Geistlichen an Frauen und Mädchen in der Ge¬
meinde verübt wurden? Das ist, außer der Grausamkeit in der Verfolgung
und dem Morde der angeblichen Ketzer (Scheiterhaufen :e.), die größte Sünde,
der Fluch des Papstthums, den die Geschichte der gemarterten und gemordeten
Menschheit über dasselbe ausspricht; die Folge aber war ein Meer von Ver¬
brechen, nicht nur der Untergang der vermeinten angeblichen höheren Tugend,
sondern aller Tugend, die scheußlichste Unzucht, von welcher gerade die soge¬
nannten heiligen Väter, die Päpste selbst die grauenhaftesten Bilder liefern
(Sergius III. 904 —Hurenregiment in Rom, Joh. XII., Alexand. VI. ?c.-c.)
Die Protestanten warfen die Verirrung ab**), die römischen Theologen ver¬
suchten dagegen, freilich vergeblich, den Coelibat in der vovkuwtio (angebliche
Widerlegung der Augsburg. Confession) zu rechtfertigen, und das Tridentinum
schmuggelte das Verbot der Priesterehe in die of-mores ac nah über die Ehe
überhaupt ein, ebenso der Sache nach christlich überhaupt als katholisch im
Besonderen falsch, da es nach katholischem Princip nur eine Frage der
Disciplin ist.
Somit entsteht die Frage: gehört der Cölibat wirklich zum
katholischen Glauben?
Es ist über allen Zweifel erhabener unbestreitbarer Grundsatz der katho¬
lischen Kirche, daß sie. wie die Entscheidung über die Lehre (Ministerium),
und die Verwaltung der Sacramente (Ministerium), so auch das Recht und
die Gewalt haben muß. alle die Einrichtungen für die äußere Gestaltung und
die äußeren Verhältnisse der Kirche und das praktisch fromme Leben der
Gläubigen überhaupt (äiseiMn-Y zu treffen, die der höchste Zweck der Kirche
fordert (potestas regimiriis s. jurisäietionis).
Klee. Dogmatik, Aufl. 1. I. 147: „Die Kirche hat allzeit eine von
Christo eingesetzte, durch die Apostel überkommene hierarchische Ordnung mit
der Vollmacht des Magisteriums, Ministeriums und Regimens in
sich gewußt."
Walter, Kirchenrecht. Aufl. 8. Z 13: „Aus dem positiven Wesen und
Zweck der Kirche ergibt sich für dieselbe eine dreifache Vollmacht, die Ver-
waltung der von Christo eingesetzten Sacramente, die Verkündigung seiner
Lehre und Handhabung der kirchlichen Disciplin."
Aber es ist ebenso über allen Zweifel erhabener unbestreitbarer Grundsatz
der katholischen Kirche, daß sie ein wirklich göttliches Recht der Entscheidung
doch nur in der Lehre und der Verwaltung der Sacramente in Anspruch nehmen
dürfe, so daß sie in ihren äußeren Einrichtungen (äiseiMva, wozu auch die
Verfassung, also die ganze jurisclietio gehört) nicht infallibel sei. sondern ihre
äußeren Einrichtungen nach den verschiedenen Zeiten und Verhältnissen ändern
und reformiren könne, ja müsse.
Klee. Dogen. I. 143: „Der Gegenstand der unfehlbaren Autorität der
Kirche sind Christi Wahrheit und Gnade, seine Dogmen. Gebote (res üäei
et worum) und Sacramente, und alle hiermit in nothwendiger Beziehung
stehende und daher eine dogmatische Qualität anziehende Thatsachen (laco
äoFwatiea), ohne deren Feststellung nämlich die Lehre selbst nicht aufrecht er¬
halten werden könnte. — Für alles Andere, was außerhalb dem Kreise der
von Christo übergebenen Lehre, Gebote und Sacramente liegt, kann Mangels
der ausdrücklichen Erklärung und Verheißung Christi keine Unfehlbarkett an¬
gesprochen werden."
Walter, Kirchenrecht, Aufl. 8. § 11: Jene Einheit und UnVeränder¬
lichkeit ist jedoch bloß von demjenigen zu verstehen, was die Kirche als Ueber¬
lieferung Christi bewahrt, nicht auch von den Einrichtungen, welche sie über
die Disciplin nach ihrem eigenen Ermessen festsetzt; sondern hierin zeigt
sie sich nachgiebig und beweglich, je nachdem das Leben der Völker
und die Eigenthümlichkeit eines jeden Zeitalters dieses verlangt ze." — Wenn
nun andere katholische Theologen und Rechtslehrer, namentlich in neuerer Zeit,
und auch Walter selbst (der in den neueren Ausgaben diesen Standpunkt ver¬
schleiert), anders lehren, so ist das nur eine Illustration, wie es mit der
Wahrheit des Satzes, daß die katholische Ansicht immer, überall und von
allen geglaubt werde, steht, — aber nicht die katholische Wahrheit hat sich ver¬
ändert, sondern nur Walter ist ein Anderer geworden.
Daß der Papst (von dem in der Bibel kein Wort steht — wie ja auch
Petrus nie Bischof in Rom gewesen ist, während die darauf ge¬
bauten Folgerungen gleich falsch sind), und die Curialisten (Papalisten) in und
außerhalb Roms, die Frage anders ansehen, das Papstthum und dessen ver¬
meintliche Rechte zu einem Glaubensartikel machen, ändert in der Sache nichts.
Das Tridentinum selbst hat den obigen Unterschied zwischen dem gött¬
lichen und menschlichen Rechte der Kirche durch die Trennung der äsersta as
nao und <1e retormatiolle dargestellt und sanctionirt, ja es konnte überhaupt nur
nach jenem Grundsatze reformiren, denn die nass konnte und durste es gar
nicht reformiren, sondern nur declariren.
Und so erklären sich nun auch die historischen Erscheinungen. Die katho¬
lischen Regierungen haben zwar die Decrete des Tridentinum cle nah (bis
auf das Vaticanum und dieses ausgeschlossen) angenommen, aber sie haben
(gut katholisch) zugleich die äeerotg, desselben Concils as Ziseixlma, s
as retormationL zurückgewiesen (selbst Philipp II.), weil man sie unge¬
nügend oder gegen die Majestätsrechte des Staates fand. Man vgl. darüber
in meiner Symbolik der kath. Kirche die Geschichte und Annahme des Trit.
Concils, auch Wessenberg, D. groß. Kirchenversamm. Bd. 3, 413. Bd. 4, 226 :c. :c.
Freilich suchte und sucht dann die römische Curie ihr (falsches) Princip
zu behaupten, z. B. wenn die weltliche Macht Bischöfe von ihren Sitzen ent¬
fernt (Portugal, Cöln :c.), ernennt nur Vicare, so daß die entfernten Bischöfe
llomillgliter die orümg-rü bleiben, aber sie konnte und kann doch die Bischöfe,
abgesehen von der Belobung, nicht weiter schützen.
Zweifellos ist aber nun, daß das Gebot des Cölibats, das Verbot der
Priesterehe, nicht zum katholischen Glauben, sondern nur zur wandel¬
baren äiseiMna, gehört.
Christus selbst hat den Priestern so wenig die Ehe verboten, als den
anderen Gläubigen, ebensowenig haben das die Apostel gethan, sie waren ja
selbst (nach Paulus sämmtliche) verheirathet. Matth. 19, 12 spricht Christus
nur die factische Erscheinung oder Erfahrung aus, daß manche sich, um höherer
Zwecke willen, der Ehe enthalten, was ja immer geschehen und jedem nach
seinem Gewissen erlaubt ist, aber es liegt darin weder ein Gebot noch ein
Verbot; Paulus aber hält es 1 Cor. 7, 7. 8. 32. 33. 34. 38. nur wegen
der Parusie Christi, deren baldiges Eintreten er erwartete, und wegen der
sicher bevorstehenden Leiden und der damit gesetzten Nothwendigkeit, sich ganz
dem Herrn zu weihen, für besser, nicht zu heirathen, für den, wer das vor¬
ziehe; er erklärt aber eben so entschieden, es sei besser zu heirathen. als zu
brennen, und verordnet nur, daß ein Bischof nicht mehr als Eine Frau habe.
Da nun seine Voraussetzung des baldigen Eintritts der Parusie als Grund
wegfällt, so fällt auch das Gewicht seiner Folgerung, des Vorzugs der Ehe¬
losigkeit; ein Verbot der Priesterehe kann aber kein verständiger Mensch bei
Paulus finden, der ja sagt: ein Bischof soll unsträflich sein, Eines Weibes
Mann.
Nun hat freilich das Tridentinum nach allem geschichtlichen Schwanken,
wie es oben erwähnt ist (Lessio XXIV us Sacramento inatrimomi) folgende Ge¬
bote, soweit sie hierher gehören, gemacht: 1) die Ehe sei ,ein Sacrament,
2) als evusummatum (nach ehelichen Zusammenleben) unauflöslich, 3) den
Geistlichen verboten, 4) der jungfräuliche Stand besser, seliger.
Zuerst ist aber Durchaus nicht gleichgültig, daß man lange in der Kirche
über Begriff und Zahl der Sacramente verschiedener Ansicht war. Die Be¬
stimmung Augustin's (384 — 430), daß sie Zeichen einer heiligen Sache (siZnum
rei Laerav) seien, enthielt wohl schon den Gedanken einer besonderen Gnade,
aber ohne die Gnadenwirkung ex opere vxerato, die Ooneil. IM. VII, 1, 8
gelehrt wird, deren aber der sel. Möhler sich so geschämt hat, daß er, um die
zweifellos katholische Lehre als katholisches Dogma zu entfernen, das Mssivum
operaw für ein Äoponizns erklärte, also die katholische Lehre verleugnete oder
fälschte. Petrus Lombardus (1- 1164) faßte die Sacramente mehr als ge¬
heimnißvolle (gnadenreiche) Handlungen, und erst Thomas de Aquino ('I- 1274)
bildete den Begriff durch, daß sie siZna visidilig. AiÄtiae invisibilis wären, aber
<Zuae eonkerunt, yuoä siMitteemt»
Ebenso unsicher und noch unsicherer war man in der Bestimmung der
Zahl der Sacramente, Alles ein Beweis, wie es mit der Wahrheit des an¬
geblichen Kennzeichens der katholischen Lehre steht, daß die katholische Lehre
„immer", „überall" und „von allen" angenommen sei. indem dieses Kenn¬
zeichen sich folgenschwer gegen die römische Lehre wendet, die darnach nicht
katholisch sein kann, weil sie „nicht immer", „nicht überall" und „nicht von
allen" geglaubt worden ist.
Chrysostomus und der „heilige" Augustin nahmen nur zwei Sacramente
an, oder sahen nur in Taufe und Abendmahl die eigentlichen Sacramente,
Paschaschius Radbertus (844—864, Abt zu Corbie) und Rabanus Maurus
(847—856 Erzbischof von Mainz) zählen 2, 3, 4 Sacramente, Alexander ab
Hales (1- 1245) nur zwei „nach Christi Einsetzung", dagegen schon Dionysius
Areopagita (ein christlicher Platoniker aus dem 5 Jahrh.) 6, und Peter Damiani
(1- 1072) sogar 12, dann hat Bischof Otto von Bamberg 1124 (in der Ab¬
schiedsrede an die Pommerschen Neubekehrten) zuerst bestimmt die Zahl 7,
diese wird durch die Autorität des Petrus Lombardus herrschend, und von
dem (nomen. I''Ioröntinc> 1439 durch Eugen IV. erst Namens der Kirche aner¬
kannt und bestätigt, woran sich dann das Tridentinum anschloß.
Also ist die Ehe als Sacrament erst 1439 von der Kirche anerkannt und
bestätigt worden.
Darum darf nicht unbemerkt bleiben, daß das Tridentinum die ganze
Lehre als I'iües (in den Decreten as nao) sehr kurz behandelt, wohl in dem
Gefühle, daß sie gar nicht zur?la<zö gehört, ferner, daß das Concil mit
der Behauptung, die Väter, Concilien und die allgemeine Ueberlieferung der
Kirche hätten immer gelehrt, die Ehe sei ein Sacrament, einfach die Un¬
wahrheit sagt, ferner, daß es sich dann auf kurze Verdammungssätze
(eanouLs) beschränkt, und unter oder mit diesen die Widersprüche der Lehre
verbirgt, und endlich, daß es das Gebot des Cölibats unter die äoerota. as
Käs einschmuggelt, wohin es gar nicht gehört.
Ausführlicher behandelt dann erst der Oatselusmus Romnnus die Frage,
fälscht dabei aber wieder die Lehre Augustin's, mit der Behauptung, daß
Augustin so gelehrt, während der LateeK. Rom. sich in Wahrheit an Thomas
de Aquino anschließt, denn die Verfasser waren Dominicaner.
Man würde nun freilich der katholischen Kirche und auch dem Tridentinum
großes Unrecht thun, wenn man behaupten wollte, sie hätten bloß aus hier¬
archischen Interesse die Ehe zu einem Sacramente gemacht. Ohne in Abrede
stellen zu wollen, daß, bewußt oder unbewußt, stets der Gedanke mitgewirkt
habe, die Ehesachen der Kirche zu überweisen und zu erhalten, um durch die Hut
dieser Interessen überhaupt größeren Einfluß auf das Leben der Gläubigen
zu erhalten, und zu behalten, liegt einmal überhaupt bei der Natur dieser
Interessen und ihrer Bedeutung für das ganze Leben in diesem Streben der
Kirche an sich, solange es nicht gemißbraucht wird, durchaus nichts Unwür¬
diges. Was dann aber die Erklärung der Ehe zum Sacramente im Beson¬
deren (womit freilich erst der Grund gelegt wurde, auf dem die Kirche die
Ehesachen für sich in Anspruch nehmen konnte) anlangt, so ist sicher dabei
das Haupt Moment der würdige Gedanke gewesen, das Wort Christi, daß
die Ehe von Gott geschlossen werde, auch in der äußeren Ein¬
richtung und Behandlung der Eheschließung darzustellen. Es
ist nicht gleichgültig, wie nur der landläufige oberflächliche Liberalismus ur¬
theilt, ob man die Ehe als im Geiste, im Sinne Gottes, oder von Gott
(im rechten Verstände) geschlossen, oder nur als eine Narurordnung
ansieht, welcher der Mensch folgt, wie die übrige Creatur. Jener höhere
Gedanke nach der Mahnung Christi giebt eine ganz andere Stellung des Ge-
Wissens zur Ehe, und der Schließung der Ehe und dieser selbst eine ganz
andere Bedeutung für sich und für das Leben, er soll den Brautleuten das
Bewußtsein geben, daß sie nicht nur eine menschliche, sondern eine göttliche
Ordnung herstellen*), für deren rechte Bewahrung sie Gott Rechenschaft zu
geben haben, — eine Bedeutung der Eheschließung und Ehe selbst von un¬
sagbarer Bedeutung nach allen Rücksichten.
Und diesen hohen Zweck hat die katholische Kirche gewiß sehr nahe kom¬
mend erreicht, aber sie hat ihn erreicht, auf Kosten der Wahrheit.
Denn die Ehe ist kein Sacrament, sowenig als die andern vier heiligen
Handlungen, welche die katholische Kirche außer den von Chrysostomus und
Augustin und Alexander ab Hales und den Protestanten angenommenen jetzt
dafür ausgiebt. Zum Sacramente gehören und zwar nach der katholischen
Lehre selbst 1) die Einsetzung von Christo**). 2) von Christo verordnete sinn¬
liche Zeichen***), und 3) Vergebung der Sünde-j-). Es bedarf nun keiner
weiteren Erörterung, daß diese drei von der katholischen Kirche selbst als Er¬
fordernisse und Kennzeichen eines Sacraments angegebenen Bedingungen bei
keinem als bei Taufe und Abendmahl sich finden. Nur bei der Buße kann
man die Vergebung der Sünde mitbegriffen finden, aber alle Momente der
Buße gehören zum Abendmahle und werden bei ihm vorausgesetzt. Nament¬
lich fehlen aber nun jene 3 Erfordernisse und Kennzeichen eines Sacramentes
bei der Ehe. Sie ist nicht von Christo eingesetzt, sie hat kein von Christo
gegebenes sinnliches Zeichen, und ihr fehlt das Merkmal „zur Vergebung
der Sünde".
Im Gefühle dieser Sachlage hat schon Thomas de Aquino den Begriff
eines Sacraments dahin erweitert. die Sacramente hätten eine doppelte Be¬
stimmung: 1) als Heilmittel gegen die Sünde (remöäium contra xseea,es,), und
2) zur Vervollkommnung der Seele in den Dingen der Gottesverehrung nach
dem Brauch des christlichen Lebens (aä xerüeienäam animam iuMs Mas per-
tinsvt aä eultum äei seermäum riwm ckristitmae vitae). Aber es ist doch
allzuklar, daß das dem Begriffe eines christlichen Sacraments gar nicht mehr
entspricht. Ein Heilmittel gegen die Sünde ist gar vielerlei, z. B. die ganze
christliche Lehre, die christliche Liebe und Treue der Eltern. vor allem das
Gebet, alle sog. Tugendübungen, ohne daß sie darum Sacramente sind. Da¬
rum ist auch die gewöhnliche Begriffsbestimmung der katholischen Dogmatiker
»Heiligungsmittel" durchaus unzutreffend.
Weil aber nun die Protestanten jene 3 Kennzeichen zu einem wahren
Sacrament forderten, lehrt nun auch der OateeKism. Roilmvus, daß jene
Z Dinge zu einem Sacramente gehören, nämlich Einsetzung von Christo, ein
sichtbares Zeichen, und Aratia justiücans (was sich übrigens nicht mit der
„Vergebung der Sünde" deckt). Aber er behauptet oder lehrt das nur in der
vorgängigen allgemeinen Erörterung (in ssönsre), was ein Sacrament sei, hat
aber dabei schon statt der Schriftlehre Matth. 26, 28 „Vergebung der Sünde"
den viel dehnbareren und unbestimmteren Charakter „rechtfertigende Gnade"
(Zratig, ^ustiücÄNL) untergeschoben, und bei den einzelnen Sacramenten unter¬
läßt er dann die 3 Erfordernisse und Kennzeichen nachzuweisen, weil er es
nicht konnte.
Denn 1) wie schon bemerkt ist die Ehe nicht erst von Christo eingesetzt,
sie ist eine Ordnung der Natur und schon vor Christo da. Daß Christus
den sündhaften Leichtsinn der jüdischen Ehescheidung verurtheilt und verbietet,
ist keine Einsetzung. Die Ehe hat 2) keine wawrig, visidilis, die nach der
Einsetzung Christi zu ihr gehört. Daher nun die Verlegenheit und das Aus¬
einandergehen der Lehrer, wer der Spender, und was die sichtbare Materie
der Ehe als Sacrament sei.
Die Scholastiker lehren frischweg, daß, wie die Ehe durch den muwus
ovnsensus entsteht, so auch die Eheleute selbst die Ausspender sind,
(eine große Differenz vom Cone. Trit. und der gangbaren katholischen Ansicht),
und die sichtbare Materie der Beischlaf selbst sei, das Concil. Trit.
dagegen lehrt zwar in der allgemeinen Erörterung über die Sacramente im
Allgemeinen, daß der Priester sie austheile (eontorrs), über die Ehe im Beson¬
deren aber (Lessio XXIV) vorsichtigerweise gar nichts, wer Ausspender und
was die materig, visibilis sei, sondern verordnet (schö. XXIV as rstorm.)
nur, daß die Einsegnung dem IV. I^ecran. gemäß erst nach dreimaligem Auf¬
gebot erfolgen dürfe, was aber nicht etwa das Wesen der Ehe ausmacht, die
vielmehr durch den mutuus consensus entsteht. Das spricht denn auch der
vat. Rom. II, 3 — 8 bestimmt aus, daß das Wesen der Ehe in dem mutuus
eorlsensus bestehe, lehrt im Allgemeinen (in Aonvrch außer der institutio
VKristo als nothwendig eine rss sensibilis s. visibilis (---- materig,), und das
Wort (torma), nach Augustin, der es freilich nur von der Taufe versteht,
hütet sich aber, anzugeben, worin die Materie bei der Ehe bestehe. So gehen
nun die Lehrer auseinander. Nach dem einen ist die Materie die wechselseitige
Uebergabe und Uebernahme, die Form, die Erklärung :c., nach Walter ist der
Stoff der eheliche Stand, die Form die Art des Eheschlusses, wechselnd nach
der Disciplin der Zeiten, womit Walter die Ehe für eine Sache der
Disciplin erklärt, ganz gegen Lat. R.*), wo wateria und torma göttliche
Bestimmung sein sollen, nach anderen ist es das Wechseln der Ringe,
wieder nach anderen der Contract der Brautleute und der Segen des
Priesters u. s. w.
Wer, der urteilsfähig ist, sieht nicht das Menschliche in der Bestimmung
der Lehre als Sacrament?
Dazu kommt 3) das Fehlen des Begriffs der „Vergebung der Sünde".
Ja nicht einmal die Aenderung des Begriffs von Thomas de Aquino ist be¬
rechtigt. Warum soll denn die Ehe als christliches Sacrament mehr ein
Heilmittel gegen Sünden (remeäium eontrg, xeoeaw) seyn, als sie es war
und ist. wenn sie überhaupt nach Gottes Ordnung und im christlichen Geiste
und Sinn vollzogen und geführt wird? und warum soll, da sie durch den
muwus eonsöllsus entsteht, eine größere Vollkommenheit der Seele entstehen
durch die Gegenwart des Priesters und zweier Zeugen?
Man kann die Absicht der Bestimmung der Ehe als Sacrament begreifen,
ja. wie oben bemerkt, achten, aber Wahrheit ist sie nicht.
Dazu kommt aber nun und viel wichtiger ist der Widerspruch, in den
sich das Tridentinum durch sein Gebot des Cölibats. oder Verbot der Ehe
für die Priester verwickelt.
Die Ehe soll ein Sacrament sein, ein Gnadenmittel, oder nach den
katholischen Dogmatikern ein „Heilmittel" und „Heiligungsmittel" gegen die
Sünde, und die Kirche versagt, verbietet diese Gnade, dieses Heilmittel gerade
dem Stande, für den es am wichtigsten ist. den von Gott geschaffenen Trieb
nach Gottes Ordnung zu befriedigen, um nicht durch seinen Fall vielen
Aergerniß und Anlaß zum Fall zu geben? der also das Heilmittel, sofern
er nicht freiwillig darauf verzichtet, am nöthigsten hat?
Man darf sich nicht etwa darauf berufen, daß ja auch der Staat die
Eheschließungen beschränke. Denn es fällt dabei Niemand ein. das ehelose
Leben für besser zu erklären, es wird oder wurde (die gesetzlichen Hindernisse
namentlich von Seite der Gemeinden sind sehr gemildert) nur der Nachweis
verlangt, daß Jemand eine Familie ernähren könne, und ist ja keinem ver¬
wehrt, bet veränderten Verhältnissen zu heirathen.
Die römische Curie verwehrt aber sogar auf Grund des vermeintlichen
ekg.rg.eder incieledilis den katholischen Priestern, die ihr Amt niederlegen, ja
die zu einer anderen Kirche übertreten, die Ehe. sie hat. so weit sie es ver¬
mocht hat. dies als Bedingung in Concordaten geltend gemacht und durch
die Schwäche der Staatsregierungen durchgesetzt, und, soviel uns bekannt, bei
den katholischen Regierungen bis jetzt behauptet.
Aus allem Bisherigen ist nun wohl klar, daß der Cölibat, das Verbot
der Priesterehe, mit dem katholischen Glauben gar nichts zu thun hat. Es
ist ein Diseiplinargebot, von allen menschlichen Rücksichten, welche man bei
der katholischen Bestimmung der 5 Sacramente. erfunden hat, daß alle nicht
gleich nothwendig, daher nicht alle gleicher Dignität seien, daß 3 Sacramente,
Taufe, Firmelung und Priesterweihe einen enarketsr inäelsdilis eindrücken,
u. s. w. — die menschlichste, aus rein hierarchischen Grunde: Non Uborari
potest eeolösis. s, serviwte leüeorum, visi liberentur derlei ab uxoridus,
Gregor VIl.
Aber der Cölibat, das Verbot der Priesterehe, hat nicht nur mit dem
katholischen Glauben nichts zu thun, und ist nicht nur eine menschliche Er¬
findung aus hierarchischen Grunde, sondern es ist eine große Sünde gegen
Gott, gegen die heilige Schrift, gegen die Kirche selbst, die in den Augen der
urtheilsfähigem verständigen Gläubigen tief in ihrem Ansehen geschädigt wird,
und am meisten gegen die Opfer der Herrschsucht, die Priester selbst.
Daß das Alles so ist, wird durch Folgendes noch mehr erkannt, aber
auch mehr als hinreichend bewiesen.
Die Kirche giebt die Ehe für ein Heiligungsmittel aus, gleichwohl soll
die Entsagung aus Zwang Gott wohlgefällig sein, die Kirche zerstört damit
jeden Begriff von Moralität.
Das Gebot ist weiter darum Sünde, weil die Kirche, nach ihren eigenen
Principien gegen die Rechte der Natur nur einen Rath, nimmermehr ein
Gebot geben darf.
Löllarmiu ä«z mouaekis cap. 7: inawrig. prasesM suintg, est ex prin-
eixiis »atuiAe, eng-tsrig. oonsilü suxsrat naturam: so verkehrt dann seine
Ansicht von dem größern Werthe des oonsilü ist, immer folgt, daß die Kirche
kein Gebot gegen die xrinoiM natulÄk geben darf, höchstens einen Rath.
Weiter: die römische Curie erkennt die Ehen der Geistlichen in der grie¬
chischen Kirche an, wie kann sie dort billigen, was sie ihren Geistlichen ver¬
bietet? Wer sieht nicht den Handel mit Glauben und Moral, um die Griechen
herüberzuziehen?
Wohl zu beachten ist ferner der Ausspruch von Pius II. (1438—1464),
dem letzten großen Papste: das priesterliche Cölibatgesetz sei wohlbegründet,
aber noch begründeter seine Aufhebung. Nach der neuen römischen Doctrin
wäre dieser Papst doch auch infallibel gewesen, und folgt somit, da von dem
Glauben als Lehre Christi nichts aufgehoben werden kann, daß das Cölibat¬
gesetz mit dem katholischen Glauben gar nichts zu thun hat.
Ja das hat das Tridentinum in seiner Bestrafung des Concubinats der
Priester selbst^ bewiesen. Es verordnet^Lessio XXV, ac rökorw. cap. 14):
wer auf die erste Mahnung die Concubine nicht entlasse, solle (nur) um den
3. Theil seines Einkommens gestraft werden, aber er bleibt und fungirt
fort als Geistlicher; nach der zweiten Erinnerung kann er nach dem Gut¬
befinden des Bischofs oder eines Legaten nicht nur alle Einkünfte verlieren,
sondern auch von der Verwaltung der Einkünfte suspendirt werden, aber er
bleibt und fungirt fort als Geistlicher, und erst, wenn er so (in seinen
weltlichen Geschäften — a deueLeioruill aümillistratiolle) suspendirt, die Con-
eubine nicht entläßt (si ita susvellsi, mtülowirms eg.8 voll exxellant — folg¬
lich bleibt bis dahin der Priester in seiner Wohnung und fungirt weiter),
dann erst soll er aller Einkünfte. Ehren und amtlicher Verrichtungen für immer
beraubt werden (— oMeüs " privellwr -), bis er nach Besserung — wieder
von der Strafe dispensirt wird (äonso post — emenüativllLlll ad — suveri-
oribuL eulii iis ex causa visum euern äisvensalläuin — mit ihnen nach der
Sachlage verfahren, das Verhältniß regulirt wird, was nach dem äußerst dehn¬
baren Ausdruck nur eine restiturio sein kann). Also auch nach der 3. Be¬
strafung kann er als Geistlicher wieder fungiren. und erst bei neuem Rückfall
wird er excommunicirt (exeomwullieatioms ßlaüio vlsetallwr), — Alles rein
nach Gutdünken des Bischofs.
Wer sieht nicht das Dehnbare, auch auch das Unwürdige solcher Bestim¬
mungen? Also eine solche Hurerei und zwar fortgesetzte Hurerei macht die
Geistlichen nicht unfähig, das geistliche Amt zu verwalten? Abfall vom Glauben
kann es darnach doch nicht sein, ein Ketzer könnte doch nicht weiter in
Function bleiben dürfen, aber diese Hurerei lM darnach die Kirche für
besser als eine gesetzliche legitime Ehe, die noch dazu eine Gnade Gottes, ein
Heilmittel sein soll? Denn die Oolleubivarios duldet ja die Kirche — post
einunüatiollöill, die ehelich christlich verheiratheten Priester aber nicht.
Darnach ist ja wohl klar, daß das Cölibatgebot mit dem Glauben
nichts zu schaffen hat. sondern ein bloßes Disciplinargebot ist.
Es folgt aber auch. daß auch ohne Altkatholicismus die römische Kirche
es in der Hand hatte und hat, jederzeit dies Gebot wieder aufzuheben; es
folgt aber auch weiter, daß nach der Wirklichkeit aller in Frage kommenden
Verhältnisse dieses Gebot eine Schmach, ja eine große Sünde ist, es folgt
endlich, daß auch die Staatsregierungen, die eine solche Verletzung der Rechte
ihrer Angehörigen aus Schwäche zugelassen haben und noch zulassen, Theil
haben an dieser Schmach, Sünde und Schuld, soweit das, Cölibat ein
Zwang ist.
Darf man sich noch wundern, daß die Rechtfertigungen des Cölibats
W der vvntueatio (angebliche Widerlegung der Augsburgischen Confession),
im 1Ää>, dem Lat- Rom., bei den katholischen Dogmatikern, den Kirchenrechts¬
lehrern (auch bei Walter) so äußerst kläglich find, daß es keine Rechtfertigungen
sind, weil er sich nicht rechtfertigen läßt?
Das ist also bewiesen, daß ein katholischer Geistlicher, der sich verheirathet
nicht vom katholischen Glauben abfällt.
Wir sprechen nichts Neues aus, wenn wir sagen, geheime politische Ge¬
sellschaften sind zwar in der Geschichte oft aufgetreten und haben dann eine
Zeit lang viel von sich reden gemacht, aber etwas Erhebliches vor sich gebracht,
etwas geschaffen, der Sache, der sie dienten oder dienen zu wollen vorgaben,
genützt oder geholfen haben sie niemals, vielmehr haben sie ihr in der Regel
geschadet.
Es geht ihnen hierin ungefähr wie ihren Verwandten, den Orden oder
Bünden, die sogenannte humanitäre Zwecke verfolgen, den Freimaurern, den
Oddfellows und ähnlichen guten Leutchen. Wie hier — wo übrigens das
Geheimniß längst schon eine Lächerlichkeit ist, da Dutzende von zuverlässigen
Schriftstellern den Schleier zerrissen haben, der es der Welt verhüllen sollte —
wie hier, sagen wir, das Wesen der Sache in großen Worten und kleinen Thaten
besteht, so auch dort. Wie hier, so führt auch dort in der Person des Ministers der
Geist Mr. Pickwicks den Hammer. Wie hier, so spielt man auch dort mit Seifen¬
blasen, die dadurch nicht wichtiger und inhaltsreicher werden, daß zu dem
Vergnügen die Thüren verschlossen und von den Anwesenden die Gesichter in
feierliche Falten gelegt werden. Hier wie dort „Kunst" ohne Können, man
müßte denn bei den Humanitären Geheimbündlern ein paar Wohlthätigkeits¬
spenden das Jahr über und etliche schwere tiefe Tränke nach den Toasten der
Ordensfeste, bei den politischen einige Putsche, einige gelungene oder mi߬
glückte Mordthaten als Beweise von Können gelten lassen. Lockerten die
letzteren bei großer Verbreitung, wie z. B. die Carbonari in Italien, den
Boden und besäten sie ihn mit einigem guten Samen, so war eben so viel
Unkraut darunter. So aber dürfen wir behaupten, daß die Einen unter
unsern Mysten für die „Menschheitsveredelung", von der in den Logen ohne
Unterlaß gefaselt wird. die Andern für die Freiheit, die sie meinten und im-
wer wieder meinten, nichts geleistet haben, auch nicht das Mindeste. Beide
berauschen sich mit dem Bewußtsein, etwas zu sein, was sie nicht sind, beide
gewöhnen daran, den Schein für das Wesen zu nehmen; sie erfreuen sich an
nichts bedeutendem Ceremonienkram, an einem inhaltslosen Brimborium von
Formeln und Riten, sie schwärmen im besten Falle für Träume, sie befrie¬
digen die Eitelkeit und oft noch schlimmere Eigenschaften ihrer Führer, und
nicht selten geschah es, daß sie, ohne es zu wissen, von den Gegnern zu ihren
Zwecken benutzt wurden. Die Pflanze edler Menschlichkeit gedeiht eben nur
in offnem Felde, der Baum der Freiheit nur unter der Sonne; im abgesperr¬
ten dunkeln Keller wächst nur der Pilz und der Moder.
Dennoch haben die politischen Geheimbünde eine gewisse geschichtliche Be¬
deutung, wenn auch lediglich als Symptome kranker Zustände. Sie sind
Gährungsproducte, Blasen auf Gewässern, deren Lauf stagnirt. und auf
deren Boden sich faule Stoffe angesammelt haben, Auswüchse am Baume der
betreffenden Nationalität, welche zeigen, daß der Umlauf der Säfte gehemmt
ist- Wir sehen sie immer und immer wieder auftreten, wo der Geist des
Syllabus auf einem Staate lastet, wo der öffentlichen Meinung durch Bor¬
enthaltung der Preß- und Vereinsfreiheit die Adern unterbunden sind und
der Mund verstopft ist. wo der Alp der Fremdherrschaft der Nation auf der
Brust sitzt und dieselbe infolge dessen dem Verkommen und Zerfahren nahe ist,
niemals aber, wo sie sich guter Gesundheit erfreut und Raum hat zum Ge¬
brauch ihrer Kräfte. Bei Völkerleichen stellen Geheimbünde die letzten Zuckungen
dar. Sie wimmelten in dem an der Doppelkrankheit des Papstthums und
der Fremdherrschaft hinsiechenden Italien, sie bildeten sich im Leichname Polens,
sie machten Frankreich von der bourbonischen Restauration an bis gegen das Ende
der napoleonischen hin unsicher. Wir bemerken sie massenhaft im verotteten Spa¬
nien sowie in Portugal unter der Tyrannei Don Miguel's, und auch in Deutsch¬
land tauchten deren auf. als der Bundestag hier gebot. Das neue Reich der
Deutschen kennt solche Erscheinungen nicht. Ebensowenig begegnen wir den¬
selben in der neuesten Geschichte Englands, das früher, in der Zeit der
Kämpfe mit den entthronten Stuarts. dann im ersten Drittel unsres Jahr¬
hunderts, wo die Reibungen mit Irland die Orangistenlogen hervorriefen,
allerdings ebenfalls an dem Uebel gelitten hat. Irland selbst dagegen, einer¬
seits von England mehrere Generationen hindurch geknebelt, bedrückt und ausge¬
sogen, andrerseits von Rom aus durchwühlt und vergiftet, ist seit länger als
hundert Jahren und bis auf den heutigen Tag ein wahres Brutnest geheimer
politischer Secten und Verschwörungen gewesen, und so soll unsere Darstellungeiniger dieser Geheimbünde mit denen beginnen, welche die Smaragdinsel
westlich vom Georgskanal zur Geburtsstätte und zu ihrem nächsten Tummel-
platze hatten. Zu ihrem nächsten; denn der letzte Act unseres Schauspiels
spielt vorwiegend in Amerika.
Die Lage Irlands nach den Schlachten am Boyne und bei Aughrim war
eine trostlose. Ein sehr großer Theil des Landbesitzes war confiscire, furcht¬
bar strenge, damals freilich nothwendige Gesetze hielten die katholischen und
nationalen Elemente nieder. Der katholische Unterricht war verboten, ebenso
die öffentliche Ausübung des katholischen Cultus, kein Katholik durfte Grund¬
eigenthum besitzen, für das irländische Parlament wählen oder ein Amt be¬
kleiden. Die Wollenmanufactur, vordem eine Hauptquelle des Nationalwohl¬
standes, war durch das englische Parlament mit Ausgangszöllen beschränkt
worden, die wie ein Verbot wirken mußten. Der Druck der protestantischen
Grundherren lastete schwer aus dem katholischen Landvolke. Es waren uner¬
trägliche Zustände. Im Jahre 1761 nahmen jene den Bauern sogar das
Recht der freien Weide, indem sie ihre liegenden Gründe einzäumten. Da
schlössen die Beraubten sich zu Banden zusammen, um Vergeltung zu üben.
Es entstand der Bund der „^Vtnw-doz^", so benannt nach den weißen Hemden,
die sie, um sich zu verhüllen, über ihre Kleider zogen. Es waren brodlose
Arbeiter und vertriebene Pächter, die sich des Nachts versammelten, um harte
Grundherren. Pfarrer zu strafen und zu morden, namentlich aber die ver¬
haßten Zäune niederzureißen, weshalb man sie auch I^villers nannte. Sie
verbreiteten sich vorzüglich über Münster und spukten fast ein Vierteljahr¬
hundert hindurch beinahe ungestraft, da kein Ire gegen sie vor Gericht zu
zeugen wagte.
Auch die Protestanten Irlands hatten unter der englischen Tyrannei zu
leiden. Namentlich hatten auch sie drückende Frohnden bet Straßenbauten zu
leisten. Ihre Vorstellungen dagegen wurden von den Gewalthabern hoch-
müthig zurückgewiesen, und so nahmen sie die Abhülfe selbst in die Hand. Dieß
war der Ursprung der „OeK-doxs", eine Bezeichnung, die von ihrem Hauptem¬
bleme, einem Eichenblatte, stammte. Außer der Abschaffung jener Dienst¬
leistungen hatten sie, die vornehmlich in Ulster sich ausbreiteten, vor Allem die
Verminderung der Macht der Geistlichen und die Beseitigung der unbilligen
Abgaben im Auge, welche diese erhoben."
Aehnliche Zwecke verfolgte der 1787 entstandene Bund der „KiZtit-do^s,
der wieder aus Katholiken zusammengesetzt war. Ein nicht unerheblicher
Theil der harten Gesetze, die auf letzteren lasteten, war inzwischen gemildert
oder aufgehoben worden, aber noch immer war viel zu tragen und zu wün¬
schen übrig. Besonders drückend waren für die Katholiken die Zehnten, die
sie an die protestantischen Pfarrer entrichten mußten, während sie zugleich für
ihre eigne Kirche zu sorgen hatten. Die Härte, mit welcher jene Steuer oft
eingetrieben wurde, war die Hauptursache der Entstehung dieser geheimen Ge-
sellschaft. die aber zugleich die Reduction anderer Abgaben, die Erhöhung der
Löhne und Erbauung einer katholischen Kirche für jede protestantische auf
der Insel anstrebte. Man versuchte diese Ziele anfangs auf gesetzlichem Wege
zu erreichen. verfiel aber, da dieß nichts half, bald auf gewaltsame Mittel.
Die Verbündeten rächten ihre Landsleute und Glaubensgenossen an den Pfar¬
rern, nahmen dem Volke das eidliche Versprechen ab, den Zehnten entweder
gar nicht oder nur zu einem bestimmten Betrage abzuführen, und bestraften die,
welche ihr Versprechen brachen. Streitigkeiten um jene Kirchengefälle nahmen
in dieser Zeit bisweilen förmlich den Charakter eines kleinen Krieges an.
Im Jahre 1772 hatte der Marquis of Donegal eine große Anzahl seiner
Pächter von ihren Farmer vertreiben lassen. Dieselben bildeten einen gehei¬
men Verein. der sich die „Nearts 0k Lteel» nannte. womit er die eiserne
Beharrlichkeit bezeichnen wollte, mit der er seine Rache an den „Sassenach"
zu verfolgen beabsichtigte, welche sich des Grundes und Bodens Irlands be-
mächtigt und dessen Volk besitzlos gemacht hatten. Sie ermordeten die Grund¬
eigenthümer . wo sie deren habhaft werden konnten. legten ihre Gehöfte in
Asche und zündeten ihre Ernten an. Erst nach einigen Jahren gelang es. sie
zu unterdrücken, wo dann Tausende der Afsiliirten nach Amerika flohen
und den Reihen der im Aufstande gegen England befindlichen Colonisten
beitraten.
Andere geheime Gesellschaften dieser Tage waren die „IKresners", die
gegen die von beiden Kirchen des Landes beanspruchten Abgaben ankämpften,
die „ore^-ok-v^-do^s". Protestanten, welche 178S sich zusammenthaten, um
in der Morgendämmerung gegen ihre katholischen Nachbarn allerlei Gewaltthat
zu verüben, deren Hütten niederzubrennen, deren Ackergerät!) zu zerstören und
deren Wintervorräthe zu vernichten, endlich die „vvkLnäörs". Katholiken, die
sich vereinigten, um sich gegen solchen Unfug zur Wehre zu setzen, bald aber
von der Vertheidigung selbst zum Angriffe übergingen. Noch andere irische
Geheimbünde, die sich in dieser Periode zu dem Zwecke bildeten, Bedrückung
auf agrarischen oder religiösem Gebiete zu rächen, waren die „voräers" in East
und West Meath. die „Zuanavests" und die „(Äravats" in Tipperary. Kil-
kenny, Cork und Limerick.
Der Ausbruch der französischen Revolution ließ allenthalben in Irland
große Hoffnungen und Entwürfe auftauchen, die sich auf völlige Abwerfung
des englischen Joches und Losreißung von den „Sachsen" richteten. Im No¬
vember 1791 trat der Bund der „on'wä Irislimsv" zusammen, der nicht
mehr blos aus rohen Landleuten, sondern zugleich aus Gebildeten bestand,
und dem sich auch viele Protestanten anschlössen. Derselbe hatte angeblich
nur den Zweck, die Grundsätze und Ereignisse der Revolution in Frankreich
' zu besprechen, insgeheim aber betneb er die Einleitung einer Revolution in
Irland, die dasselbe zu einer unabhängigen Republik machen sollte. Man
trat mit dem pariser Convent in Verbindung und arbeitete an einer Be¬
waffnung des Volkes. Das Erscheinen eines französischen Heeres sollte das
Zeichen zu einem allgemeinen Aufstande sein. Zunächst aber forderten die
Katholiken 1792 auf einer großen Versammlung zu Dublin völlige Rechts¬
gleichheit mit den Protestanten. Das britische Parlament gewährte dieses
Verlangen nur zum Theil. Der Bund, jetzt über eine halbe Million Theil-
nehmer zählend, kehrte darauf seine revolutionären Absichten kühner heraus,
und die englische Regierung antwortete darauf damit, daß sie die 1782 ein¬
geführte Habeas - Corpus-Acte wieder aufhob und den Bund auflöste.
Französische Expeditionen zur Unterstützung der Jrländer mißlangen und be¬
wirkten nur, daß die ganze Insel unter Kriegsrecht gestellt wurde. 1797
traten die Uniteä IrisKnisn zu neuer geheimer Thätigkeit zusammen, und be¬
gannen sich abermals zum Aufstande zu rüsten. 1798 erhielt die Regierung
Aufschluß hierüber, und es erfolgte die Verhaftung mehrerer Häupter der Ver¬
schwörung, was indeß nicht hinderte, daß im Mai an verschiedenen Punkten
des Landes die Empörung losbrach. Dieselbe mißlang jedoch vollständig. Flie¬
gende Colonnen englischer Truppen durchzogen die Insel und erstickten den
Aufstand im eigentlichsten Sinne in Blut — es sollen damals 30.000 Men¬
schen durch die Waffen umgekommen sein. Die britischen Machthaber faßten
nach dieser Katastrophe den Entschluß, eine Vereinigung des irischen Parla¬
ments mit dem englischen einzuleiten, da die Selbständigkeit der Gesetzgebung
den Unabhängigkeitssinn der Jrländer nothwendig nährte und begünstigte,
und mit Hülfe großartiger Bestechungen wurde diese legislative Union zwischen
Irland und Großbritannien im Jahre 1800 durchgesetzt.
Die Bildung geheimer politischer Secten hörte aber damit nicht aus.
Die „Ilmteä IrMwen" hatten eine schwere Niederlage erlitten, aber die Ge¬
sellschaft lebte fort und machte noch geraume Zeit unter dem Namen der
„Ribdov wen" von sich reden, die ihrerseits im dritten Jahrzehnt unsres
Säculums die „8g,me VatrieK-do^s" zu Nachfolgern hatten.
Alle diese Gesellschaften besaßen mehr oder minder ausgebildete Statuten,
alle erkannten sich an geheimen Zeichen, die Ribdonmen z. B. an gewissen
Bändern, alle verpflichteten sich durch schwere Eidschwüre zur Treue gegen den
Verein und zur Geheimhaltung seiner Gesetze und Zwecke, alle wurden trotzdem
verrathen. Die Laivt r^triek-do?« z. B. sahen 1833 ihre Statuten in die
Hände der Regierung gelangen und veröffentlicht werden. Wir lesen darin,
daß die Mitglieder der Gesellschaft sich einander durch ein feststehendes Zwie¬
gespräch zu erkennen gaben, welches folgendermaßen lautete: „Ein schöner Tag
heute." — „Es wird ein noch schönerer kommen." — „Die Straße ist sehr
schlecht." — „Sie wird ausgebessert werden." — „Womit?" — „Mit den
Gebeinen der Protestanten." — „Wie lautet Dein Glaubensbekenntniß?" —
„Vertilgung der Philister." — „Wie lang ist dein Stab?" - „Lang genug,
um meine Feinde damit zu erreichen." — „Von welchem Stamme ist das
Holz genommen?" — „Von ehren französischen Stamme, der in Amerika blüht,
und dessen Blätter die Söhne Erins vor der Sonne schützen werden." Der
Eid aber, den die Mitglieder dieses B> ndes schwuren, lautete: „Ich schwöre,
daß ich mir lieber die rechte Hand avyauen und an die Thür des Gefäng¬
nisses zu Armagh nageln lassen. als einen Bruder täuschen oder verrathen
will, daß ich getreulich der Sache anhangen will, der ich mich wohlüberlegt
weihe, und daß ich weder Geschlecht noch Alter schonen will, wenn es meiner
Rache an den Orangemännern im Wege stehen sollte."
Die „Orangemänner", denen die S^int?atrid:-do^s so furchtbare
Rache drohten, waren eine nur halb geheime protestantische Gesellschaft, die
ursprünglich blos den Zweck verfolgte. ihre Mitglieder gegen die Angriffe
der katholischen geheimen Vereine zu schützen. Ihr Name schreibt sich von
dem der Oranier her. Lei ihrer ersten regelmäßigen Versammlung, die am
21. September 1795 im Dorfe Loughgal stattfand. vereinigten sich die
obenerwähnten LreaK-ok-va^-doz's mit dem Bunde. und man errichtete eine
Großloge, welche befugt sein sollte. Töchterlogen zu gründen. Anfangs recru-
tirte sich der Verein lediglich aus den niedern Ständen, aber bald traten ihm
auch Personen der höheren bei, und er verbreitete sich rasch über die ganze
Insel und allmählich auch über England, besonders über dessen Fabrikdistricte.
Die englische Großloge war erst in Manchester, dann in London, wo der
Herzog von York, später der Herzog von Cumberland, der nachherige König
Ernst August von Hannover, als Großmeister an der Spitze des Bundes stän¬
den. Der letztere hatte inzwischen sein Programm erweitert, wie die 1833 ver¬
öffentlichten revidirten Statuten lehren. Die Gesellschaft hatte früher ihre
Mitglieder die Suprematie Roms und das Dogma der Transsubstantiation ab¬
schwören lassen. Jetzt blieb dieß weg. aber der Bund verpflichtete die ihm
Beitretenden, die königliche Familie so lange zu vertheidigen, als sie den pro-
testantischen Grundsätzen getreu bliebe. Er erklärte ferner, daß sein Ziel die
Erhaltung der Staatskirche, der protestantischen Thronfolge und des Lebens so¬
wie des Eigenthums der Afsiliirten sei. Um dem Geiste der Zeit ein Zu-
geständniß zu machen, bekannte man sich zu religiöser Duldsamkeit, aber die
Thatsachen haben gezeigt, daß dieß eine Täuschung war; denn wiederholt
stand der Bund in erster Reihe bei Katholikenhetzen. Von England verbrei¬
teten sich die Ol'kMß'sinen nach Schottland, nach den Colonien und nach Ca¬
nada. Auch in der Armee entstanden Orangistenlogen. und die Zahl der¬
selben belief sich in den vierziger Jahren hier auf einige fünfzig. Die poli¬
tische Wirksamkeit derselben ist bekannt: sie beeinflußten namentlich die Wahlen
zu Gunsten der Whigs. Die Bemühungen des Parlaments, den Bund zu
unterdrücken, sind bis jetzt erfolglos geblieben.
Allen gerechten Beschwerden der Jrländer war in den letzten Jahrzehnten
fast vollständig abgeholfen worden. Aber die Abneigung derselben gegen das
sächsische und protestantische Nachbarland und der Wunsch, sich von ihm zu tren¬
nen, dauerte, von der Geistlichkeit und fanatischen oder ehrgeizigen Laien geschürt,
ungeschwächt fort, auch kamen noch immer agrarische Morde vor. O'Connel's Be¬
streben, die Union mit England auf dem friedlichen Wege der Gesetzgebung
rückgängig zu machen, war erfolglos. Das Junge Irland that nach Aus¬
bruch der dritten französischen Revolution alles Mögliche, um die Gemüther
gegen England zu erhitzen. Wie in den letzten Jahren des vorigen Jahr¬
hunderts bildeten sich Clubs, die sich zum Aufstande rüsteten, und die Führer
der Bewegung, unter denen Smith O'Brien, Mitchell und Meagher die
Hauptrolle spielten, suchten durch eine Sendung nach Paris bei der dortigen
Provisorischen Regierung um Hülfe nach. Da schritt die Regierung endlich ein.
Zunächst wurde Mitchell, der in seinem „Uniteä Irislimg-n" die offne Empö¬
rung gegen die britische Herrschaft gepredigt, in Anklagezustand versetzt und
zu vierzehnjähriger Deportation verurtheilt. Als Smith O'Brien sich dadurch
nicht einschüchtern ließ und, als Haupt der irischen Conföderation auftretend,
in öffentlichen Ausrufen die bewaffnete Erhebung Irlands gegen die englischen
Tyrannen als nahe bevorstehend ankündigte, erließ der Lord Statthalter
einen Verhaftsbefehl gegen ihn und andere Führer. Dublin und einige be¬
sonders gefährdete Grafschaften im Süden wurden unter das Martialgesetz
gestellt, die Habeascorpusacte suspendirt und die englische Truppenmacht ver¬
stärkt, worauf die Bewegung ein Ende nahm, das mehr komische als ernste
Wirkung übte. Die mit Haft bedrohten Führer flüchteten, die Clubs lösten
sich größtentheils auf, einige bewaffnete Banden wurden mühelos auseinander
gejagt, offenbar war weit mehr Drohung und Prahlerei als Widerstandskraft
im Spiele gewesen. Besonders kläglich endigte das Treiben Smith O'Brien's,
der sich nach seiner Flucht, von den Massen als König von Münster begrüßt,
einem wilden, phantastischen Treiben überlassen, bewaffnete Haufen um sich
gesammelt und mit denselben das Land durchzogen hatte. Ein kurzes, wenig
blutiges Gefecht, spöttisch „die Schlacht bei Boulagh" genannt, machte diesen
Thorheiten am 29. Juli 1848 ein Ende. und Smith O'Brien wurde. als
man seiner einige Tage später habhaft wurde, mit Meagher und etlichen
Andern wie vorher Mitchell zur Deportation verurtheilt.
Hatten schon diese letzten Vorgänge in der Geschichte der irischen Geheim¬
bünde einen starken Anstrich von Lächerlichkeit, namentlich wenn man sie mit
denen von 1798 vergleicht, so ist das letzte Glied in dieser Kette, der auf
amerikanischem Boden entstandene Bund der „?6unus" oder Fenier, ein so
ernstes Gesicht er auch macht, die reine Komödie.
Die Gründer des Fenierthums waren zwei irische Flüchtlinge aus dem
Jahre 1848. Oberst John O'Mahoney und Michael Doheny. von denen der
letztere eines der talentvollsten und gefährlichsten Mitglieder des Jungen Ir¬
land und ein feuriger Bewunderer Mitchell's gewesen war. O'Mahoney ge¬
hörte einer alten Familie in Münster an. deren Vorfahren Könige gewesen
waren, was indeß nicht allzuviel bedeutet, da fast jeder echte Paddy sich dessen
rühmt. In Smith O'Brien's Treiben verwickelt, entschlüpfte der Königsenkel
seinen Verfolgern und ging erst nach Frankreich, dann nach Amerika, wo er
sich in den letzten "fünfziger Jahren mit Doheny und einem gewissen Coreo-
ran an die Bildung einer geheimen Gesellschaft zur Wiederaufnahme des
Kampfes mit England machte. Corcoran schrieb sich „General". was indeß
auch nicht viel sagen will, da in Amerika die (Seneralstitel ungefähr so billig
zu haben sind wie die Brombeeren.
Der Bund war anfänglich eine halb geheime Genossenschaft. Seine Ver¬
sammlungen fanden hinter verschlossnen Thüren statt, und obwohl seine Vor¬
steher öffentlich als solche bekannt waren, blieben die Operationen derselben
dem Auge der Nichteingeweihten verborgen. Rasch verbreitete sich das Fenier-
thum über alle Staaten der Union sowie durch Canada und die übrigen bri¬
tischen Besitzungen in Amerika. Aber im November 1863 nahm die serische
Organisation einen neuen Charakter an. Eine große Nationalconvention
trat in Chicago zusammen und kündigte öffentlich den Zweck der Verbrüderung
an, der in nichts Geringerem bestand, als in der Losreißung zunächst Canadas,
dann Irlands von England und in der Verwandlung jener beiden in Re¬
publiken. Eine zweite große Delegirtenversammlung, auf welcher 260.000
Fenier vertreten waren, fand 1864 in Cincinnati statt. Dieselbe forderte
alle Mitglieder des Bundes zu einem Beitrag von fünf Dollars auf, die zur
Bestreitung der Kosten dienen sollten, welche die Vorbereitungen für den Krieg
mit England erheischten. Einer der in Cincinnati gefaßten Beschlüsse be¬
stimmte, daß „die nächste Nationalconvention auf irischen Boden abgehalten
werden solle". Um dieselbe Zeit wurde neben der Bruderschaft auch eine
Schwesterschaft eingerichtet, und die Damen waren nicht unthätig; denn zwei
Monate schon nach ihrem Zusammentritt ließen sie dem Bundessäckel eine
Summe von etwa einer Million Dollars zugehen, damit davon Waffen und
anderes Kriegsmaterial angeschafft würden. In dieser Periode verließen sich
die Fenier nicht ohne Grund darauf, daß die Regierung in Washington ihnen
bei ihrem Vorhaben beistehen werde, wie die Regierung in London den Em¬
pörern im Süden der Union Beistand leistete, und die neuyorker Presse be¬
stärkte sie in dieser Auffassung.
JnZJrland verbreitete sich der Bund ebenfalls, wenn auch bei Weitem
nicht in dem Maße wie in den Vereinigten Staaten. Aber dort wie hier
hatte er seine Häupter oder „Centren", seine bürgerlichen und militärischen
Beamten, seine Kassen und seine Agenten. Dort wie hier waren dieselben
geheimen Eide, Paßworte und Embleme, dieselben Gesetze und Strafen im
Gebrauch. Dort wie hier waren die Bundesfarben Grün und Gold. In
Irland wie in Amerika häufte man insgeheim Waffen an, hatte man seine
Correspondenten, seine nächtlichen Uebungen für den Kriegsdienst, feine Zei¬
tungen und selbst seine Volkslieder und Balladen. Aber die Herrlichkeit
währte nicht lange. Sehr bald machten sich Verräther ans Werk, die Or¬
ganisation von innen her zu zerstören, und zwar geschah dieß sowohl in
Amerika wie in Europa. So sagt der Untersuchungsausschuß der fenischen
Bruderschaft in seinem 1866 abgestatteten Berichte:
„Nach sorgfältiger Prüfung der Angelegenheit des Bundes findet Ihr
Comite, daß die Sache Irlands fast in jedem Bezug dem Vortheil Einzelner
dienstbar gemacht worden ist. Leute, die man als Patrioten pries, nahmen
jede Gelegenheit wahr, den Säckel des Bundes zu plündern, legalisirten ihre
Angriffe auf denselben aber, indem sie sich die Unterschrift John O'Maho-
ney's verschafften.... Das Vertrauen des Bundes auf O' Mahoney's Recht¬
schaffenheit war grenzenlos, und ob die Täuschung dieses Vertrauens durch
Unfähigkeit oder mit Ueberlegung herbeigeführt worden, ist eine Frage, die
wir unentschieden lassen. Es genügt, daß er sich des Vertrauens unwürdig
gezeigt hat. . . Niemals in der Geschichte des irischen Volkes hat dieses so
fest auf seine Führer vertraut, und nie zuvor ist es so niederträchtig betrogen
und verrathen worden. In der That, das Moffat Mansion (das Hauptquar¬
tier der amerikanischen Fenier) war nicht nur ein Almosenhaus für bettelhafte
Beamte und hungrige Abenteurer, sondern ein Telegraphenamt für die cana-
dischen Behörden und den britischen Gesandten in Washington. Diese be¬
zahlten Patrioten und berufsmäßigen Märtyrer, nicht zufrieden, unsern Schatz
zu leeren, gaben sich dazu her, die englischen Behörden im Voraus von unsern
Bewegungen zu benachrichtigen."
Aus diesem Bericht ergiebt sich ferner, daß sich 1866 im Schatze der
Fenier 185,000 Dollars befanden, daß die Ausgaben für die Schmarotzer,
welche das Moffat Mansion fütterte, sich in drei Monaten auf 104.000 Dollars
belaufen hatten, und daß Stephens, das „Hauptcentrum" der irischen Fenier,
von Amerika, in demselben Zeitraume 106,000 Dollars erhalten hatte, ob¬
wohl O'Mahoney stets das größte Mißtrauen gegen denselben geäußert. Er
sah in jenem ohne Zweifel mehr den geriebneren und dreisteren Schurken, der
ihm seinen Theil an der Beute wesentlich schmälerte. Aber sein Mißtrauen
war gerechtfertigt. Stephens stand in geheimem Einvernehmen mit der eng.
lichen Regierung; denn wie ließe es sich sonst erklären, daß er, ohne irgend¬
welche Vorsichtsmaßregeln zu treffen, monatelang in einem prächtig möblirten
Hause in der Nachbarschaft Dublins lebte und von der Polizei nicht entdeckt
wurde?
Die serische Wühlerei erstreckte sich auch auf England und fand nament¬
lich in Liverpool Anklang und pecuniäre Unterstützung. Aber auch hier stellten
sich bald Betrug und Verrath ein, und unter Anderm sagte der Mensch, der
in Liverpool als „Centrum" agirte, als man ihm wegen Plünderung der
Kasse zu Leibe wollte, den Anklägern kaltblütig, wenn man ihn nicht wegen
des Geldes in Ruhe ließe, werde er sie anzeigen und allesammt an den
Galgen bringen.
Er scheint wirklich Anzeige erstattet zu haben, und auf Grund dieser
oder anderer Mittheilungen schritt die britische Regierung 1865 gegen den
Bund ein und setzte einige der Führer desselben gefangen. Bald nachher
wurde auch Stephens eingezogen, fand aber bald Gelegenheit zu entkommen,
was den Verdacht, er sei ein Spion der Engländer, nur verstärken konnte.
Die übrigen Verhafteten wurden wegen Hochverrath vor Gericht gestellt und
zu verschiedenen Strafen verurtheilt. Mehrere Einbrüche in Canada und ein
Versuch Ehester Castles sich zu bemächtigen, lauter Putsche, die mißglückter,
der Angriff, der im September 1867 zu Manchester auf die Polizei erfolgte,
welche die Fenierhäuptlinge Keller) und Deasey nach dem Gefängnisse escortirte,
und bei dem der Sergeant Brett erschossen und die Befreiung der Gefangenen
erreicht wurde, endlich die von furchtbaren Folgen für eine große Anzahl von
Personen begleitete Sprengung der Mauer des Gefängnisses zu Clerkenwell,
wo zwei serische Verschwörer, Burke und Casey, in Haft waren, zeigten,
daß das Einschreiten der Regierung den Bund noch nicht vernichtet hatte, und
bald folgten weitere Zeichen, daß derselbe noch am Leben war. Im Decem¬
ber 1867 machten die Fenier einen Angriff auf den Martellothurm zu Fota
bei Queenstown in der Grafschaft Cork und entführten eine Anzahl Waffen
und eine Quantität Munition aus derselben. Ihre letzte Heldenthat endlich
verrichtete die Gesellschaft im Jahre 1871, indem eine Fenierbande hoch im
Nordwesten Amerikas über die canadische Grenze ging und sich des britischen
Zollhauses bei Pembina bemächtigte. Sie wurde indeß sehr bald von
Truppen der Ver. Staaten zerstreut und ihr „General" O'Neit gefangen
genommen.
Um diese Zeit hatten sich in Amerika unter O'Donnovan Rossa Neu-
Fenier gebildet. Aber sie wollten nicht gedeihen, und der genannte Führer
zog es nach kurzer Thätigkeit vor, die „Direction" niederzulegen und Wein-
Gr
Händler zu werden, und es scheint keinem Zweifel zu unterliegen, daß die
Komödie ausgespielt hat oder demnächst ausspielen wird.
Ihren Namen leiten die Fenier von dem Helden Fionn, dem Fingal
Macpherson's, her, der in Fernster, einer der vier Provinzen Altirlands, die
Küstenwache befehligt hätte, welche das Land gegen feindliche Landungen zu
schützen gehabt, und die nach ihm Flaus geheißen. Aber in dem alten Liede
von der Schlacht bei Gavra lesen wir auch von nichtirischen Flaus. Es heißt
hier: „Die Barden der Flaus von Alban" und: „die Flaus von Lochlan
waren mächtig", Alban aber ist Schottland und Lochlan Dänemark und Nor¬
wegen. Die Fenier der alten Zeit waren also keine Küstenwache ersischen
Stammes, sondern ein von den Iren verschiedenes Volk.
Zum Schlüsse noch einen Auszug aus der patriotischen Litanei vom heili¬
gen Laurenzius O'Toole, die bei gewissen Versammlungen der Fenierbruder-
schaft abgesungen wurde. Es heißt darin:
„Rufe zur Hülfe, o freiheitliebender O'Toole, jene christlichen Bundes¬
genossen voll Macht und Herrlichkeit: die seelenerhebende Kanone, die demü¬
thige und getreue Flinte, die fromme Büchse, und die das Gewissen prüfende
Pike, die, gekräftigt durch die Treue eines Märtyrers, die Hoffnung eines
Feniers und die Liebe eines Rebellen, über den Teufel triumphiren und uns
unser Land auf ewig wieder schaffen werden. Amen!
O'Toole, höre uns. Von englischer Bildung, von britischen Recht und
Gesetz, von angelsächsischer Heuchelei und Freiheit, vom Joche der englischen
Königin, von Rule Britannia, vom gespaltnen Hufe, von der Nothwendig¬
keit, alle Jahre uns zu empören, von Soldateneinquartierung, von frommem
Kirchenregiment" —„Erlöse uns, O' Toole!"
Chor:
„Von der Sklaverei, für gekrönte Häupter beten zu müssen, von könig¬
lichen Geburtstagen, von Scheinuntersuchungen, von allen rein englischen
Dingen" —Chor: „Erlöse uns, O'Toole!"
„Das Fenierthum ist die Rettung unseres Volkes."
„Zeichne das droben auf. O'Toole!"
Chor: „Das Fenierthum soll ausgerottet werden wie die Rinderpest."
Chor: „Wir wollen beweisen, daß sie falsche Propheten sind, O'Toole!"
„Irland zum Gehorsam zurückgeführt, Irland unterwürfig und getreu
der Krone. Irland mit Zugeständnissen zufriedengestellt und beruhigt, Irland
wird die britische Armee mit Rekruten versehen. Irland nicht Eins^ in seinem
Bestreben" —„Es ist eine Lüge, O'Toole!"
Chor:
„Irland wird sich nie wieder von einer andern Nation am Schweife fort¬
schleppen lassen".Chor: „Verkündige es droben in der Höhe, O'Toole!"
Eine Kritik dieser Salbaderei ist wohl nicht von Nöthen.
Der fortschrittliche Abgeordnete Duncker hat in einer der neulichen, für
das Reichsland und seine künftige Entwicklung so hochwichtigen Debatten im
deutschen Reichstage die Aeußerung gethan: „Das Elsaß ist niemals ultra¬
montan gewesen!" Und es ist's gottlob heute auch nicht, kann man getrosten
und freudigen Muthes hinzufügen. Sehr richtig ergänzte deshalb jener Ab¬
geordnete: wenn dies gegenwärtig anders zu sein scheine, so liege das ein¬
fach daran, daß die Verhältnisse sich zufällig so gestaltet haben, daß die Ultra-
montanen zugleich den Anschein der Vertheidigung der Landesgrenzen und der
Unabhängigkeit gegen die Regierungsgewalt angenommen haben. Dies ist
in der That die zutreffendste Antwort auf die befremdliche Frage, warum
denn das Reichsland im deutschen Reichstage fast ausnahmslos durch klerikale
Abgeordnete vertreten sei. Denn die „Protestler" kommen ja hier, oder in
irgend einer Frage, welche das Reichsland betrifft, durchweg nicht mehr in
Betracht. Sie sind einfach nicht in der Welt, weder für den Reichstag, noch
für die Regierung, noch endlich für ihre Landsleute.
Und da ist es nun charakteristisch für die augenblicklichen Zustände hüben
und drüben, daß sich bis heute eine eigentlich elsässisch - patriotische Partei,
wie man das anfangs wohl erwarten mochte, im Reichstage noch nicht ge¬
bildet hat. Diejenigen elsässischen Abgeordneten, welche überhaupt in den
Sitzungen erscheinen, haben sich von vornherein ausschließlich dem Centrum
angeschlossen, um nicht zu sagen, mit Leib und Seele verkauft. Sie werden
folgerecht als solche von ihren protestirenden Kameraden in Wort und Schrift
verleugnet. Sie streiten als Centrumsmänner in erster Linie „pro xaxa" —
erZo contra reZvum und fühlen sich, wie es scheint, außerordentlich, als
Steuerleute im „Schifflein Petri" . hinter ihren befähigteren und geschulteren
College» aus dem alten Reich figuriren zu können. Die engern Landes-
interesser sind für sie nur insofern und nur dann in der Welt, wenn sich
daran wohlfeile Jeremiaden und Klagelieder, oder hinkende Vergleiche zwischen
Sonst und Jetzt im Stile des Pfarrers von Gebweiler anknüpfen lassen, oder
endlich baroke, galgenhumoristische Paradoxen in dem des Pfarrers von
Hagenau, der in dieser Beziehung dem Heer- und Bannerführer des Centrums,
der schwarzen „Perle von Meppen", binnen kurzer Zeit wirklich recht
Vieles abgelernt hat. Herrn Bischof Raeß von Straßburg zieht es auch
mehr nach Rom und zu den pantoffelgeschmückten Füßen des Jubelgreises
und Gefangenen im Vatikan, als nach Berlin und in die Versammlung, wo
er eigentlich hin gehörte, wie dies seine letzte Peterspfennig-Reise über Mün¬
chen und retour über Versailles zur Genüge documentirt hat.
Auch die übrigen all minorum Mutina sind von demselben schwarzen
Kaliber. Eigentliche Elsässer giebt es sonach im Reichstage gar nicht. Die
da sind, gehören zu den Kosmopoliten xrimi gsnsris — was allerdings auf
gut Deutsch „vaterlandslos" heißt. Die Andern haben einfach, wie es scheint,
den Kopf verdreht, der stets nach rückwärts, über die Vogesen gekehrt ist,
trotzdem sich die Vernünftigen unter den Elsässern schon längst haben sagen
müssen, daß hinter jenen Bergen nichts mehr für sie zu holen ist, und daß
man sie dort auch schon gründlich desavouirt. Die wahren Landesvertreter,
wie sie sein sollten und müßten, sitzen noch einstweilen ruhig daheim bei ihren
Penaten auf dem alten Steinsessel hinter dem hohen Kachelofen, oder pflügen,
wie einst Cincinnatus, den Acker mit ihrem Joch Ochsen, harrend der Zeit,
wo sie des Volkes Stimme vom Pfluge wegruft in die Schlachtreihe der
parlamentarischen Kämpfe. Und dieser Tag ist nicht mehr fern. Daß dann
aber unwiderruflich der Stab gebrochen wird über die jetzigen soi-äisaiit,-De¬
putaten des Reichslandes, das kann man schon jetzt, so nicht alle Zeichen
trügen, mit einiger Sicherheit voraus sagen. Das elsässtsche Volk ist des
trockenen Tons nun satt und der ewigen Abstinenz, und der langweiligen
Lamento's. Es verlangt nach kräftigerer Speise; es verlangt, daß seine Sach¬
walter sich auch kümmern um sein Wohl und Wehe, anrathen und an¬
thaten, nicht aber daheim auf ihren Lorbeern ausruhen, oder in Vogel-Straußen-
Politik machen, die Keinem nützt und Keinem frommt.
Wie es aber gekommen, daß jene „sukimts terridlW" des Elsasses und
treuen Diener Roms seiner Zeit in die höchste gesetzgebende Versammlung des
Reiches gewählt worden, darüber giebt das 7. Kapitel der Ihnen bekannten
„Briefe aus dem Elsaß« über die „Parlamentswahlen und die Elsässer Liga"
hinlänglich Aufschluß. Ueber die innern Gründe, weßhalb man die an die
Spitze gestellte Frage mit einem herzhaften Nein beantworten darf, glaube
ich schon in meinen frühern Berichten hin und wieder genügende Andeutungen
gegeben zu haben. Man muß eben niemals vergessen, daß die freisinnigen
und aufgeklärten Prinzipien von 1789 dem Elsässer von Geburt in sueonm
et La-nguinein übergegangen sind, mehr vielleicht, als manchem Franzosen —-
und auch manchem Deutschen; und daß die Herren von der langen Robe und
deren Einfluß in Gemeinde/ Schule und Familie den Leuten zur Zeit der
Restauration und des dritten napoleoniden mit Gewalt aufoctroirt worden sind.
Das hat jetzt alles aufgehört und wird hoffentlich nimmer wiederkehren. In
letzter Linie ist auch noch darauf hinzuweisen, daß das Hauptorgan des Landes,
das „Elsässer Journal", auf das die Meisten schwören, wie auf das heilige
Evangelium, prinzipiell pfaffenfeindliche Tendenzen vertritt, wenn dieselben
auch Heuer noch in durchaus kluger Politik nur verdeckt und gelegentlich darin
zum Vorschein kommen.
Einigermaßen aufgefallen ist es, daß dieses Blatt die neulichen Dar¬
legungen des Bundeskommissars Hertzog, welche durchweg die Annahme
aller vom Landesausschuß gegebenen Rathschläge und Wünsche — Zu¬
schuß zur Landesuniversität aus Reichsfonds, Wiederherstellung von 10 auf¬
gehobenen alten Friedensgerichten, Verwerfung des Anleihe-Projektes und
dergl. verkündeten, nur mit der nüchternen Phrase „wir beeilen uns Akt da¬
von zu nehmen" begleitet hat, trotzdem es doch als der treueste Palladin
dieses Ausschusses und seiner Bestrebungen, und mehr oder weniger seither
als Friedensapostel aufgetreten ist. Charakteristisch aber ist die Aeußerung:
»Wir wollen aus diesem Berichte die Lehre ziehen, daß ein beständiges Ringen
förderlich ist, und daß die Beschäftigung mit den Landesangelegenheiten zu
Praktischen Resultaten führt, welche Lektion nicht verloren gehen darf." Ebenso
notorisch ist es ferner, daß jene Erörterungen im ganzen Lande eine aus¬
nehmende Befriedigung hinterlassen haben, vornehmlich der Passus über die
Steuern. Denn das ist für den gemeinen Mann und steuerzahlenden Bürger
und Bauer doch immer die Hauptsache. Und wenn ihm mit Ziffern und
Zahlen bündig nachgewiesen wird, daß er heute auf den Kopf 10 M. 69 Pfg.
weniger Steuern bezahlt, als unter dem französischen Regiment, so kann er
sich gegen dieses argumentum aä Kominsm nur noch mit den läppischen
Deklamationen eines Gerber wehren, daß die eigentlich Potenten unter den
Steuerzahlern ausgewandert seien, daß ersso(!) die Zurückgebliebenen mehr
Steuern zahlen müssen als früher; daß unter französischer Herrschaft in Folge
des Antheils an der Staatsschuld die Steuern nothwendig höher sein mußten
u. s. w. — alles Argumentationen, die jener Jesuitenzögling mit echt jesui¬
tisch-dialektischer Logik zu verwerthen wußte; oder mit dem mephistophelisch-
meppenhaften Satze: „Gegen die Steuern ist die Abneigung allgemein, beson¬
ders stark im deutschen Volke, und wenn sie sich auch im Elsaß zeigt, so wer¬
den Sie vielleicht darin finden. daß wir noch ein Bischen Deutsch sind";
oder endlich mit dem Hinweis, der allerdings ein Körnchen Wahrheit in sich
trägt, die aber dadurch an Bedeutung und Ueberzeugung verliert, daß eben
ein Reichensp erger sich unberufen zu deren Organ machte, „daß nämlich
die Steuern jetzt im Elsaß viel energischer und rücksichtsloser eingetrieben wer¬
den, als zur französischen Zeit, und daß Bezirks- und Gemeindesteuern ge¬
stiegen'sind". Das ist aber auch nur, wie gesagt, eum Ara.no salis zu ver¬
stehen, und thut der allgemeinen Befriedigung der Bewohner des Reichslandes
über jene Rede und deren Resultate, wie ich sie so eben constatirt, nicht den
geringsten Abbruch. Sehr zur rechten Zeit hatten gerade kurz vorher die
Blätter einen Aufsatz des „^ourvg.1 des vodats", welches hier und in Frank¬
reich in volkswirthschaftlichen Fragen eine gewisse Autorität besitzt, reproduzirt,
auf den bekanntlich auch der Reichskanzler in seiner letzten bedeutenden Rede
hingewiesen hat, und worin es u. A. heißt: „Ein Preuße zahlt dem Staate
durchschnittlich ungefähr die Hälfte von dem, was ein Franzose zahlt; gleich¬
wohl trägt dieser seine Bürde ohne allzu üble Laune und ohne allzu schwere
Anstrengungen, während der Andere im Gegentheil unaufhörlich stöhnt und
jammert". Das war gewissermaßen die theoretische Vorbereitung und Grund¬
lage zu den praktischen Resultaten der Hertzog'schen Rede.
Nur Eines hat den günstigen Eindruck derselben hier zu Lande einiger¬
maßen trüben können. Nämlich die Consequenzen, welche die „ultradeutsche
Koterie" im Reichslande, wie sie nicht mit Unrecht bezeichnet worden, direkt
aus ihr, oder indirekt aus der Stellung des Geh. Raths Hertzog den man
schon als „Zukunftsminister" für Elsaß-Lothringen begrüßt hat, zu dem Reichs¬
lande sowie dessen neulicher Inspectionsreise hat ziehen wollen. Wie bekannt,
häufen sich jedesmal zu Beginn der Reichstagssessionen die Gerüchte von einer
durchgreifenden Aenderung der Centralverwaltung des Reichslandes, Aufhe¬
bung der Bezirkspräsidien, sogar des Overpräsidiums in Straßburg u. s. w.
Gerüchte, oft recht abenteuerlicher Natur. Daß solch durchgreifende Aenderungen
den Elsaß-Lothringern, namentlich den Hauptstädten des Landes, xost tot äis-
erimilig. nicht ganz erwünscht kommen, ist selbstverständlich. Doch läßt sich heute
über den Grund oder Ungrund jener Gerüchte, die Nothwendigkeit oder
Zweckmäßigkeit jener Maßregeln noch nicht discutiren.
Einem der allzu naseweisen Blätter jener chauvinistischen Partei nun. deren
Existenz im Reichslande nicht zu leugnen ist*), welches gerade in einen heftigen
Federkrieg mit dem „Inäusti-ick slsseik»" über jene Frage gerathen war, ist kürz¬
lich ein merkwürdiges und unerwartetes Schicksal passirt. Es hat nämlich auf
Grund des § 10 des Preßgesetzes und der darauf basirten Unterdrückung durch
den Oberpräsidenten den Weg alles Fleisches wandern müssen. Wie? fragte
man sich in den elsässischen Kreisen, ein Blatt, das der Regierung so nahe
stand, welches die deutschen Interessen a. tont xrix vertrat und das wir sogar
in dem Verdachte der Offiziösität hatten, mußte so urplötzlich nach einer fast
nur ephemeren Existenz von seinem Posten abdanken? Nein, die Sache liegt
ganz einfach, und was dem Einen kurz ist, ist dem Andern lang. Der Eigen¬
thümer und Redakteur dieses Blättchens ist ein etwas excentrischer Kopf, der
wie gesagt ü, tout xrix in Germanisirung des Elsasses machen und dabei oft
weiser und deutscher sein wollte, als die Bundesregierung, von der er an¬
fangs gefördert worden sein mag. Vor kurzem hat er Streit mit seinem
Chefredakteur bekommen und diesen häuslichen Zwist zu einem widrigen Zei¬
tungsskandal benützt, über den Deutsche und Elsässer die Achseln zuckten. Auch
sonst ließ er sich viele Ungezogenheiten in seinem Blatte zu Schulden kommen,
die weder ihm, noch der Regierung, noch endlich dem Lande ersprießlich sein
konnten. Letzteres mag auch wohl nie seine Absicht gewesen sein. Der Stil
desselben erinnerte fast an das bayrische „Unterland" und war voller studen¬
tischer Kraftausdrücke. Dies in ästhetischer Hinsicht. In publizistischer
haschte das Blatt geradezu nach Skandalgeschichten. wie es denn in seiner
letzten Nummer eine pikante Gerichtsscene über eine Liebelei zwischen einem
Geistlichen und seinem Beichtkind brachte, die von Freund und Feind lieber
ungelesen und unerwähnt gelassen worden wäre.
Endlich, und das mag wohl dem Blatte den Hals gekostet haben, hatte es in
derselben Nummer etwas zu viel aus der Schule geschwatzt, und dabei zur
Selbstvertheidigung dem Publikum Neuigkeiten aufgetischt, die allerdings etwas
bedenklich klangen und der Regierung nicht sonderlich willkommen sein mochten.
Es behauptete nämlich, daß das Straßburger Preßbüreau zur „Glorifizirung
der Staatshandlungen der kaiserl. Landesverwaltung" Correspondenzen an
auswärtige und reichsländische Blätter sende, die obschon jedesmal unter
anderen Zeichen doch stets „ein und denselben« Verfasser haben. Das schlug
dem hohlen Fasse den Boden aus — und Regierung und Publikum haben
nicht viel verloren bei diesem „Krach". Auch ein Colmarer querköpfiges
Blatt, der „Klausur An Haut-Ma» ist kürzlich aus ähnlichen Gründen ein¬
gegangen.
Gestatten Sie mir endlich im Anschluß an das Thema von der Presse
noch die Mittheilung, daß auch die elsässischen Fachzeitschriften binnen kurzem
noch um ein gewiß schätzenswerthes Produkt bereichert werden sollen, das den
rastlosen Leipziger Oberhandelsgerichtsrath Dr. Puchelt und einen hiesigen
Appellrath zum Autor hat. Es soll nämlich die bisher im Anschluß an die
Puchelt'sche Zeitschrift über französ. Civilrecht erschienene „Gerichtszei¬
tung für Elsaß-Lothringen" in nächster Zeit selbständig in zehn Monatsheften
n Bogen herausgegeben werden. Dieselbe soll außer kurzen, AbHand-
lungen und Personal-Nachrichten die Entscheidungen des Reichs-Oberhandelsge-
richts als obersten Gerichtshofes für Elsaß-Lothringen, die des Appellationsgerichts
zu Colmar und ausgewählte Urtheile der Land-Handels- und Friedensgerichte
des Reichslandes bringen. Auch auf pädagogischen Gebiete ist eine neue
Fachzeitschrift — ich glaube, es ist die dritte in deutscher Sprache — im Werden
begriffen. Sie sehen, unser literarisches und geistiges Leben im Reichslande
Am 30. November berieth der Reichstag den unvermeidlichen Antrag
Schulze-Delitzsch auf Einführung von Diäten für die Reichstagsmitglieder.
Der Antrag wurde, und zwar in namentlicher Abstimmung von 179 gegen
68 Stimmen angenommen. Was folgt daraus? Vom Tisch des Bundes¬
raths wurde bei der Berathung nicht eine Silbe geäußert. Die Reichsregie¬
rung betrachtet die alljährliche Annahme dieses Antrages als einen monologi¬
schen Zeitvertreib des Reichstags. Daß die Majorität für den Antrag so
groß zu sein pflegt, erklärt sich daraus, daß außer den reichsabgeneigten Parteien,
zu denen das Centrum das bekannte große Contingent stellt, ein großer Theil
der Nationalliberalen für den Antrag stimmte. Dieser Anschluß läßt sich nicht
wohl anders erklären, als aus Popularitätsrücksichten. Denn auf die Zu¬
sammensetzung des Reichstags wirkt die Tatenlosigkeit nur günstig. Wir
glauben nun, daß allerdings die Zeit kommen wird, wo der Bundestag den
fort und fort wiederholten Antrag in Erwägung ziehen muß und auf denselben
eingehen unter gleichzeitig als eomMio Live <Mg, von der Diätengewähr ver¬
langter Abänderung des Reichswahlgesetzes. Die Öffentlichkeit der Wahl
ist der sachlich nothwendige Preis, welchen der Reichstag für die Diäten zahlen
muß. Unter Oeffentlichkeit der Wahl verstehen wir, daß der Wähler den
Namen des Gewählten und seinen eignen entweder persönlich zu Protokoll
giebt oder mittelst eines unterschriebenen und beglaubigten Wahlzettels. Es ist
alsdann durch das statistische Amt des Reiches eine Liste zu veröffentlichen
mit den Namen der Wahlberechtigten, die garnicht gestimmt haben, und wei¬
ter mit den Namen sämmtlicher Kandidaten, welche Stimmen erhalten haben
sammt ihren Wählern. - Die geheime Wahl ist ein Humbug. Die Sozial¬
demokraten wissen ganz genau, wie jeder der Ihrigen stimmt, und jede dis-
ciplinirte Partei kann dies wissen. Nur die Nation als solche wird durch die
angebliche geheime Wahl um die wichtigsten Thatsachen zu ihrer Selbsterkennt¬
niß gebracht. Das muß aufhören, und die Diäten, obwohl an sich eine
fehlerhafte Einrichtung, sind für diesen wahren Fortschritt kein zu hoher
Preis.
Am 2. Dezember wurde über eine Jnterpellation des Abgeordneten
Wiggers berathen, welche die Herstellung von Wasserstraßen durch das Reich
betraf. Es wurde viel Gutes und Durchschlagendes zu Gunsten dieser Her¬
stellung gesagt, während der Präsident Delbrück ausweichend und ziemlich
ablehnend antwortete. Die Reden der Befürworter zeigten nur eine sehr auf¬
fallende Inconsequenz. Es ist ist gut und naturgemäß, der Zustand Deutsch¬
lands verlangt sogar gebieterisch, daß dem Reich immer zahlreichere und
kostspieligere, lange versäumte Aufgaben zugewiesen werden. Da hätten nun
die Herrn Befürworter sagen sollen: Weil wir die Leistungen des Reiches
steigern wollen, so erkennen wir als dringendste Pflicht, dem Reich zu einem
ausgiebigen und selbständigen Einnahmesystem zu verhelfen. Darüber schwie¬
gen die Herren, und damit haben sie sich selbst geschlagen. Denn von der
Luft baut man keine Kanäle, sowenig wie andere Dinge.
In derselben Sitzung vom 2. Dez. wurde in zweiter Lesung ein Gesetz
über die Leistungen der Eisenbahnen sür die Post berathen. Der angelegte
Gesetzentwurf enthielt, wie der Generalpostmeister bei der ersten Berathung be¬
merkte, nichts als eine Codification der herkömmlichen Bestimmungen. Gleich¬
wohl hatte die Kommission, welche den Gesetzentwurf vorberathen, in höchst
schädlicher Weise die Leistungen der Eisenbahnen beschränkt. Zum Glück hat
der Reichstag diese Beschränkungen, wenn auch nur größtentheils und wenn
auch mit einer bemerkenswerth kleinen Majorität abgelehnt. Es giebt einen
Weg parlamentarischer Politik, durch dessen Verfolgung die Parlamente zur
nationalen Calamität werden können. Dieser Weg besteht darin, Alles zu
fordern und Nichts zu leisten, alle Interessen zu vertheidigen und alle Pflich¬
ten zu schmälern. Man kann an die Post nicht Anforderungen genug stellen,
aber gleichzeitig verlangt man, daß sie womöglich den Eisenbahnen jede Be¬
nutzung vergüte. Wir hoffen, daß die öffentliche Meinung in Deutschland
den uonsims und die Verderblichkeit dieser Methode in Zeiten und deutlicher
als in andern Ländern begreift. Wir hoffen, daß Vernunft und Gewissen in
Deutschland sich stark genug erweisen, eine Fälschung der öffentlichen Meinung
Zu verhüten, in Folge deren dieselbe zuläßt, daß die Neichsboten Anwälte strei-
tender Privatinteressen werden, und dann aufhören. Anwälte der Dauer
und Kraft des Gemeinwesens zu werden.
Gr
Am 3. Dez. begann die erste Berathung der Novelle zum Strafgesetzbuch.
Bei dieser Berathung sollte sich nach allgemeiner Erwartung die düstre Wolke,
welche über der diesmaligen Reichslagssession gehangen, entweder entladen
oder verziehen. Was ist nun geschehen? Einige meinen, die Wolke habe sich
verzogen. Diese werden aber, wohl schwerlich mit Unrecht, für Sanguiniker
erklärt. Entladen hat sich die Wolke jedoch auch noch nicht. Sie steht noch
da. Es pflegt so zu gehen mit Gewittern und andern großen Ereignissen,
daß sie sich zur erwarteten Stunde nicht bequemen. Wie kam es, daß die
Wolke sich nicht entlud? Wie am 29. November bet den Steuergesetzen, so
äußerte sich der Reichskanzler auch diesmal: die Entscheidung über das Gesetz
sei nicht die Entscheidung einer Machtfrage, denn das Recht des Reichstags
zur Ablehnung sei unbezweifelt; er hoffe, daß demzufolge die Discussion sich
„confliktfrei" gestalten werde. An diese Aeußerungen vom 29. Nov. und vom
3. Dez. sucht sich ein seltsames Mißverständniß zu knüpfen, das indeß kaum
aufrichtig von irgend einer Seite aufgestellt werden kann. Man sagt nämlich',
wenn der Reichskanzler zugiebt, daß der Reichstag im Recht ist, wenn er ab¬
lehnt, so ist ja alles gut; lehnen wir ab, was uns nicht zusagt. — Hier
wird, ob geflissentlich oder ungeflissentlich, ein wichtiger Zusatz verschwiegen,
den der Kanzler am 3. Dez. nicht etwa einmal, sondern ungefähr zehn mal
mit allem ersinnlichen Nachdruck ausgesprochen. — Die Reichsregierung ist
nicht in Meinungsverschiedenheit mit dem Reichstag über den Sinn der Ver¬
fassung oder eines andern Reichsgesetzes. Der Reichstag kann die wichtigen
Vorlagen dieser Session ablehnen. Wenn man unter einem Conflikt vorzugs¬
weise versteht die entgegengesetzte Anwendung des herrschenden Rechts auf einen
wichtigen Fall, so ist kein Conflikt vorhanden, wenn die Reichsregierung er¬
klärt, sie könne nach Ablehnung ihrer Vorlagen oder wenigstens bestimmter
Theile derselben die Geschäfte nicht fortführen. Es giebt ja vergnügte Ge¬
müther, bereit zu sagen: desto besser, so zeigt sich, daß wir die parlamen¬
tarische Regierung haben, machen wir ein Ministerium der Majorirätl Da
aber die gegenwärtige Session die letzte der Mandatsperiode des jetzt fungiren-
den Reichstags ist*), so wäre wohl, von allem Anderen abgesehen, die Bil¬
dung eines Majoritätsministeriums durchaus nicht an der Zeit. Zwischen
den Wünschen des Kanzlers und den Wünschen der jetzigen Neichstagsrnajori-
tät hätte die nächste Reichstagswahl zu entscheiden, bevor von einer Personal¬
änderung in der Reichsregierung die Rede sein könnte. Demnach stellt sich
die Frage so: sollen die Abgeordneten der bisherigen Majorität sich ihren
Wählern präsentiren als Gegner oder als Verbündete der jetzigen Reichsregle-
rung, d. h. soll der in sehr schwierigen Theilen noch unvollendete Bau des
Reiches ohne den Staatsmann weiter geführt werden, ohne den die Grund¬
legung des Baues niemals gelungen wäre? Es ist das kein Verfassungscon-
flikt. sondern ein Personaleonflikt, wie er im regelmäßigen Verlauf des
Staatslebens vorkommen darf, aber darum doch für die Lage Deutschlands,
die noch immer eine außerordentliche ist, von der tiefgreifendsten Bedeutung.
Insofern die Frage des Personalconflikts gestellt ist, können wir sagen,
die Wolke hat sich entladen. Andererseits freilich kann der Reichstag noch
leicht genug Wege finden, den Personaleonflikt zu vermeiden. Insofern können
wir auch sagen, die Wolke hat nur erst gedroht und kann beschwichtigt werden.
Die Sitzung vom 3. Dezember eröffnete nach einem unbedeutenden Etn-
leitungsvortrag des Bundesbevollmächtigten, preußischen Justizministers Leon-
hardt mit einer sorgfältig studirten. langen Rede der Abgeordnete Laster.
Neben manchem Wohldurchdachten sagte der Redner auch weniger Durchdachtes.
Vom diplomatischen Dienst z.B. überraschte er durch die Behauptung: wenn
Beschädigungen des Staats in diesem Dienst criminell geahndet werden soll¬
ten und nicht blos disciplinarisch. so müßte dasselbe in allen Dienstzweigen
geschehen. Als ob es derselbe Schade wäre, wenn ein Landrath die Her¬
stellung eines Weges versäumt und wenn ein gewissenloser diplomatischer Agent
einen mörderischen Krieg herbeiführt! Wenn der säumige Landrath ersetzt ist,
so wird der Weg durch einen pünktlicheren hergestellt, nur einige Wochen
später, und bis dahin haben die Benutzenden einen Umweg sich gefallen lassen
müssen, der ihnen ja vielleicht ziemlich unbequem war. Aber was ist dieser
Schade gegen denjenigen, welchen ein gewissenloser Botschafter anrichtet, in¬
dem er aus Unbesonnenheit oder Intrigue das Verhältniß zu einem gefähr¬
lichen Nachbarstaat auf Jahrzehnte vergiftet! Es mag sein, daß die Ahn¬
dung des Ungehorsams und der Nachlässigkeit im diplomatischen Dienst auf
dem Wege der gewöhnlichen Strafrechtspflege nur ein Nothbehelf sein kann.
Die wirksame Ahndung selbst ist unentbehrlich und eine vom Gefühl ihrer
Pflicht und von der Größe ihres Berufs durchdrungene Reichsvertretung müßte
ihre Ehre darein setzen, einem auswärtigen Minister, dessen Verdienste in der
deutschen Geschichte ihres Gleichen nicht finden, ein besseres Mittel zur Siche¬
rung der Dienstzwccke anzubieten, als er geglaubt hat, verlangen zu dürfen.
Ein solches Mittel würde z. B. ein besonderes Strafrecht des auswärtigen
Dienstes sein, wie es für den Heerdienst längst eingeführt und nöthig befun¬
den worden ist. Wenn das Bedürfniß bisher nicht bemerkt worden, so liegt
das lediglich darin, daß kein deutscher Staat seit Friedrich dem Großen, der
die Mittel besaß, seine Agenten im Respekt zu erhalten, eine auswärtige
Politik gehabt hat. Mit dem dazwischenliegenden ohnmächtigen Dilettantis¬
mus vertrug sich die b.queue Anarchie innerhalb des diplomatischen Personals.
Der Reichstag hat aus seine Art das Verdikt abzugeben zwischen Bismarck und
Harry Arnim. Wenn der Reichstag sich nach dem Abgeordneten Laster richtet,
so wird er die Harry Arnim verewigen. Wir denken, dies benimmt jeden
Zweifel über die Aussicht auf den Personalconflikt.
Hatte der Abgeordnete Laster schon einige Fehler gegen den Beruf des
Reichstagsabgeordneten begangen, so übertraf ihn sein geschmackloser Bewunderer,
der dem Fürsten Bismarck Objectivität anempfahl. Wenn dem Feldherrn im
Augenblick der Schlacht, wo das Höchste auf dem Spiel stand, die Befehle
gefälscht werden, da empfiehlt sich auch Objectivität, wenn es sich um die Ver¬
hütung der Wiederholung handelt. In allgemein criminalpolitischer Beziehung
bot namentlich der Vortrag des letzten Redners dieser Sitzung, des Abgeord
reden v. Schwarze, Belehrendes und Wichtiges. Wir »ersparen uns die Be¬
leuchtung dieser Gesichtspunkte auf die zweite Berathung.
Die Jugendliteratur ist dieses Jahr weit ärmer an Novitäten, als
in den vergangenen Jahren. An sich gewiß kein Unglück. Denn noch mehr
bei der Jugend, als bei urtheilsfähigem Erwachsenen, kommt es auf die Qua¬
lität, nicht auf die Quantität an. Und es ist erfreulich, daß man die
geringe Zahl von Neuigkeiten der Jugendliteratur im Ganzen mit dem Ur¬
theil bedenken kann: daß sie durch Gehalt die Zahl ersetzen. Es ist gewiß
nur gerecht und billig, daß wir diese Rubrik eröffnen mit der Erwähnung
der „Deutschen Jugend", jener illustrirten Monatshefte für Knaben und
Mädchen, die Julius Lohmeyer, unter künstlerischer Leitung von Oscar
Pietsch im Verlage von Alphons Dürr in Leipzig herausgibt. Der
7. Band dieser unvergleichlichen Jugendbibliothek hat im Oetober d. I. be¬
gonnen und bekundet das Streben der Redaction wie der Verlagshandlung,
jene erste Stelle in der periodisch erscheinenden Jugendliteratur Deutschlands
auch fernerhin zu behaupten, welche die „Deutsche Jugend" vom Anfang ihres
Erscheinens beansprucht und erreicht hat. Wir wiederholen, wie in früheren
Jahren, auch dießmal vorm Feste, die dringende Aufforderung an alle unsre
Leser, die Kinder mit Lectüre zu versorgen haben, für diese Kinder auf die
„Deutsche Jugend" zu abonniren, ihnen womöglich auch die bisher erschienenen
Bände unter den Christbaum zu legen. Sie bieten dadurch der kleinen Ge¬
sellschaft — und zwar jedem Alter und Geschlecht — eine Quelle von Unterhab
tung und Belehrung, die nie versiegen wird, von der im Gegentheil mit Be¬
stimmtheit vorherzusagen ist, daß ihr erfrischender Eindruck noch nachwirken
wird in jene Jahre hinein, wo die kleinen Leser längst groß geworden, als
Männer und Frauen durchs ernste Leben schreiten. Denn hier wird ein tüch¬
tiger Grund gelegt zu geschmackvoller Bildung des Herzens und Geistes, zu
tüchtiger patriotischer Denkweise und zu genauer Kenntniß der Heimath, ihres
Volkes, ihrer Geschichte, ihrer Flora und Fauna. Und immer in mustergül¬
tiger Form und bildlicher Darstellung. Welchen Schatz wir in diesem Werke
gewonnen, vermögen wir im vollen Umfang erst zu erkennen, wenn wir daran
zurückdenken, welche „Bilderbücher" in unsrer Kindheit und Jugend uns ge¬
reicht wurden und gereicht werden mußten, da nichts anderes da war. Ein solches
Werk, das in der modernen Literatur keines andern Volkes seines Gleichen hat.
nach Kräften zu unterstützen, sollte jeder Deutsche, dem das eigene Haus oder
Familienverhältniß oder der Beruf die hohe Pflicht der Kindererziehung auf¬
erlegt, als einen Theil der Erfüllung dieser Pflicht halten. Die Frage, welche
solange für die „Deutsche Jugend" eine Lebensfrage gewesen, die Frage näm¬
lich, ob die Gunst des Publikums das Unternehmen tragen werde, sollte über¬
haupt gar nicht aufgeworfen werden müssen. — Vornehmlich aus diesjährigen
Beiträgen zur „Deutschen Jugend" zusammengesetzt, aber auch den Abonnenten
derselben sicherlich eine willkommene Weihnachtsgabe und mit vielen ganz
neuen Blättern vervollständigt, stellt sich das neueste Weihnachtsbilderwerk von
Oscar Pietsch „Ein Gang durchs Dörfchen" uns dar (Leipzig. Verlag
von Alphons Dürr). Die Reime von Friedrich Otterberg sind so lustig
und frisch, wie wir sie aus dieser Feder gewohnt sind. —
Der Verlag von Carl Flemming in Glogau, aus dem wir sonst
zu Weihnachten eine Fülle neuer Kinderschriften zu erhalten gewohnt sind,
beschränkt sich dieses Jahr auf die Herausgabe der trefflichen beiden Jahres¬
schriften für die deutsche Jugend: Herzblättchens Zeitvertreib von
Thekla v. Gumpert, das Heuer seinen zwanzigsten Jahrgang feiert und
mit 24 farbigen Lithographien und 12 Holzschnitten geziert ist, und des für
ein reiferes Alter bestimmten Töchter-Albums von derselben Verfasserin,
das bereits im 21. Bande vor uns tritt. Dagegen liegt Seiten dieser Ver¬
lagshandlung in Godin's Märchenbuch aus dem vorvorigen Jahr eine
Leistung vor, die so schnell nicht veralten wird, und darum immer der neuen
freundlichsten Empfehlung werth ist. Wir haben uns s. Z. beim Erscheinen
dieser trefflichen Auswahl deutscher Hausmärchen (mit Illustrationen von
L. Venus) eingehend über die Vorzüge derselben geäußert und dürfen uns
daher wohl heute darauf beschränken zu wiederholen, daß wenige Märchen¬
bücher aus dem Sagenschatze lebender und vergangener Völker so umsichtig
geschöpft und dem kindlichen Alter und Fassungsvermögen so entsprechend
zusammengestellt sind, wie dieses. — Auch das vorm Jahr erschienene köstliche
kleine Kinderbuch Roggen körr kein (Text von Heinrich Jahde, Bilder von
Leopold Venus), welches die Wunder der Entwickelung des Saatkorns bis
zum Brot dem Kinde in netten Reimen und Bildern verständlich vorführt,
erlauben wir uns Heuer in Erinnerung zu bringen. —
Die unübertrefflichste aller deutschen Ma rchensammlun gen, diejenige
der Gebrüder Grimm erscheint in einer großen Anzahl von Ausgaben
zu jedem Preise in Ferd. Dümmler's Verlags-Buchhandlung (Harrwitz
und Goßmann) in Berlin, so zu sagen zu jedem Preise. Von der bekannten
größeren Auswahl von fünfzig Grimm'schen Märchen liegt z. B. die Velin-
Ausgabe mit 9 Bildern in Farbendruck nach Zeichnungen von Paul Meyer¬
heim (in Leinen geb. 3 M.) bereits in 22. Auflage, die wohlfeile Ausgabe.
Taschenformat mit 8 Bildern von demselben Künstler in Farbendruck (in
Farbendruck - Umschlag geb. 1 M. SO Pf.) bereits in 21. Auflage vor. Die
große Ausgabe („Kinder- und Hausmärchen, gesammelt durch die Brüder
Jacob und Wilhelm Grimm") in einem Bande (care. vel. 6 M.) im Verlage
von Wilh. Hertz in Berlin, hat bereits die zwölfte Auflage erlebt. Endlich
ist aber die neueste und reichste Ausgabe dieser Märchen (Verlag von Ferd.
Dümmler in Berlin) zu erwähnen, und als Festgeschenk für das kindliche
Alter auch vorzugsweise zu empfehlen, die freilich noch nicht abgeschlossen ist,
aber wegen der Individualisirung, die hier jedes Märchen erfährt, sich sehr
wohl zu Schenkungen eignet, ohne daß der edle Stifter Seiten der Kleinen
die dilatorische Einrede von rief aäimxlgti eoutraotus zu befürchten hat. Seit
Kurzem erscheinen nämlich bei Ferd. Dümmler Einzelausgaben jedes Märchens
in Quartformat mit je vier trefflichen Bildern in Farbendruck nach Aquarellen
von Rudolf Geister in Nürnberg und cartonnirtem Umschlag (nur 75 Pf.
für ein Märchen). In dieser rühmlichen Ausgabe sind Aschenputtel, Häusel
und Grethel, Sneewittchen, Dornröschen, Rothkäppchen und Allerleirauh bis¬
her vollendet, eine große Anzahl anderer Grimm'scher Märchen noch zu erwarten.
Einer ähnlichen Mannigfaltigkeit von Ausgaben erfreut sich ein andres
Lieblingswerk der deutschen Nation, das freilich nur insoweit zur Jugend¬
literatur gerechnet werden kann, als es mit den Kleinen anfängt und damit
endigt: „Aus unsern v ier Wände n" von R ud o is Reiche n a u (Leipzig,
F. W. Grün vo). Die unvergängliche Frische und die humorvolle Innigkeit
dieser Bilder aus dem deutschen Kinder- und Familienleben sind kaum von
einem andern Autor unsrer Tage erreicht worden. So rechtfertigt sich's von
selbst, wenn an diese Kabinetsstücke deutscher Gemüthlichkeit erinnert wird in
einem Augenblicke, wo die Erfindungsgabe Tausender angestrengt ist, um
diese deutsche Gemüthlichkeit durch ein recht sinniges Geschenk zur Geltung
zu bringen. Von dem ersten Bändchen (Kinderjahre) liegt auch eine illustrirte
Ausgabe vor. welche die Zeichnungen enthält, die zuerst den Namen von
Oscar Pietsch in Deutschland bekannt machten. — Von desselben Meisters
Hand sind die reizenden Kinderbücher des Grunow'schen Verlags mit Bildern
geschmückt, zu denen Pauline Schanz die Reime geschrieben: „Aus des
Lebens Mai" und „Unter uns Kleinen". — Das neueste Unternehmen
der Grunow'schen Verlagshandlung in Jugendschriften sehen wir durch einen
neuen Band gefördert. Zu vergangener Weihnacht trat die Verlagshandlung
mit dem schon von Vielen geplanten, bisher aber wegen seiner großen inneren
Schwierigkeiten stets unausgeführt gebliebenen Versuche hervor. Goethe s
Erzählungen d. h. eine Auswahl der Erzählungen. Bilder und Schilde¬
rungen aus Goethe's Prosa für erwachsene Mädchen illustrirt heraus¬
zugeben. Dieser Versuch ist gleich damals von uns und fast ausnahmslos
von der gesammten deutschen Kritik als ein hocherfreulicher und in der Haupt¬
sache gelungener begrüßt worden. Denn die Auswahl aus „Wahrheit und
Dichtung". der „italienischen Reise". der „Campagne in Frankreich", den
„Tag- und Jahresheften". aus „Werther". den „Wahlverwandtschaften".
„Benvenutto Cellini" und anderen Stücken der Goethe'schen Prosa, ist mit
Takt erfolgt, die nothwendige Adrundunq der Ausschnitte — nur die „No¬
velle" ist ganz aufgenommen — mit Geschick vollzogen. Daß dieses Buch
eine ganze Anzahl 'der verwässerten Pensionats - und Backfischromanbände
aufwiegen muß. welche sonst den heranwachsenden Töchtern vor dem ersten
Roman, in dem „sie sich kriegen", in die Hände gegeben werden, bedarf nicht
der Begründung. In diesem Jahre tritt nun, wie gesagt, ein zweiter Band
dieses Unternehmens, welches den gemeinsamen Titel „Siegfried's Jllustrirte
Mädchenbücher" führt, hinzu: „Jean Pan l's Er z ä h in n g e n". mit sechs
Tondruckbildern nach Zeichnungen von Heinrich Merk<5. Hier war die Aus¬
wahl sicherlich leichter, als bei Goethe und der Verfasser hat Recht, wenn er
erwartet, daß „eine seltsame Welt vor Dir entstanden sein wird, wenn Du
mit dem Buche zu Ende bist, und gewiß wirst Du lebenslang mit ihrem
Dichter in Freude und Schmerz eine befreiende Zwiesprach halten". Wer
könnte auch ohne den tiefsten Eindruck von dem Dichter scheiden, der kaum
einen Vers geschrieben und dennoch an der Fülle feiner Gedanken nur von
wenigen seiner Zeitgenossen überragt, an wahrem Humor von noch wenigeren
erreicht wurde. "Selbstverständlich hat der Verfasser die Auswahl hauptsächlich
den Idyllen entnommen, die das versöhnlichste, ruhigste Bild der Dichterseele
zeigen. Doch sind auch den Romanen, namentlich den „Flegeljahren", reiche
Partien mit feinem Takt entnommen, und aus anderen Dichtungen, aus
denen größere Ausschnitte, der Handlung wegen, vielleicht bedenklich
schienen, die tiefsten Gedanken des Dichters aphoristisch ausgewählt und
zusammengestellt.
Mit besonderer Sorgfalt hat auch dieses Jahr der Verlag von Velhagen
und Klasing in Bielefeld-Leipzig den Weihnachtsbüchertisch für die Deutsche
Jugend ausgestattet. Vom Kindheitsalter bis zu den Jahren der Reise wird
die Jugend hier schöne, passende Gaben finden. Da ist vor Allem, in drei
Jahren nun schon in dritter Auflage erschienen, Robert Reinick's Mär¬
chen-, Lieder- und Geschichten duch, jener Hausschatz an innigen,
ernsten und heitern Dichtungen des großen Kinderfreundes, in Prosa und
fersen und nur trefflichen Holzschnitten. Wer einmal für sich oder mit den
meinen diese Sammlung der Schöpfungen dieses reichen, durchaus selbständigen
und originellen, weichen und doch nirgend sentimentalen, sondern kerngesunden
^ichtergemuthes genau durchgegangen, der wird völlig begreifen, wenn nun
die Kinder mit besonderer Liebe und immer neuer Andacht zu diesem Buche
greifen. Wir meinen, diese dritte Auflage wird noch lange nicht die letzte
sein. Und jede neue wird der Kinderwelt viel Freude und Segen bringen. —
Mit Recht hat sich die Gunst des Publikums auch jenem schweizerischen
Robinson des alten, wackern I. D. Wyß in der neuen Bearbeitung von
I. Bonnet in dem Maße zugewendet, daß nun eine zweite (völlig umge¬
arbeitete) Auflage nöthig geworden ist. Denn unter den Robinsonaden steht
diese bekanntlich' durch die Wahrhaftigkeit des Details, den Reichthum der
Erfindung und den Ernst ihres sittlichen Gehaltes mit unter den ersten. Auch
lehrreich und bildend ist sie in hohem Grade. Die 16 Tonbilder von I. Specht
u. A., welche sie zieren, sind durchaus künstlerisch componirt und aus¬
geführt. — Dann folgt eine Reihe von Bänden für das reifere Alter, von
denen wir heute nur die praktischen Bücher für Knaben herausheben: des
deutschen Knaben Han d werk s b u es, von Barth und Niederley
(Z.Auflage), das Experimen t ir b und von Dr. H. Emsmann und Dr. O.
Da um er (2. Aufl.) und von denselben der junge Techniker. Während
das Handwerksbuch, und zwar wie die übrigen, an der Hand zahlreicher
guter Holzschnitte, praktische Anleitung giebt zur iselbstverfertigung von Gegen¬
ständen auf den Gebieten der Papparbeiten, des Gypsformens, der Schnitzerei,
Tischlerei, Drechslerei, Laubsägerei, der Herstellung von Thierbehältern,
Fahrzeugen, Zimmermannsarbeiten und naturwissenschaftlichen Apparaten, er¬
möglicht" das zweite vorgeschrilineren Knaben unterhaltende und belehrende
Experimente der Physik und Chemie, und führt das dritte endlich den streb¬
samen jungen Mann ein in interessante und lehrreiche Experimente aus dem
Gebiete der Technologie (Feuerwerkerei, Galvanoplastik, Metallpräparate, der
Verwendung und Fabrikation der Pflanzenstoffe, Beleuchtungspräparate,
Färberei u.'s. w.). Wenn auch viele dieser Experimente ohne nicht ganz
billige Anschaffungen kaum herzustellen sind, so liegt es auf der Hand, wie
sehr'viel mehr die Absicht des Buches, zum Selvstschaffen anzuregen, die
naturwissenschaftliche Energie der Knaben weckt, als trockne Lehrbücher, in
denen nur die graue Theorie vorgetragen wird. — Von Robert Koenig's
Walter Scott-Ausgabe liegt dieses Jahr — nachdem die vorige
Weihnacht uns Quentin Durward. Ivanhoe, den Talisman bescheert hat,
Kenilworth vor, in derselben schönen, reichillustrirten Ausstattung, und
in derselben klugen Kürzung der Längen des Originals und tüchtigen, treuen
Verdeutschung, wie die früheren Bände.
Mit Januar 18?« beginnt diese Zeitschrift das I. Quartal ihres
35. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Posi-
austalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 9 Mark.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellscl afren,
Kaffeehäuser und Konditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten. Die BerlagshandlunH. Leipzig, im Dezember 1875.
Das deutsche Strafgesetzbuch war die wichtigste Gesetzgebungsarbeit des
ersten (norddeutschen) Reichstags. Denn es war, außer der Verfassung, das
erste große Stück Rechtseinheit, das in Deutschland gewonnen wurde. Noch
ehe das Jahr 1871 begann, mit dem das norddeutsche Strafgesetzbuch in
Kraft trat, war das deutsche Reich im Werden. Am 15. Mai 1871 schon
wurde das deutsche Strafgesetzbuch für das Reich erlassen.
Wie alle wichtigeren Gesetze der letzten neun Jahre, war das deutsche
Strafgesetzbuch ein Werk des Compromisses.
Freiheiten, um welche der deutsche Liberalismus bis zum Jahr 1870
vergeblich gestritten, waren hier endlich erkämpft: Die Redefreiheit der Einzel¬
landtage; die mildere Ahndung politischer Verbrechen, wenn sie nicht aus
ehrloser Gesinnung hervorgegangen, die Beseitigung der Haß- und Verachtungs¬
paragraphen; die richtigere Begriffsbestimmung und Klassifikation von Maje-
stätsdeleidigungen; die Beschränkung der Strafbarkeit des Widerstandes gegen
Beamte auf die Fälle, wenn der Beamte innerhalb seiner Zuständigkeit und
in der rechtmäßigen Ausübung seines Amtes gehandelt; die Straflosigkeit
von Beleidigungen, wenn diese zur Wahrnehmung berechtigter Interessen (auch
Seiten der Presse) erfolgten, u. s. w.
In weiterem Sinne können auch andere wichtige Neuerungen des deutschen
Strafgesetzbuchs als Concessionen an den Liberalismus betrachtet werden, ob¬
wohl sie mit Politik nichts zu thun haben, höchstens mit Criminalpolitik im
engsten Sinne des Wortes und obwohl sie zum Theil schon im Regierungsent¬
wurfe vorhanden waren. Denn diese Neuerungen waren von dem Liberalismus
im Staate und in der Wissenschaft zuerst verlangt und vertheidigt worden.
Dahin zählen wir: die größere Autonomie der Privat - Parteien und des
Richters in der Strafrechtspflege, wie solche durch die Ausdehnung der An¬
tragsvergehen, die Möglichkeit von Privatbuße ze. den Parteien, und durch
einen meist weiten Spielraum zwischen dem geringsten und höchsten Straf-
maß, sowie durch Zulassung mildernder Umstände auch bei schweren Ver¬
brechen u. s. w. dem Richter zugestanden war. Dahin zählen wir weiter: den
Grundsatz der Verjährbarkeit aller Verbrechen und aller Straferkenntnisse;
die durchschnittlich bedeutende Herabsetzung der Strafmaße bei politischen
Vergehen; die Reduzirung der Todesstrafe auf zwei Verbrechen (von vierzehn
des vormaligen Preuß. Strafgesetzbuchs); die Zulassung der „vorläufigen Beur¬
laubung" von Verbrechern vor verbüßter Strafhaft; die Bestimmung, daß
die Einzelhaft nur mit Willen des Verbrechers länger als zwei Jahre aus¬
gedehnt werden dürfe; die zeitliche Begrenzung der Entziehung der bürger¬
lichen Ehrenrechte wegen Verbrechen u. s. w.
Die Gegenconcession des Liberalismus für dieses zur damaligen Zeit
humanste Strafgesetzbuch der Erde war die Bewilligung der Todesstrafe auf
Mord und Mordversuch gegen Reichsfürsten und der Zuchthausstrafe (ohne
die Alternative der eustväia Jout-so der Festungshaft) beim schweren Landes-
verrath. Die Vertreter der Bundesregierungen mochten im Rechte sein, wenn
sie äußerten oder äußern ließen, daß der Liberalismus den Löwenantheil bei
diesem Compromisse davongetragen habe. Denn wäre das Strafgesetzbuch
nicht zu Stande gekommen, so wäre in dem weitaus größten Theile von
Deutschland (vor allem in Preußen) die Todesstrafe für eine noch bei weitem
größere Anzahl von Verbrechensarten bestehen geblieben, wie sie zuvor be¬
standen, ohne daß irgend ein Zugeständniß an den Liberalismus gemacht zu
werden brauchte. Die Bundesregierungen durften ferner mit Recht daraus
verweisen, daß keiner der liberalen und conservativen Abgeordneten, welche aus
Gewissensbedenken sich als Gegner der Todesstrafe erklärt hatten (wie Laster,
Stephani, Dr. Küntzer u. A.), dem Compromiß zu Liebe etwa dafür gestimmt
hätten, daß sie vielmehr die Eingehung und Vollziehung dieses Comvromisses
ausschließlich denjenigen ihrer Freunde überließen, welche bereit waren, ihre
eigenen Anschauungen dem Zustandekommen des großen Nationalwerkes
unterzuordnen. Allein sicher ist, daß allen denen, die ihre Gegnerschaft gegen
die Todesstrafe verleugnen mußten, um die Einheit des deutschen Strafrechts zu
retten, dieses einzige Votum mindestens so schwer ankam, als etwa dem Ver¬
treter der beiden Mecklenburg die Bewilligung der gesammten liberalen Amen-
dements zum Strafgesetzbuch — die er übrigens auch gar nicht ertheilt
haben soll.
Jedenfalls war aber das deutsche Strafgesetzbuch das Kind eines Compro-
misses und man ist wohl berechtigt, an diese Herkunft zu erinnern, wenn jetzt
von der einen scire der Versuch gemacht wird, den politischen Inhalt dieses
Gesetzes wesentlich anders zu gestalten. Selbstverständlich sind, trotz aller
Vergangenheit, Bundesregierungen und Reichstag jederzeit Herren ihrer
freiesten Entschlüsse. Aber so sehr wir es billigen, wenn die Regierungen bei
dem immer wiederkehrenden Antrag Schulze-Delitzsch auf Diäten zurückzuver¬
weisen pflegen auf jenes bekannte Compromiß des constituirenden Reichs¬
tags: „Diätenlosigkeit gegen das allgemeine geheime und directe Wahlrecht",
ebenso gegründet scheint es. bei der Strafgesetznovelle daran zu erinnern,
daß auch das Strafgesetzbuch das Resultat gegenseitiger Zugeständnisse ist.
daß wesentliche Aenderungen an dem politischen Inhalt des Gesetzbuchs
nur dann mir Grund verlangt werden könnten, wenn sich die Basis der
Politischen Verhältnisse in Deutschland seit dem Frühjahr 1870 wesentlich
verändert hätte.
Zum Theil hat diese Verschiebung ja wirklich stattgefunden und damit
die Nothwendigkeit von Aenderungen dargethan. Der Kulturkampf gegen
Rom. die Wirksamkeit des Geheimbundes der Internationale, der Fall Arnim
und Duchesne haben Lücken unsrer Gesetzgebung gezeigt, die. bei veränderten
Verhältnissen, im Jahr 1870 unsichtbar waren. In allen diesen Richtungen sind
wir mit der Absicht der Novelle völlig einverstanden; die Mängel der
Redaction, die auch von Seiten der Regierungsvertreter zugestanden sind,
wird das Zusammenwirken von Bundesrath und Reichstag unschwer be¬
seitigen.
Gegen eine Reihe anderer politischer Neuerungen der Novelle müssen wir
uns dagegen schon aus dem einfachen Grunde erklären, weil in dieser Hinsicht
die öffentlichen Verhältnisse seit dem Zustandekommen des deutschen Straf¬
gesetzbuchs sich nicht geändert haben. Hierher gehören vor Allem die Paragra¬
phen, welche die Begriffs- und Strafbestimmungen des Widerstandes gegen die
Staatsgewalt, Sicherheit-, Forstbeamte u. s. w. enthalten. In letzterer Hinsicht
greift der Entwurf der Strafgesetznovelle, wie deren Motive selbst einräumen,
..im Wesentlichen auf die Strafnormen zurück, welche vor dem Erlasse des
deutschen Strafgesetzbuchs in Preußen gegolten haben". Das will sagen:
die Wahl zwischen Geld- und Gefängnißstrafe, welche das bisherige Strafrecht
zuläßt, verschwindet. Der Richter soll in Zukunft nur auf Gefängniß erkennen
dürfen. Ja noch mehr: der Entwurf setzt ein Strafminimum von vierzehn
Tagen — das vierzehnfache des Diebstahls! Man kann alle Klagen der Mo¬
tive und die Rede des Kanzlers über das Behagen des deutschen Pöbels dem
Schutzmann Trotz zu bieten. Wort für Wort unterschreiben — die Grenzboten
haben z. B. bereits zu Anfang dieses Jahres in den Briefen aus London
von Alfred Blum mit Nachdruck auf dieses bedauerliche Symptom von gesetzloser
Gesinnung hingewiesen — und man kann dennoch die Strafschärfungen. welche
der Entwurf verlangt, entschieden abweisen. Denn diese Strafschärfung ist nicht
etwa damit motivirt. daß die Widerstandshandlungen durchschnittlich keine
mildere Strafe verdienen, als vierzehn Tage Gefängniß, nicht mit der größeren
Verwilderung des Pöbels und der Nothwendigkeit ihr drakonische Strenge
entgegen zu setzen, sondern die Motive stellen dem deutschen Richter in
oMwa, kormg, ein Mißtrauenszeugniß aus! Der Richter soll nicht streng
genug sein. „Es wird Seitens der Verwaltungsbehörden (!) mannigfache Klage
darüber geführt, daß die von den Gerichten verhängten Strafen in zahlreichen
Fällen der Bedeutung nicht entsprechen, welche jenen Strafbestimmungen für
die Wahrung der Autorität der Staatsgewalt beiwohnt." Das Heilmittel
ist offenbar schlimmer als das Uebel. Die „Autorität der Staatsgewalt" des
Schutzmanns wird durch Herabsetzung der Autorität des Richteramtes zu heben
versucht. Der Richter soll den Widerstand gegen einen Nachtwächter nicht
geringer ahnden dürfen, als mit vierzehn Tagen Gefängniß. Wenn nur
dreizehn Tage erkannt würden, erlitte die „Autorität der Staatsgewalt" nach
den Motiven schon eine uows levis maeulÄ. Eine nur achttägige Gefängni߬
strafe vollends gegen den Bösewicht, der die Hacken einstemmt, wenn der
Schutzmann ihn zum Polizeigewahrsam abzuführen sucht, erschüttert nach den
Motiven bereits das Gebäude staatlicher Ordnung! Solche Arbeit kommt vom
grünen Tische und mißachtet vollständig die tägliche Erfahrung des Lebens.
Die übergroße Mehrzahl der Widerstandsfälle ist in der That mit einer ge¬
ringen Geld- oder Gefängnißstrafe ausreichend gesühnt. Denn man darf nicht
vergessen, daß selten der Träger der „Autorität der Staatsgewalt" seinerseits
dabei rein in den Bahnen der materiellen Befugnisse seines Amtes wan¬
delt, und daß in noch selteneren Fällen der Uebelthäter voller Nüchternheit
sich rühmen kann, wenn er der Staatsgewalt Widerstand leistet. Der
Richter stützt seinerseits die Autorität der öffentlichen Sicherheitsorgane
schon dadurch über den Buchstaben des Gesetzes hinaus, daß er, nach
der feststehenden Judicatur der Mehrzahl der deutschen Einzelstaaten,
die formelle Zuständigkeit der Beamten, die formelle Rechtmäßigkeit
seiner Anordnungen ausreichend erachtet um den Widerstand gegen seine An¬
ordnungen für strafbar zu erklären, auch wenn sich gegen die materielle Be¬
rechtigung der betr. Amtshandlung sehr gegründete Zweifel erheben ließen.
Der Richter nimmt z. B. an, der Schutzmann ist formell berechtigt zu ver¬
haften. Er verhaftet einen Ehemann, der seine Frau vor einer Stunde, aus
verhältnißmäßig triftigen Gründen geprügelt, aus deren Anzeige, obwohl der
Missethäter nach vollbrachter That, ruhig daheim sein Abendbrod einnimmt
der Fall ist vorgekommen. Wenn nun der Arretirte, von Zweifeln an der
Zuständigkeit des Dieners der Ordnung ergriffen, diesem Widerstand entgegen¬
setzt, so straft der Richter. Aber warum diese Stase im Minimum vier¬
zehnfach so hart ausfallen soll, wie beim Diebstahl, dafür wird die Logik
vergebens nach Gründen suchen. Dazu kommt nun, daß gerade diejenigen
Excesse, an welche der Reichskanzler in seiner Rede vorzugsweise gedacht haben
mag. die Pöbelangriffe auf die Polizeimannschaften bei den jüngsten Bränden
und Festen der Reichshauptstadt, gar nicht mehr blos unter den Widerstands¬
paragraphen fallen, sondern als Aufruhr und sogar — soweit dabei Eigen¬
thum zerstört oder geplündert wurde. wie bei der Enthüllung des Stein-
Denkmals in Berlin — als Landfriedensbruch d. h. mit Zuchthaus bis zu
zehn Jahren an jedem Rädelsführer oder Gewaltthätigen zu bestrafen sind.
Ueberhaupt werden die schweren Fälle von Widerstand, bei denen die Unbot-
mäßigkeit Mehrerer zu bewältigen ist. sich fast stets als Aufruhr. Befreiung
von Gefangenen u. s. w. qualifiziren lassen. Es fehlt also keineswegs an
demjenigen Schutz, den das Gesetz den Dienern der Ordnung angedeihen
lassen muß. Und so oft solche Fälle vorlagen — wir erinnern an die Ber¬
liner Aufruhrscenen im Friedrichshain vor zwei Jahren, an den Frankfurter
Landfriedensbruch. an die Leipziger Pleißengassenexcesse u. s. w. — hat die
gesammte deutsche Justiz mit untadelicher Strenge gestraft. Andrerseits ist
aber auch darauf zu verweisen. daß nicht blos der im Vergleich zu England
durchschnittlich geringere Respect vor den Executivbeamten ein deutscher
Fehler ist. sondern auch die größere Empfindlichkeit und der geringere Takt
dieser Beamten, vor Allem aber ihre Virtuosität in der Handhabung ihres
Pflichteides. Und wenn daher die Motive anführen, daß „Seitens der Ver¬
waltungsbehörden mannigfache Klagen darüber geführt werden". daß die von
den Gerichten verhängten Strafen zu milde seien, so fehlt jeder Nachweis über
die wirkliche Berechtigung und den Werth dieser Klagen, zumal Jedem, der
in solchen Sachen als Richter. Ankläger oder Vertheidiger gearbeitet hat. be¬
kannt ist. daß die Verwaltungsbehörden den jeweiligen Thatbestand un¬
erschütterlich und in alle Ewigkeit sich so vorstellen, wie die pflichteidliche
Aussage ihres Beamten ihn darstellt, der Richter aber den Werth aller
Beweismittel nach seiner freien Ueberzeugung abwägt und danach urtheilt.
Es liegt nicht die geringste Veranlassung vor. im Jahre 1875 über die
Fähigkeit und Gerechtigkeit des deutschen Nichterstandes geringer zu denken,
als 1870. Darum sollte jede von der Novelle versuchte Aenderung vom
Reichstag versagt werden, welche die Freiheit der richterlichen Thätigkeit und
Ueberzeugung im Vergleich zum bisherigen Strafrecht verkümmert. Dahin
gehören die Bestimmungen der Novelle, welche höhere Strafminima vorschlagen.
Dahin gehört auch der unglückselige Vorschlag, neue Arten und Grade des
Versuchs einzuführen. Schon die Motive zum Strafgesetzbuch von 1870 ver¬
warfen eine solche als unwissenschaftlich und thöricht. Nun sollen gar die
Versuchsstadien des seligen. Revidirten Kgl. Sächsischen Strafgesetzbuchs aus
ihrer verdienten Grabesruhe wieder hervorgeholt und in Reichsdienst einge¬
stellt werden. jene berufene Scala von Vorbereitungs- und Versuchshand-
lungen, nach welcher jede menschliche Regung unter das Strafgesetzbuch zu
bringen war.
Eine andere Kategorie politischer Neuerungen der Novelle werden mit
Recht alle Parteien des Reichstags fast einstimmig abweisen. Es sind dieß
die berufenen Kautschukparagraphen, welche bereits im Entwürfe des Reichs-
Preßgesetzes enthalten waren und damals einstimmig vom Reichstag zurück¬
gewiesen wurden. Es war eine sehr unerschrockene Leistung, daß dieselben
Paragraphen dem Reichstag noch einmal beim jetzigen Anlaß vorgelegt wurden,
fast nur mit der einzigen Begründung, daß diese Bestimmungen im Reichs¬
preßgesetzentwurf enthalten gewesen seien und daß zu ihrer „Rechtfertigung
auf die Motive jenes Entwurfs und auf die von dem Preuß. Bevollmächtigten
zum Bundesrathe in der Reichstagssitzung abgegebene Erklärung Bezug zu
nehmen sei". Der Reichstag hat die allein zutreffende Antwort auf diese
Behandlung 'gegeben, als er beschloß, diese Paragraphen kurzer Hand im
Plenum zu erledigen, d. h. sie abermals zurückzuweisen. Denn auch im conser-
vativen Lager finden sich wenige Abgeordnete, welche den wichtigsten öffent¬
lichen Rechten mit der Unbefangenheit gegenüberstehen, die der Verfasser der
Novelle in seinen Motiven an den Tag legt. Auch unter den Conservativen
ist die germanische Anschauung weit verbreitet, daß das Strafgesetz nicht zu
Gunsten einer Partei gefärbt werden dürfe, und daß es wohl ein Hauptgrund
des Verfalls der romanischen Race sei, das öffentliche Recht und die Straf¬
justiz seit Jahrhunderten in die Livree der herrschenden Partei eingekleidet
zu haben. Es ist gewiß auch kein Zufall, daß die Motive die Autoritäten
für ihre criminalpolitischen Vorschläge auf diesem Gebiete nur finden in den
Strafgesetzbüchern romanischer Nationen (Frankreichs — noch dazu in einem
Ausnahmegesetz von 1835 — und Italiens) und in dem österreichischen Con-
cordats- und Reactionsstrafgesetz von 1862. Bei dieser Einmüthigkeit des
Urtheils der Volksvertretung über diese politischen Paragraphen des Entwurfs,
kann hier davon abgesehen werden nachzuweisen, wie wenig der Thatbestand,
den die Novelle an Stelle der betreffenden Paragraphen des heutigen deutschen
Strafgesetzbuchs stellen will, auch nur den billigsten Ansprüchen an feste, be¬
grenzte und auf Thatsachen zurückzuführende Begriffsbestimmungen genügt,
wie bei Annahme und Gesetzeskraft der betreffenden Bestimmungen der Richter¬
stand vor die Alternative gestellt würde, in allen Fällen, wo er die Freiheit
der Wissenschaft, der Forschung, formell unsträflicher Meinungsäußerung wahren
zu müssen glaubt, gegen den Wortlaut des Strafgesetzbuchs freizusprechen, oder
eine Judicatur von unerträglicher Härte und unvergleichlicher Enge des Ge¬
sichtskreises zu üben.
So sehr es nun zu beklagen ist. daß der Reichstag und die öffentliche
Discussion nicht überhaupt mit diesen reaktionären Experimenten verschont
wurde, so wenig wird andrerseits irgend ein billig Denkender verkennen, daß die
Novelle in einigen bereits oben hervorgehobenen politischen Paragraphen, haupt¬
sächlich aber in ihren rein criminalrechtlichen Vorschlägen Neuerungen enthält,
die fast sämmtlich in der That fühlbaren Nothständen unsrer Strafrechtspflege
abhelfen und daher so schnell wie möglich mit Gesetzeskraft versehen werden
sollten. Dahin gehört die Erweiterung der Anwendbarkeit des deutschen
Strafgesetzbuchs auf diejenigen Kategorien im Auslande begangener Straf¬
thaten, welche der neue § 4 und 5 präcisirt (Ueberfall der Brigg Gustav durch
die Karlisten). Ebendahin gehört die weise Bestimmung des neuen § 95,
daß Kinder unter zwölf Jahren zwar wie bisher wegen Strafthaten nicht
verfolgt, wohl aber gegen dieselben nach Maßgabe der landesgesetzlichen Bor¬
schriften, die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln ge¬
troffen werden können, insbesondere von den Polizei, oder Vormundschafts¬
behörden ihre Unterbringung in einer Erziehungs - oder Besserungsanstalt
verfügt werden kann. Denn schon die Strafthat selbst, die von Kindern ver¬
übt wird, ist meist eine Folge und ein Beweis mangelhafter Erziehung, un¬
genügender häuslicher Zucht. Noch häufiger aber ist sie leider eine Folge
von Anstiftung oder Aufmunterung zur Sünde Seiten derjenigen, die den
Wandel des Kindes rein halten, es zum Guten anleiten sollten, gewissenloser
Eltern. Erzieher. Pfleger u. s. w.. wenn diesen Personen gegenüber der Richter
auch leider selten in der Lage sein wird, den Nachweis strafbarer Anstiftung,
Mitthäterschaft oder Begünstigung zu führen. Es ist daher nur in hohem
Grade zu billigen, wenn das Gesetz den Versuch macht, diese Kinder durch
Unterbringung in' eine ordentliche Zucht, durch Nachholung und Vervoll¬
kommnung der vernachlässigten Erziehung und Bildung zu bessern und von
dem Wege des Verbrechens abzubringen, auf dem sie meist unrettbar weiter
taumeln, wenn sie jenen schlimmen Einflüssen nicht entzogen werden, die ihre
Jugend vergiftet haben.
Als der beste und erfreulichste Vorschlag der Novelle sind aber die neuen
Bestimmungen über die Antragsvergehen und -Verbrechen zu begrüßen. Hiernach
soll die Zurücknahme eines Privat-Strafantrags fortan nur in den gesetzlich
besonders vorgesehenen Fällen und nur bis zur Verkündung eines auf Strafe
lautenden Erkenntnisses zulässig sein. Bisher durfte der Strafantragsberechtigte
fast bei allen Antragsdelicten den Strafantrag bis zur Verkündung eines aus
Strafe lautenden Erkenntnisses, bei Beleidigungen sogar bis zu dem Moment
noch zurückziehen, wo mit der Vollstreckung der Sendung begonnen werden
sollte. Die Folge war, daß von dem Moment der Strafanzeige an bis zur
Abfassung des Erkenntnisses in sehr vielen Fällen um den Preis der Rück¬
nahme des Strafantrags förmlich gefeilscht und gehandelt wurde, namentlich
bei den schwerern Antragsdelicten, wie Körperverletzung, Sittlichkeitsverbrechen,
Nöthtgung, Bedrohung u. s. w. Am widerlichsten waren solche vom Gesetz
privilegirte Erpressungsversuche, wenn sie bei Delicten zur Kenntniß des Ge¬
richts kamen, an deren Ahndung die verletzte öffentliche Rechtsordnung das
lebhafteste Interesse gehabt hätte, namentlich also bet schweren Körperletzungen,
Nothzucht, Unzucht mit Kindern u. s. w. Da kam es häufig vor, daß der
reiche Missethäter um seines Geldes willen frei ausging, ja daß wohl Vormün¬
der oder Eltern die gewaltsame Verletzung der Jungfräulichkeit heranwachsender
Mädchen nicht bestrafen ließen, nachdem ihnen ein „anständiges" Schweiggeld
oder ein solennes Mahl geboten worden. Angesichts solcher Erfahrungen
kann es auch nur gutgeheißen werden, wenn die Novelle nicht blos die
Wiederruflichkeit des Strafantrags bei Antragsvergehen auf einen kleinen
Kreis von Delicten und an das Proceßstadium bis zur Verkündung einer
Strafsentenz beschränkt, sondern die Befugniß der Privatklage bei allen Sttt-
lichkeitsverbrechen den Parteien gänzlich entzieht. Die Geheimhaltung der
Schmach, die eine Familie durch gewaltsame Entehrung u. s. w. erfahren,
läßt sich auch in anderer Weise wahren, als dadurch, daß man Sittlichkeits¬
verbrechen dem Privatstrafantrag unterstellt: durch strengste Wahrung des
Amtsgeheimnisses, auch Seiten der Geschworenen ze., durch strengsten Aus¬
schluß der Oeffentlichkeit gegen alle an der Verhandlung nicht unmittelbar
Betheiligte u. s. w. Und in jedem Falle ist das Maß von Unehre und Un¬
glück, das durch ein solches Verbrechen über eine Familie gekommen, ver¬
schwindend klein gegen die Schmach, daß die Ehre des Kindes mit Geld be¬
zahlt werden konnte.
Wenn die Novelle weiter auch die Befugniß zur Privatklage entziehen,
also Verfolgung Seiten der öffentlichen Anklage einführen will bei allen
Körperverletzungen, bei Bedrohung und Nöthigung, und bei Diebstählen, Unter¬
schlagungen und Betrügereien, welche vom Gesinde und Hauspersonal gegen
ihren Brodherren verübt werden, so geht die Novelle in allen diesen Bestim¬
mungen wohl zu weit. Von Körperverletzungen müssen die leichten unbedingt
dem Privatstrafantrag nach wie vor unterstellt bleiben. Ist die Grenze der
schweren oder leichten Verletzung namentlich in den ersten Wochen nach der
That zweifelhaft, so wird niemand den Staatsanwalt am Einschreiten hindern;
denn schon der Ausspruch der Sachverständigen, daß die Frage zweifelhaft
sei. berechtigt ihn zur Erhebung des Thatbestandes und zur Anklage. Ferner
mag man in diesem Falle den Strafantrag des Verletzten unwiderruflich
machen. Im ersten Schmerz und Unmuth wird ja fast stets Strasantrag
gestellt werden. Man mag ferner Fälle besonderer Rohheit des Angriffs
oder Gefährlichkeit der Waffe, vor allem Messeraffairen. Anwendung von
Schußwaffen, und heimtückischen Ueberfall, auch wenn dadurch keine
schwere Körperverletzung herbeigeführt wird, der Privatklage entziehen.
Aber nicht die leichten Körperverletzungen. Wie sollte auch mit der öffent¬
lichen Anklage die weise Compensationsberechtigung von Beleidigung und
Körperverletzung vereinbar sein, welche § 233 zuläßt und die Novelle nicht
anzutasten wagt?
Für die Beseitigung des Privatstrafantrags bei Bedrohung und Nöthi¬
gung führen die Motive die Wahrnehmung an. daß Viele sich aus Furcht
vor dem Thäter zur Strafanzeige nicht entschließen könnten. Dieses Argu¬
ment hat viel von den spannenden Romanscenen an sich, in denen der
Autor seine Helden umbringt, nachdem er ihre letzten einsamen Augenblicke
geschildert. Der Kritiker fragt da: von wem hat der Mann das erfahren?
Ist das Argument aber überhaupt praktisch begründet, dann spricht es gegen die
Antragsdelicte überhaupt und bei Bedrohung und Nöthigung am meisten gegen
die öffentliche Anklage. Denn das Maß von Furcht und Schweigen des Verletzten
wird durch Androhung öffentlicher Ahndung dieser Deliete nur erheblich zunehmen.
Die Privatklage bei Diebstahl, Unterschlagung und Betrug in Lehrver¬
hältnissen soll nach den Motiven beseitigt werden, weil das gemeine deutsche
Strafrecht diese Art von Antragsvergehen nicht kennt, das Gesinde zur Fa¬
milie der Herrschaft nicht mehr gehören wolle und viele dieser Vergehen be¬
sonders schwer seien. Darauf ist einfach zu erwidern, daß das gemeine
deutsche Strafrecht das Strafgesetzbuch für das deutsche Reich ist und nicht
jenes Sammelsurium von Pandektenstellen und Ueberbleibseln der Carolina,
welches in den Motiven dafür ausgegeben wird. Ferner: wenn die Dienst¬
boten und Hausangestellten sich nicht mehr als Hausgenossen betrachten wol¬
len, ist das ein Grund für den Gesetzgeber, die Lockerung dieser Verhältnisse
zu sanctioniren? Endlich, wenn schwere Fälle beim Hausdiebstähle u- s. w.
vorkommen, z. B. auch Einbruch, ist das ein Grund, den Privatantrag
auszuschließen? Liegt die ratio legis der jetzigen Bestimmung, wonach solche
Vergehen nur auf Antrag bestraft werden, denn in der Annahme, daß solche
schwere Fälle nicht denkbar seien? Läßt daß Gesetz nicht auch beim Nahrungs¬
mitteldiebstahl G 370.5) den Einbruch unbestraft, wenn nicht Strafantrag
Seiten des Verletzten gestellt wird? Was wir hier erwarteten, war nicht
eine Beseitigung der Privatklagbefugniß beim Hausdiebstahl u. s. w., sondern
die Anerkennung der Preußischen Judicatur über diese Paragraphen gegen¬
über derjenigen kleinerer Staaten, z. B. Sachsens. Die Preußische Judicatur
und Jurisprudenz (z. B. Oppenhoff und Meyer) entzieht der öffentlichen An¬
klage mit Recht alle Fälle von Diebstahl, Betrug und Unterschlagung,
welche von Personen gegen ihren Dienst verübt werden, „die sich in Lohn
oder Kost befinden". Denn das ist der Wortlaut des Gesetzes. In Preu¬
ßen wird daher auch z. B. die Unterschlagung von Commis nur auf An-
Grenb
trag bestraft. In Sachsen von Amtswegen. Die Motive gehen von einem
ganz einseitigen Standpunkt aus, indem sie nur an das Gesinde denken.
Wirkliche Einheit der Rechtsprechung durch authentische Interpretation der
betr. Paragraphen war auf diesem Gebiete nothwendiger, als willkürliche
Neuerung.
Die norddeutsche Allgemeine Zeitung meinte in einem ihrer Artikel über
die Strafgesetznovelle, es sei Zeit, daß man das deutsche Strafrecht nach an¬
deren Erfordernissen einrichte, als denjenigen, welche vertheidigende Rechts¬
anwälte an das Strafrecht stellen. Nun von dieser Seite ist die deutsche Ju¬
stizgesetzgebung noch sehr wenig belästigt worden und am wenigsten in dem
Sinne, den die gedachte Zeitung von deutschen Vertheidigern erwartet. Die
Anwälte, die im deutschen Juristentag vertreten sind, haben im Gegentheil
eine Reihe von Beschlüssen mit gefaßt, welche die Novelle acceptirt hat.
Vielmehr ist sehr zu beklagen, daß das Reichskanzleramt sich das Ma¬
terial der fünfjährigen Erfahrungen in der Strafrechtspflege nach dem
deutschen Strafrecht nur von den Staatsanwälten und Richtern hat liefern
lassen, nicht auch von den Rechtsanwälten, welche hierbei mindestens mit der¬
selben Unbefangenheit und Unparteilichkeit mitgewirkt haben, als die Ver¬
treter der öffentlichen Anklage. Die nothwendigen Aenderungen des
Strafgesetzbuchs, und zwar nicht etwa im Interesse der Vertheidigung, sondern
im Interesse der öffentlichen Ordnung, im Interesse der Rechtseinheit und
Wissenschaftlichkeit des deutschen Strafrechtes, würden dadurch einen viel grö¬
ßeren Umfang gewonnen haben, als durch die vorliegende Novelle. Denn die
Vertheidigung würde noch mehr wie die Staatsanwaltschaft in der Lage ge¬
wesen sein, die Lücken des Strafgesetzbuchs unbefangen anzudeuten. Wo ist
z. B. die Bestimmung zu finden, die den Engrossisten in Kellerwechseln straft,
der Tausende jährlich verdient, indem er werthlose Accepte und Giri's in den
Handel bringt, für 1 bis 2 Procente Vergütung für jedes Hundert, das im
Wechsel verschrieben steht? Die Opfer, die von ihm solche Wechsel kaufen
und sie weiter geben, wandern wegen Betrugs ins Gefängniß. Er selbst
geht straflos und stolz einher. Wo ist die Bestimmung, die jenes straflose
Mittelding zwischen Hehlern und Begünstigern mit dem Arme der Justiz
erfaßt, welches sich Commis oder Geschäftsführer eines Trödlers oder Pfand¬
verleihers titulirt. Der Mann kauft mit Bewußtsein jahraus, jahrein un¬
redlich erworbene Sachen. Aber er selbst hat keinen Vortheil durch den An¬
kauf, kann also auch nicht als Hehler bestraft werden. Und noch ferner liegt
ihm der Dolus des Begünstigers, dem Thäter die Früchte der Strafthat zu
sichern oder ihn der Verfolgung zu entziehen.
Selbst weltbekannte Mängel, schwerempfundene, vom Reichstag und selbst
von den Vertretern der Bundesregierungen anerkannte Verstöße gegen die
Rechtseinheit — die das deutsche Strafgesetz doch begründen sollte — welche die
bisherige Rechtsprechung offenbart hat, übergeht die Novelle mit Stillschwei¬
gen. Allerdings waren diese Punkte nicht von Staatsanwälten zur Sprache
gebracht. Hier nur ein Beispiel, Bereits zu Anfang des Jahres 1872 wies
der Verfasser dieses darauf hin, daß die Schlußbestimmung des § 70, die
wichtige Bestimmung über den Anfangspunkt der Verjährung rechtskräftig
erkannter Strafen, in Preußen einer ganz andern Auslegung begegne als in
andern deutschen Staaten. In Preußen kannte man bis zum Erlaß des
deutschen Strafgesetzbuchs die Verjährung von Strafen überhaupt nicht. Wie
nun das deutsche Strafrecht Geltung erlangte, dedueirte das Obertrtbunal zu
Berlin, daß Gesetze keine rückwirkende Kraft haben, und demnach in Preußen
alle rechtskräftig erkannten Strafen erst von der Geltung des deutschen Straf¬
gesetzbuchs ab verjähren, also vom 1. Januar 1871 ab, gleichviel ob sie 1870
oder 1840 erkannt wurden. Andere Staaten, wie z. B. Sachsen folgten mit
Recht dem Wortlaut des § 70 und dem Grundsatz, daß Reichsgesetze den Lan-
desgeseyen vorgehen, und sprachen gesetzlich aus, daß alle vor und nach dem
1. Januar 1871 erkannte Strafen vom Tage der Rechtskraft des Erkennt¬
nisses ab verjähren, was § 70 vorschreibt. Die Controverse konnte jeden
Augenblick praktisch zu dem Resultate führen, daß Preußen Verbrecher, die
vor rechtsverwährter Zeit verurtheilt waren, zu verhaften suchte, sobald sie
das preußische Gebiet betraten, Sachsen aber ihre Auslieferung verweigerte,
weil die Strafvollstreckung nach Sächsischer Auslegung des K 70 verjährt
war. Die Petitions-Commission und mit ihr der Reichstag erkannte im Früh¬
jahr 1872 das Bedürfniß einer einheitlichen Rechtsprechung in meinem Sinne
als ein dringliches an und der Vertreter des Reichskanzleramtes Dr. Friedberg
gab die offizielle Erklärung« ab, daß die Frage längstens bei Vorlegung einer
Strafgesetznovelle werde entschieden werden. Gleichwohl ist das auch im vor¬
liegenden Entwürfe nicht geschehen.
Diese und andere der angedeuteten Verbesserungen des gegenwärtigen
Strafrechts und der Novelle dürfen wohl vom Reichstag sicher erwartet
werden. Mit den Aenderungen und Adwniuügi'n, die in Vorstehendem vor¬
geschlagen wurden, dürfte die Novelle auch den Regierungen um so annehm¬
barer erscheinen, als darin die wichtigsten politischen Paragraphen, die der
Reichskanzler verlangte. Aufnahme finden würden.
Ich komme nun zur zweiten Frage: wie das Altkatholikengesetz in seiner
Anwendung auf diese Frage zu erklären sei?
Anscheinend liegt hier Alles ganz klar zu Gunsten der römischen Hier¬
archie und des Priestercölibats. nach dem einfachen Schlüsse: jede Gemeinschaft
hat das Recht, ihre Ordnungen zu machen, und wer zu der Gemeinschaft ge¬
hören will, hat sich der Ordnung zu unterwerfen. In welchem Verhältnisse
nun auch das Cölibatsgebot zum Glauben und zur Disciplin stehen möge,
es ist Gebot der katholischen Kirche, bezw. ihrer Repräsentation (eeolesia, re-
I>rae86reg.tiva) für die katholischen Geistlichen, wer katholischer Geistlicher
sein, seine Stelle und Einnahme als katholischer Geistlicher behalten will,
muß sich dem Cölibat unterwerfen, u. f. w., — wie diese Argumentation schon
oben vorgeführt ist.
Aber das scheint nur so, liegt aber in Wahrheit ganz anders.
Zuerst hatte und hat die römische Kirche, so fern man nicht das Recht
der Scheiterhaufen wieder proklamiren will, Gehorsam für ihre Disciplinar«
Verordnungen nur von ihren Gläubigen zu fordern, d. h. von solchen, die
noch zu ihr gehören, bezw. gehören wollen. Das gilt schon von jeder freien
Vereinigung, bei der man ein- und austreten kann, also bei Freiheit der
Zugehörigkeit. Aber bei der römisch-katholischen Kirche kommt nun, wie bei
jeder kirchlichen oder religiös-sittlichen Gemeinschaft hinzu, daß sie das Recht,
für ihre Disciplinar-Verordnungen Gehorsam zu fordern, nur so lange hat, so
lange ihre Gläubiger die Ueberzeugung haben, daß sie selbst, die römisch-
katholische Kirche, den rechten Glauben habe. Denn die Quelle der rechten
Disciplin ist und bleibt der rechte Glaube, für Substanz und Recht der Dis¬
ciplin. Ist nun aber der Glaube der römisch-katholischen Kirche durch die
Machinationen der Jesuiten verändert worden, ist das Papstthum (sammt den
Bischöfen) von dem rechten katholischen Glauben abgefallen, wie die Alt¬
katholiken annehmen und die Regierungen zugeben, so hört die Verflichtung
der Nltkatholiken, in ihren kirchlichen äußerem Einrichtungen der Disciplin
der römischen Kirche zu folgen, oder an ihnen festzuhalten, in dem Augen¬
blicke auf, wo nach Ansicht der Altkatholiken die römische Curie (sammt den
ihr anhängigen Bischöfen) den alten rechten katholischen Glauben verlassen
hat, und es erwacht positiv das unveräußerliche Recht der Altkatholiken, von
diesem Augenblicke an, ohne Gefährdung ihrer Ansprüche und Rechte dem
Staate gegenüber, ihre Disciplin oder ihre kirchlichen Einrichtungen nach ih¬
rem eigenen Ermessen zu machen, wie das die Neukatholiken d. h. die römi¬
schen, auch für sich in Anspruch nehmen.
Man verstehe uns richtig: das strengste Recht fordert, daß. wenn der
Staat den Altkatholiken ihren Antheil am Kirchengut xro i-aw gewährt, weil er
das der früheren katholischen Kirche, welche den Standpunkt der Altkatholiken
mit einschloß, gewährleistet, also auch der altkatholischen Ansicht gewährleistet
hat. — das strengste Recht fordert, sagen wir, daß der Staat nun auch das
Recht der Altkatholiken anerkennen muß, daß sie ihre Disciplin selbst ordnen,
ohne Verlust irgend eines Rechtes, also auch ohne Verlust des Rechtes, den
Cölibat der Priester aufzuheben.
Daß sie sich von Rom getrennt haben, ist durchaus kein Grund, ihnen dies
Recht zu verkümmern. Die Schuld daran fällt auf Rom, das sie ja hinaus¬
gestoßen, ercommunicirt hat. Wenn also ein Pfarrer dadurch, daß er die
Jnfallibilität nicht anerkennt, aus seiner Stellung vertrieben wird, also—
indem nach menschlichen Verhältnissen die Ansichten in der Gemeinde ver¬
schieden sind — keine Gemeinde mehr hat, so hat er ja nichts verbrochen,
und so hört ja sein Anspruch und Recht, nach seinem rechten katholischen
Glauben, auf die vom Staate ihm darauf hin gewährleistete Stellung mit
ihren Einkünften nicht auf, er wird nur frei von der Disciplin Roms,
und — darf das altchristliche Recht der Ehe für sich in Anspruch nehmen.
So steht es rechtlich.
Man hat nun gesagt, das Gesetz sei in der Voraussetzung gegeben wor¬
den, daß die Altkatholiken bei dem Glauben und den Ordnungen der römi¬
schen katholischen Kirche blieben. Das beruht ja aber eben nur auf Ver-
kennung der Wahrheit, 1) daß der wirkliche Kirchenglaube dadurch gar nicht
verletzt wird, weil der Cölibat gar nicht zum katholischen Glauben gehört, im
Gegentheil ihn, Wie oben gezeigt, verletzt; 2) daß gerade die Altkatholiken bei
dem alten wahren katholischen Glauben geblieben sind; 3) daß sie nun das
Recht haben, ihre disciplinarischen Ordnungen ebenso selbständig zu machen,
wie die Neukatholiken.
Wer das leugnet, der muß die Altkatholiken zwingen wollen, den er¬
zwungenen Cölibat auch dann noch beizubehalten, wenn etwa die römische
Papstkirche es in ihrem Interesse fände, diese sündhafte Einrichtung auf¬
zuheben.
Vor Allem und über Allem muß aber nun, ganz davon abgesehen, daß
der Wortlaut des Gesetzes in § 3. jeden Pfründeninhaber, welcher der
altkatholischen Gemeinschaft beitritt, in seinem Besitz schützt — ohne alle
Einschränkung —, als alleinige rechte Erklärung des Altkatholikengesetzes aus-
gesprochen werden, daß die Erhaltung der Mißbräuche der römischen Dis¬
ciplin und also auch des Cölibatszwanges nicht die Absicht der Gesetzgeber
gewesen ist und gar nicht gewesen sein kann. Die Gesetzgeber haben gar nicht
daran denken können, die Altkatholiken in einer Frage der Disciplin für
immer zu binden, überhaupt ihnen das Recht der Selbstbestimmung zu ver¬
kümmern, geschweige zu nehmen, das ihnen so gut, wie den Neukatholiken
gewährleistet ist, so lange sie die politische und sittliche Ordnung des Staates
nicht verletzen. Die Altkatholiken haben aber, sobald sie die Knechtschaft Roms
abwerfen, kein Interesse, die Majestät des Staates in Frage zu stellen, sowenig
als die (vernünftigen) Protestanten, und das wird doch niemand behaupten
wollen, daß der Staat Grund habe, die Altkatholiken zur Aufrechterhaltung
des Cölibats zu zwingen, etwa aus sittlichen Gründen, zum Wohle des Staates,
wie der Kirche? — !
Und dafür wird es nun allerdings von dem größten Gewichte, daß die
Altkatholiken bei der Berathung dieses Gesetzes sich diese Rechte ausdrücklich
gewahrt haben.
Denn s o hat der Abgeordnete Petri im preußischen Landtage in der
69. Sitzung mannhaft erklärt: „Wir lehnen nicht nur, wie der Vorredner
meint, die Beschlüsse des Vaticanums ab, sondern auch alles Dasjenige,
was in Folge des Papalsystems i^n die katholische Kirche hin¬
eingekommen ist. In dem vorliegenden Streite innerhalb der katholischen
Kirche handelt es sich lediglich um die rein factische Frage, ob das Vaticanum
ein legitimes Concil gewesen ist. Wir haben behauptet und in einer großen
Reihe von Schriften dargethan, daß das Vaticanum ein illegitimes gewesen
ist, und zwar illegitim durch seine Constituirung, seine mangelnde innere und
äußere Freiheit. Daß die Altkatholiken aber wohlberechtigte Mitglieder der
katholischen Kirche sind, hat die Regierung, haben alle deutschen Gerichtshöfe
anerkannt." ze. :c. —
Und so hat der Abgeordnete Windthorst (Bielefeld) eben so mannhaft
als von dem wahren christlich-katholischen Geiste getragen sich ausgesprochen:
„Dieselben Gründe, welche uns zur Opposition gegen das Va¬
ticanum veranlassen, nöthigen uns auch gegen das Tridenti-
num vorzugehen. Um dem Papste die Mehrheit in Trident zu sichern,
wurde eine große Menge unbärtiger Prälaten — das ist ja jetzt Regel ge¬
worden — zu Bischöfen ernannt, die der kaiserliche Rath Sulpicius*) mit
Dudelsäcken verglich, die erst mit Wind angefüllt werden müssen, ehe sie el-
nen Ton von sich geben können. Endlich hat uns der Abgeordnete für
Meppen gefragt, ob wir denn die Bischöfe, z. B. den von Limburg, als solche
anerkennten. Ich erwidere ihm: Heute sind die Bischöfe allerdings
in unseren Augen Ketzer, wir werden sie anerkennen, wenn sie wieder
vernünftige Menschen sein werden."
Der Landtag hat also recht gut gewußt, in welchem Geiste und Sinne
das Gesetz von den AltkathoMen begehrt und von ihm gewährt werde, und
das Gesetz sollte ihnen nimmermehr wehren, Reformen zu machen, sofern diese
nur die politische und sittliche Ordnung nicht gefährden, wie.es zweifellos
durch die Unfehlbarkeit geschieht.
Dazu kommt aber allerdings nun die sachliche Bedeutung der Frage selbst.
Der erzwungene Cölibat ist, wenn auch zuerst aus Mißverständniß wirklicher
Tugend und dem Wahne einer größeren Heiligkeit entstanden, allmälig mehr
und mehr als ein Hülfsmittel der Priesterherrschsucht, namentlich von den
römischen Bischöfen benutzt, und so sündhaft geworden, auch steigend zu
einer der ergiebigsten Quellen von Sünde in der abendländischen christlichen
Menschheit geworden, hat in Wahrheit seit der größeren Macht der römischen
Bischöfe auf der römisch-katholischen Menschheit gelastet, und so ist es nur
als Gottes Fügung anzusehen, daß die Jesuiten selbst in ihrer Verblendung
die Möglichkeit angebahnt haben, diesen Alp von der Christenheit abzuwerfen
und diese Quelle von Sünde zu verstopfen.
Es erscheint auch hier die sittliche Weltordnung, daß. der Mensch seine
unlauteren Zwecke verfolgt, in diesem Falle, Priesterherrschaft durch Vergötte¬
rung eines Menschen, daß aber durch Gottes Leitung Gutes daraus her¬
vorgeht.
Wenn es aber nun wahr ist, daß schon viele Jahrhunderte lang Millio¬
nen von Herzen unter dieser Sünde der Priesterschaft geseufzt haben, so darf
auch sicher erwartet werden, daß alle wirklich gebildeten und wirklich christlich
gesinnten Menschen dieser Frage mehr und mehr ihre Aufmerksamkeit zu¬
wenden werden.
Ganz mit Recht haben darum schon lange katholische Geistliche selbst
Schritte gethan, den Cölibat aufzuheben, in Schlesien 1826 bei der bischöf¬
lichen Behörde, in Süddeutschland bei den Regierungen und Kammern schon
1824. Leider haben einige Regierungen und Kammern noch 1830 ihre In¬
kompetenz erklärt, nur die badische Kammer hat die Regierung schon 1835
aufgefordert, angemessene Maßregeln zur Aufhebung zu ergreifen, freilich eben¬
falls ohne Erfolg.
Die Schuld an allen diesen verfahrenen Zuständen trägt der wenigstens
bis vor kurzem allgemeine Standpunkt der Regierungen, mit dem Papste als
einer gleichstehenden Macht zu verhandeln, während der allein richtige Stand-
Punkt der Regierungen der ist, daß der Staat durch seine Gesetze die Grenzen
bestimmt, innerhalb deren sich jede Religionsgesellschaft zu bewegen hat, damit
jede ihr Recht erhalte. Denn factisch hat sich — nach Menschenweise — die
Christengemeinde nicht nur in mehrere große Kirchen gespalten, sondern es stehen
noch viele andere größere und kleinere Religionsgemeinschaften neben den Haupt¬
kirchen, der Staat hat aber die Rechte aller zu schützen. Da:um hat auch der
Staat nach seinem unveräußerlichen Rechte der Selbsterhaltung das Recht,
einen Ausweis über die Lehre oder den Glauben zu fordern, um zu sehen,
wie weit Lehre und Glauben überhaupt zulässig seien, nach den sittlichen
Momenten, welche allein die festen Grundlagen des Staatslebens, wie jedes
Lebens, sind und bleiben. Denn Lehre und Glauben sind ihrer Natur nach
mehr subjectiv, während das sittliche Element sich durch die Erfahrung als
Wahrheit erweist. Das hindert nicht, anzuerkennen, daß der letzte Grund auch
des Sittlichen der religiöse Glaube ist (gegen die Verirrung, daß es Moral
gebe ohne religiösen Glauben, und daß man nur die Moral brauche, ohne
den religiösen Glauben). Aber der Glaube kann bewußt oder unbewußt zu
Zwecken der Selbstsucht gestaltet und gemißbraucht werden (Heuchelei und
Fanatismus), und hat darum wieder seinen Maßstab an den sittlichen Fol¬
gerungen, Folgen und dem sittlichen Handeln, nach dem Worte Christi: „an
ihren Werken sollt ihr sie erkennen."
So gewiß darum der Theorie nach die Kirche höher steht als der Staat,
insofern sie Grund und Zweck alles Lebens lehrt, und damit auch die letzten
idealen Gründe für alle Ordnungen des Lebens, so gewiß muß faktisch und
praktisch der Staat, sobald er selbst die aus dem wahren Christenglauben ab¬
fließenden sittlichen Ideen als maßgebend anerkennt, über der Kirche stehen, d. h.
wenn wirklich die Gesetze und Ordnungen beider Institute sich widersprechen, was
immer nur durch Schuld des einen Theils der Fall sein wird, und — inner¬
halb der christlichen Gemeinschaft, nachdem die heidnische Lebensanschauung
überwunden war — geschichtlich nur durch die Verweltltchung der Kirche
durch die Hierarchie eingetreten ist, — so müssen die angeblichen Rechte und
Gesetze der Kirche denen des Staates weichen. Denn die Vertreter der Kirche
sind nicht allein so gut sündige Menschen, wie alle anderen auch, sondern
gerade solche, welche als „Heilige Väter" ein göttliches Recht für sich in
Anspruch genommen haben, sind nach unwidersprechlichem Ausweis der Ge¬
schichte nichts weniger als „heilig", vielmehr die größten Scheusale gewesen.
Darum soll zwar die Kirche das Rechte lehren, aber die Gestaltung,
Ausführung und Ueberwachung der Ordnungen des Lebens muß der Staat
haben, damit nicht das Heilige von der menschlichen Selbstsucht zu ihrer Be¬
friedigung unter dem Deckmantel der Kirche gemißbraucht werde.
Wir wollen also damit auch den Regierungen den öffentlichen Vorwurf
machen, daß sie an allen den Verirrungen und Mißbräuchen, die unter dem
Scheine größerer Frömmigkeit durch die Gelübde der Armuth, des Gehorsams,
des Cölibats einen unnatürlichen Zwang über die natürlichen Rechte des
Menschen geübt haben und üben, einen großen Theil der Schuld tragen.
Namentlich gehört dahin der Zwang des sog. Gehorsams nach sog.
Gelübde, oder der Zwang, auch dann im Kloster zu bleiben, wenn die An¬
sicht des Opfers der christlich falschen Ansicht sich ändert. Wer weiß nicht,
wie vielfach irrig und unlauter die Motive sind, die zur Uebernahme solcher
Gelübde führen, im besten Falle unklare Schwärmerei, aber auch Verleitung
und Zwang. Es giebt kein christliches Gebot, welches den Willen eines
Menschen unbedingt — gegen sein natürliches Recht, welches der Staat an¬
erkennt — dem Willen anderer unterwürfe, und ist diese Vernichtung der
Rechte der Persönlichkeit darum nicht nur eine Sünde der Kirche, sondern
auch eine große, schwere Schuld des Staates, der die unveräußerlichen
Rechte seiner Angehörigen zu schützen hat.
Und dahin gehört nun auch die Frage über den erzwungenen Cölibat
der Priester, und ist darum zu hoffen, daß die Staatsregierungen mehr und
mehr ihre Pflicht erkennen werden.
Und wie die Verhältnisse jetzt liegen, wird sicher diese Frage mehr und
wehr das Interesse der Zeit erregen, und sammt den anderen damit zusammen¬
hängenden nicht wieder von der Tagesordnung verschwinden, bis die große
Frage, die durch die Unvorsichtigkeit der Jesuiten angeregt worden ist, ihre
Lösung erhalten hat.
Diese Frage betrifft aber nicht allein die Unfehlbarkeit des Papst¬
thu in s . die sich selbst richtet und damit auch das ganze Papstthum richtet, sondern
sie betrifft — man vergleiche die Erklärung der Altkatholiken im preußischen
Landtag, oben — nun auch die Unfehlbarkeit der Concilien. Denn
gerade durch die Behandlung der Cölibatsfrage hat das Tridentinum gezeigt, wie
sehr der Erzbischof von Fünfkirchen Dudith Recht hatte, als er an den Kaiser
Maximilian II. berichtete, daß viele Bischöfe „ungelehrte und alberne Köpfe".
„Masken, Puppen und Marionetten", „die von Rom am Drath gezogen und
bewegt wurden", „Dudelsacke, die erst von Rom „voll Wind" gemacht werden
mußten, ehe sie einen Ton und Schall von sich gaben" — gewesen seien,
daß „der heilige Geist mit dieser Versammlung nichts zu thun gehabt habe",
daß „der heilige Geist von Rom im Felleisen überschickt worden sei. und, wenn
die Flüsse ausgetreten waren, nicht nach Trident kommen konnte". :c. :c.
Es ist darum zu hoffen, daß nicht nur die vorzugsweise Gebildeten,
sondern auch die anderen Kreise der katholischen Gemeinschaft mehr und mehr
er euren werden, auf wie schwachen menschlichen Stützen die vermeinte Un-
fehlbarkeit der sog. „allgemeinen Concilien" und damit der römisch-
katholischen Papst-Kirche ruhe, und daß sie immermehr fähig werden, die
Ansichten derer zu prüfen, die nur in dem reinen Evangelio den Grund ihres
Glaubens finden, und daß so die Hoffnung immer mehr ihrer Erfüllung ent¬
gegen gehe, daß die getrennten christlichen Brüder sich verständigen und —
wieder vereinigen.
In diesem Sinne danken wir den Jesuiten für das Feuer, das sie ent¬
zündet haben. Nicht allein, daß die Sonne der Wahrheit sich durch ihre
Nebelgebilde nicht verdecken läßt, sondern diese mehr und mehr verscheuchen
wird, das Feuer, das sie angezündet, wird nicht allein die Geister erhitzen,
sondern auch erleuchten, und so das Morgenroth des Tages werden, an dem
die durch Rom getrennten christlichen Brüder sich als Jünger Christi wieder
die Hände reichen. Je mehr dies aber der Wunsch von Millionen guter
Menschen ist, um so wichtiger ist, vor Allem zu erkennen, daß was die
Kirchen trennt nicht göttliche Wahrheit, sondern menschlicher Wahn ist, vor
Allem das Papstthum, das nicht der Einheits -, sondern der Trennungs¬
punkt der Christenheit ist, während der vermeintliche Anspruch, Nachfolger
des Apostels Petrus als Bischofs in Rom zu sein. nur — eine Unwahrheit
ist, weil Petrus - für jeden Geschichtskundigen zweifellos — nie Bischof in
Rom gewesen ist.
Carbonari, d. h. Köhler, ist der Name einer geheimen politischen Gesell¬
schaft, die in der Geschichte des nach Einheit und Befreiung von der Fremd¬
herrschaft ringenden Italien eine nicht unbedeutende Rolle gespielt und auch
in Frankreich eine Zeit lang viele Anhänger gehabt hat.
Wie alle Geheimbünde beanspruchte auch dieser, für sehr alt zu gelten.
Starkgläubige ließen die Gesellschaft unter Philipp von Macedonien entstanden
sein. Andere begnügten sich mit der Fabel, daß sich zur Zeit des Papstes
Alexander des Dritten unter den Kohlenbrennern der deutschen Wälder ein
Verein zu gegenseitigem Schutze gegen Räuber und gewaltthätige Ritter ge¬
bildet habe und daß dieser Verein, mit dem die Rettung der sächsischen Prinzen
aus der Gewalt Kunz v. Kauffungen's in Verbindung gebracht wurde, der
Ursprung des Carbonarismus sei, indem er sich nach Italien ausge¬
breitet habe.
Etwas weniger unwahrscheinlich klingt folgende Ableitung, obwohl auch
sie mit verschiedenen Fabeln versetzt ist. Bor Alters bestand im französischen
Jura ein zunftartiger Bund der Holzhauer l^enäours), der sich „1s bon
evusiuaM", d. h. die Gesellschaft der guten Vettern nannte. Derselbe hatte
drei Grade: Lehrling, Gesell und Meister. Bei den Aufnahmen breitete man
ein weißes Taschentuch auf den Erdboden, auf das man ein Salzfaß, einen
Becher mit Wasser, eine brennende Kienfackel und ein Kruzifix stellte. Der
Aspirant mußte bei dem Salz und Wasser niederknieend schwören, die Ge¬
heimnisse des Bundes treu zu bewahren, worauf man ihm die Erkennungs¬
zeichen desselben und die Bedeutung der auf dem Tuche stehenden Gegenstände
mittheilte. Von letzteren sollte das Kreuz die Erlösung, das Salz die christ¬
lichen Tugenden, das Tischtuch das Tuch, in welchem die Todten bestattet
wurden. die Fackel endlich die Lichter darstellen, die an den Sterbebetten zu
brennen pflegten. Die Erkennungszeichen bestanden vorzüglich in folgendem
Zwiegespräch: „Woher kommst Du, Vetter von der Eiche?" — „Aus dem
Walde." — „Wo ist Dein Vater?" — „Erhebe Deine Augen gen Himmel."—
„Wo ist Deine Mutter?" — „Schlage Deine Augen zur Erde nieder." —
„Wie ehrst Du Deinen Vater?" — „Durch Huldigung und Ehrfurcht." —
„Was giebst Du Deiner Mutter?" — Während des Lebens meine Pflege,
später meinen Leib." — „Wenn ich Hülfe bedarf, was wirst Du mir geben?" —
„Ich will die Hälfte meines Tagesverdienstes und mein kümmerlich Brot mit
Dir theilen, Du sollst in meiner Hütte ausruhen und Dich an meinem Feuer
wärmen." Der Patron dieses Bundes war Sanct Theobald, als erster Pro¬
tektor galt König Franz der Erste von Frankreich.
Hierüber gingen unter den Carbonari folgende, wie man sehen wird, sehr
Wenig zueinander passende Sagen. 1. Theobald, aus einem Grafengeschlecht
der Champagne stammend, verließ, von Sehnsucht nach einsamem Leben ge¬
trieben, Rang und Reichthum, um mit seinem Freunde Gautier sich in einem
Walde des Schwabenlandes niederzulassen, wo die beiden Eremiten sich vom
Kohlenbrennen nährten. Sie machten später mehrere Pilgerfahrten nach be¬
rühmten heiligen Stätten und siedelten sich zuletzt bei Vicenza an. wo sie
endlich starben. Theobald wurde vom Papst Alexander dem Dritten heilig
gesprochen. 2. Unter der Königin Jsabella von Schottland — die mythisch
ist — herrschte große Tyrannei und allerlei Wirrsal. sodaß viele vornehme
Leute sich in die Wälder flüchteten. wo sie als Köhler lebten, zugleich aber
politische Zwecke verfolgten. Unter dem Vorwande. ihre Kohlen zu Markte
zu bringen, trafen sie in den Städten mit ihren Parteigenossen zusammen, um
ihnen ihre Pläne mitzutheilen. Sie erkannten einander an Zeichen, Griffen
und Worten und hatten eine Organisation, nach der sie sich in verschiedene
Grade sowie in Bezirke und Unterbezirke theilten, die nach ihrem Gewerbe
„Kohlenhandlungen" und „Köhlerhütten" hießen. Die Mitglieder nannten
sich „gute Vettern". Der Eremit Theobald schloß sich ihnen an und wurde
ihr Vorsteher. Nun begab sich's, daß eines Tages Franz der Erste, der König
von Frankreich, in seinen an Schottland grenzenden Wäldern (!) jagend, sich
von seinem Gefolge verirrte und, nachdem er lange vergebens den Rückweg
gesucht, auf eine von den Hütten der Köhler stieß. Er wurde von Theobald
gastfrei aufgenommen l! dieser starb 1066. Franz wurde 1494 geboren) und
schließlich in die Geheimnisse des Bundes eingeweiht. Nach Frankreich zurück¬
gekehrt, erklärte er sich zum Protector desselben. Der Ursprung dieser Sage
ist vielleicht in dem Schutze zu suchen, den Franz nach dem Vorgange Ludwig's
des Zwölften den nach der Dauphins geflüchteten Waldensern gewährte. Als
geschichtlich scheint sonst von beiden Fabeln nur festzustehen, daß der Bund
der Fendeurs des Jura sich allmälig nach Italien ausgebreitet, und dort
vielfach umgestaltet hat, bis er im zweiten Decennium, mit theilweiser Bei¬
behaltung der alten Formen, einen völlig neuen Inhalt bekam und zum poli¬
tischen Geheimbunde wurde.
Dieß geschah in der Zeit, wo die Franzosen über Neapel herrschten. Unter
Murat's Regiment flüchteten neapolitanische Patrioten, theils Republikaner theils
Anhänger des Königs Ferdinand, in die Waldschluchten der Abruzzen, und hier
mögen sie mit dem alten Köhlerverein zusammengetroffen sein und denselben um¬
gestaltet haben, indem man gewisse Riten von der Freimaurerei entlehnte.
Eine Zeit lang wurden die Carbonari von der Königin Caroline von Sici-
lien und ihrer Polizei begünstigt und benutzt. Später überwog das republi¬
kanische Element, das bald ganz zur Herrschaft im Bunde gelangte. Das
Haupt desselben war in den zwanziger Jahren Capobianco, ein ausgezeich¬
neter Redner. Ihren Zweck drückten die Carbonari durch den Ruf aus:
„Rache des durch den Wolf erdrückten Lammes!" die Grundlage ihrer Sym¬
bole war „Reinigung des Waldes von Wölfen", d. h. Kampf gegen die
Tyrannen, worunter nach der Wiedereinsetzung der von den Franzosen
vertriebenen Dynastien Italiens diese letzteren verstanden wurden. Diese
republikanischen Grundsätze wurden indeß nur in den höheren Graden mit¬
getheilt.
Eine Centralleitung des Bundes, der bald nach seiner Umbildung in
eine politische Gesellschaft 30,000 und später mehr als 700,000 Mitglieder
gezählt haben soll, unter denen sich namentlich viele Militärs und Geistliche
befanden, scheint nicht zu Stande gekommen zu sein. Die Vereine der ein¬
zelnen Orte aber standen nach den Provinzen mit einander in Verbindung.
Der Versammlungsort hieß «baraeea", Hütte, das Innere desselben „venäiw«,
Kohlenhandlung, die äußere Umgebung wurde als „Wald" bezeichnet, die
Gesammtheit sämmtlicher Hütten einer Provinz als „Republik". Eine solche
wurde von einer g-Ils. „venäita,", Oberhütte, regiert. Derartige Republiken
waren die von Hirpinien und von Daumen, die von West- und die von Ost-
lucanien (in der Basilicata). welche als bezeichnendes Motto den Vers Mon-
ti's adoptirte:
„Ug, tus, planta raZive- non pone
Ode su' ä' intrimts vorons;
si xasee ni tiesobe ruMaäe,
Na al savAue al merabra al re". ^)
Endlich gehört in diesen Zusammenhang noch, daß die Carbonari auch
religiöse Freiheit wollten, da es in ihren Statuten heißt: „Jeder Carbonaro
hat das natürliche unveräußerliche Recht, den Allmächtigen nach seiner eignen
Einsicht und Ueberzeugung zu verehren."
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen berichten wir über die Einzel¬
heiten. Die Loge oder Hütte soll nach dem Codex des Carbonarismus ein
hölzerner Raum in Gestalt einer Scheune sein, dessen Fußboden mit Ziegeln
gepflastert ist, und in welchem Bänke ohne Lehnen stehen. An dem der Thür
gegenüber befindlichen Ende soll ein dreibeiniger Block aufgestellt sein als
Tisch für den Stuhlmeister. Rechts und links davon sollen vor gleichgroßen
Blöcken der Redner und der Schreiber der Hütte Platz nehmen. Auf dem
Blocke des Stuhlmeisters liegen ein leinenes Tischtuch, Wasser, Salz, ein
Kreuz, Blätter, Zweige, Feuer, Erde, eine Krone von Weißdorn, eine Leiter,
ein Zwirnknäuel und drei Bänder: ein blaues, ein rothes und ein schwarzes.
In der Hütte hängen fünf transparente Dreiecke, von denen das eine, in der
Mitte befindlich, die Anfangsbuchstaben der Losung des zweiten Grades ent-
hält, während das zweite, links davon, das Wappen der betreffenden veuäita
zeigt und die drei andern, rechts angebracht, die Initialen der heiligen Worte
des ersten Grades leuchten lassen. Der Stuhlmeister und seine beiden Assi¬
stenten halten Aexte in den Händen. Die Mitglieder der höhern Stufen
fitzen an der Wand zur rechten Seite der Loge, die Lehrlinge ihnen gegenüber
auf der linken. Die sämmtlichen Mitglieder haben die Hüften mit einem
Stricke umgürtet.
Bei Aufnahmen in den Bund fand folgendes Ritual statt. Der Stuhl-
Geister sagt, nachdem er die Loge eröffnet hat: „Erster Gehülfe, wo wird
der erste Grad verliehen?" Die Antwort lautet: „In der Hütte eines guten
Vetters, im Verbände der Köhler." — „Wie wird derselbe verliehen?"
»Ein Tuch wird über einen Holzblock gedeckt, auf welchem die Basen aufge¬
stellt sind: erstens das Tuch selbst, dann Wasser. Feuer, Salz, das Kruzifix,
ein dürrer Zweig und ein grüner Zweig." Bei einer Aufnahme müssen min¬
destens drei gute Vettern zugegen sein, der Einführende, stets begleitet von
einem Meister, die draußen vor dem Orte bleiben, wo sich die Basen und
die guten Vettern befinden. Der Meister, welcher den Einführenden begleitet,
stampft dreimal mit dem Fuße und ruft: „Meister, gute Vettern, ich brauche
Hülfe." Die guten Vettern treten um den Holzblock, schlagen darauf mit
den Stricken, die sie um die Hüften tragen, und machen das Zeichen, indem
sie mit der rechten Hand von der linken Schulter nach ihrer rechten Seite
streichen. Einer von ihnen ruft: Ich habe die Stimme eines guten Vetters
gehört, der Hülfe braucht, vielleicht bringt er Holz, um den Meiler zu nähren."
Der Einführende wird nun hereingeführt. Der Stuhlmeister fragt ihn:
„Mein guter Vetter, wo kommst Du her?" Antwort des Einführenden:
„Aus dem Walde." — „Wo gehst Du hin?" — „In die Kammer der Ehre,
um meine Leidenschaften zu besiegen, meinen Willen zu unterwerfen und in
den Lehren der Köhler unterrichtet zu werden." — „Was hast Du aus dem
Walde mitgebracht?" — „Holz. Laub und Erde." — „Bringst Du noch et¬
was mit?" — „Ja. Glaube, Hoffnung und Liebe." — „Wer ist es. den
Du mitbringst?" — „Einen Menscken, der sich im Walde verirrt hat." —
„Was sucht er?" — „Eintritt in unsre Brüderschaft." — „So führe ihn
herein."
Der Neophyt wird nun hereingeholt. Der Stuhlmeister legt ihm ver¬
schiedene Fragen in Betreff seiner moralischen und religiösen Grundsätze vor
und heißt ihn dann, indem er das Kruzifix emporhält, ihm knieend folgen¬
den Eid nachsprechen: „Ich verspreche und verpflichte mich bei meiner Ehre,
niemals die Geheimnisse der guten Vettern zu enthüllen. nie auf die Tugend
ihrer Weiber oder Töchter einen Angriff zu machen und alle Hülfe, die in
meiner Macht steht, jedem guten Vetter zu gewähren, der dessen bedarf. So
wahr mir Gott helfe!"
Dieser Aufnahme in den Bund folgte sofort die in den ersten Grad des¬
selben durch Abhören des Carbonari-Katechismus. Der Stuhlmeister fragte
den Novizen: „Was bedeutet der Holzblock?" und jener antwortete: „Den
Himmel und die Rundheit der Erde." — Weitere Frage: „Und was hat
das Tischtuch zu bedeuten? Antwort: „Das, was sich verbirgt, wenn es
geboren ist." — „Und das Wasser?" — „Das, was zum Maschen und zur
Reinigung von der Erbsünde dient." — „Und das Feuer?" - „Es zeigt
uns unsre höchsten Pflichten." — „Das Salz?" — „Daß wir Christen sind."
„Das Kruzifix?" — „Es erinnert uns an unsre Erlösung." — „An was
gemahnt der Zwirnknäuel?" — „An die Mutter Gottes, die ihn spann." —
„Was bedeutet die Krone von Weißdorn?" — „Die Schmerzen und Kämpfe
der guten Vettern." — „Was ist der Meiler?" — „Die Schule der guten
Vettern." — „Was sagt uns der Baum mit den Wurzeln, die nach oben in
die Luft gekehrt sind?" — „Daß, wenn alle Bäume wie dieser wären, es der
Arbeit der guten Vettern nicht bedürfte."
Der Katechismus ist viel länger, aber es mag an diesen Proben genügen.
Sie zeigen hinreichend, wie viel man den Novizen zu Anfang wissen ließ oder
wie wenig. Die eigentliche Bedeutung der Symbole war eine andere, die
der Carbonaro erst in höheren Graden erfahren konnte und oft niemals er¬
fuhr. Doch verräth sich uns der wahre Inhalt derselben bei einigen der
„Basen" ohne viel Nachdenken. Das Feuer ist die heilige Flamme der Frei¬
heit, der Meiler das Bild der gemeinschaftlichen Arbeit am Werke der Car-
bonari, die Kohle enthält verborgenes Licht und latente Wärme, der Wald
stellt Italien vor, die Wildniß Dante's, erfüllt von Raubthieren, den frem¬
den Unterdrückern. Der Baum endlich, der auf dem Wipfel steht und die
Wurzeln in die Luft streckt, ist ein Gleichniß der Königreiche und Throne, die
man umstürzen will. Anspielungen auf Gegenstände und Persönlichkeiten der
christlichen Religion, auf Jesus z. B.. den „guten Vetter aller Menschen",
waren in den Katechismus nur aufgenommen, um der Sache eine gewisse
mystische Weihe zu geben; denn die Mehrzahl der Wissenden waren Frei¬
denker.
Im zweiten Grade nehmen diese Anspielungen einen breiteren Raum ein,
ja das Märtyrerthum Christi spielt hier die Hauptrolle, wodurch der Kate¬
chismus hier einen düsteren Charakter erhält, darauf berechnet, den Candidaten
Zu überraschen und zu erschrecken. Die im Vorigen angeführten Sinnbilder er¬
halten einen ganz andern Inhalt, sodaß Feinde des Bundes, die, nachdem sie durch
Verstellung bis zu diesem Grade gelangt sind, irre werden und dieSpur der Grund¬
idee des Carbonarismus verlieren. In der steten Bezugnahme auf das Leiden und
Sterben des „guten Vetters Jesu", die hier stattfindet, entdecken wir vorzüg¬
lich zwei Zwecke: einen wesentlich erziehenden, die Befreundung des Novizen
mit der Idee des Opfers, selbst des Lebens, und einen politischen, die Absicht.
Proselyten unter den Gläubigen. den zur Mystik Geneigter. den, wenn auch
Vorurtheilsvollen, doch im Grunde Guten, weil Jdealdenkenden und der Liebe
Fähigen, zu werben, deren es damals in Italien mehr gab als heutzutage.
Die Symbole auf dem Holzblöcke bedeuten hier alle etwas auf die Passion
Bezügliches. Der Meiler ist das heilige Grab, das Rascheln des dürren
Zweiges erinnert an die Geißelung des „guten Vetters, welcher der Gro߬
meister des Universums war". Der Candidat. gebunden von einem Beamten
der Vendtta zum andern geführt, repräsentirt Christum, während der Stuhl-
meister die Rolle des Pilatus spielt, sein erster Assistent Caiphas, sein zweiter
Herodes vorstellt. Der Novize wird zuletzt zur Kreuzigung verurtheilt, aber
begnadigt, indem er sich zu einem zweiten Eide versteht, in welchen er einwilligt,
im Falle einer Verrätherei von seiner Seite in Stücke gehauen und verbrannt
zu werden. Das wahre Geheimniß des Bundes erfährt er aber auch jetzt
noch nicht.
Erst der Grad des „großen Auserwählten" giebt dem Carbonaro Einsicht
in den Zweck der Gesellschaft, in die er eingetreten ist. Dieser Grad wird
nur mit großer Vorsicht, ganz im Geheimen und nur solchen Mitgliedern der
zwei vorhergehenden ertheilt, die sich durch Klugheit, Eifer, Muth und Er¬
gebenheit gegen die Bundesobern hervor gethan haben. Außerdem aber
müssen die Candttaten, die Einlaß in die Grotte der Aufnahmen finden wol¬
len, nach den Bestimmungen des Codex der Carbonari „treue Freunde der
Volksfreiheit und beredt sein, gegen tyrannische Regierungen zu kämpfen, welche
die verabscheuten Beherrscher des alten schönen Ausoniens sind." Die Zu¬
lassung wird durch Ballotirung entschieden. Drei schwarze Kugeln genügen,
um den Zutritt Wünschenden zurückzuweisen. Derselbe muß dreiunddreißig
Jahre und drei Monate alt sein wie Christus, als er starb. Sonst spielen
hier Beziehungen auf religiöse Vorstellungen nicht mit. Das Drama der
Ausnahme ist vielmehr rein politischer Natur. Die Feierlichkeit findet an
einem abgelegnen und geheimgehaltnen Orte statt, den nur die kennen, welche
bereits in den Grad der „großen Auserwählten" aufgenommen sind. Die
Loge ist dreieckig und am östlichen Ende abgestumpft. Der Großmeister der
Auserwählten sitzt auf einem Throne. Zwei Wachen, die man nach der Ge¬
stalt ihrer Schwerter „Flammen" nennt, behüten den Eingang. Die beiden
Gehülfen des Stuhlmeisters heißen der eine der Mond, der andere die Sonne.
Drei Lampen, die ihrer Form nach Sonne, Mond und Sterne vorstellen,
hängen, je eine, in den drei Ecken der Grotte. Der Katechismus enthüllt
hier den Candidaten, daß der Zweck der Genossenschaft ein politischer ist, daß
dieselbe den Sturz aller Tyrannen erstrebt, und daß die Zeit der Befreiung
aller Völker nahe ist. Jedem hervorragenden Mitgliede des Bundes werden
seine Stellung und seine Pflichten bei dem zukünftigen Zusammenstoß mit
der öffentlichen Gewalt zugetheilt, und die Ceremonie schließt damit, daß alle
Anwesenden niederknien und sich ihre Degen auf die Brust setzen, während
der große Auserwählte die folgende Eidesformel ausspricht: „Ich, ein freier
Bürger Ausonias, schwöre vor dem Großmeister des Universums und dem
großen auserwählten guten Vetter lJesus), mein ganzes Leben dem Siege der
Grundsätze der Freiheit, der Gleichen und des Fortschritts zu weihen, welche
die Seele aller geheimen und öffentlichen Acte des Carbonarismus sind. Ich
verspreche, daß ich, wenn es unmöglich sein sollte, die Herrschaft der Freiheit
ohne Kampf aufzurichten, bis zum Tode kämpfen will. Für den Fall, daß
ich mich meinem Eide ungetreu erweisen sollte, willige ich ein, daß meine guten
Vettern, die großen Auserwählten, mich erschlagen, mich nackt an das Kreuz
in einer Loge schlagen, nachdem sie mich mit Dornen gekrönt haben, mir den
Leib aufreißen, und mir Herz und Eingeweide herausnehmen, um sie in alle
Winde zu zerstreuen. Das sind unsre Bedingungen. SchwörtI" Die guten
Vettern erwidern: „Wir schwören!" Das klingt ziemlich furchtbar und sieht
daneben etwas theatralisch aus. Es wird aber seine Wirkung nicht verfehlt
haben, zumal in der spätern Zeit nicht, wo man wußte, daß gebrochne Eide
vom Bunde in der angegebnen Weise gerochen worden waren — eine That¬
sache, die wir für erwiesen halten dürfen.
Der höchste Grad des Carbonarismus war der des „Großmeisters der
großen Auserwählten", zu dem nur solche gelangten, die Proben ungewöhn¬
licher Intelligenz und Entschlossenheit abgelegt hatten. Die Aufnahme in
denselben vollzog sich unter folgenden Ceremonien. Nachdem sich die guten
Vettern in der Loge versammelt haben, wird der Candidat mit verbundenen
Augen hereingeführt. Zwei Mitglieder, welche die Schächer vorstellen, schlep¬
pen Kreuze herzu, welche fest in den Boden gerammt werden. Einer der an¬
geblichen Schächer wird dann als Verräther der guten Sache bezeichnet und
verurthetlc, am Kreuze zu sterben. Er ergiebt sich in sein Schicksal als in
ein wohlverdientes und wird mit seidnen Stricken an das Kreuz befestigt,
worauf er, um den noch immer mit verbundenen Augen dastehenden Candi-
daten zu schrecken, lautes Gestöhn ausstößt. Der Großmeister verurtheilt so¬
dann den andern Schächer zu demselben Loose, der aber, als der unbußfertige,
mit Drohungen stirbt, indem er ausruft: „Ich werde mein Schicksal erdul¬
den, aber indem ich Euch verfluche und mich mit dem Gedanken tröste, daß
ich gerächt werde, und daß Fremdlinge Euch ausrotten werden bis zum letzten
Carbonaro. Wisset, daß ich Euern Schlupfwinkel den Führern der feindlichen
Armee verrathen habe, und daß Ihr binnen Kurzem in ihre Hände fallen
werdet. Thut mit mir, was Euch beliebt." Der Großmeister wendet sich
hierauf zu dem Candidaten, um ihn zu benachrichtigen, daß er gleichfalls
an das Kreuz befestigt werden müsse, um hier an seinem Körper die Zeichen
zu empfangen, an denen die Mitglieder dieses höchsten Grades sich erkennen,
den Eid zu leisten und dann herabzusteigen, das Licht zu empfangen und mit
den Jnsignien des Großmeisters der großen Auserwählten bekleidet zu werden.
Der Candidat wird darauf an das Kreuz gebunden und mit einer Nadel ge¬
ritzt, dreimal auf den rechten, siebenmal auf den linken Arm und wieder
dreimal unter die linke Brustwarze. Die Vetter umstehen dabei das in der
Mitte der Höhle aufgerichrete Kreuz, richten, während dem Candidaten die
Binde von den Augen genommen wird, ihre Degen und Dolche auf seine
Brust und bedrohen ihn mit dem schrecklichsten Tode, falls er Verrath übe
Sie beobachten zugleich sein Benehmen, um zu sehen, ob er irgendwelche
Furcht zeigt. Darauf werden sieben Toaste ihm zu Ehren getrunken, und
der Großmeister erklärt die wahre Bedeutung der Symbole, die nicht gedruckt,
sondern nur aufgeschrieben werden darf. Er schließt seine Rede damit, daß
er den baldigen Triumph der eingeleiteten Revolution nicht nur auf der
Halbinsel, sondern soweit die italienische Zunge klinge, voraussagt. Indem
er ausruft: „Sehr bald werden die Völker, müde der Tyrannenherrschaft,
ihren Sieg über die Bedrücker feiern. Sehr bald —" Hier schreit ihm der
unbußfertige Schacher zu: „Sehr bald werdet Ihr alle untergehen!" und un¬
mittelbar nachher hört man draußen vor der Grotte Getümmel und Waffen¬
geklirr. Einer der Wächter an der Thür meldet, daß man die Thür einren-
nen will, und sogleich folgt ein Ansturm gegen dieselbe. Die guten Vettern
stürzen nach ihr hin, der Lärm wird lauter, man vernimmt die Stimmen
österreichischer Soldaten, die Carbonari flüchten, von der Ueberzahl über¬
wältigt, nach rückwärts, sagen ein paar ermuthigende Worte zu dem Candi-
daten am Kreuze und verschwinden durch eine Fallthür im Fußboden. Vettern
in der Uniform der verhaßten Tedeschi dringen herein, wundern sich über das
Verschwinden der Carbonari und entdecken endlich die Gekreuzigten. Eben
machen sie sich bereit, sie zu erschießen, als plötzlich eine Menge von Kugeln
in die Höhle fliegen. Die Soldaten fallen wie vom Blitze getroffen nieder,
und die guten Vettern stürzen durch eine Anzahl Seitenthüren, die sich sofort
wieder hinter ihnen schließen, wieder in die Höhle, indem sie rufen: „Sieg!
Tod der Tyrannei! Lange lebe die Republik Ausonien! Lange lebe die Frei¬
heit! Lange lebe die von den tapferen Carbonari aufgerichtete Herrschaft!"
Sofort werden die scheinbar todten Soldaten und die Schächer hinausgeschafft.
Man hilft dem Candidaten von seinem Kreuze herunter, und der Großmeister
verleiht ihm nun, indem er sieben Schläge mit seiner Axt thut, den unter
so viel seltsamen Ereignissen erworbenen Grad.
Wie sich die Auguren angesehen haben mögen, wenn sie das zum zweiten
oder dritten Male mitmachten! In der That, eine unglaublich abgeschmackte
Komödie. Aber nicht wenige geheime Gesellschaften, namenrlich die amerika¬
nischen, trieben und treiben bei ihren Aufnahmen ähnliche Kindereien, und
wenn die Carbonari es am schlimmsten machten, so wissen wir, daß die Italie¬
ner geborne Komödianten sind.
Um den raschen Gang der Erzählung nicht zu unterbrechen, haben wir
im Vorigen die Erklärung der Symbole, die in diesem höchsten Grade der Car¬
bonari gegeben wurde, ausgelassen und bis hierher aufgehoben. Man wird
sehen, daß es klug war, sie nicht drucken zu lassen.
„Das Kreuz" sagt unsre Quelle, „dient zur Kreuzigung des Tyrannen,
der uns verfolgt. Die Dornenkrone soll sein Haupt durchbohren. Der
Zwirn deutet auf den Strick hin, der ihn an den Galgen hängen soll, die
Leiter wird ihm hinaufsteigen helfen. Die Blätter sind Nägel, die seine Hände
und Füße durchbohren werden. Die Spitzhacke wird in seine Brust eindringen
und sein unreines Blut vergießen. Die Axt wird seinen Kopf vom Körper
trennen. Das Salz wird von seinem Kopfe die Verwesung fern halten, da¬
mit er als ein Denkmal ewiger Schande der Despoten erhalten bleibe. Die
Stange ist da zum Aufstecken desselben, der Meiler wird seinen Körper ver¬
brennen, die Schaufel seine Asche in alle Winde zerstreuen. Die Hütte soll
zur Vorbereitung neuer Qualen für den Tyrannen, bevor er getödtet wird,
dienen. (Eine wahrer Henker- und Folterkammerphantasie, aber wörtlich den
Acten der später gegen die Carbonaria eingeleiteten Untersuchung entnommen.)
Das Wasser wird uns von dem schändlichen Blute reinigen, das wir ver¬
gossen haben werden, die Leinwand wird unsre Flecken wegwischen. Der
Wald endlich ist der Ort, wo die guten Vettern arbeiten, um ein so wich¬
tiges Ergebniß zu erreichen."
Nachdem der Kandidat in den höchsten Grad aufgenommen war, traten
andere gute Vettern in die Grotte und verkündeten den Sieg der Carbonari
und die Errichtung der Republik Ausonia, worauf die Loge geschlossen wurde.
Die Mitglieder trugen alle Ordensnamen, die in ein Buch eingetragen wur¬
den, während ein zweites ihre bürgerlichen Namen enthielt. Beide Bücher
wurden gesondert aufbewahrt, sodaß die Polizei, wenn sie das eine fand,
keinen Gebrauch zur Identificirung der Verschwörer machen konnte. Die hö-
heren Beamten wurden.,Lichter". gewisse zu den gefährlichsten Unternehmungen
reservirte Mitglieder des Bundes „die Sturmcolonne" genannt, wogegen man
die, welche wegen Mangel an Muth und Einsicht nicht über den ersten Grad
befördert wurden, als „8es,bon6", d. h. Halrmachenve bezeichnete. Wie die
Freimaurer hatten die Carbonari ihre besondere Zeitrechnung, die von Franz
dem Ersten an datirte, auf welchen auch bei Gastmählern des Bundes das
erste Glas geleert wurde.
Das Ritual und die Ceremonien, die wir im Vorstehenden mitgetheilt
haben, waren nicht in allen Provinzen der Republiken der Carbonari völlig
dieselben, aber der Geist, den sie athmen, beherrschte den Bund allenthalben,
und das politische Ziel war bei allen Hütten und Oberhütten im Wesentlichen
das nämliche. Dasselbe spricht sich deutlich in dem folgenden Manifeste des
Bundes aus:
„Italien, welchem neue Zeiten einen neuen wohlklingenden und reinen Namen
geben werden, Ausonia muß frei werden von den drei Meeren, die es umgeben,
bis zum höchsten Gipfel der Alpen. Das Gebiet der Republik soll dann in ein¬
undzwanzig Provinzen getheilt werden, von denen jede einen Vertreter in
die Nationalversammlung senden soll. Jede Provinz bekommt ihren beson¬
dern Landtag. Alle Bürger, reich oder arm, können sich um alle öffentlichen
Aemter bewerben. Die Art, wie die Richter zu wählen sind, wird genau fest¬
gestellt. Zwei Könige, jeder auf einundzwanzig Jahre gewählt, ein Laub¬
könig und Seekönig, werden von der souveränen Nationalversammlung ge¬
kürt. Alle ausonischen Bürger sind zum Kriegsdienste verpflichtet. Alle Fe¬
stungen, soweit sie nicht zum Schutze des Landes gegen den Fremden dienen,
sollen von Grund aus geschleift werden. Neue Häfen sollen an der Küste er¬
richtet und die Kriegsflotte soll vermehrt werden. Das Christenthum soll
die Staatsreligion, daneben aber jeder andere Glaube geduldet sein. Das
Cardinalcollegium darf in der Republik, so lange der während der Veröf¬
fentlichung dieser Verfassung regierende Papst lebt, fortbestehen, nach dessen
Tode aber wird es abgeschafft. Erbliche Titel und feudale Rechte werden
beseitigt. Die Hospitäler. die andern Wohlthätigskeitsanstalten, die Hoch¬
schulen, Lyceen, Primär- und Mittelschulen sollen stark vermehrt und an
passende Orte verlegt werden. Die Todesstrafe wird fortan nur noch an
Mördern vollstreckt, alle andern Strafen werden künftig durch Deportation
nach einer der Inseln der Republik ersetzt. Klösterliche Einrichtungen bleiben
erhalten, aber kein Mann darf vor dem fünfundvierzigsten Jahre Mönch,
kein Weib vor dem vierzigsten Jahre Nonne werden, und auch wenn sie ihre
Gelübde abgelegt haben, können sie in die Welt und ihre Familien zurück¬
treten. Das Betteln ist nicht gestattet, das Land wird Arbeit für den dazu
fähigen Armen und Hülfe für die dazu nicht Fähigen finden. Die Gräber
großer Männer werden an die Landstrecken verlegt, die Ehre einer Bildsäule
wird von der souveränen Nationalversammlung verliehen. Der verfassungs¬
mäßige Vertrag kann alle einundzwanzig Jahre revidirt werden.
Ein anderer, von dem obigen sehr verschiedener Verfassungsplan wurde 1813
von den Carbonari der englischen Regierung vorgelegt. Es heißt darin:
„Italien soll frei und unabhängig sein. Seine Grenzen sollen die drei Meere
und die Alpen sein. Corsika, Sardinien, die sieben Inseln und die Eilande
längs der Küste des Mittelmeeres. des Adriatischen und Ionischen Meeres
sollen einen unabtrennbaren Theil des Reichs bilden. Dessen Hauptstadt wird
Rom sein. . . Sobald die Franzosen die Halbinsel geräumt haben werden,
soll der neue Kaiser aus den regierenden Familien von Neapel, Piemont oder
England ausgewählt werden. Jllyrien soll ein Königreich für sich bilden und
dem Könige von Neapel als Entschädigung für Sieilien gegeben werden."
Das außerordentlich rasche Wachsthum des Carbonarismus im Neapolt-
dänischen beunruhigte Murat, dessen Befürchtungen sich steigerten, als der
Staatsrath Dandolo ihm schrieb: „Sire, der Carbonarismus verbreitet sich
in Italien, befreien Sie Ihr Königreich, wo möglich, davon; denn die Secte
ist eine Feindin der Throne." Andrerseits rieth ihm sein Polizeiminister
Maghella, sich offen gegen Napoleon zu erklären, die Unabhängigkeit Ita¬
liens zu verkünden und zu diesem Zwecke die Carbonari zu begünstigen. Die
von ihm ergriffenen Maßregeln vermehrten indeß nur die Thätigkeit des Bun¬
des und die Hoffnungen der vertriebenen Bourbonen, die im benachbarten Sici-
lien jede Wendung beobachteten, welche ihre Rückkehr beschleunigen konnte.
Murat verbot und verfolgte die Carbonari, wogegen dieselben von den Bour¬
bonen und England protegirt und befördert wurden. Die Emissäre, die nach
Palermo gesandt worden waren, kamen mit einem Jnsurrectionsplane zurück,
der von den Carbonari in Calabrien und den Abruzzen ausgeführt wurde.
Murat schickte den General Marsch gegen die Aufständischen, und es gelang
demselben, eine Anzahl der Führer gefangen zu nehmen, die darauf erschossen
wurden. Die Empörung dauerte dann noch einige Wochen fort, aber die
Königin Karoline Murat, damals Regentin für ihren abwesenden Gemahl,
wußte sie schließlich durch energisches Einschreiten zu dämpfen.
Um diese Zeit verursachten Meinungsverschiedenheiten innerhalb der
Secte einen Riß. Einige leitende Persönlichkeiten, welche die Unmöglichkeit
einsahen, eine so zahlreiche und weitverbreitete Genossenschaft zu regieren,
entwarfen den Plan einer Reform und führten denselben in der Stille so
schnell als möglich aus. Dabei wurden viele Mitglieder ausgestoßen, die
sich nun mit der inzwischen zu Palermo entstandenen Gesellschaft der
„Cat derart", d. h. Kesselschmiede, vereinigten, welche zwar ebenfalls die
Befreiung Italiens und zunächst Neapels von der Fremdherrschaft erstrebte,
aber theils durch den Groll jener Ausgestoßnen, theils durch den Umstand,
daß zu ihr viele der bigotten und absolutistischen Sanfedisten von 1799 ge¬
hörten , trotzdem bald zu einer sehr eifrigen Bekämpferin der Carbonari wer¬
den sollre. Murat entschloß sich endlich, sich ins Einvernehmen mit den Car¬
bonari zu setzen, die ihm durch ihre Zahl imponirten, und dieselben zu unter¬
stützen. Aber es war zu spät. Sie hatten kein Zutrauen zu ihm, auch
kannten sie seine verzweifelte Lage, und so ließen sie ihn fallen.
„?1uetUÄt N6L Mörgitur!" Welch' ungeheure Stürme sind im Laufe der
Zeiten über diese zweitausendjährige Stadt dahingebraust! Aber immer von
Neuem hat sie sich aufgerichtet, als sei sie nur kräftiger und lebensfreudiger
geworden. Der letzte Sturm lebt uns in frischer Erinnerung. In jenen
harten Wintermonden des Jahres 1870, da die ganze Kraft unserer Heere auf
die Bezwingung der Riesenfeste gerichtet war. da hat in Deuschland sich so
manche Faust vor Zorn darüber geballt, daß man dies übermüthige Paris
mit so sichtlicher Schonung behandle. Und doch, als später im Mai, während
wir uns des glücklich errungenen Friedens freuten, die entsetzliche Kunde
kam von der namenlosen Verwüstung, mit welcher Frankreichs eigne Kinder
ihre glänzende Hauptstadt heimgesucht, wer unter uns wäre nicht bei dieser
Schreckensbotschaft von aufrichtigstem Bedauern bewegt worden! Es schien,
als sei die stolze Weltstadt im innersten Lebensnerv getroffen. Und heute —
wer merkt ihr noch an. daß sie soeben erst am Rande des Untergangs ge¬
schwebt! Wohl liegen die Tuilerien noch in Trümmern, wohl ist. wo noch
vor wenig Jahren eine der imposantesten Renaissancebauten der Welt, das
Stadthaus, sich erhob, heute nur eine leere Stätte, wohl tragen die Villen-
städte an den reizenden Bergabhängen im Westen noch zahlreiche Spuren der
wilden Kriegsfurie und im Gespräch taucht ab und zu eine Erinnerung aus
einer der beiden Belagerungen auf, aber was will das Alles besagen gegen
dies gewaltige, frisch und fröhlich pulsirende Leben, das sich in seligem Ver¬
gessen des Vergangenen auf dem blutgetränkten Boden tummelt! Fürwahr,
niemals ist so, wie in der Devise des Wappens dieser Stadt, der Wahlspruch
zum Wahrspruch geworden: das Schiff Paris mag schwanken auf den Wogen
der Geschichte, untergehen wird es nicht! —
Seit wir eine Reichshauptstadt besitzen. wird der Deutsche Paris nicht
betreten können, ohne daß sich ihm fortwährend die Vergleichung mit Berlin
aufdrängte — für ein nationalstolzes Gemüth nicht grade eine erhebende
Beschäftigung. Freilich, der Himmel bewahre uns davor, daß Berlin jemals
ganz werde, was Paris ist. Wir würden den besten Theil unserer wirklich
„berechtigten Eigenthümlichkeiten" daran geben, wollten wir die geistige Kraft
unserer Nation in dem Maße von der Hauptstadt absorbiren lassen, wie dies
bei unsern Nachbarn der Fall ist. Auch die im politischen Leben schlechthin
dominirende Stellung, welche Paris noch in der letzten Katastrophe einge¬
nommen hat, wird man Berlin nicht wünschen wollen, zumal sie zur Vor¬
aussetzung eine Centralisation haben müßte, gegen welche selbst der ortho-
doxeste Unitarier Einspruch erheben würde. Ebensowenig sehnt sich unser
Herz darnach, die Kunstschätze unserer Hauptstadt durch Mittel zu vermehren,
welchen in den Sammlungen des Louvre neben anderen älteren „Errungen¬
schaften" die chinesische und die mexikanische Abtheilung ihren Reichthum ver¬
danken. Aber wie unendlich viel bleibt übrig, um was der deutsche Haupt¬
städter Paris von ganzem Herzen beneiden darf! Ich denke dabei nicht ein¬
mal an die Vorzüge, welche die Natur dem reizenden Seinebecken vor der
sandig-öden Mark verliehen hat, auch nicht an das leichtlebige Temperament
und das liebenswürdige Wesen, durch welches der Pariser sich vor der
Philiströsen Schwerfälligkeit des Berliners auszeichnet. Solche Gunst oder
Mißgunst der Götter nachträglich erheblich zu corrigtren ist keinem Sterblichen
gegeben. Aber was menschliches Wollen und Können vermag, — warum
sollte man darin an der Spree hinter Paris zurückstehen? Und doch muß
man aus Schritt und Tritt gewahren, daß dem allerdings so ist. Eines
springt dem vergleichenden Beobachter in Paris sofort in die Augen: der
unendlich bessere Zustand der Straßen. Von den macadamisirten Strecken
ganz abgesehen, findet man in den entlegensten Stadttheilen ein Pflaster,
welches die glänzendsten Viertel Berlins beschämt. Und dazu hat die Unter¬
haltung der Straßen in Paris meistens mit sehr ungünstigen Raum - und
Bodenverhältnissen zu kämpfen. Mit Ausnahme der Boulevards und ver¬
hältnißmäßig sehr weniger breiter Straßen, ist der äußerst rege Verkehr auf
enge, krumme und winklige Gassen angewiesen, die noch dazu nicht selten, wie
im Faubourg Montmartre, in Belleville, Menilmontant, Quartier latin u. s. w.,
eine beträchtliche Steigung zu überwinden haben. Wie anders dagegen z. B.
die Berliner Friedrichsstadt mit ihren breiten, schnurgrader und gänzlich
ebenen Straßen! Aber wehe dem Unglücklichen, der sich von einer echten
Berliner Droschke durch die Seitenstraßen der Großen Friedrichsstraße rumpeln
lassen oder dessen Stiefelsohlen, wenn er auf dem Trottoir von der schmalen
Steinplatte abgedrängt wird, mit den spitzigen Feldsteinen Bekanntschaft
machen müssen! Noch wohlthuender aber, als durch das Pflaster, unterscheidet
sich Paris von Berlin durch die Abwesenheit der „Rinnsteine". Wer die
Naturgeschichte dieser Berliner Specialität, besonders im Sommer, studirr
hat, wird das Behagen begreifen, das den deutschen Wanderer bet der Wahr¬
nehmung dieser Abwesenheit beschleicht. Wohin immer man sich in Paris
verirre, nirgends und nie, auch an den heißesten Tagen nicht, wird man von
teilen Wohlgerüchen belästigt werden, die in den elegantesten Straßen Berlins
dem Menschen zur Sommerszeit den Athem versetzen. Das soll nun freilich
auch in Berlin Alles anders werden. Angenehmer aber ist der sichere Besitz,
als die Vertröstung auf eine ungewisse Zukunft.
Erheblich besser ist es ferner in Paris um die Communicationsmittel
bestellt. Zum nicht geringen Theile hängt das mit der Beschaffenheit der
Straßen zusammen; auf dem Berliner Pflaster müssen auch die besten Pferde
sehr bald schlecht werden. Sodann sind die „Droschken 2. Klasse" in Paris
gar nicht vorhanden; die einspännige voiture Mes entspricht in ihrer Ein¬
richtung ganz der Berliner „Droschke 1. Klasse", fährt aber im Allgemeinen
rascher und stellt sich auf größere Entfernungen, für welche sie doch meistens
genommen wird, wesentlich wohlfeiler. Der Mangel der Droschken 2. Klasse
aber wird vollständig ersetzt durch den Omnibusdienst, mit dessen Organi¬
sation diejenige desselben Instituts in Berlin gar nicht zu vergleichen ist.
Die Spree in dem Maße für den Personenverkehr auszunutzen, wie es mit
der Seine geschieht, verbietet sich durch die geringere Breite des Flusses; doch
ist es mir stets als ein Räthsel erschienen, weshalb die Unterspree, namentlich
bei dem kolossalen Sonntagsandrange nach Charlottenburg, gar nicht benutzt
wird. Bis vor ganz kurzer Zeit war man für die Verbindung zwischen
Berlin und Charlottenburg, von den theuren Droschken abgesehen, auf eine
einzige, noch dazu eingleisige Pferdebahnlinie angewiesen. Wie glücklich sind
dagegen die Pariser mit ihren Ausflügen nach Se. Cloud daran: zwei Eisen¬
bahnen, eine Pferdebahn, und dazu alle Stunden, Sonntags sogar alle halbe
Stunden ein Dampfschiff! Freilich werden ja nun auch in Bezug auf die
Vervollständigung der Beförderungsmittel in der jungen Hauptstadt des
deutschen Reichs die anerkennenswerthesten Anstrengungen gemacht. Der Bau
neuer Pferdebahnen schreitet rüstig voran; für die große Stadtbahn, um
welche uns Paris zu beneiden haben wird, sind die Vorarbeiten im besten
Zuge. Aber ob wir trotzdem Paris in den localen Verkehrsmitteln, ganz
besonders im Droschken- und Omnibuswesen, jemals erreichen werden, will mir
zum mindesten noch etwas zweifelhaft erscheinen.
Mehr als in allen anderen Beziehungen jedoch macht sich der Unterschied
zwischen Paris und Berlin im Punkte der leiblichen Verpflegung fühlbar.
Ich bin nicht Sachverständiger genug, um die Marktpreise der Lebensmittel
beider Städte mit einander zu vergleichen; das aber kann ich versichern, daß
der beklagenswerthe Junggesell, der seinen Schutz gegen den Hungertod in
den Berliner Speisehäusern zu suchen gezwungen ist, auch beim besten patri¬
otischen Willen in seiner Brust den Wunsch nicht niederkämpfen wird: „wenn
wir doch Berlin gegen Paris austauschen könnten!" Die Speisen der Pariser
Restaurants sind durchgängig reichlicher und schmackhafter zubereitet, zugleich
aber auch billiger, als in den entsprechenden Berliner Anstalten. Ein Berliner,
der in den Restaurants des Palais Royal zum ersten Male dejeunirt, wird
die größte Mühe haben, sein Erstaunen in den gesellschaftlich gebotenen
Grenzen zu halten. Ein Horso'oeuvre, zwei Hauptgerichte, ein Dessert und
eine halbe Flasche trinkbaren Weines, das Alles zusammen für 12 oder
höchstens 14 Silbergroschen — ich glaube, selbst in mancher deutschen Klein¬
stadt wandelt den Cölibatär bei diesem Gedanken eine leise Sehnsucht nach
dem Seinestrande an.
Nirgends tritt die philiströse Engherzigkeit, welche Berlin noch immer
in den Gliedern steckt, unangenehmer an den Tag. als in so manchen für
öffentliche Zwecke bestimmten Bauten. Man betrachte z. B. die Concertsäle.
Den ersten Rang nimmt das Gebäude der Singakademie ein: der Saal
selbst, obgleich wenig praktisch angelegt, mag angehen, aber der Aufgang
und die Garderoberäumlichkeiten sind, unaufhörlich der Gegenstand weiblicher
Seufzer und männlicher Kraftausrufe. Indeß, die Singakademie ist ein wahres
Paradies gegen Berlins neuesten und großartigsten Concertsaal, die „Neichs-
hallen". Was hier, in jener Glanzzeit des Gründerthums, welche die deutsche
Kaiserstadt im Handumdrehen zur tonangebenden Weltstadt machen wollte,
an Engigkeit und Winkeligkeit der Treppen und an jeglicher Abwesenheit
eines für einen auch nur mäßigen Personenandrang genügenden Garderobe¬
raumes geleistet ist, übersteigt schlechterdings das menschliche Fassungsvermögen.
Den Gedanken, was hier bei plötzlichem Feuerlärm, auch wenn er durchaus
grundlos wäre, geschehen könnte, wagt man gar nicht auszudenken. Auch in
den Berliner Theatern sind die äußeren Räume mit entsetzlicher Knappheit
bemessen. Ist man doch selbst bei dem vor kaum einem Jahrzehnt gebauten
Wallnertheater, das dem Berliner damals ein halbes Weltwunder dünkte,
nicht einmal auf die Anlage eines Foyers bedacht gewesen! Nachträglich
haben einige der kleineren Bühnen solche eingeflickt, aber grade die beiden
Königlichen Theater ermangeln ganz und gar eines Raumes, in welchem der
Besucher während der Zwischenacte sich ergehen und Luft schöpfen könnte.
Dagegen vergleiche man die Pariser Theater. Ich rede nicht von der neuen
Oper, welche, weil soeben erst erbaut, selbstverständlich die modernsten und
weitgehendsten Ansprüche an den Comfort befriedigt, außerdem aber auch in
räumlichen Verhältnissen und mit Hülfe von Mitteln errichtet ist, wie sie in
solcher Ueberschwänglichkeit in Berlin zu dem gleichen Zwecke niemals zur
Verfügung stehen werden. Aber mit dem alten, noch aus dem Anfang des
17- Jahrhunderts stammenden ^Keatrs ?ranczais und der ebenfalls bereits
recht bejahrten 0x6lA evmiyus sollten unsere weit jüngeren Schauspielgebäude
doch den Vergleich aushalten können. In beiden findet man, wie in den
Privattheatern, leidlich geräumige Foyers mit Balcons, während man bei
uns während der Zwischenacte in die Stickluft der engen Corridore ge¬
bannt bleibt.
Kurz, es ist in Allem der große Styl und eine freigebige Berücksichtigung
der Bedürfnisse, wodurch sich Paris hervorthut, während in Berlin regel¬
mäßig an irgend einer Stelle die Knauserei hervorguckt. Es liegt das zum
größten Theil in der Verschiedenheit der materiellen Verhältnisse begründet,
in der wesentlich größeren Bedeutung, welche bei unsern Nachbarn die Haupt¬
stadt für das ganze Land hat, in dem größeren Reichthum Frankreichs und
vor Allem in demjenigen der Pariser Bevölkerung selbst. In einer von dem
leider so früh verstorbenen Director des statistischen Bureaus der Stadt
Berlin, Schwabe, aufgestellten vergleichenden Tabelle der Bevölkerung
einer Anzahl größerer Städte nach den verschiedenen Lebensaltern springt in
die Augen, daß in Berlin der Procentsatz der Zwanzig- bis Dreißigjährigen
in Vergleich zu Paris bedeutend überwiegt, während in Paris die späteren
Altersklassen verhältnißmäßig weit zahlreicher vertreten sind, als in Berlin.
Diese Thatsache besagt nichts Anderes, als daß in Berlin sich ein beträchtlich
größerer Bruchtheil der Bevölkerung lediglich zum Zwecke des arbeitenden
Erwerbes in der Hauptstadt aufhält, als in Paris, wo in erheblich stärkerem
Maße jene Altersklassen vertreten sind, welche bereits von den Zinsen des Er¬
worbenen zu leben, also auch wohlhabender zu sein pflegen. Außer all diesen
Verhältnissen liegen die Vorzüge von Paris als Weltstadt aber auch in dem
eigenthümlichen Wesen seiner Bevölkerung begründet. Gegen Factoren von
so schwerwiegender Bedeutung ist nicht anzukommen und man kann dreist be¬
haupten, daß Berlin niemals werden wird, was Paris ist. Wie schon
gesagt aber dem jungen deutschen Reiche wird das nicht zum Schaden gerei¬
chen. Wenn Frankreich — was freilich schon an sich ein undenkbarer Ge¬
danke ist — sein Paris nicht besäße, so müßte dasselbe eigens geschaffen
werden. Seit Jahrhunderten dreht sich das öffentliche Leben unserer Nachbarn
um die nationale Moire; ein solches Volk bedarf einer glänzenden Capitale
als der Verkörperung seiner Herrlichkeit. Daher die kolossalen Summen, welche
das Land an die Hauptstadt verschwendet: Paris ist nicht eine sich selbst
verwaltende Commune, sondern das Paradepferd des ganzen Landes. Dem
deutschen Volke ist ein derartiges Bedürfniß fremd, und ich denke, auch der
für das Selfgovernment begeisterte Berliner Bürger wird sich neidlos mit
der bescheidenen Rolle seiner Heimathstadt begnügen, sobald er erwägt, um
welchen Preis die Cäsarenstadt an der Seine — denn das war sie und wird
sie wieder werden — ihren Glanz erkauft hat. Daß man aber trotzdem im
Einzelnen an der Spree gar viel des Guten von Paris lernen könnte, geht
aus dem oben Gesagten zur Genüge hervor.
Am 7. Dezember wurde über die Petitionen berathen, welche die auf
den 1. Januar 1877 festgesetzte Aufhebung der Eisenzölle theils hinausschieben
wollen, theils aber für die Beibehaltung dieses Termines eintreten. Man
weiß. welche Beunruhigung sich an die sogenannte Schutzzollagitation in den
letzten Monaten geknüpft hatte. Dadurch, daß der Reichstag über sämmt¬
liche Petitionen mit großer Majorität zur Tagesordnung überging, sind alle
Zweifel wenigstens an der Aufhebung der Eisenzölle zu dem früher beschlossenen
Termin beseitigt. Diese Gewißheit ist jedenfalls eine Wohlthat. Was die
Verhandlung selbst anlangt, so sprach Löwe-Calbe für die Hinausschiebung
der Aufhebung im Interesse der Arbeiter. Er sprach vortrefflich, mit Anfüh¬
rung erheblicher Thatsachen, durchaus den Gesichtspunkt der Humanität fest¬
haltend, nirgend den Boden willkürlicher Jnteressenvertheidigung betretend.
Ihm folgte Bamberger, wie immer höchst witzig und vielseitig, siegreich in
allen Nebenpunkten, aber, wie dem Redner auch schon zuweilen begegnet, den
Hauptpunkt überspringend*). Hierauf sprach v. Kardorff als Befürworter
einer consequenten Schutzpolitik, ohne Theilnahme und sogar mit Ungeduld
angehört, was nicht der Fall sein sollte. Denn man mag die Schutzzoll-
Politik bekämpfen — wir bekämpfen sie an unserm Theil ebenfalls — geist¬
reichen und durchdachten, auf sorgfältiges Studium der faktischen Verhältnisse
gestützten**) Argumenten sollte man immer Aufmerksamkeit schenken. Die
wirthschaftliche Lage Deutschlands ist der Art. daß sie allen, die sich bestim¬
mend oder theilnehmend damit zu beschäftigen haben, in den nächsten zehn
Jahren noch recht harte Nüsse zu knacken geben wird. Da sollte man keine
Discussion verschmähen, die zur gründlicheren Einsicht führen kann. Was
war das z. B. für ein Wort von Bamberger: Die deutschen Schutzzöllner
hätten sich ihre Autorität von Amerika holen müssen? Das sollte sich auf
Carey beziehen. Aber Carey ist eine Autorität nicht nur in den Ver¬
einigten Staaten, wo er mit derselben dem deutschen Handel die Thür zuge¬
macht hat, sondern nicht minder in Petersburg, wo er mit derselben nicht
wenig beiträgt, dem deutschen Handel das Thor nach Osten zu verschließen.
Von Carey holen sich Argumente die Anwälte des Schutzzolls in Wien und
in Rom. Der Mann ist eine überseeische Autorität, die man nicht erst her¬
zuholen braucht, sondern deren Einfluß längst das Meer überschritten hat
und eine große, für Deutschland verderbliche Wirkung ausübt. Carey räth uns
Deutschen an, in die Fußtapfen zu treten, die auf seinen Rath andere Natio¬
nen uns voranschretten. Es mag gut sein, diesen Rath nicht zu befolgen,
und dies ist sogar unsere eigne Ueberzeugung. Aber durch Verkleinerung wird
man den Einfluß der Carey'schen Lehren nicht aus der Welt schaffen, sondern
nur durch eingehende Bekämpfung mit Gründen. — Den Glanzpunkt der
Verhandlung bildete die Rede des Präsidenten Delbrück, der, wie uns dünkt,
während seiner ganzen Thätigkeit als Präsident des Reichskanzleramts nie¬
mals vortrefflicher gesprochen. Nach dieser Rede konnte man mit gutem Ge¬
wissen für den Fortfall der" Eisenzölle stimmen, auch wer mit der Hinaus¬
schiebung nur einem ungünstigen Moment ausweichen, nicht aber zum Schutz¬
zoll hatte zurückkehren wollen. Das überraschende und unwiderstehliche Argu¬
ment Delbrück's war, daß die Lage der deutschen Eisenindustrie um kein Haar
gebessert werden würde, auch wenn wir die Einfuhr fremder Eisenwaaren sofort
ganz und gar verbieten wollten.
Am 9. Dezember wurde ein Antrag der Fortschrittspartei berathen, der
die Wiederaufnahme der im vorigen Jahr nahezu um dieselbe Zeit angenom¬
menen Resolution Hoverbeck bezweckte. In unserer an politischer und sozialer
Bewegung überreichen Zeit sind wohl manchem Leser die vorjährigen Vor¬
gänge entschwunden. Am 4. Dezember hatte der Abgeordnete Jörg, indem
er das Kullmann'sche Attentat ungefähr als harmlosen Mißgriff eines Unzu¬
rechnungsfähigen bezeichnete, den Reichskanzler zu der bekannten Aeußerung
genöthigt: Der Mörder hängt sich an Ihre Rockschöße. Am 11. Dez. wurde
der Reichstagabgeordnete und Redakteur der Germania, Kaplan Majunke, zur
Verbüßung einer Strafhaft eingezogen, deren Erkenntniß vor dem Beginn der
Retchstagssession bereits rechtskräftig geworden. Daraus brachte am 12. De¬
zember der Abgeordnete Laster einen dringlichen Antrag ein: die Geschäfts¬
ordnungscommission mit schleuniger Berichterstattung zu beauftragen, wie
dieser Fall sich zu dem Z 31 der Reichsverfassung verhalte, der die Reichstags-
mitglieder vor Verhaftung ohne Genehmigung des Reichstags schützt, sofern
es sich um ein noch nicht beendigtes Strafverfahren handelt. Am 16. Dezem¬
ber wurde über den Bericht der Geschäftscommission berathen und eine Reso¬
lution des Abgeordneten Hoverbeck angenommen: die Würde des Reichstags
erfordere eine Abänderung der Verfassung dahinzielend, daß kein Mitglied des
Reichstags ohne des letzteren Genehmigung, aus welchem Grunde immer,
während der Session verhaftet werden könne. Darauf reichte Fürst Bismarck
seine Entlassung ein. Das Entlassungsgesuch wurde zurückgenommen, als am
18. Dezember bei Gelegenheit der geheimen Ausgaben des auswärtigen Amtes
Herr v. Bennigsen ein Vertrauensvotum für den Reichskanzler herbeiführte,
welches jedoch die Fortschrittspartei, obwohl für die Bewilligung der geheimen
Ausgaben stimmend, nicht zu theilen erklärte.
Dieser Vorgänge muß man sich erinnern, um zu verstehen, daß der jetzige,
durch den Abgeordneten Hoffmann eingebrachte Antrag der Fortschrittspartei
unmittelbar gegen den Reichskanzler gerichtet war. Der Antrag bezweckte
eine Abänderung, bezüglich Erweiterung des Artikel 31 der Reichsverfassung
im Sinne der Resolution Hoverbeck. Das Urtheil über den Inhalt ist sehr
bald klar gestellt. Die Parlamente bedürfen des Schutzes ihrer Mit¬
glieder gegen die willkürliche Verhängung gerichtlicher Untersuchung und
Untersuchungshaft. Daß aber die Mitglieder der Parlamente der rechtskräftig
ihnen zuerkannten Strafe entgehen sollen, ist ein unerhörtes Verlangen, das
in der Verfassung keines großen Volkes ein Beispiel findet. Die Befürworter
mußten ihre Beispiele aus Portugal und aus den Verfassungen einiger deut¬
schen Duodezstaaten zusammenlesen, die man nach der Julirevolution anfer¬
tigte, ohne zu wissen, was man that, und deren Unschädlichkeit der Bundestag
verbürgte.
Der Antrag hätte die einmüthige Ablehnung aller nationalen Fraktionen
verdient. Er ist auch in namentlicher Abstimmung von 142 gegen 127 Stim¬
men abgelehnt worden. Aber einzelne Nationalliberale stimmten für den An¬
trag, darunter trauriger und unbegreiflicher Weise Herr v. Forckenbeck. Acht¬
zehn andere Nationalliberale enthielten sich der Abstimmung,^ weil sie mit
Laster den Antrag an die Commission zur Berathung der Reichsjustizgesetze
überweisen wollten, damit diese den Zweck des Antrags in der Strafproze߬
ordnung sicher stelle, da die Abänderung der Reichsverfassung ein ungang¬
barer Weg schien. Diese Nationalliberalen waren also im Grunde für den
Antrag, und genau besehen hat derselbe die Majorität erlangt. Daß dies eine
ernsthafte und kritische Situation ist, liegt auf der Hand.
Inzwischen hat am 8. Dezember die „Provinzial-Correspondenz" einen
Artikel gebracht, der den Ausspruch des Reichskanzlers, er könne ohne Straf¬
bestimmungen gegen Beamte des auswärtigen Amtes die Verantwortlichkeit
der Leitung dieses Amtes nicht länger tragen, dahin erläutert, daß, wenn der
jetzige Reichstag die sogenannten Arnimparagraphen der Strafgesetznovelle ver¬
weigert, die Reichsregierung sowohl um dieser als um anderer unerläßlicher
Bestimmungen willen an die Wähler appelliren will. Die „Provinzial-
Correspondenz" sagt allerdings nicht, daß der jetzige Reichstag eventuell auf¬
gelöst werden wird, was erforderlich sein würde, wenn die Appellation an die
Wähler schon im nächsten Jahre stattfinden sollte. Denn d. Red. hatte Recht,
meinen lapsus memoriae im vorigen Brief bemerklich zu machen: die jetzige
Reichstagssession ist nicht die letzte, sondern die vorletzte ordentliche der lau¬
fenden Legislatur, Immerhin behält sich der Kanzler die Appellation an
die Wähler, wenn auch vielleicht erst für das Jahr 1877 vor. Nimmt also
das Zerwürfniß mit der jetzigen Neichstagsmehrheit seinen Fortgang, so würde
die Parole der nächsten Wahlen lauten: Hie Bismarck! hie nationalliberal!
Oder die nationalliberale Partei müßte bis zur nächsten Wahl zerfallen und
der Name müßte allein auf den an der Politik des Reichskanzlers festhal¬
tenden Theil übergegangen sein.
Da der Antrag Hoffmann formell abgelehnt worden, und folglich die
Majorität formell noch für den Reichskanzler ist, so könnte, wenn eine das
Zerwürfniß vermeidende Behandlung bei der Strafrechtsnovelle gefunden
würde, der angedeutete Verlauf aufgehalten werden. In der That sind je¬
doch die Elemente, welche die jetzige nationalliberale Partei bilden, so dis-
parat, daß die Trennung derselben früher oder später doch unvermeidlich ist/)
Der größte Theil der Partei ist liberal-conservattv; geführt wird aber die
Partei in der Regel von höchst talentvollen Männern, von denen die Mehr¬
zahl nach ihren politischen Grundsätzen die Fortschrittspartei führen sollte.
Dieser Zustand ist eine Mahnung, daß wir keineswegs das Recht haben,
uns über die Coalition der Centren in Versailles mit ihren widerspruchs¬
vollen Ergebnissen lustig zu machen, wie wir zu thun pflegen.
Die beiden letzten Sitzungen dieser Woche betrafen die Ausgaben für
Elsaß-Lothringen, auf die zurückzukommen in anderm Zusammenhange Ge¬
Fünfundzwanzig neue Blätter aus „Albert Hendschel's Skizzen¬
buch"! Das war eine der erfreulichsten dießjährigen Weihnachtsüber¬
raschungen. Mit den früher erschienenen Heften zusammen enthält nun die
ganze Sammlung hundert Blatt. Es wird wenige Künstler .'geben, die es
wagen dürfen, eine so große Anzahl ihrer Skizzen herauszugeben, ohne dem
ungestümen Ruf der Kritik zu begegnen: Manier, Manier! oder — was noch
schlimmer ist, namentlich für den Verleger solcher Kunstartikel — sang- und
klanglos zum Orcus hinabzusteigen. Hendschel's neue Skizzenbuchblätter da¬
gegen liefern nur einen neuen Beleg zu der alten Wahrheit, daß kein Künstler
tieferen Eindruck hervorbringt und sich mehr frei hält von Manier, als der¬
jenige, der nur nach der Natur schafft. Daß dieß Hendschel's Streben, das
Geheimniß seiner plötzlichen und stets steigenden Popularität in Deutschland
ist, haben wir eingehend dargelegt in jenem ersten größeren Artikel, in dem
wir den Künstler vor zwei Jahren dem Leserkreis der Grenzboten zum ersten
Mal vorführten. Wir begegnen auf den ernsten und heitern Blättern durch¬
weg neuen Gestalten, neuen Situationen; auf keinem verleugnet sich die
Eigenart des Künstlers; und dennoch ruft der Beschauer bet jedem entzückt
aus: das hast Du auch schon gesehen — das ist unmittelbar der Natur
abgelauscht. Ja, wenn die zu lyrischen Scenen verwendeten Mädchengestalten
der ersten Lieferungen, namentlich in den Gestchtszügen, eine gewisse starke
Aehnlichkeit zeigten, die wohlwollende Freunde des Künstlers veranlassen
konnte, ihm eine Erweiterung seiner darstellungsfähigen Damenbekanntschaft
zu wünschen, und wenn der fränkische, fast Goethe'sche Schnitt vieler Kinder-
gestchter in jenen ersten Lieferungen gleichfalls auf einen geringen Vorrath
an Modellen hinwies, so ist in den neuesten Blättern dagegen ein reicher
Wechsel an typischen Zügen bei Mädchen, Kind und Mann bemerklich. Die
Karrikatur, die auf einigen der früheren Blätter stark hervortrat, ist hier
gänzlich vermieden. Dagegen ist die vis eomioa des Hendschel'schen Griffels
kaum jemals so glänzend hervorgetreten, wie in dieser neuesten Sammlung.
Niemand wird den Knaben, der beim Hersagen seiner lateinischen Verden das
Nesthäkchen am Hemdchen hält bei den ersten Laufversuchen, oder den Kegel¬
jungen, den eine böse Kugel ans Bein getroffen, oder den Schweinezüchter,
der zwei starrsinnige Ferkel in den zu diesem Zwecke mitgebrachten Sack des
Söhnchens hineinzubecomplimentiren versucht, oder den sonntäglichen Schniepel,
der sich auf eine frischgestrichne Bank in den Anlagen gesetzt hat, — ohne die
größte Heiterkeit betrachten können. Andere Gestalten dieser neuen Blätter
Hendschel's werden rasch ebenso zu allgemein bekannten und verwendeten
Typen werden, wie die Casetiere und das Zeitungsmädchen und viele andere
frühere Bilder. Wir möchten der schuhbindenden Gemüsefrau, dem schultern¬
den kleinen Bahnwärtermädel, den drei Roccocoblättern und den Kindern im
Regen hauptsächlich dieses Schicksal prophezeien. Die Feinheit und Reinheit
der Zeichnungen Hendschel's wird durch die zwei Blätter zu Aschenbrödel,
welche diese Sammlung in Photographien nach der Originalzeichnung uns
vorführt, ganz besonders deutlich gemacht. Denn Diejenigen, denen früher
Hendschel's Bildercyclus zu Aschenbrödel im Holzschnitt bekannt geworden,
werden geradezu erstaunen, wieviel diese bedeutenden Bilder durch den Holz¬
schnitt verloren haben, wie hoch die Originale, die uns die Photographie hier
vermittelt, über jenen Bildern stehen, die trotz ihrer Verballhornung durch die
ungelenke Hand des Xylographen den Namen des Künstlers zuerst bekannt
machten. Ein Theil des Lobes und der Anerkennung, welche die nun voll¬
ständige Sammlung „Aus Albert Hendschel's Skizzenbuch" erregt, gebührt aber
auch dem Verleger Herrn Prestel zu Frankfurt aM. der das Unternehmen
im Vertrauen auf den guten Geschmack und den Kunstsinn des deutschen
Publikums wagte und der photographischen Anstalt des Herrn Huhn in
Frankfurt a/M., der durch seine wirklich künstlerischen Leistungen die letzten
Zweifel darüber zerstreuen könnte, daß selbständigen photographischen Dar¬
stellungen wie den vorliegenden ein reichsgesetzlicher Schutz gegen unberechtigte
Nachahmung gewährt werden muß.
Leider zwingt uns das Auslaufen mehrerer größerer Artikel dieses Heftes
dazu, die Besprechung der übrigen uns zugesandten und für diese Nummer ein¬
gestellten Werke auf die letzte, unmittelbar vor dem Fest ausgegebene Num¬
mer zu verschieben. Wir versäumen aber nicht, sie schon jetzt unsern Lesern
bestens zu empfehlen. Es sind dieß zunächst die zwar schon seit Jahren bekannten,
aber dadurch in ihrem bleibenden Werthe nicht verminderten Zeichnungen und
Stiche Eugen Krüger's „Wild und Wald" (Hamburg, Meißner). Großes
Aufsehen wird eine neue Sammlung Aquarelle aus dem Nachlaß des Meisters
Ed. Hildebrandt (in vortrefflichem Farbendruck von Loeillot und Steinbock)
„Aus Europa" erregen, deren Originale im Besitze des deutschen Kaisers sich
befinden, und Ed.Hildebrandt's Skizzenbuch. Beide Werke sind im Ver¬
lag von R. Wagner in Berlin erschienen, aus dem wir in den vergangenen Jahren
die große Prachtausgabe von Ed. Hildebrandt's Reise um die Erde hervorgehen
sahen. Von der Prachtausgabe „das Schwetzerland". die Fr. Bruckmann
in München (Text von Gsell-Fels) herausgiebt, liegen die ersten zwei viel¬
versprechenden Lieferungen vor. Bei Maule in Leipzig ist eine von Hans
Spelter ausgezeichnet illustrirte Ausgabe von Th. Storm's Haushund
neu erschienen. Endlich erwähnen wir der in Zeichnung und Textkritik
gleich trefflichen illustrirten Ausgabe von Lessing's sämmtlichen
Werken aus dem G. Grote'schen Verlag, Berlin; und für Freunde tieferund
wahrer Kultur-und Naturschilderungen die Bücher Heinrich Nos's „Elsaß-
Lothringen" und das deutsche Alpenbuch (1 Theil), beide illustrirt,
(Flemming, Glogau.).
Mit Januar beginnt diese Zeitschrift das I. Quartal ihres
35. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlunge» und Pvsi-
anstalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 9 Mark. Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten. Die BerlagshaNdlung. Leipzig, im Dezember 1875.
Seit Jahrhunderten ist man in Europa gewöhnt, von Zeit zu Zeit auf
den Lärm zu achten, welcher von der Türkei herüber schallt; nur daß sich
allmälig die Veranlassung zu diesem Lärm wesentlich geändert hat. Einst
hörte man sorgenvoll auf die Kunde von osmanischen Kriegszügen und harter
Türkennoth, jetzt sind die Türken selbst in Noth und Bedrängniß gerathen
und gar mancher vermeint, es ginge mit dem Reiche des Padischah zu Ende.
Viele Anzeichen sind vorhanden. welche gemeiniglich den Niedergang eines
Reiches begleiten und wenn seit dem Sommer der Kampf in der Herzegowina
nicht ruht und die stammverwandten Völker im Serbenlande und in den
Schwarzen Bergen nur unter dem Drucke des großmächtlichen Einflusses ihre
Kampfeslust zügelten und ihren von den Tataren ererbten Haß gegen den
Osmanli von kriegerischer That zurückhielten, so beweist dies doch schon zur Ge¬
nüge, daß es um die Zukunft der Pforte nicht wohlbestellt sei. Wenn dann
die Gläubiger derselben eines Tages mit der Ankündigung einer tief in
ihren Säckel einschneidenden Zinsenreduction, hinter welcher sich ein kleiner
Staatsbankerott verbirgt, überrascht wurden, so mußte dieser Ausdruck pein¬
licher Finanznoth um so mehr den Glauben an die Kraft und Fähigkeit der
Türkei zur glücklichen Lösung ihrer Wirren erschüttern. Wiederum richtet sich
der traurige Blick nach Osten und das Schicksal der zum Schauplatze künf¬
tiger Ereignisse bestimmten Länder gewinnt an Interesse; die Conjunctur
über die Umgestaltung jenes Theiles der europäischen Karte macht sich geltend
und man fragt nach Vergangenheit und Gegenwart derselben, um darüber
die Lineamente der Zukunft in Erwägung zu ziehen.
Das Ostgestade der Adria bietet ganz eigenthümliche Gestaltungen dar
und steht im engsten Zusammenhange mit den osmanischen Geschicken. Wäh¬
rend die Türken überall den Weg zur See sich öffneten und die Halbinsel des
Balkans in ihrer ganzen Breite vom Pontus Euxinus bis zu den Ufern des
ionischen Meeres und bis in das kroatische Bergland in Besitz nahmen, erhielt
sich ein langer schmaler Küstensaum von ihrer Herrschaft frei und kam nach
mannigfachen Wandlungen unter das Scepter des habsburgisch-lothringischen
Hauses. Dieser lange Saum heißt Dalmatien und weil derselbe schon jetzt
an Bedeutung gewinnt, wo in dessen Hinterkante die Fackel des Aufruhres
hell auflodert, so mag es gerechtfertigt erscheinen, jenem so wenig bekannten
Lande einige Betrachtung zu widmen, welches selbst innerhalb der Grenz¬
marken der österreichischen Monarchie vielfach nur in nebelumhüllten Umrissen
bekannt ist. Selten führt der Weg des Binnenländers dahin, wenig Verbin¬
dung herrscht zwischen Dalmatien und der übrigen Monarchie und das Volk
jener Provinz lebt in Anschauungen und Sitten, inmitten eines beschränkten
und von den Verhältnissen ihm vorgezeichneten Jnterefsenkreises, welche fernab
von den Gedanken und Bestrebungen der übrigen zur Monarchie vereinigten
Provinzen liegen. Von altersher hat Dalmatien sich gewöhnen müssen, daß
seine Beherrscher in der Ferne saßen und daß es selbst an der Peripherie
ihres Machtgebietes sich befand. Immer aber behielt es einen Werth nicht
durch das, was es an Reichthum und Productionskraft in sich schloß, sondern
durch seine geographische Lage und durch die maritime Neigung seiner Be¬
wohner. In der ersten Bezeichnung wird es stets zu einer breiten Basis für
die Herrschaft in der Adria und in der letzteren liefert es das tüchtige Ma¬
terial zur Bemannung von Kriegsflotten und zahlreichen Kauffahrern. So
sah man das Land in den Staatsklugen Kreisen der Dominante an, als das
Zeichen des Löwen noch im Zenithe stand und nicht anders urtheilte man in
Wien, als die Erbschaft der stolzen Republik angetreten wurde. Freilich er¬
hielt Oesterreich ein anderes Dalmatien, als solches einst von den Venetianern
erworben worden war, denn diese hatten es für gut befunden, das Land nicht
als eine gleichberechtigte Provinz zu betrachten, sondern mit herkömmlicher
Rücksichtslosigkeit auszunützen. Oesterreich dagegen fand sich der Aufgabe gegen¬
über, zuerst für das Land selbst zu sorgen und daß diese Aufgabe vielfach nur eine
beabsichtigte blieb, findet seine Erklärung gerade wieder in der excentrischen
Lage dieser den Augen der Regierung entzogenen Provinz. Es war ein Still¬
leben in derselben, welches erst unterbrochen wurde, als die lebhafte politische
Bewegung der letzten anderthalb Dezennien auch auf Dalmatien ihre Wellen
warf und als alte staatsrechtliche Projecte aus den Archiven und historischen
Schriften hervorgeholt wurden und man im Lande in Parteiungen sich schaarte,
um über Dalmatiens künftige Stellung zum Reich zu beschließen.
Der ganze Flächeninhalt Dalmatiens beträgt 232 Quadratmeilen, seine
Bevölkerung nach der letzten Volkszählung 442.000 Einwohner. Es hat
schon von Natur eine ganz eigenthümliche Formation. Ein langgestrecktes,
oft tief eingeschnittenes Festland, dessen Breite an manchen Stellen auf we¬
nige Meilen herabsinkt und vor demselben, nicht unähnlich einem schützenden
Walle, ein dichtes Gewirr von Inseln. Riffen und Canälen, in deren
Labyrinth sich nur der kundige Seemann zurecht finden kann. Allwärts Ge¬
stein und hochaufragende Felsen; nirgends eine flache Küste und meist tiefes
Fahrwasser bis an den Rand heran. Es ist ein unendlicher Gegensatz zum
italienischen Gestade drüben im Westen. In wenig gekrümmter, nie unter¬
brochener, von keiner Insel gedeckter Linie läuft die Küste von der Pomün-
dung hinab bis zum Cap von Santa Maria ti Leuca, welches hinausblickt
gegen das jonische Meer und den Weg zur weiten Bucht von Tarento weist.
Diese Bildung bestimmt den maritimen Charakter des Landes, dessen Küsten¬
entwicklung unverhältnißmäßig viel bedeutender ist, als seine Gesammtfläche;
sie übte aber zugleich auch einen erheblichen Einfluß auf die Trennung in eine
Reihe landschaftlicher Gebiete verschiedenen Charakters und hierdurch auf das
Vorwalten einer ausgeprägten landschaftlichen und municipalen Sinnesart.
Da fernerhin die Küste fast durchweg vom Meere ab hoch ansteigt, so scheidet
sich überall dort, wo nicht die See tiefer ins Land hinein sich zieht, die Küste
vom Binnenlands und wir finden auf wenige Meilen Entfernung den Unter¬
schied zwischen einer seemännischen und einer landbebauenden und Viehzucht
treibenden Bevölkerung in ganz entschieden ausgeprägter Weise vorhanden.
Wo der Dalmatiner an der See liegt, dort wird er zum tüchtigen Matrosen.
Von Jugend auf ruht sein Blick auf den wunderbar blauen Fluthen der Adria
und schon als Knabe folgt er gerne dem Vater oder Verwandten ins Fischer¬
boot oder fährt mit ihm die Küste entlang in den kleinen Küstenfahrzeugen,
welche nach Landesart und altem Herkommen gebaut und getakelt sind und
als Trabekole, Pielegi, Brazzerea u. tgi. bezeichnet werden. Größer geworden
sucht er Dienst auf den Schiffen der Handelsmarine, denn es mangelt im
Lande an leichtem Erwerbe und es liegt einmal in der Natur einer solchen
Bevölkerung, daß sie den Drang zur See nicht meistern kann. Wohl ist der
Dienst ein harter, wie kaum ein anderer Zweig, wohl ist der Lohn, welchen
der Seemann sich verdient, nicht groß und fast nicht im Verhältnisse zu den
Mühen und Gefahren, aber er kann nicht anders und müßte wohl auch
Hunger leiden, wenn er am Lande bliebe. So giebt es Gegenden in Dalmatien,
wo man die Leute zählen kann, welche nicht dem Seedienste gewidmet sind.
In solchen Ortschaften kommen die Männer nur vorübergehend heim, um
kurze Zeit der Ruhe unter den Ihren zu genießen; nur die Jungen und die
Greise bleiben seßhaft. In diesem seemännischen Charakter der Bevölkerung
liegt die wesentliche Bedeutung des Landes für Oesterreich. Es ist das große
Reservoir für die Bemannung seiner Flotten und nicht nur auf den Kauf¬
fahrern sieht man den Dalmatiner gerne, weil er seevertraut, willig, aus¬
dauernd und nüchtern ist, auch die Kriegsmarine rechnet ihn zu dem Kerne
ihres lebenden Materiales, und würde schwer seinen Abgang vermissen. Aber
trotzdem liebt der Dalmatiner den Kriegsdienst nicht, keineswegs weil er
furchtsam ist und Scheu vor den Bedrängnissen des Seekampfes hat: ihm ist
seine Freiheit lieb und wenig behagt ihm die strenge Form und die wohl¬
geregelte Gebundenheit des militärischen Dienstes. Härter ist die Arbeit auf
dem Handelsschiffe, weniger Sorgfalt wird daselbst der Mannschaft gewidmet
und nie in seinem Leben genießt er einer so guten und reichlichen Verpfle¬
gung als während der Militärjahre, aber trotzdem sehnt er sich nach dem
Ende seiner Dienstzeit und läßt sich durch die Aussicht auf die günstige Stel¬
lung des im Dienste verbleibenden Unteroffiziers nicht verlocken. Wieder eilt
er hinaus auf die Wege des Handels und lebt seinem Lieblingstraume, mei¬
stens selbst mit kleinem Fahrzeuge in den heimischen Gewässern Cabotagefahrt
zutreiben oder doch, wenn das Glück ihm weniger lächelt, eine Hafenjolle zu
erwerben. Aber nicht immer erfüllt sich dieser Traum und mancher künftige
Seemann muß in seinen alten Tagen das Gnadenbrod essen oder sich glücklich
schätzen, wenn er wenige Gulden aus dem Unterstützungsfonds der Marine
bezieht. Neben den eigentlichen Seeleuten finden sich die Fischer und die
Besitzer der kleinen Barken. Erstere vertheilen sich in verschiedenem Maße
an der Küste; theils ist der Fischfang nicht an allen Stellen gleich ergiebig
und theils ist die Neigung zu diesem Erwerbszweige nicht überall vorhanden-
Hier übt die Tradition eine große Wirkung aus. Sardellen und Thunfisch
spielen die große Rolle unter den Fischen der Adria. Alle andern Arten,
wenn auch manche feine und kostbare darunter ist. haben niedere Bedeutung.
Auf den Inseln widmet man dem Fischfange mehr Thätigkeit und manche
derselben, wie z. B. das schlachtenberühmte Lissa, der Vorposten Dalmatiens,
sind fast ausschließlich Fischerinseln. Ganze Flottillen von Barken mit großen
schweren Masten ziehen zur See hinaus und der Fischzug wird zum bedeut¬
samen Ereigniß, entscheidend für die wirthschaftliche Bilanz des ganzen Jahres.
Ganz besonders gilt dies von den großen Thunfischen, die in zahlreicher
Menge umherziehen. Da werden Beobachtungsposten aufgestellt, Signalsta¬
tionen errichtet, eilig läuft die Kunde von dem Herannahen eines Zuges von
Posten zu Posten und mit hocherregter Spannung liegen die Fischer an
den Schnüren des Riesennetzes, harrend, ob die Fische in die gelegte Falle
gehen. Gelingt der Fang, dann gilt es ein wahres Blutbad, bis die großen,
noch am Strande unbändig herumschlagenden Thiere getödtet sind.
Wer aber noch voll von den Eindrücken der See ins Land hinein
wandert, der findet sich sofort ganz anderen Lebensverhältnissen gegenüber,
allerwärts unter dem Eindrucke der Armseligkeit. Dalmatien kennt keinen
Reichthum; wenn man einzelne Strecken ausnimmt, wo der Wein gedeiht,
aber ein Wein, dem die Kunst der Veredlung fast ganz fremd geblieben ist
und welcher deshalb nur geringen Werth darstellt, so bringt das Land kaum
dasjenige hervor, was es zum Unterhalt seiner Bewohner braucht. Die Be.
bauung des steinigen, humusarmen Bodens, die Zucht des mit Rücksicht auf
den armen Boden ziemlich dürren Viehes, besonders vieler Schafe und Ziegen —
ist doch das Hammelfleisch fast der einzige Braten des ganzen Landes — und
daneben die nothwendigste Hausindustrie, dies ist die Beschäftigung der
Binnenländer und in dieser Beziehung stehen diese noch so tief, daß der
Wandersmann nur aus dem Mangel türkischer Regierungsorgane erkennen
kann, er habe noch nicht die Grenzpfähle der Monarchie hinter sich. Drüben
in Bosnien und in der Herzegowina sieht es nicht viel anders aus. nur
herrscht dort Willkür und Rechtlosigkeit, während der dalmatinische Land¬
mann eine geordnete Verwaltung und ein geregeltes Gerichtswesen für
sich hat.
Und wieder ein anderer Gegensatz zeigt sich zwischen den Städten und
dem flachen Lande. Draußen auf dem Lande ist alles slavisch, in der Stadt
mengt sich die Bevölkerung, sofern sie an der See liegt; denn die kleinen
Städtchen des Binnenlandes haben immer nur das Gepräge großer Dörfer.
In den Küstenstädten aber finden sich Erinnerungen an die Vergangenheit
des Landes, ja man kann sagen, sie sind nur Denkmäler dieser Vergangen¬
heit. Ihnen hat allen die venetianische Herrschaft jenen eigenthümlichen
Typus aufgedrückt, welchen die Republik von San Marco überall verbreitete,
wo immer sie einmal herrschte. Aber die venetianischen Linien sind klein und
zugestutzt und doch selbst im Kleinen unverkennbar. Am meisten zeigt sich
dies in der Anlage und in der Bauart der Städte, man erkennt an
jeder derselben das Selbstbewußtsein, welches dieselben erfüllte. Die Leute
in Zara und Spalato, in Sebenico und Almissa, in Curzula und Lesina
hielten sich in ihrem Innersten für ebenbürtige Schwestern der Lagunenstadt,
ja vielleicht oft für besser, .denn ihr Bestand knüpfte an römische oder gar
griechische Niederlassung an und in mancher Mauer städtischer Bauwerke zeigt
man mit hoher Befriedigung römische Zuthat. Dabei hat manche dieser
Städte eine gewisse Selbständigkeit besessen, die republikanischen Anklang hatte,
allen voran natürlich Ragusa, welches zwar dem Einflüsse der venetiani¬
schen Art sich nicht entziehen konnte, aber niemals sich unter die Signoria
beugte.
In den Städten wuchs ein Patriziat herauf voll Stolz und Selbstge¬
fühl und italienische Elemente schoben sich in die Bevölkerung ein und wurden
maßgebend. Die italienische Sprache ward die herrschende und blieb bis
heute die Sprache der Gebildeten und des Verkehres. Die Patriziergeschlechter,
welche meist im Rathe ihrer Stadt gesessen und gar manches Recht über die
arme Plebs genossen, sind verarmt und zehren in ihren Pallästchen inmitten
enger Gassen und im dürftigen Lebensgenuß von der Erinnerung. Viele sind
verdorben oder hinabgesunken auf die unteren Stufen des Volksthums.
Dann bekundet sich in allen Städten der vielfache Drang, unter denen sie
Jahrhunderte hindurch bestanden. Dalmatien war ein großes Kampffeld
und nach den zahlreichen früheren Stürmen lagen sich dort oft Türken
und Venetianer feindlich gegenüber. Bisweilen führte auch municipaler
Zwist das Kriegsvolk der einen Stadt vor die Wälle der anderen. Darum
baute man die Häuser auf gedrungenem Raum und sorgte für Wall und
Castell. Heute liegt freilich gar viel davon in Trümmern, aber die Wandlung,
welche anderwärts die alten Städte durchmachten, um sich in modernes Ge¬
wand zu kleiden, ist noch nicht begonnen. Es mangelt an Antrieb und
Nothwendigkeit, und man findet noch Raum genug innerhalb des alten
Weichbildes. Wenn nur einmal die Eisenbahn eröffnet wird, dann wird es
anders werden, so vermeinen die Leute in Dalmatien. An der Linie nach
Spalato baut man seit einem Jahre und schon sehen die Spalatiner ihren
Hafen zukünftig als den ersten in der Adria, wenngleich mancher Zweifel
rege wird, ob diese Hoffnungen auch festgegründet seien. Man blickt auf
Fiume im Nachbarlande, welches eines schönen Tages sich am Endpunkte
zweier von einander ganz getrennten Bahnlinien sah und heute immer noch
auf die goldenen Früchte wartet. Zunächst wird wohl die Bahn dem Zwecke
dienen, Dalmatien der Monarchie näher zu rücken und der eiserne Strang,
welcher nach Dalmatien reicht, soll ans Land festhalten helfen, damit es nicht
in einen centrifugalen Winkel hineingerathe.
Der Gegensatz zwischen Stadt und Land ist aber auch mit den natio¬
nalen Verhältnissen der Bevölkerung verflochten. Die Masse dieser letzteren
gehört zum slavischen Stamme, welcher trotz der mannigfachen Geschicke des
Landes sich in demselben erhielt. Daß manches fremde Element hineingemischt
wurde, ja daß sich da und dort die Erinnerung an solche Elemente noch
ziemlich deutlich erhielt, ändert schließlich nichts an der eigentlichen Thatsache
und es hieße vergebliches Beginnen, wollte man den vorwiegend slavischen
Charakter des Landes in Abrede stellen. Die Slaven Dalmatiens gehören
der serbischen Völkerfamilie an und ihre Sprache ist ein serbischer Dialect,
kaum verschieden von jener im Fürstenthume Serbien. Daß die Leute in
Dalmatien, namentlich im Binnenlande oft mit dem besonderen Namen der
Morlachen bezeichnet werden, ja daß man die Landschaft um Krim, Sige,
oben auf dem Hochplateau gemeiniglich die Morlachei nennt, ändert nichts
an der Namensverwandtschaft. Es sind dieß gerade so locale Bezeichnungen,
als in Süd - Dalmatien die Landschaftsnamen vorwalten und man von
Pastrovicchianern, von Zuppanern, von Crivoscianern spricht, weil jene in den
gleichnamigen Thalebenen liegen und diese, vom I. 1869 her zu einer über
ihre Berge hinausgehenden Bekanntheit gekommen, auf einer Hochebene über
der an wildromantischen Reizen reichen Bocche die Cattaro, der Crivoscie,
ihr armseliges, aber von hohem Selbstgefühle getragenes Dasein fristen.
Den Crivvsctaner und die ihm benachbarten Gesellen scheidet nur die Grenze,
nicht die eigene Art vom Montenegriner. Sie haben wie er den Typus des
Gebirgssohnes und wohl steht es in Frage, ob diese großen, sehnigen Ge¬
stalten gedeihen würden, wenn man sie von ihren Felsenbergen wegführte,
deren Anblick für den Wanderer etwas unendlich Beengendes hat. Vor
solcher Natur überkommt uns heimliches Grauen und fremd steht man einer
Volksart gegenüber, die in solcher Umgebung aufwächst und deren Luft ein¬
athmet. Drüben in der Herzegowina ist es nicht anders und wenn man dies¬
seits mit engster Sympathie den Kämpfen der Stammesgenossen jenseits der
Grenze folgt, so kann dies nicht Wunder nehmen.
Auch die Leute auf den Inseln geben der Bezeichnung nach ihrer Insel
den Vorzug und der Brazzciner weiß wohl vom Curpetaner oder Lissaner sich
zu scheiden. In den Städten der Inseln und längs der Küste italienisirte
sich die Bevölkerung, welche die Verbindung mit dem Westen nie ganz ver¬
loren hatte und nahm welsche Sprache und Sitte an. Aber daß auch hier
das Slaventhum tief eingedrungen ist, zeigt sich schon an dem Namen der
Familien. Es finden sich wenige von echt italienischem Klang, viele zeigen
den slavischen Stamm mit welscher Form und die überwiegendste Mehrzahl
ist slavisch geblieben. Die Städte konnten sich eben von der Berührung mit
dem Landvolke nicht abschließen; dieses zog immer wieder in deren Mauern
ein und erzeugte die Masse der Bevölkerung, deren aus vorslavischer Zeit
stammende Ueberreste zusammenschmelzen oder durch den steten Contact mit
zahlreichen slavischen Elementen sich in diesen letzteren verflüchtigen. Wohl
kam auch mancher Zuzug von Italien, aus den Ländern der Signoria, welche
darauf bedacht war, die Leitung der Municipien in sicheren Händen zu wissen,
aber dieser Zuzug war mehr der Qualität nach bedeutend. Durch denselben
ward die italienische Sitte in den mittleren und oberen Classen der Bevölkerung
erhalten und erweitert und da sie durch die Cultur in den Städten einen voll¬
kommen italienischen Anstrich bewahrte, und die Slaven durchaus keinen
Gegensatz bieten konnten, so erhielten diese durch lange Zeit gesponnenen
Verbindungen die Neigung zu italienischem Wesen in hohem Grade. Frei¬
lich ging man nicht so weit, diese Neigung auch zu einer politischen zu
machen. Dalmatien hatte erfahren, wie schwer italienische Herrschaft auf
demselben gelastet hatte und es konnte sich nicht einen Augenblick der Täu¬
schung hingeben, daß es jemals eine viel andere Rolle als zur Venetianer-
zeit spielen werde. Auch setzte schon die Eigenthümlichkett des ganzen Hinter¬
landes solchen Gedanken Schranken, die immer nur in den Köpfen unklarer
und von nationalen Tendenzen übermäßig beherrschten Individuen auftauchten.
War aber der politische Zug des Welschthumes in Dalmatien kein großer
und stets nur ein vereinzelter, so übte doch die Hinneigung zur italienischen
Art einen Einfluß aus, welcher gerade in der letzten Epoche zu einer auf¬
fallenden Spaltung im Lande führte und durch dessen Bewohner hindurch
einen großen Riß aufthat.
Die Erfindung der historisch-politischen Individualitäten, jener verwogene
Griff, mit welchem man im Jahre 1860 dem lauten Ruf nach einer zeit¬
gemäßen Verfassung den bändigenden Zügel anlegen wollte, aber gerade eine
Bewegung entfesselte, die weit über alle geahnten Schranken hinaus ging und
aus welcher alle späteren staatsrechtlichen Schwierigkeiten entsprangen, diese
Erfindung fand auch ihr Echo im fernen Küstenlande an der Adria. Kühn
setzte man dort über die Geschichte der letzten Jahrhunderte hinweg, vergaß
Venetianerherrschaft und Türkennoth, vergaß der Art und Weise, in welcher
Dalmatien an Oesterreich gefallen war und flog zurück zu den Zeiten der
kroatischen Größe. Das dreieinige Königreich, worunter man Dalmatien,
Kroatien und Slavonien verstand, ward aus dem Schutt der Geschichte ean-
tonnirt, wenig darnach gefragt, ob die Linien dieser neuen Construction auch
wohl zu den historischen Ueberlieferungen passen. Man schrieb den Anschluß
an Kroatien auf das Programm und drüben in Agram war man recht froh,
hierdurch der Amalgamirung mit dem neubelebten Staate der Magyaren viel¬
leicht entgehen zu können. Denn die Kroaten wollten eigentlich um einen
Schritt weiter zurückgehen, als die Magyaren. Diese nahmen das Ungarn¬
reich zum Ausgangspunkte, als es bereits die Landstriche zwischen Drau und
save fest sich erworben hatte; die Kroaten hingegen liebäugelten mit dem
Zeitalter Königs Kasimir. Es war der Gegensatz zwischen Südslaven und
dem finnisch-ugrischen Völkerreste in der Theiß- und Donauniederung, welcher
hier wieder einmal zur Erscheinung gelangte. Die Partei in Dalmatien,
welche den Anschluß an Kroatien forderte, nannte sich die Nationale. Durch
und durch slavisch war ihr Wesen. Aber es gingen die Dinge nicht nach
ihrem Wunsche. Zuerst nicht, weil man in Wien den Centralismus der
Monarchie immer noch retten zu können glaubte und dann, als diese Idee
im Drange der Ereignisse ihren Halt verloren hatte, weil man jenseits der
Leitha der magyarischen Strömung gerne die Oberhand ließ. In Budapest
aber fühlte man kein Verlangen nach Dalmatien, nicht etwa aus maßvoller
Bescheidenheit, sondern aus Sorge vor Verlegenheiten doppelter Art. Kro¬
atien durfte nicht gestärkt werden, sonst ward es zum Keil in der Einheit
der Stefanskrone und Dalmatien ist ein Land, welches manchen Aufwand
fordert, ehe es zu einer ergiebigen Provinz werden kann. Diese Richtung
zuerst der Wiener, und dann der Pester Politik fand aber Unterstützung im
Lande selbst an der s. g. Autonomisten-Parlet. Unter diesem Namen erscheint
nämlich jetzt die Partei in den Städten, welche italienisches Wesen besitzt
und in deren Reihen die gebildeten, die im Verkehr und in der Verwaltung
tonangebenden Classen vertreten sind. Sie wollen nicht ins slavische Schlepp¬
tau gerathen und sehen in der Selbständigkeit der Provinz als unmittel¬
baren Bestandtheil der Monarchie, natürlich der cisleithanischen Hälfte, die
Rettung vor Slavisirung. Der Widerstreit dieser beiden mit ungebundener
Lebhaftigkeit verfolgten Tendenzen ward sofort zur Signatur des ganzen
Lebens und findet sich überall und herab bis zu alltäglichen Erscheinungen.
Man konnte nur national oder autonom sein; man fragte bei jeder einzelnen
Person immer nur, in welchem Lager sie zu finden sei.
Die Parteifarbe ward zur ersten, zur maßgebenden Qualtfication und
nichts gab es, was die eine Partei der anderen nicht vorwarf oder zum Ver¬
brechen anrechnete. Diesem Hader ward Alles untergeordnet; die Interessen
des Landes mußten zur Seite treten, denn über ihnen stand die Parteispal¬
tung. Die Autonomisten beriefen sich auf ihre hervorragende Stellung als
die Bürger der Cultur, als die Repräsentanten der Bildung; die nationalen
wiesen auf ihre Mehrzahl, auf den alten, wie seither verlorenen Charakter
des Landes als eines slavischen hin. Die Wagschale schwankte oft hin. und
her, aber in letzter Zeit haben die nationalen Oberhand gewonnen. Sie
haben die Majorität im Landtage, sie genießen die volle Gunst des Stadt-
Halters „Baron Rodic", welcher selbst ein Kroäk, mit Leib und Seele am
Slaventhume hängt und sie beherrschen durch ihn die Wahlen zum Parla¬
mente und die Regierungsorgane im Lande. Der gegenseitige Haß der Par¬
teien ist im Wachsen, je mehr die Einen ihren Vortheil erkennen und die
Anderen, die Autonomisten, sich aus ihrer lange behaupteten Position gedrängt
sehen. Die Sachlage ist um so bedauerlicher, als die Provinz des inneren
Friedens bedarf, um sich zu erheben. Vielleicht keine Provinz der Monarchie
ist der Gesammtheit gegenüber in dem Maße passiv, als Dalmatien. Arm
an Bodenproducten, industrielos, ohne Hinterland, welches einen reichen
Verkehrsstrom über dessen Häfen leiten könnte, liegt Dalmatien da und liefert
nur das Werkzeug zur Schifffahrt, kann sich aber des Segens derselben nicht
erfreuen. Der Antheil Dalmat'iens an der Rhederei der Monarchie beträgt
86000 Tonnen, V4 des Ganzen und darunter viel Cabotage.
Türkische Länder dehnen sich hinter den Grenzen aus, aber grade diese
Länder — Bosnien und die Herzegowina — stehen tief in ihrer Entwicklung.
Ihre elenden agrarischen Verhältnisse haben gerade jetzt das Meiste dazu bet-
»etragen, um das Volk gegen die Türken unter die Waffen zu rufen, die
Industrie ist gleich Null und Saumwege stellen die Verbindung mit der
Küste her. nur geringer Ausnahme. So ist die seit Jahren begonnene Strecke
im Narentathale nach Mostar, der Herzegowinischen Hauptstadt, noch immer
unvollendet, obwohl die Regulirung und Trockenlegung dieser jetzt sumpfigen
fieberverpesteten Niederungen von der österreichischen Regierung in Angriff ge¬
nommen wird, um hierdurch dem Verkehr einen neuen Weg zu bahnen. In
Dalmatien lebt man von Hoffnungen und Wünschen; allzuwenig bietet die
Gegenwart und die Central-Regierung hatte nicht viel Muße, ihre Aufmerk¬
samkeit dem Lande zuzuwenden.
Nicht leicht ist die Frage zu lösen, was man für Dalmatien thun solle.
Man kann dem Boden des Landes nicht rasch eine gute Humusschichte geben,
man kann die Bedingungen einer einträglichen Industrie nicht hervorzaubern
und noch weniger vermag man dem Getriebe des Handels ein gebieterisches
Werde zuzurufen. Alles erheischt viel Vorbereitung und große Mittel. Die
Basis jedes Fortschrittes, der Volksunterricht, liegt noch im Argen und eine
Generation tüchtiger und strebsamer Leute muß erst herangezogen werden,
damit ein neuer, dem Einflüsse der herkömmlichen Indolenz entrückter Geist
sich geltend machen könne, damit man wenigstens erkennen lerne, was das
Land bietet. Weiter aber liegt Dalmatiens Wohl nur in seiner Erhebung
zu einem handelsstarken Lande und nur wenn es gelingt, allmälig dessen
Häfen für die große Schtfffahrt wichtig zu machen, kann dem Lande geholfen
werden. Es muß selbst verdienen, was es braucht, sonst bleibt jede von außen
gewährte Unterstützung künstliches Wesen und ohne Dauer. Aber gerade die
Bestrebungen, in diesem letzt angedeuteten Sinne wirklich zu helfen, sind
schwierig, weil sie zu einer Reihe politischer Probleme Anlaß geben und weil
jeder Versuch Oesterreichs in dieser Richtung gar lästige Dinge, die heute
noch gebunden sind, ins Rollen bringen kann.
Jedenfalls sind die erwähnten Verhältnisse darnach angethan, den Blick
der Dalmatiner über ihre eigenen Grenzen und über jene der Monarchie
hinaus zu lenken und wenn im Nachbarlande der Lärm des Krieges erschallt
und der Glauben sich geltend macht, es sei die Zeit einer Neubildung ge¬
kommen , dann ist es begreiflich, daß neben der Stammesverwandtschaft auch
die Hoffnung auf eine günstige Wendung der eigenen Situation lebendig wird
und daß man nicht nur, soweit es die Umstände erlauben, den Brüdern
manche werkthätige Unterstützung im Kampfe gegen den alten Feind und Be¬
dränger zuwendet, sondern auch den Blick auf die Eventualitäten richtet,
welche aus diesem Kampfe für Dalmatien selbst sich ergeben können.
Die Aufrichtung eines nur im Suzeränetätsverhältnisse zur Pforte stehen¬
den Staates in den beiden fraglichen Provinzen erscheint den Einen als die
natürlichste Art der Lösung, während die Andern der großserbischen Idee
zuneigen und die Dritten der österreichischen Monarchie die Aufgabe zusprechen,
das illyrische Dreieck der europäischen Cultur zu sichern. In jeglicher dieser
drei Arten würde das Hinterland für Dalmatien nutzbar gemacht werden können,
freilich darf man sich nicht allzusehr in utopischen Erwartungen wiegen und
etwa in der Meinung befangen sein, daß das Aufhören des türkischen un¬
mittelbaren Einflusses den Anfang sofortiger Blüthe bedeuten werde. Eine
schwere Erziehungsaufgabe des höhnisch-herzegowinischen Volkes ist zuvörderst
zu erfüllen und die Umwandlung der Provinzen zu productionsreichen und
consumtionsstarken Gebieten wird manches Opfer und reichlichen Aufwand
erfordern, ganz abgesehen von dem Umstände, daß mancherlei politische Stre¬
bungen alsbald zur Geltung kommen werden. Und diese Strebungen würden
auch von unmittelbarer Wirkung auf Dalmatien sein und können entscheidend
werden für dessen Zukunft; von der Küste geht zwar die Richtung landein¬
wärts, aber auch vom Binnenlande strebt man nach der See. Welche Rich¬
tung wird dann die stärkere sein? Kann ein selbstständiges oder auch nur
ein suzeränes Staatengebilde im nordöstlichen Theile der Balkanhalbinsel auf
den Anspruch nach Seeküste ganz verzichten? Und wenn wirklich der gro߬
serbische Traum bestimmte, greifbare Formen gewinnt, würde der Druck des
neuen Staates nicht schwer auf dem schmalen Dalmatien lasten? Und wo
wäre der ausgleichende Gegendruck; doch nicht unter den slavischen Stammes¬
genossen §
Diese Fragen schweben über Dalmatien und sie sind ernst. Voraus¬
ahnend den möglichen Gang der Ereignisse, wenn einmal der orientalische
Zersetzungsprozeß in Fluß gerathen ist, wird daher von mancher Seite die
Nothwendigkeit betont, in der Erweiterung der Grenzen Oesterreichs liege der
Schutz gegen die angedeuteten Eventualitäten. Aber nicht nur die harte
Mühe dieser opfervoller Mission flößt Bedenken ein, da noch innerhalb der
Marken der Monarchie so manche nicht weniger schwierige Culturarbeit voll¬
bracht werden muß. sondern auch die staatsrechtliche Seite der Angelegenheit
zeigt sich überreich an Schwierigkeiten. Das zur Annexion bezeichnete Land
ist gerade groß genug, um als sprengten für die dualistische Form der
Monarchie zu dienen. Was man in Pest fürchtete, als man auf Dalmatien
gern verzichtete, würde dann unfehlbar eintreten und der kroatische Gedanke,
jetzt schon in der Form eines südslavischen Complexes wäre nimmer zu bannen.
Der Dualismus erweitert sich zur Trias und mit einem Schlage wäre das
ganze Heer föderalistischer Sonderpläne los. um die Neugestaltung der
Monarchie auf einer Basis zu versuchen, welche von einer großen Gruppe
perhorrescirt wird; denn die Deutschen in Oesterreich wissen recht gut, daß
der Ansturm der Föderalisten gegen sie gerichtet ist, und daß man nach
ihrem Erbe die lüsterne Hand ausstreckt, nach dem Erbe, welches in jahr¬
hundertlanger Arbeit von ihnen erworben ward und in dessen Besitz sie bis¬
her bemüht waren, den österreichischen Staatsgedanken als die Vermittlung
deutscher Cultur an die stammesfremden Nachbarn unter maßvoller Vor¬
herrschaft deutschen Wesens zu verwirklichen.
So liegt der Endpunkt eines langen Fadens im fernen Küstenlande und
er kann zum vielverschlungenen Knoten werden.
Oesterreich schätzt Dalmatien. aber nicht so sehr um seines Werthes an sich,
sondern mehr als den unerläßlichen Faktor seiner maritimen Stellung. Wie zur
Venetianerzeit, so entscheidet auch heute dessen Besitz über die Herrschaft in der
Adria und wenn es gelingt, den Sturm rechtzeitig zu beschwören, welcher am
Horizonte des Ostens wetterleuchtet, so mag vielleicht in besseren Zeitläuften
Dalmatien als eine werthvolle Basis, nach zwei Seiten hin, erscheinen. Darum
hat Oesterreich alles Interesse, daß der augenblickliche Conflict im Wege der
Reform, nicht durch Revolution gelöst, und daß die Emporhebung Bosniens
und der Herzegowina angebahnt werde, ohne daß man zur Unzeit dieselben
aus dem alten Verbände loslöse. Für Oesterreich könnte sich sonst doch die
Nothwendigkeit ergeben, jenen Schritt zu thun, dessen voraussichtliche Con-
sequenzen wir darlegten. Jedenfalls mag es zweckmäßig erscheinen, hier einen
Landstrich ins Gedächtniß gebracht zu haben, welcher trotz seines abgeschlossenen
Lebens dennoch ein Ferment für den ferneren Gang europäischer Entwicklung
in sich schließt.
Der Fall Murat's gereichte den Carbonari zur Befriedigung. Aber die
Ersetzung desselben durch die nunmehr zurückkehrenden Bourbonen behagte
dem republikanisch gesinnten Theile derselben nicht. Andrerseits war der
König Ferdinand dem Bunde abgeneigt. Derselbe hatte ihm Beistand ge¬
leistet, wieder auf den Thron zu gelangen, aber er hatte dafür versprechen
müssen, dem Lande eine Verfassung zu geben, und das gedachte er nicht zu
thun. Er sagte sich von seinem Versprechen los und verbot die Versamm¬
lungen der Carbonari. Der Fürst von Canosa, sein Polizeiminister, ver¬
folgte im Jahre 1819 den Plan, sie auszurotten, indem er sich zur Aus¬
führung desselben der Calderari bediente, die er zu diesem Zwecke umgestal-
tete. Die in diesen Bund Eintretenden mußten folgenden Eid leisten: „Ich
N. N. verspreche und schwöre bei der Dreifaltigkeit. auf dieses Kreuz und
diesen Stahl, das Rachewerkzeug, das die Meineidigen straft, zu leben und
zu sterben im römisch-katholisch-apostolischen Glauben und mit meinem Blute
diese Religion und die Gesellschaft treuer Freunde, die sich die Calderari
nennt, zu vertheidigen. Ich schwöre die Kinder der treuen Freundschaft nie
zu beleidigen oder an ihrer Ehre, ihrem Leben und ihrer Habe zu beschädigen.
Ich schwöre ewigen Haß aller Freimaurerei und ihren abscheulichen Gönnern
und Beschützern, desgleichen allen Jcmsenisten, Materialisten. Molinisten
und Illuminaten. Ich schwöre, daß ich. falls ich durch Gottlosigkeit oder
Leichtsinn meineidig werden sollte, mein Leben verloren haben und mich ver¬
brennen lassen will" u. s. w. Der König aber wollte, als er von dem Ver¬
suche, den Teufel durch einen andern Teufel auszutreiben hörte, nichts davon
wissen, Canosa fiel in Ungnade und wurde verbannt, und so blieben seine
Bemühungen ohne Erfolg.
Im Jahre 1819 erfolgte die Erhebung zu Cadix, wodurch Ferdinand
der Siebente genöthigt wurde. den Spaniern eine Verfassung zu geben. Dieses
Ereigniß regte die Carbonari an, ihre alten Pläne wieder mit einiger Energie
vorzunehmen. Aber es fehlte ihnen an Einigkeit und Entschlossenheit, und
die entstehenden Ränke führten zu Verräthereien, die Vielen von ihnen Ein¬
sparung und Verhaftung brachten. Ein im nächsten Jahre unternommener
Versuch, eine Verfassung zu erlangen, an dessen Spitze der Avbate Menichini
stand, gelang besser. Der Einfluß der Carbonari wuchs, allenthalben ent¬
standen neue Hütten, und selbst die Frauenwelt trat in Verbindung mit der
Seete. Es wurden Damenlogen gegründet, deren Mitglieder «SiarÄmierö».
Gärtnerinnen, genannt wurden und die Namen von Blumen annahmen. Die
Geheimnisse des Carbonarismus wurden zum Theil veröffentlicht, seine Zeichen.
Embleme und Symbole vor aller Welt getragen und in den Kirchen gesegnet.
Aber der Triumph des Bundes währte nicht lange. Oesterreichischer Einfluß,
die Wortbrüchigkeit des Königs und der unter den Carbonari selbst schleichende
Verrath führten schon nach wenigen Monaten die Wiederherstellung des Abso¬
lutismus herbei. Ein österreichisches Heer unter General Frimont jagte die
Neapolitaner mühelos aus einander und hielt dann das Land jahrelang
besetzt. Der König widerrief alle neuen Einrichtungen. Die leidenschaftlichsten
Anhänger des Alten, namentlich Canosa. übten jetzt den leitenden Einfluß,
die geistliche und weltliche Reaction war jetzt ungeduldiger und gewaltthätiger
als je vorher. Die Umgestaltung des Unterrichtswesens im ultramontanen
Sinne, die Bereicherung der Jesuiten, die Erweiterung der Macht der Geist¬
lichen. Missionen und Mirakel zeigten das Uebergewicht, das die clerikale
Partei erlangt hatte. Endlich war die Polizei unermüdlich im Aufspüren und
Verfolgen der Liberalen, und die Prozesse gegen die Verschwörer von 1820
und namentlich gegen die Carbonari wurden ins Endlose ausgesponnen
Oesterreich selbst legte sich endlich ins Mittel, verlangte ein milderes und
vernünftigeres Verfahren und setzte es auch durch, daß Canosa entlassen und
ein neues Ministerium gebildet wurde. Doch dauerte die Gährung noch bis
zum Tode des Königs Ferdinand, der 1826 erfolgte, fort, und die unab¬
lässige Verfolgung der Carbonari und ein strenges Gesetz gegen die geheimen.
Gesellschaften überhaupt, konnten nicht hindern, daß jene sich erhielten, immer
neue Geheimbünde entstanden und die Gefängnisse stets sich mit Verschworenen
füllten.
Die Carbonari im Kirchenstaate erstrebten den Sturz der päpstlichen
Macht und wählten den Augenblick, wo man den Tod des Papstes erwartete,
zur Ausführung ihres Planes. Sie hatten bereits starke Massen bei Mace-
rata, wo sie ihre Wasservorräthe liegen hatten, gesammelt, als der Papst
sich wieder erholte und ihr Unternehmen dadurch vereitelt wurde. Die
Führer geriethen durch Verrath in die Hände der Negierung, und mehrere
derselben wurden zum Tode, andere zu immerwährendem Gefängnisse ver¬
urtheilt.
Auch in Norditalien hatten die Carbonari ihre Logen, und ihr Ziel war
hier die Vertreibung der Oesterreicher. Aber auch hier erreichte man dasselbe
nicht. Vielmehr wanderten eine große Anzahl von Mitgliedern des Bundes,
unter andern Silvio Pelileo. Gonfeloniert, Torelli und Maroncelli, nachdem
man sie vorher an den Pranger gestellt, auf Jahre in die Gefängnisse des
Spielbergs und anderer Festungen der Tedeschi.
Die italienische Carbonari« lag nun eine Weile darnieder, bis sie um
das Jahr 1823 wieder regsamer wurde. In den dreißiger Jahren aber ver¬
schmolz sie mit dem Jungen Italien Mazzini's, dessen Tendenzen wesentlich
auf dasselbe hinausliefen wie die der Carbonari. Einer der letzten Erfolge
des in Italien fortan nicht mehr genannten Bundes war 1831 die Verjagung
der Herzogin von Parma Marie Luise. Einer ihrer Räthe, dem sie am
meisten vertraute, der aber Carbonaro war, begleitete sie bei bei ihrer Flucht
bis an den Wagenschlag und wünschte ihr glückliche Reise. „Was für ein
Judas!" sagte die Fürstin zu ihrer Hofdame. Allein auch diesmal dauerte
der Triumph der Carbonari nicht lange. Nach vier Wochen kam die Herzogin
wieder, nachdem die Oesterreicher die Erhebung gegen sie niedergeschlagen
hatten.
Auch nach Frankreich verbreitete sich der Bund, und zwar soll dieß durch
Vermittelung der politischen Flüchtlinge Joubert und Dugier geschehen sein,
die, nachdem sie eine Zeit lang in Italien gelebt und hier den Carbonari
beigetreten, bei ihrer Heimkehr die Grundsätze und das Ritual der Carbonari
mitgebracht und unter ihren Landsleuten eingeführt hätten. Die Secte machte
unter den Franzosen rasche Fortschritte, indem die Mehrzahl der geheimen
Gesellschaften, die sich hier seit 1816 gebildet, allmälig beitrat. Sie nahm
natürlich hier einen vorwiegend französischen Charakter an, der sich vorzüglich
in größerer Centralisation der Gewalten äußerte. Die Mitglieder nannten
sich hier voarbormiers oder Kons cousins, im Gegensatze zu den Nichtetnge-
weihten, die Mens oder Heiden hießen. Eine Loge oder Venta hatte nie
mehr als 20 Mitglieder. Die Abgeordneten von 20 Beulen bildeten eine
Centralventa, die ihrerseits wieder durch einen Deputirten mit der hohen
Venta ihrer Provinz in Verbindung stand, während diese wieder von der
höchsten Venta in Paris ihre Befehle empfing. Letztere hatte den Grundsatz,
nichts Schriftliches aufzubewahren, sondern mit den Bundesgliedern nur münd¬
lich zu verkehren. Gewöhnlich kannte der Eingeweihte nur die Mitglieder
seiner Venta. Meineid und Verrath sollte nach den Statuten vermittelst der
Hand eines durch das Loos bestimmten guten Vetters mit dem Tode bestraft
werden. Die Verbindung, die allein in Paris mehrere Hunderte von Venter
gehabt und in ganz Frankreich über 60.000 Mitglieder gezählt haben soll,
war namentlich kurz vor und während der Intervention der Franzosen in
Spanien sehr thätig. Es bestand damals ein Ausschuß für militärische
Angelegenheiten des Bundes, auch war der letztere im Heere ziemlich ver¬
breitet. Später dachte man weniger an directe Versuche zu einer Revolution,
als an Vorbereitung des Volksgeistes für eine solche, und nur eine kleine
Zahl von Eingeweihten nahm hieran Theil. Doch bestand der Verein bis
1830, wo Lafayette, sein Haupt, der Herzog v. Montebello, der spätere Justiz,
minister Barthe und andere Führer der französischen Carbonari sich der neuen
Regierung anschlössen. Dagegen entstand jetzt eine „vnarbmmsrik äemoera-
tihus", welche Frankreich in eine Republik verwandeln wollte und alle ihre
Formen von der alten Carbonaria entlehnte. An der Spitze stand Buona-
rotti, der einstige Mitverschworne Baboeuf's, dessen Lehre von der absoluten
Gleichheit den Katechismus der Secte bildete; Teste und der Deputirte d'Ar-
genson waren nächst jenem die hervorragendsten Leiter. Im Widerspruch mit
jener Gleichheitstheorie erschien diesen Führern Paris der Mittelpunkt und
der vornehmste Ort der Welt, und in dieser Auffassung der Dinge arbeiteten
sie auf einen Absolutismus dieser Stadt und weiter auf den Absolutismus
eines Einzelnen, des Bundeshauptes, hin, als aus eine demokratische Dictatur,
und dieses Streben, Alles von Paris abhängig zu machen, führte zu Spal¬
tungen. Namentlich sagten sich mehrere italienische Flüchtlinge von der Ge¬
nossenschaft los. um das Junge Italien zu gründen, woraus sich allerlei
Kämpfe und gegenseitige Anklagen entwickelten. Diese Reibungen und Zänke-
reien machten die Hauptbeschäftigung der Herren Verschwornen aus, und ob-
wohl die Charbonnerie bis zur Revolution von 1848 fortdauerte, ist sie doch
ohne erkennbaren Einfluß auf dieselbe gewesen.
Neben den italienischen Carbonari ging noch eine Anzahl von Geheim¬
bünden mit ähnlicher Tendenz her. In Messtna wurde um das Jahr 1820
die Loge der „Patriotischen Reformatoren" gegründet, die mit Logen
in Florenz, Mailand und Turin vermittelst musikalischer Noten correspon-
dirte. In Palermo entstand 1823 die Secte der „Italienischen Lite-
ratursreunde", die mit ihrem Namen politische Tendenzen sehr weitgehen¬
der Art verdeckte. In jeder Stadt hatte sie einen Delegaten, welcher „Der
Radicale" hieß und die Befugniß hatte, sich zehn Andere beizugesellen, denen
er dann als „Centurio" vorstand. Die Aufgenommenen hießen „Söhne" und
hatten das Recht und die Pflicht, wieder um sich zehn geeignete Leute als
Loge zu sammeln. Bet den Aufnahmen stellten die Candidaten den „Bruder
Barrabas" vor, während Christus ihnen als Tyrann gegenüber stand, was
wohl so zu deuten ist, daß Christus die tyrannische Kirche, Barrabas das
nach Befreiung vom Drucke derselben sterbende Volk sein sollte. Man er¬
kannte einander an einem Ringe und unterzeichnete seine Briefe durch die be¬
kannten Buchstaben hö. R. ^. Die Gesellschaft war eine Zeit lang sehr
gefürchtet, schadete aber ebenso wenig, als sie nützte, sie schadete eigentlich nur
sich selbst, insofern sie die Gefängnisse füllen half. Besonders reich an poli¬
tischen Seelen waren kurz vor und in den Jahren der Restauration Calabrien
und die Abruzzen. Wir begegnen hier um das Jahr 1813 den Geheimbünden
der „Europäische Patrioten" oder „Weiße n Pilger", den „ Phila-
delphtern" und den „Decisi" (Entschiedener), die sich dann über ander
Theile Italiens verbreiteten und militärisch organisirt waren. Die Logen der
letzteren nannten sich „Decisionen", die der Weißen Pilger „Schwadronen",
die der Phtladelphter „Lager". Die bedeutendste dieser Secten waren die
Decisi. Sie sollen in ihrer Blüthezeit gegen 40,000 Mitglieder gezählt haben,
hielten ihre Zusammenkünfte, bei denen sorgfältig Schildwachen ausgestellt
wurden, bei Nacht ab und übten sich in einsam gelegnen Häusern und ver-
lassnen Klöstern in den Waffen. Ihre Absicht ging darauf, Neapel zu über¬
fallen und dort die Republik auszurufen, aber die Umstände waren nicht
günstig, und so begnügte sich ihr Führer Ciro Annichiaro, das Land als
höherer Räuberhauptmann mit Mord und Brandschatzung heimzusuchen.
Annichiaro war ursprünglich Priester. Wegen eines Mordes, den er aus
Eifersucht begangen , sollte er auf fünfzehn Jahre in die Verbannung gehen, ent¬
floh aber in die Bergwälder und trat hier an die Spitze einer Bande von flüchtigen
Verbrechern, mit denen er dann allerlei wilde Thaten verübte, wie er denn unter
Anderm zu Martano in das vornehmste Haus der Stadt eindrang und nachdem er
der Herrin desselben Gewalt angethan, sie mit allen ihren Leuten ermordete und
96,000 Ducati raubte. Er stand im Verkehr mit allen Briganten Süditaliens,
und wer einen Feind beiseite geschafft zu sehen wünschte, hatte sich nur an
ihn zu wenden. Die Zahl der von ihm eigenhändig Umgebrachten soll 60
bis 70 betragen haben. Seine Behendigkeit, Schlauheit und Unerschrocken-
heit waren erstaunlich. Er war ein vortrefflicher Reiter und Schütze, und das
Glück, mit dem er den größten Gefahren entschlüpfte, ließ das Volk ihn als
einen Gefeiten betrachten. Obschon er Priester war und gelegentlich die Funk¬
tionen eines solchen ausübte, war er ein Freidenker, der seine Amtsbruder,
ohne Zweifel mit Recht, für glaubenslose Betrüger ansah. Er verbot den
Missionspredigern bei Todesstrafe, sich in den Dörfern seiner Gegend blicken
zu lassen, „weil sie statt der wahren Grundsätze des Evangeliums nichts als
Fabeln und Täuschungen lehrten." Man rühmte ihm die Gabe der Bered¬
samkeit und zugleich außerordentliche physische Kraft nach. An allen Orten,
die er durchzog, hatte er Maitressen. AIs König Ferdinand auf den Thron
Neapels zurückkehrte, rief er alle wegen ihrer politischen Vergehungen Ver¬
triebenen heim. Ciro versuchte auch als ein solcher zu gelten, aber es erging
sofort ein neuer Befehl zu seiner Verhaftung, und jetzt trat er, nachdem er
sich derselben durch die Flucht entzogen, an die Spitze der Decisi, mit deren
Hülfe er der Regierung lange Zeit Trotz bot und allerhand Unthaten an den
Anhängern derselben verübte, bis man endlich den General Church gegen die
Secte sandte, dessen Truppen Ciro in einem befestigten Bauernhause bei Fran-
cavilla belagerten und schließlich zur Ergebung zwangen. Ein Kriegsgericht
verurtheilte ihn zu Pulver und Blei. Ein Priester bot ihm die letzten
Tröstungen der Religion an. Er wies ihn lächelnd mit den Worten zurück:
„Keine Possen, wir sind von demselben Handwerk, lachen wir einander nicht
in die Gesichter." Auf der zur Hinrichtung bestimmten Stelle angekommen,
wollte er stehend sterben. Man hieß ihn mit dem Rücken den Soldaten zu¬
gekehrt niederknien, dann fiel er, von zwanzig Kugeln getroffen, starb aber erst,
als man ihm noch eine silberne Kugel, und zwar aus seinem eignen Gewehre,
durch den Kopf jagte. „Er war gefeit, und der Zauber ließ sich nur auf
diese Weise brechen", meinte einer von der Executionsmannschaft später sehr
ernsthaft. Nach Ciro wurden noch 130 Decisi erschossen und ihre Köpfe auf
Stangen gesteckt. Die Farben der Decisi waren Blau, Roth und Gelb. Sie
stellten ihren Bundesbrüdern Certificate aus, die mit zwei Siegeln versehen
waren, von welchen das obere einen Todtenkopf mit einer phrygischen Mütze
und daneben zwei Beile, das untere Blitzstrahlen zeigt, die auf eine Königs¬
krone und die Tiara herniederzuckten. Die Großmeister der Logen hatten die
Befugniß Todesurtheile auszusprechen und vollziehen zu lassen. Wenn sie
an jemand schrieben, um ihm Contributionen abzupressen, so fügten sie, falls
der Betreffende im Unterlassungsfalle mit Ermordung bedroht sein sollte, vier
Punkte hinzu.
Andere geheime Gesellschaften jener Zeit waren die „ H end e n l osen
die von einem gewissen Manuel gegründet wurden, Simson als ihren Patron
verehrten und nur kurze Zeit bestanden, die „Gespenster in der Gruft",
die 1822 cristirten und den Sturz der Bourbonen in Neapel erstrebten, und
die „Neue Reform", die, etwas später auftretend, nur solche ausnahm,
die schon den Carbonari, den Freimaurern oder den Europäischen Patrioten
angehört hatten, und aus deren Ritual wir den Eid und eine Stelle des
Katechismus mittheilen. Jener lautete: „Ich X. 5l, verspreche und schwöre,
in Ewigkeit ein Feind der Tyrannen zu sein, nie sterbenden Haß gegen sie
zu hegen und, wenn sich Gelegenheit bietet, sie zu erschlagen." In dem Kate¬
chismus aber finden wir folgendes Zwiegespräch: „Wer bist Du?" — „Dein
Freund." — „Woher kennst Du mich?" — „Ich sehe die Last, die Deine
Stirn drückt, auf der ich in blutigen Buchstaben lese: Siegen oder Sterben."
— „Was willst Du?" — „Die Throne zerstören und Galgen aufrichten."---
„Mit welchem Rechte?" — „Mit dem Rechte der Natur." — „Zu welchem
Zwecke?" — „Um mir den glorreichen Namen eines Bürgers zu verdienen."
— „Und willst Du Dein Leben wagen?" — ,,Jch achte das Leben geringer
als die Freiheit."
Schön gegeben, nicht? Aber herausgekommen ist bei diesen blutigen
Großsprechereien nicht das Geringste. Die guten Leute verschworen sich eben¬
so wie die meisten andern nur, um sich zu verschwören.
Wieder eine andere politische Secte Italiens in der Restaurationszeit
waren die „Neuen Französischen Liberalen". Sie zählte nur
wenige, darunter aber einige vornehme Mitglieder und erwartete bei ihrem
Streben nach Freiheit amerikanische Hülfe. Sie trugen an ihren Uhren ein
schwarzes Band mit einem goldenen Petschaft, einem Stückchen Koralle und
einem stählernen Ringe. Das Band sollte ein Symbol des ewigen Hasses
der Freigesinnten gegen die Unterdrücker sein, das goldne Petschaft sollte an¬
deuten, daß man zu Erfolgen viel Geld bedürfe, der Stahlring, daß man
dazu auch Waffen nöthig habe.
Einer der neuesten mit den Carbonari verwandten politischen Geheim¬
bünde Italiens war der Verein, der sich das „Ap ost via t D ante's" nannte.
Derselbe wurde 18S5 gegründet, hatte vorzüglich in der Romagna viele An¬
hänger und bemühte sich, nationale Ideen zu verbreiten. An der Spitze
stand Tamburini, ein wohlbekannter Patriot, und auch sonst zählte die Ge¬
sellschaft Leute zu Mitgliedern, die auf politischen und literarischem Gebiete
Ruf und Ansehen genossen. Von unmittelbarem Erfolg aber waren ihre
Bemühungen nicht. Im December 1836 wurden Tamburint und seine Ge-
nossen verhaftet, und nach fast dreijähriger Untersuchung verurtheilte das
Gericht jenen zu zwanzigjähriger und die Uebrigen zu zehnjähriger Einsperrung.
Pio Nouv weigerte sich, obwohl die Richter selbst sich für die Verurtheilten
verwendeten, die Strafe zu mildern. Doch wurden 1859 die fünf jüngsten
der letzteren freigelassen, und im Jahre daraus setzte das Volk die Uebrigen
in Freiheit. '
Ein wichtiger Knoten in dem großen Netze der verschiedenartigsten Ver¬
schwörungen . welches Italien in der Restaurationszeit überzog, waren die
Guelphen, die mit den Carbonari in Verbindung standen, indem sie die
Angehörigen der höheren Grade der letzteren zu Führern nahmen. Sie theil¬
ten sich in „Nathsversammlungen" von je sechs Mitgliedern, die einander
aber nicht kannten, sondern durch Vermittelung eines von ihnen, welcher der
„Sichtbare" hieß, mit einander in Verbindung standen. Diese Nathsversamm¬
lungen, von welchen jede ihren besonderen Namen, als „Tugend", „Ehre",
„Gerechtigkeit" hatten, und deren wir in Mailand, Venedig und Florenz an¬
treffen, hatten ihr Centrum in einem obersten Rathe, der in Bologna resi-
dirte. In ihren Bestrebungen mit diesen verwandt waren die „Delphischen
Priester". Ihre Loge hieß das „Schiff", ihr Vorsteher der „Lootse". In
ihrem Katechismus werden die Freunde Frankreichs „Heiden", die Oesterreichs
„Ungeheuer", die Deutschen „Wilde" genannt. Sie erwarteten „Hülfe vom
Ocean" (Amerika) in der Zeit der „Cur" (eines großen Krieges).
Ferner gehören bis zu einem gewissen Grade hierher die „Amerika¬
nischen Jäger", die 1819 in Ravenna entstanden, und welche unter An¬
dern Joseph Bonaparte und Lord Byron zu ihren Mitgliedern gezählt haben
sollen. Sie hofften auf eine Rückkehr Napoleon's, der mit Hülfe Amerikas
dem Liberalismus zum Siege verhelfen sollte. Aehnliche krause und kindische
Ansichten hegten und verbreiteten die „Söhne des Mars", die, meist aus al¬
ten Offizieren des gestürzten Kaisers recrutirt, ihre Logen „Bivvuacs", ihre
Candidaten „Freiwillige", ihre Mitglieder „Korporale" und ihre Stuhlmeister
„Sergeanten" nannten; ferner der Verein der „Schwarzen Nadel", die
»Ton nenritter", und die „Gesellschaft der allgemeinen Wieder¬
geburt", die den Zweck verfolgte, Napoleon an die Spitze eines conföderir-
ten Italien zu stellen, wo er den Titel „Kaiser von Rom von Gottes Gna¬
den und durch den Willen des Volks" führen sollte. Endlich sind hier noch
die „ Illuminaten " der Restaurationszeit zu erwähnen, eine Secte, welche
in Frankreich entstand, aber, als sie hier auf zu große Hindernisse stieß, nach
Italien verpflanzt wurde. Sie hatte die Idee, die napoleoniden auf den fran¬
zösischen Thron zurückzuführen. Bis zur Mündigkeit des Königs von Rom
sollte dessen Mutter Marie Louise Regentin und Napoleon, von Se. Helena
befreit, der Oberbefehlshaber des Heeres werden. Die Gesellschaft setzte sich
mit Las Casas in Verbindung, der nach Bologna, wo die Hauptloge war,
kommen sollte. Aber, wie kaum hervorgehoben zu werden verdient, von einem
ernstlichen Versuche, zu vollbringen, was man wollte, war nicht die Rede,
und ebenso wenig hatten spätere Umtriebe der Napoleonisten, die bis 1842
fortdauerten und von Peter Bonaparte, Lady Christina Stuart, der Tochter
Lucian Bonaparte's, der Marchesa Pepoli und der Gräfin Lipona sowie dem
Grafen Rasponi geleitet wurden, irgendwelchen Erfolg.
Schließlich sollte auch die Sache des Papstthums und der Reaktion durch
Geheimbünde gefördert werden, von denen wir nur die bekannten „Sanfe-
disten" des Cardinals Consalvi, die „ Cor Sisto rialen " und die „Apo¬
stolische Kongregation" nennen. Die Consistorialen, deren leitender Geist
der Exjesuit und Beichtvater des Papstes, Tabvt war, und zu denen außer
vielen römischen Adeligen auch der Herzog von Modena zählte, wollten vor
Allem Vergrößerung des Kirchenstaates durch Toscana und Modenas durch
Lucca und einen Theil der Lombardei, sodann aber ein strenges theokra-
tisches Regiment mit Erhaltung der feudalen Rechte. Die Congregation ent¬
stand unter dem Einflüsse Lammenais' in Frankreich und verbreitete sich von
hier nach Oberitalien. Ihre Lehre war ein mystisches Gemisch von Theo-
kratie und Freiheit — Feuer und Wasser. Man erkannte sich an einem gel¬
ben Bande mit fünf Knoten. Die Logen bestanden immer nur aus je fünf
Mitgliedern, das Paßwort hieß „Eleutheria", Freiheit (seil, der Kirche vom
Staate), das geheime Wort der höheren Grade „Ode", was Unabhängigkeit
(seil, von den bürgerlichen Gesetzen) bedeuten sollte. Man machte viele große
Worte, empfand tief, tiefer, am tiefsten, gefiel sich in mystischer Spielerei und
hatte in seiner Unschuld keine Ahnung, daß die päpstliche Weltherrschaft, von
der man träumte, selbst in ihrer verklärtesten Gestalt nothwendig eine ärgere
Sklaverei der Völker und der Einzelnen im Gefolge haben mußte, als die
napoleonische, die man — die Gesellschaft entstand während der Gefangen¬
schaft Pius des Siebenten — gebrochen zu sehen wünschte.
Der Erlaß des Kultusministeriums betreffend die angebliche Ueberbürdung
der Schüler höherer Lehranstalten, vorzüglich der Gymnasien, mit häuslichen
Arbeiten, hat für und wider bereits mannigfache Besprechung erfahren, und
namentlich haben sich aus den Kreisen der Fachmänner mehrfach abwehrende
Stimmen geltend gemacht, da es fast scheint, als sollte die Schuld an jenem
Uebelstande dem Ungeschick der Lehrer zugeschoben werden. Daß eine solche
Ueberbürdung vorhanden, wird von feiner Seite bestritten, der Grund davon
aber theils in den zu hohen Anforderungen des bestehenden Lehrplans, theils
in den veränderten Bedingungen des modernen Lebens gesucht. Die That¬
sache als solche wollen auch wir nicht in Abrede stellen, behaupten aber, daß
jede Ueberbürdung ihrem Wesen nach immer mehr oder weniger relativ
ist. Was der eine von unseren Zöglingen spielend leistet, das vermag mit¬
unter der andere beim besten Willen nicht zu Stande zu bringen; noch an¬
deren wieder kostet dieselbe Leistung einen unverhältnißmäßigen Aufwand an
Zeit und Mühe. Woher kommt es nun, daß das Contingent der letzteren
jetzt so angewachsen ist, daß man von einer allgemeinen Ueberbürdung
sprechen kann? An der Methode kann es nicht liegen, denn diese hat in den
letzten Jahren entschiedene Fortschritte gemacht, auch auf den Gymnasien.
Ich erinnere mich nicht, daß sich irgend einer von unseren Lehrern diese
Mühe gegeben hätte, um uns einen Unterrichtsgegenstand leicht und ange¬
nehm zu machen, wie wir es jetzt mit unseren Schülern thun. Wir mußten
ungleich mehr im Schweiße unsers Angesichts arbeiten. Was wußte man
damals, namentlich auf den Gymnasien, vom sogenannten Anschauungs¬
unterricht, von gruppirender Methode, von zweckmäßig eingerichteten Uebungs¬
büchern und Grammatiker, die den Lernstoff in knappster und faßlichster
Form bieten, kurz von allen jenen Künsten, mit denen man heute der Auf¬
fassung und dem Gedächtniß der Schüler zu Hülfe zu kommen sucht? —
Es ist wahr, die Anforderungen des Lehrplans sind hoch, aber durchschnittlich
nicht höher als früher. Der alte Lehrplan war einfacher, einheitlicher, in
sich geschlossener, da die alten Sprachen in entschiedenster Weise den Mittel-
Punkt bildeten. Heute ist dieser Unterrichtszweig in mehrfacher Hinsicht ent¬
lastet und die dadurch gewonnene Zeit den Realfächern zugewandt, so daß
von einem wirklichen Plus in den Anforderungen nicht die Rede sein kann.
Höchstens kann man sagen, daß die größere Mannigfaltigkeit der Lehrgegen¬
stände leicht geeignet sei, ven jugendlichen Geist zu verwirren; aber diese Ge¬
fahr läuft die Realschule noch mehr als das Gymnasium, welches noch immer
das von rnultg., sha nullum befolgt. Sollte auch darin allein der Grund
der Ueberbürdung liegen? Jedenfalls dürfen die Anforderungen nicht herabgesetzt
werden. Das Gymnasium ist unsere höchste Schule. — das Wort Schule im
engeren Sinne verstanden, in welchem es die Universitätsstudien nicht mit umfaßt.
Die in Wissenschaft und Kunst, im Staat und in der Gesellschaft gegenwärtig
das Höchste leisten, haben zumeist diese Schule durchlaufen und hier ihre Vor¬
bildung genossen. Eine höhere Vorbildung als das Gymnasium bietet, eine
andere für alle idealen Berufsavten giebt es überhaupt nicht. Den Stand¬
punkt des Gymnasiums Herabdrücken, heißt die Leistungen der Nation auf den
bezeichneten Gebieten verringern, heißt die Stellung aufgeben, die unser Volk
in der Reihe der Culturvölker einnimmt. — Der Fehler liegt auch gar nicht
in der bisher angedeuteten Richtung; er liegt weder in dem bestehenden Lehr¬
plan, noch in den Lehrern, die nothwendig mit dem ersteren in Conflikt kommen
müssen, wenn sie ihre Anforderungen an den häuslichen Fleiß ihrer Schüler
noch mehr herabsetzen. Auch die häusliche Erziehung trägt nicht allein die
Schuld, obwohl diese leider oft genug den idealen Zwecken der Schule ent¬
gegenarbeitet. Aber das war von jeher so. Es ist überhaupt oberflächlich,
alles dem modernen Zeitalter und dem angeblich herrschenden Materialismus
in die Schuhe zu schieben. Auch wenn man von weichlicher, falscher Huma¬
nität in der modernen Jugenderziehung spricht, so ist das nur sehr theilweise
richtig und trifft noch lange nicht den Kern der Sache, von der wir sprechen.
Nach unserer Meinung liegt der Grund der lautgewordenen Klagen aller¬
dings in den modernen Lebensverhältnissen, aber in keiner Verschlechterung
derselben. Es ist oben darauf aufmerksam gemacht worden, daß jede Ueber¬
bürdung immer nur relativ ist, daß dieselbe Aufgabe von dem einen mit
Leichtigkeit zu Stande gebracht, von dem andern aber als Ueberbürdung
empfunden wird. Daß nun die Klagen wegen Ueberbürdung so allgemein
geworden sind, das liegt hauptsächlich in der Qualität un se r er sah üler.
Früher d. h. noch vor etwa dreißig Jahren war es nur ein ausgesuchter
Bruchtheil der Bevölkerung, der seine Kinder zu den Gymnasialstudien an¬
hielt. Nur besonders begabte Knaben wurden auf das Gymnasium gegeben
und zwar meist in der Absicht, sie einer wissenschaftlichen Laufbahn zuzu¬
führen. Das Gymnasium war eben noch wirklich die höchste, die eigentliche
Gelehrtenschule. Heute ist das Gymnasium, so zu sagen, Mädchen für alles.
Nur ein schwacher Bruchtheil der Schüler, die wir in den unteren und
mittleren Klassen haben, ist für die gelehrten Studien in Aussicht genommen
und auch wirklich dazu geeignet. Man sieht es an der Art und Weise, wie
bei den Versetzungen die Generationen aus einander stieben. Von einer Ge¬
neration, die in Sexta und Quinta 30 oder 40 Köpfe zählte, sind nachher
in Prima oft nur 3 oder 4 übrig, die regelmäßig die Klaffen durchlaufen
haben. Der größte Theil fällt vor Obersecunda ab, was auch seinen guten
Grund hat. Dieser betrachtet das Gymnasiam nur als Mittel zum Zweck,
nämlich um die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienste zu erlangen
Diese leidige Berechtigung, die mit unserm Secundanerzeugnisse verbunden
ist, verschafft uns einen Ballast unbrauchbarer Köpfe, die nicht das Talent
für klassisches und überhaupt für wissenschaftliches Studium haben und
auf jeder anderen Schule weit bessere Fortschritte machen würden. Dem
Gymnasium dienen sie nur als Hemmschuh und drücken den Durchschnitt
der Leistungen herab. Aus diesen Kreisen stammen auch die Klagen wegen
Ueberbürdung. Soll der Lehrer ihnen allemal nachgeben, so kann er es
nur auf Kosten der mehr begabten, der eigentlichen Gymnasialschüler,
d. h. das Gymnasium giebt seine hervorragende Stellung auf. Trotzdem ist
das Bestreben, welches heutzutage auch die minder gebildeten Stände beherrscht,
ihren Kindern eine höhere, wenn möglich, eine Gymnasialbildung zu geben,
entschieden ein lobenswerthes; auch soll nicht geleugnet werden, daß durch die
Nöthigung. die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienste auf einem
Gymnasium oder einer Realschule 1. Ordn, zu erwerben, eine Menge idealer
Bildungselemente unter Volksklassen verbreitet werden, die sich sonst wenig
um dergleichen bekümmern würden. Aber es geschieht auf Kosten der wahr¬
haften höheren Bildung, des geistigen Fortschritts der Nation, denn es wer¬
den diejenigen dadurch geschädigt, welche dazu berufen sind, dereinst denselben för¬
dern zu helfen. Das Gymnasium darf in diesem Streite nicht nachgeben, es
darf sich und seinen Lehrplan nicht verkürzen lassen, aber es muß entlastet
werden von den unbrauchbaren Elementen, die es schon seit Jahren in seiner
Entwickelung hemmen. Die Schule ist überbürdet, nicht die Schüler. Eine Ent¬
lastung kann aber nur geschehen durch Reorganistrung der Mittelschulen resp,
durch Einrichtung höherer Bürgerschulen, denen Berechtigung zur Ausstellung
von Zeugnissen zum einjährig-freiwilligen Dienste ertheilt werden muß. Diese
müssen eine allgemeine Bildung, auch in den fremden, namentlich neueren
Sprachen gewähren, wie sie für einen jungen Menschen erforderlich ist, der
sich der subalternen Beamtencarriere oder einer kaufmännisch-industriellen
Branche widmen will. Es ist dies ein Lieblingsgedanke des bisherigen Ber¬
liner Stadtschulraths Dr. Hofmann, eines unserer einsichtsvollsten und sach¬
verständigsten Schulmänner. Mit Durchführung dieses Gedankens würde
nicht nur einem allgemein gefühlten Bedürfnisse genügt, sondern es würden
auch die höheren Schulen entlastet werden von jenen retardirenden Elementen,
die ihnen die Erreichung ihres Zweckes, eine wissenschaftliche Vorbildung zu
geben, so sehr erschweren. Auch die Klagen wegen Ueberbürdung der Schüler,
Ueberfüllung der Klassen, mangelhafter Durcharbeitung des Lehrstoffes und,
was sonst damit zusammenhängt, würden verschwinden, denn jener ganze
Bodensatz geringerer Geister, der jetzt vor der Thür der Obersecunda oder
schon etwas früher niederfällt, würde von vornherein nach den Mittelschulen
abfließen, wo derlei Köpfe in ihrer Art immer noch etwas Tüchtiges leisten
kö
Vor einiger Zeit verbreiteten amerikanische und europäische Blätter das
Gerücht, die Regierung der Vereinigten Staaten beabsichtige eine energische
Demonstration gegen Spanien in Bezug auf Cuba; und es knüpfte sich
hieran die Vermuthung, Präsident Grant wolle die nordamerikanische Union
in eine Verwickelung mit einer auswärtigen Macht stürzen, um so die „Um¬
stände" herbeizuführen, unter welchen er, seinem an die republikanische Staats¬
convention von Pennsylvanien gerichteten Briefe gemäß, seine Wiedererwäh-
lung zum Präsidenten für eine Nothwendigkeit halten würde. Der Schluß
des z. Z. vielbesprochenen Briefes vom 29. Mai t875 lautete aber also: „Ich
bin weder jetzt ein Kandidat für die Präsidentschaft, noch habe ich mich je¬
mals um dieselbe beworben. Eine angebotene Nomination würde ich nicht
annehmen, es sei denn, dieselbe träte unter solchen Umständen
an mich heran, die mir dieselbe zu einer gebteterischenPflicht
(an imperative äutz?) machen würden."
Das erwähnte Gerücht schien auf den ersten Blick hin etwas Wahr¬
scheinliches für sich haben. Verschiedene amerikanische Blätter veröffentlichten
Privatnachrtchten, welche von bedeutungsvollen Aeußerungen eines Beamten
des Staatsministeriums in Washington City erzählten, die dahin gingen, daß
dem Kampfe auf Cuba, der den Interessen der Vereinigten Staaten fort¬
während großen Schaden zufüge, ein Ende gemacht werden müsse, u. f. w.
Selbst in diplomatischen Kreisen rief die Sache einige Beunruhigung hervor.
Hieß es doch sogar, Don Carlos habe dem Könige Alfonso seinen Beistand
gegen Amerika angeboten. Dann kamen Nachrichten von einer drohenden
Note, die vom Gesandten der Vereinigten Staaten, Herrn Cushing, der spa¬
nischen Regierung präsentirt worden sei, von der Absenkung einer spanischen
Kriegsflotte nach den amerikanischen Gewässern, von der Verstärkung des
nordamerikanischen Flottengeschwaders der Vereinigten Staaten, u. s. w.
Späteren Nachrichten zufolge handelte es sich einfach nur um eine Revision
des zwischen den Vereinigten Staaten und Spanien bestehenden Vertrags von
Jahre 1795, der für Amerika sehr lästige (ver/ onerous) Bestimmungen ent¬
hielt, solche Bestimmungen, wie sie sich in keinem andern Vertrage, den die
Union mit sonstigen Staaten abgeschlossen hat, vorfinden. Namentlich ver¬
langte die Regierung der Vereinigten Staaten, daß Spanien denjenigen ameri¬
kanischen Bürgern, welche etwa vor ein Kriegsgericht auf Cuba gestellt werden
sollten, das Recht eingeräumt werde, sich eigene Advocaten zu nehmen. Der
Vertrag von 1793 enthielt über diesen Punkt keine oder doch nur sehr un¬
klare Bestimmungen.
Mittlerweile ist nun am 6. December der amerikanische Congreß eröffnet
worden und sind zugleich mit der Botschaft des Präsidenten Grant die mit
Spanien gepflogenen diplomatischen Correspondenzen veröffentlicht, wie der
Telegraph jüngst meldete allerdings mit Ausschluß der auf die letzten
Verhandlungen bezüglichen Aktenstücke. Dieser letztere Umstand läßt es denn
auch noch immer als zweifelhaft erscheinen, ob in der That der Meinungs¬
austausch zwischen den Vereinigten Staaten und Spanien überall „in durch¬
aus freundschaftlichem Tone gehalten ist", wie der Telegraph sich ausdrückte,
und ob die zwischen den beiden genannten Staaten geführten Verhandlungen
in gegenseitig zufriedenstellender Weise vor sich gingen. Bezüglich der Jn-
surrection auf Cuba heißt es in dem vorliegenden Auszuge aus der dem
amerikanischen Kongresse am 7. December mitgetheilten Präsidentenbotschaft,
daß der Aufstand fortdauere, ohne Rücksicht auf die Bestimmungen der Ge¬
setze, ohne Rücksicht auf die Gebote der Civilisation und Humanität, ohne Hoff¬
nung auf ein baldiges Ende. Die Mächte würden daher wohl bald genöthigt
sein, sich darüber schlüssig zu machen, was ihre Pflicht und ihr Interesse erheische.
Präsident Grant hege die Hoffnung, daß Spanien den Conflikt zu Ende
bringen werde; bis setzt seien aber alle darauf zielenden Anstrengungen ver¬
geblich und die Lage der Dinge in keiner Beziehung verändert. Auf der an-
dern Seite hätten auch die Insurgenten keine derartige Organisation der bür¬
gerlichen Verhältnisse zu Stande zu bringen vermocht, daß daraus hin eine
Anerkennung derselben als ausführbar angesehen werden könnte. Eine solche
Anerkennung würde mit den faktischen Verhältnissen unverträglich sein. Den
Insurgenten die Rechte einer kriegführenden Macht zuzuerkennen, würde gegen
die Gebote der Klugheit verstoßen und verfrüht und unausführbar sein.
Sollte indeß eine Pacifieation in Bälde nicht zu erzielen sein, so würde
er (Grant) es für seine Pflicht halten, noch im Laufe der gegenwärtigen
Session dem Congresse diejenigen Vorschläge zu machen, welche er für erfor¬
derlich hielte.
Man sieht. Präsident Grant verfolgt, wie dies auch in der Natur der
Sache liegt, die spanischen Verhältnisse und die Dinge auf Cuba mit auf¬
merksamem Blicke und hält ein etwaiges Einschreiten der Mächte, namentlich
der Vereinigten Staaten, sehr für möglich, ja für nothwendig. Trotz alledem
mögen wir an eine baldige ernstliche Intervention seitens der nordamerika¬
nischen Union noch nicht glauben, zumal wenn diese Intervention dazu dienen
sollte, die Wiedererwählung Grant's zu ermöglichen. Wir glauben hier mit
Karl Schurz, daß Grant, wenn er jemals daran dachte, sich durch eine der¬
artige auswärtige Diversion im „Weißen Hause" zu behaupten, die günstige
Gelegenheit dazu ungenützt hat vorübergehen lassen. Nicht jetzt, sondern
vielleicht im vorigen Frühjahr, kurz nach der Vertagung des Congresses. war
GrenbotenIVI
für ihn der günstige Moment zu einer Einmischung in die Cubawirren ge¬
kommen. Damals war die Majorität in beiden Häusern des Congresses
Herrn Grant entschieden günstig gesinnt. Wäre damals ein Conflikt mit
Spanien vom Zaune gebrochen worden, so hätte die Grantadministration
die Union durch herausfordernde Schritte mit Hinblick auf die bekannte
Virginius-Affaire so compromittiren können, daß thatsächliche Feindseligkeiten
ohne große nationale Blamage unvermeidlich geworden wären. Freilich
hätte kein Krieg in aller Form ohne Zustimmung des Congresses erklärt
werden können, aber die Unionsregierung hätte es in der Macht gehabt, sich
so stark zu engagiren, daß selbst einem unwilligen Congresse ein Conflikt
sich als der einzig ehrenhafte Ausweg dargeboten hätte.
Jetzt aber liegen die Dinge anders. Das Repräsentantenhaus in
Washington City wird von einer der Grantadministration feindlichen Majo¬
rität controllirt. Selbst die Republikaner des Bundessenats würden, mit sehr
wenigen Ausnahmen vielleicht, nicht geneigt sein, die Administration in einem
so waghalsigen Spiele zu unterstützen. In der Gegenwart und unter der
unmittelbaren Aufsicht des versammelten Congresses derartige Verwickelungen
herbeizuführen, würde kaum möglich sein, besonders da man ziemlich allgemein
der Grantregierung mit nicht geringem Mißtrauen auf die Finger sieht.
Ueberdies hat sich die politische Situation in den Vereinigten Staaten so
geändert, daß so desparate Mittel, wie ein auswärtiger Krieg, der Grant-
fraction, wenn nicht überflüssig, doch gefährlich erscheinen mögen, wenn
anders die Absicht, kriegerische Verwickelungen zu veranlassen, jemals be¬
standen hat.
Aber selbst im vorigen Frühjahre würden sich der Ausführung eines
solchen Planes bedeutende Hindernisse in den Weg gestellt haben. Nach den
uns gewordenen Informationen sind wir überzeugt , daß sich im Innern des
jetzigen Cabinets des Herrn Grant ein hartnäckiger Widerstand geltend ge¬
macht haben würde. „Man irrt," so schrieb kürzlich Karl Schurz in seinem
Organe, der „Westlichen Post", „wenn man glaubt, daß das ganze Cabinet
den dritten Amtstermin Grant's begünstige. Wahrscheinlich nicht mehr als
zwei Mitglieder desselben würden sich dazu verstehen, zu einem solchen Zwecke
den Frieden des Landes zu gefährden, und das Forciren einer solchen Politik
würde unzweifelhaft zur Auflösung des Cabinets geführt haben. Wir wollen
nicht behaupten, daß im Grant'schen Familienrathe die Absicht eines aus¬
wärtigen Krieges ernstlich gehegt worden ist. Aber hätte man auch daran
gedacht, so ist doch die günstige Gelegenheit unbenutzt vorübergegangen, um
nicht wieder zurückzukehren. Für die Aufrechthaltung des Friedens wird jetzt
schon der Congreß sorgen, wer immer auch einen Krieg wünschen mag."
Wie die „New-York Tribune" meldet, giebt es allerdings in den Ver-
einigten Staaten zwei Sorten von Leuten, die einen Krieg mit Spanien
herbeiwünschen. Die eine Sorte dieser Leute besteht aus Geldspekulanten,
die kubanische Bonds in Händen haben und das Steigen dieser jetzt fast
ganz werthlosen Papiere von einem Kriege mit Spanien erhoffen. Diese
Bondshalter treiben sich in Washington City umher und haben Verbindungen,
welche bis in das .Weiße Haus" reichen; es sind, wie das genannte Blatt
sagt, „wenig achtbare Abenteurer" (äisrexutMö ^Äveuwrers). denen man
das Schlimmste zutrauen kann. Mit ihnen im Bunde stehen gewisse Poli¬
tiker, die noch immer die Hoffnung nicht aufgeben, durch einen Krieg die
Wiedererwählung Grant's und damit ihren eigenen Einfluß zu sichern. Die
Leiden der Insel Cuba, das Unrecht, welches amerikanischen Bürgern dort
widerfahren sein soll, die Handelsinteressen der Union, die Emancipation der
Sklaven auf Cuba, die nationale Ehre und der militärische Ruhm sind in
dem Munde dieser Leute nur klingende Worte, mit denen sie das Volk der
Union aufzustacheln suchen; ihr wahrer Zweck ist die Verlängerung der
Grantregierung und ihr eigenes Interesse. Allein auch die ..New-York
Tribune" ist der Ansicht, daß es so bald nicht zu einem Kriege mit Spanien
kommen wird, da die große Mehrzahl der jetzt lebenden Bevölkerung der
Vereinigten Staaten aus guten Gründen den Frieden aufrecht erhalten
haben will.
Die oben erwähnte Botschaft des Präsidenten Grant enthält aber außer
der Cubafrage noch manche interessante Punkte, deren Besprechung wir uns
indeß vorbehalten müssen, bis uns die ganze Botschaft im Wortlaute vor¬
liegt. Nur den einen Punkt möchten wir schon jetzt als wichtig erwähnen,
daß Präsident Grant die Erhebung jedweder Abgaben für die Zwecke von
Schulen von bestimmten Religionssekten als verderblich hinstellt und die
Besteuerung des Eigenthums der Kirchen empfiehlt. Hiermit zielt
er offenbar auf das Umsichgreifen des Ultramontanismus in den Ver¬
einigten Staaten und den wachsenden Reichthum der katholischen Kirche.
Seit Jahren concentrirt sich in Frankreich das politische Interesse auf
die endlosen Schachzüge und Verschiebungen der Parteien im Versailler Schloß-
theater. Man thut, als hinge das Seelenheil des ganzen Landes daran, ob
schließlich die Republik oder die Monarchie, und wiederum ob im letzteren
Falle das Königthum oder das Kaiserthum siege. Ich erlaube mir der
ketzerischen Ansicht zu sein, daß diese Frage, vom Standpunkte des Landes
und nicht von dem der Partei aus beurtheilt, von höchst untergeordneter
Bedeutung ist. Ob Republik, ob Monarchie, ob Königthum, ob Kaiserthum,
so gewiß die französische Geschichte niemals wieder hinter das Jahr 1789
zurückgeschraubt werden kann, so gewiß wird die herrschende Staatsraison
der von den Bonapartes begründete Cäsarismus bleiben. Das erste Kaiser¬
reich, die Restauration, das Julikönigthum, die Republik von 1848, das zweite
Kaiserreich sind dahingesunken. aber wie ein ehernes Monument stehen noch
heute die fundamentalen Organisationen des ersten Napoleon. Der Neffe
des gewaltigen Imperators hat nichts Anderes gethan, als die Ziele des
Oheims inmitten eines kleineren Geschlechts mit kleineren Mitteln verfolgt.
Was man ihm niemals verzeihen wird, ist die Unfähigkeit und mehr noch
das Unglück seiner auswärtigen Politik; in Betreff der inneren Lage aber
kann es keinem aufmerksamen Beobachter verborgen bleiben, daß sich ganz
Frankreich im Stillen längst nach den Fleischtöpfen des verhöhnten „Bas-
Empire" zurücksehnt. Im Grunde hat es denn auch die gegenwärtig be¬
stehende „Republik" weder unter Thiers noch unter Mac Mahon gewagt,
nicht allein mit den Maximen, sondern nicht einmal mit dem Personal der
napoleonischen Verwaltung zu brechen. Paris, Lyon und Marseille mit
ihrem permanenten Belagerungszustande sind heute sogar rechtloser, als unter
Louis Napoleon. Ein seltsames Gefühl beschleicht den Fremdling, wenn ihm
in den Theatern der Hauptstadt des neuesten „Freistaats", von der großen
Oper bis hinab zu dem unbedeutendsten Volkstheater, und ebenso an den
sonstigen abendlichen Verguügungsorten außer dem Troß der Polizeibeamten
auch die Militärwache mit Gewehr und Bajonett begegnet. Ich habe auch
nicht die Ueberzeugung gewinnen können, daß man in Paris trotz seiner
radicalen Wahlen, in der großen Masse der Bevölkerung wirklich an die
Republik glaube; überall begegnet man dem ausgesprochensten Skepticismus,
der nur insofern variirt, je nachdem der Urtheilende die politischen Dinge
mit einem gewissen cynischen Gleichmuth oder in pessimistischer Weise zu be¬
trachten gewohnt ist. Kurz, es herrscht das Gefühl, daß, was die „Versailler"
auch beschließen mögen, es im Grunde doch beim Alten bleiben wird.
Von ungleich schwerer wiegender Bedeutung, als das lärmende Gezänk
um Staats- und Regierungsform, ist dermalen in Frankreich die großartige
und kühne Action des Ultramontanismus. In unbegreiflicher Verblendung
haben die liberalen Parteien dieselbe heranwachsen lassen, bis sie ihnen eines
schönen Morgens mit dem famosen Gesetz über die „Universitätsfreiheit" den
Fuß auf den Nacken setzte. In Deutschland hatten wir während der letzten
Jahre wiederholt Ursache, an dem sprichwörtlichen strategischen Talent der
Jesuiten einigermaßen zu zweifeln, in Frankreich dagegen haben dieselben mit
alter Virtuosität opertrt. Die Ausbeutung des nationalen Chauvinismus
für ihre Sache war ein Meisterstreich. Dieselbe ist nun schon zur feststehenden
Institution geworden. Nicht nur die großen „Nationalwallfahrten" nach
Lourdes und Paray-le-Monial. zu welchen in der Hauptstadt durch riesige
Plakate unter Ankündigung ermäßigter Eisenbahnpreise eingeladen wird,
sondern auch die gewöhnlichen Kirmessen müssen diesem Zwecke dienen. So
sah ich Anfang September in Se. Cloud mannshohe Anschlagzettel, welche
für das achttägige Fest des Heiligen der Stadt zur Wallfahrt einluden und
„völligen Ablaß" anboten, dies Alles aber unter besonderer Hervorhebung
der Loosung: „?our 1s reveil as 1a toi et 1s Salut as 1adralles.« Zur
Erleichterung der Pilgerfahrten wurde ein Ertradampfschiffdienst eingerichtet
und 8 Tage lang hallte von den lachenden Ufern der Seine der Kehrreim
des bekannten Liedes wieder: „8z,roe2, sauve? Roms se 1a Francs!"
Recht lehrreich ist in dieser Beziehung auch das Studium der jüngeren
unter den zahllosen Votivtafeln. mit denen die Wände der Kirche Notrs vains
<1«s vietoirss in Paris bedeckt sind, jener Kirche, welche zur Feier der Be¬
siegung der Hugenotten errichtet wurde. Ganz unverkennbar drückt sich die
Freude über die ersten Triumphe des Ultramontanismus z. B. in folgender
Inschrift aus -. «Nerei, ses. Vierte, vous avs- sauvs notre lioimsur!
1871 — 1872." Schade nur. daß jene frommen Pilger deutscher Zunge,
welche im September nach Lourdes wallfahrteten. an der Ausführung ihrer
Absicht, zur besseren Illustration ihres Patriotismus in N. v. äos victoirss
ebenfalls eine Tafel zu stiften, verhindert wurden!
Ihren vollen Ausdruck hat die Verquickung des Klerikalismus mit dem
Chauvinismus in dem neubelebten und gewaltig aufgebauschten Herz-Jesu-
Kultus gefunden. Wie vornehm auch die radicale und liberale Pariser
Journalistik dies Treiben belächelte, die Hauptstadt mußte es sich doch ge¬
fallen lassen, zum Tummelplatz des höchsten Triumphes dieses grandiosen
Jesuitenschwindels gemacht zu werden. Mit der Grundsteinlegung der Herz-
Jesu-Kirche auf dem Montmartre am 16. Juli d. I. wurde bekanntlich zu¬
gleich ganz Frankreich dem „heiligen Herzen" geweiht. Noch fand ich freilich
die Stätte des in den großartigsten Verhältnissen geplanten Tempels öde und
leer und profane Zungen wußten Allerlei zu erzählen von mangelnder Opfer¬
willigkeit der Gläubigen und dem entsprechend sehr geringer Aussicht, den
Bau zur Ausführung zu bringen. Ich bin aber der Ansicht des Windmüllers
der benachbarten „valstts". welcher meinte: „Wenn diese Herren das Geld
haben wollen, so haben sie es auch." Auf jenem Punkte, der wie keine
andere der innerhalb der Enceinte liegenden Anhöhen die ungeheure Stadt
beherrscht, an den zugleich sich die merkwürdigsten Erinnerungen knüpfen,
von dem Martyrium des heil. Dionys bis herab auf die Ermordung der
Generale Lecomte und Thomas, mit welcher Greuelthat am 18. März 1871
das Signal zum Communeaufstande gegeben ward — auf diesem Punkte,
hart über den belebtesten und glänzendsten Stadtvierteln, wird sich über kurz
oder lang das stolze Gebäude erheben, das seiner Entstehung nach einen Hohn
bedeutet auf die gesammte moderne Civilisation und späteren Geschlechtern
vielleicht als das traurigste Denkmal des geistigen Verfalls der Nation
Voltaire's und Rousseau's, der Enkel der „großen Revolution" gelten wird. —
Daß übrigens der heilige Charakter, der dem Montmartre seit dem 16. Juli
nun doppelt und dreifach anhaftet, auf die Bewohner desselben noch ziemlich
einflußlos geblieben ist, wurde mir in anmuthig-drastischer Weise klar ge¬
macht. Während ich die äußere Construction der Peterskirche, einer aus dem
12. Jahrhundert stammenden Wallfahrtskirche betrachtete, trällerte im offenen
Fenster eines benachbarten Hauses eine reizende „pstite dlaneniLSkuse" ein
schalkhaft Liedlein, dessen Refrain lautete:
Lar e'sse 1s möillsur in^ri,
I^s in»!'i <lui xas spouss.
Mir scheint, hinter diesem Verschen verbirgt sich eine Sinnesrichtung, die zu
der Weihung vom 16. Juli wohl jeder verwandtschaftlichen Beziehung er¬
mangelt. Sollte jedoch ein der Mysterien der Marie Alacoque Kundiger des
Liedchens dunklen Sinn weniger weltlich zu deuten im Stande sein, so bin
ich gern bereit, mich belehren zu lassen.
Indeß, dies nebenbei. So frivol die Pariser Bevölkerung im Allge¬
meinen sein mag. so hat doch die Kirche eine ungeheure Macht über sie. In
den höheren Ständen ist es stehende Regel, daß, während der Mann rationa¬
listisch denkt, die Frau bigot ist. Zu jeder Tageszeit, besonders natürlich
zu den Stunden der Messe, begegnet man in den Pariser Kirchen einer auf¬
fallenden Anzahl elegant gekleideter Damen; vor Se. Roch, der von den
Damen der Aristokratie am eifrigsten besuchten Kirche, drängen sich am Sonn¬
tag die Equipagen in langen Reihen. Aber auch in den unteren Schichten ist
der antikirchliche Geist keineswegs so weit verbreitet, beziehungsweise so ent¬
schieden zum Durchbruch gekommen, wie man nach der bestialischer Behand¬
lung der Priester unter der Commune eigentlich erwarten sollte. In dem
verrufensten Arbeiterviertel der ganzen Stadt, in Belleville, erhebt sich die
schönste von sämmtlichen neueren Kirchen in Paris. Bezeichnender aber noch
sind die Erfahrungen, welche man auf den Friedhöfen dieser Vorstädte machen
kann. Von der feierlichen Pracht des Pere Lachaise und ähnlicher klassischer
Begräbnißstätten ist da freilich nichts zu bemerken; höchstens in der Mitte
findet sich eine Reihe ähnlicher Grabkapellen, welche jenen den großartig-monu¬
mentalen Charakter verleihen; alles Uebrige liegt in einer wahrhaft herzzer¬
reißenden Vernachlässigung. Aber kaum einen Grabhügel wird man finden,
auf dem nicht aus Schmutz und Unkraut ein Heiligenbildchen oder sonst irgend
ein kirchliches Symbol hervorschaute. Mag man darin immerhin ein gedanken¬
loses Festhalten an hergebrachter Sitte erblicken, grade die „Gedankenlosigkeit"
würde beweisen, daß von einem bewußten feindseligen Gegensatz der großen
Masse gegen die Kirche nicht die Rede sein kaun.
Um diesen unzerstörbaren Einfluß der Kirche erklärlich zu finden, braucht
man übrigens nur die Art und Weise des Elementarunterrichts in Erwägung
zu ziehen. Von den 530—540 Pariser Volksschulen sind fast ein Viertel
Congreganistenschulen, werden also ausschließlich von Geistlichen geleitet; was
die übrigen betrifft, so ist, den radicalen und materialistischen Aspirationen
des Pariser Gemeinderaths zum Trotz, durch Gesetzgebung und Verwaltung
hinreichend dafür gesorgt, daß sie sich der klerikalen Einwirkung nicht ent¬
ziehen. Um wahre Religiosität mag es bei einem also erzogenen Geschlechte
vielleicht herzlich schwach bestellt sein, aber was kümmert das die vaticanische
Hierarchie, wenn sie nur gefügige Werkzeuge in der Hand hat! Freilich ist
es wahr, daß in revolutionären Momenten der Pfaffenhaß nirgends intensiver
ans Licht tritt und nirgends blutiger befriedigt wird, als in Paris; aber
liegt darin nicht gerade der schlagendste Beweis, daß man in dem Priester-
thum die eigentlich herrschende Kaste fürchtet? Es ist die wilde Weise, wie
Sklaven sich auflehnen. Und die Weise des Sklaven ist es nicht minder,
wie man nach vorübergebraustem Sturm in die alte Knechtschaft zurückfällt.
Alle Deklamationen der Pariser Presse mögen sie im Stile der pathetisch-
radicalen Drohungen der „Republique frau^aise" gehalten werden oder mit
der marklos-selbstgefälligen Weisheit des „Journal des Debats" getränkt
sein, alle Demonstrationen im Quartier latin, selbst die radicalen Majoritäten
bei den Wahlen vermögen die Thatsache nicht zu vertuschen, daß nicht allein
in Frankreich im Allgemeinen, sondern auch speciell in der Hauptstadt der
Klerus die stärkste und, was noch mehr sagen will, die siegreich vorschreitende
Gewalt ist. Mit ihm vor Allem wird sich, wer die Capitale beherrschen will,
auf guten Fuß zu stellen haben. Selbst Herr Gamvetta, wenn irgend eine
wunderbare Fügung ihn an die Spitze führte, würde sich zu der Erkenntniß
des Navarresers bequemen müssen, daß Paris eine Messe werth sei.
Nach Besprechung einer Jnterpellation in Betreff der Strandung des
Dampfers „Deutschland" beschäftigte sich am 13. Dezember der Reichstag mit
den drei Gesetzentwürfen: 1. Ueber das Urheberrecht an Werken der bilden¬
den Kunst. 2. Ueber den Schutz der Photographien gegen unbefugte Nach¬
bildung auf mechanischem Wege. 3. Ueber das Urheberrecht an Mustern und
Modellen. Die Einzelheiten der Vorlagen und die wenigen vom Reichstag
beschlossenen Aenderungen beschäftigen uns hier nicht. Bei der dritten Lesung
der erwähnten Gesetzentwürfe, welche ebenfalls in dieser Woche erfolgte, ent¬
wickelte der Abgeordnete A. Reichensperger in einem vortrefflichen Vortrag die
Gründe des niedrigen Standes der deutschen Kunstindustrie, die mit dem
bisher mangelnden Schutz der Erfindung bei weitem nicht erschöpft sind
und daher mit dem Eintreten dieses Schutzes auch nicht beseitigt wer¬
den. Wie wohlthuend ist es doch, ein Mitglied derjenigen Partei, die in
einer nun schon langen palamentarischen Vergangenheit fast nur als Gegnerin
der Reichsparteien aufgetreten, über eine vaterländische Angelegenheit, die
freilich nicht politischer Natur ist, mit solcher Sachkenntniß sprechen zu hören.
Der einsichtsvolle Vortrag wurde vom ganzen Hause mit Aufmerksamkeit ent¬
gegengenommen. Man kann nicht umhin zu bedauern, daß man mit Männern
in Feindschaft leben muß, wenn auch nur in politischer, deren Kräfte für
gute vaterländische Werke so wohl zu gebrauchen wären. Wer und was da¬
ran Schuld ist, darüber ließe sich eine Weihnachtsbetrachtung anstellen, die
wir unterdrücken müssen. Uebrigens finden wir, daß auch der eingehende
Vortrag Reichensperger's wenigsten? Einen Grund für den wenig befriedigenden
Stand des deutschen Kunstgewerbes übersehen hat, auf den wir wohl Anlaß
erhalten werden, zurückzukommen.
Bei der ersten Lesung der Strafgesetznovelle beschloß der Reichstag, eine
Anzahl Artikel einer Commission zu überweisen, die Einzelberathung der
übrigen Artikel sogleich im Plenum vorzunehmen. Diese Einzelberathung oder
zweite Lesung begann am 14. Dezember. Man begann mit den Artikeln,
welche Ausländern, die im Ausland gegen Deutschland Hochverrath, Münz¬
verbrechen oder gegen deutsche Staatsbürger Handlungen begehen, welche das
deutsche Gesetz bestraft, mit denselben Strafen wie den Inländer bedroht.
Der Ausländer kann natürlich wegen solcher Handlungen nur verfolgt wer¬
den, wenn er sich in den Bereich der deutschen Strafjustiz begiebt. Es ist
nicht die Rede davon, den fremden Mörder eines Deutschen im Ausland dort
durch deutsche Beamte aufgreifen zu lassen, wie einzelne Abgeordnete sich einge-
bildet zu haben schienen. Es ist nur die Rede davon, den Mörder eines
Deutschen, den die ausländische Justiz nicht bestrafen wollte oder konnte, für
dessen Verbrechen eine völkerrechtliche Sühne zu erlangen nicht möglich war, an
der Frechheit zu hindern, daß er nach Deutschland kommt und etwa die Ange¬
hörigen seines Opfers durch gemüthliche Höflichkeit belästigt. — Eine spätere
Zeit wird diese Sitzung vom 14. Dezember als eine merkwürdige aus¬
zeichnen, in welcher eine Handhabe für den Schutz des deutschen Staatsbürgers
im Auslande, welche der größte Staatsmann seiner Zeit vom deutschen Reichs-
tag forderte, von diesem abgelehnt ward. Und warum abgelehnt? Aus
juristischer Weisheit und Gewissenhaftigkeit. Der Reichskanzler hatte gesagt,
die Schutzlosigkeit der Deutschen im Auslande gegen Verbrechen sei gegen die
nationale Würde. Herr Dr. Hänel sagte: man könne dies zugeben, aber
das Gefühl der Würde dürfe nicht mit dem Gerechtigkeitsgefühl collidiren.
Ist das nicht echt deutsch? Jedes Parlament der Welt würde einstimmig
beschließen: wenn die nationale Würde mit der Gerechtigkeit collidirt, so hole
die Gerechtigkeit, wer will! Aber wir sind in einem deutschen Reichstag,
da geht es in einigen Dingen anders zu. als in der ganzen übrigen Welt.
Aber diese Juristen, die die nationale Würde in den Wind schlagen für die
Gerechtigkeit, wie sie das nennen, für die Juristerei, wie verständige Leute
sagen, diese Juristen waren bei weitem nicht die schlimmsten. Es fand sich
auch eine Figur, allerdings vom Reichstag mit einstimmigem Gelächter und
nachher vom Abgeordneten Bamberger mit einem ernsthaften Proteste beehrt,
welche den Reichskanzler vor der Unmöglichkeit warnte, in Folge solcher
Strafgesetzparagraphen „dem ganzen großen Ausland diesseit und jenseit
des Oceans den Krieg erklären zu müssen". — Die Paragraphen wurden ab¬
gelehnt. Darauf folgte die Ablehnung derjenigen Paragraphen, worin der
wenig glückliche Versuch gemacht war, den sogenannten beendeten Versuch zu
einem besonderen Vergehen zu machen. Ein Paragraph der Novelle, welche
die nicht criminell zu ahndenden Handlungen der Kinder zum Ausgangspunkt
Pädagogischer Schutzmaßregeln macht, wurde angenommen, dagegen der Para¬
graph, welcher an die Handlungen der Staatsanwaltschaft wegen begangener
That die Unterbrechung der Verjährung knüpft, abgelehnt. An die Reihe
kamen nun zwei von den sogenannten Kautschukparagraphen, von denen
der eine, § 85, der bisher strafbaren direkten Aufforderung zu einer straf¬
baren Handlung die indirekte Aufforderung hinzufügt, der zweite, § 110,
in gleicher Weise neben der direkten Aufforderung zum Ungehorsam gegen
Gesetze und obrigkeitliche Anordnungen die indirekte strafbar macht. Die
Paragraphen wurden beinahe einstimmig abgelehnt. Man sieht deutlich, daß
dieselben auf die socialdemokratische und ultramontane Agitation zielen wollten,
welche von der indirekten Aufforderung zum Ungehorsam den ausgiebigsten
Gr
Gebrauch macht. Gleichwohl kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die
strafbare Qualifikation dieser indirekten Aufforderung auch in der Fasfang der
Novelle einen gefährlichen und unannehmbaren Grundsatz in das Strafrecht
einführen würde, den Grundsatz nämlich, eine Art Handlungen als strafbar
zu qualifiziren, unter die logisch solche Handlungen subsumirt werden können,
die niemals strafbar sein dürfen. Der Zweck der Paragraphen muß und kann
auf andere Weise erreicht werden. Zu bedauern bleibt es aber, daß nicht
durch einen Vertreter der Reichsregierung die Gründe, welche zum Vorschlag
dieser Paragraphen geführt haben, ausführlich dargelegt worden sind. Die
Reichsregierung sah wohl von vorn herein nach der Stimmung des Reichs¬
tags ihre Sache für verloren an. Wenn man aber solche Vorschläge macht,
so ist es doppelt und dreifach nöthig, sich zu rechtfertigen, weshalb man sie
gemacht. Eine nachdrückliche Erläuterung der Gründe hätte nicht nur eine
Rechtfertigung für die Regierung, sondern auch ein Sporn für den Reichstag
werden können, dem Zweck der Paragraphen durch Aufsuchung von sachge¬
mäßeren Mitteln nachzukommen, bezw. den Reichstag auf die Annahme
solcher Mittel vorzubereiten.
Ein ganz anderes Schicksal hatten die Paragraphen, welche die Straf¬
minima für thätlichen Ungehorsam gegen Beamte erhöhen. Sie wurden an¬
genommen mit der einzigen Veränderung, daß die beliebten mildernden Um¬
stände und die Möglichkeit, bei ihrem Vorhandensein unter das Strafmtni-
mum herabzugehen, eingefügt wurden. Die Annahme dieser Paragraphen
mag theilweise einer außerhalb des Reichstages weitverbreiteten Stimmung,
zum großen Theil aber wohl dem nachdrücklichen Eintreten des Reichskanzlers
für dieselben bei der ersten Lesung zuzuschreiben sein. Eine Erörterung der
Abstimmung vom criminalpolitischen Gesichtspunkt wollen wir heute nicht vor¬
nehmen, sondern uns mit der Anerkennung begnügen, daß die Annahme eine
Nothwendigkeit war. Daß mit dieser Abstimmung die Aussichten auf einen
Conflikt mit dem Reichskanzler gemindert sind, wird allen vaterlandliebenden
Kreisen willkommen sein.
Am 15. Dezember wurde ein Gesetz angenommen, welches den Bundes¬
rath ermächtigt, innerhalb Monatsfrist — die Regierungsvorlage hatte eine
dreimonatliche Frist vorgeschlagen — nach Erlaß der betreffenden Verordnung
die Thaler aus ihrer bisherigen Rolle als Repräsentanten der Goldwährung
auf die bescheidnere Stufe der neuen Reichssilbermünzen herabzusetzen, welche
Niemand in höherem Betrage als bis zu zwanzig Mark in Zahlung zu
nehmen verpflichtet ist. Man bezeichnet dieses Gesetz wohl etwas zu empha¬
tisch als die beendigende Durchführung der Goldwährung. nominell ist
dies allerdings richtig; thatsächlich aber wird der Thaler, so lange er nicht
eingezogen ist. seine bisherige Rolle fortspielen, was den täglichen Verkehr
anlangt. Viel schlechtere Geldsorten als die guten und vertrauten Silber¬
thaler hat sich der Verkehr gefallen lassen müssen in Form wilder Kassenscheine,
obwohl nicht nur keine Verpflichtung der Annahme, sondern sogar das Ver¬
bot derselben existirte. Aber wer getraut sich schlechtes Geld zurückzuweisen,
wenn die Folge der Zurückweisung ist, daß das Geschäft rückgängig gemacht
wird oder daß die Zahlung ins Unbestimmte verschoben wird? Es war
einer der handgreiflichsten Irrthümer der früheren Manchesterschule, daß der
Verkehr aus eigner Kraft sich der schlechten Geldsorten erwehren könne.
Hier handelt es sich nun vollends um eine gute Geldsorte. Dennoch hat das
Gesetz seine Bedeutung, denn für die eigentlich großen Zahlungen macht es
den Thaler allerdings unanwendbar. Daß die Durchführung der Goldwäh¬
rung überdies keine Gefahren mehr hat. legte der Bundesbevollmächtigte
Camphausen mit berechtigter Selbstzufriedenheit dar, ohne freilich auf den
Einwand Sonnemann's eine Antwort zu haben, daß die während einer ge¬
wissen Periode nicht vermiedene Häufung der Umlaufsmittel das Ihrige zum
Sinken des Geldwerthes beigetragen habe.
In den übrigen Sitzungen dieser Woche ist zunächst der Reichshaushalt
erledigt worden, wobei die beiden neuen Steuern verworfen, das Defizit durch
eine erhöhte Jneinnahmestellurig verschiedener Posten nach Vorschlägen des
Abgeordneten Richter entfernt worden ist. wohl gemerkt: auf dem Papier
entfernt. Die Vertreter der Reichsregierung haben sich jedoch gefügt, dem
Reichstag die Verantwortlichkeit überlassend für das erhebliche Defizit, dem
er sich möglicherweise im nächsten Jahr gegenüber befinden wird.
Am 17. Dezember wurde ein Gesetz, welches eine Bestimmung der jetzt
bestehenden Brausteuer abändert, berathen. In Metningen, Gotha und Reuß
ältere Linie wird nämlich ein Zuschlag zur Reichsbrausteuer erhoben, dessen
Berechtigung mit dem nächsten Jahr außer Kraft tritt. Die Regierungs¬
vorlage wollte die Berechtigung zur Erhebung dieses Zuschlages bis auf
Weiteres, d. h. bis zum Erlaß einer neuen reichsgesetzlichen Bestimmung er¬
strecken. Durch die Bemühung des Abgeordneten Laster wurde der Zuschlag
indeß nur auf Ein weiteres Jahr bewilligt. Wir hätten diesen Gesetzentwurf
füglich übergehen dürfen, wenn er nicht dem Abgeordneten A. Reichensperger
Anlaß zu einer interessanten Elegie auf die Bierverfälschung gegeben hätte.
Glycerin, Herbstzeitlose, Kockelskörner und Pikrinsäure sind eine böse Vier,
aber keineswegs die Vollzahl der Bierverfälschungsmittel. Nimmt man doch
zum Berliner Weißbier selbst Schwefelsäure. So beklagenswert!) das Thema
^, so hatten wir doch einigermaßen den Eindruck, als verlange Herrn Reichen¬
sperger bereits nach dem wohlthuenden Erfolg, den er unmittelbar darauf mit
dem Vortrag über das Kunstgewerbe erreichte, im Sinne der ganzen Ver-
Sammlung zu sprechen. Hier hatte er sich aber das Mittel zur Bekämpfung des
Uebels nicht genügend überlegt. Er schlug eine höhere Besteuerung der ge¬
fälschten Biere vor. Aber wenn man die Fälschung so genau controliren
könnte, dürfte man ihre Produkte offenbar nicht besteuern, sondern man
müßte sie, wie in England geschieht, von Gesundheitsamtswegen in die Schmutz¬
kanäle schütten und die Fälscher obendrein bestrafen. Die Ausstattung des
Reichsgesundheitsamtes mit den nöthigen Geldmitteln, Personalkräften und
vor Allem mit den nöthigen Befugnissen ist der einzig mögliche Weg zur
Bekämpfung der gerügten Uebel.
Am 18. Dezember wurde der Reichshaushalt in dritter Lesung ge¬
nehmigt. Der Abgeordnete v. Minnigerode nahm Anlaß, die Bedenken der
conservativen Partei auszusprechen über die Art, wie das Gleichgewicht im
Haushalt ohne neue Steuern hergestellt worden, dies trug ihm den Hohn
der Herren Rickert und Richter ein, von denen der Erste den Redner ironisch
bedauerte, daß er nicht mit neuen Steuern vor seine Wähler treten könne.
Also nicht das Interesse des Reichs, sondern das Prtvatinteresse der Wähler
soll für die Haltung der Abgeordneten Ausschlag gebend sein! Herr Richter
vergißt, daß er bei dieser Art von Appellation Concurrenten hat an den
Sozialdemokraten, denen er mit seinen Angeboten nicht gewachsen sein dürfte.
Der Abgeordnete Laster, der dem conservativen Redner auf dessen Klage eines
ungerechten Vorwurfes gegen die conservative Partei in sehr maßvoller, und
wir müssen sagen, in liebenswürdiger Weise antwortete, unterließ doch nicht
zu sagen, daß die finanziellen Ausführungen des Herrn v. Minnigerode durch
die Abgeordneten Rickert und Richter „nach Verdienst" gewürdigt worden.
Gleich darauf verlangte er aber die Einrichtung großer Reichsämter mit voll¬
ständiger Ausstattung. Soll diese Ausstattung etwa aus den Beständen
erfolgen, die jetzt aufgezehrt werden? Kanäle bauen, einen großen Verwal¬
tungsorganismus einrichten, darunter Behörden für neue oder bisher ver¬
nachlässigte, aber höchst nothwendige Zwecke, wie die öffentliche Gesundheits¬
pflege, die Privateisenbahnen ankaufen, gemeinnützige Bedürfnisse auf die
billigste und beste Weise befriedigen bei Post und Telegraphie u. f. w., das
Alles soll das Reich. Aber dabei soll es mit Matrikularbeiträgen wirth¬
schaften! Ist das die gerühmte Laster'sche Logik? Nachdem noch einige
Gegenstände ohne politische Bedeutung erledigt, vertagte sich der Reichstag
bis zum 19. Januar 1876. Die lange Pause ist durch den gleich zu Anfang
des neuen Jahres erfolgenden Zusammentritt der neugebildeten preußischen
Provinziallandtage bedingt.
Ich hätte nun noch Gelegenheit, mich über die parlamentarischen Aus¬
sichten zu verbreiten, mit denen das Jahr schließt, zumal die Redaktion der
„Grenzboten" mich durch eine, meinem vorigen Brief beigefügte Frage auf
den Stuhl der Pythia gerufen. Ich halte es aber für besser, den wohl¬
thätigen Einfluß der Weihnachtsferien durch keinerlei Erwägung unerwünschter
Möglichkeiten zu gefährden. Was jene specielle Frage anbetrifft, so wird sie
sich von selbst wieder aufdrängen, und ich sage nicht, daß ich der Einladung
Unsere Abgeordneten im deutschen Reichstag fahren fort zu deklamiren
und Bußpredigten zu halten, wie einst Sanct Johannes in der Wüste, und
auch so ziemlich mit gleichem Erfolge resp. Nicht-Erfolge. Namentlich die
Sitzungen vom 10. und 11. Dezember legen Zeugniß ab von der ungeheuren
Redseligkeit dieser Herren, die nahezu an altweibische Schwatzhaftigkeit grenzt.
Wie früher der Pfarrer von Hagenau, so haben sich jetzt die Abbe's Simonis
und Winterer in dieser Hinsicht auf das Rühmlichste hervorgethan. Der
Pfarrer von Mülhausen hat sich nicht weniger als siebenmal in einer Sitzung
zum Worte gemeldet und es auch erhalten. Das ist doch alles, was man
von einem Abgeordneten verlangen kann. Da möchte man beinahe fragen:
„Wann werdet ihr Poeten des Dichtens einmal müd'? Wann ist einst
ausgesungen das alte ewige Lied?" Denn daß es etwas höchst Lang¬
weiliges und Widerwärtiges an sich hat, so die alten Erbsen, nachdem sie
im Lande selbst schon längst zum größten Theil verdaut sind, immer wieder
aufs Neue aufgewärmt zu sehen, — Fragen, die nun schon zum hundert
neun und neunzigsten Male vor dem Forum der Oeffentlichkeit in ihrem Pro
und Contra discutirt und zum Theil endgültig entschieden worden, in dem
salbungsvollsten Kanzelton von der Welt weitläufig erörtert zu hören — das
wird man wohl am Ende zugeben müssen.
Freilich ist es weit bequemer und erquicklicher, „vor dem Angesichts von
Europa" zu bramarbasiren und zu protestiren, als sich den etwas anstrengen¬
den und trockenen Commissions-Arbeiten zu unterziehen, die zu keines Menschen
Ohr gelangen. Deshalb scheinen denn auch die Herren Abgeordneten grund¬
sätzlich diese Commissions-Sitzungen zu — „schwarzen", um mich eines be¬
zeichnenden Ausdruckes aus dem bilderreichen Studentenlexicon zu bedienen.
Was aber die engern Landsleute der reichsländischen Deputirten von diesem
Thun und Treiben ihrer Vertreter in Berlin halten — davon habe ich
Ihnen in meinem letzten Briefe Einiges mitgetheilt. Die dort niedergelegten
Ansichten finden sich denn auch in mehrern neuerlichen Leitartikeln des Organs
der „elsässischen Elsässer", in dem Eis. Journ. bestätigt. Noch kürzlich meinte
das Blatt bei Besprechung der Reichstags-Verhandlungen über den Landes¬
haushalts - Etat von Elsaß-Lothringen: „Männer, die geborene Feinde der
Freiheit sind, sprechen da von Freiheit, vom „Recht der Eltern", worunter
sie jedoch etwas ganz Anderes verstehen, als wir. Man wird begreifen, daß
wir uns nicht in eine Debatte einlassen wollen, die auf solchem Boden sich
erhebt." Daß die eigentlichen „Protestler", die auch in dieser Periode wieder
hübsch daheim geblieben sind, dabei viel cousequenter handeln, als ihre
deklamirenden Collegen in Berlin, wird man dem Blatte wohl einräumen
müssen.
Die Deutschen im Elsaß fragen natürlich erst recht nichts nach jenen
geistlichen Salbadereien in Form von Parlamentsreden, die durchschnittlich
auf sie gemünzt sind, unbekümmert ob wahr oder falsch. Sehr treffend
drückt sich darüber die „Neue Mülhauser Zeitung" aus: „Unsere elsässischen
Reichstagsmänner haben nicht versäumt, als tapfere Rufer im Streit auf¬
zutreten und vor aller Welt die Posaunentöne ihrer Beredsamkeit erschallen
zu lassen. Natürlich waren es nur Anklage- und Strafreden, welche die
Herren zum Besten gaben . . . Sie greifen kecklich Alles an; sie tadeln Alles,
was die deutsche Regierung angeordnet hat . . . Daß der Abg. für den
weinreichen Wahlbezirk Rappoltsweiler, Herr Abbe Simonis, auf den
Wein eine Lobrede hielt und ihn als la xrömiöi-e inzeessM bezeichnete, wollen
wir durchaus nicht tadeln; auch die Aufhebung der Weinsteuer wäre uns
schon recht, wenn nur nicht der Bundeskvmmissar so überzeugend nachgewiesen
hätte, daß die Steuer eben nothwendig und durch die Verhältnisse gerecht¬
fertigt sei. — Der Abg. für Altkirch-Themm, Herr Pfarrer Winterer, be¬
faßte sich zunächst mit dem Etat des Ober-Präsidiums und hielt dabei eine
lange Philippika gegen den § 10 des Geh. v. 30. Sept. 1873 ......er
will durchaus die vielen Beamten los werden, die ihn in seinen Bestrebungen
geniren. Namentlich auf die Kreisdirektoren ist der geistliche Herr gar übel
zu sprechen: höchstens Feldwebelsdienste will er ihnen übertragen, Haupt¬
manns - Befugnisse aber versagt wissen. Und nxnn dann die Herren Abbe's
gar als Generale das Ober-Kommando führten: wie herrlich würde Alles
besorgt sein! Einstweilen freilich sind es eitel Predigten vor Zöllnern und
Sündern und tief verstockten Ungläubigen, die der begeisterte Streiter Gottes
im Reichstage vorträgt: das Haus hört ihm erstaunt zu und bleibt zuletzt
Völlig stumm aus alle die entsetzlichen Anklagen, die es zu hören bekommt,
aber — es bewilligt anstandslos sämmtliche auf der Tagesordnung stehende
Budget-Positionen." —
Die allgemeine Volkszählung am verflossenen 1. Dezember ist hier
in der größten Ruhe und Ordnung verlaufen. Die zahlreichen Fragen auf
den kleinen Zetteln haben zwar manches ungelehrte elsässische Bäuerlein in
nicht geringe Verlegenheit gebracht. Doch haben die Schulmeister und sonstige
Beamte der Verwaltung allerorts wacker aus solchen Verlegenheiten geholfen.
Für diejenigen Familien, welche der deutschen Sprache nicht mächtig sind,
waren besondere französische Formulare angefertigt. Anfangs argwöhnte man
zwar auch hier, daß hinter dieser Volkszählung noch ganz andere Dinge ver¬
steckt seien. Man sprach von Steuerschrauben, polizeilicher Spionage u. s. w.
Doch hat es sich die Regierung sorgsam angelegen sein lassen, diese Mißver¬
ständnisse zu klären. In einem der zu diesem Zwecke gedruckten und in die
einzelnen Gemeinden versandten Cirkulare ist darauf hingewiesen, daß solche
Volkszählungen ja gar nichts Neues, sondern schon zu alten Zeiten vorge¬
kommen seien. So habe beispielsweise, wie bekannt, der Kaiser Augustus zur
Zeit Christi Geburt eine allgemeine Volkszählung veranstaltet. Damals hätten
die Bürger des römischen Reichs ausruhen müssen von aller knechtlichen Arbeit,
wie an einem Sonntage. Das sei aber jetzt nicht mehr der Fall und Jeder
könne an dem Zählungstage ruhig seinem Tagewerk nachgehen. Der Casus
klingt allerdings etwas naiv und drollig. Ebenso nach Vieler Ansicht die
offizielle Frage auf dem Zettel, zu welcher „Religion" (soll heißen „Confession")
man sich eigentlich bekenne. Diese wenig salonmäßige Frage hat denn auch
hier, wie allerwärts, die sonderbarsten Resultate zu Tage gefördert. So meinte
eine gutmüthige Bäuerin aus dem Münsterthal dem amtlichen Zähler gegen¬
über: „Nun, man wird doch wohl katholisch sein!" Auf den französischen
Zetteln findet man vielfach diese Rubrik mit einem bedeutungsvollen . (point)
ausgefüllt. So wenig will man hier zu Lande von confessioneller Verschieden¬
heit wissen.*) — Was die absolute Einwohnerzahl in den einzelnen elsässischen
Ortschaften anbelangt, so sind die Resultate darüber heute noch nicht bekannt
gegeben. Bezüglich Straß burgs hat man sich einigermaßen in den Vor¬
aussetzungen enttäuscht gefunden. Man glaubte anfänglich bestimmt, die
Seelenzahl werde dort die Ziffer 100,000 erreicht haben. Man hat aber nur
94.257 Seelen, einschließlich der ziemlich zahlreichen Garnison, constatirt.
Man sieht also, die offizielle Mache in dieser Hinsicht kann auch keine
Wunder thun.
Da ich gerade die Stastitik berühre, so will ich nicht verschweigen, daß
man in jüngster Zeit im Elsaß, wie fast allerwärts in Deutschland, über
eine Zunahme der Verbrechen, namentlich derer, die man unter die Kategorie
der „Brutalitätsstatistik" gebracht hat, ziemlich allgemein klagt. So hatte-
das oberelsässtsche Schwurgericht in seiner letzten Periode nicht weniger als
sieben schwere Verbrechen gegen das Leben (Mord, Mordversuch, Todtschlag,
schwere Körperverletzung u. tgi.) abzuurtheilen, darunter ein Todesurtheil.
Man legt dies, wie auch anderwärts, ob mit Recht oder mit Unrecht, zum
Theil der Milde des deutschen Strafgesetzbuches zur Last, die allerdings von
dem harten Strafsystem des Loäs xvrml grell absticht. Elsäsfische Klatsch¬
basen meinen sogar, seit Einführung des neuen Strafgesetzbuches sei das
Elsaß der Schlupfwinkel für alle Diebe und Mörder geworden von hüben
und von drüben.
Nun — die Strafrechtsnovelle wird hoffentlich nach dieser Richtung ihre
Wirkung nicht verfehlen. Doch ist dabei zu betonen, wie dies auch Laster
mit beredten Worten auseinandergesetzt hat, daß das deutsche Strafsystem
nicht milde, sondern human sei. und daß der Vorwurf einer allzugroßen
Milde immerhin noch eher zu ertragen ist, als der einer drakonischen Strenge.
Ferner ist hier an die constanten statistischen Gesetze auf dem Gebiete der
Moralstatistik zu erinnern, wie sie z. B. von Engels, Prof. Wagner in
Berlin u. A. aufgestellt worden sind. Endlich ist wohl zu berücksichtigen, daß
auch in andern Ländern, beispielsweise in Frankreich, wo doch eben das
strengere Gesetz in Geltung ist, in den letzten Jahrzehnten die Verbrechens-
Statistik eine steigende Tendenz ausweist. So stellt sich nach einer mir vor¬
liegenden, jüngst veröffentlichten Arbeit im französischen Justizministerium über
diesen Gegenstand bezüglich des Jahres 1873 das Verhältniß der bedeutendern
(bestraften) Verbrechen gegen das Jahr 1869 folgendermaßen: 125 Mord¬
thaten gegen 118; 154 Kindermorde gegen 121; 154 Totschläge gegen 141;
1073 schwere Diebstähle gegen 1030 u. s. w. England zeigt dagegen ein
günstigeres Verhältniß gegen früher. Doch wird dies wohl auch nicht der
Mit Januar 18?« beginnt diese Zeitschrift das I. Quartal ihres
35. Jahrgangs, welches dnrch alle Buchhandlungen und Post-
anstalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 9- Mark. Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten. Leipzig, im Dezember 1875 Die Verlagshandlung.