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]]> Warum wollen wir Schelling feiern? Sind wir getrieben dazu aus
eigner innerer Bewegung, die uns den äußeren Anlaß der Sücularfeier seiner
Geburt mit freudigem Eifer erfassen heißt? Sind wir uns dabei eines sym¬
pathischen Entgegenkommens gewiß, wenigstens von den Gebildetsten unsrer
Nation? Oder folgen wir zunächst nur dem äußeren Anlasse und fordern
vom Festredner, daß er ihn, wenn er kann, uns in einen inneren umwandte?
Das Letztere zu bejahen werden heute Viele geneigt sein, und daß sie Recht
haben, möchte beinahe schon daraus folgen, daß wir diese zweifelnden Fragen
an den Eingang unsrer Feier zu stellen überhaupt uns gestimmt finden.
Wer hätte so zu fragen gewagt beim Eintritt in die Schillerfeier, aber auch
in die Goethe's, Fichte's, Schleiermacher's? Jetzt kommen uns sogar einige
vom allgemeineren Culturstrom unsrer Tage abseitgehende Geistes- und Lebens¬
richtungen ins Gedächtniß, von deren Vertretern wir fürchten möchten, daß
ihnen dieser Tag willkommener sei als allen Andern unter unsern Zeitgenossen.
So verwandelt sich der erste Zweifel in Bedenken.
Aus dem Stamme des Schelling'schen Denkens sehen wir, auf dem langen
Wege seines, nicht immer gerade aufstrebenden, sondern einigermaßen spiralen
Wachsthums, gar manchfach gestaltete Zweige nach den verschiedensten Rich¬
tungen hervorgehen.
Die Uebermacht des Geistes über die Natur, welche zugleich festgehalten
wurde mit der substantiellen Wesensgemeinschaft beider, lockte zu Versuchen,
in das dunkle Reich der Magie, des animalischen Magnetismus, des Geister¬
verkehrs, das Licht der Philosophie zu tragen, aber nicht, um die Gespenster
zu verscheuchen, sondern um ihr Erscheinen begreiflich zu finden und in den
Kosmos der Enthüllungen des innersten Wesens der Dinge einzureihen.
Sparsam und vorsichtig nur gestattete sich Schelling selbst solchen Gebrauch
seiner Grundlehren. Aber die Eschenmayer und Justin us .Kerner
zeigen uns den Zusammenhang einer gläubigen Borliebe für diese räthselvollen
Gebiete mit der Gedankenwelt Schelling's. Dies gäbe vielleicht auch heute
noch Anlaß zu einer specifisch schwäbischen Feier.
Dieselbe magisch verstandene Uebermacht des Geistes über die Natur bildet
aber auch ein wesentliches Ingrediens, nicht nur des katholischen Glaubens an
noch gegenwärtig geschehende Wunder im Dienste der Religion und Kirche
und in Kraft göttlicher Begeistung, sondern ebenso des protestantischen Glau¬
bens an längst vergangene Wunder gleicher Art. Wenn nun Schelling selbst
in den letzten Jahrzehnten seines Lebens immer weiter darin ging, die von
der Zeit zurückgedrängten Dogmen von der dreifachen Persönlichkeit Gottes
und von der Vereinigung der zweiten trinitarischen Person mit Jesus durch
Mittel seiner Philosophie zu reconstruiren, wenn auch dabei gar frei schallend
und waltend mit Schriftwort wie mit kirchlichem Bekenntniß: so wurde durch
Alles dies die Schelling'sche Lehre für die repristinirte Orthodoxie und Mystik
beider Kirchen dasselbe, was die aristotelische Philosophie der Scholastik des
Mittelalters gewesen. Von dem düstern Qualme der mönchischen Phantasien
eines Joseph Görres bis zu der dem ächt philosophischen Denken nahe¬
stehenden, lichteren und weltoffenern Vermittelungsdogmatik der Dorn er und
Ehren feuchter breiten sich hier Gewebe vor uns aus von Schelling'sehen
Zettel und kirchlichem Einschlag. An der Austrittsstelle dieses Zweiges aus
Schelling's Lebensbaume lesen wir vor Allem den Namen Franz von Ban¬
ders, dessen Einfluß auf Schelling in dieser Richtung indessen wohl größer
war als der Schelling's auf ihn. Dies gäbe wohl heute eine specifisch bal -
rische Feier.
Während der Zeit als Schelling in peinigender Selbstqual und unter
fortwährender Kränklichkeit sich fast ganz der Oeffentlichkeit entzog, gedruckte
Werke des Oeftern wieder zurücknahm und vernichtete, angekündigte nicht zum
Druck gab, — während dieser Zeit Jahrzehnte langen Schweigens des Meisters
leiteten einige seiner Erlangener und Münchener Hörer, vor Anderen Puchta
und Stahl, aus seinem Lehrgebäude eine theologisch-historische Rechts- und
Staatsansicht ab, welche jede rationale Vermittelung des Rechts und der Ge¬
setzgebung weit mehr abschnitt, als jemals in Schelling's Sinne gelegen.
Wir sehen auf diese Weise auch einen Staats- und kirchenrechtlichen Conserva-
tivismus sich an den Namen Schelling's knüpfen, ja eine absolute Verehrung
des geschichtlich Gewordenen, durch welche dieses aller Controle durch die Ideen
des ewig Wahren und Guten entzogen schien. Wohl könnten wir hier und da
auch heute noch eine hoch-officielle Schellingseier durch diese Anknüpfungen
sich motiviren sehen.
Wenn wir bis hierher den Lauf der Bäche beobachteten, die von der
Schelling'schen Wasserscheide nach der sogenannten Rechten' und nach den
Regionen von unsrer Zeit mehr oder weniger verlassener Culturbestände ab-
flössen, so läßt uns dies fragen, ob wir nicht auch nach der Linken hin sich
ergießende Quellen bemerken sollten. Vielleicht daß uns hier Hoffnungen
aufsteigen zu Huldigungen, welche allgemeinere Sympathien erwecken als die
erwähnten. Und wie? Ist es nicht nahezu ein reiner Schellingianismus, der,
in einer popularisirenden Darstellung, seit dem Ende der sechziger Jahre ick
der „Philosophie des Unbewußten" sich des Beifalls weitester Kreise bemäch¬
tigte, ähnlich, wie einst die Philosophie Arthur Schopenhauer's, dessen Name
für diese Abzweigung die Austrittsstelle aus Schelling's Stamme bezeichnet?
Scheint es doch nach diesen Erfolgen fast zweifellos, daß wir, die Herrschaft
über die Gemüther der Mitwelt allein berücksichtigend, die große Hauptlinie
unsrer deutschen Philosophen, von Kant, Fichte, Schellina. auf Hegel, nur
fortsetzen dürfen durch die Namen Schopenhauer und Hartmann. So
bekämen wir denn von dieser Seite her heute eine berlinische Feier, welche
vor Allem hervorheben würde, daß Schelling zwar dazu angeleitet habe, ein
indifferentes Unbewußte für den Urgrund alles Daseins und das Wollen für
das innere Wesen aller Realität zu halten, aber doch noch so unweise gewesen
sei. an ein fernes Jenseits herrlicher Vollendung aller Dinge und seliger Er¬
reichung aller Ziele zu glauben, sodaß er sogar allen Menschenseelen diese
Aussicht stellte, den christlich - unchnstlichen Gedanken ewiger Höllenpein von
sich stoßend, während es für jene pessimistisch Gesinnten vielmehr überall nur
Hölle giebt, welche Hölle ihnen dies gegenwärtige Leben selbst ist.
Aber soll ich denn heute eine Schmährede auf Schelling halten?
Die anscheinend siegreichste Denkweise unsrer Tage setzt sich der Hart-
mann'schen ebenso schroff entgegen, wie jenen supranaturalistischen. Ich meine
die Denkweise, welche die mechanische Stoffbewegung entweder für das allein
Eristirende, oder doch für das allein Wißbare hält, und es am Liebsten sähe,
das Lebendige könnte durch bloßes Eintreten vorher nicht stattgefundener Arten
von Molecularbewegung aus dem Unlebendigen, das höher Organifirte ebenso
aus dem niederen, das Empfindende ebenso aus dem Empfindungslosen, das
Denkende aus dem Nichtdenkenden erklärt werden. Im äußersten Falle be¬
hauptet man hier mit Sicherheit, daß dieser gesammte Entstehungsproceß vom
Starren bis zum Denkenden und Wollenden lediglich mechanisches Geschehen
an lediglich materiellem Stoffe aufweise, und überall dabei keine anderen Ge¬
setze walten als die der Physik und Chemie. Diese Denkweise, die sich jetzt
merkwürdiger Weise des Namens Monismus bemächtigt, als ob ein ^o^o^
immer nur ein körperliches ^.^o^ sein könnte, während bei Weitem die meisten
und hervorragendsten Monisten aller Zeiten ihr einzig Seiendes in ein Geist¬
artiges setzten, — diese Denkweise'' ist der Schellingischen so entgegen, daß
gerade ihre heutige Verbreitung zum Theil die Zweifel unsers Eingangs
motivirte. Wie nun, wenn wir dennoch auch dieser Richtung zeigen könnten,
daß sie zur Feier Schelling's heute gar ernstlichen Anlaß hätte, daß auch sie
nur ein Zweig ist, entsprossen dem Schellingischen Stamme noch in seiner
jugendlichsten Periode, ja daß die durch Lorenz Oken bezeichnete Ansatzstelle
dieses Zweiges bereits von den primordialen Plasmazellen umlagert ist, welche
im Verfolg dieser Denkweise immer deutlicher als unser Aller wahrhafte
Stammältern hervortraten? Wir bekommen zu den früheren Feiern zwar
hierdurch noch eine ganz eigens jenaische, aber nicht Alle möchten der
Meinung sein, daß hierdurch das gute Recht des heutigen Festtags sich steigere.
Indessen ist dies schon ein Gewinn, durch diesen letzten Zuwachs eine
große Gemeinde aus unsrer Mitwelt sich mit uns Anderen zusammenschließen
zu sehen zu dem Gedanken, welchem diese Stunde gewidmet ist. Dies verlockt
uns nachzuforschen, ob nicht außer jener Rechten und der Linken auch die
so vielfältigen mittleren Schattirungen des Denkens in unsrer Zeitgenossen¬
schaft auf Schelling's Grundgedanken zurückleiten und heute in Schelling's
Lehre ihre gemeinsame Mutter preisen sollten. Es wäre überraschend genug,
wenn wir fänden, daß heute vielleicht nur deshalb Niemand so rechtes Herz
für den Helden des Tags mitbringe, weil in uns Allen der Eine Schelling
sich verschieden indivioualisirt hat und gänzlich aufgegangen ist, wie eine
Häckel'sche Ausbe in ihre durch Theilung von ihr abstammenden Sprößlinge
aufgeht.
Und wahrlich, wie leicht ist hier der Nachweis gemeinsamer Abstammung,
oder zum Mindesten einer Entstehung aus gleicher Substanz! Schreiten wir
von der materialistischen Atomenviclheit aus näher der Mitte zu, so treffen
wir zunächst die monadologischen und alle ihnen ähnlich gesinnten Empiristen
an, kurz Alle, welche im Rückwärtsgehen von der Erfahrung aus auf eine
unbestimmte oder auch unendliche Vielheit von untheilbaren, aber unkörper¬
lichen Einheiten kommen, ob sie diese nun näher bestimmen als einfache
Realen oder als philosophische Atome oder als Kraftcentren u. tgi., aus
welchen sie dann die Dinge ebenso zusammengesetzt sein- lassen, wie der materielle
Atomismus aus seinen körperlichen untheilbaren Ur-Theilchen. Wir wollen
nicht viel Gewicht darauf legen, daß Schelling es war, der in der nachkanti-
schen Zeit zum ersten Male wieder die Aufnahme der Leibnitzischen Monado¬
logie empfahl und der, in seinen frühesten naturphilosophischen Schriften,
diese Lehre dem speculativen Idealismus einzugliedern suchte. Wesentlicher
dagegen dürfte es sein, daß jede Anschauung vom Seienden, welche sowohl
die dualistische Auseinanderreißung der ausgedehnten und der denkenden Sub¬
stanzen oder der ausgedehnten und der denkenden Erscheinungsform vermeidet,
als auch weder im Ausgedehnten allein, noch im Denkenden oder Vorstellenden
allein, das Seiende findet, sondern in einem Dritten, Allem Gemeinsamen,
zu diesen Gegensätzen Indifferenten, — daß eine jede solche Ansicht eine
Jdentitätslehre im Sinne Schelling's genannt werden muß, und also
Grund hat, heute Schelling dafür zu preisen, daß er durch die große That
solcher Erhebung über die Gegensätze für die nachkantische Philosophie die
neuen, wahrhaft monistischen Fundamente legte, auf welche dann auch Herbart
und Lotze und der unter uns lebende Verfasser von Zendavesta und Nanna,
Jeder in einer neuen und eigenthümlichen Weise sich stellen konnten. Die
Annäherung an Schelling wächst hier in dem Maße, als über der Vielheit
auch der göttliche einheitliche Urquell zur Geltung kommt, welcher dann immer
auf irgend eine Weise aufgefaßt sein muß als die Coincidenz der Gegensätze,
welche in dem abgeleiteten Vielen sich trennen und sich verbinden. Treten
wir aber auf die andre Seite hinüber, wo die göttliche Ur-Einheit sogleich
den Ausgangspunkt bildet, so ist die Zugehörigkeit der Denker dieser Gruppe
zur großen Schelling'schen Familie noch leichter erkennbar und allgemeiner
zugestanden. So werden die Philosophen und Theologen unsrer Tage, welche
an den Hegel'schen oder den Schleiermacher'schen Lehren festhalten, ohne Wei¬
teres einräumen, daß die Grundanschauungen ihrer Meister an der Nabel¬
schnur der Schelling'schen Identitätsphilosophie das Licht der Welt erblickt
haben. Begehen wir uns endlich, nachdem wir so von zwei Seiten her uns
dem mittelsten Raume genähert haben, zu den speculativen Theisten, so werden
diese entweder indirect, durch Hegel, Schleiermacher, Krause, oder direct in
Schelling wurzeln, oder wenigstens secundär von unseres heutigen Helden
theistischer Weiterentwicklung seines frühern Pantheismus so einflußreiche Ein¬
wirkungen erlitten haben, daß sie in diesem Betracht gern heute seiner in
Ehren gedenken. —
Wie hat sich doch seit unsern ersten zweifelhaften Fragen nach diesem
geschichtlichen Anblicke das Blatt gewendet! Scheint es nicht hiernach, als
müßten heute Alle, die überhaupt noch denken, sich begierig zu den Stätten
der Feier drängen, um dem merkwürdigen Manne zu danken, der so auf eine
einzige Weise, für Alle befruchtend, die äußersten Enden des Menschlichen in
den Culturformen unsers Jahrhunderts in Einer Persönlichkeit zusammen¬
faßte, und so recht eigentlich der Philosoph des 19. Jahrhunderts
s^u^,)^ genannt werden müßte?
Doch gemach! Vergessen wir nicht, daß alle die hier durchgegangenen
Philosophischen und theologisch-speculativen Standpunkte in ihrer produktiven
Vertretung, vielleicht mit alleiniger Ausnahme des mechanistischen Darwinis¬
mus, weit mehr der Vergangenheit als der Gegenwart angehören dürften,
und daß vor Allem an denselben die großen Kreise der allgemeinen Bildung
gar wenig theilnehmen. Selbst die Neigung zum Materialismus und Mecha¬
nismus weicht mehr und mehr einem erst jetzt von uns ins Auge zu fassenden
und erst wahrhaft gefährlichen Gegner unsrer Feier, einem Standpunkte, der
allen bisher betrachteten sich entgegenstellt, und in welchem wir den eigent¬
lichen Herrn über die Geister unsrer Gegenwart und nächsten Zukunft werden
anerkennen müssen. Diesen Gegner können wir mit Namen belegen, welche
ihn aufs Ernsteste unsrer Hochachtung empfehlen, mit Tugendnamen edler
besonnener Männlichkeit: es ist der Standpunkt männlicher Enthaltung,
strenger Prüfung, emsigen Fleißes, selbstloser, treuer Hingebung an das Nächste,
das Erreichbare, wenn auch anscheinend Geringe. Wer wollte zweifeln, daß
die hiermit ausgedrückten Gesinnungen den wahrhaft modernen Charakter
der Wissenschaft ausmachen, und daß, von hier aus gesehen, ein Mann wie
Schelling als der Hauptrepräsentant einer tumultuarischen Jugendperiode, an
die wir nicht gern oder höchstens nur um der Warnung willen erinnern
mögen, erscheinen muß? Wer möchte die Gefahr verkennen, die von hier aus
unsrer Verehrung droht? Jene Gesinnungen haben ihren heutigen Ausdruck
in einer skeptischen oder kritischen Beschränkung auf die Welt der Er¬
scheinungen als Erscheinungen, und in der Ueberlassung alles Uebrigen an
den individuellen, außerwissenschaftlichen Glauben. Niemand erscheint von
hier aus mehr als Feind der wahren Wissenschaft und Einsicht, als wer
solches Glauben und Phantasiren und Dichten, um so verführerischer und
schädlicher, je schwungvoller, einmengen will in wissenschaftliches Forschen und
Darstellen. So wäre denn in der That keiner der großen Geister der ersten
Hälfte unsers Jahrhunderts so sehr für Gegenwart und Zukunft der Typus
des in der Wissenschaft zu Fliehenden, das abschreckende Beispiel pur oxcLllviieo,
als Schelling. Der Gelehrte von Heute fragt mich: was hat nun Schelling
eigentlich wissenschaftlich aufs Reine gebracht? — und ich bleibe stumm. Er
fragt weiter: sind Dir die unsäglichen Verwirrungen nicht bekannt, welche
ihm ihr Dasein verdanken, sowohl in der Natur- als in der Geschichtswissen¬
schaft, und welche die exacte Arbeit der nachfolgenden Jahrzehnte mit großem
Verlust an Mühe und Zeit nur ganz allmälich austilgen konnte, womit sie
jetzt endlich glücklich zu Stande sein dürfte, jetzt, wo wir von Dir veranlaßt
werden, huldigend zu diesem Verwüster aufzuschauen? — und ich gestehe be¬
schämt, daß ich eine ziemliche Reihe von Bänden der gesammelten Werke
Schelling's, und zwar sämmtliche detaillirende Hinübersührungen seiner leitenden
Gedanken in irgend ein empirisches Gebiet, als gegenwärtig fast völlig un¬
brauchbar bei Seite legen muß. Sollte der Nest, wie einst bei den sibyllini-
schen Büchern, nun zum Preise des frühern Ganzen emporsteigen?
„Unsre Jugend krankte am Begriffe der Genialität." So sagt ein
bekannter politischer Schriftsteller unsrer Zeit. Es würde wohl in seinem
Sinne sein, dieses Wort auszudehnen auf die Jugend des Jahrhunderts, von
der nur noch ein blasser Schimmer seine eigne Jugend traf. Jedenfalls war
die Krankheit, von der hier die Rede ist. keine asthenische, vielmehr eine
hypersthenische, sodaß wir noch heute von der dort angesammelten Ueberfülle
zehren und dadurch der ganz entgegengesetzten Krankheit vorbeugen, die uns
heutigen droht. Krankhaft ist im Grunde jede einseitige Bildungsweise; aber
die Geschichte der menschlichen Cultur bewegt sich durch lauter Einseitigkeiten
hindurch, von welchen die eine die andre ablöst, um zu immer höheren Ver¬
knüpfungen, zu immer neuen Versuchen, die Totalität zu erreichen, emporzu¬
führen. Unsre Zeit hat sich immer entschiedener zum reinen Gegenpol ge¬
staltet gegen jene Jugend des Jahrhunderts: der unbefangene Historiker wird
beide Zeiten als sich ablösende, entgegengesetzte Einseitigkeiten auffassen und
von dem noch übrigen letzten Viertheil des Jahrhunderts eine höhere Ver¬
knüpfung, eine versöhnende Verschmelzung des dort Entgegengesetzten erwarten.
Derselbe Historiker wird aus demselben Grunde sich hüten — auch wenn ihm
alle eignen Sympathien für jene frühere Periode fehlten —, die jugend¬
strotzende Genialität dieser Periode als eine bloße Quelle der Verirrung. des
Wahns, der Schwärmerei zu beurtheilen, und sie lediglich an dem Maßstabe
zu messen, welchen die ihr diametral entgegengesetzte gegenwärtige Zeit an
die Hand giebt, die Zeit der nüchternen Kritik, der objectiven Beobachtung,
der besonnenen Scheidung, der praktischen Zweckmäßigkeit.
Schelling ist der Philosoph der deutschen Gen ialttäts Periode:
er ist es in so vollendeter, allseitiger Weise, daß seiner zu gedenken schon des¬
halb ein Fest ist, weil er diesen bestimmten deutschen Culturtypus zu solcher
reiner Anschauung gebracht hat. getragen von der erstaunlichsten Ausrüstung
mit geistiger Aneignung- und Schöpferkraft, in hohem, energischem Auf¬
schwünge der Seele zum Erhabensten und Würdigsten erfüllt mit tiefleiden¬
schaftlicher Empörung gegen alles Niedrige und Triviale, im Besitze einer
Darstellungskunst, welche die verborgensten Tiefen des heimischen Sprach¬
schatzes ausschöpft, der feinen und sinnigen Rede ebensosehr wie der gewaltigen
und hinreißenden mächtig ist, auch den abstraktesten Gedanken einer volks¬
tümlichen Sinnlichkeit nähert, ähnlich der Sprache der deutschen Mystiker
und des Goethe'schen Faust, und durch Rhythmus und Vocalwechsel halb un¬
willkürlich die den Gedanken begleitenden, tragenden und färbenden Empfin¬
dungen aus den innersten Seelentiefen hervor oft zu beinahe musikalischer Aus¬
wirkung bringt. Fürwahr, wer vor Allem die Schriften Schelling's aus seinen
mittleren Jahren, besonders die Rede über die bildende Kunst, das Fragment
„Die Weltalter", den unvollendeten Dialog „Clara", unbefangen nur in der
Absicht liest, sich so berühren zu lassen, wie diese Schriften den sich hingeben-
den Geist zu berühren angethan sind. wird schwer umhin können, zuzugestehen,
daß hier eine Luft weht, die nur auf den höchsten Höhen menschlichen Seelen-
adels bekannt ist. Und wer solchen Eindruck gewönne, bis dahin etwa nur
durch die landläufige Verspottung der Schelling'schen Naturphilosophie über
den Mann unterrichtet, der müßte doch wohl ein Wenig stutzen und sich fra¬
gen: wie mag das baarer Unsinn sein, was in solcher Göttersprache seinen
angemessenen Ausdruck findet?
Die Männer unserer deutschen Genialitätsperiode charakterisiren sich
besonders durch zweierlei: durch den Trieb, ihre Gesammtpersönlichkeit als
ungetrenntes Ganze in ihre Werke hineinzulegen und durch dieselben zur
Darstellung zu bringen, und sodann durch den wesentlich in das Innere
ihrer selbst, nur secundär nach Außen gerichteten Blick. Hintere sie das
Erste daran, sich so, wie es von uns Modernen gefordert wird, nur als
einen Stift an der arbeitenden Maschine des Ganzen aufzufassen, indem
sie vielmehr jeder selbst ein Ganzes zu sein sich bewußt sind, — so hindert
sie das Zweite daran, den zuströmenden Reichthum ihres Innern, ihre
spontane, intuitive Gedaukenzeugung und ihre leidenschaftlichen Gemüthser¬
regungen, für werthlos zu halten im Vergleich zu dem, was äußere That¬
sachen lehren. Auch Goethe ist hiervon nicht ausgenommen; auch ihm gilt
die Beobachtung nur als Mittel die eignen Gedankenschöpfungen zu bestätigen,
und, je nachdem diese Schöpfungen von vornherein glücklich oder unglücklich
waren, machte ihn die nachfolgende Beobachtung entweder zum Entdecker gro¬
ßer Naturgesetze, oder führte ihn irre. Eine weitere Folge des ersten der ge¬
schilderten Grundzüge dieser Culturweise, des Zuges zur persönlichen Totalität,
war dies, daß die verschiedenartigen innern Seelengehalte nicht getrennt
blieben, vielmehr ausdrücklich nach einer einheitlichen Jneinanderschlingung
aller der Ideale gestrebt wurde, welche den einzelnen Seelen- und Geistes¬
kräften entsprechen. Darum zündete bei jenen Männern so allgemein das
Wort Hamann's: alle Aeußerungen, alle Werke des Menschen müßten allen
seinen verschiedensten Vermögen zugleich ihr Dasein verdanken und von allen
zugleich das Gepräge tragen. So sollte die Wahrheitserkenntniß oder Philo¬
sophie zugleich und in Einem sowohl dem Verlangen nach poetischem Schwunge
und künstlerischer Schönheit als dem Bedürfnisse nach tiefen religiösen Affecten
genügen. Die dabei vorwaltende Wendung nach Innen, der zweite jener
Grundzüge, hielt indeß davon ab, bei solcher Verschmelzung alles Idealen
zu einem Ganzen auch dem ethisch nach Außen treibenden Elemente gleiches
Recht einzuräumen, vor Allem erscheinen die irdischen gesellschaftlichen Güter, und
ganz besonders auch die irdischen gesellschaftlichen Schranken hier als werthlos
im Vergleiche zu dem unmittelbaren Anschauen, Erleben und Genießen des
Göttlichen, das man in seiner eigenen Seele findet.
Unsre Gegenwart, die von Allem dem das pure Gegentheil liebt, will und
fast allein anerkennt, ist zur Ungerechtigkeit und zum Undanke gegen diese
Geistesart nur allzuleicht aufgelegt. Wenn Schelling in der That nicht in
das Fach der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeiter paßt, fo fragen wir, ob
es so nöthig sei, daß ein Mann in ein Fach passe, oder ob es sich nicht viel,
mehr würde nachweisen lassen, daß die ersten Genien der Weltgeschichte, die
hauptsächlichen Fortleiter der Entwickelung menschlicher Geisteskultur, beinahe
immer solche Persönlichkeiten waren, die durch ihre Individualität eine eigene
besondere Gattung decken. Waren denn Platon und Aristoteles so recht
eigentlich das, was man heute „eine tüchtige wissenschaftliche Arbeitskraft"
nennt? Was waren denn die Propheten des alten Bundes und die ersten
Verkünder des Christenthums? War wirklich Dante ein bloßer Dichter, und
welches Fach besetzt seine Zivins, eomeäia. das der Lyrik, des Epos oder des
Dramas? War denn Luther etwa ein reiner theologischer Fachmann? Ist
uns Schiller deshalb weniger werth, weil er Grund hatte zu klagen, daß die
Philosophie ihn beim Dichten, die Poesie beim Philosophiren störe? Hat denn
Goethe wirklich nichts weiter gewollt, als einen Roman schreiben, als er sein
Persönliches Trachten und Ringen in den „Wilhelm Meister" goß, oder dachte
er an den Kunstzweck eines Dramas, als er den „Faust" dichtete?
Aber heute haben wir volles Recht, die Theilung der Arbeit und den
nüchternen Fleiß zu fordern, denn die Zeiten sollen wechseln, damit die
eine die andere ergänze, und es hätte auch heute Niemand das Zeug — wenn
er noch so sehr wollte —. ein Dante, ein Luther, ein Goethe, ein Schelling
zu sein. Was vergangen ist, ist vergangen: die neue Zeit bringt anderartige
Aufgaben und anderartige Talente. Wir sollen heute ins Einzelne verfolgen,
im Einzelnen prüfen und suchen, während die großen Genien der vorherge¬
gangenen Periode intuitio und allumfassend, gleich Sehern und Propheten,
geweissagt haben. Wahres mit Falschen, Ewiges mit Temporärem in gleichem
Vertrauen und in gleicher Begeisterung festhaltend und verkündigend. Aber wir
werden unrettbar in Geistesarmuth und Trivialität versinken, und der furchtbare
Stachel des Gefühls innerer Verödung wird uns, wie es sich schon zeigt, dem
Pessimismus in die Arme treiben, wenn wir die Geistesschätze der Jugendzeit
unseres Jahrhunderts uns zu verachten oder gar zu verspotten gewöhnen und
an ihnen uns zu nähren und zu erheben, zu spornen und zu entzücken aufhören.
Nimmer wollen wir den Auftrag des Marquis an Don Carlos vergessen:
Sagen Sie
Ihm, daß er für die Träume seiner Jugend
Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird,
Nicht öffnen soll dem tödtenden Insecte
Gerühmter besserer Vernunft das Herz
Der zarten Götterblume, — daß er nicht
Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit
Begeisterung, die Himmelstochter, lästert. —
Die Anwendung hiervon auf Schelling im Interesse der Wissenschaft
zu machen, wird nur möglich sein, wenn sich in Schelling's Gedankenwelt in
der That ein Kerngehalt aufweisen läßt, der die Verbindung eingehen kann
mit den seither herangearbeiteten Ergebnissen ruhiger, exacter Einzelforschung.
Nach dem begeisterten Aufblicke zum Helden unsers Tags, den ich Ihnen zu-
muthete, darf ich hierüber meine Gedanken nicht zurückhalten. So zeige sich
denn unsere Festfeier als den Januskopf, der, nach der Vergangenheit zurück¬
blickend, zugleich sein anderes Antlitz gegen die Zukunft wendet. Gestatten Sie
mir, meine innigste persönliche Ueberzeugung, daß wir jetzt, an der Neige des
Jahrhunderts, im Begriffe stehen, den Jdealgehalt unserer Genialitätsperiode
in Eins zu verschmelzen mit den Früchten der strengen Einzelarbeit und der
äußerlichen Thatsachenforschung, —- gestatten Sie mir, diese Ueberzeugung in
kurzen Zügen vor Ihnen zu begründen, indem ich dafür im Besonderen die
Vereinbarkeit der Schelling'schen Grundanschauungen mit den Ergebnissen und
Forderungen des modernen naturwissenschaftlichen Monismus ins Auge fasse.
Schelling's Jugendphilosophie und Altersperiode gelten mir dabei als
wesentlich abirrend, die eine nach der naturalistischen oder auch abstract ratio¬
nalistischen Seite, die andre nach der supranaturalistischen und traditionell
kirchlichen. Ich halte mich statt dessen an die Jahre seiner vollen und unge¬
schwächten Mannesreife, etwa vom dreißigsten bis zum vollendeten fünfund¬
vierzigsten Lebensjahre, an die Jahre 1806 — 1820, an die Zeit des ersten
Münchener Aufenthalts.
Nachdem Schelling schon in seinen frühesten philosophischen Jugendschrif¬
ten den Subjectivismus Kant's und auch den Fichte's durch die Entdeckung
des Unbedingten in unserem Denken, welches über dem Gegensatze von Subject
und Object steht, überwunden hatte, faßte er dieses Unbedingte des Näheren
als die ewig-göttliche Vernunft auf, aus welcher durch logische Ableitung
in systematischer Abfolge die Vielheit der in ihr ruhenden entgegengesetzten
Arten des Daseins, sowie deren manchfaltige Verknüpfungen, sollten entwickelt
werden. Charakterisirt sich hierdurch vornehmlich die Jenaische Zeit Schelling's,
so zeigt uns sein Würzburger Aufenthalt ihn bald eingetreten in eine Ueber¬
gangsphase, in welcher jenes Vernunftabsolute allmählich sich umgestaltet zu
einem realeren Princip, zu einem Drange oder Triebe des Werdens, zu einer
Lust und Liebe sich zu offenbaren. Auf diesem Wege bereitet sich die Verän¬
derung vor, welche, im Jahre 1809 vollendet, sich hier am Kürzester in den
Worten seiner Schrift über die Freiheit ausspricht: „Wollen ist Ursein." Die
bloße Vernunft, ob auch als göttliche oder absolute aufgefaßt, ist nicht fähig,
sich zur Realität aufzuschließen; alle Ableitungen aus ihr haben nur das Er¬
gebniß einer Uebersicht des in ihr Eingeschlossenen und eingeschlossen Bleibenden;
so ist in der That die altschelling'sche Identitätsphilosophie Nichts als eine
classificirende, systematische Uebersicht Dessen, was in der Urvernunft als ein
Mögliches eingeschlossen ist, ohne je erkennen zu lassen, daß und wie und
warum das Urwesen aus sich herausgeht und eine Weltrealität, ein wirkliches
Geschehen, sich abgewinnt. Hierzu bedürfte es jener realeren Fassung, welche
Schelling seit der Schrift über die Freiheit in dem Begriffe des Willens
fand: Gott, das Unbedingte, Urseiende, ist seinem Wesen nach Wollen.
Aus dem Einen Unbedingten aber ist alles Bedingte, ist also die gesammte
Weltrealität abzuleiten. Die Welt wird dadurch wesensgleich mit Gott, mit
dem Urwillen; denn im Wesen Ungleiches läßt sich nicht von einander ablei¬
ten. So ist also auch die gesammte Welt in allen ihren Daseinsarten vom
Wesen des Willens. Wir hätten also hier zunächst einen entschiedenen Mo¬
nismus des Wesens. Damit ist aber zugleich gegeben ein ebenso entschiedener
Monismus in Bezug auf die Weise des Geschehens, der Verursachung: allent¬
halben kann die Weise der Verursachung im tiefsten Grunde nur die Eine
sein, welche dem Wesen jenes Urwillens, überhaupt dem Wesen des Wollen s
entspricht. Hiernach kennen wir den gesammten Charakter des von Schelling
seit 1809 ausgestellten Monismus im Vergleiche zu dem in unsern Tagen von
empiristischer Seite uns angebotenen. Jener Schelling'sche ist nicht ein ma¬
terialistisch er Monismus, sondern vielmehr ein spiritualistischer, wenn
nicht vielleicht besser ist zu sagen: ein seelischer Monismus, da das Geistige,
spirituelle, im engern Sinne, ebenso wie das Materielle, nur auf eine Seite
des Gegensatzes der Erscheinungen fällt, nur eine Seite der Wirkungen und
Erscheinungsweisen jenes in Wahrheit über dem Gegensatze von Materie und
Geist stehenden absolut Einen ausdrückt. Ferner ist dieser Schelling'sche Mo¬
nismus in Bezug der in ihm angenommenen Weise der Verursachung schlech¬
terdings kein mechanistischer, sondern ein rein und consequent tete alo¬
gisch er, d. h. die hier in allem Geschehen, durch alle Stufen des Daseins
waltende Causalität ist lediglich die durch Zweckthätigkeit wirkende, wo¬
rin drei große Philosophen dreier verschiedener Zeitalter, nämlich Aristote¬
les, Leib unz und Schelling, sonach mit einander übereintreffen, von
welchen man jedesfalls den beiden Ersteren nicht wird absprechen können, daß
sie sich auch auf empirischem Wege im Bereiche der Naturwissenschaften einiger-,
maßen umgethan hatten. Diese drei Denker kennen nicht die ausschließende
Entgegensetzung zwischen wirkenden Ursachen (naus^e oWoientes) auf der einen,
und Zweckursachen «Musas tmales) auf der andern Seite: wie uns solche
Entgegensetzung ohne jede Begründung wie etwas ganz Selbstverständliches
von den heutigen Monisten der Naturwissenschaft zugemuthet wird. Diese
wollen uns glauben machen, daß zwischen jenen zwei Ursacharten ein Entwe¬
der-Oder bestehe und uns zur Wahl nöthige: diese Wahl muß dann freilich
zu Gunsten der wirkenden Ursache ausfallen, denn Wirkungen sollen
doch erklärt werden, also — so meint man — sind alle Zweckthätigkeiten aus
der Wissenschaft zu verbannen. Jene Lehre des Aristoteles, Leibnitzens und
Schelling's dagegen läßt in der Zweckthätigkeit vielmehr selbst die wirkende
Ursache erblicken, und zwar die einzige Art wirkender Ursache, welche es über¬
all giebt und geben kann. In diesem Sinne ist bei Schelling seit jener Schrift
von der Freiheit Alles, was ist. Wollen, Willensthätigkeit. Der
Wille ist, so zu sagen, eg.u8a tmalitsr etüeions. Während der materielle und
mechanische Monismus lehrt: Alles sei körperlicher Stoff, auch der Geist, und
Alles geschehe auf mechanische Weise, auch das Wollen, — setzt jener Schelling-
sche Monismus entgegen: Alles ist unmateriell, auch der sogenannte körperliche
Stoff, und Alles geschieht durch eine zweckthätige, wollende Kraft, selbst das
sogenannte Mechanische.
Sollte sich trotz dieses fundamentalen Gegensatzes der Willens-Monismus
Schelling's vereinigen lassen mit den Resultaten und Forderungen des moder¬
nen naturwissenschaftlichen Monismus, und mit den Forschungswegen der
cracker Empirie jener Weg der lenkenden Construction etwa so zusammen¬
treffen, wie die Wege zweier Minirer, welche, von entgegenstehenden Punkten
aus einen Tunnel durchzubrechen beschäftigt, endlich einander in die Arme
stürzen und sich als die Urheber eines gemeinsamen Werks brüderlichst
begrüßen? Ich meine, daß einem achtsamen Ohre schon heutiges Tags das
Rufen und Hämmern von der einen zur andern Seite hinüber hörbar ist.
Lassen Sie uns annehmen, die mechanische Ansicht habe das Weltbild,
das ihr vorschwebt, zu voller Evidenz erhoben: sie habe insofern alle ihre
Wünsche erreicht, als ihr gelungen sei, aus dem Kant-Laplace'schen Urnebel
ohne Hinzunahme irgend eines anderen Wesens, oder Einflusses zuerst zu den
primitiven Organismen und von da auf dem Darwin-Häckel'schen Wege, wie¬
derum ohne Anwendung irgend welcher von Außen hinzukommender Einwir¬
kungen . zu den denkenden Wesen und zu ihrer Weltgeschichte zu gelangen.
Hier wäre denn, so scheint es, aus dem Unorganischen das Lebendige, aus
dem Empfindungslosen das Empfindende, aus dem Nichtdenkenden das Den¬
kende gewonnen. Ich hoffe, Ihnen zeigen zu können, daß solcher scheinbarer
Sieg des materiellen und mechanischen Monismus nichts Anderes als sein
völliger, ewiger Abschied und sein gänzlicher Untergang wäre, ja, daß von
dem Tage an, wo dieser Sieg triumphirend verkündet worden, überall von
Materie und Mechanismus nicht mehr die Rede sein dürste. Jene Nachweise,
die wir hier als bereits gelungen annehmen wollen, daß das Lebende aus
dem Stoffe und das Empfindende und Denkende aus dem empfindungslosen
und nicht denkenden Dasein entstanden sei, werden lediglich zur Folge haben
können, daß man von Stund' an jedes Recht verliert, das Unorganische, schein¬
bar Todte, scheinbar ganz Materielle, für todt, für unorganisch, für materiell
zu halten, und ebenso jedes Recht verliert, diejenige Causalitätsform irgendwo
festzuhalten, welche dem Todten und rein Materiellen allein entsprechen würde,
nämlich die mechanische.
Unter Materie, körperlichem Stoffe, dürfen wir ohne willkürliche Ver¬
stellung des Wortgebrauchs nur die chemischen Elemente in dem Sinne
verstehen, in welchem das Dasein von Grundstoffen von der chemischen und
Physikalischen Wissenschaft gefordert worden ist. In diesem Sinne ist der
körperliche Stoff das qualitativ sowohl als quantitativ schlechthin Beharrende.
Unveränderliche, mit welchem demnach Veränderungen nur insofern vorgehen
können, als es seine Lage im Raume ändert. Alle Veränderungen in der
Welt dieser Urstoffe, der Ur-Atome, werden hiernach zurückgeführt auf bloße
Ortsveränderungen, auf Mischung und Entmischung, Verbindung und Lösung.
Annäherung und Entfernung, überhaupt auf Bewegung. Wenn nun in
jenem Processe der Entstehung des Lebendigen aus dem Unorganischen, des
Geistigen aus dem Ungeistigen, Veränderungen vorkommen, welche ihrer Natur
nach nicht auf bloße Bewegungserscheinungen reducirt werden können, so ist
dadurch erwiesen, daß Dasjenige, woran diese Veränderungen vorgingen, eben
nicht jenes Beharrende, qualitativ Unveränderliche, also nicht Materie war,
sondern in einem anderen, dafür passenderen Begriffe allein wiedererkannt
werden kann. Daß aber im Laufe jenes Processes wirklich solche innerliche,
nicht bloße Ortsveränderungen, an der angeblichen Materie vorgehen: wer
wollte dies im Ernste leugnen? Vergleichen wir ein Stück Steinkohle mit
einem ängstlich flatternden und kläglich schreienden Vogelweibchen, dem man
die Jungen stahl, und sodann mit einem Feldherrn, der nach seinen Schlachten-
Plänen die Bewegungen einer Armee leitet: sind in diesen drei Erscheinungen,
angenommen, es seien in allen dreien eben nur die Stoffatome das Wirkende,
diese Stoffatome ohne innerliche Veränderung geblieben, im Vergleich der
einen zu den anderen? Wenn die Kohlenstoffatome der Steinkohle durch
den Stoffwechsel in das Gehirn des Vogels und sodann in das Gehirn des
Feldherrn traten: war da jede Veränderung, die mit ihnen vorging, nichts
als eine Orts- und Bewegungsänderung? Oder ängstigten und quälten sich
vielleicht diese Kohlenstoffatome schon in der Steinkohle und dachten sie
Schlachtenpläne schon im Gehirn des Vogelweibchens? Oder wäre Angst und
Oual nur eine Ortoeränderung und wäre das Ausdenken von Schlachten-
Plänen nur eine Schwingungsbewegung? Dann wäre ja wohl auch der
Unterschied von Lust- und Schmerzempfindung nur ein Ortsunterschied, und
auch der Unterschied zwischen zweierlei Gedankeninhalten, z. B. zwischen dem
Begriffe „Gerechtigkeit" und dem Begriffe „Ungerechtigkeit," ein bloßer Orts¬
unterschied oder Unterschied in der Schwingungsziffer? Davon kann natürlich
nicht die Rede sein. Sobald also empfindende und denkende Wesen aus der
angeblichen unorganischen Materie hervorgehen, so hat sich diese letztere als
etwas Anderes erwiesen, denn wofür sie vorher gehalten wurde: sie hat sich
erwiesen als Etwas, woraus innerliche Veränderungen manchfaltigster Art,
Gedankeninhalte bis zu den höchsten und umfassendsten Wahrheiten hinauf,
Empfindungsunterschiede zwischen intensivster Lust und intensivstem Schmerze,
hervorbrechen können, — als ein neutrales, indifferentes, nach allen Seiten
hin bestimmteres Etwas, für welches das Schelling'sche Wort „Indifferenz"
oder „Identität der Gegensätze" zunächst als negative Bezeichnung gar nicht
so übel war. Die Atome des Kant-Laplace'schen Urnebels dürfen also, wenn
sie die Träger des gesammten Entwicklungsprocesses bis zum denkenden Men¬
schen hinauf sein sollen, keineswegs für die Stoffatome der chemischen Elemente
ausgegeben werden, sondern jener Urnebel besteht dann vielmehr aus einem
Urseienden, worin die Anlage zu unendlichen inneren Veränderungen, zu Ent¬
faltungen immer höherer, immer geistigerer Thätigkeiten eingeschlossen ist.
Nur dann, wenn wir solcherweise jene Atome umgestalten zu den umfassendsten
Entwicklungskeimen, nur dann kann das Alles daraus werden, was der heutige
Monismus daraus will werden sehen.
Aber ich muß Ihre Geduld, verehrte Festgenossen, noch ein wenig weiter
Hinhalten, ehe wir dem Minirer von der andern Seite, unserm Schelling,
wieder voll ins Antlitz schauen können. Es fehlt noch der versprochene Nach¬
weis, daß die Ergebnisse und Tendenzen der modernen Naturwissenschaft, wie
sie von der Materie abführen, so auch vom Mechanischen entfernen,
und sich deshalb aufs Beste in den seelischen, teleologischen Monismus
der Schelling'schen Willenstheorie einfügen.
Der heutige Monismus will, daß nur eine Art von Causalität im Welt¬
all vorkomme, nämlich die mechanische. Ließe sich nun zeigen, daß an einem
einzigen Punkte des Weltalls eine andre Causalität, etwa die ideologische,
waltet, so wäre es entweder um den Monismus geschehen, oder alle Causa¬
lität wäre von dieser anderen Art, also etwa ideologisch, zweckthätig, wil¬
lensartig. Daß es nun irgendwo im Weltall Willensthätigkeit giebt, das
sollte denn doch uns Menschen bekannt sein. Wir Menschen sind doch wohl
durch Willen thätig, indem wir erst uns Zwecke denken, dann die Mittel über¬
legen, hierauf die Bewegungen in der Außenwelt herbeiführen, durch welche
der vorgesetzte Zweck resultirt. Wenn ein Offizier seine Recruten eine be¬
stimmte Bewegung ausführen läßt, so denkt er sich erst diese Bewegung, dann
wählt er das ihm bekannte Mittel des entsprechenden Commandowortes, er
ruft dieses aus, und siehe, der Effect zeigt, daß er sich nicht verrechnete. So
augenfällig hier Alles scheint, so wenig ist es von der heutigen Wissenschaft
hinreichend beherzigt, und Sie finden in sonst achtungerweckenden Büchern
oft genug mit erstaunen machender Sicherheit behauptet, daß auch die Willcns-
thaten des Menschen und ihre Erfolge durchaus physikalisch, also zuletzt mensa-
nisch, erklärbar sein müßten. Freilich, sagt man, will der Commandant die
Bewegung seiner Mannschaften; aber sein Wollen ist auch nur eine Molecu-
larbewegung der Hirnatome: diese Bewegung wirkt als mechanische Arbeits¬
kraft auf die' Sprechmuskeln, das Commandowort ertönt, seine Schallwellen
sind eine mechanische Arbeitskraft im Gehirne des Soldaten, durch welche
wieder dessen Muskelbewegungen ausgelöst werden, die sodann glücklicher Weise
so ausfallen, wie das Commandowort aussagte. Wie mögen Schallwellen
so große Dinge thun und so gut sich auf die Sprache des Commandos ver¬
stehen? Oder sind etwa deutsche Gehirne auf die Schallwellen deutscher Laute
so schön eingerichtet? Von wem? Giebt es für die mechanische Ansicht den
Ausweg eines intelligenten Ordners, der solche Harmonie prästabilirt hätte?
Wir werden wohl nicht irren, wenn wir annehmen, daß das Commando
nicht als physikalische Schallwelle auf das Gehirn wirkt, sondern durch seine
Bedeutung, seinen Inhalt, welcher dem Soldaten einen Zweck vor¬
schreibt, zu welchem er die Mittel ergreift, nämlich die ihm dafür einge¬
übten Bewegungen.
Die Willensthätigkeiten der Menschen zeigen uns, daß es zweckthätige
Ursachen in der Welt giebt. Soll nun der Monismus gerettet werden, so
bleibt Nichts übrig, als alle Ursachen in der Welt für zweckthätige, willens¬
artige zu halten, selbst die sogenannten mechanischen in der sogenannten Kör¬
perwelt. Welche Kühnheit! Aber die heutige Naturwissenschaft unterstützt
uns darin gar sehr. Sie läßt den Menschen abstammen, sammt der ganzen
Thierwelt und Pflanzenwelt, aus jenen einfachsten Plasmazellen des Urmecres,
welche ihrerseits wieder aus den Atomen der chemischen Elemente sich zu¬
sammensetzten. Ist nun der Mensch ein zweckthätiges Wesen, kann aber
Gleichartiges nur von Gleichartigen abstammen, so muß auch die ganze Reihe
unsrer Vorfahren bis zum Häckel'schen Moner und darüber hinaus dasselbe
Wesen aufweisen mit dem Menschen, also entweder selbst zweckthätig wirkendes
Wesen, oder doch ein Wesen, welches in Bezug auf die Zweckthätigkeit alle
die später entwickelten Anlagen in sich einschließt, keineswegs aber einen un¬
vereinbarer Gegensatz dazu in sich trägt. Die Forderung des Monismus
gebietet uns, dies dahin zu steigern, daß hiernach eine andre als ideologische
Causalität nirgends möglich ist.
Offenbar verdunkelt und verengt sich die Zwecksetzung oder das Wollen,
je weiter wir vom Menschen aus abwärts gehen. Aber sie verdunkelt und
verengt sich schon innerhalb der Menschenwelt selbst, je weiter wir von den
leitenden Genien der Weltgeschichte abwärts steigen zu den niedrigsten Cul¬
turgraden; und ebenso verdunkelt und verengt sich die Zweckthätigkeit, je
weiter wir abwärts steigen vom Alter der Vollreife zu dem Zustande vor
der Geburt. Diese successive Abnahme, oder, in der umgekehrten Ordnung,
succesive Zunahme an Inhalt, Werth, Bewußtheit des Wollens, ist nur
eine Veränderung der Quantität, der Objekte, der Intensität, aber kein
Uebergehen in eine andre Wirkungsart. Das bunteste und einfachste Wollen
wäre hiernach das im Atom eines sogenannten chemischen Stoffs anzuneh¬
mende, wobei natürlich nicht an das gedacht werden darf, was wir „freien"
Willen nennen, sondern an eine gänzlich wahllose zweckthätige Kraftäußerung,
welche nur das Einfache, was hier im Wesen liegt, wollen kann, und in
jedem Momente auf bestimmte Weise, nach der Nothwendigkeit seines Wesens
und der Einwirkungen andrer Wesen, wollen muß. Die Gewohnheit, an
der wir Alle noch leiden, die Gewohnheit, abwärts auf die Pflanzenwelt oder
auf die Welt der Elementarorganismen das Reich des Unorganischen folgen
zu lassen, ist ohne allen Grund. Vielmehr ist der Krystall nur eine noch
niedrere Stufe des Lebendigen, und endlich kommen wir bei dem Weltkör¬
per und bei den Weltsystemen an, welche beide, sofern hier nur von dem
Gestirn, nicht auch von den Bewohnern, die Rede ist, wohl als die niedrigste
Stufe von Organismen, aber nicht als das Unorganische anzusehen sein wür¬
den. Die Erde zeigt uns sogar die Gestalt und Einteilung einer colossalen
Zelle, mit Membran, mit halbflüssigen Inhalte, und von anderen Welt¬
körpern nehmen wir das Gleiche an. Die Willensthätigkeit wäre bei diesen
niedersten Organismen herabgesetzt auf die Gravitation. Niemals hat die
Physik sagen können, was eigentlich die Gravitation sei. Sie ist der Grund
alles Mechanischen ; aber ist dieser Grund selbst mechanischer Natur? Der
Raum ist frei: wir dürfen diese innerste Wesenseigenthümlichkeit der soge¬
nannten Materie als eine Willensart, eine Zwecksetzung auffassen. Spricht
nicht auch die naturwissenschaftlich so unanfechtbare Herbartische Lehre von
der Selbsterhaltung ihrer Realen, also von einem Zwecke, den sie
sich setzen?
So vereinigt der Urnebel Kant's und Laplace's Atome von unendlich
bestimmbarer höherer Anlage, die zunächst nur durch die einfachste Zweckthä¬
tigkeit der gegenseitigen Anziehung an einander gebunden sind, und so zunächst
nur Organismen niedrigster Stufe, Weltkörpersysteme, erzeugen. Aber sie
sind kraft ihrer höheren Anlage dazu bestimmt, in fortschreitender Erhellung
und Erweiterung ihres Innern sich emporzuheben bis zu Willensthätigkeiten
höchster Art, und so auch Organismen höherer Art aus sich zu bilden, bis zu
denkenden unsterblichen Wesen hinauf.
Allein, wir dürfen als Philosophen nicht stehen bleiben bei dem auch
noch so innerlich vertieften Gasballe. Die höchste Ursache, also das Unbe¬
dingte, kann nur Eines sein, keine zersplitterte Vielheit. Das eine Urwesen
muß die Anlage zu sämmtlichen Zweckthätigkeiten in sich tragen, von den nie¬
dersten zu den höchsten, und es muß die Reihenfolge ihrer Entfaltung sich
zum Ziel setzen, mit den Abschlüssen, welche diese Reihenfolge finden soll.
Solche universelle Zweckthätigkeit des Urwesens läßt es uns erkennen als den
Urwillen, der zugleich den Stoff in sich trägt, aus welchem die Welt
ist. und zugleich das Ziel denkt und will, zu welchem hin die Welt
sich entwickeln soll, darum aber zugleich auch in dieser Weltentwickelung das
eigentlich Wirkende selbst ist. Und so sind wir wieder bei Schelling. Aber
das letzte Endziel, das sein Urwille will und durch die Welt nach langem
Kampfe endlich erreicht werden läßt, in einem alle Seelen der Menschen
wiederbringenden Jenseits, — das ist eine Welt der Liebe; denn sein Ur¬
Wille ist der Gott der Liebe. Und so sind wir bei Schelling zugleich bei
unserm Christenglauben. —
Wir schauen heute in das Angesicht eines der Größesten unserer Geistes-
heroen. Wir stehen davor mit dem Bewußtsein, daß das heute und in jüngst
vergangener Zeit uns am Landesteil als Wahrheit Empfohlene das schroffste
Gegentheil ist von dem, was uns dieser Held unsers Tags als Wahrheit
verkündete: Materialismus, d. i. Verzicht auf den Geist; Pessimismus, d. i.
Verzicht auf Glück; Skepticismus, d. i. Verzicht aus alle Wahrheit. Sollte
so der Knoten auseinandergehen: die politische Ohnmacht und Zwietracht
Deutschlands mit der Fülle geiht- und gemüthvollen Jnnelebens — das einige,
mächtige deutsche Reich mit der Verödung des Geistes und Herzens?
Nein, nein, und abermals nein!
Raffen wir uns dazu auf. von Neuem den Bund zu schließen, den
Schelling immer fester zu machen sein ganzes, Leben gerungen, den Bund
zwischen dem wissenden Verstände, dem fröhlichen Aufschwünge der Phan¬
tasie und einem frommen, liebeerfüllten Herzen. Auf sichrerer Wissenschaft-
licher Grundlage als Schelling selbst dürfen wir heute uns dessen freuen, daß
die Ideale unsrer großen Dichter, die Gedanken unsrer größten Philosophen,
die religiösen Gefühle unsrer wahrhaft Frommen ein und denselben Inhalt
haben: den Inhalt, den wir heute als den Kern des Schelling'schen Denkens
fanden, und den wir, zum Zeugniß, daß hier Poesie und Philosophie sowohl
sich als der Religion die Hand reichen, mit dem Schillerworte wiederholen:
Ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt, und mit den Worten des
Christenthums: >'>e«? ?r, , / — ,«7«??^: Gott ist Geist,
Gott ist Liebe.
Olmütz hatte mich nach Amerika getrieben — Olmütz und die auch gegen
die demokratischen Hoffnungen und Bestrebungen der Deutschen hereingebrochne
Reaction; denn ich hatte in der famosen Sonnabendsgesellschaft in Stolpe's
Restauration zu Robert Blum's Füßen gesessen und in den Erfahrungen des
Lebens noch nicht wieder verlernt, was ich dort und später im Naterlcmds-
verein an politischer Weisheit eingesogen. Dießseits des großen Wassers war
es — so wähnte ich — mit jenen Hoffnungen für meine Lebenszeit aus, jen¬
seits — so träumte ich — blühte ihre Erfüllung und trug gute Früchte,
darunter auch goldene.
Ich dachte drüben mit einem Vetter, der den altenburgischen Gutsver¬
walter aufgegeben, sich in Ohio bereits in verschiedenen Stellungen versucht
und namentlich den dortigen Betrieb der Landwirthschaft praktisch kennen
gelernt hatte, Farmer im Hinterwalde zu werden und — des Vaterlandes zu
vergessen.
Beides erwies sich in der Folge als schwerer, wie ich gemeint, und ich
muß hiervon fast unmittelbar nach meiner Landung in New-Uork wenigstens
in Betreff meiner Qualification zum Blockhüttenbewohner und Urwaldsbauer
eine Ahnung gehabt haben. Denn, als ich eines schönen Morgens beim
Zeitungslesen auf eine Einladung zur Bewerbung um eine gutdotirte Pastoren¬
stelle stieß, hing ich gelassen den Farmer an den Nagel und beschloß, wenn
das Glück wohl wollte, statt der Eichen, Hickorybäume und Zuckerahorne in
der Wildniß des Maumee oder Miami lieber geistiges Gestrüpp und Unkraut
zu roder und statt irdischer Aecker himmlische zu pflügen und zu bepflanzen
— ein Entschluß, der, wie man sogleich erfahren wird, nicht unerklärlich und,
wie man später gewahr werden soll, in Amerika durchaus nicht ohne Vor¬
gang war.
Die erwähnte Stelle war die des Pastors an der Pauluskirche in Cin-
cinnati, und über Cincinnati führte der Weg zu Vetter Theodor in Dayton.
Die pfarrersbedürftige Gemeinde ferner war eine deutsche. Ich konnte mich
ihr endlich mit gutem Gewissen widmen ; denn ich hatte Theologie studirt
ich hatte sie sogar „mit heißem Bemühn" und — Beweis das bestandene
Examen für die Erlaubniß zum Predigen — mit ziemlichem Erfolge studirt.
Freilich später auch Philosophie, was manchem Gemüthe als keine Empfehlung
erscheinen wird, bei dem Kirchenrathe aber, dem ich mich vorzustellen hatte,
vermuthlich insofern eine war, als ich, wenn es an das Ausspielen meiner
Karten ging, nach den theologischen Zeugnissen auch mit einem stattlichen
lateinischen Doctor - und Magisterdiplom auftrumpfen konnte.
Wie gescheidt ich mir damals erschien! Und wie „grün" ick) mir jetzt vor¬
komme, wenn ich mein vergilbtes Tagebuch nach diesen Dingen durchblättere!
Um auf das Folgende ganz vorbereitet zu sein, muß man noch wissen,
daß in jener Zeit (abgesehen von den Methodisten und Baptisten) nur die
orthodoxen lutherischen Gemeinden unter den amerikanischen Deutschen eine
Organisation besaßen, die sie unter einer Oberbehörde miteinander verband
und sie und ihre Prediger den unsrigen einigermaßen ähnlich erscheinen ließ.
Die übrigen —- bei Weitem die Mehrzahl — waren nichts anderes als sich
selbstregierende Clubs oder Casinos, die sich ihren Pastor wählten, wie ein
profanes Casino, eine profane Ressource sich den Castellan wählt. Man baute,
kaufte oder miethete sich eine Kirche, möblirte sie nach Kräften mehr oder
minder elegant und besorgte sich einen Prediger, der nicht ordinirt zu sein,
nicht einmal studirt zu haben brauchte, der in der Regel nach Verlauf eines
Jahres entlassen werden konnte, und der vor Allem die Aufgabe hatte, die
Kirche möglichst voll zu predigen; denn nur durch Vermiethen vieler Stühle
wurden die Kosten gedeckt und wurde vielleicht noch ein profitables Geschäft
gemacht.
Von welchen tausenderlei kleinen Ränken ein solcher abhängiger Seelen¬
hirt umschlichen war, welche Rücksichten auf Geschmack und Laune der Ge¬
meinde er zu nehmen hatte, und was für eine Sorte von Amtsbrüdern er
bei einer so gestalteten Lage der Dinge in nicht seltnen Fällen neben sich sah,
kann der deutsche Leser sich schwerlich auch nur annähernd vorstellen.
Auch ich hatte von diesen Verhältnissen anfangs keine Ahnung, Ich
war eben ein „Grüner". Erst nach und nach, gleichsam tropfenweise, erfuhr
ich, wie die Sache in Wahrheit stand. Aber als ich einmal A gesagt, mußte
ich wohl oder übel B sagen, trotzdem, daß ein Tropfen immer bitterer war
und mir immer mehr Verdruß und Scham zu Gesichte steigen ließ, als der
vorige. Wie ich dann nicht weiter konnte im Alphabet, ließ ich das Weiter¬
buchstabiren eben sein, schüttelte den Staub von meinen Füßen und zog wieder
von dannen. Ich war jetzt nicht mehr „grün," im Gegentheil, ich war —
recht roth geworden.
Und nun wollen wir unsre Geschichte selbst vornehmen, indem wir die
auf sie bezüglichen Stücke aus meinem Tagebuche lösen und mit einander
verbinden.
12. September. Durch Weinhändler Pfiermannn, einem Bruder von
der „königlichen Kunst," mit dem ich gestern im Gasthofe Bekanntschaft machte,
und der mir rasch gut geworden zu sein scheint, wie ich ihm, wurde ich heute
Morgen bei Pastor Kroll, dem Prediger an der Johanneskirche auf der sechsten
Straße, eingeführt. Ehrwürden, ein großer schwerer Mann, saß eben, der Hitze
wegen nur mit Hemd und Hosen bekleidet, in der Unterstube seines Häuschens,
die als Empfangs-Salon und zugleich als Schulzimmer für die Confirmanden
der Gemeinde dient, im Gespräche mit einem Herrn Herrsch, der gleich mir vor
Kurzem aus Deutschland angekommen ist. Als Confrater in sxv vorgestellt,
wurde ich freundlich aufgenommen, und der Pastor sagte auch mir recht wohl zu,
obschon er eine etwas phlegmatische und hausbackene Natur zu sein scheint und
offenbar zu den Auguren gehört, die sich anlächeln, wenn sie bei Amtsgängen
einander begegnen. Wenn ich ihn recht verstehe, so ist sein Evangelium der
alte Rohr. Weniger behagte mir Hertsch, der Rechtsgelehrter in Magdeburg
gewesen sein und zu der Uhlich'schen Partei gehört haben will, und der sich
jetzt, obwohl er an Krücken geht, und Krüppel nach den alten Satzungen der
Kirche nicht Priester sein sollen, um die Pfarre in Madison zu bewerben ge¬
denkt, deren bisheriger Inhaber der Gemeinde „zwischen zwei Tagen" abhan¬
den gekommen ist.
Verdunkelte das schon meinen Himmel ein wenig, so wurde es noch
düsterer, als nach einer Weile ein junger Mann hereinkam, der früher auf
Hecker's Farm in der Looking-Glaß-Prairie beschäftigt gewesen, und der
uns mit betrübter Miene erzählte, daß der Prediger, den Hertsch zu ersetzen
vorhatte — er hieß, wenn ich recht hörte, Klingler — und der die vorige
Nacht mit ihm auf einem Zimmer geschlafen, ihm mit einer Brieftasche, die
63 Dollars enthalten habe, davongegangen sei.
„Das sieht ja bös aus", dachte ich. Aber der Pastor schien es nicht so
tragisch zu nehmen. Wußte er doch sofort von ähnlichen Geistern zu berich¬
ten. Da war einer, der in Brooksville als motorischer Trunkenbold und
Landläufer gespukt, da war ein anderer, der eine fremde Uhr für die seinigx
angesehen und in der Zerstreutheit verkauft, da war ein dritter Unhold, der
— „wohl auch aus Versehen", meinte der Pastor mild oder ironisch — gar
als Liebhaber seines eignen Geschlechts Unfug verübt und, nachdem er von
mehrern Stellen verjagt worden, jetzt doch in Kentucky wieder eine gefunden
hatte, und so mit Grazie weiter.
Ich kann nicht mit Sicherheit behaupten, daß mich dies in besonders
hohem Grade in meinem Vorhaben ermuthigte; ja ich glaube fast, das
Gegentheil war der Fall. Wenigstens sagte ich etwas der Art meinem guten
Pastor, als ich diesen Abend, von ihm eingeladen, im Pfau ein Glas Rhein¬
wein — vielleicht waren's auch zwei — auf das Gelingen meiner Bewerbung
bei Samt Paul und auf fleißige Mitarbeiterschaft an der von Kroll heraus¬
gegebnen kirchlichen Zeitschrift mit ihm trinken mußte, was wir beiläufig
hinter, einer spanischen Wand vollbrachten, die der rücksichtsvolle und vorsorg¬
liche Wirth zwischen uns Kleriker und die profanen Gäste geschoben hatte.
Ehrwürden tröstete mich: das wäre ja nicht so gefährlich — was ich heut
Morgen gehört, wäre Ausnahme — ich würde in den hiesigen Geistlichen
ganz angenehme Leute finden, u. dergl. Genug, ich ließ mich trösten, zumal
mir der Präsident meines Kirchenrathes, dem ich zwischen dem Besuch im
Pastorat der Johanniskirche und dem im Pfau meine Aufwartung gemacht,
nicht übel gefallen hatte.
Der Name dieses Kirchenrathspräsidenten war Niemeyer, sein Geschäft,
abgesehen von den Angelegenheiten, die ihm jene Würde in die Hand legte,
das eines Tischlers in Clawson's Bedstead Factory. Ich traf ihn gerade bei
der Arbeit über dem Kopfende einer Bettstelle und einem Haufen von Hobel-
spcihnen, der ihm bis über die Knie ging. Der Sprache nach ist er ein Platt¬
deutscher. Er war gegen den Candidaten cordialer, als Präsidenten deutscher
Kirchenräthe gewöhnlich sein sollen, rieth mir, ein schriftliches Gesuch an sein
Collegium einzureichen, und versprach es am Abend selbst abzuholen, was
unsere Kirchenrathspräsidenten wohl. auch nicht immer für ihre Schuldigkeit
halten werden.
Ich entwarf, froh über so guten Anfang, die Eingabe, und um fünf
Uhr stellte sich der Präsident ein, um sie mitzunehmen und mich zugleich auf
die Walnutstreet zu führen, wo die Pauluskirche liegt. Er ließ sie aufschlie¬
ßen und zeigte mir das Innere. Sie ist äußerlich ein einfaches, ziemlich un¬
scheinbares und schmuckloses Gebäude, das im Erdgeschoß die Schule der Ge¬
meinde und eine Apotheke hat, im Innern aber recht nett eingerichtet. Die
Sitzbänke sind von polirtem schwarzem Walnußholz, die Gänge zwischen ihnen
mit Teppichen belegt. Schiff und Emporkirchen mögen achthundert Personen
fassen. Die Kanzel, an der Wand dem Haupteingang gegenüber angebracht,
ist eine Estrade mit Pult, aber ohne Schalldeckel, zu der rechts und links'
Stufen hinaufführen. Der Altar befindet sich unmittelbar unter dem Pult
der Kanzel. Das Ganze macht, gleich den meisten protestantischen Kirchen
des Westens, einen nüchternen, aber freundlichen und behaglichen, ich möchte
sagen, warmen Eindruck.
Während der Präsident mich herumführte, theilte er mir die neueste Ge¬
schichte der Gemeinde und die Gründe mit, die zur Entlassung des seitherigen
Pfarrers bewogen hatten. Derselbe heißt Göbel und ist von Hamilton hier¬
her berufen worden. Er hat die Stelle vier Jahre innegehabt und anfangs
recht wohl gefallen. Aber schon bei Entwerfung der Constitution ist seine
Herrschsucht übel vermerkt worden, und bei späteren Gelegenheiten hat er eine
ungebührliche Neigung zu Geldgeschäften verrathen. „Er wollte Papst spielen",
sagte Riemeyer, „und er hat sich seinen Gehalt vorauszahlen lassen, um da¬
mit zu zwanzig Procent zu wuchern. Bei Taufen und Trauungen konnte
er gewöhnlich nicht genug bekommen, obschon er's nach der Constitution
eigentlich umsonst thun mußte. Dann hat er Leuten gerathen, das der Kir¬
chenkasse geliehene Geld zu kündigen, weil es (die Gemeinde soll 20.000 Dollars
Schulden haben) nicht sicher stände. Auch studirte er in der letzten Zeit nicht
mehr gehörig auf seine Predigten, und so war's gewöhnlich liederliches Zeug,
nicht gehauen und nicht gestochen. Das wurde so schlimm, daß verschiedene
von uns wegblieben oder ganz auftraten, geschweige denn, daß neue Mitglie¬
der beigetreten wären, die wir recht gut gebrauchen könnten." Aus alledem
scheint hervorzugehen, daß die Angel, um die sich die Angelegenheit dreht
der Geldpunkt ist. Stände es damit nach Wunsche, so nähme man es viel¬
leicht mit dem Papste nicht so genau.
13. September. Früh bei Nothert, dem Schatzmeister der Paulus¬
gemeinde, Besuch gemacht, der ebenfalls Mitglied des Kirchenrathcs und nach
gestrigen Aeußerungen Krölls und Riemeyer's besonders einflußreich ist. Er
hat früher das Sehlosserhandwerk betrieben, ist aber gegenwärtig Inhaber
eines Eisenwaarengeschäfts auf der Western Now und offenbar in guten Ver¬
hältnissen. Langgewachsen, engbrüstig, nach Miene und Rede ein lebhafter
und entschiedener Charakter, erinnert er durch seinen Dialekt wie Niemeyer,
daß er aus plattdeutsch sprechenden Gegenden eingewandert ist. Ich gab ihm
kurz Aufschluß über meine Vergangenheit und überreichte meine Zeugnisse.
Meine einfache Art und Weise schien seinen Beifall zu haben; denn er holte
seine Familie herbei, um sie mir vorzustellen, desgleichen einen Nachbar
Koch, der ebenfalls der Gemeinde angehört. Ueber einer Flasche Portwein
erfuhr ich die gestern vernommenen Klagen über den Pastor noch einmal und
noch ein ziemliches Bündel neue dazu. Doch scheint Göbel auch eine nicht
ganz kleine Partei zu haben, die vorzüglich aus Mitgliedern des Oddfellow-
Ordens besteht, welcher hier den Freimaurern Concurrenz macht, und welchem
der Pfarrer, wenn ich recht verstanden habe, vor Kurzem beigetreten ist. Man
ist in Folge dessen in den letzten Tagen hart aneinander gerathen, und der
Pastor hat sich dabei — wenn Nothert nicht übertreibt — nicht gerade als
Gentleman betragen. Schließlich äußerte Nothert den Wunsch, ich möge, da
Göbel nicht wieder auf die Kanzel solle, gleich morgen die Predigt überneh¬
men, was ich indeß mit Hinweis auf meine Ermüdung von der langen
Reise, auf die Unmöglichkeit, in so kurzer Frist, mich zu einem gediegenen
Debüt zu rüsten, und auf die Nothwendigkeit, mich erst mehr zu orientiren,
ablehnte.
14. September. Heut Morgen mit Vetter Theodor (der inzwischen ein-
getroffen war) in die Pauluskirche, um Göbel predigen zu hören. Man bot
mir einen Sitz im Kirchenrathsstuhl unmittelbar vor der Kanzel an, ich aber
zog einen bescheidenem Platz nicht weit von der Thür vor. Ein Viertel vor
zehn Uhr wurde geläutet, die Kirche füllte sich nach und nach, die Orgel
ging, und der Geistliche erschien — ein vollwangiges, rothes Alltagsgesicht
auf etwa vierzigjährigen Schultern. Er trug einen schwarzen Frack; denn der
Chorrock unsrer Seelenhirten ist hier, wie in den meisten protestantischen
Kirchen des Westens nicht erforderlich und daher selten. Nachdem man ein
Lied gesungen, las der Pastor ein Gebet aus Witschel vor, und dann gab
es eine Predigt, die, wie ich meinem verschwiegnen Tagebuche wohl anver¬
trauen darf, schwächlicher und confuser als billig war. An den Schluß
knüpfte er einen erregten Protest gegen die (freilich nicht von ungewöhnlichem
Zartgefühl eingegebne) Zumuthung des Kirchenrathes, nach der er dessen Be¬
schluß, daß nächsten Sonntag Probepredigt sein solle, von der Kanzel zu
verlesen hatte, und nun entstand Skandal. Rothert erhob sich und erklärte
noch erregter, das müsse er thun, wo nicht, so stiege er sofort selbst auf die
Kanzel und besorgte die Ankündigung. Darauf erneute Weigerung des
Pfarrers, Einwürfe und Drohungen von Seiten des gesammten Kirchenrathes,
ärgerlicher Zank, wüstes Durcheinanderschreien, Aufstampfen mit den Füßen,
wie zum Zuschlagen erhobne Hände — ein Auftritt, dem der zornübermannte
Rothert die Krone aufsetzt, indem er dem ehrwürdigen Herrn mit lauter
Stimme einen Lügner ins Gesicht wirft. Die Frauen schüttelten die Köpfe.
Von den Männern erwartete ich jeden Augenblick, daß sie die Röcke aus¬
ziehen und einander in die Haare fahren würden, und da ich der Ansicht bin,
daß derartige Kraftübungen besser in Schenken oder auf Tanzböden als in
Kirchen vorgenommen werden, so zupfte ich Vetter Theodor am Rock¬
schoß, gab ihm einen Wink mit den Augen und machte mich mit ihm in der
Stille von dannen.
Der Nachmittag bot ein freundlicheres Bild. Die verschiedenen Wohl¬
thätigkeitsvereine Cincinnatis zogen in großer Prozession nach dem Mount
Auburn zur Einweihung des dort von ihnen erbauten Waisenhauses, neben
das später ein Wittwenhaus zu stehen kommen soll. Vorreiter mit Schärpen
führten den Zug, die Mitglieder der Vereine, ebenfalls beschärpt, und die
Schulkinder im besten Putz folgten, letztere von den Pastoren und Lehrern
geführt. Fahnen wehten, Musikchöre bliesen und trommelten. Eine dicke
gelbgraue Staubwolke wirbelte über dem Ganzen. Oben auf der Hochfläche
angekommen, machte ich binnen fünf Minuten die Bekanntschaft von zwei
Dutzend andern Mitgliedern der Paulusgemeinde, mußte allen die Hände
schütteln, wurde von allen gefragt, wie mir's geht, und hörte die Klagen über
den bösen Pastor, reit vielen „vvvil" und „ok^^ und „n,nz^ovo" gewürzt,
zum zehnten und zwanzigsten Male. Dann waren wir Zeugen, wie die
geistlichen Herren von der auf dem Dache eines Hauses improvisirten Redner-
bühne zur Feier des Tages ihr Licht leuchten ließen: der fette orthodoxe
Grcissow (früher seines Zeichens Schneider), der würdige Subr, der seine ge¬
wohnten zehn Abendschoppen heute schon zu Mittag zu sich genommen zu
haben scheint, der redliche Hofsümmer, der ein Geberdenspiel wie eine Wind¬
mühle entwickelt. Müde dieser geistlichen Coulissenreißerei (man gewöhnt sich
in Amerika an starke Ausdrücke — wenn ich das Tagebuch jetzt schriebe, so
würde ich sagen: dieser Erregtheit ohne Inhalt), dieses salbungsvollen Schmach-
tens und Polterns, das nie bei der Stange blieb, sondern bald von der
Wohlthätigkeit faselte, bald ohne Noth dem Atheismus einen Keulenschlag
beibrachte, bald ein paar Schaalheiten über Tod und Unsterblichkeit heraus¬
langte, zog ich mich nach einer Weile zurück und setzte mich ein Stück von
den Rednern in den Waldesschatten, wodurch ich um den Vortrag Freund
Kroll's kam, der besser gewesen sein soll. Ein schöner Zug, der mit Manchem
versöhnte, war der, daß bei der Tellersammlung, die schließlich von den Pa¬
storen für das Waisenhaus vorgenommen wurde, fast vierhundert Dollars
einkamen. Gewöhnliche Handwerker sah ich Fünf-, ja Zehn-Dollar-Noten
auflegen. Bei uns hätten sie sich für generös gehalten, wenn sie fünf oder
zehn Silbergroschen geopfert hätten.
Auf dem Rückwege erfuhr ich von Rothert Einiges über die Entstehung
der, hiesigen protestantischen Gemeinden. Die, deren Prediger jetzt Kroll ist,
war die älteste. Zuerst waren es meist Hochdeutsche, die zu ihr zusammen¬
traten, und denen ein Kaufmann in einem Privathause zuweilen eine Predigt
hielt. Dann mehrte sich die Zahl der Plattdeutschen, die nun Anspruch auf
die Herrschaft erhoben, während die Hochdeutschen der Mehrzahl ihr Recht als
Väter der Gemeinde gegenüberstellten. Die Folge waren lebhafte Streitig¬
keiten, die bei einer Versammlung in der mittlerweile von ihnen erworbenen
Johanneskirche in Schlägerei ausarteten. Die Plattdeutschen wurden endlich
durch allerhand Intriguen der Gegner — man kaufte sich unter Anderm, um
die Partei zu stärken, förmlich Mitglieder zu ein paar Thalern per Kopf —
dahin gebracht, daß sie sich sür etliche tausend Dollars zum Austritt bestim¬
men ließen. Sie bildeten eine neue Gemeinde und bauten die Walnutkirche,
an der Subr jetzt als Geistlicher fungirt. Hier starben ihnen bald nach ein¬
ander zwei Prediger, und bei der Wahl des dritten kam es wieder zu Zer-
würfniß und Spaltung, und ein Theil der Mitglieder schied aus, um sich kurz
nachher die presbyterianische Kirche zu kaufen und sich dort mit ihrem Can-
didaten als Seelsorger einzurichten. Sie sind die jetzige Paulusgemeinde.
Dieselbe hatte gleichfalls wenig Glück und Frieden und reichlich Noth und
Verdruß mit ihren Pfarrern. Einer kündigte ihr zweimal ohne Weiteres den
Handel auf, ein andrer wurde orthodox und am Ende gar katholisch. Der
letzte, Göbel, war eine Zeit lang ganz erträglich gewesen, jetzt machte auch er
der Gemeinde schwere Sorge.
Abends ging ich zu Pastor Subr. Er hatte mich eingeladen, war aber
nicht zu Hause. „Die Schenke wird ihn nicht weggelassen haben," meinte
eine böse Zunge im Gasthofe. „Jeden Wochentag einen Rausch, des Sonn¬
tags zwei."
13. September. Nachmittags in Krölls Kirche einen Aufsatz für dessen
„Protestantische Zeitblätter" geschrieben, Abends mit ihm zu Biere gegangen
in eine Wirthschaft, die ein „General" Mohr hält, und wo Pastor Grassow
Stammgast ist.
16. September. Früh in der Johanneskirche an meiner Predigt ge¬
arbeitet, in der ich den Tert: „Christus gestern, heute und in Ewigkeit" be¬
handele. Mittags bekam ich Besuch von der Partei Göbels, für die ein ge¬
wisser Rohrkaß das Wort führte, und die vermuthlich mich auszuhorchen
kommt. Ich befriedige ihre Wißbegierde, da ich nichts zu verhehlen habe.
Nachmittags mit Kroll Katawba-Wein getrunken, von dem auf den Bergen
hinter der Stadt viel gebaut wird, und der nicht übel, aber mit Sprit ver¬
setzt ist und daher leicht zu Kopfe steigt.
Von 17. bis 19. September vollendete ich meine Predigt und memo-
rirte sie.
20. September. Besuch bei Nothert. der von Göbel beim Squire
verklagt und von wegen des „Lügners" um zehn Dollars gestraft worden ist.
Ich erhalte meine Zeugnisse zurück, unter denen das Doctordiplom zwar Kopf¬
zerbrechen gekostet, aber — vielleicht gerade deshalb — feine Wirkung als
Daus in meiner Karte gethan zu haben scheint. „Nach dem, was wir jetzt
wissen," sagte Nothert, „werden Sie unser Pastor. Und wenn darüber die
Sonne im Westen aufginge, Sie müßten es werden." Meine Probepredigt
soll morgen stattfinden; doch erkläre ich mich nur unter der Voraussetzung dazu
bereit, daß die Gegenpartei sich ruhig verhält.
Abends höre ich von Rohrkaß. daß sie das nicht zu thun gedenkt. Göbel
will trotz alledem aus die Kanzel, da sein Advocat ihm dieß mit dem Hin¬
weis gerathen hat, daß Zurückhaltung ihm den Anspruch auf vollen Gehalt
bis zu Ende des Jahres verlieren lassen würde. Meine Antwort war, ich
werde mich nach dem Willen des Kirchenrathes pünktlich einfinden, um zu
predigen; träfe ich jedoch die Kanzel schon besetzt, so würde ich mich, um
nicht Ursache zu Unschicklichkeiten zu geben, ohne Zögern zurückziehen. Dieß
gefiel, und fast sah es aus, als ob ich damit einen Stein im Brete auch
dieser Partei gewonnen hätte.
21. September. Am Morgen in ziemlicher Frühe schon stellte sich
Rothert im Gasthofe ein, um mich zur Kirche abzuholen. Er hatte es offen¬
bar sehr eilig. Ich war indeß noch im Ankleiden begriffen und bat ihn vo¬
raus zu gehen. Bald nachher folgte ich ihm. Vor der Kirche traf ich bereits
eine Menge Menschen, begierig, den neuen Prediger zu sehen, der frisch aus
Deutschland gekommen war — begierig möglicherweise auch auf den Skandal,
den der alte machen würde. Nicht überflüssig möchte sein, zu bemerken, daß
dieser neue Prediger keinen Talar und auch keinen schwarzen Frack, sondern
einen braunen Rock mi-t schwarzer Sammetweste und blauen Beinkleidern trug,
und daß niemand daran irgendwie Anstoß nahm. Die Glocke läutete, und die
Orgel ging. In Begleitung zweier Kirchenräthe, die mich aus den Stufen
vor dem Eingange empfingen und sich dann — verdächtig genug — statt auf
ihre gewöhnlichen Plätze, wie zwei Riesen, die das Zauberschloß bewachen,
vor den Altar setzten, bestieg ich die Kanzel und schlug die Gebet- und Ge¬
sangbücher auf. Der Organist begann das erste Lied, während Schiff und
Emporkirche sich rasch Kopf an Kopf füllten. Der letzte Vers war ziemlich
zu Ende, und eben wollte ich mich zum Morgengebet erheben, als zu meiner
nicht geringen Ueberraschung in der offnen Hauptthür mir gegenüber das Ge¬
sicht des Pastors erschien, dem einen Augenblick darauf Leib und Beine die
Stufen herauf nachfolgten. Ich begriff jetzt die Eile Rotherts. Göbel war
zu rechter Zeit und doch zu spät gekommen. Der Kirchenrath hatte den
Gottesdienst um zehn Minuten früher als sonst üblich anfangen lassen. In-,
deß Ehrwürden hatte eine eiserne Stirn. Gravitätisch schritt er den Mittel¬
gang entlang auf die Kanzel zu, mit der nur zu deutlichen Absicht, mich,
koste es, was es wolle, von der ihm gebührenden Stelle zu verdrängen. Da
— er mochte noch drei Schritte von dem Geländer entfernt sein, das Altar
und Kanzel von dem Schiffe abschloß — erhoben sich die beiden Riesen nach
ihrer vollen Länge und vertraten ihm den Weg. Ein Parlamentiren erfolgte,
ein lebhaftes Mienenspiel ergänzte, was ich von den unten gewechselten Wor¬
ten nicht verstand. Wenig fehlte, so brach der laute Zank wieder los, und
von dem war es, wie ich jetzt wußte, nicht weit zum Handgemenge. So war
denn ein Entschluß zu fassen und zwar ohne Zeitverlust, wenn der Gottes¬
frieden hier nicht abermals gebrochen werden sollte — ein Fall, den ohne
Zweifel mehr als Einer mir zugerechnet hätte.
Ich griff daher—-Aller Augen schienen auf mich zu warten — rasch fertig
nach meinem Hute, ging hinunter, von der Kanzel und — die ganze Gemeinde
stand rauschend auf, Einige traten auf die Bänke, über die Brüstung der
Einporkirche hingen lauschende Köpfe — auf den Pastor zu, der wie ein
Puter kollerte. „Herr Pfarrer." sagte ich ihm bescheiden (deßgleichen wohl
auch ein wenig befangen, wie ich heute einschalte), „wenn Sie gekommen sind,
um die Kanzel in Anspruch zu nehmen, ich für meinen Theil räume Sie Ihnen
ein, und zwar, um Störung im Gotteshause zu vermeiden."
Er antwortete nur mit einem Kopfnicken. Die Niesen, zu denen sich
jetzt Rothert gesellt hatte, wollten mich zurückhalten, ich aber erklärte ent¬
schieden, unter diesen Umständen nicht dableiben zu können, und entfernte
mich, um nach meinem Gasthofe zu gehen und von da sogleich einen Spazier¬
gang nach den Weinbergen vor der Stadt zu machen,
Als ich zurückkam, warteten einige Glieder der Gemeinde aus mich.
Man ertheilte mir Lobsprüche über mein Verhalten in der Kirche und
erzählte mir den weiteren Verlauf der Sache am Vormittag, der einfach
damit geendigt hatte, daß Se. Ehrwürden nach meinem Weggange trotz
ziemlich energischen Widerspruchs seiner Anhänger vom Kirchenrathe unter
heftigem Trommeln und Stampfen der zu letzterem haltenden Mehrheit
der Anwesenden nach der Thür hincomplimentirt und diese darauf geschlossen
worden war.
Nachmittags sprach ich bei Rothert vor, wo ich den größeren Theil des
Kirchenrathes und einige andere einflußreiche Mitglieder der Gemeinde ver¬
sammelt fand. Die Gesellschaft billigte mein Benehmen dem Auftreten Göbel's
gegenüber ebenfalls. Nur der grimme Nothert selbst war nicht recht damit
einverstanden. „Sie mußten oben bleiben," sagte er. „Hinauf gekommen
wäre er nimmermehr. Hätte er nur die Fußspitze'auf die Kanzeltreppe gesetzt,
auf der Stelle hätte ich ihn zu Boden geschlagen." Alle sprachen ihren festen
Entschluß aus, Göbel nie wieder in die Kirche zu lassen, und man redete
mir dringend zu, mich sogleich zu vorläufiger Vollziehung aller kirchlichen
Geschäfte mit Einschluß der Trauungen, Taufen und Beerdigungen zu ver¬
pflichten, was ich indeß, da noch andere Candidaten vorhanden waren, und
ein Eingehen auf den Wunsch des Kirchenraths mir als Vordringlichkeit und
Wahlbeeinflusfung ausgelegt werden konnte, mit dem Hinzufügen ablehnte,
sobald als möglich nach Dayton reisen und dort bleiben zu wollen, bis die
Reihe der Probepredigten am Schlüsse angelangt sei, wo man mir die letzte
gestatten möge. Nur ungern schien man nachzugeben, und namentlich
Nothert willigte erst ein, als ich mich anheischig machte, falls der Candidat,
der nächsten Sonnrag predigen sollte, nicht einträfe (er befindet sich in Phila¬
delphia) auf telegraphische Benachrichtigung nach der City zu kommen und
statt seiner zu predigen, zu welchem Zwecke ich die Adresse Theodor's in Dayton
zurückließ.
Unter allgemeinem Händeschütteln trennte ich mich von den wackeren
Leuten — wie ich dachte, für sechs bis acht Wochen. Man war mir offen¬
bar gewogen. Ich hatte es verschmäht, nach der hier gebräuchlichen Methode,
durch Herumgehen bei den einzelnen Gemeindegliedern und ähnliche Mittel
mich zu empfehlen und mir für den Wahltag Stimmen zu werben, ich hatte
sogar der Einladung des Kirchenrathes, zu bleiben und ihr provisorischer Pastor
zu werden, der allmälig zum definitiven geworden wäre und meine Wahl
zur bloßen Formalität gemacht hätte, eine Ablehnung entgegengesetzt. Das
hieß sich rar machen, das sah vornehm aus. Dem Tagebuch darf ich's ge¬
stehen, daß mein Verhalten noch mehr dadurch bedingt wurde, daß ich täglich
mehr bereue, mich auf den ganzen Handel eingelassen zu haben, und daß ich
nur den Weg noch nicht sehe, auf dem ich mich anständig herausfinden könnte.
Bleibe ich, so wachse ich unzweifelhaft fest; gehe ich auf einige Wochen weg,
so kann sich, um mit Micawber zu reden, im Verlaufe derselben „etwas finden,"
was mich der Verpflichtung enthebt, den braven Leuten auf der Walnut
Street weiter zu Willen zu sein.
22. September. Am Bormittag war ich bet Kroll, um ihm auf
seinen Wunsch meine Predigt und noch einen Artikel für sein Blatt zu geben
und dann Abschied zu nehmen. Er erwartete mich in Hemdärmeln an der
Ecke seiner Kirche. Im Laufe des Gespräches erzählte er mir seine Geschichte.
Er war aus dem Hessischen gebürtig und in Gießen ein flotter Student ge¬
wesen, der „Gefallen an der Stärke des Rosses gehabt" und fleißig auf
Fechtboden und Mensuren verkehrt hatte. Wie mich die Politik, so hatte
ihn schließlich die Liebe nach Amerika verschlagen. Nachdem er als Candidat
geheirathet und sich dadurch die Aussicht aus eine Pfarre verscherzt, war er
nach Missouri gegangen, wo er sich unmittelbar vom Dampfboote aus in einer
Wildniß am Mississippi als Squatter niedergelassen hatte. „Ich brachte nicht
mehr als zwanzig Dollars mit," erzählte er, „aber eine unerschrockne und
geduldige Frau, einige Kenntniß der Landwirthschaft, ein paar rüstige Arme
und einen breiten Rücken. Wir bauten uns mit Hülfe gefälliger Nachbarn,
denen ich später dafür manchmal predigte, auf geclaintem Lande eine tüchtige
Blockhütte. Ich schlug ein Stück Wald nieder, fenzte es ein, säete und erntete
und war in meiner Art ein gemachter Mann. Sechs Jahre haben wir da gelebt
und glücklich gelebt. Meine Frau kriegte freilich das Fieber, und die Kin¬
derchen, die mit der Zeit kamen, litten auch mitunter daran. Aber sie wur¬
den wieder gesund, wir hatten, was wir brauchten, und im Ganzen waren
es schöne Tage in Gottes grüner Natur." Später hatte er sich aber doch
„der Kinder wegen" wieder in das städtische Leben zurückgesehnt und in Folge
dessen die Pfarrersstelle an einer deutschen Gemeinde zu Louisville in Kentucky
angenommen, die er nach einigen Jahren mit der an der hiesigen Johannes¬
kirche vertauscht hatte. Er war pecuniär recht günstig gestellt und hatte nie
Streit mit seiner Gemeinde gehabt, erfreute sich vielmehr allgemeiner Beliebt¬
heit, auch über den Kreis derselben hinaus.
„Und so wird es mit Ihnen auch werden," schloß er seine Rede. „Sie
müssen Ihre europäischen Schrullen aufgeben, lieber Freund. Ihre Bedenken
gegen Sanct Paul sind grundlos. Die Leute sind ein bischen geradezu, me i°
nen es aber gut. Die große Mehrzahl, das weiß ich jetzt schon, wird für
sie stimmen, und man denkt nicht daran, einem Pfarrer gegenüber, der seine
Schuldigkeit thut, nach Ablauf seines Contracts von seinem Kündigungsrechte
Gebrauch zu machen. Es sind jetzt bewegte Zeiten, aber man darf sich da¬
durch nicht irre machen lassen, es kommen auch ruhige Tage, und die wollen
wir beide als gute Freunde mit einander genießen."
Ich versprach mir das zu überlegen, und wir schieden „auf baldiges
Wiedersehen".
Einen Brief auf anständige Weise mit dem Wetter anzufangen, ist nicht
immer leicht. Diesmal geben mir die „Grenzboten" selbst ausreichende Legi¬
timation dazu. Ich bin kein Freund von Druckfehlerberichtigungen; aber
wenn mich der Setzer meines vorigen Briefes am 28. Februar mit kühner
Metapher die Ansicht aussprechen läßt, daß die Eisblumen am Fenster zu
„zerrinnenden Pflanzen" werden zu wollen scheinen, so macht das freilich dem
fröhlichen Frühlingsglauben dieses Jüngers der schwarzen Kunst alle Ehre,
allein im Interesse der Wahrheit und Logik erlaube ich mir doch die Bemerkung,
daß ich damals an „perennirende" Pflanzen gedacht habe. Und leider
ist meine Befürchtung nur zu gerechtfertigt gewesen, denn heute, drei Wochen
später, am officiellen Anfang des Frühlings, haucht uns die Eisblume noch
immer ihren frischen Morgengruß entgegen und der Erdboden weit und breit
hat zum Geburtstage unseres Kaisers nochmals ganz ernstlich das weiße
Feierkleid angelegt. Das Wetter paßt zu der politischen Lage. Der parla¬
mentarische Kampf der letzten Woche ist begleitet gewesen von den eisigen
Stürmen des Himmels, und die Stimmung, in welcher die Parteien die vier¬
zehntägige Waffenruhe antreten, mag sich der frostigen Pause im Widerstreit
der Elemente vergleichen lassen. Dennoch, wie uns felsenfest gewiß ist, daß
die schaffenden Kräfte des Himmels und der Erde die verneinende Gewalt des
Winters endlich brechen werden, so bürgt uns der warme Pulsschlag, mit
dem unseres Volkes Herzen dem Heldengreise im Königsschloß der Hohenzollern
entgegenschlagen, daß dem Genius der deutschen Nation der Sieg verbleiben
wird über die finsteren Mächte, die unser junges Reich zu untergraben, zu
vernichten trachten.
Indeß, nicht um den düsteren Ernst der Weltlage auszumalen, hab' ich
die Feder angesetzt. Vielmehr ist auch heute meine Absicht, den Leser eine
Weile spazieren zu führen in der Well des schönen Scheins, in welche der
Bewohner der Kaiserstadt sich nach vollbrachtem Tagewerk aus der Prosa der
Wirklichkeit so gern zu flüchten pflegt. Eine maßlose Fülle gab es zu plau-
dern, wollt ich Alles genau registriren, was unsere zwanzigfache Bühnenwelt
uns in den letzten Wochen an Altem und Neuem, an Gutem und Schlechtem
geboten. Beobachten wir also weise Selbstbeschränkung!
Die italienische Oper, von deren Debüt ich neulich berichtet, gehört be¬
reits der Vergangenheit. Glanzpunkte hat ihr kurzes Leben nicht aufzuweisen.
Außer dem Ehepaar Padilla sind nur mittelmäßige, ja kaum an dieses
Maß heranreichende Kräfte zum Vorschein gekommen. Das Schicksal dieses
Unternehmens wird nun wohl den Gedanken, in Berlin eine italienische Oper
zu installiren, auf längere Zeit, wenn nicht auf immer aus der Welt geschafft
haben. In der That, wie soll ein Publikum, das in der einheimischen Oper
fast-durchweg an Künstler ersten Ranges gewöhnt ist, wirkliche und anhat--
tende Theilnahme für eine Gesellschaft empfinden können, deren große Mehr¬
heit sich aus Unbedeutendheiten zusammensetzt? Ein Ensemble aus lauter
hervorragenden Kräften aber aus dem Lande der Sonne nach dem kalten
Norden zu locken, dazu fehlt es in der Hauptstadt des sparsamen Hohenzollern
reiches an dem erforderlichen Metall.
Das Schauspielhaus hat in der letzten Woche wieder eine Novität ge¬
bracht: „Die Modelle des Sheridan," Schauspiel in 4 Akten von Hugo Bürger
— ein Versuch, ganz ähnlich, w^e ihn Gutzkow bei seinem „Urbild des Tar-
tüffe" gemacht, die Gesellschaft zu zeichnen, welcher der berühmte englische
Lustspieldichter und Parlamentsredner die Typen seiner „Lasterschule" ent¬
nommen hat. Ueber die Berechtigung dieser eigenthümlichen Art von Bühnen¬
dichtung mögen sich die Theoretiker streiten; es steht fest, daß jenes Gutz-
kow'sche Stück ein Drama von großer Wirksamkeit ist. Und, wenn man sich
auf die dem Bürger'schen Schauspiel gewordene Aufnahme verlassen will, so wird
man von demselben etwas Aehnliches behaupten müssen; freilich, ohne dafür
die durchschlagenden Gründe auffinden zu können. Abgesehen davon, daß bei
Gutzkow die Fabel unendlich inhaltsreicher, mannichfaltiger und spannender
ist, läßt sich die Behandlung, die in den beiden Stücken dem Helden wieder¬
fahren ist, gar nicht mit einander vergleichen. Gutzkow's Moliere handelt
vor unseren Augen, wir erleben es selbst, wie er den vergiftenden Auswuchs
der Gesellschaft besiegt und vernichtet. Bürger's Sheridan erzählt nur, was
er thun wird oder gethan hat; die einzige Handlung, welche wir unmittelbar
mit ansehen, ist die, daß er sich inmitten einer hochadligen Gesellschaft, eine
gegen ihn angesponnene Intrigue durchkreuzend, mit einer unbedeutenden
Schauspielerin verlobt, eine Handlung, die unter gleichen Umständen von
jedem rechtschaffenen Manne erwartet werden muß. Auch daß seine Worte
das Gepräge eines außerordentlichen Geistes trügen, kann nicht behauptet
werden. So ist denn der Held in dem Bürger'schen Stück ohne Zweifel am
schlechtesten weggekommen. Ungleich besser ist die Charakteristik seines poli¬
tischen Gegners, des gewaltigen Generalproeurators Lord Thurlow gelungen.
Er, seine Nichte Harriet, der Schotte Maegone und die Schauspielerin Lucy
Lenley sind Figuren von Fleisch und Blut, mit individuellem Leben, die
übrigen „Modelle" sind mehr oder weniger Schatten. Ueberhaupt entbehrt
man während der ganzen Vorstellung das Gefühl der Unmittelbarkeit -, es ist,
als sähe man diese Menschen und was sie treiben durch einen Schleier. Und
vor Allem: das Stück ist durchaus nicht, um diesen abgedroschenen aber zu¬
treffenden Ausdruck zu gebrauchen, auf der Höhe der Situation. Nach des
Dichters unverkennbarer Absicht sollen die großen Gegensätze, welche während
des amerikanischen Freiheitskrieges das politische Leben Englands beherrschten,
das Grundcolorit seines Schauspiels bilden. Die Verwirklichung dieser Ab¬
sicht aber ist gänzlich fehlgeschlagen. Dagegen darf rückhaltlos zugestanden
werden, daß der technische Bau des Stückes ein außergewöhnliches Geschick
bekundet. Alles in Allem ist der „durchschlagende Erfolg", welchen Bürger's
„Modelle" davongetragen haben, zwar abermals ein Beweis der bescheidenen
Anforderungen des heutigen Theaterpublikums, immerhin aber wird hier doch
etwas ungleich Reelleres, Befriedigenderes geboten, als in gewissen anderen
auf der königl. Bühne recipirten „Schau"- und „Lust"-spielen, an denen
eigentlich nur die Anmaßung zu bewundern ist, mit welcher sie auf den Markt
gebracht werden. Hugo Bürger ist noch jung; man wird von seinem unbe¬
streitbaren Talent noch bessere Früchte erwarten dürfen.
Eine andere dramatische Neuigkeit hat' in der letzten Woche das Wallner¬
theater zum Besten gegeben, einen Schwank, betitelt: „Der Lieutenant und
nicht der Oberst" von Louis von Saville. Die Idee des Stückes ist nicht
übel: Ein Oberst, ein Major, und ein Lieutenant von demselben Husaren-
Regiment, alle Drei Junggesellen, widmen sich nach glücklich überstandenem
Feldzuge auf dem Gute des Obersten in Gesellschaft des Dorfkaplans dem
Jagdvergnügen. Da kommen dem Oberst urplötzlich seine drei Schwestern auf
den Hals, und zwar mit dem Project, ihn mit der jugendlichen Tochter der
Einen, also mit seiner Nichte, zu verheirathen. Anfangs wird der Plan mit
Hohnlachen zurückgewiesen, allmählich aber wird der Alte warm, dem Major
passirt in einem töte-5,-töte mit der einen unverheirateten Schwester
des Obersten ein Gleiches und ein alter Bursch des Obersten beeilt sich, Arm
in Arm mit einem Kammerkätzchen das Beispiel seines Herrn nachzuahmen,
bis eine derbe Strafpredigt des anderen Burschen über die „Eselei" seines
Kameraden auch die beiden alten Officiere wieder zur Vernunft bringt. Na¬
türlich ist das Ende der Geschichte die Verlobung der Nichte mit dem jungen
Lieutenant. Schade nur, daß dieser Schwank in drei Acte auseinander gezo¬
gen ist; in einen, höchstens zwei Aufzüge zusammengedrängt, würde er drei¬
mal wirksamer sein. Die Zusammenziehung wäre um so dringender noth¬
wendig, als die Komik des Stückes ganz vorwiegend in den Situationen liegt;
der Witz des Dialogs ist äußerst mäßig. Das Beste in der Aufführung im
Wallnertheater ist übrigens die Nebenfigur des Kaplans, der, beiläufig be¬
merkt, von dem „Kulturkampf" noch nicht mit dem leisesten Hauch berührt
worden ist, sondern sich noch nach guter alter Sitte am liebsten mit einem
wohlgenährten Kapaun und der entsprechenden Flüssigkeit beschäftigt. Herr
Lebrun hat durch sein unübertreffliches Geberdenspiel aus dieser Figur ein
wahres Cabinetstück geschaffen, dem es vielleicht gelingt, das Ganze auf längere
Dauer zu halten.
Die kleineren Theater haben in letzter Zeit größtentheils von Gastspielen
gelebt. A in vortheilhaftesten zeigte sich dabei das Stadt- und das Residenztheater.
Die erstere dieser beiden Bühnen hat vorzugsweise für die hervorragenderen
Rudera des Wiener Stadttheaters als Asyl gedient. Da die betreffenden
Künstler sämmtlich früher in untergeordneteren Stellungen in Berlin gewesen
waren, so war es von doppeltem Interesse, die Resultate der Laube'schen
Schule zu beobachten. Wozu man es in derselben bringen kann, haben uns
Herr Siegwart Friedmann und Fräulein Kathi Frank gezeigt. Friedmann
ist zwar ein Schüler Dawison's, aber den endgültigen Schliff hat er von
Laube erhalten. Dawison's Einfluß hat, soviel sich hier erkennen ließ, nur
in einer Rolle die ausschließliche Herrschaft behalten: in Richard III. Hier
trägt der Künstler nicht nur Dawison's Costümsondern er copirt von An¬
fang bis zu Ende Vortrag, Haltung und Mimik seines unvergeßlichen
Meisters; aber er copirt nicht mit der Befangenheit eines sklavischen Nachah¬
mers, sondern mit der freien und sicheren Bewegung einer congenialen Natur,
und darum mit bedeutender Wirkung. Von Friedmann's selbständig geschaffenen
Charakteren dürfte am meisten sein Thorane in Gutzkow's „Königslieutenant"
zu loben sein. Er spielt die Rolle mit herzgewinnender Natürlichkeit, frei
von Ziererei, jeder, Zoll ein Edelmann. Daß er die gefährlichste Klippe dieses
Charakters, die übertriebene Sentimentalität, so geschickt vermeidet, ist ohne
Zweifel hauptsächlich dem Laube'schen Realismus zu verdanken- Zu welch
bedenklichen Consequenzen aber dieser Realismus führen kann, zeigte des
Künstlers Karl IX. in Lindner's Bluthochzeit. Lindner's Karl IX. ist aller¬
dings gewißermaßen eine psychiatrische Studie. Friedmann läßt sich aber an
der Veranschaulichung derselben nicht genügen, er beschenkt uns auch noch mit
einer pathologischen Studie, indem er uns einen von periodischen Hustenan¬
fällen gequälten, mit herben Schmerzen kämpfenden Brustkranker vorführt.
Die Leistung wird mit virtuoser Naturwahrheit durchgeführt, aber ganz ab¬
gesehen von der Frage, ob eine derartige Darstellung sich noch innerhalb der
Grenzen des ästhetisch Zulässigen hält, ist dieselbe auch gar nicht durchführbar.
Im ersten Act hat der Zuschauer den Eindruck, als ob dem unglücklichen
König jeden Augenblick der Odem ausgehen könne und im dritten Act, in der
Bartholomäusnacht, sieht er ihn rasen wie einen Löwen. Um das Publikum
auf diese Disharmonie vorzubereiten, sollte wenigstens gleich auf dem Zettel
angezeigt sein, daß Se. Majestät im ersten Akt an einem heftigen Katarrh
erkrankt sind, nachher aber unerwartet schnell wieder zu Kräften kommen.
Im Uebrigen wird die schwierige Rolle von Friedmann durchaus genial ge¬
faßt , nur thut er leicht eine kleine Nuance zuviel. Es mag das an seiner
Vorliebe für das Gräßliche liegen. Daß er diese Vorliebe besitzt, scheint mir
daraus hervorzugehen, daß er sich uns, nachdem er in theilweise klassischen
Rollen die besten Erfolge erzielt, noch in dem Anzengruber'schen „Trauerspiel"
„Hand und Herz" präsentirte. Es ist dies ein schweizerisches Bauerndrama,
aufgebaut mit dem ganzen raffinirten Apparat der Pariser Ehebruchstragödie,
nur noch um hundert Procent entsetzlicher — kurz, das gräßlichste Stück, das
man sich denken kann. Der Charakter des Helden zumal, des moralisch und
physisch ganz versunkenen Görg Friedner ist beispiellos abstoßend, und man
weiß wirklich nicht, soll man mehr das Genie bewundern, mit welchem der
Künstler dieser Figur ein furchtbar wahres Leben einhauchte, oder die Todes¬
verachtung, mit welcher er sich, indem er diese Rolle in sein Repertoir auf¬
nahm, über die Mahnungen des guten Geschmacks hinwegsetzte. — Mehr
übrigens, als Friedmann, verdankt Fräulein Kathi Frank der Laube'schen
Schule. Als sie das hiesige Victoriatheater verließ, wußte man wohl, daß sie
eine schöne Erscheinung sei; daß sie aber das Zeug zu einer bedeutenden
Tragödin habe, mögen nur Wenige geahnt haben. Heute sehen wir sie wie¬
der als das demnächstige Mitglied des Wiener Hofburgtheaters. Wie sie jetzt
vor uns steht, ist sie die Verkörperung des Laube'schen Prinzips: vortreffliche
Klarheit des Vortrags, Correctheit und Deutlichkeit des Spiels, aber überall
eine gewisse realistische Härte und Nüchternheit, eine fast grausame Abstreifung
des Idealen. Am auffallendsten tritt dies in der Rolle der Maria Stuart
zu Tage. Durchaus am Platze war dagegen die Künstlerin als Leonore in
Feuillee's „Dalila". Da übrigens Fräulein Frank ihr Gastspiel noch fortsetzt,
so kommen wir wohl auf ihre Leistungen zurück.
Einen alten Liebling begrüßte das Berliner Publikum im Residenztheater:
Frau Antonie Janisch. Sie gehörte früher dem Wallnertheater an, später
dem Wiener Hofburgtheater. An dieses kehrt sie jetzt, nach kurzer Zurückge¬
zogenheit ins Privatleben, zurück. Ihre Stärke ist heute, wie ehedem, trotz
der dazwischen liegenden Jahre, die Jngenuite'. Sie debütirte diesmal mit
dem sehr zweifelhaften Frauencharakter der Heldin in Feuillee's „Sphinx, in
welcher Partie sie auf die Berliner gradezu befremdend wirkte. Erst mit jener
vielbewunderten Rolle der reizenden Unschuld in Sardon's „Alte Junggesellen"
gewann sie mit Einem Schlage wieder alle Herzen und seitdem hat sie fast
allabendlich einem dichtgedrängten Auditorium den schönsten Genuß geboten.
Nicht länger als eine Woche war unsere Ständekammer versammelt, als
ihre Vertagung bis zum 27. April erfolgte. Aber schon dieser kurze, haupt¬
sächlich durch Präsidenten- und Commissionswahlen ausgefüllte Zeitraum war
nicht ohne politisches Interesse. Vor allem fiel die Geschlossenheit auf, mit
welcher zum ersten Mal sämmtliche übrigen Fractionen des Hauses gegenüber
der ca. 14 Mann starken Volkspartei auftraten. Der Abgeordnete Oesterlen,
welcher jetzt mit dem clerikalen Obertribunalrath Streich sich in die Führung
dieser Partei theilt, hatte nun Gelegenheit, an die Hinfälligkeit der irdischen
Dinge recht lebhaft erinnert zu werden. Welcher Gegensatz zwischen heute
und den Dezembertagen des Jahres 1867, als man Arm in Arm mit den
machthabenden Ministern, Angesichts der soeben stattgehabten Besuche des
französischen und österreichischen Imperators mit siegessicherer Zuversicht das
damals auch nur ca. 14 Köpfe zählende Häuflein der nationalen Parteigänger
von oben herab behandeln zu dürfen glaubte, wie war man damals — wir
erinnern nur an die Justizcommission — mit dem hervorragendsten Führer
der deutschen Partei umgegangen! Und doch mit welchen ganz andern geisti¬
gen Kräften trat damals die deutsche Partei in die Arena! Kaum läßt sich
ein unglücklicheres Debüt denken, als dasjenige, mit welchem soeben die
Herren Oesterlen und Streich an der Spitze der neu constituirten Linken ihre
Thätigkeit begannen. Sie behaupteten nämlich, als bei der geheimen Präsi¬
dentenwahl etliche 14 leere Stimmzettel sich in der Wahlurne vorfanden, daß
diese Stimmzettel von ihnen und ihren Freunden herrühren und nahmen das
Recht in Anspruch, für diese anonymen Zettel eine nicht anonyme motivirte
Erklärung über angeblich nicht genügende Berücksichtigung der Minorität bei
den Commissionswahlen abgeben zu dürfen. Gewiß ein Unicum für jeden,
der sich den Begriff einer geheimen Abstimmung einigermaßen klar zu machen
sucht! Daß unter jenen 14 Köpfen der neuen Linken 10 Vertreter ultramon¬
taner Wahlbezirke sind, beweist am besten die Richtigkeit unserer früheren Be¬
hauptung, daß die sogenannte deutsche Volkspartei nur noch ein unselbstän¬
diges Anhängsel der clerikalen Partei ist.
In wie weit jenes bisher ungewohnte Zusammengehen aller übrigen
Fraktionen dem in unserem letzten Artikel signalisirten Eingreifen einer neuen
leitenden Persönlichkeit zuzuschreiben ist, wagen wir heute noch nicht mit
voller Bestimmtheit zu sagen: nur so viel ist gewiß, daß unsere kirchlichen
Verhältnisse in den letzten Tagen, offenbar unter dem Zusammenwirken der¬
selben Umstände einen sichtlichen Fortschritt gemacht haben. Während die
Aufregung in den protestantischen Kreisen — genährt durch die Stuttgarter
Localpresse — wächst, ermannt sich auch sichtlich die Regierung. Sonderbar
erscheint dabei freilich immer die parallel laufende Thätigkeit des Staats¬
ministers und Consistorialpräsidenten von Golther aus der einen und des
Ministeriums auf der andern Seite. Ersterer hat so eben sich bewogen
gefunden, in einem vertraulichen Schreiben an sämmtliche protestantischen
Decane des Landes seine persönliche Stellung als Consistorialpräfident zu
den neuesten Bestrebungen für katholische Klosterzwecke zu rechtfertigen und
zu entschuldigen; wie wir glauben, ohne Erfolg. Unerklärlich bleibt es immer,
warum das Ministerium, wenn es, wie uns versichert wird, das Vorgehen
des Herrn von Golther mißbilligt, dem Letzteren dennoch gestattet, den welt¬
lichen Bezirksbeamten wie den Decanaten Weisungen zu ertheilen, welche
der Politik des Ministeriums direct widerstreiten, und überdieß einen ganz
unstatthaften Gewissenszwang gegenüber diesen protestantischen Bezirksbeamten
involviren, deren Ansehen und amtliche Stellung nicht gehoben wird, wenn
sie die Aufrufe des Herrn von Golther zu Gunsten des mehrerwähnten katho¬
lischen Frauenklosters in amtlicher Eigenschaft in ihren Amtsblättern publi-
ciren und dadurch dem Unternehmen des Consistorialpräsidenten auf die Beine
helfen sollen.
Auf der andern Seite haben die Bestrebungen für die Einführung der
katholischen Schulschwestern in den letzten Tagen zu einer sehr interessanten
officiösen Publication des jetzigen Cultusministeriums geführt. Unser Kirchen¬
gesetz bestimmt nämlich in Art. 15, daß geistliche Congregationen und Orden
vom Bischof und mit „ausdrücklicher Genehmigung" der Staatsregierung
im Königreich eingeführt werden können.
Damit sollte gerade eine blos factische Einführung solcher Orden ohne
ausdrückliche, publicirte Erklärung der Staatsregierung, wie sie bisjetzt nun
bezüglich der barmherzigen Schwestern erfolgt ist — ausgeschlossen sein, weil
man eben den Schlichen und Irrwegen unserer Klerikalen nicht traute. Wie
groß war daher das allgemeine Erstaunen, als neulich der Staatsanzeiger in
dem erwähnten officiösen Entrefilet erklärte, die Voraussetzung, von welcher
der Oberbürgermeister von Stuttgart (s. unseren letzten Bericht in Ur. 13)
in der Sitzung des dortigen Gemeinderaths ausgegangen sei, daß die —
schon seit Jahren in Württemberg eingeführte — Congregation der Franzis¬
kanerinnen überhaupt die staatliche Genehmigung in Württemberg erhalten
habe— „sei eine irrige; vielmehr habe diese, wie einige andere seit Jahren
im Lande bestehenden weiblichen Congregationen für Krankenpflege, Unterricht
und Erziehung, bei welchen, die dem Art. Is des Kirchengesetzes von 1862
entsprechende Regelung ihrer kirchenstaatsrechtlichen Verhältnisse aus hier
nicht näher zu erörternden Gründen noch nicht stattgefunden habe,
ebendeßhalb dermalen blos einen factischen Bestand im Lande."
Diese Enthüllung spricht für sich selbst, sie enthält die schneidendste
Charakteristik der bisherigen Politik des Friedens, und beweist, wie diese
von dem früheren Ministerium Golther inaugurirte Politik das geltende
Staatskirchenrecht zu handhaben wußte. Um so bezeichnender, weil einen
Umschwung in der Rcgierungspolitik andeutend, ist daher die Thatsache, daß
das Ministerium selbst diese Umstände ans Tageslicht gezogen hat.*) Daher
auch die sichtliche Bestürzung in der ganzen klerikalen Presse, welche die
Tragweite dieses ersten Bruchs mit der Vergangenheit sofort erkannt hat.
Schreitet das Ministerium auf der so eben betretenen Bahn, welche wir in
unserer letzten Korrespondenz durch eine Beleuchtung der Situation der leiten¬
den Persönlichkeiten — genügend angedeutet haben, auch fernerhin weiter,
so zweifeln wir nicht, daß dieß in kurzer Zeit zu der so längst ersehnten
Klärung unserer Parteiverhältnisse führen wird. Seit vier Jahren und wieder
in diesem Augenblick laborirt die nationale Partei an der Wiederbelebung
ihrer Organisation. Wir haben die Gründe dieses Zerfalls schon früher
erörtert, sie sind, abgesehen von der beruhigenden Wirkung des endlichen
Besitzes lang erstrebter Errungenschaften, theilweise in dem gefährlichen Ein¬
wirken der Nesidenzeinflüsse auf jede selbständige Parteibildung unter den
jetzigen Verhältnissen, vor Allem aber in dem großen taktischen Fehler zu
suchen, welchen die nationale Partei im Dezember 1870 durch ihre Wort¬
führer im Landtage beging, indem sie sich so zu sagen auf einen persönlichen
Friedensschluß mit den Männern der zollparlamentlichen Aera einließ.
Das Land, noch in frischer Eregung über die eben durchgemachten, mit
persönlichen Verfolgungen aller Art verknüpften Kämpfe, konnte sich die plötz¬
liche Aussöhnung nicht erklären. Nicht im Stande, die in Stuttgart im per¬
sönlichen Verkehr einzelner Führer sich geltend machenden Einflüsse richtig
zu würdigen, suchte es häufig schlimme Motive, wo in der That nur der
Wunsch, zu einem befriedigenden Abschluß der politischen Thätigkeit zu gelan¬
gen, leitend war. So entwickelte sich unwillkürlich ein Gegensatz zwischen dem
rücksichtsloseren, durch den Kampf mit klerikalen Gegnern auf dem Land ver¬
schärften Vorgehen der Parteigenossen der ländlichen Bezirke und dem ruhige¬
ren, den Verhältnissen mehr Rechnung tragenden Tempo der Parteiführer in
Stuttgart, welche letztere häusig in die Lage kamen, Engagements, welche sie
ihrerseits eingegangen, auswärts nicht honorirt zu sehen. Es läßt sich nicht
verkennen, hätten wir im Dezember 1870 ein neues nationales Ministerium,
wenn auch aus Elementen der rechten Seite, hätten wir damals ein Württem¬
bergisches Ministerium Hohenlohe erhalten, so hätten wir jetzt dasjenige ge¬
sunde Parteileben, nach welchem man immer vergebens trachtet, weil man sich
der Sachlage nicht klar ist. Man blicke auf Baden, auf Bayern. Vergebens
sucht man dort eine selbständige nationale Partei im Gegensatz zu der Par¬
tei des am Nuder befindlichen Ministeriums-; im Landtag wie im Reichstag besteht
dort ein natürliches Wechselverhältniß zu einer Negierung. in welche Natio¬
nalliberale und Fortschritt — innerhalb Landes ungetheilt — dasselbe Ver¬
trauen setzen und sie im Kampf gegen den gemeinsamen Gegner unterstützen.
In unserem Landtag dagegen eristirt ein selbständiger „Regierungsclub" von
annähernd gleicher Stärke wie die nationale Partei, ersterer die Anhänger des
Ministeriums ü. tout pi'ix, letztere die Politik der freien Hand repräsentirend
und deßhalb den Gegnern den Vorwurf nahe legend, daß sie ihre Dienste
dem Ministerium besonders werthvoll machen wollen. Der einzige denkbare
Grund für die Forterhaltung dieses aller sachlichen Differenzen ermangelnden
Parteigegensatzes besteht doch wohl im jetzigen Augenblick nur in einem thatsäch¬
lichen, wenn auch von den Stuttgarter Führern geläugneten Mißtrauen gegen
das Ministerium, in dem Zweifel, ob dasselbe mit der Vergangenheit wirklich ge¬
brochen , ob ihm nicht ein Rückfall in frühere Velleitäten zuzutrauen sei. Und
dieses Mißtrauen fand bisher seine hauptsächlichste Stütze in der zweifelhaften
Haltung der Negierung gegenüber den clerikalen Bestrebungen. Gelingt es,
auch Württemberg in den gemeinsamen Kampf hineinzuziehen, welcher das
deutsche Reich bewegt, gelingt es, jede Brücke zu dem römischen Gegner ab¬
zubrechen, so sehen wir in der That keinen vernünftigen Grund ein, weßhalb
die nationale Partei in Württemberg sich auch fernerhin als eine selbständige
von den Regierungsanhängern verschiedene Partei behaupten soll. Denn der
Umstand, daß die letzteren seither mit jeder Regierung ohne Unterschied „durch
Dick und Dünn", wie der Schwabe sagt, gegangen sind, macht sie nur zu
einem um so brauchbareren Anhängsel einer spontanen Regierungspartei, während
andererseits Männermuth und Selbständigkeit des Charakters nimmermehr ge¬
eignet sind, für sich ein Parteiprogramm zu bilden. Sollte dieses letztere
Ingrediens in der Gesammtheit unserer bisherigen nationalen Partei des
Landtags stärker vertreten sein, als im „Negierungsclub" so wird gewiß die
Auffrischung nur wohlthätig auf den Letzteren einwirken.
Wir glauben damit den engen Zusammenhang der kirchenpolitischen
Frage, wie wir sie früher skizzirt, mit der nationalen Parteipolitik innerhalb
Landes klar dargethan zu haben.--Inzwischen hat auch der Bischof von
Hefele sich in den letzten Tagen wieder etwas bemerklich gemacht. Derselbe
hat nämlich, als ihm Herr von Loe in Mainz die bekannte Papstadresse mit
dem Ersuchen um deren amtliche Verbreitung in der Diöcese zusandte, er¬
widert: „daß das bischöfliche Ordinariat sich mit der Versendung der bewu߬
ten Adreßformulare an die katholischen Gemeinden des Landes aus verschie¬
denen Gründen nicht befassen könne, namentlich auch darum nicht, weil wir
unsererseits durchaus nicht sagen können, unsere weltliche Regierung habe ihre
gegen die Kirche ergriffenen Maßregeln neuerdings noch vermehrt."
Dennoch hatte die von Mainz aus direct mit der Colportage der Adresse
betraute Redaction des Anzeigers vom Jpf die Billigung der Adresse durch
den Bischof behauptet, worauf derselbe in offieiöser Weise die eben ausgeho¬
bene Stelle seines Briefs an Herrn von Los, — welche sich allerdings nur
auf die amtliche Verbreitung bezieht — im deutschen Volksblatt publi-
ciren ließ.
Sachlich ist diese Erklärung des Bischofs so bedeutungslos, wie das Or¬
gan, in welchem sie erfolgte. Die Curie hat allen Grund, mit der Haltung
des Herrn v. Hefele, auch wenn er die Japstadresse nicht selbst verbreitet, zu¬
frieden zu sein. Thatsächlich wird ja längst die ganze Diöcese von Mainz
aus regiert — die wenigen noch vorhandenen Geistlichen der alten Schule
sind durch ein sorgfältig organisirtes Denunciationssystem in ihrem Einfluß
völlig paralystrt —; Herr v. Hefele aber sichert gerade, indem er der Regie¬
rung jeden Anlaß zu einem Conflict von sich aus zu entwinden sucht, der
Partei des Herrn v. Ketteler ihre unbedingte Herrschaft über Kirche und Schule
in Württemberg. So lange Herr v. Hefele auf das thatsächliche Regiment
seines Mainzer Collegen im eigenen Hause nicht eifersüchtig wird, gönnt ihm
die Curie gern ein ruhiges Stillleben bis ans Ende seiner Tage. Ganz so
verhält es sich auch mit dem Preßorgan des Herrn v. Hefele, dem soeben
wieder erstandenen deutschen Volksblatt. Das katholische Volk liest ganz an¬
dere Blätter als das Organ des Rottenburger Bischofs: ja letzteres ist als
Volksleetüre vom Clerus geradezu verpönt, aber um so werthvoller ist seine
Existenz zur Irreleitung der mit der katholischen Bewegung weniger vertrau¬
ten protestantischen Kreise der Residenz: es täuscht objectiv über den wahren
Zustand der Dinge, und ist damit das passende Pendant des Herrn v. He¬
f
Gustav Schmoller, Ueber einige Grundfragen des Rechts
und der Volkswirthschaft. Offenes Sendschreiben an Heinrich
von Treitschke. Jena, Friedr. Maule. 1873. — Wer die Schriften und
das Auftreten Schmoller's in den letzten Jahren verfolgt und daraus entnom¬
men hat, wie tief der derzeitige Rector der Straßburger Hochschule von der
Ueberzeugung durchdrungen ist, daß ohne ihn und ohne Anerkennung seiner
eigenthümlichen wirthschaftlichen und historischen Anschauungen die sociale
Frage nicht gelöst, ja nicht einmal beantwortet werden kann: der mußte
längst erwarten, daß Schmoller sich gegen Treitschke erheben würde, weil
dieser im letzten Herbst jene vortrefflichen Artikel über „den Socialismus und
seine Gönner" in den Preußischen Jahrbüchern geschrieben, und darin u. A.
auch die Ansichten des Herrn Schmoller stellenweise als das Gegentheil von
Weisheit behandelt hatte. Diese von den Kennern des Herrn Schmoller längst
erwartete Streitschrift ist nun erschienen. Das „offene Sendschreiben" ist dem
Verfasser „unter der Hand" zu elf Druckbogen angeschwollen. Er selbst „ver¬
mißt sich nicht, Herrn von Treitschke" durch dieses Opus „zu überzeugen,
daß seine leitenden Ideen unhaltbar oder auch nur, daß sie übertrieben
und einseitig seien". Darin wird Herr Schmoller wohl das Urtheil der
größten Mehrzahl der Leser seiner Streitschrift ganz richtig ausgedrückt
haben. Die Frage ist nur, ob nicht seine Leser einen Schritt weiter
gehen, und in dieser Schrift überhaupt die leitenden Ideen vermissen, und
da wo solche dem Namen nach vorkommen, sie „unhaltbar übertrieben und
einseitig" finden. Darüber werden ferner alle Leser Schmoller's einig sein,
daß Schmoller schon deshalb die Ansichten und Ideen Treitschke's gar nicht
widerlegen konnte, weil er überall an ihnen vorbeischießt oder vielmehr
sie gar nicht zum Gegenstande seines Angriffes gemacht hat, sondern
statt ihrer eine Anzahl zurückgelegter Schrullen, die vor den „anderweiten
Berufsgeschäften" des Verfassers bisher zurücktreten mußten, und nun zwischen
Reetoratsgeschäften, Vorlesungen u. s. w. hier zusammengeschrieben worden
sind. Wir müssen einem Manne, der angesichts der fruchtbaren gesetzgeberischen
Thätigkeit und socialen Reform, die im letzten Jahrzehnt fast ausschließlich
von den „besitzenden Klassen" ausgegangen ist, davon zu reden wagt, „das
Problem der Gegenwart in socialer Beziehung liege in dem Ringen gewisser
rechtlicher und sittlicher Ideale mit den Sätzen einer überlieferten Volks¬
wirthschaftslehre und den practischen Forderungen eines dem Tage dienenden,
den besitzenden Klassen bequemen Geschäftsganges, der vor allem ungestört
bleiben will (!)", einfach das Verständniß und die Kenntniß unserer öffent¬
lichen Verhältnisse und unserer Zeit bestreikn, so gut er auch im Mittelalter
zu Hause sein mag. Und sehr traurig ist es, daß ein Theil der Hoffnungen, die
Deutschland an das heranwachsende Geschlecht der Reichslande knüpft, der
Nationalökonomie eines Gelehrten überantwortet ist, der den von der Social¬
demokratie gepredigten Klassenwahnsinn durch feierliche Anerkennung eines
„vierten Standes" legitimirt. Das beste an dieser Schrift wird jedenfalls die
unausbleibliche Replik Treitschke's sein.
Wir erhalten von hochachtbarer Hand die nachstehende Zusendung in
Betreff des Artikels des Herrn Dr. Emil Steffenhagen, die wir im Interesse
der Sache unverändert wiedergeben.
Nachtrag zu S. 466 ff. Quart. I. Heft 12.
Die beherzigenswerthen Ausführungen des Herrn Collegen Steffenhagen
können auf den Beifall aller Sachkenner mit Sicherheit rechnen. Umsomehr
ist es nothwendig hervorzuheben, daß die auf die „Selbständigkeit" der Biblio-
theks-Directionen gerichteten Bestrebungen doch bessere Erfolge aus den letzten
5 Jahren aufzuweisen haben, als es nach der S. 461 gegebenen Darstellung
den Anschein gewinnen mochte. Wenn dort einige Bibliotheksvorsteher (unter
ihnen Schreiber dieser Zeilen) als solche bezeichnet werden, durch welche „die
Befürchtung, daß reine Bibliothekare mehr als Docenten zu Einseitigkeiten
und übermäßiger Begünstigung büreaukratischer Formen geneigt" seien, „zu
Schanden gemacht wird," so hätten in diesem Zusammenhange die ebenfalls
innerhalb des gedachten Zeitraumes mit „Bibliotheksmännern" als Directoren
besetzten Universitäts - Bibliotheken zu Breslau, Freiburg, Heidelberg und
Königsberg nicht übergangen werden sollen; ebenso durfte neben Darmstadt
und Dresden mindestens Carlsruhe nicht unerwähnt bleiben.
Mit diesem Hefte beginnt diese Zeitschrift das II. Quartal ihres
34. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Post-
anstalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 7 Mark SO Pfennige.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, im März 1875. Die Werlagshandlung.
Unlängst haben zwei hervorragende deutsche Gelehrte in den Preußischen
Jahrbüchern ihre Gedanken über die sogenannte „sociale Frage" ausgesprochen.
Schmolk er hat in einer, zunächst als Vortrag vor das Publikum gebrachten
Abhandlung „die sociale Frage und der preußische Staat"**)
die Ansicht zu vertheidigen versucht, daß es jetzt die Aufgabe des Staats und
speciell des preußischen Königthums sei, den vierten Stand in derselben Weise
harmonisch in den staatlichen und gesellschaftlichen Organismus einzufügen,
wie dies Seitens der Hohenzollern früher in Bezug auf den Bürger- und
Bauernstand mit ebenso großer Energie als glücklichem Erfolge geschehen sei.
H. von Treitschke dagegen hat, theilweise in entschiedenem Widerspruch
gegen Schmoller'sche Behauptungen, in zwei Artikeln „der Socialismus
und seine Gönner" wesentlich den Beweis dafür zu erbringen unternom¬
men***), daß der moderne Socialismus ein mit jeder staatlichen und gesell¬
schaftlichen Ordnung unverträgliches Gebilde darstelle, welches keinen Anspruch
auf Schonung oder nur auf ernsthafte Berücksichtigung verdiene. Es liegt
nun keineswegs in meiner Absicht, im Einzelnen zu untersuchen, welcher von
beiden Männern, deren jeder auf dem Gebiete seiner Wissenschaft Hervor¬
ragendes geleistet hat, nach meiner Auffassung im Rechte sich befindet; dieser
Aufgabe glaube ich mich schon deshalb entschlagen zu müssen, weil die Aus¬
gangspunkte beider Männer so verschiedenartige sind, daß sie kaum einen
direkten Vergleich möglich machen. Schmoller als Lehrer der Staatswissen¬
schaften und als gründlicher Kenner der bestehenden wirthschaftlichen Zustände
basirt seine Beweisführung auf die unwiderlegliche Thatsache, daß die moderne
wirthschaftliche Entwicklung in Bezug auf die Klasse der Arbeiter eine Neihe
von Mißständen zu Tage gefördert habe, deren baldige Beseitigung zu den
dringendsten Aufgaben des Staates gehöre; als unausbleibliche Folge einer
Vernachlässigung oder mangelhaften Erfüllung dieser Pflicht des Staates be¬
trachtet Schmoller den offenen Kampf der einzelnen Volksklassen gegen einan¬
der. Der Historiker Treitschke dagegen versucht, auf die in der Entwicklungs¬
geschichte aller Kulturvölker sich geltend machenden, mit der menschlichen Natur
innig verknüpften Gesetze gestützt, den Beweis zu liefern, daß die von der
Socialdemokratie verfolgten Ziele und angewendeten Mittel den höchsten und
heiligsten Interessen des Volkes widerstreiten und mit keinem gesunden staat¬
lichen Leben vereinbar sind.
Treitschke hat sich durch seine Ausführungen das große Verdienst erworben,
in scharfer und überzeugender Weise nachgewiesen zu haben, daß die social¬
demokratischen Tendenzen durch und durch unsittlicher Natur sind und daß es
keinem ernsten und nüchternen deutschen Gelehrten oder Staatsmann ansteht,
mit denselben irgendwie zu pactiren. Die Vorwürfe, welche er in dieser Be¬
ziehung gegen bestimmte Richtungen in der deutschen Nationalökonomie erhebt,
sind nicht ganz unberechtigte. Es haben sich einzelne der sogenannten Social-
politiker den Fehler zu Schulden kommen lassen, daß sie nicht bestimmt genug
jede innere Gemeinschaft mit der Socialdemokratie zurückwiesen; Männer
anderer Richtung wie z. B. Albert Lange, ferner die Social-Conservativen
machen sogar der Socialdemokratie sehr bedenkliche Zugeständnisse und stehen
mit derselben vielfach auf dem nämlichen Boden. Gegen solche Berirrungen
deutscher Wissenschaft energisch protestirt zu haben, muß Treitschke zum blei¬
benden Verdienste angerechnet werden. Seine Vorwürfe treffen freilich Schmoller
nur in untergeordnetem Maße. Allerdings hat Schmoller in der erwähnten
Rede ein paar Ausdrücke gebraucht, welche leicht mißverstanden und als
Billigung unberechtigter socialdemokratischer Schlagwörter ausgelegt werden
können; aber Schmoller's Ansichten dürfen nicht nach einem einzelnen kurzen
Vortrag, sondern müssen nach den anderweitigen bedeutenden Leistungen auf social¬
politischen Gebiet beurtheilt werden, welche anerkannter Maßen zu dem Besten
gehören, was die Socialwissenschaft in neuerer Zeit hervorgebracht hat. Als
einen besonders wünschenswerthen Erfolg der Treitschke'schen Auslassungen
würde ich es betrachten, wenn der Verein für Socialpolitik, welcher unter
seinen Mitgliedern so viele hervorragende Vertreter der deutschen Wissenschaft
zählt, daraus Veranlassung nähme, in der energischsten Weise gegen jede
Gemeinschaft mit socialdemokratischen Principien uno Bestrebungen zu Pro¬
testiren. Was derselbe hierdurch auf der einen Seite an Sympathien und
Wirksamkeit voraussichtlich verlöre, würde er auf der anderen Seite überreich¬
lich gewinnen; er würde dadurch gleichzeitig der nothwendig zu erfüllenden
Pflicht genügen, seinen Grundsätzen eine klare, unzweideutige Formulirung
zu geben.
Wer die Abhandlung Treitschke's aufmerksam durchliest, kann sich aller¬
dings der Ueberzeugung nicht verschließen, daß eine sehr wichtige, mit dem
behandelten Gegenstande in innigstem Zusammenhang stehende Frage ungelöst
bleibt oder, schärfer ausgedrückt, daß die Treitschke'sche Argumentation an
einem gewissen Widerspruch leidet. Treitschke sieht nämlich einerseits mit
großer Hoffnung auf die in nächster Zukunft bevorstehende Entwicklung unseres
Volks- und Staatslebens und gründet diese Hoffnung nicht zum geringsten Theile
auf die sittliche Tüchtigkeit, welche im Allgemeinen unserm Volke eigen ist.
Sein berechtigter, ich möchte fast sagen heiliger Zorn gegen die Socialdemo¬
kratie zieht hauptsächlich aus der Ueberzeugung seine Nahrung, daß die Ver¬
breitung socialdemokratischer Grundsätze in weiteren Kreisen nothwendiger
Weise die sittliche Kraft des Volkes untergraben muß. Auf der andern Seite
kann auch Treitschke nicht läugnen, daß schon jetzt ein nicht unerheblicher
Bruchtheil unsrer Arbeiterbevölkerung von socialistischen*) Ideen inficirt ist
oder doch von socialistischen Führern willig sich leiten läßt, daß die Social¬
demokratie einen nicht unbeträchtlichen Einfluß ausübt, welchen der praktische
Politiker nicht ignoriren darf, mag er ihn auch für noch so verderblich halten.
Unter solchen Umständen drängt sich die Frage gewissermaßen von selbst auf,
wie es möglich sei, daß in einem sittlich tüchtigen Volke die Vertreter un¬
sittlicher Tendenzen eine so bedeutende Wirksamkeit entfalten, so viele An¬
hänger finden können. Auf diese Frage giebt uns Treitschke keine bestimmte
Antwort, wiewohl einige seiner Bemerkungen darauf schließen lassen, daß die¬
selbe an seinem Geiste wenigstens vorübergestreift ist.
Ihre gründliche Erledigung ist von der größten Wichtigkeit. Mag man
den Einfluß der Socialdemokratie etwas höher oder etwas niedriger veran¬
schlagen: die Thatsachen beweisen, daß er vorhanden ist und sich in sehr
merkbarer, und unheilvoller Weise geltend macht. Angesichts Dessen giebt es
blos folgende Möglichkeiten: entweder sind die Grundsätze der Socialdemokraten
nicht so unsittlich, wie Treitschke sie ausgiebt; oder die Sittlichkeit unserer Ar¬
beiter steht auf so schwachen Füßen, daß es bloß einiger geschickt gewählter
Worte bedarf, um dieselbe über den Haufen zu werfen; oder endlich die So¬
cialdemokraten verstehen es, den Arbeitern auf anderem Wege so viele wirk¬
lichen oder vermeintlichen Vortheile zu bieten, daß ihre an und für sich un¬
sittlichen Tendenzen in den Hintergrund treten oder unbeachtet bleiben. Ich
will zu prüfen versuchen, für welche dieser drei Möglichkeiten man sich in
Anbetracht der vorliegenden Thatsachen vorzugsweise zu entscheiden hat.
Meines Erachtens kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Seitens
der Socialdemokratie verfolgten Zwecke und angewendeten Mittel in hohem
Grade unsittlicher und deshalb verwerflicher Natur sind. Allerdings spricht
dieselbe über das endgültig zu erstrebende Ziel sich selten klar aus und hat
dafür ihre guten Gründe. Einmal fürchtet sie mit Recht, daß der größte
Theil ihrer Anhänger sie verlassen würde, wenn man denselben die socialisti¬
schen Tendenzen unverblümt vor Augen führte; zum Anderen sind auch die
Führer der Socialdemokratie nicht im Stande, anzugeben, welche Form einer
gesellschaftlichen Ordnung sie mit ihren Grundsätzen für vereinbar halten. Sie
besitzen genug Nüchternheit und praktischen Blick, um sich zu gestehen, daß
solche idealen Phantasiegebilde, wie z. B. Thomas Morus in seiner Utopia
sie uns vorführte, weder jemals zu realisiren sind noch auch auf den Beifall
der Menge rechnen dürfen; auf der anderen Seite müssen sie sich sagen, daß
alle mehr auf das Grob,-Sinnliche gerichteten Zukunstsprvjekte so widerlich
ausfallen würden, daß feder nicht ganz verdorbene oder von Fanatismus
eingenommene Mensch davor einen Ekel empfindet. Die von den heutigen
Socialisten kund gegebenen Ziele sind deshalb vorzugsweise negativer Na¬
tur. Vor Allem verlangen sie die Aufhebung jeder Religion. Sie
erblicken in derselben eine Erfindung der herrschenden Gesellschaftsklassen, ledig¬
lich zu dem Zwecke gemacht, um die niederen Volksklassen besser regieren und
bedrücken zu können. Der Glaube an eine göttliche Weltregierung, an die
Fortdauer des Menschen nach dem Tode, an das im Gewissen sich geltend
machende Unterscheidungsvermögen für das Gute und Böse ist nach ihrer
Meinung ein Hirngespinnst derjenigen Leute, welche die Leichtgläubigkeit und
Unwissenheit der großen Masse zur Verfolgung eigennütziger Zwecke ausbeuten
wollen. In dem Gottesglauben sehen die Socialisten das wesentlichste Hin¬
derniß für den Sieg ihrer Principien; sie halten letzteren für ganz unzweifel¬
haft, sobald jener erst aus den Herzen der Mehrheit des Volkes ausgerottet
ist. Fürs Zweite verlangt die Socialdemokratie die Beseitigung des
Privat el gen thu ins. Sie spricht diese Forderung allerdings nicht so nackt
und klar aus, wie sie hier steht; sie darf solches auch nicht aus Rücksicht auf die
Arbeiter selbst, deren besserer Theil die Realisirung derselben schwerlich mit
Freuden begrüßen würde. Was der Socialismus offen begehrt, ist die Ab¬
schaffung des Privateigenthums an Grund und Boden, das Collectiveigen¬
thum an den vorhandenen Capitalien und die Vertheilung der neu producirten
Güter nach Maßgabe der Arbeitsleistung jedes Einzelnen. Würden diese
Forderungen erfüllt, so würde allerdings Privateigenthum blos noch an sol¬
chen Gütern möglich sein, welche zum unmittelbaren Verbrauch Seitens ihrer
Besitzer bestimmt sind. Wenn die Socialdemokraten in Abrede stellen, daß sie
vollständig communistische Tendenzen verfolgen, so befinden sie sich entweder
in einer bedauerlichen Unklarheit über die Tragweite ihrer Forderungen, oder
suchen die Menge absichtlich darüber zu täuschen.
Aehnlich wie zum Privateigenthum stehen die Socialisten zur Ehe und
zur Familienge meinsch äst. Sie verlangen, daß alle Kinder in derselben
Weise und auf gemeinsame Kosten erzogen werden; wiederholt haben auch ihre
Vertreter dem Gedanken Ausdruck gegeben, daß die jetzigen festen Bande der
Ehe mit den socialistischen Anschauungen in Widerspruch stehen. In einer
Berliner Versammlung erklärte vor drei Jahren ein Redner, ohne principiellen
Widerspruch zu finden, „im Zukunftsstaat solle nur die Liebe die Verbin¬
dungen der Geschlechter leiten, zwischen dem Eheweib und einer sogenannten
Prostituirten sei nur ein quantitativer Unterschied." In ähnlicher Weise
drückte sich der Präsident des allgemeinen deutschen Arbeitervereins, Hasen-
clever, in derselben Versammlung aus. Die Aufhebung des Privateigenthums
und die gemeinsame Erziehung der Kinder auf Kosten des Staates bedingen
schon an und für sich eine Auflösung der Familienbande, auch wenn nicht
formell die Beseitigung der Ehe und die sogenannte „freie Liebe" proklamirt,
also die Prostitution für die gesetzlich allein zulässige Art der Verbindung bei¬
der Geschlechter erklärt wird.
Nach gewissenhafter Ueberlegung und ohne mich einer Uebertreibung
schuldig zu machen, glaube ich den Satz aufstellen zu dürfen, daß die heutige
Socialdemokratie das Ziel verfolgt, die Grundpfeiler jeder gesellschaftlichen
Ordnung, Religion, Eigenthum und Familie, umzustürzen. Die Mittel, welche
sie zur Erreichung ihrer Zwecke anwendet, sind den letzteren ganz entsprechend;
sie spekulirt auf die niedrigsten Triebe und mächtigsten Leidenschaften der
Menschen, auf Sinnenlust, Habsucht, Neid und Haß. Die socialistischen
Blätter und Agitatoren verkündigen es den Arbeitern immer auf's Neue, daß,
wenn erst die Gesellschaft nach ihren Principien organisirt sei, Niemand mehr
Mangel leiden, Jeder im Ueberfluß leben werde: an allem Elend in der
Welt seien nur die besitzenden Klassen schuld, welche, selbst nichts arbeitend,
vom Schweiße der armen Arbeiter, der weißen Sclaven, sich nährten: mit
den reichen Kapitalisten im Bunde ständen die Fürsten, die Beamten und gesetz¬
gebenden Körperschaften, welche alle kein Interesse und Herz für das eigentliche
Volk besäßen, sondern dasselbe blos in Unwissenheit, Unterwürfigkeit uno
Armuth zurückzuhalten wünschten. Dabei versucht man dem Volke alle auf
das wahrhaft Große und Edle gerichteten Gedanken und Gefühle zu rauben,
dieselben als lächerlich oder verächtlich darstellend.
Die großen Ereignisse in der vaterländischen Geschichte werden als
Thaten tyrannischer, eigensüchtiger Herrscher oder ehrgeiziger Staatsmänner
ausgegeben, welche ein frevelhaftes Spiel mit dem Gut und Blut des Volkes
getrieben haben; dagegen verherrlicht man die Schreckensjahre der ersten
französischen Revolution und die Thaten der Pariser Commune im Früh¬
jahre 1871 als edele Manifestationen des zum Bewußtsein und zur Herrschaft
gelangten Volksgeistes. Der Sinnengenuß wird als das eigentliche Ziel des
menschlichen Lebens gepriesen; Nüchternheit, Fleiß und Sparsamkeit find für
den Arbeiter keine Tugenden mehr, weil die Bethätigung dieser Eigenschaften
ihn kraft des ehernen Lohngesetzes immer tiefer in die Knechtschaft des blut¬
saugerischen Kapitales bringen würde. Alle Euere Anstrengung hilft euch
nichts, ruft man den Arbeitern zu, so lange die jetzigen Obrigkeiten und
Gesetze bestehen; sie kommt lediglich den Kapitalisten zu Gute; schlechter wie
jetzt kann es euch niemals gehen, darum quälet euch nicht vergeblich ab und
legt euch keine unnützen Entbehrungen auf. Die Socialdemokraten schwärmen
zwar vorgeblich sehr für die geistige Fortbildung des Volkes; aber unsere
jetzigen Volksschulen sind ihnen ein Gräuel, und den der Schule entwachsenen
Arbeitern bieten sie als geistige Nahrung nur ihre von Haß gegen alle be¬
stehende Ordnung erfüllten Zeitungen, Flugblätter und Gedichte. Der reiche
Schatz unserer Volksliteratur in Prosa und Poesie soll ihnen verschlossen
bleiben; denn auch diese ist im Dienste des Kapitals entstanden.
Ueber dasjenige, was nicht socialdemokratisch gesinnte Leute über die
Lage der Arbeiter denken, werden letztere möglichst im Dunkeln gehalten oder
geflissentlich getäuscht. Man muß es den socialistischen Führern zum Ruhme
nachsagen, daß sie in der Literatur über die sociale Frage ziemlich genau
orientirt sind und von jedem neu erschienenen Werke Kenntniß nehmen.
Sobald ein Mann von irgend einer Bedeutung etwas zu Gunsten der
arbeitenden Klassen sagt oder sich über Mißstände, die in der Lage der Ar¬
beiter vorhanden sind, ausspricht, so verfehlen die socialdemokratischen Blätter
nicht, dies nachzudrucken und in ihrem Sinne auszubeuten. Sie wählen
dann aber wohlweislich immer nur solche Sätze aus, welche in einem ihnen
günstigen Sinne ausgelegt werden können; alles Andere, auch wenn es zum
Verständniß der citirten Sätze nöthig ist, lassen sie fort. So werden die
Leser jener Blätter systematisch irre geführt und zu dem Glauben verleitet,
als stände ein erheblicher Theil unserer deutschen Gelehrten in wesentlichen
Punkten auf Seiten der Socialdemokratie.
So offen als es im Hinblick auf das Strafgesetz nur irgend möglich ist
fordern die socialistischen Agitatoren zur gewaltsamen Revolution auf.
Werden sie dieserhalb zur Rede gestellt oder zu gerichtlicher Verantwortung
gezogen, so helfen sie sich freilich mit der Ausrede, behufs Erreichung ihrer
Ziele wäre ihnen eine ruhige, friedliche Entwicklung viel lieber als das Be-
schreiten des revolutionären Weges; trotzdem weisen sie auf letzteren die Ar¬
beiter immer wieder in unzweideutiger Weise hin und stellen jeden Versuch,
die Lage der Arbeiter wirklich zu verbessern und die Eintracht zwischen diesen
und den Arbeitgebern zu begründen, als unnütz und wirkungslos dar. Sie
laden dadurch den berechtigten Vorwurf auf sich, daß es ihnen nicht darum
zu thun ist, das Wohl der arbeitenden Klasse zu fördern, sondern die Kluft
zwischen dieser und den übrigen Volksklassen möglichst zu vergrößern und die
gegenseitige Erbitterung zu steigern. Der ganze moderne Socialismus leidet
an innerer Unwahrheit. Er giebt vor für die Freiheit zu kämpfen,
während die socialistischen Führer eine despotische Gewalt über die ihnen
folgende Menge ausüben und gleichzeitig eine gewaltsame Unterdrückung aller
ihrer Gegner befürworten. Der Socialismus strebt anscheinend nach geistiger
Aufklärung der unteren Volksklassen, sucht aber trotzdem den Gebrauch aller
der Mittel, welche zur Bildung des Geistes dienen können, den Arbeitern zu
verleiden. Der Socialismus verdammt den Luxus und die Ueppigkeit reicher
Leute und stellt dabei doch den Sinnengenuß als das am meisten zu erstre¬
bende Gut hin. Der Socialismus vertritt das Princip der Brüderlichkeit
während er gleichzeitig bei den Arbeitern das wilde Feuer des Hasses und
Neides gegen die übrigen Volksklassen anschürt und jeden Versuch bekämpft,
eine Annäherung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herbeizuführen.
Der Socialismus verlangt endlich eine Gleichheit aller Menschen: dieselbe soll
aber darin bestehen, daß der fleißige, begabte, vorwärts strebende Mann auf
die Früchte seiner Arbeit zu Gunsten seiner trägeren Mitmenschen zu verzichten
gezwungen wird.
Die Verwirklichung der socialistischen Principien, wenn sie überhaupt
möglich wäre, würde zur Auflösung aller gesellschaftlichen und staatlichen
Ordnung sowie zur Vernichtung aller im Laufe der Jahrhunderte durch müh¬
same Arbeit errungenen Schätze an Wohlstand, Bildung und Gesittung un¬
zweifelhaft führen; sie würde einen Zustand der Barbarei zur Folge haben
schlimmer als ihn die Geschichte uns je überliefert hat. Der moderne Socialis¬
mus ist deshalb im eminentester Sinne des Wortes unsittlich und keine Rück¬
sicht darf den gewissenhaften, für das Wohl seines Volkes besorgten Mann
abhalten, dies Urtheil unumwunden auszusprechen.
Wie verhalten sich nun unsere Arbeiter zu den Agitationen der Social¬
demokratie? Bei den letzten Reichstagswahlen sielen nach den Angaben
Treitschke's 339,738 Stimmen auf socialdemokratische Kandidaten; dieselben
repräsentiren 6,ö°/o aller abgegebenen Wahlstimmen. In einzelnen deutschen
Ländern oder Landestheilen machten freilich die socialdemokratischen Stimmen
einen viel größeren Bruchtheil aller abgegebenen Stimmen aus, so im König¬
reich Sachsen 36,2«/«, in Schleswig-Holstein 35.5°/», in der Provinz Hannover
L5,l"/o! dem entsprechend blieben in anderen Distrikten die socialdemokrati¬
schen Stimmen unter'dem Durchschnitt von 6'/z "/<> Prozent mehr oder weniger
weit zurück. Die Socialdemokraten geben über zwanzig Zeitungen in Deutsch-
land heraus; sie unterhalten zahlreiche Neiseagenten, veröffentlichen eine Menge
Flugschriften und Bücher, belehrender wie unterhaltender Tendenz; sie veran¬
lassen die Arbeiter zu Arbeitseinstellungen und zu anderen die Arbeitgeber
schädigenden Handlungen, welche ohne ihre Mitwirkung nicht geschehen würden.
Außer den Ultramontanen sind die Socialisten die einzige Partei, welche einen
weitreichenden Einfluß auf die arbeitenden Klassen besitzt; hinter ihnen steht
die von gemäßigten und versöhnlichen Grundsätzen ausgehende Partei der von
or. Max Hirsch geleiteten Gewerkvereine erheblich zurück. Mag die Zahl der
von den socialistischen Führern abhängigen Arbeiter auch nicht so groß sein,
als diese selbst angeben; es bleibt immerhin eine beachtenswerthe und zum
Nachdenken auffordernde Thatsache, daß einer in ihren Zielen und in ihren
Mitteln durchaus unsittlichen Partei Hunderttausende von deutschen Arbeitern
fast unbedingten Gehorsam leisten. Sind alle diese Arbeiter selbst in ihren
sittlichen Begriffen wirklich so verwirrt, daß sie die von der Socialdemokratie
eingeschlagenen Wege für gute und berechtigte halten? Meiner Ueberzeugung
nach kann man diese Frage durchaus nicht bejahen. Allerdings ist es unge¬
mein schwer, über den sittlichen Gesammtzustand einer Bevölkerungsklasse ein
sicheres Urtheil zu fällen. Wir besitzen keinen einheitlichen Maßstab, nach
welchem sich die Sittlichkeit auch nur eines einzelnen Menschen, geschweige
denn die einer ganzen, Millionen von Individuen umfassenden Gesellschafts¬
gruppe feststellen ließe. Geht man auch davon aus, daß die Sittlichkeit sich
in der Religiosität concentrire und daß deshalb die vorhandene religiöse Ent¬
wicklung einen Gradmesser für den sittlichen Zustand bilde, so wird man da¬
durch dem erstrebten Ziele um Nichts näher geführt; denn die Religiosität ist
etwas wesentlich Inneres, an äußeren Manifestationen nicht sicher Erkenn¬
bares. Nur auf Umwegen und durch vergleichende Betrachtung einer Reihe
verschiedenartiger Thatsachen können wir zu einem ungefähren Schluß über die
Sittlichkeit der niederen Volksklassen gelangen.
Bis zum Beginn der socialpolitischen Agitation Lasalle'falso bis zum
Jahre 1863, hatte die Socialdemokratie unter den deutschen Arbeitern so gut
wie gar keinen Boden. Bei Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften
folgten die Arbeiter der von ihren Arbeitgebern oder der von der liberalen
oder der conservativen Partei ausgegebenen Parole. Als durch das Auftreten
Lasalle's die bis dahin fast ohnmächtige Socialdemokratie neues Leben gewonnen,
fielen die Arbeiter eist vereinzelt, dann in größeren Massen von den Führern,
welche sie bisher geleitet, ab und wendeten sich dem ihnen goldene Berge ver¬
heißenden Socialismus zu.
Aber es geschah dies keineswegs überall in Deutschland gleichmäßig. Zu¬
nächst ist zu constariren, daß die Socialdemokratie nirgends festen Fuß gefaßt
hat, wo der Ultramontanismus herrscht. Bei dicht an einander grenzen-
den Bezirken werden die Arbeiter in dem einen durch die Socialisten geleitet,
welche von der Vernichtung jeder positiven Religion den Sieg ihrer Sache ab¬
hängig machen, in dem anderen durch die Ultramontanen, welche das Heil der
Welt von dem Glauben an die alleinseligmachende Kirche und an den unfehl¬
baren Papst erwarten. Daraus den Schluß ziehen zu wollen, daß die Ar¬
beiter hier besonders religiös und sittlich, dort aber besonders irreligiös und
unsittlich seien, würde ganz verkehrt sein; wir müssen vielmehr nach Lage der
Sache zu dem für unsere Betrachtung wichtigen Resultat gelangen, daß nicht
die religionsfeindliche Tendenz des Socialismus dasjenige ist, was so viele
Arbeiter demselben zuführt.
Weiter verdient hervorgehoben zu werden, worauf auch Treitschke schon
hingewiesen hat. daß die Socialdemokratie nur in einzelnen Theilen Deutsch¬
lands einen bedeutenden Prozentsatz der Arbeiterklasse zu gewinnen vermocht
hat. Es sind dies einige Volk- und industriereiche Städte wie Berlin, Ham¬
burg, Elberfeld-Barmer, und dann deutsche Länder oder Landestheile, deren
politisches Leben in den letzten Jahrzehnten sich unter abnormen, ungesunden
Verhältnissen entwickelte; so namentlich das Königreich Sachsen, Hannover,
Schleswig-Holstein, in geringerem Maße auch die thüringischen Staaten. Daß
große Städte, in welchen so mancherlei Volk zusammenläuft und unreine
Elemente am leichtesten unentlarvt ihr gewissenloses Spiel treiben können, für
socialistische Agitationen ein besonders dankbares Feld abgeben, bedarf keiner
weiteren Erklärung. Wunderbar aber könnte es erscheinen, daß der gut¬
müthige Sachse, der harmlose Thüringer oder der von Natur zum Fleiß, zur
Ausdauer und Ordnung geneigte holsteinische Landarbeiter für socialistische
Tendenzen besonders empfänglich sich zeigen. Es liegt durchaus kein Grund
zu der Annahme vor, als ob die Arbeiter grade dieser Distrikte an einer
hervorragend großen Verwirrung ihrer sittlichen Begriffe oder gar an einer,
schon durch die That sich dokumentirenden sittlichen Verkommenheit litten.
Nein, die wirklichen Verhältnisse sprechen keineswegs zu Ungunsten grade dieser
Arbeiter, eher ist noch das Gegentheil der Fall. Von der Unsittlichkeit der
mecklenburgischen Gutstagelöhner wurde früher, theils mit Recht theils mit
Unrecht, viel gesprochen; der holsteinische Gutstagelöhner galt dagegen für
einen verhältnißmäßig sehr sittlichen Arbeiter. Mag der wirkliche Unterschied
auch nicht so groß gewesen sein, wie er in den Augen Mancher sich darstellte,
immerhin darf man aus der Thatsache, daß unter den holsteinischen Guts¬
tagelöhnern der Socialismus so weite Verbreitung, unter den mecklenburgi¬
schen Tagelöhnern dagegen gar keinen Anklang gefunden hat, den Schluß
ziehen, daß es nicht die unsittlichen Principien der Socialdemokratie sind,
welche die Arbeiter zu derselben hinziehen oder von ihr fernhalten.
Bei der Bearbeitung der vom Congreß deutscher Landwirthe unternom-
menen Enquete über die Lage der ländlichen Arbeiter im deutschen Reiche habe
ich mich bemüht, auch gewisse Anhaltspunkte zur Entscheidung der Frage zu
gewinnen, ob die Sittlichkeit unter den ländlichen Arbeitern während der letzten
Jahrzehnte zu- oder abgenommen habe. Dabei war es mir ebenso erfreulich,
als interessant, aus den Hunderten von eingelaufenen, meist von ländlichen
Arbeitgebern herrührenden Mittheilungen constatiren zu können, daß keines¬
falls ein Rückgang in der sittlichen Entwicklung der ländlichen Arbeiter statt¬
gefunden hat. Von etwa 4S0 Beantwortungen sprechen sich nahezu zwei
Drittel dahin aus, daß eine theilweise oder durchgängige Hebung des sittlichen
Zustandes zugegeben werden müsse, während nur ein Drittel erklärt, daß in
dieser Beziehung keine Veränderung oder gar ein Rückschritt bemerkbar sei.
Erwähnenswert!) sind die Mittheilungen aus Holstein. Dieselben ländlichen Ar¬
beitgeber, welche über den großen Erfolg der socialdemokratischen Agitation
unter ihren Arbeitern klagen, sagen doch fast ausnahmslos, daß die sittliche
Haltung der letzteren sich gebessert habe. Nun muß freilich zugestanden werden,
daß das Urtheil über das Steigen oder Sinken der Sittlichkeit in einer Volks¬
klasse immerhin ein subjektives bleibt; aber es ist doch ein sehr erfreuliches
Zeichen, wenn die überwiegende Mehrheit von Arbeitgebern, bei welchen man
heutzutage eher ein ungünstiges als ein günstiges Vorurtheil bezüglich des
sittlichen Fortschrittes der Arbeitnehmer voraussetzen darf, das Vorhandensein
eines solchen bestätigen zu müssen glaubt. Man kann auch dem Umstände
kein zu großes Gewicht beilegen, daß öfters aus den nämlichen oder nahe
bei einander liegenden Bezirken entgegengesetzte Urtheile laut werden. Die
Sittlichkeit einer Volksklasse äußert sich in sehr verschiedenartiger Weise; es
kann sehr wohl in Bezug auf eine Eigenschaft ein Fortschritt, in Bezug auf
eine andere ein Rückschritt stattgefunden haben. Je nachdem nun der Beur¬
theiler diese oder jene Seite mehr im Auge hat, wird die Frage nach der sittlichen
Hebung verneint oder bejaht. So weit die vorliegenden Angaben reichen,
scheint bei den ländlichen Arbeitern in Deutschland ziemlich allgemein der
Diebstahl abgenommen zu haben, in vielen Gegenden auch die geschlechtlichen
Vergehungen, ferner im nördlichen Deutschland die Trunksucht; dagegen wird
häusig geklagt über eine Zunahme des Ungehorsams, der Unlust zur Ar¬
beit, über die geringeren Arbeitsleistungen, über die wachsende Unwirthschaft-
lichkeit. Aehnliche Klagen werden ja auch in Bezug auf die industriellen Arbeiter
oft gehört. Zum Theil sind sie gewiß berechtigt; die getadelten Untugenden
hängen innig zusammen mit der neueren Entwicklung unserer wirthschaftlichen
Verhältnisse, namentlich mit der starken Steigerung der Arbeitslöhne und mit
der größeren Freiheit, welche den Arbeitern durch die Gesetzgebung der letzten
Jahre fast unvorbereitet zu Theil wurde. Andrerseits darf man aber auch
nicht übersehen, daß grade von den hervorgehobenen sittlichen Mängeln der
Arbeiter die Interessen der Arbeitgeber besonders ncichtheilig berührt werden;
und es ist daher sehr natürlich, daß letztere hierauf ein starkes, vielleicht allzu¬
starkes Gewicht legen.
Wenngleich ich es nicht wagen möchte, über die Frage, ob die sittliche
Entwicklung unserer Arbeiterklasse in fortschreitender oder rückschreitender Be¬
wegung sich befinde, ein ganz sicheres und endgültiges Urtheil zu fällen, so
glaube ich doch mit größter Bestimmtheit die Behauptung aussprechen zu
dürfen, daß der verhältnißmäßig große Erfolg der unzweifelhaft von unsitt¬
lichen Grundsätzen geleiteten Socialdemokratie keineswegs durch eine Abnahme
des sittlichen Bewußtseins unter den Arbeitern begründet werden kann. Der
Einfluß und die Macht, welche die socialistischen Agitatoren thatsächlich aus¬
üben, sind auf ganz andere Ursachen zurückzuführen.
Die jetzige Klasse der Arbeiter, sowohl der industriellen wie der ländlichen,
ist eigentlich eine ganz neue, früher nicht dagewesene Klasse unserer bürger¬
lichen Gesellschaft. Die gewerblichen Arbeiter bestanden ehemals zum weit
überwiegenden Theil aus Handwerks-Gesellen oder Lehrlingen, welche mit
ihren Meistern in dem gleichen Jnnungsverband lebten und wesentlich zu
derselben Volksklasse gehörten; die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer waren
gutsunterthänige Bauern oder besitzlose Leibeigene, durch unauflösliche Bande
an ihre eigene und die Scholle ihres Gutsherrn geknüpft. Die jetzigen indu¬
striellen und ländlichen Arbeitnehmer sind persönlich vollständig frei, sie können
ihr Brod verdienen, wo und auf welche Weise es ihnen beliebt; sie sind an
keinen bestimmten Arbeitgeber und an keine bestimmte Corporation gefesselt;
sie sind aber auch auf sich selbst ausschließlich angewiesen, sie befinden sich in
keinem organischen Zusammenhang mit irgend einer andern Klasse der bürger¬
lichen Gesellschaft. Nun haben stets diejenigen Menschen, welche unter den
gleichen wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen leben, das drin¬
gende Bedürfniß, sich aneinander anzuschließen; sie suchen nach einer Organi¬
sation, welche es ihnen ermöglicht, ihre geselligen Bedürfnisse zu befriedigen,
über gemeinsame Interessen zu berathen und dieselben durch gemeinsames
Handeln zu wirksamer Geltung zu bringen. Ein derartiges Bedürfniß zeigt
sich als um so größer, je zahlreicher die betreffende Volksklasse ist und je
weniger die Glieder derselben vermöge ihrer individuellen geistigen und ma¬
teriellen Mittel befähigt sind, durch vereinzeltes Handeln ihre Wünsche und
Interessen zu realisiren. Die wirthschaftliche Gesetzgebung der letzten 60—70
Jahre hat ja in der That Großes geleistet; sie hat schlummernde oder ge¬
fesselte Kräfte in einer früher unglaublich scheinenden Menge zur Wirksamkeit
gebracht; aber dabei hat sie in den Organismus der bürgerlichen Gesellschaft
eine bis jetzt noch unausgefüllte Lücke gerissen. Die Arbeitnehmer haben den
Halt verloren, welchen ihnen bei den alten wirthschaftlichen Zuständen die
Zugehörigkeit zu einer gewerblichen Corporation oder die gesetzliche Abhängigkeit
von einem bestimmten Arbeitgeber gewährte. Sie selbst empfinden dies lebhaft,
wenn es ihnen auch nicht zum klaren Bewußtsein kommt: sie suchen nach
neuen Formen der Gemeinschaft und nach neuen Führern, denen sie sich an¬
schließen und denen sie ihre Interessen anvertrauen können. Beides wird ihnen,
wenngleich in sehr unersprießlicher Weise, von der Socialdemokratie geboten.
Wenn die Socialisten einen Ruhm für sich in Anspruch nehmen wollen, so
gebührt ihnen am meisten der, daß sie nach vielen Richtungen hin die Be¬
dürfnisse des Arbeiterstandes besser zu beurtheilen vermögen als irgend ein
Anderer. Sie bieten in ihren Vereinen den Arbeitern das Mittel zu geselliger
Erholung, zur Befriedigung geistiger Bedürfnisse, zur Besprechung gemeinsamer
Angelegenheiten, zur Beschlußfassung über die Mittel, durch welche ihre
Wünsche am besten zur Verwirklichung gelangen können. Mag die Art und
Weise, in welcher diese Zwecke verfolgt werden, noch so verkehrt, ja verwerflich
sein: einer sehr großen Zahl von Arbeitern scheint dies gleichgültig oder
doch von untergeordneter Bedeutung. Den meisten Arbeitern fehlt es durch¬
aus an der nöthigen Bildung, um beurtheilen zu können, in wie weit die
von der Socialdemokratie erstrebten Ziele erreichbar oder auch nur ihren
eigenen Interessen entsprechend sind. Sie hören tagtäglich, daß die ungünstige
äußere Lage der Arbeiter lediglich Folge einer schlechten, in den Händen der
Arbeitnehmer befindlichen Gesetzgebung sei; es wird ihnen vorgeredet, daß die
Arbeitgeber ihnen einen Theil des gebührenden Lohnes zu Unrecht vorbe¬
halten; es wird über die zu lange Arbeitszeit, über die Sonntagsarbeit, über
die der Gesundheit schädliche Beschaffenheit der Arbeitsräume, über die per¬
sönlich inhumane Behandlung der Arbeiter Seitens der Arbeitgeber geklagt.
Dabei wird einiges Wahre mit vielem Unwahren vermischt, um letzterem
desto leichter Glaubwürdigkeit zu verleihen. Die Socialisten dürfen sich auch
mit Recht rühmen, schon Erfolge zu Gunsten der Arbeiter erzielt zu haben.
Kein Unparteiischer kann leugnen, daß es wesentlich der Thätigkeit der So¬
cialdemokratie und der Furcht vor derselben Seitens der höheren Volksklassen
zu danken ist, wenn sich heutzutage Staat und Gesellschaft eifriger wie früher
damit beschäftigen, die in Bezug auf die arbeitenden Klassen wirklich vor¬
handenen Uebelstände ausfindig zu machen und zu beseitigen. Auf diese Er¬
rungenschaft berufen sich die socialistischen Führer mit gerechtfertigten Stolz;
sie sagen ihren Anhängern- Ihr seht, was wir schon in Eurem Interesse
geleistet haben, folgt uns nur weiter, wir werden auch mit unseren übrigen
Bestrebungen ans Ziel gelangen!
Dabei schmeicheln sie dem Arbeiterstande in einer sonst unerhörten Weise;
namentlich Lasalle hatte es hierin zu einer unübertroffenen Virtuosität ge¬
bracht. Die Arbeiter werden dargestellt als die allein arbeitenden Menschen,
als diejenige Volksklasse, in welcher allein noch Fleiß, Redlichkeit, Brüderlich¬
keit. Gemeinsinn herrsche; die Glieder der übrigen Volksklassen, und zwar bis
in die höchsten und regierenden Kreise hinauf, sind Tagediebe, Tyrannen,
Wollüstlinge, welche sich von dem Schweiße und Blute der unterdrückten Ar¬
beiter mästen. Ihre theoretischen, volkswirthschaftlichen Erörterungen, welche
sie zur Belehrung der Arbeiter vorzutragen pflegen, würzen sie mit aller¬
lei gelehrten Phrasen und Citaten, um den Anschein zu erwecken, als ob
sie auf der Höhe der Wissenschaft ständen und letztere ganz auf ihre Seite
hätten.
Das Geheimniß der erfolgreichen Wirksamkeit der Socialdemokratie beruht
vorzüglich in zwei Dingen: einmal daß sie das Bedürfniß der Arbeiter nach
einer den gemeinsamen Interessen dienenden Organisation befriedigt, und fürs
Zweite, daß sie durch rücksichtslose Aufdeckung und energische Bekämpfung
unzweifelhafter Uebelstände in der Lage der arbeitenden Klassen bei letzterer
die Meinung zu erwecken verstanden, als ob das zukünftige Wohl der Arbeiter
von der Verwirklichung der socialistischen Grundsätze lediglich abhänge.
Hieraus erklärt sich auch, weshalb der Einfluß der Socialisten in den
einzelnen Gegenden oder Orten Deutschlands ein so verschieden großer ist.
Derselbe zeigt sich dort am stärksten, wo durch die Zusammenhäufung von
großen Arbeitermassen auf verhältnißmäßig kleinen Räumen das Bedürfniß
nach einer einheitlichen Organisation und Leitung behufs Verfolgung der ge¬
meinsamen Interessen besonders lebhaft empfunden wird; ferner dort, wo der
Mangel an einem kräftigen nationalen Bewußtsein, welches in allen Gliedern
des Volkes das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem großen, gemeinsamen
Ganzen wach erhält, in den Arbeitern leicht die Empfindung hervorruft, daß
sie überhaupt von der Mitwirkung an der Entwicklung des staatlichen Lebens
ausgeschlossen seien und daß ihre eigenen Interessen außer jedem Zusammen¬
hang mit dem Interesse der den Staat lenkenden Parteien stehen; endlich
dort, wo, sei es mit sei es ohne Schuld der Arbeitgeber, die wirthschaftliche
und gesellschaftliche Lage der Arbeiter eine in hervorragendem Maße unbefrie¬
digende ist. Auf einen dieser drei Gründe läßt sich meines Erachtens in allen
Fällen eine besonders erfolgreiche Wirksamkeit der Socialdemokratie zurück¬
führen.
Wenn Ultramontanismus und Socialismus sich gegenseitig aus¬
schließen, wenn innerhalb desselben räumlichen Bezirkes nicht beide herrschen
können, so liegt dies einfach daran, daß jener den Arbeitern im Wesentlichen
ganz dasselbe wie dieser darbietet oder darzubieten scheint. Die Ultramontanen
kennen die Bedürfnisse, Wünsche und Empfindungen der Arbeiter ebenso ge¬
nau wie die Socialdemokraten. In den mancherlei katholischen socialen Ver¬
einen suchen sie das Bedürfniß der Arbeiter nach einer Organisation, nach
geselliger Unterhaltung, nach geistiger Nahrung zu befriedigen; dort sowohl
wie in einer umfangreichen Literatur werden die Interessen der Arbeiter be¬
sprochen und vertreten; es fehlt dabei nicht an allerlei Schmeicheleien für den
Arbeiterstand und an heftigen Ausfällen gegen die besitzenden und herrschen¬
den Volksklassen. Die Ultramontanen verstehen es, in den Arbeitern das
Bewußtsein zu erwecken, daß sie es vor Allem sind, welche die wirklichen In¬
teressen der Arbeiter verfechten und dieselben zur Geltung zu bringen die
Macht haben. Dabei umkleiden sie sich mit dem Nimbus der Frömmigkeit;
sie stellen sich als die zur Wahrung der Rechte der Armen und Unterdrückten
gegen die reichen Unterdrücker von Gott gewissermaßen Berufenen dar und
appelliren an das religiöse Bewußtsein des Volkes, welcher Appell in deutschen
Herzen gewöhnlich einen sehr kräftigen Wiederhall findet. Daß sie sich zur
Begründung ihrer wirthschaftlichen Lehren auf dieselben oder auf ähnliche verkehrte
Grundsätze und irrige Behauptungen wie die Socialisten stützen, vermag
ihnen in den Augen der Arbeiter, welche zur Prüfung derselben unfähig sind,
durchaus keinen Eintrag zu thun.
Die Arbeiter können es nicht wissen und haben in ihrer großen Mehrzahl
nicht einmal die Ahnung davon, daß sie blos Werkzeuge in den Händen derer
sind, welche für ihre Interessen zu kämpfen und sich aufzuopfern vorgeben,
daß es den socialistischen Führern hauptsächlich darauf ankommt, ihre egoisti¬
schen Zwecke zu erreichen oder ihre revolutionäre Leidenschaft zu befriedigen,
und daß die Ultramontanen eine möglichst zahlreiche Armee zu sammeln trach¬
ten, welche in jeden Kampf für die alleinseligmachende Kirche und deren Ober¬
haupt willenlos ihnen zu folgen geneigt ist.
Der Socialismus und Ultramontanismus sind die mächtigsten Feinde
einer gesunden Entwicklung unseres staatlichen und gesellschaftlichen Lebens,
deren Geringschätzung Thorheit oder frevelhafter Uebermuth wäre. Starke
Gegner kann man aber nur auf ihrem eigenen Gebiete und mit ihren eigenen
Waffen wirksam bekämpfen. Ihre erfolgreichsten Waffen sind nicht, wie viel¬
leicht Mancher glaubt, die unwahren und unsittlichen Mittel, welche sie an¬
wenden, um die Arbeiter für sich zu gewinnen, sondern daß sie dringenden
und wichtigen Bedürfnissen der Arbeiterklasse, wenngleich in unsittlicher Form,
gerecht zu werden verstehen. Gelingt es, die Bedürfnisse der Arbeiter in an¬
derer Weise d. h. unter Wahrung der religiösen, sittlichen, gesellschaftlichen
und nationalen Fundamente, auf denen das deutsche Volksleben sich bis jetzt
entwickelt hat und noch heute beruht, thatsächlich zu befriedigen, dann, aber
auch nur dann, dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, den Einfluß der
socialdemokratischen und der ultramontanen Partei auf die Arbeiterbevölkerung
zu vernichten oder auf ein ungefährliches Maß zu beschränken. Daher
handeln diejenigen unklug oder gar gewissenlos, welche alle Nothstände unter
den arbeitenden Klassen zu verdecken oder gar wegzuläugnen sich bemühen, eben¬
so aber diejenigen, welche Jeden, der für das Wohl des Arbeiterstandes einzu¬
treten sich berufen fühlt, in den Verdacht socialdemokratischer und revolutio¬
närer Tendenzen zu bringen suchen. Leider geschieht dies noch sehr häufig,
namentlich Seitens egoistischer Arbeitgeber und Seitens der von letzteren ab¬
hängigen Presse. Ein derartiges Verfahren trägt in hohem Grade dazu bei,
die Macht und den Einfluß der Socialdemokratie zu verstärken. Wer die
Zustände unserer arbeitenden Klassen irgend kennt, muß zugestehen, daß die¬
selben in vieler Beziehung noch durchaus unbefriedigende, der Besse¬
rung dringend bedürftige sind, und ferner daß den am meisten gerechtfertigten
Beschwerden der Arbeiter abgeholfen werden kann, ohne die Grundlagen
unseres jetzigen wirthschaftlichen Lebens zu erschüttern. Freilich ist hierzu
nöthig, daß die höheren Klassen der Gesellschaft und namentlich der Arbeit¬
geber mit größerem Verständniß und mit geringerem Egoismus an die Prü¬
fung und Verbesserung^ der Lage der Arbeiter herantreten, als dies bis jetzt
leider im Allgemeinen geschieht.
Wir feiern heute den Geburtstag des preußischen Königs und
deutschen Kaisers; bei dieser Gelegenheit rufen wir mit freudigem Stolze
uns gern ins-Gedächtniß zurück, wie unparteiisch, aufopfernd, alle widerstre¬
benden Mächte gering achtend die Hohenzollern stets für die Interessen aller
Klassen ihrer Unterthanen eingetreten sind, wie sie mit gewaltiger Hand und
oft rücksichtsloser Strenge die Schwächeren vor der Unterdrückung durch die
Stärkeren geschützt haben, wie sie endlich, im entschiedensten Gegensatz gegen
einen großen Theil der einflußreichen Großgrundbesitzer, den bäuerlichen Stand
vor dem Untergang gerettet und den an die Scholle gefesselten Gutsunterthanen
zur persönlichen und wirtschaftlichen Freiheit verholfen haben. Wir gedenken
namentlich der, nun 60—70 Jahre hinter uns liegenden Zeit, als der Vater
unseres jetzigen Kaisers, berathen und gestützt von den edelsten und weisesten
Männern ihrer Zeit, die großartige Gesetzgebung erließ, welche dem gesammten
gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Leben des Volkes neue zeitgemäße
Formen gab und neue, die allgemeine Wohlfahrt fördernde Bahnen eröffnete.
Aber das damals begonnene segensreiche Werk ist noch nicht zum Abschluß ge¬
diehen. Die individuellen wirthschaftlichen Kräfte sind möglichst frei gemacht
und damit ist der vorhandenen Leistungsfähigkeit auf wirthschaftlichem Gebiete
der weiteste Spielraum gewährt worden. Dagegen fehlt noch eine organi¬
sche Zusammenfassung der isolirten, jetzt ganz sich selbst überlassenen
Millionen von Arbeitern, welche, einmal losgerissen von der heimathlichen
Sitte und der Verbindung mit der übrigen bürgerlichen Gesellschaft, heutzutage
Jedem blindlings folgen, der mit irgend einem Scheine von Berechtigung sich
bereit und im Stande erklärt, ihren Wünschen und Hoffnungen Erfüllung zu
gewähren.
Solche Organisation herzustellen, scheint mir, wenigstens in Bezug auf
die industriellen Arbeiter, die wichtigste, aber auch schwierigste Aufgabe der
zukünftigen Gesetzgebung auf socialem Gebiete. Dieselbe kann freilich nur
ihren Zweck erfüllen, wenn sie, vom Staate mit bestimmten Rechten und
Pflichten ausgestattet, nicht nur den Arbeitern Gelegenheit giebt, ihre geselli¬
gen Bedürfnisse zu befriedigen, ihre gemeinsamen Angelegenheiten zu besprechen
und in gesetzlich geordneter Weise selbst zu verwalten, sondern auch Einrich¬
tungen enthält, welche für gewisse Angelegenheiten ein gemeinsames Berather
und Handeln der Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorschreiben sowie das An¬
bringen und die Entscheidung von Beschwerden des einen Theiles wider den
anderen möglich machen. Für die ländlichen Arbeiter ist eine solche Institution
weniger nöthig; für diese handelt es sich wesentlich darum, sie als vollberech¬
tigte Glieder in den Verband ihrer Ortsgemeinde aufzunehmen und einzufügen.
Dies kann freilich nur dann ohne Nachtheil geschehen, wenn die Arbeiter
wesentlich die gleichen Interessen mit den angesessenen Grundbesitzern haben, d. h.
wenn sie selbst entweder Grundbesitzer sind oder doch die Aussicht genießen,
es später einmal zu werden. In einem großen Theile Deutschlands ist solches
der Fall und dort hat die Arbeiterfrage für die Landwirthschaft längst ihren
bedrohlichen Charakter verloren.
Möchte es dem deutschen Kaiser beschieden sein, mit demselben Geschick
und Erfolg wie seine Vorfahren, durch großartige, dauernde Schöpfungen die
heutigen socialen Wirren zu einer glücklichen, die Wohlfahrt des ganzen Volkes
verbürgender Lösung zu führen.*)
Den nächsten Tag reiste ich nach Dayton ab, nachdem mir vorher von
einem in einem Gasthofe wohnenden Kaufmann eine Empfehlung an den
Vorstand der Methodistenconferenz zu Springfield. Prediger Nast, aufgenö-
thigt worden war, der mich in seinem Weinberg an die Arbeit stellen sollte.
Auch in Dayton war die deutsche lutherische Gemeinde auf ihren Pastor,
einen gewissen Hardorf, nicht gut zu sprechen, und ich befand mich noch keine
drei Tage dort, als mir schon von der ihm feindlich gesinnten Partei, an
deren Spitze ein Kaufmann Drehbein und die Doctoren Egry und Lcmgstedt
standen, Anträge gemacht wurden, sein Nachfolger zu werden. Indeß war
ich in Cincinnati noch verpflichtet, auch hatte — wohl in Folge der Erzäh¬
lung Krölls von seinem glücklichen Squatterleben in Missouri — der Far¬
mer in meinem Gemüthe wieder Oberwasser bekommen, und so ging ich auf
diese Vorschläge nicht ein, sondern fuhr zunächst mit Vetter Theodor nach
Springfield, in dessen Nähe wir uns nach verkäuflichen Farmer umsahen, aber
nichts Passendes fanden, da das. was uns gefiel, zu hoch im Preise stand.
So kehrten wir denn unverrichteter Sache nach Dayton zurück, wo ich
in der Vorstadt Macpherson Town nicht weit von der Covingtonbrücke bei
dem aus Sachsen eingewanderten Schuhmacher Sperling in einem allerliebsten
Weißen Häuschen, das Psirsichspaliere und wilde Rosen umspannen, Wohnung
gefunden hatte.
Und nun soll das Tagebuch wieder zu Worte kommen.
27. September. Wir saßen eben auf dem Altan vor der Vorderthür
beim Morgenkaffee, als Theodor mit einem Telegramm von Rothert kam:
n^Vo wallt z^on Kore nsxt Sunclu^. ^.riswer quick." Also doch, Micawber!
Es war mir nicht lieb. Aber es mußte Wort 'gehalten werden. Ich ließ
antworten: „I am ooming", repetirte den Vormittag meine Predigt und
fuhr zwei Uhr Mittags mit der stage, einem häßlichen unbequemen Rippen¬
brecher, nach der City ab, wo ich neun Uhr Abends entsetzlich zerschüttelt
und mit dem Kothe von Miamisburg und Hamilton bespritzt ankam. Der
Kirchenrath empfing mich hocherfreut im Barroom des Gasthofes, wo ich so-
fort mit Rothwein „getreatet" wurde, den man mit der Mittheilung zu
würzen glaubte, daß Pastor Göbel wegen Störung des Gottesdienstes vom
Friedensrichter um zehn Dollars gestraft und seine Appellation vom Court zu¬
rückgewiesen worden ist.
28. September. Früh halb zehn Uhr wurde ich von Präsident Rie-
meyer zur Kirche abgeholt, um dießmal in ruhiger Luft zu predigen. Die
Versammlung war trotz des Regens, der vom Himmel goß, zahlreich, und
ich scheine gefallen zu haben — wie Rothert behauptet, allgemein, jedenfalls
aber der von ihm geführten Partei. Wieder macht man mir den Antrag,
von Dayton hierher überzusiedeln und die Obliegenheiten des Pfarrers —
zunächst soll es eine Trauung geben — bis zur Beendigung der Probepredig¬
ten zu versehen, von denen auch ich noch eine und zwar aus dem Stegreife
zu halten habe. Der Polyp will mich nicht fahren lassen, und ich mußte —
er sah mich dazu mit gar so wohlmeinenden, vertrauensvollen Augen an, der
böse Polyp — zuletzt einwilligen, schon nächsten Donnerstag nach Cincinnati
zurückzukehren.
29. September. Heute Morgen bei Freund Kroll, der mich zu der
gestrigen Predigt beglückwünscht, und von dem ich höre, daß sich zu der Stelle
nicht weniger als dreizehn Bewerber gemeldet haben, darunter ein gewisser
Gerwig, der im Badenschen Pastor und später Präsident der revolutionären
Ständeversammlung gewesen sein will, ein Doctor Bieler aus Louisville,
der dort als Pfarrer die geistlichen und als Arzt zugleich die leiblichen Inter¬
essen einer Gemeinde wahrnimmt, und der, wenn die Wage Sanct Pauls
ihn zu leichtfertig in Betreff des andern Geschlechts und somit zu leicht befin¬
den sollte, in die andere Schale sein Gewicht als Plattdeutscher legen könnte,
ferner ein Schulmeister Breitfeld, ein beredter Bauer Hermann und schließlich
— wer hätte an den gedacht? — der lahme Rechtsgelehrte aus Magdeburg,
den ich bei meinem ersten Besuch in der Pfarre der Johanneskirche kennen ge¬
lernt hatte. Aerzte, Schulmeister, Juristen, Bauern — was weiß ich noch!
Aber warum denn nicht? Petrus war ein Fischer, Paulus, der Patron der
Gemeinde auf der Walnut Srreet, ein Teppichweber. Wahr und schön, in¬
deß die „europäischen Schrullen" wollen vor dieser Betrachtung doch nicht
weichen, und ich glaube fast, ich passe am Ende doch nicht in diese Gesell¬
schaft, ich passe vielleicht überhaupt nicht nach Amerika.
30. September. Gestern Abend mit der Eisenbahn nach Dayton und
in mein stilles behagliches Häuschen am blauen Miami zurückgekehrt, besuchte
ich heute mit Theodor eine Betstunde der deutschen Methodisten. Es war
nach Dunkelwerden. Wir traten in den von mehren hübschen Lampen er¬
leuchteten Saal des Meetinghauses. Die Kanzel, der Thür gegenüber, war
eine einfache Estrade, unter welcher auf einer kleinen Erhöhung vor einem
Tische ein Mann in gewöhnlicher Kleidung stand, der den Versammelten, etwa
vierzig Frauen und sechs oder sieben Männern, ein Kapitel aus dem Briefe
an die Römer vorlas. Wände und Decke waren einfach weiß getüncht. Auf
der einen Seite hing ein Kruzifix, sonst war von Bild- und Schmuckwerk
nichts zu sehen. Nach der Vorlesung folgte eine kurze Betrachtung im Styl
des gemeinen Mannes, deren Gedanken und Redensarten sich immer und
immer wiederholten. Dann gab es einen Vers, der recht munter klang und
in dessen raschem Tempo ich das alte Studentenlied: „Lasset die feurigen Bom¬
ben erschallen" — zur Steuer der Wahrheit sei bemerkt, ohne das „Piff, pass,
puff, Viderallerallera" — wiedererkannte. Dann Aufforderung eines der
Männer zum Beten, der ohne Verzug, geläufig und reichlich entsprochen
wurde. Wie das Wasser aus einem Röhrbrunnen, so flössen die Worte ein¬
tönig und ohne Absatz, nur zuweilen von stören und Wimmern unterbrochen
oder von articulirten Ausrufungen einer andächtigen Baßstimme begleitet,
wohl zehn Minuten fort. Als der Brunnen nach einem Amen versiegte, sang
man wieder eine lebhafte Arie. Darauf Gebet eines andern Bruders, dann
nochmals Gesang der Gemeinde, Gebet einer Schwester, Liedervers und so ab¬
wechselnd fort, sodaß mir, da Alles beim Beten niederzuknien hatte, schließlich
die Knie schmerzten.
Probe eines solchen Gebetes:
Mann auf der Erhöhung: „Schwester L." (seil, beten Sie!) — Schwester
L: „Ach Du lieber, lieber Heiland, der Du Dein theures Blut am Kreuzes¬
stamme vergossen hast für unsre Sünden, segne uns doch in dieser Abend-
-stunde!« (Baßstimme: „Ja. ja, Herr Jesu!") „Ach Du Erlöser und Selig¬
macher, hilf mich doch, daß ich meine Sünden recht einsehe, daß ich mich bessere,
damit ich dermaleinst zu die Gerechte zu stehen komme bei das große Straf¬
gericht." (Baßstimme: „O Herr, hilf, o Herr Jesu!") „Und daß ich mir in
Acht nehmen thue vor die Stricke des bösen Feindes und ein zerknirschtes
Herz habe, und daß ich die Lüste des Fleisches fliehe." (Wimmernde Mädchen¬
stimme: „Ach Herr und Heiland!") „Und daß ich immer nach dem Himmel¬
reich strebe. Amen." (Baßstimme dröhnend: „Amen!") U. s. w. u. s. w.
Bei den Liebesfesten, wo die besonders Heiligen ihre Bekehrung (Paulus
und Saulus sind Lieblingsworte dabei) zu erzählen Pflegen, soll es noch viel
wunderlicher hergehen. Theodor hat z. B. Weiber in ihrer Verzücktheit über
Tische und Bänke springen und an den Wänden emporstreben sehen, um eine
ihnen dort leuchtende Christusgestalt zu umarmen.
Abends spät noch Besuch bei dem Methodisten Weckel, wo zwei Prediger
der Secte sich einfinden, von denen der eine erst Küfer, der andere Kanal¬
arbeiter gewesen ist, was nicht hindert, daß sie jetzt recht selbstbewußt auftreten.
Nach ihnen kam ein dritter, der Schwiegersohn W.'s, der, weil seine Frau
drei Monate zu früh in die Wochen gekommen, von der Conferenz des
Predigtamtes entsetzt, jetzt aber wieder zu Gnaden angenommen worden ist.
1. October. Heute in Kroll's „Protestantischen Zeitblättern" Folgendes
gelesen: „Aus Baltimore wird gemeldet, daß unter den Mitgliedern der
deutschen Lutheranerkirche eine offne Rebellion ausgebrochen ist. Es haben
sich zwei Parteien gebildet, und beide sprechen den Besitz der Kirche an. Eine
Partei hat von der Kirche Besitz genommen, und da die andere Miene macht,
ihre Feinde mit Gewalt aus dem Heiligthum zu treiben, so hat die erstere
den Stadtmayor um Hülfe angerufen, nämlich um eine Anzahl Polizeidiener,
welche sie im Besitz ihrer Kirche schützen soll." Also allenthalben Parteiung,
Streit und Gewaltthätigkeit! Werde ohne Verzug an Nothert schreiben,
daß — nun meinetwegen, daß ich krank geworden bin und fürchte, — was
fürchte? — schreiben wir, erst in einigen Wochen nach der City zurückkehren
zu können. Nothlüge erlaubt — vergleiche Schleiermacher.
2. October. Die Gegner des Pastors Hardorf lassen nicht nach. Ich
werde bewogen, Dr. Langstedt einen Besuch zu machen, und hier wurde nach
einigen Umschweifen rundheraus das Verlangen an mich gestellt, als Hebel
bei der Beseitigung des Verhaßten zu dienen. Ich solle, so schlug man vor,
in diesen Tagen bei dem Pfarrer vorsprechen, mich ihm als Theologen vor-'
stellen und um die Erlaubniß bitten, am nächsten Sonntag des Nachmittags
auf seiner Kanzel zu predigen. Gestatte er's, so werde man durch die Zeitung
zum Besuch meiner Predigt einladen und diese ihn ohne Zweifel zu Falle
bringen; lehne er's ab, fo gäbe das einen Grund mehr zur Klage über ihn,
und ich solle dann meinen Vortrag in der reformieren oder der Nosenmüller-
schen Kirche halten. Selbstverständlich hatte ich Mühe, auf die Zumuthung
nicht mit einer unhöflichen Weigerung zu antworten. Ich überwand indeß
meine Entrüstung, zwang mich, die Sache lediglich als weiteres Symptom
dessen anzusehen, woran die kirchlichen Verhältnisse im Westen kranken, und
erwiderte dem Herrn Doctor nur, ich werde mir seinen Vorschlag überlegen
— was ich denn auch that und noch ein paar Dutzend Jahre thun zu kön¬
nen hoffe.
Vielleicht fände sich inzwischen zur Ausführung des Planes der junge
Prediger bereit, dessen Bekanntschaft ich auf der Fahrt von Cincinnati hierher
machte, und der mir mit größter Unbefangenheit gestand, daß er, wenn es
ihm an Zeit zur Vorbereitung auf den Sonntag fehle, am Sonnabend eine
Predigt von Röhr oder Bretschneider hernehme und als seine Arbeit vortrage.
„Was wissen diese Leute davon", sagte er. „Indeß benutze ich für gewöhn¬
lich nur Predigtentwürfe, von denen ich mir ein paar Sammlungen aus
Deutschland habe besorgen lassen."
3. October. Wenn ich nicht so voll von Zweifel und Verdruß wäre.
würde ich Raum und Zeit haben, stolz zu sein. Ich bin offenbar eine recht
begehrte Waare. Heute bei Tische erfahre ich, daß gestern zwei Leute im Auf¬
trage des hiesigen reformirten Pfarrers Frieß nach mir gefragt haben, und
daß letzterer mich zu sprechen wünscht. Ein Nachbar Sperlings, ebenfalls
Schuhmacher und zugleich Küster an der reformirten Kirche, bringt mich zu
dem Framehause, in dem der Pastor wohnt. Ich treffe einen ältlichen Mann
mit wohlwollenden Gesichtszügen, der mit untergeschlagnen Beinen schneidernd
auf einem Tische sitzt und sich eine Weste baut. Er kaute Tabak dazu und
spuckte in regelmäßigen kurzen Pausen als guter Schütze durch ein Loch in
der Fensterscheibe der ärmlich eingerichteten Stube. In zweifelhaftem Deutsch
(er ist zwar in Neuyork von deutschen Eltern geboren, hat aber erst vor acht
Jahren die Sprache seiner Mutter sich anzueignen begonnen) eröffnete er Mir,
daß er zu viel zu thun habe, indem er jeden Sonntag zweimal englisch und
einmal deutsch predigen müsse. Seine Gemeinde sei geneigt, einen deutschen
Pfarrer neben ihm anzustellen. Ob ich wohl Lust habe, darauf einzugehen
und das nächste Mal für ihn zu predigen? Ich verneinte den ersten Theil
der Frage und versprach in Betreff des zweiten, den übernächsten Sonntag
die deutsche Predigt für ihn zu übernehmen. Es war das reine Mitleid, das
mich dazu bewog; denn ich fühle mich seit dem Briefe an Freund Nothert
recht herzinniglich wieder als freies Weltkind. Das Verhältniß zu Sanct Paul
ist, wo nicht gelöst, doch erheblich gelockert.
Ich verfolgte jetzt einen neuen Plan. Die amerikanischen Seelen sollten
studirt, es sollte Material zu einer Geschichte und zu einem Abriß der Glaubens¬
bekenntnisse wenigstens der interessantesten unter ihnen gesammelt werden,
und dazu bot Dayton und seine unmittelbare Umgebung mit etwa fünfzehn
verschiedenen „Denominations" allein schon fast hinreichende Gelegenheit. Ich
stattete den Shakern im nahen Watervliet wiederholt Besuche ab, lernte durch
Augenschein ihre communistischen Einrichtungen kennen, hörte ihre Lehre von
der Wiederkunft Christi in Gestalt eines Weibes aus dem Munde ihrer
Elters, , wohnte ihren gottesdienstlichen Tänzen bei und erwarb ihre sämmt¬
lichen bedeutenderen Religionsschriften. Ich feierte mit den wiedertäuferischsn
Tunkern in einem Meetinghause der Secte, das im Walde an der Sälen
Noad lag, bei Nacht das heilige Abendmahl, das beiläufig ein wirkliches
Essen mit Messer. Gabel und Löffel, Suppe und Braten ist, und ließ mich
von Farmer Read, einem ihrer Bischöfe, mit ihrem Glauben und ihrer, leider
dürftigen Geschichte bekannt machen, wobei sich ergab, daß der gute Bischof
nicht einmal eine Borstellung von der Bedeutung des Ausdrucks „Geschichte"
hatte und erst zum Begreifen gelangte, als ich ihm durch Zerlegung desselben
in i'ise sua xrvLi'lZLL auf die Sprünge half. Ich disputirte mit Methodisten
und Baptisten der verschiedenen Schätzungen, besuchte eine kleine Gemeinde
von Swedenborgianern, nahm an einem Meeting der Albrechtsleute Theil und
wurde in Schuhmacher Winthrop Graves' und Farmer Faraways Hause mit
den ersten Mormonen bekannt.
Später, nachdem ich dem armen Pastor Frieß die versprochene Predigt
geleistet, wurde noch einmal der Versuch unternommen, als Bauer im Hinter¬
walde Nordwestohios Wurzel zu fassen. Mein Vetter und ich durchzogen den
„Black Swamp" am Maumee die Kreuz und die Quer, trafen aber nicht,
was wir suchten, dagegen alles Mögliche, was von der Ansiedelung in der
Wildniß zurückzuschrecken geeignet war. Ich hatte keine Neigung mehr zum
Pfarrer — ich hatte nicht die mindeste Lust mehr zum Farmer — ich hatte
Heimweh!
Von diesem begleitet kam ich nach Dayton zurück, um auf der Post —
einen Brief von Rotherr in Empfang zu nehmen, der mich einlud, sobald
als irgend thunlich nach Cincinnati zurückzukehren und meine zweite Probe¬
predigt zu halten. Himmel, wie zäh! sagte ich damals — zäh wie ein
Schleswig-Holsteiner! würde ich jetzt sagen.
Und nun blättern wir wieder im Tagebuche.
29. Oetob er. Heute Morgen acht Uhr von Dayton abgereist, um nicht
wiederzukehren. Nachmittags bei Kroll und Nothert Besuch gemacht. Ich
erfahre da zu meiner Ueberraschung, daß ich eigentlich Advocat und schon
drei Jahre in Amerika bin, aber merkwürdigerweise nicht, daß ich die Ange¬
wohnheit habe, silberne Löffel zu stehlen und gelegentlich kleine Kinder zu
frühstücken. Ich höre ferner, daß sich noch einige seltsame Käuze als Can-
didaten gemeldet, daß die ganze Bewerberschaft eifrig bemüht ist, sich durch
allerlei Manöver eine Partei für die Wahl zu machen und den Neben¬
buhlern die Ehre abzuschneiden, und daß mein Fernbleiben leider nicht die
Wirkung gehabt hat, die ich hoffte, ich vielmehr alle Aussicht habe, gewählt
zu werden, falls die Stegreifpredigt, die ich nun noch zu halten habe, nicht
mißglückt.
1. November. Ich bekomme in Redacteur Schlüter aus Neuyork, der
im Interesse seines Blattes den Westen bereist, einen.neuen Stubengenossen,
der eine ungemein ausgebreitete Kenntniß wie d^r bürgerlichen, so auch der
kirchlichen Verhältnisse der amerikanischen Deutschen zu besitzen scheint und
namentlich fast über alle hier in Betracht kommenden Persönlichkeiten Auskunft
zu geben weiß. Er erzählt allerlei Anekdoten von fahrenden Pastoren, unter
andern, wie auf seinem Comptoir ein Schauspieler einem gewissen Klingsöhr
ein Zeugniß ausgestellt, daß er das theologische Examen rühmlich bestanden
habe. Der Mensch hat nie eine Universität, geschweige denn ein Auditorium
der Gottesgelahrtheit gesehen. Aber das Zeugniß hat ihm eine recht gute
Stelle verschafft. Auch von Herrsch, der inzwischen gepredigt hat, aber nicht
auf die engere Wahl gestellt werden soll, weiß Schlüter unerfreuliche Dinge
M berichten. Nach ihm hätte der würdige Herr Jura studirt, wäre dann
Auscultator bei Magdeburg gewesen und hätte darauf, nachdem er an den
Klippen des zweiten Examens Schiffbruch gelitten, eine Stelle — der Erzähler
sagte als Actuar — in Calbe bekleidet, die er einige Jahre nachher —
Schlüters boshafter Witz bezeichnete die Ursache als „Kassenconfecte" — mit
einer weniger angenehmen im Zuchthause der Provinz Sachsen vertauscht hätte.
Zuletzt wäre er Lederhändler gewesen, was ich nach dem Urtheile Rotherts
und Krölls über seine Probepredigt für nicht unglaubwürdig halte, während
wir uns die übrigen biographischen Notizen nur als ein Beispiel der üblen
Nachrede merken wollen, die hier hinter jedem Bewerber um eine kirchliche
Stelle im Sattel sitzt.
2. November. Früh in der Kirche, um der Probepredigt des Candi-
daten Knab (eines würtembergischen Flüchtlings) beizuwohnen, die eine Art
leipziger Allerlei aus Hegel'schen Phrasen, Schleiermacher'schen Definitionen,
rationalistischen und orthodoxen Redensarten war und durch den Dialekt des
Redners, in dem der Infinitiv kein N hatte, der Geist sich Gaischt, die Fin-
sterniß sich Finschterniß nannte und die Rh wie Spinnräder schnurrten, nicht
genießbarer wurde.
Nach Tische halte ich für Kroll, der diesen Nachmittag eine Trauung
und vier Taufen zu besorgen hat, in der Johanniskirche die Kinderlehre ab,
wobei ein Lied gesungen und eine Stelle aus der Bergpredigt erklärt wird.
Abends muß ich an die Stegreispredigt, die Sanct Paulus seinen Pasto¬
ren zumuthet. Mir graute ein wenig vor diesem Kelch, aber ich weiß nicht.
Wie es kam, es ging viel besser, als ich erwartet. Mit Bibel und Gesang¬
buch bestieg ich die Kanzel und ließ ein Lied von drei Versen singen. Beim
zweiten kam einer vom Kirchenrath zu mir herauf und hielt mir — so will
es der Brauch hier — ein Körbchen mit Zetteln hin, die auf kleine Holzstäbe
gewickelt waren, und von denen jeder einen Text enthielt. Ich hatte mir
einen davon auf Gerathewohl zu nehmen, mir den Inhalt., bis der letzte
Vers ausgesungen war, zu überlegen und dann zu sagen, was ich darüber
zu sagen wußte. Ich hatte aus der Lotterie ein Loos gezogen, das eine Stelle
aus dem Timotheusbriefe enthielt, der zweite Vers verklang und bald auch der
dritte. Was ich dann, erst stockend, dann geläufiger, zuletzt fließend, geredet
habe, weiß ich nicht. Ich war nie Jmprovisator, brachte kaum je auch nur
einen leidlichen Toast, wie so Manche ihn aus der Westentasche greifen, zu
Stande, und glaube nicht, daß es diesmal viel Gutes gegeben haben wird.
Aber, wie gesagt, geläufig war die Rede, und Freund Kroll, der zugehört
hatte, wollte sie sogar schön und inhaltreich finden. Doch möchte ich diesmal
seinem Urtheil nicht trauen; denn was findet ein guter Mensch, der von der
vierten Taufe kommt und bei keiner von allen vieren umhin gekonnthat, mit
den Eltern und Pathen ein Glas, bei braven Leuten mehrere, auf das Ge¬
deihen des Täuflings zu leeren, nicht alles schön und inhaltsreich! Nothert
lobte auch, aber ich mußte ja durchaus sein Pastor werden. Andern soll die
Predigt nicht rührend genug erschienen sein, und das wollen wir eher für
richtig halten.
4. November. Heute Nachmittag wurden Henry Hansemann und
Sophie Schwartz. nachdem sie mir durch Vorzeigung der „Licence" dargethan,
daß sie vor dem Friedensrichter Mann und Frau geworden, vor dem Altar
des heiligen Paulus von mir durch eine stattliche Rede — ich weiß nicht, ob
ich sagen soll, getraut oder eingesegnet. Hoffe, daß es ihnen nicht schaden
und mir an jenem Tage nicht zu hoch angerechnet werden wird, wenn ich das
besorgte, ohne ordinirt zu sein.
Abends mit Kroll in die Kirche, um Kuchs Stegreifsermon zu hören.
Kroll's Urtheil lautet: „Ein guter lieber Mensch, aber ein schlechter Fecht¬
meister." was ich nicht in Abrede nehmen möchte. Indeß könnte Knab doch
gewählt werden, da die Partei des abgesetzten Pfarrers entschlossen sein soll,
dem Schlechtesten ihre Stimme zu geben, um sagen zu können: „Seht Jhr's,
aus dreizehn Bewerbern haben wir den vorzüglichsten ausgesucht, und der
reicht dem schnöde Vertriebnen Göbel das Wasser nicht." Heißt es doch, selbst
der Schulmeister Breitfeld, ein Orthodoxer, der bei seiner einen Probepredigt
den Kampf Michaels mit dem Drachen so drastisch gemalt hat, daß selbst
den Trockensten das Wasser verhaltnen Lachens in die Augen getreten ist, habe
einige Aussichten. Nur über einen der Candidaten scheint man von vorn¬
herein sich klar gewesen zu sein, daß er nicht zu brauchen sei. Sein Ruf war
aber freilich nicht eben hochfein. Herr Le Marle, in den ersten vierziger
Jahren Buchhändler in Leipzig und, wenn ich nicht irre, Mitglied der dor¬
tigen deutschkatholischen Gemeinde, war nach Amerika ausgewandert und dort
nach verschiedenen meist widrigen Schicksalen Prediger einer rationalistischen
Gemeinde zu Buffalo und Redacteur des „Lügenfeindes" geworden. Von da
nach Verübung verschiedner Dinge, die wir mild als Symptome eines schwa¬
chen Gedächtnisses für eingegcmgne Verbindlichkeiten bezeichnen wollen, bet
Nacht und Nebel verschwunden, war er von seinem Stern oder Unstern nach
Chicago geführt worden.
Hier hatten sich jene Symptome noch stärker gezeigt, und die Folge war
gewesen, daß er abermals unsichtbar hatte werden müssen. Zu Fuß — so
hatte er selbst erzählt — war er darauf die vierhundert englische Meilen weite
Strecke von Chicago bis Louisville herabgepilgert, indem er sich seine Nahrung
durch Betteln erworben und die Nächte in Scheunen und Tabaksschuppen zu¬
gebracht hatte. Daß davon sein Anzug gelitten und sein Schuhwerk nicht
besser geworden, glaubte ich ohne ausdrückliche Versicherung derer, die ihn
gesehen hatten. Zerrissnen Rockes, zerdrückten Hutes, mit Stiefeln, aus denen
die nackten Zehen heraussahen, war er zuletzt in Cincinnati eingetroffen, um
sich als Candidat für die Pfarre von Sanct Paul zu melden. Hunger macht
Muth, und wer wagt, hat halb gewonnen, hier aber hatte es der armen
Vogelscheuche nur ein Almosen eingebracht.
11. November. Abends erfahren, daß gestern bei der Vorwahl —
bei welcher es sich um Gerwig, Bieler und mich gehandelt, die übrigen Can-
didaten sind als beseitigt zu betrachten — die erhitzten Gemüther so an ein
ander gerathen sind, daß man schließlich sich beim Halse genommen und Faust¬
schläge ausgetheilt hat. Zerrissne Hemden, geschwollne Backen, zerbrochene
Bänke — die Prügelei hat in der Kirche stattgefunden — sollen die Stärke
der Ueberzeugungen, die dort mit einander gerungen haben, bezeugen. Das
schlägt dem lange schon lecken Fasse den Boden aus. Ich lasse Rothert
Wissen, daß ich, nach dem, was vorgefallen, auf die Stelle verzichte.
12. November. Auch Pastor Kroll meinen Entschluß, von der Wahl
zurückzutreten, mitgetheilt. Er mißbilligt ihn, aber „wir bleiben Freunde".
Höre jetzt von ihm, daß gewisse Herren, die ich andernfalls in einigen Tagen
als Amtsbruder zu begrüßen hätte, doch einige Flecken mehr auf dem Rocke
haben, als es anfangs schien. Pastor Subr ist nicht nur ein arger Trunken¬
bold . sondern prügelt auch die Frau Pastorin gelegentlich. Pastor Grassvw,
der ursprünglich (nicht Schneider, sondern) Schuster, dann Schlächter gewesen
ist und jetzt in seinen Musestunden mit Farmer und städtischen Häusern handelt,
hat beim General Mohr zum Barkeeper sich geäußert: „Glauben Sie denn,
daß ich all meine Lebtage Pfarrern will. Behüte Gott, Sir", wenn ich eine
hübsche Summe beisammen habe, lege ich einen Viehhandel an."
Daran knüpften sich andere erbauliche Historien. Da haben wir z. B.
einen Pfarrer Memminger. der bei drei oder vier Gemeinden sich durch stetes
Betrunkensein unmöglich macht und der sich zuletzt in einem Anfall des voll-
rium trcmous 'im Walde alle Kleider vom Leibe reißt und nackt umherstreift,
bis mitleidige Farmer ihm mit einem alten blauen Flaus und Hosen ohne
Boden die Blöße bedecken, in welchem Aufzuge er zu Kroll durch die Hinter¬
thür kommt. Da haben wir ferner einen Herrn Kabienzl, der, nachdem er
alle Welt mit rührenden Lügen bethört, überall Unterstützungen eincassirt und
sich schließlich in oder bei Se. Louis ein Pfarrämtchcn erschlichen, eines schönen
Tages als Dieb einer goldnen Uhr entlarvt wird. Die Gemeinde deckt, um
Skandal zu vermeiden, den Schaden des Bestohlnen und jagt den Missethäter
mit einer Tracht Schläge von dannen, worauf er sich in den Schooß der ka¬
tholischen Kirche flüchtet und sich die Weihen ertheilen läßt, mit denen der
geriebne Schlingel seit einigen Monaten in einer Vorstadt Cincinnatis die
Messe liest. Da haben wir noch ein anmuthiges Exemplar dieser fahrenden
Prediger, mit dem es genug sein mag.
Die Geschichte spielte bei Besetzung der Pfarrerstelle an der hiesigen
Walnutstreet-Kirche. Einer der Bewerber um dieselbe, Namens Böttcher, war
inne geworden, daß seine Anstrengungen hier — „wegen praktischer Ketzerei
im Punkte des sechsten Gebotes" sagte Kroll — verlorene Mühe waren. Er
beschloß deshalb bei der Stegreif-Probepredigt löblichem Kirchenrath einen
Schabernack zu spielen. Auf der Kanzel angelangt, verkündete er der andäch¬
tigen Versammlung, der von ihm gezogne Zettel weise ihm das Thema:
„Fürchte Gott und halte seine Gebote" zu, und darüber sollten sie jetzt eine
Predigt hören, wie sie hier noch nicht gehört worden sei. Er redete darauf eine
Weile von der Furcht, dann ein wenig von Gott und kam zuletzt auf die
Gebote zu sprechen, die er einzeln hersagte. Beim sechsten stellte er sich, als
müsse er sich besinnen, senkte den Kopf, griff sich mit der Hand an die Stirn
und fuhr alsdann heiter fort: „Nun, meine Andächtigen, was soll ich sie
alle miteinander herbeten? Ihr wißt sie ja doch wohl auswendig. Aber
haltet Ihr sie denn? Nein, gewiß nicht; denn ich thu's ja selber nicht.
Amen!"
Sprach's und entschwand mit flüchtigem Fuß der verblüfften Gemeinde.
Die Moral hieraus zu destilliren, überlasse ick) den Lesern. Es wird
nicht viel Mühe machen.
Ich füge nur hinzu, daß Freitag, den 14. November Gerwig von Phila¬
delphia zum Pastor der Paulusgemeinde gewählt wurde, mit dem hoffentlich
nach dem Sturm Friede und Sonnenschein in die Gemüther eingezogen sind.
Einige Tage später reiste ich ab, nicht ohne herzlichen Abschied von
meinem guten Pastor Kroll genommen zu haben. Lebt er noch und liest
er diese Blätter, so sei ihm über das Meer und die vierundzwanzig Jahre, die,
uns seitdem getrennt haben, die Hand freundschaftlicher Erinnerung geboten
und ich denke, er wird einschlagen.
Das Reichsbankgesetz ist zwar soeben promulgirt worden und damit die
Bankfrage im deutschen Reiche für eine geraume Zeit von der Tagesordnung
abgestellt. Allein da bereits Stimmen laut werden, welche die Möglichkeit
der freiwilligen Verzichtleistung eines Theils der deutschen Privatbanken auf
ihr Emissionsrecht in Aussicht stellen und da während der Discussion über
das Bankgesetz die Vorzüge der Centralisation und Decentralisation der
Notenausgabe nicht eingehend gegen einander abgewogen wurden, so mag es
im Hinblick auf die künftige Entwicklung der deutschen Privatzettelbanken im¬
mer noch von Interesse sein in kurzen Zügen die Haupterfahrungen des
Zettelbankwesens in verschiedenen Ländern zu mustern. Wir werden dazu
noch durch eine besondere Veranlassung bewogen. Am 5. April ist der erste
Congreß österreichischer Volkswirthe in Wien zusammengetreten. Auf demselben
wird auch die Bankfrage erörtert werden. Es handelt sich dort nämlich
darum, ob bei dem in zwei Jahren erfolgenden Erlöschen des Privilegiums
der österreichischen Nationalbank 1. die bisherige Organisation erneuert oder
2. neben der Oesterreichischen Nationalbank noch eine selbständige ungarische
Notenbank errichtet, oder ob 3. überhaupt die Zettelbankfreiheit proklamirt
werden soll. Für den letzteren Vorschlag tritt Dorn aus Trieft ein, der
zweite ist das Steckenpferd der Ungarn; zu Gunsten des ersteren wird Max
Wirth das Referat übernehmen. Wir sind durch die Gefälligkeit des Ver¬
fassers in Stand gesetzt, aus dem letzteren jetzt schon denjenigen Theil mitzu¬
theilen, welcher die allgemeinen Erfahrungen des Notenbankwesens behandelt
und auf welche der Referent seine speciellen Reformanträge basirt.
In Beziehung auf die Zweckmäßigkeit der Einheit oder der Vielheit der
Notenbanken sind in der neueren Zeit so vielfache Erfahrungen gemacht wor¬
den, daß die Frage gegenwärtig wissenschaftlich zu Gunsten der ersteren ent¬
schieden betrachtet werden kann, wie stark auch noch bis vor 10 Jahren die
Anhänger der Zettelbank - Freiheit in den Fachkreisen gewesen sein mögen.
Als die zweckmäßigste Organisation des Bankwesens hat sich diejenige Ein¬
richtung herausgestellt, welche Rossi schon vor Jahrzehnten in dem Satze
verkündigt hat: Freiheit der Nicht-Zettelbanken und Einheit der Noten-
Emission.
Die erstere ist durch die Reform der Gesetzgebung über die Aktiengesell-
schaften im verflossenen Jahrzehnt in Großbritanien, Belgien, Frankreich und
Deutschland bereits eingeführt worden.
Die letztere besteht in Frankreich und Belgien, während in England und
Deutschland eine gemischte Einrichtung existirt, welche aber voraussichtlich
früher oder später ebenfalls zur völligen Centralisation der Notenausgabe
führen wird. Eine lehrreiche Analogie für diese Annahme gewährt die Bank¬
geschichte Frankreichs. Da bestanden bis zum Jahre 1848 neben der Bank
von Frankreich noch neun selbständige Provinzial-Zettelbanken in den Städten,
Rouen, Lyon, Havres, Lille, Toulouse, Orleans, Marseille, Nantes, Bordeaux.
Im Jahre 1848 wurden diese Provinzial-Zettelbanken aufgehoben und mit
der Bank von Frankreich vereinigt und das Capital der letzteren entsprechend
vermehrt. Die Gründe, welche zu diesem Schritt geführt hatten, lagen theils
in der Gebcchrung dieser Banken selbst, theils in allgemeinen Interessen.
Die Geschäftsführung dieser neun Banken hatte sich nämlich nicht durchweg
als vortheilhaft erwiesen.
Man klagte darüber — und diese Klage fand auch in der Bank-Enquete
von 1865 noch ihren Wiederhall — daß die Noten dieser Banken nicht leicht
außerhalb ihres Umkreises circulirten; daß die letzteren selbst nicht alle wünsch¬
bare Solidität darboten; daß ihre Hülfsquellen nicht immer genügend waren;
und daß mehrere unter ihnen ihren gewöhnlichen Discontosatz nur dadurch
aufrecht erhalten konnten, daß sie Discontirungen verweigerten. Der allge¬
meine Grund zur Fusion dieser Banken mit der Bank von Frankreich bestand
hauptsächlich darin, daß man die Notencirculation intensiv und extensiv zu
stärken hoffte. Derselbe fand in der nachfolgenden Erfahrung seine vollkom¬
mene Rechtfertigung. Die Noten der Bank von Frankreich gewannen in der
Folge mehr Credit und eine größere Umlaufsfähigkeit. Im ersten Jahre
zeigte der Gesammtnotenumlauf zwar keine wesentliche Veränderung, denn die
Bank von Frankreich gab 1848 126 Millionen Franken mehr Noten aus als
1847, wovon 80 Millionen um die hingezogenen Noten der Provinzial-
Zettelbanken zu ersetzen. Schon vom Jahre 1849 an sing der Notenumlauf
aber an beträchtlicher zu steigen, so daß es der Mühe lohnt, einen Blick aus
die nachfolgenden Zahlen zu werfen.
Die enorme Vermehrung des Notenumlaufes vom Jahre 1870 an rührt
von einem Darlehen an den Staat her, in Folge dessen der Zwangskurs ein¬
geführt werden mußte. Dieses Darlehen beträgt gegenwärtig 827 Millionen
Franken, nachdem seit einem Jahre mehr als 200 Millionen zurückgezahlt
worden sind. Es ergiebt sich daraus, daß der Notenumlauf der Bank sich
ganz abgesehen von der durch das Darlehen an den Staat verursachten Ver¬
mehrung doch auch an und für sich fortwährend gehoben hat. Die Bank von
Frankreich hat gesetzlich den freiesten Spielraum, welchen irgend eine Notenbank
der Welt genießt. Sie hat das Recht der unbeschränkten Notenausgabe und
sie ist bezüglich ihres Baarschatzes an keine Grenze gebunden. Nicht einmal
der sogenannten Drittels-Deckung, welcher in Deutschland und den meisten
andern Ländern besteht, ist sie unterworfen. Die Bank ist trotzdem nicht bloß'
stets in der Lage gewesen, an und für sich ihre Baarzcchlungen aufrecht zu
erhalten, in den schwierigsten commerciellen Lagen ohne Wanken dazustehen
und die sicherste Stütze der französischen Geschäftswelt zu bilden, sondern auch
der Regierung selbst so außerordentliche Dienste zu gewähren, wie sie in solchem
Maße noch von keiner Bank geleistet worden sind.
Die Bank hat diese kräftige Haltung einestheils der Geschicklichkeit zu
verdanken, mit welcher sie geleitet wird und wobei die Direktion gerade durch
die größere Freiheit unterstützt wird, welche ihrem discretionären Urtheil
überlassen ist, anderntheils aber auch der klaren Abgrenzung ihrer Geschäfte.
Sie zieht in ihren Wirkungskreis weder speculations - noch Hypotheken-Ge¬
schäfte, sie ist mit der Annahme verzinslicher Depositen außerordentlich vor¬
sichtig und hält als Deckung sür ihren Notenumlauf abgesehen von der Schuld
des Staates nur Bacirschaft, einschließlich Baar- und Dreimonats-Wechsel
mit 3 Unterschriften notorisch zahlungsfähiger Kaufleute.
Zieht man die gegenwärtige Schuld des Staates vom Notenumlauf ab,
so standen am 4. März 1875 die Baarschaft und das Wechselportefeuille 493
Millionen Franken höher als der Notenumlauf. Im September 1868 war
aber sogar einmal der Fall eingetreten, daß der Baarschatz allein um 70
Millionen größer als der Notenumlauf war. Die Bank von Frankreich hat
allerdings in zwei Perioden ihre Baarzahlungen suspendiren müssen; einmal
im Jahre 1848 und das anderem«! im Jahre 1870. Bei beiden Gelegenheiten
aber war sie nicht durch wirthschaftliche Ereignisse, am wenigsten durch in
ihr selbst liegenden Gründe dazu genöthigt worden, sondern durch Darlehen
von außerordentlichem Umfang an den Staat, welcher in Folge dessen den
Zwangskurs dekretirte. In beiden Fällen waren es politische Ereignisse von
seltener Furchtbarkeit wie sie im Laufe eines Jahrhunderts oft nur einmal
vorkommen, welche die außerordentliche Inanspruchnahme der Bank herbeige¬
führt hatten — im Jahre 1848 die Februarrevolution und die Julischlacht,
im Jahre 1870 der deutsch-französische Krieg mit seinen unerhörten Katastro¬
phen. Das erste Mal stellte sich das Vertrauen so rasch wieder her, daß die
Bank von der ihr ertheilten Erlaubniß Fünfzigfranken-Noten auszugeben, gar
keinen Gebrauch machte und daß sie schon nach kurzer Zeit die Baareinlösung
ihrer Noten wieder aufnahm.
In der gegenwärtigen Periode dauert der Zwangskurs zwar länger an
und ist auch gegenwärtig im fünften Jahre noch nicht wieder aufgehoben,
allein daran ist nur der erwähnte Umstand Schuld, daß der Staat den Nest
des Dcchrlehns der Bank von 827 Millionen noch nicht abgetragen hat.
Vielleicht würde sie aber trotzdem bereits die Zahlungen wieder aufgenommen
haben, weil ihre Noten nie mehr als um 2 per Mille entwerthet waren und
längst wieder auf pari stehen, weil ihr Baarschatz bereits weit mehr als die
Hälfte des Notenumlaufes erreicht hat und der Baarschatz, das Portefeuille
und die Darlehen nur noch um 263 Millionen hinter dem Notenumlauf zu¬
rückstehen, wenn sie nicht durch die Rücksicht auf die Operation der deutschen
Münzreform genöthigt wäre, noch Vorsicht zu üben. Die außerordentliche
Geschicklichkeit aber, mit welcher die Direktion der Bank von Frankreich seit
einem Jahre ihren Baarschatz von mehr als 600 Millionen Franken aus den
englischen und deutschen Goldvorräthen stärkte, hat dieser Anstalt in den
Augen der Fachmänner den internationalen Ehrenplatz einer Musteranstalt
eingetragen, welche von einem der bewährtesten Kenner des Bankwesens
Herrn Walter Bagehot sogar für die Organisation der deutschen Reichsbank
zum Vorbilde empfohlen wurde. Epochemachend in der Bankgeschichte war
die im Jahre 186S angestellte große Enquete, in welcher nach dem Vorbilde
der in den ersten Dezennien dieses Jahrhunderts vorgenommenen Untersuchungen
von Parlaments-Commissionen über die Bank von England die hervor¬
ragendsten Banquiers, Oeconomisten, Kaufleute und Fabrikanten Frankreichs
und sogar noch eine Anzahl von Gelehrten und Banquiers Englands, Deutsch¬
lands und Oesterreichs über den theoretischen und praktischen Werth der
Organisation der Bank von Frankreich in kritischen Epochen vernommen
wurden; denn diese Anstalt ging aus dieser Untersuchung mit gestärkten
Ansehen hervor und es sind seitdem die Haupt-Controversen des. Bankwesens
als gelöst zu betrachten.
Endlich hat der echte Frühling seinen Einzug in daß Elsaß gehalten
und die schöne, warme Aprilsonne lockt unwillkürlich ins Freie, in die Berge.
Die bis in die Ostertage hinein andauernde Kälte und unfreundliche Witte¬
rung sing allerdings nachgerade an, ungemüthlich zu werden, zumal der
elscissische Winter in diesem Jahre eine durchaus unmotivirte Ausnahme von
seinen frühern Gepflogenheiten, nämlich einer möglichst wohlwollenden Milde
und einer möglichst kurzen Dauer, gemacht hat. Die ältesten Leute hier und
in Straßburg wissen sich kaum eines Winters zu erinnern, der volle sechs
Monate lang fast so ununterbrochen kalte und häßliche Tage brachte, wie der
heurige; und die Störche, diese wackern Frühlingsboten, die uns schon Mitte
März mit ihrem willkommenen Besuche erfreut hatten, machten schon hier und
da Miene, uns mit Sack und Pack wiederum den Rücken zu kehren. Es wäre
den armen Langbeinen allerdings kaum zu verdenken gewesen, denn da oben,
auf den Firsten der Dächer und Thürme, muß es in den letzten Nächten, die
durchschnittlich noch Reif und Frost brachten, wirklich recht herzlich kalt und
unangenehm gewesen sein. Die Bauern und Rebmänner sind aber doch ganz
zufrieden mit dieser Witterung und gründen darauf die leider nur zu oft
trügerische Hoffnung, daß die Felder und Weinberge nun auch vor den schäd¬
lichen Weinfrösten verschont bleiben möchten. —
Mit dem neuen Frühling ist auch der neue Bezirks-Präsident des Ober-
Elsasses, Herr von Ernsthausen, in der oberelsässischen Metropole einge¬
troffen. Der in Colmar erscheinende „Elsässische Anzeiger" (^.tüelws ^Isa-
eivrmös) empfängt denselben mit folgenden charakteristischen Zeilen: „Der Ruf
der Biederkeit, welcher demselben vorangeht, und das Bedauern, welches er
in dem Unter-Elsaß hinterläßt, sind ein sicherer Bürge der ihn hier erwar¬
tenden Sympathien!"
Bei den Obergerichten in Colmar schwebt augenblicklich ein interessanter
Monstre-Prozeß, der durch seinen Gegenstand auch für weitere Kreise, na¬
mentlich auch jenseits des Rheines, von einiger Bedeutung werden dürfte.
Er dreht sich nämlich um das in letzter Zeit vornehmlich in der rheinischen
Presse in seinem Für und Wider öfter behandelte.Kapitel der Weinver¬
fälschung. Die Hauptfrage ist die, ob und in wie weit ein Weinfabrikant,
der seinen Kunden statt echten Naturweins geschmierte Waare als „Wein"
verkauft, als Betrüger verfolgt werden kann, und in welchem Maße er durch
die Art jener Fabrikation als strafbar erscheint. Ich bin in den Stand ge¬
setzt, Ihnen in Kurzem die an und für sich sehr lehrreiche Prozeßgeschichte,
bei welcher sich die Parteien, wie man studentisch das ausdrücken würde, „selbst
in die Tinte geritten haben", bis zu ihrem jetzigen Stande mitzutheilen.
Ein Wirth und Weinhändler in Schlettstadt und dessen Küfer hatten das
einträgliche Geschäft des Weinmachens schon seit dem Jahre 1872 mit einem
bedeutenden Warenumschläge „zum Besten ihrer Mitbürger während der
schlechten Weinjahre", wie sie meinten, als eine Art Compagnie-Geschäft be¬
trieben. Der Weinhändler gab die Firma und das Renomee dazu her, der
Küfer spielte den Repräsentanten und Vermittler. Ihre Kunden bezogen die
famosen Herren Weinfabrikanten hauptsächlich aus der Klasse der kleinen
Wirthe und Gewerbetreibenden in der Umgebung von Schlettstadt und den
Nachbar-Cantonen. Das Geschäft ging namentlich in den beiden letztver¬
flossenen Jahren so brillant, daß sie hoffen konnten, es in Bälde in größerm
Maßstabe, vielleicht über das ganze Elsaß und noch weiter ausdehnen zu
können. —
Dieses saubere Gebräu, welches man den Kunden als „Wein" und zwar
1872 er oder 73 er Gewächs präsentirte, das die Herren aber „entre nous"
und vor Gericht mit dem charakteristischen Namen „Berliner Wein" bezeich¬
neten, bestand wesentlich aus folgenden Ingredienzien. Das Hauptquantum
bildete ein meist mit Gelatine besonders präparirtes Brunnenwasser mit einem
Zusatz von Sprit (Alkohol) und Glycose (Traubenzucker) nebst einer geringen
Quantität von Naturwein loin an alni aus der Gegend von Marseille, Bor¬
deaux, Avignon u. s. w.). Durch die letztere Beimischung erhielt das Getränk
wenigstens im Anfange das Ansehen und den Geschmack von echtem Wein.
Wurde es aber nicht sofort verzapft und consumirt, so erhielt es in ca. 2 — 3
Wochen einen stechenden, halbfaulem Geschmack, der den Consumenten Leib¬
schneiden und Uebelkeit verursachte und es schließlich gar nicht mehr genießbar
machte. Der Preis dafür per Ohm schwankte zwischen 22 — 24, oder per
Hektoliter zwischen 48—60 Franken, je nach dem höhern oder geringern Gehalt
von vin An miäi und der Gutmüthigkeit der Käufer; während in jenen schlech¬
ten Weinjahren für die geringste Sorte Elsässer Tischwein mindestens 27 und
28 Franken per Ohm bezahlt werden mußte.
Das Geschäft ging, wie gesagt, äußerst brillant. Der Küfer machte den
Commissionair und Commis-voyageur ganz vortrefflich, besorgte jenseits des
Rheines und in Straßburg die Spriteinkäufe en gros und verkaufte im El¬
saß den herrlichen „Berliner Wein" an die ahnungslosen Wirthe und Krämer
zu billigen Preisen. Wenn ihm einmal der Eine oder Andere klagte, daß
seine Gäste sich nach und nach verlören, und daß daran der Wein schuld sein
dürfte, so brauchte er gewöhnlich die Ausrede: „Ja, du lieber Gott! Ich sitz'
ja nicht drin in dem Wein! Ich mache ihn ja nicht. Das Weinjahr ist
schlecht, die Trauben nicht gerathen; und was wächst, muß man nehmen, wie
es ist." Der Weinhändler in Schlettstadt hielt sich immer fein und bedächtig
im Hintergrunde und verkehrte mit seinen Kunden nur per Brief oder Factura.
Das hätte man unzweifelhaft so auch noch einige Jährchen weiter¬
getrieben, wenn sich nicht am Ende vorigen Jahres das „xar nodils kratrum"
unserer Weinfabrikanten selbst entzweit hätte. Das Haar in der Suppe
waren geschäftliche Differenzen zwischen dem Weinkaufmann und seinem
Associe in gpg, dem Küfer. Letzterer wollte einmal die Bücher einsehen und
seine Prozente am Gewinn des Weinhandels berechnen. Als ihm dies von
seinem Prinzipal verweigert wurde, lud er denselben durch Gerichtsvollzieher-
Akt vor einen Notar in Schlettstadt zur Regulirung ihrer geschäftlichen Be¬
ziehungen; und als auch das nichts verschlug, vor das Colmarer Handels¬
gericht. Dieses übergab zunächst die Sache einem Schiedsrichter, — es handelte
sich um eine Bagatelle von etlichen 1000 Franken, — der versuchen sollte,
die streitenden Parteien zu vereinigen und im Weigerungsfalle Bericht darüber
zu erstatten. Da von dem Erstern keine Rede war. so erfolgte jener Bericht,
welcher dem Gerichte einen klaren Einblick in das geschäftliche Thun und
Treiben der modernen Weinfabrikanten thun ließ und dem im Wesentlichen
die obigen Angaben entnommen sind. Nichtsdestoweniger verurtheilte das
Handelstribunal den Weinhändler zu der von seinem Küfer eingeklagten
Summe. Ersterer appellirte und erhob gleichzeitig eine Reconventionsklage
gegen den Kläger, so daß sich nunmehr der Appellrichter an tora mit der
ganzen Sache zu befassen hatte. Am 11. Februar d. I. wurde-« das Urtheil
gefällt, aus dessen höchst interessanten Entscheidungsgründen die folgenden
hervorgehoben zu werden verdienen:
„In Erwägung, daß zwar die Meinung ihre Vertreter finden mag, daß
nicht schon jede Alteration des Naturweins (Chaptalisiren, Gallisiren) ver¬
werflich sei; daß aber auch diese Auffassung immerhin von der Voraussetzung
ausgehen würde, daß unter allen Umständen wirklicher Naturwein den
weit überwiegenden Bestandtheil des Getränkes ausmachen müsse; daß da¬
gegen im vorliegenden Falle, wo nach obigen Feststellungen gerade im Gegen¬
theil der minimale Zusatz von Naturwein nur einen rein äußerlichen Eindruck
bezüglich des Ansehns und Geschmacks bezweckte, es keinem Zweifel unterliegen
kann, daß man es hier nicht mit einem an sich geringen, durch Zusatz ver¬
käuflicher gemachten, sondern mit gar keinem Wein, vielmehr mit einem
fälschlich unter diesem Namen in den Handel gebrachten Fabrikate zu thun hat;
I. E. daß hiernach die Geschäftsverbindung der Parteien,
auf Verfälschung, Täuschung und wahrscheinlich auch De-
fraude gegründet, als ein unsittliches, allen Grundsätzen
eines ehrenhaften kaufmännischen Verkehres zuwiderlaufen¬
des, gemeinschädliches Treiben erscheint, das um so entschiedener
zu verurtheilen sein würde, je mehr es die von sah. (dem Weinhändler, der
sich dabei des Ausdruckes „vivu, merci!" bediente) behauptete Verbreitung in
hiesigen Landestheilen erreicht haben sollte; daß unzweifelhaft aber ein auf
solchem Fundamente ruhendes Vertrags-Verhältniß unter die Artikel 1131
und 1133 des B. G. B. fällt und darauf also beiderseits keine gerichtliche
Klage gestützt werden konnte, wobei es nach Art. 1133 für die eivilrechtliche
Beurtheilung unerheblich und daher hier nicht zu erörtern ist, ob diese Hand¬
lungsweise zugleich unter das Strafgesetz falle, . . . was freilich die im An¬
trage der Staatsbehörde näherer Erwägung vorbehaltene Verfolgung wegen
Betruges nicht ausschließen würde; daß nun aber das Handelsgericht, ob¬
wohl aufmerksam gemacht durch den mehrerwähnten, die Sache deutlich genug
charakterisirenden Bericht dennoch auf die beiderseitigen Klagen sich einge¬
lassen und auf jenes unerlaubte Vertragsverhältniß eine Verurtheilung ge¬
gründet hat;
I. E. Daß diese Entscheidung offenbar nicht zu Recht bestehen kann;
— — Aus diesen Gründen weist das kaiserliche Appellationsgericht, zur Klage
des Appellaten, das Urtheil des Handelsgerichts vom 2. October 1874 re-
formirend, diese Klage als unzulässig ab; verwirft, zur Klage des Appellanten
erkennend, die Berufung, weist ... im Uebrigen die Klage angebrachtermaßen
ab; legt jedem Theile die Kosten beider Instanzen zur Hälfte zur Last; -ver¬
ordnet die Rückgabe der Suceumbmzstrafe und verfügt die Mittheilung der
Akten an das öffentliche Ministerium."
Zur Genugthuung und zum Troste der Leser, die uns bis Hieher freund¬
lichst gefolgt sind, sind wir übrigens zu der Mittheilung ermächtigt, daß die
beiden famosen elsässischen Weinfabrikanten demnächst in Anklagezustand ver¬
setzt und hoffentlich einer derben Züchtigung, als abschreckendes Exempel für
alle ihre saubern College» diesseits und jenseits des Rheines, nicht entgehen
Der wichtigste Gegenstand, welcher dem morgen wieder zusammentreten-
der Landtag zu berathen bleibt, ist die Provinzialordnung. Die zur Vorbe¬
rathung gewählte Commission hat unmittelbar vor den Osterferien ihre Arbeit
beendigt, der Bericht, von Miquel erstattet, liegt vor. Ueber viele Einzel¬
heiten der Regierungsvorlage hat man sich in der Commission lebhaft gestrit¬
ten, wovon der Bericht Zeugniß ablegt. Zuletzt ist es im Großen und Ganzen
doch bei der Regierungsvorlage geblieben.
Die Abänderung oder die Nützlichkeit der Abänderung einzelner Theile
der Regierungsvorlage ist Alles in Allem eine ziemlich gleichgültige Sache.
Aber das Gesetz im Ganzen hat eine unberechenbare Tragweite, die. wie es
fast den Anschein hat, in diesem Augenblick von den Wenigsten übersehen
wird. Man ist im Begriff, einen recht gefährlichen Schritt ohne Bewußtsein
zu thun, während man sich der Gefahr bewußt sein könnte und bewußt sein
sollte. Unser Wunsch geht deshalb vor Allem dahin, daß aus dem Gesetz
nichts wird. Diesmal ist es das Herrenhaus, auf welchem die letzte Hoffnung
beruht, eine Gefahr vom preußischen Staat in letzter Stunde abgewendet zu
sehen, die ihm durch'eine Verbindung von Doctrinarismus und Schlendrian
droht. Im Herrenhaus ist, wie man hört, glücklicherweise die Rechte wie die
Linke entschlossen, das Gesetz auf keinen Fall so anzunehmen, Wie es vom
Abgeordnetenhaus kommen wird. Ein vom Herrenhaus wesentlich verändertes
Gesetz im Abgeordnetenhaus zur Annahme zu bringen, hat aber immer seine
Schwierigkeit. Die Sommerhitze wird das Ihrige thun, die Verhandlungen
abbrechen zu machen, wenn sie sich zu großer Weitläufigkeit anlassen. So
mag diese Session vorübergehen, ohne die preußische Verwaltung in den Ab¬
grund der Ohnmacht und Confusion zu stoßen. Dann liegen wieder Monate
dazwischen, und diese Monate mögen gute Gedanken bringen. So muß ein¬
mal der Mensch rechnen. Er muß suchen, sich der Zeit stückweise zu bemäch¬
tigen; die Stellungen, welche große Zeiträume beherrschen, werden selten ge¬
funden und errichtet.
Es liegt uns aber ob, noch einmal auf die unheilbaren Fehler des Ge¬
setzentwurfs hinzuweisen, über den das Ministerium des Innern und das Ab¬
geordnetenhaus sich der Aussicht freuen, Eines Herzens und Einer Seele
zu werden.
Die Einrichtung der preußischen Verwaltung hat seit lange an dem son¬
derbaren Fehler einer zerrissenen Mittelinstanz gekränkt. Bisher haben ver¬
schiedenartige Umstände die schädlichen Folgen dieses organischen Fehlers nicht
zur Entwicklung kommen lassen. Jetzt vereinigen sich Doctrin und Schlen¬
drian, die glücklich einschränkenden Umstände zu entfernen und zugleich die
Macht des Fehlers durch eine dem letzteren angepaßte Gestalt der sogenannten
Selbstverwaltung in bedeutendem Maße zu steigern. Es ist schon früher die
Rede davon gewesen, wie durch eine Verbindung romantischer Grillen, par-
tikularistischer Liebhabereien und liberaler Doctrin der preußische Staat die
für eine zweckmäßige Verwaltung höchst ungeeigneten großen Provinzen be-
halten hat. Man kann noch heute zu Gunsten dieser nachtheiligen Einrich¬
tung von ganz gescheidten Männern Aeußerungen hören wie die: die Leute
fühlen sich doch als Rheinländer, Pommern, Preußen u. s. w. Als ob da¬
mit etwas über die Zweckmäßigkeit der Verwaltungsgliederungen ausgesagt
wäre. Als Rheinländer fühlen sich nicht nur die Bewohner der preußischen
Rheinprovinz, sondern auch die großherzoglichen Hessen, die badischen Pfälzer
und selbst die Anwohner des Oberrheins. Wenn die Geschichte den politischen
Partikularismus dieser Landschaften einmal verschwinden ließe, so duften wir
nach jenen klugen Leuten auch nicht mehr an eine administrative Gliederung
derselben denken, während doch die Lebensverhältnisse der Nheinumwohner
recht verschiedene sociale Organismen aufzeigen.
Die altpreußische Zerreißung der Mittelinstanz wirkte bisher nicht in
ihrer ganzen Fehlerhaftigkeit aus folgenden Gründen. Die Stellung der
Provinzialbchörden, also der oberen Mittelinstanz, neben den Bezirksregie¬
rungen, also der unteren Mittelinstanz, war ein Durcheinander von Coordi-
nation und Superordination. Einige Provinzialbchörden waren unmittelbar
d. h. ohne Vermittelung der unteren Mittelinstanz den Localbehörden über¬
geordnet. Andrerseits verkehrten die Centralbehörden d. h. die Ministerien
unmittelbar mit der unteren Mittelinstanz d. h. mit den Regierungen. Die
Provinzen waren also Verwaltungskörper vom weiteren Umfcing als die Re¬
gierungsbezirke, sie gingen mit den ihnen überwiesenen Gegenständen durch
die Regierungsbezirke durch, aber mit der Ueberordnung der Provinzialbchör¬
den über die Regierungen hatte es nicht viel auf sich. Die Stellung der Ober¬
präsidenten hat von jeher an einer auffälligen Unklarheit gelitten. In den
Händen bedeutender Persönlichkeiten war sie sehr wirksam, in anderen Händen
gar nicht. So gestaltete sich die Theilung der Mittelinstanz mehr zu einer
Coordination verschiedener Behörden von weiterem und engerem Wirkungs¬
kreis, als zu einer Ueberfüllung der Jnstanzenleiter. Von guter Wirkung
war die Theilung demnach nicht. Es ist immer ein Uebelstand für die Re¬
gierten, es hemmt immer die Lebendigkeit organischer Verbände, unmittelbar von
verschiedenen Punkten abzuhängen, wenn auch in verschiedenen Beziehungen.
Und doch hängt von der richtigen Bildung der Mittelinstanz in einem
großen Staat außerordentlich viel ab. Enthält die Mittelinstanz zuviel coor-
dinirte Glieder von kleinem Wirkungskreis, wie es bei der französischen De-
partcmentalverfasfung der Fall, so entstehen die Uebelstände einer falschen
Centralisation. Die Mittelinstanz ist den Localbehörden zu nahe und das
Centrum drückt zu sehr auf die Mittelinst.anz, die nicht zu der nöthigen rela¬
tiven Selbständigkeit gelangt. Besteht dagegen die Mittelinstanz aus zu we¬
nig Gliedern von zu großem Wirkungskreis, so lockert sich das Gefüge des
ganzen Staates. Entweder die Localbehörden gelangen zu einer gefährlichen.
die Centralisation lähmenden Selbständigkeit und Particularisation. Oder,
wenn die Mittelinstanz durchgreifend gehandhabt wird, bilden sich Staaten
im Staate.
Wie verhält sich nun die jetzt projectirte Provinzialordnung zu den Er¬
fordernissen einer guten Verwaltungseinrichtung? Um die Bestandtheile des
neuen Organisationsplanes zu verstehen, hat man Folgendes ins Auge zu
fassen. Die bisherigen Provinzialverbände besaßen eine Anzahl gemeinschaft¬
licher Anstalten, Strafanstalten, Irrenanstalten u. f. w., welche von den Pro-
vinzialbchörden verwaltet wurden. Diese Verwaltung will die Centralver-
waltung an neue Organe der sogenannten Selbstverwaltung abtreten,
und für diesen Zweck den neuen Organen regelmäßige Einnahmen anweisen.
Das in Vorschlag kommende Organ der Selbstverwaltung ist der von einer
Provinzialversammlung, einem durch die Kreistage gewählten Wahlköiper, zu
ernennende Provinztal-Ausschuß. Letzterer soll aber nur die Oberaufsicht
führen. Die eigentliche Verwaltung führt ein sogenannter Landesdirektor mit
einem untergebenen Beamtenpersonal. Durch die Anstellung dieses gesammten
Personals will man der provinziellen Selbstverwaltung das Vergnügen der
sogenannten Patronage verschaffen. Ein höchst unzweckmäßiges, ersahrungs-
mäszig jederzeit von den schlechtesten Folgen nach allen Seiten begleitetes Ver¬
gnügen. Die Größe des preußischen Staats beruht ganz wesentlich darauf,
daß alle öffentlichen Funktionäre des Königs Rock trugen und sich als des
Staates Diener fühlten. Das Bewußtsein, irgend einem Patron zu dienen,
schwächt den Staatssinn. Mit Mühe und Gewalt haben die Hohenzollern
seit Friedrich Wilhelm I. uns aus dem Elend der Privat-wirthschaft heraus¬
gerissen, worüber Schmoller's vortreffliche historische Untersuchungen nachzu¬
lesen. Kaum sind wir auf dieser mit unsäglicher Arbeit geschaffenen Basis
zu Etwas geworden, so stürzen wir uns kopfüber in den alten Mißbrauch.
Der ewige Zug zum Privatwesen ist die deutsche Erbsünde.
Immerhin ist dies nur der erste Schritt auf einem schlechten Weg. Fassen
wir das Verhältniß der betrachteten Einrichtung zur Mittelinstanz ins Auge,
so haben wir zunächst nur ein coordinirtes Glied derselben mehr. Wenn das
Alles wäre, so wäre es zwar nicht gut. aber auch nicht übermäßig gefährlich.
Nun soll aber der Provinzial-Ausschuß als Organ der Selbstverwaltung an
die Seite der Mittelinstanz treten. Nicht blos für die Oekonomie gewisser
Anstalten, sondern auch für die Handhabung der allgemeinen Verwaltungs-
functivnen, und da wir eine doppelte Mittelinstanz haben, deren Doppelheit
noch nicht beseitigt werden soll, so tritt der Provinzial-Ausschuß als Theil¬
körper neben die Regierungen, als Gesammtkörper neben die Provinzialbehvr-
den. Neben den Regierungen und Bezirks-Ausschüssen werden aber noch
Verwaltungsgerichte gebildet,, und die Provinzialversammlung erhält auch noch
ihre Funktionen. Das giebt ein wahres Labyrinth streitender Verwal¬
tungsactionen, wobei Niemand weiß, wer Koch und wer Kellner ist. Das
preußische Beamtenthum, die größte permanente Kraft, welche der preußische
Staat sich erzogen und welche dafür das kräftigste Werkzeug der Bildung
desselben gewesen, verliert in dieser Verwirrung die Sicherheit des Wirkungs¬
kreises, damit das Gefühl der Verantwortlichkeit, damit die Energie des Ehren¬
punktes und des Pflichtgefühls. Sollten wir uns dieser Reform, die aber
hoffentlich nie zu Stande kommt, eine Anzahl Jahre erfreuen, so werden wir
erleben, daß der Zusammenhalt des preußischen Staats in alle vier Winde
gegangen.
Es wäre nun Unrecht zu verschweigen, daß die Schwerfälligkeit und
Verworrenheit der projectirten Einrichtungen auf vielen Seiten und auch in
der Commission des Abgeordnetenhauses bemerkt worden ist. Warum ist an
die Beseitigung dieser Fehler nicht die Hand gelegt worden? Die Antwort
ist, weil die Abgeordneten die Beseitigung auf einem falschen Wege suchen,
dem sich die Regierung mit gutem Recht aus allen Kräften widersetzt. Die
Abgeordneten möchten nämlich die jetzigen Bezirksregierungen in Wegfall brin¬
gen, ^>adel aber die unförmlichen Provinzen bestehen lassen.
Auf diesem Wege würde die Centralaction alle Kraft und jede Gewähr
verlieren. Die Staatshoheit wäre das Spiel unerprobter Selbstverwaltungs¬
organe, die ihrerseits der Spielball wer weiß welcher Interessen und Zufälle
sein würden. Diese Art der Vereinfachung ist also unannehmbar, und mit
ihrer Zurückweisung verdient die Regierung allen Dank. Offenbar hat die Ne¬
gierung d. h. das Ministerium des Innern die ganze Reform so angesehen, daß
in der Hauptsache Alles beim Alten bleibt, daß man, um den Zeitgeist zu
befriedigen, dem alten Gerüst mancherlei unschädliche Garnituren umhängt
und nebenbei noch einige unbequeme Verwaltungszweige auf die modische
Selbstverwaltung abbürdet. Wir würden uns damit ganz einverstanden erklä¬
ren, wenn die beliebten Garnituren wirklich unschädlich wären.
Daß alle diese Bezirksausschüsse und Provinzialausschüsse und Verwal¬
tungsgerichte und Provinzialversammlungen und Landesdirectorien schließlich
nur ungeheuere Schreibereien veranlassen nebst unnützen Ausgaben, halten wir
zwar nicht für unmöglich. In diesem günstigsten Falle hätte also die Reform
kein clamnum einel-MUS im Gefolge, aber es bliebe immer noch ein sehr un¬
erwünschtes lueoum eessklis. Denn die preußische Verwaltung bedarf der Ver¬
jüngung, der erhöhten Kraft und der erhöhten Leistung. Daß nun eine Reform
in solchem Sinne von dem jetzigen Ministerium des Innern nicht geplant
worden, können wir uns nur aus dem Schlendrian erklären. Darum nannten
wir den ganzen jetzigen Reformplan eine Verbindung von Doctrin und Schlen¬
drian. Eine Fülle von Garnitur zur Speisung der liberalen Doctrin und
im Kern die alte Einrichtung. Dabei betrachtet man den ganzen Resormplan
in seiner jetzigen Gestalt als provisorisch. Man verweist nämlich auf ein
künftiges Gesetz über die Organisation der Staatsbehörden, welches möglicher¬
weise eine ganz neue Gliederung einführen kann. Damit müßte denn auch
die jetzige Organisation der Selbstverwaltung bei ihrem Parallelismus mit
der jetzigen alten Organisation der Staatsbehörden noch einmal umgeworfen
werden. Der Minister des Innern erklärt es für allzu bedenklich, gleichzeitig
das doppelte Experiment einer neuen Behördenorganisation und der Begrün¬
dung neuer Selbstverwaltungsorgane zu machen. Als ob bei dem nothwen¬
digen Parallelismus beider, der Staatsbehörden und der Selbstverwaltungs¬
organe, um diese Gleichzeitigkeit jemals herumzukommen wäre. In Wahrheit sind
alle Experimente mit der Selbstverwaltung über die Localverwaltungen hinaus
überflüssig und gefährlich, so lange die Gliederung der Staatsbehörden in
der Mittelinstanz und im Centrum nicht feststeht. Bei dem festen Gerüst muß
die Reform beginnen, und wenn zur Neuconstruetion des ersteren die Zeit
noch nicht gekommen, wofür ja recht viel zu sagen ist, so darf in der Mittel»
instanz noch nicht mit Selbstverwaltungen experimentirt werden. Hoffen wir,
daß das beabsichtigte unnütze und schädliche Experiment uns dadurch erspart
wird, daß das Herrenhaus seine Schuldigkeit thut.
Franz vonHoltzendorff, Das Verbrechen des Mordes und die
Todesstrafe. — (Criminalpolitische und psychologische Untersuchungen.
Herausgegeben auf Grundlage öffentlicher in Berlin und München gehaltener
Universitätsvorträge.) — Berlin, Lüderitzsche Verlagsbuchhandlung (Carl
Habel) 1875. — Man mag über das Plaidoyer und die Anwaltschaft des Ver¬
fassers im Processe Arnim — und neuerdings wieder über die Anrufung einer
holländischen Autorität zu Gunsten seines Clienten — denken wie man will:
als einer der vornehmsten und bedeutendsten Anwälte in dem Monstreprocesse
gegen die Todesstrafe, welchen der Humanismus und die Wissenschaft seit
Jahrhunderten immer von neuem anstrengen, wird Franz v. Holtzendorff mit
Recht immer gelten. Die Erörterung dieser Frage — die wie keine andere
der Strafrechtswissenschaft und der Criminalpolitik die Herzen und Gemüther
Aller zu bewegen im Stande ist — kann auch für Deutschland in jedem
Augenblicke wieder in den Vordergrund der Debatte treten. Denn es ist be-
kannt, daß d!e Todesstrafe für die Verbrechen des Mordes und des Attentates
auf Bundesfürsten in das Reichsstrafgesctzbuch keineswegs aufgenommen wor¬
den ist, weil eine Mehrheit von 8 Stimmen am 23. Mai 1870 im Nord¬
deutschen Reichstage etwa aus Ueberzeugung für die Todesstrafe sich aus¬
gesprochen hätte. Sondern weil nur um diesen Preis das bedeutsame schwie¬
rige Werk der Codisikation des deutschen Strafrechts zu gewinnen war und
dieser Gewinn bei weitem höher stand als die Erhaltung der deutschen Rechts¬
zersplitterung im Strafrecht mit der Todesstrafe. Es waren aber im Grunde
höchst persönliche Ansichten der allerhöchsten Kreise, welche auf der Todesstrafe
damals bestanden und denen die Mehrheit des deutschen Reichstages ihrerseits
Rechnung trug, nachdem wenige Monate zuvor die große Mehrheit des Par¬
laments sich im Princip gegen die Todesstrafe ausgesprochen hatte. Die
Auffassung von der Nothwendigkeit der Todesstrafe kann indessen auch in den
Kreisen wechseln, in denen sie im Jahr 1870 für nothwendig galt und wird
dieß voraussichtlich über kurz und lang thun. Und selbst wenn das nicht
der Fall wäre, hat jeder Gebildete die Pflicht, den Fragen näher zu treten,
die Holtzendorff in mustergültiger Darstellung und erschöpfendster in Darlegung
hier behandelt: Dient die Todesstrafe zur Abschreckung, Sicherung, Besserung?
entspricht sie der Gerechtigkeit? Worin besteht die Gefahr irriger Todesur¬
theile? Welches ist das Verhältniß der Begnadigung zur Todesstrafe? — So
sei denn das interessante Buch weitesten Kreisen warm empfohlen.
Zur Vermeidung von Mißverständnissen muß ich auf den „Nachtrag"
„eines deutschen Oberbibliothekars" (Ur. 14, Seite 40 der „Grenzboten") er¬
klären, daß ich absichtlich und mit gutem Grunde n ur diejenigen Bibliotheken
genannt habe, welche ich genannt, und daß ich die anderen, deren Verhältnisse
mir wohlbekannt sind, nicht etwa vergessen habe. Meine Gründe werden
dem Herrn Oberbibliothekar klar werden, wenn er meinen zweiten Ar¬
tikel in seinem ganzen „Zusammenhange" und im Zusammenhange mit
meinem ersten Artikel prüfen wird.
Zu einer richtigen Beurtheilung der gegenwärtig bestehenden Verhältnisse
der beiden englischen National-Universitäten Oxford und Cambridge, wie sie
mit Ausschluß der übrigen Universitäten und Akademien Großbritanniens,
welche entweder mit den beiden genannten Hochschulen oder, wie die schotti¬
schen, mit den unsrigen mehr oder weniger Aehnlichkeit haben, hier skizzirt
werden sollen, sind zunächst einige Andeutungen in Betreff ihrer Geschichte
durchaus nothwendig.
Zuverlässige Nachrichten über die englischen Universitäten gehen nicht
weiter hinauf, als bis in den Anfang des dreizehnten Jahrhunderts.
Zur Zeit der Königin Elisabeth brach ein Streit aus zwischen Oxford
und Cambridge wegen des höheren Alters, der lange Zeit mit ebenso großer
Heftigkeit, als Kritiklosigkeit fortgeführt wurde. Aus einer damals neu ver¬
anstalteten Ausgabe der Biographie König Alfred's von Asser nach einer
früher unbenützten Handschrift suchten die Oxforder zu beweisen, daß ihre
Universität mindestens schon zur Zeit jenes Königs bestanden habe, daß er
dort neue Schulen gegründet habe und sogar einmal genöthigt gewesen sei,
einen Streit unter den Professoren, von denen einer mit dem bezeichnenden
Namen Grimbald erwähnt wird, schlichten zu müssen. Trotz des Anscheins
von Wahrheit, den dieser letzte Umstand jener Behauptung verleihen könnte,
— denn leider sind wohl von jeher Universität und Profesforengezänk unzer¬
trennliche Begriffe gewesen, — ist es doch mehr wie wahrscheinlich, daß die
Oxforder, wie R. Pauli meint (König Alfred von N. Pauli. Berlin, 1851
S. 207, 208.), in ihrem blinden Eifer, die Beweise ihrer gelehrten Cambridger
Gegner umzustoßen, sich zu einer offenbaren Fälschung hatten hinreißen lassen,
denn weder die erste Ausgabe des Asser vom Erzbischof Parker, noch die an¬
dern Handschriften enthielten eine Spur von dieser ganzen Angelegenheit.
Die Cambridger ihrerseits, die darzuthun strebten, daß ihre Universität von
Sigebert, König von Ostangeln, oder gar von einem gelehrten Spanier Can-
taber 378 v. Chr. gestiftet worden sei, suchten so die Gründung derselben in
noch grauere Vorzeit zurück zu verlegen. Dieser absurde Streit hat längst
ausgetobt, und es wird jetzt wohl ziemlich allgemein anerkannt, daß Oxford
in der That die besten Beweise für sein höheres Alter aufweisen kann, ohne
auf König Alfred's Zeit, wie es freilich noch vor einigen Jahren bei dem
tausendjährigen Jubiläum geschah, zurückgehen zu müssen.
Das älteste College in Oxford, University College, datirt vom Jahre
1249. Die Hauptveranlassung dazu wird vermuthlich die Uebersiedelung
einer Colonie Pariser Studenten gewesen sein, welche in Folge der dort
im Jahre 1229 ausgebrochenen heftigen Streitigkeiten zwischen der Universi¬
tät und den Bürgern auf Einladung Heinrich's des Dritten sich in Oxford
niederließen. Obwohl es nun feststeht, daß der Ort schon vor dieser Zeit als
Pflegestätte gelehrter Studien bekannt war, so datirt doch, wie es scheint,
erst von diesem Ereigniß seine eigentliche Bedeutung als Universität. Paris,
die älteste Hochschule diesseits der Alpen, wurde namentlich von England aus
stark besucht, ja, eine der vier Nationen, in welche sich die Studenten der
Fakultät der freien Künste schieden, hieß sogar die englische Nation.
Dies ist um so weniger zu verwundern, wenn wir uns erinnern, daß
der Hof, der Adel und die vornehmeren Stände in England während der
ersten Jahrhunderte nach der normännischen Eroberung der französischen
Sprache und Sitte ja vollständig zugethan blieben, und daß z. B. erst 1362
das Parlament in englischer Sprache eröffnet wurde. Andrerseits ist aus
diesem Umstände erklärlich, wie leicht eine Abzweigung der Pariser Universität
in das England jener Zeit verpflanzt werden und zur Blüthe gelangen konnte,
wie sehr sie die dort etwa schon bestehenden Einrichtungen ähnlicher Art beein¬
flussen mußte. Demnach ist es nicht unwahrscheinlich, daß die Errichtung
eigentlicher Colleges, welche die englischen Universitäten zunächst in ihrer
äußeren Erscheinung so wesentlich von den unsrigen unterscheiden, und welche
in ähnlicher Art auch in Paris existirten. durch den Zufluß der Pariser
Studenten befördert wurde, wenn auch nicht geläugnet zu werden braucht,
daß schon vorher Studenten oder vielmehr Schüler gelegentlich in besonderen
Häusern auf ihre eigenen Kosten unter Aufsicht von Lehrern zusammen
wohnten. —,
Die ersten Collegien entstanden übrigens überall aus denselben Ursachen,
nämlich aus der Beschaffenheit der ältesten Universitätsstädte und ihrer Sitten.
Der große Zusammenfluß von Studirenden an den berühmtesten alten Hoch¬
schulen veranlaßte ein schnelles Steigen der Preise für Wohnungen. Ueber-
vorthcilung der reicheren, Bedrückung der ärmeren und fortwährende Streitig¬
keiten zwischen Studenten und Bürgern. Schon aus diesem Grunde also war
ein gemeinsames und daher billigeres Zusammenwohnen erwünscht, während
es auf der anderen Seite durch die überHand nehmende Zuchtlosigkeit der
Sitten in den Universitätsstädten fast ebenso dringend geboten wurde. Milde
Stiftungen hervorragender Männer zum Besten armer Studenten legten sehr
oft den Grund zu den ersten Collegien. Nach und nach vergrößerten und
vermehrten sich diese Anstalten, in Paris namentlich durch die rege Bethei¬
ligung verschiedener Mönchsorden am Unterricht, welche weitläufige Gebäude
zur Aufnahme von Schülern mit ihren Klöstern verbanden. Auch auf den
deutschen Universitäten, von denen einige der ältesten, wie Prag, Wien, Leipzig,
Ingolstadt nach dem Pariser Vorbilde eingerichtet waren, entstanden ähnliche
Anstalten, Bursen genannt, welche aber nur zum geringeren Theil milde Stif¬
tungen, sondern meistens Pensionsanstalten waren, in welchen den Studenten
Wohnung und Lebensunterhalt, sowie Beaufsichtigung und Nachhülfe bei ihren
Studien von den Rectoren gegen Vergütung gewährt wurde. Während diese
Anstalten bei uns zu Anfang des 16. Jahrhunderts ganz in Verfall geriethen
und die französischen Collegien sich allmählich von der Universität sonderten
und zu ihrer jetzigen Stellung von secundär-Schulen — Lyceen und Gym-
nasien — entwickelten, haben nur noch in England die Colleges ihre ursprüng¬
liche Bedeutung und Einrichtung bis auf unsere Zeit fast unverändert bewahrt
und ragen daher, fast könnte man sagen, wie ein versteinertes Stück Mittel¬
alter gar seltsam in unsere moderne Zeit hinein.
Das vorhin erwähnte älteste College Oxfords, University College, entstand
aus kleinen Anfängen und entwickelte sich nur sehr langsam. Erst 31 Jahre
später, als das Vermächrniß eines gewissen William von Durham im Betrage
von 310 Mark zum Besten von 12 armen Magistern aus der Umgegend von
Durham gestiftet worden war, ist es urkundlich erwiesen, daß die Theilhaber
dieser Stiftung in convictorischer Gemeinschaft lebten. Bevor nun diese Dur-
ham'sche Stiftung, die durch manche kleinere Vermächtnisse Anderer vermehrt
wurde, sich zu einem vollständig organisirten College gestaltete, erwarb sich
Walter von Merton, Kanzler von England unter der Regierung Heinrich's III.,
ein von Vaterlandsliebe und wissenschaftlichem Sinn erfüllter Mann, das
große Verdienst, ein solches gleichsam fix und fertig ins Leben treten zu lassen.
Mit Recht trägt daher das von ihm gestiftete Collegium noch heutigen Tages
den Namen Merton College. Im Jahre 1264 erlangte er vom Papst und
König die Vollmacht zu der Stiftung einer in Gemeinschaft lebenden Genossen-
schaft zum Zweck gelehrter Studien und frommer Uebungen auf einer der
beiden Universitäten, und schon im folgenden Jahre wurde diese Corporation,
ursprünglich aus 20 Mitgliedern bestehend, in einem von der Abtei Reading
entweder geschenkten oder erkauften Hause untergebracht. Einige Jahre später
wurde das College erweitert, kam durch Vermächtnisse anderer Wohlthäter
bald nachher zur Blüthe und bildete fortan in seiner Einrichtung und Anlage
das Muster für die späteren Stiftungen ähnlicher Art.
Zu den ursprünglichen, in ihren Studien vorgerückteren Insassen der ersten
derartigen Anstalten trat naturgemäß allmählich eine eigenthümliche und bald
die zahlreichste Klasse der Bevölkerung der Colleges hinzu, nämlich die Kost¬
gänger, die eigentlichen Studenten, welche keinen Anspruch an das Vermögen
der Stiftung hatten, sondern eine Quelle der Einnahme für dieselbe wurden.
Der nach und nach sich einbürgernde Gebrauch der Studenten, in den Colleges
zu leben, wurde ihnen alsbald zur Pflicht gemacht, und den verdienstvollerer
oder ärmeren wurde der Eintritt durch stipendiarische Stiftungen, — für die
letzteren in untergeordneter Stellung — erleichtert. Der eigentliche Zweck der
Hauptstiftungen übrigens und der Theilhaberschaft an dem Einkommen der
Colleges war natürlich nur der, den damit begünstigten Jüngern der Wissen¬
schaft für die Zeit ihrer Studien den nöthigen Unterhalt zu gewähren. Eben
weil sich dies von selbst verstand, war über die Zeitdauer des Genusses in
den älteren Statuten nichts bestimmt worden, und so kam es, daß diejenigen
Mitglieder (MlovZ), die nach Beendigung ihrer Studien nicht gleich ein Amt
erlangten, Jahre lang, ja manchmal während ihrer ganzen Lebensdauer in
den Colleges verblieben. Aus diesem Gebrauch oder vielmehr Mißbrauch
entwickelte sich alsbald das Recht der lebenslänglichen Theilhaberschaften oder
5e11ovslüi)s, wie der englische Ausdruck heißt, ein Recht, welches in den spä¬
teren Stiftungen meistens ausdrücklich als solches festgestellt wurde und in
den meisten Colleges noch bis auf den heutigen Tag besteht, trotz der ener¬
gischen Opposition, die von verschiedenen Seiten in neuster Zeit dagegen ge-
macht wird. Natürlich wurde der Genuß solcher Benesicien nur unter gewissen
Bedingungen gewährt; namentlich war die Erlangung des Magistergrades
nothwendig und in den meisten Fällen auch der Eintritt in den geistlichen
Stand. Hiermit war zugleich die Ehelosigkeit ausgesprochen, wenigstens für
die Dauer des Aufenthalts im College, und auch jetzt noch ist dies fast über¬
all unerläßliche Bedingung für die Erlangung einer solchen Stellung. ^
Aus dem Zusammenleben dieser älteren, höher gestellten und zum Theil
lehrenden Insassen der Colleges mit den jüngeren, lernenden entwickelte
sich mit Nothwendigkeit eine ebenfalls noch jetzt beobachtete, ziemlich strenge
Disciplin und Hausordnung. So müssen noch heutigen Tages die Studenten
um 10 Uhr Abends innerhalb der College-Mauern sein oder werden beim
späteren Zurückkommen notirt, ferner müssen sie morgens zu einer bestimmten
Zeit aufstehen, dürfen außer den ersten Hütels keine Restaurants oder Schenk-
lokale besuchen, und was derartige Vorschriften mehr sind. Andrerseits aber
bildeten alle College-Einwohner zusammen nach Außen hin, der Bürgerschaft
gegenüber, eine eng verbundene, durch allmählich erworbene und erweiterte
Privilegien geschützte Corporation und kennzeichneten sich auch als solche durch
eine gemeinsame schwarze, talarartige Tracht. Alle diese Einrichtungen die
hier nur angedeutet werden können, existiren noch bis auf den heutigen Tag
und tragen nicht wenig dazu bei, den beiden englischen Universitäten ein ge¬
wisses geistliches, ja klösterliches Ansehen zu geben, welches durch andere aus
dem Mittelalter stammende Eigenthümlichkeiten noch mehr gehoben wird. So
wurde schon Merton - College gleich bei der ersten Anlage mit einer Kapelle
ausgestattet, und in Folge der gottesdienstlichen Bedürfnisse, wie auch der
vorgeschriebenen Seelenmessen für die einzelnen Wohlthäter wurde eine solche
fortan als nothwendiges Erforderniß eines jeden College betrachtet. Aus
demselben Grunde wurde das Personal des College mit Chorknaben, Can-
toren, Organisten, Sakristanen vermehrt, und für alle diese Aemter, die noch
jetzt meist in derselben Weise existiren, fanden sich auch alsbald eigene Ver¬
mächtnisse. Für die wissenschaftlichen Bedürfnisse, die sich zunächst wesentlich
auf theologische Gelehrsamkeit beschränkten, doch alsbald sich auch auf die
humanistischen Studien ausdehnten, wurden Bibliotheken eingerichtet, deren
ebenfalls jedes College eine eigene anlegte, wie denn überhaupt von Anfang
an jede einzelne Stiftung ein für sich abgeschlossenes Ganze bildete.
Nachdem durch die Merton'sche Stiftung zu Ende des 13. Jahrhunderts
ein glänzendes Beispiel gegeben worden war, welches bald durch eine ähnliche
Stiftung des Bischofs von Ely in dem ebenfalls schon als Sitz gelehrter
Studien hervorragenden Cambridge nachgeahmt wurde, fanden sich fortan im¬
mer von Zeit zu Zeit freigebige Wohlthäter, welche entweder durch Gründung
neuer Colleges oder durch Vermächtnisse und Schenkungen zu Gunsten der
alten, auf beiden Universitäten bestehenden, das Wohl der Kirche und somit
das Studium der Wissenschaften zu befördern, namentlich aber auch das Heil
ihrer Seelen sicher zu stellen bestrebt waren. Grundbesitz, Häuser, Gelder,
Kirchenpatronate, Zehnten wurden in reichem Maße von den verschiedenen
Wohlthätern den Collegien und ihren Mitgliedern zu ihrem Unterhalte ange¬
wiesen, und ein so edler, reger Wetteifer für das Gedeihen jener Bildungs¬
stätten hatte sich aller Stände bemächtigt, daß selbst Genossenschaften und
Bürgergilden sich um dieselben verdient machten, wie denn z. B. Corpus
Christi College in Cambridge zweien solcher Genossenschaften dieser Stadt seine
Entstehung verdankt (1352).
Der große Reichthum, zu dem viele Colleges auf diese Weise nach und
nach gelangten, und die fürstliche Freigebigkeit, mit der andere von vorn
herein ausgestattet wurden, gab zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts, zu¬
gleich mit andern Ursachen, Veranlassung zu dem großartigen Aufschwung des
englischen Baustils jener Epoche, der unter dem Namen des Tudor'schen be¬
kannt ist, und von dem mehrere der Colleges, wie New College, Magdalen
College und später Christ Church College in Oxford, Kings. Queens, und
Trinity College in Cambridge als die würdigsten Denkmäler können angesehen
werden. Fast alle diese Neugründungen wurden in viel großartigerem Ma߬
stabe eingerichtet, als die älteren Collegien. So wurde das von Bischof
Wykenham von Winchester erbaute New College angelegt für 70 Mitglieder,
3 Cantoren und 16 Chorknaben; nach demselben Maßstabe wurde Kings-
College in Cambridge eingerichtet; beide Stiftungen wurden aber noch tief
in Schatten gestellt durch die großartigen Schöpfungen des Cardinals Wolsey,
welcher das palastähnliche Christ Church College in Oxford erbaute, und Hein¬
rich's VIII., welcher Cambridge mit dem noch großartigeren Trinity College
beschenkte, der bedeutendsten Stiftung dieser Art, welche England überhaupt
besitzt, deren Einkommen jetzt über 400,000 Thlr. jährlich beträgt.
Bevor wir dazu übergehen, die innere Organisation der beiden Univer¬
sitäten und ihrer Collegien, die sich übrigens an beiden Orten und unter ein¬
ander durchaus ähnlich sind, sowie das Wesen und die Methode der dort be¬
triebenen Studien näher zu betrachten, dürfte es zweckmäßig sein, zunächst ein,
wenn auch nur oberflächliches Bild zu entwerfen von der äußeren Gestalt
und der Einrichtung der Colleges.
Nach den bisher gegebenen Andeutungen über die Entstehung der Colle¬
ges wird es kaum noch auffallen, daß dieselben auch äußerlich mit Kloster¬
bauten die allergrößte Aehnlichkeit haben. Fast alle Colleges mit nur weni¬
gen Ausnahmen sind in quadratförmiger Gestalt, mit einem großen entweder
gepflasterten, gewöhnlich aber als Rasenplatz ausgelegten Hos im Innern er¬
baut, und zwar meistens aus grauem Sandstein, der bei vielen der älteren
Gebäude ein sehr verwittertes Aussehen erlangt hat. Der eine Flügel des
Gebäudes wird gewöhnlich ganz oder zum Theil von der Kapelle eingenommen,
in der sich die Studenten und die Fellows Morgens oder Abends — die er¬
steren des Sonntags mit weißen Talaren bekleidet — zu gemeinschaftlichem
Gesänge und Gebet vereinigen. In einem zweiten Flügel befindet sich die
geräumige Wohnung des Präsidenten und seiner Familie, sowie die Zimmer
einer Anzahl der stets unverheirateten Fellows. Ein dritter Flügel gewährt
die Localitäten für Küche und Keller, sowie für einen großen gemeinsamen
Speisesaal. Dieselbe Seite enthält vielleicht noch einige Hörsäle und Wohnun¬
gen .der Studenten, doch auch der vierte Flügel hinzugenommen reicht dazu
selten aus, da sich die Oxforder und Cambridger Herren nicht mit unseren
deutschen Studentenwohnungen begnügen, sondern stets für jeden einzelnen
zwei sehr geräumige und elegant eingerichtete Zimmer beanspruchen. Wir
sind also genöthigt, uns noch einen zweiten Gebäude-Complex von derselben
Gestalt und Ausdehnung hinzuzudenken, um etwa 150 Studenten und ca. 20
Fellows, wenn wir ein College von reichlich mittlerer Größe annehmen, un¬
terzubringen und außerdem noch für die in vielen solcher Anstalten sehr gro߬
artige Bibliothek Platz zu gewinnen. Unmittelbar an das College stößt ge¬
wöhnlich ein prachtvoller, oft parkähnlich großer Garten mit üppig grünen
Rasenplätzen, sorgfältig gehegten Blumenbeeten, zierlichen Springbrunnen,
künstlichen Teichen und uralten, schattigen Baumgruppen, unter denen sogar
in dem Park von Magdalen College in Oxford, dem schönsten von allen, zahme
Hirsche und Rehe in kleinen Rudeln .friedlich grasen. Bedenkt man, daß
Cambridge 17, Oxford gar 21 solcher theils größerer, theils kleinerer Gebäude
besitzt und rechnet man dazu noch die anderen zu der Universität gehörigen
monumentalen Bauten, wie die verschiedenen öffentlichen Bibliotheken, Museen,
Druckereien, so kann man in der That für diese Oerter von etwa 30,000
Einwohnern die stolze Bezeichnung Städte von Palästen, wie namentlich Ox¬
ford manchmal genannt wird, nur gerechtfertigt finden.
So erscheinen diese englischen Wohnsitze gelehrter Studien, die mit den
reichsten wissenschaftlichen Schätzen, mit einem wahren Ueberfluß an Hülss¬
auellen, mit allen Erfordernissen und Privilegien zu einer ungestörten und
unabhängigen Pflege der Studien ausgestattet sind, auf den ersten Blick als
wahrhaft ideale Pflegestätten der Wissenschaft. Betrachten wir aber, was mit
diesen großartigen, beneidenswerthen Mitteln für die Wissenschaft erreicht wird,
fo finden wir das Resultat — und darüber machen sich auch die aufgeklärte¬
ren Engländer selber keine Illusionen — leider den aufgewandten Mitteln
sehr wenig entsprechend. Daß dem so ist, wird schwerlich bestritten werden
nach einer genaueren Prüfung der Organisation der beiden Universitäten ihrer
Unterrichtsgegenstände und ihrer Unterrichtsmethode.
Was zunächst die gegenwärtige Organisation derselben betrifft, so ist zu
dem schon Angedeuteten nur wenig hinzuzufügen. Die Universität als eine
Körperschaft wird gebildet von dem lebenslänglich ernannten Kanzler und
dem alle 4 Jahre wechselnden Vicekanzler — ersterer stets einer der vornehm¬
sten Adligen des Landes, letzterer statutenmäßig stets ein Präsident eines der
Colleges, — ferner den besonders angestellten Universitäts - Professoren, den
Präsidenten und.Fellows der Colleges und den übrigen stimmfähigen Mit¬
gliedern derselben. Zu diesen stimmfähigen Mitgliedern gehören aber nicht
bloß die in irgend einer Stellung an der Universität beschäftigten oder an¬
wesenden, sondern auch solche Personen, welche die Universität nach Erlangung
des für die dauernde Mitgliedschaft erforderlichen akademischen Grades eines
N. ^. (eng-gistsr artium) längst verlassen haben, deren Namen aber gegen
jährliche Bezahlung einer gewissen Summe in den Registern weiter fortgeführt
werden, und die also in der Convocation d. h. im General-Concil Sitz und
Stimme haben. Diese Einrichtung ist für die Verwaltung der Universitäts-
Angelegenheiteu von höchster Bedeutung und vielfach gewiß von sehr verderb¬
lichem Einfluß, da Fragen von großer Wichtigkeit auf diese Weise manchmal
von dem Votum von Leuten abhängig gemacht werden, die in ihrer Stellung
etwa als Lehrer an sonstigen Unterrichtsanstalten oder meistens als Land¬
pfarrer nach längerer Abwesenheit von der Universität entweder nicht mehr
im Stande oder von ihrem Parteistandpunkte aus nicht geneigt sind, eine
veränderte und namentlich nicht eine freiere Entwickelung der Dinge zu beför¬
dern. Indeß betheiligen sich die auswärtigen Mitglieder an den Universitäts¬
angelegenheiten erklärlicher Weise nur in Ausnahmefällen, und die laufenden
Geschäfte werden natürlich nur von den anwesenden Universitäts-, resp. Col¬
lege-Mitgliedern besorgt.
Die einzelnen Colleges nun, die in ihrer Gesammtheit die Universität
bilden, sind, wie schon bemerkt, im Ganzen alle in derselben Weise organisirt.
Jedes College hat seinen Vorsteher, der statutenmäßig in den meisten Fällen
dem geistlichen Stande angehört, der an den verschiedenen Collegien oft ver¬
schiedene Benennungen hat, wie proZiäsut, Master, xrineijMl, xi-ovost, dem
aber überall dieselben Pflichten obliegen. Diese sind indeß fast nur repräsen¬
tativer Art, und so einträglich und ehrenvoll eine solche Stelle zu sein pflegt,
so wenig ist sie im Ganzen für das wissenschaftliche Gedeihen eines College
von Bedeutung. Daher macht sich seit einiger Zeit in dem rührigen Cam¬
bridge eine lebhafte, aber trotzdem schwerlich erfolgreiche Agitation bemerkbar,
diese Präsidentenstellen, welche einen bedeutenden Theil der Universitäts-Ein¬
künfte verschlingen, ganz abzuschaffen. Auch an andern Reform-Bestrebungen
fehlt es dort nicht, denen noch eher ein glücklicher Erfolg zu wünschen wäre.
Dahin gehört namentlich die beabsichtigte gänzliche Abschaffung der schon
theilweise beseitigten lebenslänglichen Fellowships und ferner des noch in den
meisten Collegien geltenden Statuts, daß die Inhaber solcher Stellen sich nicht
verheirathen dürfen oder mit der Verheirathung auf den Genuß solcher oft
2000 — 3000 Thlr. betragenden Einkünfte verzichten müssen. Es ist erklärlich,
daß man sich für die vollständige Beseitigung dieser mittelalterlichen Unsitte
auch noch in den aufs Schmerzlichste davon mit betroffenen Damenkreisen
lebhaft interessirr. Sieht man aber von dieser Beschränkung ab, so muß man
zugestehen, daß die Fellows oder Genossen des, Kollegiums, welche zusammen
mit dem Präsidenten das Vermögen, sowie die äußeren und inneren Angele¬
genheiten der Stiftung verwalten, das angenehmste Leben haben, was sich ein
gelehrter Klosterbruder, wie sie sich manchmal im Scherz selber nennen, nur
immer wünschen kann. Auch ist die Errichtung solcher Fellowships in ihrer
ursprünglichen Idee gewiß als eine vorzügliche zu bezeichnen, indem dadurch
einer Anzahl von jungen Leuten, die ihre Examina mit Auszeichnung bestan¬
den haben, Gelegenheit gegeben wird, während einer weiteren Reihe von
Jahren in vollständig unabhängiger, sorgenfreier, ja glänzender Stellung,
unterstützt von den reichsten wissenschaftlichen Hülfsmitteln, ihre Kenntnisse zu
erweitern und diese dann wieder der Universität zu Gute kommen zu lassen.
Manchmal freilich sind diese Stellen durch Vorschrift des Stifters an gewisse
Familien, Schulen oder Grafschaften gebunden, für gewöhnlich jedoch hängt
die Besetzung einer Vacanz von der Wahl der Fellows selber ab. Leider
wurde aber, wie schon bemerkt, der ursprüngliche gute Zweck durch verschiedene
Mißbräuche, namentlich die lebenslängliche Berechtigung sehr beeinträchtigt,
indem, wie leicht begreiflich, die weniger Strebsamen nach Erlangung einer
solchen Sinecure oftmals alles ernsthafte Studiren völlig aufgeben, da sie ja
entweder im College lebenslänglich versorgt sind oder nach einiger Zeit sta¬
tutenmäßig oder auch oft freiwillig in den geistlichen Stand treten und als¬
dann leicht in den Besitz einer der zahlreichen von dem College abhängigen
Pfarreien gelangen können, womit dann gewöhnlich auch die Ehelosigkeit ein
vergnügtes Ende nimmt. Indeß geben die tüchtigeren Leute nach einer Reihe
von Jahren in der Regel aus freien Stücken jene Stellungen auf, um in ir¬
gend einen praktischen Lebensberuf überzutreten, wofür sie sich während der
Dauer und mit Hülfe ihres Fellowship vorbereitet haben. Denn nach Ver¬
lauf einer bestimmten Aufenthaltszeit im College bindet sie meistens nichts
mehr an dasselbe; so lange sie unverheiratet bleiben und nicht irgend ein
sehr einträgliches Amt annehmen — die Grenze des erlaubten Uebereinkom¬
mens ist meistens angegeben — können sie ihr College-Einkommen verzehren
wo sie wollen, also etwa in London sich für die Juristen-Carriöre vorbereiten,
oder auch, wie dies neuerdings manchmal geschieht, auf irgend einer Universi¬
tät des Continents weiter studiren. Dieß ist gewiß eine vortreffliche Ein¬
richtung, und bei den reichen Mitteln der Colleges kann es kaum in Betracht
kommen, wenn hin' und wieder in Folge der großen Freiheiten im Genuß
solcher Stipendien das eine oder das andere nicht in der würdigsten Weise
verwandt wird. Im Allgemeinen muß anerkannt werden, daß man bemüht
ist, Mißbräuche und Auswüchse nach und nach zu beseitigen, und wenn uns
auch zuweilen einzelne in den Colleges alt und grau gewordene Fellows be¬
gegnen, die für nichts weiter besonders viel Interesse an den Tag legen, als
etwa für die Besetzung der letzten vacanten Pfarreien oder etwa für Fuchs¬
jagden, Angeln, Wettrennen und tgi., so wird doch jeder unbefangene Be¬
obachter gern anerkennen, daß unter den jüngeren Mitgliedern ein tüchtiger,
wissenschaftlicher Geist herrscht, der sich oftmals in bedeutenden literarischen
Leistungen kund giebt.
Aus den im College anwesenden Fellows, — und die meisten bleiben
doch während des Semesters beständig da, — werden nun die nöthigen Tutors
oder Lehrer gewählt, denen die Leitung des Unterrichts und der Privatarbeiten
der Studirenden anvertraut wird. Hierfür werden sie, weil sie durchaus nicht
etwa als Fellows ein solches Amt zu übernehmen verpflichtet, noch auch von
vorn herein dazu berechtigt sind, vom Collegium und auch von den ihnen zu¬
gewiesenen Studenten besonders bezahlt, und da sie außerdem noch manchmal
andere Aemter inne haben, wie das eines Bibliothekars oder eines Cantors
an der Kapelle, so kommt es nicht selten vor, daß solche Leute, meistens im
Alter von 25—36 Jahren, eine Einnahme von 600 — 700 F, also etwa
4000 Thlr. jährlich genießen.
Außer diesen Fellows, deren Anzahl je nach der Größe der einzelnen
Kollegien variirt von zehn bis zu sechzig, und die vollständig von denselben er¬
halten werden, beziehen einen bedeutenden Theil des Einkommens die soge¬
nannten Scholars oder Stipendiaten, deren jede Anstalt gewöhnlich eine ebenso
große Anzahl, als sie Fellows hat, unterstützt. Die Stipendien, meistens im
Betrage von 30 — 60 -6°, also 200 —400 Thlr. (zuweilen mit freier Woh¬
nung), die für die Dauer des vorgeschriebenen Trienniums gezahlt werden, er¬
halten gewöhnlich diejenigen, welche sich in den semesterlichen College-Prüfun¬
gen in bestimmten Fächern auszeichnen. Zuweilen werden natürlich auch, je
nach dem Willen des Stifters, gewisse Familien oder Schüler gewisser Schulen
oder auch dürftige Studenten besonders berücksichtigt. Außerdem werden von
den Colleges zahlreiche Preise vergeben in Gestalt von Büchern, Medaillen,
kleineren und größeren Geldsummen bis zu 20 und 30 ^ für alle möglichen
Zweige der dort betriebenen Studien und der verschiedenen, mehr oder weni¬
ger nützlichen Kenntnisse und Fertigkeiten. Auch viele der größeren Schulen
des Landes, die hin und wieder mit den Colleges in einer gewissen Verbin¬
dung stehen, sind reich an solchen Stipendien und Preisen, und so kommt es
zuweilen vor, daß fleißige und talentvolle Studirende von ihrem zehnten oder
zwölften Jahre an mit Hülfe der durch ihren eigenen Fleiß erworbenen Unter¬
stützungen ganz und gar die Kosten ihrer Erziehung bestreiten, die in Eng¬
land durchaus nicht unbedeutend sind. Die Durchschnittssumme nämlich, die
ein Oxforder oder Cambridger Student während der Dauer des etwa 7 Mo¬
nate ausfüllenden Studienjahrs zu verausgaben hat, beträgt 180 — 200 ^;
wer sich einzuschränken weiß, wird mit etwa 126 — 130 ^ auskommen können,
und erst neuerdings, seitdem die Studenten nicht mehr statutengemäß gezwungen
sind, irgend einem College anzugehören, dort zu wohnen und zu speisen, sondern ein¬
fach an der Universität immatriculirt werden können, ist es den weniger Vermögen-
den möglich, mit etwa 90 — 100-«?, also etwa 600 Thlrn., ihre Ausgaben
während eines Studienjahrs zu bestreiten. Mit dem zunehmenden Reichthum
der Collegien wurde auch das Leben in denselben immer luxuriöser, und so
war bald trotz der vielen Stipendien nur noch den Söhnen reicher und wohl¬
habender Eltern der Eintritt in dieselben möglich. Mit dieser Thatsache nun
ist die hauptsächlichste Schattenseite des englischen College-Systems bezeichnet,
nämlich die Kostspieligkeit des Studiums einerseits und die außerordentliche
Verschwendung von Hülfsmitteln andrerseits. Die Unterhaltung von so vielen
großartigen Gebäuden, die Besoldungen der großen Anzahl von Beamten und
Unterbeamten, die für das kleinste College, wie für das größte fast in der¬
selben Weise nöthig sind, verschlingen natürlich beträchtliche Summen, die,
wenn sie auch nicht den Studenten zur Last fallen, sondern vom College-Ein¬
kommen bestritten werden, doch wenigstens nicht ihnen und den Studien zu
Gute kommen.
Sicherlich ist es nicht oft vorgekommen, daß in einer sür das große deutsche
Publikum bestimmten Zeitschrift über ein künstlerisches Ereigniß aus
Königsberg Bericht erstattet werden muß. Aber jedem Freunde unserer dich¬
terischen Literatur liegt die Pflicht ob, einen Vorfall dieser Art, der allgemei¬
neres Interesse ansprechen darf, auch wirklich zu allgemeinerer Kenntniß zu
bringen. Es handelt sich um die erste Aufführung eines in großem Style
geschaffenen Dramas, das aus der Fluth langweiliger und unpoetischer Er¬
zeugnisse, mit denen wir überschwemmt werden, Aufsehen erregend hervorragt.
Vorab muß es anerkannt werden, daß die Leitung des Königsberger Stadt¬
theaters, über deren sonst übliche Leistungen ein Königsberger Patriot gut
thut, ein wohlwollendes Schweigen zu beobachten, den Entschluß gesaßt hat,
das dramatische Erstlingswerk eines in Königsberg lebenden Dichters zur
Aufführung zu bringen. Und auch der Ausstattung, dem Fleiß und der
Sorgfalt der Aufführung darf Lob gezollt werden, besonders im Hinblick auf
das, was wir Königsberger sonst zu genießen verurtheilt sind. Wenn das
neue Drama aber — und das muß sofort hinzugefügt werden, — gleich bei
der ersten Aufführung am 25. Februar einen durchschlagenden und hinreißen¬
den Erfolg sich errungen und in zahlreichen Wiederholungen stets aufs neue
erlebt hat, so wird Niemand im Stande sein, etwa hervorragenden künst¬
lerischen Leistungen der Hauptdarsteller diesen Erfolg beizumessen. Nein, die
Macht der Dichtung einzig und allein ist es, welche das Königsberger Publi¬
kum bezwungen! Wie gewaltig die Wirkung der Dichtung sein muß, wenn
erst einmal wirkliche Künstler die beiden Hauptfiguren zur Darstellung bringen,
— das läßt sich aus dem hier Erlebten mit ziemlicher Sicherheit ahnen!
Möchten die größeren Bühnen Deutschlands sich bald aufraffen, eine Probe
auf die Richtigkeit des eben Gesagten zu versuchen!
Der Name des Dichters, über dessen dramatische Erstgeburt wir hier be¬
richten, ist ein nicht ganz unbekannter: es ist Felix Dahn, ordentlicher
Professor des deutschen Rechtes an der Universität Königsberg, der seit dem
Herbst 1872 hier lebt und lehrt, also ein Gelehrter, dessen rechtshistorische
und historische Arbeiten ihm unter den Fach genossen einen geachteten Namen
verschafft haben. Schon mehrfach hatte Dahn in den letzten Jahren poetische
Schöpfungen veröffentlicht*), Gedichte epischen und lyrischen Inhaltes, unter
denen immerhin einzelne patriotische Lieder und einzelne Balladen und Ro¬
manzen eine wirklich poetische Begabung und ein nicht gewöhnliches Talent
dichterischer Formengebung an den Tag gelegt hatten. Alles bisher geleistete
aber ist weit übertroffen durch das erste Drama, das vor Kurzem im Buch¬
handel erschienen**) und nun sich auch auf der Bühne bewährt hat.
Auf dem Boden historischer Studien ist die Dichtung erwachsen und zwar
derjenigen Studien, die gerade in den letzten Jahren auch zu gelehrten Arbei¬
ten dem Verfasser Anlaß gegeben. Dahn behandelt hier wie in seinem rechts-
hiflorischen Werke die Geschichte des Westgothenreiches in Spanien. Bekannt¬
lich hieß der letzte Westgothenkönig Noderich, der nach ganz kurzer Negierung
bei dem Einbruch der Mauren unter Taret 711 in der Schlacht von Xerez
de la Frontera Thron und Leben eingebüßt hat.
Die Geschichte weiß von der Persönlichkeit dieses Noderich so gut wie
gar nichts; nur die nackten Thatsachen stehen fest, daß nach Witiza's Tode
mit Uebergehung seiner Söhne Roderich auf den Thron sich geschwungen, daß
die Söhne Witiza's an die Mauren in Nordafrika sich gewendet und daß
diese Mauren dann, gerufen also von einer Gothischen Partei, das Reich
Roderich's und der Westgothen im ersten Anlauf zu Boden geworfen. Im
späteren Mittelalter hat die Sage einzelne neue Züge zu diesem Bilde hinzu
erfunden. Spätere spanische Chronisten erzählen von der verrätherischen Thä-
tigkeit des Grafen Julianus in Nordafrika*), dessen Tochter Noderich entehrt
haben sollte. Auch hieß es nun, Roderich habe seine Krone einem Aufstande
gegen Witiza verdankt, ja er habe den Borgänger selbst ermordet.
Von allen derartigen späteren Zusätzen würde eine historische Darstellung
abzusehen haben: es ist des Dichters Vorrecht, soweit sie ihm passen, sie zu
verwerthen, umzugestalten und noch weiter zu entwickeln.
Dies äußere Gerüst der Thatsachen war dem Dichter gegeben. Daß sie
nicht ohne weiteres den Stoff zu einem Drama zu liefern vermögen, liegt auf
der Hand. Es war die Aufgabe des Dichters, den Untergang Roderich's und
der Westgothen zu motiviren und damit erst einen wirklich dramatischen In¬
halt dem äußeren Stoff zu verleihen. Es stand ihm frei, durch Erfindung
von Details und Zusätzen diesen Inhalt frei zu schaffen. Möglich war es,
den Untergang Roderich's mit jener romantischen Beziehung zwischen ihm und
der Tochter des Julianus in Verbindung zu bringen: ein interessantes und
spannendes Liebesdrama hätte sich daraus machen lassen! Aber dahin ging
nicht die Absicht Dahn's. Obgleich er auch dies Motiv verwerthet, ging er
darauf aus, einen viel größeren Gedankeninhalt für sein Werk zu gewinnen.
Und nicht sowohl die einzelnen Thatsachen der Ueberlieferung, als die ihm
aus seinen historischen Studien erwachsene Einsicht in den Zusammenhang und
die Verkettung der Ereignisse bot ihm die dem Drama zu Grunde liegende
Idee dar.
Ein Ergebniß der historischen Forschung über die westgothische Geschichte
ist das folgende. Das Gothische Reich ist vollständig von der Kirche beherrscht
gewesen: Königthum und Aristokratie waren dienende Faktoren gegenüber der
übermächtigen Stellung des Clerus und der Kirche. Und dieses Ueberwuchern
der kirchlichen Macht im staatlichen Leben der Nation hatte die Lebenskraft
des Staates vernichtet und untergraben. Der Untergang des Gothenreiches
war nach übereinstimmendem Urtheil der Historiker die Folge der Priesterherr¬
schaft über die Gothen: die Schaaren Taret's brachen nur die Frucht, die
schon überreif war; der Einfall der Mauren war nur der äußere Anstoß, der
den morschen Bau umwarf.
Indem der Gelehrte Dahn dem Dichter Dahn diesen Gedanken, — wie
gesagt, das unbestrittene Ergebniß der bisherigen Studien — übermittelte, war
die leitende Idee für das historische Trauerspiel gewonnen, eine Idee, welche
in der Empfindung unserer Zeitgenossen dem lebhaftesten Echo zu begegnen
gewiß war.
Wie König Roderich historisch sich zu der kirchlichen Uebermacht verhalten,
wie weit vielleicht sein Untergang mit der Stellung zur Kirche in Beziehung
gestanden — darüber ist gar nichts überliefert. Ueberhaupt wissen wir von
Roderich's Charakter und Absichten gar nichts. Eine gelehrte Hypothese da¬
gegen, die zuerst von zwei spanischen Historikern aufgestellt wurde, der aber
gegenwärtig die meisten Forscher beipflichten, da sie einzelne dunkele und zwei¬
deutige Aussagen der älteren Quellen in ansprechender und verständiger Weise
erklärt, — eine Annahme gelehrter Combination ist es, daß König Witiza,
Roderich's Vorgänger, gegen das herrschende Kirchensystem sich aufgelehnt
und die kirchliche Uebermacht einzuschränken versucht habe.
Das, was die meisten Historiker also von Witiza anzunehmen sich be¬
rechtigt geglaubt, das hat Dahn auf Roderich übertragen. Er macht den
Roderich zum Vertreter der Staatsidee, der, um vor dem drohenden Untergang
sein Volk zu retten, sich vorgesetzt das bisherige Verhältniß von Staat und
Kirche umzuwandeln und der es unternimmt, die Emancipation des Staates
von der Kirche durchzusetzen. Freilich, an dem endlichen Ausgang Roderich's
konnte der Dichter nichts ändern. Die Thatsache stand fest. Trotz aller seiner
Versuche, — mit denen der Dichter zu sympathisiren nicht verhehlt, — mußte
Roderich dem Anprall der Mauren unterliegen, dem der Verrath auf gothi¬
scher Seite Unterstützung verliehen.
Wir haben ein Drama vor uns, daß aus das offenkundigste und leben¬
digste an die Ideen und Gefühle sich wendet, welche durch den unsere Gegen¬
wart bewegenden Conflikt zwischen Staat und Kirche in der Brust der Men¬
schen erweckt sind. Im historischen Drama stellt uns der Dichter grade die
Gegensätze vor Augen, deren Kampf in unserer Gegenwart wir täglich vor
uns sehen. Es ist ein kühnes Wagniß, — aber von glänzendem Erfolge ist
es gekrönt.
Mit reicher Erfindungsgabe hat Dahn es verstanden, eine Menge Einzel¬
züge und Details zu schaffen und zu combiniren, die ein lebendig bewegtes
Abbild des gothischen Volkslebens uns bringen. Auch der Nichtkenner west¬
gothischer Ueberlieferung und westgothischen Rechtes wird es herausfühlen,
daß das Bild des gothischen Lebens von innerer Wahrheit erfüllt ist. „Freie
Erfindung auf Grund der Quellen" nennt Dahn selbst seine Schöpfung. Die
Quellen haben ihm den Hintergrund der Anschauungen, Sitten und Denkungs-
art, mit einem Worte die ganze Situation erschlossen, in welcher das Stück
gedacht ist. Die Figuren und die Vorgänge im Einzelnen sind Kinder dich¬
terischer Erfindung.
Wie schon bemerkt, Dahn verbirgt es nicht, auf wessen Seite er selbst
im Kampf der beiden Prinzipien steht, er widmet sein Gedicht „dem deutschen
Reich"; er schickt ihm das Motto voraus „So gebt dem Kaiser was des Kaisers
ist — Jesus von Nazareth". Aber der Mann historischer Bildung zeigt sich
darin, daß er mit großartiger Objektivität auch das Prinzip des Gegners
zum Ausdruck gebracht hat. Der Kirchenfürst Sindred von Toledo und der
Gothenkönig Roderich, beide Gegner sind tiefgedachte groß angelegte und ihrer
Bedeutung sich bewußte Vertreter des kirchlichen und staatlichen Prinzipes.
Ja psychologisch tiefer und großartiger gestaltet ist — wenigstens wir haben
den Eindruck — der Bischof, in weit höherem Grade noch als der König.
Dieser Sindred ist in der That ein dramatischer Charakter, der sich den ersten
und bedeutendsten Schöpfungen dramatischer Muse in dieser Beziehung würdig
zugesellt.
Wir referiren kurz den Inhalt des Dramas.
Die erste Scene zeigt uns die gothischen Bischöfe in gemeinsamer Bera¬
thung über die bevorstehende Königswahl nach Witiza's Tode. Daß man
eines kräftigen Mannes bedürfe, darüber- sind alle einig; und aus diesem
Grunde verständigen sich die Bischöfe auch den im Volke beliebten kriegstüch¬
tigen Grafen Noderich dem Adel zur Wahl vorzuschlagen, obwohl sie seiner
der kirchlichen Herrschaft feindlichen Gesinnung sich bewußt sind. Ein Eid
vor der Wahl soll ihm die Hände binden. Der Primas Sindred glaubt jeden¬
falls Mittel zu besitzen, Roderich's Arm nach seinem Sinne zu lenken.
In der zweiten Scene erscheint Roderich mit seinen Freunden, voll hoher
Hoffnung demnächst König zu werden, mit dem Entschlüsse gerüstet als König
die staatsfeindliche Macht der Kirche zu brechen: von persönlichem Haß gegen
Clerus und Kirche ist seine Seele erfüllt; und seine persönlichen Motive zu
einem solchen werden hier und an späteren Stellen uns mitgetheilt. Und
nichtsdestoweniger verspricht er der Deputation Sindred's jenen von den Bischöfen
als eonäitiv sine yug, von geforderten Eid vor der Krönung zu schwören,
trotz der Warnung seiner Freunde.
Und nun erfolgt die Königswahl. Das ist eine prächtige Scene, die
Raum zu pomphafter Ausstattung und großer Masfenentfaltung gewährt, die
aber auch durch ihren dramatischen Inhalt und die sich steigernden Effekte die
Zuschauer mit sich fortreißt. Nachdem die Stimmen der Wähler aus Roderich
gefallen, verlangt und erzwingt er, ehe er die Krone annimmt, daß auch das
gothische Volk seine Zustimmung zur Wahl ausspricht. Den verheißenen Eid
dagegen vor der Krönung leistet er nicht; er hatte gelobt die Krone nicht eher
aus Sindred's Hand zu nehmen, bis er den verlangten Eid geschworen; nun
aber nimmt er die Krone gar nicht aus Sindred's Hand, sondern setzt sie
mit raschem Griffe sich eigenmächtig aufs Haupt, gestützt auf den jubelnden
Zuruf des Adels und Volkes.
Somit ist Roderich im ersten Akte König geworden und hat seine Absicht
deutlich angezeigt, der Kirche entgegenzutreten und ihre bisher besessenen Rechte
"n Interesse des Staates einzuschränken. Der Kampf zwischen Staat und
Kirche, zwischen Königthum und Priesterthum ist angekündigt, die Gegensätze
find gegen einander ins Feld getreten. Mit ganzer Energie hat Roderich sich
diesem Kampfe gewidmet; er hat versichert, sein Geist sei jeder anderen hem¬
menden oder ablenkenden Gefühle frei — rücksichtslos wollte er sich dieser seiner
Aufgabe widmen. Sein Gegner Sindred war dagegen der Meinung, die
Stelle zu kennen, wo der kirchenkämpfende König selbst der Hülfe der Kirche
bedürfen würde: er sah einen Weg, den König zum Dienste der Kirche selbst
zu bezwingen. Und hier benutzt Dahn nun in origineller und feiner Weise
die sagenhaften Erinnerungen an Donna Cava. Roderich, der früher als Ge¬
fangener in Afrika gelebt, hatte dort seine Freiheit verdankt der liebevollen
Theilnahme einer schönen ihm unbekannten Dame: ihr Bild lebte in seinem
Herzen, doch glaubte er ihr nie wieder begegnen zu können. Aber auch Cava,
die Tochter des Julianus Grafen von Ceuta, gedachte mit schwärmerischer Sehn¬
sucht jenes Gefangenen, den sie befreiet. Sie war das Beichtkind Sindred's, dem
es nicht entgangen, wer jener geheimnißvolle gothische Gefangene gewesen,
dessen Erinnerung Cava's Herz noch im Banne hielt. Ihr Vater, beider
Königswahl Roderich's Rivale, hatte sie dem Grafen Tulga zur Ehe bestimmt;
sie aber, sich dem väterlichen Zwange zu entziehen, flüchtete zu Sindred, der
sie ins Kloster aufnahm. Damit hatte Sindred den Preis in seine Hand er¬
halten, mit welchem er Roderich's Freundschaft zu gewinnen gedachte.
Die Entwicklung verläuft in folgender Weise. Cava's Bater und Bräu¬
tigam fordern vom Könige, daß er den Erzbischof zwinge, die wider des
Vaters Willen ins Kloster eingelassene junge Nonne ihnen zurückzugeben; und
trotz der Proteste Sindred's wird auf Roderich's Befehl Cava dem Kloster
entrissen. Da aber, als Roderich und Cava sich persönlich begegnen, erkennen
beide mit einem Schlage, wer sie sind: sie sieht den Gefangenen der früheren
Tage als ihren König vor sich, er hat die für immer aufgegebene Herrin
seines Herzens gefunden; und in wenigen leidenschaftlich hin und her fliegen¬
den Worten schließt sich sofort auch der Bund dieser Herzen. Zwar erheben
Kloster und Kirche Einsprache, zwar Protestiren aufs lebhafteste der Vater
und der Verlobte gegen diesen Eingriff in geheiligte Rechte, die auch das
Königthum zu achten habe: über des Priesters Worte setzt Roderich sich hin¬
weg, und den Widerspruch der Familie bringt Julianus' Pflichtversäumniß
gegen das gothische Reich wenigstens momentan zum Schweigen. In erregter
Spannung läßt uns der zweite Aktschluß zurück.
Die einzelnen Maßregeln Roderich's im Kirchenkampf, von denen wir
bis dahin gehört, waren gerechtfertigte und maßvolle Schritte zur festen Auf¬
richtung staatlicher Souverainetät. Die Kirche hatte sich jedem einzelnen Akte
des Königs widersetzt; aber Roderich hatte sich nicht beirren lassen in der Aus¬
führung seiner staatlichen Gedanken. Wohl mochte hier und da in uns, den
Lesern oder Hörern des Dramas, die Reflexion aufgestiegen sein, daß Roderich,
ein so leidenschaftlicher Hasser der Kirche, am Ende sich im Streite wider die
Kirche zu weit würde fortreißen lassen; und es möchte zuletzt vielleicht noch
die andere Befürchtung in uns erwachen, daß er durch sein Verhältniß zu Cava
eine Schuld auf sich laden könnte, die ihn weiterhin zu Grunde richten würde.
Jenem Gedanken ist im Drama schon im Anfang Ausdruck geliehen; von dieser
zweiten Besorgniß sind selbst Roderich's Freunde erfüllt: in ergreifend rühren¬
der Scene warnt ihn die Schwester, warnt ihn der Freund; aber die Liebe zu
Cava ist stärker als alles andere: er ist entschlossen, sie als die Seine zu behaupten.
Sindred sucht ihn auf, ihm selbst zu diesem Zwecke die Hülfe der Kirche zu
bieten; er macht sich anheischig, ihm die geliebte Frau selbst zu verschaffen, um den
Preis, daß Roderich dem Kirchenkampf entsagen wolle. Aber solchen Com-
promiß weist der König entschieden zurück; indem Roderich ohne Wissen des
Erzbischofes Zeugen ihrer Unterredung aufstellt, hat er mit listigen Strata-
gema zum zweiten Male dem Gegner eine Niederlage vor dem Volke bereitet.
Eine, noch heftigere Phase muß damit für den Krieg beginnen: indem Sindred
die Unmöglichkeit eines Ausgleiches mit Roderich erkennt, muß sein Sinn
und sein Thun nach anderer Seite sich wenden.
Mittlerweile war der Angriff der Mauren Spanien näher gekommen.
Die letzten gothischen Plätze in Nordafrika, Ceuta und Tanger, die Posten
Julian's und Tulga's waren durch Berrarh dieser Grafen in die Hand der
Mauren gefallen. Die Entdeckung dieses Hochverrathes ist es, welche Roderich
es ermöglicht, gegen den Willen des Vaters, ohne Bruch des Volksrechtes,
Cava's Hand für sich zu besitzen. sonnenklar und unbestritten war des Vaters
Recht, über die Tochter zu verfügen, verkündet und anerkannt; Julian hatte
gegen Roderich's Werbung um Cava protestirt; wollte Roderich dennoch sich
die Geliebte aneignen, — er schien im Begriffe zu diesem Schritte zu sein,
— dann hätte wirklich seine Leidenschaft ihn in eine Schuld verwickelt, der
Vorkämpfer des Staates wäre nicht rein geblieben. Bis hart an den Punkt
heran, in welchem Leser und Zuschauer das tragische Schuldmoment einzutre¬
ten erwarten, hat der Dichter diese Entwicklung geführt. An diesem Punkte
angelangt aber wendet er mit plötzlichem Rucke das Drama nach einer andern
Seite hin. Im Augenblicke, in welchem wir alle Roderich's Fehltritt erwar¬
ten, wird der Hochverrath Julian's entdeckt; dies ändert die ganze Lage: nun
mußte Roderich die Schuld von selbst erspart sein; denn der Hochverräther
Julian hatte alles Recht über die Tochter verwirkt; nun wurde Roderich selbst
als König derjenige, der Cava's Hand zu vergeben hat: er giebt sie natürlich
sich selbst.'
Wir haben in dieser Scene den Punkt erreicht, bei welchem begründete
Einwendungen gegen des Dichters Verfahren sich erheben müssen. Die Art.
mit der hier der schon vorbereitete Conflikt vermieden wird, ist eine gewalt-
same. Die Einreden der Schwester und des Freundes gegen Roderich's Hei¬
rath (Akt 3, Scene 3) sind tief und wahr empfunden; der eigene Vortrag
des Dichters senkt sie auch dem Leser und dem Zuschauer als nicht leichthin
abzuweisende ins Gedächtniß; und die Bemerkung Pelago's, mit der er zurück¬
zieht von dem früher Gesagten:
Ich gebe mich besiegt! was so gewaltig
So groß und recht, das trägt sein Recht in sich,
Und ob's Verderben ist — es ist doch schon!
diese Aeußerung hat nicht für Jedermann überzeugende Kraft- Immer¬
hin macht die Darstellung der Sache, die der Dichter bis zur 7. Scene des
3. Aktes verfolgt hat, den Eindruck, als ob es seine Absicht gewesen, aus
des Königs Verbindung mit Cava einen ersten und schweren Conflikt entstehen
zu lassen; die Umgebung hatte ihn nachdrücklich gewarnt (schon in früheren
Gesprächen mit Pelago war diesen Warnungen präludirt worden) und die
öffentliche Verhandlung vor dem Gothenvolke mit ihren wuchtigen Erklä¬
rungen des „Rechtswartes", des Organes gothischer Volks- und Rechtsan¬
schauungen mußte nach dieser Richtung hin unsere Auffassung spannen und
lenken. Da plötzlich zerrinnt der drohende Conflikt, — in der oben ange¬
gebenen Weise. Ueberraschend. ja befremdend ist sicherlich diese Ausbiegung,
mit der Decbr dem Drama eine andere Wendung giebt. Unzweifelhaft hat
ihn eins ganz bestimmte Absicht dabei geleitet: wenn wir richtig vermuthen,
so wollte er das mehr romantische Element in seiner Dichtung in möglichst
enge Schranken eindämmen, so wünschte er eine Theilung des Interesses
zu vermeiden, so fürchtete er die Sympathie für den Heidenkönig durch die
Theilnahme an dem Schicksal des Liebhabers leicht abzuschwächen: er aber
wollte — so denken wir — die dramatische Entwickelung des Kampfes der
feindlichen Prinzipien — Staatssouverainetät und Priesterherrschaft — unge¬
stört durch eine Einmischung andersgearteter Motive sich vollziehen lassen.
Mögen so oder anders die Gedanken lauten, die den Dichter zur Wahl
seiner dramatischen Motive bestimmt haben, wir haben es grade bei dem hohen
Interesse, das uns dies Drama eingeflößt hat, für richtig gehalten, auch
unsere kritischen Bedenken gegenüber dieser vom Dichter beliebten Wendung
nicht zu unterdrücken.
Mit den heranziehenden Mauren läßt Sindred sich in geheime Verbin¬
dungen ein, welche Roderich's Sturz vorbereiten sollen und herbeiführen. Zu¬
nächst war von den fanatisirten Anhängern der Kirche ein Mordanfall auf
Roderich versucht worden, der ihn zur höchsten Heftigkeit reizen mußte! Dann
verweigern die Bischöfe dem Könige alle und jede Hülfe und Unterstützung
für den bevorstehenden Maurenkrieg. Vergebens bittet und beschwört Roderich
seinen Gegner Sindred.
Da endlich reißt ihm die Geduld, und der alte leidenschaftliche Haß, der
in seiner Brust von Anfang an vorhanden gewesen, bricht in heftigem Toben
gegen die Bischöfe und die Kirche Spaniens los. Seine Umgebung ist durch
dies Auftreten des Königs erschreckt und beunruhigt; seine einzelnen Gebote
werden von dem eigenen Anhang mit abmahnenden Worten begleitet: der
Gipfel seines Unmuthes ist erreicht, als er das Privilegium Reccared's, auf
das die Kirche ihre Ansprüche gegründet, und das Sindred zur Abwehr ihm
entgegengehalten mit eigenem Schwerte zerstückt. Als er sich zum Vertheidi¬
gungskampfe wider die Mauren erhebt, da hat er — so ist unzweifelhaft die
Anschauung des Dichters — durch Uebertreibung seiner antikirchlichen Ma߬
regeln das Maaß des Nothwendigen und Gerechten überschritten. Das ist
seine Verschuldung: deshalb geht er unter.
Bei lebendiger Darstellung auf der Bühne erhalten wir unzweifelhaft
den Eindruck, daß die letzten Maßregeln Roderich's von ihm erlassen sind in
leidenschaftlicher Aufwallung, in stürmischem Jähzorn. Und die Ausrufe von
Roderich's Freunden, die voller Entsetzen ihn warnen, sind ganz geeignet diese
Stimmung in uns zu befestigen und verstärken. Aber wir können nicht um¬
hin an dieser Stelle noch einmal eine Schwäche dramatischer Begründung zu
erblicken, welche im engsten Zusammenhang steht mit jener soeben besproche¬
nen früheren Wendung. Mag die Aufführung bei schnell gewähltem Tempo
der Sprache, bei gelungener Versinnlichung der Leidenschaft die Schwäche vor¬
übergehend verdecken, vorhanden ist sie doch und bei der Lectüre wird sie we¬
nigen Lesern entgehen. Denn jene letztern Maßregeln Roderich's, in denen
er, von seinem Jähzorn bethört, unbilliges und ungehöriges der Kirche auf¬
gelegt haben soll, — sie sind für unser Empfinden ganz sicher gar nicht so
ungeheuerliche, wir werden sie vielmehr eigentlich für ganz wohl motivirte und
billige erklären müssen. Noderich verfügt die Freilassung der Ktrchensklaven,
ihre Waffenfähigkett und Einreihung ins gothische Heer; statt der bisherigen
Steuerfreiheit legt er den Kirchengütern eine doppelte Steuerquote auf; er
nimmt der Kirche die Hälfte der Kirchengesäße, um damit den Kriegsschatz zu
füllen: alles das sind Maßregeln, die einschneidend den bisherigen Zustand
ändern, die aber in dieser äußersten Noth und Gefahr des Reiches kaum dem
Gefühl der damaligen Zeit, sicher nicht unserer Anschauungsweise allzu hart
oder gar unerhört erscheinen können. Und wenn auch Roderich zuletzt, in
symbolischer Handlung die Aenderung des Rechtszustandes der Kirche darstel¬
lend, das Ktrchenprivilegium vernichtet, d. h. wenn er die von seinem Bor¬
gänger der Kirche gewährte Ausnahmestellung seinerseits kraft königlicher
Macht aufhebt, so ist nach dem was vorgegangen auch diese rasche That kein
so schweres Verbrechen, keine so schwere Schuld, daß sie Roderich's Untergang
nach sich ziehen müßte. Ein so stark gereizter, muthwillig vom Priester ver-
höhnter König begeht keine Sünde, wenn er in etwas heftigerer Tonart die
sonst nöthigen Gesetze einführt.
Nachdem von den beiden in den ersten Akten die tragische Schuld Node-
rich's vorbereitenden Motiven — wir meinen seine Verbindung mit Cava
und seine Neigung zu allzu gewaltsamer That — der Dichter selbst das eine
am Ende des dritten Aktes aus irgend welchem Grunde vollständig bei Seite
geschoben hat, war es nöthig, auf das andere die ganze Last der tragischen
Motivirung zu legen — wir glauben es ist dadurch in der That diesem an
und für sich schon nicht sehr tragfähigen Pfeiler eine zu schwere Last aufge¬
bürdet worden. Der Leser allerdings wird sich dieses Verhältnisses deutlicher
bewußt werden, als der bloße Zuschauer, dein der Lärm der Ausführung
Manches verdeckt.
Was den Untergang Noderich's und des Gothenreiches heraufbeschworen,
lag am Ende des 4. Aktes schon klar vor uns. Die Bischöfe hatten einen
geheimen Bund mit Taret dem Maurenführer geschlossen, ihm das Reich zu
überliefern. Der letzte Akt zeigt sie in Thätigkeit gegen den Gothenkönig als
Helfer des auswärtigen Feindes. Zwar prallt an den Gothen selbst Sin-
dred's Bannfluch ohnmächtig ab, der Gothen Seelen bleiben ihrem Könige
treu; aber in der entscheidenden Schlacht im entscheidenden Augenblick thut
der Fluch der Kirche seine volle Wirkung bei jenen freigelassenen Sklaven und
Leibeigenen der Kirche, welche Roderich unter seine Krieger aufgenommen
hatte; sie gehen zum Feinde über. Er selbst der König fällt im Kampfe von
verräterischer Hand.
Es war des Dichters Sache auch trotz des Unterganges seines Helden
unseren Sympathien mit Roderich Genugthuung zu verschaffen. Und auf dop¬
pelte Weise versucht er die poetische Gerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen.
Einmal ereilt die Bischöfe ihre Strafe. Sindred hatte der Kirche volle Frei¬
heit zusichern lassen, „so lange in Spanien Christenpriester leben"; von dieser
Clausel macht Taret einen ähnlichen Gebrauch wie Roderich im ersten Akt von
der Bedingung seiner Krönung: er nimmt sie wörtlich; er schafft seine Zusage
aus dem Wege, indem er die Bischöfe alle todtzuschlagen befiehlt. Trotz des
drastischen Effektes dieser Schlußscene hätte sich diese Wiederholung vermeiden
lassen. Viel tröstlicher wirkt auf uns der Ausblick in die Zukunft, den die
vorletzte Scene uns eröffnet. Der sterbende Roderich übergiebt seinem Freunde
Pelago die Krone der Gothen; auf Pelago beruht nun die Hoffnung gothi¬
scher Zukunft. In Asturiens Berge gedenkt er sich zurückzuziehen; und nie¬
mals sich zu ergeben, schwören die Gothen mit ihrem neuen König. Mit Be¬
ziehung auf den wirklich eingetretenen Verlauf durfte der Dichter den Aus¬
spruch dem neuen Gothenhelden in den Mund legen:
„Einst koimut die Zeit, da von den Bergen wieder
Dein Volk, o Not'rieb sieghaft niedersteigt."
Aus dieser kurzen Inhaltsangabe wird schon hervorleuchten einen wie ge¬
waltigen ideenreichen und fesselnden Inhalt dies historische Trauerspiel in sich
birgt. Unverkennbar ist überall der große dramatische Zug, der die ganze
Handlung bewegt und allenthalben auch den Dialog erfüllt.
Und wenn immerhin gegen einzelne Punkte in der Motivirung mit Fug
und Recht, wie wir gesehen, Einwendungen sich erheben, wenn auch an ein¬
zelnen Stellen störende Wiederholungen sich aufzeigen lassen (z. B. jene afri¬
kanische Gefangenschaft Noderich's wird, allerdings immer mit Nuancen, drei¬
mal erzählt): so sind alle diese Punkte geringfügig und verschwindend, sobald
man auf das Ganze der Dichtung hinsieht. Das Ganze übt auf Leser und
Zuschauer eine großartige Wirkung. Aus diesem Drama weht uns der Hauch
idealer Poesie entgegen. Hier werden hohe und ernste Gedanken ausgesprochen,
große Fragen und Aufgaben menschlichen Lebens mit dichterischer Vertiefung
in künstlerischen Formen behandelt.
Der Dialog ist lebendig und charakteristisch; wiederholt begegnen wir
reiflich durchdachten und prächtig ausgedrückten Sentenzen. Und wenn bis¬
weilen die letzte Feile der Sprache vermißt wird, so entschädigt dafür an an¬
deren Stellen hohe Schönheit der Form und des Gedankens.
Auch unter den Nebenfiguren sind eine ganze Anzahl charakterisirter Per¬
sönlichkeiten. Der edle Pelago, der biderbe Garding, der kriegerische Bischof
Gundomar, der Maurenfeldherr Taret, der als sein eigener Gesandter und
Späher bei den Gothen gewesen, auch Noderich's Schwester Theodosia — sie
alle erregen unser Interesse. Ganz besonders Taret ist eine markige charak¬
tervolle Erscheinung. Am wenigsten gelungen ist nach unserer Meinung die
Geliebte: Cava ist die stereotype blonde Jungfrau, die sich lieben und küssen
läßt und auch nach Kräften wieder liebt; eine wirkliche Charakteristik scheint
der Dichter nicht beabsichtigt zu haben.
Alle Kraft und Kunst dichterischer Charakteristik sind dagegen aufge¬
wendet bei den beiden Hauptpersonen — Noderich und Sindred. Noderich's
Heldensigur ist mit Begeisterung vom Dichter erfaßt und ausgeführt. Die
Persönlichen Eigenschaften Noderich's verbinden sich mit der königlichen
Majestät in ihm zu einem mächtigen Ganzen. Mit vollem Bewußtsein stürzt
Noderich sich in den Kampf gegen die Kirche; von seinem guten Rechte ist er
aufs lebendigste durchdrungen. Mit Energie und mit Klugheit weiß er den
Priester zu fassen; — er erliegt allein dem Verrathe, der dem auswärtigen
Feinde die Thore des Reiches eröffnet.
Sindred auf der andern Seite ist die volle Repräsentation des kirchlichen
Prinzipes, dessen Bedeutung und Tragweite er voll und ganz übersieht und
mit kräftigem Worte ausspricht. Es lag für einen andersgesinnten Dichter
die Gefahr nahe, dem Vertreter der bekämpften Kirchengewalt die Züge des
hergebrachten Theaterbösewichtes und Intriganten zu verleihen. Davon ist
Dahn so weit als möglich entfernt. Sein Kirchenfürst ist in der That ein
Bild jener großen Kirchenmänner des Mittelalters, die sich die Welt zu be¬
herrschen angemaßt und eine wirkliche Herrschaft auszuüben sich befähigt er¬
wiesen haben. Nur ein ins Geistesleben des Mittelalters so tief eingedrungener
Dichter, wie der Rechtshistoriker Dahn augenscheinlich dies von sich rühmen
darf, vermochte in Zeichnung und Farbenstellung ein so treues, historisch und
psychologisch wahres Charakterbild zu schaffen.
Die Kirche verschmäht die kleinen Mittel der Intriguen und der indirek¬
ten Wege durchaus nicht, wo sie Erfolge von ihnen erwartet; sie pflegt ihre
Feinde nicht zu unterschätzen; sie sucht lieber in freundlicher Weise den Gegner,
der als solcher ihr kräftig entgegentritt, für sich zu gewinnen, als daß sie
von vornherein auf Kampf und Krieg sich einrichtet. Erst wenn der Com-
promiß sich als unthunlich herausgestellt, dann erst erhebt sie den Kampf,
dann aber auch mit voller Wucht, mit allen Mitteln, ohne Rücksicht und
Bedenken in der Wahl ihrer Waffen. Und wo sie mit ihrer Agitation auf
Erfolg rechnen darf, an welche Gefühle sie sich wenden muß, — Niemand
weiß dies besser als derjenige, dem die Kirche die Herrschaft über Menschen
aufträgt. Der Sindred Dahn's ist ein Musterbild eines solchen Bischofs: alle
wesentlichen Züge und Elemente, welche nach Erfahrung der Geschichte den
Charakter eines solchen Bischofes ausmachen, sind in ihm mit gut gewählter
Mischung alles .Einzelnen vorhanden. Diesem Geschöpfe seiner Muse hat
Dahn das vollste Gepräge von Lebenswahrheit verliehen.
Zwischen Sindred und Roderich wird der Kirchenkampf geschlagen. Wie¬
derholt treten sie sich persönlich gegenüber, wiederholt sprechen sie den Gegen¬
satz der Prinzipien gegeneinander aus. Wir möchten zum Schluß dieser Be¬
sprechung auf einige Stellen hinweisen, welche in besonders gelungener Form
die streitenden Prinzipien kundgeben.
Gleich in der ersten Scene, in der sich die Bischöfe für die Wahl Rode-
rich's entscheiden und Sindred jenen Eid von Roderich zu erheischen vor«
schlägt, entgegnet er dem Einwurf: „Was gilt ein Eid!" mit dem gut ge¬
dachten Worte:
„Biel für die Hörer, Brüder,
Und d'rum auch Eiliges für den Schwörer selbst.
Trotz aller seiner Einsicht aber läßt Sindred sich von Roderich überlisten,
wie wir schon berichtet haben. Anfangs glaubt er noch nicht recht an den
Ernst des Königs, wider die Kirche zu streiten; der Priester, der die Schwä¬
chen der Menschen kennt meint, Roderich verfolge ganz andere Ziele. Aber
seine Speculation auf Roderich's Liebesneigung zu Cava schlägt ihm fehl. Da
erst sieht auch Sindred diesen Kampf an für einen unvermeidlichen, da erst
enthüllt sich uns seine ganze priesterliche Energie. Im dritten Akt (Scene 5),
nachdem die ersten Plänkeleien der Gegensätze vorüber, treten sich die Prinzipien
offen und unverhüllt entgegen. Als Roderich ihm droht: „Du weißt: den Hoch¬
verrath trifft Tod," antwortet er stolz:
„Du aber weißt, das schreckt den Priester nicht:
Er steht am höchsten auf dem Blutgerüst!"
Er bekennt, zu des Papstes Füßen, in Rom, seine Ideen über die Macht
und das Recht der Kirche gelernt zu haben; er spricht auch unverholen das
Axiom der Kirche aus:
„der Kirche Herrschaft gründet
Auf sünd'ger Schwäche menschlicher Natur.
Schlecht ist und schwach der Mensch: erbsündig wuchert
Die Selbstsucht von Geschlecht fort zu Geschlecht:
Auf Erden sucht die Menschheit und im Himmel
Stets nur das eigne Wohl, wer dies ihr spendet,
Wer dies ihr sichert, der beherrscht sie ganz.
Lernt nun die zage Seele, daß auf kurze,
Sehr kurze Erdenzeit das Jenseits folgt,
Mit co'gen Wonnen oder co'ger Qual,
Blindlings gehorcht die bange Schaar der Hand,
Die, wie sie weiß, des Himmels und der Hölle
Furchtbare Pforten aufthut oder schließt!
Denn feig, gemein und elend ist der Mensch."
Nodench beruft sich gegen diese Theorien auf das Gefühl der Menschen
für ein größeres Ganze:
„Nein, Priester! Nein! laut straft mein Herz Dich Lügen:
Nicht Selbstsucht nur pocht in des Mannes Brust:
Begeistert bringt er sich als Opfer dar,
Gilt es sein Höchstes — Volk und Vaterland.An diese todten Götzen glaubst du noch?
Sindred:
Noderich: Sie sind nicht Götzen und sie sind nicht todt.
Sindred: Wohl, jeder schafft sich thöricht ein Idol,
Das ihm als'Höchstes gilt und betet's an —
Und liebt und betet an doch nur — sich selbst."
Noderich setzt in längerer Ausführung darauf seine Gefühle auseinander,
zuletzt seine begeisterte Liebe für sein Gothenvolk. Darauf
„Sind red: Und doch ist Selbstsucht diese Liebe auch,
Nur bohre, sein're als der großen Menge:
Und niemals wird, Dir ähnlich, diese Menge
Im Staat, in VolkeSehrc, Volksfreiheit
Ihr Höchstes finden! nein, die Menge sucht
Das eigne Wohl im Himmel und auf Erden:
Nicht die Begeisterung für das Vaterland,
Die Furcht vor Höllenstrafe ist das Stärkste:
Und wohl der Menschheit, daß dem also ist.
Daß eine Schranke Gott auf Erden setzte,
Sonst wüchsen Uebermuth und Lust und Sünde
Hochfärtig durch die Wolken in den Himmel.
Drum laß vom Kampf mit uns, Du kühner König,
Schon vor der Schlacht hast Du den Sieg verloren:
Es wär ein Kampf um dieses Volkes Seele
Und diese Seele — hat die Kirche ganz.
Nein, Erzbischof, nein, bei dem Stern der Gothen!
Das Höchste ist dem Volk des Volkes Ehre,
Und nicht der Kirche Segen oder Fluch.
Ich setze Thron und Leben dafür ein:
Ich wette und ich ringe mit Dir, Priester,
Um meines Volkes Seele.Noderich: Es soll gelten!"
Sind red:
Der Verlauf des Dramas lehrt, daß bei den gothischen Volksgenossen
Noderich Recht behält, aber die Leibeigenen der Kirche — wie sie hier kurz
bezeichnet werden, die „Kirchenknechte" — folgen dem Worte des Bischofs ganz
anders als dem Befehle des Königs:
„geknechtet hat die Kirche ihre Seelen,
Und diese kann kein Königswort bcfrei'n." '
Ihr Abfall hat die Maurenschlacht entschieden. Und somit hat allerdings
zunächst im Bereiche dessen, was im Drama vorgeht, Sindred mit der Kirche
gesiegt; — in der Seele moderner Menschen aber ruft dieser zeitweilige Sieg
ganz andere Empfindungen und Reflexionen wach: der Eindruck der ganzen
Dichtung auf das heutige Publikum ist ganz gewiß nicht der, daß der Kirche
über den Staat der Sieg gebühre.
Und zu leidenschaftlicher Höhe wird diese Empfindung, mit der wir dem
Drama folgen, in uns erregt grade durch die objektive und sichere Art, in
welcher der Dichter Sindred's Standpunkt sich dem Gebote des Staates ge¬
genüber offenbaren läßt. Ergreifend und aufregend ist sicher das Wechsel--
gespräch zwischen Noderich und Sindred am Ende des vierten Aktes. Nach¬
dem alle Bitten des Königs bei der feindlichen Kirche um Hülfe für das
Reich in seiner höchsten Gefahr vergeblich geblieben, ruft Roderich unwil¬
lig aus:
„Bist Du ein Gothe? sprich, bist Du ein Mann?
: Ich bin ein Priester und ich bin ein Christ.
Sindrcd
Noderich: Hast Du kein Herz für Deines Volkes Ehre?
Sindred: Des Christen Ehre ist nur Christi Kreuz.
Hast Du kein Herz für Vaterland und Heimath?
Noderich: Das Christen Heimath ist im Himmel nur."
Sindred:
Zuletzt als der König seine einschneidenden Befehle gegeben, die Mit¬
wirkung der kirchlichen Machtmittel zur Vertheidigung des Vaterlandes zu
erzwingen, da schleudert Sindred gegen ihn die Verwünschung:
„Fluch und Verderben schlage Dich, Du Wuth'rieb.
Verfallen ist Dein Thron, Dein Haupt, Dein Leben!
Und Jedem, der Dich mordet, lohnt der Himmel."
Was Roderich damals nicht weiß, daß Sindred im geheimen Bunde mit
dem Landesfeind steht, wir wissen es, wir haben selbst wenige Scenen vorher
den Abschluß des Bundes auf der Bühne gesehen! Desto furchtbarer erscheint
uns der Fluch Sindred's, desto greller tönt in unsere Ohren der Ruf, mit
dem er die Nachricht vom Maureneinfall begrüßt:
„Die Rächer nah'n. In Blut wirst Du versinken:
Ein ungeheures Blutmeer überschwemmt
Dich, Deinen Thron, Dein Reich-, und einsam schwimmt
Allein gerettet, nur die Arche Gottes,
Die Kirche, siegreich durch die Sintfluth hin."
Wir modernen Menschen wenden unseren Sinn entsetzt ab von diesem
Priester, der seines eigenen Volkes Untergang in einem Blutmeere herbei¬
wünscht, der sein Vaterland verräth aus Rache wider den König, welcher die
Rechte der Staatsgewalt gegenüber der Kirchenmacht herzustellen und zu be¬
haupten unternommen. Mit solchen Gefühlen zorniger Entrüstung über
die Anmaßung der Kirche wird. Dahn's Roderich Leser wie Zuschauer
entlassen!
Kurz vorher war in dem Lande der Bankexperimente, in den Vereinigten
Staaten von Amerika, eine Organisation des Zettelbank-Wesens angenommen
worden, welche einen neuen Beweis für die' Vorzüge der Concentration gegen¬
über der Zersplitterung des Notenbank-Wesens liefern sollte. Die amerika¬
nische Bundesregierung, welche sich während des Bürgerkrieges am Ende ihrer
Hilfsquellen sah, verschaffte sich ein neues Anlehen von über 300 Millionen
Dollars mit Hülfe einer Reorganisation der Zettelbanken. Bis zum März
1862 waren die amerikanischen Zettelbanken Anstalten, welche ihre Concession
von den Regierungen der einzelnen Staaten erhielten. Durch ein Gesetz vom
23. März 1863 wurde das Institut der Nationalbanken gegründet und mit
solchen Borrechten ausgestattet, daß den Staatenbanken nichts anderes übrig
blieb, als sich in Nationalbanken umzuwandeln. Die Hauptbestimmung der
neuen Organisation war, daß ein einheitliches Notenformular für die ganze
Union an die Stelle von 1466 verschieden gestaltigen Noten, soviel eben
Staatenbanken existirten, gesetzt wurde und daß die Bundesnoten den Banken
fortan nur gegen Hinterlassung von Unions-Obligationen beim Staatsconlrol-
Amt verabfolgt wurden. Diese Unions-Staatspapiere werden nur zu 90^
des Curses angerechnet, die Zinsen aber vom Control-Amt den betreffenden
Banken verabreicht. Diese Einrichtung konnte gegen den frühern Zustand
als eine wesentliche Verbesserung der Credit-Umlaufsmittel betrachtet werden-
Denn während vorher das Publikum unmöglich 1466 Banken controliren
konnte und ebensowenig wissen konnte, welche davon am Rande des Bankerot¬
tes standen, als es aus den taufenden von Notensorten die gefälschten heraus¬
zufinden vermochte, war gegen die erstere Gefahr vollständige Garantie gege¬
ben und die letztere war bedeutend verringert, weil die Fabrikation der Noten
von der Bundesregierung sorgfältiger eingerichtet und die Ueberwachung der
selben leichter bewerkstelligt werden konnte. So hatte man zuerst in Amerika
die Noten und das Staatspapiergeld in solchen Farben hergestellt, welche der
photographischen Nachahmung widerstehen und die Bank von Frankreich war
nachgefolgt. Die Folge war, daß trotzdem Bundespapiergeld (Kreen-LacKs)
im Betrage von ungefähr 400 Millionen Dollars umlief, trotzdem der Bank¬
noten-Umlauf in den sich gegenwärtig rund 1700 Banken theilen, schon
innerhalb drei Jahren von 245 auf 300 Millionen Dollars gestiegen war
und gegenwärtig (23. Januar 1873) 345 Millionen Dollars beträgt. Diese
bedeutende Vermehrung des Notenumlaufes um 100 Millionen Dollars
innerhalb 10 Jahren beweist deutlich, wie sehr die Concentration der Noten
ihren Umlauf, begünstigt. Der Umstand, daß die amerikanischen Banken gegen¬
wärtig ihre Noten nicht baar einlösen können, hat seinen Grund nicht in
der Haltung der Banken, fondern in der bekannten Thatsache des Umlaufs
von 386 Millionen Staatspapiergeld mit gesetzlichem Curse. Eine andere
Thatsache aber, daß nämlich die New-Yorker Banken, welche den gegenwär¬
tigen Nationalbanken zum Vorbilde gedient haben, schon vor dem Bestand
der Green-backs z. B. in der Krisis von 1837 ihre Baarzahlungen einstellen
mußten, hatte seinen Grund in der übermäßigen Annahme verzinslicher De¬
positen, welche beim Ausbrechen der Panik nicht so rasch zurückgezahlt wer-
den können als sie verlangt werden, weil die Banken von dem Eingehen ihrer
Aufstände abhängen.
Ein anderes Beispiel von den Bortheilen der Concentration gegenüber
der Zersplitterung des Notenumlaufs hatte im verflossenen Jahre Italien ge¬
geben. Dort hatten die großen Banken sich mit einer großen Anzahl kleiner
Volksbanken in die Emission der Noten getheilt, von denen eine große Zahl
bis zum Betrag von 60 ja sogar von 20 Centimes herab umliefen. Im ver¬
flossenen Jahre wurde ein neues Bankgesetz erlassen, in Folge dessen der No¬
tenumlauf dahin reformirt wurde, daß nur sechs Banken in Besitz des Noten-
Emissionsrechtes blieben mit der Befugniß zur Ausgabe von ungefähr 450
Millionen Lire, neben welchen noch für 1000 Millionen Lire Staatsbanknoten
ausgegeben werden, für welche der Staat und jene sechs Zettelbanken gemeinsam
Garantie leisten. Durch diese Reform ist der Gesammtumlauf, welcher früher
über 1800 Millionen Lire betrug, auf 1450 Millionen reduzirt worden. Die
Wirkung, welche diese Reform auf die italienische Rente hatte, war eine außer¬
ordentliche, denn dieselbe ist von 61'74 am 2. Januar 1874 aus 71-46 am
9. März 1875 emporgeschnellt und auch die Valuta hat sich wesentlich gebessert.
Zwar läßt sich das Steigen der Rente nicht in seinem ganzen Umfang
der Reform des Emissions-Wesens beimessen, weil die allgemeinen europäischen
Verhältnisse sowie die Bemühungen der italienischen Regierung zur Wiederher¬
stellung des Gleichgewichtes auch ihren Theil daran haben. Allein das Sinken
des Goldagios um fast 4°/« im Verlaufe von kaum neun Monaten ist fast aus¬
schließlich dieser Reform der Umlaufsmittel zuzuschreiben, welche zeigt, wie
wohlthätig die Concentration der Notenausgabe auf den Credit der Umlaufs¬
mittel zu wirken im Stande ist.
Auch bei einem gemischten System wie es in England und Deutschland
besteht, liegt der Vorzug einer großen centralisirten Zettelbank vor vielen
kleinen Banken in Beziehung auf die Umlaufsfähigkeit und den Credit ihrer
Noten klar zu Tage.
Zu Deutschland bestehen neben der großen preußischen Bank, deren Um¬
wandlung in eine deutsche Neichsbank bevorsteht, noch 33 Privat-Zettelbanken.
Während aber die Noten der letzteren nicht durchgehend anstandslos in sämmt¬
lichen Staaten des deutschen Reiches circuliren, wenigstens bis jetzt und vor
dem ins 'Leben Treten des neuen Bankgesetzes nicht einmal in Deutschland
überall gern genommen werden, sind die Staaten der preußischen gegenwärtig
nicht bloß das beliebteste Zahlungsmittel im deutschen Reiche geworden, son¬
dern sie werden auch im Auslande bis in überseeischen Ländern ebenso gerne
wie die Noten der Banken von Frankreich und England in gewissen Bezieh¬
ungen als Tauschmittel angenommen.
Während die Notencirculation der preußischen Bank am letzten Januar-
dieses Jahres 784,777,000 Mark betrug, erhob sich der Zettelumlauf der 33
deutschen Privat-Banken nur auf 392,473,000 Mark. Da sich unter diesen
Zettelbanken auch eine Anzahl befindet, welche, wie die Frankfurter, Bremer
und Lübecker Bank in großen Handelsmetropolen sich befinden, oder solche,
welche für ihr specielles Land gewissermaßen ein centralifirtes Institut reprä-
sentiren, wie die badische, würtenbergische und bairische Bank, so läßt sich
daraus umsomehr der Bortheil einer großen concentrirten Notenbank für die
Sicherung und Ausdehnung der Circulation ermessen.
Aehnlichen Erfahrungen begegnen wir in Großbritanien. In England
und Wales bestehen oder bestanden wenigstens 1865 noch 163 Privatbanken
und 03 Actienzettelbanken neben der Bank von England. Die letztere besaß
nur 13 Zweiganstalten, während die Privatbanken 551 und die Aktienbanken
630 Zweigcomptoires hielten. Einige dieser Privat- und Actiendanken sind
eingegangen oder haben ihr Enunissivnsrecht der Bank von England seitdem
abgetreten; ihre Zahl ist aber so verschwindend klein, daß sie bei der Ge-
sammtziffer nicht in Betracht kommt. Nun hatte die Bank von England
am 23. Januar dieses Jahres einen Notenumlauf von 26,313,715, Pfund
Sterling; die Privatbanken einen solchen von 2,612,932 Pf. Sr. und die
Actiendanken einen solchen von 2.328.482 Pf. Se. Während also die Bank
von England die ihr vom Gesetz vom Jahre 1844 zugestandene Summe un¬
gedeckter Noten um 12 Millionen Pf. Sterling durch Gold gedeckter Zettel über¬
schritt, hatten die 216 andern Banken nicht viel mehr Noten im Umlauf als
ihnen durch das Gesetz zugewiesen sind. Die schottischen Banken haben den
Vortheil für ihre Circulation, daß sie Einpfund-Noten ausgeben dürfen, wäh¬
rend die geringsten Abschnitte der englischen Banken auf fünf Pfund laufen.
Ferner haben die schottischen Banken den Vortheil, daß sie mit über 700 Zweig¬
anstalten arbeiten und auch viel Credit gegen Bürgschaft geben.
Trotz dieser den Umfang der Notencirculation an und für sich sehr ver¬
größernden Umstände, hatten die 11 schottischen Zettelbanken an dem genann¬
ten Zeitpunkt doch verhältnißmäßig zur Bevölkerung keinen größeren Umlauf
als die englischen. Derselbe betrug nämlich 6,862.215 Pf. Se. In Irland
bestehen neben der Bank von Irland mit 26 Zweiganstalten sechs Actiendanken
mit 183 Zweigcomptoires, diese sämmtlichen Banken hatten am 23. Januar
dieses Jahres einen Gesammtumlaus von 6,882,942 Pf. Se. Der Gesammt-
umlauf von England und Wales betrug etwas über 31^4 Millionen Pf.
Sterling, der Gesammtumlaus des vereinigten Königreiches etwas über 44
Millionen Pf. Sterling. Der Gesammtumlaus der Bank von England allein
mit nur 13 Zweiganstalten war aber stärker als der von 233 Privatbanken
in England, Schottland, Wales und Irland, trotz ihrer 2116 Zweigcomptoires.
Wir haben bisher die Erfahrungen von vier verschiedenen Kategorien von
Zettelbankorganisationen vorgeführt: die reine Centralisation, die Baufreiheit
mit Concentration der Note, ein gemischtes System, bei welchem eine große
Bank von einer Schaar von Satelliten umgeben ist und endlich ein System
in der Zahl beschränkter mittelgroßer Banken, wie wir es in Italien gesehen
haben. —
Es bleibt uns nun noch übrig die Bankfreiheit, beziehungsweise die
Bankvielheit bei Zersplitterung der Notenausgabe zu betrachten. In Be¬
ziehung auf die zersplitterte Zettelbank-Freiheit sind die reichsten Erfahrungen
im zweiten Viertel dieses Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten gemacht
worden. Es würde uns zu weit führen, die Nachtheile zu schildern, welche
dieses System zur Folge gehabt hat; es genügt hier darauf hinzuweisen,
daß die Uebelstände dieses Systems zu der Nadical-Reform geführt haben,
durch welche das amerikanische Zettelbankwesen unter dem Vorgange New-
Aorks in seine jetzige concentrirte Gestalt verwandelt worden ist. Die Un¬
Haltbarkeit der zersplitterten Zettelbankfreiheit ist damit für Amerika wenig¬
stens faktisch erwiesen. Wir wollen uns auf ein europäisches Beispiel der
Gegenwart beschränken, aus die schweizerischen Zettelbanken. Die Schweiz
ist zwar gegenwärtig damit beschäftigt zum Ausbau ihrer neu revidirten Bun¬
desverfassung auch ein allgemeines Bankgesetz zu erlassen, durch welches das
Verhältniß der Zettelbanken zu einander ähnlich wie im deutschen Reiche nur
Mit etwas laxeren Bestimmungen geregelt wird, bis jetzt aber war das No¬
tenbank-Wesen nur der Gesetzgebung der 25 einzelnen souverainen Cantone
und Halbeantone unterworfen. Obwohl in den einen derselben die Noten¬
ausgabe Monopol einer einzigen Anstalt, in den andern von der Concession
der Negierung abhängig war und in dem dritten sogar unbedingte Freiheit
der Zettelausgabe sogar für Privatpersonen bestand, obgleich also,nicht in
jedem Cantone die Zettelbankfreiheit existirte, so wurde doch in der ganzen
Schweiz, weil die meisten Cantone Concessionen und manche sogar mehrere
ertheilten, wahrscheinlich mehr Zettelbanken hergestellt, als in einem centra-
lisirten Staate von gleicher Bevölkerungszahl bei voller Zettelbankfreiheit er¬
richtet werden würden. Denn 22 Zettelbanken, welche bis vor Kurzem in
der Schweiz bestanden, sind für eine Bevölkerung von 2,600,000 Menschen
Mehr, als ein anderer europäischer Staat, Schottland nicht ausgenommen,
aufzuweisen hat. Man kann also sagen, daß die Vielheit der Zettelbanken
in der Schweiz in der Wirkung der vollen Zettelbankfreiheit gleichkommt, zu¬
mal die letztere in einem großen Theil der Cantone bisher auch wirklich ge¬
setzlich bestand. Was sind nun die Wirkungen dieser Einrichtung? Die erste
Zettelbank war im Jahre 1836 gegründet worden. Die Zahl der Noten¬
banken war bis im Jahre 1864 auf 22 gebracht worden. Im Jahre 1868
Waren aber zwei davon schon wieder eingegangen, über welche der Concurs
verhängt worden war, weil sie sich zu stark in Speculationsgeschcifte einge¬
lassen hatten. Im Canton Bern hatte das Bankgeschäft von Marcuard Co.
einige Zeit sogar auf eigene Faust Noten ausgegeben, aber nach kurzer Zeit
wieder darauf verzichtet, weil das Unternehmen sich als unrentabel erwies.
Es war zu schwer gewesen, die Noten an den Mann zu bringen und wenn
untergebracht, kehrten sie so rasch wieder an die Kasse zurück, daß das Erträg-
niß an ersparten Zinsen nicht einmal die Anfertigungskosten der Noten auf¬
wog. Eine ähnliche Erfahrung wurde obwohl in geringerem Maße auch von
den verschiedenen Actienbanken gemacht. Mehr als ein schweizerischer Bank-
director hat mir im Vertrauen gestanden, daß ihre Anstalt gerne für den
Ersatz der Druckkosten der Noten auf die Emission verzichten würde. In
keinem Lande Europa's sah man bis vor 2 Jahren so wenig Banknoten im
Umlauf als in der Schweiz, denn das Publikum des einen Cantons nahm
die des anderen in der Regel nicht in Zahlungsstatt an; letztere mußten viel¬
mehr fast immer beim Banquier gegen Disagio verkauft werden, gerade als
wenn es Noten eines nicht schweizerischen Staates gewesen wären. Um diesen
mißlichen Zustand der Credit-Umlaufsmittel einigermaßen zu bessern, bildeten
sich 2 Cartell-Vereine von Zettelbanken, welche sich zu gegenseitiger Annahme
ihrer Noten zum nommat-Betrage verpflichteten. Zu dem einen dieser Cartell-
Vereine gehörten die consolidirten Zettelbanken der größeren Handelsplätze,
an der Spitze des anderen, von diesen ausgeschlossen, stand die eidgenössische
Bank in Bern. Da aber die beiden Cartell-Vereine in keiner Beziehung zu
einander standen und überdieß nicht alle Banken dem einen oder andern an¬
gehörten, so war doch nicht viel gewonnen und es konnten trotzdem noch in
vielen Fällen Noten schweizerischer Banken nur gegen Verlust angebracht
werden. Die Notencirculation stieg daher nie über 7 bis 8 Franken per
Kopf der Bevölkerung, und der Gesammtnotenumlauf der schweizerischen
Zettelbanken erhob sich am Ende des Jahres 1868 auf nicht höher als 20^
Millionen Franken.
Seit zwei Jahren hat sich diese Circulation allerdings mehr als verdop¬
pelt; allein dieser plötzliche bis dahin nie erhörte Sprung entstammte einer
Ursache, welche mit der Organisation des Zettelbankwesens in gar keiner Be¬
ziehung steht — dem Verschwinden des Goldes aus dem schweizerischen Ver¬
kehr. Wir haben den Grund dieser Erscheinung schon an anderer Stelle*)
nachgewiesen und beschränken uns hier nur auf eine kurze Andeutung. In
Folge der Vorbereitungen zur deutschen Münzreform begann der Preis des
Silbers zu sinken und letzteres verdrängte bei der in der Schweiz herrschenden
Doppelwährung das in höherem Cours stehende Gold. Da der schweizerische
Geschäftsverkehr aber seit zehn Jahren den Gebrauch der Silberthaler verlernt
hatte und das Publikum sich davon sehr belästigt fand, so wurde es fast wider
Willen gezwungen, größeren Gebrauch von den Banknoten zu machen. Bis
vor wenigen Jahren aber stand die Schweiz in der Noteneirculation hinter
den Staaten mit centralisirten oder gemischtem Notenbankwesen weit zurück
und nur Baiern würde noch weiter dahinter bleiben, wenn man nur die
Emission der bairischen Hypotheken- und Wechselbank in Anschlag brächte,
welche fünf Franken auf den Kopf betrug, allein dieses Verhältniß ist nur
scheinbar, weil in Baiern bislang auch Noten der preußischen und der Frank¬
furter Bank in großen Summen circuliren und weil auch noch 21 Millionen
Gulden Staatspapiergeld im Umlauf waren.
Die Wirkung der Zettelbankfreiheit auf den Umfang der Notenemission
läßt sich am besten durch einen Vergleich mit den Staaten centralisirter und
gemischer Zettelbankorganisation erkennen. Wir wählen zu der nachfolgenden
Tabelle die Ausweise von den Jahren 1867 und 1868, weil da in Frankreich
der Zwangscours noch nicht bestand und überhaupt die wirthschaftlichen Aus¬
nahme-Zustände noch nicht begonnen hatten, welche durch den Krieg, die
Milliarden-Zahlung, die deutsche Münzresorm und die Krisis hervorgerufen
worden sind.
Nachdem wir somit die Hauptmomente des statistischen Thatbestandes
vorgeführt, wollen wir zur Prüfung der wesentlichen Gründe übergehen, welche
sowohl zu Gunsten der Einheit wie der Vielheit der Zettelbanken angeführt
werden. Diese Gründe sind am eingehendsten bei Gelegenheit der französischen
Bank-Enquete") erörtert worden und man kann sagen, daß die Frage seitdem
als wissenschaftlich zu Gunsten der Bankeinheit entschieden betrachtet werden
kann. An die Spitze jeder derartigen Erörterungen muß die Betrachtung ge¬
stellt werden, daß der heutige Verkehr ohne die Banknote gar nicht mehr
denkbar ist. Man könnte sich ebenso gut den Transport gegenwärtig ohne
Dampfschifffahrt und Eisenbahnen denken. Für denjenigen, welcher den Um¬
satz einer großen Handelsstadt ohne Banknoten wie z. B. den in Frankfurt
a. M. vor Errichtung der Frankfurter Bank im Jahre 1854 angesehen hat,
bedarf diese Frage gar keiner Erörterung mehr. Aber auch schon jeder Ein¬
zelne kann sich die Unbequemlichkeit vorstellen, welcher er ausgesetzt wäre, wenn
er bei herrschender Silberwährung die Baarschaft, welche er persönlich bei sich
zu tragen Pflegt, in Silbermünzen mit sich führen müßte. Bei dieser Unent-
behrlichkeit der Banknote bedarf die Zweckmäßigkeit ihrer Existenz gar keiner
weiteren Untersuchung und es kann siel) daher nur darum handeln, diejenige
Organisation ausfindig zu machen, bei welcher dieselbe die möglichste Sicher¬
heit den ausgebildetsten Credit und den größtmöglichen Umlaufskreis er¬
langt, weil dadurch die Gefahr vor Verlusten am meisten vermindert und
die Bequemlichkeit des Geschäfts« und Reise-Verkehrs am meisten geför¬
dert wird.
Unter solchen Umständen brauchen wir uns mit den Ansichten Derjenigen
nicht zu befassen, welche, wie Ccrnuschi, deshalb für die unbeschränkte Freiheit
der Zettelbanken auftreten, weil sie die Banknote überhaupt principiell ver¬
dammen und deshalb die Emissionsfreiheit als ein die Circulation störendes
Element eingeführt haben möchten, welche wollen, daß Jedermann Noten aus¬
geben könne, damit Niemand sie mehr nehme. Die ernsthaften Anhänger der
Zettelbank-Freiheit führen im Wesentlichen zu Gunsten ihrer Ansicht folgende
Gründe an:
1. Sie verwerfen das Monopol. Sie sehen keinen Unterschied zwischen
der Freiheit der Zettelbanken und der anderer Handels- und Industriezweige.—
2. Sie verwerfen die Bezeichnung der Banknote als Geld-Surrogat. Dieselbe
sei nur ein Zahlungsversprechen wie jeder andere Schuldschein. Wenn die
Banken Noten ausgeben, so thun sie nichts anderes, als wenn die Kaufleute
Wechsel ziehen. Und wenn die Kaufleute und Industriellen das Publikum
durch Bankerott schädigen können, so verhalte es sich mit den Banken nicht
anders. 3. Sie legen ein Hauptgewicht auf die Concurrenz, welche in Sachen
der Notenemission ebenso vortheilhaft sei. als bei anderen Geschäften. Die
Concurrenz drücke den Zinssatz herab, während das Monopol einer einzigen
Bank erlaube, den Discontosatz nach Belieben zu regeln. — 4, Durch die Frei¬
heit der Zettelbanken werde das Bankgeschäft in viele Anstalten decentralisirt,
welche ohne die Notenemission nicht bestehen könnten, während sie die bis in
die kleinsten Lokalitäten zerstreuten müssigen Kapitalien sammeln und dadurch
ihrerseits die Wohlthat billigen Credits verbreiten. — 5. Eine monopolisirte
Bank sei viel leichter in Gefahr bei politischen Nothständen von der Negierung
mißbraucht zu werden, um die Hand zu einer Verschlechterung der Valuta zu
bieten, als viele Banken. — 6. Die Beaufsichtigung einer monopolisirten Bank
durch die Regierung sei nicht so wirksam als die Ueberwachung, welche bei
vielen Banken durch gegenseitige Controle obwaltet. —
Diesen Gründen stehen zahlreiche Argumente von Seiten der erfahrensten
Theoretiker und Praktiker entgegen: a) Wenn nirgend sonst, so ist hier das
Monopol gerechtfertigt, weil die Note ein Umläufsmittel ist, dessen sich Jeder¬
mann bedient, welches überall statt Geld angenommen wird und welches nicht
bloß zwischen bestimmten auf dem Schuldschein selbst verzeichneten Personen
circulirt, für welches jeder Zeichner haftbar ist. — K) Die Banknote ist zwar
ein Schuldschein aber sie unterscheidet sich von der gewöhnlichen Obligation
dadurch, daß sie unverzinslich ist. Es ist also nicht richtig, die Note mit dem
Wechsel zu vergleichen, welcher verzinslich ist. Der Notenumlauf bildet viel¬
mehr ein unverzinsliches Darlehen, welches die Noteninhaber, also ziemlich das
ganze Publikum, der Emissionsbank gewährt und dadurch genießt eine jede
Zettelbank auch bei der unbeschränkten Freiheit der Errichtung von solchen
ein Monopol, dessen Vortheile sie durch gewisse Leistungen an den Staat ver¬
güten sollte. — e) Die Zettelbankfreiheit würde sogar noch ein neues Mono¬
pol schaffen, ein Privilegium des Reichthums, denn die Armen können keine
Noten ausgeben. — 6) Die Erfahrung zeigt, daß die Concurrenz vieler Zettel¬
banken von gar keinem Einfluß auf den Zinsfuß ist, denn auf dem Geld¬
markt geben die großen Banken den Ton an und die vielen kleinen folgen
ihrem Beispiel. Im Gegentheil pflegen die öffentliche Meinung, die Wünsche
der Geschäftswelt und der Vertreter des Staates auf die Feststellung des Dis-
contosatzes der großen privilegirten Banken viel mehr Einfluß zu äußern, als
die Concurrenz der kleinen Zettelbanken. Namentlich die Gleichmäßigkeit des
Zinsfußes, welche eine Hauptbedingung eines geregelten Ganges der Geschäfte
ist, wird vielmehr durch große privilegirte Banken aufrecht erhalten, als durch
die vielen kleinen. Die Haltung der Bank von Frankreich, der preußischen
Bank und der österreichischen Nationalbank liefert dafür den Beweis. —
v) Die Wirksamkeit bis in die kleinsten Kreise ist einestheils den centralistrten
Notenbanken unbenommen, denn sie können denselben Zweck durch Errichtung
von Zweig-Comptoirs erreichen, andererseits ist zur Befriedigung des Credit-
bedürfnisses der kleinen Kreise die- Thätigkeit einer Zettclbank gar nicht erfor-
'
tertias, denn demselben kann durch die Errichtung von reinen Disconto- und
Depositenbanken ebenso gut und oft noch besser entsprochen werden. Die
Bankpraxis giebt dafür einen beachtenswerthen Beleg, denn diejenigen Ban¬
ken, welche sowohl in Deutschland wie in England die höchsten Dividenden
zu vertheilen pflegen, sind nicht Zettelbanken.
In Deutschland ist auch sogar der Durchschnitt des Reinertrages der
Nicht-Zettelbanken höher, als der der Emissionsinstitute. — t) Die Gefahr
des Mißbrauchs durch den Staat in politischen Nothlagen ist bei einem System
der Zettelbankfreiheit in nicht minderem 'Grade vorhanden, nur daß man da¬
bei des kräftigen Beistandes entrathen muß, welchen eine centralistrte Bank
in den Stunden der Gefahr dem Staate leisten kann. In den Vereinigten
Staaten, wo keine centralistrte Notenbank existirt, hat der Staat während
des Bürgerkrieges Zwangspapiergeld ausgegeben und überdies noch Mittel
und Wege gefunden, den Banken ein Darlehen von gegen 300 Millionen
Dollars abzulocken. In Oesterreich wurden 1866 die Staatsnoten geschaffen
und in Rußland wurden zur Zeit des Krimkrieges Creditbillete ausgegeben,
zu denen die russische Reichsbank nur als Verwalterin in Beziehung steht.
Wir sehen also, daß der Brauch der Staaten, sich in Zeiten höchster Gefahr,
wo auf keine andere Weise Kapital zu haben ist, durch eine übertriebene Aus¬
gabe von Papiergeld die erforderlichen Mittel zu verschaffen, ganz unabhängig
von den centralisirten Zettelbanken besteht. In Momenten, wo der Spruch
zur Herrschaft gelangt: „Noth bricht Eisen," müssen die regelmäßigen Grund¬
sätze der Volkswirthschaft in den Hintergrund treten. Die Eigenschaft, die
von den Anhängern der Zettelbankfreiheit den centralisirten Instituten vorge¬
worfen wird, in Zeiten der Noth mißbraucht werden zu können, stellt sich
also eher als ein Vortheil derselben heraus. g) Gerade die Frage der
Überwachung läßt bezüglich der Notenausgabe die Vorzüge der Centralisation
im besten Licht erscheinen; denn die gegenseitige Ueberwachung der Banken
untereinander mag wol für diese Anstalten selbst von Vortheil sein, für das
Publikum aber hat sie nur wenig Werth. Dieses ist gar nicht im Stande,
den ständig circulirenden Noten gegenüber die Solidität der Banken fort¬
während zu prüfen, welche dieselben ausgegeben haben. Diese Untersuchung
ist nicht einmal in der Schweiz bei nur 20 Zettelbanken möglich, wie viel
weniger wäre es bei 1700 Banken, wie sie in den Vereinigten Staaten be¬
stehen. Aus diesem Grunde gerade ist das Bankwesen in Amerika dahin re-
formirt worden, daß für die umlaufenden Noten beim Staate Deckung in
Bundesobligationen deponirt ist; deshalb gerade wird in der Schweiz eine
Reform bewerkstelligt. Wegen der Noten einer centralisirten Bank braucht
das Publikum keine Sorge zu tragen, denn sie ist nicht blos von der Regie¬
rung überwacht, sondern sie steht auch unter der freiwilligen Controle des
internationalen Geldmarktes, d. h. aller hervorragenden Fachmänner und Ge¬
schäftsleute, n) Eine centralisirte Zettelbank kann ihre Baarschaft besser zu
Rathe halten und vertheilen und deshalb ihre Noten mit weniger Mitteln
wirksamer einlösen als viele Zettelbanken.
Dieser in der Natur der Sache liegende und von selbst einleuchtende
Vorzug wird im speciellen durch die von der Bank von Frankreich beobachtete
Thatsache erwiesen, daß manche ihrer Zweiganstalten mehr Baarschaft in die
Centralkasse einschließen als sie daraus verlangen, während andere mehr heischen
als sie einzahlen. Man schließt daraus, daß die einen dieser Filialen, wenn
sie Unabhängige Banken wären, Mangel an Fonds, die andern Mangel an
Verwendung hätten. Daraus geht hervor, daß eine centralisirte Notenbank
den gleichen Zweck mit geringerem Stammkapital und Baarschatz erreichen
kann als viele Banken, oder daß sie bei gleichem Stammkapital und gleicher
Baarschaft mehr leistet und sicherer fungirt als viele Banken- — i) Dank dem
letzteren Umstände, sowie den Ersparungen, welche eine Central-Bank in der
Verwaltung machen muß, kann sie auch mit mehr Rücksichtnahme auf das
öffentliche Wohl geleitet werden. Sie kann ihren Baarschatz in Zeiten der
Geldfülle vorsorglicher füllen, denn sie braucht nicht aus Besorgniß für die
Dividende der Aktionäre durch voreilige Herabsetzung des Discontosatzes nach
Geschäften zu jagen und sie kann dann in Zeiten der Geldklemme der Ge¬
schäftswelt durch freigebigere Credit-Gewährungen zu Hülfe kommen, ohne
den Zinssatz übermäßig zu erhöhen. Bei den kleinen Noten-Banken wird
gerade die entgegengesetzte Erfahrung beobachtet. Denn in guten Zeiten pfle¬
gen dieselben die Speculation durch alle möglichen Erleichterungen anzureizen,
sowie aber eine Klemme herannaht, schränken sie rasch ihre Credite ein, oder
kündigen sie ganz und helfen dadurch die Verlegenheit noch auf die Spitze treiben.
— K) Eine centralisirte Notenbank kann in ihrem über das ganze Land ausge¬
dehnten Wirkungskreise viel genauere Personenkenntniß sich aneignen und siche¬
rere Erfahrungen über die Solidität ihrer Wechselschuldner sammeln und sich
dadurch leichter vor Verlusten hüten. — 1) Die Noten einer centralisirten
Bank können viel eher bei den öffentlichen Kassen in Zahlung angenommen
werden und erlangen dadurch sowohl wie durch ihre einheitliche Natur einen
größeren Umlauf, der sich nicht bloß auf das Inland beschränkt. Ihre Noten
haben den Vortheil, daß namentlich der Retsende sich derselben auch im Auslande
bedienen kann- — in) Eine centralisirte Notenbank ist endlich sicherer, durch
alle wirthschaftlichen und politischen Stürme ungefährdet gesteuert zu werden,
denn sie findet leichter Männer von der erforderlichen Tüchtigkeit um ihre
Verwaltung zu leiten. Wie z. B. 1700 Zettelbanken in den Vereinigten
Staaten von Amerika die geeigneten Capazitäten zu ihrer Administration
finden sollen, ist uns ein Räthsel. Vielleicht ist dieser Umstand die
Ursache, warum in den Vereinigten Staaten im Bankwesen die meisten
Experimente und Mißgriffe gemacht worden sind.
Wage man die beiderseitigen Gründe gegen einander ab, so wird man
sich nicht mehr darüber wundern, daß alle erfahrenen Theoretiker und Prak¬
tiker des Bankwesens gegenwärtig die Frage der Zettelbanksreiheit für abge¬
than betrachten, daß sie bei der Bankreform im Deutschen Reiche gar nicht
mehr aufgeworfen wurde und daß man die Reform der Schweiz auch auf dem
Wege einer Concentration anbahnt.
Am L. April hat das Abgeordnetenhaus feine Sitzungen nach den Oster-
ferien wieder aufgenommen. Die Sitzung vom S. April bot keinen bemerkens¬
werten Gegenstand. Am 6. April wurde die dritte Berathung des Gesetzes über
die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch-katholischen
Bisthümer und Geistlichen vorgenommen. Wenn es auch wahr ist, daß
in dem deutsch-römischen Streit nachgerade nichts Neues vorgebracht werden
kann, so gelingt es doch noch immer einzelnen Rednern, die nach und nach
gefundene richtige Anschauung der Streitsache in besonders glückliche und selbst
volksverständliche Formeln zu kleiden.
Von solchem Gelingen bot gerade die Sitzung am L. April verschiedene
Beispiele. Schon mehrmals hat der Abgeordnete Jung die römischen Ansprüche
und ihren Contrast mit der Gegenwart in besonders treffender Weise beleuch¬
tet. Am 6. April gelang ihm dies wieder. Die Redner des Centrums wer¬
den nicht müde, den Kampf des Staates gegen die Hierarchie als einen Ein¬
griff in das Gewissen darzustellen. Darauf ist längst die Erwiderung erfolgt,
daß es ein Gewissen nur giebt für innere Fragen der Persönlichkeit, daß die
objectiven Normen der Gesellschaft nicht unmittelbar aus dem Gewissen, son¬
dern aus der gewissenhaften Erwägung der Zwecke und Mittel des Gemein¬
lebens zu finden sind, vor denen das individuelle Gewissen zurücktreten muß.
Die Normen des Gemeinlebens festzustellen ist aber Sache des Staates, und
wenn die Kirche im Namen des Gewissens diese Normen ganz oder zum Theil
ihrerseits feststellen will, so naße sie sich das Recht des Staates an.
Zur völligen Karrikatur wird aber der im Namen des Gewissens er¬
hobene Anspruch der Kirche, wenn er in seinen Grenzen nach den Erwägun¬
gen weltlicher Zweckmäßigkeit hin- und herschwankt. Das Lächerliche der Be-
gründung hierarchischer Ansprüche auf das Gewissen illustrirte nun der Abge¬
ordnete Jung vortrefflich durch den Vergleich des ultramontanen Gewissens
mit einem Werkzeug, das von einem Telegraphendraht regiert wird.
Setzt der Papst den Fuß auf den elektrischen Knopf, so entsteht Gewissens¬
noth, zieht er ihn zurück, so hört sie auf. Keiner der Herren vom Centrum
wagte auf diese Illustration etwa zu entgegnen, daß jeder Soldat und jeder
im öffentlichen Dienst Stehende in derselben Lage sei. Das war sehr vorsichtig,
denn mit solchen Beispielen hätten die Redner unmittelbar anerkannt, wer die
Streitenden sind: nämlich der hierarchische Staat und der nationale Staat,
nicht aber der Staat und das Gewissen. Das Gewissen hört auf, wo es sich
nur gehorchend und ausführend verhält. Ein Soldat, der eine gewisse Stel¬
lung besetzt, wird sich auf den erhaltenen Befehl, aber nicht auf sein Gewissen
berufen.
Er wird nicht sagen, daß er in seinem Gewissen bedrängt worden,
wenn der Feind ihm die Ausführung des Befehls verwehrt. Freilich gebietet
das Gewissen, einen übernommenen Dienst oder Beruf treulich auszuführen.
Aber wenn eine dritte Gewalt den Beruf selbst schädlich findet oder mit ihrem
Recht unvereinbar, so ist es eine seltsame Verdrehung, von Bedrückung des
Gewissens zu sprechen.
Gerade so hätten die französischen Generale sich beklagen können, daß
man ihnen 1870 nicht erlaubt, dem erhaltenen Auftrag gemäß in Deutschland
einzufallen. Heilig für Freund und Feind ist nur das persönliche Gewissen
für den Umkreis der innern Rechte der Persönlichkeit,, darum hat Niemand
daran gedacht, französische Soldaten zu einem andern Glauben oder zu einem
andern Patriotismus zu bekehren.
Der Abgeordnete Jung wußte noch andere Seiten, der Stellung, welche
die Hierarchie einnimmt, glücklich zu beleuchten. Von ultramontaner Seite
wird zu Gunsten der ungekränkten Ansprüche der Hierarchie nicht nur an die
Gewissensfreiheit, sondern auch an die modernen Grundsätze der Toleranz, der
Gleichberechtigung der Konfessionen u. f. w. appellirt.
Aber hat der Ultramontanismus jemals daran gedacht, sich seinerseits an
dieselben Grundsätze zu binden? Erst in diesem Jahre hat der Papst wiede¬
rum ein sogenanntes Jubeljahr verkündet und in Folge dessen allgemeine Ge¬
bete zur Bekehrung der abgefallenen Ketzer angeordnet. Zwei Drittheile der
Bewohner des preußischen Staates sind solche Ketzer, für deren Bekehrung
oder Ausrottung das eine Drittheil zu beten angehalten wird. Gehört es
nun zur Toleranz, solche Ansprüche nicht nur zu dulden, sondern durch jedes
erdenkliche Mittel groß zu ziehen? Ganz mit Recht fragte der Abgeordnete
Jung die Herren vom Centrum, was sie sagen würden, wenn der Oberkirchen¬
rath Gebete zur Ausrottung der Katholiken anordnen wollte.
Man hat sich gewöhnt, die Confessionen mit ganz verschiedenem Maß zu
messen. Darum nimmt es Niemanden mehr Wunder, mitten in der Haupt¬
stadt des Protestantismus eine katholische Kathedrale zu sehen, während in
der Hauptstadt des Katholicismus nicht einmal eine protestantische Kapelle be¬
stehen durfte. Mit ihrem Anspruch, nicht nur die allein seligmachende Lehre
zu besitzen, sondern auch die alleinige Verwalterin und Vertheilerin der Selig¬
keit zu sein, hat die römische Kirche, wie der Abgeordnete Jung ganz richtig
hervorhob, wie ein riesiges Petrefact mitten in der Geschichte gestanden. Es
gab eine Zeit, wo die Nationen dieses Petrefact ignoriren durften. Aber diese
Zeit ist vorüber, seitdem jene Ansprüche mit einem Ernst wie seit Jahrhun¬
derten nicht, nicht nur erhoben werden, sondern auch die Mittel zu ihrer
Verwirklichung unter Benutzung aller Freiheiten des modernen Staates aufge¬
boten werden. Daß der moderne Staat die von ihm verliehene Freiheit nicht
ausbeuten lassen will zur Aufrichtung einer Gegenherrschast, über die man den
Staat längst Herr zu werden glaubte, das ist im Grunde die Bedeutung des
heutigen Kampfes gegen die Curie.
Nicht minder glücklich war am 6. April der Abgeordnete Gneist. Er
hatte in einer der letzten Sitzungen vor Ostern, wie wir sahen, mit besonderem
Gelingen ausgeführt, wie ohne die Souveränität des Staats über die verschie¬
denen Kirchen die Einheit der Nation wiederum zerstört werden müßte. Denn
nur durch die Souveränität des Staates ist die Einheit der Nation erhalten
worden. Dies Mal führte Gneist aus, wie diejenigen Rechte der Souveräni¬
tät, welche jetzt der deutsche Staat beansprucht, bei rein katholischen Nationen
vom Staat längst unbestritten behauptet werden, z. B. daß die Disziplinar-
urtheile nur von inländischen Behörden gesprochen und nur mit Genehmigung
des Staats vollzogen werden.
Das Widerstreben der Curie, den deutschen Staat dieselben Rechte an
sich nehmen zu lassen, die der Staat allerwärts längst an sich genommen, be¬
ruht auf dem besonderen Gefühle des Gegensatzes, welchen die Curie zu dem
deutschen Staate empfindet.
Am 6. April leuchtete auch dem Abgeordneten Virchow ein günstiger Stern.
Dieser Abgeordnete hat, was ihm hoch anzurechnen ist, von seinem Stand¬
punkt der allgemeinen individuellen Freiheit sich gleichwohl längst zu der An¬
sicht bekehrt, daß man im Namen der individuellen Freiheit nicht die schranken¬
lose Entfaltung einer Organisation, wie die römische Kirche, gestatten
kann. Auch er fand einen sehr glücklichen Ausdruck gegen die Behauptung
der Bedrückung des katholischen Gewissens. Er sagte, das durch die Kirchen¬
gesetze aufgelegte Martyrium sei kein Martyrium des Glaubens, sondern ein
Martyrium des Dienstes. Dieser Ausspruch trifft in der That den Kern der
Sache. Der Abgeordnete fügte dann noch hinzu, es komme darauf an, die
Dogmatik aus der klerikalen Organisation zu befreien.
Er wollte damit sagen, daß jeder Glaubenslehre über die höchsten Dinge
freie Bewegung zu gestatten sei, daß aber niemals das Privilegium einer be¬
stimmten Corporation auf den Alleinbesitz der Glaubenswahrheit zum unver¬
brüchlichen Glaubensartikel gemacht und vom Staat geschützt werden dürfe.
Wer hierin nicht soweit wie der Abgeordnete Virchow geht, weil er jene pri-
vilegirte Corporation als eine historische Schöpfung hinnimmt und selbst re-
spectirt, der wird doch daran festhalten müssen, daß jene Corporation ihr histori¬
sches Privilegium durch fortgesetzten maßlosen Mißbrauch endlich verwirken muß.
Dieselbe Sitzung vom 6. April brachte aus dem Munde des Abgeordne¬
ten Windthorst die seltsame Aeußerung zum Borschein, daß das Centrum nicht
an den Sturz des Fürsten Bismarck denke, weil dieser Staatsmann der ein¬
zige sei, der den Frieden zwischen Rom und Deutschland wieder herstellen
könne, sobald er die Nothwendigkeit davon eingesehen. War dies nur ein
Spaß des spaßhaften Redners ohne tieferen Sinn, oder war es der unwill¬
kürliche Ausbruch der Zufriedenheit über eine politische Combination, von
welcher der Ultramontanismus die Nöthigung zur Umkehr für den deutschen
Staat erwartet?
Am 8. April begann die zweite Berathung des Entwurfs der Provinzial-
ordnung. Gleich der erste Paragraph gab den Anlaß zu einer sehr erregten
Verhandlung, worin, freilich auf verborgene Weise, auch die Kernfrage des
Gesetzes einen herrschenden Gesichtspunkt bildete. Die Commission hatte näm¬
lich bei Aufzählung der 5 Provinzen, für welche das Gesetz zunächst eingeführt
werden soll, einen Zusatz beantragt, welcher die Theilung der Provinz Preußen
aussprach. Um diesen Zusatz wurde nun gekämpft, wie einst zwischen den
Troern und Achäern vor Ilion. Für den außenstehenden Beobachter ist es
in der That ein Bedürfniß, über die Motive dieses Kampfes diejenige Auf¬
klärung zu erhalten, die sich aus der Verhandlung auf keine Weise schöpfen
läßt. Was soll der ferne Beobachter sagen, wenn er das Resultat der Ab¬
stimmung überblickt und daraus ersieht, daß der Commissivnsvorschlag mit
207 gegen 120 Stimmen abgelehnt worden und daß die Majorität sich zu¬
sammensetzte aus den vier anwesenden Ministern, aus der Fortschrittspartei
mit Ausnahme von dreien ihrer Mitglieder, worunter Herr Eugen Richter,
aus dem Centrum, aus den Polen und einer geringen Zahl Mitglieder der
verschiedenen conservativen Fractionen ; wogegen die Minorität aus der Mehr¬
zahl der Nationalliberalen und Freiconservativen bestand. Ein Doppelpaar
von Motiven hat diesen Kampf und diese Abstimmung beherrscht. Das zweite
Motivenpaar ist rein provinzieller Art, das erste ist allgemein staatlicher Na¬
tur. Für den Commissionsvorschlag, also für die Theilung der Provinz
Preußen, stimmten alle Diejenigen, welche in der Provinzialverfassung die
Regierungsbezirke beseitigen möchten. Die Gegner der Regierungsbezirke sehen
ein, daß in einer Provinz von dem jetzigen Umfange der Provinz Preußen
ohne die Regierungsbezirke, ohne die Theilung der Mittelinstanz nach unten,
nicht auszukommen ist.
Dieselben Gegner wünschen auch im Stillen, daß die Theilung der Pro¬
vinz Preußen das Beispiel zur Theilung noch anderer Provinzen geben möchte.
Ein sehr löblicher Wunsch, von dem nur zu verwundern ist, warum er nicht
herausgesagt wird. Alle Abgeordneten nun, die aus wie verschiedenen Grün¬
den immer, aus Liebhaberei für angeblich historische Reminiscenzen aus
Gouvernementalismus u. f. w. die großen Provinzen beibehalten wollen, stimm¬
ten gegen die Theilung, darunter natürlich die Minister. Daneben hat nun
das zweite, rheinprovinzielle Motivenpaar eine nicht minder einflußreiche Rolle
gespielt. Alle Vertreter Ost-Preußens mit Ausnahme des einzigen national¬
liberalen Mitgliedes aus diesem Theil der Provinz stimmten gegen die Thei¬
lung; alle westpreußischen Abgeordneten mit Ausnahme von dreien stimm¬
ten dafür.
Das hat folgende Gründe. Das dünnbevölkerte Ost-Preußen möchte für
die kostspieligen, künftig immer mehr durch Provinzialauflagen zu beschaffen¬
der Einrichtungen das begüterte Westpreußen mit seinen wohlhabenden Städ¬
ten nicht entbehren. In Westpreußen hat man natürlich grade das entgegen¬
gesetzte Interesse. Es kommt aber für West-Preußen noch ein anderes, viel
werthvolleres Motiv hinzu. West-Preußen zählt mehrere Kreise von ganz
oder überwiegend polnischer Bevölkerung.
In West-Preußen herrscht das Gefühl des nationalen Gegensatzes vor.
In Ost-Preußen überwiegt die Fortschrittspartei, bei welcher das Gefühl der
Opposition gegen die Regierung vorherrscht und welche bereit ist, zum Zweck
der Opposition, nach Umständen auch den Polen die Hand zu reichen. Das
sind sehr unverträgliche Gesichtspunkte. Aus ihrem Verständniß wird die
Aeußerung des fortschrittlichen Abgeordneten Herrn von Saucken-Tarputschen
verständlich: „wenn man nur das Nationale im Auge hat, geht das Liberale
verloren"; welcher Aeußerung der Pole Herr Karta kein „Sehr wahr- hinzu¬
fügte. Durch dieses Motiv wird auch verständlich, weßhalb das Centrum und
die Fortschrittspartei mit den am meisten rechtsstehenden Conservativen und
mit den Ministern gegen den großen Theil der Nationalliberalen und
Freiconservativen stimmten. Bunter war nie eine Majorität zusammengesetzt,
und nie war eine Minorität so von ihren naturgemäßen Führern und Bun¬
desgenossen verlassen. Dergleichen Vorfälle bringt das parlamentarische Leben
mit sich. Sie sind zum Glück im deutschen Staatsleben jetzt selten. Wenn
sie aber dennoch auftreten, darf man es als ein Zeichen einer verkehrten
Maßregel nehmen, zu welcher vielerseits die naturgemäße Stellung nicht ge¬
funden wird. Damit bestätigt sich denn nochmals unsere oft ausgesprochene
Ansicht, daß dieser ganze Entwurf einer Provinzialordnung verfehlt ist. —
Die Verhandlungen vom 9. April, welche sich mit den Einzelheiten des Ent¬
wurfs in seinen folgenden Paragraphen beschäftigten, können uns bei jener
unserer Ansicht nicht interessiren. Wir werden den Entwurf in der Gestalt,
wie er vor dem Herrenhause erscheinen wird, nach vollendeter dritter Berathung
im Abgeordnetenhaus, noch einmal überblicken und charakterisiren.
Auswärtige und heimische Beobachter unseres deutschen Universitätswesens
Pflegen als eine der wesentlichsten und wichtigsten Eigenthümlichkeiten unserer
Hochschulen das Institut der Privatdozenten zu bezeichnen und in ihm eine der
Wurzeln zu erkennen, aus denen die Blüthe derselben sich erklären lasse. Das
ist in der That ein richtiger Gedanke: wem das Wohl unserer Universitäten
am Herzen liegt, der wird besorgt sein diese Richtung ihrem wohlbewährten
Charakter zu erhalten und zu schützen.
Ein Privatdozent ist derjenige Universitätslehrer, der an einer bestimmten
Hochschule ein Fach zu lehren das Recht hat, ohne dazu verpflichtet zusein; es ist
gewöhnlich ein jüngerer Gelehrter, der sich auf den Beruf des Professors praktisch
vorbereitet; er erhält vom Staate keine Besoldung; im Empfang von Collegien-
honoraren durch die Studirenden ist er rechtlich dem - Professor gleichgestellt,
wenn er auch faktisch auf große Einnahmen aus dieser Quelle nicht zählen
kann. Die Bedeutung dieser Einrichtung unverpflichteter aber lehrberechtigter
akademischer Lehrer beruht darin, daß sie die Pflanzschule bilden, aus der
in der Regel die Professoren hervorgehen. Gilt es eine Professur zu besetzen,
so richtet sich naturgemäß zunächst das Auge auf die Privatdozenten, die
meistentheils in einer kürzeren oder längeren Zeit schon akademische Vorträge
gehalten, die, wie nur annehmen darf in dieser Probezeit zu lehren selbst ge¬
lernt haben und die in dieser selben Periode zu eigenen wissenschaftlichen Ar¬
beiten Gelegenheit und Muße gehabt haben. Die Privatdozenten sind gewisser¬
maßen Freiwillige, welche die Thätigkeit der berufsmäßig verpflichteten Lehrer
ergänzen, durch freiwillige Uebernahme und Erfüllung des Lehramtes ihre
Fähigkeit zu einem solchen ausbilden und an den Tag legen. Sie sind nicht
Staatsbeamte. Bei ihrer Zulassung wirkt der Staat nur negativ mit, d. h.
er kann höchstens einzelne Personen von vornherein fernhalten; der Eintritt
in die Carriere ist im wesentlichen in die Macht der Fakultäten gestellt, welche
über die wissenschaftliche Vorbereitung der Candidaten sich ein Urtheil bilden
und danach Jemanden zulassen oder abweisen. In der Regel wird der Do¬
zent nach kürzerer oder längerer Frist Professor; erreicht er dies Ziel nicht, so
pflegt er nach einiger Zeit zu einem anderen Berufe überzugehen.
Nun hat sich — es ist schwer zu sagen, woher das gekommen — im
außerakademischen Publikum eine sonderbare Auffassung über diese Dinge ge¬
bildet. Man beklagt die rechtlose Stellung der Dozenten; man bedauert, daß
sie unentgeltlich ein Lehramt auszuüben hätten; man malt sich ein melodrama¬
tisches Bild aus von dem Gegensatze zwischen Professoren und Dozenten, den
man sich etwa so denkt, wie die Gefühle des reichen Geizhalses gegen die er¬
wartungsvollen Erben. Man kann das immer wieder hören, daß der ver¬
diente Dozent von dem privilegirten Professor (der dann des besseren Effektes
halber ein abgelebter leistungsunfähiger gallsüchtiger Pedant sein muß) arg
gedrückt, mißtrauisch beobachtet und auf jede Weise niedergehalten würde;
u. dergl. mehr.
Das alles sind Einbildungen, Produkte einer den Dozenten wohlgeneig¬
ten aber einseitig ungerechten Phantasie. Das Publikum in seinem lobens-
werthen Wohlwollen für diese Klasse von Gelehrten, auf denen die Hoffnung
der Zukunft beruht, ist von vorneherein zwei Irrthümer zu begehen ge¬
neigt durch die ihm eine richtige Beurtheilung nahezu unmöglich gemacht wird.
Erstens, man übersieht, daß der Privatdozent freiwillig es übernimmt
eine Borbereitungsstufe für seinen Beruf durchzumachen. Jeder Gelehrte, der
Privatdozent wird, weiß, daß er eine Reihe von Jahren der Universität
dienen muß ohne staatliche Belohnung; er weiß von vorneherein, daß er
einer Probe- und Schulzeit entgegengeht, an deren Ende ihm erst die Pro¬
fessur als der erwartete Lohn winkt.
Man könnte die Stellung des Privatdozenten vergleichen mit der des
Referendars, nur daß dieser die unentgeltliche Probezeit nicht freiwillig, son¬
dern gezwungen auf sich nimmt. Sodann aber, man erträumt sich einen Ge¬
gensatz zwischen Professor und Privatdozent, der in der Wirklichkeit nicht vor¬
handen ist. Wer das akademische Leben kennt, weiß, daß diese Dinge ganz
anders verlaufen.
Wir Professoren sind unserer Mehrzahl nach und zwar der überwiegenden
Mehrzahl nach, früher selbst Dozenten gewesen. Wir kennen die Freuden aber
auch die Leiden eines Dozenten, besonders seine oft getäuschten Erwartungen
baldiger Anstellung, alle aus eigener Erfahrung. Und ferner, wir wissen sehr
wohl, daß jeder einzelne Dozent, der neben uns lehrt, mit unserem Zuthun,
aber ebenso gut ohne unser Zuthun in jedem Augenblicke Professor, d. h.
unser College werden kann. Sollten wir uns da versucht fühlen zu Chicanen
und Bedrängungen? Für so unpraktisch sollte uns selbst der Philister nicht
halten, der von unserem unpraktischen Wesen sich Geschichtchen zu erzählen
liebt. Doch, ernsthaft zu reden: Jeder, der Universitäten kennt, wird uns be¬
stätigen, daß die Regel, — eine Regel von der es nur wenige Ausnahmen
giebt, — ein sehr collegialisches und harmonisches und beiderseitig erfreuliches
Zusammenwirken und Zusammenleben oder oft sogar ein erfolgreiches Zu¬
sammenarbeiten von Professoren und Privatdozenten aufzeigt.
Müssen wir darauf hinweisen, daß fast ausnahmslos der Eintritt eines
jungen Gelehrten als Dozent bei einer Fakultät mit Gutheißung und Bei¬
hülfe, sehr oft aus speziellen Wunsch und direkte Ausforderung der Fachpro¬
fessoren zu geschehen pflegt? Und in solchen Fällen, — wir wiederholen,
etwa neun Zehntel sämmtlicher Fälle gehören in diese Katagorie — sollte ein
Verhältniß feindseligen Gegensatzes sich bilden, wie es das Publikum und die
Presse als das übliche sich austeilte? Wer wird dies noch glauben, wenn er
nur der Sache etwas näher getreten? Jeder Professor, der das Glück hat
besonders fähige Schüler unter seinen Zuhörern zu entdecken, läßt es sich an¬
gelegen sein, für den akademischen Beruf sie zu gewinnen; viele und tüchtige
Privatdozenten des eigenen Faches an der eigenen Universität zu haben, ist
der Stolz jedes akademischen Lehrers; eine Fakultät sieht nichts lieber als zu¬
strömende jüngere Kräfte.
Jenen üblichen Nachtgemälden stellen wir hier diese Behauptung entgegen,
gestützt aus eigene Erfahrung als Dozent und als Professor, und mit der
vollsten Ueberzeugung, die Wahrheit der Thatsachen des akademischen Lebens
fiir; irn. et stuclio auszusprechen. Nein, bei der Zulassung von Dozenten
zur Habilitation herrscht in den meisten Fakultäten weit eher eine zu weit¬
gehende Milde und Connivenz, als das Gegentheil. Auch hierüber reden wir
aus Erfahrung. Die meisten Professoren und Fakultäten gehen von der
Voraussetzung aus, daß die Zulassung zur Habilitation weder dem betreffenden
Petenten noch der Fakultät schaden könne, daß man jedem, auch dem minder
bewährten, die loyale Chance öffnen müsse, aus sich einen akademischen Lehrer
zu machen. Die Stimmen, die vor der Zulassung offenbar unwissenschaftlicher
Leute warnen und der Fakultät bei der Zulassung eine gewisse Verantwortlich¬
keit für das Geschick des Dozenten zuschieben wollen, pflegen seltener sich hören
zu lassen: sie pflegen nirgendwo die Majorität zu bilden- Mit der größten
Liberalität vielmehr nehmen die Professorencollegien — eher mit zu großer Be¬
reitwilligkeit als zu großer Engherzigkeit — jüngere Gelehrte als Dozenten
in ihren Kreis auf.
Aber was nützt die Aufnahme, wenn sie nicht Erfolg dem Aufgenommenen
bringt? Der Erfolg d. h. die Gewährung der Professur, ist nicht allein Sache der
Fakultät, bet der sich der Dozent^habilirt; die eigene Fakultät ist nur ein
Faktor unter mehreren, und nicht einmal der maßgebende. Auch über das
akademische Berufungswcsen würden aufklärende Erörterungen wohl am Platze
sein; es führte zu weit, wollten wir sie jetzt hier bringen. Begnügen wir uns
einstweilen mit dem Hinweis darauf, daß neben dem Gutachten der Fa¬
kultät das Schicksal eines jungen Gelehrten abhängt von dem Urtheil über
seine Leistungen, das die Vertreter seiner Wissenschaft überhaupt über dieselben
gewinnen. Zuletzt ruht die eigentliche Entscheidung über Anstellung
und Beförderung bei den deutschen Staatsregierungen, in deren Ländern sich
Universitäten befinden. Immer wird das Urtheil einer einzelnen Fakultät
über einen Dozenten compensirt oder controlirt durch die Erklärungen
anderer Universitäten. In der Mehrzahl der Fälle erfolgt ja auch die
Anstellung eines Dozenten als Professor an einer andern Hochschule als an der,
bei der er habilttirt war; und jedenfalls wünscht sich Jeder diese Berufung
nach auswärts. Je lebendiger in unserer Zeit der Verkehr und der Austausch¬
unter Gelehrten, desto geringer ist die Besorgniß geworden, daß aus un¬
gerechter Malice einer localen Professorengröße ein fähiger Dozent bei der Be¬
förderung übersehen werden könnte.
Wir erwarten hier den Einwand, daß es der Willkür der Fakultäten
überlassen, einen Dozenten wieder zu entfernen, der sich, obwohl von ihr zu¬
gelassen, bei ihr mißliebig gemacht, — ohne Weiteres fügt man, wie selbstver¬
ständlich, den freundlichen Zusatz hinzu, daß ein Dozent sich natürlich nur
mißliebig gemacht haben könne durch eine, einem Professor zugefügte, erdrü¬
ckende Concurrenz. Entspräche diese Vorstellung der Wirklichkeit der Dinge,
dann wäre allerdings der Dozent ein rechtloses Individuum. Aber auch hier
wird ein so allgemeines Urtheil, das nach einer bestimmten Voraussetzung
über alle Fälle in Bausch und Bogen aburtheilt, von vornherein abgelehnt
werden dürfen. Was die Disciplinargewalt der Fakultäten über ihre Do¬
zenten, was insbesondere die Befugniß angeht, einem Habilitirten die soge¬
nannte venia legemii wieder zu entziehen, so sind an den verschiedenen Uni¬
versitäten die Bestimmungen darüber ganz verschiedene, — überall aber giebt
es feste, rechtliche Bestimmungen auch hierüber, und die Aufsicht der Regie¬
rung läßt keine Eigenmächtigkeit einer Fakultät zu. Und wer in solchen
Fragen unbefangen urtheilen will, muß objektiv die einzelnen Fälle prüfen.
Es ist nicht zu übersehen, daß der Dozent noch nicht Staatsbeamter ist; wir
erinnern daran, auch der Referendar kann ohne Weiteres, wenn er sich nicht
bewährt oder Anstoß gegeben, aus seinem Berufe entfernt werden. Sind fer¬
nerhin die Fälle ganz unerhört, daß ein Offizier oder Richter oder Beamten
quittiren muß? AHes derartige aber, wenn es einmal vorkommt, geht so still
als möglich vorüber, — nur wenn es sich um einen Privatdozenten handelt,
dann schlägt durch das ganze Reich, so weit die deutsche Zunge klingt, die
gesammte Presse einen furchtbaren Lärmen, bei dem ohne Weiteres dem Do¬
zenten die Rolle des unschuldig gekränkten Märtyrers und der Fakultät die
Stellung des ungerechten Verfolgers angewiesen ist.
Im Jahre 1838 machte die Affaire Beckhaus in Bonn viel von sich
reden. In unverhülltester Weise rief man sich damals zu, der „Brodneid"
einiger Bonner Professoren habe den trefflichen Gelehrten verjagt! Und den¬
noch, wer würde, nachdem der Sachverhalt auch weiteren Kreisen klar gewor¬
den, die früheren Beschuldigungen wiederholen wollen? wer giebt heute der
Bonner Fakultät nicht Recht? — Gegenwärtig hat die Berliner Frage —
Wagner-Dühring — viel Staub aufgewirbelt. Mei sittliche Entrüstung
wird zu Markt gebracht wider die Berliner Fakultät, zu Gunsten des betref¬
fenden Dozenten. Wir fragen hier ganz ernsthaft: von allen die darüber in
der Tagespresse schreiben, wie viele haben das betreffende Werk, um das es
sich handelt, gelesen? Wenn sonst in gebildeter Gesellschaft ein Mann über
die Corporation, der er angehört und in welche er noch enger einzutreten
wünscht, oder über die College», in deren Cirkel er dauernden Einlaß ver¬
langt, in ähnlicher Weise losschimpft (von wissenschaftlicher Polemik ist hier
nicht die Rede, sondern von ganz persönlichem Schimpfen), dann Pflegt man
sonst einen solchen Herrn einfach an die Luft zu setzen. Nur einer Fakultät
spricht man dies Recht ab, das man sonst jeder Gesellschaft bereitwillig ge¬
stattet. Es ist also die Fakultät, welche hier Unrecht erduldet, nicht der ein¬
zelne Dozent, der als „gemaßregelter" dem Publikum sich präsentirt.
Unserem Sinne liegt es ferne zu behaupten, daß niemals ein Fall vor¬
gekommen, in dem von einer Fakultät oder einem Professor in irgend einer
Weise ein Privatdozent gekränkt oder benachtheiligt wäre. Es mag wohl
bisweilen geschehen sein, daß ein recht befähigter und würdiger Gelehrter von
der Habilitation zurückgewiesen wurde; es ist als möglich immerhin anzuneh¬
men, daß ein tüchtiger und erprobter Dozent bei der Beförderung zum Pro¬
fessor bisweilen übergangen oder zu langem Warten verurtheilt worden ist;
auch Chicanen von Seiten einer Fakultät gegen einen, in Thätigkeit befind¬
lichen Dozenten, wenn gleich uns kein Fall in den letzten Jahrzehnten bekannt
ist, wollen wir nicht als absolut undenkbar bezeichnen. Aber wenn wir alles
dies in einzelnen Ausnahmefällen zuzugeben bereit sind, wo in aller Welt
beurtheilt man menschliche Einrichtungen und Verhältnisse nach dem Maßstabe
einzelner Ausnahmen? Die allgemeine Ansicht hat sich vielmehr zu bilden
nach dem, was die Regel ist. Und die Regel entspricht nicht dem Zerrbilde,
das man in weiten Kreisen sich macht, sondern demjenigen Bilde, das wir so
eben entworfen.
Die Stellung der Privatdozenten, wie sie sich bis heute gestaltet und
wie sie heute sich darstellt, ist eine gesunde und richtige. Und alle die Vor¬
schläge, die offenbar in der wohlwollendsten Absicht gemacht werden, sie zu
ändern, zu verbessern und umzugestalten, würden dies bewährte Institut nur
gefährden und schädigen. Dahin rechnen wir die Idee, den Dozenten inner¬
halb der Fakultäten Sitz und Stimme oder eine Vertretung zu gewähren,
dahin gehört aber auch der Vorschlag, eine feste Besoldung ihnen zu ver-
schaffen. Beide Maßregeln, für die sich mancher Freund der Wissenschaften
erwärmt, ohne die Tragweite derselben zu bedenken, beide Maßregeln würden
die Privatdozenten zu Staatsbeamten machen, ihnen bestimmte Pflichten auf¬
legen und ihre bisherige ganz freie Stellung wesentlich alteriren. Der Sache
nach hieße das gar nichts anderes, als das Institut der Privatdozenten virtuell
abschaffen und die einzelnen Persönlichkeiten sofort als Professoren anstellen
und behandeln. Die Einführung eines besonderen Examens für Professoren,
die Beschränkung der zulässigen Dozenten auf eine bestimmte Anzahl bei feder
Universität und dergleichen wären die nothwendigen Folgen. Denn darauf
wird ja im Ernste Niemand heraus wollen, daß Jedermann den akademischen
Beruf ergreifen kann, der nur will, ohne jede Leistung eines staatlichen Ge¬
haltes versichert.
Das Gedeihen und die gesunde Entwickelung der Universitäten hängt
davon ab, daß eine Anzahl von Gelehrten sich freiwillig dem Lehrerberufe zu¬
wendet und somit eine Pflanzschule für künftige Professoren bildet. Auf die¬
sen Grundlagen diese Einrichtung zu erhalten, fordert das Interesse, das
alle Welt für die wissenschaftliche Zukunft unserer Universitäten zu besitzen
bekennt.
Da erhebt sich nun die Frage: ist es möglich, diese bisherigen Grundla-
gen zu erhalten? Grade die wärmsten Freunde der Universitäten äußern sich
heute mit Besorgniß dahin, daß das Institut der Privatdozenten auszusterben
drohe, daß die Zahl der verfügbaren Dozenten in erschreckendem Maaße ab¬
nehme; sie fordern, daß die Universitäten, daß die Staatsgewalten Maßregeln
treffen gegen die Abnahme der Dozenten! So dankbar wir für das in solchen
Erörterungen den Universitäten bezeugte Interesse sind, so wird doch auch hier
erst zu untersuchen sein, ob der Uebelstand, von dem man letzthin so viel
reden gehört, wirklich in dem behaupteten Umfang vorhanden und ob
die in guter Absicht vorgeschlagenen Hülfsmittel gegen denselben die ge¬
eigneten sind.
Wir halten zunächst die neuerdings oft constatirte Abnahme der Privat¬
dozenten größtentheils für eine optische Täuschung. Der Bestand und die
Zahl der Dozenten ist eine fluctuirende Größe; von Faktoren, die selbst wech¬
seln und sich verändern, ist sie abhängig; in den verschiedenen Wissenschaften
und Fächern nimmt sie zeitweise ab und nimmt dann wieder zu, je nach dem
augenblicklichen Stand der Wissenschaft, je nach der Autorität der eine Schule
bildenden Personen u. s. w. Als der Schreiber dieser Zeilen sich vor jetzt
13 Jahren habilitirte, gab es in seiner Wissenschaft einen, vielleicht zwei Pri¬
vatdozenten auf den sämmtlichen deutschen Universitäten zusammengenommen;
zwei Jahre nachher war Ueberfluß allenthalben an Privatdozenten seines
Faches. Eine ähnliche Ebbe und Fluth hat sich auf demselben Gebiete seit-
dem schon wiederholt; und ganz dieselben Erfahrungen lassen sich für die mei¬
sten Disciplinen nachweisen.
Im Allgemeinen dürfte vor Kurzem in den meisten Fächern eine tiefe
Ebbe vorhanden gewesen sein. Wer aber nicht absichtlich blind sein will,
kann auf den meisten Gebieten heute schon die beginnende Rückkehr der Fluth
gewahr werden. Und jene momentane Ebbe hatte doch eine ganze Reihe von
Ursachen gehabt, von denen wir zum Trost unserer Leser wenigstens einige
hier nennen wollen.
Die materielle Lage der Professoren war im letzten Jahrzehnt gradezu
eine unerträgliche geworden. Nur der mit Glücksgütern gesegnete konnte ver¬
ständiger Weise den Entschluß fassen, sich der akademischen Laufbahn zu wid¬
men, d. h. also Privatdozent zu werden. Vor allem in Preußen war das
Budget der Universitäten lange Zeit auf das engste zusammengepreßt; manche
vorhandenen Bedürfnisse waren künstlich zurückgedrängt und unbefriedigt ge¬
blieben. Nun begann 1870 und 1871 eine Periode, in der mehr für die
Zwecke des höheren Unterrichts und der Wissenschaften aufgewendet werden
konnte. Viele längst gefühlte Lücken in den Lehrkörpern wurden jetzt ausge¬
füllt: eine Menge Privatdozenten würden jetzt in kurzer Zeit angestellt.
Der Verbrauch von Privatdozenten zu Professoren wurde für die nächste Zeit
ein stärkerer, als daß der damalige Bestand und der hergebrachte Nachwuchs
Plötzlich ihn leisten konnte: in einzelnen Fällen entstanden Verlegenheiten für
Fakultäten und Regierungen. Neben den Universitäten sind technische Hoch¬
schulen erwachsen, welche die disponibel» Lehrkräfte in vielen Fächern für sich
in Beschlag genommen und den Universitäten entzogen haben. Dazu kam
die Neugründung von Straßburg, das in größerem Style sofort angelegt
wurde und viele Kräfte absorbirte. Viele Professoren geriethen in eine Art
von Wandersieber: hier und da stellte sich einmal ein Mangel heraus.
Wer über dem Treiben des Momentes nicht den Kopf verloren, mußte
sich sagen, daß dies nichts weiter als eine vorübergehende Unbequemlichkeit
sei, daß sehr bald das Gleichgewicht sich herstellen müsse. Vielfachen Forde¬
rungen nachgebend, schuf man neue Lehrstühle für Fächer, die bisher so gut
wie gar nicht an den Universitäten vertreten. Wir erinnern nur an die Ein¬
führung der englischen und französischen Philologie, an die Vermehrung der
nationalökonomischen Lehrstühle: kein Wunder, daß es in diesen Fächern
hier und da an verfügbaren und brauchbaren Dozenten mangelte. Und wenn
jetzt die preußische Regierung mit einem Schlage aus dem Nichts heraus
sechs neue geographische Professuren auf den Etat gesetzt hat, so ist das
nachherige Erstaunen jedenfalls sehr ungerechtfertigt, wenn demnächst sich
ein Rufen und Klagen über den Mangel an Dozenten der Geographie
erhebt!
Und auch auf eine andere Thatsache dürfen wir wohl andeutend noch
hinweisen. Grade bei Besetzung von Professuren, die zu den angesehensten
und maßgebendsten gezählt werden, hat man in letzter Zeit Aeußerungen des
Bedauerns gehört über die Abnahme des jüngeren akademischen und wissen¬
schaftlichen Nachwuchses. Dieser Satz, dessen Begründung wir hier nicht dis-
cutiren wollen, bezieht sich aber mehr auf die Qualität als die Zahl: an
Candidaten bei derartigen Stellungen hat es noch nicht gefehlt, wohl aber
bisweilen an hervorragenden Gelehrten, denen Negierung und Fakultät mit
einiger Freudigkeit des Entschlusses die wichtigeren Posten übertragen konnten.
Uns erfüllt mit Besorgniß um die Zukunft unserer Hochschulen nicht ein etwa
vorauszusehendes Deficit an Privatdozenten und Professoren (daran glauben
wir nicht), wohl aber die vielfach beobachtete Ueberschwemmung wissenschaft¬
licher Arbeitsgebiete durch die sich immer breiter machenden Mittelmäßigkeiten.
Eine geistige Null an einer Universität, sei es als Dozent oder Professor,
wirkt immer viel schlimmer oder schädlicher als eine zeitweise Lücke. Ist aber
die Beobachtung, die wir hier andeuten, eine richtige, so ist mit äußerlichen
Maßregeln nichts gethan. Nur von einem neuen Impulse unseres gei¬
stigen Lebens überhaupt ist eine Besserung zu erwarten, nicht von Ver¬
mehrung der ohnehin schon schädlichen mittelmäßigen Dozenten durch künst¬
liche Mittel.
Der Mangel an Dozenten vertheilt sich übrigens in sehr ungleicher Weise
auf die einzelnen Fakultäten und Wissenschaften. Besonders stark ist er her¬
vorgetreten und auch jetzt noch nicht gehoben bei Theologen und Juristen.
Und grade bei diesen Fakultäten lassen sich zu Allem, was wir bisher gesagt
haben, auch noch innere Gründe anführen. Die theologische Wissenschaft,
wie sie von Altersher auf unseren Universitäten vorgetragen worden, ist neuer¬
dings bei einem Zersetzungsprozeß angelangt, dessen Endresultat sich noch
nicht sicher voraussehen läßt: auf der einen Seite nähert die Entwickelung
der theologischen Wissenschaft sich einem Punkte, bei dem von Theologie nicht
mehr viel übrig bleibt, auf der anderen Seite ist die Theologie im Begriffe,
die Wissenschaft aus der bisherigen Verschmelzung der beiden Elemente aus¬
zuscheiden. Daß bei diesem Zustande der theologischen Universitätslehre ein
großer Zudrang von Dozenten nicht erwartet werden kann, liegt auf der
Hand. Und wenn der verflossene preußische Cultusminister von Muster
Jahre lang die Praxis verfolgte, statt der Dozenten beliebige Pastoren an den
Universitäten anzustellen, so wird man dies auch nicht als eine Ermuthigung
der Dozenten ausgeben wollen. Die letzte Zeit hat übrigens an einzelnen
Universitäten die neue Habilitation mehrerer theologischer Privatdozenten
gebracht.
Was die juristischen Fakultäten angeht, so tritt dem Nichtjuristen
eine merkwürdige Thatsache entgegen. Es giebt seit mehreren Jahren eine
ganze Literatur über die Frage, w!e der juristische Universitätsunterricht ein¬
gerichtet werden solle: daß der gegenwärtige Modus unhaltbar, darin stimmen
Alle überein, so sehr sie in den Reformoorschlägen auch auseinander gehen.
In vielen, ja in den meisten Fällen (Ausnahmen davon sind uns sehr wohl
bekannt) besteht der juristische Universitätsunterricht in einem mehr oder we¬
niger energischen Einpauker für die spätere Praxis. An das wissenschaftliche
Denken der Studirenden werden in den üblichen juristischen Borlesungen
möglichst geringe Anforderungen gemacht. Sollte hierin nicht einer der Gründe
zu sehen sein, weshalb verhältnißmäßig so wenige Juristen sich der akademi¬
schen Laufbahn von vorneherein widmen? Daß pekuniäre Gründe im Spiele
seien und durch pekuniäre Lockungen Dozenten angeworben werden müssen,
wird grade bei den Juristen Niemand behaupten, der sich den wirklichen That¬
bestand vergegenwärtigt: juristische Collegien gehören zu den einträglichsten
der ganzen Universität; und ein unentgeltlicher Probedienst ist ja auch von
dem praktischen Juristen verlangt. Im römischen und im deutschen Recht
fehlt es übrigens nicht an Dozenten; für Strafrecht und Prozeß aber sind
schon hergebrachter Weise vielfach ohne Schaden der Universitäten Praktiker
zu Professoren berufen worden. Ein wissenschaftlicher Aufschwung unserer
juristischen Fakultäten, den wir erhoffen, würde die etwaigen Mängel und Ge¬
brechen ohne allen Zweifel in kürzester Frist abstellen.
Aus dem Schooße der medizinischen Fakultäten sind die erwähnten
Klagen am wenigsten gehört worden. Jeder Blick in die Lectionskataloge
beweist Reichthum, ja Ueberfluß an Dozenten.
Sehr großen Schwankungen sind in der letzten Zeit die philosophischen
Fakultäten ausgesetzt gewesen. Von ihnen ist alles zu wiederholen, was wir
oben über die zeitweilige Abnahme jüngerer Kräfte und die Ursachen dieser
Erscheinung gesagt haben; von ihnen gilt ebenso unsere frühere Behauptung
eines neuerdings schon eingetretenen Umschwunges. Wir bitten aber bei der
Erörterung unserer Frage für die Wissenschaften, die in der philosophischen
Fakultät vereinigt sind, noch eine andere Thatsache nicht zu übersehen. Bei
den meisten Disciplinen, — bei den philologischen und historischen, zum
Theil auch bei den mathematischen — können erfahrungsmäßig Professoren
auch aus dem Kreise der Gymnasiallehrer ausgewählt werden. Eine ganze
Reihe von Namen, welche zu den ersten Zierden der Wissenschaft und der
Universitäten geworden, ließe sich zum Beweise dieser Thatsache hier anführen!
Ein Gymnasiallehrer, der hervorragende wissenschaftliche Leistungen aufzuweisen,
der in seinem Lehrerberufe eine gewisse Uebung des Vortrags sich erworben
hat, wird wohl concurriren dürfen mit manchem Dozenten der Universität;
ein solcher wird oft mit Erfolg in eine Professur übergehen. Beispiele gegen-
theiliger Erfahrung liegen allerdings vor (meistens dann, wenn die Ver¬
setzung vom Gymnasium an die Universität in vorgerückteren Jahren riskirt
worden ist), aber sie sind verhältnismäßig sicher nicht zahlreicher, als die
Mißerfolge mancher zu Professoren gemachten Privatdozenten.
Nach unseren Ausführungen ist also die Gefahr, der man entgegenzu¬
wirken verlangt, nicht in so hohem Maaße vorhanden, als viele dies meinen;
sie hat, wo sie sich zeigt, mehr einen vorübergehenden als bleibenden Cha¬
rakter. Und das, was wirklich ein bedenkliches Symptom unserer akademischen
Zustände ist, — die Aufnahme wissenschaftlicher Mittelmäßigkeiten in das
Lehrerpersonal der Universitäten, die Verschlechterung des wissenschaftlichen
Durchschnittscharakters unserer Universitätslehrer — das ist etwas, das staat¬
licher Einwirkung nicht weicht, das durch äußerliche Heilmittel nicht curirt
wird. Eine Periode neuen wissenschaftlichen Aufschwunges allein kann hier
Hülfe schaffen; sie wird eintreten, — ob heute oder morgen, wer will dies
sagen? Wenn sie gekommen, dann wird sich auch die bisher so trefflich be¬
währte Einrichtung unseres Privatdozententhums mit neuem Leben erfüllen!
Wenn die gebildete Welt heute verlangt, daß den Privatdozenten ihre Probe¬
zeit erleichtert, ihr Beruf begehrenswerther gemacht werden sollte, und wenn
in Folge solcher Aeußerungen das preußische Ministerium schließlich zu einer
Unterstützungsmaßregel Einleitung getroffen, so wird selbstverständlich jeder
Universitätslehrer Freude und Dank für diese wohlwollenden Absichten aus¬
sprechen. Nur wird es ihm naheliegen, gleichzeitig hinzuweisen auf die Gefahr,
daß die Grundlagen dieser segensreichen und nothwendigen Einrichtung, auf
der gerade unsere Universitäten eigentlich aufgebaut sind, sehr leicht verletzt
und geschädigt werden können.
Will man fähige Leute für den akademischen Beruf gewinnen, so treffe
man Sorge, daß dem Dozenten, wenn er die in der Regel nothwendige,
immer aber heilsame Vorbereitungszett hinter sich hat, dann auch bei der
Anstellung eine menschenwürdige Existenz geboten werde! Einige Schritte
sind ja in den letzten Jahren in dieser Richtung geschehen; wenigstens das
Anfängergehalt des Professors ist jetzt leidlich bemessen. Aber wie sieht es
mit den späteren Verbesserungen aus? Darüber ließe sich viel sagen und
allerlei erzählen! Einzelne Notabilitäten erzielen ausreichendes Einkommen,
— d. h. in dem Fall daß sie von auswärts berufen oder bei einem Rufe
nach auswärts festgehalten werden müssen. Alles Andere bewegt sich noch
immer in traurigem Geleise. Hier ist der Punkt, wo geholfen werden kann.
Nicht während der Probezeit des jüngeren Anfängers sondern nach der
Probezeit sollte man dem erprobten und bewährten eine gesicherte und be¬
queme Lage in Aussicht stellen.
Es ist oft vorgekommen, daß junge Gelehrte, deren wissenschaftliche
Fähigkeiten die materiellen Mittel überragten, während der Probezeit als
Dozenten vom Staate Unterstützungen erhalten haben. Es ist eine der vielen
Unwahrheiten und Lügen, die in der Welt circuliren, daß es bei unseren
heutigen Einrichtungen dem Armen , der Fähigkeiten zu wissenschaftlichem
Berufe in sich trägt, unmöglich sei, sich einem solchen Berufe zu widmen.
Nein, schon von der Schule her giebt es Stipendien und Unterstützungen in
solcher Anzahl, daß einem wirklich befähigten jungen Manne der Besuch des
Gymnasiums und der Universität selbst bei der größten Armuth geöffnet wird.
Wer die Praxis des Schullebens und der Universitäten kennt, wird diese
Thatsache nicht läugnen. Und ähnlich geht es auch heute schon mit armen
Privatdozenten. Auch heute ist es schon ganz hergebracht, daß der Minister
aus seinem Dispositionfonds Unterstützungen, „Remunerationen", an einzelne
bedürftige Dozenten zahlt. ,
Es ist uns unzweifelhaft, daß nicht jedes derartige Gesuch befriedigt
worden ist. Doch als eines der erfreulichsten Zeichen von dem Wohlwollen
des gegenwärtigen preußischen Unterrichtsministers für die seinem Ressort
unterstellten Universitäten haben wir es betrachtet, daß der Minister das
Bedürfniß und den Wunsch geäußert, durch Vergrößerung seiner Mittel unter
anderm auch den Universitätsdozenten bessere und reichlichere und nachhaltigere
Unterstützung verschaffen zu können. Daß ihm der Fonds zur zeitweisen
Remuneration junger Gelehrten .verstärkt werde, war eine gerechtfertigte
Forderung, deren Erfüllung erst ihn in den Stand versetzt, jungen Gelehrten
und damit auch den wissenschaftlichen Studien selbst fruchtbare Wohlthaten
zu erzeigen. Nur durste man dabei nicht die Losung ausgeben, dies solle
geschehen um der Verminderung der Privatdozenten vorzubeugen, um eine
größere Zahl derselben an die Universitäten heranzulocken! Indem man dies
Motiv für jene an und für sich so erwünschte Maßregel geltend gemacht, hat
man — mehr unabsichtlich als wissentlich — ganz falsche Vorstellungen
erzeugt und sicher an vielen Stellen ganz irrige Hoffnungen und Wünsche
erregt! Dadurch, daß man Mittelmäßigkeiten oder gar Nullen heranlocke an
die Universitäten, fördert man nicht ihre Blüthe und hilft etwaigen Bedürf¬
nissen nicht ab. Und gerade nach dieser Seite hin ist augenblicklich zur größten
Borsicht gegründeter Anlaß! —
Ja, die Art und Weise, mit welcher im Abgeordnetenhause der Etat die
Forderung des Ministers einführte und die Etatsberathung sie erläuterte,
muß einzelne schwere Bedenken erregen. Wir wiederholen, wir begrüßen es
mit freudiger Zustimmung und Genugthuung, daß der Unterstützungsfonds
des Ministers für junge Gelehrte, die in den Anfangsstadien ihrer wissen^
schaftlichen Laufbahn stehen, so bedeutend vermehrt ist, daß er den gewachsenen
Bedürfnissen gegenüber ausreichend geworden. Aber daß man auf der
Regierungsseite die Absicht gehabt, die Austheilung solcher Gelder auf Do¬
zenten zu beschränken, daß man eine bestimmte Portion auf eine Anzahl von
Jahren einem bestimmten Dozenten zusichern wollte, das verräth uns den
Gedanken, besoldete Privatdozenten einzurichten und in das bisherige
bewährte System des akademischen Lebens gerade an einer der empfindlichsten
Stelle Bresche zu legen. Das Abgeordnetenhaus war offenbar sich selbst der
Tragweite dieser Position gar nicht bewußt — bei der Bewilligung derselben
ist es ganz gelegentlich möglich gemacht, eine der fundamentalsten
Umwälzungen des Universitätswesens von oben her einzuführen. Das
Amendement Mommsen, das zur Annahme kam, hat wenigstens diese Gefahr
verringert, indem es neben den habilitirten Privatdozenten auch andere jüngere
für die Universitätslaufbahn voraussichtlich geeignete Gelehrte als empfangs¬
berechtigt hinstellt. Aber es bleibt der Uebelstand, daß jetzt nicht mehr eine
Unterstützung nach dem Bedürfniß der einzelnen Fälle gezahlt, sondern daß
eine feste Summe in kleinere Portionen vertheilt, wenigstens in 38 im Ganzen
etatsmäßig ausgegeben werden soll! Es trennt die neue Einrichtung nur
ein kleiner Schritt von der Schaffung etatsmäßig dotirter, also bleibender
Privatdozentenstellen.
Wir behaupten nicht, daß nach Bewilligung dieser Position nun auch
sofort der bedenkliche revolutionäre Schlag gegen die Universitäten fallen
müsse, — nein es ist für die Ausführung dem Minister noch so viel Spiel¬
raum gelassen, daß er sehr wohl im erweiterten Rahmen nach bisheriger
Weise Unterstützungen an bedürftige und verdiente junge Gelehrte, vornämlich
Privatdozenten, auch fernerhin zu zahlen fortfahren kann. Aber er kann
mit ebensoviel Berechtigung jetzt die bestehenden Einrichtungen des Universitäts¬
lebens durch die Einschiebung besoldeter Dozenten desorganisiren und umge¬
stalten. Es kommt auf die Behutsamkeit, den Takt, die Besonnenheit an,
mit welcher der Minister oder sein vortragender Rath von der ihm ertheilten
Befugniß Gebrauch machen will.
Wenn überhaupt im Ministerium der Plan vorliegen sollte, ^in wesent¬
lichen Dingen Reformen bei den Universitäten anzubahnen — manches Reform¬
bedürftige ist auf ihnen vorhanden — dann ist es doch nicht mehr als billig,
gutachtlich die Universitäten selbst über die beabsichtigten Reformen zu hören*).
Ueber die jetzt eingeführte Neuerung von besonderen Privatdozcntenstipendien
sind die Universitäten nicht gehört worden, obwohl hinlänglich Zeit dazu
gewesen wäre.
Niemand nimmt für unsere Hochschulen das Recht in Anspruch, selbständig
ihre Einrichtungen ordnen und festsetzen zu wollen. Die Entscheidung kann
und soll nur von der Staatsgewalt erfolgen, d. h. von der Regierung, im
Einvernehmen mit der Landesvertretung für diejenigen Dinge, bei denen ihre
Mitwirkung erfordert ist. Aber das ist eine berechtigte Forderung, daß nicht
die wichtigsten und folgenreichsten Neuerungen über sie verhängt werden, ehe
man sie gutachtlich angehört hat. Sehr oft wird es nur eines Wortes der
Aufklärung bedürfen, um alle Welt in den rechten Stand zu einem sachlichen
Urtheil über eine Universitätsangelegenheit zu versetzen. Sehr oft mag ein
competentes und motivirres Gutachten erst die richtigen Gesichtspunkte für
die Behandlung der Reformmaßregeln eröffnen. Niemand verliert dabei,
wenn Gutachten der Sachverständigen vorliegen, — in einzelnen Fällen
dürften auch die entscheidenden Instanzen aus denselben etwas gelernt zu ^
haben bekennen!
Mehr noch, als in der äußeren Einrichtung und inneren Organisation
der Colleges, zeigt sich die nachtheilige Eigenthümlichkeit jener ganzen vom
Mittelalter überkommenen Erbschaft in dein dort verarbeiteten Lehrstoff und
in der Lehrmethode.
Es wird vielleicht schon aufgefallen sein, daß bisher noch mit keinem
Worte der verschiedenen Fakultäten Erwähnung gethan wurde, die wir dock)
nach unseren deutschen Vorstellungen zu einer Universität für unumgänglich
nöthig erachten. Unsere Fakultäten-Gemeinschaft aber ist diesen beiden eng¬
lischen Universitäten völlig fremd; man hat eigentlich nur die Idee gerettet.
insofern man dort wenigstens auch in der Medicin und Jurisprudenz promo-
viren kann, und so ist denn auch nach unseren Begriffen die Möglichkeit eines
wissenschaftlichen Studiums dieser Disciplinen, die durch je einen oder zwei
Professoren vertreten sind,, nicht mehr als angedeutet. Die wenigen jungen
Leute, die sich in Oxford und Cambridge überhaupt mit medicinischen Stu¬
dien befassen, gehen zu dem Professor der Medicin so zu sagen in die Lehre,
besuchen mit ihm das Hospital und hören nebenbei einzelne Vorlesungen über
Botanik, Chemie, Anatomie und drgl. (die indeß nur spärlich gehalten wer¬
den), um sich dann später in den großen Londoner Hospitälern in ähnlicher
Weise theoretisch und praktisch auszubilden.
Der zukünftige Jurist verschafft sich seine Ausbildung ebenfalls hauptsäch¬
lich in praktischer Weise, indem er im Bureau irgend eines Londoner Urwalds
arbeitet. Zu gleicher Zeit hat er, um sich seine Berechtigung zur juristischen
Carriere zu erwerben, in eins der großen Londoner Rechts-Collegien als Stu¬
dent oder Aspirant, wie man es eher nennen könnte, nach Ablegung eines
kleinen Examens einzutreten, hat dort Gelegenheit gewisse juristische Vor¬
lesungen zu hören und namentlich die Verpflichtung, seine Angehörigkeit
an diese Corporationen dadurch zu documentiren, daß er semesterlich zu einer
bestimmten Anzahl von gemeinsamen Mahlzeiten, die an festgesetzten Tagen
in den Speisesälen der Londoner Rechts - Collegien Statt finden, zu erscheinen
hat. Würde er ein einziges dieser Diners versäumen oder etwa erst nach dem
Tischgebet erscheinen und vor dem Schlußgebet aufbrechen, so würde das ganze
Semester für seine juristische Studienzeit nicht gezählt werden. Für den ge¬
wöhnlichen Rechtsstudenten sind jährlich 24, also während der drei Studien¬
jahre 72 Mahlzeiten erforderlich, um sich die Qualification zum Juristen zu
eressen. Der allgemein gangbare, populäre englische Ausdruck für Jurispru¬
denz studiren ist deshalb auch davon hergenommen: hört man von einem
jungen Manne sagen Ils das eatsn Kis ämusr«, so heißt das: er hat jma
studirt. — Circa solchen Studenten aber, der sich schon auf einer englischen
oder schottischen Universität mit theoretischen Rechtsstudien befaßt und sich den
ersten juristischen Grad, den eines daeealaurenZ juris erworben hat, wird die
Sache wesentlich erleichtert; freilich nicht rückstchtlich der Dauer der Studien-,
zeit oder der bedeutenden semesterlichen Beitragsgelder, sondern nur in Bezug
auf das Eintrittsexamen, welches ihm erlassen wird und auf die Anzahl der
Diners, denen er beiwohnen muß, da die betreffenden Autoritäten befriedigt
find, wenn er durch 12 Mahlzeiten jährlich seine Befähigung zum Juristen
darthut. Der Student selber hat dabei höchstens den zweifelhaften Vortheil,
daß er sich bet der Gelegenheit die viel vortrefflicheren Diners seines Oxforder
oder Cambridger College ins Gedächtniß zurückrufen kann, welche, beiläufig
bemerkt, sehr gut den Vergleich mit denjenigen unserer besseren Gasthöfe aus¬
halten können.
Daß unter solchen Umständen in einem Lande der vorwiegend praktischen
Interessen sich nur verhältnißmäßig wenige junge Leute finden, welche der
allein erforderlichen und in London vollständig zu erwerbenden praktischen Aus¬
bildung zum Juristen die allerdings geschätzte Zier einer theoretischen Univer¬
sitätsbildung hinzufügen, ist leicht begreiflich. Und selbst in diesem Fall ist
nicht das eigentliche juristische Studium, welches sich zur Erlangung des bu,eek-
lam-vus-Grades auf bestimmt vorgeschriebene Kapitel aus dem römischen Recht,
dem englischen Recht und der englischen Geschichte beschränkt, die Hauptsache,
sondern die stets damit combinirte allgemeine Universitäts-Ausbildung. Ge¬
rade so verhält es sich mit dem Mediciner, in noch viel ausgedehnterem Maße
mit dem Theologen. Ja, nichts ist mehr geeignet, die mittelalterlichen Tra¬
ditionen der englischen Universitäten sofort ins rechte Licht zu stellen, als die
Darlegung ihres Verhältnisses zu der englischen Kirche.
Aus der Entstehung und Entwickelung der englischen Universitäten ist
schon ersichtlich, daß dieselben von jeher zu der Kirche in der innigsten Be¬
ziehung standen. Dies Verhältniß wurde mit der Reformation nicht ge¬
ändert, da dieselbe sich ja in Engländ darauf beschränkte, das Land von Rom
zu befreien und die wesentlichsten Mtßbräuche zu beseitigen, dagegen aber die
ganze frühere Kirchenverfassung mitsammt dem äußeren Ritus beibehielt. Die
Landesuniversitäten und die Landeskirche blieben aufs Engste verbunden und
sind es noch bis auf den heutigen Tag. Es wurde schon erwähnt, daß die
Präsidenten fast aller Collegien statutenmäßig Geistliche sein müssen. Und diese
Präsidentenstellen sind vielfach die Uebergangsstufen zu den höheren und höch¬
sten Kirchenwürden. Mit den Präsidentenstellen sind gewöhnlich noch einträg¬
liche Pfarreien verbunden, welche von Vicaren verwaltet und während der
Ferien als angenehmer Landaufenthalt von dem College-Präsidenten und seiner
Familie benutzt werden. Auch Professoren und Bibliothekare suchen gewöhn¬
lich ihr Einkommen durch Uebernahme einer der Pfarreien, welche ihr College
etwa zu vergeben hat, zu vermehren. Mehr als die Hälfte der Fellows ferner
gehört, wie schon bemerkt, dem geistlichen Stande an. Niemand wird über¬
haupt zu einem Fellowship oder zu irgend einem Lehramt an der Universität
zugelassen, der nicht die 39 Artikel der anglikanischen Kirche unterzeichnet.
Andrerseits wird von der Kirche die gewöhnliche Universitäts-Ausbildung,
die namentlich auf dem Studium der alten Klassiker, der Mathematik, Ge¬
schichte, Philosophie und des neuen Testaments beruht, für hinreichend ange¬
sehen zur Führung von Kirchenämtern jeder Art. Erst in neuerer Zeit pfle¬
gen die Bischöfe vor der Ordination die Ablegung eines theologischen Examens
zu verlangen, wobei die Früchte tüchtiger theologischer Privatstudien, ramene-
lich auch Kenntniß des Hebräischen, zwar anerkannt werden und eine Em¬
pfehlung sind zur Erlangung höherer Kirchenämter, doch keineswegs unerlä߬
liche Bedingung. Das neue Testament in der Ursprache, das alte in der
Uebersetzung, etwas Kirchengeschichte, ein Commentar über die 39 Artikel,
einige populäre theologische Abhandlungen und Predigtsammlungen: das ist das
zu verarbeitende Material für den gewöhnlichen Geistlichen. Und dies niedrige
Niveau der Anforderungen ist um so leichter zu erreichen, als es ja einen
Theil der gewöhnlichen Universitätsstudien bildet, welche auf den beiden eng¬
lischen Universitäten fast ausschließlich betrieben werden und-etwa denjenigen
Fächern entsprechen, die man bei uns zu der philosophischen Fakultät rechnen
würde. —
Bis zu einem gewissen Grade haben alle Studenten, also auch die zu¬
künftigen Mediciner und Juristen sich zunächst diesen Studien zu widmen.
Der Grund liegt darin, daß die systematische Ausbildung des englischen Ge¬
lehrten erst mit dem Eintritt in die Universität beginnt und nicht, wie bei
uns, die Absolvirung eines Gymnasiums ihn zum Abgange zur Universität
vorbereitet und berechtigt. Demgemäß wird zum Eintritt in ein College
weiter nichts verlangt, als ein äußerst leichtes Examen bei der Immatricula-
tion oder in Cambridge in vielen Colleges nur die Bescheinigung eines Cam¬
bridger Graduirten, daß er den betreffenden jungen Menschen für hinlänglich
vorbereitet halte. So kommt es, daß sich dort semesterlich neue Ankömmlinge
von der allerverschiedenartigsten Vorbildung zusammenfinden, unter denen
Leute, die früher Geschäfte aller Art mit gutem, pecuniären Erfolge betrieben
haben, keine ungewöhnliche Erscheinung sind, und die nun mit Weib und
Kind in Oxford oder Cambridge sich niedergelassen haben, um sich durch Er¬
langung des akademischen Grades in eine andere Lebenssphäre hinaufzuschwin¬
gen. Hin und wieder, wenn wirklicher Wissensdrang der Beweggrund war,
gelingt dies mit bedeutendem wissenschaftlichem Erfolge. So wird erzählt, daß
einer der jetzigen Professoren für Geschichte in Oxford Seekapitain war, bevor
er die Universität bezog.
Etwa ein Jahr nach der Immatriculation nun hat der englische Stu¬
dent und zwar jeder in gleicher Weise das erste Examen zu bestehen. Die
Gegenstände, in denen examinirt wird, sind eins der vier Evangelien in der
Ursprache, lateinische und griechische Elementargrammatik, ein griechischer und
ein lateinischer Schriftsteller, etwa Cicero und Xenophon, die drei ersten Bücher
von Euklid und etwas Arithmetik. Trotz der Leichtigkeit der Anforderungen,
die also höchstens Secundaner-Kenntnisse unserer Gymnasiasten voraussetzen,
pflegt stets der vierte Theil der Examinanden diese Prüfung nicht zu bestehen,
ein Beweis für die mangelhafte Beschaffenheit der englischen Schulen. Uebri-
gens wird es von den vornehmeren Studenten oft förmlich für fashionable
gehalten, in dem ersten Examen wenigstens einmal durchzufallen, zumal da
die Fama berichtet, daß selbst einem Gladstone dies widerfahren sei. — Nach
diesem ersten Examen, welches für alle dieselben Anforderungen stellt,
können die Studien des englischen Studenten auf zweierlei Art verlaufen, d. h.
er hat zu erklären, ob er den einfachen akademischen Grad zu erlangen wünscht,
oder ob er versuchen will, sich denselben mit gewissen Auszeichnungen zu er¬
werben. In letzterem Falle werden in-den verschiedenen Prüfungen, deren in
dem Triennium nach dieser ersten noch zwei zu bestehen sind, etwas höhere
Anforderungen gestellt. Namentlich auch ist es nöthig, mit Leichtigkeit einen
englischen Autor in lateinische und griechische Prosa übertragen zu können
und eine gewisse Gewandtheit im Verfertiger griechischer und lateinischer Verse
zu besitzen. Alle diejenigen griechischen und lateinischen Schriftsteller nun, die
auf unseren deutschen Gymnasien gelesen werden, und auch einige der unge¬
wöhnlicheren, die man erst auf der Universität kennen zu lernen Pflegt, werden
auch dort vorgelegt, aber für jedes Examen werden immer ganz bestimmte
Autoren und meistens bestimmte Abschnitte aus denselben verlangt. Ganz
dasselbe System befolgt man in der Philosophie, wobei man sich fast nur auf
bestimmte Kapitel aus Plato und Aristoteles sowie auf gewisse Elementar¬
bücher der Logik beschränkt und ebenfalls in den Naturwissenschaften, in der
Geschichte und in der Mathematik. Gewisse Combinationen dieser Fächer
unter einander oder in Verbindung mit den juristischen Wissenschaften reichen
aus, sich den ersten Grad, den eines Laelivloi' ot' arts zu erwerben. Zur
Erlangung der Magisterwürde ist kein weiteres Examen erforderlich, sondern
nur nach Verlauf von drei Jahren die Bezahlung einer gewissen Geldsumme.
Auf dieselbe Art kann man sich nach Verlauf einer weiteren Reihe von Jahren
d^le Grade eines Dr. Mris oder eines IZg-eKolor und voetor der Theologie
erwerben. Das letzte Examen nach dem akademischen Triennium und die
dabei erlangte Auszeichnung ist also namentlich von Bedeutung für die spä¬
tere Stellung und für die weitere Carriere innerhalb oder außerhalb der
Universität.
Die Art und Weise, wie die dazu erforderlichen Kenntnisse erworben
werden, ist ebenfalls wesentlich von der bei uns gebräuchlichen verschieden.
Während in dem Lehrsystem unserer Universitäten der zusammenhängende
Vortrag die Hauptsache ist, der erst in neuerer Zeit durch Errichtung von
Seminarien für fast alle Zweige der Wissenschaften eine vortreffliche Ergän¬
zung erhalten hat, ist dort das schulmäßige Unterrichten bei weitem vorwie¬
gend. Der Tutor übersetzt einen bestimmten Schriftsteller mit einer Klasse
Studenten, läßt sie griechische und lateinische Verse auswendig lernen, corri-
girt ihre prosaischen und poetischen Arbeiten in diesen Sprachen und giebt
ihnen namentlich bei ihren Privatstudien die nöthige Anleitung. Professuren,
königliche und von den verschiedenen Wohlthätern gestiftete, sind zwar eine
ganze Anzahl vorhanden, so in Cambridge z. B. vier für Theologie, fünf für
Naturwissenschaften, drei für Mathematik, vier für orientalische Sprachen, je
eine für Philosophie, Nationalökonomie, neue Geschichte, Musik und seltsamer
Weise auch nur eine einzige für alte Sprachen, nämlich für Griechisch; in
vielen Fällen aber sind diese Stellen bloße Sinecuren, im günstigsten Falle
Belohnungen für verdienstvolle Gelehrte in diesen Fächern. Auch die ange¬
zeigten Vorlesungen, die wirklich gehalten werden, beschränken sich auf eine
sehr geringe Anzahl und werden nur von wenigen der strebsameren und fähi¬
geren Studenten besucht. Die meisten sind für diese Art des Studiums, we¬
nigstens während der ersten zwei Jahre ihrer Universitätszeit nicht genügend
vorgebildet, im Gegentheil, sie sind so weit davon entfernt, sich dieser selb¬
ständigeren Methode bedienen zu können, daß ihnen selbst der Tutor, dem sie
angewiesen sind, nicht ausreicht und sie sich statt dessen an einen der soge¬
nannten „eoiZ,eKös", zu Deutsch „Einpauker" wenden, welche sehr zahlreich
an beiden Universitäten ansässig sind und mit ihrem dort sehr einträglichen
Gewerbe des Privatunterrichts sich durchschnittlich leicht 1000 jährlich er¬
werben. Uebrigens sind diese Leute, die also, wie die Verhältnisse liegen, die
Hauptarbeit zu thun haben, durchweg sehr achtungswerthe, tüchtige Männer,
oft frühere Fellows der Colleges, die aber ein Leben in der eigenen Familie
jenen Klostermauern vorgezogen haben und neben ihrer momentanen und
sauren Arbeit doch noch Zeit finden zu ltterarischer Thätigkeit.
Aus dem bisher Gesagten geht nun wohl zur Genüge hervor, daß keine
der beiden englischen Universitäten Anspruch machen kann auf den Namen
einer Universität litorarum in unserem Sinne, da sie zunächst der wohlthätigen
Wechselwirkung entbehren, welche für Docenten und Studenten aus der
Fakultätengemeinschaft entsteht, ja daß ferner mit den dort fast ausschließlich
betriebenen klassischen, mathematischen und philosophischen Studien im
günstigsten Fall die Leistungen unserer besten Gymnasien vielleicht in einzelnen
Fächern übertroffen, nicht aber an Vielseitigkeit des gebotenen Unterrichts
erreicht werden. Von einem eigentlich wissenschaftlichen, quellenmäßigen,
selbständigen Studium der Studenten kann selbstverständlich bei der durch¬
schnittlichen Dürftigkeit der Vorbildung und der eben dadurch bis zu einem
gewissen Grade berechtigten Methode der beständigen Bevormundung und
Anleitung nicht die Rede sein. Doch dies liegt erklärter Weise auch nicht in
der Absicht der englischen Universitäten, ebensowenig, wie die Studenten für
einen besonderen Beruf, etwa den eines Juristen, Theologen oder Mediciners
auszubilden; im Gegentheil, ganz wie unsere Gymnasien wollen sie nur den
Geist bilden und für weitere Studien auf jenen Gebieten befähigen, die dann
allerdings aus Mangel an wirklichen höheren Lehranstalten nur auf privatem
Wege oder im Auslande zu betreiben sind, dasjenige aber, worauf die beiden
englischen Universitäten stets den größten Werth legen, und was sie allen
Tadlern der vielen Schattenseiten stets mit stolzem Selbstbewußtsein entgegen¬
halten, ist^die Ausbildung ihrer Zöglinge zu echten gentlemon. Diesem
Zwecke sollen denn auch namentlich die zwar nicht obligatorischen, aber von
den Universitäten begünstigten und in übertriebenen Maße von den dortigen
Studenten betriebenen körperlichen Uebungen dienen, wie Rudern, Cricketspiel,
Reiten, Laufen, Schwimmen u, drgl., deren Zweckmäßigkeit für eine gewiß
berechtigte harmonische Ausbildung des Körpers freilich nicht abzuläugnen ist,
und deren Einführung bis zu einem gewissen Grade auch unseren Universitäten
zu wünschen wäre.
Obwohl wir nun gern zugestehen, daß die englische studirende Jugend
einen durchaus gesitteten Eindruck macht, und die Studenten wirklich im
Großen und Ganzen auf die Bezeichnung Mutlviuen vollen Anspruch erheben
können, so müssen wir doch aufs Entschiedenste bestreiten, daß die Universi¬
täten allein sie dazu bilden. Im Gegentheil, als Söhne vornehmer, reicher
oder doch wohlhabender Eltern bringen sie die wesentlichsten mit der Geburt
und ersten Erziehung überkommenen Eigenschaften, die nach englischen Be¬
griffen dazu unumgänglich nöthig sind, mit auf die Universität, und wenn
sich dort im Umgange mit den Studiengenossen der Charakter bildet und
festigt, so ist dies in Oxford oder Cambridge gewiß nicht mehr der Fall, als
auf irgend einer anderen britischen oder deutschen Universität. Sicherlich auch
würde diese Seite der englischen Universitätsausbildung keinen Schaden erleiden,
wenn das ganze Unterrtchtswesen reformirt würde, wozu man ja allerdings
dort die Nothwendigkeit einzusehen scheint, wenn man es zunächst durchsetzte,
den Volksunterricht obligatorisch zu machen, und wenn durch Einrichtungen
von Schulen, welche die Vorbereitung zur Universität übernehmen und ab¬
schließen, diese Anstalten auf eine solche Stufe gehoben würden, daß sie den
Namen Universitäten mit Recht verdienten.
Wenn dies erreicht sein, wird, dürfte man dort vielleicht auch zu der
Ueberzeugung kommen, daß nicht mehr die bloße Schulung des jugendlichen
Geistes die Aufgabe der Universität sein kann, sondern daß ihr Streben
zugleich bei wissenschaftlicher Vorbereitung für den späteren Beruf darauf
gerichtet sein muß, den Menschen geistig selbständig und frei zu machen, wie
wir dies von unseren deutschen Universitäten rühmen können. Heinrich von
Sybel hat vor einigen Jahren in einer akademischen Festrede (Die deutschen
und die auswärtigen Universitäten. Bonn 1868.) diese wesentlichste Eigen¬
thümlichkeit unserer Hochschulen im Gegensatz zu den ausländischen mit so
treffenden Worten gezeichnet, daß es gestattet sein mag, um sofort den Haupt¬
unterschied zwischen dem deutschen und englischen System darzulegen, einige
»
Sätze derselben hier zu wiederholen: „Nicht hoch genug", heißt es dort (S. 21),
„kann der Gewinn angeschlagen werden, daß unsere Lehranstalten in ihrem
innersten Wesen die Tendenz auf die volle Befreiung des männlichen Geistes
haben. In der vorausgehenden Schule beherrscht die Autorität nothwendig
den ganzen Menschen; im spätern Leben nimmt die Praxis, und mit derselben
wieder die Autorität, ansehnliche Strecken des Daseins in Beschlag. Aber
wenigstens Einen Augenblick soll auf deutschem Boden jeder gebildete Mann
in seinem Leben haben, wo die Organe der Autorität, wo Nation, Staat
und Lehrer selbst, als die höchste aller Anordnungen ihm das Gebot ver¬
künden, geistig frei zu sein. Aus dem Grunde der eigenen Seele heraus mit
der Leuchte selbständigen Wissens sich den Lebensweg selbst zu bahnen, das
ist das Ziel, welches das deutsche Universitätssystem seinen Schülern aufsteckt.
Möge der einzelne in Folge dieser Studien und Arbeiten die eine oder die
andere Richtung einschlagen, möge er liberal oder conservativ, Reaktionär
oder Progressist, orthodox oder ketzerisch werden: das für uns Wesentliche ist
nur, gleichviel was er sei, daß er es nicht aus Jugendgewohnheit, unklarer
Stimmung, überlieferten Gehorsam, sondern daß er es für sein ferneres
Leben aus wissenschaftlicher Erwägung, kritischer Prüfung, selbständiger
Entschließung sei. Dann und nur dann wird er zu den tüchtigen Gliedern
seines Berufs, den kräftigen Vertretern seiner Partei, den wirksamen Organen
seiner Confession, den Zierden und Ehren seiner Nation, dann, und nur
dann wird er in der Wahrheit zu der alle Stände durchbrechenden Aristo
kratie unserer Zeit, zu den Männern wirklicher Bildung zählen."
Wenn wir nun mit v. Sybel übereinstimmen, daß dies das Ziel sei,
welches unsere Universitäten, wir dürfen wohl schwerlich sagen erreichen,
aber doch ein Ziel für sie aufs Innigste zu wünschen, so möchte es fast schei¬
nen, als ob wir von den englischen Universitäten, wo alles der Autorität
unterworfen ist, wo die Studien jedes Einzelnen nach derselben Norm ver¬
laufen, nur sehr wenig für unsere Zwecke lernen könnten. Und dennoch giebt
die Betrachtung derselben abgesehen von manchen schätzenswerten äußeren
Einrichtungen, wozu namentlich auch die Fürsorge für das körperliche Wohl¬
befinden und Gedeihen der Studenten zu rechnen ist, uns in einer Hin ficht
ein großes nachahmenswertes Beispiel. Freilich finden wir dies nicht so
sehr in dem, was die beiden Universitäten für das englische Volk leisten,
sondern vielmehr darin, was das Volk für die Universitäten thut; und in
dieser Hinsicht fällt ein Vergleich mit unseren Verhältnissen schwerlich zu
unseren Gunsten aus.
Die englischen Universitäten sind, wie aus den wenigen Andeutungen,
die in dieser Hinsicht gegeben wurden, schon zur Genüge erhellt, aus der
Nation selber hervorgegangen, und die Nation hat sie zu allen Zeiten gehegt
und gepflegt wie ihren Augapfel. Soll irgend eine neue Anstalt eingerichtet,
eine Professur gegründet, ein wissenschaftliches Unternehmen gefördert werden,
so finden sich sofort tausend Hände, die zur Unterstützung bereit sind; aber
meistens genügt schon die Hülfe eines einzigen Mannes, um dasselbe aus¬
zuführen. Und nicht etwa sind es bloß die reichen Adligen des Landes,
welche aus diese Weise der Hochschule, die sie gebildet hat, ihren Dank zollen;
nein, alle gebildeten Stände, und auch diejenigen, die nur zu den wohlhaben¬
den zu zählen sind, handeln hierin überein. Es ließen sich zahlreiche Bei¬
spiele dafür, selbst aus neuer und neuester Zeit anführen. Wer in Oxford
gewesen ist, erinnert sich der Ratcliffe-Bibliothek, der Sternwarte, des Hospi¬
tals: alle drei Anstalten sind Stiftungen des Dr. Ratcliffe, des Leibarztes
König William's III.; das Taylor-Institut, eine Akademie für neuere Sprachen,
wurde von einem wohlhabenden Kaufmann gegründet, und der jetzige Pro¬
fessor der angelsächsischen Sprache in Oxford stiftete erst vor wenigen Jahren
eine mit 500 ^? dotirte Professur für dasselbe Fach in Cambridge, wie über¬
haupt eine ganze Anzahl von Professuren Privatleuten, vielfach früheren
Docenten, ihre Entstehung zu danken haben. So kam es, daß die englischen
Universitäten von jeher mit einem solchen Reichthume ausgestattet waren,
daß der Krone kaum etwas zu thun übrig blieb.
Wie ganz anders liegen die Verhältnisse bei uns in Deutschland.
Wer wollte nicht stets in Dankbarkeit derjenigen Wohlthäter gedenken,
die sich auch um unsere Universitäten verdient gemacht haben, dennoch aber
müssen wir eingestehen, daß die englische Nationalwohlthätigkeit auf diesem
Gebiete sicherlich in dreifach höherem Maße die unsere übersteigt, als der eng¬
lische Nationalreichthum dem unsrigen überlegen ist, daß bei uns gerade die
Landesfürsten, die Regierungen, zu allen Zeiten, im Glück und Unglück es
waren und noch sind, denen unsere Universitäten durchschnittlich ihre Ent¬
stehung und Blüthe zu danken haben. Berlin, Bonn, Straßburg sind davon
die letzten beredten Zeugen. Sind wir nun solchen Thatsachen gegenüber
unter allen Gesichtspunkten berechtigt, von der Regierung und nur von der
Regierung, wie wir dies in Deutschland so gern zu thun Pflegen, die Abhülfe
von Mängeln zu verlangen, unter denen unsere Universitäten leiden? oder
wäre es nicht etwa gerathen, da so manche Gebrechen derselben hauptsächlich
aus der einen Ursache, dem Mangel an Geld herrühren, auch selber, so weit
es in unseren Kräften steht, Hand mit anzulegen? — Die englischen Uni¬
versitäten geben uns die richtige Antwort auf diese Frage, und an Veran¬
lassungen, ihrem Beispiele zu folgen, fehlt es bei uns wahrlich nicht.
In Beziehung auf den Geschäftskreis der Zettelbanken hat sich eine inter¬
nationale Praxis herausgebildet, welche überall als Norm dient und von der
gegenwärtig nur wenige Ausnahmen noch vorkommen. Als der normale Ge¬
schäftskreis der Notenbanken ist das Wechsel-Geschäft zu betrachten; sie sollen
die Hauptmasse ihrer eigenen und fremden Betriebsmittel zur Discontirung
von kurzen guten Wechseln verwenden, welche auf Grund reeller Warenge¬
schäfte gezogen sind und dadurch müssig liegendes Geldkapital geldbedürftigen
Geschäftsleuten zuführen. Die Wechsel sollen die Unterschriften von drei und
ausnahmsweise wenigstens zwei, notorisch zahlungsfähigen Personen tragen
und nach dew am meisten geltenden Brauche auf nicht länger als drei Mo¬
nate ausgestellt sein. In letzterer Beziehung kommen in einzelnen Ländern
Ausnahmen von der allgemeinen Regel vor.
So giebt es z. B. in der Schweiz Banken, welche für die Wechsel, die sie
discontiren, Fristen von vier bis sechs Monaten gestatten, allein diese Anstal¬
ten werden nicht zu den solidesten gezählt und außerdem bilden in den meisten
Cantonen der Schweiz drakonische Schuldgesetze das Correktiv für leichteren
Credit. -
Eine hundertjährige Erfahrung hat übrigens festgestellt, daß Schuld¬
forderungen, welche aus kurzen Wechseln entspringen, am pünktlichsten und
sichersten abgetragen werden und am wenigsten Verluste mit sich bringen. Da
der große, namentlich der internationale Handelsverkehr, um überflüssige Hin-
und Hersendungen von ungeheuren Geldsummen zu ersparen, durch Compen-
sation mittelst der Wechsel vor sich geht, so hat sich auf der ganzen Erde der
Brauch eingebürgert, daß Waarenkäufe erst in bestimmten Fristen gezahlt
werden, während welcher eben die vom Verkäufer auf den Käufer gezogenen
Wechsel umlaufen. Der Käufer muß die Zahlungsfrist pünktlich einhalten,
wenn er nicht für die Zukunft seinen Credit verlieren und seine Lebensstellung
preisgeben will. Ueberdieß schärfen in den meisten civilisirten Staaten beson¬
dere Wechselgesetze mit rascherem Exekutionsverfahren diesen Brauch nachdrück¬
lich ein. Haben ja doch auch die Käufer den Werth ihrer Zahlung längst
vorher empfangen und Zeit gehabt ihn umzutreiben und für Deckung zu sorgen-
Weil also der Wechselverkehr auf reellen Handelsgeschäften beruhen soll, so
muß eine solide Bank auch alle Wechsel von sich weisen, welche auf fingirten
Geschäften beruhen und nur dazu dienen sollen, momentan Geld flüssig zu
machen — alle sogenannten Reitwechsel. Als Beweis für die Sicherheit des
richtigen Wechselverkehrs führt Prof. Nasse die merkwürdige Thatsache an,
daß zur Zeit des tiefsten Unglückes Preußens nach der Schlacht von Jena, wo
für eine Reihe von Jahren sogar hypothekarische Forderungen nicht mehr ein¬
zutreiben waren, die von der preußischen Bank diskontirten Wechsel fast so
Pünktlich wie in gewöhnlichen Zeiten eingelöst wurden, so daß der Durchschnitts-
Verlust kaum nennenswert!) überschritten wurde.
Man ersteht daraus, daß der solide Wechselverkehr eine fast ebenso feste
Basis für die Sicherheit einer Zettelbank abgibt, wie die Baarschaft selbst.
Denn eine jede normal geleitete Bank kann fast mit mathematischer Sicherheit
berechnen, wie viel baares Geld jeden Tag in ihre Kasse zurückfließt, um dar¬
nach das Maß und die Bedingungen ihrer Creditbewilligungen bemessen zu
können. Sieht sie z. B,, daß die Creditbegehrer dieses Maß überschreiten, so
erschwert sie ihre Bedingungen, d. h. sie erhöht zunächst ihren Zinssatz und
schreckt dadurch einestheils Creditsuchende ab, deren Unternehmungen auf
billiges Kapital berechnet sind, anderntheils lockt sie Depositen heran, deren
Eigenthümer von dem höhern Zinsfuß Nutzen ziehen wollen. Aus diesen
Gründen bildet das regelmäßige Disconto - Geschäft für eine Zettelbank die
größte Sicherheit und wenn eine Bank in dieser Hinsicht nicht von den soli¬
den internationalen kaufmännischen Grundsätzen abweicht, so kann sie aller
Vorsichtsmaßregeln und Schranken entbehren, welche die Gesetzgebung in
einzelnen Staaten ihnen zur Sicherung der Notengläubiger auferlegen zu
müssen glaubte. Es können den Zettelbanken daher zwar noch einige andere
Geschäfte erlaubt werden, welche zu den Normen des reinen Discontoge-
schäftes passen, allein dieselben müssen sich hüten, ihre Mittel in Unterneh¬
mungen zu stecken oder Unternehmern zu ereditiren, bei welchen es entweder
auf sehr lange Zeit festgenagelt wird oder wo gar die Gefahr des Verlustes
sich wesentlich vergrößert. Es kann also den Zettelbanken noch das Dar¬
lehens - Geschäft gegen Unterpfand gestattet werden; es ist aber dabei rathsam
eine gewisse Grenze zu ziehen, weil man bei Darlehen nicht so sicher darauf
rechnen kann, daß sie auf Geschäften beruhen, für welche der Kaufpreis rasch
liquid wird und weil die Unterpfänder in kritischen Zeiten nicht so leicht
ohne Verlust veräußert werden können, selbst wenn man sie nur gegen einen
namhaften Abstrich vom Marktpreise bei der Darlehensbewilligung über¬
nommen hat. Deshalb werden auch bei der Berechnung der Notendeckung
der preußischen Bank die Lombarddarlehen gar nicht mit in Anschlag gebracht.
Zu ähnlichen regelmäßigen Geschäften gehört das Giro- oder Umschreibe¬
geschäft, sowie das Contoeurrentgeschäft soweit die deponirten Gelder nicht ver¬
zinset werden. Die Verzinsung von Contocurrent-Depositen ist bereits zu
den nicht absolut sicheren Zettelbankgeschäften zu rechnen; denn die Annahme
verzinslicher Depositen muß, wenn sie rationell sein soll, den Bedingungen
angepaßt werden, unter welchen die Anstalt Ihre Mittel creditirt; da ihre
Gelder aber erst im Laufe von drei Monaten wieder zurückkehren, so darf
sie verzinsliche Depositen nur für bestimmte Fristen oder auf Kündigung an¬
nehmen, wobei die Zinsen um so geringer zu berechnen sind, je kürzer die
Kündigungsfrist ist. Als selbstverständlich ist unter den Geschäften einer
Zettelbank auch der Handel mit Edelmetall, die Aufbewahrung von Werth¬
gegenständen, sowie die Einkasfirung für fremde Rechnung zu betrachten. Endlich
mag den Zettelbanken verstattet sein, bis zum Belauf ihres Reservefonds so¬
lide Staatspapiere zu kaufen und zu verkaufen. In Zeiten starken Capital¬
bedarfs kann der Reservefonds indessen unbedenklich auch zu Discontirungen
verwendet werden.
Alle über diesen Kreis hinausgehenden Geschäfte sind für die Zettelbanken
nur von Uebel, denn sie gefährden oder beeinträchtigen mehr oder minder
die Sicherheit und Regelmäßigkeit ihrer Gebahrung, sodaß sie in kritischen
Zeiten dann ihren Zweck nicht erfüllen, eine Stütze des Credits und Kapital¬
umlaufes, sowie des Gleichgewichts der Umlaufsmittel zu sein. Denn der
Hauptberuf einer richtigen, namentlich centralisirten Zettelbank ist nicht blos
der, den Vermittler zu bilden zwischen Kapitalisten, welche müssiges Geld liegen
haben, und kapitalbedürftigen Unternehmern durch ihre Discontirungen an
die Stelle des verzinslichen, nur für bestimmte Personen gültigen, erst nach
festgesetzter Frist zahlbaren Wechsels die unverzinsliche jederzeit auf Ver¬
langen des Inhabers von der Bank gegen Baar eingelöste, wie Metall¬
geld umlaufende Note zu setzen, sondern auch der Gesammtsumme der Um¬
laufsmittel ihres Geschäftskreises bez. Landes diejenige Elasticität zu verleihen,
durch welche sie dem Umfang der Käufe und Verkäufe, der Umsätze und
Transaktionen aller Art, welche eine Liquidation erheischen, angepaßt wird;
letzteres ist vielleicht der Hauptvorzug einer zweckmäßig eingerichteten und so¬
liden Zettelbank. Während dieselbe durch die kategorische Pflicht der Baar-
einlösung ihrer Noten von selbst sich gezwungen sieht ihr Verhalten so um¬
sichtig einzurichten, daß sie solvent bleibt, ist sie dadurch, vorausgesetzt daß
ihre Leitung den der Größe ihrer Aufgabe entsprechenden Scharfblick besitzt
von selbst darauf angewiesen in Zeiten der Fülle an baarem Gelde ihren
Zinsfuß etwas höher als aus dem offenen Markte zu halten um ihren Baar-
schatz vorsorglich zu füllen. Sie beugt dadurch gleichzeitig einigermaßen einem
Uebermaß der Speculation vor und wirkt indirekt mäßigend und ausgleichend
auf die Waarenpreise. Tritt dann nach solcher vorsichtiger Rüstung eine
politische oder wirthschaftliche Krisis ein, während welcher das einreißende
Mißtrauen die Gemüther bis zum panischen Schrecken zu erschüttern pflegt,
sodaß Jedermann anfängt sein Geld zu verstecken oder doch sich für den Fall
zu sichern, daß seine Außenstände nicht so pünktlich eingehen, um die fällig
werdenden Wechsel damit zahlen zu können, tritt in solchen Fällen eine fak¬
tische Verminderung des Durchschnittes der disponiblen Umlaufsmittel An,
dann kann eine dermaßen ausgerüstete Zettelbank vollkommen ausreichende
Hülfe leisten und durch reichliche Diseontirung mittelst verstärkter Notenaus¬
gabe, die Lücke ausfüllen, welche momentan in die Umlaufsmittel gerissen ist
und so das Gleichgewicht des Verkehrs wieder herstellen.
Sowie aber eine normale Zettelbank, will sie diese ihre Aufgabe voll¬
kommen erfüllen, ihre Betriebsmittel nicht an unsolide und verwegene Speku¬
lanten verleihen und nicht auf lange Zeit festlegen darf, so darf sie auch selbst
keine solchen Geschäfte unternehmen, welche diese Folgen nach sich ziehen.
Deshalb sind aus dem Geschäftsbereich solider Zettelbanken, Spekulations¬
geschäfte aller Art, also auch Börsengeschäfte. Report-, Zeit- und Mobiliar-
eredit-Geschäfte unbedingt ausgeschlossen und auch das Hypotheken-Geschäft
ist ihnen in der Regel untersagt. Es kommen zwar Ausnahmen von dieser
Regel vor, allein die Erfahrung hat gelehrt,, daß die betreffenden Anstalten
entweder zu Grunde gegangen sind oder ihr Hauptgewicht nur auf den einen
oder anderen Zweig der Geschäfte geworfen haben, zu welchen ihre Statuten sie
berechtigten. In Genf sind zwei speculations-Banken, welche zur Notenemission
berechtigt waren zu Grunde gegangen, die eidgenössische Bank in Bern hat auf ihr
Mobiliqreredit- und Hypothekengeschäft faktisch verzichtet, bei der bayerischen
Wechsel- und Hypotheken-Bank, welche sich durch ihre im übrigen solide Führung
auszeichnet, ist der Notenumlauf nie zur rechten Entwicklung gekommen, so daß
die Frankfurter-Bank ihr im eigenen Lande weidliche Concurrenz machen
konnte und bei anderen Banken ist wieder das Börsengeschäft die Hauptsache
geworden und die Noten-Ausgabe Nebensache geblieben. Es würde uns zu
weit führen für jeden einzelnen Fall die betreffenden Beispiele zu citiren.
Ueber die Unzulässigkeit der speculations-Geschäfte bei Zettelbanken herrscht
unter ernsthaftem und erfahrenen Gesetzgebern kein Zweifel mehr. Nur das
Hypotheken-Geschäft hat sich noch bei einzelnen Notenbanken erhalten. Es
ist aber wünschenswert!) und im Interesse des allgemeinen Verkehrs, daß
dieselben auf den einen oder andern Zweig, d. h. entweder auf die Noten¬
ausgabe, oder das Hypotheken-Geschäft verzichten. Es verträgt sich, wie ge¬
sagt, mit der Aufgabe einer Zettelbank nicht, einen großen Theil ihrer Mittel
auf lange Zeit festzulegen. Zwar soll das richtige Hypothekengeschäft nur
das Amt eines Vermittlers vollziehen; es soll die Bank mit ihrem eigenen
Kapital nur Garant sein und den Hypothekar-Schuldnern blos das Kapital
anderer Privatpersonen und Anstalten zuführen, welche Kapital müssig liegen
haben. Allein dieses Geschäft erfordert doch, daß die Bank zeitweise einen
Theil ihrer Mittel in Pfandbriefen anlegt, bis diese wieder untergebracht sind.
Das ist ja der Hauptvorzug der neuen Hypothekenbanken vor den ursprüng-
lichen genossenschaftlichen Hypotheken-Verbänden in Preußen, durch welche über¬
haupt das Hypotheken-Geschäft zuerst ins Leben geführt wurde, daß sie, während
letztere ihren Schuldnern die Versilberung der Pfandbriefe überließen, ihre Hypo¬
theken-Schuldner baar auszahlen und den Verkauf der Pfandbriefe durch die An¬
stalt übernehmen. Während beiden genossenschaftlichen Verbänden die Hypotheken-
Schuldner fast immer mehr oder weniger Agio-Verlust erleiden, Zeit und Reisekosten
daran wenden müssen, bis sie ihre Pfandbriefe verkauft haben, zahlt die Hypo¬
thekenbank sofort bei Ausfertigung der letzteren. Unter solchen Umständen
kann es aber nicht ausbleiben, daß eine Bank, wenn sie sämmtliche Bedürf¬
nisse der Landwirthe befriedigen, also dem Zweck ihrer Hypotheken-Abtheilung
entsprechen will, einen größeren Theil ihrer Mittel in den bei ihr zu- und
abströmenden Pfandbriefen anlegen muß. als es im Interesse ihres Disconto-
Geschäftes und der prompter Einlösungsfähigkeit ihrer Noten wünschenswert!)
ist. Die beiden Abtheilungen stehen einander im Wege, entweder das Dis-
conto- und Notengeschäft wird prompt und solid besorgt und allen legitimen
Bedürfnissen entsprochen und das Hypothekengeschäft wird stiefmütterlich be¬
handelt, oder das letztere wird voll befriedigt, dann werden die Mittel des
ersteren geschmälert. In einem Falle muß die Landwirthschaft, im andern
müssen Industrie und Handel an Zurücksetzung leiden. Noch ein anderer
Grund spricht für die Zweckmäßigkeit einer vollständigen Trennung und selb¬
ständigen Führung des Hypotheken-Geschäftes, das ist die Personenfrage bei
der Verwaltung. Jeder dieser beiden Zweige erfordert seinen ganzen Mann
die ganze unzersplitterte Aufmerksamkeit eines tüchtigen Kopfes, namentlich
wenn es sich um die Beurtheilung und Leitung großer Verhältnisse handelt.
Es sind nur ausnahmsweise hochbegabte Männer, welche in zwei Spe¬
cialitäten zugleich Ausgezeichnetes leisten. Da man mit Bestimmtheit aber
nur darauf rechnen kann, Durchschnittskräfte zu gewinnen, so darf man, wo
die höchsten Anforderungen gestellt werden, dem obersten Leiter einer Anstalt
auch nur die Führung eines homogenen Geschäftszweiges zumuthen.
Einer Zettelbank kann im beschränkten Maße, und ohne daß ihre volle
Zahlungsfähigkeit beeinträchtigt wird, auch das Recht zugestanden werden,
Immobilien zu erwerben. Diese Befugniß bezieht sich in erster Linie auf die
Bankgebäude und Einrichtungen, in zweiter Linie auf solche Fälle, wo der
Bank durch den Concurs eines Schuldners ein namhafter Verlust droht, denn
es kann ein solcher Concurs in einer Zeit der Krisis ausbrechen und del der
gerichtlichen Liquidation der Liegenschaften kein annehmbares Gebot oder selbst
gar kein Käufer sich einfinden.
Nächst der Frage der Geschäftsbegrenzung der Zettelbanken ist der wich¬
tigste Punkt die Art und Weise der Sicherung des geordneten Notenumlaufes
und der Noten-Inhaber. Dio Bankpraxis hat in dieser Beziehung zu dem
Ergebniß geführt, daß das wirksamste Sicherungs Mittel in der
Leitung der Bank nach ächt kaufmännischen Grundsätzen ruht.
Im Speciellen liegt die Hauptsicherheit in der Beschränkung des wesentlichen
Theiles der Geschäfte auf den Wechselumsatz. Ist die Bank sodann ge-
halten, bei Gefahr des Concurses ihre Noten jederzeit gegen Baar ein¬
zulösen, so wird eine ihrer Aufgabe gewachsene Direktion von selbst dafür
sorgen, so zu operiren, daß sie in allen Fällen solvent bleibt. Sie wird sich
also durchschnittlich unter der Grenze zu halten suchen, welche ihr vom Gesetze
gezogen ist. Sie wird nur in den seltensten Fällen sich zu Prolongationen
verstehen, sie wird alle Wechsel, welche nach Gesälligkeits - Tratten aussehen,
zurückweisen und sehr sorgfältig in der Auswahl ihrer Schuldner sein, sie
wird mit Aufmerksamkeit die Schwankungen des Geldmarktes beobachten und
je nachdem ihre Baarschaft sich vermehrt oder schmilzt ihren Diseontosatz
rechtzeitig herabsetzen oder erhöhen. Alle anderen mechanischen Vorkehrungen,
durch welche der Gesetzgeber zum Voraus die ungestörte Functionirung der
Bank sichern zu müssen glaubte, indem er gewisse Schranken aufstellte, nach
welchen die Direktion sich zu richten hat, ganz ohne Rücksicht darauf, wie sie
selbst den jeweiligen Stand des Geldmarktes und die zu ergreifenden Ma߬
nahmen beurtheilt, — alle solche Schranken haben sich in der Erfahrung
bis jetzt theils als unschuldig und unwirksam, theils sogar als nachtheilig
erwiesen. Das Beste, was man ihnen nachsagen kann, ist, daß sie den Bank¬
direktionen selbst oft gar nicht unliebsam sind, weil diese sich hinter dieselben
gegen unzweckmäßige oder unliebsame Ansprüche des Publikums verschanzen
können. Die Erfahrung hat gerade hier gelehrt, daß diejenige Bank, welche
ohne andere Schranken als die kaufmännische Klugheit operirt, die Bank von
Frankreich, an und für- sich noch am wenigsten Anlaß zu Besorgnissen gegeben
hat. Die hauptsächlichsten Schranken, welche den Zettelbanken in dieser Be¬
ziehung bis jetzt in verschiedenen Ländern gezogen worden, sind die Festsetz¬
ung einer bestimmten Minimalgrenze der Baarschaft und die einer bestimmten
Maximalgrenze des nicht durch Baarschaft gedeckten Notenumlaufes, oder der
Notencirculation überhaupt. Unter die erstere Kategorie gehört die Forde¬
rung der sogenannten Currency-Partei, welche verlangt, daß die Zettelbanken
ihren Notenumlauf durch einen gleichen Betrag bereiter Baarschaft gedeckt
haben müßten.
Diese Forderung verlohnt keine ernsthafte Erörterung, weil sie den Ban¬
ken zumuthet die Herstellungskosten der Noten zu verlieren; weil es schon eine
Physische Unmöglichkeit ist bei großen Zettelbanken, den Gesammtbetrag der
umlaufenden Noten an einem Tage bei der Kasse zu präsentiren, weil, wenn
auch dieses Hinderniß überwunden werden könnte, der ganze Verkehr während
des Umwechslungsgeschäftes stocken müßte, weil ihm so lange die er-
förderlichen Umsatzmittel fehlen würden, und weil ja die Außenstände der
Bank täglich zurückkehren und den Abzug in ihrer Kasse ersetzen. Wir
können also ernsthaft nur von der sogenannten Drittelsdeckung sprechen, welche
bei der Mehrzahl der Zettelbanken des europäischen Continents eingeführt ist.
Die Idee zu dieser Einrichtung ist in England entstanden. Dort verstand
man den Vorschlag ursprünglich aber dahin, daß nicht bloß ein Drittheil der
umlaufenden Noten sondern auch der verzinslichen Depositen durch bereite
Baarschaft gedeckt sein müsse. Auf dem Conttnent ließ man die Depositen in
der Verhältniß-Berechnung fallen, da man erfahrungsmäßig sicher zu sein
glaubte, daß jede Zettelbank mit einem ständigen Vorrath an Baarschaft,
welche einem Drittel des Zettelumlaufes gleichkäme, dem Einlösungöbedürfniß
unter allen Umständen gewachsen sein müsse. Da die weitere Erfahrung diese
Annahme nicht Lügen strafte, so wurde seit zwanzig Jahren bei Errichtung
jeder neuen Zettelbank in Deutschland und der Schweiz (wenige Ausnahmen
in letzterem Lande abgerechnet) schablonenhaft die Drittelsdeckung in die Sta¬
tuten aufgenommen ohne die Gründe aufs neue zu prüfen, geradeso wie jede
neue Aktiengesellschaft die statutarischen Bestimmungen der früheren bezüglich
der Einrichtung des Verwaltungsraths u. f. w. getreu abzuschreiben pflegt.
Einen wirklichen rationellen Grund für diese Vorkehrung giebt es aber nicht;
sie ist eine willkürlich aus einer nicht einmal für alle Länder gültigen Erfah¬
rung herausgegriffene Grenze.
In Zeiten und in Ländern, wo das Publikum sehr an den Gebrauch
der Note gewöhnt ist, kann diese Grenze zu hoch erscheinen, in Zeiten und
Ländern, wo die Banknote nicht beliebt ist, kann ein Drittheil zum regel¬
mäßigen Vollzug des Einlösunsgeschäftes nicht einmal ausreichen. In Frank¬
reich hatte die Bank schon zu einer Zeit, wo ihre Noten nicht unter hundert
Franken ausgestellt waren und die arbeitenden Klassen noch wenig Gebrauch
davon machten, den Zettelumlauf einmal so erhöht, daß er das sechs- ja das
achtfache der Baarschaft erreichte. Gegenwärtig hat ihr Baarschcch bereits
die Hälfte des Notenumlaufes überschritten und sie kann gleichwol ihre Baar-
zahlungen noch nicht wieder aufnehmen. Es geht daraus hervor, daß eine
rein mechanische Vorschrift nicht im Stande ist, den menschlichen Verstand zu
ersetzen, in Fällen, wo es zur richtigen Steuerung wesentlich auf das sach¬
gemäße Urtheil der Bankdirektion ankommt. Wir würden die Drittels-Deckung
als ein gleichgültiges, weil unwirksames Palliativ-Mittel etwa hingehen lassen,
wenn nicht die Erfahrung lehrte, daß Bankdirektionen sich durch mechanische
Vorkehrungen leicht einschläfern lassen, daß sie versäumen, die nöthige Umsicht
anzuwenden, den erforderlichen Scharfblick aufzubieten und daß dadurch eben
diese schablonenhafte Einrichtung die Direktionen verführen kann, diejenige
Vorsicht zu versäumen, welche ihr von den echt kaufmännischen Grundsätzen
geboten sind. Da nun überdies die Führung der Bank von Frankreich, welche
dieser Schranke ganz entbehrt, von allen Bankautoritäten als Muster hinge¬
stellt wird, so halten wir es für zweckmäßiger, daß bei der Zettelbankorgani¬
sation der Zukunft die Schablone der Drittels-Deckung hinwegfalle. Der je¬
weilig erforderliche Umfang der Baarschaft muß gänzlich dem besten Ermessen
der Bankdirektion anheimgegeben werden. In neuester Zeit hat Herr Ernst
Seyd in London bei Gelegenheit der Berathung des deutschen Reichsbankge¬
setzes den Versuch gemacht, eine Art Regulativ, einen Kraftmesser für die
Bnnkdirektionen aufzustellen, nach welchem sie ihre bankpolitischen Maßregeln
zu richten hätten. Selbstverständlich ist auch ihm das Hauptmittel, um das
Gleichgewicht zwischen Zettelumlauf und Baarbestand aufrecht zu erhalten —
die Veränderung des Discontvsatzes. Er stellt nun an der Hand der Erfah¬
rungen über das Verhältniß des Baarbestandes zum Discontosatz der Bank
von England eine Stufenleiter des Verhältnisses auf, in welchem der Metall¬
schatz zur Höhe des Zinsfußes stehen sollte und welche als Richtschnur für
die Bankverwaltungen dienen könnte. Dieselbe ist folgende:
Es läßt sich auf den ersten Blick erkennen, daß diese Stufenleiter in zu
starker Progression angelegt ist. In der That kann auch die Bank von Eng¬
land, die wegen ihrer fehlerhaften Einrichtung, von der wir weiter unten
sprechen werden, gerade in den schwierigsten Zeiten einen ungeheuern Baar-
schatz in seinem höchsten Stande nicht zur Unterstützung des bedrängten Ver¬
kehrs gebrauchen darf, gar nicht als Maßstab dienen. Dies hat auch der
Verfasser selbst gefühlt, denn er läßt auch die Eventualität zu, daß die Stufen¬
leiter mit einem Zinssatz von Prozent beginne. Allein auch unter dieser
Voraussetzung wäre dieselbe zu schroff, denn schon bei der sogenannten Drittels-
Deckung würde der Discontosatz elf Prozent überschreiten. In gemäßigterer
Progression ist diese Stufenleiter ein Maßstab der für jede Bankdirektion
selbstverständlich sein muß und wenn dieser Borschlag den Bankverwaltungen
also auch nichts neues sagt, so war dessen Veröffentlichung doch ganz zweck¬
mäßig um sich das wirksame Mittel zu veranschaulichen, welches die Banken
in Gestalt der Veränderung des Zinssatzes zur Aufrechthaltung ihres Gleich¬
gewichtes in Händen haben, um zu zeigen wie die Banken die Anforderungen
an ihre Mittel nach Belieben steigern und ermäßigen und ihren Baarschatz
leeren und füllen können, je nachdem sie ihren Diskontosatz ermäßigen oder
erhöhen
Eine ebenso geringe Garantie für die Sicherheit der Gebahrung der
Zettelbanken wie die Festsetzung eines Minimums der Baarschaft gewährt die
Bestimmung eines Maximums des Zettelumlaufes, sei es daß man dasselbe
nach einem gewissen Verhältniß zum Stammkapital oder nach einer Schätzung
des Bedürfnisses an Umlaufsmitteln bemesse. Denn dieß sind die beiden
Maßstäbe, welche bisher bei dieser Vorkehrung in Anwendung gekommen
sind. Der erstere Maßstab sucht seine nationale Berechtigung darin, daß die
Notengläubiger, welche bei fast allen Zettelbanken ein Vorpfandsrecht zu
haben pflegen, durch das Stammkapital eine scheinbare Sicherheit erlangen.
Wir sagen vorsätzlich „scheinbare Sicherheit", denn da das Stammkapital zu
den Betriebsmitteln einer Zettelbank gehört, so kann es auch verloren gehen,
wenn die Direktion in ihrer Geschäftsführung leichtsinnig verfährt, z. B.
Wechsel zahlungsunfähiger Personen discontirt und Darlehen auf specula-
tions - Papiere gewährt. In einem solchen Falle würde das Vorpfandsrecht
den Notengläubigern wenig helfen und der Verlust unvermeidlich sein, trotz
der Maximalbestimmung der Notenausgabe. Auch in dieser Richtung gewährt
also die beste Sicherheit eine solide Verwaltung nach echten kaufmännischen
Grundsätzen. Eine solche braucht auch hinsichtlich der Zettel-Ausgabe keiner
Schranke unterworfen zu werden. Sie wird unwandelbar dafür sorgen, daß
ihre Noten stets beim Vorzeigen eingelöst werden, wenn ihr auch gar keine
Schranke in der Ausgabe derselben auferlegt ist. Zahlreiche Erfahrungen
liegen in der Bankgeschichte insbesondere in neuester Zeit aus der Schweiz
für die Richtigkeit dieser Beobachtung vor.
Der andere Maßstab, nach welchem eine Maximalbestimmung des Noten¬
umlaufs rationell begründet werden kann, ist die Schätzung des Bedarfs an
Umlaufsmitteln. Nach diesem Maßstab wurde bei der Reform des englischen
Bankgesetzes im Jahre 1844 verfahren. Damals wurde der zwanzigjährige
Durchschnitt des nicht durch baares Geld gedeckten Notenumlaufs in England
und Wales auf 22 Millionen Pf. Sterling geschätzt. Es wurde in dem
neuen noch heute giltigen Gesetze dieser Durchschnitt für die Zukunft als
die Maximalgrenze des ungedeckten Notenumlaufes in England und Wales
festgesetzt und 14 Millionen Pf. Sterling davon der Bank von England,
8 Millionen den übrigen Zettelbanken zugewiesen. Alle Noten, welche
über diesen Betrag hinaus ausgegeben werden, müssen durch einen gleichen
Betrag von Geldmünzen und Barren, welche in dem Baarschatze der
betreffenden Banken zu liegen haben, gesichert sein. Dagegen haben die
Provinzial - Banken das Recht, ihre Notenbefugniß gegen eine Entschädi¬
gung an die Bank von England abzutreten. Von diesem Rechte hat schon
eine Anzahl von Banken Gebrauch gemacht, so daß die berechtigte Emission
ungedeckter Noten der Bank von England jetzt etwas mehr als wie die ur¬
sprünglichen 14 Millionen Pfd. Sterling beträgt. Diese Bestimmung, für
welche man in Deutschland den Namen Contingentirung angenommen hat,
leidet an mehrfachen Gebrechen, welche namentlich in kritischen Momenten so
auffallend zu Tage getreten sind, daß es in Großbritanien nur wenige Fach¬
männer mehr giebt, welche die gegenwärtige Organisation der Bank von
England noch vertheidigen. Der erste Fehler war der, daß der Gesetzgeber
den Bedarf an Umlaufsmitteln in die Zukunft hinaus fixirte, welche nur
durch das Erlöschen des Privilegiums begrenzt ist. Freilich konnte er nicht
wissen, daß die Production und der Verkehr Englands so rasch zu so riesigem
Umfang anwachsen werde, wie es seitdem geschehen ist, so daß die auf die
zwanzig Jahre vor 1843 basirte Berechnung des Umlaufsmittelbedarfs auf
die jetzigen Verhältnisse gar nicht mehr paßt. Am besten läßt sich dies aus
den Ziffern des Ausfuhrhandels entnehmen. Die Gesammtziffer der Ausfuhr
und Einfuhr Großbritanniens zeigt seit dem Jahre 1841 folgende, in der Ge¬
schichte des Handels vollkommen unerhörte Vermehrung:
Seit dem Bankgesetze von 1844 hat sich demnach der Umfang des aus¬
wärtigen Handels von Großbritanien nahezu versechsfacht. Zur Zeit dieser
Bankreform hatte das im Jahre 177S gegründete Clearing-house in London
schon eine ansehnliche Bedeutung gewonnen, sonst würde man nicht begreifen,
wie Robert Peel, der damalige Leiter der englischen Regierung und das
britische Parlament nicht an die Möglichkeit einer allmäligen Vermehrung
der Umsätze, die ja auch durch die naturgemäße Vergrößerung der Bevölkerung
geboten ist, und an die darauffolgende Steigerung des Bedürfnisses an
Umlaufsmitteln denken konnte. Eben nur dadurch, daß das Londoner Clea-
ringhouse ungefähr eine ähnliche Entwicklung nahm, die aber erst durch
den Beitritt der Bank von England im Jahre 1864 den Dimensionen
des Ausfuhrhandels ebenbürtig wurde, ist es möglich geworden, bisher
mit dem von der Bankakte von 1844 festgesetzten Maximalbetrag ungedeckter
Noten auszukommen. Der Jahresumsatz des Londoner Klärungshauses, wei-
cher in der ersten Hälfte des Jahrhunderts durchschnittlich nur 1800 bis 2000
Millionen Pf, Sterling betragen hatte, hob sich von 1867 an wie folgt:
Auch der Check-Verkehr, welcher sich in London bis auf die Transaktio¬
nen des Privatverkehrs erstreckt, so daß Jedermann seine Zahlungen nur
mittelst Anweisungen auf ein Bankhaus macht oder empfängt, trägt einiger¬
maßen dazu bei, die Knappheit der Circulationsmittel weniger fühlbar zu
machen. Denn dieser Check-Verkehr wächst natürlich im Verhältniß zur
Zunahme der Bevölkerung der Stadt, welche nahezu vier Millionen erreicht
hat, worunter die reichsten Leute Englands. Neuerdings gehen auch Provin-
zial-Städte z. B. Liverpool damit um, den Check-Verkehr bei sich einzu¬
führen. Trotz der Aushilfe, welche diese Einrichtungen gewähren, scheint
die Einsicht sich geltend zu machen, daß die gegenwärtige Organisation
der Creditumlaufsmittel auf die Dauer nicht genügen könne, denn von Zeit
zu Zeit treten Anträge auf eine Reform der Bank von England auf und
erst neuerdings ist der Vorschlag zur Creirung von Staatspapiergeld veröffent¬
licht worden.
Die Sitzungen des Abgeordnetenhauses vom 12., 13. und 14. April
waren noch der Einzelberathung der Provinzialordnung gewidmet, die am
14. April beendigt wurde. Die meisten Zwischenfälle der Verhandlung inter-
essiren uns um so weniger, als wir zur Stunde an das Zustandekommen
des Gesetzes noch immer nicht glauben können. Wir begnügen uns mit der
Bemerkung, daß das Gesetz im Wesentlichen nach den Vorschlägen der Com¬
mission angenommen worden. Aus der Sitzung vom 13. April ist anzu¬
führen, daß der Minister des Innern mit großer Bestimmtheit die bereits
in der Commission abgegebene Erklärung vor dem Hause wiederholte, daß
die Regierung aus eine Aufhebung der Regierungsbezirke nicht eingehen könne.
Dies hat denn auch seine Wirkung auf die Fassung der betreffenden Beschlüsse
nicht verfehlt. Man hat die Theilung des Provinzialausschusses in Bezirks¬
ausschüsse, welche für gewisse Geschäfte den Bezirksregierungen an die Seite
treten sollen, im Wesentlichen nach dem Regierungsvorschlag, jedoch in der
Redaktion der Commission genehmigt, welche die Theilung fakultativ macht
und abhängig von dem späteren Gesetz über die allgemeine Landesverwaltung.
Als die zweite, also die Hauptberathung, vollendet war, schien doch die
Zufriedenheit mit dem Ergebniß in den Abgeordnetenkreisen nicht groß zu
sein. Man fürchtete, das Gesetz könne bei der dritten Berathung eine Majo¬
rität gegen sich bekommen oder mit einer kleineren Majorität als wünschens-
werth durchgehen. Dieser Ausgang trat nicht ein. Am 17. April ist die
Provinzialordnung in dritter Lesung vom Abgeordnetenhaus genehmigt worden
und zwar von 240 gegen 103 Stimmen. Die Minorität bildeten das Cen¬
trum und die Polen aus nicht recht ersichtlichen Gründen, ferner der größere
Theil der Fortschrittspartei und vereinzelte Mitglieder der andern Fraktionen-
Das Hauptresultat des Gesetzes, wenn es in der jetzigen Gestalt durch¬
ginge, würde die Einrichtung einer Communalverwaltung für gemeinsame
Angelegenheiten der Provinz neben der königlichen Verwaltung sein, und
zwar würde die Communalverwaltung sich auf eine Reihe von Provinzial-
instituten beschränken, während die obrigkeitlichen Funktionen den Oberpräsi¬
denten und den Bezirksregierungen verbleiben würden. Die Theilnahme der
Provinzial- und Bezirksausschüsse an den obrigkeitlichen Funktionen ist durch
das Gesetz zwar in Aussicht -genommen, soll aber den Inhalt erst durch die
zu erwartenden Speztalgesetze einer Wegeordnung, Schulordnung u. s. w. be¬
kommen. Die ebenfalls in Aussicht genommene Theilnahme jener Ausschüsse
an der Beaufsichtigung der Lokalverwaltung kann nur zu Verwirrungen
führen. Die Verwaltungsgerichte, welche als ein drittes Organ, getrennt von
den Bezirksausschüssen, neben die Regierungen treten sollen, erwarten ihre
Einführung ebenfalls von einem besonderen Gesetz, welches, wie früher er¬
wähnt, bereits vorgelegt ist.
Der Hauptgedanke der jetzigen Provinzialordnung, nämlich die Errich¬
tung einer Communalverwaltung für die Provinzialinstitute, Verkehrsanlagen
und dergl. scheint aus der Provinz Hannover zu stammen und den Abgeord¬
neten von dort besonders theuer zu sein. Bei der angesehenen Stellung,
welche diese Abgeordneten in der nationalliberalen Partei einnehmen, ist es
natürlich, daß die nationalliberale Partei aufgefordert wurde, für die Pro¬
vinzialordnung als gleichsam ihr Werk mit besonderem Eiser einzutreten. Im
Herrenhaus soll man dazu neigen, die Communalverwaltung stehen zu
lassen, aus den Kreis derselben die neuen Organe der Selbstverwaltung aber
auch zu beschränken. Es wäre immerhin eine Verbesserung, wenn die Theil¬
nahme der Provinzial- und Bezirksausschüsse an den obrigkeitlichen Funktionen
wegfiele, womit wenigstens die Bezirksausschüsse überhaupt wegfallen würden.
Es ist dies der erste Gedanke des Regierungsentwurfs gewesen, wie er bet
der Einbringung in der vorjährigen Session gestaltet war. Es ist aber
immerhin möglich, daß, wenn das Herrenhaus diese Einschränkung vornimmt,
das Gesetz vom Abgeordnetenhaus ganz zurückgewiesen wird.
Wir würden auch diesen Ausgang nicht beklagen, weil wir in der einzu¬
richtenden Communalverwaltung keinen Gewinn und keinen Fortschritt sehen.
Die wahre Reform scheint uns darin zu liegen, daß, nach Vermehrung der
Provinzen, Provinzialausschüsse mit Zuziehung ständiger, juristischer Mitglie¬
der zunächst in die Funktion der Berwaltungsgerichte treten. Diesen Ver¬
waltungsgerichten wird dann an der Hand der Praxis eine geeignete Theil¬
nahme, eine Mitentscheidung gewisser Verwaltungsangelegenheiten einzuräumen
sein. Die Verwaltung der gemeinsamen Institute aber würden wir am
liebsten in der Hand der königlichen Behörden lassen, unter geeigneter
Controle und Mitwirkung der Provinzialversammlungen. —
Am 14. April trat das Herrenhaus in die erste Berathung des Entwurfs,
betreffend die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römischen
Bisthümer und Geistlichen, auch kurz das Sperrgesetz genannt. Die an sich
nicht bedeutende Verhandlung wird merkwürdig dadurch, daß der Fürst Bis-
marck zweimal das Wort ergriff. Wenn der Kanzler sonst immer das Recht
des Staats gegenüber den usurpatorischen Ansprüchen der römischen Hier¬
archie betont hat, so sprach er jetzt zum ersten Mal als Protestant, und
seine Worte erhielten dadurch, wie uns dünkt, eine außerordentliche Bedeutung.
Der Fürst sprach seine Genugthuung aus, daß ein conservatives Mitglied
des Herrenhauses sich vom evangelischen Standpunkt für die Regierungsvor¬
lage erklärte. Bis dahin hatte nämlich, wie man weiß, die Kreuzzeitungs
Partei, welche ja leider die conservativen Prinzipien des preußischen Staates
so lange ohne wirksamen Einspruch gefälscht hat, immer die Solidarität der
positiven Glaubensrichtungen, einerlei, ob katholisch oder protestantisch, be¬
hauptet. Ein ärgerer Widerspruch gegen den Geist der Reformation, auf
welchem der Protestantismus und der preußische Staat ruhen, ist nicht denk¬
bar. Aber mit dieser Solidarität tritt die Kreuzzeitungspartei immerfort der
jetzigen Kirchenpolitik der Regierung entgegen. Dagegen berief sich Fürst
Bismarck auf den Geist der Reformation, wie er sagte, auf das Evangelium,
und diese Berufung dünkt uns von historischer Bedeutung. Der Kanzler er¬
kennt und hält an der Zeit, es auszusprechen, daß er in dem heutigen Kampfe
nicht blos den Staat gegen die Hierarchie, sondern den Protestantismus gegen
den Katholicismus vertheidigt. In der That erhält der Kampf damit erst
seine wahre Bezeichnung. Den Staat gegen die Hierarchie haben seit den
mittelalterlichen Kaisern viele katholische Regierungen mit mehr oder minde¬
rem Erfolg vertheidigt. Warum ist der Kampf gegen den deutschen Staat
von Seiten Roms mit einer Heftigkeit unternommen worden, wie gegen keine
andere Regierung der neuern Zeit? warum versagt Rom dem deutschen Staat,
was es von so vielen andern Regierungen hingenommen, oder ihnen aus¬
drücklich gewährt hat? Weil Rom im deutschen Staat die Konsolidation des
Protestantismus erblickt, den es schon der Selbstauflösung nahe glaubte.'
Der deutsche Staat kämpft gegenwärtig nicht bloß für seine obrig¬
keitlichen Attribute, die ihm wie jedem andern Staat unentbehrlich sind, son¬
dern kämpft zugleich für das Evangelium als die eigentliche Wurzel seiner
Kraft. Um diese Wurzel untergraben zu können, hält Rom so starr an einer
Freiheit der Bewegung auf deutschem Boden fest, deren Einschränkung es
auf manchem andern Boden unbedenklich hingenommen. Nicht bloß die Sicher¬
heit des Staates, sondern ebenso die Sicherheit des Protestantismus muß den
Protestantischen Deutschen im gegenwärtigen Kampf leiten. Das hat der Reichs¬
kanzler ausgesprochen, und uns will bedünken, als sei mit diesem Ausspruch
der Kampf in ein neues Stadium getreten.
Eine Vorlage von höchster Bedeutung, im Abgeordnetenhaus eingebracht,
kündigt dieses neue Stadium auch formell an: das Gesetz betreffend die Auf¬
hebung der Artikel Is, 16 und 18 der preußischen Verfassung. Der Leser
erinnert sich, daß Artikel Is der Religionsgesellschaften, insbesondere der evan¬
gelischen und katholischen Kirche die selbständige Ordnung und Verwaltung
ihrer Angelegenheiten zusichert, während Artikel 16 das landesherrliche Pla-
net aufhebt und den Verkehr mit den auswärtigen Oberen freigiebt, Artikel
18 endlich den Einfluß des Staates auf die Besetzung der kirchlichen Stellen
aufhebt. Der Leser erinnert sich ferner, daß die Artikel Is und 18 bei Be¬
rathung der Maigesetze von 1873 einschränkende Zusätze erhalten hatten, wo¬
von der zu Artikel Is die Unterwerfung der Religionsgesellschaften unter die
Staatsgesetze aussprach, der zu Artikel 18 die Aufhebung des staatlichen Ein¬
flusses bei der Besetzung der kirchlichen Aemter insoweit wieder beschränkte, als
er dem Staat das Recht allgemeiner Vorschriften über die Vorbildung, An»
Stellung und Entlassung der Geistlichen zurückgab. Jetzt handelt es sich um
die völlige Aufhebung dieser Verfassungsartikel. Und so natürlich erscheint
diese Maßregel, daß man sich nur wundern möchte, warum sie so lange unter¬
blieben. Aber es liegt im Lauf der Natur, daß das Natürlichste und Noth¬
wendigste zuletzt erkannt wird. Wäre nicht eine lange Verdunkelung des
Verständnisses der katholischen Kirche bei uns eingetreten, so wäre ja der ganze
Kampf nicht nöthig, der um die Rückeroberung leichtsinnig verlassener Posi¬
tionen des Staates geführt wird. Das Dunkel weicht nur nach und nach. Aber
mit der Einbringung dieser Vorlage scheint das helle Licht angebrochen. Am
16. April fand die erste und zweite Berathung im Abgeordnetenhaus vor über¬
füllten Tribünen statt. Wiederum ergriff der Fürst Bismarck zweimal das
Wort. Der bedeutendste Ausspruch, den er diesmal that, war der, daß er
nach Aufhebung jener drei Verfassungsartikel und, so muß man Wohl hinzu-
denken, nach Wiederherstellung der durch diese Artikel aufgehobenen Staats¬
rechte, den Kampf mit Rom nur — noch defensiv zu führen gedenke. Das
darf wohl so ausgelegt werden, daß nach Wiederherstellung des landesherrlichen
Planet, nach Verbot jeder unmittelbaren Communication mit Rom, nach Wie¬
derherstellung des gebührenden staatlichen Einflusses auf die Besetzung der
Kirchenämter, nach Aufhebung der Klöster und nach Sequestration der Stif¬
tungen, bei Aufrechthaltung aller bisherigen Maßregeln, der Fürst den Cultur¬
kampf , soweit er durch den Erlaß neuer Gesetze geführt worden, für beendigt
ansieht. Das setzt freilich voraus, daß die ultramontane Partei, wie sie so
oft versichert hat, ihrerseits über den passiven Widerstand nicht hinausgeht.
Was wir in der Fremde lebenden Deutschen aus dem Vaterland hören
und lesen, dreht sich Alles um den Culturkampf. Wir denken uns, daß
manchem Landsmann dieses Kampfes bald zu viel wird, daß er wenigstens
von Herzen das Ende herbeisehnt. Darüber können wir in der Fremde natür¬
lich nichts sagen, wohl aber mögen die Landsleute daheim daran erinnert
sein, daß der Kampf mit der Hierarchie eine Weltlast ist. Diejenigen Völker
und Staaten, welche den Streit nicht, wie unser Vaterland, heute entschlossen
durchkämpfen, werden sich des Aufschubs später nicht erfreuen. Unsere junge
Republik hier in Mexiko verfährt anders. Sie kämpft ihren Strauß mit der
Hierarchie muthig aus.
Die Landsleute daheim erinnern sich vielleicht, daß der so traurig be¬
endigte Jnvasionsversuch des unglücklichen Maximilian mehr noch auf Be¬
trieb der Hierarchie, als des Napoleonischen Frankreich erfolgte, daß der jam¬
mervolle Ausgang dieses Versuches wiederum mehr noch auf Rechnung der
Hierarchie, als desselben Frankreich kommt. Zwar die Gründung einer dauer¬
haften Herrschaft konnte Maximilian durch einheimische Mittel nie gelingen,
was so viel heißt, als sie konnte ihm überhaupt nicht gelingen. Aber, daß
der Ausgang sich so gestaltete, wie er sich gestaltet hat, das kommt auf
Rechnung der Hierarchie. Doch es ist nicht meine Absicht, dieses traurige
Blatt der Geschichte heute aufzuschlagen. Ich beabsichtige eine Mittheilung
über den Kampf unserer Republik mit der Hierarchie.
Unsere Staatsverfassung hat im September 1873 unter verschiedenen
Zusatzartikeln auch einen erhalten, der klösterliche Ordensgemeinschaften ohne
Ausnahme verbietet. Neuerdings ist von dem Congreß ein organisches Gesetz
zur Ausführung dieses Artikels angenommen worden. Darin sind die klöster-
lichen Ordensgemeinschaften als Vereinigungen definirt, deren Mitglieder ver¬
möge zeitweiliger oder für immer bindender Versprechen nach einer bestimmten
Regel und mit Unterordnung unter bestimmte Obere leben. Diese Definition
und zum Theil das ganze neue Gesetz ist gegen den Orden der barmherzigen
Schwestern der heiligen Vincenz de Paula gerichtet. Denn als im Jahr 1861
die Klöster in Mexiko aufgehoben wurden, ward der Orden jener barmher¬
zigen Schwestern ausdrücklich ausgenommen. Jetzt hat man die Nothwendig¬
keit erkannt, gerade diesen Orden noch zu beseitigen. Ueber die Gründe giebt
den besten Ausschluß eine Schrift des Herrn Juan Jost Baz. Derselbe war
Mitglied der mit der Ausarbeitung des Gesetzes beauftragten Commission
und hat die drei wichtigsten Reden, welche er zur Vertheidigung der Vorlage
im Congreß gehalten, in Form einer Broschüre zusammengestellt und ver¬
öffentlicht. Wir werden allerdings nicht leugnen können, daß die Definition
der klösterlichen Ordensgemeinschaften etwas zu weit ausgefallen ist, indem
sie, um die barmherzigen Schwestern nachträglich mit dem Ve.rfasfungsverbot
gegen die klösterlichen Orden zu treffen, diese Orden so definirt, daß alle
Negularorden, auch wenn sie ein klösterliches Zusammenleben nicht vorschreiben,
unter die Definition gesaßt werden. Es ist indeß nicht meine Sache, darüber
zu richten, ob der mexikanische Congreß nicht juristisch correkter verfahren
wäre, wenn er die geistlichen Orden überhaupt verboten hätte, anstatt einen
Theil derselben so zu definiren, daß er alle umfaßt. Worauf es ankommt,
ist, ob das Verbot gegen die barmherzigen Schwestern gerechtfertigt war, und
dafür finden sich die schlagendsten Gründe.
Das Haupt der barmherzigen Schwestern ist der im Mutterhaus zu Paris
refidirende Generalsuperior. Dieser allein ernennt die Delegirten, welche die
über alle Theile des Erdballs verstreuten Filialen mit unbeschränkter Macht¬
vollkommenheit verwalten. Es giebt kein Recht der Mitglieder, die Oberen
aus ihrer Mitte zu wählen, nicht einmal die Wahl des Beichtvaters ist den
Mitgliedern vergönnt. Die Schwesterschaft stellt nach Allem sich dar als ein
in Mexiko thätiges Organ des Auslandes. In Paris heimisch, betrachtet sie
sich mit ihren über die verschiedensten Ländern verzweigten Niederlassungen cM
eine große französische Körperschaft, und wird als solche von Frankreich
anerkannt und geschützt. Sehr interessant sind die Beweise für diese That¬
sache , welche Herr Baz mittheilt. Er führt u. A. an eine Note des kaiser¬
lichen Gesandten Marquis des Gabriac vom Januar 18L8, worin derselbe
Maßregeln zum Schutz der Niederlassungen der Schwestern gegen die Ge¬
fahren des Bürgerkrieges verlangt. In dieser Note werden die barmherzigen
Schwestern und die Lazaristen als französische Körperschaften bezeichnet, welche
der Gesandte Frankreichs nach ausdrücklicher Anweisung seiner Regierung als
unter seinem Schutz stehend betrachte. Herr Baz führt eine zweite Note
desselben Gesandten an, die zehn Tage später datirt ist, worin der Gesandte
gegen die Weigerung Mexikos, das von Frankreich beanspruchte Schutzverhält¬
niß anzuerkennen, seinerseits Protest erhebt, und in Bezug auf die Lazaristen
hinzufügt, das Protektoramt Frankreichs über diese Congregation werde über¬
all anerkannt, und der Papst habe die Verlegung des Mutterhauses von
Paris nach Rom nicht erwirken können. Herr Baz führt drittens an ein
Schreiben, des französischen Gesandten Saligny vom März 1861, worin der¬
selbe über eine im Convent der Schwestern vorgenommene Haussuchung nach
verstecktem Klostergut Beschwerde führt und sogar mit sofortigen Abbruch der
diplomatischen Beziehungen droht. Auf dieses Schreiben folgt ein anderes,
worin die Drohung wiederholt wird. Herr Baz führte in seiner Rede vor
dem Congreß aus, daß Mexiko damals den französischen Drohungen habe
nachgeben müssen und den Fortbestand des Ordens der barmherzigen Schwe¬
stern zulassen. Doch sei dies nur unter der Bedingung erfolgt, daß der Orden
sich als bürgerlicher Wohlthätigkeitsverein einrichte und dem französischen Schutz
entsage. Dies sei natürlich nicht geschehen. Die Folge sei, daß die Ver¬
mögensverwaltung der Schwestern Gaben, von Mexikanern für die Armen
Mexikos bestimmt, nicht selten dem Mutterhaus zu Paris überweise. Ueber
die Art der Krankenpflege, die allen rationellen Regeln zuwider ist, führt
Herr Baz Beispiele an, die ich nicht zu wiederholen brauche.
Als besonders merkwürdig verdient noch erwähnt zu werden, wie nach
der Ausführung des Herrn Baz die klerikale Partei Mexikos darum so heftig
für die Erhaltung des Ordens kämpft, weil sie in ihm ein brauchbares Werk¬
zeug erkennt, die Propaganda einer antinationalen und antistaatlichen Gesin¬
nung unter einer unscheinbaren Maske wirksam fortzusetzen.
Ich weiß nicht, ob diese barmherzigen Schwestern auch im deutschen Reich
Niederlassungen haben. Dann wäre es von doppeltem Interesse, den Charakter
des Ordens als eines ultramontanen und dabei specifisch französischen Werk¬
zeuges sich zu vergegenwärtigen.
Zu den glänzendsten Namen der ältern Münchener Malerschule gehört
der des Landschaftsmalers Carl Rottmann (geb. 1797 geht. 1850) dessen
Bilder, im Gegensatz zur modernen Richtung der Landschaftsmalerei, welche
vor Allem möglichste Naturtreue erstrebt, einer mehr idealen Richtung ange¬
hören. Rottmann benutzte, an ältere Meister wie Poußain, Claude Lorrain,
dann auch Koch, Schinkel u. A. sich anlehnend, die einzelnen Formen der
Natur zu künstlerischen Kompositionen, durch welche er gewisse poetische Ideen
darstellte. Sein Name ist der jüngeren Generation besonders durch die „Griechi-
schen Landschaften", welche in einer raffinirt günstigen Aufstellung einen ganzen
Saal in der neuen Pinakothek ausfüllen und die „Italienischen Land¬
schaften", welche in einem Flügel der Arkaden des Hofgartens zu München
auf die Wand gemalt sind, bekannt. Diese Cyclen sind aber auch die Haupt¬
werke des Meisters; ihre Herstellung bildet den Mittelpunkt seiner gesamm-
ten künstlerischen Thätigkeit.
Zu ihrem wahren Verständnisse sind einige Mittheilungen aus dem
Leben des Künstlers nothwendig: Carl Rottmann begab sich im Jahre
1826 auf eine Studien-Reise nach Italien, durchstreifte das Land
seiner ganzen Länge nach und setzte auch nach Sicilien über. Während
dieser Reise bildete er bei dem Studium der ruhigen, klaren und einfachen
Formen der Italienischen Landschaft seinen ihm später eigenthümlichen Styl
aus. Er fertigte, fleißig arbeitend, eine große Anzahl landschaftlicher Stu¬
dien in Aquarell. Nach München zurückgekehrt, vollendete er im Auftrage
des Königs Ludwig zunächst eine Ansicht von Palermo, welche bei ihrer Aus¬
stellung mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde. Nun faßte König Ludwig,
an ähnliche Anlagen in Italien sich erinnernd, den Plan die Arkaden des
Hofgartens durch Rottmann, dessen Styl ihm für diese Aufgabe monumen¬
taler Art mit vollem Rechte besonders geeignet schien, ausmalen zu lassen.
Der König selbst wählte aus den Studien des Künstlers 28 Bilder aus;
Dieselben stillen eine Wanderung durch ganz Italien, von Trient über Verona.
Florenz, Perugia nach Rom und dessen Umgebungen, dann nach Terracina,
Bajae, Ischia, Palermo, Selinunt, Girgenti, Syracus. Messina, Reggio Ce-
falu ze. dar und repräsentiren die verschiedenen in Italien vorhandenen Land¬
schaftstypen. Zugleich waren bei der Auswahl natürlich auch die historischen
und künstlerischen' Interessen mit bestimmend.
Das erste Bild welches Rottmann, nachdem er im Auftrage des Königs
Italien nochmals besucht hatte, im Frühjahr 1830 an der Wand ausführte,
gelang, obgleich er die damals wenig bekannte Technik der Malerei g.1 kreseo
sich erst wieder erfinden mußte, zur vollen Zufriedenheit. Mit jedem folgen¬
den Bilde vervollkommnete er seine Technik und entwickelte mehr und mehr
sein Geschick in der schwierigen Behandlung eines landschaftlichen Fresco-Ge-
mäldes. Im Jahre 1833 konnte der ganze Cyclus — zu jedem Bilde hatte
der König selbst ein Dystychon gedichtet, welches über dem betreffenden Bilde
angeschrieben wurde — enthüllt werden.'
In diesen Bildern spricht sich der Kunstcharakter Rottmanns mit voll¬
kommener Klarheit aus. Großartige Auffassung der Natur und getreue Dar¬
stellung derselben in wenigen, großen aber bezeichnenden Zügen,
unter absichtlicher Ausschließung aller zufälligen' Einzelnheiten. Dabei wußte
der Künstler bei jeder Landschaft die für sie besonders passende Lichtstimmung zu
finden, derselben ein gewisses poetisches, mit historischen Anklängen vermischtes
Gepräge zu geben. Auch die Staffage ist dieser Stimmung stets angepaßt.
Um eine möglichst große Mannigfaltigkeit in diese Bilder zu bringen, hat er
alle Abstufungen der Lichtstimmung, vom reinsten Sonnenlichte bis zum
dunkelsten Schatten bei Stürmen über Land und Meer, alle Tages - und
Jahreszeiten charakterisirt.
Leider sind diese klassischen Bilder nicht in erwünschter Weise erhalten
geblieben. Sie haben durch den Einfluß der Witterung und Beschädigung
roher Menschen vielfach gelitten, wurd.er aber in neuester Zeit sorgfältig
restaurirt. — Mit Rücksicht auf die geringe Haltbarkeit der Ausführungen
an der Wand ist es von großem Werthe, daß die von Rottmann selbst mit
Kohle und Kreide vor der Ausführung al ü'vKeo gezeichneten Cartons (seit
dem Tode des Künstlers im Großherzöglichen Museum zu Darmstadt) und
auch die vom Künstler selbst in verkleinerten Maßstabe in Oel gemalten
Wiederholungen*) der fertigen Bilder noch erhalten sind.
Es lag der Wunsch nahe/ diesen Cyclus so vortrefflicher Bilder, gleich
ausgezeichnet durch ihren Kunstwerth, wie durch ihr historisches Interesse,
vervielfältigt zu sehen. Schon vor vielen Jahren begann E. Neureuther
sie in Kupfer zu radiren, Börnen sie zu lithographiren. Doch stieß die Fort¬
setzung dieser Unternehmungen damals auf unüberwindliche Schwierigkeiten.
Später gab H. M. Kurz in München (im Selbstverlage) den vollständigen
Cyclus in sehr sauber und sorgfältig ausgeführten Stahlstichen heraus, welche
wenig bekannt und nicht nach Gebühr gewürdigt zu sein scheinen.
Vor zwei Jahren ließ dann die bekannte Verlags-Buchhandlung F r.
Bruckmann in München die Darmstädter Carrons auf photographischem
Wege vervielfältigen.
Zur völlig getreuen Reproduktion der Originale fehlt jedoch unbedingt
auch die Farbe', welche für die künstlerische Wirkung derselben so wesentlich
mitwirkend ist. Obgleich die Nachbildung solcher Bilder in Chromolithogra¬
phie mit großen Schwierigkeiten und demgemäß auch mit sehr bedeutenden
Kosten verbunden ist, ist die Verlagshandlung Fr. Bruckmann in München,
allbekannt durch ihre künstlerischen Unternehmungen großartigster Art, im
Vertrauen auf den Kunstsinn des Publikums, davor doch nicht zurückgeschreckt,
sondern hat sich — und der kolossale kaufmännische Erfolg der Nachbildung
Hildebrandt'scher Aquarelle, hat wesentlich mit zu diesem Entschlüsse beige¬
tragen — dazu entschlossen sämmtliche Fresken Nottmann's, also auch die
griechischen Landschaften, in originalgetreuen Farbendrucken reprodu
ciren zu lassen und hat die für diese schwierige Aufgabe besonders geeignete
Kunstanstalt von R. Steinbock in Berlin, deren Leistungen rühmlichst be¬
kannt sind, mit der Ausführung beauftragt. Von dieser neuesten und bei
Weitem besten Ausgabe der „Italienischen Landschaften" liegen bis
jetzt 2 Hefte mit zusammen sechs Blatt — Taormina, Tivoli, Cyclopenfelsen,
Terracina, Reggio, Scylla Charybdis enthaltend — vor. Es sind vollkommen
getreue, von Künstlerhand mit Verständniß, Geschick und Pietät gefertigte,
natürlich verkleinerte Nachbildungen der Originale, welche als Freskogemälde
zur Nachbildung in Aquarell und Farbendruck ganz besonders geeignet sind.
Mehr zu ihrer Empfehlung zu sagen, hieße nach dem Vorhergehenden, Eulen
nach Athen tragen. —
Dieses große gediegene Prachtwerk, begleitet von einer biographischen
Skizze des Künstlers von R. Bayersdorfer wird nach den ausgegebenen
Prospecte in Lieferungen ö. 3 Blatt, davon jährlich zwei erscheinen sollen,
ausgegeben und kostet 10 Thlr. pro Lieferung, ein mit Rücksicht auf den hohen
künstlerischen Werth dieser Farbendrucke und auf die sehr bedeutenden Kosten
der Herstellung gewiß nicht hoher Preis. Möge das Publikum dem großar¬
tigen Unternehmen des Verlegers hülfreich zur Seite stehen, denn ohne die
Gunst des Publikums kann der Verleger nichts unternehmen und andrerseits
muß das Publikum ohne den großartigen Sinn kunstsinniger Verleger auf
den häufigen und bequemen Genuß klassischer Kunstwerke verzichten.
Schon seit längerer Zeit war es bekannt, daß der 1856 gestorbene Ober¬
präsident von Schön, einer der Mitarbeiter an den Arbeiten der großen Jahre
1807 —1814. eine Menge literarischen Materiales zur Geschichte jener Zeit
hinterlassen; es war auch bekannt, daß unter diesem Materials sich Denk¬
würdigkeiten befinden, welche Schön selbst zur Geschichte seines eigenen Lebens
aufgezeichnet hatte. Mit großem Verlangen sah man der Veröffentlichung
dieser Schätze entgegen, aus denen man neue Aufschlüsse über jene Heidenzeit
des modernen Preußen zu empfangen hoffte. Einzelne Schriftsteller hatten
allerdings schon Einblick in diesen literarischen Nachlaß erhalten, so besonders
O. Nasemann in Halle, welcher 1860 in den preußischen Jahrbüchern mit
Benutzung desselben ein Leben Schön's veröffentlichte; auch haben Mejer und
Treitschke 1873 Einzelnes aus derselben Quelle zur Erläuterung eines be¬
stimmten Vorfalles geschöpft, (vgl. Preuß. Jahrbücher. Band 31). Wiederholt
war nun neuerdings eine vollständige Veröffentlichung der Memoiren und
des Nachlasses von Schön in Aussicht gestellt; von Zeit zu Zeit brachten
Zeitschriften und Zeitungen schon darauf bezügliche Notizen: endlich ist vor
wenigen Wochen wirklich ein erster Band aus Schön's Papieren erschienen.
Der Herausgeber ist nicht genannt, er gehört aber offenbar der Schön«
schen Familie an. Er ist auch offenbar ein Mann, der sonst mit historischen
Studien nicht vertraut ist: von dem Vielen, was aus Schön's eigener Feder
schon bekannt ist, nimmt er gar nicht Notiz; zur Aufhellung und Erklärung
einzelner Punkte thut er so gut wie gar nichts. Hätten wir es mit einem
Fachmanne zu thun, so würde unser Urtheil über die Art und Weise
der Herausgabe kaum scharf genug formulirt werden können: jetzt mag
es genug sein, unser Bedauern darüber auszusprechen, daß die Familie
nicht einem Sachverständigen die Herausgabe so interessanter Documente über¬
tragen hat.
Der erste Band, der uns vorliegt, zerfällt in zwei Theile, die besonders
Paginirt sind. Zuerst lesen wir eine „Selbstbiographie bis zur Emeu-
mung zum Oberpräsidenten von ganz Preußen. Von 1773 bis ins Jahr 1827
hinein." So lautet die Aufschrift. Ob dieser Titel vom Herausgeber oder
von Schön selbst gewählt, erfahren wir Nicht; das letztere scheint sehr unwahr¬
scheinlich, da der Bericht faktisch nur bis 1824 geht. Die einzige Orientirung
über die zum Abdruck gebrachte Erzählung giebt uns die Note des Heraus¬
gebers: „Wann diese Selbstbiographie begonnen ist, kann ebensowenig festge¬
stellt werden, wie der genaue Zeitpunkt, an welchem ihre Bearbeitung auf¬
gehört hat."
Man braucht nicht grade Historiker von Fach zu sein, um zu wissen,
daß der Werth einer Autobiographie sehr wesentlich abhängt von dem Zeit¬
punkt, in dem sie geschrieben. Die Dinge, die ein Mensch erlebt, sehen ihm
selbst ganz anders aus in dem Augenblick, in dem er sie erlebt, und ganz an¬
ders in späterer Rückerinnerung.
Es liegt auf der Hand, daß ein bedeutender Mensch, wenn er die Er¬
lebnisse jüngerer Jahre in späterer Lebenszeit niederschreibe, schon die späteren
Ereignisse mitverwerthet zur Beurtheilung der früheren. Die Auffassung und
Denkungsart des Alters wird gleichsam von selbst in die Jugendgeschichte
hinein reflectirt. Immer wieder muß der Historiker hinweisen auf das Bor¬
bild, das Goethe für eine Selbstbiographie gegeben: unser deutscher Dichter¬
fürst in seiner Wahrheitsliebe hat selbst seine Lebenserinnerungen bezeichnet
als „Dichtung und Wahrheit". Es kann in der That nicht ausbleiben, daß
Jemand aus seinem eigenen Leben neben richtigen Thatsachen auch erdachte,
eingebildete, erdichtete Dinge erzählt. Wenn man aber diesen kritischen Grund¬
satz nicht ganz außer Augen lassen will, dann darf man nicht unerörtert und
ununtersucht lassen die Frage der Abfassungszeit solcher Memoiren.
Sollte wirklich sich in der Familientradition gar nichts darüber haben
ermitteln lassen? Das ist kaum glaublich. Jedenfalls wird man aus dem
Inhalte auf die Abfassungszeit Schlüsse ziehen können und dürfen.
Nun begegnet uns in den Preuß. Jahrbüchern (31, S. S21) ein Citat
aus Schön's im Jahre 1844 geschriebenen Denkwürdigkeiten. Diese Stelle
steht aber nicht in dem hier gedruckten Texte. An anderer Stelle finden wir
eine dort (31, S. 516 und 318) aus Schön's Memoiren gegebene Mitthei-.
lung nicht dem Wortlaute, wohl aber dem Sinne nach in der jetzt gedruckten
Selbstbiographie wieder: in dieser letzteren fehlen besonders die kaustischer
Worte Schön's über die „Handwerker" die „sieben Weisen" (so hatte er sich
über Männer ausgelassen, mit denen er nicht ganz übereinstimmte). Es er¬
giebt sich, daß die autobiographischen Aufzeichnungen Schön's wenigstens in
doppelter Gestalt vorhanden sind. Nicht eine Silbe der Aufklärung über die¬
sen Punkt und was damit zusammenhängt, (z. B. äußere Beschaffenheit,
Ausdehnung u. s, w. des Manuskriptes) hat uns der Herausgeber gegönnt.
Der Text von 1844 (wir haben keinen Grund, an der Nichtigkeit dieser durch
Mejer gemach ten positiven Angaben zu zweifeln) ist ein anderer, als der hier
gedruckte. Was hier vorliegt, muH früher geschrieben sein. '
Denn annähernd läßt sich allerdings die Zeit bestimmen, in der der neu
gedruckte Text geschrieben sein muß. Schön nennt S. 8 unter seinen Jugend¬
freunden den „damaligen Lieutenant, jetzt General von Jaski" — derselbe ist
1831 General geworden, und Anfangs 1846 gestorben.*) Kurz vorher (S. 6)
rühmt er seine Beziehungen zu dem Geheimenrath und Stadtgerichtsdirektor
Göbel mit dem Zusatz: „Unsere Freundschaft wird wohl bis ans Ende un¬
seres Lebens fortdauern." Als Schön dies schrieb, lebte also Göbel noch.
Da derselbe aber am 14. April 1839 gestorben, so muß vor diesen Termin
die Abfassung der Memoiren fallen. Zwischen 1831 und 1839 hätten wir
sie also anzusetzen. Noch mehr engt sich dieser Zeitraum ein durch eine an¬
dere Notiz. Auf S. 83 berührt Schön die Errichtung der Landwehr auf dem
Landtage zu Königsberg und sagt: Die Schrift des General - Auditeur Fric-
cius „Zur Geschichte der Errichtung der Landwehr" enthält darüber alle
Thatsachen! Die hier angezogene Schrift aber, für die Schön stets ein großes
Interesse gehabt (wir kommen darauf zurück), ist „als Manuscript für seine
Freunde" von Friccius zuerst 1838 gedruckt worden. Fassen wir diese An¬
gaben zusammen, so kommen wir zu dem Schlüsse, daß im Jahre 1838, spä¬
testens Anfangs 1839 die Selbstbiographie verfaßt ist, die wir jetzt gedruckt
vor uns sehen. Wie sie sich zu jener anderwärts citirten Aufzeichnung von
1844 verhält, darüber ist ohne eine Vergleichung der Manuscripte nichts zu
sagen. Wir dürfen aber den Wunsch nicht unterdrücken, daß auch jetzt noch
von Sachkundigen eine kritische Untersuchung des Original-Nachlasses vorge¬
nommen und ihr Ergebniß bekannt gemacht werde.
Der zweite Theil dieses Bandes bringt als „Anlagen," eine Anzahl von
Aktenstücken und Briefen, unter denen manches überflüssige und interesselose
Stück sich findet, aber auch einzelnes von wirklicher Bedeutung. Nur muß
eine zusätzliche Bemerkung gemacht werden. Wirklichen Ausschluß in die
Geschichte der Jahre 1807—1814 gewähren die paar vereinzelten wichtigen
Documente dieses Bandes nur demjenigen, der alles das andere originale
Material kennt, das aus jener Zeit schon gedruckt vorliegt. Will man die
Korrespondenz Schön's aus jener Zeit, aus der hier einzelnes gegeben wird,
mit Nutzen lesen, so muß man gleichzeitig die Werke von Pertz und Droysen,
die Lebensnachrichten und Briefe von Niebuhr und Raumer neben diesem
neuen Buche lesen. Der alte Schön, der ja in seinen letzten Lebensjahren
sich mit dem Wunsche getragen, sein „Lebensbild' dem Publikum zugänglich
zu machen, der allerlei Verbindungen mit Historikern zu diesem Zwecke ange¬
knüpft und allerlei Wünsche dafür ausgesprochen (vgl. darüber seinen Brief¬
wechsel mit Eichend orff, Borrede S. IV —X und mit Varu Hagen, in
der Gegenwart vom 3.. 17. und 24. August 1872 gedruckt), er würde sicher
wenig erbaut gewesen sein von dieser Methode bruchstückweiser, zusammen¬
hangsloser Mittheilungen aus seinem Leben und seinem Nachlasse!
An zwei Stellen dieses Buches wird uns verrathen, daß weiteres schätz¬
bares Material von Schön noch vorhanden ist, welches uns — weßhalb, ist
nicht gesagt — nicht mitgetheilt worden ist. S. 60 werden täglich von Schon
gemachte Notizen aus dem Ende des Jahres 1808 erwähnt und S. 149 des
Anhanges heißt es, vom 17. April bis 14. September 1813 habe Schön täglich
Aufzeichnungen gemacht, aus denen hier eine Niederschrift vom 17. Mai 1813
abgedruckt ist, — äußerst interessanten Inhaltes. Es wäre, wenn die ganze
Publikation unserer Kenntniß der Geschichte dienen und nützen soll, gewiß
das Richtige, alle diese Tagebücher zu veröffentlichen. Aus gleichzei¬
tigen Aufzeichnungen eines Staatsmannes, — seien es Tagebücher oder
Briefe, oder amtliche Arbeiten — erwächst der historischen Wissenschaft ein
ganz anderer Gewinn als aus den Denkwürdigkeiten desselben Staats¬
mannes, die er nach 30 oder 40 Jahren verfaßt hat, in ganz anderer Stim¬
mung des Geistes, von einer Anschauung aus, die sich unter dem Einfluß
der Erlebnisse jener langen Zwischenzeit sehr leicht ganz umgestaltet haben kann.
Die vorliegende Selbstbiographie Schön's ist ein interessantes Denkmal
und Selbstzeugniß seines Geistes; als historische Quelle ist sie nur mit der
größten Vorsicht zu benutzen und unterliegt jedenfalls an vielen Stellen sehr
starken Bedenken und Zweifeln. Die Subjectivität des Autors tritt in so
starkem Maaße in ihr auf, daß die Zuverlässigkeit des thatsächlichen Berichtes
vielfach von der subjektiven Stimmung des Berichterstatters beeinflußt
erscheint.
Ein unbefangener Leser, der die Kundgebungen Schön's aus seinem
späteren Leben sich vorher nicht vergegenwärtigt hat, wird bet der Lectüre
der Selbstbiographie aufs höchste erstaunt sein, einmal durch die Animosität
Schön's gegen Stein, sodann durch Schön's Bestreben, für die entscheidenden
Thatsachen der Jahre 1807 — 1813 sich persönlich das hauptsächlichste Ver¬
dienst beizulegen. Daß diese beiden Gedanken die ganze Darstellung erfüllen
und bestimmen, liegt auf der Hand, — so sehr, daß dies keinem Leser entgehen
kann. Das Bemühen, das hier unzweideutig zu Tage tritt, Stein's Be¬
deutung und Verdienste bei der Gesetzgebung von 1807 und 1808 zu schmälern,
wird sicherlich jeden Leser befremden, der sonst gehört und gelesen hatte, daß
Schön einer der Genossen und Gehülfen Stein's in jenen Jahren gewesen,
und der sich des sonst üblichen Bildes von dem großen Reformer und Orga-
msator unseres Staates erinnert. Nun meine ich allerdings, daß die Brief,
schaffen und vertraulichen Papiere aus der Zeit selbst, d. h, also von 1807 —
1813, soweit sie gedruckt vorliegen, den Darsteller jener Periode unwillkür¬
lich zu der allgemein üblichen Ansicht Stein's hinführen müssen; ja ich muß
ferner behaupten, daß selbst die gleichzeitigen Briefe Schön's, abgesehen von
einzelnen Detaildifferenzen zwischen ihm und Stein, eine ganz andere Auf¬
fassung Stein's durch Schön ausdrücken, als sie nachher von ihm ausgespro¬
chen worden ist. Erst in späterer Zeit ist ein Umschlag in Schön's Urtheil
über Stein eingetreten; in späteren Jahren erst hat Schön die Ansicht aus¬
gesprochen, daß das gute, was Stein gethan, von ihm selbst bei Stein angeregt
oder veranlaßt worden; in dieser Stimmung des Geistes aber behauptete er
dann bei allem sonstigen Lobe über Stein selbst an allgemeiner, wie an poli¬
tischer Bildung Stein unendlich überlegen gewesen zu sein. Seit wann Schön
in diesem Sinn über Stein geurtheilt, scheint bisher nicht constatirt zu sein;
auch diese Publikation giebt dazu weder Anhalt noch Schlüssel. Aber daß
in späteren Jahren in dieser abfälligen Richtung sich Schön's Erinnerungen
an die Freiheitskriege bewegt haben, das war bekannt schon vor dem Erscheinen
dieses Buches.
Schon bald nach 1840 hatte Schön für sich die Vaterschaft des sog.
Stein'schen Testamentes von 1808 in Anspruch genommen. Daß er die Feder
geführt bei dein Entwürfe dieses herrlichen Manifestes, wie er durch Facsimi--
lirung des Originales nachwies, diente ihm zum Beweise auch für die geistige
Conception des im Namen und Auftrag Stein's geschriebenen Entwurfes: so
argumentirte er 1846 gegen Pertz, der im Leben Stein's die Beweiskraft
dieses Argumentes sehr richtig mit der Bemerkung abwies, „daß nicht der
vorbereitende Rath, sondern der beauftragende und unterzeichnende Minister
Verantwortlichkeit wie Verdienst der Urkunde haben müsse" (II. S. 618).
Bald nachher trat Schön mit der Behauptung auf, die günstige Wendung
des Februar 1813 in Ostpreußen, die Erhebung der Provinz sei im wesent¬
lichen sein Werk, das er gradezu im Widerspruch zu Stein habe durchführen
müssen. Er richtete eine ausführliche Darlegung darüber 3. März 1849 an
den Historiker Schlosser, welche unter den Quellenzeugnissen für den Be¬
ginn der Freiheitskriege bis heute eine hervorragende Stelle einnimmt"). Bei
der Abwägung ihres Werthes darf man aber diesen Umstand nicht übersehen,
daß dies Zeugniß eines Zeitgenossen nicht etwa eine gleichzeitige Aufzeichnung
von 1813, sondern eine mit bestimmter Tendenz gemachte Niederschrift ist, die
erst 36 Jahre nach dem Ereigniß zu Papier gebracht ist. Man darf ferner
nicht übersehen, daß fast gleichzeitig mit dieser Expectoration Schön an eine
andere Adresse (an Professor Rosenkranz in Königsberg) am 13. Februar 1849
jene bittere, leidenschaftliche und maßlose Auslassung über die Gesetzgebung
von 1807 und 1808 niedergeschrieben hat, die man als das Thema, über
das seine Selbstbiographie die Variationen bringt, oder als das condensirte
Excerpt aus derselben bezeichnen könnte*). Wenn man dies letztere Schrift¬
stück zum ersten Male liest, traut man nur mit Ueberwindung und An¬
strengung seinen Augen: Stein sollte nur die Firma zu den Reformgesetzen
gegeben haben; er habe mehr geduldet das was unter seiner Firma geschah,
als daß es von ihm ausging. In der Selbstbiographie erhält dieser Gedanke
noch die weitere Ausführung, daß Stein sich die Glorie angeeignet habe für
Maßregeln, die eigentlich gegen seine Grundsätze gewesen (vgl. S. 42). Die
Porträts, die Schön an jenen beiden Stellen von den Staatsmännern der
Jahre 1807—1813 gezeichnet, sind größtentheils durch seine Malice und Ab¬
neigung charakterisiert; so neben Stein auch Hardenberg und Altenstein. Als
die eigentlichen Macher der preußischen Geschichte bezeichnet er Nhediger,
Scheffner, Friese, Nicolovius, Süvern und natürlich Schön selbst. Das Ge¬
setz vom 9. October 1807 über den erleichterten Besitz und freien Gebrauch
des Grundeigentums stellt er gradezu als ein Werk hin, das seinen persön¬
lichen Anregungen das Leben verdankt (S. 39 ff.). Es wird hier dem Leser
dieser Selbstbiographie Schön's zugemuthet, alles das zu vergessen, was wir
sonst über die früheren Versuche und Intentionen der preußischen Könige,
über die Vorbereitungen der neuen Gesetzgebung schon in den ersten Negie-
rungsjahren Friedrich Wilhelm's III. wissen: im Gegensatz zu vielen bekannten
Thatsachen soll man Schön's einfacher Behauptung glauben!
Noch ein anderer Punkt muß hervorgehoben werden zur Charakteristik der
Selbstbiographie. Bekanntlich hat der ostpreußische Localpatriotismus, der mit
Stolz grade aus das Jahr 1813 und Ostpreußens Leistungen und Haltung
im Augenblick der Krisis zurückzuschauen das vollste Recht hat, neben anderen
wohl begründeten Dingen für Ostpreußen auch ein Verdienst in Anspruch ge¬
nommen, das eine unbefangene Erwägung der Verhältnisse ihm nicht zuer¬
kennen wird. Man hat sich in Ostpreußen gerühmt, daß die Errichtung der
Landwehr eine ostpreußische Idee gewesen und daß erst nach dem Vorgange
und dem Vorbilde Ostpreußens die Staatsregierung die allgemeine Einführung
der Landwehr angeordnet habe. Diese Behauptung war 1833 von Joh. Boigt
in seiner Biographie des Ministers Dohna vorgetragen worden; er war so
weit gegangen. Scharnhorst den Berufssoldaten zum Gegner der Landwehr zu
machen. Gegen diese Meinung trat sofort Einer der Vertrauten Scharnhorst's
ins Feld, der General von Boyen in seiner Schrift „Beiträge zur Kenntniß
des Generales von Scharnhorst und seiner amtlichen Thätigkeit" 1833. Ob¬
gleich hier Voigt schlagend widerlegt war, so hielten doch Schön und seine
ostpreußische Umgebung an der ostpreußischen Tradition fest: Friccius in
jener schon erwähnten, 1838 als Manuscript für seine 'Freunde gedruckten
Schrift gab derselben aufs neue Ausdruck, und wiederholte dieselben Ansichten
dann auch in seiner 1843 erschienenen Geschichte des Krieges von 1813. Wir
begegnen nun auch in der Selbstbiographie Schön's, die nach unserer Berech¬
nung 1838/1839 geschrieben ist, dieser ostpreußischen Auffassung, für die Schön
sich geradezu auf Friccius beruft! Wie zäh er trotz aller Widerlegungen an
ihr festhielt, legte er bald nachher noch mehrmals an den Tag. 1846 erschien
nämlich von Seiten unseres großen Generalstabes eine aktenmäßige Ge¬
schichte der Organisation der Landwehr in Ostpreußen. Der wahre Sachver¬
halt war für Jeden, der sehen wollte, unwiderleglich von der comvetentesten
Stelle dargethan worden; es war erwiesen, daß man in Ostpreußen Gedanken
damals ausführte, die früher, 1807 und 1808, im Scharnhorst'schen Kreise
in Königsberg erwogen und behandelt waren; es war gezeigt, daß die Vor¬
bereitungen zum Landwehredikt vom 17. März 1813 schon im Zuge waren, als
die ostpreußischen Nachrichten in Breslau einliefen; es war auch darauf hin¬
gewiesen, daß einige sehr wesentliche Bestimmungen der ostpreußischen Land¬
wehrordnung sofort von Scharnhorst abgeändert werden mußten. Die Preu¬
ßischen Provinzialblätter hielten es 1847 auch für ihre Pflicht, in
einem Auszug aus dem authentischen Werke des Generalstabes das ostpreußi¬
sche Publikum ganz rückhaltslos über diese historischen Dinge aufzuklären.
Das verdroß den alten Schön, der die ostpreußische Lieblingsvorstellung nicht
angetastet haben wollte: er feuerte selbst in den Provinzialblättern 1848 einen
Artikel ab zur Widerlegung des Generalstabes. Dem Letzteren fiel es nicht
schwer, im Militairwochenblatt (Ur. 9 von 1848) mit Nachdruck und
mit Erfolg derartige Einreden zu vernichten. Und — soweit wenigstens ich
im Stande gewesen dieser Polemik nachzugehen — gegen diesen ihm so über¬
legenen Gegner beobachtete Schön wirklich Schweigen, wenn er auch an Schlosser
1849 seine genügend widerlegten Annahmen und Erinnerungen wieder mitzu¬
theilen nicht unterließ.
In diesem Falle wie in manchen anderen stellt sich dem historischen Kri¬
tiker das Verhältniß ungefähr so dar: auf der einen Seite steht die gleichzeitige,
sei es auf aktenmäßigen oder auf privaten Zeugnissen beruhende Ueberlieferung;
und ihr tritt entgegen die persönliche Erinnerung eines überlebenden Zeitge¬
nossen, der seine Eindrücke aus früherer Zeit, nachdem er Jahrzehnte lang sie
bei sich herumgetragen und in mündlicher wiederholter Erzählung an seine
Umgebung sie weiter ausgebildet, endlich im höheren Lebensalter zu Papier
gebracht hat. Widersprüche unter diesen verschiedengearteten Quellen können
nicht ausbleiben: der Memoirenschreiber hält, selbstverständlich im besten Glau¬
ben, seine eigene Erinnerung für die richtige und maßgebende Autorität und
schreitet kühn über alle Einwendungen aus anderer Quelle hinweg. Die histo¬
rische Kritik dagegen wird, unbeschadet einer genauen Untersuchung und Ab¬
wägung in jedem einzelnen Falle, im allgemeinen die gleichzeitige unmittelbare,
mit Beweisstücken ausgerüstete Ueberlieferung vor der späteren auf das Ge¬
dächtniß eines Einzelnen allein gestützten Erinnerung eines Zeitgenossen bevor¬
zugen ; sie wird ganz besonders dann mit begründetem Mißtrauen gegen der¬
artige Erinnerungen sich verhalten, wenn sie eine persönliche Leidenschaft und
Gereiztheit des Erzählers gegen die historischen Persönlichkeiten, um deren
Geschichte es sich handelt, bemerkt hat.
Aus welchen Motiven Schön's Abneigung gegen Stein entsprungen, in
welcher Weise ein Gegensatz der Charaktere und der Lebensanschauungen zwi¬
schen beiden Männern angenommen werden muß, — dies zu erörtern behalten
wir uns bis dahin vor, daß noch weiteres Material aus den Papieren Schön's
gedruckt sein wird. Schon in dem ersten Bande steht mancher Beitrag zu dieser
Frage; und die Correspondenzen von 1807—1813, die sonst bekannt gewor¬
den sind, würden wohl einzelne Erläuterungen hinzufügen können.
In der »Selbstbiographie" zieht uns besonders die Darstellung des Ent¬
wickelungsganges des jungen Schön an. Wenn auch die einzelnen Daten
schon durch Nase manu bekannt waren, so ist es immerhin ein nicht ge¬
wöhnlicher Genuß, die eigene Skizze Schön's zu studiren. Auch die literari¬
sche Gewandtheit, die geistreiche Diktion der Darstellung tritt gerade hier im
hellsten Lichte auf, ungestört und unbeeinträchtigt durch alles das, was in
anderen Theilen des Werkes unsere Empfindung stört und unsere Stimmung
beeinträchtigt.
Die äußere Ausstattung dieser Publikation ist eine außergewöhnlich reiche,
ja glänzende zu nennen. Die hierauf verwandte Mühe und Sorgfalt sticht
gewaltig ab gegen die Sorglosigkeit, mit der die eigentliche Arbeit des Heraus¬
gebers gethan, oder richtiger gesagt, nicht gethan ist. Möchten die weiteren
Bände, auf die wir wohl noch hoffen dürfen, in dieser Hinsicht ein anderes
Angesicht zeigen!
So still und geschäftslos, wie das Jahr 1874 nach dem Zeugniß des
Fürsten Bismarck war, scheint das Jahr 1875 nicht verlaufen zu wollen.
Seit einigen Wochen sind Zeichen aufgetaucht, welche wenn nicht auf Sturm,
doch mindestens auf zweifelhaftes Wetter deuten. Jene Zuversicht auf einen
langen Frieden, die wir aus der tiefen Zerrüttung Frankreichs schöpften, fängt
an erschüttert zu werden. Statt an das Wort Gambetta's, daß Frankreich
10 Jahre Borbereitung zur Revanche gebrauche, denken wir jetzt mehr an den
Ausspruch Moltke's. daß Deutschland 80 Jahre lang den Erwerb des Frank¬
furter Friedens mit dem Schwerte werde vertheidigen müssen. Frankreich hat
schneller gezahlt und schneller sich erholt, als man früher annahm, und mit
der Wiederkehr seiner Kräfte steigert sich auch in den übrigen Staaten die
Rührigkeit der uns feindlichen Parteien. Sie haben in dem Ultramonranis-
mus ihr vermittelndes Band. In den Wiener Hofkreisen wie in der italie¬
nischen Consorterie, im Cabinet Mac Mahon's wie im Ministerium d'Aspre-
mont-Lynden sind die römischen Einflüsse mächtig, arbeiten nach einem Plan,
suchen gegen uns das Terrain zu erobern, neue Allianzen zu flechten. Die
Clerikalen in Deutschland verwahren sich freilich gegen den Vorwurf einer
Verbindung mit dem Ausland; aber das Ausland rechnet auf sie. Bischof
Ketteler erklärt den von Europa garantirten Neligionsfrieden für gebrochen,
ja die baiersche Winkelpresse predigt offen den Religionskrieg und verlangt,
daß das katholische Oesterreich den Franzosen die Hand gegen die norddeutschen
Ketzer reiche. Wenn in Folge der Neuwahlen im nächsten Herbst das baiersche
Ministerium stürzen und König Ludwig sich einschüchtern lassen sollte, so wird
die römische Kriegspartei ihr Hauptquartier in München aufschlagen. Sie
wird, indem sie die Gemüther für den Verrath am Reich wissenschaftlich vor¬
bereitet, bei gewissen ausländischen Höfen den Eindruck hervorzurufen suchen,
daß sie durch Unterstützung der französischen Waffen das Signal zum Abfall
des katholischen Südens geben könnten, daß es jetzt noch Zeit sei, den Bau
des Deutschen Reichs zu zertrümmern, die alte Herrschaft über Deutschland
wiederzugewinnen. So verknüpft sich der Kampf zwischen Kaiser und Papst
mit den in den letzten beiden Kriegen unterlegenen Interessen und Parteien.
Ob und wie weit durch Vorspiegelungen dieser Art die bisherigen intimen
Verhältnisse zwischen einzelnen Mächten schon erkaltet sind, läßt sich für die,
welche außerhalb der diplomatischen Zunft stehen, nicht erkennen. Wir beob¬
achten nur seit einigen Wochen eine ungewöhnliche Bewegung in unserer
Politik. Zu Anfang des Monats erschienen die drei Botschafter in Paris,
London und Wien zur Conferenz- mit ihrem Chef; vorher war Herr von
Nadowitz von seiner Petersburger Mission zurückgekehrt, unser Militärbevoll¬
mächtigter am russischen Hof, General von Werber, weilte vor Kurzem in Berlin,
Die Reise nach Mailand, die Kaiser Wilhelm in Begleitung seines Kanzlers
beabsichtigt hatte, ist plötzlich aufgegeben, und der Kronprinz geht nicht in
Vertretung seines Kaiserlichen Baders nach Italien, sondern als einfacher
Tourist im strengen Jncognito. Das Publikum erklärt sich diese Vorgänge
aus politischen Motiven. Es versteht nicht, wie die Reise des Kaisers vor
Ostern trotz der Aerzte beschlossen und nach Ostern bei steigendem Wohlbe¬
finden Sr. Majestät auf ihr Andringen aufgegeben werden konnte. Sollte
es hierin irren, so bleibt doch die plötzliche Aenderung in dem Charakter der
kronprinzlichen Reise. Warum ist auf die officielle Begegnung des Deutschen
Thronfolgers mit dem König von Italien in einer norditalienischen Stadt
auf einmal Verzicht geleistet? Es müssen doch Zwischenfälle vorgekommen
sein, die,es für Deutschland würdiger erscheinen ließen, den bis vor kurzem
beabsichtigten Plan fallen zu lassen. Als im Sommer 1873 nach dem Sturze
von Thiers die legitimistische Restauration und der Kreuzzug zur Befreiung
des „Gefangenen im Vatican" im Anzug schien, führte die Sehnsucht nach
dem deutschen Bundesgenossen den König Victor Emanuel bis nach Berlin.
Dieses heiße Verlangen nach einem innigen Einvernehmen scheint sich jetzt
bereits etwas moderirt zu haben. Der Bewohner des Vatican hatte an sich
zu keiner Zeit etwas Abschreckendes für den König von Italien. Die Ent¬
fremdung zwischen König und Papst war nie so schlimm, wie man aus ge¬
legentlichen Wuthausbrüchen der Curie schließen zu sollen vermeinte. Pius IX.
hatte stets die „Vaterliebe" für den Fürsten, zu dessen Ahnen „Heilige" ge¬
hören, wie es in der jüngsten Anrede des Papstes an Hugo Windischgrätz
lautet, „im Schrein des Herzens". Doch nun blieb diese „Vaterliebe" nicht ein¬
mal ohne Eindruck auf den einen und andern Minister des noch niemals
ganz aufgegebenen Königs, und der eine oder andre Epigone Machiavell's
mag sich überschlagen haben, wieviel die Bismarck'schen Daumschrauben dazu
beitrügen, um den Papst für ein gottseliges Italien kirre zu machen. Da
wäre es erklärlich, daß dem Kaiser Wilhelm der Appetit zum Reisen verging.
Doch — lassen wir die Conjecturen: es ist unzweifelhaft, daß das Gutachten
der Aerzte hinreicht, um das Aufgeben der Reise, die nur Lieblingsgedanke
des Kaisers geworden war, völlig zu erklären.
Eine so schwache Negierung, wie die italienische, ist schon glücklich, wenn
sie die französische Degenspitze nicht mehr direct auf ihrer Brust fühlt. Die
französischen Rüstungen gelten zur Zeit nur uns, und nach alter savoyischer
Tradition läßt man eine Allianz im Stich, wenn sie hinreichend ausgebeutet
ist. Taxiren wir die Stimmungen — nicht des Volks, aber der regierenden
Kreise Italiens recht, so werden in dem Maße, als die französischen Nüstun-
gen sich entwickeln, ihre Stimmungen gegen uns lauer werden; die Rückkehr
der Wärme haben wir dann nach unsern ersten siegreichen Schlachten zu er¬
warten. Jene Rüstungen aber sind in ein Stadium getreten, welches die all¬
gemeinste Aufmerksamkeit erregt. Es ist ein Unterschied zwischen militärischen
Reformen und zwischen Kriegsvorbereitungen. Jede Verbesserung des Heer¬
wesens bezweckt freilich auch eine größere Schlagfertigkeit für den Krieg, aber
wenn sie ein Maß innehält, welches dauernd von dem Volke getragen werden
kann, so ist die eifrigste Sorge für die Vervollkommnung der militärischen
Einrichtungen kein Grund zur Beschwerde für die Nachbarstaaten. Alle Mächte
Europas haben nach den Erfahrungen der beiden letzten Feldzüge ihre Ar¬
meen und deren Bewaffnung reformier. Die allgemeine Dienstpflicht ist nicht
nur in Frankreich, sondern auch in Rußland und Oesterreich eingeführt; für
die Infanterie sind weittragende Gewehre beschafft, die Geschütze und die
Kampfweise der Artillerie sind oder werden nach deutschem Muster allenthalben
umgestaltet. Die Unglücksfälle von 1870 deckten den Franzosen schwere Mi߬
stände auf, deren Beseitigung das selbstverständliche Recht jeder unabhängigen
Nation ist- Sie reorganisirten mit erstaunlicher Raschheit die zerrüttete, aus
der Gefangenschaft heimkehrende Armee. Sie knüpften ihre Reformen an den
Punkt an, wo Marschall Niet 1868 hatte stehen bleiben müssen. Die Feld¬
armee, über welche Napoleon III. beim Ausbruch des Krieges gebot, zählte
in erster und zweiter Linie nur 336,000 Mann. Dieses Stärkeverhältniß
entsprach weder der politischen Stellung des Landes noch der Wehrkraft der
Nachbarstaaten. Auch eine Negierung, die keinen Angriffskriegs im Auge
hatte, durfte daran denken, es zu ändern, die jährliche Recrutirung und die
Zahl der Reserven zu erhöhen. Das Gesetz vom 27. Juli 1872 verfolgte
dieses Ziel; es hob die Stellvertretung des Recruten durch den schon gedienten
Soldaten, die Befreiung der besitzenden Klassen auf, es führte die allgemeine
Wehrpflicht ein. Das Gesetz vom 24- Juli 1873 schuf im Interesse der ra¬
scheren Mobilmachung eine der deutschen ähnliche Organisation; es stellte die
höheren Verbände der Brigaden, Divisionen und Armeecorps bereits für den
Friedensstand her, gliederte das französische Territorium in Corpsbezirke, und
theilte die beurlaubten Reservisten dem Regiment zu, welches sich ihrem Wohn¬
ort jedesmal am nächsten befindet. Indeß schon in jenem ersten Gesetz, noch
mehr aber in seiner praktischen Durchführung lag ein Moment, welches von
Jahr zu Jahr mehr unsere ernste Beachtung forderte. Das Gesetz behielt
neben der neueingeführten allgemeinen Wehrpflicht den 9jährigen Dienst
(5 Jahr activ, 4 in der Reserve) in der Feldarmee bei, und legte mit rückwirken¬
der Kraft einem jeden Franzosen noch eine 11jährige Verpflichtung für die
Territorialarmee (Landwehr) auf. Durch die letztere Schöpfung wollte man
den Bedarf an Mannschaften für die Festungen, Städte und die innere Lar-
desbewachung gewinnen, um die 9 Jahrgänge der Feldarmee ungeschwächt
gegen den Feind werfen zu können. Zu diesem Zweck legte sich ein Volk,
das bisher nur eine Berufsarmee besaß, den spartanischen Zwang einer 20-
jährigen Wehrpflicht auf. Da jedoch die Territorialarmee bis zum vorigen
Jahre nur auf dem Papier stand, da sie bis heute schwerlich eine solidere
Existenz gewonnen haben wird, so liegt auch hierin bis jetzt kein Grund der
Beunruhigung. Anders steht es mit den 9 Jahrgängen, die .zur Feldarmee
gehören, und die von Jahr zu Jahr eine gewaltigere Masse darstellen.
Deutschland recrutirt bei einer Bevölkerung von 41 Millionen jährlich 130.000
Mann, Frankreich hat seine Aushebung bei 36 Millionen Einwohnern seit
1872 auf 150,000 Mann erhöht. Um diese anschwellende Armee zu ernähren,
zu bekleiden und zu bewaffnen, hat es im Jahre 1874 im ordentlichen und
außerordentlichen Budget 164 Millionen Thaler verausgabt, während unser
Militäretat auch nach der jüngsten Vermehrung des Präsenzstandes immerhin
nur auf 112 Millionen Thaler gestiegen ist. Auch jene, auf die Dauer un¬
mögliche Ausgabe, hat nicht hingereicht, um die gesammte Reerutenzahl für
längere Jahre unter die Fahnen zu stellen. Denn eine massenhafte Aushe¬
bung und die lange Dienstzeit einer Berufsarmee sind finanziell und volks-
wirthschaftlich mit einander nicht verträglich. Man hat also die Recruten in
zwei Portionen getheilt, und stellt etwa 90,000 Mann auf 3, thatsächlich
wohl nur aus 4 Jahre ein, während man den Rest, die äizuxivmo xortion,
nach jedesmal 6 monatlicher Waffenübung beurlaubt. Trotz dieser Beschrän¬
kung hält °Frankreich durchschnittlich 47l,000 Mann unter den Waffen,
während unsere Friedenspräsenz bis vor kurzem kaum 370,000, und erst jetzt
401,000 Mann beträgt. Indeß auch auf diesen Unterschied des Friedensstan-
dcs legen wir wenig Gewicht, da er nichts für die Stärke im Kriege beweist;
selbst die 9 Jahrgänge zu 150,000 Mann neben unseren 7 Jahrgängen zu
130,000 sind nicht erschreckend, solange Deutschland seine Landwehr in die
Wagschale wirft, während die Territorialarmee nicht organisirt ist. Man hat,
um für die letztere gediente Soldaten zu gewinnen, die Jahrgänge von 1866
an abwärts ihr zugewiesen, während alle seit 1867 dienstpflichtig gewordenen
Franzosen der Feldarmee angehören. Aus jener Zuweisung folgt, daß bis
zum Sommer 1877, wo für die Klasse von 1867 die neun Dienstjahre um
sind; die Feldarmee keine Reserven verliert, also jährlich um den gesammten
Betrag der neu eintretenden Recruten wächst. Aus diesem Umstände schließt
man, daß die Franzosen jenen Zeitpunkt der höchsten Stärke ihrer Armee
abwarten werden, ehe sie losschlagen.
Allein an Mannschaften hat Frankreich schon heute keinen Mangel, da
ihm, außer den gewöhnlichen Recrutirungen, die enormen Aushebungen der
beiden Kriegsjahre zu Gebote stehen. Entscheidender ist, wie weit es mit der
Bildung der Cadres gediehen ist, in denen jene Massen formirt und für den
Krieg verwendbar gemacht werden sollen. Und gerade hier sind die Fortschritte,
quantitativ wenigstens, erstaunlich. Die Zahl der Feldbatterien war bis zum
vorigen Frühjahr von 164 auf 323 gestiegen, also verdoppelt, und sie sollte
bis auf 380 gebracht werden. Die Cavallerie war um 56 Escadrons ge¬
wachsen. Die Feldbataillone, zur Napoleonischen Zeit 372, waren bis auf
496 vermehrt. So schritt man auf dem Wege der Thatsachen vorwärts, ehe
das schon lange in Aussicht genommene Cadregesetz zur Berathung kam. Die
Formationen waren fertig, als man daran ging zu legalisiren. Und nun ge¬
schah während der Berathung jenes Gesetzes ein neuer Schritt, der an Trag¬
weite alle bisherigen übertrifft. Man vermehrte die Cadres der Infanterie
mit einem Schlage um abermals 139 Bataillone. D^r Beschluß wurde dem
Ausland einige Zeit verdeckt durch den Lärm des Berfassungskampfes; er wurde
officiell motivirt durch das Bedürfniß, die 1200 Capitains unterzubringen,
welche durch die Zusammenziehung der bisherigen 6 Compagnien des Batail¬
lons in 4 überzählig würden. In Wahrheit muß die Maßregel parlamen¬
tarisch wie militärisch längst vorbereitet gewesen sein. Am 13. März erschien
das Gesetz und schon am 5. April war, wie der Moniteur triumphirend ver¬
kündet, die Maßregel „eine vollendete Thatsache". In drei Wochen or-
ganisirt man aber nicht 149 Bataillone; zu der Durchführung
des neuen Gesetzes waren also längst die Anordnungen getrof¬
fen. Es handelte sich darum „den Infanteriemassen anderer Großmächte die
Spitze bieten zu können"; zu diesem Zweck wurden 175 Feldbataillone mehr
geschaffen, als die deutsche Armee zählt.
Dieser neue Beschluß geht weit über die dauernde Leistungsfähigkeit Frank¬
reichs hinaus, er erschwert noch die Last des Budgets, wofür die ordentlichen
Einnahmen schon längst nicht ausreichten; er würde sinnlos sein, wenn er
den Krieg nicht in den nächsten Jahren zum Ziel hätte. So entsteht nun
die Frage: Sollen wir den Feind sich rüsten lassen, bis der für ihn günstigste
Augenblick zum Losschlagen gekommen ist? Fürst Bismarck hat darauf schon
am 16. Januar 1873 offen antworten lassen. Alle ehrlichen Leute in der
Welt müssen uns bezeugen, daß wir den Krieg mit Frankreich so wenig suchen,
als 1870. Wir würden in Verlegenheit sein, welchen Preis wir nach einem
zweiten glücklichen Feldzug ihm abverlangen sollten. Aber die Hände in den
Schooß legen, bis der Gegner marschirt, können wir unmöglich. Will Frank¬
reich in zwei Jahren schlagen, so werden wir im Interesse der Selbsterhaltung
vielleicht gezwungen sein, es früher zum Schlagen zu bringen. Hat Frank¬
reich Aussicht mit dem Anwachsen seiner Armee größeres Vertrauen auf eine
Wendung seines Kriegsglücks zu finden und alte Sympathien wieder zu be¬
leben, so müssen wir diesen still sich vorbereitenden Allianzen zuvorkommen.
Das klingt ziemlich kriegerisch und ist doch nur der einfachste Ausdruck des
gesunden Menschenverstandes. Aber da die Verantwortung für einen — wenn
auch uns aufgedrungenen, von uns nur beschleunigten Krieg ungeheuer ist,
so wird auch ein solcher Entschluß nur aus der sorgfältigsten, militärischen
wie diplomatischen Prüfung der Lage hervorgehen können. Friedrich der Große
sah den dritten schlesischen Krieg lange voraus, aber er brach in Sachsen erst
ein, als das Netz der europäischen Verschwörung nicht mehr anders zu zer¬
reißen war. Wann für uns der Augenblick gekommen sein wird, wo wir
Frankreich die Wahl zwischen Abrüstung oder Krieg stellen, kann nur der
Reichskanzler mit Hülfe Moltke's entscheiden. Die Anleihe von 800 Millionen
Francs soll man in Paris wieder aufgegeben haben. Zur Zeit scheint es
also nicht, als ob uns.eine nahe Gefahr drohe. Oder wäre sie nur auf kurze
Zeit vertagt, um den heutigen Discussionen sich zu entziehen? Die Roth¬
schilds schienen doch mit Leon Sah bereits handelseinig.
In der gewaltigen Entwicklung des letzten Jahrzehnts hat Preußen an
dem Czaren Alexander den treuesten Freund gefunden. Er war der Rückhalt,
durch den gedeckt wir gegen den Gegner in der Front unsere volle Kraft ent¬
falten konnten. Das deutsche Volk hat es wohl im Gedächtniß, wie bedeut¬
sam dieses Verhalten für seine Geschicke war; es empfindet für den Kaiser
Alexander aufrichtige Dankbarkeit und Verehrung. Aus der persönlichen
Freundschaft der beiden Monarchen und den Handlungen, die daraus hervor¬
gingen, ist ein allgemeines Gefühl der Sympathie erwachsen; die Parteien in
Deutschland, auch die liberalen, haben in der Beurtheilung russischer Ver¬
hältnisse ihre frühere Schroffheit und Befangenheit abgelegt. Ein Schritt
z. B., wie die Convention von 1863, welche Bismarck beim Ausbruch des
polnischen Aufstandes abschloß, würde heute ebenso einmüthige Billigung, wie
damals Mißbilligung finden. Ob die gleiche Zunahme sympathischer Stim¬
mungen auch bei dem Adel, dem Beamtenthum und der Armee Rußlands
stattgefunden hat, mag dahin gestellt bleiben, vielleicht haben die letzten Jahre
wenig Gelegenheit gegeben, die Wahrheit zu veranschaulichen, daß die Freund¬
schaft Deutschlands den russischen Interessen ebenso förderlich ist, als die
Freundschaft Rußlands den deutschen. Bei den unveränderten Gesinnungen
der beiden Monarchen wird auch das russiche Volk Zeit haben, diese Inter¬
essengemeinschaft zu seinem Nutzen zu erproben. Ein Conflict zwischen beiden
Nationen liegt glücklicher Weise in weiter Ferne.
Als in dem großen Völkerkampf von 1870 die Würfel für Preußen ge¬
fallen waren, empfand auch Oesterreich, daß die Weltgeschichte zwischen ihm
und seinem alten Rivalen entschieden habe. Es war das ironische Loos des
Grafen Beust, jene Depesche zu schreiben, worin Oesterreich das Schwergewicht
der Thatsachen anerkannte und die Freundschaft des neugestalteten Deutschen
Reichs suchte. Diese Freundschaft ist ihm ehrlich zu Theil geworden. Oester¬
reich datirt von da ab die innere Beruhigung seiner Völker, die gleichmäßige
Fortbildung seiner Verfassungsverhältnisse und eine gesicherte und machtvolle
Stellung nach Außen. Denn Deutschland nahm es nun auf sich, die aus
dem Krimkrieg herstammende Spannung zwischen Wien und Petersburg zu
lösen, es vermittelte einen moäus vivenäi im Orient, der den Kaiserstaat vor
einem einseitigen russischen Vorgehen sicherte und der Agitation der slavischen
Stämme den Rückhalt entzog. Erst jetzt begann eine Consolidirung der viel¬
geprüften, in einigen Jahrzehnten durch ein Dutzend von Verfassungsexperi¬
menten hindurchgehetzten Monarchie auf der Grundlage der Vorherrschaft der
Magyaren und Deutschen. Wäre es möglich, daß diese gesicherte Bahn wie¬
der verlassen würde, um auf abenteuerlichen Wegen über Abgründe hinweg
nach dem Luftgebilde der alten Hegemonie in Deutschland zu jagen? Sollte
die Kunst der Beichtväter und der militärischen Heißsporne ein so verhängniß-
volles Wagestück plausibel machen können? Sollte die Broschüre des Erzher¬
zogs Nepomuck Salvator, die gleichzeitig die gänzliche Unbrauchbarst der
österreichischen Festungsartillerie und das dringende Bedürfniß nach einem Krieg
gegen Deutschland bewies, bei ernsthafterer Männern einen Hintergrund
haben? Hätte das Bestreben der deutschen Politik nach einer Verständigung
mit allen, ihrer Würde bewußten Staaten zu gemeinsamer Abwehr päpstlicher
Uebergriffe eine Abneigung gerade da geweckt, wo man den Schimpf einer
Nichtigkeitserklärung des Staatsgrundgesetzes hatte erfahren müssen? Die con-
fessionellen Gesetze werden im Mai ein Jahr alt; seit der Dreikaiserzusammen¬
kunft sind im kommenden September erst drei Jahre verflossen; wohin würde
ein Staat gerathen, der in so jähem Wechsel von einer den preußischen Mai¬
gesetzen verwandten Kirchenpolitik zum Papst, von der Allianz der beiden
stärksten Mächte zu Frankreich hinüberschwankte? Und was würden die Un¬
garn zu der Abschwenkung sagen, die von den ihnen feindlichen Anhängern
des militärischen Absolutismus oder des Föderalismus vollzogen werden
müßte? — Für Oesterreich ist der Friede gleichbedeutend mit der fortschreiten¬
den innern Befestigung und Wohlfahrt; der Krieg — mit dem Zerfall in
zwei oder drei Theile. Das Interesse, welches der Kaiserstaat an der Auf¬
rechterhaltung des Friedens und an einer stetigen Fortführung des jetzigen
Negierungssystems hat, liegt so klar vor Augen, daß der neulich von
Wien her nach Köln hin ertönende Warnruf über die Eventualität einer Be¬
drohung der Stellung Andrassy's von vielen nicht recht gewürdigt wurde.
Und doch — woher kämen die weltgeschichtlichen Katastrophen, wenn die
Illusionen und Leidenschaften nicht zuweilen Herr über die Vernunft würden?
Kaiser Franz Joseph bewies viel Selbstüberwindung, als er zur Be¬
grüßung Victor Emanuel's die Stadt Venedig wählte; stärker konnte er kaum
ausdrücken, daß die Erinnerung an den herrlichen Besitz seines Hauses für
ihn versunken und vergessen sei. Wiener Mittheilungen lassen den Kaiser
sogar eine Ansprache in diesem Sinn an den König von Italien halten.
Wie viel Zeit zu politischen Geschäften in dem Rausch der Festlichkeiten übrig
blieb, wissen nur die Eingeweihten. Offizielle Berichte aus Wien heben her¬
vor, daß die begleitenden Minister und Räthe sich über einen Handelsvertrag
und eine Eisenbahnlinie, also sehr nützliche und unschuldige Dinge, verständigt
hätten. Sonst sei die Absicht der Begegnung gewesen, Italien enger an das
Dreikaiserbündniß heranzuziehen. Im Gegensatz' hierzu erzählen italienische
Blätter von zwei Briefen, welche der Cardinal-Erzbischof von Venedig den
beiden Monarchen im Auftrag des Papstes überreicht habe. Sicher ist die
römische Frage in der Conversation der Souveräne nicht unberührt geblieben,
und es ist durchaus glaubwürdig, daß sie gegenüber der energischen deutschen
Politik sich in dem Gedanken zusammengefunden haben, es müsse jeder Staat
in jener Frage seine besonderen Wege gehen — und vielleicht, eine Diagonale
sei denkbar zwischen Ultramontanismus und dem „andern Extrem," eine
Politik der Mäßigung, die nicht „Indifferentismus", es wäre das die Linie
des Verhaltens der „troppo xruäönti". Sollte Frankreich sich nicht von der
Curie insoweit entfernen können, um sich diesem System der „Mäßigung"
und also hinwiederum (in andrem Sinn als bisher) der Curie mit anzu¬
schließen? In Oesterreich scheint mit den konfessionellen Gesetzen die Kraft¬
anstrengung gegen die Curie erschöpft zu sein. In Italien aber ist man
zwar bereit, unseren Streit mit dem Papstthum zu benutzen, aber sehr
wenig geneigt daran Theil zu nehmen.
Je heftiger der Kampf zwischen Rom und Deutschland tobt, desto leichter,
wie schon oben angedeutet worden, glauben die italienischen Minister eine
„Versöhnung" mit dem Papst erreichen zu können. Diese Seite unserer An¬
strengungen gefällt ihnen sehr wohl. Selbst die diplomatische Besprechung
des Garantiegesetzes, so lange sie nur nicht zu positiven Forderungen fort¬
schreitet, hat für Italien den großen Vortheil, daß die Bewohner des Vatican
in Angst gerathen und eine plötzliche Begeisterung für die Einheit, Größe
und Unabhängigkeit Italiens empfinden. Der Umschwung in der Sprache
der päpstlichen Blätter bei dem ersten Auftauchen jener Frage war über¬
raschend. All die feierlichen Proteste der Curie gegen das Werk „der Lüge,
der Verschlagenheit und des Hohns", welches unter dem Vorwand, die Kirche
zu schützen, ihr einen „eilfhundertjährigen" Besitz rauben und den Papst der
Herrschaft eines anderen Fürsten unterwerfen wolle, waren mit einem Male
vergessen. Die Frage des Kirchenstaats trat völlig in den Hintergrund. Die
Jesuiten machten die merkwürdige Entdeckung, daß das Papstthum zu allen
Zeiten das mächtigste Bollwerk für die Unabhängigkeit Italiens gewesen sei.
Um diesen kostbaren Schatz vor dem Eingreifen des preußischen Despoten zu
schützen, öffnete die Curie dem bedrängten Italien ihre Arme. Nur unter
der.Führung des Papstthums, so hieß es, als Glied jener furchtbaren sich
erneuernden „Liga" der katholischen Mächte, wird Italien den neuen Einbruch
des Kaiserthums von sich abwehren können.
Die italienischen Minister sind zu nüchtern, um diesen jesuitischen Traum¬
bildern zu folgen, aber sie sind auch zu schwach und durch die Phrase von
der freien Kirche im freien Staat, sowie durch die alten Sympathien der
Consorterie für Frankreich zu sehr beherrscht, um an der Seite des deutschen
Reichs entschiedene Stellung zu nehmen. Für unsern Kampf mit dem Papst¬
thum hat die Mehrzahl der gebildeten Italiener kein Verständniß. Gänzlich
unkirchlich wie sie sind, begreifen sie nicht, in wie hohem Maße bet einem
religiös ernsten Volk die kirchliche Seite jener Institution zur Verwirrung der
Gewissen benutzt werden kann: das hat der Marchese Guerrieri-Gonzaga mit
erschütternder Wahrheit noch kürzlich im „Diritto" klargestellt! Die Wir¬
kungen der heillosen Preisgebung aller Staatshoheitsrechte über den Clerus,
deren das Garantiegesetz sich schuldig macht, empfinden sie noch nicht, die
Bullen und Bannflüche lassen sie gleichgültig, und sie meinen, daß auch wir
pedantische Deutschen dieselbe nicht so tragisch nehmen sollten. Hinter dieser
Indifferenz steckt aber das Interesse an der Conservirung einer Institution,
welche der Stadt Rom ihren Glanz verleiht, Millionen Geldes als Peters¬
pfennige u. f. w. jährlich dahin strömen läßt und den Italienern den Vorzug
giebt, als hohe Würdenträger der Kirche die katholische Welt zu regieren.
Im Interesse seiner nationalen Einheit hat Italien sich den Kirchenstaat ein¬
verleibt. Es hat dadurch bewirkt, daß die andern Mächte keinen directen
Angriffspunkt gegen den Papst mehr finden, wenn derselbe seinen kirchlichen
Einfluß zu politischen Uebergriffen mißbraucht. Gleichzeitig aber hat es den
Papst, der jetzt innerhalb des Königreichs lebt, mit der Souveränetät und
der vollen Freiheit in der Ausübung seiner Funktionen bekleidet, und keinen
Vorbehalt für den Fall gemacht, daß er zu diesen Funktionen auch die Auf¬
wiegelung fremder Unterthanen gegen die Gesetze ihres Staats und die An¬
stiftung des Bürgerkriegs rechnet. Das Garantiegesetz ist ein innerer Wider¬
spruch, der entweder das Papstthum zur Auswanderung aus Rom zwingen oder
Italien mit seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen in Conflict bringen muß.
Die Regierungspartei in Italien setzt sich über den Widerspruch hinweg.
Sie will den Nutzen nicht preisgeben, welchen die Domieilirung des Papst¬
thums in Rom für sie hat. Sie will Rom und den Papst behalten.
Sie lehnt also jede Pression aus den Vattcan ab. Wir Deutsche sollen in
Geduld den Schaden tragen, der aus der zügellosen Freiheit des landlosen
Papstkönigs für uns hervorgeht.
In seiner Schrift über die „vatikanischen Decrete" wirft Gladstone die
Frage auf: welchen letzten Zweck die römische Curie bei ihrem sichtbaren Stre¬
ben, Europa in einen Krieg zu stürzen, verfolge; und er kommt zu der An¬
sicht, daß sie aus der allgemeinen Verwirrung den Kirchenstaat als Beute
davon zu tragen hoffe. Wenn die Jesuiten heute Italien das Bild der katho¬
lischen Liga vorhalten, so werden sie sich freilich hüten, als Bedingung der
Aussöhnung zwischen Italien und dem Papst die Rückgabe des Kirchenstaates
zu fordern. Im Gegentheil; es giebt geschichtliche Vorgänge, die man zu
Belegen für eine weitgehende Resignation der Curie benutzen kann. Soll ja
1870 Napoleon III. den Italienern als Preis der Allianz das Patrimonium
Petri bis auf den leoninischen Theil der Hauptstadt angetragen haben. Viel¬
leicht weist man nach, daß dieses Angebot der Curie nicht fremd war, oder
beruft sich darauf, daß schon im April 1871 der Papst vor dem Botschafter
Frankreichs erklärte: „Alles was ich wünsche, ist ein kleines Stück Land, wo
ich Herr sein kann. Wenn man mir anbieten würde, meine Staaten mir zu¬
rückzugeben, so würde ich es nicht annehmen." Freilich gehörte zu dem klei¬
nen Stück Land auch Rom; aber wenn die Italiener sich mit allgemeinen
Versprechungen begnügen wollen, warum sollte man ihnen nicht auch den
Verzicht auf Rom in Aussicht stellen? — Der Papst hat die Gewalt, zu
binden und zu lösen. Ist Deutschland nur erst niedergeworfen, so kommt
man über Eide und Versprechungen schon hinweg. Angesichts des allge¬
meinen Verlangens der katholischen Welt, würde die Curie dann nicht um¬
hin können, die weltlichen Regierungen von ihrem Gelübde zu entbinden.
An der Einheit des mächtigen deutschen Reichs hängt die Einheit Ita¬
liens, Hätten die italienischen Minister die Klarheit und Energie Cavour's
geerbt, sie würden aus dieser einfachen Thatsache entschlossen die Folgerungen
ziehen. Sie würden nicht schwanken zwischen uns und dem Papst. Sie wür¬
den keinen Augenblick im Zweifel sein, daß Italien bei einem zweiten fran¬
zösischen Krieg sich weder bei Seite stellen noch gar die Intentionen vom
Frühjahr 1870 noch einmal aufnehmen dürfe. Man weiß übrigens in Deutsch¬
land, daß das italienische Volk patriotischer, stolzer denkt als seine Regierung.
Es hat nicht wie die Consorterie durch die Gewohnheit der Dienstbarkeit gegen
Frankreich den Unabhängigkeitssinn verloren. Setzten wir auf dieses gesunde
Volksgefühl, das im entscheidenden Momente zum Durchbruch kommen wird,
acht unsere Hoffnung, so würde die Haltung, welche die italienische Regierung
in unserm Kirchenkampf einnimmt, für dieselbe eine große Gefahr sein. Denn
nur solange Italien seine Interessen als solidarisch mit den unsrigen aner¬
kennt, können auch wir an dieser Solidarität festhalten. Wäre dies ein¬
mal nicht mehr der Fall, so entstände für uns die Frage: wel¬
ches Interesse haben wir daran, daß Rom und Civita Vecchia
von italienischen statt von päpstlichenBe Horde »regiert werden?
Die letztere Regierungsweise ist freilich schlechter als die erstere, aber wir haben
nicht die Aufgabe, unter eigenen Opfern für die Wohlfahrt fremder Völker zu sor¬
gen. Können wir durch Verzicht auf solche Sorge bei uns den Frieden und die
Unterwerfung unter das Gesetz herbeiführen, warum sollte uns die Heimath
nicht näher angehn als die Fremde? Sollte das deutsche Volk durch die
Verkehrtheiten der italienischen Politik jemals zu solchen Reflexionen gebracht
werden — der Zeitpunkt, sie in Thatsachen umzusetzen, würde bald genug
gekommen sein.
Italien verdankt den deutschen Waffen Venedig und Rom; Belgien ver¬
dankt ihnen, daß es überhaupt noch existirt. Am 24. Juli 1870 veröffentlichte
die Times jenen berüchtigten Allianzentwurf, welcher Preußen den deutschen
Süden überließ, wenn dasselbe die Erwerbung Luxemburgs und die Eroberung
Belgiens zulassen wollte. Die diplomatischen Enthüllungen, welche der franzö¬
sische Krieg hervorrief, offenbarten der erstaunten Welt, wie ruhelos die französische
Politik an der Vernichtung des Grenzstaates gearbeitet hatte und wie wenig
seine Neutralität ihn geschützt haben würde, wenn der hohe Sinn des preußischen
Staatsmannes eine Regelung der deutschen Angelegenheiten im Bunde mit
Frankreich und um solchen Preis zugelassen hätte. Führte das Glück der
Waffen die französische Armee nach Berlin, statt die deutsche nach Paris, so
fiel Belgien trotz der papiernen Proteste-Englands, dem Sieger zum Opfer.
Wir rechnen in der Politik nicht auf Dankbarkeit, aber wir fordern von der
Regierung eines Landes, welches so ohne sein Verdienst dem Untergang ent¬
ronnen ist, daß sie wenigstens einige kluge Rücksicht denen gegenüber nehme,
die als willige Werkzeuge der Vorsehung es gerettet haben. Man kann doch
Nicht wissen, ob diese Willigkeit nicht auch später noch von Nutzen sein wird.
Denn der Gedanke, für den Verlust von Elsaß-Lothringen eine
Entschädigung in Belgien zu suchen, liegt den französischen Politikern
aus begreiflichen Gründen sehr nahe. Es würde uns nicht wundern, wenn
man von Paris aus versuchte, vor dem Ausbruch eines zweiten Kriegs oder
im Verlauf desselben in dieser Richtung uns Ausgleichungsvorschläge zu
machen. Eine monarchische Restauration würde in erster Linie die Revanche
bieten ohne den Krieg, d. h. den Deutschen Elsaß-Lothringen lassen und
Belgien dafür einstecken. Oder sollten die belgischen Clerikalen trotz der Un-
glücksfälle, welche Frankreich heimgesucht haben, die Vereinigung mit der
großen Nation der bisherigen Selbständigkeit vorziehen? — Belgien ist das
Land der constitutionellen Schablone; als solches hatte es einst einen Ruf
bei den liberalen Parteien, bis die Welt dahinter kam, daß die formalen
Grundrechte von den Jesuiten zur Vernichtung wahrer Bildung und Volks¬
freiheit benutzt worden seien. Auch in dieser Entwicklung zum jesuitischen
Musterstaat wollen wir Belgien nicht stören; aber da die Clerikalen, deren
Parteidisciplin so streng ist, die Regierung des Landes in der Hand haben,
so dürfen wir von dieser Regierung erwarten, daß sie ihre Priester von jeder
aufsetzenden Einmischung in unsere innern Kämpfe fernhält. Sie kann es,
sobald sie nur will. Nltramontane Manifestationen sind nicht der Ausdruck
individueller Freiheit, sondern sie erfolgen auf Anstiften oder unter Zulassung
der geistlichen Oberen, mit denen das Ministerium im besten Einvernehmen
steht. Die Berufung auf die „illustren Institutionen" Belgiens kann diesen
einfachen Sachverhalt nicht verhüllen.
Der Zusammenhang zwischen dem vatikanischen Concil und den Ein¬
flüssen, welche Napoleon III. in den Krieg trieben, ist geschichtlich ziemlich
festgestellt. Ob auch die Bulle <zuo<1 nun<ma>in und die gesteigerte Feindselig¬
keit der Ultramontanen aller Länder mit der Mobilmachung der 149 neuen fran¬
zösischen Feldbataillone im Zusammenhang steht, wird die Zukunft lehren.
Immer mehr enthüllt sich der politische Hintergrund unseres kirchlichen Kampfes
und je näher wir der weltgeschichtlichen Entscheidung rücken, desto mehr wird
die Führung jenes Kampfs von dem Leiter unserer Politik direct in die Hand
genommen. Von ihm stammt der Gedanke, bis an den Ausgangspunkt unse¬
rer verkehrten kirchenpolitischen Entwicklung zurückzugehen und jene Verfassungs¬
artikel aufzuheben, welche einst von den Clerikalen eingeschmuggelt wurden
und seitdem die staatsrechtliche Grundlage ihrer ungemessenen Ansprüche waren.
Gestützt aus den vieldeutigen Satz von der Selbstständigkeit der Kirche schleu¬
derten sie den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit gegen jedes Specialgesetz,
welches die hierarchische Willkür beschränkte. Die Verfassungsurkunde diente
als Vorwand, um selbst vom bürgerlichen Standpunkt aus die Verweigerung
des Gehorsams gegen die Gesetze zu legitimiren. Dieser Vorwand wird jetzt
beseitigt; an die Stelle einer sophistisch ausgebeuteten Theorie treten die klaren
und deutlichen Vorschriften der positiven Gesetzgebung. Freilich das Rechts¬
verhältniß, wie es vor 18S0 zwischen Staat und Kirche bestand, lebt dadurch
nicht von selber wieder auf; ob der Verkehr zwischen dem Papst und den
Bischöfen und die Bekanntmachung kirchlicher Anordnungen künftig beschränkt,
ob das Ernennungs- und Bestätigungsrecht des Staats bei Besetzung kirch¬
licher Stellen wieder in Anspruch genommen werden soll, unterliegt der nun¬
mehr ungehemmten Entscheidung der gesetzgebenden Faktoren. In der Aende¬
rung der Verfassung liegt also der Antrieb zu einer gesteigerten legislativen
Thätigkeit. Das ist die Antwort auf den trotzigen Protest der Fuldaer Bischöfe.
Sie ist noch eindrucksvoller als die schneidige schriftliche Erwiderung "des Staats¬
ministeriums. Die Bildung von selbständigen Gemeindeorg an en zur
Verwaltung des lokalen Kirchenvermögens, oder wenn die Bischöfe die Wahlen
verhindern, die commissarische Verwaltung des Vermögens durch den Staat;
die Sistirung der Zuschüsse an die gesetzwidrigen Geistlichen auch aus der Ge-
meindecasse, die Auflösung der Klöster und Congregationen — das sind Ma߬
regeln, die den Clerus wenigstens zur Besinnung bringen, die ihm den Ernst
des gegen den Staat unternommenen Kriegs fühlbar machen werden. Wich¬
tiger noch, als diese Gesetze, ist die Beseitigung der ultramontanen Verwal¬
tungsbeamten. Ein Drittheil der Landräthe am Rhein gilt für elerikal; einer
von ihnen ist so eben zum Oberbürgermeister gewählt, die Regierung versagt
ihm wegen ultramontaner Gesinnung die Bestätigung, aber Landrath durfte
er bisher sein. Zu dem bedeutenden Amt eines Landesdirectors wird von der
klerikalen Partei ein Mann ihrer Farbe ausgesucht, und der Oberpräsident
der Provinz gewährt ihm seine Protection! So lange die Staatsregierung
hier nicht Wandel schafft, werden alle Gesetze nur halben Eindruck machen.
Man denke an die klassische Aeußerung jenes ultramontanen Landraths: „Wie
kann ich vor einem Ministerium Respect haben, das einen Mann wie mich
im Amte läßt!"
Seien wir gerecht auch gegen unsere Widersacher! An dem Streit, der
heute die Gemüther trennt und verwirrt, tragen wir Alle Schuld, nicht blos
die Jesuiten, die Bischöfe und der Clerus. Es war der Staat Preußen selbst,
seine Regierung, sein Beamtenthum, seine Parteien, die jenen hierarchischen
Hochmuth großzogen, den wir jetzt um unserer Existenz willen brechen müssen.
Wir haben die Sünden einer ganzen Generation zu büßen. Aber weil das
Uebel so tief gewurzelt ist, müssen auch die Heilmittel radicaler sein, als sie
irgend ein anderes Land, die Schweiz ausgenommen, bisher versucht hat.
Das Problem, welches wir zu lösen haben, besteht nicht mehr darin, durch
starke Anwendung staatlicher Zwangsmittel einen leidlichen moäus vivvuäi
zu schaffen, sondern die katholische Kirchenverfassung so weit umzugestalten,
daß sie mit der nationalen Einheit des Reichs und mit den Formen bürger¬
licher Selbstverwaltung verträglich wird. So lange wir einen absolutistisch-
büreaukratischen Staat hatten, ließ sich mit der Hierarchie fertig werden;
wenn sie nach unten unbedingten Gehorsam forderte, so gehorchte sie dafür
nach oben. Mit einem parlamentarischen Staatswesen dagegen steht ein
Priesterthum im grellsten Widerspruch, das nach unten die Massen wie eine
Heerde leitet, nach oben sich zugleich vom Staatswillen emancipirr, und nun
all die Freiheitsrechte, deren Uebung nationalen und bürgerlich-gesetzlichen
Sinn voraussetzt, agitatorisch ohne solche Voraussetzung ausbeutet. Wer
jenem Widerspruch scharf nachgeht, wird finden, daß wir zum Schutz unserer
bürgerlichen Freiheit noch tiefe Einschnitte in die sogenannte hierarchische
Ordnung machen müssen.
Der im Januar 1876 geschehene feierliche und öffentliche Uebertritt von
30.000 Unirten im Königreich Polen zur griechisch-russischen Kirche ist eine
Thatsache, deren wohlthätige Folgen für dieses, periodischen Arnhem unter¬
worfene Land, keinem Zweifel unterliegen. Ueber dieses Faktum hat sich die
clerikale Partei in höchst unsympathischer Weise ausgesprochen.
Jetzt nun, da nach zwei Monaten die Leidenschaften sich ein wenig be¬
ruhigt haben und der gesunde Menschenverstand wieder in seine Rechte ge¬
treten ist, dürfte es an der Zeit sein, einige Worte in dieser Angelegenheit
zu sprechen, um die falschen Gerüchte zu zerstreuen, welche die Stimme der
Wahrheit dämpfen.
Es ist wohlbekannt, daß die an ihrer Volkstümlichkeit und Sprache so
sehr hängenden slavischen Stämme nur ungern sich dem Einflüsse der römi¬
schen Missionäre Hingaben, die zugleich mit der Lehre Christi, bei den Neu-
bekehrten in Kirche und Schule und überhaupt ins bürgerliche Leben den
Gebrauch der lateinischen Sprache und die Herrschaft des Papstes einführten.
Die ersten Apostel des Christenthums unter den Slaven waren griechische
Geistliche, die ausschließlich religiöse Zwecke verfolgend, jeglichem Gelüste nach
weltlicher Macht abhold waren. Darum wurden auch bei d'er Organisation
der geistlichen Angelegenheiten im neugebildeten Staatsleben einige Eigen¬
thümlichkeiten bewahrt, die aus dem Leben und dem Sein des Volkes flössen.
Seine Muttersprache, als sie zur Schriftsprache gedieh, ward auch die Sprache
des Cultus.
Als nothwendige Folge eines solchen Verhältnisses ergab sich, daß die
in der Volkssprache verkündeten Wahrheiten des Christenthums tiefer in das
Gewissen der jungen Völkerschaften eindrangen. Gleichzeitig hob sich auch
bedeutend das Niveau der geistigen Bildung in der Masse des Volkes, welches
somit für die mit solchem Eifer von dem lateinischen Clerus verbreiteten
Irrlehren und Vorurtheile keinen günstigen Boden bilden konnte.
Nachdem die römischen Oberhirten die orientalische Kirche (Zeiten des
Photius) schismatisch erklärt hatten, wandten sie zugleich jedes mögliche
Mittel an, die westlichen Slaven in den Schooß der römischen Kirche zu führen.
Die Slaven, gedrängt von allen Seiten durch katholische Volksstämme fremder
Herkunft, waren gezwungen der Uebermacht zu weichen. Am Ende des
XVI- Jahrhunderts aber, als die römische Kirche durch die Reformation
Luther's beschäftigt und der Glaube an den Papst und dessen Allmacht, in
Folge des Erwachens des kritischen Geistes erschüttert war, suchten die Je-
Suiten, diese treuen Diener des päpstlichen Thrones, die Macht des Stuhles
Petri durch die Bekehrung der Slaven zur römischen Kirche, zu heben.
Als es den Jesuiten, unter Possevin, am Hofe des russischen Czaaren
mißlungen war, wandten sie sich an das katholische Polen: sie wollten den
Theil Rußlands, welcher das Unglück hatte unter das Joch des Polnischen
Adels zu gerathen — latinisiren.
Um dieses Ziel zu erreichen, scheuten die Jesuiten kein Mittel. Sie
wandten Alles an, beginnend mit der einfachen körperlichen Züchtigung bis
zum Raube aller Menschenrechte an dem Bekenner der orthodoxen Kirche.
Als aber alle Mittel der Grausamkeit sich als kraftlos bei der Bekehrung
der Masse der russischen Bevölkerung zum Katholicismus erwiesen, beschlossen
die heiligen Väter, für den Augenblick sich mit der Verwirklichung eines
Theiles ihrer Wünsche zu begnügen und ersannen als inoSus vivendi die
Union oder die Vereinigung.
Auf der Synode zu Brest (1595) verlangten die Jesuiten und die ihnen
als Werkzeug ergebene polnische Regierung, von der russischen Bevölkerung
in Polen anfangs nur die Anerkennung der Oberhoheit des Papstes. Nach
dem ursprünglich angenommenen Principe sollten alle Dogmen der ortho¬
doxen Kirche, nicht ausgenommen die Lehre über den Ausgang des heiligen
Geistes, sowie auch alle kirchlichen Ceremonien, sogar der Gebrauch der sla¬
vischen Sprache beim Gottesdienste unangetastet bleiben.
Indem die griechischen Russen der polnischen Provinzen die Oberhoheit
des Papstes anerkannten, hofften sie dadurch ihren Glauben und sich selbst
vor den beständigen Verfolgungen der römisch-katholischen Geistlichkeit zu
sichern.
In der Wirklichkeit gestalteten sich die Dinge anders. Religion und
Politik identificirend, hat der Adel der polnischen Republik, im Bunde mit
den Priestern, mit beispielloser Consequenz und Ausdauer die unirte Geistlich¬
keit und die unirte Bevölkerung verfolgt und dieselben zur allendlichen An¬
nahme des römischen Katholicismus bewogen. Um den Uebertritt zu, erleich¬
tern, wurden, trotz der publicirten päpstlichen Bullen und oft sogar mit heim¬
licher Genehmigung der römischen Kurie nach und nach in den unirren Cul¬
tus neue Gebete und sogar der orientalischen Kirche ganz fremde Elemente
eingeführt. Zum nicänischen Symbole wurde, nach Weise der Lateiner das
»lilioMe" hinzugefügt, der kirchlichen Ceremonien nicht weiter zu gedenken.
Gepredigt wurde in polnischer Sprache. Nicht genug damit. Die Eparchial-
behörde, ergeben dem Patronate des polnischen Adels, besetzte die vacanten
unirten Stellen mit katholischen Priestern, welche unter dem Volke für die
Idee Propaganda machten, daß die römische Kirche sich durch nichts von der
orthodoxen- unterscheide und dieselbe vollkommen ersetze. Auf diese Weise
bildete die unirte Geistlichkeit und die unirte Kirche ein Gemisch von römisch-
katholischen und orthodoxen Elementen; — die orthodoxe Bevölkerung aber
verlor inmitten willkürlicher Neuerungen, welche mit jedem Wechsel der
Ortsgeistlichen und der Eparchialbehörde immer wieder in anderer Gestalt
auftraten, ihren Glauben an die Heiligkeit der Religion und die Unantast¬
barkeit ihres Gottesdienstes.
Um ein für alle Mal der heillosen Unordnung in der Kirche ein Ende
zu machen, verließen viele Pfarreien die verfolgte, erniedrigte und auf jede
Weise absichtlich verstümmelte Religion ihrer Väter' und versuchten ihr Heil
in der römisch-katholischen Kirche.
Zur Bestätigung des soeben Gesagten, wollen wir uns an die denk¬
würdigen Worte des früheren griechisch-unirten Bischofs von Chelm, Kuzemski
erinnern, welche derselbe 1868 gesprochen hat.
„Die Missionsthätigkeit des lateinischen Clerus — sagt der Bischof
Kuzemski — wurde befördert von dem polnischen Adel, welcher durch das
Patronatsrecht einen sehr großen Einfluß auf die russische Kirche und die
russische Geistlichkeit ausübte. Durch die vereinten Kräfte des lateinischen
Clerus und des Adels wurde der russische Gottesdienst verdrängt, durch den
lateinische« ersetzt und das russische Volk — polonisirt. Es unter¬
liegt keinem Zweifel, daß das Ziel dieses gemeinschaftlichen
Missionirens mehr ein politisches, als ein religiöses war.
Denn um religiöser Zwecke willen war es nicht nöthig, die
Unirten zur römisch-katholischen Kirche zu bekehren, da die¬
selben ebenso wie die Katholischen die Oberhoheit des Papstes
anerkannten. Hier handelte es sich nur um die Nationalität.
Der gemeine Mann sah überall die Macht des römischen Cultus, Verachtung
seines Glaubens, seiner Sprache und Spott über ihn selbst. Er begann sich
zu sehnen nach der römischen Kirche und der polnischen Volksthümlichkeit —
als nach etwas Besserem.
Die Verstümmelung des unirten Cultus erreichte ihren Höhepunkt. Selbst
Würdenträger in Chelm begannen es zu gestatten, an den Kirchen Rosen¬
kranzbrüderschaften, Skapuliere, polnische Agenten, Orgeln, Lieder :e. einzu¬
führen. Die polnische Sprache gelangte mehr und mehr zur Herrschaft.
Unirte, die unter solchen Umständen zur römischen Kirche übergingen, wurden
als Convertiten zu eifrigen Polen und schämten sich des russischen Namens."
Es ist klar, daß die Unirten in solch einer abnormen und im höchsten
Grade demoralisirenden Lage der Dinge, als eine Glaubensgemeinschaft, die
ihre Pflichten gegen Gott, die Obrigkeit und sich selbst versteht, nicht ver¬
bleiben konnten. Es blieb ihnen eins von beiden übrig: entweder vollstän¬
dig zur römischen Kirche überzugehen und dadurch für immer sich loszusagen
von ihrer Volkstümlichkeit, von der Religion ihrer Väter und ihren socialen
Ordnungen, für welche sie im Laufe von Jahrhunderten so manches blutige
Opfer gebracht hatten, — oder die Lockungen der lateinischen Propagandisten
von sich zu stoßen, zurückzukehren in den Schooß der orthodoxen Kirche, von
welchem sie einst unter Gewalt, Verfolgung und unerträglichen Martern ab¬
gelöst worden waren.
Die Union entstand unter der Herrschaft der Polen und der Jesuiten.
Konnte dieselbe nun im natürlichen Laufe der Dinge sich auch noch jetzt be¬
haupten, da die blutige Herrschaft des polnischen Adels über die russische Be¬
völkerung längst geschwunden ist, — jetzt da die Vorsehung für diese Bevöl¬
kerung einen kräftigen Beschützer und Befreier — nach eigener Aussage der
Unirten in dem „weißen Czaren" ihnen bereitet hat?
Wenn die Unirten irgend je in ihrem Rechte waren, das lateinische Joch
abzuschütteln, so sind sie es um so mehr jetzt, bei der gegenwärtigen Lage der
römischen Kirche. In der letzten Zeit, namentlich unter Pius IX. wurden
der Kirche Vorschriften und Dogmen auferlegt, die weit entfernt sind von den
Beschlüssen der alten apostolischen Kirche. Das hat selbst Spaltungen in der
römischen Kirche hervorgerufen. Das Breve Pius' IX. «0minzm ZollieituÄinkm"
erlassen am 13. Mai 1874, behufs Aufmunterung der Griechisch-Unirten zum
engeren Anschluß an die Bekenner der römisch-katholischen Kirche, ist in einem
solchen Tone gehalten und in so scharfen Ausdrücken abgefaßt, daß es selbst
nach dem Urtheile der ausländischen Presse nicht ohne Einfluß auf die Wie¬
dervereinigung der Unirten mit der orthodoxen Kirche bleiben konnte. Dieses
Breve, in Lemberg polnisch gedruckt, wurde in sehr zahlreichen Exemplaren
unter der unirten Bevölkerung der Diöcese Chelm im Königreich Polen ver¬
breitet. Mit der Einführung dieses Breve, sowie auch anderer aufwiegelnder
Brochüren, befaßten sich zwei unirte Priester Siniewicz. der gewesene Vorsteher
der Pfarrei Swory und Bojarski, gewesener Vorsteher der Radyner Pfarrei.
Beide waren im Jahre 1872 aus Rußland nach Galizien verwiesen worden.
Als Bauern verkleidet, kehrten sie heimlich nach Rußland zurück und durch¬
streiften die Gouvernements Ludim und siebten. In der Nähe von Micd-
zyrzee versammelten sie in einem Walde die Bauern, fanatisirten sie durch
Reden, verlasen und erklärten das päpstliche Breve, vertheilten unwahre und
aufregende Pamphlete und zwangen ihre leichtgläubigen Zuhörer durch Eides¬
leistung zur Wahrung des tiefsten Geheimnisses. Bald darauf, nachdem die
beiden Landesverwiesenen ins Ausland geflüchtet waren, brachen in 33 Pfar¬
reien der Bielsker, Wlodawer und Radynier Bezirke Unruhen aus, und zwar
als unmittelbare Folge der Predigten dieser Emissäre. Besonders eifrig benah¬
men sich dabei Weiber und junge Leute. Priester, welche gesetzliche Verord¬
nungen des Consistoriums in Chelm ausführten, wurden aus ihren Aemtern
verjagt und ihre Habseligkeiten aus den Amtswohnungen geworfen. Und
alles dies geschah im Namen des päpstlichen Breve, welches sie als eine vom
Himmel gefallene Schrift des heiligen Vaters priesen. Die Anhänger des
Papstes schürten das Feuer durch absichtlich verbreitete Gerüchte, als ob die
orthodoxe Kirche die Mutter Gottes nicht anbete und andre.
Die Regierung konnte nicht umhin, diesen Intriguen und Unordnungen
ein Ende zu machen. Es ist ihre Pflicht, die Ruhe des Landes zu wahren,
ganz besonders aber eines Landes, welches selten frei ist von der Agitation
des polnischen Adels und der Geistlichkeit.
Es wird behauptet, die Vereinigung der Unirten mit der griechisch-russi¬
schen Kirche sei nicht ohne Einfluß der administrativen Behörden zu Stande
gekommen. Aber dem ganzen Lande ist es bekannt, daß von Seiten der Ad¬
ministration durchaus keine Gewaltmaßregeln in Anwendung gebracht worden
sind. Es war auch gar nicht nöthig, Gewalt oder Beeinflussung zu gebrau¬
chen. Der Rückkehr von Unirten in den Schooß der orthodoxen Kirche gegen
Ende des XVIII. Jahrhunderts folgte die zahlreiche Wiedervereinigung der
Bevölkerung der westlichen Gouvernements in den dreißiger Jahren des lau-'
senden Jahrhunderts und schließlich werden die Unirten im Königreich Polen
dem Beispiele ihrer Brüder im russischen Grenzlande folgen.
Vorläufig hat sich beinahe der fünfte Theil der sämmtlichen unirten
Bevölkerung im Königreich Polen freiwillig und auf eigenes Verlangen
bekehrt.
Die Landbevölkerung hat trotz aller ihrer Einfachheit eingesehen, daß
jegliche weitere Verbindung mit der römischen Kirche ihr nicht nur keine Ruhe,
sondern auch in Zukunft nur Unheil bringen werde — und so entstand der
Wunsch der Wiedervereinigung. Die langjährigen Machinationen Roms und
alle möglichen Bedrückungen waren nicht im Stande gewesen, in der Masse
des Volkes das Andenken der Religion seiner Väter und seine Abstammung
zu verwischen oder die starken Bande der russischen Stammverwandtschaft zu
sprengen. Graf Kotzebue begnügte sich nicht mit offiziellen Nachrichten über
die Bereitwilligkeit eines bedeutenden Theils der unirten Bevölkerung zur Ver¬
einigung mit der griechischen Kirche — sondern ließ zuvor durch die Geistlich¬
keit und durch Vertrauenspersonen die Lage der Dinge sorgfältig untersuchen.
Und erst nach gewonnener fester Ueberzeugung über den aufrichtigen Wunsch
der Bittsteller, hat der Warschauer General-Gouverneur seine Einwilligung
ertheilt, und darauf die russische Geistlichkeit in Person des Hochwürdigen
Joannikius den Wiedervereinigungsakt vollzogen.
Die Behauptung, daß der Uebertritt durch Zwangsmaßregeln herbeige¬
führt wäre, widerlegt sich schon dadurch. daß der größte Theil der unirten
Bevölkerung Polens bis jetzt bei ihrem Bekenntnisse geblieben ist. Der Nus-
I
fischen Regierung, wenn sie Zwang üben wollte, fehlte nicht die Macht, ihn
überall zu üben. Oder sollten die administrativen Behörden auf halbem Wege
stehen geblieben sein, — dieselben Behörden, die kurz vorher keine Schonung
kannten für eine Bevölkerung, deren Blut, nach den Lügen der katholischen
Blätter, in Strömen geflossen ist? —
Die Greuelthaten, welche die katholischen Blätter erdichtet haben, sind
überhaupt von keiner weltlichen Regierung zu befürchten. Von solchen Dingen
hört man nur in den Reminiscenzen der katholischen Inquisition, die ihre
Opfer act majorem Oel Zloriam verbrannte und marterte.
Die den russischen Behörden in der clerikalen Presse gemachten Vorwürfe
sind lediglich Erzeugnisse der Phantasie.
So wird in der Zeitschrift „I/unitK eattolic^" eine nie dagewesene
Heldenthat einer nicht existirenden Bäuerin erzählt. Das clerikale Blatt
scheut sich den Namen dieser Frau zu nennen und begnügt sich mit den An¬
fangsbuchstaben, um nur nicht die Möglichkeit zu bieten, es der Unwahrheit
zu zeihen. Mit solchen auf die Leichtgläubigkeit unwissender Leser berechneten
Beschuldigungen befassen sich die ultramontanen Organe. Sie halten sich an
der Regel: es-IoMMW, calomnie^, it on restei'g. ton^'ours yuelyue elwsv.
All diese Lügen thun der Hoffnung keinen Abbruch, daß das Werk der
Wiedervereinigung der übrigen Unirten im Königreich Polen sich schon in
der nächsten Zukunft vollziehen wird.
Auf diese Weise wird der gegen Ende des 18. Jahrhunderts und unter
der Regierung des Kaisers Nikolaus begonnene Bau in seiner Vollendung
dastehen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß auch die Polen, nach allmäliger
Befreundung mit dieser wichtigen Thatsache der historischen Nothwendigkeit
derselben ihre rechte Anerkennung nicht versagen werden, zumal dadurch jener
Fleck religiöser Intoleranz, welcher ihnen von ihren Vorfahren als unrühm¬
liches Erbtheil überkommen ist, verschwinden wird.
In den ersten Wochen des Monats Mai tagt in Berlin die vom Reichs¬
kanzleramte berufene Enquete deutscher Künstler und Industrieller, um den
Gesetzentwurf in Betreff des Schutzes der Werke der bildenden Kunst und
Kunstindustrie auszuarbeiten. Es wurden sehr viele Herren berufen, die wohl
ziemlich rathlos auf den juristisch streng gegliederten Fragebogen geschaut
haben mögen, und Viele wurden nicht berufen, deren unermüdliche Thätig-
keit zur Anbahnung des Musterschutzgesetzes in weiten Kreisen anerkannt ist.
Man kann ein sehr bedeutender Commerzienrath sein und mehr durch billige
Arbeitslöhne und Rohmaterial und durch vorzügliche Maschinen, als durch
den reicheren Besitz von artistischen Werthen concurrenzfähig sein. Ferner giebt
es Maler und Bildhauer, welche die Welt mit Verehrung nennt und die
trotzdem und leider auch ebendeshalb von ihrer olympischen Höhe sich nie mit
den aus dem Markte herrschenden Rechtsfragen näher beschäftigt haben.
Rechnet man nun noch hinzu, daß die größten Vorurtheile und die sonder-
barsten Ansichten einiger Autoritäten der Kunstliteratur die klare Einsicht ge¬
trübt und die Fragen, um die es sich handelt, verwirrt haben, so wird es
wohl motivirt erscheinen, daß ich nochmals in dieser Sache zur Feder greife.
Vor einigen Jahren gab ich nämlich mit dem Eisengußfabrikanien
I. Zimmermann in Hanau eine Broschüre heraus, die zugleich einen Gesetz¬
entwurf für den Musterschutz und eine bezügliche Petition an das hohe Neichs-
kanzleramt enthielt. Diese Petition liegt mit den Unterschriften der ange¬
sehensten Kunstindustriellen beim Reichskanzleramte und ich hoffe, daß unser
Gesetzentwurf im Wesentlichen zur Annahme gelangt, da ich heute, trotz der
mannigfaltigsten Ersahrungen der letzten Jahre, keine wesentliche Verbesserung
anzugeben weiß. Der Grund hierfür liegt darin, daß mir, der ich mit
vielen der angesehensten Fabrikanten Deutschlands in persönlichem und ge¬
schäftlichem Verkehr stehe und deren Interesse zu wahren habe, die Vedürfniß-
frage sattsam bekannt ist und weil ich vom artistischen und commerziellen
Standpunkte den Rahmen ermessen kann, in welchem sich das Gesetz bewegen
muß. Herr Zimmermann hatte 20 Jahre lang seine Erfahrungen auf dem
Gebiet der Plastik gesammelt, ich hingegen Is Jahre als Ornamentist für
Weberei, Druck :c. ebenfalls Material gesammelt, um dem Mangel des Ge¬
setzes abzuhelfen. Vorgearbeitet hatte uns in bedeutendster Weise die deutsche
Kunstgenossenschaft, in welcher Männer wie Sußmann, Heilborn, Ewald ,'c.
einen Gesetzentwurf vor circa 6 Jahren ausgearbeitet hatten, der nur in we¬
nigen Punkten von uns bekämpft wird.
Man könnte gewiß sehr viel Interessantes über die Bemühungen Einzelner
wie von Corporationen schreiben, ferner könnte man die Gesetze Frankreichs,
Englands und Oesterreichs anführen und vergleichen und ihren Einfluß schil¬
dern. Alles dieses muß ich mir heute versagen, um den Kernpunkt hervor¬
zuheben und um die schädlichsten Vorurtheile zu bekämpfen, die uns im Wege
stehen. Juristisch handelt es sich einfach um die Sicherung eines Eigenthums,
welches das Resultat einer artistischen Arbeit ist. — Zunächst trete ich der
vielleicht geistreichen, aber durchaus falschen Ansicht entgegen, als könne der
Zeichner für die Industrie nichts Neues erfinden, weil frühere Kunstepochen
für fast jeden Gedanken die entsprechende Form gefunden. So sehr diese kühne
Behauptung auch den Nutzen der Museen beweist, so sagt er doch nichts anderes,
als daß ein Baum keine neuen Blätter treiben könne, weil das Auge kaum
die vorhandenen alle erkennen könne. Was würden die Herrn Ateraten dazu
sagen, wenn man sie aufforderte, nur das Alte zu reproduziren? Den Zweck
zu beweisen, daß es thöricht sei, ein derartig neues Werk schaffen zu wollen,
mit welchem kein früheres verglichen werden könne, lasse ich gelten, denn es
ist löblich der tollen Modelaune entgegen zu wirken und auf die ewig gülti¬
gen Gesetze der Kunst hinzuweisen. Die Herren Museumsdirektoren mögen
aber wohl bedenken, daß für die Industrie ein Quentchen naiver Schaffens¬
lust mehr werth ist als ein Pfund todtes Wissen. — Geben wir zu, daß dem
Autor des Kunstproduktes an seiner Idee ein Eigenthumsrecht zusteht, so ist
es selbstverständlich Sache des Rechtsstaates, diejenigen Gesetze zu geben,
die dieses Recht schützen. Wie bei anderen Rechten ist nur die Frage des Ge^
sammtwohles entscheidend, ob das Recht voll oder modificirt zur Geltung
kommen soll.
So klar und einfach diese Grundanschauungen sind, so verwirrt spiegelt
sich in den Köpfen der Meisten die Anwendung in Bezug auf die Ornamen¬
tik. Jeder wird gleich zugeben, daß wenn Ueberhand einen Seesturm, oder
Mackart eine Catharina Cvrnaro gemalt hat, nicht gleich der erste beste Litho¬
graph und Photograph das Recht hat, diese Bilder geschäftlich zu verwerthen.
Jeder wird es begreiflich finden, daß der Bildhauer Kiß das Recht der Ver¬
vielfältigung seiner „Amazone" nicht nur einmal, sondern sehr oft und zwar
selbstverständlich unter streng einzuhaltenden Bedingungen verkaufte. Dem
Einen gab er sie für Bronce, dem Anderen für Gyps, dem Dritten für Eisen¬
guß :c. Dem Einen in halber, dem Anderen in Viertel Größe ze. :e.
Das bisherige preußische Gesetz schützt die Werke der hohen Kunst, so
lange sie ihres „idealen Zweckes" wegen vervielfältigt werden. Kiß
hatte jedoch kein Recht zu verbieten, daß seine Amazone als Schmuck eines
„Gebrauchsgegenstandes" vervielfältigt wurde. Auf diesem Gebiete
gilt bis heute die absolute Anarchie. Ich könnte einen Fabrikanten nennen,
der sich den Titel „König der Copisten" selbst beigelegt hat. Dieser wartet
jährlich ab, was die ersten Fabrikanten Deutschlands und Frankreichs in
Tapeten bringen und läßt sich die gangbarsten Muster von gefälligen Händ-
> tern bezeichnen und zuschicken. Einige Monate später erscheinen diese Muster
zu sehr ermäßigtem Preise. Die Folge ist einfach, daß die Industriellen ersten
Ranges, welche Originale kaufen, sich um einen großen Theil ihres Gewinnes
betrogen sehen. Würden sie sonst im regen Wetteifer ein größeres Atelier
halten und vorzügliche Muster entsprechend bezahlen, so müssen sie jetzt theils
diese permanente dreiste Concurrenz eines illoyalen Mannes sich gefallen lassen,
theils auf die Ausführung vieler Kunstwerke verzichten. Die geschützten Nach-
barländer sind dann das Asyl der talentvollen Zeichner und Deutschland em¬
pfindet von Jahr zu Jahr um so drückender das Wachsen des Imports.
Ich höre nun den Einwand, daß wohl ein Schutz in solchen Fällen noth¬
wendig sei. wie aber soll man jedes Blümchen und jeden Schnörkel schützen
können, wenn diese als Muster bezeichnet werden? Hier liegt der Hase im
Pfeffer. Weil die Herren Juristen und selbst die Herren Fabrikanten sich zu
wenig darum bekümmert haben, was die Ornamente bedeuten und weil sie
nicht wissen, daß sie eine „Sprache der Kunst" sind, kknnen sie keinen Aus¬
weg finden und lassen lieber Alles beim Alten, als daß sie sich ein tvstimo-
nium pg-uxertatis in Kunstansichten geben. Wenn ich mit meinen Collegen
nun erkläre, daß eine Jury, welche die Stylepochen der Ornamentik selbstver¬
ständlich kennen muß, leicht entscheidet, in wiefern eine neue Composition Anspruch
auf Originalität hat und sogar bald das Plagiat vom Vorbild zu trennen
weiß; wenn ich ferner betone, daß die der alten Kunst angehörigen Formen
ein nicht zu schützendes Gemeingut sind, so ergiebt sich leicht, daß ein
Gesetz sicher das Richtige enthält, wenn es die streitigen Fälle an eine solche
Jury verweist. Will man denn ein Schriftwerk, das ein Plagiat ist, anders
als von literarisch gebildeten Männern beurtheilen lassen? Es ist der Kern¬
punkt des ganzen Gesetzes, daß eine Jury von „wahrhaft Sachverständigen"
zu berufen ist und dazu gehört also nicht nur die Kenntniß des commerzi-
ellen Theiles, sondern vor Allem des artistischen. Bei der modernen Thei¬
lung der Arbeit und der Capitalherrschaft giebt es Kunstindustrielle, die sehr
tüchtige Rechner sind, aber der Kunst persönlich ganz fern stehen. Diese
Männer können also nur über die Größe des Schadens urtheilen, während
für die Beurtheilung der Originalität und in wiefern die Copie durch Ver¬
wendung der Kunstformen der alten Zeit berechtigt ist, durchaus den Orna-
mentisten von Fach zu überlassen ist.
Wesentlich ist ferner, daß nicht wie bisher der Zeichner ganz zurücktritt,
wenn er sein Muster verkauft hat, sondern daß er als Autor zur Unter¬
stützung der Rechtsansprüche des Fabrikanten (also des Käufers seines Autor¬
rechtes) herangezogen wird. Ja es ist nothwendig, daß der Zeichner beim
Verkauf eines Musters ehrlich gesteht, ob er bei demselben ein altes Vorbild
benutzt habe (ob ganz oder theilweise), damit der Fabrikant nicht im guten
Glauben ein Original zu besitzen, einen Proceß gegen einen Concurrenten an¬
strengt, der dieselbe Quelle benutzte. — Fabrikanten ersten Ranges, wie z. B.
Phil. Haas u. Söhne in Wien, Zimmermann in Hanau, C. Hochstätter u.
Söhne in Darmstadt :c. nennen bei Ausstellungen und auch beim Verkauf
die Erfinder, während unbedeutendere Fabrikanten sich theils den Nimbus
geben, als seien sie die Erfinder, oder theils fürchten, man schaue ihnen in
die Karten, wenn man ihre Mitarbeiter kenne. Der Zeichner ist also die
Rechtsquelle für den Fabrikanten, der 1« durch Kauf die Rechte des Autors
partiell oder ganz ermorden hat. Wenn dieser Fundamentalsatz nicht aner¬
kannt wird, so helfen alle Auswege und Formalitäten der Registrirung ?c.
sehr wenig und das Gesetz wird nur ein Schutzgesetz für Solche, welche die
Lücken desselben studiren, um straflos zu bleiben. Freilich muß der Rechts¬
begriff im Volke in Bezug auf artistisches Eigenthum geklärt werden. Wer
z. B. ein Bild kauft, hat ohne ausdrückliche Abmachung mit dem Künstler
nicht das Recht der Publikation. Es ist damit wie mit einem Drama.
Ueberläßt es der Autor der einen Bühne, so hat der betreffende Direktor kein
anderes Recht, als mit seiner Truppe das Stück aufzuführen. Das sieht
Jeder ein, aber ganz gegen unsere Gewohnheit und doch ebenso billig und
recht ist der partielle Verkauf eines Werkes der bildenden Kunst ähnlich wie
Kiß in Berlin bei seiner „Amazone" verfuhr. Ich gehe aber in der Nutz¬
anwendung weiter und verlange dasselbe Recht auch für den Ornamentisten.
Dieser entwirft oft Ornamente, die nicht nur für einen, sondern für zehn ver¬
schiedene Fabrikanten, die sich keine Concurrenz machen, von Werth sind.
Z. B. kann ein Fries ebenso gut vom Decorateur gemalt, wie vom Tapeten¬
fabrikanten gedruckt, vom Tischzeugfabrikanten gewebt, vom Glasschleifer ge¬
ätzt, vom Tischler in verschiedenfarbigem Holz ausgeführt, vom Porzellanmaler
gemalt und vom Buchdrucker als Randverzierung rylographirt werden ze. ?e.
In der Regel verwendet der Käufer ein solches Muster nur für seinen be-
gränzten Industriezweig und bezahlt auch dem entsprechend nur den Werth,
den dasselbe für ihn speziell hat. Zugleich verlangt er aber, daß der Zeichner
absolut an Niemanden weiter die Composition verkaufe, ja nicht einmal etwas
Aehnliches bringe. Bezeichnend ist, daß er selbst sich berechtigt hält zu er¬
lauben, daß das von ihm gekaufte Muster in einem anderen Industriezweige
angewandt werde und daß Niemand die Collegen des betreffenden Autors
tadelt, wenn sie die Aufgabe übernehmen, das Muster für andere Industrie¬
zweige auszubeuten. Solche geschickte praktische Dessinateurs, die auf fremden
Fluren Aehren lesen, machen in der Regel das beste Geschäft. Wie will man
nun die von solchen Freibeutern gekauften Muster schätzen, wenn man nicht
die Sicherheit hat, daß der Zeichner in letzter Instanz für die Originalität
einstehen kann. In der Praxis hat sich der in den letzten Jahren von mir
eingeführte partielle Verkauf bestens bewährt und auch die betreffenden Fabri¬
kanten haben sich an dieses Princip gewöhnt, weil sie die Garantie haben,
daß kein concurrirender Fabrikant dasselbe Dessin erhält und daß die Ein¬
führung derselben Richtung und Motive in anderen Industriezweigen die
Berkäuflichkeit ihres Artikels erhöht. Im Uebrigen ist es mehr eine Prin¬
cipionfrage, die ich hiermit betone, da nicht jedes Ornament sich zur umfassen¬
den Einführung in der Industrie eignet.
Die Annahme im Entwürfe der deutschen Künstlergenossenschaft, daß, wenn
kein besonderer Vertrag vorliege, zu schließen sei, daß der Käufer das Ver¬
vielfältigungsrecht für alle Industriezweige erworben habe, ist also falsch. Es
muß umgekehrt lauten: daß anzunehmen ist, daß der Käufer die Rechte nur
für seinen speziellen Industriezweig erworben habe, falls er nicht ausdrücklich
weitergehende Rechte beansprucht hat.
Eine nicht minder wichtige Differenz liegt in der Ansicht vor, daß für
die Kunstwerke an Gebrauchsgegenständen ein fünfjähriger Schutz genüge.
Dieser Schutz genügt absolut nicht, da grade die besseren und wichtigeren Er¬
findungen, die gegen die Tagesmode ankämpfen, oft erst in 5 Jahren gewinn¬
bringend werden. Man lasse sich nicht von der Hastigkeit verleiten, mit der
aus dem Markte die eine Mode die andere ablöst. Was veraltet und werth¬
los ist, wird ja ohnedies nicht nachgeahmt und verlangt also keinen Schutz.
Auch sage man nicht, das Objekt sei zu unbedeutend, um einen Schutz zu ge¬
nießen. Ist der Gegenstand Gemeingut oder zu nichtig in der Erfindung, so
ist es Sache der Jury, die Klage abzuweisen. Wo es sich aber um Orna¬
mente von classischem Werthe handelt, die zwar oft sehr einfach erscheinen,
aber nichts weniger wie leicht zu componiren sind, da hat doch der Ornamen¬
tist dasselbe Recht auf den Schutz wie ein Lyriker oder Romanschreiber. Schützt
man die hohe Kunst und Literatur bis zum 30. Jahre nach dem Tode des
Künstlers, so möge das auch der Industrie und den Kleinkünstlern zu gut
kommen. Oder soll nach zwei Maaßen gemessen werden? Entscheidend kann
doch nur sein, wer verletzt wird, wenn das Recht so lange geschützt ist. Der
Eine legt sein Vermögen, d. h. das Resultat seiner Arbeit in Werthpapieren,
der Andere in Häusern, der dritte in Werken an, die ihm eine Tantieme ein¬
bringen. Soll dieses nun dem Schriftsteller und Musiker und dem Bildhauer
u. f. w. gestattet und garantirt sein und dem Ornamentisten nicht auch? Haben
seine Erfindungen zu großen Werth für die Gesammtindustrie, gut, so erpro-
priirt sie durch einen Ankauf sämmtlicher Rechte, aber sagt nicht, daß die
Industrie gehemmt sei, wenn gewisse Fabrikanten im Stehlen verhindert
seien. —
Der dritte Einwurf gegen die Ansichten der deutschen Kunstgenossenschaft
ist der, daß nicht jede nicht berechtigte Copie an und für sich, sondern nur
die unbefugte gewerbsmäßig betriebene Vervielfältigung strafbar sei.
Eine Copie, die sich Jemand zum eigenen Vergnügen und zur Ausbil¬
dung seiner Fähigkeiten macht, darf nicht strafbar sein, denn das Interesse
des Autors wird dadurch nicht geschädigt und der Trieb der Vervollkommnung
ist durch überflüssige Verbote nicht zu beeinträchtigen.
Sonst schließen wir uns jedoch rückhaltslos der Auffassung der Genossen-
schaft an und betonen, daß sie am reinsten und strengsten die Rechte des
Künstlers gewahrt hat.
Man verstehe uns jedoch nicht falsch, als wären die Rechte des Autors
im Gegensatze zu denen des Fabrikanten gemeint. Wir sind überzeugt,
daß die Rechte beider solidarisch sind und daß es nur ein Umweg war, den
Fabrikanten in den Bordergrund zu stellen, während doch nur durch das
Zurückgehen zu der Rechtsquelle, zum Erfinder, eine vernünftige und breite
Basis für das Gesetz zu finden war.
Auch ist die Frage müssig, wo die hohe Kunst aufhöre und Werke der
Kleinkunst anfangen. Das sind ästethische Fragen, die auf dem Markte kei¬
nen Werth haben. Ein Schrank als Gebrauchsgegenstand kann auf seinen
Thüren auf Holz gemalte Bilder von Markart und die schönsten Reliefs und
Statuetten zeigen und als Schrank doch in die Kleinkunst rangiren. In den
Loggien Raphael's weiß man nicht, wo die Ornamentik als Kleinkunst von
den herrlichen Figuren, die ebenfalls ornamental wirken, zu trennen sind.
Man schütze daher Alles, was wirklich der bildenden Kunst angehört und was
als neue Erfindung von Sachverständigen anerkannt wird.
Ueber das „Wie" sind die Ansichten auch verschieden. Die Einen wollen,
daß Alles registrirt werde, während die Anderen diesen Zwang verwerfen und
zum wenigsten verlangen, daß durch die Nichtregistrirung ein Recht nicht ver¬
loren gehe. Der Mittelweg ist wohl der, daß man es dem Ermessen des
Einzelnen überläßt, sich eine höhere Sicherheit durch die kostspielige Regi-
strirung zu verschaffen.
Weitere Wünsche sind, daß das für Deutschland projektirte Gesetz ähnlich
wie unsere Posteinrichtungen internationale Geltung erlange.
Dieses als Beitrag zu den Berathungen der Enquete mit dem üblichen
und von Herzen kommenden Citate: ViÄcümt vonsulo« «te.
So kurz wie diesmal hat Ihr Berichterstatter selten Gelegenheit, sich
über eine Woche zu fassen.
Am 19. April ging der Entwurf über die Aufhebung der Artikel 16,
16 und 18 durch die dritte Lesung. Das Resultat derselben war die An¬
nahme des Gesetzes mit 275 gegen 90 Stimmen. Die Abstimmung muß
jedoch bekanntlich nach 21 Tagen wiederholt werden, weil es sich um eine
Abänderung der Verfassung handelt. Was nun die dritte Lesung betraf, so
fand eine ausführliche Verhandlung bei derselben zwar statt, die Helden der
Tourniere des Kulturkampfes, Windthorst aus der einen, Wehrenpfennig auf
der andern Seite, brachen die gewohnte Lanze. Aber nach und nach ist es
des Guten, was der Kulturkampf an rednerischen Früchten bringt, so viel ge¬
worden, daß wir davon dem Leser nur noch Präsentiren dürfen, wenn sie
ganz besonders neuer und ungewöhnlicher Art sind.
Die nächsten Sitzungen der Woche waren durch die Einzelberathung des
Gesetzes über die Dotation der Prvvinzial - und Kreisverbände ausgefüllt.
Wir denken jedoch auf die Verhandlung dieses Gesetzes nicht einzugehen. Der
allgemeine Charakter ist bei Einbringung der Vorlagen zur Verwaltungs¬
reform erörtert worden. Die Kämpfe und einzelne Abänderungen haben kein
politisches Interesse. Wir haben unsere Ansicht früher dahin ausgesprochen,
daß diese ganze Dotation uns nicht richtig scheint. Ein allgemeiner Staats¬
fonds zur außerordentlichen und perivdenweisen Unterstützung der Provinzen
wäre uns angemessener erschienen. Im Uebrigen hätten wir die Provinzen
gleich den Orts- und Kreisgemeinden auf die Grund- und Gebäudesteuer als
ihnen ausschließlich zustehende Einnahme mit freiem Besteuerungsrecht ange¬
wiesen zu sehen gewünscht. — Der andere Weg ist nun betreten. Die jetzt
überwiesenen Fonds werden mit der Zeit nicht ausreichen, ob die eine Pro¬
vinz etwas mehr oder weniger bekommen hat, ist überaus gleichgültig. Das
Gesetz ist am 24. April in dritter Lesung angenommen worden.
An demselben Tage begann die zweite Berathung des wichtigen Gesetzes
über die Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden. Da
aber die Berathung noch nicht zu Ende geführt ist, so verschiebe ich die Be¬
Ein noch größerer Mißstand als der bisher geschilderte liegt in der Wir»
kung der Contingentirung der ungedeckten Noten in kritischen Zeiten. Der
Hauptzweck, welchen diese Einrichtung erreichen sollte, war der, die Bank so
sicher zu stellen, daß einestheils ihre Noten ebensoviel Credit genießen, wie
baares Geld, und daß sie andererseits in Zeiten der Krisis und des panischen
Schreckens der Geschäftsleute letzteren allen legitimen Beistand bieten und die
Wirkungen der Krisis mildern könnte. Dieser Zweck ist nicht bloß nicht er¬
reicht, sondern das reine Gegentheil davon bewerkstelligt worden. Früher
brauchten die Geschäftsleute bei drohenden Gefahren doch bloß auf sich selbst
Acht zu sieben und konnten noch hoffen, von der Bank Beistand zu erhalten,
nach der Peel's-Akte aber mußten sie auch noch auf die Bank achten und das
Gebahren, welches ihrer Direktion oft mehr durch ihre Statuten als durch die
Lage der Dinge geboten war, steigerte in der Krisis die Verlegenheit bis zur
Panik statt sie zu lindern. Dies ist in den drei Handelskrisen von 1847,
1857 und 1866 eingetreten und alle drei Male hat die Panik zu einer voll-
ständigen Stockung des Verkehrs geführt, so daß die Bank genöthigt war,
bei der Negierung die Suspension des Gesetzes zu beantragen. Die Regierung
willfahrte dreimal diesem Gesuche unter dem Vorbehalt der von dem Parla¬
ment zu erlangenden Jdemnitität und jedesmal reichte schon dieser bloße Akt
der zeitweisen Aufhebung dieses Gesetzes hin, um das Vertrauen wieder her¬
zustellen und den Verkehr in das regelmäßige Geleise zurückkehren zu machen.
Die Causalität dieser Erscheinung ist nämlich folgende. Der Hauptfehler der
Organisation besteht darin, daß die Bcmkvirektion mehr nach einer mechani¬
schen Bestimmung, als nach ihrem Urtheil der Verhältnisse sich zu richten
hat. Die Verwaltung der Notenabtheilung hat nichts zu thun, als Noten
drucken zu lassen, welche in einer, im Bankgebäude selbst befindlichen Druckerei
angefertigt werden auf mit bestimmten Wasserzeichen befindlichen Papier,
welches in Fabriken gemacht wird, die ebenfalls Eigenthum der Bank find.
Sie hat dann nur ihre Noten, unbeschadet des contingentirten Betrages von
etwas über 14 Millionen Pf. Sterling, an die Bankabtheilung gegen Gold
zu verkaufen und die von letzterer eingelösten Zettel gegen neue auszutauschen,
da die zurückgekehrten Noten nicht wieder ausgegeben, sondern nach einiger
Zeit vernichtet werden. Die Bankabtheilung aber hat hauptsächlich auf ihre
Reserve d. h. ihren Borrath an Noten und baarem Gelde zu sehen und den
Diskontosatz nach dessen Schwankungen zu ändern, ohne die Ursachen dieser
Schwankungen streng untersuchen zu müssen. Die Folge davon ist, daß die
Bankdirektion auch zuweilen gezwungen wird, die Nothmaßregel starker Dis-
contoerhebungen zu gebrauchen, wenn keine ernsthafte Ursache zu einer dau¬
ernden Störung des Gleichgewichtes vorhanden ist, wenn z. B. der Wechsel¬
kurs günstig für England steht. Am meisten aber leidet die Contingentirung
Schiffbruch während einer Handelskrisis, weil die festgesetzte Grenze des unge¬
deckten Notenumlaufs dazu beiträgt, die Besorgnis; der geängstigten Geschäfts¬
leute zu vermehren. Da die Krisis mit dem Augenblick einzutreten Pflegt,
wo die am stärksten engagirten Häuser anfangen, die Zahlung ihrer Wechsel
einzustellen, so wenden sich diejenigen, welche auf den Eingang dieser Wechsel¬
zahlungen gerechnet hatten, zur Aushilfe an die Bank von England. Wenn
aber in Folge von vermehrten Anforderungen die Reserve der Bank zu
schwinden beginnt, so sangen viele an zu fürchten für den Fall, daß sie auch
in entfernterer Zeit durch Protest ihrer Wechsel in der Erfüllung ihrer eige¬
nen Verbindlichkeiten gestört würden, und bei der Bank nicht die nöthige
Unterstützung finden möchten, wenn sie sich nicht bei Zeiten danach umsehen.
Die Folge davon ist, daß bald Jedermann größeren Geld- und Notenvorrath
als sonst bei sich für Nothfälle aufbewahrt und daß mehr Creditbegehren als
sonst an die Bank gestellt werden, weil der Umfang der umlaufenden Zah¬
lungsmittel sich faktisch verringert hat. Die beste Eigenschaft einer Zettel¬
bank, welche sie in Stand setzt, den Umlaufsmitteln eben für solche Aus¬
nahmsfälle eine gewisse Elasticität zu verleihen, wird durch die Peel's-Akte
aufgehoben. Dadurch, daß Jedermann in den Wocheuausweisen der Bank
den Augenblick herannahen sieht, wo ihre Reserve zu Ende ist, wird eben die
Panik erst hervorgerufen, gegen welche eine gute Bank eigentlich Schutz ge¬
währen soll. Wenn die Verkehrtheit dieser gesetzlichen Bestimmung nicht schon
durch die Ironie der Geschichte erwiesen wäre, welche zu dreimaliger Sus¬
pension gerade in solchen Momenten zwang, wo sie sich als Hilfsmittel hätte
bewähren sollen, so würde sie aus dem Umstände erhellen, daß gerade in den
gefährlichsten Augenblicken der Stand des Baarvorrathes und der Depositen
ein durchaus befriedigender war. In der Krisis von 1866, wo die Noten¬
reserve bis 730,830 Pf. Sterling herabgesunken und der Discontosatz auf
10 Prozent erhöht worden war, erreichte die Baarschaft eine ihrer höchsten
Ziffern von 12,323,803 Pf. Sterling. Kann es etwas widersinnigeres geben
als den Vorrath eines Baarschatzes von 123 Millionen Gulden zu einer Zeit
müssig liegen lassen zu müssen, wo sogar reichen Leuten an manchen Tagen
die Umlaufsmittel fehlen, um die nöthigen Lebensmittel baar zu bezahlen.
Vergleicht man damit die Ausweise der anderen europäischen Banken von
gleichem Datum oder aus ähnlichen Perioden der Krisis von 1873, wozu uns
hier der Raum gebricht, so würde man vergeblich nach einer gleichen Anomalie
suchen. Daraus ergiebt sich eben mit voller Gewißheit, daß die ungeheure
Erschütterung der Bank von England in Zeiten der Krisis einzig und allein
Folge ihrer fehlerhaften Organisation und der Einführung der Contingen-
tirung der ungedeckten Noten durch das Bankgesetz von 1844 ist.
Es würde uns zu weit führen, wollten wir den ganzen Verlauf der Wir¬
kungen des Bankgesetzes von 1844 in allen Nuancen verfolgen. Die aufge¬
führten Hauptzüge sollten allein hinreichen, um die Unzweckmäßigkeit der Fest¬
setzung einer Maximalgrenze des ungedeckten Notenumlaufes in Ländern der
ungeschmälerten Baarzahlung zu erweisen.
Wir haben schließlich noch einer außerhalb des gewöhnlichen Geschäfts¬
kreises der Zettelbanken liegenden Aufgabe zu gedenken, — der unentgeldltchen
Besorgung der Kassengeschäfte des Staates, Diese Pflicht ist bis jetzt der
Bank von England, der Bank von Frankreich, der belgischen Nationalbank
und in dem neuen deutschen Bankgesetze auch der künftigen deutschen Reichs¬
bank auferlegt. Der öffentliche Nutzen dieser Einrichtung besteht darin, daß
dem Staate und seinen Beamten eine kostspielige Last") und ein Theil ihrer
Verantwortlichkeit abgenommen wird, ohne daß der Bank eine entsprechende
Last aufgebürdet würde. Denn die Einkassirungen und Aufzählungen für
Rechnung der Staatskasse lassen sich so leicht in die eigenen Kassengeschäfte
der Bank einschieben, daß deren Verwaltungskosten nicht wesentlich vermehrt,
der Mehrbetrag jedenfalls reichlich durch die Vortheile aufgewogen werden,
welche die Bank von der Stärkung ihres Kassenbestandes durch die Regie-
rungs-Depositen genießt. Der allgemeinen Volkswirthschaft entsteht daraus
der Nutzen, daß die ohne diese Einrichtung oft bis zu großen Summen lange
Zeit müssig in den Staatskassen lagernden Gelder der Circulation früher als
jetzt zurückgegeben werden, und daß sonach der Geldumlauf befruchtender auf
die Produktion wirkt.
Diese Einrichtung ist daher gleichzeitig ein weiterer Beleg für die Zweck¬
mäßigkeit der Centralisation der Notenbank-Einrichtung.
Wir müssen noch einen Blick auf die Verwendung des Neingewinnes der
Zettel-Banken werfen. Bis vor Kurzem war es der Brauch, daß der Rein¬
gewinn der Zettelbanken nur an die Eigenthümer derselben bezw. des Stamm¬
kapitales vertheilt wurde.
Zwar war mit größerer oder geringerer theoretischer Klarheit in den
maßgebenden Kreisen die Ueberzeugung verbreitet, daß die umlaufenden un¬
gedeckten Noten einen unverzinslichen Vorschuß des Publikums an die Emis¬
sionsbank repräsentiren und daß die betreffende Bank dem Publikum bezw.
dem dasselbe repräsentirenden Staate eine Gegenleistung für diesen Dienst
schuldig sei. Die großen Banken hatten indessen diese Gegenleistung in der
Regel bereits in Gestalt eines verzinslichen oder unverzinslichen Darlehens
an den Staat vollzogen. So betragen die. Darlehen der Bank von England
an den Staat 11 Millionen Pf. Sterling, die der Bank von Frankreich außer
dem vorübergehenden Vorschuß in Folge des Krieges, welcher gegenwärtig
noch 827 Millionen Franken beträgt, 182 >/z Millionen, die der österreichischen
Nationalbank 80 Millionen Gulden. Erst in den Statuten der belgischen
Nationalbank wurde prinzipiell die Verpflichtung dieser Anstalt ausgesprochen,
einen Theil ihres Neingewinnes in die Staatskasse abzuführen. Der Staat
erhält allen Reingewinn, welcher aus dem Zinssatz über 5 Prozent entspringt,
er erhält ferner '/z Prozent derjenigen Zinsen, welche aus der Summe ge¬
wonnen werden, um die der durchschnittliche Notenumlauf 275 Millionen
Franken übersteigt und endlich erhält er überdieß ein Viertel des Ueberschusses
des Reingewinnes über sechs Prozent. Einen noch größeren Nutzen hat der
preußische Staat aus der preußischen Bank gezogen, indem er der Miteigen-
thümer war. Der Antheil der Aktionäre am Stammkapital betrug zuletzt
20 Millionen Thaler, der des Staates 2 Millionen. Der Staat bezog außer
einigen anderen Vortheilen die Hälfte des Reingewinnes, welcher letztere in
dem ausnahmsweise günstigen Jahre 1873 gegen 7 Millionen Thaler betrug,
so daß die Aktionäre aus der Hälfte desselben immer noch eine Dividende
von 20 Prozent erhielten. Auch in gewöhnlichen Jahren erreichte die Divi¬
dende 10 bis 12 Prozent. Die Dividende der Aktionäre der Bank von Eng¬
land in dem ungewöhnlich schlechten Betriebsjahre 1874 betrug 9 Prozent.
Die Bank von Frankreich vertheilte für das Jahr 1873 an ihre Aktionäre
gar den enormen Gewinnantheil von 36 Prozent. Unter solchen Umständen
finden wir es vollkommen in der Ordnung, daß in dem deutschen Neichs-
bankgesetze bestimmt wurde, daß die ganz auf Aktienkapital begründete Neichs-
bank doch den Ueberschuß ihres Neingewinnes über 4^/2 Prozent Zinses des
Grundkapitals nach Dotirung des Reservefonds mit 20 Prozent des übrig¬
bleibenden Reingewinns, den Rest zuerst zur Hälfte und sobald die Gesammt-
dividende der Aktionäre 8 Prozent übersteigt, zu drei Viertheilen an die Reichs-
kasse abführen muß.
Durch einen solchen prinzipiell berechtigten Gewinnantheil des Staates
werden die ausncchmsweisen Vortheile, welche eine Zettelbank durch die un¬
verzinslichen Vorschüsse des Publikums genießt, annähernd aufgewogen. Es
kann diese Einrichtung daher nur als eine vollkommen zweckmäßige aner¬
kannt werden.
In Ur. 13 der Grenzboten findet sich eine Correspondenz „Aus Schwaben",
welche unter Anderm auch meine Person erwähnt und die mich zu folgender
Berichtigung, um deren Aufnahme ich Sie ersuche, veranlaßt.
"
Ihr Correspondent sagt, ich habe „seiner Zeit auf einer „Katholikenver¬
sammlung" einen Toast ausgebracht „auf den bedrängten Greis im Vatikan".
Es verhält sich damit folgendermaßen. Die Zeit, auf die sehr viel ankommt,
war der 13. September 1871, vor Ausbruch des Deutsch-Römischen Consules.
Die Katholikenversammlung war ein zu Ehren des Landesbischofs, der in
Stuttgart gefirmt hatte, auf dem »bereu Museum daselbst stattgehabtes
Mittagessens an dem ich, nachdem zwei meiner Kinder gefirmt worden, theil¬
zunehmen für passend fand. Als ich im Speisesaal erschien, wurde mir ein
Platz zur Rechten des Herrn Bischofs angewiesen und mitgetheilt, daß drei
Toaste ausgebracht werden sollen: der erste von dem Vertreter des katholischen
Kirchenraths auf den Bischof, der zweite vom Bischof auf Seine Majestät
den König, der dritte auf den Papst; diesen letzteren auszubringen wurde ich
ersucht. Ich sprach den Wunsch aus, keinen Toast ausbringen zu dürfen und
bezeichnete als geeignet dazu zwei anwesende Landtagsabgeordnete. Da indeß
diese Herren Umstände machten, brachte ich den dritten Toast aus. Das „Deutsche
Volksblatt" hat darüber in seiner Nummer vom 15. September 1871 Folgen¬
des berichtet: „Der Herr Minister v. M. toastirte auf S. Hlgkt. Papst Pius lX..
der während seiner Regierung schon vieles und schweres erfahren, aber
nicht müde werde in seinem heiligen Amt, an dessen Tugenden Niemand
zweifle." — Gelegentlich bemerke ich, daß, wie öffentliche Blätter mittheilten,
geraume Zeit später in Bayern der Minister v. Lutz auf den Papst einen
officiellen Toast auszubringen gleichfalls keinen Anstand genommen hat.
Die Behauptung der Correspondenz, ich habe das Einführungsgesetz zum
Neichsgesetz über die Civilehe dem Bischof zur Cognition und Genehmigung
vorgelegt, ist durchaus unwahr. Von mir wurde der Gesetzentwurf nur den
unbeteiligten Ministerien des Innern und des Kirchen- und Schulwesens
mitgetheilt.
Ob mich, wie Ihr Correspondent sagt, „alle Katholiken" zu den Stützen
ihrer Partei rechnen, weiß ich nicht; ich kenne insbesondere die klerikale Presse
zu wenig. Von der Bonner „Deutschen Reichszeitung", die nach der Behaup¬
tung Ihres Correspondenten mich als einen Ultramontanen reklamirt und ihren
katholischen Lesern im Gegensatz zu den Bayrischen Ministern Fäustle und
Lutz als gut „römisch katholischen" Mann vorgestellt, auch mit siegestrunkener
Freude auf die Zustände im Departement des Auswärtigen hingewiesen haben
soll, habe ich mir mit vieler Mühe die in der „Neuen Frankfurter Presse",
welche Ihre Correspondenz in condensirter Form vorausbrachte, citirte Num¬
mer 111 vom 23. April 1874 verschafft.
Sie enthält folgende Stelle: „Ein in Berlin bei Kortkampf erschienener
Almanach giebt Notizen über das religiöse Glaubensbekenntniß auch in Be¬
treff der Mitglieder des Bundesraths. Von den Württembergischen sind zwei
katholisch, der Staatsminister von M. und der Gesandte in Berlin, Freiherr
v. Spitzenberg; ersterer bezeichnete sich sogar als römisch-katholisch, eine Be¬
zeichnung, die wohl gleichbedeutend zu nehmen ist mit ultramontan."
Ueber diesen Schluß habe ich kein Wort zu verlieren, bemerke indessen,
daß das von Kortkampf mir zugeschickte und von mir ausgefüllte Formular
die Ausdrücke enthält: „Religion: Evangelisch, Reformirt, Römischkatholisch,
Altkatholisch. Jsraelit."
Von den Zuständen im auswärtigen Ministerium enthält die angeführte
Nummer der Reichszeitung nichts. Es ist übrigens richtig, daß von vier
Württembergischen Gesandten zwei Katholiken und daß von dem Personal
des Ministeriums ein Ministenalassessor, der zugleich Kanzleidirektor, und ein
Erpeditor katholisch sind. Ebenso gewiß aber, wenn auch von Ihrem Corre¬
spondenten nicht mittheilenswerth erachtet, ist. daß ich bei Uebernahme des
Ministeriums im August 1873 diese 4 Beamten auf ihren dermaligen Stellen
vorgefunden habe. Nur eine von Ihrem Correspondenten gleichfalls ignorirte
Aenderung habe ich veranlaßt. Von 2 vortragenden Räthen ist der katho¬
lische aus dem Ministerium ausgeschieden, der protestantische geblieben und
zum Ministerial-Direktor befördert worden. Daß der Ministerial> Direktor
und nicht, wie Ihr Correspondent meint, der Kanzlei-Direktor der dem
Minister nächststehende Beamte ist, versteht sich von selbst.
Was ist seu den lische Reform? Ein Wort an die deutsche Studenten¬
schaft von C. F. Herfurth. Jena, E. Fromman 1873. — „Ich habe noch
nie einen so altklugen Fuchs gesehen," sagte einst vertraulich einer der bekann¬
testen Historiker unsrer Zeit von dem Sprecher, der ihm im Namen der Stu¬
dentenschaft eine begeisterte Rede gehalten hatte. In fünf Minuten hatte der
jugendliche Weise über die höchsten Interessen der Menschheit, seiner Hoch¬
schule, die Verdienste des obbemeldeten Professors insbesondere und noch einiges
Andere mit ebenso großer Zuversicht als Unbefangenheit gesprochen. Kaum
mit anderem Urtheil wird man sich von dieser Broschüre von 70 Seiten
nebst Vorrede von 4 Seiten trennen können, welche der studentischen Reform-
Verbindung zu Jena „in alter Treue" vom Verfasser gewidmet sind. Zum
Auswendiglernen für Commersreden mag dieser Phrasenschwall in diesen
Kreisen von einigem Werth sein. Ein nüchterner kritischer Kopf wird ihn
absolut unverdaulich und werthlos finden. Wenn Jemand heute im deut¬
schen Reiche die Frage aufwirft: was ist studentische Reform? so giebt es
nur eine Antwort darauf: Die Begründung und Vollendung nationaler
Charakterbildung unter den Studirenden. Das Mittel zu diesem Zwecke kann
aber nur sein die Belehrung der Studirenden über die Vergangenheit, die
Gegenwart und die Aufgaben der Zukunft unseres Volkes. Dadurch allein ist feste
reichstreue Gesinnung' und patriotische Thatkraft im künftigen praktischen
Leben zu erzielen. Diese Art von Charakterbildung weist der'Verfasser weit
von sich. Er hält unter Umständen seine Vereinigung auch Ultramontanen und
andern Reichsseinden offen! Ein solcher Reformer denkt zweifellos zu naiv,
um für einen Mann und namentlich für einen deutschen Mann gehalten
werden zu können.
Im Artikel- „Die Stellung der Privatdocenten" muß es auf der ersten Seite, Z. <! v. o.
heißen - Einrichtung in ihrem statt- Richtung.
Durch Zufall, meinen guten Freund, gerieth mir dieser Tage die Nummer
eines Blattes in die Hand, welches sich „Herz und Hand" nannte und sich
unter diesem Titel als „Offizielles Organ für die Interessen des Unabhängigen
Ordens der Ott Fellows" bezeichnete. Es war „Berlin, den 18. April"
datirt und hatte nach einer Notiz oben in der linken Ecke bereits den vierten
Jahrgang erlebt. Im Uebrigen war es für mich ein Buch mit sieben Siegeln,
Hieroglyphe, Keilschrift, obwohl in der Sprache meiner Mutter geschrieben
und mit bekannten lateinischen Lettern gedruckt, ungefähr denselben Lettern,
die uns auf der Schule den Genuß des „Goldner Esels" von Apulejus ver¬
mittelten. Da ich nun ein Liebhaber geheimer Dinge bin, mich gern mit
Aufhellung von Dunkelheiten befasse und gerade nichts Besseres zu thun wußte,
so beschloß ich, mich an die Enträthselung der Sache zu machen und das Er¬
gebniß meiner Arbeit, wenn es sich der Mühe verlohnte, den Lesern der „Grünen
Blätter" mitzutheilen.
Die Entzifferung gelang nach Ueberwindung einiger Schwierigkeiten. Ob
das Ergebniß die Mühe bezahlte, möge löbliche Redaction bestimmen. Mir
scheint es fast so. Jedenfalls werden die Leser eine vergnügte Stunde davon haben.
Zunächst ohne andere Hülfsmittel, mußte ich mich bei der Lüftung des
Schleiers an das Blatt selbst halten. Ich wendete es um und um, fand
aber anfangs nur Räthsel und wieder Räthsel. Ueber dem Titel sah mich ein
strahlenumgebnes Auge an, von dem ich nicht recht wußte, ob es mir wohl
wollte, oder ob es verdrießlich über den neugierigen Eindringling in die Region
war, die unter ihm dämmerte. Selbst wohlwollender Natur, nahm ich an,
es sei auch von dieser Gesinnung, und siehe, jetzt lächelte das Auge. Das
war ermuthigend, und ich stieg getrost weiter in die Tiefe. Unter dem Auge
standen, durch Kettenglieder mit einander verbunden, die Buchstaben I. O. O. F.
Unter diesen wieder befand sich eine Hand, welche dem Leser ihre innere Fläche
zukehrte, die fünf Finger nach oben streckte und dem Strahlenauge eine Zwie¬
bel oder ein Herz darzubieten schien. Da das Auge nicht weinte, was in
solcher Nähe einer Zwiebel der Fall zu sein pflegt, sondern zu lächeln fort¬
fuhr, so mußte es ein Herz sein sollen. Noch weiter unten fand sich, während
die Buchstaben und die Hand mit dem Herzen vorerst dunkel blieben, in jenen
Worten „Officielles Organ für die Interessen des Unabhängigen Ordens der
Ott Fellows" mehr Licht. Doch ließ dasselbe immer noch Raum zu allerlei
Vermuthungen, die sich in der Folge nicht bestätigten.
Ein Orden? Ein unabhängiger Orden? Ott Fellows? Fangen wir,
sagte ich mir, die Entzifferung von hinten an. Ott Fellows heißt: Selt¬
same Kameraden — wunderliche Käuze — unter Umständen auch närrische
Kerle. Von wem werden Leute, die sich so nennen, zunächst und vor Allem
unabhängig sein wollen? fragte ich mich. Doch wohl von der gesunden Ver¬
nunft, antwortete es, und jetzt meinte ich den Charakter des Ordens heraus
zu haben. Er wurde offenbar von dem Prinzen verliehen, der in Cöln und
Leipzig während des Carnevals regiert, er war eine Genossenschaft lustiger
Narren, Spaßvogel und Hanswurste.
Aber fehl geschossen. Schon der Umstand, daß das Blatt nicht aus der
Faschingswoche und auch nicht vom ersten April, diesem letzten Tag im Jahre,
wo sich die Narren tummeln, stammte, sondern vom fünfzehnten datirt war,
mußte den Vorsichtigen in der Meinung irre machen, daß er sich mit jener
Deutung auf der richtigen Fährte befinde, und die weitere Besichtigung meiner
Hieroglyphen ergab denn auch, daß die Ott Fellows eine Gesellschaft waren,
die wenigstens für ernsthaft gehalten sein wollte.
Ich begegnete unter diesen Hieroglyphen zunächst einer „officiellen Be¬
kanntmachung aus dem Bureau des Groß-Sire Hondo. Gr. L. D. N., die
an die Würd. O. M.. respect. Haupt-Patr., Beamten und Brüder sämmt¬
licher Untergeb. Körperschaften innerhalb der Jurisdiction der Großloge
des Deutschen Reichs I. O. O. F." gerichtet war und zur Unterstützung der
durch Heuschreckenplage geschädigten Brüder im Staate Kansas aufforderte.
Das war vielleicht in seiner Form ein wenig närrisch, seinem Inhalt nach
aber gewiß recht vernünftig. Und das Letztere galt von dem Spruche, der
dem beigedrucktem großen Siegel als Umschrift diente und folgendermaßen
lauteten „Wir gebieten Euch, die Kranken zu besuchen, den Bedrängten zu
helfen, die Todten zu bestatten und die Waisen zu erziehen." Räthselhaft
und ein wenig närrisch schienen auf den ersten Blick wieder die Embleme des
Siegels: ein Frauenzimmer, das sich mit dem linken Arm auf einen Schild
mit dem deutschen Reichsadler lehnte und mit der rechten Hand ein blankes
Schwert in einen Bienenkorb stieß, und über dem von einem Auge und drei
Sternen herab ein Vogel mit ausgebreiteten Fittigen auf ein Ding sich senkte,
das einer in der Luft schwebenden doppelten Bretzel glich. Eine Unterschrift
gab indeß Auskunft, daß die Dame mit dem Wappen und dem Bienenkorbe
die Großloge des Deutschen Reiches der oder des U. O. S. B. (I. O. O. F)
war. Der Vogel war bei näherem Zusehen der Adler der Vereinigten Staaten,
die Bretzel eine Kette, und um die Leser nicht zu lange in peinlichen Halb¬
licht zu lassen, gebe ich hier gleich auch die Lösung des Rebus, der in den
zuletzt .angeführten Buchstaben lag. Sie bedeuten, wie ich später entdeckte:
„Unabhängiger Orden der Sonderbaren Brüder (InÄexvnävnt Orcler c>k
Ociä I^llovs)."
Damit war mir immer noch nicht viel geholfen. Indeß war es doch
etwas, und der fernere Inhalt des Blattes half weiter. Ich ersah daraus,
daß der Orden am 28. April sein sechsundfünfzigjähriges Stiftungsfest feierte,
und daß er sehr verbreitet war; denn:
„Eine Million Menschen in drei Welttheilen rüstet sich, diesen Tag in
würdiger Festesfreude zu begehen, an welchem der Grundstein zu jenem er¬
habenen Tempel gelegt wurde, auf dessen Altären die hehren Flammen wahrer
reiner Menschenliebe genährt werden. Eine feierliche Stimmung bemächtigt
sich beim Herannahen dieses Tages eines jeden Mitgliedes des Ordens, und
höher schwillt ihm die Brust in dem Bewußtsein, ein Glied in jener Kette
zu sein, welche einst alle Völker der Erde durch die Grundsätze des Wohl¬
wollens in Freundschaft, Liebe und Wahrheit vereinigen wird. Höher müssen
seine Empfindungen, sein Selbstvertrauen und dadurch seine Fähigkeiten und
Kräfte steigen bei dem Gedanken, daß es keine Institution auf der weiten Erde
giebt, die so dem Cultur-Fortschritt huldigt, ja die diesen selbst herbeiführt."
So las ich, staunte und schämte mich, eine solche Vereinigung auch nur einen
Augenblick für frivole, profane Narren, gewissermaßen für Vettern der seligen
Feuerrüpel-Brigade in Leipzig gehalten zu haben. Besonders die letzten Worte,
„daß es keine Institution auf der weiten Erde giebt" u. f. w. imponirten
mir, zumal sie groß gedruckt waren. Auch die „Million Menschen in drei
Welttheilen" wirkte mächtig. Gut und schön klang endlich das vom „erhabnen
Tempel" und den „hehren Flammen". Nach der Scham gewann auch in
mir „feierliche Stimmung" die Oberhand, diese gipfelte in Verzückung, und in
dieser wieder hatte ich eine Vision, in der ich nichts als schwellende Brüste
sah. Der Saulus war zum Paulus geworden.
Nach einiger Zeit erwacht, las ich den zweiten Aufsatz, eine kleine Ab¬
handlung über die Selbstsucht, die so tiefsinnig über allerdings schon einiger¬
maßen bekannte Dinge sprach, daß ich, an gewöhnliche Logik und landläufige
Psychologie und Ethik gewöhnt, bisweilen den Sinn nicht zu ergründen ver¬
mochte und mit Mühe der Versuchung mich erwehrte, in die alte Sünde
zurückzufallen und Ott Fellows von Neuem mit .Närrische Kerle" zu über-
setzen. Eine Probe wird mich entschuldigen.
„Gar vielen Menschen", so lehrt uns der Verfasser gegen den Schluß
hin, „ist der Hang zur Leidenschaft sowie der Drang zur Selbstsucht ange.
boren; die Natur hat sie dafür mit Edelsinn stiefmütterlich ausgestattet; ihnen
liegt die Gefahr besonders nahe, in ihrer Selbstliebe auszuarten und schonungs¬
los gegen andere zu handeln; um so mehr müssen sich solche Naturen des
Edelsinns befleißigen, selbst wenn ihr Gefühl fern vom Wohlthun, fern von
Liebe bleibt, mögen sie sich wenn auch nur mechanisch daran gewöhnen,
Menschenpflichten den Nächsten gegenüber zu üben. Diese mechanische Uebung
wird immer noch besser sein als gar keine und wird vor gänzlicher Erstarrung
in kaltem Egoismus schützen, ja sogar oft einen Rückschlag auf das Herz
machen und, wenn nicht mehr, wenigstens einen Himmel voller Seligkeit, der
im Herzen wohnen könnte, ahnen lassen. Unser geliebter Orden aber bietet
in seinen Logen einem jeden Bruder die Stätte und die Gelegenheit, sein Herz
im Gutesthun, im Edelsinn zu üben" u. s. w.
Wenn es dießmal ein anderes Erstaunen war, als das, welches sich
meiner beim Durchlesen des ersten Artikels bemächtigt hatte, so erholte ich
mich auch davon genügend, um das Blatt weiter studiren zu können. Ich
begegnete Logen-Nachrichten, aus denen hervorging, daß der Orden in Berlin
mehrere Logen hatte, daß Dresden, Mannheim und Ulm ebenfalls mit solchen
Instituten gesegnet waren, daß manche Brüder titelsüchtig sein müssen und
sich selbst auf Briefadressen gern die Ehre ihrer Würde im Orden geben lassen
und daß die Ott Fellows sich in Berlin bei Gelegenheit eines Tempelhaus
gezankt haben und jetzt denunciren, wobei ich mich fragte, ob dieß vielleicht
in Erinnerung an obigen „erhabenen Tempel" geschehen sei, „auf dessen Al¬
tären die hehren Flammen wahrer reiner Menschenliebe genährt werden."
Ferner fand ich eine Mittheilung, nach welcher man den Orden in Oesterreich
nicht haben zu wollen scheint, einen Ausfall auf die „Gartenlaube", die den Ott
Fellows durch einen Artikel nicht gerecht geworden sein sollte, den schaden¬
frohen Abdruck eines Aufsatzes in der „Bauhütte", der den Freimaurern der
Großloge „Zu den drei Weltkugeln" den Text laß. weil sie keine Juden unter
sich dulden mögen, und sie dafür mit dem Titel ..Maurerische Dunkelmänner"
züchtigte, eine Darstellung des Rituals der Patriotic Ott Fellows, aus dem
ich zum Schluß einen Auszug geben werde, verschiedene Notizen über Reisen
des „Ex-Groß Stre F. S. Ostheim" und des „hochwürdigsten Groß-Sire
Br. Bernheim", Logengründungen, Ordenszeitschriften u. tgi. und zum Schluß
eine Tabelle, welche die regelmäßigen Sitzungen sämmtlicher dermalen in Deutsch¬
land und der Schweiz bestehenden Ott Fellowlogen enthielt.
Ich hatte jetzt genug Material, um im Großen und Ganzen zu wissen,
was der Kern meines Geheimnisses war. Die Ott Fellows — so sagte ich
mir etwas verstimmt — sind ein Abklatsch der Freimaurerei mit einigen
Veränderungen, Weglassungen und Zuthaten, die aber keine Verbesserung ein¬
zuschließen scheinen. Ich hätte vielleicht weitere Erkundigungen unterlassen
können. Indeß, wißbegierig, wie ich nun einmal in solchen Dingen bin, war
ich gerade im Zuge, und so mußte ich möglichst viel von meinen wunderlichen
Freunden erfahren, selbst auf die jetzt freilich große Gefahr hin, nichts Ge¬
scheites an ihnen zu finden. Zudem verbot die Gewissenhaftigkeit ein vor¬
schnelles Urtheil über eine Gesellschaft von dem Selbstgefühl, wie es sich in
dem Aussatz über das Stiftungsfest des Ordens geäußert hatte, und, so zwi¬
schen Abneigung und Antrieb schwankend, steckte ich. wie ich das bei solchen
Gelegenheiten zu halten Pflege, meinen Federhalter aufs Gerathewohl in die
Bibel und beschloß, zu thun, was der Vers rathen würde, auf den die Spitze
wiese. Ich hatte das Buch Jesus Sirach getroffen, und die Spitze des Feder¬
halters wies auf die Stelle im 9. Kapitel: „Erlerne mit allem Fleiß deinen
Nächsten, und wo du Rath bedarfst, so such's bei weisen Leuten." Infolge
dieses Orakelspruchs suchte ich mit allem Fleiß weiter, fand in Herrn Sieg¬
bert Pniower's Schrift „Der Ott Fellow, ein Verwandter des Frei¬
maurers"*) einen Mann, der in Beziehung auf meinen Zweck entschieden
zu den weisen Leuten gehören mußte, da er seinem Opus das lobende Zeugniß
eines hochwürdigen Großmeisters Vordrucken zu dürfen die Ehre hatte, und
meine nun, nach Verdauung dieser Mittheilungen, meinen Nächsten, soweit er
auf den Namen Ott Fellow hört, hinreichend „erlernt" zu haben.
Näher bei Lichte betrachtet, war zwar Herr Pniower nicht so recht eigent¬
lich, was die profane Welt unter einem Weisen versteht. Er urtheilte bisweilen
mehr mit Eifer, als mit Verstand, er leistete Ungewöhnliches im Fache der
unhistorischen Behauptungen, er verquickte die Auszüge aus Gross' „Verbesser¬
tem Handbuch," aus denen die Essenz seines Werkchens in der Hauptsache
besteht, mit allerhand polemischen Excursen, die meist schwächlich, oft platt
waren. Er stand mit der Logik und Grammatik nicht auf dem freundschaft¬
lichen Fuße, auf dem ein Historiker des Ordens, der drei Welttheile umspannt,
mit diesen Damen doch am Ende stehen sollte, er war, um es kurz zu sagen,
im eminenten Sinne ein — Ott Fellow. Aber mit einiger Vorsicht war er
zu brauchen. Man macht's mit dieser Gattung weiser Leute wie die Schlange
mit dem aus Gold und andrer Zuthat zusammengeflossenen König im Goethe-
scher Märchen, gewinnt das Gold und läßt den übrigen Kram auf sich be¬
ruhen, unbekümmert darum, ob er dann zusammenfällt und einen unerfreu¬
lichen Anblick bietet.
Die Ott Fellows des Deutschen Reichs übersetzen ihren Namen, wie .wir
sahen, mit „Sonderbare Brüder". Ich glaube, bei meinen „Närrischen
Kerlen" stehen bleiben zu dürfen, womit ich natürlich die harmlose Bedeutung
im Auge habe, welche diese Wortverbindung im deutschen Volksmunde hat,
wie Ott Fellows im englischen. Dieser wird sie kopfschüttelnd so getauft, die
Brüderschaft wird den Namen adoptirt haben, vielleicht wie, um Ernstes mit
Komischen zu'vergleichen. die Geusen den ihnen von den Gegnern angehangenen,
vielleicht auch in lachender Selbsterkenntniß, und wenn die Leser mit diesem
Bericht zu Ende sind, werden sie vermuthlich jenem Volksmund der profanen
Welt Englands Recht geben und meine Uebertragung, auch wenn es ihr ein
klein wenig an Höflichkeit gebrechen sollte, sich aneignen. Und zwar mit
einem Ausrufungszeichen, was dann so aussehen würde: „Närrische Kerle!"
Ueber die Entstehung und die Urgeschichte der Ott Fellowship ist man,
wie über die Anfänge der meisten Geheimbünde, noch nicht völlig im Klaren.
Die Brüder selbst scheinen eine Zeit lang den Ursprung ihres Ordens in das
höchste Alterthum verlegt zu haben, und die englischen Logen huldigen dieser
Meinung zum Theil wohl noch heute. Sehr anspruchsvolle und sehr gründ¬
liche Geister unter ihnen lebten der Ueberzeugung, daß niemand Geringeres
oder Jüngeres ihr Stifter gewesen als Vater Adam, wobei sie nur darüber
noch im Zweifel gewesen sein sollen, ob die Stiftung vor oder nach dem
Apfelbiß stattgefunden habe. Bescheidenere, aber immer noch recht gründliche
Seelen suchten die Wurzeln ihrer Gesellschaft unter den Juden, die ihre Harfen
an die Weiden bet den Wassern von Babylon hingen, und fanden sie auch,
wie das zu gehen pflegt, wenn man etwas finden will und Augen für eine Sache
hat. Noch Anspruchslosere waren zufrieden, zu wissen, daß der Orden der
„Närrischen Kerle" im Jahre 63 n- Chr. unter den Soldaten einer christlichen
Legion entstanden, daß er zweiunddreißtg Jahre nachher vom Kaiser Titus
durch Verleihung einer goldnen Tafel mit allerhand Symbolen anerkannt, und
daß er kurze Zeit darauf nach Britannien verpflanzt worden sei.
Hier hätten wir wenigstens bestimmte Zahlen. Auch der christliche Ur-
sprung gefällt mir ganz wohl und die goldne Tafel nicht minder. Gleichwohl
muß ich Bedenken tragen, mich dieser Ansicht anzuschließen, und zwar vor¬
züglich deshalb, weil, wie Herr Pniower uns nach Gross berichtet, die Ober¬
behörde des Hauptzweiges der Ott Fellows selbst nichts mehr von ihr wissen
will. Die Großlvge des Ordens für die Vereinigten Staaten nämlich hat
sowohl die Adamsmythe, für die vielleicht die Feigenblätterschürze*) anzuführen
war, als die Lehre von der Gründung der Gesellschaft durch trauernde Juden
Babels, für welche der Umstand, daß die Ott Fellows auch Jsraeliten ihre
Pforten öffnen, sprechen konnte, und gleichermaßen die Legionstheorie mit
dem goldnen Patent des Kaisers Titus „nach wiederholten Aufforderungen
zu urkundlichen Beweisen als unbegründet und gänzlich ungereimt verworfen".
Wiederholte Aufforderungen — das klingt gewissenhaft. Urkundliche
Beweise — es geht nichts über die Gründlichkeit. Gänzlich ungereimt —
wie entschieden, wie streng, fast hart gegen den Irrthum von Freunden! Das
erfreut, und beinahe möchte ich noch einmal für einen Augenblick bereuen, die
Herren „Närrische Kerle" genannt zu haben, und lieber sagen: „Sonder¬
bare Brüder!"
Roma, loeuw est, und so begeben wir uns — zögernd; denn die Mythe
ist poetischer als die Geschichte — gehorsam auf das Gebiet der Thatsachen.
Auch hier ist es anfangs noch dunkel genug um unsere Quellen herum.
Nach Pniöwer-Gross werden Ott Fellows zuerst von de Foe. dem Verfasser
des Robinson Crusoe, erwähnt, und der Orden könnte somit schon zu Anfang
des vorigen Jahrhunderts bestanden haben. Einen sicherern Anhalt finden wir
in dem „Gentlemans Magazine" für 1745, wo von der Loge der Ott Fellows
als von einem Orte die Rede ist, an dem man sich recht gemüthlich befinde.
Noch bestimmter weist auf das Vorhandensein einer Ott Fellow-Loge der Um¬
stand hin, daß der Dichter Montgommery 1788 für eine Gesellschaft in Lon¬
don ein Lied schrieb. welches in seinen Anfangsworten das Motto: „IrutK,
^rienäsnip, I^ope" enthielt, das noch jetzt die Parole des Ordens in England
und Amerika bildet.
Die Mitglieder des Ordens gehörten damals den unteren Volksschichten
an: sie waren Arbeiter und kleine Handwerker. Zweck ihrer Vereinigung war,
wie es scheint, im Wesentlichen gegenseitige Unterstützung, namentlich in
Krankheiten, bei Begräbnissen und bei der Versorgung von Wittwen und
Waisen, und diesen Zweck verfolgten sie, gleich der einige Zeit vorher aus den
Ausläufern mittelalterlicher Bauhütten hervorgegangenen Freimaurerei, im Ge¬
heimen und unter gewissen Ceremonien, die eine Umbildung des masonischen
Rituals waren. Dazwischen oder erst am Schlüsse — nach Herrn Pniower
ist das zweifelhaft — wurde tapfer getrunken. Politische Tendenzen scheinen
die alten Brüder nicht gehabt zu haben, während die Freimaurer damals
allerdings die Politik in ihrem Bereiche duldeten, wenn es auch ein Irrthum
wäre, mit Herrn Pniower zu meinen, daß „der geniale, schlaue Cromwell,
um seine selbstischen Zwecke damit zu fördern, dem Orden der Freimaurer seine
jetzige Gestalt gegeben" habe, der letztere vielmehr in jener Zeit der jacobiti-
schen Verschwörung diente.
Die Ott Fellows des achtzehnten Jahrhunderts waren also eine Gesell¬
schaft zu wechselseitiger Hülfe bei Unglücksfällen, die bei geschlossenen Thüren
tagte, sich dabei mit einigem phantastischen Brimborium und hochtönenden
Titeln wohlthat und — last, !>ut not I«äst — die Feierlichkeit der Loge
mit dem würzte, was wir heutzutage eine „feste Kneiperei" zu nennen
Pflegen.
scharfes Zechen scheint zuletzt die Hauptsache gewesen und ordentlichen
Leuten und Hausvätern — ich vermuthe, von wegen der Gardinenpredigten
— zu arg geworden zu sein. „Die Nothwendigkeit einer Beseitigung der
Mißbräuche, die sich eingeschlichen, stellte sich," wie meine Quelle sagt, „deut¬
lich heraus, und bereits im Jahre 1809 versuchten einige erfahrene Männer,
die „Sonderbare Brüderschaft" (wir bleiben wohl bei den „Närrischen Kerlen",
zumal wir jetzt an ihren Zustand nach geschlossener Loge denken müssen) idealer
zu gestalten." Das scheint Zeit und Mühe erfordert zusahen; denn erst „im
Jahre 1813 fand in Manchester eine Versammlung statt, infolge deren sich
zum Behuf einer Reform mehrere Logen von dem „United Order of Ott
Fellows," dessen oberste Verwaltung ihren Sitz in London hatte, trennten
und den „Independent Order of Ott Fellows " begründeten." Diese refor-
mirten Ott Fellows breiteten sich rasch aus und waren in kurzer Zeit schon
den beim alten Brauch verbliebenen an Zahl überlegen. Später müssen wei¬
tere Spaltungen stattgefunden haben, da die „Närrischen Kerle" Englands,
wie weiter unten gezeigt werden soll, gegenwärtig in nicht weniger als neun¬
zehn Seelen oder Systeme zerfallen.
Mittlerweile war der Orden auch nach den Vereinigten Staaten verpflanzt
worden. In Baltimore bestand bereits 1802 eine Loge desselben, und in der
Folgezeit bildeten sich allenthalben in Nordamerika andere dadurch, daß, wo
sich eine genügende Anzahl von Liebhabern der Sache fand, die nächste Loge
ihnen einen „Freibrief" ertheilte, der ihre Vereinigung als gerechte und voll¬
kommene Ott Fellow-Loge anerkannte und ihnen das Recht verlieh, ebenfalls
Freibriefe der Art auszustellen. Rechten Zug aber und weite Verbreitung gewann
der Orden hier erst, als Thomas Wildey sich der Sache mit Eifer annahm.
Wildey, „der große Mann des Volkes, ein Mann, der das Handwerk eines
Grobschmieds erlernt," bezeichnet einen Markstein in der Geschichte der Odd-
Fellowship. Zunächst errichtete er am 26. April 1819 mit einigen Freunden
zu Baltimore die Washington-Loge Ur. 1, die 1821 von der Großloge zu
Manchester einen Freibrief erhielt. Dann entstand vorzüglich durch seine Mit¬
wirkung aus dem Zusammentritt der von Baltimore aus gestifteten oder an¬
erkannten amerikanischen Logen zu einer gemeinschaftlichen Oberbehörde die
Großloge von Maryland. Endlich richtete er als „Groß-Sire" oder Präsi¬
dent der letztern sein Augenmerk darauf, die getrennt wirkenden Ott Fellow-
Logen in der Union mit den unter seinen Auspicien entstandenen zu ver¬
einigen, ein Bestreben, das er nach seinem Rücktritte vom Amte des Groß-
Sire als Reiseapostel bis an seinen Tod fortsetzte, und welches den Erfolg
hatte, daß sich am 15. Januar 1825 aus den Logen von Maryland. Neuyork,
Pennsylvanien und Massachusetts eine „Großloge der Vereinigten Staaten"
constituirte, der allmälig sämmtliche Ott Fellow-Logen der Union sich unter-
warfen. In der Verwaltungszeit George Kayser's, des dritten Groß-Sire
der Amerikaner, der von 1835 bis 1837 regierte, begannen Verhandlungen
mit der Oberbehörde der Manchesterpartei der englischen Ott Fellows über
ein gleichmäßiges Ritual, indem sowohl die Engländer, als die Amerikaner
das bisherige geändert und letztere dabei „viel von dem alten Text zurückge¬
wiesen und manche Rohheiten in Ausdruck und Gedanken ausgemerzt hatten".
Zugleich drang man amerikanischerseits in England auf Abschaffung der „Con-
vivialitäten", d. h. der Gelage während der Logenzeit, die folglich nach dem
Satze „Dxxellas kurea, wahr usczue r<z<urr<ze" auch unter den reformir-
ten Ott Fellows Altenglands wieder eingerissen gewesen sein müssen. Diese
Bemühungen waren erfolglos. Die Engländer wollten weder den Amerikanern
bei Veränderungen des Rituals eine Stimme zugestehen, noch von ihren Con-
vivialitäten lassen, was beides von ihnen nicht hübsch war. Noch einmal
versuchte man sie durch eine Deputatton auf bessere Gedanken zu bringen, aber
wiederum vergeblich, „und so vollzog sich denn 1842 der Bruch zwischen
Mutter- und Tochter-Orden, indem die Großloge der Vereinigten Staaten die
Verbindung mit der Manchester-Vereinigung einstimmig aufhob und erklärte,
daß Angesichts der Thatsache, daß die Vereinigung die alten, Landmarken
verrückt, die Grundsätze verletzt, das Werk (soll heißen, das Ritual) des
Ordens verändert und versucht habe, in unsre verbrieften Rechte einzugreifen,
die Großloge selbst fortan die einzige Quelle und Vorrathskammer der Unab¬
hängigen Sonderbaren Brüderschaft auf Erden sei." Die Sonderbaren Brü¬
der führten also zum zweiten Mal in großem Style das Schauspiel der Feind¬
lichen Brüder auf.
Nach der Trennung von England wurde von der Großloge der Verei¬
nigten Staaten 1844 das Ordensritual gänzlich umgestaltet, und zehn Jahre
später gaben sich die Amerikaner auch eine neue, auf volkstümlicherer Grund¬
lage beruhende Verfassung.
Inzwischen war der Orden von Nordamerika nach Westindien, Australien
und nach den Sandwich-Inseln verpflanzt worden. Der Bürgerkrieg that
ihm keinen Eintrag, vielmehr bewährte sich nach ihm seine Kraft, indem er
sich in der Lage sah, den während jener blutigen Jahre zerstörten und ver¬
armten südlichen Logen in ausgedehntem Maße zu helfen. „Als eine der
größten Epochen für den Orden", meint Herr Pniower — „und für die
ganze gesittete Welt", wird der Verfasser des oben citirten schwungvollen Ar¬
tikels über das Stiftungsfest der Ott Fellows unzweifelhaft einschalten —
werden die späteren Zeiten das Jahr 1870 bezeichnen, das Jahr, in welchem
der Oddfellow-Orden durch den Ex-Groß-Sire Dr. Morse nach Deutschland
verpflanzt wurde." In Preußen scheint das anfangs auf Schwierigkeiten
gestoßen zu sein. Im Lande der Schwaben wird es weniger Mühe gekostet
haben; denn schon am 1. Dezember 1870 eröffnete „der genannte Apostel
der deutschen Mission" in Stuttgart die Württemberg - Loge Ur. 1. während
die Constituirung der ersten preußischen — die zu Berlin besteht und den
Namen Germania-Loge Ur. 1 trägt — erst am 2. (warum nicht am 1.?)
April des nächsten Jahres erfolgte. Wir wissen nun auch die Hieroglyphe
des amerikanischen Adlers über der Dame aus dem oben erwähnten Siegel
zu deuten.
Jetzt zählt der Orden — oder vielmehr der durch Wildey geschaffene
Zweig der Ott Fellows — innerhalb des deutschen Reiches bereits fast
dreißig Logen und in der benachbarten Schweiz vier, in Amerika aber, wenn
die Quellen, aus denen Herr Pniower schöpft, nicht im Lande der Uebertrei¬
bung entspringen, einige tausend mit mehr als einer halben Million Mit¬
gliedern, einem Vermögen von etwa dreißig Millionen Thalern und einem
jährlichen Einkommen von vier Millionen. Er ist außerdem über das britische
Nordamerika, Westindien, Australien, Peru und die Sandwich-Inseln ver¬
breitet, und es ist Hoffnung vorhanden, das Schisma, das 1842 zwischen
diesem Zweig und der Manchester-Vereinigung entstand, rückgängig gemacht
zu sehen.
Die letztere, englisch „Manchester Anny",ist die größte der britischen Ott
Fellows-Gesellschaften. Sie hat circa 4000 Logen mit ungefähr 460,000
Mitgliedern, die über alle Erdtheile verbreitet sind, und besitzt einen fest an¬
gelegten Unterstützungsfonds von mehr als 30 Millionen Thalern, der sich
mit etwa 700,000 Thalern jährlich verzinst. Dazu treten aber in England
noch achtzehn andere Ott Fellow-Secten, von denen ich nur folgende anführe:
„Jmproved Order of Ott Fellows", der eigentliche Urstamm aller Systeme,
die sich seit 1813 abgezweigt haben, mit 142 Logen, von denen sich 44 mit
etwa 8000 Mitgliedern in London befinden; „Grand United Order," der im
Jahre 1871 1183 Logen mit 68,000 Mitgliedern vereinigte; „Urniere Im-
perial Order", dessen Großmeister jetzt der Earl of Scarborough ist, und der
1872 895 Logen und gegen 30,000 Mitglieder hatte; „Altem et noble Order"
mit 370 Logen und ungefähr 23.000 Mitgliedern; „British United Ott
Fellows", 1867 gegründet, mit 135 Logen und circa 8000 Mitgliedern. Die
übrigen kleineren Vereine repräsentiren dazu noch eine Zahl von reichlich 200
Logen mit wenigstens 23,000 Mitgliedern, und so hätten wir denn — immer
vorausgesetzt, daß mit den Nullen nicht gemogelt wird — allein im Reiche
der Königin Victoria weit über eine halbe Million unsrer „Närrischen Kerle"
und damit vielleicht eine Erklärung der Meinung der Engländer, daß sie
„tluz most enliugtoneä nation on eartn" darstellen, eine Meinung, für die
ich bisher ohne mich befriedigenden Erfolg nach guten Gründen gesucht habe.
In Deutschland wird es wohl noch eine Weile währen, ehe uns der
Segen so reichlich quillt. Indeß brauchen wir nicht zu verzagen. In der
kurzen Zeit von vier Jahren haben sich circa zweitausend deutsche Reichsbür¬
ger um das Banner der Oddfellowship mit seinem erhabenen Fahnenspruche
„Wahrheit. Freundschaft, Liebe" geschaart — man wird ordentlich angesteckt
von dem Stil des Ordens, wenn man sich viel mit ihm beschäftigt — und
von den meist großen Städten, in denen bei uns Logen existiren, stellt Berlin
mit seinen 7 Logen zu jener Mitgliederzahl ein Contingent von reichlich einem
Drittel, wobei die Angehörigen der beiden dort bestehenden „Lager" (s. u.)
noch nicht einmal mitgerechnet zu sein scheinen. Nächst Berlin glänzen als
besonders helle Sterne am Himmel der Ott Fellows Hannover und Stutt¬
gart mit je drei Logen und einem Lager. Dann schließt sich Dresden mit
zwei Logen und einem Lager an. Darauf folgt München, bis jetzt blos mit
zwei Logen beglückt, und zuletzt kommen Braunschweig, Bremen, Cassel, Frei¬
burg i. Br., Görlitz, Hildesheim, Leipzig*), Lynden in der Mark, Mannheim,
Nürnberg und Ulm mit vorerst blos einer einzigen. Außerdem aber stehen
Logengründungen in Aussicht zu Hamburg, zu Breslau, zu Spandau und zu
Straßburg im Elsaß.
Erfreuliche Ursachen dieses raschen Wachsthums des Ordens in Deutsch¬
land und seiner weiten Verbreitung überhaupt aufzufinden, habe ich mich ver¬
geblich bemüht. Das neue Oddfellowthum ist allem Anschein nach in seinen
Zwecken das alte. Es trinkt nicht mehr so gewaltig wie jenes, sündigt aber
dafür mehr in Rederausch und Phrasentaumel. Es hat sich ein anderes Ri¬
tual geschaffen, sodaß es jetzt in dieser Beziehung weniger wie eine schlechte
Photographie der Maurerei aussieht als früher, ist damit aber nur schaler.
Prosaischer und wässeriger geworden. Es glaubt an die alten Fabeln nicht
mehr, die den Ursprung der Gesellschaft in das Paradies, unter die Gefange¬
nen Babels oder unter römische Soldaten verlegten, und das ist ein kleiner
Fortschritt. Es will sich der „Humanität" befleißigen, soll heißen, der Wohl¬
thätigkeit, aber diese Wohlthätigkeit bezieht sich, wenn wir den guten Leuten
genauer auf die Finger sehen, lediglich auf die Angehörigen des Ordens, die
zu Gegenleistungen verpflichtet sind, und so ist sie eben keine Wohlthätigkeit,
sondern nur ein Wohlthatenaustausch, ein Geschäft ohne moralischen Charak¬
ter, während die Freimaurer in ihrem Sorgen auch für die Noth der profa¬
nen Welt wenigstens eine Seite ihrer Existenz aufzuweisen haben, welche diese
Welt loben kann.
In diesen Dingen war also keine Erklärung der Anziehungskraft zu fin¬
den, welche die Ott Fellows auch auf die Deutschen ausüben. Das Geheim-
riß, welches die Brüder umgiebt, schien auch nicht allein die Ursache des ver¬
hältnißmäßig großen Zulaufs zu sein, da wir Freimaurerlogen genug haben,
die das Bedürfniß mancher Menschen nach Mysterien befriedigen. Ferner
waren es, wenn die Kreise der Brüderschaft sich rasch füllten, an sich auch
die Titel und Würden nicht, welche eitler Strebsamkeit in den Logen und
Lagern der „Närrischen Kerle" winken; denn auch dafür sorgte die Masonei
je nach ihrem System, in drei bis drei und dreißig Graden. Der Firlefanz
und Krimskrams der Symbole, der Schnickschnack und Hocuspocus der Ce¬
remonien bet Aufnahmen und Beförderungen thaten es endlich wohl auch
nicht, wenn die Tempel der Genossenschaft sich schnell mehrten; denn die Mau¬
rerwelt nahm sich in dieser Beziehung ursprünglicher, echter, inhaltreicher und
würdiger aus.
Ich dachte dann, die Apostel des neuen Evangeliums würden rührige
Werber sein, die, wie man zu sagen Pflegt, „sich auf den Rummel verstün¬
den." Ich dachte ferner daran, daß das Licht und jene Titel und Würden
bei den Ott Fellows wohlfeiler zu haben sein möchten, als bei den Jüngern
der „Königlichen Kunst". Ich erinnerte mich, daß diese ihre meisten Bau¬
hütten den Juden verschließt, während die Jünger Wildey's dieses strebsame
Element mit offnen Armen willkommen heißen und, wie man nach den Na¬
men des ersten und des zweiten Groß-Sire der deutschen Ott Fellows viel¬
leicht schließen darf, sogar zu ihrem Regenten erküren. Endlich aber ließ sich
die Sache als Begräbnißkasse, als Sparbüchse, als Versicherungsanstalt für
schlimme Tage auffassen, und bei diesen vier Lösungen des Räthsels gedenke
ich zu verbleiben und mich nicht auf die Redensarten der Herren Groß und
Pniower einzulassen, nach denen die Versicherungsanstalt „kaum ein Zehntheil
der Absichten und Zwecke" der Ott Fellowship wäre, der Bund vielmehr da¬
rin seine Hauptberechtigung hätte, daß er „zur Verbesserung und Erhebung
des menschlichen Charakters" beitragen wolle, daß er „eine Gesellschaft zur
geistigen und moralischen Vervollkommnung" sei. Dazu ist die Kirche —
meinethalben auch die Synagoge — die Wissenschaft, die Kunst, dazu ist vor
allem der Staat geschaffen. Von jenen Redensarten aber sage ich für den
Verständigen nichts Neues, wenn ich bemerke: man kennt dergleichen. Man
weiß, wie spottbillig in allen Geheimbünden die Phrase von höheren Zwecken
zu haben ist. Man weiß, daß es leeres Echauffement, hohle Salbung, fauler
Zauber, im günstigsten Falle vorübergehende Selbsttäuschung ist, wenn die
Herren mit schwellendem Brustton ihre hundertmal lahmgerittenen und wieder
aufgezäumten Rodomontaden von Bruderliebe, Menschheitsveredlung und was
weiß ich sonst noch in die Versammlung hineindonnern, daß die Fenster vor
Verwunderung klirren. Man findet es fast natürlich, wenn sie, nachdem der
Wortschwall ausgedonnert oder schmachtend ausgelispelt — manche nämlich
halten sich schmachtend und lispelnd für schöner — gemüthlich sich an der
Tafel einen mehr oder minder schweren Haarbeutel antrinken und dann nach
Hause gehen, um wie am Tage vorher so am Tage nachher das Gegentheil
von dem zu denken und zu thun, was sie in der Nacht dazwischen mit so viel
Emphase von sich gegeben haben.
Doch man verzeihe. Ich bin aus der Rolle gefallen, ärgerlich, ernsthaft
vor einer Posse, fast unartig geworden. Aber jene Redensarten stimmen mich
durch stete Wiederkehr und ewige Inhaltslosigkeit verdrießlich, und sie würden
diese Wirkung noch mehr haben, wenn sie mir nicht über der Wolke des
Verdrusses allerlei anmuthige Bilder aus dem Himmel des Humors, den Ritter
aus der Manch«, Gesichter aus Holberg's Kannegießern, besonders deutlich
aber den würdigen Mr. Pickwick und seine Tafelrunde erscheinen ließen,
die am Ende wirklich eine Species der Ott Fellows gewesen sind.
Herr Pniower erzählt uns, daß die Ott Fellows im Verlauf von dreißig
Jahren die Summe von 8,804,000 Dollars auf Unterstützung der Kranken,
Beerdigung der Todten und Erziehung der Waisen (soll heißen i h re r Kran¬
ken , Todten und Waisen) verausgabt haben, und glaubt damit zu imponiren.
Mir imponirt er mit seinen großen Zahlen so wenig wie mit seinen großen
Phrasen; denn ich sage mir, daß hiernach die Wohlthätigkeitsspenden des
Ordens, die, wie bemerkt, keine eigentlichen Gaben der Barmherzigkeit, sondern
Rückzahlungen sind, auf die jedes Mitglied durch bestimmte Leistungen ein
Recht erworben hat, sich zwar im Durchschnitt auf rund 294660 Dollars
jährlich beliefen, daß aber, da die Mitgliederzahl desselben eine halbe Million
betragen soll, der Einzelne seinem Wohlthätigkeitstriebe mit noch nicht ganz
drei Fünfteln eines Dollars — also etwa 2 Mark 40 Pf. — per Jahr Ge¬
nüge geleistet hat.
Derselbe berichtet ferner, daß sein Orden zu den sechs Millionen Dollars,
mit denen die Privatwohltätigkeit das abgebrannte Chicago unterstützte,
131,000 beigesteuert. Auch das ist viel und nicht viel, wenn wir eine halbe
Million damit dividiren, und dazu kommt immer wieder, daß die Ott Fellows
nur ihre Genossen bedenken und jene Summe wahrscheinlich nicht der un¬
glücklichen Stadt als Ganzem, sondern den „Närrischen Kerlen" derselben zu¬
geflossen ist.
Herr Pniower aber hofft, „daß vorstehende Beispiele geeignet sein werden,
die Vorurtheile derer, die sich bei dem bloßen Gedanken an geheime Gesell¬
schaften bekreuzigen, zu brechen und die Sinnesart derer, die für die Odd-
Fellowship höchstens ein Achselzucken hatten, als wollten sie sagen: „Pah,
Lappalie!" zu ändern." Der Ott Fellow-Orden wirkt mit Kleinem auf das
Große, durch den Einzelnen auf das Ganze, er ist wie die Bergquelle, die
bescheiden in ihrem Ursprung, doch zum mächtigen Strom wird, der Schiffe
auf seinem Rücken trägt, und nur der Unvernünftige wird, an der Quelle
vorübergehend, sein Haupt schütteln und sagen: „Die Quelle — die Odd-
Fellowship vielmehr — ist nur eine Lebensversicherungsgesellschaft." Nicht wie
die Titanen, die den Helion auf den Ossa gethürmt, sondern wie der staub-
geborne Hercules, der jene Riesenarbeiten vollendet, strebt der Ott Fellow-
Orden zum Himmel an. Die Titanen wurden gestürzt (an!), Hercules ward
(ah!) ein Halbgott!" —
Wo Herr Pniower das nur her haben mag? Doch weiter in der Be¬
trachtung unseres angehenden Halbgottes.
Die Regierung des Ordens, an deren Spitze der „Groß-Sire" steht, be¬
ruht auf repräsentativer Grundlage. Die oberste Behörde ist für Amerika die
Großloge der Vereinigten Staaten, für Deutschland die Großloge des deut¬
schen Reiches; jene setzt sich aus Vertretern der einzelnen Staats-, diese aus
Abgeordneten der einzelnen Districts-Großlogen, zusammen, die ihrerseits wie¬
der aus den abgetretnen Vorständen der „untergeordneten Logen," den „Ex¬
meistern" bestehen. Jene oberste Großloge übt die gesetzgebende, vollziehende
und richterliche Gewalt in allen den ganzen Orden betreffenden Angelegenheiten
aus. Sie tritt alle Jahre einmal als eine Art Congreß oder Senat zusammen.
In der Zwischenzeit ist ihr auf zwei Jahre gewählter oberster Beamter, der
Groß-Sire, mit der vollziehenden Gewalt innerhalb der verfassungsmäßigen
Grenzen betraut. Die Districts-Großlogen, deren es jetzt in Deutschland
zwei, eine für Brandenburg, und eine für Würtemberg giebt, und an deren
Spitze „Großmeister" stehen, haben ihre besonderen Verfassungen und Gesetze,
die aber von der Centralgroßloge genehmigt sein müssen, und dasselbe gilt
von den „untergeordneten Logen," die von „Obermeistern" regiert werden.
Namentlich ist es jeder einzelnen Loge freigestellt, die Höhe der Einweihungs¬
gebühren und anderer bei den Ott Fellows üblicher Geldleistungen zu bestim¬
men. Die meisten Logen Deutschlands richten sich in dieser Beziehung nach
dem Usus der amerikanischen, nach welchem nach der Verschiedenheit des Alters
auch die Eintrittsgebühr verschieden ist, wogegen die monatlich zu zahlenden
Beiträge für Alle gleich sind. Was aber in den Nebengesetzen jeder Ott
Fellow-Loge enthalten sein muß, ist die Verpflichtung zu wöchentlichen Zah¬
lungen während der Krankheit von Mitgliedern und bei Sterbefällen von
solchen; denn darin liegt ja eben der Kern der ganzen Einrichtung. Auch die
Wohlhabenden müssen, damit die weniger Bemittelten die Unterstützung nicht
als Almosen empfinden, in jenen Fällen die ihnen zukommenden Beträge an¬
nehmen, was als ein hübscher, wenn auch durch den Charakter der Loge als
Versicherungsanstalt gebotener Zug hervorzuheben ist. Wer in einer Loge „in
gutem Stande" ist, d. h. immer pünktlich gezahlt hat, was er zu zahlen hatte.
ist zur Zulassung in jeder anderen und zur Unterstützung durch dieselbe
berechtigt.
„Freibriefe" zur Gründung einer Loge ertheilt die Districts-Großloge,
und es sind dazu fünf Brüder „in gutem Stande" erforderlich. Wo noch
keine Districts - Großloge existirt, tritt bei jener Concessionsertheilung die
Central - Großloge an deren Stelle. Wie die Maurerei in mehrere Grade
zerfällt, so auch die Oddfellowship, und zwar hat sie deren zunächst fünf.
Nur die Inhaber des fünften sind zu allen Aemtern in der Loge qualificirt.
Seit dem Jahre 1852 ist mit diesem Grade eine Institution verbunden, welche
den Frauen der mit ihm Bekleideten — man könnte, weltlich gesprochen, auch
sagen : Behafteten) die Mitwirkung an der Arbeit der „Närrischen Kerle"
gestattet. Es wird die in Amerika spukende Weiberemancipations - Theorie
gewesen sein, die den Bruder Schuyler Colfax veranlaßte diese Einrichtung,
die man den „Rebekka-Grad" nennt, in Borschlag zu bringen, und ich bin
ungalant genug, um zu meinen, es sei damit mehr auf die Eitelkeit, als auf
das gute Herz des schönen Geschlechts abgesehen. Herr Pniower ist andrer
Ansicht. Er schreibt, es sei damit eine Einrichtung geschaffen worden, durch
welche „der Orden die milde Frauenhand, die am Krankenbett und in
der Hütte der Armen ihre Wunder verrichtet, die Frauenhand, die uns
führt, bis wir selbst stehen können, für seine humanistischen Zwecke ge¬
winne." Möglich, daß er hier einmal Recht hat, aber er flößt mir nach
dem Vorherigen nur gelegentlich einiges Vertrauen ein, wenn er sich über die
Absichten seines Ordens äußert. Ehrlich ist es, daß er gesteht, dieser Zweig
desselben blühe zwar in Amerika, scheine aber in Deutschland kein rechtes
Entgegenkommen zu finden. Ob der Grund hiervon, wie er glaubt, in der
Verschiedenheit der socialen Verhältnisse diesseits und jenseits des Oceans liegt,
weiß ich nicht, halte aber die Gelegenheit für günstig, mich nach der soeben
verbrochnen Ungalanterie bei den Damen, deren Auge auf diese Betrachtung
fällt, wieder zu insinuiren, indem ich jenen Grund darin erblicke, daß die
deutschen Frauen mehr Verstand und Geschmack haben als die Töchter Arete
Sam's. Sollte ich dadurch, daß ich sogleich hinzufüge, daß in Berlin unter
dem Namen „Einigkeit" und in Hannover unter der Bezeichnung „Königin
Louise" Rebekka-Logen arbeiten, von der so wiedergewonnenen Huld bei ein
paar Dutzend „sonderbaren Schwestern" einbüßen, so würde mich das betrü¬
ben, aber wer kann für die Wahrheit ?
Wie es neben der „blauen" auch eine „rothe" Maurerei, neben den
Johannisgraden auch Hochgrade, Schotten, Andreasritter u. f. w. giebt, so
giebt es über den fünf Abstufungen der gemeinen Ott Fellows auch eine vor¬
nehmere Sorte „Närrischer Kerle". Neben den Logen und Großlogen „wir¬
ken" Lager und Großlager. Um Mitglied eines Lagers werden zu können,
muß man die untern fünf Grade durchlaufen haben. Im Lager selbst erhält
man drei weitere, welche die „erhabenen Grade" genannt werden. Sieben
Brüder, welche diese besitzen, können mit Genehmigung des Großlagers, oder
wenn noch kein solches besteht, mit Bewilligung der Großloge des deutschen
Reiches, resp, der Vereinigten Staaten, ein neues Lager aufschlagen. Soll
ein Großlager gegründet werden, so bedarf es dazu ebenfalls der Einwilligung
der Centralgroßlogen, die den betreffenden Freibrief ertheilen, wenn wenigstens
fünf „untergeordnete Lager," die unter ihren Soldaten sieben gewesene „Haupt¬
patriarchen" ^) zählen, darum einkommen. „Die Großlager gestehen den
Staats- oder Districts-Großlogen bei öffentlichen Anlässen den Vorrang zu,
(hübsch, da es zeigt, daß so vornehme Leute auch bescheiden sein können) ha¬
ben aber die höchste Jurisdiction über ihre untergeordneten Lager. Sie selbst
sind der Großloge der Vereinigten Staaten, resp, der des deutschen Reiches
unterworfen, der sie ihre Constitutionen und Nebengesetze zur Revision vor¬
legen, und an die sie jährlich für jeden Repräsentanten, den sie an jenen
Groß-Körper zu senden berechtigt sind, eine bestimmte Summe zahlen."
„Das Grundgesetz des Ordens besteht," wie uns Herr Pniower berichtet,
„aus zwei Theilen, einem geschrieben und einem ungeschriebnen." Der letztere,
„das geheime Werk" genannt, vererbt sich durch Tradition, und zu ihm ge¬
hören die Paßwörter und diejenigen Ceremonien, an denen die Geweihten
einander erkennen. Unsere Quellen enthalten natürlich nichts davon. Ein
Freund, der mir schon manchmal bei Schwierigkeiten mit Rath und That bei¬
gestanden hat, hielt mir Daumen und Zeigefinger geöffnet vor die Nasenspitze,
wie wenn er mich damit fassen und führen wollte, lächelte verschmitzt, legte
dann beide Hände zusammengedrückt, aber gestreckt und gespitzt, an den obern
Theil seiner Ohrmuscheln, lächelte noch verschmitzter und stieß das mystische
Wort: „Larifari" aus.
Was er nur damit gemeint haben mag? hätte er mir damit Paßwort
und Erkennungszeichen der Ott Fellows mittheilen wollen, so würde ich mich,
wie gut er auch unterrichtet gewesen sein mag, damit doch kaum in eine
Loge des Ordens zu kommen getrauen.
Das Wagniß wäre aber auch nicht unbedingt erforderlich, da uns „Herz
und Hand" wenigstens eine annähernde Vorstellung gewährt, wie es in Ott
Fellow-Logen meist zuging, und mit einigen Abänderungen, die im Wildey'schen
System erheblich sein mögen, noch jetzt zugeht. Ich meine das Ausnahme-
Ritual bei den jetzt nicht mehr bestehenden „Patriotic Ott Fellows", aus dem
ich einen Auszug geben will.
Der Candidat wird mit verbundenen Augen und gefesselt in die Loge
und vor den Aufseher gebracht, dem er von seinen Führern gemeldet wird.
Aufseher: „Stehe hier auf dein eignes Risico für das Ungemach, so im Be¬
griff ist, dich zu befallen, vermessner Sterblicher. Bedenke, der Weg, der zur
Glückseligkeit führt, ist kein ebner, er ist lang und rauh, neue Gefahren be¬
gegnen Dir bei jedem Schritte. Bist Du gewillt, alle Prüfungen im Streben
nach'Erkenntniß zu bestehen?" Candidat: „Ich bin es." Aufseher: „Wenn
dieß der Fall ist. so wirst Du vorwärts schreiten auf Deine eigne Verant¬
wortung hin, und ich wünsche, daß die Führer, welche Dich hierher gebracht
haben. Dich so weit als möglich begleiten, um allen verderblichen Ereignissen,
welche Dir begegnen, vorzubeugen."
Der Candidat geht jetzt auf hochliegenden Brettern mit Hülfe der Führer
dreimal um die Loge. Beim nächsten Gange verliert er durch den Ruck einer
Schnur das Gleichgewicht und fällt auf einen Haufen Korke. Die Führer
sagen: „Er geht über die Felsen, beschützt ihn vor dem Fall in die untern
Steinbrüche, in denen so viele ihr Leben verloren." Nachdem der Candidat
aufgehoben worden, wünscht ihm der Aufseher Glück zu so guten Führern
und ermahnt ihn, wenn er in die Welt zurückgekehrt sei, selbst Andern ein
Führer und Wegweiser zu werden. Bei dem nächsten Gange läßt man den
Candidaten in einen Haufen Aeste fallen, und die Führer sagen: „Wir sind
im Walde und haben den Pfad verloren." Als derselbe wiedergefunden ist,
ruft ihm der Aufseher zu: „Freund, Sie haben eine zweite Probe bestanden.
Dieselbe stellt die aus Unwissenheit entstehenden Gefahren dar. Suchen Sie,
in die Welt zurückgekehrt, alles Böse, so aus Unwissenheit geschehen könnte,
zu verhindern." Der Candidat wird nun vor eine Feuerpfanne gebracht
und ihm durch momentane Berührung mit derselben ein Schmerzenslaut er¬
preßt. Aufseher: „Viele der besten Menschen haben auf ihrer Lebensbahn
Feuerproben bestanden, wie unsere Urkunden erzählen, welche das Leben jener
erhabnen Märtyrer berichten, die, von treuem Glauben beseelt, in der Mitte
des Feuers im Stande waren, Loblieder auf Gott zu singen. Erinnern Sie
sich dessen, wenn Sie in die Welt zurückgekehrt sind, und suchen Sie beizustehen
allen, die in Versuchung und Leiden sind." Die Einführung schließt mit einem
Sturm. Das Gong tönt, Ketten rasseln, Kugeln rollen über den Boden.
Kupferplatten werden geschüttelt, die Brüder schreien und stöhnen, während
ein Wasserstrahl aus einer Douche sich über den Candidaten ergießt. Auf¬
seher: „Diese Scene versinnbildet den Lebenssturm. Lernen Sie aus ihr Mit¬
leid und Theilnahme für alle Unglücklichen."
Nach einigem andern Hocuspocus hat "der Candidat am Altar einen Eid
zu schwören, in dem er unter Anderm verspricht, „einen patriotischen Ott
Fellow jedem Andern in seinem Geschäft vorzuziehen," „die Jungfräulichkeit
der unverheiratheten und die Keuschheit der verheiratheten Familie des Bru¬
ders zu erhalten" und über die Constitution und das Wirken der Loge
Schweigen zu bewahren oder die Strafe zu leiden, daß ihm Arme und Beine
vom Körper abgetrennt werden. Er erhält darauf Licht und Freiheit wieder,
d. h. die Augenbinde und die Fesseln werden ihm abgenommen. Alle Lichter
sind ausgelöscht. Nur ein Feuer brennt im Osten, dahinter sitzt, auf einen
Stock gestützt, der Exmeister und betrachtet ein vor ihm stehendes Gerippe.
Als er den Candidaten erblickt, erhebt er einen Knochen und sagt: „Wer
kommt, meine Betrachtungen zu stören?" Candidat: „Ehrwürdiger Herr, ich
habe das Gerücht von Eurem Studium der verborgenen Wissenschaften gehört
und bitte um Eure Belehrung darin."
Exmeister: „Sterblicher, wie kommst Du ohne Erlaubniß hierher?
Strenge Strafe erwartet alle diejenigen, die sich ungebeten zu mir drängen."
Candidat: „Ich bin auf holprigen Pfaden, durch Wüsten, Gebirge
und dichte Wälder, begleitet von Sturm, Donner und Regen, gleichgültig
gegen äußere Leiden, mit dem Wunsche nach Erkenntniß hierher gereist."
Der Exmeister fragt nun, wer ihn hergebracht. Der Candidat beruft
sich auf eine ermuthigende Stimme, die ihm bei der Wanderung gefolgt sei
Der Exmeister ist damit nicht befriedigt, er macht die Loge darauf aufmerk¬
sam, daß nach ihrem Gebrauch jeder Eindringling sterben müsse, wenn ihm
nicht Gnade ertheilt werde. Der Führer legt nun Fürsprache für den Can¬
didaten ein und empfiehlt ihn als rechtschaffnen Mann, den der Obermeister
zum Ott Fellow erhoben habe.
Exmeister: „Ich habe den Bericht gehört, welcher, verbunden mit der
schlichten Darstellung des Candidaten, zu seinen Gunsten spricht. Exbeamte
und Beamte, was ist Ihr Wunsch?" Antwort: „Zeige Gnade." — „Unter¬
geordnete Beamte, was ist Ihr Wunsch?" Antwort: Zeige Gnade." —
„Brüder, was ist Ihr Wunsch?" Antwort: „Zeige Gnade."
Der Exmeister läßt sich darauf von dem Candidaten die Hand geben,
weist ihn auf das Gerippe hin, erklärt es ihm als das Emblem der Sterblich¬
keit und Vergänglichkeit alles irdischen Glückes und knüpft daran allerlei
Ermahnungen. Darauf ist der Candidat gehalten, „sich in Ehrfurcht zu
beugen und die Augen zu schließen, während das Gerippe entfernt, die Loge
erleuchtet wird und die bis dahin verlarvten Brüder sich demaskiren. Alle
haben eine ernste Miene anzunehmen." Der Aufseher legt dem Candidaten
jetzt eine Lammfellschürze um, und der Obermeister ertheilt ihm verschiedene
Belehrungen und Ermahnungen. Dann folgen noch einige kleine For¬
malitäten, und darauf wird die Loge geschlossen.
Hiermit beendigte ich mein Studium der Ott Fellow - Literatur — für
immer. Denn sie macht wirr im Kopfe und gebiert ernste Träume. In
einem derselben befand ich mich in einer Gegend, wo die Bäume blaue Blätter
hatten und der Himmel grasgrün war. Die Sonne ging im Westen auf
und sah wie das Siegel der Großloge der deutschen Ott Fellows aus. Aber
an der Stelle, wo die Dame mit dem Schwert gesessen, saß — ja er war es
wirklich und leibhaftig, wie ihn Cruikshank gezeichnet — der würdige Mr.
Pickwick. Ueber seinem Haupte schwebte eine wirkliche Bretzel, und über dieser
wieder statt des Adlers ein andrer Vogel,, von dem ich nicht wußte, wie er
sich nannte. Das Auge über dem Allen aber lächelte gemüthlicher und ver¬
gnügter wie je.
Den Traum werden sich die Leser selbst deuten. Nur der Vogel wird
ihnen, wie anfangs mir, dunkel bleiben. Der vorhin erwähnte Freund in¬
deß wußte auch hier ohne Verzug Rath; denn er er weiß Vieles, fast Alles.
Ich hatte ihm den Vogel kaum beschrieben, als er mir schon sagte, daß es
kein anderer sein könne als — nun rathen Sie einmal, meine Würd.
O. M., resp. Hauptpatr., Beamten und Brüder der I. O, O. F. — ein
Gimpel.
Ja. ja, ein Gimpel, sagte der böse Mensch. Abscheulich! Nicht wahr?
In zwei Artikeln (Ur. 10 und 12) habe ich die Bedürfnißfrage der
Bibliothekrcform erörtert und die Zielpunkte der Reform festzustellen gesucht.
Seitdem war es angemessen, eine abwartende Stellung einzunehmen, um die
Meinung der Fachgenossen über die behandelten Fragen zu vernehmen und
zu hören, ob sich Widerspruch erheben würde. Letzteres ist nicht geschehen.
Im Gegentheil darf mit Genugthuung constatirt werden, daß von eompetenter
Seite meine Ausführungen als „beherzigenswerthe" und als solche bezeichnet
worden sind, welche „auf den Beifall aller Sachkenner mit Sicherheit rechnen
können"*). Ist also anzunehmen, daß Bedürfniß wie Ziele der Reform an-
erkannt werden, so fragt sich noch, wie die Reform durchzusetzen und wie,
Wenn durchgesetzt, aufrecht zu erhalten wäre.
Auch in dieser Frage handelt es sich zunächst wieder um Prüfung eines
Borschlages, der von anderer Seite ausgegangen ist. Die Erfolge der Wander¬
versammlungen von Vertretern einzelner Wissenschaftsgebiete haben die Idee
angeregt, hievon eine Anwendung auf das Bibliothekwesen zu machen. Dem-
gemäß sollen durch öffentlichen, „mehrfach unterzeichneten" Aufruf „periodische
Bibliothekarversammlungen" berufen werden, um die organisatori¬
schen Fragen der Bibliothekreform zu berathen und darüber zu beschließen,
und es sollen die gefaßten Beschlüsse sowol von den „Oberbehörden" , wie
von den „Bibliothekaren" als „vollständig Souper« in" angesehen werden").
Dabei wird hervorgehoben, daß Aehnliches bereits früher in Amerika geschehen
sei, wo „im Jahre 1863 in der Mitte des Septembers zu New - York ein
Congreß zahlreicher Bibliothekare aus den Vereinigten Staaten tagte." So
wichtig es wäre, die dort gesammelten Erfahrungen über den Erfolg eines
solchen Congresses zu verwerthen, so wenig besitzen wir doch darüber einen
sicheren thatsächlichen Anhalt. Es wird uns nur berichtet, daß die Ameri¬
kanischen Bibliothekare „das Gedeihen ihrer Anstalten in gehörige Erwägung
zogen." Bei so beroandten Umständen müssen wir uns darauf beschränken,
die Idee der Bibliothekarversammlungen a xriori und aus der Natur der
Sache heraus zu prüfen.
Fassen wir vor Allem die Ausführbarkeit ins Auge, so ist in erster Linie
zu fragen, von wem der Aufruf unterzeichnet, und an wen er gerichtet werden
sollte, um „eine möglichst zahlreiche Betheiligung" zu erreichen, die mit Recht
als Grundbedingung des Erfolges vorausgesetzt wird. Es liegt auf der
Hand, daß die Betheiligung der Bibliothekare, etwa mit Ausschluß der Ober¬
bibliothekare, wäre sie auch noch so zahlreich, von vornherein wenig Aussicht
auf Erfolg haben würde. Vielmehr käme Alles darauf an, die Oberbiblio¬
thekare, denen die endgiltige Entscheidung über das Wohl ihrer Anstalten
zusteht, mit in das Interesse zu ziehen. Der Aufruf müßte deßhalb in gleicher
Weise an die Oberbibliothekare, wie an die Bibliothekare gerichtet und dem
entsprechend mindestens von einigen Oberbibliothekaren mitunterzeichnet werden.
Schon hierbei zeigt sich aber, wie wenig die Parallele der gelehrten Wander¬
versammlungen mit den Bibliothekarversammlungen zutreffend ist. Während
dort ein Zusammenwirken gleichberechtigter Elemente stattfindet, würde hier
die Anomalie zu Tage treten, daß Vorgesetzte und Untergebene sich auf eine
Stufe gestellt sähen. Schwerlich ist anzunehmen, daß die Oberbibliothekare
geneigt sein würden, sich dieser Anomalie aus freiem Antriebe zu unterwerfen.
Demnach bliebe nur übrig, den Oberbibliothekaren die alleinige Initiative zu
überlassen und sich die Bibliothekarversammlungen als Oberbibliothekarver¬
sammlungen zu denken. Dann würde jedoch das technische Element nicht
genügend vertreten sein, weil die Oberbibliothekarstellen zur Zeit nur theil¬
weise mit praktisch geschulten Bibliothekaren besetzt sind. Gesetzt aber auch,
es herrschte allseitige Bereitwilligkeit, eine Bibliothekarversammlung in vollstem
Umfange ins Leben zu rufen, so würde doch nur eine glücklich situirte Min¬
derheit von Bibliothekaren in der Lage sein, das jedenfalls kostspielige Ver¬
gnügen der Theilnahme sich zu gestatten.
Und käme es wirklich trotz aller Hindernisse zu einer Versammlung mit
nennenswerther Betheiligung, was würde der Erfolg sein? Wohl nirgend
mehr, als gerade auf dem Gebiete des Bibliothekwesens gilt das Sprichwort:
„Viel Köpfe, viel Sinne." Wer die bestehenden Verhältnisse der Deutschen
Bibliotheken in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit kennt, dem wird es schwer
werden, an die Möglichkeit einer Verständigung auf dem Wege eines Majori¬
tätsbeschlusses zu glauben. Wie nun aber, wenn der Majoritätsbeschluß so
ausfiele, daß die Minorität nach Pflicht und Gewissen sich ihm schlechterdings
nicht fügen könnte, oder daß die nicht vertretenen Bibliotheken, mit bewährten
Einrichtungen, sich in Opposition stellen müßten? Soll der Beschluß auch
dann als „vollständig souverain" angesehen werden, d. h. mit bindender Kraft
für die Dissentirenden ausgestattet sein? Setzen wir indessen den günstigsten
Fall, daß ein Beschluß zu Stande käme, der in jeder Beziehung befriedigend
wäre und allgemeine Anerkennung fände. Auch in diesem Falle bliebe immer
noch die Geldfrage, da die beschlossenen Reformen ohne Geldmittel nicht ins
Werk zu setzen wären. Das aber wäre der Punkt, wo die „Oberbehörden"
mit Fug und Recht dann doch ein sehr gewichtiges Wort dareinzureden hätten.
Alles in Allem genommen, fürchten wir nicht, pessimistisch zu sein, wenn
wir den Schluß ziehen, daß bei den Bibliothekarversammlungen, so sehr sie
die persönliche Annäherung der Bibliothekare fördern würden, für die Sache
selbst im Grunde wenig herauskommen dürfte. Wir werden uns daher
nach einem anderen Wege umsehen müssen, der sicherer und schneller zum
Ziele führt.
Wie die „Oberbehörden" in der Geldfrage das entscheidende Wort zu
sprechen haben, so sei es auch in ihre Hand gelegt, den Weg der Reform zu
beschreiten. Das führt uns auf den Punkt zurück, von dem wir ausgegangen
sind: es ist das Beispiel des Italienischen Ministers, welches Nachahmung
verdient. Man wende nicht ein, daß man in Italien nicht über Commissions¬
vorschläge hinausgekommen sei; dort ist man auf halbem Wege stehen ge¬
blieben. Am liebsten möchten wir es sehen, wenn die Sache von Reichs
wegen in die Hand genommen würde. Stellen sich Competenz-Bedenken ent¬
gegen, so möge eine freie Vereinbarung der Einzelregierungen herbeigeführt
werden, und die Leitung dem Reiche verbleiben. Es würde keinen Eingriff
in die bundesmäßigen Rechte der Einzelstaaten involviren, wenn eine Com¬
mission niedergesetzt würde, zu der jeder Staat seine Mitglieder zu ernennen
hätte. Diese Commission, aus Sachverständigen gebildet und mit den nöthigen
Vollmachten umkleidet, müßte die Aufgabe haben, auf Grund eines bestimmt
formulirten Programms die bestehenden Zustände zu untersuchen und unter
Berücksichtigung des Bestehenden ein allgemeines Bibliothek -Reglement
zu entwerfen. Die Mit Irrung von Parlamentsmitgliedern, welche man in
Italien beliebt hat, wär^ schon aus sachlichen Gründen auszuschließen, weil
es sich um eine rein technische Angelegenheit handelt.
Außerdem müßten wir uns von dem Irrthum fern halten, in welchen
man in Italien durch Vermischung des Bibliothekwesens mit dem Archiv -
wesen hineingerathen ist, indem man nicht nur Bibliothekare, sondern auch
Archivare in die Commission berufen hat. Denn es ist eine zwar verbreitete,
aber durch nichts begründete Meinung, daß in Einrichtungen, Zweck- und
Verwaltungsgrundsätzen der Bibliotheken und der Archive ein verwandtes
Element enthalten sei. Beide Gattungen von Staatsanstalten haben ihren
Schwerpunkt in der Ordnung der Schätze, welche sie bergen, aber die Princi¬
pien der Ordnung sind bei beiden doch grundverschieden. Wahre«d die Bi¬
bliotheken den „Körper" der gesammten Wissenschaften darstellen sollen, hat
die Ordnung der Archive von rein historischen oder juristischen Gesichtspunkten
auszugehen. Nicht minder ist der Zweck, dem beide Anstalten dienen, ein
verschiedener. Bei den Bibliotheken tritt die Benutzung, bei den Archiven die
Conservirung in den Bordergrund. Jene haben die Conservirung nur als
Mittel zum Zweck zu betrachten und den durch Abnutzung und Verbrauch
entstehenden Ausfall anderweitig zu decken; diesen ist die Conservirung
Hauptzweck, und es darf bei ihrer Benutzung von einem Verbrauch keine Rede
sein. Dazu kommt, daß die Benutzung der Bibliotheken an keine Rücksichten
gebunden ist, die außerhalb der Sache liegen; die Benutzung der Archive da¬
gegen wird stets nur eine eingeschränkte und von Rücksichten des Staatsge¬
heimnisses abhängige sein dürfen. Alle diese Gründe leiten auf die Noth¬
wendigkeit hin, bei Berufung einer bibliothekarischen Sachverständigen-Com¬
mission die Hineinziehung heterogener Elemente zu vermeiden und die Zu¬
sammensetzung der Commission auf reine Bibliothekare zu beschränken.
Das letzte Resultat der Commissionsarbeiten müßte, wie bereits ange¬
deutet, der Entwurf eines Bibliothek-Reglements sein, welches ebensowohl
für die Einrichtung der Bibliotheken, als für ihre Verwaltung und Benutzung
einheitliche Grundsätze aufzustellen hätte. Natürlich ist das, nach früher
Bemerkten, mit der Einschränkung zu verstehen, daß die Einzelheiten des
bibliographischen Systems unberührt gelassen werden, und die wissenschaftliche
Freiheit den Bibliothekaren in diesem Punkte gewahrt bleibt. Wohl aber
müßten in allen übrigen technischen Fragen der Ordnung und Katalogisirung
weit detaillirtere Bestimmungen getroffen werden, als es in den alten Bi¬
bliothek-Reglements der Fall ist, die zu viel dem „Ermessen" der Leitung
anheimstellen. Alsdann der öffentlichen Beurtheilung unterbreitet und nach
Einziehung von Gutachten in letzter Instanz definitiv genehmigt, wäre das
neue Reglement gegenüber den bisherigen reglementarischen Bestimmungen
mit derogatorischer Kraft zu versehen und als ein allgemein verbindliches, als
eine „allgemeine Deutsche Bibliothekordnung" bekannt zu machen.
Einseitige Abänderungen würden fürderhin unzulässig sein. Nur so dürften
wir hoffen, in der Entwickelung unserer Bibliotheken zu der wünschenswerten
Continuität zu gelangen, an der es so lange gefehlt hat; nur so würden die
Bibliotheken vor fehlerhaften Experimenten geschützt sein. An die Stelle per¬
sönlichen Beliebens und des Wechsels der Principien, wie er mit dem Wechsel
in der Leitung verbunden zu sein pflegt, würde ein fest begrenzter Zustand
treten, der in sich die Gewähr gedeihlicher Entwickelung trüge. Wie die gro¬
ßen Verkehrsinstitute der Post, Telegraphie, Eisenbahnen durch einheitliche
Leitung und Zusammenfassung der Kräfte aus die gegenwärtige Stufe der
Vollkommenheit gehoben sind und weiterer Ausbildung entgegengeführt wer¬
den, so müßten auch die Bibliotheken, die in ihrer Weise dem Gemeinwohl
zu dienen berufen sind, einen frischen Aufschwung nehmen, wenn ihre Neuge¬
staltung von einem Willen geleitet würde.
Man wird indessen noch einen Schritt weiter gehen und fragen müssen,
durch welche Mittel die Durchführung und Aufrechterhaltung eines einheitlichen
Bibliothek-Reglements zu sichern wäre. Die eigenthümliche Natur der biblio¬
thekarischen Arbeiten bringt es mit sich, daß sie sich der allgemeinen Beur¬
theilung entziehen, und ihre Controlle selbst für den Eingeweihten in vielen
Stücken sehr erschwert ist. Es fehlt nicht an Beispielen, wonach renommirte
Bibliothekleitungen für den tiefer Blickenden nicht das geleistet haben, was
man von ihnen zu erwarten berechtigt gewesen wäre, oder daß anfangs gut
verwaltete Bibliotheken in Verfall gerathen sind. So wird es immerhin mög¬
lich sein, den Schwierigkeiten einer durchgreifenden Neuorganisation aus dem
Wege zu gehen, wenn nicht eine beaufsichtigende Instanz geschaffen wird,
welche über stricte Durchführung der Reform und ihren Fortbestand zu wachen
hat. Bei dem PostWesen zum Beispiel ist dieser Gedanke längst zum Durch¬
bruch gekommen; man besitzt dort in dem Institut der Post-Inspektoren ein
Organ der Aufsichtsbehörde, welchem die unmittelbare Ueberwachung und
Controlle des Dienstes in allen seinen Theilen obliegt. Obwohl wir selbst¬
verständlich weit entfernt sind, den Postbetrieb an sich mit dem Bibliothekdienst
in Parallele bringen zu wollen, hindert das doch nicht, uns jenen Grundge¬
danken anzueignen und ihn für das Bibliothekwesen fruchtbar zu machen.
Wir würden damit zugleich ein wirksames Korrektiv gewinnen gegen jede
einseitige Richtung bei der Stellenbesetzung und gegen Ausartung der
„Selbständigkeit" des bibliothekarischen Berufes in „Exklusivität"!
Noch ein letzter Umstand ist zu betonen. Der Gedanke einer Controlle
gegenüber den Bibliothekleitungen ist nicht absolut neu, er ist bereits vor ge¬
raumer Zeit aufgetaucht, nur in verfehlten Gewände. Im Jahre 1840 er¬
klärte der damalige Bamberger Bibliothekar Jaeck es für erwünscht, daß der
reglementsmäßige Dienstbetrieb der Universitäts - Bibliotheken einer „jährlich
ein - oder zweimal" wiederkehrenden Revision unterzogen, und diese Mission
den sog. „Bibliothek-Commissionen" übertragen werde.*) So richtig in
seinem ersten Theile, so entschieden falsch ist der Gedanke im zweiten Theile.
Wenn man die Zusammensetzung der Bibliothek-Commissionen erwägt, welche
durch Wahl oder Ernennung aus Mitgliedern der verschiedenen Facultäten
gebildet werden, so wird man in ihnen das für technische Revisionen erforder¬
liche sachverständige Element vermissen. Man belasse den Bibliothek-Com¬
missionen, wenn anders sie überhaupt für unentbehrlich gehalten werden, ihre
berathende Qualität als einer Interessen-Vertretung der Universitäten,
gebe ihnen aber nicht einen Wirkungskreis, den sie ihrer ganzen Natur nach
doch nicht ausfüllen könnten. Nur eine sachverständige, in die gesammte
Technik des Bibliothekwesens eingeweihte Controlle ist es, welche frommen
Die Gegensätze, welche dermalen im württembergischen Ministerium be¬
stehen, — wir haben darüber in unseren letzten Correspondenzen berichtet —
spiegeln sich auch in der außerschwäbischen Presse sehr deutlich wieder. So
sah sich der württembergische Staatsanzeiger in den letzten Wochen genöthigt,
gegen die Kölnische Zeitung, welche in verschiedenen Artikeln das Verhalten
der württembergischen Regierung in der Kirchenfrage seit 1871 in einer ganz
bestimmten persönlichen Richtung verfolgt hatte, mit einer Reihe von Dementi's
hervorzutreten.
Es handelte sich um die Frage, ob und welche Schuld dem Ministerium,
insbesondere dem dermaligen Cultusminister, an der Unterwerfung des Bischofs
Hefele unter die Concilsdecrete beizumessen sei. Wir haben s. Z. im April
1871, über die hierauf bezüglichen Vorgänge auf Grund genauer Informa¬
tionen berichtet, und können heute mit um so größerer Unbefangenheit die
Richtigkeit der neuesten ofsictösen Dementi's im Staatsanzeiger bestätigen. Es
verdient alle Anerkennung, daß dieses Blatt, welches sich früher auf ziemlich
geschraubte Negationen beschränkt hatte, jetzt mehr und mehr mit positiven
Angaben hervortritt, welche, wenn sie schon früher gemacht worden wären,
manche irrthümliche Auffassung beseitigt haben würden. Die Kölnische Zeitung
hatte nämlich behauptet, aus einem Gesandtschaftsbericht des Herrn v. Gaffer.
des tgi. bayr. Gesandten in Stuttgart vom Frühjahr 1871 gehe hervor, daß
Herr v. Hefele damals gegenüber dem früheren Cultusminister v. Golther
brieflich sein Bedauern darüber ausgesprochen habe, das Golther nicht mehr
Minister sei, weil er in ihm eine kräftige Unterstützung in seiner Opposition
gegen die vaticanischen Decrete gefunden haben würde. Der Staatsanzeiger
theilt nun den Inhalt und das Datum des v. Hefele'schen Briefs mit, woraus
sich ergiebt, daß letzterer eine allgemein gehaltene Beileidsbezeugung an den
Minister v. Golther aus Anlaß der Enthebung desselben vom Ministerium
enthielt, und vom 10. März 1870 also aus einer Zeit datirt war, wo die
vaticanischen Decrete noch gar nicht erlassen und die Frage der Unterwerfung
unter dieselben noch nicht in Frage stand, aus einer Zeit, wo der jetzige
Cultusminister — der erst im Mai 1870 in das Ministerium berufen wurde
— noch gar nicht im Amt war.
Natürlich liegt die Frage nahe, wer im Frühjahr 1871 die irreleitende
Mittheilung des v. Hefele'schen Briefes an Herr v. Gaffer, der denselben ein¬
gesehen haben soll — gemacht hat, und zu welchem Zwecke diese Benutzung
eines in ganz anderer Absicht das Jahr zuvor geschriebenen Briefs erfolgte.
Herr v. Golther könnte wohl hierüber Aufschluß geben —- bis jetzt hat der¬
selbe aber geschwiegen. Ueber die intimen Beziehungen, welche Herr v. Gaffer
s- Z. mit der großdeutschen Partei in Stuttgart unterhielt, haben die Grenz¬
boten schon im Jahr 1871 berichtet. —
So bewegt die kirchliche Frage — aller Friedensbemühungen ungeachtet
fortwährend die Gemüther und nimmt schon seit einiger Zeit einen eigen¬
thümlich persönlichen Charakter an, welchen man zwar um der Sache willen
beklagen kann, welchen man aber nicht ignoriren darf, wenn man ein Bild
der Zustände geben will, wie sie einmal thatsächlich in unserem Lande
bestehen.
Das führt uns aus die Entgegnung des Herr Ministers v. Mittnacht
in No. 18 der Grenzboten.
Wir glauben uns hierbei auf die Bemerkung beschränken zu dürfen, daß
Wir unsererseits nur den Eindruck geschildert haben, welchen die von uns an¬
keführten in der Hauptsache nicht dementirten Verhältnisse in Verbindung mit
der peinlich empfundenen Zurückhaltung unserer Regierung in der Kirchenfrage
bei der Mehrheit der protestantischen Bevölkerung in Schwaben nach und nach
hervorgerufen haben. Sollen wir unsere eigene Ansicht aussprechen, so sind
wir allerdings der Ueberzeugung, daß — so wie die Verhältnisse liegen — eine
wirksame Aufnahme des Kampfs gegen die Uebergriffe der Curie nur unter
der energischen Mitwirkung liberaler Katholiken möglich ist. Ob Herr v. Mitt-
nacht in die letztere Kategorie gehört, haben wir unserer Seits weder bejaht
noch verneint, vielmehr ausdrücklich die Möglichkeit in Berechnung genommen,
daß Herr v. M. selbst sich noch an die Spitze der Bewegung stellen, und da¬
durch die von der ganzen nationalen Partei so sehnlichst gewünschte Klärung
unserer Situation herbeiführen könnte. Im Uebrigen sehen wir uns in that¬
sächlicher Beziehung zu der Bemerkung genöthigt, daß in dem angeführten
Kortkampf'schen Almanach außer dem Nudolstädtischen Minister von Bertrab
nur Herr v. M. sich als römischen Katholiken eingetragen hat, während
sämmtliche übrigen katholischen Mitglieder des Bundesraths entweder die Angabe
der Confession wegließen oder sich einfach als Katholiken bezeichneten. Daß
aber das Wort römisch-katholisch dermalen den Gegensatz nicht blos zu den
Altkatholiken sondern ganz besonders zu den Staatskatholiken ausspricht, ist
bekannt, und hat deßhalb eben das Verfahren des Herrn v. M. die von uns
angeführte Deutung in der katholischen Presse erfahren.
Die Thatsache, daß das Einführungsgesetz zur Civilehe vorher dem
Bischof zur Genehmigung vorgelegt worden, haben wir ausdrücklich als der
klerikalen Presse entnommen angeführt, welche das Ministerium einstimmig
unter. Hervorhebung des Gegensatzes zu dem Verhalten der Preußischen Regie¬
rung belobt hat, ohne daß man seither für nöthig befunden hatte, sich gegen
di
So haben wir denn auch in Berlin einen Vorgeschmack des Bayreuther
Bühnenfestspielö gehabt. Richard Wagner hat uns einige Bruchstücke aus
seiner „Götterdämmerung" vorgeführt, nachdem er denselben Versuch in Wien
gemacht hatte. Man erzählt sich, der Dichter-Componist habe sich nach langem
Widerstreben zu diesem Experiment entschlossen; nur die bittere Nothwendig¬
keit, auf diese Weise einen Theil der zur Ausführung seines Riesenunterneh¬
mens noch fehlenden Mittel zu beschaffen, habe ihn dazu gedrängt. In der
That, kein Anderer mag wie der Schöpfer des gewaltigen Werkes selbst em¬
pfinden, wie wenig das Wesen desselben aus diesen spärlichen Splittern heraus
erfaßt werden kann. Und außerdem: wie reimt sich das Wagner'sche Drama
zum Concertsaal? Man weiß, welch' hervorragende Rolle grade im „Ring
des Nibelungen" der Scenerie zugewiesen ist. Ohne die lebendige Anschauung
derselben ist die Musik kaum verständlich; die durch einige, dem Text beige¬
fügte beschreibende Bemerkungen angeleitete Phantasie kann immer nur einen
dürftigen Ersatz schaffen. Und dennoch darf gesagt werden, daß die Wirkung
der drei Bruchstücke selbst hier in dem nüchternen, kalt-kritischen Berlin eine
unbestritten siegreiche gewesen ist. Man denke nicht, daß der Erfolg wohl
mehr dem Manne als der Sache gehöre. Wagner's Persönlichkeit hat nichts
Bestechendes. Absonderlichkeiten, wie der traditionell aus dem Rockschoß her¬
aushängende rothe Taschentuchszipfel, wirken aus diejenigen Bestandtheile des
Publikums, welche nicht von der Vergötterungssucht angesteckt find, eher be¬
fremdend, als anziehend. Nein, es war unverkennbar des Werkes eigener
Werth, der mit überzeugender Gewalt die Hörer allmählich bis zur hellen
Begeisterung entflammte.
Am wenigsten vermochte das erste Fragment, das Vorspiel zur „Götter¬
dämmerung", zu erwärmen. Die Einleitung malt eine nächtliche Scene auf
felsiger Höhe; die drei Nornen weben und werfen das Seil des Schicksals: —
es reißt. Die musikalische Begleitung dieses Vorganges ist in ihrer düster-
klagenden Weise von wunderbarer Tiefe. Aber es brauchte eine Weile, ehe
die Phantasie des Hörers für diese ferne Welt der Helden und Dämonen
vollkommen accommodationsfähig geworden war. Und daß der Text diese
Psychische Präparation nicht erleichtert, ist leider eine bedauernswerthe That¬
sache. Es kostet immer schon große Anstrengung, sich in den uralten Rhyth¬
mus hinein zu gewöhnen. Aber wenn es damit nur abgethan wäre! Es
gesellt sich hierzu eine Verrenkung und Ungelenkigkeit der Satzbildung, die
auch in den ältesten Dichtungen ihres Gleichen suchen dürfte, — eine Satz¬
bildung, die dem Dichter vielleicht die Befriedigung der Gelehrsamkeit gewährt
haben mag, für den Leser und Hörer aber nur eine grausame Quälerei ist.
Auch mit der ebenso gewissenhaft wie mühsam durchgeführten Alliteration ist
es nicht anders; die mangelnde poetische Schönheit kann sie nicht ersetzen. —
Voll und ganz aber schlug das zweite Bruchstück, Siegfried's Tod, durch.
Der in seliger Verzückung oahinströmende Sterbegesang des Helden, von un¬
serm Niemann vorgetragen mit der ganzen Inbrunst einer leidenschaftlich be¬
wegten Seele, war von unwiderstehlicher, tiefergreifender Wirkung. Welch
eine Fülle ungeahnter Gefühle durchbebt dies jugendfrische Heldenherz, als es
w „süßem Vergehen", in „seligem Grauen" aus dem Erdenleben dahinscheidet!
Das unendliche Wogen und Sprießen, die in tausendfältigen Farben funkelnde,
sinnberückende Pracht der Wagner'schen Polyphonie — hier ist sie in ihrem
eigensten Element. Fürwahr, das ist das hohe Lied des fröhlichen Helden¬
todes! In diesem jauchzenden Dahinschweben über das Irtisch-Gemeine, über
^eit und Raum, was bleibt da noch von den Schrecken des Sterbens? —
Und dann, als Siegfried seine Seele ausgehaucht hat, als die Mannen ihn
auf dem Schilde von dannen tragen, da hebt das Orchester einen Trauerchor
an, eine Todtenklage und Apotheose zugleich von so elementarer, überwälti-
gender Macht, daß es wahrlich nicht Wunder nehmen konnte, wenn das
Publikum unter endlosem Beifall die ganze Scene as, eapv verlangte.
Als dritte Nummer wurde die Schlußscene des letzten Aktes geboten.
Sie umfaßt Brünnhildens Klage und Tod. Auch sie hinterließ einen ge¬
waltigen Eindruck. Die überaus schwierige Partie der Brünnhilde wurde von
Frau Materna aus Wien zwar mit einem häufigen Anfluge unnöthiger
Tremolirens, sonst aber mit bestem Verständniß und höchst anerkennenswerther
Tapferkeit gesungen. Ergreifenderes ist kaum zu denken, als wenn Brünn¬
hilde in den Anblick von Siegfried's Leiche versunken, also klagt:
Aechter, als er,
schwur keiner Eide;
treuer, als er,
hielt keiner Verträge;
laut'rer, als er,
liebte kein andrer:
und doch alle Eide,
alle Verträge,
die treueste Liebe —
trog keiner wie er!
Und ein wahrhaft dämonischer Zauber liegt in den letzten Sätzen, als
Brünnhilde sich in rasendem Jubel aus ihr Roß schwingt und dasselbe in
ihres Helden lodernden Scheiterhaufen sprengt. Dann folgt die Schlußkata¬
strophe: die Wiedergewinnung des Nibelungenringes durch die Rheintöchter
und der Untergang Hagens in der Flurs, während am Himmel sich der
Schein des Nordlichtes ausbreitet und der Blick in den Göttersaal sich öffnet.
Die musikalische Begleitung dieser letzteren Wandlung besonders ist von er¬
habener Schönheit.
Richard Wagner kann Berlin mit Befriedigung verlassen. Eine Ansprache,
die er, als der Beifall am Schluß nicht enden wollte, an das Publikum hielt,
schien auch dieser Befriedigung Ausdruck geben zu sollen. Ich habe unter dem
anhaltenden Geräusch einer im Aufbruch begriffenen äußerst zahlreichen Ver¬
sammlung nur ein paar Worte des Dankes verstanden, zugleich etwas von
Zuversicht zu dem Gelingen des Bayreuther Unternehmens. Wer möchte
dem alternden Meister nicht von Herzen gönnen, daß er das Ideal seines
Lebens herrlich verwirklicht sähe! Aber freilich, wenn auch das „Festspiel"
zu Stande kommt, für das „Gelingen" ist keine Garantie geboten. Ich meine
damit nicht eigentlich einen erwünschten Verlauf der nächstjährigen Auffüh¬
rung, wiewohl mir auch dieser noch keineswegs gesichert scheint. Ganz abge¬
sehen von den an die Sänger und Sängerinnen gestellten, fast übermenschlichen
Anforderungen, bleibt mir sehr zweifelhaft, ob die samische Technik selbst in
einem Zeitalter, wo man auf der Bühne, wie gegenwärtig im hiesigen Vic¬
toriatheater, Dampfschiffe explodiren und von den stürmischen Wogen begraben
werden läßt, allen ihr hier gemachten Zumuthungen zu genügen im Stande
sein wird. Auch der souveränen Verfügung über die thierischen Requisiten
dürften sich hie und da unübersteigliche Hindernisse entgegenstellen; z. B. ein
Pferd zu einer Procedur abzurichten, welche dem Zuschauer den Eindruck
macht, als ob es sich in die Flammen stürze, könnte selbst für die höhere
Pferdedressur leicht eine unlösbare Frage bleiben. Aber lassen wir dies
Alles bei Seite und nehmen wir an, die Aufführung geht aufs Beste von
Statten — würde aber nicht das Bayreuther Fest, trotz alles augenblicklichen
Erfolges, für Wagner und sein System gradezu eine Niederlage werden, wenn
sich eine Wiederholung, eine öftere Wiederholung desselben als unmöglich her¬
ausstellte? Alles wird darauf ankommen, ob dies „Bühnenfestspiel" wirklich
das „nationale Drama" ist, welches Wagner mit ihm beabsichtigt hat. Man
hat ihm vorgeworfen, daß seine Gestalten weit mehr der nordischen, als der
specifisch deutschen Sage entlehnt seien; das würde indeß, bei dem Jneinan-
derübergreifen der Mythologien der verschiedenen germanischen Völkerschaften,
wenig ins Gewicht fallen. Die Frage des „nationalen" Charakters läuft
vielmehr darauf hinaus, ob dies Festspiel ein Besitzthum der gesammten deut¬
schen Nation werden wird. Und da scheint mir die Gefahr nahe zu liegen,
daß ein wirkliches Interesse für dasselbe nur in den oberen Zehntausend Platz
greifen wird, von allen anderen Bedenken zu schweigen. Doch lassen wir das
Prophezeien und warten wir die nicht mehr ferne Entscheidung ab. Fällt
sie gegen Wagner aus, so hat er immer noch den Trost: In ma^ins vvluiWv
sät estl In der That, der Gedanke ist groß, einzig in seiner Art und macht
der deutschen Nation alle Ehre. Auf alle Fälle also: Achtung vor einem
solchen Genie! —
Als ein anderes hervorragendes musikalisches Ereigniß der letzten Wochen
ist die Aufführung von Rubinstein's „Makkabäern" im Opernhause zu nen¬
nen. Der Text dieser Oper ist von Mosenthal im engsten Anschluß an das
gleichnamige Drama von Otto Ludwig geliefert, bot also nichts eigentlich
Neues. Um so mehr war man auf die Musik gespannt. Eine Oper von
Rubinstein war bisher hier nie gehört worden, und die „dramatische Sym¬
phonie", welche er uns vor Kurzem im Concertsaal zum Besten gegeben, hatte
mit ihrem entsetzlich zerfahrenen Charakter nicht gerade die günstigsten Er¬
wartungen geweckt. Da muß nun freilich zugestanden werden, daß die Auf¬
führung solches Vorurtheil vollständig besiegt hat. Die Oper macht auf alle
Fälle den Eindruck eines mit innerer Nothwendigkeit gestalteten organischen
Baues, während jene Symphonie sich nur zu sehr als ein willkürliches Ge¬
fügt zusammenhangsloser Einfälle kennzeichnet. Originalität aber läßt sich
auch dieser Rubinstein'sehen Schöpfung nicht nachrühmen. Zwei Einflüsse, unter
sich selbst vielfach verwandt, sind bestimmend für das Ganze gewesen: die
Meyerbeer'sche Oper und das Mendelssohn'sche Oratorium. Namentlich
bet den Chören, in welche ganz überwiegend der Schwerpunkt gelegt ist, drängt
sich diese Wahrnehmung auf Schritt und Tritt aus. Im Uebrigen ist für
die dramatische Behandlung das Wagner'sche Prinzip angenommen und
damit, im Unterschiede von Meyerbeer und Mendelssohn, die Arie ganz in
Wegfall gekommen. Außer den beiden Genannten hat der Componist jedoch
auch andere Vorbilder nicht verschmäht. Von einigen Beethoven'schen Motiven
abgesehen, hat namentlich Gounot herhalten müssen.
Die Liebesscene zwischen dem Makkabäer Eleazar und seiner Verführerin,
der syrischen Königstochter Kleopatra, ist ganz nach seinem Recept gemacht,
aber eben — gemacht. Der müßte kein Mensch sein, dem bei der Garten¬
scene in Gounot's Faust oder, bei der Balconscene in desselben Componisten
„Romeo und Julia" nicht das Blut in Wallung geriethe; hier aber bleibt
man kalt, man vermißt den aus der eigensten Innerlichkeit herauswirkenden
Impuls. An anderen Stellen ist es, als ob der Geist Verdi's über die
Bühne schritte. Der Siegesgesang der Leah z. B., hinter welchem Manche
eine von uralten Zeiten her überlieferte Synagogenmelodie vermuthen, scheint
mir sehr lebhaft an gewisse Motive des Troubadour zu erinnern. Trotz alle-
dem trägt das Werk im Großen und Ganzen einen einheitlichen und, wie
wir gern hinzusetzen, imposanten, an manchen Stellen sogar großartigen
Charakter. Die Chöre sind fast durchweg von überwältigender Wirkung.
Freilich treten die Einzelfiguren gegen dieselben fast in den Hintergrund; doch
sind Leah, die Mutter der Makkabäer, und Judens, ihr ältester Sohn, zwei
reich ausgestattete und auch der scharfen Individualisirung nicht ermangelnde
Gestalten.
Die Aufführung war vortrefflich. Der stark besetzte Chor that nach
besten Kräften seine Schuldigkeit, und unter den Einzeldarstellern entzückten
Frl. Brandt (Leah) durch dramatische Gestaltungskraft, Frl. Grossi (Kleopatra)
bares süßen Liebesgesang und vor Allen Betz (Judah) durch die vollendetste
Paarung von markiger Wucht und weichem Wohlklang des Tones. Die Jn-
scenirung war glänzend, der Platz vor dem Tempel in Jerusalem, von Gro-
pius angefertigt, ein Meisterwerk der Decorationsmalerei. Alle diese Factoren
sind in Beurtheilung des unzweifelhaften Erfolges der Oper nicht außer Rech¬
nung zu lassen. Ob sie durch ihren eigenen Werth im Kampfe ums Dasein
dauernd obsiegen wird, muß die Zukunft lehren.
Das Gesitz über die Vermögensverwaltung der katholischen Kirchenge¬
meinden ist in den dieswöchentlichen Verhandlungen des Abgeordnetenhauses
durch die zweite und dritte Lesung gegangen. Mit den Einzelheiten brauchen
wir uns nicht eingehend zu beschäftigen. Das Wesentliche des Gesetzes liegt
in der Einsetzung eines Kirchenvorstandes und einer Gemeindevertretung, in
der Bildung beider Organe durch Wahl und in der Uebertragung der Ver¬
waltung des Kirchenvermögens an beide Organe mit der herkömmlichen Thei¬
lung der Funktion zwischen Ausführung und Beschlußfassung. Wir haben
schon bei dem Bericht über die erste Lesung hervorgehoben, daß der Erfolg
des Gesetzes vorläufig als sehr zweifelhaft betrachtet werden muß. Das Ge¬
setz könnte eine große Wirkung haben, wenn in der katholischen Kirche eine
Laienwelt vorhanden wäre, die in Opposition zum Clerus stände und gleich¬
wohl in der Kirche bleiben wollte. Nach einer solchen Laienwelt wird man
sich aber vergeblich umsehen. Man ist eben Katholik, man bleibt eben Katho¬
lik, weil man das Laienverhältniß in vollem Ernste aus sich nehmen will.
Der evangelische Laie betrachtet sich nicht als Laie, sondern als fungirendes
Mitglied seiner Kirche, wenn er auch von Luther's allgemeinem Priesterthum
nie etwas gehört haben sollte. Nun beruft man sich freilich auf das be¬
rühmte: in Geldsachen hört die Gemüthlichkeit auf, um auch katholischen
Laienorganen, soweit sie das Geldwesen der Kirche zu verwalten haben, ein
erfolgreiches Wirken vorauszusagen. Das könnte vielleicht der Fall sein in
friedlichen Zeiten. In der heutigen Zeit aber steht einer erfolgreichen Wirk¬
samkeit des Laienelementes nicht nur die herkömmliche Bevormundung und
Indifferenz der Laien entgegen, sondern außerdem noch der frisch angefachte
kirchliche Fanatismus. Wer mit dem Hineinsprechen der Laien in die kirch¬
liche Vermögensverwaltung Ernst machen will, wird zum schlechten Gläubigen
gestempelt werden, nicht nur durch den Clerus, sondern auch durch die fana-
tisirten Laien.
Wir wollen mit diesen Bemerkungen jedoch nicht sagen, daß das Gesetz
als Uebergangsversuch nicht seine Berechtigung habe. So wie die Dinge
liegen, wird zunächst die preußische, weiterhin die Gesammtheit der deutschen
Staatsregierungen voraussichtlich in die Lage kommen, die Verwaltung des
katholischen Kirchenvermögens selbst in die Hand zu nehmen. Ob die jetzt
geschaffenen Laienorgane sich dabei als eine nützliche Hülfe bewähren werden,
steht dahin. Die Art ihrer Bewährung wird jedenfalls von großem Einfluß
sein auf die einstige definitive Verfassung der katholischen Kirche in Deutschland.
Die Verhandlungen über das Gesetz können unserm Bericht nur wenig
Stoff geben. Alle solche Gesetze werden, wie es in der Natur der Sache
liegt, ausschließlich in das Licht des Culturkampfes gestellt, gegen dessen
Effekte die Theilnahme gründlich abgestumpft ist. Wir erwähnen deshalb
nur. daß wir dem Abgeordneten Reichensperger unsere Bewunderung zollen
müssen, wie er unermüdlich mit der Ruhe des gebildeten Mannes die An-
klagen gegen die katholische Kirche zurückweist, indem er den Antheil am ge¬
schichtlichen Recht, der im Streit der Gegensätze stets beiden Seiten zukommt,
objectiv ans Licht zieht. Es ist z. B. ganz richtig, daß der Papst bei der
Dankfeier für die Bartholomäusnacht nicht die Darstellung des Ereignisses
vom hugenottischen Standpunkt vor Augen hatte. Nicht einen heimtückisch
angezettelten Meuchelmord in Masse glaubte er zu feiern, sondern eine zurück¬
geschlagene Verschwörung. Wenn der Parteigeist Verbrechen feierte, hat er
sie immer zuvor ihres wahren Charakters entkleidet oder denselben auch zu¬
weilen nicht gekannt. Nur ändert dies Alles sehr wenig an der historischen
Gesammtstellung der katholischen Kirche, an den Consequenzen ihrer Lehre
gegenüber der wahren Gewissens - und Geistesfretheit. Die Wahrnehmung
ruft ein gewisses schmerzliches Gefühl hervor, daß gebildete Männer, deren
Stellung zu irgend einer Glaubensgemeinschaft auf persönlicher Pietät beruht,
die ganze historische Sündenschuld einer solchen Gemeinschaft sich ins Gesicht
vorwerfen lassen müssen, als wären sie solcher Schuld persönliche Erben und
Vertreter. Aber da liegt's. Sie ziehen die Vertretung solcher Schuld in der
That auf sich, indem sie die ungeheuerlichen Usurpationen vertheidigen, zu
denen sich das Papstthum in unsern Tagen hat hinreißen lassen. So er¬
staunlich sind diese Usurpationen in der That, daß sie von Vielen noch nicht
geglaubt werden, daß Viele geneigt sind, der ultramontanen Beschönigung zu
trauen, es sei dies Alles nur t'ayon Ah parler, pomphafter Canzleistil u. tgi.
So stehen die Dinge leider durchaus nicht. Der Vatikan gefährdet durch
ein fanatisches Priesterheer die Einheit im deutschen Volk und macht sich zu¬
gleich zum Mittelpunkt aller politischen Rivalitäten, aller Rachegelüste und
Verschwörungen gegen das deutsche Reich.
Am 28. April interpellirte Herr Windthorst die Staatsregierung über
den Vollzug der Gefängnißstrafe bei politischen Verurtheilten. An die Jnter¬
pellation knüpfte sich eine Verhandlung, bei der ein ziemlich verworrenes
Durcheinander der Gesichtspunkte hervortrat. Wir folgen den einzelnen
Aeußerungen der verschiedenen Redner auch hier nicht. Das Wesentliche,
worauf es ankommt, hat der Justizminister, Herr Leonhardt, vortrefflich ins
Licht gestellt. Es wäre der größte Abweg, eine eigne Strafart für die poli¬
tischen Verbrechen einzuführen, deren Gebiet überdies nicht rationell abzu¬
grenzen ist. Auch wäre es eine gefährliche und unwahre Voraussetzung, an¬
zunehmen, daß der sogenannte politische Verbrecher sich, bei übrigens ehren¬
haften Charakter, gleichsam nur geirrt habe und danach behandelt werden
müsse, während der sogenannte bürgerliche Verbrecher immer eines unehren¬
haften Charakters zu zeihen und danach zu behandeln sei. Ganz überzeugend
führte der Justizminister aus, das Gesetz müsse verschiedene Strafarten dem
Richter zur wahlweisen Anwendung freistellen, und der Richter müsse nach
der Individualität nicht nach einem unsichern generellen Charakter des Ver¬
brechens die eine oder die andere Strafart zur Anwendung bringen; innerhalb
der vom Richter gewählten Strafart aber müsse durch die Gefängnißbehörden
ausschließlich die Individualität des Thäters, nicht die Individualität der
That zum Ausgangspunkt der Behandlung gemacht werden. Der Erlaß
genereller Borschriften über den Strafvollzug wird im preußischen Justiz¬
ministerium vorbereitet, die Bestimmung aber ist die Sache der Reichsgesetz¬
gebung. — Es dürfte unmöglich sein, über diesen Gegenstand einen sachge¬
mäßeren Ausspruch zu thun. So lange die Vorschriften über den Straf¬
vollzug freilich noch ungenügend sind, werden einzelne Unangemessenheiten
vorkommen. Der Eifer des Herrn Windthorst gegen solche Unangemessen¬
heiten scheint weniger in der Humanität zu suchen, als in dem Wunsche,
seinen Parteigenossen das jetzt so eifrig gesuchte Martyrium der Gefängni߬
strafe zu erleichtern. Wollte man aber darum alle Bestrafungen wegen Wider¬
standes gegen die Kirchengesetze als politische Verbrechen behandeln, und dann
wieder alle politischen Verbrechen als yuasi ehrenhafte Handlungen, so hieße
das, die Sicherheet des Staates doppelt preisgeben. Bei einer solchen Be¬
handlung würde die Scheu vor politischen Verbrechen und vor kirchlichem
Märtyrerthum gleichmäßig abnehmen und das allzubequeme Heidenthum beider
gleichmäßig gesucht werden. Der Staat und Alle, denen am Staat gelegen,
haben Grund, sich eine solche Folge mit ihrem Grund zu verbitten.
Am 29. April gelangte ein sehr wichtiges Gesetz zur zweiten Berathung,
das Gesetz über die Verwaltungsgerichte, welches von allen Berwaltungsre-
formgesetzen unseres Erachtens das fruchtbarste, vielleicht das einzige frucht¬
bare in der Gestalt ist, in welcher diese Gesetze bis jetzt vorliegen. Nach
diesem Gesetzentwurf soll die Verwaltungsjustiz oder die Rechtsprechung des
öffentlichen Rechts, wie man vielleicht weniger mißverständlich sich ausdrücken
sollte, in drei Instanzen erfolgen. Die erste Instanz sind die Kreisausschüsse,
deren Zusammensetzung und Funktion durch die Kreisordnung bereits voll¬
ständig geregelt sind. Die Kreisausschüsse vereinigen in sich eine richterliche
und eine verwaltende Funktion. Bei den Verwaltungsgerichten zweiter In¬
stanz hat der Regierungsvorschlag diese Vereinigung nicht gewollt. Die
Staatsregierung hat in ihrem Gesetzentwurf neben den fortbestehenden Be¬
zirksregierungen Bezirksausschüsse als Selbstverwaltungsorgane und drittens
besondere Bezirksverwaltungsgerichte als Verwaltungsgerichte zweiter Instanz
in Vorschlag gebracht. Die Commission zur Vorberathung des Negierungs-
entwurfs ist bei dem letzteren stehen geblieben bis auf die Terminologie. Sie
hat nämlich anstatt Bezirksverwaltungsgerichte den Ausdruck „Provinzialver-
waltungsgerichte mit örtlich abgegrenzter Competenz" eingeführt, und diese
Abgrenzung fakultativ gemacht. Durch diese Terminologie soll das Präjudiz
für das Fortbestehen der Bezirköregierungen beseitigt werden. Viel wichtiger
als diese Differenz, unter welcher die wirkliche und wesentliche Frage noch
nicht zum Vorschein kommt nach der Verkleinerung der Provinzen, ist eine
andere Differenz, welche in den Commissionsvorschlägen gar nicht zum Aus¬
druck gelangt ist. Nämlich die Verschmelzung des Bezirksausschusses mit dem
Verwaltungsgericht zweiter Instanz. Der Abgeordnete v. Kardorff entwickelte
vortrefflich die Gründe, welche für eine solche Verschmelzung sprechen. Nicht
minder treffend entkräftete er die Einwürfe. In letzterer Beziehung zeigte er,
wie unbegründet die Ueberlassung der Bezirksausschußmitglieder durch die
gleichzeitige Uebernahme der Verwaltungsgerichtsfunktionen sei. Die Haupt¬
belästigung der Mitglieder ist die Reise und der Aufenthalt in der Provinzial-
hauptstadt, nicht aber die dortigen Geschäfte. 'Uneingeschränkten Beifall ver¬
dient der folgende Satz des Redners: „Sie schaffen wirklich in dem gesammten
Rechtsbewußtsein der Nation eine unheilvolle Verwirrung, wenn Sie so viel
verschiedene Behörden bilden; vergessen Sie nicht, daß die alten Bezirksregie¬
rungen in ihrem ganzen Umfange bestehen bleiben, daneben nun die Bezirks¬
ausschüsse und die Verwaltungsgerichte. Wie soll ein einfacher Mann — wir
sagen statt dessen getrost: wie soll irgend ein Mensch — das verstehen, wenn
er heute an das Verwaltungsgericht, morgen an die Negierung, übermorgen
an den Bezirksausschuß verwiesen wird?" Der Redner führte dann noch aus,
wie das alte Vorurtheil der unbedingten Scheidung von Justiz und Verwal¬
tung hier zum Nachtheil der neuen Einrichtung sein Wesen treibe, wie man
cousequenter Weise noch dahin kommen werde, auch dem Kreisausschuß die
richterliche Funktion wiederum abzunehmen.
Wie so oft, wenn es sich um die Subsumtion, um die lebendige un¬
mittelbare Anwendung handelt, stellt sich Gneist auf die falsche Seite. Er
meinte, der Bezirksausschuß sei ein beweglich gestaltetes Organ und tauge
deshalb nicht zum Gericht. Daraus wäre der richtige Schluß gewesen, —
folglich muß der Ausschuß gestaltet sein wie das Gericht und nicht umgekehrt.
Der Graf Winzingerode bemerkte später ganz sachgemäß, daß es nichts sei
mit der Unterscheidung zwischen Zweckmäßigkeitsfragen und Rechtsfragen in
der Verwaltung. Je mehr die Gesetzgebung fortschreitet, desto mehr wird die
Verwaltung zur Anwendung von Gesetzen, destomehr nimmt sie folglich von
der Rechtsprechung an, um so unnöthiger wird folglich die Scheidung zwischen
Behörden der öffentlichen Rechtsprechung und der öffentlichen Verwaltung.
Was in der Verwaltung selbständige, nicht auf Regeln begründete Initiative
bleiben muß, das wird man schwerlich in die Competenz ausschußartiger
Selbstverwaltungsorgane legen wollen. Hier hat die Staatsregierung einer¬
seits und die Provinzialvertretung andererseits einzugreifen. Dagegen war die
von anderer Seite gemachte Bemerkung ganz unzutreffend, das Mißtrauen
gegen die Regierungen als Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts schreibe sich
von der Vermischung der Verwaltung und Verwaltungsrechtsprechung. Das
Mißtrauen, soweit es wirklich vorhanden, schreibt sich lediglich von dem
Mangel des öffentlichen und contradiktorischen, also des wirklich richterlichen
Verfahrens. Der Antrag des Abgeordneten v. Kardorff, der ganz mit unserm
früher hier niedergelegten Gedanken übereinstimmt, hat leider die Annahme
des Hauses nicht gefunden.
Die übrigen Einzelheiten des Gesetzes geben keinen Anlaß zum Eingehen.
Eine wichtige Frage tauchte nur am Schluß noch auf. Es besteht in Preu¬
ßen ein eigner Competenzconflictshof bei Conflikten zwischen den Gerichtshöfen
des Privatrechts und den Verwaltungsbehörden. Durch die einzuführenden
Berwaltungsgerichte bekommen wir nun Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts.
Der vorliegende Gesetzentwurf schreibt vor, daß bei Conflikten der Verwaltungs¬
behörden mit den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts die dritte Instanz der
letzteren, nämlich das Oberverwaltungsgericht entscheiden soll. Dagegen soll
der Competenzconfliktshof bestehen bleiben für die Conflikte der Verwaltung
mit den Gerichtshöfen des Privatrechts. Anders ist die Sache vorläufig nicht
zu machen, so lange nicht das Reichsgesetz über die Organisation der Gerichte
ergangen ist. Wenn dieses Reichsgesetz und mit ihm ein oberstes Reichsgericht
ins Leben getreten sein wird, dann wird man dem höchsten Reichsgericht die
Entscheidung über die Competenzconflikte übertragen können zwischen Privat¬
recht und öffentlichem Recht. Der Einzelstaat thut am besten, so lange das
Reichsgericht nicht vorhanden, die Grenze zwischen Privatrecht und öffentlichem
Recht durch ein besonderes Gericht ziehen zu lassen. Die Commission hatte
dieses System ihrerseits durch ein künstliches System des Zusammenwirkens
der betheiligten Organe der privaten und der öffentlichen Rechtssphäre von
Fall zu Fall zu ersetzen gesucht. Zum Glück fand dieser unpraktische Vor¬
schlag nicht die Annahme des Hauses, statt seiner ward vielmehr die Regie¬
Poetische Abende. Von Rudolph Genee. Leipzig, Verlag von
Veit u. Comp. — Dies Buch erschien verflossnen Winter um die Weihnachts¬
zeit und war wohl beiläufig auch für den Weihnachtstisch bestimmt. Da
jedoch der Name Genee dafür zu bürgen schien, daß wir es hier mit mehr
als einem obligaten „Festgeschenk" zu thun hätten, so glaubten wir, es uns
zu sorgfältiger Durchsicht für gelegene Zeit aufsparen zu müssen, in der festen
Hoffnung, darin ein gediegenes, originelles Werk von bleibendem Werthe zu
finden. Zu unserm Bedauern müssen wir aussprechen, daß wir uns in dieser
Hoffnung völlig getäuscht haben.
Das Wort „poetisch" im Titel des Buches ist nicht von Poesie, sondern
von Poetik abzuleiten, und der Titel sollte daher eigentlich, wenn diese Wort¬
form überhaupt gebräuchlich wäre, „Poetikalische Abende" heißen. So wie
er jetzt lautet, gehört er zu jenen halb andeutenden, halb verhüllenden Titeln,
die man sich allenfalls über einem Zeitungsartikel gefallen läßt, bei einem
Buche aber entschieden mißbilligen muß. Man sollte meinen, schon die Ver¬
leger selbst müßten im Interesse ihres Geschäftes den Autoren gegenüber gegen
derartige unklare Titel Protestiren.
Der Verfasser bezeichnet es als die Aufgabe seines Buches, „die Grund¬
sätze des Vor trag es rhythmischer Poesien darzulegen, und durch Hinweise
auf die praktische Ausübung dieser Grundsätze dieselben zu unmittelbarer,
lebendiger Wirkung zu bringen", und die Durchführung dieser Ausgabe ver¬
theilt er sich gleichsam auf einzelne Lectionen, die er eben als „poetische Abende"
bezeichnet. Das ist gewiß ein sehr hübscher, ansprechender Gedanke, und es
wäre zu erwarten, daß Gene'e, der neben Türschmann und Wauer zu unsern
besten Vorlesern zählt und ebenso wie die beiden genannten in den letzten
Jahren in vielen Städten Deutschlands durch die Kunst seines Vortrags
große Erfolge errungen hat, recht eigentlich dazu berufen sei, diese Idee zu
verwirklichen. Die Ausführung kann aber in keiner Weise befriedigen.
Unter der vagen Ueberschrift: „Ueber Sprache und Vortrag" giebt Gene'e,
nach einigen allgemeinen Betrachtungen, eine Reihe theoretischer Erörterungen
aus dem Capitel der Metrik und über deklamatorischen Vortrag. Die Partie
über Metrik ist entschieden schwach. Aus jeder populären Poetik kann sich der
Laie eingehender über den Gegenstand unterrichten, als bei Gene'e. Indeß
soll hierauf kein Gewicht gelegt werden, da der Verfasser selbst bekennt, dies
Thema nur insofern behandelt zu haben, als es „für seine eigentliche Aufgabe
unumgänglich nöthig war". Wenn aber der Verfasser einen aus vier jambischen
Dipodien bestehenden Vers als „Heptameter" bezeichnet, wenn er sich allen
Ernstes einbildet, es gebe einen „wohlklingendsten und beliebtesten" Hexameter,
so sind das Dinge, die wir durchaus nicht für „unumgänglich nöthig" halten
können, die vielmehr beweisen, daß Genee in diesen Fragen selber nur oberflächliche
Kenntnisse hat. Umsomehr waren wir nun auf den andern Abschnitt der Ein¬
leitung, der vom deklamatorischen Bortrage handelt, gespannt.. Aber auch
von ihm kann man nicht behaupten, daß er irgend etwas enthielte, was sich
nicht jeder verständige und geschmackvolle Leser von selber sagen könnte. Dieser
Theil enttäuscht einen am meisten, weil man am meisten von ihm erwartet.
Es folgen nun die eigentlichen „poetischen Abende", zwölf an der Zahl.
Der erste behandelt die altdeutschen Formen, der zweite und dritte die grie¬
chischen, der vierte die italienischen und spanischen; daran schließen sich im
fünften und sechsten Capitel die dramatischen Jamben, und im siebenten „die
deutsche Ballade" ; der achte Abend umfaßt Didaktisches und Elegisches, der
neunte bringt Schiller'sche Balladen, der zehnte das deutsche Lied und
Schiller's Glocke, der elfte „Neuere Balladen und erzählende Gedichte",
der zwölfte endlich „Verschiedene Formen". Man sieht sofort, daß in
dieser Gruppirung eine Confusion ganz verschiedener Gesichtspunkte vor¬
gegangen ist. Darüber ist sich auch der Verfasser vollkommen klar; um
so unbegreiflicher ist es, wie er sich dabei hat beruhigen können. Noch
ärger aber ist folgendes. In diesen zwölf Abenden sind nicht bloß eine
lange Reihe der bekanntesten deutschen Gedichte, die in allen Gedichtsamm¬
lungen für Schulen stehen und die jeder, der eine höhere Bildungsanstalt be¬
sucht hat, aus seiner Schulzeit zum großen Theil auswendig weiß, sondern
auch bogenlange Ausschnitte aus den bekanntesten deutschen Dramen (Nathan,
Carlos, Iphigenie, Tell), wörtlich abgedruckt. Von den 440 Seiten, aus
denen das Buch besteht, sind netto 300 mit Dichtungen bedruckt, 22 sind,
da jeder „poetische Abend" wieder sein besonderes Titelblatt hat, an Titel¬
blätter und Inhaltsverzeichnisse verschwendet, 24 sind ganz leer, und nur
der Rest wird durch den Text von Gene'e gefüllt! Das ist denn doch eine
Buchmacherei, gegen die man entschieden Verwahrung einlegen muß. Wenn
der Verfasser uns seine aus der Praxis gewonnenen Ideen über den Bortrag
von Dichterwerken mittheilen wollte, so konnte er das letztere in einer Bro¬
schüre von 2 — 3 Bogen thun. Zu einem Bande von 440 Seiten lag nicht
die geringste Nöthtgung vor.
Jeder Gruppe von Gedichten ist eine Einleitung vorausgeschickt. Hier
wird der Leser nochmals im Einzelnen darüber belehrt, in welchem Versfuße
die zugehörigen Gedichte verfaßt sind; dann folgen manchmal ein paar literar-
geschichtliche Notizen über die Quelle und Entstehung der Gedichte und einige
Phrasen über ihren poetischen Werth — alles sehr dürftig, ohne Ordnung
und Zusammenhang, ohne Durcharbeitung hingeworfen. Man schlägt das
Capitel über die Ballade auf und hofft einige Andeutungen über das Wesen
dieser Dichtungsgattung zu finden — keine Spur davon! Statt dessen wird
uns mitgetheilt, daß im „Fischer" und im „Sänger" von Goethe „das reine
jambische Metrum" herrscht, und daß im „Erlkönig" in den Worten: „Ich
liebe dich, mich reizt" nur zwei Hebungen erhalten sind. Aber auch über den
Vortrag der einzelnen Gedichte erfährt man in diesen' Einleitungen nichts.
Du möchtest vielleicht einmal den „Zauberlehrling" von Goethe vortragen und
schlägst nach, was Gene'e wohl über die zweimal wiederkehrende Strophe
„Walle! Walle! Manche Strecke" zu bemerken hat, ob er vielleicht der Ansicht
sei, daß sie der Zauberlehrling das erste Mal leise, gleichsam nochmals me-
morirend und sich vergewissernd vor sich hinsumme, das zweite Mal erst die
laute Anwendung davon mache. Du suchst vergeblich danach und erfährst
weiter nichts, als daß der Vortrag dieser Gedichte „sehr schwierig" sei —
was du vorher auch schon wußtest — und daß er „mit dramatischer Leb¬
haftigkeit erfüllt" sein müsse. Das ist Alles. Uebrigens werden diese Capitel-
einleitungen mit jedem „Abend" magerer und werthloser. An den beiden letzten
Abenden, in denen doch die ganze Menge der verschiedenartigsten Gedichte
vorgeführt wird, sind sie glücklich zu einer Seite zusammengeschrumpft.
Es ist, als ob dem Versasser der Athem schließlich ausgegangen wäre.
Hinter den „Abenden" folgen noch ein paar Seiten erläuternder Anmer¬
kungen. Diese sind das Wunderlichste, was uns je an solchen Anmerkungen
zu Gesicht gekommen ist. Es ist beim besten Willen nicht möglich, hier irgend
einen Grundsatz zu entdecken, nach'dem der Herausgeber verfahren sei. Er druckt
z. B. eine Horazische Ode ab; einen darin vorkommenden Namen erläutert
er, zehn andere, die für ein so völlig voraussetzungsloses Publikum, wie es
Gene'e doch für sein Buch nur im Auge gehabt haben kann, ebenso dringend der
Erläuterung bedürften, bleiben unerklärt. Kein Mensch kann entrcithseln,
warum die eine Anmerkung dasteht, und zehn andere fehlen. Der einzige
denkbare Grund wäre der, daß Gene'e bei der einen Stelle etwas zu sagen ge¬
wußt hat, oder wenigstens zu wissen geglaubt hat; bei einer anderen, wo
dies nicht der Fall war, er auch gerade kein Buch zum Nachschlagen bei der
Hand hatte, schweigt er sich eben einfach aus.
Der Abdruck der Gedichte ist im Allgemeinen correct bewerkstelligt, doch
begegnet man auch allerhand unmotivirten Abweichungen in der Orthographie
und Interpunktion, ja selbst im Wortlaute. In Schiller's allbekannten
Distichon über das Distichon macht Gene'e aus „des Springquells flüssiger
Säule" eine „mächtige Säule"; im Goethischen „Sänger" ändert er die jedem
Kinde bekannte Zeile: „Der König, dem das Lied gefiel" ab in: Der
König, dem es wohlgefiel. Vom Centauren Cheiron scheint Gene'e nähere
Kunde zu haben, daß es ein Schimmel gewesen ist; denn in Ramler's Ueber¬
setzung der 13. Horazischen Epode läßt er ihn als „weißen Chiron" auftreten.
Hie und da werden Abänderungen zwar nicht direct vorgenommen, aber doch
sehr ungenirt vorgeschlagen; so heißt es in einer Anmerkung zu Goethe's
„Fischer": „dem Angel ist dem allgemeinen Sprachgebrauch entgegen, man
wird dies ohne Bedenken ändern können. Auch sonst fehlt es nicht an
Ungenauigkeiten; so steht Gene'e z. B. mit dem B in griechischen Worten
entschieden aus gespanntem Fuße, wie seine Schreibung Amphibrachis, Jbikus.
Jlithia (!) beweist.
Ein Buch wie diese „Poetischen Abende" läßt sich selbst für das talem-
hafteste Publikum schlechterdings nicht ohne ein gewisses Maaß philologischer
Akribie arbeiten; es braucht deßhalb keineswegs geschmacklos und langweilig zu
werden. Diese Akribie vermißt man hier aber fast nach allen Seiten hin. —
Die Verlagshandlung hat mit gewohnter, hier nur nicht recht angebrachter
Noblesse auch diesem Buche die schöne Ausstattung zu Theil werden lassen,
die sie allen ihren Verlagswerken, selbst den rein fachwissenschaftlichen, angiebt.
Novellen von Konrad Telmann.*) Ein junges Talent tritt uns
aus den Novellen von Konrad Telmcmn entgegen, und es läßt sich ein Wei¬
terschreiten vom Guten zum Bessern von der ersten bis zur letzten Erzählung
verfolgen. Wir sagen ein junges Talent und dürfen wohl diesen Ausdruck
gebrauchen, wenn wir ein erstes Debüt in der Oeffentlichkeit begrüßen, außer¬
dem aber weist ein gewisses Ungeschick in der Gruppirung des Stoffes, in der
Anlage der Charaktere auf eine zwar nicht im Fabuliren, wohl aber in des
Lebens ernstem Führen noch ungeübte Hand.
Fritz Reuter, Spielhagen, Storni, Imsen, Jeder hat in seiner Weise die
Leserwelt gewöhnt oder verwöhnt, bei Erzählungen aus dem Norden unsres
lieben Vaterlandes einen ganz bestimmten Lokalton zu erwarten. Schon die
Landschaft muß ihr eigenthümliches Gepräge tragen, die Menschen und ihre
Schicksale in diesen Rahmen und nur in diesen hineinpassen. Unwillkürlich
Seht man mit derselben Erwartung an ein Buch, das den Titel „In Pom-
er n " führt, und legt es, wenn man Schilderung von Landessitten, speziell
pommersches Leben darin gesucht hat, dann allerdings enttäuscht wieder
fort. Jede der Erzählungen könnte in jedem beliebigen deutschen Landesstrich
spielen, keine der Gestalten ist nur pommerschen Boden entwachsen, und
^Ibst die am individuellsten gezeichneten Figuren des Haideröschens und des
Vetters Schulmeister sind Typen, und glücklich erfaßte Typen des deutschen
Bauern^ und Bürgerstandes im Allgemeinen, nicht aber des pommerschen im
besondern. Die Charaktere leiden an einer gewissen Monotonie. Die Helden
Haben sehr edle Gefühle, schreiben auch, so lange sie unglücklich lieben, sehr
gefühlvolle Gedichte und Tagebücher, aber selbst das Steuer des Schicksals
on lenken, durch eignes Handeln einzugreifen und sich ihr Dasein ordentlich
Anzurichten verstehen sie nicht. Wenn sie trotzdem glücklich werden, so ist das
reine Gefälligkeit des Schicksals, das schließlich einen nichtswürdigen Gatten
oder einen grausamen Vater mit Tod abgehen läßt. — Aus diesem ersten
Mangel entspringt der zweite der vorliegenden Novellen: das Fehlen der
Handlung. Es dürfte selbst einem alten Praktiker schwer werden, mit diesen
gefühlvollen Menschen in frischem Zug vorwärts zu kommen. Konrad Tel-
mann's junges Talent hat sich selbst durch diese Schattenhaftigkeit seiner Per»
hören das größte Hinderniß zur freien Entfaltung geschaffen.
Doch wenn irgendwo, so gilt hier der Spruch: Fehler find zu weit ge¬
triebene Vorzüge. Diese breite Ausmalung des innern Gefühlslebens wird,
auf ein richtiges Maaß zurückgeführt, den späteren Gestalten Telmann's jene
innere Tiefe, jenen ernsten Gehalt geben, durch welche sich alle Schöpfungen
unsrer bessern Novellen-Literatur vor der bloßen Effecthascherei auszeichnen.
Selbst der aus den Novellen, besonders aus den „Iugendidealen" sprechende
Weltschmerz, der jetzt einen etwas grünen Eindruck macht, wird bei glücklicher
Entwicklung zu jener schönen Dichtergabe heranreifen können, auch den klei¬
nen, alltäglichen Lebenserscheinungen tiefere Bedeutung abzugewinnen und
aus dem dahinrollenden Tagesleben das Bleibende zu erfassen. Und zu die¬
sen, noch im Keim schlummernden Vorzügen gesellen sich andre, schon voll er¬
schlossene. Ein durchaus edler und reiner Sinn spricht aus den Novellen,
der sich abwendet vom Niedrigen, der, wo er es trotzdem zeichnet, es nur als
kräftige Schlagschatten benutzt für das Licht, dem er zustrebt. Mit dieser
idealen Richtung geht Hand in Hand die liebevolle Erfassung der Natur;
diese Naturschilderungen, die uns bald an das tosende, bald an das ruhende
Meer, in den Frieden des Waldes, oder in das schwirrende Leben der Haide, dann
auf luftige Berghöhe, dann auf Heidelberg's grünumwachsene Schloßruine
führen, wird Jedes immer wieder gerne nachschlagen in den beiden Bändchen.
Die Natur ist auch der Schauplatz, wo sich die Gestalten, des jungen Autors
am glücklichsten bewegen, wo sie die gerügten Fehler fast ganz abstreifen-
Da kommt auch die leichte, humoristische Anlage des Dichters zum Durchbruch
und schafft wirklich individuelle Menschen. So sind im „Haideröschen" die
beiden alten Dienstboten des Bauernhofes durch wenige Federstriche lebens¬
voller geschildert, als die beiden Haupthelden der Erzählung mit all ihren
Rückerinnerungen, Neckereien und Schwärmereien. Vortrefflich aber sind
die guten, fröhlichen Menschen im Vetter Schulmeister getroffen. Da
athmet Alles wirkliches Leben: Der pedantische Vetter, der so gründlich hätte
„reinfallen" können, und so glücklich geheilt wird, das neckische Pfarrtöch-
terlein, der würdige Bater, die brummige Haushälterin: sie alle sind Pracht¬
menschen, an denen Autor, Leser und Kritiker ihre helle Freude haben dürfen.
Das bürgerliche Leben, die Wiedergabe dieser engeren Verhältnisse, scheint des¬
halb bei weitem mehr des Dichters Eigenart zu entsprechen, als die aristo¬
kratischen Cirkel und strahlenden Ballsäle, in denen er sich anfangs bewegt.
Es war ein wirklicher Genuß, am Schluß der beiden Bände auf ein, dem
deutschen Dorfleben so getreu abgelauschtes und so glückliches wiedergegebenes
Charakterbild zu stoßen. Ende gut, Alles gut. Wir sagen's hier mit voller
Ueberzeugung. Glück aus denn und fröhlich Gedeihen!
Kaum eine größere deutsche Bühne giebt es, auf der Shakespeare's
„Julius Caesar" nicht Repertoirestück wäre. Am vorzüglichsten gilt heute die
Darstellung der Tragödie durch die Meininger. Berlin hat in den jüngsten
Tagen diese samische Leistung der hochverdienten Gesellschaft mit reichem Bei¬
fall genossen. Man kann dreist sagen: der Shakespeare'sche Julius Caesar
ist bei uns weit populärer, als in seiner englischen Heimath. Wer jemals
die Londoner Saison mitgemacht hat, wird uns das bestätigen. Wie selten
wird dieses Drama Shakespeare's am Ufer der Themse gegeben? Es kann
dahingestellt bleiben, wie diese Erscheinung zu erklären ist. Vielleicht hängt
sie damit zusammen, daß der Julius Caesar Shakespeare's nur eine einzige
Rolle enthält, welche den Schauspielvirtuosen ersten Ranges anziehen könnte:
die des Antonius. Und diese Rolle tritt weit zurück an selbständigem
Glänze hinter den Titelrollen andrer Shakespeare'scher Tragödien, wie Hamlet,
König Lear. Othello, Macbeth, Richard III. u. s. w. In England geben
sich aber bekanntlich die Löwen der Schauspielkunst dazu her, an zwölf bis
zwanzig Abenden hintereinander und öfter noch, jeden Abend ihren Hamlet
oder Macbeth herunterzuspielen; das Publikum hat nur Auge und Ohr für
sie, und kümmert sich um die guten oder schlechten Leistungen der übrigen
Schauspieler so wenig, wie auf den Rennen von Epsom um die Farben und
Gäule, die außerhalb der Wette stehen.
Seit der großen, in allem Guten und Hohen noch heute nachwirkender
Arbeit unsrer Geistesheroen auf dem Gebiete der dramatischen Kunst und der
Dramaturgie, namentlich seit der Blüthe der hohen Schule, die Goethe in
Schrift, Wort und That dem deutschen Theater aufgethan, haben wir Deut¬
schen gerade das Gegentheil dieser englischen Darstellungsweise für unser Ideal
mimischer Kunst gehalten. Nicht in der Subordination der mittelmäßigen
und geringen schauspielerischen Talente unter das große erblicken wir die
höchste Leistung dieser Kunst; sondern in der Einordnung aller mitwirkenden
Kräfte nach dem Sinne und Plan des Dichters, nach dem Antheil, der jedem
Einzelnen und Allen zusammen zur Veranschaulichung der leitenden Idee des
Stückes vorgezeichnet ist. Und vielleicht ist darum eben Shakespeare's Julius
Caesar bis zum heutigen Tage immer von denjenigen Leitern deutscher
Schaubühnen mit Vorliebe auf das Repertoire gesetzt worden, welche in dem
Ensemble aller ihrer ausübenden Kräfte — in der Beherrschung der hoch¬
fliegenden Ansprüche ihrer vorzüglichsten Mimen, wie in der Erwärmung des
spröden Mittelgutes oder noch geringeren Materials — ihre Meisterschaft
bekundeten. Denn, wie gesagt, kaum ein anderes Stück erfordert soviel Hin¬
gebung jedes Einzelnen an das Ganze. Fast jede der höheren Rollen kommt
in gleichem Maße zur Geltung. Der Träger der Titelrolle wird sogar noch
mehr gehoben durch das historische Bewußtsein des Zuschauers, als durch das
Werk des Dichters und verschwindet schon im dritten Act. Alle übrigen
treten nur in einzelnen Scenen oder Acten besonders leuchtend hervor und
überlassen dann Andern die leitende Rolle. Ja, für manche erlauchte Namen,
die der Dichter in sein Personenregister aufnahm, wird man auch an volk¬
reichen Bühnen kaum einen ausreichend würdevollen Statisten finden: so für
Cicero, der bei Shakespeare eine geradezu klägliche Figur spielt.
Ein anderer Grund der großen Popularität des Shakespeare'schen
Julius Caesar in Deutschland ist wohl die allgemeine Vertrautheit unsres
Volkes mit dem historischen Hintergrunde des Stückes. Bis zu Julius Cae¬
sar's Schriften, auch über den Bürgerkrieg und bis zu den Briefen des Ci¬
cero an Atticus und seine Philippischen Reden — die zusammen das beste histo¬
rische Urtheil der Zeitgenossen und die Hauptquelle bilden für die Entwicke¬
lung der öffentlichen Verhältnisse und Ereignisse, welche hier dramatisch zum
Austrag kommen und für die Motive der handelnden Personen — bis zu diesen
Quellenwerken gelangt die große Mehrzahl unsrer Jugend einmal wenigstens
in ihrem Studium, auch wenn ein großer Theil derselben später zu „reale¬
ren" Fächern übergeht. Aber grade hier, bei Aufzählung und Prüfung der
geschichtlichen Quellen drängt sich uns die Frage auf: ist denn der „Julius
Caesar" Shakespeare's auch nur annähernd ein Spiegelbild der Geschichte,
oder Ideen, welche den Untergang des Imperators, und dann wieder seiner
Mörder herbeiführten? Sind die handelnden Charaktere in der Hauptsache
mit historischer Treue gezeichnet?
Um dem Dichter gerecht zu sein, muß hervorgehoben werden, daß er
einen großen Theil der Quellen nicht kannte, welche uns heute zu Gebote
stehen, und daß er Manches, was seiner Zeit verhüllt war, mit congenialer
Ahnungs- und Schöpferkraft ersetzte. Aber mit derselben Genialität hat er
sich über eine Reihe auch seiner Zeit bekannter Thatsachen hinweggesetzt. Wer,
wie der Verfasser dieser Zeilen, mehr als einmal nach der genauen, frischen
Lectüre der Quellen Shakespeare's Julius Caesar las, wird Scene für Scene
und Charakter für Charakter die Disharmonie mit der Wirklichkeit als den
schwersten Fehler des großartigen Werkes erkennen. Man kann dabei noch
soviel seiner Eigenthümlichkeit nachsehen- die rein englische Auffassung und
Darstellung der römischen Plebs und der römischen Welt überhaupt; die völlig
unrömische Dialektik bei Senatoren, Verschworenen, Caesarianern u. s. w.,
die sich unterhalten, wie die Cavaliere der jungfräulichen englischen Königin.
Die Abweichung von der historischen Wahrheit bleibt bei aller Nachsicht immer
sehr fühlbar und schadet dem dramatischen Effect, weil die tragische Idee ge¬
rade dieser geschichtlichen Katastrophe dadurch verdunkelt wird.
Die tragische Idee dieses Stückes Geschichte aber ist der Irrwahn der
Verschworenen, daß der größte und gewaltigste Geist, den die römische Welt
hervorgebracht habe, gemordet werden müsse, weil das Recht und die Frei¬
heit des Volkes dadurch allein gerettet werden könne; auf daß nicht länger der
Liebling der Soldaten, sondern der Wille des Volkes Rom beherrsche. Und
die tragische Vergeltung besteht in der Erfahrung und dem Schicksal der
Mörder. Sie werden nach der Blutthat zuerst von dem, durch demagogische
Talente aufgereizten süßen Pöbel der Hauptstadt vertrieben, von demselben
Pöbel, für dessen Recht sie mordeten; dann gezwungen zu ihrer Selbsterhal¬
tung alle dem ermordeten Caesar so hoch angerechneten Untugenden sich an¬
zueignen. Namentlich müssen sie, an der Spitze eines in Betreff seiner ver¬
fassungsrechtlichen Legitimation keineswegs zweifellosen Heeres, im Bürger¬
kriege, ihre Ansprüche und Ideen verfechten, gerade wie Caesar; nur mit weit
weniger Glück und Talent. Und als Heerführer im Bürgerkriege, keineswegs
auf der heimischen Schwelle im befriedeten, befreiten Rom, ereilt die beiden
vornehmsten Verschworenen der Tod. Statt der freien Republik, auf deren
Altar der größte Staatsmann und Feldherr der antiken, vielleicht auch der
modernen Welt geopfert wurde, steigt aus der Ebene von Philippi empor
das erbliche Kaiserthum der römischen Monarchie.
Kräftig und großartig prägt sich diese tragische Idee aus schon in den
historischen Quellen, ohne Zuthun des Dichters. Gerade die letzten Lebens¬
jahre Caesar's, seine Regierungsjahre im eigentlichsten Sinne des Wortes,
zeigen die fast übermenschliche Größe des Imperators in den reinsten Umrissen.
Welche persönliche Milde und Mäßigung im Vergleich zu den früheren und
folgenden Dictatoren, die als Sieger aus inneren Wirren hervorgingen. Welche
Hingebung an die Erfüllung staatlicher Pflichten und bedeutsamster Zukunfts¬
pläne! Es ist kein Zufall, daß das Antlitz des Staatsmannes, das von den
Zeitgenossen in früheren Jahren als „zu voll" geschildert wird, unter dieser
colossalen Arbeitslast bleich und mager wurde; daß ihm die Erlaubniß, den
Lorbeerkranz immer zu tragen erwünscht kam, um die zunehmende Glatze zu
bedecken. Jeder der Plane, die Caesar sich für das Ende seiner Lebenstage
vorbehalten hatte, mit deren Ausführung er vier Tage nach jenen Iden des
März beginnen wollte, die seinem Leben ein Ziel setzten, regt in uns die
größte Frage an. welche die Weltgeschichte an entscheidenden Wendepunkten
stellt: wie hätte sich die Entwickelung des Menschengeschlechtes gestaltet, wenn
er auch nur einen dieser Plane, vor Allem die Unterwerfung Germaniens
vollbracht hätte? Ferner zeigt auch die geschichtliche Entwickelung der That¬
sachen das öffentliche Pflichtgefühl und das politische Verständniß der Römer
in allen Classen nach der Ermordung Caesar's in einem so traurigen Lichte,
daß die historisch beglaubigte Meinung des Brutus, durch die Wegräumung
Caesar's werde die alte biedere Republik erblühen, beinahe als unbegreifliche
Thorheit erscheint. Namentlich ist das stupide Verhalten des Plebs nach der
Mordthat in keiner Weise corrigirt worden durch die besseren Gesellschafts¬
schichten, welche Caesar auch den Schein der Herrschaft so grimmig verübelten.
Der Senat und die Optimaten übertrafen womöglich noch das Volk an seiger
Unthätigkeit. Sie flohen in wilder Bestürzung. Später setzen sie die
Phrase und Rede an Stelle der That. — Und dieselbe rathlose Unentschlossen-
heit zeigt das Verhalten der Verschworenen selbst. Sie lassen den Antonius
sich der Staatskasse und aller Papiere des Todten bemächtigen und das Volk
gegen die Mörder Caesar's aufreizen. Sie sehen dem Bruche des Antonius
mit der Staatspartei, die erst in der Mitte des Jahres eintritt und dem mu-
tinensischen Kriege zu und lassen den Triumvirn Zeit, alle Schwierigkeiten
einer gemeinsamen Vereinigung zu überwinden und ihre Heere den Ver¬
schworenen entgegenzustellen. Dieser Zeitraum, vom Tode des Caesar bis
zur Schlacht von Philippi, den der Dramatiker aus wenige Scenen zusammen¬
drängen muß, höchstens durch das Fallen des Vorhangs als einen längeren
anzudeuten vermag, dehnt sich in Wirklichkeit auf zwei und ein halbes Jahr
aus, und umfaßt die widerwärtigsten Züge und Thaten, deren der römische
Volksgeist bis dahin sich fähig gezeigt hatte. Namentlich jene scheußlichen
Proseriptionen, bei denen tausende hervorragender Männer, das ganze vor¬
nehmere Rom der Republik mit kalter Grausamkeit hingeschlachtet wurde
keiner der Geächteten vor dem Verrath seiner Familie sicher war; wo mit
Wollust und grundsätzlich, für Geld und Gut, und viele Monate hindurch,
gemordet wurde. Sulla hatte doch wenigstens in der Hitze der ersten Leiden¬
schaft und zur Revanche für die blutigen Opfer der eigenen Partei, endlich
um jede neue Erhebung durch Schrecken niederzuschlagen, gemordet. Keines
dieser Motive stand den Triumvirn zur Seite. Und auch diese Gräuel mu߬
ten Brutus und Cassius gelassen von ihren östlichen Provinzen aus mit an¬
sehen und über Italien ergehen lassen. Wahrlich, die tragische Nemesis ist
selten Jemandem so klar vor Augen getreten, wie ihnen.
Und was macht nun Shakespeare aus diesem tragischen Stoffe, mit dieser
tragischen Idee? Caesar ist die personificirte Hybris, Brutus die personificirte
Tugend und Freiheitsliebe, Cassius die verkörperte Unzufriedenheit, Antonius
der ehrgeizige Schlauberger, Octavian der hoffnungsvolle Prinz u. s. w."
Jeder der Shakespeare'schen Charaktere deckt eine menschliche Leidenschaft oder
Tugend vollkommen. Von der Geschichte bleiben im wesentlichen nur die
Namen, der Gang der Handlung und die Katastrophen des Mordes an
Caesar und der Vergeltung bei Philippi, und eine Reihe von überlieferten oder
vom Dichtet für historisch gehaltenen Phrasen, die sorgfältig an den Mann
gebracht werden. Wie wenig historisches Detail und römische Loealfarbe in
Shakespeare's Drama steckt, wird jeder inne werden, der diesen Julius Caesar
diesen Brutus, Cassius, Antonius u. s. w. von dem historischen Hintergrunde,
dem sie aufgeklebt sind, loslöst, und sie auf eine andere Pappe zieht. Sie
werden sich, in andere Verhältnisse versetzt, fast mit demselben Erfolge unter¬
halten, angreifen und erstechen. So etwa wird das Urtheil des Histo¬
rikers über Shakespeare's „Julius Caesar" ausfallen, mag er das Drama
vom künstlerischen und literarischen Standpunkt aus auch noch so hoch stellen.
Es ist auch kein Zweifel, daß Shakespaere selbst diesen Mangel seines Stückes
empfunden hat, daß die Hoheit und Gewalt dieses unvergleichlichen tragischen
Stoffes ihn anzog, ihn wie es auch sei, zu behandeln; daß er ahnte, er werde
keineswegs der Letzte sein, der dieses Stoffes Meister zu werden versuchte.
Er spricht das ja aus Cassius und Brutus Mund klar aus in den bekann¬
ten Versen-
In wie entfernter Zeit
Wird man dies hohe Schauspiel wiederholen,
In neuen Zungen und mit fremdem Pomp!
Wie oft wird Caesar noch im Spiele bluten,
Der jetzt am Fußgestell Pompejus liegt,
Dem Staube gleich geachtet.
Diese Andeutungen werden genügen, um unsern Standpunkt gegenüber
einer neuen Bearbeitung dieses Stoffes zu bezeichnen. Wir halten jeden der¬
artigen Versuch, der den großartigen Stoff, mit strengeren Anschluß an die
Geschichte, behandelt, hochwillkomner. Wir meinen, ein Deutscher soll es
sein, der das hohe Werk Shakespeare's übertrifft durch deutsche Geschichts¬
kenntniß und Treue, durch freie neue Umrisse der Züge der handeln¬
den Personen, tiefere individuellere Ausfassung der Charaktere, durch eine der
fortgeschrittenen geschichtlicher Kenntniß mehr entsprechende Entwickelung der
Handlung und Idee des Stückes. Ja, wir gehen einen Schritt weiter. Wir
bezeichnen als das Drama, welches diese Vorzüge in sich vereinigt die jüngste
Schöpfung Heinrich Kruse's, seinen „Brutus".*)
Robert von Mohl sagt im dritten Bande seiner Geschichte und Literatur
der Staatswissenschaften in der einleitenden Uebersicht seiner berühmten Mo¬
nographie über die Machiavelli-Literatur, diese Literatur gebe „ein zwar nicht
erfreuliches und schmeichelhaftes, aber ein um so belehrenderes Beispiel, von
der Verkehrtheit, Urteilslosigkeit und Oberflächlichkeit, welche oft lange Zeit
hindurch ganze Abtheilungen der wissenschaftlichen Beschäftigung und einzelne
Fragen verderben". Und das sei „um so beschämender für die Wissenschaft
oder richtiger gesprochen für den menschlichen Verstand, als die Thatsachen so
außerordentlich klar und unzweifelhaft liegen und die Erklärung bei nicht
fast muthwilliger Aufgebung jedes gesunden Urtheiles nur zwischen wenigen
Möglichkeiten schwanken kann." An diese scharfen Worte wird man unwill¬
kürlich erinnert, wenn man einen Theil der Urtheile liest, die schon setzt über
Kruse's Brutus gefällt worden sind. Selten ist das Bekenntniß des gänz¬
lichen Mangels eigener Denkanstrengung und Prüfung so unumwunden ab¬
gelegt worden, wie bei dieser Gelegenheit. Ausnahmen von dieser traurigen
Regel treten um so rühmlicher hervor; unter ihnen selbstverständlich Karl
Frenzel und in der Hauptsache auch Paul Lindau. Aber für manche Andere
war die Versuchung hier wohlfeil abzusprechen, zu groß, um ihr widerstehen
zu können. Wie, raisonirten sie, Kruse will den Shakespeare corrigiren? Er
wagt in seinen sechs Zeilen Vorrede zum „Brutus" zu verkünden, daß er sich
durch den Geist des Shakespeare nicht bedrückt fühle, wie weiland Antonius
in Gegenwart Caesar's. Unerhört! Auch hatte Paul Lindau, der mit seiner
raschen geistreichen Arbeit für eine Unzahl flacher Köpfe der Magister gewor¬
den ist, auf dessen Worte geschworen wird, ohne weitere eigene Anstrengung
als zum Schwören vonnöthen, das unbedachte Wort gesprochen*), daß Kruse
die Anführung des Testaments in der Leichenrede des Antonius nicht den
Quellen, sondern dem Shakespeare entnommen habe. Und sofort war auf
der ganzen Linie seiner Nachbeter die Anklage des Plagiats wider Kruse fer¬
tig ; selbstverständlich ganz besonders geistvoll begründet im Feuilleton des
„Hamburger Korrespondenten", vermuthlich aus derselben verständigen Feder,
die später ihr vernichtendes Urtheil über die „Amerikanischen Humoristen" des
Grunow'schen Verlags aussprach, aus ebenso triftigen Gründen, wie über
das „Plagiat" Kruse's. Der Dichter des „Brutus" selbst hat in der „Gegen¬
wart" Lindau's diese albernen Beschuldigungen wenige Wochen später*") so
kräftig abgestraft, daß in dieser Richtung jedes weitere Wort der Widerlegung
überflüssig erscheint. Unsere Leser, bei denen die genaue Kenntniß des Julius
Caesar Shakespeare's vorauszusetzen ist. werden schon aus einer flüchtigen
Einführung in den Gang der Handlung bei Kruse erkennen, wie völlig selb¬
ständig der deutsche Dichter seinen Stoff behandelt und beherrscht hat.
Schon ein Blick in das Personenverzeichniß des „Brutus" belehrt uns,
wie streng sich Kruse auf die dramatische Aufgabe beschränkte, die er zu lösen
hatte. Es fehlen bei ihm von den bei Shakespeare aufgeführten Personen:
Cicero und die beiden Senatoren, die Tribunen Flavius und Marullus, die
fünf „Freunde des Brutus", vier von den Sklaven des Brutus, der Diener
des Cassius, der Wahrsager, „Cinna ein Poet" und „ein anderer Poet"
gänzlich — wahrlich nicht zum Schaden des dramatischen Effects. Denn die
Bedeutung eines Mannes wie Cicero z. B. wird außerordentlich viel klarer
zur Anschauung gebracht, wenn Brutus bei der Nachricht von Cicero's Ende
bei Kruse über ihn sagt:
„Er war ein liebevoller, edler Mensch,
Hing treu und warm an seinem Vaterlande,
Und alle seine Schwächen deckt das Grab;"
als wenn Shakespaere den Casea über Cicero sagen läßt: „Er sprach Griechisch,
aber wenn ich Euch sagen sollte, was er wollte, so will ich Euch niemals
wieder vor die Augen kommen. Die ihn verstanden, lächelten einander zu
und schüttelten die Köpfe." Oder wenn Cicero sich in der nächsten Scene
zu dem Gemeinplatz aufschwingt:
„Doch Menschen deuten oft nach ihrer Weise
Die Dinge, weit entfernt vom wahren Sinn,"
oder gar, am Schlüsse dieser Scenen die Behauptung wagt: „Dieser Auf¬
ruhr (der Elemente) läßt nicht draußen weilen", d. h. das Wetter ist zu
schlecht, man wird sich einen tüchtigen Schnupfen holen. Leute von dieser
nimium dramatischen Bedeutung führt Kruse im Personenregister gar nicht
auf, auch wenn sie in der Weltgeschichte Cato Hirtius und Pansa heißen
und in seinem Stücke ein halb Dutzend Verse zu sprechen haben. ^
Von weit größerer Verschiedenheit aber ist der Gang der Handlung in
den beiden Dramen.
Paul Lindau hat den Nachweis versucht, eine gewisse Uebereinstimmung
im sacrarium der ersten drei Akte bei Shakespeare und Kruse nachzuweisen.
Und soweit vielleicht mit Glück, als in beiden Dramen der erste Act die Ex-
Position, der zweite die Verschwörung, der dritte die Ermordung enthält.
Allein diese Gleichartigkeit der dramatischen Entwickelung in den ersten drei
Akten liegt in der Natur des gleichen Stoffes. Jeder Dichter muß
dieses Drama beginnen lassen mit dem Versuch des Cassius, den Brutus in
die Verschwörung hineinzuziehen, und muß es enden lassen mit dem Unter¬
gang der beiden letzten Römer bei Philippi. Dieser Zwang der Com-
Position sowohl wie der zeitlichen Grenzen des Stückes liegt im Stoff. Jeder
Dichter von natürlichem Gefühl muß sich diesem Zwange fügen; er wird sich
dabei so frei wissen von einer sklavischen Nachahmung des Shakespeare, wie
der Vogel, der sein Lied singt, von den Traditionen seiner Altvordern. Ja,
was Kruse anlangt, so ist bei ihm die Gliederung der ersten drei Acte in
Exposition, Verschwörung, Ermordung viel strenger und reiner durchgeführt,
als bei Shakespeare. Denn Shakespeare fällt gerade bei diesem Drama merk¬
würdigerweise zweimal in den ihm sonst völlig fremden Fehler. zusammenge¬
hörige Borgänge auseinanderzureißen und wiederholt dem Zuschauer vorzu¬
führen. Das eine Mal dadurch, daß er die Iden des März an den zweiten
und dritten Act vertheilt. Das andere Mal gar durch ein Hyfteron proteron
im IV. Acte 3. Scene. Hier erzählt nämlich Brutus dem Cassius den Tod -
der Porti« in allen Details und läßt sich selbst dann erst in der folgenden
Scene dieses tragische Ereigniß von Messala melden. Also nicht einmal der
annähernd gleiche Entwickelungsgang der drei ersten Acte in beiden Dramen
beruht auf einer blinden Nachahmung Shakespeare's durch Kruse. In ihrer
einzelnen Gliederung vollends sind sie so verschieden als möglich.
Shakespeare's Caesar beginnt bekanntlich mit der Vermahnung der pom-
pejanisch gesinnten Volkstribunen zum Auseinandergehen an die caesarisch ge¬
sinnte schaulustige Menge, welche Caesar und seinen Zug am Feste der Luver-
calien begrüßen möchte. Der Wahrsager warnt schon hier vor den Iden des
März. Folgt der Schwerpunkt des ersten Aktes: Das meisterhafte Zwiege¬
spräch zwischen Brutus und Cassius; dann die Aeußerung Caesar's zu An-
tonius über den magern Cassius; dann erzählt Caesar dem Cassius das Kro¬
nenangebot des Antonius an Caesar, das hinter der Scene stattgefunden.
Cassius überlegt das Mittel, anonyme aufreizende Zettel an Brutus zu sen¬
den, und wirbt am Ende des Aktes Cinna zu diesem Zwecke. Ein furchtbares
Gewitter und grauenvolle Zeichen deuten auf ungeheure Ereignisse. — Der
zweite Act beginnt am Vorabend der Iden. Brutus hat die Zettel gefunden.
Sie haben gewirkt. Der Tod des Imperators ist bei ihm beschlossen. Die
Verschworenen kommen zu Brutus. Sie werden ihm mit gutbritischer Förm¬
lichkeit vorgestellt. Brutus lehnt sich gegen den Plan auf, den Antonius mit
Caesar zu tödten. Als die Geschworenen dem Tagesgrauen gewichen sind,
folgt des Brutus berühmtes Zwiegespräch mit Portia. Sie erfährt in unsrer
Gegenwart jedoch nicht das Geheimniß. Sie erhält nur das Versprechen,
daß ihr Brutus „seiner finstern Stirne Zeichenschrift" enthüllen wolle. — Ein
Wechsel der Scene führt uns dann in Caesar's Palast; wir erfahren die grau¬
enhaften Zeichen der Götter. Calpuvnia bewegt Caesar zum Bleiben. De-
cimus überredet ihn, in den Senat zu gehen. In Gesellschaft des Antonius
und sämmtlicher Verschworener zieht Caesar nach dem Capital. Portia, die
unter dem ungeheuren Druck des ihr ungewissen anvertrauten Geheimnisses
und in fieberhafter Erwartung der Entscheidung fast zusammenbricht, schließt
den zweiten Act- — Der dritte Act, wohl der bekannteste des ganzen Stückes,
führt uns von dem Beginn der Senatssitzung und der Mordscene bis zu den.
den Verschworenen so furchtbaren Folgen der Leichenrede des Antonius.
Mitten im Akte, noch vor der Leichenrede des Brutus erfährt Antonius bereits
das Herannahen des Octavian!
Vergleichen wir nun mit diesen, uns Allen geläufigen drei ersten Acten
Shakespeare's dieselben Akte des „Brutus" von Heinrich Kruse, die nach der
Ansicht großer Recensenten dem Shakespeare abgelauscht sein sollen.
Brutus hat die geheimnißvollen Zettel bereits erhalten, als der erste
Act beginnt. Er ist dadurch gleich von Anfang an tiefer erregt und auf
die Pflichten seines Namens dringender hingewiesen, als bei Shakespeare.
Schon ehe er mit Cassius gesprochen, am Schlüsse der ersten Scene sagt er:
Es geht auf Caesar.
Die Stimmen, die von außen kommen, würden
Mich wenig kümmern, wenn sich nicht verwandte
Auch hier idie H-»it auf die Brust lencnd) vernehmen ließen.
In dieser Stimmung trifft ihn Cassius, sein Schwager. Alles historische
Detail ist hier meisterhaft ausgenützt, um der Scene, die bei Shakespeare so
groß ist, durch den markigen Entwurf der Charakterzüge der beiden „letzten
Römer" das treue Gepräge der Zeit, der Lage, der Wahrscheinlichkeit zu ge¬
ben. So wie bei Kruse, genau so, kann Cassius zu Brutus gesprochen
haben, als er das erste Samenkorn zur Mitthäterschaft an der großen Ver¬
schwörung in seine Seele legte. Selbst die feinen Nuancen der Charakteristik,
die von Shakespeare abweichen, sind historisch, beglaubigt. Cassius lebte
bis dahin in Zwietracht mit Brutus. Der Schwager und Freund war
von Caesar mit der Prätur bedacht, die Cassius, der Aeltere von Beiden,
der Parthenfleger, selbst für sich ambirt hatte. Aber Caesar's Herz hatte
Brutus vorgezogen. Denn Alles ordnet der Mann jetzt nach seiner Willkühr:
„In einem Staate, dessen Nuhm das Recht
Und ehr'ne Strenge der Gesetze war."
Das ist Cassius' Schmerz und der Grund zu seinem Haß gegen Caesar.
Er weist auf den Nerv der großen Staatsfrage, auf die wundeste Stelle seines
Innern zugleich in einem einzigen Worte, durch welches Kruse in feinster
Weise das lateinische lies xublieg. in der Bedeutung, in der es durch
Caesar in Frage gestellt war, auch im Deutschen zur Anschauung bringt:
„Was ward, was ward aus unsrer Republik?
Die Republik! Es ist ein heil'ges Wort.
Ich schaudere vor Ehrfurcht, wenn ich es
Ausspreche; ach, und jetzt so tief entweiht!
Wir haben keine Republik mehr."
Und ebenso bedeutend ist das Wort des Cassius über Caesur's Popularitäts¬
taktik und Machtmittel:
»Er wandelte den Weg der Gracchen, machte
Den Pöbel zu dem Hebel seiner Große,
Er rüttelte den Staat uns um und um,
Bis daß der Bodensatz sich oben fand:
Der Schaum ist mit der Hefe nah verwandt!"
Dagegen kommt als Erwiderung auf die Anklage aus Brutus' Mund ein
so wahres, warmes Urtheil über Caesar's staatsmännische Größe, wie sie im
ganzen Shakespeare nicht zu finden ist:
„Die Macht hat klug und milde er gebraucht.
Er hat den Staat, der tief zerrüttet war,
Von Grund aus neu geordnet."
In dieser durchaus selbständigen, freien und klaren Weise hat Kruse auch
den übrigen Theil des ersten Actes aufgebaut. Die Lupercalien sind ihm
keineswegs von der äußerlichen Bedeutung, wie Shakespeare. Er benützt sie.
um unmittelbar nach der Scene zwischen Brutus und Cassius den Antonius
in Weinlaune und als Herkules gekleidet zu den Freunden treten zu lassen,
um sie im Namen Caesar's zum Feste einzuladen. In vino veritÄS. Die
ernste patriotische Philosophie des Brutus und der bittere Weltschmerz des
Cassius wird aus dem weinseligen Munde des diplomatischen Feldherrn zur
Abwechslung der vorhergehenden Scene ironisch gestreift. Antonius zeigt sich
uns jedoch bald nachher auch im vollen Ernst der Staatsgeschäfte. Er, „der
erste Lustigmacher Roms", ist es, der Caesar vor Brutus und Cassius
warnt — er hat in seiner Weinlaune doch tiefer in ihr Herz geblickt, als sie
ahnten — er spricht über die Optimaten das klassische Wort:
„Die früher mächtigen Geschlechter werden
Dir nie verzeih'«, daß sie es nicht mehr sind.
Die Weltregierung war für sie ein gutes
Geschäft."
Die Lupercalien dienen dem Dichter aber auch zur Verfolgung des Gedankens,
den Shakespeare durch ihre Erwähnung andeuten wollte. Die Berührung
der Festläufer sollte Unfruchtbare heilen. Caesar's Gattin war kinderlos.
Der Imperator verneint des Brutus Frage, ob Calpurnia noch Mutter wer¬
den könne, und knüpft daran folgende edle Worte:
Da steht der Venus Tempel, altersgrau,
Von der das Mische Geschlecht entstammt;
Sie haben dort mein Bildniß aufgestellt;
Das julische Gestirn auf meinem Haupt
Wird »och in ferne, ferne Zeiten leuchten,
Voll Glück und Frieden, voller Weltherrschaft
Doch nicht auf meine Kinder, meine Enkel.
Die Götter gleichen Alles aus; sie gaben
Mir jedes andre Glück mit vollen Händen,
Nur nicht das Köstlichste, ein liebes Kind.
Wer sich erinnert, wie bereitwillig Caesar den Sohn der Cleopatra Caesarion
nennen ließ und als sein eigen Kind anerkannte, wird gewiß auch diesen
menschlichen Zug des Imperators historisch für beglaubigt halten. — Tritt
auf diese Weise die erhabene Einsamkeit des Imperators in besonders er¬
greifender Weise uns vor Augen, so hat Kruse andrerseits auch die Hybris
des Alleinherrschers treu nach der Geschichte in einem äußern Borgang aus¬
gedrückt. Als Antonius an der Spitze des Senates heranzieht, bleibt Caesar,
zu allgemeiner Entrüstung, sitzen. Es folgen nun Scenen, die bei Shakespeare,
ganz fehlen, oder hinter die Scene verlegt sind. Antonius hält eine Rede
ein den Senat, in der er dem Caesar das Diadem anbietet, Caesar stößt es
unwillig zurück, als das Volk bei den ersten schüchternen Abwehrbewegungen
des Imperators in ungeheuren Beifall ausbricht. Für Brutus ist dieser An¬
blick und diese Rede entscheidend. In einer kurzen Schlußscene mit Cassius
stellt er sich ganz auf des Letzteren Standpunkt, und ruft aus:
Du hattest Recht.
Ja, Caesar will die Republik vernichten.
Und als Cassius die entscheidende Frage wagt: ob er mit den Verschworenen
zu Brutus kommen dürfe, da reicht Brutus ihm langsam und zögernd die
Rechte und spricht: „kommt!" Damit schließt der erste Act. Wenn man die
Verschiedenheit der Auffassung des deutschen Dichters vom englischen rück¬
blickend in einem Worte ausdrücken will, so wird man sagen dürfen: Kruse
führt alle die Vorgänge, die Shakespeare hinter die Scene oder in die Seelen¬
thätigkeit seiner Helden legt, uns wirklich vor Augen, und zwar im strengsten
Anschluß an die historische Wahrheit. Hierdurch gewinnt der Act psychologisch
wie dramatisch erheblich an Leben und Interesse.
Dasselbe gilt vom zweiten Act, obwohl dieser bei Kruse weit kürzer und
einfacher angelegt ist, als bei Shakespeare. Er besteht nämlich nur aus einer
Scene zwischen Brutus und Porcia und der Zusammenkunft des Brutus mit
den Verschworenen. Die gesammten Vorgänge der Iden des März, von den
Scenen in Caesar's Haus, von dem Gang auf das Capitol, bis zu dem
Aufruhr, den des Antonius Leichenrede erzeugt, vereinigt Kruse mit Recht in
den dritten Act. Dafür aber bietet uns sein zweiter Act abermals eine offene
Scene von höchstem Interesse, welche Shakespeare hinter die Scene verlegt.
Brutus weiht' seine Gattin vor unsern Ohren und Augen in sein Geheimniß
ein. Und diese Mittheilung zeigt uns die edle Römerin in ihrer wahren
Größe — weit erhabener als bei Shakespeare, wo wir sie unter der Last der
Mitwisserschaft fast erliegen sehen (während Kruse diese Nachwehen seiner¬
seits hinter die Scene des dritten Actes verlegt). Brutus wird weich bei dem
Gedanken, was Caesar dem Vaterlande, was er des Brutus eigener Seele ist,
und daß er nun nicht mehr sein soll. Da spricht Porcia:
Ich sage Dir, du darfst nicht Rücksicht nehmen Nun das versteht sich! Du würdest reicher bald als Crösus werden,
Auf Alles, was Dir Caesar war als Freund,
Wenn Du Dein Vaterland befreien willst! . .
Das Vaterland schließt aller Götter Tempel.
Das Varlandliet alle iten ein! . .
Ist etwas groß, das keine Opfer kostet ?
Man muß dem Vaterlande Alles opfern.
Das Leben nicht allein und auß're Güter
Auch seine innersten Empfindungen,
te schßPflch
Und Brutus erwidert:
Da Du zu der That
Mich selbst noch antreibst, schwinden alle Zweifel . . .
Du bist die eine Hälfte meiner Seele,
Und stehe da, sie ist der andern gleich.
So bin ich eins geworden mit mir selbst-
selbständige Entwickelung der Handlung, die ihr bei Shakespeare abgeht.
Sie reift die Entschlossenheit des Brutus zur That, vor deren blutigem
Frevel er noch immer heimlich schauderte. Cinna berichtet nämlich athemlos
den neuesten Gewaltact des Imperators: die Amtsentsetzung der Volkstri.
dumm (weil diese das Diadem, mit dem Antonius Caesar's Statue geschmückt,
hatten entfernen lassen). Und weiter erfahren wir, daß morgen der Antrag
im Senat eingebracht werden soll, Caesar König zu nennen, da die sybillini-
schen Bücher weissagten, nur ein König werde die Parther überwinden. Es
ist also die letzte Frist zur Ausführung gekommen.
Zum Beginn des dritten Actes tritt uns die bedeutende, durchaus selb¬
ständige Auffassung Kruse's vom Charakter der Calpurnia entgegen. Die
Energie ihrer Züge würde bei jedem andern Weibe als der Gattin Caesar's un¬
weiblich erscheinen. Neben diesem Manne aber ist sie nur das liebende, an¬
betende, vergötternde Weib, das durch die schlimmsten Vorbedeutungen
geschreckt, in Sorge um das theure Haupt vergeht, und sich dieser Schwäche
nicht schämt:
Du gehst mit wunderbarer Zuversicht
Durch alle Wechselfälle dieses Lebens,
Den co'gen Göttern gleich. Ich aber bin
Ein schwaches Weib.
Selbst Angesichts der Victoren, des Decimus Brutus und Antonius um¬
faßt sie Caesar's Knie, um ihn zurückzuhalten. Vergebens. — Auch die nun
folgenden Scenen in der Halle des Pompejus, in welcher der Mord geschieht, mo-
tiviren stetig fortschreitend den Entschluß des Brutus, am Morde Theil zu
nehmen. Er hat als Prätor eben einen Angeklagten verurtheilt. Dieser
appellirt an Caesar; vom Recht an die Willkür. Der Sklave Titius meldet
ein heftiges Unwohlsein der Porcia infolge innerer Sorge um das Geschick
des Gatten — aber der eiserne römische Mannessinn, der vor Ausübung der
höchsten Pflicht steht, erwidert dem verwunderten Sklaven, jetzt wiege der
Herrin Leben keine Flaumenseder. Caesar selbst vertraut Brutus die Fülle
seiner weltbeherrschenden Plane an, die der Ausführung noch harren:
Ich habe, Freund, den Ocean geseh'n,
In den die Sonncnrosse niedersteigen.
Ich will auch jenen schaun, aus dem erfrischt
Des Phöbus Viergespann den Tag herausbringt.
Dann brach' ich auf mit meinem Siegesheer.
Ich ziehe durch Hyrcanien und weiter,
Bis wo der Caucasus zum Himmel starrt.
Wir übersteigen jene wilden Felsen,
An die Prometheus angeschmiedet ward,
Und überziehn der Scythen weite Steppen .,,
Aus Scythien zum wald- und sumpfbedecktcn
Germanien. Da wohnen edle Feinde,
Der Römer werth, (und wenn wir sie besiegt,
Dann kehren durch die Alpen wir zurück
Und halten hier ein siebentägiges
Trtumphfest, wie die Welt noch nicht geseh'n i
Denn dann umschließt uns rings der Ocean,
Und uns begrenzen Lust und Wasser nur.
„O menschliche Entwürfe!" sagt Brutus leise zu Cassius. Und um den letz¬
ten Widerstand seines Gewissens zu brechen, fragt er Caesar, ob es wirklich
will einmal immer Zeichen seh'n — einen König haben. Denn ihm gehorcht
es lieber." Das Wort „gehorcht!" und die unmittelbar nachher von Caesar
gethane Aeußerung, daß er Octavian zu seinem Sohn und Erben eingesetzt
habe, beseitigt bei Brutus den letzten Zweifel. Mit dem heimlichen Rufe:
Schon erblich ist die Tyrannei!
Weicht er von Caesar's Seite, um die blutige That zu befehlen. — Die Mord¬
scene selbst ist fast wortgetreu nach den Quellen dargestellt. Auch Shakespeare
folgte darin am treuesten den Quellen. Die folgenden Scenen Kruse's weichen
dagegen wieder sehr weit von Shakespeare ab. Antonius schickt nicht, wie
bei Shakespeare, erst einen Diener an die Mörder ab, der den Auftrag hat,
vor Brutus niederzuknien und ihm seine Unterwürfigkeit zu melden. Antonius
schüttelt auch nicht die Hände mit den Verschworenen, als er dann selbst er¬
scheint. Er kommt bei Kruse vielmehr unmittelbar nach der Ermordung in die
Halle, knirscht in ohnmächtigem Ingrimm, versucht zu entfliehen, wird erfaßt,
und Cassius schickt sich an, ihm den Todesstoß zu geben, den Antonius mit
wilden Spöttereien begehrt, den aber Brutus abwehrt in dem idealen Glauben,
„auch dieser Baum werde in der reinen Luft der jungen Freiheit edle Sprossen
treiben." „O wie dumm, wie rasend dumm!" ruft Antonius bet Seite, als
ihm das Leben geschenkt wird, und laut setzt er hinzu:
Wenn Ihr mir denn das Leben schenken wollt,
So dank' ich Euch für diese Kleinigkeit:
Viel ist es jetzt nicht werth.
Und sofort regt nun Antonius die Bestattungsfrage an und verspricht mit aller
Biederkeit, deren er äußerlich fähig ist. in seiner Leichenrede nichts gegen die
Mörder Caesar's vorzubringen, noch Caesar's Tyrannei zu verringern und zu
entschuldigen. Man sieht, sein Charakter ist bei Kruse ein ganz Theil derber
und realistischer —- aber auch historisch treuer — gezeichnet, als bei Shake¬
speare. Dem Antonius des Briten wohnen zwei Seelen in der Brust und
von beiden gewahren wir die rohere, gemeinere selten unverhüllt. Der Mann
ist fähig, die unvergleichlich erhabenen Worte vor Caesar's Leiche und vor
Brutus' Leiche später die klassischen und fast bei jeder politischen Leichenrede
oder Biographie noch heute citirten Worte zu sprechen. Der historische An¬
tonius, den Kruse zeichnet, ist dazu nur einmal fähig vor der Leiche des
Brutus am Ende des Stückes; um so gewaltiger ist die Wirkung. Er kann
sonst in der ernstesten Lage seine Späße, sein Behagen am thierischen Lebens¬
genuß, seine materielle Auffassung aller Dinge nicht unterdrücken. Und auch
hier ist die volle Tiefe seiner Empfindung flüchtig wie die fließende Welle.
Schon als er, einen Moment später bei Kruse von Octavian die Genehmigung
zur feierlichen Bestattung des Brutus, ertrotzt, verfährt Antonius dabei un-
die er versprochen hat. „Ich ließ mich niemals lumpen!" ruft er aus, und
betont mit besonderem Behagen, wie kostbar der Purpurmantel ist, den er
von der eignen Schulter auf Brutus Leichnam niedersenkt. Dann aber setzt
er gleich hinzu:
Doch um genug des Ernstes, meine Freunde,
Nun kommt das Beste vom Triumph, das Fest;
Wir wollen schmausen, Mansch schmausen!
Es entspricht durchaus der veränderten Auffassung dieses Charakters, daß
auch die Leichenrede des Antonius an das Volk weit weniger diplomatisch
und raffinirt gehalten wird, als bei Shakespeare. Die Leichenrede bei Shakespeare
könnte zur Noth auch uns, die wir sie hören, überzeugen, sie kann stellen¬
weise auch die Edleren im „Volke" hinreißen zur Entrüstung über den Mord
und die Mörder. Bei Kruse sucht Antonius von Haus aus nur die Bestie
in seinen Hörern zu entfesseln mit routinirter demagogischer Rhetorik. Am
Scheiterhaufen des todten Caesar zündet der Pöbel die Feuerbrände an-, um
der Verschworenen Häuser einzuäschern, und Antonius bricht, wie der
Haufen abgezogen, in grimmiges Lachen aus und kann sich den Kalauer
nicht versagen:
Ist das nicht zündende Beredsamkeit?
Daß vom vierten Act an Kruse's „Brutus" durchaus anders sich entwickelt,
wie Shakespeare's Caesar, wird von Allen zugegeben; wir dürfen uns daher
mit Hervorhebung der wichtigsten Momente der Kruse'schen Composition begnü¬
gen. Das Volk tritt bei Shakespeare mit der Vertreibung der Mörder (nicht blos
symbolisch) ganz vom Schauplatz zurück; statt des Volkes spielen bei Shakespeare
vom Anfang des vierten Actes an nur noch die Triumvirn — die sich schon
in der ersten Scene berathen — und die Feldherrn des republikanischen Heeres
eine Rolle. Bei Kruse beginnt der vierte Act mit einer Straßenscene. Die
Bürger unterhalten sich über die Lage der Republik. „Alles ist futsch", ist et¬
wa die Moral ihres Dialogs — „Antonius hat die Republik in seiner Tasche."
Antonius und Lepidus wandeln die Straße herab; das Volk verzieht sich ge¬
räuschlos. Die Charaktere des energischen Schlemmers Antonius und der
aufgeblasenen Null Lepidus sind in dem nun folgenden Dialog brillant ge¬
zeichnet. Auch auf der Bühne muß die Scene von drastischster Wirkung sein.
Antonius renommirt wie ein Gott, welche Gutthaten er den verschiedenen
Völkern erweisen will. „Doch nicht umsonst", ruft Lepidus.
Für nichts wird nichts gegeben! ist in Rom
Das einzige Gesetz noch, das man hält.
Wenn Du auf Reichthum hieltest.
Ant. Reichthum? Pah!
Des Gold's bedien' ich mich wie Wasser nur;
Man wäscht sich drin und gießt es wieder aus-
Und nun rückt Lepidus auf einmal mit den Hiobsposten heraus, die er bei
sich trägt — es ist nur unwahrscheinlich, daß er so lange an sich gehalten, —
daß Octavian in Brundtsium gelandet sei, ja schon in Calatia stehe und die
beiden Legionen des Antonius durch Geld gewonnen habe. Das letztere wird
dem Antonius durch einen eben ankommenden Brief des Kriegstribunen Cne-
jus Rufus bestätigt, der zu Octavian übergegangen ist und mit punischer Treue
schließt:"
„Wir folgen meinem Briefe auf dem Fuß. —
„Da wird es an der Zeit sein, Lepidus,
Daß wir das Weite suchen. Meinst Du nicht?"
Sie wollen sich eben verziehen, als Calpurnia ihnen entgegentritt. Die Gattin
Caesar's verschwindet bei Shakespeare bereits mit dem zweiten Act. Kruse hat
ihr — vom geschichtlichen und poetischen Standpunkte aus mit gleicher Be¬
rechtigung — eine bei weitem bedeutendere Rolle zugetheilt. Sie ist die
personificirte Vergeltung; der Rest ihres Lebens ist der Rache gewidmet; aber
nicht in Leidenschaft und Hitze sucht sie dieses Ziel zu erreichen; sondern mit
caesarischer Geduld und Weisheit. Antonius mag die Schätze ihres Mannes
besitzen; sein Geist ist auf sein Weib übergegangen. Ihr Gedanke ist, alle
Kräfte ihrer Freunde zu einigen, um die Mörder zu strafen. Diesen Plan
vertraut sie Antonius und Lepidus an, ehe diese vor dem herannahenden
Octavian fliehen. Als Rachegöttin, als empörter weiblicher Dämon zeigt sie
sich auch der Gattin des Brutus gegenüber, die herausgetreten ist, um Octa¬
vian gleichfalls zu begrüßen, und bereit, der empörten Wittwe Versöhnung
und Liebe zu bieten. Es ist die härteste, abstoßendste Scene des ganzen
Stückes. Beide Frauen versuchen dann für ihre Sache die Gunst des jungen
Octavian zu werben — mit Erfolg nur Calpurnia, die mit Stolz in dem
Erben Caesar's den gelehrigen Schüler seiner Staatskunst erkennt, welche die
Wittwe gleichsam symbolisch durch den Rath des Triumvirats mit Antonius
und Lepidus, auf den jungen Caesar überträgt. Damit ist ihr Lebensziel
erfüllt, sie kann von der Bühne abtreten. — Vortrefflich sind abermals die
Züge der drei Triumvirn in der nächstfolgenden Scene, der Zusammenkunft
auf der kleinen Insel der Tiber nach dem Siege bei Mutina gezeichnet: die ge¬
schäftige Unbedeutendheit des Lepidus, die rohe Rachgier des Antonius, das
großherzige Widerstreben und staatskluge Nachgeben des Octavian, als der
Tod Cicero's gefordert wird. — Das Ende des Actes führt uns an das Ufer
des Hellespont in das Feldherrnzelt des Brutus. Hier nähert sich Kruse
Shakespeare wieder. Die Feldherrn erfahren die Kunde von den Proscrip-
tionen, sie streiten sich — weit würdiger und leidenschaftloser als bei Shakespeare
als bei Shakespeare, Er weiß, daß Porcta todt ist und fürchtet, Brutus
könne es jede Stunde erfahren. Das geschieht auch. Der alte Haussklave
Straton hat sich mit der Trauerbotschaft von Italien hierher aufgemacht.
Er berichtet sie dem Brutus vor unsern Ohren — mit gewaltiger dramatischer
Kraft hat Kruse diese Scene (die Shakespeare, wie gezeigt wurde, nicht besitzt) aus¬
gerüstet. Auch bildet die durch diese Unmittelbarkeit der Trauerbotschaft er¬
zeugte Seelenstimmung des Brutus eine feine psychologische Erklärung für die
Erscheinung des Geistes, die uns — als einzige Gespenstervision der antiken
Welt — ja historisch beglaubigt und für den Dichter von höchster drama¬
tischer Bedeutung ist. Muthvoll und siegeszuversichtig ruft Brutus am Schlüsse
des Actes dem Dämon und den Feinden in die späte Nacht hinaus:
„Und bei Philippi sehen wir uns wieder!"
In dieser männlichen Erhabenheit über den Wandel der Geschicke redet
Brutus auch zu Anfang des fünften Actes zu Cassius, der am Schlachtmor¬
gen über die zweite Erscheinung des Gespenstes, die schlimmen Zeichen, das
heraufziehende Unwetter u. A. bestürzt ist. Brutus verweist auf die Hoheit
der Sache, der sie dienen. Und als die Männer sich die Hand reichen zum Ab¬
schied auf Leben und Tod, und Cassius fragt, was Brutus im Falle einer
Niederlage mit sich anzufangen gedenke, da spricht Brutus:
Genug, ich werde Rom nicht überleben.
Ich bin zufrieden mit dem Glücke, daß ich
An des Märzes Iden, was ich bin und habe
Gewagt hab' an mein theures Vaterland,
Und so ein andres Leben, frei und ruhmvoll.
Seitdem genossen habe.
Auch bei Shakespeare versenken sich die beiden letzten Römer vor ihrem
Abschied in Selbstmordphilosophie. Aber uns dünkt, bei Kruse klinge die Lehre der
Stoa und das Bewußtsein der besseren Sache großartiger aus dem Munde des
Helden als bei Shakespeare, der dieser Abschiedsscene das unnatürliche Rencontre
aller vier Feldherren vor den beiden Heeren vorausgehen läßt, das in wüstes
Gezänk ausartet. Auch ist es ein feiner Zug bei Kruse, daß dieser die Über¬
lassung des rechten Flügels an Brutus als den letzten Gefallen hinstellt, den
Brutus vom Genossen begehrt, um Octavian selbst gegenüber zu stehen. Der
Rest der Handlung ist schnell berichtet. Der rechte Flügel des Brutus siegt;
Octavian wird widerwillig von seinen Hauptleuten zur Flucht fortgerissen.
Der junge Cato und Brutus selbst glauben das Loos des Tages entschieden.
Da meldet des Cassius Adjutant die Niederlage und den Tod des Gefähr¬
ten — auch das ist ein Vorzug der Kruse'schen Dichtung, daß wir nicht
zweimal bei Cassius und Brutus den Selbstmord mit ansehen müssen — nun
haben sich die Truppen des Octavian wieder gesammelt und mit den sieg¬
reichen des Antonius vereinigt und drängen an. Brutus bittet alle Freunde
zu fliehen, nur Straton harrt bei ihm aus und erweist ihm den letzten Lie-
Triumvirn herantreten, lebt Brutus seine letzten Augenblicke und spricht:
Wer für die Freiheit seines Vaterlands
Unglücklich kämpft, trägt einen schönern Kranz,
Als sieggekrönt ein glücklicher Tyrann. —
Und Antonius überwindet die Rohheit seiner Natur, indem er vor dem ent¬
seelten Brutus die Worte spricht:
Es hielt von Bosheit und von schnöder Selbst-
sucht
Der Gute da stets seine Seele rein,
Rein wie der Perser seine Flüsse hält,
Worin er nicht einmal die Hände wäscht:
Sie rauschen himmlisch klar >von Berg zu Thal.
Der Streit der Sieger über die Art des Begräbnisses und die Renom-
mage des Antonius, daß ihm allein der Sieg zu danken sei, entlassen den
Leser beim Fallen des Vorhangs mit der Ahnung, daß auch der Friede und
die Einheit der „glücklichen Tyrannen" nicht von Dauer sein werde.
Das ist kurz der Inhalt des „Brutus" von Heinrich Kruse. Man sieht,
daß die Charaktere mit derselben Eigenartigkeit gezeichnet sind, wie die Com-
position geschaffen wurde. Die Sprache ist überall von größter Reinheit und
Schönheit; sie gleicht, .wie schon Lindau mit Recht hervorhob, der Sprache
Goethe's. Auch scheint uns das Drama keineswegs zu den Buchdramen
zu gehören. Der Versuch, die Tragödie zur Aufführung zu bringen, würde
gewiß nicht ungünstig ausfallen und weite Kreise auf diese neueste Schöpfung
des fruchtbaren patriotischen Dichters lenken, die jeder Leser und Hörer ge¬
hobenen Herzens genießen wird.
Wir haben kürzlich das Fehlschlagen der Bemühungen der ländlichen
Arbeiter in England geschildert, durch welche dieselben eine Verbesserung ihrer
Lage mittels gemeinsamen Zusammenhaltens zu erringen hofften. Wir haben
gezeigt, daß sie ihre Niederlage hauptsächlich dem Umstände beizumessen hatten,
daß sie ihren Plan zu unrechter Zeit auszuführen versucht haben und deshalb
noch immer der Vortheile entbehren müssen, welche sich ihre Genossen in der
Industrie bereits während des letzten halben Jahrhunderts in verschiedenen
Perioden durch gemeinsames Handeln zu erringen verstanden haben.
Besonders die Jahre 1871 bis 1873 waren es, während welcher die Arbeiter
besonders in den Zweigen der Großindustrie Englands mit Hilfe der allge¬
meinen Ausbreitung und der eentralistrten Leitung der Gewerkvereine (tradoK-
unionn) sowie der energischen Veranstaltung massenhafter Aufstände (strikt)
eine so bedeutende Erhöhung des Lohnes durchzusetzen wußten, wie sie uns
in einer gleich kurzen Spanne Zeit von keiner Periode der Geschichte bekannt
ist. Freilich hat diese Fluthbewegung seit einem Jahre ihren Höhepunkt
erreicht und ist seitdem mit derselben Vehemenz im Zurücksinken begriffen.
Die ganze Erscheinung aber zeigt, wie solidarisch die Arbeiter in ihrer ökono¬
mischen Stellung mit dem Schicksal der Arbeitgeber in der Produktion ver¬
knüpft sind. Wenn man mit dieser merkwürdigen Thatsache die Lamentationen
und Verwünschungen vergleicht, welche von Organen der social-demokratischen
Arbeiterpartei gegen die Unternehmer und Gründer geschleudert werden, welche
doch von jeder Periode des Aufschwungs unzertrennlich sind, so sieht man
wieder recht deutlich, welche Macht die Mode auch sogar in volkswirthschaft-
lichen Dingen ausübt. Wenn sich in den Stand der Unternehmer in Zeiten
ungewöhnlicher Geschäftsthätigkeit auch unsaubere und unredliche Elemente
drängen, so haben dieselben dieses Schicksal mit allen Ständen gemein; denn
Verbrecher sind in allen Klaffen und Confessionen, vom Taglöhner bis hinauf
zum Fürsten zu finden, wenn sie auch nicht alle gleichmäßig zur Rechenschaft
gezogen werden. Das bekannte deutsche Sprichwort eristirte schon lange, be¬
vor es noch Handelskrisen gab. Unter allen denjenigen, welche der gegen¬
wärtigen Moderichtung huldigen und Gründungen schon von vorne herein
und an und für sich als schwindlerische Unternehmungen ansehen, ohne vorher
geprüft zu haben, ob sie von Ehrenmännern oder Gaunern ins Leben ge¬
führt werden, ob sie besonnen oder wagehalsig sind, sind es gerade die
Arbeiter, welche am wenigsten Ursache haben, dem Gründerthum zu fluchen.
Denn welcher andern Ursache als dem gewaltigen Aufschwünge des Unter¬
nehmungsgeistes nach dem deutsch-französischen Krieg haben sie die beispiel¬
lose Erhöhung ihrer Löhne, welcher anderen Ursache als dem Darniederliegen
der Produktion nach Ausbruch der Krisis die jetzigen Entlassungen aus der
Beschäftigung, die großen Lohnreduktionen und daraus folgenden Entbehr¬
ungen beizumessen? Die Arbeiter-Agitatoren, welche gegenwärtig namentlich
in Süd-Wales die Leute zum fruchtlosen Widerstand gegen die durch die
Lage der Dinge gebotene Ermäßigung der in den Jahren der Ueberproduktion
aufs höchste gesteigerten Löhne aufstacheln, wissen wahrlich nicht, was sie thun.
Denn obwohl die Macht der vereinigten 'I>g,an;8 unicivs sehr groß ist, da sie
zusammen schon über eine Million Mitglieder zählen und obwohl es ihnen
gelungen ist mit Hilfe ihrer gemeinschaftlichen Kasse, die während der Zeit
der Ueberspekulation ins Werk gesetzten Aufstände siegreich durchzuführen, so
reichen ihre Mittel doch nicht aus, um in der gegenwärtigen gedrückten Lage
des Geschäftes die Arbeitgeber zu zwingen, sich dem Willen ihrer Leute zu
unterwerfen, zumal manche Meister bei den gegenwärtigen Preisen froh sind,
wenn sie nur einen Vorwand haben ihre Werke schließen zu können.
Die ganze Bedeutung der Lohnbewegung richtig zu ermessen und sie auf
ihren wahren Werth zurückzuführen, da die Zeitungsangaben sehr häufig
übertrieben sind, beginnen wir mit einem Blick auf die amtlichen Bevölke¬
rungszahlen der betreffenden Kreise. Nach der Volkszählung von 1871 ver¬
theilte sich die männliche und weibliche Bevölkerung von England und Wales
nach den Berufszweigen in folgende sechs Hauptklassen. Von der Gesammt-
Volkszahl von 22,712,266 (davon männlich 11,088,934, weiblich 11,653,332),
waren selbstthätig beschäftigt:
Unter die sechste Klasse werden noch 509.456 Taglöhner und 7149 Ar¬
beiterinnen gerechnet, welche keinem bestimmten Geschäftszweige angehören; fer¬
ner 244,465 männliche und 41,232 weibliche Personen, welche eine unbekannte
Beschäftigung haben. Unter den Rentiers figuriren 25,510 männliche, 143,385
weibliche Personen, die übrigen 7.541,508 sind Schüler und Kinder männlichen
und weiblichen Geschlechts. Die Hausfrauen und anderen weiblichen Ver¬
wandten figuriren unter der zweiten Klasse mit 3,883,830. Außerdem helfen
noch 387,827 Frauen in dem Geschäfte ihres Mannes.
Die Industriezweige, welche in Beziehung auf den Lohnkampf die hervor¬
ragendste Rolle spielen, — das Kohlen,- Eisen,- Leinen- und Baumwollen-
Gewerbe weisen in England und Wales folgende Bevölkerungszahlen auf:
Wir sehen also, daß die Gewerkvereine, obwohl ihre Mitglieder nur un¬
gefähr sämmtlicher industrieller Arbeiter umfassen, doch einen mächtigen
Einfluß ausüben müssen, weil sie die Mehrzahl der Arbeiter derjenigen Zweige
in sich fassen, welche in Folge ihres massenhaften Zusammenarbeitens leichter
zu gemeinsamer Aktion aufgerufen werden können. Die vereinigten IraäLZ
unions wußten demnach die günstige Konjunktur nach dem Friedensschlüsse im
Frühling 1871 trefflich auszunutzen und unter fortwährenden Aufständen in
den drei Hauptgewerben gelang es die Löhne stufenweise drei Jahre lang in
die Höhe zu treiben. Während des Krieges hatten fast ein Jahr lang in
Frankreich und Deutschland die Werkstätten großentheils stille gestanden oder
ihre Produktion außerordentlich beschränkt, weil über zwei Millionen der
rüstigsten Männer im Felde standen. Durch die beispiellose Abnutzung des
Eisenbahnmaterials und des Verbrauchs an Kriegsmaterial wurden die Hüt¬
ten und Werke zum Behufe der Erneuerung des Abganges auf einmal so
mit Bestellungen überhäuft, daß sie den Anforderungen nicht genügen konnten,
obwohl die Produktionsfähigkeit derselben bereits aufs Höchste gespannt wor¬
den war. Die Ziffern, welche der Ausschwung des englischen Ausfuhrhandels
seit den letzten dreißig Jahren aufweist, wiederholen sich vollständig in den
drei Hauptproduktionen. Der britische Aussuhrhandel hob sich nämlich stufen¬
weise wie folgt:
Die Kohlenausbeute hob sich in derselben Zeit von 30 auf 125 Millionen
Tonnen. Nach einer sorgfältigen Berechnung betrug die durchschnittliche Er¬
höhung der Löhne in den genannten drei Jahren im ganzen Königreiche 57^
Procent. In der Kohlen- und Eisenindustrie von Süd-Wales aber erreichte
sie sogar 110 Procent. Dabei ist zu bemerken, daß die Löhne schon in den
vorhergehenden Perioden namentlich im Jahre 1830 bereits eine Erhöhung
von wenigstens 25 Procent erfahren hatten. Der Lohn der Gruben- und
Hüttenleute stieg in unerhörten Proportionen. Noch gegenwärtig verdient ein
Bergmann in England wenigstens 4 bis 4Vs Mark per Tag. Bis vor einem
Jahre aber waren sie im Durchschnitt um V-> höher gelohnt. Während der
Durchschnittslohn im Jahre 1858 nur 3'/2 Mark und im Jahre 1852 nur
2^ Mark betragen hatte, war er eine Zeit lang bis auf 6 und 7 Mark per
Tag gestiegen. Geschickte Accordarbeiter in der Eisenindustrie aber verdienten
noch weit mehr, sodaß Angaben aus dem Jahre 1873 märchenhaft erscheinen
würden, wenn sie nicht von Fachblättern bestätigt wären. So erübrigten in
einer Eisen-Hütte von Uorkshire zufolge einem beglaubigten Buchauszug 15
Arbeiter folgenden Jahresverdienst:
Solche wahrhaft abenteuerliche Löhne sprechen für die Glaubhaftigkeit
einer Anekdote, die ein an Ort und Stelle geschickter special-Correspondent der
Times erzählt: Ein Kohlenarbeiter gab einem Roßkamm im Jahre 1872
den Auftrag ihm ein frommes Reitpferd zu verschaffen; es komme ihm auf
50 Guineen (l050 Mark) nicht an, da er nach vollendeter Schicht Nach-
mittags nach drei Uhr seiner Gesundheit wegen einer solchen Erholung noch
bedürfe.
Zu jener ungeheuren Lohnaufbesserung kommt noch, daß der Arbeiter
gegenwärtig in England seine Lebensbedürfnisse nicht theurer zu bezahlen hat,
als auf dem Continent; ja daß sie ihm vielfach billiger zu stehen kommen als
in den Industrie-Centren Frankreichs und Deutschlands. Die Wohnungs¬
miethe ist durchweg billiger als in Paris, Berlin, Wien, ja sogar als in
den Städten der Schweiz. Die Kleidung'"ist billiger, namentlich seitdem der
Gebrauch der Jute überHand nimmt. Das Fleisch kommt, trotz des höheren
Preises im allgemeinen, dem Arbeiter nicht theuer zu stehen, weil er bei der
üblichen Ausschlachtung nach einzelnen Körpertheilen, sich die billigeren Sorten
auswählen kann, — und auch das Brod ist wohlfeiler geworden. Es ist in
letzterer Beziehung geradezu erstaunlich, welche Erleichterung den arbeitenden
Klassen Englands einestheils durch die Aufhebung der Korngesetze im I. 1846,
anderenteils durch den Aufschluß der östlichen und der nordamerikanischen
Kornkammern mittelst der Eisenbahnen und der Dampfschifffahrt zugewachsen
ist, während aus der gleichen Ursache der Getreidepreis auf den östlichen
Märkten stieg. Diese Thatsache ergiebt sich z. B. aus den Weizenpreisen von
dem Zeitpunkt vor Aufhebung der Korngesetze bis jetzt in überraschendster
Weise. Nach den amtlichen Berichten war der Durchschnittspreis für den
Quarter Weizen (ein Quarter gleich Liter) in den nachfolgenden Jahren :
Es zeigt sich also, daß der Durchschnitt des Weizenpreises in den 5 Jahren
von 1845 — 49 um fast 4 Mark gesunken ist, obgleich in dieses halbe Jahr-
Zehnt das außerordentliche Theurungsjahr 1846/47 fällt. Die Ursache dieser
auffallenden Erscheinung war ganz einfach die im I. 1846 erfolgte Aufhebung
des Prohibitivzolles auf Getreide.
Trotz dieser günstigen Lage der englischen Arbeiter bis vor einem Jahre
wurde darüber geklagt, daß die Sparsamkeit nicht im Verhältniß zur Ver-
besserung des Lohnes zunehme. Namentlich in denjenigen Industriezweigen,
welche am meisten Schwankungen im Absatz und in den Preisen haben und
wo die Löhne am raschesten in die Höhe schnellen, dafür aber auch wieder
leichter zurückgehen, wird getadelt, daß die Arbeiter am wenigsten geneigt
sind von dem Ueberfluß der hohen Löhne zurückzulegen, um einen Sparpfennig
für die Zeiten der Geschäftsstockung zu haben. Gerade aus den gewerbe¬
reichsten Bezirken vernimmt man die lautesten Klagen darüber, daß oft die¬
jenigen Arbeiter, welche am meisten verdienen am stärksten in Schulden stecken.
Trotz dieser einzelnen bedauernswerthen Erscheinungen, läßt sich nicht ver¬
kennen, daß die Lage der arbeitenden Klassen Großbritanniens sich seit 10 Jahren
wesentlich gebessert hat. Den Beweis dafür liefert die steigende Betheiligung
an Consum-Bereinen und kleinen Aktiengesellschaften mit beschränkter Haft¬
pflicht aus den vermehrten Beiträgen, welche die Hilfsvereine aller Art er¬
halten, aus dem Wachsen der Sparkassen und namentlich auch aus der Er¬
höhung der finanziellen Kraft der Gewerkvereine, durch welche diese in Stand
gesetzt wurden, während der Zeit des Aufschwunges Myriaden von Arbeitern
in zahlreichen Aufständen zu erhalten. Ein Blick auf die Post-Sparkassen,
deren Ausweis uns gerade vorliegt, bestätigt gleichfalls diese Kräftigung der
Stellung der Arbeiter.
Nachdem der Ausbruch der Krisis von 1873 dem Eldorado der Specu-
lation ein Ende mit Schrecken gemacht hatte, dauerte es doch noch ein halbes
Jahr, bis die Wirkung auch auf die Arbeiter Englands sich erstreckte. Die Sisti-
rung und Einschränkung einer großen Menge von Eisenbahnen und Fabriken
machte auf einmal der Fülle der Bestellungen ein Ende. Am meisten machte
sich dieses in der Kohlen - und Eisenproduktion geltend. Bon Mitte
März 1873 bis zum gleichen Datum 1874 war der Preis des Roheisens um
36 Procent und der der Steinkohle um 30 Procent gefallen. Auch im ver¬
flossenen Jahre setzte sich die Abnahme der Bestellungen und des Preises fort,
so daß vom 31. Dezember 1873 bis zum gleichen Datum 1874 das schottische
Roheisen einen Abschlag von 20 Procent und die Steinkohle von 30 Procent
aufweist. Im Ganzen sind diese Haupthülfsstoffe der Industrie seit 2 Jahren
um ungefähr 30 Procent gesunken und trotz dieser Preisverringerung hat sich
der Absatz noch nicht wieder gehoben. Unter solchen Umständen mußten auch
die Arbeitslöhne wieder herabgesetzt werden, wenn die Kohlen- und Eisenwerke
überhaupt im Stand sein sollten in Thätigkeit zu bleiben. Schon kamen
Fälle vor, daß das Ausland durch seine billigeren Löhne in Stand gesetzt
war, mit englischen Werken in Großbritannien selbst zu concurriren. Eine
englische Eisenhütte war bereit eine Lieferung von 22000 Tonnen Schienen
sür eine britische Eisenbahn zum Selbstkostenpreis auszuführen, allein der
Auftrag wurde einem belgischen Hause ertheilt, weil dieses durch seine niedri¬
geren Arbeitslöhne im Stande war noch billiger zu liefern.
In Sheffield mußte ein großes Eisenwerk S00 Arbeiter entlassen, weil
es nicht mehr im Stande war, die belgische und deutsche Concurrenz auszu¬
halten. Ende März 1874 trat der Wendepunkt ein. Die Meister sahen sich
genöthigt, mit der Lohnreduktion zu beginnen, aber obgleich sie am Anfang
nur mäßige Herabsetzungen von 10 Procent ankündigten, so wollten sich die
Arbeiter dieser nach der Lage der Dinge unabwendbaren Forderung doch nicht
gutwillig fügen und sie setzten seit einem ganzen Jahr den Lohnkampf in der
Defensive fort, welchen sie in den vorhergegangenen beiden Jahren angriffs¬
weise geführt hatten. In den verschiedenen Kohlen- Eisen- und Baumwoll-
Vezirken von England, Schottland und Wales folgte Schritt vor Schritt überall
auf die Ankündigung der Lohnreduktion der Ausbruch von Aufständen, wäh¬
rend deren oft zu gleicher Zeit 60 bis 60 Tausend Leute feierten. Der Er¬
folg der vorhergegangenen Jahre hatte die Führer der l'i-aäizs Iluioiis über¬
müthig gemacht, sodaß sie die Kräfte der Arbeiter überschätzten und überhaupt
über die Lage des Geschäfts sich in Täuschungen wiegten. Die Beschaffenheit
des Marktes war derart, daß viele Werke auch nach einer Lohnreduktion nur
ihre Arbeit mehr aus Rücksicht auf ihre Leute fortsetzen konnten und lieber
ganz geschlossen hätten. Vielen war daher der unüberlegte Aufstand eine
willkommene Veranlassung, um ihre Werke ganz zu schließen. Hunderte von
Hochöfen wurden ausgeblasen und erst nach Monaten wieder in Gang gesetzt,
weil das Wiederanblasen eines Hochofens gegen 20 Tausend Mark Unkosten
verursacht. Alle diese zum Theil in denselben Gegenden wiederholten Auf¬
stände endigten damit, daß die Arbeiter sich der Forderung der Meister fügen
wußten. Letztere blieben nicht auf der ursprünglichen Lohnherabsetzung von
^ Procent stehen, sondern waren wegen der andauernden Flausen des
Marktes zu weiteren Reduktionen genöthigt, welche im ganzen großen Durch¬
schnitt die Löhne wieder im Laufe des verflossenen Jahres um 36 bis 40
Vroeent gekürzt haben. Es bleibt den Arbeitern gegen das Jahr 1871 im-
^er noch eine Besserung um 17'/s bis 21^ Procent. Die Ursachen und
Mittel der Beilegung des Streites bestanden einestheils darin, daß den Ar¬
bitern die Subsistenz-Mittel ausgingen, anderntheils darin, daß beide Theile
steh einem Schiedsgericht unterwarfen. Bei den späteren Aufständen bot über-
hnupt die Frage der Lohnreduktion nicht die Hauptschwierigkeit, sondern der
Anspruch, welcher bei den Arbeitern sehr rasch Eingang gefunden hatte, daß
auch die Arbeitgeber einwilligen sollten, alle Differenzen stets durch Schieds¬
gerichte beilegen zu lassen.
Gegen Ende des Jahres hatte sich das Gewitter schon fast allenthalben
verzogen, als die Kohlen- und Eisen-Werkbesitzer von Süd-Wales auf den
1. Dezember 1874 eine neue Lohnreduktion um 10 Procent ankündigten. In
Süd-Wales und Monmouthshire hatten aber auch die Löhne die höchste Höhe
erreicht und waren in einzelnen Werken bis um 116 Procent gestiegen. Im
Laufe des Sommers waren sie zweimal im Ganzen um 35 Procent herab¬
gesetzt und der dabei ausgebrochene Streit rasch betgelegt worden. Die Ar¬
beiter hatten erwartet, daß die Principale ihre Forderung dießmal würden
schiedsgerichtlich prüfen und entscheiden lassen, und genethen in Erbitterung
darüber, daß die Meister einseitig vorgingen. Ein Theil der Arbeiter trat
aus und die Agenten des Bundes der Gewerkvereine suchten überhaupt einen
allgemeinen Aufstand zu organisiren. Die Arbeitgeber, welche bis zum Jahre
1870 mit ihren Leuten in einem ziemlich patriarchalischen Verhältniß gestanden
hatten, geriethen in Entrüstung darüber, daß dieses Verhältniß durch die
Agenten der Union gestört wurde, weil diese ihre Leute in Volksversamm¬
lungen aufsetzten. Da nun die Niederlage, welche die der Union angehörenden
ländlichen Arbeiter der östlichen Grafschaften Englands im vorigen Sommer
gegenüber der Gesellschaft der Pächter erlitten hatte, den Hüttenbesitzern von
Süd-Wales zugleich den Beweis geliefert hatte, daß die Arbeitgeber gegenüber
der wachsenden Macht der Gewerkvereine nur durch Vereinigung ihrerseits
siegreich widerstehen können, so bildete sich eine Schutz- und Trutz-Gesellschaft
der Gruben- und Hütten-Besitzer. Nach der Analogie der genannten Land¬
wirthe beschlossen auch die Hüttenbesitzer von Süd-Wales dem Aufstande der
Arbeiter ein ähnliches noch härteres Collectivmittel anzuwenden, die Aus¬
sperrung der Arbeiter, d. h. sämmtliche Meister welche der Gesellschaft an¬
gehören, verpflichten sich in Folge eines Beschlusses der Gesellschaft ihre Werke
gänzlich zu schließen. Die Härte dieser Maßregel besteht darin, daß von ihr
auch die Unschuldigen getroffen werden, d. h. auch diejenigen Arbeiter, welche
nie ein Zeichen der Unzufriedenheit gegeben haben und bereit sind, ohne Mur¬
ren fortzuarbeiten.
Als daher der theilweise Aufstand der Arbeiter sowie die Hetzereien der
Agenten der Union fortdauerten, kündigten die der Trutzgesellschaft ange'
hörenden Hütten- und Gruben-Besitzer am Anfang Januar 1876 an, daß sie,
falls sie nicht sich sämmtlich der weiteren Lohnreduktion um 10 Procent
fügen würden, am 1. Februar eine allgemeine Arbeits sperre eintreten lassen
würden. Da die ausstehenden Arbeiter dieser Aufforderung nicht Folge leiste¬
ten, so wurde die Drohung am 1. Februar wirklich ausgeführt und zwar
mit einer rücksichtslosen Energie, welche in dieser Beziehung fast ohne Beispiel
dasteht. Um den Arbeitern jede Hoffnung zu benehmen, daß es den Meistern
nicht Ernst sein könne, schritten diese ohne Verzug zur Ausführung ihrer
Maßregel. Sämmtliche Kohlen-Gruben, Eisen-, Zink- und Kupfer-Hütten
wurden geschlossen, die Hochöfen ausgeblasen, sämmtliche Werke demontirt und
die Pferde aus den Stollen der Bergwerke herausgeschafft. Da schon in der
ersten Woche über tausend Pferde aus den Gruben gebracht waren, so mußten
zu ihrer Unterbringung provisorische Schuppen errichtet werden. Die Hälfte
der Locomotiven und Wagen der Eisenbahngesellschaften steht still und bedeckt
auf eine halbe Meile weit die Geleise; die Verminderung der Kohlenproduk¬
tion beträgt wöchentlich 16 Millionen Zentner. Die zwingende Macht der
Werkbesitzer liegt in der großen Zahl von Arbeitern, die durch die Schließung
^der Werke brodlos geworden sind. Es sind gegen sechzigtausend Kohlen- und
Eisen-Arbeiter, welche von der Arbeitssperre in Süd-Wales betroffen sind; mit
ihren Angehörigen und den Gewerben, welche von ihnen abhängen, mögen
durch diese Maßregel auf einmal 250,000 Menschen brodlos geworden sein.
Zwar geben sich die Armenverwaltungen alle erdenkliche Mühe, um Nebenbe¬
schäftigung beim Straßenbau u. f. w. aufzutreiben, allein diese Gelegenheit
ist im Verhältniß zu der ungeheuern Zahl der Beschäftigungslosen zu unbedeu¬
tend, um im Ganzen eine wirksame Hilfe zu bringen. Obgleich schon beim
Beginn der Arbeitssperre Anfangs Februar der Agent der Union bei einer
Versammlung der Bergleute eine ziemlich kühle Aufnahme fand, so ist der
Widerstand der Arbeiter doch so zähe, daß jetzt der zweite Monat der Arbeits¬
sperre zu Ende geht, ohne daß es gelungen ist, eine Verständigung zu Wege
zu bringen. Zwar hat der Bund der Gewerkvereine seine Unterstützung .fast
ausschließlich den Süd-Wallisern zugewandt, allein seine Mittel fangen bereits
an zu versiechen, obgleich sie noch durch freiwillige Sammlungen in London
und anderen Städten Englands verstärkt wurden. Schon melden sich Arbei¬
ter massenhaft in den überfüllten Armen-Arbeitshäusern, schon berichtet man
von Kindern, welche ihren Hunger mit Ueberbleibseln auf dem Mist zu stillen
suchen. Schon hat die Polizei Vorsichtsmaßregeln ergriffen. Der Schaden,
den nicht blos die Industrie, sondern auch die Arbeiter erleiden, ist unberechen¬
bar. Während des großen Aufstandes in Preston. wo 16,000 Arbeiter 38
Wochen lang feierten, verloren diese 8'/- Millionen Mark an Löhnen; im
Jahre 1859 10,000 Londoner Bauarbeiter, welche 26 Wochen aufstanden,
nicht weniger als 6Vz Millionen Mark. Diese Aufstände waren erfolglos,
obgleich die Leute so lange aushielten. Welche Aussicht auf Erfolg haben da¬
her die Süd-Walliser Berg- und Hüttenleute bei ihrer ungeheueren Anzahl?
Schon hat man versucht, den Lord Aberdare, einen der größten Hüttenbesitzer
von Süd-Wales, dazu zu bewegen, das Vermittler-Amt zu übernehmen.
'
Derselbe hat in einem öffentlichen Sendschreiben seine Meinung abgege¬
ben, aber sich für rückhaltslose Unterwerfung unter die Bedingungen der Ar¬
beitgeber ausgesprochen. Derselbe ist zwar selbst Partei, allein bei reifer Ab¬
wägung der Verhältnisse muß man seine Ansicht doch für die allein richtige
erkennen. Denn die Lage der Geschäfte ist immer noch so gedrückt, daß die
Arbeiter froh sein können, wenn die Meister sich mit der angekündigten Re¬
duktion um zehn Procent begnügen und nicht von jetzt an die Wiedereröff¬
nung ihrer Etablissements an noch härtere Bedingungen knüpfen. Es ist da¬
her die höchste Zeit, daß die Arbeiter die gegenwärtige Lage des Marktes begrei¬
fen und berücksichtigen lernen. Je länger sie zögern, desto mehr gerathen sie
in Gefahr, sich auf Gnade und Ungnade ergeben zu müssen. Bei der gegen¬
wärtig überhandnehmenden Concurrenz, welcher die englische Kohlen- und Ei¬
senproduktion auf dem Continent begegnet, laufen sie mit der Zeit Gefahr,
den ganzen Industriezweig in ihrer Gegend zu ruiniren und damit sogar die
Bedingungen ihrer Existenz zu untergraben.
Hoffentlich werden sich aus diesem Lohnkampfe, der in seiner Ausdehnung
ohne Gleichen in der Geschichte der Volkswirthschaft dasteht, organische Ein¬
richtungen ausbilden, welche wieder andauernden Frieden zwischen den beiden
Faktoren der Produktion anbahnen. Die Steine dazu find schon gelegt und
haben im verflossenen Jahre an vielen Orten stärker Wurzel gesaßt.
Fast drei Monate sind es, daß die Kohlengruben von Süd-Wales
geschlossn sind. Seit dem 31. Januar haben die Berg- und Hüttenleute keinen
anderen Verdienst als die spärliche Arbeit, welche ihnen die Armencommission
zugewendet hat. 60,000 Arbeiter und mit Frauen und Kindern gegen 200,000
Personen lebten seitdem nur von Ersparnissen und von den Hilfsgeldern, welche
ihnen von dem Bund der englischen Gewerkvereine zugewendet worden sind. Die
Noth stieg so hoch, daß wie schon oben erwähnt Kinder sogar verdorbene Lebens¬
mittel vom Mist aufgelesen haben sollen. Nach vielen Vermittlungsversuchen, welche
bisher am Widerstand einer Fraktion der Arbeiter oder der Arbeitgeber gescheitert
sind, ist es endlich bei einer großen Versammlung der Kohlenbergwerksbesitzer zu
Cardiff am letzten Freitag den 23. April gelungen, eine Aussöhnung anzubahnen.
Da es nicht möglich war die einstimmige Unterwerfung der Arbeiter herbei¬
zuführen, so einigten sich die Bergwerksbesitzer dahin, die Arbeitersperre auf¬
zuheben und den Arbeitern anheimzugeben bei einer Reduction des Lohnes
von Is yet. zu ihrer Beschäftigung zurückzukehren. Die ganze Frucht dreimonat¬
licher furchtbarer Entbehrungen ist also daß die Arbeiter schließlich in eine
um 6 yet. stärkere Lohnreduction willigen müssen als die ursprünglich von
den Meistern geforderte war, wegen deren zuerst die Aufstände ausgebrochen
und dann die Arbeitssperre angeordnet worden war. Wie alle ähnlichen Be¬
wegungen seit einem Jahre hat auch dieser größte Konflikt mit einer Nieder-
läge der Arbeiter geendet, weil sie, von den Führern der Union mißleitet,
gegen den Strom schwimmen wollten. Kohle und Eisen waren gegen den Stand
vor der Krisis um mehr als 60 yet. im Preis gesunken. Wie sollten sich die
in Süd-Wales nun über 100 yet. gestiegenen Löhne forterhalten lassen ohne
die Unternehmer zu ruiniren! Es ist dabei wohl zu beachten, daß die seit
einem Jahre bis jetzt vorgenommenen Lohnreduktionen nicht mehr als 50 yet.
der bis zum Ausbruch der Krisis gemachten Verbesserungen betragen, so daß
die Lohne trotz der jetzigen Ermäßigung um 15 yet. gegen das Jahr 1870 noch
immer bedeutend im Vorsprung sind. Diese bittere Erfahrung wird wohl da¬
zu dienen, die Arbeiter auch auf dem Continent gegen die aus ihren Kassen
lebenden Führer mißtrauisch zu machen und ihnen vor allen Dingen die Lehre
einzuprägen, daß die Arbeiter nicht Zeiten des Niederganges, sondern Zeiten
des Aufblühens der Industrie benutzen müssen, um ihre Interessen zu fördern-
Die evangelische Allianz ist eine bedeutungsvolle Erscheinung auf dem
Gebiet des kirchlichen Lebens der Gegenwart. Ihr Werth liegt allerdings
in erster Linie nicht in einzelnen Unternehmungen, die von ihr ausgehen,
sondern vielmehr in der sichtbaren Darstellung einer Idee, welche zu den
konstitutiven Faktoren des Christenthums gehört; einer Idee, welche der
Katholicismus in verzerrter Gestalt verwirklicht, während der Protestantismus
bis jetzt auf ihre Verwirklichung verzichtet, wenigstens zu ihrer Verwirklichung
nur geringe Beiträge geliefert hat. Wir meinen die Idee des Universalismus.
Die Einheit und Gemeinschaft der Gläubigen ist ein für die christliche Religion
grundlegender Gedanke, in welchem sie die Beziehung zur ganzen Menschheit,
ihren allgemein menschlichen Charakter bezeugt. Der Katholicismus hat diesen
Gedanken mit großer Energie ergriffen, aber ihn auch entstellt. Es ist die
Einheit der Unfreiheit, für welche er eingetreten ist; wo ihm die Macht zu
Gebote steht, gewährt er nichtkatholischen christlichen Gemeinschaften keinen
Raum, und in der eignen Mitte läßt er den religiösen Individualitäten ein
immer mehr sich verengendes Gebiet eigner Bewegung.
Der Protestantismus entfesselt die religiöse Individualität und befreit sie
von der bindenden Autorität menschlicher Ueberlieferung; er führt sie zu den
Quellen ursprünglicher Selbstbezeugung des Christenthums zurück und legt
das Verständniß derselben vertrauensvoll in die Hände der geschichtlichen Ent¬
wicklung des christlichen Geistes, an welcher jede christliche Individualität
mitarbeitet. So entwickelt sich ein Reichthum eigenthümlicher Spieglungen
des Christenthums, so treten die mannichfaltigsten Auffassungen, die verschieden¬
artigsten Gestaltungen und Bildungen der christlichen Idee hervor. Sehen
dieselben sich als relativ berechtigte, sich gegenseitig ergänzende Richtungen
an, so ist beides gewahrt, die Einheit und die Freiheit. Betrachtet sich aber
eine jede als die einzig vollkommene und wahre, absolute und die andere
daher als schlechthin irrig ausschließende Realisirung der christlichen Idee, so
geht die Einheit in der Freiheit verloren.
Es ist die Gefahr des Protestantismus eine zweifache, einmal die Indi¬
vidualität so einseitig auszubilden, in ihrer Entwicklung in solchem Maße
den geschichtlich ausgeprägten Typus zu verlassen, daß sie in ihrer ursprüng¬
lichen Tendenz und in ihrem wesentlichen Gehalt andern protestantischen
Individualitäten nicht mehr erkennbar wird, sich ihnen nicht mehr als ihr
eignes Fleisch und Blut legitimiren kann; sodann der eignen Individualität,
und wäre es auch nur im Prinzip, absoluten Werth zuzuerkennen. Der
Protestantismus setzt ein hohes Maß der Selbstverleugnung und Selbstbe¬
schränkung voraus, ohne dasselbe zerfällt er und löst sich auf. Daß er that¬
sächlich nicht diese Forderung, wenigstens nicht ausreichend, erfüllt hat, bedarf
keines Beweises. Die vielen Zertrennungen innerhalb des Protestantismus
und innerhalb der einzelnen protestantischen Gemeinschaften legen dccsür ein
unwiderlegliches trauriges Zeugniß ab.
Trotz dieser vorhandnen Spaltungen, das Gefühl der Zusammengehörig¬
keit zu wecken und zu beleben, das ist die Aufgabe, welche die Allianz sich
stellt. Man darf sie daher nicht verurtheilen, weil sie wenig einzelne greif¬
bare und sichtbare Erfolge aufzuweisen vermag. Ihr wesentlicher Zweck fällt,
wie wir gesehen haben, eben in das Innere des religiösen Lebens, und die
Wirkungen, die sie erzielt, sind keine meßbaren Größen.
Doch fehlt es auch nicht an Bestrebungen, die bestimmte concrete Aufgaben
ins Auge fassen, und deren energische Verfolgung allgemeinere Aufmerksam¬
keit erregt und allgemeinere Anerkennung gewonnen haben. Die evangelische
Allianz ist die unermüdliche Vorkämpferin der Religionsfreiheit; überall, wo
das protestantische Glaubensbekenntniß unterdrückt und seine Angehörigen
verfolgt werden, erhebt die Allianz laut ihre Stimme, und ihre Mahnrufe
sind nicht vergeblich geblieben.
Noch in einer andern Hinsicht nimmt die evangelische Allianz unser
Interesse in Anspruch. Sie ist eine internationale Bereinigung und entspricht
so dem wesentlichen Interesse des Christenthums. Will dasselbe auch nicht
das nationale Regiment negiren, vielmehr befreien, durchdringen und erklären,
so ist es doch seinem innersten Wesen nach allgemein human und eben deshalb
die Macht, welche die Nationen verbindet und den in ihnen waltenden
egoistischen und deshalb zu Zusammenstößen und Feindschaften treibenden
Tendenzen beschränkend entgegenwirkt. Und dieses Prinzip des Christenthums
ist es, welches ebenfalls die evangelische Alltanz zur Geltung zu bringen sucht.
Bis dahin hatte sie nun ihre General-Versammlungen ausschließlich in
Europa gehalten, Amerika war noch nicht gewählt worden, obwohl die Fülle
evangelischer Gemeinschaften, die sich dort zusammengefunden haben, den Be¬
strebungen der Allianz einen besonderen Reiz bietet, bis es endlich gelang im
Herbst vor zwei Jahren nach New-Uork eine Generalversammlung zu berufen.
Sie tagte vom 2. bis 10. Oktober 1873. Und der Verfasser vorliegender
Schrift giebt uns einen ausführlichen und anschaulichen Bericht der Verhand¬
lungen. Er verschweigt uns die Schwächen derselben nicht, die Ueberfülle der
Reden, die überschwänglichen Hoffnungen und Erwartungen, welche die Redner
an die Versammlung knüpften, die Neigung, dem Effekt mehr Raum als
nöthig zu gewähren. Aber trotz alledem war die General-Versammlung der
Allianz in New-Uork eine bedeutungsvolle Erscheinung, ein Zeichen, welche
Macht und Anziehungskraft der positive Protestantismus in Amerika ausübt.
Es ist nun nicht unsre Absicht, auf die Verhandlungen der Versammlung
näher einzugehen, könnten wir ja doch nur die Leser mit einer erdrückenden
Fülle von Vortragsthematen und Rednernamen, deren größter Theil nur in
engeren Kreisen bekannt ist, ermüden. Wir richten ihre Aufmerksamkeit viel¬
mehr auf die anziehenden Schilderungen Amerikas und amerikanischen Lebens,
welche den bei weitem größten Theil unsrer Schrift ausmachen. Wir haben
sie mit hohem Interesse gelesen und können sie unsern Lesern nur warm em¬
pfehlen. Der Verfasser schreibt schlicht, einfach, kunstlos, ohne Berechnung
und Absicht. Wir hören nur Naturtöne. Harmlos und unbefangen sieht er
und hört er. Eine innige evangelische Frömmigkeit, die dem Pietismus ab¬
hold, sich an allem freut, was der Freude werth ist, und die Schattenseiten
des Beobachteten lieber leichtem Humor als ätzender Satyre unterwirft, durch¬
zieht das Ganze. Es macht den Eindruck, als sei es aus Briefen des Ver¬
fassers an die Seinigen in die Heimath oder aus Tagebüchern entstanden.
Man begleitet den Verfasser von Tag zu Tag, von Ort zu Ort und hört,
was er wahrgenommen, gethan und erfahren hat. Es ist eine angenehme
Lectüre, mehr unterhaltend, als belehrend, der man gern Gehör schenkt. Ein
harmonischer, friedlicher und versöhnender Geist weht durch die Darstellung.
Nur eins hätten wir weggewünscht, den gereizten und bittern Ton. in dem
er von dem deutschen Militarismus und der Staatsktrche redet. Beide sind
Nothwendigkeit, die als solche anerkannt werden müssen, und beide bringen
gesegnete Früchte, die nicht vergessen werden dürfen. Und die Freikirche hat
Schattenseiten, die sich auch in Amerika herausgestellt haben, und die min¬
destens ebenso bedenklich sind, wie die ungünstigen Erscheinungen, die sich im
Gefolge der Staatskirche einzustellen pflegen. Doch hat sie der Verfasser wenig
beachtet. Es ist schwer über den ganzen Inhalt der Schrift zu berichten.
Sie bietet eine solche Fülle der mannigfachsten Beobachtungen, zu denen die
Kreuz- und Querfahrten in den Vereinigten Staaten dem Verfasser Stoff ge¬
geben haben, daß sie wiederzugeben mehr Raum beanspruchen würde, als
wir glauben fordern zu dürfen. Wir beschränken uns daher darauf, auf einen
Vortrag aufmerksam zu machen, welchen der Verfasser seinem Buche einverleibt
hat, und dessen Gegenstand, auf ein allgemeines nationales Interesse sich bezieht.
Er ist in Pittsburg gehalten, später in erweiterter Gestalt in Jena. Er
behandelt das Thema: „Ueber Aufgabe und Zukunft der Deutschen in den
Bereinigten Staaten von Nordamerika." Gehen wir etwas näher auf seinen
Inhalt ein. Es giebt in den Vereinigten Staaten ungefähr 3 — 5 Millionen
deutsch redende und lesende Einwohner, in New-Uork allein gegen 300,000.
In allen großen Städten bilden sie einen beträchtlichen und angesehenen Theil
der Bevölkerung, besonders die deutschen Juden. Sie lernen leicht die fremde
Sprache, fassen geschickt Handel und Geldgeschäfte an, helfen sich gegenseitig
und vergessen bald die alte Heimath. Ein bedeutendes Kapital ist in ihrem
Besitz. Am dichtesten wohnen die Deutschen in den nordwestlichen und west¬
lichen Staaten. Die deutsche Sprache der Eingewanderten verschwindet je
länger je mehr im Lauf der Geschlechter und weicht der englischen. Diese
tragische Entwicklung macht ein vom Verfasser ungetheiltes Gedicht — der
Name des Dichters und der Fundort des Gedichts ist nicht genannt — in
ergreifender Weise anschaulich:
Man kann und muß als Deutscher mit schmerzlich bewegter Stimmung
diesen Sterbeprozeß deutscher Nationalität verfolgen, aber wir sind ganz der
Ansicht des Verfassers, daß er unabwendbar ist. Er wird hier und da lang¬
samer vor sich gehen, er wird durch fortgesetzte deutsche Auswanderung ver¬
zögert werden, aber er ist nothwendig. Auf die Dauer können nicht die ver¬
schiedenen Nationalitäten der Eingewanderten unversehrt neben einander be¬
stehen, es muß und wird aus ihnen eine neue Nationalität erwachsen, zu
deren Eigenthümlichkett sie alle, und die deutsche nicht in geringsten Maße bei¬
getragen haben. Den Löwenantheil freilich wird die englische, und mit gutem
Rechte, davontragen, und die englische Sprache wird es auch sein, welcher die
Zukunft im neuen werdenden einheitlichen Volke der amerikanischen Union
gehört. Spezifisch deutschen Institutionen, Kirchen, Schulen und Vereinigun¬
gen kann nur die Aufgabe zufallen, den Uebergang zu erleichtern, vor un¬
zeitigen verfrühten Opfern deutscher Individualität zu schützen. Der Einfluß
«dessen, welchen die Vertreter der fremden Nationalitäten auf die Zukunfts¬
individualität ausüben dürfen und können, hängt von ihrem moralischen
Werthe ab, und so vergegenwärtigt uns denn der Verfasser die verschiedenen
Klassen der Einwandrer vom Standpunkt moralischer Werthschätzung aus.
Da bildet denn allerdings ein ansehnliches Kontingent die Zahl sittlich ver¬
kommener Persönlichkeiten, die in Europa unmöglich geworden sind, und giebt
den Uankees berechtigten Anlaß, viele soziale Mißstände auf ihr Dasein zurück
Zu führen. Und ein nicht unbeträchtlicher Theil von Mitgliedern dieser Gruppe
fällt auf Deutschland. Andre haben das alte Vaterland verlassen, um dem
Druck politischer und kirchlicher Verhältnisse zu entgehen und für die Verwirk¬
lichung ihrer Ideen freieren Spielraum zu finden. Auch unter ihnen sind
Deutsche. Noch andre endlich sind ausgewandert, um günstigere Bedingungen
der irdischen Existenz zu suchen, und dieser Klasse gehören ebenfalls viele
Deutsche an. Gegen den moralischen Werth dieser letzten zwei Klassen läßt
sich nichts einwenden. Und so können wir denn hoffen, daß die Deutschen
einen ansehnlichen, einflußreichen und Segen bringenden Faktor in der Bil¬
dung des neu entstehenden Volks ausmachen werden. Die Innerlichkeit des
Geistes und Gemüthslebens — das ist die Mitgift, welche Amerika von den
eingewanderten Deutschen zu erwarten berechtigt ist. und deren Einwirkung
der nüchterne, einseitig praktische Genius Amerikas zu seiner Ergänzung
bedarf. —
Unsre Leser werden aus dem Bericht über diesen Vortrag erkannt haben,
wie klar und besonnen der Versasser über amerikanische Verhältnisse zu ur¬
theilen weiß. Er zeigt überhaupt einen scharfen und unbefangenen Blick in
der Beobachtung und Charakteristik. Wir scheiden daher mit aufrichtigem
Dank von der Lektüre vorliegender Schrift.
Der Augenblick naht heran, wo die Verhandlung des Arnim'schen Pro¬
cesses in zweiter Instanz ihren Anfang nehmen soll und das berühmte Kam¬
mergericht eine ernste Aufgabe zu lösen hat.
So verschieden an sich die beiden eausss e6Ikbrv8 gewesen, welche in
Deutschland und Oesterreich die öffentliche Aufmerksamkeit in ungewöhnlichem
Grade gefesselt: der Fall Arnim und der Fall Ofen heim bieten doch
manche Analogien. Den beiden Ländern machten sie sich in gleich schmerz¬
licher und nachtheiliger Weise fühlbar. Beide Processe geben noch für lange
Zeit zu denken: wegen der Lebensverhältnisse, die davon berührt worden,
wegen der interessanten Persönlichkeiten, die auf der Anklagebank gesessen,
wegen der in Betracht kommenden Rechtsgrundsätze uno deren Anwendung.
In bevorzugten Regionen der Gesellschaft befand sich der Schauplatz der
beiden Processe: innerhalb der preußischen Aristokratie und Diplomatie der
eine, der andre im Mittelpunkte der österreichischen Plutokratie und Gro߬
industrie.
Im Arnim'schen Fall ein Mann von unstreitig glänzenden Gaben, der
rasch Carriere gemacht, gleichsam spielend zu bedeutender Stellung gelangt,
wohl dazu angethan, sich einen Namen in der Geschichte seines Landes, in
den Annalen des neuen Reiches zu machen, — der aber nie die Herrschaft
über sich selbst besessen, zügellos in Neigungen, Einfällen, Projecten, Leiden¬
schaften, von unde egoistischen Ehrgeiz erfüllt, der in Aufwallung und Verstim¬
mung und bewegt von noch andern Motiven mit den Traditionen seines
höchst verantwortlichen Amtes bricht.-----
Im Osenheim'schen Fall ein Mann von gleichfalls brillanten Fähigkeiten,
von einer Geschäftsgewandtheit und einem Ueberblick, die ihres Gleichen suchen,
der sich aber von der Welle des Tages tragen läßt, in der ganzen Gier des
Zeitalters aufgeht, dem Geldmacher Alles unterordnet, Verpflichtungen eingeht,
die er nach seiner ihm passenden Auslegung vielleicht zu erfüllen sich .anläßt,
was in den Sprachen der Völker verschiedene harte Namen trägt. — —
Zwei souveräne Naturen, „xrineipes Isgidus soluti" wo möglich — — —
Und nun vor Gericht? und wie beurtheilt?
Der eine zwar verurtheilt, aber nicht um dessentwillen, wessen er ange¬
klagt worden, eigentlich freigesprochen: und der andere ohne Umschweif
wirklich freigesprochen, nichtschuldig.
Aktenstücke, von denen nicht nur Wohl und Wehe des Staats abhängt,
sondern auch die Ehre des Amtes, glaubte Graf Arnim und glaubt er heute
noch, für sich behalten und dem Staat entziehen zu dürfen und zu sollen.
Handelte er in der Aufregung und verrannte sich darin? Er fand auch Ver¬
theidiger: kühl und besonnen verfuhr der Gerichtshof.
Ritter von Ofenheim hatte verstanden, Geld ins Land zu bringen,
sich um das Land verdient gemacht, sah sich so gepriesen, daß Andre füglich
sich schämen mochten, die nicht auch so prakticirt: das Verdikt bestätigte seine
volle Berechtigung, strenggenommen seine Meriten.
Das also ist — in beiden Fällen — Rechtens. Dies Resultat ergiebt
die moderne Jurisprudenz. Wie im Arnim'schen Fall abgewogen ist, was
dem Ankläger zu beweisen oblag und was nicht hinreichend erwiesen, ganz
Wie im Rechtsstreit um Mein und Dein: quoä von in actis, non in aurato.
Und, wenn bessere Einsicht nachhinkt und ihr dennoch keine Folge gegeben
ist: trala üäeg superveniens non movet.
Die Rechtsprechung ist eine große Aufgabe! ihr gewachsen zu sein, das
will etwas sagen! Auch hat die Strafrechtspflege ihr besondres Ingenium
zur Voraussetzung, dessen der Civilproceß entrathen darf.
Gedenken wir auch des Wahrspruchs der Presse in beiden causes dZIebl'LS?
Dafür nur das Eine, doch gewiß „celebre" Beispiel: Die Wiener „Neue
Freie" verherrlichte den Angeklagten Graf Arnim, doch nicht us^ne ünvm;
dagegen blieb sie der Apotheose des Ritters von Ponteuxin getreu.
Wenn man fern steht, hat man Erlaubniß, Vieles unverständlich zu
finden. Giebt es doch, von denen die Schulweisheit sich nichts träumen
läßt, Dinge zwischen Himmel und Erde, wie z. B. den Fall Arnim, den
Fall Ofenhelm.
Die erste Sitzung des Abgeordnetenhauses in vergangener Woche, am
3. Mai, beschäftigte sich zuerst mit der dritten Lesung des Gesetzentwurfs über
die Verwaltungsgerichte. Das Gesetz wurde nach den Bestimmungen der zweiten
Lesung angenommen mit einer einzigen, nicht unerheblichen Abänderung. Im
vorigen Brief ward hier berichtet, daß für Competenzstreitigkeiten zwischen
Gerichtshöfen des Privatrechts und solchen des öffentlichen Rechts der'Regie¬
rungsentwurf den älteren Competenzconflictshof hatte bestehen lassen, während
Competenzstreitigkeiten zwischen Verwaltungsbehörden und Verwaltungsge¬
richten durch das Oberverwaltungsgericht entschieden werden sollten. Diese
Vorschläge der Regierung hatte sich das Abgeordnetenhaus bei der zweiten
Lesung den abändernden Vorschlägen seiner Commission gegenüber angeeignet.
Bei der dritten Lesung jedoch gestalteten sich die betreffenden Beschlüsse etwas
anders. Die Erwähnung des Competenzeonflicthofes wurde beseitigt und da¬
mit die Frage des Competenzconflicts zwischen Gerichtshöfen des Privatrechts
und solchen des öffentlichen Rechts unentschieden gelassen, sofern nicht aus
der Nichtaufhebung des älteren Gesetzes über den Competenzconsiicthof des
letzteren Fortbestehen von selbst folgt. — Was den Competenzconflict zwischen
Verwaltungsbehörden und Verwaltungsgerichten anlangt, so sollen die Ver¬
waltungsgerichte nach den Beschlüssen der dritten Lesung ihre Zuständig¬
keit selbst wahrnehmen. Nur wenn die Parteien die Zuständigkeit bestreiten,
soll gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts die Berufung an das
Oberverwaltungsgericht zulässig sein.
In derselben Sitzung vom dritten Mai gelangte der Gesetzentwurf des
Abgeordneten Petri über die Rechte der altkatholischen Gemeinden an dem
Vermögen der römisch-katholischen Gemeinden, zu denen die erstern bisher ge¬
hörten, zur zweiten Lesung. Wir haben uns über diesen Gesetzentwurf bet
der ersten Lesung hier ausgesprochen in dem Brief vom 14. März. Wir haben
damals hervorgehoben, daß der Gesetzentwurf nur ein Provisorium bezwecken
könne, wozu er sich allerdings auch bekennt. Der Gesetzentwurf nimmt den
Standpunkt ein, daß die Frage nach der Rechtsbeständigkeit des Vaticanum
vom Staat nicht zu entscheiden sei. Demnach könne der Staat nicht wissen,
ob die Altkatholiken oder die vaticanischen Katholiken die rechtmäßigen Träger
jener historischen, von ihm anerkannten und privilegirten Kirchengemeinschaft
seien. In Folge dessen schlägt der Gesetzentwurf einstweilen eine Gebrauchs¬
theilung des kirchlichen Vermögens zwischen Altkatholiken und Vaticankatho-
liken vor/ und erläßt die näheren Bestimmungen über dieselbe. Der Gesetz-
entwurf wurde nach den Vorschlägen der Commission in der Hauptsache an¬
genommen. Unsererseits haben wir dabei nur zu wiederholen, daß die Zeit
nicht mehr fern sein kann, wo der Staat entweder der Frage nach der Rechts¬
beständigkeit des Vaticanum näher tritt, oder wo er sich sogar genöthigt
sieht, ohne diese Prüfung alle der römischen Kirche bisher gewährten Rechte
aufzuheben. Dann ist die provisorische Geltung des Gesetzes über den Mit¬
gebrauch der Altkatholiken am kirchlichen Vermögen erledigt.
Am 4. Mai gelangte ein sehr wichtiges Gesetz zur zweiten Lesung: über
Erhaltung und Begründung von Schutzwaldungen sowie über die Bildung
von Waldgenossenschaften. Das Gesetz ist einerseits technischer Art, anderer¬
seits berührt es den wichtigsten Grundsatz der Socialpolitik, die Frage näm¬
lich nach der Beschränkung des Privatrechts durch das öffentliche Recht zu
Gunsten des öffentlichen Wohls. Da indeß das Gesetz weitgreifende Ma߬
regeln keineswegs anordnet, sondern in vorsichtiger Weise nur bescheidene
Schritte einleitet, so wollen wir den Inhalt vorläufig nicht erörtern. Es
fehlt nicht an Stimmen, welche schon jetzt den Schritt für geboten erachten
zur Uebernahme des Waldeigenthums durch den Staat, wo sich die
Erhaltung des Waldes empfiehlt. Die Nothwendigkeit wird zu solchen
Schritten allerdings wohl über kurz oder lang führen, und die Sorge ist
nicht unbegründet, daß, wenn man dahin gelangt, der bereits angerichtete
Schade immer größer und schwerer zu heilen geworden sein wird. Der deutsche
Staat ist aber heute mit so großen und mannigfachen Aufgaben überlastet
und bedrängt, daß man es richtig finden muß, wenn tiefgreifende Maßregeln
vermieden werden, die irgend aufschiebbar erscheinen.
Nachdem am 5. Mai Petitionen erledigt worden, erfolgte am 7. Mai
die erste Lesung des Gesetzentwurfs betreffend die Orden und ordensähnlichen
Congregationen der katholischen Kirche. Mit diesem Gesetz hat die Staats¬
regierung wiederum einen sehr wichtigen Schritt gethan in ihrem Kampfe
wider Rom. Das Gesetz schließt alle Orden und ordensähnliche Congregationen
vom Gebiet des preußischen Staates aus. Eine Ausnahme wird gemacht
zu Gunsten der Orden, welche sich ausschließlich der Krankenpflege widmen.
Jedoch können auch diese Orden jeder Zeit durch königliche Verordnung auf¬
gehoben werden. Während die Auflösung der Ordensniederlassungen im
Allgemeinen sechs Monate nach der Verkündigung des Gesetzes zu erfolgen
hat, darf durch den Minister der geistlichen Angelegenheiten eine Verlängerung
dieser Frist bis zu vier Jahren erfolgen für Niederlassungen, welche sich
mit dem Unterricht und der Erziehung der Jugend beschäftigen. Dies ist
der Hauptinhalt des Gesetzes.
Die Redner vom Centrum benutzten diesmal als Hauptwaffe die angebliche
Verfassungswidrigkeit des neuen Gesetzes. Sie konnten sich dabei nur auf
ein^ Interpretation der Verfassung stützen, welche von der Staatsregierung
wie vom Abgeordnetenhaus jetzt für mißbräuchlich erklärt wird. Um den
Streitpunkt klar zu übersehen, thut man am besten, die Frage so zu stellen:
Aus Grund welcher Vorschriften des Gesetzes sind die Orden bisher im preu¬
ßischen Staat geduldet worden? Man kann sich nicht auf den Artikel 12
der Verfassung berufen, welcher das Recht der Vereinigung zu Religions¬
gesellschaften gewährleistete.
Denn die geistlichen Orden der katholischen Kirche sind keine Religions¬
gesellschaften, sondern Formationen religiöser Lebensäußerung einer bestimmten
Religionsgesellschaft. Der Artikel 12 besagt aber keineswegs, daß der Staat
sich verpflichtete, alle und jede Lebensäußerungen der Religionsgesellschaften
zu dulden. Vielmehr enthält derselbe Artikel den Satz: Den bürgerlichen und
staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit
kein Abbruch geschehen. Man muß aber entschieden behaupten, daß die
Unterwerfung unter Ordensregeln, welche die geistige Persönlichkeit vernichten,
jenen Pflichten Abbruch thut.
Für die Duldung der geistlichen Orden der katholischen Kirche kann man
auch nicht einmal den viel citirten, jetzt aufgehobenen Artikel Is anführen,
welcher den Religionsgesellschaften die selbständige Ordnung und Verwaltung
ihrer Angelegenheiten zusprach. Denn auch hier müßte unter allen Umstän¬
den die erwähnte Einschränkung des Artikels 12 Platz greisen. Man kann
auch nicht einwenden, daß die gesammte katholische Geistlichkeit so gut wie
die Ordensmitglieder den staatsbürgerlichen Pflichten entfremdet werde. Denn
der bekannte Unterschied der Weltgeistlichen und der Ordensgeistlichen lag
eben bis zu dem letzten Conzil darin, daß die Weltgeistlichen dem Bischof
Unterthan, dieser aber ein selbständiges Organ des Kirchenregiments und in
gewissem Sinn eine Landesobrigkeit war, während die Ordensgeistlichen ledig¬
lich selbstlose Werkzeuge einer auswärtigen Macht sind.
Vorzugsweise hat man die Zulassung der Orden im preußischen Staat
bisher auf den Artikel 30 der Verfassung gestützt, welcher das Recht gewähr¬
leistet, Gesellschaften zu bilden — für Zwecke, welche dem Strafgesetz nicht
zuwider laufen. Dieses Recht ist durch das bekannte Gesetz vom 11. Mai
18S0 über die Ausübung des Vereinsrechtes geregelt.
Aber niemals sind die geistlichen Orden nach diesem Gesetz behandelt
worden, niemals habM dieselben daran gedacht, sich den Normen dieses Ge¬
setzes zu unterwerfen. Man kann in der That die Folgerung nicht abweisen,
daß diese Orden oxtrs, legem geduldet worden sind, in Folge einer schwer ver¬
zeihlichen Nachlässigkeit in der Wahrnehmung des Staatsberufes.
Daß der Artikel 30 nicht zu Gunsten der geistlichen Orden angerufen
werden kann, das leuchtet, abgesehen von der bisherigen Nichtanwendung sei¬
ner einschränkenden Bedingungen, auch aus dem Folgenden ein. Vereinigun¬
gen der Staatsbürger in Gesellschaften setzen voraus, daß der Staatsbürger
Staatsbürger bleibt, also eine freie, sich selbst bedingende, der vornehmsten
äußeren Pflicht des Staatsgehorsams zugängliche Persönlichkeit. Nimmermehr
hat der Artikel 30 die Duldung solcher Vereine aussprechen wollen, deren erste
Bedingung die Selbstaufgabe der Persönlichkeit an eine staatsfremde Gewalt
ist. Man kann sagen, daß die Mittel solcher Vereine durch das Strafgesetz
verpönt werden müßten.
Die Gründe, welche wir ausgeführt, um den gesetzlichen Ungrund der
bisherigen Duldung der Orden darzuthun, machen auch klar, warum es un¬
möglich ist, die Duldung der Orden etwa gesetzlich auszusprechen, und warum
es geboten ist, der bisherigen mißbräuchlichen Duldung ein Ende zu machen.
In die Einzelheiten der Verhandlung brauchen wir nicht einzugehen. Sehr
wunderlich geberdete sich dabei wieder der Abgeordnete Windthorst, indem er
sich immerfort stellte, als müßten die Orden zulässig sein, weil die Handlun¬
gen der Ordensmitglieder, nicht heirathen, u. s. w. nicht verboten werden
können. Dabei ging der Redner so weit, sich darauf zu berufen, daß die
Staatsgesetze die Aufrechterhaltung der Gelübde nicht erzwingen, daß folglich
der Staat auch keinen Grund habe, die Ablegung der Ordensgelübde zu hin¬
dern. Es ist dies eine Art von Sophistik, der man die äußerste Verlegen¬
heit, ansieht und die nur Kopfschütteln hervorrufen kann.
Am 8. Mai erfolgte die zweite Berathung des Ordensgesetzes, welche zur
unveränderten Annahme führte. In derselben Sitzung wurde auch der vom
Abgeordneten Petri eingebrachte Gesetzentwurf in der dritten Lesung genehmigt.
Am 16. April ist der bayrische Landtag durch den Oheim des Königs,
den Prinzen Luitpold, feierlich geschlossen worden und somit hat die denkwür¬
digste Landtagsperiode, die Bayern seit Existenz seiner Verfassung gesehen hat,
ihr Ende erreicht. Dies Ende war friedlicher, als man auf beiden Seiten
der Kammer gedacht hatte. Den Clerikalpatrioten schien die Lust vergangen
sein, noch zu guter Letzt Fehde anzufangen, nachdem sie bei derartigen
Versuchen so manches Unglück schon erlebt hatten. Und die Gelegenheit, die
sie für ihre Expectorationen doch wohl nicht ganz unbenutzt vorübergehen
hätten lassen können, die Verhandlung nämlich über das Wahlgesetz, wurde
ihnen abgeschnitten, indem die Regierung diesen Gesetzentwurf selbst zurückzog.
Die langwierigen Debatten in der Commission hatten beiden Parteien die
Ueberzeugung beigebracht, daß die nöthige Zweidrittelmajorität für das Zu¬
standekommen des Gesetzes im Plenum der dermaligen Abgeordnetenkammer
nie zu erreichen gewesen wäre, indem, wenn man auch allseitig über das
Prinzip der direkten Wahl einig war, doch die durch Gesetz festzustellende
Eintheilung der Wahlkreise jedes Compromiß scheitern ließ. So wird denn
die gegen die Mitte des Sommers stattfindende Neuwahl noch nach dem bis¬
herigen indirekten Modus sich vollziehen. Schon treten für sie allenthalben
die Borbereitungen in Sicht. Rechte und Linke, Reichsfreunde und Reichs¬
feinde — denn das ist doch wohl die einzig richtige Bezeichnung für die Gegen¬
sätze, die sich hier wir anderwärts bekämpfen, — stellen sich auf den Plan.
Die Abgeordneten der Linken haben, ohne Unterschied der auch unter ihnen
bestehenden Schattirungen ein Manifest, eine Art Rechenschaftsbericht, an ihre
Wähler erlassen. Auch die „Sechs" von der ultramontanen Clique „Abge¬
fallenen", deren Bedeutung für die bisherigen Kammerverhältnisse wir früher ge¬
dacht, haben einen ähnlichen Schritt gethan, aber, so geistreich ihre „Erklärung"
aus der gewandten Feder Schleich's ist, so wenig glauben wir doch, daß sie
den bittern Groll, welchen die Klerikalen gerade gegen diese „Wackelmänner",
wie sie das „Vaterland" betitelt, hegen, zu ihren Gunsten umstimmen wird.
Zieht man den für uns wahrscheinlichen Verlust dieser Stimmen ab, so wissen
wir nicht recht, ob noch, wie man selbst liberalerseits mitunter meint,
die reichsfreundliche Partei Aussicht hat, die Mehrheit in der neuen Kammer
zu gewinnen. Wir verhehlen uns nicht, daß wir für' die nächste Zukunft
Bayerns ziemlich schwarz sehen. Es giebt ganze Provinzen, wie Unter- und
Oberfranken, Ober-, Niederbayern und Oberpfalz, in denen, wenn nicht gar
keine, doch jedenfalls sehr wenige weiße Kugeln der Wahlurne entrollen werden.
Das Schüren und Hetzen der ultramontanen Blätter hat schon jetzt einen
bedenklichen Grad erreicht; „Vaterland" und „Donauzeitung" bringen jede
Woche eine neue Proscriptionsltste der „Unentschiedenen, Halben, Ab- und
Angefallenen", so daß auf jener Seite bald kein Name mehr vorhanden sein
wird, der nicht in ächter schwarzer Rolle gefärbt ist. Dazu kommt in den
diesen Herren entgegenstehenden Reihen die nicht unbedenkliche Spaltung zwischen
„Liberalen" und „Nationalconservativen", welch letztere in der „Süddeutschen
Reichspost", der bayrischen „Kreuzzeitung", ein nicht zu unterschätzendes Organ
gefunden haben. Aus einer anfänglichen Flankenstellung rechts von den
deutschliberalen Parteien sind die „Nationalconservativen" allmälig in eine
„Frontstellung" gegen dieselben übergegangen. Ein „Reichspostler" und ein
„Liberaler" sind Hierzuland schon zwei scharf markirte Gegensätze. Trotz der
Behauptung unbedingter Reichstreue und voller Freisinnigkeit verfolgt die
genannte Partei, wir wollen annehmen vielleicht sich selbst unbewußt, gleiche
Tendenzen, wie die klerikale, kommt wenigstens vielfach bei den gleichen
Resultaten an. Wir haben an ihr dieselbe unnatürliche Verquickung des
Kirchlichen und Politischen. die dort den Culturkampf heraufbeschworen hat
und unter ihren Führern dieselben hierarchisch gesinnten Herren im geistlichen
Gewand, wie sie dort die Parole ausgeben. Gelegentlich der Reichstags¬
wahlen versuchten die Nationalconservativen ihren ersten Wassergang mit den
Liberalen. Damals war die Civilehe das Gespenst, mit dem sie die
gläubigen Gemüther ganz in derselben Weise, wie es die römischen „Hetzkaplane"
thaten, schreckten und auf das Volk wirken wollten; die Niederlage, die sie
aber damals erfuhren, könnte für ihre diesmalige Campagne keine gute Vor¬
bedeutung sein. Immerhin jedoch werden die Liberalen Sorge tragen müssen,
auf ihrer Hut zu sein und ihre Augen offen zu halten.
In Betreff der Organisation hatten die Clerikalen immer einen erheb¬
lichen Vorsprung vor ihren Gegnern : jedes Dorf hat ja in seinem Seelenhir¬
ten auch seinen Wahlagitator und Organisator. Die Liberalen müssen ihre
Keule mühsamer zusammensuchen und zusammenhalten. Dazu kommt, daß
auf dem Lande zumal vielfach eine bedenkliche Apathie und politische Indiffe¬
renz herrscht, gegen welche noch viel zu wenig gearbeitet wird. Im Sommer
1870, unter dem Eindruck der gewaltigen Kriegsereignisse, wachte manches
schläfrige Bauerngemüth auch auf und wurde für das Verständniß politischer
Fragen zugänglicher, jetzt ist der Schlummer schon wieder mehr Herr gewor¬
den. Eine eigentliche, das ganze ihr zuständige Gebiet überziehende Landes¬
organisation hat die liberale Partei nicht: man suchte zwar von München
aus eine solche anzustreben, allein die fränkischen Provinzen, von welchen aus
schon früher die Fortschrittspartei geleitet wurde, wünschten ihre eigenen Wege
^zuhalten, während dem sehr thätigen Verein der „liberalen Reichsfreunde"
in der Hauptstadt die Sorge für diese und die altbayrischen Provinzen über¬
lassen bleibt. Im Prinzip hat man sich beim Auseinandergehen des Land¬
tags dahin verständigt, daß, falls sie nicht selbst des Maubads überdrüssig
send, die bisherigen liberalen Abgeordneten sämmtlich wieder zu wählen seien.
Mit besonderer Spannung steht man auf München. wo der Wahlkampf am
erbittertsten werden wird, und auf Schwaben, in welchem einst wenigstens
Dr. Volk entschieden gesichert war und wo jetzt, Dank den unermüdlichen
Wühlereien, sogar dieser alte Kämpe gefährdet erscheint. Daß die Staatsregie-
rung, wie es in ihren Befugnissen steht, einige Aenderungen in den frühern
Wahlkreisen vornehmen, und bei diesen bedacht sein wird, möglichst zu ihren
Gunsten zu operiren, ist wohl zu erwarten und ihr, so sehr auch darüber
das klerikale Gezeter losgehen mag. schließlich auch nicht zu verdenken. Das
dermalige Ministerium weiß, daß es bei den Neuwahlen so wie so va, baiuMs
spielt: gewinnt es und kann es am Ruder bleiben, so kann es ihm gleich¬
gültig sein, was dann die Herrn Sigl und Consorten über Wahlbeeinflussung
u. s. w. jammern und raisonniren; muß es einem ultramontanen, dem Mi¬
nisterium Frankenstein, wie man es schon nennt, weichen, so kann's ihm
auch auf ein wenig mehr oder weniger klerikale, böse Nachrede nicht mehr
ankommen.
Mit dem Namen Frankenstein haben wir an der Thür jenes hohen
Hauses der bayrischen Landesvertretung angeklopft, dem wir am Schluß unse¬
res letzten Briefes noch eine kleine Besprechung zugedacht hatten, nämlich des
bayrischen Herrenhauses, der zweiten oder der Reichsrathkammer. Es könnte
freilich scheinen, als ob eine solche Zeichnung oder Besprechung nun, nachdem
mit der oben angedeuteten Landtagsschließung auch die Herrn Pairs die Re¬
sidenzstadt und ihre geräuschlose Thätigkeit darin mit der allerdings auch nicht
weltbewegenden auf ihren angestammten Schlössern und Edelsitzen vertauscht
haben, kein besonderes Interesse mehr böte, allein der Vollständigkeit wegen
und da doch unsere Skizzen aus der zweiten Kammer einiger Aufmerksamkeit
gewürdigt worden sind, werden noch einige Silhouetten auch aus der ersten
nicht zurückgewiesen werden.
In dem Aufsatze „Oddfellowsh ip " in voriger Nummer muß es auf
Seite 210, Zeile 11 von unten statt Altem et Urniere, auf Seite 214,
Zeile 4 von oben statt Helion Helikon, endlich auf Seite 216, Zeile 3 von
unten statt dann 7 damit, sowie Zeile 7 statt meist einst heißen.
Der Winter hat dieses Jahr ziemlich scharf auf seine Hoheitsrechte ge¬
pocht, er war empfindlich kalt, an Schnee und Eis hatten wir Ueberfluß,
mehr als uns lieb war und dennoch verzweifelten und verzagten' wir nicht,
denn der strenge mürrische Herr hat doch auch wieder seine guten Eigen¬
schaften: aus der Oede der Natur, die er draußen, in Feld und Wald zu
schaffen geruht hat, erblühen an den verschiedensten Stellen, wo nur Men¬
schen wohnen, die grünen Oasen der Geselligkeit, und mancher möchte
diese nicht gegen alle Reize der schöneren Jahreszeiten vertauschen. In der
That, die Geselligkeit ist ein Zauberstab, welcher uns über jedes unheimliche
fröstelnde Gefühl, über jeden unangenehmen und schmerzlichen Eindruck weg¬
zuheben und in ein trautes Heim zu versetzen vermag, wo liebe Stimmen uns
umtönen, und die Klänge der Muttersprache zwischen uns und unsern Be¬
kannten jeden Augenblick die Brücke bilden, auf der unser kostbarster Vorrath
von Gedanken und Empfindungen in aller Gemüthlichkeit und zollfrei sich
hinüber und herüber bewegen kann. Am meisten weiß dieses Glück zu schätzen,
wer es für längere Zeit entbehren mußte; danken wir unserm guten Stern,
wenn er uns vor Entbehrung bewahrt, und bemitleiden wir aus tiefster
Seele den Unglücklichen, den ein herbes Geschick aus seiner gewohnten Um¬
gebung hinauswarf an fremde und einsame Gestade, bedauern wir ihn um
so tiefer, je mehr seine,Natur am geselligen Leben ihr Genüge und ihren
Genuß fand. Einen solchen Unglücklichen will ich meinen Lesern vorführen.
Seine Klagen sind zwar längst verhallt, jede Spur seiner körperlichen Existenz
seit aber und aber hundert Jahren verwischt und verweht, und kein Freund
braucht sich um die Linderung der trostlosen Lage des armen Verbannten
mehr zu bekümmern; aber wir können mit Hülfe einer sehr erlaubten, keines¬
wegs schwarzen Kunst, den Geist des Verstorbenen citiren, wir können ihn
Zwingen Rede zu stehen über sein Leben und können dieses sozusagen Schritt
für Schritt verfolgen, vom Augenblicke der Verbannung an bis kurz vor
seinem Erlöschen. Und zwar ertheilt er uns Kunde mit ganz denselben
Worten und Seufzern, welche damals seiner Brust entströmten, denn diese
alle sind von ihm selber aufgezeichnet, als das Vermächtniß seiner Verbannung
auf die Nachwelt gekommen. Nur Eines hat er uns mißgönnt zu erfahren
— den Grund dieses namenlosen Elends; er kannte ihn und auch die Mit¬
lebenden kannten ihn, er war auch selbstbewußt genug, um sicher auf das
Gedächtniß der spätesten Nachwelt zu rechnen; wollte er sie vielleicht durch
Schweigen strafen für ein Gefühl, welches viel weniger Mitleid, als — Neu¬
gierde ist?
In blühender Jugendzeit, als er seine Leyer nur zu den Klängen der
Liebe stimmte, sang er einmal aus der Heimat seinem Mädchen die Worte
zu: „wenn sie nicht in seiner Nähe sei, so komme es ihm vor, als athme er
nicht die gesunde Luft seiner Heimat, sondern als wohne er bei den Scythen
und am unwirthlichen Kaukasus." Wer ihm damals gesagt hätte, daß er
wirklich in jenen von ihm verabscheuten Zonen einst den Rest seines Lebens
als Ausgestoßener zubringen werde?
Am westlichen Gestade desjenigen Meeres, welches die Alten in bekannter
zarter Scheu vor Unglücksnamen das „gastliche" nannten, während sie es
in Wirklichkeit als das Gegentheil, als das „ungastliche", kannten, südlich
den Donaumündungen lag der Ort, welchen das Machtgebot des erzürnten
Herrschers dem Dichter angewiesen hatte. — Tomi hieß der Ort *), Ovid der
unglückliche Verbannte und dem Ruhme dieses Verbannten verdankt der
sonst völlig unbedeutende Flecken sein Andenken bet der Nachwelt. Wäre
auch die Schuld des Dichters größer, als sie in der That ist (daß sie kein
Verbrechen war, wissen wir), so könnten wir seinem Trauergeschick unser Mit¬
leid nicht versagen. Er strömt seine Klagen in Versen aus, weil unter seinen
kunstgeübten Fingern alles, was er ergriff, diese Form annahm (wie er selbst
erzählt); selbst die natürlichsten, ursprünglichsten Ausbrüche des Leides und
der Seelenqual, die sonst jedes Maaßes spotten, mußten sich jener Form
fügen; sie sind natürlich bloß auf einen Grundton gestimmt und auch die
Variationen, welche ihn beglücken und umspielen, tragen denselben düstern
monotonen Charakter; aber wenn auch unser künstlerisches Gefühl von dieser
Einförmigkeit wenig befriedigt wird, so macht sie einen um so tieferen, ja
schaurigeren Eindruck auf unsere Seele, denn sie ist nicht bloß das treue Bild
einer zunehmenden Seelenveränderung und Verdüsterung, sondern sie spiegelt
auch den traurig öden Charakter jener Gegend, jenes antiken Sibiriens, wieder.
Mag sein, daß dem Dichter alles noch unheimlicher vorkam als es wirklich
war, daß er grau in grau malte, wenn er die Schrecken des dortigen Winters
schildert, aber einem im Schooße der üppigen Weltstadt erzogenen und ver¬
zogenen Weltleute mußte jene ungesellige und unwirthliche Gegend wie ein
wirkliches Sibirien erscheinen; dem Italiener mußte schon das rauhe Klima
unerträglich sein. Daß die Gefilde vom marmornen Frost weiß waren und
ehe noch der frühere Schnee geschmolzen, schon andere Massen erschienen, daß
der Nord mit einer Häuser und Dächer niederreißenden Wucht daherstürmte,
daß der flüssige Wein erstarrte und die Form des Gefäßes annahm, daß man
sich mühsam durch Felle, ja durch Hosen, gegen den Frost schützte und von
der edlen Menschengestalt, unter der Last von Hüllen, bloß das Gesicht noch
sichtbar war, daß Haupt- und Barthaar vom Eise klirrten, und daß man
trocknen 'Fußes über die unabsehbare Meeresfläche wandelte — war für einen
Sohn Italiens schon neu und schaurig genug; vermehrt wurde das Melan¬
cholische des Eindrucks dadurch, daß kein Baum, kein Gesträuch die Ein¬
förmigkeit der kahlen Gegend unterbrach. Aber auch das und noch mehr:
das salzige Trinkwasser und die ungewohnte, unverdauliche Kost, die ärmliche
Wohnung, ja sogar die Tag für Tag wiederkehrende Angst vor den feindlichen
Einfällen der benachbarten Barbarenhorden, der Geten, Scythen, Bortarner,
Sarmaten und wie alle heißen, die stets sich neuernde Lebensgefahr wäre noch
erträglich gewesen, wenn Freunde, wenn sein treues Weib den Verzagenden
durch ihre Gegenwart und durch den trostreichen Klang ihrer Stimme hätten
aufrichten können, — aber er war ja allein, und die Töne, die an sein Ohr
schlugen, kamen nicht aus Freundesmund, ja, er verstand sie nicht; sein
geliebtes Latein war in diesen Gegenden eine völlig unbekannte Sprache, und
der Dichter, der wie keiner seiner Nation alle seine Gefühle und Gedanken,
den ganzen Reichthum eines leicht erregbaren Naturells in Worte zu ver¬
wandeln wußte und dem diese virtuose Thätigkeit ein eigentliches Lebens¬
bedürfniß geworden war, mußte sich seiner Umgebung durch Geberden ver¬
ständlich machen. Für ein reiches und empfängliches Gemüth wie das seinige,
für eine geistige Individualität, wie er sie besaß, war die Strafe eine fürchter¬
liche und er mußte daran verbluten. Der Leser fragt mich, warum denn und
woher dieses fürchterliche Maaß und was war des Dichters Verbrechen? Leider
kann ich auf diese sehr natürliche und berechtigte Frage nur eine unvollständige,
kaum halbe Antwort geben und selbst diese ergiebt sich erst aus einer Umschau
über das Leben des Dichters und seine dichterische Thätigkeit; und da er sich
selber ein Kind seiner Zeit nennt, so werden wir auch die damalige Gesell¬
schaft nach ihm fragen müssen. Wir lassen uns zunächst durch die Hand des
Dichters führen. (Vornehmlich Trift, lib. II. und lib. III. 10). Er ver¬
schweigt uns sogar seinen Geburtstag nicht, der allerdings für die Republik
wichtig genug war, er war zugleich der Todestag der beiden republikanischen
Consuln Hirtius und Pansa im Kampf gegen Antonius (20 März 43 v. Chr.,
im Jahre der Stadt 711). Sein Geburtsort Sulmo (jetzt Sulmona, im
Jahre 1706 durch ein Erdbeben völlig zerstört) lag ungefähr 20 Meilen östlich
von Rom im Gebiete der Seligner; er selbst gehörte einer begüterten Ritter-
familie an. Wer damals etwas auf die Erziehung seiner Kinder verwenden
konnte, schickte sie zur Ausbildung nach Rom (das war in noch viel ausge¬
dehnterem Maaße der Fall, als das jetzige Paris die „^rovvneaux" in seinen
bildenden Schooß aufnimmt), und so finden wir auch den jungen, wahrscheinlich
frühreifen Ovid als eifrigen Adepten der Wissenschaft in Gesellschaft seines
etwas älteren Bruders in den Schulen Roms unter theilweise sehr berühmten
Lehrern, das heißt sogenannten Grammatikern und Rhetoren, wovon die
ersten mehr die Elementarfächer, die zweitgenannten die höhere Stufe der
Bildung bei schon vorgeschrittenen Schülern vertraten. Damals wurde auf
die rednerische Ausbildung der Jünglinge ein viel größeres Gewicht gelegt
als heut zu Tage; die Fertigkeit im mündlichen und schriftlichen Ausdruck
war das höchste Ziel, nach welchem der Lernende strebte; wenn auch jetzt, mit
dem Untergang der Republik, die staatsmännische Beredsamkeit aus dem
öffentlichen Leben verschwunden war und der Staatsmann nicht mehr nach
seiner Beredsamkeit gewürdigt wurde, so stand diese gleichwohl noch immer
in großem Ansehen, und es war nicht bloß Nachhall und Ueberlieferung
einer glorreichen Vergangenheit, sondern die stilleren Kreise des öffentlichen
Lebens, besonders die Gerichte, boten den Rednern auch jetzt noch ein lohnendes
Feld. Freilich war die angewandte Methode der Redeübungen, die wir noch
an zahlreichen Beispielen verfolgen können, 'im allgemeinen weder geschmack¬
voll noch geistreich, wenn sie vielleicht auch eine begabte jugendliche Phantasie
mannigfach anzuregen und deren Thätigkeit zu einer dichterischen zu steigern
vermochte. Bei Ovid war dieß in der That der Fall; aber er cultivirte eben
auch mit besonderer Liebhaberei diejenige Gattung der Declamation, welche
mehr die Kraft der schöpferischen Erfindung in Anspruch nahm (die sogenannte
Luasoria, Monologe in der Rolle irgend einer in der Geschichte oder Sage
wichtigen Persönlichkeit, beispielsweise des Caesar, als er vor dem Rubicon
stand, des Cicero, als es sich bei ihm um eine Abbitte bei Antonius. das
heißt um Sein oder Nichtsein handelte, oder des Republikaners Cato, als er
die Gründe für und wider den Selbstmord erwägt) ; weniger seinen Anlagen
entsprechend waren die schwierigeren Controversen, d. h. Streitfälle, in denen
die Schüler als Ankläger und Vertheidiger in der Rolle der Advocaten auf¬
traten; hier kam es mehr auf eine methodisch vorwärtsschreitende, mit logischer
Consecmenz entwickelnde Beweisführung an, und der Strom dichterischer Er¬
findung konnte sich in diese gesetzmäßigen Geleise nicht so üppig ergießen, als
innerhalb der weitern und gefügigem Schranke der Uebungsrede. Ein sehr
kritisch gesinnter Zeitgenosse meldet uns von den rednerischen Versuchen des
jungen Ovid auf jenem ersten Gebiet und lobt alles an ihm, außer der
logischen Ordnung; Ovid wollte eben seiner ergiebigen Einbildungskrast keine
Zügel anlegen und ließ ihr ihren Lauf nach allen Seiten hin. Aber noch
ein anderes bemerkte jener Kritiker ein ihm: Sein Vortrag sei nichts als
ein aufgelöstes, das heißt nur des Versmaaßes mangelndes Gedicht!
Also schon damals! Aber eben damals schon fühlte die junge Dichter¬
natur ihren Beruf, und die Einwände des bedenklichen Vaters, der ihm die
brodlose Kunst auszureden suchte, prallten ab an dem festen Willen des Sohnes.
Wie bei König Midas Alles zu Gold, so wurde unter seinen Händen alles
zu Versen. Hier war die Natur einmal mit überschwänglicher Freigebigkeit
Zu Werke gegangen; sie hatte es ihrem Liebling leicht gemacht, „das Heilig¬
tum der Himmlischen" (der Musen) zu betreten. Unter den Auserwählten
aller Zeiten und Literaturen steht, wenn glückliche Anlage und die Summe der
Talente für den Dichterberuf gewogen werden. Ovid in erster Reihe, über¬
gössen hat ihn in der dichterischen Virtuosität Keiner, kaum einer ihn erreicht.
Und man hat es hier nicht mit einem bloßen Techniker und Verskünstler zu
thun, welcher die Leere des Inhalts mit der gleißnerischen Form zu über¬
tünchen sucht, oder mit einem rein formalen Talent, das aus lauter Lust
mit der Mosaik der Form spielt und an seiner Komposition, ganz unbeküm¬
mert um Sinn und Inhalt seine Kraft übt: Ovid ist und bleibt ein Dichter,
Mag ihn auch sein üppiges technisches Kraftgefühl mehr als einmal von der
^mie der Wahrheit und Schönheit abführen, mag es ihn verleiten, statt in
^r Tiefe Gold zu suchen, lieber auf der glatten Oberfläche zu tändeln und
"ach bunten, aber leichten Gebilden zu haschen, so sind seine Gedichte dennoch
Mit dem Stempel des Genies geprägt. Keiner seiner ältern oder jüngern
Zeit- und Zunftgenossen, weder Horaz noch Virgil, weder Properz noch Ti-
bull, und wie sie alle heißen mögen, die er selber in stattlicher Reihe aufzählt:
Keiner hat sich so mit Leib und Seele seiner Kunst ergeben und in ihr sein
eigentliches, unentbehrliches Element, gleichsam seine geistige Luft gefunden,
^le Ovid. Und wir müssen dabei bedenken, daß Dichter und nur dieser
Zu sein von Berufswegen damals, unter dem praktischen, nüchternen, prosa¬
ischen Volk der Römer noch kein so landläufiger Entschluß war, wie heut¬
zutage.
Das Dichten galt mehr als Nebenbeschäftigung, es wurde als angenehme
Erholung von den drückenden Staatsgeschäften betrachtet und mancher vor¬
nehme Römer, dem die Muse sogar kein Lächeln ihres Winkes gegönnt hatte,
"pferte weniger seinem Trieb als der Mode, indem er seine Mußestunden der
Dicht- oder wenigstens der Verskunst widmete. Es war schon ein Bruch mit
Sitte, als das umgekehrte Verhältniß sich in einzelnen Beispielen einbür-
K^te, das heißt, als man die Poesie zu seiner Hauptaufgabe machte, ohne
deshalb dem Staat seine Dienste ganz zu entziehen — Ovid wagte es, einer
ersten, den Bruch mit der Tradition zu vollenden und sich aller und
jeglicher staatlicher Thätigkeit zu entschlagen, wozu ihn Stellung und Studium
befähigt und berechtigt hätten. Er nahm noch eine Zeit lang Theil an dieser
oder jener Commission, übte auch richterliche Befugnisse, aber es bis zum Se¬
nator zu bringen, fühlte er weder den Trieb, noch auch die nöthige Kraft in
sich und so entschied er selber mit richtiger Einsicht über seinen ausschließlichen
Beruf. Einen anderen Ehrgeiz als den des Dichters kannte er nicht. Seine
Bildung entbehrte noch der Volk- und Menschenkenntniß; diesem Mangel
abzuhelfen, wurde nach Sitte der vornehmen Römerjünglinge eine Reise un¬
ternommen, welche ihn in Begleitung eines Freundes und Collegen, des epischen
Dichters Macer nach der Metropole der antiken Bildung und Wissenschaft,
Athen, in die berühmteren Städte Kleinasiens und nach den classischen
Stellen Siciliens führte. Nach seiner Rückkehr fand er Aufnahme in die rö¬
mischen Dichterkreise und wie er hier den Gefeierten mit Verehrung lauschte,
wenn sie ihre neuen Schöpfungen vortrugen, so wurden auch jene bald auf
das strebende junge Talent aufmerksam und von den noch jüngern wurde er
bewundert. Aber nicht nur im engeren Kreise der Mitstrebenden, sondern
auch in größeren Versammlungen neugieriger Zuhörer wagte der jugendliche
Dichter mit seinen Gedichten aufzutreten und zwar, als noch kaum das Scher¬
messer seinen Flaum berührt hatte. Diese öffentlichen Borlesungen, gleichsam
einen obersten ästhetischen Gerichtshof über Sein oder Nichtsein des armen
Dichters, hatte die Sitte geschaffen.
Meistens, und im Verlaufe der Zeit immer mehr, war allerdings da¬
für gesorgt, daß das geladene oder auch nicht geladene Publicum sich nicht
allzu kühl oder gar schroff und abweisend gegen die ihm gebotenen Genüsse be¬
nahm; das Gemurmel oder wohl gar der laute Ruf des Beifalls begleitete
selbst die schwachen Productionen, und wenn es nicht Freunde und Verwandte
waren, die sich zu solchen Kundgebungen ihres Bewunderns hinreißen ließen,
so leistete eine gemiethete Claque diese Ausgabe in tadellosester Weise, wenigstens
denjenigen, welche sich ihres heiligen apollinischen Berufes doch nicht ganz
sicher fühlten.
Bei den damaligen Mitteln literarischer Verbreitung war übrigens dieses
nicht bloß das einfachste, sondern auch das am schnellsten wirkende, und man¬
cher junge, noch unbekannte Schriftsteller, dem der Zeitgewinn — diuo is
molto?, — auch schon einleuchtete, mochte es mehr wählen um möglichst schnell
bekannt, als um augenblicklich beklatscht zu werden. Denn war auch die Ver-
vielfältigung durch die Schrift damals viel schwunghafter betrieben, als man
gewöhnlich annimmt, so war sie doch für den, dem nicht eine Schaar schreib'
fertiger Copisten — meist Sclaven — zu Gebote stand oder der nicht scho"
das Zutrauen oder die Gunst eines buchhändlerischen Speculanten sich erwor¬
ben hatte, eine kostspielige Sache. War dagegen durch das Institut jener
öffentlichen Vorlesungen der Name eines Schriftstellers bekannt geworden,
ließ sich schon eher ein unternehmender Gönner, d. h. Verleger finden.
Man darf auch nicht außer Acht lassen, daß wie heut zu Tage, so auch da¬
mals, manche am lebendigen Wort größeren Geschmack fanden als an dem
Lesen, welches überdieß zu jener Zeit nicht so leicht und glatt von Statten
ging als bei unserem heutigen Druck.
Denn war auch das Manuscript, das heißt waren die Copien correct und
leserlich, was nicht immer der Fall war, so verursachte doch der vollständige
Mangel jeder Jnterpunction, verursachten ferner die tachygraphischen (steno¬
graphischen) Abkürzungen, welche seit Cicero's Zeiten behufs rascheren Zustande¬
kommens der Arbeit Aufnahme gefunden hatten, jedem nicht ganz geübten
Auge einige Mühe. Wir kennen nun freilich Ovid's buchhändlerische Comme-
5lonen und Usancen nicht, wissen nicht, ob und welches Honorar er bezogen
-~ es findet sich nirgends eine Erzählung bei ihm, daß er aus seiner Feder
eine Quelle des Gelderwerbs gemacht habe —, aber wenn uns das Beispiel
seines älteren Zeitgenossen Horaz zu einem Schluß berechtigen darf, wenn wir
^fahren, daß der Dichter Varius, Horazens intimer Freund, für ein einziges
Trauerspiel von dem freigebigen Augustus einen „Ehrensold" von einer Million
Sesterzen (d. h. beinahe 160,000 Mark) erhielt, wenn ferner, nach der
Sage, Vergil ein Vermögen von einigen Millionen solcher Sesterzen hinter¬
ließ, so enthält die Annahme, daß auch Ovid neben den Musen den Mercur
^icht außer Augen werde gelassen haben, wenigstens keinen Widerspruch.
*
Zwischen der freigebigen Laune eines fürstlichen Gönners und einem
Vuchhä'ndlerhonorar ist freilich ein großer Unterschied, auch wird sich Augustus
"icht beeilt haben, einen Dichter, den er in keinem Fall so vertrauten per¬
sönlichen Umganges gewürdigt hat, wie den Horaz oder wie der erste Mi-
nister Mäcenas das Doppelgestirn Horaz und Vergil für die gleichen Gedichte
on belohnen, um derentwillen er ihn nachträglich mit der furchtbaren Strafe
der Verbannung belegte, aber wenn anderen der Goldregen aus zwei
Quellen zuströmte, so wird Ovid wohl gegen die eine nicht allzuspröde
gewesen sein. —
Wir würden von ihm auch ohne seine Versicherung voraussetzen, daß er
seiner Lust und Leichtigkeit zu fabuliren fröhlich nachgegeben und viel zusam¬
mengeschrieben habe; um so mehr müssen wir es an ihm schätzen, daß er trotz
teuer Eigenschaften und trotz der gefährlichsten unter ihnen, seiner Jugend,
dennoch Kritik an sich selber übte und daß der Dichter Ovid, was dem stren¬
gen Auge des Kritikers Ovid nicht gefiel, den Flammen preisgab. Dieser
Umstand hängt jedenfalls mit der Wahrnehmung zusammen, daß die antiken
Dichter strenger gegen sich selber und ihre Produkte waren und eine größere,
^"n möchte sagen keuschere Scheu vor der Heiligkeit der Poesie zu ihrem
dichterischen Schaffen mitbrachten, als, bei sonst gleicher Begabung, die
modernen; diesen fehlt in höherem Grade die Strenge der selbstgeübten
Zucht; Ausnahmen wie Platen, sind nur um so rühmlicher. Selbst an
Ovid aber tadeln die alten Kritiker, daß er seine quellende Fülle nicht noch
mehr beschränkt, nicht die Selbstbeherrschung geübt habe, zu rechter Zeit den
tändelnden Spielen seiner Kraft Einhalt zu thun. Gehörte eine solche Be¬
gabung unserem schreibseligen Jahrhundert an, wir würden wahrscheinlich
noch eine ganz andere Fruchtbarkeit, als die Ovid'sche, erleben. Freilich haben
sich's die unserigen leider in einem Punkte leichter gemacht und vermöge
der unendlichen Langmuth des Publikums leichter machen dürfen — in der
Behandlung der Form.
Hier herrscht bekanntlich nichts weniger als Gesetz, sondern Willkür
oder wenn man will, das Gesetz der Bequemlichkeit; in der Bestimmung
der Silbenmessung hält es Jeder, wie er es vor seinem Gewissen verant¬
worten kann , wenn er überhaupt eines hat; er webt und strebt nach Be¬
dürfniß das eine, kippt und rippt das andere gegen dessen innerste Natur,
macht aus den zwei oder mehr Reimen ebenso viele feindliche Brüder und
entschuldigt sich — wenigstens auf deutschem Gebiet — am Ende mit der
mangelnden Codification des Regelnschatzes durch eine höchste Instanz, d. h. eine
Academie der Sprache. Dergleichen Aus- und Zuflüchte fehlten den Alten:
die formelle, d. h. hier, metrische Handhabung der Sprache ließ auch nicht
einem Schatten von Willkür Raum, hier gab es keine Laune und individuelle
Auffassungen, sondern Gesetze Rud zwar eben so scharf und unerbittlich als
die des Lorpus Mris sind. Eine gewisse Corinna, die, wenn auch vielleicht
kein reines Phantasiebild, sondern eine leibhaftige Italienerin mit Fleisch und
Blut, die aber jedenfalls unter erdichteten Namen vom Dichter eingeführt
wird, hatte seinem poetischen Gestaltungstrieb Nahrung gegeben, ihr gelten
seine ersten Lieder. Wir besitzen diese Liebeselegien (III Bücher) jetzt noch'-
sie tragen alle Eigenthümlichkeiten der Ovid'schen Muse: leichtfließende, graci¬
öse Diction, aus welcher hie und da rhetorische Farbeneffecte schimmern, Be¬
weglichkeit, wenn auch nicht gerade Tiefe des Gedankenspieles — die Tiefe
war schon durch den Gegenstand ausgeschlossen — Leichtigkeit der Erfindung
in den vorgeführten Situationen, bei der unverhülltesten Darstellung des
Sinnlichen, natürliche Naivetät des Ausdruckes, weniger der Empfindung,
und alles das im kaum empfundenen Bann einer bewundernswerthen rhrM
mischen Kunst.
Indeß eigentlich schöpferisch ist Ovid auf diesem Gebiete nicht. Die Ele¬
gien eines Tibull, Gallus, Properz bewegten sich in demselben Gedankenkreise!
es war der erotische. Die Liebe, die hier gefeiert wird, trägt allerdings keine
hohen oder höchsten Ziele in sich, sie ist, ausgesprochener Maaßen, die der
Sinne, welche erwächst aus dem vertrauten Umgang mit den Schönen des
damaligen Roms, eine Liebe, welche, durch keine Bande der Ehe beschränkt,
nach den Empfindungen des Momentes ihre Wahl trifft und, wenn sie etwa
auch durch längere Vertrautheit zu einer ernsteren, wirklich ethischen Bedeutung
heranwachsen kann, für gewöhnlich nicht von Gram und Herzeleid zehrt, sich
zwar über Sprödigkeit, wohl auch zeitweise Untreue zu beklagen hat, aber
im Genusse wieder alle vorausgegangenen Schmerzen vergißt. Ob aber solche
Verhältnisse der dichterischen Darstellung fähig, oder würdig sind? das ist
eine Frage der Zeiten und der Sitten. Wenn selbst die unsrige, welche auch
im Punkte der Sinnlichkeit, d. h. des künstlerischen Ausdruckes derselben, sich
so herbjungfräulich, beinah ascetisch verhält, ihre größten Dichter sich mit
Behagen in diesem Gebiete hat ergehen sehen, so werden wir uns hüten, den
Alten einen strengeren Maßstab als wir selber haben, aufdrängen zu wollen.
Jene Verhältnisse galten für durchaus erlaubt und unanstößig; es war nicht
blos die Mode, welche sie aufrecht erhielt, sondern die Sitte, welche sie ge¬
stattete. Und den Dichter kann am wenigsten ein Vorwurf treffen, welcher
ohne jeglichen Cynismus, aber auch ohne Verhüllung die Natur schildert,
wie sie eben ist, der sie nicht blos zur Hälfte zeigt und zur Hälfte verdeckt,
gerade aber durch ein coquettes Andenken des Restes die Lüsternheit zu wei¬
terem Forschen reizt. Diese gefährlichere Manier ist in gewissen anderen Li¬
teraturen viel mehr vertreten als durch Ovid und Genossen, deren er eine
bedenklich lange Reihe aufzählt. Das Genre überhaupt verdient deswegen,
weil es von vielen geübt, von sehr vielen gesucht und goutirt wurde, weder
Vertheidigung noch auch Lob, aber man darf es auch nicht ohne Weiteres
verdammen; jedenfalls darf unsere Zeit nicht im Gerichte sitzen. Die da¬
malige ^'öuiwssL avr6<z beiderlei Geschlechts verlangte es, und ein Dichter, der
zunächst ein großes Publikum suchte, war beinahe auf diese Gattung ange¬
wiesen. Keine Frage, er hätte nach würdigeren und erhabeneren Stoffen greifen
können, wenn sein leichtes Naturell ihn nur einen Augenblick hätte schwanken
lassen zwischen den höchsten poetischen Motiven einerseits und der Verbreitung
seines Namens anderseits; sittliche Skrupeln konnten ihn um so weniger be¬
unruhigen, als er seine ganze erotische Poesie ausdrücklich nicht den Stoikern
und Matronen geschrieben wissen wollte. Seine ganze erotische Poesie: denn
wie den Elegien an und über Corinna ist diese noch lange nicht erschöpft und
noch viel bedenklicher als jene wäre allerdings die „Liebeskunst" desselben
Dichters, hätte er nicht das, ihm vorschwebende Publikum mit aller nur
wünschbaren Deutlichkeit bezeichnet, nämlich als „derjenigen Mädchen, deren
Haare etwas los um die Schläfe und deren Kleider nicht deckend über die
Füße wallen".
Bor den „Elegien" und der „Liebeskunst" übrigens liegen noch die
«Liebesbriefe", gewöhnlich Herolden genannt, eine poetische Gattung, deren
Erfindung Ovid mit vielem Selbstbewußtsein sich selber, und mit Recht, zu
schreibt. Es sind fingirte Ergüsse der Liebessehnsucht nach dem abwesenden
Geliebten oder Gatten; die Schriftstellerinnen sind also Damen, und zwar
theilweise sehr respectable, wie Penelope, Laodamia, Ariadne u. a. Einige
dieser Schriftstücke verrathen sich durch frostigen Ton und rhetorische Ueber¬
ladung als unächte, aber gerade das ist ein Beweis, daß die Gattung sich
großer Beliebtheit erfreute. Unserm modernen Geschmack sagt sie nicht zu.
Zwar finden sich in den ächten, von Ovid herrührenden Briefen Töne ange¬
schlagen, welche in der alten Litteratur so selten als wunderbar klingen: Töne
nämlich aus der Tiefe eines ächt liebenden Herzens, voller Innigkeit und
Wärme, die Gluth der Leidenschaft oft verklärt durch seelische Empfindung —
aber schon die äußere Voraussetzung, das Vehikel eines Briefes in der heroischen
Zeit, dann aber auch die modernisirende beinah sentimentale Färbung des
Inhaltes, dieser Verstoß gegen die Wahrheit, endlich der rhetorisch-affectirte
Charakter der Darstellung läßt keine Sympathie weder für die Gattung noch
für die Person in uns aufkommen. Die Herolden sind in der That nicht
viel anders als die Form einer dichterischen Suasoria. Unter den Producten
aus dem erotischen Kreise ist die vollendetste die ungefähr zu Anfang unserer
Zeitrechnung erschienene „Liebeskunst" „g.rs amancli" oder „ars amatoria"
womit in engster, sachlicher und zeitlicher Verbindung stehen die „Heilmittel
der Liebe" (rewecks, amoris), gleichsam eine Kritik jenes Systems, nebenher
und eine Episode zur erstgenannten bildend, gehen die unvollendet gebliebenen
„Toilettenkünste (remeSig, taeisi). Die „Liebeskunst", die im ersten Buch
zu wählen, im zweiten zu gewinnen, im dritten zu erhalten lehrt, ist
zwar ein Lehrgedicht, aber sowohl der völlig originelle Inhalt als auch die
formelle Vollendung desselben in jeder Beziehung bekunden die glänzende
Begabung des Dichters. Es bedürfte einer Genialität wie die seinige, um
aus einem didactischen Stoffe ein so ansprechendes Gemälde zu schaffen, in
welchem die reizendsten wärmsten Farben uns entgegenleuchten und ein bunter
Wechsel der Situation in sprudelnder Beweglichkeit und dem graziösesten
Formenspiel unsern Blick anzieht. Aber nicht bloß ist das Colorit ein
glänzendes, auch die Zeichnung ist correct; römische Sitte und Cultur er¬
scheinen hier bis ins Detail und in die feinsten Züge ausgeführt von einem
Beobachter, der an geistreicher Auffassung keinem nachstand und der gerade
für die Beleuchtung der Liebe, in welcher jene Gesellschaft erscheint, den
schärfsten Blick und die größte Empfänglichkeit mitbrachte. Ovid's Kunst hat
den sinnlich-socialen Verkehr der Männer und Frauen inmitten luxuriöser
Hauptstädte für immer gezeichnet. In keinem zeitgenössischen Dichter spiegelt
sich das Wesen und Treiben der äemi-monüv mit solcher Unbefangenheit und
Anschaulichkeit, und die vielen Perspectiven auf andere Kreise, die uns der
sachkundige und zugleich phantasiereiche Schilderer eröffnet, erhöhen nicht bloß
den dichterischen, sondern auch den culturhistorischen Werth des Gemäldes.
Auch Horaz giebt uns in seinen Satiren und Episteln einen reichen Schatz
gesellschaftlicher Beobachtungen, aber er stellt sich dem geschilderten Leben
Prüfend, oft abweisend, gegenüber; er bezieht den ganzen Kreis seiner
Beobachtungen auf sich, als den Mittelpunkt, insofern hat seine Darstellung
ein subjektives Gepräge, Ovid dagegen bringt den Eindruck hervor, als
schildere er aus eigener Erfahrung, als sachkundiger Lebemann jenes ganze
Getriebe; er ist objectiver, weil er mit keinem Maaßstab der prüfenden Philosophie
mißt, sondern naiv die Zustände nimmt, wie sie sind. Ovid hat hier das
rhetorische Farbenspiel zum Vortheil des ganzen gedämpft, er konnte seiner
Laune, seinem Witz und seiner Einbildungskraft so behaglich sich hingeben,
und fühlte sich so ganz und so wohl in seinem Element, daß er jenes Zu¬
satzes weniger bedürfte. Er stand in der Reife seiner Kraft und schwelgte in
feinem Formgefühl. Vollendetere Verse kennt die römische Sprache nicht. Vom
streng rhythmischen Wellenschlag dieser Verspaare, welche durch allmältges
Aufsteigen im ersten, durch Senkung im zweiten den Gedanken gleichsam
schaukeln, von dem sinnlichen Wohlklang, der durch die richtige Mischung der
Laute und Lautcomplexe erzeugt wird, von der Kunst der Wortstellung und
Worteinschränkung, wodurch die beiden Hälften eines Verses sich wieder zur
Einheit zusammenfügen — von diesen und andern Vorzügen, die doch nur
den rhythmischen, also bloß den einen Theil des Formellen betreffen. hat nur
der das volle Gefühl, der sich durch lange Beobachtung und Vergleichung in
sie hineingelebt hat. — Sittlichen Werth haben diese Gedichte natürlich keinen,
der erzürnte August fand im Gegentheil, sie seien sehr unsittlich, freilich
gelangte er etwas spät zu dieser Ueberzeugung, denn erst ungefähr ein
Dezennium nach ihrem Erscheinen, i. I. 761 folgte ihnen die Strafe^— die
Verbannung nach Tomi. Der Schlag traf den unglücklichen Dichter plötzlich und
Unerwartet (in seinem funfzigsten Lebensjahre) und riß ihn aus einem trau¬
lichen, ja sogar innigen Familienleben heraus. Er war zum dritten Mal, und
Mar glücklich an eine Frau aus einer der ersten Familien Roms, verheirathet;
die beiden ersten Ehen waren, die erste durch Schuld einer ungeeigneten Frau,
die zweite durch uns unbekannte Umstände, gelöst worden; er hatte Töchter
und Enkel, wenn auch im Augenblick seiner Abreise nicht in Rom anwesend;
Vater und Mutter waren, jener hochbetagt, gestorben, und der Dichter, voll
liebender Pietät, preist sie glücklich, daß ihr Todesloos ihnen den ungeheuren
Schmerz um ihren Verlornen Sohn ersparte. Und warum, fragt man mit
Necht, erst jetzt diese grausame Strafe für ein Verbrechen, welches keines
war? Was konnte den mächtigen Herrscher bewegen, die Schale seines
Zornes bloß über Ovid auszugießen, und ein Dutzend anderer Poeten, die
sich als Sänger der Liebe in derselben, und theilweise noch verfänglicheren
Weise hatten vernehmen lassen, unbehelligt zu lassen? War etwa Ovid's
Lebenswandel anstößiger, als der seiner Kunstgenossen? Dieß aus keinen
Fall und wir dürfen es dem schlichten, durch Offenheit und Gutmüthigkeit
sich auszeichnenden Dichter auf's Wort glauben, daß seine Sitten viel besser
waren, als sein Lied. Wohl war sein Gemüth weich und leicht erregbar,
aber er hatte sich sein Leben rein zu erhalten gewußt. Ebenso sicher aber,
daß auch seine Liebespoesie nicht der einzige Grund seines Falles waren, sondern
daß noch ein zweites Moment hinzukam, welches in den Augen des Allein¬
herrschers noch schwerer wog, das aber jedenfalls mit jenem ersten in irgend
einem, sei es loseren, sei es engeren, Zusammenhang gestanden haben muß.
Wäre dieß nicht der Fall, so wäre die Strafe sinnlos und barbarisch zu¬
gleich; vor beiden Vorwürfen hatte sich der Alleinherrscher zu hüten und er war
zeitlebens schlau genug, seine Stellung so wenig wie möglich zu compromit-
tiren. Eine Strafe, die nach unseren Begriffen erst zur oder sogar nach der
Zeit der juristischen Verjährung den Schuldigen trifft, hat nur dann Sinn
und Berechtigung, wenn ein neuer Fall mit dem ersten in ursächliche Ver¬
bindung gebracht werden kann.
So war es bei Ovid: das durchgängige Thema seiner sämmtlichen von
Tomi aus erklingenden Trauerlieder, zu welchen alle übrige Zuthat gleichsam die
Variationen bildet, lautet: Zwei Dinge haben mich zu Fall gebracht, mein Lied
und mein Irrthum. Irrthum, Thorheit, Aengstlichkeit — aber keine Schuld,
aber keine Unthat, kein Verbrechen, so tönt es in allen Nuancen wieder, und
zwar so feierlich und so rührend zugleich, daß kein Gedanke an eine Be¬
schönigung oder gemeine falsche Aussage aufkommen kann. Man kannte den
Grund von Ovid's Mißgeschick in Rom gar wohl; der beliebteste und gelesenste
Dichter konnte nicht auf einmal durch ein Machtgebot aus dem Kreise der
Lebenden entrückt werden, ohne daß die Sache zum Stadtgespräch wurde und
das römische Publikum ließ sich mit der Thatsache nicht abspeisen; es wollte
und erfuhr auch die Gründe. Merkwürdig aber, daß Ovid immer nur all¬
gemein andeutet, 5en eigentlichen Anlaß aber und die Beschaffenheit seines
Irrthums absichtlich verschweigt, weil es „gefährlich sei, alte Wunden aufzu¬
frischen". Dieß erklärt sich kaum anders als durch die Annahme, daß
Augustus persönlich nicht als Alleinherrscher sondern als Mensch, als
Familienhaupt oder wie sonst durch den „Irrthum" Ovid's betroffen war.
Und hierbei ist von großem Gewicht die einzige speziellere Angabe des Dichters,
daß er etwas gesehen habe, was er nicht hätte sehen sollen. Was nun
das mag gewesen sein, darüber lassen sich freilich nur Vermuthungen anstellen,
aber keine kann auf den Grad von Wahrscheinlichkeit Anspruch machen, wie die,
welcher der Großtochter des Augustus, der berüchtigten Julia, der Tochter einer
ebenso berüchtigten Mutter, eine Hauptrolle in diesem Drama zuweist. Wenn,
wie es kaum anders möglich ist, die Herausgabe der „Liebeskunst" in mittel¬
barem Zusammenhang mit dem geheimnißvollen zweiten Grunde steht, so läßt
sich der nachhaltige Grimm des Augustus, welcher dem Dichter nie verzieh,
und für alle direkten und indirekten Gnadengesuche zu Gunsten des Verbannten
taube Ohren hatte, gar nicht anders erklären, als durch ein Familiendrama,
dessen Motiv ein Liebeshandel war, und hierbei können die beiden Julien den
traurigen Anspruch erheben, daß man zunächst und zuerst an sie denke.
An beiden fand jedenfalls Ovid's „Liebeskunst" eifrige Leserinnen; die Buhl¬
künste, die er lehrte, wurden von Beiden praktisch geübt und die leichtfertige,
zugleich graciöse Manier, womit der Dichter ein Gewerbe, wie das ihrige, zu-
schildern, und gleichsam für den Geschmack lecker zu machen wußte, mußte
ihr allerhöchstes Wohlgefallen erregen. So scheint Ovid sich der Gunst der
Jüngeren — denn zur Zeit seiner Verbannung kann nur von dieser die Rede
sein — erfreut zu haben, ob aber in dem Grade, daß nicht nur seine Gedichte
im Boudoir der Schönen als Toilettenschmuck prangten, sondern auch seine
Persönlichkeit mit lüsternem Auge betrachtet und zu den Orgien derselben zuge¬
zogen wurde, wird immer ein Geheimniß bleiben. Zeuge einer solchen Orgie
Mag, scheint ja Ovid allerdings gewesen zu sein, und wenn er das, was
für das hochgestellte aber sittenlose Weib ein Verbrechen war, verschwieg, so
war das Grund genug für Augustus, ihn, den Hehler, seinen ganzen Zorn
fühlen zu lassen. Denn in solchen Dingen verstand er keinen Spaß, und es
war kein Wunder, wenn er, der den Ruf seines Hauses und die Grundsätze
seiner häuslichen Erziehung an der zügellosen Wildheit des Geschlechtstriebes
scheitern sah, der vergeblich Tochter und Enkelin an den Spinnrocken und den
Webstuhl zu bannen, vergeblich ohne Reden und Handlungen durch das steife
(Zeremoniell der Etikette in die Grenzen der Ehrbarkeit zu zwingen versucht
hatte, nun in der Bekümmerniß seines Vaterherzens trotz seiner äußeren Strenge
unbewußt nach mildernden Trostgründen zu Gunsten der Verlornen Tochter
und Enkelin haschend, den Thetlnehmer (oder Zeugen?) ihrer Ausschweifungen,
„als deren Anstifter, den Verführten als ihren Verführer, den Dichter der
Liebe als ihren Lehrmeister in der Unzucht und dem Ehebruch betrachtete".
Merkwürdig ist auch die Coincidenz der Strafe beider Schuldiger: im gleichen
Jahre wie Ovid wurde Julia nach einer kleinen Insel verbannt und auch
sie kehrte, wie Ovid, nicht mehr nach Rom zurück, sondern starb im Exil. Auch
der Umstand, daß Augustus selber, durch Machtspruch, nicht der Senat, vor
welchen eigentlich als obersten Criminalgerichtshof der jungen Monarchie die
Untersuchung gehörte, die Strafe festsetzte, und daß Ovid in allen seinen be¬
züglichen Briefen stets nur auf die Gnade des Alleinherrschers anspielt, ver¬
stärkt die Wahrscheinlichkeit, daß Augustus sich persönlich beleidigt fand.
Mensch gegen Mensch gehalten, und mit dem Maaßstab der Sittlichkeit ge¬
messen, steht zwar der Dichter viel höher als der römische Alleinherrscher,
der bekanntlich trotz seiner Ehr- und Sittlichkeitsgesetze selbst das Ehebett
seines treuesten Freundes und Dieners, des Agrippa, nicht schonte, — aber
wer wollte den Gewaltigen wegen seiner Sünden zur Rechenschaft ziehen?
Ovid mußte sich stumm seinem Gebot unterwerfen und recht zum Zeichen,
daß der strenge Sittenmeister die von dem Dichter ausgehende Richtung der
Poesie verdammte, wurden seine Werke aus den öffentlichen Bibliotheken ent¬
fernt und wahrscheinlich verbrannt. Eines der frühesten Beispiele, daß Todes¬
strafe an Werken der Kunst vollzogen wurden; ziemlich um dieselbe Zeit scheinen
«auch die Schriften des Pamphletisten Cassius Severus und die des großen
Republikaners Labienus in Flammen aufgegangen zu sein; die Folge war
dieselbe, wie noch heut zu Tag: sie wurden um so eifriger gelesen, Ovid war
und blieb der Dichter der verbotenen Liebe; seine ungemeine Popularität zeigt
sich schon in dem einzigen Zuge, daß sich an Mauern von Pompeji einzelne
seiner Verse in rohen Zügen angeschrieben finden — doch wohl von Ver¬
ehrern seiner Gattung.
Wir sind hiermit an den Wendepunkt im Leben des Dichters gelangt.
Wir wollen nicht Zeuge sein, jener herzzerreißenden Trennung von seinen Lieben
in der letzten Winternacht, die er in Rom zubrachte, wir wollen ihn auch
nicht begleiten auf seiner traurigen und stürmischen Fahrt nach der Stätte
seines Schicksals, wollen uns auch nicht alle einzelnen Züge seines dortigen
Aufenthalts vergegenwärtigen und gern glauben, daß nicht einmal seine
Muse mehr, sondern nur noch die Hoffnung einer Milderung, oder gar eines
vollständigen Gnadenactes ihn über das Elend seines Daseins wenigstens in-
so weit hinweghob, daß sie ihn vor dem Selbstmord bewahrte. Es ist be¬
greiflich, daß eine Natur wie die seinige, weich, empfänglich für Genuß, ge¬
bildet und genährt durch geselligen Umgang, gewöhnt an allen Comfort der
üppigen Hauptstadt, tonangebend in den gebildeten Kreisen, verwöhnt durch
glänzende Erfolge, daß eine solche unter der Wucht des Schicksalschlages zu¬
sammenbrechen mußte; nicht bloß das Herz, auch der Geist war tödtlich ge¬
troffen. Ein ächter Römer aus der alten Schule, deren Kraft das Unglück
stählt, die des Schicksals spotten, wenn es sie langsam zu zerreiben droht und
kaltblütig den Lebensfaden selber zerreißen, war Ovid nicht; man möchte sein
Klagen und Verzagen nicht bloß unrömisch sondern geradezu unmännlich
finden, aber es zieht sich durch seine aus der Einöde klingenden Lieder ein
eigenthümlicher, an moderne Art anklingender Zug von Heimweh und Liebes¬
bedürftigkeit, der uns mindestens so angenehm anmuthet als sonst das stahl¬
harte Römerthum. Sein Sehnen nach dem treuen Weibe, das er, obwohl
sie sein Verbanntenloos theilen wollte, zum Schutze seiner Angelegenheiten in
Rom zurückließ, spricht sich in so rührenden Tönen aus, daß wir den antiken
Dichter kaum noch heraushören; es ist nicht nur ihre Pflege und ihr Trost,
die er in den Tagen der Krankheit und der Verzweiflung vermißt: wenn er
sie den erhabensten Frauengestalten der Heroenzeit gleichstellt und die einzelnen
Vorzüge derselben wie in einen Strauß vereinigt aus ihrem Herzen hervor¬
blühen sieht, wenn er in den wilden Phantasien des Fiebers nur sie in seiner
Nähe sieht und ihren Namen ruft, so sind dieß ideale, ja man darf sagen
romantische Züge, welche dem Alterthum fremd, uns aber um so lieber sind.
Und so können wir den poetischen Erzeugnissen dieser Periode, den „Büchern des
Leides" und den „Briefen vom Schwarzen Meer", wenn sie auch an Schwung
und Glanz unter den frühern stehen, unsere Sympathie nicht versagen, wir
vergessen den Dichter gern über dem Menschen, für diesen aber interesstren
wir uns um so mehr, weil die schmucklose Darstellung, Wahrheit und wirk¬
liche Empfindung athmet. Die Realität, welche der Dichter in seinen
früheren Dichtungen über den Rang und Glanz und Prunk der rhetorischen
Mittel so oft vernachlässigt hatte, tritt uns hier so zu sagen leibhaftig, und
zwar im Trauergewand entgegen, und während Ovid in seiner Blüthezeit
alle Schwungfedern seines Geistes angespannt hatte, um nur seine Darstellung
interessant zu machen, so wird jetzt durch den einfachen Ausdruck der Wahr¬
heit er selber uns interessant.
Er will nicht mehr als Dichter glänzen, will kein Werk schaffen für
die Zukunft, er dichtet nur um für Augenblicke den Druck der Gegenwart
vergessen zu können; was er denkt und schreibt, fügt sich, wie früher, zwang¬
los zu Versen; dumpf-eintönig klingt die Weise, wie die Welle am Strand
des ungastlichen Meeres, und die grauen Farben der Einöde, die den einsamen
Grübler umgeben, werfen ihren Reflex auch über das Gedicht, kaum hie und
da unterbricht eine sonnige Stelle das düstere Bild.
Noch lag ein Werk unvollendet in Rom, „der Festkalender" (?asti), in
glücklichen Tagen begonnen und ungefähr bis auf die Hälfte seines ursprünglich
beabsichtigten Umfangs gebracht — ein Gedicht, das in elegischer Form die
hervorragenden Momente des römischen Kalenders beschreibt und meist aus
den ältesten Sagen- und Geschichtsquellen Roms geschöpft ist. Monat für
Monat, Tag für Tag folgt der Dichter dem Kalender vom 1. Januar, erklärt
den Ursprung aller vorkommenden Namen und Feste, schildert deren Feier
und Gebräuche und verknüpft damit alle mythisch-geschichtlichen und astro¬
nomischen Beziehungen, die sich irgendwie mit der Bedeutung des betreffenden
Tages in Verbindung bringen lassen. Der an und für sich trockne und für
phantasiereiche Behandlung wenig ergiebige Stoff ist gewürzt durch eine Menge
verzierender Episoden und anmuthigster, mit wahrhaft Ovidischer Kunst aus¬
gestatteter Schilderungen. Es bedarf keiner tiefen Psychologie, um sich zu
erklären, warum der Dichter die Fortsetzung dieses Werkes unterließ. Jeder
Tag, jeder Ort den er zu schildern hatte, würde das in ihm zehrende Heimweh
zur lodernden Flamme angefacht und seine Qual verzehnfacht haben.
Es giebt zwar in jeder Literatur Heimwehklänge von der ächtesten
ergreifendsten Poesie, wo gerade der Contrast dem Dichtenden Kraft gab,
voller und melodischer als gewöhnlich die Saiten zu rühren, aber diese Klänge
entströmen immer einem Herzen, das zur Wehmuth gestimmt ist; in Ovid's
Herzen aber hauste die Oede der Verzweiflung, und dieser entkeimen auch nicht
mehr die Blüthen des Gesanges. Irgend eines gelehrten Stoffes, den
er zu Rom angefangen, wäre er zur Noth auch ohne literarische Hülfs¬
mittel Meister geworden, denn er beherrscht den Bildungsstoff seiner
Zeit, welche nach ihrem Vorbild, der alexandrinischen Periode, besonders sich
in mythologischer und antiquarischer Gelehrsamkeit gefiel, auf das vollständigste.
Ein sprechendes Zeugniß dafür sind seine in Tomi geschriebenen Elegien,
welche ohne daß dem Verfasser literarische Hülfsmittel zu Gebote gestanden
hätten, von Mythen und sogar geschichtlichen, aus dem lebendigsten Gedächtniß
geschöpften Anspielungen reichlich durchflochten sind. Es wäre ihm auch nicht
schwer gefallen, sein berühmtestes, allerdings schon in Rom vollendetes Werk
die „Verwandlungen" (MLts.morxnosLs) weiter fortzuführen, jenes bewunderns¬
würdige, im Mittelalter wie auch in unserer Zeit populärste Werk des
Dichters, das mit einer so rauschenden Verherrlichung des jütischen Geschlechts
und einer so siegesgewisser Unsterblichkeitserklärung des Dichters abschließt.
Und gerade der am meisten gefeierte dieses Geschlechts maaßt sich in seinem
Herrschergrimme das Amt des Richters über unsern Dichter, ja . des Todten-
gräbers an und weist ihn bei lebendigem Leibe zu den Leichen! Und jenes
Selbstgefühl, das so stolz aufblitzte und aufleuchtete — es ist niedergebrannt
bis auf zahme Fünkchen. Der gebrochene Dichter glaubt kaum mehr an
seinen Beruf; es ist nicht falsche Bescheidenheit, die Zweifel sind wirkliche;
weder der Ort noch der Seelenzustand stimmt zur Heuchelei; zwar flackert
aus dem ausgebrannten Vulcan seines Innern die Freude wieder auf, als
ihm Freundeshand Nachricht giebt von dem Erfolg seiner Gedichte in Rom,
aber all sein Dichterruhm hält nicht vor, diese Flamme zu erhalten und er
gäbe gern die Herrlichkeit feines Namens hin für die Erlösung aus diesem
Elend, ja für die bloße Erleichterung desselben, für Versetzung in irgend eine
Gegend in größerer Nähe Roms.
Jene „Metamorphosen" hatte er schon zu Rom, vor seiner Abreise,
verbrannt, recht zum Zeichen, daß ihm Beruf und Nachruhm werthlos waren,
nachdem die Nacht über sein Leben gekommen war. Hätte nicht ein guter
Freund schon früher eine Abschrift von dem Gedichte (das Nähere wissen wir
nicht) genommen, so wären wir um eine der lieblichsten Früchte des römischen
Geistes ärmer. Denn diese Metamorphosen, welche, was nur die schöpferische
Phantasie der Griechen an Verwandlungen von Menschen in Thiere, Pflanzen
u. s. w. ersonnen hatte, in spielender Leichtigkeit an einen bald durch Zufall,
bald durch Laune, bald durch geistreiche Combination geknüpften Faden reihte,
überwogen durch Reichthum der Erfindung und das harmonische Zusammen¬
spiel aller dichterischen Vorzüge, soweit diese an einem nicht durch Tiefe
sondern durch behagliche Breite und bunte Mannigfaltigkeit ausgezeichneten
Stoffe sich geltend machen können, sämmtliche Erzeugnisse der römischen
Literatur, trotzdem daß ihnen die letzte Feile fehlt. Literarisch merkwürdig
sind sie dadurch, daß in ihnen, aus römischem Gebiet (die griechischen
Vorbilder Ovid's können wahrscheinlich für Griechenland denselben und zwar
den älteren Anspruch erheben, obschon ihnen die in jeder Beziehung bemerkens¬
werthe Xenophontische Chropädie den Rang abläuft) die ersten Ansätze des
Romans sich finden, derjenigen Gattung, welche unserem Jahrhundert die
Signatur verleiht und ohne welche es beinahe unmöglich wird, sich in der Li¬
teratur einen Namen zu machen.
Von dem bekannten italienischen Patrioten und Dichter Silvio Pelileo, der
unter dem „guten Kaiser Franz" zehn Jahre seines Lebens als Staatsgefan¬
gener auf dem Spielberg zubrachte, ist bekannt, daß er in der Nacht seines
Kerkers Tragödien — nicht schrieb, denn seine fürstlichen Quäler verweigerten
ihm die Wohlthat des Schreibmaterials — sondern blos mit Hülfe seines Gedächt¬
nisses innerlich componirte und sie nach seiner endlichen Erlösung niederschrieb.
Die Chancen seiner Hoffnung waren mindestens eben so gering wie die seines
römischen Collegen vor achtzehnhundert Jahren, sein körperlicher Zustand, in
welchem Ketten, langjährige Einzelhaft, Mangel an Licht und Luft wahrhaft
entsetzliche Begleiter sind, war ohne Vergleich qualvoller als der Ovid's —
und Ovid's Wille sammt seiner Kraft versiegt; weder schrieb noch memorirte er
Tragödien, obschon seine früheren Versuche auf diesem Felde vom glänzendsten
Erfolge begleitet gewesen waren. Der Verlust seiner Medea. die aber kaum
das einzige Erzeugniß seiner dramatischen Thätigkeit ist, berührt den Freund
und Kenner der römischen Literatur schmerzlich — jene Tragödie wäre nicht
blos die einzige Repräsentantin ihrer Gattung, sondern, trotz Quintilian's
theilweisem Tadel, eine der vorzüglichsten gewesen. Wenn Vermuthungen ersprie߬
lich, oder auch nur erlaubt wären, so dürfte jene Tragödie durch Glanz der Dic-
tion, Reichthum der dichterischen Motive und durch hohes, allerdings auch
rhetorisches, nicht blos dichterisches Pathos ausgezeichnet gewesen sein.
Ihm fehlte aber, was der weniger begabte Silvio in hohem Grade be¬
saß, der Ernst einer sittlichen Lebensauffassung, welche die Himmelsgabe der
Poesie dankbar als einen Spiegel entgegennimmt, in welchem sie die Aus-
Strahlungen ihrer selbst zu einem künstlerisch verklärten Bilde gestaltet; seine
Genialität besteht in einer Fülle der glänzendsten Vorzüge, aber der Brunn¬
quell, aus welchem sie ihre Nahrung ziehen, ist nicht das ewige Licht einer
harmonischen Charakterbildung, sondern der trügerische Schein einer glänzen¬
den Umgebung, einer verfeinerten aber genußsüchtigen und sittenlosen Gesell¬
schaft; als dieser plötzlich in Nacht versank, da lagerte sich das Dunkel nach
und nach auch über jenen geistigen Glanz unseres Dichters. Und doch, um
gerecht zu sein, an jenem Tomi haftete eine furchtbare Nothwendigkeit, welche
selbst der unglückliche Silvio in seiner Kerkernacht nicht in so vollem Maaß
verspürte — das Fehlen der Muttersprache. Eine völlig unverstandene Sprache
tönte an des Dichters Ohr. die getische. Das Griechische, die ursprüngliche
Sprache der Colonisten war inmitten der barbarischen Umgebung nach und
nach ausgestorben; nur ausnahmsweise wurde sein Klang noch vernommen
und der arme Verbannte mußte froh sein, wenn er sich mit einzelnen Tonnen
durch das Griechische, das er leidlich sprach und vollkommen verstand, verstän¬
digen konnte; ein wahres, wenn auch seltenes Fest war es für ihn, wenn
etwa ein italischer Schiffsmann oder Kaufherr sich an die ungastliche Küste
verirrte und ihm Gelegenheit gab, die süßen Laute der Muttersprache zu hö¬
ren und auszutauschen.
Sonst war er aus die Zeichensprache angewiesen und diese Nothwendig¬
keit können wir uns nicht qualvoll genug denken, zumal für eine Natur wie
die seine, welche den ganzen Reichthum der auf sie einströmenden Eindrücke von
jeher in flüssiges Sprachgold umzusetzen gewohnt war. Er war jetzt auf den
Umgang mit seiner eigenen Muse angewiesen, wenn er nicht seine Mutter¬
sprache nach und nach vergessen wollte; dieser Umstand schon nöthigt ihn,
seine poetische Thätigkeit in Tomi fortzusetzen, und wenn nun gleichwohl
seine Angst sich verwirklicht, wenn wir ihn klagen hören, daß sich ihm gewisse
Ausdrücke nicht sofort einstellen und daß der Fluß der Rede hie und da
stocken will, so dringen diese Schmerzenslaute mit ihrer erschütternden Wahr¬
heit jetzt noch tief in unser Herz.
Es war hart, beständig auf der Hut sein zu müssen, vor den räuberischen
Einfällen scythischer und getischer Nachbarn, welche im Winter über die
gefrorene Donau auf ihren schnellen Rossen hergebraust kamen, die Männer
niedermetzelten, Weib und Kind und sonstige Beute wegschleppten und rauchende
Spuren ihres Ueberfalls hinterließen, es war hart für den weichherzigen fried¬
liebenden Dichter, wenn auch er sich in die Rüstung des Kriegers hüllen
mußte, um in den Reihen der Tonnen Leib und Leben gegen die vergifteten
Pfeile der Räuber zu schützen und den Belagerern Trotz zu bieten, aber in
dieser Thätigkeit pulste doch Leben und Bewegung; über jener Stagnation
der früher so lebendig sprudelnden Muttersprache brütete aber die Stille des
Todes. Nach und nach war der Dichter allerdings der getischen Sprache
mächtig geworden; in dem Grade, daß er sogar ein Lobgedicht auf die-
Kriegsthaten des Augustus in dieser Sprache dichten konnte, aber ein wirk¬
licher Ersatz für das, was er jeden Augenblick schmerzlich empfinden mußte,
war dieß natürlich nicht. War es aber nicht niedrige Kriecherei, den Mann
noch zu verherrlichen, der dem Dichter die Todeswunde geschlagen hatte? Es
wäre freilich männlicher gewesen, sich in seinen Römerstolz zu hüllen und
den Herrscher in Rom gewähren zu lassen. ihn weder um Gnade anzuwinseln,
noch zu beräuchern, besonders wenn das Bewußtsein verhältnißmäßiger Un¬
schuld hinzukam; wir wenden uns mit Widerwillen von diesen und andern
Hecatomben des Dichters weg, es regt sich sogar Ingrimm in uns,
wenn wir ihn von Augustus und seiner Frau nur in Ausdrücken wahrhaft
göttlicher Verehrung sprechen hören, wenn wir ihn täglich an die Brustbilder
des Kaisers und der Kaiserin, welche ihm ein guter Freund von Rom
geschickt, förmliche Gebete richten sehen, es giebt hier kaum ein anderes
»aber", welches diesen Ueberschwung der Schmeichelei entschuldigen könnte
als — freilich nur für gewöhnliche Seelen eine Entschuldigung — des
Lebens Noth. Zudem ist Charakterstärke in jener Zeit ein Meteor, auch
die Besseren sind vom Gifthauch der Schmeichelei angesteckt, arbeitete in der
geistigen Atmosphäre, gewohnheitsmäßig athmete man die Miasmen ein. Mit
der Vergötterung der Menschen geht aber Hand in Hand die Vermensch¬
lichung, d. h. die Verachtung der Götter. Es ist bezeichnend, wie wenig in
den Trauerliedern Ovid's von den Göttern, wie viel von dem Vergötterten,
von August, die Rede ist, wo jene etwa erwähnt werden, geschieht es mehr
nur in metaphorischer Bedeutung oder als Concession an die noch immer
nicht salut erklärte Staatsreligion; von wirklichem Glauben und persönlicher
Ueberzeugung findet sich kaum eine Spur. Wenn der Dichter schon in seiner
guten Zeit am Dasein der Götter gezweifelt hatte, weil er viele Guten von
unverdienten Leid getroffen sah, so hatte er jetzt, wo er selber sich in diesem
Fall befand, keine Ursache seinen Glauben oder Unglauben zu ändern. Es
mochte ihm in diesem Punkte gehen wie Horaz, der mit allem Eifer gegen
den Verfall der Götterverehrung, welche er zum Bestände des Reiches für
nothwendig hielt, persönlich gar keine Religion hatte. Aber unser armer
Dichter fand für diesen Mangel keinen Ersatz in seinem eigenen gebrochenen
Herzen, kaum hier und da erhellt ein freundlicher Sonnenblick die düstere
Nacht seines Daseins, so, als die guten Tonnen, welchen nach und nach
ein Licht über die Berühmtheit des Fremdlings und Miteinwohners auf¬
gegangen war, ihn durch einen Kranz und allerlei bürgerliche Auszeichnungen
ehrten; was ihm aber noch am meisten Spannkraft verlieh, war die nie er-
loschene Hoffnung auf Begnadigung. Sie erwies sich als trügerisch; weder
Augustus war zu bewegen, noch auch führte ein auf dessen Tod (14 v. Chr.)
verfaßtes Gedicht, durch das er des Tiberius Gunst zu gewinnen hoffte, wie
er auch schon früher vergeblich den Triumph des Tiberius besungen hatte,
eine Wendung seines Geschickes herbei. Er starb 17 v. Chr. nach zehn¬
jähriger Verbannung und wurde zu Tomi begraben.
Idyllen aus den Vorbergen von Bret Harte. Uebersetzt von Moritz Busch. Leipzig,
Verlag von Fr, W. Grunow, 1875.
Zwei Jahre etwa wird es her sein, daß wir die Freude hatten, die
Leser der grünen Blätter auf den in der Ueberschrift genannten Dichter und
Humoristen als auf ein ungewöhnliches Talent hinzuweisen. Gelegenheit
dazu gaben seine „Argonautengeschichten", die, mit andern Erzählungen
und einer Anzahl meist humorischer Skizzen desselben Autors verbunden, von
der Grunow'schen Buchhandlung dem Publikum in wohlgelungner Uebersetzung
geboten wurden*). Diese beiden Bände enthielten mit Ausnahme der „Con¬
densed Novels" unseres Wissens alles, was Bret Harte bis dahin in Prosa
geschrieben hatte, und sie waren damit die vollständigste Sammlung der Werke
desselben, die in deutscher Sprache vorlag. Wenn wir damals unsere Be¬
wunderung vor diesem neuen Stern ureigensten Lichtes am Himmel der
Weltliteratur aussprachen, so haben wir die Genugthuung gehabt, daß dieselbe
von allen, auf deren Urtheil etwas ankommt, getheilt wurde, daß man mit
uns in jenen Dichtungen das Auge und die Hand eines Talents ersten Ranges,
eines Dichters von Gottes Gnaden erkannte, der die Saite des Tragischen
und Rührender in der Menschenbrust ebenso erklingen zu lassen versteht, wie
die Saite des Komischen und Erheiternden. Wir glauben nicht zu irren,
wenn wir annehmen, daß auch ein anderes Gefühl, das wir zu jener Zeit
empfanden, von der deutschen Leserwelt getheilt worden ist, der Wunsch, bald
mehr von dem Dichter zu lesen, und die Hoffnung, daran dieselbe Freude zu
haben wie an dem dort Gebotenen. Jener Wunsch wird mit den hier vor¬
liegenden neuen Novellen erfüllt, und auch jene Hoffnung ist nicht getäuscht
worden. Der Goldgräber Bret Harte hat weiter gegraben und wieder Körner
gediegnen Edelmetalls zu Tage gefördert. Als ein Siebengestirn von dem
alten Lichte treten diese sieben californischen Erzählungen unter die Stern¬
bilder, die er vordem geschaffen.
Bevor wir jedoch dieses Urtheil begründen, haben wir noch eine andere
Pflicht zu erfüllen. Wir haben den Lesern einige ausführlichere Mittheilungen
über den Lebensgang des Dichters zu machen, und wir geben dieselben vor¬
wiegend nach einem Auszuge aus der Biographie, welche der Tauchnitz'schen
Ausgabe des Originals der „Idyllen aus den Vorbergen" vorangeht.
Harte wurde im Jahre 1839 zu Albany im Staate Newyork geboren.
Er erhielt in der Taufe die Namen Francis Bret Harte. aber der zweite
Name, schon lange in der Familie üblich, war derjenige, bei dem man ihn
unter Freunden und Bekannten des Hauses gewöhnlich rief. Später im Leben
ließ er seinen ersten Vornamen ganz fallen, und die Welt lernte ihn unter
dem etwas knappen Gesammtnamen „Bret Harte" kennen und lieben.
Der junge Harte wuchs zunächst unter Einflüssen auf, die der Ausbildung
seines Geistes und Herzens günstig waren: sein Vater hielt eine Mädchen¬
schule und war ein achtbarer Gelehrter. Indeß verlor er denselben frühzeitig
und bevor er, wie es scheint, einen bestimmten Beruf gewählt hatte, und so
sehen wir ihn 1864. also nicht älter als fünfzehn Jahre, was jedoch bei der
frühzeitigen Entwickelung der Amerikaner zur Selbständigkeit nicht sehr ver¬
wundern darf, nach Californien auswandern. Geblendet von den goldnen
Träumen, welche damals diesen Staat im fernsten Westen verklärten, und
^gezogen von der phantastischen Romantik, mit welcher Geschichten aus der
Zeit, wo die Spanier das Land besaßen, plötzliches Reichwerden, überraschende
Abenteuer und ein ganz neues Leben, eine völlig neue Natur diese Gegenden
bekleideten, warf sich der kaum dem Knabenalter Entwachsene in den wechsel¬
vollen Strom menschlichen Lebens und Treibens, welche in Ebbe und Fluth
durch die Städte an der See, und über die stillen bekleideten Gebirgskämme
der Sierra und die rauhen Lager der Goldsucher hinwogte, die damals die
Stille lange vom Menschenfuß unbetretener Einöden unterbrachen.
Kein Älter und keine Lebensstellung, keine Eigenschaft des Menschenthums,
kein Grad der sittlichen und geistigen Bildung war in dieser bunten Aus-
wandrerfluth unvertreten. Der träumerische Schulknabe, der zukünftige Dichter
der „Argonauten" von 1849, trieb mit den Uebrigen weiter, bald hierhin
bald dorthin. Zwei oder drei Jahre lang wechselte er, wie alle diese ruhe-
losen Wanderer jener Tage, wieder und immer wieder den Beruf und
den Wohnort. Eine nie befriedigte Sehnsucht nach Veränderung, eine
nur halb eingestandene Ungeduld, lange an einem Orte zu verweilen,
schien sich jeder Seele bemächtigt zu haben. Goldgräberlager und selbst wohl-
»edeihende Städte wurden an einem einzigen Tage von ihrer gesammten Be-
völkerung verlassen, wenn dieselbe von ergiebigeren Goldfeldern hörte, und die
vorher von ihnen so werth gehaltenen „Claims" nahmen ebenso unstäte
Schaaren ein.
Harte grub ein wenig nach Gold, schulmeisterte ein wenig, versuchte sich
ein wenig als Setzer und Zeitungsschreiber unter diesem Volk an der Grenze
der Gesittung, überkletterte Berggipfel und durchzog wilde Schluchten als
berittener Eilbote einer Postgesellschaft oder arbeitete als Agent derselben Ge¬
sellschaft in den kleinen Bergstädten, die wir in den „Argonautengeschichten"
unter den Namen Sandy Bar, Poker Flat und Wingdam geschildert fanden.
Aber diese ganze Zeit über war in ihm der Künstler bereits thätig, wenn
auch vor der Hand nur durch Eindringen in die malerische Natur und die
seltsame Menschenwelt, die ihn als Atmosphäre umgab, und durch Aufnahme
der Stimmung und der Farben jener Natur und der Sitte, Denkart und
Redeweise dieser Menschen in ein treues Gedächtniß.
Im Jahre 18S7 trieb ihn irgend eine Strömung zurück nach San Francisco
— in „die Bai", wie die anmuthtge Seestadt von den wandernden Söhnen
der Abenteuerlichkeit zärtlich genannt wurde. „Die Bai" war das Stückchen
Himmel, wo es kühle Seewinde, lustiges Leben und gelegentlich Spuren jenes
verfeinerten Lebensgenusses gab, den man damals als ein fernliegendes, nur
schwach noch in der Erinnerung haftendes Gut ansah, welches allein in „den
Staaten" zu finden sei. Hier entwickelte sich Harte rasch zu einem gewandten
jungen Schriftsteller. Indem er im Setzersaal einer literarischen Wochenschrift
arbeitete, setzte er eines Tages versuchsweise einige von seinen eignen an¬
muthigen kleinen Skizzen. Dieselben wurden vom Redacteur bemerkt und nach
ihrem Werthe erkannt, und die Folge war, daß er vom Setzkasten und
Winkelhaken in die Redaktion der „Golden Era" befördert wurde, wo einige
von den hübschen Skizzen, die dem zweiten Bande der „Argonautengeschichten"
in der Grunow'schen Uebersetzung beigegeben sind, geschrieben wurden.
Inzwischen hatte der junge Schriftsteller geheirathet, und eine wachsende
Familie verbot weiteres Umherschweifen. Er schrieb allerlei, was noch nicht
gesammelt worden ist; und sowohl in den täglich erscheinenden Blättern San
Franciscos als in der eine Zeit lang von ihm redigirten Wochenschrift „The
Californian" begegnete man unzähligen Beiträgen aus seiner Feder, welche
die periodische Literatur jener Zeiten bereicherten und den californischen
Journalismus jene höhere Bedeutung verliehen, die ihm jetzt- völlig abhanden
gekommen zu sein scheint.
Im Jahre 1864 wurde er zum Secretär der Münzstätte der Vereinigten
Staaten in San Francisco ernannt, eine Stellung, die ihm während der
sechs Jahre, die er sie bekleidete, Muße und Gelegenheit zu sorgfältigerer
Arbeit gab, als die war, welche er bis dahin zu leisten im Stande gewesen
war. Während dieser Zeit wurden mehrere von seinen besten und jetzt
berühmtesten Gedichten und Skizzen geschrieben. „John Burns of Gettys-
burg" — „The Pliocene Skull" — „The Society on the Stanislow" und
andere einzige kleine Juwele wurden in diesen Jahren geschaffen und erschienen
dann meist anonym in den Zeitungen San Franciseos.
Im Juli 1868 begann Bret Harte die Herausgabe des „Overland Mon-
thly". Dieses Magazin hatte raschen und entschiedenen Erfolg. Wir wissen
Nicht, wieviel von dem Rufe, den es sich binnen Kurzem erwarb, aus die
Reihenfolge von vortrefflichen Erzählungen kam, die sofort der Feder seines
hochbegabten Redacteurs entflossen, oder wie viel davon dem seltnen Talent
zuzuschreiben ist, welches derselbe an den Tag gelegt zu haben scheint, indem
er die schlummernden Geisteskräfte derjenigen weckte, die als getreue Mitar¬
beiter seinen Stab bildeten. Gewiß ist nur, daß „The Overland" in kurzer Zeit
^n ganz eigenartiges und hocherwünschtes Element in der periodischen Lite¬
ratur der transatlantischen Welt wurde, und daß es eine Menge von Lesern
auch im „alten Lande", diesseits des „großen Wassers" fand. In seinen
Spalten erschien im August 1868 „The Luck of Roaring Camp", eine Er¬
zählung, welche, was auch der Werth der ihr folgenden sein mag — wir
stellen unter diesen „Muß" am höchsten — Harte der Welt zuerst als den
großen Prosaisten erkennen ließ, der er neben seinen Dichtungen in gebunde¬
ner Rede ist. Erst im Januar des nächsten Jahres wurde die hierdurch
angeregte Begier des ungeduldigen Publikums nach dem Genuß weiterer
Schöpfungen dieser Art durch das Erscheinen der „Outcasts of Poker Flat"
befriedigt, einer kleinen Erzählung voll dramatischer Spannung, die vielleicht
wehr scharf umrissene und mit fester Hand gezeichnete Charaktere enthält, als
irgend eine der übrigen Geschichten und Skizzen des Dichters. Darauf folgte
„Miggles", diese ins Californische oder, wenn man will, ins Praktische
übersetzte büßende Magdalena, und dann tauchten in langem Zuge, eine nach
der andern, die unvergleichlichen und unnachahmlichen Persönlichkeiten der
übrigen Erzählungen aus dem Schattenreich der Erinnerungen des Dichters
auf. um in schöner, stolzer Sprache Leben und Farbe zu gewinnen und mit
ihrem Thun und Leiden die Herzen zu rühren und zu erfreuen, soweit die
englische und jetzt auch so weit die deutsche Sprache klingt. Oberst Star-
bottle, Yuba Bill, Jack Hamlin, Temessee's Geschäftstheilhaber, Sandy und
die Lehrerin Mary, Dick Bullen und vor allen und über allen Muß und der
Schulmeister von Smith's Pocket. Durch Thränen lachend erinnern wir uns
ihrer und werden wir uns ihrer erinnern, so lange in unsern Seelen und vor
unsern Augen David Koppersield und seine kleine Frau, Saum Waller, Mi-
cawber und Little nett und die übrigen lieben Menschenkinder leben, welche
jener andere große Magus ins Dasein gerufen, der endlich seinen Zauberstab
für immer niedergelegt hat. ,
Harte's Gedichte sind in seinem späteren Werke in Kalifornien dichter
gesät, als anderswo. Einige der bekanntesten wurden zwischen 1865 und 1870
geschrieben. „Plain Language from Truthful James", gewöhnlich unter dem
Titel „The Heathen Chinee" angeführt, eine Dichtung, die nicht nur in
Amerika, sondern auch in England die allgemeinste Theilnahme wachrief, da
dieselbe eine damalige brennende Tagesfrage, die Einwanderung der Chinesen
in Californien und das Verhältniß der dortigen Bevölkerung zu diesen heid¬
nischen Asiaten berührte, erschien im „Overland" im September 1870. Ein
anspruchsvolleres Werk „The Lose Galleon" war eine frühere Schöpfung und
gab einem Bändchen flüchtiger Verse den Titel, welches 1868 in San Fran¬
cisco die Presse verließ.
Das erste Buch Harte's waren die „Condensed Novels", eine Sammlung
von Verkürzungen oder Verdichtungen gewisser Romane von Dickens, Belzac
u. A., die, wie mit dem Storchschnabel gemacht, die Quintessenz derselben
und damit auch deren Schwächen deutlicher hervortreten ließen, als die Ori¬
ginale, und die, zuerst in der Wochenschrift „The Californian" veröffentlicht,
später in New-Uork in einem Bändchen gesammelt erschienen, um bald meh¬
rere Auflagen zu erleben. Seitdem sind vier neue Bände, von denen aber
nur zwei Neues enthalten, von unserem Autor herausgekommen.
' Im Frühling des Jahres 1871 gab Harte die Stellung als Redacteur
des „Overland" und ebenso die Professur der neueren Literatur an der Uni¬
versität von Californien, die ihm zwei Jahre vorher verliehen worden, auf,
um einem dauernden Engagement bei der Zeitschrift „The Atlantic Monthly"
zu folgen, die in Boston erscheint. Er kehrte in seinen Heimathsstaat mit
gereiften Fähigkeiten und dem großen Namen zurück, den er sich während
einer siebzehnjährigen Abwesenheit erworben, und lebt jetzt vorzüglich in Neu-
york, wo er sich des Umgangs mit der besten Gesellschaft und geistig Gleich¬
strebenden, wie Aldrich, erfreut.
Hoffen wir, daß es ihm hier gelingt, aus dem neuen Boden ebenfalls
Nahrung für seinen Dichtergeist zu ziehen und namentlich sich zu einem
größeren Werke zusammenzufassen.
In ersterer Beziehung sind wir nicht ohne Bedenken. Die eigentliche Do¬
mäne Harte's war bisher Californien und zwar das Californien der fünfziger
Jahre und sein Versuch, das Leben in gewissen vornehmen Kreisen in Osten zu
schildern, den wir in der Novelle „Die Ehemänner der Frau Skeggs" begeg¬
nen, ist unserm Gefühl nach nicht besonders gelungen. Auch unser prächtiger,
alter Reuter hat, seit er sein heimathliches Mecklenburg verlassen, nichts von
Bedeutung mehr geschrieben. In der anderen Beziehung stehen wir zwar
nicht auf dem Standpunkt, der ungefähr dem unserer Professoren entspricht, nach
welchem nur ein dickleibiges „Hauptbuch" den beachtenswerten Gelehrten docu-
mentirt; denn Kleist mit seinem halben Dutzend Novellen wird in unsrer erzählen¬
den Literatur länger leben, als alles, was gegenwärtig auf diesem Gebiete des deut¬
schen Reiches dreibändig, vierbändig oder neunbändig herum kriecht und fliegt.
Indeß wäre es doch immer hin wünschenswert!), zu erfahren, ob Amerika be¬
reits im Stande ist, einen eigentlichen Roman zu produciren. Neuyork böte
unzweifelhaft so viel Stoff, als London dem Autor Copperfields, und der
Vater von Muß und John Oakhurst möchte recht wohl die Kraft haben,
diesen Stoff künstlerisch zu bewältigen und sich so im vollen Sinne den Namen
des „amerikanischen Dickens" zu verdienen, den man ihm — wir bekennen
das trotz unsrer fast unbegrenzten Achtung vor seinen bisherigen Leistungen
— gegenwärtig nur mit Einschränkung zugestehen darf.
Wir kommen nun zu Harte's neuen Novellen, den „Idyllen aus den
Vorbergen", und zwar zunächst zur ersten, die uns einen Zug aus dem Leben
des Spielers John Oakhurst erzählt, dessen heroisches Ende die Leser der
„Argonautengeschichten" in den „Ausgestoßenen von Poker Flat" kennen ge¬
lernt haben. Oakhurst, eines Morgens früh gegen seine Gewohnheit vom
Pharaotische aufgestanden, macht aus der Promenade von Sacramento zu¬
fällig die Bekanntschaft einer Frau, die, obwohl sie gelähmt ist, so daß sie
in einem Handwägelchen von ihrem Manne, einem Bauhandwerker spazieren
gefahren wird, durch ihr Wesen einen Zauber auf ihn ausübt, wie keine an¬
dere vor ihr. Er erkennt in dem Mann einen Herrn Decker, einen seiner
Kunden wieder, der an ihn Geld verloren hat, und giebt es ihm zurück, was.
rend die Frau sich mit den Blumen beschäftigt, die er der Kranken mitleidig
in einem benachbarten Garten gekauft hat. Decker hat dabei versprochen,
nichts von dem Verlust seines Geldes, das zur Wiederherstellung der Gesund¬
heit seiner Frau in einem Badeorte bestimmt gewesen, zu verrathen. Er hält
diese Zusage indeß aus reiner Gutmüthigkeit nicht, und Frau Decker erfährt
somit, daß Oakhurst ein Spieler ist. Aber weit entfernt davon, sich dadurch
.von ihm zurückschrecken zu lassen, fühlt sie sich nur mehr zu ihm hingezogen;
denn sie ist eine speculirende Coquette, wenn auch keine von der gewöhnlichen
Art. Oakhurst vermittelt dann, daß Decker bei den Schwefelquellen von San
Isabel einträgliche Arbeiten bekommt und seine Frau in denselben Heilung
von ihrem Leiden findet. »
Nach einiger Zeit erscheint er selbst dort und wird von Frau Decker, die
inzwischen, kaum genesen, mit einem hier verweilenden Bankier Hamilton ein
Verhältniß angeknüpft hat, in einer Weise empfangen, die ihm mit ihrer
dreisten Unweiblichkeit die Augen über ihr innerlich hohles Wesen öffnen müßte,
wenn die Liebe nicht blind machte. Frau Decker wendet sich jetzt von Hamilton
aV. Sie wechselt insgeheim Briefe mit Oakhurst, sie weiß ihren Mann zu
bestimmen, sie auf einige Zeit nach Francisco reisen zu lassen, indem sie vor¬
giebt, Hamilton, der ihr nachstelle, werde dann auch abreisen, während sie
doch nur die Absicht verfolgt, dort mit Oakhurst ohne Aufsehen zusammen
sein zu können. Hamilton jedoch geht nicht. Aber sein Bleiben führt nur
dazu, daß Frau Decker ihrem Ziele immer näher kommt, indem sie ihren
Mann unter dem Vorgeben, Hamilton werde dann wegbleiben, überredet
Oakhurst ein Zimmer in ihrem Hause einzuräumen, was trotz des Übeln
Rufes des Spielers nicht auffällt; denn Frau Decker versteht den Schein zu
wahren, sie ist äußerlich einfach und vor Allem fromm, nie gestattet sie sich
in der Oeffentlichkeit eine Unziemlichkeit, ihr Name ist über jeden Verdacht
erhaben. Oakhurst's Liebe zu ihr wirkt sogar auf ihn veredelnd, er hält nicht
mehr Bank, er verkauft seine Rennpferde, er meidet das Wirthshaus, liest
viel, macht lange Spaziergänge, vernachlässigt sich in der Kleidung, „um wie
achtbare Leute auszusehen," und — besucht die Kirche. Da macht der
Zufall, oder die poetische Gerechtigkeit, diesem Entwicklungsgange ein plötzliches
Ende. Hamilton und Oakhurst sind bis dahin Freunde gewesen, jetzt ent¬
zweien sie sich, indem jener diesen über das Wesen der Geliebten beider reinen
Wein einzuschenken im Begriff ist; es kommt zu einer Scene und infolge
zu einem Duell, in welchem Oakhurst verwundet, Hamilton aber erschossen
wird. Bevor er stirbt, giebt er dem Freunde, der ihn getödtet. in einigen
Briefen überzeugende Beweise von der Falschheit derjenigen. der er sich ganz
hingegeben. Verzweifelnd, rasend eilt Oakhurst nach ihrer Wohnung, wo er
sie auf dem Sopha beim Lesen eines Romans überrascht,
„Sein Gesicht war verstört, sein Rockärmel hing lose über den einen
Arm, der verbunden und blutig war. Dem ungeachtet versagte ihr die
Stimme nicht, als sie sich ihm zuwendete. „Was ist vorgekommen Jack?
Warum bist du hier?" — „Um dir die Briefe deines Liebhabers wieder zu
bringen — dich umzubringen und dann mich selber zu todten", sagte er mit
einer Stimme so dumpf, daß sie fast unhörbar war. — Unter den vielen
Tugenden dieses bewundernswürdigen Weibes war unbesiegbarer Muth.
Sie fiel nicht in Ohnmacht, sie schrie nicht auf. Sie setzte sich ruhig wieder
hin, faltete ihre Hände über ihrem Schooße und sagte gelassen: „Und warum
solltest du das nicht thun?" Hätte sie sich vor ihm gewunden, hätte sie irgend
welche Furcht oder Zerknirschung merken lassen, hätte sie den Versuch gemacht,
zu erklären oder zu entschuldigen, so würde Herr Oakhurst dies als einen
Beweis ihrer Schuld angesehen haben. Aber es giebt keine Eigenschaft, die
der Muth so schnell anerkennt, als den Muth; es giebt keinen Gemüthszu¬
stand, vor dem ein verzweifelter Entschluß sich beugt, als verzweifelte Ent¬
schlossenheit; und die Gabe zu analysiren, war bei Herrn Oakhurst nicht so
W
scharf ausgebildet, daß sie ihn abgehalten hätte, ihre physische Unerschrocken-
heit mit einer moralischen Eigenschaft zu vermengen. Selbst in seiner Wuth
konnte er nicht umhin, diese furchtlose Kranke zu bewundern.
„Warum solltest du das nicht thun?" wiederholte sie mit einem Lächeln.
„Du gabst mir Leben, Gesundheit und Geist, Jack. Du gabst mir deine
Liebe. Warum solltest du nicht wieder nehmen, was du gegeben hast? Fahre
fort. Ich bin bereit."
Sie hielt ihm mit jener selben unendlichen Anmuth der Hingebung die
Hände hin, mit welcher sie am ersten Tage ihres Zusammentreffens im Hotel
die seinigen ergriffen hatte. Jack erhob den Kopf, blickte sie einen einzigen
verwirrten Augenblick lang an, fiel neben ihr auf die Knie und drückte die
Falten ihres Kleides an seine fieberhaften Lippen. Aber sie war zu schlau,
um nicht augenblicklich ihren Sieg zu sehen, sie war zu sehr Weib, trotz all
ihrer Schlauheit, um sich enthalten zu können, diesen Sieg sofort zu verfolgen.
In demselben Moment, wo sie mit der Regung eines beleidigten und ver¬
wundeten Weibes sich erhob und mit einer gebieterischen Geberde nach der
Glasthür zeigte, erhob sich seinerseits auch Herr Oakhurst, warf noch einen
einzigen Blick auf sie und ging, ohne noch ein Wort zu sagen, um sie für
immer zu verlassen."
So das große Schlußtableau dieses mit einer Seelenkenntniß ohne Gleichen
ausgeführten Dramas dämonischer Liebe und dämonischer Heuchelei. Was
weiter folgt, ist unwesentlich, weil voraus zu sehen. Frau Decker verbrennt
die fatalen Briefe und feiert mit dem guthmüthiger Hahnrei, ihrem Gatten,
dann eine anmuthige kleine Ehestandsseene. Jack Oakhurst aber nimmt in seiner
alten Weise seinen Sitz am Pharaotische wieder ein.
(Schluß folgt.)
Der Standort, von welchem man den Reichstag tagen sieht, ist kein beson>
ders günstiger, denn die Tribüne, welche den nicht mit einem Anspruch auf
die bayrische Peerswürde gebornen Publicum eingeräumt ist, faßt so wenig
Personen, daß der Photograph des hohen Hauses seinen Apparat schwer
aufstellen kann. So vermag er nur flüchtig die äußere Charakteristik des
Sitzungssaales anzugeben. Er trägt aristokratischeres Gepräge, als der unter
ihm liegende der Abgeordneten, wie sich's in einem Lande, wo man sich noch
nicht von vielhundertjährigen Vorurtheilen und Anschauungen losgemacht
hat, gebührt: rothsammtne Fauteuils und vor jedem ein fein polirtes Tischchen
mit dem eingelegten Wappen des in jenem gedankenvoll ruhenden hohen
Herrn. Denn sehr gedankenvoll, tief nachsinnend erscheinen einem auf den
ersten Anblick die hier unten sitzenden Vertreter des bayrischen Oberhauses;
man denkt unwillkürlich an die Senatoren Roms, als sie so schweigend und
würdevoll die in ihr Heiligthum einbrechenden Gallier empfingen. Von der
im Abgeordnetensaale stets merklichen Unruhe und Lebendigkeit ist hier nichts
zu verspüren; zu erheblichen Reden schwingt sich selten ein Mitglied auf,
und geschieht das doch einmal, so ist's gewiß keines aus der erblichen oder
angestammten Pairie, sondern eins der lebenslänglich berufenen, welche außer
dem für gewöhnlich die Rednertribüne in Anspruch nehmenden Referenten
das Wort ergreifen. Auch im bayrischen Herrenhaus hat sich die Nothwendig¬
keit fühlbar gemacht, den verfassungsmäßigen Grundbestand an Prinzen,
früher reichsunmittelbarer gefürsteten und gräflichen Herrn, Erzbischöfen und
Bischöfen u. s. w. durch Einimpfung von Capazitäten aus dem Juristenstand,
dem Großgrundbesitz und der Industrie aufzuhelfen, und die Wahlen, die
hier schon König Max II., wie bis in die neuere Zeit hinein, sein Sohn
und Nachfolger getroffen haben, sind meist glücklich zu nennen gewesen.
Unter diesen „lebenslänglichen" Reichsräthen befinden sich sogar manche,
deren Kopf und Herz auf dem rechten Fleck stehen und die — wir nennen
nur die Rechtsgelehrten v. Pözl, Haubenschmied, Neumayr, die Gro߬
industriellen Cramer-Kiele, neuster, den Generalstabschef Graf Boehmer u. A.
— dem Liberalismus in der ersten Kammer stets offenen Ausdruck verschafft
haben. Ueberhaupt kann man den Herren Reichsräthen im großen und ganzen
in der oben geschlossenen sechsjährigen Session gerade nicht vorwerfen, daß
sie die Zeit nicht verstanden und deren Forderungen nicht Rechnung getragen
hätten- Wenigstens haben sie sogar mehr als einmal in den entscheidenden
Momenten, wie bei der Kriegsrüstung gegen Frankreich, bei der Annahme
der Versailler Verträge, der Beschwerde des Bischofs von Augsburg u. a. in.
stets patriotischeren und freiheitlicheren Sinn gezeigt, als die rechte Seite des
Abgeordnetenhauses. Wenigstens wollte die Pairie nicht königlicher sein als
der König und das gute Beispiel des echt deutschen Wesens, das vom Throne
herab gegeben ward, verfehlte doch nicht auch auf die zu wirken, die sich mit
Vorliebe die Stützen des Thrones nennen. Aber gerade einzelnen diesem
Throne am nächsten stehenden Mitgliedern des hohen Hauses mag es mit¬
unter nicht so ganz leicht geworden sein, zu allem, was die Neugestaltung
des deutschen Reiches Beschränkendes und Veränderndes für Bayern mit sich
brachte, ja zu sagen: es ist ja öffentliches Geheimniß, welche Gegen¬
strömungen König Ludwig II. in seiner eigenen Familie fand und
vielleicht noch findet; aber wo der erlauchte Chef dieses Hauses dem
siegreichen Heerführer und Retter Deutschlands die Kaiserkrone angeboten
hatte, da konnten doch unmöglich seine königlichen und prinzlichen Oheime.
Bruder und Vettern, wenigstens äußerlich andern Willens sein. War
doch sogar Prinz Luitpold, des Königs ältester Ohm, während des ganzen
Krieges im kaiserlichen Hauptquartiere und sagt man von seinem Zweitältesten
Sohn, dem Prinzen Leopold, dem Gemahl der österreichischen Kaisertochter,
daß er wenigstens ein sehr entschiedenes militärisch-deutsches Herz im Busen
trage. Die beiden genannten Prinzen sieht man mit großer Gewissenhaftig¬
keit die Sitzungen der Reichsrathskammer besuchen, wenn sie sich auch, gleich
den übrigen Agnaten, schweigsam verhalten. Nur Einer unter ihnen thut
das nicht: Prinz Ludwig, der älteste Sohn des Prinzen Luitpold. Mit
anerkennenswerthem Eifer und Fleiß sucht er ein wirklicher Arbeiter des
hohen Hauses zu sein: er bemüht sich um Referate, führt diese gründlich
aus und spricht auch nicht ungewandt und eindruckslos. Neben ihm sitzt
sein Vetter Karl Theodor, Sohn des Herzogs Max von Bayern und Bruder
der Kaiserin von Oesterreich, auch ein wissenschaftsbeflifsener Prinz, der sich
auf die Medizin geworfen und gelegentlich der Jubelfeier der Münchner
Universität von dieser den Doctorhut erhalten hat. Eine frische jugend¬
liche Erscheinung ist dessen Bruder, der Herzog Max Emmanuel, auch ein
begeisterter Verehrer des greisen Kaisers, der Einzige aus dem bayrischen
Königshause, der bei dem letzten großen Kaiser- und Fürstencvngreß in
Berlin Gast des preußischen Hofes gewesen ist.
Unmittelbar an die besonders verzierten prinzltchen Fauteuils schließen
steh in respektsvoller Loyalität natürlich keine andern an. Den obersten Sitz
der hinter ihnen befindlichen Reihe nimmt der Erzbischof von München-Frey-
sing ein, Herr Gregorius von Scherr, nicht eine der würdigen Bischofsgestal-
^n, wie sie sich der gläubige Sinn wohl vorstellt, sondern eine sehr derbe,
^ohlsituirte Erscheinung, wie sie der treffliche Genremaler Grützner auf seinen
Klosterbildern mit drastischer Naturtreue malt, der man's anmerkt, daß ihr
die Unterwerfung unter das Vaticanum nicht allzuschwer angekommen ist.
Unwillkürlich sucht man vom Erzbischof aus seinen kirchlichen Widerpart, den
"on ihm gebannten, aber trotzdem ihm sehr streitlustig gegenübersitzenden
Ignatius von Döllinger. Döllinger's geistreicher Kopf ist im Bilde viel zu bekannt,
daß wir ihn hier noch zu zeichnen brauchten. Man sieht ihm noch nichts
von der Geistesschwache an, die ihm die ultramontanen Blätter längst an¬
schien möchten, und der Altkatholizismus darf sich immer noch seines muthi¬
gen Führers freuen. Weniger kampfesmuthig mehr sieht das früher auch
nicht vor erregtem Treiben auf kirchlichem Gebiet zurückschreckende Haupt der
protestantischen Orthodoxie, Herr von Harleß, aus, der als Präsident des
protestantischen Oberconsistoriums Sitz und Stimme im Reichsrath hat.
Einst ein muthiger Verfechter evangelischer Glaubens- und Lebensfreiheit ge¬
gen die Gewissensbedrängungen des Abel'schen Regiments, wie früher ein be¬
geisterter Anhänger der deutschen Burschenschaft und ihrer Träume für Kaiser
und Reich, hat er mit diesen Anschauungen seiner Vergangenheit längst ge¬
brochen, wenigstens stimmten seine Stellung, die er zum Schulgesetz einge¬
nommen, seine Mitwirkung zum Sturze des Ministeriums Hohenlohe, wie die
ganze Richtung, die er der evangelischen Landeskirche Bayerns zu geben ge¬
wußt hat, nicht mehr zu ihnen. Jetzt macht er den Eindruck eines müden
Mannes, für den ein freier gesinnter Nachfolger bald zu wünschen wäre.
Da bei den Reichsräthen meistentheils mit Namensaufruf abgestimmt
wird, so ist es dem Zuschauer leicht, mit den bisher von uns noch nicht ge¬
nannten Häuptern der bayrischen Aristokratie bekannt zu werden. Gewöhnlich
sind nicht alle der hohen Herrn am Platz, weniger wegen Mangels an Pflicht¬
gefühl, sondern weil mehrere unter ihnen durch Kränklichkeit oder hohes Alter
verhindert sind ihrem Mandat nachzukommen, oder auch, wie die Erbach,
Löwenstein, Leiningen auch noch andern Herrenhäusern oder staatlichen Stel¬
lungen angehören und so in München sich entschuldigen lassen. Dafür aber
finden sich ziemlich regelmäßig die Kronbeamten des Reiches, die Fürsten von
Oettingen und Jugger, die früheren Standesherren Grafen Rechteren. Casten,
Quadt, Schönborn, die erblichen Reichsrathe Aatdagtem, Lerchenfeld u. A-,
lauter mehr oder minder kavaliermäßige Erscheinungen von altaristokratischem
Namensklange, ein, und nicht minder fleißig sind die „lebenslänglichen" Mit¬
glieder des hohen Hauses, schon deshalb, weil meist aus ihnen das Arbeits¬
material des letztern genommen wird. Das Präsidium der durch- und er¬
lauchten Versammlung führt seit nun einem Vierteljahrhundert schon der
frühere Freiherr, gelegentlich seines, im Vorjahr gefeierten 25 jährigen
Jubiläums vom König zum Grafen erhobene Schenk von Stauffenberg, der
Onkel des bisherigen Präsidenten des Abgeordnetenhauses, der zwar weniger
die liberalen Anschauungen seines Neffen theilt, aber seine Funktionen fast
mit gleicher Gewandtheit und Geschicklichkeit, wie dieser ausübt. Wenigstens
kann sich keiner der höchsten der hohen Herrn rühmen, jemals den Präsidenten
in der oft sehr summarisch gehandhabten Ausführung seines Amtes erschüttert
zu haben. Die Stelle des zweiten Präsidenten, der von der ersten Kammer
selbst gewählt ist, während der erste vom König ernannt wird, versieht zur
Zeit, als Nachfolger des verdienstvollen Freiherrn von Thüngen, Freiherr
von Schrenk, der einstige Gesandte Bayerns beim hohen Bundestage. Er
hat. wie üblich, beim Landtagsschluß das Hoch auf den König ausgebracht.
Mit begeisterndem Wiederhat! tönte dieses durch den nun verlassenen Sitzung^
saal der Abgeordneten, in welchem jene Feierlichkeit stattfand. Es war eben
der Ausdruck der Ueberzeugung der scheidenden Volksvertreter, daß, wenn
Bayerns Zukunft auch einer Krisis entgegengeht, diese doch zum Heil des
engern Vaterlands, wie zur Ehre Deutschlands, überstanden werden
wird, so lange König Ludwig an den Gesinnungen und Entschlüssen festhält,
die er seither so oft bethätigt hat.
Nur zwei Sitzungen haben die Abgeordneten in vergangener Woche ge¬
halten und am 11. Mai bereits ihre Pfingstvertagung bis zum 28. Mai ein¬
treten lassen. In der Sitzung vom 10. Mai fand die dritte Lesung des Ordens¬
gesetzes statt. Auch diese Lesung rief wiederum, was selten geschieht, eine leb¬
hafte Discussion hervor. Unter den Rednern des Centrums zeichnete sich
diesmal Graf Praschma aus. Er sprach als vornehmer Cavalier und unter¬
ließ nicht den Hinweis, daß unter den Mitgliedern der geistlichen Orden in
Preußen Angehörige der vornehmsten Geschlechter des Landes und selbst Ver¬
wandte des königlichen Hauses sich befinden. Man muß nur zweifeln, ob
diese Thatsache, für sich allein genommen, für oder gegen die Zulassung
der geistlichen Orden spricht.
Jedenfalls liefert dieselbe einen Beweis von der Macht und Anziehungs¬
kraft der Orden, einer Macht und Anziehungskraft, die bei der sklavischen
Abhängigkeit von Rom, dem wahren Erbfeind der deutschen Nation und ihres
geschichtlichen Genius, eine bedeutende Gefahr in sich schließt. Die Vornehmen
des Landes, die Mitglieder des königlichen Hauses an der Spitze, müssen
gerade in Folge ihrer hohen Stellung auf Vieles verzichten, wozu die Gesetze
den Staatsbürger berechtigen.
Es würde sich empfehlen, so hochgestellten Personen die Theilnahme an
geistlichen Orden zu verbieten, auch wenn die letzteren überhaupt noch geduldet
Werden könnten. Der Grund des Grafen Praschma kehrt sich also gegen die
von ihm vertheidigte Sache. Es war eine sonderbare Aufwallung des Redners,
in der Ausschließung der Orden ein Zeichen der Gesunkenheit des Vaterlandes
Zu finden. Noch sonderbarer war freilich die Weissagung, daß das Vaterland
im Kampfe mit Rom möglicherweise zu Grunde gehen werde.
Diesem Redner von überwallenden Gefühl sollte der Abgeordnete v. Sybel,
aus dessen Munde wir mit Vergnügen die Rechtsfrage der Ordenszulassung
ziemlich Wort für Wort mit den Gründen beleuchten hörten, die wir Tags
zuvor in dem hierher gerichteten Briefe niedergeschrieben.
Ein späterer Redner des Centrums verlangte in (Konsequenz des Ver¬
botes der geistlichen Orden die Ausschließung der Freimaurer, was dem Ab¬
geordneten, Herrn Windthorst-Bielefeld, die Verdienste des Freimaurerordens
in seinen großen Mitgliedern darzulegen und als solche Schiller, Lessing,
Mozart anzuführen Veranlassung gab. Schiller'sche Gedichte mögen in den
Freimaurerlogen bei festlichen Gelegenheiten oft vorgetragen worden sein,
Schiller selbst aber äußerte sich gelegentlich sehr spöttisch über den Orden und
gehörte demselben nie an. So geht es in der Hitze des parlamentarischen
Gefechts. Ein Glück für den Redner, daß sein Namensvetter den Irrthum
überhörte.
Dem letzteren scheint allerdings die Schärfe der Waffen mehr und
mehr auszugehen. In der erwähnten Sitzung brachte er das mehr als schwache
Argument wieder vor, die Ordensgelübde seien nicht staatswidrig, weil der
Staat sie nicht mit seinem Arm beschütze. Mit diesem Argument könnte man
jede verbrecherische Verabredung vertheidigen. — Es bedarf kaum der Er¬
wähnung, daß das Ordensgesetz mit großer Majorität definitiv genehmigt
wurde.
In der Sitzung vom 11. Mai nahm das Haus nach erfolgter dritter
Lesung und Genehmigung des Waldgesetzes die von der Verfassung vorge¬
schriebene wiederholte Berathung über die Aufhebung der drei Verfasfungs-
artikel 18, 16 und 18 vor. Diesmal hatte wieder der Abgeordnete Gneist
seinen glänzenden Tag. Er gab ein Bild des Wirrwars, wenn jede Religions-
gesellschast auf Grund einer Auslegung des Artikel 15, wie sie bisher von
der römischen Kirche beansprucht worden, alle Staatsgesetze für unverbindlich
erklären wolle, die sie mit ihrem Glaubensbekenntniß für unverträglich hält.
Es würden ebensoviel Rechtssysteme als Religionsgesellschaften zu bilden und
der Staat aufgelöst sein. Die harten Aufgaben des parlamentarischen Gefechts
fallen auf Seiten des Centrums immer Herrn Windthorst zu. Er verfehlte
denn auch nicht, die Lanze gegen Gneist einzulegen, aber der Stoß war kaum
zu spüren. Er schob dem Gegner die Folgerung zu, daß der Staat den
Kirchen vorschreiben müsse, was sie glauben dürfen. Aber die Folgerung ist
anzunehmen, wenn sie richtig ausgedrückt wird, nämlich so: der Staat hat
zu entscheiden, wie weit die Kirchen ihre Glaubenslehren in praktischen In¬
stituten verwirklichen dürfen. Weiter kämpfte Herr Windthorst: wenn die
Vieldeutigkeit des Artikel Is ein Grund der Aufhebung sein solle, so müsst
man alle Gesetze der Welt aufheben. Es ist aber doch ein Unterschied, ob
der Mißbrauch, der mit einer unvollkommenen Fassung getrieben wird, zur
Abstellung drängt oder nicht.
Die Abschaffung der drei Verfassungsa.reitet wurde bei der zweiten Be¬
Bei dem Vertrieb der hiesigen Zeitungen ist besonders ins Auge zu
fassen, daß im Publikum ein ganz bedeutend größeres und allgemeineres In¬
teresse vorherrscht, die Zeitungen zu lesen, als dies in Deutschland, ja sogar
in England der Fall ist. In den großen Städten ist es Sitte, daß die An¬
hänger der einen Parteirichtung nicht allein das Blatt täglich lesen, welches
ihrer politischen Meinung huldigt, sondern auch die Ansichten der Gegenpartei
in ihren Organen möglichst oft lesen und hören. Weiter enthalten die großen
amerikanischen Blätter so viel nichtpolitischen Stoff, namentlich Abhandlun¬
gen über wissenschaftliche, landwirtschaftliche und sociale Verhältnisse, daß
bei einer großen Anzahl von Lesern die politische Färbung eines Blattes fast
zur Nebensache wird, wenn dasselbe nur alle übrigen, mit dem Landeswohl
zusammenhängenden Verhältnisse berührt und möglichst erschöpfend behan¬
delt. — So entstand hier ein Zweig der Tagespresse, der in Deutschland erst
in den Anfängen bekannt ist: die halbwöchentliche und wöchentliche Ausgabe
der Tagesblätter, wie solche alle großen hiesigen Zeitungen, auch die deut¬
schen, veranstalten. Diese halbwöchentlichen und wöchentlichen Ausgaben ha¬
ben aber hauptsächlich auf dem Lande, nicht in den Städten, wo sie erscheinen,
und im Auslande ihre Abnehmer, und dadurch wird der Leserkreis dieser
Wochenausgaben ein von den Abonnenten der Tagesausgabe derselben Zei¬
tung grundverschiedener.
Die halbwöchentliche und wöchentliche Neu-Uork-Tribune z. B. ist dem
Farmer der ganzen Vereinigten Staaten von großem Werth, denn sie enthält
werthvolle Artikel, von Autoritäten geschrieben, über: Acker-, Feld-, Obst-
und Weinbau, über Viehzucht und Forstkultur und alle anderen in das
Farmergebiet einschlagenden Interessen. Dieses Fach allein erhält in diesen
Zeitungsausgaben jedes Mal (> bis 12 enggedruckte Spalten angewiesen.
Der Text aber ist häufig durch Zeichnungen erläutert, die Maschinen, Ge¬
bäude, neue Psropfsysteme u. s. w. bildlich darstellen. Außerdem behandeln
diese Blätter, neben der Zusammenfassung der politischen Ereignisse des Jn-
und Auslandes, bald dieses bald jenes Gebiet der Wissenschaften. So z. B.
sind seit Januar d, I. in der „Weeckly Tribune" schon 3 Mal spaltenlange
Aufsätze über den Venus-Durchgang erschienen, in welchen derselbe ausführlich
wissenschaftlich, mit Zeichnungen illustrirt. beschrieben ist. Die Zeitungs-Re¬
daction würde solchen trockenen, wissenschaftlichen Abhandlungen sicherlich
nicht soviel ihres kostbaren Raumes widmen, wenn sie nicht einem allgemeinen
Bedürfniß der Leser damit entgegen zu kommen glaubte. Die meisten Leser
der wöchentlichen Tribune sind aber, wie oben erwähnt, Farmer, Bauern! —
Daß die Bevölkerungsklasfe der Bauern aber hier auch für Höheres sich in-
teressirt, verdankt das amerikanische Volk wesentlich mit der besseren Presse,
die Alles aufbietet, um das Interesse ihrer Leser für Hohes und Großes zu er¬
wecken und heranzubilden. Wie die Tribune, behandeln auch die Wochen-
Ausgaben der übrigen großen Blätter mehr oder weniger ausführlich dieselben
oder verwandte Gebiete. Die Wochen-Ausgaben der deutschen hiesigen
Blätter bieten ihren Lesern ebenfalls vorzugsweise Aufsätze wissenschaftlichen,
socialpolitischen, geschichtlichen Inhaltes, und so kommt es, daß der Leserkreis
dieser Zeitungen ein ganz anderer und meist viel gebildeterer ist, als der der
Tagesausgaben derselben Zeitungen.
Von der Million Menschen, die hier in New-York leben, theilt sich das
zeitungslesende Publikum in die 8 großen täglich erscheinenden Blätter. Die
meisten Exemplare setzen Herald, Sun, Tribune, Times und Staatszeitung
ab. Die ersteren beiden haben eine tägliche Auflage von über 100000,
während die Staatszeitung eine solche von etwa 20000 hat. Die Blätter
andrer Städte haben eine der Bevölkerungszahl der Städte angemessene
Verbreitung. Hier lesen die Frauen, besonders die Amerikanerinnen fast mit
demselben Eifer Zeitungen, wie die Männer, und nicht selten hält sich die
Frau das der politischen Ansicht des Mannes entgegengesetzte Blatt. Allge¬
mein ist das Bedürfniß, so früh des Morgens wie nur möglich die Zeitung'
zu lesen. Die Morgenzeitung ist eine ebenso unumgängliche Zuthat des
amerikanischen Frühstücks, wie Kaffee oder Brod.
Die Zeitungen kommen im Sommer um 5 Uhr, im Winter um K Uhr
„auf die Straße", und werden nicht nur in alle Häuser der Leser durch
flinke Jungen gebracht, sondern auf jedem Frühzug, der die Stadt verläßt,
fliegen Massen der Morgenblätter in die Landbezirke hinaus, so daß nach
wenigen Stunden hier der Bauer und Bürger kleiner Städte, der 60 bis
100 engl. Meilen von der größeren Stadt entfernt wohnt, die Zeitung der
Hauptstadt lesen kann. Der Vertrieb in den Städten ist ein dem hiesigen
Land ganz angemessener, er wird, glaube ich, nur hier so betrieben. Nur
wenige Kunden, wohl nur die der deutschen Blätter, werden durch regelmäßig
engagirte Zeitungsträger mit der Morgenlectüre versorgt. Die in englischer
Sprache erscheinenden Blätter werden durch meistens ganz junge Knaben
verkauft. Lang vor 5 Uhr des Morgens sammeln sich diese in dichter Schaar
vor den palastähnlichen Zeitungsexpeditions-Gebäuden um ihren Waaren-
Vorrath gegen baare Bezahlung in Empfang zu nehmen. Diese Jungen
fangen mit einem kleinen Capital an, mit einem halben, einem ganzen Dollar,
auf eigene Rechnung Blätter zu kaufen, um mit dem Gewinn der verkauften
mehr und mehr Geld ins Geschäft stecken zu können. Sie erhalten die großen
Zeitungen, die meistens für S Ces. die Nummer verkauft werden, für 3 Ces.
geliefert, und arbeiten dann, wie die Bienen, bei Sonnenschein und Regen,
bei tropischer Hitze und arktischer Kälte, ihre Waare schnell anzubringen, um,
MFnn die Morgenstunden nicht schon zu weit vorgeschritten, sich auf's Neue
mit „Stock of träte" zu versehen. Schon in den frühesten Morgenstunden,
wenn der spät nach Hause Gekommene sich noch gerne ein Mal zu weiterem
Schlafe im Bette wenden möchte, wird er gestört durch die hellen, schrillen
Kinderstimmen, die mit lang gezogenem Ruf ihre „Morning Papers" anpreisen,
die unermüdlich von Straße zu Straße, von Haus zu Haus ihren Ruf von
Neuem erschallen lassen. Kein Pferdebahnwagen fährt ihnen zu rasch, sie
springen behende darauf, durchgehen denselben und verkaufen ihre News, wie
ein beliebter Bäcker seine frischesten Semmeln. Kaum aber ist der Eine behend
herabgehüpft, um den nächsten aufwärts fahrenden Car zu besteigen, so
klettert auch schon ein Zweiter kleiner Intelligenz-Verbreiter heran, der eben¬
falls von seiner Waare Etliches absetzt, denn er handelt in einem Artikel
ganz andrer politischer Farbe wie sein Vorgänger. Wie emsig diese kleinen
Knaben sind, erhellt daraus, daß fast ausschließlich durch sie, bis 10 Uhr
früh, die Hunderttausende der Leser der Morgenblätter versorgt sind.
Was am Morgen gelesen wurde, ist hier zu Mittag aber schon alt.
Am Nachmittag verlangt der Amerikaner wieder Neuigkeiten, über Politik,
Handel, Gewerbe, Börse :c. zu lesen und so giebt es in allen großen Städten
der Union mehrere erscheinende Abendzeitungen, die in 2—4- Ausgaben
Zwischen 1 bis 5 Uhr verkauft werden. In diesen wird dem heimkehrenden
Kaufmann und Gewerbtreibenden berichtet über die neuesten politischen Be¬
gebenheiten, über die Fluctuationen des Handels zu Hause und in der Ferne,
über die Ankunft und Abfahrt von Schiffen im Hafen der Heimath, und des
fernsten Erdtheils. Auch dieser Blätter bemächtigen sich die News Boys,
und je länger die Abendschatten werden, je mehr sich mit denselben die
Möglichkeit eröffnet, daß sie gar von den Blättern einige als todte Waare
behalten könnten, um so erfinderischer werden die Kleinen im Ausrufen der
schrecklichsten Begebenheiten, der kühnsten Combinationen in Politik und Handel.
Ueber den schnellen Witz, die Schlagfertigkett dieser Jungen habe ich
unter Anderm zwei Beispiele erlebt, die so charakteristisch sind, daß ich sie
den Lesern der Grenzboten glaube mittheilen zu dürfen. Als im Herbst
1864 der Rebellionskrieg im Süden noch blutig wüthete, stand ein höherer
Offizier der V. Se.-Armee auf den Stufen des Astor House am Broadway
in New Uork und sah in Gedanken vertieft in den dämmernden Abendhimmel
hinaus. Ich ging gerade vorüber. Da wurde er und ich plötzlich aus
unseren Gedanken aufgeschreckt durch eine helle Kinderstimme, welche rief:
„Große Schlacht am Potomac, 20000 Todte, die Boys in Blue" (B. Staaten-
Truppen) geschlagen, die letzten Kriegsnachrichten!"
Der Offizier kam die Stufen des Hotels herab und indem er dem kleinen
seine S Ces. für ein Blatt gab, fragte er: „Nun, mein Junge, wo soll denn
die Schlacht gewesen sein?" — „Sie können's natürlich nicht wissen," war die
rasche Erwiderung, „wenn Sie hier im Astor House sind, statt vor der Front,
wo Sie hingehören!" Eine Schlacht aber war überhaupt nicht geschlagen
worden. — Ein ander Mal hatte Horace Greeley, der Gründer und Redacteur
der N. U. Tribune und spätere Präsidentschafts-Candidat, in Kingston
(N. U-) eine Rede gehalten, bei Gelegenheit einer Staatswahl-Campagne.
Mich führte ein Geschäft in derselben Gegend den folgenden Morgen nach
New-Uork. Der Zufall wollte es, daß nicht nur Greeley denselben Zug,
wie ich benutzte, sondern ich kam in denselben Wagen mit ihm, gerade hinter den
alten originellen Mann zu sitzen-, den jedes Kind an seinem stereotyp grauen
Rock, seinem hellgrauen Hut und seinen sonstigen Einzelnheiten kannte.
In Ponghkeepsie am Hudson war die erste Gelegenheit gegeben, Morgen^
zeitungen zu erlangen. Als wir hielten, stürzte sofort ein Zeitungsjunge in
unsern Oar, musterte rasch die Reisenden und verweilte einen Moment länger
bei Prüfung meines Bormannes, dann rief er mit gellender Stimme: „Große
Rede Horace Greeley's in Kingston! Ungeheure Rede!" — Greeley winkte.
Der Junge kam langsam durch den vollen Wagen heran, rechts und links
Zeitungen verlaufend. Endlich wurde auch Herr Greeley bedacht, — dann
verschwand der Junge schleunigst. Greeley durchflog sein Blatt, zuerst die
erste Seite, wo die Depeschen stehen, dann die zweite, dritte, vierte, — er suchte
jedenfalls den Bericht seiner „ungeheuren" Rede! Aus einmal stöhnte der
Alte vernehmlich: „Der verdammte Junge hat mir eine gestrige Zeitung auf¬
gehängt!" — Wir alle anderen hatten die heutige. Zu was es mitunter
solche kleine Zeitungs-Verkäufer bringen können, beweist gerade derselbe Horace
Greeley, der früher selbst ein solcher kleiner armer Zeitungs-Junge war, sich
mit dem Verdienst seines sauren Fleißes selbst bildete, und der Begründer
wurde des Blattes, das seit Jahren, wenn nicht als reichstes und größtes
Blatt, doch als das bedeutendste, anständigste und beste Tagesblatt in
Amerika bekannt wurde.
Auch für die Bildung dieser Zeitungsjungen ist in. jeder großen Stadt
durch besondere Tages- und Abendschulen „die News-Boy's schools" gesorgt.
Den Waisenknaben, welche sich dieses Geschäft zum Erwerb auserlesen, sind
ebenfalls besondere Heimathstätten, die News-Boys-Homes geschaffen, in
welchen sie neben einer Wohnstätte und Pflege, auch Schulunterricht und
ärztliche Hülfe finden. — Nicht immer sind es aber nur arme Knaben die
diesem Verdienst nachgehen. Als ich letzten Winter in einer Oar Chicagos fuhr
sprang ein nett angezogener Junge mit Zeitungen heran und bot sie an.
Auf einmal redete er einen neben ihm sitzenden bekannten geizigen aber wohl¬
habenden Kaufmann mit dem Gruß „Hallo Pa!" an. — Es war der Sohn
des Kaufmanns und verdiente sich auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen
Wege sein Taschengeld.
DK Nachrichten aus allen Weltheilen, werden der amerikanischen Presse
telegraphisch gemeldet. Zwei Associationen bestehen hier zu Lande, welche
die Depeschen für einen verhältnißmäßig billigen Preis ihren Mitgliedern
nach allen Theilen der Union weiter telegraphiren. Die Blätter sind so ein¬
gerichtet, daß meistens auf der ersten Seite spaltenweise die Telegramme neben¬
einander und untereinander gereiht sind. Jede Spalte enthält ein anderes
Gebiet, wie: Ausland, Congreß, Asien, Suezeanal u. s. w. Der Hauptin¬
halt der Depeschen ist mit fettgedruckter Schrift, satzweise unter den jeweiligen
Kopf gesetzt, so daß der Leser schon beim Oeffnen seines Blattes sofort erken¬
nen kann, was in der Welt vorgegangen ist, ohne einstweilen die detaillirten
Depeschen zu durchgehen. Hier liest man am Morgen, auch in den Blättern
von Se. Louis, Chicago, San Francisco u. s. w. die stenographischen-Berichte
der Congreßverhandlungen des vorhergehenden Tages, die Berichte der Nacht¬
sthungen, bis 2 Uhr Morgens des gleichen Tages, an welchem die Zeitungen
erscheinen.
Man sagt bei Ihnen mit gewissem Recht, daß es ja einerlei sei, ob
Man die Nachrichten aus fernen Welttheilen einen Tag, eine Woche, einen
^oral früher oder später erfahre.
Aber man gewöhnt sich gar schnell und gerne an die schöne Einrichtung
leben Morgen telegraphisch zu erfahren, was vor erst 12 Stunden in
Ehina, in Calcutta, am Suez-Canal, in Se. Petersburg sich zugetragen. Und
diese Depeschen sind nicht etwa der Art, daß man wegen ihrer „kabelmäßi¬
gen" Kürze deren Sinn mehr errathen als erkennen könnte. — Ueber den Un¬
ternehmungsgeist der amerikanischen Zeitungsverleger mehr zu sagen, ist wohl
U'ehe nöthig; man erinnere sich nur der Aufsuchung Livingstone's durch Stan-
ley im Auftrag des N. Y. Herald. — Auch die Größe der Zeitungen, sowie
der enge, kleine Druck wird den meisten Lesern schon bekannt sein.
Das Verlangen des Publikums, nach dem Neuesten, bringt es mit sich,
daß die hiesigen Zeitungen, auch die besseren, oft in Sensation machen.
Der Stoff dazu geht selten aus, und darf bei den gewissenlos redigirten
Blättern nie ausgehen. Jeder Unglücksfall auf Eisenbahnen oder Gewässern,
jede Scandalgeschichte in der höheren Gesellschaft, den Cirkeln der „oberen
Zehntausend", jede Criminalproceßverhandlung und Hinrichtung wird mit einer
Ausführlichkeit behandelt, als ob an jedem Wort das Wohl und Wehe des
Staates hinge. Diese ausführlichen. Niemanden schonenden Berichte, wie sie
dann wieder und wieder gedruckt in allen Blättern erscheinen, lassen leicht
den irrigen Glauben aufkommen, als wären hier solche Störungen der öff¬
entlichen Sicherheit und des friedlichen, ruhigen Lebens ebenso Tagesbedürf¬
niß und Allgewöhnliches, wie die Zeitungen selbst, welche sie veröffentlichen.
Man macht hier leicht, um die Zeitung zu füllen, aus einer Mücke einen
Elephanten, und in der Fremde, wo die Verhältnisse nicht richtig verstanden
werden, lebt dann eben nur der Elephant fort.
Daß diese Richtung der Tagespresse einen demoralisirenden Einfluß aus¬
übt, besonders auf die unreife Jugend, ist nicht zu leugnen ; wie gute Folgen
sie im einzelnen Fall auch oft haben mag. — Es sind auch ganz bestimmte
Blätter und Blättchen, welche dieser Sensationsmanie besonders huldigen; diese
werden auch hier von den besseren Bürgern als Schandblätter bezeichnet und
verabscheut. Es sind schon zu öfteren Malen statistische Berichte veröffentlicht
worden, welche ein interessantes Licht werfen auf die Zahlen derer, den Cha¬
rakter derer, die diese Literatur besonders protegiren. Es sind die niedrigsten,
rohesten Volksschichten, aber auch die frömmelnden Massen der „oberen Zehn¬
tausend", während die anständigeren Zeitungen ihren Leserkreis hauptsächlich
unter soliden Geschäftsleuten, Farmern, fleißigen Gewerbtreibenden und den
Tausenden der besseren Arbeiterbevölkerung finden. Diese Manie, Sensations¬
nachrichten zu veröffentlichen, leitet die gewissenlos geführten Blätter oft auf
den Irrweg, solche Nachrichten auch aus Nichts zu fabrizieren. Und diese er¬
sonnenen Lügen und Scandalgeschichten gehen dann in alle Welt und werden
als Beispiel des wirklichen amerikanischen Lebens verbreitet und in der Fremde
geglaubt. Wenn man eine wöchentliche Ausgabe des N. U. Herald, dieser
größten, aber - auch schamlosesten der hiesigen Zeitungen — des hiesigen Je¬
suitenblattes — zur Hand nimmt, so möchte man glauben, es wäre hier
eigentlich außer Mord, Todtschlag, Fälschung, Verführung, Betrug und Brand¬
stiftung nichts an der Tagesordnung, und der Unbefangene muß sich unwill¬
kürlich fragen, wie bei solchen Zuständen ein Land, ein Volk sich so schnell
und schön entwickeln konnte, so rasch zu Reichthum und Bedeutung gelangen
konnte, wie die Vereinigten Staaten in nicht ganz 100 Jahren. Der Herald
ist, neben den Gaunerblättern Meellenee: I>o1le<z N<z>v8, Last LtZNLktion
OÄöstte, —- der Lesestoff aller Gauner, der großen, westlichen Metropole
aller gewissenloser Politiker, und nur seine gewaltige Auflage (125000) ver¬
schafft ihm, wegen der großen Verbreitung der Inserate, die Benutzung der
Gewerbtreibenden besserer Classe.
In Betreff ausländischer Geographie und Geschichte sind die Redacteure
dieser Scandalblätter ebenso unwissend, als reich im Erfinden. Der Herald
gab seinen Lesern z. B. im Jahre 1866 einen Begriff, warum der Krieg
zwischen Süddeutschland und Oesterreich gegen Norddeutschland, resp. Preußen
ausgebrochen war. Nach dem Herald war Baiern der Apfel des Zwistes.
„Baiern, eigentlich ein französisch bevölkertes Land, die Heimath der Franken
und Bavaren, wollte sich vom deutschen Joch losreißen, um mit dem Mutter¬
land Frank(en)reich sich zu verbinden. Frankreichs Hände waren aber durch
den Kriegszug nach Mexico gebunden, es konnte sich daher der „kämpfenden
Brüder" nicht annehmen. Deshalb zog. aus Sympathie und Gerechtigkeits¬
gefühl, das alte, stolze Oesterreich sein Schwert für Baiern's „Unabhängig¬
keit".« — Ein andres Mal raisonnirte ein Correspondent desselben Blattes aus
Wien schreibend, über die stupide Ignoranz der Bewohner Deutschlands,
welche die Namen ihrer eignen Städte nicht ein Mal zu schreiben wüßten.
Sie sagten : Aachen, Cöln, München. Wien, — statt ^.ix ekaxellö, Lote^in;,
^une, Vivunt! — Wörtlich! — Noch ein Bild! — Im September 1866
brachte das Providence Journal eine kurze Notiz über die große Kanonen¬
fabrik Krupp's in Essen. Dabei schlich sich aber ein fataler Druckfehler ein,
^r wohl dem Zufall seine Entstehung verdankte, daß der Redacteur noch nie
"on Essen gehört hatte, also konnte es auch gar nicht existiren; diese Fabrik
wußte also in Lssex sein, und wurde denn auch als großes englisches
Unternehmen besprochen. Ich war damals in Rhode Island, und forderte
den Redacteur auf, seinen Fehler zu corrigiren, indem ich darauf hinwies, der
Deutsche sei mit Recht auf diese, in ihrer Art berühmteste und großartigste
Fabrik der Welt stolz. Er aber schwieg — die Erwiderung kam nicht. Ich
sandte dieselbe an ein Oppositionsblatt daselbst, welches denn die Erwiderung
"icht nur bereitwillig erscheinen ließ, sondern den Redacteur des Journals
"Ach als einen „Simpleton" erster Classe darstellte.
Die besseren Blätter sind ganz andrer Art. wie die Scandalblätter. Sie
^d gut und sittlich redtgirt und thun wie schon Eingangs bemerkt, ihr
bestes, um ihren großen, aus den verschiedensten Bildungsklassen zusammen¬
gesetzten Leserkreis, über Alles, was in der Welt vorgeht, aufzuklären. Sie
Gingen ausführliche, gerecht und wahr geschriebene Artikel über Leben,
beschichte und Geographie. Sitten und Unsitten der fremden Länder wie
de« Heimath. Diese besseren Blätter der verschiedensten politischen Parteien
senden sich in den täglichen oder wöchentlichen Ausgaben in. jedem Familien-
kreise der besseren, fleißigerem Einwohner von Stadt und Land, — Es giebt
aber kaum ein Blatt, in nicht deutscher Sprache, welches so gerecht die
deutsche Sache vertritt, so gut über deutsche Geschichte, Geographie und
Deutschland im Achtzehnter Jahrhundert, von Dr. Karl
Biedermann, II. Band. Geistige, sittliche und gesellige Zustände. Zweiter
Theil. Zweite Abtheilung. — Leipzig, I. I. Weber 1873.'— Es soll hier
nur eine Anzeige, nicht eine eingehende Besprechung gegeben werden; die
letztere wird später folgen. Wenn der Verfasser nur „ordentlicher Honorar¬
professor an der Universität Leipzig" wäre, als welchen er sich auf dem Titel
ausführt, so wäre dieser Halb- oder richtiger Drittelsband längst erschienen.
Aber der wahre Grund der Verzögerung dieses vom literarischen, kultur¬
historischen und nationalen Standpunkt aus gleich bedeutenden Werkes gereicht
dem Verfasser zur größten Ehre. Als d. Bl. vor mehreren Jahren Bieder¬
mann's Leben kurz'darstellten, war der Grund dieser Zögerung angedeutet:
Biedermann ist seit einem Jahrzehnt der thätigste, rührigste und tapferste
deutsche Patriot im Königreich Sachsen, und selbstverständlich können bei
dieser hervorragenden — auch parlamentarischen — politischen Thätigkeit
Studien nur langsam gedeihen, welche die enorme Ausbeute voll verwerthen,
die wir derselben Spanne Zeit an archivalischen und handschriftlichen Ent¬
hüllungen über die klassische und vorklassische Zeit deutscher Literatur verdanken.
Gleichwohl ist sicher zu hoffen, daß in kurzer Folge nun die dritte Abtheilung
des zweiten Bandes, welche das ganze schöne Werk abschließt, erscheinen wird.
Wir werden dann die Geschichte der deutschen Literatur und Kultur, welche
die erste Abtheilung dieses Bandes von Gellert bis Wteland führte, abge¬
schlossen sehen mit der Charakteristik Goethe's und Tahitier's und dem ver¬
mittelnden Bilde der Reife Lessing's und Herder's, der thatenfordernden Phi¬
losophie Kant's, zu einem zusammenfassenden Bilde der gesammten geistigen, sitt¬
lichen und geselligen Zustände Deutschlands gegen das Ende des vorigen
Jahrhunderts. In diesem gewaltigen Kulturbild, an dessen äußersten Enden
Gellert und Goethe und Kant, der harmlose Humanismus und die Stürme
der französischen Revolution stehen, stellt der vorliegende zweite Theil das
verbindende, erhebende Mittelglied dar, das getragen und bezeichnet ist durch
die Namen: Friedrich der Große und Lessina.. Die bedeutsame Einwirkung
des großen Preußenkönigs auf den bis dahin hervorragendsten deutscheu
Schriftsteller, Dichter und Stilisten ist noch niemals mit solcher Schärfe und
Gründlichkeit untersucht und dargestellt worden, wie von Biedermann. Und
ebenso findet sich in dem späteren Zurücktreten der gewaltigen persönlichen Ein¬
wirkung Friedrich's des Großen, in dem Ueberwuchern der weichen, subjek¬
tiven Empfindung jene seltsame Erscheinung der „Sturm- und Drangperiode,
welcher die letzteren Capitel dieses Theils gewidmet sind. Herder's Berührung
mit Goethe in Straßburg bildet den Schluß dieser Schrift, die jeden Deutschen
von Bildung und Liebe für seine vaterländische Geschichte mit hohem Interesse
anziehen und mit wahrer Freude erfüllen muß. —
In der Einleitung zu seiner „französischen Staats- und Rechtsgeschichte"
sagt Warnkoenig: „Ob man gleich in der Regel Frankreichs neuere Geschichte
mit Franz I. also 1513 beginnen läßt, so wird die Zurückführung ihres
Anfangs auf die Thronbesteigung Charles' VIII. um so weniger verwerflich sein,
als er es war, der zuerst die französische Eroberungspolitik durch
seine italienischen Kriege zur Anwendung brachte." — In der That: Das
aus dem Schutt der englischen Kriege neu aufgebaute Königthum Frankreichs,
das sich emporrichtete an der nationalen Reaction gegen die Fremdherrschaft,
hatte sich noch unter Charles VII. selbst das wichtigste Organ der Monarchie
geschaffen: ein stehendes Heer, das erste in Europa, die berühmten Ordonnanz-
Compagnien. Unter Louis XI. hatte sich dann die französische Königsgewalt
Mit all den Mitteln, welche sie der italienischen Lokaltyrannis abgelernt, im
Innern festgesetzt; unter Charles VIII. aber sollte sie nun die neugewonnene
Macht auch nach Außen hin zur Geltung bringen und damit jene Bestrebungen
und Kämpfe einleiten, welche in dem Ringen um Italien ihren Mittelpunkt,
w dem Gegensatze zu Spanien und Oesterreich eine stete Nahrung fanden
und welche für die Entwickelung der Staats- und Kriegskunst während der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts von ganz unvergleichlichen Interesse sind.
Seltsam erscheint es, daß die Inauguration dieser Epoche durch einen
so unbedeutenden Menschen geschieht, wie eben Charles VIII. war, seltsam
auch, daß die Unternehmung, an welche sich jene großartigen Folgen knüpften,
an und für sich als ein fast thörichtes, schlecht überlegtes und schlecht geleitetes
Abenteuer erscheint! — Es ist, als sollten jene Geschichtsphilosophen Recht
behalten, die da meinen, daß oft die gewaltigsten Ereignisse, welche das
Antlitz der Welt verändern, Resultate der Unerfahrenheit und der Unfähig-
keit seien. — Indessen i nicht allein in den Persönlichkeiten und deren
Absichten ruht die treibende Kraft der Geschichte; vielmehr sind auch die
menschlichen Gemeinwesen und ihr historisch gewordener Zu¬
stand Mächte an sich, und das lebendig Emporgewachsene entwickelt Kräfte,
mit denen sich die größte Energie nur allzuoft vergeblich gemessen hat. —
Die Wahrheit dieses Satzes wird vorzüglich verdeutlicht durch die Geschichte
der Minderjährigkeit Charles' VIII. Scheinbar werden in dieser Zeit alle
Errungenschaften der französischen Krone in Frage gestellt; aber jene Anfech¬
tungen sind vergeblich; selbständiger und stärker als je geht das Königthum
aus ihnen hervor.*)
Charles VIII. war ein vierzehnjähriger schwächlicher Knabe als er zur Re¬
gierung kam, und es versteht sich von selbst, daß der Tod eines Despoten,
wie Louis XI. gewesen, das Signal zu tiefen inneren Bewegungen gab. Wie
einst bei dem Hingang Philipp's des Schönen machte sich die Entrüstung der
französischen Nation Luft in der allgemeinen Verdammung des Regierungs¬
systems des verstorbenen Königs: der hohe Adel verlangte die Zurückgabe
seiner Rechte und aller eingezogenen Lehne, das Parlament die Herstellung
legaler Justiz und des Steuerbewilligungsrechtes, Stadt und Land die Ab¬
schaffung der drückenden Taille und der Militärlast. Um die Vormundschaft
des Königs stritten sich die Bourbons und die Orleans, und wenn es auch
der Vertreterin der Bourbons, der ältesten Schwester des Königs, der klugen
und schönen Anna von Beaujeu, gelang, thatsächlich Regentin zu werden,
so erwiesen sich doch die Schwierigkeiten, zumal in der Frage des Armee¬
budgets, ganz außerordentlich groß.
Die Baillages des Nordens und die Senechausse's des Südens hatten
alle gleichlaut und heftig eine Versammlung der G eneraIst aat e n gefordert,
und wirklich traten im Februar 1484 die Vertreter des Adels, des Klerus,
der Bürgerschaften und der freien Bauern in Tours zusammen, und es be¬
gannen jene stürmischen Sitzungen, über welche Bernier's Publication des
^ourng.1 ä«g 6kath g^moraux ac I'ranee derus Z. lours on 1484 in der (üol-
leetivn ach äoeuments illväits so interessantes Licht verbreitet hat.**) Am
lebhaftesten waren die Verhandlungen über das Budget und den LLrviev
militairo.
Da Louis XI. keinen namhaften Krieg geführt, so sah man mit her¬
gebrachter Kurzsichtigkeit das von ihm geschaffene Heer viel mehr als ein Werk¬
zeug zur Chicane als für ein Vertheidigungsmittel an; während man sich
*) Außer den großen italienischen Geschichtsschreibern Guicciardini und Giovo, außer
Co min es'Memoiren und Sismondi's berühmtem Werk sind speziell für die Geschichte Char¬
les' VIII. wichtig:
Desre?, Vi^nctss vnroui<ius8 ä«z trof-vtirest. ro? vnarles VIII. ?Alis 1510.
a<z ZZelkoi'LKt, Ilistoiis usf veut vlisrlss. I>aris 15ki8.
V-u'ni-rs, Ilistoiro So VKsrlös VIII. I>g,ris 1VS1.'
von Ranke, Geschichte der roman. und german. Völker von 1494 bis 1514. Lpzg. 1824.
<lo SöZur, Ilistoiro us OKarlks VIII. ?ar!s 1838.
doch hätte sagen müssen, daß die so lang entbehrte Ruhe im Innern und
ein. fast nur durch den einzigen Schlacht-Tag von Guinegate unterbrochener
22 jähriger Friede, der längste Friede den Frankreich seit Karl d. Gr. ge¬
nossen, zu nicht geringem Theile eben jenem Heer zu danken gewesen war.
Aber wann hat je eine Nationalversammlung derartige Ueberlegungen ange¬
stellt!? — Ganz eigenthümlich erscheint das Verhalten der Aristokratie. Sie
war zufrieden, daß sie in den letzten Lebensjahren Louis' XI. nicht mehr als
Vasallenschaft mit dem Arriereban ins Feld gerufen worden war. Dies that¬
sächliche Verhältniß strebte sie nun sofort zu einem rechtlichen zu machen, in¬
dem sie verlangte, daß die Basalten überhaupt nur noch bei offenbarer Reichs¬
gefahr als eine Art Landsturm sollten aufgeboten werden dürfen. Dann aber
solle der Adel zwar vom Könige besoldet, aber nicht in Compagnien formirt
und unter königliche Capitains gestellt werden, sondern wieder wie in
alter Zeit der Fahne seines Lehnsherrn folgen. Im Uebrigen sollten auch
ihre Hintersassen nicht über ihre, der Lehnsherrn Köpfe hinweg, aufgeboten
werden dürfen. Dem gegenüber standen die Forderungen der Gemeinen.
Das Volk, „ig Muvro peuplö, jaclis nommv ü'ancMs, et orss Ah xirv
eonäition, qu« 1o cork", wie sich die Deputirten ausdrückten, forderte vor
Allem Verminderung der Taille und Absetzung des Unfugs der Soldaten bei
den Märschen. Da zögen die Schaaren ohne Aufhören von Provinz zu
Provinz und würden bei.dem Arbeiter einquartiert, der doch vorher schon die
Taille bezahlt habe und zwar um vertheidigt, nicht um ausgeplündert zu
werden. Denn die Soldaten begnügten sich nicht mit dem, was sie im
Quartiere fänden, sondern sie zwängen ihre Wirthe mit Stockschlägen, aus
der Stadt Wein, Weißbrodt, Fische und Spezereien herbeizuschaffen. — Endlich
verlangte der dritte Stand auch eine Reduction der Gendarmerie, und zwar
sollte sie auf den Fuß gesetzt werden, wie sie unter Charles VII. bestanden.
Was auch der alte, ehrwürdige Jean due de Bourbon, Connetable und
Generallieutenant des Königs, thun mochte, um die Deputirten der ver¬
schiedenen Stände zu bewegen, sich für den Etat von 2500 limees ä' in-äon-
uancö und 8000 Fußknechten zu entscheiden, und obwohl er die Vertheilung
^'ser geringen Macht nicht im Innern sondern ausschließlich an der Grenze
vorlegte und sich erbot, die verschiedenen Capitains, die dort befehligten,
herbeizurufen, um über alle Verhältnisse genaue Auskunft geben zu können,
so blieben die Vertreter des dritten Standes hartnäckig dabei stehen, daß man
Su keiner Ausgabe schreiten könne, bevor man nicht die Einnahme fest¬
gestellt. Zuletzt kam man indessen doch auf Vorschlag des orateur an- I-i
^ligne ä'oeil dahin überein, dem Könige, und zwar auch nur auf 2 Jahre,
diejenigen Abgaben zu bewilligen, die man während der Regierung Charles' VII.
bezahlt, nämlich eine Taille von 1,200,000 Livres und zwar unter der
Bedingung, nur dieselbe Anzahl von Miului'mus zu unterhalten, welche jener
König ursprünglich eingerichtet. Das äußerste, wozu sich der dritte Stand
aus dringendes Bitten der Prinzen noch herbeiließ, war ein einmaliges
Geschenk von 300,000 Livres an den König: wir würden es heutzutage ein
Extraordinarium im Armeebudget nennen. — Immerhin ging übrigens aus
diesen Debatten das Weh endliche der Heeresorganisation ungefährdet hervor
und das war für die kommenden Ereignisse von der größten Wichtigkeit.
In der Gendarmerie besaß der König eine vortreffliche Reiterei, und die be¬
willigten Geldmittel reichten hin, an Stelle eines fehlenden guten französischen
Fußvolkes ausländische Söldner zu werben und zwar in erster Reihe Schweizer.
Denn schnell genug, überraschend schnell, waren die Söhne der Eidgenossen¬
schaft aus heldenmäßigen Vertheidigern der höchsten Güter des Vaterlandes,
als welche sie sich noch in den Kämpfen gegen Karl den Kühnen so glorreich
bewährt, zu käuflichen Reisläufern herabgesunken, welche nicht anstanden, für
Jedermann, der sie bezahlte, handwerksmäßig Krieg zu führen.
Es war schon den Zeitgenossen aufgefallen, daß bereits bei dem Hinzuge
der Schweizer nach Lothringen, als sie dem edlen jungen Rene gegen den nach'
eigen Burgunderherzog zu Hilfe zogen, eine Menge von Ungehörigkeiten
und Uebergriffen von ihnen begangen' wurden; nach dem Gewinn der Schlacht
von Nanni zeigten sie aber erst recht den Uebermuth und die Zügellosigkeit,
durch welche sie späterhin so berüchtigt wurden. Am 13. Januar 1477 plün¬
derten sie Se. Croix bei Colmar völlig aus; in Basel, welches damals noch
nicht zur Eidgenossenschaft, sondern zur niederen, (elsässischen) Vereinigung ge¬
hörte, „verschafften sie einigen ihrer dort studirenden Landsleute, welche rele-
girt werden sollten, durch warme Fürsprache bei Rector und Senat, die sie
mit allerlei sehr ausdrucksvollen Gebärden begleiteten, die Doctorpromotion.*)
Das war am Ende nur ein übermüthiger Spaß; aber er ging aus einer
bedenklichen Stimmung hervor und konnte, auf andere Verhältnisse übertragen,
verhängnißvoll werden. Grell trat auch während dieses Feldzuges schon der
heftige Drang der Schweizer nach Geld hervor, kaum gemildert durch die
Sympathien, welche die Gebirgsbewohner für Rene' hegten. Lediglich als
Geschäft wurde das Verhältniß aufgefaßt, und nicht darin erscheint das
schlimmste Anzeichen dieser Richtung, daß bis zur Auszahlung des Soldrestes
in Basel von jedem Ortsfähnlein der Hauptmann und 6 Knechte zurückblieben
und dem Herzog so lange aus der Tasche lagen, bis er die Summe von 14000
Gulden mit Hilfe einer Anleihe herbeigeschafft, sondern darin lag ein trauri¬
ges Symptom, daß neben den Geldrücksichten von gar keinen anderen auch
nur noch die Rede war und zwar nicht nur bei den Knechten, die sich ver-
dingt hatten, sondern auch bei deren Ortsobrigkeiten. Zwar für den Augen¬
blick schreckte dieser wüste Heimzug und die widerwärtigen Nachwirkungen,
welche sich bei den vagirenden Soldbanden zeigten, die eidgenössischen Behör¬
den; sie stellten den Knechten die Zukunft vor Augen und ließen sie in den
nächsten Jahren nur mit großer Zurückhaltung sich in äußere Händel mischen;
aber sie-versäumten es, der kriegerischen thatendurstiger Jugend des Bundes
eigene große Ziele, vaterländische Aufgaben zu stellen. Selbst von fremden
Großen bestochen, selbst geldgierig und ideallos, verstanden sie es nicht, die
weltgeschichtliche Stellung, welche sich die Eidgenossenschaft durch ihre Kriegs¬
thaten erworben, für große politische Zwecke zu verwerthen. Jener Spruch,
der späterhin in aller Munde war: „kein Geld, kein Schweizer!" — in der
Seele dieser Ortsobrigkeiten war er schon damals wahr. — Menschliche Ge¬
meinwesen, Staaten, haben jedoch ganz andere Zwecke zu verfolgen, als den
Gelderwerb. Da, wo dieser das leitende Motiv wird, da, wo die höchste
Lebensäußerung einer Nation, der Krieg, herabgewürdigt wird zum Mittel
des Gelderwerbs im Dienste anderer Staaten, da verurtheilt ein Volk sich
selbst. — Die Schweiz hat sich auf diesem Wege um ihre Weltstellung ge¬
bracht, und das geschah auf eben jenem italienischen Boden, auf dem sich um
die Wende des Is. und 16. Jahrhunderts fast alle Heere West-Europas ein
Nendez-vous gaben.
Außer den 6000 Schweizern, welche den Kern seiner Infanterie aus¬
machten, verfügte Charles VII. noch über ein regelmäßig besoldetes Fußvolk
von 10,000 Mann, eine Schöpfung Louis' XI. die sog. Landes as Liearäis.
Es waren das Nordfranzosen und Niederländer, welche während der zwei¬
jährigen Dauer des berühmten Lagers von Pont de l'Arche von Schweizern
ausgebildet und dann als Besatzungen in die wichtigen Grenzplätze der Picar-
die gelegt worden waren, denen sie ihren Namen verdanken. Sie haben dort
große Dienste geleistet, weit größere als sie gewöhnlichen Milizen und Aven-
turiers jemals möglich gewesen wären. — An Cavallerie bestanden zu¬
nächst die OomMguiös ü'oräonrurnev, und zwar, wenn sie wirklich nur die
Zahl erreichten, wie zu Charles' VII. Zeit, deren fünfzehn. Zwei dieser Com¬
pagnien, nämlich die OendarmLS ocossküs und die erste Compagnie der Gar-
des du corps, die sog. eomMA'iüo 6e0ssg,ise sind die einzigen, welche später
die Religionskriege des 16. Jahrhunderts überlebten. Neben dieser schwerge¬
rüsteten., noch durchaus im Sinne mittelalterlichen Ritterthums bewaffneten
und fechtenden Adelstruppe bestand dann eine leichte Reiterei, die mit Bogen
und Armbrust bewaffnet war: die arelnzrs und die arda-Iötriel-s. — In sehr
gutem Zustande übernahm Charles VIII. die Artillerie, deren mattro
LMöi'Al zu Anfang seiner Regierung Guillaume Picard war. Man kann
behaupten, daß das Geschützwesen Frankreichs damals in ganz Europa nicht
seines Gleichen hatte, namentlich soweit es sich um den Feldgebrauch handelte,
ein Umstand, auf den noch näher eingegangen werden wird.
Eine besondere Ehrenstellung nahm die königliche Garde ein. Sie bestand
außer den bereits erwähnten schottischen Compagnien der Gensdarmerie noch
aus zwei französischen, nämlich den areners an roi (sog. xstits garäv an
cvrxs) und den g-rekers Ah in, Mrcls, ferner aus 100 adligen Lanzenreitern
der grena'Mräe, dann den Mräes 6<z ig, pores und der Compagnie der
e«ut Suisses. Unter Charles VIII. traten diesen Formationen noch eine
Compagnie MntilKommW 6xtrg.oräiiig.iröZ und 200 Arbaletriers zu Pferde
hinzu. *)
Die Krone hatte alle Ursache, ihre Streitkräfte zusammen zu halten und
zu verstärken; denn nicht gering waren die Schwierigkeiten, welche sie sowol
im Inneren des Landes, als auch von Außen her umgaben, und sie hat es
wesentlich, ja eigentlich ausschließlich dieser militärischen Macht zu verdanken
gehabt, daß sie nicht nur ungeschmälert, sondern neu gekräftigt aus den
Kämpfen hervorging, welche die Zeit der Minderjährigkeit des Königs erfüllten.
Die Jahre, die dem Schlüsse der Generalstaaten von Tours unmittelbar
folgen, gehören zu den dunkelsten der französischen Geschichte, da die Quellen
außerordentlich spärlich fließen; um so erfreulicher ist es, daß in allerjüngster
Zeit (1875) durch die Veröffentlichung eines Briefwechsels Charles' VIII. und
seiner Räthe mit Louis de la Tremoi'lie wenigstens auf eins der bedeutendsten
Ereignisse dieses verworrenen Zeitraums neues Licht gefallen ist, nämlich auf
den Feldzug in der Bretagne.**) Näher auf diese Begebenheiten einzugehn,
ist jedoch hier nicht der Ort, und es sei nur kurz erwähnt, daß die Klugheit
und Kühnheit Anna's von Beaujeu den jungen König durch die großen Ge¬
fahren, welche ihn und seine Krone bedrängten, siegreich hindurchzusteuern
wußte. Der Opposition der Großen, an deren Spitze der vom Grafen Du-
nois geleitete Herzog von Orleans stand, dem kriegerischen Vorgehn dieser Her¬
ren an der Seite des mächtigsten Lehnsträgers der französischen Krone, des
Herzogs der Bretagne, den Angriffen Englands und namentlich Maximili¬
an's 1^ des römischen Königs — mit entschlossener Zuversicht bot Anna dein
Allen die Stirn und erlebte den Triumph, ihren jungen Bruder nicht nur in
Guienne, in Flandern, in Bretagne als Sieger zu sehn, sondern auch als Ge-
*) Diese Daten nach: ?ASLÄi, Ilistnirv So 1'irrmüs. I. 1847, und nach Susans,
'-
Ilistoirs us Ianoiiznns iutÄntöi'is ti'ÄNyÄisL, I>Hris 1849 sowie LusAns, Ilistoirs äg >Ä L-rvir
loriö kiÄUtziUso. Z?aris 1874.
mahl der Erbtochter von Bretagne, obgleich diese bereits pro cura mit dem
römischen Könige vermählt war und obgleich Charles selbst dem Namen
nach Gemahl der elfjährigen Tochter Maximilian's von Oesterreich war.
Der deutsche Fürst hat die ihm angethane Beleidigung nicht ernstlich
zu rächen vermocht; denn schon damals begann das Leben des „letzten Rit¬
ters" sich zu zersplittern: war er doch bald an der Donau thätig, um gegen
die Ungarn Wien zu schützen, bald zu Brügge und Gent im Kampf mit re¬
bellischen-Bürgerschaften; so konnte er sich kaum wundern, daß sein Traum
durch die Hand des armorikanischen Erbfräuleins die Halbinsel am atlantischen
Ocean zu erwerben, zerrann, wie die Welle am Strand. — Charles VIII.
aber that ebenfalls Alles, um dem ihn bedrohenden Rachekriege aus dem
Wege zu' gehn, sowol gegen Max als gegen Heinrich von England war er
zu großen Opfern bereit; denn auch seine Gedanken waren abgelenkt; nicht
Mehr die Bretagne, nicht mehr Flandern beschäftigte ihn; „er wollte neue
Dinge sehn und viel von sich reden machen!" Die Ritterspiele, welche ihm
der Herzog von Orleans bereitete und das Lesen der Ritterromane erfüllten
seine Seele mit einer seltsamen Sehnsucht, es den sagenverklärten Paladinen
Karl's des Großen gleichzuthun. Den ihm im Oetober 1492 geborenen Sohn
taufte er Charles Roland, und es kam eine eigene Abenteuerlust, eine Art
Don-Quichote-Stimmung über ihn, der dann auch bald der Schauplatz ge¬
öffnet ward.
Unter den Großen, welche heimgefallene Lehne vom Könige zurückgefor¬
dert, hatte sich Herzog Rene' von Lothringen befunden, welcher, als Erbe der
Anjou, Ansprüche auf das Herzogthum Bar und auf die Grafschaft Provence
erhob. Bar erhielt er; bis zur Entscheidung in Betreff der übrigen Ansprüche
wurde ihm auf 4 Jahre der Oberbefehl über 100 Lanzen mit einem Gehalt
von 36,000 Livres zugesichert. Ehe jedoch noch die 4jährige Frist abgelaufen
war, erschienen Abgeordnete der Provence bei König Karl und bewiesen dem
gern Ueberzeugten, daß nicht nur die Provence, sondern auch Neapel und Si¬
zilien und Alles, was das Haus Anjou je besessen habe, nicht dem Lothringer,
sondern ihm dem Könige zuständig sei. Wie der Blitz ins Pulverfaß fiel der Ge¬
danke in die Seele Charles'. Schwach von Geist und Körper, aber von ro¬
mantischer Schwärmerei erfüllt, begeisterte er sich für den Gedanken, über die
Alpen zu ziehn, Neapel in Besitz zu nehmen und von dort aus, seinem Ahnen,
Ludwig dem Heiligen, gleich, die Waffen Frankreichs in das Morgenland zu
tragen. Die klugen und erfahrenen Staatsmänner aus der Schule Louis' XI.
Wie Philippe de Commes, des Querdes, der Herzog von Bourbon und A.
verriethen den Plan; aber es gab in Frankreich ritterliche Abenteuerer,
kriegslustige Edelleute und phantastische Naturen genug, die den König in
seinem Entschlüsse bestärkten, und mit allen Mitteln italienischer Schlauheit
brachte ihn Lodovico Moro, der sich auf dem widerrechtlich bestiegenen Her¬
zogsstuhle von Mailand mit französischer Hilfe festsetzen wollte, endlich zur
Reife.*) Die venetianische Republik und der Papst erklärten ihre Neutrali¬
tät, und wenn auch das medizäische Florenz zu den aragonischer Fürsten
hinzuneigen schien, in deren Händen sich das schöne unteritalische Königreich
befand, so traten den französischen Unterhändlern doch in Italien die Zer¬
rissenheit des Landes, die Spaltung zwischen Dynasten und Bürgern, das
verwahrloste Heerwesen unter den Händen unfähiger Condottieren, die ge¬
lockerte Mannszucht und schlechte Bewaffnung der verwilderten Kriegsbanden
so augenscheinlich entgegen, daß man sich sehr wohl einen günstigen Erfolg
versprechen konnte.
Wie geheim auch der König seine Pläne hielt, so trat doch endlich der
Zeitpunkt ein, wo er sie offenbaren mußte. Sein Günstling De Vesc wollte
je eher je lieber in Besitz des ihm verheißenen italienischen Herzogthums ge¬
langen. Unter seinem Einfluß wurde ein großes Tournier zu Leon angesetzt,
und während der Festlichkeit desselben erfolgte im Frühling 1494 die Erklä¬
rung , welche von der ganzen jugendlichen französischen Ritterschaft mit Freu¬
den aufgenommen wurde."*) Es war ein übereilter Beschluß; denn es fehlte
an Geld und der Winter war vor der Thür. Für das erste wußten die
Rathgeber des Königs, nachdem der Ertrag einer Zwangsanleihe bereits durch die
Hoffeste und die Truppenrüstung verzehrt worden war, keinen andern Aus¬
weg, als aus hohe Zinsen zu borgen, die königlichen Einkünfte mit bedeuten¬
dem Verlust zu anticipiren und die Domainen zu verpfänden. Es wurde
überall, namentlich bei genuesischen Bankiers geborgt und bis auf 56 Procent
Zinsen versprochen. Den Vorwand zu einer solchen Verschwendung gab der
angeblich bedrohte katholische Glaube her, sowie die Fortschritte der Türken,
die Ansprüche Frankreichs auf Neapel und die dadurch zu gewinnenden Ein¬
künfte, durch welche die Lasten des Volkes sehr erleichtert würden u. s. w.
So unternahm denn Frankreich seinen ersten Eroberungszug nach Italien
und eröffnete dem militärischen Ehrgeiz einen Weg, der seitdem so oft betreten
werden sollte. Da Frankreich aber nun einmal nicht anders kann, als eom-
dlMi-v pour uns leise, so mußte der populäre Türkenzug als Maske dienen,
und zu dem Behufe ließ sich Charles VIII. von den Neffen des verjagten
griechischen Kaisers dessen Rechte auf das byzantinische Reich abtreten.***)
Die Expedition nach Italien ist eins der seltsamsten Ereignisse der fran¬
zösischen Geschichte. Mit Befremden verfolgt man den Marsch eines Heeres,
das, von blinder Kühnheit geführt, sich die Thore Roms und Neapels öffnet
und über das in jedem Augenblick die Wogen der Bevölkerungen zusammen¬
zuschlagen drohen, in deren Mitte es sich so wagehalsig gestürzt.
Der König schwankte längere Zeit, ob er Neapel zu Lande oder zu
Wasser angreifen sollte, endlich entschied er sich für das Erstere. Nur ein
Theil der Artillerie wurde rhoneabwärts gefahren und dann in Marseille und
Villefranche eingeschifft; er sollte bei La Spezzia landen, um sich am Süd¬
fuß der Apenninen bei Pontremoli mit dem Landheer zu vereinigen. Damit der
Plan gelang, durfte die Armee des Königs von den Alpen bis zum Apennin
auf keinen allzustarken Widerstand stoßen, durfte nirgends lange aufgehalten
werden.
Seinen Großstallmeister, Pierre d'Urft, sandte Charles nach Genua, um
hier eine mächtige Flotte auszurüsten, welche sich mit den in den beiden
französischen Häfen bereit gestellten Schiffen vereinigen sollte. So erhielt
Man 12 große Transportschiffe für Kavallerie, 96 kleine für Fußvolk, 17
Speronaras*) und eine große Zahl Galeeren und kleiner Fahrzeuge. Mit dem
Befehl dieser Flotte wurde der Herzog von Orleans betraut.
Auf die Nachricht von den Maßnahmen der Franzosen verständigten sich
die italienischen Verbündeten über die Art des Widerstandes. Zur Verthei¬
digung der toskanischen Apenninenpässe verpflichteten sich Pietro det Medici;
in der Romagna sammelte sich eine römisch-neapolitanische Armee; Prinz
Federigo von Neapel brachte eine nicht unbedeutende Flotte zusammen.
Es waren das Streitmittel, welche, gut und ernst verwendet, sehr wohl
Widerstand zu leisten im Stande waren.
Die französische Armee rückte in drei großen Hauptabth eilungen
vor. — Auf dem rechten Flügel zogen den genuesischen Küstensaum ent¬
lang und stets von Orleans' Flotte cotoyirt, die Schweizer mit der leichten
Artillerie unter der Führung des Bailu von Dijon. Hier kam es zu dem
ersten Zusammenstoße und zwar bei Ripallo, wo man auf ein neapoli¬
tanisches Corps traf. Das Zusammenwirken der Schweizer und der Artillerie
der Flotte bereitete den Italienern eine schwere Niederlage. — Auf dem linken
Flügel marschierte weit vorgeschoben Evrard d'Aubigny mit 200 französischen
Ganzen und einigen Schweizerfähnlein, und zu diesem kleinen Detachement, der
eigentlichen Avantgarde des Heeres, ließ Lodovico Sforza noch 500 Reiter und
3000 Fußgänger stoßen. Mit dieser geringen Macht wagte es der Franzose, bis an
die Grenzen der Romagna vorzugehn. Ihm gegenüber war unter Ferdinand
von Calabrien die Blüthe des militärischen Italiens versammelt. Der Lom¬
barde Triulzio, später einer der berühmtesten Marschälle Frankreichs, und der
Markgraf von Pescara drangen darauf, den verwegenen Feind anzugreifen;
aber der Führer der römischen Truppen, Graf Pitigliano widersetzte sich. Er
folgte geheimen Befehlen des Papstes, der bei dem Kriege zu gewinnen hoffte
und fürchtete, eine Niederlage d'Aubigny's könne die ganze Unternehmung
Charles' in Frage stellen. Solcher Art waren die Gegner der Franzosen! —
Evrard d'Aubigny griff Mindano an, beschoß den mit hohen Mauern und
breiten Gräben versehenen, wohlbesetzten Platz, nahm ihn und ließ die ganze
Besatzung über die Klinge springen.
Die Kämpfe von Ripallo und Mindano hatten dem französischen Haupt¬
heer den Weg zur Halbinsel geöffnet und lähmenden Schrecken in Italien
verbreitet. Nun endlich setzte sich auch die dritte Abtheilung der Franzosen, das
strategischeCentrum, d. h. die Armee des Königs selbst in Bewegung.
Es war gegen Ende August 1494, daß Charles VIII. von Vienne aus
über den Mont Genevre seinen Zug nach Italien antrat. Der Ehrenspiegel
des ErzHauses Oesterreich giebt die Gesammtmacht der Franzosen auf 5000
Reiter und 20,000 Mann Fußvolk an. Guicciardini berechnet das Heer auf
200 Edelleute der königlichen Leibwache, 1600 Gendarmes, 6000 Schweizer
und 6000 französische Jnfanteristen, von denen die Hälfte Gascogner gewesen
seien. Leo, in seiner Geschichte der italienischen Staaten, nennt auf Grund
der Nömoires la. IremouillL 3600 Gendarmen, 3000 bretonische Bogen¬
schützen zu Fuß, 6000 französische Armbrustschützen, 8000 gascognische Jnfan¬
teristen, die mit Luntenbüchsen und Flambergen bewaffnet waren, und 8000
schweizerische Hellebardierer, eine offenbar übertriebene Angabe. Guicciardini's
Berechnung dürfte mit der des Ehrenspiegels übereinstimmen, wenn man
seinem Fußvolk noch 3000 deutsche Knechte hinzufügt, welche sich, andern
sicheren Nachrichten zufolge, bei dem Jnvasionscorps befunden haben, sowie
die 5000 bretonischen Bogenschützen, welche de la Tremouille's Memoiren auf¬
zählen.
Die Blüthe des französischen Heeres bildeten die Compagnies ä'or'
clonnAnck, „die gefügigste Form, in welcher der Adelsmuth Frankreichs
sich zum Wohl des Staates bethätigen konnte." Jede Compagnie derselben
sollte gesetzlich aus 100 Lanzen bestehen. Nur des Connetables Compagnie
zählte 400 Lanzen. Zur vollen Lanze (kaltes gai-mis oder toui-nie) gehörten,
außer dem Komm« ä'armes, 5 Personen: 3 g-reners (Reisige), 1 eoutiUi^'
(Knappe) und 1 variet oder valet (Diener). Eine Compagnie zählte mithin 600
Rosse. Der Freiwilligen jedoch waren so viele, daß man nicht selten Compagnien
von 1200 Pferden und darüber fand. An der Spitze dieser Compagnien star'
den Frankreichs ausgezeichnetste Ritter. Der König ernannte die Capitains
und Lieutenants; die Wahl der übrigen Chargen fiel den nommss ' ä'armvs
anheim. Die Rüstungen nahmen in dieser Zeit an Schwere zu, um wo¬
möglich den Geschossen der in Aufnahme kommenden Handfeuerwaffen Wider¬
stand leisten zu können. Als Schutzwaffen führten die Gendarmes damals,
und mit mannichfachen Modifikationen bis auf Francois' I. Zeiten, den Helm
(easyne) mit verschließbaren Msir, die Halsberge (KausLöeoI), die Schulter¬
stücke (espauliöres), das Brust- und Rückenstück (euirasse), die Armschienen
(KrÄssartk), den Eisenschurz (euissarts). die Beinschienen (grsvos), die Eisen¬
handschuhe (gtmwlets), die Knieblätter (Mnouillisrks) und das Polster unter
der Achsel (Müsset). Es kam vor, daß die Rüstungen niedergeworfener
Ritter mit Beilen ausgeschlagen werden mußten, um den Mann nur todten
zu können. Eben so war auch das Pferd geschirmt. Eine starke Stirndecke
von Blech oder gebranntem Leder (onamtrain) sicherte das Thier gegen einen
Lanzenstoß und hielt auch wohl eine Kugel ab. Flanken, Brust und Rücken
Waren durch Schurze gedeckt, die bis an die Sprunggelenke reichten. Mähnen
und Ohren der Pferde waren gestutzt. Haupttrutzwaffe der Gendarmes
war noch immer die Lanze (uns gross« !a,ne<z eamuzlsv), die wie bei den
homerischen Helden aus Eschenholz bestand. Daneben wurden Degen (uns torts
Lp6e) und Streitkolben (masse <le ter) geführt.*) — Was die Fechtart der
dominos ä'armös betrifft, so ist es im Wesentlichen noch immer die der
früheren Zeit. Bis zum Augenblicke des eigentlichen Choes bewegten sie sich in
tiefen Geschwadern, so eng geschlossen „daß man keinen Apfel werfen konnte, der
nicht auf einen Helm oder eine Lanze gefallen wäre." Die Archers, leichter bewaff¬
net und beritten, eröffneten den Kampf durch wiederholtes Anprallen und Anrücken
tilgen den Feind. Hinter ihnen hielt das Geschwader der nommizs ä'armes
Und zwar das erste Glied mit vorgelegter Lanze sen arröt) und nur soweit
von den Archers entfernt, um nach dem Rückzüge derselben mit noch uner-
Müdeten Pferden an den Gegner kommen zu können, was bei den schweren
Rüstungen nur auf etwa 60 bis 80 Schritt möglich war. Sobald die Archers
Front frei machten, setzte das erste Glied der Ritter die Sporen ein und
iagte vorwärts. War es glücklich, brach und warf es den Feind, so pflegten
^e folgenden Glieder des Geschwaders nicht mit der Lanze anzugreifen,
sondern mit dem Schwerte nachzuhauen; zugleich brachen die Archers wieder
vor und verfolgten die Flüchtigen; die Balets fingen die Bügellosen, plünderten
die von den Pferden Geworfenen, erschlugen die Verwundeten u. s. w. Die
Ritter ordneten sich indeß aufs Neue, und wollte es das Geschick, so chokirten
^ wohl noch ein oder mehrere Male, bis die Tagefahrt auf irgend eine Art
entschieden. Prallte der Stoß des ersten Gliedes ab, so theilte es sich rechts
und links des Feindes, und das zweite Glied löste sich von der Masse des
Geschwaders los, um seinerseits das Heil mit der Lanze zu versuchen.*)
Das Fußvolk Charles' VIII. war, je nachdem es aus verschiedenen
Nationen bestand, von sehr verschiedener Güte. Den ersten Platz behaupteten
die Schweizer und Deutschen. Die Hauptmasse derselben trug kurze Schwerter
und 10 Fuß lange Piken. Der vierte Theil dagegen war mit Streitäxten
bewaffnet, die man mit beiden Händen führte. Ihre vielfarbigen Kleider
schmiegten sich den Gliedern völlig an. Wehende Federbüsche zeichneten die
Rottenführer und Hauptleute aus, und sämmtlich trugen sie den lullleeret, d. h.
einen aus zwei Theilen bestehenden Harnisch, welcher Brust und Schultern
deckte und leichter als ein Küraß war."*) Schweizer wie Deutsche bewegten
sich im Gleichschritt nach dem Schall der Trommel. Jedem Hausen von
1000 Mann waren SO Büchsenschützen beigegeben.***)
Als der vornehmste Theil dieses Fußvolks erschienen die cont LuiWes
as la FiU'an du roi.
„Dovant 1o Rvz^ cont LulLsos marelwioM,
Do iaunv <ze> rougo aornss vt vostus;
?M'63, tumbourg, a,ä0n<M<zg KüAonncjrvM,
I)o Zrauäs pluniint? lourg tutos xlialorörsut,
<nar obasoui! Ä' oulx s' 03tung.it un I>outIlU3." -j-)
Die Standarte der Hundertschweizer zeigte den heiligen Michael, wie er
den Drachen bekämpft, auf der andern Seite aber eine von Strahlen um¬
gebene Sonnenscheibe nebst einem gekrönten und gespickter Schwein (un poro
czxie coul-0im6.) I l-)
Die großen Dienste, welche die Schweizer 1488 in der Bretagne, nament¬
lich in der Schlacht von Samt Aubin de Cormier geleistet, ließen erwarten,
daß sie auch in Italien den Sieg an ihre Fahnen fesseln würden. „11s
otg-lent l'lzsx^i-altes ac l'ost." sagt Commes.
Den Deutschen zunächst an Zucht und Uebung standen 6000 Gascogner,
Frankreichs bestes Fußvolk, weniger stattlich ausgestattet und nur mit Bögen
und Armbrusten bewaffnet, weniger standhaft in offener Feldschlacht, aber
vortrefflich in Orts- und Einzelgefechten oder zur Hut des Lagers.
Epochemachend in der Kriegsgeschichte ist die Artillerie Charles' Viti-
— Während sämmtliche übrigen europäischen Mächte Geschütze von den ver-
schiedenartigsten Dimensionen und Kalibern führten, welche die Nachtheile
der Unbehilflichkeit und Verwirrung hatten, besaß Frankreich, dank der Für¬
sorge Louis' XI., eine kleine Zahl mittlerer Kaliber. Die alten Donnerbüchsen
waren nicht mehr im Gebrauch, und die Steinkugeln, welche bei allen andern
Artillerien noch vorherrschten, wurden hier nur noch für Mörser beibehalten.
Die Geschütze bestanden aus Bronce und schössen gußeiserne und broncene
Kugeln.
Die kleinsten Kaliber waren das 1 und 2 pfundige Falconet, dann
folgten die mittlern Couleuvrine (12 pfündige), die schwere (16 pfundige) Cou-
leuvrine, die Serpentine (24 pfündige) und endlich die SO pfündige üoudl»
eourtÄnt.Dieses Doppelkanon zogen 35 Pferde, die Serpentine 23. die
Couleuvrine 17 resp. 7, die Falkonets 2 oder 1 Pferd. Bet Eilmärschen
wurde in bestimmt reglementirter Weise Relais gelegt.
Sämmtliche Geschütze, auch die schweren Kaliber, scheinen nicht auf
Sattelwagen, sondern auf der Lafette transportirt worden zu sein. Diese
bestand aus Rüsternholz-, die Räder waren gestürzt (d. h. die Speichen gegen
die Rabe geneigt), die Naben der großen Kaliber mit broncenen Buchsen
versehn. Eine Protze hatte nur das Doppelkanon; die andern Geschütze haben
deren bis Louis XIV. entbehrt und hatten zunächst am Geschütz eine Gabel,
in welche das erste, stärkste Zugpferd eingespannt war.
Die Artillerie war in „danach" von 400 bis 1000 Pferden eingetheilt,
welche von Commissairen befehligt wurden. Bei den unteren Aemtern gab
es eine große Anzahl von Spezialitäten: eannoniers orÄina.1r<zö und extra-
orämaires, nebst Handlangern, die bouts-deux (Konstabler) die Bombardiere
und endlich eine Menge von Latern, Zeugdienern und Handlangern.^) Die
eanrwiuörs ordinaires, welche permanent in gewissen Städten als Spezial¬
beamte unterhalten wurden, waren zugleich mit der technischen Herstellung
der Geschütze beauftragt. Das Formen und Gießen geschah über einen Kern
und die Seele wurde dann noch mit Kronenbohrern ausgebohrt und geebnet.^*)
Das Bohren geschah anfangs nur durch Treträder-!); erst später wurden
eigentliche Bohrwerke angelegt, deren Getriebe durch Wasserkraft bewegt ward.1"!)
Die ekmnoniors empfingen monatlich 4 Livres Gehalt, und das Ansehn,
welches sie genossen, spricht sich in der ihnen bewilligten prachtvollen Kleidung
aus. Kosteten doch die gestickten Mäntel, welche Charles VIII- «n 127 Mann
von ihnen gab, allein 22S0 Livres.
Den ersten bedeutenden Ruf hatte sich diese Artillerie in dem Feldzuge
gegen den Herzog von der Bretagne erworben, wo sie in der Schlacht von
Se. Aubin du' Cormier gegen die englischen und deutschen Hilfstruppen
bedeutende Wirkungen erzielte.
Die Stärke des Artillerie-Parks, welchen Charles VIII. nach Italien
mitgenommen, belief sich auf ungefähr 140 Stück, also nahezu 5 Geschütze
auf 1000 Mann. 36 davon dürften schweren Kalibers gewesen und auf
dem erwähnten Seewege nach Sarzana geschafft worden sein.*)
Die Artilleriemannschaft bestand aus 300 Büchsenmeistern, 6200 Pio¬
nieren (vastaZeurs—Mstg-üori), 4000 Fahrern und einer großen Zahl Hand¬
werker. An Artillerie und Trainpferden befanden sich 8000 Stück beim Heere,
um Geschütze, Zelte, Schiffbrücken und das Gepäck fortzuschaffen.**) — Als
diese Artillerie die Alpen überschritten, flößte sie, wie Paulus Jovius ver¬
sichert, Entsetzen ein; denn man hatte in Italien nie etwas Aehnliches gesehn
noch für möglich gehalten.
Am 1. September 1494 überschritt Charles VIII. die Grenze und er¬
reichte bald darauf Turin, wo er auf das Glänzendste empfangen wurde.
Die Regentinnen Biancha von Savoyen und Maria von Montserrat überlie¬
ferten dem Könige, um seiner Geldnoth zu steuern, ihre Juwelen und Dia-
manten. welche er sogleich für 24000 Dukaten versetzte.
Das Erscheinen der französischen Armee auf dem Boden der Apenninen¬
halbinsel erfüllte die Italiener mit Schrecken und Besorgniß. Anstatt nun
aber von ihren inneren Parteikämpfen abzulassen und sich zum gemeinsamen
Widerstande gegen den Nationalfeind zu vereinigen, verloren sie vollends den
Muth und erleichterten durch Unsicherheit, Intriguen und unthätiges
Hin- und Herschwanken den Sieg der Franzosen. — Nicht ihr Widerstand,
sondern seine Kränklichkeit nöthigten Charles, fast einen Monat in Asti liegen
zu bleiben, und beinahe wäre die ganze Unternehmung wieder ausgegeben
worden, wenn nicht der Usurpator von Mailand den König besonders durch
Geldvorschüsse bestimmt hätte, das begonnene Werk fortzusetzen. Lodovico
Moro selbst nahm übrigens persönlich nicht an dem Zuge Theil; denn auf
die Nachricht, daß der rechtmäßige Herzog von Mailand — wahrscheinlich an
einem langsam wirkenden Gifte — gestorben sei, eilte der Mohr dorthin, um
sich die herzogliche Würde „aufnöthigen" zu lassen.
Charles hatte auf den Rath Lodovico's, welcher es nicht wünschte, daß
der König sich Mailand nähere, statt des Weges durch die Romagna den
durch Toscana gewählt und erreichte in rascheren Märschen als bisher Sar-
zana, den Schlüssel Toscanas. Hier traf er auf den ersten Widerstand.
Ein solcher konnte verhängnißvoll für ihn werden; denn sein Heer hatte weder
Magazine, noch Lebensmittel, noch Geld; eine lange Vertheidigung Sarzanas
konnte Alles verderben. Mit unerhörten Anstrengungen wurden daher die
größesten Geschütze, welche man besaß, auf die Felsen hinausgeschafft, die den
Platz umgaben und beherrschten, und von hier aus wurde die Stadt durch
ein furchtbares Feuer niedergeschmettert. Bald sah sich die Garnison genöthigt,
zu capituliren; die Apenninenstraße war frei, und ungehindert konnte der König
Pontremoli erreichen, wo sich die zu Genua eingeschiffte Artillerie und die
früher hierher vorausgesandten Schweizer wieder mit der Hauptmasse der
Armee vereinigten, während der Herzog von Orleans mit einem kleinen Corps
in Asti blieb *), um den schon jetzt zweideutig erscheinenden Herzog Lodovico
zu überwachen und auf alle Fälle die Rückzugsstraße zu sichern. Die fran¬
zösische Flotte fuhr längs der Westküste Italiens hin, um das Heer mit Mann¬
schaft und Munition versorgen zu können.
So war denn der ursprüngliche Plan der Franzosen wirklich gelungen;
und doch hätte noch im Herbste einiger Muth und etwas kriegerische Ent¬
schlossenheit genügt, um das Heer Charles' VIII. auszuhalten, als es die
schwierigen, durch Festungen geschützten Apenninenpässe von Sarzcma, Sarzam-
blo und Pietra-Santa zu durchschreiten hatte, um in das toscanische Land
einzudringen; der Widerstand Sarzanas, durch ein. auch nur kleines Heer un¬
terstützt, würde die gewagte Combination einer Vereinigung der rechten Flü¬
gel-Armee mit dem Hauptheer wahrscheinlich vereitelt haben; hier konnte eine
geringe Macht weltgeschichtliche Erfolge erringen! — aber von dem Geiste,
der die Spartaner an den Thermopylen oder die Schweizer am Morgarten er¬
füllte, war bei den Florentinern der üppigen Medicäerzeit keine Spur vorhan¬
den. Pietro de' Medici erschien>ielmehr in des Königs Lager und willigte
uicht nur in die Uebergabe der Apenninenfestungen, sondern gestattete auch
bis zur Beendigung des neapolitanischen Krieges die Besetzung von Pisa und
Livorno durch französische Truppen, sodaß dem Landheere Charles' die Ver¬
bindung mit der Flotte gesichert war. Seine politische Schwäche kostete den
Medici die Führerschaft von Florenz; unter Savonarola's Einfluß kam es zu
einer leidenschaftlichen Volksbewegung, die mit Zerstörung des Medizäer-Pa-
kahles endete; doch auch die Republik wußte nichts Anderes zu thun, als den
Franzosen die Thore der schönen Arnostadt zu öffnen. Die vorausgeschickten
Quartiermacher bezeichneten, ganz wie heutzutage, die zur Aufnahme der
Kriegsleute bestimmten Häuser mit Kreide. Am 17. November 1494 zog der
König in Florenz ein; ihm folgte das ganze Heer in geschlossener Macht,
da er für diesen festlichen Einzug bei Signa auch d'Aubigny's Corps heran¬
gezogen hatte. Am Thor San Friano erwartete ihn der florentinische
Adel mit einem goldenen Baldachin; hymnensingend umgab ihn der Clerus,
und das Volk empfing ihn mit Jubelgeschrei. Charles ritt in voller Rüstung
daher, die Lanze auf dem Schenkel; Florenz sollte als eine eroberte Stadt
angesehn werden. Das gute Einvernehmen dauerte denn auch nicht lange.
Bald kam es zu tumultuarischen Scenen wegen des Auftretens und der For¬
derungen der Franzosen. Wortführer bei den Verhandlungen war auf floren-
tinischer Seite ein ausgezeichneter Kaufmann Piero Capponi. Als er und
die ihn begleitenden Kommissäre die übermäßig harten Bedingungen des
Königs zurückwiesen, herrschte Charles sie an: „Dann werden wir unsere
Trompeten blasen!" Capponi ließ sich jedoch nicht einschüchtern und erwi¬
derte: „Und wir werden unsere Glocken läuten!" — eine Drohung, die in
der großen, volkreichen, sehr gereizten Stadt voll enger Straßen und wohlbe¬
waffneter Bürger von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Charles
mäßigte sich und schloß ein Bündniß mit Florenz, demzufolge dies unter be¬
ständigem Schutze der französischen Krone stehn solle. Zu seiner Sicherheit
behielt der König die ihm von Pietro de' Medici übergebenen Festen, bis der
Krieg beendigt sei, und als ihm die Florentiner noch ein Geschenk von 120,000
Ducaten gemacht, zog er endlich auf Savonarola's Zureden ab, nicht ohne
vorher die Kunstschätze der Medizäer zusammenzubringen und mitzunehmen
ein Verfahren, das also nicht erst die französische Revolution in Italien ein¬
geführt hat.
Die Franzosen marschierten nun nach Sie na und zwar in voller Schlacht¬
ordnung, die Artillerie an der Spitze. Am 2. Dezember zog Charles in
Siena mit gleichem Pompe ein wie in Florenz.
Die neapolitanische Armee unter Ferdinands, dem Sohne des Königs
Alphonso, hielt den Kirchenstaat besetzt. Die Nachrichten lauteten dahin, daß
es bei Viterbo zu einer Schlacht kommen werde und die Lage der französischen
Armee fing an, bedenklich zu werden. Bisher hatte man die Lebensmittel
täglich mit baarem Gelde eingekauft; in Feindes Land hörte dies auf. An
eine reguläre Verpflegung oder Requisition dachte kein Mensch; aus den
Feldern war in dieser Jahreszeit nichts mehr zu finden; was sollte unter
solchen Umständen aus der Armee werden? — Die Umgebung des Königs
wurde besorgt und man rieth ihm zum Frieden, während er selbst nur dazu
lachte und den Marsch fortzusetzen befahl. Am 7. December betrat er
Aquapendente, die erste römische Stadt; die Geistlichkeit holte ihn in
feierlicher Prozession ein, und drei Tage später besetzte er Viterbo ohne
Schwertstreich und ohne nur einen feindlichen Soldaten zu erblicken.
Der König zog nun gen Rom. Fünf Eroberer hatten vor Charles VIII.
an die Thore der ewigen Stadt gepocht: Brennus, Hannibal, Alarich, Vitiges
und Totilas; nur dreien von ihnen, dem Gallier Brennus und den Gothen
Alarich und Totilas hatten sie sich geöffnet und auch diesen nur nach langen
Belagerungen. Der junge Franzosenkönig sollte ohne Kampf einziehn in die
Hauptstadt der Cäsaren. Papst Alexander, obgleich er doch erst vor kurzem
die Festungswerke Roms hatte herstellen lassen, benahm sich so schwach und
haltungslos, daß er allen Parteien verächtlich wurde. Es war deutlich, daß
der Kirchenfürst keinen andern Ausweg wußte, als Intrigue und Verrath.
Er schickte Abgesandte, zuletzt seinen eignen Beichtvater, an den König und
erbot sich in Bezug auf Neapel zu allen möglichen Concessionen, wenn die
französische Armee Rom nicht berühren wolle. Dies aber war ganz gegen den
Sinn des Königs, welcher ebenen jener Stadt als Sieger einziehen wollte,
wo Cäsar triumphirt hatte, dessen Commentarien (die ja auch damals schon
in der Schule gelesen wurden) ihm noch in frischem Andenken waren. In¬
dessen ließ er sich doch durch die Verschlagenheit seines Gegners aufhalten und
verlor drei Wochen. Das mächtige römische Haus der Colonna arbeitete in¬
zwischen für Frankreich, und an demselben Tage, an welchem die neapolitanischen
Truppen die ewige Stadt räumten, zog das französische Heer durch die zM-ta,
'tot poxolo ein. Es war die Sylvesternacht d. I. 1494. Eine Menge
Fackeln und Lampen beleuchteten das acht Stunden währende Schauspiel;
das Geschrei „^raneia" und „0o1onng," zerriß die Luft.
Mit beredter Zunge hat Paulus Jovius den Einmarsch beschrieben, und
wem erkennt aus seiner Schilderung, wie sehr ihm namentlich das französische
beschütz und das schweizerisch-deutsche Fußvolk imponirten. Vor allem fiel
ihm auf, daß diese Artillerie so beweglich war, daß sie der Reiteret im Trabe
Zu folgen vermochte (ut eyuituin cul-kam aequivribus in weis g,<Zkt,<Z(Zunret).
200 französische Ritter, von der edelsten Geburt oder durch eine ritterliche
That bereits ausgezeichnet, umgaben den König persönlich. Sie übertrafen
durch zierliche Kleidung und reichen Waffenschmuck noch die Pracht des übrigen
Heeres. — In solcher Begleitung ritt Charles, abermals in voller Rüstung,
also mit den Ansprüchen eines Siegers, in Rom ein, um, wie er sagte, dem
heiligen Vater seine Obedienz zu beweisen. Dieser hatte sich indeß aus Furcht
und Mißtrauen in die Engelsburg eingeschlossen, und in der That forderten
Mehre Cardinäle den König zur Absetzung des verbrecherischen Papstes auf,
wozu Karl indessen nicht geneigt war.*) Doch waren die Unterhandlungen
mit Alexander keinesweges freundlicher Art und zweimal wurde das Geschütz
gegen die Engelsburg in Batterie gefahren, um der Sprache der Diplomaten
Nachdruck zu geben.
Im Heere Charles' waltete, französischen Angaben nach, ausgezeichnete
Mannszucht; einige schottische Garden, die sich Gewaltthätigkeiten gegen
Juden erlaubt hatten, wurden streng bestraft. Die Italiener versichern da¬
gegen, daß die zechenden und spielenden Soldknechte sich allen nur denkbaren
Ausschweifungen hingegeben hätten, und daß der Papst, vorzugsweise, um die
Stadt von diesen wüsten Banden zu befreien, eingewilligt habe, dem Könige
die römischen Festungen Spoleto, Terracina und Civita vecchia bis zur Be¬
endigung des Krieges einzuräumen und ihm die Belehnung mit Neapel zu
verheißen. Verderblich für die Schweizer wurde die acht Tage nach der Besitz¬
nahme Roms erfolgte Plünderung und Zerstörung des Hauses von Rosa
Vannoza, der Maitresse des Papstes und Mutter seiner natürlichen Kinder,
welche dafür blutige Rache schwor und Wort hielt; denn da die Schweizer-
Truppen in des Königs Armee dabei besonders thätig gewesen waren, so
warf sie ihren Haß auf diese Nation, und ließ nach dem Abzug der eigent¬
lichen Thäter zur Befriedigung ihrer Rachgier die in der päpstlichen Garde
dienenden Schweizer auf die schändlichste und raffinirteste Weise ermorden.
Nachdem Charles zu Rom seinen Frieden mit dem Papste geschlossen, brach
er am 28. Januar zu dem eigentlichen Feldzuge gegen Neapel auf. Er
marschierte mit der Hauptkolonne die Straße von San Germano durch Latium;
eine Seitenkolonne zog durch das Gebirge, und sogleich erklärte sich fast die
gesammte Bevölkerung der Abruzzen, in welcher auch früher das Haus Anjou
die meisten Anhänger gehabt, für den König von Frankreich als Erben der
neapolitanischen Krone. Vor der festen Stadt Monte San Giovanno,
welche den Aragonesen einst sieben Jahre lang widerstanden, zeigte sich die
Macht der französischen Artillerie. Ein vierstündiges Geschützfeuer war hin¬
reichend, die Mauern zu zertrümmern und in die Gräben zu stürzen, worauf
der Sturm und die Einnahme unmittelbar folgten. Die Garnison: 500
Soldaten und ebensoviel bewaffnete Bauern, wurde auf Befehl des Königs
hingerichtet.
Die Armee zog nun langsam vorwärts, beinahe wie es jedem Einzelnen
beliebte. Das war nicht jener rapide Marsch Attila's oder Alarich's, der die
Reichthümer und den Glanz der römischen Civilisation in den Staub warf;
das war auch keiner jener klugen und kühnen strategischen Züge, wie sie vier
Jahrhunderte nach Charles die Heere der französischen Republik in Italien
durchgeführt — das war eine bequeme und confuse militärische Prozession.*)
Kurze Tagesfahrten, langer Aufenthalt! Von einer Marschordnung war
gar nicht die Rede, und die Soldaten hatten mehr das Ansehen von Reisen¬
den. Die Gensdarmen verließen, wie dies auf gewöhnlichen Reisemärschen
üblich, ihre Streitroße und bestiegen leichte Pferde, waren nur halb bewaffnet,
ja ritten zum Theil in Westen und trugen statt der Eisenschuhe Pantoffeln,
an welchen ein hölzerner Sporn befestigt war**); jeder bewegte sich oder ruhte,
kehrte ein oder zog weiter, ganz nach Gefallen. Die Armee erhielt Befehl
zu lagern, wo der König Vergnügen fand und sie rastete von selbst da, wo
sie Lebensmittel und Genüsse auftrieb. Nur der Vortrab, den der Herzog
von Guise führte, scheint in Ordnung gewesen zu sein. Er stieß bei San
Germ ano auf den Feind. San Germano gilt für den Schlüssel von
Neapel. Ein Desilee, das einerseits von ungangbaren Bergen, andererseits
von den Gariglianosümpfen gebildet wird, giebt der Stellung große Stärke,
und die Wahl derselben zeigt, daß Alfonso II. seinen Ruf, der ausgezeichneteste
Feldherr Italiens zu sein, einen Ruf den er in den Türkenkriegen erworben,
auch jetzt noch verdiente. Er hatte diese Position dem neapolitanischen Heere
ausgesucht. An dessen Spitze aber stand der junge König Ferdinands, dem
der allgemein verhaßte Alfonso das Reich abgetreten hatte und der entschlossen
war, zu siegen oder zu sterben. Er hatte unter seinen Befehlen 2600 Gen¬
darmes. 500 leichte Reiter und ein starkes Fußvolk; aber diese bedeu¬
tende Macht floh beim bloßen Anblick der Franzosen unaufhaltsam bis
Capua und riß den König mit fort. Nun folgte Abfall auf Abfall. —
Man darf nicht vergessen, daß die zu Neapel herrschenden Aragonier nur
eine Secundogenitur waren und zunächst nicht über spanische, sondern
nur über italienische Streitkräfte zu verfügen hatten. Unter den neapolita¬
nischen Kriegsschacu-en herrschten aber Verrath und Feigheit, unter den Vasfal¬
len Meuterei und Parteiung. Vergebens nahm der junge König Ferdinand
abermals eine gut gewählte Stellung bei Capua; das Heer zerrann ihm unter
den Händen; in der schamlosesten Weise verließen ihn die Soldführer, welche
er mit Wohlthaten überhäuft hatte und aus deren Treue er fest bauen zu
können glaubte. Während Ferdinand sich nach Neapel begab, um dort aus¬
gebrochene Unruhen zu unterdrücken, ging einer seiner angesehensten Feld-
hauptleute, der schon genannte Giovanni Jacopo Triulzio, ein geborener
Mailänder, in französische Dienste über, weil er ferneren Widerstand für
unmöglich hielt; Virginio Orstni und der Graf von Pttigliano zogen sich
nUt ihren Söldnern nach Nola zurück und wurden bald darauf von den
Franzosen überfallen und gefangen, und der Nest des Heeres lief einfach aus¬
einander. Eine Ausnahme machte nur der deutsche Söldnerführer Caspar,
der mit den Seinigen treu blieb und das neue Schloß sowie das Castell del
Uovo zu Neapel besetzt hielt. Als der König aus Neapel zurückkam, fand
er keine Armee und in seinem Palast keine Sicherheit mehr. Es blieb ihm
nichts übrig, als die Flucht nach der Insel Ischia, und auch da mußte er
sich durch Entschlossenheit und Geistesgegenwart gegen seine eigne Garnison
den Eintritt erst erkämpfen. Nicht eine Lanze wurde zu Gunsten des
Hauses Aragon gebrochen, und ohne Widerspruch, ja allgemein als Be¬
freier und rechtmäßiger Erbe begrüßt, nahm Charles VIII. immer neue Län¬
derstrecken in Besitz. — Niemals ist ein Königreich elender gefallen. Mit
großem Rechte sagt Machiavelli, daß die Tapferkeit, welche in andern Län¬
dern durch einen langen Frieden zu erlöschen Pflege, in Italien zu Grunde
gegangen sei durch die Erbärmlichkeit der Condottierekriege, die man ohne
Sorge angefangen, ohne Gefahr geführt und ohne Schaden geendet habe.
Der Beweis, daß dies Condottierethum keine Krone schützen könne, war in
schlagender Weise geliefert.
Am 22. Februar 149S hielt König Charles glänzenden Einzug in die
Stadt Neapel. Die beiden Castelle wurden beschossen und ergaben sich in
der ersten Hälfte des März. Den durch das Reich geschickten Capitains
und Gendarmes kamen überall die Edlen und die Ortsbehörden entgegen,
und alle Herren und Barone, mit einziger Ausnahme des Marchese von Pes-
cara, begaben sich nach Neapel, um dem Franzvsenkönige zu huldigen. Nur
wenige feste Punkte blieben noch in der Gewalt des geflüchteten Königs*)
Das zweite Stück der „Idyllen" nennt sich „die Rose von Tu»-
kumm e." Die „Rose" ist die viel umworbene Tochter eines wohlhabenden
Ansiedlers in dem vom Titel genannten County der Vorberge des californi-
schen Hochlandes. Sie soll einen Hüttenwerksbesitzerin der Nachbarschaftheirathen,
und will ihn auch in der Weise, wie man sich, ohne zu lieben, in Vernunft-
heirathen findet — sie will ihn, zum stillen Verdrusse des unheimlichen Henry
Ramee, eines andern Nachbars, der sie eifersüchtig auf Schritt und Tritt um¬
späht. Eines Nachts spät von einem Balle zurückgekehrt, wird Jenny von
ihrem Vater, einer der besten komischen Figuren unsers Dichters, geweckt, um
ihm bei der Unterhaltung mit einem vorüberreisenden Bekannten, der seine
Unbeholfenheit mit übermüthiger Laune behandelt, Gesellschaft zu leisten.
Jenny entspricht der Bitte des alten Herrn, der Uebermuth unten verwandelt
sich in Liebenswürdigkeit und diese durch einen Proceß, von dem wir hier nur
sagen können, daß er mit der höchsten Meisterschaft geschildert ist, binnen
wenigen" Stunden in Liebe, die Gegenliebe findet. Ridgeway, so heißt der
Reisende, muß endlich fort, um die Post zu treffen, die ein Stück vom Hause
durch den Wald geht. Jenny erbietet sich, ihn zu begleiten, damit er sich nicht
verirre. Beide wissen noch nicht klar, wie sie mit einander daran sind. Aber
die Natur draußen hilft und führt sie einander in die Arme.
„Es war eine wunderschöne Nacht. Der Mond stand tief am Himmel
und schmachtete sanft auf der schneeweißen Berglehne drüben. Seltsame Düfte
füllten die stille Luft, und wie ein wundersamer Weihrauch würzte es aus
den Wäldern her ihr junges Blut und schien es ihre Pulse zu berauschen. Kein
Wunder daher, daß sie nur zögernd die weiße Straße hinaufgingen, daß ihre Füße
den kleinen Hügel, wo sie sich trennen sollten, nur ungern erstiegen, und daß, als
sie zuletzt den Gipfel erreichten, sie selbst der tröstliche Segen der Rede verlassen
zu haben schien. Denn hier standen sie allein. Weder auf Erden, noch in den
Wäldern, noch vom Himmel her war ein Ton zu hören, eine Regung zu
sicher. Sie hätten der einzige Mann und das einzige Weib sein können,'für
welche diese herrliche Erde, die mit dem tiefsten Azurblau gerändert zu ihren
Füßen lag, erschaffen worden. Und als sie das sahen, kehrten sie sich mit
^ner plötzlichen Regung einander zu, und ihre Hände begegneten sich und dann
^)re Lippen in einem langen Kusse."
Jenny kehrt beim Herankommen der Post nach Hause zurück. Eine Weile
nachher sieht sie in der Morgendämmerung aus ihrem Kammerfenster, wie
Mann über den Gartenzaun unten zu steigen versucht, dieß aber nicht
^rmag und zuletzt umfällt. Plötzlich stürzt sie mit fliegenden Flechten hinun¬
ter und auf den Zaun zu. Der umgefallene Mann ist Ridgeway, der von
einem Messerstiche getroffen und mit Blut Übergossen vor ihren Füßen liegt.
Sie wirft sich auf ihn und fragt, was geschehen, wer es gethan.
»Ridgeway öffnete langsam seine blaugeäderten Augenlider und blickte
sie an. Bald darauf ging ein Blitz wie scherzende Bosheit über seine dunkeln
Augen, ein Lächeln stahl'sich über seine Lippen, als er leise die Worte flü¬
sterte: „Es — war — Dein Kuß — der es that — liebe Jenny! Ich
hatte — vergessen — in wie hohem Werthe — die Waare hier steht. — Laß
Dich's nicht kümmern — Jenny." Er zog schwach ihre Hand an seine wei¬
ßen Lippen. „Er ist — nicht zu theuer bezahlt." Damit verließ ihn das
Bewußtsein."
Jenny trägt nun rasch entschlossen den Bewußtlosen ins Haus, wo er
sich allmälig erholt. Vergebens versucht sie von ihm Näheres über den
Thäter zu erfahren, von dem die Nachbarschaft meint, es sei ein Straßen¬
räuber gewesen. Sie pflegt den Verwundeten sorgfältig, als er aber außer
Gefahr ist, wird sie scheinbar kälter und ist viel außer dem Hause, um, wie
sie sagt, aus der freien Zeit bis zu ihrer Verheirathung noch möglichst viel
Vergnügen herauszuschlagen. Sie glaubt, daß ihr Vater sie nicht durchschaue,
aber er ahnt, was ihr fehlt, er beobachtet sie im Stillen und erkennt, daß
Ridgeway, der inzwischen während einer ihrer Ausflüge abgereist ist, ihr Herz
gewonnen hat, daß sie sich zum Entsagen zwingt, und daß ihre plötzlich er¬
wachte Vergnügungssucht Schein und nur auf Betäubung ihrer leidenden
Seele berechnet ist. Eine Weile geht er tiefsinnig umher, endlich weiß er, wie
ihr zu helfen. Bei jedermann gilt Jenny als seine leibliche Tochter von seiner
verstorbenen Frau. Auch Jenny weiß das nicht anders. Sie ist aber in
Wahrheit das mitgebrachte Kind dieser Frau, und letztere ist nicht gestorben,
sondern ihm, als er noch in Missoury wohnte, mit einem Kunstreiter davon¬
gelaufen und treibt sich jetzt in Californien als Seiltänzerin herum. Mit
diesem Geheimniß macht der alte Herr, indem er es dem Bräutigam, einem
stolzen Kentuckier, mittheilt, die Verlobung rückgängig. Jener Rance über¬
bringt Jenny den Absagebrief, der die Auflösung des Verhältnisses auf den
Wunsch ihres Vaters nur damit motivirt, daß der Bräutigam „etwas erfahren
habe". Rance ist nun im Begriffe, sich selbst um Jenny, die jetzt meint,
daß dieses „etwas" der Kuß gewesen, und daß der Bräutigam Ridgeway
verwundet habe, zu bewerben, als Ridgeway dazu kommt und dem Versuch
ein Ende macht, indem er erklärt, mit diesem Menschen nicht in einem Zim¬
mer sein zu wollen. Ein Kampf will sich entspinnen, aber Jenny tritt da¬
zwischen. Ridgeway geht hinweg, Rance glaubt, das Spiel gewonnen zu
haben, zumal als Jenny ihn auf den Abend in den Garten bestellt, um ihm
die Antwort aus seine Werbung zu ertheilen. Er erwartet sie, und sie kommt
wirklich — in demselben Kleide, das sie getragen, als sie den verwundeten
Ridgeway gefunden hat. Er bittet sie, aus dem Mondschein weg zu treten,
sie weigert sich und zieht kalt die Hand zurück, die er ihr darbietet.
„Sie zitterte einen Augenblick, wie wenn ein Schauder sie durchbebte, dann
wendete sie sich Plötzlich ihm zu und sagte: „Halten Sie Ihren Kopf empor
und lassen Sie mich Ihnen ins Gesicht blicken. Ich habe bis jetzt blos
gewußt, was Männer sind, lassen Sie mich jetzt auch sehen, wie ein Schurke
aussieht." Er fuhr zurück, mehr vor ihrem wildverstörten Gesichte, als vor
ihren Worten. Er war kein Feigling, aber er empfand Neigung, zu fliehen. —
»Sie sind krank, Jenny", sagte er. „Sie thäten besser, ins Haus zurückzu¬
kehren. Ein ander Mal —" „Halt!" rief sie heiser. — „Rühren Sie sich
von der Stelle, und ich rufe um Hülfe! Versuchen Sie mich jetzt zu verlassen,
und ich sage aller Welt, daß Sie ein Meuchelmörder sind." — „Es war
ein ehrlicher Kampf", sagte er tückisch und verstockt." — „War es ein ehrlicher
Kampf, einem unbewaffneten und sich keines Harms versehenden Mann von
hinten nachzuschleichen? War es ein ehrlicher Kampf, den Versuch zu machen,
den Verdacht aus einen Andern abzulenken? War es ein ehrlicher Kampf,
wich zu täuschen? Lügner und Feigling, der Sie sind!"
Er that einen verstohlenen Schritt auf sie zu mit Unheil drohenden
Augen und einer verruchteren Hand, die langsam nach seiner Brusttasche
hinschlich.
„Stoßen Sie zu!" rief sie mit blitzenden Augen, indem sie ihm ihre
Hände offen vor das Gesicht hielt. „Stoßen Sie zu! Fürchten Sie sich vor
dem Weibe, das sich vor Ihnen nicht fürchtet? Oder heben Sie Ihr Messer
blos für den Rücken von Männern auf. die sich Ihrer Tücke nicht versehen?
Stoßen Sie zu. sag' ich Ihnen. Nein? Nun so sehen Sie her!" Mit einer
plötzlichen Bewegung zog sie sich von Kopf und Schultern den dicken Spitzen-
shawl. der ihre Gestalt verhüllt hatte, und trat vor ihn hin. „Sehen Sie
her!" rief sie leidenschaftlich, indem sie nach dem Busen und den Schultern
ihres weißen Kleides zeigte, die dunkel mit verblichnen Flecken gestreift und
'n Unheil verrathender Weise der Farbe verlustig gegangen waren. „Sehen
Sie, dieß ist das Kleid, welches ich an jenem Morgen trug, wo ich ihn
hier liegend fand — hier — blutend von Ihrem heimtückischen Messer.
Sehen Sie her! Sehen Sie wohl? Dieß ist sein Blut — das Blut meines
lieben Jungen! — von dem mir, so todt und verblichen es ist, ein einziger
Köpfen mehr gilt als der ganze lebendige Puls irgend eines andern Mannes.
Sehen Sie her! Ich komme zu Ihnen heut Abend getauft mit seinem Blute,
und wagen Sie nun zuzustoßen — wagen Sie durch mich wieder nach ihm
8U stoßen und wein Blut mit dem seinen zu verwischen! Stoßen Sie zu!
^es flehe Sie an. Stoßen Sie zu, wenn Sie irgendwie Erbarmen mit mir
h^ben, um Gotteswillen! Stoßen Sie zu, wenn Sie ein Mann sind! Sehen
S'e. hier lag sein Haupt auf meiner Schulter — hier hielt ich ihn an meiner
Brust, wo niemals — so wahr mir Gott helfe! — ein andrer Mann —
ach! taumelte gegen die Umzäunung, und etwas, das in Rance's
Hand geblitzt, siel vor ihre Füße hin; dann ein zweiter Blitz und ein Knall
bewirkton. daß er sich vor ihr im Staube wälzte, und über seinen im Todes-
kämpfe sich windenden Körper schritten zwei Männer weg und fingen sie auf,
bevor sie fiel."
Die Männer sind Herr Mac Closky, ihr Stiefvater, und Ridgeway.
Weil Jenny letzteren durch Rance's Besuch verloren zu haben glaubt, hat sie —
so müssen wir vermuthen, der Dichter selbst sagt es nicht — Rance das
Stelldichein vorgeschlagen und ihn gereizt, ihr den Tod zu geben. Diese
Absicht mißlingt; wie früher Ridgeway, so wird jetzt auch Jenny gerettet,
und das Weitere denkt sich der Leser hinzu. Auf Nacht und abermals Nacht
folgt heiteres Licht, und in diesem findet auch das verdrießliche Geheimniß,
welches den ersten Bräutigam Jenny's von ihr entfernt hat. eine befriedigende
Beseitigung. Die jungen Leute haben die Stelle besucht, wo ihre Seelen sich
zuerst in Liebe gegen einander aufgeschlossen haben. Sie kommen Hand in
Hand in das Haus zurück.
„Herr Mac Closky erwartete sie mit Ungeduld in der Veranda. Als
Fräulein Jenny die Treppe hinausgeschlüpft war, um einen Kragen, der eine
etwas verdächtig schiefe Lage angenommen hatte, durch einen andern zu
ersetzen, zog Herr Mac Closky Ridgeway mit feierlicher Miene beiseite. Er
hielt einen großen Theaterzettel in der einen und eine Zeitung in der andern
Hand. „Ich hab' es immer gesagt", bemerkte er langsam mit der Miene,
als ob er nur ein abgebrochnes Gespräch wieder aufnähme, „ich hab' es
immer gesagt, daß es sich nicht recht für sie passen thäte, drei Pferde aus
einmal zu reiten. Es will scheinen, als ob ich Recht gehabt hätte. Nach
Bemerkungen in diesem Blatte hier sieht es aus, als ob sie das letzte Woche
in Marysville versucht und dabei den Hals gebrochen hätte."
Die dritte Erzählung „Eine Episode aus dem Leben von Fidd-
letown" hat zur Heldin eine Dame, die uns zunächst als allgemein bewunderte
Schönheit, als sentimentale Dichterin, als unverstandene schöne Seele, als
selbstsüchtig und eitel entgegentritt. Sie ist eine geschiedene Frau und heirathet
einen ebenfalls geschiedenen Mann, den gewesenen Frachtfuhrmann Tretherick,
den ihre Poesien auf sie aufmerksam gemacht haben. Die Ehe ist keine glückliche.
Herr Tretherick prügelt seine Frau, sie wird ihm dasür ein wenig untreu, er
gewöhnt sich darauf das Trinken an, und sie liefert von nun an regelmäßig
poetische Beiträge in das Ortsblättchen. Die Sache wird zuletzt so arg, daß
Frau Tretherick sich eines Tages aus dem Hause ihres Mannes entfernt.
Einige Tage später kommt sie während der Abwesenheit desselben mit dem
Obersten Starbottle, einem Verehrer ihres Genius wie nicht minder ihrer
körperlichen Reize, zurück und will die von ihr zurückgelassnen Sachen abholen.
Sie trifft hier, indeß sie mit Einpacken beschäftigt ist, das Kind des Herrn
Tretherick von dessen erster Frau, welches derselbe in den letzten Tagen zu
sich genommen hat. Das Kind sieht sie als seine neue Mama an und nähert
sich ihr zutraulich. Sie aber empfindet zunächst Widerwillen gegen die Kleine
und weist sie mit barschen Worten von sich weg. Später indeß sucht sie das
Kind, das inzwischen einsam in einem Dachkämmerchen gespielt hat, selbst
Wieder auf, um sich seine Lebensgeschichte erzählen zu lassen. Dabei ist sie
genöthigt,' Carry auf den Schooß zu nehmen, die, nachdem sie sich so geschmiegt,
daß sie ihren Arm halb um Frau Tretherick geschlungen und ihre Wange
an den Busen gelegt hat, einschläft. Und jetzt beginnt sich die gute Seite
in der leichtsinnigen, selbstsüchtigen Frau zu regen. Einen Augenblick sitzt
^ noch unbewegt da.
„Dann begann, ob nun eine verborgene Sympathie in der Berührung
wirkte, oder ob es etwas Anderes war — Gott wird es am Besten wissen —
plötzlich erwachter Gedanke sie zu durchzittern. Sie sing mit der Er¬
innerung an einen alten Schmerz an, den sie vergessen hatte, an einen alten
entsetzlichen Vorfall, den sie alle diese Jahre hindurch entschlossen aus ihrem
Gedächtniß verbannt hatte. Sie rief sich Tage der Krankheit und des Ver-
i^gens zurück, Tage, wo die Wolke der Furcht sie überschattet hatte. Tage
der Vorbereitung auf etwas, das verhüllt werden mußte — das wirklich unter
Todesangst und Furcht verhütet wurde. Sie dachte an ein Leben, das hätte
s^n können — sie wagte nicht zu sagen, das gewesen war — und fragte
^es, wie es gewesen sein würde. Es war sechs Jahre her — wenn es gelebt
hätte, würde es jetzt so alt wie Carry gewesen sein. Die Arme, die locker
^ das schlafende Kind geschlungen waren, begannen zu zittern, und die
^Mschlingung wurde inniger. Und nun kam der tiefe mächtige Antrieb, und
^ib schluchzend, halb seufzend streckte sie ihre Arme und zog den Körper des
sAcifenden Kindes dicht, dicht an ihre Brust, dichter und immer dichter und
^ser, als ob sie ihn in dem Grabe verbergen wollte, das dort vor Jahren
^graben worden. Und der Sturm, der sie geschüttelt, ging vorüber, und
arm — ach! — kam der Regen. Ein paar Tropfen fielen auf Carry's
°ekelt, und sie bewegre sich verdrießlich in ihrem Schlafe. Aber die Frau be¬
rechtigte sie wieder — es war jetzt so leicht — und sie saßen da so ruhig,
^ sie wie einverleibt hätten scheinen können in das einsame, schweigsame
<^aus mit seinen langsam hinschwindenden Sonnenstrahlen und der überall
" ihm herrschenden Verlassenheit und Verödung — aber es war eine Ver-
"ssenheit, die jetzt nichts von Alter, Verfall oder Verzweiflung mehr an
"es hatte."
Durch diesen Vorfall ist Carry der Frau für alle Zeit ans Herz ge-
Men. Sie entführt sie und flieht Nach Sacramento und San Francisco.
^ lebt für sie, sorgt für sie, läßt sie auch, als sie in Noth gerathen, nicht
^ sich, heirathet um ihretwillen, als Tretherick am Säuferwahnsinn gestor-
^ den Obersten Starbottle und ist außer sich, als sie das Kind nun doch'
bis zu seiner Mündigkeit an seine rechte Mütter abtreten muß, die nach dem
Osten verzogen ist.
Zehn Jahre später naht der Moment, wo Carry sich entscheiden muß,
wem sie angehören will, ob jener rechten Mutter, oder Frau Starbottle, die
sie unterdeß, wieder Wittwe geworden, und wieder in bedrängten Verhältnissen,
mit Aufopferung zu unterstützen fortgefahren hat, und die nun todtkrank
nach dem Orte kommt, wo Carry in einem Pensionat erzogen wird. Carry
hat sie inzwischen halb vergessen, sie neigt mehr zu ihrer rechten Mutter hin,
sie ahnt nicht, was die Stiefmutter für sie gesorgt und geopfert. Eine Schul¬
freundin hilft ihr indeß aus den rechten Weg, und Carry entscheidet sich,
Frau Starbottle zunächst zu sehen und dann wieder ihr Kind zu sein. Sie
ziehen mit dem Redacteur des Blättchens, das meist die Poesien der Dichte¬
rin gebracht, einem Freunde derselben, der sie von Californien als Helfer
und Berather nach dem Osten begleitet hat, in ein Landhäuschen, um den
Sommer und die Wiederkehr der Gesundheit von Frau Starbottle zu erwar-
ten. Aber statt dieser kommt der Tod.
„Plötzlich sank vom Himmel ein Tag so zart, so mystisch mild, so träu¬
merisch schön, so pulsirend, so lebendig vom Flattern unsichtbarer Schwingen,
so voll, so überströmend von einer erweckenden, freudenvoller Auferstehung,
wie sie die Menschen nicht lehren und Glaubensbekenntnisse nicht einschrän¬
ken, — daß man es für passend hielt, sie ins Freie zu tragen und in den
herrlichen Sonnenschein zu legen, der die glücklichen Fensterstürze und Thüren
wie mit den Feuertropfen einer Brandfackel beträufelte. Und da lag sie in
seliger Ruhe. Ermüdet von Nachtwachen, war Carry an ihrer Seite in
Schlaf gefallen, und Frau Starbottle's magere Finger lagen, wie um sie zu
segnen, auf ihrem Haupte. Bald darauf rief sie Jack (so heißt ihr Begleiter)
neben sich hin.
„Wer war das. die soeben hereinkam?" flüsterte sie. — „Fräulein
Corlear" (die Schulfreundin Carry's, die sie ihrer Stiefmutter wieder zugeführt
hat) sagte Jack, indem er dem fragenden Blicke in ihren großen hohlen An'
gen antwortete. — „Jack", sagte sie, nachdem sie einen Augenblick geschwiegen
„setze Dich einen Moment neben mich, lieber Jack, ich habe Dir etwas
sagen. Wenn ich Dir in früheren Tagen je hart oder kalt oder gefallsüch^l!
vorgekommen bin, so war es, weil ich Dich, Jack, zu sehr liebte, um Dein?
Zukunft dadurch zu stören, daß ich sie mit der meinen verband. Ich h"^
Dich immer geliebt, liebster Jack, und selbst dann, wo ich Deiner am wenig'
sten würdig schien. Das ist jetzt dahin, aber ich habe neulich einen Trau>"
gehabt, den Traum eines thörichten Weibes, daß Du, was mir mangelte,
ihr finden könntest", und sie blickte liebevoll auf das schlafende Mädchen ^
ihrer Seite — „daß Du sie lieben könntest, wie Du mich geliebt hast. ^
auch das soll nicht sein, Jack — nicht wahr?" und sie blickte ihm sehnsüchtig
fragend ins Gesicht — Jack drückte ihr die Hand, sprach aber nicht. — Nach¬
dem sie einen Augenblick geschwiegen, sagte sie wieder:
„Vielleicht hast Du Recht in Deiner Wahl. (Sie meint die Schulfreun¬
din Carry's.) Sie ist ein gutherziges Mädchen — Jack — aber ein wenig
dreist".
Und nach diesem letzten Aufflackern eines thörichten schwachen Menschen¬
geistes in ihrer, mit dem Tode ringenden Seele sprach sie nicht mehr. Als
sie einen Augenblick später zu ihr traten, flog ein kleines Vögelein, daß sich
auf ihre Brust niedergelassen, hinweg, und die Hand, die sie von Carry's
Kopfe hoben, fiel leblos an ihre Seite herab."
Die vierte Geschichte der neuen Sammlung „Ein ländlich Bild von
Monte Flat" erzählt uns. „wie der alte Plunkett heimging." Plunkett
ist ein Träumer. Lügner und Pläneschmied in einem kalifornischen Goldgrä¬
berlager, zu dessen Träumen und Plänen vor Allem der gehört, seine, in der
Heimath zurückgelassene Familie zu besuchen. Zehn ganze Jahre lang ist er
immer und immer wieder im Begriffe, „heimzugehen". Er will das, nachdem
er sich sechs Monate in Monte Flat aufgehalten. Er will es nach den ersten
Regengüssen, dann, wenn die Regenzeit vorüber ist, dann, wenn er das Holz
auf dem Kastanienhügel gefällt hat, wenn es wieder grüne Weide auf Dows
Rat giebt, wenn die Gesellschaft von Amittz Dites ihre erste Dividende giebt
u. s. w. Verschiedene Male hat er wirklich Versuche gemacht, nach dem Osten
5U reisen, aber immer ist die Sache schließlich unterblieben und Plunkett nach
kurzer Zeit wieder zu seinen Bekannten in Monte Flat zurückgekehrt. End¬
lich bleibt er bei einem solchen Versuche drei volle Jahre weg, und dießmal
will er wirklich bei den Seinigen in New-York gewesen sein und giebt ganz
genauen Bericht, wie er sie angetroffen. Seine Frau ist noch die böse
Sieben, die sie früher gewesen, seine Tochter, wie er durch deren Photo¬
graphie beweisen kann, aus einem kleinen Kinde zu einer holden Jungfrau
erwachsen. Aber lassen wir ihn die Hauptsache selbst erzählen:
„Seht Jhr's, Jungens, ich bin immer der Meinung gewesen, daß man
^ Stande sein muß, sein eigen Fleisch und Blut durch Jnstinct heraus zu
finden. 'S ist jetzt zehn Jahre her, daß ich mein Melindchen zuletzt gesehen
habe, und sie war damals erst sieben Jahre und etwa von dieser Höhe.
Mas that ich daher, als ich nach New-York ging? Ging ich schnurstracks
«ach meinem Hause und fragte nach meiner Frau und Tochter wie andere
Leute? Nein, ich zog mich wie ein Hausirer an — wie ein Hausirer, Jun-
Sens. und zog die Klingel. Als das Dienstmädchen an die Thür kam,
sagte ich — seht Jhr's wohl? — ich wollte den Damens ein paar hübsche
Sächelchen zeigen. Da kam eine Stimme über das Treppengeländer, die
sagt: Brauchen nichts nicht — schick ihn fort. Sag ich, indem ich »aus¬
sehe: hübsche Spitzen, Madamchen, Schmugglerwaare? — Packe dich fort,
elender Kerl, sagt sie. Ich kannte die Stimme, Jungens. 'S war meine
Frau natürlich, klar wie Kloßbrühe — da brauchte ich gar keinen Jnstinct
nicht dazu. 'S kann ja aber sein, sag ich, daß die jungen Damens was
brauchen. — Hast du gehört, was ich gesagt habe, sagt sie, und damit
springt sie auf mich los, und ich mache, daß ich fortkomme. Es ist zehn
Jahre her, Jungens, seit ich die Alte nicht gesehen habe, aber ich weiß
nicht, wie, als sie den Sprung that, machte ich natürlich, daß ich fortkam. —
Nun denn, indem ich mich ein oder zwei Tage dort herumtrieb, kriegte
ich zuletzt heraus, daß die nächste Woche Melindchens Geburtstag gefeiert
werden, und daß sie große Gesellschaft bei sich haben sollte. Ich sag' Euch,
Jungens, es sollte nicht lumpig bei dem Empfang hergehen. Das ganze
Haus war eine einzige Blume, so war es bekränzt, und es flammte von
Lichtern, und es gab kein Ende von Dienstvolk und Silberzeug und Er¬
frischungen und Kinkerlitzchen —" „Onkel Ion!" — „Nun." — „Wo kriegten
Sie denn das Geld dazu her?" — Plunkett warf dem, der ihn unterbrochen
einen strengen Blick zu. „Ich habe ja immer gesagt, daß ich, wie ich heim¬
reiste, eine Anweisung auf zehntausend Dollars vorausschickte. Ich habe das
immer gesagt, nicht wahr? Nun?" Seine gute Laune kehrte schnell zurück,
und mit einem leichten inwendigen Kichern fuhr er fort: „Ich ging in den
größten Juwelierladen der Stadt und kaufte ein Paar Diamantohrringe,
steckte sie in meine Tasche und ging nach dem Hause. „Ihr Name?" sagt
der Kerl, welcher mir die Thür aufmachte, und der wie ein Mittelding
zwischen einem Kellner und einem Pastor aussah. Skeesicks, sagte ich. Er
nimmt mich nun mit nein, und ziemlich bald kommt meine Frau in das
Empfangszimmer reingesegelt und sagt: Entschuldigen Sie, aber ich denke
nicht, daß ich den Namen kenne. Sie war schreckbar höflich; denn ich hatte
eine rothe Perücke auf und einen rothen Backenbart angemacht. — Ein
Freund Ihres Herrn Gemahls aus Californien, mit einem Präsent für Ihre
Tochter, Fräulein — und ich that, als ob ich den Namen vergessen hätte
Aber auf einmal sagte da 'ne Stimme: Na, das ist doch zu durchsichtig, und
herein kam Melindchen. Na, das heiß ich mir doch ziemlich schlecht Theater
spielen, Vater — zu thun, als ob Du den Namen Deiner Tochter nicht
wüßtest — ist's nicht wahr? Wie geht Dir's, Alter? Und damit reißt sie
mir die Perücke und den Backenbart herunter und fällt mir mit ausgebreiteten
Armen um den Hals — Jnstinct, Jungens, reiner Jnstinct."
Nicht viele Leute glauben dem Ulysses von Monte Flat diese Geschichte-
Ja eigentlich hält sie nur sein Freund Henry Uork für wahr, der sich in
aller Form sogar in Melinda verliebt. Eben soll auf das Zeugniß eines
Mannes hin, der Plunkett jene ganzen drei Jahre in Sonors gesehen, die
Lügenhaftigkeit des alten Aufschneiders constatirt werden, als Uork für ihn
eintritt, indem er versichert, ihm in Neuyork begegnet zu sein. Plunkett ist
hiervon so überrascht, daß er sich selbst für wahnsinnig hält und mit einem
Hilden Schrei in Krämpfen zu Boden sinkt. Als er in York's Hütte wieder
zu sich kommt, gewinnt er die Ueberzeugung, daß auch dieser die Unwahrheit
gesagt, als er ihn in Neuyork gesehen zu haben erklärt, und nun macht er
schlechte Witze, ohne zu empfinden, daß er auch seinen Freund getäuscht hat,
dem die Photographie Melinda's, die in Wahrheit die einer Schauspielerin in
San Francisco ist, inzwischen zu einem Idol geworden. Die rechte Photo¬
graphie findet sich unter Papieren, die den halbbetrunkenen Plunkett aus der
Tasche fallen, dazu ein Brief des Mädchens, und beide zeigen das reine
Gegentheil von leiblicher und geistiger Schönheit. Dennoch läßt Uork's gutes
Herz nicht von dem alten Lügenvater. Ein reicher Goldfund setzt ihn in
den Stand, nach Neuyork zu reisen, und von dort bringt er die Familie Plun-
kett's mit, in der Hoffnung, denselben damit zu erfreuen, aber mit üblem
Erfolg. Als die Frauen auf den Alten zueilen, bricht er in hellen Wahn¬
sinn aus.
„'s ist Alles Schwindel und Lüge!" schrie er. „Die sind nicht mein
Fleisch und Blut, nicht Verwandte von mir. Es ist nicht meine Frau und
ist nicht mein Kind. Meine Tochter ist ein schönes Mädchen — ein schönes
Mädchen — hört Jhr's wohl? Sie ist in Neuyork bei ihrer Mutter, und
ich bin im Begriffe, sie hierher zu holen. Ich sagte, ich wollte heimgehen,
und ich bin daheim gewesen — hört Jhr's wohl. — Ich bin zu Hause ge¬
wesen! Es ist eine niederträchtige Posse, die ihr mit mir altem Manne treibt,
^äßt mich gehen — hört Jhr's wohl? Haltet mir diese Frauenzimmer vom
Leibe! Laßt mich gehen. Ich gehe heim — ich gehe heim." — Er streckte
seine Arme krampfhaft in die Höhe und fiel auf den Boden hin. Sie hoben
ihn rasch auf, aber zu spät. Er war heimgegangen."-
„Sylvesters Kindchen", die nächste Erzählung, schildert in höchst
Ergötzlicher Weise die Geschichte eines jungen Bären, den der Verfasser sehr
lung in der Hütte eines Freundes im Gebirge kennen lernt, und mit dem er,
nachdem er ihn bei der Abreise jenes Freundes nach dem Osten als Pflege-
^ter zu sich ins Haus genommen, allerlei wunderliche und verdrießliche
Dinge erlebt.
„Wan Lee, der Heide" ist die Geschichte eines chinesischen Knaben,
der, unter den Zaubergesängen eines Taschenspielers auf geheimnißvolle Weise
^or den Augen des Verfassers entstanden, später dessen Lausbursche wird, als
solcher allerhand Unfug treibt, dann aber unter dem Einfluß eines kleinen
guten Mädchens sittlich zu gedeihen beginnt und jetzt ohne Zweifel ein respec-
kahler Jüngling sein würde, wenn er nicht in dem großen Pöbelaufstande,
der 1866 in San Francisco gegen die dort angesiedelten Söhne des himmlischen
Reichs der Mitte ausbrach, von christlichen Schulkindern zu Tode gesteinigt
worden wäre. Die Kellerscene in Hoy Sing's Laden, wo Man Lee durch
die Magie des Zauberkünstlers allmählich entsteht und. zuletzt als Homun-^
cuius unter der Decke hervortritt, ist im höchsten Grads spannend, und der
Contrast, in welchem das hochkomische, koboldartige Wesen des Knaben in
seiner Eigenschaft als Zeitungsausträger, dann als Setzer in der Druckerei
und als Diener des Redacteurs zu seinem tragischen Tode steht, kommt dem
Besten gleich, was Dickens in solchen Dingen geschaffen hat.
Die letzte Geschichte der Sammlung, „Der Narr von Five Forts",
erzählt von einem Goldgräber, der im Osten eine Liebe zurückgelassen hat,
immer und immer an sie schreibt, nimmer und nimmer Antwort bekommt
und dennoch weiter liebt und hofft. Die Kameraden halten ihn für einen
Menschen, der „einen Vogel hat", sie werden in dieser Meinung bestärkt, als
Cyrus den Ertrag eines reichen Goldfundes an die Geliebte schickt, das Geld
durch die Post zurück erhält und dennoch weiter hofft. Sie sind völlig von
seiner Narrheit überzeugt, als er, trotz dieser Narrhett immer glücklich in
seinen Unternehmungen, für das Weib seines Herzens auf einen Hügel über
seiner Blockhütte ein schönes Haus baut und mit allem Comfort der Gesittung
ausstattet. Der Zufall führt sie endlich nach der Wildniß von Five Forts,
aber sie ist verheirathet. Im Stollen eines Bergwerks erkennt er sie, als sie
ihn ansieht, ihren Gatten, der bei der Besichtigung desselben verschüttet
worden ist, zu retten. Er entspricht der Bitte — als echter Narr im Sinne
der Welt — und findet dabei selbst den Tod.
Wir wissen, daß wir mit diesen gerippeartigen Analysen keine genügende
Vorstellung von der Schönheit dieser Novellen geben können. Ihre Schön¬
heit liegt vorzüglich in den Einzelheiten, in der Ausführung, in der Ent¬
wickelung der Charaktere und Situationen, in der tief herauf flammenden
Aeußerung der Leidenschaften, in dem Hervorbrechen des göttlichen Funkens
aus der Nacht der Sünde und Schwäche, die der Verfasser mit so vollendeter
Meisterschaft schildert, und vor Allem auch in dem goldnen Humor, der die
tragischen Ereignisse als Folie allenthalben umgiebt und verklärt. Diesen
hier nicht wiederzugebenden Dingen im Buche selbst zu folgen, seien die
Leser dringend eingeladen; sie werden hohen Genuß finden und uns Dank
wissen.
Ein Beitrag zur socialen Frage.
Wenn man von Bologna aus nach Toscana kommt, die breite Heer¬
straße ein wenig verläßt, den Gallerien und Museen für einige Tage entsagt
und durch die Felder wandelt, um Landbau und Ackersleute dort zu beob¬
achten, so wird man daselbst neben einer großen administrativen Unordnung
und schweren Steuern einen weit verbreiteten Wohlstand finden, eine redliche
fleißige Bevölkerung, welche mit ihrem Schicksale zufrieden ist, und, wenn
man in eines der bequemen luftigen Bauernhäuser tritt und sich mit den
Bewohnern unterredet, erstaunt man über die Aufgewecktheit, den richtigen
Verstand, die Menge von praktischen Kenntnissen und die Höflichkeit der For¬
men , welchen man unter der rauhen Hülle begegnet. Hier ist keine Gefahr
von socialen Fragen, keine Drohung von Arbeitseinstellung, keine Möglichkeit
von Kämpfen mit „ti-aäes unions" der Bauern, hier kennt man keine
communistischen Bewegungen der internationalen Arbeiterverbindung. Steigt
Man vom Apennin zu den Hügeln hinab, welche Pistoia beherrschen, so wird
man von Bewunderung ergriffen, bei dem schönen Panorama, welches das
Arnothal bietet. Zu den Füßen sieht der Wanderer ein weites Land sich
dehnen, das ihm wie ein Garten bebaut erscheint; die nahen Hügel sind von
Weinbergen bedeckt und beschattet von dem bleichen, grauschimmernden Laube
Zahlloser Oelbaumpflanzungen. Die Ebene streckt sich weit hin und Ulmen,
Maulbeerbäume und Reben sind in langen Reihen den Myriaden von Grä¬
ben und kleinen Bächen entlang gepflanzt, welche die mit Korn. Mais, Boh¬
nen, u. s. w. besäten Felder theilen. Ueberall erheben sich Häuser und agra¬
rische Bauten, welche sich so dicht aneinander reihen, daß das ganze Land bis
an seinen fernen Horizont die ungeheuere Borstadt irgend einer Weltstadt zu
sein scheint. In dieser ganzen Ausdehnung erhält und zeigt sich die Kultur
der Wirthschaft zu halbem Antheil.
Die Arbeitsfrage und die verschiedenen Systeme der V erth eilung des
hervorgebrachten Reichthums beschäftigen seit dem Jahre 1866 alle Geister in
Deutschland und sind, wie im Ministerrathe und der Kammer, so in den
Lehrsälen der Universitäten, ein Gegenstand des Studiums und der Erwä¬
gung. Mittlerweile wird der Kampf zwischen dem Kapital und der Arbeit
immer erbitterter und beginnt eine politische Färbung anzunehmen, da er
die fortwährende Drohung eines neuen Barbareneinfalles in sich trägt,
welcher das ganze Gebäude der modernen Civilisation über den Haufen
werfen würde.
Unter den Heilmitteln, oder, wenn man will, Panaceen, welche Menschen¬
freunde vorgeschlagen oder geniale Neuerer unter den Kapitalisten versucht
haben, muß ohne Zweifel denjenigen der erste Platz eingeräumt werden,
welche dahin zielen, den Kampf zwischen den beiden Faktoren der Production
durch ein Bündniß zu ersetzen, welches aus der Gemeinschaftlichkeit des
Nutzens und zwar in der Form irgend eines Urtheiles der Arbeit an den
Resultaten der industriellen Unternehmungen entspringen. Eine solche besondere
Urtheilsform nun ist ein eigenthümlicher, ackerbaulicher Associationsvertrag,
die Antheilswirthschaft oder Halbpacht (Ne^Märig. v colonia pa^aria),
welche in Toscana in Blüthe steht. Es ist das Verdienst Karl Hille-
brand's in Florenz, daß er uns über diese Antheilswirthschaft die ein¬
gehendsten Informationen und die klarste Darstellung über deren Organisation,
Function und Resultate, deren Vortheile und Nachtheile giebt, indem er in dem
von ihm herausgegebenen ausgezeichneten Werke „Italia"*) aus der Feder
Sidney Sonnino's eine längere Abhandlung über diesen Gegenstand bringt,
in welcher diejenigen Leser, bei denen unsere Andeutungen die Lust wecken
sollten, weitere Studien dieses Gegenstandes zu machen, Stoff genug finden
werden, ihren Wunsch zu befriedigen.
Die Antheilswirthschaft (die „evlovm Mi-dia-ria" der Römer und der
„in6t^ÄAe" der Franzosen) ist jener agrarische Contract, vermittelst dessen
das jährliche Rohprodukt zur Hälfte zwischen dem Besitzer des Bodens und
dem Bebauer desselben getheilt wird. Die Nebenbedingungen sind unendlich
verschieden, was aber diese Form landwirtschaftlichen Verfahrens von jeder
andern unterscheidet, ist die Theilung des Schadens und des Ge¬
winnes zwischen dem Arbeiter und dem Eigenthümer. In der
Pacht für eine jährliche bestimmte Summe hingegen bleibt die Einnahme des
Besitzers immer dieselbe, während der Ackersmann alle möglichen Verluste
zu tragen hat; und andererseits wieder, bei der Bodenbearbeitung aus eigene
Kosten durch den Besitzer, fällt ihm aller Nachtheil und aller Vortheil zu,
indeß der Arbeitslohn für den Bauern derselbe bleibt. Diesen festen Sold
für den Arbeiter findet man auch in der Pacht im weitesten Umfange, und
hier ist es dann ein dritter Kapitalist, welcher allen Gewinn und allen Ver¬
lust des Unternehmens auf sich nimmt.
Dem in Rede stehenden Antheilssysteme begegnet man nur im Süden
Europas und vorzüglich im südlichen Frankreich, an einigen Punkten Ara-
goniens und Cataloniens und in verschiedenen Provinzen von Ober- Mittel-
und Süditalien.**) Nach und nach hat es sich noch enger begrenzt und in
einigen Gegenden z. B. Frankreichs, verschwindet es allgemach ganz, um der
Pacht oder der Selbstbestellung der Felder Platz zu machen.-) Wir beschränken
uns jedoch hier nur darauf, diesen landwirthschaftlichen Vertrag in seiner
gelungensten Form, in Toscana zu betrachten, wo er mehr als Alles andere da¬
zu beigetragen hat, das Land in einen förmlichen Garten zu verwandeln, in¬
dem er es mit einer Kultur ausgestattet, die den Vergleich mit derjenigen
der hindersten und vorgeschrittensten Länder Europas aushalten kann.
Das Land ist in eine Menge von Parzellen getheilt, welche man Güter
(poclizri) nennt; jedes wird von einer Bauernfamilie bearbeitet, zu deren Er¬
haltung es ausreicht. Das toscanische Landgut ist sehr verschieden an Größe,
und mit dieser wechselt auch die Größe der dasselbe bedauerten Familie.
Jedes Bauerngut hat sein Haus, das einen Keller für die Weinkufen und
einen Stall für das Vieh enthält; neben dem Hause steht ein Schuppen für
die Futterkräuter und ein Düngerhaufen. Die Wohnhäuser sind geräumig
und bequem; sie bestehen aus einer Küche und mehreren Schlafzimmern, je
nach der Zahl der Familienmitglieder. Diese sind der Autorität Eines von
ihnen unterworfen, dem Vater oder einem der Brüder, gemeiniglich dem
^echten, welcher „eaxoeeia," genannt wird und der die Familie dem Besitzer
des Bodens gegenüber vertritt, wie auch in allen gemeinschaftlichen Beziehungen
wie Dritten oder mit den administrativen und politischen Obrigkeiten. Sein
Weib, die „massais," oder irgend eine Frau des Hauses, wenn er unver¬
heiratet ist, besorgt die äußere und innere Wirthschaft. Der Besitzer des
Bodens hat das Recht den Oaxoeeil», zu wählen, ihn abzusetzen und zu ver¬
ändern; da der Bertrag jedoch ein völlig freier, so ist jene Wahl immer das
Resultat eines gegenseitigen Uebereinkommens, sei es eines stillschweigenden
^er eines ausgesprochenen. Das ganze Jahr hindurch ist die Familie mit
den Arbeiten des Gutes beschäftigt und in dem Augenblicke, wo sie besonderer
Hilfe bedarf, ruft sie Taglöhner herbei. Manchmal, wenn die beständige
Arbeit den Familiengliedern zu viel wird, nimmt der vapoooia eher einen
Knecht in seinen Dienst, als daß er zugäbe ein Feld zu verlieren. Dieser
^ohne mit den Andern des Hauses, arbeitet und ißt mit ihnen, und hat
^'nen jährlichen Lohn von ungefähr 110 Mark, während noch einige kleine
Ausgaben für ihn bezahlt werden.
Die eine Hälfte aller Einkünfte des Gutes gehört dem Bauern als Lohn
seiner Arbeit und er behält ihn in Producten; die andere Hälfte fällt dem
H^rü zu. Der Bauer ist überdies zu einer gewissen Anzahl von Obliegen¬
heiten verpflichtet, welche theilweise in Dienstleistungen, theilweise in Abgaben
^n^Hühnern, Eiern, Schinken, in für das Herrenhaus zu bestreitender
Wäsche und ähnlichen Lasten bestehen. Diese Nebenverpflichtungen sind ver¬
schieden je nach dem Gute und diesem solchergestalt anhängig, daß, wenn
eine Bauernfamilie eine andere auf einem Gute ersetzt, sie zugleich alle jene
Verbindlichkeiten auf sich nimmt, welche nicht einmal jedes Mal eigens aus¬
gemacht werden, sondern seit undenklicher Zeit festgesetzt sind. Sie stellen
das Pachtgeld für die Wohnung vor und dienen auch dazu, das Verhältniß
der Arbeiter auf den verschiedenen Gütern auszugleichen, indem sie, theilweise
wenigstens, die Verschiedenheit derselben an Fruchtbarkeit und Lage aufheben.
Ein Theil der von dem Bauern zu leistenden Arbeit besteht in dem Unter¬
halten der Baumkultur; eine gewisse Bearbeitung und eine bestimmte Anzahl
von neuen Pflanzungen müssen das jährliche Herabkommen und Absterben
der alten Stämme, welchen die Jahre oder das Unwetter zusetzen, aufhalten
und dem dadurch möglichen Schaden vorbeugen. Gleicherweise wird der Bauer
angehalten, eine gewisse Anzahl von Kubikmetern Gräben für Oelbäume
und Weinstöcke herzustellen. Wenn die nebensächlichen Verträge nicht erfüllt
werden, sei es, daß kein Bedürfniß danach stattfinde, sei es wegen anderer
Gründe, so werden sie mit Geld abgelöst, je nach den herkömmlichen Normen.
Tritt jedoch wieder der Fall ein, daß der Grundbesitzer der Arbeit des Bauern
benöthigt wäre und zwar außerhalb des Gutes, oder in Leistungen, welche
keine Schuldigkeit für ihn ausmachten, dann muß er ihm einen bestimmten
Tagelohn auszahlen. Im Durchschnitt lohnt man im Arnothale die Tages¬
arbeit eines Mannes mit einer Mark und wenn er des Ochsenkarrens dazu
bedarf, mit 2 oder 3 Mark. Ueberdies geschehen alle Ausgaben für neue
Bearbeitungen und für auf dem Gute ausgeführte Verbesserungen durchaus
aus Kosten des Grundbesitzers. Dieser führt eine laufende Rechnung mit dem
Bauern, welche mit einer Abschätzung des Inventariums, des belebten wie
des todten beginnt, das sich bei der Uebernahme des Grundstückes- dort
befand, also des Viehes, der Saat, des Düngers, der Strohvorräthe, der
Karren u. s. w. Diese bilden das gemeinschaftliche Betriebscapital und wer¬
den zur Hälfte dem Bauern als Schuld aufgezeichnet. In der Folge schreibt
man ihm alle die Summen zu Gute, welche ihm für außerordentliche Arbeit
zustehen und ebenso diejenigen, welche von Unternehmungen, die auf gemein'
schaftliche Kosten auszuführen sind, als Gewinn abgeworfen werden. Als
Schuld verzeichnet man ihm dagegen alle nicht eingehaltenen Leistungen und
die in schlechten Jahren ihm vom Herrn vorgeschossenen Summen, welche zur
Erhaltung der Bauernfamilie dienten und überdies noch die Hälfte des Capt"
kath, welches zur Bearbeitung des Gutes und zu den nebensächlichen Erwerbs'
zweigen benützt wird. Dieses ganze Kapital legt der Herr aus und der
Bauer bezahlt es nie, sondern erfährt nur nach beendeter Unternehmung, toe>s
ihm zukommt, aus den Rechnungen, wo Gewinn und Verlust eingetragen
sind. So z. B. wird die Saat gemeinschaftlich verrechnet und vor der Thei¬
lung von der ganzen Ernte abgezogen. Dasselbe gilt von dem Preise des
gekauften Viehes oder der Seidenwürmer; bei Beiden gibt der Bauer Nichts aus,
aber er leistet die nöthige Arbeit und steht in den Büchern als Asso¬
cie für die Hälfte. Als Besonderheit ist zu bemerken, daß weder für
das Guthaben, noch für die Schuld, zwischen dem Herrn und dem Bauern
je von Zinsen die Rede ist. Alle Steuern, und sie sind nicht wenige, noch
leichte, welche den Boden belasten, wie die Grundsteuer, die Steuer aus die
Gebäude, die für die Association, fallen allein dem Gutsherrn zu. Durch
das Gesetz von 1870 hat man ihn sogar verpflichtet, dem Steuereinnehmer
die vom Bauern geschuldete Steuer für das bewegliche Eigenthum vorauszu¬
zahlen, mit dem Rechte, sich später so gut er kann bezahlt zu machen.
Wenn eine gewisse Anzahl von Gütern, welche nicht zu entfernt von ein¬
ander liegen, demselben Eigenthümer gehören, werden sie in einer einzigen,
centralen Verwaltung vereinigt und bilden einen Meierhof lMtoris,). An
ihrer Spitze steht der Verwalter (tattore), welcher den Herrn repräsentirt und
die ganze Administration und Oberaufsicht in Händen hat. Neben ihm herrscht
die Verwalterin lMtorvssa) und je nach der Bedeutung des Meierhofes ein
oder zwei Unterverwalter. Der Verwalter führt Buch mit den Bauern, leitet
die Verbesserungsarbeiten und die neuen Bauten; er besorgt die Theilung der
Produkte, verkauft dieselben auf den Märkten, hält die Vorrathshäuser unter
Verschluß und überwacht selbst oder vermittelst seiner Untergebenen die Be¬
arbeitung jener Parzellen, welche er für den Herrn zurückgehalten und als
Weinberg oder in anderer, für nützlich erachteten Weise von Tagelöhnern,
ohne Dazwischenkamst des Bauern oder Pächters, bebauen läßt. In kleinen
Dleierhöfen besorgt oft der Eigenthümer selbst die Geschäfte der Verwaltung,
indem er sich nur von einem Unterverwalter unterstützen läßt. Die Klasse
der Verwalter spielt auf dem Lande eine wichtige Rolle. Ungeachtet des
Mangels agrarischer Institute, wo die Praxis neben der Theorie gelehrt wird,
besitzen sie größtentheils hinreichende Kenntnisse und große Erfahrung. Sie
ehalten geringe Besoldungen, aber ihre Stellung bietet ihnen vielerlei
Ersatz und sie genießen im Lande, als Klasse, eine verdiente Autorität,
Welche Einige noch durch das Verdienst persönlicher Eigenschaften zu ver-
größern wissen.
Außer den Erwerbsquellen, welche der Bauer auf gemeinschaftliche Rech¬
nung mit dem Besitzer des Bodens ausnützt, giebt es noch einige andere,
deren Ertrag der Bauernfamilie allein zufließt. So beschäftigen sich an
einigen Orten die Weiber mit Weben, und die Produktion der rohen Lein¬
wand ist sogar bedeutend. Andere Gemeinden, welche Florenz näher liegen,
betreiben das Strohflechten zur Anfertigung von Hüten in weitem Umfange.
Mit dieser Beschäftigung kann ein kleines Mädchen ungefähr 20 Centimes
täglich erwerben, und die geschicktesten sogar eine halbe Lira. Diese Einnahme
an sich ist freilich gering, aber sie hilft aus, und da das Strohflechten von
den Weibern zu jeder Zeit betrieben werden kann, Morgens und Abends,
sprechend, gehend oder beim Bestellen der häuslichen Arbeiten, so ist sie reiner
Gewinn. Zu diesen Einkünften, die je nach den verschiedenen Orten abwech¬
seln, gesellen sich andere kleinere, welche von den Hühnern, die die Wirthin
hält, herrühren, von dem Schweine, welches dem Herrn nur die Abgabe eines
Schinkens zollt, von den Bienen und anderen Kleinigkeiten. Jeder Landbauer
hat überdies ein kleines Stück Land, welches an das Haus stößt, wo er Ge¬
müse zur Ernährung der Familie anbaut und dessen Vollertrag ihm
allein zufällt.
Wein und Oel werden in den Gefäßen und mit den Werkzeugen des
Herrn bereitet und diese Arbeit überwacht der Verwalter. Für den Gebrauch
jener Geräthschaften giebt der Ackersmann von seiner Hälfte des Erzeugnisses
eine gewisse Quantität, ungefähr S yet. ab, mit dem Unterschiede, daß beim
Wein die Trestern ihm verbleiben, während die ausgepreßten Olivenschalen
dem Herrn zukommen. Den Trestern gewinnt der Landmann, durch Bei¬
mischung von Wasser, den Lauer ab, welcher der Familie zum Getränke
dient, denn natürlich zieht er vor, den guten Wein auf dem Markte zu
verkaufen.
Kaum ist die Ernte eingebracht, so beginnt auch die Theilung derselben
zwischen dem Grundherrn und dem Bauern. Jeder von ihnen sorgt dann
selbst für den Verkauf auf den Märkten. Der Ackersmann behält zu seiner
Nahrung einen Theil des Getreides oder auch sämmtliches zurück , und ver¬
kauft den Wein, um die persönlichen Staats- wie Gemeindesteuern zu zahlen
und andere Kosten zu bestreiten. Alljährlich geschieht am 31. Mai, oder am
30. Juni die Abrechnung mit dem Bauern. Das heißt: zwischen dem Herrn
und dem Bauern werden, nach gemeinschaftlicher Übereinkunft, 'die lau¬
fenden Rechnungen des Jahres geschlossen und neue eröffnet, nachdem man
genau die Schuld und das Guthaben eines Jeden von ihnen festgestellt hat.
Die ungemeine Mannigfaltigkeit des toscanischen Landbaues hat zur
Folge, daß der Bauer während des ganzen Jahres eine fortdauernde Be¬
schäftigung auf seinem Grundstücke findet; dieser Umstand ist wichtig und
verdient besonders im Auge behalten zu werden, als einer der Hauptgründe
sür die Verschiedenheit des Erfolges, den das System der Antheilswirthschast
in dieser und in anderen Gegenden hat.
Die Weiber helfen bei den leichteren Feldarbeiten. Im Verein mit den
Kindern überwachen sie Tags über vor der Weinlese die reifen Trauben,
sammeln die herabgefallenen Oliven, u. f. w. Sie spinnen und weben, helfen
bei der Pflege des Seidenwurms; besorgen die Kühe und die Geschäfte des
Hauses. Wenn die Mädchen heirathen, erhalten sie immer das Bett und
eine gute Ausstattung nebst einer Summe an Geld. Die Heirathen werden
jedoch durch die Erfordernisse des Grundstückes geregelt und wenn der Bräu¬
tigam noch keines hat, auf welches er seine Frau führen könnte, oder wenn
dasjenige seiner Familie keine Vermehrung ihrer Glieder erlaubt, dann wird
die Verbindung nicht geschlossen, oder in eine ferne Zukunft hinausgeschoben.
Hier handelt man also ganz anders, als die Arbeiter in der Stadt, oder die
Taglöhner auf dem Lande; ohne Malthus studirt zu haben, befolgt man
seinen Rath und sucht die Mittel zur Existenz zu sichern, ehe man in den
Fall kommt, neue Verzehrer ernähren zu müssen. Das Antheilssystem
übt also einen Einfluß auf die Gesetze der Bevölkerung aus,
und hebt theilweise den Druck der Concurrenz auf, welche bei mangelndem
Kapital damit endet, daß der Lohn der Arbeit vermindert wird.
Der tosccmische Halbpächter nährt sich gut von Getreide, Mais und
Kastanien. Die „pellaN's.«, eine eigenthümliche Hautkrankheit, ist dort fast
unbekannt oder herrscht wenigstens nicht wie an vielen Punkten der Lombardei.
Er trinkt Lauer, welchen er den Weintrestern entnimmt. In den letzten
Jahren ist der Preis des Fleisches zu einer solchen Höhe gestiegen, daß es
den Bauern unmöglich ist, sich davon zu ernähren; ausnahmsweise geschieht
es in der Erntezeit und während der anstrengenden Arbeiten. Nur die
Wohlhabendsten genießen am Sonntage ein wenig Fleisch. Die Speisen
werden mit Oel gewürzt. Die Mahlsteuer, welche im Jahre 1869 einge-
führt worden, drückt schwer auf dem Bauer, welcher, da er das eigene Korn
ZU eigenem Verbrauch mahlen lassen muß, die ganze Steuer erlegt, wenn er
^ oder 3 mal im Jahre seine Kornsäcke zur Mühle trägt. Der Kontrakt
Antheilssystems ist ein jährlicher, der sich stillschweigend bis in das unend¬
liche erneuern würde, wenn nicht eine der Parteien ihn aufkündigte. Es giebt
^auernfamilien, welche dasselbe Gut seit undenklichen Zeiten bearbeiten und
andere, deren Anwesenheit auf demselben Gute urkundlich auf mehr als
^el Jahrhunderte zurückgeführt werden kann. Sie bestellen ihr Stück Boden
^her mit der ganzen Anhänglichkeit eines Eigenthümers und mit all dem
^'sser, welches eine lange Erfahrung lehrt.")
Wenn man den toscanischen Feldbau nicht aufmerksam geprüft hat, kann
Man sich xeinen angemessenen Begriff von den Wunderwerken einsichtsvoller
Arbeit machen, welche darauf verwendet worden und noch verwendet werden
Müssen. Die Leitung des Wassers allein in dem von Hügeln unterbrochenen
Erdreich und bei den häufigen Platzregengüssen des dortigen Klimas verlangt
eine so beständige Aufmerksamkeit und eine solche Fülle von Sorgfalt, die kein
Pächter, für den es sich ja nur um eine unmittelbare Zukunft handelt, an¬
wenden würde. Auch in der Zeit, welche der Weinlese vorangeht, muß man
sehen, welch ein Leben diese armen Bauern freiwillig führen. Nach der
mühsamen Arbeit des Tages, stehen sie die ganze Nacht durch Wache, weil
sonst Felddiebe sich der Trauben bemächtigen. Wir glauben, daß man eine
ähnliche Aufopferung, einen ähnlichen Eifer schwerlich bei Leuten finden würde,
die um Tagelohn arbeiten.
In Toscana ist der Besitz im Allgemeinen weder klein noch groß, aber
mittelst des Antheilssystems kann selbst der große Besitz eine Bearbeitung im
Kleinen erfahren, während der Nachtheil, den diese bietet, wenn sie Folge
Baedeker's London. Leipzig 1875, Verlag von Karl Baedeker. Fünfte ncubear-
beitete Auflage.
Wie Baedeker überall in allen seinen vielen Reisehandbüchern sich stets bemüht,
alle nur irgend möglichen, für das reisende Publikum wichtigen Neuerungen
auszunehmen und Verbesserungen einzuführen, ist wohl so allgemein anerkannt,
daß es gar nicht anders zu erwarten war, als daß auch die neue Auflage
dieses Buches sehr wesentliche Verbesserungen und erfreuliche Zuthaten gegen
die letzte aus dem Jahr 1871 stammende Auflage aufzuweisen hat.
Diese rühmenswerthe Aufmerksamkeit des Herrn Verlegers weiß das
reisende Publikum aller Länder aber auch sehr wohl zu würdigen. Trotz der
lebhaftesten Concurrenz, die sich vielfach, im Gegensatz zu dem universellen
Charakter der Baedeker'schen Bücher, derart auf Spezialitäten legt, daß man
meinen möchte, sie müßte hierin Siegerin bleiben, werden doch die „Bae¬
deker" nach wie vor die beliebtesten Reisehandbücher bleiben und zwar no
so mehr, als der Verleger gerade von seinen Rivalen sehr wohl zu lernen weG
wo es etwas zu lernen giebt.
Auch das vorliegende Buch giebt hiervon mehr wie einen Beweis. Wäh¬
rend z. B. in der 4. Auflage noch der Ansicht gehuldigt war, ein Verzeichn^
der Omnibuslinien gewähre dem Fremden keinen Nutzen, ist jetzt ein solches
Verzeichniß beigefügt und wir möchten hier gleich noch den Wunsch auszu-
sprechen uns erlauben, es möchten in Zukunft sowohl die Hauptomnibuslinien,
als auch die Pferdeeisenbahnen in dem Spezialpläne von London dargestellt
werden, wie solches von anderer Seite schon wiederholt mit sichtlichem Erfolge
in Plänen der englischen Hauptstadt geschehen ist. Eine derartige Darstellung
erleichtert die Orientirung ganz bedeutend und wirkt besonders dann sehr vor¬
theilhaft, wenn man in der Orientirung in dem Labyrinth der Straßen und
Gassen schon etwas vorgeschritten ist und in Folge dessen auch gerade dann
eine Orientirungskarte am meisten mit Vortheil verwerthen kann.
Trotz einer sehr bedeutenden Vermehrung des Inhaltes dieser 5. Auflage
gegen die 4. ist doch das Buch zu seinem und der Reisenden Vortheil nicht
umfangreicher geworden und ist das theils durch gutangebrachte Kürzungen,
vor allen Dingen aber dadurch geschehen, daß bei der Beschreibung der Sehens¬
würdigkeiten das Unwesentlichere enger gedruckt und daher auch bei flüchtigem
Besuch leichter zu überschlagen ist.
Unter den genannten Kürzungen ist nur eine, die wir bedauern müssen,
nämlich das Weglassen des früher in der Zeiteintheilung gegebenen Dispo-
fitionsplanes. Wenn derselbe wohl auch niemals von Fremden stritte durch¬
geführt worden ist, und das war ja auch niemals sein Zweck, so hat er doch
sicherlich dazu gedient, dem Reisenden stets sofort die noch nicht besichtigten
Sehenswürdigkeiten finden zu lassen, während das leider jetzt nicht mehr so
leicht möglich ist. Allerdings ist dafür die jetzt beobachtete Reihenfolge der
Sehenswürdigkeiten, das Bekanntmachen mit den Straßen und deren Leben und
das Durchführen durch dieselben gegen früher viel systematischer geordnet, so
^ß man den oben gerügten Verlust wohl wird verschmerzen können, ein Ver¬
lust aber bleibt es darum doch immer.
Außer sehr schätzenswerthen neuen Karten und Plänen von Sehens¬
würdigkeiten und Sammlungen Londons selbst, unter denen besonders die
Pauls-Cathedrale, der Tower und die Nationalgallerie zu nennen sind, ist die
vorliegende 5. Auflage auch durch mehrere Ausflüge in die so schöne Umgebung
Londons bereichert. Bei dieser Gelegenheit können wir leider nicht umhin,
unser Bedauern darüber auszusprechen, daß die kleine sonst vorzügliche Eisen-
vahnkarte Londons, welche dem Buch beigegeben ist, diesen Ausflügen nicht
wehr Rechnung trägt und ihren Rayon nicht bis nach Greenwich. Richmond,
den Krystall-Palast hin erstreckt und dabei gleichzeitig nach Art jener großen,
aber wegen ihres Umfanges auf der Straße und im Eisenbahnwagen unbrauch¬
baren Karte eingerichtet ist, die man für 1 ä. an sämmtlichen Londoner
Villetcassen kaufen kann, und aus welcher auch ersichtlich ist, wo man um¬
steigen muß, Anschlusse erreicht oder dergl. in. Ueberhaupt hätte Baedeker
auf die Stadteisenbahnen etwas mehr Raum verwenden können, denn sie sind
für den Fremden doch von außerordentlicher Wichtigkeit und Annehmlichkeit;
vor allen Dingen hätten diejenigen Stationen derselben hervorgehoben werden
müssen, von denen aus ein directer Verkehr nach den Provinzen stattfindet
und umgekehrt.
Doch trotz dieser kleinen Mängel ist das Buch ein vortrefflicher Führer
durch die englische Metropole und noch über dieselbe hinaus in die englischen
und schottischen Provinzen. Auch in dieser letzteren Hinsicht ist die neue Auflage
wesentlich vermehrt, besonders durch die ausführliche Behandlung der zwei
englischen Universitäten und durch die Beifügung einer Karte der Isis c>k
^Vigltt. Wir führen auch diese Mängel nicht an, um zu mäkeln, sondern
glauben dadurch vielleicht für spätere Bearbeitungen einige Fingerzeige noch
weiterer Verbesserung gegeben zu haben. Jetzt fängt die schöne Reisezeit,
besonders für England an. Mögen recht viele Landsleute an der Hand dieses
Buches dieses so überaus interessante Land eines Besuches würdigen, sie wer¬
den daselbst — Dank 1870 und 71 — auch öfter mit ihrer Muttersprache
durchkommen, als Baedeker sagt, und können auch, trotz diesem, in allen
LmoKing-Lompartmvnts der Londoner unterirdischen Eisenbahnen in aller
Ruhe ihr Pfeifchen oder ihre Cigarre rauchen, was der Deutsche ja nun ein¬
Das soeben erschienene achte Heft des General se abswerkes über
den deutsch-französischen Krieg (Berlin, E. S. Mittler u. Sohn),
das wir selbstverständlich noch eingehender besprechen werden, bringt die Dar¬
stellung der Schlacht von Sedan. Das Heft zerfällt naturgemäß in drei
Abtheilungen. Die Kämpfe des Vormittags (1. September 1870) führen zur
Umzingelung der französischen Armeen durch die deutschen, alle Versuche des
Feindes, den festen Ring zu durchbrechen, scheitern. Dann die Ereignisse des
Abends. Kaiser Napoleon giebt sich gefangen — sein bekannter Brief an
König Wilhelm ist dem Hefte facsimilirt beigegeben — und die Armee tritt
in Kapitulationsverhandlungen. Die weltgeschichtlichen Ereignisse des 2. Sep¬
tember werden im 3. Abschnitt des Heftes dargestellt. Die beiden großen
Karten zeigen die Entwickelung der siegreichen Schlacht, indem sie die Stel¬
lung der Armeen mitten in den Kämpfen des Vormittags, und dann nach
festgeschlossener Umzingelung der Franzosen bezeichnen. Das höchste Interesse
werden jedoch die „Schlußbetrachtungen" finden, („Rückblick auf den zehn¬
tägigen Feldzug gegen die Armee von ClMons" S. 1297 — 130L), in welchen
der kühn gefaßte und mit genialer Einsicht durchgeführte Operationsplan des
deutschen Hauptquartiers in seinem inneren Zusammenhange und in den
einzelnen Momenten seiner Entwicklung in einfachen Zügen dargelegt und
Jedermann in seiner ganzen Größe verständlich wird. Für den großen Na-
lionalfesttag der Deutschen wird dieses achte Heft des deutschen Generalstabs¬
werkes, besonders durch seine ,,Schlußbetrachtungc-n", noch in Jahrzehnten
die lauterste Quelle correcter, historischer Auffassung und begründetster Be¬
geisterung sein.
Die siegreichen Franzosen gaben sich mit voller Seele und ohne Rückhalt
allen Wollüsten des wundervollen Klimas von Neapel hin. Der Ueberfluß
vortrefflicher Weine, die Mannigfaltigkeit und Billigkeit der Früchte gewöhn¬
ten den gemeinen Mann an Genüsse, von denen er sich bisher nichts hatte
träumen lassen. Niemand dachte mehr an die großartig-phantastischen Pläne
gegen den türkischen Orient, mit denen es allerdings wohl niemals Ernst ge-
gewesen; aber es hatte auch niemand Lust, sich in Italien selbst irgend wel¬
chen neuen Mühen oder Kämpfen auszusetzen. Die allgemeine Trunkenheit
ging so weit, daß auch nicht die geringste Maßregel getroffen wurde, um die
glänzende Eroberung, die ein unerhörtes Glück den Franzosen zugetheilt, zu
sichern und zu erhalten. Ihr ganzer Aufenthalt in Neapel war eine einzige
lange Orgie. Charles VIII. selbst faßte seine Rolle vom niedrigsten Stand¬
punkt auf. Unfähig die Erhabenheit der Stellung zu begreifen, in welche ihn
der Zufall oder die göttliche Fügung versetzt, lebte er lediglich seinen Lüsten.
Kein Held, wie Charlemagne, den er sich in romantischen Träumen zum
Vorbild aufgestellt, kein Staatsmann wie Louis XI. sein Vater, wußte er
weder zu imponiren noch zu gewinnen. Ungebildet und häßlich flößte er den
virtuosen Lebenskünstlern, welche in dem Italien der aufblühenden Re¬
naissance so harmonische Persönlichkeiten darstellten, bald genug Abneigung
und Widerwillen ein.
Während also Charles im Vollgefühle seines Sieges die Zeit in schwelge¬
rischen Festen und üppigem Nichtsthun verlor und durch die Art, wie er mit
den eingezogenen Gütern verfuhr, sich sehr viel Feinde machte, thürmten sich
5" seinem Rücken Gefahren, die ihn nicht allein zwingen sollten, jenen Träume¬
reien in Bezug auf die Eroberung Konstantinopels zu entsagen, sondern ihn
auch nöthigten, unverzüglich den. Rückzug nach den äußersten nördlichen
Grenzen Italiens anzutreten, von wo er zu seinem Zuge ausgegangen. Die
Eroberung Italiens hatte auf Europa im ersten Augenblicke wie ein Blitzstrahl
gewirkt. Aber nachdem die erste Blendung vorüber, begann man, sick? zu
sammeln und das Ereigniß scharf ins Auge zu fassen. Mailand, Venedig
und der Papst vermochten keineswegs die Unternehmungen des jungen Königs
mit gleichgiltigen Augen anzuschauen. Die Republik Venedig hatte dem
Kriege nur deshalb unthätig zugesehn, um während der Dauer desselben in
Apulien und Calabrien Stapelplätze zu erwerben; eine so unerwartet rasche
Beendigung des Kampfes stand aber solchen Ansprüchen völlig entgegen.
Der Papst war leidenschaftlich aufgebracht gegen Charles VIII., zumal sich
einige der edleren Cardinäle um den König gesammelt hatten, welche ihn
zur Reinigung der im tiefsten Verfalle liegenden römischen Kirche drängten. —
Das Glück der Franzosen hatte endlich auch die Spanier und Deutsch¬
lands Kaiser gegen sie in die Schranken gerufen. Vornehmlich aber war die¬
ser Rückschlag das Werk desselben Fürsten, welcher sie nach Neapel gerufen:
Lodovico's von Mailand. Schon die französische Besetzung Pisas und der
florentinischen Festen hatte seine Unzufriedenheit erregt; jetzt war ihm, unter
dem Vorwande, die Eroberung Neapels sei noch nicht vollendet, das ihm ver¬
sprochene Fürstenthum Tarent vorenthalten, und als nun gar der in Asti zu¬
rückgebliebene Herzog von Orleans, welcher als Enkel der Valentin« Visconti
Ansprüche auf Mailand zu besitzen meinte, den Titel eines Herzogs von Mai¬
land annahm — da blieb Ludovico Moro kaum etwas Anderes übrig, als
Partei gegen Frankreich zu nehmen, und seiner rührigen Energie ist das
schnelle Zusammenkommen des Bündnisses unsraglich zu verdanken. Man
kam überein, 34,000 Pferde und 20,000 Fußknechte aufzustellen, nämlich der
Papst 4000 Reiter, Maximilian 6000, der König von Spanien der Herzog von
Mailand und die Republik Venedig je 8000. Außerdem sollte jeder der Verbün¬
deten 4000 Mann zu Fuß aufbringen. Daneben wollte Spanien, 60, Venedig
40 Galeeren in Dienst stellen, um die Unternehmungen der Landheere zu
unterstützen und die befestigten Seeplätze Neapels, welche in französischen
Händen seien, zurück zu erobern. Am 31. Mai 1495 wurde die Liga zu Charles'
Vertreibung aus Italien abgeschlossen und seinem Gesandten in Venedig,
dem berühmten Historiker Commes, verkündigt. „Im Namen der heiligen
Dreifaltigkeit", ward ihm gesagt, „habe die Signoria mit dem Papste, den
Herren von Deutschland und Castilien, so wie mit dem Herzoge von Mailand,
zu folgendem Ende unterhandelt: die Christenheit gegen den Großtürken zu
schützen; Italien gegen jeden Einfall jedes Fremden zu vertheidigen, und end¬
lich sich ihre Staaten gegenseitig zu garantiren."
Der Unternehmung Charles' VIII. war hiermit das Urtheil gesprochen,
um somehr als sein und seines Heeres schamloses und freches Auftreten in
Unteritalien ihm die Sympathien des getäuschten Adels und des gedrückten
Volkes eben so schnell entzog, als er sie gewonnen hatte. Denn in seinen
Gunstbezeigungen gegen Cavaliere seines persönlichen Gefolges war der König
äußerst verschwenderisch und rücksichtslos gewesen. De. Vesc war Herzog von
Nola und Gouverneur von Gaeta geworden; die Andern hatten unter sich die
Staatsländereien, ja selbst die Magazine getheilt, die sie auf ihre Rechnung
verkaufen durften, so wie die Waffen und Vorräthe der Festungen. „OKa<zu<z
l'our, sagt Segur, u,u Isver An prinev, on vit nos e^xitaines, 1'veil Al-aere
ruMee, leg unius trui^necs <is eonvoitisö, se partuger los emxlois vt
äiZmtus, s'Al'i'Aelter les unes ÄMÄrten^in aux NAtionaux." Für die
Eingebornen blieb daher wenig-oder nichts übrig; noch dazu wurden sie mit
Insolenz behandelt, ihre Vorstellungen nicht gehört, ihre Ansprüche verhöhnt.
Bald kam es zu offenen Kämpfen mit den neapolitanischen Baronen und
Bandenführern, welche Charles nicht reichlich genug belohnt hatte und welche
das aragonische Banner erhoben, sobald sie witterten, daß Spanien sich des
verwandten Königshauses annehmen werde. Es war ja vortheilhaft, sich
Verrath und Rückverrath doppelt bezahlen zu lassen. — Dennoch machte die
Nachricht von dem gegen ihn abgeschlossenen Bündniß zu Anfang nur geringen
Eindruck auf Charles. Der Unglaube war bequemer als die klare Erkennt¬
niß. Man begnügte sich bei Hofe damit, die Personen der Verbündeten zu
verhöhnen und sie auf eine burleske Weise durch ein öffentliches Schauspiel
auf dem Schlosse dell Uovo lustig zu persifltren.
Endlich kommen aber bestimmtere Nachrichten aus Venedig, die ernst¬
lichere Entschlüsse fordern. Commes berichtet: Die Unzufriedenen in der
Basilicata und Terra ti lavoro seien bereit, unter Anführung des jungen
vertriebenen Königs Ferdinand zu den Waffen zu greifen; in Apulien würden
vierzig venetianische Galeeren, in Calabrien sechzig spanische Schiffe landen
Und 6000 Mann Truppen unter dem hochberühmten Gonsalvo de Cordova
ans Land setzen; 34,000 Deutsche und Italiener versammelten sich in Ober¬
italien, um den Franzosen den Rückweg zu sperren; Frankreich selbst sei von
d?n verbündeten Deutschen und Spaniern mit einer Invasion bedroht, und
Ulan wisse wohl, es besäße keine Armee mehr zu seiner Vertheidigung. Solche
Nachrichten gaben zu denken. Was der König noch an Truppen bei sich
hatte, belief sich auf 16—17000 Mann. Der Weg bis zur französischen
Grenze betrug an 130 Meilen. Was war zu thun? — Die Noth verschaffte
der Sprache der Vernunft endlich Gehör; aber der gute Rath fing an theuer
ZU werden. Ein Entschluß war zu fassen, und zwar augenblicklich; an den
ostensiblen Zweck der Expedition, an Constantinopel, wurde weiter nicht ge¬
dacht. Um jedoch wenigstens den Versuch zu machen, das Erworbene festzu¬
halten und mit Anstand abzuziehn, beschloß der König, die Hälfte seines
Fußvolks, nämlich 3000 Schweizer und einige Abtheilungen Gascogner, so-
^le 800 französische und 800 italienische Gendarmes nebst 1300 berittenen
Italienern zum Schutze der neuen Erwerbung zurückzulassen. Als Vicekönig
für diese bestellte er Gilbert de Montpensier, aus dem Hause Bourbon —
eine Wahl,-die, dem allgemeinen Urtheile gemäß, nicht unglücklicher sein
konnte. Wichtige Theile und Punkte des Landes, wie z. B. Tarent, Gaeta,
Manfredonia u. a. wurden Männern anvertraut, die wie der Großkämmerer
von Neapel oder der Herzog von Notes oder gar der Senechal von Beauvais
(ein alter Kammerdiener Charles') kaum Soldaten zu nennen waren. Nur
Calabrien empfing in der Person d'Aubigny's einen wirklich tüchtigen Befehls¬
haber. Allen ward schleunige Hülse, und was sie sonst sich erbaten, zugesagt,
indem man, wie der Chronist meint, nie geneigter in freundlichen Zusiche-
rungen zu sein pflegt, als wenn Lust oder Kraft fehlen, das Wort zu halten.
An Geldmitteln konnte Charles dem Mcekönige nur die unsicheren Einkünfte
des Landes anweisen;" die früher in manchen festen Plätzen gespeicherten
Kriegsvorräthe waren, wie schon erwähnt, mit großem Leichtsinn verschleudert
worden.
Nachdem er sich die Krone von Neapel aufs Haupt gesetzt*) und noch
nicht ganz drei Monate in dem schönen Südlande geschwelgt hatte, brach
Charles wieder nach Norden auf. Schon zu Capua, zwei Tage nach seinem
Ausmarsche, erhielt er die Nachricht von der Landung der Spanier in Reggio
und von dem Erscheinen der venetianischen Flotte an der Küste von Apulien.
Am 1. Juni war er im Angesicht von Rom. Der Papst wich ihm aus, unter
höflichen Formen. Nach dreitägigen Aufenthalte wurde der Marsch fortgesetzt,
mit etwas mehr Ordnung, als beim Kommen, und ohne weitere Zufälle.
Unterwegs stellte sich Philipp de Commes bei seinem Herrn ein, um ihm
persönlich Bericht zu erstatten über die politische Lage; aber Charles ließ es
ihn entgelten, daß dieser Bericht sehr peinlichen Inhalts war. Die Um¬
gebungen des Königs behandelten den alten würdigen Staatsmann wenig
besser, und seine ernsthaften Mahnungen erregten nichts als ihr Gespött,
welches ihn, wie er selbst berichtet, gegen diese eomMignis Ap ^sunW gvns
gvnü6s 6« ig. cloubls katuit6 as 1'ag<z ot ach sueeös aus das Höchste auf¬
brachte. — Und doch war der König thatsächlich in verzweifelter Lage. Nicht
mehr als 200 Edelleute seiner Leibwache, 800 französische und 100 italienische
N0MM68 ä'arinos, 100 leichte Reiter, 3000 Schweizer und Deutsche sowie
2000 Gascogner bildeten jetzt seine ganze Macht.**) Trotzdem ließ er es nicht
an Detachirungen fehlen, als er den Apeninnen zuzog; denn überall sollte
der französische Name erscheinen und imponiren. ***) Das letztere gelang schlecht,
Zumal die Schweizer durch die abscheuliche Plünderung von Pontremoli großes
Aergerniß gaben. — Und wie mit den Truppen, so ging Charles auch mit der
Zeit verschwenderisch um. Vergebens beschwor ihn Commes, daß er ohne
Aufenthalt seinen Marsch fortsetze. Sorglos und träge verweilte der König
6 Tage in Siena. Das Anerbieten der Florentiner, ihm die noch rückständigen
30.000 Dukaten zu zahlen, außerdem 70,000 zu leihen und ihn mit 300
Gendarmen und 2000 Fußgängern nach Asti zu geleiten, wenn er seinem
früheren Versprechen gemäß ihnen ihre Festen und namentlich Pisa zurück¬
gäbe, wies er zurück, um die Pisaner nicht der Gewalt ihrer verhaßtesten
Feinde zu überliefern — ein Zug von Edelmuth und Größe, den Charles' Räthe
heftig tadelten, der sich jedoch der vollen Zustimmung des Heeres erfreute.
Gegen Asti, wo der Herzog von Orleans mit nur wenig Truppen stand,
sandte Ludovico Moro 600 Gendarmes und 3000 Fußgänger, während der
Regent von Frankreich, Pierre von Bourbon, aus Commes' dringende Auf¬
forderung, soviel Kriegsvolk als er zu werben oder zu sammeln vermochte,
nämlich 300 Lanzen, 3000 Schweizer und 3000 Gascogner, nach Asti zur
Verstärkung schickte, worauf sich der Herzog von Orleans durch Ueberfall
^ovaras bemächtigte.
Unterdessen vereinigten sich die Kräfte des nördlichen Italien jenseits der
Taro unfern Parma, um das französische Heer bei seinem Austritt aus dem
Apennin in die nördliche Ebene anzufallen ; und trotz der Entsendung gegen
Herzog von Orleans wuchs die verbündete Armee zu sehr ansehnlicher,
derjenigen von Charles' VIII. Heer weit überlegener Stärke an. — Eine eigen¬
thümliche Art leichter Reiterei erscheint in diesem italienischen Heere wol zum
^sten Mal im großen Kriege, nämlich die in venetianischen Diensten stehenden
sog. Stradioten, meist Albanesen und Griechen aus Morea, welche
türkische Pferde ritten, aber gelegentlich auch zu Fuße kämpften. Die Haupt¬
masse dieser Reiter bestand in der ar^M^o, einer an beiden Enden mit
Eisenspitzen versehenen Lanze von 10 bis 12 Fuß Länge, welche sie bald mit
^r rechten, bald mit der linken Hand führten und deren beide Spitzen sie
"Ut unerhörter Gewandheit gebrauchten.») Daneben trugen sie am Sattel¬
bogen Streitkolben, krumme Säbel an der Seite, und als Schutzwaffen
Panzerhemd, Schild, Maschenhandschuh und Pickelhaube.**) Die Stradioten
send als Halbwilde zu bezeichnen. Element Marot singt von ihnen (1507):
I5sera>Zol,s an son So leurs böäons
Oouront c?b6va,u1x, tont bruiro Isurs guiäons,
LiMunt on l'air, vont <l<z si roiäo gordo,
Hu'it sentio bion pus tvmpöto I<Z3 xorto.
Sie erhielten für jeden feindlichen Kopf einen Dukaten, und es soll nicht
selten vorgekommen sein, daß sie, um diesen Dukaten zu erhaschen, Priester
und friedliche Landleute ihrer Köpfe beraubten. *) Die Ableitung des Wortes
„Stradioten" ist verschieden. Die Italiener führen es auf stradu (Straße)
zurück, andere auf o^«»»»?^? (Soldaten) eine Etymologie, welche wol jeden¬
falls den Borzug verdient.
Den Angaben Commes' zufolge (cap. XXX.) betrug -die im Lager von
Parma gesammelte Macht 36,000 Gewaffnete, von denen fast vier Fünftel
dem Löwen von San Marco folgten. Die Zahl der Panzerreiter giebt er
in Uebereinstimmung mit Guicciardini, auf 2300, die der Stradioten auf
8000 an, während Guicciardini deren nur 2000 zählt. An Fußvolk rechnet
dieser 8000 Mann, Alexander Benedictus 12000."*) Es werden alles in
Allem 20 bis 2S000 Mann gewesen sein. — Die Artillerie war schwach; sie
bestand nur aus 12 venetianischen Serpentinen.
Bis Pietra Santa hatte die Armee des Königs sehr kurze Märsche
gemacht, vier bis fünf Stunden des Tages; jetzt näherte sich die Gefahr und
die Thorheit wurde fügsamer. Die Stimme der Verständigeren drang durch,
und die Truppen beschleunigten den Marsch. Hinter Pontremoli, welches bei
einer entsetzlichen Plünderung durch die Schweizer in Feuer ausging, unweit
des Dörfchens Mignegna, in der Tiefe einer Schlucht zwischen den Quellen
der Magra und der Magriola, führte ein schmaler und steiler Fußweg über
öde, jäh zerrissene Bergketten in kurzen und steilen Zickzacks auf die Höhe des
Piks von Tossola. Dies war der Weg über die Apenninen, den die Armee
einzuschlagen hatte. Daß Maulthiere, an solche Gebirgspfade gewöhnt, den¬
selben zu ersteigen fähig wären, war kein Zweifel; aber wie sollten — und
noch dazu in jener Zeit — die Artillerie, das Gepäck, die schweren und
unbeholfenen Fahrzeuge hinüber gelangen? Sehr groß waren in der That
die Schwierigkeiten, welche die Franzosen zu überwinden hatten, und waren
sie überwunden, so hatte man vermuthlich den Austritt aus dem Gebirge
erst durch die Schlacht zu erzwingen.
Viele der versuchtesten Offiziere Charles' schwankten bei diesem Gedanken;
sie riethen, am Fuße des Gebirges Alles zu vernichten, was des Heeres
Marsch beschweren oder verzögern könnte, besonders aber sich der Artillerie
zu entledigen. Der König fast allein blieb bei dem Entschluß stehen, unter
jeder Bedingung mit Allem, was es mit sich führe, das Gebirge zu über¬
schreiten und die Entscheidung in einer Schlacht mit dem überlegenen Feinde
zu suchen. Die Reue der Schweizer über die zu Pontremoli begangenen
Frevel kam ihm hierbei zu Statten. Sie machten sich nämlich anheischig-
die 14 schweren Geschütze, welche sich noch beim Heere befanden, über den
von Felsmauern zerrissenen Scheitel des Gebirges zu schaffen. Man behielt
also nur das Gabelpferd vor jedem Kanon, und in Zahl von 100 und 200
spannten sich an Stelle der abgematteter, elenden und unzuverlässigen Thiere
die wackeren oberdeutschen Knechte an guten Stricken vor je ein Geschütz. So
ging es, taktmäßig, beim Klänge der Trommeln und Hörner die Felsen
hinauf. An fünf verschiedenen Stellen, wo die Böschungen besonders steil
waren, schlugen vorausgesandte Wegbereiter Herbergen auf, um den Leuten
bei dem schwülen Wetter Erfrischungen verabreichen zu können. Zimmerleute
und Schmiede waren ohne Unterlaß beschäftigt, Straße und Geräth auszu¬
bessern. Der Weg mußte häufig erweitert werden; denn er erwies sich an
vielen Stellen aufs Aeußerste schmal und selbst Saumthieren'beschwerlich zu
^klimmen. Während die Schweizer das Geschütz bergauf schafften, trugen
die andern Soldaten Kanonenkugeln in ihren Helmen. La Tremouille —
nie 1e eKevÄliöZ,' sans roproeke — und Jean de la Grange. maistre Ac
Artillerie, leiteten die Arbeit und schlössen sich nicht aus. gleich den Knechten,
Hand anzulegen und Munition zu tragen, ein Beispiel, welches alle Ritter
nachahmten. Als man jedoch endlich auf der Höhe war und die Schwierig¬
keiten überwunden glaubte, ergab es sich, daß man nicht das Hauptgebirge,
sondern nur einen Ausläufer der Apenninen zum Uebergangspunkte gewählt
hatte. Man mußte über den Monte-longo wieder in das Thal hinabsteigen.
UM von da aus die Cisa. den wahren Scheidepunkt des Gebirges zu erreichen.
kostete ungeheure Mühe und Anstrengung, zu verhindern, daß die schweren
beschütze nicht in den Abgrund rollten und Menschen und Pferde mit sich
fortrissen. La Tremouille, der den Zug führte, war überall, ließ die Leute
schicklichen Plätzen ausruhen, Wein und Lebensmittel austheilen und die
gesunkenen Lebensgeister durch Musik ausheitern.
Drei Tage dauerte dieser beschwerliche Marsch, und doch waren noch
keine Gegner, sondern nur die Hindernisse der Natur zu überwinden. Von
Höhe der Cisa aus ging es im Thal der Baganza über Berceto und
^astellonelino bis Cavazzola. von wo noch der Monte Croce überstiegen
werden mußte, um in das Thal der Sporzana zu gelangen und dann über
Terenzo und Sivizzano endlich Fornovo zu erreichen. Hier war das Ziel
"iter dermaligen Anstrengungen, und angesichts desselben eilte La Tremouille
^ruck nach Mignegna. wo der König verblieben, um ihm das Vollbrachte
on verkünden. Kaum erkannte Charles seinen Feldherrn, so sehr war er
^stellt durch die Anstrengungen und gebräunt von der Sonne. In seinem
Geleit folgte nun der junge Fürst dem vorausgezogenen Heere nach. Endlich
sah er die üppige lombardische Ebene in aller Pracht, zugleich aber auch das
l^rke feindliche Heer in schönster Ordnung vor sich liegen. Wie ein reich ge-
deckter Tisch erschien das Land den Kriegern Charles', die, seit sie Lucca ver¬
lassen, sich eben nicht der besten Tage erfreut hatten. Es galt nun, aus dem
Gebirge zu debouchiren. Bei den außerordentlichen Schwierigkeiten, welche
der Transport des Geschützes mit sich brachte, war der Marsch des französi¬
schen Gros derart verlangsamt worden, daß die Avantgarde unter dem Mar¬
schall von Gye einen Vorsprung von 1^ Tagen gewonnen hatte. Sie hatte
eine Stärke von nur 160 Gensdarmes und 800 Schweizern, sowie einige leichte
Geschütze; aber sie besaß die Kühnheit und die Umsicht, sich sofort des Aus¬
gangs des Engpasses von Respiccio zu bemächtigen und ihn Angesichts des
so ungeheuer überlegenen Feindes besetzt zu halten. — Am Ausgange des
Alpenpasses nämlich lagerten die Feinde, aber nicht, wie es sachgemäß gewesen
wäre, dem DeMe gegenüber, sondern seitwärts desselben, indem sie
nordöstlich von Fornovo auf dem rechten Ufer des Taro, wahrscheinlich etwas
oberhalb Ozzano, die im Flußthal ziehende Straße nach Parma sperrten,
die nach Asti aber, welche das nördliche Taro-User begleitete, unmittelbar
flankirten. Und eine dieser beiden Straßen mußte König Charles jedenfalls
gewinnen, wenn er den Nordostfuß des Apennin erreichen wollte. — Als die
französische Borhut sich am Ausgang des Respizzio-Passes festsetzte, wurde sie
von den Stradioten angegriffen; aber der Schuß eines einzigen Falkonets,
der das Pferd eines Albanesen tödtete, jagte diese wilden Gesellen in die
Flucht; denn sie waren, wie Commes versichert, an dergleichen gar nicht
gewöhnt.
Es scheint jedoch, als ob sich die Wirkung eines so entschlossenen Auf¬
tretens der französischen Avantgarde nicht auf die Reihen der flüchtigen Stra¬
dioten beschränkte. Die Kühnheit des Marschalls von Gye machte auch die
vorsorglicher Proveditoren der Venetianer so stutzig, daß sie im Kriegsrathe
zu bedenken gaben, ob es nicht besser sei. den Kampf mit einem Verzweifelten
zu vermeiden. Ein gefangener Schweizer-Hauptmann, Namens Heils, der ein
guter Menschenkenner gewesen zu sein scheint, benutzte die Gemüthsstimmung
der Italiener, um ihre Besorgnisse durch Uebertreibung der französisches
Streitkräfte zu vermehren. Schon neigte sich die Meinung der italienisches
Hauptleute dahin, daß man gut thue, dem Feinde eine goldene Brücke zu
bauen, als der Gesandte Fernando's von Castilien mit Nachdruck für die ent¬
gegengesetzte Anschauung eintrat. Lasse man jetzt den König entkommen,
werde er von Novara und Asti aus, also im unbestrittenen Besitze Piemonts,
zu jeder Zeit im Stande sein, die lombardische Ebene mit Krieg zu überziehst'
Dieser Grund leuchtete ein, und der Herold Charles', welcher freien DurchM
zu verlangen kam, wurde abgewiesen.
Das französische Heer (einschließlich 2000 Dienern und Packknechten noch
etwa 9000 Mann stark ')) debouchirte unter dem Schutze der Avantgarde
Gye's am Nachmittage des 4. Juni aus dem Passe von Respiccio und bezog
sofort in und um Fornovo Lager, und zwar in drei Abtheilungen, sowie es
am folgenden Tage weiter marschieren wollte. Diese Lager waren auf Ka¬
nonenschußweite, wie Commes sagt, oder ^ (nat.) Meile, wie Paulus Jo-
vius sich ausdrückt, von einander entfernt — ein Abstand, der für die Theile
einer so kleinen Armee wie diejenige, über welche Charles VIII. noch verfügte,
offenbar zu groß bemessen ist. Die Stadt Fornovo war reichlich mit Lebens¬
und Erfrischungsmitteln angefüllt. In einem Lande, wo Hinterlist und
Treulosigkeit zu Hause sind, mußte so etwas auffallen, und als nun gar
einige Plünderer, welche die Keller erbrochen hatten, durch die schnelle Ab¬
kühlung aus glühender Mittagshitze einen plötzlichen Tod fanden, da faßte
die Franzosen der Argwohn der Vergiftung, und Niemand wagte es, einen
Bissen Brod zu berühren, oder einen Trunk Wein zu sich zu nehmen.
Eine furchtbare Gewitternacht und unaufhörliches Anprellen der Stra-
dioten ließ die Franzosen kaum zur Ruhe kommen. Charles befand sich in
seinem Zelte mit Bri^onnet allein und verabredete mit ihm den weiteren
Operationsplan. Das Resultat dieser Berathung war der seltsame Entschluß,
mit anbrechendem Tage aus das jenseitige Ufer, das linke des Taro überzu¬
gehen, längs des feindlichen Lagers fortzuziehen, einige Kanonenschüsse darauf
Zu thun, „pour luirs 1a guerre und dann den Marsch fortzusetzen. Co¬
mmes sollte unterdeß durch seine Beredsamkeit die Häupter der Feinde be¬
schäftigen und „amüsiren", und er wurde noch in der Nacht geweckt, um ihm
diesen kindischen Plan mitzutheilen. Er sagt selbst, daß er nicht den Muth
gehabt habe, etwas zu entgegnen, um sich nicht mit denen zu verfeinden, die
das Ohr des Königs hatten. So werden wichtige Entschlüsse in wichtigen
Augenblicken gesaßt!
Die Disposition ging also dahin: auf dem linken Taro-Ufer in der
Richtung auf Felegara, also auf der nicht direct gesperrten Straße nach Asti
vorzurücken und somit einen Flankenmarsch an dem feindlichen Lager vorbei
Zu unternehmen. Es war das, dem viermal stärkeren Feinde gegenüber, ein
großes Wagniß; denn der Tarofluß ist im Sommer allenthalben zu
durchschreiten und bot daher nur eine höchst unbedeutende Flankendeckung.
Das französische Heer trat den Vormarsch in folgender Schlachtord¬
nung an:
Avantgarde: Man Jacopo Trivulzio. — Diese Abtheilung war beson¬
ders stark formirt, nämlich aus 360 Kvmmes Ä'armss unter dem Marschall
von Gie, 3000 Schweizern unter Engelbert von Cleve, den Gascognischen
Armbrustschützen und 300 abgesessenen Archers der Garde. Bei den Schweizern
befand sich die schwere Artillerie.
Bataille: La Tremouille. — Dies Gros der Armee war verhältni߬
mäßig schwach und bestand, abgesehn von dem persönlichen Gefolge des
Königs, aus 80 Lanzen des Herzogs von Orleans, 40 Lanzen von La Tre¬
mouille und 100 schottischen Bogenschützen. Unter den Edelleuten des könig¬
lichen Gefolges wird auch der damals neunzehnjährige Bayard erwähnt, der
als Page des Herzogs von Savoyen nach Lyon gekommen und hier bei Be¬
ginn des Feldzugs in die Dienste Charles' VIII. getreten war.
Arrieregarde: Graf von Foix. — 40 Kommes ä'armvs und 1000
Mann zu Fuß.
Irgend eine besondere Borsichtsmaßregel, wie etwa eine eigene Flanken¬
deckung, wurde nicht angeordnet. Das Einzige war, daß auf des klugen
Trivulzio Rath das Gepäck des Heeres, welches von 6000 Lastthieren getra¬
gen wurde, unter Führung Obed's de Riberae einen Seitenweg zur Linken
einschlug — wahrscheinlich die Straße unmittelbar am Gebirgsfuß, die über
Case Ramiola führt, während die Armee im Flußthal avancirte.
Die Ausstattung der drei Haupttheile des Heeres erscheint an sich nicht
unzweckmäßig, höchst gefährlich aber, daß die Abstände derselben beim An¬
treten außerordentlich groß wurden. Denn abgesehn davon, daß man schon
zu weit von einander gelagert, so hatte man auch unmittelbar nach dem
Aufbruch den Ort -Fornovo und den dortigen Taroübergang zu passiren; der
Marsch begann also mit dem Durchschreiten eines Defilees, was bekanntlich
stets nachtheilig für den Zusammenhalt einer Truppe ist. In Folge dessen
steigerte sich die Entfernung der Heerestheile noch mehr. Dies Auseinander¬
kommen der französischen Truppenmacht benutzte der feindliche Feldherr,
Markgraf Gonzaga von Mantua, mit großem Geschick. Er ließ den Grasen
Gajazzo mit 400 Rittern und 2000 Fußknechten den Taro überschreiten, um
der französischen Avantgarde in der Front entgegenzutreten, während er
selbst mit 600 Reisigen, 6000 Fußknechten und einer Abtheilung Stradioten
weiter oberhalb über den Fluß ging und sich der Arrieregarde in den
Rücken warf.
Ein anderes Corps schwerer Reiterei griff die Arriöregarde in der Flanke
an, und der Rest der Stradioten nebst andern Leichtgerüsteten wurde um
Fornovo herum auf den Train der Franzosen dirigirt.
Das schwache französische Gros sollte inzwischen durch die ihm mindestens
ebenbürtigen Corps von Antonio von Urbino und Anibal Bentivoglio in
Schach gehalten und gehindert werden, den angegriffenen Abtheilungen zu
Hilfe zu kommen. Beide Corps wurden indessen vorläufig noch auf dem
linken Taro-Ufer zurückgehalten.
Es scheint, als ob der Flußübergang den Mailändern mehr Mühe ver¬
ursacht habe, als sie erwartet hatten. Das theils felsige, theils lehmige und
mit dichtem Gestrüpp bewachsene Ufer erwies sich steil, der Bergstrom durch
das nächtliche Gewitter ungewöhnlich angeschwollen. So war das Fußvolk
noch nicht geordnet, als die Töte Trivuleto's schon herankam, und nur die
Reisigen Gajazzo's waren kampffertig und attakirten auch. Aber sie lösten
sich bald vor der Furia der französischen Ritter auf, und die Hellebarden der
Schweizer zeigten sich der italienischen Fußvolksbewaffnung ebenfalls sehr
überlegen. Paulus Jovius erzählt, wie die Oberdeutschen zu lachen ange¬
fangen hätten, als sie bemerkten, daß die italienische Infanterie in der Weise
geordnet gewesen, daß die Armbrustschützen das dritte Glied hinter den Piken
und den Partisanen bildeten.
Weit gefährlicher als dieser Anfall in der Front der Avantgarde war
Gonzaga's Angriff auf den Rücken der Arrieregarde. Er zeichnete sich indessen
mehr durch kunstgerechte Geschlossenheit als durch Feuer und Ungestüm aus.
König Charles dagegen, sobald er die Nachhut angegriffen sah, zauderte
nicht, seine ganze Bataille sofort mit in die Wagschale zu werfen. Sie
machte kehrt; Charles selbst jagte ihr mit eingelegter Lanze voraus. Solange
die Lanzen nicht zersplittert, waren die Venetianer im Vortheil; denn die
italienischen Lanzen waren länger als die französischen. Als man aber zum
Schwerte kam, fiel die Linke des Königs, nämlich 20 Schilde Aymar's de Prie,
die Edelleute des Hauses und einige starke Deutsche in Gonzaga's Flanke*) und
brachten ihm ernste Verluste bei. Dennoch hatten die Franzosen einen harten
Stand; denn sie waren im Rücken und von der Seite angegriffen; Gonzaga
drang tief in den Feind ein und suchte sich mit äußerster Anstrengung des
Königs selbst zu bemächtigen, der sich wiederholt in großer Gefahr befand.
Wenige Schritte von ihm wurde der Bastard von Orleans gefangen genom¬
men. Charles verdankte den Schutz seiner Person zu nicht geringem Theile
den langen Degen der schottischen Schützen und den Aexten der Fußknechte.
Eine günstigere Wendung für die Franzosen nahm der Kampf, als das
Gefecht in der Front der Avantgarde gegen Gajazzo definitiv entschieden war
und die Homines d'Armes des Marschalls von Gie nun dem Könige zu
Hilfe eilen konnten. Dabei fiel Rudolph Gonzaga und gleichzeitig ließen die
Stradioten des Markgrafen plötzlich vom Gefechte ab. Denn sie hatten ihre Ge¬
fährten bemerkt, welche mit Beute beladen, nach Plünderung des französischen
Trains, durch den Taro zurück ritten, und zögerten keinen Augenblick, auch
ihrerseits zur Plünderung aufzubrechen.
Daß Fußvolk eilte nach; die Kerntruppe der schweren Reiter erlag
wenigstens zum Theile der Versuchung. Das reiche Gepäck der Franzosen
ging denn auch fast ganz verloren. — Jetzt hätten nun die auf dem rechten
Taroufer zurückgelassenen Corps von Bentivoglio und Urbino herüberkommen
und eingreifen müssen; aber diese Herren, welche schon gleich zu Anfang der
Schlacht den richtigen Moment versäumt, mochten den Rückhalt des Heeres
nicht aufs Spiel setzen und blieben hinter dem anschwellenden Taro, von
niederrauschenden Regen - und Hagelwetter eingehüllt, ruhig stehn. Da fin¬
gen denn Gonzaga's Truppen an, über den Taro zurückzugehn. Ihnen
folgten die französischen Ritter, und bei dieser Flußüberschreitung dürften die
meisten Venetianer umgekommen sein. Die französischen Gensdarmes gaben
keinen Pardon und oft erscholl aus ihren Reihen der Ruf: „Louvviuzü-vvuL
Ac (suiulzgatc;!" um Jedermann daran zu erinnern, wie leicht ein schon ge¬
wonnener Sieg durch den Hang zur Plünderung in sein Gegentheil umschla¬
gen könne. Ein junger Reitersmann brachte dem König eine Fahne, die er
den Feinden abgenommen hatte und erhielt dafür 500 Goldthaler zur Be¬
lohnung. Es war Bayard.
Die Schlacht hatte nur eine Stunde gedauert, aber mehr als 6000
Todte deckten die Wahlstatt, darunter 300 italienische und 200 französische
Gendarmes.*)
Die Artillerie Charles' entsprach nicht ganz den Erwartungen. Obgleich
sie, gut placirt, fast während der ganzen Schlacht ununterbrochen feuerte und,
selbst auf die Gefahr hin, vom Feinde genommen zu werden, standhaft in
Batterie blieb, so waren die Erfolge doch nicht glänzend; Commes versichert,
daß die Artillerie beider Armeen nicht zehn Mann getödtet habe, und
Guicciardini berichtet dasselbe. Nach Marino Sanuto hat das seinen Grund
darin gehabt, daß das Pulver naß gewesen sei wegen des beständigen Regens"");
aber wenn das der Fall war, so hätte die Artillerie doch nicht ununterbrochen
feuern können. Der Grund des geringen Erfolges war offenbar ein anderer.
Gleich bei diesem ersten Auftreten einer wirklichen Feldartillerie beging dieselbe
nämlich einen Fehler, der seitdem noch so unendlich oft vorgekommen ist und
von dem Napoleon I. sagte, daß er einem falsch verstandenen Selbsterhaltungs¬
triebe entspringe. Sie verbiß sich nämlich in ein Specialgefecht mit der feind¬
lichen Artillerie jenseits des Taro, statt ihre Wirkung auf die großen ge¬
schlossenen Infanterie- und Reitermassen zu richten, welche bei ihrer damaligen
Formation nicht zu verfehlende Ziele abgeben mußten.***) So litten die
Italiener eigentlich nur wenig durch das französische Geschütz. Indeß die
'dünn ungewohnte, Continuität des Feuers imponirte ihnen doch und hat
wohl viel dazu beigetragen, die Corps von Urbino und Bentivoglio aus dem
rechten Taro-Ufer zurückzuhalten.
Beide Theile schrieben sich den Sieg zu. Die Franzosen hatten ihr
Gepäck verloren; daraus folgerte die Logik der Venetianer, daß der Sieg
auf italienischer Seite sei, und sie errichteten später sogar eine Sieges-Gedächt-
uißkapelle bei Fornovo.
Die Franzosen behaupteten die Wahlstatt. In der nächsten Nacht brachen
sie in größter Stille auf und zogen so geheim ab, daß sie sogar einen Weg-
^undigen mitzunehmen vergaßen und in ihrer Verlegenheit darüber am Ende
sehr froh waren, zu entdecken, daß sie sich auf der rechten Straße nach Pia-
cenza befanden.
Die Italiener übernachteten in ihrem Lager. Nun wären sie immerhin
Noch stark genug gewesen, um den Franzosen den Rückzug noch einmal streitig
machen. Aber das innere Zerwürfniß der Verbündeten steigerte sich nach
dem Verlust der Schlacht durch die Vorwürfe, welche ein Führer gegen den
andern erhob, in dem Maße, daß Ermüdung und Mangel als Vorwand, für
den Augenblick nichts zu thun, fast willkommen schienen. Ueberdies waren
die Italiener nicht gewohnt, wirklich todt geschlagen zu werden im Kampf,
und in diesem Gefechte hatten sie 3300 Mann liegen lassen. Als endlich
spät am andern Tage die Verfolgung der inzwischen schon seit 18 Stunden
Marschierenden Franzosen beschlossen ward, hatten diese einen so bedeutenden
Ursprung gewonnen, daß ihnen die Italiener nicht sonderlich mehr etwas
anhaben konnten.
Der weitere Rückzug Charles' war nicht sehr erfreulich. Seine zusammen¬
geschmolzene Armee flößte keine große Furcht ein. Ueberall fand man die
Thore verschlossen, und die Lebensmittel konnten nur für schweres Geld her-
^'geschafft werden. Jeder hatte für sich selbst zu sorgen, und als Nachtlager
diente gewöhnlich die bloße Erde. Die Truppen mußten mit Mangel aller
^ kämpfen; zwei Tage hatte man nichts als schlechtes schwarzes Brod zu
essen. Der Verlust des gesammten Gepäckes erwies sich nun doch als ein
Achtes Uebel. Wenige waren noch so leidlich situirt, wie Charles selbst, der
nichts so tief beklagte, als die Einbuße eines Albums, welches die Bildnisse
^ der schönen Frauen enthielt, die ihm in Italien angehört. — Mürrisch
und verdrossen zog das Heer seine Straße. Um den verfolgenden Feind
^Maerle sich von den eigentlichen Franzosen kein Mensch; man überließ diese
^°rge Zgg Schweizern, die mit ihren schweren Büchsen sich die herumschwär-
'Umber Stradioten vom Leibe hielten. Die Ursache einer so großen Apathie
Heeres war ohne Zweifel der Hunger, dieser schlimmste Feind militärischer
isciplin. Wenn man jedoch erwägt, daß die Wege, welche die Franzosen
zu ziehen hätten, vollständig durchweicht waren und man zur Fortschafsunfl
eines einzigen Geschützes 40 bis 50 Pferde und ebensoviel Arbeiter gebrauchte,
so ist dieser Abmarsch immerhin als eine bedeutende Leistung zu betrachten.
Zwei schwere Geschütze, deren Räder zerbrachen, mußte man allerdings unter¬
wegs vergraben.*)
Die eigentliche Avantgarde der Italiener holte das französische Heer erst
an der Trebbia wieder ein. Diesen Strom überschritt Charles aus einer
Schiffbrücke unter dem Schutz der gesammten Artillerie und dem der Schweizer
sowie von 200 Lanzen, welche sämmtlich auf dem diesseitigen Ufer blieben.
Es war ein sehr kritischer Augenblick, und auch nach dem Uebergang der
Truppen bot der Transport der schweren Artillerie, welche durch den stark
angeschwollenen Fluß selbst gefahren werden mußte, große Schwierigkeiten!
aber die Hauptmassen der Verbündeten kamen nicht mehr rechtzeitig heran,
und zu einem energischen Angriff hätten überdies die venetianischen Provedi-
tionen wahrscheinlich ihre Einwilligung versagt. — Das Glück begünstigte
also die Franzosen abermals. Dennoch muß hervorgehoben werden, daß die
Einrichtung dieses Flußüberganges eine im höchsten Maße tadelnswerthe ist-
Mochte Charles immerhin seine Kerntruppen, die Gendarmes und die Schweizer
zur Sicherung des Uebergangs diesseits des Flußes verwenden — die Artil¬
lerie mußte doch unter allen Umständen zuerst übergesetzt werden; sie konnte
ja auch vom jenseitigen Ufer in einen etwaigen Kampf eingreifen. ,
Nun setzte die Armee ihren Marsch nach Tortona fort, und diese Stadt
öffnete ihr die Thore, weil der Kommandant noch vor einigen Monaten in
ihren Reihen gestanden hatte. Zerlumpt und erschöpft zogen die Truppen
ein und benutzten eine kurze Ruhe, um sich einigermaßen wieder herzustellen-
Endlich — am 16. Juli — erreichte die französische Armee den Tanaro
und Asti. Sie war in Sicherheit, kam aber nun erst zum Bewußtsein ihrer
Verluste. Hier erfuhr Charles das Scheitern der von Sarzana gegen Genua
abgegangenen Unternehmung und sah die traurigen Trümmer der verunglückten
Expedition; hier erfuhr er die Zerstörung der französischen Flotte durch die
Genueser, die Noth des mit 7S00 Mann auserlesener Truppen in Novara
eingeschlossenen Herzogs von Orleans und endlich auch den Verlust von
Neapel, welches, mit Ausnahme der Schlösser , am 7. Juli den Feinden in
die Hände gefallen war.
Die oberitalienische Armee, noch durch 11800 deutsche Landsknechte verstärkt,
hatte sich, anstatt die Franzosen weiter zu verfolgen, nach Novara gezogen
und hielt es eng eingeschlossen. Auf beiden Seiten hegte jedoch Niemand
ernstliche Lust, den Krieg fortzusetzen. Ob es gleich Intriguen genug gab¬
dienten sie doch zu nichts, als die Sache in die Länge zu ziehen; und so k«M
am 22. September ein Waffenstillstand zu Stande. Die französische Besatzung
von Novara durfte abziehen, war aber durch Hunger und Entbehrungen aller .
^re bis auf 8500 Mann geschmolzen, und von diesen starb noch eine Menge
auf dem kurzen Marsche nach Vercelli, wo das französiche Lager stand. Es
Kar der Typhus, welcher sie aufrieb.',
Unterdessen überließ sich der König seinem Hange zu galanten Abenteuern,
°hre sich um seine Armee zu bekümmern. Daher verminderte sich diese fast
täglich. Trotzdem waren in seinem Lager zu Vercelli die Kriegslustigen in
unausgesetzter Thätigkeit. Der Herzog von Orleans, der für die Rüstungen
dieser Expedition persönlich viel Opfer gebracht hatte, wollte sein Geld
"!ehe umsonst ausgegeben haben und seinen Ansprüchen auf Mailand nicht ent¬
sagen. Charles erwartete eine Unterstützung von 5000 Schweizern; auf Orleans'
Veranlassung erschienen 10,000, und 10,000 andere waren auf dem Marsche,
^ber der Herzog verfehlte dennoch seinen Zweck und konnte die Muthlosigkeit
"lebt überwinden, den Ueberdruß nicht verscheuchen. Die Anzahl der Schweizer,
anstatt Zutrauen einzuflößen, bewirkte gerade das Gegentheil. Der König
^ sich auf solche Weise in den Händen übermüthiger Alliirter, welche die
^acht hatten, ihm in seinem eigenen Lager Gesetze vorzuschreiben. Jeder neu
ankommende Haufen vermehrte seine Furcht und beschleunigte den Abschluß
^ Friedens, welcher am 9. October zu Vercelli unterzeichnet und am fol-
^nden Tage publicirt wurde. Dieser Friede rettete Charles VIII. aus seiner
Unangenehmen Lage und erfüllte seinen heißesten Wunsch: nur mit Ehren
wieder nach Frankreich zu kommen.
Wir haben nun noch einen Blick auf die Ereignisse in Unter-Italien
in werfen.
Während der venetianisch-mailändische Theil des großen Bundes gegen
^nig Charles am Fuß des Apennin Front machte gegen den Heimkehrenden,
^hoh sich ^ seinem Rücken der spanisch-neapolitanische Theil desselben, um
"n Fernando von Aragonien, oder wie er gewöhnlich genannt wird,
»errantin, zurückzuführen auf den Thron der Väter. Schon längst nämlich
^te der katholische König Hernando, dessen Scharfblick es vorausgesehn,
eiche Vortheile ihm aus der Verwirrung in Italien erwachsen könnten, ein
zusammengebracht, das um eben die Zeit als Charles siegreich in Neapel
^"gezogen, auf Sicilien gelandet war. Zu Messina besprach sich der spanische
eueren mit dem vertriebenen Könige und verabredete den Operationsplan.
°n Fernando wollte gradwegs mit der Flotte nach Neapel segeln, wohin
Ichor damals die mit der französischen Herrschaft Unzufriedenen ihn riefen;
^ spanische Heerführer rieth dagegen, über Calabrien vorzugehn, wo sich
eggio für den jungen König erklärt und fast alle Städte vertheidigungslos
^n. weil die Franzosen entweder keine Besatzung hingesandt oder Vorräthe
und Munition aufgezehrt und vergeudet hatten. Dieser Rath wurde befolgt,
und die vereinte Armee setzte nach Calabrien über.
Inzwischen war Neapel von König Charles verlassen und die daselbst
zurückgebliebene Heereshälfte der Franzosen befand sich auf einem verlorenen
Posten. Die Zahl derselben war nicht groß, aber es war eine Elite; sie
hatte sich durch Uebermuth und Ausschweifungen das Volk verfeindet, befand
sich indessen im Besitz aller festen Plätze; der Vicekönig Guilbert de Bourbon,
Herzog von Montpensier, war ohne Fähigkeiten und so bequem, daß er sein
Bette selten Vormittags verließ; der ihm zur Seite stehende Connetable von
Frankreich Stuart d'Aubigny, war jedoch ein erfahrener Kriegsmann von
ritterlichen Eigenschaften.
Den Kern der Macht Fernando's bildete das spanische Hilfsheer, die so¬
genannte „große Armada," welche freilich nichts weniger als groß, sondern
nur 1200 Pferde und 8800 Mann zu Fuß (nach Quintana sogar nur 600
Reiter und 3000 Mann zu Fuß) stark war. Die Mannschaft bestand zu¬
meist aus Viscayern und Galliziern. An ihrer Spitze aber stand einer der
ausgezeichnetsten Soldaten der ganzen Zeit: Don Hernandez Gonzalo de
Cordova Aguila. — Gonzalo war im Jahre 1453 zu Montilla bei Cordova
geboren. Schon als Fünfzehnjähriger focht er unter seinem Vater Don
Diego gegen Granada. Im portugiesischen Kriege hatte er unter Alfons»
de Cardenas für Castilien gedient und in der Schlacht bei Albuera hervor¬
ragende Tapferkeit entwickelt. Die Hauptschule für seine kriegerischen Talente
war jedoch der lange Krieg gegen Granada. Hier zeichnete er sich bei der
Einnahme von Tajara, Jllora und Monte Frio derart aus und vollzog die
Unterhandlungen mit dem maurischen Könige Boabdil wegen der Uebergabe
von Granada in so gewandter Weise, daß die spanischen Majestäten ihw
einen lebenslänglichen Gehalt und in dem eroberten Gebiete großen Land¬
besitz bewilligten. Endlich wählte ihn Hernando der Katholische zum An¬
führer des kleinen Heeres, das er seinem Vetter gegen die Franzosen
Hilfe sandte. Gonzalo war ein vornehmer Mann von der höchsten persönliche"
Anmuth, voller Einsicht, unermüdlich, nie verzweifelt, in Anschlägen und
Listen unerschöpflich, von der glänzendsten Tapferkeit; aber auch voll Arglist
und heuchlerischer Tücke, treulos wie sein wortbrüchiger König und Kriegsherr
— ein ächter Sohn jener Zeit und jenes Volkes, das damals die Führer¬
schaft Europas zu übernehmen im Begriffe stand.**)
Von dem Augenblicke an, da Gonzalo in Calabrien landete, ist das
spanische Heer fast anderthalb Jahrhunderte lang nicht aus dem Felde g^'
kommen. Kein Heer (das römische ausgenommen) hat so anhaltend und aus-
dauernd unter unter so steten Erfolgen gefochten wie das spanische; es be¬
dürfte mehrere Generationen verderbter Regenten um die Grundzüge des Cha¬
rakters dieser stolzen Armee zu verwischen, als deren Schöpfer Gonzalo zu be¬
trachten ist. Er, der in jeder Feldherrnkunst unbedingt höher stand als alle,
die mit oder gegen ihn fochten, war auch ein bewunderungswürdiger Organi¬
sator, und indem er das Heer durch die strengste Disciplin zusammen hielt
und zügelte, keinen Augenblick anstand, Feige oder Ungehorsame mit eigener
Hand zu todten, sorgte er auch mit väterlicher Sorgfalt für die Mannschaft,
lohnte mit fürstlicher Freigebigkeit tapfere Thaten und herrschte mit seltener
Kraft über die Gemüther der Soldaten, die er, wenn es darauf ankam, durch
eine kühne That Entscheidungen herbeizuführen, in unerhörter Weise fortzu¬
reißen wußte.*)
Die ersten Fortschritte des spanischen Heeres in Calabrien waren ebenso
schnell als glänzend. Gonzalo nahm die Festung Reggio mit Sturm und
ließ die Besatzung über die Klinge springen, angeblich weil sie einen verab¬
redeten Waffenstillstand gebrochen. Auch Santa-Agata und Seminar« unter¬
warfen sich. Nun aber wandte sich das Blatt. Als gegen den Rath Gonza-
lo's der junge König sich bei Seminar« mit d'Aubigny in eine Schlacht ein¬
ließ (1495), vermochte die leichter gerüstete spanische Reiterei nicht der Wucht
der eisengepanzerten französischen Gendarmerie, die calabresische Miliz nicht dem
Stoß der „stacheligen Phalanx der schweizer Speermänner" zu widerstehn.**)
Ferrantin mußte wieder nach Sizilien flüchten, Gonzalo sich nach Reggio
Zurückziehn. Die Schlacht von Seminar» ist die einzige, welche er nicht ge¬
wonnen hat. Aber die Franzosen benutzten ihren Sieg nicht und die Arago-
"eher verloren nicht den Muth, zumal die Eingeborenen sich freudig zu ihren
Fahnen drängten.
Als Ferrantin mit einer Flotte vor Neapel erschien, regten sich die Volks-
wassen zu seinen Gunsten; und da der Vicekönig, um die Landung zu ver¬
hindern alle seine Truppen (bis auf die Besatzung der Castelle) aus der Stadt
führte, brach die Empörung in volle Flammen aus. Die Einwohner ergriffen
Waffen und besetzten die Thore, und während Montpensier auf weitem,
bergigen Wege um die Stadt herum zog, rückte Ferrantin von der andern Seite
unter dem lautesten Jubel ein. Die Franzosen wurden auf die beiden Cita¬
dellen beschränkt und mußten sich hier bis auf einen kleinen Theil, der mit
Montpensier geflohen und zum Connetable nach Salerno entkommen war, er¬
geben. — Gonzalo setzte nun in den calabrischen Bergen durch rasche Be¬
legungen, Ueberfälle und Kriegslisten, wie er sie im Maurenkriege gelernt,
d^n Truppen d'Aubigny's ununterbrochen zu. ohne daß es zu eigentlichen Enr-
Scheidungen gekommen wäre. Es war e!n Vorpostenkrieg, der sich im Grunde
genommen darum drehte, welche der beiden Parteien von den im Frühling
nach den Abruzzen ziehenden Heerden den Zoll erheben solle. Ehe dieser
Streitpunkt mit den Waffen entschieden wurde, sollen 600,000 Stück kleineres
und 200,000 Stück größeres Bich zu Grunde gegangen sein.
Von den kleinen Kämpfen zieht nur einer unsere Blicke auf sich, sowohl
wegen seiner Rühmlichkeit für deutsche Landsleute als weil er lehrt, wie richtig
Gonzalo de Cordova urtheilte, als er die allzulanger deutschen Piken verwarf.
— 700 deutsche Knechte in aragonischem Solde marschierten unter dem Haupt¬
mann Heiderlin von Troia nach Luceria. Sie waren völlig ohne Reiterei
und ohne Geschütz. Unterwegs stießen sie unvermuthet auf das französische
Heer. Sie setzten im Viereck ihren Marsch fort, und wie oft auch die fran¬
zösische Gendarmerie attakirte; der undurchdringliche Pikenwald trieb sie jedes¬
mal zurück. Die Argoulets beschossen das Viereck nun mit Arkebusen; eine
große Zahl fiel; aber die andern setzten ihren Weg unerschüttert fort. Keiner
dachte an Flucht oder Ergebung. So gelangten sie an den Chilone-Fluß,
und hier mußten sie, um ihn zu Passiren, ihr Viereck auflösen. An das Ufer
aber waren ihnen feindliche Gensdarmes vorausgeeilt und erwarteten sie.
Nach aufgelöster Ordnung wurde die Pinke nutzlos und die Deutschen fielen
bis auf den letzten Mann.*)
Es war dies der letzte größere Bortheil, den die Franzosen erfochten-
Gonzalo manövrirte so geschickt, daß die Gegner immer weiter nordwärts
gedrängt wurden. Die militärischen Erfolge wurden, wie gewöhnlich, von
politischen begleitet. Die Colonnas traten zur aragonischer Partei über-
Die Benetianer sandten Ferrantin 800 Gendarmes, 600 leichte Reiter und
3000 Fußgänger unter dem Markgrafen von Mantua zu Hilfe und liehen
ihm 15,000 Ducaten. — Dennoch hätten sich die Franzosen wohl halten
können, wenn ihnen König Charles zur Bezahlung der Schweizer auch nur
einen Theil der großen Geldsummen gesandt hätte, welche er damals für sein
Vergnügen verschwendete; aber das geschah nicht. Die feindlichen Befehls¬
haber, welche Montpensier's Verlegenheit kannten, wichen der von ihm bet
Benevent angebotenen Schlacht klüglich aus, und nun verließ ihn ein großer
Theil seiner fremden Söldner. Vergeblich suchte er sich durch einen raschen
Marsch nach Venosa einer ihn bedrohenden Umzingelung durch den Feind zu
entziehn. Bald war das französische Heer zu Atella in Folge meisterhafter
Schachzüge von der vereinten Macht der Aragonesen eingeschlossen, und hier
wo ihm jede Zufuhr abgeschnitten war, sah es sich, verlassen von dem in
Hofgenüsse und Liebestaumel versunkenen Könige, nach 32tägiger Anschließung
am 20. Juli 1496 zu einer trostlosen Kapitulation genöthigt, welche das
eroberte Königreich preis gab. Da die Einschiffung der Franzosen nicht so¬
fort bewerkstelligt werden konnte, auch viele Anführer die Uebereinkunft ver¬
warfen, so brach unter den in Bajä und Puzzuoli zusammengehäuften 5000
Kriegern die Seuche aus, und nur 500 Mann dieser Elite des französischen
Heeres sahen die Heimath wieder.
Von allen ihren Eroberungen blieben den Franzosen nur noch Gaeta,
Tarent und Monte Se. Angelo. Don Fernando war im Besitz seines
Königreichs; auch die Frau, die er leidenschaftlich liebte, Giovanna, seines
Vaters Schwester, wurde ihm zu Theil; aber sein Liebesglück tödtete ihn; er
starb im Herbste 1497, erst 29 Jahr alt, an Entkräftung. Aus dem Throne
folgte ihm sein Oheim Don Federigo.
Gonzalo's Ruhm durchhallte seit der Einschließung Atellas ganz Europa;
überall feierte man ihn als den Gran capitan; bald ergab sich ihm auch die
französische Besatzung von Ostia und er zog in Rom ein, jubelnd als Be¬
freier der ewigen Stadt begrüßt. Von König Federigo empfing Gonzalo
eine reiche Besitzung in den Abruzzen und den Titel eines Herzogs von Se.
Angelo, und im August 1498 kehrte er nach Spanien zurück.
Wenige Monate früher war, noch nicht 28 Jahr alt, Charles VIII.
gestorben. — Seine Expedition nach Neapel hatte der Kriegskunst einen
neuen Impuls gegeben. Auf der einen Seite strebten jetzt die Staaten da¬
nach, ihr Fußvolk nach schweizerisch deutschem Muster einzurichten oder deutsche
Knechte zu werben, und zugleich danach, eine der französischen Artillerie eben¬
bürtige Waffe herzustellen; auf der andern Seite ließ das Auftreten der
Spanier die Gewalt eines Volkes erkennen, bei dem die allgemeine Wehr¬
pflicht sich in Jahrhunderte lang währender Kriegsschule frisch erhalten.
Zugleich deuten sich zum erstenmale die Gegensätze an zwischen der pha-
langitischen Fechtweise des germanischen und der legionaren Taktik des spa¬
nischen Fußvolks.
Ganz Italien feierte nach dem Abzüge Charles' VIII. Jubelfeste wegen
der glücklichen und unvermutheten Befreiung von den Fremden, und doch
sollte dieser Feldzug zum Ausgangspunkte einer langen Reihe schwerer krie¬
gerischer Verwickelungen werden, deren Beute, Opfer und Schauplatz Italien
war. Denn die Richtung, welche die französische Politik unter König Char¬
les auf die Apenninenhalbinsel genommen hatte, übertrug sich auch auf dieses
Königs Nachfolger, und der Umstand, daß die Befreiung Italiens nur
durch einen Bund der Lokalgewalthaber mit Spanien und Deutschland
ermöglicht worden war, gewährte diesen beiden Mächten den Anreiz und
den Hebel zu fortdauernder Einmischung in die italienischen Angelegenheiten.
Nach einer neuen Goethebiographie greift wohl heute jeder Gebildete in
Deutschland mit freudiger Spannung, Lastet doch auf uns das drückende
Gefühl, daß wir uns das Leben unseres größten Dichters von einem Ausländer
erzählen lassen müssen. Müssen? Wirklich müssen? Vielleicht müssen wir
es nicht, aber wir thun es doch. Und man sage über Lewes' Buch, was
man will, man tröste sich mit dem leidigen Troste, daß Lewes seine Aufgabe
unterschätzt habe, daß sein Buch nicht dem Ideale einer Goethebiographie
entspreche, welches Uns Deutschen vorschwebe, daß wir nicht eher uns zufrieden
geben werden, als bis wir über Goethe ein Werk besitzen, wie es' Otto Jahr
über Mozart, Carl Justi über Winckelmann, Philipp Spitta über Sebastian
Bach geschrieben hat, daß wir es eben deshalb und nur deshalb noch zu
keiner würdigen Goethebiographie gebracht haben, weil wir die Großartigkeit
der Aufgabe richtiger schätzen als der Fremde, daß überhaupt die Zeit zur
Ausführung dieser Aufgabe noch gär nicht gekommen sei, so lange das Goethe¬
archiv in Weimar noch immer für den Forscher verriegelt und versiegelt sei,
und was dergleichen Trostgründe mehr sind — so wird man doch nicht hin-
wegläugnen können, daß Lewes, von Liebe und Begeisterung für den Dichter
erfüllt, ein fleißiges, geschicktes, geschmackvolles und lesbares Buch geschrieben
hat, ein Buch, daß unsre gesammte deutsche Goetheliteratur bei uns selbst an
Popularität übertrifft.
Von Otto Jahr erwartete man lange Zeit, daß er einst Lewes aus dem
Felde schlagen werde. Ja, was erwartete man von Otto Jahr nicht alles!
Die Alterthumswissenschaft hoffte von ihm noch ein großes archäologisches
Fundamentalwerk, die Musikgeschichte rechnete auf ein Leben Beethoven's. Er
ist dahingegangen, und nichts von dem hat sich erfüllt. Und auch die Frage,
wer dem deutschen Volke das Leben Goethe's schreiben werde, ist eine offene
geblieben.
Auch Goedeke's Buch*), auf welches wir jetzt die Aufmerksamkeit lenken
möchten, ist weit entfernt davon, eine Lösung dieser Frage zu sein. Aber
es ist ein Beitrag zu dieser Lösung, ein Beitrag von durchaus eigenthümlicher
Art und Bedeutung, und ein Buch, mit welchem intimste Bekanntschaft zu
machen wahrhaftig der Mühe lohnt.
Goedeke selber sagt in seinem kurzen Vorworte, seine Darstellung von
Goethe's Leben und Schriften bestehe „wesentlich aus den Einleitungen, die
er vor Jahren zu einer Gesammtausgabe und den einzelnen Werken des
Dichters in der Absicht verfaßt habe, um sie demnächst als selbständiges Buch
geordnet erscheinen zu lassen". Wir bekennen nun ehrlich, daß wir jene „Ein¬
leitungen" nicht zum Vergleich herangezogen, sondern uns ausschließlich an
das „selbständige Buch" gehalten haben, und da müssen wir allerdings hin¬
zufügen, daß von der angegebenen Entstehungsweise des Buches schwerlich
jemand etwas ahnen würde, wenn sie der Verfasser nicht selbst verrathen
hatte. Abgesehen von gelegentlichen vorbereitenden, überleitenden und zurück¬
blickenden Partieen, in denen man die „Verzahnungen" der ursprünglich für
steh bestehenden Glieder wahrzunehmen meint, macht das Buch durchaus den
Eindruck, als ob es aus einem Guße entstanden sei; störende Wiederholun¬
gen, wie sie bei einer derartigen Ueberarbeitung fast unvermeidlich zu sein
scheinen, fehlen zwar nicht ganz (Vgl. z. B. die Anmerkung auf S. 68 mit
S. 403), bilden aber doch eine verschwindende Ausnahme.
Ueber den Inhalt des Buches hier Worte zu machen, würde nicht viel
Sinn haben; „Goethe's Leben und Schriften" — damit ist ja alles gesagt.
Auf die Behandlung des Stoffes allein kann es ankommen. Wiederholt hebt
es Goedeke hervor, daß Goethe's Leben eine harmonisch fortschreitende Ani-
^rsalbildung gewesen sei, daß in jeder Periode derselben eine gleichzeitige
Entwickelung nach den verschiedensten Seiten hin stattgefunden habe, daß
Goethe nie in Einzelheiten aufgegangen, sondern stets unter der Wechselwir¬
kung aller ihn treibenden, fördernden und hemmenden Kräfte im steten Wachsen
^griffen gewesen sei, und daß man nie vergessen dürfe, wie hinter dem
Dichter, dem Forscher, dem fürstlichen Berather die reiche Individualität eines
großen Menschen stehe. Diese Gesichtspunkte ununterbrochen festzuhalten
Würde nun bei einer streng chronologischen Darstellung ganz unmöglich sein.
Eine BeHandlungsweise in annalistischer oder gar tagebuchartiger Form, wie
^ ja thörichter Weise für einzelne Perioden von Goethe's Leben wirklich un¬
ternommen worden ist, wird zwar das Gleichzeitige schönstens zusammenleimen,
"ber das innerlich und ideell Zusammengehörige stets zerreißen und so immer
Uur ein verworrenes Bild geben können. Es ist einer der größten Vorzüge von
^oedeke's Darstellung, daß er die chronologische Anordnung mit einer mehr
stofflichen Gruppirung so ungesucht zu verschmelzen gewußt hat. Sein Buch
^'fällt in sechzig verhältnißmäßig kurze und immer abgerundete Capitel, in
^nen bald der Faden von Goethe's äußerem Leben weitergesponnen, bald eine
einzelne hervorragende Dichtung oder eine Gruppe verwandter Dichtungen
^handelt, bald aber auch eine besondre Seite seiner geistigen Bethätigung
wie seine naturwissenschaftlichen Bestrebungen und seine Kunststudien —
^°n Anfang bis zu Ende im Zusammenhange verfolgt wird.
Daß ein Literarhistoriker von Goedeke's umfassender Kenntniß auch hier
"ach allen Seiten hin auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung steht,
ihm trotz des enormen Umfangs unserer Goetheliteratur schwerlich irgend
etwas von Belang entgangen sein wird, ist selbstverständlich. Das Wenige,
was nach der Vollendung des Buches noch erschienen ist, wie Krieges Ver¬
öffentlichungen über Goethe's Thätigkeit als Rechtsanwalt in Frankfurt,
die von Urlichs herausgegebenen Briefe an Johanna Fahlmer, die Mitthei¬
lungen von Beaulieu - Marconnay über Goethe's Anstellung in Weimar,
Düntzer's Buch über Charlotte von Stein, würde vielleicht, wenn es noch hätte
benutzt werden können, auf die oder jene Partie ein Streiflicht mehr ge¬
worfen haben, kommt aber der unbegrenzten Fülle des Benutzten gegenübel
kaum in Betracht. Selten haben wir bei einer biographischen Darstellung
so sehr das Gefühl gehabt wie hier, daß der Verfasser aus dem Vollen schöpft,
daß das, was er spendet, nur die reiflich erwogene Quintessenz aus cinco
Zehnfach so reichen dahinterstehenden Stoffe ist.
Ueber die äußeren Lebensschicksale des Dichters berichtet Goedeke in ge¬
drängter Kürze. Von einem sogenannten „culturgeschichtlichen Hintergrunde"
ist nirgends etwas zu bemerken. Alles bewegt sich um die Hauptgestalt, alles
bezieht sich auf sie und drängt ihr zu. Eine unabsehbare Reihe von Ge¬
stalten tritt nach und nach in den Nahmen der Darstellung; dem einzelne»
kann da nicht viel Raum gewidmet werden, und doch weiß Goedeke für alle,
auch für die unbedeutenderen zu interessiren. Ein einziger Zug aus ihrer
Handlungsweise, eine einzige Aeußerung ihres Mundes, ein einziges
treffendes Epitheton — und sie stehen leibhaftig vor uns. In der Besprechung
der Dichterwerke Goethe's beschränkt sich Goedeke meist darauf, mit wenige"
Worten die Geschichte ihrer Entstehung zu erzählen, ihre Quellen anzugeben
und ihre Beziehungen zum Leben des Dichters anzudeuten. Nur bei de"
weniger bekannten, bei denen, deren Leserkreis heutzutage kleiner und kleiner
wird, gibt er auch eine Analyse des Inhalts. Die Vorzüge und Schwäche"
der Dichtung werden nicht eben tiefgehend, aber nach unserem Dafürhalte"
meistens richtig erörtert. Getreu dem im Vorworte ausgesprochenen Grund'
Satze „den Dichter zu seinen Studien und Leistungen im engsten Verhältniß
zu zeigen, ohne viel außerhalb des Stoffes sich zu ergehen", sucht Goedeke,
wo es irgend möglich ist, des Dichters eigne Meinungen über seine Werke
mitzutheilen. Im übrigen beschränkt er sich auf beachtenswerthe Urtheil
Goethe'scher Zeitgenossen. Ansichten moderner Literarhistoriker oder Aesthetik
werden nirgends eingeflochten; von ästhetisirender Salbaderei findet sich kei>^
Spur. Was Goedeke gelegentlich seiner Besprechung der „Wahlverwand"
schaften" äußert, daß es nicht seine Absicht sei, „die Reihe der Scholiafte"
oder Scholastiker" zu verlängern, das tritt bei all diesen Erörterungen hero^'
Und doch fällt bisweilen in zwei Worten ein neues Licht auf allbekann ^
Dinge, wird im Vorübergehen und ohne viel Aufhebens davon zu machen, el>^
unbeachtet gebliebene Beziehung hergestellt, durch einen unbedeutenden Anne
e>n? landläufige Auffassung berichtigt, eine irrige Annahme bekämpft. Eine
erstaunliche Fülle von Material steckt in den Capiteln, in welchen eine Anzahl
gleichartiger Dichtungen Goethe's summarisch behandelt, einzelne Richtungen
seiner Studien verfolgt, oder sonstwie literargeschichtliche Ueberblicke gegeben
werden. Partieen, wie jene paar Seiten, in denen über die Bestrebungen
^r deutschen Höfe des vorigen Jahrhunderts für die Hebung der deutschen
Literatur, über Goethe's naturwissenschaftliche Studien, über seine Thätigkeit
als Gelegenheitsdichter berichtet wird, sind Muster übersichtlicher Zusammen¬
fassung.
Es ist ein Buch von mäßigem Umfange, das Goedeke uns bietet; aber
Welche Fülle von Stoff und Arbeit ist darin niedergelegt! Wie mancher
würde, wenn er das Material überblickte, welches Goedeke überblickt, dieses
^und zu drei, vier starken Bänden aufgebauscht haben. Goedeke hat sich überall
äußerste Knappheit und Prägnanz zur Pflicht gemacht. Leider hängt
wie diesem Borzuge, wie so oft, ein Mangel des Buches untrennbar zu¬
sammen. Goedeke ist in dem Bestreben möglichst compendiös zu sein, die
Thatsachen möglichst zusammenzudrängen und mit wenigen Worten möglichst
^'el zu sagen, in eine gesuchte Kürze der Darstellung und Ausdrucksweise
Zerfallen, an die man sich nur langsam gewöhnt. Ja, öfter begegnet man
geradezu einem Lakonismus der Erzählung, von dem man nicht recht weiß,
"d Man noch ernst dabei bleiben soll. Wir müssen ein paar Proben geben.
Ueber Friderike von Sesenheim z. B. berichtet Goedeke S. 62, in folgender
^else: „Goethe verließ die Freundin, die im Nov. 1813 unverheirathet starb
"No seitdem vielfach verläumdet ist", ähnlich über Lili S. 143: „Der Bruch war
geschehen. Elisabeth Schönemann verlobte sich im nächsten Jahre mit einem
Straßburger Bankier v. Türkheim. Als Goethe, halb im Schlafe, die Nachricht
erhielt, kehrte er sich um und schlief weiter. Lili wurde am 25. August 1778
^traut und starb am 6. Mai 1817 in Kraut-Egersheim bei Straßburg."
Wngt doch beides gar zu komisch. — In dem Capitel, welches unter
"überm das Ad- und Zuströmen von Gästen am Weimarer Hose schildert,
findet sich S, 169 der wunderliche Passus: „Das Bethlehem in Juda wurde
^'erhaupt nicht leer, wie Herder mit dem Wunsche äußerte, daß die Besucher
allmählich eine leere Krippe finden möchten. Dahin wäre es fast gekommen,
^ die schöne Gräfin Tira Brühl auf Einladung des Herzogs eintraf und
^ dann mit allzu geringer Rücksicht behandelt fah (März 1782), was sie
"ber nicht abhielt, später wieder zu kommen." Wir möchten wohl wissen,
^le viel Leser das auf's erste Mal verstehen. — Nicht minder äffen-
^ ist folgende Stelle S. 196: „Sigmund von Seckendorf war am
Z'- April, der Prinz Leopold von Braunschweig am Tage darauf gestorben.
Der Tod jenes gab „Stoff zu nachdenklichen Betrachtungen", dieser war
»
rührend, da der Prinz, um Andere aus den Fluthen zu retten, selbst darin
untergegangen war." Und was ist schließlich damit gesagt? — Mit Winckel-
mann ist Goethe nie in Berührung gekommen, und doch wird ihm S. 32
ganz beiläufig, in einem Relativsatze (!) folgende Biographie gewidmet:
„Wie sehr mußte Goethe auf Winkelmann gespannt sein, der eine Reise nach
Deutschland angekündigt hatte, sie wirklich bis Wien ausdehnte, dann aber
von unwiderstehlicher Sehnsucht zurückgezogen umkehrte und am 8. Juni l768
in Trieft dem Meuchelmörder erlag/'
Bei diesem Streben nach Prägnanz ist Goedeke natürlich auch ein abge¬
sagter Feind aller blos lückenbüßenden Uebergangsphrasen. Auch dies an sich
mit Recht. Nichts häßlicheres, als jene wohlfeilen, zusammenleimenden Redens¬
arten, wie: „An zweiter Stelle wäre zu erwähnen," oder „Wenden wir uns
nun" oder „Werfen wir, nachdem wir dies und das betrachtet haben, einen
Blick" ze. Goedeke ist sichtlich bemüht, derartiges um jeden Preis zu ver¬
meiden und selbst bloße Uebergangssätze stets auch mit thatsächlichem Inhalt
zu erfüllen. Man kann aber doch auch darin etwas zu weit gehen, und dies
ist ziemlich häufig bei ihm der Fall gewesen. Wenn sich Goedeke in der
Schilderung von Goethe's Leipziger Freundeskreis den Uebergang von einem
zum andern durch eine Wendung schafft, wie: „Ansprüche dieser Art machte
der um zwanzig Jahre ältere Krebel durchaus nicht" oder von den primitiven
Theatervorstellungen im Schönkopf'schen Hause zur Familie Breitkopf durch einen
Satz, wie: „Vielmehr Aufwand ließ man es sich schwerlich auch im Kreise des
Buchhändlers Breitkopf kosten," so mag das noch angehen, wiewohl man
auch hier schon die Absicht merkt. Wenn er aber von Friederike Oeser zu
Goethe's Erkrankung in Leipzig durch folgenden Satz sich hinüberwindet: „Ib>
Plappermäulchen stand nicht leicht still und schlug auch dann keinen schwer-
müthigen Ton an. als Goethe einer ernsthaften Gefahr kaum entronnen war,"
oder von Sophie La Roche zu Leuchsenring durch folgendes Bindeglied: „Sovh^
nannte die Leute in's Gesicht liebenswürdig und, wenn sie den Rücken gedreht,
Tapetenstücke. Wenigstens äußerte sie sich so in Bezug auf einen damals vielge-
nannten Mann des Darmstädter Kreises" oder von Jacobi zu Lili durch die
Worte: „Fraglich ist es, ob Goethe ihn auch mit Elisabeth Schönemann zusammen-
zu führen Gelegenheit hatte oder haben wollte," so sind das entschieden
zwungene, geschraubte Wendungen, die man gern durch bequemere stilistische
Mittel ersetzt sähe. Das wunderlichste, was uns in dieser Art aufgestoßen,
ist folgender Passus S. 172: „Später besuchte Goethe die Fürstin (Galizw)
in Westphalen, konnte sich aber innerlich nicht mit ihr befreunden, so wenig
wie mit Elise v. d. Recke, die im October 1784 in Weimar gewesen roa>'
falls er sie gesehen hätte. Er war damals in Ilmenau." Also Goethe konnte
sich mit Elise v. d. Recke nicht befreunden, falls er sie gesehen hätte! Und
dieser Nonsens bloß deshalb, damit die Fürstin Galizin und Elise v. d.
Recke in einen Satz zusammengepfercht werden können.
Eine weitere Eigenthümlichkeit der Goedeke'schen Darstellungsweise, die,
wiederum eine Consequenz jenes Strebens nach Kürze und wiederum an sich
ein Vorzug, doch in diesem Buche ausgeartet ist und überdies durch einen
von außen hinzugekommenen Ärgerlichen Umstand zu großen Unzuträglich¬
keiten geführt hat, besteht in folgendem. Goedeke hat unzählige Male Stellen
aus Goethe's Briefen und autobiographischen Schriften, sowie aus Briefen
und Schriften von Zeitgenossen des Dichters in seine Darstellung verflochten.
Er beobachtet dabei ein doppeltes Verfahren. Entweder er giebt diese Stellen
^- und dies ist sehr oft der Fall — ohne jede Andeutung eines Cidades
und verschweißt sie gleichsam mit der eigenen Darstellung, indem er einfach
..er" statt „ich", „sein" statt „mein" setzt. Für den in der Goetheliteratur
bewanderten hat dieses Verstecksptel mit den Quellen einen gewissen Reiz,
ungefähr einen ähnlichen, wie für den in der Musik Bewanderten die Vor¬
führung eines Potpourris. Man freut sich, in jedem einzelnen Falle sofort
!u wissen: Ja, ja, das ist aus dem oder jenem Briefe, aus dem oder jenem
Abschnitt von „Wahrheit und Dichtung", oder wenigstens zu erkennen: „Hier
spricht nicht Goedeke, sondern das sind Goethe's eigne Worte". Dem Laien
gegenüber hat aber doch dieses Verfahren etwas höchst Bedenkliches; ihm
wuß unbedingt äußerlich angedeutet werden, wo Goedeke aufhört und Goethe
anfängt. Und dieses empfehlenswerthere Verfahren beobachtet denn der Ver¬
fasser auch in ebenso vielen andern Fällen; er giebt die entlehnte Stelle, wenn
^ auch nur selten sagt, wo sie her ist, wenigstens mit Anführungszeichen
— "). Leider ist aber nun hier in nahezu hundert Fällen (!) das
erste Anführungszeichen — seltsamer und fast unglaublicher Weise stets das
erste, nie das letzte — beim Druck abgesprungen, so daß man allemal
erst am Ende eines Cidades erfährt, daß man sich seit so und so viel Zeilen,
ja vielleicht schon seit einer halben Seite mitten in einem Citat befunden hat.
Aber wo beginnt nun das Citat? — Diese Nachlässigkeit, über die man,
wenn sie ein Dutzend mal vorkäme, ja kein Wort verlieren würde, zieht sich
wir einer so niederträchtigen Consequenz durch das ganze Buch, daß sie einem
schließlich geradezu die Lectüre verleiden kann.*)
Endlich ist die auf die Spitze getriebene Knappheit des Ausdrucks auch nicht
ohne Einfluß auf die grammatische Correctheit geblieben. Goedeke liebt z. B.
unschöne Participialconstructionen, wie S. S3: „Unverheiratet hatte er
(Salzmann) seit Jahren seinen Mittagstisch bei den Jun'gfern Lauts genommen"
anstatt: „Da er unverheirathet war, so hatte er" ze. S. 64: Etwas keck,
vorlaut und rücksichtslos gerieth er (John Meyer) zuweilen mit Goethe in Con¬
flicte — S. 130: derb, kurz, spartanisch war ihm (Carl August) das
höfische Wesen zuwider. An einer Stelle hat die Sucht nach Kürze geradezu
zur Unklarheit geführt. Es heißt S. 91.. Jerusalem habe sich erschossen, „weil
sein durch Speculation gekränktes Ehrgefühl und schimpflich zurückgewiesenes
Verlangen nach der Frau eines Andern unerträglich gewordenes Leben (sie)
einen raschen gewaltsamen Abschluß verlangte". Ein einziges Wörtchen würde
alles klar machen, aber Goedeke karge mit diesem Wörtchen, und so können
sich die Leser den Kops zerbrechen oder — darüberhinlesen.
Wem soll man nun das Goedeke'sche Buch empfehlen? Wie aus allem
gesagten hervorgeht, unbedenklich jedem, der sich schon tüchtig in der Goethe¬
literatur umgethan hat und die Fähigkeit besitzt, über die stilistischen Eigen¬
thümlichkeiten des Verfassers sich hinwegzusetzen; für ihn wird es ein äußerst
reichhaltiges und zu tieferen Studien anregendes Repertorium sein. Freilich
muß man dabei vergessen, daß Repertorium von reperire, „auffinden", abzu¬
leiten ist. Denn weder ist durch Indices am Schlüsse des Buches dafür
gesorgt, daß man sich innerhalb desselben, noch durch die geringsten Quellen¬
nachweise, daß man sich außerhalb desselben in den Quellen zurechtfinden
kann. Aber Goedeke hat offenbar allen derartigen Apparat absichtlich ver¬
mieden, weil er zugleich ein lesbares Buch für das größere Publicum schreiben
wollte. Daß ihm das letztere gelungen, möchten wir bezweifeln. Wir fürchten,
daß der Laie dem Buche wenig Geschmack abgewinnen, am allerwenigsten,
ihm vor der Leistung von Lewes den Borzug geben wird. Aus einem Buche,
das so wenig redselig ist, und das die Dinge mittheilt, nicht um sie wie
etwas noch Unbekanntes eben mitzutheilen, sondern wie um an Bekanntes
auszugsweise zu erinnern, wird ein Leser, der dem Stoffe noch fremd gegen¬
übersteht, sich schwerlich unterrichten können und wollen.
Als Goethe anfing, die Selbstbiographie des Benvenuto Cellini deutsch
zu bearbeiten, wollte er sie ursprünglich in verkürzter Form geben. Allein --
so erzählt uns Goedeke selbst — es erschien ihm bald unmöglich: „denn was
ist das menschliche Leben im Auszuge? Alle pragmatische biographische
Charakteristik muß sich vor dem naiven Detail eines bedeutenden Lebens ver¬
kriechen." Die Wahrheit dieses Goethe'schen Wortes erweist sich einigermaßen
Manch' Einem erscheint die Ruhe, die tiefe politische und sociale Wind¬
stille, die bei uns herrscht, wie eine Art Zauberschlaf, eine melancholische, kraft-
und thatlose Lethargie, die gerade kein besonders gutes Zeichen physischer
und geistiger Gesundheit und des Wohlbefindens des Landes ist. Es giebt
Viele, denen die allgemeine Entwicklung der reichsländischen Verhältnisse viel
zu langsam vorwärts zu schreiten scheint. Sie wollen mehr Resultate sehen,
womöglich eine sofortige Lösung aller Fragen, die doch erst langsam heran¬
reifen muß. Man muß dabei eben berücksichtigen, daß jene Ruhe und das
langsame Vorwärtsschreiten der neuen Entwicklung der Dinge für Land und
Leute zu unumgänglicher Nothwendigkeit geworden sind, und daß die durch
den Krieg gewissermaßen im Handumdrehen geschlagenen Wunden einer langen
Zeit, vielleicht Jahrzehnte bedürfen, um allmählig zu heilen und zu verharr-
schen. Gerade diese ruhige und allmählig vorwärts schreitende Entwicklung
der politischen und allgemeinen Verhältnisse in Elsaß-Lothringen giebt uns
die sicherste Bürgschaft der allmähligen Versöhnung des Volksgeistes auf allen
Gebieten. Man mag es dabei immerhin beklagen, daß auch die geselligen
Beziehungen zwischen dem heimischen und eingewanderten Elemente noch immer
auf dem früheren Standpunkt sich befinden. Namentlich in den größern
Städten des Elsasses und vornehmlich in Lothringen steht man sich in dieser
Hinsicht noch immer so kühl und fremd gegenüber, wie in den ersten Monaten
"ach der Annexion. Und'wenn nicht alle Zeichen trügen, fo scheint dieses
Verhältniß noch auf eine Reihe von Jahren dasselbe bleiben zu sollen. Das
ist aber ein nothwendiges Uebel, das eben die gegenwärtige Generation ver¬
winden muß. Auch hier muß man der Zeit, der Allheilerin, das Uebrige
anheimstellen.
In Straßburg ist die diesjährige Theater-Saison ohne Sang und
^arg zu Grabe gegangen. Der ständige Berichterstatter des Elsässer Jour¬
nals in diesem Fache. Herr F. Schwob, hat ihr zu guter Letzt einen gar
Melancholischen Grabgesang gesungen. Er meint: damit im nächsten Jahre
in dieser Beziehung eine Wendung zum Bessern eintrete, d. h. daß das Haus
"icht in der Regel leer stehe und 'in Folge dessen die Primadonnen und ersten
Tenore nicht immer an Verschnupfung und Erkältung leiden, solle man doch
^ Zukunft abwechselnd eine deutsche und eine französische Truppe dort Vor¬
stellungen geben lassen, damit doch auch die geborenen Straßburger wieder
^nige theatralische Genüsse haben, und der alte Ruhm des Straßburger
Theaters wieder floriren könne. Indessen hat Herr Sachse aus Berlin in
dem Foyer des Stadttheaters einen Theil der Gemälde seines „Jnternatio-
malen Kunstsalons" ausgestellt, unter denen einzelne Meisterwerke jetzt lebender
Künstler, namentlich aus der Düsseldorfer und Münchener Schule, vertreten
sind. Auch hat sich in jüngster Zeit die „Gesellschaft der Kunstfreunde" in
Straßburg die dankenswerthe Mühe gegeben, eine kleine Ausstellung von Ge¬
mälden zu veranstalten, in der besonders das heimische Künstlerelement seine
Vertretung finden soll. Die Ausstellung befindet sich im zweiten Stockwerke
des Ilöwl ein Oommeree, und kann Jeder, der sich für die schönen Künste
interessirt und von einem Mitglied der Gesellschaft empfohlen ist, (sie!)
dieselbe besuchen. — Die Straßburger Universitäts- und Landesbibliothek
reprcisentirt nach den neuesten Resultaten, welche in einem interessanten
Schriftchen des Custos derselben, 'Dr. Hottinger, niedergelegt find, augenblick¬
lich die ansehnliche Ziffer von 350,000 Bänden. Durch den jüngst erfolgten
Ankauf der Heitz'schen Bibliothek mit 1818 Handschriften, sind namentlich
auch Alsatia reichlich vertreten. — Zu dem in voriger Woche in Paris statt¬
gehabten allgemeinen Foederalfest der französischen Turnvereine waren
auch die elsässischen besonders eingeladen. Noch in letzter Stunde hat aber
die deutsche Regierung den Letztern die Betheiligung untersagt und zwar
unter Androhung der Auflösung des betreffenden Turnvereins im Falle der Zu¬
widerhandlung gegen dieses Verbot. Man fürchtete wahrscheinlich politische
Demonstrationen seitens der jungen Leute. Das „Elsässer Journal" bezeichnete
jene Maßnahme der Negierung wohl als einen „eaux xas«. Die seither
bekannt gewordene Fassung der französischen.Einladung läßt das Verfahren
der deutschen Verwaltung durchaus gerechtfertigt erscheinen.
In Colmar zerbricht man sich augenblicklich den Kopf darüber, was
wohl dem außergewöhnlichen Besuche von vier Generälen, die dort ganz
unerwartet ihr Absteigequartier genommen haben, für eine politische oder
militärische Bedeutung zuzumessen sei. Es sind nämlich gegen den Zwanzigster
hin die Generäle von Werber, Woyna, v. Sell und Graf Solms von Helfen-
stein angekommen, — immerhin ein Ereigniß für eine kleine Stadt, wie
Colmar. Ueber den Zweck jenes unverhofften Besuches von vier militärischen
Großwürdenträgern herrscht noch einstweilen geheimnißvolles Dunkel. Daß
man nun alles Mögliche dahinter suchen will und dabei die scharfsinnigsten
Combinationen von der Welt macht, ist selbstverständlich. Doch dürfen sich
die verschiedenartigen, unter sich widersprechendsten Conjuneturen, die man
hier und da an dieses „Ereigniß" anknüpft, wohl kaum der Mühe der Auf¬
zeichnung verlohnen. Höchst wahrscheinlich haben die hohen Offiziere nur
einen gemeinschaftlichen Sommerausflug nach unserer oberelsässischen Metropole
machen wollen, die sich ja durch ihre romantische Lage in unmittelbarster
Nähe der Hochvogesen und des reizenden Münsterthales zu derartigen SpriY-
touren ganz besonders empfiehlt. — Ueber dieColmar-Breisacher-Bahn
Hort man neuerdings mit Bestimmtheit versichern, daß dieselbe spätestens mit
dem 1. Juni 1877 sammt der stehenden Rheinbrücke dem Verkehr übergeben
werden wird. Geschäfft wird daran schon seit Monaten hüben und drüben
mit dem größten Eifer.
In einer der letzten Sitzungen des oberelsässtschen Schwurgerichts
kam "ein ziemlich allgemein interessanter Fall zur Verhandlung. Die
Szene spielt in Mülhausen und gehört zu dem Kapitel des durch den
letzten Krieg mehr denn je geweckten und genährten Nationalhasses. Ein alter
Alaun von ca. 60 Jahren, geborener Südfranzose, hatte dort am 24. Juni
vor. I. einen preußischen Soldaten meuchlings ermordet. Bei seiner sofortigen
Verhaftung gab er an, er sei ein Corse aus Ajaccio und habe nur darum
den preußischen Soldaten erstochen, um an demselben einen Akt der Blutrache,
die corsische venäetta, auszuüben. Und das aus dem Grunde, well sein eigener
Sohn, die Stütze seines sinkenden Alters, im Jahre 1871 vor Paris durch
preußische Kugeln gefallen sei. Doch habe er nicht dessen Tod, sondern nur
Blut sehen wollen. Damit sei die Rache gesühnt. Es kostete dem Gerichte
einige Mühe, hinter den wahren Sachverhalt zu kommen. Endlich erfuhr man
^res Zufall den wahren Ort seiner Herkunft, Bourg, und seinen eigentlichen
Namen, Jacques Ligez, den er früher immer als Jean Louis angegeben hatte.
Diese Entdeckung war gleichzeitig für den Angeklagten das Signal zu einer
totalen Aenderung des Systems seiner Vertheidigung, indem er nunmehr als
^rund seiner Handlungsweise eine partielle Geistesstörung angab. Der Schluß
^ar der, daß die Anklage die Beschuldigung wegen Mordes gänzlich fallen
und nur die wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit nachgefolgtem Tode
aufrecht erhielt. Den elsässischen Geschworenen muß man es dabei zu ihrer
Ehre nachsagen, daß sie in diesem für ihre politischen Gefühle wohl etwas
peinlichen Falle ganz sine ira et stuüio gehandelt d. h. alle politischen Hinter¬
gedanken und Erwägungsgründe bei Seite gelassen haben. Der Angeklagte
^urbe dem Antrage der Staatsanwaltschaft gemäß für schuldig erklärt und
S Jahren Gefängniß verurtheilt.
In neuester Zeit hat sich in den drei genannten elsässischen Hauptstädten,
^e auch an andern Handelsplätzen Deutschlands, eine lebhafte Agitation zu
Gunsten der Aufrechterhaltung der, bekanntlich gemäß den Beschlüssen des
Justiz-Ausschusses dem nahen Untergange geweihten Handelsgerichte
erhoben. Man hat beschlossen, sich in dieser Beziehung an den Resolutionen
des allgemeinen deutschen Handelstages zu betheiligen.
Indessen hat der Frühling in diesem Jahre, wie allerorten, den ganzen
Wonnemonat hindurch auch im Elsaß seine herrlichsten Triumphe gefeiert und
Alt und Jung für den langen und harten Winter, der Heuer gar kein Ende
nehmen wollte, auf das Reichlichste entschädigt, Aus allen elsässischen Distrik-
ten, vornehmlich aus den Wein- und Obstgegenden, laufen tagtäglich die
günstigsten und hoffnungsfreudigsten Berichte über den Stand der Staaten
und die voraussichtlich reiche Ernte ein. Vornehmlich der Stand der Trauben
läßt nichts zu wünschen übrig und verspricht ein so herrliches Weinjahr, wie
wir es vielleicht seit einem halben Menschenalter nicht mehr erlebt haben.
Und das speziell ist für das Elsaß die Hauptsache. Gedeiht der Wein, dann
zieht damit auch die Zufriedenheit und die Behäbigkeit in die Hütten der
Bauern und in die Häuser der Städter.
Auch über den Stand der elsässischen Industrie, vornehmlich in der
Tuchbranche, lauten in jüngster Zeit die Berichte weit günstiger, als vor etwa
einem halben Jahre. Es scheint, daß in dieser Beziehung der Aufschwung,
den die gesammte Industrie schon vor einigen Monaten in Frankreich ge¬
nommen hat, auch auf das Grenzland einen vortheilhaften Einfluß ausübt.
Ueber die Hoffnungen der Zukunft spricht sich ein in der industriereichsten
Gegend des Elsasses erscheinendes Blatt am Schluß eines dahinbezüglichen
Artikels folgendermaßen aus: „Also steht eine glänzende Zukunft der elsässi-
schen Industrie, besonders derjenigen der gedruckten Stoffe bevor."
Unsere Landtagsberichte haben in dieser Session die Thätigkeit des Herren¬
hauses bisher nur wenig verfolgt. Die wichtigeren Vorlagen der Session
kamen dort noch nicht zur Verhandlung. Jetzt aber folgen sich die Be¬
rathungen des Herrenhauses über die aus dem Abgeordnetenhaus kommenden
Vorlagen rasch. Am 20. Mai stand die Aufhebung der Artikel Is, 16 und
18 der Verfassungsurkunde zur ersten Berathung. Der conservative aber
nationale Herr, Graf Udo zu Stolberg - Wernigerode erklärte sich für die
Aufhebung, indem er trotz seiner positiv kirchlichen Gesinnung, die er betonte,
die Zwecklosigkeit der genannten Artikel für die evangelische Kirche und ihre
Schädlichkeit für den Staat gegenüber der römischen Kirche treffend hervorhob.
Die conservativen aber Partikularistischen Herren, Graf Lippe, v. Kleist-Retzow,
Graf Landsberg-Velen, sprachen gegen die Aufhebung, blieben jedoch bei
der Abstimmung in einer recht kleinen Minorität. Bemerkenswerth aus den
Aeußerungen der Oppositionsredner ist kaum etwas, es sei denn die Aeußerung
des bejahrten, ritterlichen, jedoch überaus verworrenen Herrn v. Kleist-Retzowl
der Kampf gegen Rom kann niemals unter einem Herzog geführt werden, der
Falk heißt, und zu seinem Adjutanten Sydow erwählt hat. Sydow ist der
bekannte unionistische Prediger zu Berlin, dessen Meinungen zu theilen der
Redner den Minister beschuldigte. Der Minister antwortete mit außerordent¬
licher Schärfe. Wir Außenstehenden sind allerdings eher im Stande, die
Wunderlichkeiten des Herrn v. Kleist-Retzow, an welche der Redner mit der
Integrität eines fast kindlichen Gemüthes glaubt, von der heiteren Seite zu
^denen, als der Minister, dem sie praktisch Störung und Hinderung bereiten.
Am 21. Mai berieth das Herrenhaus in erster Lesung das Gesetz über
Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden. Die An¬
Kahme erfolgte im Ganzen nach den Beschlüssen des Abgeordnetenhauses,
Rur soll der Pfarrer gesetzlich Borsitzender des Kirchenvorstandes sein, wie die
Regierungsvorlage bestimmt hatte, während das Abgeordnetenhaus die Füh¬
rung des Vorsitzes durch den Pfarrer verboten. In Folge dieser und einer
andern Aenderung muß das Gesetz noch einmal im Abgeordnetenhaus berathen
^rden. Am 22. Mai bestätigten die Herren die Aufhebung der oben erwähn¬
ten drei Verfasfungsartikel in zweiter Berathung. Alsdann folgte die erste
Berathung des Ordensgesetzes, welches unverändert angenommen ward.
In den Sitzungen vom 24. und 25. Mai wurden angenommen in erster
^erathung das Gesetz über die Schutzwaldungen, in Schlußberathung die im
Herrenhaus zuerst berathene, im Abgeordnetenhaus abgeänderte Vormund-
lchaftsordnung nach den Beschlüssen des letzteren, in zweiter Berathung das
^setz über die Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden,
"ud das Ordensgesetz.
Nachdem am 26. Mai das Gesetz über die Schutzwaldungen in zweiter
^athung angenommen worden, gelangte das Herrenhaus zur ersten Be^
^thung der, wir hätten beinahe gesagt unglücklichen Provinzialordnung. Es
ein sehr eingehender und gutgearbeiter Commisstonsbericht vor, und
Abänderungen der Commission enthalten der verfehlten Regierungsvor-
und den noch weit verfehlteren Beschlüssen des Abgeordnetenhauses
^Senüber eine unleugbare Verbesserung. Etwas Gutes war aber aus diesem
^dz auf der gegebenen Grundlage nicht zu machen, und so geben wir uns
We Freuden der Aussicht hin, daß, weil das Herrenhaus den Borschlägen
>^ner Commission zugestimmt hat und eine gleiche Zustimmung im Abgeord¬
netenhaus nicht zu erwarten ist, unser aus tiefer Ueberzeugung beruhender
Wunsch in Erfüllung gehen und das Gesetz in dieser Session nicht mehr zu
stände kommen wird. Damit wird dem preußischen Staat ein sehr Nachthei¬
ls Experiment erspart und in der nächsten Session mögen bereits bessere
^rne leuchten.
Wir haben die Vorlage und ihre schweren Fehler hier mehrfach charak-
terisirt. Es soll aus den Wahlen der Kreistage eine Provinzialvertretung
construirt werden und aus dieser ein Provinzialausschuß zur Verwaltung des
Provinzialeigenthums und der in diesem Eigenthum begriffenen Anstalten-
Der Provinzialausschuß soll die Patronage über einem ihm untergebenen
Beamtenapparat haben, an dessen Spitze ein Landesdirektor steht. Außerdem
soll der Provinzialausschuß aber auch Funktionen der Staatsverwaltung in
der Provinz übernehmen und zu diesem Zweck sich in Bezirksausschüsse theilen,
welche neben die Bezirksregierungen treten. Als Ganzes aber soll der Pro¬
vinzialausschuß als Instanz über seinen Sektionen, den Bezirksausschüssen
stehen. Den Vorsitzenden des Provinzialausschusses soll die Provinzialver-
sammlung wählen, denjenigen des Bezirksausschusses der Provinzialausschuß-
Bei staatlichen Angelegenheiten soll jedoch im Provinzialausschuß der Ober¬
präsident, im Bezirksausschuß der Regierungspräsident den Vorsitz führen.
Wenn der Charakter einer Angelegenheit, ob staatlich oder, eommunal, Zweifel'
haft ist, sollen Oberpräsident und Communalprästdent sich beim Oberverwal¬
tungsgericht um den Vorsitz streiten u. s. w. Alles, was wir je auf Kinder¬
bilderbogen über die Rathsherren von Schöppenstedt und' Krähwinkel gelesen,
wird hier glänzend übertroffen. Nur das geht über den Spaß, daß solche
Einfälle am Leibe des preußischen Staats probirt werden sollen. Da h^
sich nun das Herrenhaus und seine Commission ein entschiedenes Verdienst
erworben, indem es dem Provinzialausschuß und dem Bezirksausschuß die
staatlichen Angelegenheiten ganz entzogen und statt der ersteren für die
letzteren sogenannte Provinzialräthe und Bezirksräthe eingeführt und dieselbe»
rationell construirt hat. Aeußerlich ist die Maschinerie allerdings nun noch
complicirter geworden. Aber was schadet es, bei sieben oder acht überflüssigen
Rädern die neun voll zu machen, zumal wenn das neunte Rad gerade ein
zweckmäßiges ist? Wir sollen nun haben: Kreisversammlung, Kreisausschuß'
Kreislandrath; Bezirksausschuß, Bezirksrath. Bezirksregierung; Provinzialver-
sammlung, Provinzialausschuß, Provinzialrath, Oberpräsidium. Wir hatten
zu wenig gezählt, da sind schon zehn Behörden! Bereits aber stellte der
Regierungscommissär als Nachtrag zur Kreisordnung die Bildung besonderer
Kreisverwaltungsgerichte in Aussicht, dazu die Bezirksverwaltungsgerichte'
deren Bildung durch einen in dieser Session eingebrachten Gesetzentwurf in
Vorschlag gebracht ist. So haben wir in der Provinz, wohlgemerkt von-
Kreis an, nicht etwa von der Ortsgemeinde an, also vom Kreis bis zu-"
Oberpräsidenten zwölf Behörden, zwölf Behörden der Mittelinstanz, die sieh
mit den (Zentralbehörden und mit den unteren Lokalbehörden auf alle 2Le>^
stoßen und kreuzen. Wenn dabei der Staat sich bewegt, so gleicht er den
tausendfüßigen Würmern. Ueber die Wurmexistenz wird er es aber nich
hinausbringen, wenn ihn der Luxus der Organe überhaupt noch leben läßt.
Indeß wir wiederholen: das Herrenhaus hat die Sache besser gemacht als
sie war. Mit den Füßen, welche das Herrenhaus hinzugesetzt, läßt sich
wenigstens gehen, während die Einrichtung der andern so ist, daß sie sich un¬
aufhörlich in einander verfilzen.
Der Minister des Innern, nachdem er im Abgeordnetenhaus mit dessen
Beschlüssen sich einig erklärt, sah sich nun doch außer Stande, die Verbesserung
des Herrenhauses lediglich zu bekämpfen. Eine glückliche Rolle spielte er
dabei nicht, und sein von uns zuweilen hier gerühmter von sens verließ ihn
gänzlich, als er in der Selbstverwaltung nicht eine Staatsfunktion, sondern
eine communale oder privatrechtliche Funktion, umrahmt und durchsetzt, wie
^ sich ausdrückte, mit staatlichen Organen erkennen wollte. Der Herr Minister
ist viel beschäftigt und hat, wie man sieht, nicht Zeit gefunden, sich die
Erkenntniß Gneist's anzueignen. So kam es, daß er nicht nur hinter
Forkenbeck, sondern auch hinter Kleist-Retzow zurückblieb, die beide das richtige
Verständniß der Sache bekundeten.
Am besten war wohl der Vorschlag Forkenbeck's, die Provinzialordnung
vorläufig zu beschränken auf die Bildung der Organe für die Provinzial-
gemeindeangelegenheiten, die Betheiligung von Laien an der provinziellen
Staatsverwaltung dagegen zu verschieben, bis einmal das Gesetz über die Neu¬
organisation der gesammten Staatsverwaltung in Frage kommen wird. Das
Herrenhaus hat diesem Vorschlag nicht zugestimmt, dessen Zweck jedoch auch
"uf dem beliebten Wege der Annahme der Commissionsbeschlüsse hoffentlich
Reicht wird.
Die Majorität des Abgeordnetenhauses hat sich mit ihren höchst mi߬
ratenen Beschlüssen so identificirt, daß sie die Abänderungen des Herren¬
hauses ablehnen wird, und wir können das nur als ein Glück betrachten,
sofern dadurch, da das Herrenhaus ebensowenig an Nachgeben denkt, der
verfehlte Gesetzesplan unterbleibt. Man will diesem Ausgang von manchen
Zeiten theils parlamentarische, theils gouvernementale Folge beimessen, an
^e wir nicht glauben, obwohl wir sie nicht beklagen würden- Zu erwähnen
^ noch, daß bei den Beschlüssen des Herrenhauses die Abneigung der städtischen
Vertreter, als Aufsichtsinstanz über die Städte einen Provinzialausschuß anzu¬
nehmen,'in dem der ländliche Grundbesitz die Ueberhand hat, allerdings ein
Mitwirkender Faktor gewesen ist. Aber es ist vergeblich, damit den Werth
^ Beschlüsse herabzusetzen. Das Herrenhaus hat mit denselben die Wahr-
5°'r bezeugt, daß die höheren Instanzen der Verwaltung staatlich und nicht
"ach Interessengruppen construirt sein müssen. Dieses Zeugniß verliert nichts
^°n seinem Werth. weil es abgelegt worden theils von Vertretern Nachtheil
befürchtender Interessen, theils von Vertheidigern des Staatsgedankens, die
man heutzutage Bureaukraten nennt.
Das Abgeordnetenhaus hat seit seinem Wiederzusammentritl am 28. Mai
Bis vor nicht langer Zeit entbehrte merkwürdigerweise die deutsche Lite¬
raturgeschichte, die moderne wenigstens einer regelmäßigen, selbstständigen Ver¬
tretung an den deutschen Universitäten; für die ältere, sogenannte germanistische
Literatur waren allmälig an den meisten Universitäten ordentliche Lehrstühle er¬
richtet worden; für die neuere gab es solche nur sporadisch an einzelnen.
Selbst Berlin hatte nur vorübergehend in Golzer einen besondern Vertreter
dieses Fachs. Deutschland stand darin bedeutend hinter andern Ländern,
namentlich Frankreich, zurück, wo keine höhere Bildungsanstalt ohne einen
Lehrstuhl für vaterländische Literaturgeschichte, ebenso für vaterländische poli¬
tische Geschichte, ist; ja es gab theilweise im Auslande Lehrstühle für deutsche
Literaturgeschichte, während sie ^daheim noch vermißt wurden.
Dem großen Jahre 1870—71 und dem dadurch erzeugten neuen Auf'
Schwunge unsres gesammten Nationallebens haben wir es zu danken, daß
neuerdings diesem fühlbaren Mangel endlich Abhülfe zu werden beginnt. Die
Universität für die neuen Reichslande, Straßburg, ward mit einer Professur für
neuere deutsche Literaturgeschichte ausgestattet; München und Leipzig folgten,
und auch für die erste Universität Deutschlands, Berlin, ist eine solche, wie
bestimmt verlautet, für die nächste Zeit in Aussicht genommen.
Ueber die Art der Besetzung solcher Professuren, mit andern Worten
über die Methoden, wie die moderne deutsche Literaturgeschichte auf Univerfi"
täten zu lehren sei, gehen die Ansichten in den Kreisen der Fachmänner und
auch in den maßgebenden Kreisen zum Theil noch auseinander. Die Einen
halten eine mehr philologisch-kritische und exegetische, die Andern eine mehr
kulturhistorische Behandlung des Stoffes für angezeigt. Daß eine ästhetische
künstlerische Würdigung des einzelnen Dtchtwerkes niemals fehlen dürfe, wird
von beiden Seiten als selbstverständlich angenommen.
Die erste dieser beiden Methoden, die philologische, hält sich mehr an den
einzelnen Schriftsteller und das einzelne Schriftwerk. Sie legt besonders
Gewicht auf Art und Zeit des Zustandekommens so wie der Veröffent'
lichung jeder einzelnen Dichtung, auf die Verschiedenheit der Ausgaben, übe»'
Haupt auf das Bibliographische, auf Richtigstellung des Textes, auf das
Sprachliche, Styl, Metrum, Reim u. tgi., auf die Erläuterung dunkler
Stellen aus persönlichen und localen Bezügen, dann auf die literarischen An¬
regungen, aus denen eine dichterische Produktion hervorgegangen, auf bio¬
graphische Notizen, Mittheilungen aus Tagebüchern, Briefwechseln u. f. w.,
insoweit sie Auskunft über die Entstehung eines Werkes, wie für dessen
Auslegung, Unterlage für bestimmte Anspielungen auf Personen oder Ver¬
hältnisse geben, kurz, sie behandelt einen Goethe oder Schiller ohngefähr ebenso
wie die klassische Philologie einen Virgil oder Homer, die germanistische
einen Otfried oder einen Wolfram von Eschenbach. Wir verdanken dieser
philologischen Auffassungsweise eine Menge schätzbarer Beiträge zur näheren
Kenntniß unsrer großen deutschen Dichter; unsre so unendlich reichhaltige
Goethe-Literatur ruht fast ganz auf philologischer Grundlage. Als ein Typus
dieser Methode kann unter den literarhistorischen Schriftstellern der Gegenwart
Düntzer, der Goetheforscher x«r eK«/^, gelten. Die schriftstellerische Form
derselben ist vorzugsweise die monographische Sammlung und Herausgabe von
Briefwechseln, von Tagebüchern, Schilderung einzelner Gestalten aus den
Schriften oder aus den lebendigen Umgebungen eines Dichters, wie Goethe's
Freunde, Frauenbilder aus Goethe's Werken u. f. w., ferner revidirte Aus¬
gaben von Dichtwerken und Commentare dazu. Zu Gesammtschilderungen
eines ganzen Dichters, vollends einer ganzen Literaturperiode bringt es die
philologische Methode selten, weil sie eben zu viel mit dem Einzelnen zu thun
und das Einzelne für sie einen vorwiegenden Werth hat.
Der andern BeHandlungsweise der kulturhistorischen ist es dagegen
immer um den Dichter in seiner Totalität, und wiederum nicht um den
einzelnen Dichter allein als ein Ganzes, Abgeschlossenes, sondern um ihn als
Glied eines größern Ganzen, als den Ausfluß und Ausdruck einer ganzen
Periode geistigen Lebens, einer Zeit und einer Nation zu thun. Sie ver¬
schmäht oder vernachlässigt in keiner Weise die philologische Erörterung und
Feststellung des Einzelnen; aber dieselbe ist ihr immer nur Mittel, niemals
Zweck, und muß sich daher unter ihren Händen allezeit dem Zweck, der To¬
talerkenntniß des Dichters, unterordnen; sie betrachtet den philologisch-
kritischen Apparat gleichsam nur als das Baugerüst, welches dazu dient, das
Gebäude aufzuführen, aber zurücktreten muß vor dem fertigen Gebäude. Da¬
rben legt sie einen Hauptaccent auf das Werden und Wachsen eines Dichters
und seiner Schöpfungen aus der Totalität des Zeit- und Volksgeistes heraus,
s° wie auf den Einfluß, welchen ein Dichter und ein Dichtwerk auf diesen
Zeit- und Volksgeisi rückwirkend ausgeübt. Nicht nach bloß äußerlichen,
abstracten Kategorien; ob ein Dichter moralisch bessernd gewirkt habe, oder
nicht, ob kirchlich oder unkirchlich; ob Goethe oder Schiller politischen oder
nationalen Tendenzen gehuldigt, oder das Gegentheil; sondern nach der
ganzen Lebensanschauung, innerhalb deren ein Jeder sich entwickelt und
gedichtet, und die jeder seinerseits wieder seiner Zeit und seinem Volke aus¬
geprägt hat.
Eine weitere Eigenthümlichkeit dieser kulturhistorischen Behandlung
der Literaturgeschichte — keine zufällige oder willkürliche, sondern eine in
ihrem Wesen selbst wurzelnde — ist die, daß sie unter Literatur nicht blos
die sogenannte schöne Literatur begreift, d. h. die Schöpfungen der frei¬
schaffenden Phantasie, sondern auch andre Richtungen des, geistigen Lebens
einer Zeit, so weit dieselben dazu dienen und nöthig sind, um ein Gesammt-
bild dieses Lebens im Gesammtbild der eine Zeit bewegenden und beherrschen¬
den Ideen zu Stande zu bringen. Dafür hat Goethe bereits in „Dichtung
und Wahrheit" aus seinem Leben, (insbesondre im siebenten Buche) ein nach¬
ahmungswerthes Beispiel geliefert.
Nach dieser kulturhistorischen Methode haben gearbeitet (nachdem Schlosser
dazu, jedoch noch mehr von einem einseitig äußerlichen Standpunkte aus den
Anstoß gegeben) Gervinus in seinem großen Werke „Geschichte der deutschen
Dichtung", jedoch in der Hauptsache mit Beschränkung auf das eigentlich
Poetische, in breiteren Anlagen Julian Schmidt in feiner „Geschichte der deutschen
Literatur seit Lessings Tod", Hettner in seiner „Literaturgeschichte des l.8. Jahr¬
hunderts", der zugleich durch Nebeneinanderstellung der deutschen, englischen und
französischen Literatur die so wichtige Methode der vergleichenden Literatur¬
geschichte cultivirte, Biedermairn in dem literargeschichtlichen Abschnitte seines
kulturgeschichtlichen Werkes „Deutschland im 18. Jahrhundert", mehr mono¬
graphisch Heym in seinem „Hegel und seine Zeit", seinem „Wilhelm von Hum¬
boldt" und neuerdings in seiner „Romantischen Schule. Beitrag zur Geschichte
des deutschen Geistes." Koberstein in seinem „Grundriß der Geschichte der
deutschen Nationalliteratur" vereinigte möglichst beide Gesichtspunkte, den
philologischen und den kulturhistorischen, obschon jener nach dem Zwecke seiner
Arbeit darin vorherrscht.
Nach welcher von den beiden oben charakteristrten Methoden soll nun die
Geschichte unsrer modernen, also vorzugsweise unsrer großen klassischen Litera¬
tur auf Universitäten vorgetragen werden? Unstreitig nach beiden in organischer
Verbindung, jedoch so, daß die kulturhistorische dabei die maßgebende, weg'
zeigende, die philologische nur die unterstützende, an die Hand gehende sei.
Als Zweck akademischer Vorträge über die deutsche Literatur der Neuzeit
(also von der Reformation an) hat man sich doch wohl einen doppelten zu
denken. Das Gros der Zuhörer soll und will daraus eine anschauliche
Kenntniß der vaterländischen Literaturgeschichte, Anregung und Andeutung
zum eignen Studium der Geisteswerke unsrer Dichter und Denker schöpfen ^
al6 ein nothwendiges Element allgemein menschlicher und nationaler Bildung.
Ein kleinerer Theil bereitet sich selbst zu künftigen Lehrern des gleichen Faches
~~ auf Gymnasien, Realschulen. Polytechniker u. s. w-. ein noch kleinerer
vielleicht zu wirklichen Literarhistorikern von Profession vor, zu literarhisto¬
rischen Schriftstellern oder zu Universitätslehrern, oder zu Beidem. Daß für
jenen ersten, größten Theil der Zuhörer der organische Zusammenhang der
Literaturgeschichte in sich und mit dem Ganzen unsrer Volks- und National¬
geschichte die Hauptsache ist. braucht kaum gesagt zu werden. Hier muß das
eigentlich geschichtliche oder kulturgeschichtliche, daneben das ästhetisch-kritische
Element in den Vordergrund treten; das philologische ohne ausgeschlossen
W sein, darf nur in zweiter Linie stehen, muß sich jenen beiden unterordnen.
Für die Spezialisten (um es so auszudrücken) mag dann entweder in besondern
wehr monographischen Vorträgen (über einzelne Dichterschulen, einzelne Dichter,
la auch einzelne Dichterwerke) der philologische Standpunkt neben dem kultur¬
historischen und ästhetisch-kritischen stärker betont werden, oder auch, was sich
hier besonders empfehlen dürfte, in literarhistorischen Seminarien. Bei einer
Boranstellung des philologischen und Hintenansetzung des weitergreifenden kultur¬
geschichtlichen Gesichtspunktes würde zwar wohl das Bedürfniß jener Minder¬
heit von Spezialisten. obgleich doch auch nur sehr theilweise und einseitig
Befriedigung finden, dagegen der allgemeinere Bildungszweck der großen
Mehrheit — der doch bei einem Wissenszweige wie die nationale Literatur¬
geschichte ganz wesentlich in Betracht kommt — nur höchst unvollkommen
erreicht werden.
^ (Dunia). Im Jahr 1643 war's. Deutschland lag zerrüttet darnieder
H„ Folgen eines seit 25 Jahren wüthenden Religionskrieges, fremde
G durchzogen seine Marken, fremde Namen geboten über sein ferneres
1)1? et; ^ Westen hatte der welsche Nachbar schon die Hand auf Deutschlands
nur ? ^ Gauen gelegt, im Norden und Osten der Schwede sich das sagen-
zz.-^lehre Rügen, die fruchtbaren pommerschen Grenzstrecken ausgesucht,
deu/s^ Lohn für geleistete Hülfe. Nur der Fremde übte noch Macht im
imm» ""d deutscher Geist, deutsche Größe schienen verloren auf
eifrig hohen Norden, in Skalholt auf Island ein
Ala^ Forscher jenen Pergamentband, der zwischen seinen altersgrauen
stickt" Keim barg, aus dem das stolze deutsche Reich der fränkischen,
beleben, hohenstaufischen Kaiser sich entwickelt hatte,, den Keim, der
sich ^1 unsterbliche Leben barg, durch welches auch das zertretene Deutschland
war? 6"in. lebenskräftigen, herrschenden Staate entwickeln sollte. Es
Kraft ^ ^iegengesang, den ein Volk voll Heldenmuth und tiefster sittlicher
einst sich selbst'gesungen, den der Bischof Brynjulf Svendsen damals
der Vergessenheit von Jahrhunderten entriß, „die Urgroßmutter aller Ge¬
schichten", die Edda.
Was wir in der Schule von dem ersten Auftreten der Germanen hören,
ist aus Tacitus und der Edda wunderlich gemischt. Die erste Quelle erzählt
von den Sitten und Gebräuchen, den Kriegsthaten der blonden Barbaren,
die zweite von den Göttern und Helden derselben. Jenseits der Schule aber,
wo Leben und Lernen praktisch erst beginnen, begegnen wir nicht so leicht
wieder Anklängen an die Vorzeit unsres Volkes. Der größere Theil unsrer
Gelehrten fußt auf den griechischen und römischen Classikern, unsre Dichter
singen und sagen von jenem ewig blauen Himmel Griechenlands, vom Parnaß
und Helikon so viel, daß für die germanischen Göttergestalten, für den sinnigen
Mythus des eignen Volkes kein Raum bleibt in ihren Versen. So kommt
es, daß im Durchschnitt das Volk vertrauter ist mit der Mythologie der
fremden Völker, als mit seiner eigenen.
Und doch, wie der Geschichtsforscher und Literaturhistoriker, wenn er
von deutscher Geschichte und Dichtung spricht, von dem Studium unsrer
Mythe ausgehen und immer wieder dahin zurückkehren wird, so wird ein
Deutscher, der mit Bewußtsein die jetzige, große Bewegung der Geister mit¬
lebt, ihre innerlich bedingte Nothwendigkeit, ihr ewiges Fluthen und Ebben
von Anbeginn verfolgen können, wenn die ahnungsvollen, tiefsinnigen Kind-
heitsgesän'ge unsres Volkes ihm erzählen von Balder und Freyer, von dem
großen Welt- und Göttergericht, von der Verjüngung der Erde durch eine
kampfendende Kraft.
Es gehört zu den Anforderungen, die man heut zu Tage an jeden Ge¬
bildeten stellt, daß er mit unsern'zwei größten Volksepen, den Nibelungen
und der Gudrun bekannt ist. Das volle Verständniß der beiden Helden des
Nibelungenliedes, Siegfried's und Brunhilden's, ihres durch ihr Zurückgreifen
in die Mythologie symbolischen Charakters, geben aber nur die erhaltenen
Gesänge unsrer Sagenzeit. Selbst Gudrun, die schon deutlich erkennbar von
dem christlich-katholischen Geist der Kreuzzüge durchdrungen ist, bleibt trotz¬
dem ein echtes Kind germanischer Urzeit und gerade die rührende Gestalt von
Gudrun selbst konnte nur die Phantasie eines Volkes schaffen, das in seiner
Mythologie schon Ergebung, Vertrauen, Demuth in lieblichen Gestalten ver¬
körpert hatte, das in seiner poesievollen Darstellung der Sehnsucht nach dern
Frühling, nach Erlösung aus starren Winterbanden, den spätern Sängern
der Gudrun die rührende Weise schon angeschlagen. Und trotzdem im Allge'
meinen diese Unbekanntschaft im Volke, ja die Gleichgültigkeit gegen seine
eigene Vorgeschichte?"
Unsre nördlichen Nachbarn haben die Erinnerung an Poesie und Mytho
logie ihrer und unsrer Väter lebendiger bewahrt, die Einwirkung der nordi'
schen Sage spricht noch heute aus den Liedern der Dänen und bildet einen
ihrer Hauptvorzüge. Eine Auswahl dänischer Gedichte, von Em«'
nuet Bembex im Versmaße der Originale vortrefflich ins Deutsche über¬
tragen, liegt vor uns. Ist auch darinnen der Geist des Mythus mehr
dem der Volkssage abgetönt, so läßt sich doch die innre Verwandtschaft de^
Naturgeister mit den personistzirten Gewalten unsrer Mythe unschwer fest'
stellen. In der erwähnten Sammlung eröffnet den Reigen Andersen, „d^
gute, alte" Dichter."^
Mehr als Friedenskongresse und Verbrüderungsfeste hat er dazu beig
tragen, den Zwiespalt, der zwischen dänischer und deutscher Ueberzeugung
herrscht, durch die lieblichen Blüthen seiner Muse auszufüllen. Wahren"
Kugeln hin und wieder flogen in dänische und deutsche Herzen, waren
Andersen's Märchen das Entzücken deutscher so gut wie dänischer Kinder.
Und wenn der Dichter an seinem 70. Geburtstag auf ein langes Leben voll
des reichsten, beglückendsten Schaffens zurückblicken konnte, so durfte er sich
wir nicht minderem Stolze sagen, daß ihm gegeben war, während sein Vater¬
land mit Deutschland Krieg führte, siegreich mit seinen Schöpfungen in
Deutschland einzuziehn und tausend gute, deutsche Patrioten, die im ehrlichen
^iampf gegen Dänemark standen, trotzdem für einen Dänen, für sich zu ge¬
winnen. Haben wir ihn bisher in Deutschland als sinnigen Märchenerzähler,
als fein schildernden Romanschriftsteller kennen gelernt, so tritt uns aus den
Uebersetzungen der gemüthvolle Dichter entgegen. Seine Meisterschaft in der
Behandlung des Landschaftsbildes bewährt sich auch hier; seine „Ruhe auf
der Haide," und „an Jütlands Küste" sind wahre Cabtnetsstücke von schil¬
dernder Malerei.
Warm gefühlte, patriotische Lieder müssen in ihrer klaren, parteilosen
Haltung auch den Nicht-Dänen ansprechen, aus den poetischen Erzählungen
Micht wieder der dem Wunderbaren zugeneigte Geist des Märchendichters.
Das bekannteste Gedicht von Andersen, „das sterbende Kind," das dem da-
wals noch jungen und unbeachteten Dichter mit einem Schlage die Theil¬
nahme und Bewunderung seines Vaterlandes gewann, darf natürlich in dieser
Sammlung nicht fehlen und wird immer von Neuem den Leser ergreifen.
Ein Buch, das sich mit Andersen einführt, wird in Deutschland nicht
vergebens Einlaß begehren, zumal wenn auch die übrigen vertretenen Dichter
vnde Namen ausweisen können. Da finden wir Baggesen, den lyrischen Zeit-
Und Strebensgenoffen unsrer Romantiker, dessen einfaches und wahr empfun¬
denes: „Als ich klein war" ein Lieblingslied der Dänen ist. Noch andre dä¬
nische Nationallieder birgt die Sammlung: „König Christian hoch am Maste
stand" feiert König Christian IV., den Admiral Incl, den kühnen Wessel,
Dänemarks berühmteste Seehelden. Wenn dieses Gedicht, sowie das Lied von
Herrn Sinclair und „des Matrosen Heimkehr nach Kopenhagen", den Stolz
des Skandinaviers ausspricht gegenüber fremden Eindringlingen, mögen
d'ehe nun siegen oder besiegt werden, so klingt aus dem tapfern Landsol¬
daten ein so behaglicher Patriotismus, wie etwa aus unserm: Nur immer
langsam voran.
Ja, kommt der Deutsche her.
Bettag ich Alle sehr.
Zu Peter und zu Paul
Spricht er dann: Du bist faul!
Und schilt man ihn auf Dänisch aus,
Dann schreit er gleich: Halt's Maul!Für den, der alle Sprachen gelernt, ist das egal,
Wer aber nichts als Dänisch versteht, dem ist's fatal!
Drum zieh ich jetzt in's Feld als tapfrer Landsoldat,
Hurrah, Hurrah, Hurrah!
Ein so gemüthlicher Feind wird schon zu versöhnen sein!
"
. Wir haben nur Einzelnes aus der „Dania hervorgehoben. Alles kann
eingehend nicht behandelt werden. Oelenschläger. der Verfasser des Trauer¬
spiels Correggio, ist in dem kräftigen Schwung der Gedichte Freia's Saal
"ud Fischerlied aus Hroar's Saga kaum als der Autor der krankhaft-empfin-
^'indem Tragödie wieder zu erkennen, Winther, Schack-Staffette, Hertz haben
"ut schönen Beiträgen die Sammlung bereichert. Durch alle diese Dichtungen
aber schlingt sich deutlich fühlbar der Faden, der die nordische Poesie noch mit
der Götterdichtung unsrer Ahnen verknüpft. Bald erinnert nur eine eigen¬
thümliche Naturauffassung, dann ein Anrufen der alten Helden daran, dann
wieder ist der Grundgedanke einer Romanze oder Ballade der Mythologie
entnommen. Wassermänner und Frauen, Schneekönigin, Kobolde steigen auf
und könnten durch ihre Menge erschrecken, sie sind' jedoch zum Glück nicht
verschwimmende Mondschein-Nachtfiguren in Tiek'scher Weise, sondern im
Bösen und Guten kräftig und individuell gehalten.
So erklärt sich vielleicht auch die sonderbare Erfahrung, daß, während
die deutschen Dichter in geistvoller Naturreligion auch unsre neusten Roman-
und Novellenschriftsteller' in ihrem großartigen Pantheismus den Dänen
Heiberg und seine Frühlings-Phantasie, Gottesdienst, an Bedeutung und Ur¬
sprünglichkeit der Gedanken bei weitem überragen, ihre Schöpfungen doch an
eigentlicher Volkstümlichkeit im Allgemeinen gegen ihre nordischen Brüder
zurück stehen.
Es gab eine Zeit in der ersten Hälfte unsres Jahrhunderts, als die
Poesie unter dem Einfluß Uhland's zur Volkstümlichkeit zurückkehrte. Uhland
entdeckte gleichsam von Neuem den lebenden Artern unsrer Poesie, er führte
Bilder und Anschauungen der alten Germanen seiner Zeit vor, und glücklicher
als Klopstock, der einst dasselbe versucht, wußte er die Gedanken der Mytho¬
logie dem modernen Deutschland so zu geben, daß sie verstanden wurden-
Nach ihm und seiner Schule aber erlosch wieder das Verständniß für den
altdeutschen Sagenstoff.
Jetzt wird in unsern höhern Schulen der Inhalt des Mahabarata und
Ramajana kennen gelernt, unsre Volksschullehrer machen sich darauf gefaßt,
beim Examen möglicher Weise Auskunft über das Königsbuch Schahname
oder über die metaphysische Lehre des Alfanabt geben zu müssen, unser eigenstes
Eigenthum, den Mythus unsres Volkes, die Edda dagegen, kennen die Meisten
nur vom Hörensagen. Bis vor wenig Jahren freilich fehlte es an einer allen
verständlichen Uebersetzung; Simrock hatte den Versuch allerdings gemacht, die
vergessenen Gesänge dem Volke wieder zu erwecken, er war gescheitert.
Seit 1872 besitzen wir in der Bearbeitung von Werner Hahn einen
Kreis von Eddagesängen, der uns die geheimnißvolle, tiefinnerliche Gedanken-
und Gefühlswelt unsrer Ur-Väter in schöner Klarheit erschließt. Eine Ein¬
leitung voll warmer Begeisterung für seinen Stoff weist uns auf den Ge¬
sichtspunkt, von dem aus der berühmte Literaturhistoriker sein Werk erfaßt
sehen will, zahlreiche und eingehende Erläuterungen helfen auch dem weniger
Eingeweihten zum Verständniß unsrer alten Poesie.
Jetzt ist die gesegnete Zeit, wo der Deutsche sich seiner Machtstellung nach
außen, seiner geistigen Unabhängigkeit nach innen wieder bewußt geworden, und
welcher Deutsche, der sich dessen bewußt geworden, stimmte nicht freudig
ein in den Feldruf: „Hie Waldungen," beim Kampf gegen das guelfische
Papstthum. Wer sich aber klar ist über das, was wir wollen und wohin
der Kampf uns führen soll, der frage sich auch einmal, von wannen er ge¬
kommen, wo sein erster, innerster Grund liegt.
Fragt die Edda, sie sagt es Euch! Sie erschließt wie kein andres Werk
deutschen Ursprungs: Wie sie war, wie sie ist, wie sie bleiben wird die ur¬
sprüngliche, sittliche, nicht zu betrügende Hoheit germanischen Geistes.
Mit dieser Ueberschrift meine ich die Studentenorden, die sich im
vorigen Jahrhundert aus den Landsmannschaften der mitteldeutschen Hoch¬
schulen herausbildeten, zum Theil aber auch sich von Anfang an selbständig
neben diesen entwickelten. Wie weit ich berechtigt war, diese Bereine mit der
obengenannten Verbindung in Vergleich zu stellen, wird sich zeigen, und wir
Werden sehen, daß der Vergleich wenigstens nicht auf beiden Beinen hinkt.
Lahme er auf dem einen, so hat er das mit allen Vergleichen gemein, da
diese es immer nur mit Aehnlichem zu thun haben, und Aehnlichkett die
Verschiedenheit, selbst große und wesentliche Verschiedenheit, nicht ausschließt.
Die alte Universität kannte unsere Studentenverbindungen nicht. Sie
gliederte sich als bürgerliches Gemeinwesen nach Nationen, die aber einen
offiziellen Charakter trugen, Lehrer und Lernende einschlossen und jede ihren
besondern Besitz an Collegiatstellen und Bursen, ihre besonderen Berathungen
und Feste hatten, als lehrende Körperschaft aber nach den noch jetzt bestehenden
^er Facultäten. Die Nationen, deren es an den meisten Universitäten vier,
in Leipzig z. B. eine meißnische, eine sächsische, eine bayerische und eine polnische,
gab, hatten an der Spitze einen Senior, der stets aus den Magistern gewählt
wurde, welche in den Nationen überhaupt allein vollberechtigte Mitglieder
waren. Die Vorstände der Facultäten waren die Decane, deren vornehmster,
der philosophische, mit bestimmter Abwechselung aus einer der Nationen her¬
vorging. Derselbe vertrat die ganze Universität, sofern sie ein Lehrkörper
war, wogegen der Rector, der oberste Beamte der Gemeinschaft der Nationen,
den Vorsitz in allen das bürgerliche Leben, die Rechte und Einkünfte betreffen¬
den Instituten führte, den höchsten Richter repräsentirte und die auswärtigen
Angelegenheiten verwaltete. Vergleichen wir die alte Universität mit einem
alten Städtewesen, so können wir ungefähr sagen: der Rector war der erste,
der philosophische Decan der zweite Bürgermeister, die Nationen waren die
viertel, in welche die Stadt zerfiel, die Facultäten die Zünfte, die Magister¬
schaft entsprach der Vollbürgerschaft nach der einen, der Meisterschaft nach
der andern Seite, die Studenten endlich waren in der Gemeinde als einer
politischen Pfahlbürger, als einer lehrenden und lernenden fremde Zunftge¬
sellen und in dem ersten Jahre Lehrlinge.
Im vorigen Jahrhundert lockerte sich allmählig dieser Organismus nach
der Seite der Nationen hin, und dieselben verloren ihre Bedeutung zuletzt
ganz. Dagegen bildeten sich Landsmannschaften, die aber in keiner
Weise als Erben der Rechte jener officiellen Verbände, sondern nur als die
Fortsetzung derselben in der Form von Privatinstituten angesehen werden
dürfen. Studirende, welche aus derselben Gegend stammten, dieselbe Schul¬
bank gedrückt hatten, fanden sich naturgemäß auf der Universität zusammen,
besuchten einen und denselben Erholungsort, übten sich gemeinschaftlich im
Fechten und halfen einander bei Streitigkeiten und in Geldnöthen. Mit der
Zeit änderte sich dieses einfache Verhältniß. Zu den Landsleuten gesellten
sich einzelne Fremde von den Commilitonen. Aus den natürlichen Gewohn¬
heiten landsmännischen Verkehrs entwickelten sich Rechte und Pflichten, die
mehr ins Einzelne gingen, und in Statutenform ausgedrückt und niederge¬
schrieben wurden. Das Kränzchen erhielt einen Vorsteher, der wie bei den
alten Nationen den Titel Senior führte und, wie bei den Handwerksburschen
der Altgesell, die Beachtung von Brauch und Gesetz der Gemeinschaft über¬
wachte. Noch später organisirte sich die letztere künstlicher, die Paragraphen
der Satzungen wuchsen, die Geschäfte wurden von mehreren Beamten versehen,
man trug in farbigen Abzeichen, Bändern und Kokarden seine Landsmann¬
schaft zur Schau.
Anders die Entstehung der Orden auf den deutschen Hochschulen.
Immer ist die Studentenwelt die verkleinerte große Welt gewesen, nur war
das Männchen im Auge, das die letztere reflecttrte, meist ein etwas komisches
Männchen. Die Landsmannschaften, die späteren Corps, spiegelten en minia-
ture ziemlich getreu die deutsche Kleinstaaterei mit ihren Sonderinteressen,
ihrem eitlen Selbstgefühl, ihrer Eifersucht und Streitsucht wieder. Die
Burschenschaft war Anfangs das Abbild, später in ihrer Deutschthümelei die
Carricatur der Gedanken und Gefühle, welche die politischen Ideologen nach
den Freiheitskriegen erfüllten und bewegten, in den dreißiger Jahren ein
Spiegel, der die Ideen, welche die Julirevolution in die Welt geworfen, in
einiger Verschwommenheit wiedergab. Und so ging es weiter. Wie die
jenenser Bierherzogthümer als durch die Einwirkung der Romantik auf die
Kreise der Studenten hervorgerufene Scherze betrachtet werden müssen, wie
jetzt die Wingolfiten eine Uebertragung der religiös-politischen Rückwärtsbe¬
wegung, welche uns die Rauhhäusler, die frommen Gesellenvereine und den
seligen Treubund bescheerte, auf das akademische Leben sind, wie wir endlich
das Vorbild der Centrumspartei an verschiedenen Universitäten durch ultra¬
montane Studentenverbindungen wohl oder übel abeonterfeit sehen, so ließ
die Zeit, die sich an den Mysterien der Masonei, der Rosenkreuzer und der
Illuminaten erbaute, aus und neben den Landsmannschaften die Studenten¬
orden entstehen.
In den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts fing die Freimaurerei
in Nord- und Mitteldeutschland an bekannter zu werden. Sie wuchs rasch
an Ansehen, sie erlebte ihre große Zeit, wo Lessing in ihrem Sinne schrieb,
wo der Sieger von Leuthen in einer ihrer Logen den Hammer führte, wo
Goethe und Herder und eine lange Reihe anderer glänzender Namen ihren
blauverbrämten Meisterschurz trugen. Es verstand sich beinahe von selbst,
daß die studirende Jugend nicht zurückbleiben konnte. Das Geheimnißvolle,
das Spiel mit Symbolen reizte, die würdevollen Titel, die hohen Zwecke, von
denen man aus dieser verschleierten Welt lauten, aber nicht anschlagen hörte,
thaten ein Uebriges. Man kam sich bedeutender, inhaltreicher, mannhafter
vor, wenn man auf seiner Kneipe etwas der Art aufführen konnte wie
draußen der Philister. Abenteuerliche, überspannte, viel herumgekommene Köpfe
boten sich zur Erfüllung der hieraus hervorgegangnen Wünsche an, gründeten
lvgenartige Klubs, warben Mitglieder und leiteten mit Feierlichkeit den Hocus-
Pocus der Zusammenkünfte, und so gab es bald auf den deutschen Hoch¬
schulen eine ganze Anzahl von Orden: Constantisten, Unitisten, Jucundisten,
Desparatisten, schwarze Brüder, einen Fensterorden, Amicisten u. s. w.
Die Mehrzahl dieser Gesellschaften hätte aller Wahrscheinlichkeit nach
keinen andern letzten Zweck, als die Landsmannschaften. Nur der Nimbus
des Geheimnißvollen und ein paar neue Bräuche und Symbole kamen hinzu.
Einige wollten anfänglich, wie ihr Vorbild, die Freimaureret, reformirend
wirken, Sitte und Anstand pflegen und das gesellige Leben verschönern. Bei
andern sollte die Frömmigkeit geweckt und wach erhalten werden. Wieder bei
andern mischten sich auch wohl, wie später bei der Burschenschaft, mehr oder
weniger unklare Ahnungen und Bestrebungen ein, die sich mit Politik befaßten.
Anklänge an die Gedanken, die 1789 das alte Frankreich umwarfen und das
heilige römische Reich in seinem wurmstichigen Gebälk knistern und knacken
ließen, dunkle Empfindungen, daß von Preußen her eine Reform zu erwarten,
Echos von Amerika herüber, das damals die englische Kette abschüttelte
u- d. Eine weitere Aehnlichkeit mit der Burschenschaft hatten diese Orden
darin, daß sie keinen Unterschied der Landschaften gelten ließen, sondern ihre
Mitglieder aus allen Strichen Deutschlands nahmen, ein Verfahren, das in¬
deß nicht sowohl in dem Bewußtsein, daß alle Deutschen Eins seien, als in
der Freimaurerei seine Wurzel hatte, wo die Loge die gesammte christliche
Menschheit umfassen sollte. Der Vergleich hinkt also hier einigermaßen.
Alle jene hohen Ideen waren indeß bet den meisten Orden von Anfang
kaum ernst gemeint, und gewiß wurden sie nicht auf die Dauer gepfle^-"
Sehr schnell überwucherte die Rohheit und Liederlichkeit des damaligen Stu-
dententhums alle diese Versuche, und Orden wie Landsmannschaften waren
gleich widerwärtige Pflanzschulen von Renommisten, Raufbolden und Säu¬
fern. Die schönsten Gesetze standen auf dem Papier, die wüsteste Ueber-
tretung regierte.
Ich gebe zunächst ein paar kurze Notizen über diese Verbindungen. Die
Constantisten, in Halle besonders verbreitet, aber auch in Jena, Göttingen,
Erlangen, Leipzig, Helmstädt und Frankfurt a. d. Oder eine Zeit lang thätig,
sollen 1768 gestiftet worden sein. Die Landsmannschaften feindeten sie stark
an und verschrien sie in späterer Zeit als Jacobiner. Sie sollen indeß Re¬
ligion und Moral zu Pflegen bemüht gewesen sein, und die Universitätsbe¬
hörde in Halle scheint dies geglaubt zu haben, da die Mehrheit des Senats
sie zu autorisiren entschlossen war und nur durch den Widerspruch ihrer
Gegner davon zurückgebracht wurde. Ihre Hauptfeinde waren die „W, (?)
falsche Menschen, die auf allen Universitäten verschrien waren, aber selten die
öffentliche Gottesverehrung versäumten und zu gewissen Zeiten regelmäßig
zum heiligen Abendmahle gingen." Außer ihnen hatte in Halle die Lands¬
mannschaft Silesta in den Independenten einen Orden, und 1798 waren dort
die Orden der Jnviolabilisten, Concordisten und Desparatisten so stark, daß
das Universitätsgericht ihnen nichts anhaben konnte, ja sogar sie in sein In¬
teresse ziehen mußte, wenn es bei der Studentenschaft etwas ausrichten wollte.
In Göttingen waren die schwarzen Brüder obenan, die sich auch bei manchen
Verständigen nicht geringer Achtung erfreut haben sollen, aber trotzdem von
der Negierung verfolgt wurden, und da sie nun keinen Zuwachs erhielten,
eingehen mußten. Sie hüllten sich in tiefes Geheimniß und hatten auch in
Gießen eine Filiale, wo ungefähr um dieselbe Zeit zugleich der Fensterorden
blühte. In Tübingen hatte bereits 1769 Dr. Richeville, ein Freimaurer, eine
Verbindung gegründet, die sich den Orden der gesitteten Menschen nannte.
Die Regierung scheint diese Benennung nicht für zutreffend gehalten zu haben;
denn sie verbot den Orden schon 1770 und verbannte den Stifter aus den
würtembergischen Landen Ob sie dem Lilienorden mit der Devise ^l'vsxvi'anco,
der um dieselbe Zeit dort auftauchte, ebenfalls das Consilium abeundi ertheilt
hat, erhellt aus meiner Quelle nicht.
Als Hauptbeispiel für das Obengesagte möge die Geschichte der.Mosel¬
laner - L an dö in ann sah a se und des Amieisten-Orden s dienen, die
unter den Studentenverbindungen der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahr¬
hunderts eine besonders hervorragende Rolle spielten"), und die mit der Ver-
folgung, die nach Ausbruch der französischen Revolution von Seiten der Be¬
hörden über sie verhängt wurde, wieder an die Burschenschaft erinnern. In¬
deß lief es damals, wie wir sehen werden, glimpflicher ab, als 1834, wo in
Preußen etwa ein Dutzend schwarz-roth-goldne Schwärmer, weil sie, freilich
ein bischen unklar, aber nicht besonders ungestüm, ungefähr das gewollt, was
^ir jetzt, gelobt sei Gott! in Fülle haben — allerdings nicht aus den Hän¬
den von Studentlein. Marktschreiern des Nationalvereins, allweisen Professoren
und noch ein wenig weiseren Zeitungsschreibern, auch nicht aus denen von
Schützen- und Sängerbrüdern, sondern durch das Genie eines großen gott¬
begnadeter Staatsmanns und die Kraft des preußischen Heeres haben —
Wo, sage ich, ein Dutzend oder mehr Studenten in aller Form wegen bur¬
schenschaftlicher Umtriebe zum Tode verurtheilt wurden, elf oder zwölf zum
Beile, einer zum Rade! Die Zeit von 1794, die sonst mit Verurtheilungen
Sum Schwerte und Rade keineswegs sparsam war, begnügte sich mit Relega¬
tionen. Höchstens wurde Einer oder der Andere dann unter die Soldaten
gesteckt. Man sieht, hier hinkt mein Vergleich zum zweiten Male. Er soll's
aller nicht wieder thun.
Nach Laukhard wäre die Mosellaner-Landsmannschaft in den
dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts aus der Vereinigung der in
Jena studirenden Rheinländer zu gemeinschaftlichen Gelagen und Ausflügen
entstanden, und der Beiname des Wirthes in Porstendorf. bei dem sie viel
verkehrt, und welcher seiner Herkunft zufolge der Mosellaner geheißen, hätte
^es allmälig auf ihren ganzen Kreis übertragen. Besondere Gesetze und Be¬
hüte hätte man ursprünglich nicht besessen. Man wäre vielmehr nur nach
den Grundsätzen mit einander umgegangen, die sich bei ähnlichen Kamerad¬
schaften überall natürlich als Regeln ergeben, und welche gute Freundschaft
on halten. Beleidigungen, welche ein Mitglied der Gesellschaft dem andern zu-
fügt, auf gütlichem Wege auszugleichen, von Fremden ausgehende mit dem
Degen zu rächen, sich gemeinschaftlich zu vergnügen, sich gegenseitig in der
^°es zu helfen und sich dem Beschluß der Mehrheit zu unterwerfen gebieten.
Am Laufe der Zeit hätte sich dann eine Anzahl spezieller Gebräuche und Ge¬
setze entwickelt, und um das Jahr 1760 wäre ein vollständiges System des
landsmannschaftlichen Rechtes der Mosellaner aufgestellt worden, und zwar
"us folgender Ursache.
In Folge der großen Ereignisse damaliger Zeit nahm, wie meine Quelle
^richtet, die Gesellschaft der rheinischen Studenten Jenas eine gewisse poli¬
tische Färbung an. Die dort sich aufhaltenden Musensöhne ergriffen im
siebenjährigen Kriege lebhaft Partei für und wider. Einige waren für die
kaiserlichen und die Reichstruppen, andere redeten (Gott wird ihren armen^Seelen jetzt hoffentlich die Dummheit verziehen haben) gar den Franzosen ^
Wort, die meisten waren so gescheidt, daß sie als eifrige Anhänger Preußens
auftraten. „Vivat Korns, vivat, magnus, vivÄt l^-iÄvi'ieus livx!" konnte
man alle Tage bei Commersen und auf den Straßen singen hören. (Ich
hätte dabei sein und tapfer mitsingen mögen, wenn ich nicht die Freude und
die Ehre gehabt hätte, Besserem aus nächster Nähe im Stillen mein Vioen
zuzujubeln.) Ganz besonders preußisch gesinnt aber waren unsere Mosellaner,
„welche bei ihren Zusammenkünften es sich in die Hände schwuren, sollte der
König Fritz noch serner unglücklich sein und seine Feinde nicht durch die
Lappen jagen, den Säbel zu ergreifen, Husaren zu werden und ganz Deutsch'
land bis an die Mosel für den König gewinnen zu helfen" (wofür ihnen
alles Thörichte, was weiterhin von ihnen zu melden sein wird, schlankweg
vergessen und vergeben sein soll — das heißt, wenn die guten Jungen ihren
Schwur nicht etwa erst nach dem zehnten Schoppen ablegten.) Häufig kam es
in den Wirthshäusern zu gewaltigen Debatten, die mit Schlägereien und
Duellen endigten. Die Mosellaner drückten sich wegwerfend über die Roß-
bacher „Reißaus" Armee aus, spotteten mit Stichelreden auf die kleinen
deutschen Landesväter (die in der That meist recht spaßige Potentatenknirpse
und mitunter auch recht niederträchtige Wichtel waren) und rissen beim Leop
(jua,in donum schnöde Witze über die Reichsverfassung. Entrüstet erhoben
sich die Andersgesinnten zum Widerspruch gegen solchen Frevel und zur Ver¬
theidigung der verhöhnten Personen und Institute. „Solche Apologien wu»
den aber nicht angenommen, man trommelte die Apologeten aus," und wenn
sie nicht nachgaben, entstand eine Prügelei, wobei die Preußischen regelmäßig
Sieger blieben (was mich als Vorspuk späterer — ich meine, viel späterer
Ereignisse freut, da einmal geprügelt sein mußte).
Mit der Zeit wurde die Universitätsbehörde auf diese Zänkereien auf'
merksam, und es erfolgte ein Verbot gegen alles öffentliche Raisonniren über
die kriegführenden Mächte; ja als bei einem Fronleichnamsfeste zu Erfu^
einige Mosellaner trunkenen Muthes sich vermessen hatten, Schimpfreden
gegen den Kaiser, die kleinen deutschen Souveräne und namentlich gegen den
Kurfürsten von Mainz, dem Erfurt damals gehörte, auszustoßen, mischte si^
her Herzog von Weimar hinein, schickte die respect- und pietätlosen Gesellen
auf zwei Monate zum Studium guter Sitte in der Einsamkeit nach ^
Wartburg und befahl seinem unterthänigsten Prorector in Jena, streng d^
rauf zu halten, daß seine Studenten sich fürderhin nicht mehr um die Kriegs
Händel stritten und noch weniger ungebührlich von großen Herren redeten-
was Maßen und was Gestalten u. f. w. Darauf ließ der Senat alle Aben^
die Versammlungsorte der Studirenden, besonders die Rasenmühle und den
halben Mond, wo die Mosellaner ihr Wesen trieben, sorgfältig beobacht^
und jeden, der freie Reden führte, auf das Tabulae bringen, und als d?
nicht genügte, wurde den Landsmannschaften untersagt, in der Zahl von mehr
als acht Personen an öffentlichen Orten zusammen zu kommen.
Die Mosellaner suchten sich damit zu helfen, daß sie sich auf Privatstuben
trafen, und als es dort zu Lärm und anderm Unfug kam, beschloß man
besetze dagegen aufzustellen, die, mit dem übrigen Herkommen niedergeschrieben
und dem Senior zur Handhabung übergeben wurden.
Das Ansehen des Seniors war bei den Mosellanern, wie bei allen andern
Landsmannschaften, bisher gering gewesen. Er hatte ihnen ihre Trinkgelage
^gerichtet und dabei auf gehörige Beobachtung des Comments gesehen, aber
Uur Füchsen hatte er etwas zu sagen gehabt, einem alten Burschen „durfte
er nicht dumm kommen." Jetzt als Gesetzespfleger bestellt, zum Richter nach
geschriebenen Statuten geworden, gewann er bald größere Macht und Au¬
torität. Außer ihm wurde, wir wissen nicht bestimmt, zu welchem Zwecke,
vermuthlich aber als eine Art Kriegsminister oder Zeughausdirector, ein Sub-
senior gewählt und neben diesem ein dritter Beamter, der Secretär, für alle
Schreibereien der Verbindung, die Mitgliederlisten, die man jetzt für nöthig
hielt, die Chronik, welche nunmehr geführt wurde, und das kleine Archiv,
auf diese Weise entstand. .
Auffällig erscheint, daß der Coder der Gesellschaft, die mit diesen Ein¬
richtungen ganz die Gestalt der heutigen Corps annahm, in seinen 86 Para¬
graphen neben allerhand sehr profanen und zum Theil nicht löblichen Vor¬
schriften, Regeln über Tuschiren, Avantage, Coramiren u. tgi. auch einen
Satz enthielt, welcher „große Ehrfurcht und Reverenz für Gott den All¬
mächtigen und sein heiliges Wort" gebot und den Besuch der Kirche empfahl,
^und sonst glänzte das neue Recht von manchen guten Dingen: es schärfte
Mäßigung und Anstand im Betragen ein, untersagte das Kartenspiel um
^eit, das Fluchen, Foppen und Zotenreißer und wollte dem unbändigen
sinken steuern, das herkömmlich war und Manchen zu Grunde gerichtet
^ete. Ich weiß nicht, ob diese Glanzstellen der Statuten mehr für die Be¬
hörden, die Neigung haben konnten, die Gesetzgebung der jungen Herren
^"nen zu lernen, als für die letzteren bestimmt waren. Gewiß ist nur, daß
wenn überhaupt, nur kurze Zeit das Leben der Mosellaner verklärten.
Sehr bald gewann der wüste Ton. welcher die Universitäten von Alters her
"Ad namentlich seit dem dreißigjährigen Kriege beherrschte, die Oberhand über
^ in jenen Geboten niedergelegten edlen Vorsätze, und unsre Landsmann-
^fr galt für die wildeste und rohste in ganz Saalathen. Ihr Gesetzbuch
schrieb sonntägliche Kränzchen vor, die der Reihe nach von einem aus der
^sellschaft auf seiner Stube gegeben wurden. Der Betreffende hieß der
"Hospes" und hatte die übrigen Verbindungsbrüder bis Abends sechs Uhr
M't Tabak. Kaffee und Bier zu tractiren. Alles Uebermaß und alle Un.-^
ständigst sollten ausgeschlossen sein. Allein nach kurzer Zeit waren die
Kränzchen in Bacchanale ausgeartet. War der Kaffee nicht gut, so schüttete
man ihn auf die Dielen und commandirte andern. Dann erschien Bier in
großen Schleifkannen, „Aposteln", auf dem Tische, und man begann ein
Kartenspiel, wobei der Verlierende zur Strafe für sein Ungeschick ein oder
mehrere „Stübchen" *) Lichtenhainer oder Wöllnitzer ohne abzusetzen austrinken
mußte, während die Gesellschaft ihm mit einem Spottvers wie „Schneiderlein,
geh heim, Bock ist dein Vater. Zieg deine Mutter" aufwartete. Allmähl'g
wurden die Köpfe durch solche und ähnliche Leistungen heroisch, und man
fing an, zu singen, zu jubeln und auch wohl förmlich zu commersiren. Bei
üblem Wetter blieben die Burschen bis tief in die Nacht beisammen, sonst
brach man zeitiger auf und „stieg zu Dorfe", um in irgend einer Mühle oder
Schenke sich vollends „in den Glanz zu werfen", zu Deutsch: sich gründlich
zu benebeln.
Die Mosellaner waren jetzt eine geschlossene Gesellschaft. Früher hatte
jeder, der aus dem Reiche war und sich zu ihnen hielt, für einen Mosellaner
gegolten. Jetzt bedürfte es dazu einer förmlichen Reeeption, bei welcher der
Candidat über sich abstimmen ließ, nach Vorlesung der Verbindungsstatuten
dem Senior durch Handschlag Gehorsam gelobte, einen Laubthaler Aufnahme¬
gebühr entrichtete und schließlich die Tafelrunde mit Bier und Tabak z"
regaliren hatte. Auch hierbei blieb die Gelegenheit zu tiefen und lanaM
Trunken nicht unbenutzt. Bei einer Reception im Jahre 1783, welcher Laub
hart beiwohnte, wurden von 26 Personen nicht weniger als 270 Maß Ziege«'
hamer Bier „ausgezogen", sodaß auf den Mann mehr als 10 Maß oder
23 Stübchen kamen, und doch soll das nach meinem Gewährsmann für die
Leistungsfähigkeit dieser Saugpumpen noch Kleinigkeit gewesen sein.
zuletzt Aufgenommene hatte die Verpflichtung, die Anordnungen des Seniors
den ältern Mitgliedern zu melden, er war also gewissermaßen der Famulus
des Vorstandes der Landsmannschaft. Die Receptionsgelder sowie die sonstige"
Beiträge der Genossen des Vereins wurden in eine Kasse gelegt, zu welch^
der Senior und der Secretär jeder einen Schlüssel hatten, während sie sel^
beim Subsenior in Verwahrung war. Aus ihr wurde zunächst die Anschaffn^
und Erhaltung der Waffen — man bediente sich damals in gewöhnlichen Fällen d^
ziemlich ungefährlichen Stoßdegen mit großem Stichblatt, bei ernster gemeinte"
Kämpfen wohl auch schon der dreischneidigen „Pariser", deren kleineres Stich'
blatt weniger Schutz gewährte — sowie der Rappiere bestritten. Dann aber
unterstützte man aus ihr zureisende fremde Studenten, an denen es n
mangelte, arme Verbindungsglieder und vorzüglich die im Karner sitzende"'
welche täglich mit Kaffee, Bier und Tabak versehen wurden. Blieb am En
des Quartals ein Rest von Silberlingen im gemeinschaftlichen Säckel, so wurde
er mit einem Bacchanal verthan.
Daß die Mosellaner als Raufbolde ebenso glänzten wie als Trunkenbolde,
versteht sich nach damaliger Studentensitte von selbst. Ja sie duellirten sich
gelegentlich gegen das Gesetz der Landsmannschaft unter einander, und fast
jeden Monat wurden einige deshalb ausgestoßen. 1767 traf dieses Schicksal
auf einmal sieben, die sich dann im Geschmacke der Zeit durch ein Pasquill
zu rächen suchten, für dessen Kaliber sein Titel „die Dreckbude" für uns
genug sagt.
Die Elsasser und Badenser waren die am wenigsten Unanständigen unter
den Mosellanern, und die Rohheit der übrigen bewog sie endlich 1769, sich
von dem großen Haufen zu trennen und ein Kränzchen für sich zu bilden,
welches sich im halben Monde Quartier suchte. Natürlich wurden sie von
den Zurückbleibenden nach Kräften befehdet, und um sich solcher Anfeindung
gegenüber mehr Halt zu geben, schlossen sie sich nach dem Borschlage eines
gewissen D., der „etwas vom Freimaurerorden gehört haben mochte", zu einer
Verbindung zusammen, welche sich die Ami eisten nannten.
Dies geschah im Jahre 1771. Genauer besehen hieß die neue Gesell¬
schaft Ol-cer« an- 1' ^mitiü", und ihre Devise waren die Buchstaben V. ^.
d- h. Vivat ^mieitia. Außer diesem Symbol, mit dem man sich in die damals
üblichen Stammbücher einschrieb, hatte man, gleich den Freimaurern gewisse
Erkennungszeichen, einen bestimmten Händedruck und einen Griff nach dem
Gesichte, mit denen man sich als Ordensmitglied legitimirte. Ferner trugen
die Amicisten bei feierlichen Zusammenkünften ein Kreuz an gelbem Bande
auf der Brust. Wie die Mosellaner waren die Mitglieder des Ordens in der
ersten Zeit ihres Bestehens, wo D. ihr Senior oder Meister war, dem An¬
schein nach ordentliche und wohlgesittete Leute. Man besuchte, wenn wir
Laukhard glauben dürfen, fleißig die Vorlesungen, hielt sich mäßig im Trinken
und vermied die Mensur. Aller läppische Comment wurde abgestellt, und ein
ganzes Jahr schlug sich kein Einziger von ihnen.
Weitere Anfechtungen von Seiten der Mosellaner aber bewogen den Orden,
als jener D. die Universität verlassen hatte, sich einen gewissen B., der als
Raufbold berüchtigt war, zum Führer zu wählen, und unter dessen Aegide
sofort die Rohheit und das wüste Treiben der Landsmannschaft, von der
^an sich losgesagt, auch hier ein, ja der Orden trat mit jener dergestalt
wieder in Verbindung, daß er gewißermaßen zu einem innern Club oder
Zum obersten Grade derselben wurde, so daß man später auch von einem
Mosellaner-Orden sprechen konnte. B. war ein hochstrebender und herrsK-
süchtiger Geist. der sein Reich zu erweitern strebte. Er weihte zu dem Stecke
^e drei Beamten der Mosellaner in die Mysterien des Ordens ein, wobei sie
versprechen mußten, die tauglichsten Mitglieder ihrer Landsmannschaft ebenfalls
zum Beitritt zu bewegen. Auch die Senioren der Sachsen, der Gothaer,
Mecklenburger und Liefländer sowie die anderer Verbindungen in den Orden
zu ziehen und gleichsam Generalsenior von ganz Jena zu werden, versuchte er,
indeß ohne Erfolg, da die Mitglieder jener Gesellschaften dagegen Widerspruch
erhoben. Nur die Verschmelzung mit den Mosellanern wurde durchgesetzt,
und zwar in der Weise, daß die Amicisten keinem Studenten das Licht ihres
Orients gewährten, der nicht vorher bei jenen recipirt worden war.
Die Aufnahme wurde unter B's. Regiment feierlicher und umständlicher.
Während man zu Anfang nur versprochen, hatte, den Gesetzen des Ordens
gehorsam zu sein, sich nie ohne die höchste Noth von ihm zu trennen, seinen
Nutzen zu fördern, Schaden von ihm abzuwenden und seine Geheimnisse zu
verschweigen, „so wahr man als rechtschaffner Bursch zu leben gedenke," waren
jetzt bei der Reception vier Kerzen und zwei paar Degen auf dem Tische, von
denen die letzteren so gelegt waren, daß sie das Ordenszeichen bildeten, und
der Candidat sprach in einem Zusatz zu der bisherigen Aufnahmesormel den
Brüdern das Recht zu, falls er seinem Gelübde untreu würde, die Degen
wider ihn zu gebrauchen und ihn damit für seinen Bundesbruch zu strafen.
Später aber gestaltete sich dieß bei den Amicisten und ebenso bei den übrigen
Studentenorden zu einem förmlichen Eide, der dem der Freimaurer ähnlich
gewesen sein wird, und um dieselbe Zeit führte man auch erst zwei, dann
drei Grade ein.
Die Amicisten suchten in Gemeinschaft mit den Mosellanern in jedem
Betracht die Studentenschaft zu beherrschen, und wie die Mutterloge in Jena,
so die Töchter, die ihr bald nach ihrem Entstehen auf verschiedenen andern
Universitäten an die Seite traten. 1772 wurde von einigen Elsassern in
Gießen eine Amicistenloge gegründet, welche die Senioren der dort bestehenden
landschaftlichen Kränzchen der Pfälzer, Darmstädter, Zweibrücker und Wald¬
ecker an sich zog und dadurch, wie durch Unterdrückung der früher entstandenen
Orden der Hessen, Jucundisten und Fensterbrüder binnen Kurzem Herrin und
Meisterin in allen studentischen Angelegenheiten dieser Hochschule wurde*)-
In Halle gab es nur einzelne Amicisten. Dagegen stifteten relegirte Jenenser
auch in Erfurt eine Loge des Ordens. Dasselbe war in Göttingen, Marburg,
Altdorf und Tübingen der Fall. Ganz besonders aber florirte der Orden von
1737 an in Erlangen; fast die Hälfte der Studenten zählte hier zu seinen
Angehörigen, und der Excesse, welche diese verübten, war kein Ende.
Im Frühjahr 1772 erfuhr der Senat in Jena, daß unter den Mosel-
lanern ein Club eristire, welcher es sich zur Regel gemacht habe, die Gesetze der
Universität schlechterdings nicht zu halten, und es erfolgte eine Untersuchung,
die jedoch kein Ergebniß hatte, da man nicht die Rechten traf. Scharfe Ver¬
ordnungen ergingen dann gegen alle geheimen Verbindungen, aber mehrere
Jahre verflossen, ohne daß dabei viel herausgekommen wäre. 1779 endlich
wurde eine neue Untersuchung befohlen, die dadurch hervorgerufen war, daß
die Mosellaner einen ihnen unbequem oder sonstwie mißliebig gewordenen
Mecklenburger nöthigten, sich nach einander mit vierzehn von ihnen zu duel-
liren. 1781 erging das Urtheil über die Missethäter. Den Senior der Ver¬
bindung relegirte man, der Subsenior entfloh bei Nacht und Nebel, die Lands¬
mannschaft wurde verboten, und mit ihr traf alle andern dasselbe Schicksal.
Der Orden aber bestand im Stillen fort, und zwar wie wir später sehen
werden, unter dem Namen der Schwarzen Brüder, die früher ein besonderer
Club, vielleicht auch ein höherer Grad der Amicisten gewesen waren.
Aehnlich war der Verlauf der Dinge in Gießen. Hier hatte der Rector
Hövfner, bekannt durch den maskirten Besuch, den Goethe ihm von Wetzlar
aus abstattete, allerlei Neuerungen eingeführt, die den Studenten nicht ge¬
fielen. Es entwickelte sich eine allgemeine Gährung, und diese explodirte in
Tumulten, bei denen die Amicisten die Hauptrolle spielten. Sie warfen dem
verhaßten Rector die Fenster ein und insultirten ihn persönlich. Er fand bald
Gelegenheit, ihnen das gründlich heimzuzahlen. Die Amicisten suchten zwei
Brüder Conradi aus Hessen-Cassel. welche mit Kenntnissen und guter Lebens¬
art vollkommene Fechtergewandtheit verbanden, für sich zu gewinnen, um den
Orden in den Augen der übrigen Studenten zu heben. Die Brüder aber
wiesen sie ab und zogen vor, sich zur Landsmannschaft der Darmstädter zu
halten, die sonach anständigere Manieren gepflegt zu haben scheint, als die
Amicisten. Die Folge war Verwandlung der verschmähten Liebe in heißen
Haß und bittere Feindschaft. Der Senior Breithaupt trug allen Amicisten
auf. mit den Conradi's Händel zu suchen. „Man wollte ihnen einmal zeigen,
daß der Orden ein Löwe sei."
Breithaupt begann den Tanz damit, daß er den jüngern Conradi bei
einem Spaziergange vor dem Thore beleidigte. Dieser forderte Satisfactwn,
Und man kam überein, daß das Duell jenseits der Lahn stattfinden solle.
..Aber die Amicisten beredeten sich, daß sie alle ihren Senior zum Gefechte
^gleiten und den Conradi mit seinen etwaigen Secundärem mit der Hetz¬
peitsche begrüßen und dann ohne Genugthuung schassen wollten." Die Con¬
radi's bekamen indeß Wind von diesem schönen Vorsatz und berichteten baw>«^
dem Kränzchen der Darmstädter, und da dieses stärker war als der^^ven.
so beschloß man, diesen in seiner eignen Falle zu fangen. Die Ausführung
dieses Plans soll Laukhard uns selbst erzählen.
„Man machte aus, daß Conradi sich zwar mit seinem Bruder, dem
Senior der Darmstädter und noch einem Andern an dem bestimmten Orte
jenseits der Lahn stellen solle, daß aber die übrigen Darmstädter im Hinter¬
halt im Busche bleiben wollten, um allen Gewaltthätigkeiten zuvorzukommen.
Diese Contreminirung blieb dem sonst hellsehender Orden unbekannt. Am
Tage der Bataille ging Conradi und seine drei Begleiter nach dem Stelldich¬
ein im Busch jenseits des Flusses, wo er seinen Gegner in Gesellschaft von
elf Amicisten traf. Er begrüßte sie und forderte, daß man nun kurzen Pro¬
ceß machen und zu dem ruhmvollen Werke des Duells schreiten sollte. Aber
von Seiten der Amicisten wurde dieß nur mit Lachen und anzüglichen Redens¬
arten beantwortet, worauf der Darmstädter Senior erklärte, daß, wenn man
seinem Freunde, dessen Secundant er sei, nicht sofort. Genugthuung geben
würde, er alle Amicisten für schlechte Kerle hielte und sie hiermit sammt und
sonders in den Verschiß thäte. Dieß war das rechte Signal zum blutigsten
Auftritte. Denn nun griffen die Amicisten zu den Hetzpeitschen, die Darm¬
städter aber zogen ihre Degen, welche auch von einigen Amicisten gezogen
wurden. Breithaupt und Conradi schlugen sich ohne Secundärem mit Hie¬
bern, und ersterer bekam einige derbe Blessuren. Dann ward die Bataille
allgemeiner, da auch die im Hinterhalt liegenden Darmstädter hervorrückten.
Es wurde gehauen mit Hiebern und Hetzpeitschen und dazu geschrien, als ob
die Leute alle rasend wären. Dumme Jungen, Lausebuben, Rökel, verfluchte
Quäker, infame Gaudiebe, Spitzbubenbande von Amicisten u. d., waren die
Titel, welche sie sich einander gaben. Endlich schoß ein Anleihe nach einem
der Darmstädter mit einer Flinte, bekam aber sofort von einem Freunde des
letzteren wieder einen Schuß, der ihm den Schenkel zerschmetterte, und damit
hatte der Krieg ein Ende."
Die Folge war eine große Untersuchung, welche der Kanzler Koch, ein
Hauptfeind der Amicisten, leitete, und welche das ganze Verbindungswesen
der Universität aufdeckte. Der Senior Breithaupt wurde des Nachts in einer
Kutsche nach Pirmasens, seiner Vaterstadt, gebracht und hier vom Landgrafen
unter die Soldaten gesteckt, wo ihm die Fuchtel des Korporals vielleicht bessere
Sitte gelehrt, jedenfalls aber ihm zu Gemüthe geführt haben wird, daß es
nicht hübsch ist, wenn die Menschen einander hauen. Ein anderer hervor¬
ragender Anleihe, Wittenberg. wurde relegirt, donirte hernach auf dem Phi¬
lanthropin des berüchtigten Bahrdt zu Heidesheim in der Pfalz die Fechtkunst
und lief, als dieses einging, in die Welt hinaus, niemand weiß, wohin'")-
Die übrigen Amicisten wurden vor das Concilium gefordert, wo sie verspre¬
chen mußten, den Orden nicht fortzusetzen. Derselbe bestand aber doch im
Geheimen fort, und wiederholt machte er durch Anstiftung von allerlei Unfug
und Aufruhr von sich reden und rief er neue Untersuchungen und Verhau
uungsdecrete gegen sich hervor.
Wir kehren jetzt nach Jena, dem Geburtsorte des Ordens, zurück. Als
der dortige Senat 1781 die Landsmannschaft der Mosellaner und den Orden
der Amicisten endlich aufgehoben zu haben glaubte, war dieß eine Täuschung.
Letzterer nahm nur einen neuen Namen und neue Gestalt an. Schon einige
Jahre vorher hatte sich aus den etwas Ordentlicheren unter den Amicisten
eine engere Gesellschaft gebildet, die sich zu fleißigem Studiren, zur Beförde¬
rung des Credits ihrer Mitglieder und — selbstverständlich — zur Uebung
um Fechten zusammengefunden hatte. Der großen Masse der Uebrigen miß-
fiel das, wie billig, und so bezeichnete sie diese tristen Liebhaber der Arbeit
wie dem Namen der „Schwarzen Brüder" — ein Spott, der den Betreffenden
uicht wehgethan zu haben scheint. Denn als die Amicistenloge 1781 aufge¬
hoben wurde, nahm jene lobenswerthe Gesellschaft einen Theil der Statuten
derselben an und constituirte sich unter einem Senior als schwarzer Orden,
der das Amicistenkreuz trug und zur Devise die Buchstaben L. v., d. h.
^eyualidus Lurnmum donum hatte. Das war an sich recht schön, aber die
Leute hatten Unglück wie ihre Vorgänger. Der Unstern des Ordens wollte
"un einmal nicht, daß er mit Ordentlichkeit zusammenfiel, und ich habe die
^e Geschichte nur unter neuem Namen wieder zu berichten. Bald bewährte
!^es auch an den Schwarzen das Sprichwort, daß der Weg zur Hölle mit
Mer Vorsätzen gepflastert ist, sie bummelten wie jene ihre Vorgänger, sie
iMen, sie rauften sich wie diese.
Die Landsmannschaft der Mosellaner blieb beisammen, doch ohne Se-
"or und Gesetze, also nicht in der Form einer Landsmannschaft, wie in der
besten Zeit. Die Schwarzen Brüder entfernten sich immer mehr von ihnen,
"ahmen viele Liefländer, Sachsen u. d. auf und würden sich von den Mosel-
^nem allmälig ganz losgelöst haben, wenn nicht ein gewisser G., der früher
^Gießen studirt hatte, dann, als Anleihe von dort relegirt, unter die Cng-
lauter gegangen und mit in Nordamerika gewesen war, 1783 nach Jena
gekommen wäre. Derselbe beredete die Mosellaner, sich wieder Gesetze zu
geben und Beamte zu wählen, und die Schwarzen, mit jenen zusammenzu¬
treten, um den Amieistenorden wiederherzustellen. Dies geschah zunächst in
reformirter Gestalt. Man merzte die schlimmsten Vorschriften der alten Sta¬
tuten aus, fügte vielleicht ein paar liberale Phrasen hinzu, die G. in Amerika
gehört oder aus Thomas Payne geschöpft haben konnte, dessen erstes Buch
„Lommon LLNKL" damals großes Aufsehen machte, und nahm alle Mosellaner
in den erneuerten Orden auf, der nun hier wie bald nachher auch in Gießen
wieder viel Zulauf fand. Die Reform vermochte sich aber nicht zu behaupten.
1786 wurde der Orden wieder der alte, die früheren Gesetze wurden sammt
und sonders wieder eingeführt, und wieder galt die Regel, daß nur die alten
Burschen der Mosellaner Landsmannschaft Mitglieder des Ordens sein konnten-
Orden wie Landsmannschaft zeichneten sich auch jetzt wieder durch ungemeine
Fertigkeit auf der Mensur und vor dem Bierfaß aus, die Senioren waren
Wüstlinge, und die meisten Uebrigen eiferten ihnen nach.
Noch einmal zweigten sich die Besseren ab. Sie gründeten 1790 eine
Winkelloge, welche für ihre Mitglieder als Grundgesetz Vermeidung des Duells,
pünctliche Bezahlung der Schulden und fleißiges Studiren aufstellte. Artig¬
keit und stilles Verhalten erwarben ihnen einen guten Namen bei jedermann-
Sie waren wirklich einmal eine Blüthe am Baume des Ordens, die zur
Frucht reifte und erfreuen konnte. Sie müssen der Mutterloge damit einiger¬
maßen imponirt haben oder ihr harmlos vorgekommen sein; denn sie duldeten
sie neben sich.
1791 wurden wieder viele Amicisten relegirt, und wieder schien es, als
ob die Verbindung eingegangen wäre, aber in Wahrheit bestand sie noch
volle sieben Jahre fort. Endlich jedoch kam eine Katastrophe, der sie wirk¬
lich erlag.
Jetzt war es, wo die Amieisten nicht mehr blos mit mehr oder minder
nachsichtigen Rectoren, Sammthandschuhe tragenden Universitätsrichtern und
lahmen Pedellen, sondern mit den Staatsregierungen, und nicht blos wegen
Paukereien und Straßenskandalen, sondern -- Platz für den Elephanten!-^
wegen hochverräterischer Umtriebe in Conflict geriethen. Die französische
Revolution war ausgebrochen, auch die deutschen Kronen waren in Gefahr
Ritter v. Zimmermann und Schirach's Magazin bewiesen haarscharf, daß die
Berliner Deisten und Aufklärer und die Pariser Jacobiner im Grunde dasselbe,
und daß die Freimaurer eigentlich Schuld an dem Schreckensregiment in Frank¬
reich waren. Was Wunder, das auch auf die Amicisten, die ja von cinco
Menschen, der in Amerika gewesen, wieder aufgethan waren, schwerer Ve^
dacht fiel. 1794 kam es in Regensburg zu einem förmlichen Reichstags^
Schluß, der die Aufhebung aller Studentenverbindungen aussprach und es den
einzelnen Reichsfürsten zur Pflicht machte, diese staatsgefährlichen Institute
aufs Strengste zu verfolgen. Aber die Reichsmaschine wirkte langsam. Erst
1798 schlug das Unwetter auch in Jena ein, und es gab eine gründliche
Amicistenaustreibung, die man aus dem „Guido von Taufkirchen" rechtfertigte.
Die Mosellaner und Amicisten sollten einen Staat im Staate bilden, eine poli¬
tische Verschwörung auf Lebenszeit sein, die Logenbrüder ihren Vorgesetzten
auch nach dem Abgang von der Universität blinden Gehorsam schulden.
Unsinn! Der Staat, den die jungen Herren bildeten, war ein Bierstaat.
Seine Bürger wurden, wie jeder anderer Student, wenn sie nicht verkamen,
nach der Heimkehr zu ihrer Frau Mutter zahme Philister und um so zahmer
gewöhnlich, je toller sie gewesen waren. Einzelne mögen sich um Politik ge¬
kümmert haben. Von der großen Mehrzahl aber gilt ohne Zweifel, was
Laukhard sagt:
„Die jungen Leute auf Universitäten sind fast durchgängig mit den
Staatsverhältnissen sehr unbekannt. Auf unsern Universitäten hört der zehnte
Student kaum ein Collegium über Reichshistorie; denn diese zu verstehen, muß
^an schon gar manche Vorkenntnisse haben, welche den Studenten meistens
fehlen." „Das Staatsrecht hört nur der Jurist, und der weiß am Ende
der Vorlesung gerade so viel, als er von Anfang wußte, d. h. nichts."
Der Geist der Orden ist übrigens durch die letzte Verfolgung nicht aus¬
gerottet worden. Er erhielt sich in den Corps des neunzehnten Jahrhunderts,
^ trieb im Tugendbünde einen neuen Zweig, der eine patriotische Tendenz
und Färbung hatte, er kehrte endlich in den innern Verbindungen und Kränz¬
chen der Burschenschaft wieder, die allerdings zuerst gegen das Ordens- und
Eorpswesen gestiftet wurde.
Der dies schrieb, hat selbst einem solchen Kränzchen angehört und sich
dadurch sehr geehrt und bewegt gefühlt. Das Geheimniß that wohl und
wachte bedeutend. Man sah sich im Stillen mit am Rade der Weltgeschichte
^ehen und das Wohl des Vaterlandes brauen. Man lächelt jetzt darüber,
und ich lächle mit besonderem Behagen, ich möchte, wenn das schicklich wäre,
^se laut lachen, wenn ich mir den vergegenwärtige, der damals der Weiseste
und Eifrigste unter uns war, und der, nachdem er der Universität kaum den
Zucker gekehrt, das reine-Gegentheil von dem betrieb und vertheidigte, was
seine Weisheit uns gelehrt und sein Eiser erstrebt hatte. Aber laut lachen
hieße in diesem Falle doppelt unschicklich sich aufführen. Der Leiter unseres
damaligen Kränzchens ist nämlich jetzt in Dresden Geheimrath und Hochwohl---
geboren, er hat einen Orden, vielleicht gar zwei, und darüber lacht der wohl¬
erzogne Staatsbürger nicht, ja am Ende darf er nicht einmal landete
Wie Vielen wohl ist der Gedanke schon aufgestiegen, welche Rolle die
Kunst beim Gottesdienste ausübt? Ich glaube nur Wenigen. Denn die
große Masse genießt aus Gewohnheit und erkennt erst den Werth, wenn sie
entbehren soll. Schickt die Katholiken in solche evangelische Kirchen, wo fast
jeder Zierrath fehlt und die absolute Nüchternheit herrscht, so erkennen sie
leicht, daß der katholische Cultus Schätze der Kunst besitzt, die zum Herzen
sprechen, während der evangelische Cultus hauptsächlich auf die Rednergabe
des Predigers und aus den Gesang der Gemeinde angewiesen ist. Freilich, wenn
umgekehrt der Evangelische in eine katholische Jesuitenkirche kommt und dort
die trivialste Darstellung der Heiligen und nur vergoldeten Prunk findet und
die Kirchenfürsten erblickt mit gold- und silbergestickten' Gewändern, welche
mit Heiligenbildern überladen sind, so lächelt er ob dieses faschingartigen
Götzendienstes und ist froh, daß er den Spruch befolgt: „Du sollst Gott im
Geiste und in der Wahrheit anbeten." Kommt dagegen selbst der nüchternste
Evangelische in den Kölner-Dom, oder in das Pantheon Roms, so gesteht
er gern, daß eine solche Gewalt der Kunst in diesen Hallen herrscht, daß auch
das ungläubigste und verhärtetste Gemüth tief empfindet, in einem Gottes¬
hause sich zu befinden, wo die Steine reden und ihren Schöpfer preisen. Das
ist der Zauber der Kunst!
Heute bewegen wir uns noch in den Extremen. Der Evangelische fürchtet
den Aberglauben, der nur zu gern sich an die Bildwerke anhängt, und der
Katholik fürchtet die Armuth und Nüchternheit, wenn er mit den überlieferten
Cultusformen, die ja aus der heiligen Urzeit der Völker stammen, bricht-
Liegt da das Richtige nicht in der Mitte? Können die Katholiken nicht den
übertriebenen Würden- und Heiligencultus opfern und können die Evan¬
gelischen nicht zu den gereinigten Symbolen der christlichen Kunst zurückkehren?
Einsichtsvolle evangelische Prediger und katholische Geistliche bejahen diese
Frage. Wollen wir jedoch auf der goldenen Mittelstraße uns vereinigen,
ist zunächst von beiden Seiten die Erkenntniß nothwendig, um was es sich
handelt? Einige Definitionen kann ich daher mir nicht ersparen, die für die
Richtigstellung und Lösung der Frage unentbehrlich sind. Keine Frage lautet
wohl einfacher und wird weniger verstanden und verschiedener beantwortet als
folgende: „Was ist Kunst?" Man verwechselt mit dem Wesen der Kunst
die Geschicklichkeit und das Kunststück. Kunst kommt zwar vom Zeitwort
„Können", ist aber doch unendlich viel mehr, als die Mache, denn sie ist die
Versinnbildlichung oder Darstellung unserer Empfindungen. Ich
lasst den sonst üblichen Beisatz von „Schönheit" absichtlich weg, da ja auch
das Häßliche in der Kunst seine Berechtigung hat und durch den Humor oder
durch den Gegensatz ästhetisch wirken kann, ähnlich wie in einer Symphonie
die Dissonanzen oft die Uebergänge zur lieblichen Melodie sind.
Wer also die Begabung und die technische Ausbildung besitzt, seine innere
Empfindungswelt, sei -es durch Worte, durch Formen und Farben, durch
Musik und Gesang und durch Pantomimen (Tanz) allgemein verständlich zu
machen, der ist ein Künstler, der mehr oder minder seine Mitmenschen erhebt
und beglückt, je nachdem nämlich seine innere Welt sür die Ideale erglüht
und seine Kraft zur Darstellung ausreichend ist. Die Künstler in Worten
sind unsere Dichter, die in Formen und Farben sind Maler, Decorateure.
Architekten und Bildhauer !c. :c. Ja wir nennen Künstler sogar diejenigen,
welche die Empfindungen eines großen Meisters in sich aufzunehmen und mit
großer Begabung zu wiederholen wissen, z. B. Schauspieler, Nachbildner ze.
Je mehr nun ein Künstler zum Verständniß des größten Kunstwerkes gelangt,
nämlich der Welt, je mehr er die Gesetze der Natur, das Werden, Wachsen,
Blühen und Welken, die Leidenschaften der Menschen, ihre Culturepochen ze.
erkennt und somit zur Allgemeinheit der Empfindungen der Menschheit sich
emporarbeitet, um so größer steht er vor unseren Augen. Ihm offenbart
sich dann, was dem grübelnden Verstände der Forscher vielleicht erst nach
Jahrtausenden nachzurechnen, zu messen oder zu wiegen gelingt, nämlich
das rythmische Walten der schaffenden Kräfte. Dieses strömt dann die Be¬
geisterung des Genius in Worten oder Formen, in Farben oder Tönen aus
und bezaubert die Menschheit. Das ist das Wesen der Kunst und daher
nennen wir sie die höchste Offenbarung der göttlichen Kraft im Menschen.
Beachten wir ferner, daß unsere Phantasie uns in den Zustand des
Geschauten mehr oder weniger versetzt, (je nach unserer menschlichen Verwandt¬
schaft zu dem Dargestellten) so liegt hierin der Schlüssel, ob etwas schön,
d- h. uns angenehm scheinend, oder „häßlich", d. h. uns hassenswerth er¬
scheinend, ist und warum man sagt, daß sich über Geschmack und Unge-
schmack nicht streiten lasse. Eine Darstellung eines geschundenen Märtyrers
oder die Gräuel einer Schlacht und der Verwesung können uns in vielen
Fällen zum Ekel werden, ebenfalls die Darstellung einer Unmoralität. Solche
Häßlichkeiten können nur dann ästhetisch wirken, wenn ein gewaltiger Gedanke
^e rechtfertigt und uns gleichsam über unsere irdischen Schmerzen emporträgt.
So ist das Bild des Gekreuzigten ästhetisch verwerflich, wenn der Christus¬
gedanke ihm fehlt, denn das gemarterte Menschenbild am Marterholze k-<in
uns an und für sich nie befriedigen; es wird aber großartig, wennx-^r de¬
cken, daß es das Bild des Menschensohnes ist, der für sah^uns vom
Laster befreiende Lehre leidet und stirbt und die Arme uns öffnet, um an
seinem Herzen Trost in Leiden zu suchen.
Wie könnte ich den Uebergang zur christlichen Kunst schöner finden, als
in diesem, von der heidnisch-religiösen Kunst sich so tief und merkwürdig
unterscheidenden Bilde.
Fragen wir jedoch zunächst: wie unterscheidet sich die religiöse von der
profanen Kunst? Streng genommen sollte es keinen Unterschied geben, da
es nur „eine" Kunst dem Wesen nach giebt. Analog wäre die Frage erlaubt,
wie unterscheidet man die religiöse Wahrheit von der profanen? Gut, Wahr
und Schön ist das Wesen des Göttlichen und so ist eine profane Wahrheit
und profane Kunst, wenn sie dem Ideal entspricht, auch göttlich und religiös
Was der Meister des strengsten Styles, Cornelius, zeichnete, hat durchweg
den Ausdruck der tiefsten Religiosität. Grade dieser Meister, der auch in
Worten und Versen gewandt war, rief seinen Collegen zu, daß er nach „der
Kunst" getrachtet, aber „die Künste" verachtet habe.
Wie heute aber die Sachen liegen, müssen wir den Unterschied von reli¬
giös und profan festhalten. Die religiöse Kunst hat, wie schon bemerkt, ihren
Inhalt in den Beziehungen des Menschen und der Welt zu Gott und kann
und darf also nur das „Bedeutendste" ausdrücken, zu dessen Erfassen und
Ahnen wir befähigt sind. Auch die Ausdrucksweise muß dem Inhalte ent¬
sprechen und mithin sowohl die ewig gültigen Gesetze der Stylisirung befolgen
als den Glanz der vorzüglichsten Technik anstreben; denn, indem wir Gott
dienen und uns zu ihm aufschwingen wollen, müssen wir unsere Arbeit zur
höchsten Vollendung bringen, damit sie Gott wohlgefällig ist und der Spruch
Christi zur Wahrheit wird: „Seid heilig, wie euer Vater im Himmel heilig
ist". In der Kindheit der Menschheit, als noch das Können sehr beschränkt,
das Suchen des Ewigen aber oft stärker als in unserer Zeit sich geltend
machte, da verehrte man die Formen, welche die ewig gültigen Gesetze der
Harmonie bekundeten als Symbole Gottes, Noch heute ist das gleichseitige
Dreieck das Symbol Gottes und lange vor der Verehrung der heiligen Drei¬
faltigkeit hielt man den Dreiklang oder Dreipaß und die Gesetze der Kreis¬
eintheilung als Symbole der göttlichen Ordnung für verehrungswürdig. So
sind die Palmette und die Lotusblume mehr wie einfache Zierformen; sie sind
es erst geworden als ihre religiöse Symbolik vergessen wurde und die Orna¬
mentik aus den Tempelhallen auch in die Paläste einzog.
Die profane Kunst ist also nur der Gegensatz zur kirchlichen Kunst, ohne
daß sie den Gegensatz zum Erhabenen und Göttlichen auszudrücken hat, denn
auch unser Wohnhaus soll, wie wir selbst, die Gottähnlichkeit des Menschen
d. h. unser Streben nach dem Höchsten zum Ausdruck bringen.
Auch hier soll das Triviale verbannt sein und die Feiertagsstimmung
der wahren Schönheit herrschen, denn wo diese herrscht, da flieht das gemeine.
Jedoch darf hier die Kunst von ihrem hohen Kothurn herabsteigen und holde
Grazie, Witz und Humor sich freier entfalten als in der Kirche. Den Ball¬
saal und das Boudoir einer Dame mit dem Ernst der dorischen Säule und
der zum Himmel strebenden Gothik zu schmücken, wäre ebenso verfehlt, als
in der Kirche holländische Genrebilder, Landschaften und Fruchtstücke in gol¬
denen Rahmen aufzuhängen. Dieselben Regeln gelten von der Musik und von
dem Gesänge. Beim Christenthum ist der Unterschied zwischen religiös und
Profan um so größer geworden, je mehr es nur die Sehnsucht nach dem Jen¬
seits betont und nicht wie die griechische Anschauung den Himmel auf Erden
sucht. Diese einseitige Sehnsucht nach dem Jenseits hat das Mittelalter fast
krank und für den Genuß der Erdenfreuden vielfach unempfänglich gemacht.
Der edelste Ausdruck dieser Stimmung liegt in den Malereien des Mönches
I'rg. ^ngelioo as, ^itzsole, im Gegensatz zur classischen Schönheit der alten
heidnischen Götterwelt.
Zwischen Sinnenlust und Erdenfrieden
schwankt der Menschen bange Wahl,
Auf der Stirne des Kroniden
Leuchtet ihr vermählter Strahl.
Erst die Renaissance erringt auch in der Kunst wieder den heidnisch
humanistischen Standpunkt und sucht ihn mit dem Christenthume zu ver¬
söhnen. An dieser Aufgabe arbeitet auch unsere Zeit. Mächtig und schroff
haben sich die Ultramontanen diesen Bestrebungen widersetzt, da sie den Na-
zarenismus und Byzantinismus selbst einem Raphael entgegenstellen.
Levin Schücktng läßt in einem seiner Romane Luther mit Raphael sich
unterhalten und den damals noch mönchisch denkenden Feuergeist den Vor¬
wurf an Raphael richten, daß er keine christliche, sondern heidnische Gestalten
Male, da diese schon die Glückseligkeit des Himmels auf Erden, nicht aber die
den Christen bezeichnende Sehnsucht nach dem Himmel ausdrückten. Luther
hatte Recht, wenn er als Mönch das Christenthum nur in der Askese er¬
blickte, die die Welt als Jammerthal und das Leben als Leiden betrachtet.
Raphael hatte aber im höheren Grade Recht, da er an die Kindschaft und
Gottähnlichkeit der Menschen glaubte und in der Kunst die Aufgabe erfüllte,
den Himmel auf die Erde zu versetzen und ein verlorenes Paradies un^
wiederzugeben. Ihm wie Michelangelo, wie Mozart und Beethoven and
andern gottbegnadeter Künstlern war die Kunst mit der Religion ni^^rmbar
vereinigt.
Jedoch zurück zur allgemeineren Frage! Die religiöse Kunst in Worten,
im Gebete, in der Literatur, im Liede :c. ist die ergreifendste und mächtigste.
Sie steht durch ihren geistigen Inhalt im Vordergrunde, wird aber als die
Selbstverständlichste und am bequemsten auszuübende von den Wenigsten hin¬
länglich gewürdigt. Wie Vielen ist wohl die Frage aufgetaucht: „welches
ist denn das herrlichste Kunstwerk in Worten?" Ich antworte: Das, was
Ihr als kleine Kinder schon lerntet und später mit mehr oder weniger tiefem
Nachdenken unzählige Male gesprochen habt, nämlich „das Vaterunser."
Welches andere Meisterwerk in Worten übertrifft dieses von Christus her¬
stammende Gebet, in welchem in wenigen Sätzen die Inbrunst des Herzens
mit allen seinen Wünschen und so tiefe Gedanken, die nie zu Ende gedacht
werden können, laut werden? — Wie Schiller sagt, daß der blaue Himmel
verständlich für jedes Kind und doch von unermessener Tiefe sei, so auch das
Vaterunser für alle Menschen. Das Wort: „So sollt ihr beten!" gilt daher
für alle Zeiten. —
„Zwei mal zwei ist vier" kann so.wenig wie der pythagoräische Lehrsatz
zu einem Gedichte begeistern.
Es leuchtet also wohl ein, daß die Kunst mit der Religion das Ge¬
meinschaftliche oder besser gesagt dieselbe Grundlage hat, nämlich daß tiefes
Empfinden in beiden vorwalten und zum Ausdruck kommen muß.
Erfüll' davon dein Herz so groß es ist,
Und wenn Du ganz in dem Gefühle selig bist,
Nenn es dann, wie Du willst,
Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.
Goethe sagt es uns in diesen Versen mit den schönsten, tiefempfundensten
Worten. — Ja das ist ja das Eigenthümliche, daß zum Ausdruck einer tiefen
Empfindung die Kunstform absolut nothwendig ist, so daß wir nicht in
Prosa, sondern nur in poetischen Worten die Macht der Musik schildern
können. Lenau hat die Melodien Beethoven's besser in Versen geschildert,
als je ein Musiklehrer es in weitschweifigster Prosa vermag.
Im umfassendsten Sinne muß uns daher der Gottesdienst die Erbauung
an all diesen Schöpfungen der Kunst sein, die den Aufschwung der Seele zu
Gott, sei es im Glauben, in der Hoffnung und Liebe, sei es im stolzen Ge¬
fühle der Kindschaft des ewigen Vaters, sei es in der demüthigen zer¬
knirschten Reue des verlorenen und zurückkehrenden Sohnes darstellen.
Als noch die Völker in ihrer Kindheit den Gottesbegriff nur dunkel
ahnten und die Gabe der Mittheilung durch Schrift sehr beschränkt war, da
traten die Führer und Auserwählten zu Vereinen zusammen und theilten
sich in geheimen Symbolen, die sich vererbten, ihre erkannten Wahrheiten
un't. Sie formulirten Sinnsprüche und Gleichnisse, die das Walten der
»nten und bösen Naturmächte schilderten und die Geschichte der ältesten Cul¬
turkämpfe enthielten. Später als die Politik der Parteien die Unterwerfung
^'r großen Massen verlangte, gab die Herrschsucht der Priester die Schaale
für den Kern, verlangte fraglosen Glauben der formulirten Dogmen und
verbot die Deutung der Symbole und Mären. Das Dogma wurde der
Kritik entzogen, der Zweifel verdammt, und mit dem Schwerte der Glauben
diktirt. So sollte anstatt durch die Gewalt der Ueberzeugung und anstatt
durch die herzenfesselnde Macht der Liebe und Schönheit durch die Tyrannei
des die beiden Schwerter beanspruchenden Papstthums die Weltherrschaft be¬
gründet werden, in welcher nur „ein" Hirt und „eine" Heerde existirt.
Energischer wie je protestirt unsere Zeit gegen diesen Frevel an der
Menschheit und während die übrigen Völker in stumpfer Resignation den
Pesthauch des neuen Dogmas der Unfehlbarkeit ertragen, beginnt Deutschland
die Fortsetzung der Reformation, um die Gewalt Roms und seiner heimlich
Verbündeten dauernd zu brechen.
Mit der Fackel der Wissenschaft können wir zwar die gewaltige Zwing¬
burg der Geister beleuchten und niederbrennen, aber kein neues Gotteshaus
Richten. Die Negation allein ist unfruchtbar. Dem Volke dürft ihr nichts
"ebenen. ohne ihm den besseren Ersatz zu bieten. Erkennt ihn in der Kunst
Und zwar in der Pflege dieser heiligen Schätze, die die Vergangenheit uns
Ererbte. Reiniget sie vom Roste des Aberglaubens und erlaubt, daß Jeder
"ach seiner besten ehrlichen Ueberzeugung sie prüft und das Beste sich seiner
Begabung entsprechend, aneignet.
Nicht, die Lehrsätze der Moral sind es, welche die Confessionen scheiden;
^um abgesehen von einigen theologischen Spitzfindigkeiten sind alle gebildeten
Menschen in diesen Fragen einig. Das Andere ist aber doch nur die mehr
"der weniger künstlerische Schaale oder das Symbol, das uns erfreuen soll. —
Hierfür ein Beispiel aus nächster Nähe. Bei Gelegenheit des in einer evan-
^Aschen Kirche abzuhaltenden altkatholischen Gottesdienstes wurde die Be¬
merkung laut, es könnten die Evangelischen Anstoß nehmen, wenn brennende
Achter auf den Altar gesetzt würden. Wir erkundigten uns näher und er¬
fuhren, daß diese Befürchtung übertrieben sei. Abgesehen nun davon, daß
Unsere Gegner den Mangel der Lichter höhnisch uns vorgeworfen haben
morden und daß wir persönlich nichts gegen einen Gottesdienst ohne Lichter
Zuzuwenden haben, so hielten wir es doch unangemessen, von einem uro^'n
^ Poetisch schönen Gebrauche abzuweichen. Das Licht ist ein^)indol
^°etes und der Wahrheit des erglühenden Herzens und dx^^übers.
Warum also diesen Nachklang des uralten Sonnencultus und persischen
Feuercultus, der in so geläuterter Form sich im Dienste des Einen Gottes
erhalten hat, unnöthig abschaffen?
Ein nicht zelotischer Geist wird kein Aergerniß an diesen Lichtern nehmen,
so wenig wie er in einer katholischen Messe die herrlichen Melodien un¬
serer Musikheroen weniger schön findet, weil die Messe nicht seinem Glauben
entspricht.
Von den bisherigen katholischen Geistlichen verlangen wir, daß sie außer
der Bibel und den Kirchenvätern auch diejenigen Schätze der modernen classi¬
schen Literatur'ihren Predigten einverleiben, welche die Beziehung des Menschen
und der Natur zu Gott ausdrücken. Sie dürfen nicht länger eulturfeindlich
unsere großen Dichter verleugnen. Als ich eine der erhabensten Stellen aus
Schiller's Genien einem ultramontanen Geistlichen citirte, rief er wüthend:
„Schweigen Sie mir von diesem Atheisten!" Wenn die Verleumdung Schiller
katholisch sterben läßt, so wundert es mich, daß sie nicht vorab Goethe als
Katholiken stempelt, der doch im 2. Theile Faust's freiwillig einen katholischen
Himmel mit dem ausgesprochensten Mariencultus erdichtete, in welchem er
Faust von Engeln tragen läßt. Hier ist mir Goethe der beste Gewährsmann,
daß die Poesie der Menschheit sich Alles aneignen darf, was nur Erhabenes
in irgend einem Cultus existirt; ja daß es die Pflicht des Dichters ist, diese
Symbole zu retten, wenn sie in Gefahr sind, mit dem Wüste des Aberglau¬
bens weggefegt zu werden. Naria, glorios», als Repräsentantin des höchsten
weiblichen Ideales ist die Ergänzung der nach Freiheit und Unendlichkeit stre¬
benden Seele des Mannes und somit schließt dieses Gedicht mit den be¬
zeichnenden Worten „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan", welche die vollste
Berechtigung des Mariencultus enthalten. Freilich eines poetischen Cultus,
der sich wie die herrliche Madonna auf Goldgrund im Cölner Dom zuo
Zerrbild einer Muttergottes von Kevelar verhält.
Der Altkatholicismus wird als eine seiner wichtigsten Ausgaben nach
Abschaffung des Glaubenszwanges die Reinigung des äußeren Cultus betracht
ten müssen. Jeder Vernünftige begrüßt die Worte Reinkens, daß kein Wür¬
denkultus mehr herrschen solle, als eine Abschlagszahlung, denn vorerst mußte
ja äußerlich Alles beim Alten bleiben, um die wichtigeren geistigen Schlachten
zu schlagen. Sei es mir daher zum Schlüsse erlaubt die wichtigsten Reformen
anzudeuten.
Wie soll die Kleidung des Geistlichen sein?
Absichtlich wurde auf.die Person desselben übertragen, was Gottes ist,
nämlich die Gewalt der Sündenvergebung, der wunderthätigen Verwandlung ^'
und somit trug der Geistliche auch auf seinem Körper heilige Symbole und
Darstellungen, welche die Verehrung der Massen herausforderten. Nicht nur
das Zeichen des Kreuzes als das der Erlösung, sondern auch die Darstellung
der Person Christi als Gekreuzigter, als guter Hirt, als Himmelskönig, ferner
die Darstellung der Maria, des englischen Grußes, der vier Evangelisten, verschie¬
denster Märtyrer, ja sogar ganzer Gebete und die Leidenswerkzeuge Christi
mußten dazu dienen, um die Augen der staunenden Menge auf den Geistlichen
ZU lenken. Rechnen wir noch hinzu, die Kostbarkeit des Materiales, der
leuchtenden Seide und des schimmernden Goldes und daß die Hände der
Fürstinnen oft an diesen Gewändern thätig waren, so wird uns Niemand
verübeln, wenn wir in der Kleiderpracht ein Haupt-Mittel zum Würdencul-
ws sehen, sie muß nothwendig mit letzterem fallen. Ich will die künstlerische
Bedeutung so vieler herrlichen Arbeiten, die im Dienste dieses verderblichen
Cultus entstanden sind, nicht unterschätzen, aber dennoch müssen von nun an
diese kunstvollen Gewänder in die historische Rumpelkammer der Museen
Wandern. Uebertragt auf die Wände des Gotteshauses und auf den Altar
diese auf dem Körper getragenen Bilder und Ornamente, denn dort soll Alles
herrlich sein, damit ein Jeder den Eindruck erhalte, daß Alles ohne Aus¬
nahme das Lob Gottes verkünde. Soll aber, so höre ich fragen, der Priester
sich in Nichts vom Laien unterscheiden? Gewiß antworte ich: Gebt ihm
den weißen Ueberwurf und die Stola, denn beide bedeuten die Priesterschaft,
nämlich die Reinheit der Gesinnung und die Binde, welche in der Religion
^oll mit dem Menschen vereinigt.
In Bezug auf die Heiligen-Darstellung ist zu wünschen, daß jede wahre
Poesie der Legende gerettet, jedes Zerrbild aber verbannt werde. Die Martyr¬
ien sind oft nur Greuelscenen, die für Barbaren gemalt und gemeißelt
sind. Die Passion Christi wird auch in dieser Weise von zünftigen Hand-
Werks-Malern verunstaltet und herabgewürdigt.
Wenn nach diesen Andeutungen die christliche Kunst, am Kulturkampfe
unserer Zeit sich betheiligen wollte, so könnte sie unsere Tage auch in der
Kunstgeschichte zu hochbedeutsamen machen und jenem Kampfe manches von
^ner Schärfe und Bitterkeit nehmen, ihn geistig und ideal durchdringend
^d h
Seitdem der „Ausgleich" von 1867 die Länder der Stephanskrone fast
^ständig neben die westliche Reichshälfte Oesterreichs gestellt hat. ist dort der
'"der der Nationalitäten noch nicht wieder zur Ruhe gekommen. Mit einer
Gewaltsamkeit, welche an die schlimmsten Zeiten der Dänenherrschast in
Schleswig erinnert, suchen die Magyaren den Deutschen, Slowaken, Ruthenen,
Walachen ihre Sprache aufzudrängen; das Magyarische soll nach dem Spra¬
chengesetz vom December 1868 herrschen im Parlament und in allen Staats¬
behörden, auch in Gegenden, wo die Magyaren nur dünn gesät sind; was
Magyarisirungszwecken dient, wird gefördert, deutsche Schulen aber entweder
unterdrückt oder in roher Weise zu Grunde gerichtet durch Magyarisirung-
Erscheint jedes gewaltsame Aufdrängen einer fremden Sprache, jeder Sprach¬
zwang in unsern Tagen als eine häßliche Tyrannei, jene Magyaristrungs-
Politik vollends ist eine Sünde wider Natur und Geschichte. Denn der herr¬
schende Stamm bildet in Ungarn nur die Minderheit; von 15 Millionen ge¬
hören ihm nur wenig über S Millionen an; die Deutschen mit den Juden
allein zählen schon gegen 2 Millionen, fast 8 Millionen entfallen auf Slawen
und Walachen. Und diese Stämme sind nur zum Theil den Magyaren
an Cultur nicht gewachsen, Deutsche und Juden behaupten ihnen gegenüber
eine unüberwindliche Ueberlegenheit, in ihren Händen ruhen Handel und Ge¬
werbe ganz ausschließlich, denn die Magyaren sind geblieben, was sie seit
Jahrhunderten gewesen sind, ein Bauern- und Hirtenvolk mit einem zahl¬
reichen, stolzen, herrschgewohnten Adel, ein Volk voll kriegerischen Feuers
und schroffen Nationalstolzes, aber ein Volk ohne höhere Cultur mit einer
Sprache, die ein turanischer Dialekt ist und nie zu einer Cultursprache werden
kann, völlig vereinzelt unter allen Sprachen Europas mit Ausnahme des
Türkischen und des Finnischen, nirgends verstanden außerhalb der Grenzen
Ungarns.
Zu dieser Naturwidrigkeit der magyarischen Nationalitätenpolitik gesellt
sich noch ein anderer Umstand; das ganze Verfahren läuft wider das histo¬
rische Recht. Denn zu keiner Zeit sind die Magyaren allein in dem Lande
gewesen, dessen Herrschaft sie führen; sie sind nie wesentlich über die Tief¬
landschaften an Donau und Theiß hinausgekommen, haben die gebirgigen
Ränder und selbst weite Striche des Flachlandes Deutschen, Slawen und
Rumänen überlassen. Eben ihre besten Könige riefen im 12. und 13. Jahr¬
hundert die Deutschen in die Thäler der Nordkarpathen und die herrlichen
Hügellandschasten Siebenbürgens, die sie jetzt noch inne haben; die Slowaken
aber, welche den ganzen gebirgigen Nordwesten Ungarns erfüllen, waren
früher im Lande als die Magyaren, wurden von ihnen erst aus der Ebene
in's Gebirge zurückgeworfen. Und dasselbe gilt theilweise von den Deutschen-
Freilich, daß die Vorfahren der jetzt in größeren und kleineren'Enclaven das
fruchtbare Hügelland um den Plattensee bewohnenden Deutschen vor
Ankunft der Magyaren sich angesiedelt hätten, das wird sich Schwert^
erweisen lassen und von manchen ist das Gegentheil bekannt. Dies ändert
jedoch nichts an der Thatsache, daß Pannonien. d. i. die breite, fast viereckige
Landschaft, welche im Norden und Osten die gewaltige Donau, im Süden
die Drau, im Westen der Wiener Wald und die Abfälle des oststeirischen
Hügellandes umschließen, das dies ganze, an Ausdehnung etwa Böhmen
gleichkommende Land im 9. Jahrhundert, ehe noch das wilde Reitervolk,
dessen Abkömmlinge es jetzt bewohnen, hereinbrach, von deutschen Colonisten
erfüllt war , weit über die Grenze Nieder - Oesterreichs und des anstoßenden
jetzt noch deutschen Striches hinaus. Es ist gewiß nicht überflüssig, diese
wenig beachtete und kaum noch gewürdigte frühe Germanisirung des südwest¬
lichen Ungarns näher ins Auge zu fassen.
Fast in denselben Sitzen, wie jetzt die Magyaren westlich bis zur Enns
vorgeschoben, hausten seit dem 6. Jahrhundert die mit jenen verwandten
Avaren, ein rohes Nomaden- und Reitervolk wie sie, herrschend über unter¬
worfene slawische Bauern, die ihnen zinsten und Hilfstruppen stellten, sie
selbst verschanzt hinter ihren riesigen „Ringen", deren es neun im ganzen Ge¬
biete gab, von da hervorbrechend zu Raub und Plünderung nach Deutschland,
Italien, Griechenland, und unermeßlichen Raub zusammenhaufend. Erst der
gewaltigste Volksherrscher der Deutschen im Mittelalter, Karl der Große,
der überall seinen Nachfolgern die festen Bahnen vorzeichnete, der vor Allem
der deutschen Bolkskraft die zukunstreiche Richtung nach dem slawischen Osten
gab, zerschlug das Reich der Avaren in fünfjährigem Kriege (791 —79K),
iwang ihre Fürsten zur Unterwerfung und Taufe, trieb den Rest über die
Donau, in die „avarische Wüste", wie die Pußten zwischen Donau und
Theiß von da ab geheißen wurden. Seitdem gehorchte das verödete Land
Westlich der Donau den Franken. Ein deutscher Markgraf gebot in Pannonien.
anderer über die Ostmark, welche das Land zwischen Wiener Wald und
Enns umfaßte; zum ersten Male klang die Sprache des deutschen Herrenvolkes
w diesen Regionen.
Das Land war wenig mehr als eine Wüste, als die Franken Besitz er¬
griffen. Einzelne Städte hatten sich allerdings auch durch die schrecklichen
Völkerstürme, welche gerade die Donaulande durchrasten, behauptet, wie Sa-
baria, das jetzige Steinamanger. und slawische und avarische Ansiedlungen
wogen durch's ganze Land zerstreut gewesen sein. Gewiß war aber die Bevölke¬
rung nur dünn gesät, weite Gebiete standen der Einwanderung offen. Eine
solche ging zunächst von den Slawen aus. unzweifelhaft von den Slowaken,
^e mit den Mährern verwandt sind und noch jetzt merkwürdig rasch sich
verbreiten. Sie wurden bald so zahlreich, daß sie die zurückgebliebenen Avaren
bedrängten; ja um 840 bildete sich im südlichen Pannonien am Plattensee
slawisches Fürstenthum unter deutscher Oberhoheit, dessen Hauptstadt das
heutige Szatavär an der Szala wurde. Noch erinnern einzelne Localnamen
an die jetzt fast völlig verschwundene slawische Bevölkerung Pannoniens, wie
die Bezeichnung des Plattensees, der bei den Magyaren Balaton heißt, von
Siao. blato, Sumpf, Schmutz.
Doch bald machte sich auf das große Land ein übermächtiger deutscher
Cultureinfluß geltend. Zwei deutsche Stämme sind es überhaupt vornehmlich
gewesen, welche deutsche Sprache und Sitte in den slawischen Osten getragen
haben, im Norden die Nieder-Sachsen, im Süden die Baiern, beide einander
mannigfach ähnlich. Denn beide sind vorwiegend ein Volk der Ebene, beide
offenbaren dieselbe nachhaltige Zähigkeit, dieselbe derbe Kraft, beide endlich
haben sich politisch nie so zersplittert, wie die Schwaben oder Franken. Aber
die Sachsen waren damals, als das Avarenland fränkisch wurde, noch kaum
unterworfen, standen christlicher Gesittung noch in hartem Trotz gegenüber
und sahen in den Franken ihre Feinde, nicht in den Slawen im überelbischen
Osten. Erst ein volles Jahrhundert später haben sie den Kampf gegen die
Elbslawen eröffnet, der dann 300 Jahre lang ihre Hauptaufgabe war. Die
Baiern dagegen, von Beginn ihrer Geschichte an auf altrömischem, also alt¬
christlichem Boden angesessen, beteten schon anderthalb Jahrhunderte vor Karl
dem Großen zum Christengott und ihr letzter Volksherzog, jener Thassilo, der
der fränkischen Macht erlag und auf Befehl des großen Königs zum Mönch
geschoren ward, hat zahlreiche Kirchen und Klöster gestiftet oder begabt. So
wurden die Baiern der erste deutsche Stamm, der erobernd und colonisirend
in die Völkerwildniß des Ostens drang. Die grauen Fluten der heimischen
Donau wiesen sie dahin; der mächtige Strom, der den Römern nur als
Wallgraben gedient, ward zur Culturstraße; auf seinem breiten Rücken trug
er durch düstre Tannenforsten und weite Ebenen an zahllosen Inseln und
niedrigen Auen vorüber die Proviantflotten der fränkischen Heere und das
Schiff des bairischen Kaufmanns, der Salz und Rosse und Gewänder nach
dem Osten führte.
Auch die Geistlichen der Franken und Baiern zogen dieselbe Straße.
Denn sie waren es, welche als die ersten das Barbarenland einer höheren
Cultur eröffneten, und mit der Lehre des Christenthums die Keime höherer
Gesittung pflanzten. Es ist ein eigenthümliches Geschlecht, diese karolingischen
Geistlichen. Voll Opfermuth und Entsagung wie moderne Missionare, ver¬
binden die besten unter ihnen damit eine feurige Thatkraft und Herrschbegier,
Kenntniß der Welt und alle Geistesbildung, deren jene Zeit fähig war. So
treten sie den Barbaren gegenüber, sicher die Auslese ihres Volkes, seinen
Kriegsführern und Staatsmännern gewiß ebenbürtig, ja überlegen, wenn sie
nicht gar beides selber waren. Vor allem von Salzburg drang die
Gesittung ostwärts. Seit der heilige Rupert (um 700) in den waldbewachsenen
Trümmern der alten Römerstadt Juvavia am Fuße des Mönchsberges Peters-
kirche und Peterskloster gestiftet, hatte sich dort rasch eine kirchliche Gründung an
die andere geschlossen, bis das Ganze die große Culturstätte des Südostens wurde.
Hier waltete seit 785 Arno. ein Baier, als Bischof, den die Gunst des Königs
und eignes Verdienst 798 zum Erzbischof erhob. So recht ein Typus des
karolingischen Clerus, vereinigte Arno einen gesunden praktischen Sinn mit
aufrichtiger Frömmigkeit, Milde mit Festigkeit, kirchliche Begeisterung mit
Gewandtheit in allen Staatsgeschäften. Bald ist er im Hoflager seines Herrn
oder reitet als sein Gesandter nach Italien, bald weilt er in Salzburg, von
jungen Geistlichen umgeben, und sorgt für seine aufblühende Klosterschule,
die er mit einer stattlichen Bibliothek ausrüstete, und für die Güter seiner
Kirche, deren Verzeichniß er anfertigen ließ, oder er geht als Missionar zu
den Avaren. So viel Schnörkel- und Phrasenwerk auch Alkuins Briefe an
ihn verunzieren, eine herzliche Verehrung für Arno, für seinen „Adler", wie
er ihn gerne nennt, bricht doch überall durch und auch sie bürgt für den
Werth des Mannes.
An seinen Namen knüpft sich die erste Verbreitung christlicher und deut¬
scher Cultur nach Pannonien. Schon vor der Eroberung sandte er deutsche
Missionare in das Gebiet der Avaren' und einzelne Erfolge hatten sie gehabt,
wie denn die Avaren denselben religiösen Jndifferentismus offenbaren, der
noch jetzt den Magyaren und andern Völkern mongolischer Abkunft eignet,
aber noch hatte sein Bisthum nicht seine Gewalt über die Donaulande er¬
streckt. Da verlieh König Pippin, als er auf der Stätte seines zerstörten
Hauptringes die Huldigung des Avarenchans empfangen (796), alles Land
zwischen Donau. Raab und Drau dem Salzburger Bischof zu seinem Spren¬
gel. Zur selben Zeit berief der junge Fürst eine Anzahl Bischöfe, darunter
auch Paulinus von Aquileja, Arno's Freund, zu einer Konferenz in sein
Lager. Hier wurden die Beschlüsse darüber gefaßt, wie dieses „rohe und
unvernünftige Volk, das als unwissend und ohne Cultur ganz träge zur Er¬
lernung der heiligen Geheimnisse", erfunden wurde, zum Christenthums zu be¬
kehren sei. Alle Gewalt wird dabei ausdrücklich untersagt, mit sanftmüthiger
Ueberredung sollen die Priester es auf den Pfad des Heils hinüberleiten und
erst nach gründlicher Unterweisung — für die allerdings höchstens 40 Tage
gestattet wurden — den Bekehrten zur Taufe führen. An Paulinus selbst
schien damals die nächste Aufforderung sich zu richten. das mühselige Werk
auf sich zu nehmen; Altum forderte ihn in dringendster Form dazu auf, aber
der Italiener sandte höchstens seine Priester nach dem Donaulande, ihn selbst
fesselte sein Erzbisthum und anderweitige Interessen, und als dann im Jahre 810
die Drau als Grenze zwischen den Sprengeln von Salzburg und Aquileja
bestimmt wurde, da verlor Aquileja jedes direkte Interesse an diesem Missions¬
gebiet und Salzburg vor allem übernahm die Aufgabe der Christianisirung.
Jene Scheidung aber der Diöcesen nach dem Laufe der Drau ist für die na¬
tionale Gestaltung jener Lande überhaupt von Bedeutung geworden, denn
bis zur Stunde bildet der Fluß in seinem oberen Laufe im Wesentlichen die
Grenze der Deutschen und der Südslawen (Slowenen). War doch der Land¬
strich südlich der Drau kirchlich mit Aquileja. politisch mit der Markgrafschaft
Friaul, in beiden Beziehungen also mit Italien verbunden und damit dem
direkten Einflüsse Deutschlands entzogen. So weit reichen die Wurzeln jener
Entwicklung zurück.
Noch im Jahre 798 machte sich Arno auf eine besondere Aufforderung
Karls des Großen nach dem Avarenlande auf, von den besten Wünschen seines
Freundes Altum begleitet. War auch seine persönliche Wirksamkeit von kurzer
Dauer — denn schon im Laufe des Jahres 799 ist er zurückgekehrt — er hatte
doch selbst die Lage der Dinge kennen gelernt und mit voller Sachkenntniß
vermochte er seine Anordnungen zu treffen. Dahin gehört vor allen Dingen
die Ernennung des Landbischofs Theodorich für jenes Gebiet. Eine ganze
Reihe anderer unter Salzburg stehender Bischöfe haben nach ihm unter Sla¬
wen und Avaren gearbeitet.
Ein irgendwie erheblicher Widerstand gegen die neue Lehre scheint nir¬
gends hervorgetreten zu sein, weder bei Avaren noch bei Slawen. Schon 797
hatte das ganze avarische Volk Uebertritt zum Christenthums gelobt, seine
Häuptlinge theilweise noch früher. Ja einer von ihnen steht im Verbrüde¬
rungsbuche des Se. Petersstiftes zu Salzburg verzeichnet. Und überall er¬
hoben sich nun christliche Kirchen und Kapellen, von deutschen Bauleuten
ausgeführt, von deutschen Erzbischöfen geweiht, von deutschen Priestern ver¬
sehen. Erzbischof Adalwin von Salzburg (858 ff.) hat allein 32 Kirchen in
diesen slawisch-avarischen Landschaften geweiht, von denen ein guter Theil
auf Pannonien selbst fallen dürfte. In dichter Reihe entstanden diese Anlagen
namentlich am Wiener Walde, im heutigen Nieder-Oesterreich, wie in Werd,
Tarnberg, Edlitz u. a. in., aber auch darüber hinaus auf jetzt ungarischen
Boden, z. B. in Gans (Kresi). Besonders wichtig für die Christianisirung
unter deutschem Einfluß wurde die Begründung eines slawischen Fürstenthums
unter deutscher Oberhoheit im Lande um den Plattensee. Ein mährischer
Fürst, Priwina, dem Christenthums geneigt, deshalb verjagt und in Trais-
mauer getauft, erhielt um 840 von König Ludwig dem Deutschen die Er¬
laubniß, nicht fern vom Plattensee eine Herrschaft und eine Stadt gründen
zu dürfen. So entstand an der Szala die Stadt Mosaburg, d. i. Sumpf¬
burg, das jetzige Szalavär. Das Fürstenthum aber erstreckte sich bald im
Osten bis zur Donau, im Süden bis an die Drau, im Westen bis an die
Raab und die Abfälle des steirischen Gebirges. 849 verwandelte dann König
Ludwig dies bis dahin zu Lehen getragene Gebiet dem Slawen in sein El-
genthum, und als Priwina um 860 der Rache seiner alten Landsleute, der
Mährer, zum Opfer fiel, da folgte ihm sein Sohn Chozil, der erst 873 oder
874 starb. Beide Fürsten haben die Christianisirung und damit den deut¬
schen Einfluß in ihrem Lande nachhaltig gefördert. In Mosaburg erstanden
vier Kirchen allein unter Priwina's Regierung, von denen Erzbischof Liupram
(836 — 858) mehrere selber weihte-, fünfzehn andere sah derselbe Erzbischof
an andern Orten des Fürstenthums sich erheben, wie in Pettau, Fünfkirchen.
Dudleipin (unweit Kaniza). Auch Chozil zeigte sich der Kirche besonders er¬
geben; wie er schon zu Lebzeiten seines Vaters mehrfache Schenkungen an
einzelne Kirchen gemacht hatte, so that er es jetzt als selbständiger Fürst.
Es ist ein Beweis dafür, wie rasch die neue Lehre hier siegte, daß auch sla¬
wische Edle durch Schenkungen von ihrem Eigenthume das Heil ihrer Seele
zu fördern strebten und sich damit als treue Gefolgsmannen des Christengottes
bekannten. So ließ Wittimar 865 durch Erzbischof Adalwin auf seinem
Eigen eine Kirche weihen, die in der NäbX von Mosaburg sich erhob. Und
oft verweilten die Salzburger Erzbischöfe persönlich unter den neugewonnenen
Glaubensgenossen. Liupram. Adalwin, Dietmar haben vielen Kirchen die
Weihe selbst gespendet, Adalwin hat einmal im Jahre 865 das Weihnachtsfest
Mit Chozil in Mosaburg gefeiert. Freilich dürfte Niemand meinen, daß das
Christenthum den pannonischen Slaven sofort in Saft und Blut übergegangen
sei. Geistige Umwandlungen vollziehen sich überall langsam, namentlich in
einem rohen Volke, das mit einem male ganz neue Vorstellungs - und Em¬
pfindungskreise sich aneignen soll. Und doch wäre es ungerecht, den sittigen-
den Einfluß der neuen Lehre gering anzuschlagen. Das ganze Leben des
Menschen stellten die christlichen Lehren unter einen festen Gesichtspunkt, ord¬
neten es nach einem unabänderlichen Grundgesetz der heidnischen Willkür und
Meisterlosigkeit gegenüber, und in gewaltiger Ueberlegenheit standen sie da in
ihrer festen, nach vielen Jahrhunderten ihre Dauer bemessenden Ueberlieferung.
Groß allerdings waren die Schwierigkeiten, die sich der Umgestaltung des
sittlichen Lebens entgegenstellten. Das lockere Familienleben dieser pannoni¬
schen Slawen, die leichte Schließung und Trennung der Ehen, das Alles be¬
rührte die deutsche Geistlichkeit höchst auffällig und lange blieben ihre Be¬
mühungen zur Beseitigung dieser heidnischen Ungebühr umsonst. Noch Papst
Johann VIII. mußte in einem an Chozil gerichteten Schreiben die leichtsin¬
nige Trennung und Schließung der Ehen bei Strafe des Bannes verbieten,
selbst als der große Slawenapostel Methodios nach Pannonien kam. scheint
er die heidnische Unsitte noch vorgefunden zu haben.
Doch mit der Ausbreitung des Christenthums in Pannonien ging Hand
M Hand die Pflanzung deutschen Einflusses und deutschen Volksthums. In
jener Zeit, in welcher Kirche und Staat aufs Engste miteinander verbunden
waren, mußte ein deutsches Kirchenregiment über Pannonien ganz von selbst
die deutsche Einwanderung fördern. Alle Fäden dieses Regiments liefen in
Salzburg zusammen, von dort kamen die Geistlichen des Landes, dorthin
richteten sie die Blicke der Neubekehrten. Das persönliche Erscheinen der Erz-
bischöfe, die Thätigkeit der Landbischöfe, die ohne festen Sitz von Ort zu Ort
wanderten, dies Alles brachte die deutsche Kirchenmacht beständig in Erinne¬
rung. Die Geistlichen sodann mußten nothwendig zunächst wenigstens Deutsche
sein. Schon vor der Begründung einer Kirche in Mosaburg hatte Priwina
seinen Hauskaplan; ihm, der dann 850 die Mosaburger Diöcese übernahm,
folgten bis 871 noch drei deutsche Geistliche. Zwei andere, Sandrat und
Erinpart, verwalteten zur selben Zeit Pfarrstellen bei Mosaburg, ein dritter,
Gundbato, besaß eine Kirche zu Quartinaha am Plattensee und die zahl¬
reichen sonst erwähnten Kirchen setzen ebenso viele Priester voraus, gewiß mit
wenigen Ausnahmen Deutsche.
Sicher hätten nun diese wenigen Priester das slawische Pannonien so
wenig germanisirt, wie später die deutschen Geistlichen das Polen des 10. Jahr¬
hunderts dem Deutschthume zu gewinnen vermochten. Aber an sie schloß sich
eine starke deutsche Einwanderung. Erzbischof Liupram sandte von Salzburg
„Maurer und Maler. Zimmerleute und Holzarbeiter" nach dem Plattensee,
um in Mosaburg eine Kirche zu errichten. Deutsche waren es also, die die
Mauern und das Gebälk der Kirchen aufführten, die mit Fresken, Mosaiken
und Schnitzereien sie schmückten, und mögen auch viele wieder der Heimat sich
zugewandt haben, manche blieben gewiß in dem Lande zurück, das ihnen
lohnende Arbeit geboten. Doch nicht die Gewerbtreibenden allein — und
damals ganz besonders nicht — hätten germanisirend wirken können; die
Hauptarbeit fiel der harten Kraft der deutschen Bauern zu. Da tritt nun
ein tiefer Unterschied hervox, zwischen der deutschen Auswanderung des 9. und
der des 12. und 13. Jahrhunderts. Diese letztere, veranlaßt durch eine rela¬
tive Ueberzahl der ackerbauenden Bevölkerung, welche das Landvolk in dichten
Schaaren auch in die Städte trieb und so deren raschen Aufschwung förderte,
vollzog sich durch starke Colonistenzüge freier Bauern, die aus eigner Wahl
dem Rufe eines slawischen Fürsten oder Edlen folgten und auf fremdem
Grunde freie Gemeinden schufen. Von dieser relativen Uebervölkerung konnte
im 9. Jahrhundert nicht wohl die Rede sein, zu einer Zeit, wo ein guter
Theil des deutschen Bodens noch ungerodetes Neuland war. Eine dringende
Nothwendigkeit also, sich eine neue Heimat zu suchen, lag damals für die
ländliche Bevölkerung Deutschlands wohl nur selten vor. Da waren es die
großen Grundbesitzer, der König, die Kirche, die Edelleute, vornehmlich Baierns,
die im neuunterworfenen Slawenlande Erwerbungen machten und sie wenigstens
zum Theil mit den Hörigen ihrer im Innern Deutschlands belegenen Güter
besetzten. Es leuchtet ein. um wie vieles geringer die Kraft dieser deutschen
Colonisation gegenüber der späterer Jahrhunderte sein mußte. Ungeheurer
Grundbesitz war in den Ostmarken der Krone zugefallen, denn alles eroberte
Land galt als Königsgut. Weite Strecken desselben jedoch wurden an die
Kirche und an königliche Vasallen als Lehen oder als Eigenthum übergeben.
Ganz besonders die Kirche mußte daraus Nutzen ziehen. Denn wie sie über¬
haupt fast die einzige, jedenfalls die stärkste geistige Macht jener Epoche dar¬
stellt, so ist sie auch auf wirthschaftlichen Gebiete am Rationellsten verfahren
und hat als Lehrmeisterin auch hier sich erwiesen. Das Erzstift Salzburg
besaß schon 861 große Gütercomplexe an acht Orten des später als Neustädter
Viertel bezeichneten Winkels zwischen Semmering, Wiener Wald und Ungarns
Grenze und erhielt in demselben Jahre Besitzungen auf jetzt ungarischen
Boden, Stein am Anger und Pinkafeld (Comitat Eisenburg), geschenkt, 865
aber andere Güter an der. Grenze der heutigen Steiermark, 889 wiederum
solche um Kaniza. Den Passauer Landbischof Alberich beschenkte König Lud¬
wig der Deutsche mit Hufen am Nußbach (in Nieder - Oesterreich) und bei
Oedenburg (in Ungarn); einem anderen Landbischof, Madalwin übergab
König Arnulf (1- 899) Güter in Pannonien. Das Bisthum Freisingen em¬
pfing von Chozil eine Besitzung am Plattensee; derselbe Fürst bedachte auch
das Bisthum Regensburg mit Liegenschaften, wie schon sein Vater dem
bairischen Kloster Nieder-Altaich solche an der Szala zugewandt hatte.
, Auch deutsche Edelleute werden als Grundbesitzer in Pannonien erwähnt.
866 besitzt ein gewisser Hezilo (Heinrich Heinz) ein Gut bei Mosaburg, noch
früher, 860, erscheinen zwei deutsche Grundbesitzer, Amalgar und Waltilo, am
Nußbach bei Wien, um 889 andere in Pinkafeld und um Kaniza.
Wie stark aber die Einwanderung Deutscher überhaupt war, das wird
am Besten deutlich durch die zahlreichen Orte mit deutschem Namen, die nach
den Urkunden des 9. Jahrhunderts durch ganz Pannonien verbreitet sind,
freilich nur zum Theil in ihrer Lage nachgewiesen werden können. Schon
der deutsche Name des heutigen Szalavär, Mosaburg, ist dafür bezeichnend;
in derselben Gegend erscheinen Orte wie Waltungesbach, Hraba-giskeit, Chi-
richstetin (Kirchstätten), Wempaldesdorf; bei Kaniza unfern der Drau lag ein
Ruginesveld. Im Fürstenthume Priwinas überhaupt werden um 860
acht Dörfer mit deutschem Namen angeführt, darunter sechs mit der besonders
auf bairischen Sprachgebiete häusigen Endung — chirichun (— kirchen), wie
Jsangriweschirichun, Lindolveschirichun u. a. Auch Oedenburg wird, und
Zwar schon 860, als Odinburg genannt, ungerechnet die ziemlich dichte Reihe
der deutschen Dörfer im Neustädter Viertel.
Ueber die Entstehungsart und -zeit dieser Orte liegt tiefes Dunkel. Klar
ist, daß sie schon längst bestanden, ehe die Urkunden ihrer gedenken, und daß
demnach die meisten in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts sich gebildet
haben müssen. Ol> sie aus Höfen deutscher Grundherren, die ihre Hörigen
in Dorfweise ansiedelten, ob sie als freie Bauernschaften entstanden sind, wir
wissen es nicht. Denn nur einzelne Streiflichter fallen aus den spärlich er¬
haltenen Urkunden in ein tiefes Dunkel. Wie dem aber auch sei, als sicher
darf dies gelten: im 9. Jahrhundert war Pannonien, also das
heutige südwestliche Ungarn, eine in der G ermanisirung be¬
griffene Landschaft, in welcher König und Kirche, Adel und Bauern
zusammenwirkten für die Ausbreitung deutschen Wesens.
Dies Resultat vermochte auch die kirchliche Lostrennung Pannoniens von
Salzburg nicht umzustoßen. Um 870 nämlich wurde ein nationalslawisches
Erzbisthum im alten Sirmium (an der Sau westlich von Belgrad) für Pan-
nonien und Groß-Mähren (Mähren und Nord-Ungarn) errichtet und dem
Griechen Methodios übertragen, den neben seinem Bruder Kyrillos die sla¬
wischen Völker noch heute als Urheber ihres gesammten geistigen Lebens mit
Recht verehren. Umsonst war es, daß 871 Salzburg in einer uns noch er¬
haltenen Schrift seine Rechte auf Pannonien auf's Klarste nachwies, umsonst
alle Proteste des bairischen Clerus überhaupt; das neue Erzbisthum behaup¬
tete sich und auch Chozil unterstützte eifrig den Griechen, der ihm in slawi¬
scher Sprache den Gottesdienst hielt und ihm das wunderbare Geheimniß der
neuerfundenen kyrillischen Schrift offenbarte. So mußte schließlich Deutschland
die neue Schöpfung anerkennen (874). Hätte sie Bestand gehabt, sie würde
in Verbindung mit der aufstrebenden Macht des großmährischen Reiches unter
Suatopluk das Deutschthum in Pannonien schwer bedroht haben. Denn nach
einer furchtbaren Verwüstung Ober-Pannoniens durch die Mährer im Jahre 884
mußte Unter-Pannonien an Mähren abgetreten werden. Doch scheint es
894 wiederum an das ostfränkische Reich zurückgefallen sein. Zwei Jahre
später starb Methodios und sein Tod machte dem slawischen Erzbisthum ein
Ende, die früheren Verhältnisse traten wieder in Kraft.
Bereits hatte sich jedoch ein neuer Feind an der Donau gezeigt, das
wilde Reitervolk der Magyaren. Schon 894 verwüsteten sie Unter-Pannonien
auf's Entsetzlichste, erschlugen die Männer, schleppten Weiber und Kinder
in die Gefangenschaft. Dasselbe wiederholte sich i. I. 900. Wie es in dem
ganzen Lande aussah, schildert in lebhaften Farben ein Schreiben des Erzbischofs
Dietmar von Salzburg an Papst Johann IX. (900). Die Mährer und
Magyaren, heißt es da, „führten die einen als Gefangene hinweg, andere
tödteten sie, noch andere ließen sie an Hunger und Durst zu Grunde gehen,
unzählige aber schleppten sie in die Verbannung, freie Männer und ehrbare
Frauen brachten sie in die Sklaverei; die Kirchen brannten sie nieder und alle
Gebäude zerstörten sie, so daß in ganz Pannonien nicht eine einzige Kirche
mehr zu sehen ist." Ober - Pannonien blieb damals wenigstens von den
Magyaren verschont. Allein ihr Sieg am 28. Juni 907, der der Blüthe
des bairischen Adels das Leben kostete, brachte ganz Pcinnonien und Oester¬
reich bis zur Enns in die Hände des barbarischen Feindes. Die Hufen der
magyarischen Rosse zertraten die junge deutsche Pflanzung, fast spurlos ver¬
schwand das Deutschthum in Pannonien und im größten Theile desselben ist
es nie wieder zum Leben erwacht. Erst späteren Jahrhunderten blieb es vorbe-
halten, bis an die Grenzen Siebenbürgens und bis in die Hochthäler der
Karpathen deutsche Cultur zu verbreiten. Ihre fröhliche Entwicklung hat das
Gedächtniß an die früheste deutsche Colonisation Ungarns verwischt; es ist
aber nicht überflüssig, eben jetzt daran zu erinnern, daß der ungarische Süd¬
westen früher ein deutsches als ein magyarisches Land gewesen.
Bald nach dem Tode unseres großen deutschen Humoristen Fritz Reuter
wurde allen Literaturfreunden eine angenehme Ueberraschung durch die Mit¬
theilung bereitet, daß sich in dem Nachlasse desselben manche werthvolle, po¬
etische Gabe vorgefunden habe. Bei der seltenen Popularität Reuter's konnte
die in Aussicht gestellte Bereicherung unserer mundartlichen Dichtung nur mit
freudigem Willkommen begrüßt werden.
Adolf Wilbrandt bietet uns jetzt den ersten Band der nachgelassenen
Schriften Reuter's. Wilbrandt ist ein Landsmann des Verfassers der
„Stromtid" und wenn er Reuter auch persönlich nie gekannt, so hat er doch
mit dessen Werken, nach seinem eigenen Ausdruck, wie mit Freunden gelebt.
,Es ist kaum anzunehmen, daß durch das geistige Erbe, welches ein
Schriftsteller wie Fritz Reuter zurückläßt, dem der Tod die Feder nicht erst
aus der Hand zu nehmen brauchte, da er sie schon längst nicht mehr zu
halten im Stande war, das Bild des Mannes in eine wesentlich andere Be¬
leuchtung gerückt werden könnte. Ein Denker von seltener Originalität wird
vielleicht erst nach seinem Ableben in der epochemachenden Bedeutung zu
würdigen sein, welche der Unverstand und die Gehässigkeit der Mitlebenden
M verhüllen suchte. Allein das Ansehen eines Autors, dem die Ruhmeskränze
w reichster Fülle zugeworfen wurden, und der den Inhalt seines Daseins
durchaus erschöpft hatte, kann, nachdem sich die Gruft über ihm geschlossen
hat, kaum mehr steigen. In der That bietet auch Reuter's literarisches Ver-
mächtniß Nichts, was den Dichter von einer neuen Seite zeigt, obwohl wir
im Einzelnen viel Erfreuliches finden, aus dem uns das alte liebe Gesicht
des trefflichen Humoristen in herzgewinnender Weise entgegenlacht.
Dem Bande geht eine der frischen Feder Wilbrandt's entstammende bio¬
graphische Einleitung voraus, welche an belehrenden Betrachtungen und be¬
richtigenden Angaben manches Bemerkenswerthe enthält. Die gefahrdrohende
Klippe in eine einseitige Ueberschätzung des zu würdigenden Autors zu ver¬
sallen, ist von Wilbrandt im Allgemeinen sehr glücklich umgangen; man muß
ihm einen unparteiischen Blick und eine allem Maßlosen abholde Anschauung
nachrühmen Nur ein Mal geht die warme Begeisterung mit dem gesunden
Urtheil durch, wenn Reuter als der größte deutsche Humorist des Jahr¬
hunderts bezeichnet wird. Hierbei ist offenbar an Jean Paul nicht ge¬
dacht worden, dem kein deutscher Schriftsteller in Bezug auf Weit- und
Tiefblick des Humors die erste Stelle auf dem deutschen Parnaß streitig
machen kann.
Sehr anziehend ist das Portrait, welches Wilbrandt mit feiner Eleganz
und Charakteristik der Striche von dem Mecklenburger entwirft. „Es ist
etwas Erdiges in ihm; er grübelt nicht hoch hinauf und nicht weit hinaus;
sein „Wille zum Leben" wird ihm nicht leicht getrübt; es ist ihm wohl in
dem frischen Wollengeruch, dessen Kraft er athmet, unter dem luftigen Ge¬
wölbe, dessen Gluth oder dessen Regen seine geliebte flache Erdscheibe ernährt.
Freilich kommt auch weniger Cultur zu ihm auf seinen Acker hinaus. Die
Einschränkung seines Daseins hal ihn noch bedächtiger, schwerfälliger, form¬
loser als die andern Genossen der deutschen Familie gemacht. Man könnte
sagen: wie das auskriechende Küchlein noch ein Stück Eierschale, so trägt der
Mecklenburger, auch wenn er zum Städter ward, noch etwas Ackerkrume mit
sich herum. Mehr treuherzig (oder bauernschlau) als weltgewandt; mehr
„mutterwitzig" als geistreich; mehr empfänglich als erfinderisch; mehr gesellig
als politisch; mehr für gewohnten Genuß, als für neues Erschaffen; mehr
tüchtig als groß. Doch was ist Größe? — Dieser genügsame, lebensfrohe
Ackerbauer hat einige Eigenschaften, die, so oft die günstige Stunde schlägt,
die rechte Mischung erfolgt, zur Größe werden. Der Mecklenburger ist viel¬
leicht der bescheidenste Menschenschlag auf dieser Erde; bescheiden, weil er ohne
vordringende Eitelkeit, weil er einsichtig, gerecht ist. Er hat eine kindlich
warme, männlich treue Liebe zu seinem Beruf; eine Liebe, die der wunderbaren
Unverdvrbenheit seines Charakters entquillt. Er hat endlich noch Eins, das
ihm Tiefsinn, Kunstgenie, leidenschaftliche Thatkraft ersetzt, das ihm die Erde
so lieb und ihn auf der Erde so liebenswürdig macht: einen lachenden, herz¬
lichen, goldenen Humor."
Die Hauptmomente aus dem Leben des Dichters sind so allgemein be¬
kannt, daß eine Wiederholung derselben überflüssig scheint. Interessant für
die Entwicklung des Knaben ist die Einwirkung der Aeltern, welche zeigt,
daß Reuter wie die meisten poetischen Naturen die dichterische Beanlagung
von seiner Mutter, Intelligenz und Charakter von seinem Vater geerbt hat.
Sein schon früh erwachter künstlerischer Sinn wandte sich den bildenden
Künsten zu; er wünschte Maler zu werden. Aber der Vater wollte von einer
solchen, unter Umständen aussichtslosen Existenz, Nichts wissen und wies den
Jüngling energisch in die Gelehrtenlaufbahn. So bezog Reuter, um die
Rechte zu studiren, die Universität Rostock, die er bald mit derjenigen zu
Jena vertauschte. Wie er dann in schnödester Weise, aus keinem anderen
Grunde, als weil er die den deutschen Einheitsgedanken versinnbildlichenden
Farben getragen hatte, seiner Freiheit beraubt und sieben Jahre lang von
einer Festung zur andern gezerrt wurde, bis ihm bei der Thronbesteigung
Friedrich Wilhelm's IV. die Stunde der Erlösung schlug, dies Alles sind oft
besprochene Thatsachen, welche zugleich schmerzliche Blicke auf tiefschwarze
Blätter in dem Buche der deutschen Geschichte eröffnen.
Hochwillkommen ist die endgültige Feststellung einer Thatsache, welcher
Wilbrandt trotz ihres delikaten Charakters mit Recht nicht aus dem Wege
gegangen ist. Es betrifft die Frage von Reuter's Beziehung zu dem Bött-
cher'sehen Spruche:
Der Wasserkrug macht nimmer klug und dreist,
Der Wein ist des Poeten heil'ger Geist.
Es ist in der That unglaublich, welche Fülle antediluvianischer Märchen
in Bezug aus diesen Punkt kolportirt und auf Treu und Glauben angenom¬
men worden sind. Man hat sich nicht geschämt das Leben des Dichters in
einer Weise auszumalen, als ob derselbe beständig am Spundloche eines
Arakfasses gelegen und an schrecklichen Ausbrüchen des äslirium tremens ge¬
litten habe. Nun wissen wir endlich, daß die elende Haft den armen Ge¬
fangenen von Zeit zu Zeit zur Anwendung aufheiternder Getränke trieb, und
daß sich in Folge dessen eine „Neurose", eine krankhafte Verstimmung der
Nerven des Magens und der Speiseröhre bildete, welche eine nicht zu unter-
drückende Begierde nach geistigen Getränken erzeugte, die erst nach einer unter
qualvollen Erbrechen erfolgten Krisis gestillt werden konnte. Nach einer
solchen Katastrophe trat die Reaktion seines Geistes und Körpers mit wahr¬
haft wunderbarer Intensität ein, die ihn zu seinen höchsten Leistungen be¬
fähigte. Eine hochherzige Pflegerin in seiner Krankheit wurde seine Gattin,
mit der er im Jahre 1851 zu Treptow einen eigenen Hausstand begründete.
In diese Zeit fallen auch die Anfänge von Reuter's dichterischer Thätig¬
keit. Nichts kann irriger sein, als die Annahme einer planmäßigen Absichtlichkeit
bet der Neubelebung des Plattdeutschen. Die schaffende Phantasie des Dich¬
ters erfaßte zunächst das Hochdeutsche als die ihm am meisten zusagende Form,
in welcher er ein episches Gedicht versuchte, das auf mecklenburgischem Boden
spielend den „Kampf des Heidenthums gegen das Christenthum aber zugleich
auch den der Vaterlands- und Freiheitsliebe gegen die Knechtschaft" darstellen
sollte. Die Dichtung kam jedoch über die ersten Anläufe nicht hinaus. 1845
begann Reuter hochdeutsch „Die Reise nach Belgien" zu schreiben und gleich¬
falls hochdeutsch wurde 1847 der Roman angefangen und auch hochdeutsch voll¬
endet, welcher später den Titel „Ut mine Stromtid" führen und Reuter auf
dem Gipfelpunkt seines Schaffens zeigen sollte. Der noch unbekannte Inhaber
einer überaus schätzbaren Anweisung auf Ruhm und Unsterblichkeit versuchte
es, alte und neue Schnurren, durch deren Erzählung sich seine Landsleute in
ähnlicher Weise wie die Italiener an ihren conversa^ionk, die Araber und
Perser an ihren Märchen ergötzten, in Reime zu bringen und siehe da! der
Pegasus war ihm nicht störrisch, sondern erwies sich vielmehr als williger
Träger seines Phantasieränzels. Allmählig überschritten die lustigen roth¬
backigen Kinder seiner Muse, welche als „Läuschen un Rimels" aus freigebi¬
gen Füllhorn überall Frohsinn und Heiterkeit spendeten, die Grenzen seines
engeren Vaterlandes, um in ganz Deutschland Zeugniß von dem reichen in
der Brust unseres Volkes wohnenden Gemüthsleben abzulegen, bis das Ta¬
lent des Dichters, mit seinen größeren Zwecken wachsend, auf jene Höhe ge¬
tragen wurde, wo ihm seine drei größten poetischen Werke „Ut de Franzosentid",
„Ut mine Festungstid" und „Ut mine Stromtid" so überraschend glückten.
Wilbrandt's Bemerkungen über Reuter's einzelne Dichtungen athmen jenen
Hauch geistreichen Feinsinns, welcher für den wiener Schriftsteller charakteristisch
ist und bieten auch dem Kenner viel Anregendes und Erfreuliches.
Eigenthümlicher aber durchaus zufälliger Weise ist der erste Band des
Reuter'schen Nachlasses vorzugsweise satirischen Inhalts. Für den zweiten
stellt uns Wilbrandt eine Reihe in Prosa erzählter „Läuschen" und die „Me¬
moiren eines alten Fliegenschimmels" sowie eine Auswahl von Briefen in
Aussicht. Wohl finden sich auch in jenem ersten Theile dichterische Gaben,
aus denen uns der göttliche Humor in völlig harmloser und naiver Weise
reich und voll entgegenströmt. Aber diese erwecken nicht das Hauptinteresse,
welches sich vielmehr an andere Poesieen des Bandes knüpft, bei denen aus
dem üppigen Rankenwerk und dem reichen Blumenflor der humoristischen Phan¬
tasiegebilde scharf und blank geschliffene Stilets hervorglitzern. Es ist von
jeher das gute Recht des Humoristen gewesen, die befreienden Mächte des ge¬
sunden Menschenverstandes zur Bekämpfung alles Gekünstelten und Verschro-
denen anzurufen. Reuter reagirt hier, und das ist das Charakteristische, vom
Standpunkte seines demokratischen Selbstbewußtseins, für das er die schönsten
Jahre seiner Jugend im Kerker vertrauern mußte, gegen den verrotteten Con-
servativismus in seinem Eigendünkel, seiner Unwahrheit, seiner Gemeinschäd¬
lichkeit. Hierin liegt bei diesen Dichtungen die ethische Grundidee, welche
ihnen zugleich den Stempel eines hohen Geistesadels aufdrückt. Zu beachten
bleibt jedoch, daß selbst Reuter's bitterste Satire Nichts gemein hat mit dem
ätzenden Sarkasmus Voltaire's, dessen lMgux son-irs wie Schwefelsäure wirkt,
und daß er uns niemals den großen Humoristen und den wahren Dichter
vergessen läßt. Wohl reißt er Wunden auf. aber ebenso schnell ist er, um
den Schmerz zu lindern, mit dem Balsam bei der Hand, und sein ästhetischer
Sinn begnügt sich nicht mit satirischen Fetzen, sondern strebt dem geschlossenen
Kunstwerke zu, welches allein einen versöhnenden Eindruck machen kann.
Gleich die erste Dichtung: „Ein gräflicher Geburtstag," 1846 oder 46
geschrieben, ist geistreich im besten Sinne des Worts. Die Satire schildert
die Geburtstagsfeier der Herrin auf der gräflich Hahn'schen „Begüterung" in
Mecklenburg. Man kann die erzwungenen Künsteleien bei dergleichen officiellen
Festlichkeiten nicht rücksichtsloser geißeln, als es hier von Reuter geschehen ist.
Sein ganzer Mannesstolz bäumt, sich auf gegen diese verächtliche Selbster¬
niedrigung der Menschen zu marionettenartigen Puppen, welche in unter¬
tänigster Knechtschaft ersterben möchten. Zum Zwecke einer solchen ganz
inhaltslosen Feier, die nicht als unmittelbarer Dankesausdruck des freudig
erregten Volkes, sondern als amtlich abgeforderter Tribut zu betrachten ist,
werden die mühsam gereiften Früchte langen Fleißes leichtsinnig verschleudert,
und eine lächerliche Komödie soll dazu dienen das Volk über seine heiligsten
Rechte hinwegzutäuschen, nach welchen es so sehnsüchtig verlangt, und die
immer wieder gleich einer tata morMna, in Nichts zerfließen. Dies wird von
Reuter in einer Reihe köstlicher Genrebilder zur Anschauung gebracht. Wie
reizend ist es, wenn das Volk einen Lobgesang auf die Gräfin nach der Melodie
der Barcarole in Ander's „Stumme von Portici" anstimme, und mit welchem
feinen Humor werden in die Belustigungen des Volkes und der Jugend die
politischen Tagesbeziehungen hineingeflochten. Der freie immer das Große
-umfassende Blick Reuter's kann sich nicht schöner geltend machen, als es hier
geschieht. Dazu erhält die ganze Dichtung durch den armen Handwerks¬
burschen, welcher ein Holtei'sches Lied über die ungleiche Vertheilung der
Menschlichen Güter und Gaben singt, einen wehmüthig-rührenden und doch
voll austönenden künstlerischen Abschluß.
Noch bedeutender ist die „Urgeschicht von Mecklenborg", welche Reuter
1859 zu schreiben begann und 1862 so weit vollendete, wie sie druckreif ge¬
worden ist. Schon die Einleitung ist ein kleines Meisterstück, übersprudelnd
in der Fülle des reichsten Humors. Wie Reuter mit dem Inspektor Knitschky
ein altes unterirdisches Klostergewölbe entdeckt und hier einem Mönchsgerippe
das die Urgeschichte Mecklenburgs enthaltende Manuscript raubt, wird zusam¬
men mit vielen anziehenden Episoden erzählt, und nicht minder ergötzlich ist
das klägliche Verschwinden des kostbaren Schriftstückes, welches zu Papierdüten
und zum Einwickeln von Spickgänsen verwendet wird. Reuter erzählt dann
aus der Erinnerung die Geschichte, welche Mecklenburg von der Erschaffung
der Welt bis zum Tode Japhet's schildert. Wirklich genial ist die Persiflage
der deutschen Duodezfürsten, welche sich wie ein rother Faden durch das ganze
Werk zieht. Wie heftig müssen die Narben der Wunden geschmerzt haben,
welche ihm Bosheit und Unverstand in jenen Jahren geschlagen hat! Aus
den einzelnen Erzählungen, welche scheinbar die übermüthigste Ausgelassenheit
in tollster Laune geschrieben hat, zuckt wie ein feuriger Blitz der Hohn
über die damalige Erbärmlichkeit unseres Vaterlandes. In diesen Kindern
heiterster Laune lebt zugleich ein Ernst des politischen Pathos, welcher an
„Ut mine Festungstid" erinnert. Namentlich ist Japhet, der Typus des un¬
fähigen, dumm stolzen Absolutismus, eine köstliche Figur. Aber Reuter zeigt
auch, daß der Humor nicht einseitig ist. sondern überall Licht und Schatten
gleichmäßig zu vertheilen weiß, indem er nicht minder der urtheilslosen Menge
die derbsten Nackenschläge der Satire austheilt.
Die „Briefe des Herrn Inspektor Bräsig" wurden 185S und 56 ge¬
schrieben, wo sie in „Reuter's Unterhaltungsblatt für Mecklenburg und Vor¬
pommern" erschienen. Ohne die Bedeutung der erwähnten Dichtungen zu
erreichen, bieten sie doch hübsche Muster jener holländischen Kleinmalerei, in
welcher Reuter so groß ist. Es sind Prosa-Läuschen von liebenswürdiger
Komik. Wenn man erfährt, wie dem trefflichen Inspektor Bräsig aus Mi߬
verständniß der letzte Zahn ausgezogen wird, oder von der göttlichen Dumm¬
heit seines „Schwestertochtersohnes" Körling liest, so will die Erinnerung
daran nur schwer aus dem Kopfe. „Die Reise nach Braunschweig", das
erste schriftstellerische Unternehmen des elfjährigen Fritz Reuter, zeigt eine
seltene Frühreife, namentlich nach der Seite des Humors, und die beiden Ge¬
dichte „Ob'ne lütte Gaw för Dütschland" und „Großmütting, hei is dod!"
sind poetische Blüthen, hervorgerufen durch die große Zeit der Jahre 1870 .
und 7l. Sie zeigen den ganzen Ernst der großen Zeit und sind an dieser
Stelle gewiß sehr willkommen.
Wenn es gestattet ist, von dem ersten Bande einen Schluß auf den
hoffentlich recht bald zu erwartenden zweiten zuziehen, so ist der Nachlaß Fritz
Reuter's würdig neben das Beste gestellt zu werden, was wir der Muse des
Das Herrenhaus hat in dieser Woche die Berathung der Provinzial-
ordnung beendigt. Die wichtigeren Abänderungen sind in der vorigen Woche
beschlossen und hier bereits im vorigen Brief behandelt worden. Morgen
steht nun die Provinzialordnung mit den Abänderungen des Herrenhauses
wiederum bei den Abgeordneten auf der, Tagesordnung. Die Freunde des
Gesetzes haben sich viel Mühe gegeben, dasselbe schließlich durch ein allseitiges
Compromiß zu retten. Im vorigen Brief wurde erwähnt, daß das Herren¬
haus für die Theilnahme an der provinziellen Staatsverwaltung den Provin-
zialausschuß, welchen Regierungsvorlage und Abgeordnetenhaus für diesen
Zweck in Aussicht genommen, durch ein besonders construirtes Organ ersetzt
hat: den Provinzialrath. Ebenso ist an Stelle des Bezirksausschusses ein
Bezirksrath gesetzt. Ein Amendement des Oberbürgermeisters von Berlin
hatte eine von den Beschlüssen der Herrenhauscommission abweichende Con-
struction und des Bezirksrathes vorgeschlagen, die aber nicht die Zustimmung
des Hauses fand. Den Inhalt des Amendements anzugeben, wird erst im
nächsten Brief von Interesse sein. Denn dieses Amendement soll nunmehr
im Abgeordnetenhaus als Modifikation der Herrenhausbeschlüsse eingebracht
werden, und man hofft, daß das Herrenhaus eventuell zustimmt. Ueber das
Schicksal des Planes wird im nächsten Brief zu berichten sein. Außerdem
hat das Herrenhaus in dieser Woche das Gesetz über die Ausstattung der
Provinzen mit eignen Fonds berathen und im Wesentlichen nach den
Beschlüssen der Abgeordneten angenommen, desgleichen das Gesetz über die
Verwaltungsgerichte. Die übrigen Gegenstände waren technischer Art. Mit
solchen Gegenständen hat sich in dieser Woche auch das Abgeordnetenhaus
überwiegend beschäftigt. Das Gesetz über die Bermögensverwaltung in den
katholischen Kirchengemeinden lag dem Abgeordnetenhaus mit den Abände¬
rungen des Herrenhauses vor. Die Berathung eines Gesetzes, welches im
Abgeordnetenhause durch seine drei Lesungen gegangen und dann vom Herren¬
haus zurückkommt, erfolgt immer in der Form der dritten Lesung. Diesmal
nun wurden die Abänderungen des Herrenhauses angenommen bis auf die
eine, welche den Vorsitz des Pfarrers im Gemeindekirchenrath, den das Abge¬
ordnetenhaus aus der Regierungsvorlage beseitigt, wieder hergestellt hatte.
Der Borsitz des Pfarrers wurde zum zweiten Mal beseitigt, wovon die Folge
Am 17. Juni ist Georg von Vincke, 64 Jahr alt, im Bade Oeyn-
hausen infolge eines Schlaganfalls verschieden. Mit ihm ist einer der aller¬
ersten parlamentarischen Kämpfer Deutschlands heimgegangen. Er war der
ersten einer in zeitlichem Sinne. Denn seine klare Stimme wiederhallte vom
vereinigten Landtag durch ganz Deutschland zu einer Zeit, wo Männer, die
mit solcher Schärfe' und Beredsamkeit die an englischer Geschichte und Staats¬
verfassung geschulte constitutionelle Doctrin verkündeten, zu den seltensten ge¬
hörten. Er war aber der ersten parlamentarischen und politischen Kämpfer
einer auch im geistigen Sinne. Seine Reden tragen das echte Gepräge des
Genie's: sie veralten nie. Man lese die Reden Mücke's aus der Zeit des ver¬
einigten Landtags, da er gezwungen war, die Schärfe seines Geistes und
Witzes an dem Nachweis zu üben, daß das königliche Verfassungspatent vom
3. Februar 1847 ein romantischer Anachronismus sei; oder seine Reden aus
dem Frankfurter Parlament, wo er einer der rühmlichsten Führer der Kaiser¬
partei gewesen; oder seine Reden aus dem Erfurter Parlament, wo er die
Reichsverfassung gegen die Schwäche der preußischen Regierung und den
lauernden Abfall ihrer Bundesgenossen vertheidigte; dann seine mannhaften
Reden im preußischen Abgeordnetenhause seit 1849 inmitten der todten Reac¬
tion, wo er fast allein die constitutionelle verfassungsmäßige Freiheit, die natio¬
nale Idee begeistert vertrat; man lese dann aus der Zeit der Wiedergeburt
Deutschlands und den Tagen des Conflictes seine großen Reden über Kur¬
hessen, Schleswig-Holstein, die Anerkennung Italiens und seine letzte große
Rede bei der Generaldebatte über die norddeutsche Bundesverfassung im Früh¬
jahr 1867. Und man wird — von einzelnen Irrthümern, wie seiner Rede
zu Gunsten des österreichischen Reichsverwesers am 17. Juni 1848 abgesehen,
— erstaunt sein über die Unverwüstlichkeit dieser Gedanken in einer Zeit, in
der das Beste so rasch veraltet.
Georg von Vincke war in der Debatte der gefährlichste Gegner seiner Geg¬
ner. Er hatte die Lager fast aller Parteien, auch der angegriffenen, sicher auf
seiner Seite. Zudem waren ihm Wenige gewachsen an staatswisfenschaftlichem
Wissen und an Klarheit und Tiefe des politischen Gedankens und Ausdrucks.
Er war darum einer von Seiten der Linken und der Reaction bestgehaßten
Männer in Frankfurt a. M. und in den fünfziger Jahren. Ebenso lebhaft
grollte ihm der Fortschritt und mancher Nationale des linken Flügels am
Beginn der neuen Zeit, als Vincke zum letzten Mal parlamentarisch thätig
war. Im Jahre 1868 zwang ihn dauernde Kränklichkeit zur Niederlegung
seines Mandates. Er hoffte, wie Briefe aus jener Zeit bekunden, immer,
noch einmal in die parlamentarische Arena steigen zu können. Aber es sollte
nicht sein. Nun er todt ist, werden auch die mit dem Lebenden Unversöhnten,
mit dem trauernden Vaterlands bekennen: daß Deutschland einen seiner ver¬
dientesten, tapfersten und bedeutendsten Männer verloren hat!
Am 18. Juni 1873 sind sechzig Jahre verflossen, seit das erste französische
Kaiserthum durch die dello alliance britischer und preußischer Wasserkraft end-
giltig zu Boden geworfen ward. Uns Deutschen von heut, die wir die Schlacht
von Waterloo im Lichte von Sedan schauen, uns ziemt es, dieses Tages in
ernster Treue mit frohem Stolze huldigend zu denken.
Die Einnahme von Paris im März 1814 schien den Höllenrachen jener
furchtbaren Kriege geschlossen zu haben, in deren Geleit Napoleon I. Europa
durchzogen: eine Lucifergestalt von erhabener Tragik, eine Gottesgeißel, deren
Schläge Fürsten und Volk drei Lustra durch mit unerhörter Wuth gepeitscht.
— Und doch: der Sieg von 1813 und 1814 schien allzuschnell die Wunden
vergessen zu lassen, die doch noch bluteten; der kalte Luftzug diplomatischer
Verhandlung schien allzuschnell die Gluth gekühlt zu haben, welche die Waffen
der Verbündeten zu Einem großen Racheschwert zusammengeschweißt! — An¬
fangs des Jahres 1815 waren auf dem Congreß zu Wien die Großmächte
über die polnische und sächsische Frage in offenen Streit gerathen; am 1. März
landete Napoleon an der Küste der Provence. „Vortrefflich!" rief Wilhelm
von Humboldt „das giebt Bewegung!" In der That — mochte es auch
„schrecklich sein, das theuer erkämpfte Gut wieder sich entrissen zu sehn und
nun von neuem anfangen zu müssen"*) — die „Bewegung" kam gerade noch
Zu rechter Zeit; noch war der Zwiespalt zu versöhnen, noch waren die Heere
nicht allzusehr reducirt, nicht allzuweit von Frankreichs Grenzen zurückgezogen.
Mit Einem Schlage ward alles wieder neu: die Alliance, die Begeisterung.
Doch während Napoleon zu Wien geächtet wurde, beeilten die Franzosen
sich, seine Mitschuldigen zu werden. Auch sie und sie vor Allen waren noch
nicht genug durch ihn gestraft! Nicht fröhlich zwar, aber doch willig boten
sie ihm abermals, was er heischte: die Mittel zum Kriege.
Zwischen der Heeresausbringung Napoleons I. im Jahre 1815 und der¬
jenigen Gambetta's bestehen gewisse Aehnlichkeiten, auf welche man neuerdings
hingewiesen hat; aber Napoleon befand sich in ungleich günstigerer Lage und
hat — quantitativ wenigstens — doch viel Geringeres geleistet. Er fand
ungefähr 160,000 Mann unter den Fahnen, 30,000 Mann beurlaubt, und
daneben disponirte er in der Nation über mehr als eine Viertel - Million
kriegserfahrener Soldaten, aus denen er seine Heerschaaren ergänzen und
verstärken konnte. Dazu kamen die Conseriptton von 1813, die Matrosen
und hinter alledem die Garde-nationale. — Man kann nicht sagen, daß der
Kaiser mit großer Energie von diesen Hilfsquellen Gebrauch gemacht; nur
langsam und zögernd hat er eine nach der andern eröffnet. Ihn lähmten
anfangs seine friedlichen Versprechungen; dann graute ihm vor der Ent¬
fesselung der Volkskraft; von einer Revue der 80 Tirailleurbataillons der
pariser Nationalgarde kehrte er mit dem Ausrufe heim: „Wenn ich gewußt,
daß ich so tief herabsteigen müßte; ich wäre auf Elba geblieben!" In dritte¬
halb Monaten gelang es ihm nur, den Stand seiner eigentlichen Feldarmee
um etwa 50,000 Mann zu erhöhen. Er formirte nach und nach 1 Corps
Kaisergarde, 7 Linien-Armee-Corps, 4 Cavallerie-, 4 Observations-Corps
(Jura, Var, Ost- und West-Pyrenäen) und eine Armee gegen die empörte
Vendee. — Das V. Corps unter Rapp stand im Elsaß, das VII. unter
Suchet in Savoyen; die Hauptmasse bildete die Große Armee, welche am
10. Juni, von Napoleon geführt, in Belgien einmarschirte. So wenig be¬
gründet aber die Bewunderung ist, mit der von den meisten Schriftstellern
„die ungeheuere Energie" gepriesen worden, welche Napoleon 1815 bei Auf¬
bietung der Heereskräfte Frankreichs entfaltet habe, so gerechtfertigt ist der
soldatische Stolz, mit dem das Auge der Franzosen auf der Operationsarmee
von Belgien ruht. Wohl zählte sie nur 128,000 Mann und 344 Feuer-
schlünde; aber fast durchweg bestand sie aus altgedienter Soldaten. Vittoria
und Leipzig, Kulm und Paris hatten diese vergessen; in ihrem Gedächtnisse
lebten nur die Ruhmestage, und ihre Herzen erfüllte der fanatische Wunsch,
das Unglück zu rächen, das über „das Frankreich des großen Napoleon" ge¬
kommen war. — Und faßt man die Feldherrn ins Auge: Wer wollte einen
besseren Generalstabschef nennen als Marschall Soult? Gab es tüchtigere
Infanterie-Corps-Führer als Ge'rard, Lobau oder Rente? Und was durfte
man nicht von einer Kavallerie erwarten, an deren Spitze Kellermann, Pajol
und Excelmans standen?! — Daß dieser glänzenden Ausstattung die innere
Moral nicht völlig entsprach, hat freilich der Verlauf des Feldzuges gelehrt.
Napoleon's zauberndes Benehmen, wie es bei der Armee-Bildung hervor¬
tritt, findet sein Gegenstück in dem Verhalten der Verbündeten; aber wahrlich,
weder durch Blücher's noch durch Wellington's Schuld. — Die politisch --
strategische Lage, welche zu einer solchen Haltung führte, ist erst in neuester
Zeit auf Grund archivalischer Dokumente vom General von Ottens klar
gekennzeichnet worden"). Auf seine sorgfältigen Untersuchungen und seine
ausgezeichnete Darstellung auch der Schlacht von Waterloo selbst, werden sich
die folgenden Schilderungen stützen.
Um die Mitte des März 1815 standen am Niederrhein noch drei prcu-
bische Armee-Corps unter Oberbefehl des Grafen Kleist von Nollendorf.
Diese Corps waren aber in Folge von Abkommandirungen so schwach, daß
sie zusammen nur 18 Infanterie- und 13 Kavallerie-Regimenter, wenig über
30,000 Mann zählten. — Außerdem standen unter Thielmann 14,000 Sachsen
am Rhein.
In Belgien befand sich die englisch-hannöversche Armee: nicht mehr als
22 incomplete Bataillone, und daher, einschließlich der deutschen Legion, kaum
15,000 Mann stark. — Südwestl. von Brüssel versammelte sich die schwache
belgische, bei Mastricht die holländische Armee.
Zwischen Mosel und Saar und in der Pfalz standen bayrische Truppen
unter Wrede.
Am 17. März wurde Fürst Blücher mit dem Oberbefehl der preußischen
Armee am Niederrhein betraut, und vorläufig ging der Chef seines General¬
stabes Graf Neidhardt von Gneisenau mit unbeschränkter Vollmacht dahin
ab. — Am 23. März befahl der König von Preußen die Mobilmachung der
ganzen Armee und die Zusammenstellung des Feldheeres, welche mit großen
Schwierigkeiten verbunden war. Denn angesichts des Feindes, dessen un
mittelbaren Angriff man eben damals erwartete, sollten die Armeecorps zum
Theil aufgelöst und durch Austausch der Regimenter neu formirt werden, und
zwar so, daß ältere und jüngere Regimenter, Landwehr und Linie, gemischt
würden. Die Landwehr der alten Provinzen sollte unter neuen Führern an
den Rhein eilen; aber da sie aus den Fußmarsch angewiesen war, mußte bis
zu ihrem Eintreffen noch geraume Zeit verfließen. Bei der Reiterei wurden
14 neue Regimenter geschaffen, zum Theil durch Abgabe je einer Escadron
mit ihren besten Offizieren, sodaß die Regimenter sämmtlich vorläufig nur
drei Schwadronen zählten.
Ueber das sächsische Corps wurde in der Weise verfügt, daß vom Feld¬
webel abwärts alle Mannschaften, welche in den preußisch gewordenen Lein-
besehenen Sachsens heimisch waren, in die preußische Armee übergehn, die
übrigen aber den Kern eines neu aufzustellenden sächsischen Heeres bilden
sollten. — An die Ausführung dieser Maßregel knüpfte sich der bekannte
Aufstand der sächsischen Truppen, in Folge dessen dieselben am Feldzuge von
1815 nicht Theil nahmen, sondern über den Rhein zurückgeschickt wurden.
Gegen Ende April stand die preußische Armee mit drei noch unvollstän¬
digen Corps in Ausdehnung von etwa 24 Meilen von Trier bis Charleroi
auseinandergezogen, während die Armee Wellingtons, von Charleroi bis
Nieuport zu beiden Seiten der Scheide 20 Meilen lang, sich an die preu¬
ßische Linie anschloß. Lord Wellington verfügte jetzt über ungefähr 25,000 M.
guter englischer und hannoverscher Truppen sowie über 20,000 Holländer und
Belgier. Außerdem lagen an 14,000 M. als Besatzungen in den belgischen
Festungen.
Es läßt sich nicht verkennen, daß die Ausdehnung dieser nicht eben star¬
ken Truppenmacht auf eine Linie von 44 Meilen gewagt erscheint; sie ist
aber erklärt durch die Nothwendigkeit, einerseits mit dem preußischen Heere
die Maas festzuhalten, andererseits die englische Armee auf das Meer zu basiren.
Am 19. April war Blücher in Lüttich eingetroffen. Der greise Held,
den die Verhandlungen zu Wien so tief verstimmt hatten, daß er seinen Ab¬
schied eingereicht, war bei der Nachricht von Napoleons Rückkehr in die
jubelnden Worte ausgebrochen: „Das ist das größte Glück, welches Preußen
begegnen konnte. . . Nun wird die Armee alle in Wien begangenen Fehler
wieder gut machen!" — Bon dieser Hoffnung erfüllt, athmete er neuen Lebens¬
muth. Er war wieder ganz der schneidig-frische Husarengeneral, von dem der
alte Arndt gesungen:
O schauet, wie ihm leuchten die Augen so klar!
O schauet, wie ihm wallet sein schneeweißes Haar!
So frisch blüht sein Alter'wie greifender Wein,
Drum kann er auch Verwalter des Schlachtfeldes sein.
Gu eisenau hielt dem Feldmarschall Vortrag über den Op eratio use u to urf,
den er bereits zu Anfang des April dem Könige hatte vorlegen lassen. Gneisenau
rechnete auf die Aufstellung von vier selbständigen Armeen: Die erste
in Belgien (Preußen, Briten und deren Hilfstruppen) die zweite am Mittel¬
rhein (Baiern, Württemberger und deutsche Kontingente) die dritte am
Oberrhein, (Oesterreicher). Die vierte Armee sollten die am weitesten ent¬
fernten Russen am Mittelrheine bilden, um als Reserve zu dienen. — Die
drei ersten Armeen sollten sämmtlich unmittelbar auf Paris losgehn.
Was auch einem der Nachbarheere geschehn möge, ob es geschlagen werde
oder nicht; jeder Oberbefehlshaber müsse unbeirrt seinen Weg fortsetzen, indem
er hinter sich nur mobile Detachements zurücklasse, bestimmt, die festen Plätze
zu beobachten. — Die Reserve-Armee erhalt die Aufgabe, Unfälle, welche
eins der Heere erster Linie etwa erlitte, wieder auszugleichen, sei es durch
directe Unterstützung, sei es durch Flankenbewegungen gegen die feindlichen
Verbindungen. — Dieser auf die numerische Ueberlegenheit der Verbündeten
begründete O p er« ti o n s p l an zeigt den ganzen Gneisenau, seine
Klarheit, seine Vollwilligkeit, seine Entschiedenheit! — Aber wieviel fehlte,
daß solche Anschauungen im Rathe der Fürsten, wo Metternich und Schwarzen¬
berg die ersten Geigen spielten, durchgedrungen wären! Gneisenau ahnt das
wohl, und er schließt deshalb die strategischen Betrachtungen seines Feldzugs-
Entwurfes mit den Worten:
„Jeder Operationsplan, der sich damit beschäftigt, die Thätigkeit der
Armeen von den Fortschritten der Operationen in Italien (gegen Murat)
abhängig zu machen, ist fehlerhaft, weil er uns Zeitverlust verursachen
würde und dadurch gefährlich wird. Sind die Armeen an der Ostgrenze
Frankreichs versammelt, so müssen die Operationen sofort auf das Kräftigste
aufgenommen werden."
Wellington theilte diese Anschauungen vollkommen. Er wies nach,
daß Napoleon höchstens 180.000 Mann in's Feld führen und daß man diesen
schon Ende April 270.000 Mann entgegenstellen könne. Je länger man die
Operationen aufschiebe, desto vollständiger würden Napoleons Rüstungen
werden, desto sicherer zerbröckele der Kern der Royalisten in den westlichen
und südlichen Departements.
So dachte man angesichts des Feindes. — In der Conferenz aber, in
welcher am 19. April zu Wien prolocollarisch über den Feldzugsplan ent¬
schieden wurde, erklärte Fürst Mett er n i es vorweg, daß d i e oft e rre i es i sah e
Armee bis zum ersten Mai nicht zu einer Offensiv-Operation verfügbar
sei. Der Plan Wellingtons und Gneisenau's wurde abgelehnt, weil es be¬
denklich sei, Angriffe mit Armeen zu wagen, die nicht denen des Feindes
überlegen wären. (!) Die Offensiv-Operationen könnten nicht vor dem 1. Juni
beginnen. Sollte Wellington vor diesem Termin angegriffen werden, so möge
dten Fürsten Wrede gestattet sein (!), mit den Bayern und Württembergern
eine Demonstration in der Richtung auf Metz zu machen.
Ende April trat endlich Schwarzenberg mit seinen eigenen Ideen her-
o"r und damit eine abermalige Hinausschiebung des Operationsbeginns um
16 Tage. — In die erste Reihe stellte der Fürst die Forderung, daß man
überall die numerische Ueberlegenheit um das Doppelte festzuhalten
^chen müsse, ebenso die vollkommenste Sicherheit im Rücken durch Verschan-
zungen und Reserve-Corps. (!) Der Feind sollte dadurch, daß man auf
weit von einander gelegenen Entfernungen in Frankreich einrückte, zur Thei^
^ng seiner Streitkräfte, zur Entblößung einzelner Landstrecken genöthigt
werden. — (Als wenn Napoleon sich jemals in solcher Weise das Gesetz vom
Gegner hätte geben lassen!) — Die natürlichste Operationsbasis für Oesterreich
werde bestimmt durch die leichte Verbindung des deutschen mit dem italieni¬
schen Heerestheile; die österreichische Armee, welcher sämmtliche deutsche Con-
tingente zuzuweisen seien (!), müsse daher den rechten Flügel an Mainz lehnen,
den linken an die Pässe von Piemont, während die Schweiz ihr Centrum
bilde. Von Mainz bis zur englischen Armee sollten die Preußen stehn; Lord
Wellington sei auf Holland und Belgien basirt; die Russen aber, ohne na¬
türliche Basis, füllten am besten den großen Zwischenraum zwischen der
preußischen und der österreichischen Armee aus, den letztere beide beim Heran¬
nahen der Russen durch Rechts- und Linksschieben in der strategischen Front
herstellen sollten; aber nicht als Reserve, sondern in erster Linie seien auch die
Russen zu verwenden. — Die Offensive der Oesterreicher beginne von ihrem
linken Flügel her, also von Piemont, die der Engländer und Preußen von
deren rechtem Flügel, der Schelde; übrigens müsse jedoch der Angriff ausgesetzt
bleiben, bis die Russen erscheinen würden, könne also keinesfalls vor dem
16. Juni beginnen. Sollte vor diesem Termin eine der Armeen angegriffen
werden, so ziehe sie sich so lange zurück — bis alle andern „energische
Demonstrationen" gemacht haben. (!!)--
Das war denn nun der ganze Schwarzenberg in seiner Besorglichkeit und
Hinterhältigkeit, in seiner Abhängigkeit von Metternich, in seinem eigen¬
nützigen Oesterreicherthum. Die österreichisch-italienische Armee sollte erst heran
sein, Oesterreich also am stärksten auftreten; ihm sollten alle andern Con-
tingente Deutschlands zugewiesen werden; seine Truppen sollten vonPie'mont
her, also auf dem entferntesten Kriegsschauplatze auftreten, wo mit Bestimmt¬
heit vorauszusetzen war, daß man dem Kaiser Napoleon nicht begegnen
werde und wo, falls man sich in diesem Punkte dennoch irren sollte, der
freie Rückzug in die sichere Schweiz in jedem Augenblicke offen stand.
„Diese absolute Sicherheit ohne den geringsten Schein eines Wagnisses
setzte allerdings die preußisch-englische Armee der Gefahr aus, von Napoleon
erdrückt zu werden, während die Maße der verbündeten Armeen noch auf
dem rechten Rhein-Ufer stand. Ihre Hilfe, ihr Degagiren, ihr Auf-
sichaufmerksammachen, ihre Demonstrationen wären bei 90 Meilen Entfer¬
nung viel zu spät gekommen. Wenn aber Blücher und Wellington ge¬
schlagen waren, dann darf es mit Recht bezweifelt werden, ob Oesterreich
gegen den Sieger Napoleon im Herzen Frankreichs noch einen Entschei¬
dungskampf gesucht haben würde, zu dessen Herbeiführung es jetzt die vollen
800,000 Mann für unentbehrlich hielt." — Freilich: auf alle Fälle hatte
Oesterreich dann die ungeschwächten Hände frei, stand gebietend da und konnte
thun und lassen, was es wollte. —
Vergeblich war aller Widerspruch, den der Plan Schwarzenberg's erfuhr;
vergeblich schrieb Lord Wellington: „Einer Ausdehnung vom Kanal bis zu
den Alpen kann ich durchaus nicht zustimmen, und ich bin überzeugt, daß
dieselbe nicht nur verhängnißvoll werden wird, sondern daß die Truppen
(Oesterreichs) auf dem linken Flügel unserer Front ganz aus der Ope¬
rationsrichtung herausfallen." Vergeblich wies Gneisenau darauf
hin. daß die Muße, welche man Buonaparte lasse, seine Kriegsvorbereitungen
zu treffen, die bevorstehende Campagne von Tag zu Tag zu einem ernsteren
Unternehmen mache; vergebens schrieb Blücher an Schwarzenberg, wie unan¬
genehm ihm die Verzögerung der Operationen bis zum 10. Juni sei, da er
sein Heer durch außerordentliche Anstrengungen bis zum 24. Mai vereinigt
haben werde. Vierzehn Infanterie-Regimenter hätten den Marsch von der
Elbe bis Aachen in 11 Tagen zurückgelegt, und nun sollten sie noch fast einen
Monat lang in der ausgezehrten Gegend mit Gewehr bei Fuß hun¬
gern? — Vergebens! Schwarzenberg blieb hartnäckig bei seinem einmal auf¬
gestellten Plan.
Und auch damit noch nicht genug! — Am 3. Mai erlitt Murat bei
Tolentino die entscheidende Niederlage; seine Armee löste sich, wie einst die
des Arragoniers Ferrantin von Neapel, vor dem Anmarsch der Gegner auf;
^ floh am 20, Mai nach Frankreich; die Bourbonen kehrten zurück — was
hinderte nun noch das rasche Vordringen der österreichischen Armee über den
Rhein? — Schwarzenberg's Entschluß, den Krieg erst am 2 7. Juni zu er¬
öffnen! — „Die bisherige Verzögerung der Operationen (so schrieb er
nur c. Juni) erlaubt uns nun, die Ankunft der ganzen russischen Ar-
wee zu erwarten. Der glückliche Ausgang des Krieges gegen Neapel gestattet
uns auch, 100,000 Mann als unsern linken Flügel aus Pie'mont hervor-
^rechen zu lassen. Für Oesterreich ist es ein Bedürfniß, mit dieser Armee
aus Italien in Verbindung zu bleiben und sie in den allgemeinen Operati-
"nsplan hineinzuziehn."
Schwarzenberg stellte jetzt also die österreichischen Interessen den allge¬
meinen unumwunden voran. Er ist unersättlich in seinen Forderungen für
dieselben. — Was verlangten Blücher und Wellington? Nichts als das
^echt anzugreifen und wenn es sein müsse, sich zu opfern.
Kehren wir nach Belgien zurück.
Anfangs Mai waren die Armeen concentrirt worden. Das I. preußi¬
sche Armee-Corps (Zieten) sammelte sich um Fleurus. das II. (Borstell, später
Kleist) bei Namur; das III. (Thielmann) sollte nach Arion und Bastonge
^°sei. Luxemburg marschieren; das IV- (Bülow) rückte von Coblenz nach Mal-
Medy. Mi^e Mai stand das I. Corps um Charleroi, das II. um
^"Mur, das III. um CIney auf dem rechten, das IV. um Lüttich auf dem
linken Ufer der Maas. Mit Bezug auf die Annäherung an die englische
Armee dachte sich Gneisenau den Sammelpunkt des ganzen preußischen Heeres
bei Sombreffe. 9 Meilen von Lüttich, 2V2 Meilen von Namur, 2V» Meile
von Charleroi, 6 Meilen von Ciney. Die Stellung von Sombreffe-Bry hat
den Lignybach mit Se. Amand und Ligny vor der Front. — Ende Mai
zählte die preußische Armee in Belgien 136 Bataillone, 133 Escadrons und
39 Batterien, im Ganzen 116,000 Mann.
Die englische Armee erreichte in der ersten Junihälfte ihre volle Stärke:
106,000, nach Abzug der Besatzungen 94,000 Mann. Nur der kleinere
Theil bestand aus National - Engländern; die Hauptmasse bildeten die Han¬
noveraner, Braunschweiger, Nassauer. Holländer und Belgier. Von 82.000
Mann Fußvolk waren nur 27.000. von 14.000 Reitern nur 6000 Briten. —
Eingetheilt war die Armee in zwei Corps und die Reserve. Die letztere, unter
Wellington's persönlichem Befehl, stand in und um Brüssel. Die beiden an¬
dern Corps kantonnirten in dem Raum südl. der Dyle von dem rechten
Flügel Gent bis zu dem linken Flügel Quarre Bras, und zwar das I. Corps
unter dem Prinzen von Oranien auf dem linken, das II. Corps unter Lord
Hill auf dem rechten Flügel. — Nach einem Punkte in der Mitte war die
Armee am zweiten Tage zu sammeln, nach dem linken Flügel, d. h. also nach
dem Verbindungspunkte mit den Preußen, erst am dritten Tage. Die
schwächere englische Armee war also nicht so eng concentrirt, wie die stärkere
preußische; Wellington war nicht im Stande, Blücher so schnell zu Hilfe zu
eilen, wie dieser ihm. — Auch englischerseits hat man neuerdings zugegeben,
daß jene Kantonnements zu ausgedehnt waren. Aber der Herzog glaubte
nicht an einen Angriff in den Thälern der Maas oder der Sambre; er er¬
wartete überhaupt keinen Angriff Napoleon's und hielt alle
Meldungen von Truppenbewegungen jenseits der Grenze lediglich für Be¬
weise der ausgedehntesten Defensivmaßregeln des Feindes. Er hatte sich
in diese Anschauung seit Anfang April hineingelebt und hat sie mit der
äußersten Zähigkeit festgehalten bis zum ersten französischen Kanonenschuß.
Wenden wir uns nun zu Napoleon's „großer Armee."
Zu Anfang Juni standen das I. Corps (Drouet d' Erlon) bei Valen-
ciennes, das II. (Rente) bei Avesnes, das III. (Vandamme) bei Rocroy. das IV-
(Gerard) bei Metz, das VI. (Lobau) bei Laon und Arras, die Garden unter
Mortier bei Compiegne und die Reserve-Cavallerie unter dem neu ernannten
Marschall Grouchy bei Laon.
Freiwillig durfte Napoleon die Defensive nicht wählen. Es lag durch¬
aus in seinem Charakter, sich durch die Offensive den nächsten Feind aus¬
zusuchen, zumal dieser von seinen berühmtesten Gegnern, von Blücher und
Wellington, befehligt wurde. Bei ihren viel zu ausgedehnten Kantonnements
hoffte er, diese vereinzelt schlagen zu können. Die Grenzfestun¬
gen und der Anmarsch sämmtlicher Corps kurz vor dem festgestellten Termin
des Angriffs boten ihm die Mittel, den Vereinigungspunkt seiner Armee sehr
lange verbergen und überraschend in Belgien einbrechen zu können. Er be¬
schloß, seine Operationsrichtung auf die Mitte der strategischen Front des
Feindes ungefähr dahin zu richten, wo die englische und preußische Aufstel¬
lung zusammenstießen. Wenn es ihm gelang, hier mit relativer Uebermacht
wie ein Keil einzudringen und die feindlichen Heere auseinander zu halten,
so durfte er hoffen, die preußische Armee in Richtung auf den Rhein, die
Engländer nach Antwerpen zum Rückzüge zu zwingen. Jedem einzelnen
der beiden Heere war Napoleon numerisch überlegen, dagegen den vereinig¬
ten Armeen auch schon in Belgien nicht gewachsen.
Die wahrscheinlichste Straße für den Anmarsch des Kaisers war die von
Maubeuge auf Nivelles und Brüssel; er aber beschloß, sich schon südlich der
Sambre mehr rechts gegen den linken preußischen Flügel zu wenden, wahr-
scheinlich um sich zugleich den von Rocroy und Metz kommenden Truppen
zu nähern.
Am 14. Juni meldete General Pirch die Bereinigung des französischen
Heeres in der Gegend von Beaumont, also vor der Front des I. Armee-
Corps (Zieten); ähnliche Nachrichten liefen von mehreren Seiten ein, und es
ist merkwürdig, daß Gneisenau es dennoch für zulässig hielt, mit der Con-
centration der Armee noch zu zögern. Das unzerstörbare Gefühl der Sicher¬
heit Wellingtons scheint von Brüssel hinübergewirkt zu haben nach Namur.
Erst in der Nacht zum 15., als ganz unwidersprechliche Zeugnisse einliefen
von der Absicht Napoleons, folgenden Tags anzugreifen, erließ Gneisenau
Persönlich, ohne Blücher wecken zu lassen, die Aufforderung an die Comman¬
deurs, ihre Corps zu concentriren. und zwar das II. bei Onoz und Mazy
das III. bei Namur, das IV. bei Hannut. So wurde die Armee noch in der
letzten Stunde — um Mitternacht — zum Angriff vorbereitet und ein
eigentlicher strategischer Ueberfall verhindert.
Die Disposition Napoleons für den 13. Juni trägt den Charakter großer
Vorsicht. Die ganze Armee war südlich der Sambre auf einen einzigen
Punkt, Charleroi, dirigirt, wahrscheinlich weil der Kaiser nördlich der Sam¬
bre feindliche Streitkräfte voraussetzte, zu deren Überwältigung die getrenn¬
ten Teten mehrerer, Colonnen nicht ausreichen würden, vielleicht auch, um die
Engländer in ihrer Kantonnirungen nicht aufzustören. — Für den General
Zieten, auf dessen Armee-Corps (I). der Anmarsch des Kaisers stieß, war
dieser Umstand günstig, weil nur eine preußische Brigade südlich der Sainbie
stand und dein überlegenen Mcissenan griffe des Feindes zu entziehen war.
Dieser Angriff verzögerte sich überdies durch die Beschwerlichkeit der Wege
und den Umstand, daß in Folge eines Zwischenfalls Vandamme den Marsch¬
befehl nicht erhielt. Erst zwischen 12 und 1 Uhr mittags erreichte Napoleon
Charleroi, den Hauptübergangspunkt über die Sambre, und erkannte, daß er
zunächst knegsmäfzig die Lage des Feindes nördlich der Sambre, durch Necog-
noszirungen zu erforschen habe und zwar gegen die Engländer auf der Straße
nach Brüssel, gegen die Preußen auf der nach Namur.
Er theilte seine Armee in zwei Flügel, über deren einen, den linken,
Marschall Ney, über deren rechten Marschall Grouchy den Oberbefehl erhielt,
während der Kaiser selbst sich die Garde als Reserve vorbehielt. Vor jenen
Flügelarmeen zog sich nun das I. preußische Corps, in die Gegend von Fleurus
zurück, wobei Ney bei Frasnes (^2 Meile südl. Quatre Bras) gegen den
Prinzen Bernhard von Weimar, Grouchy bei Gilly gegen Pirch in's Gefecht
kam. Die Concentration des I. Corps gelang, allerdings mit einem Verluste
von 1200 Mann.
Inzwischen war man zu Namur in voller Thätigkeit, um die Vereini¬
gung der preußischen Armee bei Sombreffe sicher zu stellen, woselbst die
Schlacht anzunehmen Blücher entschlossen war.
Man rechnete darauf, am 16. Morgens das II. und III. Corps bei
Sombreffe zu vereinigen; man erwartete, daß bis zum Nachmittage auch das
IV. eintreffen werde. In letzterer Hinsicht aber ergab sich schon während der
Nacht, daß man sich geirrt. General v. Bülow hatte das Schreiben Gnci-
senaus, welches dieser allerdings auf eigene Hand ohne Blücher zu wecken und
in den höflichen Formen geschrieben hatte, die ein jüngerer General gegen den
älteren anwendet, nicht für verbindlich gehalten, sondern aus eigenen Gründen
vorgezogen, den gewünschten Marsch nach Hannut noch nicht anzutreten. Dies
verschlimmerte die Lage sehr.
Napoleon war mit den Erfolgen seines ersten Operationstages an sich
zufrieden, aber durchaus nicht sicher, ob er bei fortgesetzter Recognos-
zirung in Richtung auf Sombreffe die Preußen noch treffen werde, weil er
meinte, daß sie nach dem NHeine zu ausweichen würden. Traf er sie
am 16. nicht, so wollte er an demselben Tage noch mit seinen Garden nach
Brüssel abmarschieren, um die englische Armee von der preußischen zu isoliren.
Er war also nicht, wie in früheren Feldzügen entschlossen, durch die rücksichts¬
lose Verfolgung Eines Kriegsobjects die Umstände zu beherrschen, sondern er
wollte „nach den Umständen handeln" — eine Abschwächung seines strate¬
gischen Charakters, welche sehr bezeichnend ist. — Jedenfalls erwartete der
Kaiser für den 16. Juni keine Schlacht; der Gedanke, daß Blücher die preu¬
ßische Armee so nahe vor seiner Front zu sammeln „wagen" würde, ist
ihm gar nicht gekommen; er glaubte, daß beide Armeen, auch die englische,
sich vorläufig zurückziehen, daß Quatre-Bras, Genappe, Soinbreffe und Gein-
bloux, jene von Ney, diese von Grouchy ohne Schwierigkeiten besetzt werden
würden und daß sein linker Flügel in weniger als vierundzwanzig Stunden
schon in Brüssel sein könne.
Lord Wellington erhielt am Nachmittage des Is. Juni Kenntniß von
dem Angriff auf die preußischen Borposten, hielt aber auch dieser Nachricht
gegenüber die Vorstellung fest, daß der französische Hauptangriff nicht den
Preußen gelten, sondern in Richtung von Mons auf Brüssel geführt werden
und also auf die Engländer treffen werde. Aus diesem Grunde verfügte er
am Abende des 15. nur eine Concentration der Divisionen in sich, keine Ver¬
sammlung seiner ganzen Armee, und dachte am wenigsten an eine Linksbe¬
wegung zur Unterstützung der preußischen Corps. In später Stunde freilich,
als sich herausgestellt, daß für jetzt die ganze Macht Napoleons thatsächlich
gegen das preußische Heer gewendet war, wurde die Vereinigung von drei
Divisionen bei Nivelles, die von zweien bei Enghien angeordnet, und es wur¬
den Nachtmärsche bis tief in den folgenden Tag hinein verlangt; aber Ni¬
velles liegt von Sombreffe 2^/z Meilen, Enghien 5^2 Meilen entfernt; eine
directe Unterstützung der Preußen am 16. Juni war auch nach Ausfüh¬
rung dieser Anordnungen noch nicht möglich. — Nach dem Befehlserlaß
besuchte Wellington noch den bekannten Ball der Herzogin von Richmond,
verließ ihn am 16. morgens 3 Uhr und stieg um S Uhr zu Pferde, um die
marschierenden Truppen bei Waterloo zu überholen.
Blücher hatte am Vormittage des 16. bei Sombreffe 82.000 Mann und
224 Geschütze zur Stelle. Er wußte, daß ihm Napoleon um ungefähr die
Hälfte überlegen war; wenn er dennoch die Schlacht anzunehmen beschloß, so
geschah es der Engländer wegen. An der Mühe, welche man selbst gehabt,
nur die drei Corps bei Sombreffe zu vereinigen, ermaß man die Schwierig¬
keiten, welche die Koncentrirung der so viel weitläufiger dislocirten englischen
Armee bereiten müsse, deren Vereinigung ohne ernste taktische Unfälle nur
möglich war, wenn der Feind sie während ihrer langen Märsche nicht angriff.
Geschah das, so wurden sie unzweifelhaft theils gesprengt, theils bis hinter
Brüssel zurückgewiesen. — Aus diesen Gründen hielt Blücher an Ligny-Bache
Stand; seine Hingebung gewährte den Engländern einen gan¬
zen Tag zur Koreer tratio n aus ihren Ka reor reinere s. — Das
heißt Waffenbrüderschaft!
Mittags um 1 Uhr kamen Blücher und Wellington auf dem Wind¬
mühlenberge bei Bussey zusammen und begrüßten sich auf's Herzlichste. Der
Herzog erklärte seine Bereitwilligkeit, den Fürsten auf irgend eine Weise zu
unterstützen. Jndirect schien dies möglich, indem er von Qucrtrebras aus,
wo jetzt ein Theil seiner Truppen angelangt war. gegen Ney vorging, direct
indem er mit allen verfügbaren Kräften dem rechten Flügel der Preu¬
ßen zumarschierte und so Napoleon in die linke Flanke kam. Was da¬
von ausführbar sein würde, war zur Zeit der Unterredung, an welcher auch
Gneisenau und in Wellington's Gefolge Müffling Theil nahmen, noch nicht
festzustellen; unzweifelhaft hatte der Lord den besten Willen, ein oder das andere
zu thun, unzweifelhaft waren aber auch die bei Quatre-Bras versammelten
Truppen viel zu schwach, um einen jener Pläne wirklich auszuführen.
Die französische Armee hatte sich am Morgen des 16. so spät in Be¬
wegung gesetzt, daß Blücher Zeit erhielt, seine Aufstellung zu vollenden und
daß Wellingtons Marschkolonnen sich der isolirten Division Perporcher bei
Quatre-Bras nähern konnten. Hier, wo Ney vorrückte, siel um 2 Uhr
nachmittags der erste Kanonenschuß. — Als Napoleon gemeldet wurde, daß
sich die preußische Armee nördlich des Lignybaches versammelt und die vor
ihrer Front liegenden Dörfer Se. Amand, Ligny und Tongrinne besetzt habe,
schien ihm das erst ganz unglaublich; aber nach Feststellung der Thatsache
war er sofort entschlossen, den Kampf aufzunehmen. Ney erhielt Befehl, den
vor ihm stehenden Feind kräftig zurückzuwerfen, dann Kehrt zu machen und
in Verbindung mit Napoleon den rechten Flügel der Preußen zu umfassen.
Die Schlacht bei Ligny trägt den Charakter des Unfertigen von
Anfang bis zu Ende; nirgends und zu keiner Stunde kamen die Absicht des
preußischen Hauptquartiers und deren Ausführung zu vollem Einklange.
Man hatte gehofft, alle vier Armee-Corps am 16. bei Sombreffe zu ver¬
einigen; aber das IV. Corps blieb aus; man hatte die Stellung im Sinn
der Offensive gewählt und wurde nun eben dort in ausschließliche Defensive
geworfen; der Verbindungsweg von der englischen Position bei Quatre-Bras
zur preußischen Stellung war und blieb frei; Lord Wellington hatte seine
Unterstützung zugesagt; bis zur späten Abendstunde hoffte man auf dieselbe
— aber sie blieb aus.
Der Angriffsplan Napoleon's ging dahin, den linken Flügel der preußi¬
schen Armee bei Ligny zu umfassen und sie dem Marschall Ney entgegenzu¬
treiben. Der Gedanke, daß auf diese Weise die Preußen zugleich den Eng¬
ländern zugetrieben würden, beunruhigte den Kaiser nicht, weil er bei Quatre-
Bras keine Armee, sondern nur ein schwaches englisches Detachement voraus¬
setzte, dagegen Wellington's Heer in vollem Rückzüge auf Brüssel wähnte.
Die Schlacht begann mit Vandammes Angriff auf Se. Amand-la-Haye um
2'/-,, Uhr. Eine halbe Stunde später hatte der Kampf einen so ernsten Charakter
angenommen, daß der Kaiser dem Marschall Ney Befehl ertheilen ließ, sofort
mit seiner ganzen Macht den rechten Flügel der Preußen zu umfassen. Diese
seien „in dem Augenblick auf frischer That ertappt worden, da sie versucht,
sich mit den Engländern zu vereinigen." Die preußische Armee sei verloren,
wenn Ney energisch operire. „Das Schicksal Frankreichs" so schrieb ihm
Soult „liegt in Ihren Händen. Deshalb zögern Sie keinen Augenblick, die
Bewegung auszuführen, welche der Kaiser Ihnen befiehlt." — Eben diese
Bewegung war jedoch nicht ausführbar, weil dem Marschall bei Quatre-Bras
wenn auch bei Weitem nicht das ganze englische Heer, so doch eine Macht
gegenüber stand, vor welcher sich nicht einfach rechts abschwenken ließ. Da
aber der Einblick in den Befehl des Kaisers das Corps Erlon in der Rich¬
tung auf Ligny von Quatre-Bras abzog, während directe Ordres von Ney
es bald darauf wieder"dorthin beriefen, so ging dies Corps, kreuz- und quer-
marschirend, dem Kampf an beiden Stellen verloren: die einzige Frucht
von Napoleons irrthümlichen Verfügungen und zugleich die Ursache, welche
den erfolgreichen Widerstand der Engländer überhaupt ermöglichte. —
Indessen nahm die Schlacht von Ligny ihren Fortgang, welcher auch in
taktischer Beziehung den Absichten Mneisenau's nicht entsprach. „Die allmäh-
lige Verwendung der Corps und deren Brigaden schob die Truppen in einer
Weise untereinander, daß die einheitliche Leitung, wozu die Verfügung über
eine starke Reserve gehört, darunter litt. Die rechtzeitige gegenseitige Unter¬
stützung der drei Waffen kam nicht zur vollen Durchführung; die Schlacht
brannte wie naß gewordenes Pulver an der langen Dauer der Dors-
llefechte ab, in welchen die Infanterie sich aufrieb, ohne dem Kampfe eine
Wendung zum Siege geben zu können."
Der historische Gang der Schlacht soll hier nur ganz kurz mit den Worten
geschildert werden, die ihm der Bericht Blücher's an den König (von Grvl^
niann's Hand geschrieben) widmet. Es heißt da: „Am Abend hatte der
Feind Se. Amand-la-Haye; wir hielten uns aber auf den Höhen hinter dem
Dorfe und hinderten das Debouchiren. Im Dorfe Ligny hielt sich das (Ke¬
nnst und beide Theile waren in demselben. So war der Zustand in dein
Augenblick, wo es begann, finster zu werden, und ich glaubte die Sache für
uns entschieden, da ich mit drei Armee-Corps der ganzen Stärke des Feindes
widerstanden hatte und am folgenden Tage die Ankunft des IV. Armee-Corps
und der Wellington'schen Armee durchaus zu unserm Vortheil entscheiden
mußte. — Mit einbrechender Nacht gelang es aber dem Feinde, zwischen Ligny
und Sombrefse durchzubrechen und die Ligny vertheidigenden Truppen in der
linken Flanke zu nehmen. Die feindliche Kolonne, die hier durchbrach, be¬
stand aus Kürassierer, reitender Artillerie und Infanterie. Mir blieb in diesem
Augenblick keine Reserve an Infanterie übrig und ich ließ daher den Feind
durch die Kavallerie angreifen .... Es gelang ihm aber gegen unser Cen¬
trum vorzudringen und sich zu behaupten. — Durch diese Lage der Dinge
wurde ich bewogen, den rechten Flügel während der Nacht auf Tilly und
den linken auf Gcmbloux zurückgehn zu lassen und heute Alles Hieher nach
Wavre in Marsch zu setzen."
So befand sich denn in der Nacht vom 16. zum 17. Juni die preußische
Armee in der eigenthümlichen Lage, in zwei Hälften getheilt zu sein, von
denen die eine geschlagen, die andere aber beinahe unangetastet, kampffähig
und kampfbereit war. Mit jedem Schritt nordwärts mußte sich diese Trennung
mindern, und die Wiedervereinigung der Armee schon am folgenden Tage war
unzweifelhaft. — Die Verluste waren freilich schmerzlich; sie betrugen etwa
12,000 Mann an Todten und Verwundeten und 15 Geschütze. Doch auch
die Franzosen büßten 11,000 Mann ein; denn in den blutigen Dorfgefechten
steigerte sich die Erbitterung bis zu dem Grade, daß niemand Pardon gab
oder nahm. In voller Schärfe trat der nationale Gegensatz hervor.
Gneisenau's persönlicher Bericht über die Schlacht (ä. 6. Wavre 17. Juni
181S, nachmittags 2 Uhr) schließt mit folgenden Worten: „Nichts ist verloren,
wenn nur Schnelligkeit und Entschlossenheit in die Operationen
gelegt werden. Verlieren wir viele solcher hartnäckigen Schlachten wie die
gestrige, so mochte das numerische Verhältniß in der Zahl der verbündeten
Armeen gegen die seinige noch mehr zu seinem Nachtheil sich ändern. Nur
Beharrlichkeit und Zähigkeit und wir werden wohl zum Ziele ge¬
langen", — Nachschrift: — „Der Feldmarschall hat sich sehr der Gefahr aus¬
gesetzt und selbst ein Bataillon in das Dorf Se. Amand geführt. Bei dem
Kavallerie-Angriff wurde sein Pferd durch und durch geschossen; es stürzte
endlich; er kam unter dasselbe und wäre beinahe gefangen worden. Durch
den Sturz sind ihm Schulter und Schenkel erschüttert."
Weiter war aber auch nichts erschüttert an dem Heldengreise, vor Allem
nicht das Herz! — Mit Jubel begrüßten ihn die Truppen, als er am l7.
den Ritt nach Wavre machte; auch ihr Geist zeigte sich ungebrochen, und
das war die beste Bürgschaft mannhafter Thaten.
Durch den nach Tilly und Wavre befohlenen Rückzug hatte Gneisenau
die Brücken hinter sich abgebrochen; er hatte alle Verbindungen mit dem
Rhein aufgegeben, um noch einmal den Engländern die Hand zum gemein¬
schaftlichen Schlage zu bieten. Napoleon dagegen war in der irrigen Vor¬
stellung befangen, er habe die Hauptmasse der preußischen Armee derart ge¬
schlagen, daß sie in, diesem Feldzuge angrifföweise nicht mehr aufzutreten ver¬
möge. Er war überzeugt, Blücher habe den Rückzug seiner Truppen auf
Namur oder Lüttich dirigirt. Die Möglichkeit, daß diese sich statt nach Osten
auszuweichen, nordwestwärts den Engländern näherten, kam dem Kaiser gar
nicht in den Sinn. Nicht einmal eine einzige Patrouille wurde in der Rich¬
tung auf Tilly oder Wavre vorgesendet. — Unter solchen Umständen, meinte
er, dränge ihn gegen die Engländer nichts zur Eile, und da der 17. Juni
nach dem Gewitter des vorigen Tages anhaltendes Regenwetter brachte, so
beschloß er einen Ruhetag. — Da, um Mittag, als er sich eben mit Ge'rard
und Grouchy über die Wirkung unterhielt, welche sein Sieg auf die pariser
Jakobiner hervorbringen werde, empfing er die Meldung, die Engländer
(welche er längst auf dem Rückzüge nach Brüssel wähnte) ständen noch bei
Quatre-Bras. Sofort beschloß er, sie anzugreifen; aber er hatte, wie tags-
zuvvr, den Vormittag verloren, und diese Zeitversäumniß, welche der Ueber¬
schätzung des Sieges von Ligny entsprang, kam jener dello allianeo Blücher's
und Wellington's zu Gute, die das Verderben Napoleons werden sollte.
Um die Mittagsstunde des 17. Juni sandte Napoleon an Ney den Be¬
fehl, die Engländer bei Quatre-Bras aufs Neue anzugreifen und zu verjagen.
Wir werden sehen, daß dieselben bereits vorher ihren Rückzug angetreten.
Gleichzeitig theilte der Kaiser seine Armee von Neuem. Den Haupttheil, zu
welchem auch Ney stoßen sollte, 72,420 Mann mit 240 Geschützen, wollte er
selbst gegen Wellington führen, den kleineren Theil, 28,840 Mann mit 78
Geschützen, erhielt Marschall Grouchy, um die Preußen aufzusuchen und ihre
Niederlage zu vollenden. Dem Marquis war nicht wohl bei diesem selbstän¬
digen Commando; er bat den Kaiser, ihn davon zu entbinden, weil er
glaube, mit 30,000 Mann nichts gegen Blücher ausrichten zu können; aber
Napoleon schlug dies Begehren mit Schärfe ab. So marschierte Grouchy
denn zunächst nach Gembloux und meldete von dort her um 10 Uhr abends,
daß die Preußen sich anscheinend getheilt hätten; eine Abtheilung scheine be¬
stimmt, sich mit Wellington zu vereinen, während das Centrum unter Blücher
sich auf Lüttich zurückziehe. — Um 2 Uhr früh (18. Juni) präcisirte er diese
Meldung noch und theilte mit, daß er selbst seinen Marsch auf Corbais und
Wavre fortsetzen wollte.
Lord Wellington hatte am Morgen des 17. Juni bei Quatrebras noch
Alles gefunden. wie er es tagsvorher verlassen; zur Fortsetzung einer selbstän¬
digen Offensive fühlte er sich jedoch zu schwach; er beschloß, sich nach Mont
Se. Jean zurückzuziehn (2^ Meile südlich von Brüssel), hier die ganze
Armee zu concentriren und den Kampf mit Napoleons Hauptmacht dort an¬
zunehmen, falls er wenigstens mit einem preußischen Corps unterstützt werde.
Nach der Schlacht hoffte er dann in Verbindung mit Blücher zur Offensive
übergehn zu können.
Um 10 Uhr vormittags trat der Herzog den Rückzug an, welchen Graf
Urbridge mit 38 Escadrons deckte. Ney folgte, und da Uxbridge bei Ge-
nappe eine Kolonne seiner Kavallerie halten ließ, um den Franzosen das
Debouchiren aus dem Dcsilee des Dyle-Ueberganges zu erschweren, so
kam es hier noch zu einem für die Engländer höchst ehrenvollen Reitergefecht.
^It >VA8 trulz^ a Lploucliä etiargv!" — Die französische Infanterie folgte den
Briten mit der äußersten Langsamkeit und wenig Ordnung. Erst um ^7 Uhr
abends erschienen ihre Spitzen bei dem Gasthause la Belle-Alliance. In Folge
des Regens trat früh Halbdunkel ein; doch gewann Napoleon die Ueber¬
zeugung, daß ihm wirklich die vereinigte englisch-niederländische Armee gegen¬
über stehe. Die ermüdeten Truppen bezogen Biwaks. Die Vorposten standen
sich sehr nahe gegenüber, die Hauptlinien der Gros kaum eine halbe Meile
von einander entfernt.
In dem Gefühl seiner Abhängigkeit von einer Unterstützung durch die
preußische Armee, in der Ungewißheit ob, wann und in welchem Umfange
ihm dieselbe zu Theil werden würde, blickte Wellington mit Unruhe auf den
Ausgang der bevorstehenden Schlacht. Daneben beschäftigte ihn die Sorge,
Napoleon werde ihn vielleicht ohne Schlacht durch eine Flankenbewegung über
Hat nach Brüssel zurückmanövriren, und er hielt eine solche Operation für
sehr bedenklich. Das wäre sie indessen wohl nur dann gewesen, wenn der
Herzog in diesem Falle sofort hinter Brüssel nach Antwerpen zu gewichen
wäre, statt sich nördlich Brüssels mit den Preußen zu vereinen und dort die
Schlacht anzunehmen. Weit bedenklicher wäre es gewesen, wenn sich Napoleon
zwischen Wellington und Blücher geschoben und deren Trennung dauernd
erhalten hätte. Dazu hätte freilich ein energisches Vorgehn am 17. morgens
gehört. Das war versäumt; der Kaiser war nun den Engländern langsam
auf deren natürlicher Rückzugslinie gefolgt und hatte überdies die beiden Corps
unter Grouchy auf die Entfernung eines starken Tagemarsches aus der Hand
gegeben. Das war ein seltsames Verhalten! „War Blücher wirklich so voll¬
ständig geschlagen, als Napoleon voraussetzte, so genügte zunächst die Verfol¬
gung durch ein oder zwei Cavallerie-Corps. Hatte aber Blücher keine Nieder¬
lage erlitten, so waren 30,000 Mann zur Fortsetzung der Operationen gegen
die preußische Armee zu wenig, ganz so, wie sie im ersten Fall für eine bloße
Verfolgung zu viel waren."
Im preußischen Hauptquartier war man entschlossen, nicht nur, wie
Wellington hoffte, ein Corps, sondern jedenfalls zwei, ja, wenn möglich, die
ganze Armee den Engländern zu Hilfe zu führen. Das Corps Bülow (IV.)
sollte mit Tagesanbruch des 18. Juni von Dion-le-Mont aufbrechen und durch
Wavre über Se. Lambert vorgehn, um des Feindes rechte Flanke anzugreifen.
Das II. Corps sollte dem IV. unmittelbar folgen und das I. und III. Corps
zunächst bei Wavre stehn bleiben, doch bereit ebenfalls -nachzurücken.
So war die strategische Situation in der Nacht vor Waterloo.
Das Schlachtfeld von Belle-Alliance gewährt nach beiden Seiten die
vollkommenste Freiheit zur Offensive. Freies Schußfeld für die Artillerie,
freies Attackenterrain für die Reiterei; ungestörte Möglichkeit gegenseitiger
Unterstützung der drei Waffen. Von Waterloo südwärts nach Mont-Se.-Jean
bis hinauf nach La Haye - Sande hebt sich leise das Gelände, dann folgt eine
Mulde, auf deren Südrand La Belle-Alliance liegt, während den Nordrand
bei La Haye-Sainte ein leichter Hügelkamm bezeichnet. Diesen machte Welling¬
ton zur Frontlinie seiner Ausstellung. Alles was hinter demselben stand, war
durch die Bodenerhebung einem von Süden herblickenden Auge entzogen. Vor der
Front liegt westlich (also vor dem rechten Flügel) Schloß Hougomont, östlich
(also links) am Ohainbache liegen die Pachthöfe Papelotte, La Haye und das
Dorf Smohain. Zwischen Papelotte und Hougomont an der Brüsseler
Straße, welche hier durch einen 4000 Schritt breiten Feldercomplex führt, be¬
findet sich die bereits erwähnte Farm La Haye-Sainte.
Wellington hatte 67,600 Mann zur Stelle, nämlich 49.600 Mann In¬
fanterie, 12,400 Reiter und 136 Geschütze mit 5600 Artilleristen. Bei Auf¬
stellung der Armee hielt sich der Herzog nicht genau an die Ordre-de-Bataille,
glaubte vielmehr englische und fremdländische Truppen noch mehr mischen
zu müssen als dies schon in der regelmäßigen Heerordnung der Fall war.
Den rechten Flügel, dessen äußerster Punkt Braine l'Alleud, nordwestlich
Hougomont war, kommandirte Lord Hill. Das Centrum befehligte Prinz
Wilhelm von Oranien, den linken Flügel General Platon. Dieser Flügel
war nördlich von Smohain ohne Anlehnung; aber dorthin hoffte Wellington
auf den Beistand Blücher's. Vor dem linken Flügel hielt Prinz Bernhard
von Weimar Papelotte, La Haye und Smohain besetzt. — Die Masse der
Kavallerie stand hinter der Mitte. Eine Infanterie-Reserve fehlte, weil sich
Wellington nicht entschließen konnte, die bei Hat und Tubize stehenden
Truppen (14800 Mann), welche nur 2 Meilen von Mont-Se.-Jean entfernt
waren, zur Schlacht heranzuziehn. Er hielt sie dort seltsamerweise für noth¬
wendig, um Gent gegen jede Bedrohung zu schützen, wo damals der vertrie¬
bene Louis XVIII. residirte. — In Folge dieses Reservemangels hatte die
englische Aufstellung nur sehr geringe Tiefe; wurde sie an irgend einer
Stelle durchbrochen, so mußten die Truppen von rechts und links statt
frischer Reservebataillone eingreifen — ein sicherlich bedenklicher Umstand.
Es war Sonntag. Zwischen 5 und 6 Uhr morgens hörte der Regen
auf; die französischen Artillerie-Offiziere meinten, der erweichte Boden würde
bis 9 Uhr fähig für Geschützbewegungen werden. Gegen 10 Uhr erst ließ Na¬
poleon seine Corps in 11 Colonnen rechts und links der Brüsseler Straße
zur vollen Schlachtlinie aufmarschieren — ein Schauspiel, das ihn noch in
später Erinnerung zu dem entzückten Ausruf veranlaßte: „Q<z 8p«ota,alö 6t,me,
wagnikiqu<z; et 1'c-nnvmi, qui 6eg.it, Me6 av maniür« 5. I'iiperevvmr j»8>-
<1u'im ein-ab- Iwmmo, und. vn se.i-0 trappt;!"
Die französische Armee zählte 72,000 Mann, darunter 48.900 zu Fuß,
13.700 Reiter und 246 Geschütze mit über 7000 Bedienungsmannschaften;
sie war also dem Gegner an Kavallerie und Artillerie überlegen, und die
Infanterie hatte den Vortheil, einheitlicher Nationalität zu sein.
Den rechten Flügel zwischen Frichemont und la Belle-Alliance erhielt
Erlon, den linken Flügel zwischen Belle - Alliance und der Straße von Ni-
velles befehligte Rente. Die Divisions - Cavallerie Pire verlängerte ihn.
Diese erste Schlachtlinie hatte eine Front von 6000 Schritt Länge. Hinter
ihrem rechten Flügel formierte sich Milhaud's Kürassier-Corps, hinter dem
linken die schwere Reiterei Kellermann's, und zwischen beiden Kavallerie-Corps
stand als erste Reserve das Corps Lobau's. In dritter Linie hielt hinter
Milhaud die leichte, hinter Kellermann die schwere Garde-Reiterei. Als
zweite Reserve war endlich westlich von Plancenoit die gesammte Garde-In¬
fanterie zurückbehalten.
Um 101/2 Uhr standen die Truppen kampfbereit; doch noch immer gab
Napoleon nicht das Zeichen zum Beginn der Schlacht. Er nahm vielmehr
auf der ganzen Front die Parade-Honneurs entgegen, wodurch abermals
eine volle Stunde verloren ging.
„Es war die letzte Ehre, welche die Armee dem Kaiser erwies; die Tam¬
bours schlugen; die Musik spielte und die Soldaten riefen enthoufiastisch ihr
Vive
Die Zeitverschwendung Napoleons ist um so unbegreiflicher, wenn man
erwägt, daß er zu jener Stunde über den Anmarsch wenigstens eines Theiles
der Preußen Nachrichten empfangen hatte, die bereits mehr als Vermuthun¬
gen waren. Die vorher erwähnte, von 2 Uhr früh datirte Meldung Grou-
chy's mußte er doch allerspätestens um 8 Uhr morgens erhalten haben. —
Erst um 11^/2 Uhr begann auf des Kaisers linken Flügel General Rente
das vorbereitende Kanonenfeuer gegen Schloß Hougomont, und bis gegen
1 Uhr nahm seine Infanterie das Erlenwäldchen südlich dieses Schlosses.
Um diese Zeit schrieb Soult im Auftrage Napoleons an Grouchy: des
letzteren Absicht, auf Wavre zu marschieren, stimme mit der des Kaisers
überein. indeß solle er sich der französischen Haupt-Armee zu nähern suchen,
um auf feindliche Truppen fallen zu können, die sich etwa bemühen sollten,
des Kaisers Flanke zu beunruhigen. — Dieser Befehl enthielt einen inneren
Widerspruch; denn die topographische Situation verbietet es, zugleich nach
Wavre zu marschieren und sich dabei Belle-Alliance zu nähern. — Die selt¬
same Ordre war übrigens noch nicht expedirt, als dem Kaiser eine aufge¬
fangene Mittheilung Bülow's an Müffling überreicht wurde, aus welcher die
Absichten der Preußen sehr deutlich hervortraten. Das Schreiben an Grouchy
erhielt daher noch folgendes Postscriptum: „Ein Brief, den wir soeben ause
gefangen haben, enthält, daß der General Bülow unsere Flanke angreifen
soll. Wir glauben dieses Corps schon auf den Höhen von Se. Lambert zu
erblicken. Verlieren Sie daher keinen Augenblick, sich uns wieder zu nähern
und sich mit uns zu vereinigen, um Bülow zu vernichten, den Sie auf frischer
That ertappen werden."
Um zu erfahren, was auf den Höhen von Se. Lambert vorgehe, sandte
Napoleon seinen Generaladjutanten Bernard dorthin. Dieser kehrte bald in
größester Eile zurück. Der Kaiser ging ihm entgegen, um seine Meldung
allein zu empfangen. „Lire, co sont lizg I^-ussiLus!" — in'en clouwiL!"
erwiderte der Kaiser gedankenvoll. Dann wandte er sich zurück zu der großen
Versammlung seines Stabes und rief avcze uruz visags gssurv (man möchte
übersetzen „mit frecher Stirn"): „Voici Nossikurk;, Kroudi^ <mi nouL al>
rivv!" Man erkennt: Napoleon wollte, die Armee täuschen; sie sollte
von dem Anmarsch der Preußen nichts erfahren, bevor sie gegen die Eng¬
länder gesiegt.
Der Kampf gegen diese wurde denn endlich zwischen 1 und 2 Uhr ernst¬
lich aufgenommen. Ungefähr 1200 Schritt vor der britischen Front fuhren
östlich von Belle-Alliance 74 Geschütze auf und begannen ihr Feuer gegen die
englischen Batterien. Während dieser gewaltigen Kanonade formierte Erlon
seine 4 Divisionen zu 4 ungeheueren Angriffskolonnen, nämlich die deployirten
8 Bataillone jeder Division aufgeschlossen hintereinander — eine unerhörte
Formation, welche ihr Seitenstück nur im antiken Phalanx oder den hellen
Haufen der Landsknechte findet. — Der Massenangriff dieser Riesenkolonnen
scheiterte jedoch. Zwar warf die Division Douzelot die niederländische Bri¬
gade Bylandt; aber die englischen Brigaden Kempt und Pack empfingen den
Feind mit so furchtbarem Feuer und machten dann unter Platon's persön¬
licher Führung einen so glorreichen Gegenstoß, daß die Division Douzelot in
wilder Flucht zurückstürzte; und als nun Wellington eine Kavalleriebrigade
nachhauen ließ, brach diese bis in Napoleon's große Batterie ein und hieb
an 30 Geschützen die Kanoniere nieder. — Milhand's Kavallerie stellte hier
jedoch das Gefecht wieder her.
Ein ganz gleiches Schicksal hatte die französische Division Marcognet
betroffen, und die Division Durutte reussirte ebenfalls nicht; aber sie trat, da
sie die Niederlage der beiden andern Kolonnen erkannte, schon früh den Rück¬
zug an und behielt ihre taktische Ordnung. Am günstigsten war das Gefecht
der Division Quiot verlaufen; sie hatte La Haye-Sainte erobert; aber der
Rückgang der drei andern Kolonnen nöthigte sie, es wieder aufzugeben. —
4000 Mann, 2 Fahnen und 16 Geschütze hatte den Franzosen dieser Massen¬
angriff gekostet; Erlons Corps war für mehrere Stunden für die Offensive un¬
brauchbar. Doch auch die englische Kavallerie hatte bei ihrem nachhauen
großen Verlust gehabt; die geschlagene Brigade Bylandt fiel dauernd aus der
Front des linken Flügels aus und treffliche Generale wie Platon und Pon-
soby waren gefallen. — Es war 3 Uhr nachmittags.
Während dieser Kämpfe hatte Napoleon das Gelände in seiner rechten
Flanke durch zwei Kavallerie-Divisionen beobachten, und gegen 3 Uhr hatte
er auch das Corps Lobau (erste Reserve) dorthin abschwenken lassen, aber mit
einer Instruction, die selbst den kommandirenden General über die Größe der
nahenden Gefahr täuschte und täuschen sollte. Lobau sollte so spät als mög¬
lich in ein Gefecht gegen Bülow verwickelt werden, damit die Armee erst so
spät als möglich erführe, daß ein neuer Feind in ihrer rechten Flanke aufge¬
treten sei.
Die gegen den Anmarsch der Preußen gewendeten Truppen machten eine
Masse von 10,000 Mann aus, die dem Kaiser aus seiner Reserve verloren
gingen, sodaß Blüchers Unterstützung schon wirksam wurde, bevor er nur
einen Kanonschuß abgefeuert hatte. Als Infanterie-Reserve blieb Napoleon
jetzt nur die Garde; es frug sich, ob er sie einsetzen würde, um die englische
Schlachtordnung zu sprengen. — Er that es nicht; er entschloß sich, seine
Kavallerie zu einem großartigen Massenangriff von 10,000 Pferden zu ver¬
wenden.
Dieser Entschluß war verhängnißvoll. Nur die Garden wären im Stande
gewesen, den Sieg rasch herbeizuführen, wenn er überhaupt noch zu erringen
war. Und jener Entschluß muß um so mehr befremden, als Napoleon den
Neiterangriff nicht gegen den bereits bekämpften linken Flügel der Engländer,
sondern deren noch unerschüttertes Centrum richtete — eine kriegsgeschichtliche
Anomalie, welche hier um so erstaunlicher erscheint, als die strategischen
Motive, gerade den linken Flügel der Engländer zu schlagen, in Folge
von Bülows Anmarsch von Augenblick zu Augenblick dringender wurden.
Zur Einleitung des großen Kavallerie-Angriffs verstärkte Napoleon die
Kanonade gegen das britische Centrum, setzte die letzte Division des Corps
Rente in den vergeblichen Kampf um Schloß Hougomont ein und ließ die
Division Quiot aufs Neue gegen La Haye-Sainte vorgehn. Zwischen diesen
beiden Orten führte dann Marschall Ney zunächst 42 Escadrons schwerer
Kavallerie gegen Wellingtons Höhenstellung vor.
Es waren die englischen Garden und die Division Alten (die Hannove¬
raner und die deutsche Legion), auf welche dieser Angriff traf. Der Herzog
hatte die Infanterie hohle Vierecke bilden lassen; die Artillerie blieb unverän¬
dert in der Front stehen, um bis zum letzten Augenblicke mit Kartätschen zu
feuern; nur die Protzen mit den Pferden wurden zurückgeschickt und die Be¬
dienungsmannschaften angewiesen, beim unmittelbaren Anprall des Feindes
in den Quarrees Schutz zu suchen. Die Kavallerie hielt der Herzog zurück.
Das Anreiten der Kürassiere Milhauds, welche an der Tete des Massen¬
angriffs waren, erfolgt in Regimentskolonnen mit Escadronsfront. Lautlos
empfängt sie die Infanterie; das erste Glied kniend, das zweite im Anschlag,
so geben die Quarrees auf 30 Schritt ihr Feuer ab. Attacke folgt auf Attacke;
aber ,,1'int'alten-lo iwA'Itüse (und allLinuncle!) somdls enraeinöL äaus 1o so!!"
Die wachsende Verwirrung in der französischen Reitermasse benutzt Lord Ux-
bridge; er haut mit der englischen Reserve-Kavallerie ein und die Kürassiere
werden geworfen.
Inzwischen hatte die Division Quiot La Haye-Sainte genommen und
avancirre nun in Sturmkolonnen den Abhang hinauf. Hätte Napoleon jetzt
hier seine Garden zur Hand gehabt, so wäre die Mitte der englischen Posi¬
tion gesprengt worden und die französische Kavallerie würde auf dem Plateau
nicht erfolglos gekämpft haben. Aber es war keine Infanterie-Reserve zur
Hand; Wellington schloß mit dem Braunschweigischen Corps und einigen
hannover'schen Bataillonen, welche er persönlich bis in das feindliche Gewehr¬
feuer vorführte, die gefährliche Lücke, die die Einnahme von La Haye-Sainte
geöffnet hatte, und ein den Franzosen sehr günstiger Augenblick war ver¬
loren. — Auch der Kampf der Division Durutte gegen den Herzog von Wei¬
mar bei Papelotte, La Haie und Smohain kam ebensowenig von der Stelle
wie derjenige Reilles gegen Hougomont.
, Wenn er die Garden nicht einsetzen wollte, so blieb Napoleon nichts, als
die Erneuerung des Kavallerie-Angriffs. — Ney erhielt 12 frische Regimenter,
und mit 78 Escadrons wiederholte er die Attacken gegen das englische Cen¬
trum. „I^v ekoe tut dei-ridlv!" Die wenigen englischen Bataillone schienen
in dieser Masse fast ganz zu verschwinden, oft erlosch ihr Feuer; oft hatten
sie nur das Bajonet zur Wehr; aber auch jetzt konnten die Quarrees nicht
durchbrochen, nicht gesprengt werden. Vergeblich fielen die Generale an der
Spitze der Reiterkolonnen, vergeblich schmolzen .manche Regimenter zu einer
einzigen Schwadron zusammen — stundenlang bis nach 6 Uhr abends währte
dieser Kampf — ohne Entscheidung.
Finster sinnend schaute Napoleon von Belle-Alliance zu den Höhen hin¬
über. „Werden diese Engländer uns nicht bald den Rücken zeigen?" wandte
^ sich an Soult. „Ich fürchte" entgzgnete der „sie lassen sich eher zusammen¬
hauen." — Und schon längst hatten sich von Frichemont her die preußischen
beschütze hören lassen. Die Krisis der Schlacht war gekommen.
Wir müssen, um einen Blick auf den Anmarsch der Preußen zu werfen,
i« die ersten Frühstunden des Tages zurückkehren. Um Mitternacht hatte
Blücher den Armee-Corps seine Befehle ertheilt. Bülow (IV. Corps) sollte
bei Tagesanbruch von Dion-le-Mont aufbrechen und über Wavre auf Chapelle
Se. Lambert marschieren, um sich von hier aus „mit der größten Lebhaftigkeit
in des Feindes rechte Flanke zu werfen." — Pirch (II. Corps) sollte Bülow's
Marschrichtung folgen. — Das III. und I. Corps sollten sich zum Abmarsch
bereit machen.
Gegen 2 Uhr morgens gab Bülow seinen Truppen die Marschdisposition;
zwischen S und 6 Uhr erschien die Spitze seines Armee-Corps an der Dyle-
Brücke von Wavre. Kaum aber hatte diesen Ort die Avantgarde passirt, als
in der Stadt Feuer ausbrach und den Marsch des Gros aufhielt. In Folge
dessen blieb es weit hinter der Vorhut zurück. Ueberdies verzögerten die
schlechten und durch den Regen grundlos gewordenen Wege den Marsch
außerordentlich, besonders für die Artillerie.
Der nächste Terrainabschnitt war der Ohain-Fluß mit dem Lasnebach,
welche Gewässer bei Se. Lambert und Lahne überschritten werden mußten. Das
konnte nicht früher geschehn, als bis man wußte, ob der Feind auch nichts
gegen die linke Flanke des Corps vornehmen könne. während es sich durch
die Defileen der Flußübergänge hindurchzwänge. R.ecognoszirungen stellten
endlich fest, daß das nicht der Fall sei; die Engpässe wurden durchschritten
und die Borhut bemächtigte sich des Waldes von Frichemont, welcher das
Schlachtfeld von Belle - Alliance östlich abschließt. — „Als die Truppen hier
lautlos und in der gespanntesten Erwartung hielten, waren sie seit 4 Uhr
morgens, also seit zwölf Stunden auf den Beinen, hatten nicht abgekocht,
besaßen wenig Lebensmittel und mußten nun in die Schlacht rücken. — Die
Anstrengung war groß; sie wurde noch größer durch den Kampf; aber der
Sieg ließ sie mit Freuden alle Strapazen vergessen!"
Das II. Armee-Corps, Pirch, wurde bis 3 Uhr nachmittags durch das
Erscheinen französischer Kavallerie (Grouchy) auf dem rechten Ufer der Dyle
zurückgehalten und konnte trotz unsäglicher Anstrengungen in Folge dessen
nicht mehr rechtzeitig auf dem Schlachtfelde eintreffen.
Um 11 Uhr vormittags stieg Blücher in Wavre zu Pferde. Er hätte
sich, wie er heiter äußerte, lieber anbinden lassen im Sattel, als trotz aller
Schmerzen die Schlacht zu versäumen. Und jetzt entschloß er sich auch auf
Gneisenau's Bortrag, nur das III. Corps (Thielmann) bei Wavre gegen
Grouchy stehen zu lassen, dagegen das I. (Zieten) ebenfalls zur Vereinigung
mit den Engländern und zwar rechts von Bülow auf Ohain zu marschiren
zu lassen. Von dort sollte es sich auf Mont - Se. - Jean dirigiren.
Inzwischen war Grouchy im Märsche auf Wavre. Um 12 Uhr mittags
glaubte man von Westen her anhaltenden dumpfen Kanonendonner zu hören-
Man schloß auf eine Schlacht bei Mont-Se.-Jean und Gerard schlug vor,
die Vereinigung mit dem Kaiser zu suchen, der seinen Generalen so oft be¬
fohlen hatte: „Ng.relnzzi ton^ours an kan <1u e-non!" — Aber Grouchy machte
dem gegenüber nicht mit Unrecht geltend, daß, wenn Napoleon ihn zur
Schlacht gegen die Engländer hätte brauchen wollen, so würde er ihn nicht
in entgegengesetzter Richtung detachirt haben. Seine Aufgabe sei die Ver¬
folgung der Preußen. Verließe er jetzt seine Operationsrichtung, so könne er
leicht dem Schicksal Erlon's vom 16. Juni verfallen, nämlich an keiner Stelle
zum Gefechte kommen. — Der Befehl des Kaisers von 1 Uhr, der ihn drin¬
gend nach Belle-Alliance berief, kam erst abends in des Marschalls Hände,
als die Schlacht schon verloren war.
Grouchy blieb also im Marsch auf Wavre, und da dort Thielmann mit
dem III. Armee-Corps stand, so begann zwischen 4 und S Uhr ein Gefecht,
in welchem der Marschall durch eine Umgehung bei einbrechender Nacht das
linke Ufer der Dyle gewann. Er stand nun nahe genug, um mit der etwa
siegreichen Hauptarmee Napoleons die Verfolgung nach Brüssel oder Löwen
aufnehmen zu können. — Aber in diesem Augenblicke besaß der Kaiser schon
keine Hauptarmee mehr.
Als Blücher um 4'/^ Uhr die Spitzen von Bülows Corps aus dem
Walde von Frichemont heraustreten ließ, stand ihm das Armee-Corps Lobau
mit zwei Kavallerie-Brigaden (10,000 Mann) gegenüber. Hinter dieser Macht
war bei Plancenoit die noch unangerührte kaiserliche Garde massire. — Zu¬
nächst konnte Bülow nur auf die moralische Wirkung seines Erscheinens rech¬
nen, und diese war in der That bei Freund und Feind sehr groß. Während
6 preußische Batterien ihr Feuer auf die französische Reiterei eröffneten mar¬
schierte das Corps aus und rückte gegen Plancenoit vor. Lobau wich nördlich
dieses Orts zurück.
Um dieselbe Zeit (6 Uhr) erschien auf Zieten's Avantgarde bei Ohain.
Das richtigste wäre wohl gewesen, wenn auch sie sich auf Plancenoit dirigirt
hätte; denn da lag jetzt die Entscheidung; aber Müffling, der aus Wellingtons
Stäbe Zieten entgegengeritten war, erklärte die Bataille für verloren, wenn
das I. Corps nicht sofort die englische Armee direct unterstütze. Unter solchen
Umständen griff Zieten wirklich auf dem linken Flügel der Briten ein und
eroberte Papelotte und La Haie zurück, welche der Prinz von Weimar soeben
an die Division Durutte verloren hatte.
Es fragt sich nun, was that Napoleon?
Die einzige intacte Truppe, welche er noch besaß, war seine Garde. Er
konnte sie verwenden, um mit ihr einen geordneten Rückzug anzutreten und sie
als Kern aufzubewahren, an den sich die Trümmer der übrigen Armee später
wieder anschließen mochten. — Geschl ager war Napoleon ja schon jetzt durch
das Auftreten der Preußen; es handelte sich nur darum, ob er eine vollstän¬
dige Niederlage erleiden sollte. —
Aber der Kaiser dachte anders. Wie ein unglücklicher Spieler sein Alles,
sein Letztes auf eine einzige Karte setzt, so versuchte Napoleon, mit den
Garden nicht nur das Mögliche zu retten, sondern das Unmögliche zu ge¬
winnen.
Gegen 7 Uhr abends faßte er den Entschluß, die 24 Bataillone
seiner Garden zu theilen zum Angriff auf die Mitte der eng¬
lischen Schlachstellung und zur Ver es eidigun g Plancenoits. Dem
Angriff gegen Wellington sollten sich alle noch verfügbaren Reste der Armee
anschließen.
Zehn Bataillone der alten Garde traten den Marsch nach Belle-Alliance
an, um zwischen der Brüsseler Straße und Schloß Hougomont gegen das
englische Centrum vorzugehn. Zwölf Bataillone (davon 8 der jungen Garde)
wandten sich gegen Plancenoit. Zwei Garde-Bataillone blieben bei Ras-
somme zurück.
Den Angriff auf die britische Front bereitete die französische Artillerie
noch einmal durch eine heftige Kanonade vor; und wie früher an die Spitze
der Reiterkolonnen, so setzte sich Ney jetzt an die der alten Garde, welche mit
lautem Viviz l'ümxgi-tur! am Kaiser vorüberzog. Dieser selbst begab sich zur
Division Quiot, um sie über La Haye-Sainte vorzutreiben.
Die alte Garde rückte in zwei Kolonnen von je 4 Bataillonen vor; 2
Bataillone folgten in Reserve. — Die Kolonne rechts stieß auf die englische
Garde-Brigade Maitland. Bis auf wenige Schritte kamen die bärenmützi-
gen Grenadiere heran; noch immer war nichts von den Briten zu sehen; denn
sie lagen, des feindlichen Geschützfeuers wegen, am Boden. Nur im Pulver¬
dampf der nächsten englischen Batterie erkannten die Grenadiere die Umrisse
einer Reitergruppe: — dort hielt der Herzog mit seinem Stäbe. — Auf ein¬
mal ertönte die scharfe Stimme Wellingtons „Dp gu^räh! make res.ä)'!"
Da erhoben sich die englischen Garden und ein furchtbares Feuer schmetterte
in die Franzosen; in einer Minute stürzten gegen 300 Mann todt oder ver¬
wundet zusammen. Ohne Kommando fing die alte Garde an, zu deployiren.
Das war ihr Verderben; ihre Verluste wuchsen dadurch, und nun ging die
englische Brigade Maitland zum Bajonettangriff vor. Die französische Kolonne
machte Kehrt. Vergebens schrie Ney, dem das fünfte Pferd unter dem Leibe
erschossen wurde, wüthend den Grenadieren zu: „leckes, lo savW-vous ltonc:
j>In» inoui-ir?" Es war umsonst; sie flohen zurück.
Die Garde-Kolonne links gelangte gar nicht bis auf die Höhe. Das
Kreuzfeuer und die Bajonettangriffe der Engländer warfen sie schon früher
zurück. Die beiden Reserve-Bataillone gingen mit zurück.
Der Rückzug dieser zehn Garde-Bataillone zwang auch die Division, Quiot
La Haye - Sainte zu räumen.
Gleichzeitig mit diesen Ereignissen geschah die Eroberung Planee»
mons durch Bülows Corps. Hier hatte General von Hiller den Vor¬
tritt. Zweimal wies die junge Garde, frisch wie sie war. den Sturm des
Is. Infanterie - und des 1. Schlesischen Landwehr-Regimentes ab. Der dritte
Sturm endlich, bei dem Gneisenau persönlich zur Stelle, gelang!
Als Napoleon dies doppelte Scheitern seiner Garden erkannte, brach er
in den Schrei aus: „L'We nun"
Ja, es war zu Ende! — Die britische Armee ging jetzt ebenfalls zur
Offensive über; bald war ihre Kavallerie dem Kaiser so nahe, daß er ihr zu
seiner persönlichen Sicherheit die 4 Escadrons as serviee entgegen werfen
mußte und sich in eins der Reserve-Quarrees rettete. — Eine ungeheuere
Verwirrung, eine furchtbare Panik, eine vollkommene Demoralisation brach
ein. Ney irrte zu Fuß, ohne Hut, mit zerbrochenen Degen auf dem Schlacht¬
felde umher; niemand gehorchte dem Marschall vou Frankreich mehr. Zwei
Garde-Quarrees der Reserve hielten noch zusammen; in ihren Reihen soll
das berühmte Wort gefallen sein: „La Fs.rak<z meurt se in? se rsuä
— Ein einziges Kavallerie-Regiment, die ArellaÄiLrs n ekevul deckte in ge¬
schlossener Ordnung Napoleons Flucht.
Der allgemeine Directionspunkt der avancirenden Truppen, der Preußen
wie der Engländer, war la Belle-Alltance. Hier war es, wo Blücher
und Wellington persönlich zusammentrafen und einander herzlich umarmten,
Während das nächste preußische Trompeter-Chor das 'Is vsuin I-iuäa-
Mus blies. Da mochten sie denken, was ihnen Rückert so schön in den
Mund gelegt:
Als Blücher, der Held, und Wellington
Als Sieger zusammentraten,
Die beiden, die sich lange schon
Gelärme aus ihren Thaten;
Da sprach zu Wellington Blücher bald:>
Du Held, so jung an Jahren,
An Klugheit und Bedacht so alt
Wie ich mit grauen Haaren!
Da sprach zu Blücher Wellington:
Du Held von starker Tugend,
Von Locken so gealtert schon,
Das Herz so frisch von Jugend! —
Da stand der Jüngling und der Greis;
Sie gaben sich die Hände
Und fragten, ob auf dem Erdenkreis
Noch so ein Paar sich fände.
Erwägt man nun, was die Preußen den Engländern und den mit ihnen
stehenden Niederdeutschen und Niederländern bei Belle - Alliance geleistet, so
ist es dies: — Als der furchtbare Kampf zwischen Reiterei und Fußvolk auf
^r Hochebene von Mont-Se.-Jean entscheidungslos hin und her wogte, da
^ar kein einziger englischer Truppentheil mehr intact, da hatte ein großer
Theil von Wellington's Armee das Schlachtfeld in der Richtung auf Brüssel
verlassen. Napoleon aber verfügte an frischen Truppen noch über seine 24
Garde-Bataillone und über das Armee-Corps Lobau nebst dessen Caval-
lerie — das sind' 22,000 Mann intacter Truppen, welche, ausschließlich gegen
Wellington verwendet, die Niederlage des britischen Heeres unfehlbar herbei¬
führen mußten. Davor hat Blücher die Welt bewahrt. — Dann aber hat er
auch durch den Angriff auf die rechte Flanke Napoleon's diesen nicht nur
geschlagen, sondern sein Heer vernichtet. Das hätte nie geschehn können, selbst
wenn Wellington siegreich gewesen wäre; denn eine einfache Frontal-Verfol¬
gung ist nicht im Stande, solche Siegesfrucht zu brechen; sie hätte Napoleon
immer noch die Möglichkeit gelassen, sich hinter dem Defilee von Genappe
zu setzen. — Die Zerstörung der französischen Armee ist das Werk Blücher's
und Gneisenau's; durch ihren Flankenangriff nahe der Rückzugsstraße des
Feindes brachten sie die Entscheidung, durch die „Verfolgung ohne
Gleichen" vernichteten sie den Feind.
„Wellington wünschte die englische Armee auf dem Schlachtfelde stehen
zu lassen; Blücher aber war sogleich bereit, mit den Truppen, die seit 4 Uhr
morgens in Bewegung gewesen waren, die Verfolgung aufzunehmen und in
die helle warme Mondnacht hinein rastlos fortzusetzen."
Dies „Daransetzen des letzten Hauchs von Mann und Roß" ist vor
Allem Gneisenau's Gedanke. Mit Recht nannte er solches Verfahren eine
Schonung des Blutes braver Soldaten, das auf's Neue hätte geopfert
werden müssen, wenn es dem Feinde gelang, sich wieder herzustellen. Mit
ungeheuerer Energie setzte er die Verfolgung in's Werk. Bald war das De¬
filee von Genappe in seiner Hand, wo an und auf der Einen Brücke über
die Dyle ein entsetzenerregendes Gedränge entstand. Nichts galt mehr als
das „La-uve, <zu,i xeutl" Napoleons ganzes Heer war entschaart. Einem
wilden Waldstrome gleich brausten die wüsten, chaotischen Massen wogend dahin,
und wenn sie sich endlich athemlos stauten und todtmüde niedersanken, dann
scheuchten immer auf's Neue Granatschüsse und der Trommelschlag attackiren-
der preußischer Infanterie die ruhesuchende Menge auf. — Aber auch die
Verfolger selbst waren todtmüde! Zu Fuß hat bis Frasnes, wo die Verfol¬
gung endete, nur ein pommerscher Unteroffizier folgen können. Den letzten
Tambour ließ Gneisenau auf ein Pferd setzen, um durch den Trommelwirbel
das Avanciren der längst abgefallenen Infanterie zu markiren.
Die Franzosen haben bei Belle-Alliance etwa 30,000 Mann und von
260 Geschützen 200 verloren.
Die englisch-niederländisch-deutsche Armee büßte über 1S,000 Mann ein,
die preußische, von der etwa 40,000 Mann am Kampfe Theil genommen,
verlor ungefähr 6700 Mann.
In Gosselies entwarf am Morgen des 19. Juni Gneisenau den Opera¬
tionsplan zum raschen Vordringen der preußischen Armee auf Paris. Auf
dem kürzesten Wege wollte er ohne Zeitverlust so viel Truppen als möglich
dorthin in Bewegung setzen auf die Gefahr hin, daß Grouchy entkäme.
Gneisenau hatte Recht und Blücher gab ihm Recht, und es geschah so.
Das Alles war in vier Tagen gethan! Am frühen Morgen des 15. Juni
war der erste Kanonenschuß gefallen; am 18. abends war der letzte Wasser¬
gang Napoleons zu Ende. — Was hatten denn nun die andern Armeen
gethan?!
Schwarzenberg hatte sich entschlossen — nicht am 27. Juni sondern —
einen Tag früher anzugreifen. — Am 20. schrieb Fürst Wrede an Blücher:
„Ich habe die Ehre Ew. Liebden zu benachrichtigen, daß, nachdem die Monar¬
chen zu beschließen geruht haben, daß die für die Ober-Rhein-Armee auf den 25.,
26. und 27. Juni bestimmt gewesenen Angriffe um 24 Stunden früher
beginnen sollen, ich mit meiner Armee, wenn nicht am 23. Abends, wenigstens
am 24. früh die Passage über die Saar forciren (?) werde." — — An dem¬
selben Tage schrieb ihm Blücher von der Sambre: „Der Krieg ist beendet."
— Das Schreiben Wrede's erhielt er am 28. Juni zwei Tagemarsche vor
Paris. — Schon am 22. Juni hatte Napoleon abgedankt; am 3. Juli kapi-
tulirte Paris.
Ja, dieser Geist Blücher's und Gneisenau's, dieser Geist des preußischen
Hauptquartiers, das war der gute Geist Deutschlands, das war derselbe Geist,
welcher damals Arndt singen ließ:
Auf Victoria! auf Victoria!
Welch' ein Klang aus Niederland!
Ueber Strom und Berg geklungen,
Tausendstimmig nachgesungen,
Rottet er die Welt entlang.Bei la Belle-Alliance —
Heißt auf deutsch: der schöne Bund —
Hielt der große Himmelsrichter
Das Gericht der Bösewichter,
Ihres Trotzes letzte Stund'.Nun nach Frankreich! nun nach Frankreich!
Holt gestohlnes Gut zurück;
Unsre Besten, unsre Grenzen,
Unsren Theil an Siegeslränzcn,
Ehr' und Frieden holt zurück!Auf Victoria! Auf Victoria!
Welch ein Klang aus Niederland!
Hände, Herzen auf nach oben!
Gott zu danken, Gott zu loben!
Gott hat Glück und Sieg geschenkt.
Nicht weit oberhalb der Stelle, wo sich die Unstrut zwischen der von
Heinleite und Schmücke gebildeten sogenannten Sachsenburgpforte hindurch¬
windet, liegt am Fuß dieses Höhenzuges in freundlicher Flußthalebene inmitten
saftiger Wiesen und wohlangebauter Felder im Kranze üppiger Baumgruppen
das Dorf Gvrsleben hart an den Ufern des Flusses. Oberhalb der engen
Durchbruchpforte streckt sich das Unstrutthal von waldgrünen Gebirgszügen
begrenzt behaglich in die Breite. Die fruchtbare Flußthalebene, welche einem
Garten gleicht, ist in eminenten Sinne historischer Boden und uraltes Kul¬
turland. Reiche Klöster, stolze Burgen, kaiserliche Pfalzen mit Namen,
welche auf jedem Blatt der Geschichte des deutschen Mittelalters wiederkehren
und die deshalb auch den ferne Wohnenden so bekannt klingen, deuten noch
in Trümmern an, daß einst die Mächtigsten der Erde das Thal aus und
niederzogen und an den Ufern des Flusses heimisch waren.
Nicht gar weit von Gorsleben flußabwärts liegt die herrliche Ruine der
kaiserlichen Pfalz Memleben, zwischen beiden Orten bei Rietheburg an der
Unstrut ist nach der neuesten Forschung die Wahlstatt zu suchen, auf der
Heinrich I. den fälschlich nach Merseburg benannten entscheidenden Sieg über
die Ungarn davon trug. Der Name der Bonifaciuskirche in Gorsleben selbst
und die Bezeichnung Bonifaciuspfennige für die auf der Sachsenburg sich fin¬
denden münzenartig gestalteten Versteinerungen deuten darauf hin, daß das
Unstrutthal zu den ältesten Strichen christlicher Cultur in Mitteldeutschland
gehörte.
In dem erwähnten Dorfe Gorsleben spielte sich vor mehr als 300 Jahren
eine Geschichte ab, die ich im Nachstehenden mittheile, und welche Fahrenbruch,
in den Jahren 1539 — 45 Pfarrer des Ortes, als etwas Selbsterlebtes auf¬
gezeichnet hat. Die Pergamenthandschrift, welcher ich dieselbe entnehme, wurde
auf folgende Weise ans Licht gezogen.
Im Jahre 1823 besuchte der noch jetzt auf dem rothen Hofe, — einem
alten Rittersitz, in Gorsleben ansässige Herr von Hausen, als Roßleber
Klosterschüler in Begleitung eines Commilitonen, des nachmaligen Advocaten
Robert sinket in Leipzig, seine Eltern und die beiden jungen Männer sahen
sich eines Tages in der alten Bonifaciuskirche um. Im Thurm greift sinket
hinter ein altes Bild und dabei fällt ihm eine Pergamentrolle mit folgendem
Inhalt in die Hand.
In uomms Lancia,« vt iiuiiviZuao trinitatis ?ax et vel ^alia Vobis-
cum ownibug 8. L. I..
Wenn Moder mein Gebein frißt und du einst diese Schrift auffindest,
wer du dann auch sein mögest, denke mit Beten meiner armen Seelen, die
hier ein Bekenntniß ausschüttet, was nicht sein sollt der Gegenwart zu Nutz,
die es alsbald verdammen wird, das Best hinwegnehmen, und meiner spotten
möcht mit Schalksmienen, vielmehr soll solch mein Bekenntniß und Offenbar-
thum, so meines Gottes Will es ist. frommen denen, die weit nach uns sein
werden, sich allen Vorthel, Beispiel und Lehre nehmende, und daraus schau¬
ende, was Arges der Teufel und seine Cumpanen.........die Wege
schleichen.
2. Es hatten nämlich damit ich weit zurückgehe in die Geschicht und was
nachher zu wissen dient, die Herren Grafen von Weichlingen, Friedrich und
Gerhart dem hochwürdigen Abt Sybulo das Dorf Gorsleben als ein Sitz-
thum, so weit es ihnen a. d. 1338 abgegeben und ein groß Recht übern Ort
eingeräumet, was nachheren und wie es kommen, braucht und mißbraucht
worden ist, auch deshalb wegen der mehreren Besitzern nicht selten Hader
entstanden ist.
3. Solch Vorfall hat aber mein lieber Confrater und würdiger Pfarrer
Gangloff Waldenbeck alls treulich und verständlich niederschrieben, was mit
großer Lust ich lesen, da er aber als Historiens in seinem Compendio nit ge¬
dacht dessen, was ich nun erzählen und nach und nach berühren werde, weil
es mehr eigen und geheim Sach betrifft, auch meist nach seinem Tode sich
zutragen, so hab ich es über mich nommer, meinen lieben Schwestern und
Brüdern, so in später Zeit leben, ein Bild von Engeln und Teufeln, und
weinen harten Kämpfen zu lassen.
4. Ich lebt Sonaten noch auf der Mearey als aus Italia zurückkehrte
Herr Georg Soto von Germar mit seiner lieben Tochter Stella, 15 Jahr alt.
5. Dieser gut Herr hatte vor vielen Jahren seine Gattin in Italia ge¬
freit, und sie sodann auf sein hieriges am Wasser-Wechsel liegend kleines
Sitzthum bracht.
6. Als aber nach einigen Jahren die Jtalierin von argem Heimweh be¬
fallen krankte und^ siechte und nicht Ruhe fand in unserer trüben Luft, gab
Soto alsbald ihren Bitten nach und führte sie mit der 9 Jahr alten Tochter
hinweg nach ihrer Milan, wo sie nach 5 Jahren starb und suchten nun
Bater und Tochter mit großen Schatz an Gold und Edelsteinen beladen ihre
Heimath wieder auf.
7. Uns war damals, als sie kommen, grad mein sehr treuer und lieber
Herr Confrater, der Pfarrer Waldenbeck am Fieber hinlägrig, deswegen ich
mit Bitt angegangen worden, zu Herrn Soto zu kommen, da ich denn auch
mit weilte hinging und mit großer Lieb und Verehrung, als ich nicht erwar¬
ten möcht, ansehen und empfangen worden und ein schön Zutraun von Stund
an zwischen uns Wurzel faßte.
8. Herrn Soto, den eine gewisse Schwermuth befallen, bedurft oft
christlichen Trostes, um so mehr als banalen große Neuerung in der Kirch
vorgangen, und Lutheri Lehren allewegen sich ausbreiteten, er aber nit von
alter Lehr und Glauben lassen wollt, sondern blos argen Mißbrauch und
Sudel steuern sollt, daß aber von den Anhängern so müßig süchtig und
salzige Kopf wären, gleich Alls auf die Spitze stellt würde, und so Unheil
states Frieden käm, so war die gar lieblich aufblühende Jungfrau, Herrn
Soto's Tochter, Stella gar nicht meiner Meinung und tröstete mit fein gläu¬
bigen Worten, wie vom heiligen Geist angeweht und ich nit so nachsprechen
kann ihren lieben Vater, damit er Ruh möcht in sein Herz gießen, und
sich nit allzusehr zerstreuen lassen von der Welt Händel, so denn der rechte
wahre Glaube und die rechte wahre Kirche in dem Herzen sich anbauen müßt,
über welche nit hätt Gewalt ein Mächtiges auf Erden, sondern der allmächtige
Gott und seine Heiligen im Himmel.
9. So ging eine lange Zeit in gutem Vertrauen und Verträglichkeit
woran auch mein theurer Herr Pfarrer Theil nahm, dahin, als ein gewisser
Christoph von Altendorf sich viel bei Herrn Soto um der Tochter Willen
zu schaffen machte, welche aber vermeinet, daß das nit der Mann für sie
sei und so gar wenig Reden an ihn setzte, aber doch sanstmüthiglich selbigen
und um des Anstandes willen schonete.
10.' Als aber gedachter Christoph von Altendorf dringlicher worden,
hat sie ihr Herz ausschlossen, und mir mit heiteren Worten sagt, wie schon
ein Bild darin hänge, dem sie Liebe gelobt, denn als ihr Herr Vater mit
ihr nach der Mutter Tode Schafes halber sich fast ein Jahr in der Stadt
aufhalten, hätt ein junger Edelherr aus Thüringen genannt Erwin von
Hausen, welcher in des Kaisers Heer bei einem Wallonischen Kürassier Re¬
giment als Lieutenant in dem Ort standen, mit ihr Bekanntschaft macht
und wär als Landsmann alltag in ihre Wohnung gekommen und wäre sie
oft allein mit ihm im Zimmer und Garten wesen und hätten Freud an
einander funden und groß Lieb gefaßt, als daß sie sich Treue schworen
auf immer.
11. Und wie der Abschiedstag kommen, wäre Herr Erwin eine große
Strecke Weges angeritten, am ersten Ruheplatz aber dem Vater sein Begeh¬
ren offenbaret, welcher auch nichts Absonderliches gegen aufbringen können.
12. Und wäre sodann Herr Erwin unter Zusage in fünf Jahren in's
Vaterland- zurückzukommen, mit dem Gelübde, Eid und Händedruck, was
Alles sie ihm erwiedert, von ihr schieden.
13. Nachdem hat sie mich beten, auf schickliche Weis Herrn Altendorfen
von seinem Vorhaben abzulenken, daß sie mög Ruh vor ihm haben.
14. Konnt aber nicht sogleich an ihn kommen, sintemahl er mich wenig
achtet und oft höhnischen Blicks anschaute.
13. Endlich hab aber meiner natürlichen Furchtsamkeit ein End gemacht,
und ihm vorstellt, wie das Fräulein Stell« nit könnt eingehen auf seine An¬
träge, weil sie durch feierliche Gelübde anders gebunden, was ein Edelherr
seiner Ehr zu gut schätzen müßt.
16. Wider Vermuthen war auch Herr Altendorf ganz freundlich,
dankte auch vor die Nachricht.,.....nun hier abstehe von seiner Nei¬
gung, aber das war eitel Schein, denn ihm wohnte im Herzen der Schalk.
17. In dieser Zeit nun war Anno 1637 noch ein sehr verarmter Herr
von Adel Herr Friedemann von Harras, aus dessen Stamm vor vielen Jahren
die Vikarey, auf der ich.....fundirt worden hierher, welcher bei.....
Heinrichen sich bittend erwirket die Einkünfte und Nutzungen solcher Bicarey
auf sein Lebzeit zu genießen, weshalb ich als fürstlich befehle, wie bekannt
worden, alsbald gerne daraus resignirte, in Maaßen Herr Waldenbeck
fort und fort siechte und mir Zuspruch geschah, solch Stelle nach seinem Tode
zu erhalten.
18. Wie es denn auch gär nit lange dauert, daß mein lieber Bruder
und Freund geschieden ist, wonach ich Pfarrer worden.
19. Als nun gedachter Herr Friedemann von Harras schon ziemlich
bejahrter mit seiner noch jugendlichen Frauen auf der Vicarey Einzug halten,
hat sich auch alsbald Herr von Altendorf bei ihm eingethan, und ist um
die Frauen herumgangen sodaß Fräulein Stella ansetzt Ruhe vor ihm hatte,
und seiner gänzlich loszusein glaubte, zumal er nur ganz fern sich ihr nahte.
20. Herr Friedemann von Harras hat aber solch fürstlich Gnad nicht
lang genossen, sondern ist darauf plötzlich verschieden, und hat dann die Wittib
von neuem bei Herrn Hertzog Mauritio Bitt eingelegt, solch Vicarey Nutzung
auf ihr Lebzeit gnädig zu überlassen, was ihr auch brieflich zugesichert worden,
mit Bemerk, daß nach derselben Tode die Vicarey der Kirch wieder anheim
fallen sollte.
21. Herr Altendorf hat darauf Harras Wittib gefreit, und hat eben nit
schön Verwaltung auf dem überlassenen Sitzthum trieben, sondern ist ganz
liederlich umgangen, weshalb die Einkünft nit zureichen mochten, und er Pfiff
und Schlenken mannigfach im Kopf trug.
22. Herr Soto, anmeist aber das Fra'illam stelln, welche im Geheim
viel Arme unterstützt hat und Segen spendet, auch Kranke heimsucht und
Trost geben, wo sie konnt, harrete jetzt sehnlich der Zeit, wo der Freund aus
fernen Landen kommen sollt, da die Frist ablaufen war.
23. Und als wir einstmalen auf die Berg an das Holz gangen, allwo
Herr Soto einen Thurm aufbauen lassen, gewahrt das Fräulein von der
Zinne unten am Dorfe auf dem Wege von Ettesleben her zween Reiter
kommend, und sieht von einem Helm einen hohen Helmbusch wehen und ihr
ahnet, es sei Erwin, sein Wort zu lösen.
24. Alsbald bittet sie uns mit heimzukehren, eilet aber immer voraus,
daß wir nit folgen können und als wir endlich ins Zimmer treten. ja da
hat Herr Erwin ihre Hand gefaßt und beide waren stumm von Heller klarer
Freude, die wie Abendschimmer in Regentröpflein unter Thränenperlen aus
den blauen Augen leuchtet.
25. Nun war große Lust alltag auf Herrn Soto's Sitzthum.
26. Herr Erwin erzählte, daß er sein Abschied aus Kaisers Heer nommer
und nun im Vaterland bleiben wollt, aus seines Bruders Rittersitz zu Eben¬
heim oder auch hier, wenn es Herr Soto erlauben mögt und Stell« sein
Ehegemahl werden sollt, worinnen aller Sinn gern stund.
27. Es waren aber derweilen Herrn Altendorf's Frauen gestorben und
sein Renten nach Wegfall der Vicareh Nutzung gar nit wohl aussehende,
weshalb ihm Herrn Sodos Vermögen gar sehr am Herzen lag und er un¬
gern vernahm, daß ein Bräutigam ankommen.
28. Wie er nun ein großer Pfaffenfeind war und gottloser Kirchenver¬
ächter, so geschah auch, daß durch sein Beihülf wegen unrichtiger Deutung
eines alten Vertrags mit dem Kloster Oldisleben mit Zustimmung der Oberen
zu Sachsenburg die Vicarey der Kirchen vorenthalten ward, wobei Herr Alten¬
dorf einen Schwenzelpfennig wohl erhalten haben mag.
29. Wollten ihm aber das Alls gern verzeihen, wäre sein Schalksherz
dabei in Ruh blieben, und hätte er nicht gar arge Pläne geschmiedet, wie
mit Wehmuth und innerstem Schmerz gleich denken werde.
30. Ach es war eine schlimme Zeit, worauf eine gar fürchterliche Nacht
folgen sollte.
31. Herr Soto besaß nämlich pachtweis einen Garten, früher ein Kirch¬
hof und der Kirche gehörig oben am Wasser gegen das Pferderieth über, in
welchem die alt verfallen Kirche im dunklen Schatten von Rüstern und Erlen
steht, welchen Platz Fräulein Stell« allzusehr liebt, daß sie ihren Vater die.
tend vermocht, mit dem Besitzer des Garten, einem hiesigen Freien, Vergleich
abzuschließen.
32. Dahin ging das Fräulein, die alte Kirche besuchend sehr oft.
33. Allda ist ein Kreutz unterm Hochaltar von wundersamen Stein mit
dem Jesusbilde, vor welchem sie nit selten kniete, und neues Heil für ihre
Seele erflehte.
34. Und so wandelte sie zuweilen mit ihrem Herzensfreunde Herrn Erwin
nach jenem Garten und blieben oftmals bis zur späten Nachtzeit.
35. Nun war eines Tages Herr Erwin, da ihm das Fräulein wegen
einiger Unpäßlichkeit nicht geleiten konnt, allein hingegangen.
36. Gegen Abend komme ich zu Herrn Soto, wo mich das Fräulein
bittet ihren Freund, da es schon spät im Herbste und dunkel, an ihrer Statt
abzuholen.
37. Geh denn und nehme Herrn Erwins Reitknecht mit, konnten aber
Herrn Erwin nit sogleich im Garten finden, auch auf unsern Ruf keine Ant¬
wort erhalten, treten dann in die Kirchenbogen und erblicken beim Monden¬
schein , der durch die Spalten sällt Herrn Erwin am Boden liegend ohne Leben.
38. Alsbald aber fällt ein Schauder über mich, faß ihn an und greif
überall in Blut, sodaß wir bald gewahren, wie Herr Erwin ohne Leben.
39. Als eile ich in Schreck und Schmerz zurück, stürz zu Herrn Soto
und will ihm heimlich melden, aber das Fräulein vor böser Ahnung nit
ruhend, fragte, was ist meinem Erwin, meinem trauten Freunde begegnet?
und ich kann es weiter nit bergen vor großer Angst das Unglück, da wird
sie still und bitt mit ihr zu gehen und eilet nach der Kirch.
40. All Müh war ohne Erfolg, die Leich ward in den Gartenthüren
tragen. Stell« wich nit von ihm, ließ ein Grab mauern in der Kirch und
darein legen und setzen ihres Freunds irdische Hull.
41. So war all Hoffnung zertrümmert und niemand wußt von wannen
es kommen, und auf was Weise es zugangen; das Fräulein wußt sich jedoch
in ihr Schicksal mit frommem Herzen und Gottergebenheit zu fassen, klagte
auch nit allzusehr, wandelte aber alltäglich zum Grab, das ihren Freund barg.
42. Herr Soto starb bald darauf und sein Herr Bruder nahm Sitz im
Guth, wo das Fräulein auch blieb und war eine große Freundin der Armen.
43. Kaum war aber ein halb Jahr vorüber, da kam Herr Altendorf
und macht sich allerhand Geschäft um das Fräulein, sie aber wollte nichts
von ihm wissen und lehnte all seine Antrag ab; das möcht Herrn Altendorf
nit Recht sein, doch behielt er immer freundliche Mienen und bat das Fräu¬
lein um ein Darlehn, was sie ihm nit versagte.
44. Nach dieser Zeit wurde das Fräulein krank und immer schwächer,
so daß sie vermeinet, der gute Gott würd sie hinweg nehmen aus dieser
Welt. Sie vertheilte deshalb ihre Schatz und bat mich, ihren Willen
zu besorgen.
45. Einen Theil ließ sie ihres Vaters Bruder, einen Theil den Armen,
einen Theil der Kirche, welchen sie mir allzugleich in Verwahrung gab, eh
aber alles confirmiret, ist Fräulein Stella aus diesem Erdenthale schieden zur
ewigen Freud und nahm Herr Barthel von Germar alles in Besitz, außer
9000 Goldgulden, welche ich schon hatte und ich nichts von sagte.
46. Obgleich nun das Kloster Oldisleben im Bauerntroubel zerstört
worden war, wobei viel alte schöne Nachrichten über Gorisleben, welche dort
hinkommen, verlohren gangen, so anmaaßte sich doch die Obere jenes Orts
auch jetzt noch allerlei Recht und verlangte ein groß Theil von der seligen
Stell« Reichthum, schickten auch als Legaten, welcher sie vorher erst aufsetzt
und spornirt hatte, Herrn von Altendorf, welcher aber darüber mit Herrn
Barthel von Germar so in Hader gerieth. daß der letzt ihm den Degen durch
den Leib rannte, worüber groß Unheil entstand und Herr Barthel flüchtig
worden auf einige Zeit.
47. Deshalb und, weil ich das Geld gar nicht sicher glaubte bei solch
bedenklicher Zeit, da auch die Amts-Oberen gegen die Kirche feindlich gesinnt,
habe ich mir einen Bertrauten aus der Gemeinde gewählt, einen gar ver¬
schwiegenen Mann namens Chillan Grossen und das Geld mit dessen Bei¬
hülfe zwischen Herrn Erwin und Fräulein Stella's Gräbern in der Johannis-
kirche in die Erde gehenket, da es jetzt von keinem Nutz sein konnte.
48. Schon während des Arbeitens, was wir bei Lampenschimmer in
der Nacht vornahmen, ächzt und seufzt Grosse gar tief und ward nachher von
immer mehr Angst befallen. Auf mein Befragen, was ihm ankommen,
seufzt er abermals, fragt sodann, ob er gehalten sei, einen gezwungenen
Eid zu halten — — ohne meine Antwort darauf sagt er weiter: „Ach
ich bin in großer Zwiespalt mit meinem Gewissen, mag auch die Höll
mein Lohn sein, hier auf diesem Platz habe ich die Mörder des Herrn
Erwin sehn."
49. „Was", rief ich bestürzt, „was? erzähle Unglücklicher!" und jener
sagte mit Zittern; „Geh einstmalen an der Kirchen hier vorbei, hör Menschen¬
stimmen, ganz dumpfe, Furcht fällt über mich, also ich Gott im Gebet an¬
rufe, daß er mir Stärke giebt, all Furcht zu überwinden und trete unter
seinem Beistand in die Hall; da scheint der Mond herein durch die gebrochen
Bogen und ich erblick den schändlichen Altendorf mit einem Gesellen, wie sie
mörderisch über Herrn Erwin herfallen."
60. „Alsbald entfährt mir ein Schrei, die Mörder schrecken auf und
faßt mich Altendorf am Schlund und droht mir, den Hals umzudrehen, wo
ich nicht gleich stumm wie ein Fisch würd."
51. Darauf packen mich beide, lassen Herrn Erwin im Blut liegen und
schleppen mich in ein entlegen Haus, das dem Mordgesell Caspar Roß ge¬
hörig, halten über mich lang Rath, ich aber zittere in Todesangst; nachdem
spricht Altendorf zu mir:"
52. „Schlechter Hund, dein Leben sollt du haben, wenn du schwörst,
nit zu verrathen auf keine Weis was du sehen und was wir gethan, willt
du aber nit schwören, so fährst du gleich zum Teufel."
63. „Was sollt ich thun, in großer Herzensangst, sollt ich hinfahren
in meiner Sund, was konnt auch allzumal mein Tod nützen und entschloß
mich den Eid zu thun, worauf ich frei ausgehen dürft."
34. „Alsbald habe ich, wie er mir vorsagt schwören müssen, bei dem
dreieinigen Gott, auf die Wunden Christi und was ich sonst zu meinem Heil
glaubte, nichts zu sagen von irgend einem, und sollt des Himmels Seligkeit
nit schmecken und der Teufel und die ganze Höll sollt Macht haben über mich,
in meinem Sterbestündlein jeder Trost mir schwinden und alle ordentlich Angst
auf mich fallen, wenn ich anders that, als sie mir geheißen."
55. So hab ich schworen und mein Gott, jetzt hab ich den Eid brochen."
56. Alsbald sing er stärker an zu zittern, ich führte ihn heim, saß die
ganze Nacht an seinem Bette, ließ mir das Gesagte wiederholen, schriebs auf,
sprach ihm Trost zu und in der vierten Morgenstunde ist er ruhig auf sein
Bekenntniß verschieden.
57. Hab darauf zu Caspar Roß geschickt und war derselbe in selber
Nacht, kurze Zeit nach Grossen auch storben und hatten seine Kinder sagt,
er hätt einen Geist sehen.
, Dies ist die unglückliche Geschichte.
Gott gebe Frieden Allen!
^V. L. N.
Soweit die eigentliche Erzählung Fahrenbruchs, welche uns in dem
schlichten Tone der Wahrhaftigkeit ein tragisches Schicksal aus alter Zeit vor¬
führt. Das Schriftstück ist geeignet in mancher Hinsicht unser Interesse zu
wecken. Es läßt uns einen Blick thun in die Denk- und Handlungsweise,
in die Sitte und den Geist jener bewegten Zeit und wenn Mittheilungen
eines Augenzeugen über selbsterlebte Dinge aus ferner Vergangenheit schon
wegen mancher nebenbei erwähnten Details uns unwillkürlich anziehen, selbst
wo ihr Inhalt weniger fesselnd ist, so gilt dies von der vorliegenden Erzählung
wvhlbeglaubigter Borgänge in noch höherem Grade. Eine dunkle That,
welche das reinste Glück edler Menschen grausam zerstört, wird vor unsern
Blicken entschleiert. Trotz der moralischen Verwilderung jener Zeiten lebt
ein tiefes Heilsbedürfniß in den Seelen, das stärker ist als die Angst der
Todesgefahr, und selbst die verworfensten Verbrecher glauben an dasselbe und
bauen ihren Plan darauf. Die Sprache des Schriftstückes läßt den Verfasser
als einen edlen, hochgebildeten Mann erkennen.
Die Handschrift enthält ferner noch eine in ganz elegantem Latein ge¬
schriebene Anweisung für den glücklichen Finder, wo die erwähnten Schätze,
welche Fahrenbruch vergraben hat, aufzufinden seien. Dieselbe lautet in
deutscher Uebersetzung wie folgt:
Im Namen der heiligen untheilbaren Dreieinigkeit.
8. L. I..
Wenn meine Gebeine schon lange von Moder zerfressen sind und du,
wer du auch dann sein mögest, diese Aufzeichnungen in der Mauer des Thurmes
verborgen findest, sei mit Beten eingedenk meiner Seele, welche jetzt ein Be¬
kenntniß ablegt, das für die Jetztlebenden von keinem Nutzen sein soll. Denn
bald genug würden sie aus demselben das beste hinwegnehmen und mich ver¬
spotten mit hämischer Miene; vielmehr soll solches mein Bekenntniß und
Offenbarung, so Gott will, denen von Nutzen sein, welche lange nach mir
leben und dies zu ihrem Nutz und Frommen beherzigen werden.
I. Tritt ein, o frommer Christ, in die Ruine der Se. Johanniskirche,
die von Wiesen und Gärten umgeben nahe am rechten Ufer des Flusses und
im oberen Theile von Gorisleben belegen ist, tritt ein und untersuche das
Erdreich unter dem steinernen Crucifix neben dem Altar, wo du zwei Hügel
finden wirst. Zwischen diesen beiden ist, um es magisch zu verhüllen, mit
einem dreibeinigen Haspen ein großer Schatz von Edelsteinen und Jmperialen
vergraben, welchen sterbend die edle Tochter des Soto von Germar, Stella
hinterlassen hatte. Grabe im Namen der heiligen Dreieinigkeit den Hügel des
Schatzes auf, schone jedoch die Gebeine, welche in den Hügeln zur Rechten
und zur Linken ruhen mit der größten Vorsicht, damit du die Manen nicht
Störche. Wenn dir mit Gottes Hilfe der Schatz übergeben ist, so mache drei
Theile! Den ersten behalte für dich, den zweiten gieb den Armen, den drit¬
ten der Kirche. So hat es Stella angeordnet! Hüte dich das Testament zu
brechen, sonst wirst du selbst gebrochen werden.
II. Begieb dich, o Glücklicher, von der unteren Seite der nahe an der
Unstrut gelegenen Se. Bonifaciuskirche zu Gorsleben zu dem Thurm, und
untersuche die Mauer. Du wirst auf der Mittagsseite einen Jnschriflstein fin¬
den, zähle von dieser Ecke neun Schritte gegen Abend, grabe neben der
Mauer ein und Du wirst meine goldene Kette ausgraben. Diese behalte
für Dich.
III. Komme, geneigter Leser, und folge den Winken, mit welchen ich
dir den Ort bezeichnen will, wo große und werthvolle Kleinodien verborgen
liegen. Steige auf dem Heldrunger Fußsteige den Weinberg hinauf, dessen
Gipfel Schmücke genannt wird. Gehe links in den Wald, siehe einen Hügel
von großem Umfange. Eine ungeheure Eiche stehet dabei, auf welcher die Zeichen
-j-s/zö-l- Fzu sehen sind, unter dieser unten im Hügel sind die goldenen mit
Edelsteinen besetzten Ketten der theuerwerthen (cul'iWinmL) stelln, der edlen
Tochter Sodos von Germar wegen der schlechten Gesinnung der gegenwär¬
tigen Menschen vergraben.
Ach es war eine böse Zeit, berüchtigt durch schmähliche Thaten, voll ver<
dorbener Sitten, und schändlicher Frevel.
Die Gnade Gottes sei mit dir!
Amen.
Die beiden Klosterschüler entzifferten und lasen mit steigendem Interesse
die Urkunde und namentlich der Schluß derselben war geeignet, die jugend¬
lichen Gemüther in lebhafte Aufregung zu versetzen. Man folgte getreulich
den Winken, welche der treffliche Fahrenbruch in seinem lateinischen Wegweiser
zu den vergrabenen Schätzen giebt. Sorgfältige Nachgrabungen wurden an¬
gestellt an allen in der Handschrift bezeichneten Stellen,' allein sie blieben er¬
folglos. Eine einzige goldene Nadel war die ganze Ausbeute.
Dieser Mißerfolg rief in der Frau von Hausen, der Mutter des jungen
Herrn von Hausen, eine Erinnerung aus ihren Kinderjahren wach, welche
über den muthmaßlichen Verbleib der Schätze und Kleinodien einen ziemlich
sichern Anhalt geben kann. Es ging nämlich damals noch das mit großer
Bestimmtheit auftretende Gerücht im Orte, daß Mönche aus dem Augustiner¬
kloster zu Erfurt nach Gorsleben gekommen seien und sich eine Zeit lang bei
einer armen Bauernfamilie des Ortes aufgehalten hätten. Der Name der
Familie, deren Nachkommen noch jetzt dort wohnen, wurde mit großer Be¬
stimmtheit genannt.
Während der Anwesenheit der Mönche hätte man bei Nachtzeit oft Licht
in der Kirche bemerkt und es sei von den Mönchen der Glaube im Volk ge¬
nährt worden, es trieben Geister ihr Wesen in dem alten Gotteshause. Völlig
beglaubigt ist, daß die arme Familie,' welche die Mönche beherbergt hatte,
bald nach dem Weggange derselben zum großem Wohlstande gelangte. Es
liegt also die Vermuthung nahe, daß die Handschrift schon früher gefunden
und nach der Benutzung an dem Fundorte wieder niedergelegt worden ist.
Das Hauptwerk dieser Woche ist in beiden Häusern des Landtags die
definitive Erledigung der Provinzialordnung gewesen. Wie der Leser sich
erinnert, hatte das Herrenhaus für die provinzielle Staatsverwaltung den
aus der Provinzialversammlung durch Wahl hervorgehenden Provinzialaus-
schuß ersetzt durch einen sogenannten Provinzialrath. Dieser Provinzialrath
sollte nach den Vorschlägen des Herrenhauses aus sieben Mitgliedern bestehen,
und zwar aus dem Oberpräsidenten nebst zwei durch den Minister des Innern
bestimmten Staatsbeamten und aus vier durch den Provinzialausschuß ge¬
wählten Laienmitgliedern. Ebenso sollte der Bezirksrath gebildet werden
unter dem Vorsitz und der Mitgliedschaft des Regierungspräsidenten aus zwei
vom Minister des Innern bestimmten Staatsbeamten und aus vier vom
Provinzialausschuß gewählten Mitgliedern. Zu diesen Herrenhausbeschlüssen
hat bei der zweimaligen Beschlußfassung des Abgeordnetenhauses der Abge¬
ordnete Miquel diejenigen Amendements gestellt, welche das Abgeordnetenhaus
angenommen und denen das Herrenhaus schließlich zugestimmt hat. so daß
sie bei der voraussichtlichen Sanction des Königs den Inhalt des Gesetzes
in Bezug auf die Bildung des Provinzialrathes und des Bezirksrathes aus¬
machen werden. Nach den Miquel'schen Vorschlägen soll der Provinzialrath
und der Bezirksrath aus dem Oberpräsidenten und bezüglich Regierungspräsi¬
denten. aus je einem Vewaltungsbeamten, welcher die Qualität des höheren
Richteramtes besitzt, und aus fünf vom Provinzialausschuß gewählten Mit¬
gliedern bestehen.
Diese Vorschläge, welche schließlich allseitige Annahme gefunden, sind
weniger von der konservativen Partei als von der Fortschrittspartei ange¬
fochten worden. Compromißbestimmungen haben naturgemäß das Schicksal,
von beiden Extremen angefeindet zu werden. Die Fortschrittspartei ist es,
welche sich diesmal am unzufriedensten zeigt, und ihre Wortführer können
auf die leidliche Miene, welche man rechts dem Gesetz macht, hinweisen als
Zeichen, daß die linke Seite zu kurz gekommen. Unsere Berichterstattung hat
sich dem Gesetz, wie die Leser der Grenzboten wissen, von Anfang ungünstig
gezeigt, und wir sind von dem schließlichen Zustandekommen desselben nicht
erbaut. Unsere Opposition steht natürlich auf einem andern Boden, als die¬
jenige der Fortschrittspartei. Aber der angebliche Sieg der conservativen
Interessen, welcher darin bestehen soll, daß man annimmt, es werde im Pro-
vinzial- wie im Bezirksrath der große Grundbesitz eine hervorragende Rolle
gewinnen, läßt uns auch sehr kalt. Wir tadeln an dem Gesetz vor Allem
die wirklich in dieser Weise unerhörte Zersplitterung der Staatsorgane. Das
Schlimmste, was man von dem Gesetz befürchten konnte, war die Erweckung
centrifugaler Tendenzen in den Provinzen. Wäre der ursprüngliche Gedanke
Miquel's, die Regierungsbezirke zu beseitigen, die großen Provinzen gleichwohl
beizubehalten und die Provinzialverwaltung alsdann wesentlich in die Hände
des Provinzialausschusses zu geben, durchgedrungen, so hätten die centrifugalen
Tendenzen unstreitig in einer solchen Organisation die geeignete Handhabe
gefunden. Die jetzige Organisation ist dagegen ein Apparat allgegenseitiger
Paralysirung und undurchdringlicher Confusion. Das Beste, was man von
dem Gesetz hoffen kann, ist demnach, daß es an dem gewohnten Gange der
bisherigen Verwaltung wenig ändern wird, daß es höchstens den Schlendrian
begünstigen und die kräftige Initiative, wo sie sich regen möchte, im Centrum
oder in der Mittelinstanz, überall erschweren wird. Bei der Ueberlastung
unserer Nation mit zahlreichen und schweren Aufgaben hoffen und wünschen
wir. daß dieser Zustand fünf bis zehn Jahre dauern wird. Alsdann wird,
wenn Alles gut geht. Kraft und Zeit vorhanden sein zu einer Neuordnung
der gesammten Verwaltungsbehörden, und dann wird der jetzige sogenannte
Selbstverwaltungsapparat als eine Anzahl rudimentärer Organe, um mit den
Darwinianern zu reden, allseitig erkannt sein und ohne Schmerzen wiederum besei¬
tigt werden. Das jetzige Gesetz ist wesentlich zu betrachten als die Stillung eines
doktrinären Bedürfnisses, eines unklaren Gefühls, daß reformirt werden müsse,
wobei man vergaß, daß zur Reform nicht bloß das Bedürfniß gehört, sondern
auch die Erkenntniß der richtigen Mittel und die gereifte Möglichkeit, die
richtigen Mittel durchzusetzen. Die ungeduldigen Reformer haben nun eine
Atrappe bekommen, an der sie sich einstweilen nach Herzenslust erfreuen mögen.
Das zur Provinzialordnung gehörige Dotationsgesetz, sowie das Gesetz
über die Verwaltungsgerichte sind ebenfalls in beiden Häusern zur definitiven
Annahme gelangt, desgleichen das Gesetz über die Vermögensverwaltung in
den katholischen Kirchengemeinden, sowie das verwandte über die Rechte der
Altkatholiken an dem kirchlichen Vermögen. Die Ausgabe des Landtags ist
im Wesentlichen beendigt, und der baldige Schluß steht bevor.
Dem werthvollen Beitrage zur Geschichte des Weimarer Fürstenhauses
und zugleich zur deutschen Culturgeschichte, welchen der Freiherr von Beaulien-
Marconnay vor zwei Jahren in seinem Buche über Ernst August, den Gro߬
vater Karl August's, spendete, hat sich vor Kurzem ein weiterer, nicht min¬
der willkommener Beitrag aus gleicher Feder angeschlossen, der über eine
Reihe von Vorgängen am Weimarer Hofe, die die Zeit von 175,8 bis 1780
umfassen, zum ersten Male in erwünschtester Weise Licht verbreitet./) Die
Schriftstücke, welche der Herausgeber hier mit gewohntem Tact und Geschmack
trotz ihrer disparaten Beziehungen zu einem abgerundeten und anmuthigen
Buche gestaltet hat. gehören zum größten Theile zu der Correspondenz des
bekannten Weimarischen Ministers Jakob Friedrich von Fritsch mit der Her¬
zogin Anna Amalia und dem Herzog Karl August, welcher so glücklich war,
im Jahre 1870 auf dem Familiengute der Fritschs, Goddula bei Merseburg,
wieder aufzufinden.
Die Aufschlüsse, welche diese Correspondenz gewährt, kommen den mannich-
fachsten Verhältnissen zu Gute, und so hat der Herausgeber, nachdem er eine
Einleitung vorausgeschickt, in welcher er uns zunächst mit Fritsch's Persön¬
lichkeit und Lebensgang bekannt macht, seinen Stoff im wesentlichen in sieben
Capitel getheilt. Das'erste Capitel bringt interessante Actenstücke, die sich auf
den Negentschaftsantritt Amalia's beziehen. Im zweiten Capitel werden die
Schriftstücke veröffentlicht, die zwischen Amalia und Wieland, sowie zwischen
dem Weimarer Hofe und dem Kurfürsten Joseph Emmerich von Mainz ge¬
wechselt worden sind, um Wieland als Erzieher Carl August's von Erfurt
nach Weimar zu ziehen. In die mancherlei Verstimmungen, zu welchen dies
Erziehungsgeschäft bald darauf führte, und welche die Herzogin zu dem Ent¬
schlüsse brachten, die Regentschaft ein Jahr vor der festgesetzten Zeit nieder¬
zulegen, erhalten wir Einblick durch die im dritten Abschnitt abgedruckte
Correspondenz zwischen Amalia und Fritsch, deren Resultat glücklicher Weise
war, daß die Herzogin ihren Entschluß wieder fallen ließ. Das folgende
Capitel schildert die'einleitenden Schritte Fritsch's, um die Anstellung Knebel's
als Erzieher des Prinzen Constantin durchzusetzen, und die mannichfachen
Hemmnisse und Widerwärtigkeiten, die sich dieser Berufung anfangs entgegen¬
stellten. Die Versuche Fritsch's, Carl August die Anstellung Goethe's in Weimar
auszureden» eventuell seine eigne Entlassung zu nehmen, sind im fünften Ab¬
schnitte dargestellt, bei welcher Gelegenheit auch der herrliche Brief des Her¬
zogs, in welchem er sich mit so liebenswürdigem Eifer des Dichters annimmt,
und dessen charakteristischster Passus früher'schon oft abgedruckt worden ist,
zum ersten Male vollständig und im richtigen Zusammenhange der Thatsachen
mitgetheilt wird. Der glückliche Ausgleich, zu dem es sehr bald'darauf kam,
Fritsch's weitere Amtsführung, die projectirte, aber nicht zur Ausführung
gekommene Anstellung von Goethe's Schwager Schlosser in Weimar und das
immer erfreulicher sich gestaltende Verhältniß Goethe's zu Fritsch bilden den
Inhalt der beiden letzten Capitel. Eine hübsche Zugabe ist endlich der Ab¬
druck eines Theiles der Lebenserinnerungen der Gräfin Henriette von Egloff-
stein (1' 92 jährig im Jahre 1864). der sich auf das Leben und Treiben in
der Umgebung Amalia's in Tiefurt bezieht.
Die publicirten Schriftstücke enthalten ausnahmslos nicht blos die werth¬
vollsten. sondern auch für alle Betheiligten — mit Ausnahme Wieland's.
Schlosser's und des Grafen von Görz — ehrenvollsten Beiträge zu deren
Charakteristik. Namentlich in Fritsch lernen wir. trotz seiner vorübergehenden
und von seinem Standpunkte aus ja sehr erklärlichen Abneigung gegen den
jungen Goethe, einen klarblickender Geist, einen ebenso gewissenhaften wie
freimüthigen fürstlichen Berather und den edelsten und uneigennützigsten
Charakter kennen — das unverkennbare Borbild Antonio's im „Tasso."'
In Ur. 18 dieses Blattes hat Herr Professor Maurenbrecher bei einer
Besprechung der Memoiren Schön's auch einer Skizze gedacht, welche ich 1860
in den Preußischen Jahrbüchern über den Lebensgang des Mannes veröffent¬
licht habe. Da es von Werth zu sein scheint, daß das Urtheil über den
hervorragenden Staatsmann nicht irre geht, so darf auch ich wohl meine
Ansicht über denselben, die auf einer persönlichen Kenntniß beruhet und über-
dem durch längeres Zusammensein mit denen, welche ihm einst am nächsten
standen, befestigt ist, hier noch einmal äußern. Leider muß ich dabei Herrn
Maurenbrecher, welchem ich mich sonst für mannigfache Belehrung und An¬
regung, gerade auch durch seine Beiträge für die Grenzboten, zu lebhaftem
Danke verpflichtet fühle,'positiv entgegen treten.
Es handelt sich hauptsächlich um zwei Fragen: I. Ist Schön als der
Urheber des Gesetzes vom 9. October 1807 und des sogenannten Stein'schen
Testamentes anzusehen? 2. Mit welchem Rechte nimmt Schön einen schöpfe¬
rischen Antheil an der Gründung der Landwehr im Jahre 1813 in Anspruch?
Professor Maurenbrecher nimmt an, daß der Greis Schön die Vergangen¬
heit im anderen Lichte gesehen habe als der jüngere Mann, daß er erst im
letzten Drittel seines Lebens dazu gelangt sei sich das beizumessen, was sonst
Stein zugeschrieben werde; er leitet aus diesem Wechsel der Stimmung das
relativ ungünstige Urtheil über Stein ab, das sich durch das obengenannte
Buch hindurchziehe. In gewisser Beziehung, wenngleich in ganz anderem
Sinne, ist etwas Wahres an dieser letzteren Bemerkung. Aber gleichviel:
woraus kann gefolgert werden, daß er sich das, was andere Leute das Ver¬
dienst Steins nennen, zu Unrecht anmaße? Soviel mir bekannt, hat sich
Stein über die ganze Angelegenheit nie geäußert; wir haben nur die bestimmte
Versicherung Schöns, daß er der Urheber der beiden wichtigen Erlasse sei.
Mit welchem Rechte wird Schön der Glaube für seine Behauptung versagt?
Und wird Stein dadurch, daß man die Schön'sche Erklärung für wahr hält,
etwas von seinem Ruhme genommen? Die Bemerkung von Pertz, welche
Herr Maurenbrecher anzieht, wenn sie mit dem, was S. 295 im Texte steht,
zusammengehalten wird, beweist, daß selbst dieser pietätsvollste Verehrer Steins
eine Verkleinerung der Verdienste seines Helden darin nicht gefunden hat.
Wie aber Pertz die Richtigkeit der Darstellung, welche Schön über Ver¬
anlassung und Entstehungsweise des Testamentes ihm selbst gegeben hat, an¬
erkennt, so sind ferner Alle, welche die beiden Männer näher gekannt haben,
darin einig gewesen, daß Schön der Urheber sei. Das bekannte Wort Arndt's
deutet dies an, und auch Friedrich Wilhelm IV., der als Kronprinz mit
Schön sehr intim verkehrte, hat, soweit bekannt, an der Thatsächlichkeit nie
gezweifelt. Für das Edict vom 9. October 1807 werden überdem so speciell
Gelegenheit und Moment der Abfassung angegeben, daß die Autorschaft Schöns
außer Zweifel steht. Die Berufung Herrn Maurenbrechers auf die früheren
Intentionen und Versuche der preußischen Könige beweist dagegen nichts,
und zwar um so weniger, weil dabei die rein persönliche Unfreiheit (Leib¬
eigenschaft) mit der mehr dinglichen Abhängigkeit der an die Scholle gefesselten
Bauern (Erbunterthänigkeit) verwechselt zu sein scheint; vgl. die §§ 147, 148
II, 7 des A. L. R. und Schulze, Preuß. Staatsrecht I, S. 82 ff. Nimmt
man endlich hinzu, daß Stein bei anderen, mindestens ebenso wichtigen Dekreten
sich rückhaltslos auf Schöns Kopf und Feder verließ, warum soll dem Letzteren
gerade hier, wo er sie behauptet, die Autorschaft abgestritten werden? Steht
es doch fest, daß Stein am 4. Februar 1813 sich den Auftrag an den Geh.
Rath v. Brandt zur Eröffnung der Ständeversammlung von Schön in die
Feder dictiren ließ. Ich sollte meinen, daß die damit bewiesene und an diesem
Tage, in diesem Augenblicke bewiesene Fügsamkeit des zornigen und wider¬
willigen Mannes mehr als alles Andere davon Zeugniß ablegt, wie viel dei
sichere, überlegte Art Schön's über ihn vermochte, wie er gewohnt war dem
Rathe desselben zu folgen, sich auf die Einsicht und das Gutmeinen desselben
zu verlassen.
Ueberhaupt glaube ich, daß Herr Maurenbrecher von einer falschen Grund¬
ansicht ausgeht und demgemäß zu falschen Conclusionen gelangt. Ihm er¬
scheint es so, als suche Schön sich auf Kosten Steins in ein besseres, günsti¬
geres Licht zu stellen. Gerade das Umgekehrte nehme ich an. Schön ist mit
dem Anspruch auf die intellektuelle Autorschaft der beiden Manifeste öffentlich
erst hervorgetreten, als Stein von der hypereonservativen Partei als einer der
ihrigen dargestellt ward; er hat für das Octoberdecret und das Testament
viel mehr Anfechtung als Anerkennung in den maßgebenden Kreisen geärndtet;
gerade seine Gegner haben ihm am meisten die Vaterschaft zugesprochen und
ihn dafür verantwortlich gemacht. Es ward Pflicht für ihn, sich zu dem,
was er gethan, auch zu bekennen. Auf diese Weise erklärt sich die scheinbar
unverständliche Umstimmung in Schön. Sein Urtheil über Stein ward minder
günstig, als seine Feinde nachgewiesen zu haben glaubten, daß Stein weit
weniger Reformer gewesen sei als die Umgebung, welche ihn gedrängt und
bestimmt habe; — dergleichen klingt schon in dem Briefe Uork's vom 2t. Sep¬
tember 1808 durch, welchen Droysen mittheilt I, 211.
Es stimmt damit ferner, was Herr Maurenbrecher selbst in fein aufge¬
bauter Beweisführung über die Abfassungszeit der Schön'schen Autobiographie
vermuthet. Wer übrigens die Unterschiede in dem Wesen der beiden großen
Zeitgenossen nur annähernd ähnlich auffaßt, wie ich sie in der erwähnten
Skizze darzustellen versucht habe und wie sie u. A. auch Alexander v. Hum¬
boldt in dem Briefe an den Oberburggrafen von Brünneck aufzufassen scheint,
wer sich an das Bild erinnert, das Uwarow von Stein aus seiner Bekannt¬
schaft von Troppau gezeichnet hat (vgl. u. a. Neue Preuß. Zeit. Juli 1872),
der wird nicht zweifelhaft sein, daß Stein bei seinem Scheiden aus dem Amte
sich zwar bereitwillig zu eigen machte, was ihm der specifische Preuße Schon
nahe legte, daß ihn jedoch gerade in jenem Momente die allgemeine Weltlage
weit mehr bewegte als der Weiterbau der preußischen Organisationen. Dem
Einen lag eben die deutsche Nation, dem Anderen der preußische Staat am
Herzen.
Ueber die Einrichtung der Landwehr kann ich mich kürzer fassen. Dieser
Gegenstand ist in der Drangsalszett viel zu oft und von zu verschiedenen
Gesichtspunkten aus behandelt worden, als daß nicht alle Welt sich mit
einigem Recht einen Antheil daran, zuschreiben könnte. Es verhält sich damit
ähnlich wie mit der Rückzugsbewegung der Russen nach Osten, für welche
Phull, Knesebeck, Wolzogen als Erfinder ausgegeben werden. Der Gedanke
lag in der Lust. Eins freilich darf nicht außer Acht gelassen werden, dies,
daß die Landwehr der Provinz Preußen ganz anders gedacht und thatsächlich
später eine ganz andere war, als die der übrigen Provinzen (vgl. die K. O.
vom 27. März 1813 und Friccius: Zur Geschichte der Einrichtung der Land¬
wehr S. 26), daß ferner Scharnhorst in Breslau wirklich den ostpreußischen
Vorschlägen entgegen getreten ist. Er hat damit recht gethan, denn die Ein¬
richtungen des Königsberger Landtags ließen sich für den gesammten Staat
nicht nachahmen- Allein richtig ist allerdings andererseits, daß die Königs¬
berger selbständig vorgingen. Die Ansicht der Nichtmilitairs war die, daß
man die Franzosen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen habe, man dachte
an eine Art Wo6e c-n MÄSSv; im Jahre 1811, als es sich noch um ein Bünd-
niß mit Rußland handelte, ist zwischen Schön und York vielfach über eine
solche verhandelt worden; man sah keine andere Hilfe. Die Fachsoldaten
hatten die Frage gleichfalls und sicher viel gründlicher, auch wohl seit längerer
Zeit debattirt; ihnen kam es jedoch in erster Linie aus Einordnung der Land-
wehr in das Berufsheer an. — Uebrigens wundere ich mich, daß gerade für
die Königsberger Auffassung der Name des Grafen Ludwig zu Dohna seltener
genannt wird; er ist, wie von Mitlebenden übereinstimmend berichtet wurde,
nicht nur der Ueberbringer der Vorschläge nach Breslau gewesen, sondern auch
der Sachverständige, auf dessen Rath und Urtheil sich die Ständemitglieder
verließen.
Wenn es immer eine peinliche Empfindung ist, den Ausführungen eines
Gelehrten entgegentreten zu müssen, dem man sich zu dauerndem Danke durch
die von demselben in früheren Leistungen gespendete Belehrung verpflichtet
fühlt, so erhöhen die freundlichen mir gewidmeten Worte gegenwärtig in mir
noch dies Gefühl des Widerstrebens, eine Erwiderung auf die vorstehenden
Bemerkungen des Herrn Direktors Nase manu in Halle zu schreiben. Aber
wie ungern auch immer, ich darf es um der Sache selbst willen nicht unter¬
lassen, einige Gegenbemerkungen ihnen anzuschließen. Ich darf den Anschein
nicht entstehen lassen, als ob es einem Vertheidiger Schön's geglückt sei.
Schön's Glaubwürdigkeit in seinen Memoiren gegen die erhobenen Zweifel
gesichert und erhärtet zu haben.
Schon der Entschluß ist mir nicht leicht gewesen, gegen die Autorität
eines so gefeierten Namens, wie der des Herrn von Schön ist, aufzutreten und
den Mann, der in derjenigen Provinz, in welcher ich lebe, von Seiten der
meisten Provinzialen eine fast abgöttische Verehrung genießt, der Entstellung
des Sachverhaltes in seinen Denkwürdigkeiten zu zeihen. Aber es schien mir
geboten, das nach bestem Gewissen und nach objectiver Prüfung der historischen
Zeugnisse Erkannte öffentlich auszusprechen. Denn es handelt sich in der That
um eine Frage von allgemeinerer Bedeutung.
Die deutsche Geschichtschreibung, — ich nenne nur Pertz, Droysen,
Hauffer — in vollster Uebereinstimmung mit dem Urtheile unseres Volkes
selbst, hat bisher den Freiherrn vom Stein als den eigentlichen Reformer
Preußens, als den wahrhaftigen Schöpfer der großen Gesetzgebung von 1807
und 1808, auf deren Grundlagen das moderne Preußen sich aufgebaut hat.
in dankbarer Erinnerung gefeiert, gepriesen, hochgehalten. Und je mehr wir
von den intimeren Details aus der Geschichte jener Jahre kennen lernen, desto
herrlicher entrollt sich das Bild des gewaltigen Freiherrn. Die große Mate-
rialsammlung von Pertz hat uns den Mann menschlich nahe geführt und
ein historisches Verständniß desselben ermöglicht. Auch Stein's Name ist ge-
tviß in früherer Zeit bald von der einen, bald von der anderen Partei in
Anspruch genommen worden; zeitweise gab man ihn für einen Jacobiner aus,
zeitweise bemühten die Conservativen sich ihn zu ihrem Parteimanne zu stem¬
peln. Zwischen diesen Einseitigkeiten hindurch geht der Weg objectiver ge¬
schichtlicher Würdigung. Heute ist wohl kein Zweifel daran, daß Stein, im
Großen und Ganzen angesehen, den politischen Mittelparteien zuzurechnen ist,
er der gewaltige Bahnbrecher für einen auf ächt historischer Basis ruhenden
Liberalismus. Wir haben Stein als den geistigen Vater der Reformgesetze,
den leitenden Führer bei der Neugestaltung unseres Vaterlandes seit 1807
anzusehen ein aktenmäßig begründetes Recht erlangt.
Das ist die Auffassung, die sich aus dem Studium der gleichzeitigen
Papiere und der ächten Ueberlieferung ergiebt. Das ist aber auch die Auf¬
fassung, welche in den Denkwürdigkeiten Schön's bestritten, als eine unrich¬
tige mit großer Bestimmtheit und Lebhaftigkeit dargestellt wird. Diesen Ver¬
such des alten Schön, Steins Heldenbild anzuschwärzen und an seine Stelle
einen anderen Nationalhelden einzuführen, — ihn habe ich in meiner kurzen
Abhandlung zurückgewiesen. Ich habe Stein gegen Schön vertheidigt; ich
habe die allgemein anerkannte Auffassung gegen eine neue Version zu schützen
unternommen. Wenn Schön mit seinen Behauptungen Recht gegen Stein
behielte, so würde es ein nicht zu entschuldigender und nicht zu rechtfertigen¬
der Mißgriff unserer Nation sein, in Berlin ein Nationaldenkmal für Stein
zu errichten, — ein Monument für Schön wäre dann weit mehr am Platze.
In meiner früheren kurzen Ausführung habe ich mich begnügt, auf den
durchgehenden Charakterzug. d. h. auf die Tendenz in der Darstellung
Schön's hinzuweisen; ich habe zur Erläuterung oder Veranschaulichung der¬
selben ein paar Punkte herausgegriffen, und den betreffenden Behauptungen
Schön's, — nicht Stein, sondern ihm gebühre das Verdienst der Reformma߬
regeln, — nur ganz kurze mehr andeutende als erschöpfende Bezeichnungen
derjenigen Momente hinzugefügt, aus welchen für den Kenner der damaligen
Geschichte die Unrichtigkeit des Schön'schen Berichtes zu folgern ist. Absicht¬
lich ist jede sachliche Ausführung dabei vermieden. Und auch jetzt noch
ist es nicht meine Absicht in eine Geschichtserzählung der sog. Stein'schen
Reformgesetzgebung einzutreten, wohl aber bin ich zu einigen meine früheren
Behauptungen erläuternden und, wie ich hoffe, beweisenden Zusätzen
verpflichtet.*)
Noch eine Bemerkung möchte ich vorausschicken. Ein Urtheil über den
Staatsmann Schön habe ich früher nicht ausgesprochen, und enthalte mich
auch jetzt noch ein solches hier niederzulegen. Objekt meiner gegenwärtigen
Betrachtung ist Schön nur als historischer Quellenschriftsteller, als Verfasser
eines geschichtlichen Berichtes. Augenscheinlich ist es allerdings, daß im
Leben und Wirken Schön's sehr verschiedene Phasen und Stufen unterschieden
werden müssen: die großen Jahre 1807 —1813, in welchen Schön für die
Neuausrichtung und Befreiung des preußischen Staates mit Herz und Hand
und Kopf sich abgemüht; sodann die Periode, in welcher er als Oberpräsident
von Westpreußen und später des vereinigten Ost- und Westpreußens die Ge¬
schicke dieser Landestheile in verdienstvoller Weise geleitet, oft in abweichen¬
der Richtung von dem, was man damals in Berlin beliebte, im Ganzen aber
zum Heile der Provinz selbst; zuletzt die Zeit privater Muße und Zurückge¬
zogenheit von amtlichen Geschäften, in welcher Schön, der sehr ungern aus
seiner Stellung geschieden, ein außerordentliches Talent zu tadelnder Kritik
gegen die Regierung entfaltet. Seine Beiträge zur Geschichte der ersten Peri¬
ode stammen aus der letzten Phase seiner Charakterentwickelung oder, wie seine
Selbstbiographie (wenn meine Berechnung richtig ist, die auf 1838 geführt)
aus der Zeit des Ueberganges von dem zweiten in den dritten Abschnitt. Es
ist aber nicht uninteressant diese in der Selbstbiographie 1838 vorgetragene
Erzählung im Einzelnen zu vergleichen mit dem (wohl später niedergesehriebenen)
Urtheile über Stein, (Aus den Papieren Schön's. Anlagen S- 163 — 170)
das, als es 18S8 zuerst in den Grenzboten (III. 417 — 424) und darauf in
der Augsburger Allgemeinen Zeitung (Ur. 257 Beilage) abgedruckt wurde, den
gerechten Unwillen H ausser's (Deutsche Geschichte III. 127) erregt hat, und
mit der Skizze, welche 1849 Schön an Rosenkranz adressirte (Gegenwart v.
3. August 1872). Man sieht, wie sich je länger je mehr Schön's Haß gegen
seinen einstigen Minister und Chef zu immer lebhafterem Ausdrucke gestei¬
gert hat!
Erwäge ich nun genauer, welche Beweismomente es eigentlich sind, die
mein sehr verehrter Gegner gegen mich in's Feld geführt hat, so will es mir
scheinen, als ob die ganze Beweisführung in dem Satze gipfele: da Schön sich
für den Urheber der zwei wichtigen Erlasse des Gesetzes vom 9. Oktober 1807
und des sog. Testamentes erklärt hat, fragt er, „mit welchem Rechte wird
Schön der Glaube für seine Behauptung versagt?" Herr Nasemann bringt
selbst nicht einen gleichzeitigen B eweis, welcher Schön's spätere Behaup¬
tung bestätigt, sondern er verläßt sich auf Schön's Glaubwürdigkeit, d. h. auf
die Ansicht, die er über diese Glaubwürdigkeit hat; und er führt an, „daß
seine Ansicht auf einer persönlichen Kenntniß Schön's beruhet und durch ein
längeres Zusammensein mit denen, welche ihm einst am nächsten standen, be-
festigt ist." Mir würde es sicher ebenso wenig schwer fallen, als dies für
Herrn Nasemann ein leichtes sein würde, aus der Provinz Preußen noch eine
Wolke von Zeugen herbeizuschaffen, die alle, von unbedingter Verehrung für
Schön erfüllt, aus die Richtigkeit seiner Erzählung sogar zu schwören sich
bereit erklaren würden. Es wäre andererseits leicht, aus dem Kreise der Zeit¬
genossen jenen Freunden eine stattliche Zahl von Anklägern und Gegnern
entgegenzustellen. Aber alle diese Aussagen der Freunde wie der Feinde
Schön's fallen hier nicht entscheidend ins Gewicht. Es gilt nicht auf Zeug¬
nisse sich zu berufen, die schließlich nichts als eine Wiederholung dessen sind,
was Schön einst den Zeugen mündlich erzählt hat; es gilt an den Resten
gleichzeitiger Ueberlieferung Schön's Erzählung zu prüfen oder doch Erwägun¬
gen anzustellen, die anderer Natur sind als Citate aus Schön's Munde oder
Wiederholuvg dieser Citate durch seine Freunde. Es wird aber nöthig sein,
dabei genau festzuhalten, um welche Behauptungen Schön's es sich eigentlich
handelt. Indem wir über ein Detail streiten, — und die Abfassung eines
Erlasses ist nichts weiter als ein einzelnes Detail, — müssen wir uns vorsehen,
daß wir nicht den Kernpunkt und die Tendenz der Schön'schen Erzählung
aus den Augen verlieren oder allzusehr abschwächen. Nach meiner Ansicht
steht im Grunde nicht sowohl der größere oder geringere Antheil
Schön's an jenen großen Thaten von 1807 —1813 in Frage, sondern recht
eigentlich der Anspruch Stein's an die Gesetzgebung, die seinen
Namen trägt.
Bekanntlich hatte Stein eine Anzahl von Gehülfen und Mitarbeitern
um sich versammelt, durch deren Rath und Gutachten, durch deren persönliche
und amtliche Thätigkeit die von Stein projektirten und betriebenen Reformen
durchgeführt und thetlweise mit Gesetzeskraft bekleidet worden sind. Im Kreise
dieser Gehülfen und Mitarbeiter stand auch Schön; ja grade er war Einer
der thätigsten und rührigsten Genossen bei der Reformarbeit, wenn er nicht
vielleicht gradezu der thätigste und wirksamste Gehülfe Stein's zu nennen ist.
Die hervorragenden Verdienste Schön's um die neue Gesetzgebung sind bereit¬
willigst von allen Darstellern jener Zeit anerkannt. Mir ist es nicht gegen¬
wärtig, daß sie irgendwo in Abrede gestellt wären; selbstverständlich habe
ich niemals daran denken können, etwas von ihnen wegzustreichen. Ich
glaube auch nicht, daß Herr Nasemann beabsichtigt, mir diesen Vorwurf
zu machen.
Nun ist es allerdings eine der schwierigsten Aufgaben, genau abzumessen
und festzustellen, wie viel von dem Verdienste Aller an dem einzelnen Ge¬
setze jedem Einzelnen der Mitarbeiter zukommt. Wer von ihnen die Vorar¬
beiten, wer die Materialsammlung und Motivirung, wer etwa wichtige Ab¬
änderungen bei der Vorberathung und Vorbereitung eines neuen Gesetzes ge-
macht, wer schließlich die Redaction in der Hand gehabt: Mes das sind
Fragen, über welche eine vollständige Aufklärung vielleicht — vielleicht! —
zu gewinnen wäre, falls das ganze Aktenmaterial vorläge. So viel mir be¬
kannt, sind aber die Akten grade jener Jahre so schlecht und so lückenhaft er¬
halten, daß es gegenwärtig sehr fraglich bleibt, ob wir jemals positiv und
aktenmäßig die Entstehungsgeschichte aller der Stein'schen Gesetze kennen lernen
können. An einigen wenigen Stellen wissen wir wenigstens so viel, daß der
Zusammenhang klar wird. Zu diesen seltenen Fällen gehört gerade das Ge¬
setz vom 9. Oktober 1807. Was Pertz darüber bringt, II. 12 — 30 wird
als zuverlässig, als wohlbegründet gelten dürfen. Nicht auf jede Frage wird
dabei uns Auskunft zu Theil; aber was wir hier erfahren, reicht doch hin,
die Darstellung Schön's als eine stellenweise falsche und stellenweise so unvoll¬
ständige zu charakterisiren, daß durch die Auslassungen Schön's, die ganze
Sache ein anderes Angesicht gewonnen hat*).
Schön geht davon aus, (Selbstbiographie S. 39 ff.) daß er schon seit
Jahren vor 1807 den Gedanken in seinem Geiste bewegt, wie die Erbunter-
thänigkeit, eine Art von Sklaverei und Schmach seines Vaterlandes, vernichtet
werden könnte. Nach dem Sturze der Monarchie, in jener Zwischenzeit
zwischen dem Ministerium Hardenberg's und dem Stein's, als er ein Mit¬
glied der Jmmediatcommission gewesen, da habe sich ihm die Gelegenheit ge¬
boten, seinen Gedanken auszuführen. Auf den Antrag des Provinzialmi-
nisters von Schroeter über eine nothwendige Einfuhr von Vieh habe er „mit
gehöriger Kritik des Kuh-Antrages dargestellt, daß hier von höheren Dingen
die Rede sein müsse"; die Anderen hätten ihm zugestimmt und er habe das
Gutachten gemacht, zur selben Zeit, als seine Frau im Sterben lag: weil er
alles daran gesetzt, seinen Bericht erst fertig zu schreiben, habe er seine Frau
nicht mehr am Leben getroffen; das Gesetz selbst habe er nicht mehr conci-
piren können (wegen seines Schmerzes über den Verlust der Frau); das habe
Stägemann gethan; das Gesetz aber habe schon fertig dem Könige zur Voll¬
ziehung vorgelegen, als Stein eingetroffen.
Gegen diese Erzählung der Vorgänge bis zum Eintritt Stein's in die
Geschäfte erheben sich sehr schwere Bedenken. Mit keiner Silbe erwähnt Schön,
daß vor ihm und neben ihm andere Menschen ähnliche Ziele damals er¬
strebt haben. Er will vielmehr sich hinstellen als denjenigen, der diese Sache
zuerst angeregt und Jahre hindurch consequent im Auge gehalten. Ich habe
früher im Gegensatze hierzu hingewiesen auf die früheren Versuche der preußi-
schen Könige, auf die Borbereitungen der neuen Gesetzgebung in den ersten
Jahren Friedrich Wilhelm's III.*): ich habe damit an die Anläufe erinnert,
die schon Friedrich II. gemacht; ich habe dabei im Auge gehabt die bekannten
Erlasse Friedrich Wilhelm's III. von 1798. 1799. Ich erinnere an die ein¬
leitenden Anordnungen, den Domainenbauern nach und nach Eigenthum zu
übertragen; ich erinnere an die ruhmvollen Bemühungen des Herrn von
Auerswald in Westpreußen — seltsam wie Schön dessen Antheil an den
Ereignissen überhaupt in den Schatten zu drängen sich bemüht! — Ich erinnere
auch an das bekannte Wort des Königs bei Vorlage des Gesetzes, „die Aus¬
hebung der Erbunterthänigkeit sei seit seinem Regierungsantritt sein unver¬
rücktes Ziel gewesen;" und tgi. mehr. Wer wirklich den Dingen auf den
Grund gehen will, der wird an dieser Stelle Anlaß nehmen von dem geistigen
Einfluß des Königsberger Professors Kraus auf Bildung und Richtung,
auf Prinzipien und Tendenzen aller dieser ostpreußischen Staatsmänner zu
reden. Nicht das wird bestritten, daß auch Schön von den die Zeit bewegen¬
den Ideen ergriffen und an seinem Theile zu ihrer Verwirklichung beigetragen
habe; wohl aber erfährt das nachdrücklichen Widerspruch, an dem als einem
wohl begründeten festzuhalten mir Pflicht scheint, daß Schön ein Recht habe,
die Miene aufzusetzen, als ob er allein die Sache betrieben habe. Ich will
nicht gerade das Wort hierauf anwenden, welches Herr Nasemann von der
Landwehr gebraucht „der Gedanke lag in der Luft", wohl aber darf man
sagen, daß- eine Reihe von Männern das Programm befreiender socialpoli¬
tischer Maßregeln damals schon sich angeeignet hatte.
Ferner, was die Vorgänge bei der Jmmediatcommission angeht, die ?u
dem Edikt vom 9. Oktober 1807 geführt haben, so steht fest, daß nicht von
Schön die erste Anregung erfolgt ist, vielmehr hat vor Schön schon der Ge-
heimrath Wilcken am 16. Juli den Antrag auf Aufhebung der Erbunter¬
thänigkeit gestellt. Der Bericht Schroeter's, auf den hin Schön die Sache
angegriffen haben will, ist erst vom 20. Juli. Der Bericht der Jmmediat¬
commission aber an den König trägt das Datum des 17. August. Nun
würde ich allerdings kein Bedenken haben, das äußerliche Detail in die Ge¬
schichte, wie sie uns bekannt war, aus Schön's Aufzeichnungen neu auszu¬
nehmen, daß dieser Bericht aus Schön's Feder herstammt und unter den
traurigsten Verhältnissen von Schön mit heroischer Seele niedergeschrieben ist.
Die Angelegenheit ist hierauf innerhalb der leitenden Personen noch reiflich
erwogen und discutirt und amendirt worden, ehe sie an Stein gelangte.
Und die Prinzipien, auf denen die Arbeiten der Jmmedtatcommission
und der Gesetzentwurf derselben beruhten, waren, wie wir sogleich sehen wer¬
den, längst schon von Stein selbst vertreten. So billigte er sofort nach seiner
Ankunft in Memel die Grundsätze des ihm sogleich vorgelegten Gesetzentwur¬
fes. Er schrieb ein eingehendes Gutachten darüber; — am 8. Oktober 1807,
aus dem Pertz II. 19 und 20 einen Auszug mittheilt — er verlangte auch
zwei wichtige Aenderungen (Ausdehnung des Gesetzes auf die ganze Monarchie
und Maßregeln zum Schutz des kleinen Bauernstandes); er hielt dann dem
Könige Vortrag darüber und erlangte die königliche Genehmigung für das
Ganze, das also von der ersten Anregung bis zum Erlaß des Gesetzes ver¬
schiedene Abwandelungen durchgemacht hatte. Am 9. Oktober endlich erging
das Gesetz, zu welchem noch Ausführungsinstructionen erfolgten; auf Stein's
Veranlassung hatte Schön eine ausführliche Erläuterung zu verfassen.
Wer sich diese auf Grund aktenmäßiger Kenntniß von Pertz berichteten
Thatsachen vorführt, wird .als Einen der für das Gesetz thätig gewesenen Mit¬
arbeiter sicherlich Schön aufzählen; aber es wird ihm nicht möglich scheinen,
diesem detaillirt dargelegten Thatbestande gegenüber auf die bloßen Behaup¬
tungen Schön's und seiner Freunde, welche in viel späterer Zeit erst auf¬
tauchen. Schön als den eigentlichen Urheber des Gesetzes auszugeben.
Aber Schön würde gar nicht einmal mit einem solchen Lobe zufrieden sein.
Seine Behauptung geht dahin, daß nicht nur er selbst der Vater des Gesetzes,
sondern daß Stein sich nur den Ruhm dieser Gesetzgebung angeeignet, d. h. gerade
solcher Gesetze, die mit seinen eigenen Ideen nicht im Einklange gestanden.
Nach Schön ist Stein nicht nur nicht der geistige Vater oder Eigenthümer
der von ihm publicirten Gesetze, sondern Stein hat Gesetze unterschrieben, welche
seinen eigensten Ideen nicht entsprachen, er hat sie unterschrieben im Hinblick
auf den Ruhm, der ihm daraus zufallen mußte. Ich citire einige der Schön'schen
Aeußerungen. In der Selbstbiographie heißt es über das Gesetz vom 9. Oktober
1807 (S. 42.): »Hier ging sein Kopf und sein Ehrgeiz mit seiner inneren
Richtung durch; sein Kopf sagte ihm, daß das Gesetz gescheit sei, und sein
Ehrgeiz zeigte ihm die Glorie, die für ihn entstehen würde. Er nahm den
Gedanken mit Wärme auf, und co n t r asi gnirte das Gesetz, welches
er einige Zeit vor seinem Tode noch verwünscht haben soll."
Weiterhin kommt Schön darauf zurück: „Stein freute sich zwar schon in
Memel über seinen neuen Heiligenschein, allein dort isolirt lebend konnte ihm
das Feuer .nicht gegeben werden, auf der eröffneten Bahn gleich unaufhaltsam
fortzugehen u. s. w. (S. 48)." — „Stein wurde trotz seiner veralteten Vor¬
urtheile von der Zeit und dem Treiben um ihn so fortgerissen, daß er, indem
die Glorie, welche ihm bevorstand, ihm zugleich schmeichelte, gar nicht zur
Besinnung kommen konnte" (S. 51)> In der Charakterskizze Stein's, die ich
schon oben erwähnte, drückt Schön denselben Gedanken so aus: „Er wagte
nicht gegen staatswissenschaftliche Aufstellungen zu protestiren, gab diesen sogar,
wenn er gedrängt wurde, um nicht geistlos zu erscheinen, seine Firma; aber
er selbst kam niemals zu einer wissenschaftlichen Konstruktion in Staatsange-
legenheiten« (S. 166). Man sieht, die Ideen der Stein'schen Gesetzgebung sollen
als solche ausgegeben werden, welche Stein selbst im Grunde fremd, nur von
Anderen ihm eingeflößt waren. In der Auslassung an Professor Rosenkranz
von 1849 wird ein noch kräftigerer Ton angeschlagen: „Stein gab in den
Jahren 1807 —1808 allerdings die Firma, aber mit Ausnahme des Gedankens
der Städteordnung (wobei er aber noch das städtisch-aristokratische Princip
vorwalten lassen wollte) duldete er mehr das, was unter seiner Firma geschah
als daß es von ihm ausging. So weigerte er zum Beispiel sich lange, bis
er das politische Testament unterschrieb. Später, als er in Westphalen unter
Blutzehnten und ,sus primae noetis lebte, hat er sogar gegen die Gräfin
Voß sich gegen das erklärt, was er in Memel und Königsberg unterschrieben
habe. Aber er gab die Firma, er gab dem Kinde den Namen, und das ist
schon ehrenwerth."
Jeder Leser wird zugeben, in diesen Darstellungen Schön's, 1838—1849
geschrieben, ist der Inhalt wesentlich derselbe; der Ton des Vortrages allein
ist ein anderer. In den Aufsätzen, die Schön selbst für eine spätere Oeffent-
lichkett bestimmt zu haben scheint. — der Selbstbiographie, der Charakterskizze
Stein's —drückt er sich maßvoller, ruhiger aus; in dem mitgetheilten Privat¬
briefe dagegen läßt er seinem Haße gegen Stein freieren Lauf. Und in seinen
Gesprächen wird er wohl in ähnlichem Style sich ergangen haben, wenn uns
ein Schluß auf dieselben aus den Aeußerungen derjenigen seiner Freunde er¬
laubt ist. welche zuerst seine Ansprüche aus das Verdienst, das man sonst
Stein zollte, in die Oeffentlichkeit gebracht haben. Davon Einiges nachher.
Wir fragen: ist dies wirklich der Fall, daß Stein 1807 Gedanken aus-
geführt hat, die ihm bisher fremde waren? hat er wirklich Prinzipien in
Gesetze eingekleidet, die seinen staatswissenschaftlicher Ideen nicht entsprachen?
hat er wirklich Gesetze unterschrieben, gegen die er nachher sich hat aussprechen
müssen? Ich erwarte allerdings nicht, daß auch Herr Nasemann einen solchen
Widerspruch, wie Schön ihn aufstellt, zwischen der Stein'schen Gesetzgebung
und den Stein'schen Prinzipien behaupten wird. Aber meine anderen Leser,
denen Stein's Schriften und Meinungen nicht ebenso bekannt sind, muß ich
mir erlauben an einige wenige hierhin gehörige Dinge kurz zu erinnern.
Was die Aufhebung der Erbunterthänigkeit angeht, so ist gerade dies ein Ge¬
danke gewesen, mit dem auch Stein sich schon beschäftigt hatte, ehe er den
Gesetzentwurf der Jmmediatcommission in Memel vorfand. Schon als
Oberpräsident in Westfalen hatte er die Aufhebung des dort „Eigenbehörig-
keit" genannten Verhältnisses empfohlen (Bericht vom 10. März 1801, bei
Pertz I. 202). Als er im Dezember 1804 Minister wurde, so berichtet Pertz
I. 28S von ihm, hatte er Maßregeln sich vorgesetzt, welche die Beschränkungen
des Eigenthumes und der menschlichen Kräfte durch Erbunterthänigkeit, Zwangs¬
dienste, Eigenthumslosigkeit der Landleute u. s. w. hinwegräumen sollten.
Im Sommer 180S bereiste er Pommern und Preußen, um diese Provinzen
kennen zu lernen, ehe er seine Gedanken ausführte. Und in der Zeit der
Muße, im Sommer 1807 ist jenes zusammenhängende System von Neform-
maßregeln auf Grund der als Minister von ihm gemachten Erfahrungen aus¬
gearbeitet worden, das wir in der herrlichen Nassauer Denkschrift vom Juni
1807 besitzen (Pertz I. 415 — 438). Wer Schön's Worte nachbetend Stein
ein zusammenhängend durchdachtes Programm von Reformgesetzen, eine „wissen¬
schaftliche Construktion der Staatsangelegenheiten" abspricht, verräth damit
nichts anderes als die eigene Unbekanntschaft mit den großen Denkschriften,
in welchen Stein seine Gedanken mit überzeugenden Scharfsinn dargelegt und
erörtert hat. Diese Nassauische Denkschrift enthält nun auch eine prinzipielle
Auseinandersetzung über die Nothwendigkeit der Aufhebung der Erbunterthänig¬
keit, zwar zunächst mit Bezug auf die polnischen Provinzen, aber in ganz
allgemeiner Deduction. die jedenfalls zeigt, daß für die älteren preußischen
Provinzen ganz dieselben Gedanken ihm feststanden (S. 436 f.). Erst wenn
man sich diese vorhergehenden Thatsachen vergegenwärtigt, dann erst begreift
man daß Stein im Oktober 1807 die Vorarbeiten der Jmmediatcommission
für ein preußisches Gesetz dankbar acceptiren und ihre Borschläge auf die
ganze Monarchie ausdehnen konnte. Ob etwa die Nassauer Denkschrift, die
doch nicht nur für Stein selbst geschrieben war, inzwischen ihren Weg zur
Jmmediatcommission gefunden, weiß ich nicht. Sicher ist, daß die Ideen
Stein's sehr wohl mit den Grundsätzen jener harmonirten. Es begegneten
sich zur selben Zeit in demselben Gedanken von der einen Seite die Auers-
wald, Schön, Schroeter, Stägemann, Niebuhr und von der andern die
Stein und Vincke!
Noch ein Einwurf Nasemann's ist zu berücksichtigen. „So viel mir be¬
kannt, hat sich Stein über die ganze Angelegenheit nie geäußert." Allerdings
hat er dies in nicht mißzuverstehender Weise gethan. Auch Stein hat seine
Autobiographie ausgezeichnet. Ein Vergleich derselben mit der Selbstbio¬
graphie Schön's fällt so ungünstig für die letztere aus, daß ich es gerne unter¬
lassen will, diesem Gedanken weiter zu folgen.*) In derselben zählt er die
hauptsächlichsten Maßregeln auf, die er mit Hülfe ausgezeichneter, würdiger
Männer (unter ihnen steht bei Stein obenan Schön) 1807 und 1808 ausge¬
führt; er nennt zuerst das Gesetz vom 9. Oktober 1807 und fügt hinzu, daß
er an dem Edikt Hardenberg's von 1811 in derselben Materie, das ihm bedenk¬
liche Seiten bot, keinen Antheil gehabt (S. 165), Gerade durch diese Unter¬
scheidung zwischen Hardenberg's und seinem Gesetze nimmt er das Edikt von
1807 als sein geistiges Eigenthum in Anspruch. Hier deckt sich auch die
Quelle des Schön'schen Mißverständnisses auf, der ja, wie oben angeführt, be¬
hauptet, Stein habe nachher sich gegen seine früheren Gesetze erklärt. Stein
war, — was übrigens durch Pertz' Publikation aller Welt sehr geläufig ist
ein Gegner mancher Schritte, die Hardenberg 1810 und 1811 gewagt hatte:
es besteht in der That eine sachliche Differenz zwischen den beiden Legislationen,
der von 1807/1808 und der von 1810/l811. Doch über diese weiter zu handeln,
ist nicht dieses Ortes. Hier genügt es sehr bestimmt auszusprechen, daß Stein
sich niemals gegen die Gesetze erklärthat, die er selbst erlassen; die späteren
Aeußerungen seines Gegensatzes beziehen sich auf Hardenbergs. nicht auf seine
Thaten. Ich wiederhole, ich befürchte nicht, daß ein Kenner dieser Geschichten,
wie Herr Nasemann, dieser Behauptung widersprechen wird; aber sein Schützling
Herr von Schön hat es ohne Bedenken für gut befunden, von dieser Unter¬
scheidung abzusehen und in sicher nicht freundlicher Weise Stein's heiliges
Andenken sogar mit Blutzehnten und jus xrimac; noetis in Verbindung
zu bringen.
Was das sogenannte politische Testament Stein's angeht, so muß
zunächst erst constatirt werden, über welche Behauptung eigentlich gestritten
wird. Schön hat behauptet, er habe dasselbe verfaßt; er hat 1846 an Pertz
darüber einen Bericht geschickt, welchen Pertz, was die thatsächlichen äußeren
Fakta betrifft, in seine Erzählung aufgenommen hat (II. 29S). Ich habe
nicht Anlaß zu der Annahme gegeben, daß ich diesen äußerlichen Hergang
bestreiten wollte; ick) verstehe deshalb nicht, wie mir dies Citat entgegenge¬
halten werden kann. Ich habe, im engsten Anschluß an Pertz (II. 618) nur
bestritten, daß aus der Thatsache, daß Schön das Concept des Stein'schen
Circulars geschrieben, die geistige Vaterschaft Schön's gefolgert werden
dürfte. Schön's eigene Darlegung (S. 68) zielt, wie jeder Leser zugeben
wird, darauf hin, daß der Inhalt des Aktenstückes nicht eigentlich aus Stein's
Seele gekommen, sondern Schön's Geiste entstamme. Nur dies Letztere be¬
streite ich, ebenso wie Pertz es schon abgewiesen, und wie überhaupt unsere
Historiker, die darüber geschrieben, — es wird genügen, H ausser zu nennen
(III. 216) — den Anspruch Schön's unberücksichtigt gelassen haben. Die
Ideen, die wir er dem Testamente lesen, sind Ideen Stein's, wenn auch Schön
der Concipient oder Redacteur der hier gebrauchten Worte ist. Was hier im
Dezember 1808 proclamirt wurde, ist dasselbe Programm, das Stein schon
am 27. April 1806 und im Juni 1807 formulier hatte: sollen etwa auch
diese früheren Denkschriften auf Schön's „Conto" gesetzt werden?
Ueber die Errichtung der Landwehr darf ich ganz kurz sein Den Be¬
merkungen über den Hergang, wie sie Herr Nasemann uns oben vorgetragen
hat, stimme ich in allem wesentlichen zu.*) Nur kann ich nicht zugeben, daß
er in ihnen die ostpreußische, von Schön vertheidigte Tradition vorträgt,
welcher ich mit Beziehung auf die amtliche Arbeit des Generalstabes Unrich¬
tigkeiten vorgeworfen. Mir scheint, zwischen uns ist die Differenz eine so
geringfügige, daß ich darüber wohl weggehen kann.
Ich habe in meiner früheren Auslassung gesagt, erst in späteren Jahren
sei ein Umschlag in Schön's Urtheil über Stein eingetreten, erst in späteren
Jahren habe Schön das Gute, was Stein gethan, auf seine eigenen Anregun¬
gen zurückgeführt. Diese Thatsache eines Umschlages oder einer Meinungs-
ünderung giebt Herr Nasemann, „wenngleich in anderem Sinne" zu. Er
führt aus. wie Schön mit seiner Behauptung, daß er selbst der Urheber
jener beiden Manifeste sei. erst dann herausgetreten, daß er erst dann minder
günstig über Stein geurtheilt habe, als die conservativen Feinde Stein zu
einem der Ihrigen gestempelt hätten. Es gewinnt hiernach den Anschein,
als ob wir Schön noch besonders dafür zu loben hätten, daß er Stein die
Verantwortung für die Reformgesetze abnehmen will. Ich kann diesen Er¬
klärungsversuch, der. wenn ich recht verstehe, auch nur eine vermuthungsweise
ausgesprochene Meinung sein will — er tritt ohne irgend welchen Nachweis
auf — nicht als begründet gelten lassen. Freilich wenn ich meinerseits eine
Erklärung des Stimmungswechsels in Schön versuche, so kann ich auch nichts
weiter als eine Hypothese bieten, für welche ich immerhin einige Gründe werde
anführen dürfen.
Wann ist Schön zum ersten Male mit seinen Ansprüchen herausge¬
kommen? Ich bin nicht in der Lage, darüber etwas zu wissen oder auch
nur eine glaubhafte Tradition zur Entscheidung der Frage vorzubringen,
wann Schön angefangen, seinen Freunden mündlich die Ereignisse seines
früheren Lebens in der Weise zu erzählen, wie wir sie jetzt ausgesprochen vor
uns sehen. Jedenfalls bei Lebzeiten Stein's kann noch nichts davon in wei¬
tere Kreise gedrungen sein. Daß er gegen Ende der dreißiger Jahre bei sich
diese Anschauung schon ausgebildet, lehrt uns die um diese Zeit niederge¬
schriebene Selbstbiographie, Wie viel davon damals schon verlautbart ist —
ich würde dankbar sein für jede beglaubigte Mittheilung oder jeden zuver¬
lässigen Nachweis in dieser Hinsicht. Nach dem Thronwechsel von 1840 hat
er, was schon bekannt war und jetzt auf's neue bestätigt wird, durch Vor¬
legung des Originaleonceptes des Stein'schen Testamentes dem Könige Frie¬
drich Wilhelm IV. den Beweis seiner Autorschaft geführt: der König scheint —
so weit meine Information reicht — die Thatsache Schön geglaubt zu ha¬
ben. *) Aber das war in einer Zeit, in welcher es durchaus nicht nöthig
war, den Schein allzugroßen Liberalismus von Stein abzuwälzen und eine
mit unangenehmen Erfahrungen verknüpfte Verantwortlichkeit für die Reform¬
gesetzgebung auf sich zu nehmen. Nein, grade das Gegentheil dieser Annahme
Nasemann's entspricht den damaligen Verhältnissen. In den Anfängen Fried¬
rich Wilhelm's IV. strahlte Alles in rosiger Erwartung eines liberalen Re¬
gimentes; da meinten die Liberalen in Schön den liberalen Staatsmann zu
sehen, welcher jetzt die Regierung leiten würde;**) da rechnete auch Schön
selbst auf eine maßgebende politische Rolle. Gerade damals war es eine hohe
Ehre, — das Gegentheil einer Anfechtungen und Feindschaften ausgesetzten
Uebernahme einer Verantwortung, die bisher ein Anderer getragen — es ge¬
reichte zur Erhöhung seines Ansehens, wenn ein noch lebender Politiker als
der eigentliche „Kopf" der Gesetzgebung von 1807 — 1813 verkündigt werden
konnte! In dieser Situation sind Schön's Ansprüche zuerst dem
Publikum bekannt gemacht worden.
Ganz kurze Zeit vor seinem Abschiede aus dem Staatsdienste waren
Schön's Erwartungen aufs Höchste gespannt. Wie im Juni 1842 alle seine
Hoffnungen und Aussichten gescheitert, da wurde er immer verbissener in seiner
Haltung und in seinen politischen Aeußerungen immer radikaler. Und auch
seine historischen Erinnerungen gestalteten sich von da ab immer schroffer und
immer einseitiger.
So viel ich weiß, hat im Laufe des entscheidenden Jahres 1842 die
Königsberger Zeitung die damals der Welt ganz neue Offenbarung,
daß Schön die Seele der sog. Stein'schen Gesetzgebung gewesen, zum ersten
Male weiteren Kreisen verkündigt.***) Ein lautes Echo haben diese Ansichten
bald nachher in einer höchst merkwürdigen Flugschrift jener Tage gefunden.
Nachdem ich zu dieser zweiten Auslassung genöthigt worden bin. will ich es
heute nicht noch einmal übergehen, jene Schrift näher zu beleuchten. Sie hat
den Titel: „Preußens Staatsmänner. Heft III. Schön. Leipzig, im Verlag
von G. Wtgand 1842." Sie ist anonym; aber sie kann nur von einem
Schriftsteller ausgehen, dem Schön's Gedanken und Reden sehr genau bekannt sind.
Die Art und Weise des Vortrages, der Charakterschilderung, des Ausdruckes
zeigen eine sehr auffallende Verwandtschaft mit Gedanken und Reden Schön's.
So erinnern uns gleich die Anfangsworte an Redewendungen, wie wir sie
jetzt in Schön's Papieren lesen. Dieselben lauten: „Auch in der Geschichte
giebt es Firmen, Namen auf deren Conto alles gesetzt wird, was in der Zeit
Großes geschieht, obgleich sie oft eben nur den Namen und nicht die Fonds
hergeben." Und das Verhältniß zwischen Stein und Schön wird uns mit
den Farben gezeichnet, welche Schön selbst in seinen Aufzeichnungen verwen¬
det hat: „Stein besaß eine Eigenschaft, die für die damaligen Verhältnisse
von der größten Wichtigkeit war: Energie des Charakters und Raschheit des
Entschlusses. Aber ihm fehlte Consequenz und besonnene Ausdauer. Diese
gab ihm Schön, dem wir Unrecht thun würden, wenn wir ihn die rechte
Hand Stein's nennen wollten, den wir vielmehr den Kops desselben nennen
könnten. Schön machte Stein zum Gefäß seiner Ideen; Schön gab die Ge¬
danken, Stein brachte sie zur Ausführung. So werden wir jenem also un¬
bedenklich die leitenden Ideen und die Entwürfe der von Stein ausgegangenen
Reformen vindiciren können." Mit einem complicirten Beweise für seine
Sätze hält sich der Pamphletist nicht viel aus. Stein war Aristokrat; die
Gesetze haben einen demokratischen Charakter; dieser Widerspruch hebt sich
durch die Annahme, daß die Ideen zu diesen Gesetzen von Schön ausgegangen
sind: so lautet kurz und bündig die Schlußfolgerung des anonymen Sängers.
Ich sehe in dieser Brochure die erste öffentliche Frucht der mündlichen
Erzählungen Schön's an seine Umgebung. Aus den Kreisen Schön'scher Freunde
stammt sie. Schön's mündlich vorgetragene Auffassung verkündigt sie zum
ersten Male dem großen Publikum, in der deutlichen Absicht für Schön als
Staatsmann Propaganda zu machen. Ich betone noch einmal: diese Bro¬
chure hat die Tendenz, die „bisherige Annahme" umzustoßen, eine neue
Auffassung an Stelle der bis dahin geltenden zu setzen; Schön's Namen „aus
dem großen Hauptbuche der Geschichte auszuziehen und seinen Thaten ein
besonderes Conto zu eröffnen." Bis dahin hatte Schön gegolten als ein Be¬
rather und Mitarbeiter, ein Gehülfe Stein's*): unser Autor weiß daß er eine
weit höhere Bedeutung gehabt hat, wie dies bisher erst einem „kleinen Kreise"
bekannt geworden sei; daß Schön mit dem Gedanken umging, seine „Me¬
moiren" zu schreiben, deutet er schon an (S. 7): die Vermuthung liegt nahe,
daß dieser Brochurenschreiber die Aufzeichnungen Schön's von 1838 gekannt
hat. Jedenfalls ist der Inhalt des Panegyricus auf die Mittheilungen des
gefeierten Helden selbst zurückzuführen.
Schön hat dann, während er selbst für sich weitere Darlegungen über
die frühere Zeit niederschrieb,*) — deren spätere Benutzung vorbehalten blieb,
— einflußreiche Historiker von seiner Auffassung der Dinge zu überzeugen ver¬
sucht: so Pertz 1846 und Schlosser 1849. Er hat den Wunsch gehabt, einen
gewandten Biographen zu gewinnen, der seinen Ansprüchen und Ideen in der
Geschichtschreibung Eingang verschaffe: auf verschiedene hat er da nach und
nach, zuletzt bekanntlich auf Varnhagen, sein Auge geworfen. Dabei erregten
freilich diejenigen, welche von seinen Ideen abwichen, seinen Zorn, wie er
ihn über Pertz, Förster, Droysen gelegentlich ausgesprochen hat. Besonders
unbequem war ihm das „Leben Stein's" von Pertz. Diese reiche An-
sammlung von Material war ja geeignet, der Verbreitung seiner subjektiven
Urtheile und tendenziösen Beleuchtungen einen unübersteiglichen Damm ent¬
gegenzuwerfen. Die aktenmäßige Darlegung ist immer ein unangenehmes
Hinderniß, ein böser Feind für Parteiurtheile und Parteigeschichten.
Zuletzt nach seinem Tode hat ihn die Nemesis erreicht: in ungeschicktere
Hände konnte die Führung seiner Sache nicht fallen, als in die des Heraus¬
gebers seines Nachlasses. Fast könnte uns Mitleiden beschleichen mit dem
einst um unser Vaterland so verdienten Manne, der selbst so viel Mühe
aufgewandt hat seine eigene Verherrlichung in Scene zu setzen, und dem in
solcher Weise das, was er vorbereitet hat, zugerichtet wird!
Die Veröffentlichung der Papiere Schön's hat, abgesehen von der so
charakteristischen Selbstbiographie, eine Anzahl wichtiger Documente zu Tage
gefördert. Man kann nur wünschen, daß im Interesse der Geschichts¬
wissenschaft, ohne Rücksicht auf die Verherrlichung Schön's, ohne Rück¬
halt und ohne Nebenabsichten, in uneingeschränkter Vollständigkeit alles
historisch wichtige Material aus Schön's Nachlaß uns zugänglich gemacht
werde. Wenn die Familie Schön's zu diesem Akte ohne Nebengedanken und
ohne ängstliche Zurückhaltung sich entschließen wollte, dann würde sie in der
That sich einen voll begründeten Anspruch auf die Dankbarkeit und die Ver¬
ehrung aller Vaterlandsfreunde erwerben. Durch die offenste Enthüllung feiert
sie, wie heute die Dinge liegen, das Andenken Schön's am sichersten und
nachhaltigsten. Dazu ist es freilich unerläßlich, daß ein historischer Fach¬
mann, dem die wissenschaftliche Welt Vertrauen schenkt, die Fortsetzung der
Publikation leite. Und aus vollster Ueberzeugung würde ich — zum Lohne
für meine dieser Frage gewidmete Arbeit wage ich selbst einen Vorschlag zu
machen! — Niemanden für besser geeignet halten zu diesem schwierigen und
verantwortungsvollen Auftrage als Herrn Direktor Nasemann in Halle.
Möchte er, der sich ja guter Beziehungen zu der Familie Schön erfreut, dieser
Aufgabe seinerseits sich nicht entziehen!
Welches ist die anmuthigste Gegend an der Weser? Die Einen sagen
Münden, die Andern nennen Hameln. Ich stelle mich, ohne für Mündens
Reize blind zu sein, ohne Vorzug zu denen, die Hameln den Vorzug geben.
Die Aussicht von dem der Stadt gegenüber gelegnen Kind ist, wenn das gelbe Licht
der Nachmittagssonne auf die schön geformten Berge fällt, welche das breite
Flußthal in weitem Bogen und in verschieden Abstufungen umgeben, wenn
es die rothen Dächer der Häuser und Kirchen bestrahlt, in den silbernen
Wasserfall der Wehre sein Gold wirft, den vielgewundenen Strom leuchten
und die Fenster in den Dörfern der Fläche rechts und links wie von Feuers-
gluth entbrennen läßt, wohl überhaupt das Beste, was das norddeutsche Binnen¬
land in dieser Beziehung zu bieten hat. Wald und Feld, Wasser und Land,
Alles ist vertheilt und gruppirt wie von Malershand. Schon dreimal war
ich von Hannover drüben in diesem grünen Paradiese, im Frühling, im Som¬
mer, im Herbste, und jedes Mal war ich entzückt von neuen Schönheiten
ueben den alten, die ich in der Erinnerung mit hinweg genommen hatte.
nächster Tage, sobald der Mai seinen Regenmantel ausgezogen hat, gehe ich
wieder hin und berausche mich, und wenn — ja nun, wenn es kein Wenn
und Aber gäbe, wer weiß, ob ich dann nicht mich entschlösse, bei einem
spätern Besuche gar nicht wieder abzureisen, sondern mit Sanct Peter zu
sagen: Hier ist gut sein, hier laßt uns Hütten bauen.
Aber ich wollte heute eigentlich nicht Landschaftsmaler und Naturenthu¬
siast sein, sondern die Leser mit einem merkwürdigen Hamelenser bekannt
machen, den viele von ihnen vermuthlich nur von Hörensagen kennen, der mir
aber interessant genug zu sein scheint. um eine nähere Beschäftigung mit ihm
zu rechtfertigen. Es ist der in der Ueberschrift genannte alte Herr, von dem
ich, damit man sich nicht vornehm von ihm abwende, gleich hier verrathen
will, daß er ein Gott ist.
Die Erzählung lautet, so wie sie jetzt im Volksmunde umläuft, ungefähr
folgendermaßen:
Vor langen Jahren hatten die Ratten und Mäuse in Hameln dermaßen
überHand genommen, daß Menschen und Thiere vor ihrer Gefräßigkeit nicht
mehr wo aus noch ein wußten. Lange versuchte man auf die oder jene Weise
vergeblich sich zu helfen. Da meldete sich endlich eines Tages beim Rath ein
fremder Mann in bunten Kleidern, der sich gegen ein bestimmtes Geldgeschenk
erbot, die Stadt von dem Ungeziefer zu befreien. Der Rath ging auf den
Vorschlag ein, man einigte sich über eine gewisse Summe, und der Fremde
machte sich an's Werk. Er blies, indem er mit einer gellenden Pfeife durch
die Gassen schritt, sämmtliche Angehörige der gedachten beiden Ungezieserzünfte
zusammen, wendete sich darauf der Weser zu, ging durch das Thor, lockte
die wimmelnde Gesellschaft durch sein Pfeifen sich nach und führte sie schlie߬
lich in den Fluß, in welchem sie umkam. Der Bürgerschaft kam das un¬
heimlich vor, sie sah in dem Pfeifer den Teufel, und da man mit diesem
keinen Verkehr haben soll, ihm auch einen etwa mit ihm geschlossnen Pact
nicht zu halten braucht, so verweigerte der Rath die Zahlung des bedungnen
Lohnes. Natürlich verdroß das den Fremden, und sofort wußte er sich zu
rächen. Die Leute waren eben in der Kirche, als er seine Zauberpfeife von
Neuem erschallen ließ. Aber wie vorher die Mäuse und Ratten, so liefen
jetzt die Kinder der Stadt um ihn zusammen und folgten ihm durch das
Osterthor hinaus aufs Feld und weiter und immer weiter, bis er mit der
ganzen Schaar der Kleinen in einer Höhle des Koppelbergs verschwand. Eine
Magd, die von dem Vorgange mit Schauder Zeugin gewesen war, berichtete
das traurige Ereigniß den Eltern. Sie sahen ihre Kinder nicht wieder. Doch
erfuhren sie oder ihre Nachkommen nach einiger Zeit, daß die Kleinen in
Siebenbürgen wieder zum Vorschein gekommen waren. Weitgereiste Hand¬
werksburschen hatten sie dort getroffen und sich ihre Geschichte von ihnen in
hamelnscher Mundart erzählen lassen. Ein Beweis, daß die Handwerksbur-,
sehen richtig gehört und die Wahrheit erzählt, ist der Umstand, daß das
Plattdeutsch Hamelns noch heute von den siebenbürger Sachsen gesprochen wird.
Andere Beweise sind, oder waren früher, folgende.
Am neuen Thore befanden sich zwei aufeinander gelegte Steine, die ver¬
schiedenen Zeiten angehörten. Der obere enthielt nur die Jahreszahl „^no
clomini NvoeeOXXXI" (1531). Aus dem unteren befanden sich die Worte:
,,^uno 1556" und darunter die Verse:
„(Zentum toi- Zonos puro eng-Aus ab uibe puollvK
Dnxorat ante 272 «onSit«, xm-ta, nil."
Das Jahr 1656 bezeichnet die Zeit, in welcher diese Verse der Ueber-
schuft beigegeben wurden, der obere Stein dagegen enthält das Jahr der
Erbauung des genannten Thores. Zieht man von diesem 272 Jahre ab,
so verlegen die Verse den Auszug der hamelnschen Kinder in das Jahr 1250.
Am Koppelberge, der ursprünglich ein Kapellen- oder Calvarienberg ge¬
wesen sein wird, standen in alter Zeit zwei Steine in Kreuzesform, welche
die Stelle angeben sollten, an welcher der Rattenfänger mit den Entführten
in die Erde gegangen war.
Ferner konnte man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts an einem
Fenster der Marktkirche eine Darstellung der in Rede stehenden Begebenheit
in Glasmalerei sehen, ein Bild, welches eine ältere Verewigung des Ereig¬
nisses ersetzte, und welches den frommen Pastor Letzner in seiner Chronik der
Stadt Hildesheim, zu folgender wohlgemeinter Ermahnung veranlaßte:
„O ihr lieben christlichen Eltern, schauet und sehet dieses Gemälde nicht
allein schlecht und bloß an, wie eine Kuh oder ein anderes unvernünftiges
Thier ein altes Thor ansteht, sondern betrachtet es christlich in eurem Herzen,
und lasset eure Kinder nicht in der Irre gehen, auf daß der Teufel ihrer
nicht mächtig werde, welches denn gar bald und leicht geschehen kann, sonder¬
lich weil ihnen der Satanas doch so aussätzig und feind ist. Darum haltet
sie zum Morgen- und Abendgebete; das wird christlichen und gottseliger Men¬
schen nicht gereuen."
An einem Hause auf der Papenstraße, das um die Mitte des letztver-
flossnen Jahrhunderts neben dem Wirthshause zum braunen Hirsche stand,
war die Rattenfängergeschichte in Holz geschnitzt zu sehen. An zwei andern
Häusern, dem Kastendieck'schen und dem Neuen, befanden sich 1826 Inschriften,
die sich auf sie bezogen.
Endlich soll der Name einer Gasse in Hameln. welche die Bunge-
lose heißt, und wo an einem Eckhause noch jetzt eine auf den Rattenfänger
bezügliche Inschrift ist, von dem Auszuge der Kinder herrühren, indem die
betrübte Bürgerschaft beschlossen hätte, zum Andenken an ihren Verlust hier
nie wieder eine Bunge, d. h. eine Trommel zu rühren.
In Stein gehauen, aus Glas gemalt, in Holz geschnitzt, durch mehrfache
Inschriften verewigt, im Namen einer alten Straße enthalten, muß unsere
Geschichte früher ungefähr so, wie ich sie erzählte, allgemein geglaubt wor¬
den sein. Seit wann, ist ungewiß. Sicher ist nur, daß auch Gelehrte des
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts sie in dieser Gestalt für wahr ge¬
halten haben. Sprenger führt deren eine lange Reihe an. Ich nenne davon
nur Heinrich Bunting mit seiner 1548 erschienenen Braunschweigischen Chronik,
Samuel Erichius mit seinem 1665 gedruckten „LxvÄus II-imvlLnsiiZ" und
Kirchmaier mit seiner «DiWertatio <1e inÄusxioÄto IlamolvNKium vxitü," die
1671 zu Wittenberg herauskam.
Andere Gelehrte freilich, wie der Gröninger Professor Martin Schoocktus
in seiner „tabula Haine-Ionsis", sahen in der angeblichen Geschichte schon
damals eine Sage, aber sie hielten sie doch für wichtig genug, um sich mit
allerlei Gründen den Vertheidigern ihrer Wahrheit entgegenzustellen, und ich
denke es ihnen im Folgenden nach beiden Beziehungen hin gleichzuthun, wenn
ich dabei auch zu einem wesentlich andern Schlußergebniß gelangen werde als
jene alten Herren.
Der Rattenfänger von Hameln ist in der Gestalt, in der ihn der Volks¬
mund auftreten läßt, wie nicht erst versichert zu werden braucht, fast in dem¬
selben Grade eine geschichtliche Persönlichkeit, wie der Basilisk von Hameln,
der nach Spilker's Bericht im Jahre 1511 mit seinem giftigen Hauche drei
Menschen tödtete. Ich sage „fast"; denn' er ist doch etwas mehr, er hat, wie
wir sehen werden, einen mythischen Kern.
Zunächst aber wollen wir einmal thun, als ob die Wegführung der
Kinder in die Erde und dann nach Siebenbürgen mit den angeführten Be¬
weisen bis zu einem gewissen Maße festgestellt, als ob sie nicht von vorn¬
herein Vernunft- und naturwidrig wäre. Da hätten denn zunächst jene reisen¬
den Handwerksburschen falsch gehört, wenn sie in dem Dialekt der sieben-
bürger Sachsen das Plattdeutsch der Gegend von Hameln erkannten; denn
die deutschen Ansiedler von 1143, von denen diese abstammen, kamen nicht
von der obern Weser, sondern vom Niederrhein, und sie wie ihre Nachkommen
redeten den hier üblichen Dialekt. Sodann wäre bedenklich, daß der älteste
Chronist Hamelns, der Canonicus Johann de Polde, der im Jahre 1384 als
sehr betagter Mann schrieb, der Begebenheit mit keinem Worte gedenkt.
Dieselbe hatte nach dem Steine am neuen Thore 1289 stattgefunden, und so
würde der Großvater des Chronisten sie erlebt haben können. Nach Andern
erfolgte der Auszug der Kinder noch später. Nach dem Rector Erich fand
er 1282 statt, nach Michael Saro 1376, nach der Meinung des älteren Erich
gar erst 1378, so daß de Polde dem Wunder sechs oder acht Jahre vor Ab¬
fassung seiner Chronik als Augenzeuge beigewohnt haben könnte, jedenfalls
aber unter Augenzeugen desselben gelebt haben müßte. Endlich würde nicht
weniger der Umstand auffallen, daß die Münsterkirche, die doch weit älter als
die Marktkirche ist, weder durch eine Inschrift noch durch ein Bild des Bor¬
falls Erwähnung thut, und daß ebenso wenig irgendwo berichtet wird, es sei
einmal etwas der Art dort zu sehen gewesen.
Der Rattenfänger von Hameln bleibt also eine Fabel, trotzdem daß
Steine, Hausinschriften. Bildwerke und späte Chroniken sogar das Jahr zu
nennen wußten, in welchem er die Kinder entführt haben sollte. Ader wie
entstand diese Fabel? Ist sie eine Sage mit geschichtlichem Hintergrunde?
Einigen Forschern ist das so erschienen, und zwar bringen sie die Sache mit
der Fehde zwischen dem Bischof Widekind von Minden und dem Herzog
Albrecht von Braunschweig, sowie mit der Schlacht bei Sedemünden in
Verbindung.
Karl der Große hatte die Gegend, wo Hameln später entstand, dem
Abte von Fulda zu Lehen gegeben. Dieser übergab das Lehen an die Edeln
von Erzen, und als diese Familie ausstarb, kam es an die Grasen von
Eberstein, und der Abt von Fulda gab dazu seine Einwilligung. Später,
im Jahre 1239, wollte der damalige Abt Heinrich von Erthal, seine Hoheits¬
rechte über das inzwischen zur Stadt erwachsene und zu dem Herzog Albrecht
in ein Unterthänigkeitsverhältnisz getretene Hameln an den Bischof Widekind
von Minden verkaufen. Die Stadt und der Graf von Eberstein legten da¬
gegen Einspruch ein.
Darauf griff der Bischof zum Schwerte, und seine Gegner thaten des¬
gleichen. Bei Sedemünden, wo der Herzog Albrecht mit dem Grafen von
Wunstors und der wehrbaren hamelnschen Jugend Stellung genommen hatte,
kam es am 28. Juli 12S9 zur Schlacht mit den Bischöflichen, die nach heißem
Kampfe mit einem vollständigen Siege der letzteren endigte. Die Hameln¬
schen hatten dabei besonders starke Verluste erlitten, viele waren auf der
Wahlstatt geblieben, eine große Anzahl anderer wurde vom Bischof als
Gefangene fortgeführt. Um sie zurückzubekommen, unterwarf sich die Stadt
schon im October allen Forderungen Widekind's.
Nach dem hamelnschen Garnisonsprediger Fein, dem Andere beipflichte-
sen, wäre dieser Vorgang der Keim unsrer Sage. Die hamelnschen Kinder
gingen, wie dieser Erklärer meint, in den Berg, das heißt, sie wurden den
Augen ihrer Eltern durch die Berge vor dem Osterthore entzogen, als sie
dem Herzog Albrecht zu Hülse eilten. Sie kamen in Siebenbürgen wieder
heraus, das will sagen, die vom Bischof gefangen Weggeführten kehrten, als
man sich verglichen, durch die sieben Berge, die zwischen Hameln und Minden
liegen, nach der Stadt zurück. Der Rattenfänger könnte dann ein Abenteurer
sein, der den kriegerischen Sinn der Bürger durch Musik geweckt und belebt
hätte und der ausrückenden jungen Mannschaft als Pfeifer vorangegangen
wäre. Vielleicht war er auch der Anführer, als welcher er sich durch auf¬
fallende bunte Tracht auszeichnete, und erst nach dem traurigen Verlauf
der Sache mochte der Anführer als Verführer betrachtet worden sein und
als solcher mit allerhand Zuthat im Volksmunde fortgelebt haben.
Das klingt nicht gerade unverständig, ist aber ohne Hinzunahme eines
andern Elementes nicht zu brauchen. Die Schlacht bei Sedemünden und
was ihr folgte, ist nur ein geschichtlicher Anhaltspunkt, an welchem eine aus
heidnischer Zeit im Volke der Wesergegenden, wie in allen Germanen, ja in
allen Ariern fortlebende Mythe sich krystallisirte. Der Rattenfänger von
Hameln ist wie das trojanische Pferd, das schon im indischen Epos vorkommt,
wie der Wald von Dunsinan, der in deutschen Volkssagen nur unter anderen
Namen, seine Rolle genau so spielt wie in Schottland, und wie Wilhelm
Tell, der nicht blos in der Schweiz, sondern auch in Norwegen und unter
den Kelten Irlands auftritt und hier fast in allen Einzelnheiten dasselbe ver¬
richtet, wie am See der vier Waldstädte, ein alter Arier, der aus der Ur¬
heimat!) derselben mit ihnen in Europa eingewandert ist.
Hier zunächst die Belege dafür, daß unsre Sage auch außerhalb Deutsch¬
lands lebt.
Der „Gesellschafter" vom 1. December 1824 berichtet nach dem „Corsaire":
Im Jahre 1240 fanden sich in dem Dorfe Drancy (im Nordosten von Paris
etwa anderthalb Stunden Wegs von der Marne und etwa ebensoweit von
der Seine entfernt) eine solche Menge Ratten und Mäuse ein, daß weder
Habe noch Gut. weder Menschen noch Vieh von ihrer Gefräßigkeit verschont
blieben. Kein Mittel half. Endlich kam man auf den Gedanken, sich an
einen durch Zauberkunst berühmten Kapuzinermönch Namens Angionini zu
wenden. Derselbe wurde verschrieben und versprach, gegen einen gewissen
Lohn das Ungeziefer wegzuschaffen. Die geforderte Summe wurde ihm zuge¬
standen, und der Schwarzkünstler nahm nun aus seinem Mantelsack einen
kleinen Dämon, trieb mit diesem zuerst allerlei Hokuspokus, holte dann ein
Büchlein hervor, aus dem er mehrere unverständliche Formeln Mas, und rief
darauf alle Ratten und Mäuse zusammen. Sie kamen und umwimmelten
ihn, seines Winkes gewärtig. Da drehte er sich um, schritt nach dem Flusse
hin, warf seine Kutte ab und sprang in die Wellen. Das ganze Ratten -
und Mäusevolk folgte ihm nach und ertrank. Der Mönch aber kam nach
vollbrachtem Wunder wohlbehalten zurück und forderte seinen ausbedungenen
Lohn. Das undankbare Volk wollte nicht zahlen. Da zog der Zauberer
aus seinem Sacke ein kleines Horn und stieß hinein, daß allen Anwesenden
vor Grausen die Haare zu Berge standen. Und siehe, jetzt regte sich alles
Vieh des Dorfes, Pferde und Kühe, Schafe und Schweine, desgleichen die
Gänse und Enten kamen herbeigelaufen und sammelten sich um den weisen
Pater. Dießmal aber schritt derselbe nicht nach dem Wasser zu, sondern
schlug mit dem verzauberten Vieh der Bauern einen andern Weg ein, auf
dem er zuletzt mit ihnen verschwand, ohne daß jemand gewagt hätte, ihn am
Wegzug mit seinem Raube zu hindern.
Und ebenso findet sich unsre Sage in ihren wesentlichen Bestandtheilen
in Irland. und zwar zu Belfast in der Provinz Ulster. Ja sie scheint hier
fast ganz in ihrer ursprünglichen Gestalt, ohne die Zuthat von Ratten und
Mäusen. Zauberbüchern u. tgi. fortzuleben. Leider liegt sie uns nur in der
Uebersetzung eines Gedichts vor, in welchem Kirkpatrick sie verewigt hat,
einer Uebersetzung, die Sprenger den hannöverschen gelehrten Anzeigen vom
Jahre 1752 entnimmt. Im Volksmunde wird sie sich noch einfacher aus.
nehmen; indeß dient sie dem Zwecke, dem ich bei diesem Aufsatze verfolge,
auch in dem Alexandriner-Bratenrocke zur Genüge. Der Zopf, der Kirkpatricks
Verse verdeutschte, singt folgendermaßen:
„Vom grauen Alter her pflanzt sich an diesem Ort
Noch stets von Kind zu Kind ein seltnes Märchen fort.
Ein Pfeifer, der nur halb aus scheelen Augen blickte
Und durch die Zauberkunst die Neugier oft berückte,
Ließ einst des Dudelsacks unreizbaren Gesang
In solche Töne gehn, als nie ein Spiel erklang.
Das junge Landvolk läuft entzückt von allen Seiten
Und läßt in Tanz und Sprung sich willig von ihm leiten.
Er bringt sie an den Berg, den wir noch jetzo schaun.
Der Berg (wer schwört dies wohl, wer denkt es ohne Graun?)
Springt in der Mitte auf und läßt in tiefen Gründen
Des Schreckens und der Nacht gar keine Grenzen finden.
Der Bös'wicht, dem das Herz mit Satansfreuden lacht,
Springt in die Gruft hinein, weil noch aus neuer Macht
Der Pfeife Ton erschallt und der bethörte Haufen
In gleichem Freudensprung sich drängt, ihm nachzulaufen.
Der Höhlen krumme Wand erschüttert ob dem Schall
Und schickt durch Nacht und Graus den ersten Widerhall.
Drauf schließt sich schnell und fest ihr kaum gesenkter Rachen,
Und Tausend müssen hier ihr End' und Grabstätt machen."
Zum Schlüsse heißt es dann bezeichnend, noch jetzt zeige man den Ort,
wo die jungen Landleute dem schrecklichen Dudelsackspfeiser in die Todes¬
schlucht tanzend nachgesprungen. Niemand wage sich gern in die Gegend.
Wer dahin komme,
„hört noch den Gesang,
Sein klingend Ohr vernimmt das Zauberspiel ganz helle,
Er weiset zitternd hin und denkt, er weist die Stelle."
Die Sage oder richtiger die Mythe des Rattenfängers von Hameln wird
ursprünglich eine ähnliche Gestalt gehabt haben wie die vom Belfaster Dudel¬
sackspfeifer. Ein unheimlicher Fremder erscheint und lockt durch Musik die
jungen Leute des Ortes tanzend mit sich in einen Berg, in die Unterwelt,
von wo die Verschwundenen sich bisweilen einsamen Wanderern mit Gesang
vernehmen lassen. In der Form, welche die Mythe in dem genannten fran¬
zösischen Dorfe angenommen hat, ist der Zug, daß es Menschen sind, die der
Zauberer entführt, anfänglich ohne Zweifel ebenfalls vorhanden gewesen und
nur verloren gegangen, als das Verständniß oder die Ahnung dessen, was
gemeint war, allmählig erlosch.
Was aber war gemeint? Wer ist der keltische Dudelsackspfeiser von
Belfast, der französische Kapuziner von Draney, der Rattenfänger von Hammeln'?
Er ist kein Anderer als der Todtengott der arischen Völker, der Entführer
der Seelen. Er ist derselbe, der im Hörselberge bei Eisenach als „der Alte"
die Abgeschiedenen um sich sammelt und an der obern Saale, hier als gött¬
liche Frau aufgefaßt, die wimmelnde Schaar der jung gestorbenen Kinder in
gewissen Nächten durch das Thal führt. Er ist der Pluton der Griechen,
der die junge Kore auf der Wiese bei Eleusis ergreift und durch die Berg¬
schlucht mit sich in die Unterwelt hinabreißt, er ist die Idee, die sich in anderer
Weise im Hermes Psychopompos desselben Volkes des Alterthums verkörpert
hat. Er ist der finstre Jama der Religion, die im Siebenströme-Lande In¬
diens blühte, als Europa noch keine Geschichte hatte.
Wenn der Todtengott in unsrer zur Sage gewordenen Mythe in Hameln
wie in Drancy in der burlesken Gestalt eines Ratten- und Mäusefängers
auftritt, so ist daran zu erinnern, daß die todten Seelen in unsern Sagen
häufig als Mäuse auftreten. Ein Beispiel ist die Erzählung vom Bischof
Hatto, ein anderes die von dem Schlafenden, dem die Seele als Maus aus
dem Munde läuft. Das rasche Hinhuschen, das plötzliche Erscheinen und
Wiederverschwinden dieser Thiere, ihr Wohnen in der Erde, ihre schattenhaft
graue Farbe, ihr unheimliches Gewimmel in Mausejahren mag diesen Ver¬
gleich an die Hand gegeben haben. Ursprünglich wird die Sage dahin ge¬
gangen sein, daß die todten Seelen dem Entführer wie ein Gewimmel von
Mäusen in seinen Berg .folgten. Später zerging diese Vorstellung in zwei
Hälften, in deren erster wirkliche Mäuse und dann auch Ratten, deren Muh¬
men, figurirten und der Tod zum Kammerjäger wurde, der nur durch sein
geheimnißvolles, zauberhaftes Wesen noch das ahnen ließ, was er eigentlich war.
Wenn der Wuotan, der Pluton, der Jama. der den innersten Kern des
Rattensängers bildet, die Todten als Spielmann entführt, so liegt in dieser
Anschauung derselbe grimme Humor, der die Todtentänze von Dresden und
Basel entstehen ließ. Uebrigens aber haben unsre alten deutschen Götter auch
sonst sich gefallen lassen, im Volksmunde der christlichen Zeit allmählig ganz
andere Attribute und Eigenschaften anzunehmen, als ihre ursprünglichen, und
nicht selten sind sie bei dieser Verwandelung lustige Gesellen, komische Käuze,
ja vollständige Karikaturen geworden.
In unsrer politischen Zeit muß Alles sein politisches Zipfelchen haben. Ich
füge mich diesem Brauche, und so sage ich denn: Wie der ewige Jude in
gewissen Zetträumen wieder erscheint, so kam auch der Rattenfänger von
Hameln vor einigen Jahren wieder, und abermals nicht ohne Erfolg. Er
trat als Werber für die Welfenlegion auf und ließ seine silberne Pfeife
durch die ganze Provinz Hannover erschallen. Viele oder doch zu Viele für
den gesunden Menschenverstand, den die Hannoveraner gern an sich gelobt
hören, liefen ihm zu und folgten ihm - - diesmal nicht in den Koppelberg,
sondern durch das Land des Franzmanns nach Algier, was schlimmer war,
da sie hier nicht die nur freudenlose Unterwelt, sondern — was Vaterlands¬
verräthern gebührte — eine vortrefflich geheizte Hölle mit allen möglichen
Qualen fanden.
Vermuthlich kommt er in einiger Zeit zum dritten Male, und für diesen
Fall wollte ich ihn — die „Grünen Blätter" werden ja nicht blos in allen
fünf Erdtheilen, sondern auch in den Casinos und Conditoreien der Unter¬
welt aufliegen — hiermit ersucht und eingeladen haben, dießmal seine Schritte
nach der Haupt- und Residenzstadt der Provinz zu lenken und ihr ein paar
Tausend welfisch gesinnte Seelen zu entführen, damit eine deutsche Stadt von
hundert und zwanzigtausend Einwohnern der Welt nicht noch einmal das
klägliche Schauspiel darbietet, im Reichstage durch einen E—Wald für sich
reden zu lassen.
Sollte der Rattenfänger dabei aus Versehen etliche von der Gegenpartei
mitnehmen, so würde mich das nicht gerade die Kleider zerreißen lassen; denn,
wie es unter den Welfischen einige recht angenehme Biedermänner giebt, so
befinden sich im andern Lager eine Anzahl recht unangenehmer Streber und
Gründer. Ueber die soll der Rattenfänger Gewalt haben. Nur darf er mir
davon nicht gar zu viele abholen — natürlich nur von wegen der Wahlen.
Im letzten Herbst erschienen in den Preußischen Jahrbüchern, unter dem
Titel: „Der Socialismus und seine Gönner," zwei Abhandlungen Heinrich
von Treitschke's, welche ungewöhnliches Aufsehen erregten. Der erste dieser
Aufsätze widerlegte die emphatische Anklage des Kathedersocialismus gegen
die bestehende Gesellschaft, als beruhe die Herrschaft der begüterten und be¬
fähigten Minderheit auf einer tragischen Schuld gegen das Proletariat.
Treitschke wies vielmehr nach, daß jede denkbare Verfassung der bürgerlichen
Gesellschaft eine Klässenordnung ist, und alle socialen Reformpläne, welche die
Gliederung der Gesellschaft aufzuheben suchen, unausführbar bleiben, gleich¬
viel ob sie vom Katheder herab oder in der Volksversammlung oder auf der
Gasse ausgesprochen werden. Die zweite Abhandlung schilderte die social-
politischen Parteien unserer Tage im Einzelnen: Die Brutalität, die UnHalt¬
barkeit ihrer Grundsätze, die absolute Unfähigkeit historischer Auffassung, die
Neichsfeindlichkeit aller socialdemokratischen Parteien, die erheblichen Bedenken,
welche die unverblümte Gönnerschaft des Kathedersocialismus gegen die rothe
Internationale bei jedem deutschen Patrioten wach rufen müsse. Sie schloß
mit einer Prüfung der socialen Uebelstände, welche die Verstimmung der
Gegenwart hervorgerufen haben.
Der Eindruck dieser Artikel war in ganz Deutschland, bei Freund und
Feind ein ungewöhnlich mächtiger. Laute Entrüstung, gellendes Geheul
des Schmerzes und der Wuth über die erlittene Züchtigung auf der ganzen
Linie der Socialdemokratie, in ihrer Presse, in ihren Wanderpredigten, in
ihren Volksversammlungen u. s. w. — Der Verfasser dieser Zeilen kann viel¬
leicht besser als mancher Andere beurtheilen, wie tief Treitschke ihr ins Fleisch
geschnitten hatte, wie schmerzhaft die Wunde brannte, wie lächerlich ihr der
Versuch zu Gesichte stand, das unerträgliche Mißbehagen, das diese Schrift ihr
bereitete, mit Hülfe des für solche Gelegenheiten vorräthigen Hohnes und Spaß-
machens bei den Anhängern zu betäuben. Der Verfasser dieser Zeilen hatte,
eben als jene Artikel erschienen waren, und er von ihren Ideen und Gedan¬
ken frisch erfüllt und freudig gehoben war, die Aufgabe, der Socialdemokratie,
zum Zwecke einer reichstreuen Nachwahl zum Reichstag, in einer Reihe öffent¬
licher Versammlungen das Gefecht anzubieten und er that es in der Haupt¬
sache stets mit dem schweren Geschütz der Treitschke'schen Schrift. Die Folgen
waren unerwartet günstige. Ueberall mußten sich die Führer der Socialdemo¬
kratie selbst auf dem Kampfplatz einstellen, um das verlorene Terrain wo¬
möglich zu retten — was ihnen nicht gelang. Die ländliche Bevölkerung
namentlich wich scheu vor dem den socialen Führern abgezwungenen Einge¬
ständnisse reichsfeindlicher Gesinnung und communistischer Pläne zurück. Das
Wahlresultat zeigte schließlich in diesem einzigen Wahlkreise seit den Februar¬
wahlen desselben Jahres einen Rückgang von etwa dreitausend Stimmen für
die Socialdemokratie. Aehnliche Wahrnehmungen wird Jeder gemacht haben
oder zum gemeinen Besten heute noch nachholen können, der den Versuch
macht, die leitenden Gedanken der Treitschke'schen Schrift namentlich ihre ver¬
nichtende Kritik gegen die heutige deutsche Socialdemokratie, deren Ideen¬
losigkeit und Vaterlandslosigkeit, Verlogenheit und Unfähigkeit, durch das
Mittel der lebendigen Rede in weite Massen aller Kreise des Volkes zu
tragen. Die socialdemokratischen „Agitatoren" lernen die Reden Bebel's und
Lasalle's, die grausamsten Kapitel von Karl Marx oder die saftigsten Leitartikel
des „Volksstaat" auswendig, ehe sie ihre Wanderpredigten antreten. Niemand
wird unter den liberalen Parteien die sklavische Abgötterei für die Offen¬
barungen des Meisters so weit treiben oder sich bei den Hörern, vor denen
er zu reden gewöhnt ist, von einem solchen Werke seines Gedächtnisses Gutes
versprechen. Die eigene Gruppirung und Entwickelung der Gedanken, die
Localfarbe für den bestimmten Kreis der jeweilig versammelten Hörer u. s. w.
wird jeder Redner unserer Parteien als eine selbstverständliche Mitgift be¬
trachten und mitbringen. Aber Allen, die in solcher Weise öffentlich wirken
wollen. Allen, die auch in kleineren und kleinsten Kreisen der Ausbreitung der
Socialdemokratie entgegenzutreten berufen sind, kann der Besitz und die immer
erneute Lectüre der Treitschke'schen Schrift nicht warm genug empfohlen
werden. Bor Allem werden sie durch diese Schrift die. wie die meisten
Erzeugnisse der Feder Treitschke's, eigentlich und im edelsten Sinne des Wortes
eine gedruckte Rede ist — gehoben und erhoben werden, angeweht von dem
warmen Hauche tiefster und wahrster patriotischer Begeisterung und Erregung.
Der Eindruck dieser Schrift ist durch größere Auszüge in Tageszeitungen
auch aus jene Kreise der Bevölkerung übertragen worden, welche die Social¬
demokratie noch zu gewinnen hoffte. Und vielleicht ist diese Wahrnehmung,
verbunden mit der im eigenen Lager der Socialdemokratie — wenigstens bei
den Führern — vorhandenen Erkenntniß, daß keine Druckschrift des letzten
Jahrzehnts M)r solche Wunden geschlagen, ihr eine so empfindliche Einbuße
an öffentlicher Achtung eingetragen hat, wie diese, ein Grund mit gewesen
zu jener Einigung aller socialen Parteien Deutschlands auf Grundlage eines
neuen Parteiprogramms, die sich in den jüngsten Wochen in der Hauptstadt
des Herzogs von Gotha vollzogen hat. Es giebt ja andere Gründe genug
für jene Einigung, innere und äußere, solche, die der bethörten Menge vorge¬
flunkert werden können, und solche, die wir als die wahren durchschauen. Es
that dringend noth, die dünnen Haufen, die untereinander in wilder Fehde
lebten, um ein einziges Banner zu sammeln. Um diesen Preis mußten auch
die Führer, die sich seit einer Reihe von Jahren gegenseitig mit allem nur
denkbaren Schimpf beworfen hatten, sich öffentlich den Bruderkuß reichen.
Solange man sich kräftig genug allein fühlte, schimpfte man sich. Das
Sprüchwort vom Schlagen und Bertragen charakterisirt die Herren zur Genüge,
auch wenn sie sich selbst gegenseitig nun in Ruhe lassen. Aber das Bewußt¬
sein der eigenen Schwäche war nicht das einzige Motiv der Einigung. Man
erkennt in den den Gothaer Congreß vorbereitenden Reden, in den diesem
Borhaben gewidmeten Artikeln der socialdemokratischen Presse, in den Ver¬
handlungen des Congresses selbst und in dem neuen Parteiprogramm unschwer
ein anderes Motiv, welches natürlich der eigenen gläubigen Gemeinde gegen¬
über ebenso wenig eingestanden wird, wie das Motiv der Schwäche. Wer
aber gewöhnt ist, durch die Berge von Lügen hindurchzusehen, welche der so¬
cialdemokratische Phrasenschwall emporwachsen läßt, wer den anmuthigen
Scherz der socialistischen Führer kennt, überall von Stärke und Sieg zu reden
und zu schreiben, wo sie Schwäche und Niederlage meinen, der erkennt als
pium der zwingendsten Gründe zum Einigungscongreß jene edle Rücksicht¬
nahme auf die öffentliche Wachsamkeit und Abneigung, welche den steckbrieflich
verfolgten Verbrecher veranlaßt, sich zunächst nach einem Barbier und einem
Kleiderläden umzusehen, und obendrein über die Richtung seines Weges
möglichst viel irrthümliche Ansichten zu verbreiten.
Und Treitschke ist es gewesen, welcher in seiner Schrift diesen Steckbrief
erlassen hat gegen die Anhänger aller socialistischen Parteien in Deutschland.
Gegen sie alle erhob er die begründete Anklage des wiederholten Landesver-
rathes, dauernder und bewußter Reichsfeindlichkeit, der Verhetzung und Ver¬
giftung ganzer Volksklassen durch Entfesselung der gemeinsten Leidenschaften,
des Neides und der Gier. Treitschke bewies, daß die Niedrigkeit dieser Ge¬
sinnungen und Bestrebungen nicht etwa Schuld der kleinen Menschen sei,
welche sich heute zu Führern der deutschen Socialdemokratie aufgeworfen
haben, sondern der großen Propheten selbst, welche bis in den Herbst vorigen
Jahres von den Socialisten der verschiedenen Lager als die einzige Urquelle
des Heils abergläubisch verehrt wurden, Ferdinand Lasalle und Karl Marx.
In dieser Hinsicht bot die Schrift Treitschke's interessante Ergänzungen zu
Heinrich von Sybel's sehr verdienstvoller Broschüre „die Lehren des heutigen
Socialismus und Communismus."*) Diesem treffenden und vernichtenden
Signalement gegenüber zogen die Herren Socialdemokraten vor, einen neuen
Menschen anzuziehen. Und so kam der Gothaer Congreß und das neue Pro¬
gramm zu Stande. Die Lasalleaner verzichteten scheinbar auf den Unsinn
der Staatshülfe. Die Jünger des Herrn Carl Marx und der Herren Bebel
und Liebknecht gaben scheinbar ihre Internationale und ihre edle große Vater-
landslostgkeit auf und behaupteten über Nacht, die Lösung der socialen Frage
müsse zunächst auf nationalem Boden versucht werden. Beide Parteien ver¬
dunsten weiter nach Kräften, durch das neue Programm den Argwohn der
spaßlosen preußischen Polizei, und der mißtrauischen Kleingewerke und Land¬
bewohner, die von der Abschaffung des Eigenthums, der Ehe, des Erbrechts
und des lieben Gottes nicht gerade die günstigste Meinung haben, und die
man doch gewinnen wollte — zu entkräften. Zu diesem Zw/cke wurde in
das neue Programm die Phrase aufgenommen, daß die Umbildung der
menschlichen Gesellschaft nach socialdemokratischen Recept nur auf gesetzlichem
Wege durchgeführt werden solle, wurde jeder der bisherigen Cynismen über
Gott, Ehe, Eigenthum, Erbrecht wenigstens in der Form vermieden. Man
könnte also meinen — und die socialen Organe haben dies seit Wochen mit
der ganzen Verlogenheit und Dreistigkeit, deren sie fähig sind, verkündet —
die socialdemokratische Partei habe sich von Grund aus umgedacht. Sie sei
national geworden, sie respectire die vorhandene gesellschaftliche Ordnung, sie
bete und arbeite, sie revolutionire nur noch am Phantom. Und weiter könnte
man annehmen, die Schrift Treitschke's sei durch den Socialistencongreß in
der Residenz des Herzogs von Coburg und das neue Parteiprogramm veralt
tet. Die Wilden seien jetzt doch bessre Menschen geworden. Nun, wer das
Gothaer Programm auch nur mit einiger Aufmerksamkeit liest, wird sofort
zu der Ueberzeugung gelangen, daß von alledem nichts wahr, daß der krasseste
nackteste Kommunismus die einzige Frucht und Devise der neuen „social¬
istischen Arbeiterpartei" und alles Uebrige eitel Blendwerk und Täuschung ist.
Und nun wird man erst recht mit Nutzen zu Treitschke's Schrift greifen und
hier mit Freuden lesen, wie der Verfasser bereits vor beinahe einem Jahr die
in Gotha geeinigten socialen Parteien genau so charakterisirte, wie sie durch
ihr neues Programm sich selbst gekennzeichnet haben.
Die moralische Vernichtung der deutschen Socialdemokratie war aber
keineswegs das einzige Verdienst der Treitschke'schen Schrift. Die scharfe Zu¬
rechtweisung, welche sie der anmaßendsten und leistungsunfähigsten Wirthschafts¬
partei unserer Tage, dem sog. Kathedersocialismus verabreichte, war in dem¬
selben Maße verdienstlich und gleichfalls sehr zeitgemäß. Man brauchte nicht
„Manchestermann" zu sein, um den Namen Treitschke's mit Mißbehagen zu
lesen unter den Einladern zum ersten Congreß der Kathedersocialisten im Herbst
1872, d. h. inmitten jener gemischten Gesellschaft, welche unter dem Schlachtruf
des „ethischen Pathos" von Schmoller und Genossen damals nach Eisenach
aufgeboten wurde. Gerade der Name Treitschke (wie der Name Gneist) hat
aber auch bei Vielen damals die Hoffnung wach gerufen, daß der Eisenacher
Congreß Besseres und Praktischeres leisten werde, als nach dem Temperament
und der Haltung der eigentlichen Veranstalter erwartet werden konnte! Diese
Hoffnung ist bekanntlich nur zum geringsten Theil verwirklicht worden. Neben
vielen trefflichen theoretischen Erörterungen und Arbeiten hat der Congreß der
Kathedermänner eine Menge unreifer Pläne, ungeschickter Experimente ohne
wissenschaftliche Durchbildung mit dem Anspruch auf sofortige Einführung in
die Praxis — womöglich auf dem Wege der Reichsgesetzgebung — zu Tage
gefördert. Das große Wort, daß es eine Grausamkeit sei, den Arbeiter zum
Sparen zu mahnen, ist dort gefallen; nicht minder der eines Lasalle würdige
Gedanke, eine Reichsinvalidenkasse für die Millionen deutscher Arbeiter zu er¬
richten. Ins Blaue hinein, ohne jede Erkenntniß oder Messung der natür¬
lichen Schranken, wurde die „sociale Reform" gefordert. Von den Pflichten
der Arbeiter, die man doch wahrlich nicht verkleinern sollte in einer Zeit, da
alle Staatsbürger in ihrer öffentlichen und privaten Thätigkeit einen größeren
Kreis von Pflichten zu bewältigen haben, als je zuvor, und gleichzeitig die
weitverzweigte Parteiverschwvrung der Socialdemokratie und der Ultramon¬
tanen, das Rechtsgefühl der Massen zu zerstören sucht, — von diesen Pflichten
der Arbeiter war in Eisenach kaum einmal die Rede. Vor allem aber schaute
aus den Reden und Schriften der Hauptleiter des Eisenacher Vereins dieselbe
sinnliche Ueberschätzung der wirthschaftlichen Güter hervor, durch welche die
Socialdemokratie die sittlichen Kräfte unsres Volkes so schwer schädigt. Wer
Treitschke ehrte und hochhielte, freute sich, daß er den späteren Eisenacher Kon¬
gressen und Beschlüssen fern blieb. Wer seine rückhaltlose Ueberzeugungstreue
und Wahrheitsliebe kannte, mußte bereits seit längerer Zeit erwarten, daß
er sich offen über die Eisenacher Gesellschaft und seine Zurückhaltung von den
weiteren Congressen aussprechen werde. Er hat das in seiner Schrift „der
Socialismus und seine Gönner" gethan, „um auf diese Schwächen des Eise¬
nacher Vereins hinzuweisen. Sollte der Widerspruch fruchten, so mußte er
von befreundeter Seite ausgehen, von einem Manne, den Niemand des Man-
chesterthums bezichtigen konnte. Aber Alles schwieg; so beschloß ich denn selbst
zu reden, auf die Gefahr hin von manchem alten Freunde verkannt zu
werden."
Wenn Treitschke den Rector magnificus der Straßburger Hochschule,
Herrn Professor Gustav Schmoller zu diesen alten Freunden rechnete, so
hat die Erfahrung gelehrt, daß seine Befürchtung verkannt zu werden,
allerdings ihren guten Grund hatte. Schmoller hat auf die sieben Druck¬
bogen der Treitschke'schen Abhandlungen in den Preußischen Jahrbüchern, mit
mehr als zwanzig Druckbogen „Einige Grundfragen des Rechts und der Volks-
wirthschaft" geantwortet. Wir haben diese Schrift Schmoller's bei ihrem
Erscheinen unfern Lesern mit dem Bemerken angezeigt, daß die zu erwartende
Replik Treitschke's jedenfalls das beste daran sein werde. Diese Replik ist
nicht ausgeblieben. Sie erschien gleichfalls zuerst in den preußischen Jahr¬
büchern. Sie ist der vorliegenden Schrift als Anhang beigegeben, unter der
Ueberschrift „die gerechte Vertheilung der Güter." Durch diesen Nachtrag hat
die ganze Schrift eine willkommene Abrundung erfahren. Die Auseinander¬
setzung Treitschke's mit dem lebhaftesten und schroffsten der Kathedersocialisten ist
hier mit einer Gründlichkeit vollzogen, die in die persönlichen Polemik einer
Hinrichtung des Gegners nahe kommt, in der Sache eingehende Darlegungen
enthält, die uns zeigen, worin und warum Treitschke's Standpunkt sich von
dem Schmoller's in den wichtigsten Streitfragen, namentlich in der Lehre der
„Gütervertheilung nach Verdienst" unterscheidet. Diesem „Kern der Irr¬
thümer" Schmoller's ist diese dritte Abhandlung Treitschke's in unsrer Samm¬
lung hauptsächlich gewidmet. Er will „dadurch zugleich dem in der Presse
weitverbreiteten Verdachte entgegentreten, als ob unsre gesammte Gelehrtenwelt
mit der bestehenden Ordnung der Gesellschaft zerfallen sei. . . Manche unsrer
Universitäten zählen in ihrem gescunmten Lehrkörper nur einen einzigen Ka
thedersocialisten: den Ordinarius der Volkswirthschaft. Unsere Gelehrten leben
fast allesammt in beschränkten Verhältnissen, sie leiden schwer unter den neuen
Zuständen der Volkswirthschaft, sie haben durchaus kein Klasseninteresse gemein
mit den aufsteigenden Mächten des Großcapitals; doch sie wissen auch, daß
die Wissenschaft den Ernst und die Strenge deutscher Bildung zu behüten hat
vor jener Verhöhnung aller guten Sitte, welche heute den Massen gepredigt
wird, und daß es ihr am Wenigsten geziemt, den Feinden der Kultur mit
unbedachten Worten entgegenzukommen."
Der Zweck seiner früheren Arbeit, sagt Treitschke, sei ein zwiefacher ge¬
wesen: sie sollte vor socialistischen Unmöglichkeiten warnen, doch ebenso be¬
stimmt eine durchdachte, schrittweis vorgehende sociale Gesetzgebung, eine weit
größere Thätigkeit der Besitzenden für das Wohl der Arbeiter fordern. Dieser
Absicht kann allerdings kaum irgend etwas fremdartiger gegenüberstehen, als
der Standpunkt Schmoller's, welcher am kürzesten in dem Satze ausgedrückt ist:
„Die wirthschaftliche Klassenbildung entspringt aus Unrecht und Gewalt."
Schmoller hat diesen Satz zwar nun zurückgenommen, als „eine von ihm selbst
verfehlte Wiedergabe." Aber nur in der Form. Die gesammte düstre Schilde¬
rung von der tragischen Schuld der höheren Stände in der neuesten Schmoller'-
sehen Schrift stützt sich auf diesen Satz. Alle Leser und Hörer Schmoller's er¬
kennen gerade in diesem Wort „den festen Kern seiner Gedanken." „Wissen
Sie denn nicht," ruft ihm Treitschke zu. „daß die Lehre von dem uranfäng¬
lichen Unrecht der Besitzenden das beliebteste und wirksamste Dogma der So¬
cialdemokraten ist? Sie senden das Brandwort unschuldig in die Welt hin¬
aus, Sie erlauben den Demagogen, bei ihren frechsten Anklagen wider
die Gesellschaft sich aus den gemäßigten Schmoller zu berufen. Ihre Gegner
wissen niemals recht, woran man mit Ihnen ist. Heute reden Sie als der
begeisterte Prophet einer ungeheuren Zukunft, morgen als der friedliche
Staatsbürger, der nichts gesagt haben will. Aehnltch verfahren Sie mit einem
anderen Krafworte der Socialdemokratie: gebt uns Reformen, sonst naht
die Revolution! Natürlich soll das Wort in Ihrem Munde nur sagen: alle
Geschichte ist Werden; versäumt man das Veraltete rechtzeitig zu beseitigen,
so brechen die zeitgemäßen Kräfte sich gewaltsam ihre Bahn — eine Wahr¬
heit, die sicherlich auf den Reiz der Neuheit keinen Anspruch hat. Doch wer
verbürgt Ihnen, daß das harmlos Gesagte heute ebenso harmlos aufgenom¬
men wird?"
Noch einmal geht Treitschke die wesentlichen Gedanken und Ergebnisse
feiner letzten Schrift mit dem Gegner durch. „Ich versuchte, aus der Natur
der Gesellschaft zu erkennen, welche Grenzen die sociale Bewegung niemals
überschreiten kann. Sie »erachten solche Erörterungen der Grundbegriffe als
leblose rechtsphilosophische Abstraktionen, Ich bleibe jedoch der altväterischen
Ansicht, daß formloses Wissen gar kein Wissen ist." Die Wissenschaft muß
genau feststellen, was Staat und Gesellschaft ist, um über die Aufgaben des
Staates und der Gesellschaft urtheilen zu können. „Mißachtet der Gelehrte
diese harte Arbeit, so zeigen sich die Folgen an der verschwommenen Unklar¬
heit seiner Lehre. Ich unternahm nun zu zeigen, daß die Gesellschaft eine
durch die Familie und das Erbrecht bedingte Gliederung, daß mit dem Be¬
griffe der Gesellschaft schon die Klassenordnung gegeben ist; eine unterste
Klasse, die Alles in sich aufnimmt, was durch Schuld oder Unglück in den
höheren Klassen sich nicht behaupten kann, und ihrerseits wieder die tüchtig¬
sten Kräfte in diese oberen Schichten emporsendet." Schmoller hatte diese
einfachen Sätze im Wesentlichen zugegeben und Treitschke nur vorgeworfen,
daß er das Verhältniß der Klassen zu einander als unwandelbar ansehe.
Lange Abschnitte seiner Abhandlung hatten aber ausschließlich die allmähliche
Befreiung und wirthschaftliche Erhebung der niederen Stände behandelt.
Was die beiden Gelehrten trennt, ist vielmehr die an die Grundlagen der Ge¬
sellschaft selbst gerichtete kecke Frage Schmoller's: was soll sein? Treitschke
antwortet: so ist es und es kann nicht anders sein. Schmoller eröffnet der
Gesetzgebung und der Gesittung ein grenzenloses Gebiet socialer Verbesserungen.
Treitschke erklärt die Nothwendigkeit der Klassenordnung aus den körperlichen
Bedingungen unseres Lebens, aus Bedürfnissen und Neigungen der Mensch¬
heit, welche kein Staatsgebot und keine Kultur jemals aufheben kann. „Die
moderne Staatswissenschaft soll anheben mit den Lebensbedingungen der Ge¬
sammtheit, nicht wie das alte Naturrecht mit den Rechten des Einzel¬
nen. Ich schließe daher: die Gesellschaft ist bestimmt den von früheren
Geschlechtern überkommenen Bestand der Cultur zu wahren und zu mehren;
folglich muß gearbeitet werden." Diese Gedanken wurden schon früher näher
ausgeführt und begründet mit der segensreichen Kargheit der Natur, der
nicht minder segensreichen Freude des Menschen am Dasein, der unendlichen
Bedürftigkeit, der natürlichen Ungleichheit des Menschen, endlich dem unab¬
änderlichen Gesetz der Arbeitstheilung, und daraus der bündige Schluß ge¬
zogen: „nach der Ordnung der Natur muß die ungeheure Mehrheit der
Menschen immer und überall der groben Arbeit, der Bewältigung des Stoffes
sich widmen und diese Masse kann nur in beschränkten wirthschaftlichen Ver¬
hältnissen leben." Denn nur die Noth und Entbehrung zwingt zur Erfüllung
der härtesten und für die Cultur doch unentbehrlichen Arbeit. „Unser alter
Herrgott läßt sich in der Erziehung des Menschengeschlechts nicht stören durch
socialpolitische Empfindsamkeit; er erinnert die schwachen Sterblichen seit
Jahrtausenden an ihre körperliche Bedürftigkeit und wird auch fernerhin
durch den heilsamen Zwang der Noth dafür sorgen, daß die groben Be^
dürfnisse des Menschenlebens durch die harte Arbeit der Masse befriedigt
werden."
So sind die Grundlagen der Gesellschaft eine Ordnung der Natur, eine
lebendige Arbeitsgemeinschaft, in der jedes Glied empfängt und gibt; niemand
vermag zu sagen, welche Klassen am meisten gewonnen haben. „Von socialem
Unrecht darf der Historiker nun dann reden, wenn er das Bewußtsein des Un¬
rechts in der Zeit selber findet." Mit dem Unterschied des Vermögens und
der Beschäftigung, schloß Treitschke weiter, ist der Abstand der Bildung ge¬
geben. Das führt Schmoller zu dem Einwand: „soll gar keine Gemeinschaft
der nationalen Bildung bestehen?" Gewiß, erwidert Treitschke. Aber die Ein¬
heit der nationalen Bildung soll „darauf hinarbeiten, daß gewisse sittliche
Grundwahrheiten der gesammten Nation zur andern Natur werden; sie soll
dem Fürstensohn wie dem Handwerkerkinde ein lebendiges Pflichtgefühl erwecken,
den Kindern aller Confessionen Ehrfurcht vor der sittlichen Leitung der Welt
und Duldung gegen Andersgläubige, dazu Achtung vor dem Gesetze und jenen
schlichten Nationalstolz, der jedes Opfer für das Baterland als selbstverständ¬
lich auf sich nimmt." Diese stets fortgeschrittene gemeinsame und einheitliche
Bildung sei in den letzten Jahrzehnten schwer geschädigt durch das Aufwuchern
der anmaßenden Halbbildung, namentlich in den niederen Klassen, wofür sie
den Pflicht- und Ehrbegriffen der Gebildeten ferner stehen, als je zuvor. Es
werde schwer fallen, diese Kluft wieder zu überbrücken. Aber auch , wenn es
gelinge, bestehe über der Durchschnittsbildung der Massen immer eine höhere
Bildung. Wer sie erreicht, steigt eben dadurch in die höheren Klassen auf.
Ueberhaupt vollzieht sich die allmähliche Milderung der Klassengegensätze auf
zweifachen Wege: durch das steigende Ansehen der freien Arbeit und das
Steigen der politischen Rechte, das freilich auch bei der freiesten Verfassung
niemals dahin führen wird, daß die niederen Klassen in den Parlamenten
und im Staate herrschen; noch sicherer aber durch die Beseitigung der Schran¬
ken, welche den in Armuth Geborenen hindern emporzusteigen in den Kreis
der Besitzenden und Gebildeten. „Der freie Wettbewerb Aller um die Güter
der Gesittung, deren volles Maß immer nur von einer Minderheit erreicht
werden kann — das ist es, was ich unter vernünftiger Gleichheit verstehe."
Gustav Schmoller ist mit diesem Gleichheitsbegriffe sehr unzufrieden. Er
versucht eine rechtliche Ordnung einzuführen in die Kämpfe des Wettbewerbes,
die ihm chaotisch erscheinen. Er entlehnt dem Aristoteles den Begriff der ver¬
theilenden Gerechtigkeit und fordert: „das Einkommen und Vermögen soll den
Tugenden und Leistungen entsprechen;" „die äußere Vertheilung der Güter
und Ehren hat den inneren sittlichen und geistigen Eigenschaften der Menschen
zu entsprechen." „Sie erneuern damit in mildernder Umschreibung die Lehre
der Se. Simonisten!" ruft ihm Treitschke zu. „Jedem nach selner Fähigkeit,
jede Fähigkeit nach ihren Leistungen! Ich sehe in dieser Lehre eine unge¬
heuerliche Vermengung und Verwirrung von grundverschiedenen sittlichen, poli¬
tischen, rechtlichen und wirthschaftlichen Begriffen und stelle Ihnen geradezu
die Wahl, entweder auch nur einen einzigen bündigen Schluß aus Ihrer
Forderung zu ziehen, dann vernichten Sie jede Ordnung, jeden historischen
Zusammenhang in der Gesellschaft. Oder Sie gießen Wasser in Ihren Feuer¬
trank, daß nichts davon übrig bleibt als die Tugendlehre: Jeder bestrebe
sich seiner socialen Stellung durch ernste Pflichterfüllung Ehre zu machen.
Diese Weisheit konnten Sie auch, aus dem kleinen Katechismus Und aus
Gellert's Fabeln lernen."
Der Rest der Abhandlung Treitschke's ist der Widerlegung dieser Thor¬
heit gewidmet. Er weist nach, daß nicht einmal den eigenen Beamten gegen¬
über der Staat, die Ehre nach den Tugenden und Leistungen vertheilen kann.
Noch weit weniger die Güter. Er legt Schmoller ans Herz, daß er mit
seinen menschenfreundlichen Plänen dem Armen geradezu den einzigen Trost
raubt, der ein edles Herz hinwegtragen kann über die unvermeidlichen Härten
der wirthschaftlichen Ordnung. Er zeigt, wie Schmoller mit seinen ethischen
Forderungen allmählich auf den Boden des platten Epikuräerthums herab¬
sinkt, da der Plan, die Tugenden durch irgend welche Gesellschaftsformen
zu belohnen, nur einer sinnlichen Lebensanschauung entspringt. Er fragt
dann: wie soll der Gedanke ins Leben treten, wie sollen die Güter nach
Verdienst vertheilt werden, da sie heute nur durch die freie Arbeit der
Gesellschaft selbst vertheilt werden, d. h. in der Weise, die heute in den
Zuständen der Gesellschaft die einzig mögliche ist. Wie wollte man auch
die zahllosen Leistungen der Gesellschaft nach den Grundsätzen des Rechts
gegeneinander abschätzen? Treitschke erwartet schließlich von jeder aus sorg¬
fältiger statistischer Forschung hervorgegangenen Reform, von der Enquüte
der Reichsregierung über die Arbeiterverhältnisse bei weitem mehr, als von
den willkürlichen theoretischen Speculationen in Schmoller's Manier. Sehr
richtig bemerkt er: „die sociale Frage beginnt endlich sich in eine lange
Reihenfolge praktischer Einzelfragen zu zerlegen. Der Zeitpunkt ist günstig;
der Niedergang der Geschäfte und das Sinken der Löhne haben die socialde¬
mokratischen Bewegungen für einige Zeit ins Stocken gebracht; unberührt von
Haß und Furcht kann der Reichstag an die Arbeit gehen."
In Tagen, die noch dem Späterlebenden als ganz besonders verhängniß-
voll erscheinen werden durch den gleichzeitigen Rückgang der deutschen In¬
dustrie, das Wiederaufleben der Schutzzöllnerei und das Auftreten des Ka¬
thedersocialismus gehört das Erscheinen einer Schrift, wie der vorliegenden
Am Is. Juni ist der Landtag geschlossen worden, wie man zu sagen
pflegt, ohne Sang und Klang. Der Vicepräsidenr des Staatsministeriums,
Finanzminister Camphausen, verlas die königliche Botschaft, welche den Schluß
ausspricht, vor den beiden im Saale des Abgeordnetenhauses vereinigten Häu¬
sern, und der Landtag ging auseinander. Wir haben schon öfter hier be¬
merkt, daß wir mit dieser Beschränkung des parlamentarischen Ceremoniels
auf das nothwendigste Maß recht wohl zufrieden sind. Ceremonien gehören
zur Aesthetik des öffentlichen Lebens, das der Aesthetik so gut bedarf wie ein
anderes Lebensgebiet. Aber von den festlichen Eindrücken gilt vor Allem das
Goethische „Alles in der Welt läßt sich ertragen" u. s. w. Wir haben zu
viel Parlamente, zu viel Eröffnungen und Schlüsse, um das Festliche solcher
Abschnitte einstweilen empfinden zu können. Wenn wir einmal weniger zu
arbeiten haben und wenn wir werden gelernt haben, mit sparsamerem Gebrauch
der Arbeitskräfte zu arbeiten, dann werden Beginn und Schluß der Arbeit
uns wieder Festtage sein können.
Wichtige Verhandlungen hat der Landtag in dieser Woche nicht mehr
geführt, unser Bericht hat von dieser Seite keinen Stoff. Aber wir müssen
der Session ihren Epilog halten, umsomehr, als diesmal alle Welt epilogisirt,
was einerseits ein Beweis von Theilnahme, andererseits auch von Unklarheit
und widersprechender Beurtheilung der abgelaufenen Session ist.
Die Hauptwerke dieser Session sind: der dritte Jahrgang der Kirchen¬
gesetze und der zweite Jahrgang der Gesetze zur preußischen Verwaltungs¬
reform. Kirchengesetze haben wir erhalten: 1873, 1874 und 1875. Wird
der diesmalige Jahrgang der letzte sein? Nach einem Wort des Fürsten
Bismarck möchte man dies für die Ansicht oder den Wunsch der Regierung
halten. Unsererseits sehen wir noch keinen letzten Jahrgang. Einmal stehen
die wichtigen Gesetze über die abschließende Organisation der evangelischen
Kirche noch aus, welche zunächst zwar durch das landesherrliche Kirchenregi¬
ment und durch die im Herbst zusammentretende Generalsynode entworfen
werden müssen, bei deren rechtlichem Abschluß aber, wie allgemein anerkannt
ist. die Mitwirkung des Staates nicht entbehrt werden kann. Aber auch mit
der römischen Kirche ist unseres Erachtens die Staatsgesetzgebung durchaus
zu keinem Abschluß gelangt. Die diesmaligen Kirchengesetze bezogen sich auf
die Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemeinden, auf die Rechte
der Altkatholiken an dem kirchlichen Vermögen, auf das Verbot der geistlichen
Orden, auf die Einbehaltung der Staatsdotation für die katholische Kirche,
endlich, last not least, auf die Aufhebung der bekannten drei Verfassungs¬
artikel 16, 16 und 18. Die Wiederherstellung des königlichen Planet für die
öffentliche Bekanntmachung amtlicher Verordnungen der römischen Kirchenoberen
wird nach Aufhebung des entgegenstehenden Artikel 16 allerdings wohl auf
dem Wege der Verwaltung erfolgen können. Ebenso die Anordnung, daß
die amtliche Correspondenz der inländischen Kirchenoberen mit ihren aus¬
wärtigen Häuptern nur durch Vermittlung oder wenigstens unter Vorwissen
der Staatsregierung geführt werden darf. Man soll gegen eine solche Ma߬
regel nicht den allzu wohlfeilen Einwand erheben, daß ja das Briefgeheimniß
unverletzlich und die Postschalter für alle Welt offen seien. Es ist ein Unter¬
schied, ob inländische Kirchenobere sich auf Befehle ihrer Oberen berufen dürfen,
die ihnen auf verbotenen Wege zugegangen oder die sie wenigstens der Staate
regierung nicht mitgetheilt, oder ob sie für eine solche Unterlassung strafbar
gemacht werden können. Hierzu würde es freilich eines Gesetzes bedürfen,
eines Gesetzes, das jedenfalls unentbehrlich werden wird an dem Tage, wo
die römische Kirche einem Papst gehorcht, den das deutsche Reich nicht aner¬
kennt. Ein solcher Fall kann alle Tage eintreten. Wir werden dann auch
einer ähnlichen Einrichtung bedürfen, wie der englische Testeid war, für alle
diejenigen Katholiken, welche öffentliche Aemter bekleiden wollen. Auch können
gesetzliche Strafen nothwendig werden gegen ungesetzliche Vikare geistlicher
Aemter und den Gehorsam, der ihnen ungesetzlich und zum Widerstand gegen
die Staatsgewalt geleistet wird. Die Sequestration des kirchlichen Stiftungs¬
vermögens kann durch den Mißbrauch desselben bei ungesetzlicher Verwaltung
nothwendig werden. Alle diese Dinge schlagen wir nicht etwa vor, aber wir
sehen die Nothwendigkeit von dergleichen Maßregeln voraus, wenn Rom
seinen Kampf gegen den deutschen Staat nicht einstellt. Und wo wäre auf
solche Einstellung die entfernteste Aussicht?
Von den Gesetzen zur preußischen Verwaltungsreform haben wir diesmal
den zweiten Jahrgang bekommen. Den ersten Jahrgang bildet die Kreis¬
ordnung von 1872, welche im Dezember des genannten Jahres durch den
König vollzogen wurde. Auch von den Verwaltungsgesetzen steht noch mancher
Jahrgang in Aussicht. Man erwäge, daß die Kreisordnung und die dies¬
jährige Provinzialordnung, sowie das Gesetz über die Verwaltungsgerichte
einstweilen nur für fünf Provinzen erlassen sind. Weiter in Aussicht ge¬
nommen sind: eine Landgemeindeordnung, eine Städteordnung, eine neue
Eintheilung der Staatsbehörden, die Ausdehnung der bisherigen Reformen
auf die noch nicht einbefaßten Provinzen, die Wiederaufnahme des Gesetzes
über die Bildung einer Provinz Berlin. So viel steht bis jetzt in Aussicht,
aber noch manche Aufgabe wird sich an den Neubau knüpfen.
Was von dem bisher Geleisteten zu urtheilen, darüber haben wir uns
ausführlich ausgelassen, bei der Kreisordnung anerkennend, bei der Provin-
zialordnung mit scharfem Tadel. Ueber das letztere Gesetz wird noch immer
viel gestritten. Wenn wir freilich den Tadel der Fortschrittspartei hören,
möchten wir uns zum Anwalt des Gesetzes machen. Diese Partei hat aus¬
zusetzen, daß die Staatsverwaltung nicht in die Hände demokratischer Wahl¬
körper gelegt worden, daß der einheitliche Charakter des Staates zu sehr ge¬
wahrt geblieben. Man will die preußische Monarchie in demokratische Schwei¬
zerkantons auslösen. Da müssen wir freilich ein Gesetz loben, das unter
manchem unnützen Beiwerk die Dinge möglichst beim Alten läßt. Die national¬
liberale Partei rühmt sich des Gesetzes als eines Triumphes, den sie errungen.
Keineswegs nur mit Unrecht. Die Partei hatte die Fahne dieser Provinzial-
ordnung erhoben und hat die Fahne, nachdem ein paar Stücke abgehauen
und andere Stücke dazu gesetzt worden, auf der zu nehmenden Wahlstatt auf¬
gepflanzt. Uno vietoii'ö «zst. toujours boime ü, ciuslyue mo8<z, sagte Napo¬
leon I. Dieser Spruch gilt aber ganz besonders von parlamentarischen Par¬
teien. Die fortschrittliche Kritik prophezeihr zwar, die nationalliberale Partei
werde die Verantwortung dieses Werkes nicht tragen können, soll heißen: die
Folgen des Gesetzes würden der Partei die Wähler entfremden. Aber das
ist eitel Wind. Die Wähler werden von dem Gesetz zunächst und vielleicht,
so lange es in Geltung ist, nicht viel merken. Das ist gerade, was die
Wähler jetzt am meisten brauchen und verlangen: Ungestörtheit von politi¬
schen Dingen. Unterdessen bleibt der nationalltberalen Partei der Ruhm,
daß sie in der Hauptsache ihre Pläne durchsetzt und den Stempel derselben
den Gesetzen aufdrückt. Wenn die UnVollkommenheiten des Gesetzes einmal
einer besseren Reform Platz machen werden, so wird die nationalliberale Partei
noch immer sagen können, daß das jetzige Werk zu den späteren besseren
Schöpfungen wenigstens den ersten Grund gelegt, wenigstens den Uebergang
gebildet habe. Daß die Sache so steht, gereicht uns zur Genugthuung und
zur Beruhigung. Die nationalliberale Partei hat nicht nach unserm Wunsch
gearbeitet, aber eine solche Reform kann überhaupt nur gut ausfallen unter
der Leitung einer Regierung, die ihrer Aufgabe Herr ist. Das war diesmal
entschieden'nicht der Fall. Fürst Bismarck hat sich diesem Reformwerk, oder
vielmehr Flickwerk, ganz fern gehalten. Er mag darin einen Versuch gesehen
haben, für dessen nicht allzu große Schädlichkeit im schlimmsten Fall seine
eigene Beschaffenheit und der im Wesentlichen unerschütterte Bestand der bis¬
herigen Verwaltung sorgen wird. Wenn der Versuch eine Verwirrung her¬
vorrufen sollte, die zum öffentlichen Aergerniß würde, so würde man doch an
erster Stelle nicht die nationalliberale Partei, sondern das Ministerium des
Innern verantwortlich machen. Gesiegt zu haben und sicher zu sein, daß
Einem zwar die guten Folgen, aber nicht die etwaigen Nachtheile, die auch
ein Sieg haben kann, angerechnet werden, ist eine sehr günstige Lage für eine
Partei/ Wir freuen uns dieser Gunst, welche auf der nätionalliberalen Partei
ruht, weil sie eine verdiente ist, verdient durch patriotische Hingebung an die
besten und im Ganzen richtig erkannten Zwecke. Doch will solche Gunst
immer aufs Neue verdient sein. Das angesammelte Kapital derselben kann
einen Fehler übertragen, kann die Schuld desselben ganz auf andere Schultern
legen, die ihren Theil daran haben. Alsdann aber muß der Kapitalverlust
wieder eingebracht werden durch unzweifelhafte, womöglich ganz fehlerfreie
Verdienste.' Die nationalliberale Partei wird für solche Verdienste sorgen,
Ein erster Schritt zur freieren Entwickelung des Landes im Sinne der
Selbstverwaltung ist geschehen. Am 17. dieses Monats wird zum ersten Male
der Landesausschuß für Elsaß-Lothringen in Straßburg zusammentreten. Die
Gegenstände seiner Berathung sind heute, wo ich Ihnen diese Zeilen schreibe,
noch nicht genauer bekannt. Doch werden die meisten wohl mit der finan¬
ziellen Lage des Landes zu schaffen haben, soll unter Anderm auch eine
Taxordnung über die Gebühren der Advocaten und Anwälte in den Reichs¬
landen den Delegirten zur Genehmigung vorgelegt werden. Doch bleibt es
immerhin fraglich, ob man nicht diese Angelegenheit besser bis zu dem Zeit¬
punkte einer allgemeinen Regelung derselben durch das zu erwartende Reichs¬
gesetz verschoben hätte. Für die Advocaten war allerdings seither in dieser
Beziehung das Elsaß und sein Schwesterland ein wahres Eldorado. Es gab
hier keine eigentliche Advocaten-Taxe; alles war vielmehr der freien Verein¬
barung der Parteien mit ihrem Anwälte überlassen, — ein Modus, der
vielleicht dennoch für das Verhältniß des Advocaten zu seinem Klienten der
einzig würdige und zweckentsprechende ist, vorausgesetzt natürlich, daß Ersterer
sein „nobilo oiücium" nicht blos von der geschäftsmäßigen und gewinn¬
bringenden Seite auffaßt.
Auch die Frage über Beibehaltung der Handelsgerichte in Elsaß-Lothringen
wird den Landesausschuß wohl nach dem Wunsche der Bevölkerung im Vor¬
beigehen beschäftigen. Die Agitation zu Gunsten derselben hat ziemlich um¬
fangreiche Dimensionen und in Straßburg selbst beinahe einen etwas fieber¬
haften Charakter angenommen. Auf den Rath des Berliner Correspondenten
des „Elsässer Journals" hat man sich dort in kaufmännischen Kreisen mir
anerkennenswerther Rührigkeit zur Herstellung einer Petition im obigen
Sinne an den Präsidenten und die Mitglieder des Landesausschusses bemüht.
Gleich am andern Tage wurde denn auch der Wortlaut dieser Petition in
den Spalten des genannten Journals mitgetheilt. Die Sprache darin ist
energisch, wenn nicht etwas schroff. Doch' wird sie ihre Wirkung auf die
Landsleute nicht verfehlen. Ob sie darum aber auch bet der Justiz-Kom¬
mission des Reichstages und bei diesem letztern selbst „ziehen" wird, das bleibt
freilich sehr die Frage. Wie man nämlich vernimmt, sind wenigstens die
juristisch gebildeten Mitglieder dieser hohen Körperschaft ohne Unterschied der
Fraction auf die Handelsgerichte nicht sehr gut zu sprechen. Auf der andern
Seite scheint allerdings der Wunsch des überwiegenden Theiles der Nation
sich lebhaft für Beibehaltung derselben zu interessiren. resp, für Beischaffung
in denjenigen deutschen Landen, welche bisher dieses Institut nicht gekannt
haben. Und dies darf nicht unberücksichtigt gelassen werden. Dabei muß
constatirt werden, daß wenigstens für das Elsaß, ebenso wie für die Rhein¬
lande überhaupt, in denen jenes Institut seit zwei Menschenaltern völlig
in sueeum et simguinem der Bürger übergegangen ist. die urplötzliche Auf¬
hebung dieses liebgewordenen Bruchstückes einer volksthümlichen Justiz gegen
Wunsch und Willen der Bevölkerung ein directer und sehr schmerzlicher Ein¬
griff in das volksthümliche Bewußtsein sein würde. Auch darauf sollte man
selbst abgesehen von der theoretischen und practischen Nützlichkeit oder Schäd¬
lichkeit dieser Einrichtung, unseres Erachtens billige Rücksicht nehmen.
Im Ober-Elsaß rüstet man sich indessen allerwärts zur Vorbereitung sür
den im Herbste dieses Jahres, in der Woche vom 26. September bis 3. Ocrober
stattfindenden „oenologischen Congreß" oder, wie man das Ding besser mit
dem deutschen Ausdruck bezeichnen sollte, zu der „Wein-, Acker- und Garten¬
bau-Ausstellung" in Colmar. Das Programm derselben ist vor Kurzem ver¬
öffentlicht worden. Die Ausstellung soll vier Abtheilungen umfassen, für
Nebbau, Ampelographie, Acker- und Gartenbau. Die wichtigste ist natürlich
die erste, in welcher in vorderster Linie Muster deutscher Flaschenweine para-
diren werden. Man wird dabei Gelegenheit finden, das elsässtsche Gewächs
mit den übrigen einheimischen Weinsorten zu vergleichen. Ob der elsässer
Wein dann wohl die Probe aushalten wird? . . . Einen leisen Zweifel kann
man dabei wohl kaum unterdrücken. Einstweilen schwärmt man allerdings
in Altdeutschland gar sehr für die elsässischen Weine. Jede größere Stadt
möchte wo möglich gern ihre „Elsässer Tavern" mit den weißgeschürzten
Kellnern und echtem d. h. stark mit Belladonna gewürztem Straßburger Bier
haben. Hier ist es dagegen für den Eingewanderten außer allem Zweifel,
daß der elsässtsche Wein einige Stufen niedriger steht, als unsere alten ein¬
heimischen Gewächse an Rhein und Mosel. Was man auch immer zu
seinen Gunsten vorbringen mag, er ist und bleibt der „Bauer" unter den
Weinen. Das Rohe, Uncultivirt'e wird der Weinschmecker stets herausschmecken.
Ihm fehlt einerseits die herrliche, wohlriechende Blume des Moselers und
andererseits die anregende Kraft des Rheinweines. Selbst die feinsten elsässi¬
schen Weinsorten sind von jenem Vorwurfe der Rusticität, nicht freizuspechen.
Zwar sagt ein alter Vers: „Zu Thann im Rangen, zu Gebweiler in der
Wanne, zu Türkheim im Brand, wächst der beste Wein im Land." Aber
selbst der feurigste Türkheimer hat einen zwar anfangs pikanten, später aber
sehr unangenehm berührenden Erdgeschmack, während beispielsweise der Geb¬
weiler „Kitterle," eine der Perlen elsässer Weines, schon nach wenigen Jahren
so scharf und „krätzig" wird, daß man ihn nur aus kleinen Schnapsgläschen
trinken kann und sein Geschmack auch lebhaft an gefälschten Cognac erinnert.
Doch sollen diese oenologischen Vorstudien zu dem Colmarer Congresse
keineswegs die Absicht haben, den elsässer Wein und dessen Massenvertrieb
bei uns zu discreditiren. Wir wünschen demselben vielmehr von ganzem
Herzen einvivut, üoreat, ereseÄt in deutschen Landen, und das um so mehr,
als die diesjährige Ernte sowohl an Quantität, wie an Qualität zahlreiche
frühere Jahrgänge — man wird bis zu den 40er Jahren hinabsteigen müssen
Mit nächstem Hefte beginnt diese Zeitschrift das III. Quartal ihres
34 Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Post-
anstalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 7 Mark 60 Pfennige.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, im Juni 1876. Die Verlagshandlung.