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]]>Zntschrifl für Politik Literatur und Kunst.
34. Jahrgang.
I. Semester. I. Sand.
Leipzig.
Verlag von Friedrich Ludwig Herbi^,
(Fr. Will), Gnmow,)
1875.
Ein neuer Band der amerikanischen Humo¬
risten. (Bailey Nldrich. Die Geschichte
eines bösen Buben. Leipzig F. W. Gru-
now.) S. 420.
Als Fürst Bismarck in der denkwürdigen Reichstagssttzung vom vierten
December das Wort sprach: das Jahr 1874 sei ein eminent friedliches ge¬
wesen, antwortete ihm der übliche ungestüme Ausdruck des Zweifels aus den
Bänken des Centrums. —
Dieser parlamentarische Borgang ist in hohem Grade bezeichnend für die
Signatur unserer politischen Zustände überhaupt. Wir erkennen mit Freuden
an, daß die Zuversicht auf einen für Jahre dauernden Frieden mit unseren
auswärtigen Nachbarn selten so begründet gewesen, wie am Schlüsse des
alten Jahres. Wir blicken mit gerechtem Stolze weiter auf die Resultate
jener Friedensarbeit, die Deutschland in seinem Innern dieses Jahr hindurch
gethan hat. Und dennoch können wir uns nicht verhehlen, daß unser Volk
von innerem Frieden weiter entfernt ist, als jemals. Wer in einem rein
protestantischen Lande lebt, hatte bis vor Kurzem kaum eine Ahnung davon,
bis zu welchem Grade von fanatischem Hasse und gesetzloser Auflehnung gegen
das Reich und seine Organe die demagogische Kunst des Ultramontanismus
die Bewohner weiter Provinzen des deutschen Reiches entflammt hat.
Das vergangene Jahr hat jedenfalls das Verdienst, in dieser Hinsicht
die Möglichkeit einer Täuschung nicht mehr übrig gelassen zu haben. Wir
sahen die Jesuiten presse Deutschlands überall Partei nehmen für Feinde des
Reiches. Ohne Schamröthe verdammte sie die Verwahrung der deutschen
Regierung in Versailles gegen die, den deutschen Namen brandmarkenden
Hirtenbriefe französischer Bischöfe. Ohne Anwandlung von Ehrgefühl ver¬
theidigte sie die frommen Mörder des deutschen Hauptmannes Schmidt. Un¬
bedenklich nannte sie den Mordversuch von Kisstngen bald eine Farce, bald eine
vom Kanzler selbst verschuldete Unthat. Der Cynismus dieser Jesuitenmoral
bestieg sogar später die Tribüne des deutschen Reichstags in der Person des
Herrn Windthorst-, während der geprüfte Vaterlandsverrath und die unge-
duldige Bereitschaft zum Glaubenskrieg durch den berufenen Mund des Herrn
Jörg redete. Eine neue Stufe von Auflehnung beschritten die hierarchischen
Fanatiker als in diesem Jahre zum ersten Male seit dem Kölner Bischofs-
streit Bischöfe gefangen gesetzt und vor Allem als mit der Ausweisung reni-
tenter katholischer Priester aus ihrem Sprengel Ernst gemacht wurde. Die
ungesetzliche Ausübung des Priesteramtes durch diese abgesetzten Eindringlinge
bezeichnete die Jesuitenpresse dem fanatisirten Haufen als heilige Glaubens¬
treue, das rächende Eingreifen des Staates als gemeine Tempelschändung!
Wahrlich, wo solche Verdrehung der Wahrheit und Gesetze gewagt, geglaubt
und vom Wolke begünstigt wird, wo sie Monate und Jahre lang andauert,
trotz aller immer energischeren Anstrengungen des Staates, ihrer Herr zu
werden — da ist vom inneren Frieden in der Hauptsache noch keine Rede.
Sicher ist, daß Fürst Bismarck, als er dem Jahr 1874 jenes Zeugniß hervor¬
ragender Friedlichkeit ausstellte, ausdrücklich nur von den Beziehungen
Deutschlands zu seinen Nachbarn sprach, und daß er selbst im weiteren Ver-
laufe seiner Rede die Gefahren für die öffentliche Moral und den deutschen
Staat, welche der ultramontane Feldzug gegen das deutsche Reich mit sich
führt, so klar und furchtbar veranschaulichte, als irgend Jemand vor ihm.
Die feierliche Stunde des Jahreswechsels ist besonders berufen, uns Allen
den ganzen Ernst der Thatsache einzuprägen: daß Deutschland nicht eher
Frieden findet, bis der große Kulturkampf, in dem wir mitten inne stehen,
zu Gunsten der deutschen Staatsgewalt ausgekämpft, daß es Pflicht jedes
deutschen Patrioten ist, das Ende dieses Kampfes sobald als nur möglich
herbeizuführen. —
Es wäre sehr kurzsichtig, wollte man leugnen, daß jeder der diploma¬
tischen Erfolge, welche der geniale Leiter der deutschen Politik auch im ver¬
gangenen Jahre aufzuweisen hat, werthvolle neue Bürgschaften geliefert hat
für die Beschleunigung und Sicherung unseres endlichen Sieges über die strei¬
tende römische Kirche. Dieser unvergleichlichen Staatskunst verdanken wir vor
allem die völlige Jsolirung der ultramontanen Kriegsmacht in Deutschland
von allen auswärtigen Feinden des Reiches. Niemals haben wenige Tage so
viel und Bedeutendes zum Ruhme dieser Staatskunst beigetragen, als die Ge¬
richtsverhandlungen im Proceß Arnim. Die Veröffentlichungen, mit denen
die höchstgestellten Feinde des Kanzlers ihn zu verderben dachten, legen Zeug¬
niß ab für die beispiellose Ueberlegenheit seiner Einsicht, für die bewunderungs¬
würdige Ehrlichkeit und Einfachheit seiner Politik. Wir fragen uns bang,
was aus dem Reiche geworden wäre, wenn der Kanzler den mächtigen In¬
triganten, die bis in die jüngsten Tage hinein mit Arnim ihr heilloses heim¬
liches Spiel gegen den Fürsten trieben, mißmuthig gewichen, und.die Leitung
der deutschen Geschicke jener eiteln täppischen Unfähigkeit des Nebenbuhlers
überlassen hätte, die aus allem Thun des bestraften Botschafters so komisch
hervorschaut. Und dieser Proceß hat nur die deutsche Politik Frankreich gegen¬
über enthüllt. Die kirchenpolitischen Depeschen sind, soweit Arnim sie nicht
bereit? früher verrathen hatte, Geheimniß geblieben. Aber in den jüngsten
Tagen noch hat die Zurückziehung der Budgetposition für einen deutschen
Gesandten beim päpstlichen Stuhl aller Welt gezeigt, wie weit die Feindselig¬
keit auf römischer, die Erkenntniß und Energie auf deutscher Seite gediehen
sind. Und wie erfolgreich Regierung und Volk in Spanien, in Italien, in
England und Rußland für die deutsche Politik gewonnen wurde, dafür liegen
von allen Seiten unvergessene öffentliche Zeugnisse und Kundgebungen vor.
So ist es gelungen, die römischen Kriegsknechte in Deutschland durchaus auf
sich selbst zu stellen. Selbst die Fühlung mit dem Oberbefehlshaber in Rom
beginnt mitunter den deutschen Führern der Schwarzen zu fehlen.
Auch die Erfolge der parlamentarischen Arbeit dieses Jahres erachten
wir keineswegs von geringer Bedeutung für die Entscheidung des großen
Kulturkampfes. Schon die Resultate der Reichstagswahlen im Vorfrühjahr
gaben der Entwickelung des deutschen Parteilebens einen sehr energischen An¬
stoß. Das Anwachsen der Socialdemokraten, die erstaunliche Zunahme des
schwarzen Centrums im Reichstage legte den Patrioten in den von den Reichs-
feinden zumeist bedrohten Landestheilen: in den Rheinlanden, in Westphalen,
in Schlesien, in Baiern, in Sachsen die dringende Verpflichtung auf, alle
kleinen trennenden Fractionsunterschiede der reichstreuen Männer bei Seite
zu setzen, und, gewitzigt durch das einmüthige Zusammenhalten der Reichs¬
feinde, diesen bei jeder Aeußerung des politischen Lebens die geschlossene
Phalanx der Reichsfreunde gegenüberzustellen. Aus diesem löblichen Streben
ist überall in den genannten Districten des deutschen Reiches die Bil¬
dung von „Reichsvereinen" hervorgegangen, die zum Theil schon erhebliche
Leistungen auszuweisen haben und sich überall der Förderung und der Aner¬
kennung der Regierung erfreuen, mit Ausnahme des Königreiches Sachsen,
wo die Regierung sich öffentlich gegen den Reichsverein erklärte und ihm die
nachgesuchte Ertheilung von Corporationsrechten verweigerte, weil sie sich selbst
außer Stande erklärte, reichstreue Vereinigungen von reichsseindlichen zu un¬
terscheiden.
Von der größten Bedeutung waren die Arbeiten des deutschen Reichstags
selbst. Im Frühjahr schon setzten die reichsfeindlichen Parteien und der doc-
trinäre Radicalismus alle Kraft daran, das deutsche Militatrgesetz zu Fall zu
bringen. Die absolute Sicherstellung der deutschen Heeresbedürfnisse auf sieben
Jahre ging aus diesen lebhaften Kämpfen hervor; und nicht am wenigsten
ist dieser rühmliche Beschluß des Reichstags zu danken dem einmüthigen pa¬
triotischen Drängen des ganzen deutschen Volkes, das in taufenden von
Adressen, Petitionen und Briefen damals die Vertreter des Volkes anging,
eine Schwächung der deutschen Wehrkraft unter keinen Umständen zu dulden.
Einen andern sehr erfreulichen Act der Gesetzgebung brachte der deutsche Reichs¬
tag gleichfalls noch im Frühjahr zum Abschluß: das deutsche Preßgesetz, un-
zweifelhaft eines der freisinnigsten Preßgesetze aller geordneten Staaten. Daß
die deutschen Regierungen inmitten der hohen Wogen des entfesselten ultra¬
montanen und socialistischen Elementes ein solches Maß von Freiheit der
Presse zu gewähren wagten, ist ein erfreulicher Beweis ihrer Stärke. Die im
Herbst wieder aufgenommene parlamentarische Arbeit berieth bis zum Schlüsse
des Jahres über die Verhältnisse der neuen Reichslande, vornehmlich in finan¬
zieller Beziehung, bildete das deutsche Heereswesen weiter aus durch das Land¬
sturmgesetz, das Gesetz über die Controle der Beurlaubten und die Natural¬
leistungen der bewaffneten Macht im Frieden. Der Haushaltetat des Reiches
wurde durchberathen, das Markenschutzgesetz, der wichtige berner Weltpost¬
vertrag u. f. w. angenommen, und mit der Berathung der großen drei Justiz¬
gesetze und des Bankgesetzes begonnen, die der Reichstag endgültig feststellen
wird, bevor er auseinandergeht. Auch ein Reichsgesetz über die obligatorische
Civilehe wird vom Reichstag angenommen werden, ehe er sich zu seiner Früh¬
jahrssitzung vertagt. Diese Frühjahrssitzung selbst wird dann das Reich mit
denlgroßen Justizgesetzen beschenken: einer deutschen Straf- und Civilproce߬
ordnung und einer deutschen Gerichtsordnung. Alle diese Arbeiten kommen
unzweifelhaft dem nationalen Geiste, der Befestigung deutschen Gemeinseins
und deutscher Staatsmacht in hohem Maße zu statten. Das Gesetz über die
obligatorische Civilehe namentlich windet der hierarchischen Unbotmäßigkeit eine
der besten Waffen ausser Hand. Wir wollen nicht vergessen, daß die Ein¬
mischung der Kurie in die preußische Ehegesetzgebung es war. die den Kölner
Bischofstreit entzündete, daß die lange Ohnmacht des preußischen Staates der
kirchlichen Anmaßung gegenüber, deren bittere Früchte wir heute ernten, datirt
von der Unterwerfung des Staates unter jene Prätension der Kirche: daß ihr
Segen allein Ehen schließe, ihre Weigerung der Mitwirkung jeder Ehebindung
das gesetzliche Ansehen entziehe.
Diese Erfolge der parlamentarischen Arbeit des deutschen Reichstags sind
für den großen „Kulturkampf" um so höher zu veranschlagen, als jede
Session des deutschen Reichstags neue Belege zu der unleugbaren Thatsache
beiträgt, daß nur die reichstreuen Parteien die parlamentarische Arbeit
wirklich fruchtbringend machen, die reichsfeindliche Opposition aller Farben
dagegen völlig unproductiven Zielen nachjagt, oder an so absoluter gesetz¬
geberischer und parlamentarischer Impotenz leidet, wie die deutsche Social¬
demokratie. Es kann keinen kläglicheren Gegensatz geben,' als den zwischen
den himmelstürmenden Phrasen der Socialdemokratie bei den Wahlkämpfen
und ihrer vollkommenen Unfähigkeit, irgend einen neuen klaren Gedanken im
Parlament vorzutragen, irgend eine ihrer Forderungen in die Form eines
Gesetzentwurfes zu bringen, oder sich irgendwie bei der Berathung anderer
Gesetzentwürfe nützlich zu machen. Ebenso abschreckend von aller Parteinahme
für die Ultramontanen muß auf jeden denkenden deutschen Mann die Wahr-
nehmung wirken, daß die gehorsamen Sklaven römischer Willkür und
Gewissensknechtschaft im deutschen Reichstag als Hüter der Glaubens-, der
Gewissensfreiheit, der Würde und Rechte des Reichstags sich geberden, daß
sie gleichzeitig den Massen den Glaubenskrieg predigen und gleichzeitig den
Vorwurf der Reichs- und Vaterlandslostgkeit frech von sich weisen. Solche
Verlogenheit kann auf die Dauer nicht Dumme genug finden.
Indessen alle diese Hoffnungen reichen nicht aus, ein baldiges siegreiches
Ende des Kampfes gegen Rom in Aussicht zu stellen. Und dennoch muß
ein baldiges Ende das Ziel der deutschen Staatskunst sein, weil auch bei
inneren Kämpfen der kürzeste Krieg der beste ist; weil die Autorität der Re¬
gierung und die öffentliche Moral unter jeder unnöthigen Verschleppung diese«
Feldzuges erheblich leidet. Es soll damit nicht der Schatten eines Tadels
auf den thatkräftigen Minister geworfen werden, der in wenig Jahren die
unter Muster so schmählich vernachlässigten Interessen des Staates gegenüber
der Hierarchie mit einer über alles Lob erhabenen Festigkeit und Klarheit zur
Geltung gebracht hat. Falk hat vor Allem das große Verdienst, in dem
Kulturkampf den abschüssigen Boden der Verwaltungsmaßregeln, von denen
so oft in Preußen nur allzureichlicher und verderblicher Gebrauch gemacht
worden ist, niemals betreten, sondern von Anfang an klar und bestimmt
nur an der Hand von Gesetzen gehandelt, und die richtigen gesetzlichen
Formeln da gefunden zu haben, wo die Rechtsnormen vergangener Tage für
die ungeheuer gesteigerte Machtfülle und Anmaßung hierarchischer Bestrebungen
nicht mehr ausreichten.
Aber dennoch glauben wir nicht zu irren, wenn wir aus mancher der
Enthüllungen, welche der Proceß Arnim und das vergangene Jahr überhaupt
zu Tage gefördert hat, einen leisen Unmuth des Reichskanzlers darüber
herauslesen, daß der große Kampf nicht rascher gefördert, daß er geführt
worden ist ausschließlich mit der Taktik, Strategie und dem Rüstzeug des
Juristen, nicht mit denen des Politikers. Manches Wort, das Bismarck ge-
schrieben hat, oder das ihm zugeschrieben wird, läßt uns seine Stellung der
bisherigen Kirchenpolitik gegenüber in dem Bilde ausdrücken: der gewaltige
Mann steht mit erhobener Axt an einem enormen Baumstamm, um ihn zu
fällen, und die Collegen und Parlamente stehen ihm bei mit Federmessern.
Die Bahn des Gesetzes, des Rechtes soll den schwarzen Friedensbrechern
gegenüber mit Nichten verlassen werden in Zukunft. Aber vor Allem muß
ein Schritt geschehen, der in demselbenMaße politischM, wie juristisch
gerechtfertigt. Das Gesetz muß bestimmen, daß kein renitenter Priester,
kein deutscher Staatsbürger, welcher der Beihülfe der ultramontanen Ver¬
schwörung und Auflehnung gegen den deutschen Staat überführt ist, irgend
-inen Pfennig mehr aus den Mitteln deutscher Partikularstaaten oder des
Reiches erhalten darf. Damit ist unseres Erachtens die Schlacht gegen Rom
entschieden, der ganze prahlerische Widerstand der Hierarchie gebrochen. Daß
diese Zeilen oder ein diesem Vorschlag entsprechendes Gesetz mit dem ganzen
für diese Fälle vorräthigen Hohn aus jenem Lager begrüßt werden wird,
wissen wir wohl. Aber wir wissen auch, wie bald diese unnatürliche Heiter¬
keit verstummen würde. Wir haben es schon einmal erlebt. Als der nord¬
deutsche Reichstag im Herbst 1867 die Verlängerung der Zollvereinsverträge
mit Süddeutschland abhängig machte von der Annahme der Schutz- und Trutz¬
bündnisse mit dem Norden, da höhnten die Ultramontanen und Radicalen
auch: kein süddeutscher Mann werde sich um schnöden Geldes und Erwerbes
willen unter den preußischen oasus toeäeris und preußischen Oberbefehl beugen.
Aber wir wissen, daß das Jahr 1867 nicht zu Rüste ging. ehe diese Unter,
werfung vollzogen war und zwar in der Hauptsache nur um der Zollvereins¬
verträge, nur um des „schnöden Geldes und Erwerbes" willen. '
Nun kann ja einem solchen Vorgehen, wie es hier gefordert wird, der
scheinbar sehr begründete Einwand entgegengestellt werden, daß die für die
Kirche vorräthigen Fonds theilweise kraft wohlerworbener Rechte ihr und
selbst gewissen kirchlichen Stellen ausschließlich zukommen. Aber dem ist zweierlei
zu entgegnen. Einmal kann der Staat durch kein Privatrecht verbunden
werden, die wichtigsten öffentlichen Rechte preiszugeben, und sich selbst da¬
durch ins Gesicht zu schlagen, daß er überführten Friedensbrechern Staats¬
gehalt auszahlt. Und zweitens wird der bei weitem größte Theil der persön¬
lichen Bedürfnisse der Kirche aus den laufenden Steuereinnahmen bestritten.
Auf ein aus den Beiträgen der Steuerzahler ermöglichtes Gehalt hat aber
zweifellos nur derjenige Anspruch, der dem Staate und der Gesammtheit der
Staatsbürger Dienste leistet, welche der Bezahlung werth sind. Für die be¬
rufsmäßige Widersetzlichkeit und Reichsfeindltchkeit hat das Reich oder irgend
einer der deutschen Einzelstaaten wahrlich keine Mittel übrig. Die Klage
über den deutschen Militairaufwand ist deßwegen so widerlich, weil sie
die Grundbedingung unsrer staatlichen Existenz ignorirt. Aber die Klage
darüber kann nicht laut genug erhoben werden, daß die von jedem Einzelnen
in schwerer Arbeit aufgebrachten Steuern dazu verwendet werden, um ein
Heer zu unterhalten und zu füttern, das an Feindseligkeit gegen Deutschland
hinter dem französischen durchaus nicht zurücksteht, an unmittelbarer Kriegs¬
bereitschaft diesem weit überlegen ist. Es steht zu hoffen, daß diese einfache
Erkenntniß sich bald allseitig Bahn bricht und zu Gesetzen führt, die uns das
siegreiche baldige Ende des größten Kampfes unserer Tage verbürgen.
Zwei Sterne erster Größe leuchten mit wunderbarer Herrlichfeit hervor
aus der Zahl funkelnder Schlachtgestirne des Jahres 1870: Gravelotte und
Sedan. Blutig roth ist der Glanz all jener Sterne, wie der des Mars am
nächtlichen Himmel; aber am Tiefsten in dies Roth getaucht ist Gravelotte!
Die Erinnerung an Sedan hat etwas Dithyrambisches: der kühne strategische
Zug und sein vollkommenes Gelingen, der Abschluß durch die Gefangennahme
von Heer und Kaiser — das gibt dem Tage von Sedan eine künstlerische
Geschlossenheit, die bei seinem Andenken ähnlich empfinden läßt wie bei der
Betrachtung eines Meisterwerkes; alle Nebenempsindungen werden verschlungen
von der Freude über den Erfolg und die geniale Schöpferkraft. — Anders
bei Gravelotte! Da ringt sich die Erinnerung nur schwer und langsam los
von den ungeheuern Opfern; nicht die Phantasie hebt mit elastischer Leichtig¬
keit hinweg über den furchtbaren Werdeprozeß dieses Sieges, sondern es braucht
der Erwägung und des bewußten Nachdenkens über den unermeßlichen Werth
jenes Erfolges, um das Gemüth zu versöhnen und zu befreien.
Bis zum Abschluß der zweiten Augustwoche war das französische Heer
noch einigermaßen Herr seiner Bewegungen gewesen; aber nach den Nieder¬
lagen von Wörth und Spicheren machte sich das Bedürfniß geltend, irgend¬
wie das fehlende Gleichgewicht der Kräfte wieder herzustellen. — Zwei Wege
schienen sich darzubieten: entweder Vereinigung der Rheinarmee mit der in
der Neubildung begriffenen Armee von Chalons oder Festsetzen in dem ver¬
schanzten Lager von Metz, um die eigene Widerstandskraft zu erhöhen, die
feindlichen Kräfte dagegen zur Theilung zu zwingen. Daß man zwischen
diesen Wegen fünf Tage lang (vom 12. bis 17. August) schwankte, wurde
verhängnißvoll. Kaiser Napoleon scheint dem ersteren, Bazaine dem ande¬
ren geneigt gewesen zu sein, und doch verlor der Marschall den Glauben an
die Wirksamkeit eines „zweiten Mittelpunktes der Widerstandskraft" eben zu
der Zeit, als ihn die deutschen Vorbewegungen westlich von Metz zwangen, sich
auf diesen Waffenplatz zu stützen.
") Der deutsch-französische Krieg 1870—71. Redigirt von der kriegsgeschichtlichen
Abtheilung des Großen Generalstabes. Erster Theil. Geschichte des Krieges bis zum Sturz
des Kaiserreichs. Heft K. Die Schlacht bei Gravelotte-Se. Privat. Mit Plan ti ^ und » so¬
wie Skizzen im Texte. Berlin 1873. E. S. Mittler K Sohn.
(Die Besprechungen der 5 früher erschienenen Hefte vergleiche Grenzboten 1872 III. Quart.
S. 237, 1873 i. Quart. S. 31 und II. Quart. S. 481, 1874 II. Quart. S. 321 und 377.)
Deutscherseits war man von Anfang an durchdrungen von' der Ueber¬
zeugung, die Franzosen würden die Bereinigung suchen mit der Armee von
Chalons. Von der obersten Heeresleitung bis zu den Avantgardenführern
herab war jeder Einzelne nur darauf bedacht, alle Kräfte einzusetzen, um jenes
Vorhaben zu hindern. Diese Ueberzeugung führte zu den Irrthümern am
Tage von Vionville-Mars la Tour; denn obgleich seit dem 18. August deutsche
Reiteret die südliche Straße von Metz auf Verdun überwachte, so war doch
der Feind noch immer im ungestörten Besitz der nördlichen Straße, und als
die Borgänge am 16. die Gewißheit gebracht von der Anwesenheit der feind¬
lichen Gesammtmacht in der Gegend von Gravelotte, so nahm man doch auch
am 17. August noch immer an, daß Bazaine es versuchen werde, den ihm
am vorigen Tage verlegten Weg gewaltsam zu öffnen.
Es war am Mittage des 17. August 1870, daß König Wilhelm be¬
schloß, am folgenden Tage mit gesammelter Kraft gegen die Franzosen vor¬
zurücken. Noch nahm man, wie gesagt, die Möglichkeit, ja die Wahrschein¬
lichkeit an, daß der Feind seinen durch die Schlacht bei Vionville unterbroche¬
nen Rückzug von Metz nach der Maas auf den nördlicher gelegenen Straßen
wieder angetreten habe, und die Front der deutschen Armee blieb daher vor¬
läufig nach Norden gerichtet. Traf sie beim Borrücken in dieser Himmels¬
gegend den Gegner im Abmärsche nach Westen, so galt es, ihn mit weitaus¬
holenden linken Flügel zum Halten und zum Schlagen zu bringen. Dann
war die strategische Lage sehr ungünstig für die Franzosen; denn sie kämpften
mit dem Rücken gegen die kaum zwei Märsche entfernte belo/"' Grenze.
War jedoch der Feind auf Metz zurückgegangen, so wurde es nothwendig,
mit der deutschen Armee gegen Osten einzuschwenken; auch dann also bedürfte
es eines Borsprunges des deutschen linken Flügels, eines Zurückhaltens des
rechten. — Demgemäß ordnete General von Moltke an, daß die II. Armee
am 18. August früh 5 Uhr antreten und mit Staffeln vom linken Flügel
zwischen dem Yron und Gorzebach vorgehn solle. Auf dem rechten Flügel
der II. Armee sollte sich das 8. Corps dieser Bewegung anschließen, welche
gegen etwaige feindliche Unternehmungen von Metz her durch das 7. Corps
gesichert werden sollte.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst die lokale Anordnung der
deutschen Heere am Abende des 17. August. — Die Aufstellung der
II. Armee war in der Richtung von Westen nach Osten die folgende: — Auf
dem äußersten linken Flügel lagerte bei Se. Jean les Buzy an der Straße
von Etain die sächsische Kavallerie-Division; südsüdöstlich davon bei Hannon-
ville an der Verduner Straße lag das preußische Garde-Corps. Oestlich dieses
Ortes folgen an derselben Straße die blutgetränkten Stätten von Mars-la-
Tour und Vionville. Bei jenem Orte biwakirte die 23. (sächsische) bei diesen
die 6. (brandenburgische) Division. Hinter Mars-la-Tour bei Puxieux lagerte
die andere sächsische (24>) Infanterie-Division, hinter Vionville die 6. Kaval¬
lerie-Division. Zwischen Vionville und Purieux, also um Tronville, schaarten
sich die Massen des 10, Armee-Corps, der 5. Kavallerie-Division und der
Garde-Dragoner Brigade. Den rechten Flügel der Armee, zunächst dem Gorze-
dache, bildete bei Flavigny das 9. Armee-Corps. — Hinter der gesammten
Armeesront lagerte bei Burieres, dem Hauptquartier des Prinzen Friedrich
Karl, die 6. Division (Brandenburger.) — Das 2. Armee-Corps war am
17. August erst bei Pont a Moussou angekommen; es hatte Befehl am 18.
früh auf Buxiöres vorzurücken.
An die II. Armee schloß sich die I. (General v. Steinmetz.) Sie stand
mit dem 8. Armee-Corps um Gorze, mit dem 7. Corps um Ars sur Moselle.
Abgetrennt auf dem rechten Moselufer befand sich das 1. Armee-Corps,
welches am 17. August mit der Artillerie von Peltre und Mercy le Haut
aus einen Scheinangriff gegen das Metzer Fort Quenten unternahm. Die
Verbindung des 1. Corps mit dem 8. wurde durch die bei Comp stehende
I. Kavallerie-Division hergestellt. — Auf eine unmittelbare Theilnahme des
I. Corps war bei seiner Stellung auf dem rechten Moselufer ebensowenig zu
rechnen wie auf die des 4. (zur II. Armee gehörigen) Corps, welches im
Marsche gegen die Maas belassen worden war und am 17. August die Gegend
von Boucq erreicht hatte.
Kampfbereit für den 18. waren also auf einer von Hannonville bis Ars
in gero>> "','le 2Vs Meilen langen Front: sieben Armee-Corps und drei
Kavallerie-Divisionen.
Demgegenüber hatte die französische Armee im Laufe des 17. August
eine in der Luftlinie 1^ Meilen lange Front von Roncourt bis Se. Russin
eingenommen, zu deren Besetzung der Marschall Bazaine über eine Macht
von 125 bis 150 Tausend Mann verfügte. Und zwar stand auf dem äußersten
rechten Flügel um Roncourt und Se. Privat la Montagne das 6. Corps,
um Amanvillers das 4., auf der Linie der Ferner la Folie, Leipzig und
Moscou das 3. Corps. Den linken Flügel von Point-du jour bis Roserieulles
bildete das 2. Corps; eine ihm zugetheilte Brigade des 5. war nach Se. Russin
vorgeschoben. Hinter dem rechten Flügel hielten die Reiterregimenter deS
Generals du Baratt, hinter dem linken Flügel die Kavallerie-Division Forton.
Auch die allgemeine Reserve, nämlich die Garden und die Artillerie-Reserve,
war auf diesem Flügel bei Plappeville und Ban Se. Martin vereinigt.
Ihrer ganzen Ausdehnung nach lag die französische Stellung auf einem
freien breiten Höhenrücken, dessen sanftabfallender Westabhang durchaus einem
Festungsglacis entsprach und vorzüglichste Feuerwirkung sicherte. Die Ver-
theidigungsfähigkeit dieser an sich schon starken Stellung steigerten die Truppen
noch durch Erdarbeiter,. Namentlich vor der Front des 2. und 3. Corps
entstand ein zusammenhangendes System von Batterieeinschnitten, Schützen-
graben und gedeckten Verbindungen, und Gehöfte wie Point du jour, Moscou
und Se. Hubert sahen sich in kleine Forts verwandelt. Seltsamerweise wurden
gerade auf dem von Natur am wenigsten starken rechten Flügel, mit Aus¬
nahme einiger Schützengräben, keine Befestigungen angelegt, wie es denn auch
befremden muß, die Reserven auf dem linken Flügel gehäuft zu finden, der
doch durch das unmittelbar dahinter liegende Fort Se. Quentin und durch
die Anlehnung an da? Moselthal an und für sich schon eine ganz ausnahms¬
weise Stärke besaß. Aber Bazaine hat von Anfang an für diesen Flügel
die lebhafteste Besorgniß gehegt.
Am 18. August früh 6 Uhr traf der König auf der Höhe südlich
Flavigny (also in der Nähe des 9. Corps) ein. um beide deutsche Armeen
von hier aus, soweit erforderlich, unmittelbar und einheitlich zu leiten.
Während vor der Front des 7. Armee-Corps ein leichtes Plänklergefecht statt¬
fand und das 8. Corps seine Verbindung mit dem rechten Flügel der
II. Armee herstellte, befand sich die letztere in voller Bewegung. Prinz
Friedrich Karl hatte um 5 Uhr den kommandirenden Generalen mündlich die
folgenden Befehle ertheilt: — Das 12. Corps tritt als äußerster linker Flügel
sogleich an; rechts rückwärts folgt die Garde, rechts rückwärts dieser das
9. Corps. Das 12. Corps geht auf Jarny , die Garde zwischen Rezonville
und Vionville vor. Zwischen ihr und dem 9. Corps folgt das 3. Corps,
dessen Coips-Artillerie zur Verfügung des Oberkommandos bleibt. Dem 12.
folgt das 10. Corps mit der 5. Kavall.-Division derart, daß es die Marschrichtung
zwischen den Sachsen und der Garde innehält. — Ob das Verhalten des Feindes
eine Schwenkung nach rechts oder links ergeben werde, sei noch nicht zu be¬
stimmen; zunächst handele es sich um den Vormarsch von einer kleinen Meile
an die Straße von Etain und zwar in massirten Divisionen, die Corps-
Artillerie zwischen den beiden Divisionen jedes Armee-Corps. — Die Garde
wurde aufmerksam gemacht auf die Möglichkeit einer Marschkreuzung mit den
Sachsen, welche den äußersten linken Flügel einnehmen sollten, auf dem sich
zunächst noch das Garde-Corps selbst befand. Man wollte dieses mehr in der
Mitte der voraussichtlichen Schlachtlinie zur Hand haben. — Der Marsch wurde
in der befohlenen Weise, zunächst vom 12. und vom Garde-Corps an¬
getreten.
Im großen Hauptquartier des Königs hatte man indessen die
Anschauung gewonnen, daß die Hauptmacht des iFeindes auf Metz zurück¬
gegangen sei und mit dem rechten Flügel etwa bei Amanvillers stehe. Unter
solchen Umständen schien ein so sehr weites Ausholen des linken Flügels nicht
mehr geboten, und Prinz Friedrich Karl wurde benachrichtigt, daß wenn er
bei seinem Vormarsche die Auffassung des Hauptquartiers bestätigt finde, die
I. Armee den Feind in der Front, das 10. Corps den rechten Flügel des
Feindes angreifen solle. Die Garde habe dabei die Reserve zu bilden, die
anderen Corps hätten vorläufig halten zu.bleiben.
Prinz Friedrich Karl fistirte nun den Marsch der vorderen Corps an der
Straße von Etain, und gestaltete Ich demnach die Gesammtlage der
deutschen Heere um 9 Uhr morgens, vom rechten Flügel an betrachtet,
folgendermaßen.
Um 10Vz Uhr erließ der General von Moltke folgende Directive an
das Oberkommando der II. Armee:
„Nach den eingegangenen Meldungen darf angenommen werden, daß der
Feind sich zwischen Point du Jour und Montigny la Grange behaupten
will. . . Seine Majestät sind der Ansicht, daß es zweckmäßig sein wird, das
12. und das Garde-Corps in der Richtung^auf Batilly in Marsch zu setzen,
um, falls der Feind auf Briey abmarschiert, ihn bei Se. Marie aux CHZnes
zu erreichen; falls er auf der Höhe stehen bleibt, ihn von' Amanvillers her
anzugreifen. Der Angriff würde gleichzeitig zu erfolgen haben: durch die
I. Armee von Bois de Vaur und Gravelotte aus, durch jdas 9. Corps
gegen das Bois des Genivaux und Verneville. durch den linken Flügel der
II. Armee von Norden her."
Dieser Befehl stellte den allgemeinen Angriffsplan fest. — Bald war es
auch außer Zweifel, daß der Feind nicht im Abzüge begriffen sei, vielmehr
fest mit seinen Hauptmassen bei Metz stehe; nur über die Ausdehnung seiner
Front nach Norden blieb man im Unklaren. Erst um 12 Uhr gelangten be¬
stimmte Meldungen an das große Hauptquartier, daß der rechte feindliche
Flügel bis über Se. Privat la Montagne hinausstehe. — In diesem Falle
mußte der angeordnete Vormarsch des 9. Corps gerade auf die starke Front
des Gegners führen und die Gefahr eintreten, daß der leitende Gedanke des
Hauptquartiers: „Gleichzeitiger Angriff gegen die Front und den rechten
Flügel" vereitelt werde.
Prinz Friedrich Karl befahl daher das Zurückhalten des 9. Corps bis
zu dem Zeitpunkt, da die.Garde von Amanvillers her eingreifen werde. 'Diese
sollte ihren Bormarsch beschleunigen und das 12. Corps auf Se. Marie aux
Chores vorgehn. In der Folge, als man mit Sicherheit der weiten Aus¬
dehnung des feindlichen rechten Flügels gewiß geworden war, wurde für das
gesammte Garde-Corps Habonville als nächstes Marschziel festgestellt. — In
zweiter Linie wurde das 10. Corps auf Se. An, das 3. auf Verneville
dirigirt.
Von diesem Ort her tönten um 12 Uhr die ersten Kanonenschüsse
herüber und verkündeten, früher wohl als erwartet war, den Beginn des
Kampfes beim 9. Corps. Das Hauptquartier glaubte in diesem Geschütz¬
donner die erste Einleitung zu dem beabsichtigten umfassenden Angriffe
zu erkennen und befahl dem General v. Steinmetz die starke Front des feind¬
lichen linken Flügels zunächst nur hinhaltend zu beschäftigen.
Der Kommandirende des 9. Corps, General v. Manstein, glaubte, wenn
nicht den äußersten, so doch immerhin den rechten Flügel des Feindes gegen¬
über zu haben; er wollte sich unter keinen Umständen den, in der That er¬
langten Vortheil einer Ueberraschung des Feindes entgehen lassen, und bevor
ihn der Gegenbefehl erreichen konnte, ging er unverzüglich und energisch zum
Angriff über. Er begann mit 8 Batterien den Artilleriekampf.
Aber es war nicht der rechte Flügel des Feindes, auf den dieser Angriff
traf, sondern das Centrum, das 4. Corps des Generals Ladmirault. Auch
dessen Nebencorps griffen ein, und die Batterien Manstein's hatten gegen eine
furchtbare Ueberlegenheit an Artillerie und gegen Infanterie-Massenfeuer zu
kämpfen, die um so empfindlicher wirkten, als der Feind hinter Mauern
oder sonst geschützt placirt war, mit dem rechten Flügel die deutsche Position
nahezu umfaßte und überdies aus höher gelegener Stellung focht. Die
Batterien des 9. Corps entbehrten dagegen fast jeder Deckung, und die Her-
Stellung von Einschnitten erwies sich in dem harten Boden als unausführbar.
Die ungeheuere Menge der einschlagenden Geschosse, welche den ganzen Auf¬
stellungsraum der preußischen Artillerie mit Granaten, Shrapnels, Mitrailleusen-
und Chassepot-Kugeln überschüttete, stellte den inneren Halt der Mannschaften
auf eine schwere Probe, die sie jedoch, trotz großer Verluste, glänzend be¬
standen.
Endlich konnte deutsche Infanterie eingreifen. Theile des 1. Bataillons
36. Regts, (Magdeburger Füsiliere) nahmen die Ferne de l'Envie, andere
einen Theil des Bois de la Cusse, wohin zwischen 12 und 1 Uhr nach und
nach die Bataillone des Regts. No. 84 (Schleswiger) folgten. Sie richteten
sich theils im Gehölze am Eisenbahndamme, theils in der östlichen Wald-
Parzelle, theils in der dahintergelegenen Lichtung ein und es begann ein ver¬
zehrendes, blutiges Schützengefecht. Die preußischen Compagnien schmolzen
bald sichtlich zusammen; aber sie behaupteten sich.
Während dessen führten drei Bataillone der Avantgarde (Magdeburger
Füsiliere und lauenburgische Jäger) unter General v, Blumenthal ein selbst¬
ständiges Gefecht beim Pachthofe Chantrenne, am Nordrande des Bois des
Genivaux. Man richtete ihn, unfähig weiter vorzudringen, möglichst gut zur Ver¬
theidigung ein. Offensivstöße unterblieben vorläufig auf beiden Seiten, und der
Kampf gestaltete sich zu einem zähen, stehenden Feuergefechte. — Um 2 Uhr
waren 6 Bataillone Fußvolk im Gefecht.
Die Lage der preußischen Artillerie auf dem Höhenrücken südlich des
Bois de la Cusse wurde inzwischen immer mißlicher; endlich wurde die Batterie
des linken Flügels, welche den größten Theil der Mannschaft und fast alle
ihre Pferde verloren hatte, und nahezu wehrlos war, plötzlich von starken
Schwärmen der französischen Division Grenier angefallen. Zwar gelang es
den verzweifelten Anstrengungen des verwundeten Batteriechefs noch zwei
Geschütze zurückzuführen, die anderen aber fielen in die Hand des Feindes,
welcher zwei derselben dauernd (d. h. bis zur Capitulcttion von Metz) be¬
hauptete. — Um 2 Uhr nachmittags waren die Batterien der Corps-Artillerie
kaum noch kampffähig. In ihrer nächsten Nähe hatten sich feindliche
Infanteriemassen eingenistet; jeder Augenblick konnte eine Katastrophe herbei¬
führen wie die, welche die linke Flügelbatterie ereilt — da kam, gerade in
dem Moment, als sich der Feind zu neuem Vorstöße anschickte, das Füsilier-
Bataillon des holsteinschen Infanterie-Regimentes heran; todesmuthig warf
sich Major von Goddenthow den Gegnern in die Flanke, und wenn auch er
mit 12 Offizieren und 400 Mann siel — die Schleswig-holsteinsche Artillerie
war gerettet.
Neben diese, im Wesentlichen nach Südosten gewendete Gefechtsgruppe
des 9. Armee-Corps war inzwischen aber auch eine nach Nordosten gerichtete
Hauptgruppe getreten.
Seit längerer Zeit war nämlich auch die großherzoglich hessische (25.)
Division in den Kampf eingetreten. Die reitende Batterie stand östlich von
Verneville in Thätigkeit, und als nun General v. Manstein jenen Befehl
erhielt, welcher ihm ein gemeinschaftliches Vorgehen mit der Garde gegen den
rechten Flügel des Feindes vorschrieb, beschloß er, da es dazu zu spät war,
wenigstens so weit als möglich gegen Norden auszuholen, und ordnete des¬
halb die Versammlung der hessischen Division nördlich des Bois de la Cusse
an, um hier das Eingreifen des Garde-Corps abzuwarten. — Ungefähr um
, 1 Uhr trat die Avantgarde-Batterie der Hessen und bald darauf ihre ge-
sammle Fuß-Artillerie (6 Batterien) bet Habonville gegen Se. Privat in
Thätigkeit. Sie standen, Front gegen N.-O-, zu beiden Seiten des Eisenbahn-
Einschnittes. Auch die Infanterie der Hessen rückte nun in die Gefechts¬
linie ein.
Dieser neuen Aufstellung gegenüber befand sich die Division Cissey des
4. Corps, sowie rechts und links von Se. Privat das 6. Corps der Franzosen.
Die erstere bekämpfte vorzüglich die Hessen, das letztere wendete sein Feuer
gegen die inzwischen bei Se. An auftretende preußische Garde.
Um 2^ Uhr ging die Corps-Artillerie des Schleswig-holsteinischen Regi¬
ments und eine Batterie der 1. Fußabtheilung langsam und batterieweise
hinter das Bois de la Cusse zurück. Nur die drei Batterien des rechten Flügels
hielten noch Stand und zu ihnen gesellte sich die hessische reitende Batterie.
Um das Jnfanteriefeuer endlich zum Schweigen zu bringen, welches diese Ar¬
tilleriefront unaufhörlich belästigte, nahm das 1. Bataillon 2. großherzoglich
hessischen Infanterie-Regiments in schönem opfervoller Ansturm den Pacht¬
hof Champenois. Gleichzeitig wies das Hessische Jägerbataillon neue Vorstöße
feindlicher Tirailleurs erfolgreich zurück. Dreimal drangen dann französische
Kolonnen gegen die Front der Jäger vor; aber festen Fußes behauptete das
Bataillon den mit Todten und Verwundeten bedeckten Platz auf der Kuppe
südwestlich von Amanvillers, wo es zugleich die stehengebliebenen Trümmer
der zerstörten Flügelbatterie sicherte.
Auf dem äußersten Flügel bei Chantrenne bedürfte es der ganzen Energie
der höheren Führer und der vollen Hingebung der Truppen, um die Batail¬
lone der Avantgarde des 9. Armeecorps die zuerst gewonnene Stellung noch
behaupten zu lassen. Eine Verstärkung durch die Musketierbataillone des
Regiments Ur. 86 unterstützte sie. — Auf dem linken Flügel befanden sich
noch 42/4 Bataillone der 26. Division in Bereitschaftsstellung.
Gegen 4 Uhr bemerkte Prinz Ludwig von Hessen eine Vorbewegung
deutscher Truppen über Ste. Marie und glaubte darin den beginnenden An¬
griff der Garde auf Se. Privat zu erkennen. Er beschloß, ihn mit drei Ba>
taillonen der 49. Brigade zu unterstützen. Im wirksamen feindlichen Feuer
ging das 2. Bataillon des 2. Hessischen Regiments über den verbarrikadirten
Bahndamm vor; da jedoch die bemerkte Bewegung auf Se. Marie wieder zum
Stillstand gekommen, so sistirte der Prinz den weiteren Vorstoß und begnügte
sich damit, daß die nördlich der Eisenbahn entwickelte Gefechtslinie eine treff¬
liche Deckung der hessischen Artillerie gegen die vorgeschobenen Schützenschwärme
der Division Cissey abgab.
Etwas früher schon waren 6 Batterien des 3. Armee-Corps südöstlich
von Verneville in Thätigkeit getreten, und somit befanden sich um 4 Uhr auf
dem Gefechtsfelde südlich des Bois de la Cusse 88 deutsche Geschütze im
Neuer, zu denen in der Folge auch noch diejenigen Batterien des 9. Corps
traten, welche sich hinter dem Gehölze wieder gefechtsfähig gemacht. Nunmehr
-- es arbeiteten auf der ganzen Linie 19 Batterien mit 1V6 Geschützen —
entwickelte die deutsche Artillerie eine solche Ueberlegenheit. daß die gegenüber¬
stehenden Batterien des Feindes ihr Feuer nach und nach fast ganz einstellten.
Zur weiteren Durchführung des Angriffes fehlte es jedoch vorn an frischen
Truppen, und vor allem galt es, die Bewegung der linken Flügelcorps zur
Umfassung der ausgedehnten feindlichen Stellung abzuwarten. — Das Gefecht
erlosch.
Gegen 6 Uhr war das 9. Armee-Corps wie zur Rechten mit dem 3., so
zur Linken mit dem Garde-Corps in unmittelbare Fühlung getreten.
Während dem 9. Corps vorerst eine abwartende Rolle zufiel, wurde mit
der preußischen Garde ein umfassender Angriff gegen die Stellungen des
Feindes eingeleitet, deren äußersten Flügelpunkt man bei Se. Privat annahm.
Prinz August von Württemberg beschloß, den Angriff auf Se. Privat zunächst
durch Entfaltung seiner Batterien vorzubereiten, und wurde vom Oberbefehls¬
haber, Prinzen Friedrich Karl, mündlich angewiesen, die Infanterie erst dann
einzusetzen, wenn das 12. Corps wirksam auftreten werde. Der Kronprinz
Albert von Sachsen wurde gegen 4 Uhr auf die besondere Wichtigkeit einer
Besetzung des unteren Moselthals aufmerksam gemacht, um dem Gegner wo
möglich schon jetzt jede Verbindung mit dem Innern des Landes zu verlegen.
Neun Batterien mit 34 Geschützen fuhr das Garde-Corps in einer 600
Schritt südwestlich Se. An beginnenden und am Thalrand nordwestlich Habon-
ville endenden Linie auf. Die mit dieser Artillerie eingeleitete Vorbewegung
des Garde-Corps führte auf die Stellung des 6. französischen Corps.
Dies war vom Marschall Canrobert im Einzelnen folgendermaßen aufgestellt:
— Die Division la Font de Villiers und eine Brigade (Pe'chot) der Division
Tirier standen zwischen Roncourt und Se. Privat. Diesen Ort, sowie die
westliche und südliche Umgebung desselben, hielt die Division le Vafsor-Sor-
val, die Brigade le Roy de Dais von der Division Tirier und das 9. Linien-
Regiment. Das vor der Front gelegene, stadtähnliche, massivgebaute Dorf
Ste. Marie war durch das 94. Regiment besetzt. — Oestlich von Se. Privat
stand die Kavallerie-Reserve des Generals du Baratt: 6 Chasseur.Regimenter.
Die Artillerie bestand im Ganzen aus 92 Geschützen, von denen 60 auf dem
rechten Flügel nördlich und westlich von Se. Privat aufgefahren waren. Links
hatte Canrobert Verbindung mit der Division Cissey des 4, Corps; und man
kann annehmen, daß im Ganzen zur Vertheidigung der sehr starken Stellung
40,000 Mann verfügbar waren.
Den preußischen Batterien des Garde-Corps folgte dessen Avantgarde
unter Oberst von Erckert. Mit einem Bataillon (l Bataillon der Garde-
Füsiliere) besetzte sie Habonville, mit den drei andern nahm sie, den Fran¬
zosen noch rechtzeitig zuvorkommend, Se. An in Besitz, wodurch der bisher
ungedeckte linke Flügel der deutsche Artillerielinie gesichert wurde. Weiteres
Vorgehn dieser Artillerie war wegen der Ueberhöhung durch die französischen
Batterien wünschenswert!), jedoch nicht möglich, solange das Dorf Ste. Marie
und dessen Umgebung noch vom Feinde besetzt war. Ueberhaupt blieb, wie
General von Pape sofort erkannte, jedes weitere Vorgehen gegen die Stellung
Canroberl's durchaus abhängig von dem Besitze Ste. Maries. Diesem Ort
gegenüber wurde deshalb die Avantgarde derart entwickelt, daß rechts das
3. Bataillon der Garde-Füsiliere, in der Mitte das 2. Bataillon desselben
Regiments und links die Garde-Jäger eine in allen Oertlichkeiten und Ter-
rainfalten eingenistete Schützenlinie bildeten. Mit dem Angriff auf Ste. Marie
sollte jedoch, auf Befehl des Prinzen von Württemberg, gewartet werden,
bis auch das 12. Armee-Corps einträfe. — Aber unwillkürlich zog das Feuer¬
gefecht mit dem, grade auf weitere Distanzen durch das Chassepotgewehr über¬
legenen Gegner zunächst die Abtheilungen des mittleren preußischen Avant¬
gardenbataillons vorwärts; die Garde-Jäger folgten; dies nöthigte zum Vor¬
schieben des 3. Bataillons der Füsiliere und zum Heranziehn des 1., bei
Habonville zurückgelassenen Bataillons als Gefechtsrückhalt. General v. Pape
hatte dem Gros seiner Division die Weisung gegeben, den Marsch auf
Ste. Marie fortzusetzen. Nun zeigte sich bald der linke Flügel der Avantgarde
vom Feinde bedroht und um ihn zu kräftigen trat von der Spitze der Marsch¬
kolonne das Füsilierbataillon 4. Garde-Regiments neben die Garde-Jäger.
Somit war Ste. Marie von Süden und Südwesten her durch vier Bataillone
nahe umfaßt und man konnte an die Vorbereitung des Angriffs durch Ar¬
tillerie denken. Sie geschah durch 10 Geschütze der Corps-Artillerie und die
eben jetzt westlich von Se. Marie eintreffenden Batterien der 24. Division,
deren Auftreten zugleich das Zusammenwirken mit dem 12. (königl. sächsischen)
Armee-Corps bedeutete.
Der Kronprinz von Sachsen hatte in Folge der Wahrnehmung, daß der
Flügel des Feindes bis Noncourt reiche, beschlossen, unter Beschäftigung der
starken Front desselben durch die eine Division, mit der andern Roncourt
nördlich zu umgehen. Prinz Georg von Sachsen, mit dieser Flügelumfassung
beauftragt, zog seine (die 23.) Division bei Auboue' an der Orne zusammen,
während General Nehrhoff von Holderberg mit der 24. Division bei Batilly
Stellung nahm. Seine Batterien griffen nun, wie erwähnt, in den artille¬
ristischen Angriff auf Ste. Marie ein. Bald kam auch die sächsische Corps-
Artillerie und drei Batterien der 23. Division heran, so daß endlich 13 Bat¬
terien auf 1500 bis 1800 Schritt Entfernung gegen die französische Position
bei Sie. Marie wirkten.
Um 3 Uhr Nachmittags gaben dann die Generale von Pape und von
Nerhoff der Infanterie den Befehl zum Angriff. Von Süden führte Oberst
von Erckert zwei Bataillone der Garde-Füsiliere vor; links von ihm avancir-
ten die Garde-Jäger und Füsiliere des 4. Garde-Regiments zu Fuß. Die
beiden Grenadier-Bataillone dieses Regiments sowie das 1. Bataillon der
Garde-Füsiliere folgten als unmittelbare Reserve. Der Rest der Division
(11 Bataillone) stand in Bereitschaft hinter dem Gehölze südöstlich von Ste.
Marie.
Sächstscherseits wurde das Dorf von Westen her durch die 47. Brigade
angegriffen: im Vortreffen Graf Holtzendorff mit den 12. Jägern, dann die
Regimenter 104 und 106 unter den Obersten von Elterlein und von Tettau
nebeneinander in drei Treffen. Gegen den Nordrand von Ste. Marie stürmte
das 3. Bataillon des Schützenregiments.
Mit weithinschallendem Hurrahruf, das feindliche, aufs Aeußerste ver¬
stärkte Feuer nicht erwidernd, so stürzten die Deutschen dem gemeinsamen
Ziele entgegen — und um 3^ Uhr befand sich Ste. Marie aux Chores
ohne allzuschwere Verluste in ihren Händen. Nun vereinigten sich hier sieben
preußische und acht sächsische Bataillone. General v. Pape besetzte den öst¬
lichen Dorfrand; ein Theil der Sachsen folgte dem abziehenden Feinde in der
Richtung auf Roncourt nach. Prinz Hohenlohe ging mit der Garde-Artillerie
staffelweise vor; er nahm auf der Höhe von Se. An, Front gegen Nordosten,
von neuem Stellung, und in Folge dieses Vorgehns wurden die gegenüber
stehenden feindlichen Batterien bald nach vier Uhr fast sämmtlich zum Schweigen
gebracht. Die Vorstöße, welche die Franzosen gegen die deutsche Geschütz¬
stellung wiederholt mit Fußvolk, ja sogar mit Reiterei unternahmen, wurden
stets abgewiesen. Bei diesen Kämpfen fiel Oberst v. Erckert. — So kam
hier das Gefecht allmählich zum Stehen.
Dagegen war auf dem Gefilde zwischen Ste. Marie und Roncourt ein
neuer heftiger Kampf entbrannt. Den starken französischen Abtheilungen,
welche zur Aufnahme der geworfenen Besatzung vorgeschickt wurden, trat
Oberst v. Leonhardi entgegen, zunächst mit den gleich über Ste. Marie hin-
ausgeeilten sächsischen Abtheilungen, dann auch mit den beiden 3. Bataillonen
der Regimenter 104 und 106. Bald wurde auch das 2. Bataillon 106 mit
in das Gefecht verwickelt. Aber das Massenfeuer des Feindes machte in kurzer
Frist weiteres Vorgehn auf dem fast deckungslosen Boden 'unmöglich. Die
Truppen wurden allmählich aus dem Kampfe zurückgenommen, und um 6 Uhr
war die 47. Brigade an der Nordwestecke von Ste. Marie versammelt. —
Auch die sächsische Artillerie ging nun in eine neue Ausstellung nördlich von
Ste. Marie vor.
Inzwischen hatte der Kronprinz von Sachsen eine noch weitere Aus¬
dehnung der Umgehung für nothwendig erachtet. Da man nämlich auch
nördlich von Roncourt noch Batterien zu erblicken glaubte, so meinte man,
daß ein Vorgehn von Auboue' aus immer noch auf die Front des Feindes
führen könne, und Prinz Georg erhielt daher Befehl, noch weiter nördlich
aufzugreifen. Zugleich wurde ihm die bisher bei Batilly gestandene 48. Bri¬
gade sowie die sächsische Kavallerie-Division zugewiesen. Die letztere sollte
versuchen, in den Rücken des Feindes zu kommen.
Aber auch die Diviston des Prinzen Georg war mittlerweile in den
Kampf eingetreten. Oberst v. Hausen war mit dem Schützenregiment in die
Gehölze zwischen Auboue' und Roncourt vorgedrungen und hatte die feind¬
lichen Tiralleurs vor sich her getrieben. Oberst v. Craushaar hatte das Sachs,
Leib-Grenadier-Regiment nachrücken lassen. — Dies Vorschreiten der 45. Bri^
gäbe erlaubte auch neues Vorgehn der sächsischen Artillerie. Der Kronprinz
befahl, sämmtliche verfügbare Batterien über die von Ste. Marie nach
Auboue führende Straße vorzunehmen. Vor Ablauf der sechsten Nachmittags¬
stunde waren 12 sächsische Batterien zwischen Ste. Marie und den Gehölzen
in Thätigkeit.
Als Prinz Georg den Befehl zu weiterem Umfassen des feindlichen rechten
Flügels erhielt, befahl er den Vormarsch der 48. Brigade im Ornethal bis
in die Höhe von Montois la Montagne (n. w. von Roncourt). Sobald diese
Brigade von Norden her in Wirksamkeit treten würde, sollte General v.
Craushaar mit der 45. Brigade von den Gehölzen her die Westseite Roncourts
angreifen. Die 46. Brigade wurde als Reserve zurückgehalten. Gegen 5 Uhr
Nachmittags waren diese Anordnungen in voller Ausführung begriffen.
Während dieser Ereignisse war die 2. Garde-Division in ununter¬
brochenem Vormarsche nach dem Gefechtsfelde geblieben. Das 1. Bataillon
des ^Regiments Königin hatte bei Habonville die Deckung der großen
Artillerie-Linie übernommen. Die 3. Garde-Infanterie-Brigade war dem
U. Armee-Corps überwiesen worden und nahm südlich von Habonville eine
Bereitschaftsstellung ein. Die noch verfügbaren Theile der Division waren
dagegen nach Se. An in Bewegung gesetzt, und während die Bataillone der¬
selben sich allmählich entwickelten, gingen die Batterien südlich von Ste. Marie
in Stellung, wo sie den linken Flügel der Artillerie-Linie des Corps verlängerten.
Fassen wir nun die Gesammtlage der II. Armee ins Auge, wie
sie sich um 5 Uhr nachmittags ergeben, und sehen dabei von dem nach außer¬
halb des Schlachtfeldes befindlichen 2. Armee-Corps ab. so stellt sich folgendes
Bild dar! Auf dem rechten Flügel behauptete das 9. Corps, durch eine Garde-
Brigade und einige Batterien des 3, Corps verstärkt, die Stellung zwischen
dem Vois des Genivaux und Habonville. In der Mitte hatte das Garde-
Corps eine Division bei Ste. Marie und eine Infanterie-Brigade bei Se. An
versammelt. Auf dem linken Flügel befand sich das 12. Corps und zwar
zunächst Ste. Marie die 47. Brigade in Reserve, während die übrigen Theile
des Corps sich bei Arboue versammelten, von wo aus die Umgehungskolonnen
sich bereits auf Roneourt und Mantois in Bewegung gesetzt hatten. — Vor
dieser Schlachtstellung war eine ungeheuere Artillerie-Linie aufgefahren. Vor
dem 9. Corps standen 19 Batterien mit 106 Geschützen im Feuer, vor der
Garde und den Sachsen 24 Batterien mit 144 Geschützen — eine gewaltige
Kraftentfaltung, der gegenüber die weit schwächere französische Artillerie fast
ganz verstummt war, um ihr Feuer für den bevorstehenden Angriff des deut¬
schen Fußvolks aufzusparen. — Hinter der ersten Linie der Schlachtordnung
stand zur Unterstützung des 9. Corps bei Verneville das 3. Corps mit der
ö. Kavallerie-Division bereit; als Rückhalt des linken Flügels massirte sich
hinter Batilly das 10. Corps und die S. Kavallerie-Division.
Es handelte sich nun darum, den Augenblick abzuwarten, in welchem die
Umgehung des rechten Flügels der Franzosen durch den linken Flügel des
sächsischen Armee-Corps wirksam werde, und in dieser Erwartung trat bei der
II. Armee um die fünfte Nachmittagsstunde eine allgemeine Gefechtspause ein,
welche nur durch hinhaltendes Artilleriefeuer ausgefüllt wurde.
(Fortsetzung folgt.)
Sie wünschen, verehrter Freund, den neuen Jahrgang der Grenzboten
eröffnet zu sehen mit einer Erörterung, die schon lange denselben zugedacht
war. Sie mahnen mit Recht an die Einlösung wiederholt gemachter Ver¬
sprechungen. Und in der That, wie heute die Stimmung in den Kreisen ist,
an welche wir in diesen Blättern uns wenden, dürfte es wohl zeitgemäß sein
über den Zustand der geschichtlichen Studien in Deutschland, über die wich¬
tigsten Aufgaben und Probleme, mit denen unsere Historiker befaßt sind, über
die jüngste Entwickelung und Leistungen unserer deutschen Geschichtsschreibung
orientirend und zusammenfassend zu reden.
In dem Interesse der Menschen nehmen ja heute die Arbeiten der G»
schichtswissenschafr eine sehr hervorragende Stelle ein. Wie einstens die Theo-
logie und etwas später die Philosophie, so ist es heute die Geschichte, die sich
der größten Aufmerksamkeit in weiteren Kreisen erfreuet und die lebendigste
Theilnahme aller derjenigen, die zu den „Gebildeten" gerechnet werden wollen,
an sich heranzieht. Höchstens die Naturwissenschaften machen ihr den Bor¬
tritt streitig; und beide, Geschichte wie Naturwissenschaften, fühlen sich von
der allgemeinen Sympathie der Zeitgenossen getragen und gefördert. ,
Die Beziehungen, welche gegenwärtig die geschichtlichen Studien zu den
Interessen des größeren Publikum behaupten, sollen hier in einer Reihe von
Bemerkungen dargelegt und besprochen werden. Es ist nicht die Absicht in
streng systematischer Entwickelung und Ordnung das Thema zu behandeln; in
freierer Weise gedenken wir vielmehr die wichtigsten Momente der Sache vor¬
zuführen und eine Charakteristik der hervorragendsten Historiker unserer Gegen¬
wart damit zu verbinden. Heute mögen einige allgemeinere Züge zur Ein¬
leitung und Einführung hervorgehoben werden.
Man hat in geistreichem Spiele oft darüber gestritten, ob die Geschichte
eher eine Wissenschaft oder eine Kunst zu nennen sei: in der That ist sie
beides; von beiden Seiten her kann die Arbeit des Historikers beleuchtet
werden. Man wird immer ein Recht haben zwischen der Thätigkeit des Ge-
schichtsforschers und des Geschichtsschreib ers zu unterscheiden. In der
Auffassung grade des Verhältnisses dieser beiden zu einander kommt eines der
ersten und wichtigsten Merkmale der neueren Geschichtswissenschaft zu Tage.
In früheren Zeiten begegnen wir häusig dem emsig 'forschenden und
suchenden Gelehrten, dem in der Tiefe des historischen Materielles vergrabenen
Arbeiter, der Stück für Stück seine Kenntnisse hervorbringt, meistens in einer
Sprache, deren Verständniß erst dem Eingeweihten sich erschließt. Und neben
ihm gewahren wir geistreiche und elegante Schriftsteller, die nicht daran denken
in jene eigentliche Arbeit sich einzulassen, die aber wohl bereit sind, das was
jene anderen gearbeitet, aufzunehmen, mit Geist zu durchdringen und in kunst¬
voller Sprache dem Leser vorzutragen. Jener Ersteren Bücher kann man
nicht lesen, man muß sie studiren: dieser Werke liest man mit Genuß:
einen Versuch aber sie zu studiren wird kaum irgend Jemand machen. Wir
erinnern daran, daß zu dieser letzten Klasse von Schriftstellern im vorigen
Jahrhundert z. B. der Engländer Hume und unter den Deutschen Schiller
gehörte, welche mit begeisterter Bewunderung gelesen zu werden pflegten.
Heute ist ein ähnliches Verhältniß undenkbar. Das erleben wir alle
Tage, daß einem Gelehrten, dem als Forscher hervorragende Verdienste verdankt
werden, Anlage und Möglichkeit einer auf Leser berechneten Darstellung
versagt zu sein scheinen. Aber den Literaten, der ohne eigentliche Studien
gemacht zu haben, historische Bücher verfertigt, wird trotz aller vielleicht glän¬
zenden Gaben der Stilistik oder Rhetorik Niemand heute mehr im Ernste
für einen Geschichtsschreiber halten wollen. Wohl giebt es noch Geschichts-
forscher, die nicht Geschichtsschreiber zu sein vermögen, aber einer Geschichts¬
schreibung, die nicht auch Geschichtsforschung wäre, erkennen wir heute keine
Berechtigung zu. Das eben gilt uns als einer der erfreulichsten Fortschritte,
daß die wissenschaftliche und gelehrte Vorarbeit als unzertrennliche Bedingung
von dem Geschichtsschreiber gefordert wird.
Wenn wir die Anfänge unserer heutigen Geschichtswissenschaft aufsuchen
wollen, werden wir auf die große geistige und literarische Bewegung im
letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts zurückzugehen haben. Durch den
Aufschwung unserer Nationalliteratur überhaupt wurde einerseits das Publi¬
kum empfänglich gemacht für historische Darstellungen, andrerseits auch das
Bedürfniß nach denselben hervorgelockt. Die Historiker meinten sich jetzt nicht
allein an ihre Fachkreise theologischer oder juristischer Färbung, sondern viel¬
mehr an die ganze Nation wenden zu müssen.
Man suchte den historischen Stoff nicht nur in schöner kunstvoller Form
darzureichen; nein man empfand die Nothwendigkeit mit philosophischen Ideen
ihn zu durchdringen. Die Muster der Engländer Hume, Gibbon und
Robertson, der Franzosen Voltaire, Montesquieu und Raynal
regten in Deutschland zur Nachahmung an. Lessing und Herder und
Schiller wirkten mit ihren geschichtsphilosophischen Ideen auch auf die
eigentliche Geschichtsschreibung ein: Schlözer und Spittler und Möser
und Johannes von Müller, wie verschieden sie unter sich sein mochten,
waren alle von dem Streben getragen, literarische Lorbeeren zu ernten.
Ehe aber aus diesen Anfängen eine wirkliche Geschichtswissenschaft her¬
vorgehen konnte, mußten die literarischen und philosophischen Tendenzen sich
mit der ernsten Forschung jedenfalls enger verbinden, als es bis dahin der
Fall war. Mag man den Einfluß der nationalen und politischen Erregung
des Zeitalters der Freiheitskriege und der nächsten Folgezeit auch noch so
hoch anschlagen — das nationale Pathos und die vaterländische Gesinnung
unserer Historiker stammen aus jener Epoche, jene Eigenschaften also die wir
heute als absolut nothwendige bezeichnen — darin beruht das Hauptmoment
der Entwickelung doch nicht. Erst aus der Ehe der historischen Kunst mit der
historischen Kritik ist die neue historische Wissenschaft entsprossen.
Kritische Forschung ist das entscheidende Merkmal der neueren deutschen
Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung. Es ist bekannt, wie von dem
Vater der neueren Alterthumswissenschaft, von F. A. Wolf unser großer
Historiker Niebuhr Anregung und Anleitung zu seinen kritischen Prinzipien
erhalten, wie von Niebuhr darauf Ranke die kritische Methode übernommen
und das, was man aus dem Felde des Alterthums gelernt, aus mittlere und
neuere Geschichte übertragen und hier zu festen Gesetzen entwickelt und aus-
gebildet hat. Ranke und seine Schule, seine eigenen Schüler und die Schüler
seiner-Schüler, denen sich auch die außerhalb dieser persönlichen Verknüpfung
stehenden Historiker in der principiellen W erthschätzung und praktischen Hand¬
habung der Kritik bald und vollständig verbunden haben: diese Genossenschaft
forschender und darstellender Gelehrten hat nun seit ungefähr fünfzig Jahren
das Gebäude unserer Wissenschaft fundamentirt und ausgebaut. Wenn man
mit Recht Ranke's erste bahnbrechende Arbeit als den Grundstein der neuen
Weise ansehen darf, der 1824 gelegt ist, so .wäre also jetzt die Zeit gekommen
in halbhundertjähriger Festfeier sich des Erreichten zu freuen und zur Weiter¬
führung des noch Erstrebten zu ermuntern.
Die erste Forderung, die man heute zu stellen berechtigt sich fühlt, ist die
einer strengen, gewissenhaften, kritischen Arbeit: nicht an abgeleitete Bearbeitungen,
sondern an die ersten und ältesten Quellen selbst der historischen Ueberlieferung
haben sich Forscher und Darsteller zu wenden. Für die Behandlung und
Kritik der Quellen innerhalb der forschenden Arbeit selbst giebt es heutzutage
feste Grundsätze und Regeln, die von der Praxis der Meister abstrahirt den
Jüngern zur Nachachtung überliefert zu werden pflegen: historische Kritik
läßt sich lehren und lernen; Schulung und Uebung in derselben nimmt im
Lehrplan unserer Universitäten überall eine feste Stelle ein. Gewissermaßen
für die Technik des geschichtlichen Studiums giebt es heute eine feste Tradition,
an der man überall festhält. Welchen Einfluß dieser Umstand auf die be¬
nachbarten Wissenschaften, auf Philologie und Jurisprudenz und Theologie
ausübt, lehrt allenthalben die neueste Entwickelung jener Wissenschaften.
Nächst der eigentlich kritischen Durcharbeitung der Quellen ist selbst dem
bloßen Forscher die Auffassung und Beurtheilung der von ihm gewonnenen
Thatsachen unerläßlich: die einzelnen Glieder hat er in eine Kette zu reihen
und nach ihrem Zusammenhange zu ordnen. Mit derartigen Studien sind
gegenwärtig in Deutschland Hunderte von älteren und jüngeren Forschern
beschäftigt: kunstvolle Darsteller dagegen giebt es nur wenige.
Auch wir halten heute daran fest, daß der höchste Preis nur demjenigen
gereicht wird, der ein Kunstwerk der Literatur zu schaffen versteht. Wir ver¬
langen von dem wahrhaften Historiker, daß er jene kritische Arbeit des Forschers
vollständig beherrscht und beweist, daß er zugleich aber die Resultate seiner
wissenschaftlichen Arbeit in einer Darstellung vorträgt, die jeden Leser über-
zeugt und belehrt und erfreuet.
Und wenn auch die großen Meisterwerke, wie sie Ranke und Sybel
undDroysen und Mommsen geliefert, nicht in allzugroßer Zahl vor¬
handen find und nicht alle Tage entstehen, so wird doch jeder unbefangene
Beobachter der historischen Literatur zugeben müssen, daß allenthalben das
Bestreben sich zeigt, jenen höheren Aufgaben gerecht zu werden. Einzelne»
mag es versagt scheinen, ihre Forschung zu kunstvoller Darstellung zu erheben;
im Ganzen hat die Geschichtsschreibung als Kunst in den letzten Jahrzehnten
fortschritte gemacht. Und mit jedem gelungenen Schritte vorwärts wächst
ihr Einfluß auf die Nation. Mehr und mehr verwirklicht sich die Forderung,
daß für Gesinnung und Charakter und Haltung auf geistigem und politischem
Gebiete die Nation von ihren Historikern sich Führung und Leitung erbittet.
Sie sehen, verehrter Freund, in wie günstigen Farben sich einem Histo¬
riker heute der Zustand unserer Studien im Ganzen darstellen kann. Das
wäre allerdings ein übereilter Schluß, gegen den Einwendungen zu erheben
ich nicht unterlassen würde, wenn Sie annehmen wollten, daß ich neben jenem
Richte nicht'auch Schatten gesehen hätte. Nein, gerade aus der skizzirten günsti¬
gen Wendung In unserer Geschichtschreibung haben sich einzelne Schwächen und
Fehler neuerdings herausgestellt. Erlauben Sie. daß ich auf Einzelnes hindeute.
Man kann gewiß das Bestreben unserer Historiker nur loben, wenn sie
die Früchte ihrer Studien in angemessener und geschmackvoller Form allen
denen zur Kenntniß bringen wollen, die ein Interesse an ihnen nehmen
könnten. Verzeihlich mag in manchen Fällen es sein, daß Einer ein Ergeb¬
niß, das er gefunden zu haben glaubt, zu voller Wirkung zu bringen sich
beeilt und sich anstrengt; nur darf dies Streben nach Anerkennung und Ver¬
breitung gewonnener Resultate nicht zu Effekthascherei verleiten!
Daß es in Frankreich und in England historische Schriftsteller giebt, die
mit ihren Geschichtsbüchern er Sensation movet erfolgreiche Concurrenz machen,
ist bekannt. Um von den Franzosen nicht weiter zu reden, die ganze Schrift-
stellerei von Dixon hat gar keinen weiteren Zweck, und Fronde wird nicht
für viel besser gehalten werden dürfen. Aber auch bei uns droht dies Uebel
einzureihen. Welchen Lärm und welches Aufsehen gedachte vor einigen Jahren
Aschbach mit seiner Behauptung zu machen, daß die Gedichte der Nonne
Roswitha eine humanistische Fälschung seien! Wie pikant verwerthete Ber¬
gen roth seinen kühnen Satz, die Mutter Karl's V. sei gesunden Geistes
gewesen und absichtlich von ihren Verwandten aus Herrschsucht als Geistes¬
kranke ausgegeben worden! Das waren drastische Versuche, durch angebliche
kritische Entdeckungen bei dem großen Publikum Eindruck zu machen. Und
welchen Effekt haben jene Schriftsteller wirklich erzielt!
Recht oft hängt diese Sensationsgeschichtsforschung zusammen mit einem
andern bedenklichen Symptome, mit Tendenzmach erei. Das ist eine sehr
gefährliche Klippe, an der so leicht der ganze wissenschaftliche Charakter unserer
Geschichtsschreibung scheitern könnte: nur allzuverbreitet ist leider gegenwärtig
die Neigung, zu bestimmten Zwecken Geschichte zu schreiben. Das Uebel ist
alt; oft ist darüber geklagt und dagegen gewarnt worden. Gerade die in den
letzten Jahren eingetretene Erregung der Geister über die Frage von Kirche
und Staat hat die Neigung, bestimmten Tendenzen zu dienen, bei unseren
Historikern an vielen Stellen in recht bedenklicher Weise verstärkt. Weil ich
der Ansicht bin, daß diese fehlerhafte Wendung heute nicht mehr Privilegium
einer einzelnen Richtung geblieben, enthalte ich mich, einzelne Beispiele zu
citiren: bei den Ultramontanen ist die Sache nicht neu, sie folgen nur ihrem
natürlichen und hergebrachten Triebe; aber auch die Gegner der ultramon¬
tanen Geschichtsdarstellung haben im Kampfe mit derselben nur zu viel von
ihrer tendenziösen Methode angenommen und gelernt!
segensreich und förderlich in mehr wie einer Beziehung ist es zu nennen,
daß unsere Historiker in lebendiger Wechselwirkung zu dem allgemeinen Geistes¬
leben ihrer Zeit zu stehen sich beeifern. Zwei Seiten hat dies Verhältniß.
Wie auf die Dauer der Redner nicht bestehen kann ohne geistige Fühlung
mit seinen Hörern, so ist der Schriftsteller zu todter Unfruchtbarkeit verur-
theilt, dem es nicht gelingt, sich in Uebereinstimmung mit seinen Lesern zu
setzen. Auch dem Historiker ist es neuerdings zu vollem Bedürfniß geworden,
des Interesses der gebildeten Welt an seiner Arbeit sich bewußt zu sein und
zu bleiben. Will er Eindruck auf seine Zeitgenossen machen, so muß er die
Einwirkung der Zeitgenossen auf sich ertragen. Aber niemals wird er sich
von dem, was man „öffentliche Meinung" nennt, bestimmen oder beherrschen
lassen dürfen.
Es verdrießt und ärgert uns, wenn wir von den früheren Historikern
lesen, die zu fürstlichen Potentaten in sklavischer Abhängigkeit gestanden und
ihre Feder der Verherrlichung ihrer Brodherren geliehen. Die Zeiten dürften
heute vorbei sein. Aber an die Stelle des fürstlichen Mäcenas ist'heute das
applaudirende Publikum getreten — die öffentliche Meinung. Und auf den
Beifall seiner Leser nimmt der größte Theil unserer Historiker neuerdings
leider viel zu viel Rücksicht. Wenn nicht bald eine Wendung darin eintritt,
gerathen wir in Gefahr, unserer Arbeiten Schicksal von dem Verhältnisse
abhängig zu sehen, ob ihre Resultate mit der Tagesmeinung in Einklang
oder in Widerspruch stehen. Und doch hat Röscher mit seinem schönen
Worte Recht: „der echte Historiker, der nicht bloß in der Gegenwart sondern
zugleich in der Vergangenheit lebt, wird gegen die Einseitigkeiten seines Zeit¬
alters immer in einer gewissen Opposition stehen."
Der wahre Historiker wird die öffentliche Meinung zu belehren, zu leiten
und zu beherrschen trachten; er wird ihr nie dienen, ihr nie folgen. Nur so
erfüllt er seine Aufgabe; nur so waltet er seines Berufes. Strenge Wahrheits¬
liebe, vorurtheilsfreie Unbefangenheit, parteilose Selbständigkeit sollen und
müssen seinem Urtheile eignen.
Vor Kurzem ist in der deutschen Zeitungspresse vielfach von einem beten»
tungsvollen Geschenk die Rede gewesen, welches dem deutschen Kaiser von Seiten
des Fürsten von Schwarzburg - Rudolstadt dargebracht, worden, bestehend in
einem kunstvoll gearbeiteten Tisch, von welch letzterem verschiedene Zeitschriften
eine mehr oder weniger eingehende Beschreibung gegeben haben; und zwar
alle mit der conformen Notiz, daß das Material hierzu diejenige Linde ge¬
liefert, unter welcher der Prinz Louis Ferdinand von Preußen in dem unglück¬
lichen Treffen bei Saalfeld am 10. Oktober des Jahres 1806 gefallen sei.
Nun kann und soll allerdings nicht in Abrede gestellt werden, daß zu diesem
Tisch Holz von einer Linde verwendet worden, welche vordem auf dem frag¬
lichen Schlachtfelde, dicht bei dem kleinen Ort „Wölsdorf" an dem Rand der
Chaussee, welche jetzt dort vorüberführt, gestanden hat und dort vor noch nicht
allzu langer Zeit gefällt worden ist. Auch ist es ganz richtig, daß sich eben
diese Linde, an welcher der Schreiber dieser Zeilen oftmals vorübergegangen
ist, neben einem noch daselbst ersichtlichen kleinen Denkstein befunden hat,
dessen Inschrift also lautet: „Hier fiel kämpfend für sein dankbares Vaterland
Prinz Louis Ferdinand von Preußen am 10. Oktober 1806." Dieser In¬
schrift nach würde also, so lange nicht etwa nachgewiesen würde, daß jener
Baum erst später — vielleicht gleichzeitig mit der Errichtung des Denksteins —
gepflanzt worden, die Richtigkeit der Behauptung, daß unter dieser Linde der
unglückliche Sprosse des preußischen Königshauses sein Leben ausgehaucht,
keineswegs in Zweifel gezogen werden können.
Wenn dies im Nachstehenden gleichwohl versucht, und wenn hier der Nach¬
weis geliefert werden soll, daß, jenes Denksteins ungeachtet, der Prinz Louis
Ferdinand an der durch eben diesen Stein bezeichneten Stelle nicht gefallen
ist, so bedarf es wohl kaum der Versicherung, daß dies nicht in der Tendenz
geschieht, die Bedeutung eines sinnigen Geschenkes abzuschwächen, welches
nicht nur an eine trübe Vergangenheit mahnt, da ein unglückseliges Verhäng-
niß über die preußische Armee hereingebrochen war und den Staat Friedrich's
des Großen in seinen Grundfesten erschütterte, sondern welches auch zugleich
von der glücklich strahlenden Gegenwart Zeugniß giebt, indem es von einem
deutschen Fürsten dem erlauchten Haupt des preußischen Königshauses darge¬
bracht ward, von welchem die Schmach jener traurigen Tage im reichlichsten
Maße gesühnt worden ist.
Dazu kommt, daß es an und für sich nicht eben von allgemeinem In¬
teresse und von großer historischer Wichtigkeit sein dürfte, die Stelle, an wel¬
cher der unglückliche Prinz gefallen, mit minutiöser Genauigkeit festzustellen.
Allein die Stätte, wo der Prinz gefallen, steht, wie wir im weiteren Ver¬
lauf unserer Darstellung sehen werden, im engsten Zusammenhang mit der
Art und Weise, wie er gefallen, und ebendarum ist es wohl gerechtfertigt,
wenn wir uns bemühen, jene unrichtigen Angaben zu widerlegen, welche bis¬
her — selbst von namhaften Historikern — über das Ende des Prinzen und
über die Stelle, wo ein so glänzendes, reichbegabtes Menschenleben sein tra¬
gisches Geschick erfüllt, in verschiedenartigster Weise verbreitet wurden und
neuerdings aus der Eingangs gedachten Veranlassung wiederum verbreitet
worden sind.
Eben diesen Zweck verfolgte bereits eine werthvolle Abhandlung von
W. Roßmann*), welche in einem früheren Jahrgang der Grenzboten ab¬
gedruckt ist. Roßmann giebt hier zunächst eine interessante Zusammenstellung
der verschiedenen Lesarten, welche über das Ende des Prinzen Louis Ferdi¬
nand cursiren. So wird nämlich z. B. von Massenbach in dessen Denkwür¬
digkeiten und ebenso von den meisten französischen Historikern der Sachverhalt
so dargestellt, als ob der Prinz freiwillig den Tod gesucht und gefunden
habe; man hat dann diesen Akt angeblicher Verzweiflung auf verschiedene
Weise motivirt, ja sogar der Vermuthung Raum gegeben, als sei gerade
diese Absicht für den Prinzen das bestimmende Moment gewesen, ein ungleiches
Gefecht, welches einen so verhängnißvollen Ausgang haben sollte, einzugehen.
Andere dagegen, wie von der Marwitz, Varnhagen. Ferdinand Schmidt u. A.
berichten, daß der Prinz, als er gesehen, daß das Gefecht nicht mehr zu halten
sei, sich der allgemeinen Flucht angeschlossen habe. Auf dieser soll ihm nun
nach einigen Berichten der Tod durch eine Kugel geworden sein, während nach
der gewöhnlichen Darstellung das Pferd des Prinzen beim Uebersetzen über
einen Gartenzaun mit einem Fuße hängen geblieben, der Prinz in Folge da¬
von von den Verfolgern eingeholt und, wie die Einen sagen, von hinten er¬
stochen oder, wie Andere erzählen, nach tapferer Gegenwehr gefallen sein soll.
So stellt z. B. Hauffer**) das Ende des Prinzen folgender Maßen dar: „die
Umgebung des Prinzen erklärte sich für den Rückzug, er selber mochte sich
allmählich überzeugen, daß es, um einer Niederlage zu entgehen, keinen an¬
deren Ausweg mehr gebe. Schon waren an mehreren Stellen seine Leute zu¬
rückgedrängt, als ein neuer Reiterangriff in Unordnung zurückgeworfen ward.
Vergebens suchte der Prinz die Flüchtigen zum Stehen zu bringen, er ward
nur mit in den verworrenen Knäuel der Reiter hineingerissen und mußte da¬
ran denken, sich selber vor dem nachdrängenden Feinde zu retten. Sein Pferd
blieb aber beim Uebersetzen über einen Gartenzaun mit dem Fuße hängen;
ein französischer Quartiermeister vom zehnten Husarenregiment, Namens
Grundel, holte ihn ein und versetzte ihm einen Hieb auf den Hinterkopf; wie
er aus die Aufforderung, sich zu ergeben, sich zur Wehr setzte, traf ihn der
Gegner mit einem tödtlichen Stich in die Brust. In wenig Minuten war er
Verschieden; schon drängte der Feind von allen Seiten nach, vergebens suchten
die Adjutanten des Prinzen wenigstens den Leichnam den feindlichen Händen
zu entreißen."
Diese letztere Darstellung scheint denn auch durch den oben erwähnten
Denkstein unterstützt zu werden, denn dieser Stein befindet sich nur einige
Schritte von dem Zaun des Bock'schen Gartens zu Wölsdorf entfernt, linker
Hand von der von Saalfeld nach Rudolstadt führenden Chaussee. Etwa drei¬
hundert Schritte weiter nach Rudolstadt zu steht aber rechter Hand von der
Landstraße für den von Saalfeld her Kommenden auf einer Feldspitze ein
großes gußeisernes Monument, welches dem gefallenen Helden im Jahre 1823
errichtet ward, und die Inschrift dieses Denkmals besagt ebenfalls: „Hier
fiel kämpfend für sein Vaterland Prinz Louis Ferdinand von Preußen am
10. Okt. 1806."
In dieser Verwirrung und Unklarheit suchte nun bereits Dr. Roßmann
in jenem Artikel der Grenzboten durch die Mittheilung derjenigen Aufzeich¬
nungen Klarheit zu bringen, welche der pensionirte Oberbürgermeister und
Justizrath Windorf zu Saalfeld über den Tod des Prinzen Louis Ferdinand
gemacht hat. Windorf, welcher zur Zeit jener unglücklichen Katastrophe im
achtzehnten Lebensjahr stand *), sah den Prinzen am Morgen des 10. Oktober
im vollen Glänze seiner männlichen Schönheit und im Vollbesitz seiner jugend¬
lichen Kraft; und des Abends mußte er Zeuge sein, wie die Leiche desselben,
von schnöder Feindeshand der Kleider beraubt, unter den empörenden Klän¬
gen einer munteren Weise von den brutalen Siegern in die Stadt herein¬
gebracht wurde. Der junge Windorf wohnte dann auch der Obduktion und
der Sektion des Leichnams bei, und er hat zudem, durch ein zufälliges Zu¬
sammentreffen veranlaßt, Tags darauf mit dem französischen Korporal oder
Wachtmeister, welcher als derjenige bezeichnet wurde, von dessen Hand der
Prinz gefallen sei. die Wahlstatt bei Wölsdorf besucht und an der blutge¬
tränkten Stelle verweilt, woselbst jener nach seiner Versicherung den Prinzen
erstochen hatte.
Nun ist inzwischen auch dieser letzte Zeuge, dessen Glaubwürdigkeit von
Keinem, der ihm im Leben nahe gestanden, angezweifelt werden wird, heim¬
gegangen.
Der ehrwürdige Greis, welcher sich eine bei so hohem Alter seltene
Geistesfrische und ein wunderbares Gedächtniß für jene längst vergangene
Zeit bewahrt holte, erzählte noch wenige Wochen vor seinem im Jahre
1874 erfolgten Tod das, was er in jenen Aufzeichnungen niedergelegt, dem
Schreiber dieser Zeilen frei aus dem Gedächtniß, und fast gleichzeitig fand
ich in einem im Archiv des hiesigen Kreisgerichts befindlichen Aktenstück eine
beachtenswerthe Bestätigung der Angaben des Justizraths Windorf, welch
letzterem diese Akten nicht bekannt waren. Ehe wir jedoch das
Mitrheilenswerthe aus diesen Akten hier zur Sprache bringen, möge es zuvor
gestattet sein, die entscheidenden Momente aus den Windorf'schen Angaben
hier kurz zu rekapituliren.
Nach Windorf's Erzählung hatte nämlich der Prinz während des Treffens
mit seinen Adjutanten in dem Bock'schen Garten gehalten, und dort wurde
ihm ein Pferd unter dem Leibe erschossen. Er bestieg ein anderes und ritt,
da die Massen des an Zahl weit überlegenen Feindes immer ungestümer
herandrängten und den linken Flügel seiner Truppen zu umgehen drohten,
in den Hohlweg hinein, welcher von Wölsdorf aus auf die an der Saale
gelegenen Wiesen führt, um den Rückzug seiner Truppen auf Rudolstadt zu
leiten. Allein der Ausgang des Hohlwegs war bereits nicht mehr frei, und
schnell war der Prinz von feindlichen Reitern umringt, nur im Rücken durch
die steil abfallende Lehmwand des Hohlwegs gedeckt. Wie nun jener fran¬
zösische Korporal unserem Gewährsmann erzählte, hieb und stach der Prinz
wie verzweifelt um sich und wies den ihm angebotenen Pardon mit Wort
und Degen zurück, bis er von seinem Gegner die tödtliche Wunde erhielt.
Jener Franzose zeigte Windorf auch die blutgedrängte Stelle bei einem an
dem Hohlweg stehenden alten Eichstumpf, woselbst der Prinz gefallen sei.
Wir bemerken hierzu, daß der fragliche Hohlweg, welcher übrigens durch
den inzwischen vorgenommenen Chausseebau bedeutend abgekürzt worden ist,
sich rechter Hand für den von Saalfeld her Kommenden von dem großen
Monument und unterhalb des letzteren befindet. Windorf macht nun darauf
aufmerksam, und es fällt bei näherer Betrachtung auch sofort ins Auge, daß
der aus dem Denkmal dargestellte Genius mit dem Zeigefinger der rechten
Hand nach dem Hohlweg hinunter zeigt, und daß auch dessen Blick dorthin
gerichtet ist. „Folgt man diesem Wink — sagt Windorf — und zieht man
nach seiner Richtung eine gerade Linie über die Feldspitze, auf welcher das
Monument steht, und den Hohlweg hinunterwärts bis an die Abschneidung
der Hohle durch die Lehmwand rechts, dann befindet man sich gerade auf
dem Punkt, aus welchem der Prinz gefallen ist." Bemerkt mag hierbei noch
werden, daß der einige hundert Schritte von diesem Monument entfernte
kleine Denkstein, bet welchem vordem die neuerdings gefällte Linde stand, nach
Windorf's Angabe von preußischen Offizieren im Jahre 1807 gesetzt worden
ist, während das große Denkmal die Fürstin Radziwill, eine Schwester des
Gefallenen, errichten ließ.
Die Leiche des Prinzen war, wie Windorf weiter erzählt, bis auf das
Hemd und die Unterkleider ausgezogen, als sie nach Saalfeld und zwar zu¬
nächst in das dortige Schloß gebracht wurde, woselbst der Marschall Lannes
sein Quartier aufgeschlagen hatte. Beiläufig bemerkt, hatte der Marschall
— wie Windorf dem Referenten mündlich mittheilte — die Staatszimmer
des Schlosses occuvjrt, während der gerade in Saalfeld anwesende Herzog
von Sachsen-Coburg unter dem Dache vorlieb nehmen mußte. Der Herzog
schickte aber herunter und ließ eine Locke von dem Haupte des Prinzen holen;
auch der Marschall Lannes kam in den Schloßhof herunter und betrachtete
lange stillschweigend die Leiche. Diese wurde alsdann in die Saalfelder Stadt¬
kirche gebracht, in welch letztere Windorf als Sohn des Predigers leicht Zu¬
tritt hatte, so daß er der Obduktion und der Oeffnung des Leichnams bei¬
wohnen konnte. Nach Windorf's Versicherung war an der Leiche des Prinzen
keinerlei Schußwunde ersichtlich. Dagegen fanden sich zwei Hiebwunden auf
dem Hinterkopf, eine solche im Ellbogen des rechten Arms, und ein leichter
Hieb in die Wange, durch welchen vermuthlich das Sturmband des Hutes
durchhauen worden war. Die absolut tödtliche Wunde aber war nach dem
ärztlichen Fundbericht durch einen Stich in die Brust verursacht. Die Leiche
Wurde in eben derselben Kirche beigesetzt, bis sie 1811 nach Berlin gebracht ward.
Soweit die mündlichen und schriftlichen Angaben des Justizraths Win¬
dorf. ^ Nehmen wir nunmehr das erwähnte Aktenstück zur Hand! Es sind
dies die Akten des vormaligen Sachsen-Coburg-Saalfelder Justiz- und Kam¬
meramtes Saalfeld, „betreffend ein aus dem Guthe des Johann Christoph
Schleitzer zu Wölsdorf verkauftes Stück Feld zur Aufrichtung eines zu er¬
richtenden Denkmals für den am 10. Oktober 1806 allda gefallenen Herrn
Prinzen Ludwig Ferdinand von Preußen." Entsprechend diesem weitschwei¬
figen Titel enthalten diese Akten in epischer Ausführlichkeit eine Reihe von
Verhandlungen, Berichten und Rescripten über den Erwerb des zur Errichtung
des Denkmals erforderlichen Areals, sodann aber auch das Programm zu der
bei der Enthüllung des Monuments am 19. Oktober 1823 veranstalteten
Feierlichkeit, sowie eine Nummer des „Saalfeldischen Wochenblatts" vom 29.
Oktober 1823, in welcher die Rede abgedruckt, welche von dem Oberst von
Szymborski, früher in preußischen, damals in coburgischen Diensten, bei
dieser Gelegenheit gehalten worden ist. Sogar die unvermeidliche Elegie,
welche ein Saalfelder Poet zu dieser Feier gedichtet, ist nicht vergessen. Dann
folgen weitläufige Correspondenzen über die Bewachung des Monuments,
welche mehrere Jahre hindurch von preußischen Invaliden besorgt wurde, nebst
ausführlichen Belegen und Berichten über deren mageres „Traktament" und
die ihnen überwiesenen Montirungsstücke. Uns interessirt hier zunächst die
aus der Feder des Oberst von Szymborski geflossene Einleitung zu diesem
Aktenstück. Szymborski hatte nämlich, wie er hier schreibt, bei der Leibkom¬
pagnie des Prinzen Louis Ferdinand gestanden und war Jahre lange dessen
täglicher Gesellschafter^ und Tischgenosse gewesen.
Szymborski war es. welcher die Errichtung des Monuments für seinen
fürstlichen Freund anregte. Schon im Jahre 1807 — so schreibt er — habe
er in Memel bei der Schwester des Prinzen, der Fürstin Radziwill, darauf
angetragen, daß diesem Bruders-Sohn Friedrich's des Großen ein größeres,
seines Ranges, Namens und seiner Talente würdigeres Denkmal an Stelle
des vorhandenen kleinen Denksteins, welches ihm die Herren von Romberg
und von der Reck gesetzt, errichtet werden möge. (Dies sind also die Namen
der von Windorf erwähnten preußischen Offiziere.) Obgleich nun — fährt
Szymborski fort — sein Vortrag Beifall gefunden. so sei doch durch die
nächstfolgenden Unglücksjahre Preußens die Realisirung dieses Planes ver¬
hindert worden. Erst nach den Freiheitskriegen konnte Szymborski daraus
zurückkommen; doch ward eine von ihm proMirte öffentliche Subscription
zum Zweck der Errichtung eines solchen Denkmals von dem König Friedrich
Wilhelm III. nicht gestattet. Letzterer ließ verschiedene Zeichnungen zu einem
würdigen Monument für den gefallenen Helden anfertigen, und die hohe
Familie des Letzteren errichtete ihm endlich im Jahre 1823 das ebenso ein¬
fache, als geschmackvoll und meisterhaft ausgeführte Denkmal. Der Oberst
von Szymborski hielt bei der Einweihung desselben die Weiherede, und in
dieser Rede finden sich verschiedene wichtige Angaben, welche das Windorf'sche
Referat über die Art und Weise, wie der Prinz gefallen, und über die Stelle,
wo dies geschehen, bestätigen und unterstützen.
Wir heben aus dieser Rede Folgendes hervor:
Zunächst die Bestätigung der Angabe, daß der Prinz nach tapferer
Gegenwehr, den ihm angebotenen Pardon verschmähend, im Handgemenge ge¬
fallen ist. Szymborski sagt nämlich wörtlich: „Der an dieser Stelle zu früh
für sein Vaterland, für seine Familie und Freunde gefallene Bruders-Sohn
Friedrich's des Großen war ein ausgezeichneter Mann seiner Zeit, dessen hoher
Geist in allen Theilen des Wissens unverkennbar war, mit herrlichen Natur¬
gaben, mit vorzüglichen Talenten reichlich ausgestattet, an Tapferkeit ein
Held, würdig seiner großen Ahnen. — Diese Tapferkeit war es auch,
die ihn bestimmte, auf dieser unglücklichen Stelle den vielfach
ihm angebotenen Pardon auszuschlagen um den Tod der
Gefangenschaft vorzuziehen."
„Doch schien — so heißt es weiter — unter dem darauf eingetretenen
Druck der Staatsverhältnisse das Andenken dieses preußischen Helden zu ver-
löschen, und nur Freundeshand wagte es, durch das noch sichtbare
kleine Denkmal die Stelle zu bezeichnen, worauf derGefallene
nach seinem Tode vom Feinde gebracht und entkleidet wurde,
bis die erhabene Familie desselben beim Eintritt glücklicherer Zeiten dieses
Denkmal, seiner hohen Geburt, seines Ranges und seiner Talente würdig,
aufrichten ließ, um so sein Andenken auch durch ein öffentliches Zeichen zu
ehren und auf die Nachwelt zu bringen."
Hiernach bezeichnet also jener kleine Denkstein, bei welchem vormals die
besprochene Linde stand, nicht die eigentliche Stelle, wo der Prinz gefallen,
sondern vielmehr den Ort, auf welchen man die Leiche des Gefallenen ge¬
bracht und der Kleider beraubt hat. Hiermit stimmt übrigens auch die im
Orte Wölsdorf erhaltene Tradition — ein Augenzeuge des Gefechtes ist auch
dort nicht mehr am Leben — überein, wie ich mich erst in diesen Tagen
überzeugt habe. Aber auch über die eigentliche Stelle, wo der unglückliche
Prinz sein Geschick erfüllt, giebt uns die Szymborski'sche Rede Aufschluß. Es
heißt hier nämlich weiter:
„Der trauernde Genius dieses Denkmals blickt mit uns
wehmüthig nach seinen Waffen und nach dem kleinen Fleck der
Erde, wo der Held im ungleichen Kampf sein Leben für sein
Vaterland geendet hat, und unsere Wehmuth wird durch die Betrach¬
tung gesteigert, daß es ihm nicht vergönnt war, die späteren Jahre zu er¬
leben und Zeuge des alten Heldenmuths und der vermehrten Größe des
preußischen Volkes zu sein, wozu er gewiß wesentlich beigetragen haben
würde."
Und so finden wir denn hier eine ausdrückliche Bestätigung jener
Windorf'schen Versicherung, daß der Prinz in dem unterhalb des Denkmals
befindlichen Hohlweg sein Leben geendet, und zwar an der Stelle, auf welche
der auf dem Monumente dargestellte Genius hindeutet; und somit dürfte
denn auch die oben aufgestellte Behauptung, daß an der durch den kleinen
Denkstein und bis vor Kurzem durch die mehrfach gedachte Linde bezeichneten
Stätte der Prinz Louis Ferdinand nicht gefallen, als gerechtfertigt erscheinen.
Diese Zeilen wollen die Verkehrswege und Anstalten — außer den ge¬
wöhnlichen Straßen und den gewöhnlichen Straßenfuhrwerken — innerhalb
Londons und anderer englischer Großstädte schildern, jene Verkehrserleichterungen,
welche auf die ganze Gestaltung der englischen Lebensverhältnisse von außer¬
ordentlichem Einflüsse gewesen sind und ohne welche das London von heute
ganz undenkbar wäre.
Wenn ich zunächst mit den Pferdeeisenbahnen beginne, so geschieht es
hauptsächlich deßwegen, weil dieselben für die größte Anzahl der Großstädte
viel wichtiger sind, als die Locomotiveisenbahnen. Wenn letztere als Staats¬
bahnen dem Localverkehr dienen sollen, so muß als erste Grundbedingung
eine schon sehr erhebliche Größe der Stadt vorausgesetzt werden, denn nur
ein sehr starker Verkehr rechtfertigt die theure Anlage von Locomotivstadt-
vahnen. Oder es muß eine Großstadt mittlerer Größe in Mitten eines sehr
stark bevölkerten Industrie- und Fabrikbezirks liegen, sodaß hier der ganze
Bezirk an Stelle der einen Stadt tritt. In den meisten Fällen aber werden
Pferdeeisenbahnen nicht allein genügen, wenn sie richtig angelegt sind, sondern
sie werden auch, der billigen Anlage wegen, bei Großstädten mittlern Ranges
die einzige verkehrserleichternde Anlage sein, die eine genügende Rentabilität
verspricht.
So sehen wir denn auch in allen englischen Großstädten ein sehr zweck¬
mäßig angelegtes Pferdeeisenbahnnetz, vermöge dessen die Bewohner der Vor¬
städte schnell und oft bis in das innerste Herz der Stadt gelangen können.
Selbst in engen Straßen finden sich die Pferdebahnen, denn unter allen Um¬
ständen werden dieselben in alle Haupt-Verkehrsstraßen so wett hinein und
durch dieselben durchgeführt, daß jeder Geschäftsmann nur ein Minimum von
Weg zwischen der Bahn und seinem Comptoir zurückzulegen hat. Reicht die
Breite der Straße zur doppelgleisigen Anlage wirklich nicht aus, so wird
unter Benutzung von Parallelstraßen die Bahn nach der einen Richtung durch
die eine und nach der andern durch die andere Straße gelegt, sodaß sich die
Wagen in jeder Straße nur nach ein und derselben Richtung bewegen.
Dieses System ist besonders in Liverpool sehr schön ausgebildet und für
deutsche Städte um so beachtenswerther, als der Verkehr in ihrem Innern
häufig mit engen Straßen zu kämpfen hat und es in Folge dessen viele
deutsche Großstädte gibt, in denen sich die Pferdebahnen mit möglichster Kon¬
sequenz vor dem Betreten der eigentlichen Verkehrsstadt zu scheuen scheinen;
ich meine hier z. B. Berlin und Leipzig.
Wenn ich nach dem Grund dieser für die deutschen Städte ungünstigen
Thatsache forsche, so scheint mir derselbe hauptsächlich in denjenigen städtischen
Behörden zu liegen, die aus engherzigen kleinstädtischen Rücksichten, oder aus
Mangel an Verständniß nicht allein versäumen, im Innern ihrer Städte für
die nöthige Straßenbreite bei Zeiten Sorge zu tragen, sondern die auch sehr
häufig geradezu die Zustimmung verweigern, wenn sich Pferdebahngesellschaf¬
ten bereit erklären, derartige Bahnen trotz aller engen Straßen bis ins innerste
Innere hinein anzulegen. Da kann man Deklamationen hören wie: „die
Pferdebahn störe und vermehre den sonstigen Straßenverkehr", während doch
gerade durch die bequemere und schnellere Beförderung, welche dieselbe den
Personen darbietet, die Zahl der schlechten Droschken und Omnibusse sich ver¬
mindern und der ganze Verkehr sich schneller also weniger störend abwickeln
wird; oder: „in Straßen mit Pferdeeisenbahnen nehme die Zahl der Fu߬
gänger ab und dadurch würden die Inhaber von großen Läden mit schönen
Schaufenstern in ihrem Gewerbebetrieb gestört, indem sich nun auch die Zahl
der Käufer vermindere."
Derartige Argumente, so lächerlich sie auch scheinen mögen, kann man
leider oft genug selbst von ernsthaften Männern hören. Sie gehören in die¬
selbe Categorie wie die Einwendungen gegen die Canalisation von Berlin, die
mehrere Jahre hindurch die Inangriffnahme dieser so überaus nothwendigen
Anlage verhindern konnten, weil sie einen so großen Theil der maßgebenden
Kreise befangen hielten. Wenn allerdings die städtischen Behörden denjenigen
Gesellschaften, die verkehrserleichternde Anlagen schaffen wollen, nicht allein
nicht zuvorkommend und entgegenkommend begegnen, sondern denselben sogar
noch alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg legen; wenn sie die Ausfüh¬
rung von schon längst nothwendigen Straßenverbreiterungen und dergleichen
mehr, die bisher nur zu Folge eines wenig erbaulichen Knickerthums unter¬
blieben sind — wie z. B. die Verbreiterung der Potsdamerstraße in Berlin;
die Beseitigung der Apotheke auf dem Potsdamerplatz ebendaselbst, — auch
noch diesen Privatgesellschaften aufbürden; wenn die Erbauung von Pferde¬
bahnen in Berlin in Straßen von der Breite der Leipzigerstraße, der Linden,
der Friedrichsstraße nicht genehmigt wird, während solche selbst in der Königs¬
straße und der Gertraudenstraße recht gut angelegt werden könnten — dann
muß man sich nicht wundern, wenn dieselben Privatgesellschaften einzig und
allein nur ihre Dividende im Auge haben und wenn Zustände einreihen, die
sich wohl am passendsten und richtigsten mit dem Ausdruck „Berliner
Zustände" bezeichnen lassen.
Ich bin durchaus kein unbedingter Anhänger aller englischen Einrichtun¬
gen, aber überall da, wo es sich um Verkehrserleichterungen, vor allen Dingen
um möglichste Abkürzung von Weg und Zeit handelt, sind die Briten uns
Deutschen weit überlegen; sie haben nicht umsonst das Sprüchwort: „Zeit
ist Geld." Und nicht nur der Weg wird überall möglichst verkürzt, sondern
auch die Zeit unmittelbar durch möglichst rasche Aufeinanderfolge der Pferde¬
bahnwagen. Es trägt das sehr wesentlich mit dazu bei, daß alle diese Bahnen
unausgesetzt sehr stark besucht sind. Nichts ist lästiger, als wenn man an
den Haltestellen viertelstundenlang warten muß, ehe man sich des Wagens be¬
dienen kann; nichts hält das Publikum mehr von der Benutzung derartiger
Fahrgelegenheiten ab, als gerade dieses Warten. Wenn man leidlich große
Wegestrecken, vermöge der großen Zwischenräume, in denen sich die Wagen
folgen, ebenso schnell, oder auch nur annähernd in derselben Zeit zu Fuß zu¬
rücklegen kann, als mit der Pferdebahn, so wird man diese in den allersel-
tensten Fällen benutzen, oder mit andern Worten die Pferdebahn ist dann
überhaupt für eine sehr große Anzahl von Personen ohne Nutzen. „Gelegen¬
heit macht Diebe" ist ein altes wahres Sprüchwort, sie macht aber nicht min¬
der Personen zu Fahrpafsagieren, die es sonst niemals geworden wären. Wenn
man die Pferdebahnwagen in Zeiträumen von 3 bis ü Minuten aufeinander
folgen läßt, so wird sich sehr bald auch überall die Frequenz derselben bedeu¬
tend steigern.
In noch höherm Grade gilt dies von den Locomotivlocalbahnen und
ich werde darauf noch besonders zurückkommen. Da in London selbst schon
seit Jahrzehnten Loealbahnen mit Locomotivbetrieb bestanden haben, während
die Pferdeeisenbahn in ihrer jetzigen weiten Verbreitung und Verwendung
zur Personenbeförderung erst eine neuere Erfindung ist, so sind hier auch
diese erst sehr spät entstanden und zwar in einer Art und Weise, die von der
der meisten übrigen Großstädte sehr erheblich abweicht. In London nämlich
führen die Pferdebahnen nur von den die Stadt umfassenden und in deren
Innerstes einmündenden Locomotiv-Eisenbahnen rechtwinklig ab nach ent¬
legeneren Stadttheilen und Vorstädten, mit welchen eine directe Verbindung
durch Loeomotivbahnen nicht rentabel sein würde.
Die Pferdebahnen haben daher hier einen rein secundären Charakter, der
ihnen auch überall da, wo sie in Verbindung mit Locomotiveisenbahnen treten,
zukommt. Natürlich ist solch ein System nur in einer wirklich großen Stadt
möglich, aber dann auch sehr beachtenswerth und dürfte sich wohl auch ganz
besonders für Berlin empfehlen, wo die erste Stadteisenbahn jetzt im Bau,
das Pferdeeisenbahnnetz aber noch lange nicht vollendet ist, so daß sich noch
recht gut eine derartige Combination erzielen ließe.
Es wird sich mit der Zeit allerdings dieses System stets von selbst bilden,
denn mit Locomotiveisenbahnen vermag auf die Dauer kein anderes Verkehrs¬
mittel zu concurriren, wenn nicht wie in London, wo allerdings Eisenbahn-,
Dampfschiff- und Omnibuslinien neben einander bestehen, die Bevölkerung so
groß ist, daß alle drei Factoren zusammenwirken müssen, um den Verkehr zu
bewältigen und wo die Bevölkerung für ein Minimum von Zeitgewinn so außer¬
ordentlich empfindlich ist und vor allen Dingen auch den kleinsten Weg. der etwa
zu Fuß zurückgelegt werden müßte, so sehr scheut, daß sie unter Umständen den
anscheinend langsameren Omnibus der schnellfahrenden Eisenbahn vorzieht,
wenn ersterer gerade am Wege liegt. Aber obwohl sich diese Regulirung von
selbst machen wird, empfiehlt eS sich, in allen den Städten, deren Größe die
Erbauung von Eisenbahnen beiderlei Betriebs nothwendig macht von vorn¬
herein den secundären Charakter der Pferdeeisenbahnen nicht außer Auge zu
lassen, damit gleich bei der ersten Anlage richtig disponirt und nicht un¬
nöthiger Weise Kapital verschwendet werde.
In Bezug auf Locomotiveisenbahnen ist natürlich London mit seinen
nahezu 4 Millionen Einwohnern am interessantesten und lehrreichsten; sind
doch hier die weltberühmte unterirdische Eisenbahn, der Themsetunnel und die
weiten, über den Straßen liegenden Bahnen, welche die Stadt der Kreuz und
Quer durchschneiden und häufig an den Dächern der Häuser vorbeiführen.
Aber auch alle anderen Großstädte, ja sogar Ortschaften, die kaum auf diesen
Namen Anspruch machen können, wie Newcastle on Tyne, zeigen mehr oder
minder dasselbe Bild und unterscheiden sich von unsern deutschen Städten
sehr wesentlich dadurch, daß überall der oder die Bahnhöfe möglichst in das
Innerste der Städte gelegt sind und sich nicht nur, wie meistens in Deutsch¬
land, an die Peripherie derselben anschmiegen. Außer diesen Hauptbahnhöfen
befindet sich in der Regel eine ganze Reihe von Localstatiomn in der und
um die Stadt herum und wird der Verkehr zwischen diesen durch Localzüge
vermittelt.
Diese überall wiederkehrende Grunddisposition war auch nicht von allem
Anfange an vorhanden, sondern erst im Laufe der Zeit, bei zunehmendem
Wachsthum der Städte sahen sich die Eisenbahngesellschaften veranlaßt, einen
Versuch zu machen, in das Innere der Städte vorzudringen, um nicht allein
den großen Verkehr, sondern gerade den Localverkehr zu heben und sie haben
dies mit enormen Kosten beinahe überall erreicht und trotz dieser enormen
Kosten dabei sehr wohl ihre Rechnung gefunden.
Ueberall da, wo bisher in Deutschland nicht schon die Bahnhöfe von
allem Anfange an im Innern der Städte lagen, sind bei Um- und Er¬
weiterungsbauten sehr selten Versuche gemacht worden, in das Innere zu
dringen. Meistens hat man die zu großen Kosten gescheut, obwohl man
in Großbritannien doch so manche eklatante Beispiele vor Augen hatte, daß
dieses ein falscher Standpunkt sei. Allerdings muß hier erwähnt werden,
daß in England schon viel früher, als in Deutschland, eine große Anzahl
großer Städte vorhanden war und daß, vermöge der englischen Wohnungs¬
verhältnisse, in allen diesen ein sehr starkes Decentralisationsbestreben die
Eisenbahngesellschaften in ihrem Vordringen in das Innere der Städte sehr
wesentlich unterstützte, indem der mit Bestimmtheit zu erwartende bedeutende
Localverkehr auch eine sichere Rente der Anlagekosten versprach. In Deutsch¬
land liegen die Verhältnisse ganz anders. Von einer Decentralisation der
Großstädte ist bisher noch nicht viel zu sehen gewesen, da dieselbe aber im
höchsten Grade wünschenswerth ist, so wäre es sehr zu empfehlen, daß alle
städtischen Behörden die Eisenbahngesellschaften aufmunterten, den englischen
Vorbildern nachzuahmen. Dieses Entgegenkommen seitens der Städte ist
um so mehr zu wünschen, als Stadtbahnen in deutschen Städten wohl noch
für lange Jahre hin keine all zu hohe Rente versprechen können und sich so
die Eisenbahngesellschaften nur schwer zu deren Anlage entschließen werden,
wenn nicht alle einschlagenden Faktoren zusammenwirken, um den betreffenden
Städten den Segen bequemerer Verkehrsmittel zu Theil werden zu lassen.
Leider sind aber auch schon Fälle vorgekommen, wo die Eisenbahngesellschaften
die redlichsten besten Absichten hatten und dieselben nur, oder doch haupt¬
sächlich an dem geringen Entgegenkommen, um nicht einen noch schärferen
Ausdruck zu gebrauchen, scheiterten, das die städtischen Behörden diesen gewiß
sehr gemeinnützigen Bestrebungen entgegenbrachten.
Mir ist ein bestimmter Fall bekannt, wo in einer großen Handelsstadt
Sachsens eine besonders früher schlechtbeleumdete Eisenbahngesellschaft, deren
Bahnhof sehr weit von der Stadt entfernt liegt, die bestimmte Absicht hatte
mit demselben der Stadt wesentlich näher zu rücken. Sie wünschte als Bau¬
platz ein Terrain, welches theilweise der Stadt gehörte, das dieselbe aber zu
Schulzwecken verwenden wollte. Die Verhandlungen zerschlugen sich, da die
Stadt beinahe gar keine Concessionen machen wollte, trotz aller nur möglichen
Anerbietungen seitens der Bahngesellschaft.
Gewiß ist es sehr löblich, für Schulzwecke möglichst viel, und das was
verwendet wird, möglichst vorsorglich zu verwenden. Meiner Ansicht nach lassen
sich aber Schulhäuser so ziemlich überall erbauen, Bahnhöfe aber, der viel
größeren Bodenfläche wegen nicht. Wenn es sich daher wie in diesem Falle
darum handelt, eine sehr wesentliche Verkehrserleichterung zu schaffen,
so müßte ausnahmsweise einmal ein Schulhausbauplatz zum Opfer gebracht
werden, besonders wenn er sich ganz in der Nähe ersetzen läßt, wie das hier
der Fall war. Die beireffende Stadt ist wegen ihrer ausgezeichneten Schulen
berühmt und sie wacht mit rühmlichem Eifer über deren unveränderter Vor¬
züglichkeit. Ihr geringes Entgegenkommen mag sich daher aus diesem Eifer
erklären und einigermaßen entschuldigen; es ist aber um so weniger ganz
zu rechtfertigen, als der andere hier verhandelnde Theil eine Eisenbahn-
gesellschaft war, welche lange Zeit wegen schlechter Einrichtungen verschrieen
gewesen war und bei ihrer ersten Wendung zur Besserung durch diese Art
und Weise der Behandlung natürlich nicht in ihren Besserungsabsichten bestärkt
werden konnte.
Derartige Fälle könnten wohl kaum vorkommen, wenn den Technikern
in den betreffenden Verwaltungszweigen mehr Einfluß eingeräumt wäre, so¬
wohl in den Eisenbahnverwaltungen selbst, als auch besonders innerhalb der
städtischen Behörden, denn sie würden sich schon aus sachlichen Interesse für
das Zustandekommen aller möglichen Verkehrserleichterungen erwärmen und
sollten sie wirklich einmal zu weit gehen wollen, so wäre in den andern
Elementen der Verwaltung ein ausreichendes Correctiv gegen solche Aus¬
schreitungsversuche vorhanden. — Bei den Staatsbehörden besonders den Staats¬
eisenbahnen sind in letzterer Zeit auch wiederholte Versuche gemacht worden
die bisherigen Einrichtungen zu ändern, und werden dieselben wohl auch zu
einem günstigen Resultat führen; bei den städtischen Verwaltungen aber ent¬
scheiden leider nur zu häufig Personen über rein technische Fragen, die eben¬
sowenig Verständniß dafür besitzen, wie Techniker für rein medicinische oder
juristische Fragen. Man kann eben niemals Alles verstehen. Auch in dieser
Hinsicht ist England, meiner Ansicht nach, Deutschland weit voraus. Ist
es doch auch natürlich genug, daß in einem Lande, das gerade den Maschinen-
und Eisenbahntechnikern nicht den schlechtesten Theil seiner Blüthe verdankt,
denselben der ihnen gebührende Einfluß in allen Zweigen der Verwaltung
eingeräumt ist.
So findet sich auch in London im Hyde Park am Albertmemorial, welches
im vollsten Sinne des Wortes ein Nationaldenkmal ist, die Baukunst und
Wissenschaft als eine der vier allegorischen Figuren des Postaments dargestellt,
während in Deutschland die Baukunst von den andern Künsten kaum als
ebenbürtig zugelassen wird und selbst sogenannte Gebildete kaum zu wissen
scheinen, daß es eine Bauwissenschaft gibt, so gut wie jede andere Wissenschaft.
Es liegt wahrlich nicht der geringste Grund vor, den deutschen Technikern
den Einfluß, den dieselben in andern Ländern und besonders in England aus¬
üben, nicht zuzugestehen, denn die heutige Technik in Deutschland ist der der
andern Staaten mindestens ebenbürtig und in Bezug auf allgemeine Bildung
sind die Vertreter derselben ihren fiemdländischen Collegen, Dank der überall
verlangten deutschen Gymnasialbildung, wohl überlegen.
Wenn erst über technische Fragen die Techniker nicht nur gehört werden,
sondern auch darüber die entscheidenden Stimmen abgeben, dann wird man
auch viel weniger skrupulös mit der Ueberwindung sogenannter technischer
Schwierigkeiten sein, denn es wird und muß dann den maßgebenden Persön¬
lichkeiten alles daran liegen, sie zu beseitigen, sie werden ihr ganzes Wissen
und ihre ganze Kraft viel freudiger einsetzen, dieselben zu überwinden, als
wenn sie nur um ihren Rath befragt, im Uebrigen aber überall als fünftes
Rad am Wagen angesehen werden.
Die neuere Baugeschichte der deutschen Großstädte und vor allem die Ge¬
schichte der noch immer der Ausführung harrenden Markthallen. Fleischhallen
und Schlachthäuser, sowie der Canalisation von Berlin ist in dieser Hinsicht
überaus lehrreich. Es ist zwar eine sehr schöne Errungenschaft die Selvstver»
waltung und gerade England ist das classische Land für dieselbe; sie darf
aber nicht dahin aufgefaßt werden, daß Jeder, der aus irgend welchen zwei-
felhaften Verdiensten in irgend eine Volksvertretung gelangt ist. oder dazu
berufen wird, an der Selbstverwaltung mitzuwirken, nun auch gleich Alles
selbst am besten verstehen will. In England wird wenigstens das Selfgo-
vernement auch keineswegs so aufgefaßt, glücklicher Weise auch in Deutschland
nicht überall; das deutsche Volk ist so lange bevormundet worden, daß Viele
sich dieser für alles sorgenden väterlichen Fürsorge noch nicht entwöhnen kön¬
nen, oder aber, was ebenso schlimm oder noch schlimmer ist. gleich ins andere
Extrem verfallen und trotz aller wissenschaftlichen Autoritäten selbst alles am
besten wissen wollen. Außerdem könnte ja auch so oft durch durchgreifende
Verbesserungen der oder jener Freund und Nachbar in seinen Privatinteressen
beeinträchtigt werden.
Doch verzeihen Sie diese weite Abschweifung und mein Plädiren pro
domo; aber wenn wir Techniker selbst es nicht thun, wer soll für eine wür-
digere Stellung unseres Fachs eintreten? Und wenn ich gerade hier dazu
Gelegenheit nahm, so mag dies durch den Vergleich mit englischen Zustän¬
den wohl gerechtfertigt erscheinen. Doch nun zurück zu den Londoner Eisen¬
bahnen.
Auch die ältern Bahnhöfe Londons lagen bei ihrer Erbauung in den
30er und 40er Jahren an der Peripherie der damaligen Stadt, nur die von
Süden und Osten kommenden Linien drangen von Anfang an erstere bis mög¬
lichst nahe an die Themse, letztere bis an den Anfang der City vor. Selbst¬
verständlich war ein derartiges Vordringen nur dadurch möglich, daß die
Bahnen über oder unter den bestehenden städtischen Straßen weggeführt wurden;
da außerdem der Grund und Boden selbst in diesen ärmsten Gegenden der
englischen Metropole immer noch werthvoll genug war, um die Erbauung von
Brücken an Stelle der Dämme zweckmäßig erscheinen zu lassen, so entstanden
jene Meilen langen Viaducte, die das Häusermeer Londons durchschneiden und
bei allen spätern Anlagen stets wieder auftreten. So führen die Bahnen
innerhalb der Stadt an den Dächern der Häuser vorbei, aber niemals über
dieselben hinweg; an den Stellen, wo Häuser standen, haben dieselben natürlich
beseitigt werden müssen, aber sie treten jetzt auch wieder bis dicht an die
Viaducte heran und in allen verkehrsreichen Gegenden sind die Hohlräume
der Brückenanlagen als Läden, Ställe. Lagerräume. Werkstätten u. dergl. a.
verpachtet. Während diese Verpachtung wohl kaum bei den ältern Anlagen
beabsichtigt gewesen sein mag. so wird doch jetzt bei der Rentabilitätsberech¬
nung neuer Bahnanlagen sehr wesentlich darauf Rücksicht genommen; und
wir sehen daher auch^ daß neuere Bahnanlagen bis in die entlegensten Stadt-
theile, ja bis in die ländliche Umgebung hinaus auf Viaductcn erbaut werden,
da dieselben erstens stets die Communication unter der Bahn weg ermöglichen
und bei dem weitern Wachsthum der Stadt eine sichere und hohe Einnahme
versprochen. Wo die Viaducträume als Schuppen, Ställe oder dergl. ver¬
miethet werden, ist man noch weit ab vom Mittelpunkt der Stadt; wo die¬
selben zu eleganten Schauläden benutzt werden, pulsirt der großartigste Verkehr
der größten Welt- und Handelsstadt.
Die Eisenbahnen Londons waren bis zu Anfang der Sechziger Jahre
immer noch durch die Themse getrennt. Da drangen zunächst zwei Eisenbahn¬
gesellschaften von Süden her auf das nördliche Ufer vor, indem sie gemein¬
sam die Vietoriabrücke, dicht am Batterseepark erbauten und in der Nähe des
Buckingham-Palastes im Westend ihren neuen großen Personenbahnhof mit
dem Namen Victioriastation errichteten.
Diesem Beispiele folgten schnell hinter einander die andern von Süden
kommenden Bahnen und jetzt führen 5 große Eisenbahnbrücken über die
Themse, um so die Verbindung zwischen dem südlichen England und dem
Continent einerseits und dem Mittelpunkte des Verkehrs in London selbst,
sowie dem nördlichen Großbritanien andererseits durch London durch herzu¬
stellen. Sämmtliche von Süden kommende Bahnen, mit Ausnahme der South-
Western haben jetzt ihre Endstationen auf dem nördlichen, linken Themseufer,
die zwei wichtigsten die London, Chatam and Dover, sowie die South-Eastern,
welche sich in den so bedeutenden Continentalverkehr theilen, haben sogar mit
enormen Kosten ihre Endstationen in der City und im Westend angelegt,
um es sowohl den Geschäftsleuten, als auch den Vergnügungsreisenden und
der feinen Welt möglichst bequem zu machen.
Die erstgenannte dieser zwei Bahngesellschaften hat sogar im Jahre 1874
in nur i/t englische Meilen Entfernung von ihrer ältern Citystation Lodgate
Hill eine neue am Holborn Viaduct errichtet, weil bet der ältern Station
sowohl die Ab- und Umfahrt, wegen der hohen Lage der Bahn, als auch
wegen der sehr beschränkten Localverhältnisse mangelhaft war und weil sich
dort nicht ein Hotel mit der Station in unmittelbare Verbindung bringen
ließ. Sie hat die enormen Kosten, von denen man sich eine Vorstellung
machen kann, wenn man erwägt, daß allein schon der Quadrat-Meter Bau¬
platz mit 400 Pfund Sterling und mehr bezahlt worden ist, nicht gescheut,
da es galt, weitere Bequemlichkeiten zu schassen, denn sie weiß sehr wohl, daß
sie bei der starken vorhandenen Concurrenz nur durch möglichstes Entgegen¬
kommen dem Publikum gegenüber gedeihen kann. Sie hat aber auch schon
in den ersten Betriebsmonaten ihre Anlagekosten theils aus dem Betriebe
selbst, theil» aus den hohen Miethen der Viaducträume verzinst erhalten.
Diese Eisenbahn besitzt jetzt auf die kurze Entfernung von noch nicht
ganz 1 englischen Meile 3 Personenstationen und 1 Güterstation, zwei der
ersteren liegen in der City, die dritte gleich über der Themse drüben hart am
Ufer derselben und die Güterstation ist unter dieser in den Viaducträumen
angeordnet, so daß die sämmtlichen ankommenden und abgehenden Güter¬
wagen durch hydraulische Aufzüge gehoben und gesenkt werden müssen. Und
obgleich in dieser kurzen Strecke auch noch die große Themsebrücke liegt, be¬
trachtet die Gesellschaft dieselbe als eine der rentabelsten der ganzen Bahn.
Ich erwähnte soeben, daß die Möglichkeit der Einrichtung eines Hotels
in Verbindung mit der neuen Station sehr wesentlichen Einfluß auf die Ent¬
schließungen der Bahngesellschaft geübt habe und ich muß, da sich dieselbe
Anordnung überall wiederholt findet, noch besonders darauf zurückkommen.
Bei den meisten großen Endstationen Londons und anderer englischer
Großstädte, ja man kann wohl sagen bei allen neuen Stationen, die nicht
nur dem Localverkehr dienen, sind mächtige, mit allen nur möglichen
Bequemlichkeiten aufs reichlichste ausgestattete Hotels in so unmittelbare Ver¬
bindung mit den Personenempfangsgebäuden gebracht, daß der Fremde, wenn
er aus dem Eisenbahnwagen auf den Perron tritt, nur über diesen hinweg
zu gehen braucht, um sich im Hotel sicher und geborgen vor allen auf ihn
lauernden Gaunern und Betrügern der Großstadt zu befinden. Es braucht
der ungeheure Werth dieser Einrichtung besonders für den ganz Fremden,
wohl nicht erst noch des Weitern ausgeführt zu werden. Diese Hotels sind
übrigens nicht Eigenthum der Bahngesellschaft, sondern irgend eine Hotel -
actiengesellschaft erbaut dieselben nach vorherigen Benehmen mit der Bahn
und unter Betheiligung dieser letzteren auf deren Grund und Boden; häusig
unmittelbar über den Verwaltungs-Erpeditionsräumen, den Wartesälcn und
R
Mit diesem Hefte beginnt die Zeitschrift das I. Quartal ihres
34. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Pofi-
anstalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Ouartal 7 Mark L0 Pfennige.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, 1. Januar 1873. Die Berlagshandlung.
Im August hat zu Berlin die medicinisch-pharmaceutische Commission,
von welcher in den Grenzboten 1874 Bd. III. S. 241 die Rede war, getagt,
um über die vom Hohen Reichskanzler-Amt in einem Programm vorgelegten
„Grundsätze für einheitliche Ordnung des Apothekenwesens" sich gutachtlich
zu äußern. Als Frucht dieser Berathung hat das Reichskanzler-Amt unterm
21. October an den Hohen Bundesrath einen Bericht gesandt, aus welchem
ich, einiges für die nächste Zukunft minder Wichtige übergehend. Folgendes
aushebe und in S Artikel ordne: 1. Als Grundlage für reichsgesetzliche Vor¬
schriften über Errichtung und Verlegung von Apotheken hat die Commission
„mit überwiegender Mehrheit das gegenwärtig das ganze Bundesgebiet, mit
Ausnahme Elsaß-Lothringens, beherrschende Concessionssystem bezeichnet, jedoch
gleichzeitig eine gründliche Umgestaltung desselben für unentbehrlich erachtet."
— 2. Ueber die für eine solche Umgestaltung maßgebenden Gesichtspunkte
und einiges Verwandte sind entscheidende Ergebnisse nicht erreicht worden. —
3. „Einmüthiger hat die Commission für die Fortdauer der in dem größten
Theile Deutschlands wenigstens thatsächlich bestehenden Einrichtungen sich
erklärt, vermöge deren dem Besitzer einer auch nur auf persönlicher Concession
beruhenden Apotheke die Bestimmung bezw. Präsentation des Nachfolgers
zugestanden wird, denn die im entgegengesetzten Sinne abgegebenen Aeußerungen
betreffen der Mehrzahl nach ausschließlich die erst künftig zu gründenden
Apotheken und bezwecken, den bereits vorhandenen beiden Gattungen von
Apotheken, nämlich den auf einem Realprivilegium und den zwar auf einer
bloßen Concession beruhenden, jedoch fortgesetzt als veräußerlich und vererblich
behandelten, eine dritte Classe hinzuzufügen." — 4. „In diesen Ergebnissen
der Berathungen hat das Reichskanzler-Amt ein ausreichendes Material für
legislative Vorschläge nicht zu finden vermocht. Die unbeschränkte Nieder¬
lassungsfreiheit persönlich qualifieirter Apotheker hat die überwiegende Mehr¬
heit der Commission gegen sich und, wie das Reichskanzler-Amt annehmen
zu dürfen glaubt, nur wenige der Hohen Bundesregierungen für sich." !^So
viel mir bekannt, gegenwärtig keine mehr, wenigstens keine der größeren,
nachdem zuletzt noch Württemberg davon zurückgetreten.^ „Für ein auf
Grundlage des Concessionssystems^ aufzubauendes Gesetz aber gewähren....
die Aeußerungen der Commission kein ausreichendes Material und stehen dem
Reichskanzler-Amte eigene administrative Erfahrungen, durch welche das Ma¬
terial ergänzt werden könnte, nicht zu Gebote." — 5. „Allgemeine Vorschriften
über Einrichtung und Ausstattung der Apotheken und Apothekenrevisionen
endlich werden im Wege der Verständigung unter den Hohen Bundesregier¬
ungen getroffen werden können, indem es sich hierbei lediglich um den Erlaß
von Verwaltungsvorschriften handelt."
Das Haupt-Argument also, mit welchem das Reichskanzler-Amt die Auf¬
gabe, für reichseinheitliche Ordnung des Apothekenwesens zu sorgen, nach
einem mißlungenen Versuche von sich ab- und den Bundesregierungen zu-weist,
ist: Mangel an gesetzgeberischen Material. Man findet diesen Mangel voll¬
kommen begreiflich, wenn man bei Dr. G. Hartmann, der selber Mitglied
und einer der Schriftführer der Commission war, liest (in dessen Bericht an
die Generalversammlung des Deutschen Apotheker-Vereins: s. Pharmaceut.
Ztg. Ur. 77. 78 oder die S. 46 citirten „Beiträge" Hartmann's), wie außer¬
gewöhnlich eilig (nach früherem Zögern) die Berufung der Commissions-Mit-
glieder, wie außergewöhnlich unvollkommen (ohne die Schuld dieser Mitglieder)
die Berathungen stattfanden, wie lückenhaft die Vorlagen waren. Wir Aerzte,
als geborene Sachwalter der Pharmacie, können uns bei einem solchen Ver¬
fahren nicht beruhigen, müssen vielmehr hier von denjenigen Vertretern des
Reichskanzler-Amts, welche das mangelhafte Verfahren herbeigeführt haben,
an die Gesammtheit der Hohen Reichsbehörden appelliren, indem wir nach¬
weisen, daß jener Mangel nur ein subjectiver ist. Wir müssen dies um so
mehr aus folgenden Gründen:
L,. Die deutsche Medicin hat bereits durch die unterm 28. Juni (Nach¬
trag: 1. August) an den Hohen Bundesrath gerichtete Eingabe der 225 staat¬
lich angesehenen Aerzte (Bd. III. S. 247—248 unt. c; speciell: Phar¬
maceut. Ztg. S. 683—585; Zeitschr. d. Allg. Oesterr. Apotheker-Vereins S.
607 f., 626 f.) die wichtigsten Verbesserungen im Pharmacie-Wesen bezeichnet,
welche um des Staatswohls willen nothwendig sind; sie hat auch verschiedene
Quellen der Belehrung angedeutet, aus welchen nicht-pharmaceutische Referen¬
ten zu schöpfen haben. Diese Eingabe hat nicht das Glück gehabt, in den
Berathungen vom 10.-18. August berücksichtigt zu werden. Dennoch ist —
durch die treffenden Aeußerungen einer überwiegenden Mehrheit der Com-
missions-Mitglieder — ein bedeutender Theil dessen, was die Eingabe ge¬
fordert hatte, gerettet worden. Es ist nämlich 1) die vorgeschlagene Nieder¬
lassungsfreiheit gründlich beseitigt und damit das bisherige System, nach
welchem zur Neuerrichtung jeder Apotheke eine individuelle Concession vom
Staate erforderlich ist, neu befestigt worden. — Ich hatte schon 1873 in der,
Bd. III. S. 242 citirten Abhandlung nachgewiesen, wie in allen europäischen
Ländern die Pharmacie, sehr begreiflich, mit Niederlassungsfreiheit begonnen
hat, — wie im Lauf der Jahrhunderte in einem Theile dieser Länder (Deutsch¬
land an der Spitze) die Niederlassungsfreiheit überwunden und an die Stelle
derselben das Concessionssystem gesetzt wurde, während in andern Ländern
(Frankreich, England, u. s. w.) dieser Fortschritt gehemmt und die Nieder¬
lassungsfreiheit bis heute erhalten blieb — und wie in jenen ersteren Ländern
die Pharmacie eine höhere Stufe erreicht hat und weit segensreicher wirkt als
in den letzteren. Von dieser durch die großartigste Summe von Erfahrungen
gestützten Regel schien Manchem eine Ausnahme zu existiren: die Apotheken
in Elsaß-Lothringen nämlich, wo bis heute noch die französische Niederlassungs¬
freiheit gilt, sollten eine eben so befriedigende Höhe erreichen können oder z. Th.
wirklich erreichen wie die deutschen oder wie die der obersten Stufe überhaupt.
Die Aeußerungen der Herren Kuhlmann (a. Mühlhausen) und Pfersdorff (a.
Straßburg) haben diesem Wahnbild ein Ende gemacht. In noch schlagenderen
Zügen würde das durch einen Vertreter Lothringens geschehen seyn, wenn — ein
solcher zugegen gewesen wäre! — 2) Es ist eine Anzahl nützlicher Bemerkun¬
gen zu einer neuen Prüfungsordnung niedergelegt worden (wovon noch
später).
L. Die deutsche Medicin hat auch bereits (s. Bd. III. S. 245) hinge-
wiesen auf die schwedische Ablösung der pharmaceutischen Monopole als
ein höchst beachtenswerthes Beispiel, wie die größte Schwierigkeit, welche einer
zweckmäßigen Neugestaltung der Pharmacie bei uns noch entgegensteht, durch
die Gesetzgebung glücklich und rasch überwunden werden kann. Auch diese,
in der Geschichte der Pharmacie überhaupt — nicht bloß eines einzelnen Lan¬
des — Epoche machende Erscheinung hat nicht das Glück gehabt, in den
Berathungen der Conferenz mehr als ganz beiläufig, mit einem verlorenen
Worte, berührt zu werden. Schweden stand bisher mit den beiden anderen
skandinavischen Reichen, mit Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Rußland, Ru¬
mänien und Luxemburg, auf der obersten Pharmacie-Stufe; es theilte mit
den letzteren Ländern wesentlich alle Vorzüge und Gebrechen des Fachs; seine
Apotheker erkannten aber sehr richtig, daß die Abstellung der Verkäuflichkeit
der Monopole der geeignetste Anfangs- und Angriffs-Punkt sei, um zu einer
ganz zweckmäßigen Pharmacie-Gesetzgebung und namentlich dahin zu gelangen,
daß der Eintritt in die selbständige pharmaceutische Laufbahn — wie der in
jedes andere Staatsamt — nie anders als durch Uebertragung des Amts
von Seiten der höchsten Staatsbehörde an den geeignetsten Bewerber erfolge.
Die richtige Wahl des Angriffpunktes erklärt die rasche Vollendung des Ge-
setzes, dessen Resultate bereits jetzt nach allen Seiten hin befriedigen. Die
schwedische Pharmacie ist dadurch auf eine neue, höchste Stufe gestiegen, und
die übrigen Länder müssen zu Schweden hinaufsehen, um von ihm zu lernen.
In Deutschland dauern die Verhandlungen zur Verbesserung der Pharmacie-
Gesetzgebung schon mehr Jahre, als Schweden zu dem bezeichneten Fortschritt
Monate gebraucht hat; und es ist wohl Ehrensache für Deutschland ge¬
worden, endlich einmal seine Passivität in der Pharmacie-Sache aufzugeben
und zunächst das schwedische Ablösungsgesetz durch geeignete Referenten analy-
siren zu lassen, wobei sich dann wahrscheinlich herausstellen wird, daß die
bisher zur Sprache gebrachten vermeintlichen Schwierigkeiten der Nachfolge sich
bei uns überwinden lassen, sogar, im Verhältniß zu dem bedeutenden Nutzen
des Verfahrens, leicht. Haben doch seit 1862 — d. i. seit von Volkswirthen
der Ruf nach pharmaceutischer Niederlassungsfreiheit erscholl — nicht wenige
Apotheker Ablösungspläne theils entworfen, theils gebilligt; und bei der
Niederlassungsfreiheit im Hintergrunde würde der Werth der bisher monopo-
lirten Apotheken noch weit stärker gesunken sein, als er bei der Alleinherr¬
schaft der unveräußerbaren Concessionen, bei der Fortdauer staatlicher Beschrän¬
kung der Apothekenzahl, sinken kann. Die Ablösung würde also zwischen
1862 und 1874 ansehnlich schwieriger gewesen sein als sie es jetzt ist, nun
die August - Conferenz die Niederlassungsfreiheit moralisch-unmöglich ge¬
macht hat.
Noch stellt bis jetzt in Deutschland ein sehr einflußreicher Factor sich jener
Nachfolge gegenüber: der Wunsch eines sehr großen Theils der Apothekenbe¬
sitzer, ihre Monopole vererben und verkaufen, überhaupt an jeden approbirten
Apotheker in bisheriger Weise veräußern zu können; die Besitzer hoffen, bei
solcher Veräußerung pecuniär besser zu fahren als bei jeder Entschädigung
(Ablösung), welche vom Staate zugelassen würde. Sogar in der August-Con-
ferenz hat sich dieser Wunsch stark ausgesprochen (s. S. 41 unt. 3.). Glücklicher
Weise verkleinert sich die Zahl derjenigen Apotheker, welche diesen Wunsch
theilen, mit jedem Tage; sie erkennen — der eine früher, der andere später
— die Richtigkeit folgender Kette von Sätzen: a. Die Pharmacie muß in
der Hauptsache als ein Staatsamt behandelt werden, wenn sie gedeihen soll;
dies ist durch die großartige Erfahrung bewiesen, daß in allen den europäischen
Ländern, welche die Function des Apothekenvorstehers entschieden als eine
staatliche behandeln, aber auch nur in diesen, die Pharmacie sich über
die mittlere Stufe, über die Stufe Frankreichs und Englands, erhoben hat.
S. meine Lebensverhältn. d. Phcie., 1873. S. 21, f. — K. Ein ver an ß er b arcs
Staatsamt ist fast eine eoutracUetio in acheeto. — e. Die Staatsregierungen
müssen wünschen, bei der Besetzung jeder Apotheke freie Hand zu haben,
um überall einen vorzüglich geeigneten Mann einsetzen zu können; sie dur-
fen es höchstens noch für eine kurze Zeit als Uebergangszustand dulden, daß
die Übertragung einer für das öffentliche Wohl so wichtigen Function, wie
die Verwaltung einer Apotheke es ist. durch einen einzelnen Apotheker oder
dessen Erben an Denjenigen unter mehreren Approbirten geschehe, der dafür
am besten zahlt. Dieser Stellenverkauf ist ja noch weit schlimmer als wenn
ein Staat Aemter (z. B. Officierstellen) verkauft; denn der Staat kann
hierbei den geeignetsten Candidaten wählen, und das Kaufgeld erscheint mehr
nur wie eine Voraus-Besteuerung der Amtseinkünfte. Der Mißbrauch, daß
man eine Apotheke privatim veräußern konnte, war nur erträglich, so lange
alle approbirten Apotheker ungefähr gleich qualificirt und fast nur Fabrik-
arbeiter waren; er hört jetzt auf, erträglich zu sein, nun sich die Möglichkeit
zeigt (s. Bd. III. S. 244, Abs. 3), sie in selbständige Naturforscher zu »er-
wandeln, die, bei aller Zweckmäßigkeit und Strenge der Prüfungen, dennoch
einander nicht mehr gleichwertig sind, — an denen sogar, wie bei den Aerzten,
das Charakteristischeste was jeder besitzt, die Individualität nämlich, oft im
Examen nur unvollkommen zur Würdigung gelangt und erst später im selb¬
ständigeren wissenschaftlichen Wirken, in der Praxis oder der Schriftstellers,
mehr hervortritt. — 6. Die Staatsregierungen sind sonach wissenschaftlich
und moralisch genöthigt, dahin zu wirken, daß schon in einer nahen Zu¬
kunft kein anderer Eintritt in die selbständige pharmaceutische Laufbahn mehr
existire als der durch eine nur dem Individuum ertheilte, also unveräußerbare
Concession. Kürzer und noch treffender würde man sagen: durch Berufung.
Behalten wir jedoch, um nicht durch ein neues Wort zu irgend einer irrthüm¬
lichen Auffassung Anlaß zu geben, das im Zusammenhang unschädliche alte
bei. — L. Da jeder Aufmerksame diese Umwandlung herankommen sieht, so
sind die noch bestehenden Real-Privilegien, auch die bisher den Privilegien
ähnlich behandelten Concessionen, schon jetzt im Werthe einigermaßen ernie¬
drigt. Es kann zwar der Besitzer eines solchen veräußerbaren Monopols,
wenn er Glück hat, noch jetzt beim Verkauf einen etwas höheren Preis er¬
zielen als die (der schwedischen analoge) Ablösung ihn gewährt hätte. Aber
es wird dies schon jetzt selten geschehen und — indem der Termin des Er¬
löschens aller Monopole herannaht — mit jedem Jahre seltener, während bei
dem Ablösungsverfahren die Schätzungs-Commission die Aufgabe hat. den
Monopolwerth nicht etwa erniedrigt, sondern voll abzuschätzen, und zwar so,
wie er bei der Anmeldung der Apotheke zum Ablösungsverfahren ist; nur
die natürliche UnVollkommenheit aller Schätzungs-Operationen läßt dabei
ausnahmsweise eine Beeinträchtigung des Monopol-Inhabers befürchten.
— k. Demnach wird schon das eigene pecuniäre Interesse fast jedem Monopol-
Besitzer rathen, den Sperling in der Hand (die Entscheidung der Schätzungs-
commission) der Taube auf dem Dache (einem möglichen, aber meist unwahr¬
scheinlichen, vortheilhafteren Verkauf) vorzuziehen.
Die vorstehend (unter a. bis 5.) zur Sprache gebrachten Klugheits-Rück-
sichten hatten noch vor einem bis anderthalb Jahren sehr wenig Einfluß im
pharmaceutischen Publikum Deutschlands gewonnen; viele Apotheker hielten
die Sicherung durch ein Real-Privileg für die beste die ihnen werden könne,
glaubten nicht daß die Einnahmen der Apotheken noch tiefer sinken könnten
als sie bereits gesunken sind, und fürchteten von dem „Staatsdienst" Gott
weiß welche neue Beseitigungen, anstatt sich zu sagen daß sie längst mitten
im Staatsdienst stehen und nicht aus demselben herauskommen, so lange sie
in einer Apotheke wirken. Hier hat die Presse in der jüngsten Zeit wohl¬
thätig aufgeklärt; ich insbesondre habe in den Lebensverhältn. d. Phcie., 1873
(S. 138 — 141 u. a. a. Stellen) gezeigt, wie die Apotheker von der entschie¬
denen Anerkennung als Staatsdiener erhöhte Ehre, Autorität und Ein-
kommens-Sicherung zu erwarten haben, dazu verringertes Odium. Ich muß
aber hier das Zeugniß ablegen, daß auch schon vor mehr als 1^/, Jahren
eine freilich noch sehr kleine Zahl von deutschen Apothekern das System der
unveräußerbaren Concessionen als das allein ganz zweckmäßige anerkannte.
Diese ihrer Zeit voraus eilenden Männer fanden es auch billig, daß der mit
einem Monopol versehene Apotheker- der Staatsregierung bei der Einführung
jener Concessionen hülfreich entgegenkomme, auf die Gefahr hin daß er, aus¬
nahmsweise, dabei einen kleinen pecuniären Schaden erleide. —
Ich habe unter ^ (S. 42) und L (S. 43) nachgewiesen, wie die
deutsche Medicin ihre Pflicht zu erfüllen begonnen hat, um des Volks- und
Staats-Wohls willen der bedrängten Pharmacie zu Hülfe zu kommen. Von
irgend einer Widerlegung der von uns Aerzten vorgetragenen Thatsachen oder
Ansichten ist mir bis heute nichts bekannt geworden. Man hat nur die
Waffe des Schweigens gegen uns angewandt; diese allerdings in so gro߬
artigem Umfange, daß wir nur einen unvollständigen Erfolg erzielen konnten.
Um denselben zu vervollständigen, habe ich zunächst nachzuweisen, daß der
„Mangel an gesetzgeberischen Material", den das Hohe Reichskanzler-Amt
beklagt (oben S. 41, 42), nur ein subjectiver ist. Es ist in der That ein voll¬
kommen ausreichendes Material für die Schöpfung eines vollständigen neuen
Pharmacie-Gesetzes, welches ganz auf der Höhe der heutigen Wissenschaft und
ihrer Anforderungen stehe, bereits gewonnen und in der Literatur zur Be¬
nutzung öffentlich ausgelegt. Ich habe es bereits entre in meinem früheren
Artikel: Bd. III. S. 249—250. Seitdem sind noch von Hartmann zwei sehr
werthvolle Supplemente zu seinen früheren Arbeiten hinzugekommen: „Ver¬
änderungen des Apotheker-Ordnungs-Entwurfs v. I. 1869." Magdeb. 1874.
4«; und „Beiträge z. Würdig, d. Frage: Ist die Ordnung des Apotheken-
Wesens auf dem Gesetzgebung^ oder dem Verordnungs-Wege durchzuführen?
Im Namen und Auftrage des Directoriums des deutschen Apotheker-Ver¬
eins" !c. Magdeb. 1874. Lex. 8. Hartmann dürfte auch, in Folge münd¬
licher Berathungen, in manchen Einzelheiten noch einen weiteren Schritt vor¬
wärts zu thun geneigt sein. Auch sichert, „die Reorganisation des Apotheker¬
wesens", Marb. 1874, steht auf der Höhe der Zeit. — Ich habe neuerdings
einige Monate hauptsächlich dazu angewandt, um mich zu überzeugen, ob
in dem von mir citirten gedruckten Material alle irgend wichtigen Punkte
für das neue Gesetz bereits so durchbesprochen und geklärt sind, daß sie nicht
bloß von Apothekern und Aerzten, sondern auch von Cameralisten und Juristen
beurtheilt werden können; ich habe eigens zu diesem Zweck einen vollstän¬
digen Entwurf zu einem Pharmacie-Gesetze ausgearbeitet, der, obwohl ihm
Form, Feile und Reinschrift noch fehlen, doch zur Benutzung wissenschaftlich
Berechtigter bei mir fertig liegt und bereits mit Apothekern und Aerzten an
den wichtigeren Stellen durchgesprochen ist. Ich glaube dadurch das mora¬
lische Recht erworben zu haben, den künftigen Herren Referenten der Höchsten
Reichsbehörden die Versicherung aussprechen zu dürfen, daß zur alsbaldigen
Schöpfung eines vollständigen und die Fachkundigen (Apotheker und Aerzte)
befriedigenden Pharmacie-Gesetzes kein weiteres Material fehlt, als: 1) die
statistischen Notizen, von denen ich (Bd. III. S. 251) plausibel gemacht
zu haben glaube, daß sie nachträglich genügend benutzt, einstweilen aber
ersetzt werden können; — sie scheinen übrigens auch (nach einem Artikel der
Pharmaceut. Ztg., S- 674, a) bei der Reichs-Commission für Medicinal-
Statisti? bis auf den Bericht fertig zu sein. — 2) diejenige umsichtige Ge¬
duld, deren es zu jedem Referate in einer so complicirten Sache bedarf,
wenn der Referent der Versuchung überhoben sein soll, sich des Todtschwei¬
gens als einer Waffe zu bedienen und sein eigenes Gewissen bei solchem
illegitimen Verfahren durch irgend ein doctrinäres Non possumug — z. B.
hier den Satz, „die freiheitliche Strömung der Zeit sei der gewichtigste gesetz¬
gebende Factor" — zu beruhigen.
Neben den „allgemeinen Vorschriften über Einrichtung und Ausstattung
der Apotheken und über die Apothekenrevisionen", welche Vorschriften der Be¬
richt des Reichskanzler-Amts erwähnt (s. S. 42 unt. 5.). gehört noch gar
Manches (wozu aber bereits sehr gutes Material vorliegt) zu einem vollstän¬
digen Pharmacie-Gesetz, wie es von den Apothekern dringend gewünscht wird
und auch von' uns Aerzten um des Staatswohls willen gewünscht werden
muß. So z. B. Bestimmungen über folgende Punkte: a. Aufgaben, Pflich¬
ten und Rechte des Apothekers im Allgemeinen. Die Aufgaben bedürfen
dringend einer gründlichen Neuordnung im Sinne der 223er Eingabe (s. S. 42),
und mit den Aufgaben müssen auch die Pflichten und Rechte sich anders ge-
statten. Auch die dem Apotheker obliegende Controle der Arzneiverordnungen
ist gegen ehemals so unerwartet wichtig und schwierig geworden, daß sogar
im Bildungsgange des Apothekers sehr wesentliche Aenderungen deshalb nö¬
thig werden. — d. Pharmaceutische Verwaltungsbehörden. — e. Befähigung
zum Lehrlinge und zum Gehülfen. — 6. Akademisches Studium und Appro¬
bationsprüfung. Ich habe schon S. 43 unt. 2) mit Vergnügen anerkannt,
daß manches Nützliche zu einer neuen Prüfungsordnung durch die August-
Conferenz gewonnen worden. Wohl mit Recht auch hat man noch nicht ganz
so ansehnliche Fortschritte vorgeschlagen als die trefflichen Abhandlungen von
H. v. Sybel („Die deutschen Universitäten" , 1874), Lothar Meyer („D. Zu¬
kunft d. Deutschen Hochschulen", 1873) und Virchow („D. Fortschritte d.
KriegSheilkde.", 1874) sie theils für alle gelehrten Fächer, theils nur für die
angewandten Naturwissenschaften — und somit auch für die Pharmacie — ver¬
langen ; es erscheint für die Pharmacie billig und zweckmäßig, milder vollkomme¬
nen Erfüllung der gerechten Anforderungen noch 1 oder vielleicht selbst 2 Jahre zu
warten, damit unterdeß der gegenwärtige Mangel an wissenschaftlichem Hülfsper¬
sonal sich verringere und das bei manchen Universitäten noch sehr ungenügende phar¬
maceutische Lehr-Personal und -Material sich vervollständige. — Gegen einzelnes
Andere aber muß ich mir Ausstellungen, welche hier zu weit führen würden, vorbe¬
halten. Nur Einen Punkt der Art bringe ich schon hier zur Sprache, weil er einen
so starken Verstoß wider die angewandte Logik und die Mathematik enthält,
daß ich es für eine Ehrensache Deutschlands halten muß, ihn schleunigst aus
unseren gesetzgeberischen Verhandlungen zu tilgen. Es ist dies die Bildung
der Gesammt-Censur durch Addiren von durch eine Zahl ausgedrückten Spe-
cialeensuren half wenn dies eigentliche Zahlen wären, da es doch nur Stell¬
vertreter von Prädicaten sindZ und Dividiren der Summe durch die Anzahl
jener Censuren; s. das zweite Alinea des Z 12 des „Entwurfs zu einer Be¬
kanntmachung, betr. d. Prüfung d. Apotheker" lMmtl. Protokolle: Commis¬
sion f. Ordn. d. Apothekenwesens. S. 70, Absatz 2j. Ich habe das Wider¬
sinnige und mehrfach Schädliche dieses Verfahrens jgegen welches schon ältere
Vorschriften der Oesterreichischen und Preußischen höchsten Medicinalbehörden
rühmlichst abstechen, so insbesondere in dem geschichtlich wichtig gewordenen
Preuß. „Reglement f. d. Staats-Prüfungen d. Medicinal-Personen" v. 1.
Dec. 1825 die §§ 48. 71. 90) ausführlich und nach eigenen Erfahrungen nach¬
gewiesen in der „N. Ztg. f- Med. u. Medicinal-Reform" 1849 S. 469—461,
§ 14. 15. — e. Geschäftsbetrieb (Verhalten des Apothekers zum wissenschaft¬
lichen Hülfspersonal; — Vorräthighalten von Arzneimitteln; — Dispensation
der Arzneimittel und der Gifte; — u. s. w.). — t. Bezahlung der Leistungen
des Apothekers (Taxe).
Ich habe schon in den Grenzboten 1874, Bd. III. S. 241 gewarnt vor
der auf verschiedene Zeiten vertheilten Berathung einzelner Punkte
des Pharmacie-Gesetzes. Die Unzuträglichkeiten einer solchen Behandlung in
dem von so vielseitigen Lebensbeziehungen beherrschten Fache sind leider in der
August-Conserenz zahlreich und grell hervorgetreten. Es ist dringend wün¬
schenswert!), daß sie jetzt durch die Schöpfung eines vollständigen Gesetzes
dem Vergessen übergeben werden. Aber von den Reichsbehörden, nicht von
den Regierungen der Einzelstaaten, hat die medicinisch-pharmaceutische Welt eine
solche Schöpfung zu erbitten. Denn jene sind bei der Auswahl der Fachkundigen
weit weniger durch Nebenrücksichten gehindert; und unter der Aufsicht jener
wird die Arbeit der Fachmänner, freier von kleinstaatlichen Ueberlieferungen,
mehr dem Wesen der Zukunft-Pharmacie und dem weiten Gesichtskreise der
Behörde entsprechen. Auch wünschen ja Fachmänner und Laien, mehr Deutsche
Einheit zu gewinnen, und dieser Wunsch ist bereits als berechtigt anerkannt
worden durch die reichsdeutsche Bestimmung, daß der Gehülfe, um zur Appro¬
bationsprüfung zugelassen zu werden, nachweisen muß, daß er mindestens
Jahr in einer inländischen Apotheke „servirt" habe; diese Bestimmung
würde kaum noch erheblichen Werth haben, wenn man die jetzigen Verschie¬
denheiten zwischen den Pharmacien der Einzelstaaten fortbestehen ließe.
Am ersten würde man bei der Taxe versucht sein, die staatlichen Ver¬
schiedenheiten, wie sie jetzt existiren, zu lassen, weil es begreiflich leichter ist,
durch verschiedene Taxen den Verkehrsverhältnissen der verschiedenen Gebiete
gerecht zu werden. Indeß eine gemeinsame Taxe für das ganze Reich ist
wenigstens einem Theile der Apotheker und der Aerzte, namentlich den an
Grenzorten zwischen den Einzelstaaten wirkenden, sehr erwünscht; sie erleichtert
auch fast allen Apothekern in zahlreichen Einzelfällen den Verkehr mit dem
Publikum und verhütet manchen unangenehmen Eindruck und manches Mi߬
verständniß bei Laien und sogar bei Aerzten. Wenn man sich entschließt, die
von mir („Lebensv. d. PH." 1873, S. 89—91) vorgeschlagene „pharmaceutische"
Steuer anstatt der allgemeinen Gewerbesteuer in den Apotheken einzuführen, so
wird darin die wirksamste und gerechteste Ausgleichung aller Nachtheile einer
reichsdeutschen Taxe liegen, während alle Vorzüge derselben gewahrt bleiben. —
Hoffen wir also, daß die hohen Reichsbehörden uns sobald als möglich
ein vollständiges Pharmaciegesetz an Stelle der bisherigen Anfänge geben.
Es wäre aber nicht bloß überflüssig, sondern sogar zum Theil positiv
nachtheilig, abermals eine Anzahl lebendiger Männer — und wären sie
noch so vorzüglich ausgesucht — zu mündlichen Berathungen in Berlin zu
versammeln. Denn in einem so vielseitigen, so schwer nach allen Richtungen
hin zu überschauenden Fache wie die Pharmacie kann auch der Intelligenteste
nur selten aus dem Stegreife alle Beziehungen jeder einzelnen Frage
überblicken und danach die Frage beantworten; vielmehr bedarf es zu ge-
nügender Beantwortung meistens eines sehr umsichtigen, scharf formulirenden
und schwarz auf weiß vorliegenden Referats und zu mehrerer Sicher¬
heit oft auch noch eines ebenso hergestellten Correferats. Ein solches Referat
aber kann der Pharmaceut ganz befriedigend sehr oft nur in seiner Apotheke
verfassen, umgeben von allen seinen wissenschaftlichen Hülfsmitteln, besonders
den geschriebenen und gedruckten, welche ihm die im Gedächtniß nur mehr
oder weniger unbestimmt bewahrten Erfahrungen bestimmt liefern. Aehnlich
geht es den Aerzten, deren Mitwirkung bei einem Pharmacie-Gesetz unent¬
behrlich ist, wie dies von der 22Ser Eingabe betont wird und wie es auch
durch die hohe Autorität des Reichskanzler-Amts in der August-Conserenz
bereits werkthätig anerkannt worden. Wenn man von Apothekern und von
Aerzten je einen Referenten und einen Correferenten, im Ganzen also vier
Referenten, bestellte, so würde damit das Gebiet der Referate höchst wahr¬
scheinlich erledigt sein; denn die vier Arbeiten könnten, autolithographisch
vervielfältigt, einer etwas größeren Zahl Fachkundiger und zugleich einzelnen
ausgezeichneten Verwaltungsbeamten, Statistikern und Juristen zu schrift¬
lichen Aeußerungen (von denen keine Vollständigkeit und deshalb auch nicht
die Form eines Referats verlangt wird) vorgelegt werden. In so compli-
cirten Sachen führt ja bekanntlich ein Kampf der Meinungen schwarz auf
weiß weit sicherer zu einem fach- und zweckgemäßen Uebereinkommen als ein
mündlicher, bei welchem nur allzu leicht die Beredsamkeit über die Erfah¬
rung siegt. Schließlich hätten die Referenten — entweder vereinigt oder, wenn
keine vollkommene Einigung gelingt, auch mehr oder weniger getrennt — an
den Gesetzentwurf, welcher den Höchsten Reichsbehörden zu unterbreiten ist, die
letzte Hand anzulegen. Etwaige nachträgliche, ergänzende Fragen dieser Be¬
hörden werden von den unterdeß schon mit dem Gegenstande vertrauter ge¬
wordenen Referenten wohl in der Regel sehr leicht und rasch — und wieder
ex aeäibus — beantwortet werden. —
Ich habe auf diesen Blättern wiederholt Maßnahmen tadeln müssen,
welche unter den Auspicien des Hohen Reichskanzler-Amts erfolgt sind. Ich
brauche wohl kaum zu bemerken, daß mein Tadel sich nur gegen die Ver¬
treter der hohen Behörde richtet, welche dem gerechten Vertrauen, dessen
die Behörde sie gewürdigt, sonder Zweifel nur deshalb nicht ganz entsprechen
konnten, weil die Aufgabe zu schwierig war, — weil die Literatur nicht
bloß Aufklärungen, sondern auch Entstellungen enthielt. — und weil andere
großen und wichtigen Aufgaben nicht Zeit genug zu eingehenden Referaten
über das großentheils neue, noch viel zu wenig bekannte, Cultur-Element
der Pharmacie übrig ließen. Haben wir doch anderweitig bereits so viel
Gutes und Großes von der neuen Reichs-Gesetzgebung erhalten.
Als um Mittag der Geschützdonner von Verneville herüberschallte und
den Beginn des Kampfes beim 9. Armee-Corps verkündete, ließ der General
von Goeben die 15. Division in Richtung auf Gravelotte vorgehn, um
unter Besetzung dieses Oxtes in der Thalsenkung nördlich der großen Straße
eine gedeckte Aufstellung zu nehmen.**) Kurze Zeit darauf befahl der Oberbe¬
fehlshaber der I. Armee, General von Steinmetz, der Artillerie des 7. Ar¬
mee - Corps zum Gefecht aufzufahren. Mit außerordentlicher Schnelligkeit und
Ordnung trabten die Batterien der 14. Division in eine Stellung zwischen
Gravelotte und den Bois des Ognons, welche bald auf den Flügeln von der
Artillerie der 13. Division verlängert wurde, und nun entwickelte sich, auf
eine Entfernung, die auf eine Viertelmeile geschätzt wurde, ein grandioser
Artilleriekamps. Die Sicherung der im Feuer stehenden Batterien übernahm
im Allgemeinen die 14. Division. — Mittlerweile hatte zur Linken auch das
8. Armee-Corps mit den Batterien der 18. Division und der Corps-Artillerie
den Geschützkampf aufgenommen, und die 18. Division selbst war in der
Thalsenkung nördlich der Straße Rezonville-Gravelotte derart entwickelt
worden, daß die beiden Infanterie-Brigaden nebeneinander den rechten, die
Husaren den linken Flügel und die Artillerie das Centrum bildete. Das
33. Regiment (ostpreuß. Füsiliere) besetzte Gravelotte.
Das weitere Borgehn mußte auf jenen freien breitgewölbten Höhenrücken
zuführen, auf welchem in selten-günstiger Position der linke Flügel der Fran¬
zosen stand. Sanft nach Westen, steil nach Osten abfallend, gestattete jener
Rücken dem Feinde, seine Feuerwirkung auf das Aeußerste auszunutzen und
seine Reserven wohlgedeckt nahe zur Hand zu halten. Die Pachthöfe Moseou
und Point du jour waren zur Vertheidigung eingerichtet und durch ein System
von Schützengräben verbunden. Als vorgeschobenes Bollwerk lag auf halbem
Wege die befestigte Ferne Se. Hubert; Steinbrüche und große Kiesgruben
bildeten treffliche Stützpunkte der Vertheidigung, und nur der Wald, der das
Mancethal begleitet, war ihr insofern ungünstig, als er die Vorbereitungen
zu einem Angriffe der Höhe einigermaßen verhüllte. Für die Deutschen war
es jedoch nicht minder nachtheilig, daß das dicht verwachsene Unterholz des
Waldes sie fast ganz auf die Wege beschränkte. — Die große Straße von
Gravelotte führt von beiden Seiten als tief eingeschnittener Hohlweg in das
Mancethal hinab und überschreitet es als hochaufgemauerter Damm. Erst
nahe Se. Hubert kann eine Truppenentwickelung seitwärts stattfinden. Der
Engpaß ist daher über 1500 Schritt lang, eine Strecke, welche fast in ihrer
ganzen Ausdehnung vom Feinde unter Feuer genommen werden konnte. Und
doch war dieser Paß der einzige für alle Waffen geeignete Thalübergang.
Diese starke Stellung war nun sranzösischerseits mit einigen fünfzig
Bataillonen und mehr als hundert Geschützen folgendermaßen besetzt: — Die
Divisionen Metman und Aymard vom Corps des Marschalls Leboeuf
(Ur. 3) standen zwischen den Ferner Leipzig und Moscou. Ein Regiment
war nach Se. Hubert vorgeschoben; andere Bataillone hielten Theile des Bois
des Genivaur besetzt. Die Artillerie stand nördlich und südlich von Moscou.
— An das 3. Corps schloß sich das 2. unter General Frossard: Bei Point
du jour hatte sich die Division Berge eingerichtet; ihre Mitrailleusen bestrichen
die große Straße von Gravelotte. Südöstlich von Point du jour stand die
andere Division, welche für den bei Monville verwundeten General Bataille
der General Bastoul führte. Auf dem äußersten linken Flügel beherrschte die
Brigade Lapasset in der Aufstellung bei Rozerieulles und Moulins les Metz
das^Moselthal.
Den Angriff auf diese außerordentlich starke Position leiteten die A rtillerie
der 15. Division und die Corps-Artillerie des 8. Armee-Corps ein, indem sie
nach Malmcnson vorgingen. Gegen 1 Uhr waren 108 Geschütze vor der
Front der I. Armee in Thätigkeit, welche ihr Feuer vorzugsweise gegen die
Batterien bei Moscou und Point du jour richteten. Das Vorgehn der Infan¬
terie geschah, zwar in Uebereinstimmung mit den Anordnungen des General-
Commandos, aber vor deren Eintreffen und durchaus dem eigenen Impulse
folgend. Zuerst brach das 3. Bataillon der ostpreußischen Füsiliere von Grave¬
lotte aus vor, und trotz schwerer Verluste gelang es ihm, bis zu den Stein¬
brüchen unmittelbar südlich der Chaussee vorzudringen und sich dort zu be¬
haupten. Die beiden andern Bataillone des Regiments folgten und richteten
sich zunächst auf halbem Hange der Hochfläche ein. Das 7. Brandenbg. In-
fant.-Regt. Ur. 60 hatte inzwischen die Stelle der Ostpreußen bei Gravelotte
eingenommen.
Dem Anlauf der Dreiunddreißiger südlich der großen Straße folgte nörd¬
lich derselben das Borgehen der 30. Brigade unter General von Strubberg.
Sobald die Spitzen derselben (67er Füsiliere) sichtbar wurden, verdoppelte der
Feind sein Feuer; aber die Brigade zog sich ruhig aus Gravelotte heraus
und entwickelte sich staffelförmig zum Angriff: Aus dem rechten Flügel die
Magdeburger (Ur. 67), zu ihrer Linken, in einer Front bei einander, die
vier Compagnien der rheinischen Jäger, und noch weiter links in zwei Tres-
fen das 2. rheinische Infanterie-Regiment Ur. 28. Unter dem heftigsten
Granat- und Schnellfeuer des Feindes wurde der Waldrand auf der ganzen
Linie mit gleichem Ungestüm angegriffen und im ersten Anlaufe genommen.
Die Preußen folgten den weichenden Franzosen und stellten unten im
Wiesenthal bald nach 2 Uhr die im Walde aufgelösten Truppenverbände
wieder her.
An der Thalgabelung, welche durch den Einfluß des von la Folie her-
abrinnenden Gewässers in den Mancebach gebildet wird, kam es Zzuerst zur
Fortführung des Kampfs, indem das 2. Bataillon der Achtundzwanziger die
Steinbarrikaden nahm und festhielt, welche das Seitenthal sperrten. Die
beiden andern Bataillone desselben rheinischen Regiments drangen inzwischen
an den östlichen Waldrand vor. Unmittelbares Weitergehn verhinderte das
furchtbare Feuer vom Pachthofe Moscou. — Eine andere Gefechtsgruppe
bildete sich um Se. Hubert. Hier waren es zunächst Musketiercompagnien,
dann auch die Füsiliere des 67. Regiments, welche zuerst weiter vorgingen,
bald gefolgt von den rheinischen Jägern. In heldenmüthigem Wettstreit ge¬
lang es diesen Truppentheilen sich in der nächsten Nähe von Se. Hubert zu
etabliren — mit großen Verlusten! Major von Wittich wurde hier schwer
verwundet. — Nun schob sich auch das ostpreußische Füsilier-Regt. weiter vor.
Trotz heftigsten Mitrailleur- und Gewehrfeuers näherten sich sechs Compagnien
desselben unter gewandter Benutzung der Bodenverhältnisse den großen Kies¬
gruben, welche am Waldrande gegenüber von Point du jour einen vorge¬
schobenen Posten der Franzosen bildeten; sie eroberten einen Theil der¬
selben und bildeten nun den äußersten rechten Flügel des 8. Armee-Corps.
Bald darauf ging dann auch das Füsilier-Bataillon 60. Regiments über die
Schlucht und entwickelte sich am jenseitigen Höhenrande. Major von Gilsa,
Major v. Knobelsdorff und Oberst von Dannenberg hatten diese Erfolge per¬
sönlich mit schweren Verwundungen bezahlt.
Die entschiedenen Fortschritte der Infanterie in den Waldungen führten
seit 2 Uhr nachmittags zu einem allmählichen und wiederholten Vorrücken der
Artillerie in günstigere Aufstellungen östlich der großen Straße bei Mo-
gador. Die auf der jenseitigen Hochfläche auftretenden Geschütze des Feindes
wurden theils niedergekämpft, theils schon am Auffahren gehindert. Die linke
Flanke der deutschen Artillerie wurde theils durch das Königshusaren-Regt.,
theils durch das 2. Bataillon Regiments Ur. 67 geschützt, dessen Compagnien
zum Theil bis südlich von Chantrenne vordrangen.
Zur Rechnen des 8. Armee-Corps war unmittelbare Verbindung herge¬
stellt mit dem 7. Corps, indem die Batterien des letzteren sich links gezogen
hatten, sodaß die beiderseitigen Geschützlinien sich an der Ostseite von Grave-
lotte fast berührten. Es waren nun im Ganzen 132 Geschütze, zehn Batterien
des 7., des 8. und eine der 1. Kavallerie-Division, welche sich hier vor Grave-
lotte, nördlich und südlich der großen Straße, in Thätigkeit befanden, und
ihrer gewaltigen Wirkung vermochte die französische Artillerie nicht Stand
zu halten; ihr Feuer wurde immer schwächer. — Unter diesen Umständen
schien es an der Zeit, den beabsichtigten Angriff von Se. Hubert vorzunehmen.
Die Batterien fingen an gegen dies vorgeschobene Bollwerk des Feindes
zu wirken, und alsbald erhoben sich alle deutsche Abtheilungen, welche sich
in der Nähe des Pachthofes eingenistet hatten (67 er, 60 er und rheinische
Jäger), aus eigenem Antriebe und stürzten auf Se. Hubert zu. Fast alle er¬
reichten sie, des vorhandenen Feuers ungeachtet, gleichzeitig um 3 Uhr das
erstrebte Ziel, und die Besatzung wich unter erheblichen Verlusten. — Man
ging sofort an eine regelrechte Besatzung und Einrichtung der Ferne, um sich
diesen wichtigen Stützpunkt unter allen Umständen zu sichern, und unmittel-
bar nach Einnahme des Gehöftes traf auch noch ein Theil des 1. Bataillons
28. Regiments daselbst ein. Die immer wiederholten heroischen Versuche des
2. Bataillons dieses Regiments, auf dem freien Felde gegen Moscou zu Terrain
zu gewinnen, scheiterten jedoch an dem furchtbaren Front- und Flankenfeuer
des Feindes; Major Lange wurde tödtlich verwundet, und die Trümmer
seines Bataillons warfen sich in die Steinbrüche an der Chaussee.
In der vierten Nachmittagsstunde war die Infanterie der Is. Division
derart vertheilt, daß auf dem rechten Flügel bei den Kiesgruben südlich von
Point du jour sechs Kompagnien 33 er, weiter links am Rande des Bois
de Vaur das Füsilier-Bataillon 60. Regiments und auf dem Thalhange
zwischen jenem Wäldchen und Se. Hubert drei Musketier-Compagnien 60. Regi¬
ments standen. Die Besatzung von Se. Hubert und der Steinbrüche an der
Chaussee, also die Mitte, bildeten das rheinische Jägerbataillon, sieben Kom¬
pagnien 67er, drei 60er und eine 28 er. Dazu kamen noch die Reste von
drei Kompagnien 33 er und des 2. Bataillons 28. Regiments. — Den linken
Flügel, im Bois des Genivaux, machten die Hauptmasse der Achtundzwanziger
nebst der 12. Komp. 67. Regiments aus. — Das übrige Fußvolk befand
sich bei der Artillerie und im Raume zwischen dem 8. und 9. Corps.
Das mit zahlreichen Verwundeten gefüllte Dorf Gravelotte war von
den Pionieren zur Vertheidigung regelrecht eingerichtet worden. Abgesehen
von der Besatzung befanden sich zahlreiche Verwundete in demselben, und auch
die Feldlazarett)« hatten dort ihre Thätigkeit bereits begonnen. Auf dem
Felde westlich und südwestlich des Dorfes hielten die 31. und 32. Infanterie-
Brigade, eine große Anzahl Munitionskolonnen, Fahrzeuge und Handpferde.
Der Kampf der Is. Division hatte dahin geführt, am vorderen AbHange
der Hochfläche von Point du jour festen Fuß zu fassen und in Se. Hubert
einen wichtigen Brückenkopf zu nehmen für das Entwickeln größerer Truppen-
massen von der Straßenenge aus. Das 2. sowie ein großer Theil des 3,
französischen Corps waren vollständig gefesselt und unfähig gemacht, den mit
dem Hauptstoße bedrohten rechten Flügel der feindlichen Armee zu unter¬
stützen. — Groß aber waren auch die erlittenen Verluste. Die Hälfte der
Offiziere der stark gelichteten Bataillone war todt oder verwundet. — Es
war nothwendig, der Diviston Verstärkung zuzuführen.
Die Artillerie der 16. Division wurde aus ihrer Reservestellung vorge¬
zogen und in die große Artillerie-Linie eingefügt und die 31. Brigade, General
Graf Gneisenau, angewiesen, ihre Bereitschaftsstellung südwestlich von Grave-
lotte, zu verlassen und das Gefecht der 16. Division in der Richtung auf
Moscou zu unterstützen. Ebendorthin waren auf höheren Befehl auch andere
Truppentheile in Bewegung gesetzt worden, da General von Steinmetz nach
eigener Wahrnehmung und auf die Meldung der 29. Brigade hin den Augen¬
blick für gekommen hielt, einen energischen Vorstoß gegen die Front und die
linke Flanke des Gegners zu führen. Da man französische Truppen in hellen
Haufen und offenbarer Auflösung nach dem Höhenkamme zurückweichen sah,
so erhielt die 1. Kavallerie-Division Befehl, über die Straßenenge vorzugehn,
um zur Verfolgung bei der Hand zu sein. Vor ihr schon setzten sich die Hu¬
saren-Regimenter Ur. 9 und Ur. 15 dorthin in Bewegung. Die bei Ars
zur Verfügung stehende 26. Brigade wurde angewiesen, sich auf Vaux in
Marsch zu setzen, um gegen die äußerste linke Flanke des Gegners zu wirken.
General von Zastrow befahl das Vorrücken der Batterien 7. Armee-Corps; sie
sollten südlich der großen Straße von Metz am jenseitigen Höhenrande in Stellung
gehn. Zu ihrem Schutze wurde die westlich von Gravelotte stehende Brigade
Ur. 27 bis an den Waldsaum herangeschoben.
Während sich nun auf Seite der Preußen schon vielfach die Ansicht ver¬
breitete, daß es sich nur noch um den letzten Entscheidungsstoß gegen einen
bereits weichenden Feind handle, traf der eingeleitete Angriff auf unerwartet
starken Widerstand.
Das Vorgehn der Korps-Artillerie des 7. Armee-Corps wurde durch
ein Stopfen mit der 1. Kavallerie-Division auf dem Engpasse des Chaussee-
Dammes im Maneethal gehemmt. Nur vier Batterien gelang es, die andere
Seite des Thales zu gewinnen. Sobald ihre Spitzen dem Feinde zu Gesicht
kamen, verstärkte er auf seiner ganzen Front das eine Zeitlang zurückgehaltene
Geschütz- und Gewehrfeuer, unter dessen verheerender Wirkung zwei jener
Batterien ihre Stellung nicht behaupten konnten und in das Thal zurück¬
gingen. Die beiden andern aber blieben. Die 3. reitende Batterie unter
Hauptmann Hasse kämpfte mit Erfolg gegen eine große französische Geschütz,
linie, welche sich aus dem Felde westlich von Moscou zusammenzog. Ueber¬
schüttet von Chassepotkugeln, durch die er 37 Mann und 78 Pferde verlor,
und obgleich persönlich verwundet, konnte Hauptmann Hasse doch nicht be¬
wogen werden, seine Stellung aufzugeben. — Mit gleicher Energie verharrte
die 3. leichte Batterie unter Hauptmann Gnügge in einer wohlgewählten Auf¬
stellung hinter der Gartenmauer von Se. Hubert und verscheuchte wiederholt
die feindlichen Batterien, welche bei dem brennenden Moscou Stellung zu
nehmen suchten.
Von der vorgezogenen Kavallerie gelangte nur das Ulanen-Regiment
Ur. 4 auf die östliche Höhe und mußte bald wieder zurückgezogen werden.
Man erkannte, daß man die Gefechtslage überschätzt, daß der Gegner zwar
seine Außenposten verloren habe, in der Hauptstellung aber noch vollkommen
fest sei, und daß an eine Thätigkeit größerer Kavalleriemassen zunächst noch
gar nicht zu denken sei.
Die rückgängiger Bewegungen des größten Theils der Artillerie und der
Reiterei blieben nicht ohne Einfluß auf das Gefecht des Fußvolks; aber der
Rückschlag war nur von kurzer Dauer. Wenngleich nämlich die am meisten
gefährdeten und in stundenlangen Ringen gelichteten Theile der 15. Division
den Vorstoßen des Feindes auswichen oder sich in buntem Kampfgemisch
zusammenballten, so griffen doch schon auf der ganzen Linie frische Truppen
ins Gefecht ein. — Auf dem freien Bergabhange südlich der Chaussee bildete
das niederrheinische Füsilier-Regiment Ur. 39 unter Oberst Ehlers fortan
den festen Vertheidigungskern, und in dem Raum nördlich der Hauptstraße
hatte die 31. Brigade den Kampf aufgenommen; eine geschlossene Verwendung
derselben verhinderten jedoch die Bodenverhältnisse. Gegen Ablauf der fünften
Nachmittagsstunde stand die 31. Brigade auf der ganzen Front der 30. ver¬
theilt und war in den Kampf derselben mit hineingezogen, ohne daß dadurch
eine wesentliche Veränderung der Befehlslage erzielt war.
Die beiden vorgeschobenen Batterien bei Se. Hubert hatten indessen zwei
Stunden lang ein sehr wirksames Feuer unterhalten. Nun endlich war die
Kraft der ganz ungedeckt stehenden reitenden Batterie gebrochen, da die gefechts¬
fähige Mannschaft nur noch zur Bedienung eines Geschützes ausreichte.
Dennoch räumte Hauptmann Hasse erst in Folge wiederholter Aufforderung
seiner Vorgesetzten den rühmlich behaupteten Posten. Langsam trat nach
5 Uhr die Batterie den Rückzug an und führte ihre Schwerverwundeten auf
den von Kugeln durchlöcherten Protzen mit sich fort. — Somit blieb nur
noch die Batterie Gnügge auf dem weitvorgeschobenen Posten an der Garten¬
mauer von Se. Hubert in Thätigkeit.
Nunmehr trat im Bereich der I. Armee eine kurze Kampfpause ein, wie
sich eine solche ziemlich gleichzeitig auch bei der II. Armee ergeben hatte.
Die beabsichtigte allgemeine, unzweifelhaft verfrühte Vorbewegung der
I. Armee, deren Anfänge die Artillerie des 7. Corps und die 1. Kavallerie-Di¬
vision zu dem Versuch der Ueberschreitung des Manne-Thals, die 31. Brigade
zu dem Borgehn in Richtung auf Moscou geführt, hatte die 26. Brigade
eintreten lassen in Kampf mit der französischen Brigade Lapasset. — Es war
in der vierten Nachmittagsstunde gewesen, daß sich General Baron v. d. Goltz
gegen die ungemeine starke Stellung des Feindes von Ars her in Bewegung
setzte. Die Brigade Lapasset hielt die Höhen von Rozerieulles und das
Dorf Ste. Ruffine besetzt und hatte dichte Tirailleurschwärme in die Weinberge
und Gehölze zwischen Jussy und Vaur vorgeschoben. An der Vertheidigung
dieser Stellung betheiligte sich die zahlreiche Artillerie des 2. Corps «Uf den
Höhen nordwestlich von Rozerieulles sowie ein Theil des Geschützes auf dem
Berge und dem Fort von Se. Quentin. — Der Angreifer mußte entweder
in der vom feindlichen Feuer vollständig beherrschten Niederung vorgehen oder
sich in aufgelöster Ordnung durch die Weinberge den Weg bahnen.
General v. d. Goltz dirigirte die beiden Musketier-Bataillone Regts.
No. 15 durch die Weinberge über Vaur in der Richtung auf Jussy. Das
ö5. Regiment sollte mit dem Füsilierbataillon links rückwärts der Funszehner
folgen, mit den Musketierbataillonen aber auf der Chaussee im Moselthale
vorgehn. Die Füsiliere des Regiments No. 16 behielten Ars besetzt.
Baux wurde unvertheidigt gefunden, und nun entwickelte sich unter dem
weithin die Niederung und den Thalhang beherrschenden Feuer des Feindes
der Angriff gegen Jussy. welches Dorf schnell genommen und regelrecht be¬
setzt ward. Auf dem westlichen Rande der Hochfläche trat inzwischen Oberst
v. Deutz mit den unter seiner Führung vereinigten Theilen des 18. Regiments
in ein heftiges Feuergefecht gegen den nach dem Thal von Rozerieulles zu¬
rückgedrängten Feind, in welches um 6 Uhr auch das Füsilierbataillon der
sser eingriff. — Die der Brigade zugetheilte Batterie beschoß bis zum Beginn
des Abenddunkels Ste. Ruffine und Moulins les Metz. — Ein weiteres Vor¬
gehen gegen das augenscheinlich sehr stark besetzte Ste. Ruffine schien bei den
geringen Kräften der Brigade nicht sachgemäß. Eine Entscheidung konnte
auf diesem Theil des Schlachtfeldes ja nicht herbeigeführt werden; ein Bor¬
brechen der preußischen Truppen aus dem Bois de Vaux war durch die ge¬
wonnene Stellung wesentlich erleichtert und in ihr setzte sich General v. d.
Goltz daher fest. — Dies wurde insofern von besonderer Bedeutung für den
Verlauf der Schlacht, als es den Marschall Bazaine in seiner steten Besorg-
niß für die eigene linke Flanke bestärkte und seine Aufmerksamkeit ablenkte
von den wichtigeren Theilen des Schlachtfeldes, zumal ihm die an sich un,-/
bedeutenden Bewegungen von Truppentheilen des 1. Armee-Corps auf dem
rechten Moselufer als mit dem Auftreten der 26. Brigade im Zusammen¬
hange stehend erscheinen mochten.
Aus dem Westabhange der Hochfläche von Point du jour waren im Laufe
der sechsten Nachmittagsstunde die erbitterten Kämpfe allmählich in ein stehen¬
des Jnfanteriegefecht übergegangen. Die ursprüngliche Aufgabe der I. Armee,
den Gegner auf sich zu ziehen, war gelöst, ja sogar überschritten worden,
indem man durch die Eroberung von Se. Hubert dicht an die Hauptstellungen
des Feindes herangerückt war. — Einen Augenblick hatte es geschienen, als
ob die mit dem linken Flügel des deutschen Heeres angestrebte Entscheidung
wider Erwarten hier auf dem rechten herbeigeführt sei. Dies hatte sich bald
als irrthümlich herausgestellt; aber stärker noch .als aus den General von
Steinmetz wirkte der äußere Anschein dieser Dinge auf den Marschall Bazaine.
Die Franzosen, gewärtig, jeden Augenblick ihren linken Flügel angegriffen zu
sehn, hielten ihre Reserven so lange hinter der Mitte fest, bis es zu spät war,
den rechten Flügel zu unterstützen.
Seine Majestät der König war um 5 Uhr nachmittags mit dem großen
Hauptquartier in der Gegend zwischen Gravelotte und Malmaison eingetroffen
und hatte den Bericht des Ober-Quartiermeisters, Obersten Grafen v. War¬
tensleben, über den Stand der Schlacht entgegengenommen. In Folge dessen
wurde um ö^/, Uhr General von Fransecky angewiesen, das 2. Armee-Corps
zur Verfügung des Oberbefehlshabers der I. Armee bei Gravelotte bereit
zu stellen.
Das 2. Armee-Corps, welches seit seiner Ausschiffung an der Saar noch
keinen Ruhetag gehalten, war an diesem 18. August bereits von Pont°a°
Moussou über Orville und Buxiöres nach Rezonville marschiert — ein außer¬
ordentlich starker Marsch! General von Franseckt setzte nun Corps-Artillerie
und 3. Division um 52/4 Uhr auf Gravelotte in Bewegung, und drei Viertel
Stunden später folgte in gleicher Richtung auch die 4. Division.
Als diese Verstärkungen sich dem Kampfplatz näherten, ordnete General
v. Steinmetz.das Vorrücken der 32. Infanterie-Brigade von Gravelotte nach
dem Mancethale an. Da nun um diese Zeit auch verstärktes Feuer von
Norden her ertönte, schloß man auf den Beginn des Entscheidungskampfes
bei der II. Armee; der Tag neigte sich, und es schien geboten, den Druck
gegen den. allem Anschein nach stark erschütterten linken Flügel des Feinde?
zu verstärken. Seine Majestät der König befahl daher, alle noch ver¬
fügbaren Kräfte der I. Armee einzusetzen. — General v. Zastrow wurde an¬
gewiesen die noch nicht engagirten 9 Bataillone des 7. Corps ebenfalls vor¬
zuführen . und die 3. Division erhielt Befehl, bei dem bevorstehenden Angriffe
mitzuwirken.
Während sich nun aber, etwa um 7 Uhr abends, diese große Bewegung
auf deutscher Seite vorbereitete, wurde es plötzlich auch wieder beim Feinde
lebendig. Die französischen Batterien nahmen ihr lange zurückgehaltenes
Feuer wieder auf und ihre Geschosse erreichten sogar den Standpunkt des
Königs. Alle französischen Reserven rückten in die vorderen Stellungen ein.
Gegen Se. Hubert und die Waldungen südl. der großen Straße brachen starke
Tirailleurschwärme vor und trieben die zum Theil führerlosen deutschen Mann¬
schaften auf dem Osthange über das freie Feld ins Mancethal zurück. — In
dieser plötzlich eintretenden Gefechtskrisis, deren Erschütterung sich bis Grave-
lotte und Malmaison fühlbar machte und sogar im Rücken der Armee vorüber¬
gehende Verwirrung erzeugte, bildete die Ruhe der vorderen Linie und vor
Allem das stark besetzte Se. Hubert, wo die Batterie Gnügge treulich aus¬
hielt, einen sicheren Wall. Bald begannen auch die Gegenstöße der frischen
Bataillone wirksam zu werden.
Der großen Straße zunächst führte General von Barnekow die vier
Bataillone der 32. Brigade vor: an ihrer Spitze Major Einecke mit dem
4. Thüringischen Infanterie-Regiment No. 72. In kräftigem Vorstoß wurde
der Feind bis über das Chausseeknie zurückgeworfen. — General v. Zastrow
richtete seinen Angriff gegen die Stellungen der Division Bastoul südlich
von Point du jour und gelangte bis aus wenige hundert Schritte an die
Chaussee heran.
Für das 2. Armee-Corps bezeichneten die sich am abenddunklen Hori¬
zonte abhebenden Chaussee-Pappeln nahe dem niedergebrannten Point du jour
die allgemeine Richtung des Vorgehns. — Es war nicht möglich, bei dem
schwindenden Tageslichte in breiter Front durch die Waldungen vorzugehn;
vielmehr war General v. Fransecki, für den es darauf ankam, sobald als
möglich auf dem jenseitigen Hange mit starker Macht einzugreifen, genöthigt,
sein Fußvolk längs der Chaussee vorzuschieben und es jenseits der Straßen¬
enge staffelweise, doch dicht hintereinander zum Angriff zu entwickeln. Von
seiner Artillerie fand nur noch ein geringer Theil Raum zur Ausstellung.
Unter den Augen des Generals v. Moltke durcheilten die pommerschen
Bataillone mit Trommelschlag und Hörnerklang die Schlucht. Es war ein
Augenblick hoher Spannung. Furchtbares feindliches Feuer raste über die
Chaussee hin, und mit besonderer Heftigkeit tobte der Kampf nach Se. Hubert
zu, ja das Zurückströmen zahlreicher Versprengter schien den Eintritt einer
neuen Gefechtskrise anzudeuten.
Einige Zeitlang herrschte die irrige Voraussetzung, daß Se. Hubert ver¬
loren sei. Zur Wiedergewinnung dieses wichtigen Punktes wurde daher so¬
fort die Avantgarde des 2. Corps bestimmt. Das Regiment No. 54 ging
im Laufschritt gegen das Gehöft vor; die pommerschen Jäger unterstützten
diesen Stoß in der rechten Flanke, indem sie auf Point du jour vorgingen.
Einige hundert Schritt westlich dieses Ortes faßten sie festen Fuß. — Se.
Hubert war nicht verloren gewesen, und die L4er gingen nun darüber hinaus
gegen die Schützengräben bei der Ferne Moscou, deren stark besetzte Linien
der helle Schein des Schnellfeuers erkennen ließ. Moscou selbst konnte trotz
mehrfacher heldenmütiger Anläufe, welche viel edles Blut kosteten, nicht ge¬
nommen werden.
Das Abenddunkel, das fortwährende nachdrängen neuer Truppen auf
die Hochfläche, das Zurückströmen der Verwundeten und der Versprengten,
die reiterlos umherirrenden Pferde, erschwerten das Aufrechterhalten der Ord¬
nung in hohem Grade, obgleich die obersten Führer persönlich überall zur
Stelle waren und dem Zusammenhange der Bewegungen ihre hingebende
Sorgfalt sicherten. Oft mußte das Feuer unterbrochen werden, da Freund
und Feind zuweilen nicht mehr unterschieden werden konnten.
Der Avantgarde der 3. Division war ihr Gros gefolgt. Das Regiment
No. 14 ward alsbald in das dichte Gewühl südlich von Se. Hubert hinein¬
gezogen; auf dem Felde südlich der Chaussee trat das Regiment No. 2 in
den Kampf. Auf dem Bergabhange westlich Point du jour entwickelte sich
das Regiment No. 42.
Auch, der 4. Division war der Befehl zum Vorrücken auf die Hochfläche
östlich der Manne zugegangen, und um 2 Uhr stand das 21. Regt, bei Se.
Hubert, das 61. auf dem Bergabhang südlich der großen Straße.
Mittlerweile hatte jedoch die oberste Heerführung Anordnungen zum Ein¬
stellen eines Kampfes erlassen, der im nächtlichen Dunkel kaum noch Ent¬
scheidung bringen konnte. Man beschloß, während der Nacht den eroberten
Berghang vor Moscou und Point du jour mit dem 2. Armee-Corps fest¬
zuhalten und hinter diesem das 8. und die hier im Kampfe gewesenen Theile
des 7. Corps zu sammeln — ein Unternehmen, das unter den obwaltenden
Umständen viel Zeit und Mühe kostete, obgleich der Feind sich jedes Gegen¬
stoßes enthielt und nur gelegentlich seine Mitrailleusen aufs Gerathewol ins
Dunkel feuern ließ.
So standen sich auf dem südlichen Theile des großen Schlachtfeldes von
Gravelotte-Se. Privat bei Einbruch der Nacht Franzosen und Deutsche in
nächster Nähe noch immer drohend gegenüber, bereit am folgenden Morgen
den Kampf aufs Neue zu beginnen. — Auf dem nördlichen Theile des
Schlachtfeldes aber hatten die Deutschen zu dieser Zeit bereits den vollen
S
Es ist eine weitverbreitete Meinung, daß eine wirkliche Volkspoesie nur
noch in einzelnen Strichen des südlichen Deutschland, namentlich im Alpen¬
gebiete, lebendig sei; sicher sucht man eine solche am wenigsten in den germa-
nisirten Mittelgebirgs - und Tieflandschaften des nordöstlichen Deutschland.
In der That sind diese ja dem alles nivellirenden Einfluß der Cultur ganz
anders ausgesetzt, als jene abgeschiedenen Hochlande des Südens. Und doch
ist diese Meinung eine nicht ganz gerechte. In einem wenig beachteten Winkel
des Hochplateaus, das sich an der Grenze Frankens und Böhmens von der
Saale nach der Elbe zieht, im Vogtlande, und namentlich im sächsischen
Theile desselben, blüht als bescheidene Pflanze eine recht kräftige Volks¬
dichtung. Auf den ersten Blick kann das befremden. Denn zwar gehört die
Landschaft nicht zu den besonders dicht bevölkerten Strichen, aber mehrere
große Verkehrswege, die jetzt längst in Schienenstraßen umgewandelt sind,
durchziehen sie in ihrer ganzen Ausdehnung, vor allem die alte Straße nach
dem „Reich," nach Nürnberg über Hof, und die große Linie nach Böhmen
über Eger. Nicht unbedeutend auch hat sich städtisches Wesen entwickelt;
neben einer Reihe kleiner Städte blühen Plauen, Reichenbach, Greiz durch
modernes Fabrikwesen von Jahr zu Jahr mehr auf. Aber auf der andern
Seite ist das Wachsthum dieser größeren Orte und die Industrie aller vogt-
ländischen Städte noch sehr jungen Datums; Plauen ist erst um die Mitte
des 13. Jahrhunderts zur civitas, zur Stadtgemeinde erhoben worden, denn
zuerst 1276 wird es als solche genannt, und sein Umfang war lange Zeit
sehr unbedeutend; das alte Greiz hat sich Jahrhunderte lang auf die wenigen
Gassen am Fuße des Schloßfelsens beschränkt und war so abhängig von der
Schloßherrschaft, daß noch die Statuten von 1337 die Gemeinde nicht nur
zu Abgaben, sondern auch zu Frohndiensten verpflichteten; in älterer Zeit
und bis in unser Jahrhundert hinein waren die vogtländischen Städte sämmt¬
lich sicher nichts als kleine Ackerstädte, wie die kleinsten es noch immer sind.
Auch jetzt noch ist die in den Städten heimisch gewordene Industrie nicht aufs
platte Land gewandert, wie es in Schlesien und der Ober-Lausitz z. B. häufig
geschehen ist; die vogtländischen Dörfer sind mit sehr wenigen Ausnahmen
reine Bauerndörfer geblieben. Noch ist auch der Einfluß der zahlreichen Rit¬
tergüter, die jetzt allerdings überwiegend bürgerlichen Besitzern gehören, auf
dem platten Lande sehr mächtig, kurz, das Land hat seinen ländlichen Cha¬
rakter behauptet bis in die Gegenwart, in früheren Jahrhunderten aber muß
die ganze Landschaft ganz überwiegend ein Bauernland gewesen sein, indem
stets der reiche Landadel dominirte, die Städte wenig bedeuteten.
- Dieser Umstand erklärt Einiges, doch nicht Alles. Der Hauptgrund für
die Fortdauer einer wenn auch bescheidenen Volksdichtung muß anderswo,
muß im Volkscharakter zu suchen sein. Soweit man nun einen allgemeinen
Typus für die jetzt ja auch ziemlich gemischte Bevölkerung aufstellen kann, ist
der Vogtländer im Durchschnitt ein offner, ehrlicher, gutmüthiger Gesell, leicht
erregt, zur Fröhlichkeit und Geselligkeit geneigt, oft etwas derb in seinem
Auftreten; in den Städten waltet ein kräftiger, rühriger Sinn, der, umgeben
von einer kargen Natur, eine blühende Industrie entwickelt, einen soliden
Wohlstand begründet, und in den größeren Städten namentlich eine sehr
respectable Selbstverwaltung ausgebildet, einen männlichen Bürgerstolz gro߬
gezogen hat. Auch der vogtländische Landmann zeigt in seinem Berufe Ver¬
ständniß und Regsamkeit.
Man wird in diesen Charakterzügen das Erbtheil des fränkischen Stam¬
mes erkennen dürfen. Denn von diesem ging die Colonisation des obern
Elstergebietes aus.
Der vogtländische Dialekt ist der östliche Zweig des fränkischen; mit ihm
hat er z. B. das Abwerfen des auslautenden—n in „nehme" „gebe" statt
„nehmen" „geben" gemein; er hat, wie alle Dialekte, viele alterthümliche
Formen treu bewahrt; der Vogtländer sagt „ich gib" „ich nimm" „ich HKe",
„ich stehn;" auch das uralte „geschrieen" für „geschrien" kann man hören.
Er unterscheidet noch genau ü, das bei ihm an lautet, von on, wofür er s, sagt
(Taube aus tube, M aus taub, ahd. loup;) ebenso t, woraus er el macht
von el, das er in 6, übergehen läßt. (Sen, aus Stein, mei aus mein). Er
bildet keimet aus dem alten liront (Leinewand), renklich aus reinecliche, er
contrahirt cite aus ahd. egide statt egge.*) Als die fränkischen Colonisten
in das schon seit dem 10. Jahrhundert definitiv unterworfene Gebiet nach und
nach sich verbreiteten — in größerer Menge kaum vor dem 12. Jahrhundert
— so fanden sie wie überall an der Saale eine slavische Bevölkerung vor.
Aber sie beschränkte sich auf einzelne Striche des Landes, besonders auf die
Thäler der Elster, Göltzsch, Trieb, Syra. Hier treten slavische Ortsnamen
in größerer Zahl auf: Oelsnitz von si. visa, die Erle, Plauen, ursprünglich
Plawe von si. plawiti, schwemmen, überschwemmen (russ. plawna eine über¬
schwemmte Fläche), Greiz mit seinem Hradschin, oder, wie noch das Volk
spricht, Gretz von si. grad, (tschech. brät. herb. grad. russ. gorod). Schloß u. a.
Der Name der Göltzsch ist offenbar slavischen Ursprungs wie die Benennung
der an ihr liegenden Städte Mylau und Netzschkau; der Name der Trieb
stammt von si. driwo. Holz, und slawisch klingt endlich der Name des Syra-
bachs, wie der Kemnitz (Kamenica, Steinfluß). Aber im oberen (südlichen)
Vogtlande hören diese slavischen Localnamen fast gänzlich auf, ein Beweis, daß
bis dahin slavische Siedler nie gedrungen sind. Hier ist die eigentliche Heimat
der deutschen Ortsnamen auf — roth und — grün (Reuth, Voitersreuth,
Rebersreuth; Christiansreuth; Hohengrün, Hartmannsgrün, Reiboldsgrün,
Wolfsgrün); jene finden ihre Analoga in den zahlreichen süddeutschen Orts¬
namen auf — rout, und den norddeutschen auf —rode, diese äußerst zahl¬
reich, wie sie sind (über 200), kommen vor 1100 überhaupt nicht vor; die
Orte also, deren Namen jenes Element erhalten, können erst im 12. Jahr¬
hundert entstanden sein. *) So ergiebt sich aus der Menge der deutschen Orts¬
namen, welche im oberen Vogtlande fast ausschließlich existiren, im untern
an Zahl den slavischen mindestens gleichkommen, daß von Anfang an ein
starker Strom fränkischer Colonisten sich über das vogtlandische Hochplateau
und seine Flußthäler ergossen, daß die deutsche Bevölkerung frühzeitig die ein¬
heimische slavische an Zahl weit übertroffen hat. Und eine wirkliche Vermischung
beider Volkselemente hat hier gewiß so wenig wie anderwärts stattgefunden.
Wo die deutschen Herren einrückten, unterwarfen sie das slavische Landvolk
ihrer Herrschaft und brachten es in Hörigkeit oder Leibeigenschaft, wie denn
der slavische Ausdruck für Hörige, saur6i, auch in einer vogtlävdischen Ur¬
kunde von 1122 vorkommt; das slavische Recht verschwand, nur das der
Eroberer galt. Die deutschen Bauern aber, welche das wüstliegende Land
röteten und urbar machten, wanderten ein als freie Leute, hatten besseres
Recht als die Slaven. Mit dem doppelten Stolze des Deutschen und des
Christen traten sie dem slavischen Landvolk gegenüber. Und die städtischen
Innungen verschlossen sich herrisch gegen alle nichtdeutschen. Auch die Sorben
des Vogtlandes also haben sich schwerlich mit dem Deutschen vermischt; ihre
Sprache und Nationalität verschwand allmählich gegenüber der überlegnen
Cultur des Siegers, obwohl noch um 1122 die Bewohner der Gegend um
Plauen nur oberflächlich das Christenthum.bekannten, also sicher noch Slaven
waren. Nur einzelne Worte blieben haften, wie britschen (Siao. drin-ig) und
karbatschen (Siao. Kardaeü) in der Bedeutung prügeln, und manche Personen¬
namen erschienen in slavisirter Form z. B. Dietsch, Dietzel für Dietrich.
Haben wir im Vogtlande nun eine wesentlich germanische, nur wenig
mit slavischen Elementen versetzte Bevölkerung vor uns, nicht eine der Haupt¬
sache nach slavische, nachträglich germanisirte, so bildet dies offenbar ein
wichtiges Moment der Erklärung für das Fortleben des Volksliedes. Es ist
ein Erbstück der fränkischen Stammeseltern, vor allem ihres zur fröhlichen
Geselligkeit geneigten Charakterzuges; slavisches ist nicht in ihm.
Dies vogtländische Volkslied gleichsam entdeckt zu haben, ist das Verdienst
eines jungen Gelehrten, des or, He rman n D un ge r. der seit Jahren in Dres¬
den als Gymnasiallehrer thätig, doch seiner vogtländischen Heimath eine warme
Liebe bewahrt und mit unermüdlichem Eifer und großem Geschick eine ge¬
raume Zahl von Jahren hindurch gesammelt hat. Denn beide Eigenschaften
sind durchaus nöthig. Dem städtisch Gebildeten gegenüber ist der vogtlän¬
dische Landmann, so offen und fröhlich er unter seines Gleichen sein kann,
sehr zugeknöpft, wenn er nicht gar den zudringlich scheinenden Frager mit
echter Bauernschlauheit hinters Licht führt. Dünger hat bisher eine größere
Probe vogtländischer Volkslieder in seiner oben citirten Arbeit gegeben, der
in naher Zukunft eine größere Sammlung folgen soll, und die zahlreichen im
Vogtlande gesungenen Volkskmderlieder und Volkskinderspiele in einer besonderen
Schrift edirt (Kinderlieder und Kinderspiele aus dem Vogtlande mit einem
Vortrage über volksthümliche Kinderpoesie. Plauen i. V., Verlag v. F. E.
Neupert 1874). Es sei uns verstattet zunächst aus der Sammlung der Volks¬
lieder Einiges mitzutheilen.
Im Ganzen weniger stark entwickelt sind mehrstrophische Lieder:
Liebeslieder, Trinklieder, Balladen. Von letzteren giebt Dünger eine Probe,
das Lied vom Gastwirth und seinem Sohn. Die dann erzählte Handlung
ist auch sonst in mancherlei Variation poetisch dargestellt worden. Nach lan¬
ger Abwesenheit kommt der Sohn des Hauses als ein wohlhabender Mann
von der Wanderschaft zurück. Die Eltern erkennen ihn nicht, er selbst nennt
sich zunächst nicht ihnen, sondern nur seiner Schwester. In der Nacht aber
ermordet der Gastwirth den eignen Sohn, in der Meinung, einen Fremden
vor sich zu haben. Zu spät entdeckt ihm die Tochter das Gräßliche; da giebt
er wie die Mutter sich den Tod. —
In viel größerer, nahezu unerschöpflicher Zahl treten die einstrophigen
Liedchen auf; sie besonders sind der noch fröhlich weiterlebende Theil der
Volksdichtung der durch immer neue Liedchen vermehrt wird. Der Vogtlän¬
der nennt diese kleinen Gedichte RundK's, auch Schlumperliedl (von
schlumpern, schlampen, d. i. sich gehen lassen) oder Schumberlicdl (schand¬
bare, profane Lieder im Gegensatz zum geistlichen Liede). Sie entsprechen
genau den süddeutschen Schnaderhüpfln, Schelmeliedle, G'sangln und wie die
Ausdrücke sonst lauten. Ihre eigentliche Heimath ist der Tanzboden, dessen
Lust der vogtländische Landmann zu schätzen und zu genießen weiß, wie irgend
einer. Hier stimmen bald die Mädchen, ihre Reigen schlingend, dergleichen
Lieder an, bald ein „Bursche": er „legt auf", d. h. giebt den Musikanten
ein Stück Geld und singt nun, von ihnen begleitet, mit dem Glase in der
Hand mehrere Lieder. Auch beim Trinken am Wirthstisch, bei den sog. ,.Som-
merhaufeln". d. h. den abendlichen Zusammenkünften des jungen Volkes im
Sommer, und in den winterlichen „Rockenstuben" kommen die „Runda's zur
Geltung. Manche Leute bewahren Dutzende derselben im Gedächtniß und
Dünger selbst hat weit über 1000 Stück derselben gesammelt. Auch hiervon
mögen einige Belege gegeben werden.
Am reichsten ist natürlich das Gebiet der Liebeslieder vertreten. Ein
Bursche drückt die Freude über seine Liebste so aus:
Du flachsharets Mädel.
Dich HZn ich so gern;
Ich könnt' wog'n dein Flachskopf
Glei 6 Spinnrädel wer'n.
Ein anderer sagt:
Mei Schatz is lÄ Zucker,
Drum bin ich froh,
sunst hätt' ich n längst gessen,
Sus du ich 'ne no;
Ein dritter singt:
Mei Schützet Hot Augn,
Die zum Lieben g-rad' lang'n,
Sus hell wie die Surr-,
Und suo tief wie ü, Brunn.
Treue gegen die Liebste drückt das Liedchen aus:
Mei Herz is verschlossen,
Is 6, Doppelschloß dra",
Und mei Schatz hat 6-n Schlüssel,
Der's aufschließen kä".
Ein Bursche fordert naiv einen Kuß:
Mädel mit den rothen Rock,
Mit den schwarzen Mieder,
Gib in'r nur un Änzig'N Schmatz,
Krigst' ne ü, glei wieder!
Bitterlich klagt ein andrer das Lied des Abschieds:
Weil ich our mein" Schützet
Hu Abschied genummen.
Do fern mir die Zährte
Vult Aug-ne gedrunge.
Die Zährte our Aungen,
Die Seufzer our Mund,„Adje, mei lieb's Schützet,
Und bleib sabio gesund.
Gesund sellst du leb n,
Und wüst sell d'r^sah geh",
Und so lang Du mich geliebt hast,
Bebaut ich mich scho". "
Wenig günstig denkt der junge Bursche, der seinem „Schatz so zärtliche
Sachen sagt, über die Ehe:
Weil ich b! ledig gewest,
Ist in-r'sah am liebsten gewest,
GLtt zur'sah mei Lebenlang
Nimmer sus wuLl.
Und etwas derb äußert sich ein anderer:
Lustig sei" mir Bauerschknabm,
Weil in'r kalte Weiber haben.
Wenn in'r aber Weiber kriegen,
Muss M'r bei der Wiegen lieg'n,
Muss in'r singe: Hei, popei,
Dummer Wergel, festus doch er"!
Die Jugendlust aber ist immer wieder das Hauptthema des Liedes.
Eine lustige Gesellschaft singt:
Mir sei" lust'ge Leut,
Mir sei" vuller Faxen;
Mir lassen uns Schnurbü,re steh",
— wenn se uns wachsen!
oder sie kommt zu dem übermüthig-naiven Selbstbekenntniß:
Urner Herrgott im Himmel
Muß selb r lach'n,
Was mir Leut' af der Welt
F'r dumme Sachen mach'n.
Oft genug wendet sich die übermüthige Lust zum Spott auf ganze
Stände, auf benachbarte Dörfer, auf einzelne Personen. Die Mädchen singen
neckend den Burschen zu:
Und ä x und ä 2
Und die Burschen sei" nett,
Und ä 2 und ä x,
Ott-r taugen thunne se nix.
Ein anderes Lied verspottet die Stadtmägde, die auf dem Dorfe gerne
die vornehmen spielen:
Musikanten, spielt auf,
Jtze kumme die Stadtmä,
Sie möchten gern tanzen,
Krigt käme kam Ruh" MeigenZ.
Oder einzelne Dörfer werden aufgezogen, wie in den folgenden beiden
Die Schneckengrüner Mädle
Die thunne suo stolz,
Die dann nßr Pantoffeln
Und die sei" our Holz.
Die Theumischen Mndle
Hamm lange Näs'n,
Do ka" der alt- Wächter
An Tusch drauf blasn.
oder:
Was also dem Volke nahe liegt, was es vor allem zu lebhafterer Em-
pfindung erregt, zu Lust und Leid, das Alles findet in diesen anspruchslosen
meist vorzeitigen Liedchen seinen oft sehr glücklichen Ausdruck. Und trotz
modernen Nivellements sind diese „RundS,s" weder vergessen noch entbehren
sie eines munteren Nachwuchses; man kann also wirklich von einer lebendigen
Volksdichtung sprechen.
Etwas anders verhält es sich mit den im Vogtlande, gesungenen volks-
thümlichen Kinderliedern. Hier läßt sich keineswegs behaupten, daß sie
alle oder daß nur der größte Theil in der Landschaft entstanden sei; bei
vielen mag dies der Fall sein, die überwiegende Mehrzahl jedoch ist weit über
die Grenzen des Vogtlandes hinaus verbreitet, sie finden sich an der Nordsee
wie in den Alpen und in Siebenbürgen und nur einzelne Wendungen und
Variationen mögen im Vogtlande selbst entstanden sein. Manche sind ohne
Zweifel uralt, allen oder mehreren deutschen Stämmen gemeinsam und mit
ihnen gewandert, andere wieder, jüngeren Ursprungs, haben sich nach und
nach weiter verbreitet, ohne daß ihre Herkunft festzustellen wäre. Zu den
culturhistorisch interessantesten gehören nun .gewiß die Kinderreime mit mytho¬
logischen Hintergrunde. Dazu zählen die Kinderwundsegen, von denen
R.Köhler in seinem fleißigen Buche: „Volksglauben und Aberglauben im Vogt¬
lande" S. 403 ff. eine Menge veröffentlicht hat, Verschen, die im Zusammen¬
hange stehen mit den uralt germanischen Beschwörungsformeln. Noch merk¬
würdiger find Verschen, die bei Spielen aufgesagt werden, und die sich oft
in wenig veränderter Fassung in weit entfernten Gegenden wiederfinden. So
lautet ein Abzählreim:
die eine spinnt Seide,
die andre reibt die Kreide,
die dritte schließt den Himmel auf,
da guckt die Mutter Maria 'raus.
Diese drei Jungfrauen sind die heidnischen Nornen oder Schicksalsfrauen
die unter andern Namen auch in den Liedchen anderer Landschaften vor¬
kommen. Ein anderer Spielreim lautet:
Wir woll'n einmal spaziren gehn,
Nenn nur das wilde Thier nicht käm'!
Um eins kommt's nicht,
u. s. f.
Dies Liedchen kommt ähnlich auch im Anhalt'schen, und mehr verschieden
auch in andern deutschen Gebieten vor. Auch hier ist der Hintergrund mytho¬
logisch: die 12 Stunden sind die 12 Weltstunden, nach deren Ablauf das
Himmelsgewölbe einbricht, wenn der alles verschlingende Höllenwolf MKnagarm
erscheint. Ein drittes enthält eine deutliche Hinweisung auf das himmlische
Lichtland (England) und kommt in ähnlicher Fassung auch in Franken und
Schwaben vor. Eine Form desselben im Vogtlande lautet:
Une dure, quinde, quande,
Fahr mit mir nach Engellande,
Engelland ist zugeschlossen,
ist der Schlüssel abgebrochen, u. s. f.
Diese Proben mögen genügen. Es wird sich natürlich nie feststellen lassen,
wie und wann diese und andere Kinderlieder — Dünger hat 363 zusammen¬
gebracht — ins Vogelart gekommen sind. Von manchen, namentlich von denen
mit mythologischer Grundlage, möchte man annehmen, daß sie bereits die frän¬
kischen Colonisten mitbrachten, welche die Landschaft germanistrten. Und ist
dies richtig, so bietet dies einen weiteren Beleg für die deutsche Abkunft der
überwiegenden Mehrheit der vogtländischen Bevölkerung. Denn die in jenen
Liedern versteckten mythologischen Beziehungen weisen auf deutschen nicht auf
slavischen Götterglauben hin.
In dem vom 18. Juli 1861 datirten Erinnerungsblatt an den am
14. Juni 1861 zu Greifswald verstorbenen Ober-Appellationsgerichts- und Ge->
Heimen Justizrath Dr. juris von Mühlenfels von Greifswald, dessen empörende
Behandlung im Jahre 1821 durch die damalige preußische Regierung von
Gustav Freytag — größtentheils nach Mühlenfels', eigenen Aufzeichnungen — in
den Grenzboten, Jahrgang XXI No. 33, zweites Semester. Seite 248 bis
273 beschrieben ist, liest man Seite 10 Folgendes: „Seine Amtsentsetzung
war schon im Mai 1820 verfügt worden. Als er am 6. Mai 1821 die
Kunde erhielt, daß ihm für einen der nächsten Tage ein festerer Kerker be¬
stimmt sei, faßte er den Entschluß, die Flucht zu ergreifen. Die seltsame
Verkettung von Umständen, die staunenswerthe Vereinigung von Besonnenheit
und Geduld, Geschicklichkeit und Energie, durch welche ihm möglich wurde,
ohne jede Mitwissenschaft in der Nähe oder Ferne dem Kerker zu entrinnen,
der Verfolgung einen Vorsprung von 12 bis 16 Stunden abzugewinnen und
innerhalb 36 Stunden die schwedische Küste zu erreichen, wären "einer aus¬
führlicheren Darstellung werth, als diese flüchtige Skizze sie geben kann."
Was Ludwig von Mühlenfels mir hierüber nach selner glücklichen An-
kunft in Stockholm, woselbst ich seit dem Frühjahr Hauslehrer war, mitge-
theilt, ist — soweit ich mich nach länger als einem halben Jahrhundert noch
zu erinnern vermag — Folgendes:
In seinem Gefängniß, einem kleinen Stübchen mit einem gewöhnlichen
Fenster, von außen mit senkrechtem Eisengitter verschlossen, dicht an der höl¬
zernen Treppe zur Thür hinunter, welche nicht auf den Molkenmarkt führte,
sondern auf den damals freien Platz zwischen dem Mühlendamm und der
Spree, übte er sich, mit angezogenen Stiefeln schnell, zugleich aber so leise zu
gehen, daß er selbst nichts davon hörte. Erst am Abend der Flucht schnitt
er seinen Bart ab. In den beiden Deckeln der Bibel, welche man ihm ge¬
lassen, waren schon in Köln Louisd'or, auf deren Zahl ich mich nicht mehr er¬
innere, eingebunden. Bei einem Besuch des Ober-Jnspectors der Gefängnisse
bei dem Gefangenen fand jener das Buch auffallend schwer. Mit angenommener
Gleichgültigkeit gab der Gefangene dieses zu, und jener legte das Buch
wieder hin.
Am 3. Mai 1821 Abends 9 Uhr riß er der Bibel die Deckel ab. steckte
das Geld zu sich, zog sich vollständig an, nahm die ihm besorgte Studenten-
Matrikel an sich und trat aus dem Gefängniß auf den Hausflur. Mittels
des Bindfadens, welchen er an dem Riegel unter dem Schloß befestigt hatte,
zog er nunmehr denselben in die Krämpe des Schlosses. Damit war ihm der
Rückweg in das Gefängniß versperrt.
Die bei offener Thür in dem Zimmer auf der anderen Seite der Treppe
wachhabenden Gensdarmen unterhielten sich laut und hörten nichts davon,
daß der Gefangene die hölzerne Treppe hinuntereilte. Noch etwa vier Stufen
von dem Erdboden und von der Hausthüre entfernt, wurde diese, wahrscheinlich
von einem Dienstboten des Gefangen-Oberinspektors verschlossen, v. Mühlen¬
fels, in der peinlichsten Verlegenheit, verlangte, noch hinausgelassen zu werden.
Dieses geschah. Der Wachposten an der Thüre ließ ihn unbeanstandet seines
Weges gehen. Wer hätte auch wohl in dem wohlgekleideter Herrn einen
Gefangenen vermuthet!
v. Mühlenfels wollte zunächst zu einem Freunde, sechs Meilen südlich
von Berlin, um mit diesem Rath zu Pflegen, was weiter zu thun sei. Aber
schon unweit des schlesischen Thores wurde ihm klar, daß er, in Folge der
im Kriege von 1813 als Lützower Reiter erhaltenen Wunden und des
Mangels an Bewegung im Gefängniß seit beinahe 2 Jahren sechs Meilen
zu Fuß zurückzulegen nicht mehr im Stande sei.
Er begab sich nunmehr zur Post und verlangte unter Vorzeigung der
ihm zugestellten Studenten-Matrikel Extrapost nach Oranienburg. Der Post¬
beamte verlangte dazu die schriftliche Erlaubniß des zeitigen Rektors der Hoch¬
schule. Diese sofort zu beschaffen erklärte v. Mühlenfels sich ganz außer
Stand. Der Rektor habe bereits seine, dem Bittsteller unbekannte Sommer¬
wohnung außerhalb der Stadt bezogen. Erst am folgenden Vormittag von
9 Uhr ab sei derselbe im Universitätsgebäude anzutreffen. Bis dahin könne
sein schwer ertränkter Vater vielleicht nicht mehr am Leben sein. Seine Reise
leide daher nicht den geringsten Verzug. Wiederholt bat er um Bewilligung
der Extrapost. Er erhielt sie. Sie ging ihm aber viel zu langsam, um
seinen Verfolgern zu entkommen. Er verlangte deshalb in Oranienburg
Curirpferde und erhielt sie. Auf diesen jagte er indeß so rasch vorwärts, daß
der Postmeister auf einer der Stationen gewaltigen Lärm darüber erhob, daß
die Pferde, welche von Schweiß trieften, überjagt worden. Zornig schlug er
die Hergabe weiterer Curirpferde ab.
Erst die Gegenvorstellungen des ehemaligen Lützow'schen Reiters und
seine dringende Bitte um Pferde erweichten das Herz des Beamten; er be¬
willigte weitere Pferde.
Nördlich von Stralsund am Strand, westlich von Hiddensee sah er in
aller Frühe des 6. Mai ein Boot mit zwei Fischern. Er rief sie heran, es
waren Vater und Sohn, und er zeigte und bot nun ersterem zwanzig blanke
Thaler, wenn er ihn an die Küste von Schweden bei Ustad bringe. Darauf
ging der Fischer ein. In der Nähe von Hiddensee wurde der nöthige Ballast
eingenommen und ohne Verzug in See gestochen, um sobald als möglich vom
Lande außer Sicht zu kommen.
Als man über Rügen hinaus war, wollte der Fischer nach den Kreide¬
felsen der Insel Mön unter dem Vorgeben, dort sei die Küste von Schweden.
Als er, der Bedeutung durch v. Mühlenfels ungeachtet, darauf bestand, ent¬
fernte ihn dieser mit Gewalt vom Steuer, um dieses selbst zu lenken und
nicht wieder loszulassen. Einer solchen Körperkraft des Reisenden gegenüber
sahen der Fischer und sein Sohn die Nothwendigkeit ein, sich zu fügen.
Für das Boot und seine Last ging die See hoch. Erst am frühen
Morgen des 7. Mai gelang es. die Küste von Schonen bei Mao zu erreichen.
Dort von der Strandwache festgehalten, verlangte v. Mühlenfels vor den
Landeshauptmann geführt zu werden. Dieser fand gegen die Legitimation
des angeblichen Berliner Studenten zur Reise nach Stockholm nichts zu er¬
innern. Im Begriff sich zu entfernen, wurde v. Mühlenfels von dem
Landeshauptmann gefragt: wie es denn dem armen Mühlenfels gehe, welchen
die preußische Negierung nun schon ins zweite Jahr in Berlin gefangen halte,
ohne daß man wisse, warum? Bei dem Antheil an seinem Schicksal, welcher
in dieser Frage lag, gab v. Mühlenfels sich ihm zu erkennen und die Absicht
kund, zunächst seine ältere Schwester, die Baronin von Cederström auf
Beatalund — drei Meilen von Stockholm — zu besuchen.
Voll Theilnahme erwiederte der Landeshauptmann, vor Allem müsse er
über seine Flucht und Ankunft in Schweden nach Stockholm berichten und
anfragen, ob seiner Weiterreise nichts entgegenstehe. Wie aber auch der
Bescheid ausfallen möge, in seinem Lar (Schonen) sei v. Mühlenfels sicher.
Der Bescheid des Ministeriums fiel dahin aus, daß der Reise und dem
Aufenthalt des v. Mühlenfels Nichts entgegenstehe. Bald darauf hatte ich
die Freude, ihn in Stockholm und öfter in Beatalund wiederzusehen.
Der König fragte ihn. ob er fortan ganz und gar Schwede sein und
aufhören wolle, ein Deutscher zu sein? Als v. Mühlenfels dies entschieden
verneinte, erhielt er den Bescheid, daß er hiernach für ihn Nichts thun könne ;
— seinem Aufenthalt in Schweden stehe indeß nichts entgegen.
Im Mai 1822 kehrte ich nach Deutschland zurück.
Liest man über Ludwig v. Mühlenfels auch nur das im Eingang er¬
wähnte Erinnerungsblatt, den Aufsatz in den Grenzboten von 1861 Jahr¬
gang XX. No. 52. Seite 481—300: Ein Lützower Reiter; und den Aufsatz
von 1862 Jahrgang XXI. No. 33, Seite 248 — 273: Ludwig von Mühlen-
fels als Gefangener der Stadtvogtei in Berlin (1819—1820), welche von der
Verlagshandlung für eine Kleinigkeit jederzeit einzeln bezogen werden können,
so überzeugt man sich ohne Weiteres: man habe das Bild eines außerordent¬
lichen Mannes vor sich, welcher der Vergessenheit nicht anheim fallen darf.
Ernst Moritz Arndt, sein Landsmann, Friedrich Ludwig Jahr, Schleiermacher
und andere hervorragende Männer seiner Zeit hielten ihn hoch. Auf dem
Rugard ist der Arndtthurm im Bau. An diesen Thurm gehört in Bronze
- oder Marmor das Brustbild seines Zeitgenossen und Mitkämpfers für Deutsch¬
lands Freiheit und Einheit:
Ludwig's von Mühlenfels geb. zu Groß Cordshagen 3. Sept. 1793 —
geht. zu Greifswald 14. Juni 1861.
Die Wichtigkeit eines Angriffspunktes erkennt man leicht an dem Eifer
der Feinde, eine schwache Stelle mit allen Kräften zu vertheidigen. Diese
Erfahrung machte ich jüngst durch eine in der ultramontanen Fuldaer Zeitung
heftig angegriffene Behauptung, welche, wie ich ohne Uebertreibung sagen
darf, als ein Pfeil bei den Schwarzen ins '.Schwärze getroffen hatte. In der
zahlreich besuchten Altkatholiken-Versammlung in H. machte ich zum Schluß
die Anwesenden darauf aufmerksam, daß sie zu Hause den mehr oder weniger
starken Widerspruch der Frauen zu bekämpfen hätten, welche ja naturgemäß
gern am alten Herkommen festhalten und grade in der Religion jede Aende¬
rung so leicht als Frevel betrachten. Ich gab den Rath, die Frauen darauf
aufmerksam zu machen, wie .wenig die römische Kirche die wahre Frauenwürde
zu ehren wisse und daß der Altkatholicismus die Frauen höher stellen werde.
Ich begründete dieses durch die zu erwartende Aufhebung des Cölibates, da
das Verbot, daß ein Geistlicher ein Weib liebe und das Oberhaupt einer
Familie werde, eine Beleidigung der Frauen sei und gleichsam andeute, daß
die Liebe zum Weibe erniedrige. Zu erwarten sei ferner die Aufhebung der
Unsitte, Wöchnerinnen in der Kirche aufzuweisen, denn jeder Geistliche be¬
schimpfe durch diesen Akt, der die Mutterschaft als eine Sünde bezeichne,
seine eigene Mutter, und seine eigene Existenz. Die Entgegnungen derbster
Art, unter denen der Vorwurf der Unwissenheit eines Laien sehr stark ver¬
treten war, veranlaßten mich, den Rath, mich besser zu informiren, zu befolgen.
Nachstehende Studie ist das Resultat und glaube ich nicht in der Lage zu
sein, ein Jota von meinen obigen Behauptungen zurücknehmen zu müssen.
Bekanntlich besteht die Politik der Geistlichen vielfach in dem Principe,
durch die Schule die Kinder, durch die Kinder die Mütter, und durch die
Mütter die Männer zu beeinflussen. Wo also ihr Einfluß auf die Kinder
und Mütter bedroht ist, ist ihre ganze Politik bedroht und zwar an der
Wurzel. Das Weib ist die Barrikade, hinter die der Geistliche sich verschanzt,
wenn er nicht direkt den Mann erreichen kann. Des lieben Hausfriedens
wegen giebt so Mancher nach und läßt 2-j-2—5 sein, oder bleibt wenigstens
indifferent. Wie einschmeichelnd ist daher die Kirche, um sich das Gemüth
und die Anhänglichkeit der Frauen zu erobern und zu bewahren. Sie speculirt
mit bestem Erfolge auf die Schwäche. Ich war Zeuge einer Predigt, wo der
freundliche Geistliche bei einer Trauung ganz naiv gestand, der Segen der
Kirche gelte zumeist der Frau, da diese denselben am nöthigsten habe. Ja
er verwies in fast galanter Weise die junge Frau mehr auf den Beistand der
Kirche als auf die Liebe des Mannes. — So wird principiell dem Manne
Concurrenz gemacht, und nicht mit Unrecht hob ein altkatholischer Prediger
jüngst bei einer Trauung hervor, daß ein Weib, das dem Priester ein größeres
Vertrauen wie dem Manne schenke, im Geiste diesem Priester mehr vermählt
wie ihrem Manne sei. Auf dem Lande ist dieser Zustand am häufigsten zu
finden. Geben wir auch gern zu, daß der Geistliche in besonderen Fällen
das Recht hat, einen Trunkenbold oder Verschwender, oder sonst den in einem
Laster Befangenen zu warnen, und hierdurch die Familie zu retten, so ist
doch es absolut verwerflich, daß der Geistliche sich zwischen Mann und Frau
als Gewissensrath stellt und. wie es durch die Beichte oft geschieht, eindrängt.
Gefällt es in den Zeiten der Frauen-Emancipationen ohnehin vielen ihre
natürlichen Vorzüge und ihre Stellung verkennenden Frauen nicht recht, daß
sie dem Manne Gehorsam in allen rechtlichen Dingen schulden, so ist es zu
begreiflich, wie gern sie den Helfer in einem hochgestellten Manne begrüßen,
an dem sie, weil er unverheirathet ist, zugleich erproben können, wie weit
ihrem Einflüsse die Frömmigkeit und Askese dieses Mannes gewachsen ist.
Mag dieses auch nicht immer der Fall sein und meistens mehr ein Spiel der
Gedanken und Empfindungen bleiben und nicht stets zur groben Pflichtver¬
letzung führen, so genügt es doch, daß die Versuchung vorhanden und das
„Führe uns nicht in Versuchung!" leider oft unbeachtet bleibt. In den
Gegenden, wo das Volk naiv die „Frau" Köchin anerkennt und gelten läßt,
ist es weniger gefährlich. Schlimmer ist es am Rhein, wo die Politik der
Ultramontanen die feinsten Formen der Höflichkeit und des guten Geschmackes,
die größten Wohlthaten gegen Arme und Bedrängte und den in vielen Fällen
großartigsten Aufwand an Kunst und Intelligenz zu Hülfe nimmt, um dem
Volke die Erhabenheit der Mutter Kirche und ihre göttliche Mission zu be¬
weisen. Dort ist es nur zu leicht gelungen, die Frauen und die Männer so
zu begeistern, daß sie nicht mehr die von Rom geleiteten Fäden sehen, welche
die Herrschsucht einer Priesterkaste unter dem erhabensten Vorwande über dieses
schöne Land gebreitet hat.
Wie schon bemerkt, kurirt man das Uebel an der Wurzel nur dann,
wenn man den zu weit gehenden Einfluß der Geistlichkeit in der Schule und
bei den Frauen bekämpft und letztere über ihre Stellung in den Augen der
römischen Kirche belehrt. Was das Cölibat betrifft, so bedarf es wohl keines
Beweises, daß diejenige niedrig gestellt wird, mit der der Umgang oder die ehe¬
liche Gemeinschaft verboten ist.
Auch wird ja die Jungfräulichkeit von der Kirche über die Ehe gestellt
und das Wort des Apostels „Nichtheirathen ist besser" welches auf das Opfer
der Ehelosigkeit für die großen Zwecke des Apostolats hindeutet, in allgemeinem
Sinne genommen. Es harmonirt dieses mit der übermenschlichen Stellung,
welche in hochmütigster Weise die Priesterkaste Roms sich zuschreibt. „Be¬
gegnet Euch ein Engel des Himmels und zugleich ein Geistlicher, so habt Ihr
zuerst vor dem Geistlichen und dann vor dem Engel den Hut abzuziehen, denn
der Geistliche ist durch die ihm verliehene Gewalt mächtiger wie der Engel.
In der Stufenreihe der Geschöpfe folgt also auf das Thier der Mensch,
dann der Engel, dann der Geistliche und dann Gott als Schöpfer."
So lautete wörtlich die Ansprache eines Geistlichen bei der Primiz eines
Freundes, um die Bauern zu belehren, welche Hochachtung und Unterwürfig'
keit sie dem Priesterstande schulden. An anderer Stelle habe ich darauf hin¬
gewiesen, welche fatale Consequenzen sich für die römische Geistlichkeit aus
dieser über- oder unmenschlichen Stellung ergeben. Nur der „Mensch" hat
Anspruch auf Menschlichkeit im Kampfe, während jedes andere uns bekäm¬
pfende Wesen, heiße es Thier oder Centaur, oder wie sonst die Mythe die
Mischung von Mensch und Thier bezeichnete, unerbittlich vernichtet werden
durfte. Ja wir müssen aus der Fabelwelt die Beispiele holen, um für die
„neuen" Götter der Erde Vergleiche zu finden. Ein Abglanz des Papstes,
der als Gottes Stellvertreter sich auch das göttliche Attribut der Unfehlbar¬
keit anmaßt, geht auf jeden Bauernlümmel über, der, 20 bis 24 Jahre alt,
mit mangelhafter Conviktsbildung die vier Weihen erhält und von seiner
Mutter und seinem Vater mit „Sie" und „Herr Sohn" sich tituliren läßt.
Der Bauer soll aber in diesen Caplänen den mit gewaltigem Zauber Ausge¬
rüsteten verehren, der im Namen Gottes ihm seine Sünden vergiebt, sein
verhextes Vieh befreit, seine Frau aufweist und Gott selbst veranlaßt, täglich
sich auf dem Altare zu verwandeln. Instinktiv verehrt das Volk die katho¬
lischen Geistlichen als die Herrgottsmächer, so sehr auch betont wird, daß
alles im Namen Gottes vom Knechte der Knechte Gottes geschieht.
Erhaben über irdische Leidenschaft, losgerissen von der Familie, mit Ge¬
walt über die Natur und zumal über die Sünde, soll das Volk seine Prie¬
ster erkennen, verehren und sich — ihnen beugen. Das Vieh wird ausgeseg¬
net, wenn es rothe Milch giebt oder sonstige auffallende Zustände hat, aus
Besessenen wird der Teufel exorcirt und ähnliche Formeln werden bei der
Taufe gesprochen. Ob Christus, der die Kindlein zu sich kommen ließ und
sie segnete, wohl ein Widersagen dem Teufel und seinen Werken extra ver¬
langte?
Es ist aber durchaus den Principien entsprechend „Beuge nieder um zu
erheben" „Verrichte um zu beherrschen", daß Rom die Abhängigkeit der Men¬
schen vom Teufel stark betonte und Erkennen des irdischen Jammerthales ver¬
langte, damit nur der zum Himmel aufschauen dürfe, der durch die Taufe
dem Papste angehöre und bei Lebzeiten durch Folgsamkeit und materiellen
Tribut dieses bezeuge. Liegt schon in der allgemeinen Hülfsbedürftigkeit des
Menschen der größte Sporn, vertrauensvoll die Arme um Hülfe zu einem
allgütigen Vater zu erheben, und nach der Nacht sich zum Lichte sehnen,
so war es raffinirteste ^Absicht, Elend und Jammer, Schmerz und Noth
sich tributär zu machen, um die monopolisirte Gnade des Himmels zu
spenden.
In den ersten Jahrhunderten des Christenthums finden wir Christum
nur als den guten Hirten und in der antiken Schönheit eines Orpheus und
Apollo dargestellt. Später erst, als die Menschheit an ihrer Zukunft ver-
zweifelt und den Weltuntergang erwartend, vor allem auf den Himmel Ge¬
wicht legen mußte, da wurde die Passion Christi in den Vordergrund gestellt
und zur Trägerin des Cultus gemacht. Die Natur mußte geknechtet werden,
um den Himmel zu erobern, unsere ganze Existenz als die Urhunde hinge¬
stellt werden, in der jede Freude nur geduldet und jede Entsagung geheiligt
war. Diesem finstern Geiste entspringt auch der Gebrauch, Frauen beim ersten
Besuche der Kirche nach dem Wochenbett aufzuweisen oder auszusegnen. Es
sei mir gestattet die Eindrücke einer solchen Aussegnung hier zu schildern.
Kam ich als Kind eine Viertelstunde zu früh in unsere Dorfkirche, so
gewahrte ich oft an der Seitenthüre zwei dunkelvermummte Frauen stehen,
welche auf den Küster und Geistlichen warteten. Diese kamen dann im
halben Ornate und der Geistliche besprengte die Frauen mit Weihwasser
nachdem der Küster den Frauen brennende Wachslichter in die Hand ge¬
geben. Sie folgten dann dem Geistlichen, welcher lateinische Gebete sprach
an den Altar, wo ungefähr 3 bis 10 Minuten lang der Geistliche das Beten
über die niedergeknieten Frauen in lateinischer Sprache fortsetzte und sie dann
wieder mit Weihwasser besprengte. Die Frauen gingen dann um den Altar
herum und legten ein Geldstück auf denselben, womit die Ausweisung ab¬
gemacht war, — Als ich später über diesen Gebrauch nachzudenken im Stande
war, fühlte ich, daß der Priester durch seine Gebete und durch seinen Segen
ähnlich wie bei der Taufe einen Makel beseitigt und öfter kam mir dann der
Gedanke wieder, daß es doch sonderbar sei, daß die Naturgesetze, die doch von
Gott herstammen, mit der Sünde verschwistert sein sollen. Als ich nun jüngst
offen aussprach, daß in dem Ausweisen eine Beleidigung des Weibes liege,
da rief die Schaar der Gelobten, meine Behauptung sei Unsinn, ich sei schlecht
informire !e. Da kam mir denn ein Brief eines mich belehren wollenden
Geistlichen zu, der mir, freilich gegen seine Absicht bewies, wie begründet
meine Ansicht ist. In diesem Briefe wird dargelegt, daß der Gebrauch der
Aussegnung eine Nachahmung der Maria sei, die, obschon ohne Sünde em¬
pfangen, dennoch in den Tempel ging und ihr Kind dem Herrn darbrachte.
Ferner wird behauptet, die Kirche unterscheide zwischen „unrein nach dem
Gesetze und unrein durch den Willen zur Sünde", z. B. sei die Erbsünde in
die erste Kategorie gehörig. Hierauf habe ich nun zu entgegnen, daß bei ^
dem Aussegnen der Wöchnerinnen am Rhein es nicht Gebrauch ist das Kind
mitzubringen, und die Darbringung Christi im Tempel nachzuahmen, da das
Kind schon in der Taufe Gott gewidmet wird. Die Dankgebete für über-
standene Lebensgefahr und Schmerzen und die Bitte um weiteren Beistand
spricht der Geistliche lateinisch und wissen die Frauen also nichts,.davon,
da sie nur das Gefühl und die Absicht haben, „ausgeweiht" zu werden.
Daß die römisch-christliche Kirche die alten mosaischen Reinigungsgesetze
beibehalten hat (wahrscheinlich um die Anhänger des Judenthums damals
leichter zu gewinnen) rächt sich im Verlauf der Zeiten, Jeder vernünftige
Mensch acceptirt eigentlich das Dogma von der unbefleckten Empfängniß
Maria's, da er ja im Allgemeinen annimmt, daß die Fruchtbarkeit der Ehe
eine Gnade und ein Segen des Himmels und kein Makel ist. Das Dogma
ist also nur die doppelte Verneinung, die jeder Mathematiker als sich auf¬
hebend gelten läßt. Will die Kirche die Bedeutung der Makelbefreiung bei
der Aussegnung beseitigen, so lasse sie das Dankgebet in den Vordergrund
treten und entferne sie aus dem modernen Rosenkranzgebete die heute so viel¬
fach eingeschaltete Stelle im Mariengruße: „Die du ohne Sünde empfangen
bist!" Bedeutet das von den Lippen der Bäuerinnen denn etwas anderes
als das Bewußtsein, daß die Himmelskönigin sich darin von allen Weibern
unterscheide, die in Sünden empfangen und empfangen sind? Es wäre end¬
lich an der Zeit, daß die wahre Religion sich mit dem wahren Menschenthum
versöhne. Möge der Altkatholicismus die erhabenen und tiefsinnigen Cultus-
und Kunstformen, die aus der Vorzeit stammenden Symbole weiter pflegen,
aber die Schlaken der Barbarei des Mittelalters ausscheiden, und dem Geiste
sein königliches Recht zukommen lassen. Natur und Kunst, Menschheit und
Gottheit sollen in diesem Cultus sich harmonisch vereinigen.
Erinnern wir uns doch, welche hohe Stellung die germanischen Frauen
in der heidnischen Zeit hatten! Ueberlassen wir den romanischen Völkern den
Aberglauben an die Wunderkraft der Geistlichen und halten wir unser Haus
von diesem Vogelgeschlechte rein, das kein eigenes Rest haben darf, um so
lieber aber die fremden beschmutzt, weil ihm alles Irdische und Menschliche
als Schmutz gilt, zu dessen Reinigung ihm göttliche Gewalt verliehen. Reinike
Fuchs könnte es nicht schlauer ersinnen! Was aber mag so ein Caplan sich
denken, wenn er als Lateiner auf das freilich im Brevier nicht vorkommende
Sprüchlein stößt: „Mut Iiuma-ol a me alismim xuto."
Das Ueberschreiten der Themse durch die südlichen Bahnen gab den An¬
laß zu einer außerordentlichen Entwickelung des Bahnnetzes von London und
Umgegend. Zunächst strebten nun die nördlichen Bahnen nach einer möglichst
vollkommenen Verbindung mit den südlichen und erreichten dieselbe auch theils
durch Erbauung einer großen Anzahl von Verbindungsbahnen, die sie gemein¬
schaftlich erbauten, theils durch die Erbauung von besondern Stadtbahnen
zwischen den bestehenden und schließlich noch am direktesten durch die Erbauung
der unterirdischen Eisenbahn.
London bietet in Bezug auf die Benutzung ein und derselben Bahn, der¬
selben Station, durch die verschiedensten Eisenbahngesellschaften ein überaus
interessantes Bild dar, besonders wenn man erwägt, daß alle die Mitbenutz¬
ungsverträge freiwillig geschlossen worden sind und zwar sehr häufig zwischen
Bahngesellschaften, die sich sonst überall die entschiedenste Concurrenz machen.
So werden mehrere Stationen und ausgedehnte Viaduetstrecken auf dem rechten
Themseufer gemeinschaftlich von je zweien derjenigen drei Bahngesellschaf¬
ten benutzt, die sich zwischen London, Dover und Brighton die lebhafteste
Concurrenz machen. So fahren aus derselben Victoriastation und über die¬
selbe Mctoriabrücke Züge verschiedener Bahngesellschaften nach dem Crystall-
palast; hinter der Themsebrücke theilen sich die Bahnlinien, sie berühren ver¬
schiedene Stadttheile, gelangen aber an denselben Endpunkt und jede der
Bahngesellschaften preist ihre Linie laut und mit möglichster Reclame als
die beste und kürzeste Verbindung zwischen dem Westend und dem genannten
so beliebten Vergnügungslocal der Londoner. Aeußerliche Verhältnisse treten
uns in Manchester und Birmingham entgegen.
In letzterer Stadt vereinigen sich gerade jene zwei Bahngesellschaften, die
sich überall zwischen London und Liverpool und in den ganzen mittlern Graf¬
schaften die entschiedenste und ausgesprochenste Concurrenz machen, nämlich
die London and North Western und die Midland-Eisenbahngesellschaft — in
derselben Centralstation und es zeigt sich dort das eigenthümliche Schauspiel,
daß von demselben Perron gleichzeitig zwei Züge der zwei verschie¬
denen Bahnen nach derselben Endstation Derby abgelassen werden. Es
gibt wohl kein eklatanteres Beispiel dafür, daß es selbst zwischen den ent¬
schiedensten Feinden gemeinsame Berührungspunkte giebt, in denen sie sich sehr
wohl vertragen. Jede der beiden Bahngesellschaften hat die feste und ent¬
schieden ausgesprochene Absicht gehabt, ihren Bahnhof im Innern von Bir¬
mingham anzulegen. Wenn nun beide Bahnen ihre getrennten Anlagen ge¬
macht hätten, so wären die Kosten auch annähernd doppelt so hoch gewesen,
als bei der jetzigen Vereinigung, sie haben also sehr wohl gethan, sich über
dieselbe zu verständigen, denn im andern Falle hätten sie sich beide sehr be¬
deutende Kapitalverschleuderung zu Schulden kommen lassen. Derartige ge-.
trennte Anlagen aber nur etwa deßwegen zu machen, um die Concurrentin
zu ärgern, fällt heut zu Tage in England Niemandem mehr ein, dazu sind
Alle viel zu praktische Geschäftsleute.
Bei der so sehr großen Einwohnerzahl von London und den weiten Ent¬
fernungen, die daraus sich ergeben, muß natürlich jede Bahngesellschaft dahin
streben, ihre Anschlusse innerhalb der Stadt und in deren nächster Umgebung
so vollkommen wie möglich zu gestalten, damit man unmittelbar mit dem
Zug so nahe an seine Wohnung gebracht werde, daß man sich womöglich
keiner besondern Fahrgelegenheit zu bedienen nothwendig hat, um vom Bahn¬
hofe nach derselben zu gelangen. Wenn man dabei vielleicht auch auf den
verschiedenen Abzweigungs- und Vereinigungspunkten der Verbindungsbahnen
umsteigen muß, ja wenn man auch wegen den verschiedenen Höhenlagen der
Stationen gezwungen ist, Treppen zu steigen, so sind das doch nur sehr ge¬
ringe Uebelstände im Vergleich zu der Bequemlichkeit, beinahe bis unmittelbar
vor seine Wohnung per Eisenbahn gebracht zu werden; Uebelstände, die sich
schlechterdings nicht, oder doch nur äußerst schwer vermeiden lassen.
Aus diesem Bestreben sind alle jene Verbindungen der großen von den.
Provinzen nach London führenden Bahnen mit den verschiedenen über und
unter der Erde liegenden Stadtbahnen entstanden; und ebenso durch Ver¬
mittlung dieser die Verbindungen der verschiedenen Hauptbahnen unter sich.
Wenn man von Liverpool nach London fährt, hat man die Wahl entweder
in einer der Endstationen der verschiedenen von dort nach hier führenden
Eisenbahnen auszusteigen, oder sich nach irgend einer Station der unter¬
irdischen Eisenbahn fahren zu lassen, man kann aber ebensogut auch nach
den Hauptstationen der nach Süden führenden Bahnen gelangen, so^daß man
unter Zuhülfenahme dieser gleich weiter reisen kann; und alles das wird
durch möglichst directe Bahnen ohne Umwege erreicht. Dasselbe was ich
hier beispielsweise von der Richtung von Liverpool erwähne, gilt auch von
andern Hauptbahnen. Sie fahren z. B. aus der schon mehrmals erwähnten
Mctoriastation Züge nach Südosten, Süden, Südwesten, Westen und Nord¬
westen ab und zwar die nach den 2 letzten Himmelsgegenden unter zehnmaliger
Überschreitung der Themse. Es ist eben in London jede Verbindung, jede
nur irgend mögliche Verkehrserleichterung angestrebt und erreicht worden,
mochte dieselbe noch so große Summen verschlingen, und die Kosten sind auch
durch die dadurch erzielte vermehrte Einnahme gerechtfertigt.
Es ist wohl einleuchtend, daß dadurch ein überaus weit verzweigtes, sehr
verwickeltes Eisenbahnnetz entstanden ist, welches die Riesenstadt durchschneidet
und wenn man bedenkt, daß dabei die sämtlichen städtischen Straßen über
oder unter den Bahnen weggeführt sind, daß nur eine einzige Kreuzung
.zweier Bahnen in demselben Niveau vorkommt, sonst aber auch alle Bahnen
an ihren Kreuzungsstellen in so verschiedener Höhenlage liegen, daß genug
Durchgangshöhe für die Züge der untern, unter der obern Bahn übrig bleibt,
so kann wohl auch der Nichttechniker sich eine Vorstellung der großartigen
Bauten machen, die dadurch entstanden sind; jener meilenlangen Viadukte und
Tunnel, auf und in denen sich die verschiedensten Verkehrswege unter den
spitzesten Winkeln schneiden.
Dicht vor der Charingcroßstation überschreitet die Charingeroß Linie
der South Eastern Bahn die Themse. Am linken Ufer des Stromes liegt
das Themsenbankment, welches natürlich ebenfalls überbrückt werden muß und
unter diesem liegt die unterirdische Eisenbahn. Hier liegen also 4 Verkehrs¬
wege in verschiedenen Höhen bei einander, jeder mit dem speziell für ihn be¬
stimmten Communicationsmittel, die beiden Bahnen und der Fluß mit Stationen,
resp. Landungsbrücken ausgerüstet, und alle diese haben untereinander durch
Tveppenanlagen directe Verbindung. Diese complicirte Kreuzungsstelle ist üb¬
rigens nicht die einzige ihrer Art, sondern häufig wiederholen sich derartige
Anordnungen.
Die Spezialkarte von London und der nächsten ländlichen Umgebung,
bis in die Gegend von Richmond und Sydenham — die schon um deßwillen
hier mit eingeschlossen werden muß, weil ein sehr großer, wenn nicht der
größte Theil der Einwohner dieser ländlichen Districte in London selbst seinen
Geschäften nachgeht, — weist eine Gesammtbahnlänge von rund 160 eng
lischen also ungefähr 34 deutschen Meilen auf, an denen sich 185 Personen
Stationen befinden. Allein in den letzten 12 —15 Jahren sind gegen 90 eng
lische Meilen Eisenbahnen entstanden.
Von diesen Bahnen befinden sich etwa 9 deutsche Meilen auf Maducten
und zwar tragen diese überall mindestens 2, sehr häufig aber mehr, ja sogar
bis zu 7 Gleisen.
Das Schlußglied des ganzen Londoner Eisenbahnnetzes ist durch die Me¬
tropolitan- und Metropolitandistriet-Bahn gebildet worden, die meistens unter¬
irdisch, d. h. unter dem Niveau der Straßen in Tunneln oder offenen Ein¬
schnitten geführt sind. Obgleich diese 2 Bahnen zwei verschiedenen Gesellschaf¬
ten gehören, werden sie doch gemeinschaftlich verwaltet und da sie auch ein
zusammenhängendes Ganze bilden, werden sie vom Volke schlechtweg die „Me¬
tropolitan"- oder „Underground Railway" genannt. Diese zusammenhängende
Bahn nun geht von dem nördlichen Theil der City bei Moorgate Street aus,
umfaßt in weitem Bogen den anschließenden Theil der City und das Westend
mit seinen großen Parks, führt durch Westmünster dicht an der Abtei und
dem Parlamentshaus vorbei und kehrt dann unter der Uferstraße am Themse
embankment wieder zum südlichen Theil der City, nach Mansion House, der
Bürgermeisterswohnung, zurück. Außer dieser Hauptlinie, deren beide End¬
stationen nur englische Meile von einander entfernt sind, führen noch
mehrere Nebenlinien theils als Streckbahnen nach entlegenern Stadttheilen,
theils umfassen sie wieder als geschlossener Ring weiter abliegende Stadtgegen-
den. Diese Bahn liegt überall da, wo es irgend möglich war, unter den städ¬
tischen Straßen, schneidet aber auch häusig durch bebaute Häuserviertel durch,
und wenn auch beim Bau die betreffenden Häuser mit sehr wenigen Aus-
nahmen abgebrochen wurden, um gegen alle Unglücksfälle möglichst gesichert
zu sein, so sind doch jetzt beinahe überall wieder Häuser über dem Tunnel¬
gewölbe der Bahn oder auf deren Eisenconstructionen errichtet worden.
Die Bahn folgt in ihrer Richtung den schon früher vorhandenen großen
Stationen der nach den Provinzen fahrenden Eisenbahnen und überall befinden
sich in unmittelbarster Nähe dieser Stationen kleine Localstationen, sodaß man
höchstens eine Straße zu überschreiten braucht, um von einer Station in die
andere zu gelangen; manchmal aber sogar nur durch Vermittlung von Treppen
von dem niedriger gelegenen Perron der Localbahn auf den höhergelegenen
Perron der Hauptbahn gelangen kann.
Gegenwärtig ist eine Verlängerung der Bahn von Moorgate Street
Station nach der Great Eastern Eisenbahn im Bau begriffen, welches Ver¬
bindungsglied auch wieder unterirdisch geführt wird. So wird dann auch
im Innersten von London eine Verbindung mit den nach Osten führenden
Bahnen hergestellt sein, während jetzt schon an fünf verschiedenen Stationen
Verbindungsbahnen von der Metropolitan Eisenbahn nach den nördlichen,
westlichen und südlichen Bahnen abzweigen.
Da außerdem die. East London Eisenbahn, welche unterhalb des Tower
die Themse durch den weltberühmten Brünet'schen Themsetunnel unterfährt
und weiter hin auf dem rechten Themseuser mit den Local- und Hauptbahnen
in directer Verbindung steht, auch auf dem linken Themseufer ihre Linie
weiter fortführt, zur Verbindung mit der vorhin genannten Great Eastern
Eisenbahn, so wird nach Vollendung dieser, ebenfalls überall unterirdischen
Eisenbahn, das Eisenbahnnetz der englischen Metropole in einer Weise ver¬
vollständigt sein, daß es dann allen Verkehrsanforderungen in umfassendster
Weise genügen kann. Denn dann sind die Localbcchnen der zwei, durch die
Themse getrennten Stadttheile an drei Punkten, im Westen im Mittelpunkte
und im Osten der Stadt in directe Schienenverbindung gebracht, sodaß man
dann auch von jeder beliebigen Stelle direct bis in die City gelangen kann.
Die City, in deren Innern sich jetzt schon 12 Personenstationen befinden
wird dann deren 13 erhalten, aber sicherlich wird diese Unglückszahl weder
der Stadt.noch den Eisenbahngesellschaften Unheil bringen, selbst wenn sie
nicht bald einer größeren Zahl Platz machen müßte.
Die erwähnte Verlängerung der East London Eisenbahn ist auch um
deßwillen besonders interessant, weil sich ihr enorme Schwierigkeiten entgegen¬
stellen. Denn wenn sie auch durch die ärmsten Stadttheile führt, so sind die¬
selben doch gerade auch die am dichtesten bevölkerten und außerdem muß die
Bahn die Londondocks untertunneln, wie sie schon die Themse untertunnelt hat.
Es war ein glücklicher Gedanke, eine besondere in zwanglosen Heften
erscheinende Zeitschrift*) zu gründen, die ein Verständniß der neuen synodalen
Verfassung, welche die evangelische Kirche Preußens empfangen hat, zu ver¬
mitteln sucht. Es ist ebenso erfreulich, daß zu diesem Zwecke sich zwei Männer
verbunden haben, welche den Berufsweisen angehören, die vorläufig den grö߬
ten Einfluß auf den Ausbau der Verfassung ausüben werden, der juristischen
und theologischen, und ebenso, daß beide Männer der Partei sich zuzählen,
welche wir allein fähig halten, die Auflösung unserer Landeskirche zu ver¬
hüten, der conservativen Mittelpartei. Bis jetzt sind zwei Hefte erschienen, mit
deren Gehalt wir unsre Leser in diesen Zeilen bekannt machen wollen.
Professor Dr. von der Goltz, der theologische Redacteur, eröffnet die
„Synodalfragen" mit einem einleitenden Aufsatz „Befürchtungen und Hoff¬
nungen." Wir können zu demselben nur unsre volle und ungetheilte Zu¬
stimmung aussprechen. Er zeichnet zuvörderst die kritische Situation der
Gegenwart, welcher die schwere Aufgabe zugefallen ist, die Verfassungsfrage
der evangelischen Kirche zu lösen. In der Spannung der kirchlichen Parteien
erkennt er das größte Hinderniß, in der organisatorischen Begabung, welche
unser Volk jetzt so glänzend entwickelt hat, die wesentlichste Förderung, in
den immer unerträglicher werdenden Zuständen endlich die dringendste Nöthig¬
ung, die evangelische Kirche in den wirklichen Besitz der ihr verheißenen und
nun durch königlichen Erlaß verbürgten Verfassung zu bringen.
Auf die in der kirchlichen Gegenwart liegenden Nöthigungen richtet der
Verfasser zuerst den Blick. Er findet sie in der veränderten Stellung des
Landesherrn zur evangelischen Kirche, welche sowohl der paritätische Charakter
des Staats als die constitutionelle Regierungsform desselben bedingt hat.
In Folge dessen ist die kirchliche Thätigkeit des Landesherrn auch ununterbrochen
durch politische Erwägungen gelähmt und der energischen Initiative beraubt,
deren sie durchaus bedarf. Und es kann daher auch nicht auffallen, daß
sich die kirchlichen Organe des Landesherrn nur eine geringe moralische Auto¬
rität erworben haben. Ihnen fehlt die Basis, der innere Halt zu kraftvollem
Wirken. Muth und Freudigkeit zu demselben kann ihnen erst erwachsen, wenn
sie nicht bloß formell, sondern auch materiell sich als Vertreter der Kirche
fühlen, wenn es ihnen gewiß geworden ist, daß die Gemeinden ihr Thun
billigen. Haben die kirchlichen Organe einen solchen Stützpunkt gefunden, so
wird auch die landesherrliche Gewalt, eingeschränkt in rechtlich geordnete
Grenzen, als Ehrenamt in die Verfassung der evangelischen Kirche aufgenom¬
men, sich segensreich für dieselbe erweisen.
Es wird sodann die Frage aufgeworfen, unter welchen Voraussetzungen
ein Erfolg der zum Verfassungsbau berufenen Versammlungen zu erwarten
ist. Es ist in erster Linie die außerordentliche General-Synode, an welche
hier der Verfasser denkt. Er richtet an sie die zwiefache Forderung, einmal
die prinzipiellen Fragen bei Seite zu lassen und sich auf die formellen Fragen
der kirchlichen Organisation zu beschränken, sodann soviel Freiheit der Be¬
wegung als die Einheit der Landeskirche gestattet, den Provinzialkirchen
zu gewähren. Inwieweit der Herr Verfasser den bekannten Vorschlägen
Fabris hier folgt, läßt sich nicht erkennen. Darin stimmen wir mit ihm'
überein, daß die einzelnen Provinzen besondre eigenthümliche kirchliche Typen
vertreten, und daß es nicht angeht,, durch gewaltsames Nivellirer etwa
der rheinischen und pommerschen Provinzialkirche einen gleichen Charakter zu
verleihen.
Und welchen Gewinn wird die synodale Verfassung der evangelischen
Kirche bringen? Sehen wir ab von der moralischen Autorität der kirchlichen
Behörden, auf welche schon vorhin gewiesen wurde, so sucht ihn der Verfasser
mit Recht einmal in dem Ansehen, welches die Kirche im Volksbewußtsein
erlangen wird, sodann in der Milderung der Parteigegensätze durch Hin¬
lenkung auf gemeinsame praktische Arbeit. Beide Hoffnungen scheinen uns
begründet. Eine Gemeinschaft, deren Interessen Vertreter der verschiedensten
Stände und Berufsweisen wahrnehmen, muß dem Volke werthvoll werden.
Und gemeinsame Arbeit auf praktischem Gebiet in rechtlich geordneten Formen
wird wenigstens unter den Parteien einen woäus vivenäi herstellen, der ihnen
jetzt fehlt, und auch vielleicht die einen lehren, daß sie darauf verzichten müssen,
theologischen Differenzen den Werth eines religiösen Dissensus zu geben,
die andern, daß es mindestens taktlos ist, Gegenstände des kirchlichen Be¬
kenntnisses in öffentlichen Versammlungen anzutasten. Unsere kirchlichen Ver¬
hältnisse werden nur dann befriedigend werden, wenn es mehr als bis jetzt
gelingt, die Wahrheiten des christlichen Glaubens für das allgemeine kirchliche
Bewußtsein von den Lehrsätzen der Theologie zu sondern.
Beabsichtigt der Aufsatz des Professor Dr. v. d. Goltz, von allgemeineren
Erwägungen ausgehend, Werth und Bedeutung der Synodalverfassung für
die evangelische Kirche Preußens unter den gegenwärtigen Verhältnissen darzu¬
legen, so stellt sich die Zeichnung des Entwickelungsganges deutsch-evangelischer
Kirchenverfassung von Prof. Dr. Beyschlag die Aufgabe, uns mit den
Versuchen und Vorarbeiten, welche der nun in das Leben getretenen Ver¬
fassung vorangegangen sind und ihr den Weg gebahnt haben, bekannt zu
machen. Das 18. Jahrhundert war die Blüthezeit territorialistischer Kirchen¬
politik, ihre reife Frucht wurde in Preußen im Anfange des 19. Jahrhunderts
gezeitigt, als die kirchlichen Behörden aufgehoben und ihre Funktionen den
Regierungen und dem Ministerium übertragen wurden. Vergeblich klagte das
sterbende lutherische Oberconsistorium, „daß die Religionssache nicht gewinnen
werde, wenn dieselbe zwischen die Polizei und das Kassenwesen eingeschoben
und die Kirche nebst der Schule unter der Kategorie von Bildungsanstalten
selbst mit dem Theater in Berührung gesetzt werde." Doch läßt sich nicht
leugnen, daß zu diesem Gewaltakt auch der finanzielle Nothstand des Preu¬
ßischen Staats mitwirkte und daß der König einen Neubau der Kirche ernst¬
lich in das Auge faßte. Die Vorschläge, welche Schleiermacher in dieser Hin¬
sicht damals machte, haben wir in diesen Blättern früher eingehend beleuchtet/)
In der That folgten bald Anfänge einer neuen kirchlichen Organisation'
am 2. Januar 1817 wurde die Einführung von Presbyterien, aus Laien
und Geistlichen bestehend, Vertretern der Lokalgemeinden, und Synoden,
nur aus Geistlichen zusammengesetzt, aber in Kreis-, Provinzial- und Gene¬
ralsynoden sich gliedernd, angeordnet. Aber zur Berufung einer General¬
synode kam es nicht, die Resultate der provinzialen Pfarrer-Synoden,
deren radikaler Doctrinarismus die sofortige Beseitigung des landesherrlichen
Kirchenregiments gefordert hatte, schreckten ab, der König selbst freilich dachte
noch 1822 an eine aus Laien und Geistlichen zusammengesetzte Synode, aber
das Ministerium förderte diesen Gedanken nicht. Auch im übrigen Deutsch¬
land wurden Hoffnung weckende Ansätze nicht weiter entwickelt, nur in der
Pfalz und in Baden wurden, wenn auch vielfach in ihren Competenzen ge¬
hemmt und beschränkt, synodale Institute, als in sich vollendete, in General¬
oder Landessynoden sich abschließende Ganze gebildet. Auf preußischem Gebiet
gewann die synodale Verfassung nur in Rheinland und Westfalen eine ge¬
reifte Gestalt. Beyschlag rühmt ihr, und gewiß mit Recht, nach, daß sie
nicht nur alles, was ihr seit 1817 Aehnliches vorangegangen, an innerer
Wahrheit und freier Lebenskraft weit übertroffen, sondern auch dem Besten,
was seitdem in diesem Gebiete geschaffen worden, als anerkanntes Vorbild
gedient habe. Daß auf preußischem Gebiet in einer freiheitlichen Entwicklungen
so wenig geneigten Zeit die Synodalverfassung sich gestalten konnte, hatte
besondre Ursachen, einmal die historische Basis im Herzogthum Cleve, sodann
die geschickte Vermittlung des Bischofs Roß, welcher die Annahme der neuen
Agende als Gegengabe in Aussicht stellte. So erhielt 183S Rheinland und
Westfalen die synodale Verfassung. Ihre Stärke ist die Organisation der
Gemeindevertretung, des Presbyteriums; die Unterscheidung zwischen Zuge¬
hörigkeit zur Parochie und zur Gemeinde, die Bedingtheit der letzteren von
kirchlichen Qualitäten schützt vor dem Mißbrauch der wichtigen Gewalten,
welche in die Hände der Gemeindevertretung gelegt sind, der freien Pfarr¬
wahl, der Selbstbesteuerung, der Kirchenzucht. Weniger befriedigend ist die
Organisation der kirchlichen Vertretung auf den höheren Stufen. Auf den
Provinzialsynoden besitzt das Laienelement nur ein Drittheil der Stimmen.
Die Befugnisse der Provinzialsynode auf der einen, des Consistoriums
und der Regierung, welche die kirchlichen Externa verwalten sollten, auf der an¬
dern Seite waren nicht klar gegen einander abgegrenzt. Die wichtigsten Be¬
schlüsse der Provinzialsynode mußten unausgeführt bleiben, die ursprünglich
zugestandne freie Pfarrwahl wurde auf einen engen Umfang beschränkt. Auch
Friedrich Wilhelm IV. dieser fromme, für die evangelische Kirche so warm
fühlende Fürst hat nur wenige Schritte gethan, welche ihre Verfassung för¬
derten. Er stand, wie bekannt, prinzipiell auf einem andern Standpunkte.
Die bischöfliche Verfassung der alten Kirche war sein Ideal. So konnte es
geschehen, daß Versammlungen von kirchlichen Notablen, deren Resultate
ignorirt wurden, ein Oberkirchenrath, der in der Luft schwebte, und Gemeindc-
kirchenräthe ohne Wurzeln und ohne Rechte in der Gemeinde die einzigen
Früchte waren, welche der evangelischen Kirche die Regierung eines Fürsten
trug, aus dessen Hand sie die Urkunde der Freiheit hoffte nehmen zu können.
Indessen hat die synodale Verfassung in den deutschen Ländern immer mehr
Eingang gefunden, ihre innere Nothwendigkeit hat sich mit einer solchen Macht
aufgedrängt, daß die Abneigung gegen sie ihre Einführung nicht zu hindern
vermochte. Freilich ist die Gestalt, welche diese Verfassung gewonnen hat,
häufig noch eine sehr mangelhafte. Bald fehlen oder sind zu sehr abgeschwächt
die kirchlichen Qualifikationen, bald gehen die Gemeindevertretungen nicht frei
aus der Gemeinde, bald die höheren synodalen Stufen nicht aus der niederen
hervor, bald endlich sind die Competenzen der kirchlichen Vertretungen zumal
dem Landesherrn gegenüber zu gering abgemessen. Am befriedigendsten haben
sich die Verfassungen der evangelischen Kirche in Hannover, Oesterreich und
Würtemberg gestaltet.
Eine Ergänzung dieses Aussatzes von Dr. Beyschlag bildet die Darlegung der
Stellung der rheinischen und westfälischen Provinzialkirche zur Organisation
der preußischen Landeskirche von Prof. Dr. W. Kr äfft, insofern auch sie
einen historischen Rückblick enthält und zwar auf die Kämpfe der Provinzial-
ktrchen Rheinlands und Westfalens zur volleren Ausgestaltung der synodalen
Verfassung. Daß diese Kämpfe nur einen sehr geringen Erfolg hatten, wissen
wir. und es kann nicht unsere Aufgabe sein, die einzelnen Stadien derselben
aufzuweisen. Wir kennen auch die Ursache dieser geringen Erfolge. Jede
Fortbildung der synodalen Verfassung in Rheinland und Westfalen war eine
Nöthigung mehr, wenn nicht die evangelische Landeskirche die Einheit völlig
verlieren sollte, auch den Kirchen der östlichen Provinzen das Recht der Selbst¬
regierung zu geben. Dazu war aber keine Neigung vorhanden. Friedrich
Wilhelm IV. duldete mit innerem Widerstreben die synodale Organisation in
den westlichen Provinzen. Er sah in ihr das Product des modernen Geistes,
eine Uebertragung des politischen Constitutionalismus auf das kirchliche Le¬
ben. Das repräsentative Element war ihm antipathisch. Diese weite Kluft,
welche den König von den Grundgedanken der synodalen Verfassung trennte,
wurde besonders sichtbar, als 1851 die Revision der Verfassung von 1835,
wie sie von der westfälischen und rheinischen Provinzialsynode vollzogen war,
dem Könige zur Sanktion vorgelegt wurde. Nachdem auf seinen Befehl alle
Bestandtheile der revidirten Verfassung, welche dem bisherigen Bestände des
landeskirchlichen Regiments und der übrigen landesherrlichen Rechte entgegen
träten, beseitigt waren, gestattete er durch die Cabinetsordre vom 13. Juni
1853, daß das Revisionswerk ins Leben trete, verweigerte ihm aber die Sank¬
tion. Er lehnte jede Gemeinschaft mit demselben ab und sprach deutlich und
bestimmt die Gründe aus, die ihn dabei leiteten. Das gerechte, zum Theil
schon gewährte Streben nach Emancipation vom Staate und nach festerer
Gestaltung habe etwas krankhaft Erregtes. Der Versuch, durch Verfassungen
der evangelischen Kirche zu helfen, sei falsch und verderblich. Verfassungen
könnten nur dann unschädlich sein, wenn sie der Ausdruck bereits vorhandener,
begründeter und ausgebildeter Zustände wären. In der Verfassung sieht er
den Versuch, die göttliche Schöpfung der Kirche durch Menschenwerk und
Constitutionen zu stützen. Er verweist auf die apostolischen Anordnungen für
die äußere Gestalt der Kirche, erkennt in dem Gehorsam gegen dieselben die
Bollendung der Reformation. Die rechten Hände, in welche er die Kirchen¬
gewalt niederlegen will, sind ihm apostolisch gestaltete Kirchen, geringen über¬
sichtlichen Umfangs, in deren jeder das Leben, die Ordnungen, die Aemter
der allgemeinen Kirche des Herrn auf Erden wie in einer kleinen Welt und
für dieselbe thätig sind.
Der Oberkirchenrath konnte nicht unterlassen, dem König vorzustellen,
daß jene Anschauungen von dem Wesen apostolischer Kirchenverfassung in dem
dermaligen geschichtlich gewordenen Bewußtsein der evangelischen Kirche keine
entsprechenden Anknüpfungspunkte finden, und daß, davon auszugehen,
nicht innerhalb der Sphäre des auf bestimmten und geschichtlichen Voraussetz¬
ungen ruhenden Amtes landesherrlicher Kirchenregierung liege. Fortschritte
in dem Ausbau der synodalen Verfassung aus den späteren Jahren fanden
nicht statt, die Provinzialsynoden wurden beharrlich auf das Warten ver¬
wiesen. Und die Geduldsprobe, die man ihnen zumuthete, war nicht gering.
Auf die Anträge der Provinzialsynoden von 1862 wurde die ablehnende Ant¬
wort mitgetheilt, der rheinischen am 30. Dezember 1864, der westfälischen
am 1. Juli 1865.
Wenden wir uns nun zu den Aufsätzen, welche der neuen Gemeinde und
Synodalordnung für die evangelische Kirche der sechs östlichen Provinzen gel¬
ten. Eine allgemeine Charakteristik derselben giebt die Abhandlung von Dr.
Beyschlag, welche das zweite Heft eröffnet. Sie sucht diese Aufgabe durch
eine stete Parallelisirung der neuen Ordnung mit der rheinisch - westfälischen
zu lösen. Diese Vergleichung fällt durchgehend zu Gunsten der neuen Syno¬
dalordnung aus, welche ihre ältere Schwester durch technische Vorzüge, beson¬
ders aber durch ein höheres Maß von Weitherzigkeit, durch eine die Schärfe
prinzipieller Konsequenzen mildernde Billigkeit, endlich durch Mehrung der
Competenzen, welche den synodalen Körpern zuerkannt sind, namhaft über¬
trifft. Der Verfasser geht die einzelnen Bestimmungen beider Verfassungen
durch und stellt so anschaulich die Vorzüge der neuen Verfassung dar.
Vergegenwärtigen wir uns die wichtigsten derselben! Was zuerst das
Presbyterium betrifft, so rechnen wir dahin die Verpflichtung des Kirchenvor¬
stands, der Gemeinde über seine Verwaltung Mittheilung zu machen, die Ver¬
pflichtung des Geistlichen, auf Verlangen von mindestens der Hälfte der
Mitglieder eine außerordentliche Sitzung anzuberaumen, die Stimmenthal¬
tung persönlich beteiligter Mitglieder. Was die Bildung des Presbyteriums
anlangt, so heben wir hervor, daß das aktive Wahlrecht durch ordnungs¬
mäßige Anmeldung bedingt ist. Diese Bestimmung ist deshalb so werthvoll,
weil sie die Entstehung einer wirklichen kirchlichen Gemeinde begünstigt.
Wir billigen es auch mit dem Herrn Verfasser, daß während die rheinisch¬
westfälische Ordnung nur die Repräsentation, die weitere Gemeindevertretung,
unmittelbar aus der Gemeinde, das Presbyterium aber aus der Repräsentation
hervorgehen läßt, die neue Synodalordnung beide, Repräsentation und Pres¬
byterium, unmittelbarer Gemeindewahl überläßt. Es ist dies allerdings ein
Widerspruch gegen das sonst allgemein befolgte Prinzip, jede niedere
Stufe als Basis der höheren anzusehen. Aber die Ausnahme er¬
scheint berechtigt, insofern die Repräsentation nur nach Bedürfniß zusam-
mentritt, also nicht ein so stetiges Organ wie das Presbyterium bildet.
Das letztere ist die bleibende und leitende Vertretung der Gemeinde,
der Ausgangspunkt der synodalen Ordnungen und muß eben deshalb
aus unmittelbarer Gemeindewahl entstehen. Es ist ferner als ein Vorzug
anzusehen, daß die neue Ordnung die Kreissynode nicht nur aus gegenwär¬
tigen, sondern auch aus früheren Mitgliedern der Presbyterien sich zusammen¬
setzen läßt, ja auch aus Mitgliedern der Repräsentation; daß sie der Zahl
der Pfarrer an einer Gemeinde die Zahl der Aeltesten gleichsetzt, endlich daß
sie mögliche Zufälligkeiten, welche das mit Recht angenommene Prinzip der
Continuität der synodalen Stufen hervorbringen könnte, dadurch ausgleicht,
daß sie Gemeinden von mehr als 4000 Seelen oder falls solche fehlen, den
vier größten Gemeinden des Kreises die Wahl eines dem Synodalkreise An¬
gehörigen Mannes, welcher bis dahin nicht in einer Gemeinde-Vertretung
thätig gewesen ist, zugesteht. Den Werth, welchen sie gleichmäßiger Geltung
der Laien und Geistlichen zuerkennt, beweist sie schließlich durch die Bildung
des Synodalvorstandes aus dem Superintendenten und vier Synodalen, von
denen nur einer ein Geistlicher sein muß. Wir wenden uns zur Provinzial-
synode. Daß die neue Ordnung, darin abweichend von der rheinisch-west¬
fälischen, dem Landesherrn das Recht gewährt, Mitglieder bis zum Sechstel
der Erwählten zu ernennen, billigen wir, auch hierin mit dem Verfasser in
Uebereinstimmung, weil sich darin das zu bewahrende innerkirchliche Regiment
des Landesherrn darstellt, und weil die gegenwärtige Spannung der Parteien
es wünschenswert!) macht, dem Landesherrn die Möglichkeit einer vermittelnden
Einwirkung zu gewähren. Eine Beschränkung der zu ernennenden Mitglieder
für spätere ruhigere Zeiten ist gewiß in Aussicht zu nehmen, der Vorschlag
des Verfassers dagegen, die landesherrliche Ernennung durch Ertheilung des
Stimmrechts an ein allerdings unter Mitwirkung der Synode entstandnes
Konsistorium zu ersetzen, erscheint uns insofern bedenklich, als die Ausführung
desselben eine doch keineswegs wünschenswerthe Cumulation einflußreichster
kirchenregimentlicher Functionen in einer Person herbeiführen würde. Die
Bildung der Provinzialsynode folgt mit den nothwendigen Modifikationen
denselben Grundsätzen, welche wir bei der Bildung der Kreissynode kennen
gelernt haben. Sehr bedeutend und weit über die Bestimmungen der rheinisch¬
westfälischen Ordnung hinausgehend sind die Competenzen, welche die Syno¬
dalordnung für die östlichen Provinzen ihr beilegt. Kirchliche Gesetze, deren
Geltung sich auf die Provinz beschränken soll, dürfen ohne Zustimmung der
Provinzialsynode nicht erlassen werden. Der ständige Synodalvorstand, gleich¬
mäßig aus Geistlichen und Laien bestehend, wird bei Besetzung kirchenregi¬
mentlicher Aemter und bei Erledigung disciplinarischer Angelegenheiten hinzu
gezogen.
In Bezug auf den Abschluß der synodalen Verfassung, welchen die neue
Ordnung noch nicht giebt, welcher vielmehr aus dem Zusammenwirken der
außerordentlichen General-Synode und des Kirchenregiments hervorgehen soll,
stellt der Herr Verfasser zwei Forderungen, die wir uns im Wesentlichen
aneignen können, einmal, daß die oberste kirchliche Behörde unter der Mit¬
wirkung der landeskirchlichen Gesammtvertretung gebildet werde, sodann daß
dieser letzteren nicht die wichtigsten Rechte zu Gunsten der kirchlichen Provin-
zialvertretungen entzogen werden. Wer der evangelischen Landeskirche einen
tief greifenden Einfluß im Staatsleben schaffen will, muß dem Herrn Ver¬
fasser beistimmen. Es ist vollkommen richtig, was Dr. Beyschlag sagt: „der
bloße vielstimmige Chor provinzieller Vertretungen würde im Centrum des
Staates um so wirkungsloser verhallen, je leichter die nicht ausbleibende
Dissonanz derselben den Rechtstitel dafür abgeben würde, jede einzelne unbe¬
achtet zu lassen." Wir werden Gelegenheit finden, diese Frage noch einmal
in das Auge zu fassen, und enthalten uns deshalb vorläufig weiterer Aus¬
führungen. (Fortsetzung folgt).
In Erwartung der Umgehung des äußersten rechten Flügels der Fran¬
zosen durch einen Theil des sächsischen Armee-Corps war bei der II. Armee
gegen die fünfte Nachmittagsstunde eine Gefechtspause eingetreten.^) Um
5. Uhr etwa bemerkte man nun beim Generalkommando, welches südlich von
Se. All hielt, daß sich französische Truppen von Roncourt auf Se. Privat
zu bewegten, und da man gleichzeitig jenseits Ste. Marie eine lange deutsche
Artillerielinie entwickelt sah, so erachtete man das Eingreifen der sächsischen
Umgehungscolonne als unmittelbar bevorstehend. Prinz August von Würt¬
temberg glaubte daher den Angriff des Garde-Corps nicht länger verschieben
zu dürfen, wenn bei der vorgerückten Tageszeit überhaupt noch eine Ent¬
scheidung erfochten werden sollte, und daher erging, nach eingeholter Zustim¬
mung des Oberbefehlshabers, an beide Divisionskommandeurs der Befehl zum
Angriff der feindlichen Stellungen.
Das hiernach erfolgende Vorgehn größerer Infanterie-Massen des Garde-
Corps von Se. An auf Se. Privat, wurde nun aber auch sofort der Anlaß
für die Wiederaufnahme des Kampfes seitens des 9. Armee-Corps, und
diese zuerst zu schildern, macht der lokale Zusammenhang der Ereignisse
wünschenswert!).
Als General v. Manstein das erwähnte Vorgehn der Garde-Infanterie
bemerkte, befahl er sofort der dem 9. Corps überwiesenen 3. Garde-Jnsanterie-
Brigade*), welche südöstlich von Habonville in Bereitschaft stand, gegen
Amanvillers vorzustoßen. Zur Deckung der linken Flanke sollten auf dem
Eisenbahndamme drei hessische Bataillone vorrücken.
Die Angriffsrichtung führte auf Mitte und rechten Flügel des 4. fran¬
zösischen Corps, und das zu durchschreitende sanft ansteigende Feld lag im
wirksamsten Feuer dichter Tirailleurschwärme, denen zumal der tiefe Einschnitt
der im Bau begriffenen Eisenbahn gute Deckungen bot. Amanvillers war
bisher von deutscher Artillerie noch nicht beschossen worden.
Die 3. Garde-Infanterie-Brigade ging derart vor, daß die Garde-
schützen durch das Bois de la Cusse schritten. Ihr Ziel waren die Vorhöhen
bei Amanvillers. Dies Dorf selbst war Angriffsgegenstand zweier Bataillone
des Regimentes Kaiser Alexander**), welche südöstlich des Gehölzes anrücken
sollten. Das Regiment Königin Elisabeth hatte vorläufig im Bois de la
Cusse zu verbleiben.
Die Garde-Schützen unter Major v. Fabeck eilten mit wunderbarer
Kühnheit vor. Aber der mörderische Kugelregen war so furchtbar, daß sechs-
bis fünfhundert Schritte vor den französischen Stellungen die Kraft des Vor¬
stoßes erlahmte und das in langer Schützenlinie ausgedehnte Bataillon zu
stehendem Feuergefechte überging. Wie entsetzlich das Feuer war, in dem es
aushielt, beweist am besten der Umstand, daß es seine sämmtlichen Offi¬
ziere verlor und zuletzt ein Fähnrich das Kommando über die noch kampf¬
fähige Mannschaft führte.
In das Gefecht der Garde-Schützen griff auf deren rechtem Flügel das
Füsilier-Bataillon Alexander ein. In gleicher Höhe, doch weiter nach Süden
nistete sich das 2. Bataillon in einer Wiesenmulde ein, da starke Infanterie-
Abtheilungen der Division Grenier weiteres Vorgehn nicht gestatteten. Auch
das Alexander-Regiment erlitt schwere Verluste. Major v. Schön wurde
tödtlich verwundet; die 12. Kompagnie mußte von einem Sergeanten geführt
werden. Dem Brigadekommandeur, Oberst v. Knappstaedt, wurde die Hand
zerschmettert; Oberst v. Zeuner übernahm das Kommando. Er führte, um
die große Lücke zwischen den beiden Truppen des Alexander-Regiments aus-
zufüllen, sechs Kompagnien des Regiments Elisabeth ") vor; aber so ent¬
schlossen und schnell ihr Anrücken auch war: es brachte ebenfalls argen Verlust.
Die Grenadier-Compagnien verloren fast alle ihre Offiziere.
Die nun zusammenhangende Gefechtslinie der 3. Garde-Jnfanterie-Bri-
gade wurde zwar auf beiden Seiten von gegnerischen Abtheilungen flankirt;
aber diese exponirte Lage gewährte doch den Vortheil, daß sie nahe genug
am Feinde war, um das Zündnadelgewehr zur Wirkung kommen zu lassen.
Jeder Angriff, auch der von Reiterei, wurde abgewiesen; Fortschritte aber
konnten allerdings nicht gemacht werden, und um 7 Uhr kam das Gefecht
hier zum Stehn.
Zur Linken der Garde-Brigade war indessen General v. Wittich mit vier
hessischen Bataillonen vorgegangen, und diese suchten mit rühmlichster Hin¬
gebung durch Einwirkung auf die rechte Flanke des Feindes das Vorgehn
der Preußen zu erleichtern. Major Hahn und Oberstlieutenant Stamm be¬
zahlten dies Unternehmen mit dem Leben; aber alle Versuche scheiterten an
dem Feuer des Gegners, das auf dem sanft nach Westen abfallenden freiem
Höhenhange wahrhaft vernichtend wirkte. Das Vorschieben des linken Flügels
der Infanterie des 9. Corps wurde von der Artillerie sofort benutzt, um zum
Theil in bessere Positionen vorzugehn. — Der rechte Flügel des 9. Corps,
der am Nordrande des Bois des Genivaux stand, vermochte keine Fortschritte
zu erzielen. Die wiederholt mit großer Entschlossenheit unternommenen Ver¬
suche scheiterten immer an der feindlichen Position von la Folie, namentlich
an dem vor dieser Ferne gelegenen kleinen Waldstück, welches endlich gegen
7 Uhr von der Artillerie des 3. Armee-Corps unter ein furchtbares Feuer
genommen wurde. — Für die Infanterie kam um jene Stunde aber auch
hier auf dem rechten Flügel des 9. Corps das Gefecht zum Stehn.
Fassen wir nun den Angriff des Garde-Corps ins Auge!
Um 6'/, Uhr führte General v. Budritzki die 4. Garde-Infanterie-
Brigade in zwei Treffen mit vorgezogenen Schützenlinien von Se. An aus
gegen den Ostrand von Se. Privat: links die Kaiser-Franz-Grenadiere, rechts
das Regiment Königin. — Die Bodenverhältnisse waren hier sehr ähnlich
denen, welche für die 3. Garde-Jnfanterie-Brigade auf dem linken Flügel des
9. Corps so verhängnißvoll geworden war. Schon während ihrer Entwicklung
bei Se. An sah sich die 4. Garde-Brigade von einem Hagel von Geschossen
überschüttet, welcher mit jedem Schritt vorwärts verheerender ward und da¬
durch noch besonders gesteigert wurde, daß die Chassepotkugeln von dem harten
ausgedörrten Boden abprallten und also auch dann noch trafen, wenn sie
zuerst gefehlt. — Das Franz-Regiment war kaum in Bewegung, als
auch bereits der Kommandeur, Oberst v. Boehn und beide Bataillonskom¬
mandeurs des zweiten Treffens, Oberstlt. v. Bentivege und Major v. Wittich,
schwer verwundet zusammenbrachen. Das im Vordertreffen befindliche 1. Ba¬
taillon ging sprungweise an die große Straße heran und dann an dieser noch
etwas vorwärts, bis ihm die Kraft versagte. Der Kommandeur Major
v. Linsingen, durch eine Wunde am Gehen gehindert, nahm ein Gewehr und
feuerte hinter einem Steinhaufen liegend solange bis er zum zweitenmal ge¬
troffen wurde. Bald hatte das Regiment fast seine sämmtlichen Offiziere
eingebüßt und die Kompagnien waren zu kleinen Trupps zusammengeschmolzen;
aber diese Trümmer behaupteten dicht vor dem Feinde ihre Stellung an
der Chaussee.
Das Regiment Königin, durch zwei von Habonville herangerückte
Compagnien der Alexander-Grenadiere verstärkt, brach auf ein Zeichen des
Obersten Grafen von Waldersee mit 8 Compagnien im ersten Treffen im
Sturmschritt gegen die Höhen vor. Das Massenfeuer des Feindes zerriß die
Bataillone; auch hier wüthete der Tod in fürchterlicher Hast. Die Majors
von Rosenberg und von Seeckt wurden verwundet, Major Prinz Salm tödt-
lich getroffen. Aber der südliche Theil des Höhenrückens vor Se. Privat wurde
genommen! Ohne den letzten Zusammenstoß abzuwarten, zog der Gegner ab.
— Sich hier zu behaupten, war schwer; es gelang mit Hilfe der Artillerie,
von der zuerst Hauptmann von Prittwitz mit seiner Batterie nach der bedroh¬
ten Höhe vorfuhr, der dann bald eine zweite Batterie folgte. — Nun ver¬
mochten auch die weiter nördlich fechtenden Compagnien völlig auf die Höhe
vorzudringen, und ein gegen Front und Flanke der Franzosen kräftig durch¬
geführter Stoß, in den auch zwei Füsilier-Compagnien des Franz-Regiments
mit eingriffen, brachte die so hartnäckig bestrittene Stellung in Besitz der
Preußen, denen hier sogar 200 unverwundete Gefangene in die Hände fielen.
— Die Opfer, mit denen diese Bordseite erkauft worden, waren ungeheuer.
Der verwundete Graf Waldersee übergab auf der Höhe sein Regiment an
den Major v. Behr, als den einzigen noch unversehrt gebliebenen
Stabsoffizier der ganzen Brigade.
Diese stand nach 6^» Uhr in drei Hauptgruppen vertheilt. Auf dem
linken Flügel unmittelbar an der Straße von Ste. Marie nach Se. Privat
lag der größte Theil des Regiments Kaiser Franz. In der Mitte hielt sich
die Hauptmasse des Regiments Königin, und den rechten Flügel bildeten drei
Grenadier-Compagnien desselben und eine des Alexander-Regiments sowie
zwei Garde-Batterien.
Während dieser Ereignisse hatte sich Prinz August von Württemberg zu
skiner anderen Division nach Sie, Marie begeben. Deren Kommandeur,
General von Pcipe, machte den Prinzen darauf aufmerksam, daß die nördliche
Umgehungskolonne der Sachsen noch nicht in Sicht sei und daß ohne vor¬
bereitende Artilleriewirkung ein Gelingen des schwierigen Frontangriffs gegen
das festungsartig gelegene Se. Privat kaum zu erwarten sei. Da aber die
Bewegungen der 4. Infanterie-Brigade bereits begonnen hatten und guten
Fortgang zu nehmen schienen, so beharrte der Prinz auf seinem Angriffsbe¬
fehl, und General v. Pape setzte um Uhr die 1. Garde-Brigade von
Ste. Marie aus gegen den Westrand von Se. Privat in Bewegung. Das
2. Garde-Regiment zu Fuß sollte der Briga> als Reserve folgen, die übri¬
gen Theile der 2. Garde-Brigade dagegen vorläufig stehn bleiben.
Die Verhältnisse für den Angriff waren auch hier im höchsten Grade
ungünstig, zumal das Terrain etwa 600 Schritt westlich von Se. Privat
förmlich terrassirt ist, sodaß sich die französischen Tirailleurschwärme in ein¬
ander überhöhenden Linien festgesetzt hatten. Schwere Batterien standen süd¬
lich von Se. Privat, bestrichen den Abhang mit ihren Geschossen und sicherten
die vorgeschobene Infanterie, ganz abgesehen davon, daß gemauerte Feldein¬
friedigungen und Schützengräben dem Feinde Schutz gewährten und daß hinter
seiner Front sich Se. Privat la Montagne wie eine Burg erhob, deren stei¬
nerne Häuser bis auf die Dachböden besetzt waren. — Gegen eine solche
Stellung galt es, leise ansteigend, auf völlig freiem Felde ohne eine Spur
von Schutz vorzugehn.
Es war kurz vor 6 Uhr, daß sich die 1. Garde-Infanterie-Brigade
südl. von Ste. Marie aux Chenes in Bewegung setzte. Beide Regimenter
befanden sich in geschlossener Ordnung neben einander in drei Treffen, das
3. Garde-Regiment z. F. auf dem rechten, das 1. aus dem linken Flügel. Das
erste Treffen bildeten die Füsilier-Bataillone mit vorgezogenen Flügelkompag-
nien; die beiden andern Treffen waren in Halb - Bataillonen; indessen zogen
sich bei dem Vorgehn, welches mit einer Linksschwenkung begann, um auf
die Nordseite der Chaussee von Ste. Marie nach Se. Privat zu gelangen, die
zweiten Bataillone durchweg in die vordere Linie. Auch die Schützen ver¬
mochten keinen Vorsprung zu gewinnen, da die geschlossenen Massen lebhaft
nachdrängten, um so bald als möglich aus dem Ueberlegenheitsbereich des
Chassetzotgewehrs zu kommen, das in furchtbarster Weise gegen die Brigade
wirkte. — Im Ganzen ergab sich schon ein staffelweises Vorgehn des rechten
Flügels, während der linke noch die Richtung nach Norden innehielt.
Zuerst trat das Füsilierbataillon 3. Garde-Regts. in den Kampf, und
sofort wurde der Kommandeur, Major v. Rotz, von einer Granate zerschmet¬
tert, Oberst v. Linsingen (der Regimentskommandeur) verwundet. Auch die
geschlossenen Theile des Bataillons mußten sich zur Schützenlinie auflösen.
Mit dem Fahnenträger vor die Front eilend, riß Hauptmann v. Herwarth
in heldenhaftem Aufschwünge die gelichtete Mannschaft noch einmal zum An¬
griffsstoße vor; aber bald brach er todt zusammen, und die Reste des Batail-
lons zersplitterten. — Aehnlich litt das 2. Bataillon; doch hier gelang es
dem Lieutenant v. Krafft, nachdem Oberstlieutenant v. Holleben und sonst
alle anderen Offiziere außer Gefecht gesetzt waren, die vorderste Schützenlinie
des Feindes zurückzuwerfen und^sich am Hange fest zu setzen. — Den linken
Flügel der Angriffsfront verlängerte das Füsilierbataillon 1. Garde - Regts.,
dessen Compagnien ebenfalls furchtbar schnell zusammenschmolzen. Der Ober-
lieut. Graf Finckenstein wurde schwer verwundet und das Bataillon verlor,
wie auch die beiden vorhergenannten, nach und nach sämmtliche Offiziere.
Es war in eine dünne Schützenlinie aufgelöst; auch als die 1. und 2. Kom¬
pagnie rechts schwenkend ihm zu Hilfe kamen, vermochte es sich nur mit gänz¬
lich erschöpften Kräften niederzuwerfen.
Das 2. Bataillon 1. Garde-Regts. hatte bei seinem nördlich gerichteten
Marsche empfindliches Flankenfeuer aus Roncourt erhalten und nahm deshalb
mit zwei Kompagnien eine Stellung gegen diesen Ort, während die 8. Komp.
im Weitermarsch verblieb und die 7., an deren Spitze Oberstlieut. v. Stülp,
nagel fiel, die nach Osten gewendete Front des Füsilier-Bataillons ver¬
längerte.
In die mehrere hundert Schritt breite Lücke, welche zwischen dem nördlich
ausholenden 1. und dem an der Chaussee stehenden linken Flügel der 4, Garde-
Brigade bestand, sollte nun, auf Befehl des Generals v. Pape, das 2. Garde-Regi¬
ment z. F. eintreten. Unter Trommelschlag rückte es im heftigsten Kugel¬
regen entschlossen war. Hintereinander wurden die Kommandeure der Brigade,
des Regiments wie des 1. Bataillons, General von Medem, Oberst Graf
Kanitz und Oberstlieut. v. Puttkamer schwer verwundet, und erst nachdem
das 1. Bataillon seine sämmtlichen Offiziere eingebüßt, gelangten seine
Trümmer in die vordere Gefechtslinie. — Mit dem 2. Bataillon drang Ma¬
jor von Goerne unter schweren Verlusten noch etwas weiter vor; das Füsilier-
Bataillon setzte sich zu beiden Seiten der Chaussee in unmittelbarer Verbin¬
dung mit dem Franz-Regiment fest.
Alles das war in einer halben Stunde geschehn. Der erste kühne An¬
lauf der Garden gegen Se. Privat hatte sie auf eine Entfernung von 8 bis
6 Hundert Schritten herangeführt; eine Entscheidung war nicht gegeben; un¬
geheuere Opfer waren gebracht; aber mit unbeschreiblicher Hingebung klam¬
merten sich die Reste der Kompagnien fest an den^so theuer^erworbenen Bo¬
den. — Jetzt war für die Franzosen der Augenblick für einen Gegenstoß,
namentlich für eine großartige Kavallerieattacke gekommen, und in der That
ritt auch einmal ein Chasseur-Regiment gegen den linken Flügel des 1. Garde-
Regiments an; aber sobald es Schnellfeuer erhielt, ging es zurück.
Inzwischen rückte auf Befehl des Generals v. Pape, der unermüdlich in
der Angriffslinie thätig war. das 4. Garde-Regiment zu Fuß als Reserve
heran und näherte sich dem äußeren Flügel der 1. Garde-Brigade. Das
Füsilier-Bataillon wurde in das erste Treffen genommen und ging gegen die
Nordwestecke von Se. Privat vor. Auf etwa 800 Schritt setzte es sich in
einer Bodensenkung fest und nahm das Feuer gegen die vorgeschobenen Linien
der Franzosen auf, welche hier hinter Feldmauern gedeckt standen. — Das
Auftreten des 4. Garde - Regiments war eine vorzugsweise moralische Er¬
quickung der leidenden 1. Garde-Brigade. Die wirksamste Unterstützung ge¬
währte dieser die Artillerie, welche aus ihrer Stellung zwischen Habonville
und Ste. Marie, zum Theil bis in das feindliche Jnfanteriefeuer vorgeschoben
wurde. Gegen 7 Uhr standen 14 Garde-Batterien in zwei Gruppen im
Feuer, von denen die eine gegen Se. Privat, die andere gegen Amanvillers
zu feuerte. Die Wirkung war bald erkennbar: immer dichter drängten sich
die feindlichen Truppenmassen unter dem Granathagel zusammen.
Und nun endlich ward auch die Einwirkung der sächsischen Um¬
gehung fühlbar!
Bald nach 6 Uhr hatte sich die 46. Brigade (General v. Craushaar)
des Gehölzes von Aboue' bemächtigt*), hatte gegen Roncourt und Montois
Front gemacht und sich des letzteren Ortes nur deshalb nicht bemächtigt,
weil der bestimmte Befehl kam, das Eintreffen der Umgehungskolonne abzu¬
warten. Eine halbe Stunde später war auch die 47. Brigade an den süd¬
lichen Waldsaum herangezogen und die Corps-Artillerie vorgenommen worden,
welche dann um ^7 Uhr abermals avancirte und das Dorf Roncourt und
die Artillerie des rechten französischen Flügels derart beschoß, daß die letztere
bald zum Schweigen gebracht war.
Die 46. Brigade war mittlerweile bis nahe Aboue' herangerückt und die
auf dem nördlichen Orne-User ausholende Umgehungskolonne**). (48. Brigade
und Kavallerie-Division) erreichte um 6 Uhr die Hochfläche von Hautmecourt.
Sie entwickelte ihre Bataillone gegen Montois; aber es zeigte sich bald, daß
dies Dorf bereits von den Franzosen verlassen sei, und so setzte man die
Bewegung auf Roncourt fort und ging um Uhr gegen die Nordfront
dieses Ortes vor, während sich von Westen her auch die 45. Brigade wieder
in Bewegung setzte und die langsam zurückweichenden Schützenlinien des
Gegners in leichtem Feuergefechte vor sich her trieb. Mit dem rechten Flügel
dieser Brigade waren diejenigen Theile der 1. Garde-Infanterie-Brigade in
Verbindung getreten, die beim Vorgehn aus Ste, Marie in nördlicher Richtung
verblieben waren Sie schlössen sich jetzt der 45, Brigade an, so daß also
15 Bataillon« gegen die Nord- und Westseite von Roncourt in Bewegung
waren. Kronprinz Albert wollte zuerst diesen Ort nehmen und sich dann
gegen Se. Privat wenden; da indessen während des Borrückens einige sächsi¬
sche Truppenführer von der schwierigen Gefechtslage vor Se. Privat Kenntniß
erhielten, dringend aufgefordert wurden, die preußischen Garden sobald
als möglich zu unterstützen, und diesem Ansuchen zum Theil Folge leisteten,
so entstand westlich vor Roncourt eine sich mehrfach kreuzende Truppen¬
strömung, die indessen um so weniger von Nachtheil wurde, als man in
Roncourt nicht den erwarteten Widerstand fand.
Marschall Canrobert hatte nämlich angesichts der ernsten Bedrohung
seines rechten Flügels beschlossen, das ganze Gelände nördlich von Se. Privat
allmählich zu räumen und führte dies, durch das Terrain begünstigt, sehr
geschickt und unbemerkt aus. Leicht war die schwache französische Nachhut
aus Roncourt verdrängt, und erst beim Weitervorschreiten gegen den Saum
des Force de Jaumont stieß man auf ernsten Widerstand.
Die meisten zum Angriff von Roncourt bestimmt gewesenen Truppen
hatten noch vor Erreichung dieses Ortes die Richtung auf Se. Privat einge¬
schlagen. Oberstlieutenant v. Schweinitz führte das 1. u. 2. Bataillon seines
Regiments (No. 107) von Norden her, General v. Craushaar zwei Bataillone
des Regiments No. 101 gegen die Nordwestecke des Dorfes vor. Das Leib-
Grenadier-Regiment schlug ebenfalls diese Richtung ein und zwar mit sieben
Kompagnien zwischen den Regimentern 101 u. 107, mit fünfen, an Roncourt
vorbeistreifend, mehr südöstlich gewendet. — Die Oertlichkeitsverhältnisse der
Nordsront von Se. Privat sind denen der Westfront überaus ähnlich, und
daher war auch hier die Wirkung des feindlichen Massenfeuers aus den wohl¬
gesicherten Jnfanteriestellungen und das Granatfeuer der zwischen Se. Privat
und dem Walde von Jaumont aufgefahrenen Batterien mörderisch. Mit
glänzender Tapferkeit drangen die Bataillone des Regiments No. 107 gegen
die nächste vom Feinde besetzte Feldmauer vor. Oberstlieutenant v. Schweinitz
wurde tödtlich getroffen, die Majore Thierbach und v. Cerrini verwundet;
aber der Anlauf wurde fortgesetzt, ja zum geschlossenen Bajonnetangriff ge¬
steigert, und nach mehr als 500 Schritte langem Sturmlauf schöpften die
Bataillone hinter der eroberten Feldmauer Athem. Als dann General
v. Craushaar heranrückte, schritten sie aufs Neue bis auf 500 Schritt an
die Umfassung von Se. Privat vor.
Ungefähr gleichzeitig mit diesem ersten Anlauf der Sachsen führte Oberst-
lieutenant v. Wolffradt, der an des verwundeten Obersten v. Neumann Statt
das Kommando des 4, Garde-Regiments übernommen hatte, seine beiden
Grenadierbataillone zum Angriff vor. Er selbst und mehrere Offiziere wurden
schwer verwundet; aber es gelang den Grenadieren, die Feldmauern, hinter
denen der Feind sich barg, im Sturm zu nehmen.
Dem 4. Garde-Regiment unmittelbar zur Seite trat jetzt General von
Craushaar mit acht Kompagnien des Regiments Ur. 10l und Oberst Garten
mit sieben Kompagnien des sächsischen Leib-Grenadier-Regiments. Sie dran¬
gen in heldenhaftem Anlauf vor, und ob auch die Oberstlieutenants Schu¬
mann und v. Kochtitzky, Major v. Brandenstein und die meisten Compagnie-
Führer und Offiziere außer Gefecht gesetzt wurden — es gelang, den nächsten
deckenden Mauerabschnitt zu gewinnen.
Oberstlieutenant v. Schimpfs mit fünf Compagnien des sächsischen Leib¬
regiments und Oberstlieutenant v. Oppell mit zweien'^des 1. Garde-Regiments
z. F. trafen in der Gegend nordöstlich v. Se. Privat auf die französischen
Reserven für das Dorf und traten in ein heftiges Feuergefecht mit den¬
selben, in welchem der Kommandeur des 1. Garde-Regiments, Oberst von
Roter, siel.
Um dem Angriff auf Se. Privat vermehrten Nachdruck und Rückhalt zu
geben, ließ Kronprinz Albert die Artillerie, welche in der Nähe des Gehölzes
von Aboue stand, batterieweise vorgehn, so daß bald 14 Batterien gegen Se.
Privat in Thätigkeit waren; eben dorthin ward ein großer Theil der Infan¬
terie-Reserven in Marsch gesetzt. Von Norden her rückte das sächsische Schützen¬
regiment, von Ste. Marie das Garde-Füsilier-Regiment vor, und in zweiter
Reihe marschierten vom Walde von Auboue' die 46. Brigade, von Se. An
her die 20. Infanterie-Division (vom 10. Armee-Corps) heran. Auch zwei
reitende Batterien des 10. Corps eröffneten schon ihr Feuer gegen Se. Privat,
so daß gegen diesen Ort nun 24 Batterien (14 sächsische und 10 preußische)
wirkten. Die Gefechtslage war reif zur Entscheidung.
Es war der Augenblick, in dem die Sonne eben unterging, als auf das
Zeichen der Generale sich die preußischen und sächsischen Bataillone zum Sturm
erhoben gegen das so lang und so zäh vertheidigte Bollwerk des Feindes,
gegen Se. Privat. — Die Trommeln, die Hörner rufen Marsch! Marsch! Die
Fahnen, deren Träger oft fünfmal gewechselt, die Offiziere, so weit sie er¬
halten, sie zeigen der muthigen Mannschaft den Weg, und fast gleichzeitig
erreichen in Nord und Nordwest die Sachsen, in Westen und Süden die
Preußen das Dorf.
Der Widerstand gegenüber den Sachsen war der heftigste; an der Spitze
der letzteren traf den General v. Craushaar die tödtliche Kugel. Unter Füh¬
rung weniger noch unversehrt gebliebener Offiziere erreichte das Regiment
Ur. 107 zuerst den Kirchplatz des brennenden Dorfs. Und nun drangen die
Deutschen von allen Seiten vor, und „eingekeilt in fürchterlicher Enge" kam es
zu mörderischen Einzelkampfe, durch welchen der Feind nach und nach hinaus¬
gedrängt ward. — Auch die kampffähigen Ueberreste der 1. Garde-Infanterie-
Brigade hatten sich an dem Sturm auf Se. Privat betheiligt, und das 2.
Garde-Regiment war gegen die Südwestseite des Ortes, Abtheilungen der 4.
Garde-Jnfanterie-Brigade waren von Süden vorgegangen. — Unmittelbar neben
der brennenden Kirche haltend regelte General v. Pape die fernere Verwendung
der dort von allen Seiten zusammentreffenden Truppen und ordnete die Be¬
setzung des Ostrandes an. — Um 8 Uhr befand sich der Sieger im unbe¬
strittenen Besitz von Se. Privat und machte dort 2000 unverwundete Gefan¬
gene. Das Garde-Füsilier-Regiment wurde als frische und geschlossene Re¬
serve zurückgehalten.
Die Einnahme von Se. Privat entschied die Niederlage des rechten
französischen Flügels. Die geschlagenen Truppen des 6. Corps flüchteten
in das Moselthal, geschirmt von der Brigade Wchot, der Kavallerie des
Generals du Barail und einigen Batterien.
Nordwestlich des Bois de Saulcy erschien jetzt — zu spät um das Ge¬
fecht herzustellen — die französische Garde-Grenadier-Division Picard nebst
der ihr zugetheilten Reserve-Artillerie. Letztere entwickelte sich in breiter Front
bei den Steinbrüchen von Amanvillers und eröffnete ein heftiges Feuer gegen
die deutsche Artillerie. Diese wurde indessen — ganz abgesehen von den Hessen
- auf dem Raume südlich von Se. Privat bis auf 23 Batterien verstärkt,
und nun dröhnte in gewaltigem Geschützkamps der Donner der Schlacht noch
einmal auf und donnerte fort bis in das Dunkel der Nacht.
In diesen großen Geschützkampf griffen auch die Batterien der zur allge¬
meinen Unterstützung heranrückenden 20. Division mit ein, welche bereits zu
einer Zeit östlich von Ste. Marie erschienen war, als Se. Privat sich noch im
Besitz des Feindes befand. Nachdem dies Dorf von den Sachsen und Garden
genommen, griff die 40. Brigade mit ihrem ersten Treffen rechts und links um
Se. Privat herum, wobei es an den Außengehöften noch zu Gefechten kam.
Bei einbrechender Dunkelheit wurde die Division wieder gesammelt.
Im äußersten Norden des Schlachtfeldes hatte sich ungefähr gleichzeitig
mit der Erstürmung von Se. Privat ein selbständiges Gefecht entwickelt, in¬
dem die gegen Montois und den Wald von Jaumont gewendeten Theile der
sächsischen Umgehungskolonne einen Kampf mit der den Rückzug deckenden
Brigade Wchot zu bestehn hatten, wobei die sächsische Artillerie Gelegen¬
heit fand auch noch gegen die in das Moselthal abziehenden Kolonnen der
Franzosen zu wirken.
Mittlerweile hatte die vollständige Niederlage des Marschalls Canrobert
auch auf die südlicher stehenden Theile des französischen Heeres Einfluß ge¬
wonnen; und als nun die 3. Garde-Infanterie-Brigade mit den bei ihr be¬
findlichen Truppen des 9. Armee-Corps*) noch einmal zum Angriff auf.
Amcmvillers vorging, drang das an der Spitze befindliche 2. Bataillon Re¬
giments Elisabeth, trotz nicht unbedeutender Verluste keilartig mit dem Ba-
jonnet in die Linien des weichenden Gegners ein. Ebenso kam das 2. Bataillon
des Alexander-Regiments noch einmal zum Nahkampf, und auch auf der
Front der hessischen Division erstarb das Feuer erst, nachdem ihre Batterien,
im Anschluß an die große Geschützlinie des Garde-Corps und des 10. Corps
ihre Thätigkeit noch bis in die sinkende Nacht fortgesetzt hatten.
Die Unternehmungen, welche zu dem Zwecke angeordnet gewesen, den
Gegnern die Verbindungen mit dem Innern des Landes abzuschneiden, waren
vollständig zur Ausführung gekommen. Zwei sächsische Schwadronen hatten
Zerstörungen der Eisenbahn und Telegraphenleitung nach Diedenhofen vor¬
genommen. Dasselbe war seitens einer sächsischen Pionier-Compagnie hin¬
sichtlich der Ardennenbahn nordwestlich von Briey geschehen.
Als das Nachtdunkel sich über das Schlachtfeld von Gravelotte-Se. Privat
verbreitete, hatte das deutsche Heer nach achtstündigem heißem Ringen eine
Stellung erkämpft, welche von Jussy am Rande des Bois de Vaux entlang
über Se. Hubert durch das Bois des Genivaux dann über den Höhenrücken
von Amanvillers und Se. Privat hinweg bis Malancourt reichte. Die Vor¬
truppen standen im Allgemeinen dicht vor dieser Linie. — Die Armee-Corps
bezogen auf den Stellen, wo sie sich bei Beendigung des Gefechts befanden,
Biwaks.
Diejenigen Heerestheile, welche den eigentlichen Kampf geführt, waren
nahezu erschöpft. Hatte doch die I. Armee 224 Offiziere, 3994 Mannschaften
und 637 Pferde, die II. Armee 673 Offiziere, 15,266 Mannschaften und
1340 Pferde — beide zusammen also 899 Offiziere, 19,260 Mann und
1877 Pferde verloren**). — Hinter diesen mehr als dezimirten Truppentheilen
befanden sich jedoch auf den entscheidenden Punkten noch Reserven, welche
ganz oder doch nahezu intacr waren, bereit, die errungenen Erfolge nöthigen-
falls am folgenden Tage mit den Waffen weiter auszubeuten. — Und da der
linke Flügel der Franzosen seine Stellungen behauptet hatte, so war die
Möglichkeit neuen Kampfes um die letzteren keineswegs ausgeschlossen, und
auch die Eventualität eines Abmarsches Bazaine's nach Norden mußte in Er¬
wägung gezogen werden.
In der Nacht leitete der Feind aber auch der I, Armee gegenüber seinen
Rückzug ein, und man schritt bei dieser Armee schon in den Morgenstunden
des 19, August zur Anlage von Feldbefestigungen auf der Hochfläche von
Point du Jour mit der Front gegen Metz. Der Oberbefehlshaber der
II. Armee faßte als seine nächste Aufgabe sogleich die Einschließung des um
Metz zusammengedrängten Gegners ins Auge. Ein Engerziehen des jetzt noch
lockeren und lückenhaften Kreises der deutschen Truppen durch Vorgreifen
ihrer Flügel, ein Besetzen aller wichtigen Punkte — dies waren die Zielpunkte,
welche die vom Prinzen Friedrich Karl für den 19. August befohlenen Be¬
wegungen anstrebten.
Auf dem rechten Moselufer hatte General v. Manteuffel am 18. August
eine Linksschiebung des I. Armee-Corps vorgenommen, um etwaigen Durch¬
bruchsversuchen des Feindes auf der Chaussee nach Straßburg begegnen zu
können. Er verblieb am 19. in diesen Stellungen und an demselben Tage
trat die Reserve-Division v. Kummer in den unmittelbaren Befehlsbereich
d^s I. Corps.
Der vollständige Rückzug der Franzosen unter die Kanonen von Metz
brachte das am 14. August begonnene Ringen der beiderseitigen Armeen zu
einem vorläufigen Abschlüsse; und so „stellen sich die Schlachten vom 14., 16.
und 18. in ihrem inneren Zusammenhange und in ihren Folgen thatsächlich
als Vorbereitung, Einleitung und Durchführung einer einzigen großen Hand¬
lung dar, welche schließlich dazu führte, daß ein eiserner Ring um die fran¬
zösische Hauptarmee geschlossen wurde, den sie nur durch Niederlegung der
Waffen wieder öffnen sollte. Die innere Verkettung der einzelnen Vorgänge
und jenes Ergebniß der dreitägigen Kämpfe konnten freilich weder voraus¬
bedacht noch in jedem Augenblicke vollständig überblickt werden; doch zeigte
sich auf deutscher Seite bei manchen durch Ungewißheit über die gegnerischen
Absichten hervorgerufenen Irrthümern ein fortdauerndes lebhaftes Bestreben,
die gegebenen Umstände so schnell und so gut als möglich auszunutzen, um
das Gesetz des Handelns jederzeit zu geben, nicht zu empfangen."
Wie bei Wörth und Spichern so tritt, und in noch großartigerem Ma߬
stabe, in den drei Schlachten vor Metz auf deutscher Seite die Initiative
der unteren Führer sehr stark hervor. Sie ist mit allen ihren Vorzügen
und Nachtheilen „ein beredtes Zeugniß von dem in allen Graden des deutschen
Heeres herrschenden Geiste selbständiger Entschlußfassung. — Die Absichten
der obersten Heeresleitung werden den unteren Führern meist nur in allge¬
meinen Umrissen bekannt sein. Aber auch bei solcher unvollkommenen Kennt¬
niß und deshalb zuweilen unter dem Eindruck unrichtiger Voraussetzungen
zögerten die deutschen Generale keinen Augenblick, die eigene Kraft und Ver-
antwortung zur Verwirklichung dessen einzusetzen, was sie von ihrem Stande
punkte aus als das Richtige erkannten.
„Wie es in der Natur der Sache liegt und dem ganzen Wesen des
Krieges entspricht, hing der Erfolg eines solchen selbständigen Handelns
wesentlich von dem Verhalten des Gegners ab, und es ergaben sich sowohl
am 14. wie am 16. August Gefechtsmomente, in welchen ein vom Verständ¬
niß der Sachlage durchdrungener, energisch und einheitlich handelnder Wille
auf französischer Seite manche Vortheile hätte erringen können; ein Verhält¬
niß, welches auch am 18. da vorkam, wo Einzelhandlungen gewissermaßen
aus dem Nahmen des Ganzen heraustraten.
„Von Neuem bestätigte sich hier die Erfahrung, daß derartige selbständige
Unternehmungen nur selten eine eigentliche Entscheidung herbeizuführen ver¬
mögen, daß sie sich vielmehr in der Regel nur einen theilweisen Erfolg zu¬
schreiben dürfen; und hierin liegt wiederum der Billigkeitsmaaßstab, nach
welchem überhaupt die Ergebnisse solcher Einzelhandlungen zu beurtheilen
sind. So lange letztere nur in dem Sinne unternommen werden, welcher
den Absichten der oberen Heeresleitung zu Grunde liegt, würde man nicht
wohl daran thun, jenes Element der Kühnheit aus der Kriegführung zu ver¬
bannen, welches die großartigen Erfolge zwar nicht selbst erreicht, aber doch
vorbereitet."
„Die Neuartigkeit der in den August-Schlachten zum ersten Mal gegen¬
einander in Anwendung kommenden Kriegsmittel führte auch in taktischer
Beziehung zu manchen ungewohnten Erscheinungen. Zunächst fällt die gegen
früher wesentlich veränderte Verwendung der deutschen Artillerie in die
Augen. In die Spitzen der Marschcolonnen eingeschoben, erschien sie unter
den Ersten auf dem Schlachtfelde, meist die großen Angriffsstöße eröffnend.
Unerschütterlich ausharrend, wo sie einmal stand, bildete sie gewissermaaßen
das feste Baugerüst der Schlachtordnung, während die französischen Batterien
im Allgemeinen nur als leicht versetzbare Streben erschienen. Begünstigt durch
ihr besseres Material, vermochte die deutsche Artillerie dem Fußvolke diejenige
Unterstützung zu gewähren, welcher dieses gegen die überlegene Handfeuerwaffe
der Franzosen bedürfte.
„Bei der deutschen Führung zeigte sich in allen drei Schlachten das
Bestreben, stets von vornherein die Artillerie mit Massen und dann im
engsten Anschlusse an die Aufgaben der Infanterie auftreten zu
lassen. In solcher Weise verfahrend, genügte schon die eine große Batterie
von Noisseville am 14. August, um den vorübergehend bedrohten rechten
Flügel des I. Corps zu decken. Die lange Artillerielinie von den Tronviller
Büschen bis zum Bois de Vionville verhinderte am 16. alle Durchbruchsver¬
suche des Feindes. Auch am 18. sicherte die ansehnliche Geschützentfaltung bei
Gravelotte den rechten Flügel der Deutschen gegen ein Vorbrechen des Fein¬
des, während der Entscheidungsschlag im Norden durch andere Artilleriemassen
vorbereitet und erst, nachdem diese eine Zeitlang gewirkt hatten, von der In¬
fanterie durchgeführt werden konnte. — Und andererseits wieder begleiteten
deutsche Batterien am 14. über la Planchette und Lauvallier, am 16. über
Mars la Tour und gegen Rezonville, am 18. über' Gravelotte, Verneville
und Se. An hinaus ihre Infanterie bis in den Nahkampf hinein. Die ge¬
steigerten Einbußen der Artillerie durch Kleingewehrfeuer fordern aber auch
immer wieder dazu auf, jener Waffe einen ausreichenden Schutz durch vorge¬
schobene Infanterie-Abtheilungen zu gewähren. Wo die deutschen Batterien
fast allzukühn und allzuselbstständig, wie am 16. Morgens bei Vionville und
am 18. Mittags bei Verneville, die Linie der eigenen Truppen überschritten,
überraschten sie zwar den Gegner, geriethen dann aber auch ihrerseits in be¬
denkliche Gefechtslagen."
In den Infanterie-Kämpfen zeigte sich die hohe Wichtigkeit trefflicheren
Feuers. Die taktischen Formen wurden dem überlegenen Gewehr des Feindes
gegenüber vielfach aus den Augen gesetzt, der Grundsatz „aus der Tiefe zu
fechten", bei dem allgemeinen Triebe, schnell an den Feind zu kommen, nur
selten richtig durchgeführt, artete meist in ein leidenschaftliches Vorstürmen
aus, welches den Aufmarsch und die Entwickelung der nachfolgenden Truppen
nicht abwartete; wie bei Wörth und Spicheren kam es auch in den Schlachten
vor Metz vielfach zu vereinzelten, unzusammenhängenden Kämpfen und zu
häufiger Mischung und Auflösung der taktischen Verbände."
Als man am Morgen des IN. August im Hauptquartiere Sr. Majestät
des Königs die Gesammtlage übersah und erwog, daß dem deutschen Ein¬
schließungsheere vor Metz nun eine wesentlich defensive Aufgabe zufallen
werde, da beschloß man sofort, nur einen Theil der hier versammelten Armee-
Corps vor Metz stehn zu lassen, mit den andern aber unverweilt gegen die
Armee von Chalons aufzubrechen. Dieser Entschluß, am Morgen nach einer
Schlacht, wie die von Gravelotte-Se. Privat gefaßt, zeugt von der höchsten
Kühnheit und Sicherheit. In ihm liegt denn auch bereits der Keim des
Die Metropolitan-Eisenbahn hat bei einer Länge von etwa 13 englischen
Meilen 22 Personenstationen, die theilweise nur 800 — 600 Meter von ein¬
ander entfernt liegen, so daß die Fahrzeit zwischen denselben, incl. des halben
Aufenthaltes auf jeder Station nur 2 Minuten beträgt; die unmittelbar
damit zusammenhängenden Nebenbahnen haben außerdem noch 12 Stationen.
Die Stationen sind meistens — mit Ausnahme der zwei umfangreicheren End¬
stationen und einiger Abzweigungsstellen — so angeordnet, daß zu beiden
Seiten der zwei durchgehenden Gleise Perrons angebracht sind, welche das
Ein- und Aussteigen vermitteln. Von diesen Perrons führen gesonderte
Treppen für die Abfahrenden und Ankommenden nach oben, nach dem Niveau
der Straße und dort befinden sich auch die Billetexpeditionen, die Warte¬
zimmer und andere derartige Räume. Das Licht fällt in der Regel durch
das große Bogendach, welches die Station überdeckt in dieselbe ein. und zwar
in so ausreichendem Maaße, daß trotz des Unterirdischen ein freundlicher Ein¬
druck erzielt wird. Die Beleuchtung der Eisenbahnwagen erfolgt durch Gas,
so daß man mit Bequemlichkeit seine Zeitung lesen kann und dadurch das
unheimliche des beinahe permanenten Tunnels wesentlich gemildert wird. Dicht
hinter der nur etwa 90 bis 100 Meter langen Station tritt die Bahn wieder in
die Tunnel und es macht einen eigenthümlichen, dämonischen Eindruck, wenn
plötzlich aus dem schwarzen Tunnelmund ein Zug angebraust kommt, in un¬
glaublich kurzer Zeit zum Stehen gebracht wird, sodaß durch das scharfe An¬
ziehen der Bremsen die Funken davon fliegen, nun die Passagiere in noch kür¬
zerer Zeit ganz allein, ohne irgend welche Hülfe seitens des Fahrdienstpersonals
ein- und aussteigen und sich nun der Zug noch während die Thüren wieder ge¬
schlossen werden rasch, ohne laute Signale, in Bewegung setzt, um ebenso schnell
im Tunnel zu verschwinden, als er kurz zuvor aus demselben herausfuhr.
Diese unterirdische Bahn und der auf ihr gehandhabte Betrieb ist wohl
das Großartigste, was die englische Metropole seit Jahrzehnten, ja wohl seit
Jahrhunderten hervorgebracht hat und einige Zahlen mögen in Verbindung
mit dem eben Gesagten die Richtigkeit meiner Behauptung beweisen. Gewiß
sprechen die Kosten wohl am allerdeutlichsten für die ungeheuren Schwierig¬
keiten, die es zu überwinden galt, besonders wenn man berücksichtigt, daß
alle Anlagen zwar in tadelloser Vorzüglichkeit aber ohne allen und jeden
äußern Schmuck zur Ausführung gekommen sind.
Die Gesammtkosten der Bahn belaufen sich auf etwa 76 Millionen
Thaler bei noch nicht 3 deutschen Meilen Länge und wenn man die einzelnen
Strecken für sich betrachtet, schwankt der Preis pro deutsche Meile zwischen
dem niedrigsten Satz von 15,192,000 und dem höchsten von 53.328,000 Thaler,
oder, was bei der Kürze der Bahn richtiger ist, zwischen 2030 und 7100 Thaler
pro laufenden Meter; und trotz alledem rentirt die Bahn!
In Bezug auf den Betrieb der Bahn mögen folgende Zahlen dessen
Großartigkeit zeigen. Von der einen Endstation in Moorgate Street gehen
in der Zeit von früh 6 Uhr bis Nachts V,t Uhr die nachstehenden Personen¬
züge ab:
Zeit von 18^2 Stunden und da ebensoviel Züge auch wieder von den ge¬
nannten verschiedenen Richtungen ankommen, ergiebt sich ein Gesammtverkehr
von 844 Zügen täglich*). Und dieser enorme Verkehr wird auf 6 Gleisen
mit sechs zwischen denselben liegenden sogenannten Zungenperrons bewältigt.
Man muß sich allerdings selbst durch den Augenschein überzeugt haben, um
begreifen zu können, daß ein derartiger Betrieb überhaupt möglich ist und
doch findet man schließlich wegen der großen Gewandtheit von Dienstpersonal
und Publikum und der großen Ruhe, die überall herrscht, selbst diese außer¬
ordentliche Leistung nicht auffallend; ja man möchte sogar meinen, da nirgends
Ueberstürzung sichtbar ist, auch nirgends zur Eile getrieben wird, — wie so
häufig auf continentalen Bahnen, besonders bei Bummelzügen, bei denen es
wirklich oft nur aus Hohn zu geschehen scheint — es könnte noch mehr ge-
Auch auf andern Stationen ist die Zahl der Personenzüge im Verhältniß zu der Fre¬
quenz auf deutschen Bahnhöfen eine sehr bedeutende, selbst da wo wenig oder kein Lokalverkehr
pulsirt.
So z. B.
gegen: Berlin
wobei auch noch zu berücksichtigen ist, daß die beiden letztgenannten Bahnhöfe Knotenpunkte
von S resp. K Bahnen sind, während die Eustonstreet nur eine Hauptrichtung hat und bei den
genannten zwei Bahnhöfen von Berlin auch der Lokalverkchr berücksichtigt ist.
leistet werden, aber allerdings ist das ein Trugschluß, der Betrieb auf der
Metropolitan Bahn ist wohl an der Grenze des überhaupt noch Möglichen
angekommen.
Allerdings muß ich hier besonders erwähnen, daß die von der Moorgate-
streetstation ausgehende Bahn viergleisig erbaut worden ist, so daß häufig
gleichzeitig 2 Züge nach derselben Richtung befördert werden können, allein
2 Gleise dieser viergleisigen Bahn führen nur nach den großen Endstationen
der 2 in obiger Zusammenstellung zuletzt genannten Bahnen und werden außer
den Personen-Zügen noch durch eine ganze Reihe von Güterzügen befahren,
welche den Verkehr mit verschiedenen Güterstationen, die an der unterir¬
dischen Eisenbahn in der Ciiy und unmittelbar an deren Umfassungslinie an¬
gelegt worden sind, vermitteln. So bleibt für die restirenden 2 Gleise immer¬
hin noch eine sehr erhebliche Anzahl von Zügen, und diese Züge folgen sich
denn auch in den belebtesten Morgen- und Abendstunden, wenn die große
Masse von Geschäftstreibenden nach der City, oder von dort nach außerhalb
strömt, in Zeitintervallen von nur drei Minuten. Daß trotzdem der Betrieb
ein sehr sicherer zu nennen ist, hat man in erster Linie dem ausgezeichneten
Signalsystem zu verdanken, welches Unfälle eigentlich zur Unmöglichkeit macht,
wenn nicht ganz kopflose oder geradezu böswillige Übertretungen seitens der
Beamten vorkommen.
Schon vorhin erwähnte ich der großen Gewandtheit nicht nur der Fahr¬
beamten, sondern auch des Londoner Publikums, und da ohne diese Geschick-
lichkeit der gesammte Londoner Eisenbahnverkehr nicht möglich wäre; da diese
Geschicklichkeit mit vielen andern Eigenschaften der Eisenbahnreisenden und
Gewohnheiten des ganzen Volkes und auch, dadurch bedingt, mit ganz
wesentlichen Bahnhofseinrichtungen engverknüpft ist, die von deutschen Ver¬
hältnissen sehr abweichen, will ich darauf noch näher eingehen.
Ich spreche hier in erster Linie von dem Eisenbahnverkehr auf den Lokal¬
bahnen mit Lokalzügen, — den der Londoner sehr bezeichnend, ebenso gut
wie auf der Straße, auch auf den Schienenwegen Omnibusverkehr nennt, —
und zwar deßhalb, weil nur bei diesem Verkehr sehr wesentliche Abweichungen
von deutschen Verhältnissen vorkommen, während dieselben beim großen Durch¬
gangsverkehr auf Hauptbahnen viel weniger fühlbar sind.
Der Reisende tritt, von der Srraße kommend, stets gleich in den großen
Raum, in dem sich die Billetschaller befinden und nimmt dort gewissermaaßen
im Vorbeigehen sein Billet. Da meistens für die verschiedenen Classen, sehr
häufig auch für die verschiedenen Richtungen, nach denen man fahren kann,
besondere, äußerlich deutlich gekennzeichnete Schalter vorhanden sind, so wird
schon dieses Geschäft mit möglichster Kürze abgewickelt. Nun betritt der
Reisende den Perron und zwar bei großen End- sogenannten Kopfstationen
einen großen breiten Perron, von dem erst, die zwischen den Gleisen liegenden
Zungenperrons auslaufen; bei kleinen Zwischenstationen direct den neben dem
Gleis liegenden Einsteigeperron. Diese letzteren sowohl als auch die Zungen¬
perrons sind derartig abgesperrt, daß Niemand ohne Billet dieselben betreten
darf, liegt die Billetexpedition, wie bei der unterirdischen Eisenbahn um ein
Stockwerk höher wie die Gleise, so erfolgt die Absperrung schon oben an den
Treppen, die nach den Perrons führen. Die Billets werden nun bei jenen
Absperrungsbarrieren revidirt und eoupirt, so daß jeder, der etwa einen fal¬
schen Perron betreten wollte, sofort von dem Billetcontroleur auf seinen Irr¬
thum aufmerksam gemacht wird, also auch niemals in einen unrichtigen Zug
gelangen kann. Allerdings gehört eine gewisse Bekanntschaft mit den ört¬
lichen Verhältnissen dazu, um sich möglichst schnell zurecht zu finden, für den
ganz Fremden sind die Einrichtungen nicht gemacht, er erhält auch auf seine
Fragen wenig Antworten, da nicht jene Fülle von Portiers und sonstigen
Beamten auf den Stationen zu finden ist, welche der continentale Reisende
gewohnt ist. Wenn man aber nur geringe Lokalkenntniß sich erworben hat
— und diese zu erwerben ist überall nicht schwer, besonders wenn man die
Stadtbahnen häufig benutzt — so kann man sich sehr leicht zurechtfinden und
man wird schließlich auch ohne diese in der Regel an und in den gewünschten
Zug gelangen, wenn man ohne viel zu fragen, dreist aufs gerade wohl zu¬
geht; geht man fehl, so wird man schon zurecht gewiesen werden, weil man
ja mit seinem Billet nur einen bestimmten Perron betreten darf.
Ein Aufenthalt in den Wartezimmern, — Wartesäle kennt man
in England nicht — findet nicht statt, da Jeder erst unmittelbar vor Abgang
des Zuges auf die Station geht. Zeit ist ja Geld, also wozu auch unnö¬
thigen Aufenthalt? So genügen denn auch überall ganz schmucklose einfache
Zimmer, um nicht zu sagen Stübchen, für die geringe Anzahl von Reisenden,
welche sich von den Sitten der Landesbewohner emancipiren wollen. Wenn der
Raum zu mehreren Wartezimmern für Herren und Damen und die verschie¬
denen Classen nicht ausreicht, fo ist doch mindestens ein derartiger Raum
vorhanden, der dann aber in der Regel nur für Damen bestimmt ist. Der
Engländer zeigt hier wie überall seine große Zuvorkommenheit gegen das
weibliche Geschlecht.
Vom Perron aus steigt der Reisende ohne irgend welche Hülfe seitens
der Schaffner in den bereitstehenden Zug, der Zug setzt sich in Bewegung
und an der betreffenden Station, deren Name auf den Laternen und an
großen Tafeln deutlich zu lesen ist, auch von den Schaffnern laut und häufig
gerufen wird, verläßt der Fahrgast auch wieder den Zug ohne Unterstützung
von Beamten; man öffnet und schließt die Thüren selbst, eilt vom Perron
mit möglichster Schnelligkeit auf die Straße und hier wird beim Verlassen des
Perrons das Billet nochmals revidirt und abgenommen. Der Aufenthalt
auf den Zwischenstationen dauert kaum eine Minute, man darf also beim
Ein- und Aussteigen nicht saumselig sein und seine Zeit etwa mit Fragen
vergeuden, die man sich bei Anwendung von gesundem Menschenverstand und
seiner fünf Sinne von selbst beantworten kann und die so häufig nur dazu
angethan sind, die Zugbeamten in ihrer Berufsausübung zu stören,
Eine Revision der Billete im Zuge findet äußerst selten statt, sie gehört
nur zu den Ausnahmen; es wird allüberall in das Gerechtigkeitsgefühl des
Volkes so großes Vertrauen gesetzt, daß man Jedem selbst überläßt, sich in
die Wagenclasse zu setzen, zu der er durch sein Billet die Berechtigung erlangt
hat, und dies Vertrauen wird auch nicht mißbraucht. Kommt ausnahmsweise
ein Mißbrauch vor und wird er zufällig entdeckt so steht die hohe Strafe von
2 Pfund Sterling darauf und dieser Umstand mag wohl auch wesentlich
dazu beitragen, einer Betrügerei seitens des Publikums vorzubeugen. Aber
die hohe Strafe allein wäre dazu nicht im Stande, das tiefe Gerechtigkeits¬
gefühl, welches die englischen Bevölkerungsschichten durchdringt, thut die
Hauptsache und ich kann dasselbe nicht hoch genug loben, da es sich überall,
besonders auch in der Reellität zeigt, mit der Jeder, auch der ganz Fremde,
in allen Verkaufsladen bedient wird. In dieser Hinsicht können wir in unserm
lieben Heimathland leider noch sehr viel lernen; da aber dieser Zug des eng¬
lischen Volkes ein echt germanischer ist, so werden wir hoffentlich unsere
Schwesternation bald erreichen. Ist doch Gott sei Dank die Zeit hinter uns,
wo es in so weiten Kreisen für ein besonderes Verdienst galt, gegen Alles,
was nach Ordnung strebte, um jeden Preis Opposition zu machen, durchgingt
doch ein tiefes Pflichtgefühl das deutsche Volk mehr und mehr und so wird
sich auch das altberühmte Gerechtigkeitsgefühl der Deutschen wieder mehr be¬
leben und schließlich alle Verhältnisse durchdringen, nachdem es durch directen
und indirecten französischen Einfluß mit seinem hohlen, nur auf äußern
Schein berechneten Freiheitsschwindel mehr und mehr ins Schwanken ge¬
kommen war.
Außer diesem Gerechtigkeitsgefühl tritt jedem Fremden auch ein sehr hoch¬
entwickeltes Anstandsgefühl wohlthuend entgegen, besonders wenn man die
Reise nach England durch Belgien machte und dort mit der wallonischen Be¬
völkerung in Verbindung kam. Hier in London kann jeder anständige Mensch,
auch jede seine Dame getrost sich beim Reisen der dritten Classe bedienen,
trotzdem es keine besondern Frauenabtheilungen in den Eisenbahnwagen aller
Classen giebt, hier wird jeder gewöhnliche Arbeiter von den Mitreisenden sehr
gerne in die I. Classe aufgenommen, wenn er etwa mit einem derselben etwas
auf der Fahrt zu besprechen beabsichtigt, denn er weiß sich zu betragen und
er kehrt ganz von selbst wieder in seine Classe zurück, wenn das Geschäft be-
endet ist; auch würde in einem derartigen Falle seitens eines etwa revidiren-
den Beamten die Strafe von 2 Pfund gegen den Fahrgast, der vorübergehend
sich einer höhern Classe bedient, nicht verhängt werden. Hier wird sich Nie¬
mand zu rauchen erlauben, wenn Damen zugegen sind, trotzdem sonst gerade
in dieser Hinsicht das Jnselvolk sich mehr und mehr continentalen Sitten —
oder Unsitten? — nähert. Die Zuvorkommenheit gegen Damen ist überhaupt
eine sehr hochentwickelte und so kommt es denn auch, daß besondere Coupes
für das weibliche Geschlecht nicht vorhanden und wohl auch bis jetzt nicht
nothwendig sind, daß vielmehr die Damen von den anreihenden Herren die
etwaigen Hülfeleistungen nicht nur dankend annehmen, sondern erwarten und
sich auf dieselben verlassen. Wären nun nur Damen in einer Wagenabthei¬
lung, so müßten dieselben auch stets für sich selbst sorgen und daran ist die
Engländerin nicht gewöhnt, sie kann es ja viel bequemer haben, wenn sie
die Zuvorkommenheit der Herren in jeder Weise ausnutzt, und wenn sie das
in zuversichtlicher Liebenswürdigkeit thut, so wird auch jeder Mann diese
Dienste gerne leisten.
Die englischen Eisenbahnwagen sind in ihrer innern Ausstattung noch
schlechter wie die der Rheinischen Eisenbahngesellschaft, ja vielfach sogar noch
schlechter, als die der belgischen und französischen Eisenbahnen; erst in letzterer
Zeit macht sich das Bestreben geltend die Eleganz der deutschen Wagen sich
zum Muster zu nehmen. Auch sind die Wagen häusig im Innern recht ver¬
unreinigt, da sie viel intensirter ausgenutzt, daher auch nicht so häufig ge¬
reinigt werden wie in Deutschland. Es ist bei der außerordentlichen Frequenz
der Bahnen auch kaum anders möglich und bei den meistens nur kurzen
Strecken, die man per Eisenbahn zurücklegt auch weniger unangenehm
fühlbar.
Derselbe Zug der soeben angekommen ist, wird sofort wieder zum Ab¬
fahren benutzt, so daß die Wagen und Locomotiven unausgesetzt im Gange
sind, häufig ist die Einrichtung sogar so getroffen, daß die Passagiere in Kopf¬
stationen auf einer Seite des Zuges aussteigen, während schon wieder von der
andern Seite sich der Zug füllt. Es wird der so außerordentliche Betrieb der
Stadtbahnen nur auf diese Weise möglich; so kann es erreicht werden, daß
alle 3 —10 Minuten Züge abfahren und ankommen, und welch großen Vor¬
theil gerade diese schnelle Aufeinanderfolge der Züge allen Interessenten ge¬
währt, sieht man überall deutlich vor Augen und nur dadurch ist jene gro߬
artige Decentralisation Londons erreicht worden. Wenn ich mit Sicherheit
darauf rechnen kann, zu jeder Tageszeit, nach höchstens wenigen Minuten
Wartens einen Zug bereit zu finden, der mich nach meinem außerhalb liegen¬
den Wohnsitz führt, dann kann ich auch getrost meilenweit vom Geschäfts¬
mittelpunkte wohnen, wenn ich aber erst Fahrpläne studiren muß und nur
etwa stündlich eine Fahrgelegenheit sich mir darbietet, so bin ich viel zu sehr
an bestimmte Zeiten gebunden, um mit Ruhe und Vortheil meinen Wohnsitz
nach außerhalb verlegen zu können. Die Stadtbahnen haben zwar aus einer
ganzen Reihe von Städten, Städtchen und Landhauscolonien erst ein großes
Ganzes geschaffen, aber andererseits auch wieder so decentralisirend gewirkt,
daß man kaum mehr von einer Stadt reden kann und dadurch, daß die Be¬
völkerung jetzt schon viel weniger dicht ist, wie bei irgend einer andern Gro߬
stadt, und die Dichtigkeit noch stetig abnimmt, außerordentlich wohlthätig
gewirkt.
Wenn auch viele Einrichtungen der Londoner Bahnen nicht schön und
bequem sind, wenn auch in der Regel für das Publikum und dessen möglichste
Bequemlichkeit in Deutschland viel mehr gethan wird, - was freilich auch
nur durch ein ziemlich entwickeltes Bevormundungssystem erreicht werden kann
— so sind doch sicherlich alle jene Einrichtungen aus speziellen Lokal-Bedürf-
nissen als nothwendig oder wünschenswert!) hervorgegangen -und sind daher
unter ähnlichen Verhältnissen auch gewiß nachcihmenswerth. Es gilt dies
vor allen Dingen auch von der überall so scharf durchgeführten Perronab¬
sperrung, welche ja auch in Deutschland eingeführt werden soll, gegen die sich
aber das Publikum eigenthümlicherweise Weise ganz gegen sein Interesse
sträubt. Wer nicht mitreisen will, hat auch nichts auf dem Perron zu suchen,
und alle die vielen Abschiednehmenden stören nur, ohne irgend welchen
Nutzen zu bringen, häufig aber führen sie Gefahren herbei. Sentimentalität
ist hier weniger am Platze wie irgend sonst wo.
Eine andere sehr löbliche Einrichtung ist die scharfe Trennung des Local-
verkehrs vom großen Verkehr der Hauptbahnen, die besonders in der neuesten
Endstation der Great Eastern Bahn mit äusterster Consequenz durchgeführt
ist und den erster» vollständig als Omnibusverkehr behandelt, d. h. auf eine
bequeme, per Droschke zu ermöglichende Verbindung zwischen Zug und Straße
verzichtet und dafür sorgt, daß der zu Fuß zurückzulegende Weg ein möglichst
kurzer und geradliniger sei, während die Vermittlung zwischen dem Verkehre
der Hauptbahn und dem der Straße auf folgende sehr vollkommene Weise
erfolgt. Man kann mit dem Straßenfuhrwerk bis unmittelbar vor die Billet¬
schalter fahren, so daß man trockenen Fußes dahin gelangt — soweit stimmt
die Verbindung mit deutschen Einrichtungen überein — und man kann ebenso,
aus dem Zuge aussteigend, gleich vom Perron aus in eine Droschke steigen,
deren Haidestraße stets innerhalb der großmächtigen Bahnhofshallen zwischen
den Ankunftsgleisen angebracht sind, und von da abfahren, ohne sich erst eine
Marke geben lassen und auf einem oft weit entfernten Droschkenhalteplatz
in Regen, Sturm und Schnee sich'erst seine bestimmte Droschke aussuchen zu
müssen. Gewiß ist die in Deutschland eingeführte Markencontrvle eine wehend-
liebe Verbesserung gegen frühere Zustände gewesen, aber die englische Ein¬
richtung ist noch vollkommener, denn dadurch, daß die Droschkenstraßen un¬
mittelbar neben den Ankunftsgleisen liegen, wird der von den Reisenden
zurückzulegende Weg wesentlich abgekürzt, die Station also schneller entleert
und Menschen und Pferde haben nicht unter den Witterungsverhältnissen zu
leiden. Das Markensystem ist aber hierbei unnöthig, — ja es würde störend
sein, weil dadurch der Weg wieder verlängert würde, — da durch eine ge¬
sonderte Ein- und Ausfahrt der Droschken stets von außerhalb liegenden
Halteplätzen Wagen je nach Bedarf den abfahrenden nachrücken. So ist auch
nie ein Mangel an Wagen wahrzunehmen, natürlich immer den Sonntag
ausgenommen, den man ja überhaupt aus dem Leben der Engländer gänzlich
streichen könnte, ohne denselben großen Schaden zuzufügen.
Nun zum Schluß noch einige Mittheilungen über die Güterbahnhöfe.
Diese sind stets vollständig von den Personenstationen getrennt, aber auch
hier läßt sich das Bestreben constatiren, möglichst in das Innere der Städte
einzudringen. Besonders durch Vermittlung der unterirdischen Bahnen sind
in den letzten Jahren aus diesem Bestreben in London in und unmittelbar
an der City 4 Güterstationen entstanden und jetzt ist eine im Bau begriffen.
Von diesen nutzen zwei die untern Viaducträume der Personenstationen aus,
während eine dritte unter den großmächtigen Fleischhallen am Smiethsteld
angelegt worden sind, und besonders dadurch außerordentlich segensreich für
London wirkt, daß sie eine Beförderung des Fleisches, in Eis verpackt, bis
unmittelbar unter die Markthallen per Dampf ermöglicht, während die Vieh¬
hofe und Schlachthallen weit außerhalb der Stadt angelegt sind.
Auf andern Stationen wieder finden sich große 5 — 7 Stockwerke hohe
Magazine für Korn und Mehl, mächtige Bierkeller, ausgedehnte Kartoffel-
und Gemüselager-Keller und in Städten wie Liverpool, Manchester, Birming¬
ham, Newcastle wiederholen sich überall ähnliche Anlagen, nur zuweilen sind
noch für Spezialproducte besondere Räume und Ladestellen vorhanden, so in
Liverpool für Baumwolle und Heringe, in Manchester für Kaninchen und
dergl. mehr.
Ueberall ist der Güterschuppen mit einem Waarenhaus unmittelbar ver¬
bunden, so daß dort Kaufleute gegen Bezahlung eines Pachtgeldes Waaren
lagern können, für die oft die Station nur Markt ist und welche wieder nach
Auswärts versandt werden.
Außer diesen Güterstationen befinden sich auch noch überall in den Städten
zahlreiche Güterannahmestellen. Die Inhaber dieser Plätze sind ein Mittelding
zwischen Bahnbeamten und Spediteuren und nehmen in der Regel Güter für
sämmtliche Bahnen an. Alle Expedilionsarbeiten werden von diesen Agenten
besorgt, so daß auf dem Güterbahnhof nur die Waaren verladen werden
müssen und zwar müssen dieselben bereits sortirt angefahren werden, so daß
der Zeitaufwand auf der Station auf ein Minimum beschränkt wird.
Durch dieses Verfahren werden auch viele Beamten erspart und wenn
man außerdem erwägt, daß zur Copie aller beim Güterdienst nothwendigen
Schriftstücke in echt kaufmännischer Weise nur Copirmaschinen, niemals aber
Schreiber verwendet werden, so begreift man die so geringe Beamtenzahl bei
dem so bedeutenden Verkehr.
In rein technischen Sachen, in der Construction unserer Bahnen und
sonstiger Bauten sind wir in. Deutschland sicherlich ebenso weit wie die Eng¬
länder, wenn freilich auch die Großartigkeit, durch die geringern Mittel und
die geringere Bevölkerungszahl unserer Großstädte bedingt, nicht in dem Maaß
zu finden ist wie in Großbritanien. In manchen sehr wesentlichen Dingen,
wie dem Oberbau der Eisenbahnen, den Brückenconstruetionen, der Eleganz
der Eisenbahn-Wagen und Stationsgebäude sind wir sogar entschieden weiter
wie die Engländer und ich erwähne dies hier um deßwillen ausdrücklich, weil
gerade in dieser Hinsicht unter den Nichtsachverständigen sehr falsche Ansichten
verbreitet sind, die durch Berichte erzeugt worden find, die gewiß stets mit
den besten Absichten geschrieben, aber deren Verfasser durch die Großartigkeit
geblendet waren.
Aber überall, wo es sich um Verwaltung, um Raffinement des Betriebes
handelt, da sind die Engländer uns Deutschen überlegen, sie mögen durch die
Nothwendigkeit, durch den enormen Bekehr dazu gezwungen worden sein, sie
erreichen es aber wohl hauptsächlich auch dadurch, daß alle ihr Beamten von
unten auf dienen und so schließlich in ihrem Spezialfach eine außerordentliche
Gewandtheit erlangen.
Auch werden die Eisenbahnverwaltungen vom Publikum weit glimpflicher
behandelt, als die deutschen, obgleich vielfach für dessen Bequemlichkeit weniger
geschieht als in Deutschland. Aber der Engländer betrachtet die Eisenbahn
als ein industrielles Unternehmen wie jedes andere auch, nicht ausschlie߬
lich als eine gemeinnützige Verkehrsanstalt, wie der Deutsche. Die deutsche
Auffassung ist gewiß die richtigere und sängt auch in England an, sich Bahn
zu brechen, aber immerhin wäre dem deutschen Publikum und der deutschen
Presse anzuempfehlen nicht bei jeder Gelegenheit in der gehässigsten Weise über
die Eisenbahnverwaltungen herzufallen, noch ehe genaue Angaben oder rich¬
terliche Entscheidungen über vermeintliche oder wirkliche Schäden, Unglücks¬
fälle, welche leider niemals ganz zu vermeiden sein werden, oder dergl. mehr
vorhanden sind. Wirkliche Schäden müssen rückhaltlos aufgedeckt werden, aber
erst muß der Fehler auch wirklich constatirt sein und zwar durch Sachver¬
ständige, bevor Laien ein Recht haben, eine Eisenbahn zu verurtheilen. Ich
erinnere hier z. B. an die so sehr entstellenden Berichte der Blätter bei Ge-
legenden des Fröttstädter Unglücks im Jahre 1878, an die gehässigen Hetzereien
der Berliner Witzblätter gegen Bahnverwaltungen, die sich schließlich als
gänzlich schuldlos herausstellten. Der Mensch besitzt nicht nur Rechte,
sondern hat auch Pflichten zu erfüllen und zwei der vornehmsten sind, Anstand
Die drei Sitzungen, welche der Reichstag bis heute in diesem Jahre ge¬
halten, haben sich mit technischen Gegenständen beschäftigt. Nur der unver¬
meidliche Diätenantrag Schultze-Delitzsch bildete eine Ausnahme, Er fand
wiederum die gewohnte große Majorität, indem nur die conservativen Frak¬
tionen und wenige Nationalliberale dagegen stimmten. Ueber die Diäten-
passion ist kein Wort weiter zu verlieren. Die gute Folge, welche die wieder¬
holte Annahme des Antrags hat, wollen wir auch heute ihr nachzurühmen
nicht unterlassen. Die Folge nämlich, daß der Gedanke einer umfassenden
Veränderung des Reichswahlgesetzes, den man sonst gern auf eine entfernte
Zukunft verschöbe, als eine unumgängliche Aufgabe der nächsten Zukunft sich
präsentirt. Vielleicht haben wir schon bei der nächsten Wiederholung Anlaß,
den Charakter dieser Veränderung ins Auge zu fassen. —
Wenn der Reichstag in den erst wenigen Sitzungen dieses Jahres
noch keine wichtige Berathung gepflogen, so stehen solche doch dieser
Session unzweifelhaft noch bevor. Abgesehen von dem Bankgesetz, mit
dessen Vorberathung die dafür eingesetzte Commission langsamer vorwärts
kommt, als wünschenswert!) wäre, ist der höchst wichtige Entwurf eines
Reichsgesetzes über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschlie¬
ßung, unter dem 6. Januar vollzogen, am Tage des Wiederzusammentritts
an den Reichstag gelangt. Außerdem liegt ein Antrag der Fortschrittspartei
vor, das Privilegium der Reichstagsmitglieder gegen Untersuchungs- und
Schuldhaft auf Befreiung von jeder Art von Haft auszudehnen. Die Fort¬
schrittspartei hat bei diesem Antrag das Centrum, die Socialdemokraten, El¬
sasser und Polen zu sicheren Bundesgenossen. Es bedarf nur des Uebertritts
einiger Nationalliberalen, welche durch ihre Abstimmung für die Resolution
Hoverbeck für den jetzigen Antrag gewissermaßen engagirt sind, und die Ent¬
scheidung hängt an einem Haare. Trotz mancher neuerdings eingelegten Ver-
Wahrung bleibt wahrscheinlich, daß, wenn der jetzige fortschrittliche Antrag,
der den Namen Hoffmann trägt, nicht auf irgend eine Weise geräuschlos be¬
graben "wird, derselbe eine Krisis der nationalliberalen Partei zur Folge hat.
Zum 16. Januar ist der preußische Landtag einberufen. Der Reichstag
wird an diesem Tage seine Arbeiten auf keinen Fall beendigt haben. Aber
die Einberufung des Landtags konnte nicht länger aufgeschoben werden, weil
die preußische Verfassung die alljährliche Einberufung zwischen Anfang No¬
vember und Mitte Januar verlangt. Der Landtag wird eine Anzahl Com¬
missionen wählen und alsdann bis zum Schlüsse des Reichstags nur eine
oder die andere Sitzung für formelle Geschäfte halten. So lassen sich die
Uebelstände des Nebeneinandertagens einigermaßen vermeiden, obwohl nicht
gänzlich. Denn die Landtagseommissionen, deren Mitglieder meistens auch
im Reichstage beschäftigt sind, werden zunächst nicht viel arbeiten, und der
Landtag wird unmittelbar nach dem Schluß des Reichstags von seinen wich¬
tigeren Geschäften noch keine vorbereitet finden. Die Folge wird sein, daß
die Landtagssession sich bis tief in den Sommer hinein erstreckt. Wenn da¬
mit bloß die angebliche Beschwerde für die Landtagsmitglieder verbunden wäre,
einen Theil der schönen Sommerszeit in Berlin fein zu müssen, so würde
uns dieses Unglück völlig ungerührt lassen. Es ist aber zuviel parlamentarische
Arbeit vom October bis zum Juni, also während dreier Viertheile des Jahres.
Zu viel für die Nation, welche diese Berathungen mit dieser Theilnahme
begleiten und für sich verarbeiten soll. Zu viel für die Regierungsmitglieder,
welche diese Arbeiten leiten, vorbereiten und mit, der Staatspraxis in Har¬
monie erhalten sollen, zu viel für die Parlamentarier, deren arbeitender Theil
dem preußischen Abgeordnetenhaus wie dem deutschen Reichstag angehört.
Wo ist der Sitz des Uebels? Man hat oft gesagt: in der unvermeidlichen
Arbeitsüberhäufung einer Regenerationsepoche. Man mag diesem Grund noch
so viel Achtung zollen, wie wir es entschieden thun, das Uebel könnte und
sollte besser in Schranken gehalten werden. Wenn wir uns zwar in einer
Regenerationsepoche befinden: die Arbeit brauchte nicht in dem Maße, wie
es geschieht, überstürzt zu werden. Dem jetzt zusammentretender Landtag soll
ziemlich der ganze Complex der Gesetze vorgelegt werden, welche die preußische
Verwaltungsreform einschließen. Ein großes und dringendes Unternehmen,
das aber gleichwohl, ohne den geringsten Schaden zu leiden, noch um eine
Session, und selbst um eine Legislaturperiode hätte verschoben werden dürfen.
Es giebt Gesetze, die sich durchaus nicht aufschieben lassen, weil durch ihre
Abwesenheit so zu sagen ein Leck im Schiff entsteht. Solcher Art ist das
Bankgesetz. Solcher Art ist aber mit Nichten die preußische Verwaltungsre¬
form. Hier handelt es sich um einen Bau, der ein gesundes Staatsleben
durch Jahrhunderte tragen soll, und dem nichts gefährlicher, als wenn er aus
Eile ohne das volle Maß der Ueberlegung begonnen wird, das er erheischt.
Der alte Bau kann unsere Zukunft nicht tragen, aber er kann uns sehr wohl
noch einige Jahre tragen, wenn diese Jahre dienlich sind zur desto besseren
.Anlegung des Neubaus. Die Uebertreibung einer an sich ja - nothwendigen
Eile und Arbeitsüberhäufung läßt sich nur aus dein epidemischen Charakter
erklären, den alle großen Zeitrichtungen annehmen, ein Charakter, der wieder¬
um nur zu erklären ist aus der Widerstandsunfähigkeit der großen Masse
der unselbständigen Naturen. Es ist der alltägliche, aber stets unerfreuliche
Anblick, wenn eine Menge, die irgendwo in geschlossenem Raume versammelt
war, mit einem Male nach dem Ausgang drängt. —
Inzwischen giebt es allerdings Leute, die sich bemühen, ad oculos zu
beweisen, daß mit der preußischen Verwaltungsreform keinen Tag mehr zu
zögern ist. Am Schlüsse des vorigen Jahres hat die vorschriftsmäßige Par-
tialerneuerung der Berliner Stadtverordneten stattgefunden. Diese Versamm¬
lung, die seit vierzehn Jahren etwa eine fortschrittliche Majorität und Herrn
Virchow als deren Autorität besitzt, hat von ihrer Majorität neuerdings eine
sogenannte Bergpartei sich absondern sehen, und die letzten Wahlen haben
dieser Partei die Majorität verschafft. Am 7. Januar wurden die neuen
Mitglieder eingeführt, und die neue Majorität setzte sogleich den verdienten
fortschrittlichen Vorsteher der Versammlung, Herrn Kochhann, der diesen Posten
zwölf Jahre lang mit allgemeiner Anerkennung bekleidet, ab. Darauf ließ
sie den leitenden Tribunen, den sie sich erkoren, Herrn Eugen Richter, sich
mit einer neuen Geschäftsordnung präsentiren, die Niemand außer dem Ver¬
sasser kannte, für die aber unbesehens eine Commission beschlossen werden sollte.
Auf die Aeußerungen des Befremdens, welche gegen dieses Verlangen aus der
Minorität laut wurden, antwortete die Majorität mit solchen Grobheiten
und solchem Skandal, daß allerdings der Anfang vom Ende sich nicht ver¬
kennen läßt. Mit dieser Art von Bildung der Gemeindevertretung, mit dieser
Art von Theilung der Befugnisse zwischen Magistrat und Stadtverordneten
geht es nicht mehr. Wenn man den Bericht über diese Sitzung liest, macht
es einen eigenthümlichen Eindruck, wenn zwischen dem Skandal der
Oberbürgermeister, ein feiner, edler Mann, wie ein Grieche unter Barbaren
erscheint, um aus Anlaß der Einführung neue.r Stadträthe zwischen dem
wüsten Lärm Worte der Bildung vernehmen zu lassen. Mit,dem Verlangen,
welches diese Scenen hervorrufen, harmonirt allerdings und befriedigt es,
wenn wir lesen, daß der Minister des Innern die Oberbürgermeister zu Con-
ferenzen über die Reform der Städteordnung zusammenberufen hat, eine Reform,
die wir bei aller Nothwendigkeit, nach dem oben Gesagten, nicht gern über¬
eilt sehen möchten. —
Im Prozeß Arnim ist im letzten Augenblick vor Ablauf der zulässigen
Frist die Berufung durch den Staatsanwalt wie durch den Verurteilten an¬
gemeldet worden. Der Verurtheilte und seine Rechtsbeistande haben es für
nöthig gehalten, dem Beispiel des Staatsanwalts zu folgen, um die Aussicht
einer totalen Freisprechung durch ihre Befriedigung bei dem ersten Urtheil
nicht etwa zu vermindern. Der Staatsanwalt aber hat die Berufung wohl
nur darum eingelegt, um die Rechtsgrundsätze, welche das Urtheil der ersten
Instanz aufgestellt, sich nicht einbürgern zu lassen, z. B den Grundsatz, daß
ministerielle Anweisungen an die Gesandten und Berichte der Gesandten an
den Minister keine Urkunden seien. Im Uebrigen darf man sagen, daß das
Interesse des großen Publikums an dem Prozeß erschöpft ist. Man weiß
vollkommen, wie man mit dem Helden daran ist, und nur Blätter wie
der ,Mo^ol'K lioralcl" und Consorten allerwärts preisen den Helden
Mit dem neuen Jahre hat für die Hauptstadt des deutschen Reichs in
ganz besonderem Grade eine neue Aera begonnen. Im November hatte eine
partielle Erneuerung der Stadtverordnetenversammlung stattgefunden. In
dem Wahlkampfe hatte eine gemäßigte, lediglich die communalen Angelegen¬
heiten ins Auge fassende Richtung einem Radicalismus gegenüber gestanden,
der besonders im letzten Jahre das politische Fractionswesen in das Kolle¬
gium einzuführen bestrebt gewesen war. Die letztere Partei hatte den Sieg
davongetragen und dadurch die Majorität in der Versammlung erlangt. Sie
ließ von Anfang an keinen Zweifel darüber, daß sie ihre Uebermacht gründlich
ausnutzen würde; aber ihr am letzten Donnerstag erfolgtes Debüt hat auch
die schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Man begann mit der Beseitigung
des Stadtverordnetenvorstehers Kochhann; mit zwei Stimmen über die absolute
Majorität (mit 83 von 100) wurde der Candidat des „Berges" oder der
„Fraction der Linken," wie sich die Opposition bisher zu nennen liebte, ge¬
wählt. In seiner Annahmeerklärung nannte der neue Präsident Herrn Koch¬
hann einen Mann, dem an Eifer und rastloser Thätigkeit Niemand gleich¬
kommen werde. „Die Hingebung," sagte er U.A., „mit der mein Vorgänger
die zwölfjährige Thätigkeit hier geleitet hat, ist über jedes Lob erhaben. Wie
auch die Verhältnisse sich gestalten mögen, das ist meine Ueberzeugung, diese
zwölfjährige rastlose Thätigkeit wird unvergessen bleiben, sie wird erhalten
bleiben im Andenken der Stadt als ein Beispiel von ächtem Bürgerthum,
als ein seltenes Beispiel treuer Hingebung." Warum aber dann diese brüske
Beseitigung eines solchen Mannes? War Herr Kochhann etwa altersschwach
geworden? oder widersetzte er sich der Wiederwahl? oder hatte der „Berg"
ihm wenigstens einen Nachfolger zu geben, der die Gewähr bot für eine gleich
gute Führung der Geschäfte? Nichts von Allem: Herr Kochhann gehört
nicht zur „Fraction," er erlaubt sich sogar, der Ansicht zu sein, daß die Her¬
eintragung politischen Fractionswesens in communale Bürgerschaften dem
Gemeinwesen nicht zum Heile gereichen könne — darum mußte er fallen.
Indeß, man war darauf gefaßt gewesen, daß die Radicalen die Vor¬
steherwahl zu einer Machtprobe benutzen würden. Der Glanzpunkt in der
Inaugurationsfeier der neuen Aera, die Hauptüberraschung stand noch bevor.
Unter den neugewählten Stadtverordneten befindet sich der als Repräsentant
der äußersten Linken der Fortschrittspartei bekannte Eugen Richter. Herr
Richter erfreut sich im Reichstage und Landtage als „Finanzcapaeität," wenn
auch keineswegs der ungeteilten Zustimmung, so doch der Achtung einiger
Parteien; sein politischer Standpunkt wird wenigstens von einigen seiner
Parteigenossen getheilt; sein Einfluß aber ist, am meisten wohl wegen seiner
grenzenlosen Anmaßung, selbst innerhalb seiner eigenen Fraction, gleich Null.
Als er sich in die Stadtverordnetenversammlung wählen ließ, war man sich
klar darüber, daß er dort die Basis, die allein von ihm beherrschte Domäne
darin zu finden suchte, welche ihm in den parlamentarischen Versammlungen ver¬
sagt blieb. Das Schreiben, in welchem er seinen Wählern die Annahme der
Wahl anzeigte, machte jeden Zweifel unmöglich. Mit bewundernswerther Offen¬
heit gab er zu verstehen, daß er sich um die Details der städtischen Angelegen¬
heiten nicht bekümmere, sondern nur in den Prinzipienfragen als Führer aus¬
treten werde. Kurz, man wußte: in dem Kampfe des ehrgeizigen Radicalen
war es eine ausgemachte Sache, daß mit dem Jahre 1875 für die Stadt
Berlin eine Aera Richter beginnen müsse. Dennoch hatte Niemand erwartet,
daß Herr Richter diesen Plan mit solcher — nun, sagen wir Rücksichtslosig¬
keit ins Werk setzen werde, wie er es am 7. Januar gethan. Er, der soeben
in die Versammlung Eintretende, überraschte dieselbe mit einer vollständig
ausgearbeiteten neuen Geschäftsordnung. Daß die bestehende Geschäftsord¬
nung reformbedürftig sei, war längst anerkannt; eine besondere Deputation
des Kollegiums hatte die wichtige und schwierige Materie in längeren Ver¬
handlungen räthlich erwogen und das Resultat ihrer Berathungen in einem
Bericht an das Plenum niedergelegt.
Jetzt erscheint ein Neuling, der kaum in den Sitzungssaal hineingerochen,
bezeichnet diesen Bericht als „das Papier nicht werth, auf dem er gedruckt
steht/' und beansprucht, daß eine große Versammlung, die doch zum nicht
geringen Theile aus Männern besteht, die in den Geschäften der städtischen
Vertretung grau geworden, fortan nach seiner Pfeife tanzen. Damit nicht
genug, verlangt er für seinen Geschäftsordnungsentwurf auch noch die Dring¬
lichkeit, d. h. nichts Geringeres als die ungesäumte erste Berathung desselben.
Unter normalen Verhältnissen würde eine so unerhörte Ueberrumpelung un¬
möglich fein, aus dem einfachen Grunde, weil Jeder den Entwurf erst zu
kennen verlangen würde; hier gelang sie, weil die „Fraction" vorher ihre
Mitglieder durch bindenden Beschluß verpflichtet hatte, für die Dringlichkeit
zu stimmen. Selbstverständlich nahm die hinter der Majorität nur um wenige
Stimmen zurückstehende Minorität diese ungeheuerliche Anmaßung nicht mit
demüthigem Schweigen hin. Aber die herrschende Partei zeigte ihr sofort,
wie unter der neuen Aera die Opposition behandelt werden wird. Exclama-
tionen und Gesten der wüthendsten Feindseligkeit für den Gegner, Beifalls¬
gebrüll und Händeklatschen im Saal und auf der Tribüne (!) für den Frac-
tionsgenossen, kurz, ein Tumult, wie er in den Räumen unseres Stadthauses
nie geahnt wurde — das war die Signatur dieser ersten Sitzung der neuen
Stadtverordnetenversammlung. Und das Alles, ohne daß der neue Vorsteher
ein Wort des Tadels oder auch nur der Beschwichtigung gehabt hätte! Wahr¬
haftig, wir haben die Weltstadt Wr exeellöneö in diesem Punkte kaum noch,
um einen Vorsprung zu beneiden!
Draußen im Reich wird man zu diesen Dingen verwundert den Kopf
schütteln. Man wird sich fragen, was die so ungestüm auftretende Partei
denn eigentlich wolle. Leider ist man in Berlin selbst kaum im Stande, diese Frage
zu beantworten. Noch vor kurzer Zeit hätten sich die Wünsche der Partei
in eine Formel zusammenfassen lassen, die sich von dem alten gemüthlichen
Programm: „Es muß Alles verrungeniret werden!" nicht gär weit entfernt
hätte, ohne daß sich jedoch den ehrenwerthen Mitgliedern der „Fraction" et¬
wa irgendwelche Bereitwilligkeit gegenüber den Forderungen der Socialdemo¬
kratie nachsagen ließe. Es war jener bekannte dunkle Drang unklarer Köpfe,
daß „es anders werden müsse"; was? und wie? war gleichgültig oder min¬
destens sehr zweifelhaft. Heute, nachdem Herr Richter so unverhohlen die
Führerschaft übernommen, ist wenigstens soviel klar, daß die Berliner Stadt¬
verordnetenversammlung fortan zum Tummelplatz des politischen Radicalismus
gemacht werden soll.
Die radicale Partei hat mit der Ausschließlichkeit, mit welcher sie ihre
Herrschaft begonnen, eine schwere Verantwortung übernommen. Aber nicht
ihr allein darf dieselbe aufgebürdet werden; die Hälfte gebührt jenen 60—80
Procent der städtischen Wähler, welche bei den letzten Wahlen ihre Bürger¬
pflicht versäumt haben. — Die Früchte der neuen Aera sind nur zu leicht
vorherzusehen. Berlin soll demnächst mit einer Reihe umliegender Ortschaften
zu einer Provinz vereinigt und unter eine besondere Provinzialordnung gestellt
werden. Was über den von der Regierung fertig gestellten Entwurf der
letzteren verlautet hat, ließ vermuthen, daß die liberale Partei im Interesse
einer ersprießlichen Selbstverwaltung manche Aenderungen werde verlangen
müssen. Daß aber Borgänge, wie der vom letzten Donnerstag, dem Erfolge
eines derartigen Verlangens direct entgegenarbeiten und die Position der libe¬
ralen Partei nur schwächen können, sollte auch dem blödesten Auge klar sein.
In der That, der 7. Januar hat in weiten Kreisen die traurige Befürchtung
erzeugt, daß in der deutschen Hauptstadt die Selbstverwaltung Bankerott
machen könne. —
Mit dieser trüben Perspective meinen Brief zu schließen, bringe ich nicht
übers Herz. Werfen wir denn, da die Kunst ja doch immer „heiter" ist,
noch einen kurzen Blick auf unsere Theaterwelt. In der Prosa des ernsten
Lebens habe ich lange nicht mehr die Muße zu loser Plauderei gefunden;
auch heute gestattet der Raum nur ein summarisches Verfahren. Da sind also
zunächst die königlichen Schauspiele. Die Oper hat uns vor einiger Zeit mit
einer Novität beschenkt. „Cesario" nennt sich dieselbe, das Libretto Shake¬
speare's „Was ihr wollt" entnommen, die Composition von unserm Capell-
meister Taubert. Ein kühnes Wagniß, eine der eigenartigsten Dichtungen
des großen Briten in Musik zu setzen. Die hochpoetische, zarte und duf¬
tige Seite des Werkes in Tönen wiederzugeben, mag verhältnißmäßig leicht
gelingen; eine arge Klippe aber sind die komischen Stellen und Charaktere.
Nicolai-in seinen „Luftiger Weibern" hat diese Klippe unter der Gunst der
Götter umschifft; die Muse Taubert's, sagen wir es offen, ist nicht so glück¬
lich gewesen. Die Scenen sprudelnden, übermüthigen Humors zwischen Junker
Tobias, Junker Christoph von Bleichenwang, Marie und Malvolio wider¬
streben prinzipiell dem ganzen Wesen der Taubert'schen Musik; sie sind außer¬
dem in übermäßiger Breite angelegt. Sonst aber fehlt es nicht an ergreifen¬
den Momenten; so besonders am Beginn des dritten Acts die Scene zwischen
dem Herzog und Viola. Die Finales sind getragen von glänzendem poly¬
phonem Schwung; das Ende des ersten Acts ist auch samisch sehr wirksam.
Der allgemeine Charakter der Musik ist derjenige aller Taubert'schen (Kompo¬
sitionen: correcte Harmonie, edler Stil, süßer Wohllaut — als Musik an
und für sich sehr achtungswerth, als dramatische Musik aber nicht haltbar.
Es fehlt ihr die Kraft der Charakteristik, das organische Verwachsensein mit
dem Stoffe. Als Operncomponist gehört Taubert einer Schule an, die nach
Wagner, mag man über diesen sonst denken wie man will, nicht mehr lebens¬
fähig ist.
Das Schauspielhaus brachte, neben einigen kleinen Novitäten, eine Komödie
von Mosenthal: „Die Sirene." Es ist wirklich ein eclatanter Beweis der
rührenden Genügsamkeit unserer Zeit, wenn dies Stück als eines der besseren,
ja besten Producte der neuesten dramatischen Literatur anerkannt wird. Sein
Stoff ist die alte Geschichte von der verkannten Gouvernante oder Gesell¬
schafterin, die schließlich von einem Edelmann heimgeführt wird. Nur bewegt
sich die interessante Jungfrau diesmal nicht in der Sphäre Birchpfeiffer'scher
Sentimentalität, sondern sie ist ein ausgelassener kleiner Kobold und möchte
sich halb todtlachen darüber, daß sie trotz ihres noch sehr jugendlichen Alters
nun schon bei der fünften Dame Gesellschafterin ist und alle Aussicht hat,
demnächst aufs Neue fortgejagt zu werden. Das erste Mal wurde sie fort¬
geschickt, weil sie beim Liebhabertheaterspielen einem vor ihr knienden, etwas
beschränkten jungen Mann gegenüber Manipulationen machte, wie wenn man
einen Hund anlockt; das zweite Mal, weil sie in einer sehr frommen Kaffee¬
gesellschaft der Teufel plagte, einmal zu Probiren, wie in dieser feierlichen
Stille wohl ein plötzliches „Schockschwerenothsdonnerwetter" wirken müsse
u. f. w. Im Uebrigen ist diese etwas derbe Fidelität ihr einziger Fehler; sonst
ist sie ein Engel. Den Namen „Sirene" hat ihr ein Zufall verschafft, mit
ihrem Charakter hat er nichts gemein; denn daran, daß sie von dem Baron
einmal zu ungewohnter Stunde in etwas derangirter Toilette überrascht wird,
ist sie ganz unschuldig. Diese Figur allein trägt das ganze Stück, die anderen
sind nicht schlecht, aber nur skizzenhaft gezeichnet. Die Handlung könnte
frischer und kürzer sein. Indeß, wenn man das Glück hat, die kleine Sirene
von einer so genialen Künstlerin, wie Frau Niemann - Raabe dargestellt zu
sehen, so wird man unter allen Umständen die Erinnerung an einen genu߬
reichen Abend davontragen.
Das Friedrich - Wilhelmstädtische Theater lebt seit einigen Wochen von
Lecoq's Operette „Girofle-Girofla". Vor etwa Jahresfrist erlaubte ich mir
bei Besprechung von „Mamsell Angot" die Bemerkung, daß Lecoq sich als
die Umkehr von der lasciven Depravation der Musik durch Offenbach zu
einer würdigeren Behandlung derselben ansehen lasse. Diese Beobachtung
finde ich durch „Girofle'" bestätigt. An Stelle der Offenbach'schen Originalität
ist ein vielseitiger Eklekticismus getreten; aber es sind meistens gefällige und
nirgends verletzende Weisen. Leider erstreckt sich aber die Umkehr keineswegs
auf den Text; da bleibt es bei der alten Unmoralität. Dazu kommt, daß
die Witze der Librettoschreiber Verlöv und Leterrier sehr faul und die Hand¬
lung ziemlich langweilig ist. Von den zwei Töchtern eines spanischen Granden
wird die eine, Girofla, von Seeräubern gestohlen und nun muß die ihr zum
Verwechseln ähnlich sehende Girofle sie, wo es nöthig ist, vertreten und so
sich auch mit zwei verschiedenen Männern trauen lassen. Die daraus ent¬
stehenden anzüglichen Situationen bilden den Corpus des Stücks. Gespiele
wird dasselbe mit der dem Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater in dieser
Beziehung eigenen Verve.
Das Residenztheater hat in letzter Zeit rasch hintereinander zwei neue
französische Sensationsdramen zu Grabe getragen; das Stadttheater hat ihm
mit einer eben solchen Bestattung fecundirt. Sollte endlich beim Publikum
eine Geschmacksbesserung eingetreten sein? — Auf der ersteren der eben ge¬
nannten Bühnen war im December die Stuttgarter Tragödin Frau Eleonore
Wahlmann zu einem Gastspielcyklus eingetroffen. Die Künstlerin ist unter
der Ungunst verschiedener Umstände nicht zur vollen Geltung gekommen, wäh¬
rend sie es so sehr verdient hätte. Sie vertritt die idealistische Auffassung in
der Tragödie; Wohlklang der Stimme und schöne Erscheinung erhöhen noch
den Eindruck ihrer mit feinem Verständniß geschaffenen und höchst stylvoll
ausgeführten Gestalten. Die höchsten Höhen des tragischen Affects sind ihr
freilich versagt. So bei ihrer Darstellung der Medea. Welch' andere, Mark
und Bein erschütternde Leidenschaft zeigt uns da unsere Mathilde Venata!
Nur schade, daß es derselben so schwer wird, in dem von ihr geleiteten
Stadttheater sich für ihre Tragödien endlich ein erträgliches Ensemble zu
sch
An Büchern, welche uns das Leben und die Werke des großen, däni¬
schen Bildhauers Thorwaldsen schildern, fehlt es nicht. (Siehe die Notiz
auf Seite 143 von Reder's Geschichte der neuern deutschen Kunst.) Am ein¬
gehendsten und fast erschöpfend hat darüber Thiele, Sekretair der Königl.
Akademie der Künste zu Kopenhagen, Thorwaldsen's Freund, der ihm in
seinen letzten Jahren vielfach zur Seite gestanden und auch seinen ganzen
Nachlaß geordnet hat, unter Benutzung sehr zahlreicher, vollkommen zuver¬
lässiger Hülfsmittel, gehandelt. Aus Thiele's Werken haben dann fast alle
Andern, besonders auch diejenigen, welche die gesammte neuere Kunst ge¬
schildert haben, geschöpft. — Aber es fehlte bisher an einem Buche, welches
auf der Kenntniß dessen, was Thiele u. A. mitgetheilt haben und auf dem
gründlichen Studium der Werke des großen Künstlers fußend. Thorwaldsen's
Leben und Werke in künstlerischer Abrundung darstellt. Und solch
ein Buch hat uns der Franzose Eugene Plon geliefert.
Wohl Mancher dürfte, der bekannten Leichtfertigkeit der Franzosen ge¬
denkend, an dieses Buch mit Mißtrauen heran treten. Bei genauerem Ein¬
gehen in dasselbe wird er jedoch zu seiner Freude bemerken, daß es keineswegs
leichtfertig oder oberflächlich gearbeitet ist, sondern daß der kenntnißreiche Ver¬
fasser den großen Künstler und seine vielen Werke erst gründlich und allseitig
studirt hat, daß er seinen Spuren in Rom, Kopenhagen und Deutschland
mit Pietät nachgegangen ist, von den noch lebenden Freunden Thorwaldsen's
manches Wichtige und Interessante erfahren, sich dadurch ein vollständiges
und vollkommenes, klares Bild von dem Leben und Charakter des Menschen
und der Art seiner Kunst verschafft und beides dann mit großem Geschick in
einer höchst anziehenden Form dargestellt hat. Er schildert die Jugend und
Entwickelung Thorwaldsen's, sein Leben, die Männer und Frauen, welche auf
ihn von Einfluß gewesen sind, seine künstlerische Thätigkeit und giebt schlie߬
lich eine vortreffliche, unparteiische, die hohe Bedeutung des Künstlers voll¬
kommen anerkennende, aber auch die schwachen Seiten mancher seiner Werke
hervorhebende Schilderung und Charakteristik seiner Schöpfungen. Die Sprache
ist einfach, klar und würdig, erinnert zuweilen an die Schönheit der antiken
Classiker. Kurz, das kleine Buch (22 Bogen 8.). welches man nicht nur
zum Studium, sondern auch zum Vergnügen lesen wird, ist selbst ein Kunst¬
werk, würdig des großen Künstlers, den es darstellt und eine der besten
Biographien, welche wir besitzen. Geschmückt ist dasselbe durch 37 vignetten¬
artige Holzschnitte, des Künstlers Portrait nach Horace Vernet und eine Anzahl
seiner Werke darstellend. Die Art dieser sorgfältig gearbeiteten, den Charakter
der Originale meist getreu vergegenwärtigenden Holzschnitte ist abweichend von
den gewöhnlichen, erinnert wegen ihrer eigenthümlichen, reizvollen Behandlung
an die ältesten italienischen Kupferstiche.
Das Original ist natürlich französisch geschrieben. Vor uns liegt eine
nach der zweiten verbesserten Auflage gearbeitete deutsche Uebersetzung von
Max Münster, welche sehr treu zu sein scheint, sich gut liest und durch
einige von dem Uebersetzer hinzugefügte Anmerkungen bereichert ist. Die Aus¬
stattung derselben ist, wie solches von der Verlagshandlung Carl Gerold's
Sohn in Wien nicht anders zu erwarten ist, sehr würdig, ja elegant. — Da
auch in London, Boston und Florenz Uebersetzungen dieses Werkes erschienen
sind, scheint dasselbe auch anderwärts vielen Beifall gefunden zu haben.
Eine so alte Zeitschrift wie die Grenzboten hat fast in jedem Jahre ge¬
schätzte Mitarbeiter in die Todtenliste einzutragen, die einst in den Tagen
der Jugend oder des kräftigsten Mannesalters mit „den Grünen" in Verbin¬
dung traten, als diese unter wenig andern deutschen Zeitschriften dem heute
so glorreich zu Ehren gekommenen nationalen Gedanken dienten. So ist in
den jüngsten Jahren Jacob Kaufmann, Max von Eelking, Joseph
Streiter aus dem Kreise unsrer Mitarbeiter durch den Tod geschieden.
Zu ihnen gesellte sich in der ersten Woche December 1874 infolge eines
Herzschlags Nicolaus Steffen, unser luxemburgischer Correspondent. Er
war erst in den letzten Jahren unser Mitarbeiter geworden, als es uns ge¬
lungen war, ihn, den bescheidenen Correspondenten des Hauses Metz & Co.
in Luxemburg, als den Verfasser der geistvollen Briefe des „Htlarius Jocun-
dus" zu ermitteln, welche die deutsche „Metzer Zeitung" aus Luxemburg ver¬
öffentlichte. Er war allezeit einer der muthigsten und besten deutschen
Patrioten, welche den deutschen Gedanken in jener fernen Westmark deutscher
Zunge in Wort. That und Schrift vertheidigten. Er unterzeichnete jeden
seiner Briefe an uns mit seinem vollen Namen, obwohl er wußte, daß die
Französlinge seines Landes sich dafür an ihm, selbst mit brutaler Gewaltthat,
zu rächen bereit seien. Als das beste Kleinod seines Besitzes hütete er ein
freundliches Schreiben des deutschen Reichskanzlers, welches seiner deutschen
Gesinnung Anerkennung und Dank zollte. Möge sein Name und Andenken
unsern Lesern und allen deutschen Männern so werth sein, wie uns!
Als die Thore der alten Zwingburg des französischen Königthums im
Faubourg Se. Antoine durch den wüthenden Anprall der Pariser Pöbelhaufen
gesprengt waren, wurden die seit Jahrhunderten aufgespeicherten Actenmassen
des Gefängnißarchivs während der Durchstöberung der inneren Räume unter¬
schiedslos auf den Hof geschleudert. Dort blieben sie Wind und Wetter und
tausend Zufälligkeiten ausgesetzt so lange liegen, bis sie eine Zufluchtsstätte
im Kloster Se. Germain des Pre's und noch später im alten Arsenalgebäude
fanden. Die" sowohl für die Sitten- wie auch für die politische Geschichte
der Zeit wichtigen und interessanten Urkunden haben da seit der Revolution
bis zum Jahre 1840 unbeachtet im Staube der Vergessenheit gelegen. Dann
erst wurden sie von dem gelehrten Archivar Ravaisson gewissermaßen neu ent¬
deckt, mit großer Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit gesichtet, historisch geordnet
und nach langjähriger Arbeit mit Genehmigung der Staatsregierung dem
Drucke übergeben. Die jetzt vorliegenden sechs Bände umfassen die mit aus¬
führlichen Einleitungen und Erläuterungen oder eigentlich geschichtlichen Ab¬
handlungen versehenen Texte von 1659 bis 1681, sowie die nicht minder
interessanten, gleichzeitig wieder aufgefundenen Acten der Pariser Polizei von
Colbert bis zum Jahre 1774; sie werden unter den gediegensten Quellen¬
arbeiten der französischen Geschichtsschreibung stets einen ehrenvollen Platz
behaupten.
Unter der Regierung des weltklugen und diplomatischen Karl V.,
der den aufstrebenden Freiheitssinn so trefflich zu bemeistern und dennoch
Bürger und Adel an sich zu fesseln verstand, wurde im Jahre 1369 der
Grundstein zu der Feste gelegt, die nicht bloß gegen den äußern Feind als
Bollwerk dienen sollte. Denn kaum war der Bau vollendet, als auch schon
der Verwalter der königlichen Finanzen, der ihn geleitet hatte, Hugues Aubriot.
als erster unfreiwilliger Jnsasse und wahrscheinlich nicht ohne guten Grund
hineinwandern mußte. Indessen wurde die Bastille damals in erster Linie
als Befestigungswerk angesehen. Ein Jahrhundert später legte das königliche
Scheusal Louis XI. hier seine berüchtigten Menschenkäfige an, und noch später
unter der Liga mußte einmal das Richtercollegium des Pariser Parlaments
in plono sein Quartier in der Bastille aufschlagen. Aber erst unter NIchelieu's
Schreckensherrschaft, seit 1624, wurde dieselbe zum Staatsgefängniß im vollen
Sinne des Wortes. Die Urtheilssprüche der famosen Commissionen, welche
seine Eminenz allen Gesetzen zum Hohn in einzelnen Fällen beliebig einsetzte,
und instruirte, füllten innerhalb des Zeitraumes von 1624 bis 1640 die
Bastillenräume mit Unglücklichen aus allen Volksklassen. Etwas anders wurde
es, als mit dem Losungsworte I/6tat o'est moi das goldne Zeitalter der
absoluten Monarchie seinen Anfang genommen hatte. Denn namentlich in
den ersten Jahren der Regierungszeit Ludwig's XIV. öffneten sich die Gefäng¬
nißthüren keineswegs nur den Opfern der Despotenlaune oder der religiösen
Unduldsamkeit. Die Religions- und Bürgerkriege, an denen das Land so
lange gelitten hatte, brachten, wie in Deutschland der dreißigjährige Krieg,
eine entsetzliche Verwilderung der Gemüther und Sittenverderbniß in ihrem
Gefolge mit sich. Völlerei und Rauflust waren beim Adel und in den unteren
Volksschichten an der Tagesordnung; das Leben der Einzelnen, die Staats¬
gesetze und die Familienbande wurden so wenig heilig gehalten, daß es einer
eisernen Faust bedürfte, um die Autorität einigermaßen wieder herzustellen.
Daher erscheinen die energischen Maßregeln Ludwig's völlig gerechtfertigt und
würden seinem Namen noch mehr Ehre machen, wenn dabei sittlicher Abscheu
die alleinige Quelle seiner Handlungen gewesen wäre, und es nicht vielmehr
feststände, daß die Repräsentation vor dem Auslande und die Glorie seines
eigenen, persönlichen Regimentes ihm als oberster Gesichtspunkt galten. Denn
die Nation, wie er selbst sagt, ist für sich allein überhaupt kein „Körper"
und' ezcistirt durchaus nur in der Person des Königs. Dieser königliche Pan¬
theismus, wenn man es so nennen darf, führte ihn dann zu dem Dogma
von der unbeschränkten Herrschaft über die Gewissen der Unterthanen und
hob ihn über die einfachsten und ursprünglichsten Rechtsgrundsätze hinweg.
Als gewohnheitsmäßiger Verächter der Gesetze und Ueberlieferung hielt er es
auch ähnlich mit der alten Satzung, daß Niemand von andren, als von seinen
natürlichen Richtern vernommen und verurtheilt werden dürfe und hielt couse-
quenter Weise an dem von seinen Vorgängern auf dem Throne usurpirter
Vorrechte fest, die Rechtsentscheidungen der obersten Gerichtshöfe jederzeit
durch die königliche Jurisdiction illusorisch zu machen. Die famose Erfindung
der lettres 6ö caenst,, die von den deutschen Liliputdespoten von den Tagen,
da Schubart auf dem Hohenasberg saß bis zu Jordan's Kerkerhaft auf dem
Marburger Schlosse so wirksam benutzt wurden, ist das bekannteste Symbol
der Willkürherrschaft jener Zeit.
Geruheten Se. Majestät irgend einen Unterthan auf beliebige Dauer der
Bastille zu überliefern, so genügten die wenigen von allerhöchster Hand unter¬
zeichneten und von einem Minister contrasignirten Worte: „Es wird befohlen,
daß Herr Zt. verhaftet und nach der Bastille abgeführt werde. Seine Majestät
ertheilen dem Gouverneur die Weisung, ihn bis auf Weiteres unter seine
Obhut zu nehmen."*) Betraf der Haftbefehl eine hochgestellte Persönlichkeit,
so überbrachte ihn ein Commando Musketiere, wie in der Cäsarenzeit die
Centurionen Schwert oder Strick. Wenn es sich um einen Bürgerlichen han¬
delte, so erhielten etliche Polizeisergeanten einfach den Befehl, die Verhaftung
ohne Verzug und Aufsehen vorzunehmen. Bei Einbruch der Nacht erschienen
die Sbirren, und sobald das Stäbchen in der Hand des Commissärs, das
Symbol der königlichen Jurisdiction, die Schulter des Verhafteten berührt
hatte, gehörte sein Corpus dem König. Der Transport geschah im Wagen.
Sobald derselbe vor der ersten Schildwache der Bastille angelangt war, er¬
schallte das (Zui vivs und als Antwort Ordre ein roi. Ein Unterofficier
visirte den Verhaftungsbefehl und signalisirte nach der Hauptwache. Die
Mannschaft trat unters Gewehr, zwei Officiere nahmen den Gefangenen in
Empfang und überlieferten ihn an den Commandanten. Alle Gefangenen
zerfielen in zwei Klassen. Zur einen gehörten Alle, welche ohne Urtheils-
spruch und auf unbestimmte Dauer, meistens nur um gebessert oder einge-
schüchert zu werden, hinter Schloß und Riegel gehalten wurden. Alle Uebrigen
blieben ebenfalls je nach Gutdünken eingesperrt, wurden aber nach Verlauf
einiger Zeit gewöhnlich vor die Schranken des Parlaments oder einer auf
allerhöchste Ordre besonders eingesetzten Commission gestellt. War erst das
„Schuldig" ausgesprochen, so geschah von dem Augenblicke an die Procedur
nicht mehr im Namen des Königs, sondern des betreffenden Collegiums.
Und dabei galt der eigenthümliche Brauch, wenn der Delinquent wegen noch
so vieler Einzelvergehen belangt war, in dem Straferkenntniß nur einen ein¬
zigen Anklagepunkt namhaft zu machen. Natürlich machte das in vielen
Fällen den irrthümlichen Eindruck übermäßiger Strenge, während der Zweck
Vertuschung und Fälschung des jährlichen Facit der Criminalstatistik war.
Der Vollziehung der Todesstrafe ging noch die Tortur voraus, die leichtere
bestand in dem bekannten spanischen Stiefel; weit furchtbarer soll die soge¬
nannte Wasserprobe gewesen sein. Der Unglückliche wurde wagerecht auf
eine hölzerne Pritsche gestreckt. Der Folterknecht schüttete dann portionen¬
weise und allmählich sechs bis acht Schoppen Wassers durch einen in den
Mund gefügten Trichter, wodurch die inneren Organe unter furchtbaren Qualen
auseinander getrieben wurden. Nur um einem etwaigen tödtlichen Ausgange
dieser scheußlichen Procedur vorzubeugen, hatten zwei Aerzte derselben beizu¬
wohnen. Sobald die Henkersarbeit vollzogen war, legte man den Gefangenen
auf eine Matratze und ließ ihn, wenn er überhaupt noch so viel Kraft hatte,
das Protokoll der ihm gewaltsam ausgepreßten Aussagen unterzeichnen. Die
Bastillenacten enthalten mehr als eines dieser Marterdocumente mit den kaum
leserlichen Namenszügen der eben Gefolterten.
Der Uebergang von der Folterkammer zum Galgen, Rad, Schaffst oder
Scheiterhaufen war ein schneller. Gelegentlich sandte das Parlament die Be¬
gnadigung, wenn das Schlachtopfer schon an den Pfahl gebunden war. In¬
dessen ließ sich der Pöbel den Hochgenuß des Schauspiels nicht gern rauben;
es wird auch berichtet, daß selbst Damen der höchsten Stände unter den Zu¬
schauern zu sein pflegten, und die Theaterdirectoren sich hüteten, an solchen
Bluttagen neue Stücke zu erster Aufführung zu bringen.
Was im Uebrigen die Behandlung der großen Mehrzahl der Bastillen-
gefangenen. betrifft, so bedarf es nachdrücklicher Erwähnung, daß die Burg-
verließeristenzen und das Schmachten in dumpfen Mauerlöchern nirgends
actenmäßig nachweisbar sind. Es herrschte sogar ein gewißer Comfort, und
den meisten Gefangenen wurde bis zur Verurtheilung manche Freiheit ge¬
stattet, die heutzutage unerhört wäre. Dahin gehören Erholungsspiele in
Gesellschaft andrer Sträflinge und häufige Besuche der Angehörigen. Und
außer reichlicher Nahrung wurden, was kaum glaublich klingt, den in Unter¬
suchungshaft Befindlichen drei Flaschen Wein, darunter Champagner verabreicht.
Kluge und mäßige Leute verständigten sich denn auch hin und wieder mit
dem Gouverneur, begnügten sich mit bescheidener Kost und ließen sich die
Hälfte des Ersparten gut schreiben, während Jener die andre Hälfte einstrich.
So zog gelegentlich ein armer Schlucker mit leeren Taschen ein und mit
einem Kapitälchen aus des Königs Schatulle wieder ab.
Der Gebrauch der loltrss av eaeliet war anfangs ein mäßiger und
Ludwig pflegte sie ohne sorgfältige Prüfung und Erwägung nicht zu unter¬
zeichnen. Und er hatte alle Ursache dazu, da ihm die heillosen chaotischen
Zustände, in welcher sich die Rechtspflege in allen Provinzen des Reiches be¬
fand, die Willkür der Richter, die nie enden wollenden Competenzconflicte
zwischen den städtischen, herrschaftlichen und geistlichen Gerichtshöfen, die
Familienfesten und das Jntriguenwesen in den oberen Ständen nicht unbe¬
kannt sein konnte, und er sich daher hüten mußte, auf Anklagen und An-
schwärzungen hin mit Verhaftungsbefehlen freigebig zu sein. Auf der andren
Seite erscheint sein, wenn auch despotisches, Eingreifen in den normalen Gang
der Justiz der allgemeinen Anarchie gegenüber eher als eine Wohlthat. Was
aber in Zeiten der Auflösung ein Segen war, wurde zum unerträglichen Joche,
als erst die Staatsmaschine in regelmäßigeren Gang gebracht war und der
König mit den zunehmenden Jahren sich mehr und mehr der Bigotterie und
dem Pfaffendienste ergab und in dem Edict von Nantes einen seiner ganzen
Dynastie anhaftenden Schandfleck zu erblicken lernte. Dann begannen die
Bastillengefängnisse allmählich sich mit Protestanten und Jansenisten, den
vermeintlichen Todfeinden des Staates, zu füllen, und zwar dauerte diese Art
der Unterdrückung auch noch unter Ludwig dem Fünfzehnten bis auf die Tage
der Pompadour weiter. Unter der Letzteren erlebte überhaupt das Ivttrs as
caeliot-Unwesen seinen Höhepunkt. Es wurde bei Hofe und im ganzen Lande
mit der größten Schamlosigkeit geradezu eine Art Handel damit getrieben,
und es entstand, seitdem ein Blanco-Haftbefehl für 25 Louisd'or zu haben
war, ein Zustand allgemeinen gegenseitigen Mißtrauens und ein Gefühl der
Unsicherheit, das selbst unter den nächsten Verwandten, wie die Jugendge¬
schichte Mirabeau's lehrt, gerechtfertigt erschien.
Wie schon angedeutet, gehört zu den bemerkenswerthesten Erscheinungen
im öffentlichen Leben während der ersten Regierungsperiode Ludwig's des
Vierzehnten die Nichtbeachtung der Gesetze überhaupt, und namentlich polizei¬
licher Bestimmungen sowohl seitens hochgestellter Privatpersonen wie auch der
Regierungsorgane selbst. Nicht selten erlebte man auf offener Straße und am
hellen Tage blutige Raufereien und förmliche Zweikämpfe. So gemahnt unter
vielen anderen die folgende Geschichte in allen ihren Einzelheiten an das Trei¬
ben einer Zeit, wo die treues, vel der Kirche der einzige Schutz und Trost
der armen Leute des offenen Landes war. Rennes de I'Hospital, Marquis
de Choisy drangsalirte seine Bauern auf die nichtswürdigste Weise. Ein be¬
nachbarter Kaplan, ein unerschrockener Mann, tadelt seine Grausamkeiten und
Rohheit von der Kanzel herab. Der Herr Marquis erhält Kunde davon, steigt
alsbald mit zwei Gewappneten zu Roß und legt sich da, wo der Pfarrer des
Weges kommen mußte, in einen Hinterhalt. Derselbe zieht arglos in Beglei¬
tung eines Bauern vorüber. Die drei stürzen sich sofort auf den Letztern und
schlagen ihn todt, alsdann sticht der Herr den Pfarrer nieder, steigt aus dem
Bügel und zerschmettert dem Aermsten mit dem Kolben die Kinnlade. Die
Hufe der Pferde thun das Uebrige. Was geschieht, als die Sache in Paris
ruchbar geworden war? Das Parlament sperrt zwar das Scheusal in die
Bastille, am 30. Juli 1659; aber schon etliche Tage darauf kehrt der gestrenge
Herr, das Begnadigungsdocument schwarz auf weiß in der Tasche, wieder auf
sein Schloß zurück. Was in diesem Falle den König bewogen habe, von
der gewohnten Strenge abzuweichen, ist aus den Acten nicht ersichtlich; auch
steht er in seiner Art keineswegs vereinzelt da. Der Chevalier Grancey hatte
ein Fräulein sammt deren Mutter nach seinem abgelegenen Schloße in der
Normandie entführt und gab allen gerichtlichen Aufforderungen zum Trotze
weder die eine noch die andre heraus. Plötzlich stellt er sich freiwillig dem
Gouverneur der Bastille, gewissermaßen unter Allerhöchsten Schutz und erhält
alsbald in Anerkennung seiner „loyalen Unterwerfung" das Begnadigungsde-
cree. Hier mochte dem König als ritterliches Benehmen gegen seine Person
erscheinen, was einfach schlaue Berechnung war; möglich ist es auch, daß
schon in beiden Affairen, wie späterhin so oft, weiblicher Einfluß im Spiele
war. Was Ketzergeschichten betrifft, so steht der Morin'sche Prozeß fast ver¬
einzelt da, bildet aber in seinem Verlaufe ein würdiges Vorspiel zu den Dra-
gonnaden und Autodafes der Folgezeit. Am vierten März 1662 wurde näm¬
lich ein gewisser Morin mit seiner Ehefrau, und bald darauf auch seine beiden
Söhne, ein Pfarrer und ein Lehrer, Katholiken, in die Bastille gebracht. Die
Anklage wurde von einem Mitgliede des höchsten Pariser Collegiums erhoben
und lautete auf Kabalen gegen den alleinseligmachenden Glauben. Der An¬
kläger Desmarets de Se. sortir habe, so heißt es in der Acte, irgendwo
die Bekanntschaft einer Mlle. Malherbe gemacht, die dem leibhaftigen Gott¬
seibeiuns ehelich angetraut zu sein behauptete, Schlangen und Basilisken zu
verspeisen pflegte und sich nach vollzogener Ehescheidung (vom Satan) mit
Morin, dem Messias einer neuen Offenbarung eingelassen habe. Morin halte
sich für einen Gottgesandten, berufen das neue Babylon zu zerstören, d. h.
die römische Kirche und das große Thier der Apokalypse, den Papst, zu ver¬
nichten. Seine Frau war die Jungfrau Maria. Nun hatte Morin aller¬
dings schon im Jahre 1647 ein Buch geschrieben, welches voll des unglaub¬
lichsten Blödsinns war und den Beweis lieferte, daß der Verfasser dieses theo¬
logischen Wustes ein vollendeter Narr war. Man hatte ihn daher laufen
lassen, und nun nach zwanzig Jahren verurtheilte der Pariser Gerichtshof
den Unglücklichen auf die Denunciation eines Fanatikers hin zum Feuertode.
Es war das erste Urtheil der Art, welches Ludwig unterzeichnete. — Aus
der reichen Fülle von interessanten Mittheilungen und Aufschlüssen über allge¬
meine Zustände und einzelne Vorgänge, welche das Bastillenarchiv bietet,
und welche die Anschauungen des Königs über Justiz und Verwaltung und
die Grenzen der persönlichen Freiheit seiner Unterthanen illustriren, verdienen
noch folgende Details hervorgehoben zu werden.
Der Hofintendant Bärin wünscht seinen Sohn dem Dienste der Kirche
zu weihen. Der weltlich gesinnte Jüngling widersetzt sich aber zum großen
Verdrusse des Vaters dem frommen Ansinnen. Da überreicht Letzterer eines
Tages dem Widerspenstigen einen Ivttrs as eaeket und gestattet ihm, in der
Bastille über die Folgen kindlicher Unfolgsamkeit heilsame Betrachtungen an¬
zustellen. — Eine Deputation von Stadtverordneten bittet in einer Audienz
Se. Majestät kniefällig um Gewährung rosy. Erneuerung gewisser altver¬
briefter Rechte, wobei die Herren nicht unterlassen in den demüthigsten Aus¬
drücken ihre Treue und Ergebung zu bezeugen. Der König hört sie huldreich
an und ernennt eine Commission behufs gründlicher Untersuchung der Be¬
schwerdesache. Inzwischen aber wandern die guten Getreuen auf etliche Wochen
in die Bastille, um daran erinnert zu werden, „daß Se. Majestät es nicht
lieben, wenn die Unterthanen ohne Vermittlung der betreffenden Verwaltungs¬
behörde sich direct an Höchstdieselben wenden." Aehnliches widerfuhr einem
kühnen Spezereihändler in einer Provinzialstadt, der gegen das Leberthran¬
monopol gewisser hoher Persönlichkeiten protestirte. Unglaublich schließlich
klingt das übrigens ebenfalls actenmäßig nachweisliche Factum, daß Ludwig,
noch nicht auf dem Höhepunkt der Macht angelangt, es wagen durfte, sogar
Gesandte einzusperren. Der Brandenburger Ministerresident im Dienste des
großen Kurfürsten, Abraham Wiquefort, wie sein Name in den Acten ge¬
schrieben wird, von Geburt ein Holländer, hatte sich in einem aufgefangenen
Briefe eine Anspielung auf das sonst offenkundige Verhältniß des Königs zu
der schönen Marie Mancini erlaubt. Als die Sache dem Letzteren hinter¬
bracht wurde, zwang den Holländer ein sofort ausgefertigter iLttrs as euelivt,
sich in eiliger Flucht über die Grenze zu begeben.
Die Jesuiten, die sich die Willkürherrschaft nach ihrer Weise zu Nutze
zu machen verstanden, ließen einst im Jahre 1674 im College Clermont, das
unter ihrer Leitung stand, eine lateinische Tragödie spielen, vielleicht ein für
ihre Zwecke zugestutztes Stück von Seneca, worin dem höchsten Gebieter auf
das Maßloseste Weihrauch gestreut wurde. Der König ließ sich herab, der
Einladung des Rectors zu folgen und sich zur Entgegennahme der Huldigungen
einzusenden, obwohl er bekanntlich so gut wie gar kein Latein verstand. In¬
dessen beim Abschiede drückte er seine Zufriedenheit aus, und als einer der
Cavaliere die trefflichen Leistungen der Schüler hervorhob, versetzte er mit
Nachdruck: „Ist das wunderbar? Es ist ja Mein College." Noch in der
nämlichen Nacht ließen die Väter, denen das gewichtige Wort nicht entgangen
war, die über dem Portale stehende Inschrift: OolloZium OlaremviMiiuln
Loeiöwtis ^Sön entfernen und am folgenden Morgen prangte den erstaunten
Jünglingen die in Goldlapidarstyl angebrachte Textverbesserung entgegen:
(üollesium I^ucloviei All^ni. Diese plötzliche Metamorphose mißfiel einem der
Eleven, und noch am selben Tage fand man am Eingang das folgende, nicht
üble Distichon angehefet:
^bswlit diuo ^esum posuityus insignia, reZis
ImM gens: alwra non colit illa äoum.')
Es siel nicht schwer, den jugendlichen Epigrammatiker zu ermitteln; es
war ein dreizehnjähriger Knabe. Die Väter witterten mit richtigem Jnstincte
den zukünftigen Freidenker und besorgten einen lottrs Ah caedet. Das Kind
kam zunächst in die Bastille und wurde dann nach der Insel Se. Marguerite,
der in unserer Zeit wieder so viel genannten, geschafft, um daselbst zeitlebens,
volle einunddreißig Jahre zu schmachten. Wohl die schwerste Strafe, die je
für lateinische Daktylen verhängt worden ist! Beispiele von solch langer
Haft kamen übrigens fast nur vor, wenn es sich um die beleidigte Majestät
und in zweiter Linie um die Kirche handelte. Für derartige Vergehen kannte
der Monarch keine Gnade. Dagegen wurden die in den Ressort der Civilge-
' richtsbarkeit gehörigen Fälle häufig mit auffallender Milde behandelt. Wenn
ein Verbrechen der ersteren Gattung vorlag, blieben sogar die Verwendung
der mächtigsten Maitressen oder der Hinweis auf hohe Geburt und nahe Be¬
ziehungen zum Throne erfolglos, denn die Kirche und der Staat waren nach
Ludwig's bekannter Auffassungsweise so zu sagen Eins mit seiner Person.
Wie unerbittlich er dann sein konnte, zeigt die es,us<z eölvdrv des General¬
intendanten Fouquet. Ueber Fouquet's Schuld oder Unschuld haben die
Meinungen von jeher geschwankt. Corneille und La Fontaine hielten ihn
für schuldig. In der Neuzeit ist der Versuch gemacht worden, den Nachweis
zu liefern, daß er das Opfer persönlicher Chicanen war, und daß Colbert's
Haß und die Verwegenheit, mit der Fouquet die Treue der königlichen Favori¬
tin la Balliere durch ein Geschenk von 120,000 Thalern auf die Probe stellte,
die Katastrophe herbeigeführt habe. Das nunmehr in seinem ganzen Umfange
vorliegende Material der im Bastillenarchiv enthaltenen Proceßacten läßt keinen
Zweifel an der Schuld des großen Angeklagten zu. Es geht aus denselben
hervor, daß seine ganze Amtsthätigkeit im Laufe vieler Jahre ein einziges
großes Gewebe fortgesetzter, bezüglicher Machinationen gewesen ist. Fouquet
ließ den Staatsgläubigern statt der Baarzahlungen Anweisungen auf die öffent¬
lichen Kassen einhändigen, welche letztere auf sein Geheiß anstatt klingender
Münze Wechsel auf die Steuerpächter oder säumigen Steuerpflichtigen auf¬
stellten. Diese Tratten wurden meistens nicht acceptirt und kamen mit Pro¬
test zurück. Dann ließ die Generalkasse neue ausstellen, die ebensowenig wie
die ersten honorirt wurden. Zuletzt schlugen die geprellten Empfänger, im
Gefühle ihrer Ohnmacht gegenüber dem mächtigen Minister, um wenigstens
einen Bruchtheil zu erlangen, auf dem Wege des Börsengeschäftes die Papiere
an den Meistbietenden los. Fouquet kaufte dieselben durch seine zahlreichen
Agenten und Creaturen wieder auf, duchte sie zu Gunsten der Hauptkasse als
geleistete Baarzcchlung zum Vollwerth und ließ die Differenz zwischen dem
letzteren und der Rückkaufssumme in seine Privatschatulle fließen. Von den
Steuerpächtern und Verwaltungsbeamten erpreßte er ungeheure Summen, in¬
dem er in Weigerungsfällen mit Gehaltsverringerung drohte. War eine
Staatsanleihe im Gange, so nahm er sämmtliche Zeichnungen ohne alle Con¬
trols in Empfang und hauste damit nach Gutdünken. Um endlich das Maaß
voll zu machen, betrieb er den Wachs- und Zuckerhandel in der Normandie
als sein persönliches Monopol und in den Hafenstädten des Kanals den
Thranhandel.
Daß Fouquet diese systematische Plünderung der öffentlichen Finanzen
Jahre lang ungestört fortsetzen konnte, erklärt sich theilweise aus dem unbe¬
dingten Vertrauen, das von Anfang an zu seiner Rechtlichkeit gehegt wurde,
theils auch aus der Solidarität mit einer ganzen Bande von Mitwissern und
Helfershelfern, welche in seinem Solde standen und Alles aufboten, den all¬
gemeinen Zusammenbruch aufzuhalten. Als derselbe endlich doch unvermeid¬
lich geworden war, theilte sich unter dem unbeschreiblichen, tiefen Eindrucke,
den der Skandal auf Alle machte, ganz Frankreich in zwei große Heerlager.
Die durch Fouquet gehobenen und ausgezeichneten Beamten, Gelehrten und
Künstler und eine Menge hochgestellter Leute, die sich compromittirt wußten,
schaarten sich um den Angeklagten, während das Heer der Betrogenen
seine exemplarische Bestrafung und Ersatz für die Erpressungen und Schwin¬
deleien forderte. Der König, der sich in seiner persönlichen Würde als
Staatsoberhaupt aufs Empfindlichste verletzt fühlte, ließ den Prozeß mit.
allen Mitteln und der größten Energie führen. Das Urtheil erfolgte nach
vier Jahren. Dreizehn Richter stimmten für die Todesstrafe, zweiundzwanzig
für Verbannung, der König decretirte lebenslängliche Einschließung. Fouquet
wurde von der Bastille nach Pignerol im Piemontesischen, das von 1630 bis
1696 französisch war, abgeführt und starb daselbst nach sechszehnjähriger
Kerkerhaft. Bis zu welchem Grade die französische Verwaltung und das
Finanzwesen verderbt und zerrüttet waren, erhellt aus dem von den Unter¬
suchungsrichtern dieses Monstreprozesses nachträglich gelieferten Nachweise, daß
schon unter der Regentschaft der Königin Anna und Mazarin die Staats¬
kassen um 380 Millionen Franken bestohlen worden waren, von welchen nur
2S Millionen ersetzt werden konnten. .Auch war mit Fouquet/s Verurtheilung
und allen skandalösen Enthüllungen weder die Wurzel des Uebels ausgerissen,
noch überhaupt eine gründliche Besserung der verrotteten Zustände angebahnt.
Denn der verschwenderische Hof zu Versailles, die ungleiche und ungerechte
Vertheilung der Steuern, die Immunitäten des Adels und des Clerus und
die beständigen Kriege vermehrten die Schwierigkeiten und schufen ein Wirrsal,
das kein Despotenmachtwort lösen konnte.
Es verdient übrigens der Erwähnung, daß auch der große Ludwig in
den Zeiten der tiefsten Ebbe Hülfe suchend sich an die Goldmachekunst wandte
und ein Paar Alchymisten in die Bastille setzte, um mit Hülfe von Schwefel,
Zinn, Antimon und dem Zauberbuche der ^xooal^pse oliimiMs das ersehnte
Metall ins Dasein zu rufen. Als es trotz vieler, kostspieliger Versuche nicht
kommen wollte, wurden die Privatwohnungen der Künstler durchstöbert und
hier zwar kein Gold, aber ganze Sammlungen von Giften vorgefunden. So
kam man einer Bande von Missethätern auf die Spur, deren Genossen damals
über ganz Frankreich hin verbreitet waren und deren Treiben auf die Sitten¬
geschichte der Regierungszeit Ludwig's XIV. ebenfalls ein Streiflicht wirft.
Die Parallele zwischen dem sinkenden Rom unter den Cäsaren und Frank¬
reich unter seinem glänzendsten Herrscher im Hinblick auf die Sitten ist schon
oft gezogen worden. Willkür, Gewaltthätigkeit, grausame Justiz, Mißachtung
der Gesetze und Lockerung der ehelichen Bande, schließlich frevelhafter Luxus
neben Elend und Leibeigenschaft, und statt der Religion Muckerthum und
Aberglauben sind beiden Perioden gemeinsam; nur der äußere Nahmen ist.
im alten Rom großartiger. Wie hier die Priester aller Secten und Culte,
in ihrem Gefolge das Schmarotzergesindel der Zauberer und Beschwörer,
Astrologen und Somnambülen, der phrygischen Galli, der „Äindubaiarum col-
legis., xksrin^eoxolae" und die Zunft der Giftmischerinnen mit sich brachten,
so tauchen in den Tagen der klassischen Blüthezeit des französischen Geistes
die modernen Locusten, die Brinvilliers, La Chaussee und La Vvifln im Bunde
mit teufelbeschwörenden Bonzen und Horoskopenstellern auf. Die wichtigste
Rolle unter ihnen spielten anfangs die Pariser Sibyllen. Sie wohnten in
kleinen Häuschen in abgelegenen Stadtvierteln. Dort holten sich Rath und
Hülfe vornehmlich Frauen und Mädchen, welche die Eifersucht plagte; jedoch
nur im Namen guter christlicher Heiligen, z. B. des Antonius. Nur brachte
der Verkauf von Liebestränken und Prophezeiungen nicht genug ein, um da¬
mit die Existenz fristen zu können. Man trieb daher noch eine Ueberkunft.
War ein Ehemann oder Liebhaber nicht wieder treu zu machen, oder wurde
feine Fortexistenz unbequem, so wandte man sich durch Vermittlung der
Priesterinnen an die höheren Mächte mit der Bitte, das Herannahen des
Witwenstandes zu beschleunigen. Auch ungeduldige Erben, Schuldner, rach¬
süchtige Feiglinge, die nicht gerne auf die Mensur gingen, welche alle ihr Ziel
auf bequeme Weise erreichen wollten, gehörten zu der Kundschaft.
Das scheußliche Handwerk fand mit erschreckender Schnelligkeit Verbrei¬
tung und wurde gewissermaßen zünftig. Dabei entwickelte sich ein Erfin¬
dungssinn, der zu wahrhaft teuflischer Raffinerie in der Verabreichung des
Giftes führte. Eine bedeutende Rolle spielten mit Arsenikseife gewaschene
Hemden, die sogenannten Gesundheitspillen und das Successions-- oder Erb¬
folgepulver. Viele Apotheker standen mit den Giftmischerinnen in geschäft¬
lichen Beziehungen und hatten gemeinsame Klienten und Patienten. Als
ergänzendes Seitenstück gehören hierzu die unglaublich widerlichen und von
namenloser Rohheit und Bersunkenheit zeugenden abergläubischen Gebräuche
mit einem Beschwörungsritualismus, der auch eine Canidia horazischen Ange¬
denkens befriedigt hätte. So trugen Damen als Talisman die sogenannte
main as gloire, eine Hand, die vom Leichname eines Gehängten abgehackt
und im Ofen getrocknet war. Schatzgräber begaben sich nächtlicher Weile an
gewisse Stellen, wo während der Frondekriege Schätze eingescharrt sein sollten.
Daselbst trat dann ein Geistlicher mit der Stola in einen Kreis mystisch
geweihter schwarzer Kerzen und beschwor mit^ dem Gebetbuche in der Hand
den Fürsten der Finsterniß herauf, um die Schätze zu heben. Erschien der¬
selbe, was wohl meistens der Fall, nicht, so schritt man zu einem infamen
Ritus, der in den unwürdigsten Geheimculten des späteren Alterthums schwer¬
lich seines Gleichen gehabt hat. Alle hierher gehörigen Einzelheiten werden
durch den Untersuchungsrichter de la Reynie amtlich bezeugt*). Der später
noch zu erwähnende Guibourg gestand, bei solchen Beschwörungsmessen fünf
Kinder erwürgt zu haben, und die berüchtigte La Voisin noch weit mehr.
Die Gerichtsacten weisen noch zahlreiche andre Gebräuche von dieser schauder¬
haften Gattung nach. Im Hinblick darauf sagt der obenerwähnte de la
Reynie, der unter Ludwig XIV. allgemein geachtet wurde und als zuverlässiger
Gewährsmann zu betrachten ist, in einem noch erhaltenen Actenstücke: „von
stebenundvierzig Gefangenen, die sich gegenwärtig in der Bastille befinden, ist
auch nicht ein einziger, gegen welchen nicht Anklagen der allerschwersten Art
erhoben wären. Mit dem Menschenleben wird in unsern Tagen ein schnöder,
fast öffentlicher Handel getrieben. In den meisten Familienzerwürfnissen und
ernsteren Streitigkeiten muß der Mord die Entscheidung herbeiführen. Und
dabei haben wir uns als Richter die peinliche Frage vorzulegen: „Ist es um
der Ehre Gottes willen, im Interesse des Königs, des Staates und der öffent¬
lichen Gerechtigkeit, erlaubt, solch' ungeheuerliche Bergehen und Verirrungen,
wie die vorliegenden zur allgemeinen Kenntniß zu bringen?"" Wenn ein im
Amte ergrauter und an den Anblick des Verbrechens in allen Erscheinungs¬
formen gewöhnter Richter so schreiben konnte, dann mußte die Lage allerdings
eine verzweifelte sein. Auch war bei dem niedrigen Standpunkte, auf dem
sich die Naturwissenschaft, vornehmlich die Scheidekunst, und die innere Heil¬
kunde befanden, schon eine geraume, opferreiche Zeit verstrichen, ehe man den
eigentlichen Ursachen der vielen Erkrankungen und auffallenden Sterbefälle
auf die Spur kommen konnte. Reiche und mächtige Leute hatten außerdem
so oft die Hand im Spiele, daß manches schon ruchbar gewordene Schauder¬
drama vertuscht und todtgeschwiegen wurde. Ein Fall solcher skandalösen
Duldung ist der einer Madame Dreur, der Gattin eines Pariser Parlaments¬
richters. Es war offenkundig, daß dieselbe als Messalina lebte und für die
Beseitigung ihres Mannes zweitausend Thaler, einen goldnen Ring und ein
Diamantenkreuz geboten hatte und daß es ihr beinahe gelungen war, die
Verlobte eines ihrer Galants vermittelst vergifteter Blumen aus dem Wege
zu räumen. Zwar lernte auch sie die inneren Räume der Bastille kennen,
behauptete aber dennoch, wahrscheinlich Dank den Reizen, die ihr die Natur ver¬
liehen hatte, ihren Platz in der besten Gesellschaft, unbekümmert um die Epi¬
gramme, mit denen de Coulanges sie verfolgte, oder die eleganten Sarcasmen
der Madame de Sevigne'. Uebrigens äußerte sich die allgemein herrschende
Furcht vor dem unheimlichen Gespenste in allerlei Vorsichtsmaßregeln, haupt¬
sächlich beim Essen und Trinken. Goldne, silberne und zinnerne Becher wurden
damals wegen der größern Sicherheit mehr und mehr durch gläserne ersetzt,
und Zeitgenossen erzählen, daß es Sitte wurde, zu Gastmählern und sonstigen
geselligen Vergnügungen das eigene Tafelgeschirr mitzubringen! Das Leinen¬
zeug wurde nur von Vertrauenspersonen besorgt, und zwar in Gegenwart
der Hausfrau, Briefe vor dem Eröffner ausgeräuchert, Kunstgärtner und
Blumenmädchen konnten ihre Waaren nicht mehr los werden, weil man sich
vor vergifteten Blumen fürchtete. Die unbehagliche Existenz, welche sich zwei
Jahrtausende früher der Syrakusaner mit seiner Zugbrücke vor dem Schlaf-
gemach, seinen glühenden Kohlen und ähnlichen Bollwerken seiner persönlichen
Sicherheit zu schaffen wußte, kann kaum dornenreicher gewesen sein, als die¬
jenige manches begüterten Zeitgenossen der zahlreichen großen Dichter, Künstler
und Gelehrten, und Staatsmänner, durch welche die französische Cultur die
herrschende in Europa ward, und zu einer Zeit, als die Außenwelt von den
Strahlen der Glückssonne des allerchristlichsten Königs geblendet wurde.
Inzwischen waren nun von 1670 bis 1680 außer den ungezählten
Massenopfern etliche so eclatante Einzelfälle vorgekommen, daß es unmöglich
war, den König ferner in Unwissenheit zu erhalten. Wurde doch der Ver¬
dacht unverhohlen ausgesprochen, daß die Prinzessin Henriette Colbert, und
Louvois vergiftet seien, ja der sanfte Racine, dem die bloße Ungnade seines
hohen Gönners das Herz brach, wurde eines Giftmordversuchs auf das Leben
der Fräulein du Para, Moliöre's gefeiertster Schauspielerin, beschuldigt. Es
kamen noch die in den^ Laboratorien der Goldmacher gemachten Entdeckungen
hinzu, und jetzt erst erging an alle höchsten Gerichtshöfe der Cabinetsbefehl
energisch einzuschreiten.
Ludwig wohnte wiederholt den Sitzungen des Ministerraths bei und ertheilte
de la Reynie den Befehl, rücksichtslos und ohne Ansehn der Person die, zur
Ausrottung des Uebels erforderlichen Maßregeln zu ergreifen. Die Bastille
füllte sich denn auch schon nach wenigen Wochen in so erschreckender Weise,
daß sich nicht bloß in Paris allein eine furchtbare Aufregung aller Gemüther
bemächtigte. Die königliche Untersuchungscommission der OK^mbre g.i-<1<znte
entfaltete eine unermüdliche Thätigkeit, und es gelang, eine erstaunliche Menge
von Thatsachen zu Tage zu fördern. Schon am 23. Januar 168t schrieb
de la Reynie: „Die große Anzahl von Frevelthaten, über welche die Unter¬
suchungen Licht verbreitet haben, machen einen niederschmetternder Eindruck,
und obwohl dieselben von Leuten beschrieben werden, die sie selbst begangen
haben und die früher schon oft wegen ähnlicher Verbrechen belangt worden
sind, so machen die Berichte über dieses schmähliche Vergiftungsgewerbe doch
fast den Eindruck der Uebertreibung, denn es kommen die unerhörtesten Dinge
zu Tage, die alle Vorstellungen übersteigen." Zu den schwersten Verbreche¬
rinnen gehörten die Brinvilliers und die Vanens, welche hauptsächlich unter
dem Adel aufgeräumt hatten, und in zweiter Linie die La Voisin, die, so zu
sagen, als bürgerliche Locusta gehaust hatte. Durch die Letztere waren z. B.
eine Metzgersfrau aus dem Faubourg Se. Antoine und eine Schreinermeisterin
„glückliche" Witwen geworden. Auch in dem folgenden Drama schaffte sie
die Lösung. Eine Mutter suchte den eigenen Sohn zu vergiften, der wiederum
denselben Plan gegen die Mutter gefaßt hatte. Es entstand im Hause der
Sibylle eine Art Geheimauction, ohne daß die Betheiligten wußten, wie es
um sie stand. Schließlich errang die verruchte Mutter durch einen hohen
Preis den Sieg. Die La Voisin trieb auch mit einer obstetrieischen Helfers¬
helferin Namens La Pere ein infames Nebenhandwerk, bei dessen Ausübung
sie sich mit cynischen Euphemismus des Geschäftsmottos bediente: „Rücker¬
stattung der verlorenen Ehre." Ihre Tochter verwundete eine Hofdame der
Königin-Mutter. Mlle. Guerchy auf eine Weise, daß ihr Geliebter Vitry ihren
Leiden durch einen Pistolenschuß ein Ende machte. Wenn etwas die furcht¬
bare Verkommenheit des damaligen Geschlechtes beurkundet, so ist es die von
der Oliamdi'ö aräente gelieferte Statistik, wonach der La Pere und der La
Voisin über zwölftausend Tödtungen dieser Art zur Last gelegt wurden.
Das Ende der La Voisin war ihrer würdig. Als. sie eben im Begriffe stand,
sich mit einem Sündengelde von 300,000 Franken außer Landes zu begeben,
wurde sie ergriffen und am 22.'Februar 1680 auf dem Greveplatze lebendig
verbrannt. Madame de Sevigne berichtet in einer ihrer frivolen Plaudereien,
die Unholdin habe noch Abends zuvor mit gutem Appetit soupirt und zum
Hohne geistliche Lieder gesungen. Sie fügt hinzu: „eil« äoima, Zevtimont
Lou ^ viable." Auffallend würde es erscheinen, wenn nicht auch die
Priesterschaft ihr Contingent von Missethätern dieser Gattung gestellt hätte.
Auch weisen die Gerichtsacten etwa ein Dutzend auf, welchen damals der
Prozeß gemacht wurde, eine nicht geringe Zahl, wenn man bedenkt, daß der
mächtige Klerus ^siebzehnten Jahrhundert nicht leicht einen gefallenen Amts¬
bruder der weltlichen Gerichtsbarkeit auslieferte. ' „Der Fürchterlichste sagt
de la Reynie, welcher mit allen Schuften und Unholden in Verbindung stand
und die Giftmischerei als Künstler trieb, war der Abbi Guibourg. Er gab
sich für einen Sohn des Herzogs von Montmorency aus/' Die berüchtigten
Teufelsmessen sollen seine Erfindung gewesen sein. Dieselben wurden ent¬
weder auf einem entlegenen Landhause, oder bei einer Sibylle gefeiert; ge¬
legentlich wohl auch im Keller eines andren Privathauses. Die dabei üblichen
Ritualien glichen denen des Beschwörungseeremoniells der Schatzgräber und
außerdem wurden Schlangen, Kröten, zu Pulver gestoßene Menschenknochen,
vom Galgen genommene Stricke und Liebestränke angewendet. Sogar die
Hostie wird aufgeführt. Ueber den ganzen Verlauf der mystischen Handlung
hat die La Voisin eine Generalbeichte abgelegt, deren scheußliche Einzelheiten
im sechsten Bande*) der Bastillenacten zu finden sind; sie überbieten alle
übrigen Enthüllungen des Prozesses an Gemeinheit und Niederträchtigkeit.
„Auch von Guibourg's Treiben, heißt es bei de la Neynie in dem oben citirten
Berichte — domo VI, x. 420 — und denjenigen Geistlichen, die sich den
Missethätern anschlössen, um aus der Verworfenheit und Leichtgläubigkeit der
Menschen Nutzen zu ziehen, sind wortgetreue Protokolle auf uns gekommen."
Der Archivar Ravaisfon bemerkt dazu: „Unter den namhaft gemachten Frauen
befinden sich welche, deren Namen der Geschichte angehört; wir dürfen aber
den Schleier nicht weiter heben, denn es handelt sich um aller Sitte und
Vernunft hohnsprechende Schändlichkeiten, die Alles übertreffen, was die ver¬
derbteste Einbildungskraft je hervorgebracht hat."
Sehr großes Aufsehen erregte, um auf die Giftmischerinnen zurückzukom¬
men, die Mancini-Affaire. Die Gräfin von Soissons, welche als Marie
Mancini vor den Augen ihres königlichen Gebieters Gnade gefunden hatte
und dann der la Balliere und der Fontanges weichen mußte, hatte auf ihre
Nebenbuhlerinnen den tätlichsten Haß geworfen und sie zu vergiften versucht.
Sie wurde gerichtlich überführt und am 23. Januar 1680 nach der Bastille
gebracht. Indessen der König konnte sich nicht entschließen, die einst so leiden¬
schaftlich geliebte Frau völlig preiszugeben und ertheilte im Geheimen Befehl,
sie entkommen zu lassen. Der Schwiegermutter der Gräfin jedoch, Mme. de
Carignan, die sich bemühte eine öffentliche Ehrenrettung zu erwirken, erwi¬
derte Ludwig mit dem Ausdrucke der Trauer, aber in festem Tone: „Madame,
ich habe der Gräfin gestattet zu entfliehen, vielleicht habe ich dereinst Gott
und meinem Volke dafür Rechenschaft abzulegen."
Im Frühjahre 1681 wurde zunächst die Maitresse Guibourg's gehängt,
alsdann ein „Giftnatter", der für 30 Sous zur Hand war, auf dem Greve-
platz lebendig verbrannt, wenige Tage darauf die Frau eines Wasser- und
Forstmeisters enthauptet und gleichzeitig eine Frau Lescalopier in (Mgi« ver¬
brannt. Und noch immer dauerten die Verhaftungen fort, und täglich mehrten
sich die Jndicien, wie weit sich die Fäden des Netzes bis in die höchsten
Schichten der Gesellschaft verliefen. Ja die öffentliche Meinung deutete sogar
auf Mitglieder des Richtercollegiums der LKambi't! aräente selbst, die auf das
ärgste compromittirt waren. Nun trat ein Wendepunkt ein. Es gab eine
gewisse Grenze für die Justiz und den strafenden Arm des Königs, die hier
erreicht war. Auch Könige und Richter haben Verwandte und Freunde.
Sodann war schon zu viel geweihtes Priesterblut geflossen, und die Gefahr
lag nahe, daß man den Interessen der heiligen katholischen Kirche durch allzu
rücksichtsloses Vorgehen gegen ihre Diener zu nahe trat. Ebensowenig mochte
der König die furchtbaren Schäden, an denen das Land während seines per¬
sönlichen Regiments litt, dem Auslande gegenüber weiter als es schon geschehen
aufgedeckt wissen. So trafen denn von nun an die Verurteilungen und Hin¬
richtungen fast ausschließlich Verbrecher aus den unteren Klassen. Erschreckt
durch das furchtbare Strafgericht, das in allen Provinzen des Landes über
so viele Hunderte verhängt wurde, flüchteten sich eine große Zahl noch ver¬
schont Gebliebener, auch aus angesehenen Familien, ins Ausland, und dieser
Aderlaß von leichterer Art, nachdem Schaffott und Scheiterhaufen das ihrige
gethan, führten das Uebel zu einem verhängnißmäßig schnellen Ende. Zauberer
und Hexen spukten allerdings auch noch in den Tagen der Regierung Ludwig's
des Fünfzehnten munter weiter; aber wer darf behaupten, daß sie überhaupt
ausgestorben sind? Für den Franzosen, der mit gutem Rechte gewöhnt
worden ist, auf das Zeitalter Ludwig's XIV. als auf die glänzendste Periode
der vaterländischen Geschichte hinzublicken, auf die augusteische Zeit, wo der
Nationalgeist seine schönsten Blüthen trieb, und wo ein Herrscher mit nie zu¬
vor gesehener Machtfülle Frankreich gewissermaßen zur Gebieterin Europas
machte, können die geschildertenZustände natürlich nie verfehlen, einen höchst
unerbaulichen und das Nationalgefühl herabdrückenden Eindruck zu machen.
Alle Lobredner und Geschichtsschreiber des großen Königs, Voltaire selbst
nicht ausgenommen, haben bisher fast ausschließlich der glänzenden Außenseite
seiner Regierungszeit ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Und doch brütete unter
derselben ein Sumpf von sittlichen Schäden, die von Zeit zu Zeit noch unter¬
drückt wurden, an denen aber unter seinen Nachfolgern das alte Königthum
zu Grunde ging. La Bruyere, Se. Simon, Bussy - Rabutin und auch Bol?
leau, wenn auch nur in mäßiger Weise, haben das ihrige gethan, um der
Außenwelt zu zeigen, wie viel Servilität. Gemeinheit und feiles Laster in der
nächsten Umgebung des allerchristlichsten Herrschers ihr Wesen trieben und den
allgemeinen Erschöpfungs- und Zersetzungsprozeß beschleunigen halfen. Daß
auch das untere, in grauenerregender Unwissenheit lebende Volk im Großen
und Ganzen verderbt war, beweisen die unerhörten Thatsachen, welche die Gift¬
prozesse zu Tage förderten. Unter diesem Gesichtspunkte erscheint die drohende
Zwingburg der Bastille in einer Zeit des schlaffen und langsamen gerichtlichen
Verfahrens und der weitverbreiteten Entsittlichung allerdings wie ein großes
Correctionshaus, das nicht selten heilsamen Schrecken zu erregen und Gutes
zu stiften wußte. Andrerseits hat auch sie als Symbol der Willkürherrschaft
und Werkzeug der Unterdrückung ihren Antheil an den Ursachen, welche den
Umsturz alles Bestehenden zur unabwendbaren Nothwendigkeit gemacht haben.
Darum richteten sich denn auch der Haß und die Wuth des durch lange,
schmähliche Mißregierung erbitterten Volkes zuerst gegen die Wälle der ge-
fürchteten Bastille.
Zum Schluße mag hier übrigens nochmals im Namen der historischen
Gerechtigkeit auf die schon oben berührte Thatsache hingewiesen werden, daß
die in dem vortrefflichen Werke Ravaisson's zugänglich gemachten Acten nir¬
gends einen Anhalt für die irrige Behauptung bieten, daß die Behandlung
der Gefangenen in der Bastille, abgesehen von der vor der französischen Revo-
lution überall im gerichtlichen Verfahren gebräuchlich gewesenen Tortur, un¬
menschlich und grausamer als in andren Gefängnissen gewesen sei. Vielmehr
sprechen nicht wenige Zeugen, wenigstens was die Regierung Ludwig's des
Vierzehnten betrifft, dafür, daß eine ziemlich milde Praxis herrschte.
Unter der Ueberschrift „das Gesetz vom 25. Mai v. I. betreffend die
evangelische Gemeinde- und Synodalordnung" bespricht Professor Dr. Wach")
die Stellung, welche der preußische Landtag und das Ministerium zu dem
neuen Entwurf der kirchlichen Verfassung eingenommen haben. Er will in
diesem Aufsatz die staatskirchliche Seite derselben zur Erörterung bringen. Es
erhebt sich nun hier zuerst die Frage, kraft welcher Vollmacht der Landesherr
den Verfassungsentwurf erlassen hat. Der Herr Verfasser beantwortet sie
etwas anders als es die Commission des Abgeordnetenhauses gethan hat.
Es handelt sich um die Bedeutung der Contrasignatur des Kultusministers,
öl-. Wach sagt, sie stelle nur die Authentie des landesherrlichen Erlasses fest,
die Commission behauptete, der Erlaß stelle sich damit innerhalb der Grenzen
des konstitutionellen Rechts und der Verfassung. Darüber aber herrscht auf
beiden Seiten Uebereinstimmung, daß der Erlaß auf der Vollmacht des Kirchen-
regiments ruhe, welches dem Landesherrn noch zustehe. Beide Seiten lehnen
also die territorialistische Theorie ab. Was die Contrasignatur aber anlangt,
so scheint uns nicht sowohl der Verfasser als vielmehr die Commission sie
richtig interpretirt zu haben. Kam es nur darauf an, die Authentie fest zu
stellen, so wäre der Name des Präsidenten des evangelischen Oberkirchenraths
hier am Platze gewesen. Die Contrasignatur des Kultusministers aber beweist,
daß der Landesherr auch das Kirchenregiment als konstitutioneller Fürst aus¬
übt. Uns scheint diese Differenz nicht sehr erheblich. Wir geben uns unge-
theilter Freude darüber hin, haß das Abgeordnetenhaus sich nicht den Stand¬
punkt des Territorialismus angeeignet hat, weder die Vorlage noch die Ge¬
nehmigung der Synodalordnung gefordert hat; daß diese also als Kirchengesetz,
nicht als Staatsgesetz zur rechtlichen Geltung gelangt ist. Die staatliche Mit¬
wirkung beschränkte sich daher negativ auf die Beseitigung entgegenstehender
gesetzlicher Bestimmungen, positiv auf die Verleihung der Rechte einer öffentlichen
Persönlichkeit an die kirchlichen Organe. Nur in einer Hinsicht sind die Hoffnungen
der Kirche nicht erfüllt worden. Ausschließlich die Gemeindeordnung ist legalisirt
worden. Damit haben allerdings die höheren Stufen ihre kirchliche Existenz nicht
eingebüßt, aber die Ausübung wichtiger Rechte ist ihnen noch versagt. Und, wie
der Vertreter der Staatsregierung ausdrücklich erklärt hat, liegt es in der Hand der
gesetzgebenden Faktoren, die gesetzliche Sanction zu verweigern oder an bestimmte
Bedingungen zu knüpfen. Nach Aeußerungen nun von Abgeordneten und Pre߬
organen, nationalliberaler oder fortschrittlicher Richtung sind drei Bedenken
gegen die Legalisirung der vorliegenden Verfassung wirksam. Diese sucht der Herr
Verfasser zu entkräften, und nach unserer Meinung, mit Fug und Recht. Er
erinnert zuvörderst daran, daß es nicht angehe, die Repräsentation der Kirche
und des Volks auf dieselbe Stufe zu stellen, denn hier sei das Stimmrecht
ein allgemeines, dort ein durch den eigenthümlichen Zweck der Kirche bedingtes
Der Gesammtwille der Kirche, welcher in der Repräsentation zum Ausdruck
gelangen soll, ist kein absolut souveräner, sondern durch den positiven reli¬
giösen Gehalt bestimmt, welcher die kirchliche Gemeinschaft bindet. Und da¬
her kann nur derjenige als Organ und Repräsentant der Kirche gelten, wer
auf diesem positiven Grunde der Kirche wirklich steht. Nachdem der Verfasser
so das Prinzip bewahrt hat, von dem jede gesunde Erörterung der kirchlichen
Verfassung ausgehen muß, wendet er sich zu den erwähnten Bedenken gegen
die vorliegende Synodalordnung. Das erste bezieht sich auf die Kontinuität
der synodalen Stufen, bei welcher schließlich die höchste Stufe, die General¬
synode, den Zusammenhang mit der Gemeinde verliere und einseitige Partei-
Herrschaft zur Geltung gelange. Da ein besondrer Aufsatz auf die hier vor¬
handenen Schwierigkeiten Rücksicht nimmt, den wir noch zu besprechen haben,
so übergehen wir hier diesen Gegenstand. Das zweite Bedenken betrifft das
Verhältniß, in welchem Geistliche und Laien auf den Synoden vertreten sind.
Es fragt sich, ob analog der Gemeindevertretung auch auf den höheren Stufen
das Laienelement überwiegen müsse. Der Herr Verfasser verneint diese Frage,
da erst auf höheren Stufen Gegenstände der Lehre und des Bekenntnißstandes
zur Sprache kommen, und diese es wiederum sind, welche die Gegenwart der
Geistlichen und zwar in nicht geringer Zahl erheischen. Denn sie sind es,
welche die reine Lehre und das positive Religionsfundameut zu wahren beru¬
fen sind. Endlich ist die Begrenzung der Wahlkörper als willkürlich und
ungleich getadelt worden. Der Herr Verfasser leugnet nicht, daß ein norma¬
leres Organisationssystem geschaffen werden könne, warnt aber vor Ueber¬
schätzung der vorhandenen Mängel. Es komme in erster Linie nicht auf den
Maßstab der Kopfzahl, sondern der Gemeindeeinheiten an.
Auch in dem ersten Heft der Zeitschrift hat Herr Professor Dr. Wach
einen werthvollen Aufsatz mitgetheilt, auf den wir setzt einzugehen haben „die
rechtliche Stellung der außerordentlichen Generalsynode." Die bevorstehende
außerordentliche Generalsynode soll nach der Königlichen Verordnung vom
10. September 1873 die definitive Ordnung einer General-Synode für die
evangelische Kirche der acht älteren Provinzen berathen. Es fragt sich, in
welchem Sinne diese Generalsynode eine berathende sei, ob ihren Voden nur
eine moralische oder auch eine rechtliche Autorität zukommen soll. Der Herr
Verfasser untersucht zuerst das Verhältniß der außerordentlichen Generalsynode
zu dem zu erforschenden Gesammtwillen der Kirche und erklärt: Sie ist Re¬
präsentation der Kirche. Sie ist nicht wie die Generalsynode von 1846 aus
landesherrlichen Ernennungen und Wahlen durch nicht verfassungsmäßige
Wahlkörper, auch nicht, wie die Monbijou-Conferenz durch eine Vereinigung
kirchenregimentlicher Vertrauensmänner geistlichen und weltlichen Standes ge¬
bildet, sondern aus der konsistorial-synodalen Verfassung herausgewachsen.
Sagt man, die Vorsynode sei octroyirt und könne deshalb nicht als legitime
Vertretung der Kirche gelten, so ist zu antworten, daß die definitive General¬
synode den Mangel der Oktroyirung doch nur deshalb nicht an sich tragen
werde, weil sie den Beschlüssen der Vorsynode gemäß gebildet worden. Ist
also die Vorsynode in der That Ausdruck des Gesammtwillens der evange¬
lischen Landeskirche Preußens, so folgt, daß Vorlagen, die sie verworfen oder
verändert hat, nicht unverändert sanctionirt werden können. Die stillschwei¬
gende Voraussetzung auf dem Gebiet der kirchlichen Gesetzgebung ist der Con-
sensus der Kirche. Hat diese aber laut ihren Dissensus bezeugt, so darf nach
allgemein anerkannten kirchenrechtlichen Grundsätzen nicht im Widerspruch mit
demselben eine kirchliche Gesetzgebung ausgeübt werden. Der Herr Verfasser
beruft sich hier auf geschichtliche Analogien, welche für die Entscheidung der
hier vorliegenden Frage von hohem Werthe sind. Es ist dies einmal die Er-
klcirung des gegenwärtigen Präsidenten des evangelischen Oberkirchenraths in
Bezug auf den Königlich Sächsischen Entwurf einer Kirchenordnung, aus
welcher wir die wichtigen Schlußworte herausheben: „Auch in Sachsen gilt
der gemeinevangelische Rechtssatz, daß wenigstens Veränderungen in der Ver¬
fassung der Landeskirche und in den mit der Lehre zusammenhängenden Ord¬
nungen (insbesondere den liturgischen) nicht aus dem bloßen Willen des Regi¬
ments gültig hervorgehen können, sondern der Zustimmung von Lehramt und
Gemeinde bedürfen. Die Absicht, diesen Satz aufzuheben und an seine Stelle
das ausschließliche Recht des von der Landessynode bloß berathenen Kirchen¬
regiments zu setzen, kann bei der Entwerfung eines Gesetzes, welches auf Er¬
weiterung und Organisirung des gemeindlichen Antheils am Handeln der
Kirche ausgeht, nicht gewaltet haben." Es ist sodann die Geltung, welche
die hannöversche Vorsynode in Anspruch nahm und empfing. Obwohl als
berathende berufen, sah sie sich als gesetzgebend an, und die Stände erklärten,
daß die durch Zusammenwirken des Regiments und der Vorsynode zu Stande
gekommenen Beschlüsse von dem verfassungsmäßigen Organ der kirchlichen
Gesetzgebung gefaßt seien. Was nun die gesetzgebende Thätigkeit der Vor¬
synode betrifft, so stellt der Herr Verfasser zwei Forderungen an sie, von
deren Erfüllung er eine erfolgreiche Wirksamkeit derselben abhängig macht.
Die erste betrifft die Abgrenzung der Befugnisse zwischen den Provinzial-
Synodcn und der General-Synode. Da der Entwurf der Synodal-Ordnung
in § 63 alm. 3 erklärt: „Die Provinzial-Synode übt eine selbständige Theil¬
nahme an der kirchlichen Gesetzgebung dergestalt, daß kirchliche Gesetze, deren
Geltung sich auf die Provinz beschränken soll, durch das Kirchenregiment nicht
ohne ihre Zustimmung erlassen werden können", so ist zu hoffen, daß die
Borsynode sich nicht einer uniformirenden Tendenz hingeben werde. Eine
solche verbietet vor allem das Interesse der beiden westlichen Provinzialkir-
chen. Sie haben ein Recht zu verlangen, daß die Eigenthümlichkeiten ihrer
Verfassung geschont werden und nicht etwa die Vertreter der sechs östlichen
Provinzialkirchen, welche ja eine gemeinsame Verfassung haben, ihnen die Be¬
stimmungen derselben wider ihren Willen durch Majorisirung auf der General-
synode octroyiren. Die zweite Forderung bezieht sich auf die Stellung der
General-Synode zum Bekenntniß und zur Lehrnorm. Wir stimmen mit dem
Herrn Verfasser darin überein, daß ersteres nicht Gegenstand der Gesetzgebung
sein kann. Das Bekenntniß ist der konstitutive Faktor der Kirche. Eine
Aenderung des Bekenntnißstandes schließt eine Aenderung der Kirche in sich.
Die Identität des Bekenntnisses stellt die geschichtliche Identität der Kirche
dar. Aber ist auch unmittelbar das Bekenntniß nicht Gegenstand synodaler
Bestimmungen, so kann es dies doch mittelbar werden, indem die Synoden
durch Erlaß von Disciplinar-Ordnungen, Sanctionirung von kirchlichen Leho
büchern, Gesangbüchern, agendarischen Normen auf die konkrete Geltung der
Bekenntnisse, auf die Bestimmung des Maßes der ihnen eignenden verpflichten¬
den Kraft Einfluß ausüben können. Der Herr Verfasser wünscht nun, daß
auf allen diesen Gebieten die General-Synode einen bindenden Beschluß ohne
Zustimmung der Provinzialsynoden zu fassen nicht befugt sei. Die Synodal¬
ordnung enthält ebenfalls in § 65 Ur. 3 alm. 3 die Bestimmung: „Neue
Katechismus-Erklärungen, Religions-Lehrbücher, Gesangbücher und agen¬
darische Normen dürfen in dem Provinzial-Bezirk nicht ohne Zustimmung der
Provinzial-Synode eingeführt werden." Die Lehrnorm, die Basis für das
disciplinarische Verfahren hinsichtlich Lehrabweichungen, ist dagegen, wie wir
glauben, absichtlich nicht den Provinzialsynoden überlassen. Wir können dies
nur billigen und weichen darin von dem Herrn Verfasser ab. Es handelt sich
für uns nicht etwa darum, das Recht des Confesfionellen zu beseitigen, es ist dies
ja geschützt, wenn der Bekenntnißstand der einzelnen Gemeinden garantirt ist,
sondern darum, daß in der evangelischen Landeskirche, soweit die confessio-
nelle Differenz es gestattet, eine gemeinsame Lehrordnung und Lehrverpflich¬
tung zur Geltung komme. Wir würden es auf das tiefste beklagen, wenn
ein Geistlicher in der Provinzialkirche Preußens fungiren könnte, der in der
Provinzialkirche Pommerns abgesetzt wäre. Die Zerrissenheit des Protestan¬
tismus ist groß genug, als daß wir durch Zulassung provinziell kirchlicher
Lehrnormen sie mehren dürften. Dagegen würden wir es gutheißen, daß der
Festsetzung einer kirchlichen Lehrordnung durch die Generalsynode eine Berathung
derselben durch die Provinzialsynoden voranginge, damit das moralische Ge¬
wicht derselben wirksam sein könnte. Und ebenso würde es nothwendig sein,
bei der tiefgreifenden Bedeutung der Gesetzgebung auf diesem Gebiete, daß nicht
eine kleine zufällige Majorität, sondern eine Zweidrittel-Majorität als Be¬
dingung für ihr Zustandekommen angesehen werde.
Es bleibt uns noch übrig, einen Aufsatz zu besprechen: „Die Wahl¬
ordnung für die definitive Generalsynode" von Professor Dr. Erwin Nasse.
Der Herr Verfasser stellt sich die Aufgabe, eine Wahlordnung für die defini¬
tive Generalsynode aufzufinden, welche einmal das kirchliche Leben soviel wie
möglich vor Agitationen schütze, welche sodann die Wahl von kirchlich be¬
währten Männern begünstige, welche endlich den verschiedenen Parteien nach
dem Maße der erworbnen Geltung Raum gewähre. Die Frage nach dem
Zahlenverhältniß zwischen Geistlichen und Laien scheint ihm mit Recht als
von untergeordnetem Werthe, denn die Parteien gruppiren sich nach anderen
Kategorien, aber es muß nichts desto weniger dies Zahlenverhältniß gesetzlich
festgestellt werden, es darf nicht dem Zufall überlassen bleiben. Der Herr
Verfasser spricht, und wir stimmen darin mit ihm überein, in dieser Hinsicht
mit großer Anerkennung von dem Wahlmodus, der für die außerordentliche
Generalsynode festgesetzt ist. Derselbe läßt sie aus einem Drittel Geistlicher,
einem Drittel Laien bestehen und giebt in Bezug auf das letzte Drittel freien
Spielraum. Schwieriger ist die Frage, ob die General-Synode aus Urwasi
der Gemeinden, wenn auch durch Wahlmänner vermittelt, oder aus Wahl
einer der niederen Vertretungsstufen oder endlich aus den Provinzial-Synoden
hervorgehen solle. Wir entscheiden uns mit dem Herrn Verfasser für den
letzten Modus. Gegen die übrigen spricht die durch die Größe der Wahlbe¬
zirke gesteigerte Gefahr der Partei-Agitationen, welche auf kirchlichem Gebiet
viel tiefer greifende Schäden als auf politischem hervorbringen. Es kommt
hinzu, daß, soweit es angeht, von der Generalsynode die Männer fern ge¬
halten werden müssen, welche ohne wahrhaft kirchliches Interesse und ohne
Neigung die kleinen unscheinbaren Dienste zu üben, welcher die kirchliche Gemeinde
bedarf, desto mehr danach trachten, in größeren Versammlungen ihr Licht
leuchten zu lassen. Die Generalsynode kann nur dann segensreich wirken,
wenn sie zum größten Theil aus Männern besteht, welche in der Arbeit an der
Gemeinde sich bewährt haben. Es ist endlich zu erwägen, daß wenn die
Provinzialsynoden nicht den Wahlkörper für die Generalsynode bilden, zwischen
beiden Vertretungen sich bedauerliche Gegensätze und Widersprüche bilden müssen,
da sie beide den größten Theil der zu berathenden Gegenstände gemeinsam
haben und nun doch nicht in einem inneren organischen Verhältnisse zu ein¬
ander stehen. Nur wenn die Generalsynode, wenigstens zum größten Theile
aus den Provinzial-Synoden hervorgeht, ist eine Harmonie zwischen dem
Ganzen und den einzelnen Theilen verbürgt, im entgegengesetzten Falle ist der
Zwiespalt zwischen beiden Seiten begründet. Es ist bei diesem Wahlmodus
nur die einzige Gefahr, daß die Majoritäten ihre Macht rücksichtslos ausüben
und vielleicht ansehnliche Minoritäten von der Vertretung in der General-
synode ausschließen. Um dieß zu verhüten, schlägt der Herr Verfasser die
Anwendung des Wahlsystems der sogenannten proportionalen Vertretung vor.
Wir billigen diesen Vorschlag durchaus. Es kann nicht die Absicht irgend
einer besonnenen Partei sein, eine andere, welche in dem kirchlichen Leben eine
Stellung gewonnen hat, von der Vertretung der kirchlichen Interessen auszu¬
schließen. Die synodalen Versammlungen sollen einen Spiegel der wirklich
vorhandenen Parteiverhältnisse gewähren. Wir erwarten von der Minoritäten-
Vertretung eine Milderung der Parteigegensätze. Die Erbitterung der Par¬
teien hängt zum großen Theile damit zusammen, daß sie nicht die ihrem
thatsächlichen Machtverhältniß entsprechende Geltung gewonnen haben. Der
Herr Verfasser wendet sich schließlich der Frage zu, ob die Ergänzung der
Generalsynode durch Mitglieder, welche der Landesherr ernennt, die General-
superintendenten und die Vertreter der theologischen und juristischen Fakul¬
tät zu billigen sei. Er bejaht sie mit Recht; solange dem Landesherrn die
bevorzugte Stellung eignet, die er in Deutschland wenigstens von den Anfän¬
gen des Protestantismus an besitzt, wird ihm diese Kompetenz nicht entzogen
werden können. Und er wird sie im Interesse der Kirche üben, das auch hier
mit dem Interesse des Staats zusammenfällt, zur Beschränkung der extremen,
zur Stärkung der vermittelnden Parteien. Daß die Generalsuperintendenten
nicht fehlen dürfen, leuchtet ein. Sie sind die Vermittler zwischen der Geist¬
lichkeit und dem Kirchenregiment, die Vertrauensmänner beider Seiten. Auch den
theologischen Fakultäten, welche immer auf das kirchliche Leben einen so großen
Einfluß ausgeübt haben, wird eine Vertretung in der Generalsynode nicht be¬
stritten werden dürfen. Und ebenso wenig wird man den Vertretern des
Kirchenrechts einen Platz in der Generalsynode versagen können, nur daß wir
mit dem Herrn Verfasser die Wahl nicht der juristischen Fakultät, welche kein
kirchlicher Wahlkörper ist, sondern dem Landesherrn nach hannöverschen Vor¬
bild überlassen möchten.
Wir schließen unser Referat mit aufrichtigstem Dank gegen die Heraus¬
geber und Mitarbeiter der Synodalfragen. Der Werth ihrer Aufsätze rechtfertigt
die Ausführlichkeit unseres Berichts. Und auch die Leser dieser Blätter wer¬
den an derselben, wie wir hoffen, nicht Anstoß genommen haben. Denn
unsere Absicht war, durch die Besprechung des Inhalts der vorliegenden Hefte
der neuen Zeitschrift die neue Verfassung nach ihren wichtigsten Beziehungen
zu beleuchten.
Deutschland hat während der beiden letzten Jahrzehnte in Bezug auf
Erleichterung der Geldumsätze und Zahlungen im großen Geschäftsverkehre
so manche Verbesserungen eingeführt und Einrichtungen anderer Staaten
adoptirt, die dort dem gesammten Verkehrsleben unberechenbare Vortheile ge¬
währten und doch steht es in der Benutzung solcher zweckentsprechenden Ein¬
richtungen noch hie und da hinter andern Staaten zurück. Insbesondere hat
sich das Depositen-, Giro- und Checkwesen und das auf dessen Basis ent¬
standene, zu so großer Entfaltung gelangte Clearinghouse-System Londons
und New-Uorks, das durch eine intensive Ausnutzung relativ nicht gar so
bedeutender Geldmittel wahrhaft colossale Geschäftsumsätze ermöglichte, in
Deutschland noch nicht so eingebürgert, als es im Interesse einer lebhaften
Entwicklung des Handels und der Industrie zu wünschen wäre,
Deutschland besitzt nur wenige Banken, die in Bezug auf das Girowesen
zweckmäße Einrichtungen getroffen haben. Bis jetzt ist die Bank des Berliner
Cassenvereins das Berliner Clearinghouse und seine, in stetiger Zunahme be¬
griffene Thätigkeit läßt schließen, daß man den Nutzen des Giro - und Check¬
wesens zu würdigen anfängt und daß die Intelligenz des kaufmännischen
Publikums wohl nur einer Anregung bedarf, um, ohne irgend ein Opfer, ohne
irgend welche Anstrengung, lediglich durch eine theilweise Selbsthilfe, durch
ein einträchtiges Zusammenwirken der Betheiligten, große Erleichterungen im
Geldverkehre herbeizuführen, deren sich andere Länder schon seit Jahren erfreuen.
So besteht das Londoner Clearinghouse schon seit 1778, wenn auch
erst 1834 die Betheiligung den Londoner Banken eine allgemeinere wurde,
bis sich endlich 1864 die Bank von England an die Spitze stellte und da¬
durch, daß nun die täglich sich ergebenden gegenseitigen Saldos*) nicht mehr
baar, sondern durch Ab- und Zuschreibung in den Büchern der Bank von
England ausgeglichen werden, der Clearing Methode zu einer eminenten Be¬
deutung verhalf. Die Entwicklung der Thätigkeit und der Umfang der Um¬
sätze des Clearinghouse's wird am besten durch einige Ziffern veranschaulicht.
Seit 1867, in welchem Jahre der erste Bericht veröffentlicht wurde, betrug
der Gesammtverkehr in Checks und Wechseln
Ebenso bedeutend ist das Clearingsystem in Nordamerika ausgebildet.
Die Totalsumme der, vermittelst des Clearinghauses ausgetauschten Checks
betrug in New-York:
Seit Eröffnung der New-Yorker Gold-Exchange-Bank (1. Mai 1867)
betrug daselbst der Umsatz der Clearings:
Diese gigantischen Summen werden umgesetzt, ohne daß kaum ein Geld¬
stück angerührt wird! Welch' riesige Summen von Geldmitteln, welche sonst,
in den einzelnen Kassen bereit liegen mußten, werden durch dieses System
verfügbar und wie bedeutend wird unmittelbar der Geldbedarf verringert!
Die Vortheile, die eine solche Compensationsmethode bietet, sah man in
Oesterreich sehr bald ein und in demselben Jahre, in welchem die Bank von
England an die Spitze des Londoner Clearinghauses trat, wurde auf An¬
regung der österreichischen Creditanstalt am 7. November 1864 ein Rund¬
schreiben der österreichischen Nationalbank, der Creditanstalt, der niederöster¬
reichischen Escompte-Gesellschaft und der Anglobank an die Geschäftswelt
Wiens gerichtet, worin angezeigt wurde, daß sich diese vier genannten Bank¬
institute vereinigt hätten, ein Clearinghouse unter dem Namen „Saldo-Saal"
zu organisiren, in welchem sie ihre gegenseitigen Verbindlichkeiten durch Aus¬
tausch der Wechsel, Checks, Anweisungen:c. tilgen würden und luden zugleich
die Geschäftsleute ein, sich möglichst stark an dieser neuen Institution durch
zahlreiche Eröffnungen von Giro-Follen bei den Wiener Banken zu betheiligen.
— Mit 1. December 1864 begann die Thätigkeit im Saldo-Saale. Der Ver¬
kehr entwickelte sich, wie nachstehende Ziffern zeigen, in einer Hoffnung er¬
regenden Weise. Vom 1. December 1864 bis Ende 1871, mithin in einem
Zeitraume von 85 Monaten mit zusammen 2116 Geschäftstagen, betrug der
baar verglichen wurde. Dies kann ein ganz hübscher Anfang genannt werden.
An und für sich hat aber wohl ein in 86 Monaten erzielter Gesammtumsatz
von 2,734 Millionen Gulden noch nicht viel zu bedeuten, wenn man erwägt, daß
in den letzten zwei Wochen des November 1872 das Londoner Clearinghaus
einen Totalumsatz von 2,222,780,000 si. zu bewältigen hatte. Die eben ge¬
nannten Hauptsummen des Saldo-Saales vertheilen sich auf die einzelnen
Jahre wie folgt:
Von den einzelnen Jahren stellt sich die durchschnittliche Höhe des täg¬
lichen Umsatzes, sowie der zur Baarzahlung angewiesenen Differenzsummen
und der durch das Liquidations-Verfahren ersparten Beträge folgendermaßen
heraus:
Auf den Durchschnitt währendder ganzen 85monatlichen Periode ent«
fällt ein Baarerforderniß von 38.8l und demzufolge an bilanzirten Beträgen
ein Antheil von 61.19 Procent.
Den stärksten Tagesverkehr zeigt:
sen größten Tagesumsätzmstellen wir dieniedrigsten entgegen; diese f
Wir ersehen hieraus, daß der höhere Umsatz keineswegs immer auch ein
höheres Procent der Begleichung zur Folge hat und umgekehrt. Im Jahre
1872 besaßen von 6100 protokollirten Firmen Wiens erst 1274 Firmen bei
den Giro-Abtheilungen der verschiedenen Wiener Geld- und Creditinstitute ein
Giro-Folium, die größere Zahl der Firmen hielt sich noch von dieser gemein¬
nützigen Einrichtung ferne.
Die oben genannten vier Banken, welche bis dahin das Clearingsystem
im Saldosaale gepflegt, kamen 1872 überein, diesen Saldosaal nach den weiter
unten im Auszuge wiedergegebenen Bestimmungen, unter dem Namen:
„Wiener Saldirungs-Verein" umzugestalten. — Da zur praktischen Anwen¬
dung des empfohlenen Systems eine nähere Bekanntschaft mit den bestehenden
Einrichtungen zur Erleichterung und Sicherheit der Geldumsätze die unerlä߬
liche Bedingung ist, wollen wir einen gedrängten, aber alles Wesentliche ent¬
haltenden Auszug der den Clearingverkehr in Wien regelnden Bestimmungen
geben, möglicherweise finden diese österreichischen Einrichtungen trotz der un¬
bestrittenen Mustergiltigkeit jener in England leichter Eingang in Deutschland
als die englischen, da die deutschen Bankverhältnisse ähnlicher den österreichi¬
schen, als den englischen sind. — Die Wiener saldirenden Institute bringen
an jedem Geschäftstage die in ihren Händen befindlichen, am selben Tage
zahlbaren Wechsel, Checks, oder verfallene Salinenscheine zum gegenseitigen
Austausche, nicht zum directen Jncasso und begleichen am selben Tage den
sich hieraus ergebenden Saldo durch Ab- oder Zuschreibung auf ihrem Giro-
eonto der Nationalbank. Jedes saldirende Institut erhält eine fortlaufende
Nummer, welche auf allen zum Gebrauche im Saldirungsverein bestimmten
Büchern und Drucksorten des Institutes ersichtlich gemacht ist. Die zur Aus¬
gleichung bestimmten Effecten werden acquittirt, von einer Confignation und
einer Empfangsbestätigung begleitet mitgebracht und nachdem jeder Saldant
dem Leiter des Saldirungsgeschäftes („Controlor") ein Aviso übergeben, auf
welchem die am Tage von seinem Institute zur Saldirung gebrachten Wech¬
sel u. s. w. nach den zahlenden Instituten getrennt, summarisch aufgeführt
sind, wird mit der gegenseitigen Uebergabe der Effecten begonnen. In der
Strazza eines jeden Saldanten werden im Credit die Gesammtsumme der von
jedem Saldanten diesem Institute übergebenen, im Debet aber die Gesammt¬
summe der von diesem Institute dem Saldanten erfolgten Wechsel u. s. w.
eingetragen und diese sodann den Instituten zum Zwecke der Prüfung übergeben.
Nachmittags erfolgt der gegenseitige Austausch der allenfalsigen Netouren
und nachdem jeder Saldant seine Tagesstrazza abgeschlossen, trägt er den
Saldo vor und übergiebt dem Controlor ein Bilanzblatt. Sobald dieser die
Bilanzblätter aller einzelnen Saldanten in Ordnung befunden hat, stellt jeder
Saldant die Anweisung auf die Giro-Abtheilung der Nationalbank zur Be¬
gleichung des Saldo's seines Institutes aus.
Nach dem in der Plenar-Versammlung am 8. Februar 1874 vorgelegten
Berichte betrug die Summe der im Jahre 1873 zum gegenseitigen Aus¬
tausche gebrachten Wechsel und Anweisungen 732.., Millionen Gulden gegen
604.8 Millionen Gulden im Jahre 1872 und hat sich somit der Verkehr um
17.zgz yet. gehoben. Nach Kompensation der gegenseitigen Forderungen ergab
sich im Jahre 1873 noch ein durchschnittliches Erfordernis) der baaren Be¬
gleichung von 37,zg2 yet., gegen 37,zz5 yet. im Vorjahre, und hat sich sonach
dieses Verhältniß auch bei dem gesteigerten Verkehre nahezu unverändert er¬
halten. — Im vergangenen Jahre zeigte der Gesammtverkehr eine Abnahme gegen
das Vorjahr, welche wohl nicht dem Saldirungsinstitute, sondern der all¬
gemeinen Geschäftslage zuzuschreiben sein wird. — Aber nicht nur im Bank¬
wesen brach sich das Clearingsystem Bahn, auch im Eisenbahnwesen
fand es Eingang. Wieder ist es England, das auch auf diesem Gebiete zuerst
diese Institution einführte. 1842 wurde in London ein Eisenbahn-Central-
abrech'nungsbureau (Railway Clearinghouse) ins Leben gerufen, welchem nach
und nach fast alle englischen Eisenbahnen beitraten, so daß es jetzt einen
riesigen Verkehr zu bewältigen hat. Das Abrechnungsbureau umfaßt folgende
Geschäftszweige: Abrechnung des Personen-, Güter- und Viehverkehrs, sowie
Ausgleichung der betreffenden Geldbeträge; Controle der Wagen, Decken,
Bindestricke und Ketten in Bezug auf die Feststellung der Miethe; Regelung
der Entschädigung für Verlorne und beschädigte Güter, für Beschädigung der
Wagen; das Versicherungswesen für Güter im durchgehenden Verkehr. —
An der Spitze dieses Clearinghouse steht ein Comite', in dem jede am Clearing¬
system theilnehmende Bahn durch einen Delegirten vertreten ist. Die laufen¬
den Geschäfte selbst werden durch einen Director und (ca. 900 Beamte) be¬
sorgt. Alle Tage schließt die Anstalt ihre Rechnungen so, daß jede betheiligte
Bahn den Stand ihrer Forderungen oder Lasten erfahren kann.
Auch auf dem Continent machte das stets verwickelter werdende Abrech-
nungswesen die Nothwendigkeit fühlbar, ähnliche Abrechnungsstellen zu gründen.
Seit 1871 existiren in Berlin für mehrere deutsche und in Wien für alle
österreichisch-ungarischen Bahnen solche Anstalten. An der Spitze der deutschen
„General-Saldirungsstelle" steht die Berlin-Potsdam-Magdeburger Bahn, in
deren Gemeinschaft diese Stelle ursprünglich von 20 deutschen Bahnen ge¬
gründet wurde. — In Wien besteht zu gleichem Zwecke der „Eisenbahnsaldo¬
aal" dessen Funktionen die österreichische Staatseisenbahngesellschaft leitet.
Die Kosten des ganzen Apparates bezifferten sich im Jahre 1873 auf
326,674 si. Die Thätigkeit dieser Centralsaldirungsstelle wird dadurch charak¬
terisier, daß im Jahre 1873 487 Debet-Saldi im Gesammtbetrage von
9.6 Mittönen Gulden Papier und 1.^ Millionen Gulden Silber eingezahlt
und 353 Credit-Saldi in gleichem Gesammtbetrage ausgezahlt wurden.
Wir schließen unsere Ausführungen mit dem Wunsche, es möge dadurch
betreffenden Orts Anregung gegeben werden, endlich in Deutschland gleich
Oesterreich einen Anfang zu machen und Besitz zu ergreifen von den Erleich¬
terungen und evidenten Vortheilen, welche die Ausbildung des Clearinghous-
Systems anderwärts dem Verkehr bietet.
Durch die Zeitungen ging bekanntlich neuerlich die Notiz, daß der Erz-
bischof Paulus Melchers von Köln kurz nach seiner Entlassung aus dem Ge¬
fängnisse von dem Ober-Präsidenten der Rheinprovinz zur definitiven Besetzung
von 590 Succursal-Pfarrstellen auf dem linken Rheinufer aufgefordert worden
sei, sowie zur Anmeldung der betr. Geistlichen an die Regierung nach Maßgabe
der §§ 18. 19. des Gesetzes v, 11. Mai 1873. Nach Verlauf von vier Wo¬
chen wurde diese Aufforderung wiederholt und zugleich bei Nicht-Berücksich¬
tigung derselben dem Bischöfe eine Geldstrafe von SO Thlrn. für jede einzelne
Stelle d. i. in Summa von 29.500 Thlrn. angedroht. Eine ähnliche Weisung
wird wahrscheinlich binnen Kurzem auch an den Bischof Eberhard von Trier
bei seiner event. Entlassung aus der Haft seitens des Oberpräsidenten
ergehen. Da man schon jetzt von der Fruchtlosigkeit einer solchen Aufforde¬
rung überzeugt sein kann, und von ultramontaner Seite laut und leise da¬
rauf hingewiesen wird, daß in der Folgeleistung seitens der Bischöfe eine
prinzipielle Anerkennung der Maigesetze liege, was dieselben nun und nimmer
auf sich kommen lassen dürfen, — so stehen wir wiederum an der Pforte eines
großartigen und folgenschweren Conflictes, der wahrscheinlich dazu führen
wird, daß auch diesen beiden Kirchenfürsten innerhalb Jahresfrist der Prozeß
auf Absetzung vom Amte gemacht wird. An uns ist es nun zu zeigen, daß
diese Succursal-Pfarreien, d. h. Stellen, deren Inhaber a<1 nutum des Bischofes
ihres Benefieiums verlustig erklärt und an einen andern Ort versetzt werden
können, weder, wie man behauptet, mit der gottgeordneten Verfassung der
Kirche, noch mit den Kirchengesetzen d. h. dem canonischen Recht und den
Beschlüssen des Concils von Trient, noch endlich selbstverständlich mit den
neuern weltlichen Kirchengesetzen in Preußen in Einklang zu bringen sind!
Diese Succursal-Pfarreien und deren Organisation sind auf das französische
Gesetz vom 18. Germinal X basirt, den bekannten „organischen Artikeln" der
französischen Republik, welche zur Zeit ihrer Entstehung von einem großen
Theile der französischen Geistlichkeit selbst energisch bekämpft und darum in der
Folge mehrfach, z. B. durch da< kaiserliche Decret vom 30. Dez. 1809 und
das vom 8. Nov. 1813 ergänzt und abgeändert worden sind. Jenes Gesetz
bestimmt im Art. 60, daß in jedem friedensgerichtlichen Bezirk wenigstens
eine Parochie (piu-oisLo) bestehen^müsse mit einem cur6 (Hauptpfarrer) an
der Spitze und mit so vielen Succursalen, deren Pfarrer clossvi-valltL heißen,
als das Bedürfniß und das Vermögen der kleinern Ortsgemeinden erheische.
Die Funktionen beider Art Pfarrer sind sich im Wesentlichen gleich. Der
Hauptunterschied zwischen dem Cure' und den Succursal-Pfarrern besteht, wie
gesagt, darin, daß der erstere mit der Verleihung seines Beneficiums ein festes
und lebenslängliches Amt erhält, die letztern hingegen nicht fest angestellt sind,
sondern vom Bischöfe nach Belieben abgesetzt und verschickt werden können,
und daß sie außerdem ein geringeres Staatsgehalt beziehen. Dabei mag
beiläufig bemerkt werden, daß die sonstigen persönlichen Einkünfte dieser
Pfarrer aus den meist reich dotirter Kirchenfonds, — mit Ausnahme einiger
Stellen an der Eifel, welche gewöhnlich als eine Art Strafort für etwas hart¬
köpfige und widerspenstige Geistliche angesehen werden, die sich aber rückstcht-
lich der örtlichen Annehmlichkeit noch immer mit manchen Pfarrstellen in der
Mark Brandenburg und in den korr»,« missionis messen können — derart
sind, daß sie sich gegenüber ihren festangestellten Amtsbrüdern in den Städten
und größern Ortschaften durchaus nicht zu beklagen haben. Ein Dorfpastor
am Rhein führt in der Regel ein so behäbiges und gemüthliches Leben, daß
die meisten derselben als das Prototyp eines wohlgenährten, feisten Pfäff-
leins gelten können und sie gewöhnlich in der Lage sind, sich zur Aushülfe
in ihren nicht allzu überhäuften Amtsgeschäften noch einen oder zwei Hülfs¬
geistliche in Gestalt eines jungen Vicars oder Rectors anzuschaffen. Und da¬
bei werden sie von den Bauern mit wenigen Ausnahmen fast allenthalben
auf den Händen getragen und spielen meist die erste Rangperson im Dorfe,
ihre Köchinnen und respectiven Schwestern im canonischen Alter die zweite.
Da ist kein Kindtauf- oder Hochzeitsschmauß, zu dem der Herr Pastor mit seiner
getreuen Penelope nichr eingeladen, kein privates oder communales Geschäft
von einiger Wichtigkeit, zu dem nicht vor Allem des Pfarrers Rath und
Meinung erholt wird. Und wehe demjenigen Dorf- und Gemeindegenossen,
der seinen Wünschen und Befehlen oder denen der „Madame" nicht an eoux
den schuldigen Gehorsam erweist oder gar ketzerischen altkatholischen Grund¬
sätzen huldigt; er wird bei jeder Gelegenheit mit Worten und Blicken gezüchtigt,
und, wenn nicht das kirchliche, so doch das gesellschaftliche Anathem über ihn
verhängt, ein traurig Loos, das gewöhnlich die armen und freisinnigen Dorf¬
schulmeister trifft, die dann natürlich allemal den Sündenbock in der Gemeinde
spielen müssen. Ihre Kirchen sind überall ein Schmuck der Gegend, ihre
Pfarrhäuser wahre Dorfpaläste, geräumig gebaut und comfortabel eingerichtet,
meist in Verbindung mit Oeconomie-Gebäuden und einem kleinen bäuerlichen
Anwesen nebst wohlgepflegtem Obst- und Ziergarten. Ja Einige von ihnen
verdienen unbedingt das Prädicat „reich", das ihnen auch von ihren Pfarrge¬
nossen beigelegt wird, wenn diese es sich gleich nicht nehmen lassen, hier und
da und namentlich am Wirthshaustische zu behaupten, daß „Pfaffgut —
Raffgut" sei.
In Frankreich kommen auf diese Weise im Ganzen nur 3424 Cure's
auf 30,044 Desservcmts; in der Erzdiözese Köln befinden sich unter 629 Pfar-
reien auf dem linken Rheinufer bloß 47 fest zu besetzende Benefizien und in
der Diözese Trier unter 726 nur 69.
Dieses Institut der „Organischen Artikel" auf dem linken Rheinufer über¬
nahm auch Preußen unverändert, als ihm durch völkerrechtliche Verträge zu
Anfang dieses Jahrhunderts das linke Rheinufer als Theil seines Territoriums
zugesprochen wurde. Als nun i. I. 1821 die Beziehungen zwischen der preu¬
ßischen Monarchie und der römischen Kirche geregelt wurden, erließ der da¬
malige Papst Pius VII. eine Circumscriptionsbulle, Lulla, eireumsorixtioms
Dioveos. lieZm Lorussiei: publicirt in Preußen am 16. Juli jenes Jahres,
d. h. ein Rundschreiben für die preußischen Diöcesen, in welchem die
Diöcesan-Verhältnisse im Einzelnen genauer geregelt und u. a. auch, allerdings
im Gegensatz zu den Bestimmungen des Concils zu Trient und des canoni¬
schen Rechtes — davon unten Näheres — die Succursal Pfarreien des fran¬
zösischen Rechts anerkannt wurden. Als solches, d. h. als ein auf diploma¬
tischen Vereinbarungen beruhendes, vom Papste erlassenes, den Fürsten
ungetheiltes, und von denselben mit mehr oder weniger Vorbehalt publicirtes
Circular erscheint nun auch die berühmte Bulle: „ve saluto amirmruin"
(nach den Anfangsworten citirt). Dies geht auch aus der Einleitung der¬
selben hervor, welche in wortgetreuer Uebersetzung aus dem etwas barocken
Küchenlatein also lautet: „Pius Bischof, Diener der Diener Gottes. Zum
ewigen Angedenken. Um das Heil der Seelen und um das Wachsthum der
katholischen Religion zumeist dem Amte des apostolischen Dienstes unablässig
bekümmert, erstrecken wir unsere Sorgfalt fortwährend auf alles dasjenige,
was wir für die Besorgung der geistlichen Regierung der Christgläubigen
passender und nützlicher einrichten zu können erachten. In diesem Entschlüsse
sind unsere Gedanken schon lange vorzüglich auf jene Gegenden gerichtet,
welche thatsächlich unter der Herrschaft des allergestrengsten Fürsten Friedrich
Wilhelm, Königs der Preußen, stehen, damit wir mit dessen Hülfe und Frei¬
gebigkeit die kirchlichen Angelegenheiten (ron saern-in) daselbst auf die best¬
möglich« Methode zu ordnen vermöchten. Wenn wir uns billig den gegen¬
wärtigen Zustand in jenen Gegenden vor Augen hielten, so haben wir niemals
aufgehört, die ungeheuren Schäden zu beklagen, welche aus den verflossenen
Verwirrungen (der französischen Revolution und der Freiheitskriege) hervor¬
gegangen, und die jene einst so blühenden und reichen Kirchen Germaniens
ihres alten Glanzes, durch den sie sich auszeichneten, und des Schutzes ihrer
Güter beraubt und dieselben in einen äußerst kläglichen Zustand gebracht
hatten, woher das größte Elend und Verderben über die katholische Religion
und die Katholiken selbst hereingebrochen ist. Und da die Zeitumstände es
schlechterdings unmöglich machten, die Kirchen der berühmten germanischen
Nation wieder in ihrem alten Glänze erstehen zu sehen, so haben wir allen
Eifer und Fleiß angewandt, um so großen Uebeln wenigstens mit solchen
Heilmitteln abzuhelfen, welche zur Erhaltung des katholischen Glaubens in
jenen Gegenden und zum Heil der Christgläubigen nothwendig und dienlich
erscheinen. Diesen unsern Wünschen ist der genannte König der Preußen in
bewundernswerther Weise entgegengekommen (miriöoL öl>8iz<mnÄg,vit,), dessen
Wohlwollen gegen seine zahlreichen katholischen Unterthanen wir erkennen
und dankbar entgegennehmen (cuius proxenSÄM aämoäum invimimus et grad«
kmimo xrosoHuimul- voluntatem in <na,tKoIieo8) insbesondere gegen die aus
dem ihm zugefallenen großen Theile der Provinzen am Rhein, so daß wir
endlich alles zu einem glücklichen und segensreichen Ausgange bringen und
gemäß der Lage der Ortschaften und der Bequemlichkeit der Einwohner einen
neuen Status der Kirchen in dem Preußischen Reiche und die Grenzen der
Diöcesen jetzt festzusetzen, sowie die einzelnen Stellen mit besondern, würdigen
und tauglichen Pastoren, wo solche fehlen, zu bedenken vermögen."
Man kann dabei nicht, wie das hier und da geschieht, direct von einem
internationalen Vertrage zwischen dem preußischen Könige und dem Papste
sprechen, wie bei den eigentlichen Concordaten (d. i. völkerrechtlichen Verträgen
zwischen dem Papste und katholischen Fürsten), der von den contrahirenden
Mächten garantirt und nicht ohne Genehmigung des Apostolischen Stuhles
abgeändert werden könne, zumal selbst die Ansichten über die rechtliche Natur
und verbindliche Kraft der Concordate heute noch sehr getheilt sind, und die¬
selben von den Vertheidigern des Papalsystems einfach als Zugeständnisse und
Privilegien seitens des Papstes erklärt werden, die jederzeit von demselben
widerrufen werden könnten, wohingegen die Vertreter der modernen Staats¬
theorie hinwiederum sie nur als formelle Zugeständnisse des Staates an die
Kirche angesehen wissen wollen ohne die feste und garantirte Rechtskraft der
Verträge. Doch liegt die Entscheidung dieser Streitfrage außerhalb des
Rahmens unserer Darstellung.
Laut dieser Bulle wird nun die Erzdiöcese Köln gebildet aus K86 Paro-
chien, welche theils auf dem linken, theils auf dem rechten Rheinufer gelegen
sind. Und zwar umfaßt sie auf dem linken Rheinufer zunächst alle diejenigen
Pfarreien, welche zu dem frühern Bisthum Aachen gehört hatten, welches
nach 30jährigem Bestehen durch eben diese Bulle suprimirt wurde, und die
jetzt in den Regierungsbezirken (die Bulle sagt: provincia«) Aachen, Köln und
Düsseldorf liegen. Die Bulle führt außer den Pfarreien der Städte Köln
und Aachen noch folgende wörtlich auf: „Bergheimerdorff. Bonner vulgo Bonn,
Brühl, Kerpen, Lechenich, Lesstnich, Loevenich, Meckenheim, Münstereiffel,
Zolbiaeum vulgo Zülpich, Crefeld, Dachten, Vormagen, Elfen, Gladbach, Neuß,
Ilerdingen, Werfen, Burtscheid, Marcodurum vulgo Düren, Erkelenz, Esch¬
weiler, Geilenkirchen, Gemünd, Heinberg, Jolmcum vulgo Jülich, Lünnig,
Montjoie und Nideggen nebst deren Succursal-Annexkirchen, welche
in den genannten Regierungsbezirken innerhalb des Preußischen Reiches ge¬
legen sind ze." Sie umfaßt ferner folgende Cantonal-Kirchen, welche ehemals
zu dem Bisthum Lüttich gehörten: „Cronemburg, Eupen, Malmedy, Nieder-
krüchten, Schleijden und Se. Vieh nebst deren Suceursalen und Annexen,
welche unter preußischer Herrschaft stehen und 6 (nicht preußischen) Succursal-
Pfarreien. nämlich: After. Alsdorff. Merkstein. Rolduc. Mach und Welzze."
außerdem umfaßt sie 19 Parochien, welche im Regierungsbezirke Aachen liegen
und früher zur Trierer Diöcese gehörten, nämlich: „Allendorff, Blankenheim.
Dellendorff, Hollerath, Lummersdorff, Manderfeld, Marmagen, Mühlheim,
Nettersheim, Reiferscheid, Rescheid, Rigsdorf, Rohr, Schmiltheim, Schönberg,
Steinfeld, Tondorff, Udelhoven und Wildenburg mit ihren Annexkirchen."
Es folgen noch die rechtsrheinischen Pfarreien.
Die Diöcese Trier besteht nach derselben Bulle aus 634 Parochien, näm¬
lich auf dem linken Rheinufer aus alle denen, welche schon früher zu jener
Diöcese gehörten und im Regierungs-Bezirk Trier gelegen sind. Dann aber
noch aus demjenigen Theile des ehemaligen Bisthums Aachen, welcher sich
in den Regierungsbezirk Coblenz erstreckt, nämlich die Stadt Coblenz selbst
und folgende Cantonal-Kirchen: „Adanau, Absweiler, Andernach. Boppwest,
Castellauv, Cochem, Creuznach. Kaytasesch. Kirchberg, Kirr. Lützerath, Mayen.
Münstermayfeld, Nieder. Zitten. Oberwesel. Poles, Pünderich. Remagen,
Rübenach. Simmon, Sobernheim, Se. Goar, Stromberg, Treiß, Ulmen,
Wanderath mit ihren Suceursalen und Annexen. Ferner aber aus 132
Cantonal- und Succursal-Pfarreien nebst ihren Annexen, welche in der Cir-
cumscriptionsbulle von 1801 aufgezählt sind, auf die wir hier, wie auch auf
die rechtsrheinischen Pfarreien der Diöcese Trier nicht genauer eingehen kön¬
nen.*) Die nicht genannten Pfarreien der beiden Diöcesen gehörten also
seit a. 1821 zu den Succursal- resp. Annex-Kirchen. Einzelne Veränderungen,
die im Laufe der Zeit nothwendig geworden, Vermehrung der festen Pfarr¬
stellen oder Unionen mit schon bestehenden, Entstehung von neuen Succursal-
Pfarreien in den allmählich sich vergrößernden Weilern und Flecken u. s. w.
haben endlich zu dem oben notirten Resultat geführt, daß zur Zeit unter
13L5 Pfarreien der beiden Diöcesen Köln und Trier auf der linken Rhein¬
seite nur 116 feste Beneficien mit lebenslänglich amtirenden Pfarrern sich be¬
finden, die andern also alle in die Kategorie der Succursal-Pfarreien und
demnach unter die Bestimmung des § 18 des Gesetzes vom 11. Mai 1873 fallen.
Doch ist dabei zu bemerken, daß in der Praxis nur selten eine derartige Ab¬
setzung und Verschickung aÄ nutum des Bischofs auch bei diesen nicht fest be-
setzten Stellen vorkommt, es müßte denn zur Strafe oder wegen Widerspenstig¬
keit, schlechten Betragens, Streit mit der Gemeinde ze. geschehen. Die meisten
dieser Herren Suceursal-Pfarrer Kleider vielmehr auf ihren idyllischen Land¬
sitzen bis zu ihrem seligen Ende. Der Streit über die vom Gesetze verlangte
definitive Besetzung dieser Stellen ist darum in erster Linie nur ein theore¬
tischer, aber immerhin so geartet, daß darob die ganze katholische Christen¬
heit in Empörung und Aufregung gesetzt werden und Religion und Kirche
dadurch in ihren Grundfesten erschüttert werden müssen! flie volo, sie luteo!
Rom P0S8UMUS, und damit Basta!
Fragen wir uns nun, welche Stellung das canonische Recht d. h.
die Bestimmungen des Loipus M'is Oanonici, des kirchlichen Gesetzbuches, auf
welches sich die Herren Geistlichen doch sonst als auf ihr Privilegium und
ihre feste Burg und Schutzwehr gern berufen, zu den nicht fest und lebens¬
länglich besetzten Benefizien einnimmt, so finden wir darin eine entschiedene
Abneigung gegen derartige Organisationen, ja ein directes Verbot derselben.
Seit dem 9. Jahrhundert wurden den Kapiteln und Klöstern, welchen ge¬
meiniglich die Seelsorge in den einzelnen Pfarreien zustand, noch andere
kleinere Parochien einverleibt, deren reiche Einkünfte ihnen natürlich will¬
kommen waren, deren Seelsorge sie aber von schlecht besoldeten, nach Wunsch
absetzbaren und darum meist nachlässigen und wenig fähigen Reetoren und
Vicarien ausüben ließen. Die Kirche sprach sich gegen einen derartigen Mi߬
brauch auf ihren Synoden, die Päpste in ihren Decretalen wiederholt äußerst
mißbilligend aus und bezeichneten die also commissarisch beschäftigten Pfarrer
(xiesb^ter! Mrodiiani, viearii et reewres oeele»ig.e) mit den schärfsten Aus¬
drücken als Miethlinge (saeerclotes mereenNÜ), Solddiener:c. Um diesem Un¬
wesen ein für allemal zu steuern, verordneten die Gesetze Papst Urban's II. und
seiner Nachfolger in <ü. d. o. 1l> c^u. 2; eax. IX. as capeU. monaed. (3. 37)
eÄp. 30 X. ve praedencl. (3. 5): „daß solche Richter nur mit Genehmigung
des Bischofs und regelmäßig auf Lebenszeit (perxetuo) angestellt
werden sollten." (Walter: Kirchenrecht 7. Aufl. §143.) Namentlich die deutschen
Provinzialshnoden eiferten gegen derartige nur temporäre Anstellungen von Geist¬
lichen auf das Energischste. So die Synode zu Mainz i. I. 1223 can. 12:
„Eine enorme (abnorme) Gewohnheit (enormis i. e. yuoä extra, vvrmum lit,
cluaeäam eovZuetuäo) hat sich in gewissen Theilen Deutschlands gegen die
canonischen Satzungen eingeschlichen, dadurch daß man an den Kirchen
„Miethpriester" auf Zeit anstellt. Das soll in Zukunft nicht mehr geschehen
— und wir verbieten es unter allen Umständen. Sondern, wenn ein solcher
Stellvertreter (olearius) angestellt werden muß, so soll er auf Lebenszeit
(s>el'ix!wu?, definitiv) angestellt werden und zwar mit Zustimmung des Diö-
cesanbischofes und des Archidiacons jenes Ortes."
Auch der heil. Kirchenrath von Trient beschloß in seiner 7. Sitzung
als rekormatione cap. 7: „Die kirchlichen Seelsorgebeneficien, welche mit Kathe-
dral-Collegiat- oder andern Kirchen oder Klöstern, Beneficien oder Collegien
oder was immer für frommen Orten verbunden sind, sollen von den Orts¬
ordinarien jährlich visitirt werden, welche emsig Fürsorge tragen sollen, daß
die Seelsorge durch taugliche Stellvertreter und zwar beständige (per iüoneoK
plein'los stiam perpetuo«) ausgeübt werde . . . ." „Solche beständige
Vicarien erhielten nun die Seelsorge als ein wirkliches Amt
und wurden auch hinsichtlich ihrer Anstellung und Entlassung
als wahre Pfarrer behandelt." Malter I. c et. cap. 3. 0. 8. <l«
«Kein vie. (I- 38); cap. un. cle enpoll. monaed. 1 v K. (3. 18) t?Jon. un.
si« off. rie. (1. 7)^! Das ist der Ursprung der Succursal-Pfarrer des fran¬
zösischen Rechtes. Das preuß. Gesetz vom 11. Mai 1873 verordnet nun,
ganz im Einklange, wie wir gesehen haben, mit den Bestimmungen des cano¬
nischen Rechts und des Tridentinums, daß diese temporären Succursal-Stellen
von nun an definitiv (xerxewo) mit lebenslänglichen Benefiziaten besetzt
werden und daß sowohl die zeitigen, als die zukünftigen Inhaber dieser Stellen
gleichfalls dem Oberpräsidenten angemeldet werden nach Maßgabe des § 18:
„Jedes Pfarramt ist innerhalb eines Jahres vom Tage der Erledigung, wo
gesetzmäßig oder observanzmcißig ein Gnadenjahr besteht, vom Tage der Er¬
ledigung der Gründe an gerechnet, dauernd zu besetzen. Die Frist ist vom
Oberpräsidenten im Falle des Bedürfnisses auf Antrag angemessen zu ver¬
längern. Nach Ablauf der Frist ist der Oberpräsident befugt, die Wiedcrbe-
setzung der Stelle durch Geldstrafen bis zum Betrage von 100 Thalern zu
erzwingen. Die Androhung und Festsetzung der Strafe darf wiederholt werden,
bis dem Gesetze genügt ist." § 19: „Die Errichtung von Seelsorgeämtern,
deren Inhaber unbedingt abberufen werden dürfen, ist nur mit Genehmigung
des Ministers der geistlichen Angelegenheiten zulässig. Die Bestimmungen des
§ 18 beziehen sich auf die sogenannten Succursal-Pfarreien des französischen
Rechts, mit der Maßgabe, daß die in Absatz 1 des § 18 vorgeschriebene
Frist vom Tage der Publikation dieses Gesetzes an zu laufen beginnt."
(Schluß folgt.)
Der Reichstag hat am 11. Januar das Landsturmgesetz in zweiter Be¬
rathung erledigt. Bei der Berathung militärischer Gesetze durch parlamen-
karische Körperschaften ist uns niemals wohl zu Muthe. Dennoch ist diese
Art von Berathungen unvermeidlich, weil die militärischen Einrichtungen viel¬
fach so tief in das bürgerliche Leben einschneiden. Aber wir sind immer froh,
wenn der Gegenstand, über welchen beschlossen wird, mit einem blauen Auge
davon kommt. So ist diesmal glücklicherweise der Landsturm davon gekommen.
Es handelt sich bei diesem Gesetz, nachdem die frühere 19 jährige preußische
Dienstpflicht auf 12 Jahre herabgesetzt worden, darum, die wehrfähigen
Männer, welche das dienstpflichtige Alter überschritten, also vom 31. Lebens¬
jahre an für die Vertheidigung des Vaterlandes im Nothfall verwendbar zu
machen. Das Neichsmilitärgesetz, welches im Frühjahr 1874 beschlossen wor¬
den, hatte die Aufbietung und Organisation des Landsturms dem Kaiser vor¬
behalten, der Reichstag aber den betreffenden Paragraphen dahin abgeändert,
daß über die Fälle der Aufbietung des Landsturms und über die Organisation
desselben ein Gesetz bestimmen solle. Das in gegenwärtiger Session dem Reichs¬
tag vorgelegte Landsturmgesetz ist jenes Gesetz, welches im Reichsmilitärgesetz
verheißen worden. Die Reichsregierung durfte mit der Vorlegung desselben
nicht zögern, theils weil die letztere ihre, wenn auch an keine bestimmte Zeit
gebundene, Obliegenheit war, besonders aber darum nicht, weil Frankreich
die Zahl seiner Kriegsdienstpflichtigen durch die lange Ausdehnung der Dienst¬
zeit so sehr vermehrt hat. Die Opposition gegen das Landsturmgesetz, welche
bei der jetzigen Berathung im Reichstag laut wurde, erschien nicht eben logisch
von Seite derjenigen, welche das Meiste gethan, die Vorlage eines solchen
Gesetzes durch die betreffende Vorschrift im Reichsmilitärgesetz obligatorisch zu
machen. Wir gestehen, daß wir die Befugniß der Aufbietung und Organi¬
sation des Landsturms am liebsten unbeschränkt in der Hand des Kaisers
gesehen hätten. Der Fall, wo der Kaiser zum Gebrauch dieser Befugniß sich
entschließt, wird immer ein solcher sein, von dem es heißt: inter arma silent
Es giebt kaum etwas Müßigeres, als die Besorgniß vor dem Mi߬
brauch einer Befugniß, deren wirksamer Gebrauch ohne die allgemeinste Ueber¬
zeugung,, seiner Nothwendigkeit undenkbar ist. Wir haben es in der That
auch weniger mit einer solchen Besorgniß, als mit einer Art von gesetzge¬
berischer und staatsrechtlicher Pedanterie zu thun. Die Opposition gegen das
Gesetz aus dem letztgenannten Grunde kam von der Fortschrittspartei, der sich
diejenigen Parteien anschlössen, welche gegen Alles Opposition machen, was
zum Reiche gehört oder ihm dienlich ist. Man hat nun im § 1 des Gesetzes,
welcher die Verpflichtung in den Landsturm zu treten bis zum 42. Lebensjahre
erstreckt, außerdem bestimmt, daß der Landsturm nur ausgeboten werden soll,
wenn der Feind Theile des Reichsgebietes bedroht oder überzieht. Eine nichts¬
sagende Bestimmung, denn sie tritt mit jedem Kriegsfall ein. Und doch eine
schädliche Bestimmung, denn genau befolgt, würde sie im Wege stehen, den
Landsturm aufzubieten, wenn es sich darum handelt, den letzten Widerstand
im feindlichen Lande zu brechen, Wir vertrauen indeß auf das inde-r urna,
Älevt leges. Bei einem andern Punkt des Gesetzes sind die Veränderungs-
vorschläge erfreulicherweise abgeschlagen worden. Man wollte nämlich ver¬
bieten, die Mannschaften des Landsturmes selbst im Nothfall in die regel¬
mäßigen Abtheilungen des Heeres einzureihen; der Landsturm sollte nur in
eigenen Abtheilungen formirt werden dürfen. Der Reichstag hat indeß nur
beschlossen, daß dieser Modus die Regel sein soll, während in Fällen außer¬
ordentlichen Bedarfs die Landwehr aus den Landsturmpflichtigen ergänzt wer¬
den darf/ Somit ist der Hauptzweck des Gesetzes unangetastet geblieben, und
mit den untergeordneten Einzelheiten desselben brauchen wir uns nicht mehr
zu befassen.
Am 12. Januar berieth der Reichstag das Gesetz über die Beurkundung
des Personenstandes und die Eheschließung. Man weiß wie ein entsprechendes
Gesetz erst im vorigen Jahre für Preußen erlassen worden. Der alsbaldige
Erlaß eines Reichsgesetzes über denselben Gegenstand hat sich aber als unab¬
weisbares Bedürfniß herausgestellt. Theils ist die einheitliche Regelung des¬
selben ein wahrhaftes Bedürfniß des Nationallebens, theils wäre die Rege¬
lung für manche Landesvertretung bei dem Einfluß der ultramontanen Par¬
tei in derselben eine Unmöglichkeit gewesen. Die Einzelberathung des Gesetzes
folgte auf die erste Berathung am 14. Januar ohne Dazwischenkunft einer
Commission. Die Ultramontanen, nachdem sie bei der ersten Berathung die
Kompetenz des Reiches zum Erlaß eines solchen Gesetzes wenigstens im Bezug
auf Bayern zu bestreiten gesucht, machten bei der zweiten Berathung den
Versuch, die Einrichtung der Standesämter an die Concurrenz der Landes¬
vertretungen zu binden, anstatt an die alleinige Befugniß der Oberbehörden
in den Bundesstaaten, wie der Gesetzentwurf vorschrieb. Das ganze Gesetz
sollte auf diesem Wege durch eine Hinterthür lahm gelegt werden. Der Reichs¬
tag ging indeß nicht in diese Falle. — Von dem betreffenden preußischen
Gesetz unterscheidet sich das jetzige Reichsgesetz durch die Aufnahme der Be¬
dingungen für die Eheschließung. Die betreffenden Bestimmungen haben im
Reichstag einige Verbesserungen erfahren. Zunächst dadurch, daß das Lebens¬
alter, an welches die Befugniß zur Eingehung der Ehe gebunden ist, die so¬
genannte Ehemündigkeit, bei Männern auf das 20. bei Frauen auf
das 16. Lebensjahr hinaufgesetzt worden ist, anstatt des 18. und 14.
Nicht minder ist es eine Verbesserung, daß die elterliche Einwilligung nach
dem Beschluß des Reichstags für Söhne nur bis zum 2S. anstatt bis zum
30. Lebensjahr erforderlich ist, wie der Gesetzentwurf vorgeschlagen hatte. Für
Töchter ist der Reichstag dem Vorschlag des Gesetzentwurfs beigetreten, die
Einwilligung bis zum 24. Lebensjahr zu erfordern. Unglücklicherweise hat aber
der Reichstag bei dieser Herabsetzung der Altersgrenze, bis zu welcher die elter¬
liche Einwilligung erforderlich ist, nicht die Consequenz gezogen, die Klage
auf richterliche Ergänzung — eine der größten legislativen Mißgeburten — gänz¬
lich zu beseitigen. Allerdings hat der Reichstag das Recht zur Erhebung
dieser Klage wenigstens auf die großjährigen Kinder beschränkt. Das ist et¬
was, aber nicht genug. Es ist eine erklärliche, aber nicht minder verwerfliche
Verirrung der legislativen Funktion, sich nicht an die nothwendigen einfachen
Prinzipien halten zu können, sondern womöglich für alle denkbaren Fälle
Sorge zu tragen. Aus dieser Verirrung ist das Institut der Klage auf richter¬
liche Ergänzung bei versagter elterlicher Einwilligung zur Eheschließung ent¬
standen. Dieses Institut hat aber gar keine Entschuldigung mehr, nachdem
die Altersgrenze vernünftig gezogen worden, bis zu welcher die elterliche Ein¬
willigung erfordert wird.' In Laster brach diesmal der Held „der Erlebnisse
einer Mannesseele" durch. Er wollte die Altersgrenze für die elterliche Ein¬
willigung bei Frauen auf das 21. Jahr herabgesetzt haben, weil ein zurück¬
gewiesener Heirathsantrag so oft zur gänzlichen Ehelosigkeit führe; und nach-
her stellte er sogar einen Abänderungsantrag: die versagte Einwilligung sei
vom Richter zu ergänzen, „wenn nicht Gründe geltend gemacht würden für
die Annahme, daß die Ehe unglücklich sein werde." Die pure Sentimentali¬
tät! — Bei den Ehehindernissen wurden von Seiten des Centrums die physio¬
logischen Gründe gegen Ehen der Geschwisterkinder geltend gemacht, welches Be¬
denken der Abgeordnete Volk durch Berufung auf seine Person zurückwies in
einer Weise, die uns recht wenig mit dem guten Geschmack vereinbar schien.
Damit waren die interessanteren Jncidenzpunkte der Berathung dieses Gesetzes
erledigt, welches noch die Sitzungen vom 13. und 16. Januar in Anspruch
genommen hatte.
Am 16. Januar wurde der preußische Landtag durch den Vice-Vorsitzen-
den des Staatsministeriums eröffnet. Am wichtigsten ist die Erklärung der
Thronrede, daß der mit der Kreisordnung begonnene Neubau der inneren
Verwaltung zunächst im jetzigen Geltungsbereich der neuen Kreiöordnung zum
Abschluß gebracht werden soll. Es sollen für diesen Geltungsbereich in der
jetzigen Landtagssession vorgelegt werden: eine Provinzialordnung, ein Gesetz
über die Ausstattung der Provinzen mit eigenen Fonds, und ein Gesetzent¬
wurf über die Verfassung der Verwaltungsgerichte und die Errichtung eines
Oberverwaltungsgerichts. An anderen wichtigen Gesetzvorlagen verheißt die
Thronrede,: ein Gesetz über die Verwaltung des Vermögens der katholischen
Kirchengemeinden, und die Vormundschaftsordnung, welche bereits in einer
früheren Session vorgelegt aber nicht erledigt worden. Ueber die vorläufige
Beschränkung der Verwaltungsreform auf die östlichen Provinzen, über den
Verzicht also, das ganze Gemeindewesen in den Provinzen Rheinland und
Hessen-Nassau sofort umzugestalten, sowie über den Verzicht auf den so¬
fortigen Erlaß einer Landgemeindeordnung und einer neuen Städteord-
nung für die östlichen Provinzen stellt man sich, oder ist man in einem Theil
des liberalen Lagers sehr betroffen. Und doch werden schon die jetzigen Vor¬
lagen eine Ausdehnung der Session bis Ende Juni nöthig machen. Diese
Klagen bald über zuviel Arbeit, bald darüber, daß Rom noch nicht fertig ist,
sind in der That rechr unverständig, ja aus dem Munde verständiger Leute
ganz unbegreiflich. Man begründet die letztere Klage auf die Besorgniß, daß
das Eisen kalt werden könne, wenn es es nicht aufs allerschnellste geschmiedet
werde. Wenn aber der Aufbau des deutschen Nationalstaates nach außen
und innen von der Gunst eines einzigen Tages abhinge, so wäre er ein hoff¬
nungsloses Werk. Die Aeußerungen dieser Sorge sind aber kaum ernsthaft
zu nehmen. Wir unsererseits wünschen gleichmäßig der Regierung, den preu¬
ßischen Staatsbürgern und selbst den unzufriedenen Parlamentariern Glück
dazu, daß die preußische Staatsregierung stark und besonnen genug ist von
einem nothwendigen Werk eine Hast fern zu halten, welche keine andere Folge
haben könnte als die, die athemlosen Arbeiter unter dem einstürzenden Bau
In den letzten Wochen ist von elsaß-lothringischen Dingen in den Tages¬
blättern viel die Rede gewesen von dem sauren Komplimente an, welches Herr
Abbe Gerber im Reichstag dem Fürsten Bismarck gelegentlich der Verordnung
über die Gerichtssprache machte, bis zu der Kapuzinade des Herrn Abbi
Winterer gegen das deutsche Unterrichtsgesetz. Das Urtheil über diese Vor¬
gänge war in allen nationalen Kreisen so einstimmig, daß der Tagesstaub,
welcher dadurch aufgeweht wurde, sich längst wieder gelegt hatte, ehe ich dazu
kam, ihn für die Leser dieser Wochenschrift noch durch einige besondere kritische
Windstöße in die Luft zu blasen. Durfte ich aber damals über Angelegen¬
heiten, welche in den Tagesblättern hinreichend besprochen waren, in den
„Grenzboten" schweigen, ohne daß man eine sonderliche Lücke empfunden
haben wird, so wird es mir heute um so mehr gestattet sein, nicht mehr
auf diese alten Geschichten zurückzukommen.
Ich beginne deshalb sofort mit Einigem aus der jüngsten Vergangenheit
und zwar mit einem Einzelereigniß, welches mit der Debatte im Reichstag
bezw. der betr. Commission über das elsaß-lothringische Budget in einem
gewissen Zusammenhang steht. Die einzelnen Posten dieser Budgets sind
von der unabhängigen einheimischen Presse, namentlich vom Mülhäuser
„Imlustriol ^lsseien" einer vielfach tadelnden Prüfung unterzogen worden.
Dem genannten Blatt war es besonders ein Hauptvergnügen, durch Neben¬
einanderstellung der alten Departementsbudgets aus der französischen Zeit
und des jetzigen Landesbudgets in die Augen springend darzuthun, wie sehr
viel theurer die deutsche Verwaltung sei. Dieß ist richtig, aber davon, daß
Deutschland den Verhältnissen nach, welche die Heranziehung nichtelsässischer
Beamten erforderten, die nur um gute Besoldung zu haben waren, da die
einheimischen Elemente mit verschwindenden Ausnahmen den Dienst versagten,
dazu gezwungen war, - von dieser äurg. in!co8sita,3 schwieg das Mülhäuser
Blatt. Trotzdem, und da wirklich mit der Zeit Ersparnisse in der Verwaltung ge¬
machtwerden können, wurde in der betr. Reichstagscommission die Frage erörtert,
ob nicht eines der drei Bezirkspräsidien oder zwei oder alle drei aufgehoben werden
könnten, um dann das Land allein durch das entsprechend verstärkte Ober¬
präsidium verwalten zu lassen. (Das Oberpräsidium steht im Budget für
1875 mit 504,076 M., die drei Bezirkspräsidien mit zusammen 559.350 M.)
Da verlautete unlängst, der Bezirkspräsident von Oberelsaß, Herr von der
Heydt, ein Sohn des weiland preußischen Finanzministers, habe, was sich auch
bestätigte, auf den kommenden 1. März seine Entlassung eingereicht. Alsbald
entstand, wie von selbst, die Frage, ob das nicht eine günstige Gelegenheit
sei, das vorgeschlagene Experiment wenigstens mit der Aufhebung dieses einen
Bezirkspräsidiums zu machen, dem dann über kurz oder lang das unter-
elsässische folgen könne. In einer Korrespondenz der Kölnischen Zeitung ver¬
dichtete sich dieser Gedanke sofort zum feststehenden Plan, eine abwehrende
Note der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" folgte rasch, aber doch nicht
rasch genug, um die lautesten Weherufe der oberelsässischen Blätter zu ersticken.
Den Neigen begann der „Sammler des Oberrheins" (Olanc-ur ein IIg.ut-Il.Inn),
ein seit kurzem erst erstandenes Wochenblatt. In einem wahrhaft ergreifenden
Artikel wurde da ausgeführt, daß Colmar eine ruinirte Stadt wäre, wenn
ihm das Bezirkspräsidium genommen würde. Denn — der reine Causal-
nerus der Verzweiflung! — es werde dann sicher auch das Appellationsgericht
.fort kommen und Colmar zum Landstädtchen, ja zum Dorfe herabsinken.
Dann folgte in der nächsten Nummer eine Lobpreisung des bisherigen Herrn
Bezirkspräsidenten, die derselbe allerdings im reichen Maaße verdient, die ihm
aber in solchem aus elsässischer Feder gewiß noch nicht gespendet worden ist.
Dieser ausgezeichnete Beamte, war da zu lesen, habe sich lediglich überarbeitet,
so viel habe er als Bezirkspräfident zu thun gehabt, und es sei notorisch,
daß er immer schon in der Frühe um 4 oder 5 Uhr aufgestanden, nur um
die Last seines Amtes zu bewältigen. Nicht lange, so kam auch der „Jn-
dustriel" und bewies, diesmal ohne Zahlen, daß Ober- und Unterelsässer
zwei ganz verschiedene Nationen seien, jene lebten von der Industrie, diese
vom Ackerbau; wenn also das Oberelsaß vom Unterelsaß annektirt werde, so
würden die Interessen der oberelsässischen Industrie leiden. Sparen und sparen,
sei zweierlei, es müsse am rechten Ort geschehen und Colmar sei eben gewiß
nicht der rechte Ort. Daß genau dasselbe auch jedes Kreisstädtchen sagen
würde, dem man seinen Kreisdirektor nehmen wollte, scheint der „Industrie!"
nicht bedacht zu haben. Dagegen hat er völlig Recht, wenn er sagt, jeden¬
falls dürfe solch eine Aenderung, welche die ganze Verwaltungsmaschine be¬
rühre und z. B. auch die Auflösung des oberelsässischen Bezirkstags nach sich
ziehen müsse, nicht durch einen Federstrich am grünen Tisch angeordnet werden.
Es sei vielmehr erforderlich, den Landesausschuß, der ja über kurz oder lang
einberufen werde, hierüber zu fragen, nur wenn dieser die Verantwortung auf
sich nehme, könne die Regierung mit gutem Gewissen in dieser Sache vor¬
gehen, wenn sie es — überhaupt wolle. Ob sie das noch will, nachdem der
absichtlich oder unabsichtlich ausgestreckte Fühler in der Kölnischen Zeitung
solche Schmerzensschreie hervorgerufen hat, dürfte fraglich sein. Daß sie es
aber gewollt hat, daß in dieser Angelegenheit ein Meinungsaustausch zwischen
Straßburg und Berlin stattgefunden hat, halte ich für sehr wahrscheinlich.
Jedenfalls könnte eine Vorlage an den Landesausschuß nichts schaden, denn
durchführbar ist die Aenderung und Ersparnisse würden dadurch auch erzielt.
Will der Landesausschuß nichts davon wissen, so hat man wenigstens den guten
Willen der Negierung gesehen und einen Grund weniger zum Raisonniren.
In Straßburg bildet natürlich der dem Bundesrath vorgelegte Gesetzent¬
wurf über die Erweiterung der Stadtumwallung das Tagesgespräch. Der
Entwurf selbst ist in den Zeitungen bereits mitgetheilt. Ich habe also nicht,
nöthig, ihn hier wörtlich wiederzugeben. Das Gebiet, welches in die neue
Umwallung hereingezogen werden soll, ist genau so umfangreich, als es sich
bisher die kühnste,'oft belächelte Phantasie unserer Bauspeculanlen ausgemalt
hat. Es ist mindestens eben so groß als dasjenige, welches die heutige Stadt
einnimmt. Von den 20 Mill. Mark, welche für die Erweiterung verwendet
werden sollen, sind 3 Millionen bereits durch ein Gesetz vom 8. Juli 1872
bewilligt, die übrigen 17 Millionen sollen bei ausgedehnten Zahlungsterminen
von der Stadt übernommen werden, die dann ihrerseits wieder der Eisenbahn,
dem Reich (Militärfiscus) und dem Lande das von diesen für Bahnhofsbau,
Militärgebäude und Universität, Hafenanlage in, benöthigte Gebiet verkaufen
soll. Jedenfalls dürfte dieser Modus der Ueberlassung des Geschäftes an
Private, oder eine bezw. mehrere Aktiengesellschaften vorzuziehen sein. Es
fehlt bereits nicht an Stimmen, welche ängstlich von der ungeheuren Last
reden, welche dadurch der Stadt für die Zukunft auferlegt werde, und die
Uebelwollenden sind natürlich sofort bereit, von einem neuen „Bombardements¬
schaden" zu reden, der ärger sein werde als der wirkliche von 1870, da es
für ihn keine Entschädigung aus den Milliarden gebe. Aber der umsichtige
Verwaltungsbeamte, welcher an der Spitze der Stadt steht und dem die El-
sässer selbst nachrühmen, daß er sein Amt musterhaft versehe, für einen Deut¬
schen und noch dazu einen Polizeidirektor sogar unbegreiflich musterhaft, Herr
Bürgermeisterei-Verwalter Back also ist gutes Muthes und hegt die Ueber¬
zeugung, daß die Stadt dieser Last gewachsen sei, ja schließlich noch ein gutes
Geschäft dabei machen werde. Er will sich übrigens dieser Tage noch einmal
nach Berlin begeben, hauptsächlich, um die Einzelheiten des Vertrags mit
der Stadt in deren bestem Interesse durchzusetzen und in dieser Hinsicht Füh¬
lung mit den Mitgliedern der Commission zu gewinnen, welche der Reichstag,
sobald der Gesetzentwurf aus dem Bundesrath an ihn gelangt ist, ohne Zweifel
behufs Vorberathung der Vorlage erwählen wird. Er und alle, die mit ihm
der Meinung sind, daß Straßburg eine Zukunft hat, welche ein Opfer für
die Gegenwart rechtfertigt, gehen dabei aber von der Hoffnung aus, daß dann,
auch mit der Herstellung eines Kanals von hier nach Ludwigshafen Ernst
gemacht bezw. der Gedanke aufgegeben wird, aus dem Oberrhein eine den
Eisenbahnen gegenüber konkurrenzfähige Wasserstraße zu erzwingen. Auch darf
man ja wohl das Wort „Hafenanlage", welches in den Motiven vorkommen
soll, — man kennt heute den Wortlaut derselben hier noch nicht! — in die¬
sem Sinne deuten.
Was die politische Stimmung der Elsässer anlangt, so ist in der letzten
Zeit eine steigende Besorgnis; vor dem Wiederaufiauchen des Kaiserthums in
Frankreich bemerklich. Beim Plebiscit hat man zwar in hellen Haufen für
Badinguet gestimmt, seit der Annexion aber, deren Schuld man allein dem
Kaiserreich zumißt, ist der Haß gegen die napoleoniden Modesache geworden.
Jedenfalls würde eine imperialistische Restauration in Frankreich hier sehr viele
Gemüther von Frankreich abwenden. Im Gefühl dieser Gefahr hat denn
auch der französische Abgeordnete für Belfort, Herr Scheurer-Kestner, ein ge-
borner Elsässer, letzthin im „Industrie!" einen Artikel veröffentlicht, worin
er diese Besorgniß, die ihm während eines kurzen Aufenthalts im Elsaß sehr
oft und lebhaft entgegengetreten sei, für ganz unnöthig erklärt. Er und seine
republikanischen Freunde könnten die Elsässer gar nicht begreifen, eine imperia¬
listische und — klerikale (!) Restauration sei schlechterdings undenkbar. Ich
habe wohl kaum nöthig, hinzuzufügen, daß nur wenige Elsässer für die kur¬
zen Beine dieses — Trostes blind sind. Man nennt Herrn Kestner bereits
Unter den römischen Portraits fällt besonders eines auf durch die
geheimnißvolle, zugleich anziehende und abstoßende Wirkung der Züge, welche
den Charakter der Person nicht verrathen wollen. Auf der durch das lange
Haupthaar tief beschatteten Stirn lagert Ernst; Selbstlosigkeit scheint der un¬
ordentliche, ungepflegte Bart anzukündigen; selbstgefällig und lauernd zugleich
blickt das Auge; Grausamkeit und Spott wechseln um den halbgekniffnen Mund.
Ueber das ganze Gesicht geht ein Anflug von Freundlichkeit, und im nächsten
Augenblick zuckt die Ironie durch dasselbe. —
Und wie die Miene, so der Mann. Begeistert für Großes und Schönes
— und doch kleinlich, grillenhaft; uneigennützig, freigebig bis zur Verschwen¬
dung — und doch rachsüchtig und grausam; ein Förderer von Talenten —
und doch eifersüchtig weit über die Gränzen der Ehrliebe hinaus. Mäßig im
Genuß — und doch äußerst reizbar; leutselig und liebenswürdig — und doch
eigensinnig und finster, ein eifriger Verehrer der Götter — und doch nichts
weniger als gläubig; aufgeklärter Philosoph — und doch abergläubisch, der
Magie und Astrologie ergeben. Begeistert für Alterthum, selbst Gelehrter
und Schriftsteller — und doch Verächter der Gelehrsamkeit. Ein Dichter —
ohne poetische Anlage; dazu Architekt und Musiker. Maler und Stratege,
Bildhauer und Regent. Dieser Träger von Gegensätzen und Widersprüchen
ist — Kaiser Hadrian.
Keinem der Cäsaren, welche vor ihm regierten, ähnlich, war er am meisten
verschieden von seinem unmittelbaren Vorgänger, dem er seine Erhebung auf
den Thron zu verdanken hatte, von seinem Adoptivvater Trajan. Suchte
dieser nationalste aller Kaiser vor allem die alt römischen Tugenden, Tapfer¬
keit und Sittenstrenge, auch an sich zur Geltung zu bringen, so war Hadrian
in seinen Neigungen dem Griechenthum zugewandt. Hatte dieser das
Hauptziel seines Lebens in der Ausbreitung des römischen Reiches durch das
Schwert und durch Staatsklugheit gefunden und fast ausschließlich militärischen
Ruhm erlangt, so verzichtete Hadrian frühzeitig auf diesen und suchte seine
Lorbeeren auf einem Gebiete, welchem er mehr gewachsen zu sein glaubte, auf
dem Gebiet des geistigen Lebens.
In der That hat er auf dieses einen Einfluß geübt wie wenige Fürsten;
der Name des Hadrian ist ebenso sehr, ja vielleicht noch mehr. Signatur der
ganzen Zeit als beispielsweise der Name der Mediceer, Franz' I,, Ludwig's XIV.
und Friedrich's des Großen. Verhältnißmäßig am geringsten ist dieser sein
Einfluß auf das religiöse Leben — dieses ist überhaupt weit unabhängiger
vom Einfluß des Einzelnen als die Arbeiten des Denkens und der Phantasie,
— bedeutender auf das wissenschaftliche, am bedeutendsten auf das
künstlerische Leben.
Die Gesellschaft des Kaisers bestand zum großen Theil aus Gelehrten;
seine Freunde waren Philosophen; der Historiker Sueton sein Geheimschreiber;
Plutarch war sein Lehrer; Herennicus Philo sein Biograph, der Dichter Meso-
medes und Phlegon, der Wundergeschichtenmann, waren seine Jreigelassnen.
Der Geschichtsschreiber Arrian und der Rhetor Frontv wurden von ihm mit den
höchsten Ehren überhäuft; die Sophisten Dionysius von Milet und Favvrinus
von Arles, das Prototyp des modernen französischen Schöngeistes, genossen
wenigstens zeitweise sein unbedingtes Vertrauen; der Sophist Polemon, „der
Stern des Jahrhunderts" gewann seine volle Gunst und mit ihr Millionen
für seine Vaterstadt Smyrna, Für die öffentlichen Lehrstühle suchte der
Kaiser die besten und frischesten Kräfte zu gewinnen, für Institute, Akademien,
Bibliotheken spendete er stets mit freigebigster Hand. Auch trat er selbst in
der poetischen Arena auf, noch dazu in zwei Sprachen, griechisch und latei¬
nisch, mit allen Arten von Dichtungen (Lobgedichten, Räthseln, Epigrammen,
Epen), schrieb selbst Essays, fachwissenschastliche Arbeiten und Memoiren.
Und obwohl wir nach den erhaltnen Resten seiner Muse den Verlust der
meisten Werke nicht allzusehr beklagen dürfen, so werden wir doch nicht irren,
wenn wir dem Kaiser zum mindesten einen mitbestimmenden Einfluß auf
die dem Alterthümlichen zugewandte Geschmacksrichtung der Litera¬
tur seiner Zeit zusprechen.
Viel eingreifender aber ist sein Einfluß auf die bildende Kunst seiner
Zeit geworden: Man kann ohne Uebertreibung sagen: die Kunst verdankt so
gut wie alle ihre Anregungen dem Kaiser; fast nirgends zeigt sich ein Ansatz
zu einer unabhängigen, selbständigen Entwickelung derselben. — Wir sind
berechtigt von einer Hadrianischen Kunst zu reden. Hadrian hat mehr
gebaut als irgend ein Kaiser vor oder nach ihm, und mit den Werken der
Plastik, ^welche er errichtet hat, sind noch heut die meisten Museen Europas
gefüllt, selbst solche, welche an Antiken arm sind, wie das von Stockholm,
enthalten glänzende Proben dieser Hadrianischen Kunst.
Der Kaiser, welcher selbst der Tektonik, Bildhauerkunst und Malerei
oblag, hielt sich für den gebornen Beschützer aller Künste und scheute keine
Kosten und Anstrengungen dieselben zu einer nie da gewesenen Blüthe zu bringen,
die klassische Kunst der Griechen nicht nur zu erreichen, sondern wo möglich
zu überbieten.
Die friedliche Lage des Reichs kam diesem Streben zu statten. Wohl
war auch er den größern Theil seiner einundzwanzigjähriger Regierung fern
von der Hauptstadt in den Provinzen, aber nur selten, um sie gegen die
Feinde des Reichs zu vertheidigen; meist in ganz friedlicher Absicht, um ihre
geistigen Bedürfnisse zu befriedigen, um ihre Schönheiten kennen zu lernen,
um ihre Kunstwerke zu studiren und copiren zu lassen. Fast 16 Jahre lang
hat er in Begleitung von Künstlern und Gelehrten, ein zweiter Alexander
der Große, alle Theile seines Reiches, von Britannien bis Aegypten, von
Spanien bis Arabien, von Italien bis Cappadocien, manche, wie Griechenland
und Kleinasien, mehrmals in solcher Weise besucht und durchsucht, ausgebaut
und ausgebeutet, bereichert und benützt. Keinem Kaiser verdanken diese
so viele Schönheits- und Wohlfahrtsbauten, (Tempel, Ehrenbogen, Säulen¬
hallen, Gymnasien. Aquädukte); an keinen bewahren sie dem entsprechend
so viele Erinnerungsmale, keinem haben sie sich durch so viel Ehrendenkmäler
dankbar gezeigt. Nicht nur. daß er fast in allen Städten des Reichs etwas
baute, er hat ganze Städte, wie Jerusalem (^ella Lgpitoliniy, Palmyra,
Strato nine, Nicomedien, wieder errichtet oder überhaupt erst gebaut.
„Hadrian Städte" gab es in allen Theilen des Reichs. Seinem Liebling
Antinous zu Ehren baute er nach eigenem Plane die Stadt Antinoeia
oder Antinopolis in Aegypten, von deren Reichthum und Größe noch heut
beträchtliche Reste Zeugniß geben. In Pelusium stellte er das Grabmal
des Pompejus glänzend wieder her.
In Nemausus, dem heutigen Nimes, errichtete er eine Basilica oder
Tempel, vielleicht beides, zu Ehren der Plotina, der trefflichen Gemahlin des
Trajan, welcher er besonders seine Adoption zu danken hatte und zu welcher
er sich um so mehr hingezogen fühlte, je mehr ihn seine eigene rauhe Gattin
Sabina abstieß. Möglich ist, daß das noch heut unter dem Namen „Diana¬
tempel" in Trümmern erhaltene Nymphäum in Nimes aus dieser Zeit stammt.
In Spanien verdankte ihm Tarragonadie Wiederherstellung des Tempels
des Augustus, Jtalica, die Stadt seiner Väter, unter vielen Wohlthaten
gewiß auch öffentliche Monumente.
Der Tempel, welchen er in Kyzikos erbaute, wurde unter die Wunder¬
werke der Welt gerechnet. Korinth erhielt durch ihn Thermen und Aquädukte,
Me ga r a und Ab a e einen Tempel des Apoll, Hyampolis eine Säulenhalle.
Mantinea, die Stadt, aus der die Vorfahren des Antinous stammten, er¬
hielt einen neuen Tempel des Poseidon, aber auch der alte wurde mit muster¬
hafter Sorgfalt erhalten und gepflegt; Mantinea erhielt ferner einen Tempel
des Antinous, ein Gymnasium mit Gemäldegallerie, eine Ehrensäule auf dem
Grabe des Epaminondas. Am meisten aber erfuhr die kaiserliche Gunst unter
den Städten Griechenlands Athen.
Wenn diese Metropole der Schönheit und Weisheit, auch als sie längst
aufgehört hatte politischen Einfluß zu üben und sich nur darauf beschränkte,
die Strahlen der griechischen Kultur zu sammeln, das Schooßkind asiatischer
wie europäischer Fürsten geworden ist, eines Ptolemäos Philadelphos, Attalos I.
und II., Eumenes II., Antiochos IV. Epiphanes, so ist Hadrian unter diesen
nur der jüngste, nicht der letzte.
Waren diese nur „Athener-Freunde" gewesen, so wollte er ein zweiter
Gründer der Stadt, ein anderer Theseus werden, der Schöpfer eines Neu-
Athen, welches sich von Alt-Athen durch das noch jetzt erhaltene Thor,
abgrenzt, dessen eine Seite die Inschrift trägt:
„Dies ist des Hadrian und nicht des Theseus Stadt.",
während auf der andern, der Altstadt zugekehrten, Seite steht:
„Dies ist das Alkalden, von Theseus einst gebaut."
Der Mittelpunkt dieses Neu-Athen, welches an einer Stelle, in deren
Nähe eine der ältesten Ansiedelungen auf dem Boden von Attika stattgefun¬
den hatte, in der Niederung des Jlissosflusses, angelegt wurde, sollte der
Tempel des olympischen Zeus werden.
Dieser Tempel gleicht dem Kölner Dom wie in seinen Schicksalen, so in
seiner Größe. Begonnen fast Jahrhundert v. Chr. von Pisistratus hatte
der Bau nach Vertreibung seiner Söhne drei und ein halbes Jahrhundert ge¬
ruht bis auf Antiochos Epiphanes, welcher, bezeichnend für Roms Stellung
zur Baukunst, die Ausführung einem römischen Baumeister Cossutius über¬
tragen hatte. Aber auch er war vor der Vollendung gestorben. Nicht besser
war diese den vereinten Bemühungen mehrerer mit den Römern verbündeten
Fürsten zur Zeit des Augustus gelungen. Erst der Romantiker Hadrian
ruhte nicht eher, als bis er den Tempel einweihen konnte, den größten aller
griechischen Tempel nächst denen der Artemis zu Ephesos und des Apoll zu
Milet, auch in seinen Ruinen eines der großartigsten Bauwerke der alten
Welt. — Das Haus, in welchem der olympische Gott in einem Bild von
Gold und Elfenbein thronte, umgab ein Wald von Säulen, Säulen von 60'
Höhe und 61/2' Dicke, in schönem Verhältniß sich verjüngend; vor den Säulen
standen die Bildsäulen der athenischen Töchterstädte, in einiger Entfernung
in großer Menge die Statuen Hadrian's, Weihgeschenke aller Städte, welche
er besucht und beschenkt hatte. — Heut stehen nur noch 15 Säulen — ver¬
muthlich zum Bau des Antiochos gehörig — mit Resten des Architrav, zum
Theil dadurch entstellt, daß sich ein Heiliger im Mittelalter auf ihnen seine luf¬
tige Zelle gebauthat; aber auch so sind sie beredte Zeugen der einstigen Herr¬
lichkeit, und mit Freude ruht auf ihnen das Auge, auch wenn es sich an der
Aussicht auf das tiefblaue Meer, auf die schöngeschwungenen Linien der Insel
Aegina und die duftigen Umrisse von Argolis entzückt hat.
Nehmen wir dazu, daß Hadrian den Athenern noch einen zweiten Tempel
des Zeus aller Hellenen gebaut hat, einen Tempel der Hera, ein Heiligthum
aller 12 Götter, ein Gymnasium mit Säulen aus afrikanischen und karystischem
Marmor, zu dem vermuthlich die noch heut erhaltene, mit 6 korinthischen
Säulen verkleidete Wand gehört, eine Bibliothek mit Säulenhalle aus phry-
gischen Marmor, vergoldeter Decke, Wänden von Alabaster, geschmückt mit
Statuen und Gemälden, fügen wir ferner hinzu, daß er ihnen einen gro߬
artigen auf Arkaden von ionischen Säulen ruhenden Aquädukt baute, von dem
noch im 15. Jahrhundert Cyriacus von Ancona, der erste antiquarische Ent¬
deckungsreisende des Abendlandes, beträchtliche Reste sah, endlich daß er ihnen
vermuthlich auch das Theater neugebaut und ausgeschmückt zurückgab, so
werden wir begreifen, daß die Athener ihn nicht nur als größten Wohlthäter
ihrer Stadt feierten und durch zahlreiche Statuen ehrten — allein im Theater
waren so viel Statuen, als Abtheilungen , nämlich 13 — sondern auch ih'"
schon bei Lebzeiten das Prädikat „Gott" gaben und seinen ersten Aufenthalt
in der Stadt als Ausgangspunkt einer neuen Aera nahmen.
In Italien verdankt, um geringere Schöpfungen zu übergehen, die
Hauptstadt einen großen Theil ihrer Werke seiner kaiserlichen Freigebigkeit
und Baulust: ich nenne unter den Profanbauten nur das Athenäum, eine
Akademie der freien Künste, und von den zahlreichen Tempeln, außer
dem des Trajan nur den Doppeltempel der Venus und Roma, welchem
der Riß und Plan des Kaisers selbst zu Grunde lag. Auch von diesem sind
heut nur noch Reste bei der Kirche S. Francesca Romana erhalten; die ver¬
goldeten Metallplatten, mit welchen das Dach belegt war, sollen durch Papst
Honorius I. zur Eindeckung der Se. Peterskirche verbraucht worden sein, eben¬
so wie zum Schmuck der achteckigen Sakristei dieser Kirche 8 Säulen aus
Hadrian's Villa in Tivoli und als Taufbecken der Deckel seines Porphyrsar-
kophages dienen soll, nachdem der Papst Innocenz II. in diesem bestattet wor¬
den. Gegenwärtig aber ruft in Rom die Erinnerung an Hadrian nichts so
sehr wach als das Grabmal, welches er sich selbst errichtete, in der Mei¬
nung, das von Augustus für die Mitglieder der kaiserlichen Familie errichtete
Mausoleum habe keinen Raum mehr seine Asche aufzunehmen; und damit
dies Grabmal bequem zugänglich sei, wurden gerade vor ihm beide Ufer des
Tiber durch eine neu errichtete, die heut noch größtentheils erhaltene Engels-
Brücke verbunden. Das Mausoleum selbst, die heutige Engelsburg, auf einem
mächtigen viereckigen Unterbau ruhend, war ein Cylinder von über 100 Ellen
Durchmesser, mit weißem Marmor bekleidet, mit einer Unzahl von Statuen
geschmückt und von freistehenden korinthischen Säulen umgeben. Auf der
Platte des Thurms soll die Statue des Kaisers auf einem Viergespann ge¬
standen haben.*)
Ist dieses eines der imponirendsten Mausoleen, welche die Geschichte über¬
haupt kennt, so erscheint es doch klein im Vergleich zu dem für alle Zeiten
wahrhaft staunenswerthen, ja geradezu einzigen Werke, der kaiserlichen
Villa bei Tibur, welche geradezu als eine Kunstausstellung der römischen
Welt, ein Museum aller Stile, eine plastischen Gestaltung aller Reise-Ein¬
drücke und Erinnerungen des Kaisers genannt werden kann. In einem Um¬
fange von einigen Stunden, welcher dem der Siebenhügelstadt selbst wenig
nachgiebt, schuf er ein Labyrinth von Gärten und Bauten. Hier schlössen sich
an einander Theater, Circus, Akademie, Lyceum, Gallerien, Tempel bald in
griechischem, bald in ägyptischem Stile. Hier war ein See, auf welchem Ge¬
fechte aufgeführt werden konnten, dort Hallen und Bäder; hier das schöne
Thal Tempe. durchströmt von einem Peneus; dort, damit nichts fehle,
ein Elysium und ein Tartarus, von dem die Sage geht, es seien, um
die Illusion aufs höchste zu steigern, in ihm Verbrecher gegeißelt worden, deren
dumpfherauftönendes Geschrei die Seufzer der Unterwelt nachahmen sollte.
Das Ganze beherrschte auf einer Anhöhe gelegen der Palast des Kaisers. —
Heut ist diese Villa nur ein ungeheurer Compler nackter Ziegelmauern, deren
Bestimmung im einzelnen sehr schwierig ist. Die Schaaren des Totilas haben
sie vernichtet, und seit der Zeit ist sie verödet geblieben.
Entsprechend war der malerische Schmuck des Innern, von welchem
die Ausgrabungen noch vereinzelte Neste zu Tage gefördert haben: besonders
Stuckdecken und Mosaikboden. Während unter den letzteren in Bezug auf
Feinheit der Arbeit das Masken-Mosaik (jetzt im Mdinotto Zslls nnrseuvrv
des Vatican) den ersten Platz einnimmt, ragt in Bezug auf Anmuth der
Darstellung das Tauben-Mosaik (jetzt im capitolinischen Museum) hervor.
Auf dem Rande einer Schale mit Wasser sitzen 4 Tauben, von denen die
eine trinkt, eine zweite sich putzt, die beiden andern sich umsehen. Ergreifend
ist die Darstellung des Kampfes von Centauren gegen wilde Thiere auf dem
jetzt in Berlin befindlichen Mosaik.
Ungleich großartiger ist die Ausbeute an Werken der Plastik gewesen,
mit welchen die Villa geschmückt war. Nachdem bereits am Ende des
13. Jahrhunderts mit ihrer Ausgrabung begonnen worden, ist sie noch heut
ein unerschöpfter Statuenschacht zu nennen.
Die reichste Ausbeute freilich ist bereits im 16. Jahrhundert von den
Cardinälen Farnese und Este, den Governatoren vom Tivoli, gewonnen
worden. Villa d'Este in Tivoli vom Cardinal Hippolyt von Este, um Mitte
des 16. Jahrhunderts unter Leitung des mehr berüchtigten als berühmten
Architekten Ligorio angelegt, jene reizvollste unter den modernen italie¬
nischen Villen, und unter allen die am meisten architektonisch aufgebaute, hat
ihren reichen plastischen Schmuck, wohl an 100 Statuen und Reliefs,
ausschließlich der benachbarten Hadriansvilla entlehnt. Im 18. Jahrhundert
wurden die Ausgrabungen wieder aufgenommen von dem gelehrten Cardinal
Furietti, dem Kunstenthusiasten Cardinal Albani, dem Grafen Fete u. a.,
deren Ausbeute dem capitolinischen Museum, der Villa Albani, dem Vatikan
und schließlich fast allen Museen Europas zu Gute gekommen ist.
Die Zahl der plastischen Werke, welche dieser Villa entstammen, ist größer
als die der bisher in Pompeji ausgegrabenen, und es giebt überhaupt auf
der ganzen classischen Erde keine Anlage, welche so viele Statuen zu Tage
gefördert hätte, als Hadrian's Villa. Und der Zahl entspricht die Mannich-
faltigkeit und Bedeutung der Werke. Da ist fast kein Stil und keine Gal¬
tung von Darstellungen unvertreten. Da sind vor allem zahlreiche Götter-
darstellungen: Zeus, Hera und Hermes, Ares, Pallas und Aphrodite")
in leise archaisirenden Reliefs an den Basen zweier Kandelaber, der größten
und. geschmackvollsten unter allen erhaltenen antiken Candelabern; da ist eine
Minervastatuette, ein liegender Dionysos, eine ephesische Artemis, eine Nemesis,
der die Hand an den Mund legende Gott des Schweigens Harpokrates, die
Flora, zwei einander ähnliche Statuen des schnellen Götterboten Hermes, der
sich eben die Sandalen anlegt, um alsbald den Austrag, auf welchen er
lauscht, auszuführen; Amor bemüht die Sehne an einen Bogen zu spannen,
Psyche schmerzvoll nach ihrem Peiniger aufblickend. Derselbe Peiniger Amor
ist es, welcher einem „Centaurenpaar," dem Werke der Meister von
Aphrodisias, Aristeas und Papias, zu schaffen macht: einem älteren Centaur,
dessen Sinne vom Genuß des Weins benebelt scheinen, so daß er nicht be¬
merkte, wie Amor ihn fesselte, steht sich Befreiung flehend nach seinem Peiniger
um, welcher ihm schelmisch sein Köpfchen hinhält, und einem jüngeren Centaur
welcher heransprengt dem alten ein Schnippchen schlagend, ohne zu ahnen, daß
auch ihm durch einen ihm bereits auf dem Rücken sitzenden Liebesgott als¬
bald ebenso klägliche Pein bereitet werden wird. Dazu kommen Satyr¬
statuen in edler und niedriger Auffassung: ein jugendlicher Satyr sonnt
sich an einen Baumstamm gelehnt, in süße Träumerei versunken; ein andrer
von rothem Marmor faßt triumphirend nach seiner Wonne, einer großen
Traube, nach welcher auch sein Gefährte, ein Ziegenbock, schmachtet. Ein
dritter, der barbarinische Faun, der seinen Rausch ausschläft, ist, ob¬
wohl nicht in der Villa gefunden, doch wohl hier zu nennen, weil er wahr¬
scheinlich zu den Statuen gehörte, welche das Grabmal Hadrian's schmückten,
da er unter Papst Urban VIlI. in dem dieses umgebenden Graben gefunden
wurde und somit wahrscheinlich zu den Statuen gehörte, welche die Belagerten
unter Belisar auf die stürmenden Gothen herabstürzten.
Gehen wir weiter ins Gebiet der Heroenwelt, so ist zuerst zu nennen
ein Schläfer und eine Schläferin ganz anderer Art: Endymion (eine Mar¬
morstatue aus dem Besitz des Grafen Maresoschi in Rom durch König Gustav III.
an Schweden gekauft, jetzt das Juwel des Museum zu Stockholm) hinge¬
gestreckt in sanften friedlichen Schlummer, in welchem ihn die keusche Göttin
des Mondes fand, wie sie uns die herrliche Statue des Vatikan zeigt, und
die unglückliche Ariadne, welcher der Schlaf keine Ruhe, sondern Qual
brachte, verlassen von Theseus, ein jetzt im Vatikan befindliches Relief, das
die Basis für die richtige Deutung der entsprechenden vordem als Cleopatra
gefeierten Statue wurde. Ferner zwei Amazonen: die eine wahrscheinlich
sich auf eine Lanze oder Sprungstab stützend, die andre verwundet und ihr
Gewand ein wenig an der verwundeten Stelle lüftend. Klingt in letzterer
schon ein leises Weh durch das Gesicht, so ist das Pathos erheblich gesteigert
in dem sogenannten Ajax mit dem Leichnam des Achill, einer Gruppe
welche in zwei Exemplaren, deren Neste im Vatican sind, in der Villa Auf¬
stellung gefunden hatte: der wilde Ajax mit Anspannung aller Kräfte be¬
müht den Körper des Achill, in welchem sich bereits die Wirkung des Todes
zu äußern beginnt, zu retten, richtet, da er sich von den Seinen verlassen und
auf allen Seiten von den Troern bedrängt sieht, halb noch trotzig, halb
flehend seinen Blick hinauf zu den Olympiern. Auf dem höchsten Gipfel
endlich ist das Pathos in dem berühmten Niob idensturz, als dessen Fund¬
ort die Villa Hadrian's wenigstens wahrscheinlich ist, da er sich früher In der
Villa des Cardinal Hippolyt von Este auf dem Quirinal, jetzt im Vatikan
befindet: eine der Niobetöchter greift, in eiligster Flucht vor den Geschossen
der zürnenden Götter begriffen, mit der Rechten nach dem einen vom Sturm
durchwühlten wild flatternden Mantelende und erhebt entsetzt und Erbarmen
flehend die Linke. Nicht genug daß dieser Torso alle Niobidensiguren an
Güte der Arbeit bei weitem übertrifft, ist er überhaupt den bedeutendsten
Torfen der Antike zuzurechnen: „denn obwohl wir weder den Gesichtsausdruck
noch die Bewegung der Hände wahrnehmen, fühlen wir doch ihren ganzen
Schmerz in seiner tiefsten Tiefe mit."
Schon halb dem Gebiet der Allegorie gehören die zwei Büsten der
Tragödie und Komödie an: zwei Köpfe für die antike Auffassung der
beiden Arten des Drama ebenso interessant wie die vatikanischen Statuen der
Melpomene und Thaleia, deren erste dem modernen Gefühl nicht tragisch, die
zweite nicht komisch genug erscheint, vielleicht weil die Tragödie der Zeit, der
diese Auffassung entstammt, weniger die innere Schuld des Helden als Motiv
der Katastrophe hervorhob und die Komödie nicht possenhafte, sondern humo¬
ristische Wirkung erstrebte. Der Wirklichkeit und dem Leben ist entnommen
die Darstellung der Wettläuferin (im Vatikan): ein Mädchen, welches
sich am Wettlauf zu Ehren der Hera in Olympia siegreich betheiligt, im
Moment des Ablaufs, so daß der erste Fuß bereits gehoben ist und der
Körper sich nach vorn überneigt.
Endlich fehlt auch das Portrait nicht: abgesehen von dem in der Villa
ausgegrabenen angeblichen Aristophaneskopf, den später in der Villa aufge¬
stellten Büsten der ältern Faustina, des Antoninus Pius und Marc Aurel
ist dasselbe als Jdealportrait aufs glänzendste in dem Antinous ver¬
treten, jenem schwärmerischen bithynischen Jüngling, der sich, um das Leben
des Kaisers zu verlängern, dem Tode im Nil weihte und zum Dank dafür
von diesem nicht nur heftig beweint, sondern auch göttlicher Ehren gewürdigt
wurde: nicht genug, daß an der Stelle, wo er den Tod gefunden hatte, eine
Stadt gebaut und nach ihm genannt, daß ihm ein Cultus und Orakel ge¬
weiht wurde, das ganze römische Reich sah Statuen des Antinous, theils vom
Kaiser selbst, theils von Völkern und Städten auch lange Zeit nach dem Er-
eigniß errichtet, ein Beweis, daß die sinnige Schönheit des Bithyniers nicht
ohne lebhaften Eindruck auf die ganze Zeit geblieben war. Und in der That
ist es ein außerordentlich anziehendes Gesicht, was uns in den mehr als
25 erhaltenen Büsten und Statuen entgegenblickt. Unschuld und Hingebung
auf der einen, Schwermuth und Sentimentalität auf der andern Seite sind
die Hauptzüge dieses Lockenkopfs mit dem in die Stirn hineinfallenden Haar,
den tiefliegenden Augen, den flachen Lidern, den sanft gebogenen schmalen
Brauen, den vollen, fein geschwungenen Lippen, den fleischigen Wangen, dem
ovalen Kinn, ohne daß wir freilich im Stande wären zu sagen, wie viel von
diesen Schönheiten auf Rechnung der idealisirenden Künstlerhand kommt.
Denn idealisirt, ja apotheosirt sollte der allgemeine Liebling dargestellt werden,
und wenn dazu besonders der Jdealtypus des Narciß und des Dionysos ge¬
wählt wurde, so wird für das erstere die Gleichheit des Schicksals, welches
einen Jüngling aus Liebe in das kühle Wellengrab zog, für das andere der
Charakter seiner mehr weichen und jugendlich zarten als kräftigen und voll
männlichen Schönheit bestimmend gewirkt haben. Die idealste Statue, welche
uns diesen Jüngsten im griechischen Götterkreise als Dionysos mit Thyrsos-
stab und Epheukranz und Pinienapfel auf dem Kopfe zeigt, ist der Antinous
Braschi, sogenannt nach dem Duca Braschi, welcher diese in der kaiserlichen
Villa zu Palestrina gefundene Colossalstatue von seinem Oheim Papst Pius VI.
zum Geschenk erhielt, aus dessen Besitz sie in den Vatikan überging. Ihr
kommt an Schönheit der Körperbildung gleich der aus der Tiburtinischen
Villa stammende Antinous des Kapitals und vielleicht in noch höherem
Maaße der Antinous in Neapel, eine Statue voll schwellenden Lebens und
vorzüglicher Erhaltung, während die Gesichtszüge besonders ausgeprägt er¬
scheinen in der Tiburtinischen Colossalbüste des Vatikan, dem Colossalkopf der
Villa Mondragone bei Frascati, jetzt im Louvre und dem colossalen Tibur¬
tinischen Reliefbruchstück elegantester Arbeit in Villa Albcmi. Endlich ist hier,
um die in dem steifen ägyptischen Stile gearbeiteten Statuen, welche von
Aehnlichkeit wenig, von der Schönheit des Jünglings noch weniger zeigen,
Zu übergehen, die berühmte Gruppe von Jldefonso zu nennen, welche
bekannter ist unter dem Namen Schlaf und Tod, Orest und Pylades. wahr¬
scheinlich aber den Antinous zeigt im Verein mit einem Todesgenius, viel¬
leicht dem Hermes, welcher seine Fackel auf den Altar der Todesgöttin hält,
zu welcher er den Antinous hinabgeleitet. Dies sind die bedeutendsten der
— um den allgemeinsten Ausdruck zu gebrauchen — Hadncmischen Werke.
Es wäre im höchsten Grade ungerecht oder würde Mangel an Empfin¬
dung und Formensinn zeigen, wollte jemand der Mehrzahl derselben Schön¬
heit und Idealität absprechen. — Die Säulen des Gymnasion in Athen
nicht großartig nennen, das Taubenmosaik nicht anmuthig, die Candelaber
nicht reich und geschmackvoll finden, vom Ajax mit dem Leichnam des Achill
nicht mächtig ergriffen werden, vor dem Niobidensturz nicht die Schauer des
Pathos fühlen, in der Nemesis nicht den Geist ernster Erhabenheit erkennen,
die Amazonen nicht innerlich wahr und groß, die Büsten der Tragödie und
Komödie nicht geistreich finden, in dem bogenspannenden Amor, dem sich
formenden Satyr, dem lauschenden Merkur, dem schlafenden Endymion nicht
den Reiz der Anmuth, in der Wettläuferin nicht den Zauber naiver Liebens¬
würdigkeit merken, im Centaurenpaar nicht die Ergebung der glücklichsten
Laune, im barberinischen Faun nicht die sinnlichste Naturwahrheit, im Antinous
endlich nicht ideale Auffassung anerkennen — einer Zeit, in welcher solche
Werke in solcher Fülle entstehen, den Sonnenschein absprechen, das hieße sein
eignes Urtheil gefangen geben.
Ein jedes Kunstwerk hat aber seine Bedeutung nicht bloß in seinem
absoluten, ewigen, rein menschlichen Gehalte; seine rechte präcise Würdigung
empfängt es erst aus der historischen Betrachtung ^seines Erscheinens.
Nun auf den ersten Blick wird auch das historische Urtheil über die
Hadrian-Kunst günstig ausfallen. Vergleichen wir die genannten Werke mit
denjenigen, welche unter Hadrian's unmittelbarem Vorgänger, Trajan ent¬
standen sind, so begegnen wir dort einer rein naturalistischen, fast könnte
man sagen militärischen Kunstrichtung, der naturalistischen Verherrlichung der
Thaten und Triumphe des Kaisers. Diesen Eindruck aber näher zu^unter-
suchen muß sich sofort getrieben fühlen, wer den jetzt fast allgemeinT'ange-
nommenen Satz für richtig hält, daß die auf dem Boden Roms verpflanzte
Kunst seit Augustus nur receptiv. nicht produktiv gewesen sei, daß sie nur
Nachbildungen, nicht Originale hervorgebracht habe.
Wie stellen sich dazu diese Werke der Hadrianischen Jdealkunst?
Sind es selbständige Jdealschöpfungen, wirkliche Originale?
Es hat nicht gefehlt und fehlt nicht an solchen, welche die Kunst unter
Hadrian in gleiche Linie mit der klassischen Kunst der Griechen, wie sie im
Zeitalter des Perikles ihre höchste Blüthe hatte, setzten, welche den Hadrian
für den Schöpfer einer Renaissance der griechischen Kanst erklärten, welche
urtheilten, die Kunst unter Hadrian habe noch Ideale geschaffen, erst nach
ihm habe sie die Fähigkeit zur Hervorbringung von Jdealschöpfungen ver¬
loren, die Gruppe von Jldefonso sei das letzte Ideal der griechischen Kunst.
Wie das erst Jahrhunderte später entstandene Gedicht des Musäus von Hero
und Leander, die letzte Rose im Garten der griechischen Dichtkunst. Eine ein¬
gehendere Prüfung aber, welche bisher nicht angestellt worden, deren Haupt¬
momente hier kurz vorgeführt werden sollen, zeigt, daß die Kunst unter Hadrian
in Wahrheit keine selbständigen Neuschöpfungen, sondern nur Nachbildungen
hervorgebracht habe, daß Hadrian nicht eine Periode der Renaissance, sondern
nur der Romantfk begründet habe. Zunächst hören wir von keiner originalen
Erfindung im Gebiete der Kunst in dieser Zeit. Aber wir vermögen auch
keine solche wahrzunehmen.
Beginnen wir mit der Baukunst:
Die Säulen am Thor und der Stoa des Hadrian in Athen — um von
den vermuthlich älteren des Olympieion zu schweigen — gehören der um
Jahrhunderte ältern korinthischen Ordnung an; dabei ist im Capitäl
bereits eine Spur der Entartung zu bemerken, die Form der Akanthosblätter
ist weniger sein gerippt und gezackt.
Der Doppeltempel der Venus und Noma in Rom ist in seiner Grund¬
form einfach griechisch. und auch die Besonderheit, daß die beiden Cellen als
halbkreisförmige Nischen mit ihren Rückseiten aneinanderstoßen,'ist entlehnt,
nämlich vom Bau der Doppel-Basiliken.
Wenn aber noch die Cella von einem Tonnengewölbe und die halbkreis¬
förmige Nische durch eine Halbkuppel überspannt wird, so ist dies eine dem
Wesen des griechischen Tempels widerstrebende, nahe an Stilvermischung
streifende, gewiß nicht lobenswerthe Neuerung des Kaiser-Architekten.
Die Bauten der Villa zu Tivoli find ausgesprochner Maßen Nachahmun¬
gen griechischer, wie die Akademie, das Lyceum, Prytaneum, Stoa Poikile,
speziell ätherischer oder, wie der Canopus, ägyptischer Bauwerke. Das Mau¬
soleum endlich hat sein Vorbild in dem Grabmal der Plantier an dem Wege
nach Tivoli aus dem Anfang der Kaiserzeit oder am Grabmal der Caecilia
Metella, der Gemahlin des reichen Crassus, an der appischen Straße aus dem
Ende der Republik, welches sogar einen ganz ähnlichen mit Stierschädeln ge¬
zierten Fries zeigt, wie ihn ältere Beschreibe! der Stadt Rom noch am Mau¬
soleum Hadrian's bemerkt haben.
Ueber die Malerei ist in aller Kürze dasselbe zu sagen. Wir hören
von keinem großen Maler — Action, der Maler der Hochzeit Alexander's und
der Rhoxane, welchen man früher in die Zeit Hadrian's setzte, hat 6 Jahrhun¬
derte früher gelebt —, wir hören von keiner bedeutenden malerischen Schöpfung
aus dieser Zeit, und was uns erhalten ist, zeigt dieselbe Nachahmung wie
die Werke der Architektur : das Taubenmosaik ist nichts als die Copie. eines
Werks des berühmtesten aller Mosaicisten, des Sosos, eines Werks, welches
sich, wie das ihm gespendete Lob und die zahlreichen Wiederholungen beweisen,
zu allen Zeiten großer Beliebtheit erfreut hat, noch dazu die nicht ganz ge¬
lungne Copie jenes Werks: denn dasjenige, was am Original am meisten
die Bewunderung hervorrief, der Schlagschatten, welchen der Kopf der sich
tränkenden Taube auf die Oberfläche des Wassers geworfen hatte, wird hier
vergebens gesucht. Ebenso gehörten Scenen aus dem Leben der Centauren
besonders seit Zeuxis zu den beliebtesten Gegenständen der Malerei, und wird
auch das Centaurenmosaik nach einen älteren Vorbild gearbeitet sein.
Was endlich die Plastik betrifft, so ist auch bei ihr der Nachweis der
Unselbständigkeit nicht schwer geführt.
Der Typus der Artemis von Ephesus ist Jahrhunderte vor Hadrian
entstanden und zu allen Zeiten derselbe gewesen.
Die Niobide ist entlehnt der berühmten Komposition des Skopas; das
Original des sich formenden Satyr ist geschaffen von Praxiteles, das des
bogenspannenden Amor wahrscheinlich von Lystpp, das des lauschenden Mer¬
kur wahrscheinlich von einem Künstler einer dieser verwandten Schule, welcher
seinerseits das Motiv der Figur dem westlichen Friese des Parthenon ent¬
lehnte.
Die verwundete Amazone wird auf Polyklet oder Krestlas, die sich zum
Sprung rüstende vielleicht auf Phidias zurückgehen.
Die Nemesis zeigt einen Typus, der nur der classisch-attischen Kunst des
S.-Jahrhunderts v. Chr. entnommen sein kann, während die Entstehung des
Orginals der Wettläuferin um wenig früher in einer Schule des Peloponnes
zu suchen sein wird.
Die Gruppe des Ajax mit dem Leichnam Achill's ist ein Werk der rhodi-
schen Schule, vermuthlich noch etwas älter als der Laokoon, sicher Jahrhun¬
derte vor Hadrian erfunden.
Bei den andern Werken sind wir zwar nicht im Stande die Entstehungs¬
zeit der Originale in solcher Weise zu fixiren, aber daß auch sie lange vor
Hadrian entstanden sind, und daß der Kunst seiner Zeit nicht das Verdienst
ihrer Erfindung zukommt, läßt sich zur Evidenz bringen.
Dies gilt von der geängstigten Psyche: denn die Qualen, welche Amor der
Psyche bereitet, sind ein Gegenstand nicht blos für die ältere Poesie, sondern
sind in derselben Weise auch schon von der ältern Kunst, beispielsweise auf
Pompejcnüschen Wandgemälden, also schon vor dem Jahre 79 n. Chr., dem
Jahre der Verschüttung dieser Stadt durch den Vesuv, dargestellt worden.
Dieselben zeigen auch den Endymion ebenso wie ihn die Statue der Ha¬
drianischen Villa vorführt; und 2 silberne ebenfalls in Pompeji gefundne Becher
zeigen bereits das Motiv des Centaurenpaar, nur mit dem geringen Unter¬
schiede, daß auf ihnen statt des jugendlichen Centauren eine Centaurin er¬
scheint.
Ein seinen Rausch ausschlafender Faun, wie der barberinische, war das
Sujet, mit welchem Antipater, der sicher vor Pompejus gelebt hat, einen
silbernen Becher schmückte, wahrscheinlich nach dem Vorgange eines größern
statuarischen Werkes, von welchem dann unsre Statue copirt ist, wofern
wir es hier nicht, wie vielleicht auch bei dem einen oder andern Werke, mit
einem von Hadrian oder schon von einem seiner Vorgänger aus Griechenland
selbst entführten Originalwerke zu thun haben, wofür allerdings die unnach¬
ahmlich lebensvolle und frische Behandlung des Ganzen, das Sichere, Freie, un¬
mittelbar Empfundne der Arbeit zu sprechen scheint.
An den Antinousbildern endlich ist die statuarische Ausfassung selbst wie
schon gesagt, dem überlieferten Dionysos- und Narciß-Ideal entlehnt; für
den Antinous der Gruppe von Jldefonso diente der eidechsenspießende Apoll
des Praxiteles, für den Fackelträger ein Merkur vermuthlich Lysippischer Schule,
ähnlich dem fälschlich sogenannten Antinous des Belvedere, oder dem soge¬
nannten Germanicus des Kleomenes, als Vorbild.
Nur die Wiedergabe der Portraitzüge ist an diesen Bildern das Verdienst
der Hadrianischen Zeit: ein bei aller Meisterschaft der Ausführung doch geringes
Verdienst, für welches nur scharfe Beobachtung der sinnlichen Natur und
Virtuosität der Technik erforderlich ist. Dies aber sind die Eigenschaften der
Hadrianischen Zeit. Eleganz, Glätte und Sorgfalt der Arbeit, eine
bis in die kleinsten Details gehende Ausführung selbst am härtesten Material
sind die entschiedne Stärke dieser Zeit, wie wir ihr in frühern Zeiten nirgends
begegnen. Man vergleiche nur die minutiöse Bildung der Haare an der Brust
der Centauren oder der Haupthaare an dem Satyr mit der Traube, der eben¬
falls eine durch viele Zuthaten gestörte Wiederholung einer älteren belebteren Figur
ist. Dazu kommt eine Vorliebe für bunten Marmor: der Satyr mit der
Traube ist von rothem, die Centauren sind von schwarzem Marmor; endlich
gar die gleichmäßige Verbindung von Marmor mit Bronce. Das ganze Ge¬
wand des Antinous-Braschi war von Bronce, während die Figur selbst von
Marmor ist.
Schwerlich wird jemand diese Neuerungen der Hadrianischen Kunst loben
wollen.
Die Anwendung buntfarbigen Marmors zur Wiedergabe des menschlichen
Körpers zeigt, wie sehr das Verständniß der Bedeutung des weißen etwas
durchsichtigen Marmors mit seinem lebensvollen warmen Ton für den mensch¬
lichen Körper abhanden gekommen war. Bei sonnenverbrannten gemeinen
Waldwesen, wie die Satyrn sind, und bei jenen wilden halbthierischen Cen¬
tauren kann man die Wahl des rothen und schwarzen Marmors allenfalls
erklären, aber immer bleibt es eine Abwendung von der Aufgabe der Kunst
die gemeine niedrige Natur zu veredeln, welche im weitern Verlauf zu den
allerstärksten Geschmacklosigkeiten, zu jenen buntfarbigen Alabasterstatuen führt,
wie sie das Zimmer der bunten Marini in Neapel und besonders der farne-
fische Apoll zeigt, jene Statue von violettem Marmor, dem am schwersten
zu bearbeitenden Porphyr, mit blendend weißem Kopf und Extremitäten, und
einem Lorbeerkranz von Bronce. — Eine derartige Vermischung der Stoffe,
welche ihrem Wesen und ihrer Wirkung nach so disparat sind, wird niemand
mehr billigen wollen, als jene Ansätze zur Vermischung des Basiliken- und
Centralbaus.
Nehmen wir noch dazu, daß die Hadrianische Kunst consequenterweise in
Säulen wie Statuen auf Massenhaftigkeit und Colossalität der Di¬
mensionen bedacht war, so sind ihre Eigenthümlichkeiten erschöpft und nun¬
mehr der Standort gewonnen, von welchem erst ein freier und sichrer Um-
blick auf ihre Leistungen ermöglicht ist. Dieser Umblick kann unser Urtheil
nur bestätigen, daß die Kunst zur Zeit Hadrian's keine Originalschöpfungen
hervorgebracht, daß sie vielmehr nur als romantische Kunst auf die Ideale
der klassisch-griechischen Kunst zurückgegriffen und diese reproducirt hat, und
daß alle ihre selbständigen Neuerungen keine Verbesserungen dieser gewesen
sind, daß sie demnach keine andre Stellung einnimmt als die Romantik der
deutschen Kunst in diesem Jahrhundert.
Zum Schluß noch ein Wort der Erklärung, warum eine Renaissance
der griechischen Kunst jener Zeit nicht gelungen ist.
Hadrian selbst war kein Original-Genie: er war großartiger Di-
lettant. Er war aber auch bei aller Vorliebe für Griechenland, griechische
Kunst und Wissenschaft doch nur ein „Gricchlein",
und hat von Hellas Geist nur einen Hauch gespürt.
Wie hätte er sonst an Stelle des ewig jungen Homer einen Epigonen
wie Antimachos von Kolophon setzen, wie hätte er einen Platon ver¬
achten können.
Hadrian war aber auch ein Kind seiner Zeit, die selbst keine Ideale
mehr hatte, keine Begeisterung mehr in sich trug, also auch für eine Wieder¬
geburt der Kunst unfähig war.
Es war kein Leben mehr hinzuopfern in hochherzigen Kampfe um poli¬
tische Ideale. Die Republik hatte sich selbst längst den Tod gegeben; der
kluge Augustus war nur ihr Todtengräber gewesen.
Die Zeit brachte auch keine Genies mehr hervor: sie hat keinen Dichter,
keinen Philosophen, keinen Staatsmann, nur Hofphilosophen und
Sophisten, die Sumpfpflanze des Hellenismus, Schönredner, Improvisatoren,
Versemacher, Romanschreiber, Grammatiker, Moralisten, bigotte wunder¬
glaubige schwärmerische Sonderlinge, Heuchler und Spötter. Auch die weni¬
gen hervorragenden Geister ranken sich an Gestalten des klassischen Griechen-
thum empor: Lucian an Aristophanes und Sokrates, Arrian am Z'enophon.
Man mag noch so sehr ein Freunds des Hellenenthums sein und seine
Freude darin finden auch unsrer Zeit seine Tugenden, seine Thaten und seinen
Einfluß zu schildern : das Hellenenthum jener Zeit war unfähig geworden eine
neue Cultur aus sich hervorzubringen, einen Fortschritt in der Entwicklung
der Geschichte der Menschheit aus eigner Kraft anzubahnen: dies Hellenenthum
mit aller seiner Bildung mußte weichen der neuen Weltanschauung, welche
auftrat als Religion des Gemüths und des Friedens, mit humanisti¬
schen kosmopolitischen Ideen. Und so war Hadrian's Versuch einer
Regeneration^der alten Kunst, obwohl mit all dem Eifer derartiger Naturen
unternommen, ebenso aussichtslos wie der zwei Jahrhunderte später auf dem
Gebiet des Kultus mit noch viel größerer Hast, ja Ungestüm unternommene
Versuch Julian's.
Die Kunst unter Hadrian gleicht dem letzten Strahl, welchen die Sonne
auf die Erde sendet oder,^um mit Winckelmann zu reden, der Nahrung, welche
der Arzt dem Kranken verordnet, welche ihn nicht sterben läßt, aber ihm auch
keine Nahrung giebt. Schon unter seinem Nachfolger Antoninus Pius zeigt
sich das Erlahmen ihrer Kraft: sie wird steif und altfränkisch; unter Septi-
mius Severus stellt sich bereits ein bedenklicher Verfall auch der Technik heraus.
Im Anfang des 4. Jahrhunderts ist sie schon in dem Zustande greisen¬
hafter Schwäche. Als Eonstantin der Große über seinen heidnischen Gegner Ma-
xentius an der milvischen Brücke gesiegt hatte und ihm ein Triumphbogen er-
richtet werden sollte, war die bildende Kunst auf dem Punkte der Unfähigkeit
angekommen, daß ein älterer Bogen abgetragen werden mußte, um mit seinen
Bildwerken diesen Neubau zu schmücken. Die antike Kunst ist daher unter
den Faktoren der antiken Cultur zuerst erlahmt, und hat den Kampf gegen
die neue Cultur eigentlich gar nicht aufgenommen. Gleichsam im Bewußtsein
ihrer Unfähigkeit steigt sie herab ins Dunkel der Erde, klingt aus in Sar¬
kophagen, in Gräbern, von denen, allerdings unter ihrem Einfluß, die neuere
sogenannte christliche Kunst ihren Ausgang nimmt. Allmählich verschwinden
auch die erhaltnen Werke der ältern klassischen Kunst der Griechen von
der Oberfläche: sie werden, wenn nicht zerstört, verschüttet oder versteckt, und
ruhen nun über 1000 Jahre im Dunkel der Erde. Erst als sich im 15. Jahr¬
hundert in Italien ein neuer Geist regt, als der mit dem Christenthum in
die Welt getretene, aber durch die Hierarchie und den Feudalismus des
Mittelalters begrabene Geist des Humanismus von neuem erwacht, kommen
auch diese Meisterwerke der Antike wieder zu Tage, noch rechtzeitig um auf
die neuentstehende Kunst, welche erst jetzt den Namen Kunst in vollem Maße
wieder verdient, Einfluß zu üben. Erst das Jahrhundert des Humanismus
gewährt der Welt das Schauspiel einer Wiedergeburt der Kunst; das Jahr¬
hundert des Humanismus giebt der Welt eine zweite, der ersten ebenbürtige
Die Debatten der Norwegischen Volksvertretung, des Storthings, be¬
wegen sich gewöhnlich in einem sehr ruhigen Tempo und nur selten tauchen
in dem Kreise seiner Verhandlungen Fragen auf, welche über die Gränzen
des eignen Landes hinaus auch im übrigen Europa die Aufmerksamkeit des
Publikums zu fesseln vermögen. Eine solche Frage war während der letzten
Session die sogenannte Staatsrathsfrage und die Verhandlungen, welche über
diese Frage und die mit ihr in Verbindung stehenden Verhältnisse des Nor¬
wegischen Staatslebens geführt worden sind, haben hier im Lande eine so
außergewöhnliche Aufmerksamkeit erregt, daß sie auch im Auslande ein tiefer
gehendes Interesse finden dürften.
Was ist nun die sogenannte Staatsrathsfrage? Wer mit den Norwegi¬
schen Verhältnissen vertraut ist, wird leicht eine Antwort geben können, wer
aber, und bei den meisten deutschen Lesern fürchten wir dies voraussetzen zu
müssen, Norwegen gewissermaßen als eine schwedische Provinz betrachtet und
kaum ahnt, daß Norwegen ein selbständiges Nicias ist, das nur durch ein
einziges Band — den König — mit Schweden verknüpft ist, dem wird es
schwer werden, die Norwegische Verfassung so weit zu durchschauen, um eine
Erklärung des Wortes Staatsrathsfrage geben zu können.
Zum Verständniß diene Folgendes: Die Verfassung Norwegens könnte
eine republikanische mit monarchischer Spitze genannt werden. Die einzigen
politischen Factoren sind der Storthing auf der einen Seite, auf der andern
der König. Der Storthing bildet die alleinige Vertretung des Norwegischen
Volkes. Seinen Beschlüssen kann der König allerdings die Königliche Sanction
verweigern, gehen sie aber dreimal in auf einander folgenden Wahlperioden
durch, so bleiben sie auch ohne Königliche Sanction gesetzeskräftig. Der König
hat also den Beschlüssen des Storthings gegenüber nur ein suspensives, kein
absolutes Veto.
Das Ministerium des Königs bildet der sog. Staatsrath, welcher die
gesammte innere Verwaltung leitet und in Stockholm, wo der König für ge¬
wöhnlich residirt, durch zwei Mitglieder vertreten ist. Bisher nahmen die Mit¬
glieder des Staatsraths nicht an den, Debatten des Storthings Theil. Sie
sandten die einzelnen dem Storthing zu machenden Vorlagen ein, und es
wurde über dieselben verhandelt, ohne daß je einer der Staatsräthe in die
Lage versetzt wurde, auf eine directe Anfrage oder eine Jnterpellation im
Storthing Rede und Antwort stehen zu müssen.
Im Jahre 1872 ist aber im Storthing der Antrag eingebracht worden,
die Staatsräthe sollten berechtigt sein, an den Verhandlungen des Storthings
Theil zu nehmen und in demselben erscheinen dürfen, und in der diesjährigen
Session ist der Antrag zum zweiten Male mit genügender Majorität durch¬
gegangen.
Diese Frage nun, ob die Minister das Recht haben sollen, im
Storthing zu erscheinen und an den Debatten Theil zu nehmen,
nennt man die Staatsrathsfrage.
An und für sich scheint der Antrag auf Erscheinen der Staatsräthe im
Storthing ganz gerechtfertigt zu sein und nur dem parlamentarischen Brauch
in andern Ländern zu entsprechen. Trotzdem erhob sich aber eine große
Opposition dagegen und man muß anerkennen, daß diese Opposition zum
Theil wenigstens sehr gerechtfertigt ist. - Da der Storthing die einzige Kam¬
mer ist, welche gesetzgebende Gewalt hat, und ihm nicht durch ein anderes
Haus eventuell das Gegengewicht gehalten werden kann, würde er auf diese
Weise bedeutend mehr politische Macht in sich vereinigen, als er bisher gehabt
hat und dadurch das bisherige Verhältniß der politischen Factoren im Lande
verändern. Der Storthing würde dadurch, daß die Minister an seinen
Debatten Theil nähmen, ehre so große moralische Pression auf sie ausüben,
daß sie unbedingt zu willigen Werkzeugen in seiner Hand oder in der Hand
der zeitweiligen Majorität werden müßten, und bei der großen Machtbefugnis
welche dem Storthing an und für sich schon zu Gebote steht, würde er als
lÄoto fast alle politische Gewalt an sich reißen und die Königlichen Befugnisse
ganz in den Hintergrund drängen.
Die Regierung hat aber trotzdem dem Wunsche des Storthings nach¬
geben wollen und zu dem Ende einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, welcher
die Theilnahme der Staatsräthe an den Storthingsdebatten von gewissen
anderen Bedingungen abhängig macht, die als Gegengewicht gegen die da¬
durch vergrößerte Macht des Storthings dienen sollen. Es sind dies z. B.
Beschränkung der Sitzungszeit des Storthings, Firirung der Diäten der
Storthingsmänner, Sicherstellung der Pensionen der Staatsminister u. s. w.
Im Storthing aber geht man von der Ansicht aus, daß einmal diese Be¬
stimmungen nicht annehmbar seien, überhaupt aber Nichts mit der Haupt¬
frage zu thun hätten und deßhalb Specialgesetzen vorbehalten werden müßten.
In der regierungsfreundlichen Partei des Storthings, der sog. conser-
vativen Partei hat man in Anlaß dieser Fragen einen anderen Ausweg vor¬
geschlagen, nämlich den Storthing zu reformiren und aus ihm statt einer ')
zwei Kammern zu bilden. Es würde dadurch eine vollständige, dem Gebrauche
anderer Nationen entsprechende konstitutionelle Verfassung mit einem aus zwei
Häusern bestehenden Parlamente geschaffen werden und man glaubt darin den
besten Ausweg zu finden, um die Staatsrathsfrage auf eine beide Parteien
befriedigende Weise zu lösen.
Es würde sich also darum handeln, ob es auf Grund der Verhältnisse
des Norwegischen Volkes möglich sei, das Zweikammersystem einzuführen, oder
ob es möglich sei, den jetzigen Storthing in eine aus einem Ober- und einem
Unterhause bestehende Volksvertretung umzuwandeln.
Die Vertreter dieser Ansicht sind hervorragende Mitglieder der konserva¬
tiven Partei und sie haben ihre Meinung niedergelegt in dem während der
diesjährigen Session von dem dazu bestimmten Comite abgegebenen Bericht
über die Staatsrathsfrage. Der Bericht ist als sog. Minoritätsvotum unter¬
zeichnet von den Storthingsmännern Aschehong und Kyhn, und man darf
annehmen, daß die in ihm ausgesprochene Ansicht die Ansicht der Führer der
konservativen und regierungsfreundlichen Partei ist.
Unter allen Vorschlägen, welche gemacht sind, um als Gegengewicht gegen
die dem Storthing durch die Theilnahme der Staatsräthe an seinen Verhand¬
lungen zufallende Machtvergrößerung zu dienen, ist dies der einzige, der auf
einer principiellen Veränderung der Verfassung beruht und verdient daher
besonders gewürdigt zu werden.
Der jetzige Norwegische Storthing besteht aus zwei Abtheilungen,
dem sog. Odelsthing und dem Lage hing. Letzterer wird aus dem ganzen
Storthing, gewählt und zählt ^ der Mitglieder desselben. Er soll dazu
dienen, gewissermaßen eine eontrollirende Thätigkeit auszuüben und seine
Mitglieder — das ist wenigstens der Sinn der Bestimmung — sollen sich
vor anderen durch reiferes Urtheil und größere Erfahrung auszeichnen. Ein
Gesetzvorschlag wird zuerst im Odelsthing berathen und dann dem Lagthing
zur Revision zugeschickt, der ihn dann entweder verwirft oder billigt. Man
kann den Lagthing vergleichen mit einer Art Senat und findet ein Analogon
dazu in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist also gewisserweise,
wenn auch in sehr beschränktem Maaße, eine Art Zweikammersystem selbst
hier in Norwegen eingeführt, dasselbe ist aber immer an sehr beschränkte
Grenzen gebunden, denn wenn z. B. Lagthing und Odelsthing sich nicht
einigen können, tritt der ganze Storthing zusammen und beschließt gemeinsam.
Die conservative Partei denkt nun, diesen Lagthing in eine Art Ober¬
haus umzugestalten und auch in dem Berichte der Herrn Aschehong und Kyhn
wird diese Frage untersucht. Sie besprechen darin die Möglichkeit, den Lag¬
thing zu einer von besonderen Wählern gewählten Vertretung zu machen, wo¬
durch das Hauptcriterium für ein Zweikammersystem, das Hervorgehen der
beiden Kammern aus verschiedenen Volksklassen, gegeben wird. Sie machen
verschiedene Vorschläge, wie ein solcher Lagthing zu wählen sein solle und
sagen, es gäbe auch hier in Norwegen Gesellschafts-Classen, welche eine Art
Aristokratie bildeten, hervorgerufen durch größeren Besitz, Bildung u. f. w.,
mit einem Worte, sie behaupten, die Elemente für ein Oberhaus seien hier
vorhanden. Und da solche Elemente hier vorhanden seien, fahren sie fort,
müßten sie sich auch durch gesetzliche Bestimmungen zum Ausdruck bringen
lassen, und wenn es auch der Natur der Sache nach unmöglich sei, diese Be¬
stimmungen so genau zu treffen, daß sie ausschließlich und nur die richtigen
Personen und Classen träfen, so sei es doch gewiß denkbar, daß sie im Gro¬
ßen und Ganzen genommen das gewünschte Resultat ergeben würden.
Auf mehrfache Weise könnte man dies erreichen. Man könnte z. B. das
Wahlrecht zum Lagthing an ein gewisses Vermögen oder eine gewisse Ein¬
nahme knüpfen, an den Besitz eines Grundeigenthums von bestimmter Größe,
an die Bedingung, daß man zu den höchsten Steuerzahlern des Districts ge¬
höre oder man könne endlich alle diese Bedingungen neben einander aufstellen,
ohne sich bestimmt an eine einzelne zu halten. Um dem neuzuschaffenden
Lagthing das nöthige Ansehen zu geben müßte man allerdings eine genügend
große Anzahl der zu ihm Wählenden aufzutreiben suchen, aber auch dies sei
keine unüberwindliche Schwierigkeit, denn in den soeben aufgeführten Catego-
rien befänden sich in genügender Anzahl Personen, denen man das Wahlrecht
zum Lagthing geben könnte.
Das Hauptcontingent für die Lagthingswähler wollen sie in den Gro߬
grundbesitzern finden und sagen dann weiter, man müsse, wenn die Zahl der
Großgrundbesitzer nicht genügen sollte, auch die mittleren Grundbesitzer hinzu¬
nehmen. Diese Classe existire im Lande. Die Norwegischen mittleren Grund¬
besitzer hätten meistens mehrere Dienstboten und ständen dadurch im Gegen¬
satz zu den kleineren Grundbesitzern, die keine Dienstboten hätten und selbst
auf Arbeit bei anderen Leuten gehen müßten. Sie, die unmittelbaren Grund¬
besitzer, wären im vollsten Sinne des Worts Eigenthümer und Arbeitgeber.
Dazu käme noch, daß diese Leute auch öconomisch so gestellt wären, daß sie
auf ihre Ausbildung Zeit und Geld verwenden könnten.
Wo nun die Grenze zwischen dem kleinen und mittleren Grundbesitz zu
setzen sei. gesteht man ein, wäre eine Sache, über die man sich nicht aus¬
sprechen könnte, da dazu statistische Daten gehörten, welche zur Zeit der Co¬
mite-Minorität nicht zu Gebote gestanden hätten. Indessen möge als Ma߬
stab und Wegweiser dienen, daß die Anzahl derjenigen Grundstücke, welche
über S Syd. Matrikel-Steuer») bezahlten im Jahre 1870 7973 gewesen wäre.
Zu mittleren Grundstücken müßte ferner ein großer Theil derjenigen Besitze
gerechnet werden, welche zwischen 2 und 5 Syd. Steuern bezahlten, indessen
läge die Grenze in den verschiedenen Districten sehr verschieden. Die Anzahl
derartiger Besitzungen hätte im Jahre 1870 29498 betragen. Wie viele von
diesen eine Steuer zwischen 2 und 3, zwischen 3 und 4 und zwischen 4 und 5
Syd. bezahlten, sei nicht angegeben, wenn aber das Verhältniß zwischen die¬
sen 3 Classen die im Jahre 1838 zusammen 32834 ausmachten, im Jahre
1870 dieselbe sei, wie im Jahre 1838, so würde das Verhältniß sich so stellen,
daß zwischen 4 und 6 Syd. Steuern bezahlten 4631 Grundstücke, zwischen
3 und 4 Syd. 8471 und zwischen 2 und 3 Syd. 16396 Grundstücke.
Das hieße also, daß man in den Landdistricten des ganzen Reiches in
Summa 12604 Besitzungen aufzählen könnte, welche eine Steuer 4 Syd. und
darüber bezahlten oder 21075, welche über 3 Syd. bezahlten. Nähme man
die Anzahl der Grundstücke, welche zusammen über die Hälfte der Matrikel¬
steuer des Reichs zahlten, so würde man voraussichtlich eine Anzahl von
13—20,000 Besitzungen bekommen.
Dies würde nun nach Ansicht der Comite'- Minorität eine Wähler-Cor¬
poration geben, welche hinreichend sociale Stellung und Gewicht hätte, da sie
über die Hälfte des Landes verfügte. Und dazu müsse man noch außerdem
die Besitzer von größeren Vermögen anderer Art als Landbesitz, sowohl auf
dem Lande als in der Stadt rechnen. Oder wenn es nicht als prac-
tisch oder ausführbar erschiene, das Stimmrecht zu den Lagthingswcchlen
auf diese Weise einzuschränken, so hätte man außerdem noch das
System des gradirenden Stimmrechts zur Verfügung. Man könnte alle
Stimmberechtigten darnach auch an den Lagthingswahlen Theil nehmen lassen
und sie, nach Besitz, Vermögen oder Einnahme in verschiedene Classen ein¬
theilen, welche alle eine gleiche Anzahl Wahlmänner wählten. Durch eins
oder das andere dieser Mittel würde man einen Lagthing erhalten, dem die
vermögenden und aufgeklärten Classen sich mit Vertrauen hingeben würden
und der in seiner Zusammensetzung und Macht die genügende Sicherheit bie¬
ten würde, um den Weiterausbau der Verfassung vorzunehmen. Das sind
im Großen und Ganzen die Grundzüge, nach denen die Herren Aschehong
und Kyhn,' resp, mit ihnen die conservative Partei, den neuen Lagthing als
Oberhaus herzustellen gedenkt.
Geht man diese Vorschläge im einzelnen durch, so ist auffällig / daß der
sich durch alle hindurchziehende Grundzug der größere Besitz ist, und daß so¬
mit der ganzen neuen Verfassung der Stempel der Plutokratie aufgedrückt
wird. Und dieses Kennzeichen ist nicht unberechtigt, denn in Wirklichkeit ist
im Augenblick der größere Besitz wesentlich und vor Allem Anderen das Mo¬
ment, welches hier in Norwegen social und politisch eine hervorragende Stel¬
lung giebt. Blickt man zurück auf die ganze geschichtliche Entwicklung Nor¬
wegens, so steht man, daß sich das Land in einer merkwürdig von andern
Ländern verschiedenen Weise entwickelt hat und daß daher der ganze Charakter
der Gesellschaft ein durchaus eigenartiger ist. Das, was in den meisten euro¬
päischen Ländern und namentlich in Deutschland fortwährend deutlich zu Tage
trat und der ganzen Geschichte seinen Stempel aufdrückte, war das Vorhan¬
densein einer bevorrechteten Kaste, eines Adels, und der Kampf der minder
berechtigten Classen gegen diese. Dies Element fällt in Norwegen ganz fort.
Ein Landesadel, in der eigentlichen Bedeutung des Worts, hat nie existirt und
Wenn auch heute einzelne adlige Namen vorkommen, so sind dies doch eben
nur die Namen, und seitdem im Jahre 182t der Adel auch noch formell
aufgehoben worden ist, existiren auch diese kaum noch mehr. Die ganze Be¬
völkerung trägt daher einen gleichartigen Charakter, ohne stark hervortretende
sociale Unterschiede. Auf dem Lande namentlich zwischen den Bauern eristirt
eine große Gleichartigkeit der Lebensanschauungen, die besonders hervorgerufen
wurde durch den wegen der großen Entfernungen erschwerten Verkehr mit den
Bewohnern der Städte und die dadurch verminderte Kenntniß fremder Ver¬
hältnisse. Große Landwirthschaften giebt es in Norwegen fast gar nicht und
selbst die wenigen sogenannten Herrenhöfe entsprechen nur in geringem Maaße
unsern deutschen Rittergütern. Dagegen ist der kleine Bauernbesitz über das
ganze Land verbreitet, aber ein socialer Unterschied zwischen diesen bäuerlichen
Besitzern, namentlich ein Unterschied, der bezeichnet werden könnte durch größere
und geringere Steuersummen, dürfte schwer nachzuweisen sein. Es tritt hier
nur der eine Unterschied besonders zu Tage, der zwischen der grundbesitzenden,
Classe im Gegensatz zu der nichtbesitzenden der Arbeiter und Tagelöhner.
Norwegen ist durch seine natürliche Beschaffenheit immer mehr darauf
hingewiesen ein Handels- und Fabrikland zu sein, als ein Ackerbau treiben¬
des. Zum Ackerbau sind nur geringe Strecken des Landes brauchbar, dem
Handel und Fabrikbetrieb dagegen sind viele Hülfsquellen geöffnet. Schon
dadurch aber wird, wie in allen Fabrikgegenden der Bevölkerung ein gewisses
fluctuirendes Element beigemischt, welches stets in Bewegung und in dem
Streben nach einem bestimmten Ziele — dem Verdienst — begriffen ist, da¬
gegen nicht den alt hergebrachten und sich in conservativer Weise bewegen¬
den Betrieb des Ackerbauers duldet. Die Bevölkerung theilt sich sehr bald in
2 Classen, die Capitalisten und die Arbeiter, der eigentliche Mittelstand ver¬
schwindet, und in einer Gesellschaft, welche hauptsächlich aus diesen beiden
Classen zusammengesetzt ist, findet man selten die nöthigen Elemente, aus
welchen man die Träger einer conservativen Politik formiren könnte.
Allerdings giebt es auf dem Lande, namentlich in den abgelegenen Thä¬
lern viele Bauern, die gewisse aristokratische Traditionen bewahrt haben und
mit großem Stolz auf ihre directe Abstammung von irgend einem uralten
„Jarl" (den früheren kleinen Königen in Norwegen) zurückblicken. Es wird
z. B. erzählt, daß einer dieser Bauern den verstorbenen König Karl XV., welcher
ihn in Begleitung seines Adjutanten, der ein Graf war, besuchte, aufgefordert
habe, sich mit ihm an einen Tisch zu setzen, indem er sagte- „Du bist, wenn auch
nicht aus so alter Familie, wie ich, doch eines Königs Sohn, dein Begleiter
aber ist nur ein Graf und an diesem Tische haben nur Königssöhne gesessen."
Diese alten Familien halten sehr darauf, daß ihre Kinder sich nur ebenbürtig
verheirathen — aber alle diese Sitten sind gebunden an ein einsames Leben,
sie verschwinden, sobald ein solches Thal durch eine Eisenbahn dem Verkehr
geöffnet wird oder überhaupt die Leute selbst mit anderen mehr in Berührung
kommen. Schwerlich würden aber derartige Leute, falls aus ihnen die Can-
didaten für das zu errichtende Oberhaus genommen würden, im Stande sein,
über die Verhältnisse des ganzen Landes zu urtheilen, denn sie gerade sind
durch die Natur der Verhältnisse auf das Wirken in einem kleinen Kreise be¬
schränkt. Das konservative Element, welches in den Lagthing hineingebracht
werden soll, würde hier allerdings zu finden sein, schwerlich aber die genü¬
gende Anzahl von wirklich durch politische Bildung zum Gesetzgeber geeigneten
Lagthingsmännern selbst. Was nun den zu machenden Unterschied zwischen
den Wählern betrifft, je nach der Größe der gezählten Matrikelsteuer, so wird
gerade dies von vielen Seiten als ein durchaus unzutreffendes Criterium grö¬
ßerer Bildung und reiferen politischen Verständnisses betrachtet und es läßt sich
nicht einsehen, weßhalb grade bei, 3 oder bei 4 oder bei L Svd. Steuer ein
besonderer Unterschied gemacht werden sollte. Eine hervortretende, durch
größeren Besitz und größere Bildung hervorragende Classe läßt sich, wo sie
einmal nicht aus geschichtlicher Entwicklung hervorgegangen, durch den Buch¬
staben des Gesetzes nicht in die Gesellschaft hineinbringen. Von den in
Deutschland sich fast überall kennzeichnenden drei Classen der ländlichen Be¬
völkerung: den Großgrundbesitzern, bäuerlichen Grundbesitzern und Arbeitern
giebt es in Norwegen nur die beiden letzteren und sie entsprechen im Großen
und Ganzen durchaus den beziehungsweisen Classen in Deutschland.
Auch die Vermögensunterschiede sind bei den bäuerlichen Grundbesitzern
nicht so besonders hervorragend und wenn auch das wirkliche Vermögen der
Einzelnen natürlich sehr differirt, so giebt es doch trotzdem keine großen Un¬
terschiede in der Lebensweise der Einzelnen, sondern das Leben wird meistens
auf dieselbe seit alter Zeit gebräuchliche Weise geführt, einerlei ob das Ver¬
mögen sich besonders vergrößert hat oder nicht. Den größten Zuwachs hat
außerdem das Vermögen der einzelnen Bauern nicht durch den eigentlichen
Ackerbau erreicht, sondern durch den Holzverkauf und diejenigen Besitzer,
welche günstig gelegene Waldstrecken haben, sind durch die günstigen Conjunc-
turen der letzten Jahre in die Lage versetzt, bedeutende Summen hierdurch zu
erwerben. Derartige Leute, die ihr Geld durch eine vorübergehende Conjunc-
tur gewonnen haben, dürften aber noch weniger als die geeigneten Classen
zur Bildung eines conservativen, das zurückhaltende Princip repräsentirenden
Oberhauses zu betrachten sein.
Aehnlich ist es in den Städten. Auch hier fehlt durchweg ein Patricier¬
stand und die social am meisten hervorragenden Leute sind, einzelne Ausnahmen
natürlich abgerechnet, diejenigen, welche die meisten Tausende Speciesdaler be¬
sitzen. Und dies Verhältniß ist sehr erklärlich, wenn man die Entwicklung
der Norwegischen Städte betrachtet. Vor 20—80 Jahren waren sie sämmt¬
lich kleine Küstenstädte mit geringer Handel- und Schifffahrttreibender Be¬
völkerung, größere Vermögen gab es fast gar nicht, der Arbeitslohn war
niedrig, die Lebensweise selbst der besser situirter Classen aufs äußerste frugal
und einfach. Am besten erhellt dies aus den im letzten Storthing geführten
Debatten über die Aufbesserung der Beamtengehälter und wurde durch ver¬
schiedene sehr drastische Exempel beleuchtet, auf die jedoch hier nicht weiter
eingegangen werden kann. In den letzten 20 Jahren ist dies dagegen ganz
anders geworden. Der bedeutende Export, namentlich von Holz und Eis,
hat eine größere Menge Ge-it ins Land gebracht und aus den kleinen Fischer¬
städten, in denen sonst ein steinernes Haus zu den Ausnahmen gehörte, sind
setzt große Handelsplätze geworden, die zum Theil sehr bedeutende Geschäfte
machen, große Nhedereien besitzen — die norwegische Flotte ist die drittgrößte
der Welt — Banken, Fabriken u. s. w. gegründet haben und in Allem einen
bedeutenden Aufschwung zeigen.
Am Besten ist dies zu bemerken bei der Hauptstadt Christiania, welche
bis vor Kurzem, vielleicht bis vor 20 Jahren noch, sich kaum von den anderen-
kleineren Städten des Landes unterschied, jetzt aber durch ihre günstige Lage
im Mittelpunkte Norwegens, sowie überhaupt durch den Aufschwung des
ganzen Landes selbst zu einer wirklichen Hauptstadt geworden ist und ein
durchaus europäisches — sit venia, vsrbo — Bild darbietet.
Naturgemäß fehlen aber in diesen Norwegischen Städten, in denen der
Reichthum in kurzer Zeit erst erworben ist, ganz die sog. alten Familien, die
man in vielen anderen Handelsstädten und namentlich in Deutschland so
häufig findet. Man sieht auch hier nur das rasche Emporkommen Einzelner,
es giebt aber keine einzelne Classe, welche sich über die anderen Classen empor¬
hebt und man muß daher auch hier zu dem Schluß kommen, daß die für
ein Oberhaus nothwendigen Elemente nicht vorhanden sind. Die Repräsen¬
tanten des alten und gesicherten Grundbesitzes nehmen in jedem Oberhause
die am meisten hervorragende Stellung ein und drücken ihm ihren Charakter
auf. So ist es nicht nur in England, sondern auch in Preußen und wenn
der Zweck eines Oberhauses ist, in dem weiteren Ausbau einer Verfassung
das hemmende, conservative Element zu bilden, so eignen sich nur solche
Leute, welche durch ihre Stellung im Lande, durch ihren Besitz und durch ihre
Familien-Traditionen auf eine solche conservative Richtung hingewiesen werden.
Diese Leute fehlen aber hier in Norwegen und es wird daher nie möglich
sein, ein wirklich auf realen Grundlagen basirtes Oberhaus hier zu schaffen.
Der unparteiische Beobachter kann daher nur wünschen, daß dem Lande
seine jetzige Verfassung erhalten bleibe, da sie dem Charakter desselben vor¬
trefflich angepaßt ist und sich seit langer Zeit bewährt hat.
Es ist doch sonderbar, daß dieselben Herren, welche sich sonst bei jeder
Gelegenheit, wo sie den Staatsgesetzen ein Schnippchen schlagen zu können
meinen, auf das ^u» eansmicum berufen, in dem Punkte der Succursalpfarreicn,
wo merkwürdiger Weise die Vorschriften des preußischen Gesetzes mit denen des
canonischen Rechts übereinstimmen, dasselbe gänzlich ignoriren, oder es geradezu
auf den Kopf stellen. Man ist nämlich in klerikalen Blättern in der Unver¬
schämtheit so weit gegangen, zu behaupten, das kanonische Recht sei mit diesen
Succursalen völlig einverstanden,; ja eine Korrespondenz, welche neulich durch
sämmtliche Zeitungen dieser Farbe die Runde machte, fordert den Cultusminister
direct auf, sich doch einmal in dem canonischen Recht umzusehen; dann werde
er zugestehen müssen, „daß die Herren Bischöfe gar nicht in der Lage seien,
(sie!) die in Rede stehenden Stellen definitiv zu besetzen, selbst wenn sie sich
den Maigesetzen unterwerfen wollen." Das heißt doch den Teufel durch
Beelzebub austreiben. Wir unsrerseits glauben, daß der Dr. Falk in dem
canonischen Recht besser bewandert ist, als mancher glatzhäuptige, feiste Cano-
nicus. Wenn die Herren so argumentiren, dann mögen sie es uns nicht
verübeln, wenn wir, trotz des in seinen Folgen nicht blos auf politischem,
sondern auch leider auf bürgerlichem und gesellschaftlichen Gebiete für beide
Theile äußerst traurigen Conflictes, herzlich wünschen, daß das Gesetz mit
seiner ganzen Schärfe in diese Rotte Cora und Abiram hineinschlage, unbe¬
kümmert um die Thränen, die darob geweint, die Seufzer, die nicht erhört
und die Flüche, die hoffentlich dort oben auch nicht erhört werden.
Bekanntlich hatte man regierungsseitig die Absicht, mit diesen Succursal-
Pfarrern, meistens alten Herren, die nur ungern aus dem ihnen lieb gewor¬
denen Amte und Kreise scheiden dürften, äußerst gelinde und zart umzugehen.
Das zweite Alinea des § 19 lautete daher in seiner ursprünglichen Fassung
als Entwurf: „Die Suceursalpfarreien im Bereiche des französischen Rechts
gelten mit dem Ablauf von sechs Monaten nach .Verkündigung dieses Gesetzes
den Inhabern als dauernd verliehen" und selbst in der Fassung, in welcher
das Gesetz jetzt sich uns präsentirte, wonach dem Ober-Präsidenten der Rhein-
Provinz schon Mitte Mai dieses Jahres das discretionäre Befugniß ertheilt
war, die erwähnte Aufforderung an die Bischöfe von Köln und Trier zu
richten und im Weigerungsfalle die betr. Geldstrafen, für die Suceursal--
Pfarrer selbst aber Amtssperre eintreten zu lassen, hat man sich noch mit der
Ausführung des Gesetzes bis gegen das Ende des Jahres geduldet. Was
hatte diese Milde zur Folge? Das Gesetz und seine Organe wurden ihret¬
wegen verhöhnt in den clerikalen Schmutzblättern; man sagte, die Regierung
werde es wohl nicht wagen, auf diese Weise Tausende von alten Priestern
aus Amt und Nahrung zu setzen oder fühle sich zu schwach, dem Gesetze
seinen ordnungsmäßigen Verlauf zu lassen. Pah! Hohngelächter aus solch'
erbärmliche Gesetze, die selbst nicht wissen was sie wollen, deren Ausführung
selbst ihren berufenen Vertretern bange macht und trotz deren wir doch thun,
was wir wollen! Wie wird man sich wundern, wenn binnen Kurzem eben
dieses Gesetz als rächender Engel zwischen die Widerspenstigen treten und mit
seinem Flammenschwert so manchen Adam aus dem Paradiese treiben wird,
der sich jetzt noch in Ruhe und Sicherheit wiegt. Beklagenswert!) immerhin
für den, welchen es trifft: aber das Gesetz ist unerbittlich gegen seine ab¬
sichtlichen Uebertreter.
Man sollte meinen, den Suceursal-Pfarrern selbst müßte ein solcher durch
das Gesetz geregelter Zustand, der ihnen die Lebenslänglichkeit ihres Amtes
garantirt und sie von der Willkür und Laune einer bischöflichen Camarilla
und heimlicher Denunzianten unabhängig macht, äußerst erwünscht und will¬
kommen sein. Und wir kennen in der That gar manchen Dorfpastor am
Rhein, der nicht bloß den zeitigen, durch Kirchendogma und Staatsgesetz her¬
aufbeschworenen Conflict im Allgemeinen beklagt; der sich nach der guten,
alten Zeit sehnt, wie der Hirsch nach der Wasserquelle, wo alles so ruhig
und friedlich herging in seiner und den Nachbar-Gemeinden, wo Kirche und
Schule, Staats - Behörde und Geistlichkeit Hand in Hand arbeiteten. Zur
Förderung der communalen Interessen derselben, wo Katholik und Protestant,
Jude und Neuheide ruhig und ohne Hast nebeneinander hausten und sich als
Kinder eines Vaters im Himmel betrachteten, wo der Gruß des Johannes:
„Kindlein, liebet doch einander!" und das zweite große Gebot des Christen¬
thums: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst — liebe deine Feinde!" so
herrlich sich zu verwirklichen und das Reich Gottes auf Erden, namentlich
in dem Paradiesgarten des Rheinlandes zu thronen schien; der, noch aus der
alten friedfertigen Schule entsprossen, wo man den Jesuiten keinen Einfluß
gestattete auf die Erziehung des Klerus von Kindesbeinen an und die heutige
„Kaplanokratie" ein ungeahnter Begriff war, mit Schaudern, und Entsetzen
zusehen muß, wie dieser und jener fanatische Vicar mit jesuitischen Grund¬
sätzen die Schäflein seiner Heerde gegeneinander aufsetzt und dort Zwietracht
sät, wo er Liebe und Duldung predigen soll, wie er mit Fleiß das gesellige
Thun und Treiben draußen und in der Familie durch seine Hetzereien ver¬
giftet und auch wohl hier und da ein Leitartikelchen oder Lokalberichtchen
schreibt für das „Sonntagsblatt" des nahegelegenen Städtchens, das, gleich¬
falls von einem Kaplan und würdigen Gesinnungsgenossen redigirt, in Bibel¬
stil und geifernder Polemik ^ la. „Vaterland" alles denkbar mögliche leistet
und schon allein durch seine Existenz ein Schandfleck ist für die deutsche Presse
und Literatur — und dazu schweigen muß; der endlich mit Grauen dem
Augenblick entgegensieht, wo die fortwährende Renitenz seines kirchlichen Obern,
des Bischofs, ihn und sein Amt und seine Ruhe und sein Lebensglück bewußt
zum unschuldigen Opfer bringt, unbekümmert um die wankende Gesundheit
des alten Mannes, nicht achtend seiner grauen Haare und der Verdienste um
die ganze katholische Kirche, die er sich bisher dadurch erworben, daß er treu
und sanftmüthig seine Heerde leitete im echten Geiste des Christenthums —
jetzt aber, seines Amtes entsetzt, seines Lebensunterhaltes beraubt, dem Kreise
der Seinigen gewaltsam entrissen und verbannt, — verbannt in den kalten
Norden — von Mülheim bis nach der Insel Rügen! — Und dazu schweigen
und dulden muß! Der Gedanke ist gräßlich, selbst für uns, die wir die
Nothwendigkeit und Billigkeit des Gesetzes zu vertheidigen haben, dabei aber
weit entfernt sind, ihm, dem Gesetze, all dieses Leid und Unglück in die Schuhe
zu schieben, während es doch nur die nothwendige Folge der Uebertretung
des Gesetzes ist. Auf gleiche Weise müßte man dann auch das Strafge¬
setz anklagen, durch dessen Uebertretung die Kinder ins Elend gerathen sind,
deren Vater ein Mörder oder Dieb gewesen ist.
Entspricht es aber nicht auch der Natur der Sache, der Billigkeit und
der praktischen Vernunft, daß, wie das Gesetz es verlangt, der Pfarrer einer
Gemeinde fest und dauernd bei derselben angestellt sei, daß seine Unabsetz-
barkeit ihm, wie den Richtern, garantirt sei, es sei denn, daß er selbst seine
Versetzung beantrage? Entspricht es nicht dem sinnbildlichen Amte des Seel¬
sorgers, der, gleichwie sein erhabenes Vorbild, Christus, der Stifter unserer
Religion, bei den Seinen bleiben soll, bis an das Ende? Wo bleibt da die
innige Verschmelzung des Pfarrers mit dem ganzen Wohl und Wehe seiner
Gemeinde, das Sich-Hineinleben in deren Verhältnisse, wo sein dauernder und
segensreicher Einfluß auf jeden Einzelnen aus derselben als Gewissensrath
und Seelenhirte, wenn er nach dem Willen und vielleicht einer augenblicklichen
Laune seines Obern dem Kreise seiner Wirksamkeit plötzlich entzogen wird?
Ist es nun nicht sonderbar und geradezu widersinnig, daß sich aus diesen
Kreisen, die es doch am nächsten angeht, die direct bei Nichtbeachtung des
Gesetzes den größten und empfindlichsten Schaden leiden müssen. — empfind¬
licher, als selbst die Absetzung einen Bischof, oder sonstigen Kirchenfürsten
berühren dürfte, — daß, sagen wir, aus den Kreisen der Suecursal-Pfarrer
sebst bisher noch keine Stimme laut geworden ist, die dem Gesetze, welches
ihnen persönlich unendlich wohl will, das Wort sprechen, noch kein Nothschrei
gegen die unverzeihliche und maßlose Tyrannei ihrer Vorgesetzen? Sollen wir
daran verzweifeln, daß irgend ein noch so kleines Partikelchen individueller
Freiheit und Selbstbewußtseins in ihrem Busen wohne, daß dasselbe ganz
dem jesuitischen blinden Cadaver-Gehorsam gewichen sei? — Man sage nicht,
das sei der freudige Aufopferungsmuth, der jeden einzelnen katholischen Prie¬
ster gern sein Hab' und Gut, sein Ganzes sich und alles, was ihm theuer
ist, aufopfern ließe für Zwecke, die man nun einmal als eminent religiöse auf¬
zustellen beliebt, bei deren Hintansetzung die ganze Religion zu Grunde gehen
müsse, die aber selbst dem unparteiisch urtheilenden, gläubigen Katholiken all¬
gemach als das erscheinen, was sie in Wirklichkeit sind, — eine reine Macht-
frage! Das ist vielmehr die Panik des Terrorismus, welcher wie ein Alp
den ganzen niedern Klerus zu Boden drückt, und unter dem gar mancher
im Stillen seufzt und ächzt, als einem unerträglichen Joche, das er aus eigener
Kraft nicht abzuwälzen im Stande ist. Das sind die Intriguen der oben ge¬
kennzeichneten Kaplanokratie, die es sich heutzutage herausnimmt, selbst ihre
Vorgesetzten, die Ortspfarrer, zu schulmeistern und zu tyrannisiren, die billiger,
vernünftiger und rechtlicher denken, wie sie.
Man glaubt das Volk fanatisiren, ihm plausibel machen zu können, daß
auch dieser Paragraph, wie der übrige Inhalt der Kirchengesetze schmählich ein¬
greife in die gottgeordnete Verfassung der Kirche, und nicht bloß den Ruin der
katholischen Religion, sondern auch der Familie und Gesellschaft herbeiführen
müsse. Hier und da hat man damit allerdings leider etwas reüssirt. Es ist
den Herren Clerikalen in der That an sehr vielen Orden gelungen, durch der¬
artige Vorspiegelungen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu einem unerträgli¬
chen System des ewigen Zankes und Haders zu machen, Bande der Freund¬
schaft und oft auch der Familie zu zerreißen. Aber einen allgemeinen nach-^
baldigen Eindruck hat man bisher in dieser Richtung nicht erzielen können.
Es ist dem gesunden Sinn des Volkes, vornehmlich des rheinischen, trotz alledem
und alledem, trotz allem Wuth- und Angstgeschrei, nicht verborgen geblieben,
daß es sich hier nicht um ein allgemeines Interesse, um das Wohl des Volkes
als solches handle, sondern um die moralischen und materiellen Vortheile einer
bestimmten Partei im Staate, eines Standes, einer Coterie, mit einem Worte,
uM die Herrschsucht des Klerus. Und wenn auch in dieser und jener
Versammlung, in diesem und jenem Vereine einem ultramontanen Bramarbas
unauslöschlicher Beifall geklatscht wurde, wenn er es verstand, die Regierung
und ohne ihre Handlungen dem Volke verhaßt oder lächerlich zu machen, —
was, nebenbei gesagt, nicht schwer gewesen ist zu allen Zeiten: denn Negie¬
rung und Volk sind nach der Meinung des letztern stets unversöhnliche Anti¬
poden — wenn er es verstand, mit einzelnen Kraftausdrücken, die zeitige, libe¬
rale Gesetzgebung in Preußen als ein entsetzliches Gespenst grau in grau zu
malen und dem Volke als Popanz vorzuhalten, womit man die Kinder schreckt;
wenn auch so ziemlich das ganze katholische Rheinland und Westfalen Cen-
trumseandidaten in den Reichstag geschickt hat als Kämpfer für „Wahr¬
heit, Freiheit, Recht" und auch die meisten Communewahlen in den einzelnen
Ortschaften nach dieser Richtung ausfallen: — die falsche Begeisterung, geweckt
durch religiösen Fanatismus, ist bald verraucht; und man frage nur den
Bürger oder Bauer in ruhigen Augenblicken, im Kreise seiner Familie, wenn
er wieder seine natürliche Vernunft walten und urtheilen lassen kann und der
in die Augen gestreute Sand gleißnerischer Reden und rhetorischer Floskeln
von „diocletianischer Christenverfolgung, Ruin der menschlichen Gesellschaft,
Freimaurer- und Preß-Judenthum" und dergl. ihm nicht mehr die eigene
Sehkraft benimmt: was er denn eigentlich von der ganzen Geschichte halte?
— Er wird sagen: Ich muß einstweilen so und nicht anders wählen, thun
und sprechen, soll nicht mein Geschäft darüber zu Grunde gehen, soll ich
meine Ruhe in Familie und Gesellschaft behalten, weit entfernt, daß der Eine
oder andere seine Ansicht dahin äußerte: „Es ist den Schwarzröcken recht, daß
es ihnen mal gründlich an den Kittel geht." — Ein Revolutiönchen
nun gar, auf das der eine oder andere ultramontane Heißsporn sich wohl
Hoffnung gemacht hat, will trotz aller Machinationen noch immer nicht zu
Stande kommen. Und wenn ein solches überhaupt möglich gewesen wäre,
dann würden wir es bei einzelnen aufregenden und scandalösen Ereignissen,
wie der Verhaftung der Bischöfe, den Trierer Vorfällen und dergl. wohl schon
erlebt haben. Dazu gehört aber heutzutage schon etwas mehr, als cleri-
kale Wühlerei und religiöse Faradisirung: da müssen schon die socialen und
wirthschaftlichen Verhältnisse der untern und mittlern Volksschichten mit im
Spiele sein, ehe man daran denkt, einen gewaltigen Umschwung der Dinge
mit der Pike oder Sense in der Faust herbeizuführen. Bekanntlich machen
in neuester Zeit unsere ultramontanen Heerführer, da sie allgemach einsehen,
daß sie eine hoffnungslose Sache vertheidigen, die bei dem Gros des Volkes
wenig Anklang findet, auch in letzterm Artikel und stecken sich in das rauhe
Gewand des radicalen Socialismus, um dem Volk weiter Sand in die Augen
zu streuen für egoistische Machtzwecke. Ein Religionskrieg von hüben oder
drüben ist aber heute erst recht unmöglich und der Gedanke daran der lächer¬
lichste Anachronismus, der je in eines Menschen Hirn ausgeheckt worden ist.
Der Staat aber wird mit seinen berechtigten Forderungen nicht nachgeben,
weder nach rechts noch nach links sich beugen lassen, solange die Kirchengesetze ne
iurs bestehen, vornehmlich nicht der preußische: dafür ist seine Regierung von
oben bis unten, um uns des Ausdrucks zu bedienen, zu zäh. Der einzig
mögliche Ausweg und Rückschritt würde der legale auf eine verfassungsmäßige
Aenderung und Nedressirung der Maigesetze sein. Damit hat es aber gewiß
noch seine langen Wege. Darum, Ihr Herren Clerici! „I^seiatL ogni
Lngi-ansia.!" Erkennt das Gesetz an und thut, was es von Euch verlangt!
Man hat nun gesagt: „Gegen die definitive Besetzung der Succursal-
Pfarreien hätten die Herren Bischöfe im Prinzip sich niemals ausgesprochen.
Das Haupthinderniß sei immer die unzureichende Besoldung der Stellen gewesen.
Es solle der Staat daher nur für die genügende Ausstattung der Stellen
sorgen, so würde die dauernde Besetzung sich schon finden."
Was es mit diesen Nahrungssorgen auf sich hat, darüber haben wir schon
im Anfange dieses Aufsatzes unser unmaßgebliches Votum abgegeben, das
wir übrigens durch die persönliche Erfahrung erhärten können. Oder sollte
diese Frage nach dem Brodkorb vielleicht die Brücke bilden zum Gehorsam
Das wäre immerhin erfreulich genug, wenn auch nicht gerade ein xoint
6'lionnlzur darin zu erblicken sein dürfte.
Doch bezweifeln wir die Ehrlichkeit dieser Absicht, und das aus gutem
Grunde. Dahinter lauert wieder die mephistophelische Larve des Spottes und
der Verhöhnung gegen die Staatsgesetze, falls man sich auf derartige Propo¬
sitionen einlassen wollte. Und dann sind solche Concessionen ja doch eigentlich
ganz unmöglich von dem Standpunkte der Proponenten. Einen einzigen
Paragraphen der Maigesetze ohne Rückhalt annehmen, das hieße ja alles
übrige mit in den Kauf nehmen und die Gesetze als solche anerkennen, —
diese gottlosen Maigesetze. Wo bleiben wir da mit unsern Vorwürfen, daß
jeder einzelne Paragraph derselben einen unberechtigten Eingriff in die gott¬
geordnete Verfassung der Kirche enthält? Unmöglich! — Freilich haben sich,
auch schon einzelne Bischöfe viel früher, ehe man an die preußischen Maige¬
setze dachte, direct für Aufhebung der Succursalen und deren Jmmutation
(Umänderung) in ständige Beneficien beim Papste verwandt. So schrieb
noch i. I. 1845 der Bischof von Lüttich in dieser Angelegenheit an den Papst.
Der aber antwortete unter dem 1. Mai jenes Jahres ganz kategorisch:
„Ill in regimillö eeellzsiiii'no sueeursalium null«, immutatio eine, äouve
alitsr a LkätZ ^postolieg, stg.lutum world", zu Deutsch: „Es soll in der
Verwaltung der Suceursalkirchen keine Jmmutation stattfinden, bis von dem
heil, apostolischen Stuhl anders entschieden worden sein wird!" Und weil es
dem Papste in Rom also gefällt, darum ist das canonische Recht, das Tri-
dentinum und das Staatsgesetz eine Null, die ersteren sagen das nicht, was
sie doch eigentlich sagen und das letztere ist totaliter unverbindlich für die
deutschen Bischöfe und Priester. Punktum! — Nun wer den Unfehlbarer
als die erste und letzte Instanz, als den einzig tonangebenden Factor in allen
seinen Verhältnissen, in allen Fragen des bürgerlichen und gesetzlichen Zu¬
sammenlebens anzusehen gewohnt ist, mit dem wollen wir weiter nicht rechten.
Den macht die Unfehlbarkeit einfach unnahbar und ineurabel. Das Gesetz
kennt eine solche Instanz nicht ; es ist sich selbst ro-tlo serixta,, die geschriebene
Vernunft: — für den Staat ist jener Factor in gesetzgeberischen Fragen
nicht vorhanden oder doch eine sehr ineommensurable Größe, mit der sich
vernünftigerweise nicht rechnen läßt: wenn das die gottgeordnete Verfassung
der Kirche ist, was diesem oder jenem Papste einmal einfällt, was er auf
Einflüsterungen einer allmächtigen Jesuiten - Partei in der Curie unfehlbar fest¬
setzen und entscheiden muß; wenn jedes Gesetz, welches langjährige Irrthümer
und Unzuträglichkeiten zu verbessern bestrebt ist, Mißbräuche, welche selbst von
dem Palladium der Kirche, dem canonischen Recht, als solche bezeichnet und
von frühern Kirchenfürsten getadelt und auf das Eifrigste verfolgt worden
sind, — wenn, sagen wir, ein solches Gesetz eben darum die gottgeordnete Ver¬
fassung der Kirche zerstören und im heiligen, unveräußerlichen Rechte verletzen
muß — nM, dann Ade Gesetzgebung, Logik und gesunde Vernunft für
In den ersten Sitzungen dieser Woche beendigte der Reichstag die zweite
oder Einzelberathung des Gesetzes über die Beurkundung des Personenstandes
und die Eheschließung. Der Verfolg dieser Berathung giebt jedoch keine Ver¬
anlassung, wiederholt auf den Gegenstand einzugehen. Nur die einzelne Aeuße¬
rung eines Redners heben wir hervor, die sich gar nicht unmittelbar auf den
zur Berathung stehenden Gesetzentwurf bezog. Der Abgeordnete Gras Fran¬
kenberg, Mitglied der frei-conservativen Partei, in Schlesien reichbegütert,
beklagte sich wegen der Überlastung der Standesbeamten seitens der Behörden
mit Geschäften, die nicht zum unmittelbaren Wirkungskreis der Standesbeamten
gehören. Graf Frankenberg ist selbst Standesbeamter und wußte den Uebel¬
stand aus eigener Erfahrung recht gut zu schildern. Namentlich machten die
Geldstrafen, welche die neue Vormundschaftsordnung bei unterlassener Todes¬
anzeigen in Aussicht nimmt, in der Schilderung eine stattliche Figur. Die
Ausführung des Redners konnte natürlich in dem Zusammenhange der Be¬
rathung, wo sie vorgebracht wurde, keine nähere Erörterung finden. Aehnliche
Klagen erschallen indeß von allen Enden. Darauf wollen wir die Bemerkung
nicht unterlassen, daß Gneist uns Deutschen beinahe seit 20 Jahren unermüd¬
lich gesagt hat, daß das gerade die Selbstverwaltung ist: Unbequeme Arbeit
mit strenger Verantwortung und unbehaglichen Strafen, namentlich an Geld.
Der Staatsdienst — und eine Form des Staatsdienstes ist die höchst un¬
passend sogenannte Selbstverwaltung — ist keine Sache, die man zum Ver¬
gnügen treiben kann, bei der man sich das Maß der Arbeit abmißt und ge«
räde nur soviel thut, als sich mit dem eignen Behagen verträgt. Eins von
beiden: entweder die Staatsarbeit wird nach wie vor nur von solchen gethan,
^e aus dem Beamtenthum einen ausschließlichen Beruf machen, oder wir
stellen aus den Reihen der Gesellschaft für einen gro.ßer Theil der Staats¬
arbeit freiwillige Beamte, welche sich ohne Entgeld periodisch ablösen. Wenn
K>ir das letztere thun, so werden wir die wohlthätigsten Folgen nach allen
Richtungen verspüren. Aber die freiwilligen Beamten müssen gerade soviel,
gerade so gut und unter derselben strengen Disciplin arbeiten, wie die An¬
gehörigen des ausschließlichen Beamtenberufs. Sonst richtet uns die Selbst¬
verwaltung zu Grunde, wie denn die ständische Verwaltung, die auch eine
Selbstverwaltung war, im 18. Jahrhundert wegen ihrer Entartung durch die
ausschließliche Staatsverwaltung beseitigt werden mußte. Das gelegentliche
Wehgeschrei solcher, die sich zum freiwilligen Beamtenthum gestellt haben,
über die unbequemen Anforderungen des Dienstes darf uns an dem Segen
der Institution nicht irre machen, noch weniger aber an der Nothwendigkeit,
die Strenge des Dienstes unnachsichtig aufrecht zu halten.
Das Gesetz über die Controle der Personen des Beurlaubtenstandes,
dessen Einzelberathung nach dem Gesetz über die bürgerliche Standesbuchfüh¬
rung vorgenommen wurde, können wir bei seinem technischen Charakter über¬
gehen. Ebenso die Berathung der Petitionen in Bezug auf den Eisenbahntarif.
Es handelt sich um die Frage, ob die Erhöhung der Eisenbahntarife, auf welche
das Reichskanzleramt im vorigen Jahr sehr widerstrebend eingegangen, schon
wieder rückgängig gemacht werden soll. Das Durcheinander der Interessen und
das planlose Hin- und Herschwanken der Maßregeln in dieser Frage ist nur da¬
durch zu lösen, daß der Eisenbahnbetrieb ausschließlich Staatssache wird. Wir
werden dahin kommen, weil wir müssen, aber es wird noch ein langwieriges
Zerren und Schwanken geben. Der Reichstag ist schließlich zu dem geliebten
Mittel gelangt, das immer sich darbietet, wenn kein richtiger Entschluß zu
finden ist, nämlich eine Untersuchung oder, wie unser parlamentarischer Sprach¬
gebrauch unnöthigerweise sagt, eine Enquete zu veranlassen. — In derselben
Sitzung wurde von Mitgliedern aus Posen auch die polnische Sprachenfrage
vor den Reichstag gebracht, die doch höchstens vor den preußischen Landtag
gehört. Vermuthlich hatten die Antragsteller auf die Unterstützung des im
Reichstag so zahlreichen Centrums gerechnet, die ihnen auch nicht fehlte, ohne
jedoch ihrem Antrag die Mehrheit zu verschaffen.
Die Sitzung vom 21. Januar beschäftigte sich mit Wahlprüfungen, deren
Verlauf nur immer wieder die Nothwendigkeit einschärft, die Prüfung der
Wahlen einem unbeteiligten Gerichtshof, aber nicht der betheiligten parla¬
mentarischen Körperschaft zu übertragen. Die Parlamente gelangen aus sich
niemals dazu, eine constante Regel zu bilden für die Qualificirung der Wahl¬
vorgänge. Diesmal wurde eine Wahl für ungültig erklärt, weil der Wahl-
commissar eine Anzahl Zettel kassirt hatte, die äußere Merkmale gehabt.
Das ist nun allerdings ein Begriff, über den man bis in die Ewigkeit strei¬
ten kann. Bei anderen Gelegenheiten zeigt sich der Reichstag sehr empfindlich
gegen den Gebrauch solcher Zettel; diesmal wollte man es nicht, obwohl der
Abgeordnete Gneist sehr ruhig bemerkte, auf dem heutigen Wege würde man
dazu kommen, von Zetteln, die man auf Schußweite erkennen kann, zu sagen,
sie tragen kein äußeres Merkmal. Die ganze Zettelfrage, die nach zufälligen
Stimmungen bei der einen Wahl so, bei der andern so entschieden wird, läßt sich
allerdings auf vernünftige Weise überhaupt nicht entscheiden. Die vernünftige
Lösung des ganzen Problems liegt in der Beseitigung der geheimen Wahl, zu
welcher uns vielleicht der alljährige Schulze'sche Diätenantrag mit der Zeit verhilft.
Die Sitzung vom 22. Januar beschäftigte sich mit Rechnungsprüfungen
und mit der Schlußberathung über das Landsturmgesetz, das nach den Be¬
schlüssen der zweiten Lesung in namentlicher Abstimmung mit 198 gegen 84
Stimmen angenommen wurde. So hat denn das deutsche Volk durch seine
Vertretung mit großer Majorität erklärt, daß es Alles thun will, die unab¬
hängige Bestimmung über seine Geschicke, die ihm die Kämpfe von 1866 und
1870 endlich gegeben, zu behaupten. Wenn bei dieser Gelegenheit Herr
Liebknecht einen Versuch machte, den Reichstag durch die gewohnten Insulten
in der Berathung zu stören, so hatte dies kaum noch den Erfolg, einige Auf¬
regungen hervorzurufen. Man kennt die Absicht und ist eben deshalb nicht
verstimmt. Der Herr wird seine Methode, wenn er sie nicht einstellen will,
so steigern müssen, daß er den Reichstag zur Aufstellung bisher nicht in Be¬
reitschaft gestellter Schutzmittel nöthigt.
In derselben Sitzung genehmigte der Reichstag den Ankauf der Radzi-
will'schen Grundstücke in der Wilhelmstraße für Reichszwecke. Es war sehr
erfreulich, daß der Reichstag sich nicht stören ließ durch die Denunziation
eines mißvergnügten Agenten, welchem, wie es scheint, die Provision für den
seinerseits nicht bewirkten Kauf entgangen. Der Denunziant wollte insinüiren,
daß die Verkäufer durch betrügerische Vorspiegelung hoher Kaufgebote den
vom Reichstag anzunehmenden Kaufpreis erlangt hätten. Es war aber bei
den Verhandlungen, die zum wirklichen Abschluß geführt haben, gar kein
Kaufgebot namhaft gemacht worden, wie der Präsident des Reichskanzler¬
amtes bezeugte. Es war vielmehr ein recht unangebrachter Eifer, Allem was in
der Welt vorgeht, bei jeder beliebigen Gelegenheit auf den Grund zu kommen,
wenn einige Mitglieder, darunter auch Laster, die Angaben des Denunzianten
durch eine Commission prüfen lassen wollten.
In der Sitzung vom 23. Januar wurde ein Gesetz über die Erweiterung
der Umwallung von Straßburg an die Budgeteommission verwiesen, und das
Gesetz über Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung in dritter
Berathung zu Ende geführt, die definitive Abstimmung jedoch noch verschoben,
weil bei der dritten Berathung einige Aenderungen Annahme gefunden. ')
Die beiden Häuser des preußischen Landtags haben ihre Präsidien con-
stituirt. Das des Abgeordnetenhauses besteht aus Bennigsen, Löwe, Bethusy-
Huc, das des Herrenhauses aus Graf Stolberg, von Bernuth und Hasselbach.
In der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 19. Januar legte der Finanz¬
minister den Staatshaushalt für 1873 vor. Der sehr interessante, die Ergeb¬
nisse zusammenfassende Einleitungsvortrag wird uns bei der Berathung des
Staatshaushaltes wiederholt Anlaß zur Besprechung geben.
In der Sitzung des Herrenhauses vom 22. Januar kamen ähnliche Be¬
schwerden, wie die des Grafen Frankenberg im Reichstag, über die Mühselig¬
keiten der Selbstverwaltung vor. Diesmal waren .es die Amtsvorsteher, über
deren Ueberbürdung und Arbeitslast verschiedene Herren klagten. Wir haben
nur zu wiederholen, was wir bei dem Vordringen derselben Beschwerde im
Es mehren sich die Zeichen, daß im Schooße des französischen Radikalis¬
mus die Revanchegedanken gegen Deutschland verblassen, um einem unwill¬
kürlichen Gefühl der Sympathie für dasselbe in seinem Kampf gegen den
Ultramontanismus Platz zu machen. So hat sich, während die gemäßigt re¬
publikanischen Blätter, wie die „Debats" und der „Temps", welche im Herzens¬
grund eigentlich orleanistisch sind und dies gegebenen Falls auch wieder offen
sein werden, so hat sich, sage ich, während diese „liberalen" Blätter nach wie
vor von der Kirchenverfolgung in Preußen reden, das Hauptorgan der radi¬
kalen Republikaner, die „Il,6MoIiqus trany." des Herrn Gambetta, in letzter Zeit
ganz entschieden dem richtigen Verständniß der Streitfrage zugeneigt. Aeußer-
lich knüpfte diese Umwandlung an das Gefecht an, welches zwischen Challesnel-
la-lacour und dem Bischof von Orleans in der Nationalversammlung über
die „Unterrichtsfreiheit" geliefert wurde. Dann bot sich Gelegenheit, an dem
Beispiel Belgiens die Gefahr zu zeigen, welche dem Staat erwachse, sobald er
die Kirche „frei" lasse. Ein Schritt weiter, und man konnte den nationalen
Gesinnungsgenossen in der Schweiz nur Recht geben, daß sie so kräftig gegen
die Klerikalen vorgingen, und endlich noch der letzte saure Schritt, man mußte,
hier und dort, zuerst indirect, zuletzt aber auch offen zugeben, daß Deutschland
in diesem Kampf ebenso in seinem Recht sei und deshalb allen Anspruch auf
den Neid des liberalen Frankreichs habe. Dieser letzte Gedanke, welchen aufzu-
sprechen einem Franzosen von heute außerordentlich schwer werden muß, erscheint
in der Rep. franc., echt französisch, in der melancholisch-stolzen Einkleidung,
daß eben Deutschland leider in der glücklichen Lage sei, hierin die Rolle
zu spielen, welche von Gott und Rechts wegen eigentlich Frankreich gebührte.
Wären unsere großdeutschen „Demokraten", welche in der „Franks. Zeitung",
im Stuttgarter „Beobachter" und anderen Blättern die Freiheit besingen, die
sie meinen, aber nicht verstehen, wirklich politische Köpfe, so würden sie aus
dieser Bekehrung ihrer französischen Gesinnungsgenossen unendlich viel lernen.
Aber wie die Sachen einmal liegen und noch auf länger hinaus liegen wer¬
den, könnte man ohne Weiteres den kirchenpolitischen Artikel der blauen „De-
bats" in die rothe „Frankfurterin" und die der rothen „Roy. franc." in das
nächste deutsche nationalliberale Blatt setzen, ohne daß Jemand den fremden
Ursprung entdeckte. Dabei ist zu betonen, daß wir nicht den internationalen,
communistisch gefärbten Radicalismus Frankreichs im Auge haben, sondern
den gut französisch gesinnten Republikanismus, an dessen Vaterlandsliebe
sich die deutsche Demokratie der „Volkspartei" allerdings auch ein Beispiel
nehmen könnte.
Aber mehr noch, als in der radicalen französischen Tagespresse diese ver¬
nünftige, ja sympathische Beurtheilung des deutschen Kirchenstreites zum Aus¬
druck kommt, spiegelt sich der vollzogene Umschwung in der republikanischen
Broschüreliteratur ab. Die „?rvxagaväv rexudliea.me" bezw. die volksthüm-
lich gehaltenen Schriften, welche mit dieser Aufschrift namentlich bei Andre'
Sagnier in Paris erscheinen, haben allerdings der Fluth bonapartistischev
und klerikaler Flugschriften gegenüber einen harten Stand, aber die Ent¬
schiedenheit auch ihrer Sprache läßt nichts zu wünschen übrig. Es ist gleich¬
sam ein Parteikampf auf Tod und Leben, in welchem die letzten Waffen
aus den beiderseitigen Arsenälen herbeigeschafft werden ohne Sorge, ob daraus
der Gegner sich wieder neue Waffen der Verdächtigung und gehässiger Verun¬
glimpfung Schmiede.
Auf eine radicale Flugschrift dieser Art wurden wir ohnlängst in unserem
Leibblatt, dem „Univers" des Herrn Louis Veuillot, aufmerksam gemacht.
In die Augen springend prangte da über einem Artikel die Ueberschrift „Uorei
ü. QuiUaume!" und von entrüsteten Ausrufungszeichen begleitet folgten dann
einige Stellen aus einer bei Sagnier erschienenen Broschüre, in welcher ein Ka¬
pitel diese patriotisch - blasphemische Ueberschrift trage.
Meine Neugierde war geweckt. Ich ging in die Buchhandlung, kaufte
die Flugschrift und las sie „auf Einem Sitze" durch. Sie trägt den Titel:
(?roMMnSs rSxublieaimz.) Veuillotisme et Is, Religion pai-
Lelnpronius» und kostet 20 Centimes. Wer 100 Stück nimmt, bekommt
sie zu 13 Fr., wer 600, bezw. 1000 nimmt, erhält das Hundert zu 12, bezw.
10 Fr. Als Motto trägt das erste Kapitel „1.0 Vcmillotiömv" das interessante
Wort L. Veuillot's in seinen „?616riimFvs av Luisss": „Ich für meine Person
gestehe offen, daß ich es bedaure, daß man Johannes Huß nicht früher und
Luthern überhaupt nicht verbrannt hat, daß sich kein Fürst fand, der fromm
und politisch genug gewesen ist, einen Kreuzzug gegen die Protestanten zu
unternehmen."
Das Urtheil, welches die Flugschrift — ihr Verfasser ist ein Herr Eduard
de Pompery, Bruder des radicalen Abgeordneten, der schon mehrfach unter
dem angenommenen Namen Sempronius geschrieben hat — das Urtheil,
welches die Flugschrift über diesen liebevollen Christen , dem die Kirchenge¬
schichte zu wenig Bluthochzeiten hervorgebracht hat, und über diese Art von
Christenthum fällt, können wir füglich bei Seite lassen. Auch die weitern
Kapitel, welche sich kaum über das Niveau leichter Freidenkerei nach freige¬
meindlicher Art erheben, sind kaum des Lesens, geschweige einer Uebersetzung
werth. Was uns interessirt. ist lediglich das letzte Kapitel mit jener über¬
raschenden Ueberschrift, die den „Univers" mit der höchsten Entrüstung er¬
füllt hat. Denn der Inhalt ist nicht weniger überraschend, als die Ueber¬
schrift, und man staunt, daß sich ein Franzose mit diesem Gedanken, wenn
ihn auch viele schon lange im Geheimen hegen mögen, an die Oeffentlichkeit
gewagt hat. Das deutet jedenfalls auf das Vorhandensein einer gewissen
Empfänglichkeit wenigstens in radicalen Kreisen, welche man vom deutschen
und liberalen Standpunkt nur mit Freude begrüßen kann.
Das vorletzte Kapitel VMgion« schließt mit folgendem Resume': „Die
Frage wird mehr und mehr einfach: der Katholicismus — so sagt der
radicale Sempronius durchweg für Ultramontanismus — bedeutet Herab¬
würdigung, charakterisirt und hervorgebracht durch das, was man Unter¬
werfung nennt, d. h. Abdankung der Vernunft, Erwürgung des Gewissens,
moralische Sclaverei, das Vorspiel jeder anderen; der Protestantismus
dagegen bedeutet Fortschritt durch Befreiung des Geistes, durch Erweckung des
Gewissens und das Gefühl persönlicher Verantwortlichkeit, die Vorbedingung
aller anderen Freiheiten. Es gilt zu wählen!" —
Dann folgt das Kapitel: „Nerei ü. Suillaume!" Es lautet in wört¬
licher Uebersetzung:
„Mit Veuillot haben wir begonnen, mit Wilhelm endigen wir. Dank
Dir, Wilhelm von Hohenzollern! Nicht als ob ich Deine Hand berühren wollte.
Sie ist befleckt vom Herzblut eines Volkes! Aber Du bist ein großer Revo¬
lutionär, ohne es zu wissen und zu wollen! Trotz Deiner Frömmigkeit und
Deines Pietismus ist Dein Schwert protestantisch und im Namen des Pro¬
testantismus trifft es! das ist viel. Es gab in Oesterreich eine apostolische
Majestät, die älteste und ergebenste Bundesgenossin des Papstes. Du berührst
sie mit gutem Streich, und sofort zerbricht Oesterreich die Kette des letzten
Concordats, das es an Rom band fester als selbst Spanien. Man jagt die
Jesuiten aus Wien und die frommen Habsburger müssen sich bei Gefahr
ihrer Krone von der Schwelle abwenden, wo der Ursprung aller Knechtschaft
ist. Und in Deinem letzten Krieg, in welchem der Herr der Heerschaaren Deine
Waffen so sichtlich beschützt hat. hast Du aufs Neue die lateinischen Racen
heimgesucht, welche unter dem dichten Schatten des römischen Giftbaumes
dahinwelken. Dank darum, Wilhelm, Deiner Hand, die blutig ist wie die
Macbeths! (I!) — Der Mann von Sedan war nicht nur ein Cäsar vom
reinsten Wasser, sondern hatte auch die Ehre, Kanonikus von Se. Johann
im Lateran und Gevatter des Papstes zu sein, welcher der Pathe seines
Sohnes war. Auch hat sich die Kirche Frankreichs unter seiner ruhmreichen
Regierung merkwürdig umgestaltet. Unter Ludwig XIV. war unsere Kirche
cMikanisch, sie war es noch unter Karl X., denn 53 Bischöfe, der Erzbischof
von Paris an der Spitze, erneuerten im Jahr 1827 die Bossuet'schen Deklara¬
tionen von 1682. Aber für unsere heutigen Ultramontanen ist Bossuet ein
ganz tief stehender Geist, nichts als ein Freidenker, das heißt, wie Veuillot
sich so glücklich ausdrückt, gerade so viel werth „wie eine Rübe". — Gewiß
der Mann von Sedan war nicht tugendhaft, das bedarf keines Beweises,
aber er war gut katholisch und arbeitete mit Bewußtsein am Vortheil der
Kirche wie am Gedeihen seiner Dynastie. Unter seiner gesegneten Regierung
war die Kirche die streitende und die triumphirende zumal. Die religiösen
Genossenschaften sahen ihre Zahl und ihre Reichthümer sich verdreifachen.
Cardinäle, Senatoren, Großalmoseniers, Domherren von Se. Denis, Mönche
jeder Farbe wimmelten um den Thron, ihn mit ihren „ol-emus" überschüttend
und mit Weihwasser besprengend, dessen er so bedürftig war! Dieser heilige
Bund des Kaisers und des Papstes flößte der Kirche unerhörte Kühnheit ein.
Der ehrbare Pius IX. verfaßte den Syllabus, raubte den kleinen Mortara
trotz der Einsprache Europas, berief ein ökumenisches Concil, auf welchem
ungeachtet scandalöser, kaum unterdrückter Debatten die Unfehlbarkeit des
Statthalters Christi ausgerufen wurde. Zur Einleitung von dem Allen hatten
die Jesuiten, welche sich auf Wunder verstehen — denn das ist ein vortreff¬
liches Mittel der Verdummung — die Heiligsprechung der Maria Alacoque
und Benoit Ladre durchgesetzt. Die Wunder vervielfältigten sich: das von
Lourdes, von Salette u. s. w. Man glaubte endlich den rechten Augenblick
gekommen, um das Dogma von der unbefleckten Empfängniß aufzustellen.
Niemals war, das sprang in die Augen, der Glaube lebendiger und
blühender. Das Mittelalter begann neu zu erstehen und schon ließen sich die
Senatoren, in den Spuren der alten Sorbonne wandelnd, herbei, den Ge¬
lehrten und Naturforschern vorzuschreiben, was zu entdecken erlaubt sei und
wo sie ihrem Secirmesser und Mikroskop Halt gebieten müßten. Aber da
erschienst Du, o Wilhelm! Mit einem Streich Deines Schwertes trafst
Du schwer das apostolische Oesterreich und mit einem anderen warfst Du den
Mann Dir zu Füßen, welcher die Rolle der allerchristlichsten Könige spielte!
Der Protestantismus triumphirt und die Kirche sieht sich auf den Vatican
beschränkt. Darin liegt ein Grund sich zu trösten, und ich habe es nöthig,
mir diesen Trost nicht entgehen zu lassen. Was man auch sei, Lutheraner,
Calvinist, Methodist, Puritaner, Presbyterianer. es liegt nichts daran! Man
protestirt, man empört sich gegen die Sklaverei der Vernunft, gegen die Un¬
terwerfung unter einen Menschen! Der Protestantismus hat uns die ersten
Schritte zur Freiheit gelehrt, die Erlösung des Gedankens und des Gewissens.
Das ist sein großes Werk. Die einzelnen Verschiedenheiten des Dogmas und
des Cultus sind ohne Bedeutung. Alte Weiber und verdrehte Köpfe, Dok¬
toren und Sylbenstecher mögen sich damit beschäftigen. Der Protestant glaubt
der frei von ihm ausgelegten Bibel. Darauf kommt es an, denn dadurch
allein ist er frei und von nichts abhängig, als von seinem Gewissen. Sicher¬
lich wäre es noch besser, nur die Wissenschaft für heilig zu halten und die
religiösen Legenden der Juden und Jndier für nicht mehr zu nehmen, als sie
sind. Aber der Protestant ist doch sein eigner Herr und hängt von keinem
Menschen ab. Mit seiner Bibel auf dem Sattel reist er bis ans Ende der
Welt, ohne sich um einen Gewissensberather oder den römischen Papst zu
bekümmern. Ganz anders der unglückliche Katholik. Seine Sclaveret ist
vollständig. Er kann weder denken noch handeln ohne Erlaubniß des Priesters.
Er weiß, ob er gut oder schlecht verfährt, erst wenn es der Priester ihm sagt.
Er kann selbst die Bibel nur mit geistlicher Erlaubniß lesen und erst des
Priesters Wort bürgt ihm für das richtige Verständniß des Gelesenen. Seine
Unterwerfung soll unbedingt sein. Die Vernunft soll er abdanken und die
Interessen seines Gewissens in die Hände desjenigen legen, der die Macht
hat, zu binden und zu lösen. Er muß nothwendig verdummen, sogar der
unsterbliche Pascal hat nach diesem Ziele gestrebt. Der Katholik soll in den
Händen der Kirche und des Papstes sicut baculus, wie ein Stab sein, oder
wie die Institutionen der Jesuiten sagen, sicut eaäavor, wie ein Leichnam.
Das ist die katholische Vollkommenheit. Und darum eben, oWilhelm,
danke ich Dir für die schreckliche Lehre, die Du den lateinischen
Racen gegeben hast!"--
Es ist interessant, wahrzunehmen, wie sich hier die extremen Anschauun¬
gen der Zeitgeschichte, die ultramontane und radicale, in der Vorschiebung
der confessionellen Seite der neuesten europäischen Umwälzung begegnen. Beide
sehen in Kaiser Wilhelm gleichsam nur einen neuen Gustav-Adolph. Davon,
daß Deutschland nach wie vor das klassische Land der „Parität" sein wird,
haben sie keine Ahnung. Sie kennen nur das aut-aut, entweder „päpstlich"
oder „lutherisch". Darum schauen unsere Ultramontanen, so sehr sie's leug¬
nen . immer hoffend nach dem katholischen Frankreich. und ebenso werden die
Augen der französischen Radicalen, so wenig sie es werden zugeben wollen,
mehr und mehr nach dem liberalen Deutschland als dem Land ihres Heiles
gerichtet werden. So kann es allmählich geschehen, daß deutsche Ultramontane
und französische Radikale einander Schach bieten und dadurch eben die Ge¬
fahr eines zweiten Krieges zwischen beiden Völkern wesentlich gemindert wird.
Uns will scheinen, daß'auch die angeführte Broschüre die Richtigkeit der An¬
schauung bestätigt, welche die Befestigung der Republik in Frankreich als für
Deutschland vor'rheilhaft erachtet. Graf Arnim war für den roi des Herrn
Veuillot. der deutsche Reichskanzler dagegen ist der Meinung, daß die Repu¬
blik des Herrn Sempronius im deutschen Interesse vorzuziehen sei. Das „neret
^ tiuMimmo" dürfte trotz der „blutigen Hände" und der Vergleichung mit
..Macbeth". — zwei Redewendungen, die augenscheinlich nur zur Verschlei¬
erung der ungeheuren nationalen Ketzerei der Flugschrift dienen sollen —
"und'dem „Conservativsten" hinreichend beweisen, daß Fürst Bismarck Recht
hat
Herr Ludwig Walesrode in Stuttgart benutzt einen Theil der ihm, wie
^ scheint, besonders reichlich zugemessenen freien Zeit, dazu, uns immer von
"enen mit seiner Persönlichkeit zu behelligen, aus Anlaß eines Artikels ..Aus
Schwaben," welcher in Ur. 32 der Grenzboten vom 7. August 1874 ent¬
halten war.
Dieser Artikel beschäftigte sich, mit der (um im Jargon des Stuttgarter
„Beobachters" zu sprechen) „Affaire" v. Bernus-Hausmann. Unser Schwä¬
bischer «-Korrespondent schrieb hierüber damals: „Bedurfte es übrigens noch
einer weiteren Qualifikation unserer Volkspartei, so dient wohl hierzu am
festen die neuerdings von dem Frankfurter Senator v. Bernus .... gegen
Julius Hausmann und Gen. bei dem Kreisgericht Stuttgart erhobene
^wilklage. Bernus erklärt (gegenüber dem frechen Dementi in Ur. 204 der
frankfurter Zeitung v. 23. Juli' citiren wir den Wortlaut der Klage des Herrn
Bernus!), obgleich er niemals der demokratischen Partei angehört, have er
"es seit 1866 für deren Bestrebungen interessirt. . . . Im Jahre 1867 habe
^ der demokratischen Correspondenz des Dr. Frese Geldbeiträge für dieses
Unternehmen angeboten. Frese, welchem von anderer Seite" (Hietzing?)
'-reichliche Mittel zur Verfügung gestellt worden, habe dieselben jedoch abgelehnt.
Zugleich «her die Bitte an Bernus gerichtet, derselbe möge den Herren
Julius Hausmann und Carl Mayer in Stuttgart zur Verwendung
tur deren politische Parteizwecke Gelder zufließen lassen. Dieser Bitte
entsprechend, habe Bernus an Hausmann unter der ausdrücklichen Be¬
engung der Rechnungslegung im Jahre 1867 1500 Gulden bezahlt. . . .
Aergebens habe sich Bernus seither um Rechnungsablegung an die HH. Frese.
^atesrode, Carl Mayer. Niethammer und andere Stuttgarter Demokraten
s!' >« - ^ ^' ""d verlange deßhalb nunmehr auf gerichtlichem Weg eine
Ipezisicirte, mit gehörigen Belegen versehene Aufstellung über die den Betr.
anvertrauten und von diesen 1867 — 70 für die Zwecke der demokratischen
Partei in Württemberg verausgabten Gelder." So unser Korrespondent am
7. August 1874.
Ende August 1874 sandte uns Herr Ludwig Walesrode seine »Berichtigung
nach dem Gesetz" zu, welche mit dem Gesetz nichts zu thun hatte und daher
diesseits weder aufgenommen noch einer Antwort gewürdigt wurde. Der
Redacteur dieser Blätter begnügte sich, in Ur. 37 vom 11. September 1874
(der nächsten druckfreien Nummer nach Empfang der sogenannten Berichtigung)
zu erklären, daß Herr Walesrode in der vorerwähnten Correspondenz „nur
als einer der Vermittler erwähnt sei, an die Herr v. Bernus sich gewandt, um
bet Herrn Hausmann die Erlangung einer Abrechnung zu erwirken über die¬
jenigen 1600 si., die Herr von Bernus Herrn Haufen ann zu Zwecken der
demokratischen Partei in Württemberg anvertraut hatte, und daß unser Korre¬
spondent Herrn Walesrode mit keinem Worte „eine rechtliche und moralische
Solidarität mit Herrn Hausmann" angedichtet habe." Diese Erklärung
genügte Herrn Walesrode nicht. Er erhob einen Preßprozeß gegen uns auf
Grund des § 17 des Preßgesetzes wegen verweigerter Aufnahme seiner soge¬
nannten „Berichtigung" und wurde — in zwei Instanzen rechtskräftig abgewiesen.
Fast gleichzeitig mit diesem Preßprozeß erhob Herr Walesrode wegen der¬
selben Correspondenz auch eine Injurienklage gegen uns, die d. Z. noch schwebt.
Nachdem aber der Preßprozeß für Herrn Walesrode verloren, und die erste
„Berichtigung nach dem Gesetz" als nicht gesetzliche rechtskräftig festgestellt
war, erhielten wir am 17. d. M. wegen desselben Artikels von Herrn
Walesrode abermals eine „Berichtigung", die aus andern Gründen, z.
wegen mangelnder Unterschrift und mangelnder Thatsächlichkeit ihres Inhaltes
u. f. w. von uns abermals abgelehnt wurde/) Wir haben nun unzweifelhaft
einem dritten Prozeß entgegenzusehen, obwohl wir alles dasjenige, was Herr
Walesrode von uns ex aequo et bono „berichtigt" oder besser erklärt ver¬
langen konnte, bereits am 11. September 1874 erklärt haben und heute noch¬
mals erklären:
Wir und unser Korrespondent haben nie behauptet und behaupten können,
daß Herr Walesrode von v. Bernus Gelder empfangen und verwendet habe,
daß er von v. Bernus auf Rückzahlung belangt worden sei, daß er — wie
er sich in seiner neuesten sog. „Berichtigung" ausdrückt „als ein am Processe
Bernus-Hausmann direct Betheiligter hingestellt worden sei." Das steht
nicht in der oben wiederholt citirten Correspondenz, in der übrigens, wie
hiermit gleichfalls constatirt und bezw. berichtigt wird, die Worte: „und Ge¬
nossen"/,, den Betreffenden", ..von diesen verausgabten Gelder" — die wir
oben durch Sperrsatz hervorhoben — dem Wortlaut der wirklichen Klage,
(deren vermeintlichen Wortlaut unser Korrespondent einer fübt. Zeitung ent¬
nahm) nicht entsprechen, wie unsere und unseres Correspondenten Erörterungen
ergeben haben. Allein auch unter diesen „Genossen" konnte sich der Leser Herrn
Walesrode schlechterdings nicht denken, da die Personen, denen die Gelder
wirklich anvertraut worden, in der Correspondenz genannt waren und unter
diesen Herr Walesrode nicht stand, sondern Herr Walesrode überhaupt nur
genannt war in der für ihn durchaus ehrenhaften Beziehung eines von H^rü
v. Bernus zur Vermittlung eines Vergleiches angerufenen Vertrauensmannes,
als welcher er auch nur in der Klage selbst erwähnt ist.
Karl Freiherr Haller von Hallerstein, berühmt durch seine
Forschungen in Griechenland und seine Entdeckung der Giebelstatue vom
Tempel zuAegina und der Reliefs vom Tempel zu Phigalia.
Abhörte einer alten, angesehenen Nürnberger Patrizier-Familie an. Er wurde
am 10. Juni des Jahres 1774 auf dem Schlosse des Nürnbergischen Markt¬
fleckens Hilpoltstein als zweiter Sohn von Karl Joachim Haller v. Haller¬
stein, Major und Pfleger der Reichsstadt Nürnberg, und seiner Gemahlin
Luise, geborene im Hof, — geboren. Seine Jugend verlebte er in Graefen-
verg. Im Alter von vierzehn Jahren kam er an den Hof des Fürsten Ludwig
von Nassau-Saarbrücken, wo er drei Jahre lang Pagendienste leistete, dann
als Fähnrich in ein Regiment eintrat und bald darauf zum Lieutenant be¬
fördert wurde. Da Haller besondere Liebe zur Baukunst zeigte, sandte der
Fürst ihn auf eigene Kosten auf die Carls - Akademie zu Stuttgart, um da¬
selbst die Architektur zu studiren. Nach dem Tode des Fürsten ging er dann
nach Berlin, wo er unter Leitung des Oberbaurath Gilly seine Studien
fortsetzte.
Im Jahre 1806 wurde Haller als Königl. Bayrischer Bau-Inspek¬
tor in Nürnberg angestellt, und mußte hier, als eine seiner ersten Amts¬
handlungen den Abbruch des durch die Bayrische Regierung als altes Metall
verkauften, im großen Saale des Rathhauses befindlichen, prachtvollen messin¬
genen Gitters von Peter Bischer — des bedeutendsten Werkes der deutschen
Frührenaissance, jetzt leider verschollen — leiten. Als Architekt führte er die
noch bestehende Faxade eines Hauses in der Theresienstraße, die Facade des
^estelmayerschen Hauses in der Königstraße (jetzt Gewerbe-Museum und seit
Kurzem völlig umgebaut) uno den Umbau des großen Hauses der Museums-
Gesellschaft ebenfalls in der Königstraße aus. Auch entwarf er mehrere Decora-
tionen für das Nürnberger Stadttheater, von welcher er eine, beim Namens¬
feste der Königin, am 18. Juni 1807 benutzte, auch selbst in Kupfer radirte.
Der Styl seiner Arbeiten, aus welchen ein großes Talent hervorleuchtet, hat
viel Aehnlichkeit mit dem der ältern Arbeiten des großen Schinkel, welcher
Haller's Studiengenosse in Berlin war.
Ohne Rast nach weiterer Vollendung in seiner Kunst strebend, begab sich
Haller am Anfang des Jahres 1808, mit Urlaub, unter Fortbezug seines
Gehaltes von 600 Gulden, auf eine große Studien-Reise durch Italien
und Griechenland, von welcher er nicht mehr zurückkehren sollte, da er
am S. November des Jahres 1817 zu Ambelakia, einem kleinen Orte am
Fuße des Olymp in Thessalien starb, wohin ihn ein Pascha berufen hatte,
um den Bau einer Brücke zu leiten.
Haller war während seiner in Gemeinschaft mit Stackelberg, Brönd-
sted, Koch, Linckh, Cockwell und Foft er unternommenen Studien- und
Forschungsreise überaus fleißig. — Er hat mit höchster Sorgfalt eine sehr
große Anzahl meist vortrefflicher Zeichnungen verschiedenster Art und sehr
viele schriftliche Aufzeichnungen gemacht, die er später vielleicht in einem be¬
besondern Werke publiciren wollte, was jedoch durch seinen frühen Tod ver¬
hindert wurde. Sein Nachlaß ist für die Wissenschaft von großem Werthe,
weil Haller und seine Genossen eigentlich die Ersten waren, welche Griechen¬
land im Sinne der modernen Archäologen, in umfassender und sehr gründ¬
licher Weise durchforscht haben und weil diese Durchforschung vor den Be¬
freiungskriegen, in denen natürlich viele Denkmäler zerstört worden sind, aus¬
geführt wurde.
Ueber diese Forschungsreise besitzen wir nur drei Werke*), welche jedoch
keineswegs alle Resultate dieser Reise enthalten. Speziell über Haller's, wohl
des Bedeutendsten unter seinen Reisegenossen, Erlebnisse und aus seinem Nach¬
lasse, der lange Zeit als verschollen galt, ist bis jetzt noch nichts publicirt
worden. Da der gesammte künstlerische und literarische Nachlaß**) Haller's
kürzlich von dem Unterzeichneten käuflich erworben wurde, soll daraus nun
nach und nach das bisher Unbekannte publicirt werden. Ich beginne hier
mit der Mittheilung einer Beschreibung von Haller's Reise, in der Form eines
von Haller selbst an seinen jüngern Bruder Friedrich, später Major in Kgl-
Preußischen Diensten, gerichteten Briefes.
Porto Se. Joh-unis auf der Insel Tino im Archipelagus,
am Bord des Schiffes, d. -!0. Oct. 1814.
„Ich hatte in meinem leztern Brief an Dich aus Rom, die Frage auf¬
geworfen, ob es nicht besser für Dich sei, den Soldatenstand zu verlassen.
Meine Sorge um Dich und für Dein zeitliches Wohl hatte mich dazu
veranlaßt; ich hätte es aber nicht thun sollen, denn der Mann muß seinem Beruf
treu bleiben, zu dem er sich aus guten Grundsätzen bereitet, und ihn das
liebende Geschick das vom Himmel kommt, den Weg geführt hat. Ich schätze
Dich guter Bruder, den ich vou jeher und immerfort unwandelbar innig
liebte, darum sehr hoch, daß Du bei so vielen widrigen Begegnissen Deinem
Stande treu geblieben bist. Dein mir immer bekannter Heldensinn schwebte
mir als ein Muster vor, wenn Gefahr und Unfälle meinen Geist durch
Bangigkeit fesseln wollten. Ich habe jene als eine Schule kennen lernen, in
die Gott den Menschen aus großer Vaterliebe führt.
Wissend daß Du mich liebst, schlage ich Dir einen Austausch unserer
Persönlichen Geschichte, seitdem wir uns das letztemal trennten, vor, und gebe
Dir die Meinige in einem summarischen Abriß zum voraus.
Die nehmlichen Gefühle der Liebe begleiten das Andenken des Augen¬
blickes , wo in der Nacht am Postwagen zu Sulzbach ich mich aus Deinen
Armen reißen mußte, und ich mich nun auch von Dir, der mich so liebevoll
bis dahin begleitete, verlassen sah. Ich kam nach München mit vielen guten
Empfehlungen, die mir aber weniger zuwegebrachten, als ich gehofft hatte.'
Man betrachtete mich als Bittenden, wo ich doch nur das mir Gebührende
verlangte. Ich glaube, daß ich viel die Schuld mir selbst zuzuschreiben habe,
da ich mit zu wenigem Selbstvertrauen und mit einer falsch geleiteten Be¬
scheidenheit, die aus Mangel an jenem, Aengstlichkeit begleitete, mich den
Menschen näherte, die unter diesem Gewand nur den lästigen bittenden ahnen
mochten. Meine Vorstellung bei dem König, der Königin, dem Kronprinzen,
blieb daher nur eine leere Ceremonie. Zu den angenehmen Bekanntschaften, die
ich zu München machte, gehört die mit der Familie des Baron Lütgendorfs,
in welcher ich eine sehr gastfreundliche Aufnahme gefunden hatte, wofür ich
ihr dankbar bleibe.
Nach ein paar Monaten für meine Geschäfte fruchtlosen Aufenthalts zu
München, setzte ich meine Reise weiter fort. Es hatte einen großen Kampf
gekostet zu entscheiden was unter solchen Umständen räthlicher war zu thun,
ob nach Nürnberg zurück — oder weiter vorwärts zu gehen, dazu kamen
noch die Ermahnungen des l. s. Kiefhabers und des l. Bruders Christoph,
die für Ersteres waren; doch die große Begierde nach Italien und ein immer
vorwaltender Hang sich durch Hindernisse nicht sogleich abschrecken zu lassen
ließ mich muthvoll den Bündel auf den Rücken nehmen, und meine Schritte
Zu Fuße, Tyrol zu lenken. Ein Landshuter Student, leichtsinnig, aber
sehr gutmüthig, war mein Begleiter. Ich kam mit ihm recht gut und glücklich
nach Riva am Lago ti Garda. wo ich den armen Jungen bey Freunden
zurücklief. Meine Reise durch Tyrol hatte mit jedem Schritte vorwärts, mehr
Reiz für mich, und ich kann Dir nicht nennen mit welchen Gefühlen ich über
den Lago ti Garda schiffend, in Italien einging. Verona, die erste von
mir besuchte Stadt dieses paradiesischen Landes, bot mir so viel Neuheit dar,
daß ich gar nicht verdrießlich war, auf meinen Koffer, der dahin spedirt werden
sollte, bei 14. Tage lange warten zu müssen, doch meine Freude wurde ge¬
waltig gestört, als die Nachricht kam, daß er bei Trident durch Räuber aus¬
geleert worden war. Ich kehrte dorthin zurück, um mit Hülfe der Gerichte
das Verlorne wieder zu erhalten; allein alles war vergeblich, und ich fand
es für klüger, meine Reise weiter fortzusetzen, anstatt durch ungewisses Proces¬
siren, an Zeit und Geld meinen Verlust nur noch empfindlicher zu machen.
Hiermit nahm mein bischen äußerer Glanz sein Ende, denn von meinen
militärischen Ehrenzeichen war mir nichts als mein Säbel geblieben, den ich
selbst auf meinen Schultern durch Tyrol trug, und der in diesem Augenblick
noch meine Wehr und Waffe ist. Ich gieng über Venedig, Bologna, Firenze,
(Florenz) nach Rom nun um so geschwinder, denn meine Casse war nur
mäßig zu meiner Reise versehen, und meine ganze Equipage bestand beinahe
nur in dem, was ich auf dem Leib trug. Von Rom aus wandte ich mich
wegen meines Verlustes an die Königl. Bairische Gesandtschaft daselbst, und
auch an den Minister Montgelas nach München, habe aber nie eine Silbe
anders darüber gehört, als daß man die Räuber nicht hatte habhaft werden
können. Die Herrlichkeit'Roms lies mir meinen Verlust verschmerzen. Hier
begann ein ganz neues Leben für mich, und ich glaubte oft zu träumen,
denn ich fühlte mich zu unwürdig solcher himmlischer Genüsse. Sie folgten
sich in der Menge und Mannigfaltigkeit für Herz und Geist. Für ersteres
war der erhabene Cultus der päpstlichen Kirche, und dann der Genuß in der
Betrachtung der alten und neuen Herrlichkeit der Welt zu Rom. Ich habe
auch hier bald das Glück gehabt, mich an gute Menschen anschließen zu
können , unter denen einige meine engern Freunde geworden sind, und von
denen ich Dir als die vorzüglichern, meinen lieben Links und Stackelberg
nenne. Ersterer ist ein ganz naher Landsmann von uns, aus Carlstadt, und
der zweite aus der bekannten Familie des Barons Stackelberg in Esthland.
Beide als Männer von außergewöhnlicher Bildung des Herzens und des
Geistes, lichens- und schätzenswürdig, und ich namentlich, danke ihrer Freund¬
schaft unendlich viel Gutes für meinen Geist und mein Herze. Mein lieber
Stackelberg zeichnet sich noch durch ein vorzügliches musikalisches Talent aus,
das er im Clavier - Spielen ausgebildet hat. Wir lebten in Rom beinahe
ganz ungetrennt zusammen, denn auch unsere Wohnungen waren die größte
Zeit sich so nahe, daß wir uns aus ihnen sprechen konnten.
So verstrichen mir dort 18 Monate schneller, als mir je eine ähnliche
Periode meines Lebens dahin gegangen ist.
Du kannst Dir nun leicht denken um wie viel schneller mein Entschluß
gefaßt war, nach Griechenland zu gehen, als jene Freunde es waren, die mir
den ihrigen dazu mittheilten. Die Gefälligkeit des Bairischen Herrn Gesandten
Baron v. Häfelein machte mir seine Ausführung durch einen Vorschuß von
600 spanischen Thalern möglich.
Im Juni 1810 verließ ich mit meinen vorgenannten beiden Freunden
Rom, in der Idee nach spätestens 8 Monaten wieder dort zu sein. Wir
machten eine sehr angenehme Reise zusammen nach Neapel. - Dieses war der
Rendezvous für zwei andre unsrer lieben Freunde mit uns, des Dr. Koch
und Bröndstedt, beide gelehrte Dänen und Mitglieder der Coppenhagener
Akademie. Sie waren es, die ursprünglich diese Reise im Plane hatten, und
Wir schlössen uns an sie an, durch ihr gütevolles Anerbieten, ihre Empfeh¬
lungen für Griechenland auch für uns geltend zu machen. Nachdem wir freilich
nur vorübergehend von dem schönsten des schönen Neapels genoßen gehabt
hatten, worunter ich den Vesuv mit seinen Umgebungen, als z. B. die alte
Stadt Pompeji, Hereulanum. die herrlichen griechischen Tempel zu Paestum,
Pozzuoli ete. voransetze, gingen wir mit einer eigens genommenen Vettura durch
Apulien nach Otranto. Hier lernten wir sogleich einen wichtigen Unterschied
der Land- und Seereisen kennen, indem wir eine geraume Zeit warten mußten,
bevor wir uns nach Corfu einschiffen konnten. Da eine englische Fregatte
vor der kleinen Insel Fauo den nach Corfu gehenden' französischen Fahrzeugen
auflauerte, fo mußte man um von ihr nicht gefangen zu werden, in einer
nicht mondhellen Nacht und mit sehr frischem Wind von Otranto auslaufen.
Das Zusammentreffen beider Umstände benutzte der französische Commandant
um eine Mannschafls-Lieferung auf 16. Baramem") nach Corfu zu machen.
Mangel einer andern Gelegenheit ließ uns von seiner Erlaubniß Gebrauch
wachen, auf eine dieser Baramen uns einzuschiffen. Es war für mich ein
neuer Reiz diese kleine Flotille vom Hafen ins Meer stechen zu sehen, die
übrigen schoßen uns pfeilschnell voraus, als uns das Steuerruder brach, und
das Fahrzeug so gegen ein Schiff gestoßen wurde, daß wir wohl alle ver¬
loren gewesen wären, wenn man uns nicht vom Hafen aus, mit einer Barke
Zu Hülfe gekommen wäre. Diejenigen meiner Freunde die schwimmen konnten,
waren schon bereit sich ins Meer zu werfen, doch die Barke langte noch zu
rechter Zeit an, und wir verloren nichts als unsern Reise-Paß, den die Wellen
verschlangen. Nun saßen wir wieder zu Otranto. Der Einstand den wir
dem Seereisen zu bezahlen hatten, machte einen mächtig erschütternden Ein¬
druck auf uns. so daß wir es in Ueberlegung brachten, ob es nicht besser sei,
Griechenland aufzugeben, und uns mit dem schönen Italien zu begnügen. —
Am festesten war Dr. Bröndstedt seinem Vorsatz getreu zu bleiben,
und ich sah keinen andern Grund den meinigen zu verlassen, als bloß das
sonderbare Zusammentreffen von Umständen, die sich immer unserm Weiter¬
gehen entgegen zu stemmen schienen, und so blieb auch ich beharrlich für
Griechenland, und damit unsere ganze Gesellschaft, und unser Muth erneuerte
sich nur um so mehr. Hier lieber Bruder muß ich meines lieben Freundes
Koch gedenken. Sein männliches Benehmen in den Augenblicken der Gefahr,
und sein festes Vertrauen auf Gott, hat einen großen Eindruck auf mich ge¬
macht, und von diesen Augenblick schloß ich mich fester an ihn an, und wir
wurden enge Freunde. Ein paar Tage später schifften wir uns auf eine
ganz kleine Barke ein, die mit Knoblauch nach Corfu gieng, und womit wir
in ein paar Tagen dort, obschon unterwegs die Engländer gewaltig fürchtend,
ankamen.
Die Insel Corfu gefiel mir wegen ihrer malerischen Parthien sehr wohl,
und ich würde während meines langen Aufenthaltes daselbst viel gezeichnet
haben, wäre ich nicht an das Krankenbett meines theuren Slackelbergs ge-
feßelt gewesen. Die Stadt selbst ist wegen ihrer drei starken Castelle und
die vorliegende kleine Insel Vito, die die Franzosen vorzüglich befestigt haben,
wohl nicht so leicht zu nehmen, und diese sollen neuerdings ihre Festungs¬
werke noch sehr vermehrt, und sie durch einen Durchstich von der Insel
ganz abgeschnitten haben'. Ich machte da die Bekanntschaft mit ihren Gou¬
verneur dem braven General Dongelat, der Corfu während ihrer ganzen
Blokade so gut erhielt, daß ihn die Einwohner mit ihrem Schutzheiligen
Spiridion verglichen. Außerdem sind der Senator Theotoki, der nachher fran¬
zösischer Reichs-Baron wurde, ein sehr braver Mann, und zwei junge Proßa-
lendi, wovon der eine Bruder Secretair der Akademie der Ionischen Inseln
war, und eine Contessa Sicuro wegen ihrer Reize die interessantesten Bekannt¬
schaften, die ich dort gemacht hatte. So bald mein Freund so weit genesen
war, um sich der Reise aussetzen zu können, schifften wir nach dem festen Land
von Griechenland über, was wir zum erstenmal in Prevesa betraten. Zu den
ganz neuen Eindrücken die mir in Corfu gemacht wurden, muß ich das Kennen¬
lernen des Aecht-Albanesischen Soldaten-Corps rechnen, das damals die Fran¬
zosen aufgenommen hatten, und wovon ein großer Theil aus der Albanischen
Bergstadt Saku war, deren Einwohner sich so tapfer gegen ihren Tyrannen
Ali-(Bascha) von Albanien vertheidigten. —
Diese Leute tragen noch das Gepräge der alt Griechischen Helden in ihrer
Kleidung und ihren Gewohnheiten an sich. Sie äußern Wildheit, verbunden
mit Heldensinn, ich behalte mir es vor Dir durch Zeichnung ein treues Bild
von ihnen zu geben. — Prevesa war die erste türkische Stadt die ich sah, und
sie und ihre Einwohner machten daher einen ganz eignen Eindruck auf mich-
Wir besuchten die nahgelegenen Ruinen der weitumkreiseten Stadt Nikopolis,
die Augustus nach der Schlacht bei Allium erbaute, und ihr den Namen der
Sieger-Stadt gegeben hatte. Jetzt sind nur noch die Reste ihrer Mauern,
zweier Theater, wovon das eine sehr groß ist, und die einiger öffentlichen
Gebäude vorhanden, alles übrige ist beinahe wie verschwunden. — Von
Prevesa aus wagten wir es über die Akarnanischen Gebirge zu Fuß zu gehen.
Man hatte uns besorgt gemacht, den großen Fluß Aspropotamus,
den alten Achelous passiren zu können, da derselbe öfters sehr angeschwollen
'se. doch ist dies nur nach sehr starken Regengüssen, so wie bei den meisten
Nüssen in Griechenland, die sich aus den Gebirgs-Gewässern erzeugen. Wir
fanden bei diesen nur ein ungeheuer breites Bette, ihn selbst aber innerhalb
demselben in viele kleine Arme getheilt, die an Stellen gerade so viel Wasser
hatten, daß wir noch barfuß durchwaten konnten. — Das Thal in dem er
sich dem Meere nähert, mit seinen umgebenden Bergen ist groß und schön,
und reizend seine bewachsenen Ufer, wo mich die Vegetation in der Größe
der Gewächse anstaunte, ich gebe dir zum Maßstabe die kleinen Hälmchen,
die in unserm Garten zwischen Heugras wuchsen, und von denen ich mir hier
Spazier-Stöcke schnitt. — Hier übereilte uns die Nacht, wir fanden kein Haus,
und brachten zum erstenmal auf einen Drescherplatze (Atome) unter freyem
Himmel schlafend, nichts als unsere Mäntel zur Bedeckung habend, hin; nichts
destoweniger erwachten wir, zwar durch den starken Thau, der in diesen
Ländern des Nachts fällt, ganz durchnäßt, aber gesund, und uns fehlte zur
Fortsetzung unserer Fußreise nichts als das Frühstück, wozu den Vorrath die
Hunde des Nachts aus dem Korbe zu unsern Köpfen, herausgestohlen hatten.
Doch unser guter Stackelberg mußte diese Nachtparthie mit einem Fieber-
Anfall bezahlen, und wir waren noch so glücklich mit ihm ans Meer zu
kommen, wo wir mit einem Nachen nach der nahen Jnselstadt Natholila,
Venedig im kleinen, aber sehr kleinen, fuhren. —
Hier schifften wir uns nach Messalonga aus einen Monorylon,
einem Nachen aus hohlem Baume gemacht, ein. Das Meer ist in diesem Golf
s° seicht, daß man an mehreren Stellen darinnen waten kann. Von Messa-
longi giengen wir auf einer grosen Latiner Barke, nach Patraß. Der An¬
blick dieser Stadt wo wir Abends gerade mit Sonnenuntergang ankamen,
überraschte mich sehr, ob sie selbst schon nicht schön ist, so wirkte doch der
Reiz der Neuheit sehr, und ihre Lage ist sehr schön, auf der Nordwestküste
von Achaia am Eingang des schönen Golfs von Lepantho. Ihr gegen
über zeigen sich die schönen Aetolischen Gebirge, von welchem der Taphiaso
sich als eine große mahlerische Parthie aus dem Meere emporthürmt. Wir
wurden im Hause des Dänischen Consuls sig'e Paul gastfreundschaftlich auf¬
genommen. Ein Consul in der Levante genießt unter den Franken einer aus¬
gezeichneten Würde, die uns unser Wirth alsbald durch sein Decorum zu er¬
kennen gab. Er machte mit uns einen Besuch bei dem englischen Consul.
Unserm Zug gieng sein Janitschar in einem prächtigen purpurnen Mantel vor¬
an. Ein jeder Consul hat das Recht sein Haus durch so viel Flaggen aus¬
zuzeichnen, als Consulate ihm anvertrauet sind. Dies überraschte mich bei
dem ersten Anblick von Patraß, wo mehrere Consuls sind, und von denen
Paul allein 3 verschiedene Consulate bekleidete — so wie auch die dünnen in
eine feine Spitze auslaufenden Thürme seiner Moscheen, die gewöhnlich aus
einen vierekten Haupt-Gebäude mit einer flachen Kuppel, um welche mehrere
kleine Kuppeln herum sich ziehen, bestehen. Alle diese neuen Erscheinungen
würden mich sehr angenehm beschäftigt gehabt haben, wenn ihren Genuß nicht
die Krankheit meines lieben Stackelbergs würde gestört haben. Erst nach
mehreren Tagen konnten wir uns auf einem kleinen Zwei - Master für Corinth
einschiffen. Der Eingang in dem herrlichen Golf von Lepcmtho zeichnet sich
durch die zwei gegenüberliegenden festen türkischen Schlößcr R hio n und An >
tihion aus. die gleichsam der Schlüssel von ihm sind. Die über seine beyde
Küsten sich hinziehenden Gebirge von Achaier und Pho eis hefteten meine
Blicke bald da bald dorthin und jede Meile vorwärts gab durch neue Formen
von erhabenen und großen Massen in Naturscenen, neuen Reiz. Wir mußten
wegen widrigen Wind in den Golf von Salona einlaufen, und daselbst
über acht Tage vor Anker liegen bleiben, welche Zeit wir benutzten, um eine
Tour nach dem ohnweit gelegenen Dorf K astri, das auf der Stelle des ehe¬
mals so berühmten Delphi liegt, zu machen. Hier wo die schönsten Werke
griechischer Kunst vereint waren, sind nun nur noch spärliche Ueberreste von
Fundamenten zu größern Gebäuden vorhanden.
Wir konnten leider den Parnaß nicht weiter besteigen, als bis zur einst
berühmten Kastalischen Quelle. Die Natur ist hier in einziger Großheit,
die zuerst ein stummes Staunen in mir erzeugte. Mit unserer Ausfuhr aus
dem Golf, entdeckte unser Auge bald in blauer Ferne noch den Felsberg Aero-
corinth. und so weiter bekamen wir deutlichere Bilder die schon von wei¬
tem aus dem Meer erschimmerten, Bergformen des Helikon, Citheron und dem
Vorgebirge von Amiae. Zu dem unnennbaren Reiz, der die mahlerische Schön¬
heit aller dieser erhabenen Gegenstände schafft, gesellt sich die Rückerinnerung
in jene schöne Welt, deren Geschichte sie von einer andern Seite außerordent¬
lich interessant und merkwürdig macht.
Corinth entzückte mich so sehr, daß ich sogleich mit in. l. Stackelberg
und Linke) übereinkam, uns daselbst auszuhalten, und unsere beiden andern
Freunde nach Athen vorausgehen zu lassen. Wir waren da fleißig mit Nach-
suchen und Zeichnen beschäftigt, obschon von Corinths ehemaliger Pracht nur
wenig Spuren übrig sind, und die sich beinahe nur auf die Reste eines Do¬
rischen Tempels einschließen; doch diese sind auch allein schon hinlänglich
dem Sinne für solche Gr oss eit Beschäftigung zu geben. Wir gingen end¬
lich zu Fuße über den Isthmus, und schifften uns zu Cenchrea auf einer klei¬
nen Eginetischen Barke für Athen ein. Der Wind trieb uns doch zuerst nach
Egina, wo ich mich sogleich am Anblick der schönen Säulen des Venus-Tem¬
pels am Porto weidete. Ich kann Dir nun den Eindruck nicht beschreiben, den
mir schon Athen mit seinen Umgebungen machte, als wir uns dem Piraeus
näherten, und nun zu Fuß demselben zueilten; doch ich hoffe Dir einst einige
Früchte meines Aufenthaltes an diesem herrlichen Orte Griechenlands zeigen
zu können. In seiner ersten Periode war ich jedoch wieder einer schweren
Prüfung unterzogen, in dem bald nach unserer Ankunft mein l. Stackelberg
und Links aufs Krankenbette fielen, und ersterer dem Grabe nahe gebracht
wurde. Nachdem diese Freunde aber durch Gott und die Hülfe eines zufällig
anwesenden englischen Arztes außer Gefahr waren, schiffte ich mich mit meinen
beiden andern lieben Freunden und Herr'n Grvpius, den wir hier kennen zu
lernen bald die Freude hatten, nach der Insel Hydra ein, um von da nach
dem Peloponnes zu gehen. Die Witterung war unserer Reise entgegen, und
hatte uns viel Zeit und Geld verlieren machen, so daß wir sie nur auf einen
flüchtigen Besuch des Interessantesten in der Argolide einschränken müsten.
Wir giengen die uralten Städte: Tyrinth, Mycene, den heiligen Haym
von Epidaurus zu besehen, wo mir besonders die Neste des herrlichen The¬
aters von Philoktet aus weißem Marmor erbauet, innigen Genus gaben;
von da nahmen wir über Argos, den Resten des Jupiter-Tempels zu Ne-
Maea und Corinth unsern Weg nach Athen zurück. Die.bald darauf folgende
Ankunft Cockerells, eines englischen Architekten, war mir um so angenehmer,
als wir in einem Borsatz zusammentrafen, die schönsten Monumente der grie¬
chischen Baukunst näher zu untersuchen. Cockerell hat von der Natur die vor¬
züglichsten Geistesgaben und ein sehr angenehmes Aeußere empfangen, und
Ulan kann sagen die Schönheit seiner Seele ist in seinem Ange und seiner
ganzen Miene ausgesprochen. Mit einer unbegrenzten Liebe verfolgt er un^
ausgesetzt thätig das Streben zur weitern Ausbildung seiner Kunst, für die
^ mit Auszeichnung ein großes Talent besitzt. Alles dieses zog mich alsbald
an ihn «n, und im ungetrennten Zusammenwirken für ein und ebendemselben
Zweck, wurden wir enge Freunde.
Der l. Stackelberg, Koch und Bröndstedt beschloßen am Anfang des
^ahrs 1811. ihre Reise weiter durch das nördliche Griechenland und nach
Constantinopel fortzusetzen. Der l. Links fühlte sich nach seiner Krankheit
noch nicht fähig sie zu begleiten, und ich zog es vor. mit Eockerell vereint.
mit Nachdruck in Athen zu studiren, da ich es für zweckmäßiger hielt, als das
wenige Geld was mir noch zu Gebot stund, auf andre Reisen anzuwenden,
die mir für mein Kunststudium nicht denselben Ertrag geben konnten. Ick
fing daher nun mein separates Etablissement an, nahm ein kleines freundliches
Zimmer zu meiner Bewohnung, und lebte nach Umständen und Börse, ein¬
gezogen. Cockerell und ich waren vom Morgen bis am Abend täglich unter
den Monumenten Athens, und dann bis spät in der Nacht bei mir mit Aus¬
arbeitung unsrer Beobachtungen beschäftigt.
Im November besuchte ich mit Cockerell, in Gesellschaft des Lords
Byr o n die Ruinen des Minerva-Tempels auf dem Kap Sunium. Hier waren
wir ein paar Tage mit ihrer Untersuchung sehr angenehm beschäftigt, und
würden es noch länger geblieben sein, wenn wir vor den Piraten sicher
gewesen wären, denn Byron hatte uns schon den zweiten Tag mit seiner
Bedeckung verlassen. Nachdem wir miteinander den Winter in Athen fleißig
verlebt, und uns an tiefern Kenntnissen seiner herrlichen Monumente bereichert
hatten, wodurch wir selbst hoffen dürfen, das schätzenswerthe Werk Stuarts
mit sehr interessanten Zusätzen vermehren zu können, — beschloßen wir auf
der Insel Egina die Ruinen des panhellenischen Jupiter-Tempels zu unter¬
suchen. Unser rastloses Bemühen so gründlich als möglich in unsern Arbeiten
zu sein, hatte nicht nur die Folge, daß wir diesen schönen Tempel bis in
seine Einzelheiten genau kennen lernten, sondern es führte uns noch zu dem
ganz besonderen Glück, die schönen Bildhauerwerke, die ehemals seine beiden
Giebelfelder zierten, aus seinen Trümmern hervor zu finden, und sie so der
Kunstwelt wieder zu geben. Es sind an ihnen wahrscheinlich mehrere Helden
aus den Trojanischen Kriege vorgestellt, und sie tragen durchgehends das
Gepräge eines sehr hohen Alterthums auf sich, ja sie sind vielleicht die ein¬
zigen Ueberreste aus jener Periode der Bildhauerei, in welcher die Eginetische
Schule sich auszeichnet, und sie können als unschätzbare Werke des Alterthums
zu studieren betrachtet werden. Wir hatten uns durch Bezahlung einer mäßi¬
gen Summe an die Stadt Egina zu rechtmäßigen Eigenthümern von ihnen
gemacht, und brachten sie in verschiedenen Transporten nach Athen. Hier
erregte unser Fund großes Aufsehen, und wir mußten befürchten, daß man
von türkischer Seite Anspruch darauf machen könnte.
Mein Freund Links und Mons. Foster. Reise-Gesellschafter von
Cockerell hatten uns nach Egina begleitet, und wir theilten mit ihnen den
Besitz jener Werke. Ihre Vertheilung unter uns wäre dem hohen Interesse,
das solche — als eine so viel möglich vollständige Sammlung — geben, ent¬
gegen gewesen. Wir beschlossen daher ihr Daseyn öffentlich bekannt zu machen,
damit eine Concurrenz zu ihrem Ankauf für ein Musäum stattfinden könne.
Durchdrungen von dem lebhaften Wunsche, daß sie nach Deutschland, nament¬
lich nach Baiern kommen mögten, suchte ich dem Könige eine so viel es mir
zu Athen möglich war, genaue Kenntniß davon zu geben, ich schlug daher
das Anerbieten von 1000 Pfd. Sterlinge, das mir durchreisende Eng¬
länder für meinen Antheil machten, aus. Wir glaubten, daß es für die
Sache, und auch unsern eigenen Interesse angemessener sey, wenn wir die
Sorge für die fernere Erhaltung und die Geschäfte zu ihrem öffentlichen Ver¬
kauf einen Sachkundigen Mann übertragen würden, und nahmen daher das An¬
erbieten unsers gemeinschaftlichen Freundes, Herrn Gropius, damals englischen
Vice-Consul in Golf von Volo in Thessalien dankbar an, dieselben über sich
nehmen zu wollen. — Die schon erwähnte Besorgniß, daß uns ihr Besitz in
türkischen Landen nicht gesichert sein möchte, lies uns nach unserer Rückkunft
von Eleusis, wo wir 14 Tage waren, um die Reste seiner schönen Alter¬
thümer zu studieren, allgemein beschließen, sie nach Zarte zu bringen, wo
wir sie unter dem Versprechen des damals in dem mittelländischen Meere
commanöirenden Generals Stuart, daß auch jeder Fremde aus dem Continent
sie dort besehen dürfe, in dem Hause des Englischen - Ministers Sigre Sy.
Forefti aufstellend. — Wir hatten sämmtlich unter der Dirccktion unsres Freun¬
des Gropius ihren Transport besorgt, der, da er bis an den Golf von Ger-
Mano, einer Unterabtheilung des Golfs von Corinth, zu Lande geschehen
muste, und zwar über einen Theil des Bergs Citheron, äußerst mühseelig
War. Links und ich, obschon aus damals feindlichen Staaten, fanden eine
sehr gute Gastfreundliche Ausnahme von den Engländern in Zarte. Ich
machte daselbst auch Bekanntschaft mit der braven Gräfin Lunzi aus der
deutschen Familie Mariens von Venedig, deren Mann dänischer Consul in
den Ionischen Inseln war, und ihr Haus mit unter die reichsten gehört. —
Sie hat unter mehrern Kindern, deren Hofmeister Herr Lutz, ein braver
Würtenberger ist, eine liebenswürdige Tochter Namens Bettina. Außer dieser
lernte ich noch Herrn Dicenta, Oberamtmanns-Sohn aus dem Hohenlohischen
und nun sehr verdienstvoller englischer Offizier, der nachmals bei der Armee
>n Spanien gestanden, ferner Herrn Krumm, ein Zweibrücker, nun englischer
Milit.-Sekretair, ein rechter biederer Deutscher, kennen. Sehr leid war es um
unsern lieben Vetter PH, v. Fürer damals zu Santa Maura in Leukadia, in
Garnison, damals nicht schon besuchen haben zu können, wir waren schon in
Korrespondenz und ich freute mich der allgemeinen hohen Achtung, die ihn
von seinem Chef und Cameraden wird. Mein theurer Koch war schon vor
einigen Wochen von Constantinopel und Smyrna zurückgekommen, und ver¬
einigte sich hier wieder mit uns, doch nur auf wenig Zeit. Da er uns nach
dem Peloponnes voraus gieng, um diesen noch zu bereisen, bevor er über
Julien, Deutschland nach seinem Vaterland zurückkehren wollte, wo ihn ein
liebendes Mädchen schon lange Zeit sehnlich erwartete. Wir hatten uns in
dem Tempel von Phigalien ' wieder zu finden versprochen. Nachdem wir
in Zarte unsere Geschäfte beendet hatten, schifften wir nach Pyrgo über,
von wo aus wir unsere Reise in der Morea begannen. Wir besuchten zuerst
die Reste von Olympia in Elis, wo man jedoch auser der Situation des
Altys heutzutag nur noch wenig mehr erkennt. Wir glauben den Tempel
des Olympischen Jupiters gesunden zu haben, seine Ruinen sind aber neuer¬
dings durch die Barbarei der Türken sehr geschmälert worden. Die schon in
frühern Zeiten großen Überschwemmungen des Alpheus haben überhaupt die
Lage Olympias sehr unkenntlich gemacht, und unsere Reisende sind noch zwei¬
felhaft ob die, die wir besuchten, die wirkliche ist. Der Fluß, der sich sehr
malerisch durch Thäler zwischen den hohen Gebirgen mündet, gehört mit zu
den schönsten und größten in Griechenland. Nach ein paar Tagen hiesigen
Aufenthaltes giengen wir nach Arkadien, und zwar zuerst nach den Ruinen
des schönen Tempels des Apolls Epikurius von Phigalien, auf dem Berg
Cotylius, eines des höchsten Arkadiens; kaum waren wir in dieselben'getreten,
als uns ein Paket mit meiner Adresse an einer seiner Säulen aufgehangen,
in die Augen fiel. Es enthielt das letzte Lebewohl meines Freundes Koch,
der die vorige Nacht hier zugebracht hatte, und da er gegen unsere Absprache
uns hier nicht fand, seine Reise ub'er Elis nach Zarte zurücknahm. Er hatte
mir dabei seine Charte des alten Griechenlands zum Andenken zurückgelassen.
Wir schlugen nun hier wieder unser Zelt auf, da nur auf mehrere Entfer¬
nung tiefer gelegene Oerter, zum Wohnen sind. Außer der eigenen Schönheit
der Architektur dieses dorischen Tempels ist seine Lage sehr schön. Gegen
Süden reicht das Auge von ihm über die niedrigen Vorgebirge und die Ebene
Messeniens bis an den Horizont des Meeres. Aus jener steigt der in der
Geschichte von Messenien so berühmte Berg Jthüme jetzt Volkano Bura
genannt, als eine malerische grvse Parthie im Mittelgrunde dieser herrlichen
Gegend empor. Wir nahmen uns vor. auch die hiesigen Ruinen genau zu
untersuchen, und hatten schon mit Eifer die Hände ans Werk gelegt, als wir
durch den Cadi von Sanari, unter dem dieser Ort steht, darinnen gestört
wurden. Er lies uns durch ein zwar höfliches Schreiben ernähren, nicht nur
keine Hand an jene Ruinen zu legen, sondern auch selbst unsern Aufenthalt
dabei nicht mehr zu verlängern, was er bey einer persönlichen Visttte wieder¬
holte, indem es ihm unmöglich sei, unsre Bitte darum zu gewähren, indem
der herrschende Veli Pascha der Morea. ihm mit seinem Kopf dafür verant¬
wortlich gemacht habe. Mit vielen Bedauren setzten wir unser angefangenes
Werk aus, wo wir schon wieder so glücklich waren, die Reste sehr schöner
Bildhauerwerke in Basreliefen unter den Trümmern des Tempels vergraben,
zu entdecken, die wir jedoch die Vorsicht halten, vor unsern Weggehen sorg¬
fältig wieder unter dieselben zu verbergen, indem wir uns der Hoffnung
schmeichelten, daß es uns späterhin noch gelingen werde, unsere Absicht zu
erreichen.
Wir hatten indessen einiges vorgearbeitet und mehrere mahlerische Zeich¬
nungen vom Tempel gemacht. Bon da giengen wir nach dem sehr freundlichen
arkadischen Bergstädtchen Andrizina, wo wir uns einige Tage mit Zeichnen
augenehm beschäftigten. Jn Karitena. wahrscheinlich dem alten Trapezunth,
fanden wir eine sehr gastfreundliche Aufnahme bei dem Cadi dieses Ortes.
war bei der türkischen Gesandtschaft in Berlin gewesen und erinnerte sich
Mit Vergnügen an seinen dortigen Aufenthalt, der schönen Königin und
überhaupt des schönen Geschlechts, was ihm so gereizt hatte, daß das einzige
deutsche das er behielte und mir oft wiederholte, war; — „Berlin, viel
schöne Mädchen". — Von hier giengen wir über das alte Megalopolis
Helison. wo die ausgezeichnetste seiner Ruinen, die eines großen
Theaters ist. nach Calamata, in dem alten Messenien. Im Vorbeigehen
suchten wir die Neste des uralten — nach Pausanias, der ersten Stadt, die
^le Sonne gesehen hat — Lycosura auf. Wir glaubten sie nach den
Notizen des französischen Consuls von Athen, Mr. Fauvel von einem der
^Udbewachsenen hohen Felsbergen ohnweit Megalopolis, nahe dem türkischen
^orf D eus ahau gefunden zu haben, sahen aber nur hie und da einige rohe
"auern - Ueberreste; unter denselben eine kleine neugriechische Capelle steht,
^lamata liegt in der Ebene Msseniens, ohnweit dem Golf. Es ist ein ziem-
^es bedeutender Ort von Griechen und Türken bewohnt, offen und freundlich
'"'t einem Castro aus venetianischen Zeiten. Es wird daselbst viel Seide ge¬
baut und verarbeitet. Seine Feigen find berühmt und werden getrocknet in
Stenge ausgeführt. Die indianische Plattfeige wächst in hiesiger Gegend im
^ebermaaß, Gärten, Felder und Wiesen sind damit eingezäunt. Wir nahmen
^er auf einige Zeit unser Hauptquartier und bewohnten einen alten gebrech-
^Gen Thurm, in der Mitte der Stadt, den uns der englische Vice-Consul
ösqualigo zu miethen verschaffte. Hier erfuhr ich die mich sehr nieder¬
legende Nachricht von dem Tode meines Freundes Koch. Dieser vortreffliche
^um hatte sich in einem der heißesten Sommer-Monaten zu sehr angestrengt,
UM seine Reise im Pelopones zu vollenden; getrieben von einem ganz beson¬
nn innigen Verlangen nach seinem Vaterlande zurückzukehren. Wenige Ta-
kte. nachdem er uns im Tempel von Phigalia verfehlt hatte, kam er in Zarte
an. legte sich aufs Krankenbette, und starb bald an einem hitzigen Entzün-
ungsfieber. Er war ein Biedermann mit herrlichen Geistesgaben, und ein
wuer Freund; ich segne hier sein Andenken, das mit Dank für seine viele
Uebe und Freundschaft immer neu in meiner Seele bleibt.
In Calamala nsuhr ich zum erstenmal den Eindruck des Erdbebens,
das in der Nacht unsern baufälligen Thurm erschütterte. Eockerell und ich
waren zu sehr gereizt, die Reste eines Neptun-Tempels auf dem alten Cap:
Tenarium, dem jetzigen Matapan kennen zu lernen, die bisher noch von
keinem Reisenden besucht worden sind, da die Reise dahin, wegen der vielen
Piraten und der räuberischen Einwohner dieses Theils von Laconien, der jetzt
unter dem Namen der Maina bekannt ist. sehr gefährlich ist. Es gelang
uns durch die Güte des ehemaligen russischen Consuls Sigr. Cornelius sichere
Empfehlungen an einige Capitäne, vorzüglich an dem Cap: Murzino in Kar -
damyla, einem Hauptort der Maina zu erhalten.
Dieses Land hat noch seine Freiheit erhalten, es wird in Hauptmann¬
schaften eingetheilt, die unter einem Bey stehen, den sie sich selbst wählen.
Sie sind tapfere Leute, und haben bisher die Türken, die häufige Anfälle auf
sie machten, von ihrer Grenze immer zurückgeschlagen. Sie haben eine gewal¬
tige Vorneigung zur Seeräuberey, und jene Hauptleute machen selbst die Ober¬
sten der Piraten. Schon in den alten Zeiten war diese Gegend wegen See¬
räuberey sehr verschrieen, und es ging das Sprüchwort, daß wer um dieses
Cap segeln will, muß sein liebstes, was er auf der Welt hat, vergehen.
Unser Unternehmen wurde noch durch die Bekanntschaft mit einem eng'
lischen Offizier begünstigt, welcher bei dem griechischen Corps zu Zenate
diente, und selbst Mainott ist. Er war nur hier im Urlaub und begleitete
uns zu seinen Verwandten in dem Dorf Stauropi wo wir sehr gastfreundlich
aufgenommen wurden, desgleichen von dem Räuberhauptmann Murzino, der
uns mehrere seiner Leute zur Bedeckung entgegengesandt hatte. Ich wurde
überrascht beim Eintritt in sein Castro, wo ich mich in die Zeiten unserer
alten Ritter und Schnapphähne versezt glaubte. Der Hauptmann selbst war
uns vor das Thor entgegen gekommen und empfing uns mit Gradheit und
Freundlichkeit. Er ist beständig von mehrern seiner Leute umgeben, die er
sehr leutseelig behandelt, und die ihm auch wieder sehr ergeben sind, er liebt
den Wein sehr, und trinkt nie anders als aus einer langhalsigen Flasche, die
er aufeinmal in die Gurgel hineinleert, was uns immer viel Spaß machte.
Er ist Tag und Nacht angekleidet und trägt eine ganz kleine silberne Pistole
beständig im Gürtel. Nach ein paartägigen Aufenthalt bey ihm. gedachten
wir unsre Reise nach dem Cap weiter fortzusetzen. Das Land war aber ge¬
rade in zwei Partheien getheilt die sich befehdeten, und der Hauptmann machte
daher Anstalt zu einer starken Bedeckung, unter seiner persönlichen Anführung.
Nach reiflicher Ueberlegung daß diese Erpedition uns zu große Kosten machen
würde, denn wir sollten 50 Mann mit haben, sahen wir uns gezwungen sie
leider für diesmal aufzugeben, hoffend einen bessern Zeitpunkt noch dazu zu
finden. (Schluß folgt.)
Wer in London war und die Docks nicht gesehen hat, ist dem zu ver¬
gleichen, der in Rom war und den Papst nicht zu Gesicht bekam. Und gewiß
!ob auch die Docks mehr als irgend etwas anderes dazu geeignet, einen Ein¬
blick in das unendliche Getriebe des englischen Handels, in den unermeßlichen
Reichthum der durch denselben beherrschten Länder und in den so bedeutenden
Antheil, der von diesem Reichthum auf England entfällt, zu gestatten.
Ist ja doch London nicht nur für Großbritanien und Irland der Haupt-
Markt für Colonial- und sonstige Produkte ferner Länder, sondern für beinahe
ganz Europa, selbst für solche Länder, die sich durch eigenen bedeutenden
Handel auszeichnen, denn die Massen der überseeischen Waaren, welche in
London verhandelt werden, sind so bedeutend, daß sie alle andern Märkte
beeinflussen. Viele dieser Waaren kommen allerdings niemals bis nach Lor-
^°n, sie bleiben in irgend einem andern Hafen liegen, bis sie nach vorgezeigten
Proben in London verkauft worden sind/ aber trotzdem sind immer noch genug
andere Waaren vorhanden, welche bis in den Hafen der englischen Hauptstadt
Anlaufen und dort in den Docks und den dazu gehörigen Lagerhäusern liegen,
^ sie von da aus in die Adern des europäischen Handels übergehen; Waaren
welche der Käufer im Ganzen sehen will, weil sie sich nach Proben nur schwer
^urtheilen lassen.
Unter den Dockgesellschaften Londons sind es hauptsächlich zwei, welche
Wegen ihrer vorzüglichen Anlagen und wegen der Geräumigkeit ihrer Parks
"ud Waaren-Lagerhäuser in erster Linie zu nennen sind und die auch weit¬
es dem größten Theil der Producte des in London pulsirenden Welthandels
Unterkommen gewähren. Es sind dieses die East and West Jndia und die
ondon Dock-Compagnie. Die erste dieser zwei Gesellschaften hat ihre fünf
^oßen Docks unterhalb Londons bei Blockwall angelegt und besonders die
^ großen Bassins, die zusammen den Namen West-Jndia-Docks führen, sind
^ohl die großartigsten derartigen Anlagen auf der ganzen Erde. Jedes dieser
^ Docks hat gegen 30 Acres Wasserfläche und sie fassen zusammen mehr
^um egg große Westindienfahrer. Trotzdem diese Anlagen theilweise noch
«us dem Jahre 1802 stammen, so genügen sie auch heute noch allen Än¬
derungen des Verkehrs, sie sind mit den vollkommensten Maschinen zum
^ut- und Befrachter ausgerüstet, so z. B. außer sehr vielen kleinern hydrau-
'leben Krahnen mit einem schwimmenden Krähn, der 600 Zentner zu heben
vermag. Einzig und allein darüber wird Klage geführt, daß sie nicht noch
großer, besonders daß sie nicht noch breiter sind. Es ist wirklich staunener-
regend, mit welch weitem Blick die Erbauer schon bei Beginn dieses Jahr¬
hunderts die Bedürfnisse des Welthandels auf so lange Zeit hinaus richtig
zu ermessen verstanden.
Die London Dock Gesellschaft hat ihre Haupt-Anlagen unmittelbar an
der Grenze der City, unterhalb des Towers gemacht und besitzt dort die Se.
Katherine-Docks und die London-Docks und dann noch gegenüber Greenwich
das sehr ausgedehnte 2 engl. Meilen lange neue Victoria-Dock. Die zu zweit
aufgeführten Hafen-Bassins bieten wohl das interessanteste und regste Ver-
kehrsbild dar. Auch sie haben Raum für 400 große Schiffe und da sie durch
ihre Lage begünstigt sind, so wird in ihnen auch der intensivste Verkehr betrieben.
Hier in den Docks sieht man Menschen aller Racen und Farben, hört
alle Sprachen der Welt, manch trautes heimathliches Wort; und die stolzen
Schiffe mit ihren schlanken Masten und ihren bunten Wimpeln erzählen von
den Herrlichkeiten der Welt aber auch von den Gefahren und Nöthen der
muthigen Seefahrer. Und von den Herrlichkeiten bringen kräftige, braune,
weiße, schwarze Arme aus dem Innern der Schiffe große Massen heraufge¬
schleppt, Massen von solchem Werth, daß man staunt, wie viel dem tückischen
Meere anvertraut wird.
Da liegen in den Kellern tausende von Tonnen Wein, wirklicher echter
Wein, und wieder in andern Kellern der beste Jamaica Nun in unerme߬
lichen Quantitäten, aber wenn auch hier die Waaren noch unverfälscht sind,
so sind doch auch schon alle diejenigen Vorkehrungen getroffen, Wein und
Nun und sonstige Spirituosen zu — mischen, wie'die Führer es harmlos
nennen, und es dem Geschmacke der einzelnen Völkerschaften mundgerecht zu
machen, setzen sie. gewißermaßen zur Entschuldigung hinzu! Ja echt kommen
wohl die meisten Waaren hier an. ob sie aber auch wieder echt aus den
Lagerräumen herauskommen, das. ist eine andere Frage.
Hier in den London-Docks liegen etwa 40,000 Ballen Wolle, 6000 Fässer
mit Zucker von je 25 Zentner Gewicht und doch werden gerade die größten
Massen und vor allen Dingen die werthvollsten Waaren nicht in den Ge¬
bäuden unmittelbar neben den Hafenbassins, sondern in ausgedehnten Lager¬
häusern aufbewahrt, welche in der City von den betreffenden Gesellschaften
erbaut worden sind und die mit ihren vielen Hosen und getrennten Gebäuden
in sich eine ganze kleine Stadt und zwar nicht die ärmste, bilden.
In diesen Waarenhäusern, wie sie der Engländer kurzweg nennt, sind
die Waaren den Kaufliebhabern zugänglich, und hier haben auch die ver¬
schiedenen Großhändler derselben Waarengattung ihre mehr oder minder
eleganten Schausäle. Lesezimmer. Speisezimmer u. s. w. sich selbst eingerichtet,
unter welchen besonders die der Jndigvherren als die besteingerichteten zu
nennen sind.
In diesen Magazinen finden auch die Zollrevisionen statt und werden
die großen Auktionen abgehalten, durch welche dann die Waaren in alle Welt
zerstreut auseinander gehen. In den der East- und West-Jutta-Dock-Com-
Pagnie gehörigen ausgedehnten Gebäuden befindet sich eine förmliche Aus¬
stellung von chinesischem und japanesischen Geschirr, Zierrathen, Schmuckkasten.
Komoden von allen möglichen Größen in 3 großen Sälen ausgestellt und
einzelne dieser Kasten repräsentiren einen Bserth von 3000 Pfund Sterling.
In einem großen Gebäude ist der Thee in wirklicher Originalverpackung ge¬
lagert, nichts anderes darf außerdem in das Haus hinein, um den feinen
Geruch nicht zu schädigen. Hier kostet das Pfund gewöhnlichen Familienthees
Zros etwa 70 bis 80 Pfennig und schon drüben über der Straße verlangt
der Kaufmann für dieselbe Sorte, die höchstens wieder etwas — gemischt
worden ist 2^2 Mark.
Hier lagert in einem durch und durch blauen Hause für etwa ^ Millio¬
nen Pfund Sterling Indigo, nicht weit davon für I'/z Millionen Seide,
Hunderte von den feinsten Elephantenstoßzähnen und in einem großen Saale
stehen Hunderte von Kisten mit den herrlichsten Straußenfedern, von denen
viele bis zu l000 Pfund Sterling Werth haben. In andern Sälen wieder
sind in Kisten verpackt Colibris, Fasanen und wie alle die vielen buntschil¬
lernden Waldbewohner noch heißen mögen, die hier dicht zusammengepfercht
aus fernen Landen hergeschickt worden sind, um mit ihrer Pracht das schöne
Geschlecht noch schöner zu machen. Wenn doch nur diejenigen, welche die
Moden bestimmen, sich an der Schönheit der Geschöpfe, welche ihr Leben lassen
mußten, auf daß mit ihrem Gefieder irgend ein neuer Effect erhascht werden
könne, ein Muster nehmen wollten, anstatt alles Mögliche daran zu setzen,
wie ihren häßlichen Kunstprodukten die Schönheiten der Natur zu verunstalten;
"der ist ihnen aller Begriff von Schönheit verloren gegangen?
In diesen Lagerhäusern befindet sich auch eine kleine Sammlung aller
Medieinalrohproducte, wenn ich mich so ausdrücken darf, der ganzen Erde;
und mit großem Stolz versichert der Wärter dieser Schätze, seine Sammlung
sei nicht nur vollständig, sondern sie enthalte auch das Vorzüglichste in ihrer
Art, denn von allen Offizinalwaaren würden stets die schönsten und besten
^emplare ausgesucht um seiner kleinen unscheinbaren Sammlung einverleibt
zu werden. Sie scheint denn auch wirklich sehr werthvoll zu sein und sie ist
eigenthümlicher Weise bei manchen Arzneistoffen derartig geordnet, daß bei
verschiedenen Arten desselben Produktes nicht das Vorkommen sondern die
Nation maaßgebend war, deren Aerzte diese Abart einer andern vorziehen.
Doch genug von den Docks; und von der ernsten Arbeit zum Vergnügen.
Sind ja doch auch die Vergnügungen eines Volkes so recht dazu angethan
es darin zu beobachten. Auch hier, in allen Concerten, Schaustellungen,
Theatern drängt sich einem sofort die Bemerkung auf, daß man sich in einem
sehr wohlhabenden Lande befindet, denn ganz abgesehen von den sehr hohen
Eintrittspreisen, selbst der letzten Plätze, die schon deutlich genug sprechen,
begegnet man hier einer solchen Fülle bedeutender fremder Künstler, sieht
man so viele Kunstproducte, die ein anderer als der englische Himmel gezei¬
tigt hat, in den hiesigen Sammlungen, daß man auch hier wieder bestätigt
findet, daß für Geld Vieles, rvo nicht Alles zu haben ist. Aber in engem
Zusammenhang mit diesem Bestreben für sein gutes Geld sich den Segen der
Kunst zu erkaufen, steht denn auch die Thatsache, daß neben sehr vielen Kunst¬
größen von europäischem Rufe auch eine große Masse solcher zu finden ist,
welche sich mit richtiger Menschenkenntniß dasjenige Land ausgesucht haben
um ihre herrlichen Talente glänzen zu lassen, in welchem die alte Wahrheit:
„es ist nicht alles Gold was glänzt" in Hinsicht aus die Kunst dann um so
weniger betrachtet wird, wenn dieser trügerische Glanz mit wirklichem Golde
aufgewogen werden muß.
Es hat wirklich den Anschein, als ob das englische Volk es nothwendig
hätte, in seinen Kunstgenüssen und besonders in der Musik zu fremden Kräften
feine Zuflucht zu nehmen. So bleibt z. B. von der sogenannten englischen
Musik sehr wenig übrig, wenn man Händel, den der Brite mit Borliebe zu
den Seinen gehörend aufführt, für Deutschland zurückfordert; und hinsichtlich
der Malerei kann man die Bemerkung machen, daß in der Nationalgallerie
zu London ganze große Säle mit Turner'schen Bildern angefüllt sind — mit
Bildern, in denen das Verschwommene eines englischen Nebeltages eine allzu
hervorragende Rolle spielt — deren Mannhaftigkeit in einer Sammlung von
Kunstwerken, nicht nur von Studien, sich trotz Turner's nationalenglischer
Herkunft wohl nur daraus erklären läßt, daß andere Nationen für derartige
Pinselproducte kein Verständniß haben und dieselben doch irgend wo unterge¬
bracht werden mußten; der Engländer aber wallfahrtet mit Kind und Kegel
hauptsächlich in diese Säle, verdirbt dabei seinen Geschmack und den der
jüngern Generation noch gründlicher und läßt die andern Abtheilungen, in
denen wirklich herrliche Kunstwerke hängen, mehr oder minder unbesehen.
Trotz des Reichthums der englischen Großstädte bieten dieselben, abge¬
sehen von der Hauptstadt, herzlich wenig an ernsten genußreichen Vergnügungen.
In Städten von weit über 100,000 Einwohnern bis zu solchen von nahe an
einer halben Million werden Concerte und Opernvorstellungen unter der leb¬
haftesten Betheiligung der sogenannten bessern Stände und dem widerwär¬
tigsten Beifallsgetöse der in feinstem Ballanzuge anwesenden Zuhörer aufge¬
führt, welche in einer deutschen Mittelstadt von noch nicht 50.000 Einwoh¬
nern als mittelmäßige Leistungen bezeichnet werden würden und die sich in
deutschen Großstädten kaum auf vorstädtische Winkelbühnen wagen dürften.
Ja selbst in mancher deutschen Kleinstadt von 10,000 Einwohnern wird von
den kunstsinnigen Bewohnern aus eigenem Antriebe mehr geleistet, als in
großen englischen Provinzialstädten.
Wenn in New Castle upon Tyne unter dem Protektorate mehrerer Par¬
lamentsmitglieder und fremder Consuln, — unter denen sich der deutsche
selbstverständlich nicht befand — ein Dilletanten-Concert bewerkstelligt wird, in
dem der kräftige Applaus, der sich stets schon vor den musikalischen Produc-
tionen vernehmen läßt, die rühmenswcrrheste Leistung ist. so muß man sich
billiger Weise fragen, ob man sich wirklich in einer Stadt von 140,000 Ein¬
wohnern befinde.
Bei Vorstellungen, die für das niedere Volk bestimmt sind, pflegt in
London die charakteristische Bemerkung unter die Programme gesetzt zu wer¬
den: Kinder, die im Arm getragen werden, bezahlen eine Guinee. Da nun
>" New Castle diese Bemerkung in vollem Vertrauen auf das feine Publikum
weggelassen war, so wurde denn auch der Kunstgenuß in Folge gründlicher
Täuschung dieses Vertrauens noch wesentlich erhöht.
In Manchester, einer Stadt von beinahe einer halben Million Einwoh¬
nern, ging, von einer „berühmten" (?) italienischen Gesellschaft ausgeführt, im
ersten Theater die Oper Faust und Margarethe über die Bühne. Die Glanz¬
punkte der ganzen Aufführung waren die zwei sehr schönen falschen Zöpfe
von Gretchen, die ausgezeichnete Virtuosität, mit der Faust den vollendeten
blasirten Roue gab, und ein echtenglischer Backenbart von Mephisto, welcher
auch von einem Italiener mit dem echt romanischen Namen Giulio Perkins
gegeben wurde. Und alle diese Herrlichkeiten wurden von der feinen und
schönen Welt der reichen und großen Stadt stürmisch beklatscht; die Künstler
Waren für diese Beifallsbezeugungen auch so dankbar, Arien und Duette
mehrere Male zu wiederholen. Es erinnerte mich das lebhaft an jene Anek¬
dote von einem alten englischen naturwüchsigen Schiffscapitän, der das Ver¬
engen nach Wiederholung von Gesangsproductionen, wahrscheinlich nach seinen
Schulerinnerungen, falsch verstand, oder sollte er doch Recht gehabt haben?
Das Lärmen und Klatschen in englischen Theatern sowohl vor als auch
nach und während der Scenen gehört mit zu den unangenehmsten Erschei¬
nungen des englischen Volkslebens, besonders wenn man an das ruhige Ver¬
halten des Publikums in deutschen Hoftheatern, welches gewiß mit Recht so
entschieden aufrecht erhalten wird, gewöhnt ist. Es wird höchstens noch über¬
gössen durch die widerwärtige Reclame, die sich überall breit macht und be¬
sonders auch auf Theaterzetteln. Concertprogrammen, Operntexten und Kla-
u'erauszügen mit Text, welche zu Concerten und Opern in England an den
lassen zu haben sind und auch vielfach gekauft werden. So kann es kommen,
daß'in Mitten des Hallelujah's in Handels Messias eine Anzeige über den
besten Thee in ganz England sich findet, oder daß zwischen zwei innigen deut¬
schen Volksliedern mehrere schlüpfrige Romane angepriesen werden. Unsere
deutschen Theaterzettelzeitungen sind gegen den englischen Schwindel unschuldige,
harmlose Kinder.
Weit mehr wirklichen Genuß bieten diejenigen Abendvergnügungen,
welche einzig und allein den Zweck verfolgen, das Publikum zu erheitern.
Lachmuskeln und Zwerchfell in gesunde Bewegung zu bringen. Bor allen
die Minstrels, d. h. als Neger gefärbte und costümirte Europäer erfreuen
sich mit Recht eines starken Zuspruchs, denn es ist gesunder, wenn auch manch¬
mal etwas derber Humor, der hier manche gute musikalische Leistung begleitet
und umkleidet.
Dabei kommt es häusig genug vor, daß auch die Figur eines Deutschen
mit vorgeführt wird um sich auf Kosten anderer Nationen zu belustigen.
Ader es ist nicht der alte deutsche Michel, der außerhalb Deutschlands, so be¬
sonders in der Schweiz in früheren Jahren eine stereotype Figur der humo¬
ristischen Abendunterhaltungen war, es ist nicht mehr jener Prügelknabe von
ganz Europa, sondern gerade im Gegentheil tritt dieser Deutsche in England
mit übertriebenen Selbstbewußtsein auf und dient dadurch zur Zielscheibe des
Witzes der Engländer, welche ihm natürlich in ihrem eigenen Lande mit Leich¬
tigkeit beweisen können, daß Englands Macht, Wissenschaft, Heer und Kunst
der deutschen doch noch unendlich überlegen ist und dabei die Beifall spenden¬
den Lacher auf ihre Seite bekommen. Wenn auch unwillig, so gestehen die
andern Nationen uns doch unsere Machtstellung zu, sie wagen es nicht mehr
sich in höhnischer Weise über Deutschland lustig zu machen und wenn sie dabei
uns Prahlerei'vorhalten und sich in demselben Augenblick selbst verherrlichen,
so wird der unbefangene Zuschauer sicherlich lächeln müssen, es fragt sich nur
über wen. Es zeigt sich hier in einer anscheinend unbedeutenden Farce, wie
sehr sich die Zeiten geändert haben.
In London selbst wird natürlich in theatralischen und musikalischen
Vergnügungen sehr viel geboten und in beiden Künsten giebt es reichliche
Gelegenheit, gute Leistungen bewundern zu können. Die Concerte in der
großmächtigen Alberthalle beim South Kensington Museum sind mit Recht
weltbekannt, denn hier vereinigen sich trotz der colossalen Dimensionen der
Halle — sie umfaßt mit Bequemlichkeit 8000 Zuhörer und können 800—1000
Künstler in derselben zur gleichzeitigen Mitwirkung kommen — ausgezeichnete
Akustik, die selbst noch das schwächste Picmissimo bis in die weitesten Fernen
würdigen läßt, mit vortrefflichen Künstlern und es können hier auch wieder
Massenaufführungen bei Oratorien oder dergleichen mehr zur Geltung kommen,
wie kaum sonst in einer andern Eoncerthalle.
Eine Eigenthümlichkeit der englischen Concerte muß ich hier erwähnen,
d>e allerdings auch bis zu gewissem Grade in Deutschland Eingang gefunden
hat, aber doch bei weitem nicht so weit durchgebildet ist; ich meine die scharfe
Trennung der verschiedenen Musikarten in- den verschiedenen Concerten und die
bewundernswerthe Consequenz, mit der jeden Abend an der. betreffenden Gat¬
tung, von Musik festgehalten wird. Da giebt es den einen Abend klassische
Musik im Allgemeinen, den zweiten nur Bethoven, den dritten nur Offenbach,
den vierten sogenannte englische Musik, den fünften ein Oratorium, den sechsten
Gounot oder Wagner u. s. f. Dieses Gattungs-Programm wird stets auf
Mindestens eine Woche im Voraus festgesetzt und so kann Jeder seinen beson¬
dern Liebhabereien folgen, er kann wenigstens sicher sein, seine Lieblingsmusik
einem bestimmten Abend zu hören zu bekommen, wenn er auch das spe¬
ziellere Programm noch nicht kennt. Wehe freilich dem armen Fremden, der
um dieses oder jenes Lokal zu besuchen, wegen Mangel an Zeit oder unver¬
zeihlicher Unkenntniß in eine Offenbachnacht, oder sonstige englische Liebhabe¬
rin hineinfällt. Er ist selbst in den Hallen der ersten Opernhäuser, die sich
natürlich alle „königlich" nennen, obgleich es nur Privattheater sind, vor
derartiger Musik nicht gesichert, denn was wäre dem Unternehmer heilig, wo
^ Kilt, möglichst große Einnahmen zu erzielen, besonders in der todten
Herbstzeit, in der die kostspieligen Opern durch einfache Concerte verdrängt
werden und demgemäß auch die Preise reduzirt sind.
Daß in der Hauptstadt des Landes Shakspeare's und Garrick's gute Schau-
"ud Lustspielvorstellungen gegeben werden, ist ja zu erwarten und so findet
">an denn auch in diesem Kunstzweige bis zu kleinen Theatern hinab theil-
^else vorzügliche Leistungen. Und doch ist so manches dabei, was mir nicht
behagt. Wie in Deutschland die Possen tagtäglich immer und immer wieder¬
holt werden, bis die ganze Stadt sich daran genugsam ergötzt hat, so
geschieht das hier mit allen theatralischen Vorstellungen, mit Hamlet so gut
^e mit der Fille de Madame Angot, mit Richard Löwenherz ebensowohl wie
'Uit Lg lioi vawtlv, welche Posse sich über den Besuch des Schah von Pechen
den europäischen Höfen lustig macht. Bei Possen mag diese ewige Wieder-
)vlung ihre Berechtigung haben und es läßt sich 5urch neue Couplets und
Lustige neue Witze und eventuelle kleine Abänderungen sowohl das Interesse
^6 Publikums, als auch der Schauspieler rege erhalten. In Tragödien
^se das aber unmöglich und wenn auch die hervorragenden Schauspieler
>es bestreben werden ihre Rolle von Tag zu Tag besser zu erfassen
und den Charakter mit möglichster Vollkommenheit darzustellen, so müssen
Kräfte von zweitem und dritten Range, die es doch auf allen Bühnen giebt,
und die auch stets nothwendig sind, doch unbedingt erlahmen und dadurch
wird dem Zusammenspiel, welches im Allgemeinen sehr gut ist, Abbruch ge¬
than. In, Herbste trat allabendlich auf dem Lyceumtheater der binnen kurzer
Zeit zu großer Berühmtheit gelangte Henry Irving als Hamlet auf und
diese Darstellung des Hamlet gehört sicherlich zu den hervorragendsten
Leistungen schauspielerischer Kunst. Aber neben ihm erschienen der König und
die Königin als die richtigen Kartenspielsiguren, die froh waren, wenn sie ihre
Rolle heruntergeleiert hatten, man merkte außer Hamlet. Laertes und Ophelia
sämmtlichen andern Künstlern und Künstlerinnen die Ermüdung augen¬
fällig an.
Wenn ferner vor der Ausführung von derartigen gottbegnadeter Schöpfun¬
gen eines Shakespeare über dieselbe Bühne eine fade Posse geht, wie dies jetzt
auch in London allgemein üblich ist, so muß man sich wirklich wundern, daß
der größte Schauspieldichter der neuern Zeit nicht noch aus dem Grabe herauf
gegen solche Entehrung protestirt. Shakespeare kannte sein Volk sehr gut
und er hat daher auch in die ernstesten Stücke humoristische Scenen für sein
Parterre und seine Gallerien eingeschaltet, aber wozu nun noch vor und nach
Shakespeare'schen Gestalten fade Dandys und kokettirende Stubenmädchen mit
schlechten Witzen?
Diese Geschmacksverirrung hängt innig mit einer andern Unsitte zu¬
sammen, die sich jetzt auf dem Drury Lane Theater, auf dem einst Garrick
spielte, breit macht. Dort wird in „Richard Löwenherz", einem großen
nationalen Schaustück ernsten Charakters, in welchem Oesterreich sehr schlecht
wegkommt, die englische Fahne auf der Bühne von einem großen prachtvollen
Neufundländer vertheidigt, der Hund tritt hier als handelnde Person auf und
führt, zuerst überwunden, später doch die Entscheidung herbei, indem er den
Räuber der Fahne entdeckt und ihm dadurch zur Bestrafung, seinem Herrn
aber zur Wiederaufnahme durch Richard Löwenherz verhilft. Also gemißt
maßen ein Hund als Hauptperson auf der ersten Schauspielbühne Londons!
Daß dabei auch große Ballets eingeschoben sind, möchte noch angehen, denn
das Stück ist hauptsächlich ein Schaustück, aber auch die Ballets könnten die
Engländer füglich bei Seite lassen,-denn wenn auch die zugehörigen Dekora¬
tionen und die Scenerien vorzüglich sind, wenn auch die Fertigkeit der Tänze¬
rinnen nichts zu wünschen übrig läßt, so fehlt ihnen doch die Grazie der Fran¬
zösinnen, ja sogar die der deutschen gänzlich; und was ist ein Ballet ohne
Liebreiz?
Nun zum Schluß noch einige Bemerkungen über das berühmte Wachs-
figurencabinet von Madame Tostand. Es wird mit Recht mit zu den ersten
Sehenswürdigkeiten von London gerechnet, denn sicherlich giebt es keine zweite
Ausstellung der Art, die solch' eine Fülle von berühmten Personen enthält,
die solche Eleganz der Anordnung zeigt und die in ihren abgetrennten Ge¬
mächern dem sogenannten „Napoleon Roon" so viel werthvolle Reliquien
des ersten französischen Kaisers und neuerdings auch seines Neffen zeigt-
Freilich ist der Napoleoncultus, der hier getrieben wird, etwas widerwärtig
und selbst dann in England kaum zu begreifen, wenn man erwägt, daß die
Begründerin der Ausstellung eine in Paris erzogene Bernenn war, welche zu
Umgebung des französischen Kaisers in naher Beziehung stand. Aber das
wvchte noch angehen, denn man kann ja glücklicher Weise heutigen Tages
über jene Verherrlichung nur lächeln-
Wenn aber z. B, Heinrich VIII. mit seinen 6 Frauen, Eduard VI. und
Thomas Wolsey eine friedliche lebende Gruppe bilden, so ist das schon we-
^ger zu begreifen, wenn man bedenkt, wie viel Blut gerade von diesen Per¬
sonen verflossen ist. Und nun sind gar die sämmtlichen englischen Herrscher
Und Herrscherinnen von Heinrich VI. bis zur blutigen Marie, die also einen
Zeitraum von 3^ Jahrhunderten umfassen, abermals in eine Gruppe zu>
sannnengefaßt, die sich friedlich unterhält. Es wurde mir gesagt, das sei so
^)t englisch; nun diese Auffassung mögen unsere Stammesbrüder getrost für
^behalten. Einige der Figuren sind aber auch herzlich schlecht, so
^sonders die deutsche Kaiserfamilie, die großen Staatsmänner und Generäle
^us den großen Zeiten von 1813 und 1870. Abgesehen von Formalitäten, —
^°Me hat z. B. hellblaue bairische Beinkleider — sind die Gesichter schiech-
^rdings nicht zu erkennen und mit Mac Mensor, Bazaine und andern frän¬
kischen Generälen ist es nicht viel besser.
. heutigen Tages Berlin besucht, wird selten versäumen die neue
^Mgallerie zu sehen und wenn er in das dortige Wachssigurencabinet ein-
über ^ vorzüglichen Aehnlichkeiten und ausgezeichneten Dar-
U'klungen freudig erstaunen. Die Großartigkeit und die Quantität des Lor-
»er Cabinets ist unerreicht, ich ziehe aber die Qualität vor und diese ge¬
ehrt B
Die Bezirks-Präsidenten-Frage für Oberelsaß und Lothringen ist nun
^ definitiv gelöst, nachdem Gerüchte für und wider wochenlang in der
/' ^""bischen und übrigen deutschen Presse umhergeschwirrt waren und die
». ^'che Meinung in diesem Punkte gewissermaßen unsicher gemacht hatten.
Thatsachen, die sich aus dein Gewirre der Gerüchte und Vermuthungen
^ heute feststellen lassen, sind folgende zu verzeichnen: An die Stelle der
lothringschen Bezirks-Präsidenten, Herrn Arnim von Boitzenburg. ist Herr von
Puttkamer getreten. der Ende dieser Woche in Metz eingetroffen ist. Der
oberelsassische Bezirks-Präsident in Colmar, Freiherr v. d. Heydt, wird bis
zum 1. März die laufenden Geschäfte der Verwaltung fortführen und sich
dann in den Ruhestand zurückziehen. Für den alsdann freiwerdenden Posten
ist aller Wahrscheinlichkeit nach der zeitige vortragende Rath im Reichskanzler-
amte. Herr v. Pommer - Esche ausersehen. An eine Reform der elsaß-loth¬
ringschen Verwaltung in dem Sinne, daß ein oder mehrere der jetzt bestehen¬
den drei Bezirks-Präsidien zusammengelegt rosy. mit dem Straßburger Ober-
Präsidium verschmolzen werden sollen. ist zur Zeit absolut nicht zu denken.
Ebenso wenig an eine Verlegung des elsaß - lothringschen Appellationsgerichts-
hofes von Colmar nach Straßburg, ein Gerücht, das gleichfalls schon seit ei¬
nem Vierteljahre herumschlich und bei dieser Gelegenheit selbstverständlich wie¬
der aufgewärmt werden mußte. Von einer dahingehender Vorlage an den
„Landesausschuß" kann also auch nicht die Rede sein. Uebrigens ist der Ter¬
min, an welchem die drei Bezirkstage zu einer außerordentlichen Session
zusammenberufen werden sollten, und den man anfangs als auf den 17. Ja'
nuar firirt annahm, weiter hinausgeschoben worden. Erst dann wird aus
deren Wahl der Landesausschuß hervorgehen. Doch ist nach neuern Infor¬
mationen selbst die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß von einer außerordent¬
lichen Einberufung der Bezirkstage einstweilen ganz abgesehen und dadurch
jene Wahl erst in der ordentlichen Sommersession derselben, d. i. also gegen
Juli — August vorgenommen wurde. Ob diese Verschiebung im Interesse
und zum Besten der Landeseingesessenen gereicht, wollen wir einstweilen dahin¬
gestellt sein lassen.¬
Die erste diesjährige Nummer des Gesetzblattes für Elsaß Lothringen ent
hält die Gesetze über Einführung der deutschen Maß- Gewichts- und Münz-
vrdnung. in die Reichslande. Die erstere dürfte wohl keinerlei Schwierigkeiten be-
gegnen, da sie ja unmittelbar an ältere Verhältnisse und Gewohnheiten anknüpft-
Von weit überwiegender Bedeutung und ein wahrer Segen für das ganze
Land ist aber die Einführung der neuen Neichsmünze, zumal damit die Ab-
sendung von 4 Millionen Stück neuer Kupfermünzen (meist Ein- und Zwei'
Pfennigstücken) nach Straßburg, Ende Dezember vorigen Jahres, in unmittel¬
barer Beziehung steht. In letzterer Hinsicht herrschte nämlich bisher in den
Reichslanden recht eigentlich eine Münznot h. Die Folge davon war, daß
alle möglichen kleinen Münzen aus aller Herren Länder hier im gewöhnlichen
Alltagsverkehr im Umlauf waren. Da sah man preußische Dreier und säch¬
sische Fünfer neben süddeutschen Kreuzern, schweizerische und italienische Schei'
demünze neben den am zahlreichsten vorkommenden Soustücken französischen
und belgischen Gepräges, nach denen im kleinen Berkehr noch innrer gerechnet
wird. Alles war vertreten im Reichslande, nur nicht die kleine Neichsmünze,
Gold - und Silber-Mark schon eher, da die französischen Gold- und Silber¬
stücke frühzeitig über die Börsen gewandert waren. Daneben alle möglichen
„wilden" und zahmen Thalerscheine und sonstigen Bankbillete, mit denen man
no1on8 voler« vorlieb nehmen mußte. Alles das hatte natürlich die größten
Unannehmlichkeiten im täglichen Handel und Wandel und häufige Klagen
von Hoch und Gering zur Folge. Hoffentlich wird es binnen Kurzem der
neuen Neichsmünze gelingen, alles fremde Geld über die Grenze zu jagen,
wohin es gehört.
Im Verein hiermit tauchten in jüngster Zeit vielfache Klagen über die
Härte und Unnachsichtigkeit der deutschen Steuer-Erecution auf. Man warf
den Executoren vor, daß sie es geradezu darauf abgesehen hätten, die Steuer¬
zahler zu prellen und zu veriren, um nur möglichst viele Strafgroschen in
die Taschen zu bekommen. Ein oberelsässisches Blatt, der „<Ä<-wour du
lltwt Min", hatte sogar die Kühnheit, diesen und ähnlichen übertriebenen
Klagen öffentlich Ausdruck zu verleihen und zwar in einer wenig glimpflichen
und für die deutsche Steuerbehörde geradezu beleidigenden Manier. Letztere
stellte Strafantrag gegen den Redacteur. Dieser, ein gewisser Wolflin,
deutschen Namens und französischen Gepräges, dem es nur darauf ankommt,
die Unzufriedenheit seiner Mitbürger, statt sie mit ihrem Schicksal zu ver¬
söhnen, periodisch zu steigern, wurde wegen Verbreitung wahrheitswidriger
Behauptungen und Beleidigung eines Steuerempfängers kürzlich vor dem
Colmarer Zuchtpolizeigericht zur Verantwortung und wohlverdienten Strafe
gezogen. Bei der Verhandlung, welche absichtlich genauer auf das Principielle
der Frage einging, als es der einfache Injurienprozeß verlangte, stellte es sich
nun auf das Evidenteste heraus, daß die jetzigen Executionsgebühren durch¬
schnittlich nur die Hälfte von dem betragen, was die säumigen Steuerpflich¬
tigen zur französischen Zeit zu zahlen hatten. Allerdings ist die deutsche Be¬
hörde coulanter und präziser mit der (Anforderung der fälligen Anträge
sowie im Säumungsfalle mit Einhaltung der Fristen für die Androhung und
event. Vollziehung der Pfändung, wobei dann regelmäßig dem Executor ca.
2 Fras. (früher 5 Fras.) zukommen. Insofern aber eine correcte Geschäfts-
führung in dieser Hinsicht selbst für die Steuerzahler angenehmer sein muß,
als der alte Schlendrian, wo es von dem Belieben gewisser Subalternen ab¬
hing, wen sie die Schärfe des Gesetzes fühlen lassen wollten, insofern also
Jedem mit gleichem Maße gemessen wird, ist ein wirklicher Grund zu Klagen
'n dieser Hinsicht nicht erkennbar.
In Straßburg ist seit dem Beginn der gelinden Witterung — der
Winter scheint uns schon seit Anfang Januar für immer Ade gesagt und
seinem heitern Genossen, dem Frühling Platz gemacht zu haben - die Vaw
thätigkeit wieder allenthalben im vollen Zuge. Augenblicklich geht man rüstig
mit der Abtragung der innern Stadtumwallung ans Werk. Für die Er¬
weiterung der Stadt und die Hinausschiebung ist ein Terrain in Aussicht
genommen, welches ungefähr der Bodenfläche gleichkommt, welche die gegen¬
wärtige Stadt einnimmt, die bekanntlich ziemlich eng zusammengebaut ist und
eigentlich breite Straßen im modernen Styl ebensowenig kennt, wie ihre
Nachbarstadt, das alte krummwinkliche Colmar. Den sofort in die Augen
springenden Vortheil einer solchen Maßregel für Straßburg in commercieller
und industrieller Hinsicht kann nur derjenige verkennen, der eben absichtlich
gegen jede auf Hebung des materiellen Wohles hinzielende Anordnung der
Reichsregierung die Augen verschließen will. Dennoch giebt's solcher unver¬
nünftigen Leute sowohl in Straßburg, wie in dem übrigen Lande. Und sie
sorgen schon dafür, daß ihre Klagen und deren meist sophistische Motivirung
an den Mann kommen. Doch ist gottlob diese Partei der „Unversöhnlichen"
numerisch sehr beschränkt und moralisch ziemlich bedeutungslos. Das Gros
der Bevölkerung lernt sich allmälich in das Unvermeidliche schicken und ist
gerne bereit, das Gute, was ihm die neue Regierung bietet, mit Dank anzu¬
erkennen und auf deren Intentionen, die zu seinem Besten gereichen, um't
So ist denn das Bankgesetz glücklich in dein Hafen und die Session des
Reichstags erfolgreich beendigt. Die Regelung des Bankwesens hatte unzäh¬
lige Klippen zu umschiffen, wie man weiß, aber seitdem das Gesetz, welches
die Regelung enthielt, im Fahrwasser des Reichstags sich befand, ist die Fahrt
doch weit ruhiger von Statten gegangen als man erwartet hatte. In dem
Brief vom 22. November v. I. No. 48 d. Bl., welcher durch einen Irrthum
das Datum des 15. Nov. trägt, ist hier über die Vorstadien des Gesetzes und
über den Ausgang der ersten Berathung im Reichstag berichtet, worden. Die
erste Berathung hatte zur Verweisung an eine Commission geführt, und da
bei der Berathung die Einführung einer Neichsbank sich als der überwiegende
Wunsch des Reichstages kundgegeben, so entstand die Frage, ob die Commission
mit der Einfügung dieser wichtigen Institution in das Gesetz auf eigne Hand
vorgehen sollte. Dieser Weg war indeß thatsächlich ungangbar, obgleich er
formell nicht unzulässig gewesen wäre. . In dem Bericht über die erste Be¬
rathung ist ausgeführt, warum die Reichsbank zwar alle andern Territorial-
ranken neben sich bestehen lassen konnte, aber nicht die preußische. Es wäre
nun ein aussichtsloses Beginnen gewesen, wenn eine Reichstagseommission
ohne EinVerständniß mit den Bundesregierungen auf eigne Gefahr die Hand
an die preußische Bank zu legen gesucht hätte. Die Commission schien also,
um dem Wunsch des Reichstags den Weg zur Verwirklichung zu bahnen,
kein anderes Mittel zu haben, als dem Reichstag vorzuschlagen, den Bundes¬
rath um eine neue Vorlage mit Aufnahme der Reichsbank zu ersuchen. Auf
diesem Weg hätte man aber nicht zur Erledigung der Bankfrage in der gegen¬
wärtigen Session gelangen können. Die preußische Regierung, als die am
meisten betheiligte, kam jedoch dein Wunsch des Reichstags den ganzen Weg
entgegen. Sie legte ihre Bedingungen zur Ueberlassung der preußischen Bank
an das Reich dem Bundesrath vor. Dort wurden diese Bedingungen ge¬
währt und der Reichstagseommission mitgetheilt, in welcher ein Mitglied die¬
selben als Amendement zur ursprünglichen Vorlage des Bundesrathes ein¬
brachte. So konnte die Commission formell aus eigne Hand die Umwandlung
der preußischen Bank in ein Reichsinstitut dem Reichstag vorschlagen und
thatsächlich im Einvelständniß mit den Bundesregierungen. Dadurch wurde
es möglich, die Bankfrage noch in dieser Session zu erledigen. Das Ergeb¬
niß der Commissionsarbeit war dieses, daß die Bestimmungen der ursprüng¬
lichen Vorlage des Bundesrathes hinsichtlich der Privat- und Territorial¬
banken in allen wesentlichen Punkten aufrecht blieben, und daß die Bestim¬
mungen über die Reichsbank als ein neuer Bestandtheil hinzutraten, der
wesentliche Eingriffe in die frühere Gestalt der Vorlage nicht bedingte. Aber
dieses Ergebniß hatte in der Commission heiße Kämpfe gekostet, von denen
Bamberger's Bericht, als des Referenten der Commission, ein meisterhaftes
Bild giebt.
Die Verhandlungen der zweiten und dritten Lesung im Reichstag selbst
haben eine Woche in Anspruch genommen und zu Beschlüssen geführt, welche
das Ergebniß der Commission mit unerheblichen Ausnahmen bestätigen. Nur
an zwei Punkten des Gesetzes entbrannte im Reichstag ein lebhafter Kampf
um die entgegengesetzten Grundanschauungen, aber mit der Bestätigung der
Eonunissionsarbeit ist schließlich der ursprüngliche Entwurf der Bundesregie¬
rungen bis auf die Einfügung der Reichsbank, welche in der beschlossenen
Gestalt die Grundanschauung jenes Entwurfs nicht ändert, stehen geblieben.
Zu dem Werk, das auf diese Weise zu Stande gekommen, dürfen wir uns
Alle nur Glück wünschen. Und auch dazu haben wir alle Ursache uns Glück
su wünschen, daß es möglich ist, im deutschen Reichstag auf ein Gesetz, welches
gegen weitverzweigte materielle Interessen so einschneidend vorgeht und zugleich
die nie ausgetragenen Gegensätze der Theorie so stark herausfordert, die große
Majorität auf dem Wege einer durchaus würdigen Verhandlung zu vereinigen,
wohl gemerkt, was das beste ist, ohne den einheitlichen Grundgedanken des
Gesetzes durch Comvromisse, welche ein halbes Werk bedingen, abzuschwächen.
Wir haben ein ganzes Werk behalten, in demselben Grade wie die Bundes¬
regierungen es vorgelegt hatten und wie es durch seine innere Consequenz bei
der Mittheilung im ersten Entwurf die allgemeine Bewunderung fand.
Das Gesetz, welches wir nun haben, ist ein Gelegenheitsgesetz, aber nicht
im tadelhaften, sondern im lobenswerthen Sinne. Gelegenheitsgesetze sind
verwerflich, wenn sie besagen, daß der Gesetzgeber von einem oberflächlichen
Anlaß sich hinreißen ließ. Gelegenheitsgesetze sind andrerseits die besten Werke
der Gesetzgebungskunst, wenn sie bezeigen, daß der Gesetzgeber eine tiefliegende
concrete Situation sicher erfaßt hat und ihr mit den rechten Mitteln begegnet
ist. Ein solches Gesetz ist das neue Reichsgesetz über das Bankwesen. Aus
der Theorie allein, die man gleichwohl nicht hoch genug halten kann, ent¬
stehen doch niemals zweckmäßige Gesetze. Die Gesetzgebung muß immer den
gegebenen Faktor einer historischen Lage mit allen ihren concreten Bedingungen
neben den Axiomen der Theorie auf das Lebendigste berücksichtigen.
Was auch die Theorie an Streitgründen für und wider vorbringen mag,
wie weit die Banknoten das Metallgeld ergänzen oder sogar, daß sie bedingungs¬
weise es ganz ersetzen können, das deutsche Reich steht unter dem Gebot der
ganz concreten Aufgabe, sich die Goldwährung zu erhalten, die es durchführen
will und zu der es die Mittel angeschafft hat. Vor der zwingenden Klarheit
dieses Gebotes schwanden alle Gegensätze der Theorie und, was noch weit erfreu¬
licher ist, jeder erfolgreiche Widerspruch der entgegengesetzten Interessen.
An zwei Stellen des Gesetzes, wie erwähnt, kam der Kampf der ent¬
gegenstehenden Ansicht zu einem lebhafteren Ausbruch. Zuerst bei der Frage,
ob die Gesammtsumme der ungedeckten Noten, welche von der fünfvrocentigeu
Steuer ungetroffen umlaufen sollen, eine Summe, welche im Regierungsent¬
wurf auf 380 Millionen Mark normirt, von der Commission um S Millionen
erhöht war, um eine weit beträchtlichere Summe erhöht werden sollte. Alles,
was für diese Erhöhung geltend gemacht wurde, zu deren Befürwortern, so^'
fern sie lediglich der Neichsbank zu Gute kommen sollte, auch der geistreiche,
finanzerfahrene und patriotische Referent gehörte, Alles scheiterte an den uner¬
schütterlichen Argumenten vom Tische des Bundesrathes. Einen Theil dieser
Argumente trug der Bundeskommissar, Geh. Rath Michaelis vor, dessen
Name als ingeniösen Erfinders der ersten in den Grundzügen beibehaltenen
Vorlage mit diesem Gesetz in unvergeßlicher Verbindung bleibt, einen andern
Theil der Bundesbevollmächtigte, Finanzminister Camphausen. Michaelis
führte aus, daß die Nothwendigkeit, dem freien Umlauf ungedeckter Banknoten
eine gesetzliche Grenze zu ziehen, unbestreitbar sei. daß aber, diese Nothwen¬
digkeit einmal erkannt, die Grenze eine wirkliche und wirksame, nicht bloß
eine vorgebliche Grenze sein müsse. Eine vorgebliche Grenze werde aber ge¬
zogen, wenn man den freien Umlauf ungedeckter Banknoten in einem Betrag
zulasse, welchen die Wirklichkeit ohne Zuhülfenahme eines Gesetzes je zu er¬
reichen verbiete. Von ganz besonderem Nachdruck und durchschlagender Wirkung
waren die Argumente des Ministers Camphausen, der mit einer seiner besten
Reden einen parlamentarischen Triumph feierte. Er wies nach, das das einzige
^and, welches zur Zeit außer uns die reine Goldwährung besitzt, England
nämlich, dem Banknotenumlauf gegenüber die größte Borsicht beobachtet. Er
wies nach, daß der in Deutschland freigegebene Umlauf ungedeckter Noten bei
der Neichsbank aNein, von den deutschen Territorialbanken abgesehen, beträcht-
Ucher ist als bet der Bank von England. Er wies nach, daß unsere Lage
s"r Aufrechterhaltung der Goldwährung gleichwohl ungünstiger ist als die-
^"'ge Englands, da wir umgeben sind von Ländern, die faktisch nur Papier¬
währung haben und folglich Alles thun können und Alles thun müssen, um
viel als möglich' von unserm Gold an sich zu ziehen. Er wies nach, wie der
deutsche Gewerb- und Handelsstand sich daran gewöhnen muß. den bequemen
Ueberfluß wohlfeiler Zahlungsmittel, der ihm bisher zu Gebote stand, in
Tolge der Goldwährung zu entbehren. Er wies nach, daß dieser Zustand,
^cum er auch nqch eine Weile hätte fortdauern können, uns schließlich aller
übernationalen Zahlungsmittel beraubt hätte: daß wir aber, die Gunst des
Glückes zur Einführung der Goldwährung benutzend und uns damit in den
Besitz der besten internationalen Zahlungsmittel setzend, nicht meinen dürfen,
d'e Waare und den Kaufpreis zu behalten, nämlich zugleich ein werthvolles
und zugleich ein wohlfeiles Zahlungsmittel. Wir mußten wählen, ob wir
mit dem letzteren schließlich allein sitzen bleiben oder mit dem ersteren auf
wohlfeiles Geld verzichten wollten. Die Wahl konnte nicht zweifelhaft sein,
^um sie lautere in letzter Klarstellung: theures Geld oder gar kein Geld,
^ir haben gewählt und richtig gewählt. Nun ist es aber kindisch, um den
Verlust der gewohnten Bequemlichkeit zu jammern, die doch nichts war, als
°>n nur noch auf kurze Zeit geliehenes Gut.
Wir sind es Bamberger, der sich um das Bankgesetz so großes Verdienst
erworben, schuldig, in Kurzem zu erklären, warum er zu den Befürwortern
^ner gesetzlich nicht beschränkten Notenausgabe durch die Neichsbank gehörte.
°der, wenn die gesetzliche Beschränkung auch die Reichsbank treffen sollte, zu
^n Befürwortern eines größern Betrags ungedeckter Noten für die Neichs¬
bank als der Regierungs- und Commissionsentwurf vorgeschlagen. Er vertraute
natürlich auf die Einsicht der Verwaltung eines solchen Instituts und wollte
dieser Einsicht dem freien Ermessen der Umstände gegenüber nicht im Boraus eine
Fessel angelegt haben, Vom Tisch des Bundesrathes wurde aber überzeugend
erwiedert, daß es darauf ankomme, der Bank im Kampf mit unerfüllbaren
Forderungen eine unerschütterliche Position zu geben, und darauf, den An¬
sturm solcher Anforderungen niederzuhalten, damit er sich gar nicht erst erheben
könne, und darauf, das geschäftliche Publikum zur richtigen Bemessung der
nach der Lage Deutschlands möglichen Creditmittel von Anfang der neuen
Situation zu erziehen.
Der zweite Punkt, an welchem ein stärkerer Meinungskampf entbrannte,
war die Stelle des Gesetzes, welche von den Bedingungen handelt, unter welchen
fortan die Territorialbanken ihren Geschäftskreis über das Gebiet des ihnen
ursprünglich verliehenen Privilegiums ausdehnen dürfen. Die ursprüngliche
Regierungsvorlage schrieb eine Reihe einschneidender Bedingungen vor, welche
zum Theil den Kern des ursprünglichen Entwurfs ausmachten, und diese
Stellung auch durch alle Stadien behauptet haben, welche den Gesetzentwurf
durchlaufen. Hierunter war jedoch der sonst ausgeschlossene Fortbetrieb nicht
streng bankmäßiger Geschäfte denjenigen Banken gestattet, welche ihre Noten¬
ausgabe auf den Betrag des am 1. Januar 1874 eingezahlten Grundeapitals
beschränken würden. Die Commission hatte diese Begünstigung gestrichen,
der Reichstag stellte sie bei der zweiten Lesung mit einer einzigen Stimme
Majorität, die, wie man sagt, irrthümlich abgegeben wurde, wieder her, wohl
nicht zum geringsten Theil unter dem Einfluß der Erklärungen vom Bundes¬
rathstisch, welche sich für die Wiederherstellung aussprachen.' Wir hatten also
hier auf der einen Seite im Gegensatz zur Reichsregicrung und zu der ihr
folgenden Majorität Befürworter einer unbeschränkten oder weniger eng limi-
tirten Notenausgabe, aber auf Grundlage eines streng auf gewisse Formen
des Bankeredits eingeschränkten Geschäfts. Diese wollten auch, nachdem sie
ihren Wunsch einer weniger beschränkten Notenausgabe bei der Majorität nicht
durchgesetzt, keiner Notenbank ein anderes als das streng bankmäßige Ge¬
schäft gestatten. Dagegen war die Reichsregierung und mit ihr die Majori¬
tät des Reichstags bei der zweiten Lesung für eine solche Gestattung
Gunsten solcher Banken, welche die Notenausgabe auf den Betrag ihres Grund¬
capitals einschränken wollen. Es standen sich also gegenüber die Forderung
der Sauberkeit des Bankgeschäfts einerseits, andererseits das Interesse, der
Notenausgabe womöglich noch engere Schranken als die schon gegebenen zu
ziehen, selbst um den Preis der Gestattung unbankmäßiger Geschäfte für ein¬
zelne sich weiter einschränkende Banken. Die Befürworter dieser Begünstigung
führten an, daß einzelne Banken, welche einen wohlgesicherten lokalen Geschäfts¬
kreis besitzen sich lieber den Neichsnormativbedingungen nicht eonformiren
Würden, anstatt sich einen Theil ihres eingelebten Localgeschäftes nehmen zu
lassen, Wenn hierauf die Gegner sagten, solches Steifen einzelner Banken
auf ihr Privilegium habe neben der Neichsbank keine Gefahr, so war dies eine
etwas unverständliche Antwort. Denn die Vorstellung, daß die Reichsbank
alle andern Banken beliebig todtschlagen könne, hat doch nur einigen Schein,
wenn die Reichsbank das Recht unbeschränkter Notenausgabe besitzt, das sie
eben nicht erhalten hat.
So mochte man der Neichsregierung beistimmen, daß die Beschränkung
der Notenausgabe Wünschenswerther sei, als die Beseitigung einer local einge-
lebten und dadurch vor Besorgnissen geschützten Hinausschreituug des Bankbe¬
triebes über den correkten Geschäftskreis der Notenbank. Indessen fand Laster
Zur Vermittlung dieses Gegensatzes das El des Columbus mit dem Vorschlag,
d'e Gestaltung unbankmäßiger Geschäfte einzelnen Banken nicht durch das Gesetz,
sondern nach Maßgabe des Bundesrathes bei Beschränkung der Notenausgabe
auf den Betrag des Grundkapitals und bei Nachweisung besonderen Bedürf-
nisses widerruflich zu gestatten. Der Reichstag nahm diesen Vorschlag bei
der dritten Lesung mit unzweifelhafter Majorität in das Gesetz auf. Somit
^ar auch diese Differenz für beide entgegengesetzte Seiten befriedigend gelöst.
Wenn diese unsere Briefe sich den Zweck setzen, gewissermaßen einen
^asvnnirenden Katalog der Reichstagsvorgänge zu geben, das Schwierige und
bedeutsame zu erläutern, das Andere mehr oder minder summarisch anzuführen,
^ haben wir nicht Grund, die leicht geschlichteten Differenzen um untergeord-
nete Modalitäten des Bankgesetzes ausführlich zu verfolgen z. B. über die
Bestimmung der Einlösungsstellen. Dahin rechnen wir selbst die vom Reichs¬
tag in Wegfall gebrachte einprocentige Steuer auf den innerhalb des jeder
^aut zugetheilten Contingents sich bewegenden Betrag ungedeckter Noten.
Das Prinzip der Regierungsvorlage, die ungedeckte Note mit der gedeckten
irgend auf gleichen Fuß zu stellen, ist dadurch etwas abgeschwächt worden;
doch wird der Schade nicht von großem Einfluß sein.
Einige Gegensätze, welche bei der Regelung des Bankwesens in der öffent¬
lichen Meinung stark hervorzutreten schienen, haben den Reichstag gar nicht
beschäftigt. Die verschollene Idee der Bankfreiheit hat in Herrn Eugen Richter
allerdings auch im Reichstag noch einen einzelnen Partisanen gefunden. Die
'u der öffentlichen Meinung viel erörterte Frage aber, ob das Kapital der
Neichsbank aus Staats- oder Privatmitteln zu bilden sei, ist im Reichstag
nar nicht zur Frage gekommen. Das ist ein sehr gutes Zeichen für die Festig¬
et und Verbreitung der richtigen Anschauung. Zur Erläuterung des Gesetzes
Müssen wir indeß dieser Frage, deren Entscheidung trotz der erfreulichen Ein¬
stimmigkeit des Reichstags nicht auf der Hand liegt, noch ein Wort widmen.
Man hat infinuiren wollen, der Standpunkt, der im Gegensatz zur Man-
chesterschule stehenden socialpolitischen Schule bedinge das Eintreten für de»
bantbelncb aus Staatsmitteln. Das ist ein ganzer Irrthum ohne jedes Korn
von Wahrheit. Eine Bank, einerlei ob Ntichsbcmk oder Privatbank, muß
womöglich immer auf Privatmittel gegründet werden. Der Grund ist der.
daß der Bankcredit niemals richtig verwaltet werden kann vom Standpunkt
des direkten öffentlichen Wohls allein. Die Sicherheit und die Verzinsung
des angelegten Capitals müssen unter allen Umständen ebenso gut als das
öffentliche Wohl in Betracht kommen. Vor einem Staatsmitteln entnomme¬
nen Bankcapital werden irrige und schädliche Forderungen nie Halt machen.
Man wird es natürlich finden, daß der Staat sein aufgehäuftes Kapital nö¬
tigenfalls preisgiebt, der sich ja immer wieder an die Steuerzahler halten
kann. Das ist der Irrthum des Socialismus oder Communismus, der dem
Staat die Arbeit der Gesellschaft direkt übertragen will, und der Irrthum
wird dadurch nicht unschädlicher. daß der Staat nur eintreten soll, wenn die
Gesellschaft oder ein Theil derselben zu Ende gewirthschaftet hat. Es giebt
Gebiete, die jetzt der Thätigkeit der Gesellschaft überlassen sind, wo wir die
Vorzüge des alleinigen Staatsbetriebes immer mehr einsehen werden. So
beim Eisenbahnbetrieb. Aber das Bankwesen ist seiner unveränderlichen Natur
nach ein Geschäft Einzelner für den Einzelnen, und wenn alle Nationen zu
großen Staatsbanken kommen, so ist jene Grundeigenschaft nicht im mindesten
ausgehoben. Die Staatsbank ist nur insofern Staatsbank, als der Staat
den Privatbetrieb bis in die Geschäftsbesorgung überwacht' oder dieselbe so¬
gar durch seine Organe versehen läßt, um die Gefahr des Mißbrauchs un¬
möglich zu machen. Das Geschäft selbst bleibt seinem Wesen nach in den
Grenzen des Privatvortheils und bedingt durch die Bürgschaften desselben.
So haben wir denn ein seiner schwierigen Aufgabe so entsprechendes Ge¬
setz erhalten, wie es bei dem vor kurzem noch herrschenden Chaos der Mei-
nungen sobald unerreichbar schien. Eine einzige Bestimmung ist hineinge¬
kommen gleichsam als Denkmal, wie hart auch die bestgefundenen Entschlie¬
ßungen an der Grenze des Unverstandes vorbeisegeln müssen. Das ist die
Bestimmung, welche die Zweiganstalten der Reichsbank dem Besteuerungsrecht
der Gemeinden unterwirft. Vergebens suchte der Abgeordnete Oppenheim mit
treffenden Gründen diesen Mißgriff abzuwehren. Hoffen wir, daß er zum
Guten dient, indem er die Nothwendigkeit, den Gemeinden alle Steuern bis
auf die ihnen allein zu überlassende Grundsteuer zu überbieten, immer deut¬
licher zum Bewußtsein bringt. — Einen Punkt hat das Bankgesetz unerledigt
gelassen, indem es keinen Weg angiebt, uns von dem Reichspapiergeld, das
an die Stelle des Papiergeldes der Einzelstaaten treten soll, durch die Banken
zu befreien. Doch war dies keine ganz leichte Frage, nachdem wir einmal
das Gesetz zur Einführung des Reichspapiergeldes bekommen haben, und diese
Frage mochte, um die jetzige Aufgabe nicht noch mehr zu erschweren, einer
späteren Erledigung vorbehalten bleiben.
Was uns das Bankgesetz gegeben, ist eine Neichsbank, ein begrenzter
Gesammtumlauf der ungedeckten Noten, eine sicherstellende Normirung des
Betriebs der bisherigen Banken, eine gegenseitige Annahme ihrer Noten durch
alle Banken und damit die annähernde Herstellung einer einzigen Klasse von
Banknoten; endlich die Möglichkeit, in einer gemessenen Frist alle besondern
Bankprivilegien aufzuheben und, wenn die fernere Erfahrung dafür spricht,
zum System einer einzigen Bank überzugehen. Wo die neuen Bestimmungen
nach irgend einer Richtung sich zu eng erweisen sollten, wie von manchen
Seiten z. B. gefürchtet wird bei der Beschränkung der Noten auf den Mini¬
malbetrag von 100 Mark, da würde die Erweiterung, sobald der Erfahrungs-
deweis geliefert, vor dem Eintritt erheblichen Schadens möglich sein. So
darf man hoffen, daß dieses Gesetz sich als gelungenes Werk bewährt. Doch
glauben wir, daß seine Schranken eher enger als weiter mit der Zeit gezogen
werden, müssen.
Mit diesem Werk schließt der Reichstag seine Session. Er hat in dieser
Session ein großes Gesetzgebungswerk zum Abschluß gebracht, nämlich die
Heeresgesetzgebung durch das Landsturmgesetz; ein großes Gesetzgebungswerk
auf die ersten Wege geleitet, nämlich die Herstellung des einheitlichen deutschen
Rechts durch das Gesetz über die Ausnahmebefugnisse der Justizcommission;
ein großes Gesetzgebungswerk bis an das letzte Stadium gebracht, nämlich
die Regelung des Geldwesens durch das Bankgesetz, welches das vierte Gesetz
in der MÄMÄ enarw unseres neugeordneten Geldwesens ist; und ein großes
Gesetzgebungswerk in der Mitte der Arbeit um ein wichtiges Stück vermehrt,
nämlich die Kirchengesetzgebung durch das Gesetz über die bürgerliche Ehe¬
schließung und die bürgerlichen Standesbücher im ganzen Reich.
Die Ereignisse, welche in den letzten Monaten in Louisiana sich abgespielt
haben, und deren Endresultat für die arme Bevölkerung dieses Staates unsrer
Republik noch gar nicht zu bestimmen ist, werden auf die Entwickelung der
Geschichte der Vereinigten Staaten, einen weittragenderen Einfluß üben als
die leichtmüthigen Politiker, die sie in Scene setzten, wohl ahnen. Sie haben
gezeigt, wie eifersüchtig das ganze große Land wacht über den Freiheiten
seiner Bürger; sie werden eine Warnung sein für alle künftigen Generationen.
Und daß sie das sein können, daß der schädliche, für die freiheitliche Ent¬
wickelung des amerikanischen Volkes fast tödtliche Hauch dieser Ereignisse bei
Zeiten in ihrer ganzen Gefährlichkeit erkannt wurde, verdanken wir haupt¬
sächlich dem tapferen Senator von Missouri, unserem Landsmann Karl Schurz.
— Den Gang der Begebenheiten selbst kurz, aber doch erschöpfend, zu schildern
überlassen wir unten diesem Manne selbst. Wir wollen aber doch selbst vor¬
her kurz feststellen, wie die Masse des amerikanischen Volkes, oder der Reprä¬
sentanten desselben, die wir bis jetzt hier vernehmen konnten, wie die Presse
und die Mitglieder des Congresses über die traurigen Begebenheiten urtheilen.
Jahre lang war es Grundsatz der herrschenden, sogenannten republikani¬
schen Partei, durch ihre Presse, durch ihre Sprecher das Volk des Nordens
in den Glauben zu wiegen, die Neger der früheren Rebellenstaaten seien in
ihrer Existenz selbst bedroht, wenn sie nicht durch die Regierung direct be¬
schützt würden, wenn dem Einfluß der Weißen des Südens, der früheren
Rebellen und Hochverräther, nicht mit allen erlaubten Mitteln entgegengewirkt
würde. Die ersten Jahre nach dem Rebellionskrieg fand diese Behauptung
viele willige Verfechter und Anhänger — waren doch die Südländer erbitterte
Feinde der Union gewesen, während die Schwarzen die einzigen waren, welche
den gefangenen Unionisten ihre Leiden zu mildern strebten, ja häufig mit
Gefahr für das eigene Leben denselben zur Flucht verhalfen. — Diese Freunde
der „Sache" mußten beschützt und belohnt werden. Beides geschah am Besten,
dachte man, wenn dieselben die vollen Bürgerrechte erhielten, wenn sie auch
ihre Vertreter, sowohl zu den staatlichen Legislaturen als zu dem Congreß
der Ver. Staaten wählen durften. Es geschah — Vier Millionen Sclaven
wurden freie Bürger, kurz darauf auch Bürger, die mit allen Bürgerrechten
ausgestattet wurden. Nahezu eine Million Wähler wurde geschaffen, deren
überwiegende Majorität bisher kaum einen Begriff von staatlichen Einrich¬
tungen kannte, geschweige denn die nöthige Bildung besaß, um selbst Vertreter
des Volkes aus ihrer Mitte zu wählen, die geeignet gewesen wären, das
wichtigste aller Volksrechte zu üben, Gesetze zu schaffen. Die Weißen des
Südens dagegen waren die ersten Jahre nach Beendigung des Kriegs zum
größten Theil entrechtet. Alle die Männer, deren oft hohe Bildung sie dazu
befähigte, die Staatsgeschäfte zu leiten, waren aller ihrer bürgerlichen Rechte
beraubt, — als Rebellen. Diese Verhältnisse benutzten Abenteurer aus dem
Norden, welche alle „Helden für die Union" gewesen waren, um sich von
den Schwarzen zu ihren Vertretern in den Legislaturen, zu ihren Gouver¬
neuren, zu ihren Congreßmitgliedern wählen zu lassen. So entstand in den
meisten früheren Nebellenstaaten, eine Regierungspartei und Clique, deren
einziger Zweck war, mit Hülfe der schwarzen Wähler sich im Besitz der Macht
zu erhalten und diese Macht dazu auszunützen, sich selbst aus Kosten der
Staaten, die sie mitregierten, zu bereichern. Sie erreichten ihren Zweck so vor¬
trefflich, daß z. B. in Südcarolina allein 2^ Millionen Acres Land in zwei
Jahren wegen rückständiger Steuern durch den Sheriff verkauft werden mußten.
Georgia, Alabama, Louisiana, kamen bis an den Rand des Staatsbankrotts.
Die Weißen erhielten zwar bekanntlich später ihre Rechte wieder; aber die
Zahl der weißen Wähler ist in den meisten früheren Sclavenstaaten in der
Minderzahl den schwarzen gegenüber.
Die Grundidee der jetzigen Bewegung im Süden geht aus dem Bestreben
der Weißen hervor, den unwissenden Schwarzen und den Abenteurern die
durch sie regieren, die Macht zu entreißen und ihre Staaten vor dem Ruine
zu retten, auf welchen sie mit rasender Geschwindigkeit zueilen. Die Weißen
benutzten dazu vorwiegend gesetzliche Mittel, Ueberzeugungsgründe den besseren
Negern gegenüber, denen sie vorstellen, daß alle guten Bürger ein gleich
hohes Interesse haben, die Staaten von den Blutsaugern zu erlösen. Vor
zwei Jahren schon gelang das in Georgia, Nordcarolina, Alabama — letzten
Herbst in allen Südstaaten, auch in Louisiana durch Ausübung des freien
Stimmrechts. — In Louisiana versucht die bisherige Regierung der Corrup-
tion, des privilegirten Raubes am Staatsgut, diese Wahl, welche ihnen alle
Macht nehmen soll, nicht anzuerkennen — und dem Zusammentreten der neu
gewählten Legislative trat sie deßhalb am 4. Januar mit bewaffneter Hand
entgegen.
Die Meinung des nordamerikanischen Volkes über dieses gewaltthätige
Einschreiten ist folgendermaßen gespalten. Es wird verurtheilt und Rechen¬
schaft und Bestrafung seiner Urheber gefordert von den vereinigten „demokra¬
tischen" und „Reform-Parteien", deren Koalition im November vorigen Jahres
bei den Wahlen so glänzend siegte, ferner von allen besseren Elementen der
republikanischen Partei, all jenen Männer, die bisher noch durch jene alten Ruh¬
mestage an diese Partei gefesselt waren, als dieselbe die Rebellion und Sclaverei
niederschmetterte und mit blutigen Opfern die Staatseinheit wahrte. Diese
Partei ist über die neuesten Ereignisse so getheilter Meinung, daß Zeitungen,
welche bisher als tonangebende Parteiorgane angesehen wurden, wie die
New-Aork- Evening-Post, Albany Journal, Albany Expreß u. s. w. sich
entschieden gegen die Machtüberschreitung Kellog's und das Auftreten des
Präsidenten Grant ausgesprochen haben; ja, daß im Cabinet selber die
Minister Fish, Bristow, Robeson und Jewell diesen Verfassungsbruch euer-,
gisch mißbilligen. Der Einfluß dieser Letzteren ist es, der das Ministerium
Grant's vor weiterem Vorgehen auf der in Louisiana von seinen Parteige¬
nossen betretenen schiefen Ebene zurückgehalten hat.
So sehen wir, daß das Volk in überwiegender Mehrheit diese Begehen-
Heiden in New-Orleans mißbilligt. Oder um mit den Worten eines der
vornehmsten bisherigen Verfechter des „Grant'schen" Regierungssystems, des
Vice-Präsidenten der Vereinigten Staaten Wilson zu sprechen: „Das Land ist
wie hundert zu eins gegen uns in dieser Angelegenheit!" —
Die Rede, welche Karl Schurz in dieser Angelegenheit am 11. Januar
im Senate der Vereinigten Staaten hielt, war epochemachend. Die Gallerten
waren überfüllt, die Gänge, die Ankleidezimmer, die Bibliothek, neben dem
Senatssaal, waren bis zum Ueberfluthen gedrängt voll Menschen. Das
Cabinet Grant's war durch fünf seiner Minister im Zuhörerraum vertreten,
von den Senatoren fehlte kaum Einer, — Alle aber lauschten den beredten
Worten des Senators Schurz, dessen Reden über wichtige Vorkommnisse über¬
haupt stets als ein Staatsereigniß betrachtet werden. Seit seiner großen
Rede im Jahre 1872 über die Untersuchung wegen des Verkaufs von Waffen
an die Franzosen, waren nicht so viele Zuhörer auf den Gallerien u. f. w.
erschienen. Seine neueste Rede wirkte besonders deßhalb, weil dieselbe den Ur¬
hebern des Attentats jeden Entschuldigungsgrund der That von Anfang an
entzog. Leider ist es uns nur möglich, einige Stellen der Rede, herauszu¬
greifen, Stellen welche am meisten Eindruck machten, und deren klare Logik
und tiefe Staatsweisheit möglichste Verbreitung verdient.
„Eins" sagte Schurz „hütet ein freies Volk, das unter einer verfassungs¬
treuen Regierung lebt, mit besonderer Eifersucht, als die hauptsächlichste Ga¬
rantie republikanischer Institutionen; das ist die absolute Freiheit der Legis¬
latur vor Einmischung von Seiten der Executive, besonders vor einer Ein¬
mischung mit Gewalt. Deßhalb ist solche Einmischung in einem wirklich con-
stjtutionellen Staat, mögen die Beschlüsse der Legislative gut oder schlecht
sein, besonders wenn es sich um die Aufnahme ihrer eignen Mitglieder han¬
delt, sehr entschieden verdammt; mag diese Einmischung durch einen Gouver¬
neur, Präsidenten oder König ausgeführt werden. Und wenn je solche Ein¬
mischung von Erfolg gekrönt ist, wird dieselbe gerechterweise angesehen als
ein bedauerliches Merkmal der Abnahme des Verständnisses für freie Institu¬
tionen. Ein andres Grundrecht, welches das amerikanische Volk besonders heilig
hält und ansieht als ein Lebenselement seiner republikanischen Freiheit, ist
das Recht, seine Loealangelegenheiten unabhängig zu führen durch die Aus¬
übung des „Selfgouvernement", welches in dem Organismus der Einzelstaaten
besteht; deßhalb finden wir in der Verfassung dieser Republik das Recht der
Bundes-Regierung in die Angelegenheiten des Staates sich einzumischen, scru-
pulös auf einige bestimmt bezeichnete Fälle beschränkt, und nur unter streng vor¬
geschriebenen Formen ist solche Einmischung erlaubt, — wenn diese Ein¬
schränkung aber von unseren Central-Behörden rücksichtslos mißachtet wird,
so können wir sicherlich sagen, daß unser System republikanischer Negierung
in Gefahr ist. — In der Verfassung finden wir nur einen Satz, der auf
diese Angelegenheit Bezug hat. Sie sagt im § 4 des Artikel IV: „Die Ver¬
einigten Staaten sollen jedem Staat dieser Union eine republikanische Regie¬
rungsform garantiren. und jeden einzelnen gegen einen Einfall schützen, und
auf Ansuchen der Legislative, oder auf Ansuchen der Executive, wenn die
Legislative nicht berufen werden kann, gegen innere Gewaltthat
schützen." Zwei Gesetze schreiben vor, wie dieser Artikel der Verfassung aus¬
geführt werden soll, das Gesetz von 1795 und das von 1807. Ersteres
^ge: „Im Fall eines Aufstandes in einem Staate gegen die Regierung
desselben soll der Präsident der Vereinigten Staaten berechtigt und ver¬
pflichtet sein, auf Ansuchen der Legislative des Staates, oder der Executive
desselben, wenn die Legislative nicht berufen werden kann, die Milizen der
anderen Staaten aufzurufen und den Aufstand zu unterdrücken." Das Gesetz
vini 1807 erlaubt dem Präsidenten auch die Armee und Flotte der Union zu
demselben Zwecke zu benutzen, wenn dieselben Voraussetzungen, welche im Gesetz
von 1793 festgestellt sind, vorliegen.
Das ist Alles.
Am 14. September 1874 war in Louisiana ein Aufstand gegen die
Regierung des Staates, welche durch den Präsidenten anerkannt war. Die
Staatsregierung war durch die Aufständischen über den Haufen geworfen
worden. Nachdem der Präsident, durch den Gouverneur des Staates Kellog
^ Hülfe gebeten wurde, erließ er eine Proclomation, welche den Aufstän¬
dischen befahl, auseinander zu gehen. Dies geschah sofort, und die Negierung
bon Kellog wurde wieder eingesetzt und wurde seitdem nicht wieder angegriffen.
Der Aufstand war vollständig zu Ende. — Am 4. Januar war kein Aufstand.
Der Staat Louisiana war ruhig. Den Gesetzen wurde gehorcht, es lag keine
'»nere Gewaltthat vor, ja nicht ein Mal ein Versuch, solche zu erzeugen. —
Das Regierungsgebäude wurde von den bewaffneten Mannschaften des Gou¬
verneurs umringt, es wurde derselben keinerlei Widerstand entgegengesetzt;
^denfalls hat die Legislative nicht den Präsidenten um militärische Hülfe
^gesprochen, und der Gouverneur hatte es nicht nöthig, da es an der Vor-
edingung fehlte, welche jene Intervention gerechtfertigt haben würde, daß
Ärmlich „die Legislative nicht berufen werden könne"; denn gerade an diesem
^age versammelte sich dieselbe, alle gesetzlichen Normen erfüllend. Aber ob-
^°si nicht der schwächste Schatten dessen vorlag, was das Gesetz und
d'e Verfassung für Fälle der Art vorschreiben, schritten die Truppen
er Vereinigten Staaten ein, nicht gegen einen Aufstand, nicht gegen
ente, die eine öffentliche Ruhestörung erzeugten, sondern gegen den
gesetzgebenden Körper selbst, und die Truppen wurden verwendet um einen
efehl des Gouverneurs auszuführen, um zu entscheiden, welche Personen
zu einem Sitz in der Legislative berechtigt, sein sollten, und welche nicht. —
Welche Maßnahme, welches Gesetz befindet sich in den Landesgesetzen um solches
Einschreiten zu rechtfertigen? — Zur Entschuldigung bringt man vor, daß
die Personen, welche durch Truppen aus der Kammer geworfen wurden, nicht
die gesetzlich gewählten Repräsentanten gewesen seien. Nehmen wir an, es sei
so, doch darum handelt es sich nicht. — Die Frage ist: wo ist das constitu-
tionelle Prinzip, wo das Gesetz, welches Soldaten der vereinigten Staaten
erlaubt, mit den Waffen in der Hand zu entscheiden, wer ein rechtlich erwähl¬
tes Mitglied einer Staats - Legislative ist, und wer nicht? — Man sagt, daß
die Art und Weise, wie sich die Kammer organisirte, nicht in Einklang ge¬
wesen sei mit den Gesetzen des Staates? Angenommen, das wäre der Fall
gewesen. Aber darum handelt es sich nicht! Die Frage ist, wo ist die con-
stitutionelle und gesetzliche Rechtfertigung, welche den Bajonetten der Staats-
lruppen erlaubt, die Gesetze der Staaten auszulegen, und für und in den
Kammern Streitpunkte parlamentarischer Praxis zu entscheiden? — Man
sagt, der Gouverneur habe die Hülfe der Bundessoldaten begehrt um die Kam¬
mer von unberechtigten Mitgliedern zu säubern! Das mag sein, aber darum
handelt es sich nicht! Die Frage ist, wo ist das Gesetz, welches den Bundes¬
truppen gestattet auf Geheiß eines Gouverneurs unbedingt zu gehorchen, des
Gouverneurs, welcher entscheiden will, welches die rechtlichen Mitglieder der
Legislative sind, welche nach allen Vorschriften der Gesetze sich versammelt
und organisirt? — Ferner wird gesagt, daß Unannehmlichkeiten und Streit
zu befürchten sei zwischen den sich gegenüberstehenden Parteien! Nehmen
wir an, das wäre der Fall gewesen; aber auch darum handelt es sich nicht!
Es fragt sich wo ist das Gesetz, welches der Bundesregierung gestattet, im
Fall bevorstehender Unruhen, ihre bewaffnete Macht dazu zu benutzen, in
eine Kammer einzudringen und deren Mitglieder herauszuzerren, um andern
Personen zu ermöglichen, die leeren Sitze einzunehmen? — Wo ist das Gesetz,
frage ich? Sie werden die Verfassung und Gesetzbücher umsonst darnach durch¬
suchen." —
Und später sagte Schurz: - „Es ist nicht der Erfolg Napoleonischen
Ehrgeizes, den ich befürchte, denn bestände er auch, so hätte derselbe gegen
ein amerikanisches, nicht gegen ein französisches Volk aufzutreten; aber wofür
ich Gründe habe zu fürchten, wenn wir auf der bisherigen Bahn weitergehen,
ist, daß dies Triebwerk der Administration mehr und mehr nur zum Werk¬
zeug von Cliquen werde, ein Werkzeug, Majoritäten zu schaffen und ein
Plünderungssystem zu organisiren!" Und dann, als Schurz die Senatoren
der herrschenden Partei warnt, sagte er: „Senatoren, Ihr wißt nicht, wohin
Ihr treibt, wenn Ihr nun nicht Halt macht. Ihr wolltet nur die Schwarzen
schützen in ihren Rechten, und um dies zu thun, Eure Freunde in der Macht
erhalten! Ihr wolltet das nicht „Russisch" thun, aber von kleinen Anfängen
'se Etwas daraus entstanden, was dem „Russischen" verdächtig ähnlich sieht;
noch mehrere Schritte weiter und Ihr hättet das ganze Russisch! . , . Fahrt
^hr fort, so wird der Geist unsrer verfassungsmäßig?« Negierung bald todt
Wu- Wer wüßte nicht, daß Republiken bisweilen zum Schauplatz von
Verwirrung, Unruhen und Gewaltthätigkeiten werden, vielleicht mehr noch
^s Monarchien, welche durch despotische Gesetze regiert werden? Die Insti¬
tutionen von Republiken haben einen Preis zu zahlen für die große Wohl¬
that der Freiheit ihrer Verfassung. Aber wir wissen auch, daß in Republiken
--nlmittel für alles das gefunden werden, welche vollständig im Einklang sind
"Ut dem Geist und der Form republikanischer Institutionen und einer
Institutionellen Regierung. . . . Haben wir die Geschichte des „Falls der
' ^'ubliken" umsonst gelesen? Sie giebt uns eine wohlbekannte, aber sürch-
Muh lehrreiche Lection. Usurpatoren und Plünderer, welche in Besitz der Macht
?N5>, rechtfertigen ihre Machtübergriffe mit dem hohlen Vorwand, die gesetzlichen
^ge reichten nicht mehr aus, Ordnung herzustellen. . . O, Senatoren, es
> hohe Zeit, daß wir zu dem Verständniß kommen, daß wir in dieser Re¬
publik nicht Ordnung und den Gesetzen Geltung schaffen, wenn wir hier in
Unserer hohen Stellung als Volksrepräsentanten es gestatten, daß die Exe¬
cutive ihr? Machtbefugnisse überschreitet. . . . Senatoren, täuscht Euch nicht!
jemandem gelingt es, die wichtige constitutionelle Frage, welche vor uns
^t, zu verdunkeln, durch Nebenfragen unklar zu machen; von welchem
Endpunkt Ihr sie auch anseht: von jeder rechtlichen Erwägung, vom mora-
, ^en Necht und. Gerechtigkeit, von dem politischen Standpunkte und dem-
^"'gen allgemeiner Wohlfahrt, Alles stellt die That, welche in Louisina verübt
,,^'ve, in nur grellerem Lichte hin: als einen ungesetzlichen Uebergriff von
^siehtsioser Gewalt, welche Unrecht und Unheil in ihrem Schooße birgt!
Müssen ihr ins Antlitz sehen! Und da wir Männer sind, hierher gestellt
^ Allem' als die Hüter der Verfassung und Gesetze, als die Vertheidiger
Ng verbriefter Rechte und Freiheiten, müssen wir ihr muthig ins Antlitz
)en. h^in, je ist der Zeitpunkt, wo der Patriot über die Partei
''es erheben sollte!"
Und es haben sich so viele Patrioten zu diesem allein richtigen Stand¬
punkt erhoben, daß Granr und dessen Genossen heute kaum mehr eine Partei
hinter sich bilden. ^. Wie die Rede von Schurz aber wirkte, hat Ihnen sicherlich
^ngst der Telegraph gemeldet; denn die Louisianische Frage wurde in seinem
'une geschlichtet, d. h. im Sinne des Gesetzes, der Ruhe und Ordnung.
H. Schürmann (evangelischer Pfarrer zu Solingen), „Petrus und
Papstthum im Licht der Bibel, mit einem Anhange: Louise Lateau, Roms
neuester Triumph." (Barmer, Hugo Klein I87S.) — Je tiefer es zu beklagen
ist, daß ein (allerdings winziger) Bruchtheil des deutschen Protestantismus,
der am besten durch sein Organ, die „Kreuzzeitung", charakterisirt wird, sich
mit den Ultramontanen verbindet, um das deutsche Reich und seine Politik
zu bekriegen: um so freudiger verdient jeder Versuch protestantischer Theo¬
logen, den hart kämpfenden altkatholischen Brüdern die Hand zu reichen,
Anerkennung und lebhafte Unterstützung. Am segensreichsten aber wirken
wohl diejenigen Schriften der protestantischen praktischen Theologie — sit.
vorn verbo, — welche in genauer Kenntniß des Bildungsgrades und Her¬
zensbedürfnisses der von der ultramontanen Propaganda am meisten bedrohten
Bevölkerung unsrer Westmarken, sich mit klaren, zündenden deutschen Worten
direct an das Verständniß der Menge wendet. Eine solche Schrift, welcher
die weiteste Verbreitung zu wünschen wäre in Rheinland und Westphalen, in
Schlesien und Posen und Oberbaiern und in allen sonstigen Domänen des
Ultramontanismus, ist die vorliegende. Das Hauptbollwerk des Papalsystems,
wie es durch die Unfehlbarkeitserklärung gekrönt worden, ist und bleibt
immer die Lehre, daß die päpstliche Hierarchie auf der heiligen Schrift
und den Satzungen des Erlösers selbst beruhe, d. h. aus der angeblich vom
Heiland selbst geordneten bevorzugten Stellung (dem „Pontifieat") des Petrus.
Die Widerlegung und Enthüllung dieser raffinirten Fälschung ist bisher
zumeist der wissenschaftlichen Theologie oder doch kritischen Darlegungen
überlassen worden, welche sich an einen beschränkten Kreis „Gebildeter" rich¬
teten. Die vorliegende Schrift aber unternimmt mit Glück den Versuch, die
exegetische Arbeit, welche mit dem Nachweise nothwendig verbunden ist, daß
die päpstliche Hierarchie mit den von ihr beanspruchten Gewalten mit Nichten
auf den heiligen Urkunden des Christenthums, sondern einzig und allein auf
der Legende süße, in einer volksthümlichen, spannenden und Allen hochin¬
teressanter Weise zur Darstellung zu bringen. Die Wirkung dieser Schrift
verspricht — zunächst in der Bevölkerung des Rheinlandes, in deren Mitte der
Verfasser als bekannter Prediger thätig ist, eine um so tiefere zu werden, als
die vortreffliche Kanzelrede, welche der Verfasser am Sonntag nach dem
Kissinger Attentat in der evangelischen Kirche zu Solingen hielt und später
im Druck herausgab („Wie stehen wir Evangelische zum Kampf der Gegen¬
wart?" Solingen, Albert Pfeiffer) noch heute landauf landab unvergessen
ist, und, wie die vorliegende Schrift, eine ebenso patriotische als wahrhaft
Unter dieser Ueberschrift berichtet die Evangelische (Hengstenberg-Tauscher-
sche) Kirchenzeitung 1874 Ur. 78 aus Berlin: „Der Theologen-Mangel
scheint im Wachsen zu bleiben. Im letzten Schuljahre hat in Berlin das
Joachimsthalsche Gymnasium 18, das Friedrich-Wilhelms - Gymnasium ne,
das Wilhelms-Gymnasium 25, das Französische Gymnasium 6 Abiturienten
mit dem Zeugniß der Reife entlassen. Von diesen 65 Abiturienten wollen
zwei Theologie und Philologie studiren; nur einer will sich der Theo¬
logie ausschließlich widmen."
Und so berichtet das Wiener Evangelische Kirchenblatt Ur. 1. vom
15. Januar 1875 aus Oberkärnten: „Der Theologen-Mangel ist groß, wir
haben Ursache, den Herrn zu bitten, daß er Arbeiter sende. Daß unsere Ver¬
hältnisse übrigens nicht besonders dazu angethan sind, strebsame junge Theo¬
logen in unser Alpenland zu locken, ist wohl weit und breit bekannt: wir
leben mit unserer „Besoldung" noch immer im josephinischen Zeitalter, und
ein wohlbestellter evangelischer Pastor Kärntens muß meist
leben, als ob er mit Weib und Kind das Gelübde der Armuth
abgelegt hätte :c."
Also — von Oesterreich hier nicht weiter zu reden — auch in Preußen, und
sogar in der Metropole der Intelligenz und des Pietismus zugleich tritt eine
so außerordentliche Abnahme des Studiums der Theologie ein. Eine beach-
tenswerthe Erscheinung für ein hochwichtiges, ja das wichtigste Interesse des
menschlichen Zusammenlebens, das mit Recht neben den anderen Fragen der
Gegenwart das Nachdenken aller denkenden gebildeten Kreise auf sich zieht,
so d,aß jeder aufgefordert ist, nach Kräften das Seine beizutragen zur Wahrung
des religiös-kirchlichen Interesses, wie zur Würdigung und Lösung der Frage,
woher die Abneigung gegen das Studium der Theologie und den Kirchen¬
dienst kommt, welche in Wahrheit das religiös-kirchliche Interesse schwer zu
gefährden scheint. Es handelt sich aber in erster Reihe darum, den Gründen
dieser Erscheinung nachzugehen, und, wenn die Gründe erkannt sind, die Mittel
zur Abhülfe wenigstens zu bezeichnen.
Es läßt sich nun im Voraus erwarten, daß, wie das ganze menschliche
Leben in seiner Entwicklung und seinen Zuständen von den materiellen und
geistigen Gütern und Interessen abhängt, so auch diese Erscheinung ebenso
durch materielle, wie durch geistige Güter bedingt ist, deren causales Zusam¬
menwirken nach zeitlichen und örtlichen Verhältnissen verschieden sein kann,
aber nie gefehlt hat und auch nie fehlen wird. Es kann sich also nur darum
handeln, diese Gründe in ihrem jedesmaligen Verhältnisse und ihrer besonderen,
den Ausschlag gebenden Bedeutung zu erkennen, und so die rechte Diagnose
der Krankheit zu stellen, von der jene Erscheinungen nur die auf der Ober¬
fläche erscheinenden Symptome sind.
Wir nehmen nun keinen Anstand zu erklären, daß der Theologen-Mangel
in der gegenwärtigen Zeit vorzugsweise materielle Gründe hat, so gewiß zu
diesen auch geistige in den theologischen und kirchlichen Zuständen der Gegen¬
wart treten und sie verstärken.
Sicher darf zuerst über jene Erscheinung, daß von 65 Abiturienten von
sämmtlichen Berliner Gymnasien nur Einer sich zum Studium der Theologie
entschlossen hat, zweierlei ausgesprochen werden:
1) es liegt nicht an den Zuständen der Theologie, weder im Großen,
dem Verhältniß der Wissenschaft zu den anderen Wissenschaften, und der
Stellung der Laien zu ihr („der Ausnahmestellung, wie die Ev. K> Z. sagt,
welche der Liberalismus den Geistlichen anweist"), noch an den Richtungen
der Facultäten. Letztere kämen erst in Frage, wenn es sich darum handelte,
wohin sich die Mehrzahl der Abiturienten zum Studium der Theologie wendete.
Aber die Sache liegt nach dem vorstehenden Artikel der Ev. K. Z. so, daß
überhaupt niemand mehr Theologie studieren will, von 65 Einer, sage Einer
in Berlin. Das ist noch schlimmer als in Darmstadt, wo im Herbste 1874
von 31 Abiturienten auch nur Einer sich zum Studium der Theologie ent¬
schlossen hat. Freilich wird dieser Eine die theologischen Hörsäle in Gießen
nicht füllen, aber es bleibt immer ungerecht, wie die Korrespondenzen „Aus
Darmstadt" oder „Aus dem Großherzogthum Hessen" in den „lutherischen"
kirchlichen Zeitschriften thun, die Schuld dieser Zustände auf die Richtung der
Facultät in Gießen zu werfen, zumal notorisch in ihr verschiedene Stand¬
punkte sind, und das kirchliche Bekenntniß der Vertretung nicht entbehrt, wenn
auch über die Art der Vertretung gerade dem Schreiber dieses kein Urtheil
erlaubt ist.
2) geht aus dieser Erscheinung in Berlin hervor, daß, so lange nicht die
äußere materielle Stellung der Geistlichen eine ganz andere, d. h. den anderen
Beamten durchschnittlich gleiche geworden, also in weit höherem Grade auf-
gebessert wird, als es bis jetzt geschehen ist, sich der Mangel an Theologen
schwerlich verlieren wird.
Betrachten wir einmal die Lage der Candidaten des evangelischen Predigt¬
amts im Großherzogthum Hessen, wie sie bis zur Bewilligung des Minimal¬
gehaltes von 1000 si. gewesen ist, durch einen concreten (auch ganz historischen)
Fall. Wir nehmen an, es gingen zwei junge Leute nach der Confirmation
aus der Volksschule ab, etwa 14 Jahre alt, der eine auf das Gymnasium,
um später Theologie zu studiren, der andere auf die Realschule. Nach 6 Jahren
hat der Realschüler eine Stelle als Commis in irgend einem Geschäfte mit
1000 —1200 si. Gehalt, der stuäios. tliczol. dagegen hat vielleicht 1 oder
2 Jahre seiner akademischen Studien überstanden, hat aber noch vor sich
1 oder 2 Jahre Aufenthalt in Gießen, 1 Jahr auf dem Predigerseminar in
Friedberg, dazu Faeultäts- und Staatsexamen, dann 10 Jahre als Vicar mit
100 (jetzt 250) si. und Essen bei dem Pfarrer, und — nach 10 — 12 Vicars-
jahren — eine Pfarrstelle mit 500 — 700 si., dabei aber die Präsentations¬
stellen nicht zu vergessen, so daß bei ^/z aller Pfarrstellen jüngere Candidaten
zu aller obigen Misere hinzu auch noch den älteren vorgezogen werden können.
Ist es da ein Wunder, wenn bis zur Aufstellung des Minimalgehaltes von
1000 si. niemand mehr im-Großherzogthum Hessen Theologie studiren wollte?
Durch die Aufstellung, bezw. Gewährung eines Minimalgehaltes ist die
Lage der Geistlichen, zunächst der Candidaten des Predigtamtes, nun soweit
verändert worden, daß statt der drohenden 500 — 700 si. wenigstens 1000 si.
als Pfarrgehalt in Aussicht stehen. Aber nach welcher Zeit? — Denn noch
geht das Vicariat fort, noch hört man die Klagen, daß junge Männer von
32 — 36— 38 Jahren noch Vicare sind, und daß eben Stellen — vicarirt
werden. Daß man früher ein großes Unrecht damit gethan hat, daß man
die Stellen nicht definitiv mit neuen Pfarrern besetzte, sondern sie durch Vicare
versehen ließ, denen man nur einen Theil der Pfarrbesoldungen gab, während
der größere Theil zu Bau und Besserung der Kirchen-, Pfarr- und Schul¬
gebäude verwendet wurde, daß also eigentlich die armen Vicare mit
den ihnen abgezogenen oder vorenthaltenen (nicht gewährten) Be¬
soldungsquoten die Kirchen-, Psarr- und Schulgebäude haben
bauen müssen, wird, wenn auch die einzelnen Fälle nur actenmäßig zu con-
statiren sind, doch kaum geleugnet werden können, und hat sicher die Lust zum
Candidaten- bezw. Vicar-Stande nicht vermehrt.
Dazu kommen aber die noch immer äußerst geringen Dotationen der
meisten Pfarrstellen selbst, die mit den Besoldungen und Erträgnißen anderer
Berufsarten in gar keinem Verhältnisse stehen. Allerdings erhalten auch die
jungen Juristen längere Zeit als Accessisten nichts, oder doch wenig, durch
Diäten, oder durch besondere Verwendung, — sonst nur, was sie durch ihre
Arbeiten bei den Advocaten verdienen, und dann nach vielleicht auch 10 Jah¬
ren als Assessoren auch nur 1000—1200 si.. Aber sie rücken weiter, und können,
wenn sie sich nichts zu Schulden kommen lassen, aufs Weiterrücken zählen,
und auf bedeutend höhere Gehalte, während die Geistlichen durchschnittlich
bei einer Besoldung bleiben, die dort nur das Anfangsgehalt ist, die Mediciner
aber sehr bald in eine zufriedenstellende Lage kommen, und Alles, was zur
Industrie und zum Handel gehört, sich mit dem Gehalte der Beamten kaum
mehr vergleichen läßt. Darnach ist es begreiflich, daß auch die bisherige Besse¬
rung der Pfarrstellen noch keine eigentliche Hülfe gegen den Theologen - Man¬
gel gebracht hat und bringen wird.
Wie soll und kann es nun anders werden? — Damit treten
wir in eine allgemeinere Betrachtung ein, wie im Grunde die Ursache auch
ganz allgemein, d. h. überall gleich ist, wenn wir auch von den Hessischen
Zuständen ausgegangen sind, um eben die Ursache an concreten realen Zu¬
ständen nachzuweisen.
Unsere Antwort lautet kurz und entschieden dahin: liegt die Hauptursache
in der gänzlich ungenügenden Dotation oder äußern materiellen Lage der geist¬
lichen Stellen, so muß man diese genügend aufbessern.
Zuerst haben wir uns aber nun mit dem Einwürfe abzufinden, der Grund
der Abnahme der Theologie Studirenden liege schwerlich in der äußeren un¬
günstigen materiellen Lage, weil man doch annehmen müsse, daß nicht die
äußere Stellung, sondern der innere Beruf die jungen Männer zur Wahl der
kirchlichen Wirksamkeit treibe. Wer das sagt, der kennt die Wirklichkeit der
Lebensverhältnisse nicht. Nicht allein in der katholischen Kirche, wenn auch
dort noch mehr, so daß Kinder aus den niederen Gesellschaftsklassen förmlich
um der zu erwartenden Vortheile willen in ganz unzurechnungsfähigen Alter
von den Verwandten zum geistlichen Stande bestimmt werden, auch in der
evangelischen Kirche geht die Bestimmung zum geistlichen Berufe meist von
den Eltern aus. Natürlich soll damit nicht ausgeschlossen sein, weder, daß
auch in vielen angehenden Jünglingen schon eine innere Neigung, ein innerer
Beruf, dabei mitwirke, noch daß im Laufe des theologischen Studiums die
Neigung dazu gewonnen werde. Aber das Mißverhältniß der Stellung der
Geistlichen zu den anderen Berufsarten erscheint eben darin, daß Geistliche,
Schullehrer, Bürger und Bauern ihre Söhne nicht mehr in eine solche Lage
bringen wollen.
Zweitens wird eingewendet, oder kann wenigstens eingewendet werden,
daß durch eine bessere, den andern Berufsarten gleichstehende Stellung der
Geistlichen der geistliche Beruf selbst in seinem inneren Wesen verändert werde,
der gleichsam ein Sinnbild der Niedrigkeit und Demuth sein müsse, so
daß die Geistlichen auf die materiellen Güter keinen Werth legen dürften.
Wir antworten: es ist ein falscher Grundsatz, daß man das Ansehen
und den Nutzen des geistlichen Standes in dem Grade hebe oder vor Schaden
bewahre, indem man ihm die Mittel nimmt, auch materiell den übrigen ge¬
bildeten Ständen wenigstens gleich zu stehen. Zuerst sind die Geistlichen auch
Menschen, und bedürfen die materiellen Güter zu den Zwecken des Lebens
so gut, wie die anderen, ja sie haben den Anspruch, sich die sittlich erlaubten
sinnlichen Freuden so wenig verkümmert oder gar versagt zu sehen, wie alle
anderen auch, sowohl für sich, als für ihre Angehörigen. Das Gegentheil
ist eben eine unrichtige Ansicht, sowohl in Beziehung auf das Moralprincip,
als über Würde und Wesen des geistlichen Standes. An englische Zustände,
daß der Genuß einer sogenannten Pfründe den Geistlichen wirklich seinen
geistlichen Pflichten entfremdete, wird so leicht nicht zu denken sein. Davor
ist der deutsche Protestantismus sicher: schon 1S42 machte der Churfürst von
Sachsen Amsdorf zu einem lutherischen Bischöfe mit 600 si. Aber daß die
Geistlichen (sammt ihren Familien) ganz eigentlich die Aschenbrödel der soge¬
nannten gebildeten Gesellschaft sein sollen, die Hungerleider xar exevllonetz,
liegt ebensowenig im Wesen des Evangeliums, somit auch nicht im Wesen
des Protestantismus.
Dazu kommt, daß im wirklichen Leben sehr viele Anforderungen gerade
an den Geistlichen gestellt werden. Von ihm erwartet man nicht nur Theil¬
nahme an allen gemeinnützigen Bestrebungen der freien Vereinsthätigkeit für
humane Zwecke überhaupt, für Kirche und Schule insbesondere, sondern ganz
im Besonderen Unterstützung und Hülfe für die Armen, während in That
und Wirklichkeit die Geistlichen selbst, nach ihren Verhältnissen, mit Noth
kämpfen.
Dazu kommt weiter der Eindruck, den eine zu ärmliche Stellung der
Geistlichen auf die weniger gebildeten Classen macht. Je weniger gerade die
unteren Schichten des Volkes die ästhetischen Seiten des Lebens pflegen und
Pflegen können, um so höher achten sie sie: daraus gründet sich zum größten
Theile der Einfluß der höheren Bildung auf die weniger Gebildeten. Aller¬
dings kann eine höhere ästhetische Bildung ihren Träger auch dem Volke ent¬
fremden, doch nur, wo Egoismus die äußeren Verhältnisse als Zweck ansieht,
was bei den Geistlichen nicht zu besorgen ist.
Dagegen ist nun eine auch materiell bessere Stellung der Geistlichen mit
ihrer Folge der besseren Pflege der ästhetischen Seiten des Lebens den höheren
Ständen gegenüber eine unbedingte Nothwendigkeit. Wie da eine ungenü¬
gende, ärmliche, nach allen Seiten abhängige Lage für den Geistlichen selbst
niederdrückend, lähmend wirkt, so wirkt sie förmlich abstoßend auf die gebilde¬
ten Laien und hindert zugleich die eigne wissenschaftliche Fortbildung.
Wenden wir uns nun zu der Frage, woher und wie die Mittel beschafft
werden sollen, oder können, so ist das scheinbar zuerst und am natürlichsten
sich darbietende, auch schon vielfach wirklich angewendete, daß man den
besser dotirter Stellen, ähnlich wie in England, ihren Ueberfluß
nimmt und den bedürftigen, d. h. geringer dotirter Stellen zuwend et.
Gleichwohl müssen wir diesen Rath, und dieses Verfahren für die übelste
Auskunft erklären. Man wird diese Nachahmung Englands erst dann für
richtig erklären dürfen, wenn die in Frage kommenden sogenannten „guten"
Stellen sich auch nur annähernd mit den englischen Pfründen und Einkünften
vergleichen ließen. Da sie aber damit nicht verglichen werden können, so wird
man viel besser thun, den Gemeinden die Möglichkeit zu lassen, daß auch die
materielle Lage für begabtere Jünglinge ein Reiz mehr werde, sich dem geist¬
lichen Stande zu widmen, zumal durch die Schmälerung des Einkommens
der kleinen Zahl besser dotirter Stellen im Ganzen nichts gebessert wird.
Dazu kommt, daß die Gemeinden, die ein besser dotirtes Kirchengut haben,
schwerlich ihre Einwilligung gutwillig geben werden und schwerlich dazu ge¬
zwungen werden können. Die evangelische Kirche kennt die katholische Fiction
eines Besitzes der Kirche in communi nicht: wie immer früher die Dotationen
der einzelnen Gemeindepfarrstellen entstanden sein mögen, sie gehören, soweit
die Fundirung von anderer Seite nicht nachweisbar ist, der Kirchengemeinde,
und gerade durch eine Verfassung mit Vertretung der Einzelgemeinden werden
sich diese nicht nur ihrer Rechte bewußt werden, sondern sie auch vertheidigen.
Noch mehr werden natürlich die Patrone die Rechte ihrer Dotationen schützen,
und soweit sie ihre Rechte beweisen können, mit demselben Erfolge, wie in
Schottland. Daran wird schon jene Auskunft, die geringeren Dotationen
durch die höheren zu bessern, ihre Schranke und Hemmung finden, im besten
Falle nur eine geringe und dazu zweifelhafte Hülfe bringen.
Dagegen wird nun das Besteuerungsrecht der Gemeinden aller¬
dings ein Hauptfactor der Hülfe werden und bleiben, kann aber ebenso sicher
allein doch nicht auskömmlich helfen. In der Stimmung und Verwirrung
der Zeit ist das Besteuerungsrecht ein zweischneidig Schwert. Bei der Frei¬
heit, die wir billigen, nach Luther's Grundsatz, „daß Niemand zum Glauben
zu zwingen, noch von seinem Unglauben mit Gebot oder Gewalt zu dringen
ist, sintemal Gott kein gezwungener Dienst gefällt, und eitel freiwillige Diener
haben will", wir sagen, bei der Freiheit, aus einer kirchlichen Gemeinschaft
auszutreten, ohne in eine andere einzutreten, und bei der Leichtigkeit (um S Sgr.)
auszutreten, werden sicher zuerst ganz wunderliche Zustände entstehen. Es ist
natürlich weder unser Wunsch, daß ein solcher Zustand allgemein werde, noch
unsere Ansicht, daß er es werden könne, aber eine ganz andere Frage ist,
ob nicht das an sich richtige Princip, so gefährlich, ja verderblich es scheint, doch
gerade durch seine Freigebung praktisch ein ganz anderes Resultat erzeugen,
und sich alö heilsam, ja als das alleinige Heilmittel erweisen werde. Das
glauben wir. Allerdings können zuerst die Zustände der ersten Zeit des
Christenthums wiederkehren, daß Ungetaufte. also Heiden, neben Christen und
mit Christen leben. Aber es wird so die Frage zur Entscheidung kommen,
ob der Mensch ohne Religion leben kann, und wenn es der Einzelne kann
(auch nur entweder durch Mangel an richtiger Bildung, durch Verkommenheit,
oder durch die Hülfe der ihn umgebenden religiös-sittlichen Ordnung, deren
Frucht er genießt, während er ihren Grund nicht kennt oder aus Mangel an
Bildung leugnet), ob die Gemeinschaft es kann? — Wir glauben das nicht,
nach der Natur, nach dem Bedürfniß des Menschen, und nach dem Zeugniß
der Geschichte, weil die Gemeinschaft nur bei sittlicher, moralischer Ordnung
bestehen kann, alle Sitte oder Moral aber ihren Grund haben muß, und
diesen (d. h. alle Grundlagen des Rechts, die Idee des Rechts selbst) nur in
der Religion hat. Jede religiöse Gemeinschaft fordert aber ein Bekenntniß,
durch welches allein eine religiöse Gemeinschaft (Kirche) ent¬
steht und besteht, und so werden diese Zustände sicher dazu führen, daß
man schließlich doch wieder sich über ein Bekenntniß, das der Mehrzahl ge¬
nügt, wird einigen müssen, und das wird der Weg zur Lösung sein, indem
das Bekenntniß, wenn auch geläutert, wieder Sache des Herzens und so wie¬
der das Band und der Haltpunkt des religiösen Lebens, der Kirche wird.
Darüber, daß es sich nur um eine Aenderung der Form der jetzigen Bekennt¬
nisse der evangelischen Kirche handeln kann, hat sich der Verfasser dieses sonst
schon hinreichend ausgesprochen. Gerade die Freiheit wird also zur Besserung
führen, indem wir der Kraft des Evangelii vertrauen, daß sie die von Gott
gewollt« Ordnung, und so auch die menschliche Ordnung der Kirche als Noth¬
wendigkeit erkennen lehrt, und so mit Verwerfung der ungläubigen Willkühr
durch freiwilliges Eingehen in die Ordnung Gottes, als Einheit der Freiheit
und Nothwendigkeit, erst zur wahren Freiheit der Kinder Gottes führt, und
so das Bedürfniß befriedigt. Die so zu hoffende Besserung der kirchlichen
Gesinnung wird aber auch auf die sogenannten Freigeister, die sich für „starke
Geister" halten, nur heilsam zurückwirken, und wenn auch solche Benrrungen
nicht gänzlich aufheben, wenigstens mehr vermindern, als der durch den Zwang
beförderte Jndifferentismus gethan hat.
Aber zu dieser Selbstbesteuerung der Gemeinden muß nun ganz entschieden
auch noch die Hülfe des Staates in viel ausgiebigerem Maße kommen,
als es bis jetzt geschehen ist. Der Staat hat sicher zuerst eine rechtliche Ver¬
pflichtung dazu, weil er nicht nur in den Zeiten der Reformation, sondern
auch in den späteren historischen Entwicklungen außerordentlich viele Kirchen¬
güter an sich genommen hat, die keineswegs immer n,ä pios usus verwendet
worden sind. Es kann das nicht laut genug gesagt werden, da es bei der
Stimmung, oder vielmehr Verwirrung der Begriffe über die kirchlichen In¬
teressen nicht an Stimmen gefehlt hat, welche sich bereits gegen jede Hülfe
vom Staate ausgesprochen haben. Noch viel größer ist aber natürlich die
moralische Verpflichtung des Staates. Ohne die religiös-sittliche Idee giebt
es überhaupt keine Idee des Rechts, wie sehr sich auch Philosophen, wie Ju¬
risten gegen diese einfache Wahrheit gesträubt und andere Grundlagen des
Rechts zu ersinnen und aufzustellen gesucht haben und noch suchen.") Darum
wird der Staat, da er an der Religion, als der Grundlage aller Ordnungen
des Lebens (so verschieden auch die Form sein und bleiben wird), das höchste
Interesse hat, nicht nur alle kirchlichen Ordnungen beaufsichtigen, sondern
schließlich doch allen Confessionen die nöthige Beihülfe geben müssen, wenn
er nicht den Boden aller Ordnungen des Lebens sich entziehen lassen will.
Es werden also allerdings die Gemeinden, aber auch der Staat zu besserer
Dotirung der geistlichen Stellen zusammen wirken müssen, — wir sagen aber
ausdrücklich für alle Confessionen, deren Inhalt die Staatszwecke nicht gefährdet.
Es ist nun sicher zu erwarten, daß wenigstens die evangelische Kirche in
ihrer zu hoffenden neuen Ordnung durch die Synoden alles Mögliche thun
wird, die jetzige klägliche Lage des größten Theils der Geistlichen zu bessern,
und es kann nicht unsere Absicht sein, die nun zu ergreifenden Maßregeln
im Einzelnen zu erschöpfen.
Doch können wir uns nicht versagen, einige Punkte hervorzuheben, die
eben bis jetzt, wenigstens von vielen, nicht recht beurtheilt werden dürften,
uns aber von der größten Wichtigkeit scheinen.
Wie die Kirche schon von Anfang gethan hatte, hatte dann auch Karl
der Große die geistlichen Stellen mit Grundbesitz und Naturalien dotirt (man-
8us oeelesiastieus, Zehnten). Und darin lag und liegt sicher die höchste
Weisheit, und die allein richtige Sicherung des geistlichen Einkommens.
Denn der einzige wahre Regulator des Werthes aller Tauschmittel der mate¬
riellen Bedürfnisse, d. h. des Geldes, sind und bleiben die Naturalien, wäh¬
rend die Edelmetalle schon durch ihre Vermehrung, noch mehr durch ihr Sur¬
rogat, das Papiergeld, zumal so massenhafte Fabrikation des Papiergeldes
in unserer Zeit, immer mehr an Werth verlieren. Es war darum keine
Weisheit von Seite der Geistlichen und kirchlichen Behörden, das Einkommen
der Geistlichen in Geld zu verwandeln, wie das ja vielfach geschehen ist und nach
Zeitungsnachrichten in manchen Landeskirchen beabsichtigt wird (Dänemark? ze.).
Wir wollen natürlich damit nicht sagen, daß man den Zehnten hätte beibehalten
sollen, aber allein richtig wäre doch überall nur die Wiederanlage der Capitalien
in Grund und Boden gewesen, also Vermehrung des Grundbesitzes der einzelnen
Stellen, der nicht allein gleichen Schritt hält mit dem Werthe der Werthzeichen,
sondern umgekehrt der Regulator des Werthes derselben ist. Einzelne Vor¬
kommnisse in einzelnen Gegenden, wo durch die Industrie, den höheren Ar¬
beitslohn, der Werth des Grundbesitzes sinkt, sind vorübergehend, während
umgekehrt in einzelnen Gegenden (Zuckerrübenindustrie) die Erträgnisse des
Grundbesitzes steigen. Die katholische Kirche ist darin von jeher klüger ge¬
wesen, als die evangelische.
Ein zweiter Punkt ist die Ordnung der rechtzeitigen Pensionirung der
Geistlichen, und die Fürsorge für ihren Unterhalt, wie dann für ihre Wittwen
und Waisen- In einzelnen Landeskirchen sind diese Verhältnisse zum Theil aller¬
dings schon in der Reformationszeit von ebenso umsichtigen als frommen Fürsten
(Braunschweig-Lüneburgische Lande) ins Auge gefaßt, und sogar Wittwenhäuser
für die Wittwen der Geistlichen geschaffen worden (wenn nicht die Fälle, die
der Verfasser im Auge hat, den Patronen verdankt werden), und darf wohl
gehofft werden, daß die neue Ordnung auch für diese Bedürfnisse sorgen wird.
Ein dritter Hauptpunkt wird die Schaffung einer allgemeinen Kirchen¬
kasse (eines kirchlichen Budget) in jeder Landeskirche sein müssen, durch welches
nicht nur für die genannten und andere sich herausstellenden Bedürfnisse hin¬
reichend gesorgt wird, sondern auch den einzelnen Geistlichen nach einer Classen¬
ordnung in steigender Progression Zulagen gegeben werden können, Das
hängt freilich zusammen mit der großen Frage, ob man es vorziehen solle,
die Geistlichen nach einer aufgestellten Classification der Stellen, immer auf
bessere Stellen zu versetzen, oder sie, wenn sonst die Verhältnisse die Versetzung
nicht durchaus wünschenswert!) machen, auf ihren Stellen zu belassen, und
nach den Dienstjahren, wie die anderen Beamten auch, mit besserem Einkommen
zu versehen. Wo nicht besondere Verhältnisse die Versetzung durchaus wün¬
schenswert!) machen, dürfte das Zweite ebenso im Interesse der Gemeinde als
des Geistlichen liegen.
Weiter können wir uns nicht damit einverstanden erklären, daß man so
große Bordseite für den geistlichen Stand, bezw. für das Verhältniß der Laien
zu dem geistlichen Stande und dem kirchlichen Leben überhaupt von der Auf¬
hebung der sog. Accidenzien als eines bestimmten Honorars (Taxe) für die
geistlichen Handlungen erwartet, indem man in ihnen einen Grund der Ab¬
neigung gegen die Theilnahme am kirchlichen Leben sieht. Einmal ist es
Psychologisch nicht wahr, daß eine Sache umsomehr an Werthschätzung ge¬
winnt, je weniger sie kostet, namentlich in den Augen der Ungebildeten, im
Gegentheil der Kreuzer, den der Arme dazu bestimmt, die kirchliche Abgabe
worin und wofür diese auch bestehen mag, zu leisten, erhöht den Werth der
kirchlichen Handlung in seinen Augen. Alles Andere ist leere Ideologie, d, h.
eine falsche Würdigung der Natur des Menschen. So wurde in Thüringen
(in früherer Zeit wenigstens, vielleicht jetzt nicht mehr —?) bei jedem Abend¬
mahle ein Beichtgeld (Beichtgroschen) auf den Altar gelegt (natürlich nach
Belieben), in Hessen geschieht das nicht, aber ich glaube nicht, daß darum
die Leute mehr zum Abendmahle gehen, als ich das in meiner Jugend in
Thüringen sicher beobachtet habe, und so durch alle kirchlichen Handlungen
hindurch. Eine frühere Zeit vertheilte gleichsam das Einkommen auf kleine
Zuflüsse, in der ganz richtigen Berechnung, daß durch die kleinen Zuflüsse
doch ein Bach entsteht, nicht unwichtig für die Eine Stelle, wohin er geleitet
wird, während die kleinen Beiträge, an sich kaum bemerkenswerth, den Ein¬
zelnen nicht drücken. Aber für unsere Ansicht, die Nichtaufhebung der Acci¬
denzien, spricht nun ein ganz anderer Grund, als Machst der materielle
Nutzen für den Geistlichen selbst. Es ist nicht nur eine nach materiellen
Rücksichten falsche Ansicht und Rechnung, sondern es ist eine nach der innersten
Natur des Menschen und zwar , nach ihrer edleren Seite nicht zu billigende,
wir wollen nicht sagen, Verletzung, aber Nichtberücksichtigung, ja Hemmung
edler Gefühle in dem Herzen der Laien selbst, nämlich die Beeinträchtigung
der Möglichkeit, ihrer Achtung und Liebe gegen den Geistlichen, die sich wie
in Freude und Dank gegen Gott, so auch in der Gabe für das geistliche
Amt bethätigen will, Ausdruck zu geben. Wir müssen auf das Entschiedenste
aussprechen, daß man sehr unrecht thut, der Liebe, die sich nach den realen,
wenn auch materiellen Verhältnissen und Rücksichten des Lebens so zu be¬
friedigen das Recht hat, wehren zu wollen. Die materiellen Verhältnisse sind
ja sehr verschieden, und es ist eine tiefe sittliche Wahrheit: geben ist seliger
als nehmen. Es ist das keine Erbschleichern, und keine Anleitung, Messen
zu stiften, sondern es ist von Seite des Gebers, wenn er mehr giebt, als die
in jedem Falle mäßig zu stellende kirchliche Abgabe für den Geistlichen, freier
Wille, je nach dem Vermögen, indem er sich selbst eine Befriedigung giebt,
die nicht zu den unedleren Regungen gehört, von Seite der Kirchenbehörden
aber ist es nur die rechte Einsicht, daß man um des möglichen Mißbrauchs
willen den rechten Gebrauch nicht hindern soll. Wir rechnen auch diese in
Frage gestellte Aufhebung der Stolgebühren oder Accidenzien nur zu der
schablonenmäßigcn Nivellirung aller Verhältnisse der Gesellschaft oder Auf¬
hebung der durch die Natur der Dinge gesetzten Unterschiede, die wir auf dem
materiellen Gebiete der durch die Verschiedenheit der Verhältnisse bedingten
Leistungen so wenig billigen, als wo die Unterschiede auf dem geistigen
intellektuell und sittlich gegeben sind. Wir stellen solche Einrichtungen, selbst
mit dem Scheine größerer Berechtigung, weil es sich um kirchliche Handlungen
handle, in die Reihe bloßer Ideologien, wie so manches Andere, was unsere
Zeit für eine große Weisheit und einen großen Fortschritt hält, wie z. B.
die Aufhellung der Todesstrafe, weil alles auf einer Benennung der mensch¬
lichen Natur und der menschlichen Verhältnisse überhaupt ruht, die ihrerseits
ebenso durch den rechten Gebrauch der materiellen, wie der geistigen und sitt¬
lichen Güter bedingt sind. Der sog. Liberalismus bewegt sich vielfach in
Traumbildern. Dabei versteht sich von selbst, daß wir überall nur mäßige
Accidenzien im Auge haben, und es versteht sich noch mehr von selbst, daß-
wer nichts hat, doch nichts giebt, nur soll man umgekehrt, den Vermögenden
nicht verwehren, ihrer Liebe und Verehrung gegen einen Geistlichen auch durch
Mittheilung von ihrem Ueberflusse einen Ausdruck zu geben. Außerdem haben
es ja verständige und wohlwollende Geistliche ganz in ihrer Hand, für die
wirklich unvermögenden Mitglieder der Gemeinde weder die Zahlung, noch
die Erlassung der Accidenzien drückend werden zu lassen. Sie können ja dem
wirklich Bedürftigen die Accidenzien zurückgeben. So hat Schreiber dieses
seiner Zeit gar viele Geistliche in Thüringen gekannt, die sich die Accidenzien
auch von den Aermeren entrichten ließen, mit der Erklärung, sie dürften dem
Rechte der Stelle nichts vergeben, dann aber das Geld an die Bedürftigen
zurückgaben, ohne daß das Verhältniß irgendwie gelitten hätte. Aber es sind
weder alle Mitglieder der Gemeinde arm, noch beziehen sich alle kirchliche
Handlungen nur auf traurige Ereignisse.*)
Indem wir so auf die Beibehaltung der Accidenzien dringen, geht un¬
sere Ansicht dahin, daß durch die sog. Kirchengesetze, namentlich auch durch
die Civilehe in dem bisherigen Verhältnisse der Laien zu den amtlichen
kirchlichen Handlungen der Geistlichen für die Dauer nichts geändert wird.
Es mögen Einzelne, die sich für Philosophen oder für weiser halten, als der
geläuterte Christenglaube, die Taufe verschmähen, ja es mögen eine Zeit lang
Viele, nicht bloß aus den niederen Gesellschaftsklassen, bei diesen vielfach um
der Kosten willen, sich mit der bürgerlichen Proclamation begnügen, nach
kürzerer oder längerer Zeit wird Alles wieder auf den früheren Stand zu¬
rückkehren. Es wird unter den wirklich gebildeten evangelischen Christen die
Ansicht sich geltend machen und durchdringen, daß Staat und Kirche auch bei
der sog. Civilehe nur thun, was jedem zukommt, indem der Staat den sich zur
Ehe Verblutenden ihre bürgerlichen Rechte sichert, die Kirche — wenigstens
nach lutherischem Princip — das sonst sittlich und rechtlich erlaubte Bündniß
segnet. Mehr können beide, Staat und Kirche nicht thun. Denn weder
Staat noch Kirche können eine Ehe machen, weil Natur und Wesen der Ehe
nur von Gott stammt: Staat und Kirche können nur Bedingungen aufstellen,
unter denen sie den Vollzug des von Gott gewollten Verhältnisses gestatten
und in seinen Folgen für sich anerkennen wollen. Nicht einmal die Fiction, daß
die Ehe ein Sacrament sei, steht der Civilehe entgegen, denn nach katholischer
Lehre spenden sich dieses Sacrament die Eheleute selbst. Wie sich sonst die
katholische Fiction zum bürgerlichen Gesetze und zur biblisch-christlichen Wahrheit
stelle, zu betrachten, ist hier nicht der Ort. Von Seite der protestantischen
Bekenntnisse steht der Civilehe nichts entgegen: die Reducirung der Möglichkeit
der Ehescheidung auf die angeblich alleinigen biblischen und symbolischen zwei
Gründe der Ehescheidung 1) fleischlicher Ehebruch und 2) bösliche Verlassung,
und die Weigerung der Geistlichen, Geschiedene wieder zu trauen, sind weder
biblisch noch symbolisch, d. h. nach evangelischem Princip berechtigt, wenn
wir uns auch hier der weiteren Ausführung entheben. Evangelisch hat also
die Kirche das sonst sittlich und rechtlich erlaubte Ehebündniß nur zu segnen,
d. h. in und mit der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe im heiligen
Geiste den Segen Gottes auf das Ehebündniß zu erflehen, aber sicher als Ge¬
meinschaft das Recht, diese Ordnung zu fordern.
Es mag nun einzelne starke Geister, d. h. solche, die sich für stark hal¬
ten, geben, welche diesen Segen verschmähen, wie solche Exemplare, sogar
Damen, bereits in süddeutschen politischen, angeblich fortschrittlichen Blättern
sich .blosgestellt haben - wirklich gebildete und d. h. ja nun wirklich vernünftige
Menschen werden gern dieTrauung in dem oben genannten Sinne, als
die Herabflehung des Segens Gottes in und mit der Gemeinschaft des Glaubens
und der Liebe im heiligen Geiste, zugleich als Bedingung und Zeugniß
der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft und Anerkennung von derselben
nachsuchen. — Endlich müssen wir uns auf das Entschiedenste gegen die
Wahl der Pfarrer von den Gemeinden erklären. ")
Wir geben zu, daß gleich in der ersten Zeit des Christenthums, so gewiß
die Apostel den von ihnen gegründeten Gemeinden die Presbyter vorsetzten
doch umgekehrt die Gemeinden, die sich ohne die Apostel bildeten, sich ihre
Presbyter selbst wählten, daß also historisch beiderlei Modus, Einsetzung durch
eine höhere Behörde, oder Wahl von der Gemeinde, berechtigt ist, — das
letztere Princip merkwürdig genug ganz zweifellos durch die in der Kirche
am längsten bestandene Wahl des Papstes selbst durch die Gemeinde (bis
10S9, wenn auch der Klerus mitwählte), so daß während die Laien großen
Theils durch Veranlassung, wenigstens unter Billigung des Papstes ihre
Rechte an die Bischöfe verloren hatten, sie diese Rechte ganz entschieden noch
bei der Spitze des abendländischen Episcopats ausübten. Aber wir behaupten,
daß, wie sich die Einsetzung der Presbyter von den Aposteln in den von ihnen
gegründeten Gemeinden von selbst verstand und ideell ganz das richtige Princip
ist, so auch die Wahl der Presbyter durch die Gemeinde, wo diese sich ohne
die Apostel bildete, von selbst verstand, als Nothbehelf eines unfertigen Zu¬
standes, dessen überwiegende Mängel erst durch die Erfahrung erkannt werden
konnten, und von dem Episcopate, wenn auch nicht allein um ihrer selbst
willen, sondern im Interesse der Bischofsmacht, also in hierarchischen Interesse
abgestellt wurden. Wir dagegen wollen natürlich bei der Anstellung der Pfarrer
von einer richtig organisirten höheren kirchlichen Behörde ebenso die Rechte
der Laien als des Staates im Ganzen gewahrt wissen, der Gemeinde durch
ein Veto, dem Staate durch dessen Mitwirkung bei dem Kirchenregimente.
Ebenso kennen wir recht wohl das Phantom der angeblichen Freiheit,
welches in der Phantasie und für die Phantasie durch die Wahl der Geist¬
lichen von der Gemeinde aufgebaut und mit dem Flittergold aller möglichen
Phrasen ausstaffirt wird. Die reale Wirklichkeit, wie wir sie nachher dar¬
stellen wollen, sieht nur anders aus.
Das hindert nicht, daß, wo die kirchlichen Behörden in hierarchischen
Interesse, wie in dem gegenwärtigen Conflicte der römisch-jesuitischen Partei
mit dem Staate ihr Recht der Besetzung der Stellen nicht ausüben wollen,
der Gemeinde das Recht der Wahl ganz mit Recht gegeben wird, und daß
wir das ausdrücklich billigen. Das ist ja, wo die kirchliche Behörde ihre Pflicht
nicht thut, wieder ein Nothstand, eine gerechte Nothwehr, ein Ausnahmefall für
ganz abnorme Verhältnisse, und wie die ganze Hierarchie, namentlich mit
ihrer ebenso unklugen als frevelhaften Ueberspannung der Unfehlbarkeit nur
me Abnormität am Baume der Kirche ist, so kann solchen außerordentlichen
Zuständen auch nur durch außerordentliche Maßnahmen begegnet werden.
Auch meinen wir nicht die einzelnen Fälle, daß einige besonders begüterte
Gemeinden zur Probe predigen lassen und dann durch ihre Organe oder die
Gesammtheit den ihnen Wohlgefälligsten wählen. Diese -wenigen Gemeinden,
vereinzelte Fälle, sichern sich damit, wie nun auch dieser Modus bei ihnen
begründet und erhalten sei, die Möglichkeit, begabtere Männer aus größeren
Kreisen zu gewinnen. Diese einzelnen Fälle können in ihrer Isolirtheit be¬
stehen bleiben, aber darum noch nicht allgemeine Regel werden.
Es handelt sich für unsere Betrachtung mit Hinsicht auf die neu zu
schaffenden Ordnungen der Kirche um das Prinzip der Wahl überhaupt, also,
so gewiß wir mit seiner Verneinung das Prinzip der reformirten Kirche, wo es
streng durchgeführt wird, verwerfen, um die Frage, ob man wohl thut,
es eben durch die Presbyterial - und Synodal-Ordnung auch auf die lutheri¬
schen oder gemischten (unirten) Gemeinden zu übertragen, wie allerdings im
Scheine des Liberalismus vielfach gefordert worden ist. Wir glauben das
nicht, und zwar aus folgenden Gründen.
1) Jede solche Wahl regt die Gemeinde, möglicherweise bis zu ihrer
untersten Tiefe auf, und erzeugt unvermeidlich ein Mißverhältniß zwischen
einem Theil der Gemeinde und ihrem Seelsorger. Das Wählen schafft schon
in profanen Verhältnissen und materiellen Interessen Spaltung und Zwietracht,
wenn es auch dort nicht umgangen werden kann und das materielle Interesse
sich leichter ohne tiefere Verstimmung ausgleicht. Unendlich tiefer geht und
bleibt aber die Verstimmung, wenn es sich um geistige Interessen, um reli¬
giöse oder kirchliche Ansichten handelt. Denn da ist der Grund der Zwietracht
schon vorher da, und bleibt. Bis zu welchem Grade die Aufregung steigen
kann, erfuhr die Kirche früh genug durch die grauenvollen Vorgänge bei der
Wahl zwischen Damasus und Ursicinus in Rom, bei welcher 123 Leichen aus
der Kirche getragen wurden.*)
2) Werden Interessen geweckt und ins Spiel gezogen, die mit dem
eigentlich religiösen oder kirchlichen Interesse der Gemeinde, also der Pfar»
wast, gar nichts zu thun haben. Dahin gehören Verwandtschafts- und Ver¬
sorgungsverhältnisse, bis zur Wahl der Gattin aus der Gemeinde, so daß
die Wahl aus allen möglichen Gründen geschieht oder gehindert wird, nur
nicht auxilio Lpiritus Lamell.
3) Ist die Gemeinde, wenigstens oft genug, wenn nicht meistens, gar
nicht im Stande, ihr Bedürfniß, die Wahl des für ihre Zustände nöthigen
Geistlichen zu beurtheilen, also gar nicht im Stande, die rechte Wahl zu treffen.
Das ist schon der Fall in kirchlich ruhigen Zeiten. Schon da wird der Geist¬
liche mehr nach dem orutoroxtvi'nus beurtheilt, wenn nicht eben noch ganz
andere Rücksichten maßgebend sind. Aber es ist ungleich mehr der Fall, wenn
wirklich geistige Interessen, verschiedene kirchliche Ansichten und Standpunkte
in Frage kommen, wenn also ein Theil der Gemeinde mehr oder weniger
im Irrthume ist. Natürlich sträubt sich dieser gegen den rechten Arzt, und
so kann die Wahl von Seite der Gemeinde schwerlich großen Frieden und
Segen bringen, da sie eben den Eigenwillen aufruft, sie mag ausfallen, wie
sie will. (Schluß folgt.)
Wir giengen nun nach der alten Stadt Messenien, die von Epami-
nondas auf den Berg Jthomme wieder prächtig aufgebaut worden wär. Da¬
von ist ein großer Theil mit ihren Umfassungs-Mauern mit ihren Thürmen
letzt noch gut erhalten, wobey sich vorzüglich ein Hauptthor auszeichnet. Es
ist von zweien Thürmen von beiden Seiten nach außen versichert, und führt
auf einen kreisrunden von schöner Mauer umgebenen mittlern Platz, von
welchem ein zwotes und zwar doppeltes Thor den Eingang in das Innere
der Stadt giebt.
Zu beyden Seiten des ersten Thors nach Innen gerichtet, sind große
Nischen in der Mauer, wahrscheinlich zur Aufstellung der Statuen bestimmt.
Da die Lage dieses Thors mit den nächst umgebenden Mauern erhabener wie
das Innere der Stadt liegt, so genießt man beym Eintritt einen herrlichen
Anblick auf selbige, über welche sich in der Ferne der Meers-Horizont hin¬
wegzieht. Von der Stadt sind nur wenig Ueberreste von einigen ihrer
größern Gebäude, und da nur Fundamente vorhanden, als z. B. die einer
Palestra, eines kleinen Odeums, einige Tempel und hie und da verstümmelte
Bildhauerwerke und Jnnschriften untermengt. Sie gehörte mit zu den
größten Städten Griechenlands, jetzt nimmt ein armseliges Dörfchen einen
kleinen Platz in ihr ein (Mauromathia). Wir logirten hier über 8 Tage
bey einem Griechischen Pfaffen (Papa) außerordentlich beschränkt und erbärm¬
lich im Innern seines Hauses. Ich verlebte solche doch äußerst angenehm
den ganzen Tag mit Herumstreifen und Zeichnen und Untersuchen der vielen
Spuren alter Pracht, die nun durch die schönsten Platanen und üppigsten
frischduftenden Strauchwerke ersetzt wird. Auf dem höchsten Theil des Fels¬
berges, wo die älteste Stadt und ein Jupiters - Tempel stund, ist nun ein
Griechisches Closter. — Sehr interessant war mir an diesem Ort selbst, das
Studium von Messeniens Geschichte, mit meinen Freunden in den Ausruh-
stunden; vorzüglich seines Krieges mit den Spartanern, worinn der große
Charakter des Helden Aristomenus so sehr anspricht. Ich empfehle dir
sie im Pausanias nachzulesen.
Von hier kehrten wir wieder nach Calamatci zurück, wohin der
Weg hinabwärts sehr reizend ist, welcher über den reinen sanft hinfliesenden
Pamisus führt.
Wir zogen endlich nach dem Spartaner-Land über einen der schönsten
Theile des großen Taygetus, welcher in mahlerischer Hinsicht eine der schön¬
sten Reisen in Griechenland gewährt. Man trifft in seinen großen und wei-
, ten Schluchten auf die grösten Natur-Scenen, die den Geist in Staunen und
Bewunderung setzen und die wir zum Theil im Mondlicht sahen, das sie in
ganz eigne schöne Effekte setzte. Am andern Tag kamen wir in Mistra der
jetzigen Hauptstadt in Lakonien an. Sie liegt östlich am Fuß des Taygetus,
der sich von hier durch ganz Lacedämon nach Süden bis zum Cap Tena-
riurn hinzieht und durch Grosheit und Erhabenheit seiner Formen ein un¬
beschreiblich schönes Gebirge bildet. Eine gute Stunde von der Stadt entfernt
liegen die Ruinen des alten Sparta am Euro räh, unter denen sich aber
beynahe einzig und allein die des Theaters, das von bedeutender Größe war,
auszeichnen. Ich logirte da in einer kleinen Bauerhütte, während meine
Freunde in Mistra blieben, mehrere Tage hindurch verschiedene Zeichnungen
zu machen. Wir verliefen sodann diese Gegend um nach Tripolitza der
jetzigen Hauptstadt der Morea und der Residenz des Panhas zu gehen, ich
mußte leider diese Reise mit einem schmerzlichen Bettlager auf einige Tage
bezahlen. Der schlecht gegürtete türkische Sattel hatte im Schnellreuten sich
mit mir umgedreht, und ich siel sehr unsanft auf den Steinweg, wozu ich
mich auf einen Schafpelz den noch 12 Stunden langen Weg ganz und gar
durchgeritten hatte. Die traurige Folge für mich war, daß während meine
Freunde Tripolitza genossen und die so interessante Reise von Mantinea und
Tegea besuchten, ich das Bett hüten muste, da ich nicht unbescheiden sie auf
mich warten wollte lassen, aber mehr als meine Wunden schmerzte mich das
Entbehren des Besuch's jener Orte. Halb und halb hergestellt, zog ich mit jenen
nach Argos, Napoli ti Romania, Tyrinth, Epidaurus, Myce-
nae, Nemäa und Corinth, welche Oerter ich jedoch schon früher bereißt hatte.
Corinth erfuhren wir die Rückkunft unserer Freunde Stackelberg und Bröndstedt
nach Athen, wohin wir nun über Megara und Eleusis zu Lande eilten.
Ich fand da noch außer unsern Freunden die Engländer Fr. North und
seinen Neffen Fr. Douglas, deren Bekanntschaft mir sehr angenehm ist. Ich
machte bald darauf mit letztern und einigen andern meiner Freunde eine zweite
Reise nach Sunium den alten Silberminen von Laurium, und nach
Thorikus, wo Reste eines sehr alten dorischen Tempels und Theaters vor¬
handen sind. Als ich nach Athen zurückkam, wurde ich unerwartet durch ein
Schreiben des Kronprinzen von Baiern überrascht. Das Vertrauen, mit
welchem er nach seinem eigenen Ausdruck auf die den Nürnbergern ganz eigene
Rechtlichkeit mir seinen Wunsch versicherte, daß ich während meiner Reisen
in Griechenland, Nachgrabungen und Ankäufe für seine Rechnung machen
möchte, machte mir und meinen lieben Freunden große Freude, und in dieser
Stimmung entdeckte ich ihm unsern Fund im Tempel von Phigalia, welcher
zu sehr schönen Bildhauerwerken Hoffnung gab, und stellte es ihn?
anheim, ob er für meinen Theil daran eintretten wolle. Ich hatte
große Hoffnung wenn Veli - Pansa aus dem Russen-Krieg zurück¬
gekommen seyn würde, die Erlaubnis unsre Unternehmungen in jenem Temp^
fortzusetzen, auszuwirken. Mein Hauptinteresse war, seine Architektur, die
noch nie Classisch untersucht war, genau kennen zu lernen, und ich war be¬
reit dafür den Besitz jener Kunstwerke für meinen Theil zu opfern, und hatte
dabey zugleich Gelegenheit den mir so schmeichelhaft gemachten Wunsch des
Prinzen auf eine sehr angenehme Weise in Erfüllung zu bringen; — und so
hatte ich nun mit meinen Anerbieten mein übriges Interesse ganz und gar
vergehen. Ferner schlug ich das Anerbieten meines thätigen Freunds Cockerell
für mich, mir Geld vorzustreken um ihn nach Egypten zu begleiten, aus
Rücksicht die Erfüllung des Wunsches des Prinzen nicht aufzuschieben, aus.
Mit sehr schwerem Herzen ließ ich diesen Freund aus meinen Armen, und
begann aus meiner eigenen Cassa sogleich Grabungen für den Prinzen in
Athen, denn meine Credite für seine Rechnung waren noch nicht angekommen,
und ich hatte Freude interessante Ausdeutungen dadurch zu erhalten. In der
nehmlichen Periode wurde von dem Prinz-Regenten von England ein Schiff
unter Bedeckung eines Brigs abgeschickt, unsern Marmor von Egina, gegen
eine Bezahlung von 6000 Pfd. Sterling nach England abzuholen. Wir
konnten aber es nicht annehmen, da wir kurz zuvor eine Concurrenz für ihren
Ankauf ausgeschrieben hatten, indessen war der Commandant der Brig Pau¬
line, Capt. Pereeval so gefällig, die Marmor an Bord zu nehmen, um sie
nach Malta zu deponiren, weil unsere englischen Mitbesitzer Cockerell und
Foster, einen Ausfall der Franzosen auf Zarte fürchteten, und damit ihren
Antheil dort nicht mehr sicher glaubten. Aus besonderer Sorgfalt für die
gute Erhaltung jener Kunstwerke, und da meine Freunde theils nicht konnten,
riß ich mich aus meinen Geschäften in Athen los, und eilte nach Zarte, um
jene Marmor selbst zu packen und sie mit Cap. Pereeval nach Malta zu spe-
diren. Ich hatte auf dieser Reise das Vergnügen einen Landsman an Hrn.
Schleim aus Augsburg, Kaufmann, damals zu Patras kennen zu lernen.
In Zarte wurde ich von den damals commandirenden General Mök. Airey
sehr gut aufgenommen, und empfing in seiner Familie sehr viele Höflichkeit
und Güte; ich machte da die angenehme Bekanntschaft mit meinem ietzigen
Freund W. Gell und seinen Begleiter Chevallier Craven, Sohn der ehemali¬
gen Margräfin von Ansbach. Um Dir nichts zu verhehlen was mir vor¬
züglich interessant ist, muß ich noch anführen, daß bevor in. l. Cockerell seine
Reise nach Egypten antrat, ich mit meinen übrigen Freunden ein äußeres
Zeichen stiftete zur Erinnerung unseres Vereins in Griechenland. Es besteht
in einem Fingerring aus antikem Bronze mit den atheniensischen Obolus zum
Schilde, und in seinem innern Rande die Inschrift: 5s^e?o^.
Anfangs Februar 1812 kam ich von Zarte nach Athen zurück, bereißte
im Frühjahr mit meinen Freunden Stackelberg, Links, Bröndstedt, die In¬
seln Salamis und Egina, die uns sehr vielen neuen Genuß und Aus¬
beute gaben. Bald darauf gieng ich allein wieder nach Egina, um für den
Kronprinzen ein Dorisches Capitael aus dem Jupiters - Tempel abzuholen.
Inzwischen war Veli Pansa nach der Morea zurückgekommen, und wir trach¬
teten nun unsern Plan für Phigalia auszuführen zu suchen. Unser Freund
Gropius übernahm es, sich deswegen bei dem Pansa persönlich zu verwenden,
und es gelang uns damit unter der Bedingung dem Pansa die Hälfte des
Furth in Natur« abzulassen.
Ich gieng daraus zum Tempel ab, wo ich mit meinen Freunden Gropius,
Links, Stackelberg, Bröndstedt, Foster einige Wochen ein wahrhaft arkadisches
Leben verlebte. Wir formirter daselbst eine Colonie, unter Zelten und
Hütten aus Laubwerk, hausend. Mir war die Architektonische Untersuchung
des Tempels überlassen, während meine Freunde die Hervorbringung der
darinnen vergrabenen Schätze leiteten. Mit beyden waren wir gleich glücklich,
denn es gelang uns bis in die kleinsten Theile zur Vollständigkeit zu kommen.
So weit schrieb ich am Bord der Martingano des Cap. Jmberts, auf
welcher ich mich für Constantinopel im Porto v. Se. Niccolo auf Tino ein¬
schifte, und wo ich 10 Tage lang das Stürmen des Nordwinds im Hafen
von Se. Johannis auf nehmlicher Insel aushielt. Meine Reise-Gesellschafter
Herr Gropius und R. P. Agabi, denen die Gesellschaft der hübschen Tino-
tinen in der 1^ Stunden entfernten Stadt besser behagte, als sich mit mir
im Schiff wiegen zu lassen, hatten mich alleine gelassen, und auch ich des un¬
endlichen Hin und Herschwankens müde, habe nun ohnweit dem einstimmen
Hafen ein Kirchlein gefunden, bey welchen ich mich gestern einquartirte und
nun meine Unterhaltung mit Dir theurer Bruder, fortsetze.
Der Tempel des Apollo Epikurius war von den Phigaliensern, 40 Sta¬
dien von der Stadt Phigalia entfernt, ohnweit dem Dorf Bassae auf den
Berg Cotylius erbaut worden, und jenem Gott gewidmet, da er das Land
von einer ansteckenden Krankheit befreyet hatte, daher man ihm hier den Bey¬
nahmen Epikurius (Helfer) gab. Er schloß eine Colossale Statue des Gottes
aus Bronze in sich, die aber von den Phigaliensern der Stadt Megalopolis
aus Erkenntlichkeit für ihren Beystand geschenkt worden war. Wahrscheinlich
wurde sie nachher durch eine hölzerne ersetzt, wir fanden im Tempel Reste von
colossalen marmornen Händen und Füßen, bey welchen man deutlich erkannte,
daß sie mit Eisen angesetzt waren, so wie oft im Alterthum hölzerne Statuen
stattfinden, die würkliche Bekleidung trugen, und wo Hände, Füße, Kopfe von
Metall waren.
Der Tempel selbst soll nach Pausanias mit dem Minerva-Alea-
Tempel von Tegea der schönste im Peloponnes gewesen seyn. Er war zur
Zeit Perikles, von den Architekten Iktinus (dem Erbauer des herrlichen Par¬
thenons zu Athen) erbaut. Seine Haupttheile sind aus grünlichen Marmor,
welcher in jenen Gebirgen häufig vorgefunden wird, construirt. Seine Be-
dekungen und mehrere seiner Verzierungen, als z, B. jene Basreliefs sind aus
penthelischen Marmor gemacht. Es war ein sechssäuliger Dorischer Peripteros,
mit 13 Säulen in seiner Länge; was aussergewöhnlich ist, so wie seine Lage
gegen Norden. Seinem Pronaos und Opistodomus lag ein zwei Säulen
weiter tiefer Portikus vor. Jenes war mit der Höhe der Anten gleich, durch
ein metallnes Gitterwerk verschlossen, man kam von ihm durch eine majestätische
Pforte in die Celle, welche unbedekt war, (Hypäthros). Das hier ringsumlau¬
fende Hauptgesimse der Seitenwände wurde auf beiden Seiten der Länge nach
durch 3 Pfeiler nach vorne mit jonischen Säulen verziert, getragen, und in
seinem Fries stunden jene Basreliefs, die in einer Länge von 100 Fußen,
Gegenstände aus der griechischen Geschichte und Mythologie vorstellen. Das
eine den Kampf der Centauren und Lapithen bey der Hochzeit des Pirithous.
Man sieht in einer Gruppe davon den Centaur Eurytion, die Braut Deidamia,
einen Zweyten, einen jungen Mann, vermuthlich den Bräutigam gewalt¬
sam ergreifen; in andern fliehende Weiber mit ihren Kindern, verfolgt von
Centauren; andere niederstürzend vor der Statue einer Gottheit, mehrere sich
mit den Centauren und Lapithen fürchterlich herumschlagend. Apollo und
Diana erscheinen auf einen mit Rehen bespannten Wagen zur Hülfe. Der
zweyte Gegenstand ist die Schlacht der Griechen mit den Amazonen. Hier
sind wieder vortreffliche Gruppen, schöne kräftige Jünglinge kämpfen mit weib¬
lichen Heldinnen zu Fuße und zu Pferd, Jugendliches kräftiges Leben ist in
Mienen und Bewegungen schön ausgesprochen. Einer Scene hat der Künstler
vorzüglichen Reiz gegeben in dem Contrast zwischen Liebe und feindlichem
Streben. Zwei Amazonen, schöne Mädchen, sind im Conflict mit einem jungen
griechischen Helden. Die Eine davon durch ein Diadem von höherm Range
ausgezeichnet, wendet den tödtlichen Streich der andern auf den schon zu
ihren Füßen gestürzten Jüngling, ab. — Diese Gruppe hat mich besonders
angezogen. — Wir sind so glücklich gewesen, den ganzen Fries zu finden,
freilich mitunter sehr verwittert und zerbrochen; doch haben wir die kleinsten
Splitter zur Restauration. Alle diese Marmorlagen in der Mitte der Celle,
wo sie bey dem Einsturz des Tempels auf das große Pflaster fielen und
unter den größten Architektur-Stücken vergraben wurden.
Ihre ersten Spuren entdeckten wir, wie schon gesagt, bey unserm ersten
Besuch in diesem Tempel, wo ich schon mit vieler Mühe auf dem Bauch
unter die Trümmer kriechend, von einer Gruppe eine Skizze gemacht hatte.
Ich kann Dir von unsern hiesigen Leben nicht ein Bild reizend genug
machen.
Stelle Dir sich innigliebende Freunde, beinahe getrennt von der übrigen
Welt, unausgesetzt mit den schönsten Gegenständen der Kunst und Natur be¬
schäftigt, auf den Bergen Arkadiens lebend, vor. Alles war hier nun wieder
thätig, alles lebte, während dem der eine Theil oft 20 — 30 Männer an ein
und ebendemselben Stein ziehend, commandirte, war ein anderer mit dem
sorgfältigen Hervorbringen und Ordnen des schon gefundenen beschäftigt.
Unser Stackelberg machte vortreffliche mahlerische Zeichnungen davon, und ich
wachte mit spähenden Auge, daß mir nicht der kleinste Theil eines architek¬
tonischen Gliedes entgieng. Wir haben gewöhnlich täglich 50—60, und mehr
Menschen beschäftigt, und damit in allem nicht mühevolle saure Arbeit sondern
freudiges lebendiges Wirken war, mußte sie — Musik begleiten; — mit ihr
riefen wir zur Arbeit, unterhielten sie und schlössen damit, und den Abend
diente sie den schönen Arkadischen Schäfer-Mädchen zum Tanz in den nach
und nach wieder zugänglichen Hallen des Tempels. Unser Leben hatte weit
und breit Aufsehen gemacht, und wir wurden von Türken und Griechen de¬
ucht, denen wir Gastfreundlich Willkommen in unserer neu entstandenen, nun
Frankopolis genannten Colonie gaben. Jeder Sonn- und Feiertag, deren
es in Griechenland viele giebt, wurde zu einer auswärtigen Expedition für
neue Entdeckungen angewandt. Dabey fanden wir die alte große Stadt
Phigalia selbst, und das Jra, mit dem Messenien einst sein Ende nahm,
wieder. Wir bestimmten die Stelle auf dem Lycaeischen-Berge, wo an dem
Altar des Jupiters in der frühesten Zeit Griechenlands noch Menschen ge-
opfert wurden, und die sich jetzt noch durch verbrannte animalische Theile in
dem Maaß auszeichnet, daß man auf eine große Stelle im Umkreiß sie wie
gesäet findet. —
Herr Gropius fand mit eigener Hand darunter zwei sehr schöne alte
Silber-Münzen. —
Als wir den Tempel gereinigt gehabt hatten, gieng dieser wieder zu
Veli-Pansa, wo es ihm gelang dessen Hälfte des Fundes käuflich an uns zu
bringen, womit wir in den ganzen Besitz kamen, doch sollte uns sein Hin¬
wegbringen noch manchen Kampf und Mühe machen.
Der Pansa wurde von der Pforte seiner Regierung entsetzt, daher man
wenig mehr auf ihn achtete. Nun kamen die Orts-Vorsteher jenes Distrikts,
erklärten ursprüngliche Eigenthümer dieser Alterthümer zu seyn, was auch
nicht ohne Grund gewesen seyn würde, wenn sie sich dessen durch ihre Indolenz
nicht schon seit Jahrhunderten verlustig gemacht hätten. Wir suchten sie nach
Billigkeit zu befriedigen, und nach vielen Schwierigkeiten brachten wir die
Schätze, theils von Lastthieren, theils von Menschen getragen, die steilen Ge¬
birgswege Arkadiens hinab, an die ein paar Tagreisen entfernte Scala von
Bazi. — Gropius hatte zuvor ein Schiff zu ihrer Ladung geholt, dem der
für uns so gefällige General Airey eine Canonier-Barke zur Bedeckung gab,
ut mit welchem wir zu Anfang Septembers glücklich nach Zarte kamen.
Die Fr. Gräfin Lunzi räumte uns eines ihrer Magazine ein, daß wir zu
einem freundlichen Museo umschufen, wo die Basreliefe zu jedermanns Be¬
schauen aufgestellt wurden. Ich war eine Zeitlang mit dem Geschäfte dazu
beschäftigt, und unser lieber Stackelberg machte sehr schöne ausgeführte Zeich¬
nungen von unserer Sammlung.
Mein Aufenthalt zu Zarte war übrigens sehr angenehm, denn außer
dem Hause der Fr. Gräfin waren wir bey dem General Airey vorzüglich gut
aufgenommen, wo ich besonders durch die gebildete Generalin, aus der Familie
der berühmten Talbot viel frohe Stunden mit meinen Freunden hinbrachte.
— Ich lernte dort den interessanten Major de Basset, einen Schweitzer, der
Commandant auf Zephalonia ist, und sehr viel Verdienst um diese Insel hat,
und den Artillerie-Capitän Bernsbach, Hannoveraner, einen sehr braven lieben
Mann kennen. — Außer diesen fand ich von Kamp ez, Meklenburger, der
in preußischen Diensten gestanden hat, und nun als Leutenant bey dem Engl.
Regiment Corse ist, wo auch unser lieber Better Fürer dient, welcher mir die
Freude machte, mich von Zephalonien aus auf ein paar Tage zu besuchen.
— Bey der Generalin und Gräfin Lunzi fanden wir Fortepianos, durch
welche uns unsere Freunde Stackelberg und Brönstedt viel Genus schufen,
und es gelang mir auch wieder eine Flöte zu acquiriren, die ich seit Rom
aufgeben hatte müssen. — Ich zeichnete für die Generalin die Vue ihres
Landhauses, und unter andern für mich eine ausgedehnte Zeichnung von
Zarte und seinen Umgebungen. Mein Freund Brönstedt setzte unsern Koch
auf dem englischen Kirchhofe ein Monument, wobey ich ihm Hülfe leistete. —
Im November verließ uns dieser treue Freund und seit Jahren Reisegefährte
und nahm den ältesten Sohn der Gräfin Lunzi mit nach seinem Vaterlande.
— Mein Freund Gropius lag an einer Fieber-Krankheit einige Wochen
nieder. — Herr Professor Wagner, abgesandt von dem Kronprinzen von
Baiern, um für die eginetischen Statuen zu werben, kam an, und brachte den
Befehl des Prinzen an mich mit, demselben alles was ich indessen für ihn
acquirirt haben würde, einzuhändigen, mit dem Ausdruck, mich hinfort nicht
mehr für sich bemühen zu wollen. — Ich darf Dir nicht sagen wie kränkend
dieses für mich seyn mußte, nachdem ich mit rastlosem Eifer unausgesezt für
sein Interesse bemüht gewesen war. — Er hatte selbst bey Einigen die Mey¬
nungen erregt, daß ich ungetreu mit seinen Geldern umgegangen sey. — Das
Verspätten meiner Briefe mochte wohl den Prinzen zu jenem Befehl veran¬
laßt haben, und sein späteres und bis auf diesen Augenblick mir bewiesenes
Vertrauen, hat jene Wunde geheilt. —
Meine Freunde waren bis auf den lieben Stackelberg nun alle von Zarte
wieder weggereißt, und mich hatte die Sorgfalt für unsern Marmor und
dann die widrigen Winde noch lange dort zurückgehalten. Doch am 24. Dec.
1812 schiffte ich mich auf einer kleinen Canonier - Barke ein, die der gute
General Airey mir zu benützen erlaubt hatte. Auch am nehmlichen Tage
reißte mein lieber Stadelberg, die übrigen Ionischen Inseln zu besuchen, ab.
Nach einer halbtägigen guten Fahrt erhub sich ein Sturm, der so heftig
wurde, daß er uns in die größte Lebensgefahr setzte. Unglücklicherweise fiel
die Nacht damit ein, die Schiffsleute waren in der zunehmenden Direction
unsicher, der Sturm hatte die Seegel zerrissen, und da es uns schlechterdings
unmöglich war anzulanden, so mußte die Barke leichter gemacht werden, und
man warf nach Befehl des Capitäns noch den Mund- und Schiffs-Vorrath
auch meine Effekten über Bord, so daß mir nur sehr wenig blieb.
Unter meinem Verlust geht mir der meiner Zeichnungen, die ich seit
aus Athen bisher gemacht hatte, und eine kleine Sammlung von Antiken-
noch immer sehr zu Herzen; doch durch ein besonders Glück wurde mein
Messungs-Journal vom Tempel von Phigalien, dessen Verlust mir unersezlich
gewesen wäre, gerettet. Ich hatte, ich darf wohl sagen eine schreckliche nache-
ilt der Gefahr meines Lebens hingebracht. Erst um 2 Uhr nach Mitternacht
war es möglich das Fahrzeug an der entgegengesetzten nördlichen Küste von
der Insel Zarte, ohnweit Se. Nikolo ti Skinori an einen Felsriff mit
Tauen zu befestigen.
Der unausgesezte Sturm-Negen hatte mich bis auf die Haut durchnäßt,
und da ich nichts mehr um die Kleider zu wechseln hatte, muste ich so bis
am Morgen in der offenen Barke, wo man nur eine Bedeckung von Seegeln
hatte, aushalten, und in der beständigen Besorgniß durch die unaufhörlich
antobenden Wellen aufs neue loßgerissen und ins offene Meer geworfen zu
werden. Nachdem wir uns am Morgen am Lande etwas getrocknet hatten,
nahm ich meinen Weg zu Fuße zum nächsten Dorf, und ritt am andern Tag
nach der 18 Miglien entfernten Stadt Zarte, in Sturm und Regen. —
Hier wurde ich von der Fr. Gräfin Lunzi wahrhaft mütterlich aufge¬
nommen, und erhielt von ihr Geld-Vorschuß, da das meinige auch dem Meere
geopfert war, um nach Athen gehen zu können. Ausgerüstet mit dem Wohl¬
thaten dieser herrlichen Frau schiffte ich mich ein paar Tage darauf zum
zweiten mal ein, und kam ein paar Tage nachher bey gänzlicher Windstille
zu Chius an.
Von da aus reiste ich zu Lande bis Patrasz, dann zu Wasser bis an die
Scala von Salerno, von wo aus ich über Delphi, Livadia, Thebe-n
nach Athen zu kommen eilte, und daselbst mit Gott glücklich ankam. Ich
hatte die Freude, außer Gropius meinen braven Freund W. Gell dort zu
finden, was mir in dem neu erschütterten Zustand meiner Seele besonders
Wohlthat war. —
Mein jetzt ausgestandenes Unglück war nur eine Vorbereitung zu einem
sehr harten Jahre, das ich verleben sollte. Der Verkauf unserer Eginetischen
Marmor gieng zwar durch den Beauftragten des Kronprinzen von statten,
allein es entspannen sich dabey unseelige MißHelligkeiten unter einigen meine
Freunde selbst, die den schönen Lebensgenuß in mir fürchterlich hart störten.
Ich suchte außerhalb Athens, im stillen Landleben meinen Geist zu erholen
und zu stärken. Mein Einfluß auf die mich liebenden Freunde hatte indessen
geseegnete Folgen, doch die Geschäfte mit den Marmorn waren in eine äußerst
traurige und für uns nachtheilige Verwicklung gekommen. Mein Herz erholte
sich um so mehr, als nun mein seit ein paar Jahren von mir getrennter
Freund Cockerell zurückkam, und zu mir aufs Land zog, und wir über unsern
Arbeiten den schönen Frieden auf den Sturm theilten.
Von meinen andern Freunden war der liebe Links nach Constantinopel,
der liebe Stackelberg nach dem Peloponnes, und der liebe Gropius nach
Salonichi (Salonika) gegangen. Schwere Sorgen drückten mich, denn ich
war durch eine große Schuldenlast verwickelt, und der Termin ein bedeutendes
Capital absolut heimzahlen zu müssen, näherte heran, ohne daß ich die Folgen
meiner Bemühungen, das Geld zu erhalten, gedeihen sah. —
Doch die härteste Prüfung für mein Herze war mir noch aufbehalten,
auf den. fchröklichen Augenblick, wo mein Cockerell in einer hitzigen Fieber¬
krankheit in meinen Armen mit dem Tode rang. Gott hat mein Gebet für
seine Erhaltung erhört, und sobald es sein Zustand erlaubte, begleitete ich
ihn in die Stadt, wo wir zusammen wohnten. Kurz zuvor gelang es mir
auch jene Schuld zahlen zu können, und somit meinen Credit zu erhalten,
denn auf eine wunderbare Weise kam am Tag vor dem Ausgang des Termins
endlich einmal wieder ein Brief des Kronprinzen an mich, in welchen er sich
für die Annahme meines Antheils an den Phigalienischen Marmorn erklärte,
uni» damit einen Credit schickte, um meine Auslage für die auf diesen Theil
kommende Erwerbs - Unkosten remboussiren zu können, womit ich also jene
Schuld rechtlich tilgen konnte.
Im September verlies mich mein Freund Stackelberg, in der Absicht
über Salonika durch Ungarn nach Wien zu reisen. Ich begleitete ihn bis
M dem einige Meilen von Athen gelegenen alten Decelium, wo wir zeich¬
nend noch ein paar Tage schön zusammenlebten. Nachdem ich zu Athen ein
Paar Briefe von dem glücklichen Fortgang seiner Reise erhalten gehabt hatte,
^in ein dritter, der mir und Cockerell die Schilderung seiner schröklichen Lage
w Seeräubers-Händen gab. Sie hatten ihm nach Beraubung von Allem,
unter Drohungen von Martern und Todt, gezwungen an seine Freunde nach
Athen um seine Lösung und um 60,000 türkische Piaster zu schreiben. Der
Räuber. Anführer selbst hatte an Hrn. Faurel geschrieben, daß wenn man
den von ihnen zum Sklaven gemachten Mann nicht mit jener Summa lösen
Würde, er ihn geviertheilt nach Athen Schiller wolle. Alles was wir auf den
Augenblick thun konnten, war auf der Stelle zurück zu antworten, und um
Geduld zu bitten, bis jene Summa herbeyz^uschaffen möglich seyn würde. Zu¬
gleich wurde nach einer entfernten Person geschikt, die als fähig gedacht wurde,
mit den Seeräubern unterhandeln zu können. Cockerell und ich konnten mit
aller Mühe nur 2000 Spanische Thaler gelehnt erhalten; die Besorgniß um
das Schiksal meines theuren Freundes lies mir die noch ungewisse Ankunft
jenes Unterhändlers nicht länger abwarten, und ich folgte der Stimme meines
Herzens mit jener Summa meinen Freund zu retten. Ich nenne Dir aus
Dankgefühl einen Signor Pietro Agab, der sich mir freywillig als Dollmetscher
dazu anbot, und nie von Stackelberg eine Belohnung dafür angenommen hat.
Stackelberg erholte sich nach und nach wieder in Athen, und wir wohnten
den Winter über zusammen, wozu auch bald Gropius und Links nach Athen
zurück kamen.
Meine Geschäfte hatten sich da durch neue Aufträge des Kronprinzen
vermehrt, unter denen mir besonders die zur Bearbeitung eines Plans zu einem
Monument dem Andenken großer Deutschen gewidmet, viel Genuß gewähren,
da sie mich sehr reel in meinem Fache beschäftigen. Mit dem Anfang Aprill
1814 trat ich mit lieben Stackelberg, Cockerell und Links meine Reise nach
Zarte an, da wir am 1. May bey der Versteigerung der Marmor von Phi-
galia gegenwärtig seyn müsten. Von Corinth aus vergrößerte sich unsre
Gesellschaft durch den Beytritt unsrer englischen Freunde, Foster und
Burgon mit ihren Weibern und Kindern, die wir alle uns auf einem Schiffe
zusammen fanden. Mit Foster war ich schon seit mehrern Jahren Freund¬
schaftlich bekannt; Burgon lernte ich im vorigen Jahr mit seiner Frau « in
Athen kennen, und muste ihn bald als Biedermann schätzen. Seine Frau
ist aus einer deutschen Familie, Kramer von Smyrna, sie ist sehr gebildet.
Am ersten May wurden die Marmor für 60,000 span. Thaler für den Prinz-
Regenten von England erstanden. Meine Freunde sind jeder dadurch um
10,000 Thaler reicher geworden, mir hat sie gewiß nicht der Zufall,
sondern eine Schickung der Vorsehung, versagt. —
Ich kann mich auch nicht des Eigennuzes lossprechen in dem Anbieten
meines Antheils an den Kronprinzen. — Außer daß ich glaubte dadurch
seinen Wünschen auf eine angenehme Weise zu begegnen, hatte ich auch die
Erreichung meines Zwecks den Tempel zu untersuchen zur Absicht, und glaubte
ferner damit für mein künftiges Schiksal zu wirken, daß ich in der Erreichung
des Wunsches hoffte, durch das Vertrauen des Prinzen meinen wenigen
Kenntnißen genas, zum nützlichen Menschen zweckmäsig beschäftigt zu
werden. —
Der Verlust eines für mich so bedeutenden Capitals schmerzt mich nur
wenn ich mich dadurch außer Stand sehe, da wirken zu können, wozu ich
Gott immer so innig gebettelt hatte mich zu seegnen; namentlich, der l. Na-
nette, —, die so unglücklich durch den Verlust ihres Mannes ward, — in der
Erziehung und Versorgung ihrer Kinder, thätig an die Hand gehen zu können.
Von dem, was mir unsere Eginetischen Statuen eintragen werden, habe ich
schon einen bedeutenden Theil auf meine Reisen gewandt, und ich fürchte
nach Bezahlung meiner schweren Schulden, nur noch wenig übrig zu be¬
halten. —
Den Monat Juny brachte ich auf Ithaka hin, wo ich für den Kron¬
prinzen neue Grabungen machte, die zwar nicht sehr reichlich, aber einige
interessante Ausbeute gaben, durch die ich hoffe dem Prinzen Freude zu
machen. —
Von da gieng ich über Cefa lonien, wo ich den braven Fürer besuchte,
nach Zarte zurück, und nach Beendigung meiner dortigen Geschäfte, mit meinen
Freunden wieder nach Athen. — Meinen lieben Stackelberg hatte ich nun
verlohren, er gieng mit einer guten Schiffgelegenheit über Trieft nach Wien.
— Wenn meine Wunsche in Erfüllung gehen, sehen wir uns in dem herr¬
lichen Rom wieder. — Ich muß Dir auch Hrn. Grab an aus Hamburg
nennen, den ich in Athen flüchtig sah, und nun in Zarte näher hatte kennen
lernen, da ich ihm stets dankbar bin, für ein Darlehn von 600 Spanischen
Thalern für die billigen Interessen von 5 proet., da man hier zu Land ge¬
wöhnlich 20 — 30 nimmt, was mir so großen Schaden gebracht hat. Er
hatte von meiner Geldverlegenheit gehört, und bot mir jene Summe aus
freyen Antrieb, auf wahre edle Weise an. So — lieber Bruder — hat mir
der liebe Gott immer rechtschaffene Männer zur Seite geführt — in ihrer
Bekanntschaft und durch ihre Liebe ward ich reich durch gute Lehren und Bey¬
spiele, das mich bisher durchs Leben brachte.
' In Athen gedachte ich nun ruhig den Winter mit in. l. Cockerell die Be¬
arbeitung unserer Werke über griechische Monumente fortzusetzen und zu Ende
zu bringen, doch leider wurde ich auch hierinnen wieder gestört.
Es kommt nun auf die Rettung einer Summe von 4000 Spanischen
Thalern an, die mir für die Verwendung zu den Geschäften des Kronprinzen
aus Constantinopel zukommen sollte, und die mir von dem dortigen Haus
Hübsch <K Timoni zweimal verweigert worden ist. — Hübsch ist kürzlich ge¬
storben und man befürchtet einen Bankrott des Hauses, daher ich es meiner
Pflicht gegen den Prinzen gemäß, für nöthig hielt, auf der Stelle selbst nach
Constantinopel zu gehen, um dort persönlich sein Interesse besser vertheidigen
zu können. — Es sind nun 5 Wochen, daß ich von Athen ausgeschickt bin,
und nun auf der Insel Tino von widrigen Winden zurückgehalten werde.
Hier vereinigte ich mich mit Gropius und P. Agab, die gleiche Reise
vorhaben. Ich habe einige Tage auf der Insel Delos, unter den Resten
ihrer einst so reichen und herrlichen Alterthümer recht angenehm hingebracht,
konnte sie aber keiner so gründlichen Untersuchung für letzt unterziehen, da ich
mich nicht zu lange von hier entfernt halten durfte, um die Schiffsgelegenheit
nicht zu versäumen. Meine diesmalige Trennung von Athen wurde mir sehr
schwer, da ich befürchten muß, meinen Freund Cockerell, der noch diesen Winter
in sein Vaterland zurückreisen will, nicht mehr da zu finden. Er wird durch
Italien und Deutschland gehen. Möchte das Geschick ihn mit Dir zusammen¬
führen, Du würdest ihn bald unter Deine Freunde zählen können; denn es
ist das schöne Loos der braven Männer, daß sie sich bald erkennen, und Herz
zu Herz zusammen strömen. —
So weit bin ich nun lieber theurer Bruder mit der Schilderung meines
Lebens gekommen. Nimm sie gütig aber streng prüfend über mich, auf. Ich
machte sie dem liebenden Bruder, vor dem ich keinen Rückhalt haben kann.
Meine Eigenliebe hat mich vielleicht hie und da zu weit geführt, doch es sey,
so wie ich es ohne Rücksicht hier in meiner stillen Einsamkeit niedergeschrieben
habe. Ich wollte Dir einen treuen Abriß meiner Schicksale in den letzten
Lebensjahren geben.
Wenn meine Fehler zu wenig darinnen berührt sind, so ist es nicht weil
ich mich davon frey finde, sondern weil sie vielleicht nicht unmittelbar in mein
Schiksal eingreifen.
So Gott will, sage ich Dir bald noch etwas von Constantinopel, und
sende meine Epistel mit erster Gelegenheit von dort ab, ich fürchte aber daß
die jetzige Jahreszeit, die diesen Reisen zu Wasser sehr hinderlich ist, mir noch
manchen Aufenthalt bis ich dorthin komme, machen mag. — Doch, wie es
auch komme, ich folge meinem Beruf. — Gott sey mit Dir, und erhalte mir
Unsere Zeitungen — die besten und glaubwürdigsten darunter nicht aus¬
genommen — erzählen übereinstimmend und in vielen Nummern hindurch die
in den folgenden Zeilen zusammengestellte Geschichte.
Im Herbst des verflossenen Jahres wurde in dem nordöstlichsten County
des Staates Massachussets eine Entdeckung laut, welche wohl im Stande ist,
dem ganzen Theil des kleinen Staates binnen Kurzem einen völlig veränder¬
ten Charakter zu geben. — Esser County war bisher nur bekannt durch die
Urnaivitcit seiner Farmer. Hier hauste der „Potsdamer" der Vereinigten Staaten;
hier war der Stammsitz des ächten Brother Jonathan. Wie anders soll das
nun Alles werden. Und nur deßhalb, weil ein professioneller Bummler einen
Fund gemacht und ein geriebener Yankee-Farmer diesen Fund zu würdigen
verstand. —
Ein Bummler, aus Bysield gebürtig. Namens Rogers, machte vor nun
etwa 6 Jahren an einem schönen sonnigen Herbsttag einen seiner Studien»
Spaziergänge, welcher ihn auch über die Weide von Highfield führte. In
tiefen Gedanken hob er kleine Steinchen auf, und war durch ihr großes Ge¬
wicht erstaunt. Er ließ sie in seiner Hand im Sonnenlicht funkeln, er zer¬
schlug einige — und siehe! auch das Innere funkelte. Er hatte gewiß einen
Fund gemacht. Aber, was sollte er denn mit demselben anfangen, er, der
arme Mann? Trotzdem steckte er mehrere Steine ein und brachte sie einem
unverheiratheten älteren Farmer Namens Albert Adams bei Newbury. Dieser
war ebenfalls höchst überrascht, ohne übrigens dem Rogers sein Interesse zu
verrathen, im Gegentheil. Er solle sich nicht auslachen lassen, die Steinchen
seien ja allbekannt — ob er glaube, sie hätten nur auf ihn gewartet um er¬
kannt zu werden, sie enthielten eben Glimmer, wie alles Gestein umher. —
Ohne irgend einer Seele etwas mitzutheilen — denn vor Rogers war ihm
nicht bange — wer wollte dem Bummler glauben? — ging Adams an die
Arbeit und wie ? Fragte er etwa einen Geologen um Rath? Gott bewahre.
Er fing in seinen alten Tagen an Geologie und Mineralogie zu studiren.
Und nach jahrelangem Fleiß hatte er die Wissenschaft endlich so weit erfaßt,
selbst bestimmen zu können, daß in den Steinen starke, ja lohnende Zu¬
sätze von Blei sich befänden.
In Folge seiner Forschung kaufte Adams die 12 Acres des Weidelandes
von seinem bisherigen Besitzer, einem alten Farmer Namens Jaquith für 4200
Dolls. baar ab. Und die Vorsicht und das Studium sollten nun dem fleißi¬
gen Adams bald reiche Früchte bringen. Er fing zu „graben" an. An der
Oberfläche fand er natürlich mehr oder weniger verwittertes und oxydirtes
Gestein. Bei einer Tiefe von 6 Fuß aber schon traf er auf die wirkliche
„Ader". Er brachte mehrere Tonnen*) des Gesteines nach Hause und unter¬
suchte dasselbe.
Seine Ausgrabungen konnten natürlich nicht geschehen ohne die Auf¬
merksamkeit der Nachbarschaft auf sich zu ziehen, und bald verlautete, was der
Mann suche und in so reichem Maaße finde. Die „ältesten Leute" ärgerten
sich, daß sie so lange gelebt hatten, ohne zu wissen, was unter ihren Füßen
liege. Sie halfen sich über die Thatsache ihrer bisherigen Unwissenheit hin¬
weg, indem sie das Gerücht verbreiteten, ihre Borfahren hätten ja schon vor
100 Jahren gewußt, was die Beschaffenheit des Gesteins sei, denn sie hätten
dasselbe ja zu Kugeln gegen die Engländer benutzt. Die ungläubige Jugend
lachte sie aber aus, und wollte diese Lesung bisher nirgends aufgezeichnet
gefunden oder gehört haben.
Die Nachricht, daß Adams Bleigestein mit reichem Prozentsatz finde, ver¬
breitete sich schnell weiter. Der Erste aber, der an das Einträgliche der
Schürfungen glaubte, war ein W. W. Chipman aus Boston, welcher nach
Ncwburyport ging, um selbst zu untersuchen. Er suchte andere Capitalien
auf und fand in Seth Whittier und Dr. E. G. Kelley willige Teilnehmer.
Diese drei Herren zusammen besuchten am 6. und 7. August 1874 wieder die
frühere Weide von Highfield, in Begleitung von Prof. Robert Richards von
der staatlichen Academy of Technologie, welcher mehrere Proben zur Analyse
mit nach Hause nahm.
Die Ader, welche M. Adams angegraben hatte, läuft in der Richtung
von Nord 72« östlich und mit einer Inclination von 30" nach Nordwesten.
Das Gestein, in welchem die Metallader sich befand, ist Gneis. Die eine
nördliche Wand der Ader, oder wenn man so sagen kann, das eine Ufer, ist
perpendiculär, während das andere nach unten immer mehr zurücktritt, also
die Ader breiter wird. — Die von dem Prof. Richards mitgenommenen
Proben waren aus vier verschiedenen Lagen der Ader, von 5 Zoll von der
Oberfläche bis zu 3 Zoll über der damaligen Sohle des Schachtes, in etwa
gleichen Höhen herausgenommen worden.
Die erste Probe enthielt wegen ihrer Herkunft dicht unter der Oberfläche
nicht viel Edelmetalle, auf die Tonne Gestein nur für 56^ Dolls. Silber.
Die zweite schon 73^ Dolls. Silber. Die dritte wurde auf Gold, Kupfer und
Silber untersucht und enthielt für 1270 Dolls. Silber, 129 Dolls. Gold und
ca. 27"/o Kupfer auf die Tonne Gestein. Das vierte Stück, von etwa 3 Pfd.
Gewicht, auf Bleigehalt untersucht, war so rein, daß es sich sogar leicht
hämmern ließ, da es 82°/« dieses Metalls enthielt.
Man sollte denken — erzählen meine Quellen, die hiesigen Journale,
weiter — daß solche Resultate sogar den bedächtigsten Speculanten günstig
genug erschienen, aber unerklärlicher Weise zog sich gerade jetzt Herr Whittier
vom Unternehmen zurück. Die beiden andern. Chipmann und Dr. Kelley
ließen sich aber nicht abschrecken, gingen um so eifriger ans Werk. Sie kauften
eine beträchtliche Strecke Landes, theils baar, theils auf Actien, und M. Adams
verpflichtete sich, ihnen seine 12 Acres für 100,000 Dollars zu verkaufen, so¬
wie sie bereit wären, solche baar zu zahlen. Bis der Zeitpunkt erreicht sei,
könnten sie aber auf seinem Grunde auch graben, wenn sie ihm pro Tonne
ausgeschachtetes Gestein 40 Dolls. zahlten. Ein gewisser E. P. Shaw von
Newburyport kaufte von Chipman dessen vierten Theil, und die neue Gesell¬
schaft unter der Firma Kelley & Shaw kaufte nun die Hälfte von einem
Grundstücke von 40 Acres Land, welches an Adams Grund stieß, während
die bleibende Hälfte des Eigenthums von einem Herrn E. M. Boynton
von West-Newbury vorbehalten wurde, da er selbst auf seinem Land zu graben
begann. —
Die „Gesellschaft" unter Leitung des Herrn Chipmann fing nun allen
Ernstes zu arbeiten an. Ein Schacht von 10 Fuß im Geviert wurde im
Anfang September abwärts getrieben und es ergab sich, daß die Metallader
nach unten sich fortwährend erweiterte, und daß das Gestein fortwährend
edelhaltiger wurde. Bei 23 Fuß Tiefe war die Ader oben 3 Fuß weit, unten
aber schon 7 Fuß. Dadurch ist es ermöglicht, das Gestein fast ohne Aus¬
lagen zu fördern, denn der Schacht wird fast nur in Edelgestein getrieben,
die Kosten beliefen sich bei 24' Tiefe auf nur 1 Dolls. pro Tonne, ein bisher
nicht gekannter niedriger Satz. Es arbeiten 4 Mann Tag und Nacht, 8 im
Ganzen, welche sich ablösen zu je 4 Mann. Diese schaffen in 48 Stunden
etwa 10 Tonnen Gestein herauf. Das Gestein, wie es im December herauf¬
kam, lieferte 90 Dolls. Werth Silber. 70 D. Blei und 11 D. Gold, also
zusammen 171 Dolls. pro Tonne. Das Gewinnen, Schmelzen, Fortschaffen
der edeln Metalle kostet 20 D. pro Tonne, läßt also der Gesellschaft einen
Gewinn von 110 D. pro Tonne. Sogar wenn die Hoffnungen der Besitzer,
daß die Ader aushalten, ja in größerer Tiefe an Werth noch gewinnen werde,
sich nicht erfüllen sollten, ist das jetzige Ergebniß von 1000 D. pro Tag ge¬
wiß nicht zu verachten.
Auf dem angrenzenden Land haben die Besitzer ebenfalls schon einen
Schacht gegraben, der im October begonnen wurde. Auch hier arbeiten
8 Mann wie im andern Schacht, auch hier fanden die Besitzer, daß die Ader
ganz in derselben Weise sich nach unten erweitere. Sie haben große Schuppen
aufrichten lassen, Wohnhäuser und Ställe und den Schacht selbst gedeckt, so
daß auch des Winters gearbeitet werden kann. Etwa 125 Tonnen Gestein
wurden hier bis Mitte December gewonnen, für die die Besitzer je 40 Dolls.
Pro Tonne ersparen, da das Land nicht das des klugen Adams war. —
Im Frühling hofft die Gesellschaft schon Adams bezahlen zu können.
Dann sollen auf dem Platze Dampfmaschinen, Lagerhäuser u. s. w. aufgestellt,
soll der Betrieb überhaupt im Großen begonnen werden. In Newburyport
sollen Schmelzöfen errichtet werden, um das Product sofort auf Seeschiffe
laden und nach allen Gegenden der Erde verschiffen zu können. Die Boston
und Maine Eisenbahngesellschaft ist jetzt schon damit beschäftigt von New-
burypori aus eine Zweigbahn nach den „Minen" zu legen. Eine neue Ge¬
sellschaft von Lawrence Capitalist hat ebenfalls Land in der Richtung der
Ader gekauft, und wird im Frühling auch zu schürfen beginnen.
Welche Bedeutung die neu entdeckten Minen für Esser County haben
könnten, geht daraus hervor, daß die bisher reichste Silbermine, die Cornstock
Lobe in Nevada pro Tonne 4S Dolls. Gewinn abwarf, während die bei
Newbury wohl 90 abwerfen wird. Die Mariposa - Minen in Kalifornien,
welche vor wenig Jahren für 10 Millionen Dollars gekauft wurden, ergeben
nur 15 Dolls. pro Tonne. Die Welcher Mine in Colorado, welche 40 Dolls.
pro Tonne abwirft, vertheilte für den Monat August allein 900,000 Dolls.
Gewinn an ihre Besitzer.
Die Entdeckung so reicher Minen in einem Theile des Landes, von dessen
bisherigen soliden, conservativen Gewohnheiten man solche unerwartete Sprünge
gar nicht erwarten konnte, zieht natürlich eine Masse von Neugierigen an.
Diese werden oft durch ihre Neugierde die Zielscheiben der Belustigung und
des „Reinfalls" abgeben. Der Andrang ist aber schon jetzt so groß geworden,
daß die Besitzer sich genöthigt sahen, ein System der Abschließung einzuführen.
Einem Geistlichen gelang es aber doch, bis dahin vorzudringen, wo der noch
nicht tiefe Schacht eingeht, denn die amerikanischen Geistlichen haben wie überall
viele Privilegien und sehr viel — Wissensdrang, auch in Bezug auf sehr
irdische Dinge. — Der Geistliche fragte also Dr. Kelley: — Well! Doctor,
wie tief wird das Blei nach Ihrer Meinung wohl reichen? — worauf dieser
sehr ruhig antwortete: „Well, ich dachte einst, daß ich in den Hades mit
allen andern Sündern auf der breiten Straße gelangen würde, aber nun
denke ich, werde ich auf meinem eignen Grund und Boden dort hinunter
kommen!" — Lxit Geistlicher. —
Erfahrene Bergleute aus Nevada und Colorado, welche die neuen Minen
besuchten, sind höchlichst erstaunt über den Reichthum des Gesteins, und
weissagen reichen Ertrag. Sie werden im Frühling, wenn nicht schon früher
ihr schon aufgegebenes Handwerk mit neuem Eifer wieder beginnen.
Soweit meine hiesigen Quellen, die ich absichtlich fast wörtlich citirt habe
ohne meine eigene Meinung hineinzutragen. Daß jeder Zweifel an der völligen
Wahrheit und Richtigkeit dieser Thatsachen und Berechnungen hier natürlich
verlacht wird, brauche ich nicht zu versichern. Ich will meinerseits einen
solchen Zweifel auch gar nicht äußern. Denn man müßte an Ort und Stelle
gewesen sein, um sein eigenes Urtheil abgeben zu können, und, wie Sie sehen,
hindert daran das gegen die „Neugierigen" eingeführte System der Abschließung.
Aber für Europa und Deutschland insbesondere möchte ich wenigstens die
Losung ausgeben: Abwarten! Geduld! mindestens solange, bis der Großbe-
trieb der neuen Minen begonnen hat. Dann weiß man, was da ist, was
nicht. Und dann — ist es glücklicherweise zu spät, daß unsre Landsleute
drüben vom Schwarzwalde und der rauhen Alp herniedersteigen oder von
der Weichselniederung zu See gehen, um in dem neuen Silberlaut hier eine
Das Abgeordnetenhaus hat in den Sitzungen dieser Woche theils erste
Lesungen vorgenommen, theils kleine technische Gesetze durch die drei Stadien
der Berathung hindurchgeführt. Zur ersten Berathung stand unter Anderem
der Staatshaushalt für 1873, welcher die unvermeidliche große Rede des Hrn.
Eugen Richter über alle Richtungen der Staatsverwaltung herbeiführte. Die
Gesetzgebung regelt indeß in unsern Tagen so oft und so schnell große Gegen¬
stände durch neue Normen, daß die gelegentliche parlamentarische Erörterung
großer und kleiner Dinge übergangen werden muß. Wir wollen erwarten,
ob die von Herrn Richter wiederum angeregten Fragen, sei es bei der Einzel¬
berathung des Haushalts, sei es bei andern Gelegenheiten zu positiven Be¬
schlüssen führen.
Wir könnten mit dieser kurzen Erwähnung der Gegenstände dieser Woche
unserer Berichterstattung genügen, wenn nicht die überaus wichtigen Vorlagen
zur Umgestaltung der preußischen Verwaltung, welche dem Landtag zugegangen
find, zu einem vorläufig orientirenden Wort aufforderten. Diese Vorlagen
bestehen in einem Gesetzentwurf zur Ausstattung der Provinzen mit Provin-
zialfonds; in einer neuen Provinzialordnung für die Provinzen Preußen.
Brandenburg, Pommern, Schlesien und Sachsen, welchem Entwurf ein Plan
über die Neugestaltung der gesammten Staatsverwaltung beigegeben ist; in
einem Gesetzentwurf über die Verfassung der Verwaltungsgerichte und das
Verwaltungsstreitverfahren; in einem Gesetzentwurf über die Errichtung einer
Provinz Berlin, endlich in einem Gesetzentwurf über die Bedingungen der Be¬
fähigung zum höheren Verwaltungsdienst.
Das wichtigste dieser Gesetze ist die Provinzialordnung, welche gegen die
nicht zur Berathung gelangte Vorlage über denselben Gegenstand aus der
Session von 1873 — 74 ganz wesentlich verändert worden. Die erste Be¬
rathung dieser Gesetze soll am 9. Februar ihren Anfang nehmen. In allen
näher betheiligten Kreisen ist die Vermuthung allgemein, es werde ein solches
Chaos der Ansichten zu Tage kommen, daß an eine Erledigung in dieser
Session nicht zu denken sei. Wir glauben nicht nur dasselbe, sondern wünschen
es sogar. Denn bei der Reorganisation der preußischen Staatsverwaltung
handelt es sich nicht etwa um eine eilige Frage, wie bei der Regelung des
Bankwesens. Dagegen ist der Schade, den eine unvorsichtige Zerstörung des
alten Baues ohne einen vollkommneren Ersatz anrichten müßte, geradezu un¬
übersehbar. Nie hat eine Verwaltung Gleiches geleistet, wie die preußische
seit ihrer ersten Einrichtung durch Friedrich Wilhelm I. und dann wieder
seit ihrer Reorganisation unter Friedrich Wilhelm III. nach 1808 und nach
1815. Man sehe sich also vor, daß man ein ebenso gutes Werk hervorbringe,
und man vergesse nicht, daß die Schaffung eines ebenbürtigen, den neuen
Verhältnissen entsprechenden Werkes bei dem jetzigen Reichthum der staatlichen
Aufgaben eine noch weit größere Umsicht, als in den früheren Perioden erfordert,
Der Entwurf der Provinzialordnung, wie ihn die Regierung eingebracht,
hat vorläufig großen Beifall gefunden. Wir fühlen uns pflichtmäßig bewogen,
mit der Ueberzeugung nicht zurückzuhalten, daß dieser Entwurf höchstens auf
dem Papier den Schein der Gelungenheit erwecken kann. Er würde in der
Praxis eine Friction der Verwaltungsmaschine erzeugen, welche den ganzen
Apparat nur höchst unregelmäßig arbeiten lassen und nicht selten zum völligen
Stillstand bringen würde. Man vergegenwärtige sich die Vorschläge und
staune! Die jetzigen Regierungsbezirke werden beibehalten, bekommen jedoch
eine mehr bureaumäßige, die Geschäfte in der Hand des Präsidenten conceu-
trirende Einrichtung. Von ihnen werden die Angelegenheiten der Volks- und
Bürgerschulen an die schon bestehenden Provinzialschulcollegien übertragen,
außerdem wird die Domänen- und Forstverwaltung von den Regierungen
auf neue Provinzialbehörden übertragen. Neben der Bezirksregierung fungirt
ein Verwaltungsgericht als zweite Instanz über dem Kreisausschuß; über dem
Verwaltungsgericht steht ein Oberverwaltungsgericht zu Berlin als dritte und
letzte Instanz in Verwaltungsstreitigkeiten. Neben der Bezirksregierung fun¬
girt zweitens ein Bezirksausschuß, der aus der Provinzialversammlung hervor¬
geht. Ueber den Kreisen stehen theils unmittelbar, theils mit der Zwischen¬
instanz der Bezirksregierungen die Provinzialbehörden: nämlich das Oberprä¬
sidium, das Provinzialschulcollegium, das Consistorium für äußere Kirchen¬
sachen, die Provinzialsteuerbehörden für die indirecten Steuern, die Forst- und
Domänen-Directionen. Neben dem Oberpräsidium fungirt eine periodisch
einzuberufende Provinzialversammlung als berathender, geldbewilligender, con-
trolirmder Körper, und ein aus dem letzteren hervorgegangener Provinzial-
ausschuß als Verwaltungskörper. Unter diesem fungirt ein ständiger Ver-
waltungsbeamttt als Landesdirector, während der Vorsitz im Ausschuß ab-
wechselnd vom Oberpräsidenten und vom Borsitzenden der Provinzialversamm-
lung geführt wird. Außerdem kann die Provinzialversammlung für gewisse
Verwaltungszwccke Provinzialcommissionen unter dem Landesdirector bilden.
Ueber dem Allen stehen die einzelnen Ministerien und das Gesammtmtniste-
rium. Nun sage man. ob es möglich gewesen wäre, noch mehr Stellen einer
unvermeidlichen Friction zu etabliren! Kaum haben wir Deutsche ein wenig
Einheit und Einfachheit in unsern Gesammtstaat gebracht, so scheint es, wollen
wir uns beeilen, in den größten Bundesstaat, der Alles einer straffen Ver¬
waltung verdankt, die constituirte Anarchie einzuführen.
Hier muß radical geholfen werden oder das Alte, unendlich Bessere er¬
halten bleiben. Wir schlagen vor, die Regierungsbezirke ganz wegfallen zu
lassen, dafür aber die Provinzen zu vermehren und kleiner zu machen. Ebenso
muß der Landesdirector weg- und seine Function dem Oberpräsidenten zufallen.
Der Oberpräsident muß allein den Vorsitz im Provinzialausschuß führen und
ähnlich, wie der Reichskanzler über den Bundesrathsausschüssen und über den
Abtheilungen des Reichskanzleramtes, über allen Provinzialbehörden stehen,
in denen er sich überall vertreten lassen kann.
Wir werden Gelegenheit haben, auf diese Ansichten wiederholt und be¬
Da haben wir einmal einen ächt norddeutschen Fasching! Ein Zephyr,
der unsern jugendlichen Schönen die Schminke erspart, und ein Schneegestöber
so lustig und solide, daß Einem das Herz im Leibe lacht. Mag der römische
Carneval den Frühling zur Voraussetzung haben, der fastnachtliche Mummen¬
schanz, wie ihn unsere heimathlichen Altvordern getrieben, fand meines Be-
dünkens seine richtige Staffage in einer regelrechten Winterlandschaft. Freilich
ist diese fröhliche Narrethei den modernen Geschlechtern nur der Sage nach
bekannt. Das Bedürfniß, sich von Zeit zu Zeit einmal über die ernste Lebens¬
und Gesellschaftsordnung übermüthig hinauszusetzen, regt sich auch heute noch
in jeder kräftigen Natur; aber jene collective Ausgelassenheit, die wie von
elektrischen Funken entzündet, gleichzeitig eine ganze Bevölkerung ergriff, ist
für den protestantischen Norden auf immer dahin. Wohl müht man sich hie
und da, die alten Reminiscenzen zu neuem Leben zu erwecken, aber in Berlin
wenigstens wird der Galvanisirungsversuch nicht von Erfolg sein. Man hört
von einer „Großen Carnevalsgesellschaft"; wer aber bemerkt etwas von ihrem
Wirken? Am Dienstag wird der Bewohner der Kaiserstadt unter den Local-
nachrichten der Blätter lesen, daß Tags zuvor eine große „Kappenfahrt" statt
gefunden, aber von jedem Tausend der hauptstädtischen Bevölkerung werden
kaum fünf von dem Aufzuge etwas wahrgenommen haben. Nein, in Privat-
eirkeln mögen allerlei Scherze gelingen, aber den Fasching wieder zu einem
öffentlichen Volksfeste machen zu wollen, ist in der nüchternen „Stadt der
Intelligenz" ein nutz- und aussichtsloses Beginnen. Die „Volksredouten"
ohne Masken und die Pfannkuchen — das werden bei uns für die große
Menge nach wie vor die einzigen Ueberreste der alten Carnevalsfeier bleiben.
Nicht einmal unsere Theater nehmen sich die Mühe, den Faschingstagen
zu Liebe ihr gewöhnliches Repertoir zu unterbrechen. Das Opernhaus kün¬
digt für den Fastnachtsdienstag Verdi's tragische „A'ita". das Schauspielhaus
für den Fastnachtsmontag Kleist's „Hermannsschlacht" an. Bei dem letzteren
Stück verlohnt es sich, einen Augenblick zu verweilen. Seine Vorführung in
der trefflichen Bearbeitung von Rudolph Gene'e ist die hervorragendste That,
welche die königl. Bühne in der gegenwärtigen Saison zu verzeichnen hat.
Man faßt es kaum, wie dies Juwel patriotischer Bühnendichtung so lange
unbenutzt, ja ungekannt in der Rumpelkammer liegen konnte. Wie haben
sich in den großen und ernsten Tagen unserer jüngsten nationalen Erhebung
die deutschen Theaterdirectionen abgemüht, ein Drama zu finden, welches der
öffentlichen Stimmung entgegenkäme, dem Alles beherrschenden Gefühle einen
würdigen Ausdruck verliehe! Schiller's Tell, nach welchem allerwärts zuerst
gegriffen wurde, paßte doch nur halb in die Situation. Und was für Mach¬
werke haben wir uns inzwischen von unsern nationalen Gedenktagen gefallen
lassen müssen! Da endlich langt man dies vergessene Kleinod hervor, und
welch' einen glücklichen Griff man damit gethan, zeigt der außerordentliche
Erfolg. Das ernste Stück ist in den Räumen unseres Schauspielhauses selten
der Gegenstand enthusiastischer Kundgebungen; hier erdröhnte das Haus von
zahllosen Beifallssalven. Bis zu welcher Höhe erst hätte die Begeisterung
steigen müssen, wenn das Stück vier Jahre früher über die Bretter ge¬
gangen wäre!
Der Grund dieser durchschlagenden Wirkung liegt zunächst in dem natio¬
nalen Geiste, welcher das Drama durchweht, außerdem aber auch in dem
künstlerischen Werthe der Dichtung. Freilich hatte Heinrich v. Kleist durchaus
nicht die Absicht, eine Episode der altgermanischen Geschichte historisch getreu
darzustellen; er wollte nichts weiter, als ein auf die unmittelbarste Gegen¬
wart berechnetes Tendenzstück schreiben, und der Zuschauer kann es mit Hän¬
den greifen, daß unter dem der grauen Vorzeit entlehnten Gewände das
Deutschland der Nheinbundszeit gezeichnet ist. Dennoch ist in dem Ganzen
das Colorit des Taciteischen Germaniens mit Glück getroffen. Sind auch
Ideen und Zustände des Stücks der modernen Zeit entlehnt, die handelnden
Personen sind Naturen von einer urwüchsigen Derbheit, die sich mit dem
Wesen des heutigen Geschlechts nicht zusammenreimen lassen würde. Merk¬
würdig und doch sehr begreiflich: menschlich weitaus am nächsten stehen uns
in dieser fremden Welt die Feinde Germaniens. Der Römer Ventidius ist
ein Höfling unserer Tage; Varus erscheint als ein Mann von vornehmer
Bildung; als ihm jeder Weg abgeschnitten ist, fügt er sich mit weltverachtender
Resignation in sein Schicksal; mit der Verzweiflung eines modernen Philoso¬
phen stürzt er sich in sein Schwert. Wie anders die fellumgürteten Germa¬
nen! Ihre rauhe Art winkt imponirend, flößt Ehrfurcht und Entsetzen ein,
aber wäre nicht das patriotische Band, das uns unwiderstehlich an diese
Recken fesselt, sie würde uns eher abstoßen, als anziehen. Auf alle Fälle
jedoch bewundern wir die geniale Zeichnung und Motivirung der Charaktere.
Freilich hat auch hier die Tendenz den rein künstlerischen Impuls überwogen.
Der Held des Stückes ist, objectiv betrachtet, nichts weniger als ein Muster
der sprichwörtlichen deutschen Treue und Biederkett. Seine Hauptwaffe gegen
die Römer ist die diplomatische Verschlagenheit und Hinterlist, Eine streng
moralische Beurtheilung wird an diesem dominirenden Charakterzüge Anstoß
nehmen; dem Dichter aber galt es gerade, seinem Volke klar zu machen, daß
zur Abschüttelung fremder Herrschaft jedes Mittel erlaubt sei. Die gleiche
Absicht hat ihn bei der Zeichnung der Thusnelda geleitet. Wer von dieser
Figur ein von hohen Ideen begeistertes Heldenweib erwartet, steht sich ge¬
täuscht. Die persomficirte Naivetät, läßt sie sich von Ventidius arglos den
Hof machen, für die allgemeine Lage, für die Pläne ihres Mannes hat sie
weder Verständniß noch Sympathie; erst als sie erfährt, daß der freche Römer
eine ihr geraubte Locke nicht für sich behalten, sondern der Kaiserin „zur
Probe" übersandt hat, da lodert sie auf und verwandelt sich zur rachedurstigen
Furie. Solcher g,rZum<zuo g,ä dominem glaubte der Dichter zu bedürfen,
um den Haß der deutschen Frauen gegen die Franzosen zu entflammen.
Die sympathischste Figur des Stückes ist ohne Zweifel der alte Sueven-
fürst Marbod, Ihn ruft Hermann zu Hülfe. Anfangs zweifelt er an der
redlichen Absicht des Cheruskerfürsten — so durfte der Deutsche nicht mehr
dem Deutschen trauen! — ; aber als er erkannt, daß wirklich die Stunde
der Abschüttelung des fremden Joches und der Einigung des Vaterlandes
geschlagen, da ist sein Entschluß gefaßt, trotz aller Ohrenbläsereien, da weiß
er nicht schnell genug die Waffen umzugürten, um noch zur rechten Stunde
das Schlachtfeld zu erreichen. Die Scene, von dem wackern Berndal vortreff¬
lich gespielt, hat das Publikum zu Heller Begeisterung hingerissen; wie viel
gewaltiger noch hätte sie wirken müssen in jenen Tagen, da die treuen Söhne
der Zairischen Berge, den giftigen Wühlereien der schwarzen Brut zum Trotze,
auf den preußischen Hülferuf zum Rhein eilten!
Vielfach ist gegen das ganze Stück der Vorwurf erhoben worden, daß
es zu dürftig motivirt erschien; man sehe zu wenig von den Schandthaten
der Römer. Vom Standpunkte der abstracten Beurtheilung ist das richtig.
Einem gelehrten Kritiker, der in fernen Zeiten, nach dem Untergange der
heutigen Kulturepoche, die Kleist'sche „Hermannsschlacht" vielleicht einmal
ästhetisch secirt, mag die Wirksamkeit dieses Dramas unverständlich sein; so¬
lange aber ein deutsches Volk lebt mit ungebrochenen Nationalgefühl und
ungetrübter Erinnerung an seine Vergangenheit, wird dieser Fehler des Stückes
am wenigsten empfunden werden. Es hat die Unterjochung des Vaterlandes
zur stillschweigenden Voraussetzung. Und weil die Fremdherrschaft jedem
lebenskräftigen Volke als die härteste Schmach gilt, und weil wir diese Schmach
über die Maßen haben erdulden müssen, darum übertönt diese beredte Predigt
des Hasses gegen die Unterdrücker in uns alle Zweifel der Kritik.
An der Aufführung, welche der „Hermannsschlacht" im Schauspielhause
zu Theil^ wird, darf man seine herzliche Freude haben. Wer je gezweifelt
hat, daß das vorjährige Gastspiel der Meininger in der Friedrich-Wilhelm¬
stadt ein wahrer Segen für unsere königl. Bühne gewesen, wird jetzt bekehrt
sein. Eine so opulente und der historischen Situation genau angepaßte Aus¬
stattung haben wir früher im Schauspielhause nie gekannt. Und auch in der
Jnscenirung sind ganz außerordentliche Fortschritte gemacht. Die schwierigen
Volksscenen z. B., wenn sie auch die Virtuosität des Thüringer Vorbildes
noch nicht ganz erreichen, gelingen jetzt doch wenigstens so, daß sie den Zu¬
schauer wirklich ergreifen, während sie früher nur zu leicht geeignet waren,
seine Heiterkeit zu erregen. Kurz, jener Standpunkt, von dem aus man uns
zumuthete, mit vornehmer Resignation auf die Staffage im Drama zu ver¬
zichten, ist überwunden; die Aufführung der „Hermannsschlacht" gehört zu
dem Vollendetsten, was auf unserer Hofbühne je gesehen wurde. —
Eine äußerst anziehende Novität bietet zur Zeit das Stadttheater in
Sardon's „Onkel Sam". Der ergebenste und treueste Dramatiker des zweiten
Kaiserreichs hat sich seit dem Ende der napoleonischen Herrlichkeit auf die
Verhöhnung der Republik verlegt. Hatte es sein „Rabagas" direct auf die
französischen Republikaner abgesehen, so beabsichtigt er im „Onkel Sam"
seinen Landsleuten in einem „amerikanischen Zeitgemälde" ein abschreckendes
Beispiel vorzuführen. In Paris ist das Stück bekanntlich verboten worden,
angeblich, weil man Reklamationen des amerikanischen Gesandten verhüten
wollte. In Wahrheit fürchtete man sich vor dem Zorn der heimischen Repu¬
blikaner; wenigstens wäre die Besorgniß wegen einer Beleidigung der Union
sehr unnöthig gewesen. Hier geht „Onkel Sam" seit reichlich drei Wochen
allabendlich über die Bretter, aber Niemand hat davon gehört, daß etwa
Herr Davis beim Auswärtigen Amte eine Beschwerde erhoben habe. Die
Satire auf gewisse politische und sociale Zustände der Vereinigten Staaten ist
freilich äußerst scharf, aber sie ist entweder gerecht, und dann läßt sich nicht
gut etwas gegen sie einwenden, oder sie ist eine so handgreifliche Carricatur,
daß es lächerlich wäre, sich über dieselbe ernstlich zu erbosen. Ueber den In¬
halt des Stückes ist nicht gerade viel zu sagen. An Handlung ist, wie ge¬
wöhnlich bei Sardon, kein Reichthum; das ganze Schwergewicht fällt auf die
Veranschaulichung der Sitten. Um so mehr ist das Geschick des Autors zu
bewundern, mit dem er zahllose kleine Bühnencffeete anzubringen und den
Zuschauer über den trägen Gang des Dramas hinwegzutäuschen versteht.
Und was den eigentlichen Inhalt anlangt, so überraschen uns um die Wette
scharfe Beobachtungsgabe, beißender Witz und geistreicher Dialog. Welche
Typen, dieser Tapplebot, der vor Freude aufjauchzen möchte über den schlauen
Bankerott, den sein Sohn gemacht, über die doppelte Buchführung, welche
seine Nichte über ihre Liebhaber führt! Dieser Ulysses, der seinem Vater
das mit schwerem Gelde erkaufte Deputirtenmandat vor der Nase wegschnappt!
Diese Bella, welche seelenvergnügt ihrem geschiedenen Gatten ihren zweiten
Mann vorstellt! Und dann dieser Wahlagent Jyp, dieser Geistliche Buxton,
dieser Advocat Fairferr, dieser Colonel Flybursy! Lauter lebensvolle, wahr¬
haft künstlerische Portraits! Und diesen Charakteren hat der Dichter ein
paar Repräsentanten der alten Welt gegenübergestellt, selbstverständlich Fran¬
zosen, und nicht minder selbstverständlich von unwiderstehlicher Liebenswürdig¬
keit und Alles besiegender Genialität. Da kann es keine Frage sein, welche
der beiden Welten den Kürzeren zieht. Doch läßt es der Autor inmitten
dieses schroffen Gegensatzes auch an einer versöhnenden Idee nicht fehlen, in¬
dem er grade die raffinirteste und scheinbar herzloseste der amerikanischen
Schönen durch die ritterliche Liebe eines jungen Franzosen zu den edelsten
Gefühlen sich erheben läßt.
Die rückhaltlosen Verehrer der amerikanischen Union werden „Onkel
Sam" freilich mit sehr gemischten Gefühlen betrachten; Niemand aber wird
dem Stücke das Prädicat eines hochinteressanter Bühnenerzeugnisses bestreikn
können. Das Stadttheater, welches aus die Aufführung eine ganz besondere
Sorgfalt verwendet, hat sich ein wirkliches Verdienst erworben, indem es uns
Nach Art. 70 der Verfassung des früheren norddeutschen Bundes und
jetzt des Reichs sind die Ausgaben, soweit sie nicht durch eigene Einnahmen
des Reichs an Zöllen und Verbrauchssteuern gedeckt werden, durch Beiträge
der einzelnen Staaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerungszahl aufzubringen.
Diese Reparation der Last nach Köpfen würde gerecht sein, wenn sämmt¬
liche deutsche Staaten gleichmäßig leistungsfähig wären. Dies ist aber nicht
der Fall; so hat beispielsweise, wie auf der Versammlung von Volkswirthen
in Eisenach am 11. October v. I. constatirt wurde, der Hamburger Staats¬
angehörige 4 —- S mal mehr Steuerfähigkeit als der Coburg-Gothaische.
Selbstverständlich kann es nicht im Interesse des Reiches liegen, die ärme¬
ren Staaten zu überbürden und sie dadurch in ihrer Entwickelung zu hemmen.
Eine Abänderung des seitherigen Nepartitionsmodus ist daher und um so
mehr nöthig, als bei den steigenden Anforderungen, die an das Reichsbudget
gemacht werden, und bei der hierdurch bedingten fortwährenden Erhöhung der
Matricularbeiträge, mehrere Staaten in nicht zu ferner Zeit kaum noch in der
Lage sein werden, die Last dieser Matricularbeiträge zu tragen.
Schon bis jetzt ist dies einzelnen nur dadurch möglich gewesen, daß sie
bei äußerster Anstrengung der Steuerkraft und bei sparsamster Bemessung der
unbedingt nöthigen Ausgaben, dergleichen zur Förderang des Verkehrs, der
Industrie u. s. w. dienende nicht mehr geleistet haben. Daß bei einem der¬
artigen System eine Schädigung, man kann sagen Verkümmerung der
betreffenden Staatsgebiete eintreten muß, braucht sicher nicht erst bewiesen
zu werden.
Unbedingt der Gerechtigkeit entsprechender ist eine auf der Leistungsfähig¬
keit bezüglich der Steuerkraft basirende Heranziehung der einzelnen Staaten
zur Deckung des Deficits im Neichshaushalt. Es ist dies gleichfalls bei der
erwähnten Eisenacher Versammlung von Reichs- und Landtagsabgeordneten
und den dort versammelten Volkswirthen constatirt und gleichzeitig zur Durch¬
führung dieses Projects die Ersetzung der Matricularbeiträge durch eine
gleichmäßig zu veranlagende Reichseinkommensteuer vorgeschlagen worden.
Es fragt sich, ob letztere neben den seither in den einzelnen Staaten be¬
stehenden Steuern veranlagt und erhoben werden, oder ob sie an die Stelle
der bisherigen sämmtlichen directen Steuern treten soll, so daß neben der für
den Reichshaushalt nöthigen Terminzahl die für das Budget der einzelnen
Staaten erforderlichen Beträge als Zuschlag zu diesen Terminen erhoben
würden.
Jedenfalls dürfte der letztere Weg der richtigere und auch durchfuhr-
barere sein; es fragt sich nur, ob er die Zustimmung der sämmtlichen
Staaten finden wird, da die Gesetzgebung des Reiches sich nach Art. 4 der
Verfassung nur auf die zu Bundeszwecken zu verwendenden Steuern erstreckt
und voraussichtlich sich viele Stimmen für die Beibehaltung der seitherigen
Besteuerung aussprechen werden.
Auf der andern Seite würde eine Veranlagung und Erhebung einer be¬
sonderen Einkommensteuer für das deutsche Reich neben den seitherigen Landes¬
steuern voraussichtlich noch größeren Widerstand finden, da auf der einen
Seite eine besondere Veranlagung und Erhebung dieser ganz gleichmäßig zu
bemessenden Steuer mit vielen Schwierigkeiten und Kosten verknüpft sein
würde, andererseits aber hierdurch einzelne Kategorien von Steuerzahlern un-
verhältnißmäßig belastet werden dürften. Das neuerdings aufgetauchte Project
einer Reichsgewerbesteuer wird wohl dieselben Bedenken gegen sich haben, was
wohl nicht weiter ausgeführt zu werden braucht, da auch ohne Veranlagung
und Erhebung einer besonderen Reichssteuer das Deficit im Reichshaushalt
nach der Zahlungsfähigkeit der einzelnen Staaten repartirt werden kann.
Als Maaßstab muß hierbei die Steuerkraft derselben angenommen werden.
Dieselbe würde leicht zu bestimmen sein, wenn in sämmtlichen deutschen Staaten
die directe Steuer nach einem auf gleichem Princip beruhenden Einkommen-
und Classensteuergesetz veranlagt würde.
Angenommen, die Veranlagung der Einkommensteuer ergebe für einen
terminlichen Betrag:
und es wären 28,000,000 Thaler durch Umlagen aufzubringen, so würde der
Kleinstaat 72,000 Thaler zu zahlen haben, während bei Annahme einer Be¬
völkerungszahl des Kleinstaats von 180,000 und des deutschen Reiches von
40,000,000 Köpfen, nach dieser repartirt, auf den mehrerwähnten Kleinstaat
126,000 Thaler entfallen würden. Es möchte daher dahin zu wirken sein,
daß eine gleichmäßige Besteuerung in sämmtlichen deutschen Staaten stattfindet.
Aber auch solange dies noch nicht der Fall ist, dürfte die mehrerwähnte
Nepartition des Deficits nach der Steuerkraft der einzelnen Staaten trotz der
verschiedenartigen Steuergesetzgebung zu ermöglichen sein.
Nehmen wir das frühere Beispiel an. Im Staat C. mit 180.000 Ein¬
wohnern betrage der terminliche Steuersatz 18,000 Thaler, also pro Kopf
Vio Thaler. Nach dem für den gedachten Staat gültigen Steuergesetz erfolgt
die Veranlagung der Steuer derart, daß der terminliche Satz möglichst genau
Vi Procent der Jahreseinnahme ausmacht; es berechnet sich daher das jähr-
liebe Einkommen eines C.'schen Staatsangehörigen auf durchschnittlich 40 Thlr.
und das der ganzen C.'schen Bevölkerung auf 7,200,000 Thaler.
Auf gleiche und ähnliche Weise müßte die Einnahme der Bevölkerung
der übrigen deutschen Staaten berechnet werden und auf Grund des erzielten
Gesammtresultats dürfte die dann einfache Reparation der Umlagen zu be¬
wirken sein.
Um eine solche Berechnung aufzustellen sind folgende Data nöthig:
1. Die Einwohnerzahl jedes Staates; 2. Der Betrag der terminlichen
Einkommensteuer oder sonstigen ähnlichen Steuer desselben; 3. Das Prinzip,
nach welchem diese Steuer veranlagt ist.
Erwin v. Steinbach. Ueber Erwin v. Steinbach, den (durch Goethe)
bekanntesten unter den großen Baumeistern des Mittelalters, hielt kürzlich Bau¬
rath Prof. Adler im wissenschaftlichen Verein zu Berlin einen Vortrag,
welcher viel Neues, das Resultat Jahre langer, mühevoller Untersuchungen
über gewisse bisher völlig dunkele Theile der Baugeschichte des Mittelalters,
mittheilt. Nach Adler wäre Erwin v. Steinbach um das Jahr 1240,
man weiß nicht wo, geboren, er lernte zwischen 12S4 und 59 seine Kunst,
war dann in den Jahren 1259 bis 63 auf der Wanderschaft in Deutschland
und Frankreich, studirte besonders die neuesten Bauten in Paris, Rheims,
Troyes u. s. w., kehrte dann nach Deutschland zurück und baute zuerst in
den Jahren 1264 bis 68 den östlichen Theil der Stiftskirche zu Wimpfen
im Thal, dann die Front und den berühmten Westthurm des Münsters zu
Freiburg im Breisgau und siedelte endlich im Jahre 1273 nach Stra߬
burg über, wo er zunächst 1273 bis 75 die Johannis-Capelle an der Nord«
ostseite des Chors mit dem Grabmal des Bischofs Conrad v. Lichtenberg,
dann 1276 — 98 die Front bis über die Mitte der großen Rose hinaus, also
etwa 30 Meter hoch und, nach einem Brande, in den Jahren 1298 bis 1318
das Langhaus des Münsters, welches erst sein Sohn Johannes im
Jahre 1320 vollendete, gebaut hat. Daneben soll er dann seit 1274 auch
die Stiftskirche zu Hasbach in den Vogesen, deren Bau sein Sohn Oberlin
bis zum Jahre 1330 geleitet hat, gezeichnet und den ursprünglichen Entwurf
zu dem im Jahre 1274 begonnenen Bau des Doms zu Regensburg ge¬
fertigt haben. Erwin war auch als Bildhauer thätig, soll unter Andern:
das Grabmal seines Gönners des Bischofs Conrad v. Lichtenberg, an dessen
Fuße der Meister sich selbst als kleinen in trauernder Geberde dasitzenden
Mann dargestellt hat, und viele Sculpturen in Wimpfen und Freiburg ge¬
fertigt haben.
Blickt man in unsere Zeit, so erkennt man. daß eine förmliche Krisis
nicht allein des kirchlichen Lebens, sondern der christlichen Weltanschauung,
oder auch der Auffassung des Christenthums selbst (wir sagen wohlbedacht
„der Auffassung des Christenthums". — denn das wahre Christenthum selbst
ist natürlich immer dasselbe und wird sich auch gegen die neuen Himmelstür¬
mer behaupten) sich vollzieht, in welcher die Grundbegriffe, auf denen bis¬
her alles religiöse Leben, wenigstens theoretisch, ruhte, schon lange von der
sog. Aufklärung unterwühlt, von den sog. Denkern gründlich verkehrt worden
sind, so daß unter den sog. Gebildeten nicht nur über die Grundlagen des
Christenthums, sondern über die Grundlagen jeder Religion die größte Ver¬
schiedenheit der Ansicht bis zum Zwiespalt herrscht! Man betrachte ferner,
wie auch unter denen, die noch auf den christlichen Grundlagen, auf christlichem
Boden stehen, unter den Geistlichen und Theologen selbst, und zwar in allen
Kirchen, der größte Zwiespalt herrscht, und die verschiedensten Interessen sich
bekämpfen ! Aber was noch wichtiger ist, man vergegenwärtige sich, wie durch
die neueren Entwicklungen und Ordnungen im Staate der Bewegung des
Individuums Freiheit gegeben ist bis zur Willkür, und wie gerade dadurch
möglicherweise die große Masse, oder das Volk, ganz unzurechnungsfähig den
kecken Wortführern zur Beute fällt, und zwar ebenso denen, die blinden Glau¬
ben fordern, oder unter dem Deckmantel des Christenthums nur ihre selbst¬
süchtigen Zwecke verfolgen theils politisch, theils hierarchisch, als denen, welche
mit dem Flittergold eines falschen Liberalismus, während sie die Grundlagen
alles Rechts und aller Ordnungen des Lebens, die christlichen religiös-sitt¬
lichen Ideen leugnen, mit hohlen Phrasen von Fortschritt und Humanität
die unzurechnungsfähige, urtheilsunfähige Menge ködern! - Gar nicht zu reden
von denen, die. während sie das neue demokratisch - socialistische Evangelium
predigen, noch dazu sich auf das Christenthum berufen! — In einer solchen
Zeit, wo die Verwirrung auch in den evangelischen Gemeinden schon hoch
genug gestiegen ist, will man das Prinzip der Wahl für alle geistlichen Stellen
einführen? —
Das führt uns nun zu den Gründen, die nicht in dem ungenügenden
Einkommen der Geistlichen, sondern in der Richtung der Zeit liegen.
Da ist der tiefste und letzte Grund, der, mit dem vorigen verwandt,
alle übrigen als Grundcharakter einschließt, der realisti sah e Zu g unserer
Zeit bis zum gröbsten Materialismus.
Man kann freilich dahin Alles rechnen, was dem Volksbewußtsein von
den irdischen Gütern überhaupt zeitweilig als das höchste Gut erscheint, und
damit auch die politischen hohen Güter, die im Vordergrunde der Wünsche der
Zeit standen und stehen, die Einigung. Entwicklung und Bedeutung der Na¬
tion, ihre staatliche und kirchliche Ordnung zur Verwirklichung der politi¬
schen bürgerlichen mehr oder weniger berechtigten Ideale und Wünsche.
Aber so sehr diese auch im Mittelpunkte des Volksbewußtseins standen
und stehen, in den politischen Gütern und Wünschen liegt schwerlich ein
Grund der Abkehr von den religiösen und kirchlichen Interessen, im Gegen¬
theile, wenn sie auch zeitweilig das Denken und Streben der Nation vorzugs¬
weise beschäftigen, sie vertragen sich recht wohl mit der idealen Anschauung
des Lebens, ja sie erhalten durch diese erst ihre Weihe und Stärke, wie die
politische Wiedergeburt der deutschen Nation sicher gerade durch das Erwachen
des religiösen Elementes sich vollzogen hat, und umgekehrt das Wiedererwachen
des religiösen Elementes durch die politische Noth aber auch durch die poli¬
tischen Ideale seine Anregung und" Stärke erhalten hat.
Ganz anders aber steht es mit der materialistischen Richtung der Zeit,
in der nun allerdings, soweit nicht die materielle Noth der Geistlichen un¬
mittelbar abschreckend gewirkt hat, ein Hauptgrund der Abneigung gegen das
Studium der Theologie gefunden werden muß.
Der Mensch kann seine Bestimmung als Einzelwesen wie als Mitglied
der Gemeinschaft nur erreichen durch den rechten Gebrauch der geistigen und
materiellen Güter, aber die Geschichte lehrt, daß die Werthschätzung dieser
Güter in verschiedenen Zeiten verschieden ist. Auf die Vorherrschaft der
religiösen und anderer geistigen Interessen folgt ein Uebergewicht oder die
Vorherrschaft der politischen oder materiellen, und umgekehrt. Die Signa¬
tur unserer Zeit ist nun, zusammenhängend mit der Entwicklung der
Naturwissenschaften, das materielle Interesse,*) wenn auch der Kampf
der geistigen und politischen Interessen nicht fehlt.
Aber die zunächst auf die Betrachtung des Causalzusammenhangs der
materiellen Erscheinungen und dann auf die Ausnutzung der materiellen Güter
zum äußerlichen sinnlichen Wohlbefinden der Menschen gerichtete Naturforschung
hat den Erwerb und Besitz materieller Güter in Einer Hand sehr ge¬
steigert, dadurch wieder die Möglichkeit, daß Besitz und Intelligenz die Kräfte
vieler Nebenmenschen für sich in Dienst nehmen und zu ihrem Vortheil aus¬
beuten, durch Theilung der Arbeit die Massenproduction, zunächst wieder für
ihren Vortheil, und dadurch wieder ein Mißverhältniß der Stellung Einzelner
in Besitz und Genuß der materiellen Güter zu der für Einzelne arbeitenden
und darbenden Menge herbeigeführt, hat so die Gier der darbenden Menge
nach gleichem Besitz und Genuß zum Hauptinteresse ihres Strebens und Lebens,
und so den rücksichtslosen Erwerb und Genuß der materiellen Güter zum
Götzen der Zeit gemacht, und damit die sinnliche Natur und alle Leiden¬
schaften mit Hintansetzung der religiösen und sittlichen Aufgaben und Zwecke
des Lebens, ja mit Schädigung der Interessen der Familie, des Staats und
der Kirche, zur Befriedigung der Sinnlichkeit entfesselt.*) Ein charakteristisches
Merkmal, wie sehr unsere Zeit aller edleren idealen Gefühle, im schreiendsten
Gegensatze zu frühern Zeiten, baar und ledig ist, ist unverkennbar die Art, wie
die Ehen, mit förmlichem Angebot, um den Preis des Vermögens geschlossen
werden. Mag dabei viel Humbugh, ja Betrug unterlaufen, indem die Zwischen¬
händler .nur eine Prämie für sich suchen, immerhin zeigt die Fortdauer solches
schmachvollen Treibens, wie es wohl kaum eine Zeit erlebt hat, daß die An¬
zeigen Beachtung finden, und wie der Götze Mammon auch in dem Gebiete
herrscht, wo nach Gottes Ordnung nur die heiligste Empfindung, die Liebe, als
Empfindung des in die menschliche Natur gelegten Abglanzes und Wiederscheines
der göttlichen Vollkommenheit gebieten sollte.
Ist es ein Wunder, wenn in solcher Richtung der Zeit auf den Cultus des
Mammons und der Sinnlichkeit auch die Jugend von dieser Zeitströmung ergrif¬
fen, allen höheren Idealen abgewendet wird, zumal die Zeitströmung, schon um sich
zu rechtfertigen, alle höheren geistigen religiös-sittlichen Momente bespöttelt,
während gerade die Jugend für die sinnlichen Genüsse am empfänglichsten ist?
Dazu kommt aber, daß auch die sog. Wissenschaft, die das rechte Ver¬
ständniß dieser Interessen des Lebens vermitteln sollte, sich in voller Einseitig¬
keit auf diese materielle Seite gestellt hat, daß auch die Wissenschaft Erwerb
und Genuß der materiellen Güter als Selbstzweck hingestellt hat, mit gänz¬
licher Verkennung der ewigen Wahrheit, daß sie nur den geistigen sittlichen
Zwecken dienen sollen. Denn so lehrt einer der hervorragendsten Wirthschafts¬
lehrer Adam Smith: „Die Erwägung des eignen Gewinnes ist der alleinige
Beweggrund, der den Besitzer irgend eines Capitals zu bestimmen vermag, dasselbe
in Landbau, in Fabriken, oder in irgend einem Zweige des Groß- oder Klein-
Handels anzulegen."**) Damit sind aller Erwerb, alle Arbeit, ja aller Besitz und
Genuß der materiellen Güter ihres idealen Gehaltes beraubt, damit ist der
gröbste Materialismus zum Gesetze des Lebens, der Mensch zum Thiere gemacht.
Aber weiter ist ja nun dieser Standpunkt auch theoretisch durch Leugnung
der letzten geistigen Gründe für alles Sein und alles Leben und Streben zum
angeblichen Resultat der Wissenschaft gestempelt, und so sieht nun dieser
Standpunkt mit Verachtung und Spott nicht nur auf das Christenthum, son¬
dern auf die Grundlagen aller Religion herab. Dahin gehört aber nicht
allein die grobe Verirrung der Naturforscher, die mit Aufhebung aller
Wissenschaft, weil gegen alles logische gesunde Denken, den Geist leugnen, mit
dem sie arbeiten, wie Vogt, Büchner u. A., sondern auch die Entwicklung
oder vielmehr Verirrung der Philosophie seit Kant, welche, so bewunderns¬
würdig auch ihr abstraktes Denken gewesen ist, doch in voller Einseitigkeit nur
Eine Seite des menschlichen Geistes, eben das abstrakte Denken, zur Geltung
gebracht haben, leere Abstraktionen an die Stelle von Realitäten setzend, bis zur
Vernichtung des persönlichen Gottes und seines Ebenbildes, der menschlichen
Persönlichkeit, zugleich. Wir meinen damit die Systeme von Fichte, Sehet -
ling und Hegel*), sammt ihren Epigonen, namentlich S es open h an er und
Hart manu, wenn wir uns auch hier versagen müssen, diese neuen und neu¬
esten Verirrungen alles gesunden Denkens, wie auch die großartigen Verirrun-
gen des Darwinismus ausführlich zu behandeln. Nur über den begeistertsten
Jünger Darwin's, Häckel, können wir die Bemerkung nicht unterlassen, daß
wir auch ihm, soweit er über die descriptive Betrachtung der Erscheinungs¬
welt hinaus sich auf Schlüsse über das übersinnliche Sein, namentlich die Wür¬
digung des Teleologischen in der Schöpfung, einläßt, alles gesunde Den¬
ken absprechen müssen.
Dazu kommen aber endlich auch noch die Kämpfe und Verirrungen derer,
die sich für die Hüter des Heiligthums des Christenthums ausgeben, wenigstens
diese sein sollten, und die Pflicht haben, die christliche Wahrheit für Glauben
und Leben rein darzustellen und geltend zu machen.
Nur Mangel an Bildung des-ganzen Menschen, nach den ihm gegebenen
Anlagen und Kräften, die Wahrheit zu erkennen, Gott und seine Ordnung zu
vernehmen (Vernunft), seine Vollkommenheit zu empfinden und seinen Willen
(das Gute) zu thun, nach rechter Bildung des Geistes, Herzens und Gewissens,
Mir sagen, so gewiß man den theoretischen und praktischen Atheismus unter¬
scheiden muß, nur Mangel an Bildung, oder auch nur Folge einseitiger Bildung
ist der Materialismus und der mit ihm sich rechtfertigende Socialismus, ob¬
wohl dieser die Theorie nur zur Beschönigung der Fleischeslust herbeizieht.
Aber auch die kranke einseitige Philosophie ist nur Mangel an Bildung,
weil sie in einseitigem Cultus des sog. Denkens, d. h. selbstgemachter Axiome,
als sicherer Principien, die religiös-sittlichen Factoren des menschlichen Wesens,
das Gewissen und die teleologische Betrachtung der Erscheinungswelt, die für
alles gesunde Denken auf einen weisen Schöpfer hinzeigt, nicht zu ihrem
Rechte kommen läßt. Wir brauchen nicht erst zu erwähnen, daß der gewöhn¬
liche Materialismus der ordinären nur sog. Naturforscher auch nur Mangel
an Bildung ist, Mangel sogar an Ausbildung der Vernunft, weil Vernunft
gar nichts Anderes ist, als das Vermögen, Gott und die von ihm geschaffene
und (im Gebiete der Freiheit) gewollte Ordnung zu vernehmen. Aber auch
dieses Vermögen will und muß gebildet werden, und die Vernunft wächst
keinesweges dem Menschen von selbst an, wie Arme und Beine, worin wohl
die Erklärung gefunden werden kann, warum sie den Materialisten und
Darwinisten, die nur ein Anwachsen aus blindem Triebe zulassen, fehlt.
Etwas anders liegt es wohl mit der päpstlichen Hierarchie, wenigstens
in ihren Spitzen und den jesuitischen Fälschern des Christenthums, bei denen
dahin gestellt bleiben mag, wie weit mit Bewußtsein, Herrschsucht, Selbstsucht
der Hauptfactor ist.
Aber bei der großen Masse, die sich ihr unterwirft, ist ja nur Mangel
an Bildung, wozu freilich nun ein anderer Hauptfactor, der Parteifanatismus
tritt, das den Ausschlag gebende Moment. Für ein Räthsel aber, soweit es
sich nicht aus den beiden eben genannten Factoren erklärt, müssen wir die
Erscheinung erklären, daß sittlich und wissenschaftlich gebildete Männer, wie
sie doch im sog. Centrum des deutschen Reichstags sich finden, nur das Papst¬
thum überhaupt noch für einen wesentlichen Charakter des Katholicismus
halten, es noch zu vertheidigen wagen, geschweige die so unkluge als frevel¬
hafte Ueberspannung mit der angeblichen Jnfallibilität, und seinen An¬
maßungen gegen andere Confessionen, ja den Staat selbst. Sie müssen als
wissenschaftlich gebildete Männer wissen, daß es überhaupt mehr als zweifel¬
haft ist, ob Petrus je nach Rom kam, aber ganz zweifellos, daß, wenn die
Stelle Matth. 16, 19 im Sinne Roms zu verstehen wäre, sie durch Matth.
18, 18 und Joh. 20, 23 nur im Sinne des Episcopalsystems gegen die Jn¬
fallibilität zeugte, daß Petrus aber überhaupt nie Bischof in Rom
gewesen ist, und seine vermeintlichen Vorrechte, wie sie es auch ihrer Natur
nach nicht vermocht hätten, auch darum schon nicht auf seine Nachfolger über¬
gehen konnten und nicht übergegangen sind, daß also das ganze Fundament,
auf dem das ganze Papstthum ruht, nur Lug und Trug") ist, daß der Bischof
oder Oberpfarrer von Rom (denn nur das sind die römischen Bischöfe wie alle
Bischöfe gewesen) sich durch die historischen Verhältnisse allmälig über die anderen
Bischöfe des Abendlandes erhoben hat, daß es vor Karl dem Großen kein Papst¬
thum gegeben, dieses dann mit Vor- und Rückschritten seine Blüthe, aber auch
seinen Verfall gehabt, und durch die Jnfallibilität sich sein Grab gegraben hat.
daß aber der Katholicismus davon unberührt bleibt, wie er lange bestanden hat,
ehe jemand an einen Papst dachte, daß der Papst nur der Trennungspunkt
der christlichen Kirchen ist, da ohne die Voraussetzungen und Anhängsel der
Hierarchie der evangelische und katholische Glaube sich so nahe stehen, wie
Glaube und Liebe, die zusammen gehören. Wie sittlich und wissenschaftlich
gebildete Laien das verkennen oder nicht erkennen können, nennen wir ein
Räthsel wie auch die Erscheinung, daß die deutschen Bischöfe, in vollem Abfall
von der früheren und^ eigentlichen Stellung und Haltung der katholischen
Bischöfe, ja vom Tridentinum, ihre eigene Stellung und Würde heruntersetzen
durch Annahme einer Lehre, welche die größten Concilien verworfen haben.
Psychologisch läßt sich diese Stellung wohl so erklären, daß nach ihrer Be¬
rechnung die Gefahr für die Hierarchie weniger groß ist, wenn sie dem ge¬
bildeten Christen und dem gesunden Menschenverstande überhaupt Unmögliches
(oder nur durch Verdummung Mögliches) zumuthen, als wenn sie sich mit
dem falsch geleiteten Mittelpunkte der Hierarchie (zeitweilig, zu ihrem, wie
zu seinem eigenen Besten!) in Widerspruch setzten. Indessen die Rechnung
wird sich als falsch erweisen, so fern sie wirklich stattfindet.
Aber auch in der evangelischen Kirche ist die Unklarheit und Verwirrung
und Verirrung groß genug. Dahin gehört zuerst auf sogenannter orthodoxer
Seite die buchstäbliche Auffassung des Geschichtlichen in der heiligen Schrift, das
gar nicht zur christlichen Offenbarung**) gehört, so daß man in neuerer Zeit
wieder das Stillstehen der Sonne, oder den Umlauf der Sonne um die Erde,
das Sprechen des Esels Bileams u. s. w. vertheidigt. Dahin gehören aber
auch im Zusammenhange mit der Entwicklung der Philosophie, die auf
unchristlichen metaphysischen Grundanschauungen gebauten sog. speculativen
theologischen Systeme, namentlich, früherer nicht zu gedenken, von Schleier¬
macher und Rothe, mit ihren verschiedenen Epigonen und Modificationen,
wie der liutiouÄlismus vulgliris, der, wenn auch noch Religion, nur kein
Christenthum ist.
Wir nehmen darum keinen Anstand, auszusprechen, daß die recht ver¬
standenen evangelischen Bekenntnisse als Zeugnisse der biblisch-kirchlichen Wahr¬
heit das Christenthum viel reiner und besser darstellen als alle genannten
angeblich tiefsinnigen speculativen Erläuterungen desselben, die auf unchristlich-
metaphysischer Grundanschauung nur selbst gemachte abstracte Begriffe an die
Stelle historischer Realität und Wahrheit setzen. Ohne den historischen Christus,
wie ihn das Neue Testament und zwar in Vollendung der Offenbarung das
Evangelium des Apostels Johannis, das trotz aller berechtigten und unberech¬
tigten Kritik das Evangelium des Jüngers Christi bleibt, darstellt, kein
Christenthum und keine christliche Kirche.
Aber ist es denn ein Wunder, wenn die Laien an diesem Chaos theo¬
logischer Anschauungen und Kämpfe Anstoß nehmen? wenn sie an dem
Christenthume selbst irre werden? wenn die Frivolität nur Hohn und Spott
für dasselbe hat?
Und ist es ein Wunder, wenn junge Männer, die noch wenig selbst¬
ständig für alle Eindrücke doppelt empfänglich sind, sich scheuen, sich in dieses
Meer von Verwirrung und Verirrung zu wagen?
Und zwar sollen die jungen Männer sich zum Studium der Theologie
wenden, während ihnen wahrscheinlich auf allen anderen Gebieten nicht nur
eine schnellere Versorgung, sondern eine viel sorgenfreiere bessere materielle
Stellung, bei der Theologie aber nicht nur sicher Hohn und Spott, sondern
wirklich materieller Mangel bevorsteht?
Der geistige Kampf freilich kann ihnen nicht erspart werden, dieser Kampf
ist vielmehr Zweck und die Würde des geistlichen Amtes gegen die Welt im
bösen Sinne, aber eben darum liegt darin nicht, und namentlich in unserer
Zeit nicht der Hauptgrund der Abneigung, dieser Grund tritt nur zu dem
materiellen verstärkend hinzu.
Für den geistigen Kampf ist nur nöthig, daß die Theologie die gegnerischen
Standpunkte ungescheut als das kennzeichnet, was sie sind, d. h. als Ver¬
wirrung und Verirrung der Grundbegriffe, auf denen alle Wahrheit, Klarheit,
Ordnung und auch die Glückseligkeit des Menschen ruht, nur darf freilich die
Theologie nichts für christlich ausgeben, was nicht zum Christenthume gehört.
Und bei diesem geistigen Kampfe (bei dem wir also ganz mit Luther
fordern: „man lasse die Geister auf einander platzen") wird die Theologie
der rechten Bundesgenossen, die von Gott selbst in die menschliche Natur ge¬
legt sind, nicht entbehren, weil, wenn auch nicht die ausgebildete Vernunft
und Religion, so doch die Anlage zu Vernunft und Religion zum Wesen des
Menschen gehört, deren Ausbildung also ein Bedürfniß der menschlichen Natur
ist, dessen Befriedigung nur von krankhaftem Denken oder fleischlicher Ver-
kommenheit nicht gewürdigt wird. Aber die Anzeigen sind da, daß auch die
Naturforschung bereits erkennt, daß sie ohne geistiges Substrat überhaupt
keine Wissenschaft ist, wie gerade einer der größten Meister wirklicher Natur¬
forschung Sie dig zu seinem ewigen Ruhme ausgesprochen hat. Nur ist bei
diesem nothwendigen Kampfe der Vertreter der religiösen und geistigen In¬
teressen überhaupt zu wünschen, ja es kann nicht, laut genug gefordert werden,
daß die sog. Presse vielmehr als es bis jetzt (wenigstens von evangelischer
Seite, denn die katholischen Geistlichen sind darin klüger) geschieht, gerade
von den evangelischen Geistlichen benutzt werde, um der Vergiftung des
Volkes durch hohle Phrasen von falschem Liberalismus und falscher Humanität
und falschem Fortschritt entgegen zu arbeiten. Denn aller wahrer Liberalis¬
mus, alles Recht, alle wahre Freiheit, alle wahre Humanität haben nur in
der religiös - sittlichen Idee, deren vollkommenster Ausdruck das Christenthum
ist, ihren Grund, ihre Erklärung und ihre Berechtigung.
Vorerst räume man aber die materiellen Gründe des Theologen-Mangels
weg, indem man das Einkommen so stellt, daß auch die Geistlichen den
übrigen Beamten gleich stehen, und man wird es sonst ruhig der Theologie
überlassen können, im unlöslichen Bunde mit dem religiösen Bedürfnisse des
Menschen mit den Verirrungen angeblicher „Wissenschaft" fertig zu werden.
Wir stehen am Ufer des größten und vielleicht des schönsten Sees, den
unser deutsches Land besitzt. Schneeumsäumt ragen die Schweizer Berge her¬
über, hier der wundersame Säntis und dort die Chursirstenkette mit zerklüf¬
teten Gipfeln; am Ufer heitere Städte und über der Fluth das weiche volle
Morgenländer. Welche Farbenpracht, welch wonnige Seeküste Luft! Draußen
am Strande, wo die Barke abstößt, ist die Fluth wie ein Smaragd, durch
den die Sonne scheint, dann wird sie tief und immer tiefer, ein unergründ-
liebes Blau beginnt und der starke Nordwind faßt die Wogen, daß das Segel
flattert und der Schaum die Flanken netzt. Ha wie das rauscht und fliegt,
nur fest die Hand ans Steuer, denn unter uns liegt eine unermeßliche Tiefe!
Kein anderer von allen deutschen Seen bietet diese unermeßliche Skala
von Tönen dar, vom holden Wogensang bis zum brausenden Sturmgeheul
und diese Skala von Farben vom rosigen Dämmerlicht bis zur finsteren
Wetternacht. Eine wundersame Schönheit und eine furchtbare Kraft, wie sie
nur die Natur und nicht der Mensch vereinigt, sind verbunden in diesem
Namen und darin liegt gewiß die unbewußte Macht, die der Bodensee, die alle
großen Seen auf uns üben. Auch sie, wie der Schooß der Berge sind eine ge¬
heimnißvolle Werkstatt der Natur, in die kein menschliches Auge dringt, holder
Segen und wüste Verheerung wird dort gezeugt, aber das Walten beider ist
unserer Macht entrückt. Schon manchmal stieg der See bei spiegelglatter
Fluth fast einen Fuß hoch über das Ufer und ging plötzlich wieder zurück;
oft drängen sich riesige Wassermassen in den schmalen nördlichen Arm zusam¬
men, bis der Föhn über die Berge bricht und die strömenden Fluthen zurück¬
wirft in das breite offene Becken. Bis in die innersten Tiefen wird dann
die Fluth erregt, kein Schiff ist dann mehr sicher vor den rasenden Wogen
und selbst die starken Dampfer wagen es kaum den Hafen zu verlassen! So
herrscht der heiße Wind, der im Lenz und im Herbst über die Berge kommt,
bis es Winter wird, bis der Frost die Wogen mit seinem eisigen Hauche
bannt, daß sie stille stehen und wie eingeschläfert erstarren. Oh, wie schaurig
ist es dann in wilder Dezembernacht, wenn die gefangene Fluth an ihren
Kerker pocht und ihn sprengt, daß mit brüllenden Schall das Eis von einem
Ufer zum andern birst!
Der Untersee gefriert alljährlich, die ganze Fläche aber schließt sich so
selten, daß die betreffenden Jahre noch jetzt historisch sind. Der Merkwürdig¬
keit zu liebe ward 1695 ein großes Schützenfest auf dem Eise gehalten, das
gar fröhlich verlief. Die schaurige Seite hat uns Gustav Schwab in seiner
bekannten Ballade gezeichnet. Wer denkt ohne Grauen an den Reiter, der
ahnungslos über die stundenlange verschneite Fläche jagt — und diese Fläche
ist der Bodensee!
Von der wirklichen Größe desselben und von dem Spielraum aber, den
er den Elementen bietet, geben schließlich doch nur die Ziffern ein Bild, und
so mögen auch sie am Platze sein; man muß bedenken, daß sein Umkreis
26 Meilen und seine Länge fast 14 Stunden mißt. Nimmt man hiezu die
gewaltige Breite und die furchtbare Tiefe, so fühlt man gleichsam die kolossalen
Wassermassen, die dieses Riesenbecken umschließt. Es handelt sich um Millio¬
nen, um Milliarden unserer Fassungskraft.
Mitten hindurch durch diese endlose Tiefe aber strömt unsichtbar der
Rhein, Die Natur hat ihn noch einmal zu sich genommen, in ihr stilles
verborgenes Heiligthum, wie eine Mutter ihren wilden Knaben an sich nimmt
in die stille Kammer und wenn er dann heraustritt, ernst und bewegt, dann
ist sein Wesen gewandelt für alle Zeit.
Eine solche Stunde stiller Einkehr liegt hier — der Bodensee ist gleich¬
sam das geheimnißvolle Gemach, wo dieser Wandel seines inneren Wesens
sich vollzieht, denn von nun an, sowie er den See verlassen hat, gehört der
Rhein dem großen thatenreichen Leben, hinter ihm liegt die Wildheit und die
Gefahr der Jugend!
Unsichtbar ist er geworden, aber wenn wir auch seine Fluth nicht sehen,
wir fühlen sie doch, wie sie da drunten pulst und strömt, und wie man es
bei den Menschen gewahrt, daß sie edles Blut in den Adern tragen, so merkt
man es hier, daß Rheinfluth durch die Wasser des Sees geht. Goldgrün
und sonnenhell ist die Farbe der Ufer, wie sie die alten Sagen dem Rheine geben,
und selbst bei wellenloser Fluth sieht man draußen jene leise getragene Be¬
wegung: Das ist der Herzschlag des großen Stromes, der da in der Tiefe
hindurchzieht.
Schon früh hat der Zauber, den diese Scholle besitzt, auch die Menschen
gelockt; mit dem Schwert in der Faust drangen sie vor in die Wildniß und
bauten ihre Städte ans Ufer, immer der Starke dem Stärkeren erliegend.
Und noch jetzt wie zur Erinnerung der hundertfältiger Werbung, stoßen die
Grenzender Länder hier zusammen, Oesterreich und Baiern, Württemberg und
Baden und mit dem Löwenantheil die freie Schweiz. Es ist ein Edelstein,
der zu werthvoll schien, als daß ihn ein einziges Reich besitzen sollte; fünf
Länder mit dunklem Walde und goldenen Saaten bilden die Fassung für das
schimmernde Juwel.
Die ersten, welche kamen und mit den alten Rhätiern um die Herrschaft
rangen, waren die Legionen von Rom; die erste Stadt, die das Ufer schmückte,
war Bregenz.
Schon Strabo und Plinius kannten sie unter dem Namen Brtgantium, nach
dem auch der See bezeichnet ward; der Ausdruck Bodensee oder Bodmansee
stammt aus späterer Zeit. Ergreifend schön in ihrer kraftvollen Einfachheit
ist die Schilderung, die uns ein römischer Autor vom Bodensee im vierten
Jahrhundert macht; riesige Wälder reichten damals noch herab bis ans Ufer
und auf den Fluthen dampften die Nebel; mühsam bahnte die Axt den ersten
Weg am Strande hin. Durch die „träge Ruhe des Sees" aber (sagt der
Erzähler dann) zieht mit reißender Gewalt und „schäumenden Wirbeln" ein
Fluß, der sein eilendes Wasser unvermischt bis zum Ausgang bewahrt.
Aber stark und geborgen stand in der herrlichsten Bucht des Sees das
alte Kastell von Brigantium, und eine blühende Stadt erwuchs unter seinen
Flügeln. Aber die Blüthe währte nicht lange; andere Stämme kamen und
wurden wieder von anderen zertreten, — bis endlich aus Irland die ersten
Glaubensboten herüberzogen und mildere Sitten brachten. Es war Se. Gallus
und Columban; auch sie faßten zuerst in dem südöstlichen Theil des Landes
Fuß, da wo jetzt die Städte Bregenz und Lindau stehen, hier lag der Schlüssel
für die Cultur des gesammten Gebietes.
So wollen denn auch wir an dieser Stätte beginnen zunächst mit Lindau,
dessen junges Bild uns noch heute aus dem schönen Namen entgegenschaut.
Jetzt wo der allmächtige Verkehr sich überall eiserne Pfade baut und festen
Boden schafft, wo die Natur ihn nicht geschaffen, jetzt merken wir es kaum
mehr, daß Lindau mitten auf einer Insel liegt, denn brausend trägt uns der
Schnellzug bis in das Herz der Stadt. Damals aber, als unsere Ahnen ihr
den holden Namen gaben, da war das grüne Eiland noch rings umspült
von der blauen Fluth und keine Brücke führte vom Festland hinüber aus die
sonnige An, durch deren alte Linden der Wind zog.
Kirche und Kloster, die zur Zeit der Karolinger entstanden, waren die
ersten Bauten von deutscher Hand und zu ihren Füßen siedelten sich bald die
Grundholden an in reicher Zahl. Schon lang ehe Rudolph von Habsburg
den Thron bestieg, war die Stadt zur freien Reichsstadt erhoben worden,
und da ihre Lage vorzüglich war, kam Handel und Verkehr zu ungeahnter
Blüthe. Mit den mächtigsten Städten des Reichs, ja selbst mit dem deutschen
Hause in Venedig stand die Stadt in reger Beziehung und dieselbe Rührig¬
keit bewährte sich auf geistigem Gebiet, als der erste Ruf der großen Refor¬
mation erklang.
Erst der dreißigjährige Krieg ward ein Wendepunkt für die Geschicke der
Stadt; um sich der Fehde zu erwehren, ward sie befestigt und mit starken
Außenwerken umgeben, allein das Alles schärfte nur den Trotz der Feinde.
Tausende von Geschossen warf der zornige Wrangel in die belagerte Stadt,
die von den Kaiserlichen vertheidigt wurde, und wenn er auch unverrichteter
Dinge abzog, vom Hohne der Bürger begleitet, so war doch der eigene Wohl¬
stand derselben für Jahrhunderte unterwühlt. Die Zeit, wo nahe an 30 Städte
und über 1400 Wagen auf jedem Wochenmärkte zu Lindau erschienen, (wie
Achilles Gaßer uns stolz berichtet) war für immer dahin, mit dem Reichthum
schwand auch die Bevölkerung und dringende Hilfe that noth als die Stadt
1806 an Baiern fiel.
So ward denn auch bald alles Mögliche zur Hebung derselben gethan,
Straßen und Anlagen wurden gebaut und in den Rahmen der alterthüm¬
lichen malerischen Bastionen, die zum Theil noch erhalten sind, fügte sich
rasch das bewegliche Bild moderner Entwicklung. Der Schwerpunkt der letz¬
teren ruht naturgemäß in der Bahn, die auf einem ungeheuren Damme vom
Festland nach der Insel führt, und im Hafen, der nun der schönste am ganzen
See geworden ist. Weithin wenn man auf blauen Wellen der Stadt ent¬
gegenfährt, sieht man die beiden Wahrzeichen derselben ragen, den prächtigen
Leuchtthurm mit seinem gezackten Gipfel und den alten Löwen der Mittels-
bacher. der auf thurmhohen Piedestal gebieterisch seine Umschau hält. Nicht
weit davon steht das Denkmal des Fürsten, welchem Lindau vor allem seine
Blüthe dankt, des edlen Max.
Am meisten von Allem aber hob sich der Seeverkehr, dem nunmehr
28 Dampfer zu Gebote stehen, darunter ein Trajektschiff, das ganze Bahnzüge
nach der Schweizerseite fährt. Das erste Dampfboot wurde, wie bekannt,
schon im Jahre 1824 erbaut und zwar von dem Amerikaner Church; es trug
den Namen des Königs Wilhelm von Würtemberg. der seine Erbauung ver¬
anlaßt hatte und blieb bis 1847 in Dienst.
Aber auch früher schon gab es Fahrzeuge auf dem Bodensee, die zur
Verbringung wahrhaft colossaler Lasten geeignet wären und häufig 2 —
3000 Centner luden, ein Riesensegel von 600 Ellen trug sie langsam hinüber
nach Constanz.
Wie für die Schifffahrt, so war auch für den Fischfang Lindau Jahr¬
hunderte lang der Mittelpunkt. Die Bürger der Stadt „übten den Zunft¬
zwang" und auf den Fischertagen, die sie alljährlich berufen, ward dann ver¬
einbart, wie und wann man dieses ergiebigen Rechtes pflegen solle. Denn
der See war reich an den kostbarsten Felchen und Lachsforellen, und jetzt
noch fängt man im Frühjahr zu tausend den sogenannten „Gangfisch," der
in Massen durch ganz Deutschland versendet wird. All' diese Privilegien hat
Lindau längst verloren, freilich im Eintausch von Vortheilen, die ihm unend¬
lich werthvoller sind; die Fischerei ist dermalen nahezu freigegeben und mit
rühmenswerther Liberalität gönnt man den Gästen des schönen Sees ihr
Vergnügen. Niemand erhebt eine Klage und die einzigen, die sich etwa dabei
beschweren könnten: die Fische, — sind stumm.
So fühlen wir denn allerwärts den Wandel der neuen schaffenden Zeit,
aber dennoch ist auch aus jenen waldgrünen Tagen, da nur die Barke der
Allemannen vom Festland hinüberstieß, noch mancherlei Spur erhalten. Die
sogen. ..Heidenmauer" gilt als Bruchstück des riesigen Wachtthurms, den
Tiberius einst hier errichtet, die Peterskirche, die zur Stunde als Getreidelager
dient, ist ein Denkmal der Karolingerzeit und das Rathhaus zeigt uns den
schönen Stil der alten Reichsstadt. Noch heute ist das Wappen der Stadt
eine Linde im weißen Feld und der schönste Punkt in der Nachbarschaft, der
Lindenhof, wahrt schon in seinem Namen den grünenden Ursprung.
Die Nachbarstadt von Lindau ist Bregenz und ob auch der Grenzstein
zweier mächtiger Reiche sie trennt, so sind die beiden doch durch die Natur,
die anders theilt als der Mensch, verbunden. Wenn Lindau als Jnselstadt
erscheint so ist Bregenz eine Golfstadt im vollsten Sinne des Wortes und
wenn man die eine bisweilen mit Venedig verglich, so hat man die andere
das deutsche Genua und Neapel genannt. Wir wollen nicht mit dem Ver¬
gleiche rechten, geben uns rückhaltslos der Freude hin, die dieses herrliche
Stück Land in jeder offenen Seele weckt, wir halten uns nicht an erdachte
Bilder, denn vor uns liegt das herrlichste Bild der Wirklichkeit.
Sichelförmig biegt sich das blaue milde Ufer des Sees ein und in leicht
ansteigenden Terrassen zieht sich die Stadt bergan, überragt vom hohen Pfän¬
ders und vom Gebhardsberg mit seinem schimmernden Kirchlein. Alte Wälder
wie Buchen- und Tannenschlag liegen ringsum, wenn auch die Axt, die heut¬
zutage nicht mehr lichtet, sondern verheert, gar manche Lücke schlug. — Berg¬
stadt und Seestadt sind hier vereint.
Der älteste Theil ist jener, der oben auf einem Hügel gelegen, welcher
mäßig nach drei Seiten abfällt; dort stand, allem Vermuthen nach, das römische
Kastell, auch der Umkreis des alten damaligen Stadtbezirks ist durch zahl¬
reiche Forschungen und Funde festgestellt. Grabfelder und zierliche Böden
aus Mosaik, Statuen und Geschmeide und allerlei verrostete Münzen mit
dem Bild der Cäsaren kamen nach tausendjährigem Berlorensein wieder ans
^ehr. Der Fuß der Hunnen hatte sie in den Grund getreten und die Erde
^t sie gehütet.
Wie an der Riviera der älteste Theil der dortigen Städte möglichst ins
Land hineinrückt und sich auf den Berghängen zusammendrängt, während die
neuen Stadttheile der Küste, dem Verkehr entgegenstreben, so geschah es auch
h^r; das moderne rührige Bregenz steht unten am Hafen und an der Bahn.
^6 ist der schlagende Beleg, wie auch die bauliche Entwicklung der historischen
Entwicklung folgt, denn früher war die Losung der Städte Schutz und jetzt
ist ihre Losung Verkehr; ihr erster Anbau mußte nach jenem Punkte suchen,
der als der sicherste erschien, ihr heutiger Anbau aber sucht jene Richtung, die
">n zugänglichsten erscheint.
Die Schönheit freilich findet dabei nicht immer ihr Theil, da kommen
nüchterne Kasernen und riesige Lagerhäuser und nicht selten sinkt die Architektur
aus dem Bereich der Kunst zum Rechenexempel herab. So und soviele Qua¬
dratschuh — soviele Kammern — soviele Miethe, — darin gipfelt nicht selten
das Genie der heutigen Baukunst.
Auch am Ufer von Bregenz ist man vor solchen Reflexionen nicht sicher,
aver es sind doch immer nur Einzelheiten, die uns stören, im Ganzen wird
man nicht leicht ein Städtlein finden, das uns so lieb und freundlich entgegen-
^ehe; denn der größte Bauherr, der den Grundplan gezeichnet, war die
datur: ihren Linien fuhr die Menschenhand nur langsam nach.
Die Bevölkerung der Stadt ist klein und bekommt dadurch einen etwas
offiziellen Anflug, daß sich alle möglichen Würdenträger hier zusammenfinden,
denn wir sind ja in der Hauptstadt von Vorarlberg. Aber auch andere Wür¬
denträger, deren Ansehen nicht auf kaiserlichen Dekreten ruht, ließen sich hier
nieder, wie ja der Bodensee von jeher eine besondere Anziehung auf unsre
Dichter geübt hat. Wie schön hat ihn Gustav Schwab besungen, wie gerne
kommt Herman Lingg. der düster große Lyriker Hieher; in Radolfszell lebt
Victor Scheffel, der glückliche Schöpfer des Ekkehard und in Bregenz
schreibt Alfred Meißner berühmte Romane. Wie wächst doch der Reiz
eines Landes und der Zauber der Wanderschaft, wenn wir jede Rast am
gastlichen Herde bedeutender Menschen genießen; auch das ist Sonnenschein
auf der Reise!
Bregenz ist der Endpunkt des langen blauen Obersees, nur wenn die
Luft von schneidender Klarheit ist, steht man in weiter Ferne noch den Mün¬
sterthurm von Constanz schimmern. Er ist das Ziel, dem uns der Dampfer
nun auf langer Fahrt entgegen führt, aber zu beiden Seiten, am Deutschen,
wie am Schweizer Strand winkt manch willkommener Halt und auf der hohen
Fluth manch lachende Insel.
Drüben am linken User sind Rorschach und Romanshorn die Mittel¬
punkte des Verkehrs geworden, zwischen beiden aber liegt auf einer schmalen
Landzunge das seltsame StSdtlein Arbon. Es war einer der auserlesenen
Punkte am See, die schon von den Römern befestigt wurden und der Führer
ihrer Cohorten wohnte dort im gewaltigen Castell. weit hinaus in den See
war ein Hafen gebaut, dessen riesige Quadern noch jetzt auf dem Grunde
sichtbar werden, wenn die Sonne durch den stillen Spiegel scheint. Der alte
Name aber, der noch aus der heutigen Bezeichnung hindurchklingt, war ä.rhor
deux (zum seligen Baum). Als die Römer vernichtet oder vertrieben waren,
zogen die Lehenträger deutscher Fürsten in die Burg und in ihrem Kreise
hielt noch der junge Conradin seine Rast, ehe er den todgeweihten Weg nach
Wälschland nahm. Welch wunderbare tragisch-schöne Gestalt, wie er mit
blauem Blick und goldenem Gelock vor unserem Gedächtniß steht am Scheide¬
weg zwischen seliger Jugend und schwerer Mannespflicht, am Wendepunkt
zwischen deutscher Herrlichkeit und deutscher Schmach. Wie gerne pflog er des
Minnesangs, er,^in dessen Adern das edle Blut der Staufen floß, wie oft
mochte sein Lied vom Schloß zu Arbon herüberhallen über die blaue Fluth.
„Den Geist bekümmert um den Norden,
Das Herz dem Süden zugesehnt".
Unter dem Beile sank sein goldenes Haupt und wie eines der großen
Schmerzensworte, die ungesühnt in der Geschichte stehen, klingt noch heute der
Name Conradin!
Das Dörflein und die Kirche, die wir drüben glänzen sehen, Arbon fast
gegenüber, heißt Wasserberg, sie ist weit vorgeschoben aus Ufer und noch
weiter das Pfarrhaus, an dessen oberstes Stockwerk die Wellen schlagen, wenn
der See im Zorne stürmisch ist. Doch um so herrlicher hat es der geistliche
Herr an sonnigen Tagen. da wölben grüne hochgewachsene Bäume ihr schat¬
tiges Dach über seinen Garten; daneben an der Lände tummelt sich fröhliches
Volk in reger Geschäftigkeit, er aber wandelt beschaulich aus und nieder und
fühlt sich auf seinem Grunde so sicher und stolz, wie es nur je seine Nachbarn
gethan, die Grafen von Montfort.
Auch das ist ein Name von altem ehernem Klang; denn ihnen war viele
Jahrhunderte das trotzige Schloß zu eigen, das bei Langenargen steil in den
See ragt, anfangs auf einer Insel, die später durch Dämme mit dem Festland
verbunden ward. Kein Geschlecht war mächtiger im Gebiete des Rheinthals
und des Bodensees und keine Burg war stattlicher als die ihre; selbst in den
Ruinen trotzte noch die alte Majestät.
Das Alles freilich ist jetzt verschwunden, um einem neuen künstlichen
Baue Raum zu geben, den sich die Herrscher von Schwabenland errichtet;
viele Tausende hat das neue Montfort verschlungen, aber die alten fluthum-
spülten Mauern wollen die Last der Gegenwart nicht tragen, die man ihnen
aufgedrungen und immer wieder hört man davon erzählen, daß hier und dort
die Pfeiler wanken.
Der eigentliche Sommersitz des schwäbischen Hofes aber ist das nur
Wenige Stunden entlegene Friedrichshafen, mit stattlichem Landungsplatz, den
der Leuchtthurm überragt und breitem Quai, auf dem sich das schwäbische
Leben rührig und redselig tummelt. Soeben wird ein Bahnzug auf das riesige
Trajektschiff geladen, das nach Romanshorn hinüberfährt, der Dampfer
„Maximilian" liegt mit rauchendem Schlot vor uns und übernimmt die Passa¬
giere, die mit dem Schiff nach Constanz kommen. Welches Gewühl von
Menschen und Waaren: die Lokomotive des Zuges pfeift, die Glocke des
Schiffes schallt, halt — da will auch noch ein „Herrle" mit; halt — eh' ihr
die Brücke wegzieht.
Nun ist er athemlos, aber glücklich an Bord, das Schiff stößt ab und
in wenigen Minuten trägt uns wieder der offene blaue Spiegel. Jetzt erst
Zeigt sich das Schloß in seiner vollen prächtigen Lage; mit langen Fenster¬
reihen und breiten Terrassen, hohe Linden beschatten den Eingang und in
duftigen Blumenbeeten breitet sich weithin der Garten aus, indeß der Wind
mit der Flagge spielt, die droben vom Giebel weht. Nicht immer trug die
reizende Stadt den Namen , der ihr heute zu eigen ist. ein Friedrichshafen
giebt es erst in unserm Jahrhundert, nachdem das alte Kloster Hosen aufge¬
löst und mit der Reichsstadt Buchhorn zu einem Ganzen vereinigt ward.
„Das glänzt wie Meersburg" sagten noch vor hundert Jahren die
Leute, so hell und stolz blickten die Fenster dieser Burg, der wir nun nahen,
herunter auf den See. Ihr zu Füßen liegt das kleine Städtlein gleichen
Namens, das seine Gründung bis auf König Dagobert zurückführt. Hier
war es, wo einst die Kirchenfürsten von Constanz den goldenen Sommer
verträumten, wenn Friede im Land war und sich mit ihren Reichthümern
verschanzten, wenn es Fehde gab. Schon an sich und durch seine steile Lage
und seine alterthümliche Färbung erscheint uns Meersburg als ein festes wehr¬
haftes Städtlein, aber das meiste zu diesem Eindruck thun natürlich die beiden
Schlösser, die das Häuserwerk überragen. Zwischen ihnen zieht sich eine klaf¬
fende Schlucht hin, die Bischof Nicolaus durch Hunderte von Bergleuten
sprengen ließ, um seine Burg noch fester zu machen. Ueberall auf den Höhen
wächst herrlicher Wein und in der Ferne blicken die verschneiten Gipfel herüber
vom Berner Oberland. Welsen und Stauffen waren Herren der Burg, der
Bauer und der Schwede pochte an ihr Thor und drohte sie der Erde gleich¬
zumachen, wie das eine Botschaft zeigt, die noch heute in Meersburg verwahrt
wird. Es ist ein vergilbter Zettel an allen vier Ecken angebrannt und auf
den schrieb der Oberst vom Horn'schen Regiment, daß es der Stadt nicht
besser ergehen solle, daß auch sie an allen vier Ecken angezündet werde, so
sie sich nicht ergeben wolle. Aber Meersburg ergab sich nicht.
Zu Beginn unseres Jahrhunderts sah es auch hier gar öd und traurig
aus; werthlos und ungeehrt standen die Mauern der alten Burg. Das
Bisthum war ausgehoben und seine Güter säcularisirt und das Städtlein selbst
war in badische Hand gekommen. Es war eine Zeit, die zwar mit Recht, aber
doch auch mit Härte gar manches Bestehende zerbrach. Schier stand dem alten
Schloß der Abbruch nahe, hätte nicht zur rechten Zeit einer der edelsten deutschen
Männer es zu seiner Heimstätte erkoren. Freiherr von Cassberg, dessen
Denkmal jetzt den kleinen Friedhof schmückt, ward der Gebieter dieser Räume;
in den Sälen, wo einst die Bibliothek der Bischöfe stand, breitete er seine
geistigen Schätze aus, Handschriften aus aller Zeit, und im Erker, wo sein
großer Lehnstuhl stand, saß er selber und sonnte sich im Glanz der deutschen
Sonne.
Schon die Geschichte von Meersburg weist uns nahe genug nach Constanz
hin, aber auch der Weg ist nicht mehr weit, der uns in das Bereich der alten
stolzen Bischofsstadt hinüber trägt. Constanz bildet gewissermaßen den Schlußstein
des Obersees, dort theilt sich das ungeheure Becken in zwei schlankere Arme,
von denen der eine nach der Stadt Ueberlingen genannt ist, während der
andere als Untersee (oder Zellersee) bezeichnet wird. Auf diesen Armen ruhen
die beiden wunderbar schönen Inseln Mairan und Reichen«», an denen wir
landen wollen, sobald wir die Wanderung durch Constanz beendet.
Freilich erging es der Stadt nicht anders als Lindau und so vielen
Städten des alten Reiches; ihre Bevölkerungszahl und ihre Bedeutung für
das Ganze ging in kolossaler Weise zurück und an die Stelle der historischen
Mission trat der Beruf für einen engeren bescheideneren Kreis den Mittelpunkt
zu bilden.
Mit solchem Maßstab muß jetzt ihr Wesen und ihr Verdienst gemessen
werden. dann aber läßt sich getrost behaupten, daß Constanz in vorderster
Reihe steht. Seine 10.000 Bewohner holen an geistiger Freiheit nach, was seine
40.000 versäumten; denn so zahlreich war die Bevölkerung während des be¬
rühmten Concils, das seine Thaten mit dem Tod des großen Huß. statt mit
der Reinigung der geistlichen Sitten krönte.
Die Gründung der Stadt reicht weit zurück bis auf die Alemannen¬
kämpfe des Kaisers Constantius. der kolossale Unterbau des damaligen
Kastells ward noch zur Zeit des dreißigjährigen Krieges gesunden, als die
Schweden dort ihre Schanzen gruben.
Schon frühe begann ihre Blüthe und damit ihre historische Bedeutung
für das ungeheure Reich, denn fast alle deutschen Fürsten bis auf die Stauffen
herab zogen durch ihr Thor und lohnten ihre Gastfreundschaft mit reichen
Ehren. Als Karl der Große nach Rom zog. um dort die Kaiserkrone zu
holen, hielt er mit Hildegard in Constanz Rast und nicht selten begingen
die deutschen Könige hier das Weihnachtsfest oder die Ostern. Glänzende
Fürstentage wurden gehalten. an denen die Großen des Reiches sich um ihr
Haupt versammelten: in Constanz war es, wo die Gesandten von Mailand
vor Barbarossa traten, wo er die goldenen Schlüssel empfing, die ihm die
italienischen Städte als Zeichen der Unterwerfung gesendet.
Aber all die Pracht. die man dabei zur Schau trug, verschwindet neben
jenem Schauspiel sinnlicher und sündiger Prachtentfaltung, das unter dem
Namen eines heiligen Conziles zu Constanz bekannt ist.
Es war im Jahre 1414; der wilde Geist des Uebermuthes, der Trägheit
und Sittenlosigkeit war verwüstend in den großen Bau der römischen Kirche
eingedrungen. In den Klöstern sang man Minnelieder und jeder Streit mit
den geistlichen Nachbarn ward mit der Faust auf offener Straße ausgekämpft;
es hatte einen Abt von Reichenau gegeben, der mit seinem ganzen Kapitel
nicht einmal schreiben konnte. An der Spitze dieses wilden Treibens aber
standen die Gegenpäpste, die sich wechselseitig befehdeten. Johann XXIII.,
Benedikt XIII. und Gregor Xll.; niemand wußte mehr, wer Herr und Diener
sei und doch wer am meisten litt, das waren jene, die es redlich mit ihrem
Glauben meinten.
Um solchen Uebelstand zu bessern und die Kirche an Haupt und Gliedern
zu reformiren, ward das Concil zu Constanz berufen und so ward unsere
kleine Stadt vier Jahre lang der Mittelpunkt der europäischen Geschichte.
Mit reizender Lebendigkeit erzählt uns Ulrich von Reichenthal, ein Zeit¬
genosse jener Tage, den Aufzug der Fürsten und Prälaten, wie „allgemach
viele Herolden und Pfeifer kamen," und allerlei Knechte, um eine Herberge
auszurüsten. „Die bestellten Betten und Stroh, und schlugen ihrer Herren
Wappen an die Häuser und Thüren."
Schon um Mitte August kam der Cardinal von Ostia an, der als Erz-
kanzler der heiligen Kirche mit den Vorbereitungen betraut war; mehr als
80 Pferde standen in seinem Gefolge. In voller Rüstung, vom Kopfe bis
Fuß geharnischt, ritt der Erzbischof von Mainz herein; von Grafen und
Rittern umgeben, mit 21 gerüsteten Wagen und mehr als 500 Pferden der
Markgraf Friedrich von Meißen.
Immer mehr füllte sich die Stadt, verblüfft sahen die guten Bürger
drein, denn selbst aus dem Morgenland und aus dem fernsten Norden kamen
die Abgesandten, man wußte nicht, was aus all der Pracht noch werden sollte.
Erst im späten Herbst, als es in den Alpen schon zu schneien begann,
erschien auch der Papst (Johannes); der Schlitten, der ihn über den Arlberg
herüberbrachte, warf um und wäre fast im Schnee versunken, bevor er glücklich
nach Thurgau herunterkam. Dort empfing ihn mit allen Ehren der Herzog
Friedrich von Oesterreich, der ihn mit seinen Reisigen nach Constanz geleitete,
wo der feierliche Einzug statthaben sollte. Vor dem Thronhimmel, unter dem
er ritt, im weißen päpstlichen Ornate, schritt ein Pferd, das „eine Schelle
um den Hals" und das si. Sakrament auf dem Rücken trug; vier Raths¬
herren hielten den Baldachin und zu tausend und aber taufenden strömte das
jubelnde Volk herbei. Nur einer fehlte noch, das war der Kaiser Sigismund,
aber endlich am Weihnachtstage erschien auch er. an der Seite seiner Ge¬
mahlin und von zahllosem Gefolge umgeben. Immer mehr wuchs der Zuzug
der Fremden, die man nach einer mäßigen Schätzung auf 80,000 bezifferte;
zur Zeit des höchsten Andrangs sollen es 150,000 Menschen gewesen sein,
die über 30,000 Pferde verfügten. Alle Schaulust, alle Erwerbssucht Europas
strömte hier zusammen, Constanz war der Mittelpunkt des fürstlichen Hoch¬
lebens geworden, und mehr als tausend fahrende Frauen dienten zur Ergötzung
der würdigen Prälaten.
Wie aber stand es mit den großen Pflichten, zu deren Erfüllung die
Versammlung berufen war und mit den Reformen, deren die Christenheit so
dringend bedürfte; was bedeutete das Concil von Constanz für die Entwicklung
unserer vaterländischen Geschichte und für das Heil der Menschheit?
Nichts und weniger als nichts. Denn wenn man diese Frage stellt,
dann sinkt mit einemmal der Prunk, den man dort entfaltete, in Schutt und
Schmach zusammen, nicht eine Ehrenthat, sondern eine Unthat steht dann
vor unseren Blicken.
Zwar hatte man es mit Mühe dahin gebracht, daß die drei bestrittenen
Päpste ihrer Würde entsagten um einem vierten das Feld zu räumen. aber
gar bald darauf brach Papst Johannes seinen feierlichen Eid, entfloh vom
Concile und wollte von Italien aus seine Herrschaft aufs neue befestigen.
Allein die Verhandlungen, die das Concil unterdessen über seinen Lebens¬
wandel pflog, gaben ein so schauerliches Bild des Lasters, daß er feierlich ab¬
gesetzt und Cardinal Colonna an seiner Stelle erwählt ward.
Bald jedoch folgte diesem düsteren Bilde ein zweites, das an Grausam¬
keit seines Gleichen sucht. Viel leichter, als der eigenen Verkommenheit ent¬
gegen zu treten, war es natürlich die Ketzer zu verdammen und in diesem
Rächeramt erblickte nunmehr bald das Concil seine wesentlichste Pflicht. Der
Anhang, den die Lehre des Johannes Huß in Böhmen gefunden, hatte längst
den Haß der Römer erweckt und so ward denn der berühmte Lehrer von
Prag nach Constanz berufen, um sich dort vor der Versammlung zu vertheidigen.
Mit aller Zuversicht hatte ihm Sigismund freies Geleit und den Schutz seines
Lebens versprochen, aber wie zuerst der Papst, so brach setzt auch der Kaiser
sein Wort, man hatte ihn rasch zu überreden gesucht., daß man „Ketzern"
gegenüber ja nicht zur Treue verpflichtet sei. Die Hinrichtung des großen
unerschütterlichen Mannes der mit stoischer Rabe den Scheiterhaufen bestieg,
ist ein ergreifendes Bild, das man nicht schildern kann ohne zornige Beschämung.
Unter furchtbaren Flüchen riß man ihm erst die geistlichen Kleider ab.
die langen Haare wurden ihm geschoren und eine rostige Kette um den Hals
gehangen, aufs Haupt aber setzte man ihm spöttisch eine Krone mit Teufeln
bemalt. Er stellte sich nicht zur Gegenwehr und flehte nicht um Gnade, aber
auf dem ganzen Wege betete er laut, daß Gott seinen Feinden vergeben möge
und noch in den Flammen pries er den Herrn und sang, bis der Rauch seine
Stimme erstickte und die zusammenbrechende Gestalt mitleidig verhüllte.
So starb der „Ketzer", — die Kirche aber, deren Wesen in der Liebe des
Nächsten ruht, hatte eine neue Blutschuld auf sich geladen. Für die wichtigste
Aufgabe, die man sich gestellt, für die Reinigung an Haupt und Gliedern
war nichts erwirkt, die Lösung dieser Pflicht sollte nach öffentlichem Beschluß
einer „späteren" Versammlung überwiesen werden, Nicht ohne ein Gefühl
der Hoffnungslosigkeit ging man nach vollen vier Jahren auseinander, aber
selbst den Abzug deckte noch Schmach; denn so tief war Kaiser Sigismund
verschuldet, daß die Bürger ihn nicht reisen ließen, ehe er ihnen sein ganzes
Gepäck als Pfand zurückließ, Jahrhunderte lang blieb dasselbe im Gewahr¬
sam der Stadt, doch als man die Kisten endlich erbrach, weil jede Hoffnung
auf deren Einlösung schwand, da fand man statt der silbernen Tafelgercithe
— kalte Steine.
Das war der Verlauf und das Ende des großen „heiligen" Concils zu
Constanz, ein Kaiser und ein Papst, die Verräther an ihrem eigenen Worte
wurden, eine Ueberfluthung der Stadt mit fahrenden Dirnen und uneinbring¬
lichen Schulden und zu dem allen der Scheiterhaufen des Johannes Huß.
Fürwahr, ein Brandgeruch zieht noch heute durch diese großen Erinne¬
rungen.
Kehren wir nun aus der Geschichte in die Gegenwart zurück, so findet
man auch in der jetzigen Erscheinung der Stadt noch mancherlei, was an jene
Zeiten gemahnt. Vor allem ist das Kaufhaus bemerkenswerth, in welchem
damals das Conclave gehalten wurde; ein kolossaler Bau, der dicht am Was¬
ser steht, der untere Theil gemauert, der obere von bräunlichem verwittertem
Holze, daß es fast den Eindruck einer riesigen Scheune macht. An den vier
Ecken des Daches aber zeigt sich ein kleiner erkerartiger Vorsprung, der dem
an und für sich etwas schwerfälligen Bau ein originelles Ansehen giebt. Hier
im ersten Stockwerk ist der sog. „Conciliumssaal" ein ungeheurer aber ziemlich
niedriger Raum, dessen Decke von Säulen getragen wird, und der jetzt ganz
mit Hellem Holze vertäfelt ist. Die Fresken, welche die Wände schmücken,
stellen die wichtigsten Momente aus der Geschichte von Constanz dar; sie sind
zum Theile noch im Werden begriffen und auf den hohen Gerüsten, die zur
Rechten und Linken erbaut sind, steht emsig pinselnd der Maler. Wie bekannt,
sind beide Künstler, die mit der Ausführung derselben betraut wurden, aus
München; der eine von ihnen ist PH. Schwörer, welchem die alte Jsarstadt
gar manches treffliche Wandgemälde verdankt, der andere Friedr. Pecht, der
berühmte Kritikus, der aus einer Constanzer Familie stammt.
Unter den Kirchen von Constanz ragt historisch und architektonisch der
Dom hervor, der in der Mitte des elften Jahrhunderts begonnen ward.
Freilich kam mancherlei Zuthat im Laufe der Zeit um den romanischen Styl,
in welchem die Kirche anfangs gedacht war zu gothisiren, auch ein furchtba¬
rer Brand, bei dem die sämmtlichen Glocken schmolzen, griff verwüstend ein,
allein trotz alledem ist das Münster noch immer die stattlichste Kirche am gan¬
zen See. Durch den Bischofssitz,- der seit 653 in Constanz bestand, war sie
reich geworden und durch eine Reihe bedeutender Männer, die hier gewirkt,
fügte sie zum Reichthum auch noch den Ruhm.
Die Bevölkerung der Stadt ist jetzt überwiegend katholisch, aber nur das
Schwert hat sie dem alten Glauben zurückgeführt. Denn die Eindrücke, welche
aus den Tagen jener großen Versammlung übrig blieben, gingen so tief, daß
die Bürger der Reformation mit offenen Armen entgegeneilten und der Bischof
bereits voll Grimm die Stadt verließ. Immer entschiedener trat die luthe¬
rische Gesinnung zu Tage und da die Stadt sogar das Interim zurückwies,
das ihr Karl V. auferlegt, so kam es zum offenen Kampfe. Es war eine
jener Fehden, in denen das Selbstgefühl der Bürgerschaft mit verzweifeltem
Muthe der fürstlichen Uebermacht entgegentrat; auf der Rheinbrücke stießen
die Soldaten der Stadt mit dem spanischen Fußvolk zusammen, das der
Kaiser wider sie gesandt, und nach mörderischen Gemetzel behielten sie wirklich
die Oberhand.
Freilich war es ein Pyrrhussieg, der hier gewonnen wurde, denn der
Kaiser lohnte den Heldenmuth seiner Feinde mit der Acht und nahm die stadt,
die bisher freie Reichsstadt gewesen, ins Eigenthum der österreichischen Lande.
Alle Protestanten mußten sich flüchten, ihre Güter wurden eingezogen — der
Glaube war gerettet.
Noch einmal hatte Constanz schwer unter der Noth des Krieges zu lei¬
den, als die Schweden vor seinen Thoren lagen; dreimal stürmte Feldmarschall
Horn gegen die Mauern der Stadt, bis ihn die furchtbare Gegenwehr der
Bewohner zum Abzug zwang. Dann erst kamen stillere Zeiten. Handel und
Gewerbe begannen langsam wieder empor zu blühen und die Natur trug un-
verkümmert ihre goldenen Schätze, aber ein Wandel war doch für allezeit und
unabänderlich vollzogen. — Aus der mächtigen freien Reichsstadt war eine
stille schlichte Provinzstadt geworden, und nur eines gemahnte noch an die
große Vergangenheit, ein Zug zur Freiheit, die die Stadt auf jede Weise be¬
thätigte und den sie vor allem jetzt auf kirchlichem Gebiete bekundet. Auch
manche edle Hand kam ihrem Streben fördernd zu Hülfe, wer dächte hier
nicht mit Dank an Kaiser Joseph II. und an den großen Wessenberg? Und
so scheiden wir doch mit einem wohlthuenden Gefühle.
Was uns jetzt noch zu betrachten erübrigt, das sind die beiden großen
Inseln, die ebenso wie Lindau schon in frühester Zeit als Auen bezeichnet
wurden, die eine nach ihrem Reichthum, die andere nach holder Maienluft:
Mairan und Reichenau.
Lange Zeit gehörten die beiden zusammen, Mairan war nur ein Neben¬
gut der großen Abtei im Untersee, bis die Aebte es als Lehen vergabten; erst
aus zweiter Hand kam es dann an den deutschen Orden, der die herrliche
Commende bis 1806 besaß. Mit mächtigen Flügeln stand das breite fürstliche
Ordenshaus auf dem hohen Plateau der Insel, eine Mischung von Burg
und Kloster; in den Gängen und den prächtigen Sälen hingen die Wappen¬
schilder der hohen Comthure und in der Ordenskapelle des Hauses klang die
geweihte Glocke. Weithin über den See scholl ihr friedvoller Klang, drüben
glänzte der Säntis und in verschwommener Ferne das alte Bregen;. Die
Fremden aber, die die Insel besuchten, fanden in der Meierei und der Her¬
berge, die damit verbunden war, gastlichen Unterstand. Aber auch später
noch, nachdem die Commende längst im Anprall der Zeit gefallen war, bil¬
dete doch der Nimbus des Ordens und seiner adeligen Herren noch immer
das eigentliche Gepräge der Insel und der alte gutmüthige Wirth saß stun¬
denlang bei seinen Gästen und erzählte ihnen von den geharnischten Rittern,
von Hippolt und Werner Hundbiß. der das Eiland wider die schwedischen
Schiffe vertheidigte — als wäre er selbst dabei gewesen. Erst jetzt seit die
badische Herrscherfamilie ihren Sommersitz hier aufgeschlagen, sind jene ver¬
gangenen Bilder im Glanz der Gegenwart verblichen.
Ganz verschieden ist das Bild, das die Nachbarinsel Reichenau im Unter¬
see vor uns erschließt; ihr Umfang ist bedeutend größer und ihre Geschichte
viel älter; keine Scholle Land ringsum war ihr an Ruhm und Reichthum
überlegen. Unter den zahllosen Klöstern. die das frühe Mittelalter schuf,
war Reichenau vom Glücke förmlich auserlesen, vier Erzherzöge und nahe
an zwanzig Grafen waren seine Lehensmänner und wie Karl V. sich rühmte,
daß in seinem Reiche die Sonne nicht untergehe, so rühmte sich der Abt von
Reichenau, daß er allnächtlich auf eigenen Boden schlafe, wenn er nach Rom
zum Papste ziehe. Er war Fürst des si. römischen Reiches und Kaiser und
Fürsten saßen bei ihm zu Gast, die edelsten Ritter aus den Nachbargauen
dienten ihm als Truchseß und Mundschenk, wenn er mit seinen Gästen zur
Tafel schritt. Aber nicht nur den Genuß der Sinne, auch der Genüsse feiner
geistiger Kraft pflegten sie in Reichenau und die Mönche waren stolz darauf,
daß im ganzen Süden des Reichs keine Stätte stand. die ihr an Bildung
gleichkam. Von allen Seiten sandten die Großen ihre Söhne und mehr als
achtzig Bischofssitze wurden mit den Schülern der Abtei besetzt.
Allein das Glück war zu verschwenderisch gewesen, um dauerhaft zu sein.
Schon unter den Stauffen kam der Wendepunkt und mit reißender Gewalt
brach der Verfall herein. Statt edle Gedankenarbeit zu üben, zogen die
Mönche nach Ulm zur Fastnacht, wo sie mit den Frauen tanzten und spiel¬
ten, so daß der Abt alle Güter, die er dort besaß, verkaufte, um ihnen die
Stadt zu verschließen. Eine Habe nach der andern ging dahin, um die Schul¬
den zu decken und bald war die Rente des Klosters, die einst an 60,000
Gulden betragen, auf drei Mark Silber herabgesunken. Mit jeder Stunde
wuchs die Verwilderung, ja es gab einen Augenblick da das gesammte Kapitel
nicht mehr des Schreibens mächtig war und mit eigener Hand riß der Abt
fünf arglosen Fischerleuten die Augen aus. weil sie Unterthanen der Stadt
Constanz waren, mit der er in Fehde lag. Schon lange hatten die Bischöfe
der Nachbarstadt deßhalb den Plan gefaßt, die Reichenau an sich zu ziehen,
nun schien die Stunde gekommen, wo ihnen die reife Frucht von selber in
den Schooß fiel. Gegen eine Summe fand sich der Abt bereit, den Verrath
zu üben, er lieferte selber das Kloster an Constanz aus und damit waren
seine Würfel für alle Zeiten gefallen (1S40).
Das sind die Gedanken und Erinnerungen, deren man nicht ledig wird,
wenn man über die breite herrliche Insel wandert. Es ist uns seltsam bade;
zu Muthe; noch steht die alte Kirche mit einem Thurm aus Hatto's Zeiten;
wir schreiten durch das geschnitzte Portal an den grauen Pfeilern hin, an
Gräbern vorbei, auf deren steinerner Decke Krummstab und Inful prangt,
aber wehmüthig düster scheint das gebrochene Licht, das uns umfängt. Es
ist ein Zug der Ohnmacht, der durch diese Stätte geht, und wie der stumme
Träger derselben blickt uns das Kaisergrab Karl des Dicken an, der entthront
und enterbe hier starb.
In der Sakristei, wo die eisernen Riegel knarren, liegen die Schätze und
Heiligrhümer der Abtei verwahrt, Evangelienbücher auf zierlichem Pergament,
Monstranzen und Kelche, kostbare Gewänder und elfenbeinerne Schnitzereien
Auch ein riesiger „Smaragd" im Gewichte von mehr als 20 Pfund liegt dort,
der freilich in unseren Augen nicht mehr ist, als grünes Glas.
Unbewußt athmen wir auf, wenn wir wieder heraustreten aus diesen
dämmerhaften geistig verarmten Räumen in die freie Natur, die allein noch
den Namen verdient der — reichen An. Fruchtschwere Bäume und horniges
Weinland umgeben uns, aus den grünen Wiesen lugen drei Dörfer hervor:
Ober-, Mittel- und Unterzell, am Uferrand glänzt die Ruine der alten Scopula-
Burg, auf der sich die Mönche in drohender Zeit verschanzten. Und das
Alles überströmt vom warmen Sommerduft, das Alles umspült von blauer
Ruth, überall steigen am Strande weißblinkende Städtlein und Dörfer auf;
Äznang und Horn. Steckborn gen Süden und gen Norden Sankt Radolfszelle.
Nun aber ändert sich mältg die Gegend; ein eigenartiger Kampf zwischen
Wasser und Land beginnt, immer mächtiger drängt sich der Seegrund gegen
den seichten Spiegel, es rüstet sich der Rhein zum Austritt. Schon nach
Reichen«» hinüber ist der Weg durch den See so flach, daß man zur hohen
Sommerzeit fast trocken hindurch kommt.
Es ist Schweizerland, das wir jetzt betreten. Das mächtige Schloß, das
Wir da drüben sehen, wo der Rhein aus dem Obersee in den Untersee hinab¬
strömt, heißt Göttlichen. Melancholisch und grau schauen die kantigen Thürme
drein, von denen der Dichter mit Recht behauptet, daß sie der Unmuth er¬
baute und daß sie nur traurige Gäste gesehen. Grollend zog sich der Bischof
von Constanz Hieher zurück vor dem Hasse des großen Staufenkaisers Fried¬
lich II. Hier lag Johannes Huß gefangen, eh' sie ihn auf den Scheiterhaufen
führten, hier hielt man den ruchlosen Papst Johann in Verwahr, als er sich
während eines Ningelstechens in Botenkleider warf und vom Concile floh.
Ja selbst die letzte Hand. die zur Wiederherstellung und zum Schmucke
des alten Schlosses thätig ward, war ohne Segen. es war die Hand des
dritten Bonaparte. Louis Napoleon, der den Bau in gothischem Style reno-
viren wollte. Wie bekannt wohnte er in dem nahen Arenenberg, das die
Königin Hortense von einer Patrizierfamilie erworben und durch reizende
Anlagen verschönert hatte; von hier aus ging er nach Paris als Präsident
der Republik, der bald genug der zweite Dezember folgte. Er hatte den
stillen beschaulichen Landsitz vertauscht mit den Tuilerien und fast zwei Jahr¬
zehnte lang folgte Europa bange seinen verschleierten Worten; er hatte die
Schlachten von Sebastopol und Magenta geplant; einsam und'vergessen lag
das kleine Arenenberg.
Nun ist es wieder bewohnt, der Park ist dem Fremden verschlossen, aber
drinnen auf den feinbekiesten schattigen Wegen, wo einst die Mutter des Prinzen
ging, wandelt jetzt eine schwarze Frau mit bekümmerten Mienen — die Wittwe
des Kaisers. Arenenberg ist der Ausgangspunkt und der Schlußpunkt für diesen
cüreuws vitiosus, den die Weltgeschichte das zweite Kaiserreich benennt.
Immer schmaler wird nun der See. schon krümmt sich das enge Becken,
wie der Lauf eines Stromes, der den Hindernissen auszuweichen sucht, schon
tritt das Wasser des Rheines deutlich hervor aus dem Wasser des Sees.
Der Ort. wo die Lösung vollzogen ist, wo der große Strom wieder frei
und eigen herrscht, heißt Stein am Rhein, ein Städtlein, das sich merovin-
gischer Abkunft rühmt. Es hatte Mauer und Graben und war eifersüchtig
auf seine Freiheit bedacht, denn hoch zu ihren Häupten saßen die Herren von
Klingen und mancher streitbare Feind lag in der Nachbarschaft bereit. Hatte
sich doch der eigene Bürgermeister eines Tages mit den Burgherren des Hos¬
gau verschworen, ihnen die Stadt in die Hände zu spielen; ein nächtlicher
Ueberfall fand statt, aber die Bürger erwehrten sich mit ungeahnter Kraft
des Feindes und stürzten den Verräther in einem Sacke in den Rhein.
Ohne Zweifel zählt der Hosgau. den wir eben genannt, zu den wichtigsten
Strichen im ganzen Gebiete des Bodensees; sein Name aber, der schon zu
Zeiten Karl Martell's erscheint, will die zahlreichen Felsenkegel bedeuten die
wie erratische Blöcke Flur und Wald überragen. Welch' geheimnißvolle
Gewalt hat sie aus dem Schooß der Erde emporgeschleudert oder aus uner¬
meßlichen Höhen herabgewälzt. Feuer und Wasser sind hier thätig gewesen
und auf den trotzenden Kuppen bauten die Menschen ihr Haus und krönten
mit ihrer Kraft die Kraft der Elemente. Mehr als vierzig Burgen standen
ehedem im Hosgau und die ältesten Geschlechter des Reichs waren hier daheim,
das schönste Bild deutscher Vergangenheit, das je geschaffen ward, in dem sich
herbe Kraft und süße Minne so seltsam mischt, ist in den Rahmen dieser
Landschaft gefaßt. Ekkehard! — Hier war sein Thurmgemach auf Hohen¬
twiel; wo man hinabsieht über den weiten blauen Bodensee, wohnte Hadwig,
die gelehrte Herzogin von Schwaben. Wie eine hohe Warte, die der Gau
gegen Strom und See hin ausgestellt, liegt jetzt die prächtige Ruine auf dem
Felsen, nahe dahinter, und noch steiler die Ruine Hohenkrähen. Welche
Erinnerungen birgt dieser Fels, es ist ein Denkstein der Erdgeschichte und der
Geschichte unseres Volkes.
Ziemlich am Fuße des Hohentwiel liegt das Städtchen Singen und die
zahlreichen römischen Alterthümer, die man dort gefunden hat, lassen errathen,
daß schon die Legionen des Tiberius sich diesen prächtigen Waffenplatz ersahen.
In dem Maierhof, der am Aufstieg zur Burg gelegen ist, schließt sich den
Fremden ein Führer an, der schweigsam mit klirrenden Schlüsselbund voran¬
geht, an der alten Linde und an der steilen Felswand vorüber, durch deren
graues Gestein bisweilen röthliche Adern ziehn. In einer Viertelstunde haben
wir die eigentliche Beste erreicht, zertrümmerte Bastionen, Graben und Wall
umgeben uns und wenn auch Alles zerfallen ist, so spricht uns doch überall
noch jetzt ein Zug der Stärke an, den weder die Zeit noch der Feind zerstören
konnte. Freilich hat auch mancher von ihr viel Leid erfahren, denn unter den
zahlreichen Zwecken, denen der mächtige Fels im Lauf der Zeiten diente, war
einer, der gar düster klingt. Sie war der Kerker, in welchem Männer wie
der edle Moser schmachteten, den mancher mit grauen Haaren verließ, der ein¬
stens goldenes Gelock hineingetragen.
In der Mitte des XVI, Jahrhunderts kam Hohentwiel an Würtemberg,
dem es noch heute als Enclave in badischem Gebiet zu eigen ist.
Hoch schlugen die Wogen des dreißigjährigen Krieges an seine Mauern,
aber der tapfere Widerhold, dem der Schutz des Platzes anheimgegeben war,
blieb unerschütterlich und erlag weder dem Eisen noch dem Gold der Feinde.
Er hat die Inschrift verdient, die ehedem vor dem zersprengten Hauptportal
des „poster Hauszes" eingemeißelt war:
Der Feind hat's fünfmal zwar geschreckt
Doch hat der Herr zum Schutz erweckt
Den Widerhold, der fünfzehen Jahr
DaSselb' beschützt in Feinde's Gefahr.
Freilich war nicht immer ein Widerhold Gebieter auf dem Hohentwiel
und so unbezwinglich auch die Beste schien, so schlug doch auch ihr die Stunde.
In den Abgrund von Schmach und Noth, der an der Wende unsres Jahr¬
hunderts steht, der Reiche und Dynastien begrub, versank auch der Stern des
Hohentwiel. Wer hat ihn zerstöre? — dieselbe Hand, die damals durch ganz
Europa die Zerstörung trug, die Soldaten Bonaparte's die 20000 Mann stark
im Hosgau lagen. Unter Widerspruch eines einzigen Lieutenants hatte das
Offiziercorps der Besatzung capitulirt, die Bedingungen aber, welche an die
Uebergabe geknüpft waren, blieben durch einen Handstreich der Franzosen ver¬
eitelt. Fast ein halbes Jahr dauerte die Schleifung und Sprengung der
Festungswerke, nicht nur in die Bauten, sondern in den Felsen selber wurden
Minen gelegt, aber es waren doch nur Splitter, die man dem trotzigen Sitze
der schönen Hadwig abgewann. Fünfhundert Bewohner der benachbarten
Dörfer waren dabei zum Frohndienst aufgeboten-
Das ist die letzte schwere Erinnerung, die den Hohentwiel umgiebt, aber
es soll nicht der letzte Eindruck sein, mit dem wir scheiden. Sie konnten das
Mauerwerk zu Boden reißen und die würdigen Bilder in den steinernen Hallen,
aber ein Bild war unantastbar und unvergänglich, es war den Händen der
Zerstörer ebenso wenig erreichbar, als es die entzückte Schilderung erreicht.
Blickt hinaus in die goldene Weite und in die blaue Tiefe, dann liegt es
vor Euch im hellen Morgenduft, dies herrliche Bild — eine Bergeskette, die
vom Montblanc bis an den Ortler reicht, ein Land, das die Fülle seines
Segens kaum tragen kann. Die Perle aber, das funkelnde Juwel, das uns
aus dieser offenen Schatzkammer der Natur entgegenblinkt, das ist der blaue
leuchtende See, über dessen lange Fläche unser Auge schweift.
In uralter Zeit, weiter zurück als das Dasein und der Gedanke der
Menschen reicht, war auch der Hosgau ein Bestandtheil dieser Fluth, man
gräbt noch jetzt aus dem kiesigen Boden zuweilen Zähne aus, die fast einen
Zoll in der Länge haben und von riesigen Fischen stammen, wie M das
riesige Wasser gebar. Dann aber trat die Fluth langsam zurück, Zoll um
Zoll mit der Erde ringend, bis sie ihre Grenzen in dem tiefen Becken fand,
das heute lachend vor uns liegt, als friedliches Denkmal sturmvoller Gestal¬
tung. Welch ungeheurer Horizont, welche Wärme in diesen Farben, welcher
Vollklang in diesen Tönen, wenn alle Glocken zu Abend läuten!
Nun neigt sich der flammende Ball zum Untergang, wie der Widerschein
eines riesigen Feuers schimmert es über die Fluth, dann zieht das graue Ge¬
wölk seinen Schleier über den Rand der glühenden Scheibe, immermehr, immer¬
mehr von ihr verhüllend. Das Gold wird zum Purpur und der Purpur
wird violett, nun ist der letzte schmale Sonnenstreif hinabgesunken und mit
herber Frische kommt der Abendwind. Wie mag das mächtige Segel fliegen,
das wir in weiter Ferne auf der Fluth gewahren, aber bald ist auch das
Segel verschwunden in dem ungeheuren Weben der Dämmerung.
Das Schiff mit seinen Mannen gehört dem Abte der Reichenau, auf
dem Hohentwiel aber steht Hadwig in des Fensters Wölbung und lernt,
was ihr vorgeschrieben ist, leise und laut; bis zu Ekkehard's Saal klingt
ihr einförmig Hersagen- „amo — amas — uiNÄt." —---
Es will scheinen, als ob die wissenschaftliche Geschichtschreibung in Deutsch¬
land von den großen Ereignissen unserer Zeit weniger Antrieb zur Darstellung
auch ferner liegender Perioden der Reichsgeschichte erhalten hat, als es doch
in der Natur dieser einen so langen Zeitraum unserer politischen Entwicklung
abschließenden Ereignisse liegen sollte. Denn unwillkürlich wird das Gefühl
des Unmuths, mit dem wir das alte Reich verfallen und die deutschen Dinge
immer verderblichere Bahnen einschlagen sehen, heute durch das Bewußtsein
gemildert, daß die politische Kraft der Nation dadurch nicht gebrochen worden
ist, daß sie sich nach langem Umherirren doch auf einen zum Ziele der poli¬
tischen Einheit, wenn auch in loserer Form als bei anderen Nationen führenden
Weg gefunden hat. So gesellt sich zu der gesteigerten Lebhaftigkeit des Na¬
tionalgefühls doch eine gesättigte Ruhe, und die Zeit erleichtert es einem .Ge¬
schichtschreiber Deutschlands die Stimmung zu finden, die allein seinem Werke
zugänglich ist, und die es zugleich seinem Publikum sympathisch macht.
Freilich einen Erfolg, wie ihn Gtesebrecht, Raumer, Ranke, Hauffer für ihre
die Hauptepochen der deutschen Geschichte beschreibenden Werke erzielt haben.
Wird sich nicht von vornherein der Darstellung jedes Zeitraums vorhersagen
^- aber auch nicht absprechen lassen; es kommt eben, wenn das Werk sonst
an die Höhe der Geschichtschreibung heranragt, erst auf die Probe an. Denn
auch die Zeiten, die keinen Kaiser Otto und keinen Luther hervorgebracht
haben, sind voller Leben, und es ist auch nicht reizlos dem Regen der Kräfte
und Gedanken nachzugehen, wo sie sich in keiner großen Gestalt verkörpern,
sondern im wirren Durcheinander kleinerer Geister verzehren. Die Zeiten
des 14. und Is. Jahrhunderts sind ganz besonders dieser Art, und es ist
daher mit Freude das Werk des Breslauer Professors Theodor Lindner
Zu begrüßen, der uns eine „Geschichte des deutschen Reiches vom
Ende des 14. Jahrhunderts an bis zur Reformation*) verspricht,
und diese soeben mit dem die Hälfte der Regierung des Königs Wenzel um¬
fassenden ersten Bande eröffnet hat.
Der Verfasser bekennt selbst in der Vorrede: „Vielleicht wäre es ange¬
messener gewesen, mit der Regierung Karl's IV. zu beginnen." Gewiß wäre
es das gewesen. Schon allein die Gründung der Luxemburgischen Großmacht
>in Osten des Reichs auf halb slawischen Boden ist für das Verhältniß von
Kaiser und Reich von schwerwiegender Bedeutung geworden, da der Thron
fast ein Jahrhundert in dieser Familie verblieb. Jenes in der Habsburgischen
Periode immer mehr wachsende Uebel. daß die Interessen des Kaiserhauses
und des Reiches nicht zusammen, sondern nebeneinander herliefen, datirt seit
der Gründung der Luxemburgischen Hausmacht. Es ist doch wohl nicht zu¬
treffend, wenn der Verfasser einmal darüber klagt, daß sich der Westen dem
königlichen Einflüsse ganz entzogen hätte; es entspricht der wirklichen Lage
der Dinge wohl mehr zu sagen, daß der König sich von der Leitung des
westlichen Deutschlands zurückzog. Das gilt aber schon von Karl IV,, dessen
Hauptleistung doch immer die bleibt, Böhmen, Mähren, Schlesien, die Lausitzer
und die Mark, lauter ostwärts gelegene, ursprünglich slawische, nun schon
mehr oder weniger germanisirte Lande zu einem Staatskörper vereinigt zu
haben. Warum er trotzdem mit König Wenzel erst begonnen hat, motivirt
der Verfasser damit, daß er nicht habe warten wollen, bis die wichtigste Bor¬
arbeit zur Geschichte Karl's IV. seine zwar schon lange verheißenen, aber noch
nicht erschienenen Regesten, herausgekommen seien, ein immer hintristiger, wenn
auch bedauerlicher Grund. Inzwischen ist übrigens das erste Heft derselben
erschienen.
Gegenüber der eigentlichen Kaiserzeit bis zum Untergange der Hohen-
staufen liegt das historische Material für die Periode vom Interregnum bis
zur Reformation zum großen Theil noch in chaotischer Unordnung. Die Zahl
der gleichzeitigen Schriftsteller, die als Quellen dienen können, ist sehr gering,
dagegen wächst die Zahl der Urkunden in viele Tausende. Was die Neichsge-
schichte an Tiefe und Zusammenhang verliert, gewinnt sie an Breite und
üppigem Leben im Einzelnen. Was von der wissenschaftlichen Zurüstung des
Materials aus neuerer Zeit dem Verfasser am meisten zu Gute gekommen ist,
sind die deutschen Städtechroniken und die Neichstagsakten, die Beide der Muni-
ficenz des verstorbenen und des regierenden Königs von Bayern zu danken sind,
die eine Hälfte des Buches beruht hauptsächlich darauf.
König Wenzel erfreut sich nicht eines besonderen Rufes, und seine Ge¬
schichte ist außerhalb der speciellen Fachkreise wenig bekannt. Die alten Verse
des Volksliedes bei Soltau
König Karol gab die Bulle,
Wenzel macht sich selbst zur nulle.
resumiren auch für manchen gebildeten Deutschen die Kenntniß, die ihm die
Schulzeit von der Geschichte beider Männer zurückgelassen hat. Dann haben
uns freilich Uhland's herrliche Dichtungen den alten Grainer, die trotzigen
Herren von den Nitterbünden, die streitbaren Bürger Ukas und der andern
Schwabenstädte zu vertrauten Figuren gemacht, aber über dem romantischen
Interesse ist der politische Gehalt dieser Kämpfe wenig zum Bewußtsein ge¬
kommen. Und es hat sich doch auf den Schlachtfeldern von Neutlingen und
Döfflngen um recht folgenschwere Erscheinungen gehandelt.
Die Entstehung und das allmähliche aber stetige Wachsthum des großen
süddeutschen Städtebundes, sein fortwährenden Schwankungen unterworfenes
Verhältniß zu den Fürsten und die Stellung, die der König dazu einnimmt,
erwecken in dem vorliegenden Bande, der bis 1387 reicht, in erster Reihe das
Interesse.
Ins Jahr 1376. als Karl IV. eben die Wahl seines Sohnes Wenzel
erreicht hatte, wobei „tapfer der Gulden anlief", fallen die Anfänge des
schwäbischen Städtebundes. Eben die großen Kosten der Wahl, fürchteten
die Reichsstädte, würden auf sie abgewälzt werden; denn die Verpfändung
von Reichsstädten war ein beliebtes Mittel des Kaisers Geldverpflichtungen
abzuwickeln. jetzt stand dessen Anwendung in umfassender Weise bevor. So
vereinten sich zunächst 14 Städte in Schwaben: Ulm, Konstanz. Reutlingen
u. s. w. trotz der goldenen Bulle zu einem Bunde und stellten dem neuen
König die Huldigung nur gegen die Zustcherung nicht verpfändet zu werden
in Aussicht. Karl's Versuch Gewalt zu brauchen scheiterte an den festen Mau¬
ern Ukas, und als er den Krieg den baierischen Herzögen und dem Würtem-
Verger Eberhard überläßt, ziehen sich die ersteren am Erfolge verzweifelnd im
Winter zurück, und Letzterer erleidet im folgenden Frühjahr seine bekannte
Niederlage bei Reutlingen. Dieser erste Erfolg verleiht dem Bunde Festigkeit
und Vergrößerung; da Wenzel jetzt die Städte zwar nicht als Bund sondern
einzeln gegen Versetzung sicher stellte und ihnen vereinte Vertheidigung gegen
Bruch des Friedens gestattete, auch Eberhard sich ein Jahr später „nach der
Städte Willen" mit ihnen verrichtete, stieg der Bund bald bis auf 31 Städte,
denen sich 1379'auch das mächtige Augsburg anschloß.
Die Zukunft des Bundes und seine Bedeutung für die Weiterentwicklung
der Reichsverfassung hing von der Frage ab. ob er, gegen die ausdrückliche
Bestimmung der goldenen Bulle entstanden, die Anerkennung des Kaisers und
der Fürsten des Reichs erlangen würde. Wenn das glückte, dann war den
deutschen Städten der Weg gewiesen, wie sie zu einem mitbestimmenden Fac-
tor der Reichsverfassung werden konnten. Den Mitgliedern des anerkannten
Bundes konnte die Einladung zum Reichstag, die bisher von der Willkür
des Königs abhing, nicht wohl versagt werden; eine regelmäßige Vertretung
der Städte im Reichstage hatte sich angebahnt. Warum konnte das nicht zu
ähnlichem Ziele führen wie in England, dessen Beispiel seit einem Jahrhun¬
dert vorlag! Aber zunächst haben wir uns die Frage vorzulegen, ob die
Städte wirklich nach politischen Zielen gestrebt haben, ob nicht allein das
Interesse ihrer Erhaltung und Sicherung gegen augenblickliche Gefahr dem
Bunde Ursprung und Fortgang gegeben habe. Die Urtheile des Verfassers
hierüber sind sehr vorsichtig. Die gleichzeitigen Quellen, etwa die Städtechro-
uikeu, sind nicht derart um sich darüber zu verbreiten, und der Verlauf der
Ereignisse läßt auch nicht recht zur Gewißheit darüber kommen. Daß in ein-
zelnen Städten, wie z. B. in dem allzeit kühnen Ulm, Männer von weit¬
schauendem Blick gewesen sind, die über die lokalen Interessen hinaus politischen
Zielen nachstrebten, möchte der Verfasser nicht ableugnen, aber sie fanden in
den besonderen Verhältnissen der einzelnen Städte, in dem Wunsche der ehr¬
samen Handwerker und Kaufleute nicht weiterzugehen, als es zum Schutze
ihres Gewerbes erforderlich war, ein allzugroßes Gegengewicht, um zur Gel¬
tung zu kommen. Auch lockerte sich mit der Ausdehnung des Bundes die
Einheit desselben, besonders als neben dem schwäbischen sich der rheinische Städte¬
bund bildete, und beide, durch verschiedene Anlässe hervorgerufen, sich zu ver¬
einigen trachteten.
Die Gründung des schwäbischen Städtebundes hatte Veranlassung zur
Entstehung zahlreicher Rittergesellschaften gegeben, und deren bedrohliches
Auftreten trieb wieder in Elsaß und am Rhein die Städte zur Einigung.
Hier war also das Motiv ein anderes als in Schwaben, nicht um Versetzung
durch den König, sondern um die Befehdung durch den städtefeindlichen Adel
abzuwenden, entstand hier der Bund. Mainz, Worms, Speier, Straßburg
waren ja überhaupt nicht Reichsstädte, sondern Freistätte, also zu Zahlungen
an den König in keiner Weise verpflichtet. Aber der rheinische Bund war kaum
errichtet, als auch schon vom schwäbischen das Anerbieten einer gegenseitigen
Einigung gemacht wurde. Daß dieselbe zu Stande kam, ließ fortan die Macht
der Städte äußerlich sehr imposant erscheinen; aber das Gefüge war ein loses,
denn jeder Bund blieb für sich bestehen, und es kam immer nur zu gütlichen
Vereinbarungen zwischen beiden, nicht zu gemeinsamen Beschlüssen. Es liegt
zudem in der Natur der Dinge, daß die Muthigen und Vorwärtsstrebenden
den Aengstlichen und nur auf Erholung Bedachten mehr Rechnung tragen
müssen als umgekehrt. Doch wuchs die Anziehungskraft des Bundes noch
immer. Von Basel bis Regensburg erstreckte sich jetzt das Gebiet, selbst das
volk- und geldreiche Nürnberg, das mehr Neichssteuer zahlte als irgend eine
andere Stadt und zu den Luxemburgern in sehr intimer Verbindung stand,
konnte sich in seiner Jsolirung nicht halten und mußte dem allgemeinen Zuge
folgen, der auch die rheinischen Städte allmählich in die Wege der schwäbischen
zu drängen schien. Im October 1832 verlängern beide ihre Einigung auf
10 Jahre.
Die Besorgniß vor dem unruhigen Trieb Leopold's von Oesterreich nach
Vergrößerung seiner Lande trieb die, schwäbischen Städte auch. Anknüpfung
bei den Schweizern zu suchen. Die größeren Städte wie Zürich, Bern und
andere — Basel und Se. Gallen gehören schon zum schwäbischen Bunde -
sind bald zur Verbindung geneigt. Ihre Einigung mit den schwäbischen Städten
wird auch Namens der rheinischen abgeschlossen, der große Zusammenhang
erhalten, doch standen die Interessen der Schweizer den rheinischen Städten
noch viel ferner als die Schwabens.
An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob es denn zu gar keiner
Verbindung oder doch zu Bemühungen darum zwischen den Städten des
Südens und des Nordens gekommen ist; hier war ja im Hansabunde schon
längere Zeit eine machtvolle Vereinigung gegeben, mit der man sich nur zu
verbinden hatte. Eine Coalition des süddeutschen und des norddeutschen
Bundes mußte die gewaltigen Kräfte, die in den Städten lagen, Jedermann
sichtbar und greifbar machen, den König und die Fürsten zwingen, das deutsche
Bürgerthum als berechtigten politischen Factor anzuerkennen und ihm Raum
zu gewähren. Aber die zeitlichen Quellen schweigen durchaus darüber, und
Man hüte sich dringend, Ideen, mit denen wir jetzt zu rechnen gelernt haben,
in das 14. Jahrhundert hineinzutragen. Nicht Principien- sondern Interessen-
Politik wurde getrieben, das gilt ganz besonders, von den Hansestädten, die
für ihre Interessen vom Reiche wenig Schutz erwarten konnten und sich des¬
selben zu entschlagen gelernt hatten. Ist sonach nicht einmal von Solidarität
der Interessen zwischen dem hanseatischen und schwäbischen Bunde die Rede,
so noch viel weniger von gemeinschaftlichen politischen Plänen, überhaupt
weder von Anknüpfung noch von Verbindung.
Ausführlich schildert unser Buch, wie sich der König und die Fürsten zu
diesen Bewegungen im Kreise der Städte verhalten, wie sie ihre Interessen
dagegen wahren, Bund mit Gegenbund erwidern, bald listig, bald drohend
den Städten beizukommen suchen, wie trotz aller Anstände. Richtungen, Stall-
ungen und Frieden die Gegensätze unvereinbar und der Appell an das Schwert
unvermeidlich scheint. Auch die Fürsten kämpfen nicht für Principien, sondern
für die Erweiterung, beziehentlich Erhaltung ihrer Macht. Aber sie scheinen
doch den Städten darin überlegen, daß sie ihren Blick öfter auf das Ganze
Achten, umfassende Pläne entwerfen. Schwerlich in der Ehrlichkeit, nur in
der Virtuosität, dem savoir taire; übertreffen sie die Städte. Ihre Macht w.ir
^ Grunde genommen auch schon zu groß und hatte schon zuviel Attribut
d^ Reichsgewalt an sich gebracht, um den Städten viel Hoffnung auf Ge¬
sinnung einer reichsständischen Geltung neben ihnen zu lassen. Auch von
do Fürsten kommen nur die des Südens und Westens in Betracht, Hessen
Und Thüringen spielen schon eine zweite Rolle, der Norden fällt ganz aus.
Das Unerfreulichste ist, daß wir auch hier keiner maßgebenden Persönlichkeit'
segnen, keine tritt in individueller Bedeutung hervor; was aber noch viel
^hr in die Augen fällt, ist die gänzliche Unbedeutendheit des Königs. Nicht
daß er von Anfang an seine Trägheit, Trunksucht und Leidenschaftlichkeit
i^eigt hätte, die später seinen Namen berüchtigt gemacht haben, es hat ihm
'N den ersten Jahren nicht am guten Willen gefehlt, aber er war eben der
schweren Aufgabe nicht gewachsen, die er schon mit 18 Jahren auf sich nehmen
mußte. Die ersten Jahre ging er in leidlichem Einvernehmen mit den Fürsten.
Aber gerade dem rücksichtslosesten unter diesen, dem Erzbischof Adolf von
Mainz gegenüber hatte ihm schon der Vater eine schiefe Stellung hinterlassen,
die er aus eigner Kraft nicht zu bessern wußte. Es war kein gutes Omen für
sein Ansehen, daß er den trotzigen Grafen, noch dazu unter vortheilhaften Be¬
dingungen, im Besitze des Erzbisthums ließ; er gewann keinen Anhänger an
ihm. Von dem Verhalten aber zu den vier rheinischen Kurfürsten hing seine
Stellung ab ; ihnen verdankte er seine Wahl, sie waren in der Frage der Städte-
bünde besonders interessirt; aber offen für sie und gegen die Städte Partei
zu nehmen, konnte er sich nicht entschließen, und aus dem Conflict der strei'
deuten Mächte für seine Königsgewalt Vortheil zu ziehen, verstand er nicht-
Wenn er z. B. 1384 die Heidelberger Stallung, einen Waffenstillstand zwischen
Fürsten und Städten auf 4 Jahre, verwickelt, so erscheint er dabei nicht als
Träger der Reichsgewalt, sondern wie ein von den Parteien angerufener guter
Freund. Das Schlimmere aber ist, daß ihn bald nach diesem Ereignis; seine
Familienpolitik so tief in die Verhältnisse des Ostens verstrickte, daß er den
deutschen Dingen völlig den Rücken kehrte und zwei volle Jahre nicht im
Reiche erschien, wo inzwischen die Gegensätze immer gespannter wurden und
das Gewitter in der Sempacher Schlacht sich zum ersten Male entlud. Als
er 1387 wieder ins Reich kam. ist bereits von seiner Absetzung die Rede, die
Gefahr treibt ihn zur Annäherung an die Städte.
Die Entscheidung der hier in ihrem Anfang und Wachsthum skizzirten
Dinge hat der Verfasser dem zweiten Bande vorbehalten. Der erste enthält
sonst noch höchst interessante Kapitel über den westfälischen Landfrieden und
die Verhältnisse im nordwestlichen Deutschland, die auch als völlig neu zu
bezeichnen sind, und eine sehr sorgfältige Darlegung des Antheils, den Wen¬
zel an der großen Politik nahm. Der englisch-französische Gegensatz, die
Thronfolge seines Bruders Sigismund in Ungarn, die Verwicklungen in Ita¬
lien, das in alle Verhältnisse eingreifende Schisma der Kirche sind große und
schwierige Fragen, in denen Wenzel überall mehr im Interesse seines Hauses
als des Reiches handelnd auftritt. Doch ihnen nachzugehen, gehört nicht zum
Zweck dieser Zeilen, so sehr auch das Verdienst des Verfassers gerade darum
anzuerkennen ist, weil diese Beziehungen hier zum ersten Male im großen,
fast ganz Europa umfassenden Zusammenhange dargestellt sind. Hier aber
handelte es sich nur darum auf die Erscheinungen und Vorgänge im Reiche
hinzuweisen, die das Charakteristische der Zeit ausmachen und das nationale
Interesse in erster Reihe in Anspruch nehmen. Bon ihrer Darstellung wird
doch, irren wir nicht, der Erfolg des Werkes abhängen, wenn es dem Ver¬
fasser gelingt, es in nicht allzu großen Pausen weiterzuführen; bis zur Voll-
endung bildet es eine sehr stattliche Lebensaufgabe. Die Darstellung ist na¬
türlich und lebendig, sie geht frisch fort und trägt kein Pathos in eine Zeit
hinein, die dessen entbehrt, sie verräth eine rüstige Kraft. Mit nicht geringem
Geschick sind die zahlreichen Fäden bloßgelegt, die scheinbar völlig verwirrend
in einander laufen, aber sie schießen auch zu einem Gewebe wieder zusammen.
Möge es dem Buche zum guten Omen gereichen, daß es in demselben Verlage
erscheint, aus dem Giesebrecht's Geschichte der deutschen Kaiserzeit hervorge¬
gangen ist. Aber wozu die lateinischen Lettern?
Die Abgeordneten haben sich in sämmtlichen Sitzungen der vergangenen
Woche mit der ersten Berathung der vier Gesetze zur Reform der Staatsver¬
waltung beschäftigt. Die Discussion zerfiel in drei Theile, sofern zuerst die
beiden Gesetze über die Provinzialordnung und über die Bildung der Verwal¬
tungsgerichte in eine Berathung zusammengefaßt, alsdann das Gesetz über
die Bildung der Provinz Berlin und drittens das sogenannte Dotationsgesetz
je in einer eigenen Berathung vorgenommen wurden. Am Schluß des ersten
Theiles der Berathung schob sich noch die Discussion und Beschlußfassung
über einen Antrag des Abgeordneten Virchow dazwischen, dahingehend, es solle
die Staatsregierung ersucht werden, noch in dieser Session ein Gesetz zur
Ausdehnung der Verwaltungsreform auf die Provinzen Rheinland und West¬
falen vorzulegen.
Der Gegenstand der Verhandlungen dieser Woche ist vielleicht der größte,
der eine preußische Landesvertretung jemals in normalen Zeiten, im Laufe ge¬
setzlicher Fortentwicklung beschäftigen kann. Wir können durchaus nicht sagen,
daß die Discussion auf der Höhe ihrer Aufgabe stand, ohne daraus übrigens
eine Anklage gegen irgend Jemand schöpfen zu wollen. Bergleicht man die
in Rede stehende Discussion mit der des Reichstages über das Bankgesetz, so
fällt der Vergleich durchweg zu Gunsten der letzteren aus, ovschon, oder viel¬
leicht grade weil der Gegenstand des Abgeordnetenhauses der weitaus bedeu¬
tendere war. Es wäre indeß ganz irrig, den Unterschied etwa aus der gerin¬
geren Befähigung des Abgeordnetenhauses herleiten zu wollen. Der Haupt¬
grund des Unterschiedes ist vielmehr der, daß bei dem Bankgesetz ein dringen-
des Bedürfniß mit zwingender Klarheit am Horizonte stand und das Durch-
'
einander der Meinungen beleuchtete. In einem solchen Licht ordnet sich bei
gutem Willen auch eine bunte Verwirrung. Ein so dringendes Bedürfniß
liegt bei der Berwaltungsreform nicht vor. Nicht als ob wir die Heilsamkeit
und Nothwendigkeit des Reformwerkes leugnen wollten, aber es ist doch ein
gewaltiger Unterschied, ob das Wort einer Lage lautet: „Wenn du heute nicht
vorbauest, ist dein Haus morgen weggespült/' oder ob es lautet: „Wenn du
dein Haus nicht umbauest, wird es immer baufälliger werden, immer unbe¬
quemer zu bewohnen, und nach Jahren werden Wind und Regen überall
hereindringen." — Wenn der Umbau nicht so dringend ist, dann giebt es
eine Menge schöne Baupläne, dann hat die Theorie, diese erste Schöpferin
der That, freies Spiel, so daß sie vor Entwürfen nicht zum Thun kommt.
Zum Thun gehört außer der theoretischen Erfindung entweder eine äußere
Nothwendigkeit oder eine so vollendete Klarheit und Sicherheit der Theorie,
daß über die That kein Zweifel bleibt.
Bei der Berwaltungsreform befinden wir uns in keinem dieser Fälle.
Eine zwingende Nothwendigkeit ist augenblicklich noch nicht vorhanden, und
die Theorie ist noch bei weitem nicht abgeklärt. In solchem Fall ist es in
der Ordnung, daß das Suchen eine längere Zeit in Anspruch nimmt, und
unsererseits können wir nur die bereits ausgesprochene Meinung wiederholen, daß
es kein Schaden ist, wenn die Reformgesetze in dieser Session noch nicht zu
Stande kommen. Verloren werden die Früchte der Discussion darum doch
nicht sein.
Aus dem ersten Theil der Discussion, welcher die beiden Gesetzentwürfe
über die Provinzialordnung und die Verwaltungsgerichte nebst dem Antrag
Virchow umfaßte, sind zwei Punkte hauptsächlich hervorzuheben. Der erste,
übrigens sehr ungenügend erörterte Punkt betrifft die Beibehaltung der jetzigen
Provinzen. Die meisten Redner waren für den Wegfall der Bezirksregierun¬
gen, sowohl in ihrer jetzigen collegialischen Gestalt, als in der nach dem neuen
Entwurf ihnen zu gebenden bureaukratischen Gestalt. Aber die meisten
Redner glaubten, das ließe sich unter Beibehaltung der jetzigen großen Pro¬
vinzen machen. Andere Redner, welche die Meinung verfochten, es lasse sich
dies nicht machen, erklärten darum die Beibehaltung der Regierungsbezirke
für nöthig. Die wahre Nothwendigkeit, kleinere Provinzen zu machen, trat
kaum hervor. Nur die eine oder die andere allzugroße Provinz wollte der
eine oder der andere Redner allenfalls mit der Zeit getheilt haben. Die echt¬
deutsche, obwohl in Oestreich erfundene, höchst schädliche theoretische Mißge¬
burt der „historisch-politischen Individualitäten" präsentirte sich im Abge¬
ordnetenhaus, was darum nicht minder unerfreulich ist, weil es vorauszusehen
war. Der Abgeordnete Miquel. dessen Talent und richtiger Blick sich nicht
selten Anerkennung gewinnen, war der Ceremonienmeister, der die „historisch-
politischen Individualitäten" einführte. Der treffliche Abgeordnete vergaß,
daß auch ein mißwachsenes Glied am lebendigen Leibe unter der Hand des
Chirurgen erbebt. So ist es in einem lebendigen Volke mit künstlichen Staats¬
und Provinzial-Schöpfungen mißlungenster Art. Man darf aber daraus
nicht schließen, daß der Mißwachs lebensfähig ist, weil zur Zeit ein verküm¬
mertes Leben in ihm pulsirt. Wenn man ihn fortwuchern läßt, wird er viel¬
mehr den ganzen Organismus aufs Tiefste schädigen. Herr Mrchow wies,
denn auch gegen Miquel mit Glück nach, daß an den historisch - politischen
Individualitäten nichts sei. Aber höchst unglücklicherweise gelangte er zu dem
Nachsatz, daß man, wenn nicht auf Grundlage der Historie, so doch auf irgend
einer rationellen Grundlage in Deutschland möglichst viel politische Indivi¬
dualitäten schaffen müsse, auf daß Deutschland ein wahrer Bundesstaat werde
und die unbequeme preußische Monarchie verschwinde. Genau dahin wollte
auch Miquel. Nur suchte er historisch zu motiviren, was Mrchow bloß doc-
trinell zu motiviren fand. Braver Doctrinär, müssen wir dennoch sagen, der
keine Bundesgenossenschaft annimmt, die nicht auf dem richtigen Grunde be¬
ruht! Im übrigen bewahre uns der Himmel vor den Wünschen der beiden
Herren sammt ihren Motiven! Sie würden beide uns dazu helfen, das deutsche
Reich seines Kernes zu berauben und es in Schleim zu verwandeln, den die
Fluth in alle vier Winde zerstreut.
Man sieht, was in dieser Liebhaberei für die großen Provinzen steckt:
nicht die Ueberzeugung von ihrer verwaltungstechnischen Zweckmäßigkeit, son¬
dern allerlei Zukunftsgedanken für die Gestaltung des deutschen Reiches, bald
dilettantischer, bald tendenziöser Natur. Ein Abgeordneter, der von solchen
Zukunftsgedanken wohl am meisten entfernt ist, nämlich Gneist, wollte doch
auch die jetzigen Provinzen beibehalten, um nicht auf einmal zu radical zu
Verfahren. Hauptsächlich wendete er sich jedoch dagegen, die ganze Arbeit der
Regierungsbezirke den jetzigen Provinzialbehörden aufzupacken. Den aus dem
Zweck der Reform wahrhaft hervorgehenden Gedanken einer Vermehrung der
Provinzen berührte auch er nur ganz ungenügend.
Der zweite Punkt, den wir aus dem ersten Theil der Discussion hervor¬
zuheben haben, betraf die Ausdehnung der Verwaltungsreform, nicht etwa
im Laufe der Zeiten, sondern womöglich noch im Laufe dieser Session auf
Rheinland und Westfalen. Der erwähnte, darauf bezügliche Antrag des
Abgeordneten Virchow fand mit ganz überwiegender Majorität Annahme.
Aber nicht erst bei der Discussion dieses Antrages, sondern schon in der Er¬
örterung der Provinzialordnung wurde die Frage verhandelt. Man muß sich
erinnern, daß die Kreisordnung von 1872 bis jetzt nur in fünf der alten
Provinzen des preußischen Staates gilt. Ausgenommen von der Geltung
dieser Reform wurde die Provinz Posen wegen ihrer nationalen Verhältnisse.
wurden die Provinzen Schleswig-Holstein, Hannover und Hessen-Nassau
wegen ihrer von den altpreußischen Verwaltungseinrichtungen, in welche die
neue Kreisordnung sich einfügen ließ, gänzlich abweichenden Verwaltungsfor¬
men und auch wegen der ungleichartigen socialen Verhältnisse. Ausgenommen
wurden endlich die Provinzen Rheinland und Westfalen, wo seit der franzö¬
sischen Herrschaft die Communalverhältnifse auf eine von den altländischen
ganz abweichende Basis gestellt waren, eine Basis, die von den verschiedenen
Gemeindeordnungen und Kreisordnungen der östlichen Provinzen niemals
berührt worden ist. Bei dem Erlaß der Kreisordnung von 1872 war man
indeß einig, daß die Reform nach und nach auf die ganze Monarchie ausge¬
dehnt werden müsse. Nur wollte man auf dem am meisten geeigneten Boden
der altländischen Provinzen zunächst versuchsweise vorgehen. Auch hätte die
sofortige Uebertragung auf die neuen Provinzen weit größere Vorarbeiten und
Umwälzungen erfordert, als in den alten Provinzen erforderlich gewesen. Bei
den gegenwärtigen Vorlagen nun handelte es sich darum, das mit der
Kreisordnung für die alten Provinzen begonnene Reformwerk vorerst für diese
abzuschließen. Die Majorität des Abgeordnetenhauses scheint indeß der Mei¬
nung zu sein, es sei besser, diesen Abschluß nicht vorzunehmen, wenn sich mit
demselben nicht die Ausdehung der ganzen Reform, wenn nicht auf die ganze
Monarchie, doch wenigstens auf Rheinland und Westfalen in einem und dem¬
selben Moment verbinden lasse. Wir sagen „scheint der Meinung zu sein",
trotz der anscheinend so unzweideutigen Abstimmung über den Antrag Virchow,
wobei das Haus mit 292 gegen 28 Stimmen die Aufforderung bejahte: die
Regierung möge die volle Reform noch in dieser Session durch entsprechende
Gesetzvorlagen auf Rheinland und Westfalen ausdehnen. Wir glauben indeß,
daß diese große Majorität nicht der Meinung ist, die übrigen Vorlagen ab¬
zulehnen, wenn die weiteren gewünschten Vorlagen nicht in dieser Session er¬
folgen. Wir glauben, daß die große Majorität für den Antrag Virchow
sich überhaupt nur gebildet hat im Gegensatz zu der mit großem Nachdruck
von bedeutender Seite »erfochtenen Ansicht, die Ausdehnung der Reform auf
die Rheinprovinz sei von großer Gefahr und deshalb auf unbestimmte Zeit
zu vertagen.
Der Minister des Innern, der den Aufschub der Reform für die andern
Provinzen vertheidigte, ging dabei vornehmlich nur von dem unwiderleglicher
Satz aus, daß die Riesenarbeit dieser Reform weder von der Negierung noch
von dem Landtag auf einmal bewältigt werden könne. Er sagte in seiner
witzigen Weise: Ich sehe nicht ein, warum sich die Herren nach einer zum
Ekel reich besetzten Tafel sehnen, von der sie im voraus wissen, daß sie sie
nicht aufessen werden. In der That können die Abgeordneten nicht einmal
wissen, ob es ihnen gelingt, die gegenwärtigen Vorlagen in dieser Session
ZU erledigen. Wenn nun noch, ganz abgesehen von der für die Negierung
nicht zu überwältigenden Arbeitslast, der höchst schwierige Neubau der Com-
munalverhältnisse in den Westprovinzen hinzutreten sollte, so könnte sich der
Landtag nur gleich auf 2 — 3 Jahr in Permanenz erklären.
Wir glauben freilich, um hier unsere Ansicht einzuschieben, daß die stück¬
weise Ausführung der Reform, d. h. die Theilung der Gesetzgebung in Stück¬
arbeit, ebenso ihre großen Nachtheile hat. Das Richtige wäre, einen großen
einheitlichen Verwaltungsplan in Ortsgemeinde, Kreis, Provinz und Staats-
Centrum im Ganzen aufstellen zu lassen und auf diese Arbeit 4 — 5 Jahre
zu verwenden, für welche nach Art der Zwischencommission für die Reichs
iustizgesetze eine eigene Commission unter dem Vorsitz des Ministers des Innern
aus Landtagsmitgliedern und Staatsbeamten zu bilden wäre. Es ist aber
leider nicht zu verkennen, daß das rechte Vertrauen und die rechte Klarheit
über den gewaltigen Grundgedanken der ins Werk zu setzenden Reform, der
auch ihre Einheitlichkeit bedingt, nirgends vorhanden- ist. Die theoretische
Klarheit über diesen Grundgedanken besitzt ja freilich der Schöpfer derselben
Rudolph Gneist und er hat auch bei der diesmaligen Verhandlung Anlaß
gefunden, ihn theoretisch wieder in das klarste Licht zu bringen. Es scheint
°in undurchbrechliches Gesetz der Vertheilung geistiger Anlagen zu sein, daß
theoretische und practische Productivitär bis auf verschwindende Ausnahmen
nicht in demselben Kopfe verbunden sind. Obwohl die Praxis nichts anderes
'se, als die Verwirklichung der Theorie, und obwohl das, was man außerdem
Praxis nennt, nichts taugt oder eine untergeordnete Handlangerarbeit ist, so
wuß die wahre schöpferische Praxis doch ihren eigenen Anlauf nehmen von
d"n Punkte, wo die theoretische Arbeit bereits gethan ist. Gneist ist den
poetischen Verhältnissen gegenüber bald zu zaghaft, bald idealisirt er Bestehen¬
de, bald übertreibt er die Wichtigkeit dessen, was seiner Theorie scheinbar
entgegensteht.
Die Reformgesetzgebung ist also auf den Weg der Stückarbeit geleitet.
Vielleicht, daß er doch noch verlassen wird, wenn in der diesmaligen Session
"indes zu Stande kommt. Der Minister des Innern aber sprach sich für die
Fortsetzung der Stückarbeit aus, mit dem allergrößten Rechte: gegenüber der
beinah thörichten Forderung, das Ganze jetzt auf einmal vorzunehmen, und
^it nicht minderem Rechte gegenüber der Forderung, wenigstens Rheinland
und Westfalen jetzt sogleich einzubeziehen. Außer dem durchschlagenden Grunde,
^ß die Arbeit viel zu groß ist um jetzt — anstatt nach drei bis fünf Jahren
^ auf einmal unternommen zu werden, fügte er halb beiläufig hinzu.
Selbstverwaltungsfrage sei eine Machtfrage. Nicht gerade sehr deutlich
" die Erläuterung, die Selbstverwaltung lasse sich nur einführen, wo das
-gehren nach der mit ihr verbundenen Macht vorhanden. Auf der Kraft
dieses Begehrens beruhe die englische Selbstverwaltung, Daraus zog nun der
Minister den Schluß, die Selbstverwaltung könne nur eingeführt werden,
wo in der Bevölkerung das kräftige Begehren danach vorhanden sei. nicht
aber durch bloße Auflegung von Staatswegen.
In dem, was Graf Eulenburg spricht, wird man niemals den bon sons
vermissen. Aber was er hier sagte, war das diametrale Gegentheil von dem
Gedanken Gneist's, der unermüdlich gelehrt hat: die Selbstverwaltung ist zu¬
nächst kein Genuß der Macht, sondern Last, Arbeit und Verantwortlichkeit;
erst an eine langwierige schwere Pflichterfüllung knüpft sich Macht, aber nicht
gegen den Staat, sondern für den Staat durch die Erziehung der Bürger
zum Staatssinn und Staatsdienst. Auf Tod und Leben bekämpft Gneist die
Ansicht, daß man den Staat in die Hände der bürgerlichen Interessen geben
und dort zerbröckeln lassen könne. Wir unternehmen es nicht, die Brücke
über den Gegensatz dieser Ansichten zu schlagen, ohne sie hier unmöglich zu
erklären. Für den Verlauf der in Rede stehenden Debatte blieb dieser Gegen¬
satz übrigens ohne Wirkung. Aber ein noch weit mehr auffallender Gegensatz
trat bei den Ausführungen des Abg. Heinrich v. Sybel hervor. Dieser ver¬
focht den Ausschluß der Rheinprovinz von der Reform wegen der mit der Ein¬
führung der Reform verbundenen politischen Gefahr. Der Minister des Innern
also hatte gesagt: wir können die Selbstverwaltung nicht dorthin ausdehnen,
wo man die Macht, die sie giebt, nicht begehrt. Heinrich von Sybel sagte:
wir dürfen die Selbstverwaltung dorthin nicht ausdehnen, wo man die Macht-
die sie giebt, leidenschaftlich begehrt, um sie gegen den Staat zu gebrauchen-
Das waren noch einmal zwei diametral auseinanderlaufende Urtheile, diesmal
aber über einen factischen Zustand.¬
Sybel's Behauptung von der politischen Gefährlichkeit der Selbstver
waltung in der Rheinprovinz fand den lebhaftesten Widerspruch, nach unserem
ebenso lebhaften Eindruck aber durchaus nicht die richtige Widerlegung. Nicht
immer kann eine Maßregel unterlassen werden, weil sie gefährlich ist, denn
die Unterlassung ist zuweilen noch gefährlicher. Dies scheint uns das Argu¬
ment zu sein, welches hier den Ausschlag geben muß. Die Ableugnung der
Gefahr dagegen, wie sie versucht wurde, scheint uns urtheilslos. Sybel hatte
allerdings die Wirkung seiner Ausführungen sich aufs äußerste erschwert
durch eine Beschränkung, die er. wer weiß warum, für factisch nützlich halten
mochte. Er sprach nämlich nur von den Gefahren der Socialdemokratie in
der Rheinprovinz, welche doch, trotz ihrer localen Stärke kaum in der Lage
ist, sich der Selbstverwaltung zu bemächtigen, wenn dieselbe richtig construirt
wird. Die eigentliche wahre Gefahr in der Rheinprovinz ist, daß dort der
Ultramontanismus sich der Selbstverwaltung bemächtigt. Und dagegen
kann keine Construction der letzteren schützen. Die einzige Hoffnung ist, daß
gerade auf dem Gebiete der Selbstverwaltung die Emancipation der rheini¬
schen Bevölkerung von ihrem Clerus sich vollziehen dürfte. Diese Hoffnung
rann täuschen, aber der Versuch muß gemacht werden. Die unzweifelhaft in
der Rheinprovinz vorhandenen Elemente, in denen die Staatsgesinnung lebendig
es, sehnen sich nach der Selbstverwaltung als dem geeignetsten Mittel der
Propaganda ihrer Gesinnung. Die Art der Argumentation aber, welche im
Abgeordnetenhaus gegen Sybel meistens beliebt wurde, war sehr oberflächlich
und zeigte nichts weniger als politische Intelligenz. So wenn gesagt wurde,
man müsse Herrn Windthorst nicht die Genugthuung gewähren, ihn als
<?remse an den Reformwagen zu spannen. Besser war die Aeußerung des¬
selben Redners, daß, wenn die Selbstverwaltung in der Rheinprovinz zur
Anarchie führe, immer noch der Belagerungszustand übrig bleibe. Wenn
MMch dieses Resultat mit Wahrscheinlichkeit vorauszusehen wäre, so behaupten
wir gegen den fortschrittlichen Urheber dieser Aeußerung dennoch, daß man
^ nicht daraus ankommen lassen dürfte.
. Am größten in dieser Debatte war wieder Herr Mrchow. Er sagte: in
-pojm sei ^ immerhin bedenklich, der nationalen Opposition die Waffe der
Selbstverwaltung in die Hand zu geben. Denn dort sei die Tendenz vorhän¬
gn an ein wiederhergestelltes Polen oder auch an ein panslavistisches Ru߬
end zu fallen. Aber die Rheinlande könnten doch nicht daran denken, an
ven Kirchenstaat zu fallen! — Was doch die Blindheit den Menschen glück-
M) machen kann! Der Mann hat wirklich vergessen, und darum sieht er
Zucht mehr, denn die Sinne hängen vom Denken ab, daß im Westen von
Deutschland ein Land liegt, welches Frankreich heißt, welches seit Jahrhun-
erten nach den Uferlandschaften des Rheines begehrt, welches heutzutage
» .ultramontan ist und sehr geliebt von der ultramontanen Partei, der man
möglicherweise die Verwaltung der Rheinprovinz mit der jetzt zu beschließenden
deform in die Hände liefert, wenn man nicht sehr umsichtig zu Werke geht.
. Der Ausspruch Sybel's ist unbedingt richtig, daß die Kreisordnung viel
per in Posen, als am Rhein eingeführt werden könne. Es mag dennochso! -p-^so.l, ni» ^t-^et", clNHc>u^»,l toe!,vru <.vnnr. vL-v »tUH vctlltvu,)
> >n, daß man sich zur Einführung entschließen muß. Aber es wäre besser
si/ ^?uze Verwaltungsreform würde aus einem Gusse gemacht und so, daß
> die Bürger zum Staate erzieht, nirgends aber der Gefahr erheblichen
^purana läßt, daß entfremdete Bürger die Mitthätigkeit in der Verwaltung
Sum Verderben des Staates mißbrauchen.
Qer Bericht über die Besprechung der beiden Gesetze über die Provinz
hielt ""^ ^ Provinzialdotationen muß dem nächsten Briefe aufgespart
ven
^ Folgende zwei Schriftstücke dürften nicht ohne Interesse gelesen werden.
erste, mit Friedrich's des Großen eigener Unterschrift, zeigt in seinem
Wappen und scharfen Tone ganz des großen Königs Art. Es stammt aus°er Zeit, wo er die Reform der Rechtspflege eben wieder aufgenommen hatte,warmer war kurz zuvor an Stelle des Freiherrn von Fürst zum GroMnzterernannt worden. Der zweite Brief hat durch den gemüthlichen Ton An pruch"uf Theilnahme, er ist von Anfang bis zu Ende von des Kömgs eigener
I"ut auf sehr starkes Papier in Quartformat geschrieben. Leider war derAdressat nicht mehr zu ermitteln.
nun mehro bei der Ober Rechen Cammer revidiret worden, so hat mir der
Geheime Finanz Rath Roben den Zustand derselben, wie er solchen befunden,
angezeiget. Ich ersehe aus denen mit eingereichten Nachweisungen mit Be¬
fremden, daß ohngeachtet der großen Traetaments Summen, die sowohl aus
meinen als auch aus andern Cassen dahin fließen, doch noch aus den Spor-
tuln so viele Tractamenter dazugenommen werden. Ich begreife gar nicht,
wozu das nöthig ist, und was sie überdem mit den vielen Capitalien, deren
alleyne bei den schlesischen Ober Amts Regierungen an 83/N Thaler sich be¬
finden, machen wollen. Die Leute haben ja alle ihre Tractamenter schon,
und wenn sie deshalben nur Sporteln nehmen, um neue Tractamenter draus
zu geben und ein Haufen neue Leute anzusetzen, so wird das sein' Tage kein
Ende nehmen. Es müssen sich also sehr viele überflüssige Leute bet den Justiz
collegiis befinden, wovon füglich welche abgehen können. Welches Ihr näher
untersuchen werdet. Wobei Ich Euch denn zu erkennen gebe, daß es wegen
einer Pflantz Schule hier nichts ist. Solche Leute, die in den Provinzler ar¬
beiten und oxa>etiwä<z und Iig.bMt6 haben, die kann man hier ins Tribunal
setzen, aber keine junge Leute von 18 und 20 Jahren; das ist nichts; weil
das Obergericht über alles ist. Wornach Ihr Euch zu achten. Sodann ver¬
lange Ich auch eine monatliche Liste von sämmtlichen Justizbedienten, und
wieviel ein Jeder von ihnen an Tractament hat. Ihr habt Euch also darüber
mit dem Geheimen Rath Roben zusammen zu thun und mit zu besorgen, day
ein dergleichen namentliches Verzeichniß accurat angefertigt werde. Ich on
Euer Wohl affectionirter König.
Berlin den 18. Januar 1780.
An den Groß Canzler v. Carmer.
Paretz 14. May 1826.
Mein bester Graf. Hier schicke ich Ihnen, mit der Bitte ihn mir zurn«-
zustellen, einen sehr originellen Brief der alten Frau v. Mycielska aus Posen,
welchen ich durch Prinzessin Luise erhalten. Sie werden sehen, der langen
Rede kurzer Sinn ist, ich soll Sie bitten, einer Rechts Angelegenheit ^
schleunigung und Protckzion zu gewähren. Die Angelegenheit aber ist ni>
sehr aus dem Gedächtniß geschwunden, ich würde Ihnen sehr dankbar seyn,
wenn Sie mir auf einer halben Seite Ursach und Inhalt ihres Verlangen
und Plaidirens niederschreiben lassen wollten. Uebrigens ist die Frau voi
Mycielska eine bejahrte, hartgeprüfte Pohlnische Dame und eine Gattung
alter Freundinn und Gönnerinn meiner Wenigkeit. Es würde mich allerding
herzlich freuen, wenn ich ihr nützlich seyn könnte. — Auf Wiedersehen «in
Mittwoch.
In dein Artikel „Plaudereien uns London" von Alfred Vienn S. 22,'! Z. > > von ode
ist Heinrich VI. statt Heinrich III. gedruckt. __
Während des französischen Krieges im Herbste 1870 wurde in den Zei¬
tungen von einer Begegnung erzählt, welche in Wien zwischen dem großen
Geschichtsschreiber und Staatsmann der Franzosen. Thiers und dem Fürsten
unserer deutschen Geschichtswissenschaft Leopold von R a n k e stattgefunden haben
sollte. Thiers habe da die bekannte sonderbare Auffassung der meisten Fran-
zosen vertreten, daß für die Deutschen nach dem Sturze Napoleon's kein
Grund mehr vorhanden sei. den Krieg gegen Frankreich fortzusetzen; er habe
zuletzt ausgerufen: „Mein Gott! gegen wen führen Sie nun eigentlich Ihren
Krieg?"; und Ranke soll darauf ganz kurz geantwortet haben: „Gegen Lud¬
wig XIV."
Ob dieser Zeitungsbericht den Verlauf des Gespräches genau wiederge¬
geben, weiß ich nicht zu sagen; jedenfalls aber bezeichnet jene Antwort mit
meisterhafter Schlagfertigkeit und in denkbarster Kürze den eigentlichen Gegner,
gegen den wir 1870 und 1871 gekämpft. Der Nationalcharakter der Fran¬
zosen mit seinen Licht- und seinen Schattenseiten ist in Ludwig XIV. ver¬
körpert, in ihm sind die innersten Tendenzen der Nation Fleisch geworden; —
gegen die nationale Ueberhebung und Eitelkeit, gegen die Herrschsucht jenes
Volkes, das es als sein natürliches Recht ansieht, die Nachbarvölker in
seiner direkten oder indirekten Abhängigkeit zu erhalten — gegen diese Be¬
strebungen Ludwig's XIV. und aller seiner Nachfolger bis zur heutigen
Stunde haben unsere Heere 1870 geschlagen.
In denselben Juli-Tagen 1870, in denen die Franzosen den Krieg mit
uns wieder einmal vom Zaune gebrochen, ist uns noch von anderer Seite
ein Krieg angesagt worden, ein Krieg der heute noch nicht beendigt ist, den
aber zu ähnlichem Abschluß zu führen für uns eine Nothwendigkeit ist. Das
ist der Kampf des zu neuem Lebenseifer erwachten mittelalterlichen Papst¬
thums wider den Staat und das geistige Sein der modernen germanischen
Welt. Es ist ein Krieg gewaltigen Inhaltes, folgenschwerster Bedeutung,
dessen Tragweite für die Menschheit nicht leicht überschätzt werden könnte.
Wenn man die Natur dieses geistigen Kampfes richtig verstehen will,
muß man sich klar darüber sein, welches der Gegner ist, der uns mit diesem
Angriffe überzogen; es scheinen ja wirklich heute viele ängstliche Gemüther
durch die Frage bewegt: sind wir denn wirklich mit der katholischen Religion
und Kirche, der ein großer Theil unserer Mitbürger angehört, verfeindet oder
ist es nur der alte Mann im Vatikan, gegen den wir streiten? Die erwähnte
Aeußerung Ranke's kan-n uns zum Vorbilde dienen bei der richtigen Be¬
antwortung dieser Frage. Nicht gegen die katholische Religion, nicht gegen
Pio Nouv, nein gegen Gregor VII. ist unser Kampf gewendet.
Unser Staat wehrt von sich ab die Tendenzen einer allmächtigen und
absoluten Priesterherrschaft, wie sie seit Gregor VII. das römische Papstthum
in Anspruch genommen. Das Urbild des Papstthums ist Gregor VII., er
hat das Ideal aufgestellt und die Forderungen angemeldet, welche seine Nach¬
folger zu realisiren unternommen. Und dies Papstthum Gregor's VII. hat
in der That in den Jahrhunderten des Mittelalters über die Menschen ge¬
herrscht; es hat alle Lebensbeziehungen der Menschen unter seiner Aufsicht
und seinem Gebote gehalten; es hat nicht allein Kirche und Religion der
Menschen geleitet, nein es hat auch das Staatsleben und das geistige Sein,
es hat Wissenschaft und Künste von sich abhängig gemacht: der Papst ist
im Mittelalter der Herr der Welt gewesen.
Es ist bekannt, daß dies Verhältniß nicht immer Bestand gehabt hat.
Am Ende des Mittelalters wurde die Stellung des Papstthums vielfach er¬
schüttert, und am Beginn der Neuzeit hat das große historische Ereigniß, das
man die Reformation zu nennen pflegt, die Mehrzahl der germanischen Seelen
aus der Abhängigkeit das Papstthumes befreiet und überhaupt die Einheit
der christlichen Kirche gesprengt. Damit begann eine neue Epoche der Welt¬
geschichte: der Geist der modernen Zeit trat ins Leben in vollstem Gegensatze,
in entschiedenstem Widerspruche zum Papstthume des Mittelalters. Und so
lange sich die neuen Bildungen und neuen Ideen, die der Reformation ihren
Ursprung verdankten, nur an irgend einer Stelle der Welt behaupteten und
aufrecht erhielten, war eine Rückkehr des Mittelalters unmöglich. Und mochte
nach der Reformation auch noch so viele Siege und Erfolge und Herstellungen
das Papstthum erringen, auf seinen mittelalterlichen Standpunkt war es ihm
doch nicht gegeben vollständig zurückzukehren. Der modernen Welt ist sogar
lange Zeit alle Besorgniß entschwunden gewesen, daß ein so antiquirtes In¬
stitut wie das Papstthum wieder neue Bedeutung erlangen könnte.
Heute erleben wir es zu vielseitiger Ueberraschung, wie das römische "
Kirchenthum seine Kräfte wieder zusammengenommen hat; mit zäher Conse-
quenz hat es die verschiedenartigsten Mittel zu einzelnen Erfolgen verwerthet
und ist, von einer Errungenschaft zur andern vorschreitend, heute endlich wieder
dahin gelangt die mittelalterlichen Ideen absoluter Papstherrschaft über die
Welt aufs neue aus dem Mittelalter heraufzuführen und aufs neue einen
Kampf gegen alle Prinzipien und Ideen der modernen Welt zu wagen.
Und wie einst die deutsche Reformation die entscheidende Wendung in
der Geschichte der Welt herbeigeführt, so ist es auch heute wiederum Deutsch¬
land, das als der eigentliche und wesentliche Gegner des Papstthumes den
geistigen Kampf unserer Gegenwart anführt.
Heute stehen wir erst in den Anfängen des Krieges, zu welchem das
Papstthum mit seinen mittelalterlichen Prinzipien den Geist der Neuzeit her¬
ausgefordert hat: — wann der Krieg zu Ende gebracht wird, darüber eine
Vermuthung zu äußern wäre vermessen; (es wäre sicher nicht gut, wenn vor¬
zeitig der Kampf abgebrochen würde) — aber wie der Krieg enden wird, das
darf man allerdings heute mit einiger Bestimmtheit aussprechen: er wird
enden, wie er enden muß, d. h. mit einer neuen Niederlage des mittelalter¬
lichen Papstthumes: wer an diesem Ausgange zweifelt, der erklärt die ganze
Geschichte der letzten Jahrhunderte für eine einzige Lüge.
Niemand wird sich darüber wundern, daß heute in diesem Kampfe gegen
Rom der gläubige Protestant sich Luther zum Vorkämpfer auswählt und
am Beispiele Luther's seine eigene Energie zu stählen sich vorsetzt. Der Stand¬
punkt des Historikers ist ein anderer, als der des gläubigen Protestanten; vom
Gegensatz katholischer und protestantischer Parteiauffassungen ist er gleichmäßig
entfernt. Aber auch die objektive Anschauung des Historikers wird die Refor¬
mation Luther's als einen der großen weltgeschichtlichen Fortschritte, als den
Markstein des Mittelalters und der Neuzeit, als die Wiege der Neuzeit ansehen.
Die erste entscheidende Niederlage des mittelalterlichen Papstthumes war
die Reformation Luther's in Deutschland. Es mag gestattet sein unter diesem
Gesichtspunkt sie hier einer kurzen Erörterung zu unterwerfen. Es gilt die
eigenthümlichen Merkmale der Reformation Luther's zu entwickeln, Luther's
Bestrebungen und Thaten zu vergleichen mit den anderen Versuchen einer
Kirchenreformation, welche am Ausgang des Mittelalters im Gegensatz zum
Papstthum sich erhoben: durch eine solche vergleichende Charakteristik wird grade
die prinzipielle Bedeutung der deutschen Kirchenreformation in deutlicheres
Licht gerückt werden.
Die Geschichte unterscheidet in der Entwicklung der mittelalterlichen Kirche
/und des Papstthumes verschiedene Phasen und Epochen. Was von priester¬
lichen und geistlichen Tendenzen vorher schon im Keime vorhanden gewesen,
entwickelte Gregor VII. zu voller Bedeutung. Er und seine Nachfolger haben
durch zwei Jahrhunderte hindurch das Papstthum zum Centrum der Geschichte
gemacht.
Eine objektive historische Betrachtung der kirchlichen und päpstlichen Ge¬
schichte wird zu dem Urtheile gelangen: wenn man die Prämissen der kirch¬
lichen das Mittelalter beherrschenden und erfüllenden Lehre zugiebt, wenn
man vor allem die Kirche als die nothwendige von Gott gewollte und einge¬
setzte Heilsanstalt, als die nothwendige Vermittlerin zwischen Gott und den
Menschen ansieht, dann hat die Papstkirche des Mittelalters, wie sie durch
Gregor VII. und die Päpste seines Geistes ausgestaltet wurde, die Logik ge¬
schichtlicher Entwicklung für sich. Der kirchliche Zustand der mittleren Jahr¬
hunderte des Mittelalters ist dann die Blume, die aus der einmal gepflanz¬
ten Wurzel entsprossen.
Darauf ist aber eine Periode gekommen, in der die vollständige Entfal¬
tung jener Principien zu übleren Folgen geführt. Nachdem der Papst als
das Haupt der Kirche über alle Organe der Kirche absolute Macht sich erwor¬
ben und die ganze Kirche von seinem Winke abhängig gemacht, begnügte er
sich nicht mehr mit der Leitung und Regierung der geistlichen Angelegenheiten
der Welt im Allgemeinen, sondern er meinte auch in alle Details der Ver¬
waltung sich einmischen zu sollen. Jene Reihe von juristischen Päpsten des
14. Jahrhunderts machte nach allen Seiten hin in allen Kirchen Europas
administrative und finanzielle Befugnisse für sich geltend: die Verwaltung der
Kirche wurde in hervorragender Weise zu Geldgeschäften verwerthet. Die
Macht der Kirche als solche erstreckte sich aber nicht allein auf das, was wir
geistliche oder kirchliche Dinge nennen würden: weite Gebiete des bürgerlichen
und des staatlichen Lebens wurden von dem Einfluß der Länder beherrscht.
Und wenn nun alle diese richterlichen und ständischen Befugnisse, die von der
Kirche abhingen, direct von der Gewalt des römischen Papstes geleitet wurden
so wurde also allenthalben in Europa das Papstthum Mitherrscher im öffent¬
lichen Leben.
Eine Reaction dagegen blieb nicht aus. Das 14. Jahrhundert ist die
Epoche, in welcher in den einzelnen Kirchen Europas selbständige Staatsge¬
walten sich ausbildeten; parallel mit ihnen schloßen auch die einzelnen Landes¬
kirchen sich zu besondern Corporationen ab. Und gegenüber den sich mehren-
den und steigernden Eingriffen des Papstthumes strebte man in den einzelnen
Ländern Europas nach einer Art von Selbständigkeit der kirchlichen Verhält¬
nisse, nach einem Zustande, bei dem die Landesregierung und die Landesgeist¬
lichen die Landeskirche regieren und zu dem Papstthums nur lose Beziehungen
unterhalten sollten. Ja es war damals nach der Mitte des 14. Jahrhunderts
nahe daran, daß die allgemeine Kirche sich in Landeskirchen überhaupt theilte
und auflöste.
Daß diese Eventualität nicht eingetreten ist, dies ist das Resultat der
cvnziliaren Bestrebungen, deren Erinnerung an die Namen der Conzile von
Pisa, Constanz und Basel geknüpft.
In dem absoluten und keiner Gewalt untergeordneten römischen Bisthum
war ein Schisma ausgebrochen: 1378 erschienen zwei Päpste auf der Bühne,
jeder mit dem Anspruch, der wahre Stellvertreter Gottes zu sein; es gab kein
Mittel auf hergebrachten Wege diesen Streit zu erledigen. Als Rettungs¬
mittel in dieser Noth rief man den Gedanken des Conziles wieder wach; und
man verband damit sehr bald die weitere Idee, daß dies Conzil die Verfassung
und Ordnung der Kirche revidiren und verbessern könne. Und das Schisma
wurde auch wirklich aus der Welt geschafft, dem Zerfall der allgemeinen Kirche
in selbständige Landeskirchen vorgebeugt: Reformen in den Beziehungen
zwischen dem Papstthum und den Landeskirchen wurden mehrfach erstrebt
versucht, angebahnt; aber eine durchgreifende Aenderung, geschah nicht; und
der ConfMt, in welchen das Basler Conzil mit dem Papstthum sich zu ver¬
wickeln unklug genug war, warf alle Ansätze einer Reform wieder um. Der
Anlauf, die Kirchenverfassung auf das Conzil, statt aus das Papstthum zu
begründen, hatte nicht zum Ziel geführt: das Papstthum behauptete siegreich
das Feld.
Es ist bezeichnend für jene Zeit wie für die Methode päpstlicher Welt¬
regierung, daß die Päpste selbst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts ihre
Allmacht über die kirchlichen Organe dadurch wieder erlangt und von nun an
sich gesichert haben, daß sie mit den einzelnen Staatsregierungen über einen
gewissen Antheil derselben an der Leitung kirchlicher Angelegenheiten sich ab¬
färben: Compromisse wurden zwischen Päpsten und Fürsten geschlossen, nach
welchen diese beiden Mächte sich in die Kirchenregierung theilten; so in
Spanien, in England, in Frankreich, so aber auch in den meisten deutschen
Landesfürstenthümern. Man hat nun sehr oft jene durch die großen Conzile
des 13. Jahrhunderts erstrebte Reform der kirchlichen Zustände in Beziehung
gesetzt zu der deutschen Reformation des 16. Jahrhunderts, eine Verwandtschaft
der Tendenzen zwischen ihnen angenommen und die jüngere gleichsam als
Sprößling der älteren angesehen. Diese sehr verbreitete Ansicht halte ich
für falsch.
Die Aufgabe jener Conzile beschränkte sich vielmehr zunächst auf die Her¬
stellung der kirchlichen Einheit aus dem Schisma, — und dies ist ihnen recht
glücklich gelungen; sodann aber gingen die Conzile aus auf eine Verfassungs¬
änderung der Kirche, eine Einschränkung des päpstlichen Absolutismus: in
diesen Richtungen aber ist ein Erfolg den Conzilen nicht zu Theil geworden;
praktisch mit einiger Beschränkung durch die Mitregierung der weltlichen
Mächte, theoretisch in vollstem mittelalterlichen Umfange hat das Papstthum
seine alte Rechtsstellung neu in Besitz genommen. Nur zu leicht wird es
heute vergessen, daß jener universale Absolutismus des Papstes, 'den neuerdings
das Vatikanische Conzil der staunenden Welt als Dogma verkündigt hat,
schon einmal auf dem 5. Lateraneonzil im Dezember 1S16 mit nachdrücklichsten
Pompe als Glaubensgebot aufgestellt ist.
Der versuchte Widerspruch der Conzile gegen diese, wie ich meine, aus den
Prinzipien der Kirche sehr wohl zu rechtfertigenden Folgesätze war wirkungslos
verhallt: die co n stituti o n el le Theorie war innerhalb der katholischen
Kirche gegen den logischeren Absolutismus des Papstthums unterlegen. Und
von jenen Conzilen waren auch die Prinzipien der Kirche, es waren die Ideen,
aus denen der ganze stolze Bau der mittelalterlichen Kirche als auf seinen
Grundlagen beruhte — diese Ideen waren damals keineswegs in Frage ge¬
stellt: so lange man aber die Grundsätze der überlieferten christlichen Kirche
nicht neuer Erörterung unterwarf, so lange war es unmöglich, eine wesent¬
liche Aenderung in der päpstlichen Stellung zu schaffen.
Wir fragen: war nun nach Herstellung des alten Zustandes die Mensch¬
heit befriedigt? Nein! weshalb aber verlangte man auch jetzt noch nach einer
„Reformation der Kirche"? und welches sind jetzt noch die Dinge, die schad¬
haft erscheinen und eine Besserung erheischen?
Man erhob Klagen über die gewaltige Unsittlichkeit in der Kirche. Daß
diese Klagen sehr wohl begründete waren, wird Niemand in Abrede stellen
wollen. Die Geistlichen des 14. und 13. Jahrhunderts hatten, im Großen
und Ganzen angesehen, wenig geistlichen Charakter bewahrt. Die päpstliche
Vielregiererei, die päpstliche Befugniß in aller Welt die Geistlichen zu ernennen,
hatte grade zur Verschlechterung des sittlichen und religiösen Charakters der
einzelnen Geistlichen beigetragen. Die Bedeutung dieser Geistlichkeit aber für
das Leben der einzelnen Menschen war immer noch gewachsen; in allen wich¬
tigen Akten des individuellen Lebens spielte der Geistliche eine Rolle, auf Hoch¬
achtung aber seines Charakters durfte der Durchschnitt der damaligen Geist-
lichkeit nicht rechnen. Es hatten sich die Ansprüche und die Formen der offi¬
ziellen Kirchlichkeit ganz gewaltig gesteigert — nichts destoweniger wird das
historische Urtheil über diese Kirche des ausgehenden Mittelalters berechtigt sein
zu dem Ausspruche: daß unter aller kirchlichen Form und Pracht in der Tiefe
die Religion beschädigt oder nahezu verloren war. Im innersten Lebenskerne
war die Religiosität der Herzen vernichtet und gestört.
Für derartige Uebelstände hatte man auch damals an vielen Stellen eine
Empfindung: ernste und religiöse Geister verlangten damals eine innere Er¬
neuerung der Kirche. Man malte sich aus unsicheren und sehr bestreitbaren
Ueberlieferungen über die christliche Urzeit ein Idealbild aus von einer sitt¬
lichen Reinheit und Hoheit und Einfachheit des priesterlichen Wesens, an dem
gemessen der damalige Zustand des Clerus in den schlimmsten Farben erschei¬
nen mußte. Man tadelte die ganze aus der geschichtlichen Entwicklung ent¬
standene Beschäftigung der Geistlichen mit weltlichen Dingen als eine Ent¬
artung : man verlangte den Geistlichen allein mit geistlichen Geschäften beauf¬
tragt zu sehen. Man sprach vielfach die Ansicht aus, daß grade durch die
Concentration der Pfründenvergabung in Rom eine Verschlechterung des Clerus
veranlaßt sei. Und die Haltung Roms erweckte fortwährend neue Angriffe
und neue Beschwerden wider den Verlauf der kirchlichen Dinge.
Wie nun einmal im -15. Jahrhundert sich die Beziehungen der ganzen
Kirche zu ihrem päpstlichen Haupte gestaltet hatten, so mußte jede Modifi¬
kation im Papstthum sich für die ganze Christenheit fühlbar machen. Nach dem
Siege über die Conzile aber war das Papstthum in eine seltsame Phase seiner
.Geschichte eingetreten.
Seit dem 8. Jahrhundert war der Papst auch weltlicher Landesherr gewor¬
den, und in den Jahrhunderten des Mittelalters war der Besitz des Kirchen¬
staates von großer Bedeutung, von unzweifelhaftem Nutzen für den geistlichen
Vater der Kirche gewesen. Nachher hatte dies Verhältniß wiederholte Schwan¬
kungen und Wechsel erlitten; jetzt am Ende des 15. Jahrhunderts erhoben sich
in Italien die bestehenden territorialen Gewalten zu einer staatlicheren Auf¬
fassung ihres Berufes und ihrer Stellung, und auch der geistliche Regent des
Kirchenstaates entwickelte inmitten jenes italienischen Treibens einen neuen
Charakter als weltlicher Fürst. Jene Päpste, die den Familien Borgia, Ro-
vere, Medici, Farnese entstammten, traten auf wie weltliche Herrscher; ihr
Fürstenthum war ihnen die Quelle, aus der sie ihren Familien — sowohl
den Neffen als den eigenen Söhnen und Enkeln — Reichthum und Macht
zu verschaffen im Stande waren; ja selbst die in ihre Hand gegebene Vollmacht
über das Seelenheil der gläubigen Menschheit wurde von diesen Stellvertretern
Gottes auf Erden wie ein dynastisches Machtmittel zum Vortheil der päpst¬
lichen Söhne und Töchter und der ganzen Verwandtschaft in allen Linien aus¬
gebeutet. Eine Gallerie interessanterer Päpste hat keine Zeit auszuweisen als
grade jene Periode von 1480 etwa bis 1560; in vielen Beziehungen fordern
sie unsere höchste Bewunderung heraus, nur wird auch der mildeste Richter
nicht grade geistlichen Sinn oder priesterlichen Charakter an Alexander VI. oder
Julius II. oder Leo X., Clemens VII., Paul III. aufzudecken vermögen.
Indem nun diese Berweltlichung des römischen Papstthums aller Welt
offenkundig wurde, stellten dieselben Päpste auch die humanistische Wissen¬
schaft jener Tage unter ihren Schutz und in ihren Dienst: es war ja damals
das goldene Zeitalter des Humanismus schon angebrochen.
Es war damals jener großartige Umschwung der Wissenschaften und
Künste eingetreten, der von der Erneuerung der antiken Literatur und Kunst
ausgegangen ist. Aus dem Schlummer des Mittelalters ist der Geist wissen¬
schaftlichen Forschens und Denkens damals aufs neue erwacht; geboren aus
den Ueberlieferungen der Antike hat damals der Geist der Neuzeit zuerst
seine Schwingen geregt.
Und in Italien und am päpstlichen Hofe selbst reichte man den neuen
literarischen Bestrebungen förderlich die Hand. Daß sehr bald der Humanis¬
mus im offenen oder verdeckten Widerspruche zu den kirchlichen Einrichtungen
und Ideen und Lehrsätzen seine eigene Natur entfaltete, störte nicht die Freund¬
schaft der Kirchenfürsten und Humanisten; in der Praxis verstand man es
die Gegensätze zu vereinigen oder wenigstens nicht in Streit miteinander zu
bringen. Grade in den höchsten Spitzen der Kirche nahm der kirchliche Sinn
ab: Papst Leo X., der Typus dieses kirchlich-humanistischen Wesens, obwohl
seiner kirchlichen Stellung nach absoluter Herr der christlichen Kirche, war in
seinem persönlichen Wesen ein vollendeter Heide, —- allerdings ein sehr gebildeter
Heide, der im Priesterkleide keine Bedenken empfand als unfehlbarer Richter
über Glauben und Leben der europäischen Menschheit zu entscheiden.
Auch in Deutschland hatte der Humanismus sich Jünger erworben. Hier
verwuchs er sehr bald und sehr innig mit den Gefühlen eines nationalen
Patriotismus der Deutschen. Nirgendwo waren die Eingriffe der päpstlichen
Regierungsmethode so hart und so übel empfunden worden als grade in
Deutschland: von heftigen Klagen und Beschwerden sind die deutschen Reichs¬
tagsverhandlungen des 13. Jahrhunderts angefüllt. Man hatte wiederholt
versucht die Aussaugung Deutschlands durch die Italiener — in dieser Form
faßte man das Verhältniß auf — abzuwehren oder einzudämmen. Und diese
Stimmung der deutschen Nation gelangte nun vorwiegend in den Schriften
der deutschen Humanisten zum Ausdruck. Feindseligkeit gegen die Herrschaft
des ausländischen Priesterfürsten ist die Stimmung, aus der heraus die deut¬
schen Humanisten die Reformation der Kirche stürmisch und immer stürmischer
forderten.
Dieser Ruf nach Reformation der Kirche war keineswegs im 15. Jahr¬
hundert verstummt. Nach dem Scheitern der conciliaren Bewegung hatte
zwar Papst Pius II. — er selbst als Enea Silvio in früheren Jahren ein
humanistischer Literat und Anhänger der conciliaren Doctrinen — ausdrücklich
die Forderung eines Conciles verboten; dennoch tauchte diese Idee immer
wieder auf: in Frankreich und in Deutschland kam sie auf den Reichstagen
oft zur Sprache: in den politischen Händeln der großen Mächte mit dem
Papste wurde das Schreckmittel eines Conciles und einer durch das Concil
zu erreichenden allgemeinen und gründlichen Reformation wiederholt hervor¬
gesucht; und diese Reformforderung wurde in der That von den verschiedensten
Stimmen und Richtungen unablässig wiederholt: es war ein Schlagwort, das
Beifall zu erwecken sicher war, eine Idee, an die, so lange sie so allgemein
hingestellt wurde, alle Welt glaubte — eine Phrase, die, wenn man näher zu¬
sah, sehr verschiedenen Sinn haben konnte.
Was aber konnte damals mit diesem Neformverlcmgen erstrebt und welche
Aussichten des Erfolges konnten bei Neformversuchen ins Auge gefaßt werden?
Einmal, es konnte die Absicht sein, das was im Mittelalter zur Zufrieden¬
heit und zum Heile der Menschen bestanden hatte, ins Leben zurückzurufen.
Unmöglich war allerdings die Herstellung der vollen unbeschränkten Papst¬
macht Bonifaz' VIII. und seiner juristischen Nachfolger: die Staatsgewalten
waren so erstarkt und in solcher Machtsteigerung begriffen, daß sie nicht wohl
in den früheren Grad der Unterordnung vollständig zurückzubeugen waren.
Aber vorbehaltlich einer Vereinbarung zwischen dem Landesherrn und dem
Papste konnte ein Restaurationsversuch gutes versprechen, sobald er mit sitt¬
lichem Ernst und religiöser Hingebung unternommen wurde. Und diese Art
von Kirchenreformation ist am Ausgange des 15. Jahrhunderts in Spanien
durchgeführt worden.
Unter dem mächtigen Regiments der Könige Ferdinand und Jsabella,
vom italienischen Papste mit neutraler Minne zugelassen, feierte der mittel¬
alterliche Geist in der spanischen Kirche eine wirkliche Auferstehung und eine
neue Blüthezeit. Hier lebte in der That die mittelalterlich-christliche Religiosität
wieder auf. und den ganzen Apparat des Mittelalters stellte Ximenez wieder her.
Das Glaubensgericht der Inquisition fand eine umfassende Anwendung; reli¬
giöse Orden und begeisterte Heilige traten wieder auf. Kurz, eine Herstellung
des erschütterten Kirchenwesens fand hier in großem Maßstabe Statt.
Anders sah es aus bei den anderen Völkern. Von einem so mächtigen
und nachhaltigen Impulse mittelalterlicher Religiosität wie in Spanien war
anderwärts nichts zu sehen. Anderwärts zeigte sich vielmehr schon in den
weitesten Kreisen eine gewisse Entfremdung von kirchlichem Geiste, eine inner¬
liche Abwendung der Menschen von der Denkungsart des Mittelalters. Ander¬
wärts standen im Vordergrund des Interesses die Fragen, welche die Aus¬
einandersetzung des bürgerlichen und kirchlichen Rechtslebens betrafen, die
Ccintroversen zwischen der heimischen Verwaltung der Kirche und der absoluten
'
Herrschaftsforderung von Seiten des Papstes. Auf diese äußeren Angelegen¬
heiten der Kirche bezogen sich vornehmlich in Frankreich und England und
Deutschland die Rufe nach einer Reformation der Kirche.
Ich brstreite nicht, daß auch hierbei an einzelnen Stellen wirklich religiöse
Motive mitwirkten. Mit vollem Rechte pflegt die geschichtliche Betrachtung
auf eine Reihe kirchlicher Stimmen hinzuweisen, die im 14. und 18. Jahr¬
hundert eine Verinnerlichung des kirchlichen Lebens, eine größere Heiligung
des inneren Menschen empfohlen und als nothwendig bezeichnet haben: alle
jene Männer, die man mit einem allerdings zu Mißverständnissen irreleitenden
Nimm die „Reformatoren vor der Reformation" gewöhnlich betitelt, waren
bemüht, ein jeder in seiner Weise die erstorbene Religion wieder zu beleben
und die erstarrenden Formen der Kirchlichkeit mit religiösem Gefühle wieder
zu beseelen. Aus der scholastischen Dogmatik strebten viele einzelnen Geister
zu der reineren Augustinischen Heilslehre zurück. Aber weder diese Ansätze zu
erneuerter Religiosität noch die Anläufe zur Reform der äußerlichen Stellung
und Verfassung der Kirche waren geeignet, eine wirkliche Neubelebung der
Kirche als eines Ganzen zu schaffen.
Nun bot sich aber vielleicht doch noch eine andere Möglichkeit. War es
von vornherein als, undenkbar zu bezeichnen, daß die damals grade frisch auf¬
strebende Wissenschaft die geforderte Reformation hervorbringe?
Allerdings die neuen Tendenzen des Humanismus hatten in Italien
nichts derartiges gezeitigt. Mit äußerer Anbequemung an die Formen der
Kirche war man von dem Geiste der Kirche ganz abgekommen. Nicht allein
Skepsis, sondern auch Hohn und Spott über die Kirche, in welcher man an¬
gesehene Aemter bekleidete, war ein charakteristisches Merkmal der italienischen
Humanisten geworden. Dort sah es anfangs so aus, als ob nicht nur die
überlieferte christliche Kirche des Mittelalters sondern auch mit derselben jedes
religiöse Gefühl überhaupt vernichtet und erstickt werden sollte. Aber wenn
dahin der Humanismus in Italien geführt, nicht dies war seine Wirkung
in Deutschland. In Deutschland vermählte das wissenschaftliche Streben sich
auch mit religiösem Sinne; in Deutschland gab es eine Richtung, welche gerade
im Bunde mit der neuen Wissenschaft die Kirchenreformation herbeiführen
wollte. Und einen Namen darf ich nicht unterlassen in diesem Zusammen¬
hang mit besonderem Nachdruck zu nennen, der zu denjenigen Erscheinungen
der Geschichte gehört, welche aus naheliegenden Parteiinteresse mißgünstig be¬
trachtet werden und bis heute noch nicht eine volle und Vorurtheilslose Wür¬
digung erfahren haben: ich meine den Erasmus.
An der hohen wissenschaftlichen Bedeutung des Erasmus zweifelt Nie¬
mand; aber an seinen reformatorischen Gedanken Pflegt man schweigend vor¬
beizugehen. Erasmus war in der That ein König der Geister, ein Fürst der
Literatur. Aus den Quellen der Antike hatte er seinen Geist getränkt, im
Alterthume sich seine Nahrung geholt; aber auch die ältesten und reinsten
Quellen des Christenthums waren ihm erschlossen und vertraut: Philosophie
und Geschichte und Sprachwissenschaft waren seine eigensten Gebiete, und in
formvollendeter Rede verstand er seine geistigen Schätze zu spenden; er war ein
Meister der ernsten und der scherzhaften Darstellung, wie alle Geister über¬
legener Bildung zu ironischer Feinheit besonders gerne geneigt. Er hatte die
Gebrechen seiner Zeit vollauf erkundet; in der Wissenschaft hatte er das wahre
Heilmittel zu entdecken geglaubt: indem er den ganzen Strom der wissenschaft¬
lichen Bildung und Cultur seiner Zeit in die Kirche hineinzuleiten suchte,
meinte er die Reformation zu Wege zu bringen. Ohne jeden gewaltsamen
Akt, in allmäliger Arbeit gedachte er diesen Plan zu verfolgen; und zwar
ebensowohl in Eintracht mit dem humanistisch angehauchten Papstthum als
in gemeinsamer Anlehnung an die Staatsgewalten seiner Zeit; so pflog er
Verbindungen und Beziehungen zu England und zu Spanien, die diesen Ge¬
danken dienten. Und als nun der Herrscher von Spanien an die Spitze der
Habsburgischen Monarchie trat, als die Hegemonie Europas dem jugendlichen
König und Kaiser Karl V. zu Theil wurde, da schien in der That dem Für¬
sten der Wissenschaft die Möglichkeit zu einer Kirchenreformation durch die
Großmacht europäischer Bildung und Cultur nahegerückt zu sein!
Die Stürme, die gerade damals Luther entfesselte, gestatteten derEras-
mischen Reformation nicht sich zu entwickeln. Und wäre ihr dieser
Spielraum gewährt worden, sie hätte doch an dem inneren Widerspruch ihrer
Gedanken zu Grunde gehen müssen.
Sein und Leben der mittelalterlichen Kirche beruhte auf der äußeren
Autorität kirchlicher Tradition; es war ein fester in sich zusammenhängender
Bau von Ueberlieferungen, dessen Garantie vornehmlich in den Sätzen und
Aussagen der kirchlichen Ueberlieferung selbst bestand. Das aber war eine
Grundlage, dessen wissenschaftliche Ergründung und Erforschung wohl kaum
möglich war; was Wissenschaft und Kunst an diesem Gebäude mittelalterlichen
Kirchenthums leisten konnten, das war nichts als äußerliche Zuthat, äußer¬
licher Schmuck und Zierrath: — das Wesen des Kirchengebäudes war von
der Wissenschaft nicht zu berühren. Die Autorität, auf der die mittelalter-
liebe Kirche beruhte, steht, wie ein Verehrer dieser Kirche sagen würde, über
wissenschaftlicher Forschung; sie steht jedenfalls, wie wir denselben Gedanken
zu formuliren vorziehen, außerhalb des wissenschaftlichen Denkens. Eine
Reformation der Kirche durch die Aufklärung humanistischer Wissenschaft, wie
sie Erasmus sich vorgesetzt hatte, läuft auf die Alternative heraus: sie wird
entweder die Kirche, die sie reformiren will, auslösen und zersprengen oder
sie wird bei äußerlicher Anbequemung an kirchliche Formen und Gebräuche
zu einer philosophischen, der äußeren Kirche entfremdeten Religiosität hinleiten.
Das aber ist ein Ergebniß, dessen Berechtigung für Persönlichkeiten wie Eras¬
mus ich weit entfernt bin zu bestreiten, das auf Allgemeingültigkeit nichts
destoweniger wohl kaum einen Anspruch erheben kann.
Nein, wenn es galt die mittelalterliche Kirche zu erneuern und von ihren
Schäden zu heilen, ohne die überlieferten Grundsätze und Grundlagen dieser
Kirche zu verlassen, dann war es wohl kaum gerathen, einen andern Weg
der Kirchenreformation einzuschlagen, als denjenigen, den die spanische Lan¬
deskirche betreten: d. h. volle und rückhaltlose Rückkehr ins Mittelalter, viel¬
leicht mit einer gewissen Beschränkung der päpstlichen Befugnisse gegenüber
der landeskirchlichen Stellung.
Wäre es ein Heil für die Menschheit gewesen, wenn allenthalben diese
spanische Methode angewendet und unter Spaniens Führung eine allgemeine
Erneuerung der, mittelalterlichen Papstkirche ausgeführt worden?
Diese Frage wird der Historiker nicht vom Standpunkt einer kirchlichen
Partei erwägen dürfen; er wird nicht ohne weiteres die protestantische Theorie
zu der seinen machen; ihm wird vielmehr die vergleichende Betrachtung der
allgemeingeschichtlichen Entwicklung die Antwort an die Hand geben; und
diese Antwort wird auch Niemandem zweifelhaft 'oder dunkel bleiben können.
Ein einziger Blick auf das, was die spanische Nation im Vergleiche
mit den anderen Völkern der Neuzeit erlebt und erlitten, seit sie im Beginn
der Neuzeit mit ganzer Seele dem Mittelalter sich hingegeben hat, — schon
die oberflächlichste Parallele wird das Loos der Spanier für kein Volk und
kein Land beneidenswert!) zeigen.
An ihren Ergebnissen erkennt man die Natur und die Bedeutung historischer
Richtungen und Tendenzen: durch ihre Ergebnisse hat sich die spanische Kirchen-
reformation als Rückschritt und Hemniß moderner Entwicklung erwiesen.
Erst im Gegensatze zu diesem historischen Ereigniß e> schließt sich die volle
Bedeutung Luther's und das volle Verständniß seiner reformatorischen Ideen-
Seit länger als dreißig Jahren hat das Thüringer Land unendlich viel
an seinen Eigenthümlichkeiten verloren. Der gewaltige Prozeß der Verände¬
rung erstreckt sich auf das Gesammtleben; Land und Leute sind in ihren An¬
schauungen, Gebräuchen und Sitten nicht mehr dieselben; das platte Land
mit seinen Bewohnern strebt auch im Aeußern nach städtischen Gewohnheiten
und eine natürliche Folge ist, daß auch die Idiome Thüringens in bedauer¬
licher Weise sich bis zur Unkenntlichkeit abschleifen und verlieren. Diesem
Vernichtungsprozeß gegenüber haben wir alle Ursache, für die Rettung unserer
wirklich berechtigten Eigenthümlichkeiten nach Kräften einzutreten.
Als im Sommer vorigen Jahres eine neue Verkehrslinie das Herz des
Thüringer Landes erschloß, da jubelte alle Welt in dem heutigen Saalthale.
Der große Zug der Touristen hatte dasselbe noch intact gelassen; denn man
hatte bisher stets den bequemern Weg über Weimar vorgezogen, um möglichst
schnell in das an Schönheiten reiche Schwarzburger Land zu gelangen. Das
Saalthal war im Grunde genommen von der modernen Wanderlust noch
nicht ergriffen. Anders jetzt, wo in unabsehbaren Windungen die Schienen¬
wege dem eigensinnigen Laufe der Saale folgen. Es war als ob die Be¬
wohner der Schneckenhäuser des Saalthals, mit einem Male in Bewegung
gesetzt, sich zu einem großen Rendez-vous auf den Burgen des lieblichen Thals
vereinigt hätten. Mitten in diesem Jubel ertappte ich mich auf wenig kosmo¬
politischen Ideen, die sich geneigt zeigten, die Schienenwege als die unversöhn¬
lichsten Feinde alles historisch Gewordenen hinzustellen. — Die Sprache einer
großen Berliner Gesellschaft, die sich wenig anmuthig in den breiten Thüringer
Dialekt mischte, mochte viel zu dem Ideengange beitragen. Ich erinnerte
mich an die Berliner Colonien am Eingang zum Schwarzburger Thal, und
kam im weitern Ausbau meiner wenig kosmopolischen Betrachtungen auf die
Einbürgerung fremder Dialekte, welche ohne besondern Kampf das alte Be¬
rechtigte verwischen und vertilgen. Es lag nahe, daß sich die Gedanken aus
die Schöpfungen unseres Sommer lenkten.
„Unseres Sommer"! Das kann der Thüringer mit gutem Fuge
sagen. Zweifelsohne sind seine „Rudolstädter Gedichte", wie man kurzhin
zu sagen beliebt, auch weit über die Grenzen des engen Baterlandes bekannt.
Aber im Großen und Ganzen schwebt ein Dunkel über Sommer's Persön¬
lichkeit, über jenem Leben und Schaffen, dem wir seine in vielfachen Bezieh¬
ungen vortrefflichen Schöpfungen verdanken. Ich darf dies dreist behaupten.
Vor nicht langer Zeit kamen mir einige Nummern der schlesischen Puffe*)
zur Hand, in der ein mit vieler Fachkenntniß und wohlthuender Wärme ab¬
gefaßter Feuilleton-Artikel des vielgewanderten und bewanderten Karl Braun-
Wiesbaden sich fand. Aber auch in diesen Erörterungen fand sich „sorg¬
fältiger Nachforschungen ungeachtet" über Sommer's Persönlichkeit so gut
wie nichts. Selbst im nahen Reußenlande war es Karl Braun-Wiesbaden
von Lobenstein aus nicht gelungen, weitere Nachrichten von August Sommer
beizuziehen, als daß dieser — (zum Theil richtig) früher Diaconus in Rvdolstadt
und noch jetzt Pfarrer einer benachbarten Gemeinde sei. —
So dürfte es wohl endlich an der Zeit sein, über Sommer's Leben und
Wirken, dessen Verdienst durch die „Rettung" des Nudolstädter Idioms zu¬
gleich in gewissem Sinne ein wissenschaftlicher ist, in eingehender Weise zu
berichten.
Das Leben August Sommer's kann ein sehr bewegtes genannt werden. —
Denn zu der Zeit, als er den Entschluß faßte „der Gottesgelahrtheit" sein Leben
zu widmen, war dieser Entschluß gleichbedeutend mit der Gewißheit einer
wenig glänzenden Zukunft. In Rudolstadt namentlich gab es damals schreck¬
liche Zeiten der Ueberfüllung für die Aspiranten des Staatsdienstes. Der
Spielraum für die Wahl eines andern viel versprechendern Berufes war
zudem in der Regel für den eingeborenen Rudolstädtcr nicht sehr bedeutend.
Gewohnheitsmäßig mußte nach Ansicht des Vaters der Sohn das dortige
Gymnasium — beiläufig bemerkt die einzige Unterrichtsstätte neben der gewöhn¬
lichen Bürgerschule — besuchen, und so führte dieser Bildungsgang fast un¬
vermeidlich zum Studium auf der Universität. — Geboren 1816, folgte auch
Sommer bis zu seinem neunzehnten Jahre dem Gymnasium, widmete sich in
Jena dem Studium der Theologie bis 1838, wo er sich in die Nothwendig¬
keit versetzt sah, in dem langandauernden Candidatenleben eine anderweitige
Unterhaltsquelle zu suchen, bis der mit Candidaten so reichbeglückte „Staat"
den Ruf zum Eintritt in das geistliche Amt an ihn ergehen lassen würde.
In der Regel reichte dazu etwa ein volles Decennium hin, in dem sich
gar merkwürdige Typen, wie sie noch heute in unserer Erinnerung leben, her¬
ausbildeten. — Sommer brachte diese Zeit nach damaligem Begriff im „Aus¬
lande" hin, indem er im nahen Blankenhain unter weimarischer Botmäßig¬
keit bis 1842 eine Hauslehrerstelle bekleidete. Noch weitere drei Jahre blieb
er zu Magdala in ähnlicher Stellung, wirkte von 1847 als Lehrer der deutschen
Sprache und Literatur an der Handelsschule zu Berlin und kehrte bald von
dort in seine Vaterstadt zurück, um daselbst eine höhere Töchterschule zu be¬
gründen, die längst zum dringenden Bedürfnisse geworden war. Denn Rüböl-
stadt hatte ja auch für die Töchter des Landes damals eine höhere Bildung
anstatt als die Bürgerschule nicht aufzuweisen. Während dieser heimathlichen
Thätigkeit, die er bis 18Ki entfaltete, stellte ihn endlich der Staat als
.. H ni fs pr ed iger " an, bis er 1864 die Stelle eines Garnisonpredigers er¬
hielt, die ihm das herkömmliche Prädicat „Milizprediger" mit spärlichem Ge¬
halt einbrachte.
Der einfache, durch staatliche Verhältnisse bedingte Lebensgang trug nicht
wenig dazu bei, daß sich Sommer der Neigung im Dialect zu schreiben und
zu dichten, völlig hingab. Die erste Anregung halte ihm die Bekanntschaft
mit Grübel, Hebel und Kobell gegeben. Sie fällt in sehr frühe Zeiten seines
Lebens und reicht sicher bis in seine Gymnasialzeit zurück. Zunächst freilich
hatte sie nicht viel zu bedeuten. Es war ursprünglich nicht mehr als kind¬
liches Behagen, das er bei dem erheiternden Eindruck dieser Dialectdichtungen
empfing. — An eine schöpferische Thätigkeit kann man für diese Zeit nicht
denken, wenigstens läßt sie sich an concreten Beispielen nicht nachweisen.
Erst aus der Mitte der vierziger Jahre, in denen ich als jugendlicher Freund
dem Dichter näher trat, datiren wohl seine ersten Dialectschöpfungen; wenig¬
stens erinnere ich mich genau, daß damals uns alle erheiternde, für den engern
Familienkreis berechnete Gelegenheitsgedichte im Dialect auf unser Ansuchen
ins Dasein traten. Leider haben sie sich nicht erhalten, denn wer mochte da¬
mals daran denken, daß diese Schöpfungen dereinst eine historische Bedeutung
erlangen würden!
Die Zeit, in der der Dichter recht eigentlich sich in seiner Richtung ge¬
fördert sah, gehört schon dem Universitätsleben an. Er drang tiefer in die
Sprachentwickelung ein, und sein Interesse gewann vorzüglich durch ausge¬
dehnte Lectüre volleren Gehalt. Man darf dabei wohl nicht vergessen, wie
frisch und nachdrucksvoll noch die Gunst Goethe's wirkte, welche derselbe be¬
kanntlich für die alemannischen Gedichte Hebel's und die Nürnberger Grübel's
an den Tag gelegt hatte. Getragen von dieser Autorität, und selbst auf vor¬
trefflichem Boden stehend, den er durch eignes tieferes Studium gewonnen
hatte, arbeitete Sommer seit dieser Zeit frisch auf sein Ziel hin. —
Wer heut zu Tage, angeregt durch Sommer's treffliche Schöpfungen, den
Versuch machen wollte, das Rudolstäi>ter Idiom in seiner vollen Reinheit zu
hören, muß sich nicht etwa denken, daß man blos in die Thore der lieblichen
Residenzstadt einzudringen und zu lauschen braucht. Wie oben hervorgehoben,
haben sich die Verhältnisse ganz wesentlich geändert und der Dialect, den der
Dichter in seinen Schöpfungen, in seiner vollen Reinheit — wohlverstanden
vom Standpunkte des Sprachforschers aus — verwendet, wird nur noch von
wenigen ältern Personen der niedern Schichten gesprochen. Diese Behauptung
fußt auf dem Urtheil des Dichters selbst. Der Dialect geht in rapider Weise
seiner Verhochdeutschung entgegen. Vor mehr als dreißig Jahren kam er in
den Kreisen bürgerlicher Kinder noch annähernd zur Geltung. Heute ist das
völlig anders. Man wird zwar viel Gelegenheit haben, die oft recitirten Ge¬
dichte Sommer's zu hören. Aber ein Sprachkundiger wird auch aus diesen
Recitationen herausfühlen, wie selbst da die Verhochdeutschung sich geltend
macht und Sommer's Schöpfungen eine sehr genaue Kenntniß des Idioms
beanspruchen, um gut und völlig richtig declamirt zu werden.
Zur Zeit als Sommer den Dialect fest in sich aufnahm, lebte Rudol-
stadt noch in eigenthümlicher, jetzt schwer zu begreifenden Abgeschlossenheit. —
Die Wanderlust war noch nicht ausgebildet, der Fremdenverkehr war geradezu
ein beschränkter zu nennen. Die Residenz hatte außer dem vorwiegenden Be¬
amtenstande nur den kleinen Handwerker, der nebenbei Ackerbau und Viehzucht
trieb. Dem Kulturhistoriker hob sich sofort aus der Beschaffenheit der Alt-
und Neustadt die Zusammensetzung der Bevölkerung ab, die in einzelnen
Theilen, namentlich der dorfähnlichen Borstadt der Altstadt das Gepräge des
bis an die Dürftigkeit hinabreichenden Lebens sofort erkennen ließ.
Es waren daher auch vorzüglich die Bewohner der Altstadt, welche sich
des reinen Idioms befleißigten, und es spielte wohl ein seltner Zufall, daß
Sommer's Wiege, wenn auch nicht in der Altstadt selbst, doch in einer stillen
Seitenstraße des cultivirten Theils ihre Stätte aufgeschlagen, die wohl von
ihrer eigenthümlichen Bildung und der hervorragenden Beschäftigung der
Bewohner, welche früher Wirker gewesen sein müssen, ihren wenig poetischen
Namen, die Strumpfgasse führte. Sommer selbst schildert in dem die äußern
Eigenthümlichkeiten seiner Vaterstadt betreffenden allerliebsten Verse (V. Ur. 29)
die Gasse selbst als eine Merkwürdigkeit, indem er singt:
Mir dann arm' Strompf, su weit un grusz
Dar kann vol Baue fasse
De Hihnertreppe fibre bei uns
Gcradcwegs zum Schlosse.
In dieser Gasse war ebenfalls ganz unzweifelhaft ein reines Idiom zu fin¬
den. Sommer's Eltern, welche dem gebildeten Stande angehörten, waren so zu
sagen in den kleinen Handwerker- und ackerbautreibenden Stand hineingefahren.
Sein Vater war Mitglied der stets als trefflich geltenden fürstlichen Kapelle,
und man sah der Wohnung, dem begehrten Ziel meiner jugendlichen Wan¬
derungen sofort an, daß es sich von den gewerbtreibenden Häusern unter¬
schied. Die theilweise Enge der Gasse hatte noch zu meiner Zeit die berech¬
tigte Eigenthümlichkeit, daß die Angelegenheiten der Einzelnen sehr leicht Ge¬
meingut der Anwohner wurden, die mit großer Agilität über die Straße ver¬
handelten oder unter den Thüren nach vollbrachter Arbeit die Neuigkeiten des
Tags durchsprachen, die sich in dem eigenthümlichen Idiom besonders komisch
auszunehmen pflegten. Dort hatte der junge Sommer mehr als reiche Ge¬
legenheit den sonderbaren Tönen zu lauschen. Wie er selbst bekennt, ver¬
dankt er dem Stande seiner Wiege die völlige Aneignung des Idioms, in
welchem er des Anziehenden so viel geschaffen und zum Gemeingut des deut¬
schen Sprachstammes gemacht hat.
Die ernsteren Versuche Sommer's fallen in die Zeit seines Hauslehrer¬
standes. Aber erst 1849 erschien das erste Heft seiner „Bilder und Klänge
aus Rudolstadt in Volksmundart", die, gegenwärtig auf ü Hefte
angewachsen, bereits in der siebenten Auflage vor uns liegen. Die Zahl
seiner hier veröffentlich ten Schöpfungen beläuft sich auf 144. von denen
89 Gedichte und 85 prosaische Stücke sind.
Einzelne neueren Datums bringt hie und da das Rudolstädter Wochen¬
blatt, doch tauchen, angeregt durch Sommer's Thätigkeit auch dialectische Ver¬
suche Anderer in diesen Blättern auf. Vielleicht ist in Rudolstadt die Zeit
vorüber, wo unten vollständige Verkennung und Mißverständniß gegenüber
diesen Leistungen sich geltend machten, da ein Theil der Mitbürger Sommer's
sich in ihrem Wesen und ihrer Sprache geflissentlich lächerlich gemacht fand.
Freilich noch schlimmer ist, die „von Oben her" sich geltend machende
Ansicht, daß diese Art von Thätigkeit mit dem geistlichen Amte Sommer's
schwer zu vereinbaren sei, und dem entsprechende Winke dem Rudolstädter
Volksdichter zugegangen sind. Wir enthalten uns jeden weiteren Urtheils in
dieser Sache. Diese Ansichten werden sich selbst richten, und — verdienten
wohl, daß ihrer in einem besondern Verse mit dem bekannten Refrain „sgiht
doch nichts iber Rudelstadt" als einer Kehrseite des Rudolstädter. Eldorado
gedacht werde.
Wir gehen zur Würdigung der Sommer'schen Leistungen selbst über, ohne
diese auf eine Umkehr der Ansichten „von Oben" zu berechnen.
Wenn man den Versuch macht, die gesammten Produkte Sommer's nach
ihrem Inhalte zu classificiren, so wird man auf zwei größere Hauptgruppen
stoßen, welche das städtische und bäuerliche Element in seinem ganzen
Umfange zu charakterisiren versuchen. Ersteres ist, wie es in der Natur der
Sache begründet liegt, in weit reicherem Maße vertreten; aber trotz der ge¬
ringen numerischen Anzahl von Produkten, welche das bäuerliche Leben schil¬
dern, ist doch auch dieses in seinen Zügen hoch poetisch, wahr, realistisch treu
und fast allseitig dargestellt. Wir kommen später darauf zurück. Sehr reich
ist dagegen die Charakterisirung des städtischen Volkselementes, der der Dichter
ein Substrat durch seine Schilderungen der äußern städtischen Physiognomie
gegeben hat, wie wir sie besser gar nicht denken können. Was Sommer an
localen Erinnerungen uns vorführt, sind charakteristische Eigenschaften einer
Kleinstadt. Sie passen so vorzüglich zu dem ganzen Gepräge des Volksele-
mentes, daß man, die volle Wahrheit und Treue bewundernd, ausruft: das
allein nur kann der Boden sein, aus dem dies Element herauswächst. —
Manche dieser lokalen Beziehungen sind allerdings nur für den Eingeweihteren
verständlich, und dürfen wir einige kritische Wünsche äußern, so wäre es an
der Zeit, daß der Dichter für die Rettung der äußern städtischen Physiognomie
an einige erläuternde Bemerkungen dächte, die das volle Verständniß der lokalen
Schilderungen in weitern Kreisen erzielen. Nicht alle, wie wir, kennen Rudol-
stadt so in- und auswendig. Gewiß lohnt sich auch die Beigabe eines kleinen
Glossars. So leicht, wie es aussieht, sind die einzelnen Ausdrücke nicht immer
zu verstehen. Wir erinnern daran, daß z. B. Karl Braun-Wiesbaden in dem
angezogenen Feuilletonartikel gewaltig vorbeischießt, wenn er wähnt, daß „be-
tippert" (in der Parodie des Handschuh) gleiche Bedeutung mit „betrunken"
habe. Dazu ist Sommer ein viel zu galanter Dichter, um einer behand¬
schuhten auf dem Balcon planirten Dame leidige Trunkenheit zu imputiren.
— Seit der Neubelebung des germanischen Studiums, mit der die Würdigung
der Dialecte allgemeiner und reger geworden ist, handelt es sich natürlich
neben der grammaticalischen Feststellung des Idioms auch um die Fixirung
der Wortbedeutung und sicherlich würde Niemand besser im Stande sein, diese
kleine wissenschaftliche Beigabe in einer über alle Zweifel erhabenen Form
darzubieten, als der Dichter selbst. —
Die lokal-poetischen Schilderungen athmen wie Alles, was Sommer
schafft, eine wahre innige Liebe zur alten Vaterstadt. Es ist geradezu rührend,
mit welcher Wärme er der alten Wahrzeichen der heimathlichen Stätte gedenkt,
in der Vieles dem Drange nach Verschönerung Platz gemacht, oder aus Nütz-
lichkcitsgründen neuerdings in das Jenseits verwiesen worden ist. Dahin
rechnen wir das Gedicht „Erönnerun g", in dem das Verschwinden der
alten auf dem Markte stehenden Hauptwache in wenigen trefflichen Strophen
dargestellt ist, der er noch einmal mit ihren beiden Cameraden, des alten
Spritzenhauses und des „Laufborns" (III. No. 1) gedenkt, die gar wenig auf
das vortheilhafte Aeußere des Marktes einwirkten. Anderer Wahrzeichen ge¬
denkt er in dem Gedichte „Sehnsucht" (II. No. 17), wo er das entschwundene
Wasserrad erwähnt, das der halbwegs vorgeschrittene Bautechniker jetzt viel¬
leicht als den Uranfang der Wasserleitungen thüringischer Städte ansehen
würde. Es ist tief volksthümlich empfunden, wenn er das Aechzen des allein¬
stehenden Rades als Trauer für den verlorenen Cameraden auffaßt und eine
schöne Nutzanwendung für das eheliche Leben daran anschließt, indem er sagt:
Das os daß grüße Wassernd
Das grämt sich su und heilt sich satt
's giht arm dorch Mark und BaueDa gucke, sonsten war'n s'r zwei
Die thaten sich metnanner dreh
Elz selbes su ganz altare.
Ac jeder Mann und jede Fra,
Was rosz, wie bald, da giht's 'n a
Wie unsern WasserradsDrounn seid 'r nez beisniniu noch
Da seid recht änig, freit eich doch
Un halt de Zeit zu Rathe.
Gar manche dieser lokalen Beziehungen ließen sich hier noch vorführen,
in denen Sommer eines Theils die Liebe zum Alten und Charakteristischen
bethätigt, andern Theils als auf verbesserliche Sonderbarkeiten der väterlichen
Residenz hinweist, ohne daß ihm im Geringsten verletzende Satire zum Vor-
wurf gemacht werden kann. Bei aller Wahrheit verletzt Sommer nie, er
nimmt die Dinge, wie sie sind. An die Hühnertreppe, die eine nicht unwesentliche
Passage für das Residenzschloß vermittelt, hätten sich gewiß recht unliebsame
Betrachtungen anknüpfen lassen. Anderswo würde man vielleicht längst zu
einer Umlaufe derselben zu schreiten sich veranlaßt gesehen haben.
Auf diesem lokalen Grunde hebt sich nun der Volkscharakter in meister¬
haft gezeichneter poetischer Weise ab. Nicht etwa, als ob man in besondern
Abschnitten, streng gegliederten Abtheilungen die einzelnen Charaktere zu suchen
hätte. Im Gegentheil, Alles läuft bunt durcheinander und hinter dem an¬
spruchslosen Titel des Buches „Bilder und Klänge" ist ein poetischer und
zugleich reicher, culturhistorischer Schatz geborgen. Wir möchten gegen Braun-
Wiesbaden bezweifeln, ob die Anwendung des Wortes auf Sommer: „In der
Beschränkung zeigt sich der Meister" eine berechtigte zu nennen ist. Im Gegen¬
theil, das Feld, welches Sommer betreten, ist ein so überaus gewaltiges aber
auch ein tief durchfurchtes und angebautes. Man muß in dem Leben der
Kleinstadt lange Jahre aufgegangen sein, um die Fülle des zu bewältigenden
Stoffes, welches sich der dialectischer Behandlung darbietet, verstehen zu lernen.
Nicht eine Seite des Volkslebens können wir als eine vernachlässigte bezeichnen,
nicht einen Mißgriff andeuten, der sich formell oder materiell begründen ließ.
Alles ist fein beobachtet, tief empfunden, meisterhaft geschildert. Das größte
Lob, welches unserm Sommer je gespendet worden ist, liegt in dem eignen
Urtheil eines Theils der Landsleute, die sich mit einem Worte getroffen
fühlten.
Uns erübrigt daher weiter nichts, als den Reichthum dieser zweiten
Hauptgruppe Sommer'scher Schöpfungen nachzuweisen und ihren Werth zu
bemessen.
Zwei Hauptrichtungen sind es, in denen Sommer das Volkselement
schildert. Er führt uns in großen allgemeinen Zügen den hergebrachten Gang
der Dinge und versetzt in diesen das Individuum, oder er behandelt die ein¬
zelnen Typen in ihrer Abgeschlossenheit und in ihren verschiedenen Situationen.
Wie der thüringer Volksstamm im Ganzen keine besondere Anlage für
das ausschließliche Aufgehen im Familienleben selbst hat, ihm vielmehr Be-
dürfniß ist, sich alltäglich dem Wirthshausleben zu widmen. Feste zu feiern.
wo der geringste Anlaß sich darbietet, so verhält es sich auch mit den von
Sommer beobachteten Volkskreisen. Sehr charakteristisch veranschaulicht uns
dies der Dichter in dem Gedichte (II. No. 13) „Unsere Faste". Eines jagt
so zu sagen das andere und im Grunde läuft Alles auf rein materielle Ge¬
nüsse hinaus, wenn wir vielleicht den Besuch des Theaters abrechnen, das.
wenigstens früher, in der Regel um die Zeit des Rudolstädter Vogelschießens
seinen Anfang nahm. Wir wissen nicht, ob sich bezüglich des Theaters, einer
durch unvorteilhaftes Aussehen bekannten - Breterhütte, das alte Wahr¬
zeichen des theatralischen Volkslebens erhalten hat. Jedenfalls war der geistige
Genuß auf dem vom Volke reich besetzten Platze nicht groß, wenn man be¬
denkt, daß der glückliche Inhaber stehend über das Parterre hinter einem
ziemlich engen Lattenverschlage hervorlugte. Der Rudolstädter, der überhaupt
witzig, bald einen passenden Namen ausfindig zu machen weiß, belegte daher
auch diesen Platz mit dem Namen „Gänsestall", über den Sommer uns jeden¬
falls sehr humoristisch erzählen könnte.
Neben der Abhaltung der Feste, ist noch die charakteristische Gewohnheit,
der Sinn des Volks für den Vogelfang hervorgehoben, der leider so bedeutende
Dimensionen angenommen hat, daß sich auch die besseren Stände dieser Lieb¬
haberei nicht abhold zeigen. Tränken und Vogelheerde sind sehr charaktervolle
Stätten in den Wäldern und angebauten Bergen um Rudolstadt, und wenn
man die Geduld bewundert, mit der das Volk in den unscheinbaren Häuschen
auf das Einfallen der gefiederten Sänger wartet, um dann mit Gier den
Gefangenen den Garaus zu machen, so contrastirt dies mit dem gemüthlichen
und harmlosen Wesen des Volks, dem bei einiger polizeilichen Aufsicht*) wohl
bald ein besserer Geschmack beizubringen wäre. Sommer hat in dem Gedichte:
Offn Vogelharde (II. No. 4.) diese leidige Gewohnheit in einer Weise ge^
schildert, die über alles Lob erhaben ist. Die Darstellung ist zugleich ein ver¬
nichtender Schlag gegen die gierige Unsitte, indem sie durch den Ausgang
des Gedichtes, der die Verschieben des Unternehmens veranschaulicht, verur¬
theilt wird. Ein eigentliches Polemisiren und die besondere Hervorhebung einer
Nutzanwendung finden wir bei Sommer im Ganzen nicht; der Ausgang der
Erzählung deutet die Intentionen des Dichters an, der sich frei von jedem
Moralisiren und pastoralen Ton zeigt.
Das Bild des äußern Lebens ergänzt nun der Dichter, indem er sich noch
in das Charakteristische des Familienlebens vertieft und reiche Schilderungen,
die ein weit über das enge Gebiet hinaus reichendes culturhistorisches Interesse
haben, darbietet. Im Allgemeinen hebt sich uns das Bild der Hausfrau als
einer sorgsamen in den häuslichen Geschäften aufgehenden Mutter ab, die an
dem alt Hergebrachten festhaltend, in alten Anschauungen, theilweisem Aberglauben
und in Sitten der Vorzeit fortlebt. Sieht man von einigen als Ausnahme
zur Geltung gebrachten Charakteren ab, so ist Genügsamkeit und mütterliche
Weisheit ein zur Geltung gebrachter Grundton in den Frauenbildern Sommer's,
die ihre völlige Befriedigung im Manischen und Tartscher (d. l). im Scheuern,
Waschen und Backen) finden. — Es giebt keine lebensvollere Schilderung als
das Gedicht über das Schüttchenbacken, die Sitte des Bleigießens, das Oster-
wasserholen und für das eheliche Beisammenleben jene reizende Erzählung,
die Buzelmänner (I. No. 8), welche in gebundener Rede den Auszug der
ganzen Familie zu einem Dorffeste veranschaulicht. Kurz im Ganzen hebt
sich uns ein erfreuliches Bild des allgemeinen Volkscharakters ab, der natür¬
lich in den in das Einzelne gehenden Schilderungen individuell behandelt an
Reichthum gewinnt und viele Nuancirungen aufzuweisen hat.
Wir gelangen damit zur Beurtheilung der eigentlichen Typen, welche
wohl recht eigentlich die Ursache gegeben haben mögen, daß man in Rudol-
stadt von „Oben" die Bestrebungen Sommer's nicht mit wohlwollendem Auge
betrachtete, von unten aber mit schnödem Undanke belohnt hat. Dem gegen¬
über führen wir an, daß der Dichter in nicht genug anzuerkennender Weise
die großen Klippen vermieden hat, welche sich leicht der Schilderung volks¬
tümlicher Charaktere entgegenstellen. Sommer's Bilder halten sich in wohl¬
thuender Weise auf sittlicher Höhe. Wer kann dem Dichter eines Mißgriffs
zeihen, wo ist ein Product im Stande zu verletzen oder auch nur zu befrem¬
den? Ein Theil der Gedichte, namentlich die Naturschilderungen, basiren
nicht allein auf einer feinen Beobachtung, sondern sind sogar tief religiös
empfunden. Und das paßt doch vor Allem zu einer gewissen Richtung in
Rudolstadt.
Wie der Thüringer im Grundzuge seines Charakters genügsam, gutmü-
Wg, offenherzig aber auch schalkhaft und neckisch genannt werden kann, so
verleugnet auch der Sommer'sche Rudolstädter diese Eigenschaften nicht. —
Wenn seine drei Hauptbedürfnisse: Bier, Bratwurst und der Erdäpfelkloß
(it, Ur. 20) vortrefflich sind, so leuchtet aus seinen Zügen sichtbare Zufrieden¬
heit und die fröhliche Stimmung erzeugt jene Heiterkeit, in der die schrauben¬
den „Schnärzchen und Raupen" in der amüsantesten Weise Platz greifen.
Sommer hat in Ton und Haltung solcher Stimmungen in ihren verschiedenen
Nuancirungen wohl das Trefflichste geleistet, was es giebt. Seine Schilde¬
rungen, wie das Volk in dem materiellen Genuß der drei Hauptfreuden auf¬
geht, schaffen Typen, daß man leicht versucht sein könnte, mit überzeugender
Gewißheit aus der Masse bestimmte Persönlichkeiten als die geschilderten her¬
auszugreifen. Urkomisch ist z. B. das Gedicht (I. Ur. 10) „de drei Biertimpel",
in dem der Schuster, um sich den ungestörten Genuß des lieblichen Naß zu
sichern, die Hausthüre mit ins Wirthshaus nimmt, um der Frau, die auch
in Sommer's Gedichten als Feind des leidigen Kneipenlebens auftritt, den
Verschluß der Hausthür unmöglich zu machen. Diese in herzlicher Gemüth¬
lichkeit geschilderten kleinen Unebenheiten sind natürlich verzeihlich, wenn man
die Anforderung, welche der Rudolstädter an die Güte des Gerstensaftes stellt,
erfüllt sieht. Diese präcisirt Sommer in einem Gedicht (I. Ur. 27) „Wie
ägentlich 's Bier muß sei" in so ausgezeichneter Weise, daß das Recept für
ein gutes und gesundes Getränk von der Gesundheitspolizei nur aus Rudol-
stadt bezogen werden könnte. Es heißt da:
Ferhad Erschte: 's muß ä Rähmchen ha
DaS darf sich necs verliere
Un grusze Glotzen necs etwa
Wie 's bei'n Fliegenbiere.
Un Spitze, die gebiert derzu
Suwie der Schwanz zur Feire
's muß off d'r Zunge britzlc su
Wenns soll gekrönten wäre.
's darf necs in Leibe las wie Lack
Un muß 'n Magen wcirmc.
s' muß reine sei, von Wuhlgcschmack
Un darf necs cpper Starna. Es muß rächt zöngle, sbffig sei
Und darf nach cschoffirc.
Und kriecht mar a arm Zopf derbei
Mer darf darnach nichts foire.Ferhad Zwäte muß a Brand do sei
Un muß an Lichte feire
Wenns kä Gesichte hat derbei
Da kann sich's lasse leire. Un weiter noch verlangt mer a
Su von nimm guten B^lere
Es muß vol Kuhlcnseire ha
Und muß wie marrsch mussire.
's darf guöle ja bei Leibe necs
Rech därfre un necs bunte
Und wennste trvnkst, da darf a sich
De' Gischt necs gleich vcrlrimle.
Su muß ä Bier beschaffen sei
Da darf dervon nischt fehle
Wenn das necs alles of derber
Da will's necs in de Kehle.
In mehr als einer Richtung hat Sommer die Wirkungen eines solchen
oder ähnlichen Stoffs veranschaulicht, bei der man aber stets auf das harm¬
lose Treiben des Volkes stößt. Klassisch ist die kleine Erzählung „In Dussel"
(III. Ur. I). in der zwei Individuen über das Eigenthum eines über den
Schlitten hinausreichenden Beins streiten. Um jenes festzustellen, verlassen
sie den Schlitten, und sehen mit Staunen, „daß das Bär wack is". bis sie
sich dann über die Zugehörigkeit durch einen festen Peitschenhieb klar werden,
nachdem beim Wiederbesteigen des Schlittens „ja das nämliche Bär aus dem
Schlitten hinausstarzte."
Der Raum verbietet uns. auf den Inhalt der komischen Producte dieser
Richtung weiter einzugehen. Die Schilderungen führen in so viele interessante
Situationen des witzigen und harmlosen Individuums ein, daß ein völliges
Erschöpfen ohnehin nicht möglich ist. Besonders reich sind die kleinen Erzäh¬
lungen, die Schnärzchen und Raupen, in der sich, wie in besondern Gedichten
(vorzüglich in I, Ur. 25) die Lebensweise und Anschauungen des kleinen Ge¬
werbestandes in meisterhafter Weise abheben. Wie eine gewisse Stagnation,
conservative Anschauungen, zum Theil berechtigte Liebe zum Alten, namentlich
die feindselige Gesinnung gegen die Verderbniß der alten einfachen Sitten der
Neuzeit, neben einer wohlthuenden Anhänglichkeit zum angestammten engern
Vaterlande sich geltend machen, das ist überall in vortrefflicher Weise durch
den Dichter zur Geltung gebracht.
Höchst anziehend sind aber auch die Schilderungen, in denen sich das
Volk über das Niveau des Alltäglichen erhebt, indem es die heimische Sage
historische Facta, und vor allem die deutsche klassische Welt in den Kreis der
Betrachtungen hereinzieht. Rein wissenschaftlich beurtheilt, hat auch darin
Sommer sich ein großes Verdienst erworben, er hat die Sage Rudolstadts
aus dem Volksmunde gerettet, wie z. B. das Jahrmarktswetter, die Träbe-
statt, das Dabermännchen und andere Sagen darthun. Ganz> besonders
kommen wir aber auf die Parodie klassischer Dichtungen zurück, worüber die
Frage aufgeworfen worden ist, ob der Dichter daran Recht gethan habe. Die
Parodie und Travestie, zu der Sommer aus gutem Grunde meist Schiller'sche
Werke herangezogen hat, ist von jeher ein unbestrittenes und viel angebautes
Feld im Gebiete der humoristischen Literatur gewesen. Die großen Meister¬
werke, die Ilias und Aeneis haben sich dieselben gefallen lassen müssen, und
im kleinen Genre sind die besten Gedichte alter und neuer Zeit mit Vorliebe
parodirt worden. Unbekannte Gedichte eignen sich zur Parodie überhaupt
nicht. Der Hauptfactor des Witzes ist ja Contrast. Je idealer und pathe¬
tischer die Vorlage, um so wirksamer ist die humoristische Parodie und deßhalb
sind ganz besonders die Dichtungen Schiller's viel und mannichfach parodirt
worden. Wir theilen nun zwar nicht die Ansicht jenes Recensenten, daß
Schiller selbst über die Parodien gelacht haben würde — weil er überhaupt
keine Neigung für den Dialect hatte — aber sicherlich hätte er die Berech¬
tigung dazu nicht abgesprochen, wenn er Sommer's dialectische Versuche vor
sich gehabt hätte.
Auch auf diesem Gebiete hat Sommer vorzügliches geleistet. Der Ring
des Polycrates, die Bürgschaft, vor allem der Handschuh, sind trefflich gelungen
und was uns die Hauptsache für die andere Seite der Betrachtung ist, sie
vervollständigen die Anschauungen des Volks, sie haben culturhistorische Be¬
rechtigung und culturhistorisches Verdienst. —
Ganz besonders hervorzuheben sind Sommer's Naturbetrachtungen, denen
feine und tiefe Beobachtung zu Grunde liegen, die mit wohlthuender Wärme
wiedergegeben sind. Von ihnen sind „der erschte Star" (I. 1.). und „Vorbei"
(II. 21.) unstreitig die gelungensten. Ob man recht thut, schon jetzt diese wie
die Sommer'schen Schöpfungen überhaupt mit denen anderer Volködjchter
zu vergleichen und den Werth derselben zu bemessen, wollen wir dahingestellt
sein lassen. Abgeschlossenes aber und im Werden Begriffenes hält den
Vergleich selten aus, und so lange über unseren Sommer so wenig Licht ver¬
breitet ist, daß wir noch in vielen Beziehungen im Finstern wandern, glauben
wir nicht die Berechtigung zu diesem Vergleiche zu haben.
Dies Leben aber hat seine herrlichen Früchte getragen. Es ist freilich
spät, daß wir desselben, so weit die Kenntniß des jüngeren Freundes reicht,
in diesen Blättern gedenken. Aber, wo der Antheil sich nicht verliert, ver¬
liert sich auch nicht das Gedächtniß.
Dem Carnevalsrausch ist auch hier, wie allenthalben, leider der Ascher¬
mittwochs-Katzenjammer gefolgt. Da zählt nun Mancher bekümmert die
Häupter seiner Lieben., und sieh' ihm fehlt manch' theures — Goldfüchschen.
Jetzt kommt er denn an ein Versetzen und Kntifiren der ausgestandenen Lei¬
den und Freuden; und da bleibt es nicht aus, daß er in seiner trüben Stim¬
mung Vieles, was ihm am Nosenmontag so rosig und heiter erschien, jetzt
von einer ganz andern, weniger humoristischen Seite betrachtet.
So muß es auch wohl jenem ehrsamen Straßburger Bürger ergangen
sein, der da in seinem Leib-Journal, dem „Journal Alsacien", am Ascher¬
mittwoch Alles recht grau zu malen verstand und meinte: der Straßburger
Carneval sei doch in diesem Jahre gar nichts gewesen; Frohsinn und Heiter¬
keit für immer dahin, die Straßburger seit der Anneetion „sehr ernst" ge¬
worden; und was dergleichen Lamentationen und Jeremtaden mehr sind.
Das ist natürlich nichts Anderes, als der trübe Reflex einer übertriebenen
katzenjämmerlichen Stimmung.
Der diesjährige Carneval in Straßburg war im Gegentheil ein recht
heiteres Fest, an welchem Jung und Alt, Heimische und Eingewanderte sich
nach Kräften und Herzenslust betheiligten, und zwar zahlreicher, als in irgend
einem der Vorjahre seit dem welthistorischen Wendepunkte. Auch der Festzug
durch die Straßen, mit seinem „Usere Mann" und dem Riesen-Cylinder,
„ganz Deutschland unter einem Hut" nebst der charakteristischen Inschrift:
„InMmont n, louor" — war nicht übel. 20 Wagen und über 200 Masken
hatten daran theilgenommen. Auf dem Kleber-Platz wurde zwar der Aller-
welts-Hut mit faulen Aepfeln beschmissen. Das hat aber nichts zu sagen und
darf keinen Grund zu Hintergedanken geben. In der lustigen Faschingszeit
ist eben alles als Maskenscherz erlaubt, auch das Schmeißen mit faulen
Aepfeln. Nicht minder war am Vorabend das in den Räumen des Osfizier-
Casinos veranstaltete „Maskenfest" außerordentlich stark besucht. Ueber 700
Maskirte betheiligten sich an demselben und das Fest selbst nahm einen recht
gemüthlichen Verlauf von Anfang bis zu Ende, Ebenso in Colmar, der
Hauptstadt des Oberelsasses, die gleichfalls in diesem Jahre wiederum nach
achtjähriger Unterbrechung einen kleinen „Zug" (Cavalcade) durch ihre Straßen
ziehen sah, der ebenfalls als ein guter Anfang angesehen werden darf. Nur
in Metz ist in diesem Jahre, wie früher, der Carneval äußerst öde und ein^
könig verlaufen. Das hat aber auch seine guten Gründe, die man sich wohl
an den fünf Fingern abzählen kann. Im Elsaß hat es sich dagegen gezeigt,
daß die Eisdecke der Ungemüthlichkeit und des gesellschaftlichen Particularis-
mus und Absentismus allmälig schmilzt. Einheimische und Eingewanderte
haben sich an den fröhlichen Faschingsfesten mit gleichem Eifer und demselben
Humor betheiligt; es hat sich gezeigt, daß der Eine so gut „a lust'ger Schwob"
ist, wie der Andere und daß beide Elemente, wenn sie nur wollen, recht gut
mit einander Harmoniren können.
Zugegeben auch, daß in frühern Jahren der elsässische Carneval fideler
und lustiger gewesen ist, wie Heuer: läßt das denn wohl einen Schluß zu,
daß der alte Humor nicht mit der Zeit wieder völlig auf den alten Fleck
kommen werde? Die geschlagenen Wunden sind allerdings nicht so bald zu
verschmerzen. Ihre Handlung ist aber allenthalben mächtig im Zuge; und
die Zeit, die allheilende, wird hier schon thun, was sie anderswo auch gethan
hat. Es kann in dieser Beziehung an den „Kölner Carneval" erinnert wer¬
den, der unter französischer Herrschaft eine Zeit lang gänzlich verboten war,
unter der deutschen resp, preußischen aber erst recht zur Blüthe gekommen ist,
wie dies die Carnevalszüge in den 60 er Jahren zur Genüge beweisen. Das
ewige Schmollen und Unfreundlich-Thun hilft nirgendwo. Und sicher ist,
daß, wenn sich erst die commerciellen Verhältnisse etwas gebessert haben wer¬
den, — dann auch die alte Lebhaftigkeit und sprüchwörtliche Lebelustig¬
keit des elsässischen Volksstammes, die sich Heuer noch immer in Sack und
Asche verkriechen zu wollen scheint, nach und nach wiederkommt.
In der erstern Beziehung hört man allerdings seitens der Industriellen
von Zeit zu Zeit mürrische Klagen, die wenngleich zum Theil begründet,
keineswegs darin ihren Grund haben, daß das Elsaß jetzt unter deutscher
Herrschaft steht; sondern einfach in der allgemeinen geschäftlichen Misere, welche
augenblicklich den ganzen Continent belastet. Die deutsche Regierung thut
doch gewiß Alles, was in ihren Kräften steht, um den elsässischen Handel
wieder zu beleben und in sein altes Geleise zu bringen; sie eröffnet ihm allent¬
halben früher ungeahnte Absatzquellen und erweitert seinen Markt nach allen
Richtungen. Davon wissen die elsässischen Weinbauern ein Stückchen zu er¬
zählen, deren Producte jetzt doppelt so hoch bezahlt werden, als in franzö¬
sischer Zeit -. eben, weil sie damals weniger Absatz nach dem innern Frankreich
fanden, das den heimischen, feurigen Wein bei weitem dem elsässischen Ge¬
wächs vorzog, während dasselbe in Deutschland augenblicklich sehr gesucht
wird. In den meisten größern deutschen Städten findet man jetzt sogenannte
„Elsässer Tavernen" mit den obligaten weißgeschürzten Kellnern und den
niedlichen Schoppenflaschen, ein Unicum des Elsasses. Sollen doch selbst in
Berlin, der Metropole des deutschen Reiches, fliegende Trinkbuden errichtet
werden, in denen elsässischer Rebensaft als „Neichswein" per Glas an die
Spaziergänger verzapft wird — aber nur echter! In dem oberelsässischen
Städtchen Nappoldsweiler ist seit Kurzem das Project der Eröffnung
eines Weinmarktes mit bedeckten Hallen zur Reife gediehen — ein Project,
das unter französischer Aegide niemals rechten Anklang und kaum seinen zeit¬
gemäßen Ausdruck finden konnte. Colmar ist für dieses Jahr zum Con-
greßort sämmtlicher Weinproducenten Deutschlands erwählt worden. Dort
können die „Rebenmänner" denn schon ihr Wohl und Wehe ausschütten und
sagen und klagen, was ihnen auf dem Herzen und der Zunge liegt. Die
übrige Industrie muß sich aber einstweilen den allgemeinen Zeitverhältnissen
und Conjuncturen anbequemen, die auch in Frankreich augenblicklich nicht
besser sind, wie bei uns. Die Sehnsucht nach den alten Zuständen und die
Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen ist also bloß höchst individueller Natur -,
und selbst dem Besten der Sterblichen wollte es bisher nicht gelingen, es Allen
recht zu machen und alle Thränen zu trocknen. —
Die Kalenden des Februar haben uns übrigens wiederum eine recht
herzliche und wohlgemeinte Kälte gebracht. Seit dem 10. Februar zeigt der
hundertgradige Thermometer in der Nacht als Minimum 11—13 Grad und
am Tage als Maximum 3 — ü Grad Kälte. Der Frühling hat uns- also
als luftiger Knab' im Januar einen Possen gespielt und die Rebleute zu früh
aus ihren Hütten hervorgelockt in die Weinberge zum Beschneiden der Reb¬
stöcke und sonstigen Arbeiten in den Weingärten. Verkaufte man doch schon
in den Straßen Belieben - Bouquets und Schneeglöckchen für ein Paar Sous
das Stück. Jetzt liegt wieder tiefer Schnee auf den Bergen, und ein eisig¬
kalter Wind pfeift durch die Straßen. Das ist das rechte Wetter für den
kühnen Waidmann, der es mit den Wildschweinen, Wölfen und Füchsen
unserer Vogesen aufnehmen will. Diese wilden Creaturen benutzen nämlich
gerade diese Zeit, um aus ihren Schlupfwinkeln und Höhlen in den Bergab-
hängen hervorzukommen, drunten im Thale und in der Ebene ihre Atzung zu
suchen, die ihnen augenblicklich der zugeschneite Wald und die Bergschlucht
versagt. Sie machen die Gegend unsicher, bei Tag und Nacht. Einige haben
sich sogar in die Nähe menschlicher Wohnungen gewagt und sind ungenirt in
die Bergdörfer eingedrungen. In der Nähe von Metz ist jüngsthin ein ver¬
wegenes Paar heißhungriger Wölfe dem Postwagen bis in die unmittelbarste
Nähe der Ankunftsstation gefolgt. Ob nun die Raub- und Mordgesellen dem
biedern Postillon oder den edlen, ahnungslosen Passagieren an den Kragen
wollten, darüber schweigt die Chronik. In Rappoldsweiler sind die Bestien
sogar muthig durch das Thor in das Städtchen hineinmarschirt und haben
sich von den Schulknaben mit Schneeballen bombardiren lassen. Derartige
Naubthiergeschichten kommen übrigens fast in jedem Jahr vor, so oft ein
strenger Winter mit starkem Schneefall herrscht. So zerrissen am 31 März
1873 drei Wölfe 22 Schafe der Gemeinde Obersteinbrunn, l'/,, Meile südlich
von Mülhausen. Am 13. Juni jenes Jahres wurde bei Falken berg in
Deutsch-Lothringen ein Nest mit 8 jungen Wölfen gefunden. Dem glück¬
lichen Finder gelang es, 4 dieser zarten Unthierchen zu todten. Als er aber
sein Henkeramt auch auf die übrigen vier ausdehnen wollte, wurde er von
der inzwischen durch das Geschrei ihrer Kleinen herbeigezogenen alten Wölfin
in die Flucht getrieben und mußte Fersengeld bezahlen.
Die Menge des Raub- und Schwarzwildes, welches sich in den Vogesen
aufhält, kann trotz der umsichtigsten Maßregeln seitens der deutschen Forst¬
verwaltung noch immer nicht in genügendem Maße decimirt werden. Die
dichtbewaldeten Berge, Hügel und Hochebenen der Vogesenkette — sagt der
Preuß. Major Lucks, der kürzlich eine sehr schätzenswerthe Topographie und
Statistik der deutschen Grenzmark Elsaß-Lothringen herausgegeben hat — sind
das Eldorado des Raubwildes. Einsam zieht der Rhein nicht mehr durch
die Wildniß von Baumwipfeln, welche, von einer Vogesenkuppe gesehen, ein
unübersehbares Blättermeer bildeten; denn gerade diese gebirgigen Gegenden
sind verhältnißmäßig stark und dicht bevölkert. Dennoch nimmt der Wald
noch immer eine bedeutende Bodenfläche ein. Meist aus Eichen und Buchen
bestehend, bedecken die Forsten im Elsaß 255,153 Hektaren und in Lothringen
96,182 Hektaren. Der Bestand des Raubwildes in diesen Forsten belief sich
noch um die Mitte des Jahres 1873 auf 120 Wölfe, 80 Wildkatzen, 1500
Wildschweine und 1900 Füchse. Vom 1. Mai 1871 bis dahin 72 wurden
i. I. erlegt: 41 Wölfe, 38 Wildkatzen. 404 Sauen und 792 Füchse. Vom
1. Juli — 31. Dez. 1872: in Deutsch-Lothringen 6 Wölfe, 34 Wildschweine.
7 Wildkatzen, in Unter-Elsaß 274 und im Ober-Elsaß 9 Wildschweine. Die
Hauptmaßregeln zur Vertilgung des Raubwildes bestehen in der Abhaltung
von allgemeinen „Polizeijagden", an denen sich alle Dorfeingesessenen bethei-
ligen müssen. Diese wurden schon 1797 unter franz-ösischer Herrschaft einge¬
führt, und zwar unter Leitung der Forstbeamten. Dabei gehören die erlegten
Naubthiere den glücklichen Jägern unentgeltlich zu Eigenthum. Außerdem
wurden (vorzugsweise im Canton Lützelstein-Nord) „Saufänge" angelegt, die
sich so gut bewährten, daß darin bis Ende April 1872 ca. 1 Dtzd. Sauen
eingefangen wurden. Doch sind alle diese Maßnahmen insofern noch nicht
mit einem bleibenden Erfolge gekrönt, als dazu nothwendig auch die thätige
Mitwirkung der französischen Grenz - Forstbehörden gehört, ohne welche
sich sonst das Raubwild in die nahen Ardennen zurückziehen und von dort
immer wieder gelegentliche Streifzüge in das deutsche Vogesengebiet machen
kann. Namentlich jetzt wird in der Verfolgung des Raubwildes seitens der
deutschen Förster und Oberförster über die Lässigkeit der französischen College»
geklagt. Endlich sucht man noch aus Nah und Fern Jagdliebhaber zu der
allerdings etwas gefährlichen, darum aber auch um so romantischeren Wolff¬
urt Saujagd herbeizuziehen. So nahmen im vorigen Jahre an diesen Jagden
auch eine Anzahl Schützen aus Baden und Würtemberg Theil, die sich sehr
gut dabei amüsirt haben sollen. Den zeitigen Raubwildstand Lothringens
schätzt der genannte Major auf etwa 200 Wölfe, 1800 Wildschweine, 150
Wildkatzen und 2500 Füchse, so daß es also an Gelegenheit, zum Schuß zu
kommen, nicht fehlen würde. —
Die deutsche Negierung hat indessen mit Anbruch der Fastenzeit sich ver¬
anlaßt gesehen, noch auf ein anderes „Wild" Jagd zu machen, das zwar
eigentlich zu den zahmen Hausthieren und Kirchenmäusen gehören sollte, aber
in diesem Jahre, man weiß nicht aus welchen Gründen, etwas sehr üppig
und widersinnig sich geberdet hat. Es sind dies die „Fasten-Hirtenbriefe" der
Bischöfe von Straßburg und Metz, ein Theil clencaler Gelegenheits-
Literatur. .der, wie gesagt, in der Regel von Sanftmuth und Frömmigkeit
strotzt, in diesem Falle aber schon mehr „geharnischten Sonnetten" und
garstigen Tiraden ähnelt. Namentlich ist es der Bischof Raeß von Stra߬
burg gewesen, der seinen feurigen Fastenhirtenbrief mit allerhand kräftigen
Phrasen ü, Is, Alb an Stolz gewürzt hat, so recht dazu geeignet, um seine
gehorsamen Schäflein gegen das Bestehende aufzureizen. Es soll darin von
„Judassen" die Rede sein, welche sich an dem „Papstkönige" mit Hohn und
Tempelschändungen sättigen, und mit schwerem Geschütz auf eine „Schaar
Bösewichter" losgefeuert werden, welche den „Gesalbten des Herrn umlagern"
und eine gewaltige Verschwörung gegen denselben anzetteln. Die „Karls¬
ruher Zeitung" bemerkt dazu: „Es kann nicht überraschen, daß die Bischöfe
in Bezug auf Kcaftstil hinter ihrem Oberhaupt in Rom nicht zurückbleiben
wollen; aber die Behörden scheinen ebenfalls ihrer Pflicht eingedenk zu sein."
Die deutsche Regierung hat beide Hirtenbriefe in^on und ehe sie noch
von der Kanzel verlesen worden sind, mit Beschlag belegt. Wahrscheinlich
find die hohen geistlichen Herren des Neichslandes allzu neidisch auf ihre
rennenden Amtsbruder in Preußen und Baiern und sehnen sich nach einem
äh
Unser heutiger Bericht muß zunächst auf die in der Borwoche vom 7. bis
14. Febr. gepflogene erste Berathung über die Gesetze zur Verwaltungsreform
zurückgreifen. Wir hatten den Diskussionsstoff in 3 Theile zerlegt und nur
über den ersten Theil berichtet. Der erste Theil umfaßte die Provinzialord-
nung. die Verwaltungsgerichte und den Antrag Virchow auf Ausdehnung der
Verwaltungsreform noch im Laufe dieser Session auf Rheinland und West¬
falen. Diesem mit überwältigender Majorität gegen nur 28 Stimmen an¬
genommenen Antrag legten wir, bei der Mehrzahl der Zustimmenden wenig¬
stens, nur die Bedeutung eines Protestes bei gegen die im Abgeordnetenhaus
selbst befürwortete Verschiebung der Reform in den Westprovinzen auf unbe¬
stimmte Zeit. So hat auch die Regierung die Annahme des Antrags auf¬
gefaßt und ihre Auffassung durch die Provinzial - Correspondenz aussprechen
lassen. Denn sollte der Antrag in seinem Wortlaut ernstlich genommen
werden, so hätten wir den schönsten Conflict, maßen die Regierung gar nicht
daran denkt noch denken kann, Vorlagen zur Ausdehnung der Reform auf
die Westprovinzcn noch in dieser Session zu machen.
Das Gesetz über die Verwaltungsgerichte, dessen Discussion mit der Pro-
vinzialordnung zusammengefaßt wurde, hat bei der ersten Berathung eine ein¬
gehendere Berücksichtigung nicht erfahren. Unsrerseits wollen wir über dieses
Gesetz jetzt nur anführen, daß es sich um die Einrichtung der Verwaltungs¬
gerichte zweiter Instanz handelt. Die Verwaltungsgerichte erster Instanz sind
die Kreisausschüsse, in denen verwaltende und verwaltungsrichterliche Funk¬
tionen des Kreises verbunden sind. Dagegen sollen nach dem Entwurf der
Provinzialordnung Bezirksausschüsse neben den Präsidenten der Regierungs¬
bezirke und Provinzialausschüsse neben den Oberpräsidenten der Provinzen,
mit nur verwaltenden Functionen gebildet werden. Reben den Bezirksaus¬
schüssen sollen als besondere Organe die Verwaltungsgerichte zweiter Instanz
stehen, über welchen als letzte Instanz das Ober-Verwaltungsgericht für die
ganze Monarchie sich erhebt. — Diese ganze Verwaltungsreform ist eine Ver¬
höhnung des Satzes: puro verum simxlex. Hier heißt es: vornen multi-
plex. Wir haben schon gesagt, daß wir von der Bezirksverwaltung sammt
ihrem Bezirksausschuß nichts wissen wollen. Wenn demnach die Bezirks-Ver-
waltungsgerichte durch Provinzial-Verwalrungsgerichte zu ersetzen sind, so muß
die Organisation doch noch weiter dadurch vereinfacht werden, daß man wie
beim Kreisausschuß so im Provinzialausschuß die verwaltende und verwal¬
tungsrichterliche Function verbindet.
Gehen wir nun zum zweiten Theil der Discussion über, der sich um die
Bildung einer neu zu errichtenden Provinz Berlin bewegte. Das Gute muß
geschätzt-und anerkannt werden, woher es auch kommt. Diesmal kam es aus
dem Munde des Herrn Eugen Richter. Seine Rede über, bezüglich gegen die
Vorlage zur Errichtung der Provinz Berlin war durchdacht und richtig vom
Anfang bis zum Ende. Auseinandergehen mit ihm würden wir erst bei den
Modalitäten der richtigen Gestaltung, aber nicht bei den Grundsätzen. Seine
Darlegung der Mängel des jetzigen Vorschlags dagegen traf den Nagel auf
den Kopf. Diese Vorlage ist ein rechter Beweis, wie oberflächlich und über¬
eilt diese Neformvorlagen bearbeitet worden sind. Der Vorwurf trifft freilich
nicht die Regierung allein, er trifft ebenso das unverständige Drängen gewisser
Kreise des Abgeordnetenhauses und der liberalen öffentlichen Meinung auf
die ganz unausführbare Beschleunigung des Reformwerks. Allerdings ist es
möglich, bedauernswerthe Ministerialräthe zur Fertigstellung von Vorlagen in
kurzer Zeit zu zwingen. Aber lebensfähige Gedanken kommen dabei nicht
heraus. Solche Gedanken reifen langsam und brauchen ihre Zeit zur gehö-
rigen Vermittelung. Eine Provinz Berlin: das ist einer der nothwendigsten
Gedanken, die es in der preußischen Verwaltungsorganisation geben kann.
Die Hauptsache ist aber, den Gedanken richtig zu verkörpern. Wie erscheint
die Verkörperung in der jetzigen Vorlage? Neben den unförmlichen, in seinen
Leistungen sich immerfort verschlechternden Organismus der städtischen Riesen¬
verwaltung stellt man die Stadt Charlottenburg als Stadtkreis und ein paar
Landkreise, die kein einziges Element für eine ländliche Kreiscorporation be¬
sitzen, und Schweiße daraus eine Provinzialvertretung nebst Provinzialausschuß
zusammen. Um den Zweck zu erreichen, den üblen Einfluß der Berliner Ge¬
meindevertretung zu paralisiren, giebt man den nicht berlinischen Kreisen in
den Provinzialkörvern eine größere Stimmenzahl, als ihnen nach der Bevöl¬
kerung zukommen würde. Das heißt, sich die Sache leicht machen. Wir haben
oben den Tpruch citirt: omnu vvruru Lwii»lLX. Aber man darf den Satz bei
Leibe nicht umkehren und meinen: omnv Limplox vornen. Wir wiederholen:
die Provinz Berlin ist eine unabweisbare Einrichtung. Aber ihre erste Vor-
aussetzung ist, daß Berlin in 10 bis 12 Stadtkreise, jeder mit einem Bürger¬
meister anstatt des Landraths, mit Kreisausschuß und Kreisversammlung, zer¬
legt wird; daß in diese Stadtkreise die in der Continuität der städtischen An¬
lagen befindlichen Nachbarorte Berlins einbezogen werden; daß die Provinz
Berlin nicht blos Charlottenburg sondern Spandau, Potsdam u. s. w. um¬
faßt, daß also außer den berlinischen Stadtkreisen, verschiedene andere Stadt¬
kreise in der Provinz vorkommen, neben welchen beiden Arten von Stadtkrei¬
sen dann wirkliche Landkreise stehen, aufgebaut aus den wirklichen Elementen
der ländlichen Kreiscorporation. Der jetzige Organismus der städtischen Ver¬
waltung Berlins muß ganz beseitigt werden. Die Provinz Berlin muß. wie
alle anderen, ihren Oberpräsidenten erhalten und in den berlinischen Stadt¬
kreisen muß der Dualismus königlicher und städtischer Behörden verschwinden,
der jetzt die Verwaltung Berlins so schwierig und unerquicklich macht. Die
Bürgermeister der Stadtkreise müssen die Polizeiverwaltung unter dem Ober¬
präsidenten führen, dafür müßten sie dann allerdings vom König ernannt
werden.
Solche Gedanken würden für jetzt noch auf vielseitigen Widerspruch
stoßen. Aber entweder sollte man, wenn man diesen Widerspruch scheut, jetzt
noch gar nicht reformiren, oder man sollte den Landtag in einer Session von
der ganzen Verwaltungsreform nur ein solches Stück vorlegen, wie die Orga¬
nisation Berlins, um für alle Theile die Zeit zu gewinnen, den Kampf nach
allen Regeln durchzufechten. Im Ganzen ziehen wir den Aufschub vor und
hoffen, daß er indireet, freilich mit unerwünschter und lästiger Arbeitsver¬
schwendung, dadurch erreicht wird, daß alle diese unreifen Frühgeburten die
Dauer der Session nicht überleben, für die sie ans Licht gebracht worden.
Wir können auch über das Gesetz zur Ausstattung der Provinzen mit
eignen Fonds nicht viel Gutes sagen. Hier liegt der Fehler weniger in der Aus¬
führung als in dem Grundgedanken selbst. Diesen Grundgedanken verdanken wir
den Hannoveranern, welche sich im Jahr 1868 so entsetzlich wehrten, ihren Landes¬
fonds in den allgemeinen Staatsfonds übergehen zu lassen. Sie setzten durch,
den ersteren als Provinzialfonds zu behalten. Nun hieß es aber: was dem einen
recht, ist dem andern billig. Zunächst wurden den Communalverbänden der
Regierungsbezirke Wiesbaden und Kassel, also den ehemaligen Landen Nassau
und Kurhessen, ähnliche Fonds belassen. Jetzt sollen nun dergleichen den 9
übrigen Provinzen überwiesen werden. Die Sache ist so verstanden, daß jede
Provinz einen Jahreszuschuß oder, wenn man will, eine Jahresrente aus dem
allgemeinen Staatsfonds erhält zur Versorgung provinzieller Anstalten durch
von Provinzwegen bestellte oder mitbestellte Verwaltungsorgane. Die Sache
ist insofern keine erhebliche Neuerung, als die überwiesenen Jahresrenten aus
Geldern bestehen, welche die Centralverwaltung bisher schon für jede Provinz
verwandte und welche meistens auch die Zinsen von solchen Fonds repräsen-
. tirer, die in früherer Zeit einmal der betreffenden Provinz gehörten und erst
später in den allgemeinen Staatsfonds übergegangen sind.
Dennoch bleiben wir dabei, daß die Maßregel schief angefangen ist. Es
hätte sollen den Provinzen durch die Grund- und Gebäudesteuer eine leben¬
dige, d. h. eine nach den Aufgaben bewegliche Einnahmequelle eröffnet werden.
Unbegreiflich ist der Einwurf des Finanz-Ministers gegen diesen Gedanken,
daß der Ertrag der Grundsteuer in den Provinzen ein zu verschiedener sei.
Das ist allerdings der Fall bei der contingentirten Staatsgrundsteuer. Aber
es wäre auch nichts verkehrter, als den Provinzen bloß das jetzige Contingent
der Slaatsgrundsteuer zu überweisen. Es handelt sich darum, die Provinzial-
corporation auf dem Grundbesitz aufzubauen und ihr dann das unbeschränkte
Selbstbcsteuerungsrecht zu geben. Wer will es denn dem verhältnißmäßig
ärmeren Grundbesitzverband verwehren, für gemeinschaftliche Zwecke zehnmal
größere Opfer zu bringen, als der reichere Verband? Allerdings würde eine
Ungerechtigkeit entstehen, wenn man allen Provinzen gleiche Leistungen auf
dem Wege des Zwanges ohne Berücksichtigung der wirthschaftlichen Verhält¬
nisse auflegen wollte.
Hier wäre es nun am Platze gewesen, einen allgemeinen Staatsfonds
zur Ausgleichung der provinziellen Lasten zu errichten und die durch Ungunst
der Verhältnisse nachtheiliger gestellten Provinzen durch periodisch gewährte
Unterstützungen wenigstens von der Ueberlast einzelner, ihre Kraft überstei¬
gender Aufgaben, namentlich bei einmaligen kostspieligen und unvermeidlichen
Anlagen zu befreien. — Jetzt überweist man den Provinzen Renten, die zur
Bestreitung der ihnen gleichzeitig übertragenen Aufgaben nicht lange aus¬
reichen werden. Man wird also doch noch zur Ueberweisung'beweglicher Ein¬
nahmen d. h. also einer bestimmten Steuer, welche nur die Grundsteuer sein
kann, gelangen. Mit der Zuweisung perennirender Renten hat man aber
ohne alle Noth eine unversiegliche Quelle des Zankes zwischen Staatscentrum
und Provinzen geschaffen. Die Provinzen werden immer wieder sagen: wir
wirthschaften mit unserer Rente sparsam und wollen den Ueberschuß dazu und
dazu anwenden. Die Centralverwaltung wird immer wieder sagen: Ihr ver¬
sorgt die Zwecke nicht gehörig, für die euch die Rente überwiesen ist. — Das
macht sich ganz anders bei der Selbstverwaltung einer Einnahme, die aus
selbstaufgebrachten Steuern fließt und nicht aus Capital. Da finden sich
keine launenhaften Einfälle, da wird unter den Augen der Steuerzahler nur
auf das Nothwendige oder auf dasjenige Bedacht genommen, was allgemeine
Zustimmung findet. Besondere Fonds sind immer die Väter des administra¬
tiven Particularismus. In dem Entwurf der Provinzialordnung haben uns
die unglücklichen Provinzialfvnds bereits den höchst gemeinschädlichem Landes-
director, wenn auch erst als beunruhigendes Gespenst, gebracht. Wenn er
aber unglücklicher Weise Fleisch und Bein gewinnen sollte, würde er einen
Brennpunkt Partikularistischen Eigensinns im schlimmsten Maße bilden.
Das Resultat der ersten Berathung über die vier Gesetze zur Berwal-
tungsreform ist folgendes gewesen. Die Provinzialordnung soll vorberathen
werden durch eine Commission von 2l Mitgliedern; dieselbe Commission, je¬
doch durch 7 neue Mitglieder auf 28 gebracht, soll das Gesetz über die Ver¬
waltungsgerichte vorberathen; dieselbe Commission von ursprünglich 21 Mit¬
gliedern wiederum um 7 Mitglieder, jedoch um andere als die der Verwal¬
tungsgerichtscommission, verstärkt, soll die Einrichtung der Provinz Berlin
vorberathen,- endlich soll eine ganz neue Commission von 21 Mitgliedern das
Dotationsgesetz vorberathen. Die vier Commissionen haben jede eine harte
Nuß zu knacken, deren wahren Kern sie schwerlich in dieser Session finden.
Bor Ostern wird keine der Commissionen auch nur ihren Bericht vorgelegt
haben. Somit könnten unsere Briefe von der Verwaltungsreform einstweilen
Abschied nehmen.
Dies soll jedoch nicht -geschehen. Wenn die Redaktion der „Grenzboten"
nicht etwa ein Veto einlegt (was nicht geschieht. D. Red.), wollen wir fort¬
fahren, die Leser d. Bl. vorzugsweise über diese Frage zu orientiren. Denn
dieselbe ist von allerhöchster Wichtigkeit, ihre Lösung sowohl vorbildlich für
die übrigen um Preußen gelagerten Glieder des deutschen Reiches, als ent¬
scheidend für die Solidität und Lebenskraft des Neichskernes selbst. Ich be¬
ginne gleich heute mit einer erläuternden Bemerkung über eine Hauptfrage
der preußischen Verwaltungsreform. Diese Frage betrifft die Beibehaltung
oder Veränderung der jetzigen Provinzialeintheilung.
Die preußische Monarchie bis 186K war anfangs in 10, später nur in
8 sehr große Provinzen getheilt. Durch die Belassung de.s Königreichs Han¬
nover als neuer Provinz in den bisherigen Grenzen, durch Verschmelzung
von Kurhessen und Nassau zu Einer Provinz traten wiederum zwei große
Provinzen hinzu, gegen welche auch die elfte Provinz, Schleswig-Holstein,
wenigstens an Flächeninhalt nicht zu sehr zurückstand. Indeß haben die großen
Provinzen seit 1815 innerhalb der preußischen Verwaltung immerfort eine
Partei gegen sich gehabt und für viele Bedürfnisse der Verwaltung einen
Stein des Anstoßes gebildet. Es ist sehr der Mühe werth, diesen Kampf,
dessen Urkunden freilich in den Archiven verschlossen liegen, einmal zu beleuchten;
soweit es eben möglich ist, Motive und Verlauf zu erkennen.
Die großen Provinzen waren vom Standpunkt der Verwaltungstechnik
jederzeit sehr unbequem und gaben außerdem Anlaß zur Befürchtung partiku-
laristischer Tendenzen. Von diesem Standpunkt hatten sie lebhafte Gegner.
Gleichwohl haben sie allen Angriffen bisher siegreich widerstanden, und zwar
'
ist dieser Erfolg bedingt worden durch die Bundesgenossenschaft sehr entgegen¬
gesetzter Tendenzen. Für die großen Provinzen trat ein die romantisch-anti¬
staatliche Reaktion, geführt von dem Kronprinzen, nachmaligen König Friedrich
Wilhelm IV. Für dieselben Provinzen treit aber auch ein der Liberalismus,
für welchen die sogenannte Centralisation mehr und mehr ein Schreckgespenst
wurde. Friedrich Wilhelm IV. liebte den Gedanken, über einen Staat von
großen Gliedern zu herrschen. Seitdem er noch als Kronprinz den Gedanken
an eine allgemeine Landesvertretung bei seinem Vater, dem König Friedrich
Wilhelm III., beseitigt hatte, bedürfte man der großen Provinzen auch zu
dem Zweck, Provinzialstände möglich zu machen. Die Provinzialstände aber er¬
schienen unentbehrlich, um die allgemeine Landesvertretung überflüssig zu machen.
Wenn der Kronprinz in den Provinzen des künftig von ihm zu beherr¬
schenden Staates organische Glieder sah, so verhielt es sich damit genau so
wie mit den Ständen, welche als die Schöpfung des künftigen Königs zu
betrachten waren. Sowie diese angeblich uralten Stände eine gelehrte Er¬
findung im mittelalterlichen Costüme, so waren die angeblichen organischen
Glieder des Staats völlig künstlichen Ursprungs, in dem Grade, daß eine
mehr als fünfzigjährige Dauer und Gewohnheit in keiner einzigen Provinz
den künstlichen Ursprung bis heute hat verwischen können.
Trotz der Provinzialstände, welche den Bestand der großen Provinzen
verbürgen zu müssen schienen, unterlagen sie erneuerten Angriffen, weil sie
fortfuhren, der Verwaltung Schwierigkeiten zu bereiten. Nun aber erheben
Romantik und Liberalismus den gemeinsamen Angstschrei vor der französischen
Centralisation. Es hieß: „wenn unter dem Staatscentrum sogleich die Re¬
gierungsbezirke stehen sollen, so haben wir die französische Departementalver-
fassung. Dann muß anhoben Regierungspräsidenten nothwendig der fran¬
zösische Präfekt werden. Denn die Centralbehörden können nicht immer mit
Collegialbehörden verhandeln. Der provinzielle Oberpräsident ist nöthig, den
einheitlichen Einfluß der Centralbehörden aus die collegialischen Verwaltungs¬
behörden der Regierungsbezirke geltend zu machen und zu sichern. Wenn der
Oberpräsident wegfällt, wird das Collegialsystem bei den Bezirksregierungen
unhaltbar." So erhielt sich denn das wunderliche System am Leben, wo
man zwischen Centrum und Lokalverwaltung, welche letztere bei dem Kreis
beginnt, eine zerrissene Mittelinstanz hatte und den untern Theil der Mittel¬
instanz, was doch wenigstens richtiger bei dem oberen Theil hätte geschehen
müssen, collegialisch gestaltete, freilich auch das in inconsequenter Weise.
Die Opposition gegen dieses System war aber nie zu beschwichtigen, es
war viel zu unnatürlich. Als im Sommer 1848 David Hansemann erst
Finanzminister, darauf Finanzminister und faktischer Ministerpräsident war,
trug er sich alsbald mit dem Plane, die bestehende Provinzialeintheilung auf-
zuHeben und aus die Regierungsbezirke das französische Präfektensystem zu
übertragen. Da Hansemann ein orthodoxer Anhänger der parlamentarischen
Regierung, d. h. der Uebertragung der Staatssouveränität auf die jeweilige
Kammermajorität war, so konnte seine Verwaltungsreform Nicht als liberal
gelten. Gleichwohl erhoben sich die alten Vertheidiger der großen Provinzen
stürmisch gegen Hansemann. Es hatten sich neue Gesichtspunkte für die Ver¬
theidigung gefunden. Man sagte jetzt: „der französische Constitutionalismus
mit centralisirter Verwaltung gebiert nur die Revolution. Zum wahren
Constitutionalismus gehört Autonomie, wie man damals, noch nicht von
Gneist belehrt, sagte, der Gemeinden, Provinzen u. s. w." Also wurden die
unglücklichen Provinzen wiederum gerettet, und als nach der Novemberkrists
der König wieder die volle Macht hatte, war an eine Beseitigung derselben
vollends nicht mehr zu denken. Es kam die Zeit, wo man am liebsten wieder
nur Provinzialstände gehabt hätte.
Während noch das deutsche Parlament in Frankfurt a. M. tagte, säete
Gervinus in seiner „Deutschen Zeitung" nach der Novemberkrisis zu Berlin
einen der verderblichsten Gedanken aus, welche die neuere deutsche Entwicklung
bedroht haben. Er construirte ein deutsches Reich aus sechszehn Bundes¬
staaten, von denen die acht preußischen Provinzen bei administrativer und
legislativer Autonomie nur durch Personalunion unter dem Kaiser verbunden
sein sollten. Der unbelehrbare Doktrinär hatte den Untergang des alten
Reichs vergessen, der erfolgt war, weil der Kaiser, wenn er zum Thron ge¬
langte, nicht einmal mehr über soviel straff organisirte Gewalt als einer seiner
Vasallen verfügte. Der unverständige Einfall ist aber zum Lieblingsgedanken
demokratischer und conservativer Partikularisten geworden und leider bis heute
nicht aus den deutschen Köpfen hinausgefegt.
Nach 1848 ist die Veränderung der Provinzialeintheilung in Preußen
selbst nicht wieder in Frage gekommen. Wir müssen es aber dem Minister
des Innern zum Vorwurf machen, daß er die Frage nicht schon wieder bei
den Annexionen von 1866 gestellt hat. Die entscheidende Gelegenheit zur
Wiederauswerfung und hoffentlich zur richtigen Beantwortung ist aber jetzt
mit der Verwaltungsreform gekommen. Wenn wir auch bei der jetzigen Ge¬
legenheit die schädliche Provinzialeintheilung zu beseitigen nicht die Einsicht
haben sollten, so müßte man an preußischer Staatskunst auf dem Felde der
Verwaltung verzweifeln.
Um aus der Allgemeinheit herauszukommen, machen wir einen Versuch,
der Discussion eine naturgemäße Provinzialeintheilung zu unterbreiten. Denn
allerdings befürworten auch wir nicht die Verwandlung der Regierungsbe¬
zirke in Departements. Vielmehr müssen mit den jetzigen Provinzen auch die
jetzigen Regierungsbezirke fallen. Das scheint umständlich, ohne es zu sein.
Der jetzige preußische Staat wäre naturgemäß in 1<.) Provinzen zu theilen
Wir sangen im Südosten an, 1) Schlesien, aber mit Abtrennung der
Lausitz von 1 Million Einwohner. Die Provinz ist dann immer noch sehr
groß, was aber gerechtfertigt ist durch die sociale Centralistrung Ober,- und
Niederschlesiens in Breslau. Der Regierungsbezirk Oppeln ist aufzuheben.
2) Lausitz, gebildet aus den Regierungsbezirken Liegmtz und Frankfurt a. O.
welcher letztere von der Provinz Brandenburg abzutrennen; Sitz der Provinz¬
behörden in Frankfurt a. O. 3) Berlin, zu bilden in der schon oben er¬
wähnten Weise., 4) Brandenburg, Sitz der Provinzialbehörden in Bran¬
denburg, nachdem Potsdam zur Provinz Berlin geschlagen. S) Posen, un¬
verändert mit Aufhebung von Bromberg. 6) Ostpre ußen, Sitz in Königs¬
berg. 7) West Preußen, Sitz in Danzig. 8) Ostpommern, Sitz in
Kostin. '.)) Westpo in in ern, Sitz in Stettin. 10) Magdeburg, Sitz in
Magdeburg. 1t) Thüringen, Sitz in Erfurt; Regierungsbezirk Merseburg
zwischen Magdeburg, Brandenburg und Thüringen getheilt. 12) Schles¬
wig-Holstein. 13) Niedersachsen, Sitz in Hannover. 14) Ostfries¬
land, vergrößert durch den Regierungsbezirk Minden und durch Kreise des
Regierungsbezirks Münster; Sitz in Osnabrück. Is) Westfalen, Sitz in
Münster oder in Arensberg. 16) Rheinsachsen, das rechte Rheinufer von
Emmerich bis Koblenz; Sitz in Düsseldorf. 17) Niederrhein, das linke
Rheinufer von Cleve bis Koblenz; Sitz in Köln oder Aachen. 18) Rhein-
franken, aus den Regierungsbezirken Trier und Nassau; Sitz in Koblenz.
1'^) Hessen, Sitz in Kassel.
Man erkennt sogleich die naturgemäße Gliederung gegenüber der jetzigen
Künstlichkeit. Daß eine rationelle Organisation der Mittelinstanz erst nach
der Aufhebung ihrer jetzigen Zerreißung, also nach Beseitigung der Regierungs¬
bezirke möglich ist, sollte ebenfalls einleuchten. Aus diese Organisation gehen
wir später ein. —
Die Verhandlungen der Abgeordneten in der vergangenen Woche sparen
Aus tiefer Ueberzeugung hat die Mehrheit des deutschen Volkes vom
Beginne der Neugestaltung Deutschlands an dem Grundgedanken der deutschen
Politik des Fürsten Bismarck beigepflichtet, daß es räthlicher sei, sich jeweilig
mit Erreichbaren zu begnügen, als die Erlangung des ersehnten Mehr in eine
ungewisse Zukunft zu verschieben. Diese Anschauung hat sich noch in allen
Fällen als die richtige erwiesen. Deutschland ertrug nach 1866 die an sich
stets verabscheut gewesene Mainlinie bis die Zeit der näheren Verbindung
mit dem Süden erfüllet war. Auf Badens Eintritt in den norddeutschen
Bund wurde nicht eingegangen und der Rest des Südens ist „nicht sauer"
geworden. So ward auch im deutschen Heerlager zu Versailles Baierns Bei¬
tritt zum Reiche trotz aller seiner Reservatrechte angenommen, so unbegrün¬
det deren Geltendmachung dem deutschen Vaterlandsfreund grade nach den
Ereignissen von 1870 auch erscheinen mußte. Die Grundanschauung des Leiters
der deutschen Politik war eben offenbar die, daß die innere Macht der sich
entwickelnden Verhältnisse schon von selbst allmälig und mit einer gewissen
Naturnothwendigkeit für die Herstellung der noch nicht vollständigen Harmonie
in den deutschen Angelegenheiten Sorge tragen werde.
In der That hat Baierns Stellung zum Reiche sich in dieser Richtung
entwickelt. Es hat der Befestigung des Reichs und seiner Einrichtungen seit
1870 keine wesentlichen Hindernisse bereitet; eine Ausübung seiner Reservat-
rechte hat da, wo sie dem Reiche hätte störend fallen können, bisher nicht
stattgefunden, wie wir noch unlängst anläßlich einer Anfrage Jörg's im Reichs¬
tage vom Reichskanzler bestätigen hörten. Wenn aus Baierns abnormer
Lage Nachtheile entstanden, so sind sie höchstens für Baiern selbst erwachsen;
grade die Belassung der gewünschten Ausnahmestellung dürfte deren Nichtbe-
rechtigung nur klarer haben hervortreten lassen. In wesentlichen Punkten
aber hat Baiern durch enge Anlehnung an das Reich innere Verhältnisse mit
Erfolg zu verbessern gesucht: Baiern that den ersten Schritt zum Reichsgesetze
über die Jesuiten und bemühte sich noch vor Kurzem, das Neichsgesetz über
die Civilehe zu fördern.
An König Ludwig's deutschem Sinne konnte nach dem Juli 1870 nicht
mehr gezweifelt werden; als die Hauptfrage erscheint nur die, inwieweit die
Bevölkerung Baierns, partikulare Rücksichten hintanstellend, in der Hinnei¬
gung zum Reiche fortgeschritten ist. Der gemeinsame Kampf gegen Frankreich
hatte die Augen geöffnet für die ersprießlichen Verhältnisse des Reichs. Ein'
entscheidender, nachhaltiger Umschwung war damit noch nicht eingetreten, aber
die Frage war in große Gährung gekommen. Wie sehr, das beginnt sich
anläßlich der bevorstehenden Neuwahlen zur Abgeordnetenkammer und in der
Entwicklung derjenigen Partei zu zeigen, deren Einfluß bisher maßgebend war.
Die Abgeordnetenkammer des am 18. d. M. zum letzten Male zusammen¬
getretenen Landtags wurde bereits am 25, November 1869 gewählt. Wie
haben sich die hierbei maßgebend gewesenen Verhältnisse in den 3 Jahren
geändert! Wenn damals von 134 Mandaten 83 an Mitglieder der sog. Pa-
triotenpartei vergeben wurden, so war die Meinung bestimmend, daß es vor
Allem darauf ankomme, einem Umsichgreifen des „preußischen Einheitsstaats"
entgegenzutreten. Jene Partei stürzte im März 1870 den Fürsten Hohenlohe
und blieb auch unter dessen Nachfolger Grasen Bray noch maßgebend; von
Augenblicke an, wo die äußere Gefahr herannahte, begann aber ihre Zersetzung,
welche seitdem unter ständiger Einwirkung der Alternative: Anlehnung an
das Ausland oder aufrichtiges Zusammengehen mit dem Norden weiter um
sich griff. Es zeigte sich dieser Zerfall bereits, als im Mai 1870 Lukas und
Bucher aus der Partei schieden, weil der in derselben bis dahin maßgebende
Jörg ihnen nicht weit genug ging und gleichzeitig Pfarrer Mähr vom Club
ausgeschlossen wurde, weil er sich der Jörg'schen Disciplin nicht fügen wollte.
Beim Beschluß inbetreff der Kriegsfrage von 1870 sowie später hinsichtlich
der Versailler Verträge schrumpften die Extremen auf 47 zusammen.
Welchen Boden die Patrioten durch die Ereignisse von 1870 verloren
hatten, trat bei den Neichstagswahlen vom 3. März 1871 hervor, von denen
30 auf Liberale und 18 auf Klerikale fielen. Da kam den Patrioten die
Theilnahme der bäuerischen Staatsregierung am Kampfe gegen Rom zu Hülse.
In der Bevölkerung verstanden sie es, diesen für ihre Sache auszunutzen, nicht
aber im Rathe der Krone. Hier wurde vielmehr mittelst Graf Bray's Er¬
setzung durch Graf Hegnenberg - Dux (21. Aug. 1871) eine größere Entschie¬
denheit sowohl im Kampfe gegen die Klerikalen als auch in der Anlehnung
an das Reich herbeigeführt. Zwar unternahmen die Patrioten in der Session
von 1872 nach beiden Richtungen hin heftige Sturmangriffe gegen das Mi¬
nisterium, sie besaßen aber nun auch ständig schon nicht mehr die Mehrheit
der Stimmen. Der erste dieser Angriffe (27. Jan.) bezüglich einer Verfassungs¬
verletzung, welche der Cultusminister v. Lutz durch Nichtentfernung des ex-
communicirten Pfarrers Nenftle von Mering begangen haben sollte, wurde
freilich nur mit 72 gegen 72 Stimmen abgeschlagen, allein der Schüttinger'sche
Antrag bezüglich der Neservatrechte (9. Febr.) und der Freytag'sche wegen
Aufhebung von Gesandtschaften mit größerer Mehrheit. Hegnenberg's Tod
(2. Juni 1872) verschaffte den Patrioten eine Gelegenheit, die Bildung eines
Ministeriums zu versuchen, allein ein Ministerium v. Gaffer scheiterte bereits
an der Einsicht der betreffenden Parteigenossen, daß eine Art von Kriegser¬
klärung gegen das Reich unmöglich sei.
In der vom 4. Nov. 1873 eröffneten Session verloren die Patrioten
sogar den bisher in ihren Händen befindlich gewesenen Vorsitz der Kammer.
Die Wahl des liberalen Abg. v. Stauffenberg wurde dadurch herbeigeführt,
daß 0 Patrioten von der Partei abfielen, weil sie nach Ueberzeugung stimmen
und nicht sich terrorisiren lassen wollten. Diese „freie Vereinigung" führte
dann (8. Nov.) u. A. auch - mit 77 gegen 74 Stimmen — die Entschei¬
dung für Volk's Antrag zu Gunsten der Ausdehnung der Reichscompetenz
auf das gesammte bürgerliche Recht herbei.
Nun begannen die Wehklagen der Patrioten. Sie sahen ihre Sache ver¬
loren, wenn es so fort gehe. Sie entfalteten die größte Anstrengung bei den
Reichstagswahlen vom 10. Jan. 1874 und erlangten dabei in der That wieder
zwei Drittel der Mandate. Die directen Wahlen und die Hülfe des Clerus
erklären dies. Ermuntert durch den Erfolg, erhoben in der im Mai v. I.
wieder eröffneten Session Führer, wie Krätzer und Jörg den Ruf nach Auf¬
lösung der Kammer und Neuwahlen, von denen sie die Ausschließung der
Abtrünnigen erhofften. Gegen diese entlud sich dann, als die Regierung
darauf nicht einging, der ganze Zorn der Extremen. Am 25. Juni sollte
dem Minister v. Lutz durch Versagung der Mittel für die Kunstakademie zu
München ein großes Mißtrauensvotum zu Theil werden, aber Eder und Ge¬
nossen erklärten, sie hielten sich an diesen Beschluß ihrer Partei nur soweit
gebunden, als dieser ihrem Abgeordneteneide nicht widerspreche, denn sie hätten
geschworen, vor Allem die Landesverfassung zu achten. Das war ein schwerer
Schlag für die Extremen. Dieselben unternahmen dann, wie zum Zeichen
ungebrochenen Muthes, am 6. Juli noch einem starken Anlauf gegen das
Reich, indem sie durch Ablehnung der außerordentlichen Bedürfnisse des Heeres
eine Collision mit jenem schienen herbeiführen zu wollen; in der That aber
besaßen sie nicht diesen Muth, denn trotz hitziger Debatten erfolgte die Be¬
willigung mit großer Mehrheit. Sie wollten aber wenigstens zeigen, was
sie hätten thun können und lehnten jene Forderung über 187S hinaus, ab.
Von der jetzigen Kammer hoffen die Extremen nichts mehr. Die Sturm¬
angriffe, welche sie in derselben vorhaben, sollen nur der Bewegung für die
Neuwahlen dienen. Auf diese sind alle ihre Anstrengungen gerichtet. Möglich,
daß sie dabei nochmals die Mehrheit erringen, zumal die Liberalen, abgesehen
von der nicht in Betracht kommenden Volkspartei, welche sich am 28. Juni
v. I. auf einer Versammlung zu Ingolstadt bildete, auch jetzt noch nicht die
wünschenswerthe Energie entfalten zu können scheinen; allein im Schoße der
Extremen werden starke Zweifel an dem Gelingen ihrer Sache gehegt.
Von offenbar sehr sachkundiger Seite wird dies in Leitartikeln der ultra¬
montanen „Deutschen Reichs - Zeitung" zu Bonn vom 4., 5. und 6. Febr.
ausführlich entwickelt. Aehnlich wie im vorigen Sommer in Sachsen von
conservativer Seite, so wird jetzt in Baiern von „patriotischer" Seite die
Schuld an der wachsenden Zunahme des Sinnes für die deutschen Angelegen¬
heiten angeblichen Missethaten Einzelner beizumessen gesucht. Wie dort natio¬
nalliberale Correspondenten deutscher Blätter den beginnenden Umschwung in
der Bevölkerung hervorgerufen haben sollten, so soll hier das Programm der
Patrioten durch Abtrünnige lahm gelegt sein. Mit bezeichnender Naivetät
werden Die, welche dies angeblich bewirkt, in dem genannten Blatte „Ver¬
räther und Ueberläufer" genannt, welche „sich von Session zu Session ver-
mehrten", sodaß letzthin das Schicksal aller Beschlüsse des Landtags in den
Händen von Leuten gelegen habe, „welchen die allgemeine Verachtung ent¬
gegengetragen werden sollte". Die Ueberläuferei sei innerhalb der patrioti¬
schen Partei „gradezu Mode", die Clubverhältnisse „unerträglich geworden",
die „ehemals patriotische Fraction, auf welche das katholische Volk in Baiern
dereinst mit so großem Stolze blicken zu dürfen glaubte, zu einem Sammel¬
surium von Leuten herabgesunken, welche von der Regierung verachtet würden
und der eigenen Partei ein Gegenstand des Abscheus, des Ekels geworden sei".
Zurückgeführt wird dies auf einen „Fehler", der darin bestanden, daß
man bei den Wahlen von 1869 das Hauptgewicht auf die äußere Frage ge¬
legt und die Häupter der ehemals großdeutschen Partei einfach als Preußen¬
feinde gewählt habe. Ein bemerkenswerthes Geständniß! Unter den „Preußen¬
feinden" von damals befinden sich eben Viele, denen das deutsche Vaterland
schließlich doch über Alles geht.
Das Höchste, was in jenem clerikalen Blatte von den Neuwahlen er¬
wartet wird, ist ein bloß numerischer Sieg der „Patrioten", denen es aber
auch fernerhin an der Einigkeit fehlen, wie dieselben auch nie ein einheitliches
Ministerium zu Stande bringen würden. Werfe man die Abtrünnigen über
Bord, so würde ihr Anhang Liberalen zum Siege verhelfen; wähle man sie
wieder, so komme es zu einer „neuen Auflage der Misere der Fraction". Die
Gemäßigten seien in allen Ländern am Unglück schuld, in Baiern habe man
die Krisis mit denselben noch durchzumachen; deshalb werde das Einzige, was
Rettung bringen könne, eine geschlossene ultramontane Mehrheit, nicht zu
erlangen sein.
Diese Schilderungen und Geständnisse sind sehr werthvoll. Sie enthalten
unzweideutige Zeugnisse, daß die Gährung der Gemüther in Baiern im besten
Fortschritte begriffen ist und welche Bedeutung den heftigen Streitigkeiten inner¬
halb der Patriotenpartei beizumessen ist, von welchen jüngst verlautete und die
man sich Mühe giebt zu verdecken.
Es darf als Thatsache betrachtet werden, daß der partikulare Geist in
dem Lande, welches vermöge seiner Vergangenheit der deutschen Einigung am
meisten widerstrebte, in Abnahme begriffen ist. Auf ein schnelles Fortschreiten
derselben kann man freilich nicht rechnen, wenigstens solange nicht, als die
liberale Partei sich zur nöthigen Thätigkeit nicht aufrafft. Es genügt aber,
den Fortschritt zu constatir^n, wie er sich in dem Schicksal der Patrioten¬
partei ausspricht, um an eine wachsende Annäherung Baierns an das Reich
zu glauben, mit welcher dem Partikularismus auch in Sachsen der Boden
entzogen und Fürst Bismarck's Politik aufs Neue ihre Rechtfertigung finden
Wir fassen die Ergebnisse unserer Erörterung noch einmal kurz zusammen.
In der letzten Zeit des Mittelcilters war allenthalben das Verlangen
nach einer Reformation der Kirche verbreitet. Staatsregierungen und Poli¬
tiker forderten damals eine Umgestaltung der Beziehungen zwischen der allge¬
meinen Kirche und den einzelnen Staaten; auch eine Verfassungsänderung in
den höchsten Organen der Kirche war erstrebt und versucht worden, ohne
Resultate zu erzielen oder erzielen zu können.
Gegen Unsittlichkeit und Irreligiosität in der Kirche reagirte das neu
erwachte religiöse Gefühl, und Ansähe zu einer religiöseren Theologie tauchten
damals an manchen Stellen wieder auf.
Alle diese Reformationsversuche aber blieben principiell auf dem Boden
der mittelalterlichen Kirche; sie brachten einzelne Aenderungen zu Wege, aber
nicht eine wirkliche und nachhaltige Besserung für das Denken und Fühlen
der Menschheit. Und auch der Einfluß der neu ausgelebten humanistischen
Wissenschaft vermochte für das religiöse Gefühl und das sittliche Leben keine
wirkliche Erneuerung zu wirken. Weder die spanische noch die Eras-
mische Reformation hat den weltgeschichtlichen Umschwung geboren: es war
Luther's That, die das neue Zeitalter heraufführte.
Es wird immer eines der anziehendsten und lehrreichsten Kapitel der
Weltgeschichte bleiben, das von der Art und Weise berichtet, wie der einfache
Professor der Wittenberger Universität zum Reformator der Kirche, d. h. zum
gewaltigsten Revolutionär der Neuzeit geworden ist.
Aus einer thüringischen Bauernfamilie herstammend, hatte Martin Luther
das Leben eines Gelehrten und Kirchenmannes geführt. Mit 21 Jahren war
er Mönch im Augustinerorden geworden und hatte später auch die Priester¬
weihen erhalten. Im Alter von 24 Jahren wurde ihm an der Universität
Wittenberg eine Professur der Philosophie übertragen, in welcher er bald auch
'
theologische Vorlesungen hielt. Früh hatte sich seine Seele den Regungen
der Frömmigkeit geöffnet; von den Schriften des Augustinus hatte er seine
Richtung empfangen. Wie schon vor ihm und neben ihm einzelne andere
Theologen des ausgehenden Mittelalters, so war auch Luther bestrebt, die
Theologie, der er diente, durch ächt religiöse Empfindungen und Ideen zu he¬
ben, die hergebrachten Formen des kirchlichen Lebens und die hergebrachten
Sätze der kirchlichen Lehre mit ursprünglicher Religiosität aufs neue zu erfüllen.
Bald war Luther in Wittenberg ein angesehener Lehrer, ein wirkungsreicher
Prediger, achtunggebietend durch seine ganze Persönlichkeit, durch die Energie
und Wahrhaftigkeit seines Charakters.
Lange Zeit lebte Luther durchaus im Gedankenkreis und in der Praxis der
Kirche, ein strenger, ernster, eifriger Augustinermönch. Lange Zeit war er
durchaus entfernt von jedem Gelüste einer Opposition zur Erscheinung der
Kirche: für den Augustinerorden ist er sogar mehrmals persönlich thätig
gewesen.
Es ist bekannt, daß im Auftrage seines Ordens Luther in Rom gewesen
ist. Wenn er selbst nun nachher im späteren Leben nach seinem Bruche mit
Rom auf die Eindrücke, die er in Rom von den Gräueln und Lastern der
Papstkirche empfangen habe, für den Umschwung seiner Gesinnung großes
Gewicht gelegt hat, so wird eine kritische Geschichtschreibung die allergrößten
Bedenken erheben, diesen späteren Angaben zu folgen: das gleichzeitige Ma¬
terial gestattet keinen weiteren Bericht über Luther's Nomreise, als daß er seine
Ausgaben in Rom in herkömmlicher Weise erfüllt, ohne daß sein Sinn in
Rom von der officiellen Kirche oder von dem Papstthums sich besonders ab¬
gestoßen gefühlt.
In seiner lehrenden und predigenden Wirksamkeit zu Wittenberg pflegte
er mit besonderer Energie die Nothwendigkeit eines innerlich religiösen Lebens
der Christen zu betonen. Als nun in diese seine Wirksamkeit die rohe und
unsittliche Ablaßpredigt Tetzel's einbrach, versuchte er die Schädigung, die seiner
religiösen Predigt durch jene marktschreierische Verbreitung ganz äußerlicher
Mittel drohen konnte, mit kräftigem Worte abzuwehren: er bekämpfte den
Mißbrauch, der mit dem Ablaß getrieben wurde. Freilich gerieth Luther 1517
durch sein Auftreten wider Tetzel in lebhaften Streit mit einigen anderen
Theologen, die für Tetzel aufstanden: er hatte eine ziemlich heftige dogmatische
Polemik zu bestehen. Doch enthielten Luther's Meinungsäußerungen damals
noch nichts weniger als einen Angriff auf Rom oder die Kirche; er kämpfte
wider einen einzelnen Mißbrauch an und hoffte selbst einflußreiche Theologen
auf seine Seite zu ziehen. Auch in diesen Schriften begegnet uns schon der
kräftige Brustton religiöser Innigkeit und Wärme, der für all sein Thun so
charakteristisch geworden: nichts destoweniger aber darf man dem Ablaßstreite
keine zu große Bedeutung beilegen; es war nicht viel anders als ein theo¬
logischer Schulstreit, eine Fehde unter Theologen, wie sie damals, häufig vor¬
kamen und niemals ganz von der Tagesordnung verschwinden.
Als der literarische Kampf sich ausdehnte, wurden von höherer Stelle
Versuche gemacht ihn beizulegen oder wenigstens Stillschweigen zu erzielen;
und anfangs 1319 durfte die Aufregung interessirter Kreise nahezu als be¬
schwichtigt gelten. Die kirchliche Autorität hatte inzwischen Luther's Ansicht
verworfen, Luther aber zuerst an den Papst und dann an ein Concil appellirt.
Im Streite selbst waren allerdings hier und da in Luther vereinzelte
neue Gedanken und Ideen wachgerufen; sie waren ihm gekommen, ohne daß
er sie festhielt. Von Seiten seiner Gegner war — man sieht nicht recht, ob
allein aus blindem Eifer oder auch vielleicht, um dem naiven Gegner einen
Fallstrick zu legen — der Einwurf ihm gemacht, daß seine Polemik wider den
Ablaß die Autorität des Papstes verletze, ein Satz gegen den Luther sich mit
Leidenschaft und Heftigkeit immer wieder und wieder verwahrte. Doch veran¬
laßte diese von gegnerischer Seite in die Discussion hineingezogene Frage bei
Luther eifriges Studium der einschlagenden Literatur: mehr und mehr gingen
ihm nun die Augen auf über die historischen und biblischen Grundlagen,
auf welche die mittelalterliche Kirche die Papstmacht gestützt: in die heftigsten
Zweifel und Scrupel sah er sich hineingeworfen; zur Klarheit der Ueber¬
zeugung zu gelangen wurde ihm schwer. Und es dauerte geraume Zeit, bis
er sich hindurchgearbeitet hatte durch alle die Anschauungen und Vorstellungen,
in welchen er groß geworden war. Unter den heftigsten Kämpfen stieg in
selner Seele das neue Princip empor, das die mittelalterliche Kirche ins Herz
hinein traf.
Und ohne einen äußeren Anstoß, wer kann sagen ob es jemals das Licht
des Tages erblickt?
Die großen Entscheidungen der Weltgeschichte sind Eingebungen des
Momentes; wie in plötzlicher Inspiration erfaßt, treten die Ideen auf, welche
die Weltgeschichte bewegen. Was lange in der Seele verborgen gelegen, was
im Geiste hin und her bewegt worden, ohne eine Gestalt finden und ergreifen
M können: in einem einzigen Augenblicke, mit urplötzlicher Gewalt und Wir¬
kung verdichtet es sich zur That. Die Losung zu einer welthistorischen Revo¬
lution wird in plötzlich aufblitzenden Impulse des Geistes concipirt.
Mit einem seiner Gegner, mit Eck, hatte Luther Anfangs Juli 1619 in
Leipzig eine Disputation zu bestehen, ein gelehrtes Turnier vor Zeugen, in
welchem die entgegengesetzten Ansichten durch das Gewicht ihrer Gründe mit
Rede und Gegenrede einander zu überwinden sich vorsetzten. Hier war es
Eck's unbestreitbares Verdienst, von allen Nebenfragen frei die Hauptsache
zur Entscheidung zu stellen, das Verhalten Luther's zur kirchlichen und Papst-
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lichen Autorität. In der ganzen Tage lang währenden Discussion Eck's mit
Karlstadt und Eck's mit Luther, in welcher vielerlei Themata abgehandelt
wurden, concentrirt sich das historische Interesse auf das Wortgefecht des
5. Juli über Papst und Kirche, das zu überraschenden Erklärungen hinführte.
Man stritt mit historischen Argumenten über Alter und Natur der päpstlichen
Macht; — indem Luther die Aussagen der ältesten christlichen Jahrhunderte
und mit noch schärferem Nachdrucke die Zeugnisse der Bibel vorlegte, lehnte
er die göttliche Einsetzung des Papstthums ab. Das sprach er entschieden und
unzweideutig aus, daß er die in der Kirche des Mittelalters geglaubte Hoheit
des Papstthumes bestreiten und anzweifeln müsse. Derartiges aber war mit¬
unter schon gesagt und in den Streitschriften der conziliaren Schule wiederholt
schon erörtert worden.
Darauf brachte Eck endlich die Sache einen gewaltigen Schritt vorwärts;
er warf ein, Luther's Behauptungen seien als hussitische Ketzerei vom Constanzer
Concile schon verworfen: also das große Bollwerk der antipäpstlichen Schule,
das mit dem Zauber der Unfehlbarkeit grade von den Gegnern des Papstes
umkleidete allgemeine Concil der Kirche hielt er Luther entgegen: das ist die
welthistorische Minute, in der zögernd und zaghaft von Luther's Lippen die
Worte sich lösten „unter den vom Concile verworfenen Sätzen des Huß seien
manche sehr christliche und evangelische". „Ehrwürdiger Vater, erwiderte Eck,
wenn Ihr glaubt ein rechtmäßig versammeltes Concil der Kirche könne irren,
so seid Ihr mir wie ein Heide und Zöllner" — und der Herzog von Sachsen,
der zuhörte, soll mit lauter durch den ganzen Saal ertönender Stimme ge¬
rufen haben „das walt die Sucht".
Derselbe Gedanke wurde von Eck und Luther noch mehrmals gestreift;
Luther trat auch wieder einige Schritte zurück von dem eingenommenen Stand¬
punkte. Aber das half ihm jetzt nichts mehr. Er hatte den Rubicon über-
schritten; er hatte die Unfehlbarkeit der Concile geläugnet; er hatte damit
die principiellen Fundamente des mittelalterlichen Kirchenthums untergraben,
der großen Heilsanstalt des Mittelalters principiell abgesagt.
Und wenn er in Leipzig, gleichsam selbst vor seinem neuen Gedanken er¬
schreckt, ihn noch nicht siegesgewiß und noch nicht mit vollem Bewußtsein der
Consequenzen ausgesprochen — sehr bald entwickelte er in reicher und herr¬
licher literarischer Thätigkeit seine principielle Bedeutung. Die Tradition und
die Autorität der mittelalterlichen Kirche erkannte er jetzt nicht mehr als ma߬
gebende Quellen der Heilslehre an; allein aus die Bibel wollte er sich stützen.
Und die aus der Bibel erleuchtete Einsicht eines einzelnen frommen Christen
war ihm von größerem Gewichte als Lehrentscheidungen von Päpsten und
Concilien: „ich will frei sein" rief er aus, und durch keine Autorität, weder
des Conciles noch der Universitäten noch des Papstes, gebunden werden: „ich
für mich allein kann eine Autorität aufweisen, die besser ist
als ein Concil" — mit vollem und kräftigem Ausdrucke legte er diese aus
innigster Religiosität geschöpften Ueberzeugungen dar.
Mit solchen Schriften gewann er sich Beifall und Unterstützung in weiten
Kreisen seiner Nation. Aus seinen theologischen Umgebungen und Gewohn¬
heiten trat er damit hinaus in die Reihen der Streiter wider Rom.
Die That des Einzelnen erreicht nur dann ihre volle Wirkung, wenn
die Zeit reif ist sie aufzunehmen und zu verbreiten. Das sind die großen
Führer der Weltgeschichte, die das Wort aussprechen, das im Herzen Vieler
zum Durchbruch gelangen kann. Das sind die großen Thaten und die Wen¬
depunkte der Weltgeschichte, welche vom rechten Mann und zur rechten Zeit
vollzogen werden.
Damals war in der That die Stimmung der deutschen Nation reif zum
Abfall von Rom. Die ungeheuere Wirkung, die Luther mit seinen Schriften
nach der Leipziger Disputation 1ö19 —1S2t hervorrief, erklärt sich aus der
wohl vorbereiteten öffentlichen Meinung der gebildeten Kreise in Deutschland.
Wiederholt war auf den deutschen Reichstagen über die Beschwerden der deut¬
schen Nation gegen Rom gehandelt worden; wiederholt war die Nothwendig¬
keit erklärt, in den Beziehungen der deutschen Gebiete zur Centralstelle der
Kirchenregierung Aenderungen zu schaffen, wiederholt waren schon Conflicte
vorgekommen zwischen der aufstrebenden Wissenschaft der Humanisten und den
Versuchen der Kirchenmänner, das freiere Wort der Aufklärung und Polemik
zu bannen. Schon seit Jahren war es dem umsichtigen und verständigen
Beobachter deutscher Dinge, dessen Wünsche auf Erhaltung und Besserung der
überlieferten Kirche ausgingen, zu voller Klarheit geworden, daß in Deutsch¬
land sich ein gewaltiger Sturm gegen das Papstthum erheben würde, sobald
sich erst Einer gefunden, der die Führung der Opposition übernehmen könnte.
Der Wittenberger Theologe war der Mann, der für diese Aufgabe geeignet.
Bisher hatte Luther der Humanistenwelt fremd gegenüber gestanden.
Reuchlin und Erasmus und Hütten und Crotus und die ganze Schaar der
kleinen humanistischen Propheten waren ihm antipathische Naturen gewesen.
Jetzt suchte er Beziehungen zu ihnen zu gewinnen.
Man kann von Erasmus nicht sagen, daß er den Annäherungsversuch
Luther's besonders eifrig aufgenommen habe. Ich berührte schon die reforma¬
torischen Gedanken des Erasmus: er wollte durch die Aufklärung wissenschaft¬
licher Cultur und Bildung die Kirche von ihren Schäden reinigen und eine
wissenschaftliche Reformation ihr verschaffen; nichts lag seinen Absichten ferner
als ihre Grundlagen anzugreifen oder ihr ganzes Princip in Frage zu stellen.
So hatte er keinen Gefallen an Luther's Radicalismus. Wohl gab es in
Luther's Schriften und Worten manches, dem auch Erasmus zustimmte; wohl
schien es ihm möglich, wenn Luther in seinem Thun sich mäßigen und die
kirchlichen Bahnen strenger einhalten wollte, zum Werke der Reform auch
Luther zu gebrauchen. So hatErasmus, der Herrscher der europäischen Gelehrten¬
welt, dem Wittenberger Professor anfangs seine Protektion nicht versagt und
mit ironischen Wendungen sich wenigstens theilweise sogar für ihn ausge¬
sprochen. Aber die Differenz der Anschauungen und der Gegensatz der Charak¬
tere war doch immer vorhanden. Es konnte nicht wohl ausbleiben, daß die
Beiden schließlich in einen lebhaften Streit mit einander geriethen: grade für
Erasmus Standpunkt und Tendenzen mußte es später zur Nothwendigkeit
werden, sich mit ganzer Schärfe gegen die, wie er dies ansah, maßlosen und
die Kirche selbst bedrohenden Ausschreitungen Luther's zu wenden.
Mit lautesten Jubel hingegen warf sich 1L19 die Schaar der Humanisten
auf Luther's Seite; allen voran Crotus und Hütten: ihr Entschluß ver¬
stärkte bei Luther die Richtung, die er seit Leipzig genommen. Hutten's feu¬
rige und leidenschaftliche Natur, sein patriotisches und humanistisches Pathos
hatte sich schon in allerlei schriftstellerischen Leistungen versucht; er hatte sich
mit ganzer Seele der Polemik gegen das Papstthum ergeben und einen hef¬
tigen Sturmlauf gegen Rom eröffnet. Man wird mit der größten Bewun¬
derung und oft mit freudiger Zustimmung die Hütten'schen Schriften lesen,
die in ihrer negativen Kraft wenige ihres Gleichen in der gesäumten Literatur
haben: eigentlich positive Gedanken enthalten sie allerdings nicht: Und daß
sie in ihrem Kampfe gegen Rom bis dahin jemals religiöse Motive ange¬
schlagen, wird auch Niemand behaupten wollen. Nun aber eignete sich Hütten
auch die religiösen Erwägungen Luther's an; nun verband er mit seiner ge¬
wohnten Waffenführung die neuen religiösen Ideen Luther's.
Hütten beeilte sich, mit Luther in Verbindung zu treten; er gewann für
die Sache Luther's den Ritter Franz von Sickingen, dem überhaupt in den
allgemeinen und politischen Planen der deutschen Nitterpartei die Stelle des
leitenden und ausführenden Partcihauptes zugedacht war. Luther ging seiner¬
seits diese für ihn so ganz neuen Verbindungen ein. Auf Sickingen's Schutz
und Sickingen's That setzte er sein Vertrauen; die Schriften der Humanisten
studirte er eifrig und wußte auch von ihnen noch zu lernen; er hat ihnen
auf seine eigenen literarischen Arbeiten der nächsten Zeit einen nicht unbe¬
trächtlichen Einfluß verstattet.
Aus den Pamphleten von Crotus und Hütten stammen jene verletzende
Schärfe und jene unerbittliche Feindschaft gegen das Papstthum her, welche
die damaligen Angriffe Luther's auf Rom zu unvergeßlichen und unbesieg¬
baren Keulenschlägen gestempelt. Die Institution der mittelalterlichen
Kirche, deren vollendetste Frucht und deren natürlichste Krone das weltherr¬
schende Papstthum war, ist damals durch Luther mit so durchschlagenden und
so eindringlichen Waffen angegriffen und zu Boden geworfen worden, daß
heute noch jedes modern empfindende Herz mit freudiger Dankbarkeit diese
Schriften genießt. An den polemischen Ausführungen in ihnen hat die huma¬
nistische Bundesgenossenschaft Luther's einen sicher nicht unbedeutenden An¬
theil, — die eigentlich religiösen Darlegungen sind dagegen Luther's vollstes
und eigenstes Eigenthum.
Im Jahre 1520 hat Luther jene großen reformatorischen Schriften aus¬
gehen lassen, welche seine grundlegenden Gedanken der deutschen Nation ver¬
kündigt und den eigentlichen Kern und Inhalt seiner Reformation zum Aus¬
druck gebracht. Das Papstthum und die Kirche, wie sie historisch im Mittel¬
alter erwachsen war, hatte grade seine innerste religiöse Ueberzeugung ihn zu
verwerfen gezwungen. Dieser historisch gewordenen kirchlichen Anstalt setzte
Luther das Priesterthum aller Christen entgegen: an die Stelle des Priester¬
standes der Kirche, des nothwendigen Heils - Vermittlers für die einzelnen
Menschen, trat hier das direkte unvermittelte Verhältniß der gläubigen Seele
zu Gott. Nicht mehr ausschließlich die Hierarchie des Clerus, sondern in Ge¬
meinsamkeit Clerus und Laien sollten nach Luther's Sinn die christliche Kirche
bilden. Und mit hinreißender Ueberzeugungsgewalt führte nun Luther den
Gedanken aus, daß die Kirche auf der Gemeinde der Gläubigen, sowohl der
Laien als der Geistlichen, beruhe.
Damit war die Kirche des Mittelalters, die ja eine auf Grund bestimm¬
ter göttlicher Einrichtungen aufgebaute und absolut nothwendige Anstalt sein
wollte, im innersten Nerv ihres Daseins getroffen. Luther's reformatorisches
Prinzip bedeutet nichts anders als den Bruch mit der Kirche, wie sie historisch
geworden.
Es erhob sich die Frage, ob die deutsche Nation, die begeistert seiner
Polemik wider Rom zustimmte, ebenso nachhaltig seine weiteren Schritte
unterstützen und seine weiteren Forderungen ausführen würde. Es mußte sich
nun entscheiden, ob alle die Stimmen, die auf den Reichstagen und in der Lite¬
ratur nach „Reformation der Kirche" gerufen, auch auf die neuen reformato¬
rischen Ideen eingehen wollten. Wie die officiellen Autoritäten des Reiches
die Sache ansahen, das zeigte sich 1821 in Worms.
In unruhiger Gährung erwarteten alle Schichten der deutschen Nation
den Reichstag. Die Humanisten und die Ritterpartei meinten, der deutsche
Kaiser — Karl V., der Herrscher Spaniens — solle eine politische Reform
des Reiches und eine allgemeine Reformation der Kirche herbeiführen. Das
letztere entsprach gewiß seinem eigenen Sinne und den Eingebungen seiner Räthe;
in nächster Nähe der Beichtvater Glapion und aus der Entfernung Eras.
mus hatten dem jungen Fürsten diese Aufgabe zugedacht. Sie aber ver¬
standen unter dieser Reformation eine solche, wie sie theils dem Muster
Spaniens theils den Ideen des Erasmus entsprungen sein würde. Von der
anderen Seite forderte des Papstes Vertreter, Ale an der, selbst ein sehr
gebildeter und auf seinem Standpunkte auch recht verständiger und einsichts¬
voller Mann, Aleander forderte, daß man jede Beförderung Luther's und
seiner Richtung vermeide und ihn, den vom Papste schon gebannten Ketzer
nach hergebrachter Weise vernichte. Die spanische Reformationspartei war
nicht ohne weiteres zu so gewaltsamen Auftreten entschlossen; sie meinte Luther
schonen zu sollen und seine unleugbare Befähigung im Dienste der Kirchen¬
reformation benutzen zu können. Man beabsichtigte ihn zur Zurücknahme
seiner heftigsten Ausfälle zu bewegen. Glapion unternahm es, einmal durch
sächsische Vermittlung und dann durch Luther's Beschützer, Hütten und
Sickingen, eine private Verständigung anzubahnen und zu versuchen: beide male
hatte er nicht den gewünschten Erfolg. Nur das Eine erzielte er, daß die ge-
fürchtete tumultuarische Parteinahme der Ritter für Luther in jenem kritischen
Augenblicke vermieden wurde: Sickingen und Hütten ließen sich durch Aemter
und Pensionen im April 1521 zur Passivität bewegen.
Indem Luther seine Verantwortung vor dem Reiche allein mit eigener
Kraft zu führen hatte, war er seines geistigen Sieges um so sicherer.
In Aller Gedächtniß lebt die Scene, in der Luther vor Kaiser und Reich
am 18. April 1621 aufs neue seine Ueberzeugung kund gethan hat: er wieder¬
holte in der größten Oeffentlichkeit seine Leipziger Erklärung. Sein in sich
sicheres und felsenfestes religiöses Gefühl verwarf aufs neue die Autoritäten, auf
denen die Kirche des Mittelalters beruht hatte: sein Gewissen, das von Gottes
Wort allein bezwungen sei, weigerte dem Papste und dem Conzile den An¬
spruch der Jrrthumslosigkeit; wider sein Gewissen aber zu handeln lehnte er
mit Entschiedenheit und Festigkeit ab.
Das eine Individuum, das die Wahrheit sicher zu haben aufs leben¬
digste überzeugt war, hat sich erhoben und hat Stand gehalten gegen die
Mächte, welche Jahrhunderte hindurch die Welt beherrscht hatten. Der eine
Mann hat mit kühnem und selbstbewußtem Worte die Grundlagen der all¬
mächtigen Kirche verworfen! Das ist der Anfang des neuen Weltalters, der
Anbruch der Neuzeit!
Der Compromiß zwischen Mittelalter und Neuzeit, den Theologen und
Gelehrte für möglich gehalten, war an Luther's Ueberzeugungstreue gescheitert:
als stegreicher Held schied er, der äußerlich unterlegen, von dem Kampfplatz
zu Worms. »
Das officielle Reich deutscher Nation sprach über ihn und seine Sache
das Verwerfungsurtheil aus. Im Streit der Meinungen und Bestrebungen
behauptete auf dem Reichstage das Hergebrachte und Alte das Feld.
Ein großer Theil des Volkes von Deutschland aber schloß sich Luther's
Sache an. Im Gegensatze zur Entscheidung des officiellen Reiches ergriffen
die weitesten Kreise für Luther und seine kirchlichen Ideen Partei. Und lange
Zeit war die Zahl seiner Anhänger im Anwachsen begriffen: es konnte eine
Zeit lang wohl aussehen, als ob noch ganz Deutschland ihm zufallen würde.
Zwar wurde diese Hoffnung nicht erfüllt; schließlich blieb doch ein nicht un¬
beträchtlicher Theil der Deutschen bei der alten Kirche oder kehrte wieder zu¬
rück zu mittelalterlicher Gewohnheit. Aber nach einigen Jahren des Streites
hatte auch die Lutherische Kirchenidee von dem officiellen Reiche sich Duldung
und Anerkennung erkämpft. Auf Grund der religiösen Predigt und Lehre
Luther's hatten sich kirchliche Einrichtungen gebildet, die von der Kirche des
Mittelalters als fluchwürdige Ketzerverbände angesehen wurden, denen aber
nichts destoweniger von der Regierung des Reiches und der einzelnen Landes¬
staaten die Berechtigung der Existenz zugestanden werden mußte.
Es war an Stelle der Einen und allgemeinen die Welt umspannenden
Kirche unter dem Einen und allgemeinen Papste ein Nebeneinander sehr ver¬
schiedener Kirchen getreten.
Luther hatte auf das Prinzip der gläubigen Christengemeinde die Kirche
aufbauen wollen. Mit siegesgewissem Idealismus hatte er dies Prinzip hin¬
ausgeschleudert, mit herzhafter Zuversicht wollte er zur Ausführung seine
Idee bringen. Er erlebte eine Enttäuschung. Sein Idealismus war nicht
im Stande, die Praxis zu bezwingen, die faktischen Zustände im deutschen
Volke zu durchgeistigen und zu beherrschen.
An dieser Stelle und in diesem Zusammenhange ist es nicht mehr möglich,
die Ursachen darzulegen und die Entwickelung zu kritisiren, durch welche in
der Reformation Luther's der Zwiespalt zwischen Idee und Praxis herbeige¬
führt ist. Genug, die praktische Ausgestaltung der Lutherischen Kirchenideen
ist weit hinter den, Vorstellungen und Erwartungen zurückgeblieben, wie sie
1520 und 1521 von Luther und seinen Freunden gehegt wurden. Die pro¬
testantischen Landeskirchen sind stellenweise gradezu zu Zerrbildern der ursprüng¬
lichen Absichten und Ideen Luther's geworden.
Und dennoch ist die Reformation Luther's ein gewaltiger Fortschritt im
Leben der Menschheit.
Nicht vom Parteistandpunkt des Lutheraners oder überhaupt des Pro¬
testanten wird dies Urtheil begründet werden dürfen. Wer ein Parteiurtheil
hier zu Wort kommen läßt, würde dem Standpunkte des Katholiken, der sicher
zu einem entgegengesetzten Schluße gelangt, dieselbe subjektive Berechtigung
Zugestehen müssen, wie er sie dem Protestanten verstattet. Das Urtheil des
Historikers wird eine anders geartete Erwägung vorzulegen haben.
Indem die einheitlich die ganze Welt umspannende Kirche des Mittel-
alters mit ihrem Ansprüche auf Alleingültigkeit und Unfehlbarkeit ihrer Au-
torität durch Luther's Auftreten endgültig gesprengt ist, indem aus seinem
Werke mehrere verschiedengeartete und in ihrer räumlichen Ausdehnung be¬
schränkte Kirchen neben einander entsprungen sind, so ist damit die Freiheit
des menschlichen Geistes von dem Machtspruche jener mittelalterlichen Kirche
faktisch gesichert und das Prinzip der ausschließlich und unbeschränkt geltenden
Autorität der päpstlichen Weltkirche faktisch durchbrochen und endgültig
beseitigt.
Die Folgen dieser Wendung für das staatliche Leben der Nationen er¬
heischen eine besondere Betonung. Der Staat ist durch die Reformation dem
maßgebenden Einflüsse der Kirche entrückt. Mochte im Mittelalter zeitweilig
einem einzelnen Lande einmal eine Emancipation von Kirche und Papstmacht
geglückt sein, immer drohte der Rückfall unter das alte Gebot, unter die
überlieferte Aufficht und Herrschaft der Kirche und ihres Papstes: das An¬
sehen der göttlichen Heilsanstalt, von deren Gunst oder Ungunst das Seelen¬
heil der Menschen abhing, mußte schließlich jeden Widerspruch zu Boden
schmettern. Erst seit der Glaube der Völker an diese Kirche und diesen Papst
erschüttert, lebte das Gefühl staatlicher Selbständigkeit und staatlichen Eigen¬
lebens auf. Erst seit der Reformation ist sich der Staat seines eigenen
Charakters und seiner eigenen Aufgaben deutlich und immer deutlicher bewußt
geworden: die freie Selbständigkeit des staatlichen neben dem kirchlichen Leben
ist erst seit der Reformation Möglichkeit und Wirklichkeit geworden.
Nicht eine unmittelbare Frucht' der Reformation ist die Toleranz zu
nennen; — diese Behauptung würde einen großen Irrthum, sei es historischer
Unwissenheit oder sei es tendenziöser Geschichtsmacherei, einschließen; — aber
nur auf einem Boden, über den die ausdauernde und stetige Arbeit der refor-
matorischen Ideen hinweggegangen ist, konnte die schönste Blüthe modernen
Geisteslebens, die religiöse Toleranz, keimen und erwachsen Md gedeihen. Die
unparteiische staatliche Behandlung der verschiedenen Religionen und Kirchen,
der heute unser Staatsleben nachstrebt, auch sie ist ein später Sprößling der
Saat, die einstens Luther ausgestreut hat. So ist seine Reformation ein
Wohlthäter geworden an allen Menschen, auch an den Bekennern der Papst¬
kirche, seinen prinzipiellen Widersachern und Hassern.
So lange unser Staat an dieser Errungenschaft der Reformation festhält,
so lange ist nicht zu besorgen, daß die Kirche und das Papstthum des Mit¬
telalters die Herrschaft über unser Volk aufs neue mit ausschließlicher und ma߬
gebender Bedeutung an sich reißen wird. Trotz aller der scheinbaren Erfolge
päpstlicher Propaganda, trotz aller der überraschenden Siege des Papstthumes
in unserem Jahrhundert wird diese Errungenschaft aus der Reformationszeit
der Fels sein, an welchem die tobenden Wogen eines neu ausgelebten mittel¬
alterlichen Kirchenwesens endgültig zerschellen und zerfließen werden.
Es war im Jahre 1869, als der Minister des öffentlichen Unterrichts
des Königreichs Italien, A. Bargoni, durch Decret vom 20. Juli eine
Commission von Senatoren, Parlamentsdeputirten, Bibliothekaren und Archi¬
varen unter dem Vorsitz des Grafen Luigi Cibrario einsetzte,-um „die
Reformen zu studieren, welche in der Katalogisirung, Ordnung und Verwaltung
der Bibliotheken des Reiches einzuführen wären", und um auf Grund dessen
ein „allgemeines Reglement" (liöAoiamLnto gcznerals) für alle Italie¬
nischen Bibliotheken zu entwerfen, sowie zu untersuchen, ob an den Universi¬
täten „ein Cursus für Bibliologie" einzurichten, der für den Zutritt zu
Bibliothekämtern obligatorisch wäre.
Dieser Schritt, wenn er auch praktisch nicht über die Vorschläge der
Commission hinausführte*), war doch theoretisch für das Bibliothekwesen von
höchster Wichtigkeit. Denn hier zum ersten Male war von der Staatsleitung
das Bedürfniß einer Reform der Bibliotheken im Sinne einheitlicher
Regelung und die Unerläßlichkeit genügender technischer Vorbildung der Biblio¬
thekbeamten gebührend anerkannt.
Es lag schon damals nahe, im Hinblick darauf unsere deutschen Biblio¬
theken ins Auge zu fassen, deren Zustände so mannigfaltig gestaltet sind, daß
die Frage gewiß berechtigt erscheint, ob nicht auch für unsere Bibliothekver¬
hältnisse und in welcher Weise eine übereinstimmende Regelung möglich,
wünschenswert!), ja nothwendig sei.
Diese Frage ist denn auch vor Kurzem aus biblothekarischen Kreisen
einer öffentlichen Erörterung unterzogen worden**), leider mit so wenig Geschick,
daß wir von einer Lösung noch weit entfernt sind.
Die Lösung aber ist um so dringlicher, als die bisherigen Einrichtungen
vieles Veraltete und Mangelhafte darbieten, und demzufolge bei einer großen
Zahl von Bibliotheken eine Neugestaltung im Werke ist. Dazu tritt noch
ein anderes Moment. Je mehr unsere öffentlichen Bücherschätze von Jahr zu
Jahr anwachsen, und je stärker ihre Benutzung wird, desto fühlbarer wird
das Bedürfniß, daß auf Vereinfachung der Organisation und Beseitigung
aller Erschwernisse des-Dienstes hingearbeitet werde, um mit den vorhandenen
Kräften den gesteigerten Anforderungen Genüge zu leisten. Will man nicht
das Personal vermehren, so wird man auf den Grundsatz, daß „Zeit Geld"
ist, Bedacht nehmen müssen.
Es handelt sich nun vor Allem um die beiden Cardinalfragen der Ord¬
nung und der Katalogisirung, von denen die sichere, leichte und aus¬
giebige Benutzung der Bibliotheken in erster Linie abhängig ist.
Was zuvörderst die Ordnung betrifft, so stehen die meisten Bibliotheken
auf einem unhaltbaren Standpunkt. Man hat sich begnügt, die Ordnung
„blos auf dem Papier" zu haben, bei Aufstellung der Bücher selbst aber
keinen bestimmten Plan befolgt; man hat lediglich im Groben eine Scheidung
nach Wissenschastsfächern vorgenommen, denen die hinzutretender Werke nicht
eingereiht, sondern nach der Zeitfolge des Zugangs hinten angehängt werden.
Andere Bibliotheken befolgen innerhalb der einzelnen Wissenschaftsfächer
das alphabetische Aufstellungsprincip nach den Namen der Autoren.*)
Damit ist nun allerdings ein fester Ordnungs - Plan gegeben, aber der ent¬
scheidende Gesichtspunkt muß auch hier als ein verfehlter bezeichnet werden.
Wenn man erwägt, daß der Name des Verfassers für den wissenschaftlichen
Inhalt eines Buches an sich sehr gleichgültig ist, und daß durch die alphabe¬
tische Aufstellung wissenschaftlich zusammengehörige Werke auseinandergerissen
werden, so leuchtet ein, wie wenig mit einer solchen Methode das Problem
bibliothekarischer Ordnung gelöst ist. Die alphabetische Aufstellung mag nur
da als Nothbehelf am Platze fein, wo man nicht über ein ausreichend wissen¬
schaftlich gebildetes Bibliothekpersonal verfügt, um eine streng wissenschaftliche
Ordnung durchzuführen.
Sollen die Bibliotheken, wie billig, nicht nur ihrem Inhalt nach, sondern
auch in ihrer Ordnung und Aufstellung den jeweiligen Stand der Wissen¬
schaften darstellen, so wird die wissenschaftliche Aufstellung und nur diese,
wie sie an einigen Bibliotheken besteht, überall als erstes Ziel jeder Reform
anzustreben sein.
Es ist eine nicht uninteressante Wahrnehmung, zu constatiren, wie schon
das Publikum oft unbewußt auf dieses Ziel hindrängt, wenn Bücher über
denselben Gegenstand mit dem Bemerken gefordert werden, daß sie doch wol
bei einander stehen würden. Die Bücher jeder Wissenschaft sollen also in der
Aufstellung so geordnet sein, wie sich die Wissenschaft in Wirklichkeit organisch
gliedert, natürlich mit Scheidung der drei Formatklassen (Folio, Quart,
Octav :c.), da es Niemandem mehr einfallen wird, Bücher jeden Formates
neben einander zu stellen. Mehrere Werke über denselben Gegenstand sind
ebenso, wie mehrere Ausgaben desselben Werkes, in chronologischer Ord¬
nung aufzustellen.
Dabei ist es keineswegs unerläßlich, daß bei allen Bibliotheken ein voll-
kommen übereinstimmendes wissenschaftliches System zur Geltung gebracht
werde/') Wie die Ansichten über Abgrenzung und Einteilung der Wissen¬
schaftsgebiete und über die wissenschaftliche Zugehörigkeit eines Buches im
Einzelnen mannigfach auseinandergehen können, so sei dem individuellen Er¬
messen in diesen Beziehungen der breiteste Spielraum gestattet, wenn nur das
Princip wissenschaftlicher Anordnung an und für sich gewahrt bleibt. Nur
der Grundsatz ist festzuhalten, daß zu vieles specialisiren, welches die Ueber¬
sicht erschwert, vermieden werde.
Bei der Frage nach Art, Zahl und Einrichtung der Kataloge ist vor
allen Dingen weise Beschränkung auf das wirklich Nothwendige und Ver¬
meidung jedes überflüssigen Beiwerks zu fordern. Als unentbehrlich wird
man neben dem Accessions-Katalog einen alphabetischen General-
Katalog und wissenschaftliche Fach-Kataloge betrachten müssen. Wenn
der alphabetische Katalog, nach den Namen der Autoren resp, bei anonymen
Schriften nach den Stichworten geordnet, die Frage zu beantworten hat. ob
ein bestimmtes Buch in der Bibliothek vorhanden ist, oder nicht, so haben
die wissenschaftlichen Kataloge zu zeigen, welche Bücher die Bibliothek über
ein einzelnes Wissenschaftsgebiet oder üher eine einzelne wissenschaftliche Materie
besitzt. Real- oder Fach-Kataloge dagegen, in welche alle Bücher nach
alphabetischer Folge der behandelten Gegenstände eingetragen werden, sind
ebenso überflüssig wie zeitraubend und gewähren nicht den Nutzen, um den
Aufwand von Mühe und Arbeitskraft, welchen sie erfordern, zu rechtfertigen.
Jedenfalls sind sie an großen Bibliotheken und mit dem zur Zeit vorhandenen
Personal neben den nothwendigen Arbeiten undurchführbar.
Für nothwendig hält man gewöhnlich noch eine vierte Gattung von
Katalogen, die Standoitskataloge, welche die Bücher in jedem Wissen¬
schaftsfache in derjenigen Reihenfolge verzeichnen, wie dieselben in den Reposi-
torien aufgestellt sind. In der That können Standortskataloge an solchen
Bibliotheken nicht entbehrt werden, welche nicht wissenschaftlich geordnet sind,
so daß die Ausstellung der Bücher sich mit der Ordnung in den Fachkatalogen
nicht deckt. Ein Irrthum aber ist es, die Nothwendigkeit der Standorts-
kataloge auch für wissenschaftlich geordnete Bibliotheken zu behaupten. Bei
wissenschaftlicher Aufstellung erfüllen die Fachkataloge zugleich den Zweck der
Standortskataloge, welche letzteren ganz überflüssig sind, wenn, wie unten ge¬
zeigt werden soll, die Numenrung dem entsprechend eingerichtet wird.
Eine besondere Erörterung erheischt der Accessions- oder Erwerbs-
Katalog. Er hat mit der Ordnung und Benutzung der Bibliothek, wofür
der alphabetische und die wissenschaftlichen Kataloge die Grundlagen bilden,
nichts zu thun und dient lediglich Verwaltungszwecken. Indem er die Bücher
in derjenigen Reihenfolge aufführt, wie sie zugehen, hat er darüber Auskunft
zu geben, wann, wie, aus welcher Bezugsquelle und zu welchem Preise ein
Buch in die Bibliothek gelangt ist, und gleichzeitig für die Rechnungslegung
als Beweis und Controle zu dienen. Will man damit noch eine Zählung
der Bücher verbinden, um über den Gesammtbestand der Bibliothek an Werken
und Bänden einen Ueberblick zu gewinnen, so läßt sich das bequem thun.
Es muß aber noch ganz besonders hervorgehoben werden, daß alle eben be-
zeichneten Zwecke des Accessionskatalogs mit Leichtigkeit durch einen ein¬
zigen Katalog zu erreichen sind; es bedarf dazu nicht der Etablirung eines
besonderen kürzeren Manuals neben dem Accessionskatalog, der dann aus¬
führlicher gehalten wird, und am allerwenigsten ist es gerechtfertigt, die Bücher¬
titel Wort für Wort mit absoluter Vollständigkeit dem Accessionskatalog ein¬
zuverleiben. Bedenkt man, daß an einer großen Bibliothek durch ein solches
Verfahren die Kräfte von zwei Beamten allein durch die Führung des Acces¬
sionskatalogs nahezu absorbirt werden, so wird man auf diesem Gebiete thun-
ltchste Kürze und Vereinfachung als nothwendig anerkennen.
Was die Einrichtung der Kataloge anbelangt, so hat man neuerdings
mit Vorliebe Zettelkataloge angewandt, bei denen jeder Buchtitel an
einem besonderen, losen Zettel verzeichnet wird. Dem gegenüber ist daran
festzuhalten, daß für alle Kataloge, sollen sie härtlich und vor störenden
Einflüssen gesichert sein, die Bandform das Beste ist. Zettelkataloge sind
nicht nur für die Benutzung höchst unbequem, sondern auch insofern gefährlich,
als die Reihenfolge der losen Zettel nur zu leicht in Unordnung geräth, wenn
sie in ungeübte Hände kommen, oder gar ihr Gebrauch dem Publikum frei¬
gestellt wird; von der Möglichkeit des Abhandenkommens eines solchen Zettels
ganz zu geschweige«. Zudem erschweren die Zettelkataloge, namentlich be¬
Werken , welche reich an Ausgaben sind, ungemein die schnelle und sichere
Uebersicht, eine Thatsache, die sehr einleuchtend ist, .wenn man sich z. B. vor¬
stellt, daß von den zahllosen Ausgaben eines alten Klassikers, die man füg¬
lich auf wenige Blätter bringen könnte, jede ihren eigenen Zettel erhält. Zu
welchen Jnconvenienzen die mit Zettelkatalogen verbundenen Unbequemlichkei¬
ten führen können, zeigt das Beispiel einer Bibliothek, deren alphabetischer
Katalog in Zetteln geführt wird. Man reiht dort die Zettel über den jähr¬
lichen Zuwachs erst am Schlüsse des Jahres ein, weil es zu unbequem sein
würde, jeden Zettel sogleich einzeln einzufügen, und bewahrt die Zuwachs¬
zettel einstweilen in gesonderten Kapseln und in alphabetischer Ordnung auf,
etablirt mithin einen alphabetischen Nebenkatalog!
Auch die neue französische Erfindung des Herrn F. Bonnange*) be¬
seitigt zwar-die Gefahren der Zettelkataloge, läßt aber ihre übrigen Mängel
fortbestehen.
Für die Anlage des alphabetischen Katalogs ist das Göttinger
System, welches bisher erst von wenigen Bibliotheken adoptirt ist, unbedingt
zu empfehlen. Jeder Verfasser bekommt ein besonderes Blatt oder, wenn
nöthig, mehrere Blätter, und zwar in Folioformat, auf denen die einzelnen
Schriften nach alphabetischer Folge der Hauptsachworte eingetragen werden.
Wird ein Blatt, was selten geschieht, im Laufe der Zeit überfüllt, so kann
es herausgenommen und ungeschrieben werden. Desgleichen werden für
Schriftsteller, welche im Kataloge noch nicht vertreten sind, neue Blätter ein¬
gelegt, die Bände des Katalogs aber, sobald sie zu stark anschwellen, in zwei
oder mehrere zerlegt und dem entsprechend umgebunden. Es liegt auf der
Hand, daß bei der geschilderten Einrichtung die größtmögliche Uebersichtlichkeit
erzielt wird, und Einschiebungen ebenso leicht zu bewerkstelligen sind, als bei
Benutzung des Katalogs von Störungen der Ordnung im Gegensatz zu den
Zettelkatalogen keine Rede sein kann. Wenn man dieses System hie und da
in der Weise modificirt hat, daß die Einzelblätter und Blattfascikel, aus
denen der alphabetische Katalog besteht, nicht gebunden, sondern nach Art
der Zettelkataloge lose in Kapseln gelegt werden, so kann das nicht als ein
Fortschritt erachtet werden. Denn es entstehen dadurch, wenn auch in ge¬
ringerem Grade, dieselben Mängel, welche oben mit Bezug auf eigentliche
Zettelkataloge berührt sind, Unbequemlichkeit der Benutzung und Verschiebungen
der Ordnung.
Die Göttinger Einrichtung verdient insbesondere noch vor einer anderen
Idee den Vorzug, welche darin besteht, daß man die Blätter des alphabetischen
Katalogs mit großen Kosten zu einem „Album" eingerichtet hat, in welches
die Titelcopien auf losen Zetteln eingeschoben werden, wie Photographien in
ein Photographienalbum, Diese Idee läuft im Grunde nur auf einen eigen¬
thümlich gearteten Zettelkatalog mit den Mängeln eines solchen hinaus. Da
jedes Blatt des Katalogs zur Ausnahme einer fest bestimmten Zahl von
Zetteln berechnet ist, und für künftig einzuschiebende Zettel Platz gelassen wird,
geht der große Vortheil verloren, den bei der Göttinger Einrichtung die Tren¬
nung der Autoren nach Blättern für die Uebersichtlichkeit darbietet. Ferner
wird es trotz aller Vorsichtsmaßregeln nicht zu vermeiden sein, daß einzelne
Zettel sich verschieben oder gar herausfallen, und damit Störungen in der
Ordnung und im Bestände des Kataloges eintreten. Rechnet man dazu den
Zeitverlust, der durch das Einschieben der Zettel verursacht wird, so kann es
nicht zweifelhaft sein, für welche von beiden Einrichtungen man sich zu ent¬
scheiden hat.
Sehen wir weiterhin auf den Inhalt des alphabetischen Katalogs, so
soll er ein General-Katalog sein, d. h. er soll in einem einzigen Alphabet
sämmtliche selbständige Druckschriften verzeichnet enthalten, welche in der Bi¬
bliothek vorhanden sind. Daß dahin auch Dissertationen und Programm-Ab¬
handlungen gehören, versteht sich von selbst, und es führt zu erheblicher Er¬
schwerung des Geschäftsganges, wenn über diese Klasse von Schriften, wie
vielfältig geschieht, ein alphabetischer special-Katalog gehalten wird. Denn
oft wird hiedurch doppeltes Nachschlagen erforderlich, wenn man nicht sicher
ist, ob eine Schrift im Dissertationen-Kataloge oder im alphabetischen Haupt-
Kataloge zu suchen sei. Den selbständigen Druckschriften gleich zu achten sind
alle diejenigen Schriften, welche zwar Theile eines größeren Ganzen bilden,
aber eigene Titel (sog. special-, separat- oder Neben- Titel) haben.
Da Schriften dieser Art jederzeit unter ihrem separaten Titel gefordert werden
können, müssen sie auch mit demselben in den alphabetischen Katalog einge¬
tragen werden, und zwar mit dem vollen Titel an der zugehörigen Stelle
unter Verweisung auf das Hauptwerk, dessen Theile sie sind. Es ist daher
ein nicht zu unterschätzender Mangel, wenn an manchen Bibliotheken die Ver¬
weise im alphabetischen Katalog nur summarisch behandelt werden. Dagegen
sind nicht unter die selbständigen Druckschriften zu rechnen und von dem al¬
phabetischen Kataloge sowol, als von den wissenschaftlichen Katalogen auszu¬
schließen die Abhandlungen in Zeit- und Sammelschriften, deren Zahl Legion
ist. Diese zu verzeichnen, ist nicht Sache eines Bibliothek-Katalogs, sondern
einer bibliographischen Monographie, und es beruht auf Verkennung der we¬
sentlichen Unterschiede beider Aufgaben, wenn außer dem Titel der Zeit- und
Sammelschriften, der für die Zwecke der Kataloge allein ausreichend ist, auch
ihr Inhalt in die letzteren aufgenommen wird. Es wird dadurch eine so un¬
geheure Belastung der Kataloge herbeigeführt und ein solches Plus von Ar¬
beitskraft erfordert, daß schwerlich eine große Bibliothek aus Gründen der
Oekonomie des Raumes und der Zeit in der Lage sein wird» eine derartige
Einrichtung, wo sie eingeführt ist, für die Dauer aufrecht zu erhalten. — Der
alphabetische Katalog soll demnach nur die selbständigen Druckschriften, und
zwar ohne Ausnahme und mit Einschluß der Verweise, er soll aber auch nur
Druckschriften enthalten. Daraus folgt, daß die Verzeichnung und Beschrei¬
bung von Handschriften eigenen special-Katalogen vorzubehalten ist. Der
alphabetische Katalog soll endlich den gesammten Bestand an Druckschriften
in einem einzigen Alphabet vereinigt enthalten; mit anderen Worten, er
darf nicht nach Wissenschaftsfächern zersplittert werden, so daß man ebenso
viele alphabetische Kataloge führt, als man wissenschaftliche Abtheilungen be¬
sitzt (beispielsweise an einer Bibliothek über achtzig).
Welche Schriften in die wissenschaftlichen Kataloge aufzunehmen
sind, und welche nicht, dafür sind dieselben Grundsätze maßgebend, wie für
den alphabetischen Katalog. Nur ist es meistens Praxis, die Dissertationen
und Programme in die wissenschaftlichen Kataloge nicht einzeln einzutragen.
Für die Gliederung und Ordnung der wissenschaftlichen Kataloge gilt der
Grundsatz, daß die Aufstellung der Bücher sich mit ihrer Reihenfolge in den
Katalogen decken soll, mit dem einzigen Unterschiede, daß die Formate, welche
bei der Aufstellung geschieden werden, für die wissenschaftlichen Kataloge gleich-
giltig sind. Die Ausführung im Detail überlasse man dem sachverständigen
Urtheil tüchtiger Beamten. Für die äußere Einrichtung der wissenschaftlichen
Kataloge hat man empfohlen, zunächst nur die eine Seite (Kehrseite) jedes
Blattes zu beschreiben und die nebenstehende Seite für die Nachträge frei zu
lassen. Praktischer ist es, stets nur die Vorderseite zu beschreiben und bei
Nachträgen nach Bedürfniß neue Blätter einzulegen.
Mit den Fragen der Ordnung und Katalogifirung hängt die gegenwär¬
tig wieder lebhafter ventilirte Frage der Nummerirung aufs Engste zu¬
sammen.*) Unter den verschiedenen Systemen, welche in dieser Beziehung
in Uebung sind, ist das sogenannte Fest n ag el ung s system das allerver-
werflichste. Das Festnagelungssystem, welches die Bücher ein für allemal an
den Platz bindet, den sie einmal eingenommen haben, hindert die freie Be¬
weglichkeit, macht Anstellungen und Einschiebungen unmöglich und ist mit
der geforderten wissenschaftlichen Aufstellung unverträglich. Die gewöhnlichste
Methode ist die, daß man die Bücher in jedem Wissenschaftsfache unabhängig
von dem Standort mit fortlaufenden Nummern versieht. Dieses kann auf
dreierlei Weise geschehen. Entweder zählt man jedes der drei Formate für
sich von Eins an, so daß man parallele Nummernreihen erhält, oder man
bezeichnet die drei Formate nach einander mit einer einzigen durchlaufenden
Nummernreihe, indem man bei Folio anfängt, bei Quart fortfährt und mit
Octav schließt, oder endlich man nummerirt die Bücher ohne Rücksicht auf die
Formate in derjenigen Reihenfolge, wie sie in den wissenschaftlichen Kategorien
stehen.**) Die letzte Methode ist den beiden anderen vorzuziehen, bei denen
man, zum Zwecke der Nummerngebung für den Zuwachs, Standortskataloge
nicht entbehren kann. Noch empfehlenswerther, well sehr bequem, ist eine
eigenthümliche Nummerirungsart, welche in Göttingen und Bonn einge¬
führt ist. Danach nummerirt man die Bücher nicht absolut, sondern relativ
mit der Pagina des wissenschaftlichen Katalogs, giebt also den Werken
welche auf derselben Seite verzeichnet sind, auch dieselbe Nummer. Freilich
ergeben sich hieraus identische Nummern für Bücher verschiedener Formatklassen
oder für mehrere Bücher desselben Formates; indessen das ist in der Praxis
kein Uebelstand, wenn dafür Sorge getragen wird, daß nicht zu viele Bücher
auf einer Seite stehen.
Besondere Berücksichtigung verlangt der Umstand, wenn Einschiebungen
eintreten, wie sie bei jeder planmäßigen Aufstellung, der wissenschaftlichen so¬
wohl, als der alphabetischen, unausbleiblich sind. In Folge dessen ist bei
der Nummerirung auf die noch fehlenden Werke und solche Schriften, welche
künftig erscheinen können, Rücksicht zu nehmen. Man hat zu dem Zwecke
„springende" Nummern und im Nothfall Einschaltungs-Nummern ver¬
mittelst Buchstaben-Exponenten in Anwendung gebracht.
Mit der Nummerirung ist schließlich noch die Fachbezeichnung zu ver¬
binden, durch welche die Zugehörigkeit jedes Buches zu der betreffenden wissen¬
schaftlichen Abtheilung ausgedrückt wird. Es ist unstreitig am natürlichsten,
einfachsten und praktischsten, für die Fachbezeichnung den vollen Namen des
Wissenschaftsfaches in abgekürzter Form zu wählen, am besten in lateinischer
Sprache. Statt dessen hat die Mehrzahl der Bibliotheken ein oft höchst com
plicirtes System von Buchstaben und Zahlen eingeführt, um die verschiedenen
Wissenschaftsfächer und deren Unterabtheilungen zu bezeichnen. Die Folge
davon sind Fachbezeichnungen, bei denen man sich nichts zu denken vermag,
und die sich dem Gedächtnisse nicht einprägen, wenn es darauf ankommt, ein
verlangtes Buch schnell zu holen. Um nur ein Beispiel anzuführen: welche
Bezeichnung ist verständlicher und leichter zu merken, die mit dem Namen
des Wissenschaftsfaches, wie „Polit. (Politica) 1326", oder die Signatur
ä, XVI, in, 356»? Wozu überhaupt bedarf es neben der Bezeichnung
des Hauptfaches noch besonderer Hervorhebung von Unterfächern, Abtheilungen
und Unterabtheilungen! Und warum zählt man in jeder Unterabtheilung
von Eins an, warum genügt nicht eine Zählung für das ganze Fach l
Doch genug! Wir sind am Ende. Haben wir uns bisher mit den Ein¬
richtungen der Bibliotheken selbst beschäftigt, so wird es nicht überflüssig sein,
in einem zweiten Artikel auf die bibliothekarischen Personal-Verhältnisse ein¬
Die Agrarfrage hat in der neuen Zeit an jener Bedeutung verloren,
welche sie im Alterthume und im Mittelalter gehabt hat, weil durch die gro߬
artige Entwicklung der Industrie, der Schifffahrt und der Colonisatio?l in
Amerika und Australien der Expansion der Bevölkerung unermeßliche neue
Gebiete eröffnet wurden und es von Jahr zu Jahr leichter wird nach Un¬
glücksfällen des Lebens neue Laufbahnen zu ergreifen. Gleichwohl zeigt die
in unsern Tagen vollstreckte große Reform in Rußland, wodurch 20 Millionen
Leibeigene in freie, bäuerliche Grundeigenthümer umgewandelt wurden, daß
sie immer noch ein gewichtiger Factor im Völkerleben geblieben ist.
Als einst Gervinus in den Neactionsjahren wegen seiner Prophezeiung
über den künftigen Sieg der Demokratie im letzten Jahrzehnt unseres Jahr¬
hunderts, durch welche Bismarck ein Viertel-Jahrhundert vorher einen Strich
gemacht hat, vor dem Gericht zu Mannheim Rede stehen mußte, machte er
auf die geschichtliche Entwicklung aufmerksam, in welcher die Herrschaft all-
mälig von den Wenigen zu den Vielen übergeht und fügte bei, daß drei
Männern die Ehre dieses Gedankens zukomme, Aristoteles, Hegel und ihm.
Wir konnten zwar nicht begreifen, welche Ehre Hegel und Gervinus deshalb
zukomme, daß sie einen Ausspruch des Aristoteles wiederholten, wir knüpfen
aber daran an, weil Aristoteles sich wahrscheinlich in gleicher Lage befand,
weil seine nachhaltige Bedeutung für die Jetztzeit, welche die aller übrigen
Weisen des Alterthums übertrifft, darin bestand, daß er der Codificator alles
bewährten Wissens seiner Zeit war, welches seinerseits ja auch wieder aus
den Ideen der hervorragendsten Denker der vorher verflossenen Jahrtausende
zusammengetragen war. Darin liegt ja auch die Überlegenheit der uns über¬
kommenen Werke des Aristoteles über die Plato's, daß dieser mehr seine
eigenen Wege wandelt, während der Erstere sich die ganze Cultur des Alter¬
thums assimilirte und als wahrer Bildungsträger der Gedankensolidarität der
Menschheit, unserer Zeit vermachte. Aus diesem Grunde haben Aussprüche
des Aristoteles stets das Gewicht von erprobten Erfahrungen, ja von Lehr¬
sätzen. Ein solcher Satz ist der Ausspruch des Lehrers des großen Alexander
daß die besten Zustände die mittleren seien. Dieser Satz findet seine volle,
Anwendung auch noch in unserer Zeit und namentlich bei der Frage, welcher
Umfang des Grundeigenthums für die Entwicklung der Staaten am zuträg¬
lichsten ist.
Diese Frage hat eine technisch - landwirtschaftliche und eine social-poli¬
tische Seite. In der ersteren Beziehung handelt es sich darum, zu bestimmen,
welcher Umfang des Grundeigenthums in einer Hand dem Rohertrag und
welcher dem Reinertrag am zuträglichsten ist. In der letzteren Hinsicht ist
zu ermitteln, welcher Umfang des Grundeigenthums die Steuer- und Wehr¬
kraft des Volkes am meisten stärke und dem Staate die größte Dauerhaftig¬
keit verleihe.
In technisch - landwirtschaftlicher Beziehung ist als ausgemacht anzu¬
nehmen, daß kleiner Umfang des Grundeigenthums in einer Hand größeren
Rohertrag, und daß großer Umfang größeren Reinertrag herbeiführt. In
social-politischer Beziehung aber ist die Erfahrung gemacht worden, daß ein
Zustand, wo das Grundeigenthum in wenigen Händen concentrirt wird, dem
inneren Frieden des Staates gefährlich wird und denselben zuletzt gegen Außen
gefährdet, weil die Menge, die Selbständigkeit, der Wohlstand und die Kraft
der Bevölkerung beeinträchtigt und untergraben wird. Das warnendste Bei¬
spiel hat in dieser Beziehung das einstige Römerreich gegeben, an dessen Unter¬
gang die Latifundien-Wirthschaft eine der hervorragendsten inneren Ursachen war.
Die Frage hat nicht blos ihre innere staatliche Wichtigkeit, sondern auch
eine internationale Bedeutung, weil es bei dem regen, geistigen, wirthschaft¬
lichen, religiösen und politischen Verkehr der civilisirten Völker nicht gleichgiltig
für das eine Volk ist, ob das andere emporblüht oder an innerem Krebs
dahinsieche. So gut es für das eigene Land von Interesse ist, daß in den
Nachbarländern religiöse Zwietracht oder Krieg vermieden, daß eine richtige
Verkehrs- und Handelspolitik beobachtet werde, daß geeignete sanitätspoli¬
zeiliche Vorkehrungen gegen Seuchen und Epidemien getroffen werden, ebenso gut
kann uns daran liegen, daß die Gesetzgebung in den Ländern, mit welchen wir
in freundschaftlichem Verkehr stehen, nicht von Mängeln behaftet sei, welche
eine künftige Gefahr in sich bergen. Oft hat darin der Fremde einen unbefan¬
generen Blick als der Einheimische. So kommt es ja auch, daß Stimmen
des Auslandes über die inneren Zustände einer Nation fast immer mit größerer
Aufmerksamkeit beachtet zu werden pflegen als die der Eingeborenen selbst.
Wir hoffen daher, daß es uns nicht als Ueberhebung ausgelegt werde, wenn
wir, obgleich mit England nur durch mehrere Reisen persönlich bekannt, doch
die Agrarverhältnisse einer Untersuchung unterziehen und dabei über die den¬
selben drohenden Gefahren unsere warnende Stimme erheben.
Das System des großen Grundeigenthums mit theilweiser Latifundien¬
wirthschaft besteht als ein fast ausschließliches in Mecklenburg, in Italien, in
Großbritannien und Irland und gewissermaßen auch in der Türkei. Das
entgegengesetzte System existirt in der Schweiz, wo es gar kein großes Grund¬
eigenthum giebt, so daß einzelne Höfe von über 200 Morgen schon zu den
größten Seltenheiten gehören. Ein gemischtes System findet im übrigen
Deutschland, Frankreich, Oesterreich, Rußland und Skandinavien statt, wo
der Boden zwischen freien Bauern und mehr oder weniger großen Grundbe¬
sitzern getheilt ist. Wir haben vor einigen Jahren das Verhältniß der ver¬
schiedenen Staaten zu einander in eine Tabelle zu fassen versucht und haben
das nachfolgende Resultat erhalten, bei dem nur zu bedauern ist, daß die zu
Grunde liegenden Erhebungen der amtlichen Statistik nicht sämmtlich dasselbe
Jahr betreffen.
In den übrigen Staaten ist entweder die Satistik der Berufsarten nicht
erhoben worden oder nicht in der Art specificirt, um die Grundeigenthümer
ausscheiden zu können. Die Verschiedenheit der Entwicklung des Grundeigen¬
thums, welche aus dieser Zusammenstellung hervorleuchtet, ist theils ein Er¬
gebniß der historischen Entwicklung, theils der mit derselben zusammenhängen¬
den Gesetzgebung. Sie hängt namentlich zusammen mit der Art und Weise,
in welcher man in den verschiedenen Ländern mit der Hörigkeit und den aus
ihr hervorgegangenen bäuerlichen Lasten ausgeräumt hat. In Frankreich wur¬
den sie durch die erste Revolution zu Ende des vorigen Jahrhunderts mit
einem Male hinweggefegt; der südwestliche Theil Deutschlands theilte dieses
Schicksal, während der Rest der Frohnden und die Nobott im übrigen Deutsch¬
land und in Oesterreich erst in Folge der Revolution im Jahre 1848 abgelöst
wurden. Die Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland geschah erst in un¬
seren Tagen; die Ablösung, mittelst welcher sie ausgeführt wurde, wird bereits
in einigen Jahren abgetragen sein. Mit Ausnahme Mecklenburgs und Ita¬
liens endigte auf dem Continente der große Akt der Befreiung der ländlichen
Bevölkerung damit, daß die Bauern freie Grundeigenthümer wurden und daß
im ganzen Großen die Theilbarkeit und der freie Besitzwechsel des Grund¬
eigenthums gesetzlich festgestellt wurde, wenn auch hie und da für einen klei-
neren Theil des Grundeigenthums noch Fideicomisse beibehalten oder neu
errichtet wurden. In Großbritannien hatte der Befreiungsakt viel früher be.
gönnen und war ohne gewaltsame Revolutionen bereits durchgeführt worden
noch bevor in Deutschland und Frankreich durch Bauernkrieg und Jaquerie
die ersten Vorboten davon aufgetaucht waren. Schon im 14. Jahrhundert
war die Emancipation der Hörigen in England vollendete Thatsache. Dafür
hat aber auch die Entwicklung der Eigenthumsverhältnisse eine ganz entgegen¬
gesetzte Wendung als in den genannten Staaten des Continents genommen.
Während die an die Scholle gebundenen Bauern in den letzteren sammt ihrem
Grund und Boden aus dem Hörigkeitsverbande entlassen wurden, verblieb das
Land in Großbritannien den Feudalherrn. Dort hatte der Normann Wilhelm
durch die Eroberung sich zum Obergrundherrn eingesetzt, welcher den Grund¬
besitz unter seinen Mannen vertheilte, und dieses Recht bestand, wenn auch nur
als Fiction, bis in die neueste Zeit fort. Auf dieser Basis hat sich das po¬
litische Eigenthums - und Erbrecht ganz im Geiste des mittelalterlichen Rechtes
fortentwickelt, indem ein Unterschied zwischen dem Grundeigenthum und dem
beweglichen Vermögen gemacht wurde. Das letztere wird gleich dem Allod
gemäß dem gemeinen Notherberecht vererbt ohne einen Unterschied unter den
Kindern zu machen. Das erstere aber steht jetzt, wo das Obereigenthums¬
recht der Krone nur noch eine Fiction ist, zur unbeschränkten Verfügung des
jeweiligen Besitzers.
Der britische Grundeigenthümer kann mit seinem Erbgut machen, was
er will und ist durch kein Pflichttheil eines Kindes gebunden. Hingegen hat
sich durch eine, nunmehr allmächtig gewordene Sitte eine Art factischen Majo¬
rats herausentwickelt, welches bei dem ganzen Hauptstock, d. h. wenigstens
neun Zehnteln sämmtlichen Grundeigenthums in England und Wales, in
Schottland und Irland in Kraft ist. Der jeweilige Besitzer verfügt nach
seinem Gefallen über sein Grundeigenthum,, er kann es auch verkaufen oder
durchbringen. In der Regel hinterläßt er es aber testamentarisch seinem
ältesten Sohne. Um das Grundeigenthum in der Familie festzuhalten und
vor den Streichen eines verschwenderischen Sohnes zu schützen hat sich, wo es
nur irgend angeht, eine noch weiter führende Praxis ausgebildet. Der Gro߬
vater setzt testamentarisch den ältesten Enkel zum Erben seines Grundeigen¬
thums ein und der Sohn hat nur die Nutznießung und kann nicht über die
Substanz verfügen. Die übrigen Kinder erhalten das mütterliche Vermögen
oder einen entsprechenden Antheil an dem beweglichen Vermögen, welches der
Vater aus dem Einkommen erspart hat. Die Folge dieser Entwicklung des
Eigenthumrechtes und der Vertheilung des Grundeigenthums ist. daß die
Hauptmasse des Grund und Bodens im Besitz des Landadels geblieben ist
und daß es nur ausnahmsweise noch andere Personen aus dem Bauern- und
dem Gewerbe- oder Handelsstande giebt, welche noch Grundeigenthum besitzen.
Darunter sind aufzuführen wenige kleine Landwirthe oder Bauern, welche sich
aus der ältesten Zeit unabhängig erhalten haben oder nach und nach verarmt
sind oder solche, die durch Industrie und Handel reich geworden sind und ihr
Vermögen sodann in Grundbesitz angelegt haben, um sich von den Geschäften
zurückzuziehen. Außer diesen Grundeigenthümern von Beruf giebt es noch
solche, deren Hauptaufgabe eine andere ist, die ihren Lebensunterhalt in der
Hauptsache aus der Industrie, dem Handel, dem Verkehr und anderen Be¬
schäftigungen schöpfen, aber noch nebenbei ein kleines Grundstück entweder
zu ihrer Geschäftsanlage oder ihrer Erholung besitzen. Darunter sind Fabri¬
kanten zu rechnen, welche den Grund und Boden, auf dem ihre Anlagen
stehen, gekauft haben und Kaufleute oder Rheder, die sich ein Landhaus an¬
geschafft haben.
Im 11- Jahrhundert hatte Wilhelm der Eroberer 60.000 Landlose an
das Heer vertheilt, mit welchem er England erobert. Daneben waren aber
noch viele freie Sachsen im unbeschränkten Besitz ihres Grundeigenthums oder
wenigstens eines Theiles desselben geblieben. Noch heut findet sich eine gute
Anzahl solcher kleiner Freisassen in der Grafschaft Kent. Sonach hat es in
England allein im 11. Jahrhundert mehr als 60,000 Grundeigenthümer von
Beruf gegeben, bet einer Bevölkerung, deren Zahl zwar unbekannt ist, welche
aber keinesfalls mehr als ein Viertheil der jetzigen erreicht haben kann. Was
aus dieser Zahl selbständiger Grundeigenthümer im Laufe der Zeit geworden
ist, das hat sich bis um die Mitte unseres Jahrhunderts der öffentlichen
Controle entzogen. Um so überraschter war man daher, als sich, nachdem
die Ausscheidung der Bevölkerung nach Berufsarten zuerst in England Auf¬
gabe der amtlichen Statistik geworden war, herausstellte, daß die Zahl der
Grundeigenthümer, trotzdem die Bevölkerung um mehr als das Vierfache ge¬
stiegen war, auf die Hälfte herabgesunken ist. Denn da die Bevölkerung von
ganz Groß-Britannien (England, Wales und Schottland) im Jahr 1811
nur 12,596,803 Einwohner zählte, so ist jene Schätzung für 8 Jahrhundert
vorher gewiß nicht zu niedrig gegriffen. Seit 1811 hat sich die Bevölkerung
trotz eines gesteigerten Beitrags zur Auswanderung verdoppelt wegen der
größern Erwerbsfähigkeit, welche die Erfindung der Dampfmaschine, der
Werkzeug- und Fabrikationsmaschinen, die Errichtung der Eisenbahnen und
Dampfschifffahrt, sowie die große Ausdehnung der Kohlen-, Eisen- und Baum-
Woll-Jndustrie u. s. w. mit sich gebracht hat. Dieselbe Bewegung, welche für
Industrie und Verkehr neue Bahnen erschloß, versah auch die Landwirthschaft
mit Arbeit sparenden neuen Maschinen und Geräthschaften, welche einen gro-
ßen Umschwung in diesem Gewerbe hervorbrachten. Allein, während einer¬
seits der Fortschritt in der Industrie und im Verkehr die Mittel zur Ernäh¬
rung der doppelten Anzahl der Bevölkerung schuf, machte der technische Auf¬
schwung in der Landwirthschaft Arbeitskräfte entbehrlich, welche von da in
die Industrie abzogen.
Gleichwohl vermehrte sich die landwirthschaftliche Production in Folge
der rationellen Verbesserung des Betriebs in einer Weise, daß die Einfuhr
von Lebensmitteln aus dem Auslande nicht in demselben Maßstabe wie die
Bevölkerung sich vermehrte, denn während die Bevölkerung von 1811 an in
Großbritannien in S0 Jahren von 12 auf 24 Millionen stieg, wurde im
zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts nur der 33. Theil derselben mit frem¬
dem Weizen ernährt, im 3. und 4. Jahrzehnt nur der 29. Theil, im 5. Jahr¬
zehnt der 7. Theil und auch gegenwärtig wird nur höchstens der 3. Theil des
in Großbritannien verzehrten Getreides aus dem Auslande bezogen.
Bevor diese Erscheinung in größerem Maßstabe zu Tag getreten, war
jene Verschiebung der Bevölkerung aber auch bereits durch den Aufschwung
in der Industrie und dem Verkehr selbst hervorgerufen worden, indem länd¬
liche Arbeiter durch die höheren Löhne in den Fabriken und Bergwerken an¬
gelockt und der Landwirthschaft entfremdet wurden; andererseits aber die Land¬
wirthschaft genöthigt wurde, Ersatz mittelst verbesserter Maschinen zu suchen.
Am stärksten war diese Umwälzung in der landwirthschaftlichen Production
nach der Aushebung der Korngesetze im Jahr 1846. Die englischen Land¬
wirthe, welche von dieser Maßregel ihren Untergang geweissagt hatten, waren
genöthigt, um sich der Concurrenz der billiger producirenden Getreide-Erzeuger
zu erwehren, ihren Betrieb zu reformiren. Es wurde die Drainirung im
größeren Maßstabe durchgeführt und dadurch, wie durch die Herbeischaffung
neuer, mächtigerer Dungmittel der Ungunst des feuchten Klimas ein Damm
gezogen. Die massenhafte Einführung des Guanos, die größere Verwendung
des Knochenmehls, Gypses und Salzes, die Befolgung des Liebig'schen Ge¬
setzes mittelst chemischer Düngersorten, die Einführung der Dampfdreschma¬
schinen, der Mähmaschinen und des Dampfpfluges bahnten in einem großen
Theile von England die Hochcultur an, während andererseits die beispiellose
Veredlung der Hausthiere, namentlich der Pferde- und Rindviehzucht die be¬
treffenden Züchter durch die erzielten enormen Preise mehr und mehr von dem
Getreidebau emancipirten. Die Folge war, daß viele Großgrundbesitzer, na¬
mentlich in Irland einen großen Theil ihrer Ländereien in Weideplätze um¬
wandelten, wodurch wieder zahlreiche Arbeitskräfte entbehrlich wurden.
Diese, nun in ihren großen Umrissen hier geschilderte Bewegung ist mit
Keilschrift in den Tafeln der Bevölkerungszählungen eingegraben. Die Be¬
völkerungszahl ist es ja, in deren Abnahme und Zunahme sich am deutlichsten
das Schicksal der Nationen abspiegelt. Dies läßt sich am klarsten bei dem
Vergleich eines Jahres, in welchem Krieg, Theuerung, oder epidemische Krank¬
heiten herrschten, mit den anderen Jahren erkennen. Ein Riß geht da durch
die Bevölkerung gleich der Lücke, welche eine Lawine oder ein Orkan in einem
Bergwald gerissen. Jede der zehnjährigen Volkszählungen seit 1811 weist
eine Vermehrung der industriellen Bevölkerung auf, welche mit derjenigen der
Gesammtvolkszahl sowie mit der Entwicklung des Handels gleichen Schritt
hält, während andererseits die landwirthschaftliche Bevölkerung in dem gleichen
Maße sich verminderte. —
Während die Gesammtbevölkerung sich seit jenem Jahr verdoppelt, der
Ausfuhrhandel sich versechsfacht hat, ist die Zahl der landwirthschaftlichen
Bevölkerung um mehr als ein Drittheil herabgegangen. Das Verhältniß
der Industriellen vermehrte sich dagegen um 70 Procent. Diese Verminderung
hat im letzten Jahrhundert noch größere Dimensionen angenommen. Im Jahr
1861 waren in England und Wales bei einer Gesammtbevölkerung von
20,066.224 Personen 2,010.434 productiv in der Landwirthschaft beschäftigt;
im Jahr 1871 aber bei einer Gesammtbevölkerung von 22,712.266 nur noch
1.6S7.138, wovon 1,470.442 Männer, und 186.696 Frauen. Dieses Zusam¬
menschmelzen der landwirthschaftlichen Bevölkerung würde an und für sich
keine bedenkliche Erscheinung sein, wenn sie nur die Bedeutung hätte, daß ein
größerer Theil der ländlichen Bevölkerung durch das Aufblühen der Industrie
und des Verkehrs in gewerbliche Beschäftigungen gezogen wird und daß die,
in den bis dahin verwendeten Arbeitskräften entstandene Lücke durch Maschi¬
nen und rationelleren Betrieb wieder ausgefüllt wird. Allein diese Bewegung
zeigt eine viel bedenklichere Seite durch die fortgesetzte Verminderung der
Grundeigenthümer, mit welchen eine Zunahme der größeren Gütercomplexe,
eine Verminderung der kleinen und mittleren Pachthöfe sowie der Pächter und
der Arbeiter Hand in Hand geht. Von den weit über 60.000 Rittergütern
des 11. Jahrhunderts ist trotz der enormen Zunahme der Bevölkerung kaum
die Hälfte übrig geblieben. Nach der Volkszählung von 1861 waren in die¬
sem Jahre nur noch 30.766' männliche und weibliche unabhängige Grund¬
eigenthümer vorhanden, welche aus ihren Ländereien ihr Haupteinkommen be¬
zogen. Als, das Resultat dieser Zählung im Jahre 1864 bekannt wurde,
lenkte es zum ersten Male die Aufmerksamkeit englischer Staatsmänner auf
diese bedenkliche Erscheinung und John Bright sah sich damals zum ersten
Male veranlaßt ein neues Losungswort unter das englische Volk zu werfen,
welches seit dem Scheitern der Chartisten-Bewegung, die allerdings socia¬
listische, ja communistische Velleitäten verrathen hatte, gegen die Agrarfrage
gleichgiltig geworden war. In einer jener öffentlichen Reden, in welchen die
englischen Staatsmänner Ton und Richtung der Politik anzugeben pflegen,
erklärte er die Reform des englischen Eigenthumsrechtes, die Abschaffung der
unbeschränkten Verfügung über das Grundeigenthum für eine Lebensfrage
der friedlichen Fortentwicklung der britischen Nation. Von der Times der
Hinneigung zum Communismus angeklagt, wurde John Bright von seinem
Freunde Richard Cobden kurz vor dessen zu frühem Dahinscheiden in einer
Zuschrift an das genannte Weltblatt in Schutz genommen. Die erstaunliche
Verminderung der Grundeigenthümer hatte aber auch die Aristokratie selbst
so überrascht, daß sie an die Wahrheit dieser Thatsache nicht glauben wollte.
Unter der Annahme, daß in der Bevölkerungsaufnahme oder in den Berech¬
nungen des statistischen Bureaus ein Irrthum sich eingeschlichen haben müsse,
ließ sie eine Privatzählung veranstalten. Triumphirend wurde verkündet, daß
deren Zusammenstellung weit mehr als 100.000 Grundeigenthümer heraus¬
gebracht habe. Nun wäre diese Zahl im Verhältniß zu Preußen, Oesterreich
oder Frankreich eine immer noch auffallend geringfügige; allein auch dieser
Trost stellte sich als ein hinfälliger heraus, weil schon eine oberflächliche
Prüfung ergab, daß die Privatzählung der Aristokratie auch alle diejenigen
mit aufgenommen hatte, welche einen anderen Hauptberuf haben, also
z. B. eine Fabrik oder ein Handelsgeschäft betreiben und nur zufällig
nebenbei auch noch ein Landgut oder ein anderes Grundstück besitzen, während
das statistische Bureau wie die aller übrigen Länder bisher nur die Haupt¬
berufsart verzeichnet hat. Bei der Zählung von 1871, welche wegen des eben
erwähnten Zweifels mit ungewöhnlicher Sorgfalt vorgenommen wurde, haben
sich die 1861 gemachten Wahrnehmungen in wahrhaft Schrecken erregender
Weise bestätigt. Denn innerhalb 10 Jahren war die Zahl der Grundeigen¬
thümer wieder, und zwar fast um ein Viertheil gesunken, denn es waren nur
noch 22,964 weibliche und männliche selbständige Grundeigenthümer vorhanden.
Dieses Ergebniß erschien denn selbst der Negierung so ausfallend, daß sie,
obgleich das statistische Bureau für die Volkszählungen, an dessen Spitze der
verdienstvolle William Farr steht, ausdrücklich auf jenen Umstand aufmerk¬
sam gemacht und die Anfertigung einer genauen Liste der Grundeigenthümer
von Profession begonnen hatte, sich gleichwohl veranlaßt fand, eine Svecial-
Untersuchung über diesen Gegenstand anstellen zu lassen, deren Resultaten wir
noch entgegensehen. Dieser Schritt ist um so begreiflicher, wenn man bedenkt,
daß in Preußen im Jahr 1861 auf I8V2 Millionen Einwohner 761,000 und
in Frankreich 1866 bei einer Gesammtbevölkerung von 38 Millionen gar
3,266,000 selbständige Grundeigenthümer sich vorfanden. Dieses Mißverhält¬
niß hat sich in Schottland noch mehr in der genannten Richtung entwickelt
und in Irland noch stärker als in Schottland. Die Bewegung erhält noch
eine deutlichere Gestalt, wenn man die Veränderung in der Zahl der Höfe,
der Pächter und der Arbeiter in den Jahren 1851 und 1871 vergleicht.
In diesen 20 Jahren hat sich die Zahl der Pächter und des landwirth-
schaftlichen Gesindes vermindert, die der Guts- und Weide-Administratoren
sich vermehrt. In derselben Zeit sind in 17 Grafschaften namentlich die
kleinen Pachthöfe — von selbständigen Bauernhöfen ist ja in Großbritannien
überhaupt nicht die Rede — zurückgegangen, während die über 300 Morgen
großen sich vermehrt haben. Diese Vermehrung ist gerade am wesentlichsten
von den Pachthöfen über 400 Morgen an, von denen die letzteren innerhalb
jener 20 Jahre um 120, die von 400 — 300 um 92, die bis 600 um 99,
bis 700 um 71. die von 1000 und 1200 um 43, die über 2000 um 26 Güter
sich vermehrt haben. Auf der anderen Seite haben sich die kleinen, und na¬
mentlich die mittleren Pachthöfe um 10,000 mit zusammen 400,000 englischen
Morgen verringert. In entsprechender Weise hat sich auch die Zahl der Pächter
der kleinen und mittleren Höfe vermindert und die der größeren vermehrt.
Die Pächter mit Höfen unter 100 Morgen haben sich um über 6000 ver¬
mindert. Gleichzeitig hat sich die Zahl der ländlichen Arbeiter in folgender
Weise vermindert. 1831 gab es einschließlich der Schäfer Und Dienstboten
ausschließlich der Arbeiter, deren Beschäftigung nicht genau bekannt ist,
1.110,311 ländliche Arbeiter; im Jahre 1861 — 1,098,261 und im Jahre
1871 nur noch 922,034. Als ein Moment von Bedeutung darf dabei her¬
vorgehoben werden, daß die Pächter, welche gar keine Dienstboten halten
können, in 17 Grafschaften Englands innerhalb 20 Jahren von 23,340 auf
23,618 sich vermehrt haben. Dagegen hat die Zahl derjenigen Pächter, welche
1 Arbeiter halten können, um 2300, die welche 2 um 1850, die welche 3
um 1300 und die welche 4 um 1350, die welche 5 um 400 und die, welche
6 Arbeiter halten können um 323 sich vermindert. Dabei darf übrigens nicht
übersehen werden, daß von 1861 auf 1871 die Zahl derjenigen selbständigen
Unternehmer, welche landwirthschaftliche Arbeiten mittelst Maschinen in Accord
übernehmen, von 1441 auf 2152 gestiegen ist. In der Regel sind es Dampf¬
dreschmaschinen, ausnahmsweise auch Dampfpflüge, mit welchen solche Unter¬
nehmer von Hof zu Hos. von Ort zu Ort ziehen, ein Verfahren, welches sich
bereits auch am Rhein eingebürgert hat. Uebrigens hat jeder größere Pächter
seine eigene Dampfdreschmaschine. An Getretdemähmaschinen, welche eine
außerordentliche Vervollkommnung erlangt haben und wovon eine die Arbeit
von zehn Leuten verrichtet, sollen im vorigen Sommer wenigstens 40,000 in
Thätigkeit gewesen sein. Bisher legte die Getreidemähmaschine die geschnittene
Frucht nach jeder Umdrehung in kleinen Haufen hin und Arbeiter mußten
folgen, um dieselben in Garben zu binden. In neuerer Zeit ist nun auch
noch eine Garbenbindemaschine erfunden worden. Ueberhaupt ist bet der
ganzen Frage wohl zu beachten, daß die landwirthschaftliche Maschinerie seit
den Weltausstellungen eine Vollkommenheit erreicht hat, von der man in der
vorigen Generation keine Ahnung hatte. Gleichwohl ist die Anwendung der
landwirthschaftlichen Maschine auch in Großbritannien nur eine theilweise,
sie ist auch dort im Ganzen, Großen immer noch in der Einführung begriffen.
Bei meiner letzten Anwesenheit in England sah ich zwar zahlreiche Dampf¬
dreschmaschinen auf den Pachthöfen in Thätigkeit, aber ebenso erblickte ich
zu meinem großen Erstaunen in einer Vorstadt von Leeds einen Mann ganz
allein in seiner Tenne beim Korndreschen mit dem Flegel.
Mögen die, namentlich entlegenen Gegenden auch noch weniger der neuen
Maschinerie sich bedienen, so ist doch eine Erscheinung als ausgemacht festzu¬
halten, daß die fortschreitende Vervollkommnung der landwirtschaftlichen
Maschinen und zwar nicht blos der Bestellungsgeräthschaften, sondern auch
der Erntemaschinen die englischen Landwirthe immer unabhängiger von den
Arbeitern macht und daß dieselben sich nicht blos verringern, weil sie von der
Industrie und der Auswanderung angezogen werden, sondern auch, weil die
Thätigkeit von vielen unter ihnen durch Maschinen ersetzt und weil infolge
der von Jahr zu Jahr erleichterten Concurrenz der ausländischen Getreide¬
producenten und der Veredlung der Viehzucht immer mehr Ackerboden in
Waideland umgewandelt wird. Die letztere Bewegung hat namentlich in Ir¬
land am meisten um sich gegriffen, einestheils weil dasselbe wegen seines
feuchten Klimas zum Getreidebau wenig geeignet, anderntheils, weil die gro¬
ßen Grundbesitzer, namentlich die englischer Abstammung, sich von ihren, als
Spielball der irischen Nationalpartei dienenden Pächtern zu emancipiren suchen.
Wer die Geschichte der letzten 10 Jahre verfolgt hat, wird sich erinnern, wie¬
viel über die Härte und Rücksichtslosigkeit irischer Grundherren geklagt wurde
und wieviele Pächter aus ihrer Heimath verstoßen wurden.
Um das Bild übrigens zu vervollständigen, müssen wir noch einiger
Wirkungen gedenken, welche der Großgrundbesitz in England mit sich bringt.
Die Zahl der Pächter männlichen und weiblichen Geschlechts beträgt in Eng¬
land und Wales nach der Zählung von 1871 260,000. Diese Pächter befin¬
den sich zum größten Theil in guten Umständen, weil der Pachtzins im Durch¬
schnitt ziemlich niedrig angesetzt ist und Betriebscapital in der Regel leicht
und zu niedrigen Zinsen zu haben ist. Das große Grundeigenthum hat es
mit sich gebracht, daß in Großbrittannien Hypothekenbanken überhaupt nicht
bestehen. Deshalb ist dort der bewegliche Agrarcredit mehr ausgebildet als
auf dem Continent. Da nun die Pächter kaum soviel Zins zu zahlen haben,
als die freien Bauern des Continents für das in ihren Höfen steckende active
und passive Capital ansetzen müssen, vielleicht oft nicht mehr, als mancher
Bauer an Interessen für seine Schulden zu bezahlen hat, so stehen die bri¬
tischen Pächter sehr gut und in der Regel besser als unsere freien Bauern,
insbesondere diejenigen, welche über 20 englische Morgen in Pacht haben,
welche immerhin die Mehrheit bilden. Es wird in dieser Beziehung eine sehr
lehrreiche Anekdote erzählt. Ein Grundbesitzer entschloß sich, weil seine Ein¬
künfte für die Deckung außerordentlicher Ausgaben nicht reichten, die Hälfte
eines Gutes zu verkaufen, dessen andere Hälfte der Käufer zugleich pachtete.
Nach 10 Jahren machte der Letztere dem Gutsherrn ein annehmbares Kauf-
gebot auch für die andere Hälfte. Als der Gutsherr sein Erstaunen darüber
ausdrückte, daß der Pächter schon nach 10 Jahren im Stande war, die andere
Hälfte des Hofes aus dem Ertrag zu bezahlen, während er mit dem Pacht¬
zins nicht gereicht habe, löste der Pächter das Räthsel durch die einfache
Parallele des beiderseitigen Lebenslaufes. den Unterschied zwischen dem die
Hände in den Schoß Legen des Grundherrn und zwischen der Genügsamkeit,
Sparsamkeit und Arbeitsamkeit des Unternehmers. Ein Umstand ist noch
dabei zu erwähnen, daß die englischen Pächter größere Erwerbsgelegenheit
dadurch haben, daß sie ihr ganzes Vermögen als Betriebscapital verwenden
und dieses zum Theil sogar mehrmals im Jahr umsetzen können.
Eine andere Eigenthümlichkeit, welche das große Grundeigenthum mit
sich führt, ist der Umstand, daß in England mit wenigen Ausnahmen die
Häuser und die Bauplätze, auf welchem sie stehen, verschiedene Eigenthümer
haben, d. h. der Boden, auf welchen die Mehrzahl der Häuser, namentlich
in den Städten steht, gehört dem Grundherrn. So ist z. B. der Boden,
auf welchem London mit seinen 4,000,000 Einwohnern sich befindet, zum
größten Theil Eigenthum des Marquis von Westminster und des Herzogs
von Buckleugh. In der Regel wird der Bauplatz dem Bauherrn auf 99 Jahre
gegen einen ziemlich mäßigen Zins vom Grundherrn verpachtet. Nach 99
Jahren gehört, wenn es dem Pächter nicht gelingt, die Erneuerung seines
Vertrags zu erlangen, oder wenn ihm die Bedingungen für die Erneuerung
nicht gefallen, das Haus dem Grundeigenthümer, wenn der Hauseigenthümer
es nicht vorzieht das Material zu verkaufen und auf seine Kosten entfernen
zu lassen. Die Folge dieser Einrichtung ist, daß die englischen Häuser in der
Regel, namentlich in den Städten sehr leicht gebaut sind und daß auch für
äußeren architektonischen Schmuck nichts aufgewendet wird. Die Hausbesitzer
rechnen darauf, daß ihr Haus in 99 Jahren amortisirt ist. Dazu kommt
noch die Sitte, welche auch im stammverwandten Belgien, Holland und einem
Theil Rieder-Sachsens herrscht, daß jede Familie in ihrem eigenen Hause
Wohnen will. Die Folge hiervon ist, daß die meisten englischen Häuser nur
zweistöckig und außerordentlich schmal sind. In den Vorstädten haben sie
nur zwei oder höchstens drei Fenster in der Front. In den Familien ist
man genöthigt, fortwährend zwei Treppen auf- und abzugehen. Unter solchen
Umständen kann das englische Sprüchwort: „Mein Haus ist meine Burg"
nicht buchstäblich genommen werden, denn es hat nur in Beziehung zur
dadeas corpus-Acte — der Garantie der Unverletzlichkeit des Engländers in
seiner Wohnung — wahre Bedeutung. Im Allgemeinen ist des Engländers
Haus nichts weniger als eine Burg. Es kann vielmehr nichts trostloseres
geben, als der größte Theil der Straßen namentlich der Vorstädte Londons
und der größeren Fabrikstädte mit ihren rauchgeschwärzten, unangestrichenen,
schmalen und niedrigen Backsteinhäusern, welche den Straßen das Ansehen
von langen Kasernen verleihen. Wenn auch das Innere zu diesem Aeußeren
im vortheilhaften Gegensatz steht, wenn da der englische Comfort aus den
Palästen des Adels und der reichen Industriellen in gewissen Typen der all¬
gemeinen Lebensbedürfnisse bis in die Wohnung des bescheidenen Handwerkers
dringt, so gewährt nach Außen die englische Fabrik- und Handelsstadt einen
so schmutzigen und trostlosen Anblick, daß man sich gar nicht wundern darf,
wenn das größte Contingent von den Reisenden in Europa von den Eng¬
ländern geliefert wird und daß keine Nation mehr im Auslande lebende
Pensionäre und kleine Rentiers liefert, als England. Eine Ausnahme von
jener Regel bilden diejenigen Bauten, welche auf eigenem Grund aufgeführt
sind oder bei denen der Pachtvertrag auf 999 Jahre sich erstreckt, der in der
Wirkung dem reinen Eigenthumsrecht gleich kommt. Solche Verträge kommen
indessen nur selten und nur in einzelnen Gegenden vor. In allen diesen
Fällen gewinnen die Gebäude sofort ein Ansehen, daß jener Spruch zur vollen
Wahrheit wird. So giebt es im Londoner Westend ein ganzes Quartier von
Zinshäusern — I>gMi»Atom —, welche so groß und schön sind, wie die Paläste
am Wiener Ring und durch ihren eleganten Oelanstrich merkwürdig abstechen
von dem trostlosen Anblick, den die Mehrzahl der übrigen Quartiere gewährt.
Zu diesen Ausnahmen gehören vor allen Dingen auch die Landsitze der
Reichen und Vornehmen, welche an Behaglichkeit und solidem Luxus ihres
Gleichen nur in den italienischen Villen finden, und erst in neuerer Zeit im
übrigen Europa sporadisch nachgeahmt werden. Der an die Bibliothek, das
sentir- oder Empfangs - Zimmer stoßende Wintergarten, welcher auf dem
Continent bis jetzt noch mit wenigen Ausnahmen ein Privilegium fürstlicher
Familien zu sein scheint, ist in England Gemeingut jedes behäbigen Land¬
sitzes. Man begreift bei deren Anblick, warum die vornehmen Familien den
größten Theil des Jahres in denselben zubringen, wie die englischen Staats¬
männer da die Muße finden ihre Gedanken zu sammeln, um dann vor ihren
Wählern jene großen politischen Reden zu halten, mit denen sie den Gang der
Politik in großen Zügen vorzuzeichnen Pflegen. Da begreift man erst, wie
der Spruch so beliebt werden konnte: „mein Haus ist meine Burg".
Wir haben die Verhandlungen des Abgeordnetenhauses seit dem 16. Fe¬
bruar nachzuholen. An dem genannten Tage erfolgte die erste Berathung
des Gesetzes über die Vermögensverwaltung in den katholischen Kirchengemein¬
den. Das Resultat der Berathung war die Verweisung des Gesetzes an eine
Commission von 14 Mitgliedern. Ueber den Gegenstand des Gesetzes wollen
wir nur einige vorläufige Bemerkungen aussprechen. Man hat dasselbe, als
es die Gestalt einer Vorlage noch nicht gewonnen hatte, als die Hauptwaffe
im Selbstvertheidigungskampfe des Staates gegen die römische Hierarchie be¬
zeichnet. Man hat namentlich von altkatholischer Seite beklagt, daß dieses
Gesetz nicht zum ersten Act der kirchlich-politischen Gesetzgebung gemacht wor¬
den, und hat halb und halb die Miene angenommen, als würde dieser erste
Act die folgenden überflüssig gemacht haben. Nun ist die Vorlage da und
es scheint, die sanguinischen Erwartungen sind größtenteils schon zerronnen.
Man war erstaunt, den Widerspruch im ultramontanen Lager langsam und
keineswegs heftig auftreten zu sehen, und gar zu klug wollte man sich einre-
den, die Hierarchie wage nicht, ein Gesetz als unheilsam darzustellen, welches den
Gemeinden so große Rechte gebe.
Wir glauben wirklich, die Führer der liberalen öffentlichen Meinung
wiegen sich in einem schweren Irrthum. Man überträgt Verhältnisse der
evangelischen Kirche Deutschlands, dem klaren Augenschein zum Trotz, auf die
völlig verschiedenen Zustände der katholischen Kirche. In der evangelischen
Kirche ist es mehr und mehr dahin gekommen , daß der größere Theil der
Laienwelt zur Geistlichkeit in einem ausgeprägten Gegensatz steht. In der
katholischen Kirche ist etwas ähnliches nicht vorhanden und darin, dies nicht
zu verstehen, liegt die große Selbsttäuschung unserer Liberalen. Nicht als ob
die katholische Laienwelt überwiegend aus eifrigen Gläubigen bestände. Aber
die dortigen Laien sagen sich, daß die Kirche sein muß, wie sie ist, oder gar
nicht sein kann. Lent, ut sunt, aut non sint. Der Laie, welcher sich für
die letzte Alternative entscheidet, weiß, daß er aus der katholischen Kirche tre¬
ten kann. Wenn er es nicht thut, so will er bei einem vielleicht erheblichen
Grade von Indifferenz im letzten Grunde doch zu dieser Kirche, wie sie ist,
gehören. Die Betheiligung der katholischen Laien an der Verwaltung des
kirchlichen Gemeindevermögens wird nur langsame und sehr geringe Folgen
in dem beabsichtigten Sinne haben. Dagegen kann das Gesetz dazu führen,
dem Rechtsanspruch der katholischen Gesammtkirche aus das Gemeindevermö-
gen eine neue Stütze, wenn auch nur scheinbar, zu gewähren. Was will man
thun, wenn die Laienvertretung überall aus Parteigängern der Hierarchie be¬
steht? Es erscheint durchaus nicht unwahrscheinlich, daß die Centrumspartei
von dem Gesetz überwiegend günstige Folgen für sich erwartet und daß der
schwache Widerstand, den sie schließlich unternommen, theils ein Scheinmanöver,
theils eine bloße Wahrung des Prinzips ist.
Die Gesetzvorlage läßt die Frage über das Eigenthumsrecht am kirchlichen
Vermögen unentschieden, sie erwartet alles Gute von dem Einfluß des Laien¬
elementes. Dabei läßt sie aber auch wieder unentschieden, welche kirchlichen
Eigenschaften zur Theilnahme an der Vermögensverwaltung gehören. Unge¬
recht wäre es, auf der Berechtigung solcher Laien zu bestehen, deren Verhalten
unkirchlich ist. Wenn aber andererseits der Bischof alle in seinem Sinn un¬
kirchlichen Laien ausschließen kann, so ist der Zweck der ganzen Institution
vereitelt. Die Bearbeitung der Vorlage sagt nun freilich, in das innere
Kirchenrecht dürfe der Staat sich nicht mischen, aber es zeigt sich wie überall,
daß äußeres und inneres Recht nicht zu trennen sind. Den Zweck, den das
Gesetz erreichen will, wird man schwerlich anders, als mittels einer durch¬
greifenden Staatsaufsicht erreichen. Wir brauchen kaum noch weiter auszuführen,
wie anders die Dinge in der evangelischen Kirche liegen, wo eine Berufs-
abschließung zwischen Priester und Laien, wie in der katholischen Kirche, nicht
vorhanden ist, wo die Betheiligung der Laien an kirchlichen Geschäften, auch
wenn es zunächst nur äußere Geschäfte sind, auf das innere Wesen der Kirche
immer von Einfluß sein muß. Die Hauptsache ist aber doch hier die oberbischöf¬
liche Stellung des Staatsoberhauptes, welche im Grunde die des Staates
selbst ist. Die Versuche, dieses Verhältniß zu verwirren, sind ja bis jetzt noch
Versuche geblieben.
Am 18. Februar wurde ein technisches, aber sehr wichtiges Gesetz, die
Vorlage einer neuen Wegeordnung an eine Commission von 28 Mitgliedern
verwiesen. Seitdem hat während der beiden letztvergangenen Wochen die
Einzelberathung des Staatshaushalts ihren Fortgang genommen, auf deren
zahlreiche Zwischenfälle wir aus oft erwähnten Gründen nicht eingehen. Am
23. Februar wurde das Gesetz, welches die Bedingungen für die Laufbahn
in der höheren Verwaltung neu regeln soll, durch die erste Berathung an
eine Commission von 21 Mitgliedern verwiesen. Wir «ersparen die Be¬
sprechung des Gegenstandes aus die zweite Berathung.
Mit dem Bericht über die Plenarverhandlungen des Abgeordnetenhauses
sind wir für den heutigen Abschnitt zu Ende. Wichtiger als die Plenar¬
sitzungen sind augenblicklich die Commissionssitzungen, wo die Verwaltungs¬
gesetze vorberathen werden. In der Commission zur Vorberathung der Pro-
vinzialordnung hat der Minister des Innern neuerlich eine bemerkenswerthe
Erklärung zu Gunsten der jetzigen Bezirksregierungen abgegeben, als auf
deren Wegfall gedrängt wurde. Der Leser d. Bl. wolle dabei immer vor
Augen behalten, daß diejenigen Abgeordneten, welche die Bezirksregierungen
aufgeben wollen, bis jetzt immer noch gänzlich die bisherige Provinzialein-
theilung beibehalten wollen. Unter dieser Voraussetzung ist aber die Forderung
bei der Größe der jetzigen Provinzen durchaus zu verwerfen, und der so ge¬
stellten Forderung gegenüber hat der Minister des Innern mit seiner Ant¬
wort recht. Er sagte nämlich: durch die neuen Organe der Selbstverwaltung
würde bereits die ganze innere Staatsverwaltung in Bewegung gesetzt. Man
dürfe nicht gleichzeitig auch mit der Structur dieser Verwaltung erperimen-
tiren, das sei eine Sache der späteren Zeit.
Bei dieser Ansicht scheint der Minister jedoch zu ignoriren, daß centrale
Organe und Selbstverwaltungsorgane nicht bloß einander übergeordnet, son¬
dern daß, sie auch überall verbunden werden sollen. Man kann daher die
Competenzen der Selbstverwaltung nicht richtig eintheilen, wenn die Central-
verwaltung nicht richtig eingetheilt ist. Sicherlich hat der Minister recht,
wenn er eine zu große Schwächung der Centralverwaltung in der Beschränkung
ihrer Organe auf die Spitzen der großen Provinzen sieht. Darum muß man
eben die Provinzen verkleinern und vermehren. Der Weg aber, die Selbst¬
verwaltung apart zu construiren, deren Construction mit der Construction
der Centralverwaltung parallel gehen muß, kann doch nur dazu führen, daß
man aus dem Pfuscher und Flicken nicht herauskommt.
Hier böte sich ein Anlaß, auf die Frage einzugehen, welche mehr als alle
zu schaffenden Formen das Ausland und das Inland augenblicklich in Be¬
wegung setzt: auf die Frage nach dem Verbleiben des Reichskanzlers in den
Geschäften des Reichs und des preußischen Staates. Der wahre Grund,
warum die Kräfte des Reichskanzlers der periodisch wiederkehrenden Erschö¬
pfung unterliegen, ist doch kein anderer, als daß er in dem Riesenumfang seiner
Aufgabe nicht als unbeschränkter Meister waltet. Wenn diese Aufgabe über¬
haupt durch eines einzigen Menschen Kraft zu bewältigen ist. so muß ihm
die Leitung aller Theile des Werkes ohne beschränkende Instanzen zustehen.
Dem stehen leichtbegreifliche Hindernisse mannigfacher Art entgegen. Da scheint
sich wohl der Ausweg darzubieten, dem Kanzler einen Theil der Aufgabe über¬
haupt abzunehmen, wie neulich die Nationalzeitung sagte: „für den Cultur¬
kampf, für die Verwaltungsreform findet sich schon ein anderer Minister, die
europäische Stellung des Fürsten Bismarck dagegen erwirbt man nicht durch
Nachfolger." Der erste Satz scheint uns doch sehr disputabel. Als ob die
„europäische Stellung" nicht bedingt wäre durch den Gang der inneren Auf¬
richtung des deutschen Staates. Daß aber der Gang dieser inneren Aus¬
bildung Mißgriffen und Irrungen überall ausgesetzt ist, wo der Fürst die
Hand nicht unmittelbar im Spiel hat, das sehen wir ja tagtäglich. Es ist
daher auch nicht zu bezweifeln, daß es dem Fürsten voller Ernst ist mit der
Erwägung, ob er nicht besser thue, die Dinge eine Zeitlang ganz und gar
andern Händen, d. h. sich selbst zu überlassen, als bei einem seinerseits nur
theilweisen Eingreifen die Verantwortung der Disharmonie und ungenügender
Erfolge zu tragen, und zwar ausschließlich zu tragen, wie es unvermeidlich
ist, so lange der Name des Fürsten an der Spitze des Reichs und Preußens
steht. Die Frage mußte gestellt werden; über den Ausgang aber ist bis heute
Die Wintersaison, wenn auch die Eisblume am Fenster zu zerrinnenden
Pflanzen werden zu wollen scheinen, neigt sich ihrem Ende zu. In auswär¬
tigen Blättern liest man wahrhaft schaurige Dinge von dem dermaligen
traurigen Zustande des Berliner gesellschaftlichen Lebens: die „Volkslokale"
sind verödet, die Restaurants, in denen der Mittelstand sich zu erholen pflegt,
fristen ein kümmerliches Dasein, und auch die Etablissements, die der höheren
Gesellschaft zum Sammelpunkt dienen, leiden an der Schwindsucht — kurz,
es liegt eine Art Leichentuch über ganz Berlin ausgebreitet. So schlimm ist
es nun freilich nicht. Wer sich das Vergnügen machen will, an einem Sonn¬
tagabend die Wirthschaftsräume der „Neichshallen" oder eine der renommirten
Weißbierkneipen zu besuchen, wird sich überzeugen, daß das Gewühl nicht
geringer und die Luft nicht besser ist, als ehedem; und wer nach dem Theater
in irgend einem der anerkannt guten Restaurants höheren Ranges zu soupiren
gewohnt ist, muß, wenn er einen erträglichen Platz haben will, seine Schritte
heutzutage ebenso beschleunigen, wie vor zwei, drei Jahren — der Unterschied
ist nur, daß die ganze Physiognomie der Gesellschaft an Widerlichkeit beträcht¬
lich verloren hat. Im Allgemeinen ist der Ausdruck der Geschäftsstockung
freilich nicht hinwegzubringen; doch entzieht sich die letztere so sehr einer wirk¬
lich exacten Beobachtung, daß die betreffenden Urtheile auf Zuverlässigkeit und
generelle Gültigkeit keinen Anspruch machen können. Symptome, wie das
Verschwinden der Gummiräder, das Nichtzustandekommen des zweiten Sub-
scriptionsballes wegen Mangels an Betheiligung, die schlechten Geschäfte ge¬
wisser Gründerunternehmungen, und — um auch dies nicht zu vergessen —
die merkliche Reduction der äemi-mouäg, berechtigen schwerlich zu der Be¬
fürchtung, daß wir einem verhängnißvollen Abgrunde entgegentreiben. Mit
weit größerem Rechte darf die andauernde Krise als ein heilsamer Läuterungs¬
prozeß betrachtet werden, heilsam für alle Schichten der Bevölkerung, denn
alle standen auf dem Punkte, im Taumel eitler Hoffahrt die sittlichen Elemente
des Lebens zu vergessen. Großes Vergnügen wird diese Wanderung durchs
Fegefeuer den Betheiligten freilich nicht gerade bereiten. So mancher Jung¬
gesell versagt sich wohl nur schweren Herzens den Sport, das Spiel und
andere süße Gewohnheiten und so manche Jungfrau richtet wohl feuchten
Auges die Frage an den Himmel: „Warum muß grade meine Jugend in
die Tage des verblichenen Glanzes fallen?" Getrost, schönes Kind, es wird
dein Schaden nicht sein. Sind wir erst gründlich zu einer vernünftigeren
Lebensweise zurückgekehrt, dann wird so mancher Mann nicht mehr vor den
unerschwinglichen Kosten eines eigenen Herdes zurückzuschrecken brauchen und
die Schaar jener verblühten Grazien, denen der nagende Kummer um die
erfolglos dahingerauschte Glanzperiode den Nest der Tage verbittert, wird sich
erheblich vermindern. Obendrein hat dir der Himmel für das Vergnügen
des schwülen Tanzsaals einen zehnfach gesunderen und hundertfach poetischeren
Ersatz geboten durch die herrliche Eisbahn, die die Wangen röchet und die
Seele erfrischt! Also fort mit dem Trübsinn und heiteren Muthes dem neuen
Zuschnitt des Lebens sich anbequemt! Dann wird aus unseren Tagen wieder
ein Geschlecht ächt deutscher Frauen hervorgehen. —
An geistigen Genüssen leiden wir auch in diesem Winter keinen Mangel.
Im „wissenschaftlichen Verein", der allsonnabendlich in den Räumen der Sing¬
akademie ein ausgewähltes Auditorium versammelt, sind in jüngster Zeit die
Vorträge Sybel's und Treitschke's der Glanzpunkt gewesen. Jener zeichnete
in reicher Gedankenfülle und mit der ihm eigenen Formvollendung das Le¬
bensbild der unglücklichen Marie Antoinette, dieser enthüllte, mit dem ganzen
Feuer seiner hinreißenden Beredsamkeit, Samuel Pufendorf's wissenschaftliche
und vor Allem seine nationale Bedeutung. Mit diesem Treitschke'schen Vor¬
trage ist dem so lange verkannten, vielfach geschmähten, von den Meisten so¬
gar ganz vergessenen Patrioten, der den Zustand Deutschlands in der zweiten
Hälfte des 17. Jahrhunderts wie kein Anderer mit politischem Scharfblick
durchschaut und seine Jämmerlichkeit bald mit beißendem Spott, bald mit
heiligem Zorne gegeißelt hat, endlich Genugthuung widerfahren- Der berühmte
Essayist wird hoffentlich nicht unterlassen, durch Veröffentlichung dieses Charak¬
terbildes die Schuld der Nation an Pufendorf vollgültig abzutragen.
Im Reiche der Musik ist in den letzten Wochen Rubinstein bei uns König
gewesen. Ueber die vollendete Technik und die überwältigende Genialität
seines Klavierspiels auch nur ein Wort zu sagen, wäre thörichter Ueberfluß.
Aber über den Compo nisten Rubinstein mögen ein paar flüchtige Bemer-
lungen gestattet sein. Herr Rubinstein begann seinen diesjährigen Berliner
Concertcyklus mit einem Abend, der ausschließlich seinen eigenen Compositionen
gewidmet war. Um dergleichen überhaupt wagen zu können, muß man sich in
der Gunst des Publikums bereits unerschütterlich wissen; und man hat das dop¬
pelt nöthig, wenn man solche Musik zum Besten giebt. Die graziösen, bald
melancholisch-düsteren, bald neckisch-ausgelassenen Kleinigkeiten für das Klavier
läßt man sich gern gefallen; prägt sich doch in ihnen des Künstlers ganze
Eigenart aus! Wenn sie auch keinen bleibenden Werth haben, was liegt
daran? Er hat uns mit ihnen entzückt und so wie er spielt sie uns doch
kein Anderer. Ganz anders aber stehen wir einem großen Orchesterwerke
gegenüber. Hier muß sich der Componist die Beurtheilung unter dem Ge¬
sichtspunkte des „xrM« e»s are5" gefallen lassen und diese Prüfung vermag die
„L^mxlwliio äiÄllmti<in<z", welche Rubinstein an jenem Abend zu Gehör
brachte, nicht zu bestehen. Ob altklassische oder Zukunftsmusik, darüber
lassen sich keine Vorschriften machen; auf alle Fälle aber wird man Einheit¬
lichkeit des Charakters, geschlossene Consequenz des Stils verlangen dürfen.
In jener Symphonie wogt es bunt und in ewigem Wechsel durcheinander:
bald Wagner bald Mozart, bald Beethoven bald Gounot, die Neueren jedoch,
besonders Wagner, immer mit dem Löwenantheil; von Originalität ist wenig
oder nichts zu entdecken. Dabei soll die ergreifende Schönheit einzelner Stellen
nicht geleugnet werden; aber diese erfrischenden Oasen vergessen sich in dem
endlosen Gewirr und der Schlußeindruck bleibt der des Befremdenden und
Unbefriedigenden.
Als neuesten Stern am musikalischen Himmel hatten wir am Sonnabend
die „italienische Operngesellschaft" im königlichen Schauspielhause zu begrüßen.
Die Gesellschaft ist dirigirt vom Maöstro Arditi und besteht aus Frau Artvt
nebst deren Gemahl Herrn de Padilla und im Uebrigen, soviel wir bis jetzt
zu sehen bekommen haben, aus einer einzigen Dame und einem einzigen Herrn.
Als Eröffnungsvorstellung gab man L'Ombra von Flotow. die langweiligste
und unbedeutendste Oper, welche ich mich je gehört zu haben erinnere. Wie
der Componist von „Martha" und „Stradella" sich selbst in solchem Grade
hat untreu werden können, ist schier unbegreiflich. Es war kein glücklicher Griff,
den die Gesellschaft mit diesem Werke gethan. Dasselbe war hier vollständig
unbekannt; naturgemäß richtete sich also die Aufmerksamkeit weit mehr aus
das Aeußere als sonst bei bekannten Opern, wo der Hauptaccent auf den rein
musikalischen Genuß fällt. Grade aber in der äußeren Erscheinung hat die
Gesellschaft mit unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Frau Artüt
hat niemals für eine Schönheit gegolten; lediglich ihr künstlerischer Werth,
nicht bestrickende Aeußerlichkeit hat ihr die dauernde Zuneigung und rückhalts-
lose Verehrung der Berliner gewonnen. Aber bei aller Pietät kann doch nicht
verschwiegen werden, daß Frau Artöt in ihrer heutigen Erscheinung mit der
Rolle einer jugendlichen Braut schlechterdings unvereinbar ist. Und was die
übrigen Mitglieder betrifft, so kann nur Herr de Padilla als ansprechende
Persönlichkeit genannt werden. Doch würde man gern aus das Aeußere ver¬
zichten , wenn nur eine vollendete musikalische Leistung geboten würde. Aber
die gänzlich abgesungene und noch dazu fortwährend mit Gaumentönen operi-
rende Stimme des Tenoristen konnte, im Verein mit der körperlichen Erschei¬
nung des Mannes nur Bedauern erwecken, und Signora Cristino, die mit
einem nicht üblen, wenn auch etwas harten Sopran begabt ist, sang zwar
recht herzhaft und mit angelernten Chic drauf los, leider aber entsprachen
Intonation und Ausführung der schwierigeren Passagen nicht immer der
Sicherheit des Auftretens. So liegt also die ganze Last des Unternehmens
auf den Schultern des Ehepaars Padilla. Herr«de Padilla besitzt einen treff¬
lich geschulten Baryton, kräftig und doch weich, von wunderbarem Wohllaut.
Und vor Frau Artüt ziehen wir auch heute noch ehrfurchtsvoll den Hut. Was
nützt es, daran zu erinnern, was sie ehedem gewesen; fragen wir, was sie
ist! Das Höchste der Gesangskunst bleibt doch immerdar jener geheimnißvolle
Zauber, der auch das härteste Herz erweicht. Und diesen Zauber übt die
gefeierte Sängerin nach wie vor. Sehr zu bedauern wäre es, wenn er durch
die mitwirkenden Elemente ernstlich beeinträchtigt würde. Einstweilen wollen
Wir uns der Hoffnung hingeben, daß die „italienische Gesellschaft" in ihrem
Verbände noch andere Kräfte birgt, welche es mit besserem Rechte wagen
dürfen, als Partner einer Artöt die Bühne zu betreten.
Am fünften December vorigen Jahres drohten die Ultramontanen im
deutschen Reichstage die wüsten Scenen des vorhergehenden Tages, die Herr
Jörg so unglücklich eingeleitet, zu erneuern. Es handelte sich damals um die
von dem Reichskanzler beschlossene Streichung der Budgetposttion für den
Posten eines deutschen Gesandten beim päpstlichen Stuhle. Herr Windthorst
sprach bei dieser Gelegenheit sein berufenes Wort von dem König von Rom
und der Vergeltung, welche den ersten Bonaparte wegen seiner Auflehnung
gegen den Papst getroffen und zielte damit auf den Kanzler, ja höher
hinauf, nach dem Träger der deutschen Kaiserkrone selbst. Dem Verderben
geweiht ist Fürst und Volk, die dem Papstthum Widerstand leisten, war die
Moral seiner Fabel. Fürst Bismarck schlug die Anklage ab mit der für die
Söldner des Papstes geradezu vernichtenden Gegenbeschuldigung, daß der
gegenwärtige Papst schon vor Jahren durch seine höchsten Würdenträger den
Ausspruch gethan habe: nur durch den Bund mit der Revolution hoffe die
ultramontane Kirchenrichtung sich noch dem Geist der modernen Zeit gegen¬
über halten zu können.
Lauter Protest natürlich aus dem Munde des Herrn August Reichens-
perger, ein Protest, in die schlaue Form gekleidet, daß niemand die Wahr¬
heitsliebe des Kanzlers bezweifle, Irren aber menschlich sei. Da stieg der vor¬
malige württembergische Minister v. Varnbüler — ein Mann, den nach seinen
großdeutsch-antipreußischen Antecedentien niemand im Verdacht haben wird, zur
Zeit seiner Amtsverwaltung dem damaligen Grafen Bismarck irgendwelchen
vorbereiteten Liebesdienst erwiesen zu haben — auf die Tribüne des Reichs¬
tags, und begann in seinem Pianissimo zu reden. Das ganze Haus strömte
zu seinen Füßen. Der Kanzler selbst stellte sich zu seiner Rechten neben die
Tribüne, die Hand am Ohr, um keines der leisen Worte zu verlieren. Unge¬
heure Bewegung erfaßte das Haus, als Varnbüler geendigt und wirklich be¬
stätigt hatte, daß ihm in amtlicher Stellung bereits vor fünf Jahren und
länger der päpstliche Legat Meglia verkündigt habe, die Hoffnung der päpst¬
lichen Politik ruhe allein noch auf der Revolution.
Mit Entrüstung wies die deutsche Jesuitenpresse diese neue Ehrenkränkung
der treuherzigen vatikanischen Staatskunst von sich und appellirte laut an das
klassische Zeugniß des noch lebenden päpstlichen Legaten Meglia selbst. Das
Schweigen des Letzteren wurde gut jesuitisch nicht etwa nach dem Rechtssatz
<M ta,cet eonsontirc! viäetur, sondern als schweigende Verachtung der Nie¬
dertracht der Verläumder ausgelegt. Bis zum geringsten Gesellen der katho¬
lischen Kasinos hinab zweifelte bis zum 3. Februar d. I. (und sogar etwas
länger) kein Mitglied der ultramontanen Partei, daß am 5. December v. I.
der unfehlbare Papst und seine Getreuen wieder einmal unsträflich ver¬
kannter worden seien im „Berliner Reichstag" (wie Herr Liebknecht zu sagen
beliebt).
Und gerade zwei Monare später, am 5. Februar 1873 erließ Seine Un¬
fehlbarkeit in Rom eine Bulle, in der die Revolution weit massiver gepredigt
und gefordert wird, als je zuvor von Herrn Meglia, Herrn v. Varnbüler oder
sonst wem gegenüber. Denn der Papst Pius IX. begnügte sich keineswegs
etwa, wie sein Legat, mit einem theoretischen und abstracten Ausspruch über
die Nützlichkeit der Verbindung der päpstlichen Kirche mit der Revolution.
Der Papst läutete vielmehr selbst direct die Sturmglocke des Aufruhrs. Wer
bisher noch nicht wußte, was eine Brandrede sei. wird die päpstliche Bulle
vom 3. Februar als allezeit gediegenes Paradigma dafür ansehen können.
Die Spitzen der katholischen Hierarchie, die ganze Gliederung der streitenden
Kirche ernennt der Papst zu Führern und Offizieren bei unmittelbarer
Auflehnung gegen den deutschen und preußischen Staat. Das gesammte ka¬
tholische Volk soll das Heer bilden, das mit Gewalt sich erhebt gegen die
staatliche Ordnung, gegen die von Kaiser und Reich. Krone und Volk feierlich
berathenen und verkündeten Gesetze. Die göttliche Scheu der Gewissen vor offenem
Landfriedensbruch bei edleren Katholiken, die Furcht vor dem Zuchthause beim
gemeinen Manne versucht der Papst durch die unfehlbare Behauptung zu ver¬
scheuchen, daß alle Kirchengesetze des Staates ohne des Papstes Zustimmung
null und nichtig seien. Seit den Tagen Heinrich's IV. ist solche Sprache,
solche Frechheit von Rom nicht mehr gehört worden.
Damals aber war die ganze Christenheit eines Glaubens. Die Vor¬
stellung von dem weltlichen und geistlichen Schwert, dem alle Welt Unter¬
than sei. beherrschte die Gemüther. Und dennoch glaubten damals die besten
Deutschen, solche Demüthigung wie der Kaiser vom Papst sie erfahren, sei
gleichbedeutend mit dem Untergang des Reiches und der Ehre deutscher Nation
für immer. Und heute wagt der Papst dieselbe Anmaßung gegen den Schirm¬
herrn protestantischen Geistes, gegen das deutsche Volk vier Jahrhunderte
nachdem Luther gelehrt hat. vier Jahre nach dem großen Sieg germanischer
Kraft über die romanische.
In jedem Deutschen, gleichviel welchem Glauben und welcher Partei er
angehört, muß sich diesem Frevel gegenüber die Frage regen: wie wird diesem
verbrecherischen Treiben ein Ziel gesetzt? Wie wird Sühne gefordert und ge¬
geben für die Verletzung unsrer Ehre, unsrer sittlichen Ordnung. Die Ab¬
kehr, meinen wir, ist eine dreifache. Was den Papst selbst anlangt, so
steht ihm der Strafausschließungsgrund vollendeter Unzurechnungsfähigkeit
und zweifelloser Geistesschwache zur Seite. Dieser Geisteszustand ist der ge¬
bildeten Welt bekannt, und er wird bewirken, daß die Fluchsprüche und Bann¬
bullen des kindischen Greises nur bei Buben und Lügnern Beifall und werk¬
thätige Nacheiferung finden werden. Mit diesen Buben und Lügnern wird
der deutsche Staat nach wie vor fertig werden auf dem Wege des geräusch¬
losen Strafprozesses, gleichviel ob sie die Bischofsmütze tragen oder den Kittel
des katholischen Casinogesellen.
Das zweite Mittel der Abwehr bereitet Preußen in diesem Augenblicke
vor. Das landesherrliche Planet soll hinsichtlich aller auf bürgerliche oder
staatsbürgerliche Verhältnisse bezüglichen Anordnungen der Kirche und Kirchen-
behörden ausgedehnt und wiederhergestellt werden. Diese Maßregel wird dem
künftigen Geschlecht der Laien und Priester nicht den geringsten Zweifel
darüber mehr gestatten, daß in allen bürgerlichen und öffentlichen Dingen
allein der Staat Gesetze giebt, und alle derartigen Anordnungen der
Kirche nur mit Genehmigung des Staates Eingang finden über die Grenzen
des Staatsgebietes, Geltung für die Staatsbürgers Diese Maßregel ist un¬
zweifelhaft so weise wie nothwendig. Aber das Urtheil, welches der Staat
selbst durch seine Nachsicht und Unterwürfigkeit fast ein Menschenalter hin¬
durch bis zum Abgange Muster's hat heranwachsen lassen, wird durch die
Ausdehnung des landesherrlichen Planet bei den erwachsenen Ultramontanen
nur langsam auszurotten sein.
Als das radicalste und am schnellsten wirkende Mittel der Abwehr gegen
jede päpstliche Ueberhebung halten wir nach wie vor die entschlossene Nicht¬
anerkennung jedes künftigen Papstes von Seiten des deutschen Reiches, der
abweichend von den festen Regeln des Herkommens gewählt ist. Zu dieser
Maßregel ist die allerzweifelloseste Entschlossenheit in den leitenden Kreisen
des Deutschen Reiches vorhanden. Die Ultramontanen selbst wissen das; ihre
Häupter sind aber gleichwohl entschlossen, den nächsten Papst nach willkür¬
lichen Satzungen des Papstes Pius IX. zu wählen. Die Anerkennung oder
Nichtanerkennung des Papstes durch das deutsche Reich, sagen sie, sei ganz
irrelevant für päpstliche Hoheit und päpstliche Macht. Nun, wir werden ver¬
muthlich in nicht sehr langer Zeit erleben, in welchem Maße die Nichtaner¬
kennung für den neuen sog. Papst und die Papstkirche fühlbar und practisch
werden wird. Selbst vertragsmäßige Verpflichtungen, welche der einzelne
deutsche Staat zu Dotationen der katholischen Kirche zu leisten hat, eessiren
einem als Usurpator, von Reichswegen erachteten Papst und der ihm (dem
Subjekte, das kein Papst ist) gleichwohl gehorchenden Religionsgemein¬
schaft gegenüber sofort; freiwillige oder regelmäßige Beiträge des Staates an
diese Religionsgemeinschaft können rechtlich gar nicht in Frage kommen und
entstehen. Die zu dotirende Kirche ist die katholische Gemeinschaft unter dem
rechtmäßigen Papst. Das Reich, welches die Rechtmäßigkeit bestreitet, zahlt
keinen Heller und kann nicht dulden, daß ein Einzelstaat einen Heller zahle-
Ob das practisch ist? Hui vivra verm.
In dem Artikel des vorigen Heftes von C. A. H. Burkhardt „Ein thüringischer Bolks-
dichrer" muß es Anton Sommer, statt August Sommer heißen.
Die Geschichte der Reformationszeit pflegt gleichzeitig von Theologen und
von Historikern studirt und bearbeitet zu werden. Das ist ein Verhältniß,
das für beide Theile die größten Vortheile mit sich bringt oder bringen kann,
sobald der Eine von dem Andern zu lernen sich entschließen will.
Allerdings machen die Theologen wohl geltend, daß es sich in der Re-
formationsgeschichte in erster Linie um theologische oder kirchliche Angelegen¬
heiten handele und daß deßhalb der Fachtheologe den eigentlich competenten
Arbeiter und Richter über diese Dinge abgeben müsse. Die Erwägung trifft
nicht ganz zum Ziele. Die Behandlung der Reformationsgeschichte setzt ohne
Zweifel theologische und kirchenhistorische Kenntnisse voraus, aber Jedermann
ist im Stande, einerlei ob er Theologe ist oder Laie, in den Besitz derselben
zu gelangen. Kenntnisse von theologischen Dingen, die sich Jeder erwerben
kann, dem es um sie zu thun ist, nicht aber specifisch theologische Denkungs-
art oder Auffassung werden von jedem Bearbeiter der Reformationsgeschichte
mit Recht gefordert. Ja, eine allzugroße Erfüllung des eigenen Sinnes mit
theologischen Anschauungen, eine allzu spezifische theologische Richtung des
Denkens, — ich will nicht sagen, verhindert, — aber erschwert jedenfalls das
Verständniß der Reformationsgeschichte.
Das Bedenken, das der Historiker gegen seine theologischen Mitarbeiter
geltend macht, wiegt etwas schwerer. Der Theologe, der für sich einer be¬
stimmten kirchlichen Ueberzeugung anhängt und ihr dient, pflegt der Gefahr sich
auszusetzen, und wir sehen nur zu oft, daß er ihr erliegt, daß er mit seiner histori¬
schen Arbeit über die Reformationszeit seine eigenen bestimmten kirchlichen An¬
schauungen verbindet und vertritt. Je lebendiger die eigene Ueberzeugung, desto
größer diese Gefahr. Es mag freilich selten-geschehen, daß diese Klippe einer be¬
stimmten Tendenz vollständig vermieden wird, aber es ist doch nicht geradezu
unmöglich ihr aus dem Wege zu gehen: es hat Theologen gegeben und es giebt
Theologen, die bis zu einem gewissen Grade einer unbefangenen historischen
Betrachtungsweise ihren Sinn geöffnet haben. Vor allem, es würde sich
schwer rächen, wenn der Historiker der Reformationszeit die Arbeiten der Theo¬
logen über dieses Gebiet, etwa weil ihm ihre theologischen Tendenzen nicht
gefallen, unbenutzt zur Seite lassen wollte!
Faktisch gilt auf diesem Gebiete als Regel eine gewisse Arbeitstheilung.
Die Theologen pflegen die theologischen und kirchlichen Partien vo ehmlich
zu behandeln, die Historiker die politischen, wirthschaftlichen, literarischen Fragen.
Eine wirklich umfassende und die Wirklichkeit des historischen Lebens vollstän¬
dig wiedergebende Reformationsgeschichte, eine Darstellung des Neformations-
zeitalters, die dem bisher noch unerreichten Muster und Vorbild Leopold
von Ranke's nachahmen wollte, sie würde eine selten anzutreffende Meister¬
schaft sowohl auf den theologischen als den anderen Gebieten erheischen: bei
einer wirklich wissenschaftlichen Reformationsgeschichte fallen die Schranken
zwischen Theologen und Historikern zu Boden, wird die übliche Arbeitstheilung
nicht aufrecht gehalten. So lange uns eine solche Arbeit nicht zu Theil ge¬
worden, werden wir eine jede wissenschaftlich historische Leistung, die vorbe¬
reitende Schritte thut, freudig willkommen heißen müssen.
Ueber die Leistungen und Arbeiten für die politische und allgemeine Seite
der Reformationsgeschichte soll hier in diesem Augenblick nicht geredet werden.
Es liegt uns vielmehr ob, eine ansehnliche und sehr empfehlenswerthe theo¬
logische Arbeit aus diesem Gebiete den Lesern dieser Zeitschrift bekannt zu
machen und zu empfehlen.
Man wird überhaupt sagen dürfen, daß sich neuerdings auch unsere theo¬
logischen Mitarbeiter auf dem Felde der Reformationsgeschichte bestrebt zeigen,
von den Arbeiten der Historiker zu lernen, sie zu benutzen und zu studiren.
Allgemein ist allerdings diese lobenswerthe Eigenschaft noch nicht geworden:
wie vor einigen Jahren Dorn er (Geschichte der protestantischen Theologie, 1867)
so hat neuerdings auch Kahnis (Die deutsche Reformation. I. 1872) gegen
die Einwirkung der neueren historischen Arbeiten seine Darstellung möglichst
abzusperren verstanden. Dagegen muß man den vor kurzem durch Gaß her¬
ausgegebenen Vorlesungen des verstorbenen Henke*) nachrühmen, daß sie
überall sich bemühen von den Arbeiten der Theologen und Nichttheologen
zu lernen, sorgfältig und maßvoll das von den verschiedensten Seiten Geleistete
abzuwägen und zu verwerthen. Und auch Pult, dessen Auffassung bekannt¬
lich eine gewisse Verwandtschaft mit Kahnis nicht verleugnen kann, hat ein
Recht auf eine Anerkennung und Beachtung durch jeden ernsthaften und vor-
urtheilsfreien Forscher sich erworben**); seine Studien haben in mancher De-
tailfrage Schätzenswerthes geleistet: wir rühmen ihm hier gerne nach, daß er
immer und unausgesetzt die seinen theologischen Studien benachbarten Arbeiter
und Arbeiten im Auge behält.
Bei der Betrachtung der Reformationszeit wird die Persönlichkeit Luiher's
immer in elfter Linie das Auge auf sich ziehen. Ein gutes Leben Luther's
wird eine Reihe der wichtigsten Kapitel aus der Reformationsgeschichte in sich
begreifen. Die Literatur über Luther ist auch in der That eine sehr ausge¬
dehnte, reichhaltige und vielseitige; und doch sind die Schwierigkeiten einer
wirklich wissenschaftlichen Behandlung grade dieser Aufgabe so gewaltige, daß
eine irgendwie befriedigende Lösung bisher noch nicht gelungen ist.
Eine Uebersicht der einigermaßen hervorstechenden Leistungen im Fache der
Lutherbiographie habe ich vor einiger Zeit zu geben versucht und eine Reihe
von Punkten bezeichnet, deren Behandlung und Erledigung vom Standpunkte
des Historikers, nicht des Theologen, mir wünschenswerth oder unerläßlich
erschienen.*) Dieser frühere Versuch einer zusammenhängenden Kritik legt mir
heute die Pflicht auf, auch über das neue große Werk von Kostim, das
an der Spitze dieses Artikels genannt ist, ein Urtheil abzugeben. Vorbehalt¬
lich der näheren Erläuterungen, die sogleich folgen sollen, kann ich dasselbe
ganz kurz dahin zusammenfassen, daß von allen bisherigen theologischen Dar¬
stellungen Luther's das Buch Kostim's weitaus die beste gebracht hat.
Es würde seltsam aussehen, wenn ich einem Schriftsteller von den
Leistungen und dem Ansehen Kostim's gegenüber mich lange dabei aufhalten
wollte, das eingehende Sachverständniß oder die ausgedehnte Kenntniß der
Literatur oder die Vollständigkeit in der Benutzung der quellenmäßigen Ueber¬
lieferung besonders zu loben: alles das versteht sich hier von selbst und konnte
nach den früheren Arbeiten des Verfassers auf diesem Gebiete genau so vor¬
ausgesetzt werden, wie es sich in der That jetzt erwiesen hat. Ich will lieber
versuchen die Eigenthümlichkeiten dieser Biographie zu bezeichnen.
Kostim sieht Luther an mit den Augen des seiner Kirche ergebenen po¬
sitiven protestantischen Theologen, er betrachtet ihn, nicht ausschließlich aber
doch vornehmlich, als Theologen; Luther ist ihm vorwiegend der Reformator
der Kirche, der Schöpfer der evangelisch - protestantischen Kirche. Der Biograph
steht also auf einem Standpunkt, den er als einen durch seinen Helden begrün¬
deten mit warmer Liebe verehrt. Kostim gehört nicht zu den modernen Luthe¬
ranern confessioneller Färbung, aber ebenso wenig sitzt er unter den „liberalen"
Theologen des Protestantenvereines: er ist ein Mann der Mitte, der Versöh¬
nung, des Ausgleiches. In unverkennbaren Zügen ist dem ganzen Buche diese
Richtung seines Autors aufgeprägt. Und die reiche Gelehrsamkeit, über die er
verfügt, dient dieser ausgleichenden, allen Extremen abholden und versöhnlichen
Auffassungsweise in ausgiebigster Weise zur Unterstützung und Flanken¬
deckung.
Das ganze Werk zählt nahezu 1600 enggedruckte Seiten; es verschmäht
nirgendwo Details und Belege zu bringen. Planmäßig ist die Zeitgeschichte,
soweit es irgend möglich war, mit Kürze behandelt; dafür ist der Inhalt der
Luther'schen Schriften ausführlich dargelegt und die theologische Thätigkeit
des Reformators ins Einzelne hinein verfolgt. Grade diese detaillirte Methode
seines Vortrages hat Kostim in den Stand gesetzt, von sehr verschiedenen
Ausgangspunkten aus Luther zu discutiren. Ein Leser, der nicht auf Kostim's
prinzipiellem Boden steht, wird in der That oft überrascht sein durch einzelne
Ausführungen und Zugeständnisse: im Detail des Buches gelangen an man¬
chen Stellen recht verschiedene Urtheile über Luther zum Ausdrucke. Kostim
hat es über sich vermocht an manchen Stellen Anknüpfungspunkte zu geben
oder das Material zuzubereiten für ein Urtheil, das dem seinigen vielleicht
gradezu entgegenlaufen würde. Für seinen Vorsatz nichts zu verschweigen oder
zu verbergen, legt dies ein günstiges Zeugniß ab; es ist Ausfluß seiner ver¬
mittelnden und versöhnlichen Absicht.
-Wir sehen also in der Vollständigkeit des Details und in der rückhalts¬
loser Mittheilung ganz verschieden gearteter Auffassungsweisen dieses Details
empfehlenswerthe Seiten des Buches. Und wie es von dem Autor, der 18K3
uns schon eine sehr gute übersichtliche Darstellung der „Theologie Luther's"
geliefert, ohne Zweifel erwartet werden durfte, so beruht in den theologischen
Darlegungen grade eine Hauptstärke Kostim's. Wie viel wird hieraus der
Nichttheologe, und wohl auch der Theologe, für sein eigenes Verständniß
Luther's zu lernen im Stande sein! Aber eine kleine Anmerkung möchte ich—
wenn auch mit aller Bescheidenheit und mit voller Bereitschaft mich belehren
zu lassen - mir doch hier erlauben. Von den meines Erachtens die Sache
sehr scharf auffassenden und für ein tieferes Verständniß von Luther's theo¬
logischen Charakter sehr förderlichen Studien über Luther's Prädestina-
tionslehre, welche 1858 Lütkens in Dorpat veröffentlicht hat"), ist hier
kein Gebrauch gewacht, zum Nachtheil der Sache. Ferner hat mich Kostim's
ablehnende Haltung gegenüber der bekannten Nachricht (die auf Melanchthon
sich zurückführt) von LuthSr's Wunsch einer versöhnlicheren Stellung zu den
Schweizern nicht von meiner Ueberzeugung abzubringen vermocht, daß die
Regeln quellenkritischer Methode eine Verwerfung dieser Nachricht nicht zu-
lassen. Gegen die Darstellung von Luther's Verhältniß zu den Schweizern
würde sich überhaupt manches einwenden lassen.*)
Und auch das glaube ich nicht übergehen zu sollen, daß der Zusammen¬
hang Luther's mit der ihm vorhergehenden theologischen Literatur durch Kost-
im noch nicht klarer gemacht ist, als er es vor ihm schon war. Die früher
wahrgenommene Lücke in unseren Kenntnissen ist auch durch Kostim noch nicht
ausgefüllt worden. Freilich die Dogmatik und Theologie des ausgehenden
Mittelalters, die sich auf katholischer Seite bis in die Arbeiten des Tridentiner
Conziles hinein fortgesponnen hat. gründlich und eingehend aus den Quellen
zu studiren, das ist ein Arbeitspensum, das vielleicht überhaupt nicht leicht einen
sich ihm ganz hingebenden Liebhaber sich gewinnt, das sicherlich von einem
Biographen Luther's als Borstudie zu seinen ohnehin so mühsamen Arbeiten
wird abgelehnt werden dürfen: immerhin aber bleibt die beklagenswerthe
Thatsache nicht aus dem Wege geschafft, daß zu einer irgendwie abschließenden,
wissenschaftliche Wünsche befriedigenden Erkenntniß Luther's und seiner Theo¬
logie, dies die unumgänglich nothwendige Unterlage bildet, — und daß diese
Unterlage allen unseren Betrachtungen über Luther bisher abgeht. Ohne eine
Anklage gegen Kostim deßhalb richten zu wollen, dem wir — ich wiederhole
dies ausdrücklich — schon so vieles und schönes zum Verständniß der Luthe¬
rischen Theologie verdanken, durfte es doch nicht unterlassen werden, den frühe¬
ren Schmerzensschrei an dieser Stelle zu wiederholen. Möchte sich dieser Arbeit
bald der rechte Arbeiter finden!
Ueber die bisherigen theologischen Lutherleben bezeichnet das Buch Kost-
im's einen unverkennbaren Fortschritt. Nicht allein daß hier die quellenmäßige
Ueberlieferung sorgsam zusammengestellt und mit Umsicht und Verständniß
manche schwierige Einzelheit discutirt und klar gemacht ist, — von jetzt ab
wird man Kostim's Buch gradezu als das eigentliche Handbuch, als die brauch¬
barste Sammlung der Quellenstellen, als den bequemsten Ausgangspunkt
weiterer Forschungen betrachten und benutzen müssen, ein Verdienst, das
theologische Praktiker und wissenschaftliche Historiker des verschiedensten Schlages
einhellig rühmen und preisen sollten.
Immerhin ist dies Werk aber zu den spezifisch-theologischen Bearbei¬
tungen der Reformationsgeschichte zu zählen. Wer allein Kostim's Erzählung
liest, würde der wohl eine Ahnung von Luther's Bedeutung für das nationale
Leben Deutschlands überhaupt aus ihr schöpfen? Vom Demagogen und Ne-
volutionär in Luther hört man hier wenig: der Radikalismus Luther's Wider
die hergebrachte Kirche des Mittelalters tritt nur in schüchternen Andeutungen
zu Tage. Wie zahm ist unser Held hier in der Leipziger Disputation darge¬
stellt! wie friedlich sind seine leidenschaftlichen Aeußerungen nach Leipzig hier
heruntergestimmt und abgeschwächt! Der Vulkan, der in diesem revolutio¬
nären Mönche gekocht und getobt und die deutsche Nation in ihren innersten
Tiefen erschüttert und aufgewühlt, — zu einem zeitweise einmal etwas leb¬
hafter brennenden, bald aber zu hergebrachter Leuchtkraft und Wärme sich er¬
mäßigenden und mild flackernden Kirchenlichte ist er geworden!
Eine Reihe einzelner Punkte hat Kostim sich bestrebt durch kritische
Untersuchung zu ergründen. Er folgt nicht ohne weiteres der üblichen Tra¬
dition. So hat er wiederholt die Angaben über Luther's Geburtsjahr discutirt
und eine chronologisch sichere Basis seines Lebenslaufes herzustellen sich be¬
müht. An anderen Stellen läßt er seine Bedenken gegen bisherige Erzäh¬
lungsweisen durchscheinen. Freilich, die methodische Kritik der „Tischreden"
als Quellen der autobiographischen Ueberlieferung Luther's, die man zunächst
wünschen mußte, hat K. noch nicht geliefert; jedoch ruht das, was er von
Luther bis 1517 erzählt, auf einer verhältnißmäßig besseren Grundlage als
das was sonst gesagt zu werden pflegt. Der Abschnitt über Luther's Nom¬
reise ist im Ganzen vorsichtig, mit Vorbehalten redigirt; zu der radikalen
Verwerfung aber aller späteren gefärbten Aussagen, die hier wohl von einer
methodischen Quellenkritik allein angerathen werden dürfte, hat er sich nicht
entschlossen. Auch den immerhin scharfsinnigen Versuch, den er in einer be¬
sonderen Abhandlung zu begründen unternommen*), die in der Tradition so
bekannt gewordenen Schlußworte Luther's auf dem Wormser Reichstag gegen
die Einwendungen der Kritik zu retten und zu schützen, kann ich nicht für
gelungen erachten. Jedoch es ist nicht dieses Ortes auf derartige Einzelheiten
weitläufig einzugehen; und die Werthschätzung eines Buches hängt nicht davon
ab, ob gegen einzelne Sätze desselben polemische Einreden erhoben werden können.
Wie die Auffassung Luther's bei Kostim einer mittleren und ausglei¬
chenden Richtung des Autors entsprungen, so ist auch für seine Kritik charak¬
teristisch dieser selbe Zug, der zwischen Gegensätzen und Widersprüchen zu
vermitteln sich vorsetzt. Man sieht es überall, Kostim kennt sehr wohl die
Punkte, auf die sich Abweichungen von seiner Ansicht berufen und stützen
können; da ist es seine Art durch theilweises Entgegenkommen und halbe
Zugeständnisse dem Widerspruche vorzubeugen und zu begegnen. Ein durch¬
aus einheitliches Gesammtbild kommt freilich dabei nicht recht zu Stande;
aber einem direkt und absolut ablehnenden Urtheile ist von vornherein die
Möglichkeit benommen, jeder Polemik gewissermaßen die Spitze abgebrochen.
Ich berühre noch ein paar Momente, in denen grade sich das Interesse
historischer Forschung concentriren muß.
Kostim hat sehr richtig hervorgehoben und nachdrücklich betont, daß die
eigentliche Bedeutung der Wormser wie der Leipziger Erklärungen Luther's
in der Verwerfung der conciliaren Autorität und Unfehlbarkeit beruht. Wenn
diesen Punkt in dieser Weise jetzt auch die Theologen auffassen und festhalten
wollen, so darf dies wohl von jetzt ab als allgemein zugegeben angesehen
werden: es ist jedenfalls ein Fortschritt des historischen Urtheiles darin enthalten.
Was das Verhältniß Luther's zu den Humanisten angeht, so hat Kostim
auch diese Frage seiner eingehenden und vorsichtig alle Momente abwägenden
Betrachtung unterworfen; man stößt in den einschlagenden Abschnitten auf
manche scharfsinnige Bemerkung. Und doch befriedigt das Resultat seiner
Untersuchung nicht. Eines hat Kostim hierbei gar nicht in Anschlag gebracht,
— den nachweisbaren und an einzelnen Stellen auch schon nachgewiesenen
Einfluß der humanistischen Schriftstellerei auf Luther's Schriften und. Aeuße¬
rungen von 1520 und 1S21; er faßt einzelne Briefe Luther's viel zu friedlich
und zahm auf. Was Vorreiter mit seinem tendenziösen aber nicht üblen
Ausdruck „das Ringen Luther's mit dem revolutionären Prinzipe" getauft hat.
verschwindet bei Kostim nahezu ganz aus Luther's Leben. Hier gilt es eben,
sich in die Situation des damaligen Momentes ganz einzuleben; hier muß
der Historiker wie ein Mitlebender und Betheiligter zu denken und zu fühlen
verstehen: dann werden Luther's Worte erst ihren vollen Sinn empfangen,
dann schwindet jede Möglichkeit abschwächender Erklärung einem Manne
gegenüber, der allerdings von revolutionärer Erhebung und Gewaltsamkeit
abnähme, dem es aber zugleich feststeht, daß das „Evangelium" nur durch eine
Revolution Fortgang gewinnen könne. Wer den Versuch machen will, die ent¬
scheidenden Momente der Jahre 1520, 1521, 1522 in Luther's Seele nach¬
zuleben, der wird den „Revolutionär" Luther verstehen — als einen ganz
anderen Charakter, wie der Theologe Luther von Kostim uns gezeigt wird.
Auch Erasmus kommt bei Kostim trotz manHer guten Einzelheit im
Ganzen noch nicht zu seinem Recht. Kostim steht von vornherein auf Luther's
Seite, wenn er auch bei Luther anfangs eine größere Aufrichtigkeit gewünscht
hätte. Ein historisches Urtheil wird ebenso Luther wie Erasmus zunächst
subjektive Berechtigung zuerkennen müssen und erst von da aus im Stande
sein über den Gegensatz der Beiden sich zu erheben und über die relative
Werthschätzung der Parteien hinaus zu einer objektiven Würdigung des
Streites zu gelangen.
Die politische Geschichte der Zeit Luther's ist nur sehr kurz behandelt,
offenbar in Anlehnung an andere Bücher, ohne eigene Studien. Bei der
heutigen Lage der Dinge, bet der üblichen Arbeitstheilung mag es begreiflich
sein, daß der Theologe diese Studien unterlassen; billigen kann man dies nicht.
Auf einzelne Versehen oder Fehlgriffe lege ich nicht besonderes Gewicht; aber
. das ganze Urtheil verräth doch diese Einbuße empfindlich. Bei der Erörterung
über Luther's Verhalten zum Bauernkrieg wird Jeder dies gewahr werden.
Ferner, die Beziehungen Luther's zum kursächsischen Particularismus und.zu
den kursächsischen Sonderinteressen müssen noch ganz anders ans Licht gezogen
werden. Es ist z. B. nicht genug, das Schimpfen Luther's gegen den Herzog
Moritz von Sachsen 1542 zu berichten; man muß hinzufügen, daß Moritz
damals im Rechte war und daß Luther's sittliche Entrüstung sich an die falsche
Adresse gerichtet hat. Es darf den Historiker keine Verehrung und keine
Rücksicht hindern, mit dürren Worten auszusprechen, daß politische Einsicht
und Urtheil wohl die schwächste Seite bei Luther und den meisten seiner refor¬
matorischen „Amtsbruder" gewesen. '
Die Früchte der Reformation, die protestantischen Landeskirchen charak-
terisirt und kritisirt Kostim mit einem recht unbefangenen Urtheil. Seine
Nüchternheit und sein Verständniß kirchlicher Wirklichkeiten zeichnet seine Dar¬
legung vortheilhaft aus vor der Betrachtung dieser Dinge durch Lang*), so
großen Beifall der Letztere auch bei Nichttheologen gefunden. Es liegt auf
der Hand, daß Kostim in dieser Beziehung von den Erlebnissen unserer Gegen¬
wart gelernt hat. Die heutigen Bewegungen und Bemühungen kirchlicher
Kreise, welche sich abmühen, heute die protestantische Kirchenverfassung zu
schaffen, die einst Luther nicht geschaffen und heute auf der Basis der Lutheri¬
schen Ideen das Gebäude zu errichten, das Luther nicht zu Stande gebracht,
— alle diese Erfahrungen und Kämpfe der Gegenwart, bei denen bekanntlich
auch Kostim selbst als Mitarbeiter thätig ist, haben für seine wissenschaftliche
Arbeit über Luther ihm den Blick geschärft und die Unbefangenheit seines
Urtheiles erhöht, — ein Resultat, zu dem wir uns aufrichtig Glück wünschen
dürfen.
Ueberhaupt liegt hier ein Buch vor, das man trotz seiner theologischen
Einseitigkeiten der Beachtung und der Lektüre weiterer Kreise empfehlen muß.
Es ist noch nicht das Leben Luther's, das unsere Nation von ihren Ncfor-
mationshistorikern erwarten und fordern darf; — ich zweifele, ob dies wahr¬
haft historische und deßhalb auch wahrhaft nationale Leben Luther's von
einem Theologen geschrieben werden wird oder geschrieben werden kann; aber
es ist eine achtbare und tüchtige Leistung, deren Bedeutung und Verdienst
auch vom Standpunkt einer objektiveren und für die Kirche Luther's weniger
eingenommenen Geschichtsbetrachtung aus anerkannt werden muß.
Möchte Kostim's Luther unseren Historikern Sporn und Anreiz sein, den
historischen Luther endlich und bald neben den theologischen Luther zu stellen!
Unsere Darstellung würde nur unvollständig sein, wenn wir es unter¬
ließen, auch einen Blick auf die landwirtschaftliche Production zu werfen.
Wir haben schon früher erwähnt, daß die Lebensmittel für die in diesem Jahr¬
hundert rasch vermehrte Bevölkerung zum größten Theil aus dem Inlande,
und nur zum geringen durch eine Verstärkung der Getreide- und Vieheinsuhr
gewonnen wurde. Dieser Mehrertrag der landwirtschaftlichen Production
Großbritanniens ist mehr durch Verbesserung der intensiven Cultur als durch
die Ausdehnung des bebauten Areals erzielt worden. Es giebt dort noch mehr
als wie in einem andern civilisirten Lande große Strecken unbebauten Landes,
welches mit geringem Aufwand in fruchtbares Gelände umgewandelt werden
könnte, welches aber nur mit Gestrüpp bewachsen ist, weil es die Eigenthümer
als Jagdgrund benutzen. Letztere sind durch das enorme Steigen des Werthes
ihres übrigen bebauten Grundeigenthums schon reich genug geworden, um
sich persönlich solchen Luxus erlauben zu können, wenn er auch der allgemei¬
nen Volkswirthschaft schädlich ist. In Folge der Vermehrung der Bevölkerung,
namentlich aber des Aufschwungs der Industrie, des Bergbaus und des Han¬
dels, durch welche sich die gewerblichen Classen Großbritanniens im Laufe dieses
Jahrhunderts außerordentlich bereichert haben, ist der Werth des Grundeigen¬
thums und die Landrente so enorm gestiegen, daß die großen Grundeigentümer
wahre Crosuse geworden sind und sich ihre Jagdfreude nicht gern verderben
lassen. Dies ist also die Ursache, warum das bebaute Areal nicht extensiv,
also nicht im Verhältniß zur Vermehrung der Getreideerzeugung und des
Viehstandes gewachsen ist. Wenn man sich auf die Statistik der Bodencultur
*
verlassen könnte, so würde der Umfang des Culturlandes in Großbritannien
sogar seit dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts abgenommen haben. Denn
nach Porter's „I'roFl'ess ok tuo Nation" hatte Großbritannien im Jahre l827
ungefähr 34 Millionen englische Morgen Culturland; nach einer neueren Er¬
hebung des statistischen Bureaus des englischen Handelsamtes gab es aber
in den Jahren 1873 und 1874 nur noch 31 Millionen Morgen Ackerland,
Wiese und Weide. Wir hallen indessen die erstere, nur auf einer Schätzung
beruhende Angabe Porter's für ungenau, da die sorgfältigeren Aufnahmen
erst in neuerer Zeit begonnen haben. Der Chef des genannten statistisches
Bureaus, mein verehrter Freund Walpy, gesteht ausdrücklich ein, daß sogar
noch seit 1868 bei den jährlichen Erhebungen eine steigende Vermehrung der
Genauigkeit derselben wahrzunehmen ist. Nach den seit diesem Jahr gepflo¬
genen Erhebungen hatte das Acker- und Weideland in Großbritannien folgen¬
den Umfang:
Die stetige Zunahme in der Gesammtzahl des Culturlandes, welche aus
diesen Ziffern hervorgeht, wovon aber ein Theil für Rechnung der früheren
ungenaueren Erhebungen in Abzug kommt, macht uns die Richtigkeit der
Schätzung Porter's aus dem Jahr 1827 noch unwahrscheinlicher. Außer dem
Verhältniß zwischen dem Ackerboden und dem Wiesen- und Weideland ergeben
sich zwei Thatsachen. Einerseits ist die Bewegung eine wellenförmige, so daß
in Folge von Preisschwankungen, Witterungsumständen oder aus anderen
Ursachen der Umfang des Ackerlandes von Jahr zu Jahr schwankt; anderer¬
seits läßt sich aber im Ganzen und Großen, einzelne Ausnahmsjahre abge¬
rechnet, die Zunahme des Wiesenlandes wahrnehmen. Dadurch wird nur die
schon früher angeführte Thatsache erhärtet, daß die Landwirthe Großbritanniens
durch die Concurrenz der ausländischen Getreideproducenten mehr und mehr
gezwungen werden, sich auf die Viehzucht zu werfen, wie dies auch im Großen
in hohem Maße in der Schweiz der Fall ist. Bloß in den letzten 6 Jahren
hat sich der Viehstand trotz der 1871 ausgebrochenen Seuche in folgender
Weise vermehrt:
So war der Stand der Dinge in Großbritannien, als zum ersten Mal
die Agitation für die Reform der Lage der ländlichen Arbeiter unter ihrem
Führer Josef Ares begann, nachdem ihre Brüder von der Industrie ihm in
solchen Bestrebungen ein halbes Jahrhundert vorausgeeilt waren. Dieses
späte Erwachen der ländlichen Arbeiter Englands zur gemeinsamen Wahrung
ihrer Interessen gegenüber den Grundherren und Pächtern ist so auffallend,
daß es sich wohl der Mühe lohnt, die Hauptursachen davon zu unter¬
suchen. In erster Linie ist wohl der Umstand aufzuführen, daß die ländlichen
Arbeiter schon durch ihre Jsolirung weniger als die in Städten und großen
Fabriken in fortwährender Berührung zusammenlebenden gewerblichen Arbeiter
Gelegenheit haben, sich zu gemeinsamer Action zu verständigen. Dazu kommt
noch ein Grad von Unwissenheit, wie er erst im östlichen Europa, jenseits
der Oder und Donau wieder vorkommen mag. Da in Großbritannien die
Pflicht des Besuchs der Volksschule nicht bestand, so kann nur selten ein länd¬
licher Arbeiter lesen oder schreiben, während bei den Kindern der Fabrikarbei¬
ter diese Kenntniß schon durch die Fabrikordnung erleichtert worden ist. Die
conservative Abneigung gegen jede Neuerung besteht bei dem Landvolk Gro߬
britanniens nicht minder, wie bei den übrigen alten Völkern. Außerdem be¬
stätigt sich auch hier aufs neue die Wahrheit jener historischen Beobachtung,
daß es nicht die gedrücktesten Lagen sind, in welchen am meisten Beschwerde
geführt und auf Abhilfe gedrungen wird. Endlich war dem Landarbeiter bis
vor Kurzem noch kein fähiger Führer erstanden. Ein solcher ist ihnen nun
seit einigen Jahren in dem erwähnten Josef Ares erschienen. Derselbe hat
sich durch eigene Kraft von der Stufe eines Tagelöhners zu einem Agitator
emporgearbeitet, dessen Befehlen jetzt Hunderttausende gehorchen. Derselbe be¬
sitzt eine natürliche Beredsamkeit und eine Kenntniß der Aufgabe, welche er
sich gestellt, daß er die Versammlungen, bei denen er erscheint, oft wider ihren
Willen hinzureißen pflegt. Josef Ares ist aber nicht blos Redner, sondern
Volksführer in der echten Bedeutung des Wortes; nicht einer von jenen volks¬
aufwieglerischen Demagogen, welche die Vertretung der Arbeiter nur als
Mittel zu eigenen egoistischen Zwecken benützen. Sein Charakter ist so rein,
wie sein Wille stark ist und wenn ihm auch die Bildung und der Scharfblick
abgehen mögen, um in den Gang der Volkswirthschaft im Allgemeinen tiefer
einzudringen, und die jeweilige Situation so klar zu beurtheilen, um sich und
seine Partei vor Mißgriffen und unzeitgemäßer Beschlüssen zu bewahren, wenn
er auch deswegen erst kürzlich eine Niederlage erlitten hat, so ist er doch wegen
des großen Einflusses, den er auf einen großen Theil der ländlichen Arbeiter
ausübt, ein Factor, den die Staatsmänner Englands nicht gering schätzen
dürfen. Denn bei dem Congreß der treulos unioiis in Sheffield 1874 nahm
er im Namen von nicht weniger als 600,000 ländlichen Arbeitern Theil.
Zum richtigen Verständniß der Bewegung ist es nothwendig zu erwähnen,
daß die englischen Landarbeiter sich in zwei Classen theilen lassen: in fest an¬
gesiedelte und in Schaaren - Wanderer. Die ersteren sind in der Nähe der
Pachthöfe fest angesiedelt, in Hütten, welche ihnen nebst einem Stückchen Land
zur Nutznießung überlassen sind. Als ich zum ersten Male im Süden Eng¬
lands solche Arbeiterhütten sah, staunte ich über die Armseligkeit derselben.
Man braucht bei diesem Urtheil noch keinen rheinischen, niederösterreichischen
oder schweizerischen Maßstab anzulegen. In diesen Hütten hat sich oft Ge¬
schlecht nach Geschlecht fortgeerbt, gleich den Hänflingen eines Theiles von
Norddeutschland. Die Schaarenwanderer werden in der Landwirthschaft nur
b?i den Erntearbeiten verwendet, welche sie wegen des höheren Lohnes auf¬
suchen. Für den übrigen Theil des Jahres kehren sie zu anderen Arbeiten
im Freien, die wegen des milden Klimas in einem großen Theile Englands
auch im Winter nur selten ausgesetzt werden, zurück und sind namentlich bei
Eisenbahnbauten, Drainirarbeiten, in Ziegeleien, bei Bauten und Straßen-
Reparaturen oder auch in Bergwerken, Torfstichen und in einigen Industrie¬
zweigen bethätigt.
Im Sommer 1873 war es, wo Josef Ares zum ersten Male seinen,
namentlich durch Ansprachen in Versammlungen gewonnenen Einfluß bei den
Landarbeitern erproben wollte, indem er zunächst einen Aufstand (Strike) der
Schaarenwanderer organisirte. Obgleich die Bewegung bis in die Erntear¬
beiten hinein fortgesetzt wurde und durch Beiträge von industriellen Gewerk¬
vereinen unterstützt ward, gelang es ihr doch nicht, den Zweck des Auf¬
standes, eine allgemeine Erhöhung des Lohnes zu erreichen. Einestheils war
der Zeitpunkt ungünstig gewählt, da der Ausbruch der Krisis in Wien auch
bereits in den Jndustriedistricten Englands fühlbar zu werden begann und
anderntheils fanden die Landwirthe eine starke Stütze an den vervollkomm¬
neten Erntemaschinen, deren wir oben gedacht. Ein Theil der Arbeiter ver¬
ständigte sich daher wieder mit den Pächtern, ein Anderer kehrte schon früher
wieder zu seiner sonstigen Beschäftigung zurück.
Das Scheitern dieser Bewegung hatte den Führer der Landarbeiter be¬
lehrt, daß einestheils die Schaarenwanderer wegen ihrer nur zeitweisen Be¬
theiligung an den landwirthschaftlichen Arbeiten nicht die geeigneten Kräfte
zur Erstrebung eines großen Zieles seien, und daß andererseits auch für die
fest angesiedelten landwirthschaftlichen Arbeiter ein Mittel gefunden werden
müsse, um sie aus ihrer Jsolirung zu befreien, welche bis dahin eine Ver¬
ständigung und eine gemeinsame Action vereitelt hatte. Er gründete daher
nach dem Vorbild der in der Industrie bestehenden Trabes - Univns die
„National-Union", welche so großen Anklang fand, daß Ares, wie schon er¬
wähnt, bereits ein halbes Jahr darauf, bei dem Congreß der Trabes-Unions
als Vertreter von 600,000 Landarbeitern sich einschreiben konnte. Die Na-
tional-Union stellte sich zuerst nur die materielle Verbesserung der Lage der
Landarbeiter zum Ziel und faßte dabei einerseits die Erhöhung des Lohnes
und andererseits die Auswanderung ins Auge. Die Lohnerhöhung sollte
durch Coalitionen und massenhafte Arbeitseinstellungen von den Pächtern er¬
zwungen werden. Deshalb wurde mit der Gründung der Union sofort mittelst
Wochcnbeiträgen eine Casse gegründet, welche in der Zukunft dazu dienen
sollte, die Arbeiter während eines Aufstandes zu unterstützen.
Nachdem Josef Ares die National-Union gesichert sah, hatte er noch im
Herbst 1873 eine Reise nach den Vereinigten Staaten und nach Canada an¬
getreten, um die dortigen Ansiedlungsverhältnisse zu studiren und sich Klar¬
heit darüber zu verschaffen, in wiefern den Landarbeitern durch die Auswan¬
derung radical geholfen werden könne. Das Ergebniß seiner Untersuchung
war nicht blos ein, im Allgemeinen für die Auswanderung sehr günstiges,
sondern es trafen gerade auch noch besondere Umstände damit zusammen,
welche dieselbe ungewöhnlich begünstigten. Schon seit einigen Jahren giebt
sich eine Anzahl von Staaten in der amerikanischen Union viele Mühe, um
Auswanderer, namentlich aus Deutschland und England an sich zu ziehen.
Ländereien werden zu sehr billigem Preis zuweilen sogar bis zu einem ge¬
wissen Betrag umsonst angeboten unter der Bedingung, daß Landarbetter sich
daselbst ansiedeln. Im Herbst 1872 wurde z. B. der schweizerischen Bundes¬
regierung das Geschenk von 80,000 Morgen fruchtbaren Landes von dem
Agenten einer Eisenbahngesellschast in Florida angeboten, welches indessen
selbstverständlich keine Annahme fand. Die Regierungen vieler Staaten
schickten sogar ihre Agenten nach Großbritannien, Deutschland und in die
Schweiz, um Auswanderer durch Versprechungen anzulocken und die preußische
Negierung sah sich noch im Jahre 1874 veranlaßt, den Schullehrern auf dem
Lande die Annahme von Unter-Agenturen für solche Auswanderungszwecke
zu verbieten. Diese fortgesetzten Warnungen gegen die Auswanderung nach
heißen Ländern, namentlich Brasilien, wo unsere Landsleute ein anderes
Klima, fremde Sitten und Gebräuche und Gesetze finden, kann nur als sehr
angemessen angesehen werden. Etwas anderes ist es aber mit Colonial-
Ländern von ähnlichem, gemäßigtem Klima. Josef Ares scheint die Verhältnisse
Canadas ganz besonders für die englische Auswanderung geeignet gefunden
zu haben. Einestheils steht die Bevölkerung von Canada in freundlicheren
Beziehungen zu England als die der Vereinigten Staaten, ohne deshalb mehr
den geringsten Antheil an den Interessen der englischen Grundaristokratie zu
nehmen, welcher die Auswanderung natürlich ein Dorn im Auge sein muß.
Sowohl die Negierung, wie die Volksvertretung Canadas haben sich daher
sogar zu Opfern verstanden, um englische Auswanderer durch noch günstigere
Anerbietungen als die einzelner der Vereinigten Staaten an sich zu locken.
Vom Jahr 1874 an bot sie jedem selbständigen, unverheirateten Einwanderer
100 englische Morgen und jedem Verheirateten 200 Morgen fruchtbaren
Landes unentgeltlich. Die canadische Regierung bot aber auch noch ihre
Hand zur Erleichterung der Ueberfahrt. Dieselbe kostet für die Person As
Mark, davon brauchen aber nur 35 Mark bei der Einschiffung gezahlt zu
werden. Die anderen 60 Mark können nach Ankunft im Lande in Raten
zurückgezahlt werden, deren Termine so billig angesetzt werden, daß der Ein¬
wanderer sie leicht nach und nach aus dem Ueberschuß seines Taglohns zurück¬
zahlen kann. Der Arbeitslohn beträgt nämlich per Tag wenigstens 4 Mark,
während die Lebensmittel in Canada billiger als in England sind. Durch
diese Bedingung wird die Auswanderung auch dem Aermsten möglich gemacht,
weil er ja nur 35 Mark zu sparen braucht, wozu selbst das geringste Dienst¬
verhältniß die Möglichkeit bietet. Da in England und Irland auch die
Wehrpflicht der Auswanderung keine Schranken setzt, so ist die Auswanderung
außerordentlich erleichtert und fast nur noch durch die natürliche Anhänglich¬
keit an die Heimath gehemmt, welche bei der ländlichen Bevölkerung am
stärksten zu sein pflegt. Wird diese Anhänglichkeit aber durch ungerechte
Zustände im Inlande untergraben, so läßt sich gar nicht absehen, welche
Dimensionen die Auswanderung noch annehmen kann und welche unvorher¬
gesehene Gestaltung die Agrarverhältnisse Großbritanniens und Irlands in
der Zukunft noch annehmen werden.
Gleich nachdem Josef Ares aus Amerika zurückgekehrt war, fand die große
Jahresversammlung der englischen Trabes» Union statt, bet welcher er zum
ersten Mal als Vertreter der National-Union der Landarbeiter auftrat. Bei
diesem Kongreß von Delegirten der großen Mehrzahl der englischen Arbeiter
aus der kleinen und großen Industrie, aus den Bergwerken, dem Transport¬
wesen und der Landwirtschaft, der bereits zu einem so wichtigem Factor des
öffentlichen Lebens Großbritanniens geworden ist. daß die englischen Staats¬
männer damit zu rechnen beginnen, scheint der Anstoß zu einem zweiten An¬
lauf für die Verbesserung der Lage der ländlichen Arbeiter gegeben worden
zu sein. Bald darauf nämlich und zwar gegen Ende März 1874 begannen
die ansässigen Landarbeiter der östlichen Grafschaften Englands massenweise
eine Erhöhung ihres Wochenlohnes auf 18 Shilling (Mary zu verlangen
Derselbe hatte nämlich je nach den Gegenden 14—17 Mark betragen. Zu
diesem Lohn ist noch freie Wohnung und ein kleines Stück Land zu rechnen,
auf welchem die Leute ihre Kartoffeln bauen und etwa eine Ziege halten
können. Gleichwohl war dieser Lohn außerordentlich gering im Vergleich zu
dem der Arbeiter in den Fabriken, namentlich in den Eisenhütten und Kohlen¬
bergwerken, welche in den letzten drei Jahren durch massenhafte, wiederholte
Arbeits-Einstellungen eine Erhöhung bis durchschnittlich 56 yet. durchgesetz
hatten. Während der Taglohn der Landarbeiter seit den letzten zehn Jahren
sich so ziemlich gleich geblieben war, ist der der Industriellen in dieser Zeit
um 100 yet. gestiegen. Es darf daher nicht Wunder nehmen, daß die Land¬
arbeiter willig auf den Ruf ihres Führers hörten, um auch ihrerseits an den
Wohlthaten Theil zu nehmen, deren ihre Brüder in der Industrie theilhaftig
geworden waren. Es konnte indessen kein ungünstigerer Moment gewählt
werden. Denn erst ein halbes Jahr war verflossen, seitdem in Folge des
Ausbruches der Krisis in New-Uork auch England in Mitleidenschaft gezogen
worden war. Schon hatte Kohle und Eisen einen Preisabschlag von 30 bis
35 yet. erfahren. Ueberall wurden die Geschäfte eingeschränkt, sowie Arbeiter
entlassen. Schon begann jener in den Annalen der Geschichte fast beispiellos
anhaltende Kampf der englischen Industriearbeiter und Bergleute mit ihren
Arbeitgebern wegen der von den Letzteren in Folge des Rückganges der Ge¬
schäfte nothwendig angeordneten Wiederermäßigung der Löhne. Obgleich die
Arbeiter durch zahlreiche Aufstände während deren zuweilen bis gegen
100,000 Mann feierten, sich gegen die Lohnreduction zu wehren suchten, so
half es doch nichts und jeder Versuch hat während der letzten 10 Monate
mit einem Compromiß oder mit der Niederlage der Arbeiter geendigt, ja viele
Werke sind sogar zu wiederholten Lohnherabsetzungen geschritten, so daß nun¬
mehr fast das ganze Terrain wieder verloren ist, welches die Arbeiter in den
drei Jahren vor Ausbruch der Krisis sich erobert hatten. Es muß daher
wahrhaft in Erstaunen setzen, daß ein sonst so begabter und erfahrener Mann
wie Josef Ares sich dermaßen über den richtigen Zeitpunkt der Action irren
konnte. Trotz dessen waren die Pächter der östlichen Grafschaften Englands
anfangs nicht abgeneigt, die Forderung der Erhöhung des Wochenlohnes auf
18 Shilling zu bewilligen. Während die Unterhandlungen zwischen beiden
Theilen noch schwebten, waren aber die Agenten der National-Union zum
ersten Mal auf dem Kampfplatz erschienen und hatten begonnen die Arbeiter
durch Lockungen und Forderungen neuer Art aufzureizen. Damit änderte sich
die Sachlage vollständig, die Pächter verabredeten sich, brachen die Unter¬
handlungen ab und erklärten mit Bestimmtheit jede fernere Beziehung von
der Bedingung des Auftrittes aus der Gesellschaft abhängig zu machen. Sie
begannen, alle Arbeiter, welche Mitglieder der „National-Union" sowie der
später gegründeten „Föderal-Union" waren, welch' letztere die Auswanderung
aus ihren Statuten ausschloß, zu entlassen. Als beide Vereine ihren Mitgliedern
die statutenmäßige Unterstützung von wöchentlich 9 — 10 Shilling auszahlten
und durch ihre Agenten die Forderungen aufstellen ließen und die Arbeiter
dafür zu gewinnen suchten, daß alle Streitigkeiten zwischen Pächtern und
Arbeitern dem Borstand der Gesellschaften angezeigt werden sollten, daß die
Pächter dessen Vermittlung anerkennen und die Entscheidung der Streitigkeiten
durch Schiedsgericht genehmigen sollten, da stieg die Erbitterung der Pächter
auf das Höchste. Zunächst galt es, die Abwehr gegen die National-Union
weil diese der gefährlichere der beiden Vereine war, sowohl wegen der Zahl
seiner Mitglieder, wie wegen der radikalen Schärfe seiner Forderungen und
Losungsworte und wegen der Empfehlung der Auswanderung, welche er sich
als eventuelles Ziel gesteckt hatte. Die Pächter gründeten eine Defensiv-
Association, deren Mitglieder sich anheischig machten, keine Arbeiter mehr
anzustellen, welche der National-Union angehören. Der Streit erschien von
da in der englischen Presse unter dem Namen des Ausschlusses (locke out) der
Landarbeiter. Das Haupt-Kampfmittel der Pächter, um den Streit abzu¬
kürzen, bestand darin, den Kreis der Mitglieder ihrer Gesellschaft möglichst
weit auszudehnen, um die Geldmittel der Arbeitervereine durch die rasch
wachsende Zahl ihrer ausgeschlossenen, unterstützungsbedürftigen Mitglieder
bald zu erschöpfen. Schon Ende April hatte daher die Zahl der weggejagten
Arbeiter N—-0000 erreicht. Während des ganzen Frühjahrs bis zum Beginn
der Erntearbeiten folgte die öffentliche Aufmerksamkeit dem Streite mit einer
Erregung, welche zeigte, eine wie empfindliche Seite des englischen Staats¬
lebens davon berührt wurde. In die Casse der National-Union flössen zahl¬
reiche Unterstützungsgelder von Seiten der Gewerkvereine, von Privaten und
von Versammlungen, welche besonders zu diesem Zwecke zusammengetreten
waren. Der Vorstand der National-Union suchte auch die Mittel des Ver¬
eines soviel als möglich zu Rath zu halten, indem er soviel Arbeiter als
möglich zum Wegzug bewog und sie im Norden Englands, oder in Schott¬
land unterbrachte, sowie zur Auswanderung nach Canada veranlaßte, zumal
ein Agent der Canadischen Regierung eingetroffen war und neue, günstige
Zusicherungen ertheilte.
In dieser Art gelang es der National-Union, die weggejagten Arbeiter
bis zum Beginn der Ernte mit 10 Shilling und zuletzt mit !) Shilling
wöchentlich zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt hoffte sie, würden die Päch¬
ter in ihrem eigenen Interesse zur Nachgiebigkeit genöthigt sein, zumal wenn
dazu noch das Wetter die Beschleunigung der Erntearbeiten erfordern würde.
Allein der Vorstand der National-Union hatte falsch gerechnet. Seine Agen¬
ten hatten zu bösen Samen ausgestreut, die Pächter so erbittert, daß sie mit
der äußersten Hartnäckigkeit aushielten, ja daß Manche erklärten, sie wollten
lieber sterben als nachgeben. Bei Beginn der Ernte hatten sie sich theils da¬
durch geholfen, daß sie selbst mit Weib und Kind thätiger zugriffen, und
mehr Maschinen anschafften, theils daß sie fremde Arbeiter kommen ließen,
oder Mädchen und Frauen, Kinder und Greise, deren Mitwirkung sonst ver¬
schmäht zu werden pflegt, in Arbeit nahmen. Da nun auch ein Theil der
Arbeiter der National-Union fern und deshalb in Dienst geblieben war und
überdies das Wetter sich günstig gestaltete, so waren die Pächter im Stande,
ihre Ernte wohlbehalten, unbeschädigt einzubringen. Die Arbeit war etwas
langsamer, vielleicht auch etwas schlechter vollendet, aber sie war doch gemacht
worden.
Die Mitglieder der National-Union hatten bis über die Heu-Ernte
ausgehalten in der Hoffnung, daß die Pächter bei Beginn der Getreide-Ernte
endlich nachgeben müßten. Allein als diese Hoffnung sich als eitel heraus¬
stellte, erkannte endlich der Vorstand der National-Union die Unmöglichkeit,
die unternommene Aufgabe durchzuführen. Er kündigte Ende Juli seinen
Mitgliedern an, daß die Casse nicht mehr zur Vertheilung der bisher bewillig¬
ten Unterstützungsgelder ausreiche und daß aus ihr fortan nur Beiträge zur
Auswanderung nach Schottland, nach den Bereinigten Staaten oder nach
Canada bewilligt werden könnten. Den ausgeschlossenen Landarbeitern war
nur die Wahl zwischen unbedingter Unterwerfung unter das Verlangen der
Pachter oder Auswanderung geblieben. Viele haben, müde und hoffnungslos
den ersteren Ausweg gewählt, die Tüchtigeren aber haben sich zur Auswan¬
derung entschlossen, welche seitdem namentlich in der Richtung von Canada
größeren Umfang angenommen hat. In beiden Fällen aber waren sie für
die National-Union verloren. Obwohl dieser Verein durch das Scheitern
einer so hartnäckig behaupteten Bewegung seinem Untergang nahe gebracht
ist, und obwohl diese Niederlage noch auf Jahre hinaus den Muth zum ge¬
meinsamen Aufraffen der Landarbeiter zu besseren Verhältnissen benommen
haben wird, so ist die Frage doch nur vertagt und keineswegs als gelöst zu
betrachten.
Nicht blos dem ungünstig gewählten Zeitpunkt wird die Niederlage dieses
ersten Aufraffens der Landarbeiter beizumessen sein, auch noch ein anderer
Umstand mag zur raschen Dämpfung desselben beigetragen haben — die kluge
Passivität, mit welcher die Grundeigenthümer dem Streite zusahen, ohne für
den einen oder andern Theil Partei zu nehmen. Und doch hatte Josef Ares
bereits das weitgehende Losungswort ausgesprochen: „Was soll mit dem Bo¬
den geschehen?" Jene kluge Zurückhaltung der Grundeigenthümer wirkte da¬
hin, den Streit zu begrenzen, so daß alle die Dinge, welche im Grunde für
sie bestimmt sind, zunächst an die Adresse der Pachter gerichtet wurden. Die
Agenten der Union, welche während des 4 Monate dauernden Streites fort¬
während die Arbeiter an Ort und Stelle zu beeinflußen suchten und dazu
häufig genug Gelegenheit hatten, weil die Wirthshäuser von den müssigen
Leuten mehr als je besucht wurden und es namentlich an Markttagen zwischen
Pächtern und Arbeitern häusig zu Reibungen kam, setzten den Leuten ganz
neue Dinge in den Kopf. Eine der Hauptförderungen in dieser Beziehung
war die Zerschlagung der Pachthöfe und die Vertheilung der Parcellen an
die Arbeiter.
Obgleich dieses Begehren nicht gegen die Grundeigenthümer gerichtet ist,
so würden sie doch indirect davon betroffen, wenn dasselbe überhaupt Aussicht
auf Verwirklichung hätte. Denn, seitdem die englischen Landwirthe die Con-
currenz der ausländischen Getreideproducenten, welche mit billigeren Bodenca¬
pital und Lohn arbeiten, zu bestehen haben, sind kleine, ohne Maschinen bear¬
beitete Grundstücke nicht mehr rentabel. Wie wir früher bereits aus der Be¬
völkerungsstatistik ersehen haben, nehmen die kleinen Pächter auch fortwährend
ab. Jene Forderung hat daher nur eine agitatorische Wirkung, ohne zu einem
gesunden Ziele führen zu können. Wie sehr aber die Leute durch solche Lock¬
ungen bethört wurden, davon weiß ein an Ort und Stelle geschickter Speeial-
Correspondent der „Times" manches merkwürdige Stück zu erzählen. In
einem Falle erhielt ein Pächter, der sich erboten hatte, einige Leute auf das
ganze oder halbe Jahr fest in Arbeit zu nehmen, die Antwort: „Wir können
uns nicht auf diese Weise binden, weil wir nicht wissen, was die Union noch
für uns thut." Der Pächter erwiederte: „Was hat die Union damit zu thun?
Ihr müßt unter allen Umständen arbeiten?" — „Doch, war die Antwort,
denn es heißt, die meisten Pächter sollen weggejagt und das Land uns gege¬
ben werden." Trotz dieser Leichtgläubigkeit, welche mit dem gänzlichen Man¬
gel der Schulbildung zusammenhängt, scheint den Leuten doch ein gewisser
Mutterwitz nicht abzugehen, denn die Genannten fuhren fort, den Gegenstand
mit dem Landwirth in ihrer Weise zu untersuchen: „Sie wissen, die Pächter
und die Pfarrer verschlingen alles Geld in der Gemeinde. Thun Sie's nicht?
Was sagt die Bibel? „„Du sollst Dein Brot im Schweiße deines Angesichtes
essen."" Ganz wohl, nun essen Sie ihr Brot im Schweiße Ihres Angesichtes?
Thut es der Pfarrer?" Ein Mann sagte zu seinem Arbeitgeber im Tone
aufrichtigen Mitleids: „Ich fühle Mich aufrichtig besorgt um Euch Meister,
weil Ihr, wie Ihr wißt. Euern Hof bald verlassen müßt, denn wie ich sicher
höre, sollen ihn die Taglöhner erhalten." Neben solchen harmloseren Bor¬
spiegelungen kamen aber auch Drohbriefe und gefährlichere Ausschreitun¬
gen vor.
Es ist wohl richtig, daß solchen Meinungsäußerungen kein zu großes
Gewicht beigelegt werden darf, denn sie kommen zu außerordentlichen Zeiten
in allen Ländern vor. Wo indessen der Gesetzgebung und Sitte ein Gebrechen
von so großer Tragweite anhaftet, wie den Eigenthumsverhältnissen in Eng¬
land, da dürfen sie doch nicht unbeachtet gelassen werden. Trotz der klugen
Zurückhaltung der Grundeigenthümer und trotz des gänzlichen Scheiterns
dieser ersten Bewegung der Landarbeiter, ist doch eine Wirkung schon sicher,
die nämlich, daß die ohnedies in der Regel starke Auswanderung noch wehend-
lich vermehrt werden wird. In demselben Verhältniß, in welchem den Land¬
arbeitern Großbritanniens eine Verbesserung ihrer Lage erschwert oder
möglich gemacht wird, in welchem sie nicht blos der Hoffnung auf selbst¬
ständiges Grundeigenthum, ja auch nur auf Pachtungen für immer entsagen
.müssen, und in welchen sie nur selten und mit Mühe Lohnerhöhungen er¬
halten können, — steigt die Leichtigkeit der Auswanderung in Folge der
Berwohlfeilerung der Reisekosten, der Concurrenz der überseeischen Negierung
im Angebot von Ländereien, der zunehmenden Arbeitsgelegenheit, und Löhne
sowie der vermehrten Ansiedlung von Verwandten und Freunden in den neuen
Ländern, welche häufig noch ihre Angehörigen mit Geldmitteln zur Aus¬
wanderung unterstützen. Auch bei der geringen Bildung der englischen Land¬
arbeiter und bei der größten Anhänglichkeit an die alte Heimat, wird sich
ihnen von Jahr zu Jahr öfter der Vergleich aufdrängen zwischen dem Loos,
das ihrer und ihrer Kinder in Großbritannien in ärmlichen Hütten, bei
schlechtem Lohn für immer harrt und dem Schicksal, welches sie sich und ihren
Nachkommen in dem neuen Lande als selbständige Grundeigenthümer be¬
reiten könnten.
Dazu kommt noch, daß auch die wohlhabenden Klaffen, die jüngeren
Söhne der Grundeigenthümer, die Industrie, der Handel, wie der Beamten¬
stand noch ein großes Contingent der Auswanderer stellen, welche sich haupt¬
sächlich Australien zuwenden. Der unerhörte Aufschwung, den diese Colonie
nimmt, wird diese Anziehungskraft mit jedem Jahre in erhöhtem Maße aus¬
üben. Denn, sieht man ganz ab von der dortigen Goldproduction, so nimmt
schon die Vicherzeugung Maßstäbe an, für welche wir in der Geschichte der
Volkswirthschaft kaum eine Analogie finden. So vermehrte sich die Zahl des
Rindviehs vom Jahr 1867 bis 1873 um nicht weniger als 1,673,000 Stück
und umfaßt gegenwärtig fast 6 Millionen Stück. Die Zahl der Schafe be¬
trug Ende 1873 gar schon 55,490,000, was in runden Zahlen eine Ver¬
mehrung von 8 Millionen Stück gegen 1867, von 22 Millionen gegen 1864
und von 32 Millionen gegen 1861 ausmacht, so daß die Zahl der Schafe
in 12 Jahren sich mehr als verdoppelt hat. Im gleichen Verhältniß stieg
auch die Wolleausfuhr von 73 Millionen im Jahr 1861 auf 199 Millionen
Pfund im Jahre 1872. Da gleichzeitig die Transportgelegenheit mit den
australischen Colonien sich von Jahr zu Jahr verbessert und auch die tele¬
graphische Verbindung bereits hergestellt ist, so läßt sich eine Vermehrung der
Auswanderung, namentlich von Seiten der jüngeren Söhne der Grundeigen¬
thümer und Pächter kunst voraussehen.
Die nächste Volkszählung im Jahr 1881 wird daher wieder einen weit be¬
trächtlicheren Rückgang der ländlichen Bevölkerung in Großbritannien vorfinden.
Diese rückläufige Bewegung wird zwar vor der Hand auf den Reichthum
und die politische Macht Englands keinen wesentlichen Einfluß äußern, so¬
lange der überwiegende Theil der Produktion noch durch die Industrie und
den Bergbau gewonnen wird. Allein unaushaltbar naht der Tag heran, wo
die Kohlen- und Eisenschätze — deren Erschöpfung nach 200 Jahren bevor¬
stehen soll — so schwierig zu gewinnen sein werden, daß ihr Preis beträcht¬
lich steigt und daß auch den Fabriken- und Hüttenwerken die Concurrenz
mit dem Auslande schwieriger werden wird. Dann wird der Tag kommen,
wo auch die Bergleute und Fabrikarbeiter mehr als bisher von der Auswan¬
derung werden angezogen werden. Genießt Großbritannien durch seine ge¬
schützte Insel-Lage auch den Vortheil, daß es für die Aufrechterhaltung seiner
politischen Macht keines so zahlreichen Heeres bedarf als die Staaten des
Continents, und daß es daher länger dauert, bis seine Wehrkraft durch den
zu großen Wegzug rüstiger Arbeitskräfte geschmälert wird, so ist deren Sinken
und Verfall endlich doch unausbleiblich, wenn es bei der bisherigen Agrar¬
politik verharrt.
Die englische Nation muß entweder eine radicale Reform ihres Grund¬
eigenthumrechts vornehmen, was allerdings nur nach einem erbitterten Kampfe
mit der Aristokratie erreicht werden kann, welche demselben ihre bevorzugte
Stellung und ihren Reichthum verdankt, oder sie muß sich mit dem Gedanken
vertraut machen, daß immermehr der rüstige Theil der arbeitenden Bevölkerung
auswandert, so daß zuletzt die Verminderung der Kopfzahl, von der bis jetzt
nur die Landwirthschaft betroffen ist, sich auf die gesammte Bevölkerung er¬
streckt, daß der Mittelstand vollständig schwindet, und es zuletzt nur noch reiche
Ecipitalisten und Grundherren und arme Dienstboten und Arbeiter giebt und
das stolze Brittenreich von der stolzen Höhe herabsteigt, welche es jetzt noch
mit Mühe behauptet.
In diesen Tagen ist der dritte Band der „Amerikanischen Humoristen",
übersetzt von Moritz Busch (im Verlage von Fr. Will). Grunow in Leipzig)
erschienen. Er enthält „die Geschichte eines bösen Buben und drei
andere schöne Historien" von Thomas Bailey Aldrich. —
Als wir im Herbste v. I. ') diesen amerikanischen Dichter bei unsern
Lesern zugleich mit dem ersten Bande der vorliegenden interessanten Sammlung
(der Prudence Palfrey u. s. w. enthielt) einführten, haben wir uns eingehend
über den Charakter seiner Schreibweise, namentlich im Vergleich zu seinem
Landsmann Bret Harte ausgesprochen. Es ist wohl gestattet, hier auf jene
Ausführungen zurückzuverweisen; um so mehr, als sie durch den neuerschienenen
Band nur bestätigt werden. Aldrich zeigt sich auch hier als ein psychologischer
Naturalist von hervorragendster Bedeutung. Sprache, Handlung, Charaktere
können kaum natürlicher gedacht und behandelt werden, als in diesem Bande.
Und doch gehört ein gereiftes, reicherfahrenes Mannesleben dazu; ein Mannes¬
leben, das in Amerika seine Prüfungen und Erfahrungen bestand, um so
wahr, so sicher und heiter zu erzählen, wie Aldrich hier erzählt.
Die „Geschichte eines bösen Buben" ist nichts weniger als etwa eine
Kindergeschichte für Kinder — obwohl sie, wie der Verfasser zu bemerken
Gelegenheit hatte von den Landsleuten des Dichters in sehr jungen
Jahren gelesen wird. Sie wird ebenso wie die Schriften unsres Rudolf
Reichenau*) „Aus unsern vier Wänden" in ihrer ganzen Tiefe und Erkennt¬
niß nur von einem reiferen Alter gewürdigt werden können. Wenn man diese
beiden Werke gegenüberstellt ^— von Reichenau diejenigen Bände, welche die
erste Gymnasialzeit seiner Helden schildert, um etwa dieselbe Alters- und Bil¬
dungssphäre abzugrenzen, in welcher der „böse Bube" des Aldrich sich vor
uns bewegt —so erhält man ein höchst interessantes Doppelbild deutschen und
amerikanischen Jugendlebens, das durch die vorwiegend realistische und humo¬
ristische Begabung und Darstellung der beiden Autoren nur noch an Inter¬
esse gewinnt. Die deutschen Jungen, die Rudolf Reichenau uns vorführt,
verdienen das Epitheton „böser Buben" ganz in demselben Sinne und Maße
wie der Held des vorliegenden Bandes, d. h. sie sind jugendsröhlich und oft¬
mals auch übermüthig und leichtsinnig. Sie sind so wenig Engel wie der
böse Bube Bailey Aldrich's und sehr „verschieden von jenen makellosen jungen
Herrn, die gewöhnlich in derartigen Erzählungen figuriren." Sie sind ebenso
wie dieser „liebenswürdige, lebhafte Bürschlein, gesegnet mit einer trefflichen
Verdauungskraft und entfernt von aller Heuchelei." Die Tractätchen der
Missionäre kommen auch ihnen — wenn sie davon überhaupt etwas zu sehen
bekommen — nicht halb so hübsch vor, als der Robinson Crusoe, und auch
sie schicken ihr Bischen Taschengeld nicht den Eingeborenen der Fidschi-In¬
seln, sondern verthun es mit königlicher Liberalität in Pfeffermünz-Plätzchen
und Zuckerkand!
Insoweit also gehen die beiden Dichter Hand in Hand. Sie schildern
Knaben mit Fleisch und Bein, wie man sie überall und zu allen Zeiten trifft,
und diese Jungen „gleichen den unmöglichen Knaben in den Geschichtenbüchcrn
nicht mehr als eine frische Orange einer ausgesogenen gleicht". Beide Dichter
sind weit entfernt davon, dem jungen lebenslustigen Knabenvolk die Moral
des halben Katechismus anzukränkeln. Sie folgen im Guten, das sie thun,
der untrüglichen Stimme unverdorbener Naturen und im „Bösen", in ihren
leichtsinnigen Streichen, in ihrem Ungehorsam gegen die Gebote der Pflicht
in Haus und Schule wieder derselben unverdorbenen Natur, deren Kraftge¬
fühl und Vergnügungsbedürfniß über den Rand enger Gefäße leicht und gerne
überschauend. —
Insoweit sind die natürlichen Buben sich gleich in Amerika und Deutsch¬
land, bei Reichenau und Aldrich. Viele Motive sind bis auf die Worte und
Wendungen in beiden Schriftstellern so verwandt, daß man glauben könnte,
der Amerikaner habe das ältere deutsche Vorbild nicht blos gekannt, sondern
auch benutzt; und doch ist das sicher nicht der Fall gewesen. Wir Wähler-
einige Beispiele zur Erhärtung dieser Behauptung, wie sie uns grade, nach
wiederholter frischer Lectüre beider Schriften im Gedächtniß haften.
Da schildert Reichenau in seinem zweiten Bändchen („Knaben und Mäd¬
chen", im 7. Kapitel) die kindliche Formlosigkeit im Schließen von'Bekannt¬
schaften in folgender köstlichen Weise: „Ein kleiner Fremdling, bei den Nach¬
barn zum Besuch, hielt es für überflüssig, zu geselliger Anknüpfung mit un¬
srem Hause sich melden zu lassen oder seine Karte vorauszuschicken. Mit
Verschmähung aller Weitläufigkeiten, wie der Apfel sich vom Zweige löst,
purzelte er graden Weges vom Zaune herunter, stand schnell auf. sah etwas
verblüfft aus, überzeugte sich, ob seine hellen Kleider auch die vorschrifts¬
mäßige grasgrüne Signatur erhalten hatten, rieb die Stelle, die am här¬
testen aufgeschlagen und mischte sich sofort unter unsre fröhlich spielenden
Kleinen, in deren Kreis er mitten hineingeplumpt war, wie der Zucker in
den Sonntagskaffee. — Eine ungezwungenere Art, sich in Gesellschaft
einzuführen, ist doch kaum möglich"! Und Aldrich sagt: „Sobald ein neuer
Schüler in unsre Schule kam, pflegte ich ihm in der Freiviertelstunde mit
den folgenden Worten gegenüberzutreten: „Ich heiße Tom Bailey, wie heißest
Du?" Berührte der Name mich günstig, so schüttelte ich dem neuen Zögling
herzlich die Hände, war das nicht der Fall, so pflegte ich mich auf dem Ab¬
satz herumzudrehen; denn ich war eigen in diesem Punkte." — Auch in Be¬
zug auf Rauflust scheinen unsre deutschen Jungen, trotz des neuenglischen
Nationalsport des Boxens, den amerikanischen nicht nachzustehen, wenn man
Reichenau's Kapitel „Gleicher Stärke" mit Aldrich's: „Ich haue mich mit
Conway" vergleicht. „Es ist nicht anders", sagt Reichenau. „Wie die Mäd¬
chen nicht müde werden, Hausfrau und Mutter zu spielen und beim Kommen
und Gehen nicht leicht unterlassen, sich zärtlich zu küssen, so gipfelt die Knaben¬
lust am liebsten in lärmenden kraftprobenden Kampfspielen." — „Was macht
ihr denn immer, Ferdinand, wenn Du Sonntags zu Richter's gehst"? — „El,
Papa — wir prügeln uns." Nur sind die deutschen Prügel doch etwas
harmloser wie die amerikanischen Knabenborereien. In unserm deutschen
Ringkampf bei Reichenau ruft der Schiedsrichter am Ende des Gefechts mit
einem Achselzucken der Selbstverständlichkeit aus: „Sie thun sich ja nichts!"
Und der Chorus bestätigt: „Ja wohl, sie sind gleicher Stärke." Bailey Aldrich
dagegen, der als Sieger aus der Boxerei mit Conway gebläut hervorgeht —
„hatte die Mütze auf die eine Seite gerückt, um die kühle Luft von seinem
Auge abzuhalten". „Ich fühlte", sagt er, „daß ich meiner Nase nicht blos
folgte, sondern ihr so dicht folgte, daß ich einige Gefahr lief, auf sie zu treten.
Ich schien Nase genug für die ganze Gesellschaft zu haben. Auch meine
linke Wange war aufgeschwollen wie ein Hefenkloß. Ich konnte nicht umhin,
mir selbst zu sagen: „Na, wenn das der Sieg ist, wie muß es erst um den
andern Burschen stehen?" Und als er in diesem Zustand sein Haus erreicht
und seine unverheirathete Großtante vor seinem „heitren Aussehen zurückfährt,
versucht er hold zu lächeln", „aber das Lächeln brachte, indem es sich über
meine geschwollene Backe kräuselte und auf meiner Nase wie eine zusammen¬
sinkende Welle erstarb, einen Ausdruck hervor, von welchem Fräulein Abigail
erklärte, daß sie, ausgenommen auf dem Gesichte eines chinesischen Götzenbildes
nie etwas dergleichen gesehen habe".
Auch in Bezug auf die Anfänge menschlicher Kultur und Kunst in den
ersten der Erudition geweihten Knabenjahren machen Reichenau und Aldrich
gleich bedenkliche Erfahrungen bei deutschen und amerikanischen Jungen. „Ich
bin Einen heraufgekommen — in Religion —" meldet einer der kleinen Hel¬
den Reichenau's treulich zu Hause. „Mit welcher Frage denn?" — „Schulz
hatte wieder sein Löschblatt vergessen und wurde Letzter gesetzt." Freilich nur
ein bescheidenes theologisches Verdienst des Beförderten! Beförderungen ab¬
wärts hingegen werden nicht offiziell, sondern nur auf besondere Nachfrage
mitgetheilt. Nicht besser steht es mit den Anfängen der „Schönen Künste".
„Schönschriften lagen aus", sagt Reichenau, „welche kurze und ihrem Inhalt
nach meistens unbestreitbare Sentenzen, wie: „Hunger ist der hefte Koch" oder:
„aller Anfang ist schwer" kalligraphisch verherrlichten, in weit getrennten
Zeilen, deren Gradheit und Ebenmäßigkeit noch mehr Staunen hätte erregen
müssen, wären nicht hier und da am Rande kleine Restchen der mit Blei
gezogenen Hilfslinien stehen geblieben, welche der Gummi aufzureiben vergaß.
Mappen und Zeichnungen gingen von Hand zu Hand. Unzweifelhaft sati¬
rische Aufnahme fand nur jenes in der Geschichte der Malerei berühmt ge¬
wordene wilde Schwein; der gute Eber hatte sich so arg übernommen, in
fetter schwarzer Kreide, daß gegen die dunkeln Schlagschatten seines rauhen
Borstenkleides die beste englische Stiefelwichse an der Bleichsucht zu leiden
schien. . . Auch ein dramatischer Dialog wurde gegeben. Ferdinand, der edle
Sohn des eisernen Alba, ersuchte Egmont mit spitzer zwirnfadendünncr Dis¬
kantstimme „seine Leidenschaft rasen zu lassen", während dieser Angesichts des
grausen Todes durch Henkershand auch noch den Kummer zu tragen hatte,
daß er keinen Frack bekommen, sondern in einer Polkajacke deklamiren mußte.
— Von Balladen errang der Kampf mit dem Drachen den meisten Beifall.
Um gerecht zu sein, muß indeß bemerkt werden: der noch sehr jugendliche
Darsteller war durch häusliche Unterweisungen, wie sie nicht jedem zu Gebote
standen, erheblich gefördert worden. „Steh hübsch gerade, lehr' Dich nicht
an und zupf' nicht immer mit den Händen so linkisch an den Kleidern herum!
Das paßt weder für den Hochmeister, noch für den Ritter, und für den Lind¬
wurm auch nicht!" Aldrich dagegen liefert seinen ersten schriftstellerischen
Versuch zu Ehren seines liebenswürdigen Ponys, des „Zigeunermädchens".
„Mein Puls schlug laut vor Stolz und Erwartung, als ich an jenem Mitt¬
wochsmorgen meinen Aufsatz sauber zusammengefaltet auf des Meisters Tisch
legte. Mit Entschiedenheit lehne ich's ab, zu sagen, welchen Preis ich gewann,
aber hier ist der Aufsatz, er mag für sich selbst sprechen. — „Das Pferd.
Das Pferd ißt ein nüzliges (ein Klex) Thir. Es ißt schön, wenn man.eins
had. Jg habe eins. Es heist das Zigeunermätgeri. (Ein zweiter kleinerer
Klex.) Sie beißt, ihre Mare ißt sehr laut, Neulig wusch ig ir den einen
Forterfus, da bückte sie sig mit den Kopfe nider und hob mich mit die Hosen
hinden in die Höhe und lies nig in den Waffertrog fallen, der dabei stand.
Jg hiep sie sex Mahl mit einen Stück reifen über den rücken. Der Weg des
überdräters ist hart. (Klex) T. Bailey." Nicht unbedenklicher sind die ersten
mimischen Versündigungen des amerikanischen Buben, die bei Aldrich sehr be-
zeichnend, nicht etwa, wie bei Reichenau, zu Nutz und Frommen der Herren
Eltern im Schulexamen, sondern gegen ein Entree in Stecknadeln und Wäsch¬
klammern vor einem gewählten Kreis von Altersgenossen beiderlei Geschlechts
exercirt werden. Sie nehmen bei der zehnten Vorstellung, dem Wilhelm Teil,
ein unglückliches Ende. Bailey agirt den Helden des Schweizerlandes. „Der
gepfefferte (pockennarbige) Whitcomb, der alle Kinder- und Frauenrollen
spielte, war mein Sohn. Um Mißgeschick zu verhüten, war über die obere
Hälfte von Whitcombs Gesicht mit einem Taschentuche ein Stück Pappdeckel
gebunden, während die Spitze des Pfeils, der gebraucht werden sollte, in einen
Streifen Flanell eingenäht war. Ich war ein vortrefflicher Schütze, und der
große Apfel, nur drei Schritte von mir entfernt, kehrte mir ganz ehrlich seine
rothe Wange zu. Ich sehe den armen Gepfefferten noch heute, wie er ohne
Wanken und Weichen dastand und wartete, daß ich mein großes Kunststück
loslasse. Ich erhob die Armbrust unter athemlosem Schweigen der dichtge¬
drängten Zuschauermenge. Bass! schnellte die Sehne los, aber ach! statt den
Selbstverständlich ist auch die knabenhafte Vorstellung von der Unend¬
lichkeit des väterlichen Portemonnaie diesseits und jenseits des Oceans die¬
selbe. Als Reichenau's Karl in die Welt zieht, zur Hochschule, winkt ihn der
Vater auf sein Zimmer. Karl's Blick ruht erwartungsvoll auf dem offen¬
stehenden, vom Lampenschein freundlich erhellten Pulte, als sollte von dorther
die Hauptsache kommen. „Es war ein einfaches Schreibepult und dennoch
hatten sämmtliche Familienglieder ein unbedingtes Zutrauen zu der Uner¬
schöpflichkeit seiner Hilfsquellen; nur das ehrwürdige Möbel selbst und der
Hausherr wußten recht gut, wie der Boden der Geldschieblade aussah."
Bailey aber begleitet die ersten Anzeichen der finanziellen Krise, die später
seinen Vater ruinirt und seinen eigenen Lebensplan von Grund aus ändert,
mit folgenden Worten: „Als der Capitain (mein Großvater) mir diese Kunde
mittheilte, machte ich mir über die Sache keine Sorge. Ich nahm an —
wenn ich überhaupt etwas annahm — daß alle erwachsenen Leute immer
mehr oder weniger Geld hätten, wenn sie dessen bedürften. Ob sie es erbten,
oder ob die Regierung sie damit versah, war mir nicht klar. Eine unbestimmte
Vorstellung, daß mein Vater irgendwo ein Goldbergwerk zu seinem besondern
Gebrauch besäße, half mir über alle Unruhe und Unbehaglichst hinweg."
Genug von diesen Beispielen. Weit eingehender könnten Parallelstellen
anderer Art bei Aldrich und Reichenau aufgezeigt werden, welche die natio¬
nale Verschiedenheit deutschen und amerikanischen Jugendlebens bekunden.
Indessen meinen wir, der größte Theil unsrer Leser wird uns nur dankbar
sein, wenn wir ihnen überlassen, diese beste Frucht der Lectüre beider Werke
selbst zu pflücken, und ihnen den Genuß nicht schmälern durch Vorwegnahme
der schmackhaftesten Stücke. Es wird genügen, hier anzudeuten, daß dem deut¬
schen Leser beider Schriften zuerst und am bleibendsten ins Auge fallen muß
der gewaltige Unterschied deutschen und amerikanischen Familienlebens, der
hier zu Tage tritt. Reichenau's Kinder, Knaben und Mädchen und Heran¬
wachsende stehen, auch wenn sie uns in der Fremde (auf der Hochschule, oder
auf der Wanderschaft) entgegentreten, noch mit beiden Füßen am heimat¬
lichen Herd, mitten in den vier Wänden des deutschen Hauses. Und vol¬
lends im früheren Alter, der Progymnasialzeit und Gymnasialzeit — d. h.
in dem Alter, in dem Aldrich's „böser Bube" vor uns auftritt — ist das
Elternhaus und der Eltern Leitung für alle die kleinen Helden Reichenau's
der Mittelpunkt und die Stütze all ihres Handelns und Wirkens, auch für
die Jungen, geschweige denn für die Mädchen. Bei Aldrich dagegen erscheinen
die Eltern des Helden nur am Anfang und am Ende der Erzählung auf der
Bildfläche; wie antike Götter, deren Wille und Geschick die Schicksale der
Helden abwandelt zu Glück und Unglück. Fast wie das antike Fatum er¬
scheinen die Eltern im Leben des Knaben Bailey; wie die personifizirte deutsche
Liebe dagegen bei Reichenau. Wir heben, um gerecht zu sein, gern hervor,
daß allerdings die ganze (sicherlich auf eigenen Jugenderlebnisfen beruhende)
Anlage der Darstellung des Aldrich es mit sich bringt, daß den Eltern diese
fatalistische, außerhalb der Welt des Knabens stehende Rolle zugetheilt wird.
Denn der Knabe wird aus finanziellen Gründen aus dem Elternhause in
New-Orleans von den Eltern weggebracht zu seinem mütterlichen Großvater
Capitain Rudler in Rivermouth, einer verflossenen kleinen Seestadt in der
Nähe von Boston. Hier verlebt er seine Jugend; der finanzielle Ruin und
Tod des Vaters in New-Orleans reißt ihn am Ende der Erzählung aus der
Tempelschule von Rivermouth in die harte Schule des Lebens. , Nur zweimal,
zum Beginn und am Ende seiner Schuljahre erleben wir einen Kuß seiner
Mutter. Seine Sehnsucht nach Hause in dieser langen Zeit tritt nur selten
zu Tage; zum ersten Mal sofort nach der Rückkehr der Eltern zum Süden.
Hier hat diese Sehnsucht einen starken Beigeschmack von körperlichem Frösteln.
„Als sie fort waren, erfüllte mein junges Herz ein Gefühl der Vereinsamung,
von dem ich mir nie hatte träumen lassen. Ich schlich mich hinweg nach dem
Stalle, schlang meine Arme um den Hals des Zigeunermädchens und schluchzte
laut. Auch sie war ja vom sonnigen Süden gekommen und jeht ein Fremd¬
ling in fremdem Lande!" Später aber, wenn unangenehme Nachrichten von
Hause kommen, tritt die Sehnsucht nach den Eltern immer in der reizenden
Gestalt des Vorsatzes auf, dem Großvater Rudler wegzulaufen und, wenn
möglich in Begleitung des gepfefferter Whitcvmb das enorme Land von Niver-
mouth bis New-Orleans zu Fuße zu durchmesse». Wir geben wie gesagt,
gerne zu, die seltsame Rolle des Elternhauses in der Geschichte eines „bösen
Buben" ist durch die eigenthümliche Lebenslage begründet, in welcher der
letztere aufwächst. Wir sind weit entfernt, diese Rolle, wie sie in der vor¬
liegenden Erzählung charakterifirt ist, als allgemein gültiges Paradigma für
das Verhältniß des Elternhauses zum Kinde in den Vereinigten Staaten an¬
zusehen. Aber der deutsche Leser wird mit uns doch sehr auffallend finden,
daß der junge Bailey nirgends in Rivermouth Gelegenheit findet, Blicke
in eine amerikanische Familienhäuslichkeit zu thun, die diesen Namen verdiente,
und die. wenn sie vorhanden gewesen wäre, doch gerade wegen seiner langen
Abwesenheit vom Elternhause ihn lebhaft hätte anziehen müssen. Von dem
freudigen Verkehr zwischen eigenen und fremden Kindern und Eltern, wie ihn
Reichenau so herzerquickend schildert, hier nirgend eine Spur — gewiß nicht
aus Zufall oder aus Laune des Dichters. Aldrich würde uns amerikanische
Häuslichkeit gewiß so treu und warm geschildert haben, wie das amerikanische
Leben in allen seinen sonstigen Zügen, wenn er'in seinen Jugendtagen etwas
davon gesehen hätte. —
Noch fremdartiger berührt uns Deutsche aber wohl das Verhalten der
Backsische — wenn diese Bezeichnung für ein Alter von sieben bis siebenzehn
Jahren erlaubt ist — der „Primel-Schule" des Fräulein Gibbs in River¬
mouth gegenüber den Schülern der Tempelschule. „In einem fort gingen
Billets zwischen den Stubenleben und den Primeln hin und her. Billets,
an Pfeilspitzen gebunden, wurden zu den Fenstern des Schlafsaales hinein¬
geschossen, Billets wurden unter Zäune hineingeschoben und in die Stämme
verwitterter Bäume verborgen. Jede dichte Stelle in der Buchsbaumhecke,
welche die Pflanzschule umgab, konnte als Postbureau angesehen und benutzt
werden." Ja, Laura Rice, das zweite weibliche Ideal Bailey's aus der
Primelschule — sein erstes war insgeheim in den gepfefferter Whitcomb ver¬
liebt — war „ein alter Veteran und führte zuviel Kanonen für einen jungen
Menschen." „Sie kann das Poussiren nicht lassen, ich glaube, sie würde mit
einem kleinen Kinde poussiren, das noch auf den Armen getragen wird. Es
giebt kaum einen Burschen in der Schule, der nicht ihre Farben und etwas
von ihren Haaren getragen hätte. Sie giebt jetzt von ihren Haaren nichts
mehr aus. Es ist so ziemlich verbraucht worden. Die Nachfrage war stärker
als der Vorrath, wie Du siehst" — sie hatte Bailey die glänzendsten Löckchen
vom Kopfe der Zofe des Fräulein Gibbs gesandt. — „Es ist nun ganz schön.,
mit Laura Briefe zu wechseln, aber wenn eins sich irgend was Ernstliches
von ihr verspricht, so läßt der Eingeweihte das hübsch bleiben." So lautete
der Rath, der Bailey „von dem altersschwachen, abgehärmten und verbitterten
Weltmanne Jack Harris ertheilt wurde, der volle siebzehn Jahre auf dem
Rücken hatte." So war das amerikanische Mädchen von fünfzehn oder sech¬
zehn, das er charakterisirte. Wer Deutsche desselben Alters geschildert sehen
will, wie sie sind, der lese Reichenau's hübsche Kapitel: „Erste Liebe", „der
Gegenstand noch einmal" u. s. w.
Doch genug, wie gesagt, von diesen Vergleichungen.
Wir geben zum Schlüsse einige spezifisch amerikanische Züge aus der Ge¬
schichte des bösen Buben, die sich kaum mit irgend etwas im alten Europa
vergleichen lassen. Dahin gehört die lebendige liebenswürdige Schilderung von
Nivermvuth — desselben Hafenstädtchens, in dem „Prudence Palfrey" spielt —
mit seiner verschollenen Handelsbedeutung und seinen letzten menschlichen und
architectonischen Ueberresten aus den großen Tagen Georg Washington's und
dem Seekrieg gegen England. Dahin gehören die köstlichen Mysterien vom
Geheimbund der „Tausendfüße", deren ältestes Mitglied beim Ausgang der
Geschichte etwa gleichfalls in dem reifen Alter von siebenzehn Sommern stehen
mag. und in dem die Albernheiten und Schrecknisse der nordamerikanischen
Geheimbünde für Erwachsene von den Jungen virtuos nachgeäfft werden.
Dahin gehört auch die traurige Bootfahrt das „Delphin", bei welcher der
arme kleine Binnie Wallace in die wilde See hinaustreibt. Vor allem aber
gehören hierhin „Die Abenteuer eines vierten Juli" — des großen National¬
festtags der Vereinigten Staaten — und die Knalleffecte, durch welche der
böse Bube und die- übrigen „Tausendfüße" die Rivermouther in Staunen
versetzen. Wir theilen die beiden Capitel im Auszug mit.
Bereits am Vorabend des vierten Juli,hat Bailey mit seinen Genossen
eine alte Postkutsche widerrechtlich den Flammen überliefert und mit seinen
Spießgesellen dafür die Freuden des Gefängnisses von Rivermoulh zu schmecken
bekommen, die sie indessen bald mit Hülfe des Fensters wieder mit der
Freiheit vertauschen. Bailey hält die Genossen frei in Wurzelbier. „Indem
meine Freigebigkeit ihren Einfluß auf Charley Marder ausübte, lud er uns
allesammt ein, in Pettingil's Salon ein Glas Eis mit ihm zu essen. Pet-
tingil war der Delmonico") von Nivermvuth. Er lieferte Eis und Con-
ditonvaarcn für aristokratische Bälle und Gesellschaften, und verschmähte es
nicht, zugleich den Dirigenten des Orchesters bei denselben zu machen; denn
Pettingil spielte die Violine, wie der gepfefferte Whitcomb sich ausdrückte,
„wie eine alte Kratzbürste". Pettingils Conditoret befand sich an der Ecke
der Weiden- und der Hochstraße. Der Salon, von dem Laden durch eine
Treppe von drei Stufen getrennt, die nach einer mit verschossenen rothen Vor¬
hängen geschmückten Thür führten, hatte ein geheimnißvolles und abgeschlossnes
Wesen an sich, das ganz allerliebst war. Vier ebenfalls mit Borhängen ver¬
sehene Fenster gingen auf die Nebengasse hinaus und gewährten eine unge¬
hinderte Aussicht auf Maren Hatchs Hinterhof, wo man eine Anzahl uner-
klärbarer Bekleidungsgegenstände auf einer Wäschleine fortwährend im Winde
tanzen sah."
„Es war eben eine Windstille im Eisgeschäft eingetreten, da es Essenszeit
war, und so fanden wir den Salon unbesetzt. Als wir uns um den größten
der mit Marmorplatten versehenen Tische gesetzt hatten, befahl Charley Mar-
ten mit männlicher Stimme zwölf Glas Eis, das Glas zu sechs Pence,
„Erdbeer und Vanilje dermang". Es war ein prachtvoller Anblick, wie diese
zwölf Gläser mit Gefrornem auf einem Servirbrcte hereinkamen und das rothe
und weiße Eis sich von jedem Glase wie ein Kirchthurm erhob und der
Löffelstiel aus der Spitze herausschoß wie die Thurmzier. Ich zweifle, ob je¬
mand, und wenn er den feinsten Gaumen gehabt hätte, im Stande gewesen
wäre, herauszuschmecken, was die Vanille und was das Erdbeereis war; aber
wenn ich in diesem Augenblick ein Glas Eis bekommen könnte, das wie dieses
schmeckte, so wollte ich für ein ganz kleines fünf Dollars geben. Wir machten
uns mit Eifer ans Verspeisen, und unsere Befähigung dazu war so gleich¬
mäßig für alle bemessen, daß wir gleichzeitig mit unserm Eis fertig wurden
und unsere Löffel wie ein einziger Löffel in den Gläsern klirrten."
„Wollen noch etwas mehr haben," schrie Charley Marder mit der Miene
eines Aladdin, der Befehl ertheilt, ein frisches Oxthoft voll Perlen und Ru¬
binen herbeizubringen. „Tom Bcnley, sag' Pettingil, er soll eine zweite Tracht
hereinbringen." Konnte ich meinen Ohren trauen? Ich sah ihn an, um zu
erfahren, ob er es im Ernst meine. Er meinte es im Ernst. Noch einen
Augenblick, und ich lehnte mich über den Ladentisch und gab Anweisung zu
einer zweiten Lieferung. Indem ich meinte, es würde einem solchen großar¬
tigen jungen Sybariten nichts ausmachen, nahm ich mir die Freiheit, dieses
Mal Eis das Glas zu neun Pence zu bestellen."
„Wie groß war mein Entsetzen, als ich in den Salon zurückkehrte und
ihn leer fand. Da waren zwölf wolkige Gläser, die in einem Kreise auf dem
klebrigen Marmor standen, und nicht ein einziger Knabe zu sehen. Ein Paar
Hände, die eben ihren Anhalt am Fensterbret draußen fahren ließen, erklärten
die Sache. Ich war zum Opfer ausgesucht worden. Ich konnte nicht bleiben
und Pettingil. dessen hitziges Temperament unter den Knaben wohl bekannt
war, ins Gesicht sehen. Ich hatte aus der ganzen Welt keinen Cent, um
seineu Grimm zu besänftigen. Was sollte ich thun? Ich hörte das Klingeln
hernnnahender Gläser — der Gläser für neun Pence. Ich stürzte aus das
nächste Fenster zu. Es war nur fünf Fuß bis zum Erdboden hinab. Ich
warf mich hinaus, als ob ich ein alter Hut gewesen wäre.
„Ich kam auf die Füße zu stehen und floh athemlos die Hochstraße hin¬
unter, durch die Weidengasse und wollte eben auf den Brombeerstrauch-Platz
einbiegen, als der Schall mehrerer Stimmen, die mir angstvoll zuriefen, meinem
Weiterrennen Halt gebot.
„Vorsehen, Dummkopf! Die Mine, die Mine!" schrien die warnenden
Stimmen. Mehrere Männer und Knaben standen oben an der Straße und
machten mir wie verrückt durch Geberden verständlich, daß ich etwas vermeiden
sollte. Aber ich sah keine Mine, nur in der Mitte der Straße lag vor .mir
ein gewöhnliches Mehlfaß, welches, als ich einen Blick nach ihm that, plötzlich
mit einem fürchterlichen Krach in die Luft flog. Ich fühlte, wie ich mit heftigem
Nuck hingeschleudert wurde. Sonst erinnere ich mich an nichts weiter, ausge¬
nommen, daß, als ich aufstand, ich für einen Augenblick Esra Wingate, den Be¬
sitzer der verbrannten Postkutsche, gewahr wurde, der wie ein rächender Geist durch
sein Ladenfenster herüberschielte. Die Mine, welche mir wehegethan, war durchaus
keine eigentliche Mine, sondern es waren lediglich ein paar Unzen Pulver, die man
unter eine leere Tonne oder ein Faß gelegt und mit einer Lunte angezündet hatte.
Knaben, welche keine Pistolen oder Kanonen hatten, verbrannten gewöhnlich in
dieser Weise ihr Pulver. Den Bericht über das, was nun folgte, verdanke ich
dem Hörensagen; denn ich war bewußtlos, als die Leute mich aufhoben und
mich auf einem Fensterladen nach Hause trugen, den sie sich vom Besitzer des
Pettingilschen Salons geborgt hatten. Man hielt mich für todt, aber glück¬
licher Weise (glücklicher Weise wenigstens, soweit es mich anging) war ich
blos betäubt. Ich lag in einem halbbewußten Zustande bis acht Uhr an
diesem Abend, wo ich zu sprechen versuchte. Fräulein Abigail, die an der
Seite des Bettes wachte, legte ihr Ohr an meine Lippen und wurde mit fol¬
genden merkwürdigen Worten begrüßt: „Erdbeer und Vanilje dermang!"
„Gnädiger Himmel, was sagt da der Junge?" rief Fräulein Abigail." Nun
das Kapitel »Wie wir die Nivermouther in Staunen versetzten":
„Unter den Veränderungen, die während der letzten zwanzig Jahren in
Nivermouth stattgefunden haben, ist eine, die ich bedauere. Ich beklage die
Wegschaffung aller jener lackirten eisernen Kanonen, die ihren Dienst als Posten
an den Ecken der vom Flusse heraufführenden Straßen zu thun pflegten. Sie
waren ein eigenthümlicher Schmuck. Jede stand aufrecht auf dem Schwanzstück
und hatte eine Vollkugel auf die Mündung gelöthet, wodurch dieser Theil der
Stadt ein gewisses malerisches Aussehen bekam, welches durch die gewöhnlichen
Holzpfosten, durch die sie ersetzt wurden, sehr kümmerlich Vertretung findet.
Diese Kanonen (die Knaben nannten sie „alte Soldaten") hatten, wie Alles
in Nivermouth, ihre Geschichte. Als jener ewige letzte Krieg — ich meine den
Krieg von 1812--zu Ende ging, hatten alle Schooner, Briggs und Barken,
die in diese,» Hafen als Kreuzer ausgerüstet worden waren, es mit dem Los-
werden ihrer nutzlosen Zwölfpfünder und Drehbttssen gerade so eilig, wie sie
es vorher mit der Beschaffung derselben gehabt hatten. Viele von diesen
Stücken hatten große Summen gekostet, und jetzt waren sie wenig mehr werth
als eben so viel unverarbeitetes Eisen — eigentlich nicht einmal so viel werth,
da die plumpen Dinger sich schlecht zerbrechen und umschmelzen ließen. Die
Negierung konnte sie nicht gebrauchen, die Privatleute konnten sie nicht ge¬
brauchen, sie waren schofle Waare auf dem Markte. Aber es gab einen
Mann, der sich die lächerliche Idee in den Kopf gesetzt hatte, daß sich aus
diesen selbigen Kanonen ein Vermögen machen ließe. Sie allesammt auszu¬
laufen, sie aufzubewahren, bis der Krieg von Neuem erklärt würde (was, wie
er nicht bezweifelte, in wenigen Monaten geschehen mußte) und sie dann zu
fabelhaften Preisen loszuschlagen — das war die kühne Idee, welche im Hirn¬
kasten von sitas Trefethen, „Händler mit Schnitt- und Colonialwaaren",
wie das verbundne Schild über seiner Ladenthür dem Publikum berichtete,
Verwirrung anrichten sollte. sitas ging schlau zu Werke, indem er jede alte
Kanone kaufte, die ihm vor die Hände kam. Sein Hinterhof war bald ge¬
stopft voll von zusammengebrochen Lafetten, und seine Scheune starrte von
Kanonenläufen wie ein Zeughaus. Als man von der Absicht sitas' Wind
bekam, war es zum Erstaunen, wie werthvoll das Ding wurde, welches eben
noch gar keinen Werth gehabt hatte."
Ueber dieser Speculation stirbt sitas. „Seine in ihrer Art einzige Collec¬
tio» kam unter den Hammer des Auktionators. Einige von den größeren
Geschützen wurden an die Stadt verkauft und als Prellsteine an die Ecken
verschiedener Straßen gestellt. Andere wanderten in die Eisengießerei. Die
übrigen, zwölf an der Zahl, wurden auf eine verlassene Werfte am Fuße
der Ankerstraße geschafft, wo sie Sommer auf Sommer in Gras und Schwäm¬
men behaglich der Ruhe Pflegten, im Herbst vom Regen gepeitscht und all¬
jährlich vom Winterschnee begraben. Diese zwölf Kanonenläufe sind es, mit
denen unsere Geschichte zu thun hat. Die Werfte, wo sie ruhten, war von
der Straße durch einen hohen Zaun abgesperrt — eine schweigsame, träume¬
rische alte Werfte, die mit seltsamem Unkraut und Moos bedeckt war. Wegen
seiner Abgeschlossenheit und der guten Gelegenheit zum Fischfang, die der Ort
gewährte, wurde er von uns Knaben viel besucht. Hier trafen wir uns
manchen Nachmittag, um unsre Leinen auszuwerfen, oder zwischen den rostigen
Kanonen Froschhüpfen zu spielen. Sie waren in unsern Augen berühmte
Burschen. Was für einen Spektakel sie in den Tagen gemacht hatten, wo
sie noch junge Springinsfelde gewesen waren! Aber noch einmal sollten sie
ihre schmerzerfüllter Stimmen erheben — noch einmal, bevor sie den Kiel
nach oben reckten und für alle spätere Zeit sprachlos liegen blieben. Und
das geschah folgendermaßen. Jack Harris, Charley Marder, Harry Blake
und ich selbst waren eines Nachmittags auf ver Werfte mit Fischen beschäftigt,
als mir ein Gedanke wie eine Offenbarung durch den Kopf fuhr, „Ich über¬
legte nur da soeben, was das für einen köstlichen Spaß abgeben wurde, wenn
wir einen von den alten Soldaten auf seine Beine stellten und ihm eine
Ration Schießpulver einflößten." Im Nu kamen die drei Angelschnuren in
die Höhe, Ein Unternehmen, welches der Gemüthsbeschaffenheit meiner Ge¬
fährten besser entsprochen hätte, wäre nicht in Vorschlag zu bringen gewesen.
In kurzer Zeit hatten wir eine der kleineren Kanonen auf den Rücken gelegt
und waren damit beschäftigt, den Grünspan vom Zündloche wegzuschaben.
Die Verwitterung des Metalls hatte das Geschützrohr so wirksam vernagelt,
daß wir eine Weile glaubten, wir würden unsern Versuch, den alten Soldaten
wieder ins Leben zu rufen, aufgeben müssen.
„Ein langer Zapfenbohrer würde sie reinmachen," sagte Charley Marder,
„wenn wir nur einen hätten." Ich sah nach, ob die Flagge des Matrosen-
Ben über seiner Kajütenthür wehte; denn er zog stets seine Farben ein, wenn
er zum Fischen fort ging. „Wenn Ihr wissen wollt, ob der Admiral an
Bord ist Herzchens, so braucht Ihr nur einen Blick auf die Signalflagge zu
thun," hatte Ben gesagt. Er nannte sich nämlich bisweilen in scherzhafter
Stimmung den Admiral, und wahrhaftig, er verdiente einer zu sein. Die
Flagge des Admirals wehte, und ich besorgte sehr bald einen Zapfenbohrer
aus seiner wohlerhaltenen Werkzeugliste. Nicht lange dauerte es, so hatten
wir die Kanone soweit in Ordnung gebracht, daß sie Dienste thun konnte.
Ein Zeitungsblatt, an das Ende einer Latte gebunden, diente als Wischer,
um die Bohrung von Staub zu reinigen. Jack Harris blies durch das Zünd¬
loch und erklärte, daß Alles rein sei. Als wir sahen, daß unsre Aufgabe so
leicht zu Stande gebracht war, wendeten wir unsre Aufmerksamkeit den andern
Geschützen zu, die in allerlei Positionen in dem wuchernden Grase umherlagen.
Indem wir uns vom Matrosen-Ben ein Tau liehen, brachten wir es mit
unermeßlicher Mühe zu Stande, die schweren Stücke in Position zu schleppen
und unter jede Mündung einen Bauziegel zu legen, so daß sie die gehörige
Elevation erhielt. Als wir sie alle in einer Reihe wie eine regelmäßige
Batterie sahen, kam uns allen gleichzeitig eine Idee, deren Großartigkeit uns
für einen Augenblick vollständig verblüffte. Unsere Absicht war zuerst nur
dahingegangen, jene einzige Kanone zu laden und abzufeuern. Wie schwächlich
und unbedeutend war dieser Plan im Vergleich mit demjenigen, der es uns
jetzt schwindelartig vor den Augen flimmern ließ! - „Was können wir uns
nur gedacht haben?" schrie Jack Harris. „Natürlich wollen wir ihnen eine
Breitseite geben, und wenn es uns den Hals kostet." Nach tagelangem Vor¬
bereitungen und nachdem der Matrosen-Ben (Bailey's Freund, der die Haus¬
hälterin seines Großvaters gehenathet hatte) ihnen die Luntenleitung ange-
fertigt und die Kanonen unter einander verbunden hatte, trafen sich die Tau¬
sendfüße in Bailey's Scheune, und ließen das Loos entscheiden, wer die
heroische That des Anzündens thun sollte. „Zwölf Streifen zusammengefalteten
Papiers, auf deren einem die Worte „Du bist der Mann" standen, wurden
in ein Quartmaß gethan und tüchtig durcheinander geschüttelt, dann trat
jedes Mitglied des Clubs heran und zog sich sein Schicksal. Auf ein ge¬
gebnes Zeichen öffneten wir unsre Zettel. „Du bist der Mann," sagte der
zwischen meinen Fingern zitternde Papierstreifen. Die Süßigkeiten und Be¬
ängstigungen, die sich an die Stellung eines Führers knüpfen, sielen mir für
den Rest des Nachmittags zu. Unmittelbar nach Einbruch der Dämmerung
stahl sich Phil Adams nach der Werfte hinunter und befestigte die Lunten
an die Kanonen, worauf er eine Leitung losen Pulvers von der Hauptlunte
bis nach der Umzäunung streute, durch welche ich an einer Spalte um Mitter¬
nacht das Zündhölzchen hineinfallen lassen sollte.
„Um zehn Uhr geht Rivermouth zu Bett. Um elf Uhr ist Rivermouth
so still wie ein Dorfkirchhof. Um zwölf Uhr giebt es nichts auf Erden, was
sich mit der Stille vergleichen ließe, die dann über der kleinen Stadt brütet.
Inmitten dieser Stille stand ich auf und glitt aus dem Hause wie ein Ge¬
spenst, das ein Unheil anzurichten vorhat; wie ein Gespenst flatterte ich durch
die schweigende Straße und schöpfte kaum Athem, ehe ich an der mir ange¬
wiesenen Stelle vor dem Zaune hinkniete. Nachdem ich einen Augenblick
innegehalten, um mein Herzklopfen sich beruhigen zu lassen, brannte ich das
Zündhölzchen an, schützte es mit beiden Händen vor Luftzug, bis es gut im
Gange war, und ließ sodann den helllodernden Splitter aus den dünnen
Pulverfaden fallen. Augenblicklich folgte ein geräuschloses Aufblitzen, und
Alles war wieder dunkel. Ich gukte durch die Spalte in der Umzäunung
und sah, wie die Hauptlunte Funken sprühte wie ein Taschenspieler aus dem
Munde Feuer speit. Nachdem ich mich versichert hatte, daß die Leitung nicht
versagt, gab ich Fersengeld; denn ich fürchtete, die Lunte könnte rascher brennen,
als wir berechnet hatten, und eine Explosion veranlassen, bevor ich nach
Hause kommen könnte. Das geschah glücklicher Weise nicht. Es giebt eine
besondere Vorsehung, die über Blödsinnigen, Betrunkenen und Knaben wacht."
„Ich umging die Ceremonie des Auskleidens, indem ich mich mit Jacke,
Stiefeln und allem Andern ins Bett warf. Ich weiß nicht bestimmt, ob ich
meine Mütze abnahm, aber ich weiß, daß, nachdem ich kaum die Bettdecke
über mich gezogen hatte — „Bumm!" die erste Kanone von Bailey's Batterie
losdonnerte. Ich lag so still da wie ein Mäuschen. In weniger als zwei
Minuten folgte ein zweiter Donnerschlag und dann ein dritter. Das dritte
Kanonenrohr war ein fürchterlicher Kerl und ließ geradezu das Haus erzittern."
„Jetzt erwachte die Stadt. Fenster wurden hier und da aufgestoßen, und
die Leute fragten sich über die Straße hin, was das Feuern zu bedeuten habe.
„Bumm!" krachte die vierte Kanone."
„Ich sprang aus dem Bette und riß mir die Jacke vom Leibe; denn ich
hörte, wie der Capitain sich an der Wand nach meiner Kammer hintastete.
Als er die Thürklinke gefunden hatte, war ich halb ausgezogen. „Hören Sie
'mal, Großvater," rief ich. „hören Sie wohl diese Kanonen?" „Da ich nicht
taub bin, höre ich sie," sagte der Capitain ein wenig spitz — denn jede An¬
spielung auf sein Gehör verdroß ihn immer — „aber was in aller Welt sie
bedeuten sollen, kann ich nicht begreifen. Du thätest besser, aufzustehen und
Dich anzukleiden." „Ich bin schon fast fertig mit Anziehen."
„Bumm! Bumm!" — zwei von den Kanonen waren zu gleicher Zeit
losgegangen. Die Thür von Fräulein Abigails Schlafzimmer öffnete sich,
und diese Blume jungfräulichen Anstandes trat in ihrer Nachtjacke heraus
auf den Vorsaal — das einzige Mal, daß ich sie etwas Unziemliches thun
sah. Sie hielt eine angezündete Kerze in ihrer Hand und sah wie eine hoch¬
betagte Lady Macbeth aus. „O Daniel," sagte sie, „das ist fürchterlich!
Was denkst Du wohl, das es bedeutet?" „Ich weiß es wirklich nicht," sagte
der Capitain, indem er sich hinter den Ohren kratzte. „Aber ich vermuthe, 's
ist jetzt vorüber!" „Bumm!" sagte Bailey's Batterie."
„Rivermouth war jetzt völlig wach geworden, und die halbe männliche
Bevölkerung befand sich in den Straßen und lief nach verschiedenen Richtungen
hin; denn das Feuern schien von entgegengesetzten Punkten der Stadt aus¬
zugehen. Jedermann lauerte jedermann mit Fragen auf, da aber niemand
wußte, was der Tumult zu bedeuten hatte, so fingen selbst Leute, die ge¬
wöhnlich keine schwachen Nerven hatten, an, über das Geheimniß ängstlich
zu werden. Einige dachten, die Stadt würde bombardirt, einige dachten, das
Ende der Welt sei vor der Thür, wie der fromme und geistreiche Herr Miller
geweissagt hatte; aber die. welche sich gar keine Erklärung bilden konnten,
waren die am meisten Verblüfften."
„Mittlerweile brüllte Bailey's Batterie in regelmäßigen Zwischenräumen
weiter. Die größte Verwirrung herrschte jetzt allenthalben. Leute mit Laternen
stürzten hierhin und dorthin. Die Stadtwache war Mann für Mann aus¬
gerückt und marschirte in bewundernswürdiger Ordnung ab — nach der
falschen Richtung hin. Als sie ihren Irrthum entdeckten, lenkten sie ihre
Schritte zurück und kamen just unten an der Werfte an, als die letzte Kanone
ihren Blitz fortschleuderte. — Eine dicke Wolke schwefeligen Rauches schwebte
über der Ankerstraße und verdunkelte das Sternenlicht. Zwei- oder drei¬
hundert Menschen in den verschiedensten Stadien der Aufregung drängten sich
am obern Ende der Werfte; denn sie getrauten sich nicht weiter vorzugehen,
bis sie überzeugt waren, daß die Explosionen vorüber seien. Hier und da
war ein Bret von der Umzäunung weggeblasen worden, und durch die auf
diese Weise entstandnen Oeffnungen wagten endlich ein paar von den wag¬
halsigeren Geistern hindurchzukriechen."
„Die Ursache des Spektakels kam bald an den Tag. Der Verdacht, daß
man sie zum Besten gehabt, dämmerte allmälig vor den Rivermouthern auf.
Viele waren über die Maßen entrüstet und erklärten, daß keine Strafe streng
genug sei für Leute, die bei einem solchen Streiche sich betheiligt hätten-
Andere — und gerade diejenigen Leute, die vor Schreck beinahe ihren Verstand
verloren hatten — besaßen die Dreistigkeit, zu lachen und zu sagen, sie hätten
lange schon gewußt, daß es nur ein Schabernack gewesen sei. Die Stadt¬
wache nahm tapfermüthig Besitz von der Stelle, wo die Kanonenläufe lagen,
und die Menge begann sich zu zerstreuen. Gruppen von Plaudernden blieben
noch da und dort in der Nähe des Ortes zurück und überließen sich erfolg¬
losen Vermuthungen, wer wohl die unsichtbaren Artilleristen sein möchten.
Es gab diese Nacht kein Geräusch mehr, aber manches ängstliche Menschen¬
kind blieb wach im Bette und erwartete eine Erneuerung der geheimnißvollen
Kanonade. Der „älteste Einwohner" wollte unter keinerlei Bedingungen zu
Bett gehen, sondern bestand darauf, den Hut auf dem Kopfe und die Müff-
chen an den Händen, in einem Schaukelstühle bis zum Anbruch des Tages
sitzen zu bleiben. Mir war, als sollte ich niemals einschlafen. In dem
Augenblick, wo ich in leichten Schlummer versank, kam mich das Lachen an,
und ich lachte mich selber wach. Aber gegen den Morgen hin überwältigte
mich doch der Schlaf, und ich hatte eine Reihe unangenehmer Träume. In
dem einen machte mir der Geist sitas Trefethens mit einer exorbitanten
Rechnung für den Gebrauch seiner Kanonen seine Aufwartung. In einem
andern wurde ich vor ein Kriegsgericht geschleppt und vom Matrosen - Ben,
der eine wohlgekräuselte Perrücke und einen dreieckigen Hut trug, verurtheilt,
durch Bailey's Batterie todtgeschossen zu werden — einen Urtheilsspruch, den
der Matrosen-Ben mit eigner Hand zu vollziehen im Begriff war, als ich
plötzlich die Augen öffnete und fand, wie der Sonnenschein mir freundlich
quer über das Gesicht ging. Ich kann dem Leser versichern, daß ich froh
darüber war."
Diese Auszüge werden hinreichen, um den Leser zu überzeugen, daß dieser
Band der „Amerikanischen Humoristen" in Betreff des Inhalts sowohl wie
in Betreff der Kunst des Uebersetzers keinem seiner Vorgänger nachsteht.
Die Sitzungen der Abgeordneten sind in dieser Woche nicht häufig ge¬
wesen, weil man den Commissionen, die mit der Vorberathung der Verwal¬
tungsgesetze beauftragt sind, Zeit zur Arbeit geben will. In den abgehaltenen
Sitzungen hat theils die Berathung des Staatshaushalts ihren Fortgang
genommen, theils ist das Gesetz wegen Abtretung der preußischen Bank an
das Reich durch seine drei Lesungen gegangen. Wir haben beiden Gegenstän¬
den keinen Stoff für unsere Berichterstattung zu entnehmen. Die Sitzung
vom 4. März aber wird dereinst zu den Gedenktagen der preußischen Geschichte
zählen. Denn in dieser Sitzung brachte der Cultusminister das Gesetz ein,
betreffend die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln
für die römisch-katholischen Bisthümer und Geistlichen.
Am Schluß des letzten Briefes sprach ich aus, die Frage habe gestellt
werden müssen, ob der Reichskanzler an der Spitze der Geschäfte des Reichs
und des preußischen Staates verbleiben könne, so lange die Organisation dieser
Geschäfte eine Friction der gesammten Maschinerie herbeiführt, deren Ueber-
wältigung auf eine längere Dauer das Maß jeder menschlichen Kraft über¬
steigt. Ich fügte hinzu, daß über den Ausgang der Frage zur Zeit keine
Vermuthung zulässig sei. Inzwischen ist die Frage einfach vertagt worden,
und zwar vertagt, wie beinah der Augenschein zeigt, in Folge der päpstlichen
Encyclika vom 5. Februar d. I. Der Reichskanzler erkannte, daß jetzt die
Hauptschlacht geliefert werden müsse; und welcher steggewohnte Feldherr
hat je daran gedacht, beim Anbruch der Schlacht das Commando nieder¬
zulegen ?
Es fehlt nicht an Anzeichen, daß dem Reichskanzler im Kampfe gegen
Rom schon seit langer Zeit weder das Tempo noch die Angriffsmittel als
richtig gewählt erschienen sind. Man greift vielleicht nicht fehl, wenn man
in dieser Unzufriedenheit eine wenigstens mitwirkende Ursache für den noch
kürzlich wiederholten Wunsch sieht, von den Geschäften zeitweilig zurückzutre¬
ten. Jetzt hat Rom sich in Schlachtordnung gegen das deutsche Reich aufge¬
stellt, nun kann über Tempo und Angriff kein Zweifel mehr sein. Ein Theil
der Ursachen zum Rücktritt des Kanzlers ist damit von selbst entfallen. Und
dem andern Theil gegenüber hält den Kanzler der Beginn der Schlacht ge¬
bieterisch auf seinem Posten.
Die Einbehaltung der Staatsdotation für alle Mitglieder und Institute
des katholischen Clerus in Preußen, sofern die betreffenden Persönlichkeiten,
unmittelbar oder durch ihre maßgebenden Oberen nicht ausdrücklich den
Ltaatsgehorsam schriftlich geloben, ist einerseits eine so natürliche Maßregel,
daß man sich wundern möchte, wie sie so lang hat ausbleiben können ande¬
rerseits aber eine so einschneidende Maßregel, daß jedermann es fühlt: Wir
find auf der Höhe der akuten Krisis angekommen. In öffentlichen Blättern
findet sich der Ausdruck, die Einbehaltung der Staatsdotation sei erst der
Auschnitt des Kuchens: ein Ausdruck, der der Redeweise entlehnt ist, in welcher
Fürst Bismarck seine Ueberlegenhett in den schwersten Situationen humoristisch
markirt. In der That muß aus die Einbehaltung der Staatsdotation die
Sequestration des gesammten katholischen Kirchenvermögens erfolgen, so lange
der römische Clerus auf Grund der Eneyclika vom 6. Februar dabei beharrt,
die Staatsgesetzgebung durch die päpstliche Autorität außer Kraft gesetzt zu
sehen, soweit es dieser Autorität beliebt. Wenn der Kuchen einmal ange¬
schnitten, so ist er auch bald verzehrt. In solchen Fällen ist der erste
Schritt, der erste Schnitt der wesentliche.
Dieser Schnitt soll jetzt gethan werden. Zwar scheint es, als wolle
das Abgeordnetenhaus, vor der Größe der Situation erschrocken, sich einige
Bedenkzeit lassen; aber an der schließlichen Zustimmung der Abgeordneten, und
auch der Herren, zu dem legislativen Schnitt ist nicht zu zweifeln. Man
spricht davon, daß seitens der Katholiken, welche ihrem Glauben getreu, aber
übrigens nicht ultramontan sind, also seitens der sogenannten Staatskatho¬
liken Schritte vorbereitet werden, um den Episkopat zu vermögen, die Eney¬
clika vom 3. Februar d. I. in irgend einer Weise zu verleugnen. Wenn die
Erklärungen, trotz der Eneyclika dem Staate treu und gehorsam bleiben zu
wollen, welche bereits aus staatskatholischen Abgeordnetenkreisen in Umlauf
gesetzt sind, zahlreiche und offene Beistimmungen erlangten, so könnte damit
ein Druck auf die Bischöfe ausgeübt werden, wir dürfen vielleicht auch sagen,
es könnte damit den Bischöfen ein Stützpunkt dargeboten werden, um die Be¬
deutung der Eneyclika durch irgend einen Schritt ihrerseits abzuschwächen.
Indeß glauben wir an alle solche Dinge nicht. Wir erwähnen dieselben nur^
um der Erinnerung die Möglichkeiten aufzubewahren, welche beim Anbruch
eines großen historischen Momentes von den Betheiligten erwogen worden sind.
Denn wer wollte verkennen, daß eine große Entscheidung angebrochen
ist, eine akute Krisis von gleichwohl unberechenbarer Dauer? Wir treten in
ein Stadium, wo vielleicht der Staat der gesammten römisch-katholischen
Geistlichkeit verwehren muß, ihre Funktionen auszuüben, weil dieselbe sich in
offener Auflehnung gegen den Staat und sein Gesetz auf Befehl der Curie
befindet. Rasch vorübergehend dieses Stadium zu denken, ist schon deßhalb
unmöglich, weil, nachdem einmal die Suspension des gesammten Clerus, so¬
weit derselbe dem gegen Deutschland kriegführenden Vatikan in die Schlacht
folgt, eingetreten sein wird, die Wiederaufnahme der katholischen Geistlichkeit
in den obrigkeitlichen Organismus des preußischen Staates, und weiterhin
wohl der deutschen Bundesstaaten überhaupt, niemals wieder mit den alten
Bedingungen erfolgen wird.
Ehemals war das Interdict die furchtbarste Waffe der Päpste gegen die
weltlichen Obrigkeiten. Heute, auf der Höhe seines historischen Berufes stehend
und aus diesem Beruf eine Kraft schöpfend, wie sie nie der weltliche Staat
besessen, spricht der deutsche.Staat gewissermaßen das Interdict aus über eine
die Heerde der Gläubigen irre leitende Hierarchie. Der Staat erklärt dieser
Hierarchie, daß ihre Bahn keine willkürliche, nach eigenem Ermessen zu wäh¬
lende ist, sondern sich bewegen muß in der Linie, welche der Staat bestimmt,
aber nicht willkürlich bestimmt, sondern schöpfend aus dem ewigen Verhältniß
der Kräfte des sittlichen Reiches. Die Hierarchie und ihr Haupt haben dieses
Verhältniß zum Unheil der Menschheit schon oftmals verrückt, und wollen es
jetzt wieder verrücken. Dem gegenüber richtet sich der Staat hoch auf in seinem
höchsten Beruf als Schirmherr der wahren sittlichen Ordnung.
Es wird sich nun zeigen, wer das Interdict am längsten ertragen kann:
der Kaiser oder der Papst. Früher zog immer der Kaiser den Kürzeren;
er konnte nur siegen, wenn er den Vertreter der päpstlichen Gewalt in seiner
Person einem Zwang unterwarf. Im neunzehnten Jahrhundert wird sich
zeigen, ob die katholische Bevölkerung Deutschlands die Spendungen der Kirche
nicht entbehren will, auch wenn der Preis die Zerstörung des heimischen
Staates ist. Der Zweifel ist wohl nirgends vorhanden, daß der thätige
Anschluß an das kriegführende Rom, auf dem in frühen Zeiten die Stärke
der Päpste beruhte, heute ein kaum bemerkbarer sein wird.
Darum beschäftigt uns schon heute weit mehr die Frage, unter welchen
Bedingungen, mit welcher Organisation der siegreiche Staat dereinst den ka¬
tholischen Clerus wieder in seinem Organismus zulassen wird. Die durchge¬
führte Entwaffnung des kriegführenden Clerus oder der römischen Schlacht¬
ordnung, das ist das nächste Ziel. Die neue Organisation des zum Frieden
zurückkehrenden Clerus oder eines von der staatstreuen katholischen Bevölke¬
rung neu berufenen Clerus, das wird das Endziel sein. Jetzt stehen wir vor
Wir wissen nicht, ob alle Leser dieser Blätter, die München schon besucht
haben, jemals in die Prannergasse gekommen sind, in welcher die Residenz
der bayrischen Volksvertretung sich befindet. Und gesetzt den Fall, so könnte
es ihnen Niemand übel nehmen, wenn sie letztere übersehen hätten, denn
etwas hervorragendes hat das „Ständehaus", wie man seit Alters hier sagt,
nicht. Das Aeußere ginge noch an. es hat wenigstens eine von den umgebenden
Gebäuden abstehende stattliche Facade, sogar ein Schilderhaus steht davor,
vor dem zu Sitzungszeiten ein müder Posten schüttert, aber im Innern, da
schlägt man die Hände über den Kopf zusammen vor Verwunderung, daß die
Legislative des bayrischen Staates nun schon über ein halbes Jahrhundert in
diesen Räumen existiren konnte, daß man alle die Opfer, die auch unter ihr
das Münchner Klima ab und zu gefordert, nicht auf jener Rechnung gesetzt
hat. Das „Ständehaus" war früher, zu Curfürsts Zeiten, das Ballhaus,
seinen durch zwei Stockwerke laufenden großen Saal konnte man leicht zum
Sitzungssaal einrichten und sonst auch dachte man für das, was ein Abgeord¬
neter braucht, Raum genug in dem Gebäude zu finden. Aber der fand sich
eben nicht; also kaufte man ein paar anstoßende, mit ihren Neben- und Rück¬
seiten in enge, schmutzige Gäßchen gehende Häuser an und setzte diese mit dem
Ballhaus in möglichst unpraktische und complizirte Verbindung. Daraus
entstand nun ein Conglomerat von finstern Gängen, engen Treppen, dumpfen
Zimmern, daß es auch einem, der seit Jahren in diesem Rattenkönig von
einem Hause aus- und eingeht, ohne einen sehr sichern Ariadnefaden unmöglich
ist, sich zurecht zu finden. Höchstens ein paar auf die Hauptstraße hinaus
liegende Commissionszimmer, sowie das des Präsidenten haben Luft und
Licht, bei den meisten andern sind das unbekannte Dinge. Da man aber
diese gemeiniglich am wenigsten missen kann und namentlich auch der Sitzungs¬
saal der Abgeordneten jedem Gesetz einer vernünftigen Ventilation höhnisch
widerspricht, so kann man ermessen, wie angenehm und wohlthuend der mo¬
natslange Aufenthalt in diesen Räumen auf Körper und Geist wirkt. Doch
sind die Abgeordneten immer noch besser daran, als das Personal des Hauses:
Kanzlei, Expedition und gar erst der Stenographensaal sind in Localen unter¬
gebracht, die an die Häufung der Gefangenen in Chillon einerseits, an
die Bleidächer von Venedig andrerseits erinnern. Lange Zeit hat man diese
Zustände mit echt bayrischer „Gemüthlichkeit" getragen; dann kamen endlich
Anträge auf Um- oder Neubau, aber niemals fanden diese selbst im Schooße
der Kammer günstige Erledigung, und als auch in der gegenwärtigen von
der liberalen Seite abermals auf das dringende Bedürfniß einer Aenderung
hingewiesen wurde, da meinte man auf der andern malitiös: warum ein neues
Haus für eine Versammlung bauen, die doch über kurz oder lang vollends
Alles nach Berlin werde abgeben müssen, und für einen Münchner Provinzial-
landtag sei das bisherige gut genug. Schließlich war aber die Majorität
der Kammern doch anderer Ansicht und beim nächsten Budget wird wohl der
Neubau des Ständehauses eine Rolle spielen.
„Der Zopf, der hängt ihm hinten", dem bayrischen Landtag bisher in
allerlei Dingen, nicht blos an seinem Hause. Es hatten sich hier'Dinge ein¬
gewöhnt und Mißbräuche eingenistet, die wohl in andern parlamentarischen
Körperschaften unerhört sind. Ein Präsidium übernahm sie vom andern,
keines wagte an den alten Schlendrian die Hand zu legen, „Apres nous Jo
661uM" dachte jedes — aber endlich kam doch eines, das jetzige des Freiherrn
von Stauffenberg, das sein erzürntes „quels vM" rief und mit rücksichtsloser
Energie in den Wirrwarr hineingriff, alles Kranke ausschnitt und Ordnung
schaffte. War an und sür sich schon die Erhebung des kräftigen Führers der
Liberalen manchem unlieb gewesen, jetzt ging erst recht der Unwille in gar
vielen Kreisen auf: man schrie über Ungerechtigkeit, Geiz, Härte u. s. w.,
das Staatsgut hätte noch Jahre lang verschleudert werden mögen, wenn nur
die Sonderinteressen von so und so vielen Leuten gewahrt, die Sinecuren
forterhalten geblieben, die Domänen des Eigennutzes nicht angetastet worden
wären. Es waren nachgerade haarsträubende Dinge, die das scharfe Auge
des neuen Präsidenten entdeckte: Tausende von Gulden waren Jahr für Jahr
bei den Druck-, Regierungs- und Verwaltungskosten hinausgeworfen worden, die
die betreffenden Ausgaben des so viel größern Reichstages um das doppelte
und dreifache überstiegen. Um nur Eines zu sagen: jedes Commissionsmit¬
glied ward bei jeder neuen Session in derartiger Fülle mit Schreibmaterialien
aller Art, vom Lineal angefangen und mit einem halben Dutzend Knäuel
Bindfaden endend, begnadigt, daß es noch Jahre lang daheim von seinem
Borrath zehren konnte.
Leute wurden in den Besoldungslisten der Kammer fortgeführt, die längst
keinen Dienst mehr thaten, und andere waren wieder da, die lungernd herum
standen, und selbst über ihre Berechtigung zu ihren Taggeldern nachdachten,
da sie nichts fanden, was man ihnen zu thun gab. Wie gesagt, jetzt ist es
um vieles besser geworden. Der Abgeordnete von Stauffenberg hat es in der
letzten Session durchgesetzt, daß das Bureau des bayrischen Landtags nach dem
Muster des Reichstags umgestaltet wurde und der von ihm ernannte neue
Bureaudirektor hat sich in Berlin seine Erfahrungen geholt und sorgt nun
dafür, die neue Geschäftsordnung, die sich die Kammer vor drei Jahren, auch
nach reichstägigem Muster, gegeben, möglichst praktisch zu verwenden. Die alte
Geschäftsordnung paßte nämlich herrlich zum Landtag älterer Ordnung. Nichts
konnte mit ihr ins rechte Geleise, in Fluß gebracht oder gar rechtzeitig fertig
gemacht werden. Die halbjährigen Landtage waren damals an der Tages¬
ordnung. Alles, auch das Geringfügigste, was sie zu behandeln hatten,
mußte an einen besondern Ausschuß verwiesen werden, der dann mit voller
Omnipotenz entschied, ob die vorwürfige Sache an einen der Spezialausschüsse
zu kommen habe oder nicht, der also auch sie ganz todtschweigen konnte, so
daß die Petenten niemals erfuhren, was aus ihrem Anliegen geworden.
Keine Spezialcommisston konnte mündlichen Bericht erstatten, alles mußte
schriftlich verabfaßt werden, kurz eine Maschinerie war eingerichtet, wie sie
schleppender und träger nicht gedacht werden kann. Die neue Geschäftsordnung
erscheint freilich manchem an die Dampsmaschinenarbeit des Reichstags Ge¬
wöhnten auch nicht als ein Ideal, die bei uns geltende Bestimmung, daß das
Budget im betreffenden Ausschuß erst durchberathen werden muß und nicht
stückweise gleich im Plenum vorgenommen werden kann, dünkt jenen lästig.
Die Zeit ist vorüber, in welcher der denkende Geist sich darin gefiel,
Alles aus Einem Grundbegriff herauszuspinnen und das ganze Universum
im Netz derartiger Deductionen einzufangen; gerade in der Philosophie
hat man unterscheiden gelernt zwischen denknothwendigen Gesetzen und Be¬
dingungen des Seins, die wir aus reiner Vernunft folgern können, und
zwischen der thatsächlichen Erfüllung derselben, die nur durch Erfahrung zu
erkennen ist. Newton's Gravitationsgesetz ergiebt sich aus dem Wesen der Kraft
und des Raumes und herrscht darum überall in der Natur, aber wie groß
unsre Sonne ist,'wie viele Planeten sie umkreisen, das muß die Beobachtung
der Wirklichkeit ausmachen. Aus dem Begriff der Poesie als der Kunst des
Geistes können wir das Epos, die Lyrik, das Drama als nothwendige Formen
ableiten, aber die Ilias, Ueber allen Gipfeln ist Ruh, den Hamlet müssen
wir an der Hand der Geschichte kennen lernen. Induction und Deduction
vereint bilden wie Ein- und Ausathmen das Leben der Wissenschaft. In
diesem Zusammenwirken von Beobachtungen und Bernunftschlussen haben wir
einen Schatz an Erkenntnissen gewonnen, die uns gewiß sind, und alle Mei¬
nungen, Behauptungen, Dogmen, die ihnen widerstreiten, werden sich ferner
nicht halten. Aber der Schatz ist klein und die Betrachtung führt uns über
seine Grenzen hinaus; sie will den Weltzusammenhang verstehen, dessen ein¬
zelne Glieder von besondern Wissenschaften erforscht werden, sie fragt nach dem
Grund und Zweck des Daseins, und sucht nach den bekannten Größen das
Unbekannte zu bestimmen; sie fragt: wie muß das Princip des Seins
beschaffen sein, wenn diese Welt der Ordnung und des Freiheitsbewußtseins,
des Guten und des Bösen, Natur und Geist aus ihm erklärt werden soll?
In diesem Sinne sind nicht blos auf dem Felde der Geschichte der Philosophie
und der Philosophie der Geschichte, auch auf dem der Ethik und Aesthetik,
der Logik und Psychologie tüchtige Kräfte fortwährend thätig; sie arbeiteten
weiter aus Pflicht und Wissensdrang, um des Wahrheitgewissens willen,
H. Ulrici: Gott und der Mensch. Zweite vermehrte Auslage. Leipzig bei I. O. Weigel.
") E. v. Hartmann: Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine Darstellung der
organischen Entwicklungstheorie. Berlin, Karl Duncker's Verlag-
wenn auch das große Publikum sich wenig um sie bekümmerte, und die Ge¬
dankenträgheit der Menge sich von fingerfertigen Feuilletonschreibern gern ein¬
reden ließ, daß es mit der Philosophie nichts mehr sei. Und der Wendepunkt
zum Bessern scheint da zu sein; dafür sprechen wenigstens die neuen Auflagen,
welche für manche umfassende Werke nöthig geworden. Die deutsche Bildung
fängt an sich zu besinnen, seitdem syllabuswüthige Ultramontane, Kraft- und
Stoff-Titanen und verwegne Communisten ihr den Krieg erklärt haben; man
erinnert sich der Philosophie, von der ja Novalis gesagt: Sie kann freilich
kein Brot backen, aber sie kann uns Gott, Freiheit, Unsterblichkeit bieten;
was ist nun praktischer, Philosophie oder Oekonomie?
Eduard von Hartmann hat mit seiner Philosophie des Unbewußten das
Interesse an philosophischen Fragen wohl gerade dadurch wieder wach gerufen,
daß er der Fülle des empirischen Materials, vor allem den Ergebnissen der Na¬
turforschung ihr Recht ließ, aber dabei überall auf ein ideales, metaphysisches
Princip hinwies, und daß er dies das Unbewußte nannte; denn seltsamer
Weise geht die Zeitströmung dahin nicht im selbstbewußten Willen, sondern
in blinden Kräften das Urwesen und den Grund der Welt haben zu wollen.
Der gewöhnliche Deismus, welcher Gott neben die Welt wie einen Uhrmacher
neben die Uhr stellt, ist unhaltbar geworden, die Natur trägt nicht den Stempel
des Gemachtem, sondern des sich selbst Entwickelnden, und dem religiösen Ge¬
fühl genügt kein jenseitiger Gott, es will in ihm leben und weben. So will
man, und mit Recht, Eines in Allem und Alles in Einem haben, das Ewige
soll der zeitlichen Entfaltung, das Ideale dem Realen einwohnen; man wen¬
det sich dem Pantheismus zu. In früheren Jahrhunderten hat man die Natur
aus dem Geist erklärt; man sah Geister im Donner und im Sonnenlichte,
im Wachsthum der Pflanzen und im Aufsprudeln des Quells wirken, Intelli¬
genzen schoben den Stern in den himmlischen Sphären. und Attraction oder
Repulsion der Materie war das Ergebniß von Sympathie und Antipathie.
An die Stelle dieser Geister und ihres Fühlens und Wollens sind die Natur¬
gesetze mit ihrer Nothwendigkeit, ist der Mechanismus von Druck und Stoß,
ist die Mannigfaltigkeit der Bewegungsformen der Atome und die Metamor¬
phose der Kraft getreten. Die Natur wird natürlich erklärt. Wer den Gang
der Geschichte kennt, wie sie durch Extreme voranschreitet, der wundert sich
nicht darüber, daß man nicht blos die Methode, sondern auch die Ergebnisse
der Naturforschung auf den Geist und das Ideale anwendet, daß man das
bewußte Seelenleben und seine Entfaltung in Staat. Religion und Kunst
gleichfalls auf den Mechanismus der mit blinder Nothwendigkeit wirkenden phy¬
sikalischen Atome zurückführt und aus bloßem Stoffwechsel und materieller Be¬
wegung hervorgehen läßt. Es ist der entgegengesetzte Uebergriff wie dort: es
ist der Rückschlag der Naturerklärung gegen den Geist, der früher alles Na-
türliche machen sollte, jetzt aus dem Geistlosen stammen und durch das Geist¬
lose ersetzt werden soll. Hier hat gerade die Philosophie das Grenzhüteramt
zu wahren, zu sorgen, daß man der Materie und ihrer Bewegung ihr Recht
läßt, aber auch dem Geist, seiner Freiheit und seinen Idealen gerecht wird.
In dieser Hinsicht hatUlrici zwei vorzügliche Werke geschrieben: Gott
und die Natur; Gott und der Mensch. Sie verbinden den Scharf¬
blick des Denkers mit dem Fleiß des Gelehrten und dem sittlichen Ernste,
welcher für die höchsten Güter der Menschheit einsteht. Sein Ziel und seine
Darstellungsweise bezeichnet Ulrici in der Borrede des zweiten, nun in zweiter
Auflage und neuer Durcharbeitung erschienenen Buchs also: „Mein Streben
ist auf der Grundlage der Ergebnisse der Naturwissenschaften,
also auf der Basis festgestellter Thatsachen, eine idealistische Lebens¬
und Weltanschauung aufzubauen, d. h. darzuthun, daß der Seele gegen¬
über dem Leibe, dem Geiste gegenüber der Natur nicht blos ein selbständiges
Dasein, sondern auch die Herrschaft nicht blos gebühre, sondern thatsächlich
zustehe. Dabei handelt es sich darum, ob der Unterschied an Leib und Seele,
Gott und Welt zum negativen Gegensatz, zu einer Zerklüftung in ein unver¬
einbares Hüben und Drüben ausschlägt, oder ob er nur Unterschied ist und
bleibt, der die immanente lebendige Beziehung des Unterschiedes in sich trägt...
Die Thatsache und eine logisch stringente Folgerung üben noch
immer eine Gewalt, der kein bloßer Machtspruch, von welcher Seite er auch
komme, gewachsen ist, der sogar den Fortschritt zu hemmen und auf andre
Bahnen zu lenken vermag. Die wahre Versöhnung aber von Realismus und
Idealismus, welche die Philosophie anstrebt, weil und indem sie zum Ganzen
strebt, liegt beschlossen in dem einfachen Satze: der Realismus Träger und
Organ des Idealismus wie der Leib Träger und Organ der Seele. — Ich
habe auf alle geistreichen Einfälle, Pointen, Antithesen und Combinationen
wie auf allen Schmuck der Rede verzichtet. Ein Fünklein Wahrheit, ein
neuer haltbarer Grund für einen vielleicht uralten Gedanken hat für die Wissen¬
schaft mehr Werth als ein ganzes Feuermeer jener schillernden Geistesblitze,
die nach kurzem Leuchten nur ein um so tieferes Dunkel zurücklassen."
In „Gott und Natur" heißt es: „Die Natur und ihre Erkenntniß ist
der Prüfstein der religiösen Idee wie der philosophischen Forschung nach den
letzten Gründen des Seins und Geschehens." Und so läßt Ulrici die bedeu¬
tendsten Forscher, die anerkanntesten Lehrbücher der Astronomie, Physik, Chemie,
Physiologie selber reden, prüft die Theorien über Kraft, Stoff, Atom, über
den chemischen Proceß, über die Natur des Lichtes, der Wärme, der Elektriciät,
über Welt- und Erdbildung, über das Unorganische wie über das Organische,
um darzuthun, wie die Naturwissenschaft selbst ein höheres, ideales Prinzip,
das göttliche voraussetzt oder auf ihrem eigenen Gebiet an Grenzen kommt
wo sie sich bescheiden muß, da die materiellen Kräfte und ihre Gesetze allein
nicht mehr ausreichen. Wir kommen durch sorgfältige Beachtung der That¬
sachen und kritische Prüfung der Theorien zu dem Ergebniß, daß die Natur
wie die Naturwissenschaft den Forderungen des sittlich religiösen Bewußtseins
keineswegs widersprechen, sondern richtig verstanden in bestätigenden Einklang
mit ihnen stehen. Wir kommen zu einer Metaphysik, die von der Physik
selber gefordert und getragen wird.
Im ersten Bande von „Gott und Mensch" giebt uns Ulrici seine Psycho¬
logie. Es handelt sich um die Existenz und das Wesen der Seele, um ihre
Beziehung zur Natur nach unten, zu Gott, zu den Ideen des Guten, Wahren
und Schönen nach oben. Der Verfasser legt selber Gewicht auf seine Ver¬
handlungen mit den Materialisten von Confession und Profession, er fordert
sie von neuem zum offnen Kampf in der von ihm redigirten Zeitschrift her¬
aus; und da die Materialisten und blasirten oder nachplappernden Pessimisten
das große Wort in den Feuilletons führen und die Halbbildung beherrschen,
so wollen wir die bezüglichen Abschnitte kurz betrachten; sie führen uns zu¬
gleich zum Darwinismus, der eigentlich der Naturphilosophie angehört, die
Naturphilosophie unsrer Zeit in ihrem Mittelpunkt ausmacht.
Daß der Mensch nur das ist, was er ißt, daß die Gedanken und das
Selbstbewußtsein nur vom Gehirn ausgeschieden werden wie die Galle von
der Leber, nichts als eine Bewegung oder Umsetzung des Hirnstoffs seien,
wie Feuerbach, Bogt, Moleschott behaupten, das ist keineswegs eine durch Be¬
obachtung gewonnene, durch Experimente erhärtete Thatsache, sondern eine
Hypothese und Behauptung. Ulrici zeigt die Consequenzen derselben und
zeigt, daß sie alle Wissenschaft unmöglich mache. So wenig als von wahrem
oder unwahrem Urin könne man von falschen oder wahren Vorstellungen
reden, wenn die eine ebenso eine Secretion des Gehirns sei, wie der andere
eine der Nieren ist. Alle Gehirne sind dann durch denselben Naturmechanismus
hervorgebracht und fungiren mit derselben Nothwendigkeit, produciren Mei¬
nungen, Vorstellungen, Ueberzeugungen, die alle eine so gut wie die andere
unumgängliche Naturerscheinungen sind; es wäre widersinnig nach Wissenschaft
zu streben, weil jeder denkt was er denken muß, die Päpste den Shllabus,
die Materialisten den Atheismus. Rede man nicht von normalen und anor¬
malen Gehirnen! Nach welchem Kriterium will man das unterscheiden?
Unrechtlichkeit, Gewinnsucht, Genußbegierde sind verbreiteter als unverbrüch¬
liche Pflichttreue und opferwillige Tugend, der Dummen sind mehr als der
Weisen, und die einen haben so gut eine Befugniß wie die andern ihre Ge¬
hirne und Gehirnausscheidungen für normal zu erklären, da alle gleich zufällig
oder gleich nothwendig sind.
Der Materialist leugnet die Seele, weil er sie nicht sieht, aber er nimmt
doch mit der Naturwissenschaft die Gravitation, die Kraft der Anziehung und
Abstoßung an, die er gleichfalls nicht sieht, sondern nur aus den sichtbaren
Wirkungen erschließt. Ist unser lebendiger Leib, sind unsre Handlungen nicht
auch sichtbare Wirkungen? Warum eine ausreichende Ursache für sie, eine
ihnen gewachsene Kraft nicht auch annehmen? Es handelte sich um den Begriff
von Kraft und Stoff. Ulrici weist stets an der Hand der Naturforschung
nach, daß die Kraft keineswegs ein Anhängsel oder eine Aeußerung der Materie
sondern die Materie nur das Phänomen der Kraft ist, nur von uns er¬
schlossen wird nach der Einwirkung von Kräften außer uns auf die Kraft
in uns. „Der Stoff, den wir alle annehmen, ist an sich nichts von der Kraft
Verschiedenes, sondern im Gegentheil nur die Aeußerung oder Erscheinung
einer Central- und Widerstandskraft, welche damit nothwendig gegeben ist,
daß die Kraft in der Natur nicht ein unterschiedloses allgemeines, sondern
nur in vielen unterschiedlichen, in Beziehung und Wechselwirkung zu einander
stehenden Kraftcentris wirkt, in denen mannigfache Kräfte von Einer Kraft
als Centralkraft in Einheit zusammengehalten, als Widerstandskraft in ihrem
Bestände erhalten werden.
Ich sage mit andern Worten: Das All ist ein System von Kräften.
Die Atome der Naturwissenschaft, die man ja nicht sehen und greifen kann,
sondern die man aus der Beobachtung der Wirklichkeit zu ihrer Erklärung
erschlossen hat, sind Kraftcentra, und ihre Selbsterhaltung ist es, vermöge
welcher sie allem einen Trägheitswiderstand entgegensetzen und sich in einer
bestimmten Sphäre ausdehnen und behaupten. Nach unveränderlichen Gesetzen
bestehend und wirkend bilden sie die unorganische Natur, und sind selber das
Material oder der Stoff für andre Kräfte, die sich in der Organisation der
Materie bethätigen, sich selber fühlen und erkennen und über der Natur ein
Reich des Geistes und der sittlichen Weltordnung aufbauen. Wir nennen sie
Seelen. Ihre Annahme wäre nur dann eine unnöthtge Hypothese, wenn die
Erscheinungen, wenn die thatsächliche Wirklichkeit der Organismen, des selbst¬
bewußten Willen, des Staats, der Kunst, der Religion und Wissenschaft sich
aus Druck und Stoß, räumlicher Bewegung und Stoffwechsel erklären ließen.
Leugnen lassen wir uns das Selbstgefühl, das Bewußtsein der Pflicht und
der Freiheit, die Unterscheidung von Wahr und Falsch, von Schön und Hä߬
lich einmal nicht, sie sind Thatsachen unsrer Erfahrung so gut wie die Sonne
am Himmel, wie der Fall eines Steines oder das Brausen des Windes. Von
all diesen Dingen wissen wir ja unmittelbar nichts, sondern unmittelbar sind
uns unsre Empfindungen des Lichts, des Schalls gewiß, und von ihnen, von
den Affectionen unsrer Sinnesorgane aus schließen wir nach dem Causalgesetz
ausginge außer uns, welche diese Empfindungen erregen helfen.
Doch kehren wir zu Ulrici zurück. Er untersucht den Begriff des Orga-
nismus. Er findet, daß eine organisirende Kraft erforderlich ist, welche an
die physikalischen Gesetze, die chemischen Stoffe gebunden, innerhalb und mittels
derselben den vielgliedrigen lebendigen Leib gestaltet, erhält, fortpflanzt. Er
weist nach, daß diese sog. Lebenskraft, von Liebig wie von Johannes Müller
anerkannt, von ihren beredtesten Gegnern, wie Häckel und Lotze doch überall
vorausgesetzt wird; denn Atome, die nicht nach ihren eignen Affinitäten und
nach äußern Einflüssen, sondern in der Keimzelle dem Plan des Ganzen ge¬
mäß wirken, verlangen einen solchen Plan, eine planmäßig wirkende Kraft.
Auch erkennt Lotze deren spontane Triebkraft und Selbstbewegung an, wenn
er bemerkt, daß die Metalle wie jeder unorganische Körper warten müssen, bis
im Laufe der Veränderungen in seiner Umgebung Einflüsse eintreten, die ihm
eine neue Form aufnöthigen, der Organismus dagegen in sich selbst sowohl
ein Gesetz der Aufeinanderfolge seiner Entwickelungsstufen als auch einen
inneren Antrieb ihrer Verwirklichung besitze, obgleich er äußerer Begünstigung
dazu nicht unbedürftig sei. Mir scheint nun, daß Ulrici hier eines noch schärfer
hätte betonen sollen: es sind allgemeine Bildungsgesetze zur Erklärung der
Organismen nicht ausreichend, und darum sträubt man sich gegen eine Lebens¬
kraft neben Schwerkraft, Elektricität, Magnetismus; das Princip der Organi¬
sation ist für jeden Organismus ein individuelles, das nach Gesetzen wirkt,
ohne seine Eigenthümlichkeit aufzugeben; es ist mit Einem Wort die Seele,
die den Leib aus den Stoffen der unorganischen Natur sich zum Organe ge¬
staltet, und darüber im Innern das Reich des Bewußtseins, der Freiheit des
Geistes aufbaut. So, durch dies lebendige Band, erklärt sich uns die Wechsel¬
wirkung von Gedanke und Materie. Es ist die Phantasie, welche als ge¬
staltende Kraft der Seele in der Sphäre des Unbewußten den Leib bildet,
dann für das Bewußtsein aus den Empfindungen die Anschauungsbilder der
Dinge entwirft und sich vorstellt, endlich Ideen künstlerisch durch Bild, Ton
und Wort verwirklicht. Dies glaube ich in meiner Aesthetik klar gemacht und
sichergestellt zu haben, und freue mich zu sehen wie auch Ulrici im Fortgang
seines Buches der Phantasie eine ähnliche Rolle zuweist und ihre große Be¬
deutung würdigt; wie gleichfalls H. I. Fichte. Sie ist das Dritte neben der
Intelligenz und dem Willen im innern Organismus der Seele selbst.
Planmäßigkeit der Gestaltung und Structur, das ist doch wohl allgemein
anerkannte Thatsache, äußert sich nicht nur in einer durchgängigen Ueberein-^
Stimmung zwischen den Theilen und dem Ganzen wie zwischen den Theilen
untereinander, also innerhalb des Organismus, sondern eben so sehr auch in
einer gleichen Uebereinstimmung zwischen der innern Organisation jedes leben¬
digen Wesens und den äußern Bedingungen seines Daseins, also gleichsam
außerhalb des Organismus. Und so bilden sich bereits im Mutterleibe die
Lungen für das künftige Athmen, die Augen für das künftige Sehen, die
Ohren für das künftige Hören gemäß den Aether- und Luftwellen, und jedes
Organ hat eine bestimmte Aufgabe im Dienst des Ganzen und empfängt da¬
für sein Leistungsvermögen von allen andern kraft des Ganzen. Ulrici fährt
fort, auf die Physiologie Bezug nehmend: „So besteht der menschliche Leib
nicht nur dadurch, daß das Herz fortwährend schlägt und das Blut durch
die Adern treibt, die Lunge athmet, der Magen verdaut, die Leber ihm Galle
mittheilt, die Nieren Urin absondern, die Eingeweide die zur Ernährung
brauchbaren Stoffe aussaugen und weiterverbreiten, die unbrauchbaren abführen,
sondern alle diese Organe werden wiederum nur dadurch in ihrem Bestehen
und in ihrer normalen Thätigkeit erhalten, daß das Blut fortwährend in
jedem einzelnen Gliede je nach dessen Bestimmung das Verbrauchte, Schäd¬
liche aufsaugt und wegführt, das Zweckdienliche dagegen herbeischafft, indem
es in den Knochen phosphorsauren Kalk, in den Muskeln Stickstoff, in den
Speicheldrüsen Speichel, in den Ohren Ohrenschmalz, in den Augen krystall¬
helle Gallerte, in den Nägeln und Haaren Hornstoff, in den Nerven Hirn¬
substanz, in der Gallenblase Galle, in der Bauchspeicheldrüse Pankreassaft,
im Darmkanal Darmschleim, in den Nieren Urin, im Herzbeutel die nöthige
Feuchtigkeit, in den Lungen Kohlensäure ze. absetzt, jeden Stoff zur rechten
Zeit, am rechten Ort, in gehöriger Menge, im richtigen chemischen Mischungs¬
verhältniß, genau so wie es der Zweck des Ganzen fordert." Dies gegen¬
seitige Bedingtsein, dies vielseitige Ineinandergreifen muß man sich einmal
ordentlich klar gemacht haben um die begründete Einsicht zu gewinnen, daß
in der Vielgliedrigkeit des Organismus ein einheitliches Wesen verwirklicht
Wird, dessen Kraft nach einem Plane thätig ist, in der Ausführung dieses
Planes ihren Zweck erreicht, um das neumodische Gerede gegen die Zweck¬
mäßigkeit der Natur zurückzuweisen. Weil ihr der Mensch seine Zwecke früher
untergeschoben, ist das Fragen nach dem Zweck in Verruf gekommen. Wenn
aber das Auge gemäß den Gesetzen der Aethcrwellen gebildet ist, und nun
das Licht und das Sehen dadurch hervorgebracht werden, wie kann da ge¬
sunder Sinn sagen: wir sehen, weil wir Augen haben, statt: wir haben Augen,
um zu sehen?
Aber Häckel preist Darwin „daß es ihm endlich gelungen sei den Zweck¬
begriff und alle Teleologie aus der Welt zu schaffen, indem er dargethan,
daß keine zweckthätige Ursache, sondern nur blindwirkende mechanische Kräfte
die anscheinende Plan- und Zweckmäßigkeit hervorgerufen haben. Also ist der
Zweck doch noch nicht aus der Welt geschafft, denn wenn nur Mechanismus
waltet, so erzeugt er wenigstens im Menschen den Zweckbegriff und das Han¬
deln nach Zwecken, und das wird Häckel doch nicht ableugnen, daß damit der
Zweck in der Welt und dann das nothwendige Ergebniß des Mechanismus
ist; oder — wie Ulrici hinzufügt — die Materialisten würden es übel ver-
merken, wenn man sie nun eines zwecklosen oder unzweckmäßigen Redens
und Handelns beschuldigte.
Ulrici ist nicht gewillt die Entwicklung des Höheren aus dem Niederen
abzulehnen, welche Darwin der Gegenwart zum Bewußtsein gebracht hat;
aber er will nicht zugeben, daß der naturphilosophische Gedanke, der an den
Thatsachen zu prüfen sei, durch Häckel und Andre zum materialistischen Dogma
gemacht werde, das bereits seine Fanatiker hat, die mit Beschränktheit, Blöd¬
sinnigkeit, Unsinn und anderen Liebenswürdigkeiten um sich werfen, wenn
Jemand von Seite der Naturforschung oder der Philosophie eine Einwendung
macht und zu begründen sucht. Ulrici sammelt und prüft alle diese Ein¬
wendungen, die namentlich Wigand ins Treffen geführt hat; er pflichtet ihnen
bei, und kommt zu dem Schlußresultat: „Jeder Organismus ist ein System
von Stoffen und Kräften, welches nicht nur plan- und zweckmäßig angelegt
ist, sondern auch in seiner Bildung und Entwicklung wie in den Bewegungen
und Funktionen seiner Theile von einer spontanen, nach gewissen Typen sich
richtenden Kraft beherrscht erscheint, und welches durch die unaufhörliche,, zwar
der Mitwirkung der allgemeinen physikalischen und chemischen Kräfte bedürftige,
aber sie in seinem Dienst verwendende Thätigkeit dieser Kraft in fortwährender
Produktion und Reproduction begriffen, sich selbst so lange erhält, bis die
Reihe seiner Entwicklungsstadien abgelaufen ist, worauf er sich auflöst und
die in ihm gebundenen Kräfte und Stoffe der unorganischen Natur zurück¬
giebt. (— Ulrici wiederholt uns, daß er keinen Schmuck der Rede suche,
aber bei solchen Sätzen wie der obige geht dem Leser der Athem aus.
und es wäre Pflicht des Philosophen gewesen den Organismus der Dar¬
stellung selbst für das leichtere Verständniß und nach der Eigenart der
deutschen Sprache klarer zu gliedern und einfach schöner zu gestalten! Der neue
Glaube von Strauß verdankt nicht den kleinsten Theil seines Erfolgs dem
durchsichtigen Fluß seiner gefälligen Schreibart. —) Andererseits aber bestreiten
wir keineswegs die Descendenztheorie überhaupt, sondern nur die rein mecha¬
nische, alles Walten von Plan und Zweck ausschließende Auffassung derselben,
und glauben an ein allgemeines, im unorganischen wie im organischen Gebiete
herrschendes Bildungsgesetz und Entwicklungsprineip. welches, den mineralischen
Stoffen wie den organischen Gebilden immanent, von Anfang an in über¬
einstimmender, plan- und zweckmäßiger Form gewaltet, und welchem gemäß
die mannigfaltigen Gesteinarten wie die verschiedenartigen Organismen in
fortschreitender, von den niederen zu den höheren aufsteigender Reihenfolge
nach und nach und resp, auseinander entstanden, sich gebildet und entwickelt
haben."
Bei dem Darwinismus sollte man immer bestimmt unterscheiden zwischen
der Idee eines Zusammenhangs der> organischen Formen, einer aufsteigenden
Entwicklung in der Natur, einer Hervorbildung des Höheren aus dem Niederen,
und zwischen der Darlegung, wie diese Entwicklung vor sich geht. Darwin
sprach sich dafür aus, daß die Gattungen und Arten der lebendigen Wesen
keine fertigen, ein für allemal feststehenden Formen seien, sondern daß durch
die Veränderungsfähigkett der Organismen, durch ihr Anpassungsvermögen
an äußre Einflüsse, durch die natürliche Auswahl der geeignetsten Individuen,
die im Kampf ums Dasein aushalten, und durch die Vererbung ihrer Eigen¬
schaften aus wenigen, vielleicht aus einer ursprünglichen Keimzelle die mannig¬
faltigen Organismen und ihre Formen allmählich hervorgegangen. Einige
seiner Anhänger in Deutschland haben dies rein materialistisch gewandt; nicht
durch innerlich bildende Kraft, nur durch äußere Einflüsse lassen sie das Leben¬
dige seine verschiedenen Formen erhalten, als ob die Organismen von außen
zurechtgedrückt und zurechtgestutzt, nicht von innen heraus gestaltet würden;
Darwin hielt die Variabilität, die Beränderungsfähigkeit von Anfang an fest.
Wenn die Materialisten sich auf die Vererbung stützen, so sollten sie doch be¬
denken, wie schwer begreiflich solche wird, wenn unser Leib nur ein Haufwerk
von Moleculen ist ohne ordnendes einheitliches Princip. Ist dies vorhanden,
ja dann prägt es in der Keimzelle, durch die es sich fortpflanzt, sein Wesen
aus; aber wie ist es ohne dasselbe möglich, daß Atome, die in den Adern
eines Weibes hin - und Hergetrieben wurden, auch einmal durchs Gehirn ge¬
laufen sind, dann im Eierstock zusammenkamen und ausgeschieden wurden, daß
diese Atome, die im Stoffwechsel austreten, anderen Atomen, und diese wieder
andern einen Anstoß zu künftigen Bewegungen geben können, wodurch nach
fünfzehn Jahren nun im Gehirn der Tochter Schwingungen hervorgehen denen
ähnlich, welche einst im Organismus der Mutter bestimmte Gemüthseigen¬
schaften hervorriefen? Man muß das Ungeheuerliche nur einmal klar aus¬
einanderlegen, um zu sehen, daß die Vererbung von Eigenschaften auf materia¬
listische Weise eine Phrase ist. Sie setzt eben ein seelenhaftes Princip voraus.
Ich habe von Anfang an in dem was Darwin beibringt, um die Entwicklung
der Welt und die Veränderlichkeit der Lebensformen zu erweisen, nur die
Mittel und Hebel gesehen, durch welche die welteinwohnende zweckmäßige
Thätigkeit der Schöpferkraft das Höhere sich aus dem Niederen hervorbilden
läßt. In der Natur geht alles natürlich zu. Einen fertigen ausgewachsenen
Menschen zu schaffen ist ganz unmöglich, weil es dem Begriff des Organismus
widerspricht, der darin besteht, daß aus einem ursprünglichen homogenen Keime
sich durch Unterscheidung und Gliederung im allmählichen Wachsthum der
Leib gestaltet; der Mensch konnte immer nur als triebkrästige Zelle geschaffen
werden. Wo fand aber diese den Stoff, den organischen Stoff für ihre
Nahrung und für ihr Wachsthum, wo war sie erwärmt, behütet und geborgen
für die Zeit bis sie sich frei bewegen, ihre Sinne gebrauchen konnte? Doch
nicht im Urschleime des Meers oder in einem Walde? Wo besser als im Leib
eines hochstehenden Thiers, aus dessen Blut sie ihre Nahrung gewann, und
an dessen Brust sie lag. als sie endlich das Licht der Welt erblickt hatte?
Und ist nicht die höchstorganisirte Materie des thierischen Organismus ein
würdigerer Stoff als der Lehm oder Thon, aus welchem die Legende den Adam
geknetet werden läßt? Allerdings machen nach meiner Auffassung nicht der
Affe und die Aeffin den Menschen, sondern sie sind die Organe, deren die
Schöpferkraft sich bedient um ein höheres Wesen, den für die Freiheit und
zum Selbstbewußtsein berufenen Menschen hervorzubringen, dem Seelenkeim
die Möglichkeit seiner Selbstgestaltung zu gewähren. '
Es ist Darwin's Verdienst, daß er durch eine philosophische Idee frische
Bewegung in die Naturforschung gebracht, es gereicht ihm zur Ehre, daß er
die Einwürfe der Gegner würdigt und ihnen gemäß seine Lehre umgestaltet;
er ist nicht der Dogmatiker wie sein blinder Anhänger. Und hier begegnet
uns die neue ausgezeichnete Schrift Eduard von Hartmann's, welcher die Wahr¬
heit der aufsteigenden Entwicklung ebenso betont, wie das Einseitige und
Irrige, das im Darwinismus dadurch entstand, daß man den Werth
einzelner Erklärungsprinzipien überschätzte und darum andere leugnete. Hart¬
mann schließt sich Kölliker an, welcher darauf hingewiesen, daß, wenn das
Individuum einer neuen Art aus einer verwandten älteren entspringen soll,
alsdann bereits im Keime oder in der Eizelle eine Umbildung hervorgebracht
werden muß, daß also eine Keimmetamorphose in plötzlicher Umwandlung als
ein Sprung vor sich gehen muß; daß zwei Individuen so ein andres als sie
selbst zum Kinde haben, hat Kölliker als heterogene Zeugung bezeichnet. Der
Sprung wird um so kleiner, je näher die Formenkreise der verschiedenen Arten
einander berühren, und Darwin hat hier die Brücke geschlagen, indem er den
innigen und engen Zusammenhang der verschiedenen Typen aufwies. Aber
gerade dieser Zusammenhang ist nicht die alleinige Wirkung äußrer Ursachen,
sondern er deuteb auf ein inneres Entwicklungsgesetz oder die gesetzmäßige
Wirkung eines dem großen Naturganzen immanenten Bildungs- und
Gestaltungstrtebes. — auf den innerlichen Künstler, wie Giordano Bruno
sagen würde.
Die natürliche Zuchtwahl sagt Hartmann, ist ein richtiges und in der Na¬
tur thatsächlich in weitesten Umfang zur Wirksamkeit kommendes Princip,
sie ist als mechanisches Prinzip das Vehikel zur Realisirung eines ideellen. Wie
der Thierzüchter seinen Mehstand sichtet und nur die günstiger veranlagten
Individuen zur Fortpflanzung zuläßt, so kann auch in der Natur eine sichtende
Auslese unter den Formen stattfinden, bei der nur die übrig bleiben, welche den
Lebensbedingungen am besten angepaßt sind. In der Concurrenz um die Be¬
dingungen der Erhaltung des Lebens, im Kampf ums Dasein bestehen nur
die Individuen, welche durch Kraft und Form ihm am meisten gewachsen sind.
Zu dieser natürlichen Zuchtwahl gehört dreierlei: eine Mannigfaltigkeit von
Formen, also die Variabilität, durch welche die verschiedenen Individuen für
die Auslese hergestellt werden, und damit das Ergebniß der Auslese dauernd
sei, muß es durch Vererbung befestigt werden, und die vererbte Abweichung
muß in vielen Individuen wieder ein neues Niveau für Wiederholung der Vari¬
ation und Auslese bieten, sodaß die Wirkungen sich summiren, und wie in
einer Folge von Geschlechtern von der Gans zum Schwan, vom Esel zum
Pferd, vom affenartigen Thier zum Menschen kommen. Diesen drei Factoren
geht nun Hartmann im Einzelnen nach.
Die Auslese durch den Kampf ums Dasein beseitigt die schwachen, verkümmer¬
ten Wesen, sie ist wichtig, um die speciem rein zu halten und zu veredeln,
und wird zu einer Modification des Typus nur dann führen, wenn neue
Lebensbedingungen eintreten, für welche einige Individuen sich leichter anpassen
und damit im Kampf ums Dasein einen Vorsprung gewinnen. Und es ist
zu beachten, daß im entwickelten Organismus die Umbildung oder Verstär¬
kung eines Gliedes nur dann nützlich ist, wenn Hand in Hand mit ihr auch
andre verändert werden; wird der Zahn spitzer und schärfer oder breitkro-
niger, so setzt das auch die Verdauungswerkzeuge des Fleisch- oder Körner¬
fressers voraus; ja es fordert ebenso der tiefere Kelch der Blume den längeren
Saugrüssel des Insektes, das ihre Befruchtung vermittelt, indem es seine
Nahrung sucht; die Umwandlung der Honigbiene in die Hummel muß
einer ähnlichen in der Pflan zenwelt entsprechen. Und so bemerkt denn Hart¬
mann mit Recht, daß hier der Kampf ums Dasein durch ein Gesetz correla-
tiver Entwicklung unterstützt werden muß. „Könnte ein solches unter Igno-
rirung der in ihm zu Tage tretenden harmonischen Zweckmäßigkeit bei seiner
Wirksamkeit an verschiedenen Theilen desselben Individuums wenigstens noch
mit dem Schein der Möglichkeit im materialistischen Sinne gedeutet werden,
so ist bei der Vertheilung der correlativen Veränderungen an verschiedenen
speciem selbst die Möglichkeit dieses Gedankens ausgeschlossen. Indem die
ideelle Harmonie der Schöpfung in ihrer planmäßigen in einander greifenden
Entwicklung auf ganz getrennten Gebieten der Organisation hier zur Evidenz
gelangt, bestätigt sie rückwärts, daß das Correlationsgesetz auch in Bezug
auf die sympathischen Veränderungen an einem einzelnen Individuum in dem¬
selben Sinn zu verstehen ist, aber hiermit ist die unterstützende Mitwirkung
des Kampfes ums Dasein nicht ausgeschlossen. Sie wird vielmehr Platz
greisen, erstens zur Erhaltung jeder durch die correlattve Entwicklung er¬
reichten Stufe und zweitens zur Nachhilfe auf derjenigen Seite des Processes,
welche etwa durch die Configuration der äußeren Umstände einen stärkeren
Nealisationswiderstand findet und deshalb eine größere Retardation erfährt
als die andre Seite."
Ferner genügt die natürliche Auslese nicht zur Erklärung solcher Formen,
welche zwar für die Gestalt der Individuen bedeutsam sind, aber physiologisch
für ihr Leben keinen Nutzen erkennen lassen. So lassen die systematisch wich¬
tigen morphologischen Verhältnisse der höheren Pflanzen in Blattstellung,
Blüthenbildung, Plastik oder Farbenzeichnung der Samenkörner keinen Vor¬
theil für die Chancen im Kampf ums Dasein wahrnehmen. Aber sie zeigen
einen Fortschritt vollkommenerer Organisation, und sind das Ergebniß eines
von innen heraus wirkenden Gestaltungstriebes, nicht der Einflüsse der Außen¬
welt. So folgt denn: „Der Kampf ums Dasein und mit ihm die ganze
natürliche Zuchtwahl ist nur ein Handlanger der Idee, der die niederen Dienste
bei der Verwirklichung jener, nehmlich das BeHauen und Adaptiren der vom
Baumeister nach ihrem Platz im großen Bauwerk bemessenen und typisch vor¬
herbestimmten Steine verrichten muß. Diese Auslese im Kampf ums Dasein
für das im Wesentlichen zureichende Erklärungsprinzip der Entwicklung des
organischen Reiches ausgeben, wäre nichts andres, als wenn ein Tagelöhner,
der beim Zurichten der Steine zum Kölner Dombau mitgewirkt, sich für den
Baumeister dieses Kunstwerkes erklären wollte. Der Kampf ums Dasein ist
ein technisches Vehikel der Realisation der Idee, ein Hilfsmechanismus für die
Ausführung des Schöpfungsplanes."
Betrachten wir nun die Variabilität näher, so finden wir, daß sie keines¬
wegs ins Unbestimmte, Grenzenlose geht, sondern sich um das Centrum eines
Typus innerhalb eines bestimmten Nahmens bewegt, an dessen Grenze auch
jeder künstliche Züchtungsproceß anlangt, sodaß die Stachelbeere nicht kürbis¬
groß, die Taube nicht gelb, die Orange nicht blau wird. Statt des Chaos
haben wir innerhalb jeder Art ein scharfgezeichnetes natürliches System
im Kleinen, das uns die reiche schöpferische Phantasie der Natur bewun¬
dern läßt.
Was nun die Vererbung der individuell erworbenen Eigenschaften be¬
trifft, so gesteht Darwin selber ein, daß sie zu viel Ausnahmen hat, um Gesetz
heißen zu können; kaum darf sie als Regel gelten. Eine innere Vererbungs«
tendenz und eine spontane Variabilität treten an die Stelle der nur äußerlich
und mechanisch wirkenden zufälligen Einflüsse.
Die morphologische Typenwandlung , wodurch ein Wesen aus einer Art
in die' andere tritt oder eine neue Species verwirklicht wird, verlangt also
das Auftreten und die Erhaltung einer höheren oder besser angepaßten Form auf
dem Wege der heterogenen Zeugung und der Vererbung. Die natürliche
Zuchtwahl unterstützt hierbei den inneren Gestaltungstrieb und ist dadurch
höchst wichtig im Haushalt der Natur, ähnlich wie eine Sperrklinke und
eine Koppelung der nebeneinander laufenden Triebwerke in einer großen
Maschine.
Nachdem Hartmann dies und Ähnliches mit häufigerem Bezug auf
A. Wigand's vortreffliches Werk, „der Darwinismus und die Naturforschung
Newton's und Cuvier's" erörtert hat. zieht er die anderen Erklärungsversuche
in Betracht, die Darwin zu Hilfe genommen, und die Zugeständnisse, die der¬
selbe gemacht hat. Dahin gehört der Reiz, den das Schöne und Neue aus
den Menschen macht, und den Darwin heranzieht um bei der geschlechtlichen
Auswahl den Blick der Individuen gerade auf die schöneren und neuen For¬
men zu lenken. Mit Recht sieht Hartmann hierin nichts Mechanisches, son¬
dern eine Aeußerung des Schönheitstriebes, der das gesammte innere Entwick¬
lungsgesetz durchwebt. Die Schönheit liegt außerhalb der Nützlichkeit im
Kampf ums Dasein, sie ist eine freie Zugabe zur Nothdurft des Lebens von
eigenem idealem Werth, nach ewigem Gesetz an der Offenbarung der Idee in
der Erscheinung gekettet. „Die Schönheit der Natur allein sollte hinreichen,
uns von der in ihr sich offenbarenden Idee unmittelbar zu überzeugen, und
uns für immer vor dem Irrthum zu bewahren, als ob jemals ein todter
Mechanismus die Natur würde erklären können." In gleichem Sinn hat
meine Aesthetik sich ausgesprochen.
Darwin selbst räumt bereits ein. daß der Mensch und jedes Thier Ge¬
bilde darbietet, welche von keinem Nutzen für sie sind. Derartige Gebilde, sagt
er selbst, können weder als Wirkung des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs noch
aus natürlicher Zuchtwahl erklärt werden; die Ursache werden wir in der
innern Natur des Organismus suchen müssen, wenn auch äußere Einflüsse
thätig waren, um sie hervorzurufen. Das ist ja ganz, was wir wollen. Da
nun die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale der Species zu solchen Gebilden
gehören, so sind wir von Darwin selbst auf die innern Triebe und Entwick¬
lungsgesetze hingeführt. Dies Entwicklungsgesetz nun erkennt Darwin gleich¬
falls an. wenn er sich auf das Gesetz der Correlation des Wachsthums und
der sympathischen Veränderungen beruft. Dies besteht darin, daß alle Organe
desselben Organismus innerlich zusammenhängen, im Lebensprocesse solidarisch
verbunden sind, sodaß das Ganze gestört wird, wenn eins zurückbleibt oder
überwuchert; es besteht darin, daß die Gestaltung aller Glieder in systema¬
tischer Wechselwirkung steht bis auf den mikroskopisch anatomischen Bau der
Gewebe. Die Abänderung eines Körpertheils zieht die eines andern nach sich;
wenn eine Species sich umändern soll, so geschieht das nicht durch das Her¬
vortreten eines einzelnen neuen Gebildes oder durch Veränderung eines be¬
stimmten Organs, sondern der ganze Complex muß sich ändern. Allein die
mechanischen Erklärungsprincipien des Darwinismus liefen ja darauf hinaus,
den Typus des Organismus als ein zufälliges äußerliches mosaikartig zu-
sammengewürfeltes Aggregat von Merkmalen aufzufassen, welche einzeln nach
oder neben einander durch Züchtung oder Gewöhnung erworben worden sind.
Er nahm an die Variabilität sei unbestimmt und beruhe auf äußeren Ein¬
flüssen, jetzt bekennt er, daß mit jeder Abänderung noch andre correlativ
verbunden sind, die also nicht zufällig und äußerlich hervorgerufen werden,
sondern innerlich bedingt find. Das Correlationsgesetz aber umfaßt die ganze
Natur, es ist genau dasselbe was man seither die gesetzmäßige Ordnung und
Harmonie des Schöpfungsplanes benannt, und das organische Entwicklungs¬
gesetz ist damit von Darwin selbst anerkannt!
Damit fällt die den Plan und Zweck leugnende mechanische Weltansicht,
und die Erklärungsprincipien Darwin's werden wie bei uns zu mitwirkenden
technischen Behelfer. Daß er diese ins Licht gestellt, ist sein großes Verdienst;
aber „Darwin selbst, der sich anfangs von den Gedanken leiten ließ die or¬
ganischen Typen als Prägstücke zu erklären, die ihr Gepräge ausschließlich von
der Matrize der äußern Umgebung erhalten, mußte mit dem Bekenntniß
enden, daß dieselben nur als Resultate eines inneren Entwicklungsgesetzes
erklärlich seien."
Kant hat mit seinem genialen Blick in der Kritik der Urtheilskraft eigent¬
lich schon vorausgesehen, was die heutige Philosophie aus dem Darwinismus
als Gewinn ihrer Prüfung davonträgt. Auch er sieht in der Natur eine
aufsteigende Entwicklung, auch ihm ist ein Bildungstrieb nothwendig zur Er¬
klärung der organischen Formen, auch für ihn vollzieht sich der Fortschritt
dadurch, daß durch eine Metamorphose des befruchteten Keimes ein von den
Eltern abweichendes neues Individuum sich entfaltet. Und dabei fordert er,
daß die Naturwissenschaft allerwärts die mechanischen Erklärungsversuche so
weit als möglich ausdehne. Wenn nun auch Strauß es an Darwin pries,
daß derselbe gezeigt, wie die zweckmäßigen Gebilde der Natur auf rein mecha¬
nischem Weg hervorgebracht worden, so stellt Hartmann die Alternative: ob
das zweckmäßig Organische ein wesentliches oder zufälliges Ergebniß der mecha¬
nischen Naturgesetze sei. Die Annahme des Zufalls verzichtet auf gesetzmäßig
wirkende Principien; geht aber das Organische aus dem Anorganischen nach
gesetzlicher Nothwendigkeit hervor, nun dann ist eben der Mechanismus der
Natur das Mittel zur Verwirklichung des Lebens und dessen lebendiger Mutter-
schoos. Hartmann fährt fort: „Hcickel geht in der natürlichen Schöpfungs¬
geschichte so weit, den Mechanismus einer Locomotive, dessen Leistungen der
Wilde als unmittelbare Wirkung eines mächtigen Geistes anstaunt, als Beispiel
dafür heranzuziehen, daß es nur darauf ankomme, einen so verwickelten Apparat
wie die Locomotive oder das menschliche Auge ist, in seiner rein mechanischen
Natur zu begreifen um von ideologischen Wahnvorstellungen zurückzukommen.
Aber das Beispiel beweist stritte das Gegentheil; es beweist nehmlich, daß
nur das ein Mechanismus zu heißen verdient, dem die Teleologie in demselben
Sinne immanent ist wie der Locomotive, deren Dasein der Wilde mit Recht
als Beweis einer der seinigen überlegenen Intelligenz ansieht, und deren
staunenswerthe Zweckmäßigkeit sich dadurch um nichts vermindert, wenn man
den vollen Einblick in den Mechanismus als solchen erlangt hat. So bleiben
auch wir im Rechte, wenn wir in dem weit staunenswürdigeren großen
Mechanismus der Natur die Doeumentirung einer der unsrigen weit über¬
legenen Intelligenz bewundern, und unsre Bewunderung wird dadurch nicht
vermindert, sondern erhöht, wenn es uns gelingt mit unserem Verständniß
allmählich mehr und mehr in den Zusammenhang dieses Mechanismus ein¬
zudringen."
Soll ein Plan ausgeführt, ein Gedanke verwirklicht, ein Zweck erreicht
werden, so bedarf man dafür der Mittel, und diese wären unzureichend und
unbrauchbar, wenn sie etwas andres als eine Summe von Kräften wären,
die mit naturgesetzlicher Nothwendigkeit wirken, denn nur so kann man auf
sie rechnen, da sie nie den Dienst versagen können, der ihrer Natur gemäß
ist. Es setzt also. die Teleologie den Mechanismus voraus und beide sind
untrennbar für einander da. So ist es, weil es die Vernunft der Sache so
verlangt. Ohne Aetherwellen und Auge kein Sehen und kein Licht; aber erst
durch die Ltchtempstndung und das Sehen die Brechungsgesetze der Aether¬
wellen und die Construction des Auges als sinnreicher Mechanismus ver¬
ständlich. Hartmann schließt: „das organische Princip ohne anorganische Natur
könnte ebensowenig einen 'zweckvollen Organismus schaffen wie diese ohne
jenes. So erscheint von der einen Seite die Organisation als Wirkung des
Mechanismus der unorganischen Naturgesetze, von der andern Seite dieser
Mechanismus als ein System von Mitteln für die Hervorbringung der
Organisation und ihrer Zweckmäßigkeit; beides ist gleich wahr, und das eine
ist es nur, weil auch das andere es ist." — Auch die Atomkräfte sehen wir
nicht mit Augen und betasten wir nicht mit Händen, sowenig wie die orga-
nisirenden Principien; wir erschließen beide aus ihren Wirkungen. Die orga-
nisirenden Principien setzen den zu organisirenden Stoff voraus; sie combiniren,
ordnen, beeinflussen die Atomkräfte, nicht gegen deren Gesetze, sondern diesen
Gesetzen gemäß, ähnlich wie auch unser Geist die Natur beherrscht, wenn er
die Dampfmaschine construirt und arbeiten läßt. Das Feuer, das Wasser,
das Eisen, die Hebel, die Schrauben haben die Maschine nicht gemacht, aber
ebensowenig that es der Geist ohne sie; kraft ihrer eignen Natur verwirklicht
er seinen Zweck und arbeiten sie für ihn.
Hartmann und Ulrici stimmen darin überein, daß die Philosophie die
gesicherten Ergebnisse der Naturwissenschaft zum Ausgangspunkte ihrer Spe¬
kulation nehmen soll und nichts ihnen Widerstreitendes behaupten darf; aber
den grade im Schwang stehenden Dogmen der Naturforscher soll sie nicht
blindlings folgen, sondern es ist ihre Pflicht sie zu prüfen und zu berichtigen.
Der Materialismus ist ein solches Dogma. Weil er zur Erklärung der
Wirklichkeit nicht ausreicht, lassen wir der Materie und ihrem Mechanismus
sein Recht, und verlangen das gleiche für die idealen Prinzipien, für die
Seele und die sittliche Weltordnung.
Wir haben in einem ersten Artikel (Grenzboten Ur. 10)*) die Einrich¬
tungen unserer öffentlichen Bibliotheken ins Auge gefaßt und zu zeigen gesucht,
daß und wie dieselben reformbedürftig und einer übereinstimmenden Neuge¬
staltung entgegenzuführen seien. Die wesentlichste Vorbedingung der geforderten
Neugestaltung ist nun aber das Bibliothekpersonal. Es möge daher ver¬
gönnt sein, auch von dieser Seite her der Sache näher zu treten.
Es ist eine nicht wegzuleugnende Thatsache, daß es den deutschen Biblio¬
theken im Durchschnitt an einem ausreichenden Stamme tüchtig geschulter
Bibliothekare gebricht, und daß vorzugsweise auf diesen Umstand die meisten
Mißgriffe zurückzuführen sind, welche man in der Einrichtung der Bibliotheken
gemacht hat. Nur selten geschieht es, daß sich Jemand aus Neigung und
innerem Beruf der bibliothekarischen Laufbahn widmet. Man ist gewohnt,
das Bibliothekamt als einen Durchgangspunkt für angehende Docenten oder
als Nothhafen für solche zu betrachten, die nach absolvirtem Universitäts¬
studium in ihrem Berufe Schiffbruch gelitten haben. Besondere Befähigung
wird für den Zutritt zum Bibliothekamt nicht erfordert. Auch fehlt es
meistens an Gelegenheit zu gehöriger praktischer Durchbildung des Bibliothek¬
personals, da die wenigsten Bibliotheken nach der Art ihrer Einrichtung den
in dieser Rücksicht zu stellenden Anforderungen genügen.
Unter solchen Umständen hat man mit Recht die Frage aufgeworfen,
durch welche Mittel die nothwendige technische Vorbildung der Bibliothek¬
beamten zu erzielen, und welche Garantien zu beschaffen seien, daß nur ge-
eignete Personen zu Vibliothekämtern zugelassen werden. Man hat den Vor¬
schlag gemacht, die bibliothekwissenschaftlichen Fächer in den Kreis des aka¬
demischen Unterrichts aufzunehmen und die Anstellung im Bibliothekdienst
an ein besonderes „Examen" zu knüpfen.*) Diese Idee, obwol im Princip
richtig und der Ausführung werth, ist doch, wie die Dinge heute liegen, noch
nicht zeitgemäß; sie ist aber auch für sich allein nicht genügend, den beab¬
sichtigten Zweck zu erreichen. Sie ist nicht zeitgemäß, weil verfrüht, so lange
damit nicht eine entsprechende Verbesserung der materiellen und socialen Stel¬
lung der Bibliothekbeamten Hand in Hand geht. Käme sie schon jetzt, ohne
eine solche Verbesserung, zur Ausführung, so würde dadurch sehr wahrschein¬
lich das Aspirantenthum für das Bibliothekfach auf ein Minimum reducirt
werden. Bei den Aussichten, welche die bibliothekarische Laufbahn zur Zeit
bietet, wäre ein ungewöhnlicher Grad von Neigung erforderlich, sich der Pro¬
zedur eines auf die Bibliothekwisfenschaften berechneten Universitätsunterrichts
mit obligatem Examen zu unterwerfen. Dieser Umstand fällt um so mehr
ins Gewicht, als neben dem bibliothekwissenschaftlichen Studium doch auch
ein bestimmtes Fachstudium nicht vernachlässigt werden dürfte. Denn aller¬
dings sind wir der Meinung, daß mit einer lediglich bibliothektechnischen
Ausbildung des Beamtentums den Bibliotheken nicht gedient ist, daß viel¬
mehr jeder Bibliothekar auch in dem Gebiete einer einzelnen Fachwissenschaft
vollkommen zu Hause sein soll.
Selbst die ausgebreitetste encyklopädische Kenntniß wird den Einzelnen
nicht in den Stand setzen, alle Wissenschaftsgebiete bis ins Kleinste so zu be¬
herrschen, wie die zu erstrebende wissenschaftliche Aufstellung der Bibliotheken
und die Führung der wissenschaftlichen Kataloge es verlangt. Darum ist es
wünschenswerth, daß unter den Bibliothekaren, unbeschadet der nöthigen
Universalität, möglichst viele und verschiedene Fachgelehrte vertreten sind.
Wir stehen nicht an, es als einen mit der „Selbständigkeit" des bibliotheka¬
rischen Berufes unverträglichen Zustand zu bezeichnen, wenn man genöthigt
ist, zu „gelehrten" Hilfsarbeitern aus dem Kreise der Universitätsprofessoren
seine Zuflucht zu nehmen, um diejenigen wissenschaftlichen Kataloge anzulegen
und zu führen, zu deren Bewältigung das Bibliothekpersonal nicht die spe¬
cielle Sachkenntniß besitzt, oder wenn man es für nöthig hält, bei Anlage
eines neuen wissenschaftlichen Katalogs das Superarbitrium des betreffenden
Fachprofessors einzuholen. Hieraus ergiebt sich die Nothwendigkeit, daß bei
der Auswahl der Aspiranten für den Bidliothekdienst keine Facultätswissen-
schaft vor der anderen bevorzugt werde, wie das gewöhnlich zum Vortheil
von Historikern und Philologen der Fall zu sein pflegt. Der Jurist, der
Mediciner und der Theologe ist an einer wissenschaftlich geordneten Bibliothek
so gut am Platze und nicht weniger unentbehrlich, wie der Historiker oder
Philologe.
Wir halten ferner den bibliothekwissenschaftlichen Universitätsunterricht
mit dem sich daran anschließenden Examen allein nicht für ausreichend, weil
dadurch im günstigsten Falle eine blos theoretische Vorbildung gewährleistet
werden würde. Die Frage der praktischen Durchbildung, welche für den
Bibliothekdienst die Hauptsache bleibt, ist damit noch nicht gelöst. Es ist
sehr wohl denkbar, daß man bei aller theoretischen Vorbildung doch nicht die
besonderen Eigenschaften und Fähigkeiten besitzt, welche gerade der Bibliothek¬
dienst fordert, und welche erst bei praktischer Thätigkeit sich bewähren können.
Ist aber einmal mit dem wohlbestandenen Examen der Anspruch auf An¬
stellung verbunden, so giebt es kein Mittel, die ungeeigneten Elemente, welche
sich in der Praxis nicht bewähren, abzustoßen.
Aus diesen Gründen empfiehlt es sich, an ein bereits bestehendes Institut
anzuknüpfen und dasselbe weiter aufzubauen. Wir meinen das Institut der
„Hilfsarbeiter", nicht der gelehrten, von denen oben die Rede gewesen
ist, sondern der technischen Hilfsarbeiter, wie sie an einzelnen Bibliotheken
neben den cratsmäßigen Beamten eingeführt sind. Das Institut der Hilfs¬
arbeiter, welche, auf Kündigung angestellt, sich im praktischen Bibliothekdienst
auszubilden haben, gewährt die Möglichkeit, einerseits die untauglichen Ele¬
mente auszuscheiden, andererseits die tüchtigen Kräfte heranzuziehen; es ist der
Prüfstein für die Befähigung der künftigen Bibliothekbeamten. Man erhebe
es also zum Princip, nur solche Leute im Bibliothekdienst anzustellen, welche
die praktische Borschule als Hilfsarbeiter durchlaufen und mit Erfolg durch¬
laufen haben, und man suche den Zutritt zu den Hilfsarbeiterstellen mit allen
Mittel zu fördern. Dazu gehört vor Allem, daß man die Hilfsarbeiter auf
eine Gehaltsstufe erhebt, welche ihnen schon während ihres Noviziats eine
gesicherte Existenz verleiht, bis sie bei eintretender Vacanz zu fester Anstellung
gelangen können. Das Mindeste, was zu fordern wäre, ist Gleichstellung
mit den sog. „Assistenten" der Universitätsinstitute. Außerdem sind die Hilfs¬
arbeiterstellen auch numerisch so weit zu vermehren, als es mit den Zuständen
der Bibliotheken irgend vereinbar ist. Es bedarf keines Beweises, daß es
mehr schaden als nützen würde, wollte man Hilfsarbeiter an denjenigen
Bibliotheken creiren, deren Einrichtungen nicht die Gewähr für richtige
Schulung bieten. Wohl aber führe man sie an allen großen und gut geord¬
neten Bibliotheken ein und gebe ihnen eine Ausdehnung, daß dadurch auch
das Bedürfniß der übrigen Bibliotheken gedeckt wird. Wie es sich aber um
bessere Dotirung und Vermehrung der Hilfsarbeiterstellen handelt, so wird
es auf der anderen Seite unerläßlich sein, von vornherein für den Zutritt zu
dem Hilfsarbeiterthum besondere Ansprüche zu stellen. Obwohl wir es noch
nicht an der Zeit erachten, den bibliothekwissenschaftlichen Uni-
verfitätsunterricht zur Bedingung zu machen, wird doch der Universi¬
tätsunterricht überhaupt, und daß er gründlich absolvirt sei, ver¬
langt werden müssen. Um hiefür eine Garantie zu gewinnen, wird die Doc-
tor Promotion der sicherste Maßstab sein, die Doctorpromotion, welche
zugleich den künftigen Bibliothekbeamten die höhere Weihe ertheilen würde.
Dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, daß es auf dem bisher erörtere
ten Wege gelingen würde, unseren Bibliotheken einen tüchtigen Nachwuchs
zu sichern und alle unberufenen Elemente fernzuhalten, so bleibt noch übrig,
eine schwer wiegende Frage zu betrachten, welche mehr als alles Andere für
die Personalverhältnisse der Bibliotheken von einschneidenster Wichtigkeit ist.
Es ist die Besetzung der leitenden Stellen im Bibliothekdienst, der Ober--
bibliothekariate oder Directorial-Stellen. Es ist bekannt, daß der Zugang
zu diesem Amte den praktisch geschulten Bibliothekaren oder, wie man sich
auszudrücken beliebt hat, den „reinen Bibliothekmännern" nur ausnahmsweise
offen steht. Namentlich an den Universitäts-Bibliotheken ist es nicht nur
gebräuchlich, sondern auch durch ausdrückliche Bestimmungen festgesetzt, daß
der Oberbibliothekar „in der Regel ein Professor der Universität sein
solle" oder „jedesmal sein müsse."
Die Leser der Grenzboten*) werden sich der literarischen Fehde erinnern,
welche über diesen Gegenstand vor nicht langer Zeit mit Lebhaftigkeit geführt
worden ist und ihren Weg bis in die Tagespresse genommen hat. Während
aus Universitätskreise« das Bestreben hervorgetreten ist, der Verbindung des
Oberbibliothekariats mit der Universitätsprofessur das Wort zu reden, sie mit
allerlei Gründen zu stützen und zu verewigen,**) ist von sachverständiger Seite
die „Selbständigkeit" des bibliothekarischen Berufs betont und die Be¬
setzung auch des Oberbibliothekariats mit Männern von Fach gefordert wor¬
den.***) Es kann für den unbefangenen Beurtheiler keinem Zweifel unterliegen,
welche Stimme in diesem Widerstreit der Meinungen das größere Gewicht für
sich hat. Dort hat man sich berufen geglaubt, ein maßgebendes Urtheil zu
fällen ohne näheren Einblick in das Getriebe einer großen Bibliothek und
ohne genaue Kenntniß der technischen Anforderungen, welche an den Leiter
eines solchen Instituts zu richten sind. Hier sehen wir Fachleute für die
höchsten Interessen ihres Berufes in die Schranken treten. Heutzutage, wo
in allen Berufszweigen nur derjenige die Führung beanspruchen darf, welcher
-auch das technische Material beherrscht, wird Niemand mehr, der nicht vorein¬
genommen ist, die Berechtigung jener veralteten und überlebten Anschauung
begreifen, welche das Heil der Bibliotheken von nicht technischer Leitung ab¬
hängig macht. Soll der Oberbibliothekar „leiten und überwachen", so wird
er auch das „Handwerk" aus dem Grunde verstehen müssen. Es ist ein zum
Glücke nur vereinzeltes Beispiel, aber doch eine schlagende Illustration für die
Thatsache, wohin die Leitung ohne Kenntniß des „Handwerks" führen kann,
wenn der Bericht eines Oberbibliothckars aus dem Jahre 1805 öffentlich der
„erheblichen Verluste" gedenkt, welche die von ihm verwaltete Bibliothek unter
einem seiner Vorgänger, der als gefeierter Universitätslehrer und ehrenwerther
Mann gleich geachtet war, „durch die Gewissenlosigkeit eines ihrer Beamten
erlitten", und wenn „die Summe, welche derselbe unterschlagen (abgesehen
von Büchern, die durch seine Schuld verschwunden seien), aus nahe an 12,000
Thaler geschätzt" wird!
Ein viel gebrauchtes Bibelwort sagt: „Niemand kann zween Herren
dienen". So wird auch der Universitätsprofessor, der „Bibliothekleitung und
Lehrerberuf verbindet", in einer mißlichen Lage sein. Man weiß, daß die
akademische Lehrthätigkeit die volle Kraft eines Mannes in Anspruch nimmt
und in Anspruch nehmen soll. Aber auch die Bibliothekleitung fordert einen
ganzen Mann. Schon, wenn man die Dienststunden in Erwägung zieht,
welche auf der Bibliothek zugebracht und von dem Leiter,der Bibliothek doch
ebenso, wie von seinen Untergebenen, zugebracht werden müssen, wenn anders
er diese „überwachen" will, so zeigt sich, wie wenig Zeit übrig bleibt, um
Vorlesungen zu halten und Vorlesungen auszuarbeiten. Dazu kommt, daß
dem Bibliothekdienst, wie es in der Ordnung ist, die beste Zeit des Tages
zufällt, so daß der „Lehrerberuf" naturgemäß erst in die zweite Linie tritt,
Welchem Universitätslehrer aber ginge seine Lehrthätigkeit, wie das ebenfalls
ganz in der Ordnung ist, nicht über Alles! Es giebt keinen Ausweg aus
diesem Dilemma, es sei denn der, an solche Universitätslehrer zu denken,
welche nur nominell Docenten sind. In Wirklichkeit ist die Wahrnehmung
einer Fachprofessur in ihrem vollen Umfange neben der Bibliothekleitung ebenso
unmöglich, wie sich die Bibliothekleitung als „Neben-" oder „Ehrenamt"
nicht führen läßt. Das Facit ist: der Oberbibliothekar, wie jeder andere
Bibliothekbeamte, darf nicht nur nicht verpflichtet sein, Vorlesungen zu halten,
sondern er muß verpflichtet sein, keine Vorlesungen zu halten, ausgenommen
über Gegenstände aus dem Gebiete der Bibliothekwissenschaft. Die Befürch¬
tung, der „ungetheilte Bibliothekar" als Leiter der Bibliothek würde zu „Ein-
seitigkeiten" bei der Bücheranschaffung mehr, als der Docent, und zu „über¬
mäßiger Begünstigung büreaukratischer Formen" bei Benutzung der Bibliothek
geneigt sein, ist theils Vorurtheil, theils Ueberhebung. Daß es „reine"
Bibliothekare giebt, welche diese Befürchtung zu Schanden machen, beweist
Straßburg, Jena, Würzburg, denen wir auch Dresden und Darmstadt an
die Seite setzen möchten. Und was dort möglich ist, wird auch anderwärts
möglich sein. Es käme auf die Probe an! Wenigstens ist kein Fall bekannt,
daß man da, wo man den Versuch gemacht hat, es bedauert hätte, die
Bibliothekleitung einem geschulten Bibliothekare anvertraut zu haben.
Freilich ist es richtig: der leitende „Bibliothekmann" darf den Universi¬
tätskreisen nicht „fern stehen", er muß mit ihnen Fühlung haben, um
ihre Bedürfnisse zu erkennen und zu befriedigen. Indessen sollte das so
schwer sein, wenn man in ihm einen Gelehrten sieht, den man als seines
Gleichen zu betrachten hat, und der auf seinem Felde dem Docenten eben¬
bürtig ist? Und damit das auch äußerlich zum Ausdruck gelange, wird man
ihm Titel und Rang eines ordentlichen Honorarprofessors nicht versagen
dürfen, der ihrl mit den Fachprofessoren auf eine Stufe stellt. Auch wir
wünschen von Herzen ein „friedliches und nutzbringendes Zusammenwirken"
des Bibliothekars und der Docenten. Nur will uns bedünken, es würde die
Harmonie auf unserem Wege besser gefördert werden, als wenn man die
„Bibliothekmänner" in einen Gegensatz zu dem Docententhum grundsätzlich
hineindrängt, indem man sich bemüht, sie von der Oberleitung auszuschließen
und auf einen subalternen Standpunkt hinabzudrücken.
Ja noch mehr! Wir glauben auch, daß, wenn der Zutritt zum Ober-
bibliothekariat den „Bibliothekmännern" und principmäßig nur solchen eröffnet
würde, diese Aussicht mehr tüchtige Kräfte in den Bibliothekdienst hineinziehen
dürfte, als das bis jetzt zum Schaden der Bibliotheken der Fall gewesen ist.
Und das wäre ein großer Gewinn!
In Summa: die Bibliotheken und speziell die Universitäts-Bibliotheken
sollen der Wissenschaft im Allgemeinen und den Universitäten im Besonderen
dienstbar sein, aber ihre Leitung sei eine unabhängige, selbständige; sie for¬
dern ihre Emancipation, um ihre Aufgabe ganz zu erfüllen.
Der Name „Atlas" als Bezeichnung einer Kartensammlung rührt von
Gerhard Kremer her, welcher unter dem Namen Mercator weltbekannt werden
sollte. Im Jahre 1396 setzte sein Sohn Rumolt, der sich dem väterlichen
Berufe gewidmet hatte, zum ersten Male diese noch vom Vater gewählte Be¬
zeichnung auf das zu Duisburg erschienene Kartenwerk und von dieser Zeit
an ist es allgemeiner Gebrauch geworden, derartige Sammlungen als Atlan¬
ten zu bezeichnen. Weshalb Mercator seinem Werke gerade diesen Titel ge¬
geben hat, ist nicht mit Sicherheit festzustellen. Breusing, der eine vortreffliche
Schrift über den großen deutschen Geographen herausgab, stellt die Vermu¬
thung auf, daß Mercator mit dem Titanen, der in seinem Uebermuthe den
Himmel zu stürmen versucht und dann berufen wurde seine Stütze zu werden,
auf sich selbst und die Geschichte seiner Seelenkämpfe habe hindeuten wollen.
Aber in der Vorrede will er unter dem Atlas den Sohn jenes Titanen, den
König von Mauritanien verstanden wissen, der wegen seiner astronomischen
Kenntnisse berühmt war; und der auf dem Titelblatt abgebildete Atlas ist
in der That nicht der Titane, der den Himmel trägt. Wie dem nun auch
sein mag — das große Geschlecht der über den ganzen Erdboden verbreiteten
Atlanten führt seinen Stammbaum auf Gerhard Kremer und die Stadt Duis¬
burg zurück.
Lange Zeit blieben die Niederländer tonangebend in der Herstellung von
Atlanten; aber in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sehen wir in
Paris durch Nicolas Samson und dessen Söhne das Kartenstechen aufblühen
und da nun der große Reformator der Kartographie, Guillaume Delisle, in
Frankreich auftrat, so geht an dieses Land nunmehr die Führung über, b!s
am Schlüsse des vorigen Jahrhunderts durch die Leistungen Joseph Desbarres',
James Renncl's und Arrowsmiths (1- 1823) der Sitz der darstellenden Kunst
nach England hinüberrückt, einfach deshalb, weil in London durch die eng¬
lischen Seefahrer sich das meiste und beste Material ansammelte. Deutschland
dagegen bot seit dem dreißigjährigen Kriege ein Bild geistiger Verödung.
Nur die Fertigkeit im Kupferstechen war nicht verloren gegangen. Dem 1664
geborenen Kupferstecher Johann Baptist Homann, den Cellarius zum Stiche
seiner Karten nach Leipzig gezogen hatte, der aber mathematisch ausgebildet,
seit 1710 in Nürnberg arbeitete, verdanken wir die Wiederbelebung der dar¬
stellenden Kunst in unserm Vaterlande. Im vorigen Jahrhundert herrschten
die Homann'schen Atlanten und wenngleich sie natürlich auf Wiederholung
fremder Originale angewiesen waren, so wurden sie doch über alle gleichzeiti¬
gen Leistungen erhoben. I^os glÄVvurs t'no^is, schrieb 1735 Lenglet du
Fresnoy, n'ont i^vint oueon! attvint 1^ ä^lieatLsse on 1s sivui' Ilvmann g.
xoi'to la gr^pure. Homann beherrschte im vorigen Jahrhundert den Karten-
markt, wie Riehl in einem hübsch geschriebenen, aber ziemlich inhaltlosen Auf¬
satze über seinen Atlas gezeigt hat, und die Homann'schen Atlanten zu 100
Karten sind jetzt noch so häufig, daß sie bei Antiquaren für ein paar Thaler
leicht zu kaufen sind.
Heute haben die größeren Nationen auch alle ihre hervorragenden Atlan¬
ten — England schwört auf Keith Johnston's „Royal Atlas" — während
kleine Völker ihre Atlanten vielfach im Auslande anfertigen lassen. Deutsch¬
land namentlich liefert solche in magyarischer, spanischer, portugiesischer Sprache,
selbst die Russen lassen bei uns Atlanten zeichnen und stechen, und was in
Rußland selbst gestochen wird, geschieht meist durch deutsche Graveure. Unter
unsern größeren Atlanten ist aber keiner verbreiteter und angesehener als der
Stieler'sche, der allmälig von den alten Ausgaben — welche noch den Plan
von Gotha auf dem Titelblatte tragen — zu einer Art Weltruhm sich em¬
porarbeitete.
„Adolf Stieler's Handatlas über alle Theile der Erde und über das
Weltgebäude" erscheint nunmehr (die Auflage ist nicht gezählt), neu bearbeitet
von August Petermann, Hermann Berghaus und Karl Vogel. Bis jetzt
liegen uns 25 Lieferungen vor, während das ganze Werk deren 30 (zu 1 Mark
L0 Pfennige jede) umfassen wird. Somit kostet der Atlas nach seiner Vollen¬
dung 18 Thaler, kein unbedeutender Preis und trotzdem hat es die neue Auf¬
lage schon auf fast 11,000 Abonnenten gebracht. Das giebt zu denken, es
ist ein Erfolg, wie ihn ähnliche Werke kaum gehabt haben und der einerseits
zeigt, wie das Bedürfniß nach einem solchen Atlas in den weitesten Kreisen
vorhanden ist, andererseits aber auch beweist, wie man es in Gotha verstan¬
den hat, diesem Bedürfnisse richtig entgegen zu kommen und etwas ausge¬
zeichnetes zu liefern.
Ein Werk wie die neue Auflage des Stieler'schen Allasch läßt sich nur
auf Jahrzehnte langen Arbeiten aufbauen und selbst nach langem Umgestal¬
tungsprozesse gewinnt dasselbe nicht ein gleichmäßiges Ansehen. Altes und
Neues ist wohl zu unterscheiden. Stieler, der Begründer, ist seit langem
todt und über ein Jahrzehnt auch Stülpnagel, dessen Name gleichfalls noch
auf mehreren Karten erscheint. Wohl sind deren Karten, soweit es anging,
bis auf die neueste Zeit nachgetragen und verbessert worden, doch in vielen
Fällen, so namentlich beim Terrain, ließen sich Correcturen nicht bewerkstelligen,
oder wenigstens nicht im gewünschten Maße. Spätere Auflagen werden wohl
die gänzliche Ausmerzung der alten Karten bringen und hätte in dieser Be¬
ziehung die Verlagshandlung schon jetzt wohl etwas kräftiger vorgehen dürfen.
Ueberwiegend sind jedoch die neu bearbeiteten Blätter, die Petermann's,
Berghaus' und Vogel's Namen tragen und auf denen Zeichner wie Habenicht,
Hanemann, Friedrichsen u. A, stehen. Mit Recht hat z. B. die «.Blattkarte
der Vereinigten Staaten von Petermann diesseit wie jenseit des Oceans großes
Aufsehen erregt, man stand nicht an von competenter Seite sie in Nord¬
amerika selbst für weitaus die beste und zuverlässigste Karte in ihrer Art zu
erklären — gewiß kein geringes Zugeständnis) von Seiten der Amerikaner,
aber ein Stolz für die deutsche Kartographie. Die Karte — wie alle übrigen
in Kupferstich ausgeführt — ist im Maßstabe von 1:3,700,000 gezeichnet
und giebt, ohne daß der Uebersicht geschadet wird, eine ganz erstaunliche Menge
Material. Daß in den Neuenglandstaaten, wo Ortschaften und Eisenbahnen
sich in großartiger Menge häufen, das Bild noch ein klares blieb, muß als
ein Triumph der Technik bezeichnet werden. Es ist nicht nöthig, besonders
hervorzuheben, wie überall das neueste und beste Material benutzt wurde, wie
im Westen, namentlich in den Felsengebirgen, bereits alle neuen Forschungen
z. B. Professor Hayden's, ausgiebig verwerthet sind. Im Westen sind auch
die wichtigsten Routen der Entdecker eingetragen, ebenso die Indianerreser¬
vationen durch besondere Farbe ausgezeichnet. Auf gleicher Stufe der Aus¬
führung stehen die Karten von Nußland, jene von Frankreich und Spanien
(von Vogel), die gegenwärtig von besonderen Interesse sind. Als ein jeden
Geographen erfreuendes Meisterwerk ist noch besonders die Petermann'sche Karte
von Nord- und Mittelasien hervorzuheben, die zugleich als Uebersicht des ge-
sammten russischen Reiches dient. Sie ist völlig neu und wie aus einem
Gusse nach neuem Material bearbeitet; war doch gerade hier in der letzten
Zeit, Dank den russischen Forschern und Kriegern, immenses geleistet worden.
Alle neuen Errungenschaften in Centralasien und der Mongolei, die Resultate
des Feldzugs nach Chiwa, der Reisen Prschewalski's, Fedtschenko's, die Arbeiten
der Engländer über Ostturkestan u. f. w. sind auf diesem Musterblatt benutzt
worden. Südamerika dagegen, das in einem veralteten Blatte jetzt vertreten
ist, verdient sicher eine Neubearbeitung in ähnlicher Weise, wozu der Anfang
in der schönen Petermann'schen Karte der argentinischen Conföderation (Er¬
gänzungsheft Ur. 39) gemacht ist. Weshalb aber die alte Stieler'sche Nord¬
polarkarte beibehalten ist, begreifen wir am wenigsten in einem Werke, das
Petermann's Namen trägt. Oder sollten uns die Schlußlieferungen nach dieser
Richtung hin noch anderweitigen Ersatz bringen?
Der größte Vortheil des Stieler'schen Allasch ist neben einem gut ge¬
wählten Formate das schnelle Erscheinen der Auflagen hintereinander. Die
vorletzte, von 84 Karten, ward '1870 vollendet und jetzt, nur fünf Jahre
später, liegt diese neue Auflage vor. Bei so schnellem Erscheinen konnte auch
das Veralten vermieden werden, dem sonst manche Atlanten gerade in unserer
Zeit verfallen. Was ist nicht alles gerade in den letzten fünf Jahren geleistet
worden! Ein Blick auf die zu jener Zeit erschienenen Karten gegenüber den
heute publicirten zeigt ein völlig verändertes Bild von Innerasien und Jnner-
afrika, wesentlich Umgestaltungen in Australien und in der Nordpolarregion.
Neben den bereits erwähnten guten Eigenschaften des Stieler'schen Atlas ist
eben die Frische, die Schlagfertigkeit desselben, seine Ergänzung bis auf die
Gegenwart sein größter Vorzug und so wird der Geograph, der Schulmann,
der Politiker, Zeitungsleser und Staatsmann ihn nicht entbehren können.
In Verbindung mit den Perthes'schen Kartenwerken stehen zwei periodische
Unternehmungen, welche so recht eigentlich als fortlaufende Ergänzungen der
Atlanten gelten können. Das erste sind die „Geographischen Mit¬
theilungen" von August Petermann, über die wir hier kein Wort
zu verlieren brauchen — sind sie doch nun seit zwanzig Jahren eine der her-
vorragendsten periodischen Zeitschriften im Gebiete der Geographie, anerkannt
nicht nur in Deutschland, sondern bei allen Culturvölkern. Ihr Vorzug vor
allen ähnlichen Journalen sind die vortrefflichen Karten.
Das zweite Unternehmen ist E. Behm's „Geographisches Jahr¬
buch", welches seit 1866 unter Mitwirkung hervorragender Fachmänner er¬
scheint. Als der verdienstvolle Mitredacteur der „geographischen Mittheilungen"
zum ersten Male sein Jahrbuch in die Welt schickte, existirte in Deutschland
nichts ähnliches, während die Franzosen Violen Se. Martin's vortreffliches
Annuaire hatten, welches indessen weit einseitiger ist. Behm hatte sich zwei
Aufgaben gestellt, er wollte einmal geographische Zahlennachweise liefern,
also das am raschesten wechselnde Element in der Erdkunde alljährlich neu
bringen. Angaben über den Flächeninhalt, die Bevölkerung, über Höhen,
Tiefen ze. sind in ewigem Flusse und das beste Handbuch erscheint in dieser
Beziehung bei seinem Erscheinen schon veraltet. Die zweite Aufgabe bestand
in der Darstellung der Fortschritte der Erdkunde in ihren verschiedenen Dis¬
ciplinen. Die physikalische Geographie, wie Ethnographie und die Geschichte
der Reisen wurden genau verzeichnet.
Aus dem Jahrbuch ist nun allerdings ein Zweijahrbuch geworden, ohne
daß wir darüber klagen könnten, aber schmerzlich vermissen wir das Wegfallen
der Zahlennachweise gerade an dieser Stelle seit dem vierten Bande. Freilich
ist dafür Ersatz geleistet in den von Wagner und Behm herausgegebenen
„Ergänzungsheften", welche den Titel führen „die Bevölkerung der Erde" —
aber schon das unbequeme Format derselben, die Trennung dieses Theiles
von demjenigen, der die Fortschritte der Erdkunde behandelt und der leicht
und bequem zur Hand steht, läßt uns dieses Vorgehen bedauern. Man muß
jetzt zwei Werke zur Hand nehmen, wo früher eines genügte. Das Ver¬
sprechen alljährlich den Bevölkerungsstatistischen Theil zu bringen, damit"
die Zahlen frischer sind, ist nicht gelöst, denn seit 1872 haben wir erst zwei
Hefte (statt 3 — 4).
Der vorliegende fünfte Band (1874) reiht sich, um eine bekannte, aber
hier durchaus zutreffende Redewendung zu gebrauchen, seinen Vorgängern
würdig an. Einige alte Mitarbeiter sind ausgeschieden, neue hinzugetreten.
Spörer, der die anregenden Beiträge zur historischen Erdkunde lieferte, weilt
leider nicht mehr unter den Lebenden; statt des Veteranen General Baeyer
giebt diesmal uns der Director der Leipziger Sternwarte, Professor Bruhns,
den Bericht über die Fortschritte der europäischen Gradmessung, statt Fabricius
in Darmstadt behandelt Nessmann, Vorstand des statistischen Bureaus in
Hamburg, die Bevölkerungsstatistik. Hann, der thätige Wiener Meteorolog,
berichtet über die geographische Meteorologie und Ludwig Schmarda über Thier¬
geographie. Seine Abhandlungen arten indessen mehr und mehr in Literatur-
berichte, trockne Aufzählungen aus. Mustergiltig in der Behandlung, wahre
Perlen sind dagegen jedesmal Prof. Grisebach's Aufsätze über den Fort¬
schritt der Pflanzengeographie — er stellt die Botanik wirklich in die Erd¬
kunde hinein, behandelt sie im Zusammenhang mit derselben und ist ferne
davon in bloße Nomenclatur zu verfallen.
Die "umfangreichste Arbeit liefert der bienenfleißige Herausgeber. Seine
Zusammenstellung der hervorragenden Reisen 1872 und 1873 zeugt wiederum
von einer gewaltigen Stoffbeherrschung, von richtiger Auswahl des Wesent¬
lichen, so daß wir nirgends im Stiche gelassen werden und an der Hand der
genauen Literaturnachweisungen überall tiefer noch einzudringen vermögen.
Einverleibt ist diesmal dem Behm'schen Bericht eine Darlegung der „Lehre
von einer säkularen Umsetzung der Meere und Verschiebung der Wärmezonen"
von H. Schmick, eine Darlegung, die unterdessen von competentester Seite
ihre Widerlegung bereits gefunden hat. Freudig begrüßen wir eine zusam¬
menfassende Arbeit aus Koner's Feder, welche die deutsche Expedition zur Er¬
forschung Jnnerafrikas bespricht. Der anthropologisch-ethnographische Theil
ist durch Seligmann und Müller in Wien vertreten; daß aber die anerken-
nenswerther Aufsätze beider gerade dem Zwecke des Jahrbuchs entsprechen:
die Fortschritte auf den betreffenden Gebieten in ihrem ganzen Umfange zu
registriren, können wir nicht behaupten. Endlich erfreut Prof. F. X. Neu¬
mann durch lichtvoll gruppirte Uebersicht über Production, Welthandel und
Verkehrsmittel. In Summa: Behm's Zweijahrbuch ist für den Fachmann ein
unentbehrliches Nachschlagebuch geworden; es enthält aber auch bei seiner Viel¬
seitigkeit Stoff für die verschiedenartigsten wissenschaftlichen Kreise. Es erfüllt
durchaus seinen Zweck und ist ein immer sehnlich erwarteter, beim Erscheinen
freudig begrüßter treuer Genosse auf unserm Studirtische.
In größerem Formate als die Perthes'schen Kartenwerke ist Dr. Hein-
rieb Kiepert's „Neuer Handatlas über alle Theile der Erde" angelegt. Er
besteht aus 42 vortrefflich gestochenen Karten und wurde 1873 in zweiter
vollständig berichtigter und vermehrter Auflage herausgegeben, während die
erste im Jahre 1860 erschien und von Seiten der Sachkenner mit hoher Ge¬
nugthuung begrüßt wurde. Der Name Kiepert's ist seit nun fast einem Men¬
schenalter mit der deutschen wissenschaftlichen Kartographie eng verknüpft und
genießt einer so wohlverdienten Anerkennung, daß es kaum nöthig erscheint,
zu dem allgemeinen Lobe noch etwas hinzuzufügen. Zwar erscheinen manche
der älteren Karten in Folge des lithographischen Umdruckes, namentlich im
Terrain, hier und da etwas gequetscht und breit, aber im Ganzen erfreut die
Darstellung durch lichtvolle Klarheit. Der große Maßstab der meisten er¬
laubte die Anbringung zahlreicher Details und so empfiehlt sich in dieser
Hinsicht der Atlas dem Zeitungsleser ganz besonders.
Kiepert's ausgebreitete Kenntnisse auf linguistischen und ethnographischen
Gebiete spiegeln sich auch deutlich in seinem Atlas wieder. Es giebt keinen
zweiten, bei dem die Consequenz in der Rechtschreibung der Eigennamen so
penibel durchgeführt wäre, wie in diesem Werke. Mag man auch in Einzel¬
heiten anderer Ansicht sein — das Ganze befriedigt ungemein und verdient
hohe Anerkennung. Kiepert giebt die Namen in der landesüblichen Weise
und bemerkt die deutsche Form dabei gewöhnlich im Kleinen. So finden wir
Warszawa und nicht Warschau, Moskwa und nicht Moskau. Er schreibt
Kalisz und nicht Kalisch, indem er bei den mit lateinischer Schrift schreiben¬
den Völkern deren Orthographie beibehält. Für den uns Deutschen fehlenden
weichen sah-Laut der Slaven setzt er öd, ein Verfahren, das mit dem eng¬
lischen Lu zu Verwechslungen führen kann. Adolf Eurem hatte für diesen
Laut ein cursives/eingeführt, entsprechend dem französischen s in Mr, Meiln.
Indessen beide Verfahrungsweisen helfen nicht über die Schwierigkeit hinweg,
sind einseitig und willkürlich. Wir können, wollen wir hier richtig verfahren,
nur das polnische und tschechische S für diesen Laut gebrauchen, wie er auch
von Lepsius in seinem Standard-Alphabet angenommen wurde. Kiepert's
ausgebreitete Sprachkenntniß documentirt sich allenthalben, wie er denn für
das Kasvische Meer russische, türkische und persische Formen anführt und im
Orient allenthalben die richtigen arabischen Namen den mehr gebräuchlichen
Urformen beifügt. Daß er in manchen Dingen isolirt steht darf nicht geläugnet
werden. So hat er gewiß ursprünglich recht, wenn er Nigir für den großen
afrikanischen Strom schreibt, um eine Verwechslung mit dem lateinischen
Niger vorzubeugen. Aber bei der allgemeinen Anerkennung, welche letztere
Form gefunden, und wobei man wohl kaum an „schwarz" denkt, wird Kiepert
hier vereinzelt stehen bleiben, ebenso wie mit seinem ursprünglich auch richtigen
Ungern gegenüber der amtlichen und allgemein üblichen Form Ungarn. Wir
freuen uns dagegen, wenn er es zu einem eöwrum cvnseo macht, daß Was-
genwald statt des nichtswürdigen, noch gar nicht so lange eingebürgerten
halbfranzösischen Sprachungeheuers Vogesen geschrieben werden solle.
Kiepert, der namentlich die Türkei, Kleinasien, Syrien zu seinem Spezial-
studtum gemacht hat, ercellirt namentlich in den auf diese Länder bezüglichen
Karten und diese werden denn auch von keinen in andern Kartenwerken in
Bezug auf Originalität und Genauigkeit übertroffen.
Einer weiten Verbreitung erfreut sich der dritte deutsche Atlas, den wir
hier anzuzeigen haben. Es ist dies: Sohr-Berghaus, Handatlas
der neueren Erdbeschreibung über alle Theile der Erde in
100 Blättern. Ausgeführt unter Leitung von F. Handtke. Sechste Auflage
(Glogau — Flemming.) Auch dieser umfangreiche Atlas ist noch im Erscheinen
begriffen, wird bald vollendet sein und fertig etwa 9 Thaler kosten. Somit
zeichnet er sich durch Billigkeit aus. Entstanden aus dem alten Sohr'schen
Atlas, der nur hier und da noch durchblickt, hat er unter Handtke's Leitung
ein neues Gewand angenommen. Er ist in Lithographie ausgeführt und im
Format den Stieler'schen Karten ähnlich. Ein Blick auf das Jnhaltsverzeich-
niß zeigt sofort, wo die Stärke dieses Allasch zu suchen ist. Nicht weniger
als 68 Karten von 100 entfallen nämlich auf Europa und von diesen 68
wiederum 22 auf das deutsche Reich und 11 aus Oesterreich-Ungarn. Mittel¬
europa, die uns zunächst liegenden Länder sind also ganz besonders cultivirt,
wohl ein Einfluß der großen Neymann'schen Karte, welche in demselben Ver¬
lage erschienen ist, ein Werk ohne Gleichen, da von Seiten eines Privatinsti¬
tuts etwas ähnliches bisher nicht geleistet wurde. Wem es also vorzugs¬
weise um einen Atlas zu thun ist, der unser Vaterland und die benachbarten
Länder am ausführlichsten behandelt, dem sei Sohr-Berghaus empfohlen, er
wird beim Befragen desselben stets die gewünschte Antwort in correcter Weise
empfangen. Wollen wir, um eine Ausstellung zu machen, den Pflichten
des Kritikers genügen, so betrifft diese die Schreibart der slavischen Namen
in Oesterreich, zumal in Mähren, Böhmen, welche keineswegs consequent
durchgeführt ist, oft mit einer Schreibart wechselt, welche der deutschen
Aussprache angepaßt ist, oder ältere und neuere slavische Orthographie vermischt.
Wir verzichten gerne, den mannigfachen Vorzügen des Allasch gegenüber, unter
denen namentlich seine Billigkeit voransteht, auf weitere Kritik und bemerken,
daß von den 25 auf die außereuropäischen Erdtheile bezüglichen Karten bisher
10 erschienen sind. Afrika erhält 4 Blatt, Asien 8, die Vereinigten Staaten
sollen in 4 Blatt, Südamerika in 2 Blatt behandelt werden.
Die Sitzungen des Abgeordnetenhauses haben während der vergangenen
Woche, mit Ausnahme einer einzigen, sämmtlich wiederum der Berathung des
Staatshaushaltes gegolten. Daß bei dieser Berathung von allen Seiten alle
möglichen Dinge zur Sprache gebracht, ein wenig hin und her gezerrt und
schließlich nicht geändert werden, das giebt zu immer häufigeren und wohlbe¬
gründeten Klagen über diese Art der Geschäftsbehandlung Anlaß. In der
That, was soll man dazu sagen, wenn ein Abgeordneter bei Gelegenheit der
Eisenbahnausgaben Anlaß nimmt, über Perronpolizei, über die Zulassung des
nichtreisenden Publicums auf den Bahnhöfen und dergleichen einen Haufen
Wünsche auszuschütten. Solche ganz und gar technische, untergeordnete, lo¬
kale Fragen zu entscheiden, kann unmöglich.Sache des Landtags sein. Will
aber der Landtag dergleichen in die Hand nehmen, so darf es nur in Form
besonderer Anträge geschehen. Bei der Haushaltsberathung solche Sachen zur
Sprache zubringen, ist ein völliger Mißbrauch. Ob es gegen diesen Mi߬
brauch einer formellen Abhülfe auf dem Wege der Geschäftsordnung bedürfen
oder ob es gelingen wird, die gute parlamentarische Sitte soweit herauszubil¬
den, um nöthigenfalls mit Unterstützung des Präsidenten dem Mißbrauch zu
steuern, läßt sich einstweilen noch nicht sagen. Sicher ist nur dieses Beides,
daß der Mißbrauch bei der diesmaligen Haushaltsberathung wieder üppig
gewundert hat und daß das Mißvergnügen darüber in Regierungs- wie in
Abgeordnetenkreisen sehr groß ist. Wir sollten meinen, die Abhülfe könne am
besten geschafft werden durch eine Verabredung der Fractionsvorstände unter¬
einander und mit dem Präsidium. Wir meinen also, dem Haushalt gegen¬
über sollte nicht nur die Antragsfreiheit durch die erforderliche Uebereinstim¬
mung mit den Fractionsgenossen beschränkt werden, wie es ja glücklicherweise
schon der Fall ist, sondern auch die Redefreiheit. Mögen die Herrn Kritiker
ihr Licht zunächst in den Fractionen leuchten lassen, in der Plenarberathung
aber schweigen, sofern sie nicht von ihrer Fraction zur Stellung von Anträgen
oder Interpellationen bevollmächtigt worden. Wem diese Beschränkung der
Redefreiheit unzulässig scheint, der möge erwägen, ob nicht Gefahr vorhanden,
daß die Redefreiheit an der Redefreiheit zu Grunde geht.
Die einzige Sitzung dieser Woche, welche nicht dem Haushalt gewidmet
war, beschäftigte sich mit einer Variation des Themas der großen kirchlichen
Frage. Der Abgeordnete Petri, ein Mitglied der Altkatholischen Glaubens¬
genossenschaft, hatte einen Gesetzentwurf eingebracht zur Gebrauchstheilung des
Vermögens der katholischen Kirchengemeinden zwischen Alt- und Neukatholiken,
wo erstere in beträchtlicher Zahl vorhanden, nach dem Zahlenverhältniß der
selbstständigen Gemeindeglieder beider Kirchenparteien. Der Antrag gab An¬
laß zu einer der besten Verhandlungen über das schon so oft verhandelte
Thema, deren Ergebniß die Verweisung des Antrags an die Commission zur
Vorberathung des Gesetzes über die Vermögensverwaltung der katholischen
Kirchengemeinden war. Die Verhandlung, der wir soeben ein verdientes Lob
gespendet, hat dieses dadurch verdient, daß die meisten Redner von der ge¬
nommenen Stellung aus sehr gut argumentirten. Sie hat unseres Erachtens
nichts destoweniger den Kern der Sache verfehlt.
Der altkatholischen Bewegung gegenüber hat bisher die Regierung und
der Landtag in Preußen den Standpunkt einzunehmen versucht, auf welchem
gesagt wird: dies ist ein Streit innerhalb der katholischen Kirche, über den
der Staat nicht befinden kann, er behandelt deshalb die streitenden Theile
so als ob jeder den gleichen Anspruch hätte.
Wir halten es aber an der» Zeit, mit der Meinung nicht länger zurück¬
zuhalten, daß an diesem Standpunkt nichts ist. Er läßt sich dialektisch eine
Weile, aber nur zum Schein festhalten; er läßt sich desgleichen in der Praxis
eine Weile, so lange nämlich, als das Schisma auf kleine Dimensionen
beschränkt bleibt, festhalten. Die wahre Ansicht des Gegenstandes ist aber
folgende. Wenn der Staat einer Kirchengemeinschaft große, weitreichende
Privilegien verleiht, so muß der Staat sich von vorn herein in den Stand
setzen, und wenn er dies fehlerhafter Weise versäumt haben sollte, so muß
er sich die Mittel nachträglich verschaffen, zu erkennen, ob das Subject, dem er
große Rechte verliehen, sieh gleich geblieben oder nicht. Wenn der Staat dazu
nicht im Stande sein sollte, so könnte er eines Tages wer weiß durch welche
Macht oder Kraft verpflichtet gehalten werden, im Besitz von ihm verliehener,
aber nunmehr gegen ihn gerichteter Rechte zu schützen. In Wahrheit kann
der Staat den Gegensatz zwischen Alt- und Neu-Katholiken allenfalls igno-
riren, solange derselbe sich als eine vorübergehende Irrung betrachten läßt.
Wenn dies aber nicht mehr möglich, dann muß der Staat allerdings die
Rechtsfrage untersuchen. Eine Rechtsfrage ist aber noch keine Dogmensrage.
Es handelt sich vielmehr um die Rechtsbeständigkeit des vatikanischen Conzils
sowohl in Bezug auf Befugniß als auf Verfahren. Damit ist der Streit
zwischen Alt- und Neukatholiken nicht entschieden, daß die ersten sagen: wir
sind die Alten, die Andern sind die Neueren. Es fragt sich vielmehr, ob die
Neuerung rechtsbeständig gewesen. Und allerdings ist der Staat nicht nur
berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, sich Gewißheit zu verschaffen, ob die
Veränderung eines von ihm ausgestatteten Rechtssubjectes nach dem Recht
und nach der Ordnung erfolgt ist. in welcher er bei der Ausstattung die
Bürgschaft seines Vertrauens gesehen hat. Die Ansprüche der Altkatholiken
auf einen bestimmten Antheil an den Privilegien und an dem Vermögen der
römisch-katholischen Kirche Deutschlands sind nur zu begründen durch den
Beweis der Unrechtmäßigkeit des Vaticanums.
Glücklicherweise sind wir seit der Encyclika vom 3. Februar über dieses
Stadium der römisch-deutschen Frage hinaus gekommen, ehe es noch actuell
geworden. Die römische Kirche hat zunächst in Preußen den Staat gezwungen,
ihre Rechte für verwirkt zu erklären, nachdem sie den Staat direct in seiner
Existenz bedroht und ihm die Hoheit auf seinem eignen Gebiete abgesprochen
hat. Zwar sind, um genau zu sprechen, die Rechte der römischen Kirche bis
jetzt nur suspendirt, noch nicht für verwirkt erklärt worden; aber die völlige
definitive Rücknahme der an die römische Kirche vom Staat ertheilten Rechte
wird und muß unausbleiblich erfolgen. Dann steht der Staat einer neuen
Neligionsgenossenschaft gegenüber, die sich Altkatholiken nennt und welche er
nach Erwägungen der Zweckmäßigkeit mit Rechten ausstatten mag. Die
Genossen der römischen Kirche aber werden einer kirchlichen Organisation und
Nechtsausstattung nur unter ganz veränderten Bedingungen wieder theilhaftig
werden können, verändert am meisten im Bezug auf die permanente Stellung
des Staats'zu den kirchlichen Obrigkeiten.
Unter diesen Umständen, deren Darlegung einen Widerspruch wohl nicht
zuläßt, dünkt uns der Antrag Petri e-ntweder zu spät gekommen oder auch
zu früh. Eine neue Religionsgesellschaft wollen die Altkatholiken bis jetzt
nicht sein. Als solche kann also die Staatsgesetzgebung sie jetzt noch nicht
definitiv ausstatten. Höchstens kann der Staat den Altkatholiken aus der
einbehaltenen Kirchendotation und aus dem bald zu sequestrirenden Kirchen-
vermögen einen angemessenen Theil zu interimistischen Gebrauch überweisen.
Erst wenn es dahin gekommen, daß die vaticanische Kirche auf dem Boden
des. deutschen Staates für unduldbar erklärt ist, werden die Altkatholiken sich
als neue Religionsgesellschaft zu constituiren und andererseits die bis jetzt
noch vaticanischen Katholiken dasselbe zu thun haben, wenn letztere nicht
etwa vorziehen, als religiös vereinzelte Personen zu leben. Ob die dereinstige
Constitution der römischen Kirche in Deutschland vom Papstthum gutgeheißen,
oder stillschweigend geduldet, oder offiziell verdammt wird, ob sie überhaupt
je zu Stande kommt, das sind Fragen, deren Lösung zwar der Zukunft
überlassen bleibt, die aber nichtsdestoweniger gestellt werden müssen. Denn
es ist nöthig zu wissen, daß bei dem Streit mit Rom der deutsche Staat
nicht einem unbekannten Land entgegen steuert, sondern einem Gebiet
begrenzter Möglichkeiten, bei deren jeder er die Bedingungen seiner Existenz,
seiner Ehre und Hoheit, an welche die Existenz geknüpft ist, erfüllt findet.
Treten wir einmal in das Innere des bayrischen Landtagsgebäudes ein.
Durch das Hauptthor gelangen wir in einen nicht allzugroßen Hof, in dem
ein reich galonnirter Portier — die blauweihe Livree spielt noch eine Rolle
im Haus in der Prcmnergasse — vor der Thür zur Aufgangstreppe steht,
der mit seinem Stock jedesmal, wenn ein Abgeordneter hinansteigt, auf eine
Art Schalldret stoßt, so daß männiglich weiß, daß kein gewöhnlich Men¬
schenkind in diesem vielleicht nicht allzu eleganten Ueberzieher und unter
diesem etwas abgegriffenem Cylinder steckt. Oben theilen sich die Bogen, rechts
gelangt man in die der rechten Seite des Hauses vorliegenden Zimmer, durch
welche gewöhnlich auch die Minister eintreten, links geht man durch den
Entresol und das Büffet- und Lesezimmer zu den Sitzen der Linken. Man
sieht also die schroffe Scheidung, welche den dermaligen Landtag durchschneidet,
gleich äußerlich ausgeprägt. Sogar die Ueberzieher hängen klerikal und
liberal geschieden. Im Jahr 1870, als man sich noch feindseliger gegenüber¬
stand, war die gegenseitige Unnahbarkeit der beiden Parteien so arg. daß
man sich sogar im Lesezimmer mied, daß, fiel's einem von der Linken,ein,
ein Zeitungsblatt aus der Hand eines Schwarzen zu nehmen, man sofort in
den Verdacht der Felonie gerathen konnte. Das ist viel besser geworden.
Der innere Zwiespalt ist vielleicht noch verstärkt, aber einen mocius vivxmcli
hat man doch gefunden und der ist doch bei Leuten nöthig, die sich tagtäglich
im engsten Raume nun schon fünf Jahre lang begegnen. Schleifen sich die
härtesten Kiesel an der Brandung ab, warum sollte nicht Herr Volk auch
einmal einen friedlichen guten Morgen seinem streitbaren Widerpart Herrn
Jörg entgegenbringen dürfen?
Es ist 10 Uhr, die Glocke ertönt, die Abgeordneten betreten den Saal.
Dieser bildet ein ziemlich großes Rechteck, dessen eine Schmalseite eine Nische
hat, in welcher das Bild des Königs Max Joseph I., des Gebers der Ver¬
fassung, hängt; vor derselben befindet sich das Bureau, etwas niedriger ge¬
stellt, vor diesem direkt die Rednerbühne. Doch wird diese gewöhnlich nur
von den Referenten bestiegen, die meisten Redner sprechen vom Platze. Rechts
des Präsidentenstuhles ist der grüne Tisch der Minister, fast zu klein für die
Excellenzen, wenn sie vollzählig erscheinen. Die Sitze der Abgeordneten erhe¬
ben sich staffelförmig zu beiden Seiten des Saales, sehr einfache grün über¬
zogene Bänke, vor denen bewegliche Pulte angebracht sind. In der Mitte
des Raumes stehen noch ein halb Dutzend kleinere Tischchen für diejenigen
Herren, welche weder zur Rechten noch zur Linken einen Platz gefunden haben.
Man könnte für den ersten Augenblick meinen, dieselben bildeten ein Centrum,
eine Mittelpartei, aber in der gegenwärtigen Kammer giebt es bekanntlich
keine solche; man kennt nur das alte Feldgeschrei: „hier Wels, hier Wald-
ungen!" Im Gegentheil: hinter jenen Tischchen haben sehr entschiedene Mit¬
glieder der Fortschrittspartei Platz genommen, da sitzt z. B. der Abgeordnete
für Nürnberg, der diese Stadt auch im Reichstage vertritt, der Advokat
Frankenburger, ein kleines, lebhaftes bewegliches Männchen, im gesellschaft¬
lichen Umgange einer der liebenswürdigsten Menschen, aber in der Kammer
einer der klarsten, schneidigsten Redner, der, ohne allzu schroff zu sein, seinem
Nachbar zur Linken schon manche schlimme Wunde beigebracht hat. Neben
ihm steht eine wahre Riesengestalt, der Staatsanwalt Wülfert, wohl der
schönste Mann des Hauses, der sich seine juristischen Lorbeeren im Chorinsky-
prozeß geholt und auch hier zu den gewandtesten Sprechern zählt, obwohl er
manchmal ein wenig gar zu trocken, gar zu staatsanwaltschaftlich spricht.
Auch Professor Marquardsen von Erlangen hat an einem dieser Tischchen
seinen Platz, obwohl man ihn selten dort sieht, denn er gehört zu den „Be¬
weglichen" der Kammer, die bald da, bald dort sind, hier mit dem Minister-
tisch, dort mit einem Abgeordneten zu conferiren haben, selten mit einer
längeren Rede, aber desto öfter mit einer kurzen Bemerkung in die Debatte
eingreifen oder ihr zur Hülfe kommen und so auch äußerlich ihre prononcirte
Stellung unter den Mitgliedern ihrer Partei bekunden. Herr Marquardsen
ist dermalen, seit Marquard Barth seinen Sitz in der bairischen Kammer mit
dem Fauteuil im Neichshandclsgericht vertauscht hat, der Führer der Liberalen
der Präsident ihres Klubbs, der Vermittler auch, wo einmal gegenseitige
Fühlung stattfinden muß, mit der rechten Seite des Hauses, welche in ähn¬
licher Weise von dem Advocaten Freytag vertreten wird.
Früher waren alle diese Würden auf dem Haupte des Freiherrn Schenk von
Stauffenberg vereint. Seitdem dieser aber den Präsidentenstuhl bestiegen, muß
natürlich von ihm noch mehr als vom „Dichter" das auf letztern gemünzte
Freiligrath'sche Wort gelten
„er steht auf einer höhern Warte,
als auf den Zinnen der Partei,"
d. h. er konnte nicht mehr Vorstand und Leiter der liberalen Fraktion sein
und diese hat vielleicht eines der schwersten Opfer gebracht, die man ihr nur
ansinnen konnte, indem sie diese eminente organisatorische und zusammenhal¬
tende Kraft sich dem engern Kreis entziehen ließ. Aber das Ganze tauschte
mit ihr zu viel des Guten und Förderlichen ein, als daß nicht alles hätte auf¬
geboten werden sollen, sie an die Stelle zu bringen, an welcher sie nun wirkt
und so trefflich schon sich bewährt hat. Die parlamentarische Geschichte der
deutschen Staaten wird wohl nur wenige Männer aufweisen, die sich gleich
vom ersten Augenblick an mit solchem Glück und Erfolg, weil mit so seltener
Befähigung für alles, was dazu gehört, im öffentlichen Leben zurecht gefun¬
den haben. Wenn es nicht trivial lautete, könnte man sagen: Stauffenberg
sprang gleich mit beiden Füßen in die Kammer hinein. Alles war bei dem
Manne gleich aus Einem Guß: die Schärfe des Denkens, die Logik und der
Glanz der Rede und vor allem die eminente Arbeitskraft. Ganz Kavalier in
seiner äußern Erscheinung, ist er doch der Volksmann, wie er sein soll, freund¬
lich, zugänglich für jedermann, gefeiert und geliebt von seinen Parteifreunden,
geachtet auch von den erbittertsten politischen Gegnern. Was Stauffenberg
als Referent über die Reorganisation des bairischen Heerwesens und dadurch
implicite zu den Erfolgen der deutschen Armee im Kriege gegen Frankreich
beigetragen hat, wird ihm sein engeres und weiteres Vaterland nie vergessen.
So lange der dermalige Präsident der Kammer nur noch ein einfaches Mit¬
glied derselben war, war es interessant, ihn — er hatte seinen Platz auch an
jenen oben genannten Mitteltischchen — zu beobachten. Gewöhnlich war er
von einem Haufen von Büchern, Broschüren, Zeitungen u. dergl. umschanzt.
Sein Wissenstrieb, sein rastloses Streben, alles sich anzueignen, ließ ihm auch
mitten in den Verhandlungen keine Ruhe, er hatte nicht nur „parlamenta¬
risches" Druckwerk um sich, sondern auch historische, philosophische, selbst belle¬
tristische Bücher, französische, englische, deutsche, man glaubte ihn ganz in
die Lektüre versunken, an der vielleicht weniger anregend sich hinschleppenden
Debatte nicht Antheil nehmend, da auf einmal verlangte er das Wort, und
siehe, er hatte alles verfolgt, aus das Einzelnste Acht gehabt, keine Einrede,
kein Moment war ihm entgangen, er war wieder, wie immer, der erschö¬
pfendste aller Redner. Stauffenberg ist aber auch der schnellste aller
Redner, die Stenographen hatten immer einigen Schrecken vor ihm. Seitdem
er Präsident ist, hat er sich nur selten in die Debatte gemischt, dafür aber
hat er ihre Leitung in so fester sicherer Hand, daß es eine wahre Freude
ist, einer Sitzung anzuwohnen, während das unter dem ersten Präsidenten
der dermaligen Kammer, dem damaligen Ministerialrath Weiß, dem Schooß-
kind der klerikal-patriotischen Partei, manchmal ins Gegentheil umschlug.
Man erinnert sich vielleicht noch, wie, als der im Frühjahr 1869 gewählte
Landtag im September jenes Jahres zusammentrat, das Stimmenverhältniß
der beiden großen Parteien so gleich war, daß die Präsidentenwahl, die zwi¬
schen dem genannten Dr. Weiß und dem Würzburger Professor Edel streitig war,
trotz wiederholter Scrutinien nicht zu Stande kommen konnte, indem immer
77 gegen 77 standen. Die Kammer wurde darum aufgelöst und als sie im
Januar 1870 wieder zusammentrat, hatten die Ultramontanen die Majorität
und besetzten nun das ganze Bureau, die parlamentarischen Gewohnheiten
einer so starken Minorität gegenüber ganz mißachtend, ausschließlich mit Leuten
ihrer Farbe; nur in den verschiedenen Ausschüssen wurden, da man doch auch
Leute zum Arbeiten haben mußte und die Herren, welche sich die totale
Umgestaltung des bayrischen Staatswesens vorgenommen hatten, sich dazu
nicht so ganz geschickt fanden, die paar Liberalen, wie man damals sagte, „par-
donnirt." Es waren schöne Zeiten für die „patriotische" Partei damals, aus-
fichtreiche, hoffnungsfrohe. Auf das Programm: Die Selbstständigkeit Bay¬
erns im vollsten Umfang aufrecht, die katholische Religion in ihm herrschend
zu erhalten, mit Händen und Füßen gegen eine Einigung Deutschlands sich
zu wehren, vor allem dem „Räuber" von 1866, dem verhaßten Preußen,
möglichst viel Schabernack anzuthun, waren die „Patrioten" gewählt worden
und, keck das Haupt emportragcnd, gen München gezogen, um dort die große
Reform nach rückwärts zu beginnen; jene famose Adresse, die allen nationalen
Gedanken verhöhnte, die im Reichs rath zu. vertreten der Präsident des pro¬
testantischen Oberconsistoriums, Herr von Harleß, sich nicht entblödete, wurde
an den König erlassen; an Preußen wenigstens in den Kammerreden der
nieder- und oberbayrischen Kampfhähne der Krieg erklärt; der Passauer Pro¬
fessor Greil stellte den ganzen bisherigen Staatshaushalt aus den Kopf und
entwarf das Ausweisungsdeeret gegen alle nicht in blauweißer Würze gelegene
Lehrer an hohen und niedern Schulen; der „Demokrat" Kolb that seinen neu¬
erworbenen Bundesbrüdern von der rechten Seite des Hauses den Gefallen,
gegen die kaum erst ins Leben getretene neue Wehrverfassung ins Feld zu
ziehen und seinen abgetriebenen Milizgaul zu reiten; Fürst Hohenlohe, der
den Schwarzen verhaßte Minister nahm seinen Abschied, seine Collegen hielten
zwar etwas zäher an ihren Fauteuils, aber auch sie mußten endlich mürbe
werden, schon konnten die Herren v. Frankenstein, Jörg, Greil und Genossen,
daran denken, ihre Erbschaft anzutreten und das wahre Heil Bayerns zu
bringen: — da kam der 19. Juli l870, und mit ihm in Berlin die Kriegs¬
erklärung Frankreichs und hier in München jene ewig denkwürdige Nachsitzung
der Kammer, in welcher die „Patrioten" schmähliche Neutralität Bayerns
verlangten, etlichen unter ihnen aber doch die Schamröthe ins Gesicht stieg,
so daß die Liberalen nicht allein standen, als unter der athemlosen Spannung
des bis in den letzten Winkel gefüllten Hauses, die „Ja" und „Nein" fielen,
und der Eintritt Bayerns in den großen Kampf „deutscher Nation" entschie¬
den wurde. Unvergeßlich wird mir jene Nacht bleiben. Unten im Hofe und
auf der Straße vor dem Hause eine dicht zusammenstehende Menge, unruhig,
gährend, nur des Zünders harrend, der den Brand, wenn die Entscheidung
der Kammer antinational ausfallen sollte, aufflammen lassen würde; im
Sitzungssaal Erregung auf allen Gesichtern, auf der Tribüne Jörg, um mit
aller ihm zu Gebote stehenden Sophistik die Abstimmung zu Gunsten der
Partikularisten zu lenken, draußen im Lesezimmer der preußische Gesandte
mit der Botschaft, daß in diesem Augenblicke schon deutsches Gebiet verletzt
worden, der Minister Graf Bray diese Nachricht im Saale wiedergebend, und
dann endlich jene Abstimmung, deren wir schon gedacht. Heller Jubel brach
in den Reihen der Liberalen aus, der sich sofort von Straße zu Straße fort¬
setzte ; unter dem Schutze der erstern mußten die politischen Gegner das Haus
verlassen, grollend sich in ihren Clubb zurückziehend, während das Volk vor
dem Schloß sich zuscunmenschaarte, um dem „deutschen" König eine Ovation
zu bringen.
Von da an hatten die Klerikalen Unglück. Im Januar des folgenden
Jahres mußten sie der vollendeten Thatsache des deutschen Reiches gegenüber
stehen und die alte Neichskrone auf dem Haupte eines protestantischen Kaisers
sehen, mußten sie abermals ihre Ohnmacht eingestehen, als die Zustimmung
zu den Versailler Verträgen und damit der Eintritt Bayerns in das Reich
in der Kammer beschlossen wurde. Es war der 21. Januar 1871, der äiss
netustus, an dem die ultramontanen Blätter seirdem mit schwarzem Rand er¬
schienen sind. Nun warfen sich die Klerikalen mit voller Wucht auf das
kirchliche Gebiet: da mußten sie doch noch einig zusammenstehen, am alten
„Programm" festhalten. Wieder ein Jahr später kam die sogenannte Augs¬
burger Bischofsbeschwerde vor den Landtag: sie mußte die Stellung Bayerns
zum kirchenpolitischen Streit der Gegenwart entscheiden: drei Tage lang wurde
heftig hin und her gestritten: die Rechte glaubte den Sieg in den Händen zu
haben, da wankte auf einmal ihre festgeschlossene Phalanx: sechs wackere
Männer hatten wiederum auch hier das Herz auf dem rechten Fleck und
stimmten mit den Liberalen, um fortan dafür der Gegenstand bittersten
Hasses seitens ihrer früheren Genossen zu sein und mit allen lästerlichen
Namen, mit denen jemals der „Abfall" belegt worden, belastet zu
werden. Noch einmal versuchte es Jörg und seine Partei im vorigen
Sommer gelegentlich der Budgetberathung dem Cultusminister ein Mi߬
trauensvotum zu geben, aber die frühere Sicherheit und Schlauheit hatte'
ihn verlassen, er fing die Sache so unpraktisch an, wie vor Kurzem seinen
Angriff auf Bismarck im Reichstag; aus der Mitte der eigenen Fraktion
war Herr von Lutz von allem in Kenntniß gesetzt worden; die so geheimni߬
voll vorbereitete Attaque fand diesen vorbereitet und endete für ihn mit
einem Sieg, statt einer Niederlage. Seitdem scheint den Klerikalen der Muth
gesunken; nach ihrem Auftreten im Reichstag hätte man meinen sollen, sie
seien mit neuen Hoffnungen nach München zurückgekommen, hätten ihre
Waffen neu gestählt und geschärft — aber es scheint die Deroute in ihren
eigenen Reihen immer größer zu werden, ihre Hauptorgane liegen einander
in den Haaren, jeden Augenblick wechselt die Führerschaft ihre Fraktion, sie
sehnen das Ende dieses Landtags herbei, um dann die volle Wahlagitation
beginnen zu können, von der sie hoffen, daß es dahin kommt, daß die
„Halben" und „Unentschiedenen", die „Abgefallenen" und „Verräther" nicht
mehr gewählt, sondern nur ganz verlässige, bis zur Fußsohle schwarze
Männer in die Kammern geschickt werden und das heißersehnte „ultramon-
tane" Ministerium ans Ruder kommt. Ob diese Hoffnungen und Wünsche
in Erfüllung gehen oder ob der seither sie verfolgende Unstern auch über
den Wahlerfolgcn der Klerikalen leuchtet, wird die nächste Zukunft lehren.
Wir unsererseits glauben an eine aus ihrer Mitte hervorgehende Kammer¬
mehrheit und demgemäß auch an ein anderes Ministerium — daß dieses
aber alles, was Bayern seit fünf Jahren errungen, wieder lockert und auf
den Kopf stellt, glauben wir nicht, weil das einfach unmöglich, weil eben
Bayern auch mit dem widerwilligsten Ministerium einmal ein Glied des
deutschen Reiches ist und bleibt. Wir nehmen vielleicht Gelegenheit, darüber
uns in einem folgenden Briefe des Nähern auszusprechen; jetzt kehren wir
zu unserm Anfang, die bayrische Kammer etwas zu silhouettiren, noch ein
wenig zurück.
Wir haben das Bild des ersten Präsidenten schon flüchtig gezeichnet.
Die Wahl Stauffenberg's zu dieser Stelle im November 1873 verdankte die
Linke dem Anschluß jener Männer, die, wie wir oben bemerkt, bei Verwerfung
der Beschwerde des Bischofs von Augsburg ihrer bessern Ueberzeugung gefolgt
waren. Man bot der Rechten die nach ihrer Zahl ihr zukommende Vertretung
im Bureau an, allein sie wies das brüsk ab und so mußte sie den neuen
Schmerz erleben, abermals einen ihrer schärfsten Gegner, den frühern Handels¬
minister von Schlör, zum Vicepräsidenten ernannt zu sehen. Herr von Schlör
hat einen fast ans Slavische streifenden Typus, über dem schwarzen Schnurr¬
bart leuchten ein paar scharfblickende Augen, er ist Meister der Rede, im
Verständniß technischer, namentlich Eisenbahnfragen, kommt ihm in der
ganzen Kammer Keiner gleich und sogar seine Nachfolger in der obersten
Leitung der Verkehrsanstalten, der Minister von Pfretschner und der General¬
direktor Hocheder, haben seinen Bemängelungen und Kritiken gegenüber
manchmal einen schweren Stand. In der letzten Session hat Schlör namentlich
durch seinen Antrag aus Erwerbung der bayrischen Ostbahnen durch den
Staat sich hervorgethan, welcher Antrag damals aber, als noch nicht völlig
reif, von den Kammern abgelehnt wurde, während er jetzt schon praktischen
Erfolg errungen hat, indem inzwischen der Kaufsvertrag zwischen Staat und
Ostbahn abgeschlossen worden ist und demnächst auch die Genehmigung des
Landtags erhalten wird.
Schriftführer zählt die bayrische Kammer vier. Als deren erster fungirt
Herr Eder, der Einzige, der von dem frühern ultramontanen Bureau in das
neue übergetreten ist und durch diesen Schritt schon das Tafeltuch zwischen
sich und seiner Partei zerschnitten hatte. Noch gründlicher aber that er dies,
als er seit jenem Mißtrauensvotum Jörg's gegen Herrn v. Lutz sich feierlich
trennte und unter dem Beifall der Kammer an seinen über den Sonder- und
Parteiinteressen stehenden Eid appellirte. In praktischer Beziehung" konnte
das Haus keinen bessern Secretair finden, als Herr Eder ist; klarere, gründ¬
lichere Protokolle können wohl von Wenigen gefertigt werden. Ihm zur
Seite stehen die Herren Louis, ein Pfälzer, der schon oben genannte Ab¬
geordnete Wülfert und Dürrschmidt, der sich — er ist Appellrath und gründlich
gebildeter Jurist — jüngst durch eine sehr interessante Schrift über „Klöster
und Klosterwesen in Bayern" verdient gemacht hat.
Vom „Bureau" wenden wir uns zum Ministertisch. Bayerns Ministerien
haben nicht mehr die Vollbedeutung, die ihnen in früheren Zeiten zukam.
Was hat z. B. ein bayrischer Minister des Aeußern viel zu thun? Welchen
Einfluß auf die Diplomatie, auf die „Beziehungen zu den fremden Mächten"
oder wie es sonst noch in der „auswärtigen" Sprache heißt, steht ihm noch
zu? So war's auch keine zu schwere Aufgabe, als Herr von Pfretzschner, der
damalige Ministerpräsident, das Finanzportefeuille aus der Hand gab und
dafür das des „Aeußern" übernahm. Seine Rednergabe, seine weltförmige
Gewandtheit und Hofmännische Feinheit kommt ihm bei letzterem jedenfalls
so gut zu statten wie bei ersterem, wo es ihm manchmal gelang, bei einzelnen
Finanzpositionen so lang und so viel zu reden, daß den Zuhörern über das,
was um die Sache herum geredet wurde, die rechte Aufmerksamkeit auf
diese selbst abhanden kam und dem Minister ein Erfolg wurde, der ihm
außerdem nicht geworden wäre. Herr von Pfretzschner hat stets ein verbind¬
liches Lächeln, auch für den enragirtesten Gegner, auf den Lippen, und ist
auch in der äußern Erscheinung, wie in seiner Toilette der „patenteste" unter
seinen College». Viel einfacher und schlichter tritt unter diesen der von der
Justiz, Dr. von Fäustle auf, eine echte, derbe, bayrische Erscheinung, der man
aber die Energie und dabei doch wieder eine große Gemüthlichkeit auf
dem Gesichte liest. Herr von Fäustle hat sehr liberale Gesinnungen aus
seiner äußerst rasch zu der höchsten Spitze hinauslaufenden juristischen Carriere
ins Ministerium gebracht und sich dieselben auch in diesem erhalten, wie er
auch über einen reichen Schatz von Wissen und Kenntnissen gebietet und
dieselben jederzeit schlagend zu verwerthen weiß. Der neben ihm sitzende
Minister des Innern, von Pfeuffer, erinnert schon in seinem strammen Aeußern
etwas an seine frühere Stellung, als er Polizeidirektor von München war,
noch mehr thut er dies aber manchmal in seinen Reden, die oft einen herben
bureaukratischen Beigeschmack haben. Ganz gLntlömarltilcL erscheint auf den
ersten Blick Freiherr von Prankh, der Leiter des bayrischen Heerwesens; ihm
merkt man's am ersten an, daß ihn kein selbstsüchtiger Gedanke leiten kann,
daß er am wenigsten auf die Ehre eines Ministerfauteuils aus ist. Prankh's
Verdienste um die Reorganisation der bayrischen Armee sind groß; die
unglaubliche Veränderung, die mit dieser vorgegangen, der gewaltige Unter¬
schied, der zwischen dem Auftreten derselben im Jahre 1866 und dann im
Jahre 1870 und 1871 liegt, sind sein Werk. Darum ist's ihm nicht übel
zu nehmen, wenn er, wenn von den Heißspornen der Rechten immer und
immer wieder an diesem Werk gerüttelt wird, darum manchmal etwas heftig
replicirt und unmuthig die Hand an den Säbelgriff legt. — Der Finanz-
minister, Herr von Berr, ist noch nicht lange in seinem Amte, hat sich aber
in allem, was er bisher geleistet, demselben vollkommen gewachsen gezeigt.
Eine streng rechtliche Natur, faßt er die Finanzverwaltung eines Staates von
einem etwas weitschauendern, als dem meist bei uns gewohnten bureau¬
kratischen Standpunkt auf. Sein äußeres Auftreten ist bürgerlich schlicht und
einfach. — Nun erübrigt nur noch, da wir keinen eigenen Handelsminister
mehr haben (Handel und Verkehr ressortirt vom Ministerium des Auswärtigen),
das Bild des Ministers für Kirchen- und Schulangelegenheiten, des Herrn
Dr. von Lutz. Sein Name ist in der jüngsten Zeit der am meisten genannte
gewesen, er ist der „bestgehaßte" unter den bayrischen Ministern. Der Tag,
an dem e r den Ultramontanen fallen würde, wäre für diese ein Sieges- und
Ehrentag.
Herr v. Lutz hat jedenfalls die Bedeutung des kirchenpolitischen Zeitkampfes
gerade für Baiern am tiefsten erfaßt, mehr als einmal — wir erinnern nur
an seine Beantwortung der sog. Herrschen Jnterpellation — dies auch in wahr¬
haft glänzenden Reden bezeugt, aber zu einem energischen Handeln den
immer kecker vordringenden Anmaßungen der Bischöfe gegenüber, zu einer ent¬
schied enen Position der bairischen Regierung in diesem Weltconflikt hat er
es nie gebracht: die Ultramontanen zeihen ihn des unberechtigten Hasses, und
die Liberalen thatloser Lauheit. Gleich wenig gut wie die „Neukatholiken"
sind die „Altkatholiken" auf den Cultusminister zu sprechen, denn so schöne
Worte sie von ihm auch zu hören bekommen haben, so wenig thatsächliche
Unterstützung haben sie noch von ihm erlangen können, und war es doch
auch die Regierung vor allem, die sich beim letzten Budget der Einreihung
der altkatholischen Geistlichen in die Zahl der mit Staatszuschüssen zu bedeu¬
tenden widersetzte. Herr von Lutz ist eine kleine untersetzte Persönlichkeit und
hat sich, vielleicht um sein Aussehen für den letzten Kampf, den er mit dieser
Kammer zu bestehen hat. martialischer zu machen, seit neuester Zeit einen küh¬
nen Vollbart zugelegt. —
Hart neben dem Fauteuil des Cultusministers erheben sich die Sitze seiner
Gegner; zwei der erbittertsten derselben, der Advocat Schüttinger und der
Deggendorfer Pfarrer Pfahler, befinden sich sogar in seiner allernächsten Nähe.
Ersterer, ein rothes erhitztes Gesicht zeigend, ist der Poltron der Rechten, mit
unangenehmer Stimme bei jeder Gelegenheit seine Tiraden von den ausge-
brochenen „Perlen" der bairischen Krone und dergl. loslassend, rückhaltlos
seine Reichsfeindlichkeit bezeugend. Würdig fecundirt ihm Herr Pfahler, der
niederbairische Bauer im Priesterrock. Man sieht ihm an, wie auch seinem,
weiter aufwärtssitzenden Waffenbruder Xaver Freiherr von Hafenbrädl, daß
in den beiden das Zeug zu rechten Demagogen steckt, wie sie einst in den
flandrischen Städten das Volk bewegt haben, „das arme, gedrückte, in seinen
heiligen Rechten gekränkte Volk" ist der stete Widerhall aller Reden dieser
Herren. An den streitbaren Priester von Deggendorf schließt sich der stattliche
Haufen seiner Amtsgenossen an, dermalen 14 an der Zahl. Sie gehören mit
wenigen Ausnahmen der weniger radikalen Richtung ihrer Partei an, nur
der Passauer Professor Dindorfer, der Dekan Rußwurm und das evtant
terridis. der Ebermannstädter Pfarrer Mähr, treten neben dem schon genann¬
ten Pfahler in die erste Kampflinie ein. Am häusigsten von den drei ge¬
nannten spricht Rußwurm, dem seine dankbaren Wähler nach jeder Land- und
Reichstagsperiode fast eine neue goldene Uhr verehren. Er ist offenbar in die
Nachfolge des obengenannten Greil eingetreten, indem er wenigstens gleich
diesem möglichst retrograde Anschauungen im Staatswesen austrank und zur
Geltung bringen will. Wenn Ehren-Mähr spricht, geht schon im Voraus
allgemeine Heiterkeit durch das Haus, denn es ist meist eine große Hans-
wurstiade, die er aufführt. Den Grundton seiner Reden bilden stets seine
nie endenden Conflikte mit dem Staatsanwalt, über deren letzten nachzudenken
ihm gleich nach Schluß des Landtags im Zellengefängniß von Nürnberg
10 Monate Zeit gegeben sein wird.
Mit Heft 14 beginnt diese Zeitschrift das II. Quartal ihres
34. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen «ut Post«
anstalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 7 Mark 50 Pfennige.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, im März 1875. Die Verlagshandlung.
Unter die Verbindungen Goethe's, für welche in der Literatur bereits
Andeutungen vorhanden sind, gehört auch die mit der ergiebigen, und ihrer
Zeit Aufsehen erregenden Caroline v. Pichler. Aber nicht ihre literarischen
Schöpfungen selbst gaben die Veranlassung, daß Goethe mit ihr einige Male
correspondirte, sondern es war auch hier die Pflege einer kleinen Goethe'schen
Liebhaberei, welche so manchen seiner Briefwechsel bedingte. Wir meinen sein
Bestreben, sich in den Besitz einer reichen Autographensammlung zu setzen.
Mitunter freilich widerstreben uns die Wege, die Goethe dabei einschlug. Wir
erinnern nur an das unbekannte Factum, daß zur Befriedigung dieser Wünsche
selbst das Geh. Staatsarchiv in Weimar sich ergiebig zeigen mußte, dessen Be¬
amte auf Befehl des Herzogs Carl August etwa vierhundert Original-Unter
schriften von Briefen abschnitten und damit die Goethe'schen Sammlungen
bereicherten. Man sieht, was damals möglich war!
Die Verbindung Goethe's mit Caroline Pichler fand, wie deren Denk¬
würdigkeiten II. 208 ff. nur andeuten, im Frühjahr des Jahres 1812 statt,
indem sie erzählt, daß sie auf Betrieb ihrer Schwägerin, der Baronin EskeleS
Autographen für Goethe gesammelt und mit einem Schreiben an diesen be¬
reitet habe. Ueber die ertheilte Antwort war Caroline Pichler nicht entzückt.
Jene war nach ihrer Ansicht höflich aber diplomatisch steif. Sie fühlte wohl
heraus, daß Goethe über ihre literarischen Leistungen nicht zu viel, aber auch
nicht zu wenig zu sagen, in diesem Briefe sich vorgenommen hatte. Caroline
Pichler theilt uns daher den weitern Inhalt des Briefes, der in etwas
anderer Fassung in dem Besitz von S. Hirzel (Verzeichniß einer Goethebiblio¬
thek) sich befindet, gar nicht mit. Er schrieb folgender Maßen:
Ich will nicht säumen für Ihre freundliche Zuschrift und für die gefällige
Art, womit Sie meinen Wünschen in Absicht auf eine Lieblingssnmmlung,
dem unmittelbaren Andenken würdiger Menschen gewidmet, so thätig entgegcn-
kommen, zu danken. Auch Ihr lieber Brief soll als solches Document zwar
alphabetisch, aber doch mit besonderer Neigung eingeschaltet werden.
Wenn von der eigenen Hand des vortrefflichen Mozart sich ihren emsigen
Bemühungen keine Zeile darbot, so wird mir das Uebrige desto lieber und
ich werde nur um desto eifriger sammeln, weil uns dieses Beyspiel zeigt, wie
gerade das Nächste und Eigenthümlichste des Menschen sobald nach seinem
Scheiden verschwindet, und von seinem Zustande, wie von seinen Verdiensten,
nur ein allgemeines, gleichsam Körperloses übrig bleibt.
Diese Betrachtungen führen uns dahin, daß wir uns desto mehr
an diejenigen verdienten Personen halten, mit denen uns das gute Glück
in irgend ein lebendiges Verhältniß hat bringen wollen. Seyn Sie ver¬
sichert, daß ich zu wiederholten Malen an ihren Productionen Theil genom¬
men; aber es fällt mir immer schwerer über einzelne Arbeiten mich zu äußern,
weil man, eigentlich zu weit ausholen muß, um mit Bedeutung zu loben
und mit Grund zu tadeln. Eben so wenig aber will ich verhehlen, daß die
Werke, die Sie und einige andere meiner Freundinnen hervorgebracht, mich
schon längst veranlaßten, über weibliche Autoren ihre Talente, ihre Richtung,
ihre Vorzüge, ihre Mängel und ihren Einfluß nachzudenken, was ich Ihnen
gern vertraulich überschicken würde, wenn es je zu Papier gekommen wäre.
Ich bin so eingebildet zu glauben, daß auf diese Weise talentvolle Frauen¬
zimmer immer über sich selbst und über das Publicum aufzuklären, für sie
von großem Vortheile seyn und ihnen auf einmal über mehr Hindernisse hin¬
über helfen würde, als durch einzelne Urtheile geschehen kann, die doch meistens
dem, Autor nur nachhinken. Leben Sie recht wohl und bleiben meiner Theil¬
nahme versichert."
Freundlicher war der zweite Brief Goethe's an die Baronin Eskeles,
die unterdeß verstorben, sich eingehender mit dem Agathokles der Caroline
Pichler beschäftigte. Aber auch über jenen verbreitet sich die Schriftstellerin
kurz und wir geben ihn daher, namentlich weil er ein eingehendes und inter¬
essantes Urtheil Goethe's enthält, seinem ganzen Inhalte nach wieder. Goethe
schrieb an die Eskeles:
Es würde höchst undankbar von mir sein, wenn ich mich aus dem lieben
Böhmen entfernen wollte, wo es mir diesmal so wohl gegangen, ohne Ihnen
für das Vergnügen zu danken, das ich auch Ihnen bei meinem Aufenthalte
schuldig geworden. Die schöne Sendung handschriftlicher Blätter gab für
mich selbst, sowie zur Unterhaltung anderer den interessantesten Stoff. In
gleicher Zeit erhielt ich von einem Freunde ebenfalls einen bedeutenden Beitrag
und erregte durch Vorzeigung meiner Schätze bei gar manchen die freundliche
Gesinnung sie zu vermehren und so erfolgte ein Gutes aus dem andern, wo-
mit sich die Epoche mit der Ankunft des Marquis de Beaufford anfängt,
dessen schätzbare Bekanntschaft ich Ihnen mit jenen angenehmen Denkmalen
der Vor- und Mitwelt zu danken habe.
Für so viel Liebes und Gutes hätte ich denn auch wieder etwas Ange¬
nehmes erzeigt und da Sie mehr für andere, als für sich leben, so wollte ich
ein Blatt übersenden, womit Sie unserer lieben Pichler einen Spaß machen
sollten. Ich hatte ihren Agathokles in hiesiger Nuhe mit Aufmerksamkeit und
vielem Vergnügen gelesen und war geneigt, dasjenige, was ich dabei empfun¬
den und gedacht, flüchtig aufzuzeichnen. Allein ich merkte bald, daß ich zu
sehr ins Weite kam und mußte daher meinen löblichen Vorsatz aufgeben.
Sagen Sie ihr daher nur kürzlich, wie sehr die Zeichnung der Charaktere,
die Anlage und Durchführung derselben meinen Beifall habe, nicht weniger
die Fabel, welche ohne verworren zu sein, in einer prägnanten Zeit und auf
einem breiten, bedeutenden Local sich so reich als faßlich ausdehnt. Wie sehr
mich das angeborne Talent der Verfasserin und die Ausbildung desselben
dabei bestach, ist schon daraus ersichtlich, daß ich über diesem liebenswürdigen
Natur- und Kunstwerke ganz vergaß, wie wenig mir sonst jenes Jahrhundert
und die Gesinnungen, die darin triumphirend auftreten, eigentlich zusagen
können. Ja unsere Freundin wird es sich hoch anrechnen, daß ich nicht im
Mindesten verdrießlich geworden bin, wenn sie meinen Großoheim Hadrian
und seine Seelchen, meine übrige heydnische Sippschaft und ihre Geister nicht
zum Besten behandelt. Die innere Konsequenz des Werkes hat mich mit allen
Einzelnen, was mir sonst hätte fremd bleiben müssen, wirklich befreundet.
Nach meiner gewöhnlichen Weise habe ich auch bei diesem Werke ange¬
fangen, mir hie und da den Plan anzudeuten, einem Charakter eine andere
Richtung, einer Begebenheit eine andere Wendung zu ertheilen; ich muß aber
der Verfasserin zum Ruhm nachsagen, daß sie mich immer wieder durch die
Folge bekehrt und auf ihren eigenen Sinn zurückgebracht hat, so daß ich mich
wohl getraute, wohldurchdachte Arbeit in menschlichem und künstlerischen Sinn,
gegen jede Einwendung in Schutz zu nehmen. Nachdem ich sie so wohl
studirt, bin ich neugierig einige Recensionen derselben zu lesen.
Wenn es nicht zu spät wäre, ein solches Werk anzuzeigen, das nunmehr
schon in Jedermanns Händen ist, so hoffte ich, wo nicht die Verfasserin, doch
das Publikum mit einer neuen Ansicht desselben zu überraschen, daß man
nämlich die liebenswürdige Calpurnia für die Hauptperson erklärte, ihr alle
übrigen subordinirte, so wie auch die Begebenheiten sämmtlich auf sie bezöge.
Auf diese Weise würde man die Harmonie dieser Komposition aufs neue
recht anschaulich machen und könnte des Beifalls der alten und jungen Herrn
wenigstens hierbei gewiß versichert sein.
Dies mag nun wieder als Beispiel gelten, was alles für Grillen ein
Verfasser seinen Lesern nachzusehen hat, sowie es ein neuer Beweis ist, daß
der Mund übergeht, wenn das Herz voll ist. Ich sing damit an, mich zu
entschuldigen, daß ich nichts sagen wolle und bin schon weiter in den Text
gekommen als billig. Nun will ich aber schließen und nur mich Ihrem Wohl¬
wollen und meine Liebhabereien Ihrer Vorsorge empfohlen haben."
Die erste Anregung zur Verleihung eines Adelsdiploms an Schiller gab
der Herzog Carl August, bereits unter dem 2. Juni 1802, indem er sich
an den Grafen Stadion nach Berlin wandte und den Wunsch aussprach,
dem in Weimar lebenden Gelehrten und Schriftsteller Friedrich Schiller eine
persönliche Ehrenauszeichnung gönnen zu wollen. Graf Stadion stellte schon
in seinem Schreiben vom 8. Juni dem Herzog in Aussicht, daß die Verleihung
des Neichsadels, nach den Verhandlungen mit dem Fürsten von Colloredo zu
urtheilen, keiner Schwierigkeit unterliegen würde, und gab anheim, daß der
Herzog seinen Reichsagenten zu Wien über die weiter mit dem Neichsvize-
kanzler einzuleitenden Verhandlungen, namentlich wegen der Formalien des
Adelsdiploms als auch wegen der deßhalb erwachsenden Kosten instruiren
möge. Die sofort bei dem weimarischen Neichsagenten eingeleiteten Verhand¬
lungen erzielten auch die Zusage des kaiserlichen geheimen Neichsreferentcn
Freiherrn v. Frank, daß er demnächst neben anderem bei dem Kaiser über die
erwünschte Erhebung Schiller's in den Reichsadelsstand referiren werde und
man wünschte nur, um die Narrata des Diploms den ausgezeichneten
Verdiensten des Hofraths Schiller — zumal um die Literatur recht anpassend
einzurichten, einige nähere „Anhandgebung" von dessen Lebenslaufe und
besonders von dessen vorzüglichsten Arbeiten, soweit davon im Diplome
Erwähnung gethan werden könne, zu erhalten. Als zweiter Wunsch wurde
die Fixirung des zu verleihenden Wappens hervor gehoben.
Schiller war inmittelst von der projectirten Standeserhöhung in Kenntniß
gesetzt wurden und gab in dem folgenden Briefe an den Geheimen Rath
Voigt"), der insbesondere die Correspondenz leitete, folgenden Wunsch zu
erkennen.
„Indem ich Ihnen. Verehrtester, den Schmeitz^) und Trier mit verbind¬
lichsten Dank zurücksende, wiederhohl (8le) ich Ihnen meine Bitte, daß Sie
Selbst das Wappen huaestionis nach Ihrem eigenen Gutdünken bestimmen
wogen, wobei ich bloß erinnere, daß ich meinem bisher gebrauchten Wappen
gern möglichst nahe bleiben möchte. Das wachsende Einhorn auf dem Helm
ist auf dem herzoglichen Wappen zu Parma und macht eine gute Wirkung.
Es wird wohl kein Eingriff seyn, sich desselben zu bedienen.
Doch alles sei Ihrer Wahl überlassen. Für den Spener danke ich Ihnen
aufs allerschönste, er sott mich zu der neuen Würde installiren helfen.
W. 12. Juli 1802.
Bei dem glücklichen Verlauf der Sache befand man sich trotzdem in
Weimar in einer kleinen Verlegenheit, da es sich gleichzeitig um die Erfüllung
einer herkömmlich unerläßlichen Bedingung handelte. Es mußte nämlich
„das besondere Verdienst" Schiller's um den kaiserlichen Hof nachgewiesen
werde», und da war es denn für die Feder Voigt's keine leichte Aufgabe, die
einschlagenden Materialien in so überzeugender Weise an die Hand zu geben,
daß Aufstellungen in Wien selbst nicht zu befürchten waren.
Es ist sehr charakteristisch, wie Voigt in wenigen Zeilen Schiller's Ver¬
dienste zu kennzeichnen sich bemühte und dabei einige kleine Unrichtigkeiten
mit unterliefen, die in tels Adelsdiplvm Schiller's in der That mit über¬
gingen und sich seltsam ausnehmen. „Johann Christoph Friedrich Schiller
schrieb Voigt, stammt von ächt deutschen ehrsamen Voreltern ab. Sein Vater
stand lange Jahre als Officier (?)") in herzoglich würtembergischen Diensten;
er hat auch im siebenjährigen Kriege unter den deutschen Reichstruppen für
die Kaiserin-Königin gloriosen Andenkens, gefochten und ist als Oberstwacht¬
meister-'') gestorben. Obbenanter sein Sohn erhielt in der Militair Academie
zu Stuttgard seine wissenschaftliche Bildung. Als er zum ordentlichen öffent¬
lichen Lehrer auf die Aeademie zu Jena berufen worden, hat er, besonders-
über Geschichte, mit allgemeinem und seltenem Beyfall Vorlesungen gehalten
Seine historischen Schriften sind in der gelehrten Welt mit eben dem un-
getheilten Beyfalle aufgenommen worden, als die in den Umfang der schönen
Wissenschaften gehörigen. Besonders haben seine vortrefflichen Gedichte dein
Geiste der deutschen Sprache und des deutschen Patriotismus einen neuen
Schwung gegeben, so daß er um das deutsche Vaterland und dessen Ruhm
sich allerdings Verdienste erworben hat. Selbst das Ausland hat seine Talente
hoch geschätzt, und mehrere ausländische gelehrte Gesellschaften haben ihn zum
Ehren-Mitglied aufgenommen. Seine Ehegattin ist eine gebohrene von
Lengefeld und von altem verdienstvollen Adelverdienst."
Auf diese von Voigt an Schiller mitgetheilte Ausführung, schreibt Letz-
t^'er in einem einfach rührenden Briefe folgendes:
„Aufs*) schönste danke ich Ihnen, Verehrtester Freund, für das tilli-rude!
clij>IomÄti8cIt« 'Iciötimonium, das Sie mir ertheilen. Es ist freilich keine kleine
Aufgabe, aus meinem Lebenslauf etwas heraus zu bringen, was sich zu einem
Verdienst um Kaiser und Reich qrmlificierte, und Sie haben es vortrefflich
gemacht, sich zuletzt an dem Ast der deutschen Sprache fest zu halten.
Die hier mit Dank zurückfolgenden DiMmu-die-r^) haben mich sehr unter¬
halten. Es müßte eine sehr interessante Beschäftigung seyn, in diesen Acten
der Vergangenheit herumstören zu können.
W. 18. Juli 1802.
Diese „umständliche Erzählung" von den Verdiensten des Hofrath Schiller
ging nach Wien zugleich mit der Zeichnung und Beschreibung des künftigen
Schiner'schen Wappens ab, welches in einem ordinairen Schilde bestand, in
dessen unterer Hälfte sich zwei blaue Balken im goldenen Felde befanden.
Ueber demselben stieg ein wachsendes weißes Einhorn im goldenen Felde
empor, das sich auch in dem gekrönten Helme befinden sollte, wäh¬
rend unter dem Helme sich auf beiden Seiten Lorbeerzweige wanden, welche
ganz besonders die vortreffliche dichterische Begabung Schiller's ausdrücken
sollten. —
Nicht so ganz, wie man in Weimar beabsichtigt hatte, fiel das Schiller'sche
Wappen in Wien aus. da der Wappenkönig Manches an der Zeichnung aus¬
zusetzen hatte. Auch er hatte bereits daran gedacht, daß die dichterische Be¬
gabung Schiller's im Wappen einen angemessenen Ausdruck finden möchte.
Aber nach seiner Meinung verlor der Lorbeerzweig, falls man ihn unter der
Helmdecke, dem weniger wichtigen Zeichen des Wappens anbringen wollte, zu
viel von seinem Werthe. Deshalb wünschte er den Kccmz unter der Krone
angebracht zu wissen, wie er auch — mit Zustimmung Schiller's beabsichtigte,
daß die untere Hälfte des goldenen Feldes von zwei blauen Querbalken durch¬
schnitten werde, auf deren oberem das hervorwachsende weiße Einhorn er¬
scheinen würde.
Die Beschleunigung der ganzen Frage hing übrigens vom Hauptmomente,
der Berichtigung der vollen Taxe für das Diplom ab, welches auf 401 si. 30 Ar.
zu stehen kam. Um das Geschäft nicht zu verzögern, verlegte privatim der im
Weimarischen Auftrage handelnde Merk diese Summe, da er versicherte, daß
man vor berichtigter Taxe überhaupt keine Feder ansetze. Am 31. Oktober
1802 ging das Schiller'sche Adelsdiplom in Wien zur Post und gelangte zu
nächst in Voigt's Hände, der in freundschaftlicher Weise die Nobililirung
Schiller's eifrig betrieben und als gewandter Poet mit entsprechendem Gedicht¬
chen das Diplom übersandte.*)
Uebrigens verstrich noch eine Zeit, ehe Schiller's Adel in den Weima¬
rischen Landen zur vollen Geltung gelangte, da er mehrere Monate vergehen
ließ, ehe er an die Negierung die officielle Anzeige seiner Standeserhöhung
abgab. Diese erstattete er mittelst eines gehorsamsten unten folgenden Prome-
morias unter dem 31. März 1803, worauf sofort am 1. April 1803 die
betreffende öffentliche Anerkennung erfolgte.
„Gehorsamstes ?ro meworia..
Einem hochfürstlichen geheimen (üonsilio hat Endesunterzeichneter die Ehre,
das allerhöchste kaiserliche Diplom wegen seiner und seiner Descendenz Erhe¬
bung in des heiligen römischen Reichs Adelstand in beglaubter Abschrift an¬
schlüssig gehorsamst vorzulegen, und sich die hochgeneigte Einwirkung bei Sei¬
ner des regierenden Herrn Herzogs hochfürstlichen Durchlaucht durch einen
darüber zu machenden Bortrag dahin, daß wegen der mit sothaner kaiserlichen
Begnadigung verbundnen Vorzüge die nöthigen Befehle an die Landesbehör¬
den erlassen möchten, in tiefster Ehrfurcht zu erbitten.
Weimar,
d. 3l. März 1803.'
Eng verknüpft mit dem Gedanken der Einheit und Größe des Vaterlan¬
des erscheint in der Entwicklungsgeschichte Deutschlands der letzten drei Jahr¬
zehnte der Zug zur See, das Streben, Deutschlands Ansehen auf den Meeren
zu immer größerer Geltung zu bringen. Zwar war der Deutsche Seehandel
in allen Wandlungen der Zeiten, namentlich von den Hansestädten, immer
aufrecht erhalten worden, allein in den zahlreichen Flaggen, welche die Schiffe
' ) Was einst der alte Nittervrauch
Dem Waffenglück entsprach.
Der Ehre Kleinod folget auch
Dem Geistesadel nach.
„Seht her, was ich ist aufgethan
Ruft nun des Kaisers Persevan.Dahler im Schild, aus Blau und Gold
Das Einhorn steigt heraus;
Mit Lorbeer ziert der Ehrensold
Den Helm des Dichters aus
Denn auch Minerva hehr und mild
Trägt ihren Ehren schmuck den Schild.
der verschiedenen Deutschen Häfen in fernen Gegenden entfalteten, suchte der
Ausländer vergeblich das Symbol einer Deutschen Nation. Erst seit Grün¬
dung des Norddeutschen Bundes änderten sich die Verhältnisse wesentlich.
Dem Jahre 1866 war die Deutsche Kriegsflotte, die Deutsche Flagge und
der Beginn einer Deutschen Seegesetzgebung zu danken. In jene Zeit, ins
Jahr 1867 fallen auch die ersten Bestrebungen zur Hebung der Deutschen
Seefischerei. Dieses Gewerbe war bisher besonders an der Deutschen Nord-
seeküste vernachlässigt und zurückgekommen. Englische und Holländische
Fischerflotten holten, mit den besten Fangapparaten ausgerüstet, und in
ihrem Betriebe auf dem zeitgemäßen wirthschaftlichen Grundsatze der Theilung
der Arbeit basirt, die Schätze des Meeres bis dicht an der Deutschen Küste
herauf. Es war natürlich, daß die ersten thatkräftigen Schritte, um die
Deutsche Seefischerei auf eine höhere Stufe zu heben, von den Hansestädten
ausgingen. In Hamburg und in Bremen bildeten sich mit namhaften Capi¬
talien Fischereigesellschaften, welche den Betrieb nach der in England neuer¬
dings bewährten Methode der Schleppnetzfischerei und der Aufbewahrung
des Fisches in Eis bis zur Ankunft am Markte, in Angriff nahmen. Allein
diese Gesellschaften hatten keinen Bestand. Nachdem sie eine Reihe von Ver¬
lusten erfahren, mußten sie liquidiren; die schönen, wohl eingerichteten Fahr¬
zeuge kamen unter den Hammer des Auctionators und gingen auf diese Weise
zum größten Theil wieder nach England zurück, von wo man sie hergeholt
hatte. Nur einzelne Fahrzeuge blieben in Deutschen Händen, die verbesserte
Fangmethode erhielt sich auf diese Weise, wenn auch im kleinen Umfang des
Betriebes, bis heute. Die Ursachen des Mißlingens jener Unternehmungen
waren mancherlei Art, und es ist viel darüber gestritten worden, worin die
Hauptursache lag, daß sie zu Falle kamen. An außerordentlichem Mißgeschick
hatte es auch hier, wie bei so manchen neuen Unternehmungen, nicht gefehlt.
Der Krieg unterbrach den eben in der Entwicklung begriffenen Betrieb und
wirkte, indem er ihm die eingeübte Mannschaft entzog, und das in den
Fahrzeugen und Apparaten steckende Capital brach legte, empfindlich schädigend
ein. Die Deutschen Eisenbahnverwaltungen konnten sich nicht in die For¬
derung, welche der Absatz der Fische bedingte, finden, daß dieselben mit den
schnellsten Zügen und ermäßigten Preisen nach den binnenländischen Märkten
verführt werden sollten. In England, wo die Eisenbahnverwaltung schon
von Anfang an in kaufmännischer Weise und ohne jeden Beigeschmack vom
bureaukratischen Wesen betrieben wurde, kannte man diese Schwierigkeiten
nicht. Man muß es gesehen haben, mit welcher Leichtigkeit dort dieser Trans¬
port vor sich geht. In Great Grimsby (an der Ostküste Englands) legen
z. B. die Fischer-Fahrzeuge unmittelbar an der einen Seite der von der betr.
Eisenbahn - Compagnie erbauten Fischhnlle an. Die Fische kommen in der
Halle meist sofort in Auction. werden ebenda in Eis verpackt und an der
andern Seite der Hatte streckt sich der Schienenweg, auf welchem die Lowries
bereit stehn, die nun den mit Fischkisten und -Körben bepackten Wagen auf¬
nehmen. Die Deichsel liegt neben dem Wagen und wenn der Zug an seinem
Bestimmungsort angekommen ist, wird der Fischwaggon an die Rampe ge¬
schoben, wo der Fischhändler, dem die Sendung zugeht, Pferde und Führer
bereit hält, um sofort den Fischwagen zu Markte oder direct zu den Bestellern
zu führen. Freilich fehlt uns auch ein so großer Consumplatz, wie es London
ist, das einen Weltmarkt wie für viele Lebensmittel so auch für Seefische bildet.
Dem Fischmarkt von Billingsgate, dem kleineren Columbia-marked und den
Fischhändlern des Westends wird nicht nur ein großer Theil der an und bei
den Küsten Großbritanniens und Irlands dem Meere abgewonnenen Ernte
an Seefischen und Krustenthieren zugeführt, auch Frankreich, Holland, Belgien
und Norwegen senden einen guten Theil der Ergebnisse ihrer zum Theil sehr
bedeutenden Seefischereien hierher zu Markte. Beispielsweise kommt Hummer
in Massen aus Norwegen, ebendaher im Winter auch H^ilbut, Holland und
vorzugsweise Harlingen sendet Muscheln, welche hier wie dort ein wichtiges
Volksnahrungsmittel bilden. In der großen Masse der Bevölkerung der
brittischen Inseln war von Haus aus die Neigung zur Seefischnahrung eine
weit größere und allgemeinere, als in den Continentalländern Europas. Nur
von einem culturhistorisch äußerst wichtig gewordenen Fische, dem Häring.
läßt sich sagen, daß er auf dem Continente in allen Kreisen des Volkes und
namentlich in den ärmeren Classen eine unentbehrliche Speise geworden ist,
seitdem es gelang, ihn durch Satzung und Räucherung auf längere Zeit ge¬
nießbar zu erhalten. Hieran knüpften die vor einigen Jahren wieder aufge¬
nommenen Bestrebungen zur Hebung der Deutschen Fischerei, durch Einrichtung
eines größeren Betriebes an der Deutschen Nordseeküste, wieder an. In
Emden, das schon früher den Häringsfang betrieben, aber in Folge von allerlei
Ungunst der Verhältnisse wieder aufgegeben hatte, wurde im Jahre 1872 mit
einem Capital von 100.000 Thlr. eine Gesellschaft für den Häringsfang in
der Nordsee nach holländischer Methode ins Leben gerufen. In Holland hatte
nämlich gerade zu jener Zeit die Einführung der zweckmäßiger construirten
Loggerfahrzeuge, an Stelle der veralteten Höcker (IwvKvr) die altbe¬
rühmte holländische Häringsfischerei, welche in der letzten Zeit zurückgegangen
War, einen neuen überraschenden Aufschwung genommen. Die neuen Logger
zeichneten sich vor Allem durch ihre größere Schnelligkeit aus, welche auf der
schärferen und leichteren Bauart beruhte. Sie besaßen eine größere Segel¬
tüchtigkeit und auf den Loggern konnten die in neuerer Zeit mit großem
Erfolg eingeführten leichteren Baumwollnetze verwendet werden. (Die alten
schweren Hanfnetze hatten sich als unpraktisch erwiesen, da die Maschen zuviel
Wasser aufsau gten und in Folge dessen im Wasser nicht mehr die richtige
Lage behielten. Auch waren sie durch ihre Stärke dem Häringe zu leicht er¬
kennbar.) In Holland angestellte Erörterungen ergaben, daß der Holländische
Häringsfang im Jahre 186S nur 81 größere Schiffe beschäftigt, diese Zahl
sich aber in den folgenden Jahren in Folge der Reform stetig bis auf 123
größere Fahrzeuge im Jahre 1871 gesteigert hatte.
Der Geldertrag der holländischen Häringsfischerei hatte sich vom Jahre
1866—70 ungefähr verdoppelt, auch der Betrag für jedes ausgesandte Schiff
war in der gleichen Periode im Durchschnitt fast um ein Drittel gestiegen,
die Ursache lag eben in den verbesserten Fahrzeugen, Betriebsmethoden und
Fangmaterial, sowie in einer rationelleren Regelung des Antheils der Mann¬
schaft am Fange. Von dem Ertrage der holländischen Häringsfischerei wird
jetzt etwa die Hälfte desselben, nämlich 60,000 Tonnen jährlich nach Deutsch¬
land abgesetzt, welches außerdem große Quantitäten Schottischen und Nor¬
wegischen Häring consumirt, im Ganzen etwa 600,000 Tonnen, also das
Zehnfache des Imports aus Holland. Von allen Häringen wurde bisher
der holländische Häring am höchsten bezahlt. Bei der holländischen Fang¬
methode wird nämlich der Fisch lebend aus dem Netze kommend sofort an
Bord des Fahrzeugs getödtet und eingesalzen, während die Schotten in ihren
offenen Böten keine Einrichtung für das Einsalzen haben, sondern den in der
Nacht gefangenen Fisch am andern Tage halb abgestorben ans Land bringen.
Hier geht dann das Ausnehmen und Einsalzen vor sich. Die neue Emder
Gesellschaft hat nun drei Betriebsjahre hinter sich. Wie alle früheren deut¬
schen Unternehmungen dieser Art. so hat auch sie mit allerlei Schwierigkeiten
zu kämpfen und noch jetzt ist sie über ihre Lehrjahre lange nicht hinaus, allein
die Sache ließ sich doch von Haus aus weit besser an als bei dem Hamburger
und Bremer Betriebe. Der Emshafen Emden zeigte sich in mancher Beziehung
viel geeigneter für diesen Betrieb als die großen Seehandelshafen der Elbe
und Weser. Die Seefischerei ist ein mühsames, schwieriges Gewerbe, in dem
man nur durch lange Erfahrung und Uebung Meister werden kann. In
Bremerhafen und Hamburg war die Gewohnheit auf den Segel- und Dam¬
pferflotten, welche zwischen der deutschen Küste und den' europäischen wie
transatlantischen Seehäfen verkehrten, Dienste zu nehmen, wenigstens damals
reichlich geboten, der Verdienst ein sicherer. Außerdem war der Aufenthalt
am Lande zwischen den einzelnen Reisen weit länger als bei einem Fischer¬
fahrzeug, welches im Gegentheil in der günstigen Zeit des Fanges darauf an¬
gewiesen war, in kürzester Frist die nothwendigen Geschäfte des Löschens der
Fischkisten, des Einnehmers von neuem Proviant u. s. w. zu erledigen. Es
kam daher sehr häusig vor, daß jene Hamburger und Bremer Gesellschaften
ihre seegewohnt gewordenen Mannschaften an die großen Oceandampfer ab-
geben mußten und auch auf diese Weise mit stetigen Schwierigkeiten zu käm¬
pfen hatten. An der Ems dagegen war der Häringsfang ein altgewohntes
Gewerbe, das dem einst berühmten Emshafen nur durch die Ungunst einer Kette
von politischen Ereignissen und wirthschaftlichen Unglücksfällen entzogen wor¬
den war. Namentlich die wichtige Frage der Beschaffung geeigneter Mann-
schaften war hier viel leichter zu lösen, als an der Weser und Elbe. Gerade
hierher, wo Sitten und Lebensweise vielfach Holland ähnlich, — wie denn
beispielsweise in einzelnen Kirchen sogar auch noch holländisch gepredigt wird
— konnte die Uebersiedlung und oas Heimischwerden holländischer Schiffsfüh¬
rer und ihrer Familien am Leichtesten vor sich gehen. Was sodann den
deutschen Theil der Mannschaften betraf, so war vollends nicht abzusehen,
weshalb diese Männer"') und Jungen aus dem östlichen Westphalen und den
Lippeschen Fürstenthümern sich nicht eben so gern und lieber in Emden an¬
werben lassen würden, als in Vlaardingen und Maasluis. Im Jahre 1872
wurde der Häringsfang der Gesellschaft mit 6 Loggern in der Nordsee betrie¬
ben und man erzielte einen Fang von 3785 Tonnen Häringen. Den Betrieb
leitete ein holländischer Fischunternehmer, welcher sich zugleich mit einem nam¬
haften Betrage an dem Actiencapital betheiligte. Im Jahre 1873 konnten
bereits 9 Fahrzeuge in Betrieb gestellt werden, welche einen Fang von bei¬
nahe 4 Millionen Häringen erzielten. Der Ertrag der Emdencr Härings-
auctionen betrug im Jahre 1873 77,660 Thaler brutto. Der Verdienst der
Mannschaften besteht in einem Antheil am Fange. Die Besatzung des am
wenigsten vom Glücke begünstigten Fahrzeugs erzielte 1873 noch immer einen
Verdienst, der demjenigen in der Handelsmarine gleichkommt, wogegen sich
derselbe auf den Fahrzeugen, welche einen reichen Fang hatten, als bis zu
SO"/« höher herausstellte. Das sogenannte Partsystem ist also auch in Emden
eingeführt. Es scheint, daß bei der Fischerei dies die einzig rationelle Me¬
thode der Entschädigung für die betheiligte Mannschaft ist. Man findet sie
eben in der ganzen Welt bei der Seefischerei eingeführt, und wo man etwa
davon abgewichen ist, kehrt man bald wieder zu ihr zurück. Bei der Fischerei
beruht eben außerordentlich viel auf dem Geschick, auf der unverdrossenen
Mühe, welche die Mannschaft verwendet, Mu einen Ertrag zu erzielen und
diese Selbstthätigkeit wird durch das Partsystem mächtig angespornt.
Das Ergebniß des Fischereibetriebs der Emdener Gesellschaft im vorigen
Jahre liegt noch nicht vor; es dürfte kaum ein besonders günstiges sein. Eins
ihrer Fahrzeuge ging mit Mann und Maus verloren, dennoch sind die Leiter
des Unternehmens der festen Ueberzeugung, daß wenn nur die nöthige Aus¬
dauer und Umsicht auch serner nicht fehlt, das Unternehmen sich jedenfalls
schließlich, wenn die Lehrjahre überstanden, als ein lucratives erweisen werde.
Während man bisher sich auf den Häringsfang im Sommer beschränkte, sollen
nunmehr die Logger der Gesellschaft auch im Winter dem Frischsischfang ob¬
liegen und zwar hauptsächlich in der Absicht, den Fischern das ganze Jahr
hindurch Beschäftigung zu geben und sich einen festen Bestand geübter Mann¬
schaften zu sichern. Nach den Untersuchungen, die auf einer im vorigen Som¬
mer unternommenen Reise nach England seitens sachverständiger Freunde des
Unternehmens stattgefunden haben, eignen sich die Fahrzeuge der Gesellschaft
sehr wohl dazu, nachdem einige geringe Veränderungen mit denselben vorge¬
nommen, im Frischfischfang nach den Gründen der Nordsee ausgesandt zu wer¬
den. In Jarmouth findet ein solcher combinirter Betrieb auf Härings- und
auf Frischsischfang schon längere Zeit statt. Die Holländer betreiben ebenfalls
im Winter den Frischsischfang und bringen die Ergebnisse desselben nach den
nächst gelegenen englischen Fischmarkt.en,
Es ist nicht leicht für die junge Gesellschaft gegen Großbritannien und
Holland zu concurriren. Holland hat die große Erfahrung für sich und ein
bedeutendes Capital zur Disposition, während in Deutschland die Capitalan¬
lage in maritimen Unternehmungen eine verhältnißmäßig nur sehr geringe,
und durch die früheren Mißerfolge noch herabgemindert ist; Schottland hat
den Häringsfang gleichsam vor seiner Thür, und diese Küstenfischerei erfordert
begreiflicherweise weit geringeren Aufwand an Böten, Netzen und Zeit. Die
Böte gehen in der Regel am Nachmittag oder Abend aus und fischen auf
18 — 20 Seemeilen von der Küste; die Arbeit des Ausweidens und Salzens
der Fische geschieht dann am Lande durch Frauen und Mädchen. Der unver¬
gleichliche Reichthum der schottischen Küstengewässer an Häringen wird bei¬
spielsweise dadurch offenbar, daß im vorigen Frühjahr und Sommer die Zahl
der um und bei der schottischen Küste gefangenen Häringe nicht weniger als
800 Millionen Stück nach sachverständiger Schätzung betrug. Der größte
Theil dieses Fanges wurde an der Ostküste bis nach den Shetlands- und
Orkney-Jnseln hierauf erzielt. Nur ein geringer Theil fällt auf die Fischerei
an der Westküste. Diese Fischerei wird dort hauptsächlich im Mai in den
Mines, der Wasserstraße zwischen den Hebriden und Schottland, und später,
im September, im Loch Tine betrieben. Der Fang geschieht, wie überall,
mittelst Treibnetzen, die durch luftgefüllte Lederballons im Wasser senkrecht
schwebend gehalten werden. Für die Holländer und Deutschen ist der Härings¬
fang Hochseefischerei. Der Apparat, die Fahrzeuge, das Netzwerk ist schwerer,
dauerhafter und kostspieliger. Die Fischplätze sind weiter vom Hafen abgelegen
und dies bedingt wiederum längere Reisen. Damit ist denn auch ein größeres
Risico für Menschenleben, Fahrzeuge und Netzwerk verbunden. Das Aus¬
weiden und Einsalzen muß an Bord vorgenommen werden und dies erfordert
wehr Mannschaft. Die Mannschaften des deutschen Häringsfangs sind, wie
die aus den Logbüchern der verschiednen Fahrzeuge in Betreff der Jahre 1872
und 1873 gewonnenen Ermittlungen des Directors von Freeden ergeben, im
Juni, westlich und südlich der Shetlandsinseln, im Juli westlich und südlich
der Orkney - Inseln, im August westlich längs der schottischen Küste von
Peterhead bis Shields in England, im September und October weiter ab
von jenen Küsten bis zur Doggerbank. Je nach Wind, Wetter und Jahres¬
zeit sind die Häringszüge näher oder entfernter von der Küste anzutreffen.
Der geübte Fischer meint die Anwesenheit von Häringen in größerer Zahl
riechen oder an der Farbe des Wassers erkennen zu können.*) Als das sicherste
Zeichen gilt aber die Anwesenheit des Häringswals, der durch sein Blasen
leicht bemerkbar wird.
Immerhin sind die Emder Häringe wegen der sorgfältigen Behandlung
und der gewissenhaften Sortirung schon jetzt in Deutschland ein gesuchter und
gut bezahlter Artikel. Leider zeigt sich auch hier noch immer die Sucht, das
Heimische unter fremder Firma anzupreisen, denn wie Verfasser dieses aus zu¬
verlässiger Quelle hört, kommt der Emder Nordhering, ein Fisch von ausge¬
zeichneter Qualität sehr oft als holländischer Häring zum Verkauf. Die Ein¬
richtungen in Emden für die Behandlung des Fisches, welcher in nicht weni¬
ger als 14 Qualitäten sortirt wird, find musterhaft. Die Logger legen un¬
mittelbar am Packhause der Gesellschaft an, und die Verpackung in die Wag¬
gons geschieht ebenfalls unmittelbar an dem letzteren, da ein Schienenstrang
vom Bahnhofe dahin führt.
Der Frischfischfang im Winter soll mit dem Grund- oder Baumschlepp¬
netz, welches in die deutsche Seefischerei durch die früher erwähnten Gesellschaf¬
ten von Hamburg und Bremen zuerst eingeführt wurden, betrieben werden.
Dieses mächtige, äußerst wirksame Fanggeräth, in seiner jetzigen vervollkomm¬
neten Gestalt seit etwa 30 Jahren zur Verwendung gekommen, hat in
Dreiecksform die Gestalt eines Beutelnetzes, dessen Oeffnung durch einen hori¬
zontal 30 — 50' langen liegenden Baum auseinander gehalten wird. Das
Netz wird auf dem Grunde des Meeres hingeschleppt. Dabei wird der Baum,
welchem der obere Theil des Netzrandes befestigt ist, durch 2 eiserne Bü¬
gel oder Schlitten auf einer mäßigen Höhe über dem Grunde gehalten.
Mittelst des etwa 150 Faden langen Schlepptaues ist der Baum am Schiffe
befestigt und wird Las Netz an dem Schlepptau beim Einziehen mittelst des
Syllis auf das Schiff aufgewunden. Die beiden Fischerplätze Hull und
Grimsby beschäftigen allein über 1000 Fischerfahrzeuge, von denen der größere
Theil mit dem Grundnetze fischt, und versandte Grimsby beispielsweise im
Jahre 1870 auf der Bahn Fische im Werth von über V2 Million Pfd. Se.,
im Jahre 1872 belief sich das Erzeugniß der Grimsby'er Seefischerei der
Menge nach auch über 31.000 Tons (ü, 2000 Pfd.). Bei ergiebigem Fange
und rascher Abfertigung der Fahrzeuge nach Einbringung derselben, vermag
ein solches Grundnetzfangfahrzeug (Snack) in 7 Wochen auf drei Reisen einen
Bruttoertrag von über 230 Pfd. Se. zu erzielen. In diesem Betriebe ist
natürlich auch das Partsystem eingeführt. Zahlreich ist die Verwendung von
Schiffsjungen, die sich aber unter strenger Strafe der Desertion beim Antritt
ihres Dienstes auf eine Reihe von Jahren verpachten müssen. So ist also
der englische Fischer gewöhnlich schon im 18, Lebensjahre in seinem schwierigen
Fache geübt und erfahren. Denn meist treten die Jungen schon mit 11 Jah¬
ren ihren Dienst an. Weder Schul- noch Militairpflicht bestehen in England
und somit gewinnt die Fischerei in diesen Jungen schon im frühen Lebens¬
alter derselben einen tüchtigen Stamm. Aehnliches läßt sich in Bezug auf
Holland sagen. Neben der Grundnetzfischerei, welche hauptsächlich Kabeljau
und Plattfische liefert, erhält sich noch immer in ziemlichem Umfang die
Leinen- und Angelsischerei, welche an unserer Nordseeküste noch immer die
weitaus vorwiegende Methode ist. Nur in Elmshorn und Blankenese, und
in Geestemünde hat sich von der Zeit der Hamburger Nordsee-Fischereigesell¬
schaft in geringem Umfang die Grundnetzfischerei erhalten. Während bei die¬
ser der Fisch an Bord sofort in Kisten mit Eis, welches zu dem Ende mit¬
geführt, verpackt wird, hält der Angelsischer den gefangenen Fisch in einer
eignen, dem Seewasser zugänglichen Abtheilung seines Fahrzeugs der sog.
Burne (englisch voll d. h. Brunnen) lebendig und erzielt der auf diese Weise lebend,
oder wie der Ausdruck ist springlebend, an den Markt gebrachte Kabeljau im
Winter hohe Preise (bis zu 10 Schilling engl. pr. Stück). Die Leinensischerei
zerfällt wiederum in die Langleinen und Kurzleinenfischerei. Jene wird wei-
terab von der Küste, diese nahe der letzteren, betrieben. Jede Snack hat eine
große Anzahl Leinen, an deren jeder mit Schnüren 20 — 30 Angelhacken be¬
festigt sind, und welche das Fahrzeug nun bei günstigem Wetter auslaufen
läßt. Als Köder bedienen sich die Fischer hierbei des Sandwurms oder kleiner
Muscheln. Diese Leinenfischerei wurde beispielsweise im Jahre 1872 von Nor-
derney aus mit 63 Böten bei 200 Mann Besatzung betrieben. Wahrend der
Zeit vom März 1872 bis Januar 1873 haben diese Böte etwa l'/sMillionen
Stück Schellfische und 3000 Kabeljau, welche am Fangorte einen Bruttowerth
von etwa 180,000 Mark hatten, dem Meere abgewonnen.
Von der Elbe aus wird diese Fischerei hauptsächlich von Blankenese und
Finkenwerder aus betrieben. Der Umfang derselben dort wurde vor einigen
Jahren auf 130 Fahrzeuge (Ever) mit 437 Mann angegeben, und der jähr¬
liche Bruttoertrag eines solchen Fahrzeugs wurde auf 1000 — 1400 Thaler
geschätzt. Die Fischerei der Holsteinischen Nordseeküste ist unbedeutend. Nahe
diesen Küsten holen dagegen die englischen Fahrzeuge alljährlich große Fänge
aus dem Meere. Im Jahre 1874 berichtete darüber der Düneninspector
Hübbe in Keil auf Sylt: „Man kann gegenwärtig am Horizonte und auch
näher am Strande wohl gegen 1000 Segel sehen, welche größtenteils von
englischen Fischerkuttern aus Hull, Grimsby u. s. w. herrühren. Weiter seewärts,
vom Lande aus nicht mehr wahrnehmbar, sollen noch ähnliche Geschwader
beim Fischfange thätig sein. Diese Schiffe segeln alle denselben Cours.
Nachts zeigen die Leitschiffe eine Signallaterne, wenn sie wenden, worauf alle
anderen Fahrzeuge gleichfalls umlegen. Auf diese Weise werden Collisionen
vermieden. Alle drei Tage werden die Fische pr. Dampfschiff nach England
übergeführt. Nach den Aeußerungen eines englischen Capitains, der unlängst
das Lister Tief einpassirte, ist der Ertrag dieser Fischerei ein ganz außerordent¬
lich großer, und drängt sich da stets von Neuem die Frage auf, ob es wirklich
triftige Gründe sind, welche deutscherseits die Ausbeutung des Fischreichthums
dieser Küstengewässer verhindern, oder ob nicht vielmehr eine dem Deutschen
eigenthümliche Schwerfälligkeit stark in Mitwirkung treten möchte." Diese
Methode, den Fang mittelst eines Dampfers zu sammeln und auf die schnellste
Weise zu Markt zu bringen, ist eben auch nur möglich, wenn ein so großer
Fischmarkt, wie London, die Deckung dieser nicht unbedeutenden Extrakosten
sichert. Als Verfasser dieses im vorigen Herbst in London war, besuchte er
einen dieser Dampfer, deren im Ganzen fünf sind, bei dem Fischmarkt von
Billingsgate. Ein jeder dieser Dampfer hat eine Tragfähigkeit von mindestens
200 Tons und vermag 3400 Kisten in Eis gepackten Fisches aufzunehmen.
Die Rundreise von der Themse bis zur Fischerflotille und zum Markt zurück
Wird in der Regel in 4 —6 Tagen zurückgelegt und bringt der Dampfer
gewöhnlich den Fang von 60 — 70 Fischersmackes zu Markte.
Noch möchte ich hier eines Großbetriebes der Deutschen Seefischerei ge¬
denken, der freilich jetzt längst im Absterben begriffen, einst aber von großer
Bedeutung für die Ausbildung tüchtiger Seeleute war. nämlich des Walfisch¬
fanges. Vor ein paar Jahrhunderten segelten, wie von England und von
Holland, so auch von der Elbe und Weser in jedem Frühjahre ganze Flotten
auf den Wal- und Seehundsfang bei Spitzbergen und im Grönlandsmeere
aus. Allmälig wurde die Fischerei immer weniger ergiebig, und es war
hauptsächlich der Seehundsfang bei der Insel Jan Mciyen, welcher die Deutsche
Grönlandsfahrt noch bis heute aufrecht erhielt. Gegenwärtig ist der Betrieb
in der in Hamburg bestehenden Deutschen Polarschifffahrts-Gesellschaft con-
centrirt, welche 4 Dampfer und 3 Segelschiffe besitzt. Der Betrieb geschieht
Wesentlich von Norwegen aus. zum Theil auch mit norwegischer Mannschaft.
Im Gegensatz zur sogenannten Grönlandsfahrt hat sich bis heute in der
Davis Straße und in den zahlreichen Buchten und Sunden des arktischen
Archipels von Nord-Amerika der Walfang als recht einträglich erwiesen. Die
Fischerflotte des schottischen Hafens Dundee brachte noch im vorigen Jahre
aus jenen Gewässern einen außerordentlich werthvollen und eine gute Rente
des Betriebs-Capitals sichernden Fang heim. Diese schottischen Walfänger
sind große, stark gebaute Dampfer, welche sich durch leichtes Eis ohne Schwierig¬
keit ihren Weg bahnen können und zugleich durch ihre Dampfkraft die schwierige
Passage durch das sog. Mitteleis, welches im Frühsommer die Baffinsbai
herabtreibt und je nach der Windrichtung bald auseinander geht, bald zu¬
sammen „gepackt" wird, in kurzer Frist bewirken können. Die Hamburger
Polnrschifffahrts-Gesellschaft hat bereits im vorigen Jahre einen ihrer Dampfer
nach jenen Fischplätzen geschickt und dürfte sich, nach dem vorjährigen Ergeb¬
nisse der englischen Fischerei, wohl veranlaßt sehen, ihre Schiffe ausschließlich
in dieser Richtung hin thätig werden zu lassen. Es mag übrigens als ein
Zeichen erfreulichen Fortschritts hierbei erwähnt werden, daß auf Anregung
des Schottischen Kapitäns David Gray gegenwärtig zwischen der englischen,
der schwedischen und der deutschen Regierung über die Einführung einer Schon¬
zeit in Betreff des Seehundsfanges bei Jan Mayen verhandelt wird. Der
jetzige Naubbetrieb bedroht, das hat man jetzt endlich eingesehen, die Existenz
dieses Erwerbszweiges; künftig soll der Seehundsschlag erst am K. April be¬
ginnen, während die Schiffe jetzt schon um Mitte März bei Jan Mayen er¬
scheinen, um bei vielen Tausenden die auf dem Eise liegenden jungen Thiere
mit Keulenschlägen zu tödten.
Bei Island wird sowohl von dieser Insel aus als durch französische und
englische Fischer der Kabeljaufang im großen Umfange betrieben. Bekanntlich
bildet dieser Fisch im getrockneten Zustande ein wichtiges Nahrungsmittel in
dem katholischen Spanien und Portugal, überhaupt in Südeuropa. Von
Norwegen aus findet mit Plätzen der spanischen Küste, namentlich Bilbao,
Santandcr und Barcelona ein lebhafter Dampfverkehr statt, welcher haupt¬
sächlich auf dem Export des norwegischen Stockfisches beruht. Einen kleinen
Antheil an diesem Betriebe hat Deutschland auch, indem ein bedeutendes Ham¬
burger Haus, welches überhaupt große Interessen in Island hat, an der Süd¬
westküste dieser Insel diese Fischerei, die sog. Klippfischcrei >). betreiben läßt.
Die betr. Fahrzeuge werden nach Leith dirigirt, wo sie dann durch den Agenten
des Hauses ihre weitere Richtung, meist nach einem spanischen Hafen ange¬
wiesen erhalten. So weit meine kurze Darstellung der von der Nordsee aus
betriebenen Hochseefischerei.
Vor 8 Jahren hat sich in Berlin ein Deutscher Fischereiverein gebildet,
welcher sich die Förderung der Deutschen Fischerei zur Aufgabe stellt. An
der Spitze stehen tüchtige Männer des Fachs, und der vielseitig anregenden
und fruchtbringenden Thätigkeit des Vereins steht die Preußische Regierung,
wo sie es vermag, zur Seite. Die für die Flußfischerei so wichtige künstliche
Fischzucht wurde durch diesen Verein, namentlich mit Hülfe der vom Reich
übernommenen Hüninger Fischzuchtanstalt wesentlich gehoben. Auch an dem
Erlaß des neuen Preußischen Fischereigesetzes (30. Mai 1874) hat der genannte
Verein, welcher durch seine Circulare und Correspondenzblätter dem größeren
Publikum über seine Thätigkeit von Zeit zu Zeit Mittheilungen macht, einen
erheblichen Antheil. Bisher sind die Functionen obrigkeitlicher Aufsicht und
Förderung der Fischerei meist nur Nebenämter von staatlichen oder commu-
nalen Beamten. Nach dem Vorbilde von England und Nordamerika dürfte
es sich aber empfehlen, eigne Fischereiinspeetoren und zwar, wenigstens be¬
züglich der Seefischerei, von Neichswegen anzustellen und eine bestimmte Summe
jährlich für die Hebung des so sehr wichtigen Seefischereibetriebes auszuwerfen,
deren Verwendung natürlich in der Weise geschehen müßte, daß dadurch der
Privatunternehmungsgeist nicht gehemmt, sondern eher ermuthigt wird. Bei¬
spielsweise mag hierbei auf die Errichtung von Fischereischulen hingewiesen
werden, welche auf zu dem Zwecke zur Verfügung zu stellenden Schiffen nach
dem Nath Sachverständiger einzurichten wären. Es ist oben bemerkt, daß in
England der Fischer meist schon in seinem 11. Lebensjahre sich seinem Ge¬
werbe widmet; das ist bei uns in Deutschland nicht möglich und auch nicht
wünschenswert!). Andererseits scheint es aber nicht mehr wie billig, diese Un¬
gleichheit in dem internationalen Wettbewerbe dadurch wieder aufzuheben, daß
man einige tüchtige sachliche Ausbildung durch eine Einrichtung der. bezeich¬
neten Art ermöglicht und den Fischer, zwar später, dann aber auch mit einer
guten Vorbildung in sein Gewerbe eintreten läßt.
Vor Allem ist es aber nothwendig, daß das Deutsche Publikum, soweit
es nur immer möglich, den Bestrebungen zur Hebung der Deutschen See¬
fischerei thatkräftig seine Sympathie zuwende. Soll Deutschland mehr und
mehr Seegeltung erringen, so muß seine Küstenbevölkerung wirthschaftlich
gekräftigt und gehoben werden; ein wichtiges Mittel dazu ist eine blühende,
allen Betheiligten gute Arbeitserträge sichernde Seefischerei. Das fischconsu-
mirende deutsche Publikum, wenn es auch weit ab von der Küste wohnt,
kann sehr wohl direct zur Erreichung dieses Zieles mitwirken.
Die Thronrede, mit welcher der Minister des Innern von Sick die soeben
zusammengetretene Ständeversammlung im Auftrag des Königs eröffnet hat,
war dießmal in einem auffallend bureaukratischen, an die Erlaßform erinnern¬
den Ton abgefaßt. Wiederholt wird den Ständen darin rasches Arbeiten
anempfohlen, eine Empfehlung bezw. ein Befehl, der allerdings eine gewisse
innere Berechtigung hat. Besteht doch dieser Landtag zum größten Theil aus
Königlichen und von der Regierung gänzlich abhängigen Gemeindebeamten,
welche den ständischen Beruf mehr oder weniger vom Standpunkt des Geld¬
erwerbs betrachten und den Landtag je länger je lieber versammelt sehen.
Die Negierung aber hat als erste Vorlage die Erhöhung nicht nur der Diäten
der einzelnen Abgeordneten sondern auch der Gehalte der Präsidenten, des¬
jenigen der Abgeordnetenkammer auf 10,000, des Präsidenten des Herren-
Hauses auf 16.000 M. beantragt. Auch die Gehalte der Mitglieder des
ständischen Ausschusses (eine Sinecure sonder Gleichen!) sollen erhöht werden.
Man ersieht daraus, wie wohl die Regierung es mit den Abgeordneten meint,
wie ängstlich sie darüber wacht, daß es an lohnenden Zielen für strebsame
Abgeordnete nicht fehlt. Für die zahlreichen Beamten in der Kammer han¬
delt es sich thatsächlich um eine doppelte Diätenerhöhung, indem fast gleich¬
zeitig die bis zum Ministerium Mittnacht streng aufrecht erhaltene, in den
letzten Jahren allerdings mit Unterscheidung der Personen zur Anwendung
gebrachte Verbindlichkeit der Beamten zur Bezahlung ihrer Stellvertreter aus
den Diäten in Abgang gekommen ist. Da nun die Hälfte unserer derzeitigen
Ständemitglieder in Stuttgart domicilirt ist, und bei uns, abweichend von
dem in Bayern geltenden Recht auch die in Stuttgart wohnenden Mitglieder
Diäten beziehen, so sind die Stuttgarter Beamten längst gewöhnt, den Abge¬
ordnetenberuf als eine Besoldungserhöhung zu betrachten, die sich in ver¬
schiedenen Gradationen abstuft, je nachdem es einem Abgeordneten gelingt,
durch geeignete Transactionen mit der Negierung und den Standesherren
auch noch den Gehalt eines Ausschußmitglieds mit den Diäten zu vereinigen.
Der Geldpunkt war schon im alten Herzogthum Württemberg, wo der stän¬
dische Ausschuß die „geheime Truhe" verwaltete, die partis Kouteuse unseres
Verfafsungslebens. Auch jetzt kann man sich von den hergebrachten Anschau¬
ungen nicht trennen. So wurde bet der letzten, wie wir früher berichtet haben,
kaum der Rede werthen Verfassungsrevision auch die Bestimmung der Reichs¬
verfassung A. 21 über den Erwerb von Staatsämtern und das Vorrücken in
solchen durch Abgeordnete in das württembergische Verfassungsrecht neu ein¬
geführt. Aber Niemandem fällt es ein, diese Vorschrift zur Anwendung zu
bringen. Im Gegentheil man creirt neue Stellen und bestimmt dabei regel¬
mäßig schon in Gedanken (es besteht in dieser Beziehung ein wahrhaft magne¬
tischer Rapport zwischen Ministern und Abgeordneten!) die Beamtenabgeord¬
neten, welche das neue Aemtchen erhalten sollen, wobei natürlich der Referent
nie leer ausgehen darf. So wurden hinter einander zuerst aus Anlaß der
Einführung des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz ein Landesamt für
das Heimathwesen, dann aus Anlaß des neuen Berggesetzes ein Oberbergamt,
endlich neuestens eine Lehranstalt für Notariatscandidaten geschaffen, theilweise
auf specielle Wünsche und Anträge der Ständekammer, welche sich schließlich
sämmtlich zu Nebenämtern der Antragsteller resp. Referenten cristallisirten,
ohne daß es einem der Betheiligten in den Sinn kam, nach dem neuen Ver¬
fassungsparagraphen sich der nicht immer ganz sichern Wiederwahl zu unter¬
werfen ; die neu eingebrachte Vorlage über die Errichtung eines Verwaltungs¬
gerichtshofs eröffnet einen neuen schon auf dem letzten Landtag ganz offen
erörterten Wettlauf für Referenten und andere um das Gesetz sich bemühende
Abgeordnete des Beamtenstandes. — Man muß diese Zustände, für welche
sich allerdings in den beiden Nachbarstaaten Bayern und Baden kein Analogon
findet, vor Augen haben, und man wird gewiß die Diätenlofigkeit der Reichs¬
tagsabgeordneten in einem weniger ungünstigen Lichte betrachten, als es
regelmäßig geschieht. In der That, es giebt in dieser Richtung keinen grelleren
Gegensatz als denjenigen zwischen einem württembergischen Abgeordneten aus
dem Beamtenstand und einem Mitglied des Reichstags. Darf man sich unter
solchen Umständen wundern, wenn man mitunter von Seiten der Negierung
dem Landtag mit einer gewissen Herablassung, um nicht mehr zu sagen, be¬
gegnet? Bezeichnend ist deßhalb auch eine neuliche Aeußerung des Ministers
des Innern gelegentlich der letzten Wahlen: „es seien nachgerade zu viele
Beamte in der Ständekammer"; mit andern Worten: der ganze Apparat
droht für das Ministerium denjenigen Werth zu verlieren, um dessen Willen
man ihn überhaupt noch braucht. Gilt es nämlich einmal, ich will sagen
dem Reich gegenüber, sich auf die Stimmung im „württembergischen Volk" zu
berufen, so würde, selbst wenn die Ständekammer im Sinn des Particularis-
mus sich äußern sollte, kaum irgend jemand außerhalb Württembergs auf eine
solche Meinungsäußerung einer Beamtenmehrheit irgend ein Gewicht legen.
Wir sprechen soeben von den Wahlen; und damit kommen wir auf die
in den letzten Tagen theilweise unter großer politischer Aufregung zu Stande
gebrachten drei Nachwahlen zu sprechen. Zu Blaubeuren wurde Minister von
Sick ohne jede Gegencandidatur gewählt: der Bezirk wünschte eine Fortsetzung
seiner Eisenbahn über die schwäbische Alp: d. h. die Herstellung einer Linie
Ulm-Straßburg, eine für den Herrn Minister allerdings etwas schwierige
Aufgabe, denn bisher standen hauptsächlich die localen Interessen Stuttgarts,
dessen langjähriger Oberbürgermeister von Sick war, dieser vom mercantilen
wie vom strategischen Standpunkt gleich wichtigen Linie entgegen. Der Bezirk
mochte aber erwägen, daß von Sick, wollte er einmal Abgeordneter werden,
mit Hülfe der von uns früher geschilderten Eisenbahnpolitik überall gewählt
werden würde, und da schien es doch besser, das Prävenire zu spielen.
Warum aber Herr v. Sick gerade im jetzigen Augenblick um jeden Preis ge¬
wählt werden wollte, haben wir nachher zu zeigen.
In dem zweiten Bezirk Canstadt standen sich ein Beamter und ein Kauf¬
mann gegenüber, beide ursprünglich der nationalen Richtung angehörtg. Da
es aber bei unsern zerfahrenen Parteizuständen nicht gelang, eine Einigung
über die Personen herbeizuführen, so entstand ein unerquicklicher Wahlkampf,
wobei, wie es in Württemberg neuestens immer der Fall ist, die ultramontane
und die nachgerade ganz gesinnungslose Volkspartei, indem sie sich im ge¬
gebenen Fall auf die Seite des Kaufmanns stellten, dem Kampf schließlich
noch einen politischen Charakter verschafften, aber dadurch auch die Niederlage
ihres Candidaten herbeiführten, da nachgerade in unseren protestantischen
Landestheilen diejenige Partei regelmäßig unterliegt, auf deren Seite sich die
Clerikalen stellen.
Interessant war dagegen wiederum der Wahlkampf in Tübingen. In
dieser Stadt, welche kraft Privilegs ohne Landbezirk einen Abgeordneten für
sich zu wählen hat, war die nationale Partei in den letzten Jahren immer in
bedeutender Minderheit, wenn es ihr nicht etwa behagte, statt eines energischen
politischen Charakters einen dem Parteikampf fernstehenden oder politisch¬
gänzlich verschwommenen Candidaten aufzustellen. Die Mehrheit in der Stadt
Tübingen besteht nämlich zum größten Theil aus einer dem Weingärtnerstand
angehörigen rein ländlichen, aber mehr vom Taglohn als von der Bewirth¬
schaftung des eigenen kleinen Grundbesitzes lebenden Arbeiterbevölkerung, welche
seit Einführung des allgemeinen Stimmrechts sich der demagogischen Bearbei¬
tung ganz besonders zugänglich erwiesen hat. Die Professoren Schäffle, Brieg,
Mantry, Fricker u. A., welche unter dem Minister Golther zur Bekämpfung
der national-Gesinnten und des deutschen Professorenthums an die Tübinger
Universität gezogen worden waren, hatten denn auch seit 1866 im Bund mit
einzelnen Mitgliedern der katholischen Facultät und dem aus Tübingen stam¬
menden Beobachtersredacteur Carl Mayer und ähnlichen Elementen mit allen
Mitteln demagogischer Redekunst jene Klasse der Wähler gegen Alles, was
vom Norden kam, (Ihre Landsleute natürlich nicht ausgenommen!) gründlich
zu verhetzen gewußt, was ihnen schon durch die sprachlichen Hilfsmittel, zumal
wenn diese sich in dem breiten oberschwäbischen oder allgäuer Dialect mit
obligatem Druck der schwieligen Hände äußerten, trefflich gelang, während den
Norddeutschen, selbst wenn sie es wagten, sich einer rohen fanatisirten Claque
entgegen zu werfen — schon wegen ihrer abweichenden Mundart jeder Erfolg
unmöglich war.
Neuerdings ermannte sich nun mehr und mehr das bessere ganz intelli¬
gente, aber bisher durch die Massen terrorisirte Bürgerthum der Stadt zu
selbständiger politischer Thätigkeit, während andererseits der Schäffle'sche Nach¬
wuchs sich mehr und mehr verliert und durch den jetzigen Cultusminister nich t
mehr ersetzt wird; wie man denn auch den Abgang des Professors Fricker,
der seine Berufung nach Leipzig weniger seinen literarischen Erfolgen, als
wie wir hören einer Empfehlung Schäffle's an Röscher verdankte — von hier
aus sehr gerne wahrnahm. Bei der letzten Wahl ist nun zwar die nationale
Partei, welche diesmal in der Person eines Kreis-Gerichts-Raths Geß einen
ebenso talentvollen als energischen und redegewandten Candidaten aufgestellt
hatte, dem Gegner aus der vereinigten ultramontanen und demokratischen
Professorenpartei, der die Masse der „Weingärtner" auf seiner Seite hatte,
nach einem äußerst heftigen Wahlkampf wieder unterlegen, sie brachte es aber
diesmal zu einer so hohen Stimmenzahl, daß wir nicht zweifeln, es werde bei
nächster Gelegenheit gelingen, diese letzte Burg der Gegner im protestantischen
Theil des Landes zu überwinden.
Doch kehren wir zu Herrn von Sick zurück! Sein Wiedereintritt in die
Ständekammer — er vertrat früher bis zu seiner Berufung in das Ministe¬
rium die Stadt Stuttgart — hat gegenwärtig eine ganz besondere Bedeu¬
tung. Besteht auch äußerlich kein gespanntes Verhältniß zwischen ihm und
von Mittnacht, so liegt doch eine tiefe Kluft zwischen beiden. Es ist bekannt,
daß Herr v. Mittnacht bisher keinem seiner Collegen das Heiligthum des
Bundesraths in Berlin zu betreten gestattete, offenbar um die Vermittlung
zwischen dem Reich und Württemberg allein oder doch in ausschließlicher
Verbindung mit dem württembergischen Gesandten zu Berlin in Händen zu
behalten: man erzählt sich, daß Herr v. Sick zu der Berathung des Bankge¬
setzes neulich sich in Berlin einfinden wollte, daß aber Herr v. Mittnacht
mit Erfolg die Ausführung dieses Entschlusses zu hintertreiben wußte.
Natürlich wird für die andern Minister diese Stellung von Tag
zu Tag drückender und verletzender! Dazu kommt nun aber ein anderer Um¬
stand: die kirchliche Frage spitzt sich auch in Württemberg immer mehr zu
einer Krisis zu. Wir haben früher geschildert, wie man bisher um des lei¬
digen Friedens willen Schritt um Schritt vor den kirchlichen Anforderungen
zurückgewichen war: aber man ist jetzt bei einem Wendepunkt angelangt: denn
unsere protestantische Bevölkerung wird immer mehr mißtrauisch und richtet
sammt der Geistlichkeit ihre Blicke mehr nach Preußen als man in Stuttgart
gerne sieht, und mit dieser zunehmenden Aufregung läßt sich nicht spaßen.
Man hatte sich bisher in hohen Kreisen der eigenthümlichen Meinung hinge-
geben, daß die Erhaltung des kirchlichen Friedens in Württemberg nicht —
wie es in der That der Fall — der kirchenpolitischen Convenienz des Vatikans,
sondern einzig und allein der hohen Staatsklugheit der württembergischen
Regenten und Staatsmänner — gegen welche Bismarck ein Stümper — zu
verdanken sei. Staatsminister von Golther, der langjährige Verfolger aller
nationalen Bestrebungen im Lande, hatte sein Buch: „Der Staat und die
katholische Kirche in Württemberg" keineswegs in der Absicht geschrieben, den
Kulturkampf und damit die nationale Sache zu unterstützen, sondern viel¬
mehr um seine und der württembergischen Regierung höhere Weisheit und
rechtzeitige Vorsicht (— beiläufig eine Entstellung: denn nicht letztere sondern
der Sturm der Volksentrüstung war es gewesen, welche s. Z. das von einer
kurzsichtigen Regierung abgeschlossene Concordat mit der päpstlichen Curie über
den Haufen geworfen hatte! —) in das gewünschte Licht zu stellen. Um so
großer war für Herrn von Golther, den jetzigen Consistorialpräsidenten, die
Verlegenheit, als er auf einmal durch sein Werk in das Nenomme eines
Culturkämpsers und dadurch in die Gefahr kam, bei den katholisirenden weib¬
lichen Hofkreisen, die Gunst, welche er dort besitzt, zu verlieren. Um sie sich
wieder zu sichern, griff er zu einem höchst bedenklichen Mittel: zu der Grün¬
dung eines großartig gedachten, mit einer Verloosung verbundenen Bazars
für die Erbauung eines katholischen Frauenklosters in Stutt¬
gart. Beamte und Unterröcke, alles sollte in Bewegung gesetzt werden für
das neue Unternehmen. — Der Präsident des evangelischen Consistoriums —
— als Sammler für ein katholisches Frauenkloster — das war denn doch
unserer protestantischen Bevölkerung, auch solchen, welche nicht gerade zu den
„Frommen" gehörten, zu viel! Daß Golther als galanter Mann auch in
Theaterkreisen gern gesehen ist, hatte diese Frommen längst verschnupft, be¬
sonders als man dem Prälaten von Kopf wegen einer ganz unschuldigen
Sache so strenge zu Leibe ging — und nun gar ein Frauenkloster! Unser
Volk versteht, wie schon bemerkt, in solchen Dingen keinen Spaß und manche
württembergische Negierung hat in dieser Beziehung schon bittere Erfahrungen
gemacht. Wenn einmal die protestantische Geistlichkeit in der Residenz störrig
wird, dann sieht es draußen im Lande noch viel schlimmer aus. So sah
man sich denn genöthigt, durch gleichlautende lange Erklärungen im Staats¬
anzeiger und schwäbischen Mercur die sich immer mehr steigernde Mißstimmung
zu beschwichtigen.
Man versprach das durch den Bazar zu erzielende Geld auch für pro¬
testantische Zwecke gleichmäßig zu vertheilen, man versprach noch einen beson¬
dern Bazar für die neue protestantische Johanniskirche in Stuttgart. Aber
alles war vergebens. Das Mißtrauen ist einmal erregt und nicht ohne
Grund: denn woher soll das Geld für das katholische Frauenkloster sonst
kommen als aus protestantischen Kassen? Die Katholiken brauchen ihr Geld
für Peterspfennige und alle möglichen Brüderschaften und Congregationen:
wer will ihnen zumuthen, es dem Präsidenten des evangelischen Consistoriums
zu geben, damit er davon ein katholisches Frauenkloster baue?
Selbst für die Minister wurde die Sache bedenklich. Sogar auf den
Hofhallen sollten sie den Beschützerinnen des Herrn von Golther Rede und
Antwort stehen über das Neichsstrafgesetzbuch und die verbotenen Lotterien.
Was aber dort gesprochen wird, verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch die
Residenz. Geht doch, hieß es jetzt, der Uebermuth der katholischen Kreise
schon soweit, von den Protestanten zu verlangen, daß sie den Aschermittwoch
feiern! Eine katholische Jnterpellation des Ministers von Sick aus Hofkreisen
wegen des Tanzens einer Honoratiorengesellschaft in der Fastenzeit macht so¬
fort die Runde: und andern Tags schon bilden die Uebergriffe des Papis-
mus das allgemeine Gespräch in den Tanzkränzchen und Casinos! Kleine
Ursachen haben schon oft große Wirkungen erzeugt.
Der Stuttgarter erwachte plötzlich aus langem Schlaf und nahm auf
einmal wahr, wie die schwarze Schmeißfliege sich während seines Schlummers
überall eingenistet und sogar auf seinem Antlitz häßliche Spuren hinterlassen
hatte. Daß ein früher in Rom dem Jesuitenorden beigetretener und jetzt in
Stuttgart fungirender Kaplan die von ihm nach der Jesuitenregel gegründeten
marianischen Verbindungen bis in das protestantische Gymnasium hinein ver¬
breiten konnte, war schon arg genug, um von dem Treiben der katholischen
Gesellenvereins ganz abzusehen. Noch schlimmer erschien Vielen — wir
hatten längst darauf aufmerksam gemacht — die plötzliche Wahrnehmung
wie die, Katholiken durch ihre Demuth nach Oben, durch den fortwährenden,
an den „Gruß der Maria" erinnernden Bortrag des „Hie gut Württemberg
allewege" sich in den Besitz aller fetten Pöstchen und Nebenämtchen zu setzen
gewußt, und daß man nachgerade in Württemberg nur katholisch zu werden
braucht, um seine Kinder auf Staatskosten umsonst studiren lassen zu können.
(Man erwartet jetzt mit Recht von der Negierung die Vorlage einer Statistik
über die in den letzten 25 Jahren im württembergisch-katholischen Kirchendienst
verbliebenen, im Verhältniß zu der Gesammrzahl der auf Staatskosten all¬
jährlich auferzogenen Eleven!) Auch daß der aus der vorhergeschilderten gro߬
deutschen Professorenpartei nach Stuttgart berufene Oberbürgermeister der Re¬
sidenz sich in öffentlicher Rathhaussitzung zu Gunsten der Überlassung des
Schulunterrichts an die katholischen Schulschwestern ausgesprochen, erregte
nicht geringe Bestürzung.
Ganz unerträglich findet man es aber, daß neuerdings die „gesperrten"
Preußischen Priester sich mehr und mehr einnisten. Bisher waren es nur
wenige heimathlose Literaten gewesen, welche aus Preußen gekommen, um sich
auf Kosten harmloser Volksparteiler zu mästen, denen sie dann nach dem
Vorgang des heidnischen Angedenkens zum Danke für Speise und Trank gar
„gruselige" Dinge, wie es der volksparteiliche Magen bedarf, aus Preußen
vorzutragen wußten.
Aber mit den katholischen Pfarrverwesern ist es jetzt eine ganz andere
Sache, diese muß der württembergische Staat bezahlen, und wir sollen Leuten,
welche alle Staatsgesetze offen verhöhnt haben, eine Heimstätte gewähren, sollen
die Erziehung unserer Jugend — die Schule ist bei uns noch ganz in den
Händen der Kirche —- diesen verbitterten Feinden des modernen Staats, des
Reichs, der protestantischen Mitbürger in die Hände geben? Was helfen uns
dann die Bestimmungen unseres Golther'schen Kirchengesetzes über die Er¬
ziehung der Kleriker in staatlichen Instituten, wenn der Bischof gegen die aus¬
drückliche Bestimmung des Kirchengesetzes auswärtige Geistliche im Lande ver¬
wenden darf? Einen Unterschied zwischen „Anstellung" und bloser „Verwen¬
dung zu statuiren, würde die ganze Vorschrift illusorisch machen, da ja be¬
kanntlich das Bestreben der Curie neuerdings gerade dahin geht, alle festen
Pfarrpfründen in Pfarrverwesereien zu verwandeln.
Ganz besonders wendet sich aber jüngst wieder die öffentliche Aufmerk¬
samkeit der Stellung des Ministers von Mittnacht zu. Derselbe vereinigt,
wie bekannt, in seiner Person die Ministerien der Justiz und des Aeußern
und noch dazu den Vorsitz im Ministerrath. Er giebt sich im Verkehr mit
den Protestanten als einen freisinnigen Katholiken und weist jede Gemein¬
schaft mit den Ultramontanen weit zurück, aber wohl bemerkt nur unter
Protestanten. — Alle Katholiken rechnen ihn zu den besten und zuverlässigsten
Stützen ihrer Partei, das eben wieder erstandene deutsche Volksblatt so gut
als das zum Aerger der kleinen ganz protestantischen ehemaligen Reichsstadt
Bopfingen dort neuerdings unter Mitwirkung eines flüchtigen preußischen
Geistlichen erscheinende Hetzblatt „der Anzeiger vom Jof". Und hat nicht
Herr v. M. seiner Zeit auf einer Katholikenversammlung einen Toast „aus'
den bedrängten Greis im Vatikan" ausgebracht, hat er nicht soeben, wie die
clerikalen Blätter mit großem Jubel melden, als treuer Sohn seiner Kirche
das Einführungsgesetz zum Reichsgesetz über die Civilehe dem Bischof zur
vorgängigen Cognition und Genehmigung vorgelegt, und hat nicht mit Rück¬
sicht hieraus der elerikale Präsident, unser kleiner Fürst Zeil (in der That
ein geeigneter Wortführer für das ganze Land zur Beantwortung der Thron¬
rede!) es sofort bei der Kammereröffnung laut verkündigt, daß die Reichs-
gesetzgebung über die Civilehe mit Schonung der religiösen Gefühle — d. h.
natürlich nur im Sinn der katholischen Kirche! ins Leben einzuführen sei?
Etwas Rücksicht sollen freilich die Katholiken auf die schwierige Stellung des
Herrn von Mittnacht in der protestantischen Hauptstadt nehmen: dafür haben
sie ja auch die Ehre -und den Vortheil, einen der Ihrigen in der einflu߬
reichsten Stellung an der Spitze der ganzen württembergischen Regierung zu
besitzen. Recht ungeschickt war es deßhalb von der Bonner „deutschen Reichs-
Mung", dein Organ für das katholische deutsche Volk, daß dieselbe vor einiger
Zeit Herrn von Mittnacht ausdrücklich als einen „Ultramontanen" für sich
reclamirte und ihn ihren katholischen Lesern im Gegensatz zu den bayrischen
Ministern Fäustle und Lutz als gut „römisch-katholischen" Mann vorstellte
und noch dazu mit siegestrunkener Freude auf die Zustände im Departement
der Auswärtigen hinwies. Letztere können allerdings einem guten Württem¬
berger schlaflose Nächte bereiten. Man höre! Jenes ganze Departement, die
Gesandtschaften eingeschlossen, ist fast ausschließlich von Katholiken verwaltet!
Und was das heißt! Alle württembergischen Staatsgeheimnisse der Gegenwart
und der Vergangenheit, die theuersten historischen Erinnerungen, die geheimsten
Correspondenzen seit den Zeiten des Herzogs Christof, kurz das ganze dem
Ministerium der Auswärtigen unterstehende Staatsarchiv — ist vor den
Jesuiten nicht mehr sicher! Ist doch der Kanzleidirektor des Ministeriums
der Auswärtigen, der Alterego des Ministers, der Mann dem alle Geheim¬
nisse, auch die chiffrirten Correspondenzen offen stehen, nicht nur ein Katholik
wie Mittnacht, sondern ein eraltirter Convertit, der an der Spitze des katho¬
lischen Gesellenvereins in Stuttgart steht und den Versammlungen des Mainzer
Katholikenvereins nachzieht, kurz die württembergische Ausgabe des Herrn von
Los in Mainz. Das wird auch Herr v. Mittnacht nicht dementiren wollen.
Wie es aber in der Justiz steht, darüber haben ja die Grenzboten schon vor
Jahren berichtet.
Wir haben zu einer Zeit, als noch alles schwieg, die Anfänge dieser Be¬
strebungen ans Licht gezogen und die öffentliche Meinung auf dasjenige vor¬
bereitet, was jetzt eingetreten ist: Es mußte arg werden, es mußte dem
Schwaben, wie man hier zu sagen pflegt, erst „das Fell über die Ohren ge¬
zogen werden". Nun aber regt sich's überall, die Fluth steigt zusehends. Und
nun--kehren wir zu Herrn von Sick zurück. Bedenken Sie wohl, daß
Tick ein strenger Protestant, der Abgott des echten Stuttgarter Bürgerthums
und noch dazu ein Liebling wenn auch kein Zugehöriger der „Frommen" im
Lande ist: und Sie werden verstehen, was es bedeutet, wenn der Mann der
gefälligsten Formen, der Mann, der nicht kalt und berechnend ist wie Mitt¬
nacht, sondern mit einer gewissen Hingebung jeden nach seiner Weise zu be¬
handeln versteht, in die dermalen — seit Hölder's Wahl zum Kammerpräsi¬
denten auch die nationale Partei nicht ausgenommen — führerlose und möchte
ich fast sagen rathlose Ständekammer eintritt. Wohin die Würfel fallen
werden, kann für denjenigen, der das protestantische Württemberg kennt, und
die Verhältnisse im deutschen Reich in Rechnung zieht, keinem Zweifel
unterliegen. Ob es Herrn v. Mittnacht, dem schlauen und nöthigenfalls auch
kühnen Politiker, gelingt, im letzten Augenblick ein Compromiß herauszu¬
schlagen, scheint uns jetzt allein noch die Frage. Dazu bedürfte es aber, so¬
wie die Dinge liegen, eines offenen Bruchs desselben mit der clerikalen
Partei, welchen H. v. M. bisher um jeden Preis zu vermeiden suchte. Das
ganze Land fordert endlich Klarheit über das Verhältniß des württembergi¬
schen Staats zu der reichsfeindlichen Macht der Kirche. Oder sollte etwa
Herr von Mittnacht daran denken, die letzte Karte auszuspielen, seine Schiffe
hinter sich zu verbrennen und die Führung der nationalen Partei in der
Mit den geistlichen Führern der Clerikalen stimmt fest und unentwegt
das Gros der bäuerlichen Deputaten, so daß man zweifeln kann, was man
mehr anstaunen soll, die feste Taktik, die diese Elemente zusammenhält oder
die blind vertrauende Willigkeit, mit der sie sich zusammen halten lassen.
Manchmal freilich hatte es schon den Anschein, wie wir auch früher schon an¬
gedeutet haben, als ob die Extremen der ultramontanen Partei nicht mehr so
recht fest das Heft in Händen hätten; wenn aber auf irgend welche Mitglie¬
der der Rechten, so können sie auf diese Abgeordneten des „platten Landes"
zählen. Sie sind die treue Heerfolge ihres Meisters, des Herrn Jörg.
Denn, wenn dieser sich auch hier und da die Miene giebt, als führe er nicht
mehr das große Wort unter seiner Schaar, er ist und bleibt doch das Haupt
derselben, alle seine Parteigenossen um eines Kopfes Länge überragend. Das
ist aber nur im geistigen Sinne zu verstehen, denn von Person ist Jörg ein
nicht allzugroßer Murr; wie in sich gekehrt, scheinbar oft der Debatte nicht
allzu aufmerksam folgend, sitzt er auf seinem Platze, seine Züge beleben sich
auch nicht sonderlich beim Reden, aber die prononcirte Art, mit der er spricht,
und seine schneidenden Worte in die Ohren der Hörer gleichsam einbohrt, ver¬
leihen seinen Reden eine hervorragende Bedeutung. Kein Gedanke, kein Wort
ist unüberlegt, jetzt ist's eine ätzende Schärfe, mit der er den Minister oder einen
Vorredner kritisirt, dann ein kaustischer Witz, mit dem er reizt, jetzt wieder
eine auch gegen den Gegner glatte Höflichkeit, unter der aber schon ein neuer
Angriff lauert, mit der er seinem Vortrag eine überraschende Wendung
gibt — immer weiß er zu fesseln, festzuhalten, bei Freund und Feind nach¬
haltigen Eindruck zu machen. An positivem Wissen, wie Wenige reich, wird
er von einem seltenen Gedächtniß unterstützt, mit dem er schon manchen seiner
politischen Gegner in der Anführung irgend einer vor Jahren, freilich unter
ganz andern Verhältnissen, gethanen Aeußerung einen unangenehmen Augen¬
blick bereitete.
Am unleidlichsten sind Herrn Jörg und seinen Gesinnungsgenossen jene
schon früher genannten Sechs, welche durch ihren Abfall von der ultramonta¬
nen Partei einen entschiedenen Sieg derselben in dieser Kammersession
unmöglich gemacht haben. Es ist das zunächst Herr Sepp, der Orientfahrer,
der Barbarossa's Gebeine hat suchen wollen, und zwar nicht den todten alten
Kaiser gefunden hat, aber mit Begeisterung nun zum neuen lebenden sich
hält; Dr. Schleich, der geistreiche Schriftsteller und Humorist, der an seinen
einstigen College« von der Rechten die Stelle des Kladderadatsch vertritt und
sie oft mit unbarmherzigen Spotte geißelt; Apellrath Gürster, der Jurist genug
ist, um den eigenthümlichen Rechtsanschauungen seiner mit dem kanonischen
Recht durch dick und dünn durchgehenden Zunftgenossen nicht folgen zu können;
der biedere Bezirksamtmann Maier von Landsberg, auf den „Vaterland" und
„Volksbote" nicht genug der Verdächtigung wälzen konnten; und endlich die
trefflichen Schwaben Bastner und Prestele, einfach bürgerliche Männer, die
zuerst auch meinten, das „patriotische Programm" sei der Freibrief fürs
Himmelreich, dann aber auf einmal dessen Fadenscheinigkeit erkannten und
fortan eine stets sich gleich bleibende Unterstützung der liberalen Abstimmungen
wurden. Seit vorigem Sommer hat sich diesen „Angefallenen", wie sie bei
den Clerikalen heißen, noch der erste Seeretair Eder angeschlossen. Doch auch
davon haben wir schon gesprochen.
Wenden wir uns auf die linke Seite des Hauses. An Charakterköpfen
fehlt es selbstverständlich hier auch nicht. Da sitzt einmal gleich vorn an an
der Ecke der obersten Bank Herr Volk, wohl das am weitesten im deutschen
Reiche bekannte Mitglied der bayrischen Abgeordnetenkammer, eine kräftige,
gedrungene Gestalt; er hält den Kopf in die Hand gestützt, er lauert auf den
Moment, wo er in die Debatte einspringen und seinen Gegnern ihm gegen¬
über seine allzeit schlagenden, treffenden Worte zuschleudern kann. Wohl keiner
seiner Parteifreunde hat so viel schon gesprochen, als Volk; wir wollen nicht
behaupten, daß alle seine Reden immer von gleichem Gehalte waren — ,,6or»
una-t vt Ilvlnerus —aber stets war und ist etwas in ihnen, was packt.
Man hört die mächtige Stimme immer gern und freut sich immer auch der
Formvollendung, in die er seine Gedanken kleidet. Etwas weiter unter Volk
hat ein ebenfalls hochbedeutendes Mitglied der liberalen Fraktion seinen Platz,
ihr alter, bewährter Führer, der im vorigen Sommer sein 23 jährigcs Par^
lamentsjubiläum gefeiert hat: Carl Cramer. Vom einfachen, schlichten Ar¬
beiter hat er sich zu der prononcirten Stellung emporgeschwungen, die er unter
seinen Parteigenossen einnimmt. An Sachkenntniß, Klarheit der Gedanken,
Wie des Ausdrucks kommt ihm keiner gleich. Er spricht seltener und kürzer,
als mancher Andere, aber er spricht stets zur rechten Zeit, wo es gilt, entwe¬
der einen verwickelt geschürzten Knoten zu lösen, oder eine zerfahrene Debatte
zu reguliren, die nöthigen Richtpunkte anzugeben: immer erscheint er als der
Feldherr, der unbeirrt und sicher die Schlacht zu leiten — und zu gewinnen
weiß. Sein eminentes finanzielles Talent hat Krämer im dermaligen Land¬
tag als Vorstand des Finanzausschusses bewährt; er hätte so das Holz, aus
dem man Finanzminister schmilzt. Noch eine Bank unterhalb Cramer sitzt
der Augsburger Regierungspräsident v. Hörmann, der frühere Minister des
Innern, dem die Ultramontanen niemals die „Wahlkreisgeometrie" vergeben
können, die zu ihrem Nachtheil getrieben zu haben sie ihn beschuldigen. Zu
Anfang des Jahres 1870 hat darum Hörmann mit ihnen bittere Redegefechte
gehabt, jetzt spricht er meist nur bei rein praktischen, von ihm stets gründlich
erfaßten Fragen. Außer ihm hat die Stadt Augsburg, wenn auch nicht alle
als ihre Abgeordneten, so doch aus ihren Mauern noch drei Herren in die
Kammer geschickt: den schon genannten Dr. Volk, dann ihren Bürgermeister
Fischer, der nie ohne einen starken Anflug von Satire oder Malice sprechen
kann, und den einen der beiden diesrheinischen protestantischen Pfarrer, die
in der Kammer sitzen, Herrn Braussold. Die protestantische Geistlichkeit erfreut
sich nicht der gleich starken numerischen Vertretung, wie ihre Stiefbruder auf
der andern Seite des Hauses, aber in Herrn Braussold ist sie durch einen
mannhaften, streitbaren Helden repräsentirt, der, auf allen Gebieten des öffent¬
lichen Lebens wohl zu Hause, eine klare kräftige Sprache spricht und sie auch
wohl mit manch gutem Körnlein attischen Salzes zu würzen versteht.
Schärfere Zunge noch als er führt der neben ihm sitzende Reichstagsab¬
geordnete Schauß, in dessen Hände oder vielmehr Rede zu fallen, manchem
Patrioten schon übel bekommen ist; es giebt wenig Physiognomien, die so zur
Malice angelegt erscheinen, als die des genannten Herrn. Viel friedlicher
nehmen sich ein paar der obern und über ihm sich hinziehenden Reihen aus,
in denen pflichttreue, aufrichtig liberal gesinnte, aber schweigsame Männer
Platz genommen haben, die höchstens ein, zweimal in einer Session das Wort
ergreifen, aber deren Stimmen so gut und gewichtig, wie die der gesprächigsten
und gewandtesten Redner zählen. Am häufigsten noch erhebt sich in der
obern Ecke des Saales eine Stimme, die des langjährigen Abgeordneten
Töckerer, des weißen Raben aus dem kohlschwarzen Niederbayern. Mit Vor¬
liebe betont der wackere Mann, den seine Freunde diesmal mit doppelter
Freude begrüßt haben, weil ihn schwere Krankheit heimgesucht hatte, bei
allen seinen sxczaeks den bäuerlichen Standpunkt, den er einnimmt, während
er wohl im Stande ist, auch einen andern aufs beste zu vertreten. Vergessen
wir nicht noch einer jüngern Kraft Erwähnung zu thun, des namentlich um
Eisenbahnangelegenheiten schon wohl verdienten Dr. Und, eines der beiden
Aerzte, die die Kammer aufzuweisen hat; dann des in nationalökonomischen
Fragen bestbewanderten Würzburger Professors Gerstner; des schneidigen Vor¬
standes der Petitionskommission, Bezirksgerichtsrathes Herz, der bei der letzten
Retchstagswcchl den Ultramontanen weichen mußte und den dann dafür als
„süddeutschen Bruder" Berlin ins Parlament sandte. Schon früheren Land¬
tagen haben angehört und darin sich ausgezeichnet die Herren Hohenadel und
Professor Edel — damit werden wir so ziemlich die hervorstechendsten Namen
der Linken genannt haben.
Eine sogenannte Mittelpartei im frühern Sinne, die bei den letzten Land¬
tagswahlen von der Fortschrittspartei gänzlich verdrängt wurde, giebt es, wie
wir schon bemerkt, nicht mehr. Aber eine, wenn wir so sagen dürfen, pro-
vinziale Partei findet sich, das sind die Abgeordneten aus der Rheinpfalz.
Diese Provinz hat schon wegen ihrer geographischen Lage und ihrer eigenen
Gesetzgebung, dann auch wegen der in ihr viel früher, als in den diesrheini-
schen Kreisen, erwachten liberal oppositionellen Gesinnungen immer eine etwas
besondere Stellung eingenommen und so sind auch ihre Deputirten von einem
ziemlich ausgeprägten Corpsgeist erfüllt. Dieser ist geblieben, auch nachdem
nun schon seit Jahren eine völlige Gleichstellung der Pfalz auf allen Gebieten
des öffentlichen Lebens mit den alten Provinzen erfolgt ist: die Pfälzer be¬
trachten jede Borlage unter dem pfälzischen Mikroskop, messen jede Verhand¬
lung an ihren Interessen und wachen eifersüchtig über ihren wirklichen oder
manchmal nur vermeintlichen Rechten, zu denen sie namentlich das zählen,
daß in jeder Commission die Pfalz wenigstens durch ein, womöglich durch
mehr Mitglieder vertreten sein muß. Auch gesellschaftlich sondern sich die
Herren von jenseits des Rheins gerne ab, aber all das mag man ihnen gern
nachsehen, wenn man daran denkt, wie im Sommer 1870 die Pfalz die Vor¬
hut des deutschen Lagers war. wie sie damals nach jedermanns Anschauung
das Objekt französischer Raublust sein mußte, und die pfälzischen Abgeordneten
doch mannhaft der Sorge um Weib und Kind, Haus und Hof sich entschlu-
gen und jeder von ihnen in jener schon erwähnten Nachtstunde des 19. Juli
auf seinem Posten stand, um sein Votum für Baierns Eintritt in den großen
Kampf abzugeben.
Wir hätten nun, wollten wir ein erschöpfendes Essay über den bairischen
Landtag geben, noch eine Stiege höher zu steigen und einen Blick in den
Saal der Reichsrathe, der ersten Kammer, zu thun, allein diese königlichen
Hoheiten, durch- und erlauchten und hohen Herren haben noch keine einzige
Sitzung gehalten — und zu ihnen zu kommen und von ihrer Bedeutung für
das bairische Staatswesen zu sprechen ist noch immer Zeit genug.
Die Allerhöchste Verordnung, welche die Einberufung der Bezirksver¬
tretungen von Elsaß-Lothringen zu einem außerordentlichen Bezirks¬
tag verfügt, datirt vom 8. März d. I. Der Bezirkstag selbst ist auf den
3. April ausgeschrieben und wird höchstens fünf Tage dauern. Welches die
Gegenstände der Berathung sein werden, ist mit Ausnahme der vorzuneh¬
menden Wahl zum „Landes-Ausschuß" zur Zeit noch unbekannt. Jedenfalls
werden sie mit den Interessen des Landes auf das Innigste verknüpft sein.
Erfreulich ist dabei die Wahrnehmung, daß man heute so ziemlich allerorts
zu der Ein ficht gekommen ist, daß die bekannten Eidesverweigerungen,
wodurch im vorigen Jahre die auf den 28. August anberaumte ordentliche
Sitzung der Bezirkstage von Ober-Elsaß und Lothringen nicht zu Stande
kommen konnte, seitens der betr. Mitglieder ein falscher, mit den Landes-
Jnteressen nicht zu vereinbarender Schritt gewesen ist. Innerhalb der höhern
Landesverwaltung hat sich bekanntlich seit Anfang dieses Monats eine be¬
deutende Personal-Veränderung vollzogen. Der Posten eines Vice-Präsidenten
am Ober-Präsidium ist durch die Creirung des Herrn v. Ledderhose zum
Bezirks-Prästdenten des Unter-Elsasses erledigt und wird voraussichtlich nicht
mehr besetzt werden. Der anerkannt kostspielige Verwaltungs-Haushalt des
Neichslandes wird dadurch um 12,000 M. erleichtert. Wo sonst noch in
dieser Beziehung zu kürzen und zu vereinfachen sein dürfte, wird sich in der
Folge zeigen. Der bisherige unterelsässische Bezirks-Präsident, Herr v. Ernst¬
hausen ist nach dem Ober-Elsaß versetzt worden, an die Stelle des unlängst
geschiedenen Freiherrn v. d. Heydt. Auch sonst sind in den letzten Tagen
noch mannichfache Verschiebungen und Versetzungen in den höhern und niedern
reichsländischen Beamtenkreisen vorgekommen, die im Einzelnen einer besondern
Erwähnung nicht bedürfen. Vor einigen Wochen tauchte auch wieder das
Gerücht von einem bald bevorstehenden Rücktritt des Ober-Präsidenten, Herrn
v, Möller in Straßburg, auf. Diese Combination ist jedoch unbegründet
und wird neuerdings dementirt.
Der Herr v. d. Heydt hat bei seinem Scheiden aus dem Reichslande den
Bewohnern des Ober-Elsasses einen warmen, fein empfundenen und ausge¬
drückten Abschiedsgruß gewidmet, der von sämmtlichen Blättern des Reichs¬
landes in voriger Woche reproduzirt worden ist. Es heißt darin u. A:
„Bei Ueberleitung der Verwaltung in ihre neue Richtung war mein ernst¬
lichstes Bestreben, nicht nur den Interessen des Bezirks und seiner Bevölkerung
gerecht zu werden, sondern vor Allem, die Versöhnung der Gemüther
mit den Thatsachen anzubahnen." Wenn dies dem trefflichen Manne
und ausgezeichneten Verwaltungsbeamten zur Zeit auch wohl nur zur Hälfte
gelungen ist, so gebührt ihm doch für das Erreichte der wärmste Dank sowohl
der einheimischen, als der eingewanderten Bevölkerung. Wenn einstweilen
nicht mehr erreicht wurde und vielleicht nicht einmal so viel, als mancher
wohl erwarten mochte, so liegt nicht die Schuld an ihm, sondern an eigen¬
thümlichen Verhältnissen, die sich im Reichslande erst seit den letzten Jahren
entwickelt haben und die ich Ihnen zum Theil unten zu skizziren gedenke.
Er selbst war — darüber sind hier zu Lande alle Stimmen einig — persön¬
lich liebenswürdig und zuvorkommend gegen Jedermann, den Eingeborenen
und ihren berechtigten Eigenthümlichkeiten gegenüber äußerst schonend und
milde, seinen unmittelbar Untergebenen als ein unermüdlicher und pflicht¬
treuer Beamter bekannt.
Trotz alledem ist und bleibt die „Versöhnung der Gemüther mit den
Thatsachen" eine gar schwierige Herkulesarbeit und steht noch in mancher
Beziehung so ziemlich am Anfang der Dinge. Das Eine ist allerdings in
den vier Jahren deutscher Verwaltung erreicht, daß die Elsaß-Lothringer für
spezifisch französische Einrichtungen und Gebräuche, mit Ausnahme einer
sehr unbedeutenden Minderheit, die nun einmal die „Unversöhnlichen." spielen
wollen bis zu ihrem seligen Ende, nicht mehr so sehr schwärmen, wie im
Anfange. Das ist aber auch wieder weniger das Werk der deutschen Ver¬
waltung als solcher, als vielmehr der augenblicklichen Entwicklung der Dinge
in Frankreich selbst zu verdanken, die auch dem Blödsichtigsten als das er¬
scheint, was sie ist, ein jammervolles Zerrbild einer einst großartigen und
dominirenden Nation.
Dazu kommt, daß selbst zur französischen Zeit das Verhältniß hier un¬
gefähr das nämliche war. Auch damals waren die Elsaß-Lothringer stets
die opponirende Partei in Parlament und Presse, die ihre nationale Selbstän¬
digkeit und ihre „berechtigten Stammes - Eigenthümlichkeiten" gegenüber dem
eigentlichen Stock-Franzosenthum allerwärts bewahrt und geachtet wissen
wollten- In gleicher oder doch annähernd ähnlicher Weise wollen sie nun
auch dem Deutschthum gegenüber stehen. Auch hier wollen sie von einer to¬
talen Verschmelzung mit dem Gesammtreich nichts wissen, auch hier nicht so
sehr Deutsche, als Elsässer sein und bleiben. Es existirt eine sog. alt-
elsässische Partei, die in der Mitte stehen will zwischen den Deutsch-Elsässern
und den Französisch-Elsässern, und zu der man heutzutage unstreitig die
überwiegende Mehrheit der neuen Neichsbürger zählen muß.
Am beredtesten und ausführlichsten hat dieselbe ihr Programm in einer
vorigjährigen Nummer des „Elsässer Journals", welches- man als ihr Organ
bezeichnen darf, entwickelt, dessen charakteristischste Stellen hier mit Verlaub
des Lesers reproduzier werden sollen: „Elsaß wurde gegen seinen Willen von
Frankreich, dem „großen Vaterland" losgerissen; das Elsaß bleibt aber den
Elsässern das „engere Vaterland"; diesem schulden sie ihre Thätigkeit, und
zwar um so mehr, weil einerseits die Versuche Deutschlands, dieses Land in
sich aufgehen zu lassen, bedeutender sind (!) und weil andrerseits die Möglich¬
keit einer „Revanche" Frankreichs immer mehr chimärisch wird. Diese
elsässische Partei, die mit derjenigen der „Renegaten" nichts gemein hat,
arbeitet daran, unsern Bevölkerungen ihren besondern Charakter zurückzugeben
und ihn von der deutschen Regierung anerkennen zu lassen: Ihr Ideal
wäre die Gründung einer autonomen Republik Elsaß. Sie
weiß aber, daß sie dieses Ideal nicht erreichen kann, und sie verfolgt,
auf den Grundlagen des Frankfurter Vertrages, die Constituirung des Elsasses
zu einem so viel als möglich selbständigen Staat unter der Oberhoheit,
oder wenn man will, „Oberlehnsherrschaft" des deutschen Reiches. Sie ver¬
langt für das Elsaß das Recht, wie alle übrigen Staaten Deutschlands, sich
Gesetze zu geben, die keine Reichsgesetze sind, einen Landtag und Minister zu
haben (!). In einem Worte, die elsässische, rein elsässische Partei erleidet und
nimmt gezwungener Weise an die durch den Krieg und den Friedensvertrag
geschaffene Lage und sucht daraus den bestmöglichen Vortheil für das Elaß
und die Elsässer zu ziehen. Wir glauben, daß in nicht zu langer Zeit bei¬
nahe sämmtliche Elsässer dieser Partei angehören werden; denn in dieser Rich¬
tung allein liegt die Zukunft des Elsasses. Es gab Elsässer, die sich Deutsch-
Elsässer, andere, die sich Französisch-Elsässer nannten: Wir, wir wollen
elsässische Elsässer sein!"
Auf diese Weise liebt man es hier mit dem Gedanken und der Phrase
zu coquettiren: „Wir wollen weder Deutsche, noch Franzosen sein: Wir
sind Elsässer, und wollen Elsässer bleiben" — und schwelgt in diesen
schönen, träumerischen Ideen von einem Jahr ins andere. Interessant ist es
dabei, daß selbst die hübschen und liebenswürdigen Damen des Elsasses sich
für diese holden politischen Träumereien — denn höher darf man sie zur Zeit
gewiß nicht anschlagen — auf das lebhafteste begeistern und dafür mehr
schwärmen können, als selbst für Putz und Kleiderpracht. Man kann sicher
sein, daß man jedesmal bei ihnen einen Stein im Brett gewinnt, wenn man
geschickt das Gespräch auf diesen Gegenstand zu lenken und aus ihre Ideen
einzugehen versteht. So erinnere ich mich, daß bei der zuvorkommender
Wirthin auf den „Drei Aehren", als ich vor Kurzem diesem reizenden und
namentlich von den Deutschen mit Vorliebe besuchten Punkte in den Ober¬
oder Hochvogesen gleichfalls einen gelegentlichen Besuch abstattete, die an¬
fangs ziemlich stockende Conversation eine weit lebendigere Färbung annahm
und schier gar nicht zu Ende kommen wollte, als ich zufällig dieses poli¬
tische Gebiet streifte und die Dame dabei Gelegenheit erhielt, die Verfassung
ihres Zukunfts-Jdealstaates Elsaß-Lothringen bis in die kleinsten Details
hinein mit echtweiblicher Naivetät und feurigen Blicks mir auseinander
zu setzen.
Auch in dem deutschen Theile des Journal ä'^lsaeo" plädirte noch
jüngsthin F>an Marie Rebe in einer Reihe von Aufsätzen über das elsäs-
sische Elementarschulwesen, die einiges Aufsehen erregt haben, für Beibehaltung
des elsässischen Dialectes in der Unterrichtssprache. Das Hochdeutsche
solle man demselben nicht substituiren, wie dies jetzt leider allgemein geschehe.
Denn dem geborenen Elsässer klinge die hochdeutsche Schriftsprache ebenso
fremd, wie das Französische und sei ihm wo möglich noch weniger verständlich
als letzteres. Das ist allerdings Thatsache, die namentlich jeder eingewanderte
norddeutsche der gewandten und aus dem Herzen sprechenden Schriftstellerin
wird bezeugen können. Daraus wird man nun aber doch wohl nicht mit
Ernst folgern können, daß nun deswegen die einheitliche deutsche Unterrichts¬
sprache dem Dialecte eines einzelnen deutschen Landes weichen müsse. Mit dem¬
selben Rechte könnte unseres Ermessens auch der Hannoveraner und Bayer
verlangen, daß in ihren Volksschulen nur auf Alt-Hannoversch oder Alt-
Bayrisch gelehrt werde.
Auf der andern Seite ist wiederum bei Vielen das Vorurtheil gar sehr
verbreitet, „ihr heimischer Dialect sei unverständlich, häßlich und eigentlich gar
kein Deutsch." So hört man beispielsweise bei Gerichtsverhandlungen auf
die Frage des Präsidenten, ob Angeschuldigter oder Zeuge u. s. w. „Deutsch"
spreche, sehr häusig die charakteristische Antwort: „Nein, monsieur 1s xrvsi-
clont! Bloß Elsasser (Straßburger. Colmerer, Mühlhusener) Dütsch!"
Die Leute schämen sich einfach ihrer Muttersprache, weil sie glauben, sie
klinge nicht schön für den Zuhörer und ziehen es deshalb vor, sich franzö¬
sisch auszudrücken, weil sie sich so feiner und gebildeter vorkommen. Das ist
das andere Extrem, zu denen überhaupt der Elsässer, ganz so wie sein Nach¬
bar, der Rheinländer oder Pfälzer, wegen des lebhaften, sanguinischen Volks-
Temperamentes. überaus geneigt zu sein scheint. Ganz richtig bemerkt dage-
gen der Major Lucks, der kürzlich eine sehr schätzenswerthe „Topographie
und Statistik der deutschen Grenzmark Elsaß-Lothringen" herausgegeben
hat: „Es kann den Eingebornen nicht oft genug wiederholt werden, daß
ihr Dialect verständlicher ist, als mancher Dialect Alt-Deutschlands, und
daß sie ebensoviel Grund haben, auf denselben stolz zu sein, und ebenso
wenig, sich desselben zu schämen, wie der Westfale, der Pommer, der Schwabe,
der Sachse."
Dabei merken die guten Leute allerdings nicht, daß sie sich sowohl durch
diese Vorliebe für französischen Firniß und Politur, als durch jenen Aus¬
druck des oben näher 'charakterisirten Particularismus als echte, wenn auch
nicht ideale Deutsche, als dasjenige documentiren, was sie verächtlich „Schwa¬
ben" nennen. Denn auch der Deutsche von altem Schrot und Korn, der
dumme Schwob' liebäugelt noch gar zu gern und trotz der 70er Ereignisse,
was den äußern Schritt und Tact anbelangt, die elegante Form, das glatte
Exterieur in Kleidung, Sprache und Sitte, mit dem theuern unvergeßlichen
Nachbar jenseits der Vogesen. Und das ist ihm kaum zu verdenken. Denn
das muß man ihnen ohne Schmeichelei zugestehen, die Franzosen haben im
Großen und Ganzen mehr Schick und Schliff zu Allem und Jedem, als der
gute deutsche Michel, der überall da mit groben Fäusten dreinschlägt, wo
Monsieur Jacque das Ding fein mit Glace-Handschuhen anpackt. In diesem
eleganten Nach-Außen sind die Franzosen uns voraus; und wir werden es
ihnen niemals ablernen, und wenn wir auch noch so oft einen kriegerischen
oder friedlichen Pariser Einzugsmarsch halten. Das liegt einmal im National¬
charakter. Aber das Herz ist die Hauptsache, das auch unter dem rauhen
Kittel und groben Tuch treu und ehrlich schlägt. Und das fehlt den Fran¬
zosen. Und darum betrauern sie den Verlust des Elsasses als einen uner¬
setzlichen, weil sie in jedem Elsässer ein biederes, deutsches Bruderherz ver¬
loren haben. —
Auch haben es ja die sämmtlichen deutschen Stämme bekanntlich von
jeher und bis heute geliebt, auf ihre „berechtigten Stammes-Eigenthümlich¬
keiten" zu pochen, die nicht mit dem allgemeinen Brei eines nationalen Arianzus
vertauscht werden wollen. Und wie sehr auch dieses wiederum, trotz des
Jahres 70 und trotz des allmälig heranreifenden Gesammtbewußtseins der
Deutschen seit den welthistorischen Ereignissen jenes Jahres, noch jedem ein¬
zelnen Stammesbrüder eingeprägt und gleichsam mit der Muttermilch einge¬
sogen scheint: das merkt man gerade hier im Reichslande, wo unter den
Eingewanderten so ziemlich sämmtliche Schattirungen des großen deut¬
schen Farbencomplexes auftauchen, tagtäglich. Thatsache ist und bleibt es,
daß sich die einzelnen Elemente auch der eingewanderten Bevölkerung in ge¬
wissen feinern Nüancirungen bewußt unterscheiden und auch unterschieden sein
wollen; daß sie sich nach gewissen Richtungen hin fremd bleiben, und daß
dieses Befremden und Verfremden häufiger, als es nöthig wäre, auch äußerlich
hervortritt. Und das ist eben auch ein Punkt, der dem Elsässer von Geburt
sofort auffällt und ihm die Verschmelzung mit Altdeutschland nicht sonderlich
angenehm und reizend erscheinen lassen dürfte.
Dazu kommt, — und das ist ein weiterer, dem kühlen Beobachter sofort
in die Augen springender wunder Fleck in dem gesellschaftlichen Leben der
reichsländischen Bevölkerung — daß mit dem deutschen Beamtenelemente auch
ein gut Theil alten deutschen Beamtenzopfs und, sagen wir's kühn, einer in der
Heimath längst schon zu Grabe getragenen Art von preußischer Bureau¬
kratie sich eingenistet hat. Die Gradationen und Stufenleitern, welche hier
zwischen den einzelnen Beamten-Kategorien gemacht werden, ob sie zur Ver¬
waltung oder zur Justiz, zum niedern oder höhern Beamtenthum, zu den
besser oder minder gut besoldeten Kreisen gehören, sind, um mich des Aus¬
druckes mit Verlaub zu bedienen, geradezu lächerlich und für den einzelnen
Beamten äußerst peinlicher Natur. Dies ist, neben der an sehr vielen Orten
noch stark hervortretenden gesellschaftlichen Exclusive des bürgerlichen von
dem Beamtenelemente, mit ein Grund, weßhalb sich sehr viele Deutsche in
diesem von der Natur so reich gesegneten Lande und trotz einer durchschnitt¬
lich hohen und geradezu „gentlemenmäßigen" Besoldung niemals recht Wohl¬
befinden können und sich unwillkürlich nach den verlassenen Fleischtöpfen in
ihrem speziellen Heimathlande sehnen. Ich könnte hier mit einzelnen schla¬
genden Details dienen, wenn mich nicht der bekannte Grundsatz daran hinderte:
«nowing, sunt oäiosa!"
Thatsache ist, daß die größere Mehrzahl der hiesigen Beamten mit ihrem
Geschicke nicht sonderlich zufrieden ist, trotzdem, wie gesagt, die Höhe ihrer
Besoldungsziffer ihnen eine sorgenfreie Existenz und für Einzelne sogar eine
weit bessere gesellschaftliche Stellung sichert, was wenigstens die Geldfrage
anbelangt, als sie in der Heimath jemals erreicht haben würden. Wenn bei¬
spielsweise, um von den höhern Beamten zu schweigen, schon das Jahrgehalt
eines Secretärs bei dem Bezirks-Präsidium oder der Steuerdireetion durch¬
schnittlich 1000 — 1200 Thaler beträgt, so ist das eine Summe, die ganz
genau dem Durchschnittsgehalt des ersten Oberlehrers an einem kleinern
rheinischen Gymnasium resp, dem jährlichen Einkommen einer ganzen Kategorie
höherer richterlicher Beamten in den ältern preußischen Provinzen entspricht.
Nach den von dem Landgerichtsrath Mitscher in Straßburg gesammelten
und in der von ihm herausgegebenen Broschüre über Elsaß-Lothringen nieder¬
gelegten Erfahrungen ist übrigens auch im Reichslande das Verhältniß bezügl.
der Friedensrichter, die durchschnittlich 1000 Thaler beziehen, ein ähn¬
liches. Danach ergiebt sich an vielen Orten das Eigenthümliche, daß die
Subalternbeamten der Verwaltung besser und zwar erheblich besser bezahlt
sind, als die Richter. Mitscher hat demnach ganz Recht, wenn er meint, die
Stelle eines Friedensrichters in den Reichslanden habe für den Juristen wenig
Verlockendes; denn es sei weder Geld, noch Gut, noch Ehre dabei zu gewinnen.
Das Gesammteinkommen eines Land-Gerichtsraths oder Staats-Procurators
beträgt im Durchschnitt 1400 Thaler. Und es ist thatsächlich vorgekommen,
daß der Parquet - Secretär eines kaiserlichen Landgerichtes ein um 2 — 300
Thaler höheres Gehalt bezog, als einer der kaiserlichen Staats-Procuratorem.
Rechnet man dazu gelegentliche Nebengefälle und außerordentliche Grati-
fieationen, so kommt man bei Einzelnen zu einer Gehaltssumme von 1600
Thalern für rein untergeordnete Dienste, die eine höhere wissenschaftliche Aus¬
bildung und namentlich ein etwaiges Univ ersitäts-seu ti um durchaus
nicht bedingen. Dadurch kommt es, daß Einzelne dieser Subalternen sich ver¬
anlaßt sehen, vor ihren minder gut besoldeten College» und bei den bürger¬
lichen Einwohnern die hohen Herren und eine Rolle zu spielen, die ihnen an
sonstigen Orten einfach durch „Moses und die Propheten" unmöglich gemacht
werden dürfte.
Ueberhaupt könnte man in dem reichsländischen Beamtenwesen wohl noch
manchen mißlichen Punkt berühren, worüber sich Diejenigen am besten Rechen¬
schaft geben können, die mehr oder weniger Gelegenheit hatten, mit jenen
Sphären in näheren oder entfernteren Contact zu kommen. Und es mag
immerhin die Thatsache der Erwähnung werth sein, daß ein einfacher Ac-
tuar nicht weniger als 800 Thaler volles Gehalt bezieht: der junge Mann
braucht nichts weiter zu prästiren, als eine solide, lesbare Handschrift und
einiges Talent zum Abschreiben eines Actes und rangirt also, was die
Geldfrage anbelangt, mit dem einen oder andern ordentlichen Lehrer an
preußischen Gymnasien. Hier möchte man die Klagen der Elsässer im Reichs¬
tage über eine zu große Zahl und eine zu hohe Besoldung der Reichsbeamten
vom unparteiischen Standpunkte aus fast gerechtfertigt finden. Doch sind
allerdings dabei die schwierigen Orts- und Zeitverhältnisse wohl in Betracht
zu ziehen, sowie der Umstand, daß es wohl schwer fallen dürfte, für die be¬
treffenden Posten die geeigneten Kräfte ohne eine angemessene, wenn auch ver¬
hältnißmäßig hohe Besoldung heranzuziehen. Denn, wie oben bemerkt, sind
in Folge der gezwungenen exclusiver Stellung des reichsländischen Beamten-
thums und der gekennzeichneten büreaukratischen Tyrannei innerhalb desselben
die betreffenden Herren mit ihrer zeitigen Lage recht unzufrieden.
In Verbindung damit steht ein rein formaler Gesichtspunkt, der an sich
zwar unbedeutend, aber gleichfalls für die Situation äußerst charakteristisch
ist. Ich meine die durch Gott weiß wen veranlaßte Einführung der alten
deutschen Unsitte langathmiger Titulaturen mit ihren „Wohlgeboren", „Hoch-
geboren" und „Hochwohlgeboren". Diese Ausdrücke sind gradezu nichtssagend
und für einen den Fesseln einer abstrusen höfischen Etiquette prinzipiell abhol¬
den Reichsbürger — und dazu zähle ich die meisten Elsässer — höchst wider¬
lich. Dennoch begegnet man ihnen auf jedem dritten, vierten Couverte an
den kaiserlichen Reichsbeamten so und so. Auch dieser Punkt ist schon von
Mit scher in einer Anmerkung zu seiner vorher allegirten Broschüre gerügt
worden, welcher der Ansicht ist: „Wenn ein Elsaß-Lothringer frage, was
„Wohlgeboren" denn eigentlich bedeute, so sei es das Beste, ihm einfach die
Antwort schuldig zu bleiben."
Endlich — auch das muß ich noch berühren, ohne damit irgend Jemandem
zu nahe treten zu wollen — ist noch hervorzuheben die nicht immer den
Anforderungen der Höflichkeit und Bescheidenheit entsprechende Behandlung,
der hier und da Einheimische wie Fremde seitens der niedern Beamten in
Civil und Militair ausgesetzt sind, namentlich seitens des untern Bahnperso¬
nals. Wer einmal eine Reise durch die Reichslande gemacht hat, weiß davon
zu erzählen und wird das Gesagte bestätigen können. Auch hier ist die An¬
gabe vorr Details aus naheliegenden Gründen unthunlich und unfruchtbar,
trotzdem mir in diesem Augenblicke mehrere unangenehme Scenen nach dieser
Richtung gegenwärtig sind, denen ich als Augen- und Ohrenzeuge beiwohnen
mußte. —
Das sind einige von den Ursachen, welche die gänzliche „Versöhnung der
Gemüther mit den Thatsachen" zur Zeit noch nicht haben zur Reife gedeihen
lassen und die im Verein mit andern, hier nicht berührten es erklärlich machen,
weshalb die „moralische Eroberung" Elsaß-Lothringens nur sehr giÄäatiin
vor sich geht. Als gewissenhafter Correspondent, der es nicht versteht xn.r
vrai-o an muM zu schreiben, habe ich Ihnen und Ihren geneigten Lesern
dieselben mit Ruhe vortragen und mittheilen wollen, ohne etwas daran zu
bemänteln oder zu beschönigen, ohne aber auch damit dem Einzelnen irgendwie
Pe
Das Herrenhaus hat in mehreren Sitzungen der vergangenen Woche den
Entwurf einer neuen Vormundschaftsordnung durchberathen und außerdem
das Staatshaushaltsgesetz angenommen, nachdem letzteres vom Abgeordneten¬
haus in dritter Lesung am 15. März genehmigt worden.
Die Hauptaufgabe des Abgeordnetenhauses in der vergangenen Woche
war die Berathung des Gesetzes über die Einstellung der Leistungen aus
Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bisthümer und Geistlichen. Die
erste Lesung des betreffenden Entwurfs am 16. März brachte den vielbe¬
sprochenen Zwischenfall, daß, während Heinrich v. Shbel nach einem ultra¬
montanen Pamphlet oder Roman die Schilderung des Fürsten Bismarck zum
Besten gab. der Letztere zufällig in das Haus eintrat und zum Gegenstand
einer unwillkürlichen Ovation wurde. Als darauf Herr v. Gerlach zu Gunsten
der hierarchischen Auflehnung gegen die Gesetze wieder einmal das Wort
citirte: man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen, antwortete ihm
Fürst Bismarck. In seiner schlagenden Weise lehnte der Kanzler die Ver¬
kehrung jenes Wortes in den Satz ab: man müsse dem Papst mehr dienen
als dem Kaiser.
Die zweite Lesung des Gesetzes am 18. März hatte wiederum ihren
eigenthümlichen Zwischenfall, indem ein Mitglied des Centrums trotz der Ein¬
sprache des Präsidenten und des größten Theiles der Abgeordneten die Eneyklika
vom 5. Februar von , der Rednerbühne des Hauses zur Verlesung brachte
unter dem Vorwand, daß dies zur Verdeutlichung seines Vortrags nöthig sei.
Der Zweck der Verlesung war einfach die straflose Verbreitung der Eneyklika.
Das gewählte Mittel zeigt von einer Rücksichtslosigkeit, die in der Regel
nicht Sache gebildeter Menschen ist. Andererseits hatte der Präsident die
Verlesung nur widerrathen, nicht verboten, indem er erklärte, sich zu einem
Verbot nicht befugt erachtet zu haben, sobald der Redner darauf bestand, der
Verlesung zu seiner Ausführung zu bedürfen. In Folge des Vorfalls wird
beabsichtigt, durch die Geschäftsordnung ausdrücklich zu bestimmen, daß Akten¬
stücke nur mit Genehmigung des Präsidenten verlesen werden dürfen.
Die Rücksichtslosigkeit des ultramontanen Redners lag darin, daß er
das Haus der Abgeordneten durch einen Vorwand verhöhnte, dessen Hinfällig¬
keit für jedes Auge sichtbar war, während ein ganz anderer, dem Hause
fremder oder gar feindlicher Zweck erreicht werden sollte. So abstoßend nun
eine solche Rücksichtslosigkeit bleibt, so müssen wir andererseits doch bekennen,
daß wir mit dem Grund nicht sympathisiren, der sie hervorrief. Daß ein¬
zelne Zeitungen den Text veröffentlichen durften, weil ihre Staatstreue Gesinnung
außer Zweifel, während andere Zeitungen wegen vorausgesetzter staatsfeind¬
licher Absicht für dieselbe Veröffentlichung gerichtliche Schritte zu gewärtigen
haben, das Alles gefällt uns sehr wenig. Mit einer großen Politik verträgt
sich nichts schlechter als Künstelei, durch welche rechts und links das Urtheil
und die Empfindung in Verwirrung gebracht wird. Nach unserm Geschmack
wäre es gewesen, wenn in allen katholischen Diöcesen die Eneyklika Namens
der Staatsbehörden angeschlagen worden wäre mit der Bemerkung: der Papst
fordert von Euch den Ungehorsam gegen den König und das Staatsgesetz;
der König erwartet, daß Ihr unbeirrt Eure Schuldigkeit thut, und weiß das
Gesetz zu schützen.
Es wird ja doch nicht anders, wir müssen ja doch dahin kommen, daß
jedem Katholiken die Frage vorgelegt wird, ob er dem Papst mehr gehorchen
will als dem Kaiser. Es kann nichts helfen, die päpstlichen Manifeste zu
unterdrücken, am wenigsten wenn 'sie zum Aufruhr auffordern. Wir haben
doch 1870 die Proklamationen Napoleon's III. ungehindert veröffentlichen lassen,
ebenso wie 18K6 den Tagesbefehl Bencdek's. Was wäre das für ein Staat,
der sich vor den Proklamationen der feindlichen Befehlshaber scheuen müßte!
Doch dies nur in Parenthese. Die Herren vom Centrum haben schwerlich
klug gethan, die Redefreiheit des Abgeordnetenhauses zur Propaganda der
Encyklika zu benutzen. Sie erreichen zunächst damit nur, daß die Beschäftigung
mit den Schranken dieser Redefreiheit immer populärer wird. Es gab eine
Zeit, wo man von solchen Schranken überhaupt nichts wissen wollte. Unseres
Erachtens war eine Rede, wie die des Abgeordneten Jörg im Reichstag am
4. Dezember weit mehr dazu angethan, diese Schranken ins Auge zu fassen,
als der jetzige Anlaß. Doch kommt es in solchen Fällen weniger auf die
Beschaffenheit des Tropfens an als auf die Stellung in der Reihenfolge, ob
das Glas zum Ueberlaufen kommt. Am 18. März scheint das Maß voll
geworden zu sein. Wir wünschen, daß das Haus sich das Recht beilege, Mit¬
glieder, welche die Ehre des Hauses verletzen, zeitweilig oder für immer aus¬
zuschließen. Wirksam und vollständig kann eine solche Bestimmung aber nur
werden, wenn gleichzeitig der Wahlkreis, welcher ein ausgeschlossenes Mitglied
wiederum wählt, periodisch der Vertretung für verlustig erklärt werden kann.
Die „National-Zeitung" äußerte kürzlich, der ultramontane Widerstand
werde bald gebrochen sein, weil die parlamentarischen Verhandlungen über
denselben nach gerade aller Welt zum Ueberdruß geworden. Uns will es
scheinen, als werde die Hauptarbeit erst beginnen, wenn die parlamentarischen
Verhandlungen zu Ende sind. Man kann dahin kommen und wird vielleicht
bald dahin kommen, die Redyer des Centrums, wenn alle gesetzlichen Maßregeln
beschlossen sind, zu verhindern, den parlamentarisch abgethanen Gegenstand
immer wieder zur Sprache zu bringen. Die Hauptarbeit, welche dann erst
beginnt, wird aber darin bestehen, für die katholische Bevölkerung in geistiger
Beziehung Sorge zu tragen, wenn der größere Theil ihrer Hirten wegen Auf¬
ruhrs gegen den Staat vom Amte dispensirt ist. In dieser Beziehung wies der
Reichskanzler am 18. März daraus hin, wie der jetzige Kampf das Gute habe.
Alle, die den deutschen Staat wollen, in einem einzigen großen Heerlager zu
vereinigen, und ebenso Alle die, welche den deutschen Staat zerbrechen wollen.
Solche Existenzkämpfe haben das Gute, allen Menschen ohne Unterschied das
Wesentliche ihres Seins und Wollens zum Bewußtsein zu bringen. Der Fürst
setzte hinzu, daß die Einbehaltung der Staatsdotation dem Clerus eine viel
zu geringe Summe entzieht, als daß die Maßregel materiell auf den Kampf
einwirken könne. Moralisch aber sei es unerläßlich, den Grundsatz auszustellen,
daß der Staat seine Feinde nicht zu subventioniren hat.
Dieselbe Sitzung vom 18. März gab unmittelbar nach der Rede des
Reichskanzlers dem Abgeordneten Gneist wieder Gelegenheit zu einer seiner
Glanzreden. Diese Reden nehmen in der deutschen parlamentarischen Bered¬
samkeit vielleicht die erste Stelle ein, und sie sind Etwas, das in den Parla¬
menten anderer Nationen vermöge der Verschiedenheit der nationalen Bildung
nicht vorkommen kann. Wir haben schon öfter bemerkt, daß, wenn es sich um
die Auffindung der nächsten praktischen Mittel handelt, um die Wahl unter
verschiedenen vorliegenden Wegen, Gneist nicht der sichere Führer ist. Aber er
ist immer groß, wenn es sich darum handelt, die Fragen der Gegenwart aus
ihren historischen Hintergrund zu stellen. Diesmal führte er aus, daß das Ver¬
langen, die Kirche sich selbst zu überlassen, seit dem Eintritt der Kirchenspaltung
des 16. Jahrhunderts in Deutschland, wo diese Spaltung sich vollzogen, nichts
anderes als die Erneuerung der Religionskriege und die Zerreißung der
Nation bedeute. Was die Ultramontanen und Orthodoxen Staatsomnipotenz,
Cäsaropapismus u. s. w. nennen, das ist nichts anderes als die Rettung der
nationalen und geistigen Gemeinschaft jedes Volkes, vor allen aber des deut¬
schen Volkes durch den Staat gegen die Zerreißung mittelst der confessionellen
Ausschließlichkeit. Gneist hat Aehnliches schon gesagt, aber noch niemals in
so großartiger Ausführung wie diesmal. Möchte es nur endlich allgemein
beherzigt und verstanden werden, daß der Staat sich der Leitung der Kirche
nicht unterwerfen, ebensowenig aber auch die Kirche auf seinem Boden sich
selbst überlassen kann, weil der zweite Weg auf den ersten zurückführt.
Die dritte Lesung des Gesetzes wird nach den Osterferien stattfinden.
Am 20. März hat sich das Haus bis zum 6. April vertagt.
Mit Heft 14 beginnt diese Zeitschrift das II. Quartal ihres
34. Jahrgangs, welches durch alle Buchhandlungen und Post«
anftalten des In- und Auslandes zu beziehen ist. Preis pro
Quartal 7 Mark 50 Pfennige.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, im März 1873. Die Verlagshandlung.