Dieses Werk ist gemeinfrei.
Fraktur
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Nachkorrektur erfolgte automatisch.
]]>Zeitschrift Mr Politik Literatur und Kunst.
33. Jahrgang.
I. Semester. II. Sand.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Wilh, Grunow,)
1874.
Unter anspruchlosen Titel bietet der Verfasser der „Studien und Skizzen
zur Geschichte der Reformationszeit" Ergebnisse gründlicher und umfassender
Forschung. Die Vorbereitung einer Geschichte Europas im Zeitalter der Ge¬
genreformation legte Maurenbrecher Wunsch und Pflicht nahe, über sein
früheres Werk „Karl V. und die deutschen Protestanten 1S45 bis 1555"
hinausgreifend, die verschiedenartigen Gedankenbilder, die im Verlaufe der
kirchlichen, staatlichen, gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Umwälzung des
16. Jahrhunderts um Gestaltung gerungen, ins Licht zu setzen, die allgemeine
abendländische Bewegung des Reformationszeitalters in ihre einzelnen Rich¬
tungen zu zerlegen, Wirkungen und Gegenwirkungen treibender und hemmen¬
der Kräfte, die in jenen Kreisen des europäischen Geisteslebens thätig gewesen,
mit Genauigkeit zu bestimmen, die aus der Reformationsepoche hervorgegan¬
genen Umbildungen auf ihre wurzelhaften Anfänge zurückzuführen, mit einem
Worte eine „selbständige" Auffassung der Reformationszeit zu gewinnen.
Eine selbständige, auf selbständiger Forschung beruhende Auffassung der unter
dem Namen Reformationszeitalter begriffenen Culturepoche tritt uns auf je¬
dem Blatte des vorliegenden Bandes entgegen. Historischen, literarhistorischen,
kirchengeschichtlichen und kirchenpolitischen Inhalts bilden die gebotenen acht
Aufsätze dem Gedankengange nach ein Ganzes. Sie enthalten in ihrer Ge¬
sammtheit „die Grundlinien und entscheidenden Momente" von Mauren¬
brechers Auffassung der Reformation.
Für den Geschichtsschreiber, der die im Zeitalter Philipps II. einsetzende und
ihren Lauf über ganz Europa vollführende papstkirchliche Reaction in ihrem
Ursprung, Werden und Wachsen ergründen, verfolgen und in einheitlichem
Gesammtbilde darstellen will, wird, so oft er auf die vorangegangene Epoche
schöpferischer Erregung zurückblickt, im Vordergrund der Erwägung eine
Frage stehen, die jeden ernsteren, die Phasen des menschheitlicher Lebens¬
processes mit Aufmerksamkeit verfolgenden Kopf zum Nachdenken herausfor¬
dert: die Frage nämlich, wie es sich ereignen konnte, daß die seit dem 14.
Jahrhundert mit den Waffen des Geistes bestritten e, durch Schisma, Reform-
conzile, durch die Auflehnung der Staatsgewalten und endlich durch den reli¬
giösen Abfall der Nationen in ihren Grundfesten erschütterte Papstkirche gleich¬
wohl neben den Reformationskirchen des 16. Jahrhunderts ihren Bestand
behauptet hat, ja aus der allgemeinen Gährung befestigter hervorgegangen ist,
um bald darauf mit verjüngter Kraft zur Wiedereroberung aufzubrechen, um
im letzten Menschenalter des sechzehnten und im ersten Menschenalter des
siebzehnten Jahrhunderts beträchtliche Stücke des verlorenen Terrains zurück¬
zugewinnen, um die Machtstellung, welche sie damals erkämpfte, seitdem gegen
jeden Abbruch von außen her zu bewahren, um noch in unseren Tagen
die äußersten Consequenzen jenes Systems, mit welchem die neuen Ideen des
Reformationszeitalters im Kampfe gelegen, unter siegesgewisser Zuversicht in
die Welt zu schleudern. Die Frage, wie und warum dies so gekommen,
findet in Maurenbrechers Aufsätzen überzeugende Beantwortung. Dieselbe in
einem Schlagsatze zusammenfassen hieße dem Verfasser eine Einseitigkeit auf¬
bürden, die ihm fern liegt. Aus der Summe der Anschauungen jedoch, welche
die „Studien und Skizzen" vermitteln, reizt es, als eine von Maurenbrecher
zum erstenmale in solcher Schärfe dargelegte und zum erstenmale in ihrer welt¬
geschichtlichen Tragweite erläuterte Entwicklung, das Doppelgängerthum von
spanischer und deutscher Kirchenreformation herauszugreifen.
Um dieselbe Zeit, wo die in ihren Ansängen weltflüchtige und weltver¬
achtende Glaubensgemeinschaft der christlichen Kirche, das Reich von dieser
Welt, weltliche und geistliche Universalherrschaft im Abendlande, geworden,
wo die Bewältigung der kaiserlichen Theokratie durch die Theokratie der Bi¬
schöfe von Rom zum Abschlüsse gediehen, wo innerhalb der Kirche sich die
Erhöhung des römischen Primates zur päpstlichen Monarchie vollendet hatte,
wo die Hoftheologen Se. Peters des Papstes Vermögen als eine Gewalt
kennzeichneten, deren Umfang noch keines Papstes Gedanken ausgemessen, um
dieselbe Zeit hatte als neue, den mittelalterlichen Gegensatz zwischen der
Kirche als dem Reiche Gottes und der Welt als dem Reiche des Teufels
überwindende Denkweise, die theologische, staatsphilosophische und literarische
Opposition wider die Verweltlichung der weltbeherrschenden Kirche begonnen.
Es hatte in derselben Epoche abendländischer Culturentwicklung sich an dieser
und jener Stelle der Ausbau des Staates als einer selbständigen und zur Lö¬
sung sittlicher Aufgaben des menschlichen Genossenschaftslebens sowohl berech¬
tigten wie befähigten Gemeinschaft hervorgewagt. Von Seiten der Kirche
ward die wissenschaftliche Ausklärung als Häresie, die staatliche Organisation
als schismatischer Aufruhr verdammt. Unter solcher Gegenwehr gerieth die
Kirche, die ehedem unter Zustimmung der abendländischen Nationen die Zügel
der höchsten weltlichen und geistlichen Gewalt ergriffen, in Zwiespalt mit dem
veränderten Zeitbewußtsein. Bald darauf kam es dahin, daß gleichzeitig die
geistliche und weltliche Herrschaft der Kirche von unaufhaltsamer Zersetzung
bedroht ward. „Die Kirche des ausgehenden Mittelalters", sagt Mauren¬
brecher, „hatte die Religion verloren. Der innerste Kern des kirchlichen Le¬
bens war ertödtet und erstorben." Wie weit war es möglich, und war es
überhaupt möglich ein solches Kirchenwesen von innen heraus zu reformiren?
Dem vielseitigen Rufe nach Reform der Kirche, der seit den ersten Jahr¬
zehnten des 14. Jahrhunderts erhoben, in den Tagen der Constanzer Kirchen¬
versammlung zur Sturmesstimme angeschwollen, leisteten die Reformconzile
des 15. Jahrhunderts kein Genüge. Die Conzile hatten „theoretische Sätze
über die Stellung von Conzil und Papst ausgesprochen, sie hatten über die
Frage der äußern Kirchenverfassung gehandelt, irgend ein Princip des reli¬
giösen Lebens ward davon nicht berührt. Niemals aber können grasse Um¬
gestaltungen im Leben der Menschheit durchgesetzt werden einzig und allein
mit formalen Aenderungen oder mit äußerlichen Verschiebungen einzelner In¬
stitute. Eine sittliche Erneuerung in der Kirche war und ist Sache des Gei¬
stes, des innern Lebens, nicht äußerlicher Gesetze und Einrichtungen." Aus
den Conzilen ging die Papalgewalt mit unverkürzter Autorität über die
Kirche hervor. Es traten, des priesterlichen Charakters sich mit noch dreiste¬
rer Stirn als zuvor entschlagend, die unumschränkten Gebieter des abend¬
ländischen Kirchenwesens in die Epoche kriegsstarker, mit sämmtlichen Künsten
der weltlichen Diplomatie operirender, mit allen erdenklichen Verbrechen be¬
lasteter, von dem Schimmer einer paganifirenden Kunstrenaissance umleuch-
teter italienisch landesfürstlicher Papstpolitik. Dem religiösen Bedürfniß der
Millionen, das die von der mittelalterlichen Kirche aufgerichtete Scheidewand
zwischen dem Individuum und seinem Schöpfer zu beseitigen hoffte und dem
Sündenbewußtsein Unzähliger, denen die außerhalb des menschlichen Sub¬
jectes sich vollziehende Heilsvermittlung der Kirche keine Entführung gewährte,
war weder eine Wirkung noch eine Nachwirkung der Reformconzile zu gute
gekommen. Wohl aber hatten hier und dort die Staatsgewalten, wie sie
zusehends sich härtend und den Kreis ihrer sittlichen, dem menschlichen Ge¬
nossenschaftsleben gewidmeten Verpflichtungen beständig erweiternd, an der
Spitze der Nationen thronten, aus jener Fehde, die zu Constanz und Basel
über die Grenzen der weltlichen und geistlichen Autorität gestritten worden,
unmittelbare Nutzanwendung gezogen. „Ueberall und in allen Richtungen
war ja das Ende des Is. Jahrhunderts die Periode, in der die Staatsidee
sich der Menschen mit neuer Gewalt bemächtigte und in der die Staatsge¬
walten das Leben der Nationen zu leiten und zu führen sich aufschwangen.
Dem universalen Gedanken des kaiserlichen Weltreiches und der allgemeinen
christlichen Weltkirche mußte eine Beschränkung auf nationale Verbände be¬
gegnen." Ein Gedanke, der sich schon im 14. Jahrhundert geregt, daß die
Kirche hinsichtlich ihres irdischen Leibes und hinsichtlich ihrer weltlichen Ver¬
richtungen ein Glied des staatlichen Gemeinwesens sei, daß die Glaubensge¬
meinschaft der Kirche deshalb bei der Anstellung und bei weltlichen Vergeh¬
ungen ihrer Beamten, bei der Nutznießung ihrer Stiftungen, bei der Ab¬
haltung ihrer Synoden, unter die Gesetzgebung, Rechtspflege und Verwaltung
des Staates falle, dessen Bürger ihre Zugehörige sind, mußte unter der
Geistesströmung eines solchen Zeitalters, in welchem die Reformconzile ihre
Aufgabe nach jeder Seite hin verfehlt, mit unwiderstehlicher Uebermacht um
sich greifen. So ist es geschehen.
In klarer Uebersicht verfolgt Maurenbrecher jenen im Laufe der Jahre 1438
bis 1517 in sämmtlichen Nationalstaaten des Abendlandes sich vollziehenden
Vorgang: die Grundlegung der in Lehre, Cultus und priesterlicher Amtsverfassung
von dem mittelalterlichen Kirchenwesen nicht abtrünnigen, jedoch des Staates
jurisdictioneller Hoheit und administrativer Aufsicht untergebenen Landeskirchen.
Am durchgreifendsten ist diese Entwicklung damals auf der pyrenäischen
Halbinsel zum Durchbruch gelangt: in demselben, durch den Ehebund Ferdi¬
nands von Aragon und Jsabella's von Castilien geschaffenen spanischen Ge-
sammtreich, in welchem mit dem Ausgang des 13. Jahrhunderts der moderne
Staat „mit seiner ganzen monarchischen Machtfülle" früher und gewaltiger
als unter einem andern christlich abendländischen Volke ins Leben getreten ist.
Dem staatlichen und kirchlichen Schaffen Ferdinand's und Jsabella's,
der katholischen Könige von Spanien, sind zwei Aufsätze Maurenbrechers ge¬
widmet: kunstvolle Charakteristiken des spanischen Herrscherpaares, eine scharfe
Zeichnung des Risses, nach welchem auf der pyrenäischen Halbinsel der Staat
gebaut worden, eine klare Darlegung der vielverschlungenen Fäden auswär¬
tiger Politik, mittels deren im Anbruch einer neuen Epoche des europäischen
Staatenlebens Ferdinand von Aragon Spanien zum Range einer ersten zeit¬
genössischen Großmacht erhoben. Es schließt sich gleichsam als Epilog eine mit
feinem Pinselstriche gearbeitete Skizze „Johanna die Wahnsinnige" an. Die
unglückliche Princessin Johanna, Jsabella's und Ferdinand's Tochter, deren
Verbindung mit Philipp von Oesterreich die national spanische Politik der
katholischen Könige in die Familienpolitik der Habsburger einmünden ließ,
hat auf Enkel und Urenkel den Hang des Trübsinns vererbt; sie selbst aber
ist, wie der Verfasser gegen eine auf Aufsehen berechnete, doch actenmäßig un¬
haltbare Ausführung des verstorbenen Simancas-Forschers G. Bergenroth
nachweist, schon seit ihrem vierundzwanzigsten Lebensjahre von Geistesmacht
umfangen gewesen. Nicht als Opfer selbstsüchtigen Herrscherehrgeizes, was Ber-
genroth glauben machte, sondern als regierungsunfähige Gemüthskranke, hat
Karl von Habsburg die spanische Mutter siebenundvierzig Jahre lang den
Augen der Welt entzogen.
Lassen wir das Eine und Andere, was Maurenbrecher's Aufsätze über die
durch Johanna's österreichische Vermählung geschaffenen politischen Combinatio¬
nen vorbringen, bei Seite liegen. Dem kirchenpolitischen Wirken der katholischen
Könige von Spanien wendet sich unsere Aufmerksamkeit mit vorwiegenden
Interesse zu. Indem Jsabella und Ferdinand unter geschickter Benutzung der
staatlichen Lage in Rom und Italien, der Papalgewalt weitgehende Zuge¬
ständnisse abrangen, indem sie die Besetzung der spanischen Bisthümer an die
Krone brachten, indem sie das Großmeisterthum der geistlichen Orden in
Spanien und die Verfügung über unermeßliches geistliches Besitzthum der
königlichen Prärogative zueigneten, indem sie die Verkündigung päpstlicher
Bullen der landesherrlichen Genehmigung unterwarfen, indem sie als Organ
der Monarchie das Glaubenstribunal der heiligen Inquisition aufrichteten,
indem sie, soweit spanisches Herrschaftsgebiet sich ausspannte, das abendlän¬
dische Kirchenwesen der Aufsicht und Zwischenkunft staatlicher Obrigkeit unter¬
stellten, indem sie gleichzeitig die ganze Summe staatlicher Zwangsgewalt
aufwandten, um im Umkreis ihrer Königswaltung die Kirche im höheren
und niederen Clerus, in Beichtstuhl und Kanzel, in Kloster, Universität
und Schule aufs Neue mit kirchlichem Sinne zu erfüllen, schufen die katho¬
lischen Könige von Spanien eine Antwort auf die Frage, ob es und wie weit
es möglich, das mittelalterliche Kirchenwesen aus sich selbst zu reformiren. Wäh¬
rend überall anderwärts die Nationen noch vergeblich nach einer Wiedergeburt
des kirchlichen Wesens und nach einer Wiederbelebung des kirchlichen Sinnes
ausschauten, ereignete sich gegen Ausgang des 15. Jahrhunderts auf der
Pyrenäischen Halbinsel die spanische Kirchenreformation.
Nicht nur der Ausdruck „Reformation der Kirche in Spanien" ist unserm
Verfasser eigenthümlich: ebenfalls den Charakter des kirchlichen Umschwungs,
der sich im Laufe der Jahre 1482—1616 in Spanien ereignete, hat Mauren¬
brecher anschaulicher als dieser oder jener seiner Vorgänger gekennzeichnet.
Es war in der That eine Aufbesserung der Kirche, wie sie von den Reform¬
concilen zwar ersehnt, aber nicht einmal ernstlich versucht und in keiner Hin¬
sicht bewerkstelligt worden. Die Reinigung vollzog sich als scharfe Discipli-
nirung der Prälaten, der Pfarr- und Mönchsgeistlichkeit, als straffe An¬
spannung der Kirchenzucht, als Erfrischung der theologischen Gelehrsamkeit,
als Einschreiten wider clericale Unwissenheit, wider Frivolität und Gleichgül¬
tigkeit in kirchlichen Dingen, zugleich aber, was da? Bedeutsamste war, als
Erneuerung, sogar als nachhaltige Entzündung des kirchlichen Sinnes durch
olle Schichten des spanischen Laienthums hindurch. „Die verlorene Religion
zog wieder in die Kirche ein" und innerhalb des spanischen Volkslebens ward
der religiöse Gedanke wiederum das bestimmende Moment. So weit sich, ohne
mit der mittalterlichen Ueberlieferung zu brechen, eine Reformation der
bestehenden Kirche vollführen ließ, ist es damals in Spanien geschehen. Das
fundamentale Princip des mittelalterlichen lateinischen Kirchenthums freilich,
die Hervorkehr des priesterlichen Amtes als der von Gott gesetzten alleinigen
Vermittlung zwischen menschlicher Sündhaftigkeit und göttlicher Gnade, eben¬
falls die gesammte, in der Vergöttlichung des Clerus gipfelnde Dogmatik und
die auf Kirchenherrschaft des Clerus zugespitzte Verfassung der mittelalterlichen
Kirche ward durch die spanische Reformation nicht angetastet, sondern bestätigt,
ward durch die gelehrte Forschung der Theologen befestigt, ward durch Predigt,
Beichtstuhl und Jnquifitionsgericht gestützt. Nun erst empfing auf spanischem
Boden, unter dem Zusammenwirken mannigfacher Kräfte, die mittelalterliche
Lehre von der Kirche ihren systematischen Abschluß und mit dieser Lehre der
Kirche von sich selbst fiel die volksthümliche spanische Vorstellung von Gott
und göttlichen Dingen zusammen.
Den zeitgenössischen Päpsten, den Borgia, Rovere und Medici zollten
die spanischen Kirchenreformatoren nur Verachtung, die Idee der universellen
Papstgewalt gaben sie darum nicht Preis. Die spanische Kirchenreformation
zunächst auf Se. Peters Stuhl einzubürgern, alsdann auf die Totalität der
abendländischen Kirchengemeinschaft auszudehnen, war die Meinung der spani¬
schen Theologen. Den Glaubenskampf für Bestand und Ausbreitung der
gereinigten Priesterkirche wider alle Verächter des mittelalterlichen Kirchenwesens
aufzunehmen, war um dieselbe Zeit, wo Martin Luther, der deutsche Refor¬
mator, sich wider den Grundgedanken des mittelalterlichen Kirchenwesens
auflehnte, die Bereitschaft des spanischen Volkes geworden.
Ausschließlich der deutschen Kirchenreformation sind zwei Studien Mauren¬
brechers gewidmet: „zur Lutherliteratur" und „der Wormser Reichstag 1511";
während zwei andere Aufsätze „Kaiser Karl V." und „Kurfürst Moritz von
Sachsen" Richtwege durch die Geschichte der deutsch-kaiserlichen und deutsch-
reichsfürstlichen Politik im Zeitalter der deutschen Kirchenerneuerung versuchen.
Unberückt durch die traditionellen Lutherlegenden, er selbst auf den freien
und festen Standpunkt des parteilosen Forschers gestellt, räumt> Maurenbrecher
in dem Wüste der älteren und neueren Lutherliteratur mit kräftigen Armen
auf. Abzuthun gilt es nach der einen Seite die canonisirenden Uebertreibungen
nachreformatorisch evangelischer Scholastik und den deifizirenden Uebereifer neu¬
modisch orthodoxer evangelischer Zunfttheologie. Ein Halt zu gebieten gilt
es nach der andern Seite voraussetzungsvollen Constructionen neuester tendenz-
süchtiger Halbwissenschaft, wolgemeinten Versuchen einer theologischen Publi-
cistik, die Luther, den Mann aus einem Gusse, entweder um seines vermeint¬
lichen Abfalles von der Sache des reformatorischen Fortschrittes strafen, oder
die Gottes- und Weltanschauung des 19. Jahrhunderts in das Gemüths¬
und Geistesleben des deutschen Reformators wie des deutschen Volkes im
16. Jahrhundert hinein tragen wollen. Indem Maurenbrecher für seinen
Theil zu dem niederschlagenden Urtheil gelangt, daß die deutsche Nation einer
Biographie des gewaltigen deutschen Mannes, welche dem Stand und den
Anforderungen der heutigen deutschen Geschichtswissenschaft entspräche, bis zur
Stunde entbehrt, deutet er zugleich die Richtung an, welche der künftige Be¬
arbeiter Luthers und seiner Zeit einhalten soll. Fortstrebend aus jener Bahn,
die Ranke gebrochen, wird er die deutsche Kirchenreformation jedes phäno¬
menalen Wesens zu entkleiden haben, ihr in dem Causelnerus der weltgeschicht¬
lichen Erscheinungsformen nachdenklicher als bisher geschehen, die richtige Stelle
zuweisen; er wird die mit den Neuschöpfungen des 16. Jahrhunderts auftauchen¬
den theologischen und kirchenpolitischen Ideen in Zusammenhang mit der
Geistesarbeit der mittelalterlich lateinischen Kirche zu setzen haben; er wird
die katholisch-theologische Literatur des deutschen Reformationszeitalters einer
eingehenderen Forschung würdigen; er wird, sagen wir es gerade heraus,
dasjenige, was in den Bestrebungen und Zielen der deutschen Kirchenrefor¬
mation sich mit den Impulsen und Ergebnissen der spanischen Kirchenreformation
als wahlverwandten, vielleicht gleichartigen Gepräges ergiebt, genauer ins
Auge fassen. Nachdem die Basis gesichert, wird es dem Biographen des
deutschen Reformators gelingen, Luther in jedem Stücke seines Wollens und
Nichtwollens zu begreifen, dem deutschen Reformator ohne Ueberschätzung und
Unterschätzung einfach gerecht zu werden und die unterschiedlichen Grundzüge
altgläubiger und neugläubiger Kirchenverbesserung und Kirchenbtldung breiter
an den Tag zu stellen.
Im Zeitalter der Reformeoncile hatten wir Deutschen im Vordertreffen der
antirömischen Bewegung gestanden. Gelegentlich hatte während des Coneilschis-
mas die deutsche Kirche sich des Papstes Jurisdictionsgewalt entzogen. Zeitweilig
hatten die deutschen Territorialherren die juiÄ circa saers, in ausgedehntesten
Umfang besessen. In Deutschland hatte eine wissenschaftliche Theologie des
Is. Jahrhunderts und eine dem theologischen Sinnen befreundete Alterthums¬
forschung dem Bruche mit dem papstkirchlichen System seit Menschenaltern vor¬
gearbeitet. In Deutschland hatte eine fromme Mystik schon gewagt seitabwärts
von dem offiziellen Kirchenwesen das Verhältniß des Einzelnen zu der göttlichen
Offenbarung auf dem Wege der persönlichen Herzenserfahrung zu vermitteln.
In Deutschland war, da unser Volksleben durch die Mißgestalt des sicht¬
baren Kirchenwesens zwar erschreckt doch nicht entchristlicht, ein religiöses
geblieben, der Gegensatz gegen das der Religion verlustig gegangene Rom ver¬
muthlich derjenige Gedanke, der um das Jahr 1517 die größte Anzahl deutscher
Männer in einer einmüthigen Gesinnung zu vereinigen vermochte. Trotzdem befand
sich, wenn man um den Anfang des 16. Jahrhunderts „das Verhältniß der
einzelnen Länder in der päpstlichen Kirchenherrschaft vergleicht, keines in so
wehrloser und elender Lage, keins den Anforderungen Roms in solchem
Maaße ausgesetzt, wie Deutschland." Aus dem einen und andern Grunde,
weil auf unserm Vaterlande die papstkirchliche Tyrannei am schwersten lastete,
und weil in unserm Vaterland die Opposition wider Rom tiefer als ander¬
wärts in das Volksleben eingedrungen, konnte die deutsche Reformation,
nachdem das zündende Wort einmal gefallen, es nicht, wie dieses in Spanien
ausgereicht, mit einer sittlichen Reinigung und dogmatischen Befestigung des
mittelalterlichen Kirchenwesens bewenden lassen. Nicht allein der eminent re¬
ligiösen Persönlichkeit des deutschen Reformators nach, sondern ebenfalls dem
religiösen Bewußtsein des deutschen Volkes nach, mußte die deutsche Reforma¬
tion ein Neues schaffen.
Dieses Neue, welches die deutsche Reformationskirche mit unheilbarem
Risse ebensowol von der ausgebesserten wie von der unaufgebefserten Papst¬
kirche löste, ist nach Maurenbrecher's Ausführung weder die alleinige Auto¬
rität der Bibel in Glaubenssachen, noch die lutherische Rechtfertigungslehre
gewesen. Der üblichen theologischen Anschauungsweise stellt der Verfasser
zweierlei entgegen: die Thatsache, daß auch die deutschen Reformatoren bei
ihrer Erklärung der Schrift im Zusammenhange mit der älteren Tradition
der mittelalterlichen Kirche zu verbleiben bemüht waren, ferner die Ansicht,
daß über die Rechtfertigung durch den Glauben allein, die ohnehin schon von
Augustinus in die christliche Dogmengeschichte eingeführt worden, ein Vergleich
mit der Theologie der mittelalterlich lateinischen Kirche erreichbar gewesen.
Wichtige Factoren für den Fortgang der deutschen kirchlichen Bewegung, so-
wol für die Befriedigung des religiösen Bedürfnisses der Millionen wie für
die Hervorbildung einer selbständigen evangelischen Bekenntnißkirche, sind Pre¬
digt nach der Schrift und „der Gerechte wird seines Glaubens leben" freilich
geworden. Dem Papalsystem, wie es seit den Tagen Gregor's VII. sich sta¬
bilst, und gleichfalls dem spanischen Reformationswerk war schon mit diesen
beiden Sätzen der Kampf um Sein und Nichtsein angekündigt. Der Ver¬
fasser hätte, um Mißdeutungen vorzubeugen, dieses Eingeständnis) einfügen
sollen. Immerhin aber wäre auf einer älteren und breiteren Grundlage,
wenn man über die spanische Reformation hinaus beiderseits zu der Epis¬
kopalverfassung wie zu der Lehrtradition des 7. und 8. Jahrhunderts zurück¬
greifen wollte, trotz Luther's Schrift- und Rechtfertigungsbegriff, die Verstän¬
digung möglich gewesen. Falls die Theologie der mittelalterlich lateinischen
Kirche so weit einlenkte, hätte, vorausgesetzt daß in jenen beiden Sätzen die
ganze Summe deutsch-kirchlicher Neuerung enthalten, die kirchliche Spaltung
sich vielleicht wieder rückgängig machen, die Reformation der abendländischen
Gesammtkirche sich bewerkstelligen lassen. Das deutsch-reformatorische Prinzip
hingegen, welches die unüberbrückbare Kluft zwischen der deutschen Re¬
formation des 16. Jahrhunderts und dem mittelalterlich lateinischen Kirchen¬
wesen geschaffen, war, wie Maurenbrecher mit gutem Grunde hervorhebt, die
Berufung der Laiengemeinde und zwar der Gemeinschaft aller gläubigen Laien
als der wahren vom göttlichen Geiste erfüllten Kirche. „Mit der Aufstellung
des Gemeindeprinzipes als Basis der Kirche", mit dem biblischen Worte vom
allgemeinen Priesterthum „griff Luther den gesammten Zustand der Kirche
bis in die Wurzeln an." Auch hinterwärts jenes Priesterstaates, den Gre¬
gor VII. als das alle weltliche und geistliche Herrschaft umschließende Reich
Gottes auf Erden in die Weltgeschichte eingeführt, und dem die nachhilde-
brand'sche Kirchenentwicklung das abendländische Laienthum zu leidendem Ge¬
horsam verpflichtet, gab es, seitdem jenes deutsch-reformatorische Wort ge¬
fallen, im gesammten Verlaufe der mittelalterlichen Kirchengeschichte keinen
Punkt, auf welchem beide Kirchenparteien Posten fassen und über das Wesen
der Kirche sich vertragen konnten. Denn nicht erst seit dem Aufkommen der
monarchischen Papalgewalt, sondern seit den Tagen des nicänischen Symbo-
lums, seit der Hervorbildung ihres irdischen Leibes, war die mittelalterlich
lateinische Kirche Priesterkirche, d. i. eine auf den Stand der Cleriker gegrün¬
dete Glaubensgemeinschaft gewesen.
Die activen Elemente unserer Nation waren Luther's Kirchenprinzip zu¬
gefallen. Wenn dasselbe sich bei Kaiser und Reichstag Eingang verschaffte,
so mußte aus der deutschen Bewegung die papstlose deutsche Nationalkirche
hervorgehen; wenn dasselbe sich die Zustimmung der abendländischen Christen¬
heit erwarb, so stürzte das Gebäude mittelalterlicher Katholizität, an welchem
dreizehn Jahrhunderte hierarchische Entwickelung gewerkmeistert, über Nacht zu¬
sammen. Daß weder dieses noch jenes geschehen, daß in der außerdeutschen
Welt nur die germanischen Stämme den endgültigen Bruch mit Rom voll¬
zogen und behauptet haben, daß in unserm Vaterland sich die kirchliche Spal¬
tung als dauernder Zustand befestigt hat, das Eine und das Andere mag die
Papstkirche des 19. Jahrhunderts der mit dem zweiten Jahrzehnt des 16. Jahr¬
hunderts schon vollendeten spanischen Kirchenverbesserung danken. In der
spanischen Landeskirche war in denselben Jahren, wo die deutsche Auflehnung
begann, ein Stück katholischen Kirchenwesens gegeben, gereinigt von allen
äußerlichen Gebrechen, durch welche das kirchliche Gewissen der Massen be¬
leidigt worden, durchwaltet von dem Gebote strengster Kirchlichkeit, befriedigend
die religiöse Inbrunst eines anhänglichen, zweifelfreien Laienthums und den-
noch mittelalterlich rechtgläubig und mittelalterlich priesterkirchlich: ein schla¬
gendes Zeugniß also, daß die mittelalterliche Kirche sich aus sich selbst heraus
verbessern könne, eine Leuchte denjenigen Nationen und allen Einzelnen, die,
ohne deshalb mit der Ueberlieferung zu brechen, nach allgemeiner Wiederer¬
weckung des religiösen Lebens begehrten, ein Damm wider den reißenden
Strom deutscher Häresie, eine Geistesmacht, hinreichend mit Werkzeugen ver¬
sehen, um die gesammte Papstkirche mit oder wider ihren Willen in spanischem
Sinne zu reformiren. Die deutsche Reformation war ihrem Grundgedanken
nach Erlösung des glaubensbedürftiger Einzelnen aus dem Banne mensch¬
licher Autorität. Die spanische Reformation war eine Stärkung des mensch¬
lichen Autoritätszwangs in Glaubensfragen.
„In Spanien," bemerkt Maurenbrecher, „hatte man den ketzerischen Zug
in der deutschen Bewegung fast instinctmäßig gewittert, und Vernichtung dieser
Ketzerei durch den spanischen Herrscher war schon früher der Schlachtruf, mit
dem die Spanier auf ihren König einstürmten." Dennoch hat die spanische
Reformation die Probe angestrengt, ob man die deutsche Bewegung in die
Bahnen spanischer Kirchlichkeit leiten könne. Es geschah dies am Vorabend
des Wormser Reichstags 1521 mittels der Unterhandlung des kaiserlichen
Beichtvaters Glapion. Es galt die Verschwisterung deutscher und spanischer
Reformation zu gemeinsamem Wirken. Indem erstere ihr dem Bestand des
mittelalterlich lateinischen Ktrchenwesens widerstreitendes Princip, die Lehre
vom allgemeinen Priesterthum der Gläubigen der spanischen Kirchenverbesse¬
rung opferte, würde man unter Aufgebot der beiderseitigen Kräfte die Ge-
sammtkirche reformiren. „Wäre Glapions Unternehmen geglückt," urtheilt der
Verfasser, „so würde wol die Kirchenspaltung vermieden und eine Aufbesserung
des kirchlichen Lebens nach jenem spanischen Vorbilde ins Werk gesetzt sein;
es wäre zugleich aber der Forschritt der Weltgeschichte aus dem Mittelalter
heraus dadurch verhindert und vereitelt worden."
Was der spanischen Kirchenreformation in Deutschland mißglückt, das
gelang ihr auf der apenninischen Halbinsel. In die Mitte eines reforma-
torisch erweckten Kreises, zu dem sich in den zwanziger und dreißiger Jahren
des 16. Jahrhunderts die edelsten Denker Italiens, unter diesen Kardinäle
der römischen Kirche, sammelten, schwang sich der Genius der spanischen Kir¬
chenreformation. Von dem päpstlichen Stuhle selbst nahm er zum ersten¬
male mit der Papstregierung Adrian's VI , zum zweitenmale, nun aber für
immer mit dem Pontifikate Paul's III. Besitz. Aus des Papstes Munde ver¬
nahm man das Eingeständniß zahlreicher Schäden, welche die äußere Gestalt
der mittelalterlichen Kirche an Haupt und Gliedern entstellt, gleichzeitig das
Gelöbniß der Kirchenerneuerung von oben herab. Auch nachdem sie des Papst¬
thums mächtig geworden, hat die spanische Reformation noch mit der denk-
schen Bewegung unterhandelt. Gegen Preisgebung des protestantischen Kir¬
chenprincipes wäre sie noch immer zu weitgehenden Zugeständnissen Hinsicht-,
Iles der Lehre, des Cultus und der Verfassung bereit gewesen. Schließlich
aber ist die vermittelnde Denkweise in um so heftigeren Eifer für die Kräf¬
tigung des mittelalterlichen Kirchenwesens umgeschlagen. Mittels der Be¬
rathungen und Schlüsse eines allgemeinen, vom Centrum der Kirche aus be¬
rufenen Concils sollte diese Kräftigung bewirkt werden. Ein allgemeines
Concil würde die spanische Reformation zur abendländischen Kirchenverbesse-
rung erweitern, würde die Disciplin, die Askese, das Glaubensgcncht der
spanischen Kirche zum universalen Gebote erheben, würde die Befestigung des
altgläubigen Dogmas, wie sie der spanischen Theologie des letzten Menschen¬
alters entstammt, zum Lehrcodex der katholischen Papstkirche stempeln. Ent¬
weder wird die deutsche Reformation sich der moralischen Wucht des Concils
freiwillig beugen, oder vom Concile aus wird die daselbst reformirte Papst¬
kirche ihre Getreuen um sich schaaren, alle Schwankenden wieder an sich ziehen,
dem Umsichgreifen des Abfalls Schranken setzen. Solchem allgemeinen Auf¬
schwung des altgläubig kirchlichen Sinnes vermag darauf ein allgemeiner
Ausbruch katholischer Aggression wider das kirchenfeindliche Wesen des deut¬
schen Protestantismus zu folgen. So Rüstung und Feldzugsplan des geisti¬
gen Widerstandes, den die spanische Reformation wider den Fortgang und
Bestand der deutschen Reformation entfalten wollte.
Doch nicht mit Waffen des Geistes allein gedachte die spanische Refor¬
mation ihre deutsche Nebenbuhlerin zu bekämpfen. Nöthigen Falles die deut¬
schen Protestanten dem Concile mit Gewalt zu unterwerfen, war die Absicht
des spanischen Königs, der seit den Anfängen der deutschen Bewegung des
deutschen Reiches Krone trug. Aus der älteren Monographie „Karl V. und
die deutschen Protestanten" zieht Maurenbrecher's neueste Charakteristik noch
einmal die Summe. Strenger als die Auffassung, der wir in Ranke's
Reformationsgeschichte hinsichtlich der vorsätzlichen Kirchenpolitik des Habs¬
burgers begegnen, lautet Maurenbrecher's Urtheil. Für eine Kirchenreforma¬
tion, welche die Kirche auf die Religiosität des menschlichen Subjectes grün¬
dete, welche die Einheit des abendländischen Kirchenwesens verneinte, welche
in ihrer Anwendung auf das Weltliche die Idee des theokratisch mittelalter¬
lichen Kaiserthums in Frage stellte, hat der „spanische" Karl weder den Ver¬
such eines Verständnisses angestrengt, noch die leisesten Anfänge eines Ver¬
ständnisses aufzuwenden vermocht. Karl war Zögling der spanischen Refor¬
mation. In dem Wedankenkreise der spanischen Reformation wurzelte seine
Welt- und Gottesanschauung. Ohne Anwandlung des Schwankens ist er
Zeit seines Lebens in dieser Richtung verharrt. Vom Standpunkte des spani¬
schen Landes-Kirchenthums und der spanischen Kirchenverbesserung aus hat
Karl die Aufsichtsgewalt des Staates über der Kirche irdische Verrichtungen
in Anspruch genommen; er hat jene Kirchenhoheit, welche seine Vorgänger,
die katholischen Könige, im Umkreis ihres spanischen Königreiches ausge¬
übt, noch einmal im Style des karolingischen, ottonischen und salischen Kai-
serthums zu einer universalen Kirchenvogtei des römischen Kaisers deutscher
Nation gesteigert; er hat den in weltlichen Dingen widerstrebenden Papst
mit Feuer und Schwert gezüchtigt; er hat auf dem allgemeinen Concil, wel¬
ches die Einheit des abendländischen Kirchenwesens herstellen sollte, sich selbst,
dem kaiserlichen Oberhaupt der Christenheit, ein dictatorisches Veto, ja die
entscheidende Stimme zuerkannt. Schwer lastete auf der mittelalterlichen
Priesterkirche, die Karl nach spanischem Muster reformiren und nach spani¬
scher Königspraxis beherrschen wollte, des katholischen Kaisers Hand; aber
die überlieferte Cleriker-Kirche, den priesterherrschaftlichen Charakter des mittel¬
alterlichen Kirchenthums hat Karl mit keinem Finger angetastet. Unerschütter¬
licher Bekenner der spanischen Kirchenreformation, ist Karl V. bei seiner ersten
Anwesenheit in Deutschland im Jahre 1521 als Feind der deutschen Kirchen¬
reformation in das Reich gekommen. Als Feind der deutschen Kirchenrefor-
mation hat Karl geendet. In der kirchlichen Frage, das heißt in der Aus¬
rottung des deutschen Kirchenaufruhrs, haben vier und dreißig Jahre kaiser¬
licher Laufbahn hindurch Karl's Entwürfe europäischer wie deutscher Politik
gegipfelt. Mit der Aechtung der deutschen Ketzerei hat er seine Wirksamkeit im
Reiche begonnen. An der Ausführung des Wormser Achtmandates haben
ihn die Lasten und Pflichten abendländischer Kaiserpolitik von einem Jahr¬
zehnt zum andern gehindert. Er ward auf Bahnen verschlagen, auf welchen
er die deutsch-kirchliche Bewegung nicht nur aus den Augen verloren zu haben,
sondern dem Principe der deutschen Reformation sogar Zugeständnisse zu
machen schien. Die protestantischen deutschen Reichsstände haben sich der
gnädigen Absichten ihres Herrn Kaisers wiederholt getröstet. Dennoch trog
der Schein. So weit Kaiser Karl die Tendenzen der spanischen Reformation
vertrat, hat dieselbe niemals Duldung gegen die deutsche Reformation üben
wollen.
Die Offensive, welche der Habsburger, so oft ihm die europäischen Ver¬
wickelungen Muße gaben, im Namen der spanischen Kirchenverbesserung wider
die deutsche Kirchenumwälzung hervorkehrte, hat die Sammlung einer alt¬
gläubigen Fürstenpartei im deutschen Reiche ermöglicht, befördert und unser
Vaterland um die Aufrichtung einer reformirten deutschen Nationalkirche ge¬
bracht. Eine kirchliche Neubildung von Reiches wegen, wie sie die Reforma¬
toren beabsichtigt, ward verfehlt. Dies nicht allein. Unter der feindseligen
Haltung, welche das Reichsobcrhaupt wider die deutsche Bewegung beobachtete,
ist der jugendliche Organismus der deutschen Reformationskirche verkrüppelt.
Auf der Grundlage der Laiengemeinde, mittels Laienrepräsentation und Sy¬
nodalberathung hatte Luther die deutsche Reformationskirche unter allmähliger
Hervorbildung des äußern Kirchenwesens aufbauen wollen. Durch die aus
der spanischen, Kirchenverbesserung ihr erwachsene Gegnerschaft ist der deut¬
schen Reformationskirche die Entwicklung zum Landeskirchenthum hin, die
Zersplitterung in eine Vielzahl evangelischer Territorialkirchen, und das lan¬
desherrliche Kirchenregiment aufgenöthigt worden: die Entwicklung also, die
sich im 14. Jahrhundert angekündigt und gegen Ausgang des 13. Jahrhun¬
dert auf spanischem Boden am kräftigsten durchgedrungen. Der bedrohliche
Widerstand, den das Oberhaupt des Reiches und die unter kaiserlicher Füh¬
rung befindliche Reichspartei bereiteten, legte den protestirenden Reichsständen,
falls sie den bisherigen flüssigen Zustand des ungläubigen Kirchenwesens nicht
unberechenbaren Fährlichkeiten aussetzen wollten, schon vom Jahre 1526 ab
die Pflicht neukirchlicher Constituirung nahe. Auf Grund des Reichstagsab¬
schieds von Speyer 1526. der den kirchlichen Zustand in sämmtlichen Terri¬
torien des Reiches bis auf weiteres der persönlichen Verantwortlichkeit jedes
Landesherrn überwiesen, galt es angesichts eines dräuenden Kaisers das
evangelische Kirchenwesen eiligst unter Dach zu bringen. Ein Nothbau konnte
nicht anders als in Gestalt des territorialen oder landesherrlichen Kirchen¬
wesens, von oben herab, kraft obrigkeitlicher Gewalt des Staates und unter
vorläufigen landesherrlichem Kirchenregiment zu Stande kommen. In Tschi
hielt die deutsche Reformationskirche an dem Glaubenssätze vom allgemeinen
Priesterthum der Gläubigen fest, in Praxi vermochte sich das evangelische Ge¬
meindeprincip einstweilen nicht zu bethätigen. Die deutschen Reformatoren
erachteten solchen Nothbau als Provisorium. Die unausgesetzt fortwirkende
Gegnerschaft des spanischen Reformationsprincipes hat das deutsche Provi¬
sorium des 16. Jahrhunderts in ein bis zum heutigen Tage lastendes Defini-
tionen verwandelt. Den provisorischen Zustand rückgängig zu machen war
die Meinung Karl's, als er in der einen Hand das Schwert, in der andern
Hand das Concil endlich im Jahre 1547 zum deutschen Religionskriege auf¬
brach. Das Interim, welches der kaiserliche Triumphator den besiegten Pro¬
testanten auferlegte, bedeutete Unterwerfung des deutschen Kirchenaufruhrs
unter das System spanischer Kirchenverbesserung.
Dem Protestantenkriege, den Jahren kaiserlicher Monarchie im deutschen
Reiche und der Katastrophe Karl's ist Maurenbrecher's Aufsatz über „Moritz
von Sachsen" gewidmet: eine geistreiche, sorgfältig ausgeführte, die diploma¬
tischen Combinationen dieses Abschnittes deutscher Geschichte darlegende Studie.
Daß der Historiker des Reformationszeitalters sich in Gesinnung und Politik
dieses außerordentlichen, hochbegabten, selbständigen, von den religiösen Im¬
pulsen und kirchlichen Anliegen der Epoche kaum gestreiften Prinzen, des ein-
zigen damaligen Staatsmannes im deutschen Fürstenrock mit besonderer Lieb¬
haberei vertieft und auf Ergebnisse der Forschung gestützt, der Vielzahl vager
und schiefer Beurtheilungen mit Nachdruck entgegentritt, ist begreiflich und
billig. Ob es dem Verfasser gelingen wird, den Widerspruch, den seine Cha¬
rakteristik des Albertiners vor Jahren erweckt, mittels einer Neubegründung
niederzukämpfen? „Der Grundzug seines Charakters," versichert Mauren¬
brecher, „war politischer oder dynastischer Ehrgeiz " Diesem Worte wird man
unbedenklich zustimmen dürfen. Man wird Herzog Moritz von Sachsen eine
Mitgift territorialfürstlicher Schaffenskraft zuerkennen müssen, die im deutschen
Reiche um die Mitte des 16. Jahrhunderts ein vereinzeltes Phänomen ge¬
wesen. Auch daß Moritz' Auftreten, im Jahre 1546 nicht gegen den Pro¬
testantismus gerichtet war, ergiebt sich, wenn man des Albertiners religiöse
Kühle in Anschlag bringt, als treffende Auffassung. Nicht so unbedenklich
dürfte man der affirmativen Wendung des Verfassers „im Gegentheil suchte
er ihn (den Protestantismus) zu retten, ihn zu schützen, durch das Bündniß
mit dem überlegenen Feinde vor der Bedrohung durch diesen Feind zu decken"
folgen wollen. Man wird geneigt bleiben an der Ansicht fest zu halten, daß
für einen ehrgeizigen Politiker das kirchlich confessionelle Interesse neben dem
dynastischen im Jahre 1646 gar nicht in Erwägung gekommen ist. Man
wird bei der späteren Abwehr des kaiserlichen Interims sich der gefahrvollen
Stellung erinnern, die Moritz, des Rückhalts am kaiserlichen Hofe nicht ein¬
mal unbedingt gewiß, als Landesherr des evangelischen, soeben gewaltthätig
gewonnenen ernestinischen Territoriums einnahm. Man wird Alles in Allem,
weil man es mit einem Politiker ersten Ranges zu thun hat, an religiöse Be¬
weggründe der kurfürstlichen Action nur in dem Falle, daß schlagende Be¬
weise jeden andern Erklärungsversuch ausschließen, glauben wollen.
In den Jahren, die zwischen der Schlacht von Mühlberg und der Schild¬
erhebung des Kurfürsten von Sachsen liegen, hat eine im katholischen Lager
ausgebrochene Spaltung das Beste beigetragen, um die deutsche Kirchenrefor¬
mation vor den Griffen der spanischen Kirchenreformation zu bergen. In
den Jahren kaiserlicher Machthöhe gerade hatte der Zwist zwischen Kaiser¬
tum und Papstthum dem Tridentiner Concil nur wenige Monate der Sitzung
gegönnt. Auch jene kurze Frist, während deren, vom Kaiser bezwungen, die
deutschen protestantischen Theologen zu Trident geweilt, war von Irrungen
zwischen dem kaiserlichen und päpstlichen Wollen durchspannt worden.
Die spanische Reformation hatte sich in zwei Ströme gespalten. Aus
der spanischen Reformation war, die mittelalterlichen Ideen kaiserlicher Theo-
kratte mit den jüngeren Bestrebungen landeskirchlicher Organisation vermäh¬
lend, der Anspruch Karl's V. auf Beherrschung des katholischen Kirchenwesens
hervorgegangen. Aus derselben spanischen Reformation war um die Zeit,
wo ihre Propaganda den Stuhl der Bischöfe von Rom erreichte, der Orden
Jesu hervorgewachsen.
Die ältere, ursprüngliche, von Karl V. sowol wie von seinem Nachfolger
auf spanischem Throne mit Zähigkeit eingehaltene Richtung der spanischen
Reformation hatte „nichts weniger als eine Stärkung der universalen Papst¬
macht im Auge," sie schloß die Einmischung der Papstgewalt in staatliche
Dinge geradezu aus, sie unterstellte die weltlichen Verrichtungen der Kirche
der Kirchenhoheit des Staates, sie hob das allgemeine Conzil zur höchsten
Instanz in allen Angelegenheiten der Kirche empor, sie überwies mittels des
Conzils dem landeskirchlichen Episkopat der einzelnen Nationen eine erweiterte
Selbständigkeit. Anders die jüngere aus der spanischen Reformation hervor¬
gebrochene Richtung. Sie war die unabweisbare Consequenz und sie war die
folgerichtige Anwendung des in dem Aufschwung spanischer Kirchlichkeit ent¬
haltenen Grundgedankens. Eine Kirchenreformation wie die spanische mußte,
sobald sie mit einer gegnerischen Macht wie die deutsche Kirchenreformation
zusammenstieß, sei es um der Wappnuug, sei es auch nur um der Selbster¬
haltung willen, den Jesuitismus aus ihrem Schooße gebären. Indessen die
Thatsache bleibt, daß Loyola, wie Maurenbrecher ausführt, „von der Tradi¬
tion und der Tendenz seiner spanischen Heimath abgewichen, den Boden der
spanischen Kirchenreformation verlassen und damit eine neue geschichtliche Ent¬
wicklungsphase herbeigeführt hat." Die lokale und nationale spanische Kir¬
chenreformation in das Weite und Freie führend, stellte sich die junge Geistes¬
macht des Jesuitismus mit der ganzen Summe ihrer Kräfte in den Dienst
des Papstthums. Den mittelalterlichen Glauben der Kirche an sich selbst,
von welchem die spanische Reformation sich niemals losgesagt, nahm die
Schule Loyala's aufs Neue und nun als Kardinalpunkt des katholischen Be¬
kenntnisses auf. Die Entwicklung der mittelalterlichen Kirchengeschichte seit
Gregor VII. galt es der Vollendung entgegen zu treiben. Die Verherrlichung
und Erhöhung der Papstgewalt in das Unbegrenzte ward deshalb der Ziel-
Punkt jesuitischer Wirksamkeit. Im Conzil erblickte die geistliche Ritterschaft
des Jesuitenordens das Organ päpstlicher Willensäußerung, im Episkopat
der abendländischen Nationen den Ausfluß päpstlicher Allgewalt. Vorkämpfer
der päpstlichen Alleinherrschaft in der Kirche, „des päpstlichen Universalepis¬
kopates und der päpstlichen Lehrunfehlbarkeit", erneuerten die Jesuiten eben¬
falls jene Ansprüche mittelalterlichen Papstthums, welche dem Stellvertreter
Christi die Herrschaft des irdischen wie des himmlischen Reiches zuwiesen.
Um die Mitte des 16. Jahrhunderts befanden sich die Bischöfe von Rom
der Alternative gegenüber, in welche von beiden Strömungen sie das Schiff¬
lein Se. Peters steuern sollten. Ohne zu überlegen, trafen die zeitgenössischen
Päpste ihre Wahl. Die Geschichte des widererstarkenden, unter den Einwir-
lungen der spanischen Reformation regenerirten Papstthums des 16. Jahr¬
hunderts verzeichnet auf ihren ersten Blättern eine Auflehnung wider die An¬
sprüche staatlicher Kirchenhoheit. Um in weltlichen Dingen sich des Kaisers
Vogtei zu entziehen, um trotz des Kaisers und seiner spanischen Theologen
das Conzil zu beherrschen, haben die Vorsteher der mittelalterlich lateinischen
Kirche Karl V. um die Ausbeutung seines deutschen Religionskrieges betrogen.
Solcher Weise sind die Anfänge des Jesuitismus am päpstlichen Hofe der
deutschen Kirchenreformation zu gute gekommen.
Maurenbrecher's europäische Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation,
von welcher wir uns eine wichtige Bereicherung unserer Geschichtskenntniß, zu¬
gleich ein Geschichtswerk künstlerischer Form versprechen dürfen, wird genauer
als dies bis heute geschehen, die Divergenzen zwischen beiden Richtungen der
spanischen Reformation aufdecken, wie sie auch über das Ableben Kaiser
Karl's V. hinaus das katholische Lager veruneinigt.
Zwischen den älteren Traditionen der spanischen Reformation und den
kirchlichen Bildungen der deutschen Reformation hat sich im Laufe der Jahr¬
hunderte insofern das Verträgniß hergestellt, als katholisches wie evange¬
lisches Landeskirchenthum gleicherweise gewillt sind, dem Kaiser zu geben
was des Kaisers ist, die Kirche also, so weit sie ein Reich von dieser Welt,
so weit sie eine Körperschaft mit weltlichen Interessen und weltlichen Verrich¬
tungen, der Rechtsordnung des Staates zu unterstellen. Von wenigen kürze¬
sten Pausen abgesehen ist im monarchischen Centrum der katholischen Kirche
hingegen die jüngere Richtung der spanischen Reformation die herrschende ge¬
blieben. Als Auflehnung Wider das kirchliche Hoheitsrecht des Staates hatte
der Jesuitismus am päpstlichen Stuhle sich eingesetzt. Vor der universalen kirchen¬
politischen Frage war die lokale Bekenntnißfrage zeitweilig in den Hintergrund
getreten. Wäre zur Stunde die Wahl abermals gegeben: die Ausrottung
der deutschen Reformationskirche dürfte das Papstthum unserer Tage ver¬
muthlich wiederum dem Vernichtungskriege wider sämmtliche Staatsgewalten
nachsetzen, die das selbständige Reich der kirchlichen Glaubensgemeinschaft
auf das Geistliche einschränkend, dem Oberhaupte des katholischen Kirchen¬
wesens die Herrschaft des weltlichen Reiches im Abendlande verweigern.
Rascher als die Vertheidiger des Geschwornengerichts erwarten durften,
ist die Entscheidung zu ihren Gunsten gefallen. Es hat nicht erst der Be¬
schlußfassung des Reichstages bedurft. Der Bundesrath hat bei der defini¬
tiven Beschlußfassung von der projectirten Schöffengerichtsverfassung Abstand
genommen. Ist schon hierdurch eine sehr wesentliche Umgestaltung des bis¬
herigen Entwurfs der deutschen Strasproceßordnung nothwendig geworden,
so knüpft sich daran für diejenigen, welche die Idee des Rechtsstaates auf
nationaler Grundlage, und nicht etwa eine verbesserte französische Schablone
als das Ziel der deutschen Gesetzgebung betrachten, die Hoffnung, daß der
Entwurf, über welchen demnächst der Reichstag zu beschließen haben wird,
auch in anderen Beziehungen von einem anderen Geiste durchdrungen sein
werde, als derjenige war, den wir in mannigfachen Bestimmungen der frühe¬
ren Entwürfe zu bemerken Gelegenheit fanden.
Ohne Zweifel hat zu diesem Resultat und zu dieser Hoffnung die feste
Haltung der sämmtlichen Liberalen Süddeutschlands und die darauf fußende
Erklärung der baierischen und würtembergischen und vielleicht überhaupt der
süddeutschen Bundesbevollmächtigten das Wesentlichste beigetragen, während
— wir mögen diesen Vorwurf als einen wohlbegründeten hier nicht unter¬
drücken — die große Zahl der norddeutschen Liberalen die weittragende ja
enorm politische Bedeutung der Strafproceßordnung und insbesondere der
Geschwornengerichte kaum ins Auge zu fassen, geschweige denn vollkommen zu
würdigen schien. Vielleicht aber gebührt auch ein nicht unbedeutender Antheil
an der Erhaltung des Geschwornengerichts der in der Anmerkung genannten
Arbeit Gneist's: wenigstens ist dieselbe kurz vor dem Bekanntwerden der
Beschlüsse des Bundesraths erschienen, und es läßt sich leicht ermessen, welche
Bedeutung es für diese Beschlüsse haben mußte, wenn gerade die Autorität
Gu el se's eine unumwundene fast vollständige Verurtheilung der Grund¬
lagen der bisherigen Entwürfe ausspricht.
Die Gefahr einer Verdrängung des Geschwornengerichts durch das
Schöffengericht ist wie bemerkt jetzt überwunden, und dem Fachmanne hier
wesentlich Neues zu sagen, war nach der eingehenden und langdauernden Po¬
lemik der auf beiden Seiten engagirten Theoretiker und Praktiker kaum möglich.
Aber den im Ganzen doch weniger orientirten Politikern kann mit Grund
Gu eist's anziehende und zugleich schneidende Darstellung der Gefahren em¬
pfohlen werden, mit welchen das projectirte Schöffengericht unsere Rechts¬
pflege bedroht haben würde — ein Institut, das Schuld- und Straffrage,
Urtheil der Laien und Autorität der Rechtsgelehrten in einen „unentwirr¬
baren Knäuel" zusammenbringen, bei dem von nachweisbarer Verantwortlich¬
keit der Einzelnen wenig die Rede sein kann, und eine Controle der Recht¬
sprechung durch den obersten Gerichtshof auf die der Mitwirkung der Parteien
und Schöffen entzogenen hinterher zu redigirenden Entscheidungsgründe be¬
schränkt sein würde. Und dabei kann die bisherige vielleicht in mancher
Beziehung günstige Erfahrung der Schöffengerichtspraxis in einigen deutschen
Ländern, wie Gneist sehr richtig ausführt, gar nicht einmal als Gegenbeweis
geltend gemacht werden. Das Institut wirkt, auf unbedeutendere Sachen
beschränkt, anders, als da, wo es die alleinige Basis der Strafgerichtsver-
Verfassung bildet, und mit dem ganz radicalen Projecte der bisherigen Ent¬
würfe der Strafproceßordnung kann z. B. auch das weit behutsamer geord¬
nete gegenwärtige Institut des Königreichs Sachsen, bei welchem ein Cardi-
nalfehler vermieden ist, der nämlich, daß die Laien auch die Strafmaaße mit¬
festsetzen, nicht vollkommen verglichen werden, während anderseits die in
Preußen für die sog. mittleren Straffälle fungirenden nach Majorität ent¬
scheidenden und nur mit drei Richtern besetzten Gerichte auch nicht als das
Ideal einer mit allen wünschenswerthen Garantien versehenen Rechtspflege be¬
trachtet werden können. Die neueste Gestaltung des Schöffengerichts, welche
von manchen Anhängern dieses Instituts geplant wurde, freilich aber nicht
offiziell adoptirt war, ist von Gneist, vermuthlich weil sie ihm zu abnorm
erschien, nicht berücksichtigt worden. Sie sollte darin bestehen, daß Ein rechtsge-
lehrter Richter mit einer Mehrzahl von Schöffen in allen Strafsachen ent¬
scheiden sollte.
Dabei würden allerdings manche Mängel vermieden werden, die bei einer
Theilnahme mehrerer rechtsgelehrter Richter stattfinden müssen. Aber wir
möchten den Ausdruck wissen. mit welchem etwa die Engländer ein Project
bezeichnen würden, das eine so ungeheure Gewalt ohne jegliche Controle in
die Hand eines Einzelnen legt, und doch haben die englischen Oberrichter
eine ganz andere juristische Unabhängigkeit als unsere deutschen Richter. Wir
wollen von dem Unabhängigkeitssinne unserer deutschen Richter hoch genug
denken^ die rechtlichen Garantien ihrer Unabhängigkeit lassen, so lange das
jetzige Beförderungssystem dauert, doch Einiges zu wünschen übrig; man braucht,
um dies sich klar zu machen, nur einerseits an Gu eist's Schrift über die
freie Advocatur und andererseits Tocqueville's Bemerkungen über die franzö¬
sische Gerichtsverfassung, deren getreues Abbild die moderne deutsche Gerichts¬
verfassung ist, sich zu erinnern.
Bei der Reform, welche die deutsche Strafproceßordnung bringen mußte,
kam es darauf an, die Grundsätze unserer bisherigen deutschen Strafproceßge¬
setze, die doch in vielfacher Beziehung wenigstens in den meisten deutschen
Staaten noch mangelhaft durchgeführt waren, zu vollständiger besserer Gel¬
tung zu bringen: im bisherigen preußischen Strafproceß haben wir z. B., wie
Gneist sehr richtig sagt, nur ein halbes Anklageverfahren, eine halbe Münd¬
lichkeit und eine halbe Oeffentlichkeit. Oder ist es etwa ein wirkliches An¬
klageverfahren , wenn der Ankläger, sobald er einmal das Gericht in förmlicher
Weise angerufen hat, jede Disposition über die Anklage verliert? Ist ein
Verfahren mündlich, welches Wochen und Monate lang die Specialverhöre
des Angeschuldigten und des Zeugen vollständig protokollirt und welches wesent¬
lich darauf angelegt ist, den Inhalt dieser Protokolle in der mündlichen Schlu߬
verhandlung möglichst getreu wieder erscheinen zu lassen? Ist ein Verfahren
wirklich öffentlich, welches jene ganze Vorbereitung der Schlußverhandlung bei
verschlossenen Thüren, ohne Zuziehung der Parteien, insbesondere des Ver¬
theidigers, vornehmen läßt und dann hinterher in der öffentlichen Schlußver¬
handlung Angeklagte und Zeugen darüber sich verantworten heißt, was sie
in dem geheimen Vorverfahren gesagt gaben? Ein Verfahren kann, wie so¬
gar einer der letzten Justizminister Napoleons III. gesagt hat, unmöglich ein
richtiges sein, wenn es den Proceß in zwei Hälften nach entgegensetzten Systemen
spaltet und für die eine Hälfte den geheimen Jnquisitionsproceß für die andere
den öffentlichen Anklageproceß als Grundform proclamirt.
Daß die bisherigen Entwürfe hier in mancher Beziehung Besseres
brachten, Besseres als das bisherige preußische Verfahren bot, ist nicht zu
verkennen und wird auch von Gneist nicht verkannt. Aber in anderen Be¬
ziehungen wurden die Entwürfe theils von der bequemen Routine der Praxis,
theils selbst von einer irrigen Doctrin in die Bahn gedrängt, welche Gneist
mehrfach als eine „abschüssige" mit Recht bezeichnet.
So verlangten sowohl die Bedürfnisse des Lebens als zahlreiche Stimmen
der Theorie eine freiere Stellung der Staatsanwaltschaft, und mit Recht.
Vergessen wurde aber, daß diese freiere Stellung ihr Correctiv finden müsse,
einerseits in einer freieren Stellung des Angeschuldigten und der Vertheidigung,
andererseits in einer Controle der Staatsanwaltschaft durch die Gesellschaft
selbst, in ver Zulassung einer allgemeinen subsidiären Privatanklage. Das
Resultat ist natürlich eine fast schrankenlose Herrschaft des öffentlichen An¬
klägers über das Vorverfahren. Mit allen Machtmitteln des Staates ent¬
weder direct oder indirect durch Inanspruchnahme des Gerichts ausgerüstet,
soll die Staatsanwaltschaft gegen den Verdächtigen operiren und ihn dann, ohne
daß auch er die Möglichkeit eines Anrufens der richterlichen Gewalt zu seinen
Gunsten und zu seiner Vertheidigung besäße, vor das erkennende Gericht
bringen dürfen, das ohne Zulassung einer Berufung entscheiden soll. Und
dies Verfahren sollte aus wohlmeinender Rücksicht für den Angeschuldigten,
dem die richterliche Mitwirkung bet der Voruntersuchung auch einmal eine
kurze Verlängerung der Haft kosten kann, auch gelten, wenn zu einer Ver¬
haftung des Angeschuldigten geschritten war. „Genügt dies", fragt Gneist,
„zu einer vollständigen Vorbereitung der Beweiseinreden und der Verthei-
digungsbeweise? Es ist eine Anlage des Verfahrens, welche die Defension
vollständig zu erdrücken geeignet ist. und über den Loäs Napolöon hinaus¬
geht, der doch wenigstens bei Verbrechen der Defension einige Vorbereitung
und eine gerichtliche Controle der Anzeigebeweise sichert. Der deutsche Ent¬
wurf weiß nichts an diese Stelle zu setzen, als die „Voraussetzung", der öffent¬
liche Ankläger werde die gerichtliche Voruntersuchung wählen, wo ein sorg¬
fältigeres Eingehn auf die Vertheidigung nöthig erscheint. Die Wahrheit
ist, daß man von jeher ein gewisses Mißtrauen gegen die Stellung des Rich¬
ters gehegt hat/ ob derselbe im geheimen Verfahren die Rechte des Ange¬
schuldigten in völlig unparteiischer Weise wahrnehmen werde. Der Entwurf
verlangt, daß man dies Vertrauen zum öffentlichen Ankläger haben solle."
Es ist aber eine Illusion, wenn man meint, der Staatsanwalt könne,
selbst einen hohen Maßstab für die Vertreter dieses Amtes angenommen, das
Richteramt da ersetzen, wo der wirkliche Proceß gegen den Angeschuldigten
mit Zwangsmaßregeln, namentlich mit der Verhaftung, und mit der Aufnahme
von Beweisen, welche irgend gegen den Angeschuldigten benutzt werden, beginnt.
Und es ist ferner eine Illusion, wenn man etwa daran denken sollte, dem
staatsanwaltschaftlichen Amte durch Unabsetzbarkeit und Unabhängigkeit vom
Ministerium gleichsam richterlichen Charakter zu verleihen. In einem con-
stitutionellen Staate muß es der Regierung zustehen, gegen Richtungen, die
ihr dem Staate verderblich zu sein schienen.-die Repression des Strafgesetzes
anzurufen, und soweit ihr diese von unabhängigen Strafgerichten zugestanden
wird, handelt sie auch vollkommen recht, und umgekehrt wird die Regierung
nicht wollen und wollen dürfen, daß ihre Anhänger, die nach ihrer Ansicht
das Beste des Staates wollen, durch grundlose Anklagen, z. B. wegen Mi߬
brauchs des Vereins-, des Versammlungsrechtes, eingeschüchtert werden, während
doch, was im einzelnen Falle eine grundlose Anklage ist, sich vor einer end¬
gültigen Entscheidung der Gerichte oft gar nicht übersehen läßt. Jede con-
stitutionelle Regierung, die sich irgend als Parteiregierung fühlt, — und das
thut trotz alles Declamirens dagegen wieder jede constitutionelle Regierung in
einem politisch lebendigen Staate — hat daher nothwendig in Ansehung des
Strafgesetzes eine andere Brille für ihre Gegner als für ihre Anhänger. Sie
muß die Polizeigewalt nach ihrem besten Ermessen zum Wohle des Staates
gebrauchen dürfen, und die Strafverfolgung ist begrifflich ein Theil der
Polizeigewalt, die Staatsanwaltschaft begrifflich ein Organ der Polizeigewalt,
mag auch praktisch die juristisch-technische Seite hierbei in den gewöhnlichen
Fällen allein hervortreten.
So erklärt sich in der That ein gutes Theil der Ohnmacht der deutschen
und französischen Gerichte in Fragen des öffentlichen Rechtes durch die Aus¬
schließlichkeit der staatsanwaltschaftlichm Strafverfolgung. Die Gerichte er¬
halten zu einer andern Anwendung des Strafgesetzes keine Möglichkeit, weil
sie eben nicht dazu angerufen werden. Bei uns hat man nun bis jetzt glücklicher
Weise von einer einseitigen Anrufung des Strafgesetzes nur bei gewissen emi¬
nent politischen Delicten reden können. „Die Leidenschaft der Parteien kann
aber der gouvernementalen Strafverfolgung noch ganz andre Dimensionen
geben. Sie kann der mißliebigen Partei zuletzt den Rechtsschutz gegen Land-
und Hausfriedensbruch, gegen Gewaltthat, zuletzt gegen jedes gemeine Ver¬
brechen versagen. Eine vollere Entwicklung dieser Mißbräuche erscheint in
romanischen Ländern*), in welchen jede Secte die parteimäßige Handhabung
der Strafjustiz für ihre Zwecke zu benutzen liebt, sobald sie ans Ruder kommt.
Wir können in Deutschland freilich bis jetzt sagen: Wir haben diese Mi߬
bildung niemals gewollt."
In Wahrheit ist in Deutschland die Strafverfolgung nach dem Gesetze
früher als Rechtssache betrachtet worden. Zur Zeit der absoluten Monar¬
chie lag sie in der Hand des unabhängigen Untersuchungsrichters. Nur durch
eine mit der Contrasignatur des Ministers versehene landesherrliche Aboli-
ti on konnte der pflichtmäßigen Eröffnung der Untersuchung durch den Richter
Einhalt gethan werden. Unsere konstitutionelle Doctrin hat der Krone (in
Preußen) das Abolitionsrecht versagt, „um es vertrauensvoll als Massenabo-
lition in die Hand der von Parteistellungen abhängigen Minister, beziehungs¬
weise der von den Ministern abhängigen Staatsanwälte zu legen."
Einige Rücksicht aber darauf, daß die Strafverfolgung nicht ausschließe
lich Regierungssache sein dürfe, finden wir auch in der französischen Gesetz¬
gebung. In äußersten Fällen kann dem Staatsanwalte die Erhebung der
Anklage von dem höheren Gerichtshofe ausgegeben werden, und der durch eine
strafbare Handlung Beschädigte hat ein nicht ganz unbedeutendes Recht neben
der Schadensersatzforderung auch die Strafe vor den Strafgerichten zu verfol¬
gn. Man x<,um freilich sagen, das erstere Mittel sei ein wenig angemessenes,
auch wenig wirksames: einigen Schutz gegen ganz einseitige Strafverfolgung
und stillschweigende Massenabolition auf der andern Seite gewährt es doch.
Was thaten aber die bisherigen Entwürfe der deutschen Strafproceßordnung?
Sie strichen auch diesen Schutz und gewährten statt dessen eine Privatan¬
klage bei den sog. Antragsdelicten des deutschen Strafgesetzbuchs, in Fällen,
die sich gewiß nicht durchgängig besonders zur Privatanklage eignen, und
in denen diese besonders leicht zu einem schimpflichen Handel und einer Schä¬
digung des öffentlichen Interesses dienen kann, in denen aber andererseits ein
politisches, gouvernementales Interesse gerade recht fern liegt.
Eine Rückkehr zu dem alten System, der Strafverfolgung, d. h. zu
der ersten Einleitung des Strafprocesses auf die Initiative des Richters ist
selbstverständlich unmöglich. Der Conflict ist nur so zu lösen, daß dem Rechte
der Parteiregierung das Recht des Publikums entgegengestellt wird: mit an¬
deren Worten, daß der Klage des Staatsanwalts die subsidiäre Privatklage
zur Seite gestellt wird, und zwar nicht nur Desjenigen, der etwa durch die
strafbare Handlung einen Vermögensschaden erlitten haben möchte — denn
ein solcher Schaden wird sich gerade in den bedeutendsten Fällen nicht immer
nachweisen lassen. Nur so ist es möglich, eine allmählig einreißende parteiische
Handhabung der Strafverfolgung zu vermeiden und einen Schutz der Mino¬
ritäten durch das Strafgesetz dauernd zu behalten. Statt der Verfolgungs¬
sucht dient diese Privatanklage der politischen Mäßigung; denn man wird sich
hüten, allzusehr die Schärfe des Gesetzes gegen etwaige nur formelle Gesetzes¬
verletzungen anzuwenden, wenn von dem Gegner ein Ausbeuten der Gesetzes¬
worte befürchtet werden muß.
Allerdings wird nun diese allgemeine subsidiäre d. h. für den Fall einer
Weigerung des Staatsanwalts eintretende Privatanklage von der hergebrachten
Anschauung vieler unserer Praktiker noch auf das äußerste perhorrescirt, und
zugestehen muß man, daß Mißbräuche mit Bedrohung solcher Privatanklagen
möglich sind. Aber ihnen wird schon die Spitze abgebrochen durch das Er-
forderniß, daß die Privatanklage einem vorherigen dieselbe zulassenden Ge¬
richtsbeschluß unterstellt werde. Die Schauergemälde, die man von den Wir¬
kungen der Privatanklage zu entwerfen pflegt, sind doch, wenn die Zustände
des Staates und der Gesellschaft noch als leidlich gesund angenommen werden,
nur Phantasiestücke, und die allgemeine, nicht auf den Beschädigtem beschränkte
Privatanklage ist uraltes deutsches, noch in der Carolina anerkanntes Recht
der Deutschen, das erst der Staat der absoluten Bureaukratie beseitigt hat.
Diese Privatanklage besteht in vollem Umfange in England und in einem ziem¬
lich weiten Umfange ist sie eingeführt worden durch die neue österreichische
Strasproeeßordnung, und sollte, was in Oesterreich gewagt werden konnte,
im deutschen Reiche unmöglich sein? Kaum braucht noch bemerkt zu werden,
daß die Zulässigkeit einer substdiären Privatanklage auch die Möglichkeit ge-
währt, den Staatsanwalt in Wünschenswerther Weise von der Vormundschaft
der Gerichte zu befreien, wenn er sich davon üderzugt, daß eine Anklage nicht
durchführbar, also fallen zu lassen sei, und daß zugleich die Möglichkeit einer
Verweisung auf den Weg der Privatanklage dem Staatsanwalte eine weit
bessere freiere Stellung gegenüber grundlosen Prwatdenunctationen giebt. Es
ist eben nur die Gewöhnung unsrer Juristen, welche sich sträubt, die Privat¬
anklage als ein nothwendiges Cornplement unseres heutigen politischen Lebens
und zugleich der Rechtspflege anzuerkennen.
Eben diese Gewöhnung ist es auch, welche in den bisherigen Entwürfen
der Strafproceßordnung, der Theorie und selbst vielen Stimmen hervorragen¬
der Praktiker gegenüber, freilich mit manchen cmerkennens- und ehrenwerthen
Verbesserungen im Einzelnen, für die Hauptverhandlung im Wesentlichen doch
das bisherige inquisitorische Verfahren des französischen Processes beibehalten
will, bei welchem schließlich der die Rolle des Staatsanwalts factisch übernehmende
Präsident des Gerichtshofes oft weniger unparteiisch erscheinen kann, als sein
GeHülse im Jnquiriren, der eigentliche Staatsanwalt, so daß nun der An¬
geklagte — in manchen Sachen ohne Beistand eines rechtskundigen Verthei¬
digers — den Angriffen, welche von zwei verschiedenen Standpunkten aus
gegen ihn gemacht werden, ohne weiteren formellen Schutz gegenübersteht.
Die Befürchtungen, welche man für den Fall einer wirklichen Durchführung
des Anklageprincips in der Hauptverhandlung hegt, dürften sich nach den Er¬
fahrungen der Engländer und Nordamerikaner. welche in der Beweisführung
zunächst durch die Parteien selbst vermittelst des sog. Kreuzverhörs vielmehr
das sicherste WahrheitserforschungSmittel erblicken, nicht bewahrheiten. Im
Gegentheil dürfte, da dem Gerichtsvorsitzenden eine wirklich unparteiische,
höhere Stellung gegeben wird, der Schutz der Angeklagten wie der Zeugen
gegen ungehörige Fragen weit wirksamer sich gestalten, und würde das wichtige
Resultat erreicht werden, daß die Verhandlungen auf das wirklich Erhebliche
sich concentrirten und nicht', wie namentlich im französischen Verfahren bemerk¬
bar ist, auf Dinge abirren würden, die nicht sowohl einem stritten Beweise,
als der Verdächtigung oder etwa als pikanter Stoff zur Zeitungslectüre dienen
können. Die Gefahr einer solchen Abirrung der Verhandlung ist um so
größer, je mehr den Parteien, insbesondere auch der Vertheidigung die Be¬
weisführung versagt wird: ein Ersatz für diese der Natur der Sache ent¬
sprechende Aufgabe wird gesucht und gefunden in sinnverwirrenden, schönred¬
nerischen Phrasen und im phantastischen Ausmalen von Möglichkeiten, für
welche die Verhandlungen eigentlich nicht den mindesten Anhaltspunkt ge¬
währen.
Für eine Mitwirkung von Geschworenen aber ist beides, Concentration
der Verhandlungen auf das wirklich Wesentliche und eine unparteiische Stel¬
lung des leitenden Richters, welche allein eine vertrauensvolle Unterordnung
der Geschworenen unter das von diesem interpretirte Gesetz ermöglicht, durch-
aus wesentlich, und gerade in der in jenen Beziehungen fehlerhaften Structur
unseres bisherigen Strafverfahrens erblicken wir mit Gneist eine Hauptur¬
sache dafür, daß das Geschwornengericht in Deutschland bis jetzt weniger tief
Wurzel gesaßt hat, als man sonst erwarten dürfte. Einen weiteren Grund
finden wir in der leider mit den Anforderungen der Zeit keinen Schritt
haltenden wissenschaftlichen Ausbildung unsrer Juristen. Die richtige Leitung
der Jury in einer schwierigen und verwickelten Sache stellt, wie auch die Eng¬
länder noch stets hervorgehoben haben, eine der höchstmöglichen Anforderungen
an die juristische Intelligenz, während das Niederstimmen und allenfalls das
Uebertrumpfen mit der amtlichen Autorität in einem einheitlichen Collegium
hinter verschlossenen Thüren eine weit leichtere Aufgabe ist.
Ueberhaupt aber — und hier möchten wir an Gneist's Erörterungen
anschließend, dieselben in einer anderen Richtung fortführen — verlangt eine
auf freiheitlicher Grundlage stehende, und mit einem Rechtsstaate harmonirende
Proeeßordnung anders und besser ausgebildete Beamte und Richter als ein rein
bureaukratischer Mechanismus. Gneist weist darauf hin, daß die Thätig¬
keit der Polizei heut zu Tage in mehrfacher Beziehung eine andere werden
müsse; er meint, die Polizei schreibe noch zu viel, ihre Beamten seien häufig
nicht genug technisch gebildet, und aus beiden Gründen oft nicht am Platze.
Wir sind der Ansicht, daß, wenn nicht unsere projectirten neuen Proceßgesetze
sowohl Civil- als Strafproceßgesetze, schließlich eine bedenkliche Rechtsunsicher¬
heit zur Folge haben sollen, auf die wissenschaftliche Ausbildung unserer Ju¬
risten ganz andere Sorge verwandt werden muß, als dies in einem sehr
großen Theile Deutschlands, speciell in Preußen. geschieht. Eine Untersuchung
Mittelst der Folter zu führen setzt recht wenig Intelligenz voraus; und ein
Verfahren, welches den Verdächtigen sofort in Haft nimmt und aller Ver¬
theidigungsmittel beraubt, auch weniger Intelligenz und rechtzeitig eintretende
Energie, als ein solches, das auch dem Angeklagten bestimmte Rechte gewährt.
Aber die Ziele einer Strafproceßordnung für das neue deutsche Reich
sind höher. idealer zu fassen, als daß sie der zum Theil doch nur imaginären
Bequemlichkeit hergebrachter Routine zu dienen hätten, oder in den Anforde¬
rungen einer in gewissem Grade, freilich sehr beachtenswerthen Technik, welche,
auf notorische Verbrecher angewendet, zuweilen freilich schneller, und dadurch
für diese selbst humaner zum Ziele führen möchte, aufgehen könnten. Es gilt,
im Volksganzen den Rechtssinn zu mehren und zu stärken. In dieser Forde¬
rung begegnen sich Idealismus und ausgeprägteste Ulilitätsphilosophie,
vorausgesetzt, daß Letztere eben nur tief genug geht. Die Sorgfalt, welche
die Staatsgewalt vermittelst der Strafproeeßordnung darauf verwendet, daß
Niemandem Unrecht geschehe, ist einer der wesentlichsten Factoren für den
Maßstab, nach welchem das Volk den Werth der Staats- und Rechtsordnung
bemißt, und gerade den unteren Ständen gegenüber, die jetzt so leicht zur
Beschwerde sich veranlaßt fühlen mögen, ist diese Erwägung von besonderer
Bedeutung.
Der Unterzeichnete stimmt hier durchaus mit Gneist überein. und hat
dies in einer Kritik des ersten Entwurfs der deutschen Strafproceßordnung
bereits ausgesprochen: im Einzelnen der Technik haben die Entwürfe vieles
Gute, zuweilen Vorzügliches geleistet; überall, wo sie die großen Fragen des
öffentlichen Rechts im eigentlichen Sinne berühren, sind sie ungenügend, der
politischen Entwickelung unseres Volkes nicht entsprechend. Vielleicht ist darin
den technischen Comissionen kein großer Vorwurf zu machen. Aber die
Frage ist nicht ganz zurückzuweisen, ob nicht gerade jener Umstand auf einen
Mangel unserer gegenwärtigen Reichsorganisation hindeutet, darauf nämlich,
daß es fehlt an einer bestimmten Persönlichkett, die auch schon bei der Vor¬
bereitung derartiger umfassender Gesetzentwürfe dem Reichstage und dem
deutschen Volke gegenüber eine wirkliche volle moralische Verantwortlichkeit
t
Der aufmerksame Beobachter wird überall, in welchen Himmelsstrich
ihn seine Wanderungen auch führen mögen, reichlich Gelegenheit finden, die
interessantesten und lehrreichsten Studien darüber anzustellen, unter wie ver-
schiedenen und mannigfaltigen Bedingungen, Formen und Verhältnissen das
einzelne menschliche Individuum wie ganze Gesellschaftsklassen existiren können
und müssen, wie demgemäß auch ihr Kulturzustand und ihre Leistungen sich
über den Nullpunkt emporheben oder unter denselben herabsinken. Wohl
bietet sich in dieser Richtung hin nicht leicht ein ergiebigeres Beobachtungs¬
feld dar als unsere täglich kolossalere Dimensionen annehmenden europäischen
Großstädte, wie London, Paris, Berlin, Wien u. s. w. Natürlich sind unter
diesen die beiden ersten bei Weitem die bemerkenswerthesten. Während sich
jedoch in London durchweg der krasseste Gegensatz zwischen außerordentlicher
Wohlhabenheit und äußerstem Elend hervorthut, beobachten wir in Paris
zwischen diesen beiden Extremen eine reiche Stufenleiter des sozialen und Kul¬
turlebens. Nur gehen hier diese Abstufungen nicht, wie wohl häusig bei größeren
Städten, in strenger Folge vom Mittelpunkt den Vorstädten zu, sondern wir
stoßen oft auf einen so jähen Wechsel der Physiognomie, daß es uns im ersten
Augenblicke einige Mühe kostet, uns in die neue Welt zu finden. Wer frei¬
lich nur gewohnt ist, das große Strombett der Boulevards und andere
Hauptstraßen zu durchlaufen, merkt kaum etwas davon oder gewinnt doch nur
eine unvollkommene Vorstellung.
Wandern wir also einmal auf Seitenpfaden. — Als Ausgangspunkt
diene uns der Square Se. Jaques, an welchem zwei mächtige Verkehrsadern
des städtischen Gemeinwesens, der Boulevard de Sebastopol und die Rivoli-
straße von Norden nach Süden und von Osten nach Westen laufend, sich
durchkreuzen. Betreffs der Rivolistraße vergegenwärtigen wir uns, daß sie
gleich dem um das Stadthaus gelegenen Platze das Werk Napoleon's III. ist,
welcher eine Menge enger Gassen, den Sitz einer ärmlichen, theilweise ver¬
kommenen, häufig auch unruhigen Bevölkerung, wie sie Eugene Sue in den
„Geheimnissen von Paris" schildert, niederreißen und so dem Hotel de Ville Luft und
Licht schaffen ließ. Nichts destoweniger ist aber hier inmitten des Glanzes
ein Gasseneomplex stehen geblieben, der von der armseligsten aller Bevölke¬
rungen bewohnt wird, Hierhin wollen wir unsere Schritte lenken. Der Kontrast
ist ein wahrhaft schlagender: Soeben in der Umgebung der prächtigsten Schau¬
läden, eines bunten Durcheinanders von Menschen und Fahrzeugen, reicher
Toiletten und Equipagen, erfüllt von dem wohlthuenden Eindrucke, welchen
Wohlhabenheit und Eleganz in uns hervorbringt, stehen wir mit einer kur¬
zen Linksschwenkung um die altgothische Kirche Se. Merry herum vor den
mit Todesstille umlagerten Pforten der Armuth, am Eingang der Brise-
Miche- und Taille- Pair-Straße.
Und welch ein Eingang ist dies! Vergeblich würde man beide Arme
auszustrecken versuchen, — so nahe aneinandergerückt stehen die Mauern; oben¬
drein sehen wir die einzelnen Stockwerke der linken Häuserreihe in ausspringen¬
dem Winkel sich über einander setzen, so daß aus den obersten Etagen von
Fenster zu Fenster der Genuß berechtigter und unberechtigter Umarmungen
mit Bequemlichkeit ermöglicht wird, während es für die Bewohner der Erd¬
geschosse unmöglich erscheint, das liebe Himmelsblau auch nur in der Breite
eines Zwirnsfadens zu schauen. Ueber Mangel an Eindrücken dürfen wir uns
durchaus nicht beklagen, vielmehr tritt uns am Eingang mit Lebhaftigkeit
ein unvergeßlicher Geruch entgegen, der unsere Niechorgane in die unge¬
wöhnlichste Erregung versetzt. Es ist unglaublich, wie menschliche Wesen in
einer solchen Atmosphäre auch nur vegetiren können. Aus den schmalen un¬
sauberen Fenstern der in kaum erkennbaren Farben schillernden Häuser des
Eingangs sehen wir hie und da einen häßlichen Weiberkopf herausschauen,
dessen Ausdruck uns, indem wir zu einer platzähnlichen Erweiterung der Gasse
vorwärtsschreiten, lebhaft in eine im Shakespeare'schen Geiste verwirklichte
Hexengesellschaft versetzt, zumal wenn wir die lumpenbekleideten alten Weiber
hinzurechnen, welche, vor den Thüren hockend, ihre stechenden Blicke und
widerwärtigen Gesichtszüge auf uns neugierige Eindringlinge richten.
Damit uns aber ein recht drastischer Gegensatz vor Augen geführt werde,
bemerken wir auf eben diesem Plätzchen, zum Verkauf ausgebreitet, die präch¬
tigsten, lachendsten Früchte, Aepfel und Birnen, wie sie die Umgegend von
Paris so reichlich und in den schönsten Qualitäten hervorbringt. Beschämen¬
der Anblick! Welche menschlichen Mißgestalten neben diesen herrlichen Er¬
zeugnissen der Natur!
Wir schreiten weiter und treten in den bereits durch einigen Verkehr be¬
lebten Theil der Brise-Miche-Straße ein. Wenigstens bemerken wir hie und
da einen Schnapsladen und sonstige schmutzige Budiker, die man in einem
etwas menschlicherer Viertel mit dem Namen Krämerläden bezeichnen könnte.
Ein Barbierladen allein, „Zum Figaro" benannt, hebt sich aus all diesem
Schmutz besonders vortheilhaft heraus; das vor demselben angebrachte Schild
trägt auf der einen Seite die Inschrift: „Ah! Ah!. . Das ist der Figaro-
Haarschnetder;" und auf der andern: „Beim Figaro braucht man nicht zu
warten. Vier Künstler bemächtigen sich des Klienten bei seinem Eintritt."
Man erlegt zwei Sous und wird der unschönen Gesichtsauswüchse entledigt.
Sonntags und Montags wird die Budike nicht leer; an den andern Tagen
aber sieht man keinen Menschen und die vier Künstler, auf ihren Lorbeeren
ausruhend, kreuzen die Arme.
Wir versäumen natürlich nicht, uns auch über die politische Richtung der
Bewohner dieses gesegneten Himmelsstrichs einigermaßen zu unterrichten. Da
bemerken wir zunächst, daß unter den Wandgemälden eine hervorragende
Stellung eine Abbildung .Garibaldi's einnimmt: entsetzlich struppiges Haar
und ein gewaltiges Schwert, welches er in seiner Rechten schwingt, geben dem
alten Bandenführer ein Grausen erregendes Ansehen; mikroskopisch kleine
Prussiens ergreifen in panischen Schrecken die Flucht bei der Annäherung des
gigantischen Demokraten. Während wir uns mit geheimem Grauen dem Ge¬
danken hingeben, der Fürchterliche möchte Prussiens, und zwar alte Bekannte
aus der Code d'or in uns witternd, rachedürstend auf uns herniederstürzen,
wird glücklicher Weise seine und auch unsere Aufmerksamkeit auf eine sich ent¬
spinnende politische Unterhaltung abgelenkt. Mit Entrüstung hat einer der
uns gegenüber befindlichen Wirthshauspolitiker, Lumpensammler seines Zei¬
chens, in der Rue d'Aboukir bemerkt, daß das Paris-Journal es wagt, das
Bild des Verräthers Bazaine als Abonnements-Prämie öffentlich aufzuhängen.
Die Indignation des Sprechers wird allseitig getheilt, und es erfolgt ein all¬
gemeiner Erguß von Verwünschungen über die verabscheuenswerthe „Canaille",
die ihr Vaterland an die Prussiens verkauft, und die nach aller Verständigen
Urtheil - nämlich der Verständigen der Straßen Brise-Miche, Taille-Pair,
Pierre ein Lard u. s. w. — seit Jahr und Tag bereits an einer Laterne bau¬
meln sollte. Mac Mahon, Thiers, Gambetta u. s. w. sind selbstverständlich
in den Augen dieser Edlen mehr oder minder ganz gemeine „Versaillais", alle
insgesammt Feinde des armen Volks (du xmuv' xeup'). Wozu macht man
überhaupt Politik? Zu welchem Zwecke bestehen Regierungen? Man sollte
ihre Abschaffung beschließen und die „Großen" dahin schicken, wo der Pfeffer
wächst, zugleich auch alle Grenzen aufheben, damit die Völker sich brüderlich
umarmen könnten. Wenn man überhaupt von offiziellen Einrichtungen etwas
bestehen lassen wolle, so dürften einzig und allein die Gerichte eine Ausnahme
machen, die eben zu dem Zweck aufrecht erhalten würden, um das „arme
Volk" zu beschützen. Das ist ungefähr das politische Programm der soge¬
nannten vernünftigen Leute und großen Politiker der Schenke „zur goldenen
Birne." In den Küchenzettel der weniger Vernünftigen, wir meinen der
Communisten, dieses Viertels einen nähern Einblick zu thun. darauf glauben
wir aus gewissen Rücksichten für unser persönliches Wohl besser zu verzichten,
zumal ja auch ihre Theorie aus der erst vor nicht gar langer Zeit ange¬
wandten Praxis uns noch durchaus erinnerlich ist.
Wir ziehen also vor, unsere Wanderung fortzusetzen und gelangen nun¬
mehr in die große industrielle Straße dieses Viertels, die sich gegen die vor¬
hergehenden durch etwas größere Breite günstiger abzeichnet; dies ist die Rue
Maubuee, oder um die Etymologie herzustellen,' „mauvaise due'e" d. h. gar¬
stiger Unrath. Neben diesem einladenden Namen fehlt es auch an sonstigen
anreizenden Dingen nicht. Da fällt uns zuerst eine Art von ambulanten
Küchen in die Augen, die wir an den Schwellen der Hausfluren etablirt
sehen, und die geröstete Kastanien, in übelriechendem Fett Gebratenes, und
allerlei Ragout von sehr zweifelhafter Zusammensetzung zum Verkauf dar¬
bieten. Am Empfindlichsten werden hier wieder unsere Geruchs- und andere
verwandte Organe mitgenommen, denn stellenweise finden wir uns von diesen
Wanderküchen in einen dichten, wahrhaft ekelerregenden Qualm eingehüllt,
der unser Nervensystem in eine nur allzu lebhafte langandauernde Erschüt¬
terung versetzt. Der müde Wanderer findet hier auch Hotels, unter denen
sich äußerlich am Vortheilhaftesten das „Hotel de la Seine" auszeichnet, das
freilich dem harmlos Eintretenden aus einem langen und zugleich schmalen
Flur Finsterniß und Uebelgeruch entgegenbringt. Die an verschiedenen Häu¬
sern aufgehängten Tafeln überzeugen uns, daß man hier „zu Nacht logiren"
oder auch „möblirte Zimmer" miethen kann. Selbstverständlich können sich
nur die Reichsten dieses Viertels ein Zimmer mit Bett gestatten; gewöhnlich
schlafen mehre zusammen; eine sehr bedeutende Anzahl aber läßt sich daran
genügen, sich gegen Entrichtung von zwei Sous ein schmutziges Strohlager
für die Nacht zu dingen, wobei denn ein Jeder seinen Platz durch einen Strick
abgegrenzt findet, damit er sich keine feindlichen Uebergriffe in das nachbar¬
liche Gebiet erlaube.
Auf die Straße zurückgetreten, widmen wir noch einen Blick dem blühen¬
den Handel der Rue Maubuee. Gewöhnlich wechselt in den Erdgeschossen
eine wohlriechende Garküche mit einem Trödelladen oder einem anderen indu¬
striellen Etablissement ab, und die Mannigfaltigkeit der Artikel, die hier dem
Liebhaber angeboten werden, sucht in der That ihres Gleichen. Hier verkauft
man alle möglichen und unmöglichen Wirthschaftsutensilien, die von der so¬
genannten besseren Welt bereits als dienstuntauglich ausrangirt wurden: ab¬
getragene Kleidungsstücke, alte Eisen- und Messingwaaren in wunderbar bun¬
tem Gemisch, durchlöcherte Ofenröhren, alte Stiefelschäfte, aus alten Stricken
fabricirte Hede, alte Säcke, die zur Fertigung von Scheuerwischen dienen
u. s. w.; selbst die Auslese aus dem Straßenkehricht ist hier nicht verloren,
ein genialer Handelsgeist weiß auch diese zu verwerthen. Freilich sieht es ge¬
rade nicht sehr einladend aus, wenn man hie und da in einem der Erdge¬
schosse einige schmierige Weiber an einem hohen Lumpenhausen arbeitend
knien sieht, um eine Klassifikation der schmutzigen Artikel auszuführen. Her¬
vorzuheben ist noch, daß jedes der angedeuteten Handelsobjekte mehrere Budiker
einnimmt, und daß eine heiße Konkurrenz unter den Geschäftsmännern be¬
steht, die sich diesem Handel widmen. Man kann sich denken, daß die Lum¬
pensammler sich seitens jener Großhändler einer ganz besonders aufmerksamen
und zuvorkommender Behandlung erfreuen, und daß bei diesem Importge¬
schäft gleichzeitig die Schenkwirthe ein nicht unbedeutendes Geschäft machen.
Nach diesen verschiedenen Beobachtungen und Betrachtungen ist es uns
endlich gelungen, durch die Rue de Venise, welche die Rue Brise-Miche an
Enge und widerlichem Duft womöglich noch übertrifft, in die Rambuteau-
Straße zu debouchiren, wo wir es uns denn zunächst angelegen sein lassen,
unsere Geruchs- und Athmungswerkzeuge wieder in eine etwas normalere
Thätigkeit zu setzen, wie auch unsere Augen wieder an einen menschenwür¬
Von den Arbeitsgegenständen des Reichstages in dieser Woche können
wir die meisten sehr kurz behandeln. Die zweite Berathung des Preßgesetzes
ist zu Ende gelangt. Was bei den angenommenen Voraussetzungen heraus¬
kommen konnte, ist herausgekommen, und was davon zu denken, habe ich
bereits hier ausgeführt. Es wird der Presse mit diesem Gesetz gehen, wie
dem Patienten, dessen Uebel von der eignen Natur in Schranken gehalten
wird, während der Arzt es daneben ohne jeden Einfluß behandelt, als den,
daß er dem Patienten allerlei Unbequemlichkeiten verschafft. Man hält die
Annahme des Gesetzes durch den Bundesrath namentlich deshalb für zweifel¬
haft, weil der Reichstag die Beschlagnahme von Druckschriften auf wenige
bestimmte Fälle eingeschränkt hat. Es wäre ein wahres Unglück, wenn der
Bundesrath bei der dritten Lesung mit solchen Forderungen hervorträte.
Ich hoffe, daß dieses Unglück dadurch abgewendet wird, daß vor der dritten
Lesung des Preßgesetzes die Militärvorlage angenommen ist. Dann kann
der Bundesrath schon aus Dankbarkeit nicht anders, als den Reichstags¬
beschlüssen über die Presse ohne Einschränkung zuzustimmen. Oder aber die
Militäroorlage wird verworfen, was leider jetzt sehr wahrscheinlich geworden
ist: dann erfolgt die Auflösung des Reichstags, und der nächste Reichstag
muß mit dem Preßgesetz von vorn anfangen.
Den zweiten Berathungsgegenstand hat in dieser Woche der von den
Abgeordneten Volk und Hinschius eingebrachte Gesetzentwurf zu einem Reichs¬
gesetz über die bürgerliche Standesbuchführung und über die bürgerliche Form
der Eheschließung gebildet. Ueber die Sache selbst ist wahrhaftig nichts mehr
zu sagen. Ob, es aber schon an der Zeit ist, diese Materie von reichswegen
in allen Bundesstaaten zu ordnen, vor dem Erlaß des deutschen Civilgesetz-
buches und vor der Schaffung eines deutschen Eherechtes, das erhellt aus
den im Reichstag geführten Verhandlungen nicht zur Genüge. Die Bundes¬
regierungen*) sind, wie es scheint, für die negative Ansicht entschieden und werden
das aus der Initiative des Reichstags hervorgegangene Gesetz nicht genehmigen.
Um so weniger lohnt es, die Verhandlungen über den nach seiner allgemeinen
Seite mehr als erschöpften Gegenstand nochmals zu verfolgen.
Desto belehrender wäre das Eingehen auf den dritten Arbeitsgegenstand
dieser Woche, auf den Gesetzentwurf über das Reichspapiergeld. Da jedoch
über diesen Entwurf die zweite Berathung bei dem § 1 vertagt worden, so
ist es besser, den Gegenstand beim Ueberblick der zweiten Berathung im Ganzen
zu behandeln. Diesmal sei nur erwähnt, daß bei der ersten Berathung der
Abgeordnete Mosle die vortrefflichsten, beherzigenswerthesten Wahrheiten
aussprach, nicht etwa sogenannte schöne Theorien, sondern praktisch dringliche
Regeln. Aber man kann auch allzu praktisch sein. Das will sagen, man
kann übersehen, daß das praktisch Wünschenswerteste um höchst unerfreulicher
Hindernisse willen, die sich aber nicht sogleich niederreißen laßen, vertagt werden
muß. So ging es diesmal dem wackeren Abgeordneten aus Bremen. Er
verlangte des Guten, des höchst praktisch Guten mehr, als dem Egoismus
der Bundesregierungen für jetzt abzunehmen ist, die bis dahin vom Papier¬
geld eine so lustige Finanzwirthschaft geführt haben. Dagegen hatte Bamberger
die Borlage der Bundesregierungen seinerseits für die zweite Berathung durch
eine Reihe von Vorschlägen verbessert, deren Weniger am praktisch Guten
ein Mehr enthielt in Bezug auf das für den Augenblick Erreichbare. Die
Berathung wurde aber abgebrochen, und so verschieben wir unsere Erörterung.
Mit den Plenarberathungen des Reichstags von dieser Woche sind wir
zu Ende. Aber die wahre Geschichte des Reichstags, von der in dieser ver¬
gangenen Woche ein sehr wichtiges Stück sich abgespielt, ist nicht in den
Plenarsitzungen, noch in den Commissionen, sondern in den Gemüthern, in den
Fraktionen, in den Privatbesprechungen und in den Kreisen derer vor sich
gegangen, welche nicht dem Reichstag angehören, jedoch auf sein Schicksal den
höchsten Einfluß üben.
Die Militärfrage ist die Schicksalsfrage dieses Reichstags. Man weiß
nun endlich, daß die Regierung den § 1 des Militärgesetzes nur annehmen
wird entweder in der von der Regierung selbst eingebrachten Form mit der
Präsenzziffer von 401,659 Mann, oder in der von den Freiconservativen vor¬
zuschlagenden Fassung, wonach für jeden Tag des Jahres die durchschnittliche
Präsenzziffer 385,000 Mann betragen muß. Für diese Fassung werden die
Conservativen und der größte Theil der Nationalliberalen stimmen, Laster
aber mit 10—18 Getreuen wird als sentimentaler Cato unerbittlich sein,
und die große Verantwortung der Vereitelung des Gesetzes auf sich nehmen,
welches dann mit einer Majorität von 10—15 Stimmen wird verworfen
werden. Während der ganzen Woche hat sich Miquel noch um einen Aus¬
gleich auf folgender Basis bemüht: es sollten 370,000 Mann als sogenannte
ewige Minimalziffer bewilligt werden. 385.000 Mann als Durchschnittsziffer
nach dem freiconservativen Amendement, aber nur auf drei bis fünf Jahre.
Der Kaiser und alle maßgebenden Personen waren jedoch einig, daß das
Provisorium, unter welche Form es auch verhüllt werden möge, um keinen
Preis nochmals zuzulassen sei. Man will die zur wahren Kriegsfähigkeit
erforderliche Präsenzziffer als bindendes Gesetz für Regierung und Reichstag
endlich ohne Zweideutigkeit festgestellt haben. Man will endlich herauskommen
aus dem Zustand, wo mit der Präsenzziffer die Heeresinstitutivn selbst zum
unaufhörlichen Gegenstand von Wahlagitationen, von parlamentarischen
Kämpfen und Intriguen gemacht wird, wo die permanente Unsicherheit der
Heeresinstitution die ganze Lage des Reichs und seine Institutionen in ewiges
Schwanken und permanente Unsicherheit versetzt.
Wie bei solchen Entscheidungen gleich der jetzigen die Lüge immer eine
große Rolle spielt, hatte man sogar fabulirt, dem Kaiser sei die Präsenzziffer
nur eingeredet wurden, um ihm die Aussöhnung mit den Ultramontanen im
wünschenswerthen Lichte erscheinen zu lassen. Diese ungeheuerliche Ausstreuung,
weniger ungeheuerlich durch die Ungereimtheit der Erfindung als durch die
Leichtgläubigkeit, mit der sie in parlamentarischen Kreisen aufgenommen wurde,
mußte der Kaiser an seinem Geburtstag in der Anrede an die Generalität
zertreten. Er soll dies mit weit mehr Nachdruck gethan haben, als die nach¬
her veröffentlichte Redaktion der kaiserlichen Worte erkennen läßt. Der Kaiser
selbst hat für die Veröffentlichung die mildeste Redaktion gewählt, damit nicht
der Vorwand ergriffen werden könne, die Negierung habe den Reichstag durch
Drohungen gereizt. Denn das ist das Eigenthümliche bei solchen Entschei¬
dungen wie die gegenwärtige. Tritt die Regierung von Anfang für ihre
Forderung mit unbedingter Entschiedenheit auf, so heißt es: „man will uns
nicht einmal die Prüfung verstatten, man schneidet jede freie Erwägung ab.
darum ist es Ehrensache „Nein" zu sagen." Läßt aber die Regierung der
Prüfung den freiesten Raum, gewährt sie ihr, wie diesmal in entgegen-
kommenster Weise geschehen, die ausreichendsten Unterlagen, so heißt es: „die
Regierung hat sich nicht mit Bestimmtheit erklärt, sie ist selbst Schuld, wenn
wir geglaubt haben, es ginge anders auch". — Die Schwäche ist uner¬
müdlich in Ausreden, wenn es gilt, sich einer großen Pflicht zu entziehen.
Kaum hatte der Kaiser gesprochen, so machte sich die Parlamentsfabel
an den kranken Reichskanzler. Es hieß: „woher diese Zurückhaltung? Er
will sich für dieses Gesetz nicht engagiren, weil es in Zukunft doch nicht wird
festgehalten werden." Man erräth, wohin die Hoffnungen derer, die in der
parlamentarischen Fabelwelt leben, sich versteigen, um sich in der Annahme
zu wiegen, daß sie den Tag erleben werden, wo das deutsche Heer in eine
Miliz verwandelt ist. Auch diesem Fabelungeheuer, soweit es sich auf den
Kanzler bezog, wurde der Kopf zertreten. Der Fürst ließ zwei Mitglieder
des Reichstags an sein Krankenlager bescheiden und erklärte ihnen, daß er
bei Antastung der wesentlichen Punkte des Militärgesetzes vom Kaiser seine
Entlassung erbitten oder die Auflösung des Reichstags fordern werde.
Diese Erklärung ist insofern von außerordentlicher Tragweite, als sie
zeigt, daß der Kanzler die Erhaltung der deutschen Wehrfähigkeit nicht aber¬
mals auf dem Wege einer Verfassungsinterpretation durchführen will, obwohl
dieser Weg diesmal ganz correkt wäre. Der Fürst will vielmehr sein Ver¬
bleiben im Amte von dem Ausfall der nächsten Wahlen abhängig machen.
Er will endlich eine Majorität, die eine wirkliche Stütze seiner Politik ist,
oder er will nicht mehr in den Geschäften sein.
Und wenn er geht! Und wenn eine ultramontan-fortschrittlich-Laskersche
Majorität aus den wieder geöffneten Wahlurnen hervorgehen sollte! Werden
wir dann ein Ministerium Eugen Richter, Laster. Mallinckrodt bekommen?
Oder ein Ministerium aus der rechten Seite der Nationalliberalen, welches
ohne Majorität doch nur den Weg des Consules betreten könnte! Welche
Veränderungen sich auch in Deutschland vollziehen mögen, wer auch das
Zepter des Reichs halten möge — wenn Fürst Bismarck in den nächsten
Jahren keine Majorität erhält, so erhält sie jeder andere Staatsmann noch
viel weniger. Eine Regierung aber, die geführt werden muß im Kampfe mit
an sich disparaten, in der Vereinigung jedoch einigen Elementen, kann, wenn
Fürst Bismarck sie nicht führen will, nur von einem Staatsmann der äußersten
Rechten geführt werden.
Nach Allem, was von hier aus und in nächster Nähe der Dinge zu
erkennen ist, stehen die Aussichten für die Annahme des Militärgesetzes durch
den jetzigen Reichstag äußerst ungünstig. Alle ernsthaft und wahrhaft
nationalgesinnten Männer müssen also ihre Hoffnung auf die nächsten Wahlen
setzen, und schon jetzt darauf denken, wie sie ihre Anstrengungen vereinen, ein
dem Vaterlande heilsames Wahlergebniß zu Stande zu bringen.
Es ist eine auffallende Thatsache, daß unsere deutsche Regierung trotz
aller ihrer Verdienste um Deutschland, trotz aller ihrer Erfolge, die das
Staunen und die Bewunderung der Welt erregt haben und noch immer mehr
erregen werden, eines nicht verstanden hat, — sich zur Stütze ihrer Bestre¬
bungen und ihrer Politik eine feste, sichere, zuverlässige parlamentarische Mehr¬
heit oder auch nur eine irgendwie bedeutende Regierungspartei zu bilden. Wir
freuen uns. daß unsere deutsche Ehrlichkeit und Sittlichkeit es bisher ver¬
schmäht hat, diejenigen Mittel und Mittelchen dunklen oder zweifelhaften
Charakters anzuwenden, durch die in andern Landen eine Regierung die Schar
der Jasager zusammentreibt. Aber wir bedauern es auf das lebhafteste, daß
die Regierung den Gesichtspunkt gar nicht aufgestellt und für sich als ma߬
gebend betrachtet hat. um ihre Prinzipien und zur Durchführung ihrer Prin¬
zipien eine parlamentarische Partei zu consolidiren. Ebenso wenig wie das
gegenwärtige preußische Abgeordnetenhaus, bietet der gegenwärtige deutsche
Reichstag in seiner Zusammensetzung eine dauerhafte oder ausreichende Basis
für eine consequente und große innere Politik.
Die Regierung des Fürsten Bismarck ist ausgegangen von conservativen
Grundsätzen, getragen und gestützt von conservativen Parteigenossen. Die
Entwickelung der deutschen Nationalidee, d. h. die Verwirklichung des natio¬
nalen Programmes durch den gegenwärtigen Reichskanzler hatte nothwendiger
Weise die Folge, daß mehr und mehr das, was früher als spezifische Wünsche
und Forderungen liberaler Parteirichtung gegolten, durch die Regierung auf¬
genommen und durchgesetzt worden ist. Zuletzt ist das die Lage der Dinge
geworden, daß im Großen und Ganzen, und gerade auf den wichtigsten Ge¬
bieten des Staats- und Volkslebens unsere gegenwärtige Regierung das Pro¬
gramm eines gemäßigten Liberalismus ausführt und einen Compromiß libe¬
raler Idealen mit den praktischen Forderungen und Bedürfnissen des realen
preußischen und deutschen Lebens durchzusetzen sich bemüht. Wer immer auf
eine reiche und befriedigende und gesunde Zukunft unseres Volkes hofft, wird
im Ganzen die Politik der Regierung billigen müssen, mag er immerhin ein¬
zelne Maßregeln bekämpfen. Der inneren Natur der Regierungspolitik, ihrem
Inhalte und Charakter nach, kann ebensowohl ein maßvoll Conservativer, der
von dem Fortschritte der Zeiten gelernt hat, die Regierung unterstützen als
ein maßvoll Liberaler dies thun muß, wenn er nur durch seine Prinzipien
nicht auf einmal und im Sturme alles thatsächlich Vorhandene umwerfen will.
Parlamentarisch gesprochen, die Parteien der Freiconservativen und der Na¬
tionalliberalen sind es, in denen die heutige deutsche und preußische Regierung
ihren Stützpunkt zu suchen hat.
Aber während dahin die Verhältnisse selbst weisen, bleibt die Politik der
Regierung in den parlamentarischen Verhandlungen jedem Zufalle ausgesetzt:
sie weiß es in keinem Augenblicke, ob und welche Mehrheit ihr zustimmen
wird. An diesem unerquicklichen und ungesunden, ja an diesem äußerst ge¬
fährlichen Zustande ist die Regierung selbst nicht ohne Schuld. Das scheint
uns außer Zweifel zu sein, daß für die völlige Zersetzung und Zersprengung
der conservativen Partei in Preußen die Regierung die Verantwortung trägt.
Mag immerhin auch die momentane Verblendung vieler Conservativen gegen
die Kirchenpolitik des Fürsten Bismarck kaum zu entschuldigen sein, es war
möglich, wie es ja auch geschehen ist, einen großen Theil der Conservativen
zu überzeugen, und den kleineren Rest, die Heißsporne der Reaction von der
Partei zu isoliren. Wir glauben ganz bestimmt, es wäre der Regierung
bei einem anderen Verhalten in der Zeit der Wahlen ein leichtes ge¬
wesen, eine ansehnliche Zahl von solchen Conservativen ge¬
wählt zu erhalten, welche alle Reformmaßregeln der Staatsregierung
acceptirt, sich gegen die Kirchenpolitik nicht gesträubt und in ver augenblick¬
lich den Ausschlag gebenden Militairfrage eine feste Basis für einen parla¬
mentarischen Feldzug abgegeben hätten. Nein, die Taktik der Regierung selbst
hat den Ausschluß der Conservativen herbeigeführt und damit eine Lage ge¬
schaffen , die einem Freunde unserer inneren Entwickelung das Wort auf die
Lippen drängen muß: „das nächste, was Noth thut, ist die Reorganisation
der conservativen Partei." Wir sind deshalb nicht Conservative, wenn wir
dies Wort aus vollster Ueberzeugung unterschreiben. Gerade wir als Liberale
haben ein Interesse daran, daß die im Lande vorhandenen Parteien in ent¬
sprechender Weise an der Vertretung Theil nehmen.
Gegenwärtig dominirt im Reichstage die nationalliberale Partei. Aber
diese Partei selbst setzt sich aus sehr verschiedenen Elementen zusammen: aus
diesem Grunde grade kann man selten wissen, wie ihre Abstimmung ausfallen
wird; und selbst die Regierung, die doch dem Inhalte ihrer inneren Politik
nach nicht ohne selische Verwandtschaft zum Nationalliberalismus sich fühlt,
hat keine Garantie, daß nicht plötzlich in irgend einer Frage die nationallibe¬
ralen Verwandten ein Beinchen ihr stellen oder sie plötzlich aus irgend wel¬
chem Impulse im Stich lassen. Der größte Theil der Nationalliberalen ist
gewählt worden, ausgesprochener oder unausgesprochener Weise, in der Ab¬
sicht, daß sie die Politik des Fürsten Bismarck in ihren wesentlichsten Punkten
fördern helfen. Es sieht fo aus, als ob sehr Viele, grade der Nationallibe¬
ralen sich taub stellen wollten gegen diese Thatsache oder wirklich sie schon
vergessen hätten: es wird an der Zeit sein, daß die Wähler ihre
Abgeordneten an diese Thatsache erinnern!
Wir selbst haben den Ausfall der letzten Wahlen bedauert, weil wir mit
einer leider nur zu richtigen Vorausahnung des Eindruckes uns nicht er¬
wehren konnten: einerseits die irreführende Haltung der Regierung, andrer¬
seits die unserm deutschen Liberalismus anhaftende liberale Prinzipienreiterei
und unzuverlässige Ungeschicklichkeit in praktischer Politik, die durch ein con-
ervatives Gegengewicht so gut wie gar nicht in Schranken gehalten ist, —
diese beiden Dinge zusammengenommen, würden sehr bald eine gefährliche
Krisis heraufführen, die nur zu leicht mit einer bösen Katastrophe endet.
Der Augenblick ist da: die Krisis ist vorhanden!
Treu ihrer Pflicht und gehorsam den Vorschriften der Verfassung hat
die Regierung den Entwurf eines Militairgesetzes eingebracht, das gesetzliche
und feste Grundlagen schaffen will für den gegenwärtigen Zustand unseres
deutschen Heerwesens. Es erhebt sich die Frage, ob das Parlament, d. h. die
Mehrheit, — die Rechte und die Nationalliberalen — das Gesetz in seinen
Prinzipien annehmen wird.
Die Gründe für die Annahme sind in letzter Zeit auf allen Gassen
und von allen Dächern gepredigt. Wir ermüden unsere Leser nicht mit einer
Wiederholung derselben. Es gilt, wie allen andern dauernden Institutionen
des Reiches, auch dem Militärwesen einen dauernden gesetzlichen Grund zu
geben. In jedem unserer continentalen Staaten ist dies nothwendig, — bei
der eigenthümlichen Natur des Reiches ist es doppelt nothwendig, gegen die
centrifugale Gewalt des Partikularismus dies Reichsheer zu sichern, dies In¬
stitut, dem das Reich selbst sein Dasein verdankt, vor etwaigen Gelüsten un¬
kindlicher Pietätslosigkeit zu bewahren.
Dagegen wird auf dem Steckenpferde des Budgetrechtes der Angriff von
parlamentarischer Seite geführt. Das natürlich macht keinen Eindruck auf
die Verehrer parlamentarischer Allmacht, daß jedes Recht seine natürliche
Schranke haben muß. Die Schranke des Budgetrechtes ist die gesetzlich be¬
gründete Einrichtung, für welche die Ausgaben nicht verweigert werden kön¬
nen. Doch wir gehen in dieser Discussion nicht weiter; wir erörtern auch
nicht die Bedeutung des Heeres für unsern Staat und unser Volk: nicht
allein, wie man oft gesagt hat, die Versicherungsprämie gegen äußere Gefahr
ist das Heer, es ist weit mehr noch die allgemeinste und wirksamste Schule
des Lebens für den größten Theil der Männer in Deutschland. Wir reden
nicht von der finanziellen Seite, kein Mensch glaubt an den in Parade vor¬
gerittenen Steuerdruck, selbst diejenigen nicht, deren Mund von derartigen Re¬
densarten überläuft. Auch von allen den Details und den Ziffern, die ge¬
rade in diesem Augenblick in Berlin durch die Luft schwirren, sehen wir
gerne hier ab. Wir discutiren nicht Präsenzziffern. Maximum und Mini¬
mum und Durchschnitt, wir handeln nicht von 401.000 oder 383.000 oder
370,000 oder 360,000 Mann. Wir treten in diese Dinge nicht ein, weil
wir meinen, die Auswahl unter diesen Zahlen ist durch technische Erwägun¬
gen zu treffen: militärische Erfahrung und militärische Sachkenntniß sollte
und müßte derjenige von sich glaubhaft nachweisen können, der seinen Mund
darüber aufthun will. Aber eine Bemerkung können wir hier nicht unter¬
drücken. Wenn ich mir ein paar Stiefel machen lasse, wende ich mich nicht
an den Arzt, sondern an den Schuster, von dem ich aus eigener Erfahrung
oder durch glaubwürdige Zeugen weiß, daß er sein Metier versteht. Will ich
dagegen meinen kranken Leib heilen, so flüchte ich nicht zu dem Stiefelkünst¬
ler, so ausgezeichnetes er auch leisten mag; dann ist mir der Arzt der richtige
Helfer in der Noth. Der hohe Reichstag des deutschen Reiches ist anderer
Meinung: gerade von ein paar Juristen, die in juristischen Dingen große Ver¬
dienste besitzen, die aber die totale Abwesenheit jedes militärischen Sinnes
und Gefühles so zu sagen auf der Stirn geschrieben tragen, grade von sol¬
chen politischen Führern scheint er seine Entschlüsse übers Militair sich dictiren
lassen zu wollen. Mag er sehen, wohin diese Führer ihn führen werden.
Nicht nachdrücklich genug kann es betont werden, daß die deutsche Na¬
tion in ihrer überwiegenden Mehrheit volles Vertrauen schenkt denjenigen
Männern, welche unser Heerwesen zum Muster Europas ausgebildet und
welche das deutsche Reich aus den böhmischen und französischen Schlachtfeldern
geschaffen haben. Sie sind es, auf deren Rath und Stimme die Nation zu
hören verlangt. Was zur Erhaltung des gegenwärtigen Heereswesens noth¬
wendig ist, das ist die Nation bereit von ihren großen militärischen Autori¬
täten sich sagen zu lassen; und dieser Ausspruch gilt ihr als der maßgebende. Im
Reichstage scheint man anders zu denken. Aber wir halten es wirklich für
unmöglich, daß die Vertreter der deutschen Nation zu ihrer maßgebenden
Autorität bei der Berathung des Militairgesetzes nicht Moltke sondern Laster
sich erkoren!
Wenn man sich die gegenwärtige politische Situation klarlegen will, so
hat man von einem Satze auszugehen: die Grundlagen und Prinzipien un¬
seres Militairwesens können nicht angetastet werden; sie werden es nicht wer¬
den. Fest und unerschüttert ist unser Vertrauen, daß die Regierung keinen
Finger breit aus prinzipiellem Boden nachgeben werde; und fast als eine Be¬
leidigung des kaiserlichen Heldengreises, würden wir es bezeichnen müssen,
wenn Jemand auch nur eine Sekunde wähnen wollte, Kaiser Wilhelm würde
auch nur die kleinste Veränderung in den Prinzipien der Heercsorganisation
zugeben. Und bleibt heute die Regierung fest, sie kann versichert sein, die
Nation wäre in einem Conflikte zwischen Krone und Parlament heute auf
der Seite der Regierung. Wollen die liberalen Parteien einen neuen Conflikt
Heraufrufen durch Ablehnung der Militairgesetzvorlage, so werden sie es er¬
fahren, wie heute die Nation denkt und fühlt. Die Dinge stehen heute an¬
ders, als einstens zur Zeit des preußischen Militairconfliktes.
So deutlich als wir vermögen, wollen wir unsere Ansicht über die mo¬
mentane Krisis aussprechen. Es ist ein Irrthum, zu glauben und zu sagen,
daß es sich heute um das Schicksal des Militärgesetzes handelt, — nein, es
handelt sich heute um die Zukunft des Liberalismus, um die Entscheidung
über die innere Entwickelung in Preußen und im Reiche! Bringt diejenige
Parteirichtung, die im wesentlichen ihre Ideen durch die Negierungspolitik
der letzten Jahre ausgeführt sieht, jetzt das Militärgesetz zu Fall, so ist es
unausbleiblich, daß die Beziehungen der Nationalliberalen zur Regierung sich
lösen. Zum zweiten Male hätte eine große liberale Partei sich unfähig ge¬
zeigt, die Situation zu verstehen und praktische Politik zu treiben.
Alles, was heute reichsfeindlich ist, arbeitet aus dies Resultat hin. Die
schwarze und die rothe Internationale, das feudale und das pietistische Jun-
kerthum und die reichsfeindlichen Elemente der Fortschrittspartei: sie alle sind
am Werke an verschiedenen Stellen, mit verschiedenen Mitteln, aber alle zu
demselben Ziele. In ihrem Parteiinteresse, so verschieden es bei den einzelnen
sein mag. liegt das gegenwärtige politische Verhältniß zu stören. Für^sie
alle ist der Hebel dazu die Militairfrage.
Auf das ernsteste und gewissenhafteste werden die Nationalliberalen zu
erwägen haben, in welchem Lager ihre Bundesgenossen zu suchen. Leider ist
die gegenwärtige Phase des parlamentarischen Lebens mit einer groben Heu¬
chelei und Lüge eingeleitet worden. Wer an das Walten sittlicher Mächte
in dieser Welt glaubt, wird von banger Ahnung befallen sein müssen, daß
die Strafe für die politische Lüge nicht ausbleibe. Es ist eine — wir ent¬
scheiden nicht, ob eine ganz unbewußte oder an einzelnen Stellen auch eine
bewußte — Unwahrheit gewesen, als man die Parole vom nothwendigen
Zusammengehen der befreundeten liberalen Parteien ausgegeben hat. Mögen
immerhin einzelne patriotisch und deutsch denkende und fühlende Männer zur Fort¬
schrittspartei gehören — für uns steht fest, daß dies der Fall ist — aber die große
Mehrzahl der Parteiglieder ist von reichsfeindlicher Politik erfüllt: hier doctrinaire
Prinzipienreiterei, dort verbissene Oppositionslust, einzig um der Opposition selbst
willen — wer bei denjenigen Maßregeln, welche die Reichsgründung und
Reichsentwickelung ins Auge fassen, direkt oder indirekt auf eine Unterstützung
der Fortschrittspartei rechnet oder um sie sich bemüht, der ist entweder ein
ganz unzurechnungsfähiger Politiker oder er selbst ist ein verkappter Gegner
des Reiches. So lange die Nationalliberalen sich nicht ermannen, die Allianz
mit der Fortschrittspartei abzuwerfen und die Reminiscenzen und Traditionen
aus der Confliktszeit abzuthun, so lange wird diese große und auf gesunde
Gedanken gegründete Partei nicht zur Entfaltung einer durchschlagenden
Wirksamkeit gelangen.
Wollten wir dem Nationalliberalen heute zumuthen. er möge sich mit
dem Centrum über die Kirchenpolitik verständigen, er würde uns auslachen
oder an unserem Verstände wohlbegründeten Zweifel aussprechen. Aber ganz
dasselbe thut derjenige, der sich mit der Fortschrittspartei verständigen will
über die nothwendigen Bedingungen und Erfordernisse einer nationalen Poli¬
tik: wunderbar, wie sonst verständige Menschen dies unmögliche immer wieder
versuchen! Wir denken nicht daran, irgend eine Vorstellung oder Mahnung
an die fortschrittliche Adresse zu richten. Unser Wort gilt den National-
liberalen !
Es handelt sich um Eure Zukunft! Wollt ihr es Euch verbergen, daß
Ihr in dieser gewichtigen Anzahl auf die parlamentarische Arena gekommen
seid, hauptsächlich deßhalb, weil die Regierung die schützende Hand über Euch
gehalten? Ist es Euch entgangen, daß die Conservativen deßhalb unterlegen
sind, weil der Zorn des Fürsten Bismarck sie zermalmt hat? Wißt Ihr oder
fühlt Ihr nichts von der Stimmung des Landes über Euer „Hangen und
Würgen" am Militairgesetz? Bildet Ihr Euch ein, wenn Ihr ablehnt und
dann die Auflösung des Reichstages folgt — noch ist die preußische Staats¬
regierung ihrer Pflicht gegen Preußen und das Reich sich bewußt, sie weiß
es, daß sie in diesem Falle auf Auflösung dringen muß — bildet Ihr Euch
«in, die jetzige Stärke dann gegen die Regierung zu behaupten, die Ihr zu
großem Theil durch die Regierung errungen? Nein, einen ganz andern An¬
blick würde der nächste Reichstag zeigen, als der gegenwärtige — die Kleri¬
kalen würden sich wohl nicht wesentlich verändern, aber aus Euren Reihen
würden diejenigen schwinden, in deren Stellen die Conservativen einzurücken
hätten!
Innerhalb der Nationalliberälen kocht und gährt es heute. Die über¬
wiegende Mehrheit der Partei scheint entschlossen zu sein, die Prinzipien der
Vorlage anzunehmen. Aber es giebt einen Theil der Partei, der noch nicht
zu diesem Entschlüsse kommen kann; und es ist ein Verhängniß, daß grade
diese Gruppe der Schwankenden bei der Abstimmung den Ausschlag giebt.
Auf diesen Nationalliberalen ruht die Verantwortung: sind sie nicht im Stande,
den richtigen Entschluß in dieser Lage zu finden, sich gründlich einmal von
dem Zusammengehen mit der Fortschrittspartei loszureißen, dann mögen sie
es deutlich und unverblümt sich sagen lassen, daß sie es sind, welche die
Katastrophe auf .ihrem Gewissen haben. Wir wiederholen, nicht über das
Schicksal unseres Heeres haben sie zu entscheiden, — unser Heereswesen wird
aufrecht bleiben auch ohne ihre parlamentarische Zustimmung; unser Vertrauen
auf Kaiser Wilhelm läßt uns dies nicht bezweifeln — aber über die Zukunft einer
liberalen langsam aber consequnt vorgehenden Reformpolttik in Preußen und
Deutschland, darüber haben sie jetzt zu entscheiden.
Manche haben jetzt den besten Willen. Aber sie haben sich vor ihren
Wählern gebunden; sie möchten jetzt gerne der Regierung die Hand reichen,
aber ihre Wahlreden und Wahldeclamationen hemmen ihre Hand. Sie wer¬
den mit sich selbst, in ihrem Gewissen über den Entschluß zu Rath zu gehen
haben. Manche erwägen, wie viel sie der Regierung bewilligen sollen. In
dieser Erwägung steckt der eigentliche Sitz unserer politischen Kinderkrankheit.
„Der Regierung bewilligen!" Nein, Ihr Herren, der Regierung bewilligt
Ihr keinen Pfennig, Euch selbst, dem ganzen Staate bewilligt Ihr, was Ihr
bewilligt. Wenn Ihr Euch von Eurem Schneider einen warmen und beque¬
men Rock machen laßt, so bewilligt Ihr denselben nicht dem Schneider, der
ihn anfertigt, sondern Eurem eigenen Leibe! Aber die naive Träumerei der
Durchschnittspolitiker wagt es nicht gerne, reale Verhältnisse an realem Maaße
zu messen oder das reale Leben mit offenem Auge zu sehen.
Ja, wenn uns die Regierung nur etwas entgegenkommen wollte, wenn's
auch nur eine Kleinigkeit wäre! I'uro bewilligen und en bloc annehmen,
was nöthig ist und von dem hohen Hause gefordert wird, das wäre gegen den
Strich, das würde einem Liberalen nicht ziemen! Etwas muß er abhandeln
oder amendiren. Hätte die Regierung, welche aus sachlichen Motiven eine
bestimmte Präsenzziffer für nöthig erachtet und welche ein wohl erworbenes Recht
auf das Vertrauen der Nation grade in diesen Dingen besitzt, wenn jemals in der
Welt ein Vertrauen wohl erworben gewesen ist — hätte diese Regierung wie
ein Pfiffiger Krämer etwas „vorgeschlagen", sodciß sie circa 50,000 Mann sich
abhandeln lassen könnte, wie stolz und wie zweifelsohne — marschirten dann
unsere Reichsboten nach Hause mit dem erhabenen Bewußtsein, auch wenn
sie statt 450.000 die jetzt so sehr bekämpften 401,000 Mann bewilligt hätten,
eine „Conzession" erstritten zu haben! Für diese Sorte politischer Weisheit
ist unsere Regierung zu ehrlich : operirte sie mit dieser Schlauheit, längst wäre
dann die Sache fertig und vollendet. Preisen wir uns glücklich, daß die
Regierung noch nach preußischer Methode, offen und wahr und ohne Taschen¬
spielerei die Lebensfrage der Nation behandelt.
Alle Freunde einer nationalen und liberalen Entwickelung in denjenigen
Bahnen, die unsere Reichspolitik seit 1866 offenkundig verfolgt, sollten ihre
Stimme erheben, laut und deutlich den politischen Freunden im Reichstage
zurufen: „Eure Pflicht ist es, das Militairgesetz in Uebereinstimmung mit
der deutschen Regierung ungesäumt und unverklausulirt anzunehmen.
Zögere Ihr, das Nothwendige zu thun, so seid Ihr schuldig an allen den
Zerwürfnissen und Hemmnissen unseres öffentlichen Lebens, die unausweich-
bar unserem Vaterlande dann bevorstehen!"
Huoä äsus belle pereat!
Mit diesem Hefte beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter des In- und Aus¬
landes zu beziehen ist.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, im März 1874.Die Verlagshandlung.
Je breitere Dimensionen die Arbeiterfrage annimmt, je wichtiger von
Tag zu Tage ihre Lösung für das sociale und politische Leben unseres Volkes
erscheint, desto mehr tritt an die Wissenschaft die Aufgabe heran, dieselbe von
allen Seiten zu erforschen und zu beleuchten. Wie Manches auch in dieser
Beziehung während der letzten Jahre geschehen sein mag, so bleibt doch noch
das Meiste zu thun übrig. Man hat sich bisher hauptsächlich damit be¬
schäftigt, praktische Vorschläge zu machen, in welcher Weise man der wirk¬
lichen oder angeblichen Noth unter den Arbeitern steuern, in welcher Art man
die berechtigten oder auch unberechtigten Forderungen der sogenannten arbei¬
tenden Klassen befriedigen könne; man hat aber noch fast gar nicht den Ver¬
such gemacht, festzustellen, ausweichen allgemeinen, in der Natur und
Bestimmung des Menschen liegenden Grundlagen das sociale
Leben des Volkes beruht. Dennoch sind diese Grundlagen von der aller¬
größten Wichtigkeit für die praktische Lösung der Arbeiterfrage. Wenn die
verschiedenen sozialpolitischen Parteien heutzutage zu ganz abweichenden oder
gar entgegengesetzten Resultaten hinsichtlich der zu befolgenden Socialpolitik
gelangen, so ist die Ursache hiervon wesentlich in der verschiedenen Auffassung
zu suchen, welche sie von der Begabung, sowie dem Beruf des Menschen
hegen und als stillschweigende Voraussetzung ihrer socialpolitischen Prinzipien
gelten lassen. Die Arbeiterfrage ist zwar zunächst eine volkswirtschaftliche
Frage und es muß als selbstverständlich gelten, daß ihre Lösung auch nur
auf der Basis derjenigen Gesetze erfolgen kann, welche überhaupt das wirth¬
schaftliche Leben des Volkes reguliren. Aber schon die allgemeinen national-
ökonomischen Gesetze werden in ihrer Wirksamkeit erheblich modifizirt durch
die jeweilig bei dem einzelnen Volke herrschenden Anschauungen, Sitten, staat¬
lichen Einrichtungen u. s. w>; in erhöhtem Grade gilt dies von denjenigen
Normen, welche bei dem Verhältniß zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern
in Betracht kommen. Zum Theil sind dieselben allerdings feste und unab¬
änderliche, nämlich insoweit dieselben aus der allen Menschen und zu allen
Zeiten eigenthümlichen Natur, sowie aus den die außermenschliche Natur
regierenden unwandelbaren Gesetzen hervorgehen; zum anderen Theil sind sie
aber auch veränderliche, nämlich insoweit sie die entwicklungsfähigen und des¬
halb wandelbaren Eigenschaften und Bedürfnisse des Menschen zur Voraus¬
setzung haben. Hier eröffnet sich für die nationalökonomische Wissenschaft ein
Gebiet der Forschung, welches bisher nur sehr wenig kultivirt wurde, dessen
gründliche Verarbeitung aber grade für eine befriedigende Lösung der in der
Gegenwart vorliegenden socialen Probleme dringend nothwendig erscheint. —
Es möge mir vergönnt sein, eine einzelne Frage aus dem vorgenannten Ge¬
biete herauszugreifen und daran zu zeigen, von wie einflußreicher Bedeutung
auf die praktische Gestaltung der Socialpolitik die Prinzipien sind, von wel¬
cher man hinsichtlich der Natur und Bestimmung des Menschen ausgeht. Ich
will nämlich darzulegen versuchen, welche aus der ethischen Natur des
Menschen sich ergebenden Grundsätze als Normen für die Socialpolitik in
Betracht kommen.
Der Mensch ist ein von Gott geschaffenes, Gott verwandtes,
mit Unsterblichkeit begabtes Wesen. Sein Leben und seine Bestim¬
mung erreichen mit der irdischen Existenz nicht ihre Endschaft, sondern er¬
strecken sich über dieselbe in ein ewiges Dasein hinaus. Diese wenigen Sätze,
deren exacte Erweisung mir allerdings eben so wenig, wie irgend einem An¬
deren möglich, auf deren Anerkennung aber unser geistiges Culturleben basirt
ist, sind für die Socialpolitik von größtem Einfluß. Die heutigen Vertreter
der Socialdemokratie sprechen es aufs Unumwundenste aus, daß ihre Theorie
die Negation eines die Welt regierenden Gottes, sowie jeder positiven Reli¬
gion zur Voraussetzung habe, daß der Zweck des menschlichen Lebens auf das
irdische Dasein beschränkt sei. Sie erklären ausdrücklich, daß ihre Bestrebungen
thöricht und erfolglos sein müssen, falls wirklich ein Gott existire. Mit fri¬
volem Spott verfolgen sie Alles, was Religion und Gottesverehrung heißt,
mit blasphemischen Worten preisen die Anhänger Lasalle's diesen als ihren
Heiland und Erlöser. Man kann in der That nicht läugnen, daß die So¬
cialdemokratie richtig den Punkt erkannt hat, um welchen sich in letzter Kon¬
sequenz die Entscheidung über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit ihrer Lehre
dreht. Denn wenn es begründet wäre, daß kein Gott existirt, welcher die
Welt regiert und welcher der Urheber wie die Richtschnur für das in das
-menschliche Herz geschriebene Sittengesetz ist; wenn es ferner begründet wäre,
daß das menschliche Leben mit der irdischen Existenz völlig abgeschlossen ist,
also auch die menschlichen Bedürfnisse nicht über das mit den fünf Sinnen
Erfaßbare hinausreichen: dann läge in der jetzigen Verthe'lung der irdischen
Güter eine große Ungerechtigkeit, dann könnte man den weniger begüterten
Volksklassen keinen Borwurf daraus machen, wenn sie alle Kräfte anwenden
und vor keinem auch nicht dem gewaltsamsten Mittel zurückschrecken, um in
den Bevtz der ihnen, nach ihrer Meinung mit Unrecht vorenthaltenen Güter
zu gelangen. In diesem Falle giebt es für das streben nach äußerem Besitz
keine andere (Ärenze als die Möglichkeit denselben zu erreichen. Eine solche
Mo.U essen pflegt al er der durch die leidenschaftliche Begier aufgestachelte und
durch keine innere ^chianke gebundene Mensch nicht nach den wirklich vor¬
liegenden Verhalln sser verstandesmäßig abzuwägen, sondern er mißt sie nach
den Eingebungen seiner aufgeregten, Kegehrlichen Phantasie. Keinem Zweifel
kann es ja unterlegen, daß schon aus wirrhschaftlichen Gründen die Ziele
der Sr't aldemokratie unreal.sirbar sind; aber mit diesen, der großen Masse
des Volkes ohnedem unverständlichen Gründen wird man Keinen widerlegen,
welchem der Besitz äußerer (Kürer der Inbegriff alles Glückes ist und den das
Verlangen danach sür alle höheren Lebensgüter blind gemacht hat. Die So¬
cialdemokraten haben von ihrem Standpunkt aus ganz Recht, wenn sie
sagen, man könne ja einmal den Versuch machen, ob ihre wirthschaftlichen
Grundsätze sich nicht verwirklichen lassen; denn wenn auch ein solcher Versuch
mißlingt oder wenn dabei die bestehtNoe sociale und politische Ordnung, so¬
wie die ganze im Laufe der Jahrhunderte errungene Cultur zu Grunde geht,
so schadet dies nach ihrer Ansicht nichts." Für sie liegt das Ziel des mensch¬
lichen Lebens in dem Besitz äußerer Güter, und um letzteren allen Menschen
in gleichem Maße zugänglich zu machen, dafür kann es kein zu großes
Opfer geben.
Die Socialdemokratie verkennt vollständig die schon so oft ausgespro¬
chene, aber grade in der heutigen Zeit von so Vielen ignorirte Wahrheit, daß
die innere Zufriedenheit, also das wahre Glück des Menschen nicht in glei¬
chem Maße wächst oder abnimmt mit der Zu- oder Abnahme äußeren Be
Sitzes, sondern daß dasselbe zunächst und zumeist davon abhängt, ob der Ein¬
zelne in Bezug auf die innersten, für alle Menschen gleichen Bedürfnisse seines
Herzens sich befriedigt fühlt oder nicht. Jeder, welcher mit offenem vorur¬
teilsfreien Blick die Menschen betrachtet, muß nothwendiger Weise zu der
Ueberzeugung gelangen, daß dasjenige, was das wahre Glück des Menschen
ausmacht, an keinen Beruf und an keinen bestimmten Umfang wirthschaft,
lichen Besitzes gebunden ist. Der von Gott stammende, mit göttlichem Geiste
begabte Mensch, kann seinem innersten Wesen nach nur dann volle Befrie¬
digung empfinden, wenn er sich der Gemeinschaft mit Gott bewußt ist und
den göttlichen Geboten gemäß lebt. Der Weg zur Erreichung dieser höchsten
Lebensaufgabe ist für alle Menschen gleich leicht oder gleich schwer. Hierin
liegt die wirkliche Gleichheit aller Individuen, auf deren Genuß Jeder ein
Recht hat und welche zu verkümmern, Niemandem die Befugniß eingeräumt
werden kann. Diese Gleichheit wird allerdings beeinträchtigt, wenn man Je¬
manden direkt oder indirekt nöthigte, alle seine Zeit und Kräfte auf Er¬
werbung des unentbehrlichsten Lebensunterhaltes zu verwenden, so daß ihm
die Möglichkeit fehlt, für Befriedigung seiner höheren, geistigen Bedürfnisse
Sorge zu tragen. Man ist in der That befugt, Einrichtungen und Zustände,
welche einen derartigen Erfolg herbeiführen, als unmenschliche d. h. der
Bestimmung des Menschen unwürdige zu charakterisiren. Wenn die tägliche
Arbeitszeit so lange ausgedehnt wird, daß der Arbeiter zu nichts Anderem
als zum Essen und Schlafen noch befähigt ist, wenn dem Arbeiter die Sonn¬
tagsruhe geraubt wird, wenn derselbe in einer Wohnung leben muß, die
ein geordnetes und gemüthliches Familienleben schlechterdings unmöglich
macht; ich sage, wenn solche Verhältnisse obwalten, dann wird allerdings das
Prinzip der Gleichheit alle Menschen auch in Bezug auf diejenigen Lebens¬
güter, auf welche in der That alle einen gleichen Anspruch haben, in bedenk¬
licher Weise erschüttert, denn der Mensch besitzt ein natürliches Recht darauf,
daß ihm die Möglichkeit gelassen werde, die Bedürfnisse seines unsterblichen
Geistes und seines nach der Liebesgemeinschaft mit anderen Menschen ver¬
langenden Herzens zu befriedigen.
Die socialdemokratische Theorie geht von dem extremen Materialis.
mus aus, welcher nicht nur die-Unsterblichkeit des menschlichen Geistes
läugnet, sondern welcher auch das Wesentliche aller menschlichen Thätigkeiten
von der niedrigsten und einfachsten Handarbeit an bis zur höchsten und com-
plicirtesten Geistesarbeit herauf, darin erblickt, daß sie Funktionen des körper¬
lichen Organismus d. h. „Verausgabung von menschlichem Hirn, Nerv, Mus¬
kel, Sinnesorgan u. s. w." sind. So drückt sich wörtlich der bedeutendste
wissenschaftliche Vertreter des modernen Socialismus, Karl Marx in seinein
Werk über das Kapital aus. Ich brauche kaum auseinanderzusetzen, daß
hierin eine große Herabwürdigung der geistigen Natur des Menschen liegt
und daß die praktische Consequenz solcher Ansicht zu einer Geringschätzung
der Geistesarbeit überhaupt und demgemäß zu einer Vernichtung der geistigen
Cultur führen muß. Marx kennt als Maßstab für den Werth jeder
menschlichen Arbeit blos die darauf verwendete Zeit.
Der Vorwurf, die wirthschaftliche Thätigkeit des Einzelnen wie des ganzen
Volkes zu materialistisch aufzufassen, trifft übrigens nicht nur die Social¬
demokraten, sondern, wenngleich in minderem Umfang, auch einen Theil der
Vertreter derjenigen Partei, welche sich selbst die Freihandelspartei
nennt, von ihren Gegnern aber auch wohl mit dem Ausdruck „Manchester¬
partei" bezeichnet wird. Ueber diese Partei, welche sich um die fortschrei¬
tende Entwicklung der deutschen Wirthschaftspolitik in freiheitlichen Sinne so
große und unläugbare Verdienste erworben, ein allgemein zutreffendes Urtheil
bezüglich ihrer Stellung zur Arbeiterfrage jetzt abgeben zu wollen, würde
vielleicht voreilig und ungerecht sein, zumal viele und hervorragende Vertreter
derselben, durch die socialen Bewegungen der letzten Jahre veranlaßt, ihre
früheren Ansichten nicht unerheblich modifizirt haben. Aber noch immer ist
in derselben eine Richtung vertreten, welche einem verkehrten und verderblichen
Materialismus huldigt. Ich meine diejenige Richtung, welche die menschliche
Arbeitskraft im wirthschaftlichen Leben des Volkes lediglich als Waare be¬
trachtet und deshalb glaubt, der Verkehr mit dieser Waare unterliege keinen
anderen Gesetzen und bedürfe keiner anderen Behandlung als der Verkehr mit
allen übrigen Waaren. Dabei wird vergessen oder doch nicht genug berück¬
sichtigt, daß der Träger dieser Waare „Arbeitskraft" der Mensch selbst ist
und zwar der Mensch, welcher nicht blos essen, trinken, sich kleiden und
wohnen, sondern auch seine darüber hinausgehenden Bedürfnisse des Gemüthes
und Geistes befriedigt wissen will. Die Lösung der Arbeiterfrage bietet, theo¬
retisch wie praktisch, grade deshalb so ungemein große Schwierigkeiten, weil
wir es in der Arbeitskraft einerseits allerdings mit einer Waare, an¬
dererseits aber mit dem Menschen selbst zu thun haben, Beides muß be¬
rücksichtigt werden, wenn man zu einer, das fortschreitende Wohl des ganzen
Volkes sichernden Lösung gelangen will. Es mag recht bequem sein, zu sagen:
die Volkswirthschaftslehre hat die Arbeitskraft nur unter dem Gesichtspunkt
einer Waare zu betrachten, die Berücksichtigung ihrer sonstigen Eigenschaften
kommt anderen Gebieten des Wissens zu. Wer aber so spricht, denkt meines
Erachtens von der hohen Aufgabe und Bedeutung der Volkswirthschaftslehre
viel zu gering. Wenn dieselbe sich mit der menschlichen Arbeit als einem
wichtigen oder dem allerwichtigsten Faktor des wirthschaftlichen Volkslebens
beschäftigt, so muß sie nothwendiger Weise mit in Rechnung ziehen, daß die
menschliche Arbeitskraft als Waare sich wesentlich von allen übrigen
Waaren unterscheidet; sie muß sich stets bewußt bleiben, daß der Mensch nicht
blos ein Mittel zur Produktion wirthschaftlicher Güter ist, sondern daß
seine Wohlfahrt den Zweck und das Ziel des gesammten wirthschaftlichen Le¬
bens bildet. Eine Produktionsweise, welche auf eine schnelle Vermehrung des
gesammten Gütervorrathes noch so günstig einwirkt, dabei aber die geistige
und sittliche Entwicklung der dabei beschäftigten menschlichen Arbeitskräfte be¬
einträchtigt, muß unzweifelhaft als eine verwerfliche bezeichnet werden. Daß
ein solcher Widerspruch zwischen dem Interesse der Gesannntproduktion und
dem Interesse der dabei betheiligten Arbeitskräfte nicht nur möglich ist, son-
dern thatsächlich oft sich einstellt, bedarf für den Kenner der Verhältnisse
keines Beweises. Wenn Kinder mit gewerblichen Arbeiten, sei es im Hause
der Eltern, sei es in Fabriken, der Art beschäftigt werden, daß sie körperlich
und geistig verkümmern müssen, oder wenn verheirathete Frauen und Mütter
den größten Theil des Tages außerhalb ihres Hauses Lohnarbeit verrichten
und deshalb ihren Hausstand und ihre Familie vernachlässigen müssen, so
sind dies Zustände, deren Beseitigung im Interesse des gesammten Volkes mit
allen Kräften angestrebt werden muß. Dagegen hat der oft gehörte Ein¬
wand kein Gewicht, daß durch Beschränkung der wirthschaftlichen Freiheit die
nationale Produktion leidet. Allerdings leidet die nationale Produktion unter
jeder Beschränkung der wirthschaftlichen Freiheit. Aber was hilft der schein¬
bar blühendste Zustand der Produktion, wenn dabei ein großer Bruchtheil
des Volkes geistig und körperlich zu Grunde geht? Ich brauche avsichilich
den Ausdruck scheinbar, denn in Wirklichkeit trägt diejenige Produktions¬
weise, welche ihre Blüthe mit dem Ruin der großen Masse des Volkes er¬
kauft, schon den Wurm in sich, welcher an den Wurzeln ihres eigenen Le¬
bens nagt. Müssen die Arbeiter fortdauernd unter Verhältnissen leben, welche
die normale Entwicklung ihrer geistigen und körperlichen Kräfte hemmen und
eine Befriedigung ihrer höheren Bedürfnisse nicht gestalten, so nehmen mit
der Zeit ihre Kräfte überhaupt ab; sie werden körperlich und geistig leistungs-
unfähiger und bewirken dadurch den Verfall derjenigen Produktionsweise, welche
durch den Mißbrauch der menschlichen Arbeitskräfte zu einer schwindelhafter
Höhe emporgehoben war. Dieser unvermeidliche Gang der Entwicklung vollzieht
sich freilich nur allmälig und langsam; derjenige, welcher lediglich seine egoisti¬
schen Interessen im Auge hat, wird daraus jedenfalls keine Veranlassung
nehmen, seine bisherige Produktionsweise zu ändern. Dagegen ist es Aufgabe
der Wissenschaft, auf das Nachdrücklichste es hervorzuheben, daß bei Beurthei¬
lung der menschlichen Arbeitskraft als einer Waare nicht vergessen werden
darf, daß der Träger dieser Waare der mit unsterblichem Geiste begabte
Mensch ist und daß das Edelste im Menschen zu Grunde geht, wenn man
seine Kraft bei Produktion wirthschaftlicher Güter vollständig ausnutzt. Dem
Staate liegt aus der andern Seite die Pflicht und das Recht ob, einer mi߬
bräuchlichen Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft, nöthigenfalls mit
Zwang, entgegenzutreten; denn der Staat hat für das allseitige Wohl
seiner Angehörigen zu sorgen und hat nicht nur die Gegenwart, sondern auch
die Zukunft ins Auge zu fassen. Wer den Staat zum einfachen Diener und
Schützer der materiellen Interessen herabwürdigt, spricht sich selbst das
Recht ab, in öffentlichen Angelegenheiten gehört zu werden; er hat offenbar
keine Ahnung davon, was dazu erforderlich ist, um ein Volk wahrhaft groß,
stark und glücklich zu machen. Eine Nation, welche alle ihre Kräfte auf
den Erwerb wirthschaftlicher Güter concentrirt, eilt mit mächtigen Schritten
ihrem Verfall entgegen.
Die Aufgabe jedes Einzelnen wie jedes Volkes auf ethischem Gebiete
besteht in dem Streben nach sittlicher Vollkommenheit, welche identisch
ist mit Gottähnlichkeit. Vollständig wird diese Aufgabe aber von Niemandem
gelöst, weil die jedem Menschen von Natur eigene sittliche Mangelhaftigkeit
oder Sündhaftigkeit hindernd in den Weg tritt. Von dem vorhandenen Grade
der Sittlichkeit hängt vorzugsweise das wahre Glück des Menschen, seine in¬
nere Befriedigung ab. Dies nicht nur deshalb, weil die Bestimmung des
Menschen auf Erreichung sittlicher Vollkommenheit gerichtet ist und Niemand
glücklich sein kann, welcher im Widerspruch mit seiner ihm bestimmten Auf¬
gabe sich befindet, fondern auch deshalb, weil von der sittlichen Tüchtigkeit
des Menschen zugleich und zwar in besonders hohem Grade .seine Leistungs¬
fähigkeit in dem erwählten Lebensberuf abhängt. Letztere ist freilich auch be¬
dingt von den vorhandenen natürlichen Gaben, der vorangegangenen Erzieh¬
ung und beruflichen Ausbildung, aber noch viel mehr von der Existenz oder
Nichtexistenz gewisser sittlicher Eigenschaften, wie Selbsterkenntniß, Selbstbe¬
herrschung, Pflichttreue, Ausdauer, Liebe zur Wahrheit, Gerechtigkeit u. f. w.
Namentlich auch auf wissenschaftlichem Gebiete lehrt es die Erfahrung, daß im
Durchschnitt nicht die natürlich begabtesten, sondern die sittlich tüchtigsten
Menschen am meisten leisten und am besten vorwärts kommen.
Für die Socialpolitik ergeben sich aus den angeführten Thatsachen zwei
sehr wichtige Grundsätze. Einmal müßten ihre Vorschläge und prak¬
tischen Maßnahmen dem zur Zeit vorhandenen Maße sittlicher Vollkommen¬
heit oder UnVollkommenheit desjenigen Volkes oder derjenigen Volksklassen,
deren sociales Wohl gefördert werden soll, genau entsprechen. Fürs Zweite
muß jede Einrichtung auf socialpolitischen Gebiete außer ihrem unmittel¬
baren wirthschaftlichen Zweck auch noch die sittliche Vervollkommnung, also
die sittliche Erziehung des Volkes im Auge haben.
Kein Mensch ist sittlich vollkommen, aber der Grad der sittlichen Entwicklung
ist bei den einzelnen Individuen und einzelnen Völkern sehr verschieden. Die
Jurisprudenz ist im Princip sich längst darüber klar, daß sowohl auf dem
Gebiete des Privatrechtes, wie auch namentlich auf dem Gebiete des öffent¬
lichen Rechtes, die Gesetzgebung den im Volke geltenden sittlichen Anschau¬
ungen entsprechen müsse und daß kein Gesetz gut sein könne, welches mit diesen
Anschauungen in offenbarem Widerstreite sich befindet. Viele unserer heutigen
Social.Politiker glauben indessen nicht nöthig zu haben, hierauf Rücksicht zu
zu nehmen; sie machen ihre Vorschläge, ohne irgend zu bedenken, ob deren
Realtsirung mit dem im Volke vorhandenen Zustande der sittlichen Entwick¬
lung vereinbar ist oder nicht. Die Einen schwärmen für ungeschmälerte
wirthschaftliche Freiheit und halten das Strafgesetz für genügend, um in ein-'
zelnen Nothfällen den etwaigen Mißbrauch der Freiheit unschädlich zu machen;
die Anderen glauben umgekehrt, daß nur die Regelung der gesammten wirth¬
schaftlichen Thätigkeit des Volkes durch die Staatsgewalt im Stande sei, den
individuellen Egoismus an einer das Gemeinwohl untergrabenden Bethätigung
zu verhindern. Ob und in wieweit die eine oder die andere dieser entgegen¬
gesetzten Anschauungen im Rechte sich befindet, laßt sich im Allgemeinen gar
nicht entscheiden, es hängt dies vielmehr davon ab, ob nach Maßgabe der
in dem Volke vorhandenen Sittlichkeit ein gemeinschädlicher Mißbrauch der in
Rede stehenden Freiheit zu erwarten ist oder nicht. Wirthschaftliche Freiheit
muß ja für jeden Socialpolitiker ein hohes, erstrebenswerthes Ziel bleiben;
aber es verräth eine große doktrinaire Befangenheit und einen erheblichen
Mangel an Kenntniß der Menschen und wirthschaftlichen Verhältnisse, wenn
man von der Ansicht ausgeht, daß eine Harmonie der wirthschaftltchen Inter¬
essen aller Volksgenossen bestehe. An dieser Ansicht ist nur so viel richtig,
daß keine einzelne Volksklasse die Interessen der übrigen dauernd und in offen¬
bar unsittlicher Weise verletzen kann, ohne schließlich selbst darunter auch ma¬
teriell Schaden zu leiden. Insofern besteht also eine Harmonie der Inter¬
essen, als das dauernde Wohl der einen Volksklasse nicht auf den Ruin der
anderen gegründet werden kann; aber dies ist eine Thatsache, welche auf die
wirthschaftliche Thätigkeit des Einzelnen nur in Ausnahmefällen einen entschei¬
denden Einfluß ausübt. Die meisten Menschen sind geneigt, das zu thun,
was ihnen persönlich den größten augenblicklichen Vortheil bringt; ob dadurch
Andere nicht nur in Bezug auf den Erwerb äußerer Güter, sondern auch in
ihren höheren Lebensinteressen geschädigt werden, darnach fragen nur die¬
jenigen, welche, von sittlichen Grundsätzen geleitet, sich bewußt sind, daß auch
im Gebiete des Erwerbslebens nicht Alles erlaubt ist, was das Gesetz nicht
direct mit Strafe belegt, und daß es dem gegenwärtigen Geschlecht nicht zu¬
steht, sich aus Kosten zukünftiger Generationen zu bereichern. Wenn ein
Fabrikherr in ausgedehnter Weise unerwachsene Kinder oder Ehefrauen und Mütter
in seinem Betriebe beschäftigt, so kann dies für ihn sehr vortheilhaft sein, ihm
selbst machen sich die schädlichen Konsequenzen seiner Handlungsweise äußer¬
lich gar nicht bemerkbar; erst seine Besitznachfolger in zweiter oder dritter
Generation haben unter den Folgen einer fortgesetzten mißbräuchlichen Aus¬
nutzung der Arbeitskräfte insofern zu leiden, als letztere körperlich und geistig
leistungsunfähiger geworden sind. Im Interesse des Staates liegt es natür¬
lich, dafür Sorge zu tragen, daß nicht ein Theil des Volkes seinen Reich¬
thum auf Kosten der gesunden Entwicklung eines andern Theiles sich er¬
wirbt oder daß nicht durch die wirthschaftliche Thätigkeit der Gegenwart die
Erwerbsfähigkeit zukünftiger Geschlechter beeinträchtigt wird. Wir tadeln es mit
Recht bitter, daß hier und da die Staatsregierungen vergangener Zeiten es
zuließen, daß man um des augenblicklichen Gewinnstes willen die Waldungen
in einer Weise ausnutzte, welche die Fruchtbarkeit ganzer Landstriche auf Jahr¬
zehnte oder Jahrhunderte hinaus fast vollständig vernichtete. Jetzt ist man
glücklicher Weise wohl allgemein zu der Erkenntniß gekommen, daß der Staat
das Recht und die Pflicht besitzt, über die Bewirthschaftung der Wälder eine
gewisse Kontrolle auszuüben und es unter Umständen zu verbieten, vorhan¬
dene Wälder zum Verschwinden zu bringen. Bei der Arbeiterfrage handelt
es sich aber um viel wichtigere Dinge, als um die Erhaltung einer für die
Fruchtbarkeit des Bodens angemessenen klimatischen Beschaffenheit des Landes;
hier steht die gesammte äußere und innere Wohlfahrt einer Volksklasse auf
dem Spiel, welche den zahlreichsten Bruchtheil aller Staatsangehörigen aus¬
macht. Je sittlicher ein Volk in allen seinen Theilen ist, je mehr sich ferner
alle Volksklassen auch bei ihrer Erwerbsthätigkeit bewußt bleiben, daß sie gegen¬
seitig für einander zu sorgen haben und gegenseitig auf einander angewiesen
sind, je mehr endlich die lebende Generation ihrer unzweifelhaften Verpflichtung
zur Fürsorge für die künftigen Geschlechter nachkommt: desto weniger wird
der Staat den Beruf und die Befugniß haben, der Ausübung wirthschaftlicher
Freiheit Schranken aufzuerlegen. Wer die wirthschaftltche Freiheit liebt und
wünscht — und ich selbst rechne mich zu den lebhaften Verehrern derselben —
muß vor allen Dingen darauf Bedacht nehmen, daß die Sittlichkeit im Volke
und damit das Verständniß für den rechten Gebrauch der Freiheit wachse und
in gleichem Maße die Gefahr ihres Mißbrauches vermindert werde. Dies
gilt für alle Volksklassen; keineswegs allein für die Arbeitgeber, sondern auch
für die Arbeitnehmer. Bis jetzt kann man leider noch nicht sagen, daß Letztere
von dem großen Maße von Freiheit, welches die Gesetzgebung ihnen während
der jüngst verflossenen Jahre gebracht, einen besonders weisen Gebrauch ge¬
macht haben. Durch ihr eigenes zukünftiges Verhalten ist es bedingt, ob sie
im Genuß der bisherigen Freiheiten erhalten bleiben können oder ob der
Staat im Interesse des Gemeinwohles sich in die Nothwendigkeit versetzt
sieht, Beschränkungen nach der einen oder anderen Richtung hin eintreten
zu lassen.
Wie die Socialpolitik einerseits den vorhandenen Grad von Sittlichkei
im Volke als Grundlage für ihre Maßregeln nehmen muß, so hat sie andrer'
seits die Aufgabe, eine weitere sittliche Vervollkommnung aller Volksklassen
anzustreben. Hierzu gehört zunächst allerdings eine Förderung derjenigen An¬
stalten und Einrichtungen, welche direct die sittliche Bildung des Volkes zum
Ziele haben, wie namentlich Kirche und Schule. In Betreff der Wirksam¬
keit der letzteren will ich hier nur kurz erwähnen, daß eine Vermehrung der
verstandesmäßig aufzunehmenden Kenntnisse nicht an und für sich auch schon
eine Erhöhung der Sittlichkeit bedingt; Wissen und Sittlichkeit laufen keines¬
wegs mit einander parallel. Es muß daher bei allen Veranstaltungen, welche
man zur Vermehrung der Bildung trifft, darauf besondere Rücksicht genom¬
men werden, daß dieselben nicht nur zur Vermehrung des Wissens, sondern
auch zur Erhöhung der Sittlichkeit beitragen. Besonders gilt dies für alle
Einrichtungen zur Bildung des heranwachsenden Geschlechtes, da sittliche oder
unsittliche Einflüsse auf die Jugend viel stärker und nachhaltiger wirken, als
auf ältere Leute.
Die Socialpolitik muß ferner aber auch bei allen direct in die wirth¬
schaftliche Thätigkeit des Volkes eingreifenden Anordnungen darauf Be¬
dacht nehmen, daß dieselben auf die Sittlichkeit fördernd und erhebend ein¬
wirken. Schmoller bezeichnet mit Recht den Staat als „das großar¬
tigste sittliche Institut zur Erziehung des Menschengeschlech¬
tes." Von allen gebildeten und in fortschreitender Entwicklung begriffenen
Völkern der alten und neuen Zeit ist diese erziehende Aufgabe des Staates
auch anerkannt und mit mehr oder minder großem Geschick und Erfolg geübt
worden. Die Lenker des Staates, welche von Rechtswegen auch die besten
und weisesten Bürger desselben sein sollen, müssen durch die zu erlassenden
Gesetze und deren Handhabung ihren Volksgenossen den Weg zeigen und
bahnen, welcher dieselben zu einer immer höheren Stufe sittlicher Vollkommen¬
heit zu führen im Stande ist. Gute Gesetze können ein unsittliches Volk frei¬
lich nicht in ein sittliches verwandeln; sie können aber auf ein für das Sitt¬
liche empfängliches Volk einen sehr großen und heilsamen Einfluß ausüben,
ebenso wie umgekehrt schlechte Gesetze die Entwicklung der unsittlichen Ele¬
mente im Volke befördern.
Einer der wichtigsten Erziehungsgrundsätze ist der, daß der Erzieher das
zu erreichende Ziel klar im Auge hat und dieses mit Consequenz verfolgt.
Hiervon sollen auch die Lenker des Staates bei der Gesetzgebung und Ver¬
waltung sich leiten lassen. Sie müssen so viel Kenntniß der vorhandenen
Zustände und so viel Weisheit besitzen, um voraussehen zu können, welche
Aufgaben in Bezug auf die weitere Entwicklung des gesammten Volkslebens
zunächst zu lösen sind und müssen diese Aufgaben mit den rechten Mitteln
nachdrücklich zu verfolgen verstehen. Wenn ich unsere heutige Zeit be¬
urtheile, so scheint es mir die wichtigste Aufgabe zu sein, das Volk zu
einem sittlichen, das Wohl des Einzelnen wie der Gesammt¬
heit möglichst sicher stellenden Gebrauch der Freiheit zu er¬
ziehen. Dies gilt namentlich auch für das Gebiet der Socialpolitik. Der
größeren wirthschaftlichen Freiheit, welche unserem Volke von Beginn dieses
Jahrhunderts ab bis jetzt in immer steigendem Maße zu Theil wurde, hat
dasselbe den gewaltigen, früher ungewohnten wirthschaftlichen Aufschwung,
dessen Resultate uns in der Gegenwart zu Gute kommen, hauptsächlich zu
verdanken. Durch die Aufhebung der Leibeigenschaft und Gutsunterthänig-
keit, durch die Befreiung des Grund und Bodens, sowie seiner Bebauer von
den auf denselben ruhenden Lasten und Diensten, durch die Einführung der
Gewerbefreiheit u. f. w. wurde eine große Menge von Kräften, welche bisher
in ihrer natürlichen Entwickelung durch unübersteigliche Schranken gehemmt
waren, frei und dem allgemeinen Wohle dienstbar gemacht. Auch die neueste
deutsche Reichsgesetzgebung über die Coalitionsfreiheit, Freizügigkeit, Erleichte¬
rung der Eheschließung und Niederlassung, serner die neue Gewerbeordnung
haben in derselben Richtung gewirkt. Diejenigen Männer, welche diese Ge¬
setzgebung hervorriefen oder sie durch ihre Zustimmung sanctionirten, konnten
sich unmöglich verhehlen, daß dieselbe dem Volke ein ganz ungewöhnliches
Maß von Freiheit gewähre, und zwar ein solches Maß, welches bei rechtem
Gebrauch eben so viel Segen stiften, wie bei verkehrten Gebrauch Unheil
anrichten könne. Die Gesetzgeber haben durch die von ihnen betretene Bahn
die Sittlichkeit des Volkes auf eine schwere Probe gestellt; sie haben geglaubt
und gehofft, das Volk werde Sittlichkeit genug besitzen, um die gewährte
Freiheit nicht in einer das Gemeinwohl schädigenden Weise zu mißbrauchen;
sie sind von der Voraussetzung ausgegangen, die neue Gesetzgebung werde
ein erfolgreiches Mittel bilden, um das Volk zu einer ausgedehnten und
weisen Benutzung individueller Selbständigkeit zu erziehen. Ob die Gesetz¬
geber über die Sittlichkeit des Volkes richtig geurtheilt oder sich getäuscht
haben, läßt sich bei der Kürze der seitdem verflossenen Zeit noch nicht mit
Sicherheit ermitteln. Jedenfalls würde es verkehrt sein, eine Gesetzgebung,
deren Zweckmäßigkeit erst die Probe weniger Jahre hinter sich hat, verwerfen
zu wollen, weil hier und da die durch dieselbe gewährte Freiheit gemißbraucht
wurde. Durch vielfache Erfahrung ist es constatirt und auch psychologisch leicht
erklärbar, daß jede neu gewährte Freiheit Anfangs gewisse Mißbräuche im
Gefolge hat; um letzterer willen die Freiheit selbst für schädlich zu erklären,
würde sich nicht rechtfertigen lassen. Ein endgültiges Urtheil kann in solchen
Dingen erst gefällt werden, wenn längere Erfahrungen gesammelt sind. Dies
ist auch einer der Gründe, welcher meines Erachtens gegen die Zweckmäßig¬
keit des augenblicklich dem deutschen Reichstage vorgelegten Gesetzes über
Bestrafung des Contraktbruches geltend gemacht werden muß. Als
man die Freizügigkeit einführte, war vorauszusehen, daß dieselbe auch zu
Contraktbrüchen Seitens der Arbeitnehmer benutzt werden würde; man gab
sich aber der Hoffnung hin, daß diese Erscheinung eine vereinzelte oder doch
vorübergehende sein werde. Ob diese Hoffnung eine berechtigte oder trügerische
war, läßt sich heutzutage noch nicht entscheiden. Wer vor sechs Jahren das
Gesetz über die Freizügigkeit erlassen oder ihm zugestimmt hat, darf heute
nicht ein solches Ausnahmegesetz wie das über Bestrafung des Contraktbruches
vorlegen oder gutheißen. Man verwirrt die sittlichen Begriffe des Volkes
und schwächt sein Vertrauen in die Weisheit der Staatsleitung, wenn man
heute die vorauszusehenden Consequenzen eines Gesetzes kriminalrechtlich bestraft,
welches man als ein nothwendiges gestern erlassen hat. Hierin liegt, gelinde
ausgedrückt, eine große pädagogische Ungeschicklichkeit.
Es kann selbstverständlich die Nothwendigkeit eintreten, eine dem Volke
oder einer Volksklasse gewährte Freiheit wieder zu entziehen; aber diese Noth¬
wendigkeit ist eine sehr traurige und nicht ohne schlimme Folgen zu ver¬
wirklichende. Eine altgewohnte, wenn auch an und für sich drückende Be¬
schränkung weiter zu erdulden, ist sehr viel leichter als eine bereits gewährte
Freiheit aufs neue entbehren zu müssen.
Jedes erwachsenen Menschen Pflicht ist es, durch eigene
Arbeit sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben; nur das Vor¬
handensein abnormer körperlicher oder geistiger Schwäche kann die Nichterfüllung
derselben entschuldigen. In der Arbeit liegt aber zugleich ein hohes, wichti¬
ges Vorrecht des Menschen. Nur der arbeitende Mensch bleibt geistig und
leiblich gesund; die Anspannung seiner Kräfte verschafft dem Menschen nicht
nur die Möglichkeit, die für seine Fortexistenz nöthigen wirthschaftlichen Güter
zu erwerben, sondern sie gewährt zugleich eine große innere Befriedigung.
Von der Arbeitsfähigkeit und Arbeitslust hängt die Wohlfahrt und
das Gedeihen eines Volkes in hohem Grade ab; beide sind in gleichem
Maße für den Erfolg der Arbeit entscheidend, die Lust zur Arbeit ist außerdem
mit einer gewissen sittlichen Tüchtigkeit untrennbar verbunden. Wer die Ar¬
beit lediglich als Mittel zur Erreichung äußerer Zwecke b etrachtete, hat keine
Wirkliche Lust zur Arbeit; er arbeitet nur so viel und so lange, als es unum¬
gänglich nöthig erscheint; sein Ziel ist der träge erschlaffende Genuß, nicht die
nach gethaner Arbeit so berechtigte und wohlthätige Ruhe. Ein Volk, welchem
der Sinn für den inneren Werth der Arbeit abhanden gekommen, welches
blos um des späteren Genusses willen thätig ist, befindet sich auf der ver-
hängnißvollen Bahn, welche zu seinem wirthschaftlichen und politischen Un¬
tergang führt. Arbeitsamkeit ist eine sittliche Eigenschaft, deren sorgfältige
Pflege im dringendsten Interesse des Staates liegt, die Erfüllung dieser Auf¬
gabe kann und muß auf den verschiedensten Gebieten angestrebt werden; so
namentlich bei der Bildung und Erziehung der Jugend; ferner bei der Be¬
schäftigung derjenigen Personen, welche direct im Dienste des Staates arbeiten;
bei der Behandlung der theilweise Arbeitsunfähigen oder der Arbeitsscheuen
u. s. w. Der Staat soll durch seine Maßnahmen immer zeigen, daß er jeden
seiner Angehörigen für verpflichtet hält, die ihm gegebenen Kräfte auch in
angemessener Weise anzustrengen, und daß Müßiggang ein Laster ist, welches
er wenigstens im Bereiche seiner Wirksamkeit nicht duldet. Preußen hat seine
Größe und seine Befähigung, jetzt an der Spitze Deutschlands zu stehen,
nicht zum geringsten Theil dem Umstände zu danken, daß seine Fürsten Jahr¬
hunderte hindurch nicht nur alle ihre eigenen Kräfte der Förderung des Woh¬
les ihres Volkes widmeten, sondern daß sie auch von ihren Beamten fort¬
dauernde, angestrengte Thätigkeit im öffentlichen Dienste verlangten und daß
sie mit allen zu Gebote stehenden, oft wenig sanften Mitteln, ihre Unter¬
thanen zur Arbeit und Pflichterfüllung anhielten.
Mit der vorstehenden Auseinandersetzung will ich indessen keineswegs ge¬
sagt haben, daß der zu erwartende materielle Lohn kein berechtigtes oder
kein sittliches Motiv zur Arbeit sei; im Gegentheil gehören Arbeit und Lohn
untrennbar zusammen. Wer arbeitet, hat ein natürliches Recht auf Lohn.
Es giebt keinen empfindlicheren wirthschaftlichen Nothstand als das Vorhan¬
densein einer größeren Zahl von Menschen, welche gern arbeiten möchten,
aber trotz aller Willigkeit und Genügsamkeit Niemanden finden können, der
ihre Arbeit zu benutzen und zu lohnen geneigt ist. Wie der Staat in solchem
Falle zu verfahren hat, läßt sich im Allgemeinen nicht entscheiden; es hängt
dies von den speciell vorliegenden Verhältnissen ab. Keinesfalls kann aber
ihm oder einem Privatmann auferlegt werden, unter allen Umständen dafür
zu sorgen, daß unbeschäftigten Personen, welche wirklich oder angeblich keine
lohnende Arbeit finden können, letztere gewährt werde, dadurch würde man
den Einzelnen von der Pflicht entbinden, selbst für seinen Lebensunterhalt zu
sorgen, man würde die wirthschaftliche Energie des Volkes lahmen, statt daß
man sie stärken soll.
Ueber die Höhe des im einzelnen Falle für geleistete Arbeit zu zahlen¬
den Lohnes läßt sich ebenfalls keine allgemein gültige Norm festsetzen; dieselbe
muß vielmehr der freiwilligen Vereinbarung der Arbeitnehmer und Arbeit¬
geber überlassen bleiben. Ein nach irgend einer Richtung hierin ausgeübter
Zwang würde die menschliche Willensfreiheit in ungerechtfertigter Weise beschrän¬
ken und den Trieb zu produktiver Thätigkeit lähmen; er würde dem Menschen
einen Theil der ihm unzweifelhaft obliegenden Verantwortlichkeit, die Mittel
ZU seiner Fortexistenz selbst herbeizuschaffen, abnehmen und würde gerade die
tüchtigsten wirthschaftlichen Kräfte an ihrer vollen Entfaltung verhindern-
Der von Karl Marx ausgestellte Grundsatz, der Werth der Arbeit müsse nach
der darauf verwendeten Zeit gemessen werden, entspricht der mechanisch-materia¬
listischen Lebensanschauung, von welcher die heutige Socialdemokratie über¬
haupt ausgeht. Derselbe ist im vollen Sinne des Wortes ungültig, denn durch
ihn wird der Trägheit ein Privilegium ausgestellt und seine Consequenz
führt außerdem zu einer Brandlegung aller höheren und edleren Kräfte des
Menschen.'
Eine angestrengte und nachhaltige Bethätigung der menschlichen Arbeits¬
kraft ist nur in dem Falle denkbar, daß dem Individuum der Lohn für seine
Arbeit auch wirklich zu Theil wird. Das Wohl des Einzelnen wie der Ge¬
sammtheit wird sehr bald untergraben werden, wenn man den Arbeitsertrag
aller Volksgenossen erst in eine Masse zusammenwerfen und dann unter die
Einzelnen gleichmäßig oder nach Maßgabe des Bedürfnisses vertheilen wollte.
Die Möglichkeit der Ausführung einer solchen Maßregel würde zunächst voraus¬
setzen, daß alle Menschen sittlich vollkommen, also namentlich frei von Selbst¬
sucht und Neid sind, was aber bekanntlich nie der Fall gewesen ist und nie
sein wird. Schon aus diesem Grunde muß jeder Versuch zur praktischen Ver¬
wirklichung des Communismus fehlschlagen, worüber die Geschichte auch
manche lehrreiche Beispiele darbietet. Der Communismus giebt der unsitt¬
lichen Bethätigung der menschlichen Leidenschaften nur neue Nahrung, statt
dieselben zu dämpfen. Aber auch unter der Voraussetzung der sittlichen Voll¬
kommenheit aller Menschen würde der Communismus ein Unrecht sein, denn
derselbe ist ein Eingriff in das Recht der menschlichen Persönlichkeit, er ver¬
nichtet die Willensfreiheit. Die Durchführung kommunistischer Principien ist
an die Bedingung geknüpft, daß jedem Einzelnen das Feld und die Art seiner
Thätigkeit von dem Vorstande der communistischen Gemeinde oder dem Haupte
des communistischen Staates zugewiesen wird. Darin liegt eine Herabwür¬
digung des Menschen zur Maschine, es ist ihm die Möglichkeit benommen,
seine Kräfte frei und nach individuellem Bedürfniß zu entfalten, er büßt das
Gefühl der Befriedigung ein, welches mit jeder freiwilligen den menschlichen
Kräften entprechenden Thätigkeit verknüpft und welches nothwendig ist, wenn
die Arbeit nicht zur unerträglichen Last werden soll. Schon früher bemerkte ich,
daß es ein wesentlicher, wenn auch nicht der alleinige Zweck der Arbeit des
Menschen sei, daß er durch dieselbe sich seinen Lebensunterhalt erwerbe; dieser
Zweck wird aber in eine für den Einzelnen kaum erkennbare Ferne gerückt,
wenn dem Individuum der Lohn seiner Thätigkeit nicht direct zu Theil wird.
Der Mensch muß auch den äußern Erfolg seiner Arbeit vor Augen haben,
falls er nicht muthlos und träge werden soll. Das Princip der Gerechtigkeit
würde zudem verletzt und das Gefühl für dieselbe im Menschen abgestumpft
werden, wenn man das Maß der dem Einzelnen zufließenden äußeren Güter
unabhängig von seiner Arbeitsleistung machte.
Am Entschiedensten verstößt aber die von der Socialdemokratie vertretene
communistische Theorie gegen die ethische Grundlage des Volkslebens dadurch,
daß sie die Familien gemein schaft auflöst. Communismus und Aus¬
lösung der Familie sind untrennbar mit einander verbunden. In dem com¬
munistischen Staate bildet das ganze Volk eine große Familie; die einzelne
Familie als abgeschlossene Gemeinschaft hat darin keine Berechtigung, das-
Recht und die Pflicht der Kindererziehung kommt dem Staate zu. Bon den
consequentesten Communisten wird auch als die natürliche Folge ihrer Theorie
monogamische Ehe perhorrescirt; an deren Stelle tritt Weibergemeinschaft oder
Vielweiberei. Ich weiß recht wohl, daß die heutigen Führer der Socialdemo¬
kratie diese Consequenzen ihrer Theorie nicht aussprechen; dieselben bewahren
überhaupt und offenbar absichtlich eine große Zurückhaltung in Betreff ihrer
Ansichten über die zukünftige Gestaltung der socialen Verhältnisse; es ist
ihnen zunächst nur darum zu thun, die Arbeiter mit den bestehenden Zu¬
ständen unzufrieden zu machen und sie zu gewaltsamer Zerstörung derselben
aufzustacheln. Daß aber ihre Theorie nur aus dem Boden des Communis-
mus und unter Voraussetzung der Auflösung der Familie sich verwirklichen
läßt, bedarf für den Einsichtigen keines besonderen Beweises. Von denjenigen
socialistischen Schriftstellern, welche sich mit der zukünftigen Verwirklichung
ihrer Theorie eingehend beschäftigten, ist dies auch mehr oder minder ausge¬
sprochen worden.
Der gemeinsame Güterbesitz ist eins der wichtigsten Binde¬
mittel für die Familie. Hebt man das Privateigenthum aus, so ver¬
liert die Familie ein unentbehrliches Fundament ihrer Existenz. Den Eltern
wird damit die Pflicht abgenommen, für die Erhaltung und Erziehung ihrer
Kinder zu sorgen; die Bethätigung geschwisterlicher oder kindlicher Liebe durch
Darreichung äußerer Güter verliert ihren sonst so hohen Werth. Die Eltern
haben keine Veranlassung, ihre Kräfte zur Erwerbung wirthschaftlicher Güter
anzustrengen und mit den erworbenen haushälterisch und sparsam umzugehen;
denn eine Erbberechtigung der Kinder auf die Hinterlassenschaft der El¬
tern ist mit dem Communismus unvereinbar. Wem dürfte es unbekannt
sein, daß die Liebe zu den Kindern, der Wunsch denselben eine angenehme
und gesicherte Zukunft zu bereiten, eins der stärksten Motive ist, welches die
Väter und Mütter zur Ausübung der für die ganze menschliche Gesellschaft
so wichtigen Tugenden der Pflichttreue, der Arbeitsamkeit, der Genügsamkeit
antreibt? Bei Verwirklichung der Gütergemeinschaft würde das Familien¬
leben von allen Zwecken, welche dasselbe im Bereiche des socialen und poli¬
tischen Lebens zu erfüllen bestimmt ist, wesentlich nur noch demjenigen ge¬
nügen können, welcher in der Fortpflanzung des menschlichen Geschlechtes
besteht.
Unter solchen Umständen ist es wohl nicht zu viel gesagt, wenn ich be¬
haupte, daß die communistische Theorie vom ethischen Standpunkte aus eine
im höchsten Grade verwerfliche ist. Denn die Familie bildet die Grundlage
der menschlichen Gesellschaft und des Staates; nur innerhalb der Familie ist
eine ihren Zweck erfüllende Erziehung der Kinder möglich; das Familienleben
^ägt wie nichts Anderes dazu bei, die edlen, in der menschlichen Natur lie-
gerben Eigenschaften zur Entwicklung zu bringen und die unedeln Leiden¬
schaften zu unterdrücken. Wer der menschlichen Gesellschaft das Familien¬
leben nimmt, raubt ihr das beste Besitzthum; er entzieht ihr den Boden,
worauf sie steht und worauf sie von jeher gestanden hat. Bon der Gesund¬
heit des Familienlebens hängt die Gesundheit des ganzen socialen und poli¬
tischen Volkslebens ab. Deshalb giebt es keine wichtigere Aufgabe für die
Socialpolitik, als danach zu streben, die Familiengemeinschaft zu stärken und
das Aufkommen solcher Zustände zu verhindern, welche eine Erfüllung der
hohen Aufgaben des Familienlebens unmöglich machen. In keinem anderen
Falle halte ich ein direktes Eingreifen des Staates in die wirthschaftliche Ent¬
wicklung für so berechtigt und geboten, als wenn es sich um Beseitigung
oder Verhütung von Verhältnissen handelt, welche das Familienleben in einer
ganzen Volksklasse zu untergraben drohen. Der Staat erfüllt alsdann ein¬
fach die Pflicht der Selbsterhaltung, welche für jedes Gemeinwesen die nächste
und oberste Pflicht bildet.
Von denjenigen ethischen Grundsätzen, welche meines Erachtens einen
maßgebenden Einfluß aus die Richtung der Socialpolitik ausüben müssen, habe
ich nur einige näher beleuchten können. Wollte ich, mein Thema erschöpfen,
so müßte ich u. A. noch die hohe Wichtigkeit erörtern, welche die ungleiche
Vertheilung wirthschaftlicher Güter für die sittliche Erziehung des
Menschen besitzt. Der Communismus entzieht der Nächstenliebe das frucht¬
barste Gebiet ihrer Thätigkeit; er enthebt den Menschen der Verpflichtung,
seinen Besitz nicht nur zum eignen Genuß, sondern auch zum Wohle anderer
Menschen anzuwenden. Thatsächlich macht der Communismus die Selbstsucht,
welche er zu bekämpfen vorgiebt, zu dem das ganze sociale Leben beherrschenden
Princip. >— Zur Erschöpfung meiner Aufgabe hätte ich ferner noch nachweisen
müssen, daß der Erfolg jeder Thätigkeit, welche von einer größeren Zahl
Menschen gemeinsam ausgeübt wird, wesentlich mit davon abhängt, daß Einer
oder einige Wenige regieren, die Andern gehorchen; dies gilt für das Gebiet
ebenso des privaten wie des öffentlichen Lebens. Dabei erfodert das mensch¬
liche Gerechtigkeitsgefühl, daß die befehlenden und leitenden Personen über
ein größeres Maß äußerer Güter zu disponiren haben, als die gehorchenden
und ausführenden;, es ist dies gleichzeitig nothwendig, wenn jene ihre Wirk¬
samkeit erfolgreich durchführen und die unentbehrliche Autorität nach Außen
und im Kreise der eigenen Berufsgenossen sich sichern wollen. Die Anhänger
der heutigen Socialdemokratie leugnen zwar theoretisch diese Nothwendigkeit,
fügen sich derselben aber in der Praxis durch die Art, wie sie ihre Führer
auszeichnen; sie bekämpfen scheinbar jede herrschende Gewalt und lassen sich
doch Seitens ihrer Parteihäupter eine so despotische Unterdrückung gefallen,
wie sie stärker kaum je von einem autokratischen Herrscher ausgeübt worden
ist. Weil sie das Befehlen und das Gehorchen als sittlich berechtigte und
nothwendige Functionen nicht anerkennen, dieselben aber der Natur der Sache
nach factisch nicht entbehren können, bleibt ihnen nur übrig, zwischen den
beiden unsittlichen Extremen, nämlich der ungezügelten Bethätigung des Eigen¬
willens und der sklavischen Untertänigkeit unter fremder Autorität, haltlos
hin und her zu schwanken.
Obwohl ich mich auf die nähere Darlegung der eben erwähnten und
einiger andrer, hier ganz übergangener, ethischer Grundlagen der Socialpolitik
aus Rücksicht auf die mir zugemessene Zeit nicht einlassen kann, so glaube
ich doch schon durch das Gesagte den Beweis geliefert zu haben, daß die
Socialpolitik die Nothwendigkeit anerkennen muß, ihrer
Theorie feste ethische Principien, und zwar solche zu
Grunde zu legen, welche der zur sittlichen Vollkommenheit
berufenen Natur des Menschen entsprechend sind.
Als vor länger als Jahresfrist von dem Verein für die deutsche Nord-
Polfahrt in Bremen der erste Band des Werkes ausgegeben wurde, welches
bestimmt ist, die Schicksale und Forschungen der zweiten deutschen Nord-
Polfahrt in den Jahren 1869 und 1870, unter Führung des Ka-
Pitain Karl Koldewey, dem deutschen Publikum vorzuführen, haben wir un»
fern Lesern ein den Verhältnissen unseres Raumes entsprechendes gedrängtes
Bild aus dem reichen Inhalte jenes ersten Bandes zusammenzustellen ver¬
sucht,*) mit dem Vorsatze, auch den folgenden Bänden unserer Leser freund¬
liche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dieser Versuch scheint schwieriger auszu¬
führen bei dem zweiten Bande des Werkes, der zu Anfang dieses Jahres er¬
schienen ist, da derselbe lediglich die wissenschaftlichen Ergebnisse der
zweiten deutschen Nordpolfahrt enthält.^) Allein das scheint auch nur so.
Der beste Beweis für die Bedeutung und das Interesse dieses zweiten Bandes
wird wohl durch dessen ungewöhnlich schnellen Absatz geliefert. Nicht ohne
schwere finanzielle Bedenken mag das patriotische deutsche Comite, dem wir
zuerst die Realisirung jener kühnen Entdeckungs- und Erforschungsfahrt, und
seit vorigem Jahr die Bearbeitung und Herausgabe dieses Werkes zu danken
haben, an die Drucklegung des wissenschaftlichen Theiles gegangen sein. Allein
bereits bei Herstellung dieses Buches zeigte sich der rühmlichste Wetteifer unter
den Gelehrten Deutschlands, Oesterreichs. Englands, der Schweiz u. f. w.,
sich an der Bearbeitung des reichen wissenschaftlichen Materials zu betheiligen,
welches die zweite deutsche Nordpolfahrt als Ausbeute geliefert hatte. Auf
allen Gebieten der Naturwissenschaften, die bei der zweiten deutschen Nord¬
polfahrt überhaupt zum Gegenstande der Beobachtung und Forschung ge¬
macht werden konnten, haben sich die allerersten Autoritäten ihres Spezial-
faches angenommen, um die neuen Ergebnisse dem höchsten Standpunkte mo¬
derner Wissenschaft und Kritik entsprechend zu verwerthen. So vereinigt denn
das vorliegende Werk eine seltene Fülle der gefeiertsten Namen auf dem Ge¬
biete der botanischen, anthropologischen und zoologischen Forschung, zu wel¬
chen die zweite Abtheilung des zweiten Bandes eine gleich hervorragende Mit¬
arbeiterschaft auf dem Felde der Geologie, der Meteorologie und Hydrogra¬
phie, der Astronomie, Geodäsie und des Erdmagnetismus hinzugesellen wird.
Diese selbstlose internationale Vereinigung der bedeutendsten Naturforscher im
Dienste und zu Ehren der Wissenschaft muß auch den Laien mit freudigem
Stolze erfüllen, der sonst vielleicht nur zu geneigt sein mag, den gründlichen
Forscherfleiß gering zu schätzen, der hier in diesen Blättern dem kleinsten mikro¬
skopischen Thierorganismus Grönlands oder das unbedeutendste Treibholz des
arktischen Stroms mit derselben eingehenden Liebe schildert, wie die Schädel
und Knochen aus den Gräbern verschollener menschlicher Ansiedelungen an
den Küsten Ostgrönlands. —
Auch materiellen Beistand hat das löbliche Unternehmen der Herausgabe
dieses wissenschaftlichen Werkes gefunden, sobald es der Ausführung näher
trat. Insbesondere hat die Königliche Akademie der Wissenschaften in Berlin
zur Herstellung der Crustaeeentafeln die schöne Summe von S00 Thlr. ange¬
wiesen, um dadurch das lebhafte Interesse an der würdigen Herausgabe des
nationalen Werkes kräftig zu bethätigen. Professor I)r. Franz Buchenau in
Bremen trat für die Sichtung und Bearbeitung der botanischen Ausbeute
ein. Otto Finsch in Bremen übernahm gleich nach der Rückkehr der
Erpedition die Sorge für die bei weitem umfangreicheren zoologischen Samm¬
lungen, sowie später für die Hauptredaction des wissenschaftlichen Theils, zu
dessen Herausgabe er auch den ersten Anstoß gab, und die er durch seine Er¬
sahrungen und unermüdliche Thätigkeit wesentlich fördern half. Die wissen-
schaftliche Verwerthung der zoologischen und mineralogischen Sammlungen ist
der ausgezeichneten Vermittelung des Professors Dr. Ferdinand von Hoch«
Steller in Wien zu danken. Endlich gebührt auch der Verlagshandlung
F. A. Brockhaus in Leipzig das Lob, daß sie mit Eifer und Sorgfalt die
mit so vielen Schwierigkeiten verknüpfte Herstellung des wissenschaftlichen
Theiles geleitet und in trefflicher Weise ausgeführt hat. Durch eine so rühm¬
liche Anstrengung aller Betheiligten ist es möglich geworden, diese Forschungen
kühner deutscher Seefahrer und Gelehrten der ganzen gebildeten Menschheit
auf eine unbegrenzte Reihe von Geschlechtern zu überliefern; Forschungen, die
gemacht wurden unter den denkbar größten Entbehrungen und Entsagungen,
häufig mit äußerster Lebensgefahr für die Beobachter und ihre Begleiter,
immer mit Anspannung aller geistigen und körperlichen Kräfte. Und darum
dürfen Alle, Laien und Gelehrte, mit gerechtem nationalem Stolze dieses Buch
begrüßen und zur Hand nehmen.
Der Berein für die deutsche Nordpolfahrt in Bremen und Alle, die an dem
Zustandekommen dieses Werkes mit geholfen, haben mit demselben aber wie ge¬
sagt auch einen in der Absatzstatistik gelehrter Bücherproduction seltenen Erfolg
erzielt. Wenige Tage nach der ersten öffentlichen Anzeige des Werkes war
die sehr starke Auflage bereits vergriffen. Dieser außergewöhnliche Erfolg
ist sicherlich nicht blos ein sueess ä'estiwe im theatralischen Sinne des Wor¬
tes, sondern die Anerkennung der eminenten wissenschaftlichen Bedeutung die¬
ses Buches. Auch nur eine gedrängte Uebersicht der neuen Arten und Ty¬
pen, welche die zweite deutsche Nordpolfahrt der Botanik und Zoologte zu¬
führte, eine kurze Aufzählung der neuen Ergebnisse ihrer Forschungen auf
den genannten beiden Gebieten, würde nur in einer Fachzeitschrift einiger¬
maßen auf den gebührenden Raum rechnen können. Es genüge daher zur
Orientirung unsrer Leser über die bloße Quantität der Ausbeute das
Folgende.
Im Jahre 1822 wurden von Scoresby 37 Gefäß- und 5 Zellenpflanzen
aus Ostgrönland mitgebracht, während Sabine, der die Clavering'sche Expe¬
dition begleitete, 1823 in denselben Gegenden 67 Gefäßpflanzen sammelte.
Seit dieser Zeit belief sich die Zahl der genauer bekannten Gefäßpflanzen
Ostgrönlands auf etwa 61 Arten, 26 Arten gehörten der Sabineinsel an.
Der zweiten deutschen Nordpolfahrt blieb es vorbehalten, fast ein halbes Jahr¬
hundert später 89 Arten von Gefäßpflanzen (darunter zwei zweifelhafte) heim¬
zubringen, so daß die Zahl der aus dem arktischen Grönland bekannten
Pflanzen nunmehr, abgesehen von den zweifelhaften Formen, auf 96 Arten
gewachsen ist. Selbstverständlich ist damit die Flora Ostgrönlands keineswegs
auch nur annähernd erschöpfend erforscht. Wenn man sich die Schwierigkeiten
vergegenwärtigt, mit welchen alle wissenschaftlichen Untersuchungen in den un-
wirthlichen Polargegenden zu kämpfen haben, wenn man sich erinnert, wie
z. B. unsere Kunde über die Flora von Spitzbergen Schritt für Schritt durch jede
Expedition um einige Arten bereichert worden ist, so wird man die Ueberzeugung
gewinnen, daß in Ostgrönland noch viele Gewächse vorkommen, deren Auf¬
findung späteren Reisenden vorbehalten ist. Namentlich gilt dies von Moosen,
Flechten und sonstigen Zellenpflanzen, sowie von den Gräsern und Halbgrä¬
sern. Die bedeutendsten Entdeckungen dürfte das nur flüchtig besuchte Innere
des Landes versprechen, welches ungleich reicher und fruchtbarer zu sein scheint,
als die stets von Eis umlagerten Küstengegenden. Indeß besteht der wissen¬
schaftliche Gewinn, welchen die bedeutenden Sammlungen der deutschen Nord¬
polexpedition lieferten, nicht allein in der Vermehrung der Zahl der aus Ost¬
grönland bekannten Pflanzenformen. Das mitgebrachte Material ermöglicht
vielmehr außerdem theils eine bessere Kenntniß mancher Arten, theils liefert
es treffliche Belege zu den unmittelbarer Anschauung entsprungenen, lebens¬
frischen Schilderungen des Dr. Adolf Panhas in Kiel über die Vegetations¬
verhältnisse Grönlands, mit denen der botanische Theil des vorliegenden
Werkes eingeleitet wird. So bedeutend nun diese wissenschaftliche Ausbeute
ist, so hat doch nur ein seltsamer Unstern gehindert, daß sie noch bedeu¬
tend größer geworden ist. Dr. Panhas hatte bald nach Ankunft an der grön¬
ländischen Küste das Unglück, sich gefährlich zu verwunden, und war dadurch
lange Zeit am Sammeln und Einlegen vollständig verhindert. Und daß die
armen Hansamänner nach dem Untergang ihres guten Schiffes nicht eher
Gelegenheit hatten zum Forschen, als bis sie, von ihrer Eisscholle erlöst, in
die wirthlicheren und bekannteren Breiten Südgrönlands kamen, hat schon
unser früherer Artikel über die zweite deutsche Nordpolfahrt geschildert. Ka¬
pitän Hegemann hat noch aus der Gegend von Julianshaab eine Amarna
(Blätterschwamm) mitgebracht.
Auch die reiche zoologische Ausbeute der Hansamänner ruht in der Tiefe
des Eismeers, nur die zoologischen Tagebücher des kenntnißreichen Dr. Buch¬
holz konnten gerettet werden; und der Unfall, der Dr. Panhas traf, hat auch
die zoologische Forschung der Männer von der Germania vom 6. August
bis Mitte October 1869, d. h. während der besten Zeit, die von diesem Jahr
noch übrig war, wesentlich beeinträchtigt. Und das Jahr 1870 gestaltete sich
für Sammelzwecke weniger günstig, weil die Vorarbeiten zu den großen
Schlittenreisen ins Innere viel Zeit erforderten, und weil die Germania selbst
großentheils auf weiteren Entdeckungsreisen unterwegs war. Gleichwohl hat
das glücklich Heimgebrachte alle Erwartungen übertroffen. 218 Thierarten,
darunter 13 neue, konnten bestimmt und somit Ostgrönland als ein zoolo¬
gisch bekanntes Gebiet eingetragen werden, mit dem der Name seines Er¬
forschers Dr. Panhas für immer ehrenvoll verbunden bleibt. Nicht minder
wichtig gestalteten sich in Bezug auf das mikroskopische Leben der nördlichen
Polarzone die dankenswerthen Tiefseelothungen, welche Kapitän Koldewey
ausführte: 240 terrestrische und oceanische Formen, darunter nicht weniger
als 36 neue, wurden der Wissenschaft gesichert.
Daß dieses gewaltige Material in der liebevollsten verständnißreichsten
Weise gesichtet, dargelegt und erläutert ist, bedarf kaum der Versicherung.
Ein künstlerisches Wohlbehagen, eine fast kindliche Freude bewegt diese ernsten
Männer der Wissenschaft, wenn sie z. B. aus zwei zugelötheten Blechbüchsen,
in denen die ganze Ausbeute an Pilzen in Spiritus vereinigt war, fünf Gat¬
tungen auseinander wirren; oder wenn sie nach der mühseligsten Abzählung
und Messung der Jahresringe aller aufgefundenen Treibhölzer mit fester Hand
das Mutterland der treibenden Stämme und Wurzeln in den hohen Norden
verweisen können und damit der Ansicht der deutschen Geographen die Be¬
stätigung gewinnen, daß das arktische Treibholz überhaupt ein nordisches
und ein Produkt des Polarstromes sei; oder wenn aus den Messungen und
der Form des Eskimoschädels das Resultat gewonnen wird, daß in den Polar«
lcindern der Eskimo der ganz isolirte und durch die specifischen Einflüsse der ark¬
tischen Region bedingte Vertreter der menschlichen Gattung sei u. s. w. Am
farbenreichsten und lebendigsten inmitten der ansprechenden wissenschaftlichen Un¬
tersuchungen dieses Landes ist uns aber die bereits erwähnte Abhandlung des
Dr. Panhas über das Klima und Pflanzenleben auf Ostgrönland erschienen, die
übrigens bereits in die vom Verfasser herausgegebene Broschüre „ Die zweite deutsche
Nordpolarexpeditton 1869—70" (Berlin, Dietrich Reimer 1871) aufgenommen
war; und da in dieser Abhandlung die beiden Gebiete der Naturwissenschaften, von
denen der vorliegende Band handelt, Botanik und Zoologie, gleiche Berücksich¬
tigung erfahren haben, so theilen wir nachstehend einige Proben daraus mit.
Man ist von vornherein allzu leicht geneigt, sagt Adolf Panhas, sich die
arktischen Länder den ganzen Sommer hindurch unter einer Schneedecke be¬
graben zu denken; man hat die Borstellung, als ob aus diesem weißen Einerlei
nur hier und da eine schroffe, glatte Felswand oder Zacke hervorrage, oder,
durch günstige Verhältnisse hervorgerufen, im Hochsommer einzelne schneefreie
Flecken einer kümmerlichen Vegetation Raum bieten. Diese Vorstellung ist
durch die Erfahrung aus andern arktischen Gegenden einigermaßen gerecht¬
fertigt. Auch wir hatten solche Vorstellungen an die ostgrönlän¬
dische Küste mitgebracht, um so mehr, da ein ewiger Eisstrom, und dazu
noch ein Strom kalten Wassers die Küste bestreicht. Und was' fanden wir?
Ein vollständig schneefreies Land und zwar nicht nur im Hochsommer,
sondern während voller drei Monate; ich sage schneefreies Land, denn Anhäu-
fungen von vereisten Schnee und Eis bleiben selbstverständlich an Hängen
und Schluchten stets vorhanden. Panhas untersucht nun eingehend, wie es
möglich ist, schon im Juni einen schneefreien Boden zu schaffen und zu be¬
wahren. Er erklärt den Hergang damit, daß aller Schnee in jener Gegend
in Begleitung heftiger Stürme fällt, die fast stets aus Norden wehen. Dieser
Schnee sammelt sich aber nur an besonders sturmfreien Stellen, während der
Sturm selbst den Boden rein fegt, ja noch eine beträchtliche Menge Erde,
Sand und Steine von dem gefrorenen Boden hinaus durch die Luft fort¬
trägt. So ist das Land durchschnittlich nur mit einer ein- bis dreizölligen
Schneedecke bedeckt. Daneben natürlich ganz freie Stellen und sehr tiefe
Schneewehen. So wie nun im Frühjahr der Schnee von unsern Dächern
schmilzt und diese selbst von den Sonnenstrahlen erwärmt werden, lange
bevor die Temperatur der Luft entsprechend wärmer wird, so geschieht es in
jenem Gebirgslande in noch höherem Maße. Durch die meist klare und
trockene Luft begünstigt, schwindet die allgemeine Schneedecke schon im April,
und nun geht, kaum durch einen Schneefall unterbrochen, die Aufnahme der
Wärme, welche die jetzt nicht mehr untergehende Sonne ausstrahlt, in den
dunkeln felsigen Boden in höchst überraschender Weise vor sich. Von Ende
Mai an zeigt der Boden bereits in der Tiefe einiger Centimeter eine Tem¬
peratur von mehreren Graden. In unsern Gegenden kühlt sich der Boden
allnächtlich ab, die Steine sind Nachts merklich kalt, der Thau schlägt sich
nieder: in jenen arktischen Breiten ist ^die Abkühlung der Nacht nur gering,
der Thau dem Eskimo fast so unbekannt wie dem Tropenbewohner der Schnee.
Der Boden thaut nun von seinem winterlichen Eise auf 1—1^/2 Fuß
Tiefe auf und besitzt die erforderliche Wärme, um die Wurzeln der vorhan¬
denen Pflanzen energisch zu treiben. Die Erwärmung des Bodens ist so be¬
deutend, daß die Lust bei Tage überall in zitternder, wallender Bewegung ist,
so daß trigonometrische Messungen nur bei Nacht vorgenommen werden können,
und die Spitzen der höchsten Berge zuweilen als Zerrbilder erscheinen. Dazu
kommt nun die Wärme der allseitig leuchtenden, nie untergehenden Sonne,
die auch den überirdischen Theilen der Pflanzen zu Gute kommt, und nament¬
lich die höchsten Gipfel der Berge auch dann bestrahlt, wenn das Tiefland
einmal in Nebel oder Wolken liegen sollte. So ergiebt sich denn in Grön¬
land kaum eine Höhengrenze für den Pflanzenwuchs. Selbst auf einer Höhe
von 7000 Fuß fanden sich außer schönen Flechten noch dicke Polster eines
mehrere Zoll langen Mooses wachsen. Es herrscht in dem ganzen Wirken
und Walten des arktischen Sommers sowie jedes einzelnen Sommertages eine
durchgehende Verschiedenheit von demjenigen, den man aus den Eisregionen
der Alpen kennt. Dort in den Alpen ist Tag für Tag ein Wechsel zwischen
Kälte und Hitze, Dunkelheit und Helligkeit, Winter und Sommer. Hier im
Norden gibt es keinen Kreislauf von 24 Stunden: der Tag zerfällt nicht in
Licht und Dunkelheit, Wärme und Kälte, sondern jeder dieser Gegensätze hat
seine Herrschaft über einen ganzen Iahresthcil; sie treten nicht mit Sieges¬
bewußtsein und schnellen Erfolgen auf, aber sie nutzen alle vorhandenen Vor¬
theile reichlich aus. So gedeiht in dieser langsam beginnenden, stetig zu¬
nehmenden, ausdauernden und zuweilen sehr fühlbaren Sommerwärme Ost¬
grönlands ein intensiver stattlicher Pflanzenwuchs, dem auch die andere Haupt¬
bedingung aller Vegetation, die Feuchtigkeit in ganz ungewöhnlichem Maße
zu Theil wird. Denn da der Boden etwa in der Tiefe von anderthalb Fuß
von der Erdoberfläche gefroren bleibt, so kann er die Feuchtigkeit des ge¬
schmolzenen Schneewassers nicht aufnehmen, sondern dieses ist genöthigt sich
seinen Abfluß bergab zu suchen. Hierdurch wird nun allen auf den Abhängen
wachsenden Pflanzen der größte Dienst geleistet, da der gesammte Hang durch
das abfließende Wasser fußtief in einen lettartigen fetten Schlick verwandelt
wird, in welchem der Fußwanderer bis zum Knie versinkt und die Pflanzen¬
wurzel kräftig Nahrung und Verbreitung gewinnt.
Bedeutend höher aber als die Pflanzenwelt der Küste, steht die Vegeta¬
tion des mit intensiverer Sonnenwärme bedachten Festlandes. Da sieht man
große gleichmäßig grüne Flächen, auf denen Heerden von Rennthieren und
Ochsen weiden, nicht nur am Fuße der Berge, sondern auch an den Ge¬
hängen derselben bis über 1000 Fuß hoch hinauf. Da findet man an man¬
chen Stellen den dichtesten schönsten Rasen, den wie bei uns die gelben Köpfe
des Löwenzahns zieren; da erreichen die Halme mit dichten Aehren besetzt die
Höhe von 1- 2 Fuß; da stellt sich neben der ^.näromeäa die Heidelbeere ein,
und überzieht wie auf unsern moorigen Haiden große Strecken des Bodens,
w den feuchten Klüften der Felsen gedeiht das zierliche Farrnkraut, breiten
sich die säuerlichen Blätter des Ampfers zu seltener Größe aus; an den son¬
nigen Halden nickt auf hohem Stengel die tiefblaue eg,mptmu1a, entzückt uns
die zarte, immer grüne ?>rv1lo mit den marmorweißen Blüthen. Im Schutt¬
geröll der Bäche und des Strandes entfaltet das DzMbium seine großen
Blüthen, die mit ihrem prachtvoll glänzenden Roth von weither selbst den
Gleichgültigsten locken. Und zwischen den ödesten Felsen hat sich das merk¬
würdige ?o1emomum in großen Mengen angesiedelt und erhebt aus dem
stark duftenden, feingefiederten Blätterkreise die dichten Büschel der großen,
rein hellblauen' Blumen. Wie Fremdlinge erscheinen diese so ganz heimisch
gekleideten Pflanzen in der arktischen Natur. Und dort jene eigenthümliche
Färbung des Berghanges, sie wird, wie wir zu unserm Erstaunen finden,
von kleinem aber kräftigem Birkengestrüpp gebildet, das, obgleich es jedes
Jahr nur wenig zunimmt, sich dennoch hier wohl zu fühlen scheint, denn es
hat Blüthen und Früchte gereift. Daneben stehen Heidelbeerbüsche mit reifen,
ausnehmend süßen Früchten, die mit kindlicher Freude gepflückt und genossen
werden und endlich triumphirt der Botaniker über den Fund einiger schönen
leider schon abgeblühten Alpenrosen. Dieses Rhododendron versetzt ihn ganz
in die Alpen zurück; er glaubt im Geiste schon das Geläut der Kühe und
das Jodeln der Sennen zu hören. So also vermag in Ostgronland die
Pflanzenwelt, die im Winter durch den nöthigen Schnee gegen den grausigen
Frost geschützt ist, in dem kurzen Sommer durch das stetig und intensiv wir¬
kende Licht, durch von unten und oben treibende Wärme sich zu ungewohnter
Schönheit zu entfalten, sie vermag jährlich Blüthe und Frucht zu reifen.
Bei solchem reichen Pflanzenleben konnten wir auch mit Recht die Ge¬
genwart mancher pflanzenfressenden Thiere vermuthen, und zwar sicher des
Rennthiers und des rein weißen Polarhasen, die überall den eisigen Norden
bevölkern. Aus den weiten reichen Weiden des Festlandes fanden wir große
Heerden dieses prachtvollen Hochwildes weiden, ungestört und ungeschreckt bei
der Annäherung des mordlustigen Menschen. Aber es war noch ein anderes
ebenso wichtiges und interessantes Heerdenthier, das uns dort begegnete und
dessen Entdeckung in Ostgrönland seltsamer Weise unserer Expedition vorbe¬
halten war. Es ist das der arktische Ochse, jener von der Franklin-Expedi-
tion her bekannte Moschusochse mit seiner niedrigen Gestalt, den langen
dunklen Haaren und den am Grunde kolossal dicken und schweren Hörnern.
Auch dieses seltsame Thier lebt in Heerden dort, scharrt sich im Winter das
Futter unter der dünnen Schneedecke hervor und bietet, wie das Rennthier
und der Hase, dem Menschen eine ausgezeichnete und gesunde Nahrung. Auch
kleinere Thiere leben von Pflanzen: der kleine graue Lemming gräbt den fei¬
nen Wurzeln nach, und unter den Vögeln sahen wir die Gänse auf den
Wiesen weiden und die reizenden Schneehühner von den jungen Schößlingen
der Weiden sich nähren. Aber wie in der ganzen Natur, so haben auch hier
die Thiere ihre besondern Feinde. Das zwischen den Steinen wohnende Her¬
melin und der überall sich umhertreibende Fuchs stellen ihnen auf dem Lande
ebenso nach, wie aus hoher Luft herab die Eule und der Falke. Aber dessen unge¬
achtet zwitschert und singt die Schneeammer ihr frohes Lied schon im ersten noch
bitterkalten Frühjahr, flöten die Regenpfeifer 'und Strandläufer in den
Niederungen des Strandes und stellen den kleinen Larven, Mücken und
Fliegen nach, die auch dort ihr stilles Leben fristen.
Eine reichere Nahrungsquelle für Vögel und Säugethiere bietet nun
freilich das Meer. In den Wiesen der Tange am flachen Strande, in den
Wäldern der riesigen Laminaria treiben Millionen von Krebsthierchen ihr We¬
sen und durch die jahraus jahrein gleiche Temperatur des Wassers begünstigt,
erreichen sie eine ungewöhnliche Größe. An den Steinen und am Boden des
Grundes leben Muscheln und Schnecken es sind theilweise dieselben wie
in unserer Ostsee, aber sie zeigen meist kräftigeren Bau. Und diese Krebsthiere
nebst einigen kleinen Fischteichen dienen dem Heere der Wasservögel zur Nah-
rung, den Eidergänsen, den Möven und Tauchern, der Seeschwalbe und an¬
dern. An den hohen Klippen nistend, kreisen diese Vögel unruhig und
schreiend Tag und Nacht in der Luft, oder tummeln sich auf dem stillen
Wasser umher. Auch sie haben ihre Jungen zu vertheidigen gegen die ge¬
nannten Raubvögel, deren Zahl noch durch die große Möve und namentlich
den schwarzen Raben vermehrt wird. Aber so angenehm das Fleisch und die
Eier, die Felle und Federn dieser Vierfüßler und Vögel dem europäischen
Eindringling sind, ihr Nutzen für die Einwohner ist verschwindend gegenüber
dem, den das Walroß und der Seehund gewährt. Es sind dieses die wich¬
tigsten Thiere aller Eisküsten; auf dem Dasein und der Ausnutzung derselben
basirt eigentlich das ganze Leben der dortigen Eskimos. Doch auch sie
haben keinen ungestörten Genuß ihrer Jagd: das mächtigste Raubthier, der
Eisbär, erhebt dieselben Ansprüche an Seehunde, Walrosse und Rennthiere
und zwischen der Kraft und Schlauheit des Thieres und der Intelligenz des
ärmsten Menschen entsteht der wunderbarste Wettstreit und Krieg.
Sie wünschen wieder einmal für Ihre „Grünen" von mir etwas über
sächsische Zustände zu haben. Es ist wahr, ich habe lange nichts von mir
hören lassen. Meine letzten Betrachtungen über sächsische Zustände, denen Sie
so freundlich waren die Spalten Ihres Blattes zu öffnen, müssen, erinnere ich
mich recht, noch von vor dem Landtag, wo nicht gar von vor den Wahlen
datiren. Seitdem ist Vieles geschehen, obschon eigentlich nicht Viel. Im
Ganzen genommen ist, was >die politischen Zustände Sachsens anbelangt,
Alles so ziemlich beim Alten.
Zwar ist ein Thronwechsel inzwischen eingetreten. Sachsen hat einen König
verloren, der durch viele treffliche Züge des Menschen und des Monarchen
verehrungswürdig war, der im Hause und auf dem Throne Schweres erlitten
und in das Eine wie in das Andre mit christlicher Geduld und fürstlicher
Würde sich gefügt hatte, und es hat einen König erhalten, durch glänzende Thaten
hervorragend, den echten Enkel des Ahnherrn der albertinischen Linie, dessen Namen
er trägt, jenes berühmten „Marschalls und gewaltigen Bannerträgers" des Reichs
unter Friedrich III., einen Fürsten in voller Manneskraft, von frisch entschlossenem
vertrauenerweckenden Wesen, vielleicht weniger gelehrt als sein Vater, aber
von scharfem Geist und praktischem Verstände. Aber wird dieser Thron¬
wechsel auch einen Systemwechsel bedeuten? Wer mag dies sagen? Ein jäher
Bruch mit den Traditionen einer früheren Regierung liegt nicht in der Art
des sächsischen Fürstenstammes. Zu raschen und überraschenden Wendungen
in der Politik ist der neue Monarch zu männlich reif; zu ostentativem Haschen
nach Neuem zu nüchtern verständig, Taxire ich ihn recht, so wird er, wie
ein guter Feldherr, erst sein Terrain, die öffentliche Meinung des Landes,
sorgsam studiren, seine Leute erproben, dann seine Dispositionen in Ruhe
treffen, einen festen Plan entwerfen und diesen dann mit sicherem Blick aus¬
führen, vor der Hand aber noch ein Weilchen die Dinge und die Menschen
gehen lassen, wie sie gehen. Aus dem, was er während der kurzen Zeit
seines Regimentes gethan oder nicht gethan, vollends was er'nach einer oder
andern Seite hin gesprochen hat, übereilte Schlüsse auf seine innersten Ge-
danken oder auf den künftigen Gang seiner Regierung zu ziehen, scheint
mir, zumal bei des Königs offener Art sich zu geben, voreilig. Am vor¬
eiligsten sicherlich sind jene mißgünstigen Gerüchte in Bezug auf seine Stel¬
lung zum Reich, die bald nach seiner Thronbesteigung; man wußte nicht
recht woher, noch weniger warum, auftauchten, dann verstummten, dann
wieder auftauchten. Es ist wahr, in gewissen officiösen Blättern, mehr noch
in solchen, die ihre Eingebungen vielfach aus Beamten- und Hofkreisen em¬
pfangen und immer genaues zu wissen vorgeben, wie der Wind von oben
weht, haben neuerdings die Nörgeleien gegen das Reich und gegen die ent¬
schiedenen Freunde des Reichs in auffallender Weise wieder begonnen, nach¬
dem sie eine Zeitlang so ziemlich verstummt waren; selbst das unter den
Augen der Regierung erscheinende Dresdener Journal trieb bei Gelegenheit
der Reise des österreichischen Kaisers nach Petersburg einmal ein sonderbares
Spiel, als wollte es Unkraut unter den Weizen säen und Deutschland mit
seinen beiden großen östlichen Nachbarn verfeinden. Aber ich glaube nicht,
daß man daraus etwas anderes folgern darf, als was man längst schon
wußte: daß die offiziöse Presse Sachsens sich in einem Zustande der Anarchie
befindet, der wohl ohne Beispiel ist, und daß neben dem Ministerium es
Einflüsse giebt, denen zu gebieten dieses entweder nicht die Macht oder nicht
den ernsten Willen hat, obschon sie theilweise den eigenen Ressorts der Minister
entstammen. Dies und manches Andere gehört nun einmal — nicht sowohl
zu dem System als zu der Systemlosigkeit der Politik des dermaligen sächsi¬
schen Ministeriums.
Letzteres hat seinen diesmaligen Winterfeldzug nicht gerade glänzend be¬
standen. Und doch lagen die Verhältnisse scheinbar dem Ministerium so
günstig wie nur je. Die Intrigue mit dem viviös ot iwxsra, welche die
Leipziger Zeitung vor den Neuwahlen in Scene gehen ließ, hatte glücklich
verfangen; Dank der Eifersucht dieses, den geheimen partieularistischen Nei¬
gungen jenes Führers der Fortschrittspartei hatte letztere wirklich auf den ihr
vorgehaltenen Köder angebissen und sich von den National-Liberalen, mit
denen sie zwei Jahre lang untrennbar und fast ununterscheidbar Hand in
Hand gegangen war, in ziemlich schroffer Weise getrennt. Schon die Wahlen
hatten unter dieser Spaltung der liberalen Partei gelitten und waren etwas
mehr nach rechts ausgefallen, als sonst wohl der Fall gewesen wäre. Die
Liberalen behielten eine schwache Mehrheit in der II. Kammer, aber sie ge¬
wannen kein oder nur wenig neues Terrain. Und auch dieser kleine Vor¬
theil ging wieder so ziemlich verloren, als in der Kammer der Fortschritt abermals
eine Sonderstellung einnahm, die er den ganzen Landtag hindurch, mit entschiedener,
fast beleidigender Abweisung aller entgegenkommenden Annäherungsversuche
von der andern Seite, hartnäckig festhielt. So weit ging diese Sonderpolitik
der Fortschrittspartei, daß, während die Liberalen, um nur nicht der Rechten das
Feld zu lassen, mit größter Selbstlosigkeit bei der Präsidentenwahl zwei Mit-
glieder vom Fortschritt in erste Linie stellten, von eignen Candidaten aber
gänzlich absahen, bei den Wahlen in die Deputationen der Fortschritt mit
den Conservativen gegen sie Front machte, auf diese Weise die Deputationen
besonders die diesmal wichtigste von allen, die Finanzdeputation überwie¬
gend mit Leuten von sich und von der Rechten besetzte, die Liberalen aber,
und speziell die National-Liberalen, gänzlich in den Hintergrund drängte!
Namentlich die einseitige Besetzung der Finanzdeputation war für die
liberale Sache ein schwerer Nachtheil, für die Regierung eine große und un¬
erwartete Begünstigung. Denn in der Finanzdeputation lag der Haupt¬
schwerpunkt des ganzen Landtags von 1873/74. Konnte man den vorher¬
gehenden Landtag wegen seiner rührigen Gesetzgebungsarbeit den „Reform-
Landtag" nennen, so hatte die öffentliche Stimme nicht Unrecht, wenn sie diesen
neuesten, den „Bewilligung^-Landtag" taufte. Gesetzesvorlagen brachte der¬
selbe überhaupt wenige, noch weniger solche von tiefergreifender Bedeutung.
Dawider war nichts zu. sagen. Der vorige Landtag hatte so viel und so
vielseitig reformirt, daß mit der Ein- und Durchführung der betreffenden
Gesetze, dem Sichhineinleben und Sichdarangewöhnen, Regierung. Behörde
und Bevölkerung auf lange hin genug zu thun haben. Wohl aus eben dieser
Rücksicht, vielleicht auch, weil sie wegen der unsichern Stellung der Fort¬
schrittspartei auf keine zuverlässige Mehrheit rechnen mochten, enthielten sich
die Liberalen diesmal beinahe aller Initiativanträge. So war und blieb die
Weitaus — quantitativ und qualitativ — wichtigste Arbeit des Landtags die
finanzielle. Denn auch das einzige Gesetz von großer reformatorischer Tragweite,
womit der Landtag befaßt wurde, war finanzieller Natur, das Gesetz wegen einer
Umgestaltung des ganzen dermaligen Besteuerungswesens in Sachsen. Die
Hauptsache war das Budget — ein Budget, das in seinem ordentlichen, wie
in seinem außerordentlichen Theil zu einer bisher ungewohnten Höhe heran¬
geschwollen sich zeigte, dort namentlich durch die abermalige, diesmal sehr
bedeutende Steigerung sämmtlicher Beamtengehalte.
Ueber die Resultate der zur Zeit nicht abgeschlossenen, vielmehr in die
Nachtragssttzung des Landtags (nach dem Reichstag) hinüberreichende Budgets¬
berathungen, ist ein Urtheil schon aus diesem letzten Grunde noch nicht wohl mög¬
lich. Nur so viel kann und muß schon jetzt gesagt werden, daß niemals mehr
als hier das Unpraktische, ja Gefährliche der in Sachsen noch immer mit einer
Zähigkeit, die einer besseren Sache werth wäre, festgehaltenen Praxis sich
herausgestellt hat, der Praxis, das ganze Budget mit Stumpf und Stiel,
ohne eine vorausgehende, selbst nur allgemeine Debatte im Plenum, sofort in
eine Deputation zur Vorberathung zu verweisen und erst auf Grund dieser
Vorberathung zur Beschlußfassung in die Kammer selbst zu bringen. Damit
fällt natürlich das ganze Schwergewicht, nicht allein die Berathung, sondern
auch der Beschlußfassung, in die Deputation. Das geflügelte Wort, welches
Herr v. Beust, als er noch in Sachsen allmächtiger Minister war, einstmals
sprach: „Gegen die Finanzdeputation der II. Kammer kämpfen Götter selbst ver¬
gebens" hat noch heute seine verhängnißvolle Wahrheit.
Doppelt verhängnißvoll, wenn, wie diesmal, sogleich bei der Wahl der
Deputation ängstlich darauf Bedacht genommen wird, daß man in dem schon
seit lange her gewohnten vertrauten Kreise von Elementen möglichst „unter sich"
bliebe, unbequeme Zudringlinge aber, besonders solche, die über ein gewisses
Niveau traditioneller sächsischer Finanz- und Verwaltungsweisheit hinaus-
streben, consequent sich vom Leibe halte. Gegen Bewerber der letzteren Art
wurde diesmal von Fortschrittspartei und Conservativen ein förmlicher Ostra-
cismus geübt. Weder der, seiner Ansicht nach entschieden fortschrittliche, aber
dem Separatismus der Fortschrittspartei abholde Abg. Ludwig, noch der allerdings
streng nationale Krause fanden Gnade vor den Augen jener Coalition; lieber
schob man ein paar völlige Neulinge in diesem Fache in die Deputation
ein, übersättigte letztere mit bäuerlichen Elementen, wie sie in der Fort¬
schrittspartei und bei den Conservativen überwiegen, stellte dagegen die größern
Industriellen, weil sie sich mehr auf nationalliberaler Seite befinden, mög¬
lichst zurück. Da nun überdies zwei der bedeutendsten und erfahrensten von
den bisherigen Mitgliedern der Finanzdeputation, Jordan und Fahnauer, frei¬
willig ihre Wiederwahl deprecirten, so kam es dahin, daß über den wichtigsten
Theil des Budgets theils KowiuöL novi, theils solche zu berichten hatten,
deren Berufs- und Lebensstellung, also auch ihr Bildungs- und Gesichtskreis
zu den Gegenständen, die sie^ sachkundig begutachten sollten, in einem nahezu
komischen Mißvechciltniß stand.
Von hohen und weiten Gesichtspunkten, unter denen die Deputation das
Budget nach verschiedenen Seiten hin behandelt, von durchgreifenden Verwal¬
tungsgrundsätzen, die sie als Maßstab der Controle, der Beantragung von
finanziellen Erleichterungen, oder administrativen Verbesserungen angelegt hätte,
war unter diesen Umständen natürlich nicht die Rede. Der Regierung ward
es leicht, ,ihre Forderungen durchzusetzen, Ausstellungen gegen einzelne Punkte
der Verwaltung zu pariren. Das unter dem Beust'schen Regime so beliebte
und gewissermaßen herkömmlich gewordene System der persönlichen Verstän¬
digung mit den Ministern „hinter den Coulissen" fand diesmal wieder eine
besonders eifrige Handhabung von Landtag zu Landtag in dem langjährigen
Vorstande der Finanzdeputation, Herrn Oehmichen, einem Abgeordneten, der
in 2Sjähriger parlamentarischer Thätigkeit die merkwürdigste Spirale durch¬
laufen hat: von entschieden fortschrittlicher und zugleich nationaler Gesinnung
zu einem etwas abgedämpften Liberalismus, allmälig zum Conservatismus
und Particularismus, zuletzt zum vollständigsten Beustianismus, dann wieder
rückwärts zum Fortschritt, dem aber von jenen Zwischenstadien allerhand be¬
denkliche Spuren wie ein vaturs-in turca tzxxsllus anhaften.
So günstig lagen die Verhältnisse für das Ministerium! Die Liberalen
in sich gespalten, ein Theil davon, die Fortschrittspartet, von Haus aus
wenig geneigt zu einer entschiedenen Opposition, schon aus Rancune gegen
die nationalen, aus deren Kosten sie sich in der Presse von den Offiziösen
loben, in der Kammer von der Regierung und Conservativen suchen ließ;
eine allzeit getreue Rechte, die mit dem in der Regel ihr gutwillig folgenden
Centrum zusammen über eine der Mehrheit wenigstens nahekommende
Stimmenzahl in der Kammer gebot; Deputationen, die, besonders die wich¬
tigeren, überwiegend regierungsfreundlich oder doch lenkbar zusammengesetzt
waren: was konnte das Ministerium sich Besseres wünschen?
Und dennoch hat dasselbe Niederlage auf Niederlage erlitten, darunter
mehrere so eclatante, daß die ganze Abnormität des zur Zeit hier noch Herr-
schenden Quasiconstitutionalismus dazu gehört, wenn Minister, so geschlagen,
nicht blos ruhig, als wäre nichts geschehen, auf ihren Posten bleiben, sondern
Wohl gar in der nächsten Sitzung wieder mit dem ganzen Gefühl ministerieller
Unfehlbarkeit. tanMiam rs dens M8ta, der Kammer gegenübertreten.
Der erste Fall dieser Art war die Berathung und Beschlußfassung über
den famosen § 92 der Verfassung, jenes bekannte „Unicum", mit dessen
Hülfe das Schulgesetz von v. Gerber's und Erdmcmnsdorff's Gnaden gegen
eine Majorität der Volkskammer publicirt worden war. Hier war es
allerdings die Fortschrittspartei, welche den ersten Angriff machte, indem sie
auf Beseitigung dieses Paragraphen und des gleichartigen § 103 (in Bezug
auf Finanzgesetze) gegenüber der Volkskammer antrug. Der Antrag ward
kräftig unterstützt von den Liberalen und besonders eingehend begründet durch
ein reiches geschichtliches und staatsrechtliches Material von dem Referenten
der III. Deputation, dem Abg. Dr. Biedermann. Das Ministerium war unklug
genug, gar keine Concession zu machen, obschon der Ministerpräsident selbst,
Freiherr v. Friesen, beim vorigen Landtage offen eingestanden hatte: wenn
es sich jetzt um Aufstellung einer Verfassung handelte, würde man diesen Pa¬
ragraphen nicht aufnehmen. Herr v. Nostiz, der Minister des Innern, warf
den nicht sehr staatsmännischen Ausruf hin: da man den Paragraphen ein¬
mal habe und da er sich praktisch erwiesen habe, so wolle man ihn nicht auf¬
geben. Diejenigen beiden Minister aber, welche durch ihre brüske Anwendung
der §§ 92 und 103 gegen die Volkskammer (die ersten Beispiele dieser Art, wie
der Bericht der Deputation nachwies) den ganzen Sturm heraufbeschworen
hatten, Herr v. Gerber und Dr. Abeken waren bei dieser Debatte gar
nicht anwesend, entzogen sich vielmehr einfach durch Wegbleiben den gerechten
Anklagen, die gegen sie geschleudert wurden, anstatt wie die parlamentarische
Sitte gefordert hätte, für das was sie gethan, einzutreten.
So schlecht bestellt war von Haus aus die Sache des Ministeriums in
dieser Frage, und so schwach ward sie vom Regierungstische aus vertheidigt'
daß in den Reihen der conservativen und ministeriellen Partei selbst ein Abfall
erfolgte, wie in einer so wichtigen prinzipiellen Frage wohl kaum jemals da¬
gewesen. Einer der namhaftesten Führer dieser Seite, Abg. Haberkorn über¬
trumpfte Liberale und Fortschrittsleute, indem er den Antrag stellte, nicht nur
jene Paragraphen gänzlich aufzuheben, sondern auch, um gegen die I. Kam¬
mer eine andere Waffe an deren Statt zu haben, das Princip des Pairs-
schubs (das der sächsischen Verfassung fehlt) einzuführen. Und dieser so viel
weiter gehende Antrag ward von der Kammer gegen eine Minorität von
noch nicht einem Dutzend Stimmen zum Beschluß erhoben, auch, als die I.
Kammer, wie natürlich, ihn verwarf, bei der anderweiten Berathung mit
etwa ebenso großer Mehrheit festgehalten!
So beispiellos diese Fahnenflucht der ministeriellen Partei war, so ward
sie doch noch überboten bei einer anderen Gelegenheit bei dem sog. Ludwig,
schen Antrage wegen Publikation des Unfehlbarkeitsdogmas. Hier fielen
nicht nur Conservative und Centrum massenweise vom Ministerium ab, son¬
dern einzelne Redner von dieser Seite kämpften gegen das Ministerium mit
so scharfen Waffen, wie kaum ein Redner von der Linken. Gleichwohl blieb
Herr v. Gerber starr bei seinem Kiön xossumus und ließ sich ruhig von der
Kammer mit allen Stimmen gegen drei amtshauptmannschaftliche abvotiren!
Warum auch nicht? In Sachsen lächelt man darüber, daß in Baiern, in
Württemberg, in Hessen (von Baden gar nicht zu reden), die Minister ent¬
weder den Kammermajoritäten sich anbequemen oder — zurücktreten, daß selbst
in Preußen allmälig ein Minister nach dem andern, der die Mehrheit der Volks¬
vertretung gegen sich hatte, weichen mußte. Hier dagegen steht das Ministerium
auf einem höheren Standpunkte „über den Parteien", doch so gern es sich
brüstet, wenn es ihm mit Hülfe selner Beamten und seines sonstigen natür¬
lichen Anhanges gelingt, in der Kammer über die Opposition obzusiegen, so
wenig fällt es ihm ein, im gegentheiligen Falle die logische Consequenz des
dort von ihm geltend gemachten Majoritätsprinzips zu ziehen.
Das sind nun zwei der eelatantesten Fälle, wo sich zeigte, daß das Mini-
sterium gar keine sichere Partei in der II. Kammer hat.
Noch bei vielen andern Gelegenheiten unterlag es entweder — trotz der
Bundesgenosienschaft eines großen Theils der Fortschrittspartei — unter der
Wucht der Gründe, welche die Liberalen ins Feld führten, und der über¬
zeugenden Beredsamkeit, womit sie dies thaten (so bei dem sogen. Jordan-
schen Antrag in Bezug auf die Behandlung des Budgets), oder es siegte,
was ebenso beschämend für dasselbe war, nur dadurch, daß gerade Diejenigen,
welche von seinen offiziösen Organen am meisten verlästert worden waren, um der
Sache willen einer Opposition entsagten, die dem Ministerium sehr gefährlich hätte
werden können, oder für Vorschläge desselben, die sie als zweckmäßig erkannten,
selbstlos nachdrücklich eintraten, wie bei der Bewilligung für die Bezirks¬
schulaufsicht. Wieder ein anderes Mal, ebenfalls in einer wichtigen Angelegen¬
heit, bei dem Budget der neuen Berwaltungsorganisation, kam es vor, daß
aus der Mitte der eigenen ministeriellen Partei sich eine Opposition erhob,
die, den Liberalen die Hand reichend, die Regierung bei der Abstimmung in
eine Minorität versetzte. Oder das Ministerium selbst gab seine mühsamsten
Elaborate von vornherein als bloßes „schätzbares Material", d. h. als Ma-
culatur, preis und acceptirte dafür die Gegenvorschläge aus der Mitte einer
Deputation, wie beim Steuerreformgesetz, wo nun schon der dritte Entwurf
vom Ministerium vorgelegt und entweder wieder zurückgezogen oder verworfen
ward: in der That kein Anzeichen besonderer legislatorischer Potenz. Oder end¬
lich—wie in der vielberufenen, namentlich in der nicht sächsischen Presse lebhaft
besprochenen Frage wegen Befragung der Stände in Sachen der Reichseom-
Petenz — das Ministerium mußte sich herbeilassen, Erklärungen abzugeben,
wie die Opposition sie verlangte, und dadurch seine eigene frühere Haltung
zu desavouiren.
Habe ich Recht, wenn ich sagte, daß das gegenwärtige sächsische Mini¬
sterium keine Partei hat? Und warum hat es keine? Weil es kein festes
System hat. bald eine liberalisirende, bald eine conservative Seite herauskehrt,
oder auch beide zu gleicher Zeit, die eine in dem einen, die andere in dem
anderen Ressort, die eine bei dieser, die andere bei jener Gesetzgebungs- der
Verwaltungsmaßregel.
So ist es in der inneren, so auch in der Reichspolitik des gegenwärtigen
Ministeriums. Es hat weder den Muth, so recht entschieden national zu sein,
denn es fürchtet sich vor den Vorwürfen der Particularisten in beiden Kam¬
mern und vor den Intriguen einer wenigstens bis vor Kurzem mächtigen
Camarilla — noch aber auch den entgegengesetzten, denn vielleicht noch grö¬
ßere Angst empfindet es vor einem Conflikt mit den Reichsgewalten, vor
einer Anklage seiner Politik im Reichstage oder auch nur in der außersäch-
fischen, besonders der preußischen nationalen Presse. So lavirt es hin und
her, verspricht hier und beschwichtigt dort, läßt in Berlin sich willig finden
und thut in Dresden wieder trotzig gegen Berlin. Die ganze Haltlosigkeit
und zugleich die ganze Gefahr einer so schwankenden Politik verräth sich in
dem Verfahren des Ministeriums bei der oben erwähnten Angelegenheit der
Erstreckung der Reichscomvetenz auf das Civilrecht. Das Ministerium wußte
aus den vorjährigen Verhandlungen des Landtags sehr genau, daß die erste
Kammer grundsätzlich einer solchen Erweiterung der Reichscomvetenz entgegen
war. Letztere hatte sich damals einstimmig, wenn ich nicht irre, oder doch mit
großer Mehrheit dagegen erklärt. Nichtsdestoweniger scheint Minister Abeken
in der bundesräthlichen Commission, wie wenigstens für sicher verlautet, die
Zustimmung Sachsens zu jener Erweiterung in bestimmte Aussicht gestellt zu
haben. Da ward ihm plötzlich wieder bange und er betrat den höchst gefähr¬
lichen Weg, die letzte Entscheidung in dieser Reichssache von einem Votum der
Particular-Kammern abhängig zu machen. Wie nun aber, wenn die erste
Kammer auf ihrem vorjährigen Standpunkte beharrte und ein nochmaliges
Nein spräche? Was würde dann das Ministerium gethan haben.
Die I. Kammer sprach dieses Nein nicht, weil sie, wie Graf Hohenthal
unverblümt aussprach, die Regierung nicht in Verlegenheit bringen wollte. Es
war das sehr höflich, sehr liebenswürdig, sehr loyal von der I. Kammer;
aber freilich dem Prinzip, aus das sie sonst sich gern so viel zu Gute thut,
dem Prinzip ihrer „Unabhängigkeit", gab sie damit einen Stoß, der es tief
erschütterte, und die strengconservative Partei in der I. Kammer wird es
schwerlich dem Ministerium Friesen-Abeken je vergessen, daß dieses sie zu einem
solchen Opfer an ihrer selbständigen Ueberzeugung (nach des Grafen Hohen-
thal's eignem freimüthigen Geständniß) zwang. Hatte das Ministerium also
aus Referenz gegen die particularistische Majorität der I. Kammer jenen Schritt
gethan, so hatte es ihn sehr ungeschickt gethan, denn, nachdem es vorher be¬
reits in Berlin sich engagirt, war weder sein Wille noch der Wille der I. Kam¬
mer mehr frei. War es ihm aber nur darum zu thun gewesen, den Grund¬
satz einer Befragung der Stände in ähnlichen Fällen und damit ein Präce-
denz für die Zukunft aufzustellen, glaubte es dadurch auch jene particulari¬
stische Majorität mit der Nothwendigkeit des Nachgebens im vorliegenden
Einzelfalle zu versöhnen, so hätte es nur nicht — wie es erst schon bei den
Verhandlungen in der I, Kammer, viel offenkundiger noch in der zweiten that.
— von eben diesem Grundsatz sich kleinmüthig wieder lossagen und damit
der Mehrheit der I. Kammer für ihre Nachgiebigkeit auch noch einen Schlag
ins Gesicht versetzen dürfen. Aber hier verließ das Ministerium der Muth
und die Consequenz der eignen Kühnheit; den Ministern wurde bange vor
dem Empfange, den sie das nächste Mal in Berlin finden möchten, wenn sie ein
solches sauberes Angebinde, wie die Anerkennung eines Veto jeder einzelnen
Kammer in Reichsangelegenheiten mitbrächten, und so — zerstörten sie mit
eignen Händen wieder den Bau des Particularismus. den sie eben erst selbst
aufgeführt hatten!
Daß ein solcher Zustand der Dinge, eine solche Politik auf die Länge
unhaltbar ist nach außen wie nach innen, versteht sich. Das Ministerium selbst
scheint ein Gefühl davon zu haben; sein Auftreten beim letzten Landtage ver¬
rieth häufig eine merkwürdige Unsicherheit, ja ein gewisses kleinlautes Selbst¬
verzagen — auch bei denjenigen Gliedern desselben, bei denen man sonst eher
das Gegentheil zu finden gewöhnt war. Im Lande macht sich ein ähnliches
Gefühl geltend. Die eignen sogenannten Anhänger des Ministeriums, die
Conservativen, (denn, wenn diese es nicht sind, wer sonst sollte es sein?)
klagen, daß sie an dem Ministerium keine Stütze hätten, daß ihre Partei
darum desorganisirt, zerfallen, verschwunden sei, und fordern vom Ministerium,
es solle durch eine festere und klarere Haltung — natürlich in streng konser¬
vativem Sinne — ihnen wieder zu neuem Leben verhelfen. Ist es nicht
komisch, wenn die Conservativen vom Ministerium, dieses von den Conservativen
gestützt zu sein verlangen, während Beide täglich mehr allen Halt in sich selbst
verlieren?
Komisch in der That, aber freilich auch tragisch, denn unter dieser Halt¬
losigkeit leidet Land und Volk, jenes, indem es die ihm gebührende und
unter anderen Verhältnissen gewiß ihm von allen Seiten neidlos eingeräumte
hervorragende Stellung im Reiche mehr und mehr einbüßt. Dieses, indem
es Schaden leidet an seiner politischen Bildung und Thatkraft; denn ein
Volk ohne ein ausgeprägtes, gesundes Parteileben, ist heutzutage ein unpoli¬
tisches, das heißt, ein hinter der Zeit zurückbleibendes Volk; ein ausgepräg¬
tes, gesundes Parteileben aber giebt es heutzutage nur da, wo die Regierung
des Landes selbst der klare Ausdruck einer bestimmten Partei ist und die
Führerschaft derselben in der Volksvertretung und in der Presse mit Ent¬
schiedenheit und ohne Hin- und Herschwanken übernimmt. Daß davon in
Sachsen nicht die Rede ist, beweisen nur zu deutlich die obigen, wenigen Züge
Unstreitig bildet die Neuregulirung bez. Erhöhung der Beamtengehalte
eben gegenwärtig eine der wichtigsten Fragen, welche Regierungen und Lan¬
desvertretungen beschäftigen. Da die ganze Angelegenheit von dem gegenwärtigen
raschen Sinken des Geldwerths unzertrennlich ist, so muß die Forderung nach
Gehaltserhöhungen nothwendig zu allen Zeiten wiederkehren, in welchen eine
besonders empfindliche Preiserhöhung sich bemerkbar macht. Allerdings ist
jene Frage in früheren Jahrhunderten nicht in der jetzigen Ausdehnung
und nicht mit dem jetzigen Gewicht hervorgetreten. Denn wie die Wirth¬
schaft jedes Volkes überhaupt sich langsam aus einer Naturalwirthschaft in
eine Geldwirthschaft umgestaltet, so setzten sich auch die Bezüge der Beamten
in früherer Zeit zum guten Theil aus Naturalien zusammen, es machte sich
also für die Beamten eine etwaige Preissteigerung der nothwendigsten Lebensbe¬
dürfnisse kaum sehr fühlbar. Und die in Geld bezogenen Sporteln und Ge¬
bühren für amtliche Verrichtungen, aus denen sich zum andern Theil die Be¬
soldungen zusammensetzten, ließen sich vorkommenden Falls leichter, weil un-
merkltcher erhöhen als feste Gehalte. Wie lange diese Art der Besoldung
ganz oder in starken Resten sich erhalten hat, ist bekannt genug; sind doch
die Landgeistlichen wie die Geistlichen überhaupt auf Bezüge jener Art noch
vielfach angewiesen. Und eine Art der Naturalbesoldung. die freie Wohnung,
dauert ja noch in weiteren Kreisen fort.
Für die Umgestaltung der Gehaltsverhältnisse ist nun das 16. Jahrhun¬
dert besonders bedeutsam. Der lebhaftere Verkehr wie die massenhaftere Ein¬
führung der Edelmetalle aus den spanisch-amerikanischen Minen hatte damals
eine ziemlich rasche und empfindliche Entwerthung des Geldes, also eine Preis¬
steigerung zur Folge. Und da eben jene Zeit allmählig von der Natural-
zur Geldwirthschaft überleitete, so macht sich in ihr eine theilweise Umgestal¬
tung der Gehalte, eine Fixirung in bestimmten Geldzahlungen bemerklich. Auf
diese mußte dann jene Preissteigerung viel mehr einwirken als auf die früheren
Naturalbezüge, und so darf es nicht Wunder nehmen, wenn damals die For¬
derung nach Gehaltserhöhungen sehr bald auftrat. Klagt doch z. B. schon
Luther darüber, daß die Pfarrer mit ihren Einnahmen nicht mehr auszukom¬
men im Stande seien. Da ist es nun interessant zu sehen, wie eine ein¬
zelne Stadtgemeinde sich diesen Fragen der Gehalt sfixirun g und der
Gehaltserhöhung gegenüber verhielt. Wir wählen als Beispiel eine
Mittelstadt, die alte Hauptstadt der östlichen Ober-Lausitz, Görlitz, unstrei¬
tig, die stärkste und blühendste der Sechsstädte, zugleich diejenige von ihnen,
welche eine besonders energische und einsichtsvolle Finanzverwaltung besaß.")
Was zunächst die geistlichen Stellen anlangt, so war von diesen
das Pfarramt wie natürlich besonders reichlich ausgestattet. Der Pfarrer,
der oberste Geistliche der Stadt, verfügte über einen stattlichen Pfarrhof und
eine ausgedehnte Widemuth, zu deren Bewirthschaftung kurz vor der Refor¬
mation ein zahlreiches Gesinde und fünf Pferde erforderlich waren. Dazu
kamen bedeutende Einkünfte aus den geistlichen Verrichtungen, die Stadtcasse
selbst zahlte jedoch nichts. Freilich mußte der Pfarrer aus seinen Einnahmen
auch den von ihm ernannten Prediger mit freier Station versorgen, auch den
Caplänen, deren gewöhnlich fünf waren, und dem Rektor der Stadtschule
freien Tisch gewähren; die Haupteinnahmen aber für diese untergeordneten
Geistlichen wie für die zahlreichen, besonders zum Messelesen angestellten Al-
taristen bestanden aus den in Görlitz gerade überaus zahlreichen und bedeu¬
tenden geistlichen Stiftungen und den Gebühren für geistliche Amtshandlungen,
und das Predigeramt wenigstens galt für ein sehr gut ausgestattetes. Der
erste Anfang zu einer festen Besoldung wurde zunächst damit gemacht, daß
1508 der damalige Pfarrer, Mag. Johann Schmidt, dem die Bewirthschaf¬
tung seiner Widemuth zu viel Arbeit und Sorge bereitete, diese um 24 Mark"")
jährlichen Gehalts an die Stadt überließ. Eine vollständige Umgestaltung
aller geistlichen Gehalte brachte die Reformation. Schon 1527 wurden die
Kirchengüter zum guten Theile säcularisirt, und vor allem ging von den meist
auf adliche Güter ausgeliehenen Capitalien der Kirche das Meiste verloren,
weil die Edelleute sich weigerten, nach Aufhören der Seelenmessen, für deren
Abhaltung jene Capitalien der Kirche einst gewidmet worden waren, die Zin¬
sen zu bezahlen. So der Einkünfte aus den kirchlichen Stiftungen größten-
theils beraubt, sah sich die städtische Geistlichkeit in finanzielle Abhängigkeit
von der städtischen Verwaltung versetzt, diese aber sich genöthigt, die Gehalte
des Clerus auf ihre Casse zu nehmen, d. h. sie zu fixiren.
Dies geschah zuerst i. I. 1330, nachdem die Pfarrstelle eingezogen und
die Ernennung des Predigers und der untergeordneten Geistlichen vom Stadt¬
rathe übernommen worden war. Seit diesem Jahre erhielt der Prediger aus
der Stadtkasse wöchentlich 1 Mark — 62 Mark jährt., 30 Schock Groschen
— 62 ^ Mark, in Natura aber 10 Viertel Bier, dessen Werth man auf 22
Mark anschlug, also im Ganzen feste Besoldung in Geld oder Natur« 136^/-,
Mark. Dazu kamen freie Wohnung, freies Holz und fremdes (d. h. nicht
Görlitzer) Bier nach Bedürfniß. Es ist erfreulich zu sehen, in wie ausgiebi¬
ger Weise die Väter der Stadt für den Durst ihres Predigers sorgten.
Die untergeordneten Priester erhielten jeder 14 Mark jährlich, freie Woh¬
nung und Holz. Die Bezüge aus den kirchlichen Verrichtungen werden
hierbei natürlich nicht mitgerechnet. Aber diese Ansätze erwiesen sich bald als
zu niedrig, und so sah sich bereits 1836 der Stadtrath, nachdem inzwischen
die Säkularisation der Kirchengüter — mit Ausnahme des Franciskaner-
klosters — vollendet war und er den geretteten Rest der geistlichen Capita¬
lien in eigene Verwaltung übernommen hatte, veranlaßt, eine sehr beträcht¬
liche Gehaltserhöhung eintreten zu lassen. Seit diesem Jahre erhielt
der Prediger 125 Mark baar, 25 Mark für Kost. 15 Mark sog. Präsentien
(täglich 2 gr.), in Summe 16S Mark gegen 136 V, Mark vor 1636. Die
Naturalbezüge blieben wie bisher. Von den übrigen Priestern erhielt jeder
zu den schon bisher bezogenen 14 Mark jetzt noch ^/z Mark für Kost und
8 Mark 33 Gr. für Bier (8 Pfg. täglich), also im Ganzen 23 Mark 9 Gr.
gegen 14 Mark vor 1536. Einnahmen aus kirchlichen Verrichtungen kamen
natürlich noch für alle Geistlichen hinzu.
Viel unbedeutender als die geistlichen Gehalte erscheinen die der Lehrer
an der Stadtschule, vor wie nach der Reformation. Den Schulmeister
oder Rektor stellte der Rath an, in der Regel nur aus ein paar Jahre, der
Rektor warb sich dann selbst Gehilfen (daeoalaurei), deren Zahl sich nach
dem jedesmaligen Bedürfniß richtete. Von der Stadtcasse aus erhielten sie
alle nichts, sie waren vielmehr auf die Zahlungen der Schüler und ihre Ein¬
künfte aus dem Kirchendienst angewiesen. Da jeder Schüler vor der Refor¬
mation per Semester 1 Gr. zahlte, so kann man die Gesamteinnahme aus
dem Schulgelde bei einer Ziffer von 600 Schülern — denn soviel waren ihrer
damals gewöhnlich — auf etwa 42 Mark berechnen, gewiß ein kärglicher
Verdienst! Allerdings kamen noch andere Einkünfte hinzu, vor allem aus
den kirchlichen Verrichtungen; so erhalten die Lehrer für ein großes Begräb-
niß 1 si. ungar.*), der Rektor hatte freien Tisch beim Pfarrer. Einnahmen
aus geschriebenen Büchern, welche die Lehrer den Schülern besorgten, mußten
eine weitere Erhöhung des dürftigen Einkommens bieten. So kostete die Ap-
schrift des Paternoster und des Paternoster und des Credo 1 Gr., ein Donat
10 Gr.. immer noch ungleich mehr als jetzt ein gedrucktes Exemplar. Aller¬
dings muß hinzugefügt werden, daß die Lehrer niemals verheirathet waren
und volle Freiheit von Abgaben genossen.
Die Reformation brachte auch hier eine Umgestaltung und zwar zum
Besseren. Im Jahre 1S30 wurde die Görlitzer Stadtschule nach Melanch-
thons berühmter Schulordnung völlig umgewandelt und damit verknüpfte
sich auch eine durchgreifende Aenderung der Gehaltsverhältnisse. Von nun
an zahlten die Schüler der 1. Classe jährlich 32 Gr. Schulgeld, die der
2. Classe 24 Gr.. die der 3. Classe 16 Gr.. die der 4. Classe 8 Gr. Die so
sich ergebenden Summen wurden zu besserer Ausstattung der Lehrer verwandt
und da sie trotzdem für ungenügend befunden wurden, so schoß die Stadt
noch jährlich gegen 40 Mark zu. So gestalteten sich die baaren fixirten Be¬
züge der Lehrer folgendermaßen: Der Rektor erhielt jährlich 100 Mark und
4 Mark Holzentschädigung, dazu freie Wohnung; der weeMureus senior
35 Mark, der daccalg-ursus junior 30 Mark, der Cantor 23 Mark. Dazu
kommen nach wie vor die kirchlichen Einkünfte.
Auch städtische Beamte haben um dieselbe Zeit beträchtliche Er¬
höhungen ihrer Einnahmen erfahren. Das Amt des Stadtschreibers
z. B. galt schon vor der Reformation als sehr einträglich und wurde nebst
dem Görlitzer Predigeramte als „das beste Dienst zwischen Breslau und
Nürnberg" bezeichnet, seine Einnahmen aber bestanden zu einem guten Theile
aus Sporteln. Noch vor 1836 wurden dann seine Bezüge „um ein Nam-
haftiges gebessert", ohne daß man übrigens Näheres erfährt. Ein anderer
städtischer Beamter, der königliche*) Richter, der Vorsitzende des Schöffen¬
gerichts, empfing jährlich an festem Gehalt vom Königlichen Landvogt nur
16 Mark und in Naturalien 4 Malter Roggen und 4 Malter Hafer; seine
Haupteinnahmen bestanden in den ihm z. T. zufallenden Gerichtssporteln.
So erhielt er z. B. von einer Beschlagnahme in der Stadt 1 Gr. , in der
Vorstadt 2 Gr., für die Besichtigung eines Todten auf städtischer Flur 2 Gr.,
außerhalb 6 Gr., für Abhörung eines Zeugen 6 Gr.. beim Nichterscheinen
desselben 14 Gr. Strafgeld, von einem in peinlicher Sache Verurtheilten je
»ach der Größe des Verbrechens 1—3 Schock. Gr. u. s. f. Eben weil dieser
Gehalt zum größten Theile aus Sporteln und Naturalien sich zusammen¬
setzte, jene aber bei dem wirthschaftlichen Aufschwünge dieser Jahre und der
eher zu- als abnehmenden Zahl von Verbrechen sich eher steigerten als ver¬
minderten, so ist hier von einer Gehaltserhöhung keine Rede.^
Einen besonders interessanten Einblick in die Nothwendigkeit einer Gehalts-
steigerung um diese Zeit gewährt eine Verhandlung über die Ernennung
eines neuen Amtshauptmanns für den Görlitzer Kreis aus dem Jahre 1S43.
Dieser landesherrliche Beamte, stets ein Edelmann des Kreises und
erwählt vom Adel und den drei dazu gehörigen Städten Görlitz, Lauban und
Zittau, erhielt damals jährlich 30 Schock gr. und 8 Malter Roggen nebst
8 Maltern Hafer. Als aber in jenem Jahre der adlich - städtische Ausschuß
einen neuen Hauptmann wählen wollte, da lehnten drei Edelleute, denen er
diese Würde vortrug, sie mit der Erklärung ab, der bisher gezahlte Gehalt
reiche nicht im Entferntesten mehr hin. da man vom Hauptmanne einen un-
verhältnißmäßigen Repräsentationsaufwand verlange, „er müßte halbdritt
reiten und würde täglich mit Gästen beladen"; infolge dessen hätten die letzten
Amtshauptleute nicht nur ihr Vermögen zugesetzt, sondern auch bedeutende
Schulden gemacht, ja einer von ihnen habe sich gänzlich zu Grunde gerichtet.
Selbst das Versprechen des Wahlausschusses, daß man für den Aufwand
des neugewählten Beamten aufkommen wolle, half nichts; erst die Furcht,
daß der König von Böhmen oder sein Landvogt einen Fremden zum Amts¬
hauptmann ernennen werde, bewog Caspar von Nostiz zur Annahme der
Würde. Wahrscheinlich erfolgte aber gleichzeitig auch eine Erhöhung seines
Gehalts.
Die angeführten Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, wie in jener
Zeit ähnliche Gründe ähnliche Folgen nach sich zogen, und wie ebendamals
in einer Periode allgemeiner und rascher Preissteigerung die Frage der Gehalts¬
erhöhungen in ähnlicher Weise an die regierenden Kreise herantrat, wie heut¬
zutage. Wir sind überzeugt, daß ähnliche Wahrnehmungen, wie sie uns in
dem engen Kreise einer einzelnen Stadtverwaltung entgegengetreten sind,
überall dem Suchenden aufstoßen werden.
Daß unsere Schulen in den Händen der Dunkelmänner und ihrer Comperes
sind, weiß Jeder, der Augen hat, zu sehen, und Ohren, zu hören. Was die¬
selben aus unseren Schulen gemacht, wie tief sie die Lehrer, die Träger der¬
selben, erniedrigt und herabgewürdigt, wie rücksichtslos und erbarmungslos
sie die widerstrebenden, charakterfesteren, gequält, verleumdet und verfolgt haben,
um ihnen den Lehrstand zu verleiden und Raum für ihre schwarzen Schul¬
schwestern und Schulbrüder zu machen, weiß ebenfalls Jeder, der die Zustände
und Verhältnisse bei uns nur einigermaßen näher kennt. — Was überhaupt
die Jesuiten und Dunkelmänner unter allen Masken überall auf der Erde
anstreben, und wozu sie Himmel und Erde in Bewegung setzen, Völker gegen
Völker, Mitbürger gegen Mitbürger, Eltern gegen ihre Kinder und Kinder
gegen ihre Eltern, Brüder gegen Brüder, Hetzen — das ist heute jedem den¬
kenden und nur einigermaßen gebildeten Menschen klar. Nur bei uns will,
wie es scheint, Niemand daran glauben, oder wenigstens Notitz davon nehmen.
In einer der jüngsten Wochen ist in unserer Kammer, bet Berathung des
Staatshaushaltungs-Etats, auch das Kapitel über die Stellung und Besol¬
dung der Primarlehrer zur Sprache gekommen. Wie schon oben gesagt, ist
diese Stellung und diese Besoldung alles Mögliche, nur nicht glänzend, wenn
überhaupt den Persönlichkeiten angemessen. Da erhebt sich plötzlich der Nestor
unserer sogenannten Liberalen, Hr. N. Metz, der Mann, welcher, so lange er
in der Regierung war, durch seine Getreuen in der Kammer, die Regierung
und das ganze Land, zu Nutz und Frommen der Jesuiten, beherrschte, und
ihnen überlieferte — Dieser, sagen wir. erhob sich, und hielt eine so lebhafte
Philippika gegen den Klerus und seine gefährlichen, zersetzenden, unpatrtott-
schen Tendenzen, daß sowohl den Zuhörern, die den Mann näher kennen,
als die, welche nicht dieses Glück haben, die Haare sich sträuben wollten; bei
diesen aus Entsetzen über die Nerruchtheit der Dunkelmänner, bei jenen ans
eitel Erstaunen über die feste Stirn des großen Politikers, der vor ihnen hier
so laut aussprach, was — er nie gedacht, und in diesem Augenblicke weniger
dachte als je _
Nach diesem Meister parlamentarischen Zaubers erhob sich Herr Salen-
tiny, der Ressortminister unseres Schulwesens, um auf die schwarzen Schul¬
schwestern in unserm Lande eine ebenso laute und ebenso aufrichtige Lobrede
zu halten, als die Philippika des Herrn Metz in ihrem Genre gewesen.
Der Herr General-Director hob mit vieler Salbung und großem Pomp die
seltenen Verdienste der guten, frommen schwarzen Schwestern hervor, wies
darauf hin. wie ihnen überall im ganzen Lande die ersten und bedeutendsten
Schulen anvertraut werden, und männiglich ihnen entgegenkomme; belobte
dann Hrn. Metz, welcher ja zu allererst den schwarzen Schwestern der schwar¬
zen Brüder den Weg ins Land geebnet und ermöglicht, und in dessen Ge¬
meinde gegenwärtig sechs von denselben als Lehrerinnen angestellt sind, und
schloß damit, daß er Hrn. Metz, dem ganzen Lande und sich selbst dazu
Glück wünschte, eine so vortheilhafte Acquisition gemacht zu haben, als
diese guten und frommen Schulschwestern es sind. — Dann stand Hr. Metz
wieder aus und lobte und pries nun seinerseits zunächst den Herrn General-
Director. und zwar dafür, weil ihm dieser so ganz aus dem Herzen gesprochen,
und dann die schwarzen Schwestern der schwarzen Brüder, welche letzteren er
noch soeben erst vor der öffentlichen Kammer und dem ganzen Lande in
ihren Tendenzen verurtheilt hatte. Welches die wirklichen Verdienste der
schwarzen Schulschwestern sind, weiß derjenige, der je einen tieferen Blick in
ihre Schulen zu thun Gelegenheit gehabt hat. Schreiber dieses, der seinerzeit
Gelegenheit hatte, verschiedenen öffentlichen Prüfungen in solchen Schwester¬
schulen beizuwohnen, erinnert sich noch recht wohl, auf welche Weise schon
ganze Wochen vorher den Kleinen ihre Lektionen, ja die einzelnen auf sie
fallenden Sätze aus diesen Lektionen, im Voraus eingepaukt wurden. Er
machte sich einmal den harmlosen Scherz, und ließ eines der Mädchen inmitten
seines Satzes aufhören, und forderte das nächstfolgende auf, dort fortzufahren,
wo ersteres aufgehört hatte. Und was antwortete das arme höchst überraschte
und verblüffte Kind: — „Herr! das ist ja mein Satz noch nicht." — Die
guten Schulschwestern aber senkten fromm und gottergeben die sanften Köpf¬
chen und rührten sich nicht. Dasselbe thaten alle Anwesenden. Auch ich ver¬
lor weiter kein Wort über die Sache, aber nachdenken darüber mußte ich bis
auf den heutigen Tag — Wer ferner weiß, daß die schwarzen Schwestern
bei ihren Preisvertheilungen als Lieblingspreisbuch, die „vier letzten Dinge"
von Pater v. Cochem unter ihre kleinen Schülerinnen vertheilen, und zwar
als Gebetbuch vein sonntäglichen Gottesdienst, der kennt die lichtvollen reli¬
giösen Anschauungen und Grundsätze, welche sie überall unter dem Volke zu
verbreiten suchen. Wer das besagte Buch mit gläubigem Gemüthe bis ans
Ende lesen kann, ohne gänzlich verrückt zu werden, der muß einen starken
Kopf haben, einen viel stärkeren jedenfalls, als ihn der gemeine Mann aus
dem Lande, geschweige denn kleine Mädchen von acht bis vierzehn Jahren
tragen. — Und diesen schwachen, den jesuitischen Obern und Vorgesetzten
blind gehorchenden, alles tieferen Wissens und Könnens baren Schulschwestern
wird in öffentlicher Kammer, nicht allein der Nestor unserer „Liberalen"
— von diesem begreift sich das schon — sondern selbst von unserm Mi¬
nister des öffentlichen Unterrichts — hohes Lob gespendet!! Doch das
Allerbeste kam erst noch. — Als die Lobrede der beiden hohen politischen
Persönlichkeiten auf die schwarzen Schulschwestern gehalten war, da erhob sich
Hr. Paul Epheben, der Liebling und salbungsvollste Redner unserer Kleriker,
und las nun Hrn. Metz gründlich den Text wegen seiner Philippika, und
seiner vielen Ketzereien wider unsern vortrefflichen Klerus und unsere si. Kirche.
Er wies nach durch x-l-?— 2, daß es auf der ganzen Erde keine braveren,
würdigeren, vollkommeneren Menschen gibt, als eben unsere Kleriker, dem
Hr. Metz solche gefährliche und unpatriotische Bestrebungen zur Last zu
legen gewagt. Er wies nach, daß ohne das Zuthun und die stramme Hilfe
dieses Klerus unsere Schulen noch heute stehen würden, wo sie früher (ver¬
muthlich zu jenen glorreichen belgischen Zeiten nach 36.) gestanden, und daß,
ohne geistliche Hilfe, auch in Zukunft unsere Schulen hoffnungslosen Maras¬
mus verfallen müßten. — Die Rede des wackern Deputirten des Wiltzer
Kantons schien vorübergehend tiefen Eindruck auf den Nestor unserer „Libe¬
ralen" zu machen. Zerknirscht blickte er während derselben vor sich hin, bald
aber rieb er sich die Hände und schmunzelte vergnügt dazu. Alle Reden
schienen heute Hrn. Metz zu behagen, sogar seine eigene, trotzdem ihm dafür
von Hrn. Paul Epheben so energisch die Leviten gelesen wurden. — Diese
seine Rede hatte doch wenigstens das nicht zu unterschätzende Verdienst, den
Herren Salenttny und Paul Epheben die Gelegenheit an die Hand zu geben,
die ihrigen zu halten. Einmal gehalten, kann sie unser „Wort für Wahr¬
heit und Recht" in seinen Spalten abdrucken, erheben, preisen, und mit seinen
Commentaren im ganzen Lande herum colportiren lassen. —
Und so ist denn wieder einmal bei uns zu Lande in öffentlicher Kammer
und vor aller Welt die Ehre sowohl der schwarzen Brüder als ihrer schwar¬
zen Schwestern gerettet worden, und diese dürfen aus aller Herren Länder,
wo man sie ausweist — et xoui cause! — noch Hieher kommen, unser Land
überschwemmen. Sie dürfen auch laut die Männer und wirklichen Vater¬
landsfreunde schmähen und schmähen lassen, welche es wagen, ihnen in den
deutschen Zeitungen und Zeitschriften die heuchlerische Maske abzureißen, die
sie zum Verderben ihres eigenen Volkes und Vaterlandes tragen. — Sie
organisiren zu diesem Zwecke sogar maskirte Carnevalszüge, um die Freunde
der Wahrheit vor allem Volke lächerlich zu machen, und ihnen den gedanken¬
losen, fanattsirten, trunkenen Pöbel auf den Leib zu Hetzen und sie öffentlich
in öffentlichen Localen auf die roheste Weise körperlich mißhandeln zu lassen,
wie es dem Verfasser dieses erst kürzlich geschehen ist. Auf die amtliche, unter
Zeugenbeweis gestellte Anzeige dieses schmählichen Landfnedensbruchs an den
Vertreter der öffentlichen Anklage, ist der Verfasser dieses auf den Weg der
Civilklage verwiesen worden, wenn er sich damit fortzukommen getraue. Ueber
dergleichen Zustände sieht man also in einem Lande ruhig und kaltblütig
weg. wo man nie genug über die Rohheiten und die Barbarei des „Preuß"
des deutschen Volkes, deklamiren kann! —
Es giebt wenig Dramen, welche in einem solchen Maße, wie Shakespeare's
Kaufmann von Venedig theils dem Verständniß des Lesers oder Hörers sich
erschließen, theils sich entziehen. Die Charactere sind so scharf und bestimmt
gezeichnet, die einzelnen Handlungen fesseln und spannen auch einen wenig
geübten Sinn in so hohem Grade, daß es nicht wunderbar erscheinen kann,
wie dies Drama volkstümlichen Werth gewinnen und auch in weiteren
Kreisen Bürgerrecht erhallen mußte. Aus der andern Seite ist die Idee des
Dramas keineswegs leicht zu bestimmen, und wir sehen daher Ausleger, welche
in dem Verständniß der einzelnen Charactere und Handlungen fast völlig mit
einander in Einklang stehen, in der Erkenntniß der zu Grunde liegenden Einheit
sehr erheblich von einander abweichen. Kreyßig findet sie in der Empfehlung
einer Lebensklugheit, welche maßvoll und besonnen die gegebenen Verhältnisse
klug zu benutzen und heiter zu ertragen versteht, welche starkes Gefühl und
klaren Verstand harmonisch in sich ausgleicht, gleich weit entfernt von starrem
Idealismus und verhärteter Selbstsucht. Gervinus geht von der Voraus¬
setzung aus, der Dichter habe die verschiedenen und entgegengesetzten Beziehungen
des Menschen zum Besitze schildern wollen. Ulrici und Rötscher endlich
erblicken den letzten Sinn des Dramas in dem Erweis, daß das menschliche
Leben nicht aus dem tödtenden Buchstaben des äußeren Rechts, sondern viel¬
mehr auf der lebendigen Sittlichkeit, auf der Einigung des göttlichen und
menschlichen Willens durch die göttliche Gnade beruhe. Wir enthalten uns
zuvörderst jeder Kritik dieser einander gegenüber stehenden Auffassungen, um
vielmehr in eingehender Darstellung der fortschreitenden Handlung und der
eingreifenden Charactere die Idee des Dramas, welche wir gefunden haben,
zu bewähren.
Die größte Schwierigkeit für das Verständniß bietet Antonio, der Kauf¬
mann von Venedig. Shakespeare hat nach ihm das Drama genannt und ihn
damit offenbar zum hervorragendsten Träger der dramatischen Idee bestimmt.
und dennoch scheint er sehr wenig dazu geeignet. Er ist ein ruhiger, leiden¬
schaftsloser Character, den wir bewundern, dessen Geschick wir unsere volle
Theilnahme zuwenden, der uns aber unnahbar fern bleibt. Kreyßig hat
sich daher veranlaßt gesehen, nicht ihn, sondern vielmehr Porzia als den
bedeutendsten Character des Dramas zu betrachten. Dieser Ausweg scheint
uns verboten. Die Bezeichnung des Dramas, welche uns doch auf seinen
Mittelpunkt hinweisen will, spricht dagegen. Es muß so sein, daß die Idee
des Dramas in Niemandem in so reiner und vollkommener Weise sich ver¬
körpert, als in Antonio. Und so ist es auch in der That. Antonio ist der
Vertreter der selbstlosen hingebenden Liebe! Und um unsere Auffassung von
vorn herein auszusprechen: Unser Drama ist die Darstellung des Triumphes
der selbstlosen Liebe sowohl über die selbstische Begierde des eigenen Herzens
als über die ausgebildete Selbstsucht in der Welt.
Antonio ist reich, unermeßlich reich, und dennoch hängt sein Herz nicht
an diesem Reichthum. Ja er ekelt ihn an, er läßt ihn unbefriedigt. Er, der
königliche Kaufmann, steht über ihm. Er ist freigebig; Zinsen zu nehmen
erscheint ihm unwürdig; aber für Schuldner, die zahlungsunfähig sind, einzutreten,
das ist ihm Pflicht. Und trotzdem, er ist satt und in Folge von Uebersättigung
schwermüthig. Es fehlt ihm ein fesselnder Gegenstand der Thätigkeit. Er
soll ihm werden. Die Freundschaft fordert von ihm große Oper und zieht
ihn so in einen Kampf hinein, welcher die tiefsten Gefühle in ihm weckt, Herz
und Gemüth bis in das Innerste erschüttert und seine Gesinnung auf die
schwerste Probe stellt. Es ist die Freundschaft, die ihn aus der Ruhe und
der Schwermuth herausreißt, die Freundschaft und nicht die Liebe. Auf die
Frage solario's: ,,So seid ihr denn verliebt"? antwortet er unwillig: „Pfui,
pfui"! Das ist für ihn characteristisch! Die Liebe steht höher als die Freund¬
schaft, denn die Liebe ist volle und ganze Lebensgemeinschaft; aber in andrer
Hinsicht steht die Freundschaft höher als die Liebe, denn diese will besitzen
und begehrt, jene ist uneigennützig und selbstlos. Und eben deshalb läßt
Shakespeare den Kaufmann nicht liebebedürftig sein, wohl aber macht er ihn
zu einem Virtuosen in der Freundschaft. Denn das ist er! Als sein Freund
Bassanio ihn bittet, er möge ihn ausstatten, damit er in Belmont um die
Hand der reizenden Porzia werben könne, ist er sofort dazu bereit, er stellt
dem Freunde seinen ganzen Credit zur Verfügung, ja er scheut nicht davor
zurück, dem Juden Shylock jenen verhängnißvollen Schein auszustellen, in
welchem er mit dem eigenen Fleisch für die Bezahlung der geliehenen Summe
bürgt. Und als Mißgeschick über Mißgeschick ihn trifft, als die festgesetzte
Frist verstreicht, der Schein verfällt; was Scherz zu sein schien, zum bittersten
Ernste wird; als der blutgierige Shylock das Messer wetzt, um dicht unter
dem Herzen das Pfund Fleisch auszuschneiden, auch da verläßt ihn nicht das
Bewußtsein, daß er, für den Freund sich opfernd, einen schönen Tod stirbt.
Kein Gefühl der Reue trübt seinen Sinn. Dem Freunde ruft er zu:
„Bereut nicht, daß ihr einen Freund verliert,
Und er bereut nicht, daß er für euch zahlt:
Denn schneidet nur der Jude tief genug.
So zahl' ich gleich die Schuld von ganzem Herzen."
Und wie eine freundschaftliche Hilfe Bassanio es möglich gemacht hat,
Porzia's Hand zu erlangen, so sehen wir ihn schließlich auch darin Bassanio
die Freundschaft bewähren, daß er, wie einst bei Shylock mit Leib und Leben,
so hier bei Porzia mit seiner Ehre für den Freund Bürgschaft leistet.
Die selbstlose Hingabe Antonio's in der Freundschaft wäre aber nicht rein
und lauter, wenn mit ihr etwa Hand in Hand Rachsucht gegen seine Feinde
ginge. Und Shakespeare ist daher darauf bedacht, Antonio auch vor dem
leisesten Schatten eines solchen Verdachtes frei zu erhalten. Fürsprache legt
er beim Dogen für Shylock ein; nicht der ganze Besitz, nur eine Hälfte soll
ihm genommen werden, von der andern Hälfte erbittet Antonio nur den Nie߬
brauch, um sie nach Shylock's Tode dessen Tochter und Schwiegersohn zu über¬
geben. Diese soll auch Shylock zu Erben seines ganzen Besitzes durch feier¬
liche Schenkungsurkunde erklären, Shylock selbst aber soll Christ werden. Das
ist Antonio's Rache. Für sich fordert er nur den ihm jetzt nothwendigen zeit¬
weiligen Genuß eines Vermögens, welches später Shylock's eigenem Fleisch und
Blut, seiner Tochter, als Eigenthum zufallen soll. Shylock selbst aber erweist
er die größte Wohlthat, indem er ihn nöthigt, ein Jünger der Religion zu
werden, in welcher nicht das Wort gilt: Auge um Auge, Zahn um Zahn;
in welcher vielmehr die Losung ausgegeben ist: Liebet eure Feinde, segnet,
die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen, bittet für die, so euch be¬
leidigen und verfolgen; ein Jünger der Religion, welche Antonio eben aus
das herrlichste bewährt hat.
Bevor wir von Antonio scheiden, müssen wir die Frage beantworten, ob
wir die Noth, in welche er geräth, als eine verschuldete, die Gefahr und das
Leiden, die ihn treffen, als eine gerechte Strafe betrachten dürfen. Stellen
wir uns auf den modernen Standpunkt, auf den Standpunkt des neunzehnten
Jahrhunderts, so müssen wir diese Frage unbedingt bejahen. Wir müssen
sagen. Antonio erntet, was er gesäet hat. Er hat den Juden Shylock mit
empörender Geringschätzung behandelt, er hat ihn geschmäht, bespieen, getreten,
er hat ihn einen Hund genannt, er hat sein Geschäft, mit Zinsnahme zu ver-
leihen, als einen Wucher bezeichnet. Können wir uns wundern, daß der
Fanatismus der Intoleranz, von welchem Antonio erfüllt ist, auch in Shylock's
Herzen glühenden Haß entzündet? Wir müssen dann ferner sagen: sein
Idealismus und Optimismus, sein Mangel an Welt- und Menschenkenntniß
hat ihn zu dem leichtfertigen Schritt verführt, eine Urkunde zu u nterzeichnen,
welche sein Leben in die Hand seines Todfeindes legte. Er trägt die Folgen
seiner Unbesonnenheit. So müssen wir urtheilen vom Boden unserer gegen¬
wärtigen Verhältnisse und Anschauungen aus. Aber, fügen wir hinzu, wie'
wir das Verhalten Antonio's zu betrachten haben, steht in zweiter Linie: ent¬
scheidend ist, wie der Dichter es angesehen hat. Und auf die Frage: sieht der
Dichter in Antonio's Leiden eine Strafe? antworten wir nein. In Shakespeare's
Augen ist der Jude als solcher lieblos, selbstsüchtig, rachbegierig. Noch in
der Gerichtsscene erklärt Antonio:
„Ich bitt euch, denkt, ihr rechtet mit dem Juden.
Ihr miigt so gut hintreten auf den Strand,
Die Flut von ihrer Höh sich senken heißen;
Ihr mögt so gut den Wolf zur Rede stellen,
Warum er nach dem Lamm das Schaf läßt blöken?
Ihr mögt so gut den Bergestannen wehren,
Ihr hohes Haupt zu schütteln und zu sausen,
Wenn sie des Himmels Sturm in Aufruhr setzt;
Ihr mögt so gut das Härteste bestehn,
Als zu erweichen suchen — was wär härter? —
Sein jüdisch Herz! —
Und dem entspricht es, daß Shylock genöthigt wird, dem Judenthum zu
entsagen. Daß wir diese Maßregel als Verletzung der Religionsfreiheit ver¬
abscheuen, daß wir jenes Urtheil über das Judenthum als einseitig und falsch
zurückweisen müssen, hat hier keinen Einfluß. Es kommt darauf an, wie der
Dichter dies Verhalten Antonio's angesehen. Und er billigt es vollkommen.
Ihm ist Antonio's Behandlung des Juden berechtigt. Antonio kämpft für
Uneigennützigkeit und Liebe gegen Haß und Selbstsucht. Leidet er in diesem
Kampfe, so ist sein Leiden das Leiden eines Märtyrers für die idealen Inter¬
essen der Menschheit.
Antonio ferner ist in unseren Augen allerdings leichtsinnig und unbe¬
sonnen, aber nicht in den Augen des Dichters. Kein Gefühl der Reue über
den Schritt, den er gethan, beschleicht seine Seele, er würde ihn, auch wenn
er die Folgen desselben vorher gesehen hätte, gethan haben. Dem Freunde
helfen, des Freundes Glück sich selbst, das eigene Leben, zum Opfer bringen,
das hält Antonio für seine Aufgabe, für seinen Beruf. Sein Leiden für
Bassanio ist ein Martyrium für die Freundschaft, welches Shakespeare im
vollsten Maße billigt.
Aber eine andere innere Schuld Antonio's hat Ulrici zu entdecken geglaubt.
Er sagt: „Es war die übergroße Masse des irdischen Reichthums, die, obwohl
sein Herz keineswegs daran'hing , doch unwillkürlich den freien Flug seiner
Seele hemmte, die wie ein schwerer Ballast seinen Geist herabdrückte, es war
Uebersättigung am irdischen Glücke, die ihn das Leben anekeln machte. Diese
Fülle des irdischen Mammons, weil sie die Versuchung mit sich führt und den
Geist unwillkürlich herabzieht, trägt auch die Sünde selbst schon in sich, zumal
wenn der Mensch selbst die Last sich aufgeladen. Sie erdrückt ihn, sie zieht
eine Buße nach sich, die nicht von dem Richterstuhle des gemeinen Gesetzes
und Rechtes, sondern von jener höheren Macht der Sittlichkeit verhängt wird,
eine Buße, die nicht rechtlich, wohl aber sittlich nothwendig ist. Dies sieht
Antonio selbst ein und findet in der Strafe wiederum eine Gnade, wenn er
Akt IV. Se. I. sagt:
„Es krank' euch nicht, daß dies für euch mich trifft!
Denn hierin zeigt das Glück sich gütiger,
Als seine Wels' ist: immer läßt es sonst
Elende ihren Reichthum überleben,
Mit hohlem Aug und fait'ger Stirn ein Alter
Der Armuth anzuschaun; von solcher Schmach
Langwier'ger Buße nimmt es mich hinweg."
Soweit Ulrici. Wir können uns diese Ansicht nicht aneignen. Ulrici
giebt selbst zu, daß Antonio nicht am irdischen Besitz hängt, daß er an dem¬
selben nicht seine Lust und Befriedigung findet. Also hat derselbe auch nicht
seine Seele gefesselt. Die Worte Antonio's, die er citirt, lassen eine andere
Auffassung zu. Was Antonio sagen will, ist dies: Es ist eine unleugbare
Thatsache, daß großer Reichthum schnell schwindet und bittrer Armuth weicht.
Dies Geschick hat auch ihn getroffen. Und Antonio's frommer Sinn erkennt
darin die Strafe für seine Sünden, nicht für irgend welche besondere Sünden,
die, wie überhaupt nicht dem menschlichen Leben, so auch nicht seinem Leben
fern geblieben sind. So leidet also im Sinne des Dichters Antonio nicht
für irgend eine einzelne Sünde, oder sündige Richtung seines Herzens, sondern
er ist Märtyrer, er leidet unschuldig, .soweit ein sündiger Mensch unschuldig
leiden kann. Auf diese Höhe hat ihn der Dichter gestellt, und eben deshalb,
weil in ihm hingebende selbstlose Liebe ihre herrlichsten Triumphe feiert, eben
deshalb steht er nicht bloß äußerlich, sondern auch der Idee nach im Mittel-
Punkt des Dramas.
Sehen wir in Antonio den Vertreter einer selbstlosen Liebe, welche das
eigene Leben zum Opfer bringt und willig das Leiden des Martyriums er¬
trägt, so gleicht sich im Geschick Porzia's vielmehr Geben und Nehmen, Ver-
zichten und Gewinnen, Leiden und Genießen, Opfern und Empfangen harmo¬
nisch aus. Auch sie erscheint uns zuerst schwermüthig, aber der Grund ihrer
Schwermut!) ist leicht zu erkennen. Ist sie doch grade auf dem Gebiet, auf
welchem eigenste Neigung und freieste Entscheidung walten muß, gehemmt
und gehindert. Die Wahl eines Gemahls ist ihrer Bestimmung entzogen
und in die Hand der Willkür und des Zufalls gelegt. Das Testament des
Vaters hat ihren Besitz dem zuerkannt, welcher unter drei Kästchen von
Gold, Silber und Blei das wählen werde, in welchem ihr Bildniß liegt. Bis
jetzt ist noch Niemand gekommen, dem sie die Wahl des rechten Kästchens
hätte wünschen können. Ihr Humor, welcher die Schatten der aufsteigenden
Schwermuth zu bannen weiß, schildert die Bewerber mit schelmischem Ueber-
muth, den neapolitanischen Prinzen, der nur von seinem Pferde zu sprechen
weiß, den stirnrunzelnden Pfalzgrafen, den Franzosen, unter dessen Portrait
sie die Unterschrift setzt: „Gott schuf ihn, also laßt ihn für einen Menschen
gelten", den stummen Engländer, den feigen Schotten und schließlich den
sächsischen Prinzen, den sie mit den für ihn wenig schmeichelhaften Worten
charakterisirt: „Sehr abscheulich des Morgens, wenn er nüchtern ist, und
höchst abscheulich des Nachmittags, wenn er betrunken ist."
Indessen Porzia kann sich Glück wünschen; diese Freier haben es vorge¬
zogen, nach Hause zurückzukehren, vielleicht abgeschreckt durch die lästige Be¬
dingung, an welche die Zulassung zur Wahl geknüpft ist, im Falle eines
ungünstigen Ausgangs auf eine andre Heirath Verzicht zu leisten. Sie sind
gegangen, doch schon stehen der Prinz von Marocco und der Prinz von
Arragon im Begriff, sie zu ersetzen. Marocco ergreift das goldene Kästchen,
das die Devise trägt: „Wer mich erwählt, gewinnt, was mancher Mann
begehrt." Er öffnet es und findet darin ein Beingeripp, in dessen hohlem
Aug' ein Zettel liegt mit den warnenden Worten:
„Alles ist nicht Gold, was gleißt,
Wie man oft euch unterweise.
Manchen in Gefahr es reißt,
Was mein äußrer Schein verheißt;
Goldnes Grab hegt Würmer meist,
Wäret ihr so weis' als dreist,
Jung an Gliedern, alt an Geist,
So würdet ihr nicht abgespeist
Mit der Antwort: Geht und reist."
Porzia ist mit diesem Ausgange sehr zufrieden.
„Erwünschtes Ende, ruft sie. Geht, den Vorhang zieht!
So wähle jeder, der ihm ähnlich sieht."
Arragon giebt dem silbernen Kästchen den Vorzug, geblendet von der
Inschrift: „Wer mich erwählt, bekommt so viel, als er verdient." Das
geöffnete Kästchen zeigt ihm das Bild eines Gecken, welcher ihm den höhnen¬
den Zettel reicht:
„Siebenmal im Fen'r geklärt
Ward dies Silber: so bewährt
Ist ein Sinn, den nichts bethört.
Mancher achtet Schatten werth,
Dem ist schaltenden beschert.
Mancher Narr in Silber fährt,
So auch dieser, der euch lehrt:
Nehmet, wen ihr wollt, zum Weib,
Immer kron' ich euern Leib:
Geht und sucht euch Zeitvertreib."
Porzia aber spottet froh:
„So ging dem Licht die Motte nach!
O diese weise Narren! wenn sie wählen,
Sind sie so klug, durch Witz es zu verfehlen."
Bleiben wir hier einen Augenblick stehen. Es könnte scheinen, als ob
Porzia zu den leichtlebigen Charakteren gehöre, welche mit Witz und Scherz
über widerwärtige Situationen sich hinwegsetzen und dem Ernst des Lebens
sich verschließen. Das wäre aber ein durchaus falsches Urtheil. Hinter Por-
zia's Humor verbirgt sich eine lebhafte und tiefe Empfindung; die Verachtung,
welche sie gegen die unwürdigen Freier hegt, verbietet es ihr, sie ernst zu be¬
urtheilen. Die Satire, welche sie gegen dieselben anwendet, haben sie selbst
herausgefordert.
Es ist richtig, daß das Naturell es ihr erleichtert, die Sicherheit
und Freiheit unter so schwierigen Verhältnissen zu bewahren, aber wir
dürfen es nicht vergessen, daß dieselbe in einer sittlichen Arbeit, im Kampf
der Selbstüberwindung als ihrer tiefsten Wurzel begründet ist. Ihrer Freun¬
din Nerissa schüttet sie ihr Herz aus. Auf deren beruhigende Ermahnungen
antwortet sie: „Das Hirn kann Gesetze für das Blut aussinnen; aber eine
hitzige Natur springt über eine kalte Vorschrift hinaus. — O über das Wort
wählen! Ich kann weder wählen, wen ich will, noch ausschlagen, wen ich
nicht mag: so wird der Wille einer lebenden Tochter durch den letzten Willen
eines todten Vaters gefesselt. Ist es nicht hart, Nerissa, daß ich nicht Einen
wählen und auch keinen ausschlagen kann." Hier spricht ihr Herz, und wir
müssen sie uns daher, wenn die verhängnißvollen Augenblicke der Kästchenwahl
gekommen sind, wenn in einen Griff der Hand ihre Zukunft gelegt ist, in
der höchsten Aufregung, in fieberhafter Spannung vorstellen, welche erst bei
dem Mißerfolg der Werber weicht und einem tiefen freudigen Aufathmen
Raum gewährt. Stellen wir uns auf den höchsten sittlichen Standpunkt der
Beurtheilung, so dürfen wir Porzia nicht tadeln, wenn sie nicht nach dem
willkürlichen Befehl des Vaters. sondern nach dem göttlichen Naturrecht des
Herzens handelte, wenn sie das Testament mißachtete und sich auf den Boden
freister Selbstbestimmung stellte. Aber freilich das könnte sie nicht thun, ohne
die Pflichten der Pietät zu verletzen. Und diese sind ihr heilig, so heilig, daß
sie fest entschlossen ist, ihnen das Opfer eigner Entschließung zu bringen.
Sagt sie auch scherzend zu Nerissa, sie möge nur einen Römer voll Rhein¬
wein auf ein falsches Kästchen setzen, dann werde der sächsische Prinz es sicher
wählen, so ist dies eben nur ein Scherz. Ihren wirklichen Entschluß spricht
sie in den Worten aus: „Sollte ich so alt werden wie Sibylla, will ich doch
so keusch sterben wie Diana, wenn ich nicht dem letzten Willen meines Va¬
ters gemäß erworben werde." In dieser Unterordnung unter den, wenn auch
willkürlichen, Befehl ihres Vaters erkennen wir die sittliche Energie, welche
eignes Begehren der Verehrung gegen den Vater opfert. Diese sittliche Ener¬
gie soll aber noch auf eine härtere Probe gestellt werden. Bassanio erscheint
in Belmont, Bassanio, der schon früher ihr Interesse erregt hat und nun im
Sturm ihr Herz erobert. Gern möchte sie ihn bewegen, noch einige Tage die
Wahl aufzuschieben, damit sie im Genuß der Hoffnung, im Spiel mit der be¬
glückenden Möglichkeit sich erfreuen könne. Aber Bassanio's leidenschaftliche
Liebe läßt ihn nicht warten. Der entscheidende Augenblick tritt ein. Mit
verzehrender Angst und Spannung folgt Porzia den überlegender Worten
Bassanio's, und als sie seinen Entschluß vernommen, das bleierne Kästchen
zu wählen, jauchzt ihr zum Zerspringen erregtes Herz:
„O Liebe maß'ge dich in deiner Seligkeit!
Halt ein, laß deine Freuden sanfter regnen;
Zu stark fühl ich, du mußt mich minder segnen,
Damit ich nicht vergeh!"
Doch schnell faßt sie sich und gewinnt ihre frühere Freiheit wieder, und
über die leidenschaftlichen Empfindungen der Natur siegt das sittliche Be¬
wußtsein. Dieselbe Porzia, die in schelmischem Uebermuth Hohn und Spott
über die früheren Werber ausgegossen hat, der wir es vielleicht nicht zuge¬
traut haben, daß sie einem geliebten Manne sich wird unterordnen können,
sehen wir nun das demüthige Bekenntniß selbstverleugnender Liebe ablegen.
„Ihr seht mich, Don Bassanio, wo ich stehe,
So wie ich bin: obschon für mich allein,
Ich nicht ehrgeizig wär' in meinem Wunsch
Viel besser mich zu wünschen; doch, für euch,
Wollt ich verdreifacht zwanzigmal ich selbst sein,
Noch tausendmal so schön, zehntausendmal so reich.
Nur um in eurer Schätzung hoch zu stehn,
Möcht' ich an Gaben, Reizen, Gütern, Freunden
Unschätzbar sein; doch meine volle Summa
Macht etwas nur: das ist, in Bausch und Bogen,
Ein unerzognes, umgekehrtes Mädchen,
Darin beglückt, daß sie noch nicht zu alt
Zum Lernen ist; noch glücklicher, daß sie
Zum Lernen nicht zu blöde ward geboren.
Am glücklichsten, weil sich ihr weich Gemüth
Dem euren überläßt, daß ihr sie lenkt,
Als ihr Gemahl, ihr Führer und ihr König.
Ich selbst und was nur mein, ist euch und eurem
Nun zugewandt; noch eben war ich Eigner
Des schönen Guts hier, Herrin meiner Leute,
Monarchin meiner selbst; und eben jetzt
Sind Haus und Leut', und eben dieß Ich selbst
Eur eigen Herr."
Und dies Bekenntniß ist nicht ein leeres Wort, sie erweist seine Wahr¬
haftigkeit durch die That. Kaum hat sie das ersehnte Glück begrüßt, da
dringt die Schreckensbotschaft zu ihren Ohren , Antonio's Schiffe sind geschei¬
tert, sein Credit vernichtet, der Jude Shylock besteht auf seinem Schein. Der
Mann, dessen Freundschaft Bassanio ihren Besitz, sie Bassanio's Besitz dankt,
ist in das Gefängniß geworfen und scheint unrettbar verloren. Ohne Säu¬
men trennt sie sich sofort von dem Geliebten, und seinen Freund zu retten
ist nun ihr einziges Sinnen und Trachten. Ihr Scharfsinn zeigt ihr den
Weg. Mit einem Empfehlungsschreiben von ihrem Better, dem rechtskundigen
Doctor Bellario in Padua, versehen, in Männerkleidung gehüllt, eilt sie in
Begleitung Nerissa's nach Venedig. Als Doctor Balthasar betritt sie, als
ihr Schreiber Nerissa den Sitzungssaal. Und nun erscheint Porzia zum zwei¬
ten Male auf einem Höhepunkte. Haben wir vorhin die sittliche Kraft be¬
wundert, mit welcher sie den leidenschaftlichen Gefühlen des Weibes sittliche
Haltung und Richtung gab, so sehen wir sie jetzt den engen Kreis der indi¬
viduellen Interessen überschreiten und aus Liebe zu ihrem Manne, aus Ver¬
ehrung gegen den edeln Freund desselben, aus dem Drang, das Glück des
eignen Hauses nicht auf dem Ruin eines andern theuern Lebens zu erbauen,
ein Gebiet betreten, das sonst weiblicher Thätigkeit verschlossen bleibt. Por-
zia wird der Herold der göttlichen Weltordnung, welche die Menschheit zum
Bau eines Reiches des Friedens, der Gnade, der Vergebung ruft, aber über
diejenigen, welche diesem Rufe nicht Folge leisten, für seinen lieblichen Klang
keinen empfänglichen Sinn besitzen, die eiserne Zuchtruthe des Gesetzes, des
Buchstabenrechtes schwingt. Porzia steht hier auf der Höhe echt christlicher,
echt evangelischer Weltanschauung. Dringend bittet sie Shylock Gnade für
Recht ergehen zu lassen, sie stimmt gleichsam einen Preisgesang aus die gött¬
liche Gnade an, sein Herz zu erweichen, und ihre Worte erklingen im Tone
einer gewaltigen Predigt:
„Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang,
Sie träufelt, wie des Himmels milder Regen,
Zur Erde unter ihr; zwiefach gesegnet:
Sie segnet den, der giebt, und den, der nimmt.
Am mächtigsten in Macht'gen, zieret sie
Den Fürsten auf dem Thron mehr wie die Krone.
Das Zepter zeigt die weltliche Gewalt,
Das Attribut der Würd' und Majestät,
Worin die Furcht und Scheu der Kön'ge sitzt;
Doch Gnad' ist über diese Sceptermacht,
Sie thronet in dem Herzen der Monarchen,
Sie ist ein Attribut der Gottheit selbst;
Und ird'sche Macht kommt göttlicher am nächsten,
Wenn Gnade bei dem Recht steht; darum, Jude,
Suchst du um Recht schon an, erwäge dieß:
Daß nach dem Lauf des Rechtes unser keiner
Zum Heile käm'; wir beten all' um Gnade,
Und dieß Gebet muß uns der Gnade Thaten
Auch üben lehren."
Aber Shylock's Herz bleibt hart. Er steht auf seinem Schein, er fordert
sein Recht, die volle Strenge des Gesetzes. Sie soll ihm werden.
„. . weil du dringst auf Recht, so sei gewiß,
Recht soll dir werden, mehr als du begehrst,"
ruft ihm Porzia zu. Und so fällt denn der tödtende Buchstabe nicht auf das
Haupt Antonio's, sondern Shylock's. Porzia's Urtheilspruch bringt Shylock
gegenüber, der sich auf das Recht des Buchstabens und nur auf dieses be¬
rufen hat, dieses und nur dieses zur vollsten Geltung. Schlag auf Schlag
trifft Verderben und Vernichtung den hartherzigen Shylock. Und eben der
Buchstabe des Gesetzes ist es, von dem sie ausgehen.
„Der Schein hier — so lautet das erste Urtheil — giebt dir nicht ein
Tröpfchen Mut,
Die Worte sind ausdrücklich ein Pfund Fleisch.
Nimm denn den Schein, und nimm du dein Pfund Fleisch:
Allein vergießest du, indem du's abschneidst,
Nur einen Tropfen Christenblut, so fällt,
Dein Hab und Gut nach dem Gesetz Venedigs,
Dem Staat Venedigs heim."
Und doch, noch ist der Kelch nicht völlig geleert, den Porzia's Urtheils-
spruch Shylock reicht, ein bittrer Tropfen ruht noch in seinem Grunde:
„Das Recht hat andern Anspruch noch an dich.
Es wird verfügt in dem Gesetz Venedigs,
Wenn man es einem Fremdling dargethan,
Daß er durch Umweg oder grade zu
Dem Leben eines Bürgers nachgestellt,
Soll die Person, auf die sein Anschlag geht,
Die Hälfte seiner Güter an sich ziehn,
Die andre Hälfte fällt dem Schatz anheim,
Und an des Dogen Gnade hängt das Leben
Des Schuld'gar einzig, gegen alle Stimme».
In der Benennung sag' ich, stehst du nun,
Denn es erhellt aus offenbarem Hergang,
Daß du auf Umweg und auch grade zu
Recht eigentlich gestanden dem Beklagten
Nach Leib und Leben; und so trifft dich denn
Die Androhung, die ich zuvor erwähnt."
Die Katastrophe ist nun vollzogen, Porzia hat die Aufgabe gelöst, der
Freund Bassanio's ist gerettet, das Fundament ihres Glücks ist gesichert.
schleunig eilt sie nach Belmont mit Nerissa zurück und kommt dort kurz
vor dem Eintreffen Bassanio's und seiner Freunde an. Hier entwickelt sich
nun ein Scheineonflict. Porzia hat als Doctor Balthasar zum Lohn für ihre
erfolgreiche Thätigkeit von Bassanio den Ring gefordert, den ihm Porzia bei
der Vermählung gegeben, und den er nie abzulegen geschworen hat. Bassanio
hat sich lange gesträubt, aber endlich dem Andringen des Doctors nachge¬
geben, im Bewußtsein, ihm, dem er soviel verdankt, diese Bitte nicht ab¬
schlagen zu dürfen, und in der gewissen Hoffnung, Porzia's Verzeihung zu er¬
halten. Aber nun tritt ihm diese mit bittern Vorwürfen entgegen, hält ihm
seine Eidbrüchigkeit und Untreue vor, erklärt seine Versicherung, den Ring
einem Manne, nicht einem Weibe gegeben zu haben, für eine Lüge und nöthigt
Bassanio zu immer erneuten Betheuerungen seiner Unschuld und zum erneu¬
ten Versprechen, den Ring nie wieder von sich geben zu wollen. Antonio
tritt bürgert für ihn ein, und nun löst Porzia das Mißverständniß, und der
kurze Mißklang verwandelt sich in Frieden und Harmonie. Vielleicht erscheint
dieses Nachspiel zuerst unpassend und wenig zusammenstimmend mit den
ernsten Eindrücken, die wir so eben empfangen haben. Und dennoch ist es
unentbehrlich. Shakespeare wollte dem Drama nicht eine tragische, sondern
eine heitere Richtung geben. Deshalb durfte es nicht mit der Gerichtsscene
schließen, deshalb mußte jenem Akte gleichsam eine humoristische Parodie des¬
selben zur Seite treten, damit das Gleichgewicht der Seele wieder hergestellt
werde und eine fröhlichere Stimmung in derselben Platz greifen könne. So¬
dann hat dieser Scheinconflict eine selbständige Bedeutung, es ist ja wieder
ein Rechtsstreit, der geführt wird, aber welchen Ausgang hat er? Hier waltet
nicht ausschließlich der Buchstabe des Rechts, sondern vor allem die Gnade.
Hier wird uns gezeigt, wie da, wo die Liebe regiert, alle Conflicte leicht sich
lösen; wie hier, auf diesem Boden, der Streit gleichsam ein Spiel ist. das
scherzende Laune als Räthsel ausgiebt, das scherzende Laune zu lösen versteht.
Es ist dies Nachspiel serner wichtig, um den Beweis zu liefern, daß Porzia
nicht etwa plötzlich ein andres Naturell empfangen hat, eine andere geworden
ist, daß der Anblick der ernsten Conflicte des Lebens und daS thatkräftige
Eingreifen in dieselben nicht etwa ihren ursprünglichen Humor, ihren Witz
und Scherz, ihre Heiterkeit und Fröhlichkeit vernichtet hat. Es soll der Be¬
weis geliefert werden, daß sie dieselbe geblieben ist, die zu rechter Zeit den
Ernst und zu rechter Zeit den Scherz hervorzukehren weiß, daß auch jetzt noch
zwei Seelen in ihrer Brust wohnen, die sich aber nicht befehden, sondern er¬
gänzen, tragen und stützen, um ein harmonisches Menschenleben zu gestalten,
das in die Lebenstiefen und zu den Lebenshöhen schaut und dennoch Zeit und
Kraft zum erfreuenden Scherz und zum spielenden Witz sich bewahrt. Es
hat dieses Nachspiel aber endlich noch eine Beziehung. Porzia hat Bassanio's
Gesinnung, seine Liebe und Treue geprüft. Und daß sie damit keineswegs
etwas gethan hat, was überflüssig zu nennen wäre, davon werden wir uns
überzeugen, sobald wir uns den Charakter Bassanio's vergegenwärtigt haben.
Es ist eine durchaus edle und lautere Natur; erführen wir es nicht aus seinen
Worten und Handlungen, wir müßten es voraussetzen. Wem eine Porzia
ihre Liebe, ein Antonio seine Freundschaft schenkt, muß beider würdig sein.
Und er ist es. Denn der Grundzug seines Wesens ist die Verehrung des
Wahrhaften, Echten, Lautern und der Haß gegen die Lüge, das Gekünstelte,
den Schein. Diesen Grundzug beweist er, wenn er den arglosen Antonio,
der in Shylock's verhängnißvoller Forderung einen harmlosen Scherz ja eine
Wandlung zur Milde zu erkennen glaubt, ernst warnt:
„Ich mag nicht Freundlichkeit bei tückischem Gemüthe."
Er bewährt diesen Grundzug ferner in der Beziehung zu Porzia. Schon
das erste Wort, mit dem er sie nennt, bezeugt den sittlichen Charakter seiner
Liebe. Denn höher als Porzia's Schönheit stellt er ihre Tugend.
„In Belmont ist ein Fräulein, reich an Erbe
Und sie ist schön und, schöner als dies Wort,
Von hohen Tugenden."
Und denselben Grundzug zeigt er bei der Werbung selbst. Er will nicht
einige Tage in Belmont warten, es ist ihm unmöglich mit unbegründeten
Hoffnungen sich zu trösten; das Mißtrauen, das ihn am Glück der Liebe zwei¬
feln läßt, ist ihm eine Folter. Und welchen Beweggründen folgt er in der
Wahl des Kästchens? Seine Worte sind eine Verherrlichung des Echten
und Wahrhaften:
„So ist oft äußrer Schein sich selber fremd,
Die Welt wird immerdar durch Zier berückt.
Im Recht, wo ist ein Handel so verderbt,
Der nicht, geschmückt von einer holden Stimme,
Des Bösen Schein verdeckt? Im Gottesdienst,
Wo ist ein Irrwahn, den ein ehrbar Haupt
Nicht heiligte, mit Sprüchen nicht belegte,
Und bürge die Verdcimmlichkeit durch Schmuck?
Kein Laster ist so blöde, das von Tugend
Im äußern Thun ni?de Zinsen an sich nähme.
Wie manche Feige, die Gefahren stehn
Wie Spreu dem Winde, tragen doch am Kinn
Den Bart des Herkules und finstern Mars,
Fließt gleich in ihren Herzen Milch statt Blut?
Und diese leis'n des Muthes Auswuchs nur.
Um furchtbar sich zu machen. Blickt auf Schönheit,
Ihr werdet sehn, man kauft sie nach Gewicht,
Das hier ein Wunder der Natur bewirkt,
Und, die es tragen, um so lockrer macht.
So diese schlänglicht krausen goldnen Locken,
Die mit den Lüften so muthwillig hüpfen,
Weil scheinbar sie so schön: man kennt sie oft
Als eines zweiten Kopfes Ausstattung,
Der Schädel, der sie trug, liegt in der Gruft.
So ist denn Zier die trügerische Küste
Von einer schlimmen See, der schöne Schleier,
Der eine Schöne birgt von Indien; kurz
Die Scheinwahrheit, womit die schlaue Zeit
Auch Weise fängt. Darum, du gleißend Gold,
Des Midas harte Kost, dich will ich nicht;
Noch dich, gemeiner, bleicher Botenläufer
Von Mann zu Mann, doch du, du magres Blei,
Das eher droht als irgend was verheißt,
Dein schlichtes Ansetzn spricht beredt mich an:
Ich wähle hier und sei es wohlgethan."
Einen solchen Charakter hatte Porzia's Vater ihr gewünscht, und des¬
halb begrüßt ihn der Zettel im erlesenen Kästchen:
„Ihr, der nicht auf Schein gesehn,
Wählt so recht und trefft so schön!"
Eine zweite herrliche Tugend Bassanio's ist die Hingabe in der Freund¬
schaft. Deshalb will er es nicht dulden, daß Antonio Shylock's Schein unter¬
schreibt.
„Ihr sollt für mich dergleichen Schein nicht zeichnen,
Ich bleibe dafür lieber in der Noth."
Erst dem dringenden Wunsche Antonio's giebt er nach. Und da des
Freundes Leben nun wirklich gefährdet ist, will er das eigne gern ihm
opfern: -
„Wohlauf, Antonio! Freund, sei gutes Muthes!
Der Jude soll mein Fleisch, Blut, alles haben,
Eh' dir ein Tropfe Bluts für mich entgeht."
Ja in der leidenschaftlichen Begeisterung für Antonio ist er entschlossen.
auf das höchste eben erworbne Glück Verzicht zu leisten, wenn er um diesen
Preis Antonio retten könnte:
„Antonio, ich hab ein Weib zur Ehe,
Die mir so lieb ist als mein Leben selbst:
Doch Leben selbst, mein Weib und alle Welt.
Gilt höher als dein Leben nicht bei mir.
Ich gäbe alles hin, ja opfert alles
Dem Teufel da, um dich nur zu befrein."
Aber trotz alledem, trotz dieser edlen Züge, dieser auf das Echte und
Wesenhafte gerichteten Gesinnung, dieser selbstlosen Freundschaft konnte Vor-
zia berechtigt sein, ihn einer Prüfung zu unterwerfen. Seine Vergangenheit
war nicht ohne Fehl gewesen. Er hatte über! seine Verhältnisse hinaus sich
eingerichtet, verschwenderisch gelebt, er hatte schon einmal von Antonio Geld
geliehen, ohne es zurückzahlen zu können. Mit einem Worte, Bassanio hatte,
ohne Unehrenhaftes zu begehen, leichtfertig gelebt. Und deshalb will sich
Porzia überzeugen, ob seine Liebe zu ihr auf echtem Grunde ruht; oder ob
auch sie etwa nur ein leichtes Spiel seiner Empfindung und Phantasie ist.
Bassanio hat die Prüfung überstanden, obwohl er den Ring verschenkt hat.
Denn das lebhafte innere Widerstreben, sich von demselben zu trennen, hat
Porzia überführt, wie theuer ihm der Ring ist, wie theuer sie ihm ist, von
der er den Ring als Pfand der Liebe empfangen hat. Ja die Motive,
welchen er schließlich in dem Ueberlassen des Ringes gefolgt ist, können ihn in
Porzia's Augen nur in ein günstiges Licht stellen. Die Gewißheit, in der er
gehandelt hat, daß er Porzias Sinn treffe und deshalb auch von ihr Ver¬
zeihung dafür erhalten werde, wenn er ein äußeres Pfand der Liebe hingebe,
um den geforderten Dank dem Retter des Freundes zu gewähren, und die
darin liegende Werthschätzung des Charakters der Porzia müssen ihn nur
ihrer Achtung, Verehrung und Liebe würdiger machen.
Werfen wir nun einen Blick auf die Umgebung Porzia's, Bassanio's und
Antonio's, so befindet sich darunter, abgesehen von Lorenzo, keine hervorragende
Persönlichkett. Nerissa ist die Copie Porzia's. Sie ahmt ihrer Freundin und
Herrin nach, macht ihr Geschick vom Geschick dieser abhängig. Gewinne
Bassanio die Hand Porzia's, so reicht sie ihre Hand dem Freunde Bassanios,
Graziano. Porzia als Doctor Balthasar entlockt Bassanio den Ring, Ne-
rissa als Doctor Balthasars Schreiber bewegt auch Graziano ihr den Ring
zu überlassen. Der Scheineonfliet des Nachspiels entspinnt sich ebenso zwischen
Nerissa und Graziano, wie zwischen Porzia und Bassanio, ebenso befriedigend
wird er gelöst. Nerissa hat keine Selbständigkeit, sie ist das Echo ihrer
Herrin. Und eben diese Stellung als Dienerin, die als Freundin es doch
nicht vergißt, daß sie Dienerin ist, rechtfertigt ihre Unselbständigkeit. Ihre
selbstlose Hingabe an die befreundete Herrin macht ihren sittlichen Werth aus.
Bon ebenso geringer Bedeutung sind die Freunde Antonio's und Bassanio's,
Graziano, Salarino und solario. Ihre Anhänglichkeit an Bassanio und
Antonio, welche sich auch in der Zeit der Noth nicht verleugnet, ist das Ein¬
zige, was sie unserer Achtung und Werthschätzung würdig macht. Abgesehen
davon sind sie leichtfertige Gesellen, deren Humor, Liebenswürdigkeit und
freundschaftliche Hingabe es Bassanio und Antonio möglich machen, in ihren heiteren
Reden einige Anregung zu finden. Gehalt fehlt diesen Reden freilich fast gänzlich.
Bassanio's Urtheil über Graziano: „Graziano spricht unendlich viel Nichts,
mehr als irgend ein Mensch in ganz Venedig. Seine vernünftigen Gedanken
sind wie zwei Weizenkörner in zwei Scheffeln Spreu versteckt: ihr sucht den
ganzen Tag, bis ihr sie findet, und wenn ihr sie habt, so verlohnen sie das
Suchen nicht" — kann auch auf Salarino Anwendung finden. Graziano
entwickelt wenigstens hier und da kräftigen Witz und das Wort, mit dem
er Porzia's Urtheilsspruch, Shylock's frühere Bewunderung parodirend, be¬
gleitet: „O Jud' ein weiser, ein gerechter Richter!" „Ein zweiter Daniel,
ein Daniel, Jude", kann nicht verfehlen, einen wirksamen Eindruck auf die
Stimmung der Hörer auszuüben.
Wenn Lorenzo in einem höheren Maße unser Interesse in Anspruch nimmt,
so geschieht es nicht, weil sein Charakter eine höhere sittliche Würde und Be¬
deutung besitzt, das ist kaum zu behaupten, sondern weil er als Geliebter
und Entführer der Jessica wirksam in die dramatische Entwicklung eingreift.
Nur durch eine tiefen poetischen Sinn, wie er dem feurigen Geliebten der
Jessica ziemt, hat ihn der Dichter vor den übrigen Freunden Antonio's und
Bassanio's ausgezeichnet. Der sinnige Preisgesang, den Lorenzo zu Ehren
der Musik anstimme, legt für diese Begabung des Gefühls und der Phan¬
tasie Zeugniß ab.
„Wie süß das Mondlicht auf dem Hügel schläft!
Hier sitzen wir und lassen die Musik
Zum Ohre schlüpfen; sanfte, macht'ge Stille
Stimmt zu den Klängen süßer Harmonie.
Komm, Jessica! Sieh wie die Himmclsflur
Ist eingelegt mit Scheiben lichten Goldes!
Auch nicht der kleinste Kreis, den du da stehst,
Der nicht im Schwunge wie ein Engel singt,
Zum Chor der hellgeaugten Cherubim.
So voller Harmonie sind co'ge Geister,
Nur wir, weil dieß hinfäll'ge Kleid von Staub
Ihn grob umhüllt, wir können sie nicht hören."--
„Der Mann der nicht Musik hat in ihm selbst,
Den nicht die Eintracht süßer Töne rührt,
Taugt zu Verrath, zu Unheil und zu Tücken;
Die Regung seines Sinn's ist dumpf wie Nacht,
Sein Trachten düster wie der Erebus."
Trau keinem solchen!"
Aber freilich, mit dieser ästhetischen Begabung geht das sittliche Be¬
wußtsein keineswegs Hand in Hand, sondern ist vielmehr von jenem fast ab«
sorbirt. Auch seine Geliebte Jessica, die Tochter Shylock's. kann kaum An¬
spruch auf unsere Sympathie erheben. Die Leichtigkeit des Entschlusses, das
Haus des Vaters zu verlassen, dem sie auch ohne Bedenken seine Juwelen
und Dukaten entwendet, beraubt sie der sittlichen Würde. Nur der selbst¬
süchtige Charakter Shylock's läßt Lorenzo's und Jessica's Handeln in mil¬
derem Lichte erscheinen. Vielleicht geschieht es auch nicht ohne Absicht, daß
Lanzelot andeutet, Jessica möchte nicht die wirkliche Tochter Shylock's sein,
dadurch würde das unkindliche Verhalten Jessica's begreiflicher werden. Jessica
kommt eigentlich für die Entwicklung der dramatischen Idee nur soweit in
Betracht, als sie zur Charakteristik Shylock's beiträgt. Nicht einmal die
Tochter vermag in Shylock's Hause zu bleiben. Demselben Zwecke dient auch
Lanzelot. Lanzelot ist ein leerer Schwätzer, dessen Witzeleien in leeren Wort¬
spielen bestehen, die zum Theil Lachen erregen, zum Theil aber Ekel hervor¬
bringen. Es ist wohl möglich, daß Shakespeare in ihm eine Sitte seiner
Zeit geißeln wollte, die auch in höheren Kreisen um sich gegriffen hatte.
Wenigstens deutet darauf Lorenzo's Urtheil:
„O heilige Vernunft, was eitle Worte! ^
Der Narr hat ins Gedächtniß sich ein Heer
Wortspiele eingeprägt. Und kenn ich doch
Gar manchen Narrn an einer bessern Stelle,
So aufgestutzt, der um ein spitzes Wort
Die Sache Preis giebt."*) —
Im ungünstigsten Lichte erscheint er uns, wenn er seinen alten blinden
Vater verspottet. Lanzelot ist ein Taugenichts, für den wir weder Sympathie
haben können noch sollen. Er bildet eine eigenthümliche Staffage für das
Haus Shylock's, das er in besonderer Weise belebt. Für Shylock ist er durch
den Lohn und Spott, mit dem er ihn behandelt, durch die Trägheit, die er
in seinem Dienste zeigt, ein Gegenstand ununterbrochenen Aergers, eine quä¬
lende Strafe, für Jesstka ein muthwilliger Gesellschafter, der in das todte und
öde Haus doch etwas, wenn auch werthloses Leben bringt. Aber selbst ein
Lanzelot, dessen Geschmack sonst nicht wählerisch ist, hält es auf die Dauer
bei Shylock nicht aus. Er läuft davon und tritt in Basfanio's Dienst. Nie-
mand kann bet Shylock dauernd weilen, weder seine Tochter noch sein Diener,
alle verlassen ihn, er bleibt allein. So richtet sich schließlich unser Blick auf
Shylock, den einzigen Charakter des Dramas, welcher die bewußte Selbstsucht,
die Härte des rachbegierigen Herzens darstellt.
Wir würden uns nun das Verständniß Shylock's vollständig verschließen,
wenn wir etwa in dem Drucke, den er als Jude geduldet, in den Beschim¬
pfungen, die er erfahren, die Quelle seines Hasses suchen wollten. Er sagt
nach der Flucht seiner Tochter oder richtiger im Sinne Shylock's nach dem
Verlust seiner Juwelen und Dukaten, welche die Tochter mitgenommen: „Der
Fluch ist erst jetzt auf unser Volk gefallen, ich hab' ihn niemals gefühlt bis
jetzt." Wenn er vor Antonio und dessen Freunden der Beleidigungen ge¬
gedenkt, die er hatte leiden müssen, so spielt er eine Rolle, er will als un¬
schuldiger Dulder erscheinen, welcher den Fluch trägt, der auf seinem Volke
lastet, und dessen Zorn wider die Christen entflammt ist, weil sie seine Men¬
schenrechte mit Füßen getreten haben. In der That aber hat sein Haß den
tiefsten Grund darin, daß Antonio sein Geschäft gestört, seinen Gewinn ver¬
ringert hat.
Vergegenwärtigen wir uns in der Kürze, um die Beurtheilungen, welche
Shylock's Geschäft von den Christen und vom Dichter selbst erfährt, die An¬
schauung der Zeit über das Recht Zinsen zu nehmen für ausgeliehenes Geld.
Schon das Alterthum hatte eine entschiedene Abneigung gegen das Zinsrecht.
Das Alte Testament gestattete nur von Ausländern Zinsen zu nehmen, nicht
aber von Volksgenossen. Aristoteles und Seneca mißbilligen das Zinsrecht
ebenfalls. Die meisten Kirchenväter stehen auf demselben Standpunkt. Das
kanonische Recht tritt den Zinsverträgen ebenfalls entgegen. Ja es kam im
Mittelalter vor, daß der Zinsgläubiger vom Abendmahl ausgeschlossen, und
Vertheidigung des Zinsnehmens für Ketzerei erklärt wurde. Noch Luther
und Shakespeare verwerfen es. Zinsnehmen wird ohne Weiteres schon für
Wucher erklärt.*) Dies müssen wir festhalten, um Shylock's Charakter im
Sinne Shakespeare's zu begreifen. Shylock war von unserem Standpunkte
aus beurtheilt ein Banquier, dessen Geschäft keinen Tadel herausforderte, er
war in den Augen Shakespeare's ein Wucherer. Antonio hat Geld geliehen
ohne Zinsen zu nehmen, er hat daher das Geschäft Shylock's geschädigt an
Ehre und Gewinn. Nach seiner Schätzung hat er durch Antonio's edlen Sinn
— immer im Sinne des Dichters geredet — eine halbe Million verloren.
Daher, vor allem sein Haß gegen Antonio:
„Ich Hass' ihn, weil er von den Christen ist,
Doch mehr noch, weil er aus gemeiner Einfalt
Umsonst Geld ausleiht und hier in Venedig
Den Preis der Zinsen uns herunterbringt.
Wenn ich ihm mal die Hüfte rühren kann,
So thu' ich meinem alten Grolle gütlich,
Er haßt mein heilig Volk und schilt selbst da,
Wo alle Kaufmannschaft zusammenkommt,
Mich, mein Geschäft und rechtlichen Gewinn,
Den er nur Wucher nennt. — Verflucht mein Stamm,
Wenn ich ihm je vergebe."
Es ist freilich nicht ohne Bedeutung, daß Shylock ein Jude ist. Solche
Gestalt konnte eben nur auf dem Boden des Judenthums gedeihen, nicht
aus dem Boden des Christenthums. Die Selbstsucht in der Form der Hab¬
gier, welcher das Geld alles ist, das höchste Gut; die Selbstsucht gepaart mit
dem Stolz der Verachtung gegen alle Nichtjuden, aus nationalen und reli¬
giösen Motiven. Das ist das jüdische Herz, welches mit Fug und Recht
Unbill und Mißhandlung duldet, das ist das jüdische Herz, welches in der
Brust Shylock's schlägt. Selbstverständlich, wir wiederholen es noch einmal,
um jedes Mißverständniß zu vermeiden, ist dies Urtheil über Judenthum und
jüdische Gesinnungen nicht das unsere, sondern des Dichters, das wir nie aus
den Augen lassen dürfen, um Shylock's Charakter zu begreifen. Wir sollen
für Shylock gar kein Mitgefühl haben, alle menschlichen Gefühle sind in ihm
erstorben. Die Selbstsucht in ihrer herzlosesten Erscheinung als Geldgier und
Rachsucht erfüllen ihn ganz. Selbst in dem Schmerz über die Flucht der
Tochter erregt er nicht unsere Theilnahme, denn dieser Schmerz ist ja nur
der Schmerz über den Verlust der Juwelen. „Ich wollte, meine Tochter läge
todt zu meinen Füßen und hätte die Juwelen in den Ohren! Wollte, sie
läge eingesargt zu meinen Füßen und die Dukaten im Sarge! Keine Nach¬
richt von ihnen? El, daß dich! — und ich weiß noch nicht, was beim Nach¬
setzen drauf geht. El, Verlust über Verlust! Der Dieb mit so viel davon¬
gegangen, und soviel um den Dieb zu finden; und keine Genugthuung,
keine Rache!" Doch die Rache soll ihm werden. Sein Freund Tubal tröstet
ihn über die Erfolglosigkeit seiner Nachforschungen nach Jessica mit der frohen
Botschaft vom Ruin Antonio's. Das ist der Balsam, mit dem er erquickt
wird. Der Schmerz um die verlorenen Dukaten und Juwelen weicht der un¬
heimlichen Freude an der ersehnten Rache und der Hoffnung, wenn sie voll¬
zogen, ungestört sein Geschäft treiben zu können. ..Geh' Tubal, miethe mir
einen Amtsdiener, beseelt ihn vierzehn Tage vorher. Ich will sein Herz haben,
wenn er verfällt; denn wenn er aus Venedig weg ist, so kann ich Handel
treiben, wie ich will." Und ohne Schwanken betritt er den Weg der Rache.
Keine Bitte erweicht sein Herz; weder der Bitte Antonio's und seiner Freunde,
noch dem Andringen des Dogen giebt er nach. Er bewährt des Dogen
Urtheil:
„Es ist ein Unmensch, keines Mitleids fähig.
Kein Funk Erbarmen wohnt in ihm."
Porzia's Predigt von der Gnade gleitet wirkungslos an seinem stei¬
nernen Herzen ab. Porzia's Nechtsdeductionen erfüllen seine Seele mit der
freudigen Gewißheit, daß der Augenblick der Rache gekommen sei. Schon
wetzt er das Messer, um mit kaltem Blut, durch das Recht des Buchstabens
geschützt, vor den Augen der Richter, Antonio zu morden und in Antonio's
Blut die Glut seiner Rache zu kühlen. Da trifft der Stahl des Rechts sein
eigen Herz. Da bricht er zusammen. Aber nicht ein Gefühl der Reue dringt
in seine Seele, keine weichere Empfindung hat in ihr Raum. Derselbe, wie
er war, geht er. Als er fürchten muß, sein ganzes Vermögen zu verlieren,
hat das Leben für ihn keinen Werth mehr. Als ihm aber durch Antonio's
Fürsprache ein Theil seines Vermögens wieder in Aussicht gestellt wird, trägt
er kein Bedenken, diesen für ihn entehrenden Bedingungen, dem Uebertritt
zum Christenthum, der Ernennung seiner Tochter und seines Schwiegersohnes
zu seinen Erben, sich zu unterwerfen. Er ist derselbe geblieben, das Geld ist
sein Herz, das Geld ist ihm alles.
Man könnte Shakespeare vorwerfen, daß er Shylock karrikirt, ihn der
Sphäre des Menschlichen, menschlicher Gesinnung' und Empfindung entzogen
habe. Aber Shakespeare wollte uns einen Blick in die dunkeln Tiefen der
Sünde und des Verderbens thun lassen, welche in der Menschenbrust ruhen.
Und deshalb hat er diese Nachtgestalt gezeichnet. Und wer wollte, wer dürfte
behaupten, daß solche dämonische Charaktere nicht in der That, wenn auch
selten, mitten in der menschlichen Gesellschaft erscheinen? Auch dürfen wir es
nicht übersehen, daß Shakespeare dadurch, daß er Shylock eine eigenthümliche
religionsgeschichtliche Basis gegeben, ihn zum Typus und Repräsentanten
eines religiösen Volksgeistes gemacht hat, seine individuell persönliche Schuld
Shylock's gemildert hat. Daß er aber das Judenthum in ein so ungünstiges
Licht gestellt, alle edleren menschlichen Regungen ihm abgesprochen hat, da¬
rüber dürfen wir nicht mit ihm rechten. In diesem Urtheil spiegelt sich nur
das Urtheil seiner Zeit, die Stellung, welche das Judenthum im Mittelalter
eingenommen hat.
Haben wir uns so die einzelnen Charaktere und den Entwicklungsgang
des Dramas vergegenwärtigt, so liegt uns nur noch die Beantwortung der
Frage vor, ob sich uns die Idee, in der wir die Einheit des Dramas gefunden
haben, bewährt hat, oder ob wir einer andern Auffassung doch vielleicht den
Vorzug geben müssen. Am wenigsten werden wir uns die Ansicht von
Kreyßig und Gervinus aneignen können. So ideale Charaktere wie
Antonio und Porzia widerlegen eine Ansicht, welche in unserm Drama
doch eigentlich nur die Befürwortung der goldnen Mittelstraße findet. Die
Behauptung von Gervinus aber, Shakespeare habe das Verhältniß des
Menschen zum Besitze schildern wollen, bleibt bei der Peripherie stehen, wird
Charakteren, wie Porzia, Antonio, Bassanio nicht gerecht, verkennt die große
Bedeutung, welche in unserm Drama die Freundschaft hat, übersteht die idealen
Pole, um die sich die Entwicklung des Dramas bewegt. Näher der Wahr¬
heit kommen Ulrici und Rötscher, wenn sie in dem Gegensatz des for¬
mellen Buchstabenrechts und des wahrhaften mit der Sittlichkeit geeinten
Rechts den Herzschlag der dramatischen Entwicklung finden. Denn in der
That spielen Rechtsfragen in unserm Drama eine große Rolle. Aber sie
übersehen nicht bloß, daß ein Shylock durch das Buchstabenrecht verurtheilt
und ein Antonio durch dasselbe gerettet wird, sondern auch, daß in Porzia's
Geschick das formelle Recht, der Buchstabe des Testaments, sich als segens¬
reich erweist. Das innere und äußere Recht gehen hier harmonisch Hand in
Hand. Wie ja auch Nerisfa sagt: „Euer Vater war allzeit tugendhaft und
fromme Männer haben im Tode gute Eingebungen: also wird die Lotterie,
die er mit diesen drei Kästchen von Gold, Silber und Blei ausgesonnen hat,
daß der, welcher seine Meinung trifft, euch erhält, ohne Zweifel von nie¬
mandem recht getroffen werden, als von einem, der die rechte Liebe hat."
Das formelle Recht erscheint als ein zweischneidiges Schwert, welches den einen
schützt, den andern tödtet. Und wen schützt es? Den, welcher der selbstlosen
Liebe folgt, und wen tödtet es? Den Egoisten. Und fo können wir, die
eigne Ansicht durch Ulrici's treffende Bemerkungen ergänzend, sagen, daß im
Kaufmann von Venedig der Steg der selbstlosen Liebe über die Selbstsucht
mittelst der Macht des Rechts gefeiert werde.
Kaum ein anderer moderner Staat hat in den letzten Jahrzehnten so
riesige Fortschritte in der Kulturentwickelung gemacht, als Rußland. Es wäre
heutzutage ein bedenklicher Anachronismus, die Begriffe: Rußland und Rück¬
schritt, wie es früher geschah, mit einigem Rechte zu identificiren. Die Zauber¬
formeln der modernen Zeit, die Alles bezwingende und gewissermaßen nivel-
lirende Macht der Verkehrsmittel, der Pfiff der Locomotive, das geräusch-
lose Walten der elektrischen Leitungen haben das scheinbar Unmögliche selbst
in den russischen Steppen zur erfreulichen Thatsache, zu lebensvoller Wirklich¬
keit gestaltet. Durch die weiten Gauen Rußlands weht heute ein Hauch
neuen Lebens, der um so verheißungsvollere Keime verspricht, als noch un¬
berührte, von Naturkraft strotzende Auen nur des schaffenden Geistes zu harren
scheinen, der sie aus langer Erstarrung weckt. Der Beginn dieser neuen
Epoche in der russischen Geschichte datirt vom Krimknege her; mit ihm ging
jenes alte Rußland zu Grabe, dessen Trümmer in Sebastopol noch heute ver¬
schüttet und in düsterer Unordnung in die neue Zeit hineinragen. Der edle
und milde Geist des Fürsten, welcher die Erbschaft des Krimkneges antrat,
sah klarer und tiefer, was dem russischen Volke und Staate noth that, als
sein in autokratischen Irrthümern befangener Vorgänger. Es galt vor Allem:
Nußland von dem niedrigen Standpunkte des Barbarenthums hinaufzu¬
heben zu der Gemeinschaft der europäischen Kulturvölker; es handelte sich um
die Lösung der socialen Frage Nußlan dö. Freilich ist darunter ein von
dem heutigen Bewußtsein der übrigen Nationen weit verschiedener Begriff zu
verstehen: nicht die Reibung der in den Kulturstaaten durch Jahrhunderte
neben einander geltend gewesenen Schichten einer zahlreich gegliederten civili-
sirten Gesellschaft, sondern die Befreiung von Millionen dem Naturzustande
kaum entwachsener Menschen aus den Banden der Hörigkeit und Leib¬
eigenschaft. Betrug doch die Zahl der Gutsbauern allein in Rußland fast
10—11 Millionen, der Kronbauern 9 Millionen; dazukamen Hunderttausende
anderer Kolonisten, Postbauern u. s. w., lauter trugög eonsumers nati, welche
unter der Last persönlicher Frohndienste seufzten. Das Gesetz vom 19. Februar
1861 befreite mit einem Schlage 22 Millionen Menschen aus den Banden
der Leibeigenschaft. Alle diese verwickelten, tief in das Rechtsleben einschnei¬
denden Verhältnisse wurden überraschend schnell geordnet; der Boden Ru߬
lands ward frei und auch alle jene Schranken, welche den freien Handels¬
betrieb oft unübersteigbar umgaben, sind jetzt wenigstens in den Grundzügen
hinweggeräumt; als Schlußstein dieses großartigen Baues aber ist vor nicht
langer Zeit die allgemeine Wehrpflicht, ebenfalls in den Grundlagen
zur Ausführung gebracht worden. Mag im Einzelnen noch mancher Baustein
bröckeln, mag es noch langer Arbeit bedürfen, um zahlreiche Härten auszu¬
gleichen und den Forderungen des Rechtsstaates gänzlich gerecht zu werden:
die Thatsache eines wahrhaft ungeheuren Fortschritts, wie er
z. B. in Preußen durch das Edict zur Regulirung der gutsherrlich-bäuer¬
lichen Verhältnisse vom Jahre 1811 inaugurirt wurde, liegt für Rußland un¬
bestritten vor.
Die Macht dieser socialen Umwälzungen erstreckt sich naturgemäß auch
auf die äußere politische Stellung und Wirkungssphäre des russischen Reichs;
sie manifestirt sich in dem Gewicht, welches die maßgebenden politischen Fac-
loren Rußland zuerkennen, und zwar nicht minder in Europa, wo die
Kaiser-Conferenzen eine nur zu bezeichnende Illustration der Machtverhältnisse
abgeben, wie in Asien, wo Rußland einerseits im Südwesten soeben das
letzte Bollwerk der turanischen Race, Chiwa, niedergeworfen, andererseits
im Osten, in Japan und China den dominirendsten Einfluß erlangt hat,
der sich selbst bis zur Besetzung einzelner mongolischer Plätze mit russi¬
schen Truppen zu steigern, in Japan aber die Verdrängung des übrigen
europäischen Elements anzustreben scheint: Perspektiven von so kolossaler Trag¬
weite, daß der Politiker wie der Kulturhistoriker dringende Veranlassung
haben, sich mit den Resultaten jener gewaltigen socialen und ökonomischen
Umwälzung näher bekannt zu machen. Denn es wird mit den Aeußerungen
jener Macht immer und überall als mit einer der wichtigsten Potenzen ge¬
rechnet werden müssen.
Bis vor einem Jahrzehnt etwa waren nicht einmal die Ziffern der
Staats-Einnahmen und Ausgaben Rußlands genauer bekannt. Die Kennt¬
niß der russischen Finanzwirthschaft war nur wenigen Eingeweihten
vergönnt; allenfalls wußte man von seinen Creditinstituten. Ueber die
bäuerlichen Verhältnisse, den Land- und Bergbau, den Stand der Industrie,
das Communicationswesen, selbst über den Handel des russischen Reichs waren
nur dürftige Angaben verbreitet. In der fruchtbringenden Verwerthung die
neuesten aller Wissenschaften: der Sta tistik, war Rußland am weitesten zu¬
rückgeblieben, schon weil sichere Ergebnisse statistischer Werthmessungen und
Zählungen innerhalb seiner weiten Grenzen und bei dem Conglomerat so
vieler Völkerschaften, so sehr abweichender Verhältnisse überaus schwer sich
erlangen lassen. Erst in neuerer Zeit ist durch Publication des werthvollen
Werks des russischen Generalstabes: „Statistische Beschreibung Ru߬
lands", dieses Dunkel einigermaßen erhellt worden; und es muß deshalb
freudig begrüßt werden, wenn Mitarbeiter an diesem Werke es übernehmen,
durch zweckmäßige Bearbeitung des gewonnenen Materials die Kunde russi¬
scher Verhältnisse weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Mag auch der
Reuchlin Rußlands, der Gregorovius Moskaus, der Droysen der russischen
Politik noch auf sich warten lassen. Es sind werthvolle Anfänge, Memora-
bilien der Geschichtsschreibung, bereits vorhanden, welche größte Beachtung
verdienen. Neuerdings hat die von Carl nötiger herausgegebene „Russische
Revue" (Se. Petersburg, bei H. Schmitzdorff), unterstützt von Namen besten
Klanges, wie P. Lerch, F. Matthäi, Hausmann, Vamb6ry, Schwanebach
u. A., mit großer Sachkenntniß und bestem Erfolge sich bestrebt, die zum
Theil noch ungeförderten Schätze zu heben. Ebenso werthvoll sind die Ver¬
öffentlichungen des Staatsraths Christian von Sarauw, welcher auf
Grund jener statistischen Feststellungen des russischen Generalstabes molto-
graphische Darstellungen sowohl der Heeresmacht Rußlands, als auch der
finanziellen und ökonomischen Entwickelung dieses Reichs seit dem Krim¬
kriege *) geliefert hat, die uns durch die musivische Gruppirung und die Archi¬
tektonik der amtlichen Ziffern hindurch einen klaren Einblick in den mächtigen
Aufschwung Rußlands auf socialem und wirthschaftlichem Gebiete gewähren.
Es ist das zuletzt gedachte Werk, welches uns heute beschäftigt.
Christian von Sarauw befolgt in der Behandlung des weitschichtigen
Stoffs die historische Methode, indem er das Werden der Thatsachen nach¬
weist. Nur selten tritt das Subject des Berichterstatters scharf hervor, wie
z. B. da, wo er über den Werth der Controle urtheilt, welche von der
„Volksrepräsentation" über das Budget ausgeübt werden soll. Nach seiner
Ansicht hat „das System der nachträglichen BudgebBedürfnisse" im zweiten
französischen Kaiserreich dargethan, daß die Zuverlässigkeit einer Staatssinanz-
wirthschast durch parlamentarische Controle „nicht gewährleistet sei". Als
wenn diese Schemen des Parlamentarismus auf allgemeine Giltigkeit An¬
spruch machen könnten! Sarauw corrigirt seine Ansicht selbst durch den Hin¬
weis auf die Thatsache: daß seit 1866 nun auch in Rußland eine Controle
besteht, welche die richtige Verwendung der den verschiedenen Verwaltungs¬
zweigen zugewiesenen Budget-Summen sicherzustellen bestimmt ist. Diese Con¬
trole erweist sich schon als geboten durch das fortwährende Anwachsen des
Budgets. Unter Peter's des Großen Regierung waren für 14 Millionen
Menschen in Rußland nur ebensoviel Millionen Rubel Staatsausgaben
nöthig. Vierzig Jahre später war das Ausgaben-Budget schon auf mehr als
20 Millionen Rubel gestiegen. Mit dem Wachsen der Bevölkerung hielten
die Einnahmen des Staats keineswegs gleichen Schritt, so daß 1834 z. B.
im Budget ein Deficit von 21 Millionen Rubel, 6 Jahre später von 30
Millionen, endlich 1848 ein solches von 62,546.000 Rubeln vorhanden war.
In den Kriegsjahren 1834 — 1886 stieg dasselbe sogar auf 123,218,000,
261,880,000 und 265,778,000 Rubel. Nachher verminderte sich die Unter¬
bilanz, mit wenigen Ausnahmen (1866) wieder; sie betrug 1867 etwa
5 Millionen, 1868 19 Millionen. 1869 11 Millionen, 1870 9 Millionen,
1871 4 Millionen Rubel, und für 1872 befindet sich ein Ueberschuß von
384,221 Rubel im Budget: ein Beweis wachsender Gesundheit des Staats¬
lebens.
Die Staats - Einnahmen sind in dem Zeitraume 1800— 1872 von
65,700,000 Rubel auf 497.198.000 Rubel, also um mehr als das sieben¬
fache, in die Höhe gegangen; seit 1866 ist das Einnahme-Budget um etwa
62 <>/<> gestiegen.
Diese Einnahmen entspringen aus fünf Hauptquellen; den directen
Steuern, den indirecten Steuern, den Staatsregalien, den Domainen und
anderen, namentlich centralasiatischen Bezügen, welche letztere mehr und mehr
an Wichtigkeit zunehmen.
Unter den directen Steuern liefert die Kopfsteuer das größte Con¬
tingent; ihre Ergiebigkeit sichert der echt russische Grundsatz: daß nicht der
Einzelne, sondern die Gemeinden für die Aufbringung verantwortlich gemacht
werden sollen. Die Anzahl der Kopfsteuerpflichtigen betrug 1858 25,179,332.
Von Peter dem Großen zur Beschaffung des Heeresunterhalts eingeführt,
wurde diese Steuer nach und nach zur Personalabgabe; sie beträgt gegen¬
wärtig (seit 1867) 3 Rubel 23 Kopeken für den Städter und Handwerker,
zwischen 1 Rubel 30V-, Kopeken und 2 Rubel 14 Kopeken für. den Bauer.
Die Erhöhung (für den Bürger etwa das Dreifache gegen den Betrag unter
Peter dem Großen, für den Bauer um das Doppelte) ging Hand in Hand
mit der Emancipation des Grundeigenthums, ist also volkswirthschaftlich ge¬
rechtfertigt. Bis 1862 brachte die Steuer zwischen 14 und 20 Millionen
Rubel ein, von da stieg sie auf 28,670,000 Rubel, 1868 auf 47 Vz Millionen,
1869 auf 48 Millionen; in den drei letzten Jahren trug sie über 60 Millio¬
nen Rubel xor Jahr ein (mit der Zuschlagsteuer für die Kronbauern
lOwotsewiA xoZ-est etwa 96 Millionen Rubel; 1872 96,290,190 Rubel).
Den mächtigen Impuls, welchen der Handel Rußlands erfuhr, zeigt am
besten die Handelsabgabe (Certificatfteuer für das Recht, Handel zu treiben,
überhaupt und Billetsteuer für die Läden). Diese Abgabe brachte bis 1862
in 30 Jahren das Doppelte ein, steigerte sich 1863 von 5 auf 9 Millionen
und bringt jetzt (1872) 12,390,000 Rubel ein. Der höchste Betrag der Cer-
tificatsteuer (für Kaufleute erster Gilde) ist 265 Rubel, der Ladensteuer
30 Rubel (für Kleinhändler 2—10 Rubel).
Die gesammten directen Steuern haben sich seit dem Krimkriege um
lOOProeent gehoben, ohne daß es einer nennenswerthen Mehrbelastung
der Bevölkerung bedurft hätte.
Die indirecten Steuern umfassen die Getränksteuer, die Salzsteuer, die
Tabaksaeeise, Rübenzuckersteuer, die Zölle, Stempelabgaben, Erbschafts- und
Eigenthumsänderungsgebühren, Paßabgaben, die Schifffahrtsabgaben und die
Chauffeegelder, von denen die Getränksteuer den größten Ertrag liefert
nämlich fast ein Drittheil sämmtlicher Einnahmen des Staats.
Sarauw hebt mit Recht hervor, daß diese Erscheinung einen wunden Fleck,
des russischen Staatslebens bekundet, insbesondere wenn die geringe Ergiebig¬
keit der Zölle in Betracht gezogen wird. Zugleich muß die Gewohnheit des
gemeinen russischen Mannes: Branntwein zu genießen, als kulturfeindlich an¬
gesehen werden, eine Nationalsünde, deren üble Folgen noch fühlbarer sich
machen, seitdem (1863) die Branntweinproduction freigegeben ist. Ebenso
drückend für die Bevölkerung, namentlich die bäuerliche, ist die Salzsteuer,
welche zwischen 10—30 Kopeken xer Pud variirt; ihrem Einflüsse wird, wohl
mit Recht, die ungenügende Verwerthung des Salzes in der russischen Vieh¬
zucht zugeschrieben; sie bringt etwa 7—8 Millionen Rubel ein. Tabacks- und
Rübenzuckersteuer werfen ungefähr je 1—2, bez. 3 Millionen Rubel ab; die
geringe Entwickelung der Rübenzucker-Production datirt von der Einführung
der besonderen Patentsteuer, welche die Producenten zurückhielt.
Was die Zölle betrifft, so bezeichnet Ch. v. Sarauw das Verhältniß
derselben zu den übrigen Staatseinnahmen Rußlands als ein anormales. Die
letzteren entwickelten sich den Zöllen gegenüber bis 1832 etwa wie 6,6: 1,
1872 war der Stand etwa wie 11,1:1. Während die Zölle 1846 bereits
34,434,000 Rubel abwarfen, blieben sie in späteren Jahren oft hinter diesem
Ergebnisse zurück und erreichten 1867 erst die Höhe von 36.914,000 Rubeln;
1869 betrugen sie 40 Millionen, 1870 41,280,000 Rubel. Allerdings hängt
die geringe Steigerung in den Zoll-Erträgnissen von der specifischen Lage
Rußlands zum Welthandelsmarkte, von seiner Entfernung von den großen
Verkehrsstraßen der Neuzeit ab; es kann weniger als andere Länder den
Vermittler zwischen großen Absatzgebieten bilden. Selbst die Vermittelung
zwischen Europa und Asien, welche Rußland bei dem Besitze der kürzesten
Straße naturgemäß zufallen müßte, ist ihm wegen des Mangels an Commu-
nicationsstraßen zur Zeit noch entzogen, wenn auch zahlreiche Anzeichen darauf
hindeuten, daß der Weg von London nach Peking in vielleicht nicht ferner
Zukunft über Nischnci-Nowgorod, Jrtusk und Urga, der Weg von London
nach Calcutta aber über Chiwa und Buchara gehen wird. Weiter ist die
Art der Production Rußlands auf den Zollgewinn von entscheidenden Ein¬
fluß; es beschränkt sich dieselbe überwiegend auf Rohproducte, namentlich
Korn, dessen Ausfuhr von der Nachfrage anderer Länder und von der grö¬
ßeren oder geringeren Leichtigkeit des Transports abhängt. Endlich ^sind die
Zollgesetze selbst ein beträchtliches Jmpediment für zweckmäßige Ausbeutung
dieses Regals gewesen, da sie von den Principien der Manchester-Schule oft
bis zu dem äußersten Schutzzollsystem hin- und herschwankten. Neuerdings
ist in humaner Aufwallung der Kaffee- und Wein-Zoll herabgesetzt, für in¬
ländische Maschinenfabrikate aber, den früheren Freihandels-Grundsätzen Ru߬
lands zuwider, ein Schutzzoll eingeführt worden. Sehr lästig ist z. B. auch
die Schifffahrtsabgabe (800,000 Rubel), deren Abschaffung Sarauw im Inter¬
esse der Entwickelung des Schiffsverkehrs auf den zahlreichen Binnengewässern
Rußlands, die dessen wichtigste natürliche Verkehrsadern bilden, mit Recht
dringend empfiehlt.
Die gesammten indirecten Steuern belaufen sich für 1872 auf 247 Mil-
livrer Rubel. Da die directen etwa 108Vs Millionen Rubel betragen, so ist
das Verhältniß zwischen beiden etwa wie 1:2,29 (18S2 — 1:2.44. 1832
— 1 :1,67). Die Zunahme bei den indirecten Steuern seit dem Krimkriege
beziffert sich auf 77 ^.
Die geringe Ausbeute der Staatsregalien: des Bergbaues, der
Münze, des Post- und Telegraphenwesens, ist ein wichtiger Werthmesser der
Kultur des weiten russischen Reichs. Rußland hat unermeßliche Schätze an
Metallen und Mineralien. Dennoch wurde 1868 von dem Bergwerksregal
nur Vs Million Rubel gewonnen, ein sprechender Beweis von der Unzuläng¬
lichkeit der russischen Bergwerksverwaltung. Die Privatbergwerke zahlen als
Abgabe vom Gewinn an Edelmetallen etwa 3Vz Millionen Rubel. Die
Münze ergiebt nur einen Ertrag von 4,966,000 Rubel, seitdem die Ausbeute
von Edelmetallen auf den Staatsdomainen dem Conto der Münze abge¬
nommen und dem der Domainen zugeschrieben ist; 1867 lieferte sie noch
11,775.000 Rubel Ertrag.
Das Postwesen steht in Rußland ebenfalls auf einer ziemlich niedrigen
Entwickelungsstufe; trotz aller Bemühungen des Staats, den Volksunterricht
zu heben, dessen Zustand auf Benutzung der Postanlagen in hohem Maße
influirt, und trotz der zweckmäßigen Organisationen des gegenwärtigen Post-
direetors, Baron von Velho, der auch den modernen Ideen von Vereinbarung
eines allgemeinen Weltportos sich entgegenkommend erweist, hat weder die
Briefzahl noch der Portoertrag sich besonders gehoben. Die hauptsächlichsten
Hindernisse, welche die russische Post außerdem zu überwinden hat, bestehen in
der Weite der Entfernungen und in dem Mangel an ausreichenden Commu-
nicationsmitteln, der trotz der ungeheuren Fortschritte des Eisenbahnbaues
immer noch sehr fühlbar ist. Die Post hat demnach eine Unterbilanz, die
für 1871 und 1872 beziehungsweise 3,704,764 und 3,229,215 Rubel beträgt.
Die gesammten Post-Einnahmen belaufen sich setzt auf etwas über 9 Mil¬
lionen Rubel. In gesunder, freilich sehr langsamer Steigerung begriffen ist
der Ertrag des inländischen Portos, der 1866 2.944,000 Rubel, 1869
3,948,000 Rubel ausmachte. Dagegen befindet sich die Einnahme aus der
ausländischen Correspondenz im Rückgange. Die finanzielle Lage des Tele¬
graphenwesens ist eine günstigere, zumal sich dasselbe in einem überaus gro߬
artigen Maßstabe entwickelt hat und seine Wirksamkeit gegenwärtig von
Odessa bis Archangel und von Warschau bis Kamtschatka, von den sibirischen
Ostküsten aus aber bereits bis China erstreckt. Die Einnahmen sind für
1872 auf 4.300,000, die Ausgaben auf 2,678,300 Rubel veranschlagt. Es
ist also ein für weitere Anlagen nutzbar zu machender Ueberschuß vorhanden.
— Das Eisenbahnwesen liefert trotz seines mächtigen Wachsthums dem
Staate bis jetzt keinen Ertrag. Von den Einnahmen in 1870 — 26,961,000
Rubel gingen allein über 17 Millionen Rubel zur Amortisirung der Anleihen
ab, während an Privat-Eisenbahngesellschaften mehr als 6^/z Millionen Rubel
Zins-Garantieen zu zahlen waren, welche freilich eigentlich auf das allgemeine
Kapitel der Productiv- und Landeskultur-Ausgaben gehören.
Interessant sind die Data von den Einnahmen aus den transkauka¬
sischen Di se rieten. Die letzteren werfen, da ihre Civilverwaltung allein
mehr als 6,600,000 Rubel kostet, die Einnahmen im Durchschnitt nur 4 bis
6 Millionen betragen, eigentlich noch nichts ab; indessen ist hierin eine baldige
Ausgleichung, ja ein Gewinn für Rußland bestimmt zu hoffen. Ebenso wird
das Verhältniß in Türke se an sich bald günstiger gestalten (Einnahme jetzt
1,771,000 Rubel), sobald die großen Ausgaben für Hebung des Verkehrs in
den centralasiatischen Gebieten aufhören werden.
Mit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht fällt eine noch zu erwäh¬
nende Ertragsquelle Rußlands: die Freikaufssummen, welche 1871 und
1872 1,886,749 Rubel und 2,809,774 Rubel betrugen.
Zu den Staatsausgaben Rußlands übergehend, verzeichnen wir
folgende Angaben Sarauw's.
Zur Verzinsung der Staatsschuld wurden von 1832 — 43 jährlich etwa
20—30 Millionen Rubel, 1856 etwa 66 Millionen Rubel verwendet; 1860
stiegen diese Beträge in Folge Liquidation der höchsten Creditinstitute auf
112,067,000 Rubel; jetzt (1872) beträgt die dazu erforderliche Summe
86,381,575 Rubel. Die russische Staatsschuld besteht bekanntlich in einer
unverzinslichen und in einer verzinslichen Schuld. Die erstere rührt aus der
Zeit Katharina's der Zweiten her und begann mit der Ausgabe von Assig¬
naten, welcher im Laufe der Zeit zahlreiche andere Emissionen von Staats¬
noten folgten. In welchem Maße die Flut der Assignaten anwuchs, geht
aus einer Tabelle hervor, deren Anfang das Jahr 1790 mit 111 Millionen
Assignaten (Cours 1 Rubel 15 Kopeken per Silberrubel), deren Ende aber
das Jahr 1810 bildet; letzteres mit einem Umlauf von 577 Millionen Rubel
Assignaten (Cours von 3 Rubeln — 1 Silberrubel). Diese Summe war,
nach mancherlei Finanzoperationen, 1874 auf 697,776,310 Rubel angewachsen
und als Staatsschuld inzwischen anerkannt worden. 1844 zog die Regierung
diese 59 Millionen zum Courswerth, d. h. gegen Ausgabe von 170 Millionen
Rubel Creditbillets, ein; es waren also etwa 427 Millionen Rubel Assignaten
aus der Welt geschafft: eine ungeheuerliche Maßregel, bei welcher der ver¬
lierende Theil sehr deutlich erkennbar ist. Nunmehr begann die Rectascension
der Creditbillets: dieselben stiegen im Krimkriege von 370,960,000 auf
735 Millionen Rubel. Die nach Beendigung des Krieges zur Einlösung
dieser Creditbillets contrahirten Anleihen schienen anfangs deren Cours gün¬
stiger zu gestalten; im Grunde aber war es der russischen Regierung wenig
Ernst mit dieser Einlösung, so daß der Cours bald wieder sank. Ob das
Verhältniß, in welchem nach Sarauw die circulirende Zettelmasse zu dem
deponirten Metallvorrath stehen soll: 4—6:1, factisch ist, werden eingeweihtere
Finanzmänner besser zu beurtheilen wissen. Der Cours des Papierrubels
bestätigt dasselbe kaum annähernd.
Die verzinsliche Staatsschuld besteht 1) aus älteren Schuldverpflichtungen,
die 1870 noch 143,647,487 Rubel betrugen; 2) aus den Beträgen der 9 An-
leihen von 1828-69, wovon 1870 noch 202,901,400 Rubel unberichtigt
waren; 3) aus der Schuld des Staates bei Creditanstalten, 1870 — 3,237,000
Rubel; 4) aus der zur Förderung des Ländereienankaufs durch die Bauern
contrahirten Schuld, bestehend in 3 Emissionen Obligationen, zusammen über
268,683,774 Rubel (außerdem 235,032,183 Rubel Verpflichtungen der Guts¬
herren an die früheren Creditinstitute); endlich 5) aus der Eisenbahnschuld.
Von Interesse werden noch die Angaben der Kosten für die einzelnen
Verwaltungen sein. Es erfordern: der „heiligste spröd" (Kultusministerium)
für 1872 9,405,929 Rubel, das Ministerium des kaiserlichen Hofes (1872)
.8,953,679 Rubel (1870 über 10 Mill.), das Ministerium der auswärt. An-
gelegenheiten 2,605,553 Rubel, das Kriegsministerium ca. 160 Mill. Rubel
(Genaueres erfährt man von Sarauw für die Gegenwart nicht); für das
Marineministerium 21 Millionen Rubel; für das Ministerium des Innern
42,496.638 Rubel (1872); für die Administration des Post- und Telegraphen¬
wesens 15,994,606 Rubel; für das Ministerium für Volksaufklärung (öffent¬
lichen Unterricht) 11,266.601 Rubel; für das Finanzministerium (mei. Steuer¬
erhebung und Pensionen) 77,554,811 Rubel, wobei allerlei „Etatsübertragungen"
vorkommen, z. B. 1870 2.688,256 Rubel „für Geschütze und Munition",
2,004,700 Rubel für Ansiedelung von Soldaten auf Staatslandereien,
14,338.000 Rubel an „außerordentlichen Ausgaben der Staatskasse und extra-
ordinairen Bedürfnissen des Gouvernements"; Positionen, deren Enträtselung
wir dem Scharfsinn des Herrn Abgeordneten Richter in Preußen überlassen.
Das Domainenministenum braucht 9,588.853 Rubel; die „Staatscontrole"
— wohl Ober-Rechnungskammer — etwa 2 Mill. Rubel, die Verwaltung
der Staatsgestüte die Summe von 692.629 Rubel; endlich das Transkauka¬
sische Gouvernement 6.620.678 Rubel. Die Finanzen des Großherzogthums
Finnland sind hierbei überall nicht miteinbegriffen, weil sie unter abgesonderter
Verwaltung stehen.
Wir müssen es uns versagen, auf alle folgenden Kapitel des Sara uw-
schen Werkes mit gleicher Ausführlichkeit einzugehen, obwohl namentlich
der Abschnitt über die Regelung der Bauern-Verhältnisse hohes Interesse be¬
ansprucht, derjenige über die Landwirthschaft aber gleichzeitig eine Fülle
charakteristischer, die gesammten Bodenverhältnisse Rußland klar darlegender
Zahlenangaben enthält, wie sie in gleicher statistischer Vollkommenheit nicht
alle westeuropäischen Länder aufzuweisen haben. Beispielsweise sei erwähnt,
daß im europäischen Rußland gegen 95 Mill. Dessiatinen (412 Mill. preuß.
Morgen) dem Kornbau dienen und daß darauf jährlich 69 Mill. Tschetwert
(1104 Mill. preuß. Scheffel) Getreide zur Aussaat gelangen, während die
Ernte etwa im Durchschnitt 275 Mill. Tschetwert beträgt, von denen etwa
10 Mill. Tschetwert ins Ausland gehen. Wer denkt bei den 5169 Tschetwert,
welche jetzt Taurien und Cherson als jährlichen Ertrag liefern, nicht daran,
daß allein die Grim, der alte Chersonesus, im Alterthume über Panttcapäum
ganz Attika und einen großen Theil des Poloponnesus mit Korn zu versorgen
im Stande war!
Indem wir den Leser auf den reichen Inhalt jener übrigen, die Boden-
Production, die Industrie und Manufactur betreffenden Kapitel des Sarauw-
schen Buches verweisen, heben wir zum Schlüsse noch das Eisenbahnwesen
und den Handel Rußlands hervor, weil hierbei geradezu phänomenale Re¬
sultate des Aufschwungs zu registriren sind.
Was das Eisenbahnwesen Rußlands betrifft, so wurde bekanntlich die
erste Eisenbahn 1838 zwischen Se. Petersburg und Zarskoselo auf einer
Strecke von 25 Werst erbaut; und es dauerte lange, ehe dieselbe Nachfolge¬
rinnen erhielt. Im Jahre 1853 waren gegen 1000 Werst, 1866 etwa 4000
Werst fertig gebaut. Ende 1871 betrug die Länge aller Bahnen im europ.
Rußland 10,531.2 Werst — 12,036 Kilometer (darunter 1093 Werst Staats-
bahnen): ein Wachsthum, wie es kaum Amerika aufzuweisen hat. Die Zahl
der beförderten Personen betrug 1869 11,900,662, 1870 14.636,935. An
Gütern sind transportirt: 1869 557.717,574 Pud Ä 33 Pfund, 1870 674,665.866
Pud, Zahlen, welche die überraschende Entwicklung des Bahnverkehrs in
Rußland deutlich bekunden.
Der Abschnitt über die russischen Handelsverhältnisse begreift sowohl den
Binnen- als auch den auswärtigen Handel in sich. Mehr und mehr tritt
die Thatsache in den Vordergrund, daß Rußland seiner eigenen Hülfsquellen
sich zu bedienen lernt und selbst in Bezug auf Luxusartikel sich von der
Herrschaft des Westens zu emancipiren sucht. Wenn es auf diesem Wege
fortschreitet, so wird die Entwicklung seines Handels eine geradezu beispiels¬
lose werden. Einstweilen trägt der russische Binnenhandel noch den nomaden¬
haften Charakter, den er vom Mittelalter überkommen hat; die Händler,
Agenten, selbst die Bazars sind in beständiger Bewegung von Platz zu Platz,
auf den 6780 Jahrmärkten des Reichs. Das Handelspersonal umfaßt etwa
600,474 Personen (darunter 3476 Kaufleute erster, 66,782 zweiter Gilde, etwa
188,318 Kleinhändler, 180,584 Handlungsdiener u. f. w.). Sehr trägt zur
Vertheuerung der Waaren der Umstand bei, daß sie eine lange Kette von
Händlern durchlaufen müssen, ehe sie zu dem eigentlichen Detaillisten und zum
Consumenten gelangen, ein Zopf, der wohl bald weichen müssen wird, sobald
der Wohlstand allgemeiner geworden ist.
Der ausländische Handel Rußlands hat in den Jahren 1869—68 um
62 Prozent sich vermehrt. Wenn auch die Stimme Rußlands für jetzt keine
dominirende auf dem Weltmarkt ist, so muß es doch über kurz oder lang
einen großen Theil des europäisch-ostasiatischen Weltverkehrs an sich ziehen.
Sehr wichtig ist auch bereits der ce ntral asiatische Handelsverkehr
Rußlands geworden, der auf einem Gebiete, wo vor kurzem gar keine regelmäßige
Verbindung möglich war, einen Umsatz von über 20 Mill. Rubeln erzielt hat.
Beispielsweise werden allein über Turkestan 17,681.400 Pfund Thee eingeführt,
während der Import über Kiächta nur ca. 11 Mill. Pfund jährlich beträgt.
Von der aus Asien eingeführten Baumwolle kamen 66 Prozent von Buchara,
18 Prozent von Persien, 11 Prozent von Chiwa, 4,5 Prozent von Taschkend.
Der Gesammtumsatz im auswärtigen russischen Handel beläuft sich auf gegen
300 Mill. Rubel Werth.
Wir schließen hiermit die werthvollen Daten des Verfassers, indem wir
uns seinen Hoffnungen auf den weiteren Fortgang der Kulturentwickelung
des russischen Reichs gern anschließen: denn seine Sache ist die der wahren
Civilisation; und es wird Mit ihrer Ausbreitung am ehesten einer Wieder¬
holung der Raubzüge der Mongolen nach Europa vorgebeugt werden.
Wir sind in den Stand gesetzt, nachstehend die amtlichen Protocolle
über die Aufhebung der Leiche des Fürsten Poniatowsky, der
bekanntlich am 19. October 1813 beim Rückzug der Franzosen im Elsterflusse
ertrank, wortgetreu und in der ihnen eigenen Orthographie und Stilistik mit¬
theilen zu können. Sie lauten*):
Leipzig den 25 October 1813.
Nachdem gestern Nachmittags in dem ohnweit der Stadt fließenden Elster-
Fluß durch die Fischer der Leichnam eines vornehmen französischen Officiers gefun¬
den worden ist; welcher der Angabe mehrerer pohlnischer Officiere zu Folge der
Leichnam Sr. Erlaucht, des Fürsten Joseph Poniatovskh. Kommandeurs der
pohlnischer Truppen und französischen Marschalls sein soll; So ist E. E.
Hondo. Rath dieser Stadt durch Sr. Exellenz den Herrn Grafen von Hardenberg,
Königl. preuß. Kommandanten allhier veranlast worden, den gefundenen
Leichnam den pohlnischer Officieren, welche den Fürsten Poniatovskh Erl.
von Person gekannt haben; nahmentlich den Generalen Kaminietzky, Ros-
nieczky, Krasinsky, Krabovsky undUminsky zur Recognition vorzulegen und über
deren Aussage ein Protocoll aufzunehmen. Uebrigens wird bemerkt,, daß der
gefundene Leichnam in einem Gewölbe unter dem Rathhause, zu welchem der
Herr von Hardenberg den Schlüssel in Händen hat, aufbewahrt wird.
Nachricht!.
Leipzig, den 25 October 1813
Erscheint
Johann Christian Ludwig Friedrich, Bürger- und Fischermeister allhier
an Gerichtstelle und giebt auf Befragen nach vorgängiger Anermahnung zu
einer gewissenhaften Anzeige der Wahrheit zu vernehmen: Auf das Gerücht
daß bei der am 19 KuMs erfolgten Einnahme der Stadt Leipzig durch die
vereinigte Kaiserlich Russische und Oesterreichische, ingleichen Königlich
Preußische und Schwedische (!) Armee der Fürst und französische Marschall
Poniatovsky auf der Flucht in der Elster ertrunken sei, habe er nebst einigen
Mitmeistern und seinen Gesellen vorerwähnten Fluß sorgfältig durchsucht, um
womöglich den Leichnam aufzufinden. Gestern Nachmittags gegen 4 Uhr sei
von ihm ingleichen, Johann Christian Meißnern, Johann Adam Völker und
Christian Benjamin Meißnern, sämmtlich Fischermeistern allhier, in gleichen
dem Gesellen Johann Carl Reicherten ohngefähr dreihundert Schritt von dem
in dem Richterschen Garten gelegenen sogenannten Japcmschen Häußchen und
zwar nach der Stadt zu der Leichnam eines mit der französischen Generals-
Uniform einem Orden und zwei Sternen bekleideten Mannes gefunden wor¬
den. Diesen Leichnam, welcher von ihnen sogleich für den des Fürsten Po-
niatovsky Erl. gehalten worden sey, hätten sie sogleich in Johann Christian
Meißners Stube geschaft; woselbst mehrere herzugekommene pohlnische Officiere
denselben für den Sr. Erlaucht, des Fürsten Poniatovsky erkannt hätten.
Der vorgefundene Orden, der Degen und die Epauletts des verstorbenen
wären Sr. Erlaucht, dem Herrn Fürsten Repnin übersendet worden. Auf
Vorlesen genehmigt Comparent gegenwärtige Registratur durch seine Unter¬
schrift.
^eenen nes.
Leipzig, den 26 October 1813.
Auf die von Sr. Excellenz Herrn Grafen Hardenberg als Königl.
Preuß. Kommandanten der Stadt Leipzig gegebene Veranlassung hat von
Seiten E. E. Hondo. Raths dieser Stadt.
Herr Leu. I)r. Johann Christoph Kind ingleichen Endesunterzeichneter
Gerichtsnotar nebst den (!) vereideten französischen Dollmetscher
Herrn Steuereinnehmer August Wichmann in das unter dem Rath¬
hause nach dem Naschmarkt gelegenen Gewölbe, welches Sr. Excellenz Herr
Graf von Hardenberg (!) mittelst den (!) in seinen Händen befindlichen Schlüssel
eröffnete sich verfüget, woselbst, Sr. Excellenz Herr Graf von Hardenberg, in¬
gleichen Herr Ludwig Kaminietzky, Herr Alexander Rosnieczky, Herr Jsidor
Krasinsky sämmtlich Divistons - Generale der pohlnischer Truppen, ferner
Herr Stephan Graf Grabovsky, Herr Johann Uminsky, Generale derselben
Truppen sich einfanden. In diesem Gewölbe fand sich ein männlicher Leichnam
mit der französischen Uniform bekleidet im Sarge liegend, welchen die vorbe¬
nannten fünf Generale für den Leichnam Sr. Excellenz Erlaucht, des Herrn
Fürsten Poniatovsky, Krigministers, Kommandanten der pohlnischer Trup¬
pen und Marschalls von Frankreich auf Beaugenscheinigung desselben ein¬
stimmig erkannten. Auf Vorlesen haben sämmtliche Interessenten gegen-
wärtiges Protokoll, mit der Bemerkung genehmigt, daß die Uniform mit wel¬
cher der Leichnam bekleidet sei, nicht französische, sondern pohlnische (!) Uni¬
form sei.
^ot. nes.
Philipp Heinrich Friedrich Haensel,
Dr. Carl Christoph Kind
Stadtgerichtsnotar.
G. Hardenberg,
Königl. Preuß. Commandant.
Rathsmitglied
August Wichmann, Dolmetscher.
Le General de Division Chef de 'e (!) (soll heißen I'6we in^'or).
Major Nosnieczky.
Le General de Division Kaminieezky, Le General de Division Jsidor Kra-
sinsky, Le General de Brigade Comte Ethiene (!) Grabovsky, Le General
de Brigade Comte Uminsky — unleserliehe Unterschrift.
eoäem:
ist zu bemerken gewesen, daß die Herren Generale Kaminieezky, Nosnieczky,
Krasinsky, Graf Grabovsky und Unimsky (!) das nachstehende französische
Zeugniß zu den Acten gegeben und vor Gericht durch ihre Unterschriften voll¬
zogen haben, wie denn auch solches von Sr. Excellenz, dem Herrn Grafen
von Hardenberg und Herrn Leu. Dr. Kind unterzeichnet worden ist.
Nachrichtl.
Drei Mal ist der Reichstag seit den Osterferien wieder zusammengetreten.
Wir wollen uns indeß weder mit der Frage der Rednerliste, noch mit Wahl¬
prüfungen, noch mit österreichischen Vereinsthalern, welche Dinge die Be¬
rathungsgegenstände in dieser Woche gebildet haben, hier beschäftigen. Das
große Ereigniß dieser Woche hat sich wiederum nicht in den Plenarsitzungen
vollzogen, sondern in den Fraktionsberathungen und in den vertraulichen
Verhandlungen mit der Regierung. Das Kompromiß über das Militärgesetz
wird, einer genügenden Majorität sicher, morgen im Reichstag vorgeschlagen
werden, wie es in den letzten Tagen dieser Woche abgeschlossen worden.
Die Leser der „Grenzboten" werden es dem Versasser der Neichstagsbe-
richte nicht verübeln, wenn sie ihn sehr wenig aufgelegt finden, in den viel¬
fachen Jubel über das gelungene Compromiß einzustimmen. Nichts ist der
Schwäche willkommner, als wenn sie um eine ernste Entscheidung herumkom¬
men kann. Es ist ja so angenehm, die Lasten der Gegenwart auf spätere
Tage oder noch besser auf nachkommende Menschen abzubürden. Indeß hat
noch kein Weiser behauptet, daß bei diesem bequemen Grundsatz die einzelnen
Menschen und noch weniger, daß die Völker damit vorwärts kommen.
Bei dem Militärgesetz handelte es sich doch in erster Linie keineswegs
darum, dem französischen Rachebedürfniß eine Reihe von Jahren gerüstet
gegenüber zu stehen. Eine solche Rüstung erklärten selbst viele Fortschritts¬
leute, auf dem Wege der jährlichen Budgetbewilligung nicht versagen zu wollen.
Es handelte sich um etwas weit Ernsteres. Es handelte sich um den bewußten
Entschluß der deutschen Nation, in der Praxis ihres Staatslebens das Bud¬
getgesetz fortan als ein Aus führ ungsgesetz zu erkennen und nicht als
die alljährliche Neubildung aller Staatsinstitutionen. Die letztere Vorstellung,
daß ein Volk die Macht und das Recht habe, sich alljährlich neu zu schaffen,
daß es im Stande sei, den erschöpfend korrekten Ausdruck seines Wesens all¬
jährlich in einen einzelnen Akt zusammenzudrängen — das ist recht eigentlich
die Summe des revolutionären Wahnwitzes. So lange ein Volk diese Doktrin
in der Behandlung einer seiner wesentlichen Institutionen voraussetzt, so lange
gleicht es dem Menschen, der eine fixe Idee nicht völlig losgeworden ist, von
dem man deshalb nicht wissen kann, ob er nicht im nächsten Augenblick die
Hand an sich legt zur wahnsinnigen Selbstzerstörung.
Wer würde sich wohl bei dem Trost unserer Fortschrittsleute beruhigen,
wenn er einen Menschen beschäftigt sähe, sich eine neue Lunge einzusetzen:
man solle den Menschen nur machen lassen, es sei doch nicht zu glauben, daß
er sich eine Lunge einsetze, die nicht zum Athmen tauge!
Zu jedem organischen Dasein gehören gewisse quantitative Verhältnisse,
und ohne die Bestimmung dieser Verhältnisse giebt es auch keine Einrichtung
der Heeresorganisation. Soll die Einrichtung des Heeres eine gesetzliche
sein, so muß das Gesetz auch die quantitativen Verhältnisse bestimmen. Der
Instinkt des deutschen Volkes war nie so nah daran, die Nothwendung der
gesetzlichen Einrichtung des Heeres zu erfassen, als in dieser Osterzeit. Wenn
jemals ein Grundsatz verdient hat, durch die Arbeit eines Wahlkampfes
dem Volke eingeprägt zu werden, so ist es dieser. Die Reichsregierung
ist indeß zu dem Entschluß gekommen, die Auflösung des Reichstages
vermeiden zu wollen. Dann blieb allerdings nichts übrig, als das na¬
tionalliberale Compromiß anzunehmen, welches die grundsätzliche Entschei¬
dung auf sieben Jahre vertagt und die gegenwärtige Heereseinrichtung als
Provisorium hinstellt, welches vorübergehenden Forderungen der politischen
Lage dient. Nach sieben Jahren wird die grundsätzliche Frage dieselbe sein,
wie heute: hängt die Wirksamkeit eines Nationalheeres von der gesetzlichen
Berbürgung seiner Einrichtung ab, oder kann man es nach den scheinbaren
Bedürfnissen des Augenblicks zuschneiden? Die letztere Ansicht wird alsdann
das gewichtige Präcedenz für sich haben, daß in der Periode der norddeutschen
Bundesverfassung und in den zwei ersten Perioden der deutschen Reichsver-
fassung eine terminweise Behandlung der Heereseinrichtung für zweckmäßig
erachtet worden ist. Ob nach sieben Jahren der Krieg von 1870—1871 ver¬
gessen ist — die Völker vergessen erstaunlich schnell heutzutage, wenn das
Vergessen im Zug der Neigung liegt — oder ob ein neuer schrecklicher Kampf
frischblutende Erinnerungen zurückgelassen hat, das wissen wir heute freilich
nicht. Das aber wissen wir, daß an dem Tage, wo die Milizpartei im
deutschen Staat den Sieg davon tragen wird, das deutsche Volk den Weg
Polens eingeschlagen hat, von dem es keine Umkehr giebt. Die Willkühr
über die Pflicht stellen, die Tageslaune über die aus dem unverletzbaren Kern
des nationalen Wesens herausgearbeiteten Institutionen, das ist der Weg
Polens. Die deutschen Stände des 17. Jahrhunderts dachten so gut wie die
polnischen nicht an den Inhalt des Staatslebens, sondern nur an ihre for¬
melle Ungebundenheit, gerade so wie heute ein großer Theil des Reichstags
nur an sein Budgetrecht. Schon damals nannte man dieses formelle Recht
Freiheit, libertas, Libertät im damaligen Curialstyl. In Deutschland fand
sich aber eine Monarchie, die diese Libertät zerbrach; so wurde das Leben der
Nation vor der Freiheit ihrer Stände gerettet. Die polnische Freiheit aber
ist gestorben, an der Furcht zu sterben.
Es bleibt uns die bedeutungsvolle Frage, warum in dem heutigen denk¬
würdigen Moment die deutsche Monarchie ein Compromiß angenommen haben
mag, anstatt das Wesen der Staatsinstitutionen aufrecht zu halten gegen den
Mißbrauch einer angeblichen Freiheit. Es läßt sich nur Eine Antwort fin¬
den, die indeß genügt. Nach einer Regierung voll That und Arbeit, wie die
des ersten deutschen Kaisers, durften, ja mußten seine Rathgeber Bedenken
tragen, dem greisen Haupte der deutschen Nation zum zweiten Male die bittre
Erfahrung eines verfassungsrechtlichen Streites aufzuerlegen. Diese Erfahrung
konnte aber unvermeidlich werden, wenn die Auflösung des Reichstags keine
wesentlich veränderte Majorität ergeben hätte, was doch nicht mit unbeding¬
ter Sicherheit zu berechnen war. Die Helden und Staatsmänner, welche das
deutsche Reich gegründet, konnten auch insgesammt sich sagen: mögen die
nächstdem das Staatsschiff Lenkenden die Frage entscheiden, wie sie den Kör¬
per des Schiffs zusammenhalten wollen, nachdem sie es empfangen haben,
auf die offene See hinausgeführt, in gutem Stande.
Darein müssen wir uns denn ergeben, wenn wir auch nicht im Stande
sind, es mit leichtem Herzen zu thun.
Babel er's Mittel-Italien und Ro in ist soeben in vierter neu bear¬
beiteter Auflage erschienen, im siebenten Jahre nach dem Erscheinen der ersten Aus¬
gabe. Referent erinnert sich noch, mit welcher allgemeinen Freude diese begrüßt
wurde, da das Reisehandbuch von I. Förster, auf welches die über den Appenin
Reisenden vorher allein angewiesen waren, dem eigentlichen Touristen-Bedürf¬
niß nie entsprochen hatte. Seitdem aber ist der rastlose Eifer, mit welchem
die Brüder Bädeker ihre Verlagswerke bekanntlich immer vollkommner zu ge¬
stalten suchen, gerade diesem Buche in hervorragend fördernder Weise zu Gute
gekommen. Theils der günstige Umstand, daß sie die anerkanntesten Sachver¬
ständigen als Mitarbeiter zu gewinnen gewußt haben, theils die eminente
Welt- und culturhistorische Bedeutung des Stoffes erheben dieses Reisehandbuch
für Mittel-Italien, wie es uns jetzt vorliegt, noch über den Rang seiner rothen
Brüder empor und machen es innerhalb seiner Sphäre zu einem wahrhaft
klassischen Werk.
War die beim Beginn des Krieges von 1870, also zu sehr ungünstiger
Zeit, eben erschienene 3. Auflage durch Neudruck ganzer Bogen auch in allem
Wesentlichen den thatsächlichen Veränderungen gefolgt — wie es bei allen
Bädeker'schen Reisebüchern zu geschehen pflegt, auch wenn sie nicht als neue
Auflage ausgegeben werden — so war doch elne durchgehende Berücksichtigung
aller neuen Verhältnisse, die u. a. ja für die Erforschung der antiken Stadt durch
Aufgrabungen u. f. w. eine ganz neue Periode eröffnet haben, selbstverständ¬
lich nur durch eine vollständige Umarbeitung möglich. Diesmal ist es eine
wirkliche Neubearbeitung, welche uns vorliegt.
Der bewährte Grundplan der früheren Auflagen ist beibehalten worden,
namentlich für die Beschreibung Roms die sinnreiche Eintheilung der Stadt
in fünf Haupttheile. Diese Eintheilung statt der bis dahin üblichen schema-
tischen Behandlung des Stoffs nach den für den Verf. zwar bequemen, für
den Touristen aber ganz unbrauchbaren Rubriken „Kirchen", „Paläste"
„Museen" u. s. w. eingeführt zusahen, ist ein specielles Verdienst des Bädeker-
schen Handbuchs. Wegen der durch sie gewährten Uebersichtlichkeit und weil
sie das örtlich und im Gedanken Zusammengehörige beisammen läßt, ist diese
Eintheilung überaus praktisch; sie ist aber gleichzeitig auch wissenschaftlich
durchaus berechtigt, wie sich schon aus Ueberschriften ergiebt: 1) Freuden¬
viertel und Corso: Das moderne Rom, der Schauplatz des jetzigen
Lebens; 2) Die Hügel Quirinal, Viminal, Esquilin im Osten der
Stadt; 3)Romam Tiber, westlich, die enge winklige Stadt des Mittelalters,
der Schauplatz des Volkslebens; 4) Das alte Rom: die südlichen Stadt-
theile, welchen die Denkmäler aus dem Alterthum ihr charakteristisches Ge¬
präge geben; S) das rechte Tiberufer: Se. Peter, Vatikan. Trastevere.
Fast jeder dieser Stadttheile enthält natürlich Denkmäler aus mehreren oder
allen Perioden der römischen Geschichte; das aber muß anerkannt werden,
daß die zuerst dem praktischen Bedürfniß dienende Eintheilung auch auf genauer
Erkenntniß des Charakteristischen und Wesentlichsten in den verschiedenen
Stadtvierteln beruht.
Ueberhaupt ein Vorzug des Bädeker'schen Buches ist die übersichtliche,
ans völliger Beherrschung des Stoffes beruhende Anordnung. Diese allein
ermöglicht es auch dem nicht gelehrten, nur allgemein gebildeten Besucher
einer Stadt, „welche fast so lange wie es eine Geschichte von Europa giebt,
den Mittelpunkt der abendländischen Civilisation gebildet, welche auf den
Trümmern des Weltreichs eine neue geistliche Weltherrschaft zu gründen ver¬
mocht hat und gegenwärtig als Hauptstadt eines modernen Nationalstaats
einer dritten Phase der Entwickelung entgegengeht" (S. 94), bei der unge¬
heuren Masse des zu bewältigenden Stoffes den Faden nicht zu verlieren, das
Bedeutendste herauszufinden und in den historischen Rahmen einzuordnen.
Diesem Zwecke dienen trefflich auch die beiden kunstgeschichtlichen Einlei¬
tungen (antike Kunst, römische Kunst seit dem Mittelalter), die sich schon
durch die Namen ihrer Verfasser, der Professoren R. Kekule' in Bonn und A.
Springer in Leipzig, empfehlen und auch dem, welcher nicht nach Italien
reist, Anregung zu geben im Stande sind.
Eine völlig neue Bearbeitung hat aus dem oben angeführten Grunde
die Darstellung der römischen Alterthümer erhalten, in welcher ebenfalls die
an der Spitze der einzelnen Abschnitte (Capitol, ?orna ittMÄNum u. s. w.)
gegebenen Uebersichten auf die historische Betrachtung hindrängen. Der ganze
Abschnitt ist vortrefflich bearbeitet und hat den als eingehenden Kenner des
römischen Alterthums vorzugsweise dazu berufenen Prof. H. Nissen in
Marburg zum Verfasser.
Die Ausstattung des Buches ist in Anbetracht seines billigen Preises
(2 Thlr.) eine glänzende zu nennen. Unter den beigegebenen 7 Karten zeich¬
nen sich besonders 4 trefflich gezeichnete Specialkarten des Sabiner - und
Albaner-Gebirges aus, welche diesmal zuerst erscheinen. Die Pläne sind durch
4 neue, unter denen ein Specialplan des Palatin besondres Interesse erweckt,
auf 12 vermehrt. Eine sehr dankenswerthe neue Beigabe endlich ist ein großes,
schön gezeichnetes und gestochenes Panorama von Rom und seinen Umge¬
bungen, durch Laspeyres in Rom von S. Pietro in Montorio aus aufgenommen.
Es ist somit ohne Einschränkung anzuerkennen, daß, soweit es von den
Herausgebern abhängt, Alles geschehen ist, um den Werth des Buches auf
die der Bedeutung seines Gegenstandes entsprechende Höhe zu erheben. Um
aber auch in allen denjenigen Angaben, welche sich auf dem Wechsel unter¬
worfene äußere Verhältnisse beziehen, immer wahrheitsgetreu und vollständig
zu bleiben, ist ein solcher Reiseführer auf die Unterstützung der Reisenden
selbst angewiesen. Jeder gebildete Reisende, welcher einen Bädeker benutzt,
sollte es sich, wie Res. es seit vielen Jahren gethan hat, zur Pflicht machen,
zum Nutzen aller seiner Reise-Nachfolger zur Vervollkommnung des Werkes
durch gewissenhafte Angabe und Einsendung neuer oder veränderter That¬
Am I.März d. I. ist die elfte Ausgabe des deutschen Parlaments-
Almanachs von Dr. Georg Hirth (Leipz. Verlag v. G. Hirth) ausge¬
geben worden. Der Inhalt und die Ausstattung der Hirth'schen Parlaments¬
kalender darf als bekannt vorausgesetzt werden. Sie enthielten eine ziemlich
vollständige Sammlung desjenigen persönlichen und sachlichen Materials, dessen
der parlamentarische Mann, sowie derjenige bedürfte, der über die Vorgänge oder
Persönlichkeiten im deutschen Reichstag (und preußischen Landtag) in irgend
einer Hinsicht sich zu unterrichten hat. Die vorliegende elfte Ausgabe ent¬
hält jedoch nur „Biographische Mittheilungen und andere Personalia." Sie
gibt biographische Notizen über die Mitglieder des neugewählten Reichstags,
eine geographische Uebersicht der Wahlkreise mit Angabe der Gewählten, eine
Uebersicht der Mitglieder nach dem Lebensalter, zählt uns die Abtheilungen
und Commissionen des Reichstags und deren Mitglieder auf, nennt uns Vor¬
stand und Beamte des Reichstags, die Bevollmächtigten zum Bundesrathe
und zu dessen Ausschüssen, endlich die Centralbehörden des Reichs und deren
Besetzung. Von dem mit anerkennenswerthem Geschick ausgewählten legis¬
lativen Material (Verfassung, Wahlgesetz, Aufzählung der Reichsgesetze:c.)
und parlamentarischen Apparat (Geschäftsordnung u. f. w.), welche alle
früheren Hirth'schen Ausgaben enthielten, befindet sich in dieser gar nichts.
Das beeinträchtigt natürlich die Brauchbarkeit dieses Almanachs bedeutend.
Und es würde schwer sein, einen Grund dafür zu finden, warum der Ver¬
fasser die durch eine langjährige Gewohnheit und praktische Erfahrung be¬
währte Stoffeintheilung seines Parlamentsalmanachs plötzlich verlassen habe,
wenn nicht das vorliegende Bändchen aus jeder Zeile uns belehrte, daß die mög¬
lichst frühe und eilige Herstellung und Ausgabe desselben der Hauptzweck seines
Verfassers und Verlegers gewesen ist. Von diesem Zwecke ist der gesammte
sachliche Inhalt der früheren Bände absorbirt worden. Die Eile der Aus¬
gabe nöthigte dazu, die Nachträge in den biographischen Notizen auf ein
Minimum zu beschränken, und die Mittheilungen über die Fractionsange-
hörigkeit und Statistik so flüchtig anzulegen, daß bereits bei Versendung des
Almanachs Nachträge und Berichtigungen sich erforderlich zeigten, deren Be¬
dürfniß sich seither keineswegs vermindert hat. —
Von anderen Gesichtspunkten ist das Handbuch für den deutschen
Reichstag ausgegangen (für die Legislaturperiode 1874— 1876),
welches soeben von und bei Fr. Kork kämpf in Berlin erschienen ist. Es
war bestimmt, eine perennirende Pflanze zu werden. Es soll weiter reichen
als zu dem Zwecke, daß die Herren vom deutschen Reichstag sich kennen lernen,
ohne die Karten zu wechseln. Es wird namentlich durch seinen reichhaltigen
ersten Theil noch lange nach Ablauf der gegenwärtigen Legislaturperiode sehr
lesenswerth bleiben. Denn dieser erste Theil enthält mit trefflichen Erläu¬
terungen versehen, die deutschen Staatsgrundgesetze (Reichsverfassung, Ver¬
fassungsgesetze für Elsaß-Lothringen, Bündnißverträge, Reichs-Wahlgesetz mit
Reglements); dann die Nachweise über die Organisation und Ressortverhält¬
nisse der höchsten Reichsbehörden (Reichskanzleramt. Reichscommissariate, Be-
hördencomplex der Centralabtheilung, Auswärtiges Amt, Verwaltung des
Neichsheers, Admiralität. Reichsrechnungshof, Reichsoberhandelsgericht, Ober¬
appellationsgericht in Lübeck, Reichseisenbahnamt, Verwaltung des Reichs-
Jnvaliden- und Festungsbaufonds. Reichs-Rayon-Commission). Der stärkste
und interessanteste Abschnitt des ersten Theils ist der „Statistik" gewidmet.
Er bietet zunächst eine Uebersicht über die Entwicklung des Haushalts des
Norddeutschen Bundes und deutschen Reichs von den Jahren 1868 bis 1874,
die von einem Ftnanzbeamten des Reichskanzleramtes verfaßt ist, und die
interessantesten und übersichtlichsten Tabellen über die gesammte finanzielle
Entwickelung und Lage des deutschen Staatshaushaltes in den letzten sechs
Jahren gewährt. Wohl sprechen aus diesen Ziffern stets gesteigerte Anfor¬
derungen unsrer gemeinsamen Organe an unsre ökonomischen Leistungen, zu¬
gleich aber auch die freudige Bereitwilligkeit der höchsten gesetzgebenden Fac-
toren Deutschlands, dem Kaiser und Reich zu geben, was ihnen gebührt. Und
in dieser Hinsicht wird die gegenwärtige Session gewiß nicht unrühmlich hinter
der früheren zurückstehen! — Der weitere Abschnitt des ersten Theils zeigt
uns an der Hand der Volkszählung vom 1. December 1871 das erfreuliche
Wachsthum der deutschen Bevölkerung, welche nach Geschlecht. Confession,
Stadt und Land, Bevölkerungsbewegung, Haushaltungen und Wohnhäusern
nacheinander rubricirt ist. Viehstand und Viehzucht und der Verkehr der
ausländischen Jnhaberpapiere mit Prämien im deutschen Reiche bildet den
Schluß des statistischen Abschnittes. — Als Beilagen oder Actenstücke sind'
dem ersten Theil des Handbuchs schließlich beigegeben die „Materialien zum
Kampfe zwischen Staat und Hierarchie," d. h. der sogenannte Kanzelpara-
graph, das Gesetz über den Jesuitenorden mit den Ausführungsbestimmungen;
dann von preußischen Gesetzen auf demselben Gebiete das Unterrtchtsgesetz
(März 1872), die sogenannten Maigesetze (1873), das Civilehegesetz (1874) und
die neuesten Borlagen über die Verwaltung erledigter Bisthümer und die
Vorbildung und Anstellung der Geistlichen. —
So schön und werthvoll dieses reiche, klar geordnete Gesetzesmaterial ist,
so glauben wir dennoch nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß nicht die
Herstellung des ersten Theiles dieses Handbuchs die Ausgabe desselben fast bis
zu Ende der ersten Session des Reichstags verzögert hat, sondern hauptsäch¬
lich die Bearbeitung des zweiten Theiles, welcher den „Gesetzgebenden
Factoren" gewidmet ist, diese Verzögerung veranlaßte. Denn hier treffen wir
zum ersten Male auch biographische Nachweise über die Mitglieder des Bun¬
desrathes und am Schlüsse jeder Biographie eines Reichstagsmitgliedes die
Zahl seiner Wahlstimmen und derjenigen seines Gegencandidaten. Wer
jemals selbst eine derartige Arbeit versuchte, wird im Stande sein, dem Heraus¬
geber das richtige Maß von freudiger Anerkennung zu zollen, welches ihm da¬
für gebührt, daß er dieses spröde biographische und statistische Material in so
kurzer Zeit so befriedigend zu bewältigen vermochte. Nur gestatten wir uns
in Betreff der Wahlstimmenstatistik den Herausgeber aus einen kürzeren und
zuverlässigeren Weg zu verweisen, als der von ihm bisher befolgte ist: Um-
frage bei den einzelnen Abgeordneten zu halten oder das Eintreffen der offi¬
ziellen Listen im Neichstagsbureau abzuwarten. Nach dem Neichswahlgesetz
ist die gesammte Wahlhandlung vom Aufhängen der Wahllisten an bis zur
Aufstellung des Gesammtresultates in jedem Wahlkreise öffentlich, die Procla-
mirung des Gesammtresultates in jedem Wahlkreise findet überall mindestens
vierzehn Tage vor dem Zusammentritt des Reichstags statt. Der Heraus¬
geber wird daher die frühesten und zuverlässigsten Nachrichten über die Wahl¬
stimmenstatistik an den öffentlich bekannt gemachten Centralstellen der einzelnen
Wahlbezirke erhalten, und eben wegen der Oeffentlichkeit dieses Actes wird sich
niemand hinter den Vorwand des Amtsgeheimnisses verbergen können. — Was
nun die biographischen Mittheilungen über die Bundesrathsmitglieder anlangt,
so nimmt der Lebensgang Bismarck's gebührend einen ganzen Druckbogen ein,
ohne daß natürlich der Biograph selbst den Anspruch erhebt, dieses Mannes
Leben in diesem Rahmen erschöpfend dargestellt zu haben. Die biogr. Nachweise
über die übrigen Mitglieder des Bundesrathes hofft der Herausgeber später
durch eingehendere Mittheilungen über die amtliche bezw. schriftstellerische
Laufbahn der hohen Herren vervollständigen zu können. In Betreff der Mi¬
nister Delbrück und Jolly können wir den Herausgeber behufs eingehenderer
Lebensnachrichten auf die Grenzboten von 1871 und 1873, in Betreff des
Generalpostdirectors Stephan auf das „Daheim" von 1871 verweisen. In
der Biographie des Sachs. Ministers Abeken ist der Schauplatz seines ersten
amtlichen Wirkens durch einen Druckfehler entstellt; die glückliche Stadt heißt
Borna, nicht Berna. — Die biogr. Mittheilungen über die Reichstagsab¬
geordneten sind mit Sorgfalt bis auf die neueste Zeit fortgeführt. Nur hie
und da macht sich das Gefühl der eigenen Wichtigkeit der Herren, denen der
Herausgeber das Material verdankt, in einer unverhältnißmäßigen Ausdeh¬
nung der betr. Lebensnachrichten geltend. Hier werden einige Redactions¬
striche nur wohlthätig wirken. Denn, nach dem Umfange ihrer Selbstbio¬
graphie, muß der Leser z. B. die Abgeordneten Dr. Baumgarten, Buß,
Eberty, Motteler*), Parisius, Sonnemann, Zimmermann für die allerhervor-
ragendsten Repräsentanten des deutschen Parlamentarismus halten, wozu bis
jetzt gewiß keine Veranlassung vorliegt. — Der zweite Theil enthält im Ueb-
rigen die Aufzählung der vortragenden Räthe und ständigen Hülfsarbeiter
des Reichskanzleramtes, der Mitglieder der Verwaltung des Reichsinvaliden¬
fonds und der Bundesrathsausschüsse, dann des Gesammtvorstandes und der
Abtheilungen und Kommissionen des Reichstags, der Beamten des Reichs¬
tagsbureaus. Es folgt dann die Geschäftsordnung des Hauses, welcher sich
eine sehr interessante Uebersicht der Mitglieder des Reichstags nach Wahl¬
kreisen, sodann im Vergleich zur Bevölkerung der einzelnen Bundesstaaten,
sodann in einzelnen Tabellen nach Stand, Beruf. Glaubensbekenntniß und
Fractionen anschließt. Die Fractionsstatistik von 1867 —74 ist ungemein
lehrreich und anregend. Das Reglement sür Verwaltung und Benutzung der
Bibliothek und eine tabellarische Uebersicht über die Vertheilung der Parteien
auf Staaten und Provinzen von 1767 — 74 ist anhangsweise diesem reich¬
haltigen Handbuche beigegeben, welches hoffentlich bald in der Bibliothek jedes
Deutschen zu finden sein wird, der für die öffentlichen Verhältnisse seines
Memoirenartige Aufzeichnungen von Zeitgenossen über das, was sie selbst
erlebt, gethan, beobachtet, haben immer einen besonderen Reiz. Einen noch
größeren, wenn der Kreis dieser Beobachtungen und Erlebnisse dadurch erwei¬
tert ist, daß der Verfasser solcher Aufzeichnungen seine eignen Erfahrungen
und Anschauungen mit denen Anderer im Wege der Correspondenz ausge¬
tauscht hat.
Aufzeichnungen und Korrespondenzen dieser Art liegen uns vor von der
Hand eines Mannes, der ein langes und rühriges Leben theils berufsmäßig,
theils in freier Hingebung der Beschäftigung mit den öffentlichen, insbesondere
den großen nationalen Angelegenheiten seines deutschen Vaterlandes widmete.
Er hat dieselben den Seinen behufs späterer Hinausgabe in die Oeffentlichkeit
hinterlassen, mit der Bestimmung, daß vor einer gewissen Zeit nur einzelne
Partien, und auch diese nur mit Hinweglassung der Namen der noch lebenden
Correspondenten, veröffentlicht werden dürfen.
Dieser Bestimmung gemäß sind in den nachfolgenden Mittheilungen nur
diejenigen Persönlichkeiten namentlich aufgeführt, welche nicht mehr leben,
die noch lebenden dagegen unkenntlich gemacht. Aus den Namen jener Ersteren
wird man aber schon abnehmen, in welchen politischen Kreisen der Verfasser
verkehrt, aus welchen er seine Beobachtungen geschöpft hat, und daß seine
Quellen nicht zu den schlechtesten gehören.
Nach diesen einleitenden Anordnungen geben wir dem Verfasser der Auf¬
zeichnungen selbst das Wort:
Die Aufrührung der italienischen Frage durch den vielberufnen Neujahrs¬
gruß Napoleon's an Oesterreich regte mich zu lebhaften Betrachtungen und
Besorgnissen über die Stellung Frankreichs zu Deutschland, zugleich, in Ver¬
bindung mit den Hoffnungen, welche die neue Aera in Preußen erweckte, zur
Wiederaufnahme niemals vergessener, sondern nur vertagter Bestrebungen für
die innere Neugestaltung Deutschlands an. Ich schrieb damals an einen
Freund: „Der Fortbestand der österreichischen Herrschaft über Italien mag
auf die Länge zweifelhaft sein; allein, daß an ihre Stelle nicht eine franzö¬
sische trete, müssen Preußen und Deutschland Alles daransetzen."
Als dann die Eventualität eines thatsächlichen Einschreitens Frankreichs
in den österreichisch-italienischen Händeln immer mehr heranrückte, präcisirte
ich meine Ansichten weiter so: „Um keinen Preis darf der Grundsatz im euro¬
päischen Völkerrecht Platz greifen, als ob es irgend einer einzelnen Macht
zustehe, eine Veränderung in dem allgemeinen Status quo (auch wenn dieselbe
an und für sich räthlich erscheinen sollte) von sich allein aus, durch Gewalt
oder Drohungen, herbeizuführen und somit sich zum Schiedsrichter von ganz
Europa aufzuwerfen. Um diesen Grundsatz nicht Geltung gewinnen zu lassen,
haben seinerzeit England und Frankreich selbst einen Krieg mit Nußland nicht
gescheut; die Wiederkehr der gleichen Gefahr sollte, meine ich, jedesmal
eine ähnliche Coalition aller übrigen Mächte zur Folge haben."
Als die Hauptsache erschien es mir aber, daß das nicht-österreichische
Deutschland an dem entstandenen Conflicte sich von keinem andren, als von
dem Standpunkte seines Interesses, als einer selbständigen und europäischen
Macht, betheilige, daß es sich in keiner Weise von Oesterreich ins Schlepptau
nehmen lasse, und daß es zu dem Ende sich so rasch als möglich in einer
festeren Form, als der bisherigen, einige. Diese Aufgabe mußte natürlich
Preußen zufallen. Und so führte, wie mir schien, die Gewalt der Thatsachen,
die Gefahr eines auch für Deutschland bedrohlichen Uebergewichts Frankreichs,
mit Nothwendigkeit dahin, den Gedanken einer Einigung Deutschlands unter
Preußens Führung, zunächst der militärischen, wieder aufzunehmen und mit
allen Kräften seiner Verwirklichung entgegenzuführen Darin mit mir sich be¬
gegnend, schrieb mir am 26. März ein politischer Freund aus Sachsen:
.... „Ueber die Preußische Politik in der jetzigen Krisis habe ich mich
mit Rießer") viel gestritten; denn ich gestehe, daß mir die preußische Note vom
12. Februar wie von Manteuffel geschrieben vorkam. Man will sich dort
nicht darüber klar werden, daß mit Napoleon ein dauernder Friede nicht
möglich ist. Als ich aber sagte. Preußen müsse mit Oesterreich, wenn dieses in
Italien angegriffen werde, fest zusammenhalten — nicht um für dessen Politik
dort einzutreten, sondern um Napoleon zu zeigen, daß sich Europa nicht von
ihm beherrschen lasse — dann aber mit den übrigen Großmächten gemeinsam
die italienische Frage ordnen, nannte dies Rießer eine pädagogische Politik.
Möglich, ich irre mich, aber die Sache gefällt mir gar nicht."
Nicht lange darauf erhielt ich von einem Manne, der nicht professioneller
Politiker war, folgende Zuschrift:
. . . „Ist Etwas seitens der Gothaner geschehen, und was, um eventuell
bei einem Stoß, wenn er im Südwesten erfolgt, nicht fertig, doch vorbereitet
für eine Manifestation, einen Ruf, „Hie Waldungen!" aufzutreten? Preußen
scheint zuviel im Innern zu thun zu haben, und seine specifisch preußische
Genugthuung über die ihm octroyirte Wandlung zum Besseren scheint es ver¬
gessen zu machen, daß es nach den schmählichen 10 Jahren andrer Gewähr, als
zahmer Ministerreden, bedarf, um uns an seine deutsche Pflichterfüllung
glauben zu lassen. Wir wissen —und darin stimmen die Preußen mit uns
überein, — daß wir ohne Preußen nichts können, aber den anderen Glau¬
benssatz, daß auch Preußen ohne uns für Deutschland zu schwach ist,
scheinen die Herren, nicht zu caviren. Nun glaube ich zwar an keine nahe,
unmittelbare Gefahr, denn die Chancen liegen dem Aventurier keineswegs so
günstig, wie manche, fürchten, aber bei der Unterwühlung in Italien und
der Kriegslust Oesterreichs kann der Teufel losgehen, ehe man sich's versieht,
durch irgend welches uutovg.rü event.
Napoleon ist zu kaltblütig, und die inneren Zustände sind, soviel man
sehen kann, noch nicht so desperater Art, daß er ohne Bürgschaft einiges Er¬
folges losbrechen sollte. Im italienischen Oesterreich sind ihm die Oesterreicher
gewachsen, und es hieße, den Stier bei den Hörnern angreifen wollen, auf
Mailand zu marschiren, wenn er nicht gleichzeitig des Oberrheins und der
Oberdonau sicher ist; allerdings kann er diese Position überrumpeln, allein
dafür müssen wir über ihn herfallen — ich sage: müssen, denn ohne solches
Muß wirds zu keinem Entschluß kommen, wenn Preußen sich nicht zur Ini¬
tiative ermannt — und dazu fehlen die Leute.
Wenn dem so ist, frage ich: Was ist von den Reichstagsmännern gesche¬
hen? Wissen Sie, wo Ihre Leute sind? wie sie jetzt denken? Ich habe an
der Kriegs-Chance nichts auszusetzen, als daß sie zu früh und zu plötzlich
kommt, denn daß wir ohne Prügel und Schwerenoth einen Schritt nach dem
deutschen Reich weiter kommen, daran glaube ich nicht. Was den Schutz
und Trutz anlangt, so muß vor Allem die Zauberformel gefunden werden,
auf welche sich ein bedingter Bund mit Oesterreich machen läßt; denn, je-
mehr ich die italienischen Zustände und die neu-mettemichsche Politik betrachte,
um destomehr schrecke ich vor einem unbedingten Bündniß zurück. Also
ein conditionales Bündniß zwischen Oesterreich und dem nicht-österreichischen
Deutschland!
Aber davon verlautet nichts, ja nicht einmal von einer Vorfrage Preußens
bei den Etnzelregierungen. Wenn die Regierungen ihre Pflicht versäumen, so
meine ich, wir sollten thun, was an uns ist; also abermals: was haben Sie
gehört oder gethan?"
Ich konnte nicht anders, als vollkommen zustimmend auf diesen Brief
antworten und die Zusage geben, daß meinerseits das Mögliche in dieser
Richtung geschehen solle.
In den letzten Tagen des April führte mich eine andre Angelegenheit
nach Berlin. Da die Kammern dort noch versammelt waren, so fand ich
manche alte Freunde und Collegen aus Frankfurt und sonstige Bekannte aus
früheren Stadien der gemeinsamen deutschen Bestrebungen. Ich nahm Ge¬
legenheit, mit diesen Allen, soweit ich nur konnte, über die augenblickliche
Lage zu sprechen und ihnen meine Ansichten betreffs der daraus für unsre
nationalen Zustände zu ziehenden Bordseite zu entwickeln. Besonderen An¬
laß dazu gab mir ein gemeinschaftliches Essen, welches Herr v. Mücke so
freundlich war zu veranstalten, und bei welchem ich außer manchen alten
Frankfurtern auch die ehemaligen Minister Heinrich v. Arnim und Milde
nebst anderen preußischen Abgeordneten traf. Auch mit Rud. v. Auerswald,
Leite, Wenzel, Schubert und Anderen hatte ich darüber mehr oder weniger
ausführliche Gespräche, ebenso mit einigen hervorragenden, der damaligen
Regierung nahestehenden Publicisten. Leider fand ich nirgends eingehendes
Verständniß oder selbst nur lebhaftes, zur Thätigkeit bereites Interesse für
eine Erfassung der deutschen Frage in dem Sinne, wie ich mir solche dachte.
Zum Theil sah man die ganze Verwickelung als eine Preußen wenig be¬
rührende an; zum Theil verhehlte man gar nicht eine gewisse Schadenfreude
über eine Demüthigung Oesterreichs, in der man eine Art Nemesis für Olmütz
erblickte; endlich gab es auch Einige, welche so sehr mit den inneren Zu¬
ständen Preußens und der Hoffnung einer Verbesserung derselben durch die
neue Aera beschäftigt waren, daß sie für nichts Anderes Sinn zu haben
schienen.
Nach meiner Rückkehr aus Berlin wendete ich mich brieflich an ver¬
schiedene mir mehr oder weniger nahestehende politische Männer in Hannover,
Baiern, Baden:e,, auch in Preußen, um über den Stand der öffentlichen
Meinung und die Möglichkeit einer anstoßgebenden Bewegung auf dieselbe
in der oben angedeuteten Richtung mir Gewißheit zu verschaffen. Die nach¬
stehenden Briefe enthalten die Antworten auf diese meine Anfragen; sie geben
ein Bild der damaligen Stimmungen, namentlich auch in den politisch berufe¬
nen Kreisen, so ziemlich aus allen Theilen Deutschlands. Ich lasse dieselben
hier folgen.
Ein Freund aus Preußen, (er mag Z. heißen,) gegenwärtig Mitglied
der deutschen Fortschrittspartei im Reichstage, schrieb mir am 21. Mai: „In
folgenden Hauptpunkten der von Ihnen entwickelten Ansichten stimme ich
durchaus mit Ihnen überein. Ob und wie Deutschland, wenn es nun ein¬
mal in die bevorstehenden Kämpfe hineingerissen wird, seine alten Rechte auf
abgerissene Landestheile geltend machen kann und soll, hängt von Erfolg und
Gelegenheit ab und kann uns jetzt durchaus nicht kümmern. Dagegen ist
die Form für die feste innere Einigung Deutschlands schon deshalb gegen¬
wärtig, vor Beginn des Kampfes, so dringend, weil dessen Durchführung
und Erfolg davon abhängen. Und weiter muß sowohl diese, wie die an¬
deren unerläßlichen Refvrmforderungen innerhalb des Verfassungslebens der
Einzelstaaten, jetzt, vor dem Kampfe, und im Angesicht der drohenden Ge¬
fahr, gestellt werden, weil sonst das alte Stück wieder mit uns aufgeführt wird,
daß die Regierungen nach dem Siege, wenn das Volk, von seinen Anstren¬
gungen und Opfern ermattet, seine Kraft zur Reparirung der materiellen
Kriegsschäden zunächst corcentrirt, von allen schönen Verheißungen nichts
mehr wissen wollen. Fordern wir, so lange man das Volk braucht, dringen
wir jetzt namentlich auf die deutsche Einheit, wo die Regierungen selbst durch
ihre bedrohte Stellung an deren Nothwendigkeit gemahnt sind und in ihren
Manifesten auf nationalen Sympathien und Tendenzen fußen! Ist der An¬
laß der Furcht vorüber, dann will der kleinste Landesfürst im souveränen
Kitzel Nichts weiter davon wissen. Aber, so einig wir wohl Alle über das
Ob sind, so schwierig ist das Wie, und hier möchten die Meinungen ent¬
setzlich auseinander gehen. Mit dem Geschrei nach einer Volksvertretung
beim Bundestage ist es Nichts. Ueber so unklare und triviale Vorstellungen
sollte man doch jetzt weg sein. Was wir brauchen, ist: Einheit der Action
nach Außen, also eine handelnde Spitze, eine Executive, welche über die Bur.»
desmacht verfügt; b. eine Centralstelle für gemeinsame Interessen im Innern,
z. B. in der Gesetzgebung, zur Entscheidung von Streitigkeiten sowohl zwischen
den Bundesstaaten wie zwischen den einzelnen Staatsgewalten derselben,
Regierungen und Kammern u. s. w. Zu b. möchte nun wohl den Vertretern
der Regierungen eine Vertretung aus den Kammern der Einzelstaaten — nicht
direct aus dem Volke — an die Seite gesetzt werden können, worüber sich
natürlich viel streiten läßt und worauf es mir jetzt weniger ankommt.
Aber die Spitze zur Action gewinnen wir so nicht, und das Einzige,
was ich jetzt in dieser Richtung für erreichbar und nothwendig halte, ist das
Bundesseld Herrnamt Preußens; dahin muß die Presse, müssen die Volks¬
vertretungen wirken. Ob daraus im Laufe der Ereignisse nicht mehr ge¬
macht werden kann, nicht die einzig naturgemäße Staatseinheit für uns ge¬
schaffen werden kann: die Absorbirung der kleinen Duodez-Souveränitäten
in der Hauptmacht, und in welchem Umfange und bis zu welchem Grade,
hängt von den Umständen und deren Benutzung ab.
Gewiß hatte die Kaiseridee der Frankfurter Nationalversammlung ihre
Berechtigung, und ich und meine Freunde haben, soviel an uns lag, dafür
gestritten. Nur einen Hauptfehler hatte sie, der zum Theil ihr Scheitern mit
sich führte: daß man Oesterreich mit in die Conjunctur verflochten halte.
Oesterreich müßte sich selbst aufgeben mit der Unterordnung unter eine
deutsche Centralmacht.
Seine Bestimmung, sein Schwerpunkt liegen außerhalb Deutschlands;
dennoch aber ist es für Deutschland von höchster Wichtigkeit, daß die deut¬
schen Länder Oesterreichs als Kern der Monarchie erhalten und durch keine
andre Bestimmung von ihrer Aufgabe, der Germanistrung der Ostländer, ab¬
gezogen werden dürfen. Oesterreich braucht die volle Souveränität für diese
hochwichtige Aufgabe, und es kann mit dem übrigen Deutschland nur in eine
Bundesverfassung treten."
Auf den vorstehenden Brief erwiderte ich am 23. Mai eingehender: Es
scheine mir an der Zeit, eine Proclamirung der Reichsverfassung von 1849
durch Preußen, oder eine Aufforderung dazu durch ein Vertrauensorgan des
deutschen Volkes, zunächst, als Vorbereitung dazu, vielleicht Uebertragung des
Bundesfeldherrnamtes an Preußen nebst einer Ständevertretung am Bunde.
Er möge mit seinen Freunden die Sache weiter besprechen und eine Verstän¬
digung anbahnen.
Aus Baiern erhielt ich von einem dortigen Gesinnungsgenossen folgende
Zuschrift am 23. Mai:
„Das Bedürfniß einer direkten persönlichen Verständigung zwischen Den¬
jenigen, welche mindestens in den allgemeinen politischen und nationalen
Grundanschauungen einig sind, ist auch hier in dem kleinen Kreis meiner
politischen Freunde lebhaft genug empfunden und besprochen worden. Immer
hat uns jedoch die Besorgniß zurückgehalten, eine größere, die öffentliche Auf¬
merksamkeit unvermeidlich erregende Zusammenkunft werde resultatlos, ohne
den Einigungspunkt gefunden zu haben, auseinandergehen und dann nur das
Uebel vermehren. * * * kommt von einer Reise nach Stuttgart und Heidel¬
berg zurück. Er hat die Sache dort mit Römer (dem Vater), Hauffer, H. G.,
B. u. A. besprochen und jenes Bedenken nur neuerdings gerechtfertigt ge¬
funden. Dadurch wäre nicht ausgeschlossen, daß sich eine kleine Anzahl
von Solchen, die auf wechselseitige Verständigung sicher hoffen können, völlig
unbemerkt zu mündlichem Meinungsaustausch vereinigte und vielleicht für
Weiteres einen Kern zu gewinnen suchte.
Von einer öffentlichen Meinung in Betreff der Verfassungsfrage kann bet
uns so wenig wie anderwärts gesprochen werden: schon die Nothwendigkeit,
in der äußeren und inneren Frage gleichzeitig Zug um Zug vorzugehen, die
Lösung der einen durch die Lösung der anderen zu fördern, ist nicht hinläng¬
lich erkannt. Auf diese Erkenntniß, glaube ich, wäre vorerst in der Presse
unablässig hinzuwirken. Es scheint mir, daß gerade in der jüngsten Zeit die
Gedanken auch anderwärts mehr diese Richtung nehmen, obwohl sie sich in
dem vagen Postulate der „Volksvertretung beim Bunde" bewegen, ohne eine
concrete Gestalt anzunehmen."
In der Antwort auf diesen Brief (vom 27. Mai) stellte ich folgende
7 Hauptpunkte einer Verständigung auf:
1) Eine größere Machtstellung Deutschlands ist in diesem Augenblick
durchaus nothwendig.
2) Dieselbe kann nur erreicht werden durch eine mehr einheitliche und
volkstümliche Organisation der Bundesverfassung.
3) Schon während dieses Krieges sollte wenigstens die militärische Lei¬
tung einheitlich eingerichtet werden,
4) ebenso die diplomatische;
8) es ist im höchsten Interesse Deutschlands, wenigstens diese einheit¬
liche Organisation ins Werk zu setzen, bevor es irgendwie activ auftritt.
6) Sehr wünschenswert^ wäre daneben eine Gesammtvertretung der
Nation.
7) Jene oberste Leitung kann nur an Preußen übertragen werden.
Aus einem Schreiben eines Mitgliedes der demokratischen Opposition in
Würtemberg an einen Freund in Norddeutschland (vom 18. Mai) ward mir
Folgendes mitgetheilt:
Das neuere Verhalten Preußens wird hier, wenigstens in meinen Krei
sen, sehr anerkannt. Preußen wollte anfänglich Oesterreich offenbar ganz
stecken lassen, es war von Napoleon's Versprechungen geblendet. Erst die
deutsche, namentlich süddeutsche Bewegung und der von Oesterreich heraus¬
bestochene französisch-sardinische Vertrag hat ihm die Augen geöffnet. Man
will nun in Preußen, wie die Reden vom Thron, Ministerium und von den
Abgeordneten zeigen, gegen Napoleon einschreiten. Das liegt jetzt klar und
das ist anzuerkennen. Ebenso klar liegt aber, daß Preußen bei dieser Ge¬
legenheit die Echmach von Olmütz und Bronnzell abschütteln, den deutschen
Bund vollends todtmachen und in Deutschland weiter um sich greifen will,
und daß Oesterreich, sowie die kleineren Potentaten das wohl merken und
verhindern wollen. Unsere Aufgabe ist in diesem Streite, den Fürsten mit
der Republik Angst zu machen, daß sie, von allen Seiten geängstigt und ge¬
hetzt, sich jetzt mindestens unter die Hegemonie Preußens flüchten. Wenn und,
solange Oesterreich ohnmächtig und in Krieg verwickelt ist, muß die Zeit be-
nutzt werden, denn nachher ist keiner mehr bereit, sich zu ducken."
Ein norddeutscher Gesinnungsgenosse, der damals sich in Süddeutschland
(München) aufhielt, schrieb mir von da am 1. Juni:
„Die deutsche Verfassungsfrage jetzt anzugreifen, fanden .. . (folgen meh¬
rere Namen hervorragender Mitglieder der sogenannten gothaischen Partei
in verschiedenen Theilen Deutschlands, die der Briefschreiber gesprochen) höchst
bedenklich. Es sei noch keine neue Basis für die Lösung dieses Problems
gewonnen; Oesterreich sei heute mächtiger in Deutschland, als je. Man wäre
in Berlin vielleicht nicht abgeneigt, auf ein deutsches Parlament einzugehen,
wenn auch nur in der Form von Kammerausschüssen. Wenn aber Preußen
die Sache in die Hand nähme, würde es damit nicht alle Regierungen fast
unbedingt ins österreichische Lager treiben? Sind die Völker so mächtig und
so politisch entschlossen, um diese Wendung der Cabinette aufzuwägen? Glau¬
ben Sie, daß der Prinzregent je sich entschließen könnte, an die Völker gegen
die Fürsten zu appelliren?
Ich glaube, wie die Dinge heute liegen, müssen wir die Bürgschaften für
eine nationale Führung und Schließung des Krieges wesentlich in einem
deutschen Programm über die italienische Frage suchen. Wenn ich nicht irre,
ist es ein österreichischer Kriegszweck, die piemontesische Verfassung zu be¬
seitigen und die Jesuiten zu reactiviren. Wenn Preußen die bewaffnete
Mediation ausüben will, welches Programm würden Sie wünschen? Wir
hier sind so ziemlich über folgende Punkte einig: die Franzosen aus Italien,
Oesterreichs Besitz ungeschmälert, aber die piemontesische Verfassung erhalten,
constitutionelle Ordnungen in Mittel- und Unteritalien, Beseitigung der
österreichischen Separatverträge, d. h. des österreichischen Absolutismus in Ita¬
lien. Ein solches Programm gäbe unserm Krieg einen so decidirten Charak¬
ter, daß wir keine schlimmen Rückschläge fürchten müßten. Die Durchsetzung
eines solchen Programmes gegen die ganz anders gearteten Tendenzen
Oesterreichs wäre ein Sieg der constitutionellen und nationalen Sache gegen
Absolutismus und Ultramontanismus in Oesterreich und Deutschland. Dieses
Programm ist natürlich gegeben, und daß wir ein Programm über die Lö¬
sung der italienischen Frage haben müssen, daß sich Preußen mit Oesterreich
darüber vor dem Krieg verständigen muß, ist klar."
Der Leiter eines großen demokratischen Blattes in Preußen schrieb mir
am 4. Juni:
„.....Mit Ihren Bemerkungen über die politische Lage haben Sie
vollkommen Recht; auch sind Sie zu dem Lächeln über unsre „sanfte Abwehr"
berechtigt. Aber Sie werden auch gerecht genug sein, zu erwägen, 1) welche
Schwierigkeiten Preußens Stellung darbietet und 2) mit welchen Männern
an der Spitze der Negierung wir unsre Politik machen müssen.
Wollen wir praktische Politik treiben, d. h. wirklich Etwas durchsetzen
für Deutschlands Einheit, die doch das A und das O aller unsrer An¬
strengungen sein muß, und uns nicht wieder Illusionen hingeben, so müssen
wir mit den gegebenen Factoren rechnen. Daher unsere Haltung, die viel¬
leicht Etwas von Seiltänzern an sich hat, aber hoffentlich doch für den
Kenner der Verhältnisse den dünnen Strich kenntlich macht, auf dem wir
fortrücken.
Ich habe Hoffnung, gegründete Hoffnung, daß Etwas für Deutschland
dabei herauskommt, wenn's uns gelingt, im rechten Augenblick Preußen zur
Acteon zu bringen. Sie kennen unsre Staatsmänner; sie sind von Ihrer
Partei, Alles Gentlemen, aber vor lauter Bedenklichkeiten und Erwägungen
schwer zur That zu bringen. Dazu unsre böse zehnjährige Manteuffel'sche
Erbschaft!"
Um dieselbe Zeit schrieb mir auch Z. wieder:
„Ich habe da und dort persönlich angeklopft und hingehorcht, — überall
Spaltung und Confusion statt nationaler Gedanken, Partei - Antipathien
und kleinstaatliche Eifersüchtelei! Wir haben noch furchtbare Prüfungen zu
bestehen, und nur ein großes nationales Unglück wird im Stande sein, uns
durch sein Läuterungsfeuer dahin zu bringen, wo der gesunde Sinn des Volks
und der Regierungen von selbst stehen sollte. Doch ich breche von dieser
Jeremiade ab und gehe sofort auf die in Ihrem letzten Briefe angeregten
Gedanken ein.
Darüber, daß aus jeder einheitlichen Action nach außen und nationaler
Gestaltung nach innen so lange Nichts werden kann, als die deutschen Klein¬
staaten ihre volle Souveränität behalten, sind wir einig, und die Frage ist
nur, auf welchem Wege man dahin gelangt, letztere zu beseitigen. Die Ein¬
führung der Reichsverfassung, mindestens in den betreffenden Abschnitten,
würde dies allerdings bewirken und wäre mir schon recht; die ganze demo¬
kratische Partei in Preußen, mit Ausnahme einiger Radikalen, die kaum in
das Gewicht sielen, hat ja 1849 dafür gekämpft und würde auch jetzt dafür
zu gewinnen sein. Allein wie wollen Sie die Regierungen der Kleinstaaten
(Sachsen, Hannover ?c.) dahin bringen, (selbst wenn die Bevölkerungen dafür
wären) eine deutsche Nationalvertretung wählen zu lassen, welche jenen Beschluß
faßte, der sie mediatisirt? Oder wollen Sie von der Nationalvertretung jetzt
ganz absehen und das Werk des Deutschen Parlaments ohne Weiteres, als
endgültig bereits festgestellt und nur bisher suspendirt, proklamiren? Dies
könnte dann Niemand anders, als die Preußische Regierung; aber —
das können wir uns doch keinen Augenblick verhehlen — damit pro-
klamirte sie zugleich die Revolution, riefe die Bevölkerungen der Deutschen
Kleinstaaten gegen ihre Regierungen auf, die sich ohne Zwang nimmer¬
mehr einer solchen Maaßregel fügen. Ja ich fürchte, daß wir sogar
einen großen Theil jener Bevölkerungen gegen uns hätten, namentlich das
Militär, und die sämmtlichen Staaten erst erobern müßten, ehe wir das
durchsetzten. Ich hätte auch dagegen nichts von meiner Seite einzuwenden,
wenn der Erfolg einigermaßen gesichert wäre aber ist das bei jetzigen Um-
ständen auch thunlich? Dazu gehörte der große Kurfürst mit seinem weiten
politischen Gewissen, seiner eisernen Zähigkeit und Energie. Aber unser
Regent? Können Sie von dem, besonders bei der ausgesprochenen Stellung
des Königs zu dieser Frage, wohl je erwarten, daß er das Volk gegen die
Regierungen benutzte und mit der Revolution sich verbände? Dies müßte
er aber, selbst um die Wahl einer Deutschen Nationalvertretung durchzusetzen.
Daher bleibe ich dabei: das einzig Thunliche und Mögliche ist, daß man
die selbstständige kriegerische und diplomatische Leitung Deutschlands während
der jetzigen Krise für Preußen fordert, was ich wohl nicht scharf genug
durch den Ausdruck „Bundesfeldherrnamt" früher bezeichnet habe.
Dies läßt sich für jetzt erreichen, zu solchen Concessionen wird vielleicht
die Noth die Kabinette drängen, wenn Preußen daran sein Einschreiten
knüpft, wie es muß. Ob diese vorläufige und nur zeitweise Concession nicht
im Laufe der Ereignisse eine bleibende, in die Einführung der Reichsverfassung
am Ende hinüberleitende Einrichtung wird — ist eine zweite Frage, und
Preußen müßte sehr ungeschickt manövriren, wenn es das nicht werden sollte.
Erwacht namentlich in den bevorstehenden Kämpfen der Nationalgeist, und
führt Preußen dieselben irgendwie glücklich zu Ende, so möchte alsdann ein
solcher Umschlag von den Kleinstaaten kaum abzuwenden sein.
Ferner bleibe ich dabei, daß es schon ein großer Gewinn ist, dies Alles
mit Norddeutschland durchzusetzen, wenn es auch mit Süddeutschland noch
nicht geht, wie ich fürchte. Principiell fällt es mir gar nicht ein, Süddeutsch¬
land von unsern Einigungsideen auszuschließen; aber das halte ich für falsch,
über dem Ausblick nach dem letzten Ziele das zunächst Erreichbare sich unter
den Händen entgleiten zu lassen.
Daß wir nur langsam und schrittweis dahin gelangen, ist mir nach allen
Entwickelungsgesetzen unzweifelhaft, die mich bei einer solchen Aufgabe, wie
die Consolidirung Deutschlands, an die Krystallisationsgesetze gemahnen.
Preußens Geschichte beweist dies recht lebhaft. Und würden wir nur erst in
Norddeutschland Eins, was wollten dann die Süddeutschen machen? Wir
haben die See und die Ströme, und sie müßten zu uns ganz von selbst, oder
sie wären politisch und wirthschaftlich verloren.
Daher nur auf die preußische Oberleitung losgesteuert, deren Nothwendigkeit
Jedermann, außer etwa die hannoversche und bairische Regierung,
einsieht.
(Schluß folgt.)
Wenn auch der Volksmund in deutschen Gauen niemals geschwiegen,
von den Zeiten des Tacitus an, wo die Germanen in der Nacht bei den
langen Brücken und bei Veteru, eastra an den Lagerfeuern ihre wilden
Schlachtgesänge ertönen ließen, bis in das klang- und sangreiche Jahrhundert
der Hohenstaufen*), so beginnt die Blüthe des historischen Volksgesanges doch
erst mit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts; wenigstens fließt erst seit
dieser Zeit der Born der Ueberlieferung für uns reichlicher. Im 13. Jahr¬
hundert übertönt der vornehmere Klang höfischer Kunstpoesie die einfachen,
obwohl nicht kunstlosen Lieder der Fahrenden, der eigentlichen Organe des
Volkes, und was wir aus dieser Zeit an politischen Liedern besitzen, gehört
nachweislich ritterlichen Sängern an- Wir erinnern nur an Walther von der
Vogelweide und Reinmar von Zweier, die bedeutendsten Vertreter dieser Gat¬
tung und rüstige Parteigänger des Reichs im Kampfe gegen das Papstthum. —
Seitdem aber der Klang der Harfen auf den Burgen und an den Höfen ver¬
stummt war, kamen die weniger formgewandten, aber gehaltreicheren Weisen
des Volks mehr zur Geltung, wie denn überhaupt in der weiteren Entwickelung
der Kultur von nun an der Bürger- und Bauernstand an die Stelle des ent¬
arteten Ritterthums traten.
Am meisten vorgeschritten war die Entwickelung des Volksbewußtseins
damals unstreitig in der Schweiz. — Das Zähringische Bern im Uechtlande,
seit 1218 freie Reichsstadt, war im Kampfe mit dem benachbarten Adel im
Aargau und in Hochburgund sowie mit dem gleichfalls Zähringischen Frei¬
burg, das aber zur Partei des Adels hielt, schnell zu innerer freiheitlicher
Entwickelung und Respect gebietender Machtstellung gelangt. Seit Friedrich II.
im Lager zu Faenza (1240) den drei Waldstätten Schwyz. Uri und Unterwalden
gleiche Stellung mit den Reichsstädten und namhafte Privilegien ertheilt,
hatten sich diese durch wiederholte Erneuerung ihrer seit den ältesten Zeiten
bestehenden Eidgenossenschaft kräftig gegen die Uebergriffe der Habsburger,
welche die kaiserliche Schirmvogtei verwalteten, zu wahren und schließlich im
geeigneten Augenblicke sich von Habsburg unabhängig zu machen gewußt.
Der Reiz der neuen Freiheit, die die Eidgenossen siegreich gegen Leopold II.
in der Schlacht am Hohlwege bei Moregarten (1313) behaupteten, lockte die
zunächst benachbarten Städte zum Anschluß. 1332 trat das österreichische
Luzern, von Rudolph von Habsburg 1291 gekauft, der Eidgenossenschaft bei,
vorbehaltlich, wie es hieß, der Rechte der Herrschaft. Auch Zürich, wo das
Patriciat und der benachbarte Adel in einer Mordnacht (23. Februar 1337)
unterlegen war. sowie Glarus und Zug, beide österreichische Lehen, endlich
das reichsfreie Bern traten in den Jahren 1331—33. meist in Folge der Be¬
drängungen der Habsburger, dem ewigen Bunde bei. Nach dem für Habs¬
burg kläglichen Zürcherkriege, schloß man 1337 den bekannten, nach seinem
Urheber sogenannten Torbergischen Frieden, in welchem Oesterreich die eid¬
genössischen Bündnisse ihm zugehöriger Orte, immer vorbehaltlich seiner
Herrschaftsrechte, anerkannte. Dieser Vorbehalt war aber eine leere Formel
und konnte die allmählige gänzliche Verdrängung der österreichischen Herr¬
schaft aus dem obern Lande nicht aufhalten. Das Mittel, dessen sich die Eid¬
genossen hierzu bedienten, war die massenhafte Aufnahme von Außen- oder
Pfahlbürgern im Gebiet der Herrschaft und des Adels zu eidgenössischen
Stadtrecht, eine Art Option, durch welche ganze Ortschaften in den faktischen
Besitz einer größern Stadt übergingen. Der Torbergische Friede verdammte
zwar dieses Verfahren, aber Oesterreich war zu schwach, es zu hindern. Der
beste Beweis dafür ist, daß es nach jeder Verlornen größeren Schlacht den
Krieg aufgeben mußte.
Aus dieser Zeit der aufblühenden republikanischen Freiheit besitzen wir
nicht wenige, durch ihre kernige Kraft ausgezeichnete Volkslieder, in denen
das bewußte Machtgefühl des Bürgerthums gegenüber dem Adel sich deut¬
lich ausspricht. Das älteste, ein Lied auf das 1243 zwischen Bern und Frei¬
burg geschlossene, freilich nicht lange gehaltene Bündniß, hebt so an:
„Wollt ihr nun hören Märe,
Wie ich's vernommen hab'?
Zween Ochsen, groß mit kleine,
Ein Matten ha'n gemeine,
Darin darf niemand gahn
Von manchem Thier gewaltig,
Die darum mannigfaltig
Hingehn und sehen zu;
Sie dürfen, ihnen zu Leide,
Nicht kommen an die Weide,
Es sei spat oder früh."
Außerdem existiren Lieder auf die Schlacht am Moregarten, auf die
Laupenschlacht (1339), wo Bern den burgundischen Adel, namentlich die Ky-
burgergrafen, seine Erbfeinde, zwang, und andere kleinere und größere Fehden
der Eidgenossen gegen die Herren.
Der wesentlichste Werth dieser Lieder beruht darauf, daß sie zeitgenössi¬
schen Ursprungs sind und sich meist mit schlichter Treue, abgesehen von der
Parteifarbe, an das historisch Wahre halten, weshalb sie auch mit Recht als
Hauptquellen geachtet werden. Den höchsten Schwung aber nimmt der Schwei¬
zer Volksgesang im letzten Viertel des Jahrhunderts, in den Sempacher
Schlachtliedern, oder in dem unter dem Namen eines Luzerners, Halb Suter,
erhaltenen umfangreichen Siegesliede, dessen nachgewiesene Entstehungsart ein
merkwürdiges Beispiel für die stufenweise Entwickelung des epischen Volksge¬
sanges bietet. —
Dieses 67 Strophen umfassende Lied, das die Darsteller der Sempacher
Schlacht von Tschudi bis auf Johannes v. Müller wesentlich beeinflußt hat,
ist gleichwohl in der vorliegenden Gestalt kein zeitgenössisches. Der Luzerner
Chronist Melchior Ruß, der etwa 100 Jahre nach der Schlacht schrieb und
sorgfältig und gewissenhaft allen Quellen nachspürte, kannte es noch nicht
oder verschmähte es, weil er es als späte Compilation erkannte. Dagegen
theilt er ein bedeutend kürzeres mit, das sich in seinen Theilen in dem an¬
geblich Halbsuterschen Liede wieder findet, und fügt ausdrücklich hinzu: Dieß
ist das Lied, so nach der Sempacher Schlacht gesungen ward, — also das
andere nicht. Dies ist entscheidend. Ein Forscher wie Ruß konnte ein Lied
wie das Halbsutersche nicht übersehen, abgesehen davon, daß so umfangreiche
Producte nicht mehr dem lebendigen Volksgesänge angehören, weil sie eben
nicht mehr sangbar sind, und daß sich echte ältere Lieder, die wir aus andern
Quellen kennen, in jenes spätere hinein verarbeitet finden. Dagegen ist es
von geringerer Wichtigkeit, daß die älteste Aufzeichnung des Liedes, die wir
kennen, (bei dem Zürcher Chronisten Werner Steiner) nicht über die zweite
Hälfte des 16. Jahrhunderts zurückgeht. — Wir geben in der nachfolgenden
Darstellung die Sempacher Schlachtlieder stückweise und zwar in einer mög¬
lichst treuen Modernisirung, indem wir, wie es von der Kritik geschehen ist
(vgl. IMeneron. D. historisch. Volkslieder Deutsch. 1, S. 142 ff.), das Halb-
suter'sche Gedicht in einzelne Lieder zerlegen und, wo uns ältere, zeitgenös¬
sische Fassungen zur Seite stehen, denselben den Vorzug geben. —
Nach dem Tode Herzog Albrecht's II. (1388) und dem frühen Hinscheiden
seines ältesten Sohnes, Rudolf IV., übernahmen die überlebenden Brüder
Albrecht III. und Leopold III.. letzterer erst 16 Jahre alt, die Verwaltung
des Habsburgischen Erbes. Leopold war eine glänzende, ritterliche Erschei¬
nung, gewandt in Staatsgeschäften und voll weitaussehender Pläne, aber
nicht so ruhig und berechnend als sein Bruder Rudolf. 1376 übernahm er die
Herrschaft der vordern Lande, die Reichsvogtei in Schwaben und in der
Schweiz. Zunächst erneuerte er den Torbergischen Frieden auf 10 Jahre.
Die Eidgenossen waren dem Herzog persönlich geneigt und behandelten ihn
stets mit freundlicher Ehrerbietung. Aber der übermächtige Gegensah drängen¬
der Verhältnisse ließ die Parteien trotz des besten Willens keinen rechten mo-
cius viverM finden. 1384 wurden die Kyburger Grafen in Klein-Burgund,
die im Mannesstamme von habsburgischen Blute waren, durch einen Krieg,
der über Solothurn entstand, von den Bernern gezwungen, ihre Hauptsttze.
Thun und Burgdorf bei Bern herauszugeben. Noch regte sich Leopold nicht.
Im folgenden Jahre aber ward die Rotenburg bei Luzern, der Sitz des
Habsburgischen Vogtes, von den Luzernern ohne Absage überfallen und ge¬
brochen, ferner das österreichische Sempach am gleichnamigen See durch massen¬
hafte Einbürgerung in Luzerner Burgrecht aufgenommen. Damals sangen
die österreichisch Gesinnten:
„O Sempach,
Wie schändlich sich dein' Treue brach,
Von dem dir nie ein Leid geschach.
Fürbaß geb' dir Gott Ungemach,
Denn des Uebels bist du Urseins."
Jetzt konnte der Herzog nicht länger zusehen. Im April erschien er
aus Tyrol mit glänzendem Rittergefolge. Zu Baden und Brugg sammelten
sich um ihn die Herren aus dem Aargau, Breisgau, Schwaben und Elsaß:
167 geistliche und weltliche Herren, ohne die Zuzüge der Städte. Die Eid¬
genossen, außer Luzern, Zürich, Schwyz, Uri, Unterwalden, Zug und Gla-
rus, — Bern hielt sich aus Eifersucht gegen Luzern zurück, — sammelten
ihre Banner bei Zürich. Hierher schickte Leopold ein Beobachtungscorps
unter Johann von Bonstetten; er selbst zog das Aargau hinauf bis Zo¬
fingen, wo er am 7. Juli erschien. Diesen Hinauszug schildert das alte Lied,
das der Luzerner Chronist überliefert, und das vielleicht wieder aus zwei
kleineren zusammengeschweißt ist, mit folgendem beißenden Spott:
Von Zofingen ging's gegen Willisau am Südwest-Ende des Sempacher
Sees. Willisau nebst der Hasenburg gehörte pfandweise der Gräfin Maha
von Neuenburg und Valendys, Berner Bürgerin. Der Herzog forderte von
Zofingen aus die Uebergabe der Stadt und Beste, „daß er daraus kriegen
möchte;" verpflichtete sich aber gegen die Gesandten der Gräfin, die Bürger
in ihrem Gute nicht zu schädigen. Aber die eidgenössische Partei war ihm
zu zahlreich in der Stadt (Luzern hatte erst kurz vorher eine Anzahl Außen¬
bürger erworben); er konnte sein Wort nicht halten. Willisau ward am
8. Juli genommen, die Bürger theils getödtet, theils gefangen, Stadt und
Beste von den Abziehenden den Flammen übergeben. Von hier zog das Heer
nach Sursee am nordöstlichen Ende des Sees und brach von da am 9. in
aller Frühe gegen Sempach auf. Der Heranzug zur Schlacht wird in einem
Liede, welches, wenn auch vielleicht nicht in der ursprünglichsten Gestalt, einen
der ältesten Bestandtheile des Halbsuter'schen Sammelgedichtes bildet, folgen¬
dermaßen geschildert:
ImMontag, den 9. Heumonats, erschien der Herzog vor Sempach
Heranziehen ließ er, nach der Sitte der Zeit, die Felder verwüsten und das
Korn abmähen. Er hatte zwei Wagen mit Stricken mit, die zum Belage¬
rungszeug gehörten oder auch zum Binden der Leute dienen sollten. Fast
gleichzeitig erschienen auf der andern Seite bei Sempach, gleichfalls auf dem
nördlichen Ufer, die 4 Banner von Luzern, Schrvyz, Uri und Unterwalden.
Die Stärke der beiden Heere wird sehr verschieden angegeben; österreichische
Quellen, wie z, B. Peter Suchenwirt in dem Gedicht „von den fünf Fürsten"
(b. Vrimisser S. 67), sagen, des Herzogs Heer sei klein gewesen gegen das
der Gegner. Umgekehrt natürlich eidgenössische Quellen. Das Terrain war un¬
günstig: ein kleines dreieckiges Feld vor einem Walde, dem Meierholz, an der
Berglehne am See, zu klein für einen Reiterangriff. Deshalb wollte ein Theil
der Reiter die Schlacht vermeiden, aber die Meinung der streitlustigen siegte.
Da sie dem Zuzug der Städte und Landgemeinden, „den Bauern", die Ehre
des Tages nicht überlassen wollten, stiegen sie großentheils von den Pferden,
hieben sich die langen Schnäbel von den Stiefeln ab und bildeten mit vor¬
gestreckten Lanzen eine Schlachtordnung. Die Eidgenossen standen theils in,
theils vor dem Gehölz.
Die Vorgänge unmittelbar vor Beginn der Schlacht schildert ein Abschnitt
des Halbsuter'schen Liedes, der mit folgender Strophe anhebt:
„An einem Montag frühe
Da man die Mäher sah
Sich ruhen in dem Thaue,
Davon ihnen Weh geschah
Hei! Als sie den Schnitt gethan,
Bracht' Morgenbrot man ihnen
Vor Sempach auf den Plan."
Hier schließt sich ein älteres Lied an, das seinem Inhalte nach in das
spätere verarbeitet ist; wir ziehen jedoch die ältere, spruchförmige Fassung vor:
Indem er die Eidgenossen heranziehen sieht, fährt er fort:
Die Edeln von jenseit des Rheines scheinen also die ungestümsten ge¬
wesen zu sein. Der Streit, ob man die Schlacht annehmen solle oder nicht,
bildet im Halbsuterschen Gedicht eine Episode:
Nun bereiten sie sich, wie oben erzählt, zur Schlacht; von den Eidge¬
nossen aber heißt es:
Nun begann die Schlacht, die Eidgenossen griffen von der Höhe an, un¬
gestüm aber nicht zu wohl geordnet. Der Anfang war ihnen nicht günstig;
bis eine Wendung eintrat, wie die Chronisten sagen: sie gewannen den Druck.
Das alte, gleichzeitige Lied bei Ruß (vgl. oben) schildert die Schlacht unter
Bilde eines Kampfes zwischen einem Stier und einem Löwen. Der Stier ist
die Eidgenossenschaft, der Löwe, mit einer nicht ganz klaren Anspielung*),
Oesterreich:
Den Verlauf der Schlacht im Einzelnen, namentlich wie der Wendepunkt
eintrat, verschweigt leider dieses alte Lied. Das beziehungsreiche Bild vom
Stier und vom Löwen hielt den Dichter zu lange gefesselt, sonst hätte er der
Nachwelt viel Streit ersparen können, wie wir weiter unten sehen werden.
Das spätere Sammelgedicht, das hier mit einer Reihe Strophen in die Lücke
springt, mit denen es den Höhepunkt seiner Darstellung erreicht, besitzt den¬
noch zu wenig kritische Autorität. Unser Gedicht fährt so fort:
Folgen kurz einige Namen der Gefallenen und dann der Schluß:
Hiermit schließt das Lied vom Stier und vom Löwen; in poetischer Be¬
ziehung unstreitig das beste unter allen Sempacher Liedern. Aber woher jener
Wendepunkt, durch den die Schweizer „den Druck gewannen"? Hier tritt
die Winkelried-Frage an uns heran, die, von Johannes von Müller noch
übersehen, in neuester Zeit viele Gelehrten beschäftigt hat.*) Die einzige
Quelle dafür ist eben jenes halbsutersche Gedicht, aus dem die Erzählung
in eine Zürcher Handschrift übergegangen scheint. —
„Für quellenmäßig erwiesen kann man hiernach die That Winkelried's
nicht halten, aber es wäre zu weit gegangen, sie darum als geschichtlich un¬
wahr zu verdammen. Denn auch die mündliche Ueberlieferung verdient geschicht¬
liche Beachtung, wenn sie nicht innerlich Widersprechendes enthält. Hier aber
stimmt die Ueberlieferung nicht nur ganz zu den quellenmäßig festgestellten
Thatsachen, sondern scheint sogar den Zusammenhang derselben erst wirklich
aufzuhellen. Man kann sagen, es mußte so geschehen, wenn die Eidgenossen
mit einer „Spitze", wie es heißt, in die Lanzenordnung der Ritter einbrechen
wollten." — Dies ist der heutige Standpunkt der Kritik**) und dabei können
wir uns beruhigen und zum halbsuter'schen Liede zurückkehren. Dieses reiht
in die Darstellung jenes ältern Liedes an der oben bezeichneten Stelle folgende
Strophen ein:
So weit die Winkelried-Episode in der Fassung einer späteren Zeit, die
sich allerdings durch störende Wiederholungen und lästige Breite von den ältern
Lieder nicht zu ihrem Vortheil unterscheidet. Es folgt eine ziemlich eintönige
Beschreibung der Thaten des eidgenössischen Heeres. Hierauf ein langes und
langweiliges Register der gefallenen Ritter und Herren, unter welchen auch
Herzog Leopold. Von ihm heißt es:
Und weiterhin:
Unter den erschlagenen Edlen heben wir zwei Elsässer hervor, die Herren
von Ochsenstein und von Mümpelgart. Mit Bezug auf ihre armen Frauen
heißt es mit einer Art von Schadenfreude, die sich nur durch die grimme
Siegeslust der Eidgenossen entschuldigen läßt:
„Die Frau von Mümpelgarten
Und die von Ochsenstein,
Die mußten lange warten,
Bis die Männer kamen heim.
Hei! Sie sind zu Tod geschlagen;
Man hört's in ihren Landen
Gar jämmerlich beklagen."
Ferner werden genannt die Herren „ab dem Rheine" und „ab dem Bo¬
densee", Werner. Schenk von Bremgarten. die von Rinach u. A.; von dem
Zuzug der Städter, die also auch noch müssen in den Kampf gekommen sein,
die von Schaffhausen, von Freiburg, von Lenzburg. Constanz, Zofingen :e.
Die an sich verdächtige Episode von dem Herrn oder Herzog von Clee oder
Gree, der mit seinem Knappen auf der Flucht von dem Fährmann Hans
von Rot im Sempacher See ertränkt wurde, übergehen wir billig und schlie¬
ßen unsere Anführungen mit der Schlußstrophe des Halbsuterliedes:
„Halbsuter unvergessen,
Also ist er genannt,
Zu Luzern ist er gesessen
Und allda wohl bekannt:
Hei! Er war ein fröhlich Mann!
Dies Lied hat er gemacht,
Als aus der Schlacht er kam."
Eine bürgerliche Familie Halbsuter ist aus der' Zeit der Sempacher
Schlacht in Luzern nicht nachzuweisen; aber ein Halbsuter von Rot war
Hintersasse der Stadt, und später ward einer, vielleicht dessen Sohn, einge¬
bürgert. Möglich, daß vor jenem ältern Halbsuter ein Sempacher Schlacht¬
lied existirte, das von dem Sammler nachmals in seine Compilation hinein¬
gearbeitet wurde und dann dem Ganzen den Namen geben mußte. —
Werfen wir einen Blick zurück auf die gelieferten Proben, so werden wir,
soweit die mangelhafte Nachbildung ihren poetischen Werth erkennen läßt, in
ihnen den begeisterten Schwung der Darstellung und den Reichthum an gro߬
artigen, trefflich durchgeführten Bildern bewundern müssen. Ein eigenthüm¬
licher Reiz liegt in der, namentlich in den alten Liedern häufig angewendeten
dialogischen Form, die der Darstellung eine außerordentliche Lebendigkeit ver¬
leiht und immer ein Kennzeichen alter, echter Volksepik ist.") Außerdem
aber, — und das ist das historisch Charakteristische an ihnen. — spricht aus
diesen Gesängen nicht nur ein stolzes Machtbewußtsein, eine mitunter über-
wüthige Siegeslust, sondern auch eine rechte, wahre Kampfesfreude, die helle
Lust am Schlachtengewühl. Wir erinnern nur an das originelle Heil das
sich, wie ein wilder Schlachtruf, durch ganze Lieder hinzieht, gleich dem feuri¬
gen „Alala!" in Tyrtäus' Kampfliedern. Wo solche Lieder entstehen konnten,
da mußten auch die Männer nicht selten sein, die sich, wie wir's in der
Schlacht bei Se. Jacob sahen, mit zügelloser Tollkühnheit unter die zehnfache
Ueberzahl der Feinde stürzten und den überwallenden Muth sämmtlich mit
dem Leben bezahlten, — die nachher, als es zu Hause nichts mehr zu kriegen
gab, gleich den „heiligen Lanzen" der Samniten, in hellen Haufen als Reis¬
läufer in fremde Dienste gingen und ihre Schlachtenlust auf französischen und
italienischen Schlachtfeldern büßten. —
Zur Geschichte der römisch-deutschen Frage von Dr. Otto Mejer. Dritter
Theil, erste Abtheilung. Rostock 1874.
In Ur. 30 dieser Blätter vom vorigen Jahre haben wir des zweiten
Theiles zweite Abtheilung von Dr. Otto Mejer's Geschichte der römisch-deut¬
schen Frage besprochen. Wir erinnern hier nochmals daran, daß der erste
Theil dieser verdienstvollen Arbeit das Verhältniß zwischen dem deutschen
Staat und der römisch-katholischen Kirche von der letzten Reichszeit bis zum
wiener Congreß behandelt. Des zweiten Theiles erste Abtheilung giebt die
Geschichte der bairischen Concordatsverhandlung, desselben Theiles zweite Ab¬
theilung, die wir hier schon besprochen, giebt die Verhandlungen, welche Preu¬
ßen, Hannover und die oberrheinischen Staaten bis zum März 1819 mit
Rom führten. In der jetzt vorliegenden ersten Abtheilung des dritten Thei¬
les sind die Verhandlungen der protestantischen Staaten des deutschen Bun¬
des mit Rom von 1819 bis 1821 dargelegt. Wir wollen uns bei dieser An¬
zeige auf das dritte Capitel dieser Abtheilung, auf Niebuhr's Erlangung der
preußischen Cirkumscriptionsbulle beschränken. In den entsprechenden Capi¬
teln der vorhergehenden Abtheilung waren die Umstände dargelegt, welche,
nachdem die Zusammensetzung des preußischen Staats durch den wiener Con¬
greß eine wesentlich veränderte geworden war, für die Gestaltung der römisch
kirchlichen Verhältnisse in der neuen Staatsordnung das EinVerständniß mit
dem römischen Stuhl unerläßlich machten. Ferner waren die verschiedenen
Gesichtspunkte dargelegt, welche für das mit Rom zu erreichende Einverneh¬
men im Schooße der preußischen Regierung selbst einander gegenüber traten.
In dem jetzt zu besprechenden Capitel wird erzählt, wie aus den sich be¬
kämpfenden Richtungen endlich die Instruktion für Niebuhr, den preußischen
Unterhändler mit Rom, hervorging, und wie dieser in nicht zu langer Zeit,
vom 15. Juli 1820 bis zum 28. März 1821, die Unterhandlung glücklich
beendigte. Die Bulle <Zo saints ammarum war das Ergebniß dieser Unter¬
handlung, welche fünfzig Jahre lang die Grundlage für die Stellung der
katholischen Kirche im preußischen Staat geblieben ist. Erst seit dem Kampfe,
welche dem im Jahre 1871 neugeschaffenen deutschen Reich durch die römische
Curie aufgezwungen worden, ist die Fortdauer des auf die Bulle ac salute
animarum begründeten Rechtszustandes bis jetzt zwar noch nicht unterbrochen,
aber allerdings in Frage gestellt worden.
Wir gehen hier nicht weitläufiger weder auf die Geschichte der Verhand¬
lung noch aus den Inhalt der Bulle selbst ein. Der wesentliche Inhalt der¬
selben betrifft die neue Eintheilung der Bisthümer im preußischen Staat;
zweitens die Zusammensetzung der Capitel; drittens die Art der Bischofs¬
wahlen durch die Capitel; viertens die Dotationsweise der in den Bisthümern
begriffenen kirchlichen Anstalten. Neben der Bulle ging ein so gut wie die
Bulle in der Verhandlung ausbedungenes Breve an die einzelnen Capitel,
worin dieselben vermahnt wurden, nur auf eine dem König nicht ungenehme
Person, xersona von ingraw, die Wahl zum bischöflichen Stuhl zu lenken,
und sich darüber, daß der Gewählte poi-soma non ingraw, vor jeder Wahl
Gewißheit zu verschaffen. Es war dies ein besonders schwieriger Punkt der
Verhandlung gewesen. Bezüglich der Ausstattung bestimmt die Bulle, daß
die vom König dazu gewährten Mittel in Form ebenso vieler Grundzinse,
als auszustattende Sprengel da sind, auf bestimmt zu bezeichnende Staats¬
waldungen angewiesen werden sollen. Dies letztere sollte jedoch erst geschehen,
wenn die Staatswaldungen von dem Pfandrecht der Staatsgläubiger befreit
sein würden. Bis dahin sollte die jährliche Zahlung aus der Staatskasse
genügen. Zur Ueberweisung dieser bestimmten Renten ist es aber niemals
gekommen.
Die Geschichte der Ausführung der Bulle wird uns der Verfasser in den
späteren Abtheilungen seines Werkes geben. Zu ihrer Zeit konnte die Bulle
mit Recht für einen großen Erfolg angesehen werden. Die Verhältnisse der
katholischen Kirche wurden durch dieselbe im Einvernehmen mit dem römischen
Stuhl geordnet. Aber in Wirksamkeit trat die Bulle nur durch eine könig¬
liche Cabinetsordre, durch einen souveränen Gesetzgebungsakt des Staates, der
durch kein Concordat, durch keinen Vertrag eine fremde Souveränität auf
seinem Boden einführte. Materiell war die Eintheilung und Ausstattung
der römisch kirchlichen Institute auf dem preußischen Staatsboden im Ein¬
vernehmen mit dem römischen Stuhl geordnet worden, aber der römische
Stuhl wurde nicht formell eingeführt als vertragschließender Theil über innere
Verhältnisse des preußischen Staats. Ueber die Befugnisse der römisch kirch¬
lichen Obrigkeiten auf dem Boden des preußischen Staats und über das Ver¬
hältniß dieser Befugnisse zu den weltlichen Behörden waren gar keine Be¬
stimmungen getroffen; es war somit hier Alles der Anordnung und Aner¬
kennung des Staates überlassen, welche sich auf dem Wege der Praxis er¬
geben konnten, ohne jemals die Souveränität des Staats zu beschränken.
Kein Zweifel, es hätte auf diesem Wege ein angemessenes, beide Theile
befriedigendes, Verträglichkeit und Einvernehmen bewahrendes Verhältniß
zwischen dem preußischen Staat und der römischen Kirche sich herausbilden
können. Jeder Leser wird im Allgemeinen gegenwärtig haben, wie weit dies
geschehen ist und wie weit nicht. Die römische Kirche schritt von Uebergriff
zu Uebergriff, sie versagte allen freundschaftlichen Mahnungen des Staates
trotzig jedes Gehör. Die Folge war das erste heftige Zerwürfniß im Jahre
1839, das mit dem Triumph des römischen Stuhles in Folge der selbstauf¬
erlegten Schwäche des Staates unter Friedrich Wilhelm IV. endigte. Das
Jahr 1848 mit seinem kindischen Doktrinarismus, dessen Anschauungen die
Anordnungen der nicht zur Wahrheit gewordenen deutschen Reichsverfassung
vom Jahre 1849, wie die Anordnungen der vctroyirten preußischen Verfassung
vom December 1848 und der reviduten preußischen Verfassung von 1850
diktirten, schien das Wunder zu leisten, die bis dahin in der Welt stets un¬
ersättlichen Anforderungen der römischen Curie sogar auf dem Boden der
größten protestantischen Macht des Continents zu befriedigen. So schien es,
und der Schein hielt länger an, als man hätte erwarten sollen. Das kam
daher , weil unter dem Vorwand der preußischen Verfassungsurkunde, weit
über deren ausdrückliche Bestimmungen hinausgehend, eine katholisirende Rich¬
tung der preußischen Verwaltung Uebergriff auf Uebergriff der römischen
Kirche gestattete. Aus diesem Schlaf des höchsten staatlichen Pflichtbewußt¬
seins wurde die preußische Regierung mehr noch als durch die Julibeschlüsse
des vatikanischen Concils geweckt durch den theils offenen, theils versteckten
Widerstand, welchen der Ultramontanismus der Gründung des deutschen
Reiches entgegensetzte, geweckt ferner durch die Versuche des Ultramontanis¬
mus, die Souveränität der römischen Kirche auf dem Boden des deutschen
Reiches nach Analogie der mißbräuchlichen preußischen Verfassungspraxis so¬
fort durch die Reichsverfassung gewährleisten zu lassen. Als die Versuche
mißlangen, eröffnete der Ultramontanismus einen ebenso eifrigen Feldzug
gegen den Fortbestand des deutschen Reiches, als er gegen die Gründung des¬
selben in nicht genug bemerkter Weise vorher unternommen hatte. Jetzt trat
der Staat theils auf den Boden der Reichscompetenz. theils der speciell preu¬
ßischen Staatscompetenz, endlich in die aktive Vertheidigung. Von der kun¬
digen Hand des Verfassers haben wir die Darstellung dieses geschichtlich hoch¬
merkwürdigen Zeitabschnittes zu erwarten. Wir dürfen auf den lehrreichsten
Aufschluß rechnen, wie die römische Kirche auf dem Boden der Bulle <Ze sa-
luw Anima-rum, auf dem Boden der mit einer kurzen Unterbrechung über die
Maßen nachsichtigen preußischen Staatspraxis den preußischen Staat endlich
in die aktive Defensive gedrängt hat, trotz so vieler, lange herrschenden katho-
listrenden Einflüsse, trotz der tief mißverständlichen conservativen Parteiauf¬
fassung von dem Verhältniß des Staates und sogar des protestantischen
Staates zur römischen Kirche.
Der hier besprochene Abschnitt des Mejer'schen Buches, geschichtlich sehr
werthvoll, mit gewohnter Umsicht und Fleiß alle Thatumstände des erzählten
Momentes feststellend, schildert einen Augenblick des scheinbar errungenen Frie¬
dens und der vorherrschenden Friedensaussicht. Daß die Aussicht sich so
wenig verwirklicht hat, liegt an den Veränderungen, welche sich in der römi¬
schen Politik an der Hand der Zeitereignisse vollzogen. Den damaligen preu¬
ßischen Staatslenkern wird man nicht nur keine Vorwürfe zu machen haben,
sondern auch zugestehen müssen, daß sie das Recht des Staates nach besten
Kräften und mit gutem Erfolg gewahrt haben. Damals war die römische
Curie dem preußischen Staat verpflichtet sogar für den Umfang ihres welt¬
lichen Territoriums; damals konnte man nicht wissen, welche Bedrängnisse
die europäische Politik der Regierungen wie der Völker dem römischen Stuhl
bereiten möchte. Dennoch war das Staatsbewußtsein in den damaligen Len¬
kern Preußens so mächtig, daß der Staat sich nicht das Geringste an seinem
Recht und seiner Würde bei dem damals für die unerläßlichen organisatori¬
schen Schritte hergestellten Einvernehmen vergab. Dies ist erst in der nach¬
folgenden thatsächlichen Praxis, aber freilich auch in unverzeihlichem Maße
geschehen. Der preußische Unterhändler in Rom bewährte bei den Unter-
Handlungen seinerseits Eifer, Geschick und Umsicht genug, aber die Richtung,
in die er die Unterhandlungen bei völliger Selbständigkeit geleitet haben
möchte, wäre schwerlich die staatsgemäße gewesen. In einer ausführlichen
Denkschrift an die preußische Regierung sagt er vom päpstlichen Hofe, daß
die Harmlosigkeit desselben im 19. Jahrhundert bis zu seinem, in den Ver-
Änderungen, welche Europa bedrohen, allerdings unvermeidlichen Untergange,
immer nur zunehmen könne! Man weiß, daß Niebuhr in den Befürchtungen
einer Alles umstürzenden Revolution gestorben ist. Man wird es als ein
Glück ansehen müssen, daß er damals ein Werkzeug und nicht ein Werkführer
war. Indeß, wenn nicht Geist und Ziel, so ist die Durchführung der Ver¬
handlung doch wesentlich sein Verdienst. Nichtsdestoweniger sind wir der
Meinung, daß Mejer viel zu weit geht in den Vorwürfen gegen den Fürsten
Hardenberg, weil dieser Niebuhr's Verdienst aus Anlaß seiner zufälligen An¬
wesenheit beim Schluß der Verhandlungen in Rom sich zugewendet habe.
Es mag so sein, daß das materielle Uebereinkommen durch Niebuhr's Arbeit
bereits vollständig erzielt war. Als Hardenberg nach Rom ging, wußte er
das nicht, und als er, der leitende Minister, dort ankam, scheint es uns ein
Gebot seiner Stellung gewesen zu sein, daß er nicht die Rolle des xost tsswm
Gekommenen, sondern die Rolle des Beendigers äußerlich annahm und sich da¬
nach betrug. Das Urtheil, welches über diesen seltenen Staatsmann, meist
wohl in Folge der leidenschaftlichen Befangenheit Steins, sich bei uns noch
immer fortsetzen zu wollen scheint, ist einestheils eine Ungerechtigkeit, anderen-
theils eine Beschränkung unserer politischen Einsicht und eine Verdunklung
der richtigen Begriffe von staatsmännischem Handeln, die sich gelegentlich an
einem Volk bestrafen. Darum müssen wir auch hier gegen den Beitrag zu
dem Sündenregister Hardenberg's, den eine sonst so verdienstvolle Arbeit mit
ungenügender Begründung liefert, protestiren. *)
Es ist allbekannt, welchen Aufschwung in den zwanziger und dreißiger
Jahren die Sache des Männergesangs nahm. Jede deutsche Stadt strebte
damals darnach, ihren Männergesangverein zu erhalten und die besten der
Liederkränze und Liedertafeln, die heute noch bestehen, datiren ihre Gründung
in jene Zeit zurück. Es gab nicht so viele Vereine wie gegenwärtig, wo die
Zahl derselben sich bis ins epidemische vermehrt hat, aber es wurde besser
gesungen und ernster gestrebt und es war mehr jugendliche Kraft und Be¬
geisterung in der Sache. Besonders hatte sich die Komposition, die allerdings,
wie es in der Natur des Männergesangs liegt, von Anfang an auf ein enges
Gebiet beschränkt war, noch nicht so widerwärtig verflacht und erschöpft, wie
dies in der Folge geschah und an die Belebung des Gesangwesens knüpften
sich damals ja auch noch gar hohe, einen mächtigen Hebel bildende Hoffnungen,
die heute, als vielfach erfüllte anzusehen, nicht mehr vorhanden sind, um
anzuspornen und anzuregen. Man findet in jener früheren Zeit einen edleren
idealeren Zug und Inhalt, neben allerdings manchem spießbürgerlichen und
zopfigen, in den Tonsätzen, aus denen sich die Gesangvereine den Stoff ihrer
Uebungen, wie Erhebung, Trost und Unterhaltung zu gewinnen trachteten.
Der Humor war nicht ausgeschlossen, aber er war gesund und frisch, wenn
auch etwas derb. In jüngster Zeit hat das niedrig Komische, das albern
Spaßhafte allzusehr überHand genommen und nicht nur die Leistungen der
Tonsetzer, sondern auch den männlichen Geist und Ernst, den unsere Männer¬
gesangvereine in erster Linie hätten wahren sollen, empfindlich geschädigt.
Die erste große Periode der Männergesangkomposition knüpft sich an die
Namen Zelter. Nägeli, Mühling, Klein, Methsessel, Kuh'lau,
Schneider, Sturz. Spohr, Marschner, Reissiger besonders aber
an K. M. von Weber und Konradin Kreuzer. Der auch auf diesem
Gebiete äußerst fruchtbare Franz Schubert trat den bessern Gesangvereinen
erst später näher; aber Silcher's herzgewinnende Volkslieder wurden bald
überall gesungen. Das Bedürfniß und die Nachfrage nach Gesängen für
Männerstimmen wurde immer bedeutender und die Versuchung lag nahe, die
Komposition derartiger Chorlieder förmlich geschäftsmäßig zu betreiben. Die
„Mache" ist gerade in diesem Genre leicht zu erlernen und ein gewisser Hand¬
werksgriff läßt sich bald erwerben. Wir brauchen nicht darauf hinzuweisen,
was in dieser Beziehung Abt. Otto Zöllner und Andere geleistet haben. Viele
der Kompositionen dieser Männer sind ja ganz trefflich, sie sind zudem fast
durchweg melodiös, sangbar, wirkungsvoll. Aber Tiefe, Wärme, Kunst
und Eleganz des Tonsatzes, sowie besondere Originalität und ein begeisternder
und veredelnder Zug ist solcher Massenproduktion gegenüber nicht zu verlangen.
Allmählig war aber doch ein Moment eingetreten, wo man an den Grenzen
des Gebietes angelangt schien. Es machte sich eine gewisse Schwäche und
Leere, eine bedenkliche Gehaltlosigkeit der Kompositionen auffallend bemerklich,
die damals schon den Zweifel an die Lebensfähigkeit des Männergesangs aus¬
kommen ließ. Die Tonsätze für Männerstimmen, selbst diejenigen der bessern
Komponisten, dürfen doch im Grunde nur ephemeres Dasein beanspruchen,
denn nicht aus innerem Bedürfnisse, sondern durch äußere Anregung sind
die meisten derselben entstanden. Die geselligen Forderungen, die Mode des
Tages, die politischen und Zeitfragen haben die meisten derartigen Werke
veranlaßt und obgleich nun der alle Strömungen der Zeit, jedes Aufflackern
und wieder Zurücksinken der Hoffnungen unseres Volkes, wie in einem Spiegel-
bild darstellende Männergesang für den Kulturhistoriker ein höchst fesselndes
und anziehendes Studium bildet, so bleibt doch die praktische Wirkung der
für ihn ersonnenen Werke an Bedeutung zurück, weil das Vorhandene nicht
groß genug erscheint, um für alle Zeiten zu dauern und der wechselnde Tag
seine wechselnden Ansprüche allzusehr immer geltend zu machen wußte. Wir
besitzen zahllose Sammlungen von Männergesängen, die an und für sich ganz
gut, nützlich und erwünscht sein mögen, die aber im Grunde doch werthlos
sind, weil sie nur dem praktischen Bedürfniß genügen wollen, nie aber
eine Auswahl des besten, vortrefflichsten, vielleicht auch unvergänglichen bieten,
was aus dem Gebiete des Männergesangs geschaffen wurde. Eine derartige
Sammlung, die von einem feinsinnigen Kritiker und einsichtsvollen Kultur¬
historiker zu veranstalten wäre, würde kaum sehr umfangreich ausfallen können,
aber sie dürfte auch, da sie jede Parteianschauung, jede Rücksicht aus oberfläch¬
liche Unterhaltung ausschließen und nur den künstlerischen Werth der aufzu¬
nehmenden Tonsätze berücksichtigen müßte, vielleicht nur wenige Abnehmer
finden. Das Beste ist jedoch nicht gerade unbekannt, es steckt nur unter und
zwischen einer Masse von werthlosen und unbedeutendem, es wird durch die
Masse des Quarkes verdrängt und vergessen. Sehr sonderbar bleibt es immer¬
hin, daß wir trotz der Masse der eristirenden Sammlungen keine eigentliche
Mustersammlung von Männergesängen besitzen. Wie wett ist da z. B. die
Poesie durch ihre vortrefflichen literarhistorischen Sammlungen und Antho¬
logien der Musik voraus!
Gerade in der Zeit nun, in der ein merklicher Nachlaß hinsichtlich der
Kraft und des Inhaltes der Männergesangskompositionen sich bemerklich
machte, — es war in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre — schrieb Men¬
delssohn seine ersten Chorlieder. Die sämmtlichen (23) Originalkompofltionen
für vierstimmigen Männergesang, die wir von ihm besitzen, dürften in die
Jahre 1837—47, also in die Jahre der höchsten Reife des seltenen Mannes,
fallen. Wir sehen, es sind nicht viele Lieder, die der Meister uns hinterließ;
sie sind s. Z. in fünf Heften (0p. 60. 75. 76. 113 und 120) erschienen; vier
Lieder wurden einzeln oder in verschiedenen Sammlungen veröffentlicht. Die
vorliegende Collektion enthält außerdem ein Lied: „Liebe und Wein" in zwei
Schreibarten und eine Nummer: „Schwur freier Männer", nach dem Bac¬
chuschor aus Antigone bearbeitet, im Ganzen also zählt sie 23 Nummern.
Manche darunter sind wenig bekannt geworden. Von besonderer Bedeutung
und von mächtiger Wirkung sind unter letzteren die beiden geistlichen Chor¬
gesänge („Leati mortui" und „?eriti a,utom" 0x>. 115).
Erschien irgend ein Meister berufen neupulsirendes Leben den vertrocknen¬
den Venen des Männergesangs zuzuführen, so war es der reichbegabte, frisch,
empfindende, gemüthvolle Mendelssohn. Während viele Tonsetzer ihre Lauf¬
bahn als solche in der Regel mit Männerquartetten beginnen und auch selten
über diese enge und kleine Form hinauskommen, schrieb der vollendete Mei¬
ster, dessen Ruhm als Tonsetzer bereits die Welt erfüllte, der mit allen Kunst¬
mitteln und Wirkungen längst vertraute Mendelssohn, erst seine ersten Sätze
für Männerchor. Nicht Alles, was er in diesem Genre schuf, ist hochbedeutend
und außerordentlich, sehr Vieles aber unübertrefflich, einzig und unvergäng¬
lich. Besonders Op. 30 enthält nur Perlen von seltenster Art und Schön¬
heit; es ist eines seiner vorzüglichsten Werke, trotz seines geringen Umfangs.
Gleich seine frühesten, im Jahre 1837 komponirter Lieder („Das Lied vom braven
Mann," „Sommerlied." „Trinklied" vor Allem aber das hochpoetische und
wunderbar wirkende „Wasserfahrt") sind Meisterstücke in ihrer Art. Im Jahre
1838 entstand nur das kunstvolle, originelle und jugendfrische „türkische
Schenkenlied," das tausende von Liedern aufwiegt, die vielleicht im gleichen
Jahre komponirt wurden und die heute alle längst vergessen sind. Frucht¬
barer war wieder das folgende Jahr („Abendständchen," „Ersatz für Unbe-
stand," „Liebe und Wein") dagegen hat das Jahr 1840 wieder nur einen
Männerchor aufzuweisen, aber es ist einer der schönsten, die je erdacht wur¬
den und der zumeist gesungene: „Der Jäger Abschied." Erst im Jahre 1844
schrieb Mendelssohn dann wieder einige Chorlieder („Abschiedstasel," „Der
frohe Wandersmann," „Rheinweinlied") denen 1846 ein tödliches Werk:
„Lied der Deutschen in Lyon" und 1847, Ende Sommers, sehr bezeichnend
und vorahnend durch die Wahl des Textes seine letzte Männergesangskompo¬
sition folgte: „Loiniwt.", ein einfach kräftiges, wenn auch nicht durch beson¬
dere Eigenschaften hervortretendes Gesangsstück.*) Neben diesen kleineren
Männerchören schuf Mendelssohn aber noch eine Reihe von größern Werken
für Männerstimmen, die nicht nur zu den epochemachenden des Männerge¬
sangs, sondern der Kunst überhaupt gehören. Im Jahre 1840 entstand der Fest¬
gesang zur 4. Säcularfeier der Erfindung der Buchdruckerkunst, 1841 die
Musik zur Antigone des Sophokles, 1845 die zu dessen Oedipus in Kolon-
nos und 1846 der Festgesang: „An die Künstler." So sehr man im letzten
Jahrzehend dem Männergesang wieder größere Aufgaben hinzustellen suchte,
die Mendelssohn'schen Schöpfungen (0x. 5S, 68 und 93) sind bis zur Stunde
nicht überboten worden und fast könnte man ein Gleiches von den kleineren
Chorliedern behaupten. Hat er auch seinen begabtesten Zeitgenossen R. Schu¬
mann, Gabe, Hauptmann, M. Kunz, Dürrner und Andern die Anregung ge¬
geben, sich im gleichen Genre zu versuchen, und haben diese bedeutenden Ton¬
setzer den Schatz des Männergesangs auch mit vielen neuen köstlichen Gaben
bereichert, keiner von ihnen hat so dem deutschen Volke aus dem innersten
Herzen heraus zu singen verstanden, keiner hat aus diesem Grunde auch die
Popularität wieder gewonnen, wie Mendelssohn.
Dasjenige seiner Chorlieder, welches die meiste Verbreitung fand und
das wohl jeder Deutsche wiederholt gehört, jeder Sänger mit Freude immer
wieder gesungen hat. ist: „Der Jäger Abschied." Zu den Lieblingsliedern
unserer Vereine zählen dann weiter: „Abendständchen," „Abschiedstafel,"
„(üomitat„Das Lied vom braven Mann," „Der frohe Wandersmann,"
„Lied für die Deutschen in Lyon," „Rheinweinlied" und „Trinklied". Eine
dankbarste Aufgabe für vorzügliche Sängergenossenschaften bilden die fein¬
sinnigen und geistvollen Gesänge: „Wasserfahrt" und „türkisches Schenken¬
lied." Weniger, weil sehr schwierig, wurden gesungen: „Ersatz für Unbe-
stand", „Liebe und Wein", „Wanderlied" und „Sommerlied". Gerade diese
Kompositionen verdienten aber wieder hervorgesucht und mit der größten
Sorgfalt studirt zu werden. Fast ganz unbekannt dürften die beiden schon
oben genannten geistlichen Chöre 0p. IIS und die 4 unter 0p. 120 zusam¬
mengestellten Gesänge („Jagdlied", „Morgengruß des Thüringischen Sänger¬
bundes", „Im Süden" und „Zigeunerlied"), sowie zwei Nummern ohne Opus-
zahl („Die Stiftungsfeier" und „Nachtgesang") unsern Gesangsvereinen ge¬
blieben sein. Diese Lieder (mit Ausnahme von 0x. 115) nicht gerade be¬
deutend und hervorragend, erscheinen, schon um des Tonsetzers willen, doch
vollster Beachtung werth und sollten, wie Mendelssohn's übrige Komposi¬
tionen, allen Sängern bekannt und geläufig werden.
Bei aller Vortrefflichkeit der Mendelssohn'schen Lieder für Männerstim¬
men — sie präsentiren die höchste Blüthe des Männergesangs und sind un¬
bestritten das Vorzüglichste, was auf diesem Gebiete überhaupt producirt
wurde — sind sie doch der jüngsten Generation unserer Sänger theilweise
schon fremd geworden. Das ist ein Unrecht, denn mit dem Besten soll man
die Fühlung nie verlieren und besonders dem Männergesang thut es noth,
eine ideale Richtung, wie sie Mendelssohn verfolgte und vorzeichnete, einzu¬
halten. Dies ist aber nur dann möglich, wenn man die Meisterwerke der
Gattung nie aus den Augen läßt. — Obwohl nun viele der Mendelssohn-
schen Lieder in fast allen Sammlungen nachgedruckt wurden, so hielt es bis¬
her doch schwer, seine Gesammtthätigkeit auf diesem Gebiete sich vergegen¬
wärtigen zu können. Allen Wünschen und Anforderungen kommt nun das
neue dankenswerthe Unternehmen derKistner'schen Verlagshandlung entgegen;
denn hier liegt nicht nur eine komplette Sammlung der Männerchöre des
Meisters vor, dieselbe hat auch den Vorzug des billigsten Preises und Druck,
Format und Ausstattung lassen nichts zu wünschen übrig. Eine Entschuldigung
für unsere Sänger auch nur mit Einem Liede unbekannt geblieben zusein, giebt
es fortan nicht mehr. Eigentlich wäre es Ehrensache für jeden deutschen
Sänger, diese Ausgabe selbst zu besitzen, damit, wenn vier derselben sich zu¬
sammenfinden, ihnen, die sonst im Auffinden der besten und zuträglichsten
Quellen so großes Geschick zu bethätigen wissen, die beste Liederquclle nicht
fehlt. Vieles wäre über die Schönheiten und Borzüge, über Geist, Originali¬
tät, Auffassung und Anordnung jedes einzelnen Liedes, der in Rede stehen¬
den Sammlung zu sagen; aber wo bietet sich der Raum zu einem solchen
Unternehmen? und besser ist es doch, die Sänger suchen selbst zu ergründen,
nicht nur worin die Vorzüge der edelsten Weine und des besten Gerstensaftes,
sondern auch worin die Eigenthümlichkeiten eines Tonsetzers und der beson¬
dere Reiz einer Komposition bestehen. Wie mit ganz anderem Genuß wer¬
den sie dann singen und wie wird sich ihnen dann erst das innerste Wesen
der Tondichtungen, die so Vielen unter ihnen häufig nur leerer Sang und
Klang und gedankenloser Zeitvertreib bleiben, erschließen. Hat der Männer¬
gesang eine neue Zukunft vor sich — man kann berechtigten Zweifel daran
haben, denn die großen, unsinnigen Trink-, Bummel- und Sängerfeste sind
nur ein Zeichen seines unaufhaltsamen Verfalls, ein bedenkliches memento
more — dann führe man ihn auf geistigere Bahnen und wecke ein tieferes
Verständniß und eine eingehendere Erkenntniß der Kunst in den Ausüben¬
den; das kann aber nur geschehen im Geleite und im Vertrautsein mit dem
Besten und Edelsten, was auf diesem Gebiete bisher hervorgebracht wurde.
Die zweite oder Specialberathung des Militärgesetzes wurde am 13. April
durch einen ausführlichen Vortrag Miquel's eröffnet, welcher im Auftrag der
Commission das Referat über den ersten Abschnitt zu erstatten hatte. Der
Vortrag beschränkte sich auf eine sehr klare Wiedergabe der in der Commission
einander gegenübertretenden Meinungen. Auf den Referenten über den ersten
Abschnitt folgte der Abgeordnete von Bennigsen zur Entwickelung seines zum
§ 1 eingebrachten Abänderungsvorschlags, welcher das von den reichssreund-
lichen Parteien, mit der Regierung in vertraulichen Verhandlungen abge¬
schlossene Compromiß enthielt. Nach diesem Abänderungsvorschlag soll der
§ 1 lauten: Die Friedenspräsenzstärke des Heeres beträgt für die Zeit vom
1. Januar 1873 bis zum 31. December 1881 401,659 Mann. Anstatt der
hier enthaltenen Zeitbestimmung hatte die ursprüngliche Vorlage gesetzt: Bis
zum Erlaß einer anderweitigen gesetzlichen Bestimmung.
Indem Bennigsen sich zum Vertreter des Compromißgedankens machte,
fiel ihm die rednerische Hauptaufgabe des Tages zu. Man wird in dem
langjährigen Führer der nationalen Partei nie den bedeutenden Politiker ver¬
missen, wenn er das Wort nimmt, zumal er es nur bei seltenen und wichtigen
Gelegenheiten ergreift. Aber man wird nicht sagen können, daß ihm dies¬
mal gelungen sei, dem geneigten Theil der Hörer die Befriedigung einzu¬
flößen, welche die richtige Lösung einer bedenklich gespannten Situation mit¬
theilen sollte. Unseres Bedünkens nahm der Redner für einen Mann und
Führer der deutschen Zukunft, d. h. doch wohl für einen Vertreter der ge¬
sundesten und sachgemäßen Anschauung von den Forderungen des deutschen
Staatsrechts, seinen Standpunkt viel zu sehr in der überlebten, recht eigent¬
lich der Oberflächlichkeit des revolutionären Zeitalters angehörigen Theorie
vom Budgetrechte. Der Hauptgedanke seiner Rede war: die Selbstbeschrän¬
kung in der Ausübung jenes Rechts von Seiten der deutschen Volksvertre¬
tung in der bis heute zurückgelegten Epoche des norddeutschen Bundes und
des deutschen Reiches zu rechtfertigen; sodann die weitere Beschränkung des¬
selben Rechtes aus 7 Jahre zu rechtfertigen; und drittens, zu beruhigen über
die staatsrechtliche Ungewißheit, welche nach Ablauf des Septennats für die
Präsenzziffer bei nicht vorhandener Einigkeit der Gesetzgebungsfaktoren hin¬
sichtlich des Heers entstehen muß. Uns würde die Rede weit besser gefallen
haben und weit entsprechender erschienen sein des Führers einer Partei, deren
Aufgabe es ist, den nationalsten d. i. den gesundesten, richtigsten, am meisten
Dauer verleihenden Anschauungen über das Grundgefüge des deutschen Staats¬
wesens Bahn zu brechen, wenn sie ihren eigenen Standpunkt vor allem im
scharfen Gegensatz zu der revolutionären Budgettheorie gesucht hätte. Das
revolutionäre Zeitalter war von der Vorstellung erfüllt, dem absoluten Staat
seine Machtmittel mechanisch zu entreißen. Anstatt des monarchischen Heeres
begehrte man eine Parlamentsmiliz, und für das Parlament beanspruchte
man die Macht, die ausführende Gewalt, auf deren Funktion die Monarchie
zusammengeschrumpft war, jährlich wenigstens einmal durch Versagung aller
Lebensbedürfnisse des Staates trocken legen zu können. Dies war für den
Fall, daß die Executive sich beikommen lassen sollte, dem Parlament säumigen
Gehorsam zu zeigen. Das revolutionäre Zeitalter glaubte an die Allweisheit
und Allgüte der Wählermassen und ihrer Erwählten. Der Begriff fester
Staatsinstitutionen, von welchen der Nationalwille erst sittlich und poli¬
tisch erzogen wird, indem er in dieselben hineinwächst, war diesem Zeitalter
fremd.
Bennigsen hätte sehr wohl ausführen können, daß das Heer als Staats-
institution in gesetzlicher Einrichtung hingestellt werden muß, schon in seiner
Eigenschaft als national sittliches Erziehungsmittel. Er hätte einschränkend
hinzufügen können, daß die von ihm (dem Redner) geführte Partei im Ein-
Verständniß mit der Regierung auf die Durchführung des permanenten Cha¬
rakters der Heeresinstitution, d. i. auf die Unabänderlichkeit der Institution
anders als durch übereinstimmenden Beschluß der gesetzgebenden Faktoren,
gleichwohl noch verzichte, sich mit einer siebenjährigen Dauer begnügend. Er
hätte den Verzicht motiviren können mit der Rücksicht auf die noch nicht ganz
hergestellte Einheit der Meinungen über diesen Punkt im reichsfreundlichen
Lager; mit der Nothwendigkeit, eine Spaltung dieses Lagers gerade jetzt,
wenn irgend möglich, zu vermeiden; mit der Hoffnung, daß nach 7 Jahren
die Gefahren einer solchen Spaltung verschwunden sein würden dadurch, daß
die Permanenz der Heereseinrichtung bis dahin ein unbestrittenes Axiom der
nationalen Bildung geworden. Statt dessen stellte der Redner die gesetzliche
Permanenz der Institutionen als die Ausnahme, das revolutionäre Budget¬
recht als die Norm hin, oder er ließ wenigstens diesen Standpunkt offen, er
ließ mindestens den Schein zu, daß diese Standpunkte für einen ernsthaften
Politiker noch gleichberechtigt gegenüber treten können. Und doch giebt es
für uns Deutsche kein politisches Mannesalter, so lange wir nicht wissen,
daß das Hanfs altg esetz ein Ausführungsgesetz ist, bei wel¬
chem an die Institutionen nicht gerührt werden darf. Die In¬
stitutionen bildende Gesetzgebung ist außerhalb der Haushaltberathung vorzu¬
nehmen, mit dem Bewußtsein, daß es sich um das bleibende Wesen des Staates
handelt. Die Theilnahme an der Feststellung des Staatshaushaltes verstärkt
für die Volksvertretung die Ueberwachungsmittel der Institutionen und ver¬
mehrt die Bürgschaften für die Dauerhaftigkeit und Wirksamkeit der letzteren.
Die Allgewalt der Volksvertretung durch die Befugniß derselben feststellen zu
wollen, die Institutionen durch Versagung der materiellen Mittel beliebig zu
zerstören, ist der Gedanke einer kindischen Barbarei. Eine Volksvertretung
mit dem Recht, die Institutionen zu überwachen, mit dem Recht, die Mittel
zur Ausführung derselben zu controliren und nach jährlich erneuter Prüfung
der Bedürfnisse festzustellen, mit dem entscheidenden Antheil an der Fortbil¬
dung der Institutionen, hat ihre geistige, nicht ihre materielle Ohnmacht an¬
zuklagen, wenn sie mit solchen Rechten den gebührenden Einfluß im Staats¬
leben nicht erhält, wenn sie um diesen Einfluß zu sichern, nichts anderes
kennt, als die Macht, den belebenden Strom der Staatseinrichtungen abzu¬
sperren und die Nation in einen verwesenden Sumpf zu verwandeln.
Der Vortrag des Redners gipfelte nicht in der Klarheit dieser grund¬
sätzlichen Anschauung, sondern in der Hindeutung auf einen den englischen
Verhältnissen ähnlichen Zustand auch bei uns, wo Parlament und Regierung
sich gewöhnt haben werden, ihre gegenseitigen Befugnisse zwar unerschütter¬
lich festzuhalten, in den Geschäften aber dieselben als schöne Theorie zu be¬
handeln und dafür ein gewohnheitsmäßiges Entgegenkommen und Gehen¬
lassen anzunehmen. Diese Aussicht lockt uns sehr wenig und wir finden sie
eines deutschen Staatsmannes kaum würdig. Die theoretische Wahrheit und
Klarheit ist die Ueberlegenheit des deutschen Geistes, die uns verpflichtet, un¬
sern Staatsbäu nach einem selbst entworfenen, besseren Muster auszuführen
als dem englischen. Der Deutsche will wissen und bekennen, was er thut,
und will thun, was er weiß. Der deutsche Charakter liebt nicht rechts eine
Theorie als antiquarisches Schaustück und links eine sich herumdrückende, ihrer
Wege sich gar nicht oder halbbewußte Praxis. Wir bedauern ungemein, daß
den verdienten Führer der nationalliberalen Partei der Stolz des deutschen
Staatsmannes nicht verhindert hat, in den Anachronismus Subalterner Poli¬
tiker zu verfallen und in einer großen deutschen Frage auf das englische
Muster zu verweisen, dessen durch seine innere Mangelhaftigkeit herbeigeführ¬
ten Verfall wir heute täglich vor Augen sehen.
Nach dem Führer der nationalliberalen Partei nahm der Bundesbevoll¬
mächtigte, Staatsminister von Kameele das Wort zu der Erklärung, daß die
verbündeten Regierungen dem § 1 des Militärgesetzes in der von Bennigsen
und Genossen vorgeschlagenen Fassung zuzustimmen bereit seien, wenn der
Reichstag diese Fassung beschließe. Es muß anerkannt werden, daß die Er¬
klärung der verbündeten Regierungen nichts zu wünschen ließ an der Ent¬
schiedenheit, mit welcher der institutionelle Charakter des Heeres gewahrt
wurde. Der preußische Kriegsminister sagte: „die Regierungen erkennen die
Bedenken nicht an, durch welche die Ablehnung einer längeren als siebenjäh¬
rigen Verpflichtung motivirt wird, sie sind davon überzeugt, daß eine Ver¬
ringerung der im § 1 ausgesprochenen Heeresstärke mit den bewährten Ein¬
richtungen des deutschen Heeres auch in Zukunft nicht vereinbar sein würde;
sie sind überzeugt, daß die nach sieben Jahren gewonnenen Erfahrungen zu der Er¬
kenntniß führen werden, daß die heute geforderte Stärke dauernd erforderlich
sei, und daß deshalb nach Ablauf der siebenjährigen Frist die nothwendige
Stärke dauernd oder doch wieder auf längere Zeit werde bewilligt werden."
Es kam nunmehr die Opposition zum Wort, und zwar zuerst diejenige
des Centrums durch den Mund des Herrn Peter Reichensperger. Der Redner,
einer der talentvollsten des Reichstags, wird jeder Schwierigkeit mit Gewand¬
theit begegnen; aber man bedauert um so mehr, sein Talent in vergeblichen
Unternehmungen verschwendet zu sehen. Er begann diesmal mit dem von
anderen Parteigenossen hernach wiederholten Vorwurf gegen v. Bennigsen,
daß letzterer das mit der Regierung abgeschlossene Compromiß habe als
Frucht seiner Ueberredung erscheinen lassen wollen, indem er am Schlüsse
seiner Rede die Regierung zur Annahme beschwor, von deren Zustimmung er
selbst sich vorher versichert hatte. Das sind indeß Formalien. Man muß
doch dem Berechtigten die Ehre des Jawortes gönnen; der Bräutigam fällt
doch nicht dem Prediger in das Wort mit der Erklärung: meine Braut sagt
ja. Die Wahl solcher Angriffspunkte kann nur die Verlegenheit des Herrn
Reichensperger offenbaren, wirklich anfechtbare Seiten an dem bekämpften
Vorschlag zu entdecken. Dieselbe Verlegenheit beherrschte aber die ganze Rede.
Denn was soll man sagen, wenn Herr Reichensperger die siebenjährige Fest¬
stellung der Präsenzziffer als Mißtrauen gegen die künftigen Reichstage
charakteristrte. Er nahm diesen Gedanken den Fortschrittsmännern vorweg,
in deren Mund er gehört. Aber ein gebildeter Mann, wie Herr Reichensperger,
darf nicht die Miene annehmen, nicht zu wissen, daß alles Nothwendige,
Bleibende und Gute in der sittlichen Menschheit alsbald dem beweglichen
Willen entrückt wird. Was würde Herr Reichensperger zu einem Schwieger¬
sohn sagen, der in der heiligen Verpflichtung des Ehebündnisses ein Mißtrauen
in seine Zuverlässigkeit erblicken wollte! In der sittlichen Welt sind die Ge¬
setze dazu da, das Bewegliche und Unbewegliche des Willens zu unterscheiden;
und ein berufener Ausleger des Gesetzes stellt sich, als könnten die Gesetze
durch die Güte des Willens ersetzt werden, und wir sollen seine Rede für
Ernst nehmen! Glücklicher war der Redner in den Citaten aus der Con¬
flictszeit gegen Freunde des jetzigen Gesetzes, worin dieselben einzelne Be¬
stimmungen des letzteren angefochten hatten. Diese Waffe wird immer eine
gewisse Wirkung thun, welche indeß niemals der Erwägung Stand hält, daß
ein Jahrzehend der größten historischen Ereignisse hinter uns liegt, und daß der
politische Mann das Recht hat, sich von solchen Ereignissen belehren zu lassen.
Die Fortsetzung der Verhandlung eröffnete am 14. April Graf Bethusy-
Huc als Wortführer der Freiconservativen. Es war die beste Rede, welche
dieser durch edle Gesinnung und durch jedes persönliche Element hintenan¬
setzende Selbstverleugnung verdiente Parteiführer bisher gehalten. Er that
im rechten Maße, was v. Bennigsen unterlassen hatte, er betonte den insti¬
tutionellen Charakter des Heergesetzes und vergab nicht das Geringste der
correkten Stellung seiner Partei gegen die revolutionäre Budgettheorie. Er
sagte u. A.: „wir haben nicht ohne lebhaftes Bedauern das Amendement
des Herrn v. Bennigsen ins Leben treten sehen, indem wir besorgten, dem
Gesetz könnte durch dasselbe wiederum der Charakter eines Provisoriums auf¬
erlegt werden, dessen Endschaft in eine Zeit fällt, deren Charakter wir nicht
bestimmen können. Wir haben das Amendement nicht mit unterzeichnet, weil
wir hoffen, am Ende dieses Provisoriums das Definitionen zu erreichen.
Dasselbe ist für uns ein Prinzip, und wir haben durch Unterzeich¬
nung jenes Amendements nicht den Schein erwecken wollen, als könnten wir
dieses Prinzip auch nur vorübergehend verleugnen. Wir wollten auch das
oberste Gesetz in öffentlichen Dingen, das Gesetz der politischen Wahrheit nicht
verleugnen. Anders aber stellt sich für uns die Frage, ob wir dieses existi-
rende Amendement anzunehmen oder abzulehnen haben u. s. w."
Es folgte Herr Eugen Richter als Redner der Fortschrittspartei. Es
schien ihm doch unliebsam, im Lichte eines Bundesgenossen der Ultramon¬
tanen und Socialdemokraten aufzutreten. Er wollte dieses bedenklich zusam¬
mengesetzte Licht zerstreuen und in eigner Naturfarbe erscheinen, indem er
Aeußerungen des verstorbenen Tochter über die Naturgemäßheit des Zusam¬
mengehens principiell entgegengesetzter Minoritäten anführte. Um diese
Aeußerungen anwendbar zu machen, mußte er aber der vorliegenden Frage
den Stempel einer lediglich formellen Rechtsfrage aufdrücken, während dieselbe
doch im höchsten Grade eine Frage der materiellen Zweckmäßigkeit ist. Es
handelt sich um die institutionelle oder arbiträre Gestaltung des Heeres, und
da ist es eine crasse xetitio prmoixii für jeden Andern als einen Dogmatiker
des Fortschritts, von dem Axiom auszugehen, daß für das Parlament Alles
arbiträr bleiben müsse. Nicht weil es naturgemäß, sondern weil es staats¬
feindlich ist, eignet sich dieses Axiom zur Losung aller staatsfeindlichen Mino¬
ritäten. Denn mit demselben wird dem Staat zugemuthet, beständig auf
dem Seil des Zufalls über dem Abgrund zu balanciren. — Eine große Ver¬
legenheit für Herrn Richter mußten die Manifestationen der öffentlichen Mei¬
nung zu Gunsten des Militärgesetzes sein. Er suchte sie als künstliche hinzu¬
stellen, was ein vergebliches Bemühen ist, oder er leitete sie, was viel interes¬
santer war, her aus dem Unverstand und den Leidenschaften der Menge.
Man kann von dieser Aeußerung nur mit Vergnügen Akt nehmen, daß die
Menge auch durch Unverstand und Leidenschaften regiert werden kann, wäh¬
rend sie für einen orthodoxen Fortschrittsmann der Sitz nie wankender Weis¬
heit sein sollte. Es bleibt die interessante Frage, wie der Verstand und der
Unverstand der Volksstimme zu unterscheiden sind. Sollte Herr Richter ant¬
worten: an der Uebereinstimmmung mit unsern Grundsätzen; so lassen wir
die Antwort freilich gelten. Wir denken aber, daß Herr Richter damit unsere
Kampfregeln annehmen müßte, bei denen uns nicht bange ist, ihn zu bestehen.
Zum Schluß bestieg der Redner das bereits von Herrn Reichensperger vor¬
geführte Roß des durch Mißtrauen gekränkten guten Willens. Hatte er nicht
eben gesagt, daß die Menge dem Unverstand und der Leidenschaft anheim¬
fallen kann, die Menge, deren Wahl doch den Reichstag bildet? Die Kam¬
pfesregel der Logik kann Herr Richter nicht annehmen, wir wollen ihn nicht
damit behelligen. Der Schluß seiner Rede war ein wahrer salto mortale
über die gesammte Logik hinweg. Nachdem er ausgeführt, daß die Feststel¬
lung der Präsenzziffer einer feindlichen Majorität gar keine Schranke aufer-
legen könne gegen die Versagung aller Heeresbedürfnisse im Budget, ging er
plötzlich in die Molltonart über mit dem Unkenruf: „das ist ja das Unheil¬
volle, daß, wenn erst ein solches Stück Absolutismus in unserm Verfassungs¬
körper drinsteckt. diese Wunde krebsartig weiterfrißt und nicht geheilt werden
kann ohne Operationen, welche den ganzen Organismus zu gefährden drohen."
Also bedeutet doch die Festsetzung der Präsenzziffer sehr viel; aber wir hatten
ja eben gehört, daß sie fast nichts bedeute. Erst hieß es: beladet Euch nicht
mit dieser unnützen Waffe; unmittelbar darauf heißt es: erlaubt nicht der
Regierung diese Waffe, ihr Besitz ändert die ganze Verfassung! Welcher
Zuruf war nun ernst gemeint? Wählt Euch, Ihr Hörer, was Euch gefällt.
Die Standpunkte, welche sich in der Heeresfrage gegenwärtig bekämpfen,
waren durch die skizzirten Reden im Wesentlichen erschöpft. Selbst v.
Treitschke hatte nur noch eine Nachlese zu halten. Er hatte im Namen der¬
jenigen Nationalliberalen zu sprechen, welche die Heeresstärke nach ihren
Grundsätzen unter die Bürgschaft eines nur durch übereinstimmenden Beschluß
der Faktoren der Reichsgesetzgebung zu ändernden Gesetzes gestellt hätten.
Er sprach aus, warum diese Nationalliberalen sich dem Compromißvorschlag
gefügt haben. Er stellte als den Hauptgrund die Voraussicht hin, daß nach
sieben Jahren die extremen Parteien noch unvernünftiger und die Liberalen
eben deshalb noch conservativer sein werden. Wir wollen das Letztere hoffen
und das Erstere uns noch nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Die Feinde kom¬
men mit dem Wind, mögen es die heutigen extremen Parteien sein oder an¬
dere. Zündend, weil in den Kern der Wahrheit treffend, wirkte der Aus¬
spruch des Redners, daß die Kundgebungen der Osterwoche eine tiefe Um¬
wandlung der öffentlichen Meinung bedeuten.
Auch Herr v. Mallinckrodt hatte nur eine Nachlese zu halten, und um
sie pikanter zu machen, verstieg er sich zu der Behauptung, wir hätten von
dem friedliebenden Frankreich nichts zu fürchten, der Krieg könne und werde
nur durch uns herbeigeführt werden. Nun, es ist gut, sehr gut. daß die
Allianzen offenbar werden. Wir können uns nach dieser Rede bereits die
andere construiren. die Herr v. Mallinckrodt halten wird, wenn Frankreich
den Rachekrieg beginnt, um Elsaß-Lothringen zurück- und einiges Andere dazu-
zunehmen.
Wir erwähnen noch die Rede des Abgeordneten Löwe, eines Mitgliedes
der Fortschrittspartei, vorwiegend aus Rücksichten für die Vergangenheit, wie
man annehmen muß, eines Mannes, der noch stets die Partei dem Patrio¬
tismus unterzuordnen gewußt hat. Er fügte sich auch diesmal dem Kompromiß,
er hätte es aber auf Grundlage einer herabgeminderten Dienstzeit zu erreichen
gewünscht. Wenn er nun freilich meinte, die Kriegstüchtigkeit werde bei herab¬
geminderter Dienstzeit sich theils durch militärischen Jugendunterricht, theils
durch kürzere, d. h. doch wohl häufigere Einziehungsfristen der dienstpflichtigen
Mannschaften erhalten lassen, so wäre mit solchen Maßregeln schwerlich die
Last des Volkes erleichtert. Das Pensum der Jugendausbildung kann man
nicht nach allen möglichen Seiten vergrößern, ohne den Zweck zu gefährden,
und die herangewachsenen jungen Männer werden sicherlich weniger in ihrem
bürgerlichen Beruf gestört, wenn sie eine längere Zeit hintereinander bei der
Fahne bleiben, als wenn sie bei verkürzter Dienstzeit desto länger durch häufige
Einziehungen dem bürgerlichen Leben entrissen werden, ohne doch die Un-
gründlichkeit der anfänglichen militärischen Ausbildung damit ganz zu über¬
winden.
Der letzte Redner dieses Tages, an welchem nach dieser Rede die Ent¬
scheidung fiel, war Laster. Nie war das Auftreten des arbeitsamen und ein¬
flußreichen Abgeordneten bei einer bedeutenden Gelegenheit bisher ein so
schwaches. Sein Herz ist noch bei dem souveränen Budgetrecht, dessen poli¬
tische Wichtigkeit ihm seine unablässig fortschreitende Bildung noch nicht gezeigt
hat. So wiederholte auch er den Satz Reichensperger's und Eugen Richter's,
daß das deutsche Volk ohne Gesetzesvorschrift jederzeit das Seinige thun werde.
Es ist ein seltsamer Widerspruch der Bildung, einen scharfsinnigen Mann wie
Laster mit voller Naivetät den Satz der Verführer anwenden zu hören: Du
wirst doch nicht an meiner Treue zweifeln, zwischen uns bedarf es doch nicht
der Ehe. Es ist unglaublich, aber es steht Im stenographischen Bericht zu
lesen. Laster sagte: „Es giebt gar kein Wahlgesetz, aus welchem eine Ver¬
tretung des Volkes hervorgehen könnte, deren Mehrheit der Wehrhaftigkeit
des Landes Eintracht thun sollte." Wie nun, redlicher Mann, wenn Du und
Deine Freunde eines Tages aufrichtig glauben, man könne den Soldaten am
besten in sechs Monaten unüberwindlich machen! Wir mißtrauen Eurer
guten Absicht nicht, wenn schon uns der Glaube nicht in den Sinn will, daß
jedes Wahlgesetz ohne Unterschied nur eine Mehrheit mit guten Absichten
schafft. Aber läßt sich nicht mit der besten Absicht die verkehrteste Ansicht
verbinden? Gegen den Eifer Eurer natürlich immer guten, aber möglicher¬
weise einmal in den Mitteln höchst fehlgreifenden Absicht suchen wir Schutz,
indem wir verlangen, die Organisation des Heeres darf nur geändert werden
einerseits mit Eurer Zustimmung, andererseits aber mit Zustimmung Derer,
deren Ehre, deren Lebenslauf, deren directe Verantwortlichkeit an der Wirk¬
samkeit, an den Thaten und Siegen dieses Heeres hängen.
Eine Nachlese über die weitere Verhandlung des Gesetzes nach Annahme
des entscheidenden Z 1, sowie über die durch den Abschluß des Militärgesetzes,
so wie er erfolgt ist, herbeigeführte Situation müssen wir uns für den nächsten
Von dem WerkeK. Klüpfel's „Geschichte der deutschen Eins eits-
bestrebungen bis zu i hrer Erfüllung 1848—1871" ist Ende v. I. im
Verlage von Julius Springer in Berlin der zweiteBand erschienen, und damit
ist dieses vom besten nationalen Geiste erfüllte Geschichtsbuch zum Abschluß
gediehen. Der zweite Band beginnt mit den Verhandlungen des 36er Aus¬
schusses und des deutschen Abgeordnetentages über die Gasteiner Convention
betreffs Schleswig-Holsteins und erinnert gleich im Anfange an die muthige
Lossage Tochter's von den Irrgänger,, in welche der deutsche Nationalverein
damals aus Abneigung gegen Bismarck sich hatte verlocken lassen. Hier wird
an die tapfere sehr arti-fortschrittliche That des großen Todten hauptsächlich
um deßwillen erinnert, weil Herr Eugen Richter jüngst nach dem ihm
eigenen Grundsatze rien n'ost Lg.ol'6 xour ur> La,x>Lur auch Tochter's Schatten
als Bundesgenossen seiner unpatriotischen Politik in der Militärgesetzfrage
heraufbeschworen hat. Im Allgemeinen genügt das Werk den Anforderungen
die der gebildete Deutsche an eine gedrängte synchronistische Schilderung der
letzten zehn Jahre der deutschen Geschichte stellen kann, gewiß vollkommen.
Wohl nicht eins der Ereignisse, die mittelbar oder unmittelbar in diesem Zeit¬
raume für die Entwickelung der nationalen Frage in Deutschland von Wich¬
tigkeit waren, ist darin übersehen.
Aber freilich, die Ereignisse der letzten zehn Jahre stellen, auch blos nach
der Quantität gemessen, einen so massenhaften Stoff dar, daß in einem Werke
von 27 Bogen kaum mehr als ein bloßer Abriß der drängenden Entwickelung
geboten werden kann. Und so dankenswert!) ferner das Streben des Ver¬
fassers ist, uns diese zehn Jahre unsrer jüngsten Vergangenheit schon jetzt,
zugleich mit möglichster historischer Objectivität und doch durchdrungen von
dem freudigen Stolze, zu welchem diese unvergleichliche Zeit ihren Schilderer
berechtigt, vorzutragen: so wird doch der Verfasser selbst am wenigsten ver¬
kennen, daß ein abschließendes und objectiv feststehendes Urtheil über die letzte
Spanne der deutschen Geschichte erst dann möglich ist, wenn die geheime,
namentlich diplomatische Geschichte dieser Jahre vollständiger, als dieß bis
jetzt der Fall, bekannt geworden ist. In dieser Hinsicht sind aber wieder seit
dem Erscheinen des vorliegendes Bandes Aerenstücke von eminenter Bedeutung
erschienen, die dem Verfasser nicht sowohl zu einer anderen Auffassung, wohl
aber zu einer eingehenderen Begründung seiner Ansicht bei der Darstellung
einzelner der in Rede stehenden Thatsachen Gelegenheit gegeben haben wür¬
den. Wir erinnern z. B. an die Enthüllungen Usedom's in Folge des La-
Marmora'schen Pamphlets, an den jüngst veröffentlichten Depeschenwechsel zwi¬
schen Arnim und Bismarck über die Stellung Preußens zum Vaticanischen
Concil u. s. w. Hoffen wir, daß dem Verfasser Gelegenheit gegeben wird,
diese fast mit jedem Monate wachsende Ausbeute, welche die Veröffentlichung
wichtiger Theile des geheimen Staatsarchivs Preußens dem Geschichtsschrei¬
ber unserer Tage bietet, in einer zweiten Auslage seines guten Buches zu
verwerthen. —
Für Viele, die in eigenen Dingen das Urtheil Anderer als maßgebend
für ihre Beschlüsse betrachten, ist bei ihrer individuellen Entscheidung über
das Militärgesetz die Presse des Auslandes, die Opferwilligkeit der Franzosen
bei der Reorganisation ihres Heerwesens u. s. w. ausschlaggebend gewesen. Wir
rechten nicht mit dieser Klasse von Patrioten. Aber Wochen hindurch schien
es allerdings so, als beurtheile der Fremde den Werth und die Nothwendig¬
keit der Wehrkraft des deutschen Volkes in Waffen gerechter und richtiger, als
mancher Deutsche, den das Vertrauen seiner Mitbürger zu dem höchsten öffent¬
lichen Ehrenposten berufen hatte. Und da wir an diesem Anlaß wiederholt
gesehen, wie schnell wir leben, wie schnell die besten Urtheile auch des Aus¬
landes über unser Heerwesen vergessen werden, so wollen wir hier an ein
Werkchen erinnern, welches uns nicht in dem Maße gewürdigt worden zu
sein scheint, als es wohl verdiente. Wir meinen das im Jahre 1872 in
zweiter Auflage bei Fr. Kortkampf in Berlin erschienene Schriftchen „Stim¬
men des Auslandes über deutsche Heeres-Etnrichtung, Krieg¬
führung und Politik." Die jüngste Vergangenheit hat uns gezeigt,
daß die Sammlung durchaus nicht veraltet ist. Im Jahre 1871 und 1872
ist sie vielleicht manchem Deutschen entgangen und überflüssig erschienen,
in der frisch nachwirkender, erhebenden Erinnerung an die Großthaten
unserer Heere, denen jeder im Stillen oder öffentlich unvergängliche
Dankbarkeit gelobte. Heute wird Jeder dieses Gelübde wiederholen und
für immer festhalten, wenn er aus den Blättern des vorliegenden Werkchens
ersieht, wie unter den Franzosen Napoleon III. und Baron stosset, unter
den Nüssen General Annenkoff, unter den Engländern die Times (OarlM)
und VM^ Reus, unter den Holländern Professor Opzoomer, unter den Bel¬
giern Rollin-Jacquemins, unter den Schweden General Hazeltus :c. :c. über
unsre Heereseinrichtung und Kriegführung vor und in dem großen Kriege
gegen Frankreich geurtheilt haben. Wenn wir eins zu tadeln haben an der
Sammlung, so ist es die Aufnahme der gedankenlosen Phrasen des Polygraphen
Rüstow in diese Sammlung. Die Kannegießereien dieses verflossenen preuß.
Offiziers können nicht einmal als „Stimme aus der Schweiz" gelten und
passen nicht zu der anständigen Haltung der übrigen Ausländer, deren Urtheile
gerade darum von besonderem Werthe für uns sind, weil ihre Urheber nicht
heimathlos, sondern von streng nationalem Geiste erfüllt sind. Als „Stimme
aus der Schweiz" hätten weit eher Auszüge aus der berühmten Broschüre
des Herrn von Rougemont dienen können. Aber im Uebrigen ist das Werk¬
chen durchaus mit Geschick bearbeitet und in unsern Tagen höchst lesenswerth.
Das vor Kurzem ausgegebene, schon seit langer Zeit vorher angekündigte
Winckelmannsprogrcunm des Vereins der Alterthumsfreunde im Rheinlande
(Aus'in Weerth, der Mosaikboden in Se. Gereon zu Köln, restaurirt und ge¬
zeichnet von Toni Avenarius, nebst den damit verwandten Mosaikboden
Italiens, Bonn 1872 und 1873, fol.) giebt mir Gelegenheit mit wenigen
Worten auf einige darin erwähnte besonders interessante Monumente hinzu¬
weisen, sowie einige Beiträge zum Verständniß derselben zu liefern und kleinere
Irrthümer zu berichtigen.
Als 1868 der allgemeine internationale Congreß für Geschichte und Alter-
thumswissenschaft in Bonn zusammentrat, wollte man, um ihm etwas neues
zu bieten, die Mosaikfragmente, die im Fußboden von Se. Gereon in Köln
lagen, zusammenstellen und nach Möglichkeit ergänzen. Die schon damals
beabsichtigte Publikation des wiederhergestellten Monuments unterblieb jedoch,
wahrscheinlich wegen Ausbruch des Krieges, und nahm dann durch die Reisen
des Prof. Aus'in Weerth eine ganz neue Gestalt an. Derselbe hatte nämlich
in einer Reihe oberitalienischer Städte viele ganz oder theilweise der gelehrten
Welt unbekannte Mosaike gefunden, die nach ihrer Technik und den darge¬
stellten Stoffen von dem Kölnischen nicht zu trennen schienen, und durch welche
eine ziemlich genaue Zeitbestimmung des einzigen augenblicklich in Deutschland
vorhandenen mittelalterlichen Mosaikbodens möglich wurde. So haben wir
das Kölnische Mosaik freilich später, als ursprünglich zu erwarten war, kennen
Zu lernen Gelegenheit gehabt, dafür wird uns aber in den beigegebenen
12 Tafeln und vielen in den Text gedruckten Holzschnitten eine in jeder Hin¬
sicht wichtige und interessante Reihe von oberitalienischen Mosaiken gegeben,
für deren Auffindung und Zusammenstellung wir Herrn Prof. Aus'in Weerth,
und für deren Publikation wir dem rheinischen Verein Dank wissen müssen.
Auch der beigefügte Text hat natürlich seine großen Verdienste: wir lernen
daraus noch eine große Anzahl anderer nicht abbildlich gegebener Mosaike
kennen und sehen uns den Zusammenhang vorführen, in welchem die einzelnen
zu einander stehen. Leider hat der Herr Verfasser, wie es scheint und wie es
auch aus einer Schlußbemerkung, worin er schon jetzt Nachträge verspricht,
hervorgeht, mit großer Eile bei Abfassung des Textes zu Werke gehen müssen;
deshalb möchte ich ihm einige kleine Fehler, die mir aufgefallen sind, nicht
sehr zur Last legen ; daß manche Mosaiken, die ebenso gut hätten erwähnt
und in den Kreis der Untersuchung hineingezogen werden müssen, darin nicht
Platz gefunden haben, kann bei der Neuheit des Gegenstandes nicht auffallen,
vielleicht ist das, was ich nach dieser Seite hin zu erwähnen habe, dem Herrn
Verfasser selbst schon aufgefallen und von ihm für die verheißenen Nachträge
bestimmt worden.
Von Einzelheiten ist, abgesehen von mehreren Druckfehlern (so wird S. 7
von der Blendung Samuels statt Samsons geredet, S. 18 steht Marcio für
Marcia, und auri, während auf der Tafel das richtige eg,uri zu sehen ist)
mir folgendes aufgefallen : S. 6 Anm. 27 wird bei der theilweise zerstörten
Inschrift eines Mosaiks aus Vercelli, David mit seiner Capelle darstellend,
interior wetus terrenos iiulieat actus, s,t......ipsos tollere sursum
etc. für den zweiten Vers vorgeschlagen at re^eus cursum iubet ixsvs
tollere sursum, dem Sinne nach wohl unzweifelhaft richtig, und auch der Reim
oursuw — sursum ist wohl geschickt hinein gebracht worden. Aber da der
Verfasser der Verse sonst sich streng an die von den alten Dichtern überlieferte
Prosodie hält, kann man doch kaum wagen, ihm zuzutrauen, daß er an Stelle
eines Spondeus oder Anapäst einen Jambus gesetzt habe. Für reZsus ist
wohl äominus zu schreiben, um den Vers in Ordnung zu bringen. Ueber¬
haupt scheinen die mittelalterlichen Verse, trotzdem daß sie in Wahrheit gar nicht
schlecht sind, nicht sehr nach dem Geschmacke des Herrn Verfassers gewesen zu
sein, wenigstens beziehen sich die Ausstellungen, die ich noch zu machen habe,
gleichfalls auf Verse, von denen er einen durch seine Ergänzung aus der Welt
zu schaffen gesucht hat. Es ist dies die Umschrift des Monats Februar in
einem Mosaik von Piacenza (S. 18, Taf. 8). Es steht dort Reuse vuae in
meäio solicli stat si. . . sg,. . . rii; dadurch daß er ergänzt msnsö nümön In
mentio, wird das ganze Metrum zerstört. Um zu zeigen, wie der Vers zu
ergänzen und zu lesen ist, muß ich die anderen Inschriften des Mosaiks in
die Untersuchung mit hereinziehen.
Wie vielfach, war auch im Dome von Piacenza der Fußboden mit den
Darstellungen der zwölf Monate geschmückt, und zwar war jede Darstellung
in einen Kreis hineingelegt mit ringsum laufender Umschrift. Zwei, der
Januar und Februar, finden sich zu beiden Seiten des Altars, jeder von zwei
Männern umgeben, die gleichsam den Kreis zu halten scheinen; die übrigen
in etwas kleineren Runden liegenden Monate sind in drei Reihen, zwei zu
drei, die mittelste zu vier Kreisen, unterhalb des Altars eingeordnet. Leider
sind an einzelnen Monaten theils die Darstellungen, theils die Inschriften,
theils beides zerstört. Ganz erhalten sind: 1) Der März. Dargestellt ist ein
Mann (Nareius), der ins Horn stößt, offenbar um das Austreiben des Viehs
zu bezeichnen, neben ihm zwei Fische, und die Inschrift lautet: 1'roeeäunt
ÄuxliceZ in Naroia tempora xisees. 2) Der April (Resxieis ^.xrilis, a-rief
?rixee, Oalsnäas) weist einen Mann mit zwei laubtragenden Bäumen auf,
neben ihm ein lammähnliches Thier, offenbar den Widder. 3) Der Mai; ein
Reisender <Mius) mit Bündel auf der Schulter tränkt an einem Flusse seinen
Esel; unter ihm ein Thier mit Hörnern, das vom Verfasser S. 18 als Stein-
bock aufgefaßt wird, trotzdem daß die Inschrift Uaius ^Miwrei inilAwr cornua,
?auri ganz richtig vom Stier als Sternbild des Mai redet. 4) Der Juni
(Bunins) mäht mit einer Sense Gras ab; neben ihm zwei Jünglinge ((Z^alni).
Die Umschrift ^unius ac<i-los va-elo videt ire i-ieonas ist offenbar als Turnus
aec^natos coelo videt irs Laeonas zu lesen, ö) Der August (^.uZustus) treibt
die Reifen eines Fasses fester an; neben ihm erblickt man ein Thier, als leo
bezeichnet. Die Umschrift lautet: ^uZustmn inensein leo kervidug igne
perurit. Dies sind die vollständig erhaltenen oder doch mit absoluter Sicher¬
heit hinzustellenden. Sehen wir nun noch, was diese Darstellungen und Verse
unter einander Gemeinsames haben, so ergiebt sich, daß immer eine für diesen
Monat charakteristische Beschäftigung angedeutet und dazu das Sternbild ge¬
fügt ist, und daß in der Umschrift das Sternbild und möglichst der Monat,
häufig in Beziehung zu einander gesetzt, aufgeführt werden. Einiges Prunken
mit Gelehrsamkeit, wie der aries 1'Krixeus, der taurus ^.Mnoreus, die Keulen
Icones, läßt sich gleichfalls nicht verkennen. Mit diesen Beobachtungen aus¬
gerüstet, kann es nicht schwer sein, die übrigen Monate mit Sicherheit oder
Wahrscheinlichkeit zu reconstruiren. 6) Der Februar. Ein Mann (^ebruarius)
fällt Bäume, neben ihm der Wassermann, der aus einem Schlauche Wasser
laufen läßt; danach muß die schon oben mitgetheilte Inschrift lauten: Reuse
Anm(a)e in medio solidi stat si(du)s A^u^rii. Der Monat konnte meu-
Äs MmaL genannt werden, weil König Numa die ersten beiden Monate
zugefügt haben soll. 7) Der Juli (-sulius), Aehren mit einer Sichel abschnei¬
dend, ist neben dem Krebs (Laneer) dargestellt; ringsum laufend steht: Lolstitiv
s.rdenti(3 (nneri) kort -sulius o-struw; durch ein Versehen ist Austrum ge¬
schrieben. 8) Der September. Ein Mann (September) tritt Wein aus,
neben ihm ist ein Gerüst mit Weinblättern sichtbar; vom Sternbilde, der
Jungfrau, ist nur eine Hand mit Gefäß übrig; der Vers heißt wohl sicher:
Lid(ere Virgineo vin)um September oximat. 9) Vom Oetober (... tuber),
einem Samen ausstreuenden Manne, ist nur wenig erhalten; rechts erblickt
Man eine Waage (Kibra.); den begleitenden Vers glaube ich so lesen zu müssen:
^eyuat et Oetuber sementis temxora. (libra)n(s). 10) Vom Jnnenbilde des
November ist nur sehr wenig, die Scheere eines Scorpions, erhalten; die In¬
schrift lautete wohl: (SeorMs Ichberm (cursum send)et ire Mvembri.
11) Ein Mann weidet ein Schwein aus, neben ihm erblickt man den oberen
Theil eines Bogenschützen (LsxittiU'in»); die ziemlich stark verstümmelte In¬
schrift möchte ich mit Rücksicht auf den Umstand, daß der Schütze meist als
Centaur dargestellt wird und daß Chiron als Vertreter der Centauren galt,
folgendermaßen lesen: '1'<zrmin(^t tuo armum et Onirvmg,) sigim December.
Die (Zturonig, Ligng, möchten zu dem taurus ^Mnorvus u. s. w. nicht übel
passen. 12) Vom Januar ist das ganze Jnnenbild zerstört; wahrscheinlich
war wie bei dem Mosaik von Aosta (Taf. 9) der Januar mit Doppelgesicht
zwischen zwei Thüren, die eine öffnend, die andere schließend, dargestellt; neben
ihm mußte das Zeichen des Steinbocks angedeutet sein. Danach scheint mir
die Lesart: (?mon alni) Säven troxieus c(Aper vt rwv». tiwgit) nicht un¬
wahrscheinlich; die Gegenüberstellung des alten und neuen ist durchaus dem
Sinne jener mit spitzfindigen Gegensätzen spielenden Zeit angemessen; daß das
Sternbild des Steinbocks nicht blos eapneorouL, sondern auch capa- genannt
wird, ist bekannt.
Ein anderes Versehen ist dem Herrn Verfasser bei einer Gruppe des i,in
Dom zu Vasall- Nvnkvrrate (Taf. 11) befindlichen Mosaiks begegnet. Es
heißt darüber im Terte S. 21 Anm, 10: „Die Inschrift zu der Hundetödtung
Taf. 11 und diejenige des ersten Medaillons auf Taf. 10 zu dem Manne,
der sich auf ein Ruder stützt und an einer Stange vorn einen Korb und
hinten einen Fisch trägt, sind unlesbar." Aber auf Taf. 11 wird nicht ein
Hund getödtet, sondern ein Hund hat einen deutlich erkennbaren Bären am
Halse gepackt, und ein Mann stößt dem letzteren, nicht dem Hunde, einen
Speer in die Seite; auch die Inschrift ist, nach der Abbildung wenigstens,
nicht unleserlich und unverständlich, es sind die Ausgänge zweier Hexameter:
(e)aus voeurM u(rsum) und darunter (va)via r(ox) p<zreuti(t ni)u(in). Die
ganze Scene bezieht sich auf ein Factum aus dem Leben David's, der von
sich rühmt, einen Löwen und einen Bären bei der Heerde getödtet zu haben.
Von andern in diesen Kreis gehörigen Mosaiken vermisse ich vor allem
ein näheres Eingehen auf das in Pesaro befindliche, von dem ich in der Zeit¬
schrift „Im neuen Reich" 1872 S. 415 berichtet habe. Es ist nicht gänz¬
lich übergangen, aber die kurze S. 14, Anm. 12 davon gegebene Notiz läßt
die Zusammengehörigkeit dieses Denkmals mit den hier publicirten nicht er¬
kennen, während dem Verfasser, wenn es ihm auch trotz wiederholter Ver¬
suche nicht vergönnt war, das Mosaik selbst zu untersuchen, doch schon aus
der Publication Carducci's deutlich geworden sein muß, wie eng es mit den
andern alten Resten gleicher Art, die in Oberitalien sich finden, durch Technik
und durch die Wahl der Gegenstände verknüpft ist. Die Sirene z. B. mit
zwei Fischschwanzen neben der Rückführung der Helena ist dermaßen der im
Mosaik von Piacenza sich findenden in Auffassung und Bildung ähnlich, daß
ich beide fast derselben Hand zuschreiben möchte. Auch für die Pfauen, den
Centaur u. s. w. lassen sich aus den hierher gehörenden Mosaiken überein¬
stimmende Figuren anführen. Erwähnung hätte auch ein 1844 in Reggio
aufgedecktes Mosaik mit Darstellung des Thierkreises, der Monate und der
Jahreszeiten verdient, das wegen des Wappens der Taccoli. von denen zwei
namentlich genannt sind, ins zwölfte Jahrhundert gesetzt werden muß. Nicht
recht scheint es mir ferner, daß der Herr Verfasser sich auf die Mosaike Ita¬
liens allein beschränkt hat; wenn er. wie ich glaube, Recht hat, daß im 11. Jahr¬
hundert die Kunst des Mosaiks von Italien aus wieder über die Alpen nach
Frankreich und Deutschland verpflanzt wurde, so hätte es sich wohl verlohnt,
diese ganzen in eine Zeit gehörigen Denkmäler im Zusammenhange zu be-
handeln. Doch vielleicht hat er sich dies für später vorbehalten; ich erlaube
mir deshalb nur vorläufig, ohne auf bekannte Mosaike, wie das in Lescar
mit Jagddarstellungen, einzugehen, an einige wegen der Kostbarkeit des Wer¬
kes, in dem sie publicirt sind, wenig erwähnte Monumente dieser Art zu er¬
innern. Es ist dies zunächst ein großes Mosaik in Se. Jrcnee zu Lyon, mit
Darstellungen von Vögeln. Fischen, Löwen, einem Centauren mit Bogen,
von einem Mann zu Pferde, und darunter in 3 Streifen zu je fünf Feldern,
durch Bögen, die auf Säulen ruhen, begrenzt, die Figuren der sieben freien
Künste und der Haupttugenden. Letztere müssen der Zahl der Felder nach
acht gewesen sein; die meisten Figuren sind jedoch zerstört, ebenso wie die
Inschriften, welche die einzelnen näher bezeichneten; erhalten sind die Namen
der 6ran(eng.tZea), vialectieg., Retdoriea; ?rnäMttia), 5uL(kleia), La-
Pientia. Ueber die wechselnden Namen der Cardinaltugenden vgl. Schnaase
b. K. IV. S. 67. Unter diesen Personificationen besagt eine auf beiden
Seiten von einem Mann gehaltene Inschrift, daß dies das Grab der Schaar
des heil. Irenäus sei, und darunter sollen die Zinnen und Thürme einer
Stadt wohl auf das heilige Jerusalem hinweisen. Gleichfalls gehören hier¬
her einige Ornamente und Jnschriftfragmente aus Ainay (in schlechter Schrift
liest man due Iiuc tleeto gern, venia(w) pste, xeetoi-g. lunae?) nie psx sse,
die vita, salus.. . .; von einer zweiten in schönen Buchstaben geschriebenen
sind nur wenige Reste erhalten ... e//. .. . beut//---- sino//... ab-
Kati// ... benlz//; von einer dritten, mit noch nachlässigeren Buchstaben als
die erste, gelang es mir nur durch Zusammenlesung der in zwei Reihen
übereinander geschriebenen Buchstaben die Worte Mills et es>rv herauszu¬
finden, die. untern beiden Reihen 8 r 7 als (?). und 6 snK (?) zu entziffern
war mir nicht möglich. Und drittens muß ein Mosaik aus vis in die
Untersuchung hineingezogen werden, auf welchem die vier Flüsse des Para¬
dieses. Geon. Eufrates, Tigris. Fison. als bärtige Masken gestaltet, aus
deren Munde Wasserströme fließen, abgebildet sind, (^rtauä, nos. as
Vl' 13, 14 und 33.) Aber auch England liefert einiges nach dieser Seite
hin; namentlich dürften einige gewöhnlich für antik ausgegebene Mosaike
ihren Ornamenten und der Bildung der Gestalten nach in das 11. bez. 12.
Jahrhundert gehören, besonders das 1786 bei Pitt Mead, in der Nähe von
Warminster (Wiltshire) und das bei Woodchefler (Gloucestershire) gefundene;
vgl. Vetusw Nouumenw II. Taf. 43 und 44.
Es ist interessant, aus der so großen Reihe uns erhaltener figürlicher
Mosaike zu erkennen, was die Gemüther der damaligen Welt am meisten be¬
schäftigte, denn daß gerade dieses und nicht willkürlich aus entlegenen Regionen
vom Künstler geholte Stoffe für die Ausschmückung der Gebäude verwandt
wurde, versteht sich für das Mosaik ja so gut wie für die andern Kunst¬
übungen. Man kann fünf verschiedene Kreise unterscheiden, denen man den
Stoff für die figürlichen Darstellungen zu entnehmen pflegte. Erstens das
alte und neue Testament, und daraus wieder mit besonderer Vorliebe die Ge¬
schichte Davids, der nicht bloß als Stammvater Christi, sondern auch wegen
seiner Ritterlichkeit in jenem Zeitalter des Ritterthums besonders beliebt ge¬
wesen zu sein scheint. Zweitens die symbolischen Darstellungen und Alle¬
gorien, wie die sieben freien Künste, die Cardinaltugenden, ferner das Jahr
mit den 12 Monaten, den Thierkreis u. a. in. Für beide Klassen finden sich
bei Aus'in Weerth reiche Sammlungen, so daß ich mich entheben kann, hier
weiter darauf einzugehen. Aber drittens hat auch das Alterthum vielfach
mit seinen Sagen herhalten müssen; so wird in Pesaro die Zurückführung
der Helena dargestellt, so in Pavia (Taf. 4) Theseus innerhalb des Labyrin¬
thes den Minotaurus tödtend. Es läßt sich nicht läugnen. daß man sich
durch die Auffassung des Minotaurus, der hier als Stier mit menschlichem
Oberkörper gestaltet ist (während man ihm sonst zu menschlichem Leibe einen
Stierkopf gab), recht weit vom Alterthum fort versetzt fühlt, und dennoch kann
man wohl kaum wagen, hier eine künstliche Wiederbelebung oder symbolische
Deutung anzunehmen. Gerade das Labyrinth, von dem man behauptet, daß
es als Büßergang in den Kirchen angebracht gewesen sei, gehörte seit alten
Zeiten zu den gewöhnlichsten Darstellungen der musivischen Kunst, vergl.
?Iiuius lust. und. XXXVI. 85 labirintki — von, ut in paviwentis puero-
rumvs ludieriL oampöstribus viciemus — ete. Wie lebhaft antike Tradi¬
tionen sich bis in diese späten Zeiten erhalten haben, kann man z. B. daraus
sehen, daß die Flüsse des Paradieses meist unter der Gestalt von Männern,
die das Wasser aus Urnen laufen lassen, dargestellt werden.
Hierher, und nicht unter die symbolischen oder allegorischen Gestalten,
möchte ich auch die Fabelwesen rechnen, die wie nichts anderes das Interesse
der mittelalterlichen Welt in Anspruch genommen zu haben scheinen. Cen¬
tauren (einmal, in Cremona, Taf. 6, höchst sonderbar mit menschlichem Kör¬
per, aber mit Stierkopf abgebildet; man könnte meinen, daß die Art die Cen-
dauren und den Minotaur darzustellen, geradezu vertauscht sei), Fabelthiere
wie die Chimära, das Einhorn, die Greifen, dazu auch die im Mittelalter
wenig gesehenen Elephanten und Kameele waren Lieblingsgegenstände der
bildenden Kunst im Allgemeinen und der musivischen Darstellung im Be¬
sondern. Vor allem interessant sind zwei Figuren des Mosaiks von Vasais
Noukerrate (Taf. 10), ein auf dem Rücken liegender Mann, der sich mit ge¬
waltigem Fuße beschattet (^ntixoäes ist beigeschrieben), und ein anderer, der,
mit Pfeil und Bogen in der Hand, das Gesicht auf der Brust hat Oeeta-
lus). Ich glaube nicht, daß man hier an Allegorien zu denken hat; die
Liebe zum Abenteuerlichen und seltsamen, die schon im Alterthum zur Ge¬
nüge hervortrat, hatte im Mittelalter noch größere Ausdehnung angenommen,
und so konnte man mit dergleichen Figuren auch nur des Interesses wegen,
was sie für alle hatten, den Boden verzieren. Die beiden Gestalten sind sehr
frühen Ursprungs; schon Herodot spricht IV. 191 von «^9?«^ 0! ^ rvtSt
o^Ax»» 5«,^ oysStt^o,)? und ?1inius berichtet lust. nar. VII. 23
iäem (Ltesias) Komanen Miuig <mi Nouoeuli vocarsutur, singulis oruribus,
mirae pernioitatis ad saltum, eosäem Loiaxockas voeari, yuoä in maiori
aestu Kuwi iaeentes resupim umbra se xeäum xrotegaut; non lou^s
eos a ?roz;oävti8 abesse, rursusgue ad bis oeeiäeutem versus «zuosäam sine
cervice ooulos in umeris dabentes. Daß die letzteren die aeexkali sind, kann
ja nicht fraglich erscheinen, aber auch bei dem ersten ist die geschilderte Sitte
der Loiaxoäes, sich mit emporgehobenem Fuße gegen die Strahlen der Sonne
zu schützen, so übereinstimmend mit unserm Bilde beschrieben, daß ich anneh¬
men muß, der Künstler habe das zweite Bein, das man allerdings dort sieht,
nach seinem eigenen Gutdünken hinzugefügt.
An vierter Stelle wurden auch Gegenstände des damaligen Lebens, Jag¬
den, Ritter im Kampf u. f. w., dargestellt; daß dies nur selten war, kann
nach der Stimmung jener Zeit, die in religiösen Dingen unverwandt auf die
von der Kirche überlieferten Lehren, in politischer Hinsicht auf das Alterthum
hinzuschauen Pflegte, nicht weiter auffallen.
Fünftens und letzters ist endlich auch die Thiersage, wenngleich selten,
benutzt worden. Ein leider zerstörtes Mosaik in Vercelli (s. Aus'in Weerth
S. 16) stellte das Leichenbegängniß des Fuchses dar (es ist die Geschichte der
Krähe, nur ausgeführter, wie sie im 7. Buche des Reineke Fuchs erzählt
wird): Voran schreiten Hähne. der eine mit dem Kreuz, der andre mit dem
Weihrauchbecken, ein dritter mit dem Wedel, u. a. in. Dann folgt die Bahre
mit dem scheinbar todten Fuchs darauf, und hintendrein folgen paarweise ge¬
ordnet die Hennen mit Notenbüchern in der Hand, um den todten Fuchs mit
ihren Gesängen zu preisen. Der aber wird mit einem Male wieder lebendig,
springt von der Bahre und richtet nun ein tüchtiges Gemetzel unter den Leid-
tragenden an. Aehnlich schleppen in der Kirche S. Donaio in Murano bei
Venedig zwei Hähne den scheinbar todten Fuchs an einem Bande, das sie um
ihren Hals gelegt haben. Jenes Mosaik ist aus dem Jahre 1040, dies aus
1140 datirt.
Man sieht, an interessanten und zu weiteren Nachforschungen anregenden
Stoffen fehlt es bei jenen mittelalterlichen Mosaikboden nicht; aber auch nach
der formalen Seite verdienen sie alle Aufmerksamkeit. Hoffentlich wird es in
nicht allzu langer Zeit gelingen, sie sämmtlich in einer Bearbeitung zusam¬
menzufassen, sowohl die Italiens, als die andrer Länder. Aber auch die
Mosaikboden der vorhergehenden Jahrhunderte, vom Untergange des römischen
Reiches an bis zu der Neubelebung im 11. Jahrhundert, bedürfen einer sorg¬
fältigen Zusammenstellung und Beleuchtung; ich bin sicher, daß als Endresul¬
tat sich herausstellen wird, daß die musivische Kunst, so weit sie die Fußböden
anbetrifft, in Italien nie ganz außer Uebung gekommen ist, und daß, wenn
berichtet wird, Dcsiderius, Abt von Monte Cassino, habe Mosaikarbeiter aus By-
zanz kommen lassen, um seine Kirche auszuschmücken, dies sich nicht auf Mo¬
saikfußböden, sondern auf Arbeiten an den Wänden, der Tribüne u. f. w.
bezieht, eine Kunstübung, die allerdings damals in Italien sehr in Verfall
gerathen zu sein scheint. Daß zwischen den nationalitalischen Mosaikfußbö¬
den und den byzantinischen Kuppelarbeiten ein wesentlicher Unterschied be¬
stand, das, denke ich, geht schon daraus hervor, daß gerade in Monte Cas¬
sino. wo Griechen arbeiteten, der Boden nicht mit aus kleinen Würfeln ge¬
bildetem Mosaik, sondern mit Marmorstücken bedeckt war, die man höchstens
als oxus sectils (von Aus'in Weerth fälschlich vxus ^lexanörinum genannt,
siehe G. B. de Rossi bull, erist. II. S. 46) bezeichnen könnte.
Aus Hannover erhielt ich auf ein Schreiben dahin folgende Antwort
vom 11. Juni:
„Die in Ihrem Brief berührten Punkte sind von derartigem Interesse
und solcher Wichtigkeit für mich gewesen, daß ich's für angemessen und noth'
wendig gehalten habe, mit vielen unsrer politischen Freunde, namentlich mit
den Führern der Linken in unsrer II. Kammer, darüber wiederholt Bespre¬
chungen zu veranstalten. X .. hat mit seiner gewohnten Lebendigkeit gleich¬
falls die Sache aufgenommen und mit uns erwogen. Die militärische Lei¬
tung definitiv an Preußen zu übertragen, ist ein Ziel, das nur von Preußens
Thatkraft erreicht werden kann, da schwerlich je ein deutscher Mittelstaat oder
dessen Fürsten freiwillig die Kriegsleitung aus der Hand geben würde, noch
weniger sich aber entschlösse, der diplomatischen Spielerei zu entsagen.
Diese beiden Hauptpunkte werden daher nach unsrer Anschauung solange
in den Hintergrund treten müssen, so lange Preußen sich nicht entschließen
kann, von Worten zu Thaten überzugehen und Grundzüge seiner Politik
mehr als ahnen zu lassen. So sehr wir von einer einheitlichen Leitung
Deutschlands als nothwendig überzeugt sind, so sehr glauben wir, daß auf
dem Wege, wie Sie ihn sich vorgezeichnet haben, schwerlich zum erwünschten
Ziele zu kommen ist, vielmehr meinen wir doch zunächst, daß auf eine parla¬
mentarische Vertretung Deutschlands wieder hingearbeitet werden muß, die
dann, wenn Preußens Niegent der Mann danach ist, auf eine Umgestaltung
der kläglichen Bundesverfassung führen wird. Wunderbarerweise sind auch
bei uns die Meinungen darüber getheilt, ob in der jetzigen Zeit der geeignete
Zeitpunkt da sei, an eine Reform zu denken, was mir vollständig unbegreif¬
lich ist, da nach der Historie es mir nicht zweifelhaft sein kann, daß nur in
Zeiten der Bewegung das Volk vorwärts kommt. Der Friede ist für eine
Fortentwicklang unsrer öffentlichen Zustände gänzlich unfähig, er wirft uns,
zumal so lange Oesterreichs innere Politik sich nicht ändert, soweit zurück, daß
Wir lange marschiren müssen, um wieder dahin zu kommen, wo wir waren.
Stein's Wirken in Preußen, meine ich, sollte allen Vaterlandsfreunden einen
genügenden Beweis liefern, daß das Vaterland nur Kraft und Stärke in der
Freiheit finden kann, und wenngleich die Einheitsidee seit jener Zeit Riesen¬
schritte gemacht hat, so ist sie doch in dem eigentlichen Volke noch nicht tief
genug eingedrungen.
Im Uebrigen muß ich Ihnen offen gestehen, daß noch in keiner politi¬
schen Frage uns die Entscheidung so schwer geworden ist. wie in der gegen¬
wärtigen, und daß die besten politischen Freunde darin auseinandergehen.
Ich meinerseits wünsche Preußens Action, aber nur dann, wenn Oesterreich
für eine andere innere Politik Garantien bietet. Für eine Garantie des ErHaltens
der Lombardei bei Oesterreich sprechen sich nur Wenige aus. Wäre die Zeit schon
soweit gereift, daß eine große Versammlung deutscher Parlamentsfreunde zu
^reichen stände, so möchte ich dafür gern wirken, da mir, eine einheitliche
Action in jeder Beziehung anzubahnen, nothwendig erscheint."
In die Mitte zwischen den obigen und die folgenden Briefe fiel eine
persönliche Besprechung, die ich mit Z.....hatte, wobei der Gedanke einer
Zusammenkunft politischer Gesinnungsgenossen immer mehr reifte. Auch
F.... in 5 5 5*) ging auf diesen Gedanken lebhaft ein.
Aus Hannover erhielt ich von andrer Seite kurz darauf folgenden zwei¬
ten Brief:
„Sie kennen den Gang unsrer politischen Erziehung, der die Politiker
der Kleinstaaten von aller Beschäftigung mit den Weltereignisfen abgedrängt
und diese den Zeitungsschreibern zur Domäne ausgeschieden hat. Hiervon
empfinden wir jetzt die trübseligen Folgen...... Die letzten Wochen haben
ergeben, daß eine starke und durch ihre Mitglieder bedeutende preußische Par¬
tei im Lande besteht. Bekannt werden Ihnen folgende Namen sein.**).....
Zu diesen Altliberalcn kommen noch verschiedene tüchtige Jungliberale.
Diese wollen je eher desto lieber in Preußen aufgehen, und ihnen gegen¬
über hat man seine Last, die Berechtigung der bestehenden Staatenverhältnisfe
geltend zu machen. Nach meiner Ansicht aber wird man, was jetzt auch ge¬
schwatzt werden mag. in Kurzem dahin übereinkommen, daß Preußen auf dem
Wege freiwilliger Ueberlieferung sowohl die militärische, als die politische Ver¬
tretung Deutschlands nach außenhin bekommen muß, im Krieg, wie nach dem
Friedensschluß. Dagegen ist nicht zu hoffen (oder zu fürchten?), daß der
Kaiser wieder aufleben werde.
Die Vergangenheit ist zum Gespenst geworden, das uns nur dazu hilft,
daß die Widersacher aus Furcht vor ihrem Schatten in die Befriedigung des
wirklichen nationalen Bedürfnisses am Ende einwilligen. Das wirkliche Be¬
dürfniß nach Einheit aber ist erschöpft, wenn wir jene Hegemonie Preußens
einführen. Eine stärkere Spitze und, zu deren Befestigung in der Nation,
Volksvertretung um diese Spitze herum — das sind ja wohl unsre Wünsche.
Nun sollen Sie sehen: während Preußen allmälig die Stärkung der
Centralgewalt liebgewinnt und zu seiner Sache macht, werden sich die sprö¬
den Mittel- und Kleinstaaten mit der Nationalvertretung befreunden, damit
Preußen das nicht zu gut schmecke, was wir ihm zusprechen. Hinsichtlich der
Centralgewalt, glaube ich, können wir uns auf die preußische Regierung ver¬
lassen, einiger Nachhülfe unbeschadet; wogegen wir die Parlamentssache zu
der unsrigen machen müssen, um hier die Zwerge gegen den Riesen zu unter¬
stützen, wie dort den Riesen gegen die Zwerge.
, In der Ahnung dieses Verhältnisses beginnt man hier sich für ein Vor¬
parlament zu interessiren, das dem Parlamente die Wege bahnen soll. Es
soll ein freiwilliger, aber regelmäßiger Congreß von Landtagsmitgliedern sein,
für den zuvor die Stimmführer der Hauptländer zu gewinnen, an dem aber
jedenfalls auch die Redactionen der größeren Blätter zu betheiligen wären,
da diese bei auswärtigen Fragen doch den Ton angeben und besser Bescheid
wissen. Lassen Sie mich hoffen, daß ich bald Ihre Meinung hierüber erfahren
werde!"
Ein norddeutscher Freund, der damals in Wiesbaden zur Kur verweilte,
schrieb mir von dort am 25. Juni:
!' „Gestern habe ich wieder mit — g *) politisire, aber freilich sind die
Dinge so verwirrt, daß es schwer wird, den Ausgangspunkt für Deutschland
zu finden. Wenn es wahr ist, daß Baiern den Durchmarsch der Preußen
verweigern will, daß Baden seine Marschbereitschaft wieder eingestellt hat
und seine Truppen beurlaubt und auf den Friedensfuß reducirt, also sogar
gegen den Bundesbeschluß handelt, dann bewahrheitet sich's wieder, wie ge-
wisse Leute nichts lernen und nichts vergessen. Die Folge möchte leicht den
kleinen und mittlen Herren sehr unbequem werden.
Was soll nun aber Preußen thun? Natürlich finde ich das Verlangen,
zu wissen, was Preußen eigentlich will, und doch ist dessen Situation eine so
schwierige, daß es jetzt kaum offen sagen kann, wohin es schließlich zielt, denn
eine unumwundene Erklärung könnte leicht einer Kriegserklärung gleich kom¬
men, und diese, scheint mir, dürfte doch wohl nicht eher erfolgen, als bis
Preußen mit seiner Aufstellung fertig ist. Sollte es also diese Fragen mit
allgemeinen Redensarten beantworten und sich mit Gewalt die Unterordnung
des übrigen Deutschland in dieser Sache erzwingen? Auch das halte ich für
bedenklich, und zwar nicht minder, als wenn es sich an die Völker Deutsch¬
lands direkt wendet, denn im ersten Falle würde es die vorhandenen Anti¬
pathien nur stärken und verallgemeinern, im letzteren der Verdächtigung un¬
lauterer Gelüste ausgesetzt sein. Nun, ich denke, daß die nächsten 14 Tage
alle diese Fragen praktisch lösen werden. Soviel glaube ich fest, daß wir jetzt
am Anfang zwar schwerer, aber endlich doch fürs Vaterland glücklicher Zei¬
ten stehen, deren Früchte, so Gott will, unsre Jungen erleben werden. Hier
ist übrigens eine überraschende allgemein deutsche Stimmung wahrzunehmen;
schon oft habe ich in den Restaurationen den Ausruf gehört: „wenn nur
diesmal Preußen klug ist und ohne Weiteres zugreift!" und in den gehn.
deten Kreisen hält man das baldige Ende der Kleinstaaterei für eine unab¬
weisbare Nothwendigkeit. Selbst Personen aus der Umgebung des Herzogs
sprechen sich ganz unverhohlen so aus."
Inzwischen kam auch aus Hannover wieder ein Brief worin es u. A.
hieß:
„Was den von Ihnen gewünschten zweiten Streich betrifft, so ist nicht
nur X., sondern erfreulicherweise auch —i — *) wohl geneigt, sich an einer
Zusammenkunft zu betheiligen, ist besonders erfreut, diese Gelegenheit ge¬
boten zu sehen, und wünscht nur, daß möglichst alle Parteien und möglichst
zahlreiche Politiker zu dieser Neubildung einer nationalen Partei sich zusam¬
menfinden.
Die neue Niederlage Oesterreichs") muß dies Alles beschleunigen. Was
zur Einwirkung auf Preußen und Kleindeutschland noch geschehen soll, muß
hurtig geschehen. Bevor wir indessen dies noch wußten, kamen wir hier darin
überetn, daß sich die Agitation vorerst aus vollständige militärische und diplo¬
matische Verschmelzung zu beschränken habe. Keine politische Constituirung
vor dem Kriege! Denn der Krieg wird nicht warten, bis eine so schwierige
Arbeit vollbracht ist. Wohl aber wollen wir Alle dahin drängen, daß die
sämmtlichen deutschen Heere Eins werden unter Preußens Führung und daß
Preußen in der diplomatischen Welt ganz Deutschland vertritt. Dies muß.
dies kann vor dem Kriege geschehen, desto leichter, je mehr alles Bestreben sich
darauf wirft, und es ist uns zugleich Bürgschaft, daß nach einem leidlich glück¬
lichen Kriege die jetzige Wirthschaft nicht wieder hergestellt wird. Aus weniger
dringliche Gegenstände aber lassen sich die Gemüther jetzt nicht mehr lenken.
Hier sagt jetzt Alles von der letzten Stufe des Thrones bis in die Hütten
hinab: „Lieber heute, als morgen preußisch!" Das ist die Empfindung von der
Nothwendigkeit eines starken Haltes. Lassen Sie uns diesem mächtigen Gefühl
einen zweckmäßigen Ausdruck geben und übrigens feststellen, was nach unserer
Ansicht Ziel des Krieges in Italien und sonst in Europa sein kann, z. B.
Schleswig-Holstein und Luxemburg, die untere Donau u. s. w."
Ich schrieb nun an Z ...., er möge seine berliner Freunde wegen
der eventuellen Zusammenkunft sondiren. Meines Trachtens sei blos die innere
deutsche Frage zu besprechen, die äußere höchstens negativ, d. h. so, daß man
sich nicht für das österreichische System, wohl aber dafür ausspreche, daß nicht
Frankreich die Situation beherrsche. Die Antwort lautete dahin, daß Alles
für eine solche Zusammenkunft vorbereitet sei, die zunächst einen nur vorbe¬
reitenden Charakter haben solle.
Bon einem ehemaligen Frankfurter Collegen aus Preußen empfing ich
am 1. Juli folgende Antwort auf einen früheren Brief:
„Wohl spräche auch ich gern einmal mit Ihnen über die Dinge, die nur
leider durch Sprechen nicht anders werden. Wenn ich ihnen gleich nach Em¬
pfang Ihres Briefes vom 3. v. Mes. geantwortet hätte, ja. wenn nur vor
acht Tagen, so würde ich Ihnen meine eignen Hoffnungen einzuflößen versucht
haben. Heute steht es leider in Berlin schon wieder viel schlechter. Es war
sehr überflüssig, daß die Oesterreicher den Franzosen den großen Mtniciosieg
in die Hände spielten. Dadurch ist — und freilich nicht allein, sondern
namentlich durch die englische Neutralitätspolitik — den Herren in Berlin ihr
Concept wieder ganz verrückt worden. Das kommt von der diplomatischen
Zauberei: man hätte, ich bin davon überzeugt, vor einigen Wochen den Sturz
des Ministeriums Derby verhindern können. Jetzt hat nun die Zauber-Politik,
im Kabinet vertreten durch X x und x x x, wieder Oberwasser gegen
die Politik der Action; der Prinz sogar, der bisher auf Seite der letzteren
stand, verliert den Glauben, daß Deutschland allein mit Frankreich fertig
werden könne, während doch der Versuch dazu England zu uns herüberreißen
würde. Inzwischen hoffe ich noch immer Alles von dem Factum der Mobil¬
machung. "
Aus Frankfurt kam am 3. Juli von guter Hand folgender Ausdruck der
dortigen Stimmung:
„Die Erklärung nassauischer Staatsangehörigen schien uns sogleich beim
ersten Lesen ganz danach angethan, um als Grundlage zu dienen für eine
möglichst einstimmige Kundgebung aller Vorurtheilsfreien und unbefangenen
deutschen Patrioten in Betreff dessen, was im Augenblick unserm Vaterlande
noththut. Es müssen, einer so ernsten Gefahr gegenüber, welche uns von
dem Nationalfeinde droht, alle Deutschen ihre politischen, religiösen und
socialen Meinungsverschiedenheiten vorläufig vergessen, jeder muß seinen Sym¬
pathien und Antipathien Stillschweigen gebieten und sich bewußt und freudig
dem Ganzen unterordnen. Thun wir Bürger dies redlich, so müssen wir auch
von den Regierungen der Klein- und Mittelstaaten verlangen, daß sie auch
einmal ihren partikulariftischen Souveränitätsgelüsten entsagen und sich auf¬
richtig und ehrlich der Führung Eines deutschen Fürsten unterordnen. Da
nun aber einmal Preußen so groß, als das gesammte übrige Deutschland ist,
als Militärmacht (wegen der Einheit seiner Armee) wichtiger als die anderen
Staaten zusammen, so kann jener Eine Fürst nur ein preußischer sein. Hatte
wan auch während der letzten zehn Jahre keine Ursache, der preußischen
Politik Anerkennung oder Vertrauen zu zollen, und will man trotz der dort
vorgegangenen grundmäßtgen Umänderung auch jetzt noch kein Vertrauen zu
Preußen haben können, so muß man doch positiv das größte Mißtrauen in
die Politik der Herren von d, Pfordten, v. Beust, Borries, Dalwigk, Wittwen-
stein u. s. w. haben, die alle in fast persönlicher Feindschaft gegen Preußen
verfahren, die noch vor einem halben Jahre in Napoleon den Retter der Ge¬
sellschaft begrüßten und nicht hoch genug ihn zu preisen wußten.
Schon deshalb kann Preußen nicht die Oberfeldherrnstelle unter einem
aus Bevollmächtigten solcher Minister bestehenden Bundestagsausschuß über¬
nehmen, sondern muß eine selbstständtgere, freiere Hegemonie verlangen. Die
andern Staaten können sich in so weit, als gefordert wird, auch um somehr
in der jetzigen Krisis einem deutschen Bundesfürsten unterordnen, der
über ihre ganzen Korps und einzelnen Regimenter im Kriege ganz frei
disponiren müßte.
In Preußen selbst scheint der Prinz-Regent entschiedener deutsch, als sein
Ministerium, und dieses ebenso entschiedener deutsch, als das preußische Volk
gesinnt zu sein. Eine entschlossene deutsche Politik wird ja sogar von vielen
preußischen Blättern geradezu bekämpft; wir müssen demnach suchen, durch
einen recht allgemeinen Gesinnungsausdruck die Volksstimmung in Preußen zu
heben und die Regierung zu stärken. Von solchen Ansichten geleitet, sprach
ich zunächst mit einigen Gesinnungsgenossen und', als diese zustimmten, mit
etlichen Führern der demokratischen Partei. Wir luden darauf zum 29. Juni
etwa 130 Bürger (Protestanten, Katholiken. Juden — Demokraten, Consti-
tutionelle Gothaner und Conservative) zu einer Versammlung ein.
Die Wiesbadner Erklärung wurde verlesen, kaum Discussion, allgemeine
Zustimmung.
Sehr erfreulich ist, daß dabei mit wenig Ausnahmen alle namhaften
Demokraten und Gothaner in völliger Uebereinstimmung zusammengingen;
die Conservativen hielten sich mehr bei Seite, doch hoffe ich, daß sie noch nach¬
träglich ihre Zustimmung geben, sofern sie nicht Ultramontane sind. Die
Zahl der Anhänger K. Vogt's ist bis jetzt noch äußerst gering bei uns.
Mein Ersuchen an Sie geht nun dahin, Sie möchten doch auch in Ihrem
Wohnort und in benachbarten Städten dahin wirken, daß daselbst ebenfalls
eine Anzahl Männer zusammentreten, welche öffentlich zur Beitrittserklärung
zu den zwei Hauptsätzen des Wiesbadner Programms aufforderten und etwa
auch letzteres abdrucken ließen. Vor Allem ist wünschenswerth, daß die ver¬
schiedenen politischen Parteien zusammenwirken, die Erklärung somit wirklich
ein Ausdruck des Nationalwillens ist."
Aus Wiesbaden erhielt ich wieder unterm Juli einen Brief, worin es
hieß:
„Die Voraussetzungen, unter denen Viele, vielleicht die Meisten, für den
Krieg Deutschlands mit Frankreich gestimmt haben, sind bis heute nicht nur
nicht eingetroffen, sondern geradezu vernichtet worden. Kein vernünftiger
Mensch konnte und kann noch jetzt einen solchen Krieg mit glücklichem Aus¬
gange für möglich halten, sobald nicht Preußen die unbedingteste einheitliche
Leitung der militairischen und politischen Action Deutschlands in den Händen
hat. Waren nun aber die nach Krieg schreienden mittelstaatlichen Regierungen
von dessen Nothwendigkeit zum Heil Deutschlands durchdrungen, wie sie sagten,
dann mußten sie auch, als Preußen ihnen den Willen that und mobilisirte,
diesem zur Schau getragenen Gefühle folgend sich herbeidrängen und freiwillig
das Weitere voll und ganz in Preußens Hand legen. Was geschieht statt
dessen? Die alten Intriguen beginnen von Neuem, Preußen fordert nur wenig
und bescheiden und statt der Bewilligung dieser Forderung mäkelt und ver¬
handelt man und schließlich treten zwei Armeecorps unter Baierns und zwei
unter Preußens Oberleitung. Ist da nicht die brennendste Gefahr für Deutsch¬
land klar zu Tage gelegt? Wir regieren dreispaltig gegen einen kriegsgeübten
Feind, der von dem scharfsichtigen Auge und der starken Hand eines einzigen
Willens geführt wird, und die dreifache Niederlage ist so lange gewiß, bis,
wie 1813, sich das ganze Volk zur Rettung Deutschlands — ob dann auch
wieder seiner Fürsten? — erhebt.
Das Verhalten Preußens in diesem Vorspiel giebt mir weder Trost noch
Zuversicht, es ist unentschieden, unschlüssig. Ich und Viele mit mir glaubten,
daß der Mobilmachungsordre eine Proclamation an das deutsche Volk auf
dem Fuße folgen, daß Preußen keine Anträge beim Bunde stellen, sondern
kühn, was ihm gebühre, was Deutschlands Wohl erheische, fordern, eventuell
nehmen werde. Von alledem Nichts! Man verhandelt und verhandelt, ohne
sich auf der einen Seite ermannen und auf der anderen Seite (der kleinen und
Mittel-Staaten) einsehen zu wollen, worin Deutschlands, worin ihre eignen
Interessen beruhen. Unter diesen Umständen sehe ich der deutschen Bewegung
im Volke nur mit Betrübniß zu. sie wird nicht be- und ergriffen und erlischt
allmählich ungenützt wieder, weil unsre Race nicht stark genug ist, um ein
einmal Erkanntes festzuhalten. Das auflodernde Feuer ist ohne die noth¬
wendige Intensität. Präsident von R.. der seit 3 Tagen hier ist, entwirft mir
ein trauriges Bild von der Unentschiedenst des Berliner Cavinettes in Sachen
der großen Politik, und namentlich der deutschen; so ehrlich die dortigen
Staatslenker das Beste für Preußen und dessen innere Verwaltung wollen,
so wenig können sie in jener Beziehung sich zu ganzen Thaten erheben. Ver¬
mittelnde, halbe Maßregeln sind dort an der Tagesordnung; damit aber ist
mehr geschadet, als genützt, denn das Vertrauen des deutschen Volkes zu
Preußen erlahmt allmälig und ist dann schwer wieder zu erwecken.
. . . Kommt, wie wahrscheinlich, ein Friede zwischen Oesterreich und Frank¬
reich ohne Preußens Dazwischenkamst zu Stande, natürlich um den Preis
einer Demüthigung Oesterreichs, so folgt die Coalition zwischen diesem und
Frankreich und damit eine unabsehbare Gefahr für Deutschland."
Gerade am Tage des Präliminarfriedens von Villafrcinca, den 11. Juli,
erhielt ich einen vom 10- Juli datirten Brief aus Hannover, worin mir c>N'
gekündigt ward, daß die dortigen Gesinnungsgenossen beschlossen hätten, am
19. Juli eine Versammlung hannoverischer Politiker in Hannover abzuhalten,
womit späteren, weiter ausgedehnten Versammlungen nicht präjudicirt werden
solle. Tags zuvor, am 10. Juli, hatte ich persönlich Z. gesprochen und von
diesem erfahren, daß eine ähnliche partielle Zusammenkunft (hauptsächlich von
preußischen und mitteldeutschen Liberalen der vorgeschrittneren Richtung) um
die gleiche Zeit stattfinden, daß aber auch diese nur einen vorbereitenden
Charakter haben solle.
Aus diesen beiden Zusammenkünften, der zu Hannover und der zu Eise¬
nach, ging bekanntlich der deutsche Nationalverein hervor.
So weit der erste Theil des uns vorliegenden Briefwechsels. Derselbe
gewährt interessante Einblicke in die verschiedenartigen Erregungen und Be¬
wegungen , welche der italienische Krieg 1859 in Deutschland hervorbrachte,
die theilweise noch bestehende Unklarheit, andrerseits die doch immer mehr und
immer vielseitiger sich Bahn brechende entschiedene Richtung der öffentlichen
Meinung auf ein bestimmtes Ziel hin, und zwar auf die Wiederaufnahme der
Ideen des Jahres 1848 in einer oder der andern Form, vor Allem auf die
Herstellung einer festen militärischen und diplomatischen Einheit Deutschlands
in der Hand Preußens.
Das war vor Villafranca! Die Unsicherheit der preußischen Politik wirkte
zwar schon in diesem Stadium der Bewegung vielfach dämpfend, erkältend,
Mißtrauen erweckend auf letztere ein; doch war die Hoffnung noch vorherrschend,
es könne trotz dieser Unsicherheit etwas für Preußen, wenn auch ohne dessen
direktes Zuthun, geschehen, oder es könne wohl auch diese Unsicherheit selbst
überwunden und in ihr Gegentheil verkehrt werden, wenn nur die öffentliche
Meinung Deutschlands sich recht energisch vernehmen lasse und so die preußischen
Staatsmänner ermuthige und vorwärtsdränge.
So lagen die Dinge bis etwa Anfang Juli. Der Waffenstillstand und
der Präliminarfriede von Villafranca (11. Juli), welcher den italienischen Krieg
abschloß brachte auch in die deutsche Bewegung einen bemerkenswerthen Rück¬
schlag, Preußen verlor die letzte Möglichkeit, durch Entfaltung einer kräftigen,
zugleich nationalen Politik den großen Moment für seine und Deutschlands
Zukunftspläne zu nützen; die Demüthigung und Beraubung Oesterreichs durch
Frankreich rief in eben dem Maße Sympathien für Oesterreich in einem großen
Theile Deutschlands wieder wach, wie vorher die kurzsichtige und brüske Art,
womit Oesterreich den Krieg heraufbeschworen, ihm solche verscherzt hatte. War
früher vielfach die Besorgniß laut geworden, Preußen möchte sich zu sehr für
Oesterreich engagiren und dadurch in eine gewisse bedenkliche Complicität mit
dessen illiberaler italienischer Politik gerathen, so wollten jetzt manche selbst
von Denen, die sonst warme Freunde Preußens waren, es nicht gutheißen,
daß Preußen die „deutsche Brudermacht" Oesterreich „im Stiche gelassen habe";
in den von Haus aus schon mehr österreichisch gesinnten Theilen Deutsch¬
lands aber trat nun wieder eine förmliche Abwendung von Preußen, zum
Theil in geradezu gehässiger Weise, hervor.
Die Spuren dieser theils vorläufigen, theils zick- und haltlos sich wieder
verzettelnden Bewegung sind in dem weiteren Briefwechsel unseres Gewährs¬
mannes sichtbar, dessen Mittheilung wir einem zweiten Artikel vorbehalten.
Seit einigen Jahren beschäftigt sich Deutschland viel mit uns; die ita¬
lienische Revue, welche ein Wiener Verleger in Verbindung mit Herrn
C. Hillebrand deutsch herausgeben wird, wird allerdings viermal des Jahres
in eingehender und competenter Weise über die geistigen Bewegungen Italiens
berichten, aber dies ist nicht genug, um uns hoffen zu lassen, daß das deutsche
Publikum sich fortgesetzt mit Italien beschäftigen wird, und daß auf wissen¬
schaftlichem, künstlerischem und literarischem Gebiete sich ein möglichst inniges
Verständniß zwischen unsern beiden Ländern bildet. Was die Politik betrifft,
so wird es um so besser sein, je weniger Muße man ihr zuwendet. Die Po¬
litik erbittert und entzweit, während Kunst und Wissenschaft zu besänftigen
und Annäherungen anzubahnen vermögen. Ich kann demgemäß, wenn die
Herausgeber einer geschätzten deutschen Zeitschrift mir die Ehre erwiesen, mich
zur Mitarbeiterschaft an derselben heranzuziehen, dieser Aufforderung nur
unter der Bedingung Folge leisten, daß ich die Politik völlig außer Spiel
lassen und mich ausschließlich auf das beschränken darf, was außerhalb der
politischen Welt vor sich geht. Ich kenne bis jetzt kein einziges deutsches
Journal, welches regelmäßig und fortgesetzt aus die italienische Literatur Rück¬
sicht nähme; es erscheinen Uebersetzungen und einzelne Essays, und wir con-
statiren gern, daß die deutschen Journale stets mit Wohlwollen ihrem Publikum
die italienische Literatur zugänglich zu machen suchen. Zuweilen ist sogar dies
Wohlwollen übertrieben, denn oft ist es der Zufall, der bloße Zufall, welcher
deutsche Kritiker, Journalisten und Verleger auf sehr mittelmäßige italienische
Erzeugnisse verfallen läßt, die man doch herausstreichen zu müssen glaubt;
und man könnte sich leicht eine klägliche Vorstellung von unserer Literatur
machen, wenn man sie nur nach den Proben beurtheilen wollte, welche dem
deutschen Publikum vorgesetzt werden. Ich nenne keine Namen, aber ich halte
es für meine Pflicht, den Leser vorsichtig zu machen gegen gewisse Vor-
führungen gewisser italienischer Schriftsteller, welche daheim kaum beachtet
werden, die wir aber zu unsircm Erstaunen als Vertreter der zeitgenössischen
italienischen Literatur citirt finden.
Als Vertreter einer der beiden hervorragenden literarischen Monatsrevuen
Italiens glaube ich damit beginnen zu müssen, daß ich Ihnen eine kurze
Skizze unseres literarischen Journalismus gebe.
Ueber die Hivista, Duroxva, welche ich redigire, sage ich nur ein
Wort. Ich redigirte 1869 die alte Turiner Kivista eoutemxorauea;
als ich jedoch im December 1869 zu Florenz -— mit wesentlich internationalen
Zwecken — die liivistn. I''.mop<Zu. gegründet hatte, kaufte ich 1870 alle Rechte
der alten piemontesischen Revue und verschmolz beide zu einer Monatsschrift
in größerem Maßstabe. Die liiviLiA Luro^og. hat nunmehr ihren 5. Jahr¬
gang angetreten. Sie erhält sich aus ihren eigenen Mitteln, unabhängig, un¬
erschrocken und volksthümlich. Es ist das am meisten sich mit ausländischen
Angelegenheiten beschäftigende und der Besprechung italienischer sowohl als
fremder Bücher den größten Raum gestattende italienische Journal. Ihre
noble Rivalin ist die nuova ^ntolvgia. Auch sie erscheint in Florenz,
in eleganter Ausstattung. Sie nennt sich die Mova ^ntolvgig. in Erinnerung
an die ältere ^ntolvM, welche von 1820 —1832 von Giampietro Viesseux
zu Florenz publicirt wurde. Giuv Cappori, der berühmte Mäcen der älteren,
gab auch für die 5luov», seinen Namen her und einen Beitrag von 10.000 Lire,
sodaß diese sich mit Beihülfe einiger anderer reicher Actionaire 1866 unter der
Direction von Herrn Fran^vis Protonotari damals außerordentlichem
Professor der politischen Oekonomie zu Pisa und jetzt ordentlichem Professor
zu Rom — begründen konnte. Die ersten Jahre waren für die Actionaire
nicht gewinnbringend; aber ihre Namen, ihr Ansehen, die Unterstützung des
Adels und vornehmlich die der Ministerien, welche lange Zeit die Mova
^utolvgig. den Anstalten ihres Ressorts anempfahlen, endlich die Berühmtheit
der meisten ihrer Mitarbeiter/ die Artikel Fr. de Sanctis' über die italienische
Literatur, die politische Chronik Ruggiero Bonghi's, die Erzählungen De
Amici's und andere hervorragende Schriften verschafften ihnen ein ausgewähltes
Publikum, welches groß genug ist, Herrn Protonotari jetzt das Unternehmen
mit Vortheil weiterführen zu lassen, unabhängig von den frühern Actionaire«,
welche dafür sich mit dem Ruhme genügen lassen, Italien eine vornehme lite¬
rarische Revue geschaffen zu haben, welche ihm Ehre macht.
Außer diesen beiden allgemeinen Monatsrevuen ist jedoch noch eine
Reihe weiterer Specialrevuen zu nennen, die gleichfalls ihr Verdienst haben.
In Mailand wird seit etwa 1'/-» Jahren eine monatliche Sammlung von
literarischen Aufsätzen und speciell Kritiken unter dem Titel II LouvöAno
herausgegeben. Der junge Ingenieur E. Arbesari dirigirt sie in Verbindung
mit anderen, von den besten Intentionen beseelten, wohl unterrichteten und
redlichen jüngeren Leuten. Zu Mailand ist ferner soeben — wie man sagt
unter dem Schutze des reichen und gebildeten jungen Patriciers Marquis
Gionmartino Arconati — eine Rivists, Italiens, gegründet worden,
welche der Vieedirector der Bibliothek der Brera, Herr Jscna Ghiron, redigirt.
Das erste erschienene Heft enthält Beiträge von Cesare Camen, Giulio Careano.
Antonio Stoppani, Giuseppe Sacchi und Salvatore Farina. In derselben
Stadt erscheint die Fortsetzung eines Journals für Architecten und Ingenieure
unter dem Namen des Voliteemeo, welchen früher die berühmte Revue Carlo
Cattaveo's führte. Und unter der Direction von Cesare Contü soll ein
^renivio Ltoridio I^omdaräo veröffentlicht werden, ähnlich dem
^.rckivio Storieo Itg-Iiauo, welches von Marco Tabarrini viertel¬
jährlich in Florenz herausgegeben wird; dem ^.rcliivio 3torieo Vonsto,
welches zu Venedig von Professor Adolso Bartoli (jetzt Professor der italieni¬
schen Literatur und Geschichte an dem Instituto al swan superiori zu Florenz)
gegründet wurde; dem ^rokivio Storieo Lioiliauo, kürzlich zu Palermo
gegründet; dem Sioruale I^iZustieo storieo, welches soeben zu Genua
begründet wurde.
Außer diesen literarischen und historischen Publicationen, habe ich Ihnen
zwei periodische Schriften für Geographie zu nennen. Es sind dies: das
Kolletino Äollg, LoeivtA, 6co Ar^tief. Italiana,, welches zu Rom
erscheint, und das Journal: II Losmo, welches Herr Guido Cora in Turin
herausgiebt, auf eigene Kosten, und mit wirklich anerkennenswerther Mag¬
nificenz und Einsicht. Sodann vier philologische Journale, und zwar
I^reKivio slotta-IiZico italiau», welches im Verlage von Lochaber
unter der Redaction des berühmten Professors G. I. Ascoli von der ac-ulemia.
LeiMtiöco-löttörai-in, zu Mailand erscheint; die Rivista al I'ilvlogia
elassiea. von demselben Verleger zu Turin veröffentlicht, unter der Redak¬
tion von Professor G. Müller, G. Flechia und D. Camparetti; das^töueo
ItÄliauo, in welchem Professor B. Zandonetta zu Florenz seinen luäioa-
torö al in. das sieu fortsetzt, den er vorher zu Verona publicirte; den
^UAllÄtore, welcher sich speciell dem Studium der italienischen Sprache
widmet. Außerdem veröffentlichte Herr Pietro Fanfari in Florenz ein Jour¬
nal, welches sich I/unita clella liotzuc; iwliauo betitelte, aber er ließ es wegen
Mangel an Theilnahme wieder eingehen. Sodann publiciren noch mehrere
literarische und wissenschaftliche Gesellschaften ihre Verhandlungen, wie das
Instituts Vöneto, I'InLtitut» I^omdg-rav, I'^CÄciemia äolle
soienes zu Turin; oder ihr Jahrbuch, wie die Loeist^ nat. xer ßu
Ltuäii ori<zvtg,1i in Florenz; oder in sich abgeschlossene und zwanglose
Bände, wie die veputiiöioni al storia patria in Turin, Genua,
Modena und Florenz.
Jede Specialwissenschaft hat eine oder zwei Revuen für ihre Zwecke;
unter andren wäre zu nennen das ^renivio giuriclieo des Herrn F.
Serafini, Professor an der Universität zu Pisa; die liivisto, ä'^grieul-
turs. zu Padua; die Rivistii al L molle on^a zu Mailand; mehrere
medizinische, naturwissenschaftliche, historische u, s. w.
Diese ganze Production beweist zum wenigsten, daß die Gelehrten Ita¬
liens nicht unthätig sind. Aber leider ist die Production oft stärker als die
Consumtion: die Mitarbeiter eines Journals sind oft dessen alleiniges Pu¬
blikum. Das hat seinen Grund in der geringen allgemeinen Bildung Italiens,
und in dem bis jetzt noch wenig vorhandenen Geschmack an Lecture. Es gibt
noch Millionen Italiener, welche überhaupt nicht lesen können, und unter
denen, die es können, hat eine große Zahl keinen Trieb zur Lecture, und eine
andere große Anzahl liest nur kirchliche Schriften, oder die Bücher, welche von
dem rev. Herrn Beichtvater approbirt sind. Von denen, welche ohne sern--
pel lesen, kauft kaum ein Procent die Bücher, welche es liest, denn die Lese¬
zirkel, die öffentlichen Bibliotheken, die Lesekabinett geben der großen Menge
die Mittel zu lesen umsonst. So kommt es, daß sogar vielgelesene Schriften
in Italien nicht ihre Kosten decken. Ich weiß, daß in Deutschland in vieler
Beziehung Aehnliches stattfindet, und tröste mich deshalb über unsere Zu¬
stände. Aber nichtsdestoweniger wäre es nützlich, wenn man in Italien so
gut wie in Deutschland, manchem anderen Luxus eine Bibliothek substituiren
wollte.
Jeder andere Luxus verschlingt die aus ihn gewandten Mittel völlig;
nur Bücher sind fruchtbringend, und haben den Vortheil, daß sie von Gene¬
ration auf Generation fortgeerbt werden können.
Ein anderer Grund, weshalb Bücher und Revuen keine größere Ver¬
breitung finden, liegt hier wie anderswo in der Gewohnheit, die politischen
Journale zu lesen, welche über Alles Etwas bringen, und dies Wenige er¬
scheint der großen Menge genügend. Jedes größere politische Journal hat
— wie die französischen Journale — sein Feuilleton, und in dem Feuilleton
bringt man Alles Nichtpvlitische, welches für die allgemeine Bildung von
Interesse ist. Der italienische Journalismus hat aber nicht die Gewohnheit
übernommen, den Montag nur der ausschließlich literarischen Kritik zu,
widmen; in Frankreich hat Sainte Beuve seine Nachfolger gefunden, in
Männern wie Eduard Scherer, Paul Samt Victor, Armand de Pont-Martin,
Guy de Charnace. In Italien eristirt nichts desgleichen. Es giebt keine
regelmäßige Literaturkritik, als in den Revuen. Dagegen haben aber Jules
Janin's Theaterkritiken in Italien eine große Menge Nachahmer gesunden.
Es ist hier außer Anderen, Herr Vittorio Bersezio zu nennen, der Feuill>
tonredacteur der Kasette pikinolltese in Turin; Herr F. Filippi der
die Theaterbesprechungen in die korse voran xs, zu Mailand liefert; E.
Torelli Mollier, der Feuilletonist des Oorriel« <1i Klilavo; der Advocat
Pietro Ferrigni, der unter dem Namen des lustigen Avrial recht amüsante,
aber oft auch zu leichte und burlesque dramatische Berichte in der Na-
2lone bringt, derselben Zeitung, in welcher Herr G. A. Biaggi ausgezeich¬
nete Musikberichte erscheinen läßt; Herr Francesco d'Areals, der geistvoll und
mit Verständniß in die Oviniono zu Mailand über das Theater schreibt.
Unter den Theaterzeitungen verdienen hervorgehoben zu werden, bezüg¬
lich der Musik: Der LoeeKsrini in Florenz; die (Zazietta musiealo
zu Mailand — von Herrn Salvatore Farina redigirt, welcher unter dem
Namen ^.ristokunv I^arvu, Theaterkritiken in die Kivistg. Ulvina
schreibt, ein ausgezeichnetes kleines Journal, welches zweimal des Monats in
Mailand erscheint. (Unter den kleinen Journalen kann auch noch der Tu¬
rner Lerato ita1ig.no genannt werden, und dann vor neun,, ein
Frauenjournal, welches in Florenz von Frau Aurelia Cimino veröffentlicht
wird;) - sodann bezüglich der Dramatik: I/arto ärammatioä zu Mailand,
und Leons, zu Venedig.
Ich habe nur die bekanntesten Journale genannt, und würde zu keinem
Ende kommen, wenn ich auch die Provinzialblätter anführen wollte, welche
schwerlich weit über ihr Gebiet hinaus kommen, und demgemäß ein speciell
Provinzielles Gepräge tragen. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß bei einer
solchen Menge von Journalen und einem so beschränkten Publikum kein
Blatt brillante Geschäfte machen, und die Mitarbeiterschaft von keinem ange¬
messen vergütet werden kann. Wenn man in Italien erzählt, wie es sich mit
dem Journalismus anderer Länder verhält, wird geglaubt, man wolle Mär¬
chen erzählen; keine , italienische politische Zeitung hat eine Auflage, welche
15000 übersteigt, keine Revue, ausgenommen die OiviltÄ Oattoliea mehr als
2000. Unter diesen Umständen ist die Literatur in Italien für niemand
Quelle großen Gewinns. Hierüber jedoch beabsichtige ich Ihnen einen beson¬
deren Bericht zu erstatten, wenn dieser erste Ihren Lesern einiges Interesse
zu erregen vermocht hat.
Wir übergehen die zweite Berathung des Milttärgesetzes in demjenigen
Theil, welcher die auf den § 1 folgenden Paragraphen betraf, weil bedeutende
Gesichtspunkte dabei nicht hervortraten. Dagegen werfen wir noch einen
Blick auf die dritte Berathung desselben Gesetzes. Bei derselben wurde in
Bezug auf den principiellen Standpunkt von zwei Rednern eine nicht un¬
bedeutende Nachlese gehalten. Der eine davon war der Abgeordnete Jörg,
Mitglied des Centrums und Herausgeber der historisch-politischen Blätter in
München. Sein Auftreten konnte umsomehr Aufmerksamkeit erregen, als
man wußte, daß er zu Zeiten Befürworter der preußischen Hegemonie in
Deutschland gewesen, natürlich unter der Bedingung, daß dadurch Macht
und Wirksamkeit der römisch-katholischen Kirche auf deutschem Boden nicht
geschmälert würden. Es sind das vielleicht Träume, die gleichwohl ein
deutsches und patriotisches Gemüth verrathen und die man deßhalb den
Träumender zum Guten anrechnen muß. Träume sind solche Gedanken vor
allem durch das vaticanische Concil geworden, während sie vorher für Zukunfts¬
bilder gelten konnten, denen doch nicht alle Möglichkeit der Verwirklichung
abzusprechen war. Jetzt gehört Herr Jörg begreiflicherweise zu den durch
das deutsche Reich Enttäuschten und gegen dasselbe Verbitterten. Auch ihn
konnte man indeß nur mit Bedauern gegen das Militärgesetz seine Zuflucht
nehmen sehen zu der revolutionären Budgettheorie. Wir wissen ja. daß beim
Kampf ums Leben die Meisten nach der nächsten Waffe greifen, ohne zu
prüfen, ob die Waffe für den Kämpfer taugt. Dennoch ist es befremdlich,
daß folgende Erwägung den bedeutenderen Köpfen des Centrums ganz zu
entgehen scheint. Es giebt — das ist unleugbar — bis jetzt viele ernste
Geister in Deutschland, welche aus religiöser Scheu und religiösem Mitgefühl
den Kampf des Reiches gegen die römische Kirche mit Sorge und selbst mit
Abneigung betrachten, die lieber heute wie morgen die Kunde von einem
zweckmäßig gefundenen Ausgleich vernehmen würden. Diese Geister macht
das Centrum mehr und mehr zu überzeugten Gegnern der römischen Sache
und zu Anhängern des Kampfes gegen dieselbe mit dem Aufgebot aller
Mittel, indem es die Bundesgenossenschaft auch der unhaltbarsten Irrthümer,
der verderblichsten Richtungen nicht verschmäht. Wenn der Ultramontanismus
es darauf anlegen wollte, dem ernsten Sinn des deutschen Volkes noch Achtung
abzunöthigen, so müßte er erscheinen als der unerschütterliche, durch ewige
Principien festgehaltene Bundesgenosse von Allem, was konservativ und
Dauer verleihend ist, was die Obrigkeit und den nationalen Zusammenhalt
befestigt. Ader heute mit dem Absolutismus fraternisiren, wenn er Rom ein
freundliches Gesicht zeigt, morgen mit der Revolution: das zeigt den Ultra¬
montanismus in dem Lichte, das die Geschichtserkenntniß längst auf ihn ge¬
worfen hat, in dem Lichte einer herrschsüchtigen Tendenz, für die alle sittlichen
Kräfte lediglich Mittel sind zum Gebräuchen oder zum Wegwerfen, zum
Bevorzugen oder zum Zerstören, je nachdem sie gerade zugeneigt oder ab¬
geneigt stehen. Eine Tendenz, die so verfährt, kann aber in sich selbst keine
sittliche sein; wäre sie eine solche, so müßte sie sich allem Sittlichen an¬
schließen.
Wenden wir uns wieder zu Herrn Jörg. Er behauptete dasselbe wie
Laster, nur nicht mit demselben Eindruck der Naivität: einen illoyalen Reichs¬
tag könne es nicht geben. Als ob das System der gegen einander relativ
selbständigen Staatsgewalten jemals in Anwendung geblieben wäre, wenn
man die wunderbare Entdeckung gemacht hätte, daß eine einzelne Staats¬
gewalt bei Ausstattung mit schrankenloser Macht immer beseelt bliebe von
der reinsten Absicht und der richtigen Einsicht! Will uns Herr Jörg glauben
machen, daß er an diese Entdeckung glaubt? Um den Glauben zu finden,
daß man so etwas glaube, muß man Erlebnisse einer Mannesseele geschrieben
haben. — Herr Jörg versicherte weiter, wenn ein Staatsmann nach drei
Kriegen sein Ziel noch immer zu vertheidigen genöthigt sei, so müsse er es
falsch gesucht haben. Was ist das für eine historische Anschauung? Die
Unabhängigkeit der englischen Staats- und Seemacht wurde unter Elisabeth
gegründet. Wie viel Kriege hat es seitdem geführt? Es ist noch nicht
gesagt, ob und wie viel Kriege Deutschland für die Behauptung seiner neu
errungenen Stellung wird zu führen haben. Daraus aber, daß wir uns in
der Centralposition von Europa als unabhängiges und geeintes Volk nicht
waffenlos niederlassen dürfen, den Schluß zu ziehen, die Unabhängigkeit und
Einheit sei ein falsches Ziel gewesen, ist doch allzu sonderbar. Herr Jörg
ging soweit, aus der Aeußerung des Grafen Moltke: er wisse nicht,'was
Deutschland mit einem eroberten Stück von Frankreich oder Nußland an¬
fangen solle, den Schluß zu ziehen, daß Moltke das nicht genannte Oestreich
erobern wolle. - Gegen diese Folgerung verschwindet freilich die Kühnheit der
vorhergehenden. Und doch wurde dieser erstaunliche Einfall dem Redner ourch
einen andern Redner seiner Fraktion nachgesprochen. Trotz aller dieser
Wunderlichkeiten und Uebertreibungen eines enttäuschten Pessimismus lag in
dieser Rede ein Zug nach Befriedigung wahrhafter Bedürfnisse, der Sympathie
einflößen konnte. Es ist richtig, wenn Herr Jörg erklärte, daß die sociale
Frage eine internationale sei und nicht zu lösen bei einem gegenseitigen Kriegs-
zustand der europäischen Staaten. Aber sein Pessimismus übertreibt die Be-
sorgniß der Dauer eines solchen Zustandes. Je einmüthiger Deutschland
nirgend einen Zweifel aufkommen läßt an der Unbedingtheit seines Willens,
das. alle denkbaren Güter erst bedingende und übertreffende Gut seiner Selb¬
ständigkeit zu behaupten, desto schneller werden seine Nachbarn an diese
Selbständigkeit sich gewöhnen, und der Kriegszustand wird ein Ende haben.
Ein auf eigener innerer Kraft selbständig beruhendes Deutschland ist gerade
die unentbehrlichste Vorbedingung zur Schaffung einer europäischen oder
wenigstens westeuropäischen Solidarität und damit zur Lösung der socialen
Frage für das wichtigste Gebiet der modernen Cultur. Denn ohne seine
Einheit und Unabhängigkeit vermag Deutschland weder an der Lösung dieser
Frage denjenigen produktiven Antheil zu nehmen, ohne den die Lösung
niemals gelingen kann, noch wird ohne ein Deutschland, das sich selbst an¬
gehört, jemals auch nur der westeuropäische Culturkreis in sich zu einem
längeren Frieden gelangen.
Der zweite Redner, welcher in dieser dritten Berathung noch bedeutende
Gesichtspunkte aufstellte, war Gneist. Ihm, von dem die in politischer Bil¬
dung wahrhaft fortschreitende Generation so Vieles gelernt hat. verdankt sie
auch zumeist die Einsicht in die Hohlheit des revolutionären Budgetrechtes,
das vor nicht zu langer Zeit als der Grundpfeiler des sogenannten constitu-
tionellen Systems, d. i. einer Theorie galt, der nirgend in der Geschichte oder
in der Gegenwart eine Wirklichkeit entspricht. Gneist erhob sich noch einmal
gegen dieses Budgetrecht, um die Wichtigkeit desselben so unverkennbar wie
möglich zu erleuchten. Wir empfehlen diese Rede jedem, dem es um Einsicht
zu thun ist und nicht um Phrase, um Wahrheit und nicht um Gaukelspiel
in den wichtigsten und ernstesten Dingen. Im Auszug wiedergeben läßt sich
ein Vortrag nicht, in dem jedes Wort dem Blitzschlag gleicht, der zugleich
erhellt und zerstört. Das Erstaunlichste an jener Theorie bleibt immer die
Naivität, mit der von Gesetzen geredet und zur Schaffung von Gesetzen
eingeladen wird, während das sogenannte Budgetrecht die Waffe sein soll,
alle Gesetze nach Belieben zu suspendiren oder abzuschaffen. Wozu ist aber
der ganze Apparat der Gesetzgebungsfaktoren, wenn ein einzelner Faktor ein
Mittel besitzt, nicht nur jedes Gesetz beliebig außer Kraft zu setzen, sondern
auch die Schaffung jedes Gesetzes auf so lange, als es ihm gefällt, beliebig
zu erzwingen?
Das in den vertraulichen Verhandlungen zwischen der nationalen Partei
und der Regierung geschlossene Compromiß über die einstweilen siebenjährige
Dauer der Präsenzziffer ist bei der letzten Berathung des Militärgesetzes be¬
stätigt worden. Es wäre unrecht, zu verschweigen, daß die Befriedigung
darüber sich von Tag zu Tag als eine nachhaltigere erweist. Der Besorgniß,
daß nach sieben Jahren wiederum ein Kampf aus Anlaß der vielgenannten
Budgcttheorie entbrennen könne, will sich Niemand hingeben. Man glaubt
an das unaufhaltsame Wachsthum der politischen Einsicht in Deutschland
auf Grund fortgesetzter, an Arbeit fruchtbarer Eintracht zwischen Reichsregie-
rung und Reichsvertretung. Das Band zwischen dem Reichskanzler und der
nationalliberalen Partei scheint endlich festgeschlossen, wie es bisher nie der
Fall war. Die Partei betrachtet den großen Staatsmann als den Ihren
und als ihren Führer, von dem sie weiß, daß er jedem gerechten und mög¬
lichen Wunsche nachgiebt, dem sie jedes durch die Gesammtlage bedingte,
unumgängliche Zugeständniß, wenn er es bezeichnet, bringt. Möge das Band
sich bewähren zur lange noch anhaltenden Förderung des großen Werkes, in
welchem die deutsche Nation begriffen ist, das auf dem gelegten Grunde bereits
so stattlich und vielversprechend sich erhebt, aber doch noch lange nicht vollendet ist.
Von den Aufgaben, welche außer dem Militärgesetz dem Reichstag in
dieser außerordentlichen Session oblagen, ist die Novelle zur Gewerbeordnung
mit ihrer strafrechtlichen Ahndung des Contraktbruches eines sanften Todes
in der Commission entschlafen. Dafür sind noch drei sehr wichtige Gesetze
zum glücklichen Abschluß gelangt: Das Reichspreßgesetz, das Gesetz über
das Reichspapiergeld und das Gesetz gegen die unbefugte Ausübung von
Kirchenämtern. Das Preßgesetz wollen wir im Einzelnen nicht mehr beleuch¬
ten. Seine unläugbar große Bedeutung liegt einmal in der einheitlichen
Regelung der Presse für das deutsche Reich und zweitens in der Beseitigung
der Zeitungssteuer und Kautionspflicht, welche den größten Theil der deutschen
Presse noch belasteten. Wir werden wahrscheinlich in Folge dieser Erleichterung
in der nächsten Zeit eine nicht geringe Zahl neuer Preßunternehmungen auf¬
schießen sehen. Die älteren Unternehmungen werden nicht unterlassen, die
zum Theil recht erheblichen Summen, welche sie durch das neue Gesetz ersparen,
auf erhöhte Leistungen zu verwenden. Wir wollen sehen, ob die Presse von der
Erleichterung ihrer Unternehmungsmittel dauernden Gewinn zieht durch Steige¬
rung des inneren Werthes der tonangebenden Unternehmungen, und ob da¬
mit das Niveau der gesummten Tagesliteratur sich hebt. Zu wünschen wäre
eine solche Wirkung auf die deutsche Tagespresse gar sehr. Was die Art und
Weise der Verhütung von Preßvergehen durch das neue Gesetz betrifft, so ist
nichts Gutes darüber zu sagen, als daß der Boden einer einheitlichen Er¬
fahrung geschaffen worden. Aber das ist nichts Geringes.
Das Gesetz über das Reichspapiergeld und das Gesetz gegen die unbefugte
Ausübung von Kirchenämtern behandeln so wichtige Gegenstände und die be¬
treffenden Verhandlungen sind theilweise so interessant gewesen, daß wir die
Berichterstattung darüber einem Epilog zu dieser Reichstagssession aufsparen
wollen, der auch den heute aus kaiserlichem Munde gesprochenen Epilog in
Leichter Tones zu plaudern, derweil man im Herzen die bange Sorge
birgt, das ist eine schwere Kunst, und nicht Jeder versteht sie zu üben. So
dacht' ich, als vor wenigen Wochen am Himmel unserer inneren Politik sich
Molle auf Wolke thürmte, und darum mein langes Schweigen. Heute ist
die Luft wieder klar, eben ziehen die Reichsboten in den Weißen Saal un¬
seres Königsschlosses, um aus des Kaisers Munde den Dank der Nation
entgegenzunehmen für ihre fleißige und verständige Arbeit, und neu gefestigt
sind die Grundlagen für eine ersprießliche Entwickelung des Reichs. Aber
noch ehe unsere parlamentarischen Wintergäste der Hauptstadt den Rücken
kehrten, ist der Frühling mit Macht hereingebrochen; wer nur immer kann,
entflieht dem ungeheueren Häusermeer, um wenigstens im Thiergarten sich
des ersten Maischmncks zu freuen, bevor Staub und Sonnenbrand denselben
in jene graugrüne Masse verwandelt haben, die von einem Laubwald nur
noch den Namen trägt. Was kann da noch viel zu erzählen sein aus der
Kaiserstadt? Ist doch in diesen wenigen Lenzestagen das kleinste Walddörflein
besser daran, als die glänzende Metropole! Und dennoch ist das innere
Leben derselben in den letzten Wochen sehr bewegt, dennoch ist die Saison
gerade noch kurz vor ihrem Ende besonders fruchtbar gewesen. So fiel das
Hauptereigniß der ganzen diesmaligen Opernsaison in die eben verstrichene
Woche, nämlich die erste Aufführung von Verdi's „Alba." Mit Spannung
war dies Werk des alternden Maestro erwartet worden; es sollte ja nach
den Einen die Bekehrung der italienischen Musik zur Wagner'schen Tonkunst
oder wenigstens eine entscheidende Beeinflussung der ersteren durch die letztere
bezeichnen, nach den Anderen sogar selbst der bahnbrechende Ausgangspunkt
einer neuen und eigenthümlichen Richtung sein. Die Aufführung bewies, daß
weder die eine noch die andere Ansicht richtig ist. Wenn die „Zukunftsmusik"
aus die italienische Musik keine durchgreifendere Wirkung üben wird, als wie
sie in dieser Verdi'schen Schöpfung zu Tage tritt, so wird sie jenseits der
Alpen eher alles Andere, als eine Zukunft haben. Aber noch unfindbarer
als der Wagner'sche Charakter der „Alba", ist ihre bahnbrechende Originalität.
Abgesehen von einigen Wagner'schen Klangfärbungen der Ouvertüre sind die
beiden ersten Acte der reine Meyerbeer reclivivu?. In sehr merklichem Unter¬
schiede von ihnen tritt dann im dritten Acte der alte Verdi selbst auf den
Plan, läßt sich jedoch von Gounot recht liebevoll unter die Arme greifen,
der ihm im ersten Theile des vierten Acts sogar die Mühe fast ganz abnimmt.
In der Schlußscene theilen sich Gounot und Wagner in die Arbeit, doch hat
die Lohengrinlyrik unverkennbar den Vorrang. Alles in allem genommen,
haben wir es also mit einer Mischung verschiedener Elemente zu thun; doch
hat der Componist eine recht glückliche Hand dabei gehabt; die elastische
Receptivität, mit welcher er das Fremdartige sich assimilirt, oder, wo ihm
dies nicht gelungen, die Tüchtigkeit, mit welcher er die Weise der Anderen
nicht copirt, sondern reproducirt hat, ist in Verdi's Jahren zu bewundern.
Und so ist die Oper, unter dem rein musikalischen Gesichtspunkte betrachtet,
auf alle Fälle eine achtungswerthe Leistung. Bedenklicher steht es mit der
dramatischen Handlung, mit dem Sujet überhaupt. Bekanntlich wurde die
Oper im Auftrage des Khedive geschrieben; nur dieser Umstand konnte den
unter normalen Verhältnissen ungeheuerlichen Gedanken eingeben, eine Liebes-
tragödie aus der Zeit der Pharaonen zu schaffen. Ohne Zweifel war das
für Kairo äußerst wirkungsvoll, aber es konnte nicht anders sein: dem
ganzen Werke wurde von vornherein der Stempel der Aeußerlichkeit auf¬
gedrückt. Von psychologischer Entwicklung ist in der Handlung herzlich wenig
zu spüren; und wenn ja einmal der Versuch gemacht wird, dieselbe zu ver¬
anschaulichen oder wenigstens dem Gefühlsleben Ausdruck zu geben, so kommt
uns sofort der Contrast zwischen dieser, unserm Vorstellungskreise so absolut
fernliegenden Welt und den ganz modernen Empfindungen der in ihr
lebenden Personen in störender Weise zum Bewußtsein. Von wirklich er¬
greifenden Effecte ist nur die Schlußscene. Der heldenhafte Heerführer
Radames wird, weil er aus Liebe zu der am Hofe von Memphis als Sklavin
lebenden äthiopischen Königstochter Alba im Begriffe stand, die eigene Sache
zu verrathen, noch mehr aber, weil er die Hand der ägyptischen Königstochter
ausgeschlagen, mit Einmauerung bei lebendigem Leibe bestraft. Eben hat
sich über ihm das Gewölbe des unterirdischen Raumes, der ihm zum Grabe
werden soll, geschlossen, in furchtbarer Verlassenheit starrt er dem Tode ent¬
gegen. Da naht sich Alba, die sich vorher in die Gruft geschlichen, um frei¬
willig mit dem geliebten Manne das äußerste Schicksal zu theilen. Und
während so die Beiden in treuer Liebe vereint, tief unten ihr Leben aus¬
hauchen, erliegt droben, in der Tempelhalle, zusammengekauert auf dem
Schlußstein des grausigen Gewölbes, das stolze Pharaonenkind dem herz¬
brechenden Kummer. — Was im Uebrigen durch äußere Mittel erreicht
werden kann, ist natürlich nirgends unterlassen: die Decorationen zaubern uns
mitten in die Wunder der Nillande; die Masseuaufzüge altäghptischer Krieger
und Volksgruppen sind von imposanter Wirkung; dagegen leiden die ver¬
schiedenen Ballets an einer hie und da ans Absurde streifenden Wunderlich¬
keit. Der musikalische Theil der hiesigen Aufführung war, wie von einer
Bühne dieses Ranges nicht anders erwartet werden konnte, vortrefflich.
Bedeutender übrigens, als das eben geschilderte, dünkt mich, freilich nur
nach meinem ganz subjectiven Ermessen, ein anderes theatralisches Ereigniß der
letzten Woche: das Gastspiel der italienischen Schauspielergesellschaft des
Sigr. Ernesto Rossi im Victoriatheater. Die Truppe hat freilich, soviel sich
bis jetzt beurtheilen läßt, außer ihrem DIrector nur zwei oder drei bemerkens¬
werthe Kräfte; dafür ist aber Herr Rossi selbst ein genialer und ganzer
Künstler, vom Scheitel bis zur Zehe. Einen solchen Othello muß man
sehen, um das Shakespeare'sche Meisterwerk ganz zu begreifen; schwerlich
würde es einen nordländischen Künstler jemals gelingen, die Gestalt des eifer¬
süchtigen Mohren mit so überzeugender Wahrheit zu zeichnen , sie mit so
elementarer Gewalt durchzuführen. Nach dem dritten Act wollte der be¬
geisterte Zuruf des Auditoriums kein Ende nehmen. Wie entsetzlich kleinlich
mußte in diesem Augenblicke gegenüber dieser überwältigenden Leistung die
Anlegung der hergebrachten Beurtheilungsschablone erscheinen! Aber wer da
glaubt, in dem Parquet eines Berliner Theaters einen so erschütternden Ein¬
druck in weihevoller Andacht ausklingen lassen zu können, der hat die Rechnung
ohne jene ästhetisirenden Krämerseelen gemacht, die sich als Souveräne im
Reiche der Kritik zu fühlen die Bescheidenheit haben. Wohl wäre es schon
hart genug, daß wir ihrer semmelblonden Weisheit in so und so viel
Feuilletons begegnen müssen. Aber womit. ihr guten Götter, haben wir es
verdient, daß ihr diese Unfehlbarer von der Feder noch obendrein mit der
Unverschämtheit begabtet, uns einfältige Menge auch durch das gesprochene
Wort belehren zu wollen, wie wir empfinden sollen! Leider gibt es noch
keine Theaterpolizei, die dem Publikum vor derartigen Genußverderbern Schutz
gewährte. — Uebrigens versteht sich von selbst, daß die berufene Kritik auch
gegenüber einem Künstler von dem glänzenden Rufe Rosse's das Recht und
die Pflicht, ja vielleicht die doppelte Pflicht hat, seine Leistungen ganz IoM
artis zu prüfen. Kein Zweifel auch, daß selbst an der vorgedachten Dar¬
stellung des Othello ein scharfes Auge manche Ausstellungen machen konnte;
das aber behaupte ich: wer die Gesammtauffassung dieses Mohren tadelt,
der tadelt nicht Rossi, sondern Shakespeare. Wohl möglich, daß einem
empfindsamen Gemüthe des 19. Jahrhunderts vor diesem „rasenden Raub¬
thiere" angst und bange wird und daß es sich in Klagen über „maaßlosen
Realismus" u. tgi. Luft zu machen sucht, aber diese Klagen richten sich an
die falsche Adresse. Ein Dichter des 16. Jahrhunderts mag wohl etwas
derber empfunden haben, als ein Kritiker unserer Tage; dem Schauspieler
aber wird es sicherlich verziehen werden, wenn er die Absicht des Dichters
befolgt und nicht das Recept des Kritikers.
Und nun ein drittes theatralisches Ereigniß, zwar nicht gerade bedeutend,
aber pikant: das Gastspiel der Frau Helene v. Racovitza im Residenztheater.
Wäre nichts weiter, als die Verwicklung der ehemaligen Helene v. Dönniges
in das traurige Ende des geistvollen Demagogen Lasalle, es würde allein
genügen, diesem Gastspiel eine außergewöhnliche Anziehungskraft zu verleihen.
Aber die Dame ist wirklich ein schauspielerisches Talent. Dazu kommt die
elegante Tournüre, die sie nicht, wie die meisten unserer Schauspielerinnen,
erst künstlich erlernen mußte, sodann ihre ganze wohlgestaltete Erscheinung.
Leider gefällt es der Künstlerin, auf diese letztere Seite ihres Wesens fast das
Hauptgewicht zu legen, sie wählt mit Vorliebe dem entsprechend ihre Rollen;
so die Baronin in dem bekannten Moser'schen Lustspiel „Eine Frau, die in
Paris war", und die Marquise v. Maupas in dem Schauspiel „Der verliebte
Löwe" von Ponsard. In der letzteren Rolle übrigens zeigte sich deutlich,
daß Frau v. Racovitza. obgleich sie mit einem ziemlich tonlosen Organ zu
kämpfen hat, namentlich die lyrischen Accente sehr gut zu treffen versteht.
Die Borführung des „I^lui amvurLux", abgesehen davon, daß sie das Werk
des französischen Akademikers hier in Berlin zum ersten Male auf die Bretter
brachte, gab zugleich Gelegenheit zu der Entdeckung, daß das kleine Residenz¬
theater in dem Repräsentanten des Helden des Stücks eine sehr beachtenswerthe
Kraft für die Tragödie besitzt. Von dem tüchtigen Ensemble, welches dies fleißige
Theater sich herangebildet hat, ist bereits früher einmal die Rede gewesen.
Eine schon längere Zeit vorher angekündigte Novität trat gegen Ostern
im Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater ans Licht: „Ziegenlieschen", Gesangs¬
posse von Emil Pohl, Musik von Arno Kleffel. Leider sind die Erwartungen,
welche man nun einmal von einer ordentlichen Berliner Posse zu hegen gewohnt
und berechtigt ist, nicht erfüllt worden. Das Stück ist im Ganzen nicht un¬
amüsant, hat sogar einige recht wirksame komische Situationen, aber es be¬
friedigt nicht, weil ihm gar zu sehr der innere Zusammenhang fehlt. An sich
wäre es freilich recht erfreulich gewesen, wenn die ewige „Mamsell Angot"
durch ein aus dem Berliner Volksleben herausgegriffenes Lebensbild verdrängt
worden wäre, aber es scheint nun einmal, als ob auf die wirklich gute
Posse das Wallnertheater ein Privileg hätte.
Zum Schluß noch eine Abschiedserwähnung der französischen Theaterge¬
sellschaft, welche am 30. April ihre diesmalige Saison schließen wird. Die
Gesellschaft des Herrn Luguet hat von vorn herein nicht die Absicht gehabt,
den Kothurn zu ersteigen, auf welchem gegenwärtig die Kinder ihrer Schwester¬
nation die Bühne des Victoriatheaters beschreiten; ihr Hauptaugenmerk ist
darauf gerichtet gewesen, uns das moderne französische Gesellschaftsdrama vor¬
zuführen. Diese Aufgabe hat sie mit bewundernswerthem Fleiß und sicherlich
nicht ohne Geschick gelöst. Herr Luguet brauchte den Berlinern nicht erst als
vortrefflicher Schauspieler bekannt zu werden; Frau von Severy's Leistungen
haben sich die allgemeine Achtung erworben; auch von den übrigen Mitglie¬
dern der Truppe werden einzelne in gutem Andenken bleiben.
Rasch und ruhelos eilt das moderne Leben dahin. Ein Uebermaaß von
Arbeit wechselt, nach Treitschke's Ausspruch mit einem Uebermaaß von Genuß
in jedes Einzelnen Dasein. Und vielleicht ist es ebenso richtig, zu sagen-,
ebendarum lebt die übergroße Mehrzahl unserer Zeitgenossen von der Hand
in den Mund. Natürlich nicht im materiellen, wirthschaftlichen Sinne des
Wortes. Aber unzweifelhaft in geistiger Hinsicht. Die Spanne Zeit, die
jeder in Tagen und Wochen wirklich seine freie, eigene nennen kann, ist den
Meisten nur mit Handbreite zugemessen; und das karge Maß wird von denen
am meisten empfunden, deren Natur am lebhaftesten nach geistiger Stärkung,
nach Vertiefung und Verbreiterung des Wissens- und Studienkreises verlangt,
um des Lebens höchste Befriedigung zu gewinnen, und deren Alltagspflichten
dem höheren Bedürfnisse des Geistes so oft und nachhaltig in den Weg
treten. Unserem ganzen Volke ist dasselbe Loos beschieden. Immer gilt
von ihm das Wort, daß es das Schwert nicht außer Augen lassen darf,
während es den Furchen des Pfluges folgt. Den Wenigsten ist es gegeben,
zu bedenken, wie es gestern gewesen, und wie es morgen sein wird, wenn sie
die schwere Arbeit des heutigen Tages verrichten.
Nirgend zeigt sich deutlicher, wie rasch wir leben, wie wenig die drängende
Zeit uns ruhige Rückschau gestattet, als in dem großen Kampfe des deutschen
Reiches gegen die römische Hierarchie, der unsere Tage erfüllt. Wenn das Be¬
wußtsein dessen, was unser Vaterland von dem heut bekämpften Todfeind erfahren
und erlitten hat, seit vierhundert Jahren auch nur in einem Schatten noch
lebendig wäre in den Massen: nimmermehr konnte heute mit Erfolg die
Frage aufgeworfen werden, wer eigentlich den großen Kampf zuerst begonnen
hat, Staat oder Kirche? Nimmermehr könnte überhaupt der Gedanke auf¬
kommen, wir Deutsche seien urplötzlich. erst seit der Neubegründung des
Deutschen Reiches in diesen Kampf verwickelt worden, und es handle sich
dabei um die Feststellung von Grenzlinien zwischen den staatlichen und kirch¬
lichen Gewalten, deren Richtung und Lauf niemals vordem zweifelhaft ge¬
wesen.
Es ist der schöne Beruf der deutschen Gelehrsamkeit, ihr vor Allem ist
Zeit und Gelegenheit gegeben, uns alle daran zu erinnern, aus welchem An¬
laß der große Kulturkampf unsrer Tage heraufgezogen ist, und um welche
Ziele dabei — keineswegs zum ersten Male — gestritten wird. Oftmals ist
gegen die Gelehrsamkeit unserer Katheder von Unverständigen der Vorwurf
erhoben worden, daß sie rückschauend in vergangene Zeiten, das Recht der
Lebendigen, die Interessen der Gegenwart verträume. Nun zeigt sich uns der
Segen dieses stillen, objectiven, von der Gunst und Richtung der Zeit los¬
gelösten, allein von dem Drange nach Wahrheit und Erkenntniß erfüllten
Strebens. Aus den scheinbar entlegensten Zeiten, aus dunkeln Seitenkammern,
in welche kaum jemals irgendwer die Leuchte zu halten für werth hielt,
sammelt deutscher Forscherfleiß uns werthvolles Rüstzeug zum Kampfe der
gegenwärtigen Stunde. Eins der sinnigsten Mährchen unsres Volkes erzählt
uns, wie ein Mönch, der den Sinn der Ewigkeit nicht zu fassen vermochte,
hinaustrat in den Wald und dem wunderbaren Gesang eines Vogels
lauschte, eine Stunde lang wie er meinte. Und als er heimkam, waren
Jahrhunderte vergangen. Uns ergeht es wie dem zweifelnden Mönchlein,
wenn wir uns, an der Hand der zaubrischer Gewalt der Wissenschaft, in
frühere Jahrzehnte und Jahrhunderte versetzen lassen und inmitten längst
vergangener Geschlechter handgreiflich denselben Gegensätzen und Strebungen
begegnen, welche in unsern Tagen unser Blut in höhere Wallung bringen.
Nur mit dem Unterschiede, daß der wunderbare Parallelismus der Vergangen¬
heit mit der Gegenwart, die Erkenntniß der in unendlicher Zeit immer erneuten
gleichen Arbeit des Menschengeschlechtes, uns nicht zum Tode führt, wie den
armen Klosterbruder, sondern anspornt zur Erreichung des Ziels. —
Daß ein Werk mit so nüchternem Titel wie das vorliegende zu so allge¬
meinen lebendigen Betrachtungen Anlaß bietet, mag befremdend erscheinen.
Das Recht des Staates, bei Besetzung der bischöflichen Stühle mitzuwirken,
werden die Meisten nur in eine sehr untergeordnete Beziehung setzen zu dem
großen Kampfe der Gegenwart. Aber freilich sehr mit Unrecht. Gerade
dieses Recht des Staates ist von der wesentlichsten Bedeutung für
die Feststellung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche überhaupt.
Es ist, wenigstens im Princip und mit allen Kräften, (und zwar
theilweise mit sehr günstigem Erfolg) Seiten aller deutschen Staaten
(auch der katholischen) geltend gemacht worden gegenüber der römischen
Kurie. Dieses Recht zweifellos durchzusetzen erwiesen sich die deutschen Einzel¬
staaten indessen auf die Dauer und zwar namentlich in den letzten Jahrzehnten
theils zu lässig, theils zu schwach. Sie glaubten vielleicht, den wahren für
sie unrühmlichen Stand der Sachlage verhüllen zu können, indem sie (ebenso
wie die Kurie noch heute) bis in die jüngste Zeit die Aktenstücke, aus welchen
die volle Erkenntniß des bestehenden Verhältnisses zu gewinnen gewesen wäre,
sorgfältig vor öffentlicher Mittheilung behüteten. Dieser Standpunkt ist
indessen nun glücklicherweise aufgegeben. Der Verfasser des vorliegenden
Werkes wenigstens sieht sich veranlaßt, allen deutschen Regierungen seinen
„ehrerbietigen Dank auszusprechen für die unbegränzte Liberalität", mit wel¬
cher sie ihm ihr Actenmaterial über die hier einschlagenden Fragen zur Ver¬
fügung gestellt haben! — Vielleicht wäre auch einem Andern zu demselben
Zwecke dieselbe Bereitwilligkeit erzeigt worden. Aber die Meisterschaft der
Beherrschung und Verwerthung dieses Quellenmaterials wird wohl dem Ver¬
sasser heute in Deutschland niemand streitig machen. Wer, wie Schreiber dieses, vor
fast anderthalb Jahrzehnten sich an der trefflichen Ausgabe der v. Keller-
schen Pandektenvorlesungen erfreut hat, die der damalige Berliner Privat¬
docent Dr. Emil Friedberg besorgte, hätte dem Verfasser weit eher eine rühmliche
Carriere als Lehrer des römischen Rechts prophezeien mögen, als eine Lehr¬
kanzel des Kirchenrechts oder gar eine prononcirte und sogar in der Broschüren-
lileratur des Tages hervorragende politische Thätigkeit. Und dennoch erfreut
sich Prof. Friedberg heute nahezu eines Monopols auf dem Gebiete des prak¬
tischen Kirchenrechts, wenn der Ausdruck erlaubt ist, und solche Bücher wie
das vorliegende werden nur dazu beitragen, ihn in dieser Stellung zu be¬
festigen.
Niemand wird von einem Werke wie dem vorliegenden etwas Anderes
erwarten, als eine streng wissenschaftliche und in jeder Hinsicht bedeutsame
Förderung auf bisher selten durchforschten Gebieten, durch eine außerordent¬
lich reiche und mit ausgezeichnetem Geschick und Verständniß bearbeitete Samm¬
lung ungedruckter Quellen der geheimen Staatsarchive. Unterhaltung im ge¬
wöhnlichen Sinne wird niemand hier suchen, und dennoch in Fülle finden
Derjenige, der die Prüfung und Darlegung der schwersten Arbeit moderner
Staatsmänner gegen die feinen diplomatischen Schachzüge der Römlinge noch
zu seiner Unterhaltung im edelsten Sinne des Wortes zu rechnen im Stande
ist. Es ist sehr wohlgethan, daß der Verfasser die Erzählung der Vorgänge,
die er schildert, und sein Urtheil darüber ohne Dazwischenschiebung der diplo¬
matischen Urkunden vorträgt, die letzteren vielmehr in einem besonderen Bande
abdrückt, und nur in Noten auf sie Bezug nimmt. Schon die lateinische, ita¬
lienische, französische Originalsprache der letzteren würde manchen Leser in der
gedeihlichen Verfolgung des thatsächlichen Laufes der Ereignisse stören, und
eine Uebersetzung der Aktenstücke im Text würde wieder der urkundlichen Treue
geschadet haben, auch wenn wir Ketzer uns rühmen dürfen, hundertmal treuer
zu übersetzen, als die frommen Translatoren päpstlicher Zornsprüche aus dem
Lager der katholisch-„germanischen" Liga.
Für heute wissen wir dem Leser kein besseres Bild zu bieten von dem
eminenten Interesse und dem spannenden Inhalt des vorliegenden Werkes,
als indem wir die in Friedberg's Buch zum ersten Male veröffentlichten Ver¬
handlungen Preußens mit der Kurie über Errichtung der Preußischen Armee-
propstet im Auszug mittheilen. An keinem Beispiel zeigt sich zudem so klar
wie an diesem die feindselige Verschlagenheit der Kurie gegen Preußen, die
klare Einsicht des leitenden preußischen Staatsmannes in die Schliche des Fein¬
des, daneben der unselige Einfluß der Muster'schen Aera. Die Verhandlungen
erreichen für die Gegenwart den Höhepunkt ihres Interesses natürlich mit dem
Zeitpunkt, wo der letzte katholische Feldpropst Namszanowsky zu dieser Stel¬
lung von Preußen ausersehen wird, was 1863 geschah. Zum Verständniß
der von Friedberg eingehend mitgetheilten bis dahin bestehenden rechtlichen
Sachlage mag die Andeutung genügen, daß bis dahin die Kurie bei allen Feld¬
pröpsten der preußischen Armee nur das canonische Verhältniß dieses Seel¬
sorgers mittelst päpstlichen Breve's geordnet, der Staat seinerseits durch könig¬
liches Patent dem Manne das staatliche Amt zugetheilt hatte. Bisher war
also eine vertragsmäßige Entscheidung über die Rechte des Staates und der
Kirche bei Ernennung des katholischen Feldpropstes nicht zum Austrag ge¬
kommen; ferner war gewiß, daß ihn die Kurie selbst nicht mit bischöflichen
Rechten ausgestattet hatte, denn er stand bis dahin unter dem Fürstbischof
von Breslau. Friedberg schildert nun die weiteren Egebnisse der Verhand¬
lungen in folgender Weise.
„Doch glaubte man diesmal einen andern Weg der Verhandlung mit
Rom einschlagen zu sollen. Namszanowskt war weder in Rom bekannt wie
das bei Pelldram in vortheilhaftester Weise der Fall gewesen war, noch
konnte ihn dieser aus eigener Kenntniß empfehlen; bei Pelldram hatte es sich
darum gehandelt, das seinem ganzen Inhalt nach canonisch nicht geordnete
Verhältniß von Mencke ohne jede sachliche Diseusston in möglichst einfacher
Weise auf den ersteren zu übertragen: jetzt war ein geregeltes, wenn auch
nicht definitives Rechtsverhältniß da; es schien sich zu empfehlen von Rom
jetzt die katholische Militärseelsorge für immer in die Hand eines Feldpropstes
legen zu lassen.
So wurde denn ein darauf abzielender Auftrag im EinVerständniß der
drei betheiligten Ministerien des Cultus, Krieges und der auswärtigen An¬
gelegenheiten, mit Ermächtigung des Königs vom 24. Februar 1866, dem
Preußischen Gesandten in Rom ertheilt. Allein die Curie, wenn sie auch
gegen die Person des designirter Feldpropstes nichts einzuwenden hatte, war
nicht bereit ihr früheres Verfahren zu wiederholen. Auf Grund eines Gut¬
achtens der (üongi'LMöione cisZU atlari fers.oräing.l'j verlangte sie, daß der
Feldpropst ein für allemal von der Jurisdiction der preußischen Bischöfe
befreit, und jedesmal mit dem bischöflichen Titel (in xartibus) beliehen werde.
Er habe dann die Armeegeistlichen mit Zustimmung der Staatsgewalt zu er¬
nennen und die DIsciplinargewalt über dieselben auszuüben. Jede andere
Einrichtung müsse zu Conflicten mit den Bischöfen führen.
Die preußische Negierung sah die Gefahren dieses Vorschlages vollständig
ein. wenn sie sich auch nicht verhehlen konnte, daß durch die definitive Er¬
richtung der Feldpropstei ihren Wünschen entsprochen werde. Stand es nicht
zu erwarten, daß für den mit dem Charakter eines Bischofes ständig be¬
kleideten Feldpropst würden Befugnisse vindicirt werden, welche auf rein
theoretischen mit militäramtlicher Stellung unvereinbarer Ansprüchen beruhen
könnten, welche die Staatsregierung niemals zugestehen dürfte, und zu deren
peinlicher Erörterung überdies gar keine Veranlassung vorlag? Deswegen
wurde der Gesandte ermächtigt, die Geneigtheit der Regierung zu weiteren
Verhandlungen zu erklären, inzwischen aber die Ausfertigung der Facultäten
für Namszanowski zu verlangen, „donve alitoi- swwtum euern", also wie
früher für Pelldram.
Rom aber gedachte nicht die preußische Regierung so leichten Kaufes
loszulassen, zumal die Curie, wie wir gleich sehen werden, noch weiter gehende
Ziele verfolgte, und doch wohl auch den in Berlin nicht genug — oder
vielleicht nur von der katholischen Abtheilung des Cultusministeriums — ge¬
würdigten Gesichtspunkt ins Auge gefaßt haben mochte, daß wenn der Feld¬
propst seinen amtlichen Sitz in Berlin habe, es so gelingen werde, in dem
Centrum des Protestantismus selbst einen Bischof neu zu installiren. Wie
bequem konnte ein solcher die katholische Missionsthätigkeit befördern, welchen
Halt gab er den in den preußischen Ministerialkreisen mehr als zur Genüge
vorhandenen ultramontanen Bestrebungen, wie leicht konnten seine directen
amtlichen Beziehungen zu dem obersten Kriegsherrn zu Gunsten der katho¬
lischen Kirche verwendet werden! Darum lehnte der Papst das Begehren
des Gesandten wiederum ab, und stellte drei Punkte auf, über welche zunächst
ein EinVerständniß erzielt werden müsse. Diese bestanden einmal in dem
Erlaß eines päpstlichen Breve, durch welches die Feldpropstei als besonderes
Amt definitiv errichtet werden sollte. Weiter: Exemtion des militärischen
Clerus von der bisherigen Jurisdiction der Bischöfe und Unterordnung unter
die des Feldpropstes; und endlich: Erlaß einer päpstlichen Encyclia an die
Bischöfe mit der Aufforderung dem Feldpropst die nöthigen Geistlichen zu
überweisen.
Die Regierung merkte sogleich, worauf das abzielte. Zwar der zweite
und dritte Punkt entsprach durchaus den Intentionen, welche sie selbst hegte;
der erste aber war im höchsten Grade bedenklich. Denn wenn der Papst die
Feldpropstei als ein besonderes kirchliches Amt schaffen wollte, so erschien
dieses, ein Product päpstlicher Autorität, unabhängig von der staatlichen; die
letztere war an dasselbe vertragsmäßig gebunden, und wie sollte es mit der
Ernennung zu diesem Amte gehalten werden? Freilich hatte Cardinal AntoneM
es als selbstverständlich bezeichnet, daß der Landesherr die Person zu be-
stimmen habe, welche Rom zur Ausübung der felopropsteilichen Funktionen
ermächtigen werde, aber wenigstens in dieser Beziehung wollte die Regierung
völlige Sicherheit haben. Wie nöthig das war, erhellte sofort; denn schon
das erste römische Promemoria vom Juni 1866, welches dem Gesandten in
Form eines „?roM ä<z now" zuging, legte die Ernennung des Feldpropstes
ganz in die Hand des Papstes. Der Feldpropst wurde mit den übrigen
Bischöfen auf völlig gleiche Linie gestellt, aber von den durch das Breve
HuoÄ as üäölium dem Könige bezüglich der Erwählung dieser gewährten
Befugnisse war mit keiner Silbe die Rede.
„Bei Ernennung des Feldpropstes, so lautete der römische Vorschlag,
wird der heilige Vater sein Augenmerk nur auf solche Geistliche lenken,
welche in Betreff ihrer Frömmigkeit, Einsicht und Kenntnisse verdienen, von
Seiner Majestät in Betracht gezogen zu werden." Also wieder wie die rö¬
mische Curie das „minus gra-of" des Breve Huoä as iiäizliurn interpretirte:
nicht objective Gewißheit, sondern subjectives Vermuthen, dort auf Seiten
des wählenden Capitels, hier des Papstes. Auffallend war ferner, daß der
Papst als Wohnsitz des Bischofes Berlin fixirt zu sehen wünschte — die
Hintergedanken traten dabei ziemlich klar hervor — und endlich mehr als
naiv war die gleichzeitig der Regierung gemachte Eröffnung, daß die Er¬
nennung des Feldpropstes dem Könige nicht zugestanden werden könne, weil
ein akatholischer Souverän Bischöfe nicht ernennen dürfe daß äußersten
Falles der Papst sich zu einer „enteilte xreli-I^dit" mit der Regierung über
die Person des zu Ernennenden herbeilassen wolle. Nicht blos also, daß die
Curie den Feldpropst gern als Bischof wünschte in dem ketzerischen Berlin;
aus dieser für die Regierung bestenfalls gleichgültigen bischöflichen Qualität
wurde sofort die kirchenrechtliche Unmöglichkeit deducirt, die bisherigen Rechte
des Staates zu belassen.
Die Antwort der Regierung wäre nicht schwer zu finden gewesen. Kann
der König keinen Armeebischof ernennen, nun so lasse man doch die bischöf¬
liche Würde fallen, zumal sie nur dazu dient, das ganze rechtliche und that¬
sächliche Verhältniß zu verschieben. Haben die früheren Feldpröpste vom
Könige ernannt werden können, weil sie keine Bischöfe waren, so lasse man
für Namszanowski den ganz werthlosen Episcopat in Mrtidus iuüäslium
fort, und haben die früheren ohne bischöflichen Ordo fungiren können, warum
soll es für die späteren unmöglich sein? Dennoch nahm die Negierung von
einer einfachen Klärung der rechtlichen Lage Abstand. Sie adoptirte die
canonischen Bedenklichkeiten der Curie und stellte sich selbst auf canonischen
Boden. Sie verlangte, daß bei Ernennung des Feldpropstes so verfahren
werde, wie in der Bulle of salute anlag-rum Z tuturo autsm temxorö für
die Dompropsteien vorgeschrieben sei, wonach die Besetzung dem Papste
reservirt, die Nominatton aber durch Hinweis auf das früher in Breslau
übliche Verfahren dem Könige verliehen war.
Aber auch dieser Vorschlag behagte in Rom wenig, und wurde im
November 1866 durch den anderen erwidert, daß die jedesmalige Ernennung
des Feldpropstes durch gemeinsame Verständigung („coll^dis eonsiliis") zwischen
der Regierung und dem heiligen Stuhle erfolgen und eine dem entsprechende
Bestimmung in dem Breve selbst Aufnahme finden solle. Der Minister der
auswärtigen Angelegenheiten war mit dieser Proposition durchaus nicht ein¬
verstanden. Er betonte, daß sie dem Papste eine Einwirkung auf die Er¬
nennung verstatte, die mindestens so groß sei. wie die des Königs, und daß
die Ernennung des Feldpropstes nothwendig ganz und gar dem Staate ver¬
bleiben müsse. Allein im Ministerium der geistlichen Angelegenheiten hatte
man sich schon längst auf die schiefe Ebene der Concessionen begeben. Man
meinte dort, in der von Rom vorgeschlagenen Formel ausreichende Sicherheit
gegen römische Uebergriffe zu finden, wenn nur über das zu beobachtende
praktische Verfahren eine Verständigung erzielt werde; und als eine solche be¬
zeichnete man, wenn der römische Stuhl mittelst besonderer neben dem Breve
herlaufender diplomatischer Note darein willige, daß bei Ernennung des Feld¬
propstes so procedirt werde, wie es hinsichtlich der Dompropstei geschehe.
Man übersah ganz, welche Schwierigkeiten sich für den preußischen Staat
schon daraus ergeben hatten, daß das Breve (juoä av üäslium neben der
Bulle vL salut« herlief, wie eine ganze Literatur daraus den Schluß von
der UnVerbindlichkeit des Breve weitläufig, mit unverhohlenem Beifall der
römischen Curie deducirt hatte.
Aber die letztere dachte nicht daran, diesen Plan zu acceptiren. Sie ver¬
langte in jedem Fall eine vertrauliche Verständigung über die Person des
Feldpropstes, und schlug demgemäß im Januar 1867 eine Verabredung vor,
folgenden Inhaltes: „Wenn das Amt vacant wird, so wird die königliche
Regierung durch ihren Vertreter in Rom dem heiligen Stuhle mündlich die
Person bezeichnen, welche nach ihrem Wunsche für dasselbe ernannt werden
soll. Wenn die bezeichnete Person als aller der Eigenschaften theilhaftig
erkannt wird, welche von den canonischen Bestimmungen verlangt werden, so
wird gedachtem Vertreter davon Mittheilung gemacht werden, welcher dann
mittelst officieller Note den Cardinal-Staatsseeretär unterrichten wird, daß
Seine Majestät gedachte Persönlichkeit für das erwähnte Amt empfiehlt."
Damit wurde die Besetzung des Amtes lediglich in die Hand des Papstes
gelegt, und das Recht des Landesherrn in ein Vorschlagsrecht umgewandelt,
welches aus den nichtigsten Gründen illusorisch gemacht werden konnte.
Der Minister des Auswärtigen wollte darum auch diesen Borschlag
einfach abgewiesen wissen, während der Minister der geistlichen Angelegen-
hetten jetzt auch für diesen eintrat. Es komme, so führte er aus. vor allem
auf die Sache an, d. h. daß dem Könige die freie Initiative und Ent-
schlteßung in der Wahl des Feldpropstes gewahrt bleibe, und daß die zu
diesem Amt gehörigen Facultäten niemals einem Dritten ertheilt werden
könnten, der vom Könige nicht frei gewählt worden sei. Diese unerläßliche
Bedingung sei aber durch den qualificirten Vorschlag ebenso gut und in ge¬
wisser Beziehung noch besser wie durch die Bezugnahme auf die Ernennung
der Dompröpste gesichert. Denn in Betreff der letzteren fehle es an einer
klaren dispositiven Bestimmung, da in der Bulle vo Saints imiwarum nur
ausgesprochen sei, daß die Dompropstei vom Papste verliehen werden solle
„yuemÄäiuoäum in csPitulo ^Vru,tisIg.vieriLi Kacterms taetum v»t", ohne die
Art und Weise wie bisher in Breslau verfahren, näher zu definiren. Die
Auswahl der Dompröpste erfolge nun zwar auf Grund der in der Bulle
getroffenen Festsetzung durch den König, auch werde für dieselben eine könig¬
liche Nominationsurkunde ausgefertigt. Andererseits ertheile indessen Rom
die übliche Provision ohne Bezugnahme auf die gedachte Nomination lediglich
auf Grund des von dem betreffenden Bischöfe ausgestellten Jdoneitäts-
zeugnisses. Bei der jetzigen Proposition werde dagegen ausdrücklich der
Staatsregierung die Initiative zugestanden und für die in Aussicht genom¬
mene Person nur ein auf die canonischen Erfordernisse beschränktes Wider¬
spruchsrecht vorbehalten, welches in keinem Falle der päpstlichen Willkür
Spielraum lasse — darin täuschte sich der Minister —, mithin dem unerlä߬
lichen Verlangen, daß der König die Person zu bestimmen habe, welche mit
den Facultäten zur Ausübung der kirchlichen Functionen versehen werden
solle, so vollständig genüge, als nur irgend zu erwarten sei. Daß die für
die Stelle in Aussicht genommene Person zunächst mündlich bezeichnet werde,
erscheine zu dem Zwecke, daß nicht etwa ein förmlich vorgeschlagener Geistlicher
der canonischen Eigenschaften entbehre, angemessen. Im Uebrigen erscheine es
selbstverständlich, daß dem Feldpropste neben der päpstlichen Provision, wie
bisher eine königliche Bestallungs-Urkunde ertheilt werde, worauf der Gesandte,
um späteren Irrungen vorzubeugen, noch besonders aufmerksam zu machen
sein werde.
Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten fügte sich der, wie er
annehmen mußte, größeren Sachkenntniß seines Amtsgenossen. Er meinte,
daß der vorgeschlagene Modus allenfalls genügen könne, wenn nur die Ini¬
tiative der Staatsregierung bleibe, und die Verständigung lediglich über die
vom Könige designirte Person erfolgen dürfe. In Folge dessen wurde zu
dem römischen Vorschlage die königliche Genehmigung nachgesucht und im
Juli 1867 ertheilt unter der ausdrücklichen Bedingung, „daß dem katholischen
Feldpropste, über dessen Person eine Einigung in der erwähnten Weise voraus-
gegangen sei, Behufs seines Eintretens in die ihm zugedachte Stellung in
der Armee und die damit verbundenen weltlichen Prärogative, nach wie vor
eine besondere allerhöchste Bestallung werde ertheilt werden".
Somit wurden jetzt die Verhandlungen mit Rom fortgesetzt. In dieser
Beziehung hatte sich die Curie mit der Regierung bereits im Januar 1866
geeinigt, daß der Verabredung nicht der Charakter eines Vertrages gegeben
werden, sondern nur ein Notenaustausch stattfinden sollte. Dadurch meinte
die Regierung hinreichend zu constatiren, daß die neue Einrichtung nicht aus
eigener Machtvollkommenheit des Papstes erfolge; für den Fall, daß das
päpstliche Breve des Einverständniß der Regierung nicht gedächte, brauchten
nur die Noten publicirt zu werden, die überdies ein wichtiges Jnterpretations-
material für das Breve darböten. So erging denn auch an den preußischen
Gesandten in Rom im November 1867 der Entwurf einer Note, welche der
Cardinalftaatssecretär nach erfolgter Genehmigung der Regierung an den
ersteren zum Abschluß der Verhandlungen zu richten beabsichtigte. Sie gab
das Resultat der bis jetzt gepflogenen Conferenzen, und stellte eine Reihe von
Artikeln auf, welche die Grundlage des päpstlichen Breve bilden sollten. In
Berlin fand das Ministerium der geistlichen Angelegenheiten daran nichts zu
erinnern, dagegen erklärte der Kriegsminister eine Modifikation derjenigen Be¬
stimmungen für wünschenswert!), wonach der Feldpropst befugt sein sollte,
ganz selbständig Militärgeistliche zu versetzen und abzusetzen. Man wünschte
deswegen, daß die Nothwendigkeit eines jedesmaligen Einverständnisses der
Staatsregierung hervorgehoben werde, zumal diese bei Versetzungen Umzugs¬
kosten, bei Absetzungen Pension zu zahlen haben würde.
Der Gesandte, telegraphisch von diesem Monitum unterrichtet, stieß aber
wieder in Rom auf hartnäckigen Widerspruch. Der mit den Verhandlungen
betraute Mons. Franchi erklärte für eine solche vorherige Verständigung die
Zustimmung des Papstes nicht erlangen zu können. Denn damit gebe man
die Möglichkeit zu, daß ein canonisch unfähiger Geistlicher gegen den Willen
seines kirchlichen Vorgesetzten im Amte bleiben dürfe. Uebrigens sei ja der
Staat gegen jede Willkürlichkeit des Feldpropstes gesichert, da dieser seine
Disciplinarmaßregeln nur aus canonischen Gründen treffen dürfe. Die letztere
Garantie wog nun freilich nicht schwer. Dennoch glaubte der Gesandte sie
für genügend finden zu sollen. Denn einmal ließ die Fassung seines telegra¬
phischen Auftrags nicht erkennen, daß man in Berlin dem erwähnten Punkte
besondere Wichtigkeit beimesse, und andererseits schien ein Abschluß der Ver¬
handlungen um so nothwendiger zu sein, als Franchi nach Madrid versetzt
war, und der Eintritt einer neuen mit den Verhältnissen nicht vertrauten
Persönlichkeit leicht Alles wieder ins Stocken bringen konnte.
Darum beschränkte er sich aus ein Abkommen dahin, daß der Feldpropst
gehalten sein solle, der Regierung von seinen „Absichten" in Betreff des geist¬
lichen Personals einen „awiso" zu geben. Nachdem somit volles Einver-
ständniß über alle Punkte und namentlich auch über den erzielt war, daß der
jedesmalige Feldpropst eine königliche Bestallung empfangen sollte, erfolgte
der definitive Abschluß der Verhandlungen.
Der Cardinalstaatssecretär richtete unter dem 14. Februar 1868 eine Note
an den preußischen Gesandten, welche den Inhalt des zu erlassenden Breve
angab. Der Gesandte antwortete offiziell unter dem 17. Februar 1868, be¬
stätigte die Uebereinstimmung der erhaltenen Note mit dem Ergebnisse der
stattgefundenen Verhandlungen, und hielt endlich in einem besonderen Privat¬
briefe von gleichem Datum die zuletzt angeregte Disciplinarfrage, soweit sie
finanzieller Natur war, offen. In Ausführung der getroffenen Verabredung
erging dann unter dem 22. Mai 1868 ein päpstliches Breve, durch welches
die Feldpropstei als kirchliches Amt errichtet, und welches dem preußischen
Gesandten behändigt wurde. Weiter aber erließ der Papst ein neues Breve
unterm 24. Juli 1868, welches das neu errichtete kirchliche Amt dem Pröpste
Namszanowskt in Königsberg übertrug.
Dabei suchte die Curie gleich die zugestandene staatliche Bestallung illu¬
sorisch zu machen, und setzte sich somit in Widerspruch zu den Verhandlungen,
die kaum ihr Ende erreicht hatten. Denn anstatt dies Collationsbreve, welches
doch nur das kirchliche Officium übertrug, der Staatsregierung zu übermitteln,
damit diese noch die staatliche Bestallung hinzufüge, sandte sie es durch Ver¬
mittelung des Münchener Nuntius direct an Namszanowski. Allein, dieser
handelte correcter als seine geistliche vorgesetzte Behörde. Unter dem 29.
August 1868 überreichte er das päpstliche Breve an den Cultusminister, mit
der ausdrücklichen Anerkennung, daß dasselbe „ohne die Allerhöchste Bestallung
für ihn werthlos, er mithin nicht in der Lage sei „ von den ihm ertheilten
Facultäten einen Gebrauch zu machen, oder um seine Consecration als Bischof
i. p. zu bitten, so lange er hierzu nicht durch die Allerhöchste Huld Seiner
Majestät des Königs autorisire werde". Und so erfolgte denn am 3. Novem¬
ber 1868 die staatliche Bestallung des neuen Armeepropstes genau in derselben
Form, welche das vorige Mal angewendet worden war, da nach Auffassung
der Staatsregierung sich die staatliche Seite des fraglichen Amtes in keiner
Weise durch die über das kirchliche Officium getroffene Vereinbarung verändert
hatte. — Uebrigens wurde in Folge der Conflicte, in welche der Bischof Nams¬
zanowski mit der Staatsregierung gerieth, das Amt des katholischen Feld-
Propstes durch königliche Cabinetsordre vom 13. März 1873 wieder auf¬
gehoben."
Hier spricht aus den Schlußzeilen, im Vergleich zu dem loyalen Verhalten
des katholischen Feldpropstes bei Annahme seines Amtes, eine Wandlung von
entscheidendster Wichtigkeit, deren'hier unberührte Veranlassung — das vatikani¬
sche Concil mit der Proclamirung der Unfehlbarkeit und der Unterwerfung
der deutschen Bischöfe unter das neue Dogma — wir Alle in täglich frischem
Gedächtniß haben. Die Kriegserklärung des Vatikans gegen den deutschen
Staat, die der französischen nur um einen Tag später folgte, zog allmählig alle
Vasallen des römischen Stuhls in den Heerbann der Kirche, auch den sog.
Armeebischof Namszanowsky. Wie völlig anders als gegen Deutschland aber
die Stellung der Kurie von jeher gegen Frankreich gewesen, dafür soll an der
Hand des Friedberg'schen Werkes in einem der nächsten Hefte ein klassisches
Beispiel geboten werden.
Friedrich Kapp, Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach
Amerika. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts.
Zweite vermehrte und umgearbeitete Auflage, Berlin 1874, Julius Springer.
—- Das düstere Bild, welches der bekannte nationalgesinnte Publicist und
Reichstagsabgeordnete in dem vorliegenden Bändchen an der Hand offizieller
englischer und deutscher Quellen und zahlreicher Aufzeichnungen von Zeitgenossen
entwirft, ist leider noch heute so aufregend, daß die bloße Nennung des Titels
Viele von der Lectüre abschrecken wird. Und wir meinen, die Worte, welche der
Verfasser in seiner Widmung an Ludwig Bamberger richtet, sind am wenigsten
geeignet, dieses Mißbehagen zu vermindern und die fleißig umgearbeitete zweite
Auflage dieses Werkes, das er vor zehn Jahren zuerst von New-Uork aus herausgab,
bei dem deutschen Publikum von der richtigen «seite einzuführen. Denn, welche Con¬
flicte auch immer dem nationalen Staate in seiner Entwickelung mit der Territorial¬
hoheit und den unberechtigten Eigenthümlichkeiten des Particularismus be-
schieden sein mögen, über diese rohe fiscalische Eseomptirung des Blutes der
Landesrinder ist auch der despotischste Kletnfürst der Zukunft hocherhaben.
Es wäre weit klüger und richtiger gewesen, wenn Kapp die abermalige
Herausgabe seines Werkes motivirt hätte allein mit dem Interesse ver¬
gleichender Geschichtsforschung, welches ihm immer gesichert bleiben wird, und
mit der Anführung der sehr zahlreichen handschriftlichen und archivalischen
Quellen, welche ihm für diese Auflage zu Gebote standen, wenn auch die
Hoffnung, die kurhessischen Archive jemals zum Zeugniß aufzurufen über
diesen schmählichen Menschenhandel für immer aufgegeben werden muß, da
die biedern verflossenen Landesväter die Zeugnisse ihrer Schande offenbar
längst vernichtet haben. Aber der eine bisher ungedruckte Brief Friedrich's
des Großen an den Markgrafen von Bayreuth, der in edlem deutschen Zorne
überwallt über die Schmach deutscher Mitfürsten, macht das Kapp'sche Buch
allein schon begehrenswerth und rettet inmitten verkommenster Gemeinheit
das Bild wahrer Größe und deutscher Fürstenwürde.
„Philosophie des Lebens, das besitzen Sie und das ist genug;" —
„Wenn Sie verzagen, wer sollte dann Muth haben; alle Welt würde sich
bemühen Ihr Leben Ihnen angenehm zu machen;" — „Sie sind in Bremen
vergöttert;" — „Im Conversationslexikon steht geschrieben, daß Sie ein
Seitenkind des großen Friedrich seien; solche Irrthümer müssen dennoch be¬
richtigt werden, Sie brauchen nichts von Friedrich zu borgen;" — „Blumen¬
kränze und Orpheus Leyer werden einstens an Ihrem Grabe hängen — Sie
aber--in dem Buche der Unsterblichkeit;" und endlich: „Der Mann an
der Thür spricht soviel Schönes von Ihnen, er erkennt ganz ihren Werth
als Künstler und als Mensch, er macht seinen Nachbarn begreiflich, daß Sie
der größte Mann in Europa sind, er hat Recht;" — solchen Aeußerungen
vom „viel zusammenschwatzenden" Hofrath Peters und Andern in den Ber¬
liner Conversationsheften Beethoven's von 1819/20 entsprechen auch die stets
wachsenden Anzeichen des Ruhmes von außen. Aus Neugierde begehre man
die kurz vorher erschienene Sonate Op. 106 auch in Mcchland, obwohl dort
kein Mensch lebe, der so etwas spielen könne, heißt es. Doch war dorthin
bereits damals Beethoven's verehrte „Dorethea-Cäcilia," Frau von Erdmann,
der das schöne Op. 101 gewidmet ist, übergesiedelt. „Die Engländer sprechen
von nichts, als daß Sie nur nach England kommen," solche Conversation
stimmt zu Beethoven's Erzählung damals, daß Engländer bei ihm waren:
„Lachend sagte er: sie haben mir meine Feder weggenommen." Den Is. März
1819 zeigt sich auch die Laibacher Philharmonische Gesellschaft „allgemein von
dem Wunsche durchdrungen, die Zahl ihrer Ehrenmitglieder durch ihn geziert
zu wissen," welche „Anerkennung seiner geringen Verdienste in der Tonkunst"
er am 4. Mai mit geziemender Würde und Dienstbereitwilligkeit aufnimmt.
Am 1. October 1819 aber wird er in Wien, wo er „Bürger" schon seit 1815
war, auch zum Ehrenmitglied des kaufmännischen Vereins ernannt, eine kleine
Genugthuung für die Geringschätzung und Plagen die ihm andere „Bürger"
dort in dem famosen Vormundschaftsprozeß wegen seines Neffen bereitet
hatten. Auch ward er, wie wir noch sehen werden, in dieser Zeit nicht
weniger als 3 oder 4 mal abconterfeit, zuerst im Herbst 1819 von Schi-
mon, dann im Winter darauf wie es scheint zu gleicher Zeit von Stieler,
dem bekannten Maler der Münchener Schönheitsgallerie und dem Wiener
Miniaturmaler Daffinger, letzteres Portrait für Steiner's „Prachtabschrift"
aller Werke Beethoven's, die sich in Wien befindet. Und in den Conver-
sationen vom Juli 1820 ist ebenfalls von einem Portrait „zwischen Haydn
und Mozart" die Rede, dessen Existenz nicht näher zu bestimmen ist.
Das alles war etwas für Einen, der nach seinem eigenen Tagebuche
„Lob und Ruhm und Unsterblichkeit" so hoch zu stellen schien, *) Allein „das
theuerste Geschenk des Himmels" sind ihm doch „seine Kunst und die Musen,"
„ich finde nur darin das Glück meines Lebens," schreibt er selbst einmal Spa»
ter. Und wie steht es nun damit, namentlich in der bösen Zeit von 1819
bis 20? Wir fürchten, bei der großen Arbeit, die diese nächsten 4 Jahre er-
füllt, trotz allem das Wort Faust's äußern zu müssen:
Erquickung hast du nicht gewonnen.
Wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt!
und wollen uns schon hier vorbereitend darüber aussprechen.
Es war allerdings freiester Entschluß gewesen, was ihn zur Composi-
tion der berühmten großen Messe (Rissa, solsimis) führte, und obendrein
ein auf eigensten Bedürfen beruhender Entschluß. Ferner: wer Beethoven's
Charakter kennt und seine Töne in die Seele aufgenommen hat, möchte zwei¬
feln, daß hier vernehmlich wiederklingt, was je ein Herz von der Nichtigkeit
der Welt empfunden und eine andere bessere Welt vorausnehmend in Be¬
scheidung seiner selbst an Liebe und Freude auf der Welt gefunden und ge¬
spendet hat? Allein gebannt in diese bestimmte Erscheinungsform des kirch¬
lichen Messentertes war diese unerschöpfliche und einzig wahre Welt unseres
Seins für Beethoven nicht mehr „seine Weise," nicht in Substanz und Ge¬
halt, so weit er denselben wirklich erfaßte, noch weniger in der gegebenen
Art und Darstellung. Der „ewig regen, der heilsam schaffenden Gewalt,"
die in seinem Busen wie nur je bei einem Künstler wogte, die ihn dem Un¬
endlichen stets so lebendig nahe brachte und seinem eigenen Schaffen etwas
von der Gewalt des Ewigen lieh, setzte sich hier die kalte Form, die dunkle
Lehre, das Dogma entgegen, die seinem freien Schauen und Glauben unwill¬
kürlich Gewalt anzuthun schienen. Es ist daher bezeichnend, daß er wie dies
der Musikdirektor Scholz aus Warmbrunn bei der ersten Messe (in C) ge¬
than, auch für dieses neue Werk, anstatt der Uebersetzung des wirklichen Tex¬
tes, eine mehr allgemein spanische Unterlage wünschte.
Nicht mehr vermochte er, ein einfach treuer Sohn des Christenthums
und der Kirche, wie einst Palestrina, wie auch der große Seb. Bach es
gethan, das allgemein Geglaubte auch selbst einfach gläubig hinzunehmen und
nach seinem Können und Vermögen einfach deutlich für das Bedürfniß des
praktischen Gottesdienstes auszusprechen. Dazu war er gar zu sehr das Kind
seiner aufklärerischen Zeit. Wie denn auch bezeichnender Weise Luther's Tisch¬
reden und vor allem Sturm's „Betrachtungen über die Werke Gottes" ihn
mehr beschäftigten und befriedigten als der hohe Bau dieses mittelalterlichen
Glaubens! In der subjectiven Auslegung des objectiv Gegebenen aber mußte
er. obwohl ein Glied der katholischen Kirche und voll tiefster Empfindung
für die Befriedigung unserer letzten Bedürfnisse durch die Spenden der Reli¬
gion überhaupt, je länger, je mehr den Boden unter den Füßen verlieren
und das Gefühl bekommen, als schwebe er in der Lust. Denn so sehr sein
Inneres mit mächtigem Sehnen dem Unendlichen zugewandt und namentlich
in diesen späteren Lebensjahren aufrichtig religiös gestimmt war, so sehr war
für ihn der Messentext als solcher ein „überwundener Standpunkt". Und
wieder war er der Kirche und fast der Religion selbst gegenüber gar zu sehr
Laie oder vielmehr Dilettant, um die Quelle zu finden, aus der auch dieser
Messentext stammt und seinen Gehalt und die Hoheit seiner Erscheinung ge¬
nommen hat. Konnte er also nicht, wie mit dem wirklichen Sinn der Sache
jene alten Meister, und selbst mit ihrer mehr vergänglichen jüngsten kirchlichen
Erscheinung Haydn und Mozart verfahren waren, einfach unbefangen dem
heiligen Gegenstande gegenüber stehen und ihn sinnig ruhig aussprechen, so
war doch die Vision der hier waltenden Welt, die seiner tiefen Seele und
hohen Geistesart je länger je mehr nicht fern bleiben konnte, nicht sicher und
klar genug, um hier das Zufällige und Hergebrachte zu überwinden und mit
eigenen Worten Eigenes von dieser zweiten Welt der Menschheit zu sagen.
Er erblickt in hellen Momenten den hier waltenden ewigen Urgrund der
Menschheit, aber er ist nicht im Stande das Gesicht zu bannen und ein Ge¬
webe herzustellen, das uns selbst in diesen Zauberkreis einer anderen höheren
Existenz zwingt. Daher bald ein Tasten und Versuchen, bald neben unver¬
änderter Annahme des Hergebrachten selbst bis in das Arrangement der ein¬
zelnen Stücke und der dabei üblichen Schreibart hinein, bald ein merkliches
Hinüberschießen übers Ziel, — in keinem Falle aber ein Wort des
einfachen ruhigen Glaubens! Der Gegenstand hat ihn, je mehr er
sich hinein vertieft, auch mehr und mehr innerlich erfaßt, aber weil er ihn
nach seiner Substanz und seinem Bestände nicht zu ergreisen vermag, ungleich
mehr ästhetisch und sozusagen dramatisch als sachlich interessirt und beschäf¬
tigt. Es ist daher nicht ohne Grund, daß das Werk auch ungleich mehr den
Antheil der künstlerischen Fachgenossen als der Kirche und überhaupt der reli¬
giösen Empfindung gewonnen hat. Ist es doch gewissermaßen eine andere
Symphonie Beethovens mit den erhabensten Bildervorwürfen. die nur
je die Sätze einer Symphonie gehabt haben und dazu mit der Beihülfe des
schönsten Instrumentes, das existirt, des Chors von Menschenstimmen, ge¬
wissermaßen eine mächtige Chorphantasie über den christlichen
Messentext!
Dabei aber, um auch diese Folge der Sachlage sogleich zu berühren,
hemmt ihn nun in dem freien Ausdruck seiner Empfindung und Anschauung
doch stets wieder ganz ebenso wie einst in der Oper Fidelio eben dieser
Text selbst, das Wort, das unberührt stehen und deutlich ausgesprochen sein
muß. So wird das Ganze trotz aller innig persönlichen Antheilnahme und
allem ernstsrohen Aufwand des besten Könnens, im eigentlichsten Sinne eine
Arbeit, und man spürt wie beim Fidelio die Mühe des Erschaffens, sieht
die Nähte und das Gemachte. Wie denn auch die Aufnahme der hergebrach¬
ten Anschauung hier jene besondere Schreibart, den sog. polyphonen oder
strengen Styl mit sich brachte, der allerdings der Natur des Gegenstandes
entspricht, allein die freie Empfindung, die mit unserer innerlich erschlossener?«
Zeit auch Beethoven theilt und die ihm überall die schönsten Weisen des per¬
sönlichen Ausdrucks lieh, gerade bei diesem erhabensten Stoff am meisten in
ihrer Aeußerung hemmt! Die „bessere Kunstvereinigung," die Beethoven hier
und wohl hier am energischsten sucht, führt ihn dabei nicht viel weiter.
Allerdings, er will der Sache ihr hergebracht unpersönliches Wesen nehmen
und auch in dieser Welt des Ewigen das freie schöne Antlitz menschlicher
Persönlichkeit zeigen. Allein gerade an den schönsten Stellen finden wir ihn
in diesem Bestreben am merklichsten und wohl für ihn schmerzlichsten selbst
gehemmt. Ttefergreifende Einzelnheiten hat das Werk, ja ungeheure, nie ge¬
sehene Momente, die uns mit der ganzen Wirkung der echt künstlerischen In¬
tuition erschüttert in unser Inneres werfen. Und das Schuster- und Schnei¬
dergesicht der landläufigen Messencomposition war durch das Thun dieses
Genius natürlich für immer aus der wahren Kunst hinweggetilgt. Denn
natürlich wenn ein solcher Geist vier volle Jahre sich plagt und selbst am
Ende, wenn auch sicher nur schmerzlich nothgedrungen „bravo sagt," wie soll¬
ten da die deutschen Spuren seines Schauens in die Räthsel unserer Existenz
fehlen? Und diese Momente mögen ihm selbst Ruhe und Erquickung in der
langen Zeit der Arbeit an dem Werke gewesen sein. Arbeit aber, wenn
auch zugleich fruchtbarste Vorarbeit zu einem mehr Wahren und Ganzen in
der Kunst, dessen Keime damals schon lebendig genug vorlagen, zur „Neun-
ten Symphonie." Arbeit war es und blieb es, was hier geschah, nicht
freie künstlerische That. Darum auch währte es so lang, und wir haben
uns hier ebenfalls durch eine ziemlich breit sich hinziehende Einzeldarstellung
durchzuwinden, um dann zuletzt den wirklichen Abschluß dieses „oeuvrs 1s
plus aeeomM", wie Beethoven selbst es genannt, vorwegnehmend, näher
auszuführen, was dasselbe trotzdem für Beethoven und die Kunst bedeutet.
„Als Beethoven 1818 an die Composition seiner 2. Messe ging, ließ er
sich den Text ins Deutsche übersetzen, und auch das Sylbenmaß des Lateini¬
schen bestimmen, wie hier das Lreclo von seiner Hand vorliegt," steht von
Schindler's Hand auf dem betreffenden Schriftstück in seinem Beethovennach¬
laß, und wir wissen, daß dem Meister schon die Aussprache des eleison nicht
sicher war. Jedenfalls aber ward, wenn auch nach den vorhandenen ersten
Skizzen sogleich mit dem ki^i-le begonnen zu sein scheint, der Gewohnheit und
Natur echt künstlerischen Schaffens gemäß, je nach innerer Stimmung das
eine oder andere Stück dieser gewaltigen Bilder unsers höheren Seins vorge¬
nommen, und erst bei der eigentlichen Ausführung, wo des Gleichgewichts der
einzelnen Theile wegen und um die gehörige Abstimmung in das Ganze zu
bringen, von vorn angefangen werden mußte, sind die bezeichnenden Worte
geschrieben, die in der Partitur über dem Introitus stehen: „Von Herzen!
Möge es — wieder zu Herzen gehen!" Es war dies ebenso ein
Bekenntniß des eigenen Antheils an dem viel bedeutsamen Werke wie ein
Aufruf an sich selbst, bei dessen Ausgestaltung treu auszuharren und alle
Hinderung und Schwierigkeit der Ausführung, deren er sich bei dem Entwurf
des Ganzen doppelt bewußt werden mußte, kräftig zu überwinden. Wie denn
solchem Wort des Beginnens auch über die endlich abgeschlossene Arbeit ent¬
spricht: „Meine Hauptabsicht war, sowohl bei den Singenden als Zuhören¬
den religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen"
und daß der Verfasser „dieses sein neuestes Werk für das gelungenste
seiner Geistesproducte hält," beweisen die Aeußerungen, die in Briefen
über Verkauf und Gebrauch desselben vorkommen.
„Gott wird mich erleuchten, daß meine schwachen Kräfte zur Verherr¬
lichung dieses Tages beitragen," dieses Wort gegen den Erzherzog Rudolph,
zu dessen Installation als Erzoischof Olmütz das Werk dienen sollte, läßt
ihn uns also im Beginn des Jahres 1819, der Winterbeschäftigung gemäß,
bei der eigentlichen Arbeit vermuthen. Die verzweifelte äußere Lage von da¬
mals kennen wir. Zur Bedrängnis? in dem Vormundschaftsproceß kam bald
auch wieder materielle Noth. „Erst jetzt kann ich Ihr Letztes vom 18. Dez.
beantworten," heißt es am 30. März gegen seinen Schüler Ferd. Nies in
London. „Ihre Theilnahme thut mir wohl. Für jetzt ist es unmöglich
nach London zu kommen, verstrickt in so mancherlei Umstände; aber Gott
wird mir beistehen künftigen Winter sicher nach London zu kommen, wo ich
auch die neuen Sinfonien (die 9. und die 10.) mitbringe. Ich erwarte
ehestens den Text zu einem neuen Oratorium (Der Sieg des Kreuzes),
welches ich hier für den Musikverein schreibe, welches uns wohl auch in Lon¬
don dienen wird." Also nicht blos die Messe, auch noch solche mächtige
Schöpfungen wie Symphonie und Oratorium hoffte er über den Sommer zu
vollenden. Es mußte also der Hauptentwurf der Messe in seinem Geiste fer¬
tig sein.*)
„Gleich bei Beginn dieser neuen Arbeit schien sein ganzes Wesen eine
andere Gestalt angenommen zu haben, welches besonders seine älteren Freunde
wahrnehmen," erzählt nun in seiner bekannten sog. Biographie Schindler und
rühmt zugleich die „feste Gesundheit" in den Jahren dieser Arbeit. Sie
wurde offenbar jetzt, wie Beethoven selbst schreibt, „durch die Thätigkeit
auch wieder befördert." Denn hier galt es zu einem großen Zweck die Hände
rühren. Gleichwol, oder vielmehr eben deshalb, soll Ries für ihn thun, was
er kann: „denn ich bedarf es." Doch schließt der Brief: „Alles Schöne an
Ihre schöne Frau!! ! Von mir!!!!!" — Die Aussicht zu neuen Thaten
giebt neue Lebensfreude. Das Geld aber soll durch Verkauf der Sonate
Op. 106 und des Quintetts Op. 104 gewonnen werden, die Ries damals
zum „Verschachern" auch nach London zugesandt werden, und zwar mit jenen
renommirten „zwei Noten," die seinem Schüler bei dem Gerücht, welches
mehrmals verbreitet war, anfangs die Idee aufdrängen: „Sollte es wirklich
bei meinem lieben alten Lehrer spuken?" Diese „Kleinigkeit" also war bei all
den „Confufionen" der Lage, von der er damals schreibt, daß sich Ries viel¬
mehr über das, was er hiebei noch leiste, wundern würde, nicht vergessen wor¬
den. Neben all dem trivialen äußeren Treiben geht fast völlig unberührt
oder doch unbeirrt, stets ein tiefes inneres Leben nebenher und rüstig vor¬
wärts! Dagegen giebt er, wenn nur ein ordentliches Honorar dabei heraus¬
komme, die Anordnung der einzelnen „Stücke" der Sonate, die ja doch in
Deutschland nach ihrem eigentlichen Wurf und Plane erscheinen sollte, ruhig
dem Geschmack oder vielmehr der künstlerischen Bildungsstufe der Engländer
frei, und könnte, wenn sie nicht recht sein sollte, auch eine andere schicken!
Nicht einmal einen eigenen Copisten könne er sich halten. „Die Umstände
haben das alles so herbeigeführt und Gott bessre's bis der Erzherzog in einen
bessern Zustand kommt! Dies dauert noch ein volles Jahr" sagt er. „ES
ist gar schrecklich wie diese Sache zugegangen und was aus meinem Gehalte
(vom Erzherzog Friedrich Rudolph und den Fürsten Kinsky und Lobkowitz)
geworden ist. und noch kein Mensch kann sagen was werden wird bis das
besprochene Jahr herum ist." Dabei also fällt die merkwürdige Aeußerung-.
„Die Sonate (Op. 106, die „Kirchensonate" mit dem Gebet im Adagio) ist
in drangvollen Umständen geschrieben; denn es ist hart um des Brotes willen
schreiben, soweit habe ich es nun gebracht! Wegen nach London kommen
werden wir uns noch schreiben. Es wäre gewiß die einzige Rettung für mich
aus dieser elenden drangvollen Lage zu kommen, wobei ich nie gesund, und
nie das wirken kann was in besseren Umständen möglich wäre!" Das war
am 19. April 1819. Am 25. Mai aber heißt es: „Ich war derweilen mit
solchen Sorgen behaftet wie noch mein Leben nicht und zwar durch übertrie»
bene Wohlthaten gegen andere Menschen," — ohne Zweifel gegen die Mut¬
ter jenes Neffen, den ihm sein jüngerer Bruder in Wien hinterlassen, um die
„böse Frau" wenigstens nach dieser Seite hin zu befriedigen. Darum drängt
er Ries auch um „das Honorar aveo on sans Konneur."
Um so erwünschter mußte jetzt die Erneuerung des Antrags der „Musik¬
freunde des österreichischen Kaiserstaats" um ein Oratorium kommen. Ver¬
muthlich hatte die Aufführung von Händel's „Timotheus" im December 1818
die Sache neu angeregt. Man hoffte „für das nächste Jahr ein Werk aus
der Feder unsers genialen Beethovens mit Text von Bernard", schreibt die
Wiener Zeitschrift, deren Redakteur dieser Bernard selbst war, bereits am
1. December 1818. Und zwar sollte es jetzt ebenfalls, „heroischer Gattung"
sein, und der Director Vincenz Hauschka erhält Auftrag, dem Meister für
den ausschließlichen Besitz und Gebrauch desselben auf 1 Jahr, 200 Ducaten
zu bieten. Darauf schreibt Beethoven am 13. Juni 1819 von Mödling aus
den humoristischen Brief an das „beste erste Vereins-Mitglied der Musik-Feinde
des österreichischen Kaiserstaats", mit allerhand contrapunctistischen Schnörke-
leien auf die Worte: „Ich bin bereit"; sagt, er habe kein anderes, als geist¬
liches Sujet, ein heroisches sei ihm auch recht, nur glaube er auch was geistliches
hinein zu mischen würde sehr für eine solche Masse am Platz sein. Folgt
„Amen", wieder mit Noten! „Hr. v. Bernard wäre mir ganz recht, nur be¬
zahlt ihn aber auch, von mir rede ich nicht;" sagt er „da ihr euch schon
Musik-Freunde nennt, so ist's natürlich, daß ihr manches auf diese Rechnung
gehen lassen wollt—!!!!" Dabei wünscht er diesem „Hauschkerl" allerhand
hier unmittheilbare schöne Dinge. „Was mich angeht, so wandle ich hier
Mit einem Stück Notenpapier in Bergen, Klüften und Thälern umher und
Schmiere manches um des Brots und Geldes willen, denn auf diese Höhe
habe ich's in diesem allgewaltigen ehemaligen Fayakenlande gebracht, daß um
einige Zeit für ein größeres Werk zu gewinnen, ich immer vorher so viel
schmieren um des Geldes willen muß. daß ich es aushalte bei einem
großen Werk. Uebrigens ist meine Gesundheit sehr gebessert, und wenn es
Eile hat, so kann ich auch schon dienen. Ich bin bereit."
Das „Geschmier um des Geldes willen", waren die „Varirten Themen"
Op. 105 und 107 für Thomson in Edinburg. Das erste am 6. September
1819 auch von Artaria in Wien angezeigt, das andere im nächsten Frühjahr
bereits in Händen Snnrock's in Bonn. Am 18. August aber quittirt Beethoven
über 400 si. W. W. Vorschuß für das Oratorium. Allein wie er auch am
22. November erwidert, daß ihm selbst daran liege, ein Werk, das dem Verein
Ehre mache, zu liefern, und daß er diese Arbeit wie möglich fördern werde,
der „nach einstimmigem Urtheil beste kritische Kopf" Bernard ist mit seinem
„Sieg des Kreuzes" immer noch nicht fertig, und so wird einstweilen,
was an Zeit. Lust, Kraft und „Hülfsmitteln" in diesem Sommer 1820 zu
gehste stand, auf die Messen arbeit verwendet.
Die Hinderungen werden energisch überwunden. Unterricht und Pen-
sumscorreetur beim Erzherzog Rudolph in diesem Sommer war dabei wohl
doppelt unleidlich. Auch „so vieles Uebel" mit dem Neffen hatte nachtheilig
auf seine Gesundheit gewirkt, und schon im August muß er wieder mediziniren.
Allein ob er dabei „kaum einige Stunden des Tages sich mit dem theuersten
Geschenk des Himmels, seiner Kunst abgeben kann," hofft er doch mit der
Messe zu Stande zu kommen, sodaß selbe am 19., falls es dabei bleibe, könne
aufgeführt werden. „Wenigstens würde ich in Verzweiflung gerathen, wenn
es mir durch meine üblen Gesundheitszustande versagt sollte sein, bis dahin
fertig zu sein," heißt es weiter am 31. August 1819. Und tags darauf steht
im Kalender: „Am 1. September, nur in Dir liegt alles, erwarte keine M—"
d. h- wohl Menschenhülfe. Es beginnt wieder von allen Seiten zu drängen,
am meisten auch wohl von innen, da eben der Gegenstand ihm im Verlauf
der Arbeit selbst über den Kopf wuchs. Im November 1819 schreibt sein
Famulus Schindler offenbar dem Meister selbst zur Notiz in den gleichen
Kalender: „Installation des Erzherzogs am 9. März des nächsten Jahres."
Wenn man nun, „wie ein tapferer Ritter von seiner Feder zu leben" hat, wie
soll ein Werk fertig werden, das schon um seines nächsten Zweckes willen in
jeder Weise vollendet sein muß?
Vernehmen wir jetzt vorerst die Augenzeugen über den „Kampf ums
Dasein" dieses Werkes. Da schreibt zunächst der alte Zelter und zwar an
Goethe am 29. Juli: „Beethoven den ich gern noch einmal in diesem Leben
gesehen hätte, wohnt auf dem Lande und niemand weiß mir zu sagen wo?
Ich war Willens ihm zu schreiben, man sagt mir aber er sei fast unzugäng¬
lich, weil er fast ganz ohne Gehör sei. Vielleicht ist es besser, wir bleiben
wie wir waren, da es mich verdrießlich machen könnte ihn verdrießlich zu finden."
Und dies ist nur natürlich, wenn man in denselben Tagen bei einem Salieri
„das größte Vergnügen findet diesem echten Naturell nachzuschleichen und ihn
immer wahr zu finden, wie er ewig vergnügt ist" und sich eine Messe von
ihm von Jahr 1766 eigenhändig abschreibt, wenn man ferner trotzdem von
Cherubini's neuem Requiem meint, das Ganze erscheine, als wenn einer
beständig und leidenschaftlich nein sage und dazu mit dem Kopfe nicke, und
von Beethoven's Geltung in Wien nur zu sagen weiß, er sei in den Himmel
erhoben, weil er es sich wirklich sauer werden lasse und weil er lebe! Am
16. August hat er denn erfahren, Beethoven sei aufs Land gezogen und nie¬
mand wisse wohin? An eine seiner Freundinnen habe er eben hier (d. h. in
Baden) aus Baden geschrieben und er sei nicht in Baden: „Er soll unaus¬
stehlich maussade sein. Einige sagen er ist ein Narr. Das ist bald gesagt.
Gott vergeh' uns allen unsere Schuld! Der arme Mensch soll völlig taub
sein." Letzthin sei er in ein Speisehaus gegangen: „so setzt er sich an den
Tisch, vertieft sich und nach einer Stunde ruft er den Kellner: Was bin ich
schuldig? — Ew. Gnaden haben ja noch nichts gegessen, was soll ich denn
bringen? — Bring was du willst und laß mich ungeschoren."
In solche Abgeschiedenheit und „tiefste Meditation" drangen dann na¬
türlich auch nur, wie er selbst sagt, „bloße Instrumente, worauf ich, wenns
mir gefällt, spiele." Namentlich Schindler ward damals wenigstens als
„edler Zeuge seiner äußeren Thätigkeit" geduldet. „Es wird mir stets eine
herrliche Erinnerung jener Zeit bleiben, wo ich oft Stundenlang schreibend
dem großen Meister am selben Tische gegenüber saß, als er dieses große
Werk schuf, und die Fuge beim Credo hat mir gar närrische Rückerinnerungen
erweckt", schreibt derselbe 8 Jahre später in die musikalische Zeitschrift
„Cäcilia". „Auch ist es dieser Satz der Messe, der ihn seine Menschlichkeit
im Schaffen fühlen ließ; denn im Schweiße seines Angesichts schlug er sich
Tact für Tact mit Händen und Füßen die Tacttheile, ehe er die Noten zu
Papier brachte, bei welcher Gelegenheit ihm sein Hauswirth die Wohnung
aufkündete, indem die anderen Parteien sich beschwerten, daß ihnen Beethoven
durch sein Stampfen und Schlagen auf den Tisch Tag und Nacht keine Ruhe
gebe; daher sie ihn auch überall für einen Narren erklärten, und wirklich
schien er auch in jener Zeit (es war im Sommer 1819) ganz besessen zu sein,
besonders als er die Fuge und das Benedictus schrieb." Ausführlicher aber
berichtet derselbe Zeuge um 1860: „Gedenke ich der Erlebnisse aus dem
Jahre 1819 vornehmlich der Zeit, als der Tondichter im Hafnerhause zu
Mödling mit Ausarbeitung des Credo beschäftigt gewesen, vergegenwärtige
ich mir seine geistige Aufgeregtheit, so muß ich gestehen, daß ich niemals vor
und niemals nach diesem Zeitpunct völliger Erden-Entrücktheit wieder Aehn-
liches an ihm wahrgenommen habe." Gegen Ende August sei er (Schindler)
mit dem erst kürzlich in Wien gestorbenen Musiker I. Horzalka dort an-
gekommen: „Es war 4 Uhr Nachmittags. Gleich beim Etntritte vernahmen
wir, daß am selben Morgen Beethoven's beide Dienerinnen davongegangen
seien und daß es nach Mitternacht einen alle Hausbewohner störenden
Auftritt gegeben, weil in Folge langen Wartens beide eingeschlafen und die
zubereiteten Gerichte ungenießbar geworden. In einem der Wohnzimmer bet
verschlossener Thür hörten wir den Meister über der Fuge zu Credo singen,
heulen, stampfen. Nachdem wir dieser nahezu schauerlichen Scene lange schon zu¬
gehorcht und uns eben entfernen wollten, öffnete sich die Thür und Beethoven
stand vor uns mit verstörten Gesichtszügen, die Beängstigung einflößen
konnten. Er sah aus, als habe er soeben einen Kampf auf Tod und Leben
mit der ganzen Schaar der Contrapunctisten, seinen immerwährenden Wider¬
sachern bestanden. Seine ersten Aeußerungen waren confuse, als fühle er sich
von unserm Behorchen unangenehm überrascht. Alsbald kam er aber auf
das Tagesereigniß zu sprechen und äußerte mit merkbarer Fassung: Saubere
Wirthschaft, alles ist davon gelaufen und ich habe seit gestern Mittag nichts
gegessen! Ich suchte ihn zu besänftigen und half bei der Toilette. Mein
Begleiter eilte voraus, um einiges für den ausgehungerten Meister zubereiten
zu lassen."
Berichtet nicht Fenophon, bei dem Rückzug der Zehntausend einmal,
Socrates ganze 24 Stunden über einem Problem hängend, an derselben
Stelle stehend gefunden zu haben? Solche geistige und physische Kraftproben
hatte also Beethoven hier unfreiwillig fast ebenso machen müssen! „Xenophons
Reden und Thaten des Socrates 3 si. 30 kr. beim Antiquar in der Current-
gasse", steht auch im Frühjahr 1820 in den Conversationen, und wir wissen,
daß der große Weise des Alterthums ihm auch sonst in Unerschütterltchkeit
„Muster" war. „Unter die Wunderwerke des heil. Benno gehört auch, daß
er noch nach seinem Tode dem Herzog von Baiern im Traum erschienen und
ihm ein Aug' ausgeschlagen", schreibt dort unmittelbar nachher scherzend ein
Unbekannter auf. Daß aber Beethoven selbst jetzt ernstlich genug wie einst
Jakob im Traum mit dem Herrn rang und seine Kraft anspannte, als gälte
es Berge zu versetzen, das werden wir noch an den äußeren Folgen dieser
Sommerarbeit erkennen. Es war wirklich die Sommerhöhe der eigenen
Kraft und eine wahrhaft mächtige Gipfelung des gesammten geistigen Ver¬
mögens, was hier geschah. Er fühlte sich von solch unerhörter Anstrengung
denn auch hinterher förmlich wie an den Gliedern zerschlagen und konnte
nach eigenem Geständniß gegen F. A. Brentano in Frankfurt a. M. am
12. Nov. 1821 zwei ganze Jahre lang nachher eigentlich „für seine Kunst
nicht wieder leben." Aber es war auch, den Spätherbst mit einbegriffen, im
Grunde alle Erzeugungsarbeit an diesem Werke mit diesem Jahre 1819
abgethan.
Einige äußere Begebenheiten aus dieser Herbstzeit besagen nicht gerade
viel, sind uns aber doch von Bedeutung hier. Am 12. September versucht
Zelter wirklich den trübgesinnten Anachoreten in seiner Stille aufzusuchen.
Sie begegneten einander auf der Landstraße von Mödling und umarmten
sich aufs herzlichste. Zelter konnte kaum die Thränen verhalten: „der Un¬
glückliche ist so gut wie taub." Von dieser Zeit an mußten dann die uns
so wichtigen „Conversationsbücher" Regel werden. Man war, weil Beethoven
eben nach Wien fuhr, miteinander auf den Nachmittag zu einer ordentlichen
Zusammenkunft in Steiner's Musikladen im Paternostergässel übereingekommen,
und Steiner hatte dies sogleich bekannt gemacht und gleichsam Gäste gebeten,
sodaß in einem bis auf die Straße überfüllten Raume ein bandes Hundert
geistreicher Menschen gestanden seien. Denn trotz des mannigfaltigen Tadels,
dessen Beethoven sich schuldig mache oder nicht, genieße er eines Ansehens,
das nur vorzüglichen Menschen zugehe. Allein alles wartete vergebens.
Beide Confrontanten hatten in der heißen Tageszeit die Stunde — verschlafen.
Abends im Theater, wo sie einander von fern sehen, — Beethoven liebte,
wie Professor Klöber erzählt, die Plätze „ganz hoch oben, weil man oben die
Ensembles besser höre", — schien ihm mit einem halb Tauben Verständigung
schwer. Beethoven aber entschuldigt sich nach einigen Tagen „aufs beste",
indem er am 18. Sept. liebenswürdig genug schreibt: „Mein verehrter Herr!
Es ist nicht meine Schuld, Sie neulich, was man hier heißt angeschmiert, zu
haben. Unvorhergesehene Umstände vereitelten mir das Vergnügen, einige
schöne genußreiche und für die Kunst fruchtbare Stunden mit ihnen zu ver¬
bringen". Sein Landleben wegen seiner geschwächten Gesundheit, fügt er
hinzu, sei eben nicht so zuträglich Heuer für ihn wie gewöhnlich. Vielleicht
vermöge er noch „übermorgen" ihm mündlich mit aller wahren Herzlichkeit
zu sagen, wie sehr er ihn schätze und wünsche ihm nahe zu sein. Zelter ant¬
wortet selbigen Tags dem „würdigen Freunde, der so vielen Guten Freude
und Erbauung verschafft", mit mehr herzlicher Achtung als nach seinen obigen
Aeußerungen zu vermuthen war.
Gewissermaßen persönlich geknüpft wurde in den gleichen Tagen in
Mödling (nicht in Baden) ein anderes, ein Geschäfts-Verhältniß, das nicht
ohne weitere Wirkung bleiben sollte. Der junge M. Schlesinger von
Berlin ließ sich Beethoven, als sie gerade in jenem Steiner'schen Gewölbe
waren, vorstellen, und ward von ihm aufs Land eingeladen. Bei seiner An¬
kunft hier sah er den Meister „mit Wuth" aus der Thüre des Wirthshauses
treten, ward aber doch nachher in der Wohnung selbst, wo er Beethoven
schon wieder an seinem Schreibpult fand, freundlich aufgenommen
und hörte ihn mit sehr ernster — finsterer Miene sich den unglücklichsten
Menschen von ver Welt nennen - er habe Lust zu einem — Stück Kälbernen
verspürt und es sei keines dagewesen! Schlefinger tröstet ihn, und von
andern Dingen sprechend, d. h. ins Conversationsbuch schreibend, wird er
wohl 2 Stunden festgehalten! Dann eilt er nach Wien und schickt mit dem
gleichen Wagen wohl zugedeckt — den ersehnten Kalbsbraten nach dem nur
2 Stunden entfernten Ort. Am anderen Morgen lag er noch im Bett, da
kam Beethoven, küßte und herzte ihn und sagte, er sei der beste Mensch, den
er je angetroffen: nie habe ihn etwas so glücklich gemacht wie dieses Kälberne
in dem Augenblick, wo er sich so sehr danach gesehnt habe.
So erzählt in etwas orientalischer Selbstgefälligkeit im Jahre 1869
Schlefinger selbst. Beethoven aber mochte an ihm die „vollständige Schul-
und Universitätsbildung" schätzen, die allerdings bei den Wiener Verlegern
damals unerhört war und war überhaupt jeder Aussicht froh, dieser letzteren
los zu werden. Doch sollte er an dem „Juden Schlefinger", dem eben damals
am 21. Sept. ein Erinnerungscanon auf die durchaus confessionslosen Worte
„Glaube und hoffe" geweiht ward, noch ärgerlich genug erfahren, daß zu
einem tüchtigen Musik-Verleger blos norddeutsch-literarische Bildung denn doch
nicht ausreicht. Denn derselbe erhielt außer den Schottischen Liedern Op. 108
die Sonaten Op. 109, 110, 111, von denen die erste schon unter den
Skizzen der Messe in diesem Herbst steht. Die „Sehnsucht nach dem
Kälbernen" aber bestätigt uns nur aufs neue die volle Versunkenhett in die
Arbeit, die wie Dr. Weißenbach's Wort über ihn lautet, „von der Zeit kaum
eine andere Notiz zu nehmen schien, als die ihr Sonne und Sterne mit¬
theilen" und oft erst durch das dringendste Bedürfen wieder an das Dasein
erinnert ward, wo es dann nur natürlich ist, daß das Bedürfniß mit fast
krampfhafter Heftigkeit sich geltend macht. „Wozu soviel verschiedene Gänge?
— der Mensch steht wenig über anderen Thieren, wenn der Eßtisch sein
Hauptvergnügen bildet", bekam Freund Stumpf, der Harfenfabrikant aus
London zu hören, als er im Herbst 1823 mit Beethoven eine luxuriöse
Malzeit einnehmen wollte. Also kann uns Schlesinger's Erzählung zu allem
Andern eher stimmen, als zum Lachen oder gar Belächeln. Das Hervortreten
der Gebundenheit ist in Momenten, wo die Kraft des Menschen mächtig
kühn über die Sinnenschranken hinauszugreifen und dem Ueberirdischen zu
nahen sich abmüht, nur zu mitleidender Wehmuth stimmend. Daher uns
hier die kleine Anekdote nur willkommen sein konnte.
(Schluß folgt.)
„Ganze Jahrhunderte voll mündlicher Ueberlieferungen und ganze Fvlio-
bände voll schriftlicher liegen als verfallene Schachte vor uns, des neuen Be¬
fahrens ebenso würdig als bedürftig." Diese ächt prophetischen Worte Jean
Paul's müssen dem nicht blos auf den Tagesdurchschnitt sondern auch auf
das Werden und Wachsen gerichteten Blick jedes Freundes unserer heimischen
Volkskunde in den Sinn kommen, so oft er eine der nicht seltenen Neuig¬
keiten dieser oben in einem neusten Erzeugnis) berührten, schon zu einer Biblio¬
thek angeschwollenen Literatur in die Hand nimmt. Jean Paul schrieb im
Jahre 1813 „am Himmelfahrtstage" eine seiner genugsam bekannten Vor¬
reden mit ihrer geheimnißvollen Ueberschwänglichkeit und practisch-derben Ver¬
ständigkeit, diesmal zu einem, wohl den wenigsten Menschen von heute je zu
Gesicht gekommenen 2bändigen Buche, das er nach dem jähen Tode seines
von ihm zärtlich geliebten jetzt auch verschollenen Verfassers herausgab, zu
Friedrich Ludwig Ferdinand von Dobeneck's, „des deutschen Mittelalters Volks¬
glauben und Hcroensagen". Damals einzig in seiner Art, hat es durch die ein
Jahr später erschienenen Deutschen Sagen der Brüder Grimm sehr rasch seinen
Lebensboten verloren. Denn diese sind doch die Stammmutter der ganzen
großen Sagenliteratur auf wissenschaftlicher Grundlage und wissenschaftlichem
Standpunkt geworden, wovon wir einen neuesten Sprößling heute den Lesern
vorstellen wollen. Dobeneck und wer auf seiner Bahn weiter ging, hat die
deutsche Mythologie, die deutsche Seelenkunde, die geschichtliche Erkenntniß der
deutschen Volksseele nicht zu fördern vermocht, auch wenn der Wille noch so
gut, der Fleiß noch so eisern war. „Die verfallenen Schachte zu befahren" ist
ein gewagtes Unternehmen, für jeden, der nicht als Bergmann gelernt hat,
und die rechten Bergleute waren damals zwar schon unter der deutschen Feder
nach den verborgenen Schätzen aus. hatten auch wohl einiges Erz — in den
deutschen Kinder- und Hausmärchen, in den Altdeutschen Wäldern und ander¬
wärts — zu Tage gefördert, aber es gab doch nur wenige oder kaum einen
Sachverständigen, der den methodischen Tact ihres Hammers von bald hier bald
dort ansetzenden Schlägen des Dillettantismus zu unterscheiden gewußt hätte.
Erst der Deutschen Mythologie Jacob Grimm's von 183S war es vorbe¬
halten , den Gewinn der bisherigen Arbeit dem überraschten Blicke der Zeit¬
genossen aus einmal vorzulegen und von da ab datiren jene in geometrischer
Progression anschwellenden Ergänzungen des einst so dürftigen, aber völlig
unbekannten Materials, woraus der Altmeister das großartige Gebäude einer
neuen Wissenschaft errichtet hatte. Wie ergiebig der deutsche Boden sei, ahnte
jetzt nicht mehr bloß der Seherblick eines genialen Poeten. Es lag und liegt
handgreiflich für jeden da, in großen und kleinen gedruckten Bänden, die
von den Fachgenossen und weit über die Grenze des Fachs hinaus so ver¬
werthet worden sind, wie sie es von ihrem Lehrer und Führer gelernt haben.
Denn die Zeit, wo man durch ihn so weit gebracht worden wäre, um selner
vergessen und auf eigene Gefahr ganz neue Wege und Ziele verfolgen könnte,
ist noch lange nicht gekommen. Wer heute noch „Deutsche Sagen, Legenden,
Aberglauben, Sitten, Rechtsbräuche, Ortsneckereien, Lieder und Kinderreime,"
alles Bäche aus demselben Quelle, sammelt und verarbeitet, thut es immer
noch so, wie er es von Grimm gelernt hat und zu demselben Ziele, wie er.
Wie überall, so ist auch hier das Forschen und Wissen von dem allge¬
meinen zu dem besondern, von dem ganzen zum Theile gegangen. Erst mußte
das gesammte deutsche Land seine Schätze spenden, wo und wie man sie fand.
Dann aber wurde die Arbeitstheilung eingeführt und die Sammler haben sich
ihre Bezirke nach ihrer natürlichen Heimatszugehörigkeit gewählt. So hat
Birlinger, einer der rüstigsten unter ihnen, Schwaben zu seiner Domäne er¬
koren. Er ist ein geborner Schwabe und durch eine glückliche Fügung des
Zufalls gerade da heimatsberechtigt, wo die zwei Hauptgruppen des Schwaben¬
stammes, die Alemannen von Süden her und die eigentlichen Schwaben von
Norden aneinanderstoßen. So individualisirt wie das gesegnete Schwaben¬
land ist ja kein anderes kerr- und nichtkerndeutsches, und was bei den Ale¬
mannen gang und gäbe ist in Volkssprache, Sitte und häuslichem Leben,
erscheint dem eigentlichen Schwaben, speciell dem Altwürtemberger, als das
arene as ig. oröme des Schwabenthums, mitunter so seltsam fremdartig,
als wäre es hundert Meilen weit gewachsen. Umgekehrt ist es ebenso: über
den Rhein, im eigentlichsten oder in Hochalemannien, bei den Schweizern, wie
sie uns nun einmal heißen, ist „schwäbisch" beinahe so viel wie fremd über¬
haupt, vielleicht oft noch als das wirklich Fremde fremartiger empfunden, weil
aus der Tiefe doch die starke Gemeinschaft des Gesammtschwäbischen oder Ale¬
mannischen Wesens eher abstoßend oder unheimlich als anziehend und an¬
heimelnd wirkt.
Was der schwäbische Boden im weitern Sinn, Alemannien mit einbe¬
griffen, einem scharfen Auge, einer fleißigen Hand und einem unverdrossenen
Wanderschritte bieten kann, immer neues und gutes, zeigt wieder einmal dieses
neueste Erträgniß desselben. Man sollte glauben. Birlinger's „Volksthüm-
liches aus Schwaben" hätte schon vor Jahren alles eingeheimst, was eine ein¬
zelne Arbeitskraft auf ihrem Felde erreichen kann. Denn daß das Feld selbst
damit noch immer nicht abgeerndtet ist, wenn der Einzelne mit ihm fertig zu
sein glaubt, versteht sich von selbst. Aber im Gegentheil, das neue Buch ist
nicht blos zu größerem Umfang angelegt wie das alte, es ist auch reicher an
Gehalt und aus diesem Grunde nehmen wir die Aufmerksamkeit der Leser
wenigstens für einige seiner Gaben in Anspruch.
Man darf es als eine neue Errungenschaft bezeichnen, daß die eigentliche
geschichtliche Sage, wie sie im Volksmund lebt, auch von Seite ihres geschicht¬
lichen Gehaltes tiefere Würdigung und in Folge davon sorgfältigere Beachtung
findet. Nicht als wollten wir kritischen Geister des 19. Jahrhunderts, etwa
wie die Verfasser des Chronicon Novaliciense im 10. oder der Zimmer'schen Chro¬
nik im 16. daraus historische Daten construiren, die neben und an die Stelle
der ächten Geschichtsurkunden der prosaischen Wissenschaft treten könnten.
Solche Versuche sind durch Niebuhr ein für allemal unmöglich gemacht, denn
was für die Siebenhügelstadt gilt, gilt auch für Bopfingen und Reutlingen
und für jede Burg und Stadt auf deutscher Erde. Aber als Zeugnisse, wie
sich die Geschichte im naiven Volksgemüth spiegelt, als Quellen für die Er¬
kenntniß des Wollens und Denkens in der Volksseele sind sie unschätzbar.
Sie zeigen, was wirklichen Eindruck gemacht hat und daher bleibend haften
konnte, während doch das meiste von dem, was dem Gebildeten als Geschichte
gilt und ohne welches er gleichsam sein ganzes geistiges Ich in der Lust
schweben lassen möchte, für das Volk gar nicht vorhanden ist. Sie zeigen aber
auch, wie sich das Volk den Pragmatismus geschichtlicher Actionen denkt und
in der Praxis, wenn es selbst zu einer solchen berufen wäre, sich gebärden
würde.
Wir theilen nach unserer Quelle eine nach allen diesen Seiten hin merk-
würdige Geschichtssage mit: „Als im 30jährigen Kriege Villingen hart be¬
lagert wurde, hatte die gute Stadt einmal die höchste Noth. Die Schweden
setzten mit Hülfe der Beigachschleusen Villingen unter Wasser fast bis zu den
Gipfeln der Häuser. Es sollte ihnen aber doch nicht gelingen: die List eines
Raubmörders von der Burg Salfest hinderte es. Dieser saß zum Tode ver¬
urtheilt im Gefängniß, weil seine Hinrichtung ob der Noth der Stadt verzögert
werden mußte. Als das Wasser immer höher und höher stieg, verlangte er,
vor den Stadtrath geführt zu werden. So geschah es. Er gab an vor dem¬
selben, Villingen vor dem Untergange zu retten, wenn man ihm die Freiheit
schenke. Man versprach's ihm. Er kleidete sich an, fuhr in einem Nachen,
in dem er zwei Fässer hatte, hinab das Wasser den Schleusen zu, wo die
Vorposten der Schweden standen. In einem Fäßchen hatte er Branntwein;
gab den Soldaten dens zu trinken, bis sie einen Rausch bekamen und herum¬
lagen. Jetzt öffnete er das andere Faß, das voll Quecksilber war, und es
durchbrach die aus Grund und Holz gemachten Schleusen; alles Wasser ging
hinaus und Villingen war gerettet: die Schweden zogen ab." So naiv und
gemüthlich geht es nach der Volksgeschichte bei einer Belagerung auf Leben
und Tod zu, etwa so, wie die noch lebende mündliche Tradition in fränkischen
Gegenden sich die noch viel gewaltigere Tragik des russischen Feldzugs von
1812 und der Flucht Napoleon's folgendermaßen zurechtlegt: „Bonaparte"
— so heißt der Mann noch jetzt beim echten deutschen Bauer, „Napoleon"
ist sein tragikomisches Conterfei, der Mann von Sedan —, habe Alles er¬
obern wollen, was noch nicht sein war. Mit seinem Heere sei das ganze
große Feld bet Hof im Voigtlande bedeckt gewesen und Niemand auf Erden
würde ihm Widerstand haben leisten können. Da seien plötzlich Tausende von
Raben mit gewaltigem Gekrächze von allen Seiten geflogen gekommen, hätten
allen Pferden, auf denen die vielen Hunderttausend (sie) Reiter saßen, die
Augen ausgehackt und nun habe das ganze Heer jämmerlich zu Fuße um¬
kehren müssen und mit der Welteroberung war es für diesmal vorbei. Eine
noch drastischere Variation läßt die Raben nicht den Pferden, sondern den
Menschen die Augen aushacken. Daß hier auch nur ein Jota Geschichte ge¬
geben , dürfte schwerlich auch der gläubigste Anhänger der früheren Vermitt¬
lungstheorie behaupten, die sich freilich schämte, einen Tarquinius Priscus
oder Servius Tullius mit Haut und Haaren für urkundlich zu erklären, aber
sich doch auch nicht entschließen mochte, ihn ganz und gar in das bodenlose
Nichts der reinen Phantasiegebilde fallen zu lassen. Zugleich ein Beispiel,
daß auch unsere Zeit noch immer Schöpferkraft genug oder, hören wir unsere
nüchternen Fortschrittsmänner sagen, Schulunterricht zu wenig hat. Doch
thut's dieser nicht allein: in unserem Falle war es noch nebenbei lehrreich,
daß, wie zufällig genau constatirt werden konnte, mehrere der Erzähler und
noch mehrere der Erzählerinnen dereinst eine gute Mittelschule durchlaufen, alle
miteinander Schulunterricht empfangen hatten. Auf Befragen wußten einige
ganz leidlich Bescheid von dem wirklichen Verhält des russischen Feldzugs zu
geben, ohne deswegen an der Wahrheit ihres Glaubens irre zu werden.
Ebenso wie der bekehrte Heide, der sein christliches Lied ganz aufrichtigen
Herzens, aber nicht aus dem Herzen, ZM- even-, wie der Franzose es nennt,
sondern wie es unsere Sprache so unübertrefflich bezeichnet, „auswendig" her¬
sagen und dabei inwendig ganz und gar noch dem alten Wodan und Dauer
gehören konnte. — Daß die Raben des erstem in unserm Beispiel, die
Wunderthäter, die Gottesgesandten zur Bestrafung des menschlichen Ueber¬
muthes sind, wie die oder der Sperling in dem bekannten deutschen Märchen
von dem Fuhrmann und dem Sperling, bedarf wohl keiner Bemerkung. Auch
ein utilitarisch-moderner Rationalist wird sich mit dieser Deutung einverstanden
erklären dürfen: er möge es nur so wenden, daß die Raben hier in wohl¬
bedachten eigenen Interesse gehandelt haben, weil ihnen die verstümmelten
Pferde zur Beute werden mußten.
Von den übrigen historischen Sagen, von den Legenden, von den eigent¬
lichen und direct heidnischen Traditionen, Wuotisheer — so heißt hier das
wüthende Heer mit noch deutlicherer Etymologie — von Zauberei, Hexen, Wasser¬
sagen, von umgehenden Thieren und Seelen von Hauskobolden und Zwer¬
gen, von Schätzen, Wahrzeichen, Besegnungen, abergläubischen Gebräuchen und
was sonst noch in buntester Reihenfolge etwa 450 Seiten füllt, wollen wir
hier nicht weiter reden. Der Sammler hat manches davon in der originell¬
sten Originalfassung, in der Localmundart dem Erzähler gleichsam abphoto-
graphirt, für ihn ein sehr glücklicher Griff, für manchen andern ein sehr ge¬
wagtes Unternehmen. Es gehört dazu nicht blos die natürliche Heimat des
Organs in der Mundart selbst, sondern auch ihre wissenschaftliche Erkenntniß.
Beides vereinigt er, wie alle Kundigen wissen, in seltenem Maße miteinander
und so sind diese „Dialectproben" auch noch von einer andern Seite her will¬
kommene Beiträge für die deutsche Linguistik, wo es, wie bekannt, so seh, an
authentischen oder zuverlässigem Fundamente gebricht. Nur eins noch zum
Schlüsse. In den erläuternden, vermittelnden und deutenden Anmerkungen,
die nach allgemein durchgedrungenem löblichen Gebrauche der Stoffsammlung
das Geleite in die Wohnräume der Wissenschaft geben, hat Birlinger eine
Art von Quellen mit einiger Vorliebe benutzt, die bisher wohl selten und
zu diesem Zwecke fast noch nie herangezogen wurde. Es ist die katholische
Aufklärungsliteratur der zweiten Hälfce des vorigen und des ersten Drittels
unseres eigenen Jahrhunderts. Hier verbirgt sich eine Menge von Material,
das in die Rubrik der Legende, Zauberei, Aberglauben gehört. Die Refe¬
renten, meist Geistliche, standen dem wirklichen Volke so nahe als möglich,
sind aus dem Volke selbst hervorgegangen, lebten in einer Zeit, wo noch sehr
vieles fest und kräftig erhalten war, was jetzt kaum noch dürftige Trümmer
sind. Im übrigen Deutschland ist diese Literatur fast unbekannt und doch ist
sie in Baiern, dem katholischen Oberschwaben, aber auch in Oesterreich unter
dem Josefinismus sehr ausgedehnt gepflegt worden. und damals natürlich
unter dem Schutze der höchsten weltlichen und geistlichen Gewalthaber auch
gediehen. Insofern gewährt sie auch ein allgemein deutsch-kulturgeschichtliches
Interesse von nicht geringem Belang. Meist verstehen die geistlichen Herren
die Feder viel besser zu führen, als man es nach dem Durchschnitt der da¬
maligen süddeutsch-katholischen Literatur erwartet. Ihre Bildung weist auf
den Boden hin, auf die damals und noch heute sehr versteckten Fäden, welche
unsere eigentlich klassische Literatur doch auch bis in diese sonst so abgesperrten
Winkel Deutschlands, kaum mehr eines andern Deutschlands als das des
geographischen Begriffes, gesponnen hatte. Ihr Zusammenhang mit dem
Jlluminatenthum ist unverkennbar, obgleich ihr Datum meist jünger ist und
aus begreiflichen Gründen jede Verkettung mit dieser polizeilich verfolgten'
und zu Tode gehetzten Genossenschaft sorgfältig verborgen wird. Auch sind
ihre Vertreter darin ganz anders, wie die meist aus den weltlichen gebildeten
Ständen hervorgegangenen Illuminaten, daß sie bei all ihrem Hasse gegen
„Pfaffentrug und Volksverdummung" — Ausdrücke, die sehr häufig so oder
in noch drastischeren.Wendungen wiederkehren — sichtlich herzensfromme Leute
und gläubige Katholiken sind. Ungefähr so, wie einst Luther glaubte, für
die Ehre der Kirche eintreten zu müssen, um einen so losen Gesellen wie
Tetzel zu bestrafen, so meinen auch diese der Sache der Kirche durch Denun¬
ciation dessen, was sie schändliche Mißbräuche nennen, bestens zu dienen.
Unsere heutigen Schwarzen von echtem Wasser, unsere bairischen Vorfechter
aller Gnadenacte und Bittgänge, Wunderbilder und Processionen würden
sonderbare Augen machen, wenn sie diese geharnischten Jnvectiven ihrer Vor¬
gänger, auf deren Rechtgläubigkeit damals kein Makel ruhte, zu lesen be¬
kämen. Bekanntlich aber pflegen sie sich mit Lesen das Herz am wenig¬
sten zu beschweren; wollte Gott, sie beschwerten auch Herz und Magen der
anderen ehrlichen Leute nicht mit dem, was sie ihnen gedruckt zu lesen geben!
Von der Ansicht geleitet, daß man in Deutschland mehr als in anderen
Ländern Sinn für wissenschaftliche Bestrebungen habe und der blinden Be¬
vorzugung der eigenen Schriftsteller fernbleibend am meisten einer objectiven
Beurtheilung derartiger Bestrebungen zugänglich sei, hat der Verfasser, zur
Zeit Kaiserlich Russischer Gesamter in Lissabon, sein ursprünglich in franzö¬
sischer Sprache bereits in vier Auflagen erschienenes Werk in Uebersetzung der
Beurtheilung des deutschen Publikums vorgelegt. Ein Theil des letzteren war
bereits vorher auf das geistvolle Buch aufmerksam geworden, welches mit
Recht seit seinem Erscheinen in allen gebildeten Ländern das größte Aufsehen
erregt hat, und des Verfassers Hoffnung, daß seine Theorie in Deutschland
an und für sich werde beurtheilt werden, ohne Rücksicht darauf, daß er bei
Verfechtung derselben einem gerade von deutschen Philosophen begründeten
Irrthum entgegentritt, wird sich um so mehr erfüllen, als jedes Blatt seines
Werkes zeigt, baß er die deutschen Philosophen und Historiker gründlich
studirt und von unserer einschlagenden Literatur die genaueste Kenntniß ge¬
nommen hat.
Die drei ersten Auflagen waren unter dem Titel „Rechtsphilosophie"
erschienen. Der Verfasser motivirt die später bewirkte Veränderung dieses
Titels damit, daß derselbe sich auf eine einzige sociale Idee, die Idee des
Rechts, bezieht, während es seine Aufgabe war, das Dasein zweier verschie¬
dener socialen Ideen, der des Rechts und der der Freiheit darzuthun. Er
führt den Nachweis, daß alle gesellschaftlichen Einrichtungen Producte von
Ideen sind, welche zum Bewußtsein des Menschen entweder gelangen oder
doch gelangen können, und daß es hauptsächlich die Ideen des Rechts und die
der Freiheit sind, von denen die gesellschaftlichen Beziehungen bestimmt werden.
Während nun die deutschen Philosophen als selbstverständlich angenommen
haben, daß diese beiden Ideen identisch sind, führt er aus, daß jede derselben
einen verschiedenen Vernunftgrund zum Ausgangspunkt, jede eine entgegen¬
gesetzte Tendenz habe und eine vollständig verschiedene Gesammtheit von ge¬
sellschaftlichen Einrichtungen hervorbringe, obwohl sie in der Wirklichkeit nie
anders, als in gegenseitigem Verhältnisse erscheinen: und hierin liegt der
charakteristische Zug, der die Doctrin des Verfassers von allen früheren
Theorien betreffs der Thatsachen, auf denen die socialen Beziehungen beruhen,
unterscheidet.
Nach ihm ist das Recht ein Product des vernünftigen Willens, welches
sich demgemäß den Gesetzen der Logik gemäß entwickelt. Die Überlegenheit
des Menschen gegenüber den ihn umgebenden Dingen deutet den Zustand der
Abhängigkeit an, der daraus für diese erfolgt. Das, was man gewöhnlich
unter angeborenem, dem Menschen eigenem Rechte versteht, ist nur angenom¬
men worden, um für alle anderen Rechte einen Ausgangspunkt zu haben,
um die Stelle einer Erklärung des Rechtes zu vertreten. Da es nun den
Gelehrten nicht gelungen ist und nicht gelingen konnte, sich über die ver¬
meintlichen Unrechte zu verständigen, so wurden diese Begriffe in einigen
Verfassungen von den gesetzgebenden Factoren normirt — der Verfasser er¬
innert an die Petition ok rigdt unter Carl I. in England, die Declaration
(vom 4. Juli 1776) des Congrrsses der Vereinigten Staaten, die Einleitung
zur Verfassung Frankreichs vom 3. November 1791 und bez, 24. Juni 1793,
die Publication der Grundrechte des deutschen Volkes vom 21, December
1848 — , die freilich sämmtlich das Recht als ein unbestimmtes Vermögen
hinstellen, welches allerlei Attribute umfaßt, und das Recht und die Freiheit
unbewußt identificiren. Aus der obigen Definition des Begriffes „Recht"
ergiebt sich, daß alle auf das Recht bezüglichen Acte im Zusammenhang mit
der Vernunft stehen müssen; und diese rationelle Bewegung nennen wir die
Idee des Rechtes. Diese letztere stellt sich in jeder Gesellschaft unter der Form
von vielfachen Rechten vor, und das Recht ist also das allgemeine Product,
die Summe der Producte der Idee des Rechtes. In einer vergleichenden
Kritik der von den deutschen Philosophen (Kant. Fichte, Hegel. Herbart und
Stahl) aufgestellten Theorien von dem Rechte und der Freiheit zeigt der Ver¬
fasser, daß alle diese in der Idee der Freiheit das einzig bewegende Princip
der gesellschaftlichen Beziehungen erblickt und die besondere Existenz der Idee
der Freiheit nicht gekannt haben.
Die Gesammtheit der verschiedenen individuellen, sich einander beschrän¬
kenden Rechte pflegt man mit Privatrecht oder Civilrecht zu bezeichnen,
im Gegensatze zu dem neben den Privatrechten sich bildenden, sie alle um¬
fassenden öffentlichen oder Staatsrechte, und dem Völkerrechte,
unter welchem Ausdrucke man die Gesammtheit der Beziehungen zu begreifen
pflegt, die sich zwischen den unabhängigen Gesellschaftsverbänden bilden, sowol
auf der Basis des Rechtes, als infolge einer Verständigung, die sich darüber
zwischen ihnen herstellt.
Hinsichtlich des Civilrechts erwähnt der Verfasser zuerst unter den
Producten der Idee des Rechts als die Grundlage aller positiven Rechte, das
Recht der ersten Besitzergreifung, was allerdings in dicht bevölkerten Gegen¬
den mehr eine theoretische als practische Bedeutung hat. Dem von anderen
Rechtsphilosophen aufgestellten Unterscheidungen betreffs des Rechts in Bezug
auf das Individuum, dem es gehört und in Bezug auf den Zweck, den es
zu verwirklichen strebt, legt der Verfasser ebensowenig Werth bei, als der
Unterscheidung des Personalrechts von dem Sachenrechte. Er behauptet viel¬
mehr, das Recht behalte denselben Werth, auf welches Subject oder Object es
sich auch beziehen möge, und sowohl in dem Personalrechte, als dem dinglichen,
finde man dasselbe geistige Princip, den Willen des Menschen wieder. Eigen¬
thümlich, und unseres Wissens durchaus neu, ist seine Theorie über den ganzen
Theil des Civilrechts, den man gewöhnlich mit Obligationenrecht zu bezeichnen
pflegt. Dieselbe gipfelt in dem Satze: das Civilrecht biete nur drei Haupt¬
modalitäten dar, je nachdem es (das Recht?) beharre, oder auf einen andern
übergehe oder in gemeinsamen Besitz gegeben werde, und es gebe folgerichtig
keinen Nechtsgegenstand, der nicht unter einer der drei Categorien: Darlehn.
Schenkung und Contract begriffen werden könne; denn bei dem ersteren trenne
sich der Besitz von dem Eigenthum, in der Donation gehe das Recht selbst
von einem Individuum auf das andere über, und bei dem Contracte werde
das Recht mehreren Individuen in Gemeinschaft gegeben.
Wir müssen gestehen, daß uns diese Eintheilung mehr originell als dem
inneren Wesen der Sache entsprechend erscheint, und daß uns dieser Theil der
Ausführungen des Verfassers am Wenigsten zugesagt hat. Ja, der Verfasser
macht später sogar den Versuch nachzuweisen, daß auch im Staatsrechte diese
Modalitäten sich wiederfinden, daß in der patriarchalischen Gesellschaft alle
Rechte den Character eines Darlehns haben, in der reinen Republik dagegen
ebenso wie bei der Schenkung das Aufhören des Privatrechts vorausgesetzt
werde, und die feudale und constitutionelle Gesellschaft endlich eine größere
oder geringere Zahl von Contracten zur Grundlage habe, Die Eintheilung
der materiellen Verträge in wesentlich einseitig belastende (Schenkung, Dar¬
lehn, Leihvertrag, Aufbewahrungsvertrag und Bevollmächtigungsvertrag) und
wesentlich gegenseitig belastende (Tausch, Kauf, Miethe, Verlagsvertrag u. s. w.)
scheint uns viel einfacher und natürlicher zu sein, als die gewaltsame Aus¬
scheidung des Darlehns und der Schenkung von den übrigen Contracten.
Die verschiedenen Ursachen, welche die Existenz des Rechts zu vernichten
geeignet sind, theilt der Verfasser in zwei Gruppen, jenachdem sie in der
Sphäre des Rechts auftreten und darinbleiben (Verjährung, Untergang des
Rechtsobjectes, Irrthum) oder von außen hineindringen (moralische oder phy¬
sische Gewalt und Diebstahl).
Die Stabilität des Rechts wird erst dann gesichert, wenn die Idee' des
Rechts sich zur Idee der Gerechtigkeit umwandelt, und dies geschieht,
wenn der Mensch begreifen lernt, daß alle Menschen in Betreff der Uever-
legenheit den anderen irdischen Geschöpfen gegenüber von gleichem geistigen
Werthe sind. Solange die Gerechtigkeit nur im Zustande der Idee existirt,
bleibt sie subjectiv, sie wird aber zur objectiven, sobald die menschliche Gesell¬
schaft mit Hülfe der Gesetzgebung die Aufgabe übernimmt, die Bedeutung der
Idee der Gerechtigkeit zu bestimmen. Letztere stellt sich zuerst in der Theorie als
Gesetzgebung und in der Anwendung als Function der Gerichte dar. In Folge
weiterer Entwicklung erzeugt die Idee der Gerechtigkeit die der vertheilenden
Gerechtigkeit, die sich theils als Criminaljustiz äußert, theils die Auszeichnungen
und die Privilegien umfaßt. In der ersteren Richtung theilt der Verfasser
die rechtsverletzenden Handlungen in Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen
ein, diese in ihrem Grundgedanken auch dem deutschen Rechte und dem Rechts¬
bewußtsein des deutschen Volkes wohlbekannte Dreitheilung, die neuerdings
wieder ihren Weg in das deutsche Neichsstrafgesetzbuch gefunden hat, und hin¬
sichtlich der rechtlichen Begründung des Wesens und Zweckes der Strafe
stellt er eine Theorie auf, welche der von Kant in seinen metaphysischen
Anfangsgründen der Rechtslehre (1797) entwickelten, ziemlich ähnlich ist. Er
fühlt zwar, daß die von ihm verfochten« Annahme, die Strafe sei eine Con-
sequenz des Princips der Retorsion, durchaus aufrechterhalten, zu Absurditäten
führen würde, und beschränkt daher seine Theorie dahin, daß die Größe der
Strafe der Größe des Verbrechens entsprechen solle, übersieht dabei aber nach
unserer Ansicht, daß der Zweck der Strafe vielmehr sowohl in der Tilgung
des Verbrechens durch Bekämpfung des widerrechtlichen Willen?, als in einer
der Schuld angemessenen Genugthuung für das verletzte Recht zu bestehen
hat. Dagegen halten wir für vollständig richtig, was er über die mannig-
fachen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der rechtlichen Begründung der
Strafe sagt, daß nämlich diese Differenzen nicht von gänzlich verschiedenen
Voraussetzungen herkommen, sondern vielmehr ihre Quelle in einer abstractett
Beurtheilung der verschiedenen wirklich existirenden socialen Motive haben,
indem man, statt auf ihren relativen Werth Rückfickr zu nehmen, einem
dieser Motive ausschließliche oder wenigstens prävalirende Wichtigkeit beilegt.
Nachdem der Verfasser hierauf noch entwickelt hat. inwiefern das wesent-
liche Princip der Gerechtigkeit, sobald es nur das Object wechselt, eine neue
Phase der Idee des Rechts hervorbringt, in welcher sie den Namen Autorität,
legitime Autorität, annimmt, und an den Zielpunkt ihrer Entwickelungen
gelangt, zeigt er. daß, sobald das Individuum fühlt, daß es durchaus dem
Rechte eines Andern unterworfen ist. und in ihm der Gedanke wach wird,
diesen Zustand möglichst abzuändern und von seinen Mitteln und Fähigkeiten
nach seinem Ermessen Gebrauch zu machen, die Idee der Freiheit erwacht,
die also keineswegs mit der Rechtsidee identisch ist, im Gegentheile gegen die
Wirkungen des Rechts reagirt. Die dadurch hervorgebrachte Veränderung in
den Ideen wird sodann von der Gesetzgebung fixirt. die gerichtlichen Institu¬
tionen von einem anderen Standpunkte aus aufgefaßt, die Idee der Gerechtig¬
keit wird zu einer Idee der Billigkeit. Verallgemeinert sich das Verlangen
in der Gesellschaft sich von dem Drucke durch das materielle Element des
Rechtes zu befreien, so wird es Streitigkeiten über die Gültigkeit des indivi¬
duellen Rechtes und Kämpfe erzeugen können, die mit dessen Unterdrückung,
demnach auch mit Vernichtung des Privateigenthums endigen können
(communistische Ideen, Socialismus). Wohl zu unterscheiden von den Ideen
des Rechts und der Freiheit, wenn auch mit ihnen verwandt, ist die der
Moral, welche allerdings ebenfalls aus dem Bestrebens die materiellen
Wirkungen des Rechts zurückzuweisen, hervorgeht, sich aber besonders dadurch
characterisirt. daß sie die Überlegenheit des Geistes über die Materie dadurch
aufrecht zu erhalten sucht, daß sie den Geist über die Einflüsse des Körpers
erhebt. Da aber die Moral ihrem innersten Wesen nach nur individuell,
freiwillig geübt werden kann, eignet sie sich nicht dazu, die allgemeine Grund¬
lage der socialen Beziehungen zu werden.
Wir erwähnten schon oben, daß bei dem Überhandnehmen der Idee der
Freiheit dieselbe, auf die Gerechtigkeit angewandt, als Idee der Billigkeit sich
darstellt, welche sich bestrebt, die Gesetzgebung und die Gerichtshöfe, die sich
unter dem Einflüsse der Idee der Gerechtigkeit constimirt haben, durch eine
Gesetzgebung und gerichtliche Institutionen zu ersetzen, die im Sinne der
Freiheit aufgefaßt sind. Freilich ist die Billigkeit so subjectiver Natur, daß
es äußerst bedenklich sein würde, in der Ausübung der gerichtlichen Functionen
sie ohne Weiteres an die Stelle der Gerechtigkeit treten zu lassen, die Ideen
der Gerechtigkeit und der Billigkeit werden vielmehr der Bewegung der
Hauptideen folgen, von denen sie ausgehen, und sich unter sich ebenso combi-
niren, wie es die Hauptideen thun: nur wenn die Billigkeit in gewissen
Schranken bleibt, kann sie zur Ergänzung der Gerechtigkeit dienen, und die
sociale Ordnung auch unter ihrer Herrschaft ungestört bleiben.
Die Freiheit greift, sobald ihre Idee einmal in den Gesellschaftsverband
eingedrungen ist, jedes Recht an, ganz besonders aber auch das Product der
letzten aller Schlußfolgerungen aus der Idee des Rechts, die legitime Autori¬
tät, die unter dem Einflüsse der Idee der Freiheit in ihren Entwickelungen
zuerst beschränkt, dann allmälig geschwächt wird, und endlich auch ganz er¬
lischt. An ihrer Stelle sieht man die legale Autorität aufkommen, welche
nichts weniger als ein Product des Rechtes, ein rationelles Princip zur
Grundlage hat, das sich freilich nur durch Vermittelung der physischen
Gewalt, der Macht der Mehrheit, in der menschlichen Gesellschaft realisirt.
Es erklärt sich dies daraus, daß in der gemäß der Idee der Freiheit gegrün¬
deten Gesellschaft das Gesetz einfach der Ausdruck des herrschenden Willens,
der Majorität, ist, und dieser Wille nothwendigerweise irgend eine Autorität,
eben die legale, im Gegensatze zur legitimen, aus dem Rechte hervorgegangenen
Autorität gründet. Diese Majorität vertritt die herrschende Gewalt: da aber
diese Gewalt als der Ausdruck einer großen Anzahl von vernünftigen Willen
angesehen wird, so muß der davon gemachte Gebrauch ein rationeller sein.
In der Fortsetzung seines Werkes sucht nun der Verfasser die Wirkungen
zu zeigen, welche die von ihm entwickelten Ideen des Rechts und der Freiheit
in der menschlichen Gesellschaft hervorbringen, im Gegensatze zu den einzelnen
individuellen Menschen. Er thut dies vom siebenten Kapitel ab in seinem
Staats recht. Er zeigt, wie die Menschen dazu gekommen sind, sich in
größerer Anzahl zu vereinigen, wie die primitive Familie sich patriarchalisch
constituirt und nicht durch Zeugung allein, auch durch Zulassung von Fremden,
wohl auch durch Gewaltmittel (Krieg) sich vermehrt hat. Das Oberhaupt
einer solchen Vereinigung wird von seinen Untergebenen wie ein mit un¬
beschränkter Autorität bekleideter Vater verehrt, während diese Autorität, die
in der patriarchalischen Gesellschaft nothwendig größere Ausdehnung erreicht,
einen besonderen durch das Gefühl bestimmten Character bewahrt, im Gegen¬
satze zu der in anderen Gesellschaftsverbänden bestehenden Autorität, die sich
oft in Despotismus und Willkür umzuwandeln pflegt. Im Laufe der Ent¬
wicklung der primitiven Familie wird sie vorzugsweise die monarchische
Staatsform annehmen, da das demokratische Princip der Macht der Majorität
mit ihren Neigungen unverträglich ist. Doch ist es auch geschehen, daß diese
aus dem Rechte hervorgegangene Autorität nicht durch Einen, sondern durch
eine aristokratische Körperschaft ausgeübt worden ist, ohne daß sie dadurch
ihren ursprünglichen Typus verloren hätte. Einen Beleg dafür bringt der Ver¬
fasser in den socialen Einrichtungen des alten Rom bis zur Zeit Caesars, deren
Studium nach den Ausführungen des Verfassers am besten die Wirkungen
der Idee des Rechts erkennen läßt.
Im zweiten Theile des Staatsrechts weist der Verfasser nach, wie die Idee
der Freiheit, wenn sie durch fortschreitende Bewegung in der Gesellschaft einge¬
drungen, bewirkt, daß die individuellen Rechte sich zu einem einzigen allgemeinen
Rechte vereinigen und der Wille der ganzen Gesellschaft an die Stelle der ersteren
tritt, wie die Republik entsteht. Diese wird entweder eine aristokratische
oder demokratische sein, je nachdem die Autorität von der Minderheit oder
der Majorität ausgeübt wird. In der einen Republik wird die Gesetzgebung
nicht mehr die Gerechtigkeit zur Hauptregel, zum alleinigen Ausgangspunkte
machen können, da diese nur da anwendbar ist, wo individuelle Rechte
existiren. sondern die Billigkeit wird an deren Stelle treten, d. h. die auf die
socialen Beziehungen angewendete Freiheit. Freilich kann die letztere nicht
im Zustande absoluter Trennung von der Idee des Rechts existiren, sondern
nur durch die Umgestaltungen, die sie das Recht erleiden läßt: denn selbst
wenn alle individuellen Rechte in einer Gesellschaft vernichtet würden, würde
das Recht als solches es doch nicht werden können. Aus diesem Grunde
haben z. B. alle Gesehgeber, selbst die auf der Bahn der Freiheit am
Weitesten gegangen sind, die Institution der Gütergemeinschaft doch nicht
beibehalten können, sondern das Privateigenthum immer wenigstens theilweise
zulassen müssen. Am reinsten hat sich die republikanische sociale Form immer
noch in einigen griechischen Republiken des Alterthums, und besonders in
Athen realisirt, wenn auch die antike Welt ganz präcise Begriffe von der
Freiheit nicht hatte und sie auf den ausschließlichen Gebrauch einer kleinen
Anzahl bevorrechtigter Bürger beschränkte. Das 10. Capitel enthält die
historische Begründung dieser Behauptung in der Darstellung der socialen
Institutionen Athens im Alterthume, und wenn es dem Verfasser nicht ge¬
lungen ist, ein ebenso präcises Beispiel von der Entwickelung der Idee der
Freiheit vorzuführen, wie er es durch seine Darstellung der socialen Institu¬
tionen Roms in Betreff der Entwickelung der Idee des Rechts gethan hatte,
so liegt dies in der Natur der Sache, da die Idee der Freiheit sich nimmer¬
mehr in einem gleichen Zustande der Abstraction zeigen kann, wie es die
Idee des Rechts thut und zu thun im Stande ist.
Aus der Combination der socialen Ideen, die sich einander nicht aus¬
schließen können, sondern in irgend welches Verhältniß zu einander kommen
müssen, ergeben sich zwei verschiedene sociale Formen, die feudale und die
constitutionelle. Die feudale Idee, wesentlich germanischen Ursprunges,
wird durch das Streben constituirt, das Verhältniß zwischen dem Recht und
der Freiheit bis in die kleinsten Einzelheiten mittels Verträgen festzustellen.
An der Hand der Geschichte der Deutschen Kaiserzeit von Giesebrecht und
der Geschichte der Civilisation in Frankreich von Guizot gibt uns der Ver¬
fasser im 11. Capitel eine ausführliche Darstellung der historischen That¬
sachen , welche die Erscheinung der feudalen Gesellschaftsordnung bestimmt
haben, und weist nach, wie das Lehnswesen inmitten aller der Veränderungen,
die es in Deutschland und Frankreich erlitten hat, beständig dasselbe Streben
zeigt, nämlich die Rechte eines Jeden mittelst genauer Stipulationen festzu¬
stellen. Mit dem Falle des Lehnswesens erwachte das Streben, die so ent¬
standenen verschiedenen Verträge möglichst in einer kleinen Anzahl von Ver¬
trägen (Charten) und dann in einer einzigen Charte (Constitution) zusammen¬
zufassen, da diese mehr Bürgschaften der Stabilität darbot als eine große
Anzahl besonderer Verträge. Wir sehen also eine neue Frucht der Combi¬
nation zwischen den beiden socialen Hauptideen in der co nsti kullo ne it en
Idee reifen, und ist die Umwandlung der feudalen in die constttutionelle in
Europa nur durch die Entwickelung unterbrochen worden. welche hier die
reine Monarchie genommen hat. Nur in England ist diese Unterbrechung
nicht in dem Maaße hervorgetreten, wie in anderen Staaten, und dies ist
auch der Grund, warum die englische Constitution die meisten Ueberbleibsel
von Feudalität aufzuweisen hat. (Ueber die englischen Verhältnisse zu vergl.:
Hallam „I'ne Konstitution».!, Listorz' ot Diiglanä.) Schon in geringerem
Maaße ist dies der Fall in der Staatsverfassung, welche sich zwar auf der
Grundlage der englischen entwickelte, aber nicht ohne sich im Sinne der
Idee der Freiheit zu modificiren, der nordamerikanischen Verfassung.
Wesentlich verschieden von diesen Constitutionen sind aber diejenigen, welche
keine andere Grundlage als abstracte Theorien haben und sich ausschließlich
auf den Standpunkt der Ideen der Freiheit stellen, wie die in Frankreich
durch die Revolution hervorgebrachten, auf Grund der Rousseau'schen und
Montesquieu'schen Theorien entworfenen Verfassungen. Die letzteren haben
indeß keine Nachahmung gefunden, und hat man sich vielmehr überall, wo
man constttutionelle Regierungen einführte, die englische Verfassung mehr
oder minder zum Vorbilde genommen, deren Bildung deshalb auch die Auf¬
merksamkeit aller Denker auf sich gezogen hat. Aus ihr ist z. B. von Locke
die Theorie über die Theilung der Gewalten hergeleitet worden, die dann
in Frankreich von Montesquieu und in Deutschland von Hegel weiter aus¬
gebildet worden ist.
Neben den vier socialen Formen der Monarchie, Republik des Feudal¬
staates und constitutionellen Staates sind noch drei andere mehr secundäre
sociale Principien aufgetreten, welche zur Begründung des theokratischen,
wilitairischen und Handelsstaates geführt haben. In dem ersteren dient die
weltliche Autorität der geistigen als Mittel und herrscht die letztere vollständig
vor, wie in dem alten Egypten, wo die Fürsten zugleich Träger der geistigen
und weltlichen Autorität waren, in dem zweiten hat sich der Militärgeist
derart entwickelt, daß er das Uebergewicht erlangt, das Heer darin den
ersten Platz einnimmt und die öffentlichen Hülfsquellen absorbirt, wie in
Sparta, und in dem dritten wird der Handel als eine Hülfsquelle des Reich¬
thums und Glücks für das ganze Land betrachtet und vorzugsweise gepflegt,
wie in Karthago.
Von der Eintheilung der Gesellschaftsverbände in Monarchie, Aristokratie
und Demokratie sagt der Verfasser, daß sie nicht von einer rationellen Ursache
herrühre, sondern auf einem einfachen äußeren Zusammentreffen, auf der
Zahl der mit der öffentlichen Autorität bekleideten Personen herrühre, aber
dennoch die Weihe der Zeit erhalten habe.
Zum Schlüsse folgt eine Besprechung desjenigen Theils des Staats¬
rechts, welcher von den Beziehungen zwischen den unabhängigen Gesellschafts¬
verbänden handelt, dem sog. Völkerrechte. Dasselbe zeigt erst dann den
ihm eigenen besonderen Character, wenn die Staaten sich über ihre streitigen
Fälle gütlich nicht verständigen können. Eine allgemeine Regel der Gerechtig¬
keit kann bei Entscheidung solcher Streitigkeiten nicht Anwendung erleiden,
da die Staaten verschiedene Gesetzgebungen haben, und wirft sich vielmehr
das Princip der Gewalt als letzten Schiedsrichter derselben auf, dem man
den Namen „Krieg" gegeben hat.
Die Berufung an die Entscheidung dieses Schiedsrichters ist mit beson¬
deren Formen bekleidet worden, einen Unterschied zwischen einem gerechten
und einem ungerechten Sieg kennt das Völkerrecht nicht, und bestrebt sich
nur, denselben immer einschränkenderen Bedingungen zu unterwerfen, da es
nach Lage der Sache nicht möglich ist, denselben ganz entbehrlich zu machen.
Das Völkerrecht nimmt also aus Nothwendigkeit die Gewalt als Princip
an, unterwirft dasselbe aber sofort Regeln, die ihm Beschränkung auferlegen.
Im Interesse des gesammten Menschengeschlechtes liegt es, daß der Ent¬
wickelungsgang des Völkerrechts mehr und mehr im rationellen Sinne vor
sich gehe und daß durch seine Vermittlung das Element der Gewalt auf die
beschränktesten Verhältnisse zurückgeführt werde. Die Substanz des Völker¬
rechtes anlangend, so besteht dasselbe zum Theile aus positiven Stipulationen
zwischen den Staaten oder aus Gebräuchen, die sie in ihren Beziehungen
angenommen haben und theilweise aus Principien, die nach und nach von
der Wissenschaft eingeführt und durch die allgemeine Billigung sanctionirt
worden sind.
Wir haben dieser Entwickelung der Principien des Völkerrechts nur hin¬
zuzufügen, daß sich dieselben zuerst und hauptsächlich unter dem Einflüsse
religiöser Ideen gebildet haben dürften, wie sich daraus ergiebt, daß bei den
Alten zuerst gewisse auf Religion und Cultus sich beziehende völkerrechtliche
Grundsätze anerkannt wurden, wie z. B. Achtung des Asylrechts der Tempel
u. f. w, daß im Mittelalter das System des Gleichgewichtes einen wichtigen
Einfluß auf das Völkerrecht ausübte, mit der französischen Revolution eine
neue Epoche in demselben begann, und in dem Pariser Friedensverträge vom
30. März 1856 für den Seekrieg wichtige, von der Theorie längst »erfochtene
Grundsätze als bindende Normen für die vertragschließenden und beitretenden
Mächte aufgestellt wurden.
In Vorstehendem haben wir versucht, die Grundzüge eines Werkes zu
geben, welches den Schriften eines Stahl, de Maistre, Ahrens, Zachariae.
Savigny u. A. über Rechtsphilosophie und verwandte Themen würdig zur
Seite gestellt zu werden verdient, und von dem wir zuversichtlich glauben,
daß sein Studium allen Denkern und Gebildeten einen gleichen Genuß, dieselbe
hohe Befriedigung verschaffen wird, die es uns bereitet hat. So vortrefflich
der philosophische Theil des Buches ist, so sehr er den Scharfsinn und. das
selbständige Urtheil des Verfassers kennzeichnet, so wenig steht ihm der histo¬
rische Theil nach: derselbe bietet uns in der Beschreibung der socialen Ein¬
richtungen Roms. Athens, Egyptens, Spartas und Carthagos eine Reihen¬
folge historischer Studien, denen die Schriften eines Mommsen, Duncker,
Hermann, Curtius u. A. zu Grunde gelegt sind, sowie auch bei Darlegung
der geschichtlichen Entwickelung des Feudalstaates die Forschungen eines
Giesebrecht, Zöpfl, Hauffer, Guizot, bei Darstellung der Geschichte des eng¬
lischen Verfassungsrechtes die Schriften Thierry's und Hallam's auf das Glück¬
lichste benutzt worden sind. Und wenn wir bei Besprechung der Theorie des
Verfassers von dem Civilrechte uns von derselben nicht durchaus befriedigt
erklärt haben, so illustrirt dies nur von Neuem das Dichterwort, daß wenn
ein vollkommener Genuß uns bescheert sein soll, immer noch Etwas zu wün¬
schen uns übrig bleiben muß,
Schon im vorigen Jahre*) haben d. Bl. in Kürze an der Hand der
Quellen dargelegt, wie sich in Frankreich der Staat zur Kirche stellt. Die
heutige Erörterung hat zum Zwecke, speziell derjenigen Verhältnisse zu
gedenken, welche in Elsaß-Lothringen zwischen Staat und Kirche bei den
Bischofswahlen Rechtens waren bis zu dem Zeitpunkte, wo diese Länder
deutsches Reichsland wurden. Die Erinnerung an diese Rechtsverhältnisse
kann für die neuen Reichsbürger wie für die übrigen Deutschen nur von
Vortheil sein. Die Bewohner von Elsaß-Lothringen werden sich bei einer
objectiven Würdigung des früheren Rechtszustandes, bei dessen Darlegung
selbstverständlich ausschließlich französische Geschichts- und Rechtsquellen zu
berücksichtigen sind, selbst zugestehen müssen, daß Seiten des deutschen Reichs
gegenüber der Kirche keinesfalls bisher mehr Rechte in Anspruch genommen
worden sind, als unter den allerchristlichsten Herrschern Frankreichs seit den
Tagen Philipp's des Schönen bis auf Napoleon III. Unsere neuen Reichs¬
bürger werden im Gegentheil, wenn sie den eigenen Geschichtsquellen ihres
früheren Vaterlandes unbefangen Gehör schenken. zu der Ueberzeugung ge¬
langen müssen, daß die Kirche in keinem Staate der Welt weniger eigene
Rechte und eigenen Willen besaß, als in Frankreich s-leben Tagen Gregor's VII.
und in Elsaß-Lothringen seit der Vereinigung dieser Länder mit Frankreich.
Diese Thatsache ist allein schon geeignet, diejenigen Elsaß - Lothringer,
welche danach streben, sich in der neuen Zeit vorurtheilsfrei zurechtzufinden,
über die dermalige Constellation der Parteien in ihrer Heimath mit lebhaften
Bedenken zu erfüllen. Keine Partei der Reichslande hat seit der Occupation
im Jahr 1870, dann in den Jahren der Diktatur, und endlich seit Inkraft¬
treten der Reichsverfassung in den Reichslanden, dem deutschen Wesen hart¬
näckigere und gehässigere Feindschaft gezeigt, als der Klerus. Diese Feind¬
schaft kann aus dem Gefühl einer entwürdigenden Stellung und Behandlung
durch die Reichsregierung nicht entsprungen sein. Denn bis jetzt ist deutscher¬
seits kein Schritt geschehen, welcher den katholischen Klerus der Reichslande
irgendwie in eine rechtlich andere Lage versetzte, als er nach französischem
Staatsrecht zu beanspruchen gewohnt war. Namentlich sind ihm Zumuthungen
der Art, wie sie unter dem zweiten Kaiserreich an der Tagesordnung waren,
um Kanzel und Beichtstuhl, Prälaten und Priester den politischen Zwecken
des herrschenden Regimes dienstbar zu machen, deutscherseits nie angesonnen
worden. Und unter Napoleon III. ist der gesammte katholische Klerus Elsaß-
Lothringens von den Kirchenfürsten bis zum niedrigsten t'rörs iAnorimtm
hinab auf diese Zumuthungen mit einer Freudigkeit eingegangen, welche den
lebhaften Spott der Pariser Presse herausforderte. Ich erinnere mich namentlich
noch mit Vergnügen der geistvollen Persiflage, die Edmond About dem
Hauptredner der Ultramontanen des Elsaß im weil, oorxs iLKisIutik, dem
Deputieren Keller, in einer seiner kleineren Schriften angedeihen ließ, die ich
während der Belagerung von Paris in der Bibliothek meines Quartier¬
wirthes und „oonst'si-t!" vueroe-z in Versailles vorfand. Heute sind diese
inneren Spaltungen natürlich durch den Kilt des gemeinsamen Hasses gegen
den Prussien längst verwischt. Der Deputate Keller marschirt an der Spitze
der Civilisation und gilt für einen der einsichtigsten Abgeordneten seines
Jahrhunderts. Die römische Klerisei, welche den Liberalen des zweiten
Kaiserreichs wegen ihrer gesinnungs- und vaterlandslosen Dienstwilligkeit
gegen den Usurpator so verhaßt war, ist in Elsaß-Lothringen der Stimm¬
führer aller Freiheit und Menschenwürde, und darf im ultramontanen Heer¬
lager Deutschlands und bei den übrigen Reichsfeinden sicher darauf rechnen,
als Schmerzenskind x«F'^c>x^ bemitleidet zu werden. Aber wenn wir auch
nur vier Jahre zurückblicken, und ihren damaligen Rechtszustand mit dem
heutigen vergleichen, werden wir uns vergebens fragen, welche Rechts- und
Ehrenminderung sie erfahren hat? Wir werden die Gewißheit erlangen,^ daß
andere Motive als religiöse oder andere als canonische Bedenken sie an die
Spitze unserer Feinde in den Reichslanden stellen. —
Aber auch für uns Deutsche von Geburt ist eine Rückerinnerung an die
rechtlichen Verhältnisse zwischen Staat und Kirche, die bis zur Erwerbung
der Reichslande durch den Frankfurter Frieden in Elsaß-Lothringen galten,
von höchster Wichtigkeit, weil wir nur bei völliger Vertrautheit mit diesen
Verhältnissen im Stande sind, die definitive zukünftige Auseinandersetzung des
Staates mit der Kirche in den Reichslanden dem frühern Rechte gemäß und
gleichzeitig doch nach den Anforderungen unsrer Staatsinteressen zu treffen.
Auch wir werden durch eine derartige Untersuchung in die günstige Lage ver¬
setzt, mit zweifelloser historischer Sicherheit festzustellen, daß der compacte
Widerstand und Haß des römischen Klerus in den Reichslanden lediglich aus
antideutschen und kurialem Inspirationen hervorgeht, nicht aus religiösen Be¬
klemmungen oder aus Mißbehagen über erlittene Amtseinschränkung. —
Professor Emil Friedberg in Leipzig hat sich nun das Verdienst er¬
worben, in seinem bereits früher eingehend gewürdigten Buche*), die Be¬
setzung der Bisthümer nach französischem Recht, mit spezieller Berücksichtigung der
Diöcesen Straßburg und Metz zum Gegenstande einer besonderen Abhandlung
zu machen. Wenn der Verfasser auch über die Berechtigung dieser Arbeit in
einem Werke, das eigentlich lediglich den Bischofswahlen in Deutschland im
laufenden Jahrhundert gewidmet ist, in seiner Vorrede nur sagt, daß er die
Darstellung dieses Rechtes hier biete, „weil dasselbe für Elsaß-Lothringen
von Bedeutung erschien," so kann doch kein Zweifel an dieser Berechtigung
aufkommen, wenn man die weiten Perspektiven ins Auge faßt, welche die
Erörterung dieser Frage bietet und welche oben angedeutet wurden. Auch in
Betreff der Zeit geht Friedberg bei dieser Abhandlung naturgemäß weit über
die Grenzen unsres Jahrhunderts hinaus. Denn da Ludwig XIV. nach dem
westphälischen Frieden, der Metz definitiv mit Frankreich vereinigte, und nach
der widerrechtlichen Besetzung Straßburgs im Jahre 1681 auch in Betreff deS
Bisthums Straßburg für seine königliche Gewalt ohne weiteres alle die Rechte
beanspruchte, welche er im übrigen Frankreich ausübte, so war es erforderlich,
auch dieses frühere französische Recht eingehend darzulegen. Wir begnügen
uns hier mit wenigen orientirenden Andeutungen.
Die Kurie hat nie daran gedacht, in Frankreich durch die Investitur der
Bischöfe den Lehensverband zu zerreißen, und soweit die französischen Bischöfe
selbst diesen Versuch wachten, hat die königliche Gewalt sie stets energisch
niedergeworfen. Die Könige ihrerseits ließen ihre wiederholten Versprechungen,
den Kapiteln eine freie Wahl der Bischöfe zu gestatten, nahezu ganz unerfüllt,
gestatteten auch in späterer Zeit die Wahl nur nach vorher eingeholter könig¬
licher Erlaubniß (conge ä'^lire) und verlangten, daß der Erwählte vor
seiner Consecration sich vom Landesherrn belehren lasse, ihm den Treu- und
Lehneid schwöre. Gegen päpstliche Reservationen und Taren bestand in Frank¬
reich von jeher auf allen Seiten große Abneigung, und diese Freiheiten der
gallicanischen Kirche sind sowohl im Constanzer Concordat, als in der prag¬
matischen Sanction Carl's III. vom Jahr 1438, in welcher dieser die Be¬
schlüsse des Basler Concils für Frankreich sanctionirte, energisch gewahrt
worden.
Die Könige von Frankreich beeilten sich freilich auch nach Erlaß der
pragmatischen Sanction keineswegs, die Wahlfreiheit der Capitel zu respec-
tiren. Nach wie vor wurden ausschließlich königliche Günstlinge, mit Hülfe
einfacher Nomination Seitens französisch gesinnter Päpste auf die französischen
Bischofsstühle erhoben, und lauter als jemals ertönten die Klagen über
Simonismus und Verweltlichung der Kirchenfürsten in Frankreich. Die
Krone Frankreich hatte unter diesen Umständen ein lebhaftes Interesse daran,
wenigstens den Schein des Rechtes für ihr gesetzloses Verhalten zu erwerben.
Das gelang ihr 1S16 in einem Concordate, welches Papst Leo X. mit
Franz I. schloß, und welches den französischen Königen das Nominations-
recht zu allen bischöflichen Aemtern einräumte. Durch dieses Concordat
wurde das factisch zwar längst gebrochene, aber rechtlich doch noch bestehende
Wahlrecht der Capitel auch ceo Mre; beseitigt. Und aller Widerstand, den
Parlament, Universität und Clerus dieser verhaßten Neuerung entgegensetzten,
bei welcher das Königthum — wir modernen Menschen würden sagen der
Staat — den Löwenantheil davontrug, halfen so wenig, als die ver¬
schiedenen Versuche des Papstes, die nach diesem Concordate ihm belassene
Institution der von den Königen Frankreichs nominirten Bischöfe zu ver¬
weigern. So war das französische Staatsrecht bei der Besetzung einheimischer
Bischofsstühle beschaffe», als infolge des unglückseligen Friedewalder Vertrags
vom 3. Oct. 1551 zuerst Metz (Toul, Kamerich, und Verduri). dann 1K81.
infolge frechen Reichsfriedensbruches, Straßburg an Frankreich verloren
gingen. —
Die Könige Frankreichs haben ihr.durch das Concordat Franz I. er¬
langtes Nominationsrecht auch in Betreff der Bischofswahlen von Metz und
Straßburg energisch geübt, trotz des Widerspruches des Kapitels und der
Kurie. Für Metz gab die Kurie schon 1664 (Alexander VII.) ein Jndult für
die eigenmächtige Besetzung des Bischofsstuhls durch die Krone, welches
Ludwig XIV. indessen erst annahm, als es von Clemens IX. 1683 auf alle
Nachfolger des Königs erweitert worden war. Und in Straßburg ließ schon
1682 bei der Coadjutorwahl der König jedem Wähler eröffnen, daß er den
Prinzen Rohan gewählt wünsche, was denn auch geschah. Auch in der
Folgezeit nahm der Gewählte stets nur an „sous Is bon Mihir Zu vsxs
et an roi".
Wir übergehen hier die von Friedberg eingehender behandelten Rechts¬
formen, unter welchen sich in den Jahren der Revolution, von 1790 an,
die Bischofswahlen in Frankreich und somit auch in den jetzigen Reichslanden
Elsaß-Lothringen vollzogen. Für unsere heutige Stellung zur Kurie ist jenes
von den Wogen der Revolution rasch sortgespülte Uebergangsstadium insofern
von eminenten Interesse, als in der von der ^^öemdlee nationale am 12. Juli
1790 votirten „vousiitution civile an V!el'g6" gradezu ein indirectes Wahl¬
recht der Laien-Gemeinde bei der Besetzung der Bischofs Stuhle sich lega-
lisirt findet, also ein Princip in dem romanischen Staate Frankreich zur
Geltung kam, welches, nach Maurenbrecher's Forschungen, weit mehr als
irgend eine Differenz in den Dogmen, zu Anfang der Reformation eine Ver¬
ständigung der neuen Kirche mit den Vorkämpfern des alten Glaubens,
namentlich mit Karl V. hinderte. Und noch merkwürdiger ist, daß diese für
die katholische Christenheit seltsame Neuerung — bei welcher übrigens der
Staat, namentlich durch die von den Bischöfen zu beschwörende Eidesformel,
seine Hoheitsrechte vollkommen wahrte — trotz des Widerspruches der Kurie,
des Klerus und eines Theiles des Volkes, entschieden gesetzliches Ansehen zu
erringen vermochte, bis in der Napoleonischen Zeit ein anderes Verfahren an
dessen Stelle trat.
Napoleon schloß nämlich im Jahr 1801 ein Concordat mit Pius VII.,
welches die Restauration der katholischen Kirche in Frankreich bewirkte. In
diesem Concordat bestimmte Art. 4, daß der erste Consul zu den damals
vacanten Bisthümern innerhalb drei Monaten von der päpstlichen Circum-
scriptionsbulle an zu ernennen habe, worauf der Papst die Institution
^theilen werde. Nach Art. 5 sollte es ebenso bei künftigen Sedisvakanzen
Schalten werden. Nur wenn der erste Consul Nichtkatholik wäre, sollte nach
Art. 1,7 eine neue Vereinbarung getroffen werden. Hatte Napoleon nun auch
die Vereitung der Bischöfe auf die Staatsgesetze nicht erlangen können, so
wurde doch in Art. 6 der früher beim Amtsantritt der Bischöfe übliche Eid
wiederhergestellt, der, nach der Betheuerungsformel, lautet: „Ich schwöre . .. .
Gehorsam und Treue der durch die Verfassung der Französischen Republik
eingesetzten Regierung. Ich verspreche auch, keine Mitwissenschaft zu haben,
(n'irvoir aueunö intklli^euch), keiner Versammlung beizuwohnen, keine Ver¬
bindung zu unterhalten, inner- oder außerhalb (Frankreichs), welche gegen die
öffentliche Ruhe wäre; und wenn ich erfahren sollte, daß in meiner Diöcese
oder anderswo etwas zum Nachtheile des Staates vorbereitet
wird, werde ich es der Regierung wissen lassen." Gleichzeitig
mit dem Concordate publicirte die französische Regierung indessen noch ein
einseitiges Staatsgesetz, die articles orZan iyues as ig. convention an
26. messiäor an IX. In diesen wurde die Consecration neuer Bischöfe dem
Erzbischof der Provinz und in dessen Ermangelung dem ältesten Bischof des
Districts übertragen. Außerdem bestimmte ein Decret vom 7. Januar 1808,
daß auch zur Erlangung eines Bisthums in Mrtibus für jeden französischen
Geistlichen die Genehmigung des Kaisers erforderlich sei. Die Voraussetzungen
in der Person der Gewählten waren lediglich französische Abstammung
und ein Alter von dreißig Jahren. Indessen sollte vor der Nomination doch
von einem Bischof und zwei Priestern, (welche der erste Consul hierzu
abordnete) eine Prüfung über die Sitten und die Lehre (äoetrinö)
des neuen Bischofs abgehalten und darüber dem Staatsrath Bericht
erstattet werden. Auch durfte der Nominirte seine Functionen nicht an¬
treten , ehe er persönlich den vorgeschriebenen Eid geleistet hatte und seine
Bulle von der Negierung placetirt worden war.
Obwohl nun die Kurie gegen diese organischen Artikel nachdrücklich
protestirte, so hat sie doch der Papst offiziell nie verurtheilt und noch weniger
die französische Negierung sie abgeändert. Im Gegentheil zwang das immer
feindseligere Verhältniß zum Papst den Kaiser Napoleon allmählig auch in
Betreff der Besetzung der Bischofsstühle zu sehr einschneidenden Maaßregeln.
Anfangs, als die Kurie von 1806 an die Institution der italienischen Bischöfe
verweigerte, bis das italienische Concordat von der Regierung werde erfüllt
werden, hatte der Papst die von Napoleon ernannten Geistlichen wenigstens
xroxrio motu, d. h. ohne der kaiserlichen Ernennung Erwähnung zu thun,
instituirt. Nachdem aber Napoleon den Kirchenstaat besetzt, den Papst ge¬
fangen genommen hatte und er selbst ercommunicirt worden war, lehnte der Papst
jede Institution ab, so daß 1809 schon 27 Bischofsstühle unbesetzt waren. Da
griff Napoleon mit Gewalt durch, ernannte den Cardinal Maury zum Erz¬
bischof von Paris und den Bischof von Nancy zum Erzbischof von Florenz
und ließ sie vereidigen und ihr Amt antreten. Ja 1811 berief er ein
Nationaleoneil, welches sich nach langem Widerstande dahin aussprach,
daß der Kaiser die päpstliche Institution für die von ihm
nominirten Bischöfe gar nicht nöthig habe, falls der Papst nicht
innerhalb e Monaten nach erhaltener Kenntniß von der Nomination, instituire.
Der Papst seinerseits bestätigte in einem Breve vom 20. September 1811
nicht nur die Beschlüsse des Concils, sondern er gab sich sogar den Anschein,
als ob dieselben zuerst von ihm selbst angeregt und ausgegangen seien, und
bezeugte seine lebhafte Freude darüber! Napoleon verweigerte indessen die
Annahme des Breve, weil die Pariser Versammlung nicht als Nationalconcil
anerkannt, von Gehorsam gegen den Papst gesprochen wurde u. s. w. Durch
die Versetzung des Papstes nach Fontaineblau veranlaßte Napoleon endlich
am 26. Januar 1813 denselben zur Unterzeichnung eines neuen Concordates,
welches unter Aufrechterhaltung der Bestimmungen des Concordates von
1801 in einem Zusatz zu Art. 4 dem Papst die unbedingte Verpflichtung auf¬
erlegte, innerhalb sechs Monaten nach erlangter Kenntniß von der kaiser¬
lichen Nomination die französischen und italienischen Bischöfe und Erzbischöfe
zu instituiren. Verging das halbe Jahr ohne päpstliche Institution, so sollte
der Metropolitan, und wenn es sich um die Institution des letzteren handelte,
der älteste Bischof der Provinz die Institution ertheilen, so daß kein Sitz über
ein Jahr vacant wäre. Der am 24. März 1813 erfolgte Widerruf des
Concordates und Breve's durch den Papst, und der Gegenzug Napoleon's,
das erstere am 20. März als Staatsgesetz zu verkünden, haben infolge der
heraufziehenden Freiheitskriege ihre letzten Consequenzen nicht erlebt.
Die restaurirten Bourbonen versuchten zwar, in einem Concordat vom
11. Juni 1817, unter Preisgebung des Concordates von 1801 und der or¬
ganischen Artikel, auf das Concordat von 1516 zurückzugreifen. Aber dieser
Staatsvertrag scheiterte an dem Widerspruch der Kammern, und so blieb es
bei dem früheren Staatskirchenrecht in Frankreich, namentlich also bei dem
Nominationsrecht der französischen Regierung und den Bestimmungen der
organischen Artikel des ersten Kaiserreichs. Das Nominationsrecht ist nament¬
lich Napoleon III. nicht streitig gemacht worden, und die Versuche der Kurie,
es der französischen Republik zu entwinden, haben mit einem vollständigen
Rückzug der Kurie geendigt. Sie zeigt uns überhaupt in einer Zeitdauer
von vielen Jahrhunderten immer das Bild größter Nachgiebigkeit, nicht selten
sogar die Bereitwilligkeit zu reiner Selbstentwürdigung, wo ihr gegenüber
die volle Kraft und Energie eines großen Staates entfaltet wird. Daraus
können wir für die Gegenwart viel lernen. Noch klarere Einsicht bietet aber
dieser Rückblick in das Rechtsverhältniß des Reiches zur Kirche in den neuen
Reichslanden.
Unser Kaiser ist Protestant, und somit hat er nach dem Concordat von
1801 keinen Anspruch auf das an die Voraussetzung der katholischen Con-
fession des Souveräns geknüpfte Nominationsrecht. Vielmehr wäre, um ihm
dieses Recht zu verleihen, eine neue Vereinbarung über die Besetzung der
bischöflichen Stühle in Metz und Straßburg erforderlich. Cardinal Antonelli
hat denn auch diese Vereinbarung, nachdem er eiligst das ganze Concordat
von 1801 für Elsaß-Lothringen erloschen erklärt hatte, als nothwendig hin¬
gestellt. Unsere Reichsregierung wird sich indessen von der Nothwendigkeit
dieses Abkommens so wenig überzeugt halten, als von dem Erfolge eines
Versuches auf diesem Gebiete. Wir stimmen deßhalb unserm Gewährsmann
Friedberg vollständig bet, wenn er zum Schlüsse seiner Abhandlung eine „ein¬
seitige staatliche Action" auräth, „die sich nach zwei Richtungen hin zu be¬
wegen hat." „Einmal müsse dem ungesunden Zustande, daß die beiden Bischöfe
von Metz und Straßburg Suffragane des Erzbischofs von Besancon sind,
sowie daß die Diöcesen von Se. Die' und Nancy sich in das Reichsland Hinein¬
erstrecken und so dem geltenden französischen Recht zuwider. Ausländer eine
kirchliche Jurisdiktion ausüben, ein Ende gemacht werden." Zu diesem Zwecke
genüge die Erklärung der deutschen Regierung auf Grund des Art, 6 des
Frankfurter Friedensvertrages, sie werde in Zukunft nicht dulden, daß ein
französischer Geistlicher in Elsaß-Lothringen Amtshandlungen vornehme, und
habe gegen eine Retorsion in Betreff der auf französisches Gebiet übergreifen¬
den Sprengel der Diöcesen Metz und Straßburg nichts einzuwenden. Weiter
verlangt Friedberg, daß allen Geistlichen der bisher dem Bisthum Nancy
angehörigen Districte Saarburg und Salzburg (CtMeau-Salms) und der zu
Se. Die' gehörigen Cantone Saales und Schirmeck deutschen Antheils bei
Strafe jeder amtliche Verkehr mit diesen Bisthümern verboten, und die Er¬
Wirkung einer canonischen Ordnung ihrer Verhältnisse, wie etwa die Zuthei-
lung zu den Diöcesen Metz und Straßburg ihnen lediglich selbst überlassen
werde. — „Weiter", sagt Friedberg, „hat die Regierung gesetzlich zu bestimmen,
es werde niemand auf den bischöflichen Stuhl von Metz und Staßburg zuge¬
lassen werden, der dem Kaiser ungenehm sei und sie behalte sich bei der Be¬
stellung eines Capitularviears das Recht der Genehmigung vor." Wie dann
der bischöfliche Stuhl besetzt werde, ob durch Wiederherstellung des alten
Capitularwahlrechts, oder durch päpstliche Nomination sei ganz gleichgültig,
und die Vereinbarung der beiden Kapitel mit Rom zu überlassen. „Nicht
das deutsche Reich soll deswegen mit dem Papste unterhandeln. Deutschland
wahre vielmehr seine Hoheitsrechte durch einseitige staatliche Gesetzgebung,
soweit sie nicht schon durch die in ihrer Stellung unberührten organischen
Artikel gesichert sind, und führe dieselben auch da durch, wo die Grenzregu-
lirung des Frankfurter Friedens bisher ein Hemmniß bereitet hat."
Gewiß wird die Reichsregierung sich diese practischen, von ebenso großer
Rechtskenntniß als Staatsklugheit getragenen Vorschläge im wesentlichen zur
Richtschnur dienen lassen, wenn einer der darin hypothetisch angenommenen
Fälle zur thatsächlichen Entscheidung steht.
Daß unser Herrenhaus auf die Nationalliberalen nicht gut zu sprechen
ist, habe ich oftmals Ihnen zu beweisen Gelegenheit gehabt. Aber Scenen,
wie sie in unserer Volkskammer am letzten Donnerstag (30. April) sich ab¬
spielten, sind glücklicherweise auch in der ersten Kammer zu den Seltenheiten
zu zählen, und etwa nur den berufenen Catilinarien des Herrn von Zehner
vontiÄ Koch an die Seite zu stellen; in der zweiten Kammer aber geradezu
unerhört. Namentlich unterscheidet sich selbst die beschämendste Sitzung dieser
Art, welche die zweite Kammer gehalten, ihre Verhandlung vom 10. Nov.
1869 über den famosen Abrüstungsantrag der Herren May und Genossen,
welchem der große Krieg Deutschlands gegen Frankreich ein Jahr später ein
so gewaltiges Dementi ertheilte, sehr zu Ungunsten der jüngsten Donnerstags¬
sitzung von dieser letzteren. Denn am 10. Nov. 1869 fielen doch nur die
sog. „Fortschrittsleute" und „Conservativen" unserer Kammer über die bösen
Nationalliberalen her und brachten durch die Vereinigung ihrer sonst so dis-
paraten Kräfte den Antrag der Nationalliberalen zu Fall: die Regierung
möge nur dann auf eine Verminderung der Militärlast im Bundesrathe hin¬
wirken , „wenn die nothwendige Sicherheit und Machtstellung Deutschlands
dies gestattet". Damals, sage ich. schwieg die Regierung. Sie ließ es ge¬
schehen, daß die sächsische Volkskammer., nach Ansicht sehr vieler Politiker,
gegen die Bundesverfassung von 1867, und eingreifend in die Souveränetäts-
rechte der Sächsischen Krone, der Sächsischen Regierung bindende Vorschriften
geben wollte, wie die sächsischen Mitglieder des Bundesrathes sich der bundes¬
verfassungsmäßig bereits festgestellten Militärpräsenzziffer gegenüber herab¬
drückend verhalten sollten. Ob dieses damalige Verhalten unserer Re.
gierung staatsklug war. darauf sind wir nach den Ereignissen, die zwischen
jenem Tage und der Gegenwart liegen, jeder Antwort überhoben. Am letzten
Ultimo dagegen sprach die Regierung. sie verbündete sich durch ihre
Reden mit den Freunden des Herrn Eugen Richter und den beaux rsstes
der Kammermameluken des Herrn von Beust, welche unsere Kammer noch
beherbergt, und die sich conservativ nennen, weil sie in einem Jahrzehnt die
ganze Windrose politischer Ueberzeugungen virtuos durchlaufen haben. Und
die Regierung redete durch das Sprachorgan des Herrn Ministers des Innern
in einer Weise, daß ich nicht anstehe, dem Verhalten der Regierungsvertreter
bei der Verhandlung über den seligen May'schen Abrüstungsantrag vergleichs¬
weise das höchste Maaß politischer Einsicht und Mäßigkeit zu vindiziren. —
Von vorne herein mag hier erklärt werden: ich glaube nicht, daß die
nationalliberale Partei Sachsens durch das gegen sie entrirte Dresdner Baisse¬
manoeuvre des jüngsten Ultimo irgend etwas verloren hat. Diese Partei
läßt sich ja überhaupt nicht, wie so manche andere Fixer an der parlamen¬
tarischen Börse, auf Differenzgeschäfte ein. Sie escomptirt nicht die heutige
oder zukünftige Stimmung der öffentlichen Gunst für einen bestimmten Tag
in ihrem Interesse. Sie macht auch keine Differenzgeschäfte
zwischen Dresden und Berlin. Sie hat seit 1866 ununterbrochen, mit
stets wachsendem Erfolg, überall in Deutschland, von Königsberg bis Köln
und von der Ostsee bis zum schwäbischen Meer sich nur eine einzige Hausse-
Speeulatton erlaubt, überall nur dieselbe Devise gehalten: das Gemeingefühl
der deutschen Nation, die Liebe zum Reich, und den Ausbau der gemeinsamen
Verfassung. — Gescholten und befeindet hat man sie stets auf diesem Wege.
Doch hat sich die Zahl und Gattung ihrer Feinde zusehends
vermindert. Wer spricht heute noch von den Herren Welsen und Kurfürst¬
lichen, von den Herren des „Beobachter" in Schwaben, von den Kreuzzeitungs¬
männern, von den Dalwigkianern, Beustianern („Bundesstaatlich-Constitutio-
nellen") u. s. w., die bei früheren Wahlgängen in Hannover, Hessen,
Schwaben, Sachsen, Preußen u. s. w., den nationalen mit großem Erfolg
den parlamentarischen Sieg streitig machten? In den ansehnlichsten parla¬
mentarischen Vertretungen des Deutschen Reiches, vor Allem im Reichstag,
im preußischen Landtag, in der bairischen Volkskammer, in Schwaben, Hessen,
Baden, Braunschweig u. s. w. bildet diese Partei den ausschlaggebenden Theil
der Parlamente; und mit ihrer Zahl ist ihre staatspolitische Bedeutung stets
im Wachsen gewesen. In Sachsen speziell sind bei den jüngsten Reichstags¬
wahlen soviel Nationalltberale gewählt worden, als Fortschrittsleute und
Conservative zusammengenommen, und unter den Herren, welche lediglich
durch die Mitwirkung der nationalen gegen socialdemokratische Mitbewerber
gesiegt haben, befindet sich z. B. auch — Herr v. Nostiz-Wallwitz, Excellenz.
Eine solche Partei kann schon einmal, wie der Minister uns zugeben wird,
einen Puff vertragen, ohne Schaden zu leiden. Sie kann dies um so eher,
als, wie gesagt, ihre Stellung im Parlamente und im Volke die stärkste und
erfreulichste aller deutschen Parteien unserer Tage ist. Im Reichstage ist sie,
in Verbindung mit der deutschen Reichspartei, die zuverlässigste Stütze der
Reichs- und Kirchenpolitik der Reichsregierung, im preußischen Landtag auch
der inneren preußischen Politik. Ihre Fühlung mit den Frei- und Neu-
conservativen nach rechts, mit dem parlamentsfähigen Fortschritt nach links
ist eine vollständige. Nur die ausgesprochenen Feinde des Reiches und jeder
gesetzmäßigen Entwickelung und Erstarkung des deutschen Staates haben sich
inner- und außerhalb der Kammern den nationalen gegenüber zusammen-
geschaart; die rothe und die schwarze Internationale, und der unbelehrbare
Fortschritt, der die Opposition aus Princip und Beruf treibt. Seit dem
letzten April d. I. ist nun auch der Herr Minister von Nostiz-Wallwitz unter
die Gegner der Nationalliberalen getreten. Wir wiederholen: den Ratio-
malen hat dieser jüngste Feldzug sicher nichts geschadet. Sehen wir uns
zunächst den Kriegsfall', die Kampfweise und die Waffen ihrer Gegner
näher an. —
Am 30. April d. I. stand das Budget der „Leipziger Zeitung" auf der
Tagesordnung der zweiten Kammer. In einer schriftstellerischen Arbeit des
Kgl. Commisfars der Leipziger Zeitung, des Herrn Geh.-Rathes von Witz¬
leben in Leipzig, klagt dieser selbst in beweglichen Worten, daß das Budget
dieser Zeitung im Landtage selten verhandelt werde, ohne die schwersten An¬
klagen gegen die Haltung und Leitung der Zeitung hervorzurufen. Zu
solchen, auch den Leitern des königlichen Blattes nicht mehr ganz ungewöhn¬
lichen Anklagen, an welchen im Jahr 1869 übrigens Männer von allen
Parteien des Hauses und die Vertreter des Regierungstisches Theil nahmen,
war dieses Jahr ganz besonderer Anlaß, da das königliche Blatt vor
der letzten inneren Wahlcampagne den nationalen „den Krieg bis auf's
Messer" erklärt, sie als „ein Unglück für's Land" verschrien, und in zahl¬
reichen Artikeln mit besonderem Behagen auf der äußersten Kante der Reichs-
treue balancirt hatte. Hätte die nationalltberale Partei des Landtags nun
die Absicht gehabt, das Sündenregister der Leipziger Zettung vor dem Lande
zu enthüllen, so hätte es ihr weder an Matertal gefehlt, noch hätte sie dieses
Material in der Stunde, wo es zur Hand sein mußte, vermißt. Aber die
Rede des Abgeordneten Krause, für Streichung des Gehaltes des Herrn
von Witzleben, als tgi. Commissars der Leipziger Zeitung, betonte ausdrück¬
lich, daß die nationale Partei auf diese Fehler des Regierungsorganes nicht
eingehen, der Regierung vielmehr ehrlich und persönlich die Hand reichen
wollte, „um durch Friede und Einigkeit das gemeinsame Werk zu befördern."
Wir können uns eine Reihe sehr achtbarer Motive vorstellen, welche die
nationale Partei zu einer so discreten Behandlung des öffentlichen Aerger¬
nisses veranlaßte, und sie auf die Bitte und Forderung an die Regierung be¬
schränkte: „Sorge zu tragen, daß die Leipziger Zeitung nicht ferner, statt ein
Mittel der Verständigung zwischen Regierung und Bevölkerung zu sein, tag¬
täglich den Samen der Zwietracht im Volk aussäe, die Zwietracht in die
Bevölkerung schleudere." Wir meinen, als solche Motive zu erkennen: den
Ausfall der letzten Reichstagswahlen in Sachsen; das erschreckende Anwachsen
der Socialdemokratie; die in Folge dessen überall durchgedrungene Erkenntniß
von der Nothwendigkeit der Verbindung aller reichstreuen Elemente des Landes
gegen die Reichsfeinde; die dieser Erkenntniß conforme Haltung der Regierung
seit dieser Zeit; die bekannte öffentliche Einigkeitsmahnung des Ministers
von Friesen nach den Wahlen; den Eintritt der in die Luft gefallenen Glieder
der seligen freien Reichspartei, der Abgeordneten Günther, Ackermann, Schwarze,
Pfeiffer :c. in die den nationalen gesinnungsverwandteste Partei des Reichs¬
tags, die deutsche Reichspartei; den Beitritt des Ministers v. Nostiz-Wallwitz
zu derselben Partei; last not least die frohmüthige Erinnerung an die eben
geschlossene Reichstagssession, in welcher die conservativen Mitglieder des
sächsischen Landtags, Günther, v. Könneritz u. s. w,, und der Herr Minister
v. Nostiz-Wallwitz in engster Bereinigung mit den Nationalliberalen das
Militärgesetz dem Reiche retteten, solchen großen gemeinsamen Erfolgen
gegenüber, mochte in der That der im wesentlichen durch die Leipziger Zeitung
verschuldete innere Hader gut und gern vergessen werden können. Und Jeder¬
mann, der Krause's Rede hörte, erwartete Seiten des Ministers freudiges
Einschlagen in die dargereichte Friedenshand um so zuversichtlicher, als die
Regierung bei einer näheren Besprechung der Sache rückhaltslos hätte zu¬
geben müssen — und auch zugegeben hat — daß die Königlich Sächsischen
Staatsbeamten, welche die Leipziger Zeitung beaufsichtigen und leiten, An¬
griffe und Ausdrücke in die Leipziger Zeitung aufnehmen und bezw. stehen
ließen, welche der Minister auch am 30. April nicht zu rechtfertigen wagte,
sondern wiederholt „mißbilligte" und als „Tactloflgkeiten" bezeichnete. Und
wie hat der Minister geantwortet? Wir folgen im Nachstehenden dem
Kammerbericht des offiziellen Dresdner Journals, nach welchem der Minister
v. Nostiz-Wallwitz wörtlich sagte: „Ich möchte nichts (!) weniger versöhnlich
sein als er (Krause). Ich bin zur Versöhnlichkeit jederzeit geneigt, allein
diese Großmuth kann ich nicht acceptiren." Wir dürfen wohl unsern Lesern
selbst überlassen, ob sie aus dieser Antwort auf Krause's Rede etwas An-
deres herauszulesen vermögen, als die Erklärung, daß der Minister Is coeur
leger sich trotz der Versöhnlichkeit des nationalen Redners, diese Gelegenheit
zu einem Angriff auf die nationale Partei keinesfalls entgehen lassen wollte!
Und zu welchem Angriff!
Von dem Vertreter der Krone, der dauernden, und darum über dem
Wandel der Menschen, Zeiten und Tagesleidenschaften erhabenen Staats¬
gewalt, hätte man auch bei einem Angriff zwei Dinge billigerweise voraus¬
setzen dürfen: möglichste Objectivität und ordentliche Begründung. Wie es
aber damit bestellt war, zeigen die eigenen Worte des Ministers mit einer
Deutlichkeit, die kaum eines Kommentars bedarf. Der Herr Minister beklagte
zunächst, daß unsere öffentlichen Verhältnisse seit 1866, daß die politische
Presse beinahe ausschließlich in den Händen einer Partei, der nationalliberalen,
gewesen. Die Rechte begleitete diese Aeußerung mit dem Rufe „sehr wahr",
wobei sie, mit dem Herrn Minister, wohl die Leipziger Zeitung, das Dresdner
Journal, die Dresdner Nachrichten und die circa 80 noch aus Beust's Zeiten,
und im letzten Jahr von neuem, wohlvinculirten Amtsblätter für nichts rech¬
nete. Dann fuhr der Minister fort: „Dadurch, daß die nationalliberale
Presse den Grundsatz erhoben hat. oder wenigstens dahin verstanden
worden ist <!) daß Niemand das Reich liebe und Anhänger des Reichs sein
könne, der nicht bereit sei, un geprüft Landesrechte zum Ofer zu bringen
(lebhafter Beifall); dadurch daß vielfach (!) der Glaube erweckt worden
ist, man könne nickt treuer Anhänger des Reiches sein, wenn
man gleichwohl den festen Vorsatz habe, die Treue, die man seinem
Landes Herrn und Stammland gelobt hat, unverbrüchlich zu halten,
dadurch ist es vielen erschwert worden, sich mit der Wärme den Interessen
des Reiches hinzugeben, als sonst zu erwarten gewesen wäre." Wir stellen,
zu Gunsten des Ministers, die Logik und den Stil dieses Satzes vollständig
außer Frage; aber das Eine bitten wir uns, auf die vor dem ganzen Land,
vor ganz Deutschland der nationalen Presse — zu der sich Ihr Blatt ja auch
zählt — ins Gesicht geschleuderte Anklage allerdings nachdrücklichst aus:
Beweise! Wann, wo, und in welchem Organ hat die nationale Presse den
Grundsatz erhoben oder „hat wenigstens so verstanden werden können", daß
niemand reichstreu sei, der nicht un geprüft Landesrechte zum Opfer bringe?
Wann, wo und in welchem Organ hat die nationale Presse dem hoch- und
landesverrätherischen Satz auch nur in einem erkennbaren Schatten Ausdruck
gegeben, daß die Treue zum Landesherrn unvereinbar sei mit der Treue
gegen das Reich? Wir fordern Thatsachen und Beweise von dem Herrn
Minister für diese Insinuationen und erklären seine Aeußerungen, solange als
er diese Beweise nickt erbringt, für wahrheitswidrige öffentliche Verleumdungen
der nationalen Presse und Partei.
Die weiteren Aeußerungen des Herrn Ministers können wir — wirklich
nur zu seinen Gunsten — übergehen. Er zog z. B. zur Begründung seiner
Anklage weiter an: das Programm der nationalliberalen Partei vor den inneren
Wahlen, das übrigens fast ein Jahr zurückliegt, und wobei mindestens die
Gerechtigkeit erfordert hätte, daß der Herr Minister auch auf die Wahlaufrufe
der nationalen bei den jüngsten Reichstagswahlen z. B. auf die zu Gunsten
seiner eigenen Candidatur erlassenen, einen Blick mit geworfen hätte. Aus
jenem vorjährigen Wahlaufruf wollte Herr v. Nostiz-Wallwitz ableiten, daß
die nationale Partei der Regierung vorgeworf-n habe, „sie drohe zugleich dem
weiteren Ausbau der Reichsverfassung Schwierigkeiten in den Weg zu legen".
Der Herr Verfasser mußte aber am Schlüsse der Verhandlung selbst zugeben,
daß er sich in dieser Auslegung des Wahlaufrufs geirrt habe. Der Herr
Minister behauptete ferner zur Unterstützung seiner Anklage: „Gleichzeitig oder
beinahe zu gleicher Zeit, in. H., wurde in frecher Verhöhnung der Landesfarben
ein schales Witzblatt an den Privatsäulen der zweiten Stadt im Lande in
grünen Lettern auf weißes Papier gedruckt angeschlagen, und die national-
liberalen Blätter erzählten in ihren Spalten dieses Factum nicht etwa, um
es zu brandmarken, wie es gebrandmarkt zu werden verdient, sondern ohne
jede Nebenbemerkung, um ein interessantes Vorkommniß zu referiren. (Pfui,
pfui! rechts. Darauf schallendes Gelächter links.)" Auch diese Behauptung
widerstreitet, nach meinen genauen Erkundigungen, in allen Theilen der that¬
sächlichen Wahrheit. Das betreffende Witzblatt selbst ist nie angeschlagen
worden, am wenigsten an „Privatsäulen", welche „die zweite Stadt'des Lan¬
des" gar nicht besitzt, sondern angeschlagen wurde lediglich eine fingirte
Abonnemenrseinladung auf das betr. Witzblatt, die so absolut harmlos und
geschäftsmäßig lautete, daß die Meisten im Ernste glaubten, die „Sächsische
Zeitung" sei wieder auferstanden und suche sich Abonnenten einzufangen. Es
gab also hier durchaus nichts zu „brandmarken". Am wenigsten aber kann
die nationale Partei und Presse für diesen Einfall einer humoristischen
Leipziger Gesellschaft, die ohne politische Tendenzen ist, von dem Herrn Mi¬
nister verantwortlich gemacht werden. Wenn endlich der Vertreter der Staats-
reqierung zur Begründung seiner Anklage in seiner Replik noch auf eine
öffentliche Aeußerung eines „hervorragenden Parteimitgliedes" (des Herrn
Prof. Birnbaum) über das Verhältniß der nationalen Partei zu den Einzel¬
staaten Bezug nahm, die ausdrücklich betont, „daß die Vernichtung der Ein¬
zelstaaten" zur Realisirung der Zwecke der Partei des Redners „nicht gehört,
und daß die erfreulichste Seite unsrer jüngsten politischen Entwickelung die
sei, daß das Opfer der Selbständigkeit der Einzelstaaten nicht nothwendig
wurde", so möchten wir zunächst wohl erfahren, was an dieser Erklärung dem
Herrn Minister nicht „sehr beruhigend für die Einzelstaaten (!)" erscheint, oder
inwieweit er sie für geeignet hält, als Beweis für seine Insinuationen gegen
die Ziele und Absichten unsrer Partei zu dienen. Aber noch eine näherliegende
Frage drängt sich dabei auf. Ist ein einzelnes Parteimitglied die Partei
selbst? Hat die Partei solidarisch zu haften für jede Aeußerung des einzelnen
Gliedes? Der Herr Minister möge sich wohl bedenken, die Frage zu bejahen.
Wir könnten ihn an sehr unliebsame Aeußerungen seiner Parteigenossen in
der Dresdner Kammer von? 18S7 bis 1866 erinnern, die doch immerhin offi¬
zielle Aeußerungen von Genossen in amtlicher Thätigkeit, nicht Erklärungen
von Privaten vor Gesinnungsgenossen waren. Wir würden dann ferner auch
geneigt sein, ihm ins Gedächtniß zu rufen, daß von einem seiner Berliner
Fractionscollegen der Antrag ausging, das Bild des Landesherrn auf den
Reichsmünzen zu entfernen, und daß einer der bösen NattonaUiberalen diesen
Antrag bekämpfte. Wie konnte der Herr Minister, der Advocat der Soli-
darhaft aller Parteigenossen für die Ansicht eines Einzelnen, in'^eine^so lebe
Fraction eintreten?!
Die Frage, wie sich die öffentliche Meinung zu diesen Angriffen und be¬
weislos gelassenen Anklagen des sächsischen Ministers gegen die stärkste Partei
Deutschlands und Sachsens zu stellen hat, ist keineswegs eine rein sächsische,
und deßhalb ist sie hier eingehend angeregt worden. Zunächst wird sich, wie
f. Z. in dem Fall v. Zehner-Koch, die Berliner Fraction des hohen Red¬
ners darüber schlüssig zu machen haben, ob sie mit einem Manne, der in
solcher Weise und aus solchen Gründen die ihr befreundetste Fraction ver¬
unglimpft, Interessengemeinschaft genug besitzt, um auf die Fortdauer seines
Verhältnisses zu ihr Werth zu legen. Aber auch das ganze übrige Deutsch¬
land, alle reichstreuen Parteien haben ihr Urtheil über diese Vorgänge ab¬
zugeben; und wie dasselbe ausfallen wird, ist im Voraus gewiß.
Ueber die Aufführung der beiden linken Bundesgenossen des Herrn Ministers
gegen die nationalen, des Herrn Abgeordneten Walter und des Abgeordneten
Wigard nur zwei Worte. Der Herr Abgeordnete Walter führte bei dieser
Gelegenheit zur Charakterisirung seines politischen Standpunktes an, „er habe
sich bemüht, frei dazustehen, ohne einer Partei anzugehören". Ihm boten die
jüngsten schweren Sorgen der Nation über das Zustandekommen des Militär¬
gesetzes die Veranlassung zu der eben so wahren als feinen Bemerkung: „wenn
der Concertmeister in Berlin den Tactstock erhebe, brülle der ganze Chor",
und: dem Gerede vom „preußischen Reptilienfonds sei noch nie widersprochen
worden." Der Abgeordnete Wigard dagegen hat schon in seinen kräf¬
tigsten Mannesjahren, im Frankfurter Parlament, als er in den Verfassungs¬
ausschuß gewählt wurde, aus dem Munde Dahlmann's das gesprochene
Albumblatt für sich heimgebracht: „Gott sei Dank — Wigard, da wissen
wir doch auch, was der gemeine Mann sagt." Nun, wo dieses Verstandes¬
maaß fern geworden, wird kein nationaler sich gekränkt fühlen, wenn Herr
Wigard ihn der „Opferung des Budgetrechts des Volkes (!)" und der
„Hündelei" bezüchtigt — ohne übrigens hierbei auf irgend einen Ordnungsruf
Seiten seines Freundes und Gesinnungsgenossen, des Präsidenten der II. Kammer
Dr. Schaffrath zu stoßen. Diese Handhabung der Geschäftsordnung wird
vielleicht einem künftigen Historiker, der einmal die Geschichte der Völker
südlich von den Eskimos im neunzehnten Jahrhundert schreiben wird auch
In dem Art. „Italienische Briefe" von Prof. Angel» de Gubernatis in Florenz S. 177 fg.
sind, trotz der Revision, leider folgende Druckfehler stehen geblieben:
Es giebt nicht leicht einen gegenstandsloseren Streit als den durch die
neulich bekannt gewordenen beiden Briefe des Grafen Arnim neuentfachten,
ob in dem gegenwärtigen Kampfe Deutschlands mit Rom die ultramontane
Partei oder Fürst Bismarck der angreifende Theil gewesen sei. Jedermann
weiß, daß es der römischen Kirche nicht gegeben ist, auf die Herrschaft dieser
Welt zu verzichten. Jedermann weiß deshalb auch, daß sie in Folge dessen
zu allen Zeiten mit den anderen weltlichen Mächten die ernstlichsten Zusammen¬
stöße erfahren hat, und daß es keinen Staat der Erde giebt noch geben kann,
mit dem sie in ungestörtem Frieden zu leben vermöchte. Dieser Friede dauert
überall nur so lange, wie der Staat sich nachgiebig den kirchlichen Forderungen
fügt, oder wie er durch kräftigen Ernst und durch gebietende Macht dem
päpstlichen Stuhle Achtung einzuflößen vermag. So oft ein bisher willfähriger
Staat sich aus seine eigenen Rechte besonnen hat, oder so oft eine bisher
feste und willensstarke Regierung ins Schwanken gerathen ist, hat sie stets
einen Kampf mit Rom zu bestehen gehabt, dessen Dauer, Heftigkeit und
Ausgang wesentlich von dem Eindruck abzuhängen pflegt, den man in Rom
von der nachhaltigen Kraft des Gegners gewinnt. Die preußische Regierung
nun war drei Jahrzehnte hindurch gegen alle berechtigten und unberechtigten
Forderungen Roms gefällig und schwach gewesen. Sobald sie zu der Einsicht
kam, daß es auf diese Weise nicht länger gehe, daß sie dem siegreichen Vor¬
dringen Roms auf weltlichem Gebiete, daß sie seinem Einfluß aus die staat¬
liche und gesellschaftliche Ordnung Grenzen stecken müsse, war der Kampf un¬
vermeidlich geworden. Dieser Fall trat ein mit der Beendigung des franzö¬
sischen Krieges. Fürst Bismarck mochte ihn schon lange vorausgesehen haben;
aber so lange ein Kampf mit dem westlichen Nachbar noch in Aussicht stand,
durfte er die überkommene Nachgiebigkeit gegen Rom nicht aufgeben. Daß
sie seinem ganzen Character Und seiner sonstigen Politik widersprach, hatte
man sich aber ohne Zweifel auch in der Curie längst gesagt; und sowie man
ihn daher frei sah von den Fesseln, die ihn bisher noch gehemmt, rüstete man
sich selbst zum Kampfe. Diese Rüstung, die in der Bildung einer katholischen
Partei am unverhohlensten ans Licht trat, spielte sodann in dem entstehenden
Conflicte ganz dieselbe Rolle, wie Rüstungen sie in den Kriegen weltlicher
Mächte überhaupt zu spielen pflegen. Sie war nicht sowohl die Einleitung
zum Kriege, als vielmehr selbst für sich schon der erste kriegerische Act. Aber
hätten die Ultramontanen mit ihr auch gezögert, der Streit würde doch aus¬
gebrochen sein. Der nächsten Anmaßung von ihrer Seite war die ent¬
schiedenste Abwehr von Seiten der Regierung gewiß, und solcher Anmaßungen
sich zu enthalten, war für die römische Kirche in Preußen unmöglich, wenn
sie nicht ein weites Machtgebiet, das sie in den letzten Jahrzehnten still¬
schweigend erobert hatte, ohne Vertheidigung Preis geben wollte. Und das
ist bekanntlich nicht ihre Art. Vor einem Menschenalter hatte sie über den
preußischen Staat einen glänzenden Sieg davon getragen; und nicht zufrieden
mit den günstigen Bedingungen, die sie damals beim Friedensschluß er¬
zwungen, hatte sie dem gedemüthigten Gegner auch während der Friedenszeit
immer neue Rechte abgerungen und abgeschlichen. Wenn das erstarkte Preußen,
wenn das neu erstandene deutsche Reich sie in diesem Besitze gelassen hätte,
so wäre das eine schwere Versündigung gegen die bürgerliche Freiheit seiner
Angehörigen, es wäre ein freiwilliger Verzicht auf einen Theil seiner staat¬
lichen Vollgewalt gewesen. Diese Vollgewalt oder Omnipotenz, wie die
Centrumspartei zu sagen liebt, gilt es jetzt dem Staate wieder zu erringen,
und wir dürfen in diesen Kampf eintreten mit der festen Hoffnung auf den
Sieg, sofern wir uns immer, auch in der Hitze des Gefechtes klar darüber
bleiben, daß es sich nur um eine Vollgewalt auf staatlichem und nicht auf
religiösem Gebiete handelt.
Daß der Kampf trotzdem kein leichter sein werde, darüber gab man sich
auf unserer Seite ja von vornherein keineswegs schmeichlerischer Selbsttäuschung
hin; im Gegentheil wird der Ernst des Streites weit häufiger übermäßig
stark betont. Gewiß ist auch in diesem Falle zu große Vorsicht rathsamer
als übertriebene Zuversicht, und Niemand wird unseren Staatsmännern und
Volksvertretern anrathen wollen, nach französischem Vorbilde mit leichtem
Herzen in die Fehde einzutreten. Dennoch kann es Nichts schaden, wenn
man den Feind des Nimbus zu entkleiden sucht, in den er gehüllt ist, und
der keinen geringen Theil seiner Stärke bildet. Diesen Nimbus verdankt er
seinen früheren Siegen, unter denen der über den preußischen Staat beim
Regierungsantritt Friedrich Wilhelm's IV. uns, nicht blos der Zeit nach, be¬
sonders nahe liegt. Es wird sich nicht leugnen lassen, daß von den ver¬
schiedenen Stadien dieses „Kölner Kirchenstreites" sich im Allgemeinen nur
eine sehr schwache Kenntniß im Publicum fortgepflanzt hat, daß eigentlich
nur das für Preußen demüthigende Ende, der völlige Sieg der Curie, als
Gesammteindruck zurückgeblieben ist. Wäre dem nicht so, stünde uns die
lange Reihe Fehler, deren sich die preußische Regierung damals schuldig machte,
deutlicher vor Augen, so würden wir auch wissen, daß nur unsere Schuld und
nicht die überlegene Macht des Gegners uns jener Zeit den Sieg entrissen
hat. So mag es denn nicht unzeitgemäß sein, die Aufmerksamkeit des Lesers
gerade jetzt wieder auf jenen vielfach interessanten Abschnitt der preußischen
Geschichte zu lenken und ihn durch ruhige Darlegung der Thatsachen zu
einem eigenen Urtheile aufzufordern.
Eins hatte der Staat im Kampfe mit Rom zu den Zeiten unsrer Väter
vor uns voraus: die Phalanx der Katholiken, vor Allem der Geistlichen und
der Bischöfe war lange nicht so geschlossen, wie sie es heute, trotz der alt-
katholischen Bewegung, leider ist. Das Zeitalter der Aufklärung hatte auch
in der römischen Kirche seine Früchte getragen. Allerdings konnte der
Rationalismus in ihr nicht so tiefe Wurzeln schlagen wie in der evangelischen
Theologie, aber ein weites Gebiet hatte er sich doch auch hier erobert. Er¬
lebte man es doch in Wien, daß ein katholischer Professor vom Katheder
herab die Gottheit Christi leugnete; las man doch in einer Zeitschrift, die
unter der Leitung Wessemberg's, des Generalvicars von Constanz, erschien,
daß die Lehre von der Brotverwandlung ungereimt und die vom Fegfeuer
fantastisch, daß die Anrufung der Heiligen Aberglaube und die Verehrung
der Bilder Abgötterei sei. Katholische Gelehrte arbeiteten mit protestantischen
um die Wette an der Prüfung der Aechtheit biblischer Bücher, und katholische
Theologen vermaßen sich, die Wahrheit der Kirchenlehre nicht aus ihrer Natur
als einer geoffenbarten, sondern aus philosophischen Systemen zu erweisen.
Unter ihnen galt als Haupt und Führer der Professor Hermes, der bis 1820
in Münster und dann in Bonn wirkte, und einen so bedeutenden Einfluß
übte, daß alle seine College» in Bonn sich zu seiner Lehre bekannten und die
Mehrheit der Geistlichen in der Rheinprovinz seinen Spuren folgte, daß Erz-
bischöfe und Bischöfe zu seinen Freunden und Beschützern gehörten. Und
nicht blos in der Wissenschaft machte sich diese reformatorische Richtung
geltend; neben ihr her ging eine andere, welche vor Allem die Gebräuche der
katholischen Kirche bessern und eine Annäherung an den Protestantismus
suchen wollte. Nicht ganz selten waren die Fälle, daß katholische Theologen,
ja daß ganze Gemeinden mit ihren Geistlichen ihren Glauben verließen, so
die Zillerthaler in Tirol, die Gemeinde Karlsbad auf dem Donaumvose in
Baiern, der badische Pfarrer Henhöfer mit den Seinigen u. s. s. Andere be¬
gnügten sich damit auf eine nationalere Form des Katholicismus zu drängen,
so Wessemberg, indem er den deutschen Kirchengesang forderte, oder die schle-
sischen Pfarrer, welche die deutsche Messe verlangten. Besonders machte sich
eine lebhafte Opposition gegen das Cölibat der Geistlichen geltend. Einzelne
katholische Pfarrer verheiratheten sich eigenmächtig, andere begannen, z. B. in
Schlesien oder in der Diöcese Trier eine lebhafte Bewegung für die gesetzliche
Abschaffung desselben; die süddeutschen Kammern erhielten fast in jeder
Sitzungspertode Petitionen in diesem Sinne, darunter eine, die von mehr als
156 katholischen Priestern unterschrieben war, und zu deren Gunsten der
badische Landtag einen Beschluß faßte. Sehr verbreitet war die Begünstigung
der gemischten Ehen und fast nirgends wurde die Bedingung, unter der allein
Rom sie gestattete, streng inne gehalten: die Forderung des Versprechens,
daß alle Kinder katholisch erzogen werden sollten. Auch ein freundschaftlicher
Verkehr mit den protestantischen Geistlichen war mehr die Regel als die Aus¬
nahme. Zwischen gleichartigen Richtungen beider Confessionen fand sogar
eine sehr lebhafte gegenseitige Beziehung statt, so in den mystisch-pietistischen
Kreisen, denen auf katholischer Seite vorzugsweise der Regensburger Bischof
Salter angehörte. Nicht unerwähnt darf endlich auch bleiben, daß es nicht
an solchen katholischen Prälaten fehlte, die ohne jedes religiöse und kirchliche
Interesse sich in behaglichem Wohlleben gefielen und zu allem eher bereit
waren, als zu einem Märtyrerthum für ihre Kirche. Ein wenig erfreuliches
Bild dieser Art zeichnet uns z. B. Perthes in einem Briefe aus Münster,
der mit Abscheu von einem Bacchanal geistlicher Herren erzählt, in dem nach
seinem Ausdruck, bis 2 Uhr Morgens gesoffen wurde. Wenn solche Geist¬
liche dem Katholicismus weder zur Ehre noch zum Segen gereichten, so
waren sie andererseits doch auch die allerletzten, die den Frieden zwischen den
Confessionen gestört hätten.
Gegenüber dieser Laßheit in sittlicher, dogmatischer und kirchenpolitischer
Hinsicht bildete sich natürlich auch ein beträchtlicher und in seinem innersten
Kerne ehrenhafter Widerstand heraus, der in mannigfach verschiedenen Farben
spielte. So lebten in Münster die Brüder von Droste-Vischering. Der eine
von ihnen war Bischof und trotz seiner persönlich strengen Ansichten doch
durchaus versöhnlich; der zweite, Clemens August, verfocht schon 1817 in einer
eigenen Schrift die Rechte der Kirche gegenüber dem Staate, und berief sich
als General-Vicar von Münster, bei seinen der Regierung mißliebigen Schritten
auf das Gebot des heiligen Geistes in seinem Innern. Er lebte in fort¬
währendem Kampfe mit der Regierung und besonders mit dem Ober¬
präsidenten von Vincke, wo denn ein Eisenkopf gegen den andern stand, bis
der friedfertige Bischof endlich seinen Bruder durch einen anderen General-
Vicar ersetzte. In den Rheinlanden war der Hauptvorkämpfer des kriegerischen
Katholicismus Joseph Görres, jener fantastische Patriot voll leidenschaftlicher
Beredsamkeit, dessen Rheinischen Merkur Napoleon für eine Großmacht er¬
klärt hatte, und dessen Ideal ein deutsches Kaiserreich mit deutschen Kirchen¬
fürsten wie in den Zeiten vor 1806 war. In ihm. dem wir, später noch
einmal begegnen werden, waren Religion und Politik vollkommen zur Einheit
verschmolzen. Begeisterung für den Katholicismus und Haß gegen das
protestantische Preußen nur die entgegengesetzten Pole desselben Gefühles.
Als vorgeschobener Posten stand er in vielfacher Berührung mit dem Haupt-
quartier der katholischen Preußenfeinde, das sich in Frankfurt am Main ge-
bildet hatte und in seiner Mitte besonders einige bedeutende Convertiten,
wie Friedrich von Schlegel, Brentano, die Brüder Schlosser u. A. zählte.
Sie hatten, so kann man wohl sagen, Fühlung mit Allem, was auf die
Wiederbelebung des strengen Katholicismus hinarbeitete. Sie kämpften gegen
Wessemberg, der eine deutsche Nationalkirche unabhängig von Rom zu gründen
strebte, und gegen Salier, der nach einer Gemeinschaft der Heiligen aus allen
Confesstonen trachtete. Sie kämpften für äußere und innere Kräftigung des
Clerus durch Begründung von Bibliotheken und Vermehrung seiner Ein¬
künfte. Sie arbeiteten an dem, was sie Freiheit der Kirche nannten, indem sie die
Bisthümer direct unter Rom stellen und so einrichten wollten, daß sie möglichst
wenig mit den Landesgrenzen zusammenfielen, so daß ein deutsches Ländchen
aus Theilen von drei, vier Bisthümern und ein Bisthum aus Theilen von
drei, vier Ländern bestände. Sie begünstigten ganz besonders auch das
Wallfahrtswesen, die Wunderthäter und Wundererscheinungen. die in nicht
geringer Zahl in diesen Jahren zum Troste der Gläubigen ans Licht'traten.
Die ganze, während des napoleonischen Scepterthums zu Grabe getragene
Mirakelwelt mußte wieder auferstehen. Die alten wunderthätigen Mutter¬
gottesbilder wurden neu costümirt mit Seide, Wachsperlen, echtem und Mode¬
gold, der ganze Reliquienapparat wieder hervorgeholt und abgestäubt; mit
Fahnen und Gesang setzten sich die bisher verbotenen Processionen in Be¬
wegung, und die Wallfahrtsstädte und Mirakelorte jubelten Hosianna. Der
mystischen Romantik, die bis in die zwanziger Jahre eine so weite Verbreitung
hatte, war solche Umwandlung eine wahre Herzensfreude und ihre Häupter
suchten mit Emsigkeit nach Wundern und Wunderthätern, die sie verherrlichen
könnten. Die Gräfin Stolberg vertrieb in Münster ihre Gnadenheller und
Wunderpfennige, welche die Mutter Gottes einer Nonne im Traume über¬
geben haben und deren Heilkraft sich vom Husten und Schnupfen bis zum
Podagra, ja zur Cholera erstrecken sollte. Clemens Brentano pries die
Nonne von Dülmen, die Jahre lang von Nichts als Wasser und geschabten
Aepfeln lebte und jeden Freitag — zwei practische Aerzte bezeugten es —
aus den Wundenmalen des Herrn blutete. Mehr noch als sie, war das
tyroler Wunderfräulein Marie von Mörl begnadigt; denn an jedem Freitag
war es ihr vergönnt, den Todeskampf des Heilandes zu durchleben, um die
dritte Stunde zu sterben und mehrere Minuten todt zu bleiben. Das größte
Aufsehen von allen Wunderthätern erregte jedoch der Fürst Alexander Hohen-
lohe mit seinem Begleiter dem Bauern Martin Michel, der die Gräfin von
Schwarzenberg von ihrer Lahmheit und den Kronprinzen von Baiern von
seiner Schwerhörigkeit heilte, bis endlich die Polizei sich trotz des hohen
Patienten ins Mittel legte und dem Unfug ein Ende machte.
Derselbe romantische Zug, welcher dies Mirakelwesen förderte, veranlaßte
auch zahlreiche Bekehrungen von Protestanten zum Katholicismus; neben
Dichtern, Gelehrten und Künstlern, deren Zahl nicht gering war, gelang es
auch zwei deutsche Fürsten, den Herzog Friedrich von Gotha (noch als Erb¬
prinzen) und den Herzog von Köthen mit seiner Gemahlin zu bekehren. Der
letztere ging dann sogar soweit, sich in sein protestantisches Ländchen sechs
Bettelmönche zu verschreiben, die weitere Propaganda machen sollten. Den
intimeren Verkehr mit Rom vermittelte in Deutschland der Nuntius in
München. Bei ihm liefen die Klagen über unrömisches Wesen katholischer
Prälaten aus ganz Deutschland zusammen und er erledigte sich seines Amtes
mit so viel Eiser, daß z. B. der Erzbischof von Cöln die Hülfe des preußischen
Gesandten in Rom anrufen mußte, um den Anschwärzungen, die gegen ihn
erhoben wurden, zu entgehen. Die Fäden, welche von München aus ge¬
sponnen wurden, gingen bis in das preußische Cultusministerium, wo der
Geh. Rath Schmedding das eifrige Werkzeug der päpstlichen Partei und zu¬
gleich in katholischen Kirchensachen der einflußreichste Mann war, während
sein College, der Herr von Buksdorff seinen Uebertritt zu der alleinselig¬
machenden Religion jesuitisch zu verheimlichen wußte und unbekümmert fort¬
fuhr, evangelische Angelegenheiten zu bearbeiten, darin dem evangelischen Ober¬
hofprediger Stark in Darmstadt vergleichbar, der bekanntlich erst auf dem
Todtenbette sich als wirklicher Jesuit entpuppte.
Die Jesuiten aber standen im Hintergrunde dieser ganzen Bewegung,
da offen hervorzutreten ihnen noch nicht vergönnt war. Denn obgleich
Pius VII. sie 1814 wiederhergestellt hatte, so waren sie doch, außer in Neapel
und Sardinien, nur in Spanien und einigen schweizer Cantonen zugelassen
worden, und fanden selbst in Oestreich erst seit 1836 Aufnahme. Die Politik
der päpstlichen Curie aber beherrschten sie schon setzt vollkommen. Den Muth,
oder wenn man lieber will, die Dreistigkeit, mit der sie vorgingen, kann man
nicht umhin zu bewundern, wenn man bedenkt, daß sich das Papstthum so
gut wie der Orden eben erst vom tiefsten Falle wieder aufgerichtet hatten.
Pius VII. selbst mußte eingestehen, daß er den akatholischen Fürsten, be¬
sonders von Rußland und Preußen, zum guten Theil seine Wiedereinsetzung
zu danken habe. Gleichwohl lag ihm Nichts ferner als durch freundliches
Entgegenkommen ihnen seinen Dank zu beweisen. Die Lage der katholischen
Kirche in Preußen und in ganz Deutschland bedürfte dringend einer Neu¬
gestaltung; denn die alten Formen derselben waren mit dem Untergange des
Reiches zu Grabe getragen und man konnte nicht daran denken, sie einfach
wieder ins Leben zu rufen. Daß der Papst sich den Anschein gab, als ob
er dies doch für möglich halte, und daß er auf dem Wiener Congreß kurz
und gut die Erneuerung des alten römischen Reiches deutscher Nation und
die Herstellung der geistlichen Staaten, die 1803 beseitigt waren, forderte,
erregte doch überall nur mitleidiges Lächeln. Auch fügte man sich in Rom
in das Unvermeidliche und begann mit den. deutschen Staaten Unterhand¬
lungen über die künftige Stellung der Staatsgewalten zu der päpstlichen
Kirche. Da der deutsche Bund in seiner Gesammtheit mit dieser Frage nichts
zu schaffen hatte, so verhandelten Preußen. Baiern und Hannover jedes für
sich, während die meisten übrigen Staaten sich in Frankfurt darüber ver¬
ständigten, gemeinsam vorzugehen. Nur Baiern brachte seine Verhandlungen
schon 1817 zum Abschluß, indem es mit großer Bereitwilligkeit den päpst¬
lichen Forderungen nachgab, und ein Concordat abschloß, durch welches der
römischen Kirche alle die Rechte gewährleistet wurden, die sie nach göttlicher
Anordnung und den canonischen Satzungen zu genießen habe. So wurde die
Erziehung der Geistlichen ohne jede Controlle des Staates den Bischöfen an¬
vertraut; es wurde ihnen die Ueberwachung der Volksschulen übertragen;
ihre Strafgewalt unterlag keinen Beschränkungen; ihr Verkehr mit Rom war
jeder Kenntnißnahme der Regierung entzogen; Bücher, die sie für unchristlich
und gefährlich erklärten, mußten vom Staate unterdrückt werden, und jede
Veränderung dieser und der übrigen Bestimmungen des Concordats, ja jede
Auslegung und Deutung derselben wurde von der Zustimmung des Papstes
abhängig gemacht. Der inhaltsschwere Sinn dieser letzten Verpflichtung trat
schon nach kaum einem Jahre an den Tag, als Baiern seine Verfassung er¬
hielt und der Papst gegen diese protestirte und den Geistlichen verbot, dieselbe
zu beschwören, weil durch sie das Concordat verletzt werde. Gegen solche
Anmaßung lehnte sich zwar zuerst selbst der gut katholische König auf, aber
nach mehrjährigen Verhandlungen fügte er sich und gab die s. g. Erklärung
von Tegernsee ab, daß der Eid auf die Verfassung zu nichts verpflichte, was
den katholischen Kirchensatzungen entgegen wäre. Solche Erfahrungen und
Beobachtungen waren nicht geeignet, Preußen und die anderen deutschen
Staaten zum Abschluß von Concordaten geneigt zu machen. Sie begnügten
sich vielmehr damit, Vereinbarungen über die Zahl, den Umfang, die Do¬
tation und die Besetzung ihrer Bisthümer mit dem Papste zu treffen, und
die s. g. Circumscriptionsbullen, in welchen dieser das Nöthige anordnete,
Unter Vorbehalt ihrer Majestätsrechte und der Rechte ihrer evangelischen
Unterthanen zu bestätigen. Preußen than dies 1821, Hannover 1824. die
übrigen Staaten, welche zu der s. g. oberrheinischen Kirchenprovinz vereinigt
wurden 1821 und 1827. Das Ergebniß war die Begründung von 15 Erz-
bisthümern und Bisthümern in dem nichtöstreichischen und nichtbairischen
Deutschland. Vier davon fielen auf das westliche Preußen, das Erzstift Köln
mit den Bisthümern Trier, Münster und Paderborn; vier auf das östliche:
Breslau, Ermeland, das Erzstift Posen-Gnesen und Culm; zwei auf Hannover:
Hildesheim und Osnabrück; fünf auf die oberrheinische Kirchenprovinz: Frei¬
burg als Erzbisthum und als Bisthümer Mainz, Fulda, Limburg und
Rottenburg. Die Wahl der Kirchenfürsten wurde fast überall den Dom¬
capiteln überlassen mit der Bedingung, daß sie keine dem Landesfürsten un¬
genehme Person und keine Ausländer wählen dürften. In der That ge¬
langten denn auch auf fast alle Stühle Männer, die mit ihren Regierungen
in friedlichem Einvernehmen zu wirken wünschten und verstanden. Hinsichtlich
der Bischöfe im westlichen Preußen werden wir das noch weiterhin sehen;
auch sonst fehlt es aber nicht an Belegen dafür. Es möge nur ein recht
deutliches Beispiel angeführt werden. Am 30. Juni 1830 richtete Papst
Pius VII. an die fünf Bischöfe der oberrheinischen Provinz ein bittres Klage¬
schreiben darüber, daß sie gegen gewisse angebliche Uebergriffe ihrer Regierungen
keine Schritte gethan, und nicht einmal ihm, dem Papste davon Anzeige ge¬
macht hätten; ja er schuldigte den einen derselben an, diesen Neuerungen
durch Beifall und Beihülfe Ansetzn und Kraft verliehen zu haben. Die Klage
war so unbegründet eben nicht; denn die Regierungen waren so weit ge¬
gangen, wie nur je sonst eine Regierung; sie hatten, um nur Eins hervor¬
zuheben, die sämmtlichen Einrichtungen der katholischen Kirche zwar bestätigt,
aber mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, diese Bestätigung jederzeit auf gesetz¬
lichem Wege zurücknehmen zu können, ohne darüber erst mit der Kirche zu
verhandeln. Dennoch hatte das eindringliche Ermahnungsschreiben des Papstes
nur bei dem Bischof von Fulda so viel Einfluß, daß er sich zu einem Protest
bei seiner Regierung verstand; die anderen vier hielten es nicht einmal einer
Antwort für werth; ja der besonders scharf getadelte Bischof von Mainz
fuhr fort, seine Regierung in ihrer Haltung zu bestärken und der von Rotten¬
burg stimmte als Mitglied der würtembergischen Kammer gegen den Antrag
eines Laien, der die Minister auffordern wollte, jene vom Papste gerügten
Neuerungen wieder aufzuheben. Wenn man solche Thatsachen bedenkt oder
auch die andern, daß der Bischof von Regensburg 1818, trotz des päpstlichen
Verbotes, den Eid auf die bairische Verfassung ablegte, so empfindet man
doppelt stark den Umschwung, der seit jenen Zeiten in der Haltung des
deutschen Episeopates sich vollzogen hat.")
Auch die preußische Regierung stand damals mit allen ihren Bischöfen
im besten Einvernehmen; aber auch mit der päpstlichen Curie hatte sie sich
auf einen recht guten Fuß gehest. Die Summen, welche sie 182t für die
Ausstattung der Bisthümer bewilligte, waren so reichlich ausgefallen, daß
sie hinter den kühnsten Erwartungen nicht zurückblieben. Obendrein hatte der
König während den Verhandlungen und bei der Bekanntmachung unumwun¬
den erklärt, daß er diese Bewilligungen nicht als eine der römischen Kirche
erwiesene Gnade, sondern als die Erfüllung einer wohlbegründeten Verpflich¬
tung ansehe, und hatte obendrein versprochen, vom Jahre 1833 ab, wo die
Preußischen Domänen zum Theil wenigstens aufhörten, als Hypothek für die
Staatsschulden zu dienen, Waldungen und andern Grundbesitz den Bisthü-
mern als Eigenthum zu überweisen, damit dessen Ertrag an die Stelle der
einstweilen jährlich baar zu bezahlenden Unterhaltungssummen trete. Papst
Pius VII. nahm denn auch gar keinen Anstand, das Verhalten des preußi¬
schen Königs als wunderbar zu bezeichnen und einzugestehen, daß gegen einen
katholischen Fürsten, der sich protestantischen Wünschen gegenüber so willfährig
gezeigt hätte, das Verdammungsurtheil nicht ausbleiben könnte. Auch von
seinem Nachfolger Leo XII. erzählt uns Bunsen, daß er, Hände und Augen
zum Himmel erhebend, die besondere Gnade der Vorsehung gepriesen habe,
die sich in diesen Maßregeln Preußens kund gebe. Auch was der König im
Einzelnen nach und nach für die katholische Kirche besonders in den Rhein¬
landen that, mußte zum Danke stimmen. So gründete er dort zwei große
katholische Priesterseminare; er verbesserte, zum Theil aus seiner eigenen Kasse,
die Gehalte der am schlechtesten bezahlten Geistlichen; das Budget für den
katholischen Clerus der rheinischen Lande stieg zwischen 1813 und 1838 von
163.000 auf 2S9,000 Thaler; der König persönlich steuerte von 1824 bis
1836 165,000 Thaler zum Ausbau des Kölner Domes bei; er genehmigte
die Abhaltung von Processionen auch in Orten mit gemischter Bevölkerung;
er gestattete, daß die Zahl der Festtage, die in der französischen Zeit auf
vier außer den großen Festen beschränkt war, auf vierzehn erweitert wurde;
er verlieh den Bischöfen den Rang der ersten Staatsbeamten; er errichtete
und fundirte in der einen Provinz binnen zwanzig Jahren 41 neue Pfarreien;
weder den schlesischen Geistlichen, die für Abschaffung des (Zölibates und für
Einführung der deutschen Messe agitirten, noch dem Professor Hermes in
Bonn wurde seitens der Regierung Ermuthigung zu Theil; ja nach Bonn
schickte das Ministerium aus eigenem Antrieb (denn der Erzbischof Spiegel
war ein eifriger Gesinnungsgenosse von Hermes) einen Professor von ortho¬
doxrömischer Lehre, um diese nicht unvertreten zu lassen — alles Handlungen,
die bei dem streng evangelischen Monarchen doppelt zwingend den Beweis
führten, wie ernst er es mit seiner Regentenpflicht auch gegenüber den religiösen
Bedürfnissen seiner katholischen Unterthanen nahm.
Andrerseits war er deshalb aber durchaus nicht gewillt, der römischen
Kirche auf Kosten seiner Souveränitätsrechte oder seiner evangelischen Unter¬
thanen eine Erweiterung ihres Machtgebietes zu gestatten. Streng war er
darauf bedacht, sich den unentbehrlichen Einfluß auf die Heranbildung des
Klerus zu bewahren. Die Gymnasien und Universitäten, auf denen derselbe
erzogen wurde, sollten reine Staatsanstalten sein, und bezüglich der Semi¬
narien, in welche die jungen Geistlichen dann übergingen, behielt sich der
Staat wenigstens die Ueberwachung vor. Wenn den Bischöfen zugestanden
wurde, die Priester nach eigenem Ermessen anzustellen und zu entlassen, so
bedurften sie doch zur Anstellung die Genehmigung der Regierung und gegen
die Entlassung konnte bei dieser Beschwerde wegen Mißbrauchs des Amtes
eingereicht werden. Noch besorgter verfuhr man in den Punkten, wo die
katholische Kirchengewalt mit Protestanten in Beziehung trat; hier war man
entschlossen, um keinen Preis Uebergriffe zu dulden und allen Anmaßungen der
katholischen Geistlichkeit gegenüber das preußische Gesetz hochzuhalten. Die
größten Schwierigkeiten erwuchsen in dieser Hinsicht aus den gemischten Ehen.
Durch eine Deklaration zum Landrecht war 1803 bestimmt, daß bei diesen
die Religion des Vaters für die Erziehung der Kinder maßgebend sein solle,
sofern nicht in freier Vereinbarung die Eltern etwas Anderes beschlossen; durch
eine Cabinetsordre vom 17. August 1825 wurde diese Bestimmung auch für
die östlichen Provinzen, wo das Landrecht nicht galt, eingeführt. Den An¬
laß dazu gab das öftere Vorkommen von Fällen, wo katholische Geistliche
sich weigerten, gemischte Ehen anzuerkennen, wenn der ketzerische Theil sich
nicht vorher verbindlich machte, die Kinder katholisch werden zu lassen. Solch
ein Verfahren wurde nunmehr für rechtsungültig erklärt. Aber die Heißsporne
unter dem Klerus gaben keineswegs nach. Da sie das Versprechen nicht mehr
fordern durften, so fingen sie an, es einfach abzuwarten, und die Einsegnung
der Ehe ohne weiteres abzuschlagen, wenn die Brautleute nicht die katholische
Kindererziehung gelobten. Sie, handelten dabei nur nach den strengen Ge¬
setzen ihrer Kirche, welche jede Ehe mit einem Ketzer oder einer Ketzerin ver¬
warf. Allein diese stritte Befolgung der canonischcn Vorschriften war lange
Zeit hindurch sehr in Abnahme gekommen, und daß sie wieder auftauchte
und häufiger wurde, war der traurigste Beweis von dem Umsichgreifen der
ultramontanen Grundsätze. In den altpreußischen Landestheilen am Rhein,
in Jülich-Cleve-Berg, trat der Conflict nicht so schroff zu Tage. Hier hatte
das Bedürfniß längst zu einer andern Form geführt, der sogenannten passiven
Assistenz, die darin bestand, daß die Brautleute, die jenes Versprechen nicht
leisten wollten, vor dem katholischen Geistlichen und zwei Zeugen ihre Absicht
sich zu verehelichen erklärten. Ein Segen der Kirche wurde ihnen dann nicht
ertheilt, aber die Ehe war gültig und dem katholischen Theile konnte ihret¬
wegen vom Priester die Absolution nicht verweigert werden. In den neuen
Provinzen versagten aber viele Geistliche den gemischten Ehen nicht allein die
feierliche Einsegnung, sondern auch diese passive Assistenz, ja sie enthielten
dem katholischen Theile sogar den Erlaubnißschein (Losschein) vor, welchen
der evangelische Prediger fordern mußte, wenn er seinerseits die Trauung
vornahm, und sie verweigerten ihm im Beichtstuhle die Absolution. Das
konnte die Regierung unmöglich dulden. Sie forderte also zunächst von den
Bischöfen Abstellung ihrer Beschwerden. Trotz des willigen Entgegenkommens,
das sie bei diesen traf, konnten dieselben aus eigener Macht nur die Ver¬
weigerung der Absolution und des Losscheines ihren Geistlichen untersagen;
nicht einmal die passive Assistenz konnten sie den Priestern auferlegen, da die
Constitution Benedict's XIV. vom Jahre 1741, welche sie gestattete, nur für
die genannten Bezirke eingeführt war'und in den andern der päpstlichen
Sanction entbehrte; die feierliche Einsegnung ausdrücklich zu gestatten, hatte
vollends niemals ein Papst sich entschließen können. Die deutschen Bischöfe
hatten sich selbst dieses Recht genommen und es in verschiedenem Umfange
ausgeübt; aber es ihren Geistlichen aufzuzwingen, wenn diese sich weiger¬
ten, dazu waren sie nicht in der Lage, wenn sie nicht eine Berufung an den
Papst und dessen Mißbilligung ihrer Handlungsweise gewärtigen wollten.
Sie erklärten sich indessen der Regierung gegenüber bereit, den Papst ihrerseits
um Ordnung dieser Fragen zu bitten, und mündliche Aeußerungen Leo's XII.
ließen über dessen Willigkeit dazu keinen Zweifel. Ihre Eingaben gingen im
Frühjahr 1828 nach Rom ab und der preußische Gesandte Bunsen begann
die Verhandlungen. Durch den Tod Leo's im Februar 1829 und die weniger
günstige Stimmung Pius' VIII. wurden sie bedeutend verzögert; aber sie
boten auch in sich große Schwierigkeiten. Freilich wenn Preußen sich hätte
begnügen wollen, daß der Papst die passive Assistenz überall als gültige
Form anordnete, dann wäre die Sache einfacher gewesen; dazu erklärte sich
Pius im August 1829 bereit. Allein da in manchen Landestheilen bisher die
feierliche Einsegnung fast allgemein üblich gewesen war, so hielt der preußische
Gesandte eine solche Anordnung für einen offenbaren Rückschritt und verlangte
eine Form, welche beide Verfahren zuließ, da sich ein unzweideutiges Gebot
des Papstes, gemischte Ehen auch ohne das Versprechen katholischer Kinder¬
erziehung unbedingt einzusegnen, in keinem Fall erwarten ließ; ja er bemühte
sich selbst, solch eine Form zu suchen und in Vorschlag zu bringen. Das
wurde ihm jedoch von Berlin aus verständiger Weise untersagt und um den
immer dringlicheren Uebelständen in bestimmter Frist abhelfen zu können und
ein Verschleppen der Sache, wie man es in Rom wohl liebte, zu verhüten,
am 26. October 1829 ein sechsmonatlicher Termin gestellt, nach dessen Ab¬
lauf der König aus eigene Hand vorgehen werde. Das wirkte und einen Tag
vor dein Ende des bestimmten Zeitraums, am 25. März 1830, erschien ein
päpstliches Breve, als Antwort auf die Eingabe der Bischöfe. Aber freilich
hatte Preußen seinen Willen damit nicht völlig durchgesetzt; denn das Breve
verbot die feierliche Einsegnung ohne das Versprechen der katholischen Er¬
ziehung, wenn auch in milder Form, indem es sagte, der Geistliche werde sich
derselben enthalten müssen; dagegen gestand es die passive Assistenz unbeschränkt
zu und erklärte überhaupt alle gemischte Ehen, die ohne die vom tridentinischen
Concil vorgeschriebenen Formen geschlossen seien, also auch die bloß von einem
protestantischen Geistlichen (selbst ohne passive Assistenz des katholischen) ein¬
gesegneten für „zwar unerlaubt, aber gültig". Die preußische Regierung
wollte sich indeß auch damit noch nicht begnügen und das Breve wurde dem
Gesandten mit der Weisung zurückgeschickt, er solle eine günstigere Fassung
zu erwirken streben. Das erwies sich aber schnell genug als ein ganz ver¬
fehltes Unternehmen. Denn mittlerweile war Gregor XVI. zum Papst erwählt
und damit auch der letzte Nest versöhnlichen Geistes aus der Curie entschwun¬
den; selbst die geringen Zugeständnisse des Breves wurden jetzt bereits als
übertrieben betrachtet. Was die wirkliche Herzensmeinung des neuen Papstes
war, konnte man am besten aus einem Breve an die bairischen Bischöfe
ersehen, denen für jeden einzelnen Fall einer Mischehe die ausdrückliche An¬
frage in Rom zur Pflicht gemacht wurde. Die preußische Negierung verlor
daher durch ihre neuen Verhandlungen in Rom nur Zeit, und zwar kostbare
Zeit. Denn so augenscheinlich es war, daß man vom Papste nichts weiter
erreichen werde, eben so sicher war es, daß man bei den rheinischen Bischöfen
auf die günstigste Deutung und die mildeste Handhabung des Breves rechnen
durfte, wenn man sich schnell und vertrauensvoll mit ihnen in Verbindung
setzte. Durch jede Zögerung erschwerte man ihnen aber ein freundliches Ent¬
gegenkommen und gab den ultramontanen Führern Zeit und Gelegenheit sie
zu beeinflussen und einzuschüchtern. Trotzdem knüpfte man erst im Sommer
1832, als der Erlaß des bairischen Breves jeden Zweifel über die Unwill-
fährigkeit des Papstes gehoben hatte, mit jenen an, und überdies durch die
Vermittlung eines Mannes, der mit dem Erzbischof Spiegel persönlich ver¬
feindet war, des früher erwähnten Geheimen Rathes Schmedding. Seiner
Ungeschicklichkeit, wenn nicht seinem bösen Willen, war es zu danken, daß
die Verhandlungen zu keinem Ergebniß führten, obgleich der Erzbischof von
Köln durch seinen Domcapitular München ein Gutachten einreichen ließ,
welches alle billigen Ansprüche des Staates durch eine freisinnige und freund-
liche Auslegung des Breves vollkommen befriedigte. Es bedürfte daher nur
eines andern Unterhändlers von Seiten der Regierung um das gewünschte
Einverständniß zu erzielen. Dieser fand sich in der Person Bunsen's. Im
Sommer 1834 wurde er von Rom nach Berlin berufen, begann am 13. Juni
die Unterhandlungen mit Spiegel und konnte schon am 19. Juni eine Ueber-
einkunft unterzeichnen, welcher in der nächsten Woche auch die Bischöfe von
Trier, Paderborn und Münster beitraten. Sie enthielt auch seitens der Re¬
gierung einige Zugeständnisse, die den versöhnlichen und vertrauensseligen
Geist, der in Berlin herrsch!?, deutlich erkennen lassen; das wichtigste war
das Versprechen, die Civilehe, die in den Rheinlanden zu Recht bestand,
baldigst aufzuheben, weil dieselbe aufhöre ein Bedürfniß zu sein, wenn
der Einsegnung gemischter Ehen kein Hinderniß mehr in den Weg gelegt werde.
Ein Hirtenbrief an die Pfarrer theilte denselben darauf das Breve von 1830
mit, betonte nachdrücklich, wie dasselbe eine mildere Praxis gestatte, und wies
die Geistlichen an.-die passive Assistenz niemals zu verweigern, sich aber nur
dann auf sie zu beschränken, wenn eine katholische Braut zur Ehe schreite,
obgleich sie bestimmt wisse, daß ihr Gatte entschlossen sei, alle Kinder pro¬
testantisch zu erziehen. Uebrigens sollten sie, jeder einzelne, jeden Fall selbst
zu entscheiden das Recht haben und nur unter ausnahmsweise bedenklichen
Umständen sich an die Bischöfe wenden. Den Generalvieariaten, welchen als¬
dann ihre Anfragen zu beantworten oblag, wurden gleichzeitig übereinstim¬
mende Weisungen ertheilt, ihre Bescheide im versöhnlichsten Sinne abzufassen.
(Schluß folgt.)
Auch eine Wiener Correspondenz des Stuttgarter „Morgenblattes" aus
dem October 1819 zeigt sich ziemlich gut unterrichtet. Unser Beethoven,
heißt es da, der ebenso gut schlechthin wie Goethe vorzugsweise der Dichter
genannt werden könne, habe für den Musikverein eine Cantate von seinem
vieljährigen und vertrauten Freund ^ dem „geschmackvollen" Herrn Bernard
zu componiren, welche Arbeit jedoch für kurze Zeit ^ von einer neuen Messe
unterbrochen worden sei, die der Erzherzog Rudolph zu haben wünsche.
Seitdem derselbe Fürsterzbischof sei, dürfe man umso eher auch in dieser
Gattung noch manchen Genuß von dem hohen Meister erwarten. Es sei
unmöglich das freie einfache fest abgeschlossene Leben desselben nach Verdienst
SU schildern: „Er gehört ganz seiner Kunst, die Gesellschaft besitzt ihn nur,
sofern er sie durch seinen Genius entzückt; er verschmäht deßhalb keineswegs
trauliche Unterhaltung und wußte diese, solange es ihm sein Gehör erlaubte,
durch fröhliche Unbefangenheit, treffenden oft beißenden Witz und ein frei¬
müthiges Urtheil zu würzen. Mit väterlicher unermüdeter Liebe hängt er an
seinem Neffen, von dem er sich viel verspricht. Die Zukunft wird lehren, ob
er sich darin nicht geirrt hat; auf jeden Fall bleibt dieses Vertrauen ein
Zeichen seiner warmen Empfindung, die auch sonst aus manchen Aeußerungen
hindurch bricht trotz der etwas andere versprechenden Außenseite." Neben
der Musik beschäftigte ihn die classische Literatur der verschiedenen Zeiten, be¬
sonders alte Geschichtsschreiber, und so geht's noch eine Weile über bekannte
Dinge fort.
Das Fertigwerden mit der Messe scheint demnach nicht gar so fern zu
liegen, obwohl Schindler ihn selbst bereits in diesem Herbst Zweifel an der
Festhaltung des Termins äußern hörte, weil jeder Satz unter der Hand eine
viel größere Ausdehnung gewonnen habe, als es anfänglich im Plan gelegen.
In den Conversationen ist sogar schon von einer öffentlichen Aufführung des
„Gloria" für Weihnachten dieses Jahres 1819 Rede. Und wenn wirklich,
wie ebenfalls Schindler meldet, Ende October 1819 auch das Credo fertig,
d. h. in den Entwürfen mit in die Stadt gebracht ward, so ist das „beinahe
vollendet" am 10. November gegen Ries, wenigstens in Beethoven's Sinne
völlig wahr. Denn damit schien weitaus der größere und schwierigere Theil
der Arbeit abgethan. Allein das eine Wiener Skizzenbuch der Messe enthält
unmittelbar nach dem rssurrcxit des Credo auch die Notiz „ Lkmzäicws
in L Vuo solo;" und noch Skizzen zu vitam vonturi, und dem 2. und
3. Satz der Sonate Op. 109 folgt das Don-z. »odi», worauf viele Seiten
Skizzen zum Leuecliotus und zwar in dem so bezeichnend sanft wogenden
Zwölfachtel-Tact und mit dem entscheidenden Eingang des Herabsteigens von
oben, der in Wagners Lohengrin so schön verwendet worden ist, das Heft
schließen.
So lag das Ganze in den wesentlichen Zügen — denn auch Skizzen
vom Sanews und ^grus äei besitzt P. Mendelssohn in Berlin — entworfen vor,
und die Arbeit konnte nun auch daheim weiter und zu Ende geführt werden.
Im November schreibt also Schindler noch den Merktag des 9. März 1820
in den Kalender, und daß trotz erneutem Unwohlsein und all den Vormundschafts¬
geschäften, die mit dem Eintritt in die Stadt von neuem wie bellende Hunde
ihn anfielen — er schrieb damals allein drei lange „Vorstellungen" wegen
der Vormundschaft an den Magistrat! — einstweilen mit gleichem Eifer an
der ernsten Arbeit fortgefahren ward, bestätigt uns derselbe Zeuge ganz ab¬
sichtslos selbst.
In der Herbstzeit 1819, wo der Meister eben volle 49 Jahre gezählt,
erzählt er nämlich, habe auf seine Fürsprache der noch sehr junge Maler
Schimon die Erlaubniß erhalten, seine Staffelei neben Beethovens Arbeits¬
zimmer aufzustellen. „Eine Sitzung hatte Beethoven standhaft verweigert,
denn eben im vollsten Zuge mit der Rissa solennis erklärte er, keine Stunde
Zeit entbehren zu können." Schimon aber war ihm bereits auf Weg und
Steg nachgeschlichen und hatte schon mehrere Studien in der Mappe. Als
nun das Bild bis auf den Blick des Auges fertig war, schien guter Rath
theuer: „denn das Augenspiel in diesem Kopfe war von wunderbarer Art
und offenbarte eine Scala vom wilden trotzigen bis zum sanften lebens¬
vollsten Ausdrucke." Da kam der Meister selbst entgegen. Das derbe natur¬
wüchsige Wesen des jungen Akademikers, sein ungenirtes Benehmen wie auf
seinem Atelier, sein Kommen ohne „guten Tag" hatten Beethovens Auf¬
merksamkeit mehr rege gemacht, als das was auf der Staffelei stand. Kurz,
der junge Mann begann ihn zu interessiren, er lud ihn zum Kaffee, und
diese Sitzung am Kaffeetisch ward zur Vollendung des Auges benutzt. Derb
und naturwüchsig ist denn auch dieses auf der Berliner Bibliothek befindliche
Abbild ebenfalls, aber eben auch offenbar nicht ohne Naturwahrheit. „Bis
zum vollendeten 60. Lebensjahre war der Gesammtausdruck von Beethoven's
Gestalt das erfreulichste Bild körperlichen Wohlbefindens und höchster Geistes¬
kraft; ein Jupiter sah zuweilen aus diesem Kopfe heraus", sagt Schindler.
Jenes Portrait bestätigte es trotz seiner Rauheit und sagen wir künstlerischen
Rohheit.
In dem Briefe vom 10. November 1819 wird denn gar Ries bereits
wegen des Verkaufs der Messe in London angegangen und dabei um die
60 Du?, für Op. 104 und 106 gedrängt. Am 19. Dec. jedoch muß der
Erzherzog erfahren, daß indem einige Arbeiten, wahrscheinlich die Op. 107
und 108, geschwind zu befördern waren, dadurch denn leider die Messe auch
mußte ausgesetzt werden. „Schreiben I. K. H. alles dies dem Drang der
Umstände zu; es ist jetzt nicht die Zeit dazu, alles dieses auseinanderzusetzen,
allein ich werde, sobald ich den rechten Zeitpunct glaube, doch müssen, damit
I. K. H. kein unverdientes hartes Urtheil über mich fällen." Zugleich scheint
er in diesen erneuten schweren Tagen sich wieder tagweise bei „seiner lieben
verehrten ihm theuren Freundin" Erdödy getröstet zu haben, der auch im
Januar dieses Jahres die neue Ausgabe der Cellosonaten Op. 102 gewidmet
worden, und die jetzt zum letzten Dezember 1819 den Canon „Glück, Glück
zum neuen Jahr" erhielt. Seine Kais. Hoheit aber muß „am 1. Jenner 1820"
Mit dem Canon „Alles Gute, Alles Schöne" auf Weiteres und Gewichtigeres
einstweilen vertröstet werden. Die Messenarbeit wird zwar noch nicht ganz
aus der Hand gelegt. Denn das P. Mendelsohn's Skizzenheft mit der eigen¬
händigen Aufschrift „noch von 1819 vom Credo" geht wie das oben genannte
Winter'sche wohl auch ins folgende Jahr hinein, und ebenso enthalten die
Conversationen von 1820 Aufzeichnungen von lit vitam ventuil u. s. w.
Mein der nächste Zweck mit dem Riesenwerke war nun doch nicht mehr zu
erreichen, und so macht sich, zumal neben den heftigen vormundschaftlichen
Erregungen dieses Winters, bald genug sowohl moralisch wie Physisch eine
nur zu natürliche Ermattung und Ruhebedürftigkeit geltend.
Du danke Gott, wenn er dich preßt
Und dank' ihm, wenn er dich wieder entläßt!
ist die erste der angestrichenen Stellen in Beethoven's Exemplar des West¬
fälischen Divan, den auch Zelter in diesem Herbst eben in Wien als neu
erschienen sich kaufte.*) Freund Bernard aber schreibt in den Conversationen
dieses Winters 1819—20 mit den Worten: „Ein Lied von Lessing, welches
Sie componiren sollen", wirklich das ganze „Lob der Faulheit" auf, und
ebendort heißt es ein anderes Mal: „Ich sitze Ihnen eine Stunde gegen¬
über und Sie schlafen." Auch das reine animalische Bedürfniß scheint jetzt
anspruchsvoller als gewöhnlich zu sein. „Der verstorbene Schauspieler Rose
hat einst eine Tafel gegeben, die von 1 Uhr Mittags bis Nachts um 12 Uhr
gedauert hat; als man aufstand, sagt sein Schwiegervater der Schauspieler
Koch: Nur Schade daß es nicht Z Wochen so dauert. So geht es uns
beinah auch heut", schreibt wieder Bernard. offenbar selbst ein echter Wiener
„Phäccke" bei Tische im Gasthaus auf. Dabei ist denn auch lang und breit
von Rüster Ausbruch, Erlauer und Austern Rede, wie derselbe Freund ein
andermal scherzt: „Austria kommt her von Austern, warum soll also ein
Austrier oder Austirer nicht Austern essen?" Beethoven aber bemerkt: „dies
Wirthshaus ist nur für Leckermäuler", und sein Urtheil über solche Freund¬
schaft drückt sich in dem Vers aus. den Bernard damals selbst aufschreibt:
Berncirdus war ein Samt, der hatte sich gewaschen,
Er hat der Hölle nicht gewankt und nicht 10,000 Flaschen.
Dabei wird noch auf den Vers angespielt:
Samt Petrus ist der Fels, auf diesen kaun man bauen.
Von beiden aber ist die erste Zeile als Canon componirt worden, und
Skizzen desjenigen auf Hofrath Peters befinden sich unter den Credoskizzen.
Fertig stehen dann beide in einem Briefe an Peters, der eben damals die
Vormundschaft übernehmen sollte. Der Canon auf ihn ist mit „lebhaft"
bezeichnet, der auf Bernard mit „Gezogen und geschleppt" nebst zweimal „ff",
gleich einer Mahnung! „Er könne mit Zeit und Beschäftigung nicht in
Ordnung kommen für Arbeiten, die seiner würdig seien", heißt es von ihm
in den Conversationen, und wir wissen, daß er für Beethoven den „Sieg
des Kreuzes" schreiben sollte und daß diese „Cantate" damals schon mit
Spannung erwartet ward. Daher die Anspielung.
Auch zum Sitzen für Maler fand sich jetzt Muse genug. Da ist zuerst
jener Dafsinger, nach Bernard's Aufzeichnung „ein ganz roher Patron,
der Phaon dieser Sappho", nämlich der gewaltigen Tragödin Sophie
Schröder, die damals in diesem Stücke Grillparzer's in Wien glänzte. Er
sollte freilich nur eine Sitzung brauchen. Vermuthlich ist er es, der damals
ebenfalls ins Conversationsheft schreibt: „Ich bin schon lange da, freut mich
sehr, daß ich Sie getroffen, weil ich mein Modell der Vollendung nur näher
bringe, die Haare so in Mittl halten — ich will es Ihnen (!), bevor ich es
ende, noch sehen lassen." Dann aber ist da Stiel.er, der schon im Herbst
1819 in Wien ist und erst im April 1820 sich verabschiedet. Er hatte den
Dr. Weißenbach und die Frankfurter Freundin Antonie Brentano nebst ihren
Töchtern gemalt, dies allein wäre Empfehlung genug für ihn gewesen. Allein
auch sein persönliches Wesen muß Beifall gefunden haben. Beethoven nimmt
sogar die Einladung zum Speisen bei ihm an, und Schindler, der freilich in
der Jahresangabe irrt, sagt: „Sitzung auf Sitzung ward bewilligt und nicht
eine Klage über Zeitverlust laut." Dafür gefiel aber auch das öffentlich aus¬
gestellte Gemälde — es ist das bekannte in der Laube mit der Mgga solennis
in der Hand — allgemein. „Nur stieß die vom Künstler beliebte Auffassung
des Titanen, am meisten die Neigung des Kopfes aus Widerspruch, weil der
Meister den Mitlebenden nicht anders bekannt war, als seinen Kops stolz
aufrecht tragend", sagt derselbe Gewährsmann. Allein wie hörten Beethoven
damals selbst sagen: „Ich kann eben nicht viel mehr in der Welt, als einige
Noten so ziemlich niederschreiben", und können sogar eine auffallende mora¬
lische Gedrücktheit in dieser Zeit an ihm beobachten, sodaß die etwas senti¬
mentale Kopfsenkung des Bildes mit der Riffs, solcmnis in der Hand den
damaligen Umständen durchaus nicht widerspricht.
Auch das Theater wird, nach den Conversationen darüber zu schließen,
häufiger besucht und man scheint sogar ernsthaft selbst wieder an die Compo-
sition einer Oper zu denken. Um jedoch zunächst eine gründliche Restauration
der übermäßig angespannten Kräfte zu erzielen, soll mit dem jetzt beginnenden
Frühjahr 1820 eine italienische Reise, wie der „Signor Fratello" soeben eine
gemacht, unternommen werden. Rupprecht, der Dichter des Beethoven'sckM
Liedes „Merkenstein", würde sich zu einer solchen jetzt entschließen, meint ein
Unbekannter schon im Januar 1820 in den Conversationen, und bald darauf
schreibt Peters hin: „Wenn wir nicht in 8 Tagen fortgehen, versäumen wir
die Charwoche in Rom, das Miserere!" Ja wenn das unmittelbar folgende
„8 Monate" auf die Dauer der Reise gedeutet wird -- und die Tour „Ober¬
italien, Florenz, Rom, Neapel, Sicilien, Genua, Turin, Schweiz" läßt bet
damaliger Post bestimmt darauf schließen —, so heißt das so viel, als die
Messenarbeit ist, wenn auch nicht entfernt abgeschlossen, doch der Hauptsache
nach abgethan und zunächst beiseite gelegt. Auch erzählt Schindler, daß
diesen Sommer 1820 hindurch wenig oder fast gar nichts gearbeitet worden
sei. Als man aber im Winter 1821 die große Arbeit wieder in die Hand
nahm, war man selbst in mancher Beziehung ein Anderer oder stand doch
der Aufgabe wesentlich anders gegenüber. Solche Beobachtung nun im Zu¬
sammenhang mit dem ganzen Charakter der nächstfolgenden Periode in Beetho¬
ven's Leben, das nach tiefem Zurücksinken in sich selbst erst in dem schönen
Sommer von 1822 wieder ein volles Sicherheben und zwar diesmal ganz
und gar sich selbst, nämlich in der Neunten Symphonie, aufweist, läßt uns
hier einen bestimmten Abschnitt in des Meisters Dasein constatiren. Zudem
ward die Messe, obwohl erst volle 2 Jahre später vollendet, dennoch in ihrem
Charakter, nicht sowohl verändert wie nur noch deutlicher in demselben fest¬
gestellt, und wir haben demnach alles Nachfolgende gewissermaßen nur als
Nachwehen und Ausläufer der ersten energischen Zusammenfassung der Geister
bei diesem Werke zu fassen, dessen eigentliche Stimmung und Tendenz aber
völlig dieser Periode von 1816 — 20 angehört. Daß bei dieser Betrachtung
des in so mancher Hinsicht epochemachenden Werkes an dieser Stelle vorwie¬
gend das Ethische und sozusagen Persönliche ins Auge gefaßt wird, liegt in
der ganzen Auffassung unserer Arbeit, die das Technische und Aesthetische als
eine besondere Sache auch einer besonderen Berechnung zuweist.
Wie sehr diese berühmte „Rissa, solsnnis", wie Beethoven selbst sie
genannt, nach dem Herzen seines Erschaffers war und welchen Ernst er aus
äußeren und inneren Ursachen dem Werke fast vor allen andern zugewandt,
ist bekannt. Und doch obwohl für einen concreten praktischen Zweck be¬
stimmt, wer wollte das Werk für eine wirkliche Messe nehmen, für einen
Theil des Gottesdienstes, deutlich und bestimmt das tagtäglich von tausend
und abertausend Herzen Bedurfte erfassend und es den Bedürfenden zur Be¬
friedigung des Innern und zur Erhebung in ein höheres Dasein darreichend?
„Frau von Weissenthurn wünscht etwas von den Ideen zu hören, welche
Sie Ihrer Composition der Messe zu Grund gelegt haben." schreibt Bernard
1819/20 von der bekannten Wiener Dichter-Schauspielerin aus, und nichts
kann den Standpunkt schärfer bezeichnen, den mit seiner ganzen Zeit im
Grunde auch Beethoven diesem Unternehmen gegenüber einnahm. „Ideen!"
— Als wenn die Messe etwas Anderes wäre, als ein bestimmter und oben¬
drein wesentlich entscheidender Theil des katholischen Gottesdienstes, und ihre
Composition auch noch einen anderen Sinn und Zweck hätte, als diesem zu
dienen. Hier ist dem Ausdruck der Sache nicht anders beizukommen, als mit
dem religiösen Glauben. Wer aber will diesen in solcher Weise bei
Beethoven suchen?
Die Tiefe seines natürlichen Empfindens kennen wir aus tausend seiner
Töne. Auch war ein gewisser Grad der Ausbildung und Concentration des¬
selben selbst bis auf die Höhe des Religiösen d. h. bis auf die Entkleidung
des eigenen Wesens von allem Ich nirgend zu verkennen. Wir sehen ihn ja
in einem Seelengedichte wie das Adagio der Sonate Op. 106 den hier
waltenden Prozeß völlig durchmachen. Allein daß hier die Entwicklung so¬
weit vorgeschritten gewesen wäre, um den ganzen Gehalt des Gebotenen nach
dem Maße der heutigen Anschauung und Empfindung aufzunehmen und künst¬
lerisch neu Hervorzugebären, wer wollte dies behaupten? So war er, der
sonst so innerlich freie Mann im ganzen und großen an die hergebrachte
Auffassung und Darstellung dieses Textes gebunden, in dem sich eine so be¬
deutungsvolle Wiedergeburt des ganzen Menschen vollzieht. Und wo die ent¬
scheidenden Potenzen eines Gegenstandes nicht zur sicheren Klarheit gelangt
sind, was kann da selbst die noch so ernst gemeinte Darlegung durch den
geistig noch so hochstehenden Einzelnen von den Einzelheiten dieses allein
mächtigen Ganzen frommen? Es muß auf das Aeußerliche der Erscheinung
und dasjenige hinauslaufen, was mehr der Phantasie als dem Ge-
müthe angehört und das wir eben als „Ideen," als unsere willkürlich
subjective Vorstellung von der Sache bezeichnen.
Damit aber war selbst bei dem „göttlichen riesenhaften Jdeenschwunge,"
den selbst in der Zeit seiner bittersten Gegnerschaft C. M. von Weber dem
Genius Beethoven's nicht absprechen konnte, dem eigenen Schaffen wie der
äußeren Wirkung des Werkes die Schlagader unterbunden, und man darf
nicht an die hehre Unbefangenheit eines Palestrina gegenüber seinem gött¬
lichen Gegenstande und nicht an Seb. Bach, dessen Schaffen freilich auf der
himmlischen Einfalt des religiösen Volksliedes, des Chorals fußt, ja
ebensowenig an Beethoven's sonstiges Schaffen denken, um nicht diesem Werke
gegenüber ungerecht zu werden. Wie denn in der That erst in der aller-
jüngsten Zeit hier das Rechte und Ganze geschehen ist, das uns in Verbin¬
dung mit der Erflehung eines wahren Dramas zugleich die sichere Beurthei¬
lung von Beethoven's Absicht und Wollen hier ermöglicht hat! Freilich auch
Beethoven und seine Zeit haben den hier waltenden Widerspruch wenigstens
dunkel gefühlt. „Moria, Irwarlmtus für's Gemüth - wir sagen, daß die ge¬
wöhnliche Kirchenmusik fast in Opernmusik ausgeartet sei," schreibt
selbst Bernard als Antwort für jene Wiener Poetin auf, und schon 1813
drückt die Leipziger Musikzeitung unter Rochlitzer's Redaction die allgemeine
Auffassung deutlich mit den Worten aus: die neuen Messen wie von Jomelli,
Allegri, Leo, Haydn, Mozart seien ein beständiges Gemisch von Oper und
Kirchenmusik. Wäre nur auch bei dieser Messe wie sonst bei Beethoven die
Sache „für's Gemüth" getroffen! Allein gerade diesem weitumfassenden Ge-
gegenstande gegenüber fehlt die Unbefangenheit, die einfache Hingebung, es
fehlt mit einem Wort die reine religiöse Empfindung, die sich auch
hier den Kern der Sache herausschälte und ihn ruhig walten ließ. Und weil
nun einerseits mehr die vergängliche Schale genommen, anderseits an dem
Sinn der Sache mit fast willkürlicher Vorstellung gedeutet worden, und da¬
her das Ganze mehr äußerlich und sozusagen bildlich ist, so wirkt es wie
sonst bei Beethoven für unser unmittelbares Gefühl nicht ergreifend und in
die Stimmung zwingend, sondern beschäftigt vorzugsweise unsere bloße Ein¬
bildungskraft. Ihre Bilder aber befriedigen, selbst wenn sie aus einer wahr¬
haft großen und an sich würdigen Phantasie, wie die Beethoven's war, stam¬
men, nicht unser Inneres, am wenigsten in diesem Gebiete der tiefsten mensch¬
lichen Herzensbedürftigkeit, sobald diese Bilder eben nicht von dem Gehalt
des Gegenstandes erfüllt sind und dieser völlig in den schönen Schein der
Sache selbst aufgegangen ist.
So waltet im Grunde ebenfalls nur die Art des Mozart'schen Re¬
quiems und allerbesten Falls der Zauberflöte, in der allerdings bei un¬
gleich geringerer Erhabenheit des künstlerischen Ziels und Vorwurfs alles
ungleich einfach wahrer und unmittelbarer ergreifend ist, als in jenem Werke
für die Seelenmesse. Das heißt, um in einer für unsere Zeit stets bedeutender
werdenden Frage gerade bei solchen Werken keine Mißdeutung zuzulassen, die
bloße Gefälligkeit der Erscheinung, seit der Renovation der alten
Kirche im 16. Jahrhundert überall in der Kunst oft bis zur affectirter Ver¬
zerrung getrieben, und in der Musik bereits bei den italienischen Meistern des
17. Jahrhunderts, die in Lotti, Caldara, Marcello u. A. deutlich genug
erkennbar, stellt auch bei aller Aufrichtigkeit des Willens jenes Mozart'sche
Requiem weltenweit von jenen heilig gesinnten Sängern der mittelalterlichen
Kirche. Das ist es, was unser religiöses Empfinden niederdrückt anstatt es zu
erheben, den Durst nach der Wahrheit einer anderen Welt eher steigert als
stillt. Und ob einen Grad kräftiger in der Empfindung des Einzelnen, ob
schwungvoll mächtiger in der Anschauung des allwaltenden Geistes, ob tiefer
nachsinnend über die Mysterien des Ewigen und sich ernstlicher versenkend in
die Vorstellung eines solchen heiligen Daseins, — hier ist es nicht, wo un¬
serm Beethoven sich der Schleier völlig lüftet, hier waltet nicht jene Kraft
der Wahrheit, die uns sonst bei ihm so innerlich beseligt und befreit, hier
geschieht uns nicht der freie Ausblick in eine andere, bessere Welt und deckt
sich nicht ebenso vernehmlich wie geheimnißvoll schweigend jener andere tiefere
Zusammenhang der Dinge auf, dessen Haft uns vor allem auch die Musik
zu lösen vermag, indem sie uns für seinen wahren Bestand gewissermaßen hell¬
sichtig macht.
In dieser Messe herrscht vielmehr, um unser Gesammturtheil deutlich
auszusprechen, mit geringen und das Ganze nicht entscheidenden Ausnahmen,
dem tiefsten Wesen der Musik und also auch Beethoven's entgegen und sogar
zuwider, ebenfalls jener bloße ästhetische Schein und Vorwand der
Sache, der einer Kunst, die mehr als jede andere völlig auf die künstlerische
Illusion, d. h. das Aufgehen der Sache in den wirklichen schönen Schein, er¬
fordert, geradezu das Leben raubt. Und gestehen wir uns nur, die schöne,
halb theatralische, halb sentimentale „Kantilene Mozart's", deren sanft
spielender Charakter die Dissonanz der Welt nur zum Schein in unserm Ge¬
müthe gelöst zeigt, ist es, was auch hier die Grundfarbe giebt und einen
kräftigen Aufschwung hemmt. Ja alles Bestreben, dieselbe mit kräftigen An«
rufen und hohen Bildern zu heben oder zu verdecken, täuscht das gesunde
Empfinden nicht und bringt ihm nur völlig zum Bewußtsein, daß wir es mit
dem gesunden und die Welt in ihrem Zwiespalt erfassender rein menschlichen
Gefühl hier nicht zu thun haben. Daher hier auch trotz so mancher kühnen
harmonischen Neuerung und namentlich kräftigen Trugschlüssen, wie sie schon
0p. 106 ähnlich gezeigt, doch die volle Energie der Dissonanz fehlt,
die Beethoven's Musik so sehr kennzeichnet und den wirklichen Verhält des
Lebens auch in diesem höheren Leben der Kunst wiederspiegelt. Dem Unter¬
nehmen hier den vollen Sinn abzugewinnen, fehlte ihm eben die persönliche
innere Entwickelung, die allein in einer Sache ganz und wahr sein läßt.
Daher hier doch mehr blos eine Scheinmesse vorliegt und von Erneuerung
der Kirchenmusik, wie sie allerdings seit Beethoven's Zeiten ein stets mehr ge¬
fühltes Bedürfniß geworden, hier am allerwenigsten die Rede ist. Ja wie
sehr Beethoven nach seiner aufrichtig sich bescheidenden Natur diesen Verhält
des Ganzen selbst empfand, zeigt sein Ausspruch nach Vollendung des Werkes:
»dasselbe könne auch als großes Oratorium gebraucht werden!" Damit
war demselben sein Charakter als Messe einfach abgeschnitten. Eine andere
Frage ist freilich, was dieses Werk mit seinem mannigfachen menschlichen Er¬
leben und hohen künstlerischen Thun in Beethoven's eigener Entwickelung be¬
deutet. Und da ist zu sagen, daß ohne diesen krisisartigen Durchgangspunkt
seines Lebens und völligen Durchbruch seiner Natur wir den Beethoven nicht
besäßen, den die Welt heute als eine Art von Kunstheiligen verehrt. Er
hatte sich abgemüht im Frohndienste fremder Ideale und die Aufrichtigkeit
seiner Ergebung in ein höheres Walten auch hier in harter ernster Arbeit er¬
probt. Aber daß es dennoch „ach ein Schauspiel nur" war, was er hier er¬
reicht, das mußte die Sehnsucht nach der „unendlichen Natur", deren wahr¬
haft ewiges Leben auch er wenigstens einmal in dieser Messe, in der mächtigen
Fuge Le vitam venturi deutlich ausgesprochen hatte, nur in ihm steigern.
Das Werk war ebenfalls nur ein verlorener Pfeil, den er nach dem Wahren
und Ganzen in seiner Kunst, soweit er dasselbe zu erreichen vermochte, ab¬
geschossen. Aber er zeigte ihm in ernster Versenkung das Ziel, das sonst wohl
in dem leeren Gewirre modernen Allerweltempfindens auch diesem hohen Geiste
sich verhüllt hätte. So sehnte er sich nach unbefangener Erfassung des Hohen
und Ganzen, dessen Theile er hier in der Hand gehabt, ohne sie ganz zu¬
sammenfassen zu können. „Berühmte Künstler sind befangen stets, drum ihre
ersten Werke die besten, obwohl aus dunklem Schooß sie sprossen", schreibt
merkwürdiger Weise er selbst in diesem Frühjahr 1820 in sein Cvnversations
duch. Er sehnt sich nach diesem dunklen Schooß des unmittelbaren Em¬
pfindens, das ihm bei diesem Hervortauchen ans Licht des Gedankens verloren
gegangen oder doch bei dem steten Herumdeuten an dem ihm im Grunde
fremd bleibenden heiligen Gegenstande getrübt war. Und wirklich finden wir
ihn, nachdem fast 2 Jahre inneren Brachliegens vorübergegangen — denn die
1820—22 entstandenen Claviersonaten 0p. 109, 110, 111 können bei solcher
Betrachtung nicht mitzählen —, von neuem kräftig bei „seiner Weise". Die
mehrerwähnte Neunte Symphonie, das größte Werk seines Lebens, war
in der vollen Würde der Erscheinung und energischen Aussprache der Em¬
pfindungen und Ideen, die Beethoven von der Welt hatte, zugleich ein Re¬
sultat des Ernstes, mit dem er an dieser Messenarbeit gewirkt hatte. Ohne
diese letztere würden wir auch die geistige Erhebung und wahrhafte künstlerische
Hoheit und Freiheit, die sich besonders in den 3 ersten Sätzen jenes instru¬
mentalen Werkes zeigt, schwerlich besitzen. Die Rissa. solenms war ein kräf¬
tiger Aufschritt zu den Höhen der Kunst, auf denen wir Beethoven in dieser
Neunten Symphonie wandeln sehen und die ihn, wie dies bereits anderswo
ausgeführt worden, an dem geistigen Leben unserer Zeit einen bedeutsamen
Antheil gegeben haben. Darum lohnte es sich, ihn in diesen künstlerischen
und gewissermaßen psychologischen Vorbereitungen ebenfalls genau zu verfolgen.
Die Rissa solöllms ist in der That ein Stück nicht blos aus Beethoven's
Leben, sondern zugleich aus dem geistigen Suchen und Streben seiner und
unserer Zeit.*)
Lebt ein Volk national auf, so nimmt es auch mehr Interesse an sich
selbst, beschäftigt sich mit seiner Eigenart, sammelt die Dokumente, durch
welche dieselbe sich manifestixt, kurz, wünscht sich als das zu zeigen, was es
wirklich ist, und veröffentlicht, da bekanntlich eine Individualität sich nie
Prägnanter kund giebt, als in ihren literarischen Schöpfungen, mit Vorliebe
jene Arten von Dichtung, Märchen, Sage und Sprichwort, die unter
der Bezeichnung „Volksliteratur" begriffen werden. Italien wenigstens
hat es gethan. Wir brauchen, um uns davon zu überzeugen, nur die
LiblioAraüa, äoi Oanti poxulari ä'Italia durchzulesen, welche Giuseppe Piere
seinen sicilianischen Volksliedern vorangehen läßt. Da finden wir 1824 in
vier Nummern der Sa^ceo <Zi?armg. als erstes Lebenszeichen der wieder¬
erwachenden italienischen Volks Poesie einen Laggio 6i possie eonwäineseluz,
als zweites abermals einen LaWio <Zi (nardi populari clolla proviueis, al
Uarittima, <z viunMgnli., 1830 von P. E. Visconti in Rom herausgegeben,
dann bis 1840 nichts weiter als zwei Sammlungen, welche die Italiener
beide Deutschen zu verdanken haben. Die erste. Dggria, (Leipzig 1829) G. Müller
und O. E. B. Wolf, die zweite, Agrumi. (Berlin, 1838) dem Schlesier August
Kopisch. Das nächste Jahrzehnt hat außer einigen raeooltiue in I^g, ?g,i-via,
Veriociieo ni Bologna nur vier Veröffentlichungen aufzuweisen, unter denen
sich allerdings die parti xoxullu-i ?o8vari e Oorsi des Tommaseo befinden.
Nach der Mitte der Fünfziger regt es sich schon lebendiger; Giuseppe Tigri
giebt seinerseits Toskanische Volkslieder heraus. Raffaele Andreoli desgleichen,
Angelo Dal Medieo venetianische, Christofora Pasqualigo vicentinische, Giulto
Nicordi lombardische, gar nicht zu gedenken des Li>M<> Al pandi xoxulari
^'veontaclo 6i ^ueoua, herausgegeben von E. Bianchi und E. Romori, sowie
^r t!ar>ti populär! inecliti Umbri, I.iguri, ?ieeni, I'iomontosi, I^admi von
Oreste Marcoaldi.
Aber so ganz wie freigewordene Quellen nach langem Winterfrost brechen
die Strömungen von Italiens Volkspoesie doch erst nach dem Kriege von
neunundfünfzig hervor. Nigra vervollständigt seine vMsoni xopulari act
^iemoutö, die er 1858 in der Rivists, vonwinporanea begonnen; die reiche
Sammlung der sardinischen Canzoni erscheint; Monti und Morandi geben
"Mbrische Volkslieder, Teza und Leicht furlänische, Casetti und Jmbriant
mueMotto al gomme heraus; von Right empfangen wir SassKio 6i
^^Ali populari Vmonosi, von Nerucci ?oesia populäre llol vornaeulo Non-
talegg (?istoia), von Bolza Lar-ioni populär! Oomasede; im Anhang zu
s^nen Studien über die Dialekte des Gebietes von Otranto theilt Morosi
die reizenden Lieder und Legenden derselben mit; Mttorio Jmbriani endlich
läßt seinen Oiwti poxulari <ki Lvmma I^omdÄräA o Varese, 1867 in der
Mov», ^ntvlogia, und seinen liisMti, Mure-Mnno, Liansiollette all (?esso-
xalen^ (L.druWa Oiwrivr«), 1869, gemeinsam mit Casselti die lüanti xoxuiari
cieilö provineie msriclwnali^ Torino, 1872 folgen, während Dal Medico
venetianische Ninne-Min« bringt, die er mit den toskanischen und französischen
vergleicht.
Von Märchensammlungen aus dieser Zeit erwähnen wir nur Uovellms
all Lau Lett'imo von Angelo de Gubernatis. poxulari venoiiianö von
Bernoni. ViZilia al ?g.8<ma al eexpo (der Abend vor Klotzostern d. h.
der Weihnachtsabend) von Gradi, sowie I>soveU^Ä wil^nsss und Xovöll^a
üorsntina von Jmbriani. In den Sprichwörtern ist die Thätigkeit nicht ganz
so lebhaft, indessen haben wir doch während der letzten vierundzwanzig Jahre
weit über ein Dutzend Sammlungen zu verzeichnen, und zwar allgemein ita¬
lienische, lombardische, genuesische, venetianische, triestinische, corsische, toska-
nische, umbrische, sardinische. Monographien über Volksbrauch und Volksleben,
durch welche die Volkspoesie in die Wissenschaft des Volksthümlichen, die Ethno¬
graphie, hinübergeleitet wird, sind zahlreich; die neuesten, die uns zu Gesicht
kamen, rühren von De Gubernatis, Dal Medico, Matrta ti Martino und
der Coronedi-Berti her.
Daß in diesem Chorgesange italienischer Volksstimmen die von Sicilien
nicht stumm bleiben würde, ließ sich erwarten, und in der That erhob sie sich
Heller und melodischer als irgend eine andere. Sicilien ist, wie sein Volks¬
lied weiß, der Diamant des ewigen Vaters; als er eines Tages, mit den
Heiligen im Himmel spazierengehend, besonders gut aufgelegt war. nahm er
ihn aus seiner Krone, „um der Welt ein Geschenk damit zu machen" und so
I^a vliwmaru Lioili» ki gemei
Uf, si 1' nehm» ?atri d I» äomauti.
Der Diamant nun warf alle seine Strahlen, spielte in allen seinen Farben.
Er hat ihrer so viel, wie das Meer, in welchem er ruht; die sictlianische
Volkspoesie ist ein Feuerwerk, das uns blendet. Und wir sollten es in seinem
vollen Glänze sehen.
Zuerst gab Lionardu Vigo 1837 in Catania seine Lavti populär! Siel-
liani, raeeolti va illustrati heraus. Ihm folgte, Palermo 1867, Salvatore
Salomone-Marino mit den seinigen, raeeolti e g-miotÄti in agZiuntg. a queUi
ack Vigo. Und drei Jahre später, 1870, erschienen zu Palermo in zwei
Bänden die von Giuseppe Piere gesammelten Volkslieder, welchen eine kritische
Studie desselben Verfassers als Einleitung diente. Es war dieses nicht
Piere's erstes literarisches Auftreten. Er hatte bereits 1862 Sui proverbi
sioiliani e lose^tu, DialoZKi, 1863 LaZsio ü'un Voeaholario al NarinK-
1864 ?rotiii divAraLei all eonteinxoranki Itsii-mi und LuIIa Ltoria. äella.
I^ettLratura itsliana not see. XIX; 1866 1/6 lottere, 1s Leiere Is
.^rei in Lieilis. nel 1865; 1868 Mvvi ?roüli Liograüei, weiter pella
vita e äelle 0v<zrs 61 (Ziovanni (ZvlMns und Lüi Lanti xovulari siei-
Uani, 1869 ?rc>verdi <z Lanti xoxulg.ri illustrM, 1870 endlich 8g,M0
6i Oanti povulari sieiliani herausgegeben, als er mit dieser seiner ersten
großen Sammlung hervortrat und sich der sicilianischen Volkspoesie gleich¬
sam als seines ausschließlichen Eigenthums bemächtigte. Indem er sich ihr
seinerseits mit allen seinen Kräften und Neigungen hingab, legalisirte er,
um so zu sagen diese Besitzergreifung. Gewiß ist es, daß man jetzt ebenso
gut, Pie>e sagt, wenn man von der sicilianischen Volksliteratur spricht, wie
man das deutsche Märchen nie ohne die Gebrüder Grimm nennt. Vertraut
mit der deutschen Behandlung solcher Materien faßte er seinen Stoff gleich
von Anfang an als ein organisches Ganzes an und traf die nothwendige
wissenschaftliche Eintheilung in Rubriken. Die herzustellende Arbeit überhaupt
betitelte er IZidliotoca äölle ki'aäinioni xoxul-u'i sicilitmv, die einzelnen Theile
unterschied er als Lieder, Studien, Geschichten und Märchen, Kinderspiele,
Volksfeste und Sprichwörter. Die Lanti xoxulari machten die ersten Bände
aus, die Ltuäi, 6i xossiu, xoxul-iri den dritten. Dieser handelt in Form von
Aufsätzen, von denen einige schon einzeln erschienen und auch in deutschen
Journalen besprochen worden waren, hauptsächlich über die Reliquien, mit
denen andere Stämme den poetischen Schatz des sicilianischen Volkes vermehrt
haben, sowie über den Ursprung der geschichtlichen Volkslieder Siciliens. Im
Widerspruch mit Alessandro D'Ancona glaubt Piere, daß die Lieder, welche
frühere Thatsachen berühren, auch wirklich aus den Zeiten dieser Thatsachen
herstammen, indem das Volk nicht der Ueberlieferung nach, sondern nur im
Augenblick selbst dichtet, wo etwas Geschehenes neu ist und dadurch seine Phan¬
tasie trifft. Piere führt als Beweise für seine Behauptung verschiedene Fälle
ein, in welchen die Sicilianer sich ganz recente Ereignisse zurecht gemacht haben.
Die Eisenbahn von Palermo nach Bagheria, die erste auf der Insel, wird
als etwas Infernalisches geschildert:
Wer es mit Augen sieht und d'ringewesen,
Schlägt Kreuz auf Kreuz, und kann es noch nicht glauben.
Drei Jahre später, 1866, wird das Papiergeld eingeführt und das Volk singt:
Ich möchte gänzlich in Papier mich kleiden.
Noch zwei Jahre später schafft der Magistrat von Palermo die xm-t-mein«
bei den Begräbnissen ab und führt dafür die Leichenwagen erster, zweiter und
dritter Klasse ein, so daß jeder arme Teufel, welcher sein Leben lang in keine
Carosse gekommen ist, zu seiner letzten Stätte gefahren wird. Das Volk
sieht sich die Sache an, reflectirt darüber in Versen und kommt schließlich zu
dem Sprichwort:
Ins Paradies gelangt man nicht zu Wagen.
Und ein noch neueres Beispiel theilt Piere in seiner Lenturia 6i Lanti
xoxulari sioiligvi mit, die er als die frischesten Früchte seiner Sammleruner-
müdlichkeit vorigen Sommer veröffentlichte. Die Sonnenfinsterniß von 1870
war angekündigt, und E. Ledda, einer von den Poeten, die nicht lesen und
schreiben können, bekümmerte sich sehr darüber. „Krieg zwischen Mond und
Sonne sollt' es geben," wenn die Erde da mitten hineingerieth und in zwei
Stücke ging — der Poet wußte sich nicht anders zu helfen, als durch einen
Stoßseufzer, den er an die Lecläa. Lignura, die schöne Herrin, d. h. die Mutter
Gottes richtete. Aber als die Sache glücklich vorüber war, da war unser
Poet obenauf. Jetzt war Alles möglich; noch ein Weilchen und man ver¬
nahm, daß
Wer da geboren wird, auf ewig lebt.
Auch der deutsch-französische Krieg hatte einen Sänger gefunden, der sich
nicht bestimmte, für einen von sti an liiZriimti, Mpuliuni und in us
(LU<zgKi(!inn zu entscheiden wußte und darum lieber Beiden Unrecht gab.
Auf die Studien sollen, wie wir bereits bemerkt, in Piere's Bibliothek
zwei Bände R^eonti e l^labt populm'i folgen. Die sicilianischen Märchen
sind in Laura Gonzenbach's reizender Verdeutschung bei uns längst heimisch
geworden, und die Sicilianer wissen ohne Zweifel zu schätzen, was diese
Fremde that, indem sie zum ersten Mal die Märchenblüten der Aetnainsel
sammelte. Aber so ganz recht war es ihnen doch nicht, daß eben eine Fremde
diese Lücke in der sicilianischen Vulksliteratur zuerst auszufüllen versucht hatte.
Sie wollten ihre Märchen auch in ihrer Sprache haben. und wer konnte
ihnen das verdenken? Und wer anders als Piere konnte das Nöthige thun?
Piere zögerte nicht. Wie er Lieder gesammelt hatte, sammelte er jetzt
Märchen. Wer sein Freund war, mußte ihm helfen. Die Versionen mehrten
sich, alle Orte, alle Mundarten — und Sicilien hat fast soviele piu-Jako, wie
es Orte hat — lieferten ihre sie vertretenden Erzählungen. Bald konnte
Piere Proben darbieten. Nach der ersten, einem ganz kleinen Lg,Wio, welcher
nur Clratt.nit^RLädatulA, I^a Namirm al L. I^tru, (zliulÄ und I^g, Vurxi
enthielt, ließ er 1873 nicht weniger als drei kleine Sammlungen drucken.
Die erste: Movo Sö-Wis 6i I'jg-bez v Uovvllc;, I^drei-tlo Kivist» <U ssjlo-
lojzia, livmlmna, umfaßt zehn Märchen, von denen drei aus Polizzi und sieben
aus Palermo sind. Die Novellmo poriula-ri sieiliane, nur in hundert
Exemplaren abgezogen, sind durchgängig in Palermo gesammelt und von einer
unbeschreiblich naiven Grazie, besonders die dritte und vierte, I.i tri bkM
vurrmi mei! und I>i tri Limti all II tri I?iZZtn <1i Nu-eauti. Die dritte
Sammlung endlich, von der nur dreißig Exemplare gedruckt wurden, trägt
den Titel: Otto e Novelle sieilmns und bringt uns Proben von den
Sprachweisen von Casteltermini, Fiearazzi. Mangano und Cicmciana. Gleich
allen andern ist sie auf die moderne vergleichende Art behandelt, die Piere
auch bei den Sprichwörtern anzuwenden beabsichtigt. Ein sehr ausführliches
Glossar, welches er seiner überreichen Märchensammlung beizufügen gedenkt,
dürfte bei der betäubenden Fülle von Mundarten ein für Nichtsicilianer un¬
entbehrliches Hülfsmittel sein.
Von den Kinderspielen hat Piero Unsers Wissens bis jetzt noch Nichts
Mitgetheilt, von den Volksfesten dagegen lassen zwei Briefe über den Johannis¬
tag , denen bald ein dritter sich anschließen dürfte, annähernd verrathen,
welche Massen von Piere aufgehäufter Notizen über Sitten und Ueber¬
lieferungen seiner Heimathinsel der Bearbeitung des rüstigen Ethnologen
harren.
Wir wären dem am 26. April geschlossenen Reichstag noch einen Epilog
schuldig, den wir jedoch unterlassen wollen, weil in dieser an Leben überreichen
Epoche vierzehn Tage nach dem Ereigniß nicht Muße noch Neigung vor¬
handen, sich noch damit zu beschäftigen. Wir wollen jedoch wenigstens auf
zwei Früchte der abgelaufenen ReichStagssession einen nachträglichen Blick
werfen: auf das Gesetz über die'Ausgabe von Reichskassenscheinen, und auf
das Gesetz über die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchen¬
ämtern.
Was das erste Gesetz betrifft, so ordnet es die Creirung von Reichs--
Papiergeld im Betrage von 40 Millionen Thalern an. Die Scheine dürfen
«ur auf 8 Mark, 20 Mark oder 30 Mark lauten. Wie viel von der Ge¬
samtsumme in jeder der drei erlaubten Kassenscheinfarben ausgegeben werden
s"it, bestimmt der Bundesrath. Die Ge sammtsumme wird auf die Bundes¬
staaten nach dem Maßstab der Bevölkerung repartirt und der ihm zukommende
Antheil jedem Bundesstaat zur Verfügung gestellt. Diesen Unehe.it muß
aber jeder Bundesstaat benutzen zur Einlösung des von ihm zeither aus¬
gegebenen Papiergeldes. Reicht dee Antheil an Reichspapiergeld zur Ein¬
lösung des particular in Umlauf gesetzten Papiergeldes nicht aus, so wird
Reichskasse dem betreffenden Bundesstaat zwei Drittel der fehlenden Summe
vorschießen: wenn sie kann, aus ihren baaren Beständen, wenn letztere aber
nicht ausreichen, mittelst Creirung von Neichskassenscheinen über dri Betrag
der 40 Millionen hinaus. Ueber die Art, wie diese von der Reichskasse
geleisteten Vorschüsse Seitens der Einzelstaaten zurückzuzahlen sind, ist eine
Anordnung in dem bald vorzulegenden Gesetz über das Zettelbankwesen vor¬
behalten. Für den Fall aber, daß über eine solche Bestimmung die gesetz¬
gebenden Faktoren in Verbindung mit der Ordnung des Zettelbankwesens
sich nicht einigen, soll folgende Bestimmung gelten: Die Einzelstaaten, welche
aus der Reichskasse Vorschüsse empfangen haben, sind gehalten, die letzteren
innerhalb 15 Jahren vom I.Januar l876 ab in gleichen Jahresraten zurück¬
zuzahlen.
Prüfen wir die Gabe, welche mit den Bestimmungen dieses Gesetzes uns
bescheert worden. Man sieht, das Gesetz bringt uns die Gefahr einer Papier-
geldcreirung im Betrage von 60 Millionen Thalern, denn 20 Millionen
Thaler betragen ungefähr die Vorschüsse, welche die Reichskasse wird zu leisten
haben, und auf Baarvorschüsse rechnen wir gar nicht, trotz der auf sie hin¬
wirkenden Bestimmung des Gesetzes. Das Gesetz sichert uns nun allerdings
die Reduktion dieser 60 Millionen im Laufe von is Jahren auf 40 Millionen.
Der Zeitraum von 15 Jahren ist aber gerade hinreichend, das Geldwesen
einer Nation mehr als einmal zu zerrütten. Die Frage ist also: wie werden
die 60 Millionen Thaler Reichspapiergeld auf den Geldumlauf des deutschen
Reiches wirken? Es sind Stimmen laut geworden, welche mit einer gewissen
Prahlerei behaupten: 60 Millionen seien für einen Verkehr, wie der deutsche,
ein reines Nichts; das Papiergeldbedürfniß dieses Verkehrs sei nach Hunderten
von Millionen zu beziffern. Der letztere Satz mag richtig sein, aber der
daraus gezogene Schluß ist falsch und verderblich. Der Verkehr, aber nicht
der kleine Verkehr — mit Verlaub der Herren Camphausen und Del drück
sei dies versichert — bedarf allerdings des Papiergeldes. Aber was hat das
mit den Reichskassenscheinen zu thun? Was der Verkehr bedarf, sind fundirte
Banknoten; was die Grundlage des Verkehrs zerstört, ist unfundirtes Papier¬
geld. Die Prahler, welche behaupten, 60 Millionen seien ein Nichts, sollen
erst einmal die Aufgabe lösen, die 60 Millionen in Gold herbeizuschaffen,
wenn die deutsche Geldcirculation eines Tages glücklich alles Goldes ledig ist-
Die 60 Millionen Reichskassenscheine machen aber, wie leicht zu begründen
wäre, nicht nur ebensoviel Thaler Gold, sondern vielmehr momentan über¬
flüssig umd befördern somit in unberechenbarer Weise den Abfluß des Goldes
aus dem deutschen Verkehr. Auch der Umstand giebt keinen großen Trost,
daß 40 Millionen Thaler Gold im Neichskriegschatz liegen bleiben. Denn
wenn erst einmal in Folge eines für unsere Waffen auch nur zweifelhaften
Feldzuges das Papiergeld entwerther ist, sind 40 Millionen Thaler Gold
nur der Tropfen auf einem heißen Stein. — Die Gefahr, welche der Fähig¬
keit unseres Verkehrs, das jetzt erworbene Gold festzuhalten, von den Reichs¬
kassenscheinen droht, kann ob>» Zweifel sehr vermindert werden durch eine
richtige Ordnung des Zettelbankwesens. Von diesem im nächsten Herbst zur
Vorlage bestimmten Gesetz hängt das Schicksal unseres Geldumlaufes und
der günstige Ausgang unserer Reform des Geldwesens ab. Grund genug,
alles aufzubieten, daß dieses Gesetz noch in diesem Jahr überhaupt zu Stande
komme, und daß es in der richtigen Weise zu Stande komme. Die Schwierig¬
keiten sind groß, denn die beiden größten Beweger der menschlichen Aktion
wirken jeder in gleich starker Entzweiung auf die Behandlung dieses Gegen¬
standes ein: Das materielle Interesse und die ideelle Doktrin. Wir dürfen
die Frage bei der gegenwärtigen Gelegenheit nicht vorgreifend erörtern, aber
die Gegner einer großen centralisirten Staatsbank mögen nicht vergessen,
daß durch das Reichspapiergeldgesetz die Frage schon bis zu einem gewissen
Grade präjudicirt ist. Das Reich hat die Gelegenheit versäumt, als noch
über die französische Kriegsentschädigung frei verfügt werden konnte, sich und
die Einzelstaaten vom Papiergeld zu befreien. Nun ist das Reich genöthigt,
wenn es die Sicherheit des Geldumlaufs nicht preisgeben will, die Befreiung
mittelst der Bankordnung zu bewirken. Dem Bankgesetz ist also durch eine
unabweisbare Aufgabe eine Hauptrichtung bereits vorgezeichnet.
Die zweite Frucht der abgelaufenen Reichstagssession, welcher nächst dem
früher besprochenen Militär- und Preßgesetz wir noch erwähnen müssen, ist
das Gesetz über die Verhinderung der unbefugten Ausübung von Kirchenäm¬
tern. Es handelt sich bei diesem Gesetz um den Verlust des deutschen Staats¬
bürgerrechts in einem Fall, welcher diesen Verlust bisher nicht nach sich ge¬
zogen hatte. Wir müssen eigentlich sagen, es handelt sich zum ersten Mal
um den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit in Folge der Vorschrift
eines Reichsgesetzes. Denn bisher setzte jeder Bundesstaat auf dem Wege seiner
Partikulargesetzgebung die Bedingungen fest, unter welchen die Eigenschaft
eines Staatsangehörigen mit den entsprechenden Rechten erworben und ver-
loren wurde. Nach der Reichsverfassung begründet die Angehörigkeit an einen
Einzelstaat das deutsche Staatsbürgerrecht, welches die besonderen Staats¬
bürgerrechte jedes Bundesstaates unter den dort festgesetzten Bedingungen ihrer
Ausübung verleiht. Das Gesetz gegen die unbefugte Ausübung von Kirchen¬
ämtern hebt nun zum ersten Mal in einem Fall, den keine Partikulargesetz¬
gebung vorgesehen hat. das deutsche Staatsbürgerrecht auf. damit aber auch
die Fähigkeit, die Angehörigkeit zu irgend einem Bundesstaar zu behalten
oder zu erwerben. Der Verlust des deutschen Staatsbürgerrechtes, von welchem
in dem genannten Gesetz die Rede, tritt ein. wenn Geistliche, nachdem sie
durch gerichtliches Urtheil ihres Amtes entlassen, fortfahren, das entzogene
Amt durch Handlungen zu beanspruchen. Der Aberkennung des deutschen
Staatsbürgerrechtes kann eine Jnternirung vorausgehen, welche die Landes¬
polizeibehörde zu verfügen befugt ist; die Entziehung des Staatsbürgerrechtes
kann nur die Centralbehörde des Heimatsstaates aussprechen.
Man hat sich viel Mühe gegeben auch von Seiten der Vertreter des
Bundesrathes, diese Entziehung des Staatsbürgerrechtes nicht als eine straf¬
rechtliche, wie man sich ausgedrückt hat, sondern als eine staatsrechtliche dar¬
zustellen. Man hat durch diese Feinheit den Grundsatz der modernen Staaten
aufrecht erhalten wollen, daß kein Bürger sein Vaterland verlieren kann,
außer indem er sich selbst zugleich dem Boden und den Gesetzen des Vater¬
landes entzieht. Man hat nachzuweisen gesucht, daß Geistliche, die sich
einem gerichtlichen Urtheil nicht unterwerfen, sich den Gesetzen des Vater¬
landes entziehen. Wenn sie aber nicht entfliehen, sondern ins Gefängniß
wandern, so entziehen sie sich eigentlich nicht dem Gesetz, sondern wählen sich
nur die ihnen zusagende Art der Application des Gesetzes. Wir möchten daher
auf diese sogenannte staatsrechtliche Logik kein Gewicht legen, die sich keines¬
wegs als unzweifelhaft darstellt. Das Richtige ist vielmehr, daß hier allerdings
eine Strafart wieder eingeführt worden ist, die man sich gewöhnt hatte, für
unanwendbar anzusehen. Dies letztere war aber ein Irrthum. Die Strafe
der Landesverweisung ist unanwendbar nicht durch die Rücksicht auf die Ver¬
brecher, sondern durch die Rücksicht auf die Mitgenossen der civilisirten Staa¬
tenwelt, welche mit Recht verlangen, daß jeder Staat durch seine eignen Mittel
mit seinen Verbrechern fertig werde, nicht aber durch das für ihn bequeme,
für die andern Glieder der Staatenfamilie gefährliche und lästige Mittel der
Ausstoßung. Von diesem Grundsatz macht nun aber die civilisirte Staaten¬
welt eine Ausnahme zu Gunsten der politischen Verbrecher. Für diese wird
allgemein das Asylrecht geübt, denn man betrachtet sie nicht als Feinde der
Gesellschaft, nicht des Feindes des Rechts als solchen, sondern gewissermaßen
als unterlegene Partei in einem Prozeß, dessen Urtheil der asylgebende Staat
nicht zu sprechen den Beruf hat. Genau auf dieselbe Stufe will das deutsche
Reich die Glieder der römischen Hierarchie stellen, die sich seinen Gesetzen durch¬
aus nicht unterwerfen. Sie sollen nicht als gemeine Verbrecher behandelt
werden, nicht als Leugner aller Grundlagen des Rechts, sondern als Leugner
einer bestimmten Grundlage, von der sie ausgeschlossen werden müssen, ohne
darum allerwärts gemeingefährlich zu sein. So viel zum allgemeinen Ver¬
ständniß dieses Gesetzes, dessen erster Paragraph eine Stufe schlechter Redaktion
und mangelhaften Ausdrucks erreicht hat — das Werk einer freien Commission,
die sich zur Amendirung der Regierungsvorlage gebildet — unter die hoffentlich
kein Reichsgesetz noch herabsinkt, weil ein Tiefersinken in der That unmöglich
scheint.
Wir kommen nun zu dem am 27. April, unmittelbar nach dem Schluß
des Reichstags seine Arbeiten wieder aufnehmenden Landtag. Das Expro¬
priationsgesetz, mit welchem das Abgeordnetenhaus sich ziemlich die ganze
erste Woche beschäftigte, können wir bei seinem technischen Charakter hier
übergehen. Nächst diesem Gesetz hat das Abgeordnetenhaus in den beiden
letzten Wochen die Berathung von drei Kirchengesetzen in zweiter und dritter
Lesung zu Ende geführt, nämlich die evangelische Kirchengemeinde- und
Synodalordnung für die altpreußischen Provinzen; ferner das Gesetz über die
Verwaltung erledigter katholischer Bisthümer; und drittens das Gesetz über
die Deklaration und Ergänzung des Gesetzes vom 11. Mai 1873. über die
Vorbildung und Anstellung der Geistlichen. Anstatt jedoch, wie wir sonst
Pflegen, und wie es in der Regel auch lohnend ist, den Hauptzügen der
Berathung zu folgen, wollen wir jedes dieser Gesetze lediglich in seinem eignen
innern Zusammenhang, sobald es publicirt ist, besprechen. Denn der Kampf
des Centrums gegen die unaufhaltsam auf dem Wege der Wiederherstellung
der Staatshoheit fortschreitende Gesetzgebung bietet nachgerade nicht Neues
mehr. Was hier an dieser Stelle mit Genugthuung constcitirt werden darf,
ist Folgendes. Bei der Besprechung des deutsch-römischen Streites haben
diese Reichstagsbriefe von Anfang so nachdrücklich als möglich war, darauf
hingewiesen, daß bei diesem Streit nur mißbräuchlich die Rede sein kann von
einer Hemmung des Glaubens. Der Glaube bezieht sich auf unsinnliche,
geistige Dinge, oder er ist kein Glaube. Die Unverletzbarkeit des inneren
Gebens, welche das größte Gut der modernen Entwicklung ist. in Anspruch
nehmen für die Machtmittel einer disciplinirten Körperschaft von unerreichter
Stärke der Organisation durch den rücksichtslosesten Gebrauch aller die
Menschliche Natur unterwerfenden Einflüsse: ist das ärgste aller Sophismen.
Dieser Punkt tritt nun immermehr in den Ausführungen der Redner, welche
Regierungsvorlagen unterstützen, mit voller Klarheit hervor, wovon die
ätzten Berathungen glänzende Beispiele zeigen, besonders in den Vorträgen
Gneist's. Es ist dringend zu wünschen, daß die gebildeten Kreise des deutschen
Volkes sich mit der mannigfaltigen und geistreichen Begründung dieses Satzes,
^>e sie in den parlamentarischen Verhandlungen der letzten Zeit geboten
worden, lebhaft und tief durchdringen. Aber es kann an dieser Stelle nicht
unsere Aufgabe sein, den unendlichen Variationen dieses Themas zu folgen,
Nachdem wir über dasselbe selbst hier eine ganze Reihe von Variationen
Mit diesem Werke eröffnen die Goethe'schen Erben, wie man aus dem
Titel steht, die vor einigen Jahren in Aussicht gestellten Veröffentlichungen
aus dem lange Zeit verschlossenen Goethe-Archive in Weimar. Es läßt sich
bei dem Reichthums desselben und gegenüber dem Bedürfniß, das reichhaltige
Material, welches erst die Grundlage zu einer umfassenden Biographie Goethe's
bilden wird, publicirt zu sehen, darüber streiten, ob man Goethe'scher Seits
systematisch vorgeht. Uns will dies nicht scheinen. Wer das Goethe-
Archiv mit seinen unerschöpflichen Reichthümern auch nicht kennt, wird in sich
den Drang fühlen, zunächst ganz andere Materialien, als die, welche hier
vorliegen, kennen zu lernen. Wir wenigstens vermögen nicht zu fassen, warum
man nicht von unten aufbaut, um das Werden Goethe's in dessen reichen,
früher einsetzenden Correspondenzen zu veranschaulichen, warum man hier
bei dem immerhin anzuerkennenden erst jetzt zu Tage tretenden guten Willen
der Erben, sich nicht entschlossen hat, eine sich von selbst ergebende strengere
chronologische Folge in den Publicationen zur Geltung zu bringen. Freilich
gehört zu einer publicistischen Verwerthung eines Goethe-Archivs viel und
wie wir meinen, das kaum Denkbare, nämlich die gute Eigenschaft, daß man
endlich einmal die allzugroße Aengstlichkeit und Bedenklichkeit, ob dies oder
jenes der Welt in ganz unverkürzter Form vorgelegt werden könne, über¬
winden muß.
Die vorliegende Correspondenz, obwohl sie wie gesagt, nothwendig uns
mitten hinein in das reifere und reichbewegte wissenschaftliche Leben Goethe's
führt und fast ganz ausschließlich eine Richtung veranschaulicht, ist trotzdem
sehr anziehend. — Auf den reichen Inhalt jener 374 hier mit geringen Aus¬
nahmen zum ersten Male von Prof. F> Th. Bratranek in Krakau ver¬
öffentlichten Briefe einzugehen, liegt nicht in unserer Aufgabe. Wir haben
uns nur das Ziel gesetzt, die Publication in ihrem Aeußern einer Besprechung
zu unterziehen; Verdienste und Mängel hervorzuheben, so weit sich dieselben
feststellen lassen. Der verdienstvolle Herausgeber hat, obwohl es nach der
ursprünglichen Anordnung des Materials nicht indicirt war, sich mit vollem
Rechte zur gruppenweisen Zusammenstellung entschlossen und durch die Be¬
nützung und Auszüge aus den verschiedenartigsten Quellen stets ein schönes
Ganze in den einzelnen Beziehungen Goethe's geschaffen, während in dem
chronologisch angelegten Verzeichnisse aller einschlagenden Correspondenzen, ein
naturwissenschaftliches Tagebuch Goethe's geschaffen ist, das sich der größten
Beachtung werth zeigt und ein unleugbares Verdienst des Herausgebers bleibt.
An dieses schließen sich die Verzeichnisse der benutzten Werke und endlich die
Gruppirung der Korrespondenzen nach denjenigen Fächern der Wissenschaft
an, welche vorzugsweise ihren Verkehr mit Goethe bestimmten. Man wird
also mit gutem Rechte die Umsicht und Thätigkeit des Herausgebers aner¬
kennen müssen, welche das Buch zu einem vorzüglichen Quellenwerke, das
unter allen Umständen seinen Werth behaupten wird, gestempelt haben.
Gerade dies Moment führt uns auf, die vom Verfasser selbst be¬
dauerte UnVollständigkeit dieses Quellenwerkes welche, wie man zwischen den
Zeilen zu lesen berechtigt ist, leider bei dem Verhalten der Goethe'schen Erben
sich nicht beseitigen ließ. „Man mag berücksichtigen", sagt der Herausgeber,
„daß ich nur das bringen konnte, was hier zugänglich ist, das heißt was sich
in meinem Besitz befindet." Also an eine Durchforschung der Goethe-
Archive zur Vervollständigung der Arbeit war gar nicht zu denken. Das
Material mußte eben in dem Umfange publicirt werden, wie man es im
Archive vorfand. Gewiß wäre es pietätsvoll, wenn man sagen könnte, das
hat Goethe gewollt; er hat z. B. den H u in b o it t'schen Briefwechsel ausge¬
schlossen wissen wollen, der eine Zierde für die vorliegende Publikation ge¬
wesen wäre. Nichts ist ungewisser als das, weil eben das Goethe-Archiv nicht
intact geblieben, durch versuchte Ordnung und wohl auch nicht immer durch
eine exacte Verwaltung in der ursprünglichen Verfassung geblieben ist. —
Wenn sich daher das Eine nicht erreichen ließ, so war mindestens das Andere
geboten, eine Umschau nach Goethe'schen Briefen im Privatbesitz zu halten
und Gedrucktes wie z. B. die Humboldt'schen Briefe heranzuziehen. Manches
Werthvolle hätte sich auch ohne Zustimmung der Goethe'schen Erben finden
lassen, was die Bedeutung dieser Mittheilungen nur erhöhen konnte.
Ganz vortrefflich ist die von Bratranek gegebene Uebersicht der
Goethe'schen Bestrebungen auf den naturwissenschaftlichen Gebieten, während,
wie das in der reichen Goethe«Literatur leicht möglich ist, dies und jenes
nicht die gewünschte Beachtung erfahren hat. Bei mehreren Briefen hätten
wir das Zurückgehen auf die Originalquellen und auf beachtenswerthe
Schriften, wie z. B. Dorow's Denkschriften und Briefe Berlin 1840, Vogel's
Arbeit, Goethe in amtlichen Verhältnissen, Leonharo's Taschenbuch für die
gesammte Mineralogie gewünscht, die der Herausgeber wohl nur vergessen
und sich mit seinen Citaten an die eben nicht glückliche Berliner Ausgabe der
Goethe'schen Briefe gehalten hat. In No. 172 an den Bürgermeister Lösgl
bemerken wir nebenbei, daß dieser Brief in den Hackländer'schen Hausblättern
1863, S. 80 bereits abgedruckt ist. — Schließlich hatten wir gern die Ver-
ficherung entgegengenommen, daß bei der Redactionsarbeit nichts gestrichen
worden ist.,
Denn uns schwebt ja bei Goethe'schen Publicationen stets die Concurrenz
der Enkel Goethe's vor, die z. B, im Carl August Briefwechsel vielleicht auch
das Ihre dazu redlich beigetragen, daß ohne Noth die Briefe unleidlich verkürzt
zur Veröffentlichung gelangt find. Dieser Nachweis wird nöthig sein, wenn
man nicht mit einem gewissen Mißtrauen gegen die Vollständigkeit an die
künftigen Publikationen herantreten soll. Im Uebrigen verdienen der Heraus¬
geber und die Verlagshandlung insbesondere für die schöne Ausstattung dieser
beachtenswerthen Gabe den besten Dank.
Nicht zum ersten Male seit den großen Ereignissen der Jahre 70 und
71 sahen wir den treuen Freund von der Newa in unsern Mauern. Aber
je weiter wir uns von den glänzenden Siegestagen entfernen, je drohender
im Westen die racheschwangere Wetterwolke heraufzieht, um so deutlicher
empfinden wir den hohen Werth der dauernd herzlichen Beziehungen zu
unserm östlichen Nachbar, um so wärmer begrüßen wir den Herrn Alexander
als unseres Kaisers Gast. Der Beginn der vergangenen Woche hat davon
Zeugniß gegeben. In dichten Schaaren drängte sich das Volk, wo immer
die beiden Monarchen sich sehen ließen. Am erhebendsten aber war der
Moment, als sie am Fuße des imposanten Siegcsdenkmals auf dem Königs-
platze die Parade abnahmen. Ist doch das Denkmal das Abbild der preußisch¬
deutschen Geschichte des letzten Jahrzehnts und als solches am besten ge¬
eignet, Rußlands Verhalten gegen uns ins Gedächtniß zu rufen! Schade
nur, daß das Monument noch eines Hauptschmuckes, des von Anton v. Werner
gemalten Frieses, entbehrt. Möge ein gutes Geschick es fügen, daß dereinst
im Angesichts des ganz vollendeten Kunstwerkes der mächtige Herrscher des
Ostens mit seinem kaiserlichen Oheim noch ebenso freundschaftlichen Hände¬
druck wechselt, wie er es jüngst gethan.
Den Werner'schen Fries, von dem wir soeben gesprochen, hat das Ber¬
liner Publikum vor Kurzem, ehe er zum Zwecke der Nachbildung in Glas¬
mosaik nach Venedig abging, noch in aller Muße beschauen können. Das
Bild, ausschließlich zur Verherrlichung des letzten Krieges bestimmt, während
die Sockelreliefs auch von den Feldzügen der Jahre 64 und 66 erzählen, zer-
fällt in vier Abtheilungen, die jedoch ohne Unterbrechung ineinander über-
gehen. Nichts Arges ahnend, liegt Deutschlands Volk der Arbeit des Friedens
ob, als es plötzlich von Westen her durch wüstes Kriegsgeschrei aufgeschreckt
wird. Aengstlich schauen die Schnitter im goldigen Kornfeld über den
grünen Rheinstrom, wo von den Vogesen her die wilde Jagd der gallischen
Kriegsdämonen hoch in den Lüften heranzieht, den Straßburger Münster mit
unheimlichem Schatten bedeckend; erschreckt zieht der Schiffer den Kahn ans
Ufer zurück, mit dem er eben nach dem stammverwandten Elsaß zuzusteuern
gedachte. Aber rasch hat die frevle Herausforderung in deutschen Landen ihre
Wirkung gethan. Entrüsteten Muthes greift Germania zum Schwert, den
friedlichen Bürger vor dem Ueberfall zu schützen, und von der anderen Seite
stürmen sie bereits heran, die kampfesmuthigen deutschen Krieger, voran eine
kühne Reiterschaar, geführt vom Prinzen Friedrich Karl, dann Fußvolk,
Linie und Landwehr, kurzum: das Volk in Waffen. Wer mag noch zweifeln,
daß ihr heiliger Zorn den Feind zerschmettern muß! Bald ist die blutige
Arbeit gethan und auf dem glorreich erkämpften Schlachtfeld stürzen die
Söhne von beiden Seiten des Mains einander in die Arme, hoch zu Roß
begrüßt der preußische Kronprinz den bairischen General v. Hartmann, und
der Großherzog v. Mecklenburg reicht dem General v. d. Tann die Rechte.
Und an dieses Bild der unter den Waffen neu besiegelten Einigkeit der
deutschen Stämme schließt sich die Darstellung des köstlichsten Preises für
das gemeinsame Ringen, der Wiederherstellung des Deutschen Reichs: tief¬
ernsten Blickes nimmt Borussia die Kaiserkrone entgegen, welche ein Page
in den bairischen Farben darbietet, der Großherzog von Baden stimmt den
ersten Hochruf an auf den neuen deutschen Kaiser, Herolde verkünden die
große Botschaft allem Volk und verklärten Auges steigt aus seiner Gruft
der alte Barbarossa.
Nach dem Gesagten bedarf es nicht erst der Versicherung, daß das Ganze
großartig, genial concipirt ist. Ueber die Ausführung dagegen wird mit
Recht viel gestritten. Geradezu befremdend wirkt die durch das ganze Bild
gehende Vermischung von naturgetreustem Realismus und phantastischer Alle-
gorie. An der Borussia in der Krönungsscene, vie sich unter den dem wirk¬
lichen Leben entnommenen wohlbekannten Gestalten der Umstehenden gar
seltsam ausnimmt, ist freilich nicht der Künstler, sondern die Bescheidenheit
Kaiser Wilhelm's Schuld. Die Figur der Germania ist in der Vorstellung
unseres Volkes in der That nach gerade ein Wesen mit Fleisch und Blut
geworden und aus ähnlichen Gründen wird sich auch gegen die Hereinziehung
der Barbarossaromantik nicht viel einwenden lassen. Warum aber die Feld¬
herren inmitten der genau copirten modernen Waffenröcke ihrer Soldaten in
mittelalterlichen Harnischen und Panzerhemden erscheinen, und warum der die
Kaiserkrone überreichende König Ludwig das Gewand eines Pagen, oder
wenn es nun einmal — was historisch freilich eben so wenig richtig ist —
ein Page sein soll, warum dieser Page ganz unverkennbar die Züge König
Ludwig's trägt, ist schlechterdings unergründbar. Bon der in einer Wolke
heranbrausenden gallischen Kriegshorde wird Jeder erwarten, daß sie eine
durchweg aus symbolischen Gestalten zusammengesetzte Gruppe sei. Die
Hauptfigur zeigt freilich eine in die Augen springende Aehnlichkeit mit dem
ersten Napoleon, aber die flatternde Toga läßt uns vermuthen, daß sie als
Cäsarentypus im Allgemeinen aufzufassen sei. Wenn wir nun aber erfahren,
daß mit ihr kein Anderer als — Emile de Girardin gemeint ist, so wird
es uns wahrlich schwer, unsere Ueberraschung in den parlamentarischen
Grenzen zu halten. Uneingeschränktes Lob aber verdienen die unmittelbar
aus dem Leben gegriffenen Partien der Composition; es sind Genrebilder
von jenem idealen Realismus, wenn diese paradoxe Bezeichnung erlaubt ist,
die Werner's Schöpfungen durchweg charakterisirt. Am anmuthigsten wirkt
unstreitig gleich die erste Scene; das Blondköpfchen namentlich mit dem
Kornblumenkranz im Haar, wie es austauscht, wird auf keinen Beschauer
eines tief ergreifenden Eindrucks verfehlen. Und dann, welch erhebender An¬
blick, wie der bärtige Landwehrmann das Handwerkszeug zur Seite wirft,
um dem Rufe des Vaterlandes zu folgen in den heiligen Krieg! So bleibt
denn trotz Allem das Endurtheil über den Werner'schen Fries: er ist eine
großartige, geniale Composition. Eingefügt in das Ensemble des Sieges¬
denkmals wird er die Zusammensetzung desselben freilich nur noch heterogener
und damit das Ganze für das streng ästhetische Urtheil nur noch bedenklicher
machen. Aber da wir nun einmal mit dem Monument, so wie es ist, vor¬
lieb nehmen müssen, so wird man dreist behaupten können, daß der Werner'sche
Fries demselben ein Hauptschmuck, wenn nicht sein bester Schmuck sein wird.
Noch ein anderes die deutschen Siege und die Wiedererrichtung des
Reichs verherrlichendes Kunstwerk hatten wir in jüngster Zeit Gelegenheit,
kennen zu lernen, den von Schilling in Dresden geschaffenen Entwurf des
Nationaldenkmals auf dem Niederwald. Da wir es nur mit einem Modell
zu thun haben, so ist eine eingehende Kritik kaum möglich. Der Gesammt-
eindruck des Werkes aber darf als ein höchst befriedigender bezeichnet werden,
sowohl was die Skulpturen. als was die Architektonik betrifft. Auf einem
breiten Unterbau führen mächtige Stufen zu dem eigentlichen Sockel des
Monuments, vor welchem Rhein und Mosel in allegorischen Gestalten er¬
scheinen. Eine Abstufung höher breitet sich ein reich bewegtes Relief aus,
das deutsche Kriegsheer darstellend, wie es unter Kaiser Wilhelm's Führung
in den Kampf zieht. Ein mächtiger Adler schwebt über der Gruppe. Aber¬
mals eine Abstufung höher erhebt sich ein neuer Sockel, an dessen beiden
Seiten die Genien des Krieges und des Friedens postirt sind, auf dessen
Scheitel aber hochaufgerichtet, die eine Hand auf das lorbeerumkränzte
Schwert gestützt, in der anderen die Kaiserkrone haltend, die Germania thront,
ein Heldenweib von edelstem Ausdruck. Truge der Eindruck nicht, den dieser
Entwurf hinterläßt, so mag dereinst wohl das Denkmal auf dem Niederwald
als das vollendetste und würdigste Erinnerungszeichen der Ehrentage unserer
Nation gepriesen werden. —
Schon früher habe ich wiederholt den geneigten Leser zu einem Gange
durch die Ausstellungsräume des Vereins Berliner Künstler eingeladen. Heute
ist die Ausbeute nicht sonderlich reich zu nennen. Die Ausstellung enthält
zur Zeit eine Fülle des Ansprechenden und Interessanten, ohne jedoch darunter
viel Hervorragendes aufweisen zu können. Einiges Aufsehen erregt ein Bild
H. v. Angeli's: „Die Verweigerung der Absolution." Vor dem unerbittlichen
Priester liegt händeringend ein römisches Weib. Man sieht es dem harten
Manne an, daß es ihm schwere Ueberwindung kostet, dem Flehen der geängsteten
Seele zu widerstehen, aber dennoch spricht aus jeder Miene die eiserne Zucht
der Regel. Weniger packend ist die Erscheinung des unglücklichen Weibes;
der Schmerz der Verzweiflung gelangt in dem blassen Antlitz nicht überwäl¬
tigend genug zum Ausdruck. Im Uebrigen ist das Bild in Zeichnung und
Colorit vortrefflich ausgeführt; der düstere Hintergrund steigert noch die Wir¬
kung der unheimlichen Scene. — Beachtenswerth ist auch eine mittelalterliche
Scene „Schmerzliche Trennung" von Schund. Ein edler Jüngling steht im
Begriff, den Kerker zu betreten; ihm am Halse weint die blondgelockte Braut.
Ungeduldig harren Schließer und Wache, daß der Abschied ein Ende finden
möge. Das Bild ist recht sauber ausgeführt, doch mangelt dem seelischen
Ausdruck die Tiefe. — Nicht ohne Wirkung ist Linzen Mayer's groß ange¬
legte Composition „Elisabeth unterschreibt das Todesurtheil Maria Stuarts".
Staffage und Tracht sind mit historischer Treue und in trefflicher Ausführung
wiedergegeben; auch die schmerzliche Energie in den Zügen der Königin ist in
anerkennenswerther Weise zum Ausdruck gebracht. — Bauer's „Marodirende
Landsknechte" sind kräftige Gestalten mit urwüchsigen Humor; nur ist das
Ganze gar zu dunkel gehalten. — An Genre- und Charakterbildern ist zur
Zeit weniger reiche Auswahl als gewöhnlich. Schlestnger hat eine „Kinder¬
schule" ausgestellt, eine fein ausgeführte Composition mit allerliebsten Köpfchen;
nur mangelt dem Ganzen etwas der belebende Hauch echt kindlicher Fröhlich¬
keit. Auch diesmal übrigens fehlt in der Ausstellung nicht der Beweis, wie
leicht die heutige Genremalerei sich verleiten läßt, die Grenzen des ästhetisch
Zulässigen zu überschreiten. Wir sehen zwei Bilder von Hernberg „Die erste
Pfeife und ihre Folgen". Das erste, die Darstellung der Lust am verbotenen
Genusse, lassen wir uns zur Noth gefallen; „die Folgen" aber hätte uns des
Malers eigenes Zartgefühl füglich ersparen können. — Ein eigenthümliches
Zusammentreffen ist es. daß wir drei oder vier Abbildungen von Mohren be¬
gegnen. Welch seltsamer Geschmack die Schöpfer derartiger Gebilde leiten
nutz sieht man an Trübner's „lesenden Mohren". Hier ist aus dem allge¬
meinen schwarzen Chaos nur das Zeitungsblatt, aus welchem der Sohn
Afrikas feine Bildung schöpft, mit Sicherheit erkennbar. Eine frische, an-
muthiqe Erscheinung ist Kap's „Bückeburgisches Bauermädchen". Das „Flo-
rentinische Blumenmädchen" von O. Begas wirkt durch wundervollen Far--
benglanz, trägt aber im Gesicht eine gar zu gewöhnliche Sinnlichkeit zur
Schau. Plockhorst hat zwei weibliche Köpfe ausgestellt, darunter einen von
idealer Schönheit. Auch ein weiblicher Kopf von Horace v. Rund ist recht
wirksam. Besonderen Reichthum entfaltet die Ausstellung gegenwärtig an
guten Portraits. — Von Brendel sind ein paar genreartige Viehstücke er-
wähnenswerth, besonders die Scene, in welcher der Hirt des Morgens die
Schafe aus dem Stalle läßt. Wer jemals dies Drängen ins Freie in naturf,
beobachtet hat, wird sich der Ergötzlichkeit dieses Bildes nicht verschließen
können. Eine große Aquarelle von Oehme gibt ein höchst lebendiges Bild
von einer Bärenjagd. Was an Geschmacklosigkeit geleistet werden kann, zeigt
die Darstellung eines regelrechten Wettrennens in Hoppegarten. — Unter
den Landschaften zeichnet sich Triebe! aus, der mit einem Motiv aus dem
Dessauer Forstrevier und mit einer Berglandschaft, in deren Hintergrund sich
der mächtige Kegel des Brocken erhebt, vertreten ist. Eine vortreffliche Herbst¬
waldlandschaft hat Hallatz geliefert, ein vorzüglicher „Föhrenwald im Winter"
ist von Gertner ausgestellt.' Beachtenswert!) "durch Frische der Farben und
Vortrefflichkeit der Perspektive ist auch eine Waldlandschaft von Marie v.
Baczko. Donzelle läßt sich auch diesmal wieder in seiner Specialität eigen¬
thümlich ergreifender Mondlandschaften bewundern.
Je mehr die fortschreitende Verästelung der archäologischen Wissenschaft
selbst dem Fachmanne die Möglichkeit nimmt, sich in allen ihren Disciplinen
nur einigermaßen auf dem Laufenden zu erhalten. je dringender das Bedürf¬
niß wird, daß der Archäolog von Fach neugewonnene Ergebnisse der wissen¬
schaftlichen Forschung dann und wann auch dem gebildeten Laien in verständ¬
licher und genießbarer Form vorlege, und je seltener dieser löbliche Brauch
seit Otto Jahn's Hinscheiden geworden ist — namentlich der jüngere Nach¬
wuchs der Archäologen scheint wenig Lust zu haben, dem Beispiele des Meisters
zu folgen — mit um so größerer Freude muß man eine Schrift wie die unten
genannte willkommen heißen. Hat doch Ernst Curtius schon längst neben
Otto Jahr und Jacob Grimm denjenigen Zweig unserer populärwissenschaft¬
lichen Literatur, der in der Form des Vortrags oder des Essays auftritt, durch
die reifsten, gediegensten und schönsten Gaben bereichert. Wer kennt nicht seine
„Göttinger Festreden" und sein Schriftchen über Olympia?
Durchaus ein Seitenstück zu dem letztgenannten. sowohl was den Stoff
als was die Form und die äußere Ausstattung betrifft, ist der vor kurzem
erschienene Vortrag über Ephesos. Auch wer die Geschichte von Ephesos
erzählen will, hat es in erster Linie mit der Geschichte eines Heiligthums zu
thun; an die Gründung des Tempels erst schließt die Entstehung der Stadt
sich an, und seine Schicksale, seine Neuerbauung nach wiederholter Zerstö¬
rung, seine wechselvolle Stellung zur Stadtgemeinde, die Machtentfaltung
seines merkwürdigen Priestercollegiums — sie bilden naturgemäß den rothen
Faden der Darstellung. Die nächste Veranlassung, gerade diesen Stoff in
gemeinverständlicher Weise zu behandeln, haben dem Verfasser die glücklichen
Erfolge gegeben, von denen die zwölfjährigen Ausgrabungen der Engländer
auf ephesischem Boden endlich gekrönt worden sind: Stadt- und Tempelgeviet
sind bloßgelegt, Lage und Anlage des größten und berühmtesten Heiligthums der
alten Welt sind genau festgestellt, und über einen charakteristisch ornamentirter '
constructiver Theil des Tempelgebäudes, die von Plinius erwähnten eolum-
nacz caelawo, über deren Beschaffenheit man bis in die neueste Zeit herein
im Dunkeln tappte, ist durch überraschende Funde das wünschenswertheste
Licht verbrettet worden. Curtius kennr das Terrain und die Objecte der
Ausgrabung aus eigener Anschauung, und so schöpft er hier, wie auch in
einigen anderen Einzelheiten der Darstellung, in denen man specifische
Lieblingsthemen des Verfassers wiedererkennt, recht eigentlich aus dem Vollen.
Dennoch drängt sich nirgends auch nur das Geringste absichtsvoll hervor,
alles ordnet sich bescheiden dem Ganzen ein. Und eben dieses Ganze ist, wie
immer bei Curtius, wieder ein Muster von wohlerwogener Gruppirung. Wie
durch anschauliche Schilderungen des Locals die Erzählung belebt wird, wie
die Erinnerung an alle die wissenschaftlichen, poetischen und künstlerischen An¬
regungen, die von Ephesos ausgegangen sind, mit dem Faden der Darstellung
sich kunstvoll verschlingt, wie die chronologischen Angaben von der Zeit der
„ionischen Wanderung" an durch das ganze Alterthum hindurch bis herab
zur Gründung der ephefischen Christengemeinde so ungesucht mit ihr ver¬
schmelzen, auf dies und manches andere der Art bei der Leccüre zu achten ist
in der That ein auserlesener Genuß. Dabei trägt auch der sprachliche Aus¬
druck wieder bei aller Prunklosigkeit doch einen festlichen und schönheitsvollen
Charakter; nicht eine prosaische Stadtgeschichte, sondern ein erzählendes
Gedicht meint man zu lesen, ein Gedicht freilich, das mit denselden weh¬
müthigen Akkorden, wie das ganze große Epos der hellenischen Geschichte,
ausklingt.
Die Berlagshandlung hat für ein stattliches Gewand des Büchleins ge¬
sorgt und ihm zwei lithographische Tafeln beigegeben, von denen die eine die
Neconstruction des Artemisions nach einer Vorlage von Prof. Adler — aber
nicht wie in dem Vortrage über Olympia eine löste Planzeichnung, sondern
in phantasievollerer Auffassung ein echt malerisches Bild mit landschaftlichen
Hintergrunde und wirkungsvoller Staffage — die andere eine Terrainskizze
von Ephesos, vier interessante ephesische Münztypen und das Abbild einer der
vielbesprochenen column^e eaelatiiö mit ihrem eigenthümlichen Reliefschmucke
Wir werden in einem der nächsten Hefte durch eine sachkundige Feder die
eingehende Würdigung jenes großen Werkes der historischen Abtheilung
des deutschen Generalstabes wieder aufnehmen, welches in noch höherem Grade
als ihre früheren Kriegswerke die Bewunderung von Freund und Feind
erregt. Inzwischen aber möchten wir die Aufmerksamkeit unsrer Leser einer
Arbeit zuwenden, welche natürlich niemals jenen gewaltigen Kreis von Neu-
gierigen und eifrig Forschenden aus allen Völkern anziehen wird, wie das
„große Generalstabswerk" und dennoch in seiner Art ein durchaus ebenbürtiges ist,
gleich rühmliche« Zeugniß ablegt für den Geist und die gründliche Vielseitigkeit
unsrer obersten militärischen Leitung, wie jenes einzige Geschichtswerk. Das
beste Lob, das man dieser unvergleichlichen Behörde spenden kann, besteht
wohl darin, daß sie neben dem ersten Bande von jenem großen Quellenwerke des
jüngsten Krieges, in derselben kurzen Spanne Zeit auch diese „Negistrande"
von ihren Offizieren bearbeiten und vollenden lassen konnte, ein Werk, das
für den vollständigen Einblick in die Friedensarbeit und das Wehrwesen aller
europäischen Völker und deren Kolonien während der letzten Jahre ungefähr
jene fürsorgende und grundlegende Vorarbeit übernimmt, die der deutsche
Volksmund bei den Siegen in Böhmen und Frankreich so beharrlich dem
deutschen Schulmeister zugeschrieben hat. schulmeisterlich, im schlimmen
Sinne des Wortes, ist das vorliegende Werk indessen durchaus nicht. Eben-'
sowenig — worauf der Name „Registrande" hinzudeuten scheint — etwa
bureaukratisch-trocken, noch weniger ordnet es den ungeheuren Stoff nach
dem Zufall und der Laune der täglich beim großen Generalstabe einlaufenden
Bücher, Karten, Berichte. —"
Vielmehr bietet der vierte Band der „Registrande — welcher die Zeit
vom Oetober 1872 bis October 1873 umfaßt — ein so vollständiges, viel¬
seitiges, trefflich gesichtetes, und parteiloses Bild der Friedensarbeit und des
Friedenszustandes' aller europäischen Nationen, wie es wohl selten in ver¬
hältnißmäßig so beschränktem Raume (33 Bogen) gezeichnet worden ist. Das
Werk enthält weit mehr, als was der Titel verspricht „Neues aus der Geographie,
Kartographie und Statistik Europa's und seiner Kolonien" oder „Quellen¬
nachweise, Auszüge und Besprechungen zur laufenden Orientirung." Land
und Leute, Kultur,' Finanzen, Handel, Verkehrswesen, Marine, Maß, Münzen
und Gewicht, und zwar stets der ganzen Staatsgemeinschaft, dann der einzelnen
Theile, werden uns nach den untrüglichsten Quellen in anschaulichster Weise
vorgetragen; überall werden die Quellen ihrerseits angeführt, wird ihr Werth
begutachtet. Alle außereuropäischen Besitzungen europäischer Staaten werden
in den Kreis dieser Beobachtung gezogen. Die wichtigste dankenswertheste
Neuerung aber, welche dieser vierte Band der „Registrande" im Vergleich zu
früheren bietet, ist die ausführliche Behandlung des europäischen Heerwesens,
welche allein ein Viertel des ganzen Werkes füllt. Diese Untersuchungen
reichen über das sonst von diesem Bande festgehaltene Zeitmaaß zurück, weil
bei der Ausgabe des dritten Jahrgangs der Registrande fast alle europäischen
Armeen noch mitteninne standen in der großartigsten Reorganisationsarbeit,
und sodann, weil die nun feststehenden Ergebnisse dieser Organisationen nach
Absicht der intellektuellen Urheber dieses Werkes ein für allemal in zusammen¬
hängender Darstellung mitgetheilt werden sollten, damit später blos er¬
gänzende Nachrichten dem unterichteten Leser genügen können. Uebersieht
man dann aber in einem Blicke die tausende von Schriften, welche gelesen
werden mußten, um dieses eine Bild zu schaffen, um den mannigfachsten
Interessen so vieler Völker gründlich nachzugehen, und vergegenwärtigt man
sich die Klarheit und Energie, die dazu gehört, um dieses enorme Material
zusammen zu stellen und ansprechend zu sichten, so wird man, voll Anerkennung
für die namenlosen Verfasser dieses Werkes, zugleich der obersten Leitung unseres
Heerwesens ein unbegrenztes Vertrauen entgegentragen und bewahren.
Im Sommer 1871 brachten die Zeitungen aus London die Kunde von
dem Tode des großen englischen Geschichtsschreibers George Grote. des Ver¬
fassers der berühmten und epochemachenden „Geschichte Griechenlands". In
Deutschland schwelgte man damals in „Truppeneinzügen", und so blieb, was
in gewöhnlichen Zeiten unmöglich gewesen wäre, die Nachricht ziemlich un¬
beachtet; wir erinnern uns wenigstens nicht, daß irgend eine deutsche Zeit¬
schrift damals ein Wort zu Ehren Grote's übrig gehabt hätte. Erst jetzt,
nachdem drei Jahre darüber hingegangen, ist das Andenken an ihn erneuert
worden. Grote's Frau, Harriet Grote, in England wohlbekannt als die
Verfasserin von einem „Leben Ary Scheffer's" und von „Gesammelten Schriften",
gab im Frühjahr 1873 ein Buch heraus, in welchem sie versucht, aus per¬
sönlichen Erinnerungen, Tagebüchern und Briefen ein Bild von dem äußeren
Lebensgange ihres Mannes zu entwerfen*), und dieses Buch, dem in England
der größte Beifall gezollt worden ist, liegt seit wenigen Wochen auch in einer
deutschen Uebersetzung vor.**) Sicherlich werden viele mit lebhafter Freude
nach dieser Uebersetzung greifen. Denn wenn auch Grote's wissenschaftlicher
Ruhm schon seit drei Jahrzehnten in Deutschland begründet ist, wenn sein
grandioses Geschichtswerk längst auch bei uns Grundlage und Ausgangs¬
punkt aller auf griechische Geschichte sich erstreckenden Studien bildet, über sein
Leben war und blieb man im allgemeinen auf spärliche Nachrichten beschränkt.
Man wußte, daß Grote in der Gelehrtenwelt eine um so wunderbarere Er¬
scheinung sei, als er — zwar kein Unicum, aber doch eine extreme Rarität —
in einer Person den Gelehrten und den Kaufmann vereinige; seine Be¬
deutung nach einer dritten Seite hin, nämlich als Politiker, werden wenige
gekannt haben, geschweige denn, daß über die Entstehung seiner Werke, über
seinen ganzen merkwürdigen Entwicklungsgang, seinen Charakter und seine
Anschauungen irgend welche Kunde verbreitet gewesen wäre.
Hamel Grote's Buch, welches bestimmt ist, diese Lücke auszufüllen,
gehört zu jener Mischelasse biographischer Litteratur, die in unserer Zeit in
auffälliger Zunahme begriffen ist. Niemand will, wie es scheint, mehr eine
wirkliche Biographie schreiben: ein Buch aus einem Guße, nach allen Seiten
hin durchgearbeitet, künstlerisch abgerundet, stilistisch ausgefeilt. Ein Bündel
Briefe nach ihrem Datum zu ordnen, ein paar Tagebuchblätter zum Abdrucke
zu bringen und zwischen diese Briefe und Tagebuchblätter ein wenig „ver¬
bindenden Text" zu schieben, das ist unläugbar bequemer; der Leser mag
selber zusehen, wie er aus all dem bunten Kram sich die brauchbaren Stücke
zu einem einheitlichen Bilde heraussucht. Die Furcht vor der Mühe, die wir
so gerne denen vorwerfen, die mit der Hand arbeiten, hat ohne Zweifel auch
die Kreise der Geistesarbeit ergriffen; unsere litterarische Production krankt
entschieden an der Sucht nach möglichster Mühelosigkeit; ein Beweis dafür
ist das Überhandnehmen solcher Conglomerate. Freilich würde es unbillig
sein, die Arbeit von Harriet Grote mit jenen bequemen Gemengseln schlechthin
auf eine Stufe zu stellen. Die Verfasserin ist eine hochbetagte Frau, der alle
Gebildeten es aufrichtig Dank wissen werden, daß sie, der Last ihrer Jahre
ungeachtet, sich noch der Mühe unterzog, Nachrichten über das Leben ihres
Mannes, die nur sie — und wer weiß, wie lange noch? — zu geben im
Stande ist, zu veröffentlichen. Dennoch kann man den Wunsch nicht unter¬
drücken, daß ihr Buch nicht durch eine wörtliche Uebersetzung, sondern durch
eine geschickte und — wesentlich verkürzte Bearbeitung dem deutschen Publikum
zugänglich gemacht worden wäre.
Die Verfasserin hat, wie gesagt, nichts weniger als eine Biographie
ihres Mannes gegeben. Der ganze Stoff ist nach Art eines Jahrbuches oder
einer Chronik eingetheilt. Um die letzten 38 Jahre von Grote's Leben zu
schildern, schreibt Harriet 30 Capitel! Man kann also fast sagen: So viel
Jahre, so viel Capitel, und wirklich steht über jedem Capitel eine Jahreszahl
als Ueberschrift. Ist eine äußerlichere Auffassung eines Lebenslaufes wohl
denkbar? In der That ist die Darstellung derart zerstückelt, daß Ereignisse,
die hinter einander verzeichnet sind, meist in gar keinem Zusammenhange
stehen, dagegen das sachlich Zusammengehörige aus den verschiedensten
Capiteln herbeigeholt und manchmal der Zusammenhang geradezu errathen
werden muß. Die Darstellung von Grote's parlamentarischer Thätigkeit
z. B. bewegt sich in so aphoristischen Andeutungen, daß sie vermuthlich selbst
für einen englischen Leser, wenn er nicht eine ausführliche Geschichte des
englischen Parlaments zur Seite hat, kaum verständlich sein wird. Hie und
da sind wieder Briefe und Tagebuchnotizen eingeschaltet, die mit der Dar-
Stellung in keinem anderen Zusammenhange stehen als dem, daß sie eben aus
der Zeit stammen, bei der die Erzählung gerade angelangt ist. Da hilft sich
dann die Verfasserin, äußerlich genug, durch Wendungen, wie: „Ich finde in
meinen Notizen folgende Angabe" oder „Ich füge hier folgenden Brief ein"
und ähnliches. Ueberhaupt nimmt dieser „verbindende Text" sich manchmal
herzlich unbeholfen aus. Eine Stelle, wie die folgende z. B., in der drei
Sätze hinter einander mit demselben Subjecte anfangen: „Sie erreichten Paris
am Abend des dritten Tages, nachdem sie zwei Nächte unterwegs geschlafen
hatten. Sie reisten, um Ausgaben zu vermeiden, ohne alle männliche oder
weibliche Bedienung. George und seine Gattin beabsichtigten nur eine Woche
in Paris zu bleiben" klingt wirklich wie der erste schüchterne Versuch einer
Stilübung. Ferner wäre zu berücksichtigen gewesen, daß vieles in dem Buche
nur für englische Leser bestimmt ist. Eine Menge von Personen werden vor¬
geführt, eine Menge Oertlichkeiten genannt, die in Deutschland kein Mensch
kennt, und sie werden eben nichts als vorgeführt, es wird uns keinerlei In¬
teresse für sie eingeflößt. Ebenso wird in den mitgetheilten Schriftstücken nicht
selten auf Personen, Vorfälle oder litterarische Erscheinungen angespielt, bei
denen der deutsche Leser schlechterdings wenigstens ein Wort der Erläuterung
erwartet. Endlich aber — und das ist der Hauptgrund, weshalb eine Be¬
arbeitung vor einer Uebersetzung den Vorzug verdient hätte — ist der eigentliche
Kern des Buches, das Leben Grote's, unter einem unsäglichen Ballast der
untergeordnetsten Kleinigkeiten förmlich begraben. Man sagt, in England
könne kein Landpfarrer sterben, ohne daß sofort nach seinem Tode sich irgend
einer hinsetze und eine dicke Biographie des seligen Biedermannes schreibe.
Von einer solchen Landpfarrerbiographie mag wohl jedes biographische Werk
der Engländer etwas an sich haben: das ermüdende Verweilen bei Erleb¬
nissen, denen alles Charakteristische fehlt, die jeder andere auch erleben kann,
und die nur für die allernächsten Freunde des Betreffenden Interesse haben
können; und dies wird um so mehr der Fall sein, wenn, wie z. B. bei Dickens,
der Autor der Biographie ein intimer Freund, oder, wie im vorliegenden
Falle, gar die Frau des Verstorbenen ist. Hamel hing an ihrem Manne mit
zärtlicher Liebe und mit strahlendem Stolze; von seinen Briefen sagt sie
einmal, man könne auf sie anwenden, was de Burigny von den Briefen des
Hugo Grotius sage: „Sie können wie Werke betrachtet werden. Die Samm¬
lung, die wir von ihnen besitzen, ist ein Schatz, nicht allein für die allgemeine,
sondern auch für die Litteraturgeschichte" — angesichts der mitgetheilten
Proben unläugbar eine Uebertreibung. Während sie in der ersten Hälfte
ihres Buches immer von „Mr. George Grote" spricht, nennt sie ihn in den
späteren Partieen mit Vorliebe: „der Historiker", „der Vicekanzler", ein paar
mal sogar „mein berühmter Gatte". Durch langjährige gemeinsame Geistes-
arbeit aber war sie so mit ihm verwachsen, daß sie schließlich entschieden nicht
mehr im Stande war, ihr Wesen und sein Wesen auseinanderzuhalten;
beide sind eins, und wenn Grote der „berühmte Gatte" ist, so erscheint sie
sich selbst, darüber kann kein Zweifel sein, als die berühmte Gattin. Daher
kommt es, daß in dem Buche mindestens eben so viel von Harriet als von
George Grote die Rede ist, und da die Verfasserin z. B. seit langen Jahren
an nervösem Kopfweh leidet, so hält sie es für ihre Pflicht, Jahr für Jahr
über den Grad ihrer neuralgischen Beschwerden ebenso gewissenhaft Bericht
zu erstatten, wie über die Fortschritte von Grote's „Griechischer Geschichte".
So drängt sich durch das ganze Buch das Kleine anspruchsvoll neben das
Große; neben werthvollen, aber nur für den Fachgelehrten verständlichen
philologischen Erörterungen Grote's über irgend eine Stelle des Thukydides
oder Aristoteles erscheinen immer und immer wieder Nachrichten über Reisen
in die Provinz oder nach dem Continente, über Wechsel des Aufenthalts und
der Wohnung — und das Grote'sche Paar hat ein wahres Nomadenleben
geführt — über Besuche, die gemacht, und Gäste, die empfangen worden sind,
bet der bekannten englischen Gastfreundschaft natürlich ebenfalls ein endloser
Stoff zum Erzählen, sogar über Mittags- und Abendessen und die dabei
gepflogene Unterhaltung, kurz über Dinge, für die selbst bei der tiefsten Ver¬
ehrung vor Grote unmöglich jeder deutsche Leser Interesse haben kann. Denn
auch das Kulnani nidil g. ins alienum hat seine Gränzen.
Im Folgenden versuchen wir, die Zisjeets. memdiÄ von Harriet Grote's
Buch zu einem erträglich deutlichen Umrisse von Grote's Lebensgang und
Charakter zu verbinden, nicht etwa, — wovor wir uns ausdrücklich ver¬
wahren, — um die Lectüre des Buches überflüssig zu machen, sondern im
Gegentheile, um recht dazu anzuregen. Enthält es doch auch des Anziehenden
und Liebenswürdigen so viel, daß man das Unbedeutende, wenn es denn nicht
anders angeht, schon einmal mit in Kauf nehmen kann.
Grote stammte von deutschen Voreltern ab. Sein Großvater Andreas
Grote war um die Mitte des 18. Jahrhunderts aus seiner Vaterstadt Bremen
nach London übergesiedelt und hatte dort 1766 ein Bankgeschäft gegründet;
Andreas' ältester Sohn aus zweiter Ehe, in dessen Hände das Geschäft später
überging, wurde der Vater des großen Geschichtsschreibers. Am 17. November
1794 wurde George Grote geboren. Mit zehn Jahren wurde er in die
Charterhouseschule geschickt, mit sechzehn trat er, trotz seiner lebhaften Neigung
zu weiteren wissenschaftlichen Studien, welche durch den Uebergang zur aka¬
demischen Laufbahn hätten gefördert werden sollen, auf den Willen seines
Vaters in dessen Bankgeschäft ein. Aber sofort theilte sich sein Interesse
zwischen den ihm angewiesenen und seinem erkorenen Berufe. Er hatte auf
der Schule eine entschiedene Vorliebe für die alten Classiker gefaßt, und so
nahm er an den Tagen, an denen er, um das Geschäft zu schließen, in der
City bleiben mußte, des Abends seine unterbrochenen Studien wieder auf.
Daneben lernte er eifrig die deutsche Sprache, — damals noch eine große
Seltenheit unter der englischen Jugend — und beschäftigte sich fleißig mit
Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie. Seine Mutter, die Tochter
eines Geistlichen, huldigte den strengsten religiösen Anschauungen, der Vater
ließ sie um des lieben Friedens willen gewähren, und in politischen Dingen
war er selbst conservativ. von geselligem Leben im Hause war wenig die
Rede: in dieser Atmosphäre wäre das Talent des jungen Grote vielleicht
verkommen, wenn er nicht gleichaltrige Freunde gefunden hätte, die von dem¬
selben Streben nach jeder Art von geistigem Fortschritt beseelt waren, wie er.
Von größtem Einfluß jedoch auf seine ganze geistige Entwicklung wurden
Jeremias Bentham und James Mill. Bentham's Schriften begannen damals
gerade ihre Wirkung auszuüben! Grote studirte sie eifrig und suchte auch den
persönlichen Umgang des großen Rechtsphilosophen auf. Noch wichtiger aber
wurde für ihn die Bekanntschaft mit James Mill, dem Vater von John
Stuart Mill. Der eindringliche und unerbittliche scharfe Verstand, den Grote
später bei all seiner Sanftmuth und Herzensgüte an den Tag legte, die aus¬
geprägte republikanische Gesinnung und die entschiedene Freisinnigkeit in kirch¬
lichen Dingen, die er im reiferen Mannesalter offenbarte, sind zum großen
Theil aus den Umgang und die Lehren Mill's zurückzuführen.
Die-nächsten Jahre verflossen getheilt zwischen geschäftlicher und wissen¬
schaftlicher Thätigkeit; doch blieb die letztere zunächst noch receptiv. Aus den
Tagebüchern, die Grote in den Jahren 1818 und 1819 führte, um Harriet,
seine damalige Braut, über seine Lebensweise und seine Beschäftigung in
Kenntniß zu erhalten, und in denen er gewissenhaft seine Lectüre verzeichnete,
begegnen wiederum in erster Linie nationalökonomische Schriften. Daneben
zeigt sich seine Vorliebe für die deutsche Litteratur; Lessing's Laokoon und
theologische Schriften, Kant's Anthropologie und Schiller's Dramen werden
als gelesen verzeichnet. Zu Anfange des Jahres 1820 führte Grote seine
Braut heim. Der Vater, der erst 1818 seine Einwilligung zur Verbindung
mit Harriet gegeben, wiewohl Grote sie schon 181S kennen und lieben gelernt
hatte, stellte das junge Paar fürs erste so, daß sie „in bescheidener Behag¬
lichkeit" leben konnten. Harriet bewies von Anfang an rege Theilnahme für
Grote's Studien; unaufhörlich lernte sie unter seiner Leitung und war be¬
müht, seinen eigenen Fortschritten nach allen Richtungen zu folgen. Häus¬
liche Sorgen zogen sie nicht ab; das einzige Kind, das sie gebar, kam zu
früh zur Welt und war nicht lebensfähig.
Im Jahre 1822 traten die ersten Anfänge der „Griechischen Geschichte"
hervor. „Ich stecke gegenwärtig tief in Griechenlands sagenhaften Zeitalter",
schreibt er im Januar 1823 an einen seiner Jugendfreunde, und in den Auf¬
zeichnungen über seine Lectüre vom December des vorhergehenden Jahres er¬
scheinen auch Pausanias, Diodor von Sicilien und Wolf's „Prolegomena zum
Homer". Aber schon äußert sich auch sein scharfer kritischer Verstand: „Ich
bin völlig erstaunt zu sehen, mit welcher außerordentlichen Gier und mit
welchem Leichtsinn die Menschen etwas behaupten, glauben, noch einmal be¬
haupten und Glauben finden. Die Schwäche ist offenbar eine nahezu all¬
gemeine." Das Verdienst jedoch, Grote dazu angetrieben zu haben, daß er
selber eine neue „Geschichte Griechenlands" schrieb, nimmt aufs Bestimmteste
Harriet für sich in Anspruch. Als sie im Herbst des Jahres 1823 fortwährend
im häuslichen Kreise das Thema der griechischen Geschichte erörtern hörte,
sagte sie endlich zu ihm: „Das wäre ein schöner Gegenstand für dich; ich
meine, du versuchst es einmal damit", und nach einer kurzen Zeit der Ueber-
legung kam er wirklich zu dem Entschlüsse, Hand ans Werk zu legen. In
der geringen Muße, die das Bankgeschäft ihm ließ, widmete er sich von nun
an ununterbrochen dem einmal gefaßten Plane, und doch fand er neben dem
unausgesetzten Studium der Alten auch noch Zeit, gründliche Bekanntschaft
mit der Litteratur der modernen Sprachen zu machen. Die ersten Früchte
seines Fleißes und seines Scharfsinnes gab er in seiner Recension von Mil-
ford's „Griechischer Geschichte", die im April 1826 in der Westminster Review
erschien und zum ersten Male Niebuhr's Aufmerksamkeit auf den gleich¬
strebenden jüngeren Forscher lenkte. Die Absicht Grote's, im Mai 1827
nach dem Continent zu reisen und dabei in Bonn Niebuhr's persönliche Be¬
kanntschaft zu machen, wurde wieder aufgegeben; beide, der große griechische
und der große römische Geschichtsschreiber sind einander nie im Leben be¬
gegnet. Doch schon auf jene Recension hin schrieb Niebuhr 1827 an Grote:
„Sie zu sehen, mich mit Ihnen über den edlen Gegenstand zu unterhalten,
der Ihre Mußestunden in Anspruch nimmt, und dem gerecht zu werden Sie
sich schon in so hervorragender Weise befähigt erwiesen haben, wird mir ein
auserlesener Genuß sein. Wir beide können ohne persönliche Bekanntschaft
wissen, daß zwischen unsern Principien und unsern historischen Anschauungen
eine solche Geistesverwandtschaft besteht, daß wir berufen sind, mit einander
bekannt zu werden und unsere Arbeiten zu verknüpfen. In der griechischen
Geschichte, vielleicht mit ein paar Ausnahmen von solchen Punkten, zu deren
Untersuchung ich geführt worden bin, habe ich von Ihnen nur zu lernen."
Rege Aufmerksamkeit widmete Grote um diese Zeit auch dem Plane,
der zuerst 182S aufgetaucht war, in London eine Universität zu gründen, die
von allen religiösen Lehren unabhängig sein, die höhere geistige Ausbildung
den Händen des Klerus entziehen und so auch den Söhnen der Dissenters
ermöglichen sollte. Im April 1827 wurde der Grundstein zu dieser neuen
„freien" Universität gelegt — eines der epochemachendsten Ereignisse in der
Geschichte der englischen Civilisation -—, alle „philosophischen Radicalen",
wie man die Anhänger Bentham's nannte, unterstützten das Werk geistig
und materiell aus das opferwilligste, und auch für Grote war die Förderung
dieses Planes eine „Lieblingsarveit", hinter der die geschichtlichen Studien
zeitweilig zurücktraten. An der politischen Bewegung zu Gunsten der
Parlamentsreform, die in dieselben Jahre fällt und namentlich seit Canning's
Tode mehr und mehr an Kraft gewonnen hatte, nahm Grote vorläufig keinen
Antheil. Wiewohl voll lebhaftester Sympathie dafür, hatte er doch damals
weder die Muße noch die nöthigen pecuniären Mittel, um mit Erfolg in
die liberale Agitation eingreifen zu können. Dagegen gelangte sein Ruf als
eines tüchtigen, erfahrenen und zuverlässigen Bankiers gerade damals zu all¬
gemeiner Anerkennung.
Als Grote's Vater im Jahre 1830 starb, trat in manchen Stücken eine
Aenderung ein. Grote wurde zum Haupterben eingesetzt und kam dadurch
in den Besitz eines persönlichen Eigenthums von ungefähr 40,000 Pfund
Sterling, vollauf genug, um das gesellige Leben im Hause Grote „auf einem
etwas größeren Fuße einzurichten". Zwar hatte sich auch schon in den
Jahren 1822—1830 eine erlesene Gesellschaft geistig hervorragender Persön¬
lichkeiten um das junge Paar versammelt: der alte Mill war mindestens
einmal in der Woche der Gast des Hauses; doch erweiterte sich dieser Kreis
nach des Vaters Tode zusehends. Vor allem aber wurde Grote nun, was
er bisher nicht ganz gewesen war, Herr seiner Handlungen und brauchte sich
nicht länger durch die abweichenden politischen Anschauungen des Vaters be¬
engt zu fühlen. Daher trat er, wiewohl die Arbeit eines Bankiers in poli¬
tisch aufgeregter Zeit doppelt beschwerlich war, die wissenschaftlichen Bestrebungen
doch auch nicht zu kurz kommen sollten und überdies das Amt eines Testaments¬
vollstreckers für seines Vaters Hinterlassenschaft mit unvorhergesehenen
Weiterungen verknüpft war, doch mehr und mehr in die Sphäre politischer
Thätigkeit ein und eröffnete eine lebhafte Correspondenz mit den Vertretern
der liberalen Partei in der Provinz. Es währte nicht lange, so wurde er
von seinen Freunden als einer der wahrscheinlichen Führer in den heran¬
nahenden parlamentarischen Kämpfen bezeichnet. Im November 1830 kam
das Whigministerium Grey ans Ruder, im März 1831 wurde die „ewig
denkwürdige" Parlamentsreform von John Rüssel eingebracht. Schon setzt
wurde Grote gedrängt, als Wahlcandidat für die City aufzutreten, doch sah
man für diesmal noch von ihm ab. Als aber die Reform nach der Auflösung
des Parlamentes im Jahre 1832 durchgegangen war, vermochte er dem An¬
drange der Ereignisse nicht länger zu widerstehen: im Juni 1832 trat er als
Candidat für die City auf; Einführung der Ballotage bei den Wahlen, Auf-
Hebung der Selaverei, Abschaffung des Zehnten an die Geistlichkeit, Steuer¬
reformen und was sonst die Gemüther der Liberalen damals bewegte, schrieb
er auf seine Fahne, und mit einer in London noch nie dagewesenen Majorität
trug er den Sieg bei den Wahlen davon.
Nun war es freilich unvermeidlich, daß die „Griechische Geschichte" bei
Seite gelegt wurde. Von der einflußreichen und wohlhabenden Classe wurde
die Reformbewegung nicht unterstützt; nur die mittleren und niederen Kreise
der Bürgerschaft waren es, die persönlich für die liberale Sache eintraten und
wirkten. So fiel Grote und seinen Freunden eine gewaltige Arbeitslast zu.
Zum Glücke stand er damals im besten Mannesalter, hatte eben das 38. Jahr
zurückgelegt, war rüstig und gesund, und wiewohl er keineswegs frei war
von drückenden Verpflichtungen geschäftlicher Art, so hoffte er doch das Ver¬
trauen seiner Freunde und die Erwartungen seiner Wähler zu rechtfertigen.
Die Vorbereitungen zu einem Antrage auf Einführung der Ballotage be¬
schäftigten ihn während der Zeit zwischen seiner Wahl und seinem Eintritt
ins Parlament. Im März 1833 brachte er seinen Antrag ein und hielt
seine „Jungfernrede", die im ganzen Lande außerordentlichen Eindruck machte.
Noch einige zwanzig Jahre später erklärte Broughton: „Ich bin mein ganzes
Leben lang im Parlament gewesen, habe den Rednern des Jahrhunderts,
Mr. Canning unter anderen, gelauscht, und ich bin seit langer Zeit der
Meinung, daß die beiden besten Reden, die ich in diesen Räumen je gehört,
folgende waren: Macaulay's Rede über die Frage des Verlagsrechts und
Grote's erste Rede über die Ballotage." Die Reformer waren stolz auf die
Erwerbung eines so geschickten Führers, die liberale Presse verkündete laut
das Lob ihres neuen Kämpen, mit einem Schlage war aus einem bis dahin
unbekannten Manne ein Mann von anerkannter geistiger Bedeutung ge¬
worden. Aber auch an anderen Debatten jener furchtbaren Reformära nahm
Grote den thätigsten Antheil, und so ganz ging er in seinem neuen Wirkungs¬
kreise auf, daß die parlamentarische Thätigkeit, wiewohl sie im Ganzen für
ihn, der bisher sein Leben mehr in der Gesellschaft von Büchern als von
Menschen verbracht hatte, mit mannigfachen Enttäuschungen verknüpft war,
ihn doch seinen wissenschaftlichen Studien untreu zu machen drohte. Als die
Session von 1833 zu Ende war, schrieb Hamel mit Besorgniß in ihr Tage¬
buch: „Grote widmete sich nicht, wie ich ihn ernstlich ersuchte, der Förderung
seiner Geschichte während des Winters, sondern überließ sich mannichfachen
Streifzügen auf dem Felde der Litteratur — ein Hang, den man ihm sonst
im allgemeinen nicht vorwerfen kann. Diesen Winter hat er jeder Art ver¬
mischter Lectüre nachgehangen und weniger Noten, die mit Büchern in Zu-
sammenhang stehen, geschrieben, als er, soweit ich mich erinnere, jemals in der
gleichen Periode gethan hat. Ich fürchte sehr, er wird diese Gewohnheit
planlosen Lesens fortsetzen und es beschwerlich finden, die alten Arbeiten, die
er einmal mit liebevollem Fleiße und ausdauernder Energie betrieb, wieder
aufzunehmen".
Grote's parlamentarische Laufbahn reicht bis zum Jahre 1841. Auf
das Detail derselben und auf die Stellung, die er den einzelnen zur Ver¬
handlung kommenden Fragen gegenüber einnahm, näher einzugehen, würde
hier zu weit führen. Wie zu Anfange, so widmete er auch in den nächstfol¬
genden Jahren seinem Mandat die angestrengteste Thätigkeit, namentlich durch
seine Theilnahme an mannigfachen Commissionen, und da er in den zwischen
den Sessionen liegenden Pausen stets genöthigt war, dem Bankgeschäfte seine
volle Aufmerksamkeit zuzuwenden, so wurde ihm ein Ausflug in die Provinz
oder nach dem Continent dann und wann Bedürfniß; für seine Bücher und
selbst für seine Häuslichkeit blieb ihm wenig Zeit übrig. Immer von neuem
nahm er die Agitation für die Einführung der Ballotage wieder auf, die ihm
persönlich ganz besonders am Herzen lag. Die Sache war förmlich zum
ceterum eovseo bei ihm geworden und gehörte zu den „stehenden Gerichten"
in jeder Session, und schließlich mußte er es mit ansehen, daß die Minister
sich entfernten, sobald er den Gegenstand nur zur Sprache brachte. Selbst
ein Modell zu einem Ballotagekästchen wurde in Gemeinschaft mit Harriet
von ihm construirt und in zahlreichen Exemplaren im Lande verschickt. Auch
für die große Bewegung zu Gunsten der Emancipation Irlands hegte er
warme Sympathie.
Mitte der dreißiger Jahre verlor die Whigpartei mehr und mehr an
Boden ; zahlreiche Whigs sagten sich von den Radicalen los, zogen sich in
die Reihen der Conservcitiven zurück, und die Bemühungen der eigentlichen
Radicalen, zu denen Grote gehörte, wurden immer erfolgloser. Dies steigerte
sich noch seit dem Regierungsantritt Victoria's; „eine Fluth von Loyalität,
schreibt Harriet ein wenig bitter, ergoß sich über die jungfräuliche Königin."
Schon bei seiner Wiederwahl 1835 hatte Grote von den vier liberalen Can-
didaten Londons die niedrigste Stimmenzahl gehabt, und 1837 trug er gar
bloß mit 6 Stimmen den Sieg über seinen conservativen Gegencandidaten
davon. Kein Wunder, daß er allmählich entmuthigt wurde, daß sein Interesse
für Politik sich abschwächte, und daß er Lust verspürte, sich seinen Studien
wieder zuzuwenden. „Ich blicke jetzt nachdenklich, schreibt er im Februar 1838,
zurück auf meine unvollendete griechische Geschichte. Ich hoffe, die Zeit wird
bald kommen, wo ich sie wieder aufnehmen kann." Mehr und mehr kehrte
er nun in den Pausen der Politik zu den Alten zurück. Im Jahre 1840
finden wir ihn in Platon und Aristoteles vertieft, daneben erscheint unter
der deutschen Lectüre Kant's „Kritik der reinen Vernunft". Bei der Adreß-
debatte 1841 sprach er zum letzten Male ausführlich im Parlament ; als dann
die Neuwahlen bevorstanden, theilte er seinen Wählern seinen Entschluß mit.
sich von der Vertretung der City zurückzuziehen. Höchst wahrscheinlich wäre
er auch so nicht wieder gewählt worden, die Tories gelangten noch im Jahre
1841 vollständig ans Ruder.
Sobald Grote wieder otiosus war, beschloß er vor allem einen lange
gehegten Plan zur Ausführung zu bringen und aus einige Monate nach Ita¬
lien zu gehen; nach der Rückkehr sollte dann dauernd an dem „vous ma-
ßnum", wie es die beiden Gatten von nun an immer bezeichneten, an der
„Geschichte Griechenlands" gearbeitet werden. Nachdem er sich ein paar Mo¬
nate lang mit allem Eifer dem Bankgeschäfte gewidmet hatte, um sich für die
folgende Zeit entbehrlich zu machen, brach er im Oetober 1841 mit Harriet
nach dem Süden auf. Sie reisten über Frankfurt. Nürnberg, Augsburg.
München und Insbruck nach Verona, besuchten Venedig, Bologna und Flo¬
renz und kamen im December nach Rom. Dort verweilten sie fast einen
Monat und „arbeiteten hart" an der Besichtigung der Sehenswürdigkeiten.
Ende des Jahres wurde nach Neapel und den Ruinen von Pästum aufge¬
brochen, auf dem Rückwege nach Rom im Januar 1842 Monte Casino und
seiner Klosterbibliothek ein kurzer Besuch gewidmet, und Anfang März ging
es über Genua, Turin und Lyon wieder nach der Heimat. Nun wurde de¬
finitiv der Plan zu den ersten beiden Bänden der „Geschichte Griechenlands"
entworfen. Im Mai 1843 erschien in der „Westminster Review" Grote's
bahnbrechendes Essay über „Griechische Sagen und Urgeschichte", das von der
Behandlung desselben Stoffes, wie er sie in der „Geschichte" beabsichtigte,
schon einen Vorgeschmack gab. Endlich trat Grote, nachdem er bereits seit
Anfang des Jahres 1843 täglich acht Stunden dem „opus maZnum" gewid¬
met hatte, im Sommer desselben Jahres aus dem Bankgeschäfte, dem er
ziemlich 30 Jahre angehört hatte, aus, um alle seine Zeit und seine Kräfte
auf das eine große Ziel, concentriren zu können. Litterarischer Verkehr mit
heimischen und auswärtigen Gelehrten — unter den letzteren nennen wir
Böckh. unter den ersteren stand namentlich Cornwall Lewis, der Uebersetzer
von Böckh's „Staatshaushalt der Athener", seinem Herzen nahe — häufige
Ausflüge nach dem Continent oder in England selbst und ein lebhafter ge¬
selliger Verkehr im häuslichen Kreise brachten die erwünschte Abwechslung und
Erholung in die anstrengende wissenschaftliche Arbeit.
Anfang 184S waren die beiden ersten Bände druckfertig, und Grote
rüstete sich zur Veröffentlichung. „Es widerstrebt mir freilich, schreibt er an
John Stuart Mill, den Sagenstoff zusammen mit einem so kleinen Theile
der wirklichen Geschichte, wie ich in dieser ersten Partie werde geben können,
zu veröffentlichen, doch es muß ein Anfang gemacht werden." Grote dachte
daran, das Werk auf eigne Kosten drucken zu lassen, seine Frau aber machte
sich anheischig, einen Verleger zu schaffen, Murray entschloß sich zum Verlag,
und so begann denn endlich der Druck. Harriet las die Correcturen, kritisirte
fleißig dabei und bewog ihren Mann zu mancherlei Aenderungen und Strei¬
chungen. Im März 1846 wurden die beiden ersten Bände publicirt. Als
bald darauf von allen Seiten dem Verfasser Glückwünsche zuströmten, da
schien es Harriet, als ob sie einmal ein Gefühl an ihm beobachtete, „welches
sich befriedigter Selbstliebe näherte und jenen undurchdringlichen Schleier der
Bescheidenheit, der ihn in der Regel umgab, bisweilen durchbrach."
Die Ausarbeitung schritt nun stetig vorwärts; es sollten immer zwei
Bände auf einmal ausgegeben werden, und die beiden nächsten erschienen be¬
reits im April 1847. Dann trat eine Unterbrechung ein. Im Frühling 1847
hatte die politische Bewegung in der Schweiz Grote's Aufmerksamkeit erregt.
Die Vereinigung einer Anzahl von Cantonen zu einem Sonderbunde zum
Schutze der Jesuiten und die Bekämpfung dieses Bundes durch die freisinnigen
Cantone, dies Schauspiel schien ihm eine so auffällige Aehnlichkeit mit be¬
kannten Vorgängen in der altgriechischen Staatengeschichte zu haben, daß er
beschloß, es in der Nähe zu betrachten. Er ging im Sommer 1847 nach
Genf, und die Frucht seiner dortigen Beobachtungen waren die „Briefe über
die Schweiz", die erst einzeln im „spectator", dann auch als Buch erschienen
und großes Aufsehen erregten. Im Herbst finden wir ihn wieder daheim bei
seiner Arbeit. „Ich stehe jetzt bei dem Zuge des Xerxes, schreibt er seinem
Freunde Lewis im October, über den natürlich nichts Neues, im eigentlichen
Sinne des Wortes neu, gesagt werden kann. Und doch, wenn ich alle
Stellen des Herodot durchlese und erwäge, die so viele andere vor mir gelesen
haben, so kommt es mir vor, als ob ich mir von den socialen Erscheinungen
jenes Zeitalters vollständigere und inhaltsreichere Vorstellungen bilde als
diejenigen, welche sich in anderen Geschichten finden. Jedenfalls ist der Proceß
dieser Jdeenbildung und die Einkleidung derselben in Worte geistig interessant
für mich, und mein Tag ist mir stets zu kurz." Ein Jahr später war der
fünfte und sechste Band der Geschichte vollendet; Harriet selbst hatte unter
Leitung ihres Mannes die Karten für diese Bände gezeichnet, doch waren
sie zum Verdruß aller Betheiligten vom Holzschneider „elend verpfuscht" worden.
Tiefer und tiefer vergrub sich Grote in seine Arbeiten. Harriet klagt
im Sommer 1849, daß seine gelehrten Zwecke „so absorbirend für ihn gewor¬
den sind, daß sie ihn ebenso allen ländlichen Ideen und Erholungen wie dem
Empfange von Besuchen abgeneigt machen". Dafür rückte das „0M8 ma-
Fuum auch rasch vorwärts: im März 1850 erschienen der siebente und achte
Band, und im September desselben Jahres schreibt er an Lewis: „Ich bin
schon über den Antalkidischen Frieden hinaus. Drei Capitel habe ich der
Erzählung der Anabasis gewidmet, von der ich einzelne Theile, wie ich glaube,
unter einem neuen Gesichtspunkte dargestellt habe. Es ist ein schrecklicher
Verlust, vom Thucydides getrennt zu sein, mit dem ich so lange in vertrau¬
tem Verkehr gestanden habe." Der neunte und zehnte Band wurden im
Februar 1862 ausgegeben, und das große Werk eilte nun seinem Ende zu.
Im Sommer theilte er seinem Freunde mit: „Ich stehe jetzt mitten in den
philippischen und olynthischen Reden des Demosthenes. Kein Theil der Ge¬
schichte ist wegen des gänzlichen Mangels an guten historischen Zeugnissen
lästiger zu schreiben gewesen." Was Grote nicht gehofft-und worauf er gar
nicht gerechnet hatte, war das, daß der Erfolg der „Geschichte Griechenlands"
auch pecuniär für ihn einträglich wurde, so einträglich, daß er sich, noch ehe
das ganze Werk vollendet war, von dem Ertrage desselben in einem Park,
den er kurz zuvor erworben, ein Landhaus bauen konnte; „History Hut"
tauften es die glücklichen Besitzer. Im Frühling 1863 erschien der elfte Band
einzeln, „unser" elfter Band, wie Harrtet mehr als einmal voll Stolz auf
ihren eignen Geistesantheil schreibt. „Der Stil, in dem dieser Band geschrie-
ben ist. berichtet sie aus ihrem Tagebuche, scheint mir in einigen Beziehungen
frühern Theilen des Werkes vielleicht noch überlegen. Ich selbst verwandte
darauf, während er durch die Presse ging, die sorgfältigste Kritik; ich strich
und fügte wieder zusammen ohne Gnade, und der Autor billigte alle meine
Correcturen."
Neben dem unverhofften materiellen Gewinn blieben auch Ehren und
Würden nicht aus. Kurz nach dem Erscheinen des elften Bandes fragte die
Universität Oxford bei Grote an, ob er geneigt sei, von ihr den Grad eines
„voetor ok commun Ig,of" anzunehmen. Darauf hin ging er nach Oxford
und wurde vorschriftsmäßig mit der angetragenen Würde bekleidet. „Er war
etwas nervös, berichtet seine Frau darüber, als er sich zum ersten Male in
seinem Leben inmitten der dichten Schaar der Akademiker befand; seine eigne
litterarische Laufbahn hatte sich in allen ihren Umständen in einer Richtung
bewegt, die von derjenigen, in welcher Universitätsmänner arbeiten, so ver¬
schieden war, daß er sich wie ein Fremder vorkam, der in eine privilegirte
Brüderschaft eingeführt worden." Von seinem zunehmenden Ruhme in Deutsch¬
land legt ein interessanter Brief Zeugniß ab, den der hochbetagte preußische
Staatsminister von Schön damals an Varnhagen schickte, und den dieser einem
Schreiben an Grote beilegte. Da heißt es: „Welche Trugbilder haben die
Philologen uns, aus Unbekanntschaft mit dem Treiben in der Welt hinge-
malt! Wie sehr ist der Tod des Leonidas überschätzt worden! Dagegen
haben die Philologen den Perikles bei weitem nicht hoch genug geschildert.
Mir ist er jetzt der erste Grieche. Lobeck, der jetzige philologische Erzvater in
Königsberg, nimmt vor Grote seine Mütze ab, und sein College Lehrs beugt seine
Knie. Ich möchte wissen, was Böckh. Meinecke u. s. w. zu dem Werke dieses
Londoner Bankiers sagen." Die Universität London hatte ihm einen Sitz in
ihrem Senate angetragen, das Univerfity College und das Bntish Museum
ihn zu ihrem Mitgliede erwählt, und wenige Jahre darauf wurde er sogar
zum Vicekanzler der Universität und zum Schatzmeister von Univerfity College
ernannt — freilich alles Auszeichnungen und Aemter, die bei seiner Gewissen¬
haftigkeit auch einen beträchtlichen Theil seiner Zeit in Anspruch nahmen.
Zu Weihnachten 1858 war die „Geschichte Griechenlands" vollendet, im
März des folgenden Jahres erschien der letzte Band. Aber nur eine kurze
Pause der Erholung gönnte sich der 63jährige; schon war sein unermüdlicher
Forschergeist beschäftigt, das Material zu ordnen zu einem neuen Werke, das
er aus der Griechischen Geschichte für einen besonderen Leserkreis ausgeschieden
hatte, zu einem Werke über griechische Philosophie. Auf einem zweimonat-
lichen Ausfluge durch Frankreich, Oberitalien und Deutschland wurde neue
Kraft gesammelt; den Gedanken, der von befreundeter Seite jetzt und später
wiederholt ihm nahe gelegt wurde, Griechenland, sein „heiliges Land", dem
all sein Sinnen und Denken galt, zu bereisen, wies er von sich und mußte
er wohl von sich weisen; Spuren körperlicher und geistiger Ueberarbeitung
traten allmählich hervor und ließen die Ausführung dieses Gedankens nicht
rathsam erscheinen. Mit dem höchsten Eifer vertiefte sich Grote nun in seine
„Griechische Philosophie". Ende 1862 schreibt er an John Stuart Mill:
„Ich arbeite noch sehr hart am Plato und an den viri Loeratiei: ich habe
mein Werk in einen Zustand gebracht, der einem fertigen ähnlich sieht,
— aber in Wirklichkeit noch sehr weit davon entfernt ist". Eine neue Aus-
zeichnung wurde ihm 1863 zu Theil; das Institut 6ö Kranes ernannte ihn
an Macaulay's Stelle zu seinem auswärtigen Mitgliede. Im Frühjahr 1863
erschien sein dreibändiges Werk über „Plato und die andern Genossen des
Sokrates". Doch ehe noch der Druck begonnen hatte, saß er schon wieder
für ein neues Werk über Aristoteles „am Webstuhle" — siebzigjährig! Mit
fieberhafter Hast kaufte er die Jahre aus, die ihm noch beschieden waren, um
die große „Trilogie", wie er es nannte, die er als seine Lebensaufgabe be¬
trachtete, zu vollenden. Endlich forderte das Alter seinen Zoll. „Grote's
äußeres Aussehen, schreibt Harriet 1868, hat sich während der letzten acht
Monate merklich verändert, während ich in Bezug auf körperliche Anstrengung
eine Abnahme seiner Leistungsfähigkeit wahrnehme, die man nicht gut bloß
auf Rechnung des Umstandes setzen kann, daß er jetzt ein Jahr älter ist.
Aendert er nicht seine Lebensweise, so muß, fürchte ich, ehe ein neues Jahr
um ist, eine Krisis ihn ereilen." Noch einmal raffte sich seine Natur im
Sommer 1869 empor, und es schien, als ob ihm noch eine längere Reihe
von Jahren beschieden sei. Im November 1869 wurde er noch in einem
Schreiben Gladstone's durch das Anerbieten der Peerswürde überrascht; er
lehnte sie ebenso höflich wie entschieden ab. Ein Zwischenfall beschleunigte
endlich seinen Ausgang. Die Universität London hatte ihn dringend um sein
Portrait gebeten; er entschloß sich, wenn auch mit unverhohlenem Widerstreben,
einem Maler zu sitzen. Im Mai 1870 wurde das Bild begonnen, im No¬
vember war der Maler fertig damit, und nur noch eine Sitzung machte sich
nöthig. Hierbei zog sich Grote in dem schlechtgeheizten Atelier eine empfind¬
liche Erkältung zu. den Anfang zu einer tückischen Krankheit, die seine Kräfte
rasch untergrub. Allen ärztlichen Vorschriften und allen Bitten Harriet's un¬
geachtet gönnte er sich keine Schonung, brachte es nicht übers Herz, auch
nur die geringste seiner Amtspflichten zu vernachlässigen und stürmte in auf¬
reibender Thätigkeit gegen seinen Körper an. Einmal noch erfreute er sich
flüchtig des wiederkehrenden Frühlings — am 18. Juni 1871 setzte ein sanfter
Tod seinem rastlosen Leben ein Ziel. Der „Club", dem er seit 1858 ange¬
hörte, beantragte seine Bestattung in der Westminsterabtei, und am 24. Juni
wurden seine Ueberreste in der Nähe von Gibbon's Grabmal beigesetzt. Ein
Jahr nach seinem Tode gab Alexander Bain sein unvollendet hinterlassenes
Werk über Aristoteles in zwei Bänden heraus.
Grote ist sein Leben lang den Anschauungen, die er als Jüngling in
der Schule Bentham's und Mill's eingesogen, unverbrüchlich treu geblieben,,
und dahin gehört in erster Linie seine republikanische Gesinnung. Als die
Julirevolution in Frankreich ausbrach, eröffnete er sofort der Volkspartei in
Paris einen Credit von 600 Pfund Sterling, und nach dem Sturze des Juli¬
königthums ging er selbst auf Wochen nach Paris, und das freudige Gefühl,
„daß er thatsächlich in einer Republik lebe, gab ihm. wie Harriet schreibt,
Anlaß zu ungewöhnlicher Erregung." Zwar zeigt die äußere politische
Stellung Grote's das Bild einer Wandlung auf. deren Anfangs- und End¬
punkt auf den ersten Blick in unversöhnlichem Widerspruche mit einander zu
stehen scheinen, die sich aber als eine Folge der mit den Jahren gewonnenen
praktischen Klugheit sehr wohl begreifen läßt. Schon aus dem Jahre 1840
schreibt Harriet- „Unsere radicalen Habitues fielen bei uns Beiden in Un¬
gnade — wir gingen sogar so weit, Einladungen von Lord und Lady
Holland freundschaftlich anzunehmen und mit Holland House in Verkehr zu
treten, wohin zu gehen Grote früher niemals eingewilligt haben würde.
Wir waren auch bei dem Balle der Königin zugegen, — auch dies, ohne
daß er deshalb irgendwelche Gewissensbisse empfand." Seine Begeisterung
für die Ballotage kühlte sich in späteren Jahren merklich ab, seine Illusionen
in Bezug auf die irischen Angelegenheiten wurden gleichfalls zerstört, und im
Jahre 1870 bekannte er, wenn auch mit großer Betrübniß: „Ich bin zu der
Ueberzeugung gelangt, daß es niemals möglich sein wird, Irland anders,
als wie ein erobertes Land zu regieren." Die Peerswürde, die ihm anderthalb
Jahr vor seinem Tode angetragen wurde, lehnte er ab, aber in einer Weise,
die keinen Zweifel darüber läßt, daß er sie angenommen haben würde, wenn
es sein hohes Alter, seine abnehmenden Kräfte und seine beschränkte Zeit ge¬
stattet hätten. Trotz all dieser Wechsel und Wandlungen, aus denen er
übrigens kein Hehl machte, ist er im geheimsten Grunde seines Herzens doch
immer ein Republikaner von antikem Schnitt geblieben. Nicht minder aber
hielt er an seiner religiösen Freisinnigkeit fest. An Lewis schreibt er 1861:
„Die Universität von London und das University College hege und pflege
ich besonders, weil sie offen den Grundsatz rein weltlichen, litterarischen und
wissenschaftlichen Unterrichts — ohne irgendwelchen Bezug auf Religion —
proclamiren und aufrichtig zur Geltung bringen. Am British Museum nehme
ich ebenfalls warmes Interesse, weil auch hier das religiöse Element fortfällt."
An der dreifachen Thätigkeit, die Grote's Leben umspannt, ist schon die
Bereinigung derselben wunderbar genug, aber wunderbarer noch, daß er in
jeder von ihnen nach dem Höchsten strebte, in jeder auch wahrhaft Bedeutendes
erreichte. Freilich war dies nur möglich bei seiner riesigen Arbeitskraft,
seinem beharrlichen Fleiß und jenem neidenswerthen Talent, die Zeit einzu¬
theilen und auszunützen, welches Grote in so einzigem Maaße besaß. Trennten
ihn doch selbst die Wochen der Erholung nie ganz von seinen Studien, be¬
gleitete ihn doch selbst auf seinen Ausflügen in der Regel ein Korb mit
Büchern, und wenn der Tag mit neuen Eindrücken ihn bereichert hatte, so
saß er des Abends heute in dem, morgen in jenem Gasthofe in stiller Samm¬
lung bei seinen stummen Reisegefährten. „Das Schnüffeln in den Buchhand¬
lungen, schreibt Harriet von der Schweizerreise 1837, ist sein großer Zeit¬
vertreib; aus ihnen schleppt er ganze Hände voll Zeugs fort, um damit den
Wagen vollzustopfen." Zerstreuende Neigungen kannte er wenig. Er war
ein Kenner und Liebhaber schöner Pferde, wie Gottfried Hermann ein tüch¬
tiger Reiter, und außerdem hatte er ein warmes musikalisches Interesse. In
seiner Jugend hatte er länger als ein Jahrzehnt eifrig Cello gespielt, später
hörte zwar die eigene Ausübung auf, aber seine Liebe zur Musik blieb ihm
und tritt namentlich auf seinen Reisen wiederholt zu Tage. Mendelssohn's
Anwesenheit in London bannte ihn förmlich in die Kreise der Künstlerwelt,
mit Moscheles, Thalberg, Chopin stand er in persönlichem Verkehr und ge¬
währte ihnen zum Theil gastliche Aufnahme in seinem Hause, und seine Be¬
geisterung vollends für Jenny Lind wetteifert an Stärke und Nachhaltigkeit
mit der für die Ballotage.
Unter seinen Charakterzügen steht obenan das unerschütterlichste Pflicht¬
gefühl, die peinlichste Gewissenhaftigkeit. Aus der liebenswürdigsten Gesell¬
schaft reißt er sich los, fährt im Wagen 600 englische Meilen nach London,
giebt seine Stimme zur Parlamentswahl ab und kehrt zu seinen Freunden
zurück. Zum Vorsitzenden eines Wahlcomites ernannt, leitet er die elfwöchent¬
lichen Verhandlungen mit einer so scrupulöser Unparteilichkeit, daß seine
eigene Partei sich darüber beklagt und behauptet, mit jedem anderen Vor¬
sitzenden würde das Comite in vierzehn Tagen fertig geworden sein. Was
er auch immer Veranlassung hat zu treiben, alles faßt er mit der größten
Gründlichkeit an. Gilt es, ein herabgekommenes Landgut zu heben, so vertieft
er sich zuvor in die Theorie der Landwirthschaft, bittet ihn ein Freund, eine
von ihm verfaßte Kirchengeschichte von mehreren dicken Bänden vor der Ver¬
öffentlichung im Manuscript einer Durchsicht zu unterwerfen, so willfahrt er
auch dieser „bescheidenen Bitte", wie Harriet in diesem Falle ausnahmsweise
ironisch sagt, und sucht seiner Untüchtigkeit auf dem ihm fremden Gebiete
durch den unverdrossensten Fleiß aufzuhelfen. Und wie in diesem Falle, so
sehen wir ihn noch oft bemüht, die Freunde wissenschaftlich zu fördern und
geistige Anregung in seiner Umgebung auszustreuen.
Hätte Grote ein hohes Selbstbewußtsein, ja sogar einen gewissen Gelehrten¬
stolz besessen, wer würde es nicht natürlich finden? Aber wie ganz anders
war sein Wesen! Die unbegränzte Milde und Güte, die aus den treuherzigen
Augen des Jugendbildes glänzt, welches Harriet's Buche beigegeben ist, er
hat sie bis ins Alter sich bewahrt, und nicht bewahrt allein, sondern gesteigert:
je größer der Ruhm seines Namens wurde, desto anspruchsloser wurde der
ganze Mann; an Schüchternheit fast gränzte die Bescheidenheit, die ihn zierte.
Und so mögen denn die Worte Chaucer's, die Harriet Grote ans Ende ihres
Buches gestellt, auch dieses kurze Charakterbild beschließen:
Er war ein werther und ein weiser Mann,
In seinem Wesen wie ein Mädchen mild.
Und seiner Ehre fleckenlosen Schild
Hat nie ein schnödes Wort getrübt:
Stets hat er Redlichkeit geübt —
Von Kopf bis Fuß ein Edelmann.
Durch die Übereinkunft zwischen Bunsen und Erzbischof Spiegel vom 19.
Juni 1834 schienen die berechtigten Forderungen des Staates an die Kirche
vollkommen erfüllt zu sein; die Priester waren durch ihre Bischöfe ermuntert,
bis an die äußerste Grenze des Zulässigen zu gehen, gezwungen konnten sie
nicht werden, wenn ihr Gewissen oder ihr Glaubenseifer sie daran verhinderte;
aber auch in diesem Falle waren sie zur passiven Assistenz verpflichtet und
durften die Staatsgesetze nicht mißachten; die neue Ordnung trat ins Leben und
bewährte sich ausgezeichnet. Als der greise Bischof von Trier, von Hommer,
zwei Jahre später auf dem Sterbebette lag, stattete er „nach dem Genusse
des heiligen Abendmahles, im Begriffe aus dieser Zeitlichkeit abzuschei¬
den", noch einen Bericht an den Papst ab, in welchem er freudiges
Zeugniß für die Vortrefflichkeit der neuen Einrichtung ablegte. Aber ge¬
rade bei dieser Gelegenheit sollte sich zeigen, wie verhängnißvoll der Zeit¬
verlust gewesen, den die erneuten Verhandlungen mit Rom verschuldet
hatten. Kaum war der Bischof entschlafen, so verbreiteten die fanatischen
Römlinge ein zweites Schreiben, dessen Unterschrift sie ihm im letzten Todes¬
kampfe abgepreßt hatten und das voller Gewisfesserupel über seine Handlungs¬
weise sich äußerte. Daß diesem Schriftstücke kein Werth irgend welcher Art
beizulegen sei, darüber konnte kein Zweifel obwalten; aber es war ein Zeichen,
daß mit dem Ableben der versöhnlichen Bischöfe, die alle noch der friedfertigen
früheren Generation angehörten, die jugendlichen Heißsporne den Kampf
wieder aufnehmen und das mühsam gewonnene EinVerständniß wieder unter¬
graben würden. Die Gefahr, welche damit drohte, war um so größer, als
die Hetzereien vom Auslande her offenkundig genährt wurden. Die ultra¬
montane Partei, die in Belgien durch die Revolution ans Ruder gekommen
war, hatte in den letzten Jahren tüchtig gearbeitet; auch von Baiern aus
war in der Rheinprovinz arg gewühlt worden. Eine Brandschrift, die 1836
in Augsburg erschien, das sogen, rothe Buch, hetzte die Geistlichkeit gegen den
protestantischen König und redete ihr besonders wegen der Mischehen scharf
ins Gewissen. Gegen Hermes, der inzwischen gestorben war, erwirkte man
ein päp/tliches Breve, das ihn als Irrlehrer verdammte, und verbreitete das¬
selbe von Belgien aus in den preußischen Landen, obgleich es der Regierung
nicht zur Genehmigung vorgelegt war. Ueberdies war inzwischen der treff¬
liche Erzbischof Spiegel gestorben, an dem sowohl die Hermesianer wie die
Vereinbarung von 1834 die beste Stütze gehabt hatten (August 1835). Bei
der Wiederbesetzung seines hochwichtigen Postens verfuhr nun leider die Regie¬
rung mit einem unglaublichen Mangel an Vorsicht. Statt einen Prälaten
von mildem, versöhnlichen Charakter in das bedeutsame Amt zu befördern,
verfiel sie auf den starrsten, unzugänglichsten Priester, der nur irgend aufzu¬
treiben war, auf den ehemaligen Generalvicar, nunmehrigen Weihbischof von
Münster, Freiherrn Clemens August von Droste-Vischering. Und das ge¬
schah, obgleich er durch seinen Eigensinn und seine Anmaßung den Staats¬
behörden früher so viel Mühe und Arbeit verursacht hatte, obgleich selbst
unter den Katholiken ihm viele die Fähigkeit. Menschen richtig zu behandeln
und Geschäfte gewandt abzuwickeln, durchaus absprachen, obgleich der Car-
dirai-Secretär Lambruschini, als Bunsen ihm die Sache mittheilte, mit nai¬
ver Freimüthigkeit in die Worte ausbrach: Ist Ihre Regierung denn toll?
Aber Droste besaß einen gewichtigen Gönner, den Kronprinzen, der durch des
Mannes mittelalterlich frommen Lebenswandel ganz für ihn eingenommen war.
Das Ministerium schreckte freilich Anfangs vor diesem Vorschlage zurück, aber
es besaß nicht Stärke genug, ihn entschlossen abzuweisen. Doch wollte es
wenigstens eine Bürgschaft dafür gewinnen, daß der Candidat in der Frage
der gemischten Ehen nicht von dem Verfahren seines Vorgängers abweiche.
Es ließ ihm also durch einen vertrauten Freund, den münster'schen Dom-
capitular Schankung, die Frage vorlegen, wie er in diesem Punkte als Bischof
handeln werde. Die schriftliche Antwort lautete so befriedigend als möglich:
er werde sich wohl hüten, die gemäß dem Breve getroffene Vereinbarung von
1834 anzutasten oder gar umzustoßen, sondern sie nach dem Geiste der Liebe
und Friedfertigkeit anwenden. Auf diese Erklärung hin bezeichnete die Regie¬
rung dem Cölner Capitel den Weihbischof als eine genehme Persönlichkeit,
und er wurde einstimmig gewählt. Aber die gegenseitige Zufriedenheit war
von kurzer Dauer; bald häuften sich die Klagen und Beschwerden der Evan¬
gelischen und der Landesbehörden über das rücksichtslose Borgehen des Erz-
bischofs, der jede Verständigung zurückweise, und die Vereinbarung von 1834
mißachte. Dazu kamen noch einige unabhängige Klagepunkte, welche durch
jenes päpstliche Breve gegen Hermes veranlaßt wurden. Da die meisten katho¬
lischen Theologen in Bonn Hermesianer waren, so wurde ihre Lehre dadurch
gleichfalls verdammt. Der Erzbischof hätte nun das Breve der Regierung
mit der Bitte um Genehmigung mittheilen und es dann veröffentlichen können.
Das that er nicht, handelte aber gerade so, als ob er es gethan hätte, und
verbot den Studirenden den Besuch aller Vorlesungen bis auf die zweier
Professoren, die nicht Hermesianer waren. Und doch hatte die Regierung aus
freien Stücken, wiewohl das päpstliche Breve für sie gar nicht vorhanden
war, von sämmtlichen Docenten, die in Betracht kamen, bereits die schrift¬
liche Erklärung gefordert und erhalten, daß sie fortan in ihren Vorträgen
von jeder Bezugnahme auf Hermes und seine Lehre abstehen wollten. Der
Erzbischof sah in diesem weitgehenden Schritt nur ein Zeichen von Schwäche
und steigerte seine Kühnheit so weit, daß er endlich 18 Thesen aufstellte, deren
Unterzeichnung er von jedem Geistlichen, der ordinirt werden wollte, forderte
und deren letzte die Erklärung enthielt, daß der Unterzeichner sich des Rechtes
vom Erzbischof anderswohin als an den päpstlichen Stuhl, d. h. also an die
Regierung, zu appelliren begebe. Allen diesen Uebergriffen trat nun das
Ministerium zunächst mit dem Versuche freundschaftlicher Verständigung ent¬
gegen. Es berief den Gesandten Bunsen aus Rom nach Berlin und veran¬
laßte durch denselben, daß auch der päpstliche Unterstaatssecretär Capaceini
nach Deutschland kam. Zwischen beiden Männern, denen eine Verständigung
sehr am Herzen lag, und den preußischen Ministern fanden im August lange
Verhandlungen statt, in denen man zu dem Schlüsse kam, daß erst Capaccini
vertraulich mit Droste sich berede und diesen veranlassen solle, die 18 Thesen
und seine sonstigen Schritte gegen die Bonner Facultät zurückzuziehn. Da¬
gegen verpflichtete sich die Regierung, nachher das päpstliche Breve zu geneh¬
migen, einige mißliebige Professoren zu versetzen und den Zwang zur Theil¬
nahme an den sogenannten Kirchenparaden abzustellen, dem zur gerechten
Beschwerde der Bischöfe die katholischen Soldaten unterlagen. Ueber die ge¬
mischten Ehen zu verhandeln, hatte Capaccini vom Papste keine Erlaubniß
erhalten. Seine Besprechungen mit Droste fanden auch wirklich statt und
schienen zu einer Verständigung geführt zu haben; Capaccini kehrte nach Rom
zurück. Sogleich nach seiner Abreise beauftragte der König den Regierungs¬
präsidenten von Düsseldorf, den Grafen Anton von Stolberg, einen gut katho¬
lischen, dem Erzbischof befreundeten Mann, zu amtlichen Verhandlungen, um
das mit Capaccini vertraulich Beredete verbindlich zu machen und auch über
die Mischehen eine Verständigung zu erzielen; neben Stolberg wurde auch
Bunsen nach Köln geschickt. Manchmal schien es, als ob ein Vergleich ge¬
lingen werde; aber im entscheidenden Augenblicke entzog sich der Erzbischof
regelmäßig jedem bindenden Versprechen. Dabei bediente er sich der unzulässigsten
Ausreden; bald erklärte er, daß er die Vereinbarung von 1834 nicht gekannt
habe, als er sie anzunehmen versprochen; bald betonte er, daß er sie nur „gemäß
dem Breve von 1830" anerkannt habe und also selbst darüber urtheilen müsse,
wie weit sie demselben entspreche. Als ihm dann anheim gestellt wurde, frei
willig zu resigniren, oder doch dem Papste die Entscheidung zu übertragen
und bis dahin den Forderungen der Regierung zu entsprechen, lehnte er
beides ab. Ohne Ergebniß mußten die Verhandlungen am 18. September 1837
geschlossen werden, und der Regierung blieb jetzt keine andere Wahl als ihrem
Ansehen mit Gewalt Anerkennung zu verschaffen. Auch damit zögerte sie
jedoch wieder länger als gut war und gab dem Erzbischof noch Zeit, die so
.schon nicht geringe Aufregung im Volke noch zu steigern. In Ansprachen an
die kölner Priesterschaft stellte er sich als eine Art von Märtyrer dar, welcher
die katholische Kirche gegen die Anfeindungen der Regierung schützen werde,
und forderte sie auf, diese Worte unter ihren Mitbürgern zu verbreiten.
Mündlich und schriftlich wandte er sich mit ähnlichen Darstellungen an die
Zöglinge seines Seminars, an die Dechanten seines Erzstiftes, an einzelne
hervorragende Geistliche der Diöcese, immer mit der Bitte, für das Bekannt¬
werden dieser Aeußerungen in weiteren Kreisen zu sorgen. Dieser planmäßigen
Hetzerei gelang es natürlich, die gute Stadt Köln und nicht minder das Land¬
volk heftig gegen die Regierung zu erbittern, deren Popularität trotz des
Vierteljahrhunderts, das seit 1813 beinah verstrichen war, noch keine sehr
tiefen Wurzeln geschlagen hatte. Ein besonders starker Ausbruch der Leiden¬
schaft ließ sich am 23. November erwarten, dem Namenstage des Prälaten.
Indeß die Regierung ließ diesen Tag nicht herankommen. Am 20. November
stellte sie dem Erzbischof die letzte Wahl, entweder zu versprechen, daß er sich
jeder Amtshandlung enthalten wolle, seinen Aufenthalt außerhalb seines
Stiftes zu wählen und sich von dort aus mit Rom ins Einvernehmen zu
setzen, — oder gewärtig zu sein, daß die Regierung ihm nach eignem Er¬
messen einen Wohnsitz anweise. Da Droste-Vischering das Erste ablehnte, so
wurde das Zweite ausgeführt und der Prälat noch am selben Tage nach der
Festung Minden gebracht, wo er in einem Privathause Quartier nehmen
durfte und übrigens mit der größten Rücksicht behandelt wurde. Die Beschlag¬
nahme seiner Papiere, die gleichfalls beschlossen war, vereitelte sein Secretär
Michelis dadurch, daß er sie in aller Eile verbrannte. Der Bruder dieses
Michelis ist der bekannte Führer der Altkatholiken.
Aber nun brach ein Sturm los, gegen welchen die bisherige katholische
Agitation nur ein sanftes Säuseln gewesen war. Es half Nichts, daß des
Erzbischofs eigenes Domcapitel, das ihn vor Kurzem erst gewählt hatte, beim
Papste Zeugniß gegen ihn ablegte: die Rathschläge der erfahrensten und ge¬
lehrtesten Männer habe er mißachtet, die meisten, besonders die jüngeren
Priester hochfahrend und gegen die canonischen Gesetze behandelt, die von
seinem Vorgänger zur Ehre und zum Vortheil der Kirche weise, gesetzlich und
mühsam getroffenen Einrichtungen umzustürzen gesucht. Es half Nichts, daß
die preußische Regierung in der s. g. Staatsschrift aus Bunsen's Feder eine
klare und ruhige Darlegung der gesammten Sachlage gab und dieselbe durch
die Mittheilung aller in Frage kommenden Actenstücke vollkommen belegte.
Eine päpstliche Allocution vom 10. December 1837 erhob den Kriegsruf; sie
klagte die preußische Regierung an, die bischöfliche Würde verhöhnt, die Frei¬
heit der Kirche verletzt, die Rechte des päpstlichen Stuhles mit Füßen getreten
zu haben; sie verwarf alles und jedes Abkommen, das ohne Wissen der Curie
über die gemischten Ehen getroffen sei, und rügte rücksichtslos das Verfahren,
der Bischöfe, welche dazu mitgewirkt hatten. Die einzige Antwort, welche
die preußische Regierung auf diese geharnischte Kriegserklärung geben konnte,
war die Abberufung ihres Gesandten beim Papste; dazu fand sie aber nicht
den Muth, und Bunsen persönlich vergab ihrer Würde aus übergroßer
Friedensliebe noch mehr durch einige beschwichtigende Erklärungen. Als auch
diese durchaus nichts halfen und der Papst sich entschieden weigerte, vor der
Wiedereinsetzung Droste's irgend welche Verhandlungen zu beginnen oder den
Gesandten auch nur zu empfangen, bat dieser selbst um Urlaub und verließ
Rom im Frühjahr 1838. Inzwischen hatte der römische Posaunenstoß in
den cleriealen Kreisen Deutschlands und der Nachbarländer ein jubelndes
Echo gefunden; die katholische Presse bemächtigte sich des dankbaren Stoffes
und erfreute sich nicht selten des lauten Beifalles der Liberalen, denen eine
Niederlage der verhaßten preußischen Regierung nur erwünscht war. Der
alte Görres erschien wieder auf dem Kampfplatze und verspritzte in seinem
Athanasius all das Gift, das sich seit 1829 bei ihm angesammelt hatte.
Sein Wohnsitz, München, wurde ein Hauptquartier des preußenfeindlichen
Fanatismus. Hatte doch in demselben Jahre die katholische Partei Baierns
einen glänzenden Sieg errungen, indem das Ministerium Wallerstein dem
ultramontanen Abel Platz machen mußte. Da konnte die Phantasie sich in
den kühnsten Träumen ergehen; selbst die Losreißung der Rheinlande von
Preußen, die Bildung eines Königreichs Rheinsranken unter einem dänischen
Prinzen schien keine Unmöglichkeit mehr. Ein Gefühl der Siegeshoffnung
durchzog die ganze clericale Partei; auf allen Schauplätzen begannen sie den
Kampf; in Sachsen, Hessen, Baden, Würtemberg, vor Allem auch in der
Schweiz entfaltete sie neue Regsamkeit; die historisch-politischen Blätter, von
Phillipps und dem jüngeren Görres in München herausgegeben, traten in
die erste Reihe der Streiter; Katholik, Eos, Sion und eine Menge anderer
Zeitschriften secundirten nach Kräften; französische und belgische Blätter froh¬
lockten über den „bisher unerhörten Geist der Freiheit und Neuerung, der
von den Ufern des Rheins bis zu den fernen Gestaden des Orinoco und
La Plata durch die katholische Welt fluthe" und priesen die Elemente eines
»euer rheinischen Bundes, die nur einem hartnäckig Blinden entgehen
könnten. Natürlich schwiegen auch die Gegner nicht; ein lebhaftes Geplänkel
in der Tagespresse und in Broschüren begann; üben 200 Streitschriften er¬
schienen; aber die Katholiken waren dabei entschieden im Vortheil. Denn
die Partei, welche sie am nachdrücklichsten hätte bekämpfen können, der
Liberalismus, war Jahre hindurch von der Regierung geknechtet worden;
ihm konnte es nicht leicht fallen, sich jetzt mit Eifer auf die Seite des Staates
zu stellen; viel eher mußte sich seiner der Gedanke bemächtigen, daß der
Katholicismus sein Leidensgefährte sei und daß der Sieg desselben in dem
eröffneten Kampfe, wie bedauerlich auch aus anderen Gesichtspuncten. doch
dem Polizeistaate gegenüber auch der Sache der Freiheit nützen werde.
Vollends das Verbot des Athanasius und ähnlicher Schriften, der Versuch
also, den Gegner mundtodt zu machen, konnte einen liberalen Schriftsteller
nicht verlocken, als Vorkämpfer der Regierung aufzutreten und sich so in das
schlimme Licht zu setzen, als ob man einen Wehrlosen, an der Vertheidigung
Gehinderten angreife. Der beste Beistand in dem großen Kampfe ging
damit dem Staate verloren; er mußte fast ausschließlich mit seinen Macht¬
mitteln wirken. Diese standhaft und mit Ausdauer zu gebrauchen, setzte aber
einen Muth voraus, der ohne die Stütze der öffentlichen Meinung schwer zu
behaupten war, besonders da die Gährung und Unzufriedenheit durch die
Kühnheit der Ultramontanen auch nach dem Osten der Monarchie übertragen
wurde. Das Breve von 1830 war, wie erinnerlich, nur an die vier west¬
lichen Bischöfe gerichtet; trotzdem verlangte jetzt der Erzbischof von Posen
und Gnesen. Martin von Durm, die Erlaubniß, es auch in seinem Sprengel
veröffentlichen zu dürfen, und that es im Februar 1838 ohne diese Erlaubniß,
die ihm ausdrücklich verweigert wurde. Wegen dieser Auflehnung ließ ihm
der König vor dem Kammergerichte in Berlin den Prozeß machen; aber er
wagte es schon nicht mehr, den strengen Spruch desselben auszuführen. Die
Amtsentsetzung, welche über Durm verhängt wurde, verwandelte er in Sus¬
pension ; die sechsmonatliche Festungshaft erließ er ihm ganz, unter der ein¬
zigen Bedingung, daß der Erzbischof — er befand sich gerade in Berlin —
nicht in seine Diöcese zurückkehre. In offenem Trotze gegen diese königliche
Gnade entwich aber Durm heimlich aus der Hauptstadt und erschien am
3. October 1839 in Posen. Nun konnte von Nachsicht keine Rede mehr
sein: er wurde auf der Stelle verhaftet und nach der Festung Colberg ab¬
geführt. Die Geistlichkett wollte zeigen, daß sie nicht minder muthvoll sei,
als ihr Oberhirt; sie ordnete eine förmliche Kirchentrauer für das ganze
Stift an; die Glocken verstummten, die Orgeln tönten nicht mehr; die
Wirkung auf die Massen des Volkes konnte nicht ausbleiben, wenn die Re¬
gierung nicht kräftig einschritt. Sobald sie aber dazu den Muth faßte, zeigte
es sich, daß sie die Zügel in der Hand hielt; sie drohte der übermüthigen
Geistlichkeit mit der Entziehung der Einkünfte (der Temporalien sperre) und
brachte sie dadurch zum Gehorsam. Freilich nicht in Bezug auf die eigent¬
liche Streitfrage, die bedingungslose Einsegnung der gemischten Ehen.
Sowohl in Posen wie am Rhein wurde diese verweigert, wenn der
protestantische Theil nicht die katholische Erziehung der Kinder versprach.
Aber daran war die preußische Regierung selbst Schuld. Sie bestand weder
mit Nachdruck auf der Vereinbarung von 1834, noch begnügte sie sich einfach
mit der passiven Assistenz, sondern sie ließ schon im Februar 1838 den
Cultusminister von Altenstein einen unverkennbaren Rückzug antreten, indem
er den Priestern „bescheidene Erkundigungen" nach der Willfährigkeit der
Eltern in diesem Punkte gestattete. Der eigentliche Ausgangspunkt des
Streits verlor dadurch einstweilen seine entscheidende Bedeutung; allein dieser
selbst war nichts weniger als beendet und schon die Personenfragen, das
weitere Schicksal Droste's und Durm's, machten die Lösung ungemein schwierig.
In dieser Hinsicht war die Geduld des greisen Königs erschöpft; der Erz¬
bischof Droste, so hatte er bereits in Wien erklären lassen, werde den Cölnec
Dom nicht wieder sehen, und wenn er hundert Jahr alt würde. In den
schärfsten Worten versicherte er dem posener Clerus aus eine „ungebührliche"
Jmmediateingabe, daß er die Religion von der Geistlichkeit und ihren Obern
nicht zur Antastung der königlichen Souveränitätsrechte werde mißbrauchen
lassen. Sein ganzer Herrscherstolz war tief verletzt, und da ihn überdies das
Alter unzugänglich und verdrießlich machte, so ließ sich nicht bezweifeln, daß
er die verwickelte Sache ungelöst seinem Sohne hinterlassen werde.
Schneller, als man noch kurz zuvor glauben konnte, ging diese Voraus¬
sicht in Erfüllung. Am 7. Juni 1840 starb Friedrich Wilhelm III. und
erwartungsvoll blickten alle Augen in Deutschland auf das neue Gestirn, das
in Preußen aufging. Der vielfältige Gegensatz zwischen dem Vater und dem
Sohne zeigte sich bald auch in der kirchlichen Frage. Wenn Friedrich
Wilhelm III. die ungefügen Prälaten zum Gehorsam zu zwingen ent¬
schlossen war und dabei die Forderungen des Staates selbst über das erlaubte
Maß hinaus festhielt, so bemühte sich sein Sohn jene zum Gehorsam zu
begütigen und ließ sich dabei einige Opfer an seiner königlichen Macht¬
vollkommenheit nicht gereuen. Es fehlte ihm dabei nicht an einer gewissen
überlegenen Würde, durch die er dem Nachgeben in der Sache wenigstens
eine gefällige Form zu geben wußte. So gleich in den ersten Tagen seiner
Regierung. Einige polnische Priester verweigerten dem verstorbenen Monarchen
das Trauergeläut; die Gemeinde Inowraclaw beschwerte sich darüber bei dem
Könige; und was that dieser? Er antwortete, die Gesinnungen der Liebe
und Anhänglichkeit, welche sich in dieser Beschwerde aussprächen, hätten in
seinem Herzen einen helleren Klang ertönen lassen, als das Trauergeläut,
welches ein pflichtvergessener fanatischer Geistlicher verweigert, hätte hervor¬
bringen können. Offenbar eine würdige Antwort, aber schwerlich eine kluge;
denn sie ermuthigte die Opposition des Katholicismus, so daß im nächsten
Jahre, als in Baiern die protestantische Stiefmutter des Königs Ludwig
starb und der Bischof von Augsburg ein feierliches Traueramt für sie ab¬
hielt, der Papst Gregor XVI. selbst die Unverschämtheit besaß, ihm in einem
Breve (vom 13. Febr. 1842) die schärfste Rüge wegen dieses „Aergernisses"
zu ertheilen und ihm aufzugeben, seine Gemeinde „gegen den eitlen Trug
jener Ohrenschmeichler zu schützen, welche lügnerisch ausbreiten, daß auch ein
Nichtkatholik selig werden könne". König Friedrich Wilhelm IV. ging aber
noch weiter. Zu den wenigen Prälaten, die noch im Spiegel'schen Geiste
wirkten, gehörte der Fürstbischof von Breslau, Graf Sedlnitzky. Ihn von
seinem Platze zu verdrängen, war deshalb der lebhafte Wunsch der Curie;
in Briefen, die ihm nicht durch Vermittlung der Regierung, wie die Ordnung
es vorschrieb, sondern auf allerlei Umwegen zugingen, forderte Gregor XVI.
von ihm, er solle abdanken. Sedlnitzky kämpfte einen schweren Kampf mit
sich, aber der König, statt ihn zum Ausharren zu ermuthigen, ließ es ohne
Widerspruch geschehen, daß der Bischof im August 1840 seinen Hirtenstab
niederlegte. Dem starren Freiherrn von Droste war es dagegen schon Mitte
Juli erlaubt worden, seinen Aufenthalt in Minden mit einem andern zu
vertauschen; nur die Rückkehr in seine Diöcese blieb ihm untersagt. Daß er
seinen erzbischöflichen Stuhl nicht wieder bestieg, hatte er nur seiner eigenen
Halsstarrigkeit zuzuschreiben, die ihm jeden Schritt halben Entgegenkommens
unmöglich machte. Graf Durm aber, der mehr weltmännische Klugheit besaß,
erreichte durch einige geschrobene Erklärungen, die er am Throne des Königs
niederlegte, die Befreiung aus der Haft und die Wiedereinsetzung in seine
Würde. Eine Erklärung, welche die Staatszeitung am 29. Juli brachte,
wahrte dabei allerdings den bisherigen Standpunkt der Regierung und ver¬
sprach ohne Nachsicht gegen Jeden einzuschreiten, der den Gesetzen zuwider
die Eintracht unter den Confessionen zu untergraben trachte; allein das feier¬
liche Gepränge und der laute Jubel, mit welchem der rückkehrende Erzbischof
in Posen und Gnesen empfangen wurde, lehrte genugsam, daß in katholischen
Kreisen dieser Ausgang als ein großer Sieg empfunden wurde, und zu allem
Ueberfluß erklärte ein Hirtenbrief Durm's schon am 27. August, daß die
streitigen Punkte keineswegs erledigt seien, daß er sich wegen derselben erst
mit dem Papste in Beziehung setzen werde und daß bis dahin die Geistlichen
gemischte Ehen überhaupt nicht einsegnen sollten. Trotzdem behandelte der
König diesen wie die übrigen Bischöfe bei der Huldigung mit auserlesener
Freundlichkeit, und kam ihnen vor Schluß des Jahres noch durch eine folgen¬
reiche Neuerung entgegen, indem er im Cultusministerium einen besonderen
katholischen Director für Kirchen- und Schulsachen anstellte, und dadurch den
Keim zu der späteren katholischen Abtheilung legte, die erst 1871 wieder auf¬
gehoben wurde. Andere Zugeständnisse nicht minder bedenklicher Art folgten
nach, z. B. die Aufhebung des Verbotes, daß im Ausland erzogene und ge¬
weihte Priester in Preußen angestellt würden, oder die den Bischöfen ertheilte
Erlaubniß, direct mit Rom zu verhandeln. Auch daß in Trier als Nach¬
folger des schon 1836 gestorbenen Bischofs von Hommer jetzt ein Fanatiker
der schlimmsten Art, Arnoldi, bestätigt wurde, der bald noch viel von sich
reden machen sollte, gehörte in den Kreis dieser Zugeständnisse. Nur die
Angelegenheit Droste's schien nicht ins Gleiche kommen zu wollen, obgleich
der König schon wenige Wochen nach seinem Regierungsantritt den Grafen
Brühl nach Rom geschickt hatte, um eine Vermittlung der Gegensätze herbei¬
zuführen. Des Königs Gedanke war, daß der Papst den Erzbischof nach
Rom berufen und zum Cardinal machen, ihm in Köln aber einen Coadjutor
mit dem Rechte der Nachfolge geben solle. Die Curie wußte dieses sehn¬
süchtige Verlangen des preußischen Monarchen vortrefflich auszunutzen. Sie
häufte Bedingungen auf Bedingungen. Jene Zugeständnisse Friedrich Wtl-
Helm's an den Katholicismus waren in Wirklichkeit Forderungen, an deren
Erfüllung der Papst seine Einwilligung knüpfte, und die der König theils
zaudernd theils zuvorkommend befriedigte. Erschöpft war damit aber die
Liste der päpstlichen Wünsche noch keineswegs; nur traten die anderen, wie
die Preisgebung der Hermesicmer und der Convention von 1834, nicht so
schnell und so greifbar zu Tage. Forderungen wie die, daß der König selbst
die Hälfte von Droste's Gehalt als Cardinal bezahlen und daß er demselben
eine öffentliche Ehrenerklärung geben solle, gestand Friedrich Wilhelm ganz
unbedenklich zu. Nur über einen Punkt konnte man sich lange nicht ver-
einigen; das war die Frage, ob Droste selbst seinen Coadjutor in Köln weihen
solle. Der Papst und der Erzbischof verlangten, der König verweigerte es.
Endlich umging man den Streitpunkt dadurch, daß man zum Coadjutor
einen Bischof ausersah, der gar nicht erst geweiht zu werden brauchte. Der
König Ludwig von Baiern, welcher eifrig vermittelt hatte, empfahl den
Bischof Geißel von Speier; die preußische Regierung willigte ein und durch
ein päpstliches Breve vom 20. September 1841 wurde die Angelegenheit in
dieser Weise geordnet. Der versprochene Brief des Königs an den Erzbischof
sprach ihn vor allem Volke des Verdachtes revolutionärer Umtriebe ledig, und
der Streit war beendet.
Die Niederlage, die Preußen erlitten hatte, konnte gar nicht offenkundiger
sein. Der einzige Erfolg, den es aufzuweisen vermochte, war die Ersetzung
Droste's durch eine vorsichtigere Persönlichkeit. Sachlich hatte die Curie in
jedem Punkte ihren Willen erreicht und mehr durchgesetzt, als sie sich hatte
träumen lassen. Die Hauptschuld daran trug ohne Zweifel der preußische
Monarch persönlich; ohne seine dem Kirchenthum günstige Stimmung wären
solche Triumphe, wie Rom sie errang, unmöglich gewesen. Aber bei einer
unbefangenen Würdigung der Verhältnisse muß auch zugestanden werden,
daß die Sache von den Ministern Friedrich Wilhelm's III. bereits völlig ver¬
fahren war. Unklarheit über das Maaß dessen, was der Staat fordern dürfe,
ängstliche Scheu vor der Anwendung der wirksamsten staatlichen Waffen,
Ueberhastung in einzelnen und weichmüthiges Zurücktreten in anderen Mo¬
menten des Kampfes, eine fast unglaubliche Ungeschicklichkeit in der Wahl
der Personen, jene bureaukratisch-polizeilichen Regierungsmaximen, die in den
dreißiger Jahren an der Tagesordnung waren: Alles das mußte nothwendig
zu einem Siege Roms über den preußischen Staat führen. Wie vortrefflich
dieser Sieg dann ausgenutzt wurde, wie geschickt man das Jahr 48 und die
neue Verfassung zu verwerthen wußte, das zu schildern wäre eine Aufgabe
für sich. Wir stehen jetzt in der Periode des Rückschlags. Ein neuer Kampf
hat begonnen und wahrlich unter gänzlich veränderten Auspicien. Nach
festen Principien sind die Forderungen, welche der Staat an die Kirche stellt,
begrenzt; Schritt für Schritt, aber ohne Schwanken und Zurückweichen, besteht
die Regierung oui denn (-^lsullu^g und erzwingt sie: der Tpruch des Richters
und die Zum um eng c öffentlichen Meinung sind ihre festen stützen; in
der Wahl der Perionen ist kein F.hlgiiff vorgekommen. Und so dürfen wir
mit Zuversicht hoffen, daß dei solch, n Fro-ern das Kapitel deutsch-römischer
Geschichte, das wir eile^en, dereinst n>it Goires Hülfe die Überschrift tragen
wird: Deutschlands ^leg über Rom!
Zur großen Genugthuung aller Handeltreibenden wird gemeldet, daß
Herr von Lcsseps seine Drohung, die Lootsen zu entlassen, die Leuchtthürme
auszulöschen und den Kanal unpassirbar zu machen, wenn man auf der
durch die internationale Kommisston in Konstaminopel festgesetzten Tonnen¬
gebühr beharren würde, nicht ausführen wird. Es wird diese Nachricht mit
um so größerer Freude begrüßt, als der Londoner Agent der Suezkanal¬
gesellschaft erst vor wenigen Tagen bekannt gemacht hatte, daß alle Schiffe
die von Lesseps verlangte höhere Gebühr zahlen müßten und daß diejenigen
Schiffe, welche sich dessen weigerten, gezwungen sein würden, entweder ihre
Waaren zu Land über den Isthmus zu befördern, wo sie die Schiffe des
rothen Meeres in Empfang nehmen würden, oder die alte Route um das
Kap der guten Hoffnung zu nehmen. Gleichzeitig wurde angekündigt, daß
von jetzt an mit großer Strenge darauf gehalten werden würde, daß die
Schiffe ihre Passagegebühr vor dem Eintritt in den Kanal zu zahlen haben.
Herr von Lesseps hat also den Borstellungen der vereinigten Mächte
und den Bajonetten des Khedive nachgegeben und die Eventualität, daß der
Mcekönig von Egypten den Kanal in Besitz nehmen und auf eigene Faust
verwalten könnte, für die Interessen der Aktionäre des Suezkanals schäd¬
licher erachtet als momentane Unterwerfung unter die Beschlüsse der inter¬
nationalen Kommission. Denn in der That dürfte seine Opposition die
Folge haben, daß die beregten Beschlüsse einer Revision unterzogen werden.
Und wie wir glauben, mit vollem Recht!
In dem Firman, welcher die Suezkanalgesellschaft concessionirt, werden
derselben, in Anbetracht der sehr großen Privilegien, welche ihr gewährt
wurden, gewisse Verpflichtungen auferlegt, die auszulegen dem Sultan zusteht.
Nun erhielt die Gesellschaft das Recht, per Tonne, welche durch den Kanal
passirt. eine Maximalgebühr von 10 Franken zu beanspruchen. Da es aber
sehr viele Arten von Tonnen gi>de Tonnen na^ dem Gewicht, Tonnen nach
dem Maaß, Tonnen aus einem zusammenlesest»'» Vrbältniß von Gewicht
und Maaß, da fast jede Schiffladrt treibende Nation nach einer anderen
Tonne rechnet, so mußte nothwendig einmal die Frage aun,neben: „Was ist
eine Tonne?" Die Suezkanalgesellscdaft erhob die Gebühren nach dem
Bruttogewicht und berechnete dieselbe nach einem Principe, welches den
Schiffseigenthümern und vornehmlich denjenigen von Dampjschiffen als nicht
angemessen erschien. Nach langen Streitigkeiten entschloß sich die Regierung
des Sultans, den Rath der fremden Mächte einzuholen. Alle Seemächte
Europas, — Großbrittannien, Frankreich, Deutschland, Oesterreich, Rußland,
Italien, Spanien, die Niederlande, Belgien. Schweden und Norwegen und
Griechenland — entsendeten ihre Vertreter nach Konstantinopel. Einer der
französischen Mitglieder war Herr Numcau, welcher in Wirklichkeit — wie
die Times behauptet — Herrn von Lesseps und die Suezkanalgesellschaft ver¬
trat. Die Kommission beschloß einstimmig, daß bei Berechnung der Gebühr
das Nettogewicht der Tonne zu Grunde gelegt werden solle und daß das
Moorson'sche System, welches seit dem Jahr 1854 in England eingeführt
ist, am geeignetsten wäre, um den wirklichen Tonnengehalt eines Schiffes zu
erfahren. In Anbetracht indessen, daß die Gesellschaft bis jetzt nur sehr
kleine Einnahmen gehabt habe, empfahlen die Mächte eine für die Netto¬
tonne zu zahlende Taxe, welche die bis jetzt für die Bruttotonne gezählten
10 Franken übersteigt. Diese Nebentaxe, welche nach den verschiedenen Arten
von Schiffen variirt, soll indessen um ^ Frank vermindert werden, sobald
die Gesammtzahl der Tonnen, welche alljährlich den Kanal Passiren, bis zur
Höhe von 2,100.000 Tonnen gestiegen sein wird. Jeder neue jährliche Zu¬
wachs von 100,000 Tonnen soll von einer weiteren Verringerung der Ueber¬
taxe um '/'s Frank gefolgt sein. Ist aber die Höhe von 2.600,000 Tonnen
erreicht, so soll die Uebertaxe gänzlich fortfallen und nur die ursprüngliche
Gebühr von 10 Franken gezahlt werden.
Die Times, der wir diese Einzelheiten entnehmen, urtheilte, daß es die
Pflicht der Mächte sei, ohne Zeit zu verlieren, die Drohungen des Herrn
von Lesseps unausführbar zu machen. Da aber dieser Vorschlag durch die
Nachgiebigkeit Lesseps' gegenstandslos geworden ist, da nicht mehr zu be¬
fürchten steht, daß eine der größten Errungenschaften der Neuzeit, wenn auch
nur vorübergehend, seine Nutzbarkeit verliere — denn der Vicekönig wäre
nicht im Stande gewesen den Kanal durch seine Beamten verwalten zu
lassen —, so ist es um so mehr angemessen, daß man die Klagen der Gesell¬
schaft prüft.
Die Suezkanalgesellschaft hat sich ein großes Verdienst um die Welt er-
worden; sie hat ungeheuere Kapitalien geopfert; ihr Vertrauen war bisher
unbesiegbar, obgleich sie bis jetzt noch keine Dividenden erndtete — und die
Welt will sie damit belohnen, daß sie ihr Maaßregeln oktroyirt, welche nach
der Ansicht des genialen Leiters des großen Unternehmens nothwendig zum
Ruine der Gesellschaft führen müssen? Gewiß, dem Sultan gebührt das
Recht, die Koncessionsbedingungen nach dem Urtheil seiner Rathgeber aus¬
zulegen, — mit welchem Rechtsgrundsätze ist es aber vereinbar, daß sich die
Welt die Opfer, den Unternehmungsgeist einiger verdienstvollen Leute ohne
entsprechende Gegenleistung zu Diensten macht? Die Gebühren mögen
drückend sein, ist der Weg um das Kap aber nicht noch viel kostspieliger? —
Die Entfernung von London und Bombay auf dem Kapwege beträgt
11,220 Seemeilen, via Suez nur 6332 Seemeilen. Die Differenz erreicht
also die Zahl von 4888 Meilen oder 24 Tage! Für Trieft beträgt die Ab¬
kürzung aber gar 37 Tage!
Eingedenk dieser Bordseite, welche dem Seeverkehre der größten See¬
macht der Welt aus dem Suezkanal erwuchs, ist es um so tadelnswerther,
daß sich die gesammte englische Presse gegen die Interessen der Gesellschaft
ausspricht. Freilich überraschend ist es nicht! Es war französisches
und österreichisches Kapital, es waren die unermüdlichen Anstrengungen
der Regierungen dieser beiden Länder, welche die Ausführung des schon vor
Jahrtausenden geplanten Werkes endlich, endlich ermöglichten. Hatte der
Kanal von Suez schon die Gedanken eines Sesostris, Necho, Darius, Ptole-
mäus Philadelphus und Amru, dann eines Mustapha, des Freundes Friedrich's
des Großen, und Napoleon's erfüllt, wurde trotz aller Enttäuschungen das so
sehnlich erwartete Ziel dennoch erreicht. — so waren es wahrlich nicht die
Engländer, welche die Wege dazu gebahnt haben. In der Furcht, das
Monopol des ostindischen Handels zu verlieren, wandte die englische Re¬
gierung all ihren Einfluß daran, das kühne Project zum Scheitern zu
bringen. Ja, es gelang ihr durch die eindringliche Vorstellung, daß der
Kanal nur deshalb geplant sei, um Aegypten in dauernde Abhängigkeit von
Frankreich zu bringen, wirklich, die Pforte zu dem — in der Geschichte des
Kanalbaues unvergeßlichen — Schritte zu bewegen, durch ein Dekret die
Einstellung der Kanalarbeiten anzuordnen.
Die Folgen dieses Dekretes waren nur vorübergehend. Der Suezkanal
wurde am 16. November 1869 unter Beisein des Kaisers von Oesterreich,
der Kaiserin von Frankreich, des Kronprinzen von Preußen, des Prinzen
Heinrich der Niederlande, der Scheikhs und Scherifs vom Rothen Meere, und
vieler Notabeln Europas, vieler Araber, Hindus und Chinesen eröffnet! Auch
England hatte seit jenem Tage zu erkennen Gelegenheit, daß der neue Ver¬
kehrsweg nicht seinen Interessen zuwider lief.
Aber die Gesellschaft? Im Jahre 1870 passirten den Kanal 491
Schiffe von 436.618 Tonnengehalt; die Jahreseinnahme von 1870 betrug
nur 6.400.000 Fras. Im Jahre 1872 hatte die Anzahl der den Kanal
Passirenden Schiffe 1082 zu 1,439,169 Tonnen und 1871 765 zu 761.467
Tonnen Tragfähigkeit betragen. Die Total-Einnahmen im Jahre 1872 be¬
zifferten sich auf 16,407,591 Fras. und 1871 auf 8.993,733 Fras. Im Laufe
des Jahres 1873 passirten den Kanal von Suez im Ganzen 1172 Schiffe zu
2,085,032 Tonnen-Tragfähigkeit, und die Einnahmen der Suez-Kanal-Ge¬
sellschaft betrugen 22,891,861 Fras.
Wenn nun allerdings die Zahl der den Kanal pasflrenden Schiffe, ihren
Tonnengehalt und die Einnahmen der Gesellschaft eine stetige Vermehrung
zeigen, so hat dieselbe dennoch immer noch mit einem großen Deficit zu
kämpfen und von Dividendenzahlung ist nicht die Rede.
Wir fragen: Auf welcher Seite liegt das Recht? Auf Seite der Regie¬
rungen, welche mehr oder weniger willkürlich die obigen Beschlüsse gefaßt
haben, oder auf Seiten der Gesellschaft, welche als Compensation für ihre
Opfer die ihr angemessen erscheinenden Gebühren festzusetzen wünscht? —
Doch halt! Um das Recht kümmerte sich von jeher wenig der Gang
der Ereignisse! Der eigene Vortheil war meistens allein entscheidend. Aber
wie, ist es wirklich der Vortheil Europas, wenn die Förderung seines Han¬
dels durch den Ruin kühner Unternehmer erkauft wird?
Vielleicht in diesem Falle. Die unbedingte und sofortige Folge eines
solchen Vorganges muß aber sein, daß sich die Zahl derer verringert, welche
geneigt sind, große Opfer für den Vortheil ihrer selbst und daher auch der
Welt zu bringen. Wird die Stimme der verletzten Aktionaire überhört, so
wird sich nur schwer eine zweite Gesellschaft finden, welche ähnliche Unter¬
nehmungen wagt.
Und oft genug tauchten nicht weniger riesenhaft und ebenso wünschens-
werthe Pläne auf. Gerade jetzt ist die Zeit, wo sich neues Kapital dem
submarinen Tunnel durch den Kanal, und demjenigen zwischen der schwedi¬
schen Landschaft Schonen und der dänischen Insel Seeland zuwenden soll!
Zweierlei Vorschläge haben wir daher zu befürworten. Entweder mögen
die Regierungen noch einmal Vertreter nach Konstantinopel senden, um die
gefaßten Beschlüsse zu revidiren und der Gesellschaft freie Hand zu lassen —
oder, will man aus den geübten Einfluß nicht verzichten, so kann man sich
denselben dadurch dauernd und alle Theile befriedigend erhalten, daß man
den Kanal auf internationale Kosten kauft und unter internationaler Aufsicht
verwaltet.
Ob die Pforte auf einen dieser beiden Vorschläge — die ja schon seit
langer Zeit gemacht wurden und für die sich begreiflicherweise namentlich
Herr v. Lesfeps lebhaft interessirt — eingehen wird, ist freilich nicht leicht
vorauszusagen. Indeß wird Frankreich kaum versäumen all' seinen Ewfluß
zu Gunsten der Gesellschaft — deren Aktionäre ja vorzugsweise Franzosen
find — geltend zu machen. Das „Journal des De'half" schreibt mit Bezug
auf die Weigerung der Pforte, Herrn v. Lesseps Gehör zu geben, die folgenden
bemerkenswerthen Sätze: „Die Entscheidung der Pforte ist eine schwerwiegende.
Wir besorgen sehr, daß die Pforte selbst Bresche in ihre Souveränetät gelegt
habe. Wenn irgend eine finanzielle oder sonstige Gesellschaft
es sich beifallen ließe, ihr von Seite der oder jener Macht,
welche stark genug ist, um sich Gehör zu verschaffen, unange¬
nehme Einmischungen zuzuziehen, was könnte sie dagegen
einwenden und auf welches Princip würde sie ihren Wider¬
stand stützen?"
Was Deutschland betrifft, so steht sein Interesse bei der Suezfrage
erst in zweiter Linie. Gerade aber weil es mehr oder weniger die glückliche
Rolle des Unparteiischen spielt, dürften sich seine Staatsmänner um so mehr
geneigt finden, für das Recht, welches — wie in den meisten Fällen —
auch hier mit dem Vortheil zusammenfällt, einzutreten.*) —
Die in Paris und Nantes erscheinende französische Monatsschrift „Revue
Universelle" steht mit den Grenzboten in einem collegialen Verhältniß.
Wir tauschen unsre Blätter gegenseitig aus, und es wird hier freudig an¬
erkannt, daß die Anregung zu diesem angenehmen Verhältniß von dem fran¬
zösischen College» ausgegangen ist.
Niemand wird bereuen, die Monatshefte der französischen Revue ein¬
gehend zu studiren. Sie erfüllt ihr Versprechen: über Politik, Wissenschaft,
Literatur, Kunst, Industrie, Ackerbau. Gesundheitspflege, Finanzen, Handel
Mode und „Vermischtes (Mes divers)" zu berichten mit anerkennenswerther
Gründlichkeit, und auch da, wo Gründlichkeit etwa dem Stoffe oder der
Stimmung des Verfassers weniger angemessen erscheint, überall mit Geist und
Grazie. Zuerst wird durchgängig das, nach französischer Anschauung, schwere
Geschütz aufgefahren: Die politische Monatsübersicht — in der „Bismark"
natürlich es immer noch nicht zu einem ehrlichen et hat bringen können —
geographische Essays, wichtige Tagesangelegenheiten Frankreichs, wie z. B. die
neuen Pariser Befestigungen u. tgi. Die Mitte des Heftes (von durch¬
schnittlich zwölf Druckbogen) nimmt ein Roman von Miß Braddon in
französischer Uebersetzung ein. Dann folgen leichtere Sachen. Ein Bischen
Scandal unter der Rubrik Gerichtszeitung oder forensische Rückblicke, Einiges
aus den sieben freien Künsten. Causeries über Literatur und Kunst, Be¬
sprechungen, Moden, Handel, Vermischtes. Eine Fülle von Anregung wird,
wie gesagt, jeder der Lectüre dieser Zeitschrift verdanken.
Als höchst merkwürdige Eigenthümlichkeit dieser und anderer französischer
Revuen muß indessen dem perennirenden deutschen Leser derselben die That¬
sache erscheinen, daß den deutschen Angelegenheiten eine unablässige scrupulöse
Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie sie vor dem Kriege nirgends in franzö¬
sischen Tcigesschriften zu finden war. Bleiben wir z. B. bei dem jüngsten
Hefte der Revue Universelle stehen, so finden wir alle wichtigeren Actenstücke,
welche der letzte Monat in unsern öffentlichen Angelegenheiten zu Tage
förderte, im Wortlaut mitgetheilt; so o e Depeschen Arnim's und Bismarck's,
die Thronrede beim Schluß des Reichstags -— in der letzteren sind komischer¬
weise die „früheren Reichstage" im ersten Satze mir „sneiens ?s.r1s.neues"
übersetzt — u. f. w. Es ist hier nicht der Ort, näher darauf einzugehen, in
welchem Geiste diese Verarbeitung deutscher Verhältnisse für Leser aus der
Nation der Revanche gehalten ist. Herr Eugen Richter und die tgi, Sachs.
Hofdemokraten zu Dresden würden vielleicht frohlocken, wenn sie Sätze lesen
wie die folgenden: „ein avs.it 6cela6neue oris trop an sörieux los velle-
it68 Z'oxxosition Zu xs.rls.neue silemsnä s.u suM ne Is, loi militsire; 1s
reielrstsZ n's. xs.8 es.i-cI6 s. s.dju.rer ses «rieurs, eoinnnz it convient sux
rexre8mes.ut3 ä'un psvs ärsss6 (!) xsr N. as Kismarll." Und später:
(cksneelier s. 6Zä,Isinent en 8S, loi contre (I) Is presse." Diese Ent¬
stellungen und Verhöhnungen bei wichtigen Fortschritten unserer Reichs¬
gesetzgebung sind wir leider von den einheimischen Feinden unsrer Entwickelung
viel zu sehr gewöhnt — der Franzose kennt oder duldet absolut reichsfeind¬
liche Stimmen von seinen Landsleuten in Frankreich gar'nicht — als daß
wir mit dem ehrlichen ausländischen Feinde deshalb rechten sollten. Vielmehr
ist das Streben aller großen französischen Revuen, Frankreich auch durch
Mittheilung der Quellen und Aktenstücke zu einer objectiveren Beurtheilung
unsrer Verhältnisse heranzubilden, trotz der vielfach eingestreuten boshaften
avis aux lecteur», im höchsten Grade lobenswerth und neu, und mancher
deutschen Revue wäre eine ähnlich konsequente Beschäftigung mit Frankreich
und denFranzosen, wie sie uns von dort zu Theil wird, warm zu empfehlen.
So neu ist aber freilich dieses Studium bei unsern westlichen Nachbarn,
daß sehr viele französische Federn über Deutschland schreiben und urtheilen,
die durch den Inhalt ihrer Arbeiten bekunden, daß sie mit dem Wesen der
Dinge, über welche sie zu Gericht sitzen, bis jetzt auch nicht im entferntesten
vertraut sind. Vielleicht drängt sie das homerische Gelächter der übrigen
Kulturvölker Europas, das solchen Stilübungen unausbleiblich zu folgen
pflegt, zu einer baldigen, für beide Völker nur ersprießlichen Ausfüllung der
Lücken ihres Wissens, und einer größeren Hinneigung zu jener Bescheidenheit,
die bekanntlich mit dem Maaße eigener Kenntnisse quadratisch zu wachsen pflegt.
Das neueste Heft der „Revue universelle" giebt uns zu diesem Wunsche
besonderen Anlaß. Das Heft enthält, außer den bereits hervorgehobenen
Arbeiten über deutsche Verhältnisse, auch eine größere Abhandlung über „das
wirthschaftliche Deutschland" (I'^IIemaslu? 6cnnomiquö). Der Artikel bespricht
eigentlich nur ein Buch, das Herr Emil Worms, Advokat und Professor bei
der Facultät der Rechte zu liennes bei Naresccz a?n6 über die Geschichte
des deutschen Zollvereins herausgegeben hat. Wir wollen nicht unter¬
suchen, ob das französische Bürgerrecht der Ahnen des Herrn Worms bis
in die Tage der Jungfrau von Orleans zurückreicht. Es kann ja sein, daß
die alten Wormse sogar bereits gegen den schwarzen Prinzen gefochten haben.
Jedenfalls ist das Buch gut französisch geschrieben, auch im nationalfranzö¬
sischen Sinne, und gleichzeitig scheint der Verfasser so stattliche Kenntnisse im
Deutschen zu besitzen, daß er mühelos die besten deutschen Schriften über die
Geschichte des Zollvereins, die von Weber u. f. w. seiner Arbeit nutzbar zu
machen im Stande war. Von Treitschke's Abhandlungen „Die Anfänge des
deutschen Zollvereins" scheint er sich ferner gehalten zu haben. Vielleicht
paßte die reine Größe und bewunderungswürdige Consequenz der nationalen
preußischen Zollvereinspolitik, die uns aus diesen neuen Quellenforschungen
entgegentritt, weniger zu einer Arbeit, die — ich will nicht sagen den Zweck
verfolgt, aber doch — darauf hinausläuft, die preußische Zollvereinspolitik als
eine bundeswidrige Vergewaltigung Oesterreichs und der Mittel- und Klein¬
staaten zu stigmatifiren. Für den Kritiker des Herrn Professor Worms in
der Revue Universelle, Herrn Victor Einion, scheinen indessen auch diese aus
ältere deutsche Werke basirten Studien des Herrn Worms noch eine bemerkens¬
werthe Ausbeute an ungeahnten Thatsachen ergeben zu haben. Denn er fühlt
sich gedrungen, seinen Lesern in nue« die ganze Geschichte des deutschen Zoll¬
vereins, wie sie Herr Worms erzählt, als etwas neues vorzuführen. Er thut
das, wie gern anerkannt wird, mit Geschick, er theilt den engen Raum, der ihm
zugemessen ist, weise ein, und gruppirt die Hauptereignisse in richtiger Folge.
Ja, selbst anscheinend möglichste Unparteilichkett für das verhaßte Preußen
ist ihm nachzurühmen. Denn die reinen Strahlen der preußischen Zollvereins¬
politik dringen selbst in der dreifachen Dämpfung und Brechung, welche sie
hier erfahren, noch wärmend und leuchtend in das Auge des Lesers.
Aber mit dieser Moral kann Herr Victor Emion natürlich unmöglich
sich zufrieden geben. Er ermannt sich daher zu einem Epilog, der nachstehend
in wörtlicher Uebersetzung wiedergegeben wird.
„Die vorliegende Arbeit über die Geschichte des Zollvereins ist ein
Dienst, den der Verfasser Frankreich geleistet hat, denn sie strahlt auf jedem
Schritte den Preußischen Charakter wieder, den wir leider Gottes zur Zeit
des letzten Krieges noch nicht kannten, und an dessen genauer Würdigung
wir ein großes Interesse haben. Wir haben nicht zu untersuchen, ob das
Ueberwiegen des preußischen Elements im deutschen Bunde für Deutschland
segensreich oder nachtheilig gewesen ist. Deutschland, in eine große Zahl
von deutschen Staaten getheilt, war b.stumme unt^r das Protektorat Oester¬
reichs oder Preußens sich zu beugen, und Herr v. Sybel hatte vielleicht recht,
als er auf dem Deutschen Handelstag von 1862 rief: „Der geehrte Vorredner
hat sich bemüht, Unruhe auszustreuen unter den (Vertretern der) Mittel- und
Kleinstaaten, indem er ihnen das Schreckbild ihres Aufgehens in Preußen
vorhielt. Wissen denn diese Staaten nicht, daß wenn Oesterreich anstatt
Preußens die Oberhand gewänne, ihre Mediatistrung sich für manche von
ihnen unter weit peinlicheren Bedingungen vollzöge? Oder traut man
Oesterreich genug Selbstlosigkeit zu, um anzunehmen, daß es seine einmal
erworbene Oberherrschaft nicht ausnutzen würde?" Im Uebrigen bezweifeln
wir sehr, daß Oesterreich, im allgemeinen Interesse des Bundes, zu einem so
großen Erfolg wie die Gründung des Zollvereins hätte gelangen können.
Oesterreich hat unter schwierigen Verhältnissen niemals soviel Geschicklichkeit
und Beharrlichkeit zu entfalten gewußt, als Preußen. Bei dem Zustande
Deutschlands zu der Zeit, als der Zollverein gebildet wurde, und bei den
fortwährenden Ränken, die Preußen dem Nebenbuhler unaufhörlich in den
Weg gelegt hätte, wäre Oesterreich wohl nie mit Erfolg bemüht gewesen,
eine so bedeutende (torwiäablö) Zolleinigung zu Stande zu bringen."
Insoweit können wir im Ganzen den Schluß-Betrachtungen des Herrn
Victor Emion gewiß beipflichten; nur werden wir geneigt sein, einmal die
absolute Impotenz Oesterreichs zu einer ähnlichen That, nach den seit
Treitschke's Forschungen offen vor uns liegenden Noten und Ränken der
Wiener Hofburg in Sachen des Zollvereins mit ganz anderer Energie zu
bejahen, wie der französische Schriftsteller. Und andererseits wissen wir,
daß selbst bei der ehrgeizigsten Energie der österreichischen Staatslenker jeder
Versuch Oesterreichs, sich an die Spitze einer deutschen Zolleinigung zu stellen,
nothwendig an der baaren Unmöglichkeit hätte scheitern müssen, die kindische
Volkswirthschaft der Bukowina, der Raizen und Hannaken mit der hoch¬
entwickelten Wirthschaft Deutschlands zusammenzuspannen. Nun aber fährt
Herr Emion wörtlich fort:
„Wenn aber Preuyen so bewunderungswürdig diesen handelspolitischen
Feldzug geführt hat. der für Preußen ein politischer Feldzug war. so hat es
vielleicht, gegen sein eigenes Interesse, die Früchte seines Sieges mißbraucht.
Die Verschluckung des Zollvereins durch dasDeutsche Kaiser¬
reich ist ein Fehler, dessen Folgen sich von Tag zu Tag offen¬
baren können."
„Der Zollverein war ein wirthschaftliches (eommereikl) Band, welche?
die Kette der im Zollbunde vereinigten Staaten schmiedete; so lange wie er
bestand, war das Deutsche Reich sozusagen unauflöslich. Mit Zerreißung
dieses Bandes, verliert Deutschland die größte Kraft seines Zusammenhaltes.
Preußen ist verabscheut (ä6lese6e), das weiß es wohl, von seinen Bundes¬
genossen wie von seinen Feinden; seine Politik beruht aus einigen Grund¬
sätzen (xrseextes) wie dem vom Grafen Bismarck verkündeten: „Gewalt geht
vor Recht" — den bekanntlich der Deutsche Kanzler nie ausgesprochen hat,
indessen ealumniars anas-oder, semxer alle^uiÄ liaerot, wie man sieht —; „von
Preußen wird man wahrscheinlich abfallen (fers. g,dg,na<)rin6ö) an demselben
Tage, wo die Menschen verschwinden, die heute die Geschicke des Reiches
leiten. Und sollte man dann selbst nicht freiwillig von ihm abfallen, so
wird das zu seinem Unheile (katalöwtjnt) später geschehen, denn es kann sich
nur auf die Gewalt (tores) stützen, und die militärische Macht (kvre<z) Preußens
kann von einem Tag zum anderen verlöschen" — kann hingehn wie das
Abendroth, würde Herwegh sagen. — „In der That, die verschiedenen
Staaten die (heute) das Deutsche Reich bilden, und (ehemals) durch die Ver¬
fassung des Zollvereins vereinigt waren, sind bereit, sich bei der ersten gün¬
stigen Gelegenheit zu zerstreuen, wenn ihr Interesse ihnen nicht absolut ge¬
bietet, die Verbündeten Preußens zu bleiben. Und dieses Interesse
existirt nicht mehr von dem Augenblick an, wo der Zollverein
vom Kaiserreich verschluckt worden ist. Der Tod einiger Staats¬
männer könnte allein ausreichen, um dieses so mühsam aufgeführte Gebäude
über den Haufen zu werfen."
„Kurz, von dem Moment an, wo die Handelseinheit der politischen
Einheit untergeordnet worden ist, ist sie sozusagen der Laune der Ereignisse
preisgegeben. Uns aber, die wir die Opfer der preußischen Macht und
Politik gewesen, obliegt nun die Pflicht, Schritt für Schritt dem Gange des
Deutschen Reichs zu folgen, um geschickt seine Fehler zu benutzen!"
Es wäre eine Beleidigung für unsere deutschen Leser, der Mittheilung
dieser kindlichen Vorstellungen von dem Verhältniß des Deutschen Kaiserthums
zum Zollverein, unsrer politischen Einheit zur Handelseinheit u. s. w., eine
andere Bemerkung folgen zu lassen, als die: daß es mit dem geschickten Er¬
lauern unserer Fehler wohl noch gute Wege hat, solange jenseits der Vogesen
so wenig Klarheit über die Grundlagen und den Organismus unseres Staats¬
wesens, unserer Wirthschaft und Volkskraft vorhanden ist.
Die Berathungen des Abgeordnetenhauses haben in dieser Woche vor¬
zugsweise den Zweigen des wirthschaftlichen Lebens gegolten. Da war ein
Gesetz über die Betheiligung der Staatsbeamten an Erwerbsgesellschaften; da
war ein anderes über die Gewährung von Schauprämien für Zuchtpferde, um
die bei der Budgetberathung durch eine Ueberraschung. welche Herr Eugen
Richter in Scene setzte, gestrichenen Rennprämien zu ersetzen. Ein anderer
Gesetzentwurf betraf die Vermehrung des Betriebsmaterials der Staatseisen¬
bahnen, und so geht es Wetter. In dieser Reihe von Gesetzen, die sich auf
wirthschaftliche Einrichtungen beziehen, hat ein abgelehnter Entwurf einen
Zwischenfall hervorgerufen, der ebenso großes Aufsehen als widersprechende
Urtheile hervorgerufen hat. Die Regierung bezweckte mit diesem Entwurf
die staatliche Zinsgarantie für eine Prioritätsanleihe aufnehmbar durch die
Gesellschaft der sogenannten Berliner Nordbahn. Es war namentlich eine
Rede Laster's, welche das Haus dahin brachte, diese Vorlage mit der großen
Majorität von 257 gegen 84 Stimmen abzulehnen. Laster stellte in seinem
Vortrag die Berliner Nordbahn als eines der verwerflichsten Beispiele jener
von ihm erkennbar und berüchtigt gemachten Gründerunternehmungen hin.
Die Regierung erklärte nur den Zweck im Auge zu haben, die Vollendung
einer bereits halb ausgeführten Bahn solchen Landestheilen zu sichern, die
einer Schienenstraße dringend bedürfen. Laster hob dagegen hervor, die
Durchführung des Unternehmens sei Ehrensache der Gründer, oder derer, die
für die Gründung ihre Namen hergegeben; die Anleihe habe nur den Zweck,
die Verzinsung der Aktien zu bewirken, während es Sache der Gründer sei,
entweder die Zinsen herbeizuschaffen oder die Aktien zu übernehmen; wolle
Man den Grundsatz aufstellen, vergeudete Anlagecapitale durch Staatshülfe
zu verzinsen, so schädige man die wirthschafrliche Moral und setze sich un-
bemeßbaren Ansprüchen aus. Ganz besonders durchschlagend scheint der
Schluß von Laster's Ausführung gewesen zu sein, worin er wiederum hin-
wies auf die verschwenderische Behandlung der Eisenbahnanlagecapitalien zu
unlauteren Zwecken als eine Hauptursache der Preissteigerung des Arbeits¬
lohnes und der Baumaterialien.
Obwohl das Abgeordnetenhaus durch die große ablehnende Majorität
der Ausführung Laster's beizutreten schien, so fehlte es nachträglich doch nicht
an allerlei Kopfschütteln. Dem Einen war das Hereinziehen der Persönlich¬
keiten zu stark, der Andere meinte, nachdem die Sachlage wiederum so auf¬
gedeckt worden, habe man freilich die Zinsgarantie ablehnen müssen. Aber
die Sache hätte können ruhen, da ja doch der große Eisenbahnuntersuchungs¬
bericht vorliege. Ein Dritter tadelte wiederum den Abgeordneten, daß er von
seinem Widerstand gegen die Vorlage nicht den Handelsminister in Kenntniß
gesetzt; dann würde die Vorlage gar nicht eingebracht und die unangenehme
Erörterung vermieden worden sein. — Ueber den letzteren Vorwurf haben
wir kein ausreichendes Urtheil, die anderen aber sind unbegründet. Wir
Wissen nicht, ob der Handelsminister die Vorlage zurückgezogen hätte auf die
Ankündigung eines zu leistenden Widerstandes hin; die Erkundigung, ob ein
solcher Widerstand bevorstehe, wäre aber seine Sache gewesen. In der Be¬
gründung aber, daß die Vorlage zu verwerfen, müssen wir dem Abgeordneten
Laster uneingeschränkt Recht geben. Die Gründer zweifelhafter Unter¬
nehmungen müssen sich selbst helfen; wo die Staatshülfe unentbehrlich, muß
sie vor der Gründung beansprucht werden. Wenn ein Unternehmen tous,
KÄL eingeleitet worden und dann in unerwartete Schwierigkeiten geräth, mag
unter Voraussetzung der Gemeinnützigkeit die Staatshülfe eintreten. Das
aber hieße allen Grundsätzen einer gesunden Politik zuwider handeln und
geradezu die Moral schädigen, wenn der Staat Unternehmungen heraus¬
reißen soll, deren Schwierigkeiten aus übler Wirthschaft entstanden sind, mag
letztere nun auf Leichtsinn oder auf schlimmeren Gründen beruhen. Die
Schuldigen müssen dann ihre Strafe finden, und wenn der Staat solchen
Schuldigen beispringen wollte, weil das gefährdete Unternehmen an sich ge¬
meinnützig , so würde er geradezu eine Prämie setzen auf die wirthschaftliche
Unmoralität. Auch das kann die Sache nicht ändern, daß die eigentlichen
Schuldigen bei der üblen Wirthschaft möglicherweise sich aus der Schußweite
gebracht und Patrone mit gewichtigen Namen als Betrogene zurückgelassen
haben. Wer einen Namen trägt, der zur Patronisirung taugt, soll sich vor¬
sehen, ehe er ihn hergiebt. Wie man die Sache auch wenden und betrachten
mag, man wird immer wieder zu der Ueberzeugung zurückgeführt, daß der
Abgeordnete Laster diesen wirthschaftlichen Erscheinungen gegenüber eine
höchst undankbare, lästige und unter Umständen selbst gefährliche Aufgabe
aus reinem Pflichtgefühl mit ebensoviel Muth als Einsicht durchführt. So
oft in künftigen Zeiten die Versuchung, unlautere Spekulationen zu be-
günstigen, an deutsche Parlamente herantritt, möge man sich des Abgeord-
neten Laster erinnern, der diesen Versucher auf der Schwelle so furchtlos und
pflichtgetreu empfing, und möge die Reinheit deutscher Parlamente immer solche
Wachtel finden. Wir haben unsere abweichende Meinung der Haltung des Abge¬
ordneten gegenüber in wichtigen Fragen, wie das Militärgesetz, an dieser Stelle
lebhaft ausgedrückt. Heute aber müssen wir sagen: Ehre, dem Ehre gebührt.
Die Hauptpatrone des von Laster so hart verurtheilten Unternehmens
der Berliner Nordbahn sind Mitglieder des Herrenhauses. Es konnte nicht
fehlen, daß am Tage nach Laster's Vortrag einer dieser Patrone auf den
Angriff erwiderte. Es kann jedoch wohl nur Eine Stimme darüber sein, daß
die Vertheidigung so ausgefallen, daß die Sache des Vertheidigers vor keinem
Auge dadurch gewonnen hat. Während die sachlichen Behauptungen über
die Lage und Führung des Unternehmens lediglich Bestätigung fanden, schloß
sich daran der Versuch einer Charakterverdächtigung gegen den Ankläger, der
bet Freund und Feind ohnmächtig zu Boden fallen mußte. Auf die Replik
des Fürsten Puttbus im Herrenhaus konnte Laster die Duplik nicht schuldig
bleiben. Man kann von der/eiden sagen: sie wäre stegreich gewesen, wenn
sie nöthig gewesen wäre, und sie war siegreich, obwohl sie unnöthig war.
Zu den wirthschaftlichen Gesetzen dieser Woche gehört auch die Bewilligung
der großen Eisenbahnanleihe. Die Gesichtspunkte über die staatliche Behandlung
des Eisenbahnwesens überhaupt, welche dabei geltend gemacht wurden, können
uns erst bei einer Erörterung der Grundsätze der Eisenbahnpolitik im Ganzen
beschäftigen, zu der die Gelegenheit mehr als einmal wiederkehren wird.
Das Herrenhaus hat in dieser Woche an wichtigen Gegenständen sich
mit den drei Kirchengesetzen beschäftigt, auf die wir uns vorgenommen haben
Die dießjährige Session unserer Kammer naht sich ihrem Ende, ohne
daß bisher das so wichtige Gesetz über den Verkauf eines Theiles unserer
Erzländer an in- und ausländische Hüttenbesitzer seine Erledigung gefunden
hätte. Und doch ist es eben dies Gesetz, welches unserm Staatsschatz die
reichen Mittel zu den vielen Verbesserungen, sowohl auf geistigem, als auf
materiellem Gebiete, deren das Land so sehr benöthigt ist. liefern soll.
Welche Intriguen hier mitgewirkt, und welches geheime Spiel von unserm
Herrn General-Director des Innern mit unsern Hüttenbefitzern. oder von
diesen mit Herrn Salentiny, gespielt worden sein mag. dürften wohl nur
diese selbst recht wissen. Als es sich für verschiedene unserer Hüttenbesitzer
darum handelte, Erz-Concessionen von Deutschland an der Grenze unseres
Landes in den neuen Reichslanden zu erhalten, da mochten wohl der deutschen
Reichsregierung Hoffnungen auf Reciprocität für die deutschen Hüttenwerke
an der Saar und dem Rhein gemacht worden sein, Hoffnungen, die man
heute nicht mehr erfüllen möchte, da dieselben wohl nur unter der Hand ge¬
macht worden find, und vielleicht sogar von Leuten, die heute gar nicht mehr
in der Lage sind, ihren Verheißungen gerecht werden zu können, selbst wenn
sie es wirklich wollten. Etwas ist jedenfalls faul an der Sache, dieselbe könnte
sonst unmöglich so lange hingeschleppt werden. — Schon hat die Hälfte
unserer einheimischen, haben alle ausländischen Hüttenbesitzer, die um Erzland
bei uns eingekommen waren, ihr Angebot zurückgezogen, und die andern daS
ihrige um die Hälfte vermindert. Die reiche Jahresrente, die durch den Ver¬
kauf der Erzländer unserm Staatsschatze zufallen sollte, ist schon um mehr
als die Hälfte zusammengeschmolzen, und mit dieser Rente unsere Hoffnung
auf die Verbesserungen auf allen Gebieten unsers öffentlichen Staatslebens,
und in allen Verwaltungen, deren unser Land so sehr als irgend eines be¬
darf. Wir hatten dabei auch für unsere Schulen, vornehmlich für die Pri¬
märschulen gehofft; wir glaubten, man wollte endlich unsere Primarlehrer von
ihrem schweren Pastorenjoche, und dem nicht minder drückenden und er¬
niedrigenden Bauernjoche, was übrigens meist dasselbe ist, erlösen, und zwar
dadurch, daß man sie zu Staatsdienern erkläre, und ihnen ein ihrer wichtigen
Stellung im Staate angemessenes Gehalt anweise. Unsere Lehrer, die Führer
und Bildner unserer Kinder, meinten wir, sollten von Kammer und Regierung,
die sich ja auf ihren Liberalismus so große Stücke zu Gute thun, aus die
Stufe und zu der Unabhängigkeit und dem persönlichen Ansehen erhoben
werden, deren sie unbedingt bedürfen, wenn sie das Volk dcchinführen sollen,
wozu es von Gott berufen ist. — Doch wie sehr hatten wir uns in dieser
Hoffnung getäuscht. Die Session unserer Kammer geht zu Ende, und nichts
gar nichts, was nennenswerth wäre, ist für unsere Schulen und unsere Lehrer
geschehen. — Verschiedene unserer Kammerabgeordneten votirten sogar gegen
das Gesetz über die Gehaltserhöhung unserer öffentlichen Beamten, die mit
ihren alten Gehältern bei der hohen Steigerung aller Lebensbedürfnisse gar
nicht mehr anständig leben können. Sie waren zwar grundsätzlich für die
Gehaltserhöhung, aber sie wollten dieselbe von Erfolg des Gesetzes über den
Verkauf unseres Erzlandes, d. h. von dem Einkommen des Staatsschatzes,
abhängig gemacht sehen. — Das Allertraurigste bei der Sache ist, daß unsere
Kammer bei Allem was sie thut, oder besser läßt, mit einer beispiellosen Träg¬
heit und Nonchalance zu Werke geht. Kaum in einer Sitzung unter dreien
ist sie beschlußfähig, wegen der häufigen und zahlreichen Abwesenheit ihrer
Mitglieder. Um diese zu ihrer Pflicht anzuspornen, mußte der Herr Staats-
minister erst neulich noch damit drohen, seine Entlassung nehmen zu wollen,
wenn die Herren Abgeordneten nicht fleißiger den Kammersitzungen beiwohnen
würden. Wie lange das helfen wird, wollen wir nicht bestimmen. Wenn
einmal ein jeder von den Herren in der Kammer erreicht hat. was er für sich
oder die Seinigen darin suchte, dann ist ihm der Rest so ziemlich einerlei.
Die Zweigbahnen für Wiltz. Fels u. f. w. sind längst votirt. und der Zweck
der Herren Abgeordneten dieser Kantone ist erreicht. Was sollen sie sich noch
weiter viel in der Kammer für die übrigen Kantone plagen? — Dazu kommt
noch, daß unsere sogenannten Liberalen, denen, wie es scheint, nicht mehr so
Alles in der Kammer nach Wunsche geht, sich, ganz wie die rothe Interna¬
tionale, zu einem Streke verstanden hatten und demnach grundsätzlich die
Sitzungen versäumten, war's auch nur, um die Regierung zu ärgern, die den
Leuten nicht mehr in Allem zu Willen sein wollte, wie früher wohl. Am
Ende jedoch sahen die Herren ein, daß sie eine Dummheit machten. Sie
schämten sich und wohnten wieder den Sitzungen an. Vielleicht auch war
unterdessen ihre Hoffnung auf besseren Erfolg für ihre Partei gewachsen, Wer
kann's wissen? — Verschiedene Gesetze von untergeordneter Bedeutung wurden
votirt, worunter auch ein Gesetz über Erklärung von diversen Gemeindewegen
höherer Klassen zu Staatsstraßen, und ein anderes über Pensionserhöhung
solcher alten Primärlehrer, die durch das betreffende Pensionsgesetz nicht ge¬
nügend hatten berücksichtigt werden können. Um dem Land Sand in die
Augen zu streuen, wollte man durch letzteres Gesetz etwas Staub aufsteigen
lassen, und zeigen, daß man doch auch etwas für die Lehrer zu thun gewußt.
Die Großmuth war übrigens so wohlfeil als möglich und die Staatskasse
wird daran nicht zu schwer zu tragen haben. Von den Beschlüssen in Be¬
treff der Schulschwestern und unserer bewaffneten Macht ist bereits früher die
Rede gewesen.
Wenn wir doch jemals eine wirklich große, eine wirklich erhebende, eine
wirklich liberale Idee in unserer Kammer einbringen und vertheidigen hören
könnten, wie in anderen Ländern, die eben auch nicht viel größer sind, als
das unsrige, wie in Baden, zum Beispiel. Aber du lieber Himmel! wer soll
bei uns auftreten, und im Namen der großen Ideen unserer Zeit, welche
überall die gebildeten Nationen der Erde gegenwärtig bewegen und die Ge¬
müther so gewaltig aufregen und entzünden, sprechen? Den Herren bei uns
scheint nur behaglich im Dunkeln zu sein. woraus man freilich schließen
dürfte, daß ihnen das Licht, ihrer blöden Augen wegen, zuwider ist. Doch
was liegt den Herren daran, welche Schlüsse man aus ihrem Verhalten zieht,
solange man darüber ein kluges Stillschweigen beobachtet. Nur dann werden
sie zornig, wenn man ausspricht, was man von ihnen denkt. Vornehmlich
soll man nicht in der ausländischen Presse darüber schreiben. Man soll leben
und leben lassen, sagen sie; und wenn der große Haufe ja doch nun einmal
betrogen sein will, warum soll man ihm nicht den Gefallen thun? Es kostet
ja nichts. Im Gegentheil, man gewinnt dabei. So denken wir. und wer
nicht so denkt, und dem Volke reinen Wein einzuschenken versucht, der ist ein
Feind des — Kaisers.
Höheres geistiges Streben ist, oder scheint wenigstens, verpönt bei uns.
Unsere Kammer votirt Subsidien und Preisgelder — Herz was begehrst du,
für unser Zucht- und Mastvieh. Wo es sich jedoch darum handelt, die
wirkliche Kunst und Wissenschaft zu stützen und zu heben, dem Licht und der
Wahrheit Bahn zu brechen. dem höhern idealen Streben und Ringen unter
die Arme zu greifen. — da hat der Staat, oder besser die Kammer, kein
Geld. — Wann ist bei uns irgend welche Prämie für hervorragende litera-
rische oder wissenschaftliche Leistungen von der Regierung bewilligt, von wem
große und würdige Preisaufgaben gestellt worden mit der Aussicht auf ent¬
sprechende Preise? Jadoch! wir erinnern uns: ein einziges Mal ist eine
solche Preisaufgabe offiziell gestellt worden. und zwar in Betreff der Ein¬
führung des Christenthums in unserm Lande. Wir besitzen zwar eine Menge
von gelehrten Alterthumsfreunden, die im Lande jeden alten Stein und jeden
alten Scherben kennen und in allen Einzelheiten beschrieben haben. Dennoch
ist, soviel wir wissen, die Preisaufgabe, von welcher oben die Rede ist, noch
nicht gelöst bis auf den heutigen Tag. Wir scheinen in den Schulen eben
nicht weit gekommen zu sein. Wir kennen zwar sehr genau die obere Schale
der Dinge, woran wir kleben, aber den Geist dieser Dinge kennen wir nicht,
vielleicht, weil wir ihn nicht kennen wollen. — Und so ist und bleibt auch
wohl noch lange alle tiefere und höhere Wissenschaft bei uns in den Windeln.
In literarischer Hinsicht stehen wir wohl hinter allen übrigen Völkern der
Welt zurück. Wir sind sozusagen ohne alle Literatur. Daran mag unser
Idiom wohl die meiste Schuld tragen. — Unsere Geschichtschreibung ist eine
so jämmerliche und einseitige, daß man nur dieselbe recht zu studiren braucht,
um gar keine Landesgeschichte zu kennen. Alles trocknes Zahlen- und Namen¬
wesen, ein todtes Skelett ohne Leben und Geist, aber dafür nur um so
orthodoxer. Wir haben nicht einen einzigen wirklichen Künstler, sei es in
welchem Kunstzweige es immer wolle, aufzuweisen. Fehlt es uns etwa an
wirklichem Talent, an Genie? Wohl schwerlich mehr als andern Völkern;
nur an dem edlen Wetteifer fehlt es bet uns, oder sagen wir lieber an dem
rechten Sporn zur Aufstachelung dieses Wetteifers. Wir haben unseren
Talenten, unseren Genie's keine Ringbahn gebaut, wo sollen sie ihren Wett¬
kampf halten können? — Wozu auch? Wir sind ja so glücklich, so zu¬
frieden in unserer gottseliger Mittelmäßigkeit, wenn man uns nur zufrieden
läßt, und uns nicht mit der Außenwelt in Berührung bringt, vornehmlich
nicht mit Deutschland, wo man auf dergleichen Firlefanz so große Stücke
hält, und das Verdienst der Leute davon abhängig macht. Wissenschaft,
wissenschaftliche Bildung, Kunst und Kunstbtldung — gelten Alles bei den
Deutschen. Sie scheinen den schönen Spruch nicht zu kennen, oder nicht nach
Verdienst zu schätzen: ^rs lonM, vio brevis est. Wir anderen wollen unser
Leben genießen, und unsere besten Jahre nicht den heikeligen Wissenschaften
und der schwierigen, langwierigen Kunst opfern. Wir sind nun einmal so
in der Welt gestellt, daß wir all den gelehrten Plunder entbehren können.
Dabei haben wir aber das prächtigste Mast- und Zuchtvieh weit und breit,
saftige Schinken und Braten und ganz vorzügliches Bier. Was braucht ein
Christenmensch mehr, um zufrieden und glücklich zu sein auf der Welt.
„Frot dir no alle Seiten hin,
„We mir ess zefride sin!" —
Und obendrein sind wir selbständig und unabhängig, und haben nach
der ganzen Welt nichts zu fragen:'
„Mir weite bluive, wat mir sin,
„Mir weite glät net vreiszesch gilt!"
Im letzten „Briefe aus der Kaiserstadt" (Ur. 20) ist statt „den Herrn Alexander" zu
lesen: „den Zaren Alexander."
(Generalstabswerk. Viertes Heft.)
Der erste Band, nicht Theil, des Generalstabswerkes ist durch die Aus¬
gabe des 4. und S. Heftes vollendet worden.*) — Das erste Kapitel des
4. Heftes bespricht den Rückzug der Armee des Marschalls Mac
Mahon nach Chalons und das Vorrücken der III. Armee bis
zur Mosel. —Die mit der deutschen Kavallerie eingeleitete Verfolgung der
bei Wörth geschlagenen französischen Corps hatte vor den Eingängen der
schwierigen Gebirgspässe ihr Ende erreicht, sodaß schon am 7. August die
Fühlung mit dem Feinde verloren ging; weder der Grad der Auflösung in
der französischen Armee, noch die Richtung ihres Rückzuges waren daher im
Hauptquartier des Kronprinzen zu Sulz genau zu übersehn. Man vermu¬
thete den Feind in der Richtung auf Bieses und beschloß, derartig gegen die
Saar vorzugehn, daß sämmtliche Marschkolonnen am 12. August die Linie
Sarreunion - Saarburg erreichten. Aber die französischen Corps (I- und V.)
waren nach einer anderen Richtung ausgewichen; sie setzten ihren Rückzug
auf Luneville und Baccarat fort und gewannen mit starken Märschen einen
immer größeren Vorsprung. Bis zum 21. waren sie vollständig im Lager
von Chalons versammelt. Das VII. französische Corps versuchte zunächst
nicht, sich mit ihnen zu vereinigen. Es stand 20,000 Mann stark bei Belfort
und unternahm auch nichts in der Richtung auf Straßburg. Erst am 16.
August erhielt es aus Paris den telegraphischen Befehl, nach Chalons abzu¬
rücken, was in den Tagen vom 17. bis 22. mit S2 Eisenbahnzügen geschah.
Inzwischen sammelte Trochu auch das XII. Corps bei Chalons, und nun
erhielt Marschall Mac Mahon den Oberbefehl über die dort vereinigten vier
Corps, zu denen auch noch die Kavallerie-Divisionen Bonnemains und
Marguerite traten.
Die III. deutsche Armee hatte sich inzwischen in breiter Front nach den
Vogesen in Marsch gesetzt, rechts die zwei bayerischen, links die beiden preu¬
ßischen Corps, die württembergische Division vorwärts der Mitte. Hinter der
so vorrückenden Armee sammelten sich die 11. Division und die übrigen Theile
des VI. Armee-Corps sowie die 2. Kavallerie-Division. Die Badener nahmen
bei Brumath eine beobachtende Stellung gegen Straßburg. Am 9. August
griff ein Theil der Württemberger unter General v. Hügel die kleine Festung
Lichtenberg an. und nachdem sie den Tag über mit Feldgeschützen beschossen
worden, capitulirte sie. Am 10. August früh theilte das große Hauptquartier
des Königs dem Kronprinzen mit, daß die I. und II. Armee am 10. den
Vormarsch gegen die Mosel anträten, und befahl der III. Armee mit dem
Flügel die Richtung Saarunion-Dieuze zu nehmen. Die Kavallerie sei weit
vorzuschieben. In Vollzug dieser Anordnung wurde die 4. Kavallerie-Diviston
in der Richtung aus Nancy vorpoussirt und bemächtigte sich mit ihrer Tete
bereits am 12. der wichtigen Stadt Luneville. An demselben Tage stand die
III. Armee mit vier Corps und der württembergischen Diviston auf der kaum
zwei Meilen langen Strecke von Saarburg bis Fenestrange; die 12. Division
hatte rechts bei Saarunion eine gesonderte Stellung inne, und die nachrücken¬
den Theile des VI. Corps schlössen die Festung Pfalzburg ein, welche am
10. August von der 21. Division vergeblich sehr heftig beschossen worden war.
(1000 Granaten innerhalb ^/z Stunden.) Als aber auch eine zweite Be¬
schießung am 16. August durch General Tümpling, bei welcher 10 Batterien
1800 Schuß thaten, nicht zum Ziele führte, ward Pfalzburg nur noch durch
zwei Bataillone und eine Schwadron beobachtet. Die Badener besetzten Wen¬
denheim bei Straßburg und zerstörten die Telegraphen- und Eisenbahnver¬
bindung von dort nach Lhon. Am 10. August zur definitiven Einschließung
von Straßburg bestimmt, schied die badische Division aus dem Verbände der
III. Armee.
Am 12. August ordnete der Kronprinz den weiteren Vormarsch gegen die
Mosel an. Die 4. Kavallerie-Division erreichte am 14. Nancy und besetzte
diese wichtige Stadt. Ueber Frouard trat man in Verbindung mit der 5.
Kavallerie-Division und erfuhr die Besetzung von Pont o, Moussou durch
Infanterie der II. Armee. An demselben Tage fiel Marsal in die Hände des
11. bayerischen Corps. Dies rückte am 16. nach Nancy, während das V.
Corps seine Avantgarden nach Richardmenil und Basse Flavigny an die
Mosel vorschob, das XI. Corps auf dem linken Flügel bei Bayou diesen
Strom erreichte und die Württemberger, die 12. Division und das I. bayer.
Corps in zweiter Linie und das VI. Corps bei Saarburg standen. Die 2.
>
Kavallerie-Division, welche den Weg von Mainz, 35 Meilen, in 9 Tagen
marschierend zurückgelegt, trat zur III. Armee und ging am 16. August bis
Montigny vor. Am Nachmittage dieses Tages trat man bei Toul mit
Theilen des IV. Armee-Corps, also mit dem linken Flügel der II. Armee in
unmittelbare Berührung.
Das zweite Kapitel bespricht die Heeresbewegungen von der
unteren Saar nach der Mosel, und zwar zunächst das „Aufschließen
der I. und II. Armee und die Entwickelung derselben zum weiteren Vormärsche
auf dem linken Saarufer". Am Frühmorgen des 7. August lag über dem
Schlachtfelde von Spicheren ein dichter Nebel. Die Ulanenregimenter Ur. 3
und 13 gingen, um Fühlung mit dem Feinde zu gewinnen, auf Forbach vor,
aus welchem Orte sie Jnfanteriefeuer erhielten., worauf die 13. Division ihn
wegnahm. Im Uebrigen wurde bei der I. Armee der Tag zur Heranziehung
der noch rückwärts befindlichen Theile des VII. und VIII. Armee-Corps, zur
Herstellung der in der Schlacht aufgelösten Truppenverbände und zu den Bor¬
bereitungen benutzt, welche zum Räumen der der II. Armee zugewiesenen großen
Straße von Saarbrücken nach Se. Avold nothwendig waren. — Das Haupt¬
quartier der II. Armee hatte am 7. mit gutem Grunde die feindliche Armee
von Wörth her erwartet und treffliche Maßnahmen zu deren Empfang ge¬
troffen; aber die Franzosen erschienen nicht nur nicht, sondern die südwärts
streifende Kavallerie-Brigade Bredow traf vielmehr auf Truppen der III. Armee.
Unter diesen Umständen trat Prinz Friedrich Karl am 8. August den Weiter¬
vormarsch nach Westen an.
Im großen Hauptquartier Sr. Majestät des Königs zu Mainz hatte
man nach Eingang der ersten telegraphischen Nachrichten über die Schlachten
bei Wörth und Spicheren zunächst die Möglichkeit ins Auge gefaßt, dem
Marschall Mac Mahon den Rückzug zu verlegen. — Seine Majestät ging
am 7. nach Homburg in der Pfalz. — Die weiter beabsichtigte Vorbewegung
der deutschen Heeresmassen von der unteren Saar nach der Gegend von Metz
sollte in Form einer allmähligen Rechtsschwenkung vor sich gehn, bei welcher
die erste Armee gewissermaßen den Drehpunkt zu bilden hatte. Die Bewegungen
eben dieser Armee mußten jetzt um so mehr verlangsamt werden, als die Ver¬
hältnisse dazu geführt hatten, mit dem linken Flügel der I. Armee weit nach
Süden auszuholen, während die Mitte noch im Aufschließen begriffen war.
Es wurden daher dem General Steinmetz entsprechende Befehle ertheilt und
im Laufe des 8. August von ihm ausgeführt.
Im Hauptquartier Napoleon's hatte man inzwischen schon in den ersten
Augusttagen allen Angriffsplänen entsagt und die Landesvertheidigung ernst¬
lich ins Auge gefaßt. Nach den Niederlagen von Wörth und Spicheren han¬
delte es sich zunächst darum, die Armee des Marschalls Bazaine durch eine
rückgängige Bewegung wieder in sich zu sammeln. Man beschloß am 7.
August den Rückzug des ganzen Heeres auf Chalons, erließ die vorbereitenden
Befehle dafür und begann mit ihrer Ausführung. Aber Gründe der Politik,
namentlich der innern Politik, machten es doch höchst bedenklich, den Feldzug
damit zu eröffnen, daß man das Land bis halbwegs Paris preisgab. Die
Angst vor den Schmährednern der Nationalversammlung überwog die mili¬
tärischen Rücksichten, und so kam man von dem gefaßten Entschluß wieder
zurück und wendete sich dem Gedanken zu, den deutschen Heeren noch östlich
von Metz entgegenzutreten. Man verfügte dort über 200,000 Mann, und
wenn die Deutschen nicht sehr schnell waren, so konnte es wol auch noch ge¬
lingen, das bei Chalons sich bildende Reserve-Heer heranzuziehn. Allerdings
stand den Deutschen im Großen und Ganzen die Ueberlegenheit der Zahl
zur Seite. Aber solche Massen sind äußerst schwierig zu bewegen. Wie sehr
möglich schien es, daß bei dem Ueberschreiten der Mosel auf weit auseinander¬
liegenden Brücken Fehler gemacht wurden, deren geschickte Benutzung den
Franzosen an irgend einem Punkte eine momentane Ueberlegenheit verschaffen
konnte. Ein Sieg über einen Theil des Deutschen Heeres hätte aber auch
den andern Halt geboten. Um einen solchen Erfolg zu erringen, bedürfte es
freilich eines aufmerksamen und thätigen Verhaltens, bei dem Metz eine gute
Stütze gewähren mußte. — Dieser große Kriegsplatz befand sich aber in
schlechtem Zustande. Der Kommandant, General Coffinieres. erklärte: sich
selbst überlassen, vermöge er die Festung nicht 14 Tage zu halten. So war
diese denn vorläufig durch die Armee, nicht die Armee durch die Festung zu
schützen. Man beschloß endlich, eine Stellung an der französischen Nied zu
nehmen und diese fortifikatorisch zu verstärken. Am 10. August bezog man sie.
Unterdessen dauerte am 9. August bei der II. deutschen Armee das Auf¬
schließen der nachrückenden Heeresthetle fort, und das große Hauptquartier
ging nach Saarbrücken. Folgenden Tages begann dann „der Vormarsch der
I. und II. Armee an die Französische Nied und die Mosel", und während
dieses Vorrückens wurde man über die vom Feinde ergriffenen Maßregeln
der Hauptsache nach klar. Am 11. war das große Hauptquartier in Se. Avold
und befahl von hier aus ein enges Zusammenschließen der I. und II. Armee,
sodaß am 12. August auf der nur 2Vs Meile langen Linie Boulay-Faulque-
mont fünf Armee-Corps (I, VII, VIII, III und IX) zu unmittelbarer Zu-
sammenwirkung bereit waren. Binnen Tagesfrist aber konnten nöthigenfalls
sogar neun Armee-Corps zu gemeinsamer Wirkung vereinigt werden. (Außer
der genannten nämlich noch das Garde-, das X, das XII und das IV Corps.)
Vorwärts der ganzen Front bildete die Reiterei einen dichten Schleier. Bei
dieser Concentration waren natürlich die Verpflegungsschwierigkeiten sehr be¬
deutend, und da das Wetter jäh Wechselle, so war der Krankenstand nicht
unbedeutend. Weit vorgreifende Rekognoscirungen kecker Reiterschaaren
brachten gute Aufklärungen über die Verhältnisse beim Gegner, aus denen
hervorging, daß die Franzosen die westlich der Nied verschanzte Stellung
wieder aufgegeben hätten, jedoch immer noch in bedeutender Stärke östlich
Metz stünden, daß hingegen das Land oberhalb des Platzes (die Gegend von
Pont-ä-Moussou) völlig frei und sogar die Hauptübergänge über den Fluß
unbesetzt seien. Es ließ sich zugleich übersehen, daß die Hauptmacht des
Feindes im Rückzüge durch Metz über die Mosel begriffen sei. Hiernach
schien zunächst für die II. Armee ein rasches Bordringen geboten, um sich der
so wichtigen Mosellinie zu versichern, ehe sie etwa aufs Neue besetzt werde.
Prinz Friedrich Karl's Armee wurde daher auf Pont-a-Moussou. Dieulouard
und Marbache dirigirt; die I. Armee sollte ihr, geradwegs auf Metz vor¬
gehend, die rechte Flanke decken, während die III. Armee ihren Vormarsch
gegen die Linie Nancy-Luneville fortzusetzen hatte.
General Steinmetz nahm in Folge dieser Verfügung am 13. August
eine Stellung zwischen den beiden Niedläufen. Seinen äußersten rechten
Flügel bildete 5le 3. Kavallerie-Division bei Avancy. Hinter dem I. und
VII. Corps stand als Reserve das VIII. Corps an der deutschen Nied. Zur
unmittelbaren Unterstützung dieser Armee standen von der Armee Friedrich
Karl's das III. Corps bet Bechy und Buchy, das IX. mit der Spitze bei
Herry, das XII. in der Gegend von Thiaucourt. Der linke Flügel der
II. Armee war derart angeordnet, daß vom X. Corps die eine Division (19)
in Pont-Z,-Moussou. die andere (20) bei Auleois für sende stand; die Garde
stand bei Lemoncourt, das IV. Corps bei Chateau Salms. Das II. Corps
hatte seine Ausschiffung beendet und vereinigte im Laufe och Tages bereits
drei Brigaden bei Se. Avold.
Die seit dem 7. August in Folge des schnellen Abzugs der Franzosen
fast verlorene Fühlung mit dem Feinde war vor der Front der I. Armee
in allernächster Nähe wiederhergestellt. Es ergab sich hier, daß die Franzosen,
der bisherigen Vermuthung zuwider, ihren Abzug über die Mosel noch nicht
bewerkstelligt hatten, und wenn das der deutschen Heeresleitung einerseits
erwünscht war, weil es die Ausführung der eigenen Pläne erleichterte, so
erwuchs daraus doch auch die Schwierigkeit, daß man genöthigt war, bis
auf Weiteres die I. Armee in unmittelbarster Berührung mit dem Feinde zu
halten, während das bevorstehende Ueberschreiten der Mosel durch die II- Armee
zu einer Trennung der Kräfte führen mußte. Das auffallende Verharren
der Franzosen bei Metz zu einer Zeit, da bereits zwei preußische Corps die
Mittlere Mosel erreicht hatten und die Kavallerie schon bis an die Straße
bon Verdun streifte, ließ kaum eine andere Deutung zu, als die, daß der Feind
einen Angriff auf die I. Armee beabsichtige, welche er durch das breite Vor-
rücken der II. für isolirt halten mochte. Hiegegen galt es sich zu sichern.
Es wurde daher am 13. August abermals befohlen, daß die I. Armee am
14. in ihrer Stellung zu verbleiben und den Feind zu beobachten habe.
Im Fall derselbe zum Angriffe vorgehe, werde von der II. Armee das
III. Corps vorerst bis in die Höhe von Pagey, das IX. Corps auf Buchy
vorrücken, um eventuell eingreifen zu können. Die übrigen Corps der
II. Armee sollten dagegen ihren Vormarsch gegen die Mosel fortsetzen, die
Kavallerie beider Armeen aber möglichst weit vorgeschoben werden. — Die so
befohlene Rechtsschwenkung mit stehendem Drehpunkt (I. Armee) wurde am
14. August aufgenommen.
Im französischen Hauptquartier war ein enges Zusammenziehen der
Armee dicht vor der Festung beschlossen worden. Sie war unter dem un¬
mittelbaren Schutz der Forts 201 Bataillone, 116 Schwadronen und 640
Feldgeschütze stark. Am 12. August legte der Kaiser das Kommando ganz
nieder, ernannte den Marschall Bazaine zum wirklichen Oberbefehlshaber der
Rheinarmee und faßte seinen Abgang von der Armee ins Auge. Ohne einen
Sieg erfochten zu haben, konnte der Kaiser nicht nach Paris zurückkehren,
und deßhalb war er, obgleich von schweren körperlichen Leiden geplagt, bei
der Armee geblieben- Schon herrschte er nicht mehr in Frankreich und befahl
nicht mehr beim Heere, und sein Schicksal war ebenso abhängig von den
Kämpfen im Felde, wie von denen im Parlamente. „Der Monarch, welchem
der Staat mit seinen Hülfsmitteln zur Verfügung steht, hat nur dann seinen
richtigen Platz an der Spitze der Feldarmee, wenn er es vermag, selbst der
Führer seiner Heere zu sein und die schwere Verantwortlichkeit für Alles, was
im Felde geschieht, selbst zu übernehmen. Treffen diese Voraussetzungen nicht
zu, so muß seine Anwesenheit bei der Armee stets lähmend wirken." Bazaine
mußte daher dringend wünschen, daß der Kaiser und mit ihm ein zahlreicher
Troß unbefugter Rathgeber die Armee verlasse. „Denn nur ein Wille darf
die Operationen lenken; beeinflußt von verschiedenen, wenn auch an sich wohl»
gemeinten Rathschlägen, wird dieser Wille an Klarheit und Bestimmtheit
immer verlieren, wird die von ihm abhängige Heeresleitung unsicher werden."
Wie es scheint, hatte der Kaiser einem neuen Oberbefehlshaber als erste Auf¬
gabe vorgeschrieben, die Armee vorläufig nach Verdun zurückzuführen, um sie
der sich im Lager von Chalons organisirenden Reserve-Armee Mac Mahon's
zu nähern. Am Vormittage des 13. August, zu derselben Zeit, als die
preußischen Truppen die Fühlung mit den französischen Vorposten wieder¬
gewannen, erließ der Marschall den Befehl für den Abmarsch nach Westen,
der am folgenden Tage gegen Mittag begann, indem auf beiden Flügeln
der französischen Stellung die Truppen des VI., II. und IV. Corps ihren
Abzug auf das linke Moselufer begannen, während das III, Corps und die
Garden im Allgemeinen noch in ihren Positionen verblieben.
General Steinmetz hatte am Morgen des 14. einen Befehl erlassen, daß
die einzelnen Theile seiner Armee an diesem Tage in ihren Stellungen zu
verbleiben hätten. Als aber der Führer des I. Armee-Corps, General Man-
teuffel die rückgängiger Bewegungen der ihm gegenüberstehenden französischen
Massen bemerkte, glaubte er die Absicht zu erkennen, einen Vorstoß mit ge¬
sammelten Kräften gegen das VII. Armee-Corps zu führen oder einen Angriff
gegen die II. Armee einzuleiten, und allarmirte seine beiden Divisionen. Bei
der Avantgarde des VII. Corps dagegen konnte kein Zweifel darüber ob¬
walten, daß der Feind seine Stellung vor Metz räumte, und angesichts
dieser Thatsache glaubte Generalmajor v. d. Goltz sogleich handeln zu müssen.
Ein Versuch, die von den Franzosen beabsichtigte Rückzugsbewegung zu
verzögern, schien nach den allgemeinen Kriegsregeln gerechtfertigt und durch
die damalige strategische Lage sogar geboten. „Die Erfolge bei Weißenburg,
Wörth und Spicheren hatten im ganzen deutschen Heere eine hohe Sieges¬
zuversicht hervorgerufen. Auf dem Vormarsche von der Saar an die Mosel
war man wiederholentlich an Punkten vorübergekommen, wo der Feind seine
offenbar zur Vertheidigung vorbereiteten Stellungen ohne weiteres verlassen
hatte. Dieser fortgesetzte Rückzug ohne allen Aufenthalt und Widerstand
mußte schon an und für sich -beim deutschen Heere das Gefühl einer hohen
Ueberlegenheit erzeugen und den Wunsch rege machen, den anscheinend ein¬
geschüchterten Gegner einmal wieder zum Stehen zu bringen. Hierzu kam
für die I. Armee noch ein gewichtiges Motiv, nämlich der natürliche Wunsch,
die Aufgabe der II. Armee zu erleichtern, welche, wie man wußte, sich nach
Ueberschreiten der mittleren Mosel einem weiteren Abzüge des Feindes entgegen¬
zuwerfen hatte. Die II. Armee stand aber damals zum größten Theile noch
diesseits des Flusses; um also die nöthige Zeit für die Lösung jener Auf¬
gabe zu gewinnen, galt es, den Gegner bei Metz festzuhalten, die von
ihm beabsichtigte Bewegung nach Westen möglichst zu verzögern. Als daher
am Nachmittage des 14. August Anzeichen eintraten, daß die Franzosen über
die Mosel zurückgehen wollten, bemächtigte sich der über die Nied vor¬
geschobenen Truppen eine gewisse Unruhe. Die ersten Bewegungen beim
Nachbarcorps vielleicht schon als den Beginn eines Gefechtes ansehend, will
einer dem anderen so bald als möglich zur Seite treten, und so drückt sich
in den Meldungen der Generale v. Manteuffel und v. d. Goltz derselbe Ge¬
danke aus: Jeder von ihnen will vorwärts, weil er glaubt, der Andere gehe
in den Kampf.
Daß ein so reges Gefühl von Kameradschaftlichkeit, ein so schnelles
Entschlußfassen den Keim zu großen Erfolgen in sich trägt, hat sich auch in
den Ergebnissen der Schlacht von Colombey- Nouilly wieder bewährt. Aber
man darf sich dabei der Erkenntniß nicht verschließen, daß die Form der
improvisirten Angriffsschlacht manche Gefahren im Gefolge haben kann, und
auch in dieser Hinsicht ist aus dem 14. August eine nützliche Lehre zu
ziehen." —
Das Generalstabswerk widmet der Schlacht bei Colombey.Nouilly
am 14. August eine Darstellung von 63 Seiten Länge, auf deren Inhalt
hier natürlich nur in ganz kurzen Andeutungen eingegangen werden kann.
Der Schauplatz des Kampfes ist die östlich der senke sich erhebende Hoch¬
fläche von Metz, die von Süden her allmählig in der Richtung von Se. Barbe
ansteigt. — Der erste Abschnitt der Schlacht fällt in die Zeit von 3^ bis
7 Uhr Nachmittags. Die Avantgarde des VII. Armee-Corps (v. d. Goltz) geht
zum Angriffe vor; von 4^ bis 6Vs Uhr greift die Avantgarde des I. Armee-
Corps, bis 7 Uhr auch die 25. Infanterie-Brigade und die ganze Artillerie
des I. Armee-Corps ein. — Der zweite Abschnitt der Schlacht fällt in die
Stunden von 7 bis 9 Uhr Abends. Die 14. Infanterie-Division tritt auf;
die 18. Infanterie- und die 1. Kavallerie-Division greifen ein. Gegen 8 Uhr
trafen die Generale v. Steinmetz und v. Manteuffel aus dem Schlachtfelds
zusammen, zu einer Zeit als der Ausgang des Kampfes nicht mehr zweifel¬
haft sein konnte. Denn auf den Thalrändern zwischen Colombey und
Nouilly war die feindliche Linie überall zurückgeworfen und offenbar schon
im Abzüge auf Metz. Um 9 Uhr erlischt der Kampf. Nur das schwere
Festungsgeschütz schleuderte noch seine im nächtlichen Dunkel leuchtenden Ge¬
schosse den Preußen entgegen. Auf der Höhe von der Brasserie stimmte das
Musik-Corps des Kronprinz-Grenadier-Regiments das „Heil Dir im Sieger¬
kranz" an.
„Die Schlacht von Colombey-Nouilly charakterisirt sich in ihrer Ent¬
stehung und in ihrem Verlaufe als eine von richtigem Gefühle ein¬
gegebene Angriffs-Improvisation, welche, um des höheren Zweckes
willen, freilich auch Nachtheile mit in den Kauf zu nehmen hat.
Aus dem Preußischer Seits nur im Sinne einer stärkeren Rekognoscirung
begonnenen Gefechte entbrennt ein heißer und blutiger Kampf, in welchen
nach und nach fast zwei Armee-Corps verwickelt werden, ohne daß eine ge¬
meinsame Oberleitung thatsächlich zur Einwirkung gelangt. Auch innerhalb
der beiden Corps treten der einheitlichen Führung manche Schwierigkeiten
entgegen, weil die ersten Angriffe der verhältnißmäßig schwachen Spitzen gegen
die starken Stellungen des Feindes wiederholt Gefechtskrtsen hervorrufen. In
Folge dessen müssen die nachrückenden Truppen abtheilungsweise, wie sie ge¬
kommen, zur Nährung des Kampfes in die vordere Linie eingeschoben werden,
so daß die höheren Führer sich längere Zeit außer Stand sehen, Infanterie¬
waffen zu einem entscheidenden Stoße zu versammeln.
War die Art des Vorgehens auf Preußischer Seite eine natürliche Folge
der obwaltenden Verhältnisse, so ist es schwer erklärlich, warum die Franzosen
jenen anfänglich vereinzelten Versuchen der Preußen nicht sofort mit größerem
Nachdrucke entgegentraten. Der Abzug über die Mosel hatte zwar auf den
Flügeln der französischen Armee bereits begonnen, aber gerade in der Mitte,
gegen welche sich der erste Angriff des Generals von der Goltz richtete, stand
das III. Corps marschbereit und noch vollständig versammelt in seinen zur
Abwehr wohlvorbereiteten Stellungen. Nahe hinter ihm befanden sich die
Garden als geschlossene Reserven. Zur Deckung und ungehinderten Durch¬
führung des Abzuges wäre ein Festhalten des Colombey-Abschnittes durch
stärkere Arrieregarden unter allen Umständen von Werth gewesen. Die wich¬
tigsten Uebergangspunkte, Colombey, la Planchette, Lauvallier, Nouilly werden
aber im ersten Anlaufe von den Preußischen Spitzen genommen und lange
Zeit von diesen ohne jede Unterstützung behauptet.
Die Französischer Seits vereinzelt unternommenen Vorstöße zur Wieder¬
eroberung der verlorenen Posten führen nur zu untergeordneten Erfolgen:
Colombey, la Planchette und Lauvallier gelangen gar nicht, Nouilly nur
ganz vorübergehend wieder in den Besitz der Franzosen.
Eine ganz besondere Eigenthümlichkeit des Kampfes vor Metz lag aber
auch darin, daß derselbe zu einer Tagesstunde begann, in welcher die
Schlachten häusig bereits entschieden sind. Hierdurch kam es, daß auf
Deutscher Seite bei Weitem nicht alle Truppen zum Eingreifen gelangten,
welche sonst nach Raum und Zeit dazu in der Lage gewesen wären.
Den beiden Avantgarden des I. Armee-Corps fiel die doppelte Aufgabe
zu, den Frontalangriff des VII. Corps zu unterstützen und in der eigenen
rechten Flanke einen Angriff des überlegenen Gegners fern zu halten. Von
dem Gros des I. Corps trat nur die Artillerie in volle Wirksamkeit und bei
dem VII. lag diesmal auf der 13. Infanterie-Division die Hauptlast des
Kampfes, welcher im Großen und Ganzen von fünf Preußischen Brigaden
gegen fünf Französische Divisionen geführt wurde.-)
Am meisten bedroht wäre die französische Stellung gewesen, wenn die
von Süden kommende 18. Infanterie-Division mit stärkeren Streitkräften
noch das Schlachtfeld erreicht hätte, was bei der späten Tageszeit aber nicht
möglich war. Indessen übte schon das Auftreten ihrer Spitzen in der rechten
Flanke der französischen Schlachtlinie eine nicht zu unterschätzende Wirkung aus.
Mit sinkendem Tage hatte der siegreich vorschreitende Angreifer auf dem
westlichen Thalrande des Colombey-Abschnittes und auf den Höhen von Mey
festen Fuß gefaßt. Allerdings behauptete der Feind noch die Mitte seiner
eigentlichen Hauptstellung auf den Höhen von Borvy und Belleeroix, welche
er erst während der Nacht — wohl auf Grund der allgemeinen Sachlage
und in Folge der von Mey und Grigy drohenden Umfassung, übrigens aber
freiwillig und unbelästigt — räumte. Dieser Umstand scheint dem Marschall
Bazaine Veranlassung gegeben zu haben, sich in seinem Schlachtbericht für
„unbesiegt" zu erklären, hat ihm auch den Glückwunsch des Kaisers Napoleon
eingetragen: „Vous romxu 1e e1ig.ruf!"
Der zweifelhafte Werth dieses Erfolges wird aber klar, wenn man er»
wägt, daß Preußischer Seits ein weiteres Vordringen weder beabsichtigt, noch
überhaupt möglich war. In nächster Nähe auf eine große Festung gestützt,
hatten die Franzosen doch allen Boden verloren, welcher außerhalb der
Schußweite der Forts lag; innerhalb derselben nach eigenem Ermessen das
Schlachtfeld zu räumen, konnte ihnen freilich nicht streitig gemacht werden. —
Die Schlacht bei Colombey-Nouilly hatte auf beiden Seiten, besonders
aber bei dem angreifenden Theile, schwere Verluste herbeigeführt. Dieselben
betrugen Preußischer Seits nahe an S000 Mann, einschließlich 222 Offiziere.
Der französische Verlust wird nach dortigen Quellen übereinstimmend
auf 200 Offiziere und 3408 Mann angegeben.
Die eigentliche Bedeutung des auf dem rechten Moselufer errungenen
Erfolges mußte aber nun auf dem linken hervortreten. Dieser Gedanke,
welcher gewissermaßen instinktiv zur Schlacht geführt hatte, wurde im Haupt¬
quartier Sr. Majestät zu Herry sogleich mit voller Bestimmtheit erfaßt, wie
dies in den Direktiven vom Is. August klar ausgesprochen ist: „Die Ver¬
hältnisse, unter welchen das I. und VII. Armee-Corps, sowie Theile der
18. Infanterie-Division gestern Abend einen Sieg erfochten, schlössen jede
Verfolgung aus. Die Früchte des Sieges sind nur durch eine kräftige Offen¬
sive der II. Armee gegen die Straßen von Metz nach Verdun zu ernten."
„In der That wurde durch die Schlacht bei Colombey-Nouilly der Abzug
des Gegners auf Verdun so verzögert, daß es möglich wurde, durch die
Schlacht bei Vionville-Mars la Tour jene Bewegung völlig zum Stillstand
zu bringen und darauf in der Schlacht bei Gravelotte-Se. Privat zu jenem
umfassenden und entscheidenden Angriff von Westen her vorzugehen. So
bilden die Ereignisse des 14. August das erste Glied in der Reihe der großen
Kämpfe um Metz, welche zunächst zur Einschließung und schließlich zur
Waffenstreckung der französischen Hauptarmee führten."
Dies ist der Inhalt des 4. Heftes des Generalstabswerkes. Jllustrirt
ist derselbe durch 7 Skizzen im Texte, welche wesentlich dazu beitragen,
das Verständniß der strategischen Operationen zu erleichtern und zu vertiefen.
Die Ausführung dieser Holzschnitt-Skizzen läßt allerdings manches zu
wünschen übrig und zeigt sich nicht auf der Höhe xylographischer Technik,
was bei einem monumentalen Werke doch eigentlich der Fall sein sollte.
Der beigegebene Plan der Schlacht von Colombey-Nouilly i. M. 1 : 25,000
ist dagegen eine vortreffliche Arbeit. Das Terrain ist in aequidistanten
Niveau-Courven mit brauner Schummerung sehr gut zur Anschauung gebracht,
sodaß die Steilheit der Böschungen und die artilleristischen Ueberhöhungs-
verhältnisse ohne Schwierigkeit zu verstehen sind, und die farbig eingezeichneten
Truppen-Stellungen und Bewegungen lassen die Gefechtslage allenthalben
schnell und klar erkennen. — Als Anlage ist die Verlustliste der Schlacht von
Colombey-Nouilly beigegeben.
Unter Verweisung auf das. was wir in den Grenzboten I. 1874 S. 378
über eine im Privatbesitze befindliche nur theilweise Abschrift des Goethe-
scher Tagebuchs gesagt haben, theilen wir im Rachstehenden die Notizen
aus dem Jahre 1777 mit, die um so anziehender sind, weil wir sie vollstän¬
diger als bei Riemer wiedergeben können. — Unter Zufügung einiger Be¬
merkungen, in so weit sie nöthig oder möglich erscheinen, haben wir durch
Klammern dasjenige Material hervorgehoben, welches von Riemer Nicht
benutzt wurde. Es ist hierdurch die Bedeutung des hier veröffentlichten
Quellenmaterials hinlänglich fixirt. Zu unserm Bedauern und trotz wieder¬
holter Correctur des Tagebuchs von 1776 sind mehrere Satzfehler stehen
geblieben, die wir unter Verweisung auf die bereits von der Redaction ge¬
machten Berichtigungen S. 440 der Grenzboten nachträglich ergänzen,*)
Den 30. Januar zum Geburtstage der Herzogin Louise Sternthal
gespielt. —
l^Den 4. Februar ruhige Nacht, heiterer Morgen. Uebers Bergwerk
gelesen. Eckardt's**) Deduction im Garten unterschrieben. Gebesee. Ge¬
fochten. Geschossen. Reiner Tag.Z
jDen 16. Februar. Mit Corona gegessen. Zu Wieland, viel ge-
schwatzt. Im Garten dictirt an Wilhelm Meister. Eingeschlafen. - 1
jDen 17. Februar. Herrlich Wetter. Nach Säuselt*) geritten.
Ueber den Hirschruf und Buchfahrt zurück. Abends Wiederkehr der (Z. Ge¬
zeichnet. Nachts 10 Uhr zurück in Garten. Die Bäume voll blendenden
Duftes im Mondenscheine.)
j'Den 23. Februar. Mittags bey C>. Abends Probe von Litla. Zu
Corona, Nachts Kaufmann. Gesetze im Gespräch.)
jDen 24. Februar. Früh wunderbare Stimmung. Mit dem Herzogs)
und Wedel nach Ettersburg. Zurück zu T, wo die Werthern war.)
sDen 1. März. Erwin und Elmire. Bey Wieland gegessen.)
sDen 2. März. Bey Herdern gegessen. Bey dem Herzog geschlafen.)
jDen 9. März. Rabenschießen. Ging zu Corona. Kriegte Piks und
ging nach Hause.)
jDen 10. März war S krank. Abends bey ihr. Zeichnend und
schwatzend.)
jDen 15> März. V gezeichnet.^
sDen 16. März. Fortgefahren und den ganzen Tag da.)
jDen 18. März. Conseil. Mit dem Herzog gegessen. Gutes Gespräch
über Leben und Kunst. An O Gezeichnet. Englisch. Sehr lebhafter Abend.
Mit den Kindern gegessen. Affereyen.)
jDen 2 6. März. Die Kinder alle im Garten. Eiersuchen u. s. w.)
jDen 1. April. Zu Hause an W. Meister geschrieben.)
jDen 2. April. Viele Arbeit im Garten. Früh Herzogin Louise bey mir.)
sDen 11. April. Schwere Hand der Götter.)
sDen 13. April. Mit Einsiedel nach Buchfahrt. Im Garten zusam¬
men gegessen. Viel in der Seele umgeworfen.)
sDen 19. April. Bey Corona gegessen. Besuchten (sie) mich im Regen.
Ich begleitete sie wieder und blieb Abends.) —
sDen 2 2. April. Philadelphia bey Hof gespielt.)
jDen 2 3. April. Körperliche Uebungen allerlei Art.)
jDen 2 9. April. Kirchweih zu Mettingen. Corona Abends.)
jDen 3 0. April. Bey O gegessen, vergnügt. Seltsame schnelle trau¬
rige Veränderung. Englisch Othello. Nachts nach Hause gefahren.)
jDen 2. Mai. Conseil. Mit dem Herzog gegessen. Nach Tisch Hu¬
saren - Manoeuvres. Abends Corona und Neuhauß ***), auch Seckendorf im
Garten. Ausgelassen lustig, Nachts herrliches Gewitter auf dem Balkon
abgewartet.)
sDen 8. Mai. Corona den ganzen Tag im Garten.)
sDen 9. Mai. Conseil. Nach Ettersburg geritten mit Herzogin Amalia.)
sDen 2 4. Mai war Corona früh und zu Tisch da.)
sDen 3. Juni. Erschien der Fürst von Dessau. Früh mit im Garten.)
sDen 14. Juni nach Kochberg, froher freier Tag.)
Den 16. Juni. Zurück. Brief des Todes meiner Schwester. Dunk¬
ler, zerrissener Tag.
Den 17. Juni. Leiden und Träumen.
sDen 3. Juli. Kam Dalberg von Erfurth. Mit ihm nach Belvedere
gefahren, den Nachmittag mit Trou-Madame*) verboselt. Gewäsche mit der
Gianini**).)
sDen 4. Juli. Früh nach Dornburg. Dort ward mirs wohl! Ge¬
zeichnet. Abends nach Cunitz. Das Schloß gefährlich erstiegen, im Regen
zurück. Nachts auf der Streu mit dem Herzog. Prinzen, Dalberg und zwei
Einfiedels. Vorher tolles Disputiern mit Einsiedel, doch ungern.)
sDen S. Juli. Frühstück auf dem Fünfeck, überherrlicher Morgen.
Kleine Kanonen gelöst. Mit dem Prinzen heimgefahren, beym Herzog ge¬
gessen, um 5 Uhr nach Kochberg geritten, fand die Kleinen beym Essen.)
sDen 6. Juli. Glücklich gezeichnet, früh nach Tisch über Kuhfras nach
Weisenbach ^) an die Saale. Viel geschwatzt mit Kästner.)
sDen 7. Juli. In dunkler Unruhe, früh weg gegen neun Uhr, gegen
halb Eins erst hier. Grauer Morgen. Audienz der Landstände. Mit ihnen
gegessen.)
sDen 8. Juli. Conseil. Früh am W. Meister geschrieben. Abends
fuhr der Herzog mich und den Prinzen nach Tiefurth. Ich blieb unten.)
sDen 14. Juli. Von Kochberg in 2 Stunden 5 Minuten nach Wei¬
mar geritten.)
>Den 19. Juli. Abends nach dem Feuerlärm geritten bis Taubach.I
sDen 2 3. Juli. Die Mauer im Welschen Garten umgeworfen. Im
Garten geschlafen. Herrliche Mischung des Mondlichts und anbrechenden Tages.)
sDen 2 6. Juli. Wieder in Garten gezogen. Die Natur unendlich
schön gesehen.)
sDen 28. Juli. Regen. Oaräan ac vita, xroxria i-). Nach¬
mittags Denstet. Abends Gespenster. In Tiefurth geschlafen.)
sDen 2 9. Juli. Herein geritten. OÄrclan gelesen. Der Herzog zu
Tische bey mir. Vogelschießens
fDen 3 0. Juli. Früh nach dem Vogel geschossen. Conseil. Die Ver-
willigungsschrift.)
Den 31. Juli. In dunkler Wärme. Tacitus. Abschied des Land¬
tags unterschrieben.)
sDen 10. August. Im Zauberkreis. Gezeichnet. Abends Tiefurth.)
sDen 2 4. August. Nach Ettersburg Hahnenschlagen. Viel getanzt.)
fDen 2 7. August. Ritt ich nach Tische dunkel von Weimar weg, ich
sah oft nach meinen Garten zurück und dachte, so was alles mir durch die
Seele müsse, bis ich das arme Dach wieder sähe. Langsam ritt ich nach
Kochberg, fand sie froh und ruhig und mir ward's so frey und wohl nach
dem Abend und wachte an meinem Geburtstag mit der schönen Sonne so
heiter auf, daß ich alles, was vor mir liegt, heiter ansah. Gegen achte weg
über Stadt Renda, nach Ilmenau, fand den Herzog, der schon halb neune
angekommen war. Nach Tisch ins Bad. Abends mit den Mädchen spazieren.
Abends kam der Herr, hatte einen Zwölfer geschossen. Mittags der Preu¬
ßische Werber bei Tisch. Nach Tisch allein nach Marchand, unterwegs ge¬
schlafen an der Ilm, angekommen beym Cantor, auf seiner Wiese den Grund
hinauf gezeichnet.)
sDen 30. August. Nachricht von Pr. Josephs Ankunft nach Tische.)
sDen 1. September. Den Morgen bis Nachmittag 3 auf der Jagd,
Heßler zu uns, nach Tisch mit den Bauermädels getanzt, Glasern sündlich
geschunden, ausgelassen toll bis gegen 1 Uhr Nachts. Gut geschlafen.)
sDen 2. September. Morgens Possen getrieben. Nach Ilmenau
zurück. Da Staff*) vom Otterkönig sprach, fiel mir auf, wie sich mein Inneres
seit einem Jahr befestigt hat, da nun von Besuchen des Ameisen Königs und
Otterkönigs Hülfe, das sonst der tägliche Discurs war, nicht mehr die
Rede ist.)
sDen 3. September kam Pr. Joseph gegen eilf mit Obrist von Beust.)
sDen 6. September. Meinen dicken Backen gepflegt. Im Buch Hiob
gelesen.^
sDen 6. September ritten wir nach Eisenach.)
IDen 8. September. Audienz der Landstände. Abends die Weiber.
Getanzt von 6 Uhr bis 3 Uhr Morgens.)
Wen 9. September. Mit Fritsch auf der Wartburg.)
sDen 11. September. Alleine, vielerley gedacht übers Dramatische des
Lebens.^)
sDen 13. September. Auf die Wartburg gezogen.)
^Den 14. September. Gezeichnet und mir gelebt. Abends hinunter
zu Bechtolsheims. Um Mitternacht im hohen Mondscheine oben angelangt.)
IDen 21. September kam Merck.)
Mer 27. September. Unbehaglichkeit und Aerger. Vermehrt und
gereizt durch Mercks Gegenwart.!
sDen 28. September. Früh mit Merck hinab nach Eisenach.^j Ich")
fühlte den Abschied, als wir zum Burgthor hinaus traten. Mit Fritsch und
Schmauß über den Landtagsabschied. Dann nach Wilhelmsthal. Chausste-
Vortrag. Abends durch die Hahngasse nach Wartburg zurück.)
Den 4. October. Tiefes Gefühl des Alleinseyns. fHinab zu Witz¬
leben. Mit ihm geritten auf den Ottowald."") Interessen und Localitäten
der Reviere erforscht. Nach Wilhelmsthal zu Tisch. Nachts zurück nach
Wartburg. Mich störte Knebels Ankunft, der mir auch Grüße brachte), in
meinem Gefühl gänzlicher Abgeschnittenheit, zerrten mich in die alten Verhält¬
nisse hinüber.
lDen ö. October. Mittags zum Prinzen nach Wilhelmsthal, warder
Herzog angekommen.)
sDen 7. October. Herrlichster Morgen. Knebel und ich nach dem
Landgrafenloch. Ich zeichnete am Felsweg.) Viel geschwatzt über die Armuth
des Hoftreibens"""), überhaupt der Societät. Abends zu Bechtolsheim. Ich
war stumpf gegen die Menschen.
Den 8. October. Die Ankunft des Statthalters schloß mich auf
einige Augenblicke auf Grimms Eintritt wieder zu. Ich fühlte so inniglich,
daß (alles andere bey Seite) ich dem Manne nichts zu sagen hatte, der von
Petersburg nach Paris geht. INach Tafel Se. und Gr. wieder nach Gotha.
Knebel toll. Ich las wenig im Apollonius. Zu Moltckesl-), wo Picknick war.)
Mein Zahn, der sich wieder meldet, hindert mich am Tanzen; die Kluft
zwischen mir und denen Menschen allen fiel mir so graß in die Augen, da
kein Vehikulum da war. Ich mußte fort, denn ich war ihnen auch sichtlich
zur Last. tJns Herzogs Zimmer! könnts nicht dauern), sah den Mond über
dem Schlosse und hinauf auf die Wartburg. Hier nun zum letzten mal auf
der reinen ruhigen Höhe, im Rauschen des Herbstwinds. Unten hatt' ich
heut ein Heimweh nach Weimar, nach meinem Garten, das sich hier schon
wieder verliert. — Gern lehr ich dahin zurück in mein enges Nest, nun bald
in Sturm gewickelt, in Schnee verweht. Und wills Gott in Ruhe vor den
Menschen, mit denen ich doch nichts zu theilen habe. Hier hab ich weit
weniger gelitten, als ich gedacht habe, bin aber in viel Entfremdung be¬
stimmt, wo ich doch noch Band glaubte. Der Herzog wird mir immer
näher und näher und Regen und rauher Wind rückt die Schaafe zusammen.
— — Regierten!!
lDen 9. October. Adieu. Um achte herab. Einpacken besorgt :c.
Bey der armen Parade. Knebel toll. Mit Streubern*) in die Fabriken. War
General Riedesel zu Tische. Gegen Abend mit Knebeln zu Streubern. Zu
Bechtolsheim einen Augenblicks
lDen 10. October früh fünfe weg. Beim Statthalter eine starke
Stunde gefrühstückt, um halb 12 in Weimar.**)) Im Garten. Schönes
Wetter.
Den 11. October. Nach Belvedere. Ward die Hand des Herzogs,
öden in der Zillbach) ein Hund gebissen hatte und der es vernachlässigt hatte,
schlimm und verdarb uns wieder vielen Spas, brachte mich aus meiner ge-
hofften wenige Tage genossenen Häuslichkeit.
I^Den 23. October. Den ganzen Tag gerennt, wie der ewige Jude.
Des Herzogs Hand schmerzte und ich ward geschunden, weil er auch den
ganzen Tag gedrückt und gehetzt war.)
lDen 24. October. Conseil. Mit dem Herzog gegessen im Garten.
Auch war Corona da und Em. Abends zu C>. Gesungen und leidlichen
Humors.)
sDen 26. October. Zu O- Piks auf Herzogin Louise. Nach Belvedere.
Guten Humors u. s. w.
IDen 27. October. Herder, Wieland, dessen neuen Buben gesehen.
In meinen Garten kamen Herders. Ich ging noch zum Herzog. Stiller
halb trauriger Tag.)
iDen 3V. October. Der Herzog aß im Garten bey mir. Satyros ge¬
lesen. Abends an Wilhelm Meister geschrieben.)
sDen 1. November. Herzogin Louise von Belvedere hereingezogen.)
l^Den 12. November ward O Wohnung fertig. Lief ab und zu. Nach
Sonnenuntergang gebadet.)
fDen 13. November. Reine Ruhe. In der O neue Wohnung.
Getränk.
sDen 14. November. War O im neuen Quartier eingezogen, bis
Abends da. Bis Mitternacht spazieren. Trübe Nacht. Mir war's hold in
der Seele.) Heiliges Schicksal! Du hast mir mein Haus gebaut und aus'
staffirt über mein Bitten, ich war vergnügt in meiner Armuth unter meinem
halb faulen Dache, ich bat Dich mirs zu lassen, aber Du hast mir Dach und
Beschränktheit vom Haupte gezogen wie eine Nachtmütze. Laß mich nun auch
frisch und zusammengenommen der Reinheit genießen. Amen. Ja und Amen
wirket der erste Sonnenblick.*)
I'Den 16. November. Bey O gegessen. Mit ihr und den Kindern
im Garten. Abends bey Hof. Dann zu O. Stiller heiterer Tag. Der
Himmel trüb. Projecte zur heimlichen Reise.)
sDen 27. November ging der Herzog mit dem Prinzen, Knebel und
Wedel nach Marksuhl. Es brannte in Viddelhausen^), ich ritt hin. Kam vor
Tisch zurück.)
""""IDen 29. November. Früh gegen 7 Uhr abgeritten, übern Etters-
berg in scharfen Schlossen. Mittags in Weissensee. Stürmisch gebrochen
Wetter. Reine Ruhe in der Seele, mitunter Sonnen blicke. Abends nach
Greussen.)
sDen 30. November. Sonntags früh nach 6 Uhr mit einem Boten
weiter. War scharf gefroren und die Sonne ging mit herrlichsten Farben
auf. Ich sah den Ettersberg, den Jnselsberg, die Berge des Thüringer
Waldes hinter mir. Dann in Wald und im Heraustreten Sondershausen,
das sehr angenehm liegt. Die Spitze des Brockens einen Augenblick hinter
Sondershausen weg auf Sundhausen. Schöne Aussicht, die goldne Ane vom
Kyffhäuser bis Nordhausen herauf. Mit einigen Invaliden, die ihre Pension
in Ilefeld holten, fütterte in Sundhausen. Dann bey Nordhausen weg, es
hatte schon gegen Mittag zu regnen angefangen. Die Nacht kam leise und
traurig. Auf Sachswerben, wo ich einen Boten mit einer Laterne nehmen
mußte, um durch die tiefe Finsterniß nach Ilefeld zu kommen. Fand keine
Stube leer.) Sitze im Kämmerchen neben der Wirthsstube. War den ganzen
Tag in gleicher Reinheit.
Den 1. December. Montag früh 7 Uhr von Ilefeld ab. Mit einem
Voden gegen Mittag in Elbingerode. Felsen und Bergweg, gelindes Wetter
leiser Regen — Dem Geyer gleich —. Nach Tisch in die Baumannshöhle.
Den 2. den ganzen Tag in der Baumannshöhle. Abends nach Elbingerode.
Den 3. December. Nach Werningerode mit P. 1-) spazieren auf die
Berge ze.
Den 4. December. Ueber Ilsenburg nach Goslar bey Scheffern
(sie)*) eingekehrt, ingrimmig Wetter.
Den 5. December. Früh in Rammelsberg, den ganzen Berg bis
ins tiefste befahren.^)
Den 6. December. Nach den Hütten an der Ocker. Gesehen die
Messing-Arbeit und das Hüttenwerk, zurück.""")
Den 7. December. Heimweh. Nach Klausthal. Seltsame Empfindung
aus der Reichsstadt, die in und mit ihren Privilegien vermodert, hier herauf
zu kommen, wo von unterirdischem Seegen die Bergstädte frölich wachsen.
Geburtstag meiner abgeschiedenen Schwester.
Den 8. December. Früh eingefahren in der Karoline, Dorothee und
Benedickte. Schlug ein Stück Fels den Geschwornen vor mir nieder ohne
Schaden, weil sichs auf ihm erst in Stücke brach. Nachmittag durchgelogen, -j-)
Den 9. December. Früh auf die Hütten. Abends nach Alkman
nu endlich geschlafen.
Den 10. December. Früh nach dem Torfhause im tiefen Schnee.
I Viertel nach 10 aufgebrochen 1"!-), von da auf den Brocken. Schnee eine Elle
tief, der aber trug. 1 Viertel nach eins droben. Heiterer herrlicher Augenblick,
die ganze Welt in Wolken und Nebel, und alles heiter. Was ist der Mensch,
daß Du sein gedenkst! Um viere wieder zurück. Beim Förster auf dem
Torfhause in Herberge.
Den 11. December früh ab wieder über die Lerchenköpfe herunter, die
steile Wand her. Ueber die Engelskrone. Altenauer Glück. Lilienkuppe.
Durch die Alkman grad durch nach Clausthal. Erholt, getrunken, gegessen,
die Zeit verpampelt. Abends Briefe und eingepackt.
Den 12. December halb 7 Uhr früh aufgebrochen. Uebers Damm¬
haus, den Bmchberg, die Schluss: auf dem Andreasberge, angekommen um
II Uhr meist zu Fuß. Starker Duft auf Höhen und Flächen, durchdringende
Kälte. Im Rathhause eingekehrt. Abends eingefahren in Samson durch
Neufang auf Gottesgnade heraus, ward mir sehr sauer diesmal. Nachher
geschrieben. Kalte Schaale gemacht.
Den 13. December früh 6 Uhr in Nacht und glättendem Nebel herab
durchs Thal nach Lauterberge, war schon feuchter, doch noch Schnee. Auf
der Königshütte während Füttern, mich umgesehen. Ueber Silckerodel'1-I-) nach
Duderstadt. Nebel Koth und unwissende Boten. Abends 4 Uhr in Duder»
stadt, legte mich vor langer Weile schlafen.
Den 14. December um 8 Uhr weg*) allein in tiefem Nebel und Koth
nach Mühlhausen. Angekommen um 2 Uhr, blieb da die Nacht.
Den Is. December früh mit einem Postillon vor sechs weg, war
schon wieder kälter und hart der Weg. Gegen 11 Uhr in Eisenach, fand den
Herzog und die Gesellschaft da. Englische Reuter. Zu Bechtolsheims, ge¬
gessen. Abends mit dem Herzog, Wedel, Prinz und Knebel allein, erzählte
ihnen meine Abenteuers
Den 16. Decembers Nachts 2 Uhr mit dem Prinz und Knebel weg
gefahren, gegen Mittag in Weimars
Den 30. December. Die Mitschuldigen glücklich gespielt. Mittags
bei ) gegessen, lustig und gut.Z
sDen 31. December. Conseil. Geld von Merck. Abends zu Hause.)
Aufgeräumt das alte Jahr.
Eine auffällige Erscheinung im Bereich der Literatur der Ortsgeschichle
und ein Beweis, daß die üppig wuchernde der Erinnerung an würdige Ziele
bedarf, ist die Thatsache, daß zwar in sehr vielen Städten Deutschlands Ge-
meinden reformirter Flüchtlinge sich gebildet, aber bisher sehr wenige ihren
Geschichtsschreiber gefunden haben. Handschriften von namhaften Belang
für die Kunde particularer Entwicklungen des Kirchen- und Communalrechts
für die des Gewerbfleißes und des Handels, auch der gesellschaftlichen und
nationalen Verhältnisse ruhen noch Ungenützt und doch leicht erreichbar in den
Briefgewölben unsrer Kirchen und Städte. Nun ist für die wissenschaftliche
Behandlung solcher Stoffe durch ein eben erschienenes Buch**) auch ein Muster
gegeben, das dem Beurtheiler kaum andre Wünsche übrig läßt, als daß sein
Urheber an zahlreichen Stellen Nachfolger finden möge, die in der Emsigkeit
archivalischer Quellenforschung und des Aufspürens größrer Zusammenhänge,
An Freimuth gegen die eigenen Glaubensgenossen und in der Milde des Ur<
theils über die Gegner ihm ebenbürtig seien.
Von solcher Feder gezeichnet, fesselt die Urgeschichte der reformir-
ten Gemeinde zu Leipzig die Aufmerksamkeit in mehrfacher Beziehung:
wegen des Ortes, an dem sie zusammentrat, wegen der Zeitlage, in der sie
ihre ersten Ausschritte zu machen hatte, wegen der Thatkraft und Besonnen¬
heit ihrer Gründer und Leiter.
Leipzig, unter den bedeutenden Stadtgemeinden Sachsens die älteste, hat
den andern oft genug, schon seit den mittleren Zeiten und auf mannigfache
Weise gezeigt, was eine von Kraft und regem Sinn erfüllte Bürgerschaft
vermag — von dem Ende des 13, Jahrhunderts ab, als sie, in wiederholtem Wasser¬
gang gegen eine Uebermacht, erfolgreich für das angestammte Fürstenhaus eintrat,
bis in unsre Tage, wo sie für das ganze Land der Heerd nationaler Bestrebungen
wurde — niemals wahre Reichsstadt, doch von keiner alten Reichsstadt an Reichs¬
treue übertroffen. Indeß als Geschenk der Natur, wie die räumliche Stellung ihres
Marktplatzes in der Bucht zwischen der Tiefebene und den Mittelgebirgen, als
glückliche Anlage, ist den Bürgern Leipzigs dies und was sie sonst auszeichnet
mit Nichten zugefallen. Auch das Verhältniß, das sie zur Niederlassung re-
formirter Flüchtlinge in ihrem Ring und Weichbild eingenommen, zeigt, daß
sie nur schrittweise, in auffallend langsamem Gange sich edleren Anschauungen
genähert haben. Landesgesetze allein mögen die Schuld tragen, daß die refor-
mirte Gemeinde, die kurz vor Beginn des 18. Jahrhunderts zusammentrat,
erst nach Beginn des 19. Ihrige auf der Rathsbank sah; aber die Engherzig¬
keit der Leipziger selber, und nicht bloß von Rath und Bürgerschaft insge¬
mein, sondern auch der Unzünftigen erscheint in trübem Lichte, wenn man
wahrnimmt, daß unter die Nenner der Handelsdeputation, gebildet durch die
außerhalb der Krämerinnung stehenden Schutzverwandten, kein reformirter
Franzos oder Schweizer Zutritt erhielt, obgleich doch die Steuerkraft dieser
Refugie's, wie sie sich in den Acten ihrer Gemeinde kundgibt, einen sichern
Schluß auf die Bedeutung ihrer Handelsfirmen gestattet. Solche Beschränkt¬
heit zu entschuldigen durch die Furcht vor einer überlegenen Concurrenz der
Fremdlinge, die freilich an ihrem neuen Sitz der alten Handelsbeziehungen
mächtig blieben, ist ein Versuch, der für die Nachsicht des Verfassers zeugt:
er gehört selbst zu dieser Gemeinde; wer nicht zu ihr gehört, führt wohl gegen
den mildernden Umstand den erschwerenden auf, daß die Aeußerung solcher
Schelsucht in eine Zeit fällt, welche — es ist die Epoche der sogenannten 2.
Coalition und des Ryswijker Friedens — der ganzen evangelischen Welt,
Lutheranern, Calvinisten, Anglikanern zum ersten Male, in gemeinsamer
Erregung über die Aufhebung des Edicts von Nantes, die Empfindung ihrer
Glaubensgenossenschaft gab, von der man doch eine läuternde Wirkung er¬
warten durfte. Zum Magistrat mögen die Eingewanderten mit dem aller¬
geringsten Vertrauen aufgeblickt haben: es ist doch merkwürdig, daß die Re-
formirter Leipzigs, deren Kirchengemeinde noch in der Stadt selbst fast ein
Jahrzehnt hindurch — ein Abbild des Schicksals der Einzelnen — auf angst¬
voller Flucht von Betsaal zu,Betsaal erscheint, bei vilen Wechsel der Stätte
ihres Gottesdienstes in der Regel nach Räumlichkeiten ausschauen, die der
Gerichtsbarkeit des Rathes entnommen, unmittelbar unter der des Landesherrn
standen. Nach Ausweis der Akten hat die Gemeinde aus ihren Kirchen-
colleeten viele Gaben auch Lutherischen gespendet, als Biatieum für Geistliche,
zum Wiederaufbau abgebrannter Kirchen und Schulen des Landes, einmal
auch dem lutherischen Armenhause der Stadt und gerade am Jubelfeste der
Augsburger Confession „damit auch hier die Freude einen Wiederhall finde"
— die Freude an der Jnvariata; aber in dem Verzeichnis der von ihr selbst
empfangenen Gaben, das für 1705 — 1726 sich erhalten, findet sich, obgleich
diese Zeit manches über sie gekommene Nothjahr umschließt, keine Darbrin¬
gung des Raths oder eines Bürgers von Leipzig, überhaupt aus der Masse
der alten Landesangehörigen nur ein Wohlthäter, „Herr von Zehner, gen-
tMomino lutnöritin". dessen Nachkommen vielleicht eist durch dieses Buch
Kenntniß erlangen von dem vereinsamten Ehrendenkmale der Weitherzigkeit
ihres Ahnen.
Sehr wichtig von städtischem und zugleich deutschem Standpunkt ist auch
das Verhältniß der reformirten Gemeinde Leipzigs zum brandenburgisch-
Preußtschen Protectorate über die Refugies. Nicht weil neue Be¬
lege die längst bekannte Thatsache erhält, daß der Sohn des Großen Kur¬
fürsten wenigstens in der Hut seiner Glaubensgenossen dem Vorbilde des Vaters
treugeblieben (zu erzählen weiß darüber vornehmlich die reformirte Gemeinde
zu Dresden, die seit 1689 von Berlin her einen Jahreszuschuß bezog und
noch bezieht); sondern weil an Leipzig einmal ein Punkt in den Gesichtskreis
tritt, an welchem die kirchliche Politik des Hohenzollern durchkreuzt und auch
gebrochen wird von seiner landesherrlichen Fürsorge für das eigene Gebiet.
Stand doch seit Einverleibung des altmagdeburgischen Halle Leipzig vor
seinem Auge als der nahe, unüberwindliche Concurrent einer nun preußischen
Stadt, von der die Leipziger Refugie's erst ausgegangen waren, der sie an
reichen und thätigen Kaufleuten namhafte Kräfte entzogen hatten. Der Große
Kurfürst mochte diese Probe bestanden haben; der minder große König hat der
reformirten Gemeinde zu Leipzig kühl wie schwerlich einer andern, ablehnend
sich gezeigt, schon damals als seine Kammer, noch nicht zerrüttet, ein Jahr¬
geld auch nach Leipzig hätte senden können. Das ist der Befund der Leipziger
Archive, der bei künftiger Durchforschung der Berliner vielleicht ergänzt werden
wird: in Berlin würde der Verfasser möglicher Weise auch Aufschluß erhalten über
ein noch ihm dunkel gebliebenes Ereigniß der Urgeschichte seiner Gemeinde, über
Anlaß und Art ihrer Ablösung von der Hallischen*), da die Hallische sicher¬
lich in lebhaftem Briefwechsel mit Berlin gestanden hat.
Auch der Zeit rann, in welchen die Anfänge der Leipziger Gemeinde
fallen, gibt ihrer Darstellung eine besondere Wichtigkeit: es ist die Zeit „Au-
gust's des Starken".
Unzweifelhaft haben, als es sich um ein erstes, leidlich umfriedetes Da¬
sein handelte, die Reformirten Leipzigs alles, was an Bedingung neben ihrer
eigenen Thatkraft und Besonnenheit dabei in Frage kam, der Gunst dieses
Fürsten und nur ihr verdankt: die anderen Gewalten im Lande haben sich gegen
diese „Einnistlinge und Verbreiter verdammlicher Irrlehre" gekehrt, in lautem
Ansturm oder im Minengang der Intrigue; Friedrich August I. hat daheim
oder von seinen fernen Rastestellen in Polen ihnen durch seine Decrete von
1702 und 1707 Anerkennung und Schutz, die erste und dann auch die bleibende
Stätte ihres Gottesdienstes gewährt, unbeirrt selbst durch die landständische
Drohung, daß mit solchem Einbruch in die Landesverfassung auch die in vim
pAeti erfolgte Steuerbewilligung hinfällig werde. Mit Wärme spricht dem
Fürsten der Verfasser den Dank der Nachkommen aus. Er weist sogar in
einem von ihm erst aufgefundenen Briefe des Jahres 1694 eine Spur nach,
die zur Behauptung führt, daß der Kurfürst, lange bevor er an die Werbung
um die polnische Krone denken konnte, und an den Wechsel des eigenen Be¬
kenntnisses dachte, den Anhängern des reformirten seinen Schirm zugewendet
hat, und zwar damals einer Gemeinde, der Dresdner, die bei der Armuth
ihrer Mitglieder weder der Steuerkasse deÄ Landes noch der fürstlichen Kam¬
mer bestechende Aussichten bot. Es ist also uneigennützige Toleranz, wahre
Freiheit des Geistes gewesen, nur der der junge, kaum zum Kurhut gelangte
Fürst die Fesseln der starren Bekenntnißeinheit abstreifte. Als nicht völlig
zutreffend muß fortan der Argwohn bezeichnet werden, den die öffentliche
Meinung des Landes, in diesem Punkte noch heute sehr empfindlich, gleich
nach der Conversion des Kurfürsten durch den Mund Höcbstgestellter aussprach,
daß sein Versuch, den Reformirten eine Stätte im lutherischen Staate zu be¬
reiten, ihm nur Schwelle und Stufe gewesen zu voller Einbürgerung der
Katholiken.*") Wer gönnt nicht die neuentdeckte Lichtseite dem Charakterbilde
dieses Fürsten, dessen Name nach einer Rettung schreiet wie nur der eines
Papstes von Avignon? Nur hat unse.r Entdecker selbst nicht umhin gekonnt,
den unerwarteten Sonnenblick zu dämpfen und zu schmälern im weiteren Ver-
laufe seiner Berichte, die uns, wie bisher keine Geschichte des Kurfürsten-
Königs, eine volle Vorstellung geben von der Zuchtlosigkeit einer reichausge-
statteten Natur, von den wiederholten und jähen Schwankungen der Ent»
schlösse, von den gewundenen Wegen, auf denen Friedrich August einem Ziele
sich zu nähern suchte, von der Würdelosigkeit seiner Mittel, unter welchen auch
zum Behufe eines Druckes aus die starre Rechtgläubigkeit der Landstände eine
von ihm erst bestellte Intervention anglicanischer und calvinistischer Großmächte
zur Anwendung kommt, von der Verschleppung und dem plötzlichen Abbruch
fast fertiger Geschäfte — einmal noch in der Unterzeichnung eines Decretes,
die nicht über das A in ^ugustuZ Kex hinausgekommen.
Das letzte, was an Kirchhoffs Buche besondrer Beachtung werth erscheint,
ist die an zahlreichen Stellen sich zeigende Leistungsfähigkeit der jungen
Gemeinde, Leistungsfähigkeit nicht bloß in finanziellen Beziehungen. sondern
als die Mich politische Kraft zur Ausführung einer Gründung, die den hef¬
tigsten Angriffen Stand halten konnte und, trotz ihrer verfassungsmäßigen
Vereinsamung auch in der eigenen Kirche, doch von regem Leben erfüllt und
über weite Kreise hin von namhafter Wirkung begleitet gewesen ist. Nur
fürchte man nicht, mit dieser Schrift eine Lobrede in die Hand zu bekommen.
Im Gegentheil ist dem Berichterstatter kein Buch, auch keins von lutherischer
Seite bekannt, das mit so viel Belesenheit in archivalischen Quellen und mit
gleicher Offenheit eine Vorstellung von der Beschaffenheit der ältesten Bestand¬
theile dieser RefugMgemeinden gewährte. Die protestantische Geschichtsschrei¬
bung der Neuzeit hat sich gewöhnt, ihnen nur herzlichste Theilnahme zu
schenken und, eingenommen durch das Bild heroischer Glaubenstreue, Fragen
andrer Art an die bunte Menge der Flüchtlinge nicht zu stellen: der Verfasser
zeigt und hebt wiederholt mit Nachdruck hervor, daß es doch recht schwer
zu behandelnde, zum Theil auch sittlich lose und morsche Elemente waren, die
zu den neuen Kirchenverbänden zusammenschössen oder auch wie in Bewegung
verbleibende Atome an den noch unfertigen Gestaltungen der andern vorüber¬
strömten. Als lange schon die neue Bevölkerungsschicht in den Städten
Mittel- und Norddeutschlands im Ganzen und Großen zum Niederschlag ge¬
kommen, ward sie noch wie von einer Unzahl einzelner, wirrer Adern und
Aederchen durchzogen, die mit ihren Zuckungen in Fluß und Rückfluß ein
Bild der nicht zur Ruhe gelangten Wanderung gaben. Diese „Fahrenden
der Kirche" die bald bei ihren gesetzteren Glaubensgenossen in Verruf kamen
(»k'iAneevuröuis 6o I'-zgliso") hatten, wenn sie Wegzehrung heischend draußen
vor dem Thore mit Weib und Kind, mit Hab und Gut auf einem Maul¬
thiere hielten, sich jenen über ihre Zugehörigkeit wenigstens durch den „Kirchen¬
paß" d. h. durch Communionatteste auszuweisen. Denn die sittliche Gefahr,
die sie liefen, war um so größer, da auch Gebildete oder Halbgebildete darunter
waren, vielleicht auch Offiziere mit ihren Familien, wenn in Stillstandszeiten
oder nach dem Ende des spanischen Erbfolgekrieges und des nordischen eine
Massenentlassung sie soldlos machte: S. 281 ff. und 290 ff. gibt der Ver¬
fasser Schilderungen und archivalische Quellennachweise, die von den Kultur¬
historikern des 18. Jahrhunderts nicht außer Acht gelassen werden dürfen.
Er verschweigt aber auch nicht, daß unter den seßhaft gewordnen, unter so¬
gar sehr hervorragenden Mitgliedern der Leipziger wie der Dresdner Gemeinde
Persönlichkeiten ihm entgegengetreten, die durch Selbstüberhebung und wohl
auch Vertrauensbruch an den Glaubensgenossen das schon genug von außen,
ringsum gefährdete Werk der Kirchengründung noch von der eigenen Mitte
her aufhielten und erschwerten. Bon besonderer Wichtigkeit in dieser und
andrer Hinsicht (namentlich zur Kennzeichnung der maßgebenden und zugleich
wohlthätigen Einflüsse, die von Berliner Behörden auf die Verhältnisse in der
Hauptstadt Kursachsens geltend gemacht wurden) ist der ganz auf Grund unge¬
druckter Quellenstoffe gearbeite Abschnitt (S. 307—317) über den Dresdner
Pfarrer Jean Meeral Favre — eine der merkwürdigsten Erscheinungen der
neueren Geschichte der reformirten Kirche, die schwerlich über viele Fälle
gleich herrschsüchtiger und eigenmächtiger Uebung des Predigeramtes zu be¬
richten hat.
Daß nun trotz dieser inneren Schwierigkeiten und trotz aller Hemmnisse
von außen die Leipziger Gemeinde sich behauptet, ein gesichertes, mit der Zeit
auch von der öffentlichen Meinung des Landes willig anerkanntes Dasein
erlangt, sogar an der Erziehung der Volksmasse, der andersgläubigen, erfolg¬
reich hat arbeiten können, findet in den Ausführungen Kirchhoff's gleichfalls
seine Erklärung. Deutlich erhält man in großen wie in den kleinen Zügen,
aus den Ordnungen der Verfassungsgrundlagen, wie aus der Führung der
Kanzlei, die Empfindung, daß in der Reihe der Gründer Männer standen,
die nicht umsonst in der Schweiz und vornehmlich in ihrem französischen
Vaterland die erfahrungsvolle Schule der Selbstregierung in kirchlichen und,
so lange das Edict von Nantes bestand, auch in bürgerlichen Angelegenheiten
durchlaufen hatten: sie zeigen sich ebenso geschickt und entschlossen den Vortheil
ihrer Autonomie, ihrer kirchlichen Unabhängigkeit von aller äußeren
und oberen Gewalt nutzbar zu machen zu einer den Verhältnissen der Zeit
ganz nach ihrem eigenen Ermessen entsprechenden Gestaltung, wie umgekehrt
von der Einsicht durchdrungen, daß ein Gemeinwesen, je freier es ist, um so
mehr Opferwilligkeit, nachsichtslose Zucht, Unterwerfung auch
der Höchstgestellten, Stetigkeit der Entwicklung zu seinen Be¬
dingungen hat. Ohne kirchenregimentlichen Zusammenhang mit ihrer Gesammt-
kirche (wenigstens in der Praxis fehlt alle Spur davon) konnten sie auch
gegen die Ordnungen derselben, die äiseiplins dos öglisog ac ^ranov eine
selbständige Stellung nehmen und zwei erhebliche Abweichungen von deren
Hauptgrundsätzen sich gestatten- 1702 Beschränkung des Gemeindestimmrechts
auf den engen Kreis der zur Kirche steuernden. 1708 Beschränkung dieser
verengten Gemeinde auf die Befugnisse der Predigerwahl und der Steuer¬
umlage, sodaß alle anderen Geschäfte — Kirchenregiment und Kirchenzucht,
Waisen- und Armenpflege. Aufsicht über die Schule — fortan ausschließlich
dem Oonsiswirs zustanden, das doch nur bei seinem ersten Zusammentritt
aus der Wahl der Gemeinde hervorgegangen, einmal gebildet durch Cooptation
sich ergänzte. Rechtfertigt sich diese immerhin in reformirten Bereiche auf¬
fällige Zuspitzung der Gewaltstelle durch die Absicht, jene loseren Elemente
der Zeit von allem Einfluß fernzuhalten, der im günstigsten Falle doch die
Anfänge neuerungssüchttgen Verfassungsexperimenten preisgegeben hätte, so
war andererseits auch der Gefahr vorgesehen, daß diese geschlossene Körper¬
schaft der Vorsteher erstarre oder der Herrschaft einer, möglicher Weise selbst
noch kleinen, Partei verfalle: denn so lange dieser Vorsteher nur noch wenige
waren, mußte sich auf Antrag zweier oder gar eines unter ihnen das von-
«istoire zum Lonsiswirs rentorev erweitern, mittelst Einberufung früherer
Mitglieder, die in gleicher Zahl mit den amtirenden und nicht durch Ab¬
stimmung sondern durch das Loos ernannt wurden. Bei aller aristokratischen
Verwurzelung hat dieses Ktrchenregiment aristokratischen Auswüchsen nicht
Raum gegeben: nächste Blutsfreunde von Mitgliedern des Lorisistoiriz haben,
schon wenn sie durch eine Reise nach Frankreich die Unwandelbarkeit ihres
Glaubens in Verdacht gebracht, auf dem Wege der Kirchenbuße „mit der Kirche
ihren Frieden machen" müssen; Regungen der Selbstüberhebung, eines vor¬
nehmen Sichabsonderns sind durch Verbot oder Erschwerung der Haustrauungen,
Haustaufen, der Privatcommunion gezügelt worden. Hinwieder ist unter den
Mitgliedern der Gemeinde, die durch jene Machtausstattung des Lonsistoirs
fast mundtodt geworden, die Theilnahme am Bestand der Gemeinde und an
ihrem äußeren Wirken in großartigen Acten der Wohlthätigkeit nicht im
mindesten zurückgegangen. Konnte doch (zugleich zum Beweis daß auch im
Kreise von Kaufleuten kirchlicher Idealismus noch kein Wahn war) seit 1716,
also gerade nach der Verfassungsänderung von 1708, die Deckung aller Be¬
dürfnisse der nunmehr völlig freiwilligen Selbstbesteuerung überlassen werden.
Und neben den zu diesem Behuf umlaufenden Colleeten ist fort und fort
reichlich eingeschossen worden zur Spende an auswärtige Glaubensgenossen,
z. B. an die Abgebrannten von Altona (die berüchtigte Schwedeneinäscherung
der Elbe-Stadt hat eine breite Spur in den Leipziger Acten gelassen), an die
auf den Galeerenbänken von Marseille keuchenden Gefangenen — in 3 Posten,
davon ein jeder höher denn der ursprüngliche Betrag der Besoldung des
eigenen Predigers —, als regelmäßige Jahresunterstützung der Kirchen in
Lübeck, Barby und Hildburghausen: denn es darf die reformirte Gemeinde zu
Leipzig sagen, daß der Zusammenhang mit ihrer Gesammtkirche sich viel, viel
mehr bekundete in Gaben, die sie gemacht, als in Gaben, die sie empfangen hat.
Ihrer Geschenke an Lutherische und an lutherische Körperschaften ist schon
oben gedacht worden; aber diese im Verhältniß zur andersgläubigen Be¬
völkerung des Landes von ihr erstrebte Brüderlichkeit greift in sonstigen
Beziehungen, greift mit ihren Wirkungen erheblich weiter. In Acten, die
nicht für Augen von Lutheranern bestimmt waren, werden diese herkömmlich
„Rehs. nos trörss I^uti^rien»" bezeichnet; der Landeskirche folgte man unter
Abweichung von Bräuchen der französischen in der Anordnung der Fest- und
der Bußtage; ein lutherischer Bauer aus einem Vorstadtdorse war fast ein
Menschenalter hindurch als Kirchendiener angestellt. Der erfolgreichste Ver¬
treter dieser irenischen Richtung der Gemeinde ist Gabr. Dumont, in der
Zeitfolge ihrer Pastoren der zweite: ein bedeutender Mensch, hat er nicht nur
bei lutherischen Amtsgenossen Freundschaft und die Anerkennung als „ein
wahres Gliedstück der h. allgemeinen Kirche" rasch sich errungen, sondern
namentlich auf die Studirenden, die ursprünglich nur die Neigung zur
französischen Sprache seinen Predigten zugeführt haben mag. Einflüsse
der Umbildung und Versöhnung geübt: in anderer Stimmung gegen
die Reformirten bezogen sie die Universität, in anderer gingen sie ab.
Seit langem heben die Geschichtsschreiber Sachsens hervor. daß die Zeit
Friedrich August's I. es gewesen, die die starre Bekenntnißeinheit des
Kurstaates gelockert, daß dieser wichtige Wandel sowol durch den Bekennt-
nißwechsel der Dynastie wie durch die Zulassung der Reformirten sich voll¬
zogen habe. Aber Kirchhoff's Buch berechtigt zur Vermuthung, daß mehr
als die erstere die letztre Ursache Wirkungskraft gehabt und die auszugsweise
abgedruckten Briefe Dumont's zeichnen uns auch deutlich den Weg, auf dem
sie ihre Wirkung geleitet hat über das ganze Land hin, wo jene Geschlechter¬
folgen jüngerer Theologen und Juristen, am Sitze der besuchtesten Hochschule
irenisch angeregt, mit solchem Geist bald in amtliche Thätigkeit traten. Das
ist unzweifelhaft die kulturgeschichtlich bedeutendste Stellung, und eine wahr¬
haft bedeutende der reformirten Gemeinde zu Leipzig. Ihr selber hat sich
längst der Wunsch erfüllt, den ihr alter Siegelstempel von Bergkrystall in
Bild und Umschrift ausspricht — ein im Stamme verstümmelter Baum, dessen
seitwärts gewendete Aeste neue Zweige treiben: „vous 6«t mersmeliwm" —:
kurz nach Verlauf ihres ersten Menschenalters sah sie die Zahl ihrer Genossen
verdoppelt; aber nicht nach Zahlen bemessen läßt sich der Segen der zur Be¬
freiung und Veredelung des Sinnes weiterer Kreise, der gesammten Bevöl¬
kerung des Landes von ihr ausgegangen. —
Hat der Berichterstatter über eine Druckschrift noch die Pflicht, dem
Publikum kundzumachen, was ihr Titel verschweigt, so soll nicht unerwähnt
bleiben, daß nach handschriftlichen Quellenstoffen, auf denen das ganze Buch
ruht, zwei Anhänge sich verbreiten über Friedrich August's I. Versuche fran¬
zösische Colonien ins Land zu ziehen und über eine weite Wandrung schwä¬
bischer Waldenser nach Jütland.*)
Der Name des Freiherrn Alexander von Hub n er bleibt stets mit
einem denkwürdigen geschichtlichen Ereignisse verknüpft, mit der an ihn ge¬
richteten Rede Napoleon's III. am Neujahrstage 1859, welche den italienischen
Krieg herbeiführte. Hübner war damals österreichischer Gesandter in Paris,
er ist ein Schüler Metternich's, gehört der alten „feinen" Diplomatenschule
an, war Gesandter noch an verschiedenen europäischen Höfen — auch beim
heiligen Stuhl — und österreichischer Polizeiminister. Er ist jetzt ein an¬
gehender Sechziger und hat sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen.
Nachdem er unsern Erdtheil so ziemlich kennen gelernt, erfaßte ihn das Ver¬
langen, auch die übrige Welt zu sehen und da', Dank dem Ineinandergreifen
von Dampfern und Eisenbahnen dieses jetzt leicht zu bewerkstelligen ist, so
machte sich 1870 Herr von Hübner auf die Wanderschaft, um namentlich die
drei merkwürdigen Reiche kennen zu lernen, welche vor allen anderen außer¬
europäischen in die geschichtliche Erscheinung eingetreten sind: die Vereinigten
Staaten. Japan, China.
Die Frucht der Reise ist ein zweibändiges Touristenwerk: „Ein Spazier¬
gang um die Welt" (Leipzig, T. O. Weigel 1874), wie es bescheiden heißt.
Es erschien zunächst französisch und ist offenbar aus dieser Sprache erst ins
geliebte Deutsch übertragen, wie mannichfache Gallicismen andeuten. Auf
jeder Seite ist das Buch interessant. Es ist nicht ein langweiliger Passus darin
zu finden, es ist geistreich geschrieben, bietet jedoch nichts Neues. Das war
auf dem vielbetretener, hundertmal geschilderten Pfade, der von Europa nach
New-York, über Chicago nach San Francisco, durch den stillen Ozean nach
Jokohama in Japan, zum Fusijama, nach Shanghai, Peking. Hongkong und
über Sues nach Europa zurückführt, auch nicht zu verlangen, und doch wird
auch jener, der bis zum Ueberdruß Schilderungen von dieser Weltstraße ge¬
lesen , das Buch nicht unbefriedigt aus der Hand legen. Ein so gewiegter
Mann, wie Herr v. Hübner, würde auch am Lebensabend nicht noch als
Schriftsteller aufgetreten sein, hätte er nicht das Bewußtsein gehabt, etwas
Tüchtiges zu leisten. So nehmen wir das Werk denn dankbar auf, als eine
angenehme, freundliche und bescheiden gebotene Gabe, als ein Buch, das ganz
vorzüglich geeignet ist, dem großen geoiloeten Publikum Einblicke in das
Wesen des amerikanischen, japanischen und chinesischen Volks zu geben. Der
Gelehrte findet dagegen nur hier und da ein Körnchen, das ihm nutzbar er¬
scheint — aber für ihn ist das Buch auch nicht geschrieben. Vermöge seiner
Stellung und Beziehungen fand Hübner leichter bei vielen Persönlichkeiten
Zutritt, als der gewöhnliche Sterbliche. Seine diplomatischen Collegen kamen
ihm überall freundlich entgegen, ebneten ihm die Wege und so sah er denn
den Mormonenpräsidenten, den Mikado und hatte Zwiegespräche mit den
Männern, die jetzt an der Spitze der Reformation in Japan stehen.
Das üble Urtheil, welches nach der gewöhnlichen Schablone gegenwärtig
in Europa über die Vereinigten Staaten herrscht und dem frühern Lobpreisen
dieses großen Landes Platz gemacht hat, findet allerdings bei Hübner manche
Bestätigung, obgleich er mit angeborenem Gerechtigkeitsgefühl unparteiisch
abzuwägen sucht. In manchen Studien giebt er Amerika den Vorzug, selbst
in Bezug auf das Proletariat und wir stimmen da herzlich mit ihm
überein, da unser Proletariat in seiner Ueberhebung eine geradezu wider¬
wärtige Erscheinung geworden ist. Auch in den Vereinigten Staaten wird
die fashionable Welt vom Manne des vierten Standes nur „geduldet." „Aber
diese Duldung erklärt sich durch die Hoffnung, welche dort jeder hat, zu
ähnlichem Wohlstande zu gelangen. Warum soll auch der Arbeiter sein
Weib, welches heute Wäsche wäscht, nicht eines Tags im Landauer auf dem
Newyorker Broadway spazieren fahren sehen, warum soll er nicht alle dem
Luxus stöhnen können, den er vor sich sieht, und der mehr sein Gelüst als
seinen Neid erregt? Darin liegt der Unterschied zwischen dem amerikanischen
und europäischen Demokraten." „Der letztere, sagt Hübner vollkommen richtig,
verzweifelt sich zu erheben, daher sucht er die anderen zu erniedrigen. Seine
moralische Triebfeder ist der Neid, sein Beruf zu nivelliren und zu zerstören."
Der Amerikaner dagegen sucht den Genuß, verdient Geld, um ihn zu er¬
langen, trachtet zu steigen. „Ich gebe der amerikanischen Methode den
Vorzug."
Im Lande der simplen Puritaner und der einfachen Republik Washington's
ist heute der Luxus zu einem Grade gediehen, vor dem jener der alten Welt
förmlich verblaßt. In Amerika ist es erlaubt, den übertriebensten Luxus zur
Schau zu tragen, weil eben die materiellen Güter einem jeden zugängig sind.
Unerlaubt ist, weil die Menge sich nie zu solcher Höhe erheben kann, das
Schauspiel geistiger Bildung und verfeinerter Sitten. Diese Schätze werden
verhüllt wie die Juden des Mittelalters, wie noch heute im Orient reiche
Leute die Pracht ihres Haushalts hinter unansehnlichen Ringmauern sorg¬
fältig verhüllen. Daher kommt es. daß der Reisende in den Vereinigten
Staaten mehr rohen als gebildeten Leuten begegnet; und daher rührt auch
die in Europa verbreitete Meinung, der Amerikaner wisse nicht zu leben.
Zur Verschlechterung der Sitten, zu diesem äußern rohen Anstrich haben die
nach Millionen zählenden Jrländer sehr viel beigetragen. „In den Staaten
bilden sie vorzugsweise das katholische Element, wie die Deutschen das
Protestantische. Daher sind sie auch die geborenen Gegner der letzteren. Die
Auswanderer aller anderen Nationen sind mit der Absicht, Amerikaner zu
werden, gekommen, die Söhne der grünen Insel bleiben überall Jrländer.
Nicht als ob sie oder ihre Kinder nach der Heimath zurückzukehren gedächten;
aber ein ideales, ein mystisches Band knüpft sie an das Vaterland. Sie
haben es mit sich gebracht. Der Ocean besteht nicht für sie. Es ist höchstens
ein Bach. An einem bestimmten Tage — Gott allein kennt ihn — werden
die amerikanischen Brüder ihn wieder überschreiten und den Daheimgebliebenen
die Freiheit bringen, die Losreißung von England."
Die großen Fragen, wie der Süden sich nach seiner Niederwerfung be¬
findet, wie die Emancipation der Schwarzen wirkte, was mit der Zeit aus
der Berührung des chinesischen und weißen Elements werden soll, erörtert
Hübner mit Verständniß und eingehend. Daß er hier gegen manche land¬
läufige Anschauung verstößt, zeigt nur von der Unabhängigkeit seines Urtheils.
Der Süden ist mehr oder minder unter das Negerjoch gebeugt, ein ganz
abscheulicher, unnatürlicher Zustand. „Der Süden, einst berühmt durch die
fürstliche Gastfreundschaft, die aristokratischen Sitten seiner großen Pflanzer,
durch seinen Reichthum an Staatsmännern, welche fast ausschließlich die
Union regierten, der arme Süden ist heute ein aus tausend Wunden bluten¬
der, verstümmelter Körper. Die Zeit allein kann Heilung bringen." Die
Wuth, das Rachegefühl sind dort noch übermäßig stark. Die Regierung
findet keinen weißen Beamten unter den Südländern; die Frauen, noch ent¬
schiedener, noch opferfreudiger als die Männer, schüren das Feuer der Vater¬
landsliebe, und die Vaterlandsliebe des Südländers ist in den Augen des
Gesetzes Rebellion, Verrath. Dabei herrscht der Neger — ein auf die Länge
unhaltbarer, widernatürlicher Zustand. Traurig, wenn neun Jahre nach dem
Frieden die Dinge noch so liegen."
Während nun der Schwarze, der collektiv genommen doch stets der „Nigger
bleibt, aus politischen Motiven gehätschelt, die Rothhaut durch rechte und
schlechte Mittel vertilgt wird, findet mit dem vierten, dem gelben Elemente
ein eigenthümlicher Kampf statt, der uns das Gerechtigkeitsgefühl der Nord¬
amerikaner in einem wenig günstigen Lichte erscheinen läßt. Ein gefangener
Chinese springt aus dem Zuge der Pacificbahn, aus dem sich Hübner befindet,
und wird als blutiger Leichnam wieder gefunden. Die Amerikaner machen
Witze darüber. Hübner meint: Es war doch ein Mensch! — „Nein, ein
Chinese" lautet die Antwort. Die Behandlung, welche den Menschen gelber
Race in Californien, wo sie am zahlreichsten sind, zu Theil wird, verdient
den strengsten Tadel. Sie sind beinahe rechtlos und ihre Zeugenschaft wird
vor Gericht nicht angenommen — aber der gemeinste, roheste, unwissendste
Neger besitzt diese Rechte — der chinesische Culturmensch nicht.
Gewiß möchten wir auch von Herrn v. Hübner erfahren, was er über
das deutsche Element in den Vereinigten Staaten denkt; allein er ist hier
ziemlich kurz in seinen Mittheilungen, was vielleicht damit zusammenhängt,
daß das Buch zuerst französisch erschien. Entschlüpft ihm doch einmal von
den Deutschen der Ausdruck „diese Nation". Was wir sonst von unseren
Landsleuten jenseits des Oceans erfahren, ist etwa folgendes. In Chicago
hört man allenthalben Deutsch und als Hübner die Landsleute anredet,
strömen sie über von Begeisterung über die Erfolge des großen Kriegs.
„Das befriedigte Nationalgefühl, der Siegesrausch beleben die sonst ruhigen
ehrsamen, bürgerlichen Physiognomien. Die Waffenerfolge der überseeischen
Brüder waren für sie eine unerwartete Offenbarung, hoben ihr Selbstgefühl,
vermehrten ihre Thatkraft, riefen Bestrebungen wach, welche die Amerikaner be¬
reits für unvereinbar erklären mit der Verfassung und dem Zustande der
Vereinsstaaten." Welcher Art diese „Bestrebungen" waren — die Gegen¬
wart weiß nichts davon — berichtet Hübner nicht; aber es ist charakteristisch,
daß alles in der Welt zu schreien beginnt, Russe und Magyar, Tscheche und
Polak, Schweizer und Rumäne, wenn der Deutsche sich nur als Deutscher
fühlt. Die Deutschen Californiens erhalten uneingeschränktes Lob.
Wir wollen dem Verfasser nicht in die Salzseestadt und zu den Mormonen
folgen, eben so wenig nach dem Aosernitethal und San Francisco, so geist¬
reich er plaudert, neues kann er hier nicht mehr bieten. Diese Welttour ist
eben schon förmlich abgegrast. Auch ein kleines Sensationsstückchen ist hier
zu finden, wie er nächtlicherweile sich in das übel berichtügte Chinesenviertel
San Franciscos verirrt, wo die geschminkten Weiber mit den krallenhaften
Nägeln harpyenartig über ihn herfallen. Er entkommt mit Mühe. „Ihre
verstümmelten Füße verhindern sie, mir zu folgen." Wir haben immer be¬
merkt gefunden, daß die Chinesinnen trotz ihrer verstümmelten Füße schnell
laufen können. (Vergleiche die Abhandlungen von Prof. Welcker über die
Füße der Chinesinnen im Archiv für Anthropologie.)
Ein Scheideblick auf San Francisco, die Metropole des Stillen Welt-
Meers. „Hier begegnen sich Germanen. Kelten, Mongolen! Seit der großen
Völkerwanderung war die Welt nicht mehr Zeuge ähnlicher Vorgänge. Welcher
Menschenstamm wird entspringen aus der Berührung von Völkern, die so
verschieden sind durch Abstammung. Religion, Sitte? In welchem Maße
werden sie sich vermischen? Bis zu welchem Grade wird der noch jungfräuliche
Boden auf die, welche ihn bebauen, seine immer so fühlbare, wenn gleich ge¬
heimnißvolle Wirkung geltend machen? Welchen Einfluß werden die neuent¬
stehenden Geschlechter ausüben auf die Geschicke der Menschheit? Dies sind
Geheimnisse der Vorsehung. Wer vermöchte sie zu ergründen!"
In einem der schönen Pacific-Dampfer fuhr Hübner nach Jokohama in
Japan hinüber und der Theil seines Werkes, welchen er dem Sonnenaufgangs¬
land widmet, ist entschieden der interessanteste und beachtenswertheste. Hier hielt
er sich am längsten auf, hatte er Gelegenheit, in den Kreisen der maßgebenden
japanischen Progressisten zu verkehren, ja selbst die alte Kaiserstadt Kioto
und deren Paläste und Tempel eingehend heuterer zu können. Hübner be¬
trachtet das in gewaltiger Gährung befindliche Reich mit den Augen des
conservativen europäischen Staatsmannes und diese Anschauung drückt seinen
ganzen Schilderungen den Stempel auf. Er ist voller schwerer Bedenken
gegenüber der Neuzeit und ihren brausenden Reformen. Auch mit der Sicher¬
heit, in welcher die europäischen Residenten sich jetzt in Japan wiegen, nach¬
dem in den letzten Jahren keine Mordthaten mehr vorgekommen, soll es nach
Hübner nicht ganz ausgezeichnet stehen, wenigstens könne man jede Minute
einen neuen Ausbruch des Fanatismus gegen die Fremden erwarten. „Den
Zweischwertmännern gehe man aus dem Wege. Das Uebrtge weiß man nicht.
Gar vieles ist noch unbekannt. Ein dichter Vorhang verhüllt das Innere. Ge¬
wiß ist noch vieles, vieles unklar im Sonnenaufgangslande und der kürzlich
ausgebrochene Aufstand beweist, daß Hübner recht hat, wenn er sagt, der
Ausgleich sei noch nicht vollständig — so wenig wie dies in Oesterreich der
Fall ist. Wie der Uebergang sich dort vollzieht, mag an dem Beispiele eines
hohen Adligen gezeigt werden. „Matsune ist in einem Umgestaltungsprozesse
begriffen. An den Endpunkten seiner Persönlichkeit ist er bereits zum Europäer
geworden. Er trägt Pariser Stiefletten und hat sein Zöpfchen am Scheide!
abgeschnitten, dafür läßt er. gegen die Landessitte, sein Haar wachsen; es
'se dicht, kraus und struppig und giebt ihm ein ordinäres Aussehen. Ich
^ug ihn, warum er nicht die japanische Mode beibehalte. Die Antwort war,
^ leide häufig an Schnupfen. Die Wahrheit ist. daß der junge Mann den
Ideen der Neuzeit huldigen möchte, aber nicht wagt, es zu gestehen. Er
schwimmt zwischen zwei Wassern. So viel steht fest: wer hier zu Lande sein
Zöpfchen abschneidet, ist Progressist und die Zahl derselben nimmt zu. Japan
bewegt sich."
Der leitende Geist der Reformbewegungen ist der Minister Jwakura
Tomomi, derselbe, welcher vor kurzem unsre Höfe besuchte. Er gehört zum
alten Hofadel und lebte in freiwilliger Zurückgezogenheit bis die große Um¬
wälzung des Jahres 1868 stattfand, welche ihn auf die politische Schaubühne
führte. Seitdem spielt er eine große Rolle und jetzt gilt er für den bedeu¬
tendsten Mann im Ministerium. Im funfzigsten Jahre stehend, hat sein
Gesicht nichts hervorragendes, doch belebt von feurigen schwarzen Augen.
„Seine Art zu reden ist kurz und trocken, seine Manieren die des Mannes
der großen Welt: einfach, ungezwungen, natürlich." Jwakura entwickelt vor
Hübner sein sattsam bekanntes und in der Ausführung begriffenes Fort¬
schrittsprogramm.
Um nirgends anzustoßen, verhält sich der diplomatische Herr von Hübner
in Religionssachen ziemlich neutral. Wir wissen nicht, ob er zur ultramon¬
tanen Partei gerechnet wird, es will uns aber scheinen, als ob wenigstens
eine ultramontane Ader in ihm steckt, denn in San Francisco besucht er das
Jcsuiteninstitut und ist seines Lobes voll, in Japan und China die katho¬
lischen Missionsanstalten, stets lobend und preisend, als ob hier nicht arge
Schattenseiten zu verzeichnen wären. Dort hat er sich auch sein Urtheil über
die Christenverfolgungen in Japan gebildet. Vorurtheilsfreie Kenner
der Sache, und besser als Herr von Hübner mit Japan vertraute Männer —
wir nennen nur v. Siebold — urtheilen ganz.anders. Es ist eben auch
hier der Streit zwischen Kirche und Staat, und Hübner spricht da ungefähr
so wie Herr von Mallinckrodt.
Wie die Religion in Japan gegenwärtig beschaffen ist, erläutert
folgender Satz aus Hübner's Werk: „Die Religion scheint so ziemlich ein
überwundener Standpunkt zu sein. Nur Weiber und Greise sieht man
Morgens und Abends aus den Häusern treten, um sich vor der auf- oder
untergehenden Sonne zu verneigen. Sonst wird nur gebetet, um eine beson¬
dere Gunst zu erhalten. Die Weiber flehen die Götter an, auf daß ihr
Mann die eheliche Treue bewahre; Kranke beten um Gesundheit; junge
Mädchen um ein neues Kleid, einen Schmuck, einen Freier oder Gatten.
Wer in den Tempel geht, ruft den Gott, dessen er bedarf, indem er auf den
Gong schlägt, oder mit den Händen klatscht und sich dabei tief verneigt. Auf
den dritten Ruf erscheint die Gottheit, der Betende stürzt auf sein Antlitz,
bleibt einige Augenblicke in Anbetung versunken und wirft sodann eine Hand
voll kleiner Kupfermünzen in den Sammelkasten. Hiermit hat die Sache ein
Ende. Im Tempel von Asakusa befindet sich ein eherner Gott, den die
Kranken besuchen. Sie reiben die Hand an dem Gliede des Götzen, welches
ihrem kranken Theile entspricht. Kurz, viel Ceremonien, viel Aberglaube, aber
in den höheren Klassen und bei den Literaten häufiges Erlöschen aller reli¬
giösen Ueberzeugungen."
VMeile est —. Dem Katholiken mußten hier unwillkürlich Parallelen
aufstoßen. Kennt doch der Buddhismus den Rosenkranz, die geopferten
Wachsherzen, all die übrigen Ceremonien, nur ein Unterschied scheint uns
gegenwärtig noch zu herrschen. Der buddhistische Papst, der Tale Lama in
Lhassa sitzt dort sicherer als sein europäischer College im Vatican.
Mit den technischen Angelegenheiten, welche den am 21. Mai geschlossenen
Landtag in seiner letzten Woche beschäftigt haben, wollen wir uns hier nur
noch kurz befassen. Weil die nächste Landtagssession erst im Januar 1876
beginnt, da die drei letzten Jahresmonate nunmehr regelmäßig dem Reichstag
eingeräumt werden sollen, so war es nöthig, der Regierung eine Ermächtigung
zu verschaffen zur Leistung von Staatsausgaben vor Feststellung des Haus¬
haltes von 1875. Alsdann ist eine Novelle zur Gewerbsteuer beschlossen
worden. Ein Gesetz über die Vererbung des bäuerlichen Grundbesitzes in der
Provinz Hannover, über das sogenannte Höferecht, hebt das dortige Gewohn¬
heitsrecht mit seinen nach und nach zweifelhaft und widerspruchsvoll gewordenen
Bestimmungen zwar einestheils auf. verleiht aber den Hofbesitzern das Recht,
über das Leben hinaus Bestimmungen behufs der Zusammenballung des
Grundbesitzes zu treffen. Das Gesetz hat die Zustimmung beider Häuser ge¬
funden. Von zwei Interpellationen des Centrums erwähnen wir nur die des
Abgeordneten v. Mallinckrodt betreffend die gegen einen auf Grund gesetz-
widriger Anstellung der Amtsfunktionen enthobenen Pfarrer verhängte Exe¬
kutivhaft wegen verweigerter Herausgabe der Kirchenbücher. Der Vorfall
ward dadurch'bemerkenswerth, daß Laster dem Herrn v. Mallinckrodt sekundirte.
Er hielt dabei eine seiner feurigen Reden über die Herrlichkeit des Rechts¬
staates. Wir unsererseits haben sehr viel Billigung für Laster's Moral, wie
unser voriger Brief wiederum beweist, aber wir haben sehr wenig Geschmack
an Laster's Jurisprudenz. Wenn Jemand das Staatsgesetz offen verhöhnt,
oben er einfach den Gehorsam verweigert, da soll der Staat, nachdem er
den Rebellen mit höchstens vier Wochen milder Haft zu seiner Pflicht ein-
geladen, unverrichteter Sache abziehen. Wenn das der Rechtsstaat fordert,
so ist der sogenannte Rechtsstaat das Gegentheil oder die Aufhebung des
Staates. Will man die Berechtigung der Behörden zur Zwangsexekutive
beschränken, wofür sich gewiß allerlei sagen läßt, so muß man im Strafgesetz¬
buch Strafen auf den passiven Widerstand setzen. Sehr mit Recht hob der
Cultusminister Falk hervor, daß im Theorem die Möglichkeit statuirt werden
muß, einen Ungehorsamen lebenslänglich einzusperren, wie dasselbe im
Theorem gegen einen widerspenstigen Zeugen möglich ist. Diese Möglichkeit
ist so lange nicht zu entbehren, als nicht die eben erwähnte Bestrafung des
passiven Ungehorsams eingeführt ist. Und so lange sie nicht eingeführt
worden, ist die Anrufung des Rechtsstaates gegen fortgesetzte Zwangsmittel
zur Erlangung des Staatsgehorsams hohle Deklamation. Allein gesetzt auch,
man käme dahin, den passiven Widerstand dem Strafgesetz zu unterwerfen,
so würde dies Alles doch nur in gewissen, ganz genau bezeichneten Fällen ge¬
schehen. Die mannigfaltigen Möglichkeiten des Ungehorsams gegen die aus¬
führende Staatsgewalt lassen sich in keinem Strafgesetzbuch erschöpfen, und
wenn man die letztere aller selbständigen Zwangsbefugnisse beraubt, so wird
es bald um den Staat sehr übel aussehen. Es ist auch nicht wahr, wie
immer und immer wieder behauptet wird, daß die ausführende Gewalt in
England solcher Befugnisse entbehrt. Sie ist damit vielmehr sehr reichlich
ausgestattet, und nur bei dem Gebrauch an richterliche Formen gebunden.
Diese Formen haben aber nichts gemein mit dem Laster'schen Rechtsstaat¬
ideal, auf das man das Wort des weiland Ministerpräsidenten v. Manteuffel
anwenden möchte, daß es den Staatssinn entnerve. Die Verwaltung steht
in England unter der Controle der Gerichte, das ist wahr, aber diese Ge¬
richte sind an die Rechtsprechung des öffentlichen Rechts gewöhnt, und geben
den für das öffentliche Recht nothwendigen Gesichtspunkten ihr volles Recht.
Dort ist es möglich, den Ungehorsam gegen die Gesetze zu bestrafen ohne
Rücksicht auf ein Strafgesetzbuch, das die Fälle specialisirt oder gar, wie das
unsere, auf schwere Fälle des aktiven Ungehorsams beschränkt. Damit tadeln
wir natürlich nicht das deutsche Strafgesetzbuch. Wir tadeln nur das ver¬
worrene neudeutsche Ideal des Rechtsstaates, wonach der Staat nichts thun
soll, als wozu ihn ein unfindbarer Rechtscodex, wie ihn keine menschliche
Weisheit je ersinnen und niederlegen kann, speciell bevollmächtigt. — Man
kann sich denken, wie lebhaft Herr Windthorst den Abgeordneten Laster nach
dieser Rechtsstaatsrede bekomplimentirte. Schade, daß wir das innere Ge¬
lächter des alten gescheidten Herrn nicht vernehmen konnten, der besser als
irgend Einer weiß, was der Staat als Laster'scher Rechtsstaat noch ausrichten
würde: eine Ohnmacht, die dem klugen Manne unter jetzigen Zeitläuften recht
von Herzen erwünscht sein möchte. Schade, daß es gerade Laster sein mußte,
der uns wieder einmal den Unterschied — wir wollen nicht wie die Thoren
sagen, von Theorie und Praxis, sondern — von Theorie, die nur sie selbst
ist. wenn sie umfassend und wahr ist. und Doktrin, die kurzsichtig Leben und
Wahrheit verfehlt, klar machte. — Die Erwerbung der Suermondt'schen
Gemäldesammlung wollen wir mit Freuden begrüßen und ihrer wunderlichen
Bemängelung seitens einiger wunderlichen Heiligen von beiden Häusern nicht
gedenken. — Die Frage, ob man Jude bleiben kann, ohne einer bestimmten
Lokalgemeinde als beitragspflichtiges Mitglied anzugehören, beschäftigte das
Abgeordnetenhaus in Folge einiger auf die Bejahung gerichteten Petitionen.
Das Haus beschloß, der Staatsregierung eine die Bejahung herbeiführende
Gesetzvorlage zu empfehlen. Die Bejahung wird auch wohl nach dem Geiste
unserer Zeit und nach der Lage der allgemeinen Gesetzgebung über religiöse
Dinge nicht zu vermeiden sein, obwohl der religiösen Organisation des Juden-
thums daraus nicht geringe Gefahren erwachsen mögen. Als wirksamster
Fürsprecher der Petitionen trat wieder der unermüdliche Laster auf. —
Die erste Session der zwölften Legislaturperiode des Landtags, welche
am 12. Nov. v. I. begann, nachdem am 4. Nov. die Abgeordnetenwahlen
zu dieser Legislaturperiode stattgefunden halten, ist eine sehr inhaltreiche und
Merkwürdige gewesen, ebenso bewegt in ihren Verhandlungen als bedeutsam
in ihren Ergebnissen. Das Bild derselben, das wir von Woche zu Woche
an den Lesern hier vorübergeführr, wollen wir nicht zusammenfassend wieder,
holen. Das Gesetz über die bürgerliche Standesbuchführung und die bürger¬
liche Form der Eheschließung würde allein schon genügen, dieser Session einen
hervorragenden Platz anzuweisen. Auf die drei Kirchengesetze, welche der
Landtag noch in seiner letzten Periode nach dem Osterfest durch überein.
stimmenden Beschluß beider Häuser annahm, haben wir wiederholt versprochen
zurückzukommen, und gedenken dies in der nächsten Woche auszuführen.
Mit einer für sie selbst überraschenden Mehrheit hatten die Konservativen
bei den letzten englischen Wahlen gesiegt; aber schon in der kurzen Zeit, welche
seitdem verflossen ist. hat sich auch diesmal wieder die Schwäche fühlbar gemacht,
wie der seit einem Menschenalter alle konservativen Ministerien in England
behaftet sind. Mit der Reformbill, welche Lord Grey 1871, und der Auf-
Hebung der Kornzölle, welche Sir Robert Peel 1846 durchsetzte, waren die
großen, das Volk in seinen Tiefen aufregenden Fragen erledigt. Die unter¬
liegende Partei hatte, was in England immer geschieht und überall eine
Grundbedingung stätiger Entwickelung ist, die Entscheidung der Mehrheit
als endgültig hingenommen; Niemand dachte daran, die Reformbill wieder
abzuschaffen, oder die Kornzölle wieder einzuführen. Man hätte meinen
sollen, daß für den friedlichen Kampf zwischen Beharren und Veränderung,
welcher jedes Leben, in der Natur, wie in dem einzelnen Menschen, wie in
dem Staate ausfüllt, daß für das Ringen der zwei Parteien, die in jedem
Parlamente entstehen müssen, niemals das Feld so geebnet, niemals Wind und
Sonne so gleich getheilt gewesen. Man hätte meinen sollen, daß die Regierung
in ziemlich regelmäßigen Pendelschwingungen zwischen den Liberalen und den
Conservattven abwechseln würde. Ging doch Graf Aberdeen im Jahre 1852
noch weiter, indem er die Sonderung der parlamentarischen Parteien für eine
Unterscheidung ohne Unterschied erklärte.
Gleichwohl sehen wir die Conservativen im Amte nur vom 28. Februar
1852 bis zum 27. Dezember desselben Jahres, vom 26. Februar 1858 bis
zum 18. Juni 1859. vom 6. Juli 1866 bis zum 9. Dezember 1868, also in
einem Zeitraum von genau 22. Jahren nur 43 Monate. Wenn man nach
den Gründen fragt, weshalb die Conservativen jedesmal nach so kurzer Zeit
haben abtreten müssen, so erhalt man durch die Parlaments-Verhandlungen
die Antwort: das eine Mal, weil Dtsraeli's Budget nicht gefiel; das andere
Mal, weil Lord Derby einen Gesetzentwurf zum Schutze Louis Napoleon's
gegen Mordanschläge von England her, die Conspirach Bill eingebracht hatte;
das dritte mal, weil die Wahlen gegen sie ausgefallen waren. Aber die
feindlichen Abstimmungen, welche das Unterhaus bei dem einen oder anderen
Gegenstande abgiebt, sind doch häufig nur die Wirkung tiefer liegender
Ursachen, die für die heutige Zeit in allen Fällen angeben oder auch nur errathen
zu wollen es noch viel zu früh ist. Ueber wichtige parlamentarische Vorgänge
des vorigen Jahrhunderts haben wir erst im letzten Menschenalter durch die
Memoiren-Literatur den Aufschluß erhalten. Es weiß, heute, außer den
Eingeweihten noch niemand, was in Woburn Abvey verhandelt wurde an
dem Tage, als das Coalitions-Ministerium Aberdeen dort zu Stande kam.
Aber daß die angegebenen Ursachen nicht immer die wirklich treibenden Kräfte
sind, zeigt sich schlagend daran, daß das Gesetz zum Schutz Louis Napoleon's,
wegen dessen der conservative Lord Derby eine Niederlage erlitt, mit unwesent¬
lichen Veränderungen von dem höchst liberalen Ministerium Palmerston durch¬
gebracht wurde, freilich ganz leise, so leise, daß manche festländische Juristen
gar nichts davon gemerkt haben. In der englischen Gesetzsammlung steht
seit dem Jahre 1862 geschrieben: „Alle Personen, welche sich verschwören,
verbinden und verständigen, irgend eine Person, gleichviel ob Unterthan
Ihrer Majestät oder nicht, ob in den Gebieten Ihrer Majestät sich aufhaltend
oder nicht, zu ermorden oder wer auffordert, ermuntert oder überredet oder
zu überreden versucht oder wer vorschlägt, irgend eine Person, gleichviel ob
Unterthan Ihrer Majestät oder nicht, ob in den Gebieten Ihrer Majestät
sich aufhaltend oder nicht, zu ermorden, sollen mit Zwangsarbeit bis zu
zehn Jahren bestraft werden."
Die treibende Kraft in parlamentarischen Kreisen jedoch, die stets in dem
Willen und der Thätigkeit Einzelner zu suchen ist, kann nicht wirksam werden
ohne gewisse günstige Voraussetzungen allgemeiner Natur; und eine solche
fanden die Liberalen für ihre Angriffe gegen die conservativen Ministerien
in dem Mangel an tüchtigen Kräften in der conservativen Partei. Jedes¬
mal wenn ein conservatives Ministerium zu bilden war, stieß der mit der
Bildung Beauftragte auf diesen Uebelstand. An aristokratischen Namen
war kein Mangel; die Stellen des Oberhofmarschalls, des Oberkämmerers,
des Hofmeisters, des Oberstallmeisters, des Oberjägermeisters waren immer
leicht zu besetzen. Für einige der wichtigsten Stellen in dem Ministerium
waren befähigte Personen, für die übrigen wenigstens Männer vorhanden,
denen ein Schimmer von Sachkenntniß angeflogen oder umzuhängen war.
Aber für einzelne Fachministerien und für die Arbeitsbienen, diejenigen Unter-
staatssecretaire, welche mit dem Ministerium wechseln, waren auch Männer
mit einem solchen Schimmer nicht einmal aufzutreiben, und in der Regel
ward das Ministerium gestürzt, ehe die Gewählten das Regieren oder Ver¬
walter gelernt hatten, was, wie jede Kunst, nur durch Uebung gelernt wird.
Man hat es dem Ministerium Gladstone vorgeworfen und bei dem
Eintreten einer conservativen Strömung hat es ohne Zweifel zu seiner Nieder¬
lage beigetragen, daß sehr wichtige Posten in demselben von Parvenus be¬
setzt waren. Schatzkanzler war bis Ende v. I. Mr. Löwe, der sich einmal
öffentlich rühmte, von Oxford mit fünf Schillingen in der Tasche nach Australien
gegangen zu sein; den Krieg hatte Mr. Cardwell, die Marine Mr. Goschen,
die öffentlichen Arbeiten Mr. Adam, das Communalwesen Mr. Stansfeld.
die Post Mr. Playfair. Aber diese Herren, eben weil sie keinen ererbten
Namen, keine Familienverbindungen, einige auch kein Vermögen für sich
hatten, sie hatten gearbeitet. Und auch in der Politik ist richtig, was
vor mehr als 2000 Jahren der griechische Dichter Epicharmos. er freilich im
Gewände des Scherzes, gesagt hat: „Die Götter verkaufen den Menschen
alle Güter um den Preis der Arbeit."
Zwei Richtungen der modernen Entwickelung wirken zusammen, um in
der Aristokratie, deren Mehrheit naturgemäß dem Beharren, also der conser¬
vativen Partei angehört oder dazu neigt, einen Mangel an tüchtigen Kräften
zu erzeugen: der wachsende Wohlstand, der zum Genuß verlockt, und die
steigenden Ansprüche, welche an den Staat, an die Regierung gemacht werden.
In der ersteren Richtung hat die von Louis Napoleon so sehr beförderte Be¬
rührung der englischen Aristokratie mit der pariser Gesellschaft noch besonders
nacktheilig gewirkt. In der zweiten schaffen Staatswirthschaft und Wohl-
fahrtspolizei in England unermüdlich Einrichtungen, an welche in Deutschland
die Volks Wirthe nur zögernd herantreten. Der Sinn des Volkes ist zu
verständig und praktisch, als daß über die Mehrheit seiner Vertreter die Lehre
herrschen könnte, welche „keinen Staat" will und das Menschengeschleckt ver¬
wandeln möchte in einen Haufen von Monaden, wie Leibnitz sagen würde,
oder von Maden, wie wir sagen möchten, die nur durch „erleuchtete Selbst¬
sucht", durch Kaufen und Verkaufen zusammengehalten werden. Es gehört
heutzutage mehr dazu ein conservativer Staatsmann zu sein, als daß Jemand
in den conservativen Prinzipien, vlmtsvör ttiat ma? dö, fest ist, eine Rede
halten kann, eine Stelle aus den Alten, die sein Hofmeister mit ihm gelesen,
anzubringen weiß und die Maßregeln einer liberalen Regierung dilettantisch
zu bekritteln versteht.
Vermehrt werden die Schwierigkeiten für die Regierung und eine regie¬
rungsfähige Opposition, gesteigert die Ansprüche an Ernst, Thätigkeit und
Selbstverleugnung auf beiden Seiten des Hauses dadurch, daß seit der Katho¬
likenemancipation eine dritte Partei aufgewachsen ist, deren Heimath nicht in
England ist — doch wozu etwas schildern, wovon wir das Ebenbild in
unserer Mitte haben?
Carlyle hat vor dreißig Jahren seinen Landsleuten gesagt:
„Müßig oben zu sitzen, wie lebendige Statuen, wie abgeschmackte Epi-
kursgötter, in wohlgemästeter Abgesondertheit, ausgeschlossen von dem ruhm¬
vollen, verhängnißvollen Kampfplatze dieser Welt Gottes: das ist ein arm¬
seliges Leben für einen Menschen, wenn auch alle Tapezierer und französische
Köche ihr Möglichstes dafür gethan haben! — Eine obere Klasse, die keine
Pflichten zu erfüllen hat, ist wie ein über Abgründen gepflanzter Baum, von
dessen Wurzeln sich alle Erde abgelöst hat. Der Oberste unter den Menschen
ist, wer in der Vorhut der Menschen steht, und der Gefahr die Spitze bietet,
vor welcher die andern alle zurückbeben, welche, wenn nicht bestanden, die
Andern verschlingen würde. Jede edle Krone auf Erden ist und bleibt für
alle Zeit eine Dornenkrone. — Der Czar von Rußland machte sich zum
staubigen hart arbeitenden Zimmermann, ließ sich's sauer werden mit seiner
Axt in den Schiffswerften zu Saardam und sein Ziel war gering im Ver¬
gleich mit dem Eurigen.
Wenn die Mahnungen Carlyle's, aus denen man unzählige ähnliche
Stellen ausheben könnte, mehr gefruchtet hätten, so würden die Conserva-
tiven mit ihrem Ministerium weniger Sorge haben. Disraeli's Stärken und
Schwächen sind bekannt: daß man ihn als leitenden Minister nicht entbehren
kann, ist schon ein Zeichen von der Schwäche der Partei. Lord Derby
ist ein ernster, arbeitsamer Mann mit mannichfacher Erfahrung. Lord Salisbury
bemüht sich, mit Erfolg an den hungernden Hindus gut zu machen, was die
Doctrin. man dürfe in Zeiten des Mangels unter keinen Umständen die
Kornausfuhr verbieten, an ihnen gesündigt hatte. Der Schatzkanzler und
der Kriegsminister haben das Haus und das Publikum bis jetzt befriedigt.
Aber der Marineminister Ward Hunt hat schon bewiesen, daß er weder Sach¬
kenntnisse besitzt noch die Fähigkeit, dieselben an der richtigen Quelle nachzu¬
suchen. Er gab in einer sehr ungeschickten Rede wieder, was er sich von abge¬
takelten oder mißvergnügten Admiralen hatte erzählen lassen. Von dem
Herzog von Richmond und Lord Malmesbury heißt es: vomsn et xraetersg,
niiül. Dasselbe ist nicht zu sagen von den Unterstaatssecretairen, jungen
Herren, zum Theil unter 24 Jahren, deren Namen nur in ihren Clubs und
auf Bällen bekannt sind.
Indessen haben sie und ihre Parteigenossen jetzt eine so günstige Gelegen¬
heit, wie sie seit lange nicht dagewesen ist. Die buntscheckige Opposition hat
keinen Führer; ein großer Theil ist in Meuteret gegen den ultramontan an¬
gehauchten Gladstone. Eine Menge, von ihm und seinen College» verletzte
und bedrohte Interessen sehnen sich nach Ruhe, und es wird lange dauern,
ehe sich wieder eine regierungsfähige Opposition gebildet hat.
Der berühmte Aesthetiker Bischer vereint im seltensten Maße die Gabe
feinfühligster, geschultester Empfindung für das Schöne in allen Formen
mit jenen grobkomischen Anlagen, die seinem Bänkelsängernamen Schar¬
tenmayer, mindestens im Commersbuch der deutschen Studenten, unsterb¬
lichen Ruhm gesichert haben. Dieser seltene Mann, der im Frankfurter
Parlament auf der äußersten Linken Platz genommen, sich dann Jahrzehnte
lang in der Schweiz einen Wirkungskreis gebahnt hat, so glänzend und
fruchtbringend, wie kaum ein anderer Verbannter, dann dem neuen Deutsch¬
land seit 1866. und namentlich dem deutschen Reiche, seit 1871 wieder ganz
— wenn auch naturgemäß mit einigen energischen schwäbischen Vorbehalten —
sein gutes deutsches Herz zuwandte — dieser tapfere tüchtige Schwabe ist auch
der Verfasser des vorliegenden „Heldengedichtes." Wer zu seinen Füßen ge¬
sessen , und Zeuge gewesen ist von der im besten Sinne willenlenkenden
Beredsamkeit, die ihm eigen, und die auf anderem Gebiete nur vergleichbar
ist dem nationalen Pathos der academtschen Vorträge Treitschke's, mag am
wenigsten glauben, daß diesem Manne unter den Humoristen unseres letzten
großen Krieges einer der besten Kränze gebührt. Wer andererseits die Vor¬
rede des vorliegenden Heftchens liest, die'Schartenmayer's Thaten und Werke
in wenigen groben Strichen an die Wand malt, wird, ohne Vischer's po-
litisches Glaubensbekenntniß näher verfolgt zu haben, sehr geneigt sein, die
Vorbehalte, die der selige Barde kurz vor seinem (fingirten) Hintritt dem
Reiche gegenüber macht, für eitel Ironie auf den gesinnungstüchtigen Eigen¬
sinn der schwäbischen Gaugenossen zu halten. Aber wir haben ein klassisches
Zeugniß in Th. Fontanes Ostersahrt in das occupirte Frankreich (Berlin,
v. Decker, 1871) dafür, wie ernst es damals noch Bischer mit seinen geistigen
Vorbehalten beim Eintritt ins Reich nahm. Die Vorbehalte der beiden
Mecklenburg bei ihrem Beitritt zum Nordbund Ende 1866 können nicht
ernsthafter gemeint gewesen sein. Heute formulirt freilich nur noch Scharten¬
mayer, nicht mehr Bischer seine Reservationen und in entschieden weniger
herzensbeklemmender Form, wie man aus folgenden Beispielen ersieht:
Die Militarismus-Phrase
Ist zwar nichts, als eine Blase,
Alle Schlagwort-Reiterei
Ueberhaupt nur eitel Spreu.
Die Soldaten sind für Staaten,
Nicht der Staat für die Soldaten;
Dreht nicht das Verhältniß um
Euer Salz, es wird sonst dumm. Auch mein Freund, der Schneider Dobl
Sagt: das Alte war doch nobler
Daß des Nöthen jetzt zu viel,
Dies sei gegen sein Gefühl.Doch nur um sein Haus zu schützen,
Setzt man auf des Daches Spitzen
Einen Blitzableiter hin
Nicht baut man das Haus für ihn.
Sorget mehr doch für die Geister,
Denket an der Schule Meister,
Die für gar so wenig Geld
Bittend wirken für die Welt. Seine Kappe schief zu setzen
Sei ein Menschenrecht; verletzen
Sollte man ein solches nie
Durch zu viel Geometrie. er,
Im Uebrigen tritt aber Schartenmayer rückhaltlos für die nationale
Erhebung vor, in und nach dem Kriege ein. (seine allgemeinen, bei dieser
Gelegenheit vorgetragenen, moralischen Grundsätze werden dabei kaum erheb¬
licheren Widerspruch begegnen, als die ziemlich einmüthig anerkannte Maxime,
daß Diebstahl ein Laster sei. Hiervon nur zwei Beispiele:
'
Krieg anfangen ist bekanntlich
Ohne Ursach immer schändlich
Geht es dem, der anfangt, schlecht,
So geschieht es diesem recht.seul, o Friede dein Gefieder
Endlich auf die Menschheit nieder,
Daß von seinem Flaum bedeckt,
Ihr das Abendgläslein schmeckt.
Die Ausfassung der großen Kriegsthaten ist freilich die des vorsichtigen
deutschen Philisters, die erst dann ein thränenreiches oder herablassendes
strategisches Urtheil abgibt, wenn die concrete Thatsache unabänderlich fest¬
steht, oder ausreichend durch zuverlässige Zeitgenossen beglaubigt ist. Hierfür
einige Belege über Wörth, Sedan, Krankenpflege, Bourbaki:
Und wir treten aus der Thüre
Sehen nach dem Eck herführe,
Wo ein Theil der Menschheit lauft
Und den Staatsanzeiger kauft. Mit hochachtendem Befremden
Liest man was allein an Hemden,
Watt, Charpie, Arznei, Verband,
Dieser hat hinaus gesandt.--Sieht ein denkender Präzepter
Sinken so ein stolzes Scepter,
Findet er den Satz bewährt,
Daß Geschichte sehr belehrt. Möglich ist es so geworden,
Daß man die gesammten Horden,
Fast wie einen Zwetzschgenstein
Drückte in die Schweiz hinein.
Diese Beispiele mögen genügen, um die Neugier und Kauflust jedes
Deutschen rege zu machen. Schartenmayer ist todt, es lebe Schartenmayer!
Meine Erinnerungen an die Wiener Weltausstellung knüpfen sich an ein
auf derselben vertetems Gebiet, dessen Bedeutung richtig zu würdigen eine der
wichtigsten Aufgaben unserer Zeit ist. Ich meine das Gebiet der öffentlichen
Gesundheitspflege, also derjenigen Wissenschaft, welche ihre Anwendung findet
in der Erhaltung der Gesundheit des Volkes.
Wenn ich die richtige Würdigung der öffentlichen Gesundheitspflege als
eine Aufgabe unserer Zeit bezeichne, stelle ich nicht in Abrede, daß man
auch in früheren Zeiten auf Maßregeln bedacht war, welche die Erhaltung
der Gesundheit des Volkes bezweckten. Jene Maßregeln aber standen ver¬
einzelt da, gleichviel, ob sie durch einen Religionsstifter oder durch einen po¬
litischen Machthaber angeordnet waren. Erst die Hebung der Volksbildung,
durch welche die Einsicht in die Natur gesundheitsschädlicher Verhältnisse er¬
weitert wird, — die Belebung des staatlichen Bewußtseins, in Folge dessen
wir, Einer für Alle und Alle für Einen, auf die Erhaltung der Gesundheit
der Mitbürger bedacht sind, — die durch die moderne Kultur vermehrte Zahl
von gesundheitsschädlichen Verhältnissen und die Fortschritte in der wissen¬
schaftlichen Erforschung dieser Verhältnisse — - dies alles hat unserer Zeit
die Möglichkeit gewährt die Bedeutung der öffentlichen Gesundheitspflege
nach ihrem ganzen Inhalte und Umfange zu würdigen. Aus dieser Wür¬
digung aber folgt sofort die Nothwendigkeit die öffentliche Gesundheitspflege
zu der vollen Geltung zu bringen. Darum zeigt sich jetzt in allen Kultur¬
staaten das Streben, der öffentlichen Gesundheitspflege Geltung zu verschaffen.
Dieses Streben hält gleichen Schritt mit dem Kulturstreben in den verschie¬
denen Staaten. Je höher die Kulturstufe ist. welche ein Staat anstrebt, desto
eifriger ist er darauf bedacht die öffentliche Gesundheitspflege zur Geltung
zu bringen.*)
Unbestreitbar richtig ist die Behauptung, daß die körperliche, geistige und
sittliche Leistungsfähigkeit der Bevölkerung ein treues und scharfes Spiegelbild
der Kultur des Staates ist. Aber ebenso richtig ist auch die Behauptung,
daß die Gesundheitspflege der Bevölkerung ein treues und scharfes Spiegelbild
der Kultur des Staates ist. Denn darin besteht die Aufgabe der öffentlichen
Gesundheitspflege, und darin liegt ihre Bedeutung, daß durch sie die körper-
liche, geistige und sittliche Leistungsfähigkeit der Bevölkerung gehoben wird.
Die Erhaltung der Gesundheit ist zugleich die Erhaltung der Arbeitskraft;
die Erwägung gesundheitsdienlicher und gesundheitsschädlicher Verhältnisse ist
der Ausbildung der praktischen Vernunft förderlich; die Gewöhnung auf die
Gesundheit der Nebenmenschen Rücksicht zu nehmen erhöht den sittlichen Ge¬
halt des Thuns und Lassens der Menschen. In diesem Sinne und aus diesem
Grunde wird durch die öffentliche Gesundheitspflege die körperliche, geistige und
sittliche Leistungsfähigkeit der Bevölkerung gehoben. In diesem Sinne und
aus diesem Grunde ist die Behauptung richtig, daß die Gesundheitspflege der
Bevölkerung ein treues und scharfes Spiegelbild der Kultur des Staates ist.
Die Mittel, welche die öffentliche Gesundheitspflege anwendet, um die
Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten, sind ebenso mannigfaltig und zahl¬
reich, wie die Quellen der Gesundheitsschädigung. Es ist sehr lehrreich zu
sehen, wie verschieden jene Mittel in den verschiedenen Staaten sind. Jeder
Staat kann von dem andern lernen, welche von jenen Mitteln sich zur An¬
wendung empfehlen, und welche nicht; mustergiltig insgesammt sind die¬
selben noch in keinem Staate. Dies zeigt sich nirgends übersichtlicher als auf
einer Weltausstellung, — vorausgesetzt: daß auf ihr die von der öffentlichen
Gesundheitspflege angewendeten Mittel genügend vertreten sind.
Wer auf der Wiener Weltausstellung die gegenwärtige Entwickelungsstufe
der von der öffentlichen Gesundheitspflege in den verschiedenen Ländern ange¬
wendeten Mittel studiren wollte, fand ein reichliches Material vor. Das
Aufsuchen desselben war allerdings sehr erschwert, denn ein Verzeichnis welches
dabei hätte anleiten können, gab es ebenso wenig als eine sachliche Zusammen¬
stellung. Nur für einen einzigen Zweig der öffentlichen Gesundheitspflege bot
sich eine sachliche Zusammenstellung dar, nämlich für die Militär-Gesund¬
heitspflege; die auf dieselbe sich beziehenden Vorrichtungen wären in dem
„Sarnath-Pavillon" zusammengestellt. Diese Zusammenstellung war indeß
unvollständig; wichtige Vorrichtungen für die Militärgesundheitspflege habe
ich nicht in dem Sanitätspavillon, sondern in verschiedenen anderen Aus¬
stellungsräumen gefunden.
Die Anordnung bei der Wiener Weltausstellung war, mit wenigen Aus¬
nahmen, so getroffen, daß die Ausstellungsgegenstände jedes einzelnen Landes
beisammen waren. Wer Spezialstudien machen wollte, mußte deshalb in allen
Ausstellungsräumen die ihn interessirenden Gegenstände aufsuchen. Trotz dem
besten Willen lief er deshalb Gefahr wichtige Gegenstände zu übersehen.
Ueberdies wurde ihm die Benutzung der aufgefundenen Gegenstände beschränkt;
schon bei dem Ausmessen derselben war eine Verständigung mit den Aufsichts-
beamten erforderlich, das Abzeichnen war nur ausnahmsweise gestattet.
Wenn ich es nun versuche dem Leser dasjenige vorzuführen, was auf
der Wiener Weltausstellung sich für die öffentliche Gesundheitspflege darge¬
boten hat, muß ich mich mit einer Skizzirung begnügen. Ich werde dabei
nur einzelne Fragen ins Auge fassen, und zwar solche, durch deren Beant¬
wortung die wichtigsten unter den ausgestellten Mitteln der öffentlichen Ge¬
sundheitspflege in den Kreis der Betrachtung eintreten können.
Wie brachte die Ausstellung diejenigen Ansprüche zur Anschauung, welche
von der öffentlichen Gesundheitspflege an die Wohnung gemacht werden?
Wie veranschaulichte sie die Ansprüche der öffentlichen Gesundheitspflege an
die Nahrungsmittel? Wie stellte sie die Anforderungen der öffentlichen Ge¬
sundheitspflege an die Schulen dar? Welchen Ausdruck gab sie denjenigen
Rücksichten, welche die öffentliche Gesundheitspflege aus den Gewerbebetrieb
nimmt? Wie veranschaulichte sie die Fürsorge, welche die öffentliche Gesund¬
heitspflege für die Kranken hegt?
Dies sind die Fragen, auf die ich mich beschränken muß; noch viele
andere ließen sich aufstellen, müssen aber hier unterbleiben.
Wenn das Wohnhaus den Ansprüchen der öffentlichen Gesundheitspflege
genügen soll, muß es von reiner Luft umgeben sein, auf einem trockenen^
von fäulnißfähigen Stoffen freien Boden stehen, trockne, helle, hinlänglich
geräumige Wohngelasse mit reiner Luft enthalten und die berechtigten For¬
derungen der Sittlichkeit und Volkswirthschaft befriedigen.
Die Feuchtigkeit des Baugrundes ist nicht nur deshalb gesundheitsschädlich,
weil sie sich dem Hause mittheilt, sondern auch deshalb, weil sie die Fäulniß
der in dem Boden vorhandenen, von dem Haushalte, Gewerbebetriebe u. s. w.
herrührenden organischen Stoffe befördert. Die Produkte dieser Fäulniß
nimmt die in dem Boden sehr reichlich vorhandene Luft auf und theilt sie
unserer Athmungsluft mit; außerdem können dieselben innerhalb des Bodens
in die Brunnen eindringen und das Trinkwasser verunreinigen. Ein gewisser
Grad von Anhäufung, oder eine besondere Beschaffenheit der in dem Boden
faulenden Stoffe erzeugt oder begünstigt gefährliche Krankheiten, welche vor¬
züglich durch epidemische Verbreitung sich auszeichnen. Deshalb legt die
öffentliche Gesundheitspflege ein so großes Gewicht auf die Trockenlegung des
Bodens und auf die Verhütung seiner Verunreinigung durch fäulnißfähige
Stoffe. Während durch die Drainirung nur jene Trockenlegung bewirkt
wird, kann die Kanalisirung den Boden trocken und zugleich rein erhalten.
Die auf der Ausstellung vorhanden gewesenen Modelle und Zeichnungen,
welche sich auf Bodenentwässerung und Kanalisation bezogen, ließen einen
erfreulichen Fortschritt in dem Systeme und der Technik erkennen und zeigten
Anwendbarkett nicht nur bei großartigen Anlagen, sondern auch auf kleineren
Gebieten.
In der ungarischen Abtheilung stand ein mit Wasser gefülltes Gefäß,
in welchem mehrere Terrakotta-Ziegel übereinandergestellt waren. Der oberste
Ziegel ragte mit einem Theile aus dem Wasser empor, diesen Theil hatte
man mit einer wasserdichten Masse überzogen; er war trocken, obwohl der
übrige Theil des Ziegels im Wasser sich befand. Die Composition jenes
Ueberzuges ist das Geheimniß des Ausstellers. Für Neubauten sollen, wie
er empfiehlt, Ziegel angewendet werden, welche an der Stirn- oder Längen-
Seite, je nachdem, mit jener Masse belegt sind. Bereits vorhandene Wände
welche feucht sind, sollen an der dem Wohnraume zugewendeten Seite eine
1 Centimeter starke Verkleidung erhalten, angefertigt aus Platten von jener
wasserdichten Masse, welche unter einander und mit der Wand durch Cement
verbunden werden. Auf diese Weise soll man in dem Wohnraume Nichts
von der Feuchtigkeit der Wand wahrnehmen können. — Aus Gesundheits¬
rücksichten muß ich vor der Anwendung jenes Geheimmittels warnen, obwohl
es sehr gerühmt worden ist. Ist dasselbe wirklich im Stande die Zimmer¬
wand wasserdicht zu machen, so muß es ihre Poren verstopfen. Die Porosität
der Wand ist aber ein sehr wirksames Mittel der Lufterneuerung des Zimmers.
Ununterbrochen, wenn auch für die gewöhnliche Sinneswahrnehmung un«
bemerkbar, lassen die Poren der Wand unreine Luft aus dem Zimmer aus¬
treten und reine Lust in das Zimmer eintreten. Verstopft man dieselben, so
häuft man die unreine Luft in dem Zimmer an und schneidet ihm eine
wichtige Zufuhr von reiner Luft ab. Die eine von den Ursachen, aus denen
die Feuchtigkeit der Wände gesundheitsschädlich ist, besteht eben darin, daß
die Poren der Wand verstopft sind, und zwar durch Wasser. Die Feuchtigkeit
der Wand muß beseitigt, aber nicht verdeckt werden. Wenn man die
Feuchtigkeit beseitigen will, muß man die Verdunstung des Wassers be¬
günstigen. Die Verdunstung muß allseitig erfolgen und darf nicht dadurch
verringert werden, daß man die Wandfläche mit einer undurchlässigen Masse
überzieht.
Die ausgestellten Ventilationsvorrtchtun gen zeigten, daß man
die Nothwendigkeit der Lufterneuerung gebührend würdigt. Die Mannig.
sättigten jener Vorrichtungen aber zeigte auch, wie schwierig es sei eine Vor-
richtung herzustellen, welche unter allen Umständen geeignet wäre zweckmäßig
die Lufterneuerung zu bewirken. Ich halte es von vornherein kaum für
möglich eine Ventilationsvorrichtung von allgemeiner Anwendbarkeit herzu«
stellen, vielmehr werden von den verschiedenen obwaltenden Umständen ver¬
schiedene Rücksichten geboten werden, welche bald diese, bald jene Ventilations¬
vorrichtung vorziehen lassen. Die gemeinsame Aufgabe aller Ventilations¬
vorrichtungen besteht darin, daß sie mindestens 60 Kubikmeter Luft des be¬
wohnten Raumes pro Kopf und Stunde erneuern.
Der Ventilation dienen insbesondere: verschiedene Einrichtungen an den
Oefen, Kaminen und Schornsteinen; Vorrichtungen, welche den Temperatur-
Unterschied der Luft für die Ventilation benutzen; Apparate, welche ver¬
mittelst der Druck- und Sang-Kraft des Windes Luft zuführen und ableiten;
Maschinen, welche vermittelst mechanischer Kraft die Luft in einen Raum
hineintreiben und aus demselben entfernen. Alle diese Systeme waren auf
der Ausstellung vertreten. Unter den Vorrichtungen, welche die zwischen der
Straßen- und Zimmer-Luft obwaltenden Temperaturverschiedenheiten und
zugleich die Druck- und Sang-Kraft des Windes für die Ventilation benutzen,
führe ich beispielsweise diejenigen des amerikanischen Schulzimmers an. In
demselben befand sich unter jedem Fensterbrette eine gefällig geformte, mit
einem soliden Deckel verschlossene Vase von siebförmig gekochten Blech. Wenn
man den Deckel abhob, sah man, daß das statio der Vase ein Rohr dar¬
stellte, welches in einen nach der Straße hin offenen Kasten führte; ver¬
mittelst eines zierlichen Schlüsselgriffes konnte man eine Klappe in jenem
Rohre umwenden und es absperren. Außerdem befand sich an mehreren
Stellen in der obersten Partie der Zimmerwände die 20 Ca. im Gevierte
haltende Mündung eines aus die Straße führenden Kanales hinter einer
zierlich durchbrochenen Blechtafel, welche durch eine Klappe mit einer Schnur
theilweise oder gänzlich verdeckt werden konnte. Auf diese Weise wird die
Lufterneuerung gleichmäßig über den unteren und oberen Theil des Zimmers
vertheilt, ohne daß Zugwind entstehen kann.
Der soweit verbreitete Mangel an Wohnungen für Unbemittelte,
welcher die verderbliche Obdachlosigkeit und die zu typhösem und anderen ge¬
fährlichen Erkrankungen führende Wohnungsübervölkerung zur Folge hat, ist
der öffentlichen Gesundheitspflege so nachtheilig, daß schon aus diesem Grunde,
die auf der Wiener Weltausstellung (in der 18. Gruppe) ausgestellten kleinen
Wohnhäuser ein besonderes Interesse in Anspruch nehmen. Dieselben waren
durch Bauernhäuser und Arbeiterhäuser vertreten. Wenn d!e Bauernhäuser
wirklich so aufgeführt werden sollten, wie die ausgestellten, müßten sie
wenigstens größere Fenster haben und für Lufterneuerung besser eingerichtet
sein als diese. Solche Bauernhäuser sind nicht geeignet der auch in den
Dörfern in so hohem Maaße vorhandenen Wohnungsnoth abzuhelfen. Wie
sehr aber die öffentliche Gesundheitspflege dort auf Abhülfe dringen muß,
zeigt z. B. die gesundheitsschädliche Beschaffenheit der Gesindehäuser und
Miethgärtnerhäuser auf den Dominien und der Arbeiterhäuser der in den
Dörfern errichteten Fabriken.
Die ausgestellten österreichischen, schweizerischen, niederländischen, belgischen
englischen und anderen Arbeiterhäuser blieben in vielfacher Hinsicht weit
zurück hinter denjenigen, deren Pläne das preußische Ministerium für Handel,
Gewerbe und öffentliche Arbeiten ausgestellt hat. Unter diesen Plänen be¬
fanden sich 3 Entwürfe eines Zwei-, eines Vier- und eines Acht-Familien-
Hauses, welche jetzt von der Königlichen Bergverwaltung gleichsam als
normal-Projekte angenommen sind.*) Bei diesen Plänen hat man solche
Mängel beseitigt, welche bei den bisherigen Bauten (bei Königshütte, Zabrze,
Saarbrücken, Rudersdorf u. s. w.) sich bemerklich gemacht haben. Die pro-
Mirten Arbeiterhäuser empfehlen sich nicht nur für Bergleute, sondern im
Allgemeinen für unbemittelte Familien. Jede Familie wohnt isolirt und hat
1 Wohnstube, 1' Kammer, 1 Küche, 1 Kellerraum, 1 Bodenkammer, 1 Trocken¬
boden, einen Garten, einen Hof mit einem Stalle u. s. w. Das Zwei-
Familienhaus hat nur ein Erdgeschoß; das Vierfamilienhaus hat entweder
nur ein Erdgeschoß, oder, gleich dem Achtfamilienhause, über dem Erdgeschosse
noch 1 Stockwerk. In dem Achtfamilienhause sind für je 2 Familien gemein¬
schaftlich die Treppen nebst Zugängen und die Hausthüren; dadurch wird
indeß die Jsolirung der Einzelwohnung nicht wesentlich beeinträchtigt, weil
eine jede von ihnen einen besonderen Vorflur hat. Ferner sind in den
Achtfamilienhäusern gemeinschaftlich für 4 Familien die Verbindungswege
zwischen den Gebäuden und der Straße, sowie die Vorplatze zum Spielen
der Kinder.
Das nachfolgende Schema enthält eine übersichtliche Zusammenstellung
der Bauflächen der Gebäude, der freien Anlage derselben und der Gesammt-
Grundflächen nach den verschiedenen Systemen.
A. Kind, Entwürfe zu Wohnungen für Bergarbeiter. Hierzu 2 Tafeln, Berlin 1873.
Druck von G. Bernstein-
Die Einrichtungen zur Hebung des materiellen und geistigen Wohles der auf van König¬
lich Preußischen Berg-, Hütten- und Salzwerken beschäftigte» Arbeiter. Eine Erläuterung
zu den vom Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten zu Wien ausgestellten
Arbeitshäusern. Berlin, Ernst K Korn.
Die für das Zwei- und Vier-Familien-Haus angenommene freie Anlage
ist, je nach örtlichen Bedürfnisse, sowohl der Vergrößerung wie auch der
Ermäßigung fähig; diejenige des Achtfamilienhauses ist aber als Minimum
anzusehen und einer weiteren Beschränkung unfähig; dagegen bleibt eine Ver¬
größerung nach örtlichen Bedürfnisse auch hier immer statthaft.
Die absolute Höhe der Baukosten wird nach Zeit, Ort und Bauweise
(z. B. ob Massivbau oder Fachwerkbau :e.) veränderlich und im angegebenen
Falle durch special-Kostenanschläge jedesmal festzustellen bleiben.
Die relative Kostenhöhe oder das Verhältniß der Herstellungskosten der
Einzelwohnung zu einander je nach den verschiedenen Systemen, ist im Wesent¬
lichen unabhängig von Zeit, Ort und Art der Ausführung, daher als kon¬
stant anzusehen. Die relative Kostenhöhe bietet bei der Wahl des Systems
für die Beurtheilung und Entschließung ein nützliches Moment.
Nach stattgehabter Ermittelung ergibt sich die Relation der Kosten einer
Einzelwohnung:
im Zweifamilienhause I wie 9
im Vierfamilienhause )zu 7
im Achtsamilienhause ) zu 5
Unverheirathete Arbeiter wohnen entweder in den Dachkammern
der Familienhäuser, oder in eigens eingerichteten Schlafhäusern. Die Zeich¬
nungen eines Schlaf hausesin dem Saarbrücker Bezirke war ausgestellt.
Der Arbeiter findet in dem Schlafhause Obdach, ein vollständiges Bett,
Brennmaterial zum Kochen, ferner gemeinschaftliche Beheizung, Beleuchtung
und Versammlungszimmer; dafür zahlt er monatlich 20 Sgr. Meist ist in
dem Schlafhause auch eine Küche für gemeinschaftliche Beköstigung nach Art
der Volksküchen eingerichtet. Insoweit die Kosten nicht durch die Beiträge
der Schlafhausbewohner gedeckt werden, übernimmt der Staat die erforder¬
lichen Zuschüsse auf seine Werkskassen.
Um ordentlichen Arbeitern die Ansiedelung in der Nähe des Bergwerkes
zu erleichtern, ist der Staat darauf bedacht, daß sie Hauseigenthümer werden.
Deshalb gewährt er Prämien und Vorschüsse zum Bauen von Familien¬
häusern, oder er stellt diese selbst her und überläßt sie käuflich den Arbeitern,
welche nach und nach das Kaufgeld bezahlen. Wie segensreich dieses Ver¬
fahren auf das Streben und die Tüchtigkeit der Arbeiter, auf Sparsamkeit
und Gesittung einwirke, ist leicht abzusehen und überall da nachgewiesen, wo
Arbeitgeber oder wohlthätige Vereine ein ähnliches Verfahren eingeschlagen
haben. Der Arbeiter wird in seinem eigenen Hause, dessen Erwerb die
Frucht seiner Thätigkeit ist, geneigter als sonst für die Werthschätzung von
Familienglück, welches die reichste Quelle alles Glückes ist. Auch in diesem
Sinne bewährt sich das Wort des Dichters:
— „Der ist am glücklichsten, er sei
Ein König oder ein Geringer, dem
In seinem Hause Wohl bereitet ist."
In der isolirten Wohnung, vorzüglich in dem eigenen Hause, kann die
Arbeiterfamilie auf ein gesundheitsgemäßes Verhalten, insbesondere auf Rein¬
lichkeit, Ordnung und geregelte Lebensweise, mehr Rücksicht nehmen als sonst.
So haben auch hier die öffentliche Gesundheitspflege und die Sittlichkeit ein
gemeinsames Interesse.
Die öffentliche Gesundheitspflege muß dringend wünschen, daß die von
dem preußischen Handelsministerium ausgestellten Pläne auch bei den Mieth-
Häusern für Arbeiterfamilien beibehalten werden, und daß man keine Mieth¬
häuser baue, in welchen die Arbeiterfamilien 4 oder noch mehr Treppen hoch
wohnen.
In Berlin ist neuerdings festgestellt worden, daß in den hochge¬
legenen Stockwerken die Sterblichkeit, besonders unter den
Kindern, eine sehr große ist. und daß ihr sogar die Sterblichkeit in
den Kellerwohnungen nachsteht. In Berlin starben während der Jahre
1861—1867 von 1000 Bewohnern des Erdgeschosses, des ersten, zweiten und
dritten Stockwerkes ungefähr je 22 , in den Kellerwohnungen 28, in den 4
und mehr Treppen hoch gelegenen Wohnungen starben über 28. Einen ähn¬
lichen Einfluß der Höhenlage der Wohnungen auf die Kindersterblichkeit habe
ich auch an anderen Orten kennen gelernt. Virchow*) nennt diese Thatsache
eine „überraschende"; sie ist dies indeß nur dann, wenn man die Ansicht hegt,
daß das Bewohnen der hochgelegenen Stockwerke in Beziehung auf die Rein-
heit der Luft das gesündeste sei. Diese Ansicht ist thatsächlich unrichtig; denn
die Luft in denselben ist im Allgemeinen schlechter als die in den tiefer gele¬
genen Stockwerken. Den Grund dafür finde ich hauptsächlich darin, daß die
durch das Bewohnen ,der tiefer gelegenen Stockwerke verschlechterte Luft aus
diesen in die höheren eindringt. Dies kann nicht auffallen, wenn man die
Durchlässigkeit der Fußböden und die mangelhaften Ventilationseinrichtungen
der Häuser, besonders der Korridore, berücksichtigt. Auf diese Weise athmen
die Bewohner der höchstgelegenen Stockwerke die schlechteste Luft ein. Am
gefährlichsten muß dieselbe den dort wohnenden Kindern sein, weil in dem
frühesten Alter die Lebenserhaltung mehr als in dem späteren von dem Athmen
reiner Luft abhängt. Die größere Beschwerlichkeit Kinder aus einem hoch¬
gelegenen Stockwerke auf die Straße oder in das Freie zu tragen hat über¬
dies zur Folge, daß dieselben um so andauernder der schlechten Luft in der
Wohnung ausgesetzt bleiben.
Wenn wir uns auf diese Weise die große Kindersterblichkeit in den
hochgelegenen Stockwerken erklären, müssen wir annehmen, daß die Sterblich¬
keit sich verringern werde, sobald eine genügende Ventilation der Häuser,
namentlich der Korridore, eingeführt sein wird; denn alsdann wird die un¬
reine Luft aus jedem Stockwerke abgeführt werden und nicht in das höher
gelegene Stockwerk eindringen. Auch aus dieser Rücksicht erachte ich es für
nothwendig, daß bei der Prüfung des Bauplanes von Wohnhäusern und
bei der Bauabnahme nicht nur ein Bautechniker, sondern auch ein ärztlicher
Gesundheitsbeamter zugezogen werde.
Noch ein anderer Grund bestimmt die öffentliche Gesundheitspflege
gegen das Bewohnen hochgelegener Stockwerke sich auszusprechen. Die Zahl
der Todtgeburten ist nämlich in denselben viel größer als sonst. So betrug
z. B. in Berlin die Zahl der Todtgeburten bei 1000 Bewohnern überhaupt
1.6, in den Kellerwohnungen 1.6, in dem Erdgeschosse, ersten, zweiten und
dritten Stockwerke durchschnittlich 1.4, in dem 4. Stockwerke und in Woh¬
nungen, zu denen man noch höher hinaufsteigen muß, betrug die Zahl der
Todtgeburten 2.1 pro wille.
Aus diesen und anderen Ursachen legt die öffentliche Gesundheitspflege
in besonderes Gewicht darauf, daß man bei Arbeiter-Wohnhäusern sich damit
begnüge auf das Erdgeschoß nicht mehr als zwei Stockwerke aufzuführen.
Die Nahrung muß dem Menschen dasjenige Material zuführen, aus
welchem er seine Körpergewebe bildet. Sie muß von entsprechender Menge
und Beschaffenheit sein, damit er im Stande sei die Körpergewebe zu dem
Aufbaue seiner Organe und zu dem Umsätze in diejenigen Kräfte zu ver¬
wenden, welche theils den Stoffwechsel bewirken, theils durch körperliche und
geistige Arbeit sich äußern. Derjenige Theil des Stoffes, welcher bei dem
Umsätze in Kraft verbraucht wird, muß ersetzt werden. Darin, daß die
Nahrung diesen Ersatz leistet, liegt ihre Bedeutung. Die Erhaltung der
Gesundheit, sowie der körperlichen und geistigen Arbeitsfähigkeit ist nur dann
möglich, wenn die Nahrung jenen Ersatz genügend leistet.
Aus dieser Erwägung erklärt sich das Interesse, welches die öffentliche Gesund¬
heitspflege an den Nahrungsmitteln nimmt, und das Gewicht, welches sie darauf
legt, daß dieselben in ausreichender Menge und von guter Beschaffenheit seien.
Die erforderliche Menge eines Nahrungsmittels hängt wesentlich ab von
seinem Nährwerthe, d.h. von dem Werthe, welchen die Bestandtheile
des Nahrungsmittels für die Ernährung haben. In der Unterrichtsgruppe
der Oesterreichischen Abtheilung und in dem Pavillon des österreichischen
landwirthschaftlichen Ministeriums waren auf der Ausstellung die Nähr¬
werthe verschiedener Nahrungsmittel anschaulich gemacht. Es war nämlich
eine Reihe von gleich weiten Glascylindern ausgestellt, von denen jeder ein
Nahrungsmittel enthielt; durch die Höhe der von ihm dargestellten Säule
wurde die Größe seines Nährwerthes bezeichnet, so daß man eine vergleichende
Uebersicht gewinnen konnte Als Maßstab für die Bezeichnung des Nähr¬
werthes hat man den Gehalt der Nahrungsmittel an Stickstoff angenommen
und der Säule in dem Cylinder die dem Stickstoffgehalte entsprechende Höhe
gegeben. Von dem wissenschaftlichen Standpunkte aus muß man diese,
namentlich in England sehr beliebte, Methode der Darstellung des Nähr¬
werthes als eine einseitige bezeichnen, sie gewährt indeß eine annähernde Vor¬
stellung von der Verschiedenheit desselben. Der Kaiser von Oesterreich war
bei dem Anblicke der Glascylinder sehr überrascht durch den niedrigen Nähr¬
werth des Kommisbrotes und bedauerte lebhaft, daß seine Soldaten auf
dasselbe angewiesen seien.
Dem Mangel an manchen Nahrungsmitteln in dieser oder jener Gegend
sucht man dadurch abzuhelfen, daß man dieselben in unverdorbenen Zustande
dorthin sendet, oder durch ein Extrakt ersetzt, welches die wirksamsten Be¬
standtheile derselben enthält. Ein solches Extrakt ist z, B. das Fleischextrakt,
dessen Ueberschätzung durch eine geschickte Reklame fortdauernd begünstigt
wird. Von den verschiedenen Firmen, welche Fleischextrakt ausgestellt hatten,
behauptet jede, daß ihr Präparat die wirksamsten Bestandtheile des Fleisches
enthalte, und führt den Beweis durch Zeugnisse von berühmten Männern.
Die Conservirung, d.h. die Erhaltung des unverdorbenen Zustandes
bei der Versendung von Nahrungsmitteln wird auf mannigfaltige Art be¬
wirkt. Hierher gehört z. B. die Behandlung des Fleisches mit verschiedenen
Chemikalien, also auch das Pökeln, ferner das Räuchern des Fleisches, das
Condensiren (Eindicken) der Milch, das Einmachen und Conserviren von
Gemüsen, Früchten u. s- w. Die Beschaffenheit des mit Chemikalien be¬
handelten Fleisches in den ausgestellten Gefäßen ließ sich nicht beurtheilen,
da dieselben verschlossen waren. Ich muß indeß, trotz der entgegengesetzten
Behauptungen, daran erinnern, daß bis jetzt kein chemisches Verfahren bekannt
ist, durch welches die Genießbarkeit des Fleisches für längere Zeit erhalten
werden könnte. Die preußische Militärbehörde wird jetzt in Mainz ein
großes Institut für die Herstellung von conservirten Nahrungsmitteln er¬
richten und dadurch von ihrer Fürsorge für die Erhaltung der Gesundheit
der Armee einen neuen Beweis geben. Der öffentlichen Gesundheitspflege
wird jenes Institut großen Nutzen gewähren; denn sie wird die Ergebnisse
der dort anzustellenden Versuche in der Civilbevölkerung verwerthen.
Zweckmäßiges Räuchern kann den Fleischwaaren eine langdauernde Ge¬
nießbarkeit verleihen. Unter den ausgestellten geräucherten Fleisch¬
waaren erwähne ich die amerikanischen Schinken, Speckseiten und Würste
deshalb, weil ich davor warnen möchte, daß man dieselben, bevor sie auf
Trichinen untersucht worden sind, genieße. Diese Warnung ist um so
dringender, als der Import dieser Fleischwaaren aus Amerika sehr zunimmt.
Die Trichinen in dem Fleische werden durch Räuchern nur dann getödtet,
wenn das Räuchern in allen Theilen der Fleischwaare einen genügenden
Grad erreicht. Daß dies bei den amerikanischen Fleischwaaren nicht immer
der Fall ist, lehrt z. B. die in Rostock und Bremen gemachte Erfahrung.
In Bremen sind neuerdings über 20 Personen in Folge des Genusses
amerikanischer Schinken von der Trichinenkrankheit ergriffen worden. Die
Untersuchung ergab zahlreiche lebende Trichinen in den tieferen Theilen der
Schinken, während an der Oberfläche der Schinken die Trichinen getödtet
waren. Bei diesen Schinken hatte man die sogenannte Schnellräucherung
angewendet, welche in Amerika-bei den zu exportirenden Fleischwaaren beliebt
ist und die Trichinen nur an der Oberfläche der Fleischwaaren tödtet. In
Elbing, wo ein sehr bedeutender Import amerikanischer Speckseiten über
Bremen stattfand, sind auf dem Steuer-Packhofe in dem Zeitraume vom
Is. Juli bis zum 22. October 1872 im Ganzen 48 Kisten mit 415 Speck-
seiten untersucht, und unter diesen in 6 Kisten 21 Speckseiten trichinös be¬
funden worden. Oft enthielt ein mikroskopisches Präparat dieses Speckes 20
bis 30 Trichinen. Der Speck war nicht geräuchert, sondern eingesalzen. —
Wenn man da^ wo eine zuverlässige Untersuchung auf Trichinen nicht zu er¬
langen ist, Schweinefleisch genießen will, soll man es in Scheiben schneiden,
welche 2 bis 3 Stunden kochen müssen, damit die Siedhitze sie vollständig
durchdringe und alle Trichinen tödte.
Das Condensiren (Eindicken) der Milch ist dem Interesse der
öffentlichen Gesundheitspflege sehr förderlich. Das Verfahren besteht darin,
daß man eine wässerige Lösung von Zucker kocht, durchseiht und der nur auf¬
gekochten Milch zusetzt. welche alsdann, unter fortwährendem Umrühren bei
einer Temperatur von höchstens 70° C., eingedickt wird. Durch die Conden-
sirung der Milch bezweckt man, ihre wässerigen Bestandtheile, welche in der
Regel 80"/<> betragen, möglichst zu entfernen, ohne daß die Natur der Milch
wesentlich verändert werde; durch den Zusatz von Zucker bringt man die
Milch in einen Zustand, in welchem sie dem Verderben widersteht. Auf diese
Weise wird die Versendung von guter Milch in solchem Maße ermöglicht,
daß einem unter Umständen sehr dringenden Bedürfnisse nach diesem wichtigen
Nahrungsmittel abgeholfen werden kann. In der condensirten Milch sind
alle Nährstoffe enthalten, welche die Natur in der Milch darbietet, weder ein
bluterzeugendes Mittel, noch ein knochenbildendes Mittel, noch ein wärme-
bildendes Mittel geht bei dem Condensiren verloren.
Da zu dem Condensiren nur Milch von gesunden Kühen verwendet
wird, sind wir vor einer Gefahr sicher, welche durch wissenschaftliche Unter-
suchungen neuerdings nachgewiesen worden ist. Der Genuß der Milch von
perlsüchtigen Kühen erzeugt nämlich bei Kälbern, aber auch bei anderen
Thieren, z. B. bei Schweinen, Kaninchen u. s. w.. die Perlsucht, eine Krank¬
heit, welche mit der Skrofelsucht und Tuberkelkrankheit des Menschen
übereinstimmt. Die Besorgniß liegt deshalb nahe genug, daß an der Ent¬
stehung dieser so verderblichen Krankheit des Menschen der Genuß der Milch
von perlsüchtigen Kühen Antheil haben könne. Gerlach, dem das Verdienst
gebührt auf die schädliche Wirkung der Milch perlsüchtiger Kühe aufmerksam
gemacht zu haben, weist darauf hin, daß dieselben in den Milchwirtschaften
häufig vorhanden sind. Da die Milch perlsüchtiger Kühe sich nicht von an¬
derer Milch unterscheiden läßt, kann die Bevölkerung vor der Skrofelsucht
und Schwindsucht in Folge des Genusses von perlsüchtiger Milch nur da-
durch geschützt werden, daß ein verständiger Thierarzt die Milchwirthschaften
öfter untersucht.
Die Condenfirung der Milch wird fabrikmäßig betrieben, namentlich in
der Schweiz und in Baiern. Aus beiden Ländern waren Proben von con-
densirter Milch ausgestellt.
Unter den ausgestellten Proben von Pfeffergurken sah ich einige,
bei denen ich dem Verdachte Raum gab, daß ihre schöne grüne Farbe von
Kupfer herrühre, was, wie die Erfahrung lehrt, schon öfter Vergiftungs¬
erscheinungen hervorgerufen hat. Harmloser ist die von Berlinerblau und
Gelbholz herrührende künstliche Farbe mancher ausgestellter The es orten;
man war so naiv, bei denselben diese Farbstoffe mit auszustellen. Manche
niedere Theesorten sahen so aus, als ob sie größtentheils aus jungen Weiden¬
blättern beständen. Die Verfälschung von Thee durch den Zusatz von
Weidenblättern, welche ihm ein größeres Gewicht und eine bessere Farbe ver¬
leihen sollen, hat in neuerer Zeit eine große Verbreitung erlangt. Der Zusatz
beträgt bisweilen über 20°/y und ist nicht leicht zu erkennen. Er dürfte den
englischen „tea-totallers" nicht günstig sein, welche jedes geistige Getränk,
sogar den Abendmahlswein, durch Thee ersetzen wollen.
Wie sehr die Producenten von geistigen Getränken darauf bedacht
sind deren Genuß zu empfehlen, zeigten die so zahlreich ausgestellten Flaschen,
in denen diese enthalten waren. Da die Flaschen versiegelt waren, blieb die
Beschaffenheit ihres Inhaltes unbekannt. Manche Liqueure sahen ganz so
aus, als ob sie mit Anilin gefärbt wären, was jetzt gar nicht selten geschieht.
Der Umstand, daß Anilin sehr häufig arsenhaltig ist, zeigt, wie verwerflich
eine solche Färbung ist. Ob unter den ausgestellten Biersorten auch solche
waren, in denen man das Malz durch Glycerin, den Hopfen durch einen
gesundheitsschädlichen Bitterstoff ersetzt, vermag ich nicht anzugeben. Ich
möchte aber daran erinnern, daß ein solcher Ersatz leider eine immer all¬
gemeiner um sich greifende Verbreitung findet. Namentlich gilt das von dem
Ersatze des Hopfens durch die direct giftigen Kokkelskörner und die noch
giftigere Pikrinsäure. Die Kokkelskörner und Pikrinsäure empfehlen sich den
Brauern und Schankwirthen nicht nur dadurch, daß sie dem Biere einen
bittern kräftigen Geschmack verleihen und die Farbe verbessern, sondern auch
dadurch, daß die Kokkelskörner dem Biere eine berauschende Kraft geben, und
die Pikrinsäure die Dauerhaftigkeit des Bieres erhöht. Um nur ein Beispiel
— aus dem Auslande — anzuführen, welches den ungeheuern Verbrauch von
Kokkelskörnern zeigt, erwähne ich, daß, nach amtlicher Ermittelung, im Jahre
1862 in Petersburg jährlich mehr als 400 Centner Kokkelskörner eingeführt
wurden, und daß in England schon im Jahre 18ö0 die Einfuhr 23L9 Centner
betrug; die ganze Menge wurde zur Verfälschung des Bieres verwendet.
Wenn wir an die außerordentlich große und immer mehr anwachsende
Menge des Verbrauches von bitterschmeckendem Biere denken, dürfen wir, in
dem Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege, es wohl an der Zeit erachten,
daß die Aufsichtsbehörde eine häufige und zuverlässige Bieruntersuchung
einführe.
Das wichtigste Getränk ist das Wasser. Die Wichtigkeit des Wassers
liegt indeß nicht allein in seiner Beziehung zu dem thierischen Stoffwechsel,
sondern auch in den Diensten, welche dasselbe der Reinlichkeit, dem Haushalte,
dem Gewerbebetriebe u. s. w. leistet.
Das Trinkwasser verdient dann als gutes bezeichnet zu werden, wenn
es klar und kühl ist, einen erfrischenden, reinen, keine fremdartigen Bestand¬
theile verrathenden Geschmack hat und rücksichtlich seiner chemischen Beschaffen¬
heit sich innerhalb derjenigen Grenzen hält, innerhalb welcher, wie die Unter¬
suchung von anerkannt guten Trinkwassern gelehrt hat, die Bestandtheile der
letzteren sich bewegen. Dieser Untersuchung zufolge enthält ein gutes Trink¬
wasser in 10.000 Theilen: Glührückstand 1.0 bis 3.0; organische Substanz
0.10 bis 0 50; Salpetersäure höchstens 0.04; Chlor 0.02 bis 0.63. Die
Härte eines guten Trinkwassers beträgt höchstens 18 Grade, d. h. (nach Fehling)
in 100 Kubikmeter Wasser dürfen höchstens 18 Milligram Kalk oder Mag¬
nesia enthalten sein.
Die öffentliche Gesundheitspflege fordert, daß das Wasser frei von
gesundheitsschädlichen Stoffen, d. h. rein sei und daß es in hinreichen¬
der Menge sich darbiete. Vorrichtungen, welche dieser Forderung ent¬
sprechen, waren zahlreich ausgestellt. Die fremdartigen Stoffe in dem
Wasser sind bekanntlich entweder suspendirt oder gelöst. Das beste Mittel,
die suspendirten Stoffe zu entfernen, besteht in dem Filtriren des
Wassers. Von einem guten Filter muß verlangt werden, daß es alle
suspendirten Stoffe des durchsickernden Wassers zurückhalte, und daß eine
Anhäufung derselben in dem Filter sich vollständig und leicht beseitigen lasse.
Das Auswaschen des Filters ist nicht immer im Stande es vollständig zu
reinigen. Denn die in dem Wasser vorhandenen organischen Stoffe können
dem Filter so fest anhaften, daß sie nur durch Zerstörung, sei es mit Chemi¬
kalien, sei es mit Hitze, beseitigt werden können. Auf solche Weise müßte
namentlich dann die Reinigung erfolgen, wenn das Filter aus einer von den
verschiedenen kohlehaltigen Compositionen bereitet ist. Der Umstand, daß die
Kohlenfilter jenes Reinigungsverfahren nicht zulassen, verkürzt die Dauer
ihrer Brauchbarkeit und verringert ihren Werth. Dieser Uebelstand der
Kohlensilter ist sehr zu bedauern, denn die das Wasser verurueinigenden
Stoffe werden von der Kohle wirksamer entfernt als von jeder anderen
siltrirenden Substanz. Bei dem Sandfilter ist jenes Reinigungsverfahren
nicht nothwendig, weil man den Sand, sobald er mit den fremden Stoffen
des Wassers überladen ist, durch reinen Sand ersetzen kann.
Die wirksamste Reinigung des Wassers besteht in der Destillation;
denn sie befreit es nicht nur von den suspendirten, sondern auch von den in
Lösung vorhandenen fremden Stoffen. Die Siedehitze, welcher das Wasser
bei der Destillation ausgesetzt wird, tödtet alle in ihm enthaltenen lebens¬
fähigen Organismen; bei zweckmäßiger Destillation führt der Wasserdampf
keine fremdartigen Stoffe mit sich und liefert, bei der Verdichtung durch
Kälte, ein ganz reines Wasser. Dieses aber schmeckt fade und wird mit der
Zeit ekelhaft, weil ihm der erfrischende Geschmack fehlt, welchen die Kohlen¬
säure dem rohen Wasser verleiht. Destillirtes Wasser längere Zeit hindurch
zu genießen, kostet deshalb große Ueberwindung; dies bestätigte sich z. B.
öfter auf Schiffen, auf denen destillirtes Wasser aus dem Meerwasser dar¬
gestellt wurde, auch bestätigte es sich neuerdings in Magdeburg, wo während
der Choleraepidemie der Genuß von destillirtem Wasser allgemein verbreitet
war. Sehr empfehlenswert!) ist der Ersatz von unreinem Wasser durch solches
destillirtes Wasser, in welches man Kohlensäure eingeleitet hat. Indeß darf
man nicht glauben, daß durch das Einleiten von Kohlensäure in rohes
Wasser die gesundheitsschädliche Wirkung seiner Verunreinigung verringert
werde. Dies gilt auch von dem künstlichen Seller- und Sodawasser, wenn
man bei dessen Darstellung sich auf das Einleiten von Kohlensäure in rohes
Wasser beschränkt.
Die Reinigung des Wassers durch die verschiedenen in Anwendung ge¬
kommenen Chemikalien ist nicht empfehlenswert!) und nur in Fällen dringender
Noth statthaft.
Wenn wir nach diesen Gesichtspunkten die ausgestellt gewesenen Appa¬
rate für die Reinigung des Wassers beurtheilen, finden wir, daß dieselben
einen wesentlichen Fortschritt nicht bekundeten.
Sehr erfreulich ist dagegen der Fortschritt, welchen die ausgestellten Pläne
der Wasserversorgun g von der „rauhen Alb" in Würtemberg. von Paris
und von Wien zur Anschauung brachren. Sie zeigten, wie von der fern¬
gelegenen Bezugsquelle bis zu dem Verwendungsorte die Zuleitung, Ansamm¬
lung und Verkeilung des Wassers bald durch das natürliche Gefäll, bald
durch Wasserkraft oder Dampfkraft bewirkt wird. Bei der durch Modelle
und Abbildungen erläuterten Pariser Wasserversorgung imponirte
besonders die Quellwasserleitung aus dem Vannethale, welche, ebenso wie die
Wiener Hochquellenleitung aus den Alpen, durch ihre Großartigkeit und durch
ihre Ausführung sogar die Wasserleitungen der Alten übertrifft. Ein Kanal¬
netz sammelt in der Champagne die Quelle der Somme und Soude und
führt das Wasser in einen mehr als 25 Deutsche Meilen langen Aquädukt,
welcher über Flüsse und Ebenen, über Berge und Thäler hinläuft, in einer
Höhe von M. vor Pans anlangt und täglich 100,000 Kubikmeter aus-
gezeichneten Trinkwassers liefert, also die Hälfte des gesammten Wasserbedarfes
von Paris.
Die seit dem 24. October 1873 eröffnete Wasserleitung von Wien
vereinigt die Alpenquellen des Kaiserbrunnens in dem Höllenthale in der
Nähe des Schneeberges mit der Stixensteiner Quelle und wird später noch
die Altaquelle bei Brunn in Steinfeld aufnehmen.*) Zur Veranschaulichung
der Großartigkeit dieser Wasserleitung genügen wenige Anführungen. Der
Aquädukt leitet das Alpenwasser auf einer 13 Meilen langen Strecke, über¬
brückt Thäler und durchbricht 16 mal Felsen und Bergrücken, durch welche er
in Stollen geführt ist. Die Gesammtlänge der Stollen beträgt 4404.86
Klafter, diejenige des Wasserleitungskanales, mit Einschluß der Stollen,
Thalübersetzungen u. s. w. 30367.713 Klafter. Das der Sammlung und
Ableitung der Quellen dienende Wasserschloß am Kaiserbrunnen hat einen
Rauminhalt von 18000 Kubikfuß, dasjenige zu Stixenstein faßt 9000 Kubik-
fuß. Die Kanaltracen von dem Kaiserbrunnen und der Stixensteiner Quelle
vereinigen sich bei Ternitz (Se. Johann). Das Wasser aus dem Aquädukts-
kanale wird zunächst aufgenommen von einem aus zwei gesonderten Hälften
bestehenden unterirdischen Reservoir, auf dem Rosenhügel bei Speising, welches
72,000 Kubikfuß (40,178 Eimer) Wasser faßt. Von diesem Reservoir fließt
das Wasser durch 33- und 36-zottige gußeiserne Röhren in die beiden Reser¬
voirs bei Schmelz und am Wienerberg, von denen jenes 334,800, dieses
134,400 Kubikfuß Wasser faßt; aus diesen beiden Reservoirs entspringt das
die Stadt Wien durchziehende Röhrennetz.
Die Wiener Hochquettenleitung liefert täglich 800,000 Eimer Wasser und
kann, wenn man noch ^/z Million Gulden anwendet, 1,200,000 Eimer täglich
liefern. Das Wasser entspricht vollkommen den vorstehend bezeichneten An¬
forderungen an ein gutes Trinkwasser. I. Habermann und H. Weltei
(Wiener med. Wochenschrift 1874. Ur. 10) fanden, daß in dem aus dem
Reservoir am Rosenhügel geschöpften Wasser, dessen Temperatur, bei 10.3
Lufttemperatur, 9.5- C. betrug, enthalten waren: Glührückstand 1.767,
organische Substanz 0.129, Salpetersäure 0, Chlor 0.013. Schwefelsäure
0.124; die Härte betrug 8.6°. — Ob der Genuß des Wassers Kröpfe erzeugen
wird, wie bei den Alpenbewohnern, weiß man noch nicht.
Die Reinheit verdankt das Hochquellwasser nicht nur dem Umstände, daß
es aus dem Boden keine fremdartigen Bestandtheile aufnimmt, sondern auch
der Gebirgsluft, welche frei von solchen fremdartigen Beimischungen ist, die
das Wasser an anderen Orten aus der Luft aufnimmt.
Da, wo man gutes Trinkwasser schnell aufschließen („erschroken") will.
ist das amerikanische Brunnen-Abtäufungssystem sehr zu em¬
pfehlen. Dieses System wurde bekanntlich von Norton in dem nordameri¬
kanischen Bürgerkriege zuerst angewendet und bewährte sich später bei der
englischen Expedition in Avessynien *). Der Norton'sche Senkbrunnen war
durch verschiedene Exemplare auf der Ausstellung vertreten. Den Brunnen¬
schacht bildet ein eisernes gewöhnlich nur 12 Fuß langes, 1^/2 Zoll im Durch¬
messer haltendes, an dem unteren Ende spitz zulaufendes Rohr, welches von
der Spitze bis 16 oder 20 Zoll aufwärts mit Löchern versehen ist. Die
Wandfläche beträgt V» Zoll. Das spitzige Ende ist entweder kegelförmig oder
pyramidal; die Löcher sind entweder offen oder enthalten ein kleines Sieb.
Manches Rohr hatte an dem spitzen Ende eine Erdschraube, vermittelst welcher
man es in den Erdboden hineindrehen kann; wenn eine solche nicht angebracht
ist, wird das Rohr durch eine Rammvorrichtung in den Boden getrieben.
Dadurch, daß man ein Rohr auf das andere setzt, kann man in beträcht¬
licher Tiefe das Wasser aufschließen; so hat man z. B. in Nordamerika solche
Brunnen bis zu 120' Tiefe getrieben. Bei festem Boden hat man in kaum
1^/2 Stunden den Brunnen eingetrieben. Durch die Löcher des verjüngten
Endes tritt zuerst Erde in den Brunnen ein, dann folgt Wasser nach. Der
Brunnen hat den Vorzug, daß das von ihm gelieferte Wasser stets rein,
kalt und frisch bleibt. Die bei der Herstellung anderer Brunnen bisweilen
vorkommenden schädlichen Gase, Verschüttungen u. f. w. sind bei den
Norton'schen Brunnen selbstverständlich ausgeschlossen. Auch bei anstehenden
Gestein läßt dieser sich herstellen, nur muß man alsdann ein Bohrloch ab-
bohren, bevor man das Rohr einzieht.
(Generalstabswerk. Fünftes Heft.)
Das 1. Kapitel des 5. Heftes schildert die Ereignisse bei der 1.
und II. Armee am Is. und 16. August bis zur Schlacht bei
Vionville-Mars la Tour.
Am Morgen des 15. August begab sich S. Majestät der König nach
dem Schlachtfelde von Colombey - Nouilly und traf dort nach 10 Uhr mit
General v. Steinmetz zusammen. Man gewann sehr bald die Anschauung,
daß östlich von Metz keine größeren Streitkräfte des Feindes mehr ständen,
und da es unter diesen Umständen von Wichtigkeit wurde, nun auch
die I. Armee so bald als möglich auf das linke Moselufer hinüber zu
ziehen, so wurden den Corps desselben die entsprechenden Marschrichtungen
angewiesen.
An demselben Morgen ging dem in Pont u Moussou weilenden Haupt¬
quartier der II. Armee telegraphisch die Nachricht von der Schlacht bei Colom-
bey-Nouilly nebst der Weisung zu, den Feind auf der Straße Metz-Verdun
zu verfolgen. Sofort wurde die 6. Kavallerie-Division gegen diese Straße
und gegen die Festung vorgesandt, um sich zu überzeugen, wie es mit dem
Abzüge der Franzosen aus Metz stände, und um Verbindung mit der Kavallerie
der I. Armee zu suchen. Um der Kavallerie als Rückhalt zu dienen, wurden
zugleich die beiden Infanterie-Divisionen des X. Corps gegen Nordwesten vor¬
geschoben und dem kommandirenden General dieses Corps auch die Garde-
Dragoner-Brigade zur Verfügung gestellt. Gegenüber diesen Heereskörpern
hatte die französische Kavallerie-Division Forton den Auftrag erhalten, die
Straße über Mars la Tour aufzuklären. Als dieselbe mit den Spitzen der
preußischen Reiterei in das Gefecht kam, wurde ihr von der Kavallerie-Divi¬
sion Vallabrigue von Frossard's Corps fecundirt, und so verging hier der
Tag in regen Recognoscirungskämpfen, nach deren Abbruch die beiden fran¬
zösischen Kavallerie-Divisionen Biwaks östlich von Vionville, die preußische
Reiterei auf beiden Seiten der großen Straße westlich und gegenüber von
Mars la Tour bezog. — Das III. Corps wurde angewiesen, den Vormarsch
nach der Mosel fortzusetzen und bezog nach sehr beschwerlichem Marsche gegen
1 Uhr Nachts Biwaks bei Pagny und Arnaville. Das IX. Armee-Corps
gelangte bis in die Gegend von Verny, das XII. großentheils nach Nomeny
an der senke und das II. in die Gegend von Han sur Nied. Die 6. Kavallerie-
Division setzte indessen ihre Beobachtungen gegen Metz auf beiden Ufern der
senke fort. — Auf dem linken Flügel der II. Armee überschritten im Laufe
des 18. August beide Garde-Jnfanterie-Divisionen die Mosel bei Dieulouard;
die Garde-Dragoner-Brigade ging nach Thiaucourt, die Kürassier-Brigade
nach Berne'court, die Ulanen bis Me'nil la Tour. Das IV. Corps erreichte
Marbache und Custines. Die Bayern endlich waren im Anmarsch auf Nancy
und Se. Nicolas begriffen. Das XI. Corps stand bei Bayou.
Eine Uebersichtskarte für den 15. August Abends i. M.
1:200,000, Welche von Straßburg bis Etain und von Diedenhofen bis Bayou
reicht, veranschaulicht die Stellung der Truppen an diesem Vorabende der
wichtigsten Ereignisse sehr gut.
Für den 16. August hatte General v. Moltke am 16. Abends 6^/-, Uhr
Direktiven an die Oberkommandos der I. und II. Armee erlassen, deren Haupt¬
inhalt folgender war:
„So lange die Stärke der in Metz zurückgebliebenen feindlichen Streit¬
kräfte noch nicht festgestellt ist, hat die I. Armee ein Corps in der Gegend
von Courcelles zu belassen. Die beiden übrigen Corps nehmen am 16. Stellung
auf der Linie Arry-Pommerieux zwischen sende und Mosel. Die Verhält¬
nisse, unter welchen das I. und VII. Armee-Corps sowie Theile der 18. Divi¬
sion gestern Abend einen Sieg erfochten, schlössen jede Verfolgung aus.
Die Früchte des Sieges find nur durch eine kräftige Offensive der II. Armee
gegen die Straßen von Metz über Fresnes und über Etain noch Verdun zu
ernten. Dem Ober-Kommando der II. Armee bleibt es überlassen, eine solche
mit allen verfügbaren Mitteln nach eigenem Ermessen zu führen."
Nach Empfang dieses Schreibens befahl General Steinmetz für den 16.
den Vormarsch des VIII. Corps nach Lorry und Arry an der Mosel, den
des VII. Corps nach Pommeruux, den der 1. Kavallerie-Division nach Fey.
Das I. Corps wurde bestimmt, die vorgeschriebene Stellung gegen Metz bei
Courcelles sur Nied zu nehmen und namentlich auch den dortigen Bahnhof zu
sichern, der als nunmehriger Magazinpunkc der Armee in ausredender Weise
gegen Metz zu decken war; die 3. Kavallerie-Division sollte das I. Corps mit
den übrigen Theilen der Armee verbinden.
Das VIII. Corps setzte sich am 16. früh in der angewiesenen Richtung
in Marsch; als aber die 16. Division mittags bei Arry eintraf, bemerkte sie
bei Gorze die Anzeichen eines heftig hin- und herwogenden Gefechtes. Man
erfuhr, daß dort das III. Corps in heißem und ungleichem Kampfe stehe und
bereits Munitionsmangel leide, und sofort erbat und erhielt General v. Bar-
nekow die Erlaubniß, dem III. Corps zu Hilfe zu eilen. — In welcher Weise
dies geschah, wird später geschildert. — Am Abend des 16. August waren
zwei Armee-Corps und eine Kavallerie-Division der I. Armee auf dem engen
Raume zwischen senke und Mosel vereinigt und zum Ueberschreiten des letz'
deren Flusses bereit. Die 3. Kavallerie-Division biwakirte bei Mecleuves;
die Brigade Graf Gneisenau, welche am 13. August einen vergeblichen Ver¬
such auf Diedenhofen gemacht hatte, hatte Courcelles erreicht.
Die Befehle, welche Prinz Friedrich Karl seiner Armee für den 16. er¬
theilte, beruhten auf der Ueberzeugung, daß ein eiliger Rückzug der franzö¬
sischen Armee nach der Maas bereits in vollem Gange und daß es daher
nothwendig sei, dem Gegner zu folgen.
Das III. und X. Corps mit der Garde-Dragoner-Brigade und der L.
und 6. Kavallerie-Division, wurden zu einem größeren Vorstöße gegen die
Straße nach Berdun bestimmt. Das IX. Corps soll Sillegny erreichen, um
am 17. dem III. Corps auf Gorze zu folgen, während die Hauptmassen der
Armee (das XII., IV- und II. Corps, sowie die vorgeschobenen Kavallerie-
Divisionen) die Mosel überschreiten sollten, um in westlicher Richtung gegen
die Maas vorzugehn.
- Der Schwerpunkt der Bewegungen war also in die Rich¬
tung gegen die Maas gelegt; an diesem Flusse hoffte man vermöge
der Marschfähigkeit der deutschen Truppen den Feind zu erreichen.
„Die Nachrichten, welche im Laufe des 15. August von der 5. Kavallerie-
Division eingegangen waren, hatten also die wirkliche Sachlage noch nicht
klar dargelegt," und man glaubte annehmen zu dürfen, durch Entsendung von
zwei Armee-Corps und zwei Kavallerie-Divisionen in der Richtung auf die
Straße Metz-Verdun den Directiven des großen Hauptquartiers ausreichend
genügt zu haben.
Beim französischen Heere war am 13. August der durch die Schlacht von
Colombey-Nouilly unterbrochene Abmarsch wieder aufgenommen worden.
Zur Sicherung desselben waren zwei Kavallerie-Divisionen über Gravelotte
hinaus vorgeschoben. Am 16. morgens verließ der Kaiser die Armee. An
demselben Morgen sollte auch der Rückzug der Armee fortgesetzt werden. Der
linke Flügel war dazu völlig bereit, der rechte hingegen stand mit drei Divi¬
sionen noch im Moselthale. Marschall Leboeuf beantragte unter diesen Um¬
ständen, daß der Weitermarsch bis zur Mittagsstunde verschoben werden
möge; Bazaine ging darauf ein, und die Heerestheile des linken Flügels er¬
hielten Befehl, ihre Zelte wieder aufzuschlagen: „es werde wol erst am Nach¬
mittage aufgebrochen werden."
Die eben verlassenen Lagerstellen wurden nun wieder bezogen. Am
weitesten vorgeschoben stand die Dragoner-Brigade Prinz Murat bei Vton-
ville; zwischen diesem Ort und Rezonville befanden sich die Kürassierbrigade
Grämont und die Kavallerie-Division Valabregue. Unmittelbar westlich von
Rezonville lagerten das II. und VI. Corps; bet Se. Marcel reihte sich der
Division Tirier das III. Corps an. Die Garde stand bei Gravelotte.
„Während in dieser Weise der linke Flügel der französischen Armee einst¬
weilen ruhte, setzten sich die im Moselthal verbliebenen Divisionen des rechten
Flügels in Marsch; Generalstabsoffiziere wären dort damit beschäftigt,
Ordnung in die Trains zu bringen und die Straßen frei zu machen, als um
9 Uhr morgens der Donner der Kanonen einen Angriff der Deutschen
verkündete.
Ungeachtet dieser Uebelstände war für die Franzosen die Sachlage noch
keineswegs bedenklich. Ein Vorrücken der I. deutschen Armee in grader Rich-
tung von Osten her hinderte die Festung; gegen einen Angriff von Süden
standen drei französische Corps bereit. In der linken Flanke sicher angelehnt,
hatten sie auf dem rechten Flügel eine starke Kavallerie und hinter sich, nur
'/z Meile entfernt, den größten Theil des III. Corps. — Auch die noch im
Anrücken aus dem Moselthal begriffenen Divisionen konnten jedenfalls im
Laufe des Tages das Schlachtfeld erreichen, und man durfte ferner voraus¬
setzen, daß man vorerst nur mit einem Theil der deutschen II. Armee zu
thun haben werde. Ein entschiedener und kräftiger Angriff des sonst ver¬
sammelten französischen Heeres gegen diesen letzteren hätte den weiteren Abzug
hinter die Maas offenbar am besten gesichert."
Das 2. Kapitel des 5. Heftes ist in seinen 100 Seiten durchaus der Dar¬
stellung der Schlacht von V lo n ville - Ma rs la Tour gewidmet, auf
welche in diesen Blättern ebenso wie auf die Schlacht von Colombey-Nouilly
nur in soweit eingegangen werden kann, als einige der Hauptgesichtspunkte
angegeben werden, auf die es bei Betrachtung dieser großartigen und furcht¬
baren Schlacht vorzugsweise ankommen dürfte.
Der erste Abschnitt der Schlacht von Monville-Mars-la-Tour reicht bis
8 Uhr nachmittags. Er beginnt mit dem „Auftreten der S. und 6. Ka¬
vallerie-Division (8 — 10 Uhr morgen s)". — In der Frühe ist die
8. Kavallerie-Division zur gewaltsamen Rekognoscirung der bei Rezonville ve-
merkvarengroßen Truppenlager des Feindes bestimmt. Sie geht von Mars
la Tour aus ostwärts vor, und mit dieser Bewegung beginnen jene eigenthüm¬
lichen strategischen Beziehungen, welche dahin führten, daß die Schlachten von
Vionville-Mars la Tour und die von Gravelotte mit verkehrter Front, mit
dem Antlitz nach Deutschland zu geschlagen wurden. Die der 6. Kavallerie-
Division beigegebenen 4 reitenden Batterien unter einheitlicher Führung des
Major Körber, gewinnen in schneller Gangart die Höhe nordöstlich Tronville
und überraschen mit lebhaftem Feuer ein feindliches Kavallerie-Lager, aus
welchem sorglos eben mehrere Schwadronen zur Tränke reiten. Eine Panik
ergreift die feindliche Kavallerie; sie wirft sich rückwärts in wilder Auflösung,
durchjagt die hinterliegenden Lager des II. und VI. Korps, nur verfolgt durch
Granaten, welche von einer zweiten Artillerie-Position westlich Vionville auch
die Infanterie-Lager alsbald erreichten.
Fast gleichzeitig eröffnet die reitende Batterie der über Gorze anrückenden
6. Kavallerie-Division von Süden her ihr Feuer.
„Ein augenblickliches Zusammenwirken beider Kavallerie-Divisionen war
somit eingetreten. In weitem, gegen Nordosten geöffnetem Halbkreise um-
schlossen sie den Höhenrand, gegen welchen jetzt aber vom Mittelpunkte Rezon¬
ville aus die französische Infanterie strahlenförmig zum Angriffe vorging."
Eine theilweise Rückzugsbewegung der preußischen Kavallerie war hierdurch
geboten.
„Zu dieser Zeit erschienen (es war gegen 10 Uhr) auf den äußersten
Flügeln des von der Kavallerie gebildeten großen Bogens die vordersten
Spitzen der 3. und 6. Infanterie-Division. Von Gorze und von Tronville
her anrückend, betraten sie den Rand der Hochfläche. — Es konnte anfangs
auf preußischer Seite noch die Ansicht obwalten, daß man es hier nur mit
einer ungewöhnlich starken Arneregarde der auf den nördlichen Straßen ab¬
ziehenden französischen Armee zu thun habe; doch schon der Verlauf der
nächsten Stunden lehrte, daß in der That der größere Theil des Heeres auf
der südlichen Straße stand, welche die gerade Richtung nach Verdun etnhält.
Diesen weit überlegenen Feind ohne Aussicht auf baldige und nachhaltige
Unterstützung anzugreifen, war die Aufgabe, welche der Kommandirende
General v. Alvensleben seinem Armee-Korps stellte, welche er und seine
Truppen mit eiserner Ausdauer durchführten."
Nun begannen „die Kämpfe des III. Armee-Eorps bis zur
Mittagsstunde," deren gewaltigste Steigerung der Angriff auf Vionville
und die Eroberung dieses Dorfes ist. „Die von Anfang an bestehende
Trennung der beiden Divisionen des III. Armee-Corps und ihr Angriff von
verschiedenen Seiten her hatten eine große Ausdehnung der Gefechtsfront
herbeigeführt. Dieselbe war zwar durch das siegreiche Vordringen von Süden
und Westen erheblich vermindert worden; aber fast die gesammte Infanterie
und Artillerie befand sich bereits in vorderster Linie und im Kampfe gegen
überlegene Streitkräfte ohne Aussicht auf baldige Unterstützung." Um den
Mangel an Reserven einigermaßen zu ersetzen, wurden die S. und 6. Kavallerie-
Division hinter der Infanterie versammelt. Beide Reitermassen standen ver¬
deckt und jeden Augenblick bereit, der fechtenden Infanterie die etwa nöthige
Unterstützung zu bringen.
Die zahlreiche feindliche Artillerie auf den Höhen an der Römerstraße
hielt seit dem Verlust von Vionville dies Dorf unter so heftigem Feuer, daß
der Besitz desselben nur durch ein weiteres Vordringen gesichert werden konnte.
„Bei diesem Vorgehn auf der fast gänzlich unbedeckten Hochfläche gegen die
breit entwickelte Front der Franzosen entbrannte sogleich ein hartnäckiger
Kampf, in dessen blutigem Hin- und Herwogen die einheitliche Leitung bald
aufhörte. Die Umsicht der unteren Führer und die Tapferkeit der Einzelnen
trat an ihre Stelle. Je nachdem die Bodenverhältnisse, das feindliche Strich¬
feuer, die augenblickliche Eingebung der Offiziere es mit sich bringen, werden
die auseinandergezogenen Compagniekolonnen hierhin und dorthin getrieben
und untereinander gemischt. Versprengte schließen sich an Versprengte und
greifen nach besten Kräften wieder in das Gefecht ein. Nach langem und
heißem Ringen sind die Preußen etwa 1000 Schritt wett in östlicher Richtung
vorgedrungen und endlich wendet sich der Gegner zum Rückzüge." Nun wird
Flavigny in Besitz genommen, und dieser Ort bildet fortan den Mittelpunkt
der Schlachtlinie des III. Armee-Corps. Der weite Bogen, in welchem die
preußischen Truppen die Hochfläche von Rezonville anfänglich umspannt
hatten, war zu einer Sehne abgekürzt, auf welcher das Corps allen ferneren
Angriffen des überlegenen Gegners einen heldenmütigen Widerstand ent¬
gegensetzte.
Vom X. Armee-Corps, dessen ursprüngliche Marschrichtung im All¬
gemeinen auf Se. Hilaire ging, befand sich jetzt nur die 37. Brigade auf dem
Schlachtfelde. Mit dem kleineren Theile derselben war Oberst v. Lyneker seit
11 Uhr in das Gefecht der 5. Infanterie-Division eingetreten; den Rest der
Brigade hatte Oberst Lehmann über Chambley gegen 12 Uhr herangeführt
und wurde bald darauf zur Sicherung der bedrohten linken Flanke in die
Tronviller Büsche gezogen.
Die Stellung der beiderseitigen Armeen in der Mittagsstunde ist in dem
Generalstabswerke durch einen großen vortrefflichen Plan zur Anschauung
gebracht, der in demselben Maaßstabe und in derselben Ausstattung her¬
gestellt ist, wie der im vorigen Hefte charakterisirte Plan der Schlacht von
Colombey-Nouilly.
In die Zeit von 12 bis 3 Uhr fallen dann die berühmten „Kavallerie¬
kämpfe auf der Hochfläche von Rezonville und das Eingreifen
preußischer und französischer Verstärkungen."
Auf französischer Seite scheint es dem Marschall Bazaine seltsamerweise
vor Allem darum zu thun gewesen zu sein, nicht von Metz abgedrängt zu
werden; eine dahin zielende Absicht glaubte er nämlich in dem Vorgehn der
Preußen zu erkennen. An dieser irrthümlichen, ja verkehrten Auffassung im
Laufe des ganzen Tages festhaltend, richtete der Marschall sein Augenmerk
vorzugsweise gegen die südlich von Gravelotte und Rezonville sich aus¬
dehnenden Waldungen, von welcher Seite er eine Umgehung besonders be¬
fürchtete. So kam es, daß anfänglich die gesammten Garden und ein Theil
des VI. Corps auf einem Abschnitte des Schlachtfeldes aufgestellt wurden,
gegen welchen ein ernstlicher Angriff überhaupt nicht erfolgte.
In der eigentlichen Front der Franzosen aber erschienen die bisherigen
Maaßregeln ungenügend. Das III. und IV. Corps erhielten Befehl, sich
dem rechten Flügel der Schlachtlinie anzureihen, und um nach der Wegnahme
Flavignys das Gefecht des II. Corps wiederherzustellen, wurden zwei Kavallerie-
Regimenter zur Attacke vorgesandt. Das eine, die 3. Lanziers, kehren bald
wieder um, „weil ihnen kein bestimmtes Angriffsziel bezeichnet sei"; das an¬
dere, die Garde-Kürassiere, attaquiren mit der höchsten Bravour; aber zwei
Musketier-Compagnien des Regiments No. 52 wiesen sie furchtbar zurück.
22 Offiziere und 208 Kürassiere kostet den Franzosen der Reiterangriff aus
das märkische Fußvolk. Braunschweigische und 11er Husaren folgen den
Flüchtigen, reiten in eine französische Gardebattene, welche Bazaine soeben
selbst in Position geführt und nur durch Zufall entgeht der Marschall der
Gefangenschaft. (Ein Glücksfall ist das nicht für ihn gewesen.) Auch die
6. Kavallerie-Division war inzwischen vorgegangen; aber sie fand sich, als
sie die Hochfläche erstiegen, nicht mehr fliehenden Abtheilungen, sondern
frischen und geschlossenen Truppenkörpern gegenüber; denn inzwischen hatte
Bazaine die Grenadier-Division Picard herangezogen, um an Stelle des ge¬
schlagenen II. Corps zu treten. Unter diesen Umständen mußte die Kavallerie-
Division wieder zurückgehen; aber ihr Avanciren war doch von Nutzen ge¬
wesen, da es der Artillerie die erwünschte Gelegenheit geboten hatte, weiter
vorwärts Stellung zu nehmen.
Auch dem Vordringen der 6. Infanterie-Division längs der Nezonviller
Chaussee war sehr bald ein von frischen Kräften getragener Widerstand ent¬
gegengetreten, indem Marschall Canrobert sie durch eine Halblinksschwenkung
seines Corps und gleichzeitige Verlängerung seines rechten Flügels nöthigte,
Front gegen Norden zu machen. Während nun die Bataillone der Division
hier schon einen schweren Stand hatten, erschienen im Norden von Se. Marcel
neue ansehnliche Truppenmassen, welche sich gegen die linke Flanke der
preußischen Schlachtlinie vorbewegten. Zur Abwendung dieser drohenden
Gefahr verfügte man nur noch über die Halbbrigade des Obersten Lehmann,
welche nun angewiesen wurde, die Tronviller Büsche zu besetzen. Mit seltener
Zähigkeit hielten die braven Oldenburger und Ostfriesen diesen Stützpunkt
des linken Flügels dem umfassenden französischen 3. Corps gegenüber bis
zum Eintreffen der 20. Division fest.
Marschall Canrobert hatte bis jetzt alle Versuche, ihn aus seiner Stellung
zu verdrängen, mit Erfolg zurückgewiesen; er bemerkte, wie das Feuer der
ihm gegenüberstehenden Preußen immer schwächer wurde und allem Anschein
nach deren Kräfte zu erlahmen begannen. Durch das Einrücken frischer
Truppen in seiner Linken gedeckt, zur Rechten der baldigen Mitwirkung des
III. und IV. Corps gewiß, beschloß der Marschall die Gunst der Umstände
zu benutzen, und mit seiner ganzen Kraft gegen Vionville vorzubrechen. Für
den General v. Alvensleben handelte es sich jetzt darum, von der ungeheueren
Uebermacht des Feindes nicht erdrückt zu werden. „Denn es war erst 2 Uhr
nachmittags, der Tag also noch lang, keine Infanterie, kein Geschütz mehr
in Reserve, und die nächste Unterstützung, die 20. Division, noch weit entfernt.
Da galt es denn zu versuchen, was opferwillige Kavallerie vermag; denn
solche allein war noch zur Hand, um sich dem vom Marschall Canrobert
eingeleiteten Angriffe entgegenzuwerfen." — General v. Alvensleben giebt der
Kavallerie-Brigade Bredow auf, der 6. Infanterie-Division Luft zu machen —,
die Batterien an der Römerstraße zu attackiren, und es beginnt der heroische
„Todtenritt", durch welchen die 7. Kürassiere und die 16. Ulanen sich un¬
sterblichen Ruhm erworben! - „Das erste französische Treffen wird überritten,
die Artillerie-Linie durchbrochen, Bespannung und Bedienungsmannschaften
zusammengehauen. Das zweite Treffen vermag den mächtigen Reitersturm
nicht aufzuhalten; die Batterien auf den weiter rückwärts gelegenen Höhen
protzen auf und wenden sich zur Flucht. Von Kampfesmuth und Siegeseifer
fortgerissen, durchjagen die preußischen Schwadronen sogar noch jene Thal¬
mulde, welche von der Römerstraße nach Rezonville hinabzieht, bis ihnen
endlich nach 3000 Schritt langer Attacke von allen Seiten französische
Kavallerie entgegengeht." Nun galt es, sich rückwärts durchzuschlagen, und die
Brigade Bredow sammelte sich hinter Flavigny. Etwa die Hälfte an Pferden
und Reitern hatte der kühne Angriff gekostet! — Aber diese Opfer waren
nicht vergeblich gewesen. Die begonnene Vorbewegung des VI. französischen
Corps war zum Stehn gebracht, und die Franzosen unternahmen an diesem
Tage keinen neuen Vorstoß von Rezonville mehr. — Es war
drei Uhr geworden. — Der Kampf zwischen denjenigen Heerestheilen, welche
einander in westöstlicher Richtung gegenüberstanden, wird in Folge beider¬
seitiger Ermattung fast nur noch von der Artillerie weiter geführt. Im
Westen des bisherigen Schlachtfeldes aber sind frische Streitkräfte von Nord
und Süd eingetroffen, und zwischen ihnen entbrennt nun am Nachmittage
ein neuer heißer Kampf — der zweite Abschnitt der Schlacht.
Im Nordwesten des Schlachtfeldes eröffnet sich der zweite Hauptact des
großen Kampfes durch „das Eingreifen des X. Armee-Corps". Nach
ungeheueren Opfern hatte der preußische linke Flügel eben auf Tronville
zurückzugehn begonnen, als die 20. Infanterie-Division in das Gefecht eingriff.
Diese war mit der ihr zugetheilten Fußabtheilung der Corpsartillerie an dem
ihr vorgeschriebenen Marschziel Thiaueourt angelangt gewesen, und hatte
bereits Vorposten nach Westen gegen die Verduner Straße vorgeschoben, als
der Kanonendonner im Osten und Nachrichten vom Schlachtfelde den General
v. Kraatz bestimmten, die ganze Division dem Kampfe zuzuführen. Die
Reiterei und ein Theil der Artillerie eilte voraus. Die letztere trat unter
Oberst v. d. Goltz den noch immer auf das rühmlichste aufhaltenden Batterien
des Majors Körber wirksam zur Seite, und um 4 Uhr nachmittags traf
auch die Infanterie der 20. Division nach einem Marsche von 6 Meilen (!)
auf dem Gefechtsfelde ein. Sie besetzte sofort die kaum geräumten Tronviller
Büsche aufs Neue und stellte dadurch die frühere Gefechtslage wieder her. —
Dieser schnelle Umschwung, das Zurückweichen eines weit überlegenen Gegners
vor wenigen frischen Bataillonen wurde aber wohl auch dadurch befördert,
daß der Marschall Lebeouf für seine eigene rechte Flanke zu fürchten begann,
weil er die Nachricht vom Anrücken deutscher Streitkräfte über Channonville
erhielt.
Diese neuauftretenden preußischen Truppen bestanden aus der 19. Halb-
Division (Schwarzkoppen), welche von Se. Hilaire heranmarschierte und An¬
stalten traf, um mit gesammten Kräften gegen die Höhen von Bruville zum
Angriff vorzugehn. Auch diese Truppen hatte der im Osten dröhnende
Kanonendonner und endlich ein Befehl des Generals v. Voigts-Rhetz aus
der alten Richtung gegen die Maas abgelenkt und nordostwärts auf das
Schlachtfeld geführt.
Die bei Beginn der sechsten Nachmittagsstunde vom X. Armee-Corps
eingenommene Front bildete eine gegen Norden gerichtete Flanke der bisherigen
Schlachtlinie. Während sich auf dem äußersten linken Flügel die 38. Brigade
bei Mars-Ja-Tour zum Angriffe gegen die Höhen von Bruville anschickte,
hielten S Bataillone der 20. Division die Tronviller Büsche besetzt, 4 andere
standen hinter denselben in Reserve, und noch weiter rückwärts bei Tronville
hatten sich die Reste der 37. Halbbrigade gesammelt. Sechs Batterien des
Corps waren auf der Nordseite der Chaussee aufgestellt. Größere Kavallerie¬
massen wurden bei Tronville in Bereitschaft gehalten. — Gegenüber der Front
des X. Corps standen diejenigen französischen Heerestheile, welche sich seit
Mittag auf der Hochfläche von Bruville gesammelt hatten und deren rechte
Flanke große Reitermassen deckten.
Die Stellung der beiderseitigen Armeen um die fünfte Nachmittagsstunde
wird durch einen zweiten Plan der Schlacht von Monville-Mars-la-Tour
zur detaillirten Anschauung gebracht, der in Behandlungsart und Ausstattung
völlig dem ersten entspricht.
Prinz Friedrich Karl hatte nach einem Gewaltritt um 4 Uhr den Ge¬
fechtsbereich der 3. Infanterie-Division erreicht. Freudig begrüßten die Truppen
das Erscheinen des Feldherrn, welcher 10 Jahre lang an der Spitze des
III. Armee-Corps gestanden und dasselbe bereits in früheren Feldzügen zum
Siege geführt hatte. — Von der Nordwestecke des Bois de Vionville übersah
der Prinz das Schlachtfeld und erkannte, daß es sich auf dem östlichen Theil
desselben nur um zähes Festhalten der bis jetzt eroberten Stellungen handeln
könne, wobei der Artillerie die Hauptrolle zuzufallen hatte. Dagegen gedachte
er mit dem linken Flügel, wo zu jener Stunde das Eintreffen des X- Corps
bevorstand, die Offensive zu ergreifen.
Die Aufgabe der Artillerie auf dem östlichen Theile des Schlachtfeldes
war keine leichte, da die große Stärke der bei Nezonville versammelten
französischen Heeresmacht es dieser ermöglichte, eine'systematische Ablösung in
ihrer Artillerielinie durchzuführen, und ganz ebenso verfuhren die Franzosen
dort auch bei ihrer Infanterie. Beständig strömten neue Truppen in die
französischen Schützenlinien, welche dadurch zu häufigen Angriffsstößen er-
muthtgt wurden, die freilich selten bis in den Schußbereich des Zündnadel¬
gewehrs durchgeführt wurden, sondern meist schon an der Wirkung der
preußischen Artillerie scheiterten. Sie hatten aber zur Folge, daß die nach¬
stoßende preußische Infanterie in vereinzelte Unternehmungen verwickelt wurde,
welche nicht ganz im Sinne des fürstlichen Oberbefehlshabers lagen und
gegen die starken Stellungen des Feindes erfolglos verliefen. Insbesondere
waren es die nach und nach auf dem rechten Flügel eintreffenden Ver¬
stärkungen, welche in kriegerischem Wetteifer jede Gelegenheit ergriffen, um es
den gelichteten brandenburgischen Bataillonen an Opfermuth gleich zu thun.
Aber nicht mehr hier zwischen Vionville und Rezonville, sondern im
Nordwesten des Schlachtfeldes zwischen Mars-la-Tour und Bruvtlle
lag von 5 bis 7 Uhr nachmittags der Schwerpunkt der Schlacht.
Unmittelbar nach ihrem Ausmarsche auf dem äußersten linken Flügel der
deutschen Schlachtordnung war die 38. Infanterie-Brigade von Mars la Tour
aus zum Angriff vorgegangen. Beim Betreten des gänzlich unbedeckten Berg¬
hanges, der mit sanfter Neigung gegen die französische Stellung abfällt,
wurden die wackeren Westfalen von mörderischen Gewehr- und Mitrailleusen-
feuer empfangen. Doch mit rücksichtsloser Energie gingen sie vor; das
2. Treffen schiebt sich in die Schützenlinie ein, um die schnell gelichteten
Reihen wieder zu füllen. Abwechselnd 100 bis 150 Schritt vorlausend, dann
sich niederwerfend, eilen die Kompagnien den Bergabhang hinab. Da zeigt
sich unerwartet vor ihnen eine steile, an 60 Fuß tiefe Schlucht, gleich dem
Graben vor einer stark besetzten Schanze. Aber auch dies Hinderniß hemmt
das Vordringen nicht. Bald tauchen alle 5 Bataillone, den Abhang er¬
klimmend, nur noch 100 bis 30 Schritt vor der feindlichen Linie auf. Nun
überschüttet man sich mit einem verheerenden Schnellfeuer; jede Kugel trifft;
doch zu groß ist die Uebermacht des Gegners; denn inzwischen langt die
Division Cissey an und wirst sich sogleich auf die schon erschütterte preußische
Brigade. Endlich muß zum Rückzüge geblasen werden. Die Trümmer der
braven Bataillone gleiten in die Schlucht zurück, und das Feuer des bis an
den Rand herantretenden Gegners steigert die Verluste fast bis zur Ver¬
nichtung. Oberst v. Eranach, allein noch beritten, führt die Fahne seines
1. Bataillons in der Hand, die Trümmer der Brigade gegen die Chaussee
zurück. Nach einem ununterbrochenen Marsche von sechs Meilen und dem
darauf folgenden heißen Kampfe versagen jetzt Vielen die Kräfte. Ueber
300 Mann vermögen es nicht mehr, den rückwärtigen Hang der steilen Thal¬
schlucht zu ersteigen und fallen in die Hände des Feindes.
Zum zweiten Male an diesem denkwürdigen Tage tritt jetzt die preußische
Kavallerie für die gefährdete Schwesterwaffe opferwillig ein. Die Generale
Graf von Brandenburg und von Rheinbaden erhalten den Befehl zum rück¬
sichtslosen Vorgehn. (Gegen 6 Uhr abends.)
Des schwer zu überschreitenden Heckengeländes ungeachtet trabt alsbald
das zunächst stehende 1. Garde-Dragoner-Regiment unter Oberst Auerswald
vor und wirft sich auf das 13. Linienregiment der Division Grenier. Mehr¬
fach durchbrochen und überritten, ballt es sich um seinen Adler zusammen. Die
westfälische Infanterie ist aus ihrer mißlichen Lage befreit; aber als die Garde-
Dragoner sich hinter der preußischen Artillerie sammeln, fehlen ihnen fast sämmt¬
liche Führer; 11 Offiziere und 126 Reiter sind außer Gefecht gesetzt, und der
tödtlich verwundete Kommandeur übergiebt mit einem Hoch auf den König
die Führung des Regiments an den Rittmeister Prinzen von Hohenzollern.
Inzwischen hatte General Ladmirault, welcher seine rechte Flanke vollständig
zu sichern wünschte, seinen Reitergeneralen befohlen, in die Fläche von Vtlle
sur Uron hinabzusteigen, um dort einen entscheidenden Schlag zu thun. In¬
folge dessen waren zuerst die Chasseurs d' Afrique der Division du Baratt über
das Thal vorgegangen und hatten eine preußische Garde-Batterie attaquirt,
die indessen durch eine Schwadron des 2. Garde-Dragoner-Regiments dega-
girt wurde. Ungefähr gleichzeitig ritten die drei Regimenter der Division
Legrand und rechts derselben die französische Garde-Kavallerie-Brigade de
France an und schwenkten Front gegen Süden in mehrere sich rechts über¬
flügelnde Treffen ein. — Hiegegen nun setzte sich preußischerseits die gesammte
zwischen Tronville und Puxieux vereinigte Reiterei in Bewegung und ent¬
wickelte sich nordwestlich von Mars la Tours in zwei Treffen: im ersten die
Brigade Barby (13. und 19. Dragoner, 13. Ulanen) im zweiten die 16.
Dragoner, 10. Husaren und zwei Schwadronen 4. Kürassiere. Gegen 6^ Uhr
erfolgte fast gleichzeitig und mit großer Heftigkeit auf der ganzen langen
Linie der allgemeine Zusammenstoß der Reitermassen. „Durchbrechend und
durchbrochen sucht man auf beiden Seiten schwadronsweise die Flanken
des Gegners zu gewinnen. Eine mächtige Staubwolke erhebt sich und
verhüllt auf kurze Zeit ein wogendes Handgemenge von mehr als 6000
Reitern, in welchem sich der Sieg bald auf die Seite der Preußen neigt.
Bald sieht man die große Staubwolke in nördlicher Richtung abziehn; die
ganze Masse der französischen Kavallerie hat sich zur Flucht gewandt und eilt
den rückwärtigen Thalübergängen in der Richtung nach Bruville zu." Dort
hielten fünf Kavallerie-Regimenter des Generals Clirembault, von denen
eine ganze Brigade, unangegriffen mit in die Flucht verwickelt und vom Strom
fortgerissen wird. — Die preußischen Reiterschaaren ordneten sich auf der er«
strikteren Ebene und gingen dann langsam auf Mars la Tour zurück.
Ihr glänzender Sieg war mit verhältnißmäßig nicht allzu zahlreichen Opfern
erkauft. Doch mehrere der kühn voranreitenden Führer, wie die Obersten
Graf Finckenstein und v. Schack hatten den Heldentod gefunden. — Nach
diesem großartigsten Reiterkampfe des ganzen Krieges war die noch vor Kurzem
so drohende Gefahr für den preußischen linken Flügel endgültig abgewendet.
Wiewol bei der nun eingebrochenen Dämmerung kaum noch ein neuer
Angriff des Feindes zu erwarten war, so traf doch General v. Voigts-Rhetz
alle Vorkehrungen, um den zur Vertheidigung günstig gelegenen Höhenrücken
zwischen Tronville und Mars la Tour unter allen Umständen zu halten.
Während der Kampf so auf dem westlichen Theile des Schlachtfeldes
mit beginnender Dunkelheit sein Ende erreichte, dauerte er im Bereiche des
III. Armee-Corps noch weiter in den Abend hinein fort. Das allmählige
Eingreifen der über die Mosel vorgerückten preußischen Verstärkungen gab
dem Gefecht auf dem rechten Flügel neue Nahrung, und da diese Angriffs¬
richtung dem Marschall Bazaine bei seiner früher erwähnten falschen Ge¬
sammtauffassung der Schlacht ganz besonders empfindlich war, so wurden auch
von französischer Seite hier immer neue Truppen in den Kampf geführt.
Besonders wichtig und blutig war in dieser Beziehung das Eingreifen der 16.
Infanterie-Division von Gorze her, deren Tete (Regiment 72) es jedoch trotz
heroischer Anstrengung nicht gelang, sich dauernd auf der Ebene nördlich des
Bois de Se. Arnould zu behaupten. Ebensowenig gelang aber ein Vorstoß,
den unter persönlicher Führung der französischen Generale, Marschall Bazaine
durch die 2. Garde-Voltigeure-Brigade gegen die westlich des Bois de Se.
Arnould gelegene Höhe machen ließ. Auch die Franzosen vermochten es nicht, den
Höhenrand festzuhalten. Er blieb fortan unbesetzt, und auf der ganzen Front
von Rezonville schwieg fast eine Stunde lang das Jnfanteriefeuer. Dann
aber entbrannte dasselbe von Neuem und zwar im äußersten Osten, wo aus
dem Bois des Chevaux das 2. Bat. 72. Regiments um 7 Uhr einen Vor¬
stoß auf Rezonville versuchte. In dies hin und herwogende Abendgefecht
griffen noch weiter im Osten auch die Spitzen der 25. (Hessen-Darmstadt,)
Division ein.
„Prinz Friedrich Karl hatte den Gang des Gefechts auf beiden Flügeln
der langen Schlachtlinie fortdauernd beobachtet. Da gegen 7 Uhr das Feuer
im Osten wieder lebhaft wurde und man dort auch auf das Eingreifen des
IX. Armee - Corps rechnen zu können glaubte, so hielt der Oberbefehlshaber
den Augenblick für geeignet, um nunmehr eine größere Angriffsbewegung ins
Werk zu setzen. Er gedachte hierzu vorzugsweise den linken Flügel und die
großen Artilleriemassen zu gebrauchen. Das Einsetzen der letzten Kräfte von
Mann und Roß nach stundenlangen blutigem Ringen sollte dem Gegner zei¬
gen, daß man auf preußischer Seite die Fähigkeit und den festen Willen habe,
in dem bis jetzt noch unentschiedenen Kampfe zu siegen. Der moralische Ein¬
druck eines solchen Auftretens, erhöht durch die von einem plötzlichen Angriff
im Abenddunkel zu erwartende Verwirrung, schien einen günstigen Erfolg
zu verbürgen."
In diesem Sinne erließ der Prinz um 7 Uhr seine Befehle zum Vor-
rücken auf Rezonville. — Eine gewaltige Artilleriemasfe setzte sich in Bewe¬
gung, welcher nördlich der großen Straße die dort vereinigten Abtheilungen
des 35. Regimentes als Bedeckung folgten. Um 8 Uhr abends krönten wirk¬
lich die preußischen Batterien den so oft und so lange umworbener Höhen¬
zug südlich von Rezonville; aber, wie sich anderthalb Stunden vorher die
französischen Garde - Boltigeurs dort nicht festzusetzen vermocht, so ward dies
auch jetzt der preußischen Artillerie auf die Dauer unmöglich. Waren die
Boltigeurs von den preußischen Granaten vertrieben worden, so wich jetzt
die preußische Artillerie vor dem verheerenden Schnellfeuer des Chassepotge-
wehres batterieweise in die früheren Stellungen zurück. Auch die Tete der
6. Kavallerie-Division, welche sich an der Vorwärtsbewegung betheiligt und
nicht unbedeutende Verluste erlitten hatte, war genöthigt, das gewonnene
Terrain wieder aufzugeben.
Auf dem linken Flügel der Armee ließ das offenbare Uebergewicht der
gegenüberstehenden französischen Streitkräfte eine größere Angriffsbewegung
im Sinne des Prinzen Friedrich Karl nicht mehr zur Ausführung gelangen.
„Die zehnte Abendstunde war herangekommen, bevor das Gefecht auf allen
Punkten verstummte. Tiefe Stille herrschte dann auf der weiten Fläche, auf
welcher seit dreizehn Stunden der Tod eine reiche Ernte gehalten. Dem heißen
Sommertage war eine kühle Nacht gefolgt, und nach fast übermenschlichen
Anstrengungen fanden die Krieger in ihren Biwaks eine kurze Ruhe. Ueber
die in hartem Kampfe erstrittene Hochfläche von Rezonville zog sich in weitem
Bogen die Linie der preußischen Vorposten, welche bet Mondesaufgang von
der Kavallerie des linken Flügels über das blutgetränkte Feld von Mars la
Tour verlängert wurde."
Die ungeheuren Opfer der Schlacht von Vionville-Mars la Tour ver¬
theilen sich der Zahl nach fast gleichmäßig auf beide kämpfende Theile. Die
Verluste betrugen auf deutscher wie auf französischer Seite 16,000 Mann. —
Bis zum Abend hatte die Wage des Sieges geschwankt. „Denn so wenig es
den Preußen gelungen war. die mehr als doppelt überlegene französische
Heeresmacht aus ihren Hauptstellungen zu vertreiben, ebensowenig hatte diese
es vermocht, den bis zur Mittagsstunde verlorenen Boden zurückzuerobern und
sich die Marschlinie über Mars la Tour wieder zu öffnen.
Die eigentliche Bedeutung des Tages liegt also nicht in den taktischen
Ergebnissen desselben. Eine unmittelbare Ausnutzung errungener Erfolge
fand auf beiden Seiten nicht statt; denn keiner der kämpfenden Theile ver¬
mochte am Abende einen Schritt weit über das Schlachtfeld hinaus zu thun.
Das Dunkel der Nacht hatte dem Kampfe ein Ende gemacht. Am folgenden
Morgen zeigte es sich, daß die Deutschen das Schlachtfeld behauptet, die
Franzosen ihre Stellungen geräumt hatten."
Das 3. Kapitel des S.Heftes schildert die Ereignisse bei der I. und
II. Armee bis zum Vorabend des 18. August.
Die bei der Schlacht von Vionville unbetheiligt gebliebenen Corps der
II. Armee nahmen im Laufe des 16. August die am 15. befohlenen Stellungen
ein. Ein Versuch des Generals v. Alvensleben, die für die Verbindungen
des deutschen Heeres hochwichtige Festung Toul (an der Eisenbahn Nancy-
Paris) durch einen Handstreich zu nehmen, mislang letver und wurde zunächst
nicht wiederholt.
Im großen Hauptquartier Sr. Maj. des Königs zu Herry erkannte man
frühzeitig die Bedeutung der bei Vionville entstandenen Schlacht, und um
für den 17. August rechtzeitige Unterstützung sicher zu stellen, gingen an das
XII. Corps, wie an das Oberkommando der I. Armee Befehle, welche für
den folgenden Vormittag dem Schlachtfelde große Truppenmassen zu¬
führen mußten.
Prinz Friedrich Karl mußte gewärtig sein, daß die ihm gegenüberstehen¬
den, offenbar weit überlegenen französischen Heeresmassen am Morgen des
17. August einen neuen Versuch machen würden, sich den ihnen verlegten
Weg nach Westen wieder zu öffnen.
Bei der großen Erschöpfung der am Kampfe betheiligt gewesenen Truppen
war deshalb darauf Bedacht zu nehmen, so frühzeitig als möglich, frische
Kräfte nach dem Schlachtfelde heranzuziehn, und das Oberkommando der
II. Armee ertheilte deshalb dem Gardecorps sowie dem XII. und IX. Corps
die entsprechenden Befehle.
Am Morgen des 17. August um 4V-- Uhr nahm Prinz Friedrich Karl,
welcher in Gorze übernachtet hatte, seinen Beobachtungsstandpunkt bei Fla-
vigny wieder ein. Um 6 Uhr erschien Sr. Majestät der König ebendaselbst.
Die nächsten Stunden verliefen ohne Zwischen fall, und die sich zum Theil
widersprechenden Nachrichten über den Feind ergaben vorläufig noch kein kla¬
res Bild von dem Verhalten und den Absichten desselben.
Die thatsächlichen Verhältnisse beim französischen Heere waren die fol-
Lenden: — Während man auf deutscher Seite fest entschlossen war, die am
16. errungenen Vortheile zu behaupten, hatte der Verlauf der Schlacht bei
Bazaine den Eindruck hervorgebracht, daß man es mit mindestens gleich
starken Kräften zu thun habe und daß man sich am nächsten Tage gegen eine
entschiedene Uebermacht der Deutschen zu schlagen haben werde. Einen solchen
Angriff in seinen bisherigen Stellungen anzunehmen, fühlte sich der Marschall
jedoch nicht stark genug, und ebensowenig glaubte er. angesichts der drohen¬
den Anmarschrichtung des deutschen Heeres die begonnene Bewegung nach der
Maas durchführen zu können, wozu ihm allenfalls die Straßen über Etain
und Brich damals noch offen gestanden hätten. Ueberdies war das Selbstver¬
trauen vieler Führer und Truppen erschüttert; Munition und Lebensmittel
bedurften der Ergänzung, und die Trains und Fuhrenparks bedeckten die
Straße von Gravelotte noch bis in das Moselthal hinab. Aus diesen Grün¬
den erachtete Bazaine es für geboten, sein Heer wieder näher an Metz heran¬
zuführen, um in einer auf diese Festung gestützten „uneinnehmbaren" Stellung
den Angriff zu erwarten. An dieser, hoffte er, sollte sich die Kraft des
deutschen Heeres derartig brechen, daß am 19. oder 20. August der Marsch
an die Maas ungehindert werde vor sich gehn können.
In der Nacht zum 17. August erließ Bazaine daher den Rückzugsbefehl
nach der Hochfläche von Plappeville.
Um die Aufmerksamkeit der Franzosen von den entscheidenden Vorgängen
auf dem linken Moselufer soviel als möglich abzulenken, war vom General
v. Moltke der General v. Steinmetz aufgefordert worden, mit seiner Artillerie
auf dem rechten Moselufer zu demonstriren, eine Lage, aus welcher sich das
Gefecht im Bois de Vaux entwickelte, das indessen preußischerseits bald ab¬
gebrochen wurde, weil ein ernster Kampf für den 17. August nicht in der
Absicht der obersten Heeresleitung lag, vielmehr am folgenden Tage mit ver¬
einten Kräften unternommen werden sollte. Denn während sich die Concen-
trirung des Feindes unmittelbar westlich Metz immer deutlicher erkennen ließ,
waren in der Mittagsstunde des 17. August auf deutscher Seite sieben Armee-
Corps (VII., VIII.. III., IX., X.. XII. und Garde-Corps) und drei Kavallerie-
Divisionen (1., 5. und 6) der I. und II. Armee zur Stelle oder in solcher
Nähe, daß das große Hauptquartier auf ihre Mitwirkung bet Erneuerung
der Schlacht mit Sicherheit rechnen konnte. Es galt nun für den 18. August
den Entscheidungskampf vorzubereiten.
Die Anordnungen, welche in dieser Hinsicht am Nachmittage erlassen
wurden, werden den nächsten Abschnitt des Generalstabswerkes einleiten.
Beigegeben sind dem 5. Hefte an Anlagen: zwei Schreiben des
Generals v. Steinmetz an die Generale v. Manteuffel und v. Kummer, ein
Armee-Befehl des Prinzen Friedrich Karl, eine Spezialschilderung der Weg¬
nahme von Flavigny in der Schlacht von Vionville, der Armeebefehl des
Prinzen Friedrich Karl vom 16. Aug. mittags, die Verlustliste der Schlacht von
Vionville-Mars la Tour und diejenige für die Unternehmung gegen Toul. —
In den Text gedruckt sind Skizzen des Reiterangriffs der Brigade
Bredow bei Monville, der Angriffsordnung der 38. Brigade nordöstlich von
Mars la Tour, der Geschützlinie auf dem rechten preuß. Flügel söll. von
Flavigny und des Gefechtsfeldes der 38. Infanterie-Brigade und des 1. Garde-
Dragoner-Regiments bei Mars la Tours. An kartographischen Bei¬
lagen gehören zu diesem Hefte, außer dem bereits besprochenen Doppel¬
plan der Schlacht von Monville»Mars la Tour in 1: 26,000 und der
gleichfalls schon erwähnten Uebersichtskarte für den 16. August abends in
1:200,000, eine vortreffliche Operationskarte der Umgegend von Metz in
1 :100,000 mit Terrain, welche von Nancy bis nördlich von Diedenhofen
und von Boulay und Chateau-Salms bis westlich von Thioucaurt und
Briey reicht. — Endlich sind dem Heft noch 6 lithographische Skizzen der
Operationen der III., resp. I. und II. Armee vom 7. bis 16. August beige¬
geben , bestimmt, die entsprechenden weniger genügenden Textskizzen des 4.
Heftes zu ersetzen.
Unter dem 20. und 21. Mai sind die beiden Gesetze durch den Staats¬
anzeiger publicirt worden, welche für den römisch-deutschen Streit die wichtigste
Frucht der vergangenen Landtagsession sind. Die Waffen, welche die beiden
Gesetze der Staatsregierung liefern, sind von so mächtiger Art, wie jene sie
bisher noch niemals besessen. Das erste Gesetz, datirt vom 20. Mai. handelt
über die Verwaltung erledigter katholischer Bisthümer. Das Gesetz bestimmt,
daß wer in einem erledigten Bisthum bischöfliche Rechte bis zur Einsetzung
eines staatlich anerkannten Bischofs ausüben will, dem Oberpräsidenten der
betreffenden Provinz schriftliche Mittheilung zu machen hat unter Angabe des
Umfangs der auszuübenden Rechte, unter Nachweisung des erhaltenen kirch¬
lichen Auftrags, sowie unter Nachweisung der persönlichen Eigenschaften, von
deren Besitz das Gesetz vom 11. Mai 1873 über die Vorbildung und An¬
stellung der Geistlichen die Uebertragung eines geistlichen Amtes abhängig
macht. Zugleich hat der Bisthumsverweser seine Bereitheit zu erklären zur
Leistung des Eides, daß er dem König treu und gehorsam sein und die
Staatsgesetze befolgen wolle. Die Ausübung bischöflichen Rechts vor der eid¬
lichen Verpflichtung wird mit Gefängniß von 6 Monaten bis zu 2 Jahren
bestraft. Der Oberprcifident kann bis zum zehnten Tage nach empfangener
Meldung des Bisthumsverwesers gegen die Vertretung des Amtes Einspruch
erheben und die Entscheidung des Gerichtshofs für kirchliche Angelegenheiten
anrufen. Dieselbe Strafe trifft Kirchendiener, welche auf Anordnung eines
staatlich nicht anerkannten oder in Folge gerichtlichen Urtheils aus seinem
Amte entfernten Bischofs oder Bisthumsverwesers Amtshandlungen vor¬
nehmen. Wenn die Stelle eines Bischofs durch gerichtliches Urtheil erledigt
worden, hat der Oberpräsident das Domcapitel zur Wahl eines Bisthums¬
verwesers aufzufordern. Wenn die Wahl nicht binnen zehn Tagen zu Stande
kommt, oder wenn vierzehn Tage nach vollzogener Neuwahl der Gewählte
den vorgeschriebenen Eid nicht leistet, so ernennt der Cultusminister einen
Commissarius, welcher das von dem bischöflichen Stuhl verwaltete Vermögen
in Verwahrung und Verwaltung nimmt. Der Oberpräsident ist zu Zwangs¬
maßregeln befugt, um dem Commissär die Verfügung über das Vermögen zu
verschaffen. Dieselbe eommissarische Verwaltung des Bisthumsvermögens wird
angeordnet, wenn ein auf anderm Wege als durch gerichtliches Urtheil er¬
ledigter Bischofssitz nach einem Jahr noch nicht mit einem staatlich anerkannten
Bischof wieder besetzt ist.
Bis hierher verfügt das Gesetz nur über die Verus gen sverw altung
eines Bischofssitzes durch die Hand des Staates, so lange kein den Staats¬
gesetzen gehorsamer und den Staatseid leistender Bischof oder Bisthums-
verweser vorhanden ist. Nun aber kommen eine Reihe Bestimmungen von
einschneidendster Art, welche Bezug haben auf die Besetzung erledigter Pfarr¬
ämter in solchen Bisthümern, die zur Zeit keinen Bischof haben, worunter
das Gesetz überall versteht, keinen staatlich anerkannten Bischof. Das Gesetz
vom 20. Mai 1874 bestimmt hierüber Folgendes: Wenn in einem Bisthum,
dessen Sitz durch gerichtliches Urtheil ledig ist, ein Pfarramt erledigt wird, so
ist der Patron oder der sonst zur Präsentation Berechtigte, sofern ein solcher
vorhanden, befugt, das Amt wieder zu besetzen und ebenso die Stellvertretung
bis zur Besetzung zu bewirken. Wenn der Berechtigte von dieser Befugniß
Gebrauch macht, so kann die Übertragung des geistlichen Amtes oder der
Stellvertretung in demselben nur erfolgen nach Maßgabe des Gesetzes über
die Vorbildung und Anstellung der Geistlichen. Bei gesetzwidriger Amts¬
übertragung durch den Präsentationsberechtigten trifft letzteren dieselbe Strafe
wie sonst den geistlichen Oberen. Wenn der Präsentationsberechtigte binnen
zwei Monaten die Stellvertretung eines erledigten geistlichen Amtes und
binnen Jahresfrist die Wiederbesetzung nicht bewirkt, so geht seine Befugniß
auf die Pfarrgemeinde über. Wo kein Präsentationsberechtigter vorhanden,
steht die Befugniß zur Besetzung wie zur Sorge für die Stellvertretung von
Anfang der Gemeinde zu. Wo diese Befugniß für die Gemeinde eingetreten
ist, beruft der Landrath, in Stadtkreisen der Bürgermeister schon auf den
Antrag von zehn aktiven Gemeindegliedern, von denen jedoch nicht mehrere
Einem Familienhaupt untergeordnet sein dürfen, die sämmtlichen aktiven
Glieder der Gemeinde zum Beschluß über die Einrichtung der Stellvertretung
oder über die Wiederbesetzung der Stelle. Zur Gültigkeit des Beschlusses
genügt die Majorität der Erschienenen. Nach vollzogener Wahl wird ein
Repräsentant gewählt, welcher das Amt an den Gewählten überträgt und
welcher verantwortlich ist für die Befolgung des Gesetzes über die Vorbildung
und Anstellung der Geistlichen.
Es bedarf nur eines Blickes auf diese Bestimmungen, um die gewaltige
Tragweite derselben einzusehen. Bevor wir uns dieselbe vergegenwärtigen,
wollen wir erst das zweite Gesetz in Betracht ziehen, welches unter veränderten
Bedingungen dieselben Vorschriften wiederholt.
Dieses zweite Gesetz ist datirt vom 21. Mai 1874 und betrifft die De-
klaration und Ergänzung des Gesetzes vom 11. Mai 1873 über die Vor¬
bildung und Anstellung der Geistlichen. Die Deklarationsartikel dieses neuen
Gesetzes dienen nur zur Beseitigung einer Undeutlichkeit des Gesetzes vom
11. Mai 1873, indem sie die Fälle der gesetzwidrigen Uebertragung des geist¬
lichen Amtes Präcisiren. Weit wichtiger sind aber diejenigen Bestimmungen
des neuen Gesetzes, welche von der Verwaltung eines erledigten Pfarramtes
handeln. Wird ein erledigtes Pfarramt, so bestimmt das Gesetz, gesetzwidrig
übertragen, oder wird durch Thatsachen die Annahme begründet, daß die
Uebertragung des Amtes auf gesetzmäßige Weise nicht erfolgen werde, so ist
der Oberpräsident zur Beschlagnahme des Vermögens der Stelle befugt.
Wenn nach Erledigung eines geistlichen Amtes ein Nachfolger wegen gesetz¬
widriger Bekleidung des Amtes zur Strafe verurtheilt worden, so ist der
Präsentationsberechtigte zur Wiederbesetzung oder zur Sorge für die Stellvertre¬
tung befugt unter denselben Bedingungen, wie bei der Erledigung des Bis-
thums. Unter den nämlichen Bedingungen geht auch die Befugniß zur Wiederbe¬
setzung und zur Sorge für die Vertretung der Stelle auf die Gemeinde über.
Der Beschluß über die Wiederbesetzung und über die Bestellung der Vertretung
erfolgt unter denselben Formen wie bei der Erledigung des Bisthums.
Dies der Inhalt der beiden Gesetze. Vergegenwärtigen wir uns nun
ihre Tragweite. Jedes der beiden Gesetze bestimmt einen Fall, in welchem
die Besetzung des Pfarramtes unter übrigens gleichen Bedingungen und
Formen auf die Gemeinde übergeht. Das erste Gesetz, über die Verwaltung
erledigter Bisthümer. giebt, wo kein Präsentationsberechtigter vorhanden
oder wo derselbe von seiner Befugniß keinen Gebrauch macht, das Recht der
Pfarramtsbesetzung an die Gemeinde in dem Fall, daß kein staatlich an¬
erkannter Bischof vorhanden und daß für die Einkünfte des Bisthums eine
staatscommissarische Verwaltung eingetreten ist. Das zweite Gesetz, dasjenige
zur Deklaration und Ergänzung des vorjährigen Gesetzes über die Vorbildung
und Anstellung der Geistlichen, giebt, wo kein Präsentationsberechtigter vor¬
handen oder wo derselbe von seiner Befugniß keinen Gebrauch macht, das
Recht der Pfarramtsbesetzung an die Gemeinde in dem Fall, wo zwar ein
staatlich anerkannter Bischof noch vorhanden ist, wo aber derselbe die gesetz¬
mäßige Uebertragung des Pfarramtes seinerseits verweigert. Der Beweis
dieser Verweigerung gilt als erbracht, sobald eine erledigte Stelle auf gesetz¬
widrige Weise hat besetzt werden sollen.
Der nächste Zweck der beiden Gesetze wird darin zu finden sein, den Ge¬
meinden das Mittel in die Hand zu geben, die Verwaisung ihrer Pfarrämter
zu hindern, welche eintreten würde, wo der Staat die Verwaltung der Pfarr¬
ämter nicht zuläßt, weil die damit Bekleideten es auf gesetzwidrige Weise ge¬
worden sind oder weil ein zur Uebertragung des Pfarramtes nach den
Staatsgesetzen befugter Bischof nicht vorhanden. Gegen die Besetzung des
Pfarramtes durch den Präsentationsberechtigten oder durch die Gemeinde
kann man nun einwenden, daß ohne die kanonische Institution keine im
Sinne des katholischen Glaubens wirksame Spende der kirchlichen Gnaden¬
mittel denkbar sei. Gegen den Einwand ist aber wiederum eingewendet
worden, daß, wenn es den Gemeinden um die Verwaltung ihres Pfarramtes
Ernst sei, der von ihnen bestellte Pfarrer entweder die kanonische Institution
erlangen werde oder daß bei Verweigerung derselben die Verwaisung des
Pfarramtes notorisch nicht dem Staat zur Last falle, und daß endlich die
Gemeinden sich vielleicht an Pfarrer gewöhnen werden, welche die kanonische
Institution entbehren. Hier liegt nun der eigentliche Punkt der Entscheidung,
zu welchem das neue Gesetz in seinen beiden Formen die Dinge treibt. Ent¬
weder die Gemeinden lernen auf kanonisch eingesetzte Pfarrer verzichten, wo¬
mit sie dem Altkatholieismus entgegengehen; oder der Papst entschließt sich,
Pfarrer, welche unter Beobachtung des Staatsgesetzes von den Gemeinden
berufen sind, mit der kanonischen Einsetzung zu versehen. So also stellt sich
diese Alternative: entweder die Gemeinden fallen vom Papstthum ab, zunächst
thatsächlich und über kurz oder lang prinzipiell, um nicht den Priester und
die Gnadenmittel zu entbehren; oder der Papst verleiht den kanonischen Beruf
Geistlichen, welche unter der Bedingung des Staatsgehorsams von der Ge¬
meinde vorgeschlagen sind, damit er, der Papst, nicht die Gemeinden verliere.
Noch kürzer lautet die Alternative: Nachgiebigkeit des Papstes, wenn auch
vorerst auf einem Umwege; oder Abfall der Gemeinden.
Das Gesetz hat mit feinen Bestimmungen über die Bedingungen und
Formen der Pfarrerwahl hinlänglich dafür gesorgt, daß eine thätige Minorität
in jeder Gemeinde hinreicht, die Frage der Pfarramtsbesetzung zur Entscheidung
zu bringen. Man kann sich freilich denken, daß, wenn auf Antrag von zehn
Gemeindegliedern, wie das Gesetz vorschreibt, der Landrath die Gemeinde¬
glieder zur Pfarrerwahl beruft, die Majorität der Erschienenen gegen die
Wahl protestirt. Allein ein paar solcher Fälle werden vermuthlich zu einer
Deklaration des Gesetzes führen, dahingehend, daß nur diejenigen Stimmen
der zur Wahl Erschienenen gültig sind, die eine Wahl vornehmen wollen.
Wenn man also auch annehmen wollte, was sicherlich die Hoffnung der
Ultramontanen ist, daß in jeder katholischen Gemeinde die Mehrzahl der
Glieder lieber den Pfarrer entbehren wollen, als einen Pfarrer erhalten, der
gegen die päpstliche Machtvollkommenheit eingesetzt worden, so ist das Gesetz
doch so eingerichtet, daß diese mit Recht oder Unrecht vorausgesetzte Mehrzahl
die Besetzung der Pfarrämter im antipäpstlichen oder staatsgehorsamen Sinne
nicht hindern kann. Wenn dann auch die Mehrzahl der Gemeinde sich dem
staatsgehorsamen Pfarrer entfremdete, so müßte sie auf die kirchlichen Wohl¬
thaten entweder für immer verzichten oder ihre Zurückhaltung mit der Zeit
aufgeben. Man steht, wohin die Dinge sich immerfort zuspitzen. Der
drohende Krieg mit Frankreich erhält in den ultramontanen Gemüthern die
Hoffnung auf eine siegreiche Intervention des Auslandes zur Herstellung der
römischen Kirche in ihre vermeintlichen Rechte auf deutschem Boden. Wenn
diese Hoffnung verschwunden ist, wird das Papstthum nachgeben, wenn es
dann zur Nachgiebigkeit noch Zeit sein sollte. —
Der heiße parlamentarische Kampf, welcher im preußischen Landtag, na¬
mentlich aber im Abgeordnetenhaus um diese beiden Gesetze geführt worden,
hat vielleicht dazu beigetragen, die tödtliche Erkrankung eines der rüstigsten
Kämpfer für die römische Sache zu beschleunigen. Am Morgen des
26. Mai starb zu Berlin nach dreitägiger Krankheit der Abgeordnete
Hermann v. Mallinckrodt. Die Art, wie an dem Leichenbegängniß des
Verstorbenen Mitglieder aller Landtagsfraktionen sich betheiligten und
wie die achtbaren Organe der Presse über den Dahingeschiedenen sich
äußerten, konnte in mancher Beziehung wohlthuend berühren. Aber ganz
frei von Bedenken war diese Haltung nicht, wenigstens nach unserer Ueber¬
zeugung nicht, der wir uns verpflichtet fühlen, Ausdruck zu geben, of
wortuis nil nisi bene: das wird auf Grund eines hartnäckigen Mißverständ¬
nisses immer wieder verwandelt in: de mortnis nil nisi bonum. In reiner
und schonender Absicht soll man die Wahrheit vom Todten sagen. Daraus
macht die Sentimentalität: man soll vom Todten auf Kosten der Wahrheit
nur Gutes sagen. An das nisi dene wollen auch wir uns halten, auch
diesem Todten gegenüber. Daher rechnen wir es nicht seiner Individualität
an, daß er noch in den letzten parlamentarischen Kämpfen es über sich ver¬
mochte, die Beschuldigung gegen die deutsche Staatsleitung vor ganz Europa
als Zuhörer auszusprechen: der Krieg mit Frankreich, wenn er wieder aus-
breche, werde nur das Werk der deutschen Staatsleitung sein. Wir wieder¬
holen, daß wir eine so verderbliche, die offenen Thatsachen ins Gesicht schla¬
gende Ungerechtigkeit gegen die einheimische Staatsleitung nicht dem Charakter
des Verstorbenen zur Last legen wollen. Aber beklagen müssen wir an dem
Grabe eines geistig begabten Mannes den Zustand der sittlichen Bildung, der
solche Verirrungen zuläßt, der solche Verirrte nicht dem Arzte, dem Richter
oder dem öffentlichen Abscheu überliefert. Die Schwäche des sittlichen Urtheils
zieht solche Verirrungen groß und schafft für den Verirrten einen Grad der
Entschuldigung, daß man ihn als achtungswerthen Gegner behandelt, oder
gar ihm, woran diesmal nicht viel gefehlt hätte, ein Denkmal der Achtung
von Seiten aller Parteien setzt. Wir betrachten den Verstorbenen als das
Opfer einer verderblichen Doktrin. Die Doktrin, welche unseres Wissens von
einem protestantischen Mitgliede des klerikalen Centrums so formulirt wurde:
die Partei steht über dem Vaterlande. Die Consequenz dieses Satzes ist, daß
man das Vaterland verderben darf, ja verderben muß, wenn die Partei, der
man dient, darin nicht herrscht. Das ist die Verneinung aller höheren Sitt¬
lichkeit. Das Vaterland, das heißt nicht bloß Haus und Boden, sondern der
Geist der heimathlichen Geschichte ist Gottes lebendiges Werk, in dem Gott
fortwirkend waltet. Alle Doktrinen, auf welchen die Parteien beruhen, sind
in weit höherem Grade das Werk der subjectiven Meinung. Die subjective
Meinung über die lebendigen Schöpfungen der Geschichte zu stellen bis zu
dem Grade, um diese Werke nicht bloß reformirend zu beeinflussen, sondern,
wenn sie sich dem subjectiven Einfluß nicht zugänglich zeigen, dieselben zu
verderben, ist der Gipfel aller Unsittlichkeit. Beeilen wir uns. es thut wahr¬
lich Noth, daß diese Wahrheit die allgemeine Ueberzeugung des deutschen
Volkes werde. Ein Mann wie Mallinckrodt, und Solche, vie seine Denkungs-
art theilen, mag der Meinung gewesen sein, daß die römische Kirche weit un¬
mittelbarer Gottes Werk sei, als irgend ein Vaterland, ja, daß diese Kirche
des Gläubigen einziges wahres Vaterland sei. Wohl, wir achten diese Ueber¬
zeugung. Wir fordern aber, daß der Diener dieser Ueberzeugung äußerlich
wie innerlich nur diesem einen Vaterland angehöre, das er bekennt, und nicht
mit einem zweiten Vaterland ein heuchlerisches Spiel treibe, indem er sich in
dasselbe drängt, um es zu untergraben. Man kann nur Ein Vaterland haben.
Entweder die konkrete Staatsindividualität, der auch der religiöse Glaube
nicht verschmäht zu dienen, indem er ihre Wurzel unablässig vervollkommnet,
indem er sie stets gewissenhaft schont, oder den päpstlichen Universalstaat, der
alle Wurzeln selbstständigen Lebens ausrottet, damit sein Baum allein wachse
Vor einigen Monaten lernte der Schreiber dieser Zeilen im Waggon
einen in Straßburg ansässigen Deutschen kennen. Das Gespräch drehte sich
um die politische Gährung im Elsaß, vornehmlich um die bevorstehenden oder
eben vollzogenen Reichstagswahlen. In Erinnerung daran schicke uns der
Reisegenosse jetzt ein kleines, damals erschienenes Wahlpamphlet, das. originell
nach Form und Inhalt, wohl geeignet war, maßgebend einzuwirken. Heute
hat dasselbe allerdings sein momentanes Interesse verloren, aber die deutsche
Stimme aus dem Elsaß, die Stimme eines besonnenen, mit dem elsässischen
Volke genau bekannten Mannes dürfte unsern Lesern doch noch immer will¬
kommen sein. Und um so lieber theilen wir einen Auszug aus diesem im
Buchhandel inzwischen vergriffenen Schriftchens mit, als es die vierfache Par¬
teibildung in Straßburg, die sich im übrigen Elsaß vermuthlich analog voll¬
zogen hat, aufs deutlichste kennzeichnet.
Wer Straßburg besucht hat, wird sich einer alterthümlichen Rolandstatue
erinnern, die im Volksmunde der „Ah're Mann" heißt. Diesem eisernen Manne
hat der ungenannte, nur mit A. P. sich unterzeichnende Verfasser seinen po¬
litischen Rath in den Mund gelegt. Somit lautet der Titel der kleinen Flug¬
schrift: Unseri Reichst-Wähle. D'r Ah're Mann an Spill Mitburjer.
Nach kurzer, volksthümlich gehaltener Einleitung heißt es folgendermaßen:
Was die Wahl betrifft, so wär's freili besser gewese wenn sich Atli
z'Saume - n - in der gröeßschten Emile't druff präpariert hätte. Leider isch dieß
nit der Fall; der Ein will jischt, der Ander hott, so daß mer in dem Wirr¬
warr ganz konfus würd. Wie wär's, liewi Frind. wenn mer browiere däte
mitnander die verbuddelt Barrück uszesträhle, um usfindi ze mache uff wöeller
Syd d' Wahrheit isch.....'
I. Zeersch wöelle mer von denne rette wo d foljed Bedingung uffschtelle:
„Unsri Deputierte denn d' Verpflichtung geje d' Annexion 'it outrMoö zu
proteschtiere, sie solle - n - im Reichsdaa öeffentlich erkläre, daß 's Elsaß durchus
nit dytsch will Sinn, sie solle - n - endlich nix andersch thuen als proteschtiere."
. ... Uff die Art hätt unser Gespräch mit em Reichsdaa halt en End; aler
würde „Nein" ruefe, d' Andere mit „Ja" antworte, un sie däte - n - allewäy 's
letscht Wort b'halte. Wenn mer's mit dem eiteln will bewerbe losse, se-n-isch
der Telegraph oder d' Briefposcht ganz hinlänglich un d' Reis moves Beerlin
en uewwerflüßijer Schtaat; oder wenn mer doch hier wott gehn so kommt
mer doch nit alle Daa 's neuli repetiere, deswäje wär's 's Befehl moves ab¬
gemachter Sach glych zeruckzekumme, un dernoth hätt's Elsaß 's Recht syne
Deputierte zu bemerke, daß sie ewwe so guet hätte komme d'heim blywe . . .
Isch denn so e Handlungsart im Intresse vom Land!.....
II. Jetzt kumme mer zue ere zweite Kandidats - Partei, die sich unter
der Firma „L. Winterer Cte." bekannt gemacht hat. Ich for myn Theil
bin der Meinung, daß diß Schild besser an e Kirchthüer gehaßt hätt als
an's Thor vom Reichsdaa . . . Angenehmer wärs freili gewese, nit von dem
Ardikkel rette ze bruche; opt awwer die Herre - n - in d' Oeffentlichkeit getrete
Sinn un in der Reljon e politisch's Kleid angedoon denn. so wäre sie 's an
ditil finde, daß sich d' öeffentlich Kritik mit lune so guet wie mit de Welt-
Andere - n - abgitt, wie's üewwrigens 's Recht un d' Pflicht vom e jede Wahl¬
mann isch......'S gilt Männer, die wirklich Pretentione han, wo alli
billije Gränze-n- üewwerschryte; Männer, die sich uff e Standpunkt setze,
där nit in ihrem aijene Land, awwer wye üewwer de Berje ze finde - n - isch,
Ultra rnolltes; un die sich ynbilde unterdrückt ze Sinn, wenn nit Alles moves
ihrem Kopf geht. O du armi Freiheit! du hätt'sah allewäy in unserm irdische
Jammerthal e bessere Stand, wenn e Jeder dich so gern for Anderi hätt,
als for sich selbsch! . . . liewi Lyk, der ys're Mann hat alli Schrecke vom
Mittelalter mitgemacht, er hat's mit arg'sehe, wie oft d' alte Straßburjer
unter'in Druck von ihre geischliche Herrschafte denn lyde müesse, un er macht
nur eine Wunsch, daß mer so Zyte-n-uff ewig hinter uns han, Deswäje
steht er nit en eomxts courant mit der Firma: L. Winterer Cie. . . .
III. Nooch denne Herre kummt jetz's Arweiterkomitee us em schwarze
Bäre. I ha von altersher denne Stand gern g'het, denn 's gilt viel draoi
Männer drunter, awwer juscht deswäje thuet 's mer leid so Sache ze hoere
wie fletscht, wo Einer by aler üewwer syne Herre klaaut, un derzuesetzt, daß
der Patron der Flut un der Unterdrücker vom Arweiter isch. — In dem
Fall, baw ich g'antwort't, wenn d' Patrone so schädlichi Lyk Sinn, un um
consequent zu blywe, so müesse-n-Jhr e G'sellschaft unter Euch formiere,
dernoh isch Freiheit un Weichheit, dernoh isch Alles Herr, un Ihr bilde-n-
uff'^die Art e großi Armee mit inter General. ... Wie kann awwer, liewer
Frind, Euer Sosjetät, wo notwendijer Wys so verschiedenartiji Lyk myn
kumme, broschberiere, wenn Alles kummediere will, un Rieme g'horche; wenn
d' Ungeschickte d' Urwelt verpfusche^ d' Funke nix thuen, un d' Vollzapf's ganz
G'Schaft verhuddle? Denn diß Alles müeßte'n Ihr lyde; opt Ihr kein Chef
otter Patron meh wöelle, se denn Ihr an doourch d' Ordnung un de G'hor-
sam abg'schafft; un was g'schicht dernoch? D' gucke - n - Arweiter wäre's
Opfer dervon, es sey denn, daß sie d' Lumpe mein Tempel nuswerfe.....
Im Uewwrige wenn an durch e großes Wunder d' Vermöjesglychheit kommt
am e fesselte Da« ze Stand kumme (Es muchte famosi r6xg,rtitsurs derby
Sinn), se wär vor Summen-Untergang Schnur Alles Widder unglych. — Diß
isch, Ihr Männer, was ich Euch in gucker Meinung hab saaue wöelle, mit
der Bitt drüewwer noochzedenke; Ihr wäre hosfetli finde, daß ich nit Unrecht
ha. — Un wenn ich Euch e Roth zu genn hab, se lon de Bebel in Taxe.
'
IV. 's Elsässer Komite. Jetz kummt der ysere Mann endlich uff Syrer
cujene Bodde. uff de liewen elsässer Bodde; jetz isch er d'heim by syne Frind;
do het d' elsäßer patriotisch Partei ihre Sitz: denn d' Männer von denne im
§ 1 geredt isch worre, denn e zue maaueres, truckes Terrain usgewählt, uff
dem kein Heilsami Pflanz gedeihe kann; d' geischtliche Herre vom § 2 ihrerseyts,
schyne viel meh von ihre kirchliche Angelejenheite yngenumme ze Sinn als vom
zeitliche Wohl vom Land. .... Micr denn dornen en andere Wäg yng'-
schlaue, un do isch vor e Paar Daa Herr Ferdinand Schneegans, e geschätzter
un for Spill praktische Kenntnisse wohlbekannter Burjer von hie, als Kandidat
uffgetrette. „Elsaß un Strosburri vor Allem", rueft er in syn Programm.
. . . . Unser Land brucht Männer, die wisse was sie wolle, die Usduur un
Willeskraft gerne han, um ze - n - erlange was gerecht un billig isch;
Männer, die Weisheit gerne b'sitze, um nit uff der Jagd moves Schatte¬
bildern ihr Zyt un ihn Kräfte zu verschwende, wahri Elsäßer mein, die nit
muet wäre ze begehre: — E g'setzgewendi Versammlung for's Elsaß, die mer
Schaffung von unsre G'setze' mitwirkt un unser Budget kontrolliert. —
Liberale Unrichtunge, unserer Obhuet anvertraut. — E lokali Rejirung, die
unabhängt d' inner Verwaltung v'sorrit. — E Vertretung von Elsaß-
Lothringen im Bundesrath, die unsri Wünsch usdruckt un diß was uns
Noth thuet unterstützt. — Unser Theilnahm an alle Verhandlunge, die all-
gemeini Intresse, d' Zuekunft von unserm Handel, von unsrer Jnduschtrie,
's Loos von unsere-n-Arweiter und Ackerslyt betreffe —.....So eiteln
kann's Elsaß Widder uff e grüene Zweij kumme, daß Widder frischer's Binet
durch Spill Obere zeijt, daß Handel un Jnduschtrie Widder floriere, so allein
können emool d' Wunde vernarwe, wo in unserm arme Land Sinn geschlaaue
worre. Uff denn, Ihr Mitburjer, Elsaß un Strosburri vor Allem!.....
Wir brauchen nicht darauf aufmerksam zu machen, wie vorsichtig und
doch eindringlich diese kleine Wahlschrift gehalten ist; wie sie um die schwie¬
rigen Fragen nach der Rechtmäßtgkeit der Annexton, der Diktatur, der
Stellung der Reichslande u. s. w. herumgeht und scheinbar harmlos, wie aus
dem Auge eines einfachen Bürgersmannes heraus, doch den einzig richtigen
und wichtigen Punkt: die Hebung und Wiederbelebung der Provinz — er¬
sieht. Möge der Ah're Mann, der uralte Schutzpatron von Straßburg,
Die französische Nation steht in der gegenwärtigen großen Geschichtsperiode
nicht zum ersten Mal wie ein großes Räthsel den anderen Nationen des
civilisirten Europa gegenüber; auf der einen Seite die Ruhe des Volkes,
seine kräftige Arbeit, welche sich bei jeder Gelegenheit bemerkbar macht, wenn
es gilt, den enormen Credit Frankreichs zu erweisen, wenn es gilt die Palme
der soliden und schönen Industrie auf einer Weltausstellung davon zu tragen.
— auf der andern Seite der parlamentarische Zank und die Intriguen der
politischen Parteien von Versailles, der Druiden und der Ritter. Wohin
soll das führen? wie wird das enden? Muß es überhaupt enden? Das
lebendige Leben kennt nur Wechsel, kein Ende.
Individuen, ganze Völker urtheilen heut über Frankreich, über die Gallier
mit derselben Verachtung ab, wie jener steifnackige, vorurtheilsvolle Römer
Julius Cäsar, welcher — abgesehen von seinem persönlichen Vergnügen, das
er übrigens mit dem politischen wohl zu verbinden wußte, — nur den einen
Gedanken hatte:
„?u rLZLi'ö imporio poxulos, Romano, momonto."
Diese Völker und Individuen schauen nur auf den Hausstreit der leiten¬
den Parteien und scheinen fast zuzulassen, daß die Geschichte ein Rechenerempel
sei, obgleich sie doch aus der Erfahrung ihrer eignen Geschichte wissen sollten,
daß überall in der Historie die Würfel eine große Rolle spielen. Andere In¬
dividuen und Völker wieder erklären Frankreich nothwendiger denn je für die
Welt und erwarten von ihm Dinge, welche es wahrscheinlich nicht wird
leisten können. Diese Individuen und Völker sehen vor sich nur das arbeit¬
same, friedfertige und herzhafte Volk Frankreichs, welches ja kein Mythos,
sondern eine rechte Realität ist; — aber sie beachten gar nicht das Spiel
der leitenden Parteien, auch sie drücken die Geschichte auf den Werth eines
Pedantischen Rechenexempels hinab und räumen dem fallenden Würfel auf
dem grünen Tische des Schicksals nicht den gebührenden Platz ein. Neben
so vielen „logischen Konsequenzen", „ethnologischen Folgerungen". „Darwin--
schen Gestütsträumereien", „historischen Conelusionen" über den prädestinirten
Fall gewisser Racen, über welche gewisse andere sich „naturgemäß" erheben,
wird es wohl gestattet sein, auch einmal des bunten Schicksals in der mo¬
dernsten Geschichte Frankreichs zu gedenken. Und wer nicht unserer Meinung
wäre, soll wenigstens keinen Grund finden, uns nicht mit Nachsicht und Ge¬
duld reden zu lassen.
Am 23. Januar 1871 kam Herr Jules Favre nach Versailles, um mit
dem Grafen Bismarck über die Capitulation von Paris zu verhandeln. Die
Lebensmittelvorräthe der großen Stadt waren erschöpft; — nur wenige Tage
noch und Tausende von Menschen mußten nothwendig und buchstäblich
Hungers sterben. Die Pariser Bevölkerung hatte sich heroisch gehalten; über
das Maaß hinaus, welches ihr die glühendsten Verehrer des französischen
Volkscharakters zutrauten. In der That wer diese Bevölkerung kannte,
welche sich unter dem zweiten Kaiserreich eines kaum je erlebten Wohlstandes
erfreute, welche durch diesen bis in die untersten Schichten hinabreichenden
Wohlstand verwöhnt war, welche unter seinem Einfluße allmälig ihre Lebens¬
genusse verfeinert hatte, — wer inmitten dieser Bevölkerung wenige Monate
vor der Belagerung gelebt hatte, — wie durfte er ihr zumuthen, daß sie sich
Monate lang mit den gröbsten, mit den ekelhaftesten Nahrungsmitteln be¬
gnüge, ohne zu murren und noch in steter Bereitschaft, neue größere Opfer
zu bringen. — Es ist ja wahr, daß einzelne Bevorzugte während der ganzen
Belagerung niemals Mangel gelitten haben und es ist auch wahr, daß diese
Bevorzugten keineswegs durchaus in den höheren Schichten der Gesellschaft
zu suchen sind. Aber diese bevorzugten Individuen waren in äußerst geringer
Zahl vorhanden. Die Masse litt, duldete, — duldete mit dem Willen für
Frankreich zu leiden. — Man muß Gelegenheit gehabt haben, in das Innerste
der Familien zu blicken, welches heilige Scheu überall und in Frankreich mehr
als anderswo dem profanen Auge verbirgt, um sich einen richtigen und
wahren Begriff von dem Elende zu bilden, welches grade die Belagerung über
die echte Bevölkerung von Paris' brachte. In einer Weltstadt wie Parks
ersetzt sich für den allgemeinen Ueberblick Alles leicht. An der Oberfläche
erscheint vom tiefsten Leiden bald nichts mehr. Aber es sind eben die Ele¬
phantentritte des nicht mehr jugendlichen Europa, welche das große Leid für
das flüchtige Auge des oberflächlichen Beschauers verwischen.
Ja, Paris stand am 23. Januar 1871 an der äußersten Grenze der noch
ertragbaren Leiden.
Herr Jules Favre, der noch vier Monate vorher mit seinem chronischen
Thränenpathos in alle vier Winde hinausgerufen hatte, daß Frankreich keinen
Zollbreit Landes, keinen Stein seiner Festungen aufgeben werde, mußte nun
im Büßergewande nach Versailles-Canossa gehn, und dort am 28. Januar
1871 die Uebereinkunft über die Kapitulation von Paris unterzeichnen, welche
im schreiendsten Widerspruch stand, zu dem, was er vor vier Monaten ge¬
sagt hatte. Diese Uebereinkunft ward der Ausgangspunkt einer neuen Aera
für Frankreich. Ihr zweiter Artikel sagte mit Bezug auf den in ihr stipu-
lirten Waffenstillstand:
„Der also verabredete Waffenstillstand hat den Zweck, der Negierung der Na¬
tionalvertheidigung die Berufung einer freigewählten Versammlung zu gestatten, welche
über die Frage zu entscheiden haben wird, ob der Krieg fortgesetzt oder unter solchen
Bedingungen Frieden geschlossen werden soll. Die Versammlung tritt in Bordeaux
zusammen. Alle Erleichterungen zur Wahl und zum Zusammentritt der Abgeordneten
werden Seitens der Befehlshaber der deutschen Heere gewährt werden."
Wie unangenehm es nun immer der „^ssemdlvö nationale" sein möge,
welche wider den Willen des französischen Volks, durch ihren Eigenwillen,
heute noch, — im Jahre 1874 existirt, — wie unangenehm es ihr fein möge:
dieser zweite Artikel der Convention vom 28. Januar ist ihr einziger Richts¬
titel. Auf Grund dieses Artikels ward sie berufen
„um über Abschluß des Friedens oder Fortsetzung des unseligen Krieges zu
beschließen".
Diese Versammlung, welche eigenmächtig heute noch forttagt, welche sich
eigenmächtig für souverän und constituirend erklärt hat, besaß zu allem Dem
nie den geringsten, nie auch nur den fadenscheinigsten Rechtsgrund. Die wildesten
Vertheidiger ihrer Usurpation, z. B. der impotente Nachfolger der Jungfrau
von Orleans, Monseigneur Dupanloup, haben dafür niemals etwas Anderes
beibringen können, als daß im September 1870, unmittelbar nach dem
Sturze des Kaiserreichs, ohne daß der Druck der deutschen Heere noch ein
völlig ausgesprochener war — also unter absolut anderen Verhältnissen. —
die Regierung der Nattonalvertheidigung die Berufung einer constituirenden
Versammlung angeordnet hatte, was dann sehr bald zurückgenommen ward
und nicht ohne zwingende Gründe. — Die Versammlung, welche auf Grund
des Artikels 2 der Uebereinkunft vom 28. Januar 1871 berufen ward, ward
nicht als constituirende berufen, sondern auf Befehl des Siegers, um über
Krieg oder Frieden zu beschließen. Wenn diese Versammlung aus Patrioten,
wenn sie nicht zum großen Theil aus den schlimmsten Parteiintriguanten be¬
stand, so mußte sie durch ihr patriotisches Gefühl bestimmt werden, so schnell
als möglich wieder auseinanderzugehn. nachdem sie grade nur ihre specielle
Aufgabe gelöst hatte. — sie mußte so schnell als möglich wieder auseinander-
gehen, weil sie ihre ganze Existenz nur einem Befehl des Feindes verdankte,
weil nur eine andere neue Nationalversammlung eine würdigere Stellung
gegenüber dem halb oder ganz befreiten Frankreich einnehmen konnte.
Am 8. Februar 1871 fanden die Wahlen zu der am 28. Januar von
Bismarck dictirten Nationalversammlung statt; am 13. Februar trat diese
Versammlung zu Bordeaux zusammen. Nur elf Tage liegen zwischen dem
28. Januar und dem 8. Februar. Binnen 10 oder 11 Tagen sollte das
französische Volk sich nicht blos über eine der größten Fragen in Betreff
seiner Geschicke entscheiden, sondern auch die geeignetsten Repräsentanten seiner
Meinung herausfinden. Eine außerordentlich schwierige Aufgabe! doch schien
sie durch die dringenden Umstände selbst vereinfacht zu sein. Das französische
Volk hatte damals nicht die geringste Ahnung davon, daß die Versammlung,
welche aus den Wahlen vom 8. Februar hervorgehen sollte, die Dreistigkeit
haben würde, sich die souveräne Gewalt über Frankreich anzumaßen.
Auch aus deutscher Seite konnte man schwerlich voraussehen, was sich
wirklich begeben hat. Die deutschen Heere, mitten in Feindesland, in schwie¬
rigeren Umständen, als dies nach vollständig gesichertem Siege pflegt zugegeben
zu werden, durften dem Gegner keineswegs gern wochenlange und unbedingte
Muße zu neuen Rüstungen gestatten. Aber sollte nicht Bismarck trotz allem,
wenn er voraussah, daß diese aus den Wahlen vom 8. Februar hervor¬
gegangene Versammlung sich Souveränetät und constituirende Gewalt an¬
maßen werde, sollte er nicht gern dem französischen Volke einige Wochen
mehr der Ueberlegung zu den Wahlen für diese Versammlung gegönnt haben.
Kurz und gut: die Verhältnisse waren gegeben; in unendlich kurzer Frist
sollte Frankreich eine Nationalversammlung wählen, — aber in aller Augen
hatte damals diese Nationalversammlung nur über die Frage zu entscheiden:
Krieg oder Frieden! — Frieden mit den größten Opfern für eine neue Auf¬
erstehung, — Krieg „bis aufs Messer" ohne jede Aussicht auf Erfolg, mit
kaum bekleideten, kaum bewaffneten, gar nicht organisirten und gar nicht
commandirten Milizen. Ganz Frankreich lechzte nach Frieden; — ganz Frank¬
reich, mit Ausnahme des durch die lange Belagerung Psychisch und physisch
exaltirten und irritirten Paris, mit Ausnahme einiger „tous tui'isux", die
niemals ihre Haut zu Markte getragen hatten. Ganz Frankreich mit diesen
wenigen, leicht wiegenden Ausnahmen hielt jetzt den Abschluß des Friedens
um jeden Preis für eine unausweichliche Nothwendigkeit. Die Franzosen,
ihrer großen Masse nach wollten nur solche Männer in die National¬
versammlung wählen, welche für den Frieden stimmen würden.
Was blieb da für eine Auswahl?
Bonapartisten konnten im Februar 1871 nicht gewählt werden.
Die Leute, welche von einem Tag auf den anderen leben, welche sich weder
um Vergangenheit, noch um Zukunft bekümmern und sich wunder wie weise
dünken, wenn sie vor ihrer von ihnen gerade stets mißhandelten Göttin
Opportunitas auf den Knieen liegen, werden das allerdings heute ungern
zugeben. Allein man erinnere sich doch der wuthvollen Sitzung der National¬
versammlung vom 1. März 1871, in welcher die Absetzung der Dynastie
Napoleon ausgesprochen ward. An diesem Tage wagten nur fünf Männer
ihr Votum gegen diese Absetzung abzugeben; nur zwei hatten es gewagt,
dagegen zu reden, offen ihre Stimme für Napoleon III. zu erheben. Und
doch waren diese zwei, oder diese fünf, in jener Versammlung von sieben¬
hundert Deputirten gewiß nicht die einzigen, welche vor Napoleon III. auf
den Knieen gelegen, so lange er Kaiser war. Napoleon III. hat es noch
erlebt, daß er Milde und Gerechtigkeit im Urtheil bei denen finden und
suchen mußte, welche während seiner Glanzperiode ihn am meisten angegriffen
hatten; seine Creaturen waren am unerbittlichsten gegen ihn. Ein lehrreiches
Exempel für die Tagesgötzen, welche Napoleon III. abgelöst haben. Heute
schon wider wollen sehr viele von den Mitgliedern der Nationalversammlung
sich kaum noch des blinden, stierartigen Hasses erinnern, mit welchem
sie am 1. März 1871 über Napoleon III. herfielen. Aber heute arbeitet
der Griffel des Stenographen; es wird über solche Sitzungen Protocoll
geführt und die Thatsachen werden derartig festgestellt, daß Ovid sie
nicht mehr im Wunderspiegel seiner Metamorphosen umzauvern kann.
Die Bonapartisten konnten nur in sehr geringer Anzahl in die National¬
versammlung kommen; und ebenso verhielt es sich mit den radicalen
Republikanern. Die Bonapartisten wurden verdammt, weil man ihnen die
Anstiftung des unseligen Krieges zuschrieb; die radicalen Republikaner, weil
man annahm, daß sie die Fortsetzung dieses unseligen Krieges wollten.
In der That hatten die radicalen Republikaner damals zum größten
Theil die Parole: „Krieg bis aufs Messer." Unter diesen Männern waren
die einen aufrichtig, die anderen durchaus nicht aufrichtig. Die ersteren
glaubten wirklich, daß ein Verzweiflungskampf Frankreich noch retten könne
und daß ein solcher noch möglich sei; — die anderen aber glaubten gar nicht
daran; sie wußten vielmehr, daß eine Majorität für den Friedensschluß um
jeden Preis sicher sei, daß sie dreist dagegen stimmen konnten, ohne den
Frieden zu hindern, und daß sie sich damit auf wohlfeile Weise eine Popu¬
larität für andere Zeiten gewinnen könnten. Der großen Masse des fran¬
zösischen Volkes, welche niemals den Krieg gewollt hatte und jetzt aufs Aller-
entschiedenste nach dem Frieden verlangte, blieb bei der kurz bemessenen Zeit
zur Auswahl für die Nationalversammlung nur Dasjenige, was Napoleon III.
beharrlich die „alten Parteien" genannt hatte und dessen Wiederauftauchen
— man muß ihm das Gute lassen, welches er hatte, — er mehr noch für
Frankreich als für sich fürchtete.
Diese alten Parteien hatten sich seit dem 4. September 1870 besonnen
und wenigstens zum Theil reorganisirt; bei den Wahlen vom 8. Februar
drängten sie sich hervor und siegten beim Mangel an Mitbewerbern. Diese
alten Parteien waren die Orleanisten, die Legitimisten, dann die jetzt so¬
genannten „gemäßigten Republicaner", welche ebenso gut „gemäßigte Mo¬
narchisten" genannt werden könnten. Es sind Leute, die bald rechts, bald
links gehen, stets von Opportunist reden, aber die Opportunität allzusehr
nach persönlichen Interessen bemessen, vielleicht mit dem besten Willen, es
anders zu machen; — sie können einmal ihre Natur nicht verläugnen. Von
den wenigen wirklichen Republikanern, welche — außer in Paris — in die
Nationalversammlung gewählt werden konnten, welche von Anfang an für
die Erhaltung des Friedens gearbeitet hatten und nun die Wiederherstellung
des Friedens für eine gebotene Nothwendigkeit hielten, — von diesen verlohnt
es sich kaum zu reden; ihre Zahl mußte unter allen Umständen eine ver¬
schwindend kleine sein. Unter den einmal gegebenen Umständen, — bei der
Kürze der Zeit zur Ueberlegung, bei dem tief und allgemein gefühlten, Alles
beherrschenden Friedensbedürfniß, bei der Voraussetzung, daß die am 8. Februar
1871 gewählte Versammlung nur über Krieg oder Frieden zu entscheiden
habe, daß sie sich für den Frieden entscheiden und dann natürlich sofort
auseinandergehn werde, mußte jetzt die Majorität dieser Versammlung aus
Monarchisten bestehen.
Unter diesen Umständen und unter dieser Voraussetzung wählte das
französische Volk am 8. Februar richtig und zugleich ohne Gefahr. Allerdings
aber hatte es nicht, — was zumal bei der kurzen Ueberlegungsfrist auch ganz
unmöglich war, — mit der uralten Wahrheit gerechnet, daß parlamentarische
Versammlungen, welche nicht auf bestimmte verfassungsmäßige Weise mit vor¬
geschriebenen kurzen Erneuerungsfristen gewählt werden, sich allzuleicht von
ihren Wählern emancipiren und dazu neigen ihre eigenen Wege zu gehen. Kaum
war die Nationalversammlung in Bordeaux zusammengetreten, als auch schon
die Intriganten der „alten Parteien" ihre Truppen zu zählen und darauf ihre
Spekulationen zu begründen anfingen.
Zum Präsidenten der Nationalversammlung ward am 16. Februar 1871
Herr Jules Gre'op gewählt. Dieser Jurassier war ein altbewährter Demokrat
und Republikaner, höchst gemäßigt in seinem Wesen, in der Rede und in der
Form, fest in den Grundsätzen, in seiner politischen Geschichte reinlicher als
irgend einer der wirklichen oder der sogenannten Staatsmänner Frankreichs.
Diese bedeutungsvolle Wahl ward begreiflicher Weise vielfach commentirt.
Die Optimisten sagten: mit dieser Wahl sei der Republik eine unzweifelhafte
Huldigung dargebracht worden, — sie beweise, wie bei der Mehrzahl der prä-
tentirten Monarchien von allen Parteien anerkannt werde, die Republik sei
im Stande, das französische Volk zu vereinigen und über die Klippen hinweg-
zubnngen, welche es in der That zu überwinden hatte, um aus dem Strudel
des zweiten Kaiserreichs und seiner Folgen zu geordneten Umständen zu ge¬
langen. Die Optimisten stellten den „alten Parteien" ein vortreffliches Tu¬
gendzeugniß aus. Die Pessimisten, wenn auch oft verdächtigte, so doch regel¬
mäßig bessere Beobachter wenigstens gewisser politischen Ereignisse unserer Zeit,
erklärten vom ersten Tage ab, Gre'op's Wahl für ein Compromiß und ein
Provisorium, zu welchem sich die „alten Parteien" verstanden hätten, weil
sie noch nicht wüßten, wie sie die von ihnen angestrebte Monarchie wieder
durchsetzen können und weil sie es deshalb noch nicht für zeitgemäß hielten,
die Maske abzuwerfen.
Am 17. Februar 1871 ward von der nunmehr constituirten National¬
versammlung Herr Thiers zum Chef der Executivgewalt erwählt „unter Bor¬
behalt der Entscheidung, welche Frankreich über die endgültig anzunehmende
Regierungsform treffen werde." „Es sei nothwendig," hieß es in dem Be¬
schlusse, „sogleich Fürsorge zu treffen für die Leitung iber Verhandlungen
(mit Deutschland über den Frieden) und für die Besorgung der Regierungs-
geschäfte." Herr Thiers erhielt durch diesen Beschluß das Recht, sich seine
Minister zu wählen; die Ausübung seines Amtes ward aber ausdrücklich
unter die Controlle der Nationalversammlung gestellt. Man erkennt leicht,
wie schon am 17. Februar die Monarchisten in der Nationalversammlung sich
gezählt und ihre Sache gut befunden hatten. Die intriganten Führer dieser
Monarchisten waren aber keineswegs Legitimisten, sondern Orlea nisten.
Diese waren es, welche vorsorglich die Bestimmung der Regierungsform vor¬
behielten und vor allen Dingen eine definitive Erklärung der Republik ver¬
hinderten. Wir müssen später darauf zurückkommen, wie diese schlauen Leute
schon während des unseligen Krieges von 1870 und 1871 für die Interessen
ihrer Partei arbeiteten.
Herr Thiers glich in Nichts dem Präsidenten der Nationalversammlung.
Herr Thiers ist ebenso lebhaft, ebenso turbulent, als Herr Grevy zugeknöpft
und ruhig. Herr Thiers ist ein ausgelassener Parlamentarier und war bis
1870 niemals auch nur im Entferntesten Republicaner. Zu einem nicht un¬
bedeutenden Theil hatte er das zweite Kaiserreich verschuldet, weil er einer
der eifrigsten und gewandtesten Verbreiter der Freiheits- und Ruhmeslegende
des ersten Kaiserreiches war. Er war durchaus befangen in reaktionären
Ideen: entschiedener Feind des Freihandels; erklärter Freund aller centrcilisirten
Staatspolizei, Feind jeder freiheitlichen und einheitlichen Entwickelung des
Volkes außerhalb Frankreichs. Franzose vom Scheitel bis zur Zehe, glühen¬
der Patriot war er daneben, soweit ihn nicht seine reactionären Neigungen
völlig umdüsterten, mit dem feinsten Gefühl begabt für Alles, was das Wohl
seines Landes betrifft, fähig zu allen Opfern für dieses Land, redegewandt,
aber freilich geneigt, auf die „Geschicklichkeit" oder „Gewandheit" einen allzu-
großen Werth zu legen und Siege, welche in Parlamenten errungen werden,
für solche zu halten, welche nur den Nationen oder der Weltgeschichte abge¬
rungen werden können.
Herr Thiers war der Einzige gewesen, welcher 1870 in dem gesetz¬
gebenden Körper, den ihn umringenden Tumult mißachtend, mit Ruhe und
Klarheit vor dem Beginne des Unglückskrieges gewarnt hatte, — nicht etwa,
weil er diesen Krieg für ungerecht, sondern weil er den französischen Sieg in
diesem Kriege unter den gegebenen Umständen für unmöglich erkannte. Als
dann wirklich, wie er vorausgesetzt, alles unglücklich verlief, da hatte wieder
Herr Thiers seine Kraft daran gesetzt, daß Frankreich zu baldigem Frieden
mit möglichst geringen Nachtheilen für das Land gelange. Endlich jetzt, da
eine Nationalversammlung wirklich zusammengetreten war, da Friedensbe¬
dingungen vorlagen, nahm er es wieder auf sich, diesen Frieden herbeizufüh¬
ren und ihn durchzuführen. Er war in 26 Departements als Deputirter ge¬
wählt, weil er vor dem Kriegsausbruch vor dem Kriege ernstlich gewarnt
und, nach dem Kriegsausbruch, da alle seine Vorhersagungen in Erfüllung
gingen, die ganze Kraft, die ein einzelner Mann daransetzen kann, aufge¬
wendet hatte, für Frankreich sobald als möglich den Frieden unter so gün¬
stigen Bedingungen als möglich wiederzugewinnen.
Am 18. Februar hatte Herr Thiers sein Ministerium zusammengesetzt,
allerdings auf höchst sonderbare Weise: aus Männern der Regierung, der
Nationalvertheidigung, aus alten Orleanisten und Legitimisten, aus Frei¬
händlern und Protectionisten, man dürfte noch hinzufügen aus Clericalen und
Freidenkern. Dem Politiker Thiers machte diese Zusammensetzung des Mi¬
nisteriums wenig Ehre, aber sicher dem Menschen und dem Franzosen. Herr
Thiers konnte sich nicht vorstellen, daß ein Franzose in diesem Augenblick an
irgend etwas Anderes denke, als an das Wohl Frankreichs, daß ein Franzose
in diesem Augenblick sich mit Parteiintriguen abgeben könne. Herr Thiers
dachte nicht daran, daß auch er immer bereit sei, — hin und wieder
zu den besten Zwecken — seine „Iuchilet6" spielen zu lassen, — es fiel
ihm nicht ein, daß, wenn er selbst dieses Spiel aufgebe, andere darauf
sinnen könnten, es für ihre Parteiinteressen aufzunehmen und fortzu¬
setzen. In dem naiven Glauben an seine Überlegenheit und an die über¬
legene Gewalt seiner Geschicklichkeit, — fügen wir sogleich hinzu in dem Be¬
wußtsein von seiner augenblicklichen Ehrlichkeit und Ueberzeugungstreue —
sprach Herr Thiers zuerst am 19. Februar 1871 seine Meinung über die
Aufgabe der Nationalversammlung aus, — auf sehr vernünftige Weise. Die
Aufgabe der Nationalversammlung war: „dem Lande den Frieden und eine
ruhig wirkende Organisation zu geben, den Credit wieder aufzurichten, die
Arbeit wieder in Gang zu bringen. Die Form — Monarchie oder Republik —
müsse gegenüber den dringendsten Bedürfnissen des Landes vorläufig als eine
müssige Frage betrachtet werden, mit der Niemand das Recht habe, sich auch
nur im Entferntesten zu beschäftigen, solange Frankreich noch in den Händen
des Feindes sei. Sei es einmal aus diesen befreit und die Arbeit des Volkes
wieder in Gang gebracht, dann werde die Regierung Frankreich sich selbst
zurückgeben, damit dieses sage, wie es fernerhin leben wolle. Dann werde
der Wille der Nation entscheiden." Am 19. Februar 1871 erklärte Herr
Thiers die Nationalversammlung keineswegs für souverän. Die orleanistischen
Intriganten waren vorläufig mit ihrem Vorbehalt vom 17. Februar, welchen
man seitdem den „Pact von Bordeaux" getauft hat, zufrieden.
Thiers, begleitet von einer Commission von Is Mitgliedern der Natio¬
nalversammlung begab sich nach Versailles, um hier am 26. Februar die
Friedenspräliminarien mit Deutschland abzuschließen. Am 1. März wurden
diese Friedenspräliminarien zu Bordeaux von der Nationalversammlung mit
S46 gegen 107 Stimmen angenommen. In Folge dessen traten die Depu-
tirten der von Deutschland annectirten französischen Landestheile aus der Ver¬
sammlung und mit ihnen viele radicale, namentlich von Paris gewählte
Abgeordnete; nicht zum Vortheil der Sache der Freiheit. Am 10. März
beschloß die Nationalversammlung die Verlegung ihres Sitzes nach Ver-
sailles, der Capitale der Bourbonen; Paris sollte um jeden Preis decapi-
tilisirt werden. Die reactionären Elemente der Versammlung erlangten von
Tage zu Tage mehr das Uebergewicht und wurden in dieser entscheidenden
Zeit immer siegesbewußter, nicht ohne die Schuld der Radicalen. Dies hatte
nun zunächst die traurige Folge, die durch eine lange Blokade ohnedies über¬
reizte pariser Bevölkerung zu provociren und ihr ein tiefes Mißtrauen ein¬
zuflößen. Die Regierung des Herrn Thiers (wir müssen dessen schlechte, wie
seine guten Seiten bezeichnen) that ihr Mögliches, dieser Provocation den
ungeschicktesten, beleidigendsten und gehässigsten Character zu geben.
Am 15. März brach der Aufstand gegen die reactionäre Volksversamm¬
lung in Paris aus. Dieser Aufstand erhielt bald darauf einen bestimmten
Namen, den der „Commune". Ursprünglich war er nichts als ein Ausdruck
des Mißtrauens gegen die Nationalversammlung, „welche das Volk entwaff¬
nen wolle, um mit einer Gensdarmenarmee es zu bekämpfen"; bald wurde
er ein Protest gegen die Allgewalt des Staates, gegen den Cäsarismus, eine
Manifestation für die Gemeindefreiheit gegen die Staatspolizei. Herr Thiers,
äußerst reactionären Temperamentes, Feind jeder Freiheit, „die nicht vom
Staat geregelt ist", zog alle Truppen aus Paris zurück und studirte darauf,
die Commune von Paris zu bekämpfen, wie 1848 Radetzky die Commune
von Mailand hätte bekämpfen sollen.
'
Herr Thiers bildete zur Bekämpfung der Commune seine „Armee von
Versailles" theils aus Truppen, welche noch nicht von den Deutschen ver¬
sprengt waren, theils aus solchen, die dieses Schicksal gehabt hatten und
deren Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft man von Deutschland erbitten
mußte. Zum Oberbefehlshaber dieser „Armee von Versailles" ward der
Marschall Mac Mahon ernannt, welcher die Armee von Chalons so un¬
geschickt, so unentschieden, so langsam als möglich in die Mausfalle von
Sedan geführt hatte, welcher dem Schicksal, die Capitulation von Sedan
unterzeichnen zu müssen, lediglich durch jene hinterlistige preußische Flinten¬
kugel entgangen war, welche ihn am Morgen des 1. September glücklich traf.
Diesem Marschall Mac Mahon ward jetzt eine glorreiche Reputation gemacht,
— kein vernünftiger Mensch begriff wieso? Aber die glorreiche Reputation
ward ihm gemacht und Herr Thiers schreinerte eifrig an dem Sprungbrett,
mittelst dessen der Marschall Mac Mahon zwei Jahre später ohne Anstrengung
über ihn hinfort hüpfen sollte. Dieses Reputationsmachen ereignet sich
in moderner Zeit häusig, — keineswegs blos in Frankreich. Sonderbar ist
dabei zu sehen, wie meist dieselben Leute, welche die Reputationen machen,
zuerst Grund zur Reue über ihre Thätigkeit finden.
Es begann nun also der Gewaltkampf gegen die Commune. Herr Thiers
belagerte dasselbe Paris, welches auf sein Betreiben befestigt worden war.
In Deutschland erfand man zu dieser Zeit und insbesondere nach dem Falle
der Commune vielen Spott über Herrn Thiers. Er sollte sich zum Beispiel
gerühmt haben, — er hätte die Festung Paris eingenommen, welche Moltke
nicht habe erobern können. Ganz unberechtigt war dieser Spott nicht: denn
in der That hält sich Herr Thiers für einen großen General und hat mit
dieser Präsumtion und dem Prestige, welches ihm in anderer Beziehung wirk¬
lich gebührte, unter seiner Präsidentschaft viel Unheil angestiftet, durch die
falsche Bahn, in welche er die Reorganisation der Armee und die Reorgani¬
sation des Materials der Armee leitete.
Während die „Armee von Versailles" sich noch zur Belagerung von
Paris rüstete, berieth die Nationalversammlung, nunmehr in Versailles
etablirt, das neue Gemeindegesetz. Die durchaus reactionäre Majorität der
Versammlung glaubte damals ihren Zwecken, Restauration der Monar¬
chie u. s. w., besser durch Decentraliscttion als durch Centralisation dienen zu
können; sie verlangte die Wahl der Maires durch die Gemeinderäthe; und
nur mit Mühe trotzte es ihr Herr Thiers, der zwölf Gensdarmen in seinem
zarten Herzen trägt, damals ab, daß wenigstens vorläufig die Maires in
allen Städten über 20000 Einwohner, in allen Hauptorten der Departements
und der Bezirke von der Regierung ernannt werden sollten, — also vor allen
Dingen in Paris. Der Liberalismus des Herrn Thiers ist seiner Art nach
außerhalb Frankreichs an wenigen Orten verständlich. Jetzt wollten ihn auch
die Pariser nicht verstehen. Die Nationalversammlung fügte sich am 8. April
dem Willen des Herrn Thiers und — damit erhielt nun der Kampf der
Commune von Paris, als Vertreterin aller größeren Städte, gegen die Na¬
tionalversammlung — Isg VergMIais, Iss Verstüllöux, leg Rursux — erst
seinen positiven Boden. Herr Thiers wies hartnäckig jede Verständigung
mit den Communarden zurück; er verlangte ihre unbedingte Unterwerfung.
Er behielt Recht. In der That waren die Truppen der Commune noch
schlechter organisirt und commandirt als diejenigen von Versailles. Die letz¬
teren befanden sich plötzlich am 21. Mai innerhalb der Enceinte von Paris,
ohne recht zu wissen, wie dies gekommen sei; nach achttägigen Straßenkampfe,
am 28. Mai, waren sie vollständig Herren der Stadt.
Das Urtheil über den Krieg der Commune fällten, wie es sich von selbst
versteht, die Sieger und ihre Bundesgenossen. Es ist daher höchst falsch und
einseitig, in manchen Punkten geradezu verrückt. Ursprünglich und seiner
Basis nach war unbedingt der Widerstand der Commune gegen die centra-
listischen Polizeiideen des Herrn Thiers vollständig gerechtfertigt. Auch war
es nicht die Commune, sondern Herr Thiers, welcher jede Verständigung un¬
möglich machte. Eigentlich kann nur ein hartherziger Egoist übersehen, wie
sehr die Bevölkerung von Paris durch die Belagerung von 1870/71 mitge¬
nommen, wie sehr sie nothwendig physisch exaltirt war. Durch ungerechte
Bestimmungen zu Gunsten der Bourgeoisie, z. B. über die Wohnungsmiethen,
wurde die zahlreiche Arbeiterbevölkerung bis an die äußersten Grenzen des
Elendes und der Verzweiflung getrieben. Sicherlich fanden sich zahlreiche
Strolche in den Reihen der Commune und schließlich erlangten diese sogar
die Oberhand, — aber demjenigen, der die Gagenverhältnisse der guten
Pariser Arbeiter vor dem Kriege von 1870 kennt, zu denen sie alle bei eini¬
ger vernünftiger Leitung bald wieder gelangen konnten, muß es geradezu
lächerlich erscheinen, wenn man ihm vorerzählen will, diese Arbeiter hätten
die Brandfackel des Bürgerkrieges geschwungen, um die 30 Sous täglich nicht
zu verlieren, welche sie als Nationalgardisten während der Belagerung durch
die Deutschen, erhalten hatten. — Weiter, wenn Strolche in den Reihen
der Commune kämpften, und jedenfalls waren sie dort, — waren denn nicht
ebenso viel Strolche in dem Anhange der Armee von Versailles? Die ersten
ruchlosen Ermordungen in diesem Bürgerkriege gingen nicht von den Com¬
munarden, sondern von den Versaillern aus. Das ganze vom Kaiserreich
großgezogene Spitzelgesindel, dem nichts heilig ist, hatte sich ja gerade nach
Versailles unter die Fittige des Herrn Thiers zurückgezogen. Die infamen,
in jede Kammer, in jedes Bett hineinleuchtenden Denunciationen nach Nie¬
derwerfung der Commune haben es zur Genüge bewiesen. — Petroleum ist
sicherlich von Communarden statt zur Beleuchtung auch zur Brandstiftung
angewendet worden; aber auch von Thiersisten. Es wäre ebenso ungerecht
für diese Ruchlosigkeiten kurzweg die Commune als kurzweg Herrn Thiers
verantwortlich zu machen. Wenn aber das erstere gesagt wird, kann ganz
ebensowohl das letztere gesagt werden. Eine spätere Zeit erst wird über diese
Dinge vollständige Aufklärung bringen. —
Dem Blutbade während des achttägigen Straßenkampfes, während dessen
tausende entwaffneter Communarden auf den Befehl der untergeordnetsten
Officiere, ohne Constatirung der Identität wie die Hunde niedergeschossen
worden waren, folgte nun ein vollends gräuliches Schauspiel, würdig der
Gräuel, welche mit Napoleon's Staatsstreich vom 2. December 1861 ver¬
bunden waren. Zu zehntausenden wurden arme, exaltirte, durch die Leiden
der preußischen Belagerung zur Verzweiflung getriebene Leute, oft auch nur
die Opfer schurkischer Denunciationen aus persönlicher Rachsucht, Männer,
Frauen und Kinder, eingefangen, zusammengebunden zwischen Spalieren von
Soldaten, ausgesetzt den Beleidigungen einer blödsinnigen Menge, transportirt
in die Kerker von Paris, in Viehpferche in der Umgebung von Paris, auf
den Pontons an der Westküste eingesperrt und nun dem Urtheil der Kriegs¬
gerichte preisgegeben, deren Zahl man immer vervielfachen mußte, damit nur
nicht absolut unschuldige Leute jahrelang eingekerkert blieben. Diese Kriegs¬
gerichte begannen ihre Thätigkeit am 7. August 1871; sie bestanden aus
Officieren, welche die Preußen nicht hatten schlagen können und welche nun
massenweise sogenannte Communarden zum Tode, zur Deportation, zur Ein¬
kerkerung verurtheilten. Die Urtheile mußten jedem Unbefangenen absolut
unbegreiflich erscheinen. Was die Vertheidigung sagen und begründet vor¬
bringen mochte, war absolut gleichgültig. Ließ es sich ein Unglücklicher bek¬
lommen, zu bemerken, daß die französische Armee die Preußen nicht geschlagen
habe, — oder daß die französischen Officiere mit Leichtigkeit den Kaiser auf¬
gegeben, dem sie geschworen hatten, so war er geliefert, — und wäre er selbst
ein armer Portier gewesen, der auf die Denunciation eines kaiserlichen
Polizeispitzels oder selbst nur durch Namensverwechslung in seine Lage ge¬
kommen, — es half ihm Alles nichts; — er mußte dran glauben. Während
die Römer den Triumph des Siegers im Bürgerkriege nicht zuließen, ver¬
herrlichte Herr Thiers die „Armee von Versailles" und ihren Führer auf die
großartigste Weise. Als er am 29. Juni 1871 eine große Revue über diese
Armee abgehalten, ließ er durch seine Satelliten überall ausschreien: Frank¬
reich habe jetzt schon wieder die herrlichste Armee von der Welt. Jedem ehr¬
lichen und einsichtigen Franzosen mußte dieses Lob die Schamröthe in die
Wangen treiben. Die Urtheile der Kriegsgerichte hätten noch immer auf
dem Wege der Begnadigung gemildert oder corrigirt Werden können. Trotz
aller Verbissenheit des Herrn Thiers gegen die Commune ist mit Sicherheit
zu behaupten, daß er viele vollständige Begnadigungen hätte eintreten lassen,
daß er vielfach gemildert hätte, wenn ihm das Begnadigungsrecht blieb. Sein
Herz hätte gesprochen und er hätte seine Verantwortlichkeit gefühlt. Dieses
eben fürchtete die Majorität der Nationalversammlung und sie setzte dem
Präsidenten aus ihrer Mitte eine Commission an die Seite, welche allein das
Recht haben sollte, Begnadigungen zu beschließen, eines dieser Zwitterwesen
ohne Herz und ohne persönliche Verantwortlichkeit, welche in politischen An¬
gelegenheiten niemals etwas Gutes gestiftet haben. Diese Begnadigungs«
commission war eingesetzt, um jede Begnadigung möglichst zu verhindern, ein
bronzener Moloch, der nichts dafür kann, daß man arme Opfer auf seinem
Roste bratet. Sie erfüllte vollständig ihren Zweck.
Vier Musterschulhäuser waren (in der 26. Gruppe) auf dem Ausstellungs¬
platze aufgeführt, ein österreichisches, portugiesisches, schwedisches und ameri¬
kanisches. Das österreichische Schulhaus war von dem Comite der Schuld
freunde ausgestellt und sollte als Modell für die Errichtung von Dorfschulen
dienen, während das portugiesische Schulhaus den großstädtischen Verhältnissen
entsprach.
Die Anzahl der ausgestellten Schulhäuser und die auf deren Einrichtung
verwendete Sorgfalt ist ein erfreulicher Beweis für die zunehmende Wür¬
digung derjenigen Ansprüche, welche die öffentliche Gesundheitspflege an
die Schulen macht. Die Zeit ist überwunden, in welcher die Schule nur
pädagogischen Rücksichten genügen mußte. Jetzt macht auch die öffentliche
Gesundheitspflege ihr Recht geltend, auf die Schule Einfluß zu üben, und
behauptet, daß dieses Recht demjenigen nicht nachstehen darf, welches den
pädagogischen Anforderungen an die Schule zu Grunde liegt. Der Ausspruch:
„wer die Schule hat, hat die Zukunft", ist wahr und gewichtig auch in
dem Sinne der öffentlichen Gesundheitspflege. Auch die öffentliche Gesund-
heitspflege macht jenen Ausspruch zu dem ihrigen und wird dabei von der
Erwägung geleitet, daß von denjenigen Rücksichten, welche man auf die Ge¬
sundheit der Jugend nimmt, die körperliche, geistige und sittliche Leistungs¬
fähigkeit der Erwachsenen wesentlich abhängt.
In der Schule verleben die Menschen einen großen Theil
ihres jugendlichen Alters, in einem geschlossenen Raume zu
geistiger Arbeit versammelt. Der Aufenthalt und die Beschäftigung
der Kinder in der Schule kann eine Quelle der Gesundheitsschädigung bilden;
dies zu verhüten ist eine der wichtigsten Obliegenheiten der öffentlichen
Gesundheitspflege.
Das Beisammensein vieler Kinder in einem geschlossenen Raume ist ge¬
eignet die Athmungsluft zu verderben. Wenn das Athmen ein gesundheits¬
gemäßes sein soll, dann müssen in 100 Raumtheilen der atmosphärischen
Luft enthalten sein: 78.492 Stickstoff, 20.627 Sauerstoff. 0.840 Wasserstoff-
gas, 0.041 Kohlensäure. Dieses Verhältniß wird in dem Schulziwmer ver¬
ändert; denn das Einathmen der Kinder durch die Lunge und Haut vermindert
den Sauerstoffgehalt der atmosphärischen Luft, während das Ausathmen
durch diese beiden Organe den Gehalt der atmosphärischen Luft an Stickstoff,
an Wassergas und besonders an Kohlensäure vermehrt. Was namentlich die
Kohlensäure anbelangt, will ich nur erwähnen, daß der Mensch bei einer
einzigen Ausathmung 40mal soviel Raumtheile dieses Gases ausscheidet, als
die atmosphärische Lust, wenn man sie rein nennen soll, enthalten darf.
Ein Kind aber von 30 Pfund Körpergewicht athmet ebensoviel Kohlensäure
aus als ein erwachsener Mensch von 100 Pfund. Natürlicherweise verbraucht
das Kind ebensoviel Sauerstoff wie der Erwachsene, sonst könnte es nicht
eben so viel Kohlensäure wie er ausathmen; denn die ausgeathmete Kohlen¬
säure wird ja dadurch gebildet, daß der Sauerstoff der atmosphärischen Luft
sich mit dem durch den Stoffwechsel im menschlichen Körper frei gewordenen
Kohlenstoff verbindet. Durchschnittlich athmet ein Schulkind in einer Stunde
42/4 Liter Kohlensäure aus, also bet einem Aufenthalte von 6 Stunden in
dem Schulzimmer 23^ Liter. Während schon das Vorhandensein von 1
Raumtheil Kohlensäure in 1000 Raumtheilen der eingeathmeten Luft nicht
gleichgiltig für die Gesundheit ist, findet man gar nicht selten in der Luft
der Schulzimmer einen Gehalt an Kohlensäure vor, welcher der Gesundheit
direkt schädlich ist. Ich führe beispielsweise die Ergebnisse der von Brei-
ting") vorgenommenen Untersuchung eines Schulzimmers in Basel an,
welches 3.16 M. Zimmerhöhe, 231.61 Chen. Inhalt. 10.34 ^ Meter Fenster
und Thür hatte und an dem Versuchstage 64 Kinder enthielt.
Dorn er") untersuchte den Kohlensäuregehalt der Luft in verschiedenen
Schulen in Hamburg. In einer Mädchenschulklasse von 100.84 Chen. waren
am 1. Juni bis 8 Uhr 51 Minuten 4 Schülerinnen angekommen, der Kohlen¬
säuregehalt in 1000 Raumtheilen der Zimmerluft betrug 0.822; von 9 bis
10 Uhr waren bei geschlossenen Fenstern 37 Personen in dem Zimmer, um
10 Uhr betrug der Kohlensäuregehalt der Zimmerluft 3.161. Am 2. Juni
hatten sich seit 8 Uhr 30 Minuten die Schülerinnen eingefunden, Kohlen¬
säuregehalt um 9 Uhr 1.303; von 9 bis 10 Uhr waren 23 Personen im
Zimmer, der Kohlensäuregehalt erreichte die Höhe von 4.963; von 10 bis
101/4 Uhr wurden zwar 2 Thüren vielfach geöffnet, die Schülerinnen aber
verließen das Zimmer nicht, wenigstens nicht alle, — von 10^ bis 11 Uhr
waren 18 Personen im Zimmer, der Kohlensäuregehalt stieg jetzt auf 6.051. —
Sehr lehrreich ist auch die von Dorn er am 4. und 11. Juni angestellte
Untersuchung, insbesondere deshalb, weil sie den Einfluß des Oeffnens von
Fenstern auf den Kohlensäuregehalt der Zimmerluft zeigt. Am 4. Juni war
während der ganzen Bersuchszeit ein mäßig großes Fenster geöffnet. Um
8 Uhr 45 Minuten kamen die ersten Schülerinnen, Kohlensäuregehalt 0.659;
von 9 bis 10 Uhr waren 23 Personen im Zimmer, der Kohlensäuregehalt
stieg auf 2.748; um 10 Uhr verließen sämmtliche Personen das Zimmer;
von 10Vj bis 11 Uhr befanden sich 39 Personen in demselben, der Kohlen¬
säuregehalt stieg auf 3.67. Am 11. Juni waren von 8 Uhr 45 Minuten
bis 10 Uhr 23 Personen in dem geschlossenen Zimmer, Kohlensäuregehalt um
10 Uhr 3.986; von 10 Uhr bis 10 Uhr 10 Minuten hatten die Schülerinnen
das Zimmer verlassen, bei mäßigem Winde waren 4 Fenster geöffnet: schon
um 10 Uhr 5 Minuten betrug der Kohlensäuregehalt nur noch 1.106 und
sank in den nächstfolgenden 5 Minuten auf 0.611 herab.
Die an und für sich gesundheitsschädliche Verunreinigung der Luft durch
ein Uebermaaß von Kohlensäuregehalt wird insofern um so bedeutungsvoller,
als mit demselben auch ein Uebermaaß von verschiedenen anderen Produkten
des thierischen Stoffwechsels einhergeht. So beträgt z. B. der Wasserdunst,
den ein Schulkind in einer Stunde durch die Lunge ausscheidet, durch¬
schnittlich 38 g. also 6 mal so viel als die atmosphärische Luft gewöhnlich
enthält bei einer Temperatur von 15 "0, welche für ein Schulzimmer die
passendste ist.
Wenn zu viel Kohlensäure in der Luft vorhanden ist, vermögen wir
nicht mit der für die Erhaltung der Gesundheit erforderlichen Leichtigkeit die
durch unseren Stoffwechsel frei werdende Kohlensäure in die Lust abzu¬
setzen. Wir vermögen dies um so weniger dann, wenn durch Erhöhung des
Wärmegrades der Luft die Spannung der Kohlensäure zunimmt. Da aber
die Körpertemperatur 37 o C. beträgt, müssen die Schulkinder die Zimmerluft
erwärmen. In welchem Maaße dies geschieht, zeigen u. A. die genannten
Untersuchungen von Dorn er: während z. B. am 4. Juni die Lufttemperatur
in dem Schulzimmer zu derjenigen außerhalb desselben um 8^ Uhr sich wie
13.S zu 12.5 verhielt, gestaltete sich dieses Verhältniß um 10 Uhr wie 15.5
zu 12.5, obwohl ein Fenster geöffnet blieb, und nur 23 Personen an¬
wesend waren.
Zu der Verunreinigung der Luft in dem Schulzimmer tragen auch die
Kleidungsstücke bei; denn sie setzen theils staubförmige, theils gasförmige
fremde Stoffe in die Luft ab und thun dies um so erheblicher dann, wenn sie
naß geworden sind.
Die gesundheitsschädliche Wirkung der durch die Lungen- und Haut-
Thätigkeit der Schüler verunreinigten Luft verräth sich uns bei dem Betreten
des Schulzimmers durch einen eigenthümlich belästigenden Geruch und durch
Athembeklemmung, bei längerem Verweilen durch Mattigkeit so wie durch
Druck in dem Gehirn und anderen Organen.
Durch tägliche Gewöhnung an eine unreine Lust in dem Schulzimmer
können Lehrer und Schüler sich allerdings abstumpfen, die gesundheitsschädliche
Wirkung hört aber deshalb nicht auf.
Die Schutzmittel, welche geeignet und nothwendig sind, um die Verun¬
reinigung der Luft in dem Schulzimmer zu verhüten, bestehen in einer ge¬
nügenden Ventilation, in einer entsprechenden Räumlichkeit des Schulzimmers
und in sorgfältiger Reinlichkeit des Schulzimmers und der Schüler.
Durch die Ventilation, auch wenn sie, was sie soll, pro Kopf und
Stunde 60 Chen. Luft erneuert, wird die gesundheitsschädliche Wirkung der
Ueberfüllung des Schulzimmers nicht verhütet. Dies beweist z. B. die erwähnte
Untersuchung von Dorn er, bei welcher die Luftverderbniß im Schulzimmer
eintrat, trotzdem ein Fenster offen stand. Der Nachtheil des Engbeisammen-
sitzens der Kinder besteht zunächst darin, daß jedes von ihnen die durch die
Nachbarn verschlechterte Luft einathmet, bevor sie Zeit zum Entweichen hat.
Deshalb ist es unerläßlich, daß das Zimmer eine der Zahl der Schüler ent¬
sprechende Größe besitze. In verschiedenen Ländern existiren hierüber gesetzliche
Bestimmungen, in Baden z. B. muß das Schulzimmer für jedes Kind 108
Kubikfuß Luftraum und bei 12 Fuß Höhe 9 >n Fuß Flächenraum haben;
dies dürfte im Allgemeinen ausreichend, aber auch das Mindeste sein, was
die öffentliche Gesundheitspflege fordern muß. Jedenfalls muß das Schul¬
zimmer täglich nach der Schulzeit durch Oeffnen aller Fenster und Thüren
gründlich gelüftet und sorgfältig gereinigt werden.
Die ausgestellten Schulhäuser konnten rücksichtlich der Ventilätions«
Vorrichtungen und Größe des Schulzimmers als Muster dienen, auch hatten
sie außerhalb des Schulzimmers einen Raum zum Aufbewahren von Be¬
kleidungsstücken , so daß dieselben nicht die Luft des Schulzimmers hätten
verunreinigen können.
Die Helligkeit des Schulzimmers ließ Nichts zu wünschen übrig. Die
Fenster waren auf der linken Seite der Schüler angebracht, wie es sein soll.
Die amerikanische Schule hatte Fenster in 3 Wänden; die dem Gesichte der
Kinder gegenüberstehende Wand, welche immer fensterlos sein muß, war es
auch dort.
Sehr erfreulich war die besondere Sorgfalt, welche von verschiedenen
Ausstellern auf die Construction von Schulsitzen und Tischen verwendet
worden ist. Diese befanden sich nicht nur in den Schulhäusern, sondern
auch in verschiedenen anderen Ausstellungsräumen, und bekundeten, daß man
in zahlreichen Staaten sich bestrebt zweckmäßige Schulsitze und Tische herzu¬
stellen. Viele von diesen zeigten allerdings eine Construktion, welche nicht
nachahmenswert!) ist, dagegen waren einige andere so eingerichtet, daß ihnen
eine weite Verbreitung zu wünschen ist.
Die Nothwendigkeit zweckmäßige Schulsitze und Tische einzuführen er¬
gibt sich aus der Rücksicht, welche man auf die Körperhaltung und auf das
Sehvermögen der Schulkinder nehmen muß. Eine einfache Erwägung zeigt
uns, worauf es dabei ankomme.
Längere Zeit andauerndes Sitzen auf einer Stelle in aufrechter Körper¬
haltung ermüdet diejenigen Muskeln, welche die aufrechte Körperhaltung be¬
werkstelligen. In Folge dessen sinkt der Oberkörper nach vorn oder nach der
Seite über. Wenn er sich nach vorn senkt, werden die ^Unterleibsorgane
gedrückt und erleiden eine Störung des Blutumlaufes. Dies muß vermieden
werden; denn gerade der kindliche Körper gestattet am wenigsten eine Be¬
einträchtigung des Säftekreislaufes der Unterleibsorgane, denen die Verdauungs¬
thätigkeit, also der wichtigste Antheil an der Entwickelung des Körpers, zu¬
gewiesen ist. Bei dem Zusammendrücken des Unterleibes durch das Vorn¬
übergebeugtsein des Oberkörpers wird auch das Athmen beeinträchtigt. Beim
Einathmen kann eine genügende Menge atmosphärischer Luft in die Lunge
nur dann eintreten, wenn das Zwerchfell in die Unterleibshöhle tief genug
sich niedersenkt und somit den Brustraum vergrößert. Dies kann aber nur
in beschränktem Maße geschehen, wenn der Unterleib zusammengedrückt
wird; das Athmen wird alsdann oberflächlich, die Lunge dehnt sich nicht
genügend aus und kann deshalb auch nicht so viel Blut von dem Herzen
aufnehmen, als für den gesundheitsgemäßen Kreislauf des Blutes erforderlich
ist. Das Sinken des Oberkörpers nach einer Seite ist ebenfalls nachtheilig;
denn es führt leicht zu einer gewohnheitsgemäßen fehlerhaften Körperhaltung,
durch welche eine etwa vorhandene Anlage zum Schiefwerden begünstigt
wird.
Im Jahre 1845 veröffentlichte Be'gar seine Schrift: Die Kurzsichtigkeit
in ihrer Beziehung zur Lebens- und Erziehungsweise der Gegenwart und als
Gegenstand der Staats- und Sanitätspolizei. Diese Schrift verbreitet sich
eingehend über die Kurzsichtigkeit der Schulkinder, welche auch später von
verschiedenen Aerzten einer Untersuchung unterzogen wurde, z. B. von
Szokalski in Paris, von Rucke in Leipzig, von Cohn in Breslau,
von Erismann in Petersburg, von Krüger in Frankfurt a. M, von
Hoffmann in Wiesbaden. Es läßt sich nicht behaupten, daß das durch
jene Untersuchungen festgestellte häufige Vorkommen der Kurzsichtigkeit bei
den Schulkindern nur von einer unzweckmäßigen Konstruktion der Schulsitze
und Tische herrühre. Abgesehen von einer etwaigen angeborenen Anlage zur
Kurzsichtigkeit, können die Kinder aus verschiedenen Ursachen kurzsichtig
werden. Hierher gehört namentlich das häufige Lesen kleiner Druckschrift,
bei welchem der angestrengte und anhaltende Gebrauch des Auges in der
Nähe die Accomodation und Convergenz der Augen zu sehr und zu lange
anspannt. Ferner gehört hierher eine gewohnheitsmäßige Annäherung der
Gesichtsobjecte an das Auge, und gar häufig auch das Arbeiten der Kinder
bei unvollständiger Beleuchtung. Bor der letzteren kann man nicht genug
warnen, denn sie nöthigt das Auge sich nicht nur dem Gesichtsobjeete zu sehr
zu nähern, sondern sich auch übermäßig anzustrengen, um deutlich sehen zu
können. Eine solche Anstrengung aber erzeugt Vollblütigkeit in der Hinteren
Partie des Auges, welche um so leichter eintritt, als bei der großen An-
Näherung an das Gesichtsobject der Kopf vornüber gebeugt ist, und der
dabei auf die Blutadern des Halses ausgeübte Druck eine Blutüberfüllung
des Kopfes herbeiführt. Seitdem wir die Untersuchung mit dem Augenspiegel
kennen und bei einer so großen Zahl von Kurzsichtigen eine Blutüberfüllung
der Hinteren Partie des Auges vorfinden, sind wir über diese Ursache der
Kurzsichtigkeit hinlänglich aufgeklärt und können vor solchen Schädlichkeiten
warnen, welche jene Bollblütigkeit zur Folge haben.
Eine unzweckmäßige Einrichtung der Schulsitze und Tische gehört zu den
Ursachen der Kurzsichtigkeit insofern, als sie die Kinder veranlaßt den Kopf
vornüber zu neigen und das Auge dem Gesichtsobjecte zu sehr zu nähern.
Die Kurzsichtigkeit entsteht dabei um so eher dann, wenn das Schulzimmer
nicht zweckmäßig beleuchtet ist.
Die Einrichtung der Schulsitze und Tische wird demnach dann als eine
zweckmäßige zu erachten sein, wenn sie den Kindern es möglich macht mit
aufrechter Körperhaltung bequem zu sitzen und das Auge bet dem Lesen,
Schreiben und Zeichnen nicht anzustrengen. Dieser Rücksicht müssen die
Höhe und Brette des Tisches und der Sitzban? und die Entfernung beider
von einander entsprechen. Denjenigen Körpertheilen, welche bet dem Sitzen
mit aufrechter Haltung belastet sind, muß eine bequeme Stütze gegeben
werden, sonst ermüden die dabei thätigen Muskeln, und es werden andere
in Anspruch genommen, welche die Haltung des Körpers fehlerhaft abändern.
Jene Stütze wird gewährt durch eine Sitzbank von passender Höhe und
Breite, sowie durch eine Rücklehne von passender Höhe und Richtung. Bänke
ohne Lehne sind verwerflich, denn sie nöthigen die Kinder zu einer unver¬
antwortlichen Anstrengung beim Sitzen und verleiten sie zu einer gesundheits¬
widrigen Körperhaltung.
Die Bequemlichkeit der aufrechten Körperhaltung beim Sitzen wird we¬
sentlich dadurch gefördert, daß beide Vorderarme auf der Tischplatte aufruhen.
Dabei wird es auch leicht möglich die Querachse des Körpers in eine mit
dem freien Rande des Tischblattes parallele Richtung zu bringen, damit eine
fehlerhafte Stellung der Wirbelsäule verhütet werde, und nicht das eine Auge
mehr als das andere dem auf dem Tische befindlichen Geflchtsovjecte sich
nähere. Der freie Rand des Tischblattes muß mit dem ihm zugewendeten
Rande des Sitzbrettes in einer senkrechten Ebene liegen („Null-Abstand").
Wenn der Tischrand gegen die senkrechte Ebene zurückbleibt („positiver Ab-
stand"), verleitet er das Kind bei dem Schreiben u. s. w- den Kopf vorzu-
neigen. Wenn der Tischrand hingegen jene Ebene durchbricht und über den
Rand des Sitzbrettes hinausgeht („negativer Abstand"), kann er den Körper
einzwängen. Deshalb erachte ich den „Null Abstand" für den angemessensten,
gegenüber den mit einander streitenden Vertretern des positiven und nega¬
tiven Abstandes.
Von den ausgestellten Schulsitzen und Tischen zeigten die meisten den
negativen Abstand. Um bei demselben das Aufstehen zu ermöglichen, hat
man verschiedene Vorkehrungen getroffen. So hat z. B. Kuntze in Chemnitz
die Tischplatte zum Vorschieben und Zurückschieben eingerichtet; Kaiser in
München hat ein bewegliches Sitzbrete angebracht; an dem I'oläins Seal ana
vWk von Peard kann man das Tischblatt und das Sitzbrete umklappen,
was übrigens noch den Vortheil gewährt, daß es das Reinigen des Fu߬
bodens erleichtert. Bei negativem Abstände und Unbeweglichkeit von Sitz und
Tisch dürfen nur 2 Kinder neben einander sitzen, damit jedes nach der freien
Seite austreten könne, wenn es aufstehen will.
Sitz und Tisch müssen in der Höhe und Breite sich nach der Größe der
Kinder richten. Deshalb werden gewöhnlich in einer und derselben Schul¬
klasse Sitze und Tische von verschiedener Höhe vorhanden sein müssen. Bei
dem Sitze und Tische von Sandberg in Stockholm ist dies nicht nöthig,
denn dieselben lassen sich, ebenso wie das Fußbrett, höher und niedriger stellen.
Der freie Rand des Tischblattes ist übrigens hier in der Mitte bogenförmig
ausgeschweift, entsprechend einem bogenförmigen Vorsprunge in der Mitte des
freien Randes des Sitzblattes; diese Einrichtung scheint darauf berechnet zu
sein das Aufstützen der Arme bequemer zu machen und das Andrücken der
Brust an den Tischrand zu verhindern.
Unter den ausgestellten Schulsitzen und Tischen erachte ich als die em-
pfehlenswerthesten: in dem schwedischen Schulhause den von dem Unterrickts-
ministerium und den von Sandberg ausgestellten Sitz und Tisch; in dem
amerikanischen Schulhause den Sitz und Tisch von Peard; in dem öster¬
reichischen Schulhause einen Sitz und Tisch für kleinere Kinder und einen solchen
für größere, übereinstimmend mit dem Kuntze'schen; in der Ausstellung des
deutschen Reiches den Sitz und Tisch von Kaiser.
Der Gewerbebetrieb bringt zahlreiche und mannigfaltige gesundheits¬
schädliche Verhältnisse mit sich, unter welchen theils die bei demselben beschäf¬
tigten Arbeiter, theils die in der Nachbarschaft der Betriebsstätte wohnenden
oder verkehrenden Personen, theils die Consumenten leiden können. Die Ge¬
sundheitsschädigung können verursachen: die Beschaffenheit und Lage der Be¬
triebsstätte, das Rohmaterial, die Art seiner Verarbeitung, die Vorrichtungen
für den Betrieb, die Abfälle, das dargestellte Produkt u. s. w. Die gesund-
heitsschädliche Wirkung einer jeden von diesen Ursachen läßt sich verhüten,
beseitigen oder mindestens aoschwächen.
Durch diese Erwägung erklärt sich das Interesse, welches die öffentliche
Gesundheitspflege an dem Gewerbebetriebe nimmt, und die Aufgabe, welche
er ihr stellt. Das Interesse wird jetzt immer lebhafter, und die Aufgabe
immer bedeutungsvoller, in dem Maße, in welchem der Gewerbetrieb an
Mannigfaltigkeit und Ausdehnung zunimmt.
Durch Neuerungen in dem Gewerbebetriebe können neue gesundheits-
schädliche Verhältnisse geschaffen, oder früher vorhanden gewesene beseitigt
werden. Mag das Eine oder das Andere geschehen, die öffentliche Gesundheits¬
pflege ist dabei gleichmäßig betheiligt und muß deshalb eine genaue Kenntniß
jener Neuerungen sich verschaffen, damit sie im Stande sei, jenachdem, auf
neue Schutzmaßregeln Bedacht zu nehmen, oder das bisherige Schutzverfahren
als überflüssig zu bezeichnen.
Unter den von der Ausstellung dargebotenen Neuerungen in dem Ge¬
werbebetriebe, welche von Bedeutung für die öffentliche Gesundheitspflege sind,
interessirte mich besonders das Sandgebläse von Tilghman. welches in 2
Exemplaren an dem Westportale der Maschinenhalle stand. Die Maschine
dient zum Schleifen und Graviren von Glas, Stein und Metall vermittelst
Sandkörnchen, welche in einem Strahle auf den zu bearbeitenden Gegenstand
anprallen und in Folge der Geschwindigkeit ihrer Bewegung den Prozeß des
Schleifen« und Gravirens bewundernswürdig schnell und kräftig ausführen.
Das Gebläse besteht aus einem mehr als 3 Fuß langen trichterförmigen so¬
genannten Zuleiter, welcher zur Ausnahme des Sandes dient und sich nach
unten zu einer 7 Millimeter weiten Düse verengt. Oberhalb der Düse tritt
der Windstrom ein und treibt den Sand in Form eines Strahles zu ihrer
Mündung heraus auf den zu bearbeitenden Gegenstand mit einer Kraft, welche
bei der kleineren von den 2 ausgestellten Maschinen bis zu zwei Atmosphären
(ungefähr 60 Pfund) erhöht werden kann. Bei dieser Maschine wird die für
das Gebläse erforderliche Windmenge durch einen zugeleiteten Dampfstrom
erzeugt, bei der größeren Maschine durch ein CentrifugalgeblSse. Jenachdem
der Sandstrahl einwirkt, kann er dünne oder dicke Lager aus der Glasplatte,
dem Stahl, Stein u. s w. entfernen. Tilghman wandte den Sandstrahl
Anfangs nur zu dem Schleifen von Diamanten an, die Anwendbarkeit der
übrigens erst vor 4 Jahren erfundenen Maschine ist indeß eine mannigfaltige.
Da« Sandgebläse kann nicht nur große Flächen schleifen, z. B. Mühlsteine
schärfen, sondern auch nach den complicirtesten Zeichnungen vermittelst Scha-
blonen die härtesten Stoffe graviren. Elastische Körper nämlich, z. B. Kau-
tschuk. Wachs, Tüll, selbst Papier, widerstehen dem Sandstrahle, daher
dienen dieselben zu der Anfertigung von Schablonen, mit denen man die zu
gravirende Fläche bedeckt, bevor man den Sandstrahl einwirken läßt. Die
Schablonen können wiederholentlich gebraucht werden; auch gußeiserne Scha¬
blonen sind anwendbar, nutzen sich aber leichter ab. Die zierlichsten Muster,
die verschlungensten Zeichnungen, Hautreliefs und Basreliefs lassen sich auf
diese Weise auf Glas. Stein, Metall u. f. w. unglaublich schnell herstellen.
Die Maschine kann z. B. an einem Tage mehr als 16,000 Quadratfuß Glas
mit den schönsten Mustern versehen. Die Glasplatte wird zu diesem Zwecke
mit der Schablone, z. B. mit Seiden- oder Wollen-Spitzen belegt, und
auf 2 Riemen befestigt; diese führen die Glasplatte in horizontaler Lage von
rechts nach links unter dem Sandstrahle vorbei, welcher auf diese Weise das
gewünschte Muster in die Glasplatte einschleift. Die Riemen sind auf Schei-
ben befestigt, welche mit der Hand oder mit Dampf getrieben werden.
Der von der Platte herunterfallende Sand wird von einem Gefäße (Sand¬
fänger) aufgefangen und durch eine Schneckeuvorrichtung in den Zuleiter des
Sandgebläses zurückgeführt.
Die staubförmigen Theilchen, welche der Sand aus der angegriffenen
Stelle des Glases, Metalles oder Steines entfernt, gelangen mit den Sand¬
körnern zugleich in das auffangende Gefäß. In diesem Umstände liegt haupt¬
sächlich die Bedeutung des Sandgebläses für die öffentliche Gesundheitspflege.
Die Glasschleifer, Metallschleifer. Steinhauer u. s. w. können ohne Nachtheil
für ihre Gesundheit durch das Sandgebläse manche Arbeit anfertigen, bei
deren Ausführung sie sonst der gesundheitsschädlichen Einwirkung des von
dem schleifenden und geschliffenen Körper in die Luft abgesetzten Staubes
preisgegeben sind. Dieser Staub kann, in Folge der Härte und scharfen
spitzigen Zacken seiner einzelnen Körperchen, die Augen verletzen, durch Ver¬
schlucken Verdauungskrankheiten, durch Einathmen Lungenschwindsucht erzeugen.
Es ist bekannt, wie häufig namentlich die Lungenschwindsucht bei den bezeich¬
neten Arbeitern erzeugt wird und den Tod nach kürzeren oder längeren Leiden
herbeiführt. So machtlos in den meisten Fällen die öffentliche Gesundheits¬
pflege gegenüber der gefährlichen Einwirkung des Staubes war, welcher bei
den Arbeiten der Glasschleifer, Metallschleifer und Steinhauer sich entwickelt,
um so größer ist das Gewicht, welches sie auf die Einführung des Sand¬
gebläses in den Gewerbebetrieb legt. Vorläufig ist allerdings derjenige Theil
der staubbildenden Arbeit, welcher durch das Sandgebläse unschädlich gemacht
wird, ein beschränkter, er wird aber dann sich weiter ausdehnen, wenn die
Anwendbarkeit des Sandgebläses durch die bestimmt zu erwartende Vervoll¬
kommnung der Construction gefördert werden wird.*) Einen vollständigen
Ersatz solcher Arbeiten, welche nur das Auge und die Hand des Schleifers
beherrschen kann, wird das Sandgebläse freilich nie gewähren, daher wird
dieser immer noch der gesundheitsschädlichen Einwirkung des Staubes ausge¬
setzt sein; bei anderen Arbeiten aber kann durch das Sandgebläse diese Schäd¬
lichkeit verhütet werden.
Noch verschiedene andere Maschinen und Vorrichtungen hatte man aus¬
gestellt, durch deren Anwendung man die bisherige gesundheitsschädliche Art
des Gewerbebetriebes in eine unschädliche verwandeln kann. Dieselben werden
um so eher Eingang finden, als durch ihre Anwendung der Ertrag der Fa¬
brikation sich bessert. Hierher gehören namentlich für Sodafabriken, Schwefel-
sänrefabriken u. s. w. verschiedene Maschinen und Vorrichtungen, durch deren
Anwendung eine nicht gesundheitsschädliche gewerbliche Ausbeutung solcher
Abfälle ermöglicht wird, welche sonst für den Gewerbetreibenden werthlos
waren, oder durch ihre Unterbringung Kosten verursachten, und theils die Luft
innerhalb und außerhalb der Betrtebsstätte, theils den Erdboden und das
Wasser gesundheitsschädlich verunreinigten.
Rücksichtlich der Ansprüche der öffentlichen Gesundheitspflege an den
Bergbau hebe ich den Fortschritt hervor, welchen auf der Wiener Welt¬
ausstellung die zum Schutze der Grubenarbeiter gegen die Gefahr des Ein-
athmens giftiger Gase dienenden Apparate bekundeten. Der Leser wird in
Betreff dieser Apparate meinem Berichte denjenigen vorziehen, welchen eine
bergmännische Autorität ersten Ranges, sert o, der Verfasser des vortrefflichen
Lehrbuches der Bergbaukunde, erstattet hat.*) „Von großer Wichtigkeit ist es
für den Grubenbetrieb in Räume eindringen zu können, welche mit irrespi-
rabler Luft erfüllt sind. Ein dies ermöglichender Apparat ist von Albert
Galibert in Paris ausgestellt, wobei der Arbeiter einen Sack als Reservoir
atmosphärischer Luft bei sich trägt, welche demselben durch einen Schlauch zu¬
geführt wird, aus dem er frische Luft einathmet; der Sack reicht allerdings
nur 20 bis 30 Minuten aus. Um die Arbeitsdauer zu verlängern, ist dem
Arbeiter eine Art Handpumpe beigegeben, mit welcher er, indem er zu einem
wettersrischen Ort zurückgeht, sein Luftreservoir von Neuem füllen kann. Viel
zweckmäßiger ist es, wenn dem Arbeiter comprimirte Luft zugeführt werden
kann oder er solche mit sich führt. Diese Aufgabe ist durch den Apparat von
Rouquayrol-Denayrouze gelöst, welcher von der Firma L. von Bremen
u. Co. zu Kiel angefertigt wird und ausgestellt ist. Hier kann das Reservoir
viel eompendiöser sein und gestattet außerdem einen drei- und mehrstündigen
Aufenthalt in den sonst unbetretbaren Räumen. Der schon seit der Ausstellung
in Paris bekannte Apparat ist in neuerer Zeit wesentlich verbessert und zugleich
so hergerichtet, daß auch die von dem Arbeiter mitgeführte Sicherheitslampe mit
frischer Luft gespeist werden kann, so daß auch in Bezug auf Beleuchtung
allen Erfordernissen genügt ist. Ausgedehnte Versuche auf den Gruben bei
Saarbrücken und in Westphalen haben die große Zweckmäßigkeit dieses Appa¬
rates bewährt, dessen Anschaffung keine mit schlagenden, brandigen oder sonst
schlechten Wettern behaftete Grube versäumen sollte. Auch für Arbeiten
unter Wasser sind ähnliche Apparate hergerichtet und ausgestellt, welche sich
gleichfalls bereits bewährt haben und sich durch ihre Leichtigkeit, und die
geringe Belästigung, welche sie für den Arbeiter veranlassen, vor den in der
englischen Abtheilung, sowie von der Actiengesellschaft Vulkan in Königsberg
i. Pr. ausgestellten Taucherapparate vortheilhaft auszeichnen."
Die von der Ausstellung (hauptsächlich in der 3. Sektion der 16. Gruppe)
veranschaulichte Fürsorge der öffentlichen Gesundheitspflege für die Kranken
bezog sich hauptsächlich auf die Hilfe, welche den verwundeten und kranken
Soldaten im Krieg« geleistet werden soll. Auf die ausgestellten Transport¬
mittel für die Letzteren, sowie auf die Baracken und Feldlazarett)? lege ich
ein besonderes Gewicht, weil in ihnen ein sehr erfreulicher Fortschritt unserer
Zeit sich ausspricht.
Wenn wir dem obersten Grundsätze folgen, welcher die den Verwundeten
zu leistende Hilfe leiten sollte, müssen wir darauf bedacht sein, daß die
Krankenpflege unmittelbar nach der Verwundung beginne. Gleichviel ob auf
dem Schlachtfelde Akte der ärztlichen Behandlung vorgekommen sind oder
nicht, der Transport der Verwundeten wird, jenem Grundsatz gemäß,
schon auf dem Schlachtfelde eine besondere Sorgfalt erheischen, damit dieselben
in keiner Weise solchen Einwirkungen ausgesetzt werden, welche ihren Zustand
verschlimmern könnten. Das passendste Transportmittel ist hier die Trag¬
bahre, deshalb kommt auf ihre Einrichtung sehr viel an.
Die internationale Conferenz für freiwillige Krankenpflege im Kriege,
welche zur Zeit der Weltausstellung in Wien zusammentrat, beschloß, auf die
Anfertigung einer zweckmäßigen Bahre durch Aussetzen von Preisen hinzu¬
wirken. Dieser Beschluß weist darauf hin, daß die Conferenz eine zweckmäßige
eingerichtete Feldtragbahre für besonders' wichtig hielt und auf der Ausstellung
nicht vorfand.
Eine zweckmäßige Feldtragbahre darf höchstens 20 Pfd. wiegen, so daß
ein Krankenträger sie unbeladen tragen kann. Sie muß eine Kopfstütze und
Füße haben, solide und ganz von Holz hergerichtet sein, Eisen darf an ihr
gar nicht angebracht werden; die Bahrstangen müssen aus widerstandsfähigen
Holze angefertigt werden; das Bahrtuch, so lang als ein erwachsener Mann
durchschnittlich groß ist, muß aus wasserdichtem, widerstandsfähigen Leinen
angefertigt werden und sich von der Bahre leicht abheben lassen. Die Bahre
muß so gebaut sein, daß sie sich bequem tragen läßt und in Eisenbahnwagen,
Dampfschiffen und in Landtransportwagen für Verwundete aufgehangen
werden kann. Diesen von der internationalen Conferenz mit Recht geltend
gemachten Ansprüchen genügten die ausgestellten Bahren nicht; keine einzige
von ihnen ließe sich zur allgemeinen Anwendung im Felde empfehlen.
Während die Felder'agbahre zunächst nur dazu bestimmt ist den Ver¬
wundeten von dem Schlachtfelde wegzutragen, dienen die Transportwagen
dazu ihn größere Strecken weit auf dem Landwege oder auf der Eisenbahn
zu befördern. Der Anspruch, daß die Transportwagen dem Verwundeten
nur eine schonende Weiterbeförderung gewähren sollen, bleibt hinter den An¬
schauungen unserer Zeit zurück. Denn diesen zufolge soll der Transport-
Wagen nicht nur ein schonendes Beförderungsmittel sein, sondern außerdem
als Lazareth, als fahrendes Lazareth dienen.
Die Transportwagen sind entweder Land-Transportwagen oder Eisenbahn-
Transportwagen.
Für den Landtransport von Verwundeten waren ausgestellt: Kranken¬
wagen, Magazinwagen und Küchenwagen. Nur die letzteren, an Zahl 2,
können als Muster dienen, während ich dies von den Kranken- und Magazin-
Wagen nicht aussagen möchte. Die Krankenwagen hatten entweder nur feste
Krankenlager oder nur schwebende, oder beide zugleich. In der gedachten
internationalen Conferenz für freiwillige Krankenpflege im Kriege wurde mit
Recht rücksichtlich der Krankenwagen als erforderlich bezeichnet, daß sie, bei
solidem Baue, unbeladen höchstens 14 Centner, beladen höchstens 24 Centner
wiegen, damit 2 Pferde zum Fahren ausreichen. Das feste, mit einer Galerie
versehene Dach des Wagens dient zur Unterbringung der Waffen und
Tornister, des auf 2 Tage ausreichenden Proviantes für 2 Pferde und der
für kleine Ausbesserungen des Wagens und Geschirres erforderlichen Werk¬
zeuge. Der Wagen muß abgeschlossen werden können; Gardinen, Radschuh,
Bremse, vorn und hinten Laternen dürfen nicht fehlen. Die Radfelgen richten
sich nach demjenigen Lande, in welchem der Wagen fahren soll. Das Fu߬
brett zu beiden Seiten des Wagens muß sich leicht zurückklappen lassen. In
dem Innern des Wagens dürfen nur Verwundete untergebracht werden, und
zwar von liegenden Verwundeten wenigstens 4, höchstens 6, von sitzenden
Verwundeten wenigstens 8, höchstens 10. Für die in gestreckter Lage unter¬
gebrachten Verwundeten ist ein hängendes Lager wünschenswert); für sitzende
Verwundete bringt man an beiden Seiten des Wagens leicht entfernbare
Bänke an. Der Wagen hat hinten eine verschließbare Thür, welche die Höhe
des zu unterst lagernden Verwundeten erreicht.
, Der Magazinwagen darf unbeladen höchstens 20, beladen höchstens
40 Centner wiegen, und muß sich von allen Seiten öffnen lassen.
Den vereinigten Staaten Nordamerikas gebührt das Verdienst die
Eisenbahn-Lazarethzüge eingeführt zu haben. Wenn wir die Vor¬
theile der Beförderung der Verwundeten und kranken Soldaten nach möglichst
zahlreichen gesundheitsgemäß gelegenen, nicht überfüllten Heilanstalten oder
nach der Heimath richtig würdigen, können wir jenes Verdienst nicht hoch
genug schätzen. Bei der modernen Art der Kriegführung sind die Eisenbahn-
Lazarethzüge geradezu unentbehrlich. In Europa war die Würtembergische
Regierung die erste, von welcher dieselben eingerichtet wurden; wie Oe stellen")
angibt, wurden von ihr bereits im Jahre 1866 nach dem preußisch-öster¬
reichischen Feldzuge entsprechende Versuche gemacht, und bei einem 1868
stattfindenden Manöver fuhr, als Versuchsfeld für Aerzte und Sanitäts¬
soldaten, täglich ein „Spitalzug" seine Bahnstrecke auf und ab, welcher im
Wesentlichen so eingerichtet war wie die später in dem deutsch-französischen
Kriege gebrauchten Lazarethzüge. Die in dem letzteren zuerst in Thätigkeit
gesetzten Lazarethzüge waren baierische. ^) Die Erfahrungen, welche während
dieses Krieges gemacht wurden, haben nicht verfehlt, eine Verbesserung der
Lazarethzüge herbeizuführen; gleichwohl kann für dieselbe noch Vieles ge¬
schehen.
Wir können die auf der Wiener Welt-Ausstellung vorhanden gewesenen
Eisenbahn-Lazarethzüge dann richtiger, würdigen, wenn wir uns die Be¬
dingungen vergegenwärtigen, unter denen die Einrichtung eines Eisenbahn-
Lazarethzuges als eine zweckmäßige zu erachten ist.
Diesen Bedingungen entsprechend, erfolgt die Ein- und Ausladung der
Verwundeten an der Stirn- oder Langseite der Krankenwagen. Die Wagen
stehen untereinander in Verbindung, so daß man bequem aus dem einen in
den benachbarten gelangen kann. In dem Kranken-Wagen müssen zweck¬
mäßige Ventilations- und Beleuchtungs-Vorrichtungen vorhanden sein. Sehr
zweckmäßig läßt die Ventilation sich durch Glaslaternen am Dache bewirken,
welche zugleich dem Wagen Oberlicht geben, wie in dem französischen Saniiäts-
zuge auf der Wiener Weltausstellung. Durch die Heizvorrichtung muß sich
eine Temperatur von 12" C. herstellen lassen. Zur Herstellung einer möglichst
gleichen Temperatur in dem Wagen dient eine doppelte Wand-Verschalung
des Wagens, wenigstens aber müssen Fußboden und Dach doppelt sein. Der
Fußboden muß unbedeckt und mit siedendem Leim getränkt sein, damit eine
häufige Reinigung leicht erfolgen könne. Ein Wagen darf höchstens 10 Ver¬
wundete aufnehmen; für jeden Verwundeten sind mindestens 4 Kubikmeter
Raum erforderlich. Eine Lagerung von Verwundeten auf dem Fußboden ist
unzulässig; bei schwebendem Lager müssen Schwingungen ausgeschlossen sein.
Um unvermeidlichen Stößen zu begegnen, bringt man zwischen dem Lager
und der Wagenwart elastische Polster an, ebenso unter den auf dem Fu߬
boden ausruhenden Füßen eines Lagers, oder man läßt dasselbe von flach
bogenförmigen eisernen Federn tragen, welche auf dem Fußboden befestigt
sind. Wenn man gewöhnliche Güterwagen zum Krankentransport einrichten
will, muß man an den Wagen regulirbare Federn anbringen, wie bei dem
Pfälzer Sanitätszuge auf der Wiener Welt-Ausstellung; die Federn des
Güterwagens werden dadurch regulirt, daß man die Hälfte ihrer Blätter
herausnimmt, was nur eine Stunde Zeit kostet und die Federn so abschwächt,
daß der Wagen sich so sanft wie ein Personenwagen bewegt.
Der Küchen- und Vorraths-Wagen und der Wagen für die Aerzte be¬
findet sich in der Mitte des Zuges, der Wagen für die Beamten an dem
Ende des Zuges. Zu einem Zuge dürfen höchstens 60 Achsen zusammenge¬
stellt werden; leere oder nicht zu dem Krankentransport dienende Wagen darf
man nicht anhängen.
Es ist sehr wünschenswerth, daß das Publikum ein lebhaftes Interesse
an den Sanitätszügen gewinne. Zu diesem Zwecke und zur praktischen Ein¬
übung des Dienstpersonales sollten von Zeit zu Zeit vollständig ausgerüstete
Sanitätszüge an Hauptverkehrsorten zusammengestellt werden.
Jede Eisenbahnverwaltung müßte eine Anzahl von Krankentransport¬
wagen vorräthig haben. Die Ausrüstung von Sanitätszügen, namentlich
auch die Herstellung des Küchen-, Magazin- und Aerzte-Wagens, ist Sache
der Regierung, beziehentlich der Vereine.
Unter den ausgestellten Lazareth-Eisenbahnzügen erwähne ich zunächst 2,
von denen nur Modelle zu sehen waren. Das eine Modell in dem Sanitäts¬
pavillon war von der Direktion der niederschlesisch-märkischen
Eisenbahn ausgestellt und zeigte einen Kranken- und einen Küchen-Wagen
so, wie sie in dem deutsch-französischen Kriege häufig gebraucht wurden. In
dem Krankenwagen hängen 10 Krankenlager (Bahren) in Gummiringen; auch be¬
findet sich dort ein Ofen, Waschtisch, Wasserfaß, Eimer u. s. w.
In der amerikanischen Abtheilung war das Modell eines Eisenbcchn-
Lazarethwagens (Hospital var) von der United States Sanitär?
vom Mission ausgestellt, welcher in dem nordamerikanischen Bürgerkriege
gebraucht und seitdem beibehalten worden ist. Das Licht fällt durch die
Fenster und den Dachreiter ein, welcher zugleich der Ventilation dient. Der
Wagen ist sehr lang und nimmt 30 Kranke auf, von welchen 3 übereinander-
liegen. Die Lagerstätten hängen in Gummiringen an Säulen. In dem
Wagen ist durch Gardinen eine Abtheilung für den Arzt und den Apotheker
abgetheilt.
Lazarethzüge waren ausgestellt aus Baiern, Hamburg und Frankreich.
Der eine baierische Zug war von der Waggonfabrik-Actien-Gesellschaft
in Ludwigshafen hergestellt, der andere gehörte dem königl. baierischen Gene-
ralstabe gemeinschaftlich mit dem Landes-Hilfsvereine.
Dem Pfälzer Zuge (Ludwigshafen) hat die Ausstellungs-Jury das
Ehrendiplom zuerkannt, also die höchste Auszeichnung. Ich halte es indeß
für nothwendig, daß man bei dem Krankenwagen auf eine bessere Ventila¬
tionsvorrichtung bedacht sei und den Kranken einen sichereren Schutz gegen
Stöße des Wagens gewähre, als die gegenwärtige Einrichtung mit sich bringt.
Dieser Wagen nimmt 8 Verwundete auf: 4 Lagerstätten, mit Matratze,
Keilkissen und Decke, stehen auf dem Fußboden, unter jedem Bettfuße be¬
findet sich ein kleines Strohkisfen, welches die Wagenstöße abschwächen soll,
aber hierzu jedenfalls weniger geeignet ist als ein Gummipolster, welches an
seine Stelle zu setzen wäre. Ueber jenen 4 Lagerstätten hängen 4 andere,
deren Handhaben von Hanfgurtschlingen getragen werden. Diese Schlingen
sind an der Decke des Wagens befestigt; zur Verhütung des Anstoßens der
schwebenden Lagerstätte an die Seitenwand des Wagens sind wiederum
kleine Strohkisfen angebracht. In dem Mitteltheile der Seitenwände des
Wagens sind in horizontaler Richtung 3 Fensterscheiben angebracht, von
welchen die mittlere behufs der Ventilation sich öffnen läßt. Die Fugen
der Seitenwände sind mit Strohkissen verkleidet. Ueber jeder schwebenden
Lagerstätte ist in der Seitenwand des Wagens eine Fensterscheibe, welche
nicht geöffnet werden kann, und ein kleiner Tisch angebracht. Ein Ofen,
eine Waschvorrichtung u. s. w. finden sich vor. Der innere Raum des
Krankenwagens ist 6.14 Meter lang, 2.37 breit, 2.15 hoch. Das Ein- und
Ausladen der Verwundeten erfolgt durch den mittleren Theil der Seitenwand,
welcher zu diesem Zwecke geöffnet werden kann. Der Krankenwagen ist ein
Güterwagen und läßt sich in sehr kurzer Zeit Herrichten. Trotz der Einfach¬
heit der Einrichtung der Lagerstätten kann der Krankentransport ein scho¬
nender sein, weil man in der vorhin erwähnten Weise, aus den Federn des
Güterwagens die Hälfte ihrer Blätter herausnehmen kann. Außer dem
Krankenwagen befinden sich in dem Pfälzer Lazarethzuge: ein Wagen für
das Verwaltungspersonal und den Zugführer, ein Wagen für die Aerzte, ein
Wagen für Küche und Magazin. Der Zug hat Ähnlichkeit mit den Wür-
tembergischen Lazarethzügen, welche in dem deutsch-französischen Kriege von
Hans Simon in Stuttgart eingerichtet und später verbessert wurden.
Der von dem tgi. baierischen Generalstabe gemeinschaftlich
mit dem baierischen Landes-Hilfs-Verein ausgestellte Eisenbahn-
Lazarethzug ließ an reicher, confortabler Ausstattung Nichts zu wünschen.
Es ist nur zu bedauern, daß es kaum je möglich sein wird, im Kriege einen
solchen Krankenwagen häufig anzuwenden, denn dieser war nur für 5 Ver¬
wundete eingerichtet. Die Lagerstätten waren so beschaffen wie in einem
reichen Haushalte. Das Holzgestell derselben. 194 Ca. lang und 88 Ca.
breit, stand auf eisernen Bogenfedern und enthielt eine mit Sprungfedern
versehene Roßhaarmatratze, auf welcher sich eine Roßhaarmatratze, Keil¬
kissen, mehrere Polster, mit Roßhaaren gefüllt, und eine wollene Decke
befanden. An dem Fußbrette dieser Bretter waren Klappen angebracht,
welche als Sitze dienen können, Wandtischchen über den Betten, S Fenster,
welche heruntergelassen werden können (wie bei den Personenwagen) und
Jalousie-Ventilatoren oberhalb derselben, Ofen, Waschtisch u. s. w. fanden
sich in dem Krankenwagen vor. Wenn über den 5 feststehenden Lagerstätten
noch S schwebende angebracht werden könnten, dann wäre dieser Kranken¬
wagen der vorzüglichste, welchen man den Verwundeten darzubieten vermöchte.
Der Lazarethzug enthielt außer dem Krankenwagen: 1 Wagen für das Warte¬
personal und das Magazin; 1 Küchenwagen; 1 Wagen für die Aerzte, für
die Verwaltung und für Wäsche, Bandagen, Medikamente u. s. w. Das
Magazin war sehr reich ausgestattet, u. A. auch mit einer Unzahl von Bier¬
flaschen.
Der Hamburger Lazarethzug sollte nur im Nothfalle angewendet
werden. Der Krankenwagen ist ein mit einem Ofen versehener fensterloser
Güterwagen, ohne Ventilationsvorrichtung, mit 10 schwebenden Lagerstätten,
von denen je 2 übereinander an spiralförmigen Drathfedern hängen und den
Stößen der Seitenwand des Wagens ausgesetzt sind.
Der französische Lazarethzug war von der Looivte kran^iss 6s se-
cours aux dle-zsvs ass ^rin^hö as terre et as ner ausgestellt und führte
8 Wagen, nämlich 1 Küchenwagen, 1 Proviantwagen, 1 Vorrathswagen,
4 Krankenwagen und 1 Aerztewagen. welcher auch die Apotheke enthielt.
In dem Krankenwagen befand sich ein Refectoire mit Bänken für solche
Verwundete und Kranke, welche nicht liegen, und eine Einrichtung mit Lager¬
stätten. Von den Lagerstätten befanden sich je 3 übereinander, was jedenfalls
ein Uebelstand ist, welcher nur durch die Noth sich rechtfertigen läßt. Ein
Dachreiter mit beweglichen Fenstern, sowie sehr zweckmäßig construirte
Laternen, gaben dem Krankenwagen Oberlicht und Lufterneuerung. Die
Einrichtung des Krankenwagens bildete einen auffallenden Gegensatz zu dem
großen Luxus des Aerztewagens. Der Umstand, daß dieser Gegensatz das
Ergebniß ärztlicher Anordnung ist, ist bezeichnend für das Verhältniß der
Aerzte und Soldaten in der französischen Armee.
Der Fortschritt in der Einrichtung der Barackenlazarethe wurde
durch 2 Modelle veranschaulicht, welche rücksichtlich der Einrichtung einander
ähnlich waren. Das in dem Sarnath-Pavillon vorhandene Modell stellte
die Lazarethbaracke dar, welche die Kronprinzessin des Deutschen
Reiches in dem deutsch-französischen Kriege in Homburg von dem Bau¬
meister Jakoby aufführen ließ. Das andere Modell, in der Fg-mtarzf Oolleetion
ok Dr. Lvans in der amerikanischen Abtheilung ausgestellt, war nach dem
Barackenlazareth angefertigt, welches der amerikanische Hilfsverein während
der Belagerung von Paris errichtet hatte. In beiden Barackenlazarethe»
war die Erwärmung und Erneuerung der Luft sehr zweckmäßig vorgerichtet.
Durch verschließbare vergitterte Oeffnungen des gedielten Fußbodens konnte
erwärmte Luft aus dem Heizraume unter demselben, und auch frische, kalte
Luft in das Lazarett) eintreten. In dem Lazareth der Kronprinzessin waren
über den Fenstern Ventilationsklappen angebracht, auch konnten zwischen den
Fenstern Theile der Holzwand geöffnet und sonnendachartig aufgestellt werden.
An dem Dache des amerikanischen Lazarethes befanden sich aufziehbare
Klappen, bei deren Erhebung siebförmig durchbrochene Backen zum Vorschein
kommen und den Regen abhalten.
Eine ähnliche Ventilationsvorrichtung wie die eben bezeichnete befand
sich auch in einem französischen Leinenzelte, tenth rröpitals volants,
welcher in dem Sanitätspavillon ausgestellt war. Ihm gegenüber befand sich
ein Segeltuchlazareth. welches in dem preußischen Heere während des franzö¬
sischen Krieges Anwendung gefunden hat, rücksichtlich der Lufterneuerung aber
dem französischen Zelte nachsteht.
Ich muß es mir versagen hier noch andere Rücksichten der öffentlichen Ge¬
sundheitspflege zu erörtern, welchen die auf der Ausstellung vorhanden ge¬
wesenen Gegenstände entsprachen.
Ob für die öffentliche Gesundheitspflege ein großer Gewinn aus der Aus¬
stellung erwachsen werde, bleibt dahingestellt. Er hätte allerdings sehr groß
sein können, wenn man die ausgestellten Hilfsmittel der öffentlichen Gesund¬
heitspflege genügend untersucht hätte. Die Kraft des Einzelnen konnte für
die dazu erforderliche Untersuchung nicht ausreichen; nur vereinten Kräften,
namentlich von Aerzten und Ingenieuren, wäre eine genügende Untersuchung
möglich gewesen. Die Frage: welcher Fortschritt der öffentlichen Gesundhetts-
pflege in den verschiedenen Staaten zeigt sich auf der Ausstellung? hat ein so
hohes staatliches Interesse, daß es nahe genug lag eine Commission mit einer
gründlichen Untersuchung und Berichterstattung bezüglich dieser Frage zu be¬
auftragen. Gleichwohl hat keine Regierung einen solchen Auftrag ertheilt,
auch die englische nicht, von welcher noch neuerdings bei dem Congresse der
englischen Aerzte (LritisK Noäieal ^SLoeiation) in London ein deutscher
Gelehrter rühmte, wir wüßten in Deutschland sehr wohl, daß von ihr
jede fortschrittliche Initiative auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege
ausginge. Den deutschen Regierungen hätte die Wiener Weltausstellung Ge¬
legenheit bieten können wiederum zu beweisen, daß sie auch ohne Englands
Initiative das Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege vertreten.
Es ist sehr zu bedauern, daß das deutsche Reichskanzler-Amt sich nicht
veranlaßt gesehen hat eine aus Aerzten und Ingenieuren zusammengesetzte
Commission mit der Untersuchung der ausgestellten Hilfsmittel der öffent¬
lichen Gesundheitspflege zu beauftragen. Während der Ausstellung tagten
die Cholera-Commission in Berlin, der internationale medizinische Congreß in
Wien und der deutsche Congreß für die öffentliche Gesundheitspflege in Frankfurt
a. M. In keiner von diesen Versammlungen wurde eine Anregung zu dieser
Untersuchung gegeben. Eine solche Anregung würde bewiesen haben, daß
man die .fortschrittliche Entwickelung der öffentlichen Gesundheitspflege durch
die Einführung von neuen nachahmungswerthen und ausführbaren Ein¬
richtungen zu würdige n wisse und auf die Benutzung einer günstigen Gelegen¬
heit derartige Einrichtungen zu prüfen bedacht sei.
Bevor ich in meinen allgemeinen Skizzen der italienischen Literatur fort-
fahre, muß ich dieselben für diesmal unterbrechen, um mit Trauer eines herben
Verlustes zu gedenken, welcher unsere Literatur soeben betroffen hat. Ich
kann Ihnen nicht über alle literarischen Notabilitäten berichten, welche von
unserem Schauplatze verschwinden, da ja der größte Theil derselben nur von
localer Bedeutung ist, und man draußen in der Fremde den Tod eines
italienischen Schriftstellers, von dessen Existenz man kaum wußte, nicht
betrauern würde. So halte ich mich bet zwei Männern nicht aus, welche
Italien verloren hat, das ist bei dem Florentiner Francesco Coletti, Verfasser
amüsanter und gutgeschriebener Farcen, und Francesco Trinchera, dem Director
der Archive von Neapel und Herausgeber des Loäies Äixlomatieo ^rasonssv
(über welches vor einigen Jahren das Leipziger literarische Centralblatt ein
sehr hartes und leider gerechtfertigtes Urtheil fällte), einem mittelmäßigen
Archivar aber sehr angesehenen Nationalökonomen. Aber ein Verlust, den
die italienische Literatur am ersten Mai erlitt, der uns sehr empfindlich be¬
rührte und der eine Lücke unter uns zurücklief, wird auch in Deutschland
nicht ohne Theilnahme empfunden werden. Niccolo Tommaseo starb, zweiund¬
siebzig Jahre alt, an einem Anfall von Apoplexie zu Florenz, und es wurden
ihm nach seinem Tode Ehrenbezeugungen dargebracht, wie sie Fürsten und den
hervorragendsten Persönlichkeiten eines Reiches selten gewidmet werden. Und
doch war Tommaseo weder ein Fürst, noch ein hoher Würdenträger; weder
Minister uoch Senator noch Abgeordneter; er hatte keinen Titel, keinen
officiellen Rang, und nannte sich nur mit seinem einfachen Namen. Geboren
war er zu Sebenico in Dalmatien, und als er fern von seinem Vaterland
gestorben war, vereinten sich Venedig und Florenz um die Kosten der solennen
Leichenfeierlichkeiten zu tragen, welche ihm zu Ehren in der Kirche zu „Lauts,
Lroes^ stattfanden, dem italischen Pantheon, welches schon die Gräber von
Machiavelli, Galilei, Alfieri,' Foscolo und anderen berühmten Italienern
birgt. Jedoch wurde der Körper Tommaseo's nicht in der Lanka Oroos bei¬
gesetzt, da er vor seinem Tode den Wunsch geäußert hatte, auf dem Kirchhofe
des kleinen Dorfes Settignano, wo seine Frau ruht, bestattet zu werden. Bei
der Leichenfeier Tommaseo's war die ganze Intelligenz Italiens versammelt.
Die Kirche war dicht gefüllt und die Bewegung groß. Aber was die An¬
wesenden bis zu Thränen rührte, war die Ankunft des alten Marquis Giuv
Capponi, der, bereits dreißig Jahre blind, seit fünfzig Jahren der Freund
Tommaseo's wav, und nun, als ihm angekündigt wurde, daß Tommaseo auf
den Tod darniederliege, sich zu ihm führen ließ und ihn bei Namen rief. Auch
Tommaseo war seit zwanzig Jahren blind; als er in seiner letzten Stunde
hörte, daß Capponi gekommen sei, um ihm Lebewohl zu sagen, machte er einen
letzten Versuch sich zu erheben; und Capponi beugte sich nieder, um ihn zu
umarmen, während er mit durchdringender Stimme rief: Jetzt werde ich ganz
allein sein, ganz allein. AIs er zur Santa Croce herein trat, ergriff ihn die
gleiche heftige Bewegung. Und wie soll man sich diese feierlichen Ehren¬
bezeugungen erklären, die einem Manne erwiesen wurden, der längst der Welt
aus den Augen geschwunden war; weder reich war, noch mächtig, noch oft
gesehen? Um dies zu begreifen, muß man wissen, welche Wichtigkeit Tommaseo
als Literat in Italien zu erreichen wußte, und man darf auch nicht vergessen,
daß er im Schooße der Kirche gestorben ist, was kein geringes Verdienst ist
in den Augen dieses ungläubigen und gleichgültigen Italiens, wo man
immerhin eine so große Ehrfurcht vor der Staatsreligion und deren Ober-
Haupt affectirt. Tommaseo war Atheist in seiner Jugend, und ist bigot ge¬
storben, und das officielle Italien war gern bereit, diese Leistung anzuerkennen.
Aber abgesehen von diesem künstlichen Ruhme hatte Tommaseo ein sehr reales
Verdienst, welches die Literaturgeschichte stets anerkennen wird; und über
dieses werden, wie ich meine, die Leser der Grenzboten gern noch einmal einen
Bericht erhalten.
Der Vater Tommaseo's hatte gehofft, aus dem Kinde einmal einen wür-
digen Provinzial-Advocaten zu machen, aber von Anfang an, als der junge
Niccolo sich nach Padua begeben hatte, um seinen juristischen Studien ob¬
zuliegen, riß ihn die schriftstellerische Leidenschaft mit sich fort, und das
italienische Leben behagte ihm zu sehr, als daß er sich hätte entschließen
können, in das kleine Städtchen Sebenico in Dalmatien zurückzukehren,
um bei seiner Familie zu leben. Er verließ also seine Eltern für immer
und verlebte seine Jugendjahre in Venedig und Padua, sowohl durch
die Hoffnung auf literarischen Ruhm als die Vergnügungen der großen Welt
angezogen. Als er in Roveredo den berühmten Philosophen und wahrhaft
gläubigen Antonio Rosmini kennen gelernt hatte, ließ er öfter Vorliebe
für fromme Denkungsart blicken. In solchen Perioden von Religiosität,
die mit Unterbrechungen auftraten, verfaßte er Gebetbücher. Es ist der¬
selbe Mann, der sich damals in seinen autobiographischen Memoiren
zeichnet, die 1838 zu Venedig erschienen, und er ist es noch, der in dem
Romane I'eas e LsIIe^M sich wieder zeigt, und dessentwegen man in Melkart
ein hartes Wort Manzoni's, der ihn von Grund des Herzens kannte, erzählt,
welches ich aus Rücksicht in seinem originären mailändischen Dialecte entrer
will: „el gZ. on xiö in t'on easin e I'oller in sacristia." Ich will jedoch
nicht auf die Frömmigkeit Niccolo Tommaseo's die Aufmerksamkeit meiner
Leser lenken; ich habe selbst nie an sie geglaubt, und ich kann trotz all der
Jntolleranz nicht an sie glauben, welche er in seinen späteren Jahren zeigte,
wenn ihm einmal ein Häretiker unter die Hände kam. Aber Tommaseo ist
in vielen andern Hinsichten zu verehren. Er war vortrefflicher Patriot; in
seinem Privatleben hat er bei vielen Gelegenheiten einen noblen, uner¬
schrockenen und großmüthigen Character bewiesen; er wollte nicht anders sein
Brod verdienen, als durch seine freie Arbeit, und deßhalb wies er auch jede
officielle Anstellung zurück. Er hielt treue Freundschaft, und wußte sich so¬
gar, kam es darauf an, für seine Freunde zu opfern. Ich führe hierfür nur
ein Beispiel an. In den Jahren 1820—33 erschien in Florenz die sehr ge-
schätzte Monatsrevüe ..1/ ^ntoloAia", deren Verleger Giampietro Vieusseux war,
ein Buchhändler von großem Talent und biedrem Herzen, der um die Anto-
logie die besten Schriftsteller jener Zeit versammelt hatte. Niccolü Tommaseo
zählte zu ihnen. und war einer der Eifrigsten und der am meisten Bewun¬
derten in der Journalistik. Die ^ntoloZis. war ein Herd des Liberalismus;
Toskana that sich damals durch eine Toleranz hervor, wie man sie umsonst
in Turin, Mailand, Neapel, Rom oder Modena hätte suchen können. In
der letztgenannten Stadt erschien ein reaktionäres Blatt: I^g, Voce äellg. Verna;
der Herzog von Modena benutzte dieselbe zu Spionnagen für seine eigenen
Zwecke und zu Gunsten der heiligen Alliance, für deren legitimsten Vertreter
in Italien er sich hielt. Nun brachte die ^.ntoloZig, einen Artikel, der eine
Anspielung gegen Rußland enthielt und auf den die Voce Zells. Verits. in ge¬
hässiger Weise hinwies. Der Gesandte des Czaren in Toskana beschwerte sich
hierauf heftig, und die ^lltoloZia wurde unterdrückt. Es war nicht Tommaseo,
der den Artikel verfaßt hatte, und dennoch klagte er sich, um seine Freunde zu
retten, freiwillig an, und war in der Folge gezwungen, nach Frankreich in die
Verbannung zu gehen, wo er bis 1838 verblieb. Noch ein andres Mal hatte
Tommaseo Gelegenheit, den großen Adel seines Characters darzuthun, als er
1848 in den Untersuchungen, welchen er sich damals unterziehen mußte, lieber
sich selbst schlecht vertheidigte, als daß er den geringsten Schatten von Ver¬
dacht auf die Sache seiner Freunde hätte fallen lassen. Solche Züge sind
selten und man sollte sie nicht vergessen. So war es auch Anerkennung seiner
Charactervorzüge, welche das Volk veranlaßte, Tommaseo, als er kaum das Ge¬
fängniß verlassen hatte, mit Mamin an die Spitze der Regierung zu stellen.
Was er während seiner Verwaltung that, hat die Geschichte zu beurtheilen;
es unterliegt keinem Zweifel, wenn er nicht einen Mann von so starkem
Willen, von solcher Kraft und Thätigkeit und so großer Geschicklichkeit zur
Seite gehabt hätte, wie es Mamin war, so hätte Venedig in seinen Geschichts¬
büchern ein akademisches Blatt mehr, aber nicht ein episches. Tommaseo war
nicht ein Mann der That, und man kann sich nur mit Lächeln des Rathes
erinnern, den er den schlecht bewaffneten, schlecht genährten, und schlecht equi-
pirten und geführten venetianischen Truppen gab, als sie auszogen sich mit
den so vortrefflich disciplinirten und eingeübten österreichischen und kroatischen
Truppen zu messen: „Habt Mitleid mit den Besiegten!" Bei der Verthei¬
digung von Vicenza gab Tommaseo seinem patriotischen Feuer nach und zog
mit den Freiwilligen aus. Er war sogar im Begriff, selbst zu schießen, als
die Hand eines Vorsichtigen ihn davon abhielt, indem dieser ihn darauf auf¬
merksam machte, daß er beinahe einen Venetianer todt geschossen habe —
Tommaseo hatte früher nie ein Gewehr in Händen gehabt! Aber dies ver¬
anschaulicht ein wenig den Character der Revolution von 1848 in Italien;
die Literaten hatten etwas dazu beigetragen, daß sie ausbrach und nun ver¬
suchten sie, sie zu dirigiren- So kommt es, daß man Leute wie Tommaseo
und Aleardi in Venetien. Gioberti und Azeglio in Piemont, Guerrazzi und
Montanelli in Toscana sich als improvisirte Männer der Politik aufthun und
sich an die Spitze der Regierung stellen steht — manchmal mit Glück, andere-
mal mit dem kläglichsten Mißerfolg.
Auf alle Fälle aber hatte Tommaseo größeres Verdienst als Patriot, denn
als Strenggläubiger. Was jedoch den wahren Grund seines Nachruhms giebt
ist zweifelsohne sein kritisches Talent. Er trat als Kritiker vor seine.in zwan¬
zigsten Jahre auf, und er blieb es bis zu seinem letzten Tage. Seine Kritik
ging nie sehr ins Breite, aber sie war stets fein, durchdringend und auf die
Einzelheiten in sehr lebhafter Weise eingehend. Sie hat aufmunternd auf
eine große Reihe junger Schriftsteller eingewirkt, die sich später auszeichneten,
und das war sein hauptsächliches Verdienst. Auch auf andere Weise wirkte
Niccolo Tommaseo Gutes; er suchte stets die moralische oder ästhetische Seite
des Werkes, welches er besprach, hervorzuheben, wenn dasselbe eine solche be¬
saß, und dies berechtigte ihn auch seine besten Kritiken unter dem vielleicht
etwas suffisanten Titel „vinouario estvtieo" zu sammeln. Aber sein kritisches
Hauptwerk wird bleiben das „viöiousrio 6in sinon'mi clolla lirigus. italiana";
in diesem unsterblichen Buche nahm das Talent Tommaseo's, welches sich ganz
besonders in Antithesen gefiel, freien Flug. Es sind Artikel in demselben,
welche wahres Genie offenbaren; ein Genie, minutiös und analytisch, welches
kleine Contraste liebt, aber welches den Sachen, die es untersucht, auf den
Grund geht.
Tommaseo hat außerdem an einem sehr reichen und sehr sorgfältigen
Commentar zu vivius, Lommeciia gearbeitet; an einem Vocabulario universal«?
actis, Jagua Iwlig.na, und hat eine Menge Fragmente hinterlassen: zerstreute
Gedanken über Moral, Erziehung, Politik u. s. w.
Im Ganzen ist es nichts als eine Sammlung kleiner Abhandlungen;
aber jeder Artikel trägt das Gepräge, den originellen Character des Autors,
seinen lebhaften, schneidenden, knappen und pointirter Stil, der oft spitz und
selten liebenswürdig, aber stets hervorragend ist. Das Ganze bildet eine Mo¬
saik, aber diese Mosaik ist aus kostbaren Steinen zusammengesetzt, und aus jedem
dieser Edelsteine glänzt ein Strahl der italienischen Sonne wider.
Unter dem Datum des 25. Mai 1874 veröffentlichen die Gesetzsammlung
und der Staats - Anzeiger das Gesetz, betreffend die evangelische Kirchen¬
gemeinde- und Synodalordnung vom 10. September 1873 für die Provinzen
Preußen. Brandenburg, Pommern, Posen, Schlesien und Sachsen. Dieses
Gesetz ist die letzte Frucht der geschlossenen Landtagsesston, der wir noch eine
Besprechung schuldig sind. Der Gegenstand ist von der allerhöchsten Wichtig¬
keit, deren Würdigung indeß nicht so ganz auf der Hand liegt. — Unter
dem 10. September 1873 ordnete der König von Preußen in seiner Eigen¬
schaft als Träger des landesherrlichen Kirchenregimentes die Einführung einer
evangelischen Kirchengemeinde- und Synodalordnung für die sechs östlichen
Provinzen des älteren preußischen Staatsgebietes an und gleichzeitig die
Berufung einer außerordentlichen Generalsynode für die sämmtlichen acht
Provinzen des älteren preußischen Staatsgebietes. Die Kirchengemeinde- und
Synodalordnung verlieh der evangelischen Kirche in den sechs erst genannten
Provinzen neue lokale Gemeindeorgane in drei Stufen. Es wurden gebildet:
für die Ortsgemeinde je ein Gemeindekirchenrath und eine Gemeindevertretung
nach einem übereinstimmenden und von dem bisherigen abweichenden Wahl¬
modus; für die Gemeinden der Diöcese je eine Kreissynode; und für die
Diöcesen der Provinz je eine Provinzialsynode. Die mit der Kirchengemeinde-
und Synodalordnung erlassene Verordnung über die Berufung einer außer¬
ordentlichen Generalsynode setzt zu ihrer Ausführung voraus, daß die lokalen
Organe der Kirchengemeinde- und Synodalordnung in ihren drei Stufen ge¬
bildet seien. Wenn dies der Fall, soll aus 180 von den neuen Provinzial-
synoden zu wählenden Mitgliedern, aus sechs Mitgliedern, deren je eines jede
evangelisch-theologische Fakultät der sechs altländischen Universitäten entsendet,
aus sechs Kirchenrechtslehrern, deren je einen die evangelischen Mitglieder jeder
juristischen Fakultät der sechs altländischen Universitäten entsenden, aus den
elf Generalsuperintendenten der acht altländischen Provinzen und aus dreißig
landesherrlich zu ernennenden Mitgliedern eine außerordentliche Generalsynode
berufen werden. Aufgabe dieser Synode soll sein, auf Grund eines ihr
vorzulegenden Entwurfes die definitive Ordnung einer Generalsynode für die
evangelische Kirche der acht älteren Provinzen zu berathen. Der Entwurf
soll von dem evangelischen Kirchenrath in Vereinigung mit dem Minister der
geistlichen Angelegenheiten festgestellt und dem König zur Genehmigung ein¬
gereicht werden.
Die erste dieser beiden für die evangelische Kirche gegebenen lande?.
herrlichen Anordnungen, die Kirchengemeinde- und Ghnodalordnung nämlich
ist dem Landtag vorgelegt worden behufs ihrer theilweisen Legitimation durch
ein Staatsgesetz. Dieses in der vergangenen Session zu Stande gekommene
Gesetz ist das oben genannte Gesetz vom 28. Mai 1874. Aber auch die Ver¬
ordnung über die Berufung einer außerordentlichen Generalsynode für die
acht älteren Provinzen ist in derselben Session vor den Landtag gekommen,
wenn schon in anderer Form. Unter den Ausgaben des Cultusministeriums
für das Jahr 1874 erschien nämlich als einmalige und außerordentliche Aus¬
gabe ein Posten für die Kosten der außerordentlichen Generalsynode. Der
Posten wurde bewilligt, aber das Abgeordnetenhaus machte dabei den Vor¬
behalt, daß es nach dem Abschluß einer Gesammtverfassung für die evangelische
Kirche, bevor dieselbe Rechtskraft erlangen könne, noch sein Wort mitzusprechen
habe. Die Staatsregierung ihrerseits erhob gegen diesen Vorbehalt keinen
Einwand, vielmehr erklärte der Cultusminister Falk einen Gesetzgebungsakt
für nothwendig, um den Verfassungsorganen, welche mittels der Kirchen¬
gemeinde- und Synodalordnung vom 10. September 1873 geschaffen worden,
das bisher vom Staat ausgeübte Recht der Verwaltung des evangelischen
Kirchenvermögens zu übertragen. Dies war am 2. Februar, und in der That
brachte der Minister darauf das Gesetz, betreffend die Kirchengemeinde, und
Synodalordnung, ein, welches die Uebertragung des Rechtes der kirchlichen
Vermögensverwaltung vom Staat auf die neugeschaffenen Gemeindeorgane —
Gemeindektrchenrath und Gemeindevertretung — und in höherer Ordnung auf
die Kreis- und Provinzialsynoden bezweckte.
Das Gesetz hat indessen durch die Beschlüsse des Abgeordnetenhauses nicht
unwesentliche Abänderungen erfahren. Das Abgeordnetenhaus hat nämlich
die in der Kirchengemeinde- und Synodalordnung von 1873 den verschiedenen
kirchlichen Organen übertragenen vermögensrechtlichen Befugnisse nur ge¬
nehmigt, soweit sie sich auf die Gemeindeorgane beziehen. Hinsichtlich der
anderen Organe hat das Abgeordnetenhaus einen Artikel eingeschaltet, welcher
folgendermaßen lautet: „wegen der den Kreis- und Provinzialsynoden und
deren Vorständen in der evangelischen Kirchengemeinde- und Synodalordnung
vom 10. September 1873 zugewiesenen Rechte bleibt die staatsgesetzliche
Regelung, soweit es deren bedarf, vorbehalten." Hiermit sind also nur die
kirchlichen Ortsgemeinden in ihrer neuen Verfassung durch den Staat an¬
erkannt. Sollen die Gemeinden sich zu einer Kirche aufbauen, wozu gehört,
daß den höheren Organen obrigkeitliche und vermögensrechtliche Befugnisse zuer¬
kannt werden, so ist noch ein weiterer Akt der Staatsgesetzgebung erforderlich.
Das Abgeordnetenhaus hat noch einen anderen Beschluß gefaßt, der
geeignet ist, das Band zwischen dem Staat und der evangelischen Kirche, das
nach vieler Leute Meinung jetzt getrennt werden soll, für die Zukunft wiederum
enger anzuziehen. In der Regierungsvorlage des Gesetzes fand sich die
folgende Bestimmung: „Beschlüsse über Umlagen auf die Gemeindeglieder
können im Wege der Staatsverwaltung erst dann vollstreckt werden,
wenn sie von der Staatsbehörde für vollstreckbar erklärt worden sind." Nach
der Regierungsvorlage war also die staatliche Anerkennung von Gemeinde¬
umlagen nur für den Fall vorbehalten, daß die Vollstreckung im Wege der
Staatsverwaltung seitens der Kirche begehrt wird. Das Abgeordnetenhaus
hat aber die Worte „im Wege der Staatsverwaltung" gestrichen, und somit
der Staatsbehörde über die Vollstreckung der kirchlichen Umlagen überhaupt
eine dauernde Eontrole vorbehalten. Das ist ein Beschluß von großer Trag¬
weite, die sich vielleicht Mancher unter den Gesetzgebern nicht klar gemacht
hat. Indem wir die Tragweite des Beschlusses uns klar machen, sind wir
jedoch mit demselben durchaus zufrieden. Es liegt darin die Anerkennung,
daß die Organe der evangelischen Kirche fortfahren, öffentliche Obrigkeiten zu
sein, daß sie in dieser Eigenschaft sowohl der staatlichen Controle sich zu
fügen, als über den Arm des Staates zu verfügen haben. Der Standpunkt,
welcher die evangelische Kirche und alle Kirchen zu Privatassociationen herab¬
drücken möchte, ist durch das Gesetz vom 23. Mai 1874 zurückgewiesen. Wer
etwas von der Bedeutung dieser Fragen versteht, kann sich darüber nur
freuen.
Minder wichtig ist ein anderes Aufsichtsrecht des Staates, welches in
dem nämlichen Gesetz vorbehalten worden; daß nämlich zur Feststellung von
Gemeindestatuten, welche die Kirchengemeinde- und Synodalordnung ergänzen
oder modificiren, die Anerkennung der Staatsbehörde dahingehend erforderlich
ist, daß die entworfene Bestimmung den staatsgesetzlich genehmigten Vorschriften
dieser Ordnung nicht zuwider sei.
Es ist von Werth, sich gegenwärtig zu machen, in welcher Lage nach
dem Erlaß dieses Gesetzes die Frage der evangelischen Kirchenverfassung in
Preußen sich befindet. Die Legitimation der Kreissynoden und Provinzial-
synoden zu denjenigen obrigkeitlichen und vermögensrechtlichen Befugnissen,
ohne welche sie schließlich auch ihren innerkirchlichen Beruf nicht erfüllen
können, hat das Abgeordnetenhaus nicht geben wollen, sondern der Zukunft
vorbehalten, weil es die Bildung dieser Organe, was man so nennt, nicht frei¬
sinnig genug fand, namentlich das Laienelement in der Zusammensetzung
derselben nicht vorwiegend genug. Die Majorität der Abgeordneten erwartet,
daß die zu berufende außerordentliche Generalsynode, welche über die Ordnung
einer definitiven Generalsynode sich auszusprechen hat, bei deren Bildung man
die Synoden der mittleren Stufen auf keinem Wege wird umgehen können,
eine andere Bildung dieser letzteren Organe verlangen werde. Ob die außer¬
ordentliche Generalsynode derartige Anträge eventuell auf Grund des ihr vom
Träger des landesherrlichen Kirchenregimentes ertheilten Mandates zu stellen
befugt wäre, kann man in Zweifel ziehen. Denn die Kirchengemeinde- und
Synodalordnung ist durch den Erlaß vom 10. September 1873 als eine
„definitive Ordnung" der Gemeindeorgane und der Synoden verkündigt
worden. Das Mandat der außerordentlichen Generalsynode beschränkt sich
darauf, die Ordnung der definitiven Generalsynode zu berathen auf der
Grundlage der als kirchliche Ordnung bereits bestehenden Gemeinde- und
Synodalversassung. Immerhin wird die außerordentliche Generalsynode Ab¬
änderungen der bestehenden Organe, wenn nicht anders, doch im Wege der
Petition beantragen können.
Die außerordentliche Generalsynode wird aber, obwohl ihr Mandat nur
ein berathendes ist, außer den bisher erwähnten formellen Fragen unmittelbar
auf die höchsten Lebensfragen der evangelischen Kirche geführt, und muß da¬
durch aller Wahrscheinlichkeit nach, falls nicht ihren Mitgliedern ohne Aus¬
nahme die Gabe des Rathes versagt sein sollte, für unsere Zeit eine besondere
Bedeutung gewinnen.
In dem Erlaß vom 10. September 1873 heißt es: „die (mittels der
gegenwärtigen Anordnungen) herbeigeführten Aenderungen beschränken sich
auf die kirchliche Verfassung; der Bekenntnißstand und die Union in den ge¬
nannten Provinzen werden, wie der König ausdrücklich erklärt, durch die
neue Ordnung in keiner Weise berührt."
Es ist nun aber ganz klar, daß die außerordentliche Generalsynode auf
die Frage kommen muß: soll der jetzige Bekenntnißstand und die Union als
unveränderlich für ewige Zeiten gelten, so daß mit ihrer etwaigen Aenderung
die evangelische Kirche aufgehört hätte, zu bestehen? Wenn diese Frage, wie
doch wohl anzunehmen ist, verneinend beantwortet wird, so kommt die wei¬
tere Frage, wer den Bekenntnißstand für die Zukunft zu reformiren und zu
reguliren hat, und ob nicht bereits eine neue Regulirung desselben gleich¬
zeitig mit dem Eintritt der neuen Gesammtverfassung der evangelischen Kirche
einzutreten hat. Die letztere Frage wird durch den Umstand dringend und
unumgehbar, daß seit der Kirchengemeinde- und Synodalordnung von 1873
Preußen das Gesetz über die Einführung der bürgerlichen Standesbücher und
die bürgerliche Form der Eheschließung erhalten hat. Von nun an ist es
unumgänglich, zu bestimmen, welches die Kennzeichen der Zugehörigkeit zur
evangelischen Kirche sind. Die Kirchengemeindeordnung von 1873 konnte im
zweiten Absatz ihres § 34 noch sagen: „berechtigt zur Wahl der Gemeinde-
organe sind alle u. s. w. Mitglieder der Gemeinde, welche bereits ein
Jahr in der Gemeinde oder, wo mehrere Gemeinden im Orte sind, an
diesem Ort wohnen, zu den kirchlichen Gemeindelasten nach Maßgabe der
dazu bestehenden Verpflichtung beitragen und sich zum Eintritt in die wast.
berechtigte Gemeinde ordnungsmäßig angemeldet haben." Man merke wohl,
daß das Wort „Gemeinde" hier einen zweifachen Sinn hat. Das erste Mal
bedeutet eS die evangelische Gesammtgemeinde, daß zweite Mal die
evangelische Lokalgemeinde. Man nimmt an den Rechten der letz-
teren Theil, wenn man der ersteren angehört, in der letzteren wohnt, ihre
Lasten mitträgt, die beiläufig so gut wie garnicht vorkommen, und sich zum
Eintritt in die wahlberechtigte Gemeinde meldet. Ueber die Angehörigkeit zur
Gesammtgemeinde ist gar nichts festgesetzt. Bisher mochten Taufe, Confir-
mation, Unterlassung eines ausdrücklichen Bekenntnißwechsels oder Austritts
genügen, um diese Angehörigkeit zu begründen. Das kann unmöglich so fort¬
gehen. Oder was wäre das für eine evangelische Kirche, deren Mitglieder
in das Civilgeburtsregister eingetragen, aber nicht getauft, in das Civilehe¬
register eingetragen, aber nicht getraut sind, die weder die Confirmation noch
Religionsunterricht empfangen haben, noch in irgend einer Weise sich zur
Kirchenlehre bekennen oder dieselbe praktisch befolgen. Es giebt freilich eine
Art von Liberalismus, der es fertig bringt, von der evangelischen Kirche zu
verlangen, daß sie in ihrem Schooß Alles dulde, Alles aufnehme, was von
ihr nichts wissen will- Eine Sorte kindischer Tyrannei, zu der man aus
„Liberalismus" kommen kann, wenn man sich des Denkens entschlage. Da-
mit die Kirche ja keinen Zwang ausübe, soll sie ihrerseits jeden Zwang erlei-
den, der irgend Jemandem beliebt, ihr aufzulegen. Diese Thorheiten werden
vorgehen, sowie die Sache ernstlich erwogen und praktisch angefaßt wird.
Kann aber, wenn irgend eine lebendige Bethätigung des Bekenntnisses
Uinerläßlich ist für die Zugehörigkeit zu der evangelischen Kirche und unerläßlich
sein muß, dieses Bekenntniß noch festgestellt werden auf dem Wege historischer
Jurisprudenz, die wir gewohnt sind, als kirchliche Orthodoxie zu betrachten,
obwohl sich viel, recht viel sagen ließe gegen den rechten Glauben solcher
Rechtgläubigen!
Und ferner, wird der Staat, dessen Wille durch den Faktor des Parlaments
ungebildet wird, einer Kirche, die auf dem Grunde der kirchlichen Jurisprudenz
erbaut werden sollte, die vorbehaltene Legitimation gewähren, ohne welche der
Bau niemals vollständig werden kann?
Endlich müssen wir noch fragen: ist der Fortbestand der evangelischen
Kirche denkbar ohne wesentliche Erhöhung der Staatsdotation, für welche die
besten und durchschlagendsten Gründe der höheren Rechtsauffassung und der
höheren Politik unzweifelhaft sprechen? Wird aber und darf der Staat diese
Dotation, diese Ausstattung mit Gut und Macht einer Kirche gewähren,
deren Glaube gefesselt werden sollte durch den Erkenntnißstand einer sehr ein¬
Unter den Insassen des Königsteins verdient ganz besonders auch der
kursächsische Kanzler Dr. Nicolaus Kreil genannt, und dessen Gedächtniß gerade
in der jetzigen Zeit wieder aufgefrischt zu werden. Man konnte ihm nichts
weiter zur Last legen, als daß er im Einverständnisse mit dem Kurfürsten
Christian I. (1386 bis 1391) die Streit- und Lästersucht der (lutherischen)
Geistlichen durch das sog. Friedens-Mandat vom 28. August 1888 zu
mäßigen, die Exorcismus. Formel bei der Taufe abzuschaffen, und den
Adel in seinen Jagdberechtigungen und Präsentations-Rechten zu beschränken
suchte. Dies führte ihn unmittelbar nach dem Tode seines Herrn (25. Sep¬
tember 1591) in Haft, sodann am 17./18. November 1591 in den nach ihm
benannten Krellen-Thurm auf der Festung Königsstein und nach lOjährigem
schweren Gefängniß am 9. October 1601 auf das Schaffst. Der Scharfrichter
hatte auf sein Schwert, welches noch in Dresden zu sehen ist, die jene Zeit
characterisirenden Worte: „<üave Olvwiane" eingraviren lassen.
Die tragische Geschichte dieses ausgezeichneten Staatsmannes ist neuer¬
dings wieder von theologischer Seite behandelt worden.*) Es verlohnt sich aber
auch der Mühe, daß das gegen Kreil eingehaltene Verfahren einmal von ju¬
ristischer Seite ins Auge gefaßt werde, um an der Hand der Gesetze und der
jetzt vollständiger vorliegenden Acten**), die ganze Abscheulichkeit des gegen
Kreil begangenen Justizmordes darzulegen.
Nachdem unter der Regierung des Kurfürsten August, des Vaters von
Christian I. der strengste Orthodoxismus des Lutherthums in Kursachsen die
Oberhand erhalten hatte, ging Christian I. von viel freieren Ansichten aus,
welche mehr der neuen Lehre von Philipp Melanchthon zugethan waren.
August hatte seinem Sohne Christian den Dr. Kreil, einen tüchtigen Juristen,
der auf der Leipziger Universität mit Auszeichnung gelehrt hatte, schon im
Jahre 1580 als Hofrath beigegeben. Kreil gewann dadurch nach und nach das
unbedingte Vertrauen von Christian I., so daß dieser ihn am 25. Juni 1589
zu seinem Kanzler erhob. In der Bestellungs-Urkunde kommt folgende merk¬
würdige Stelle vor: „Ingleichen so wollen Wir, wenn seinethalben von
Jemand Jchtwas geklagt oder uns sonsten fürgebracht würde, vor allen Dingen
seinen Bericht und Verantwortung von ihm einnehmen und nachdem er uns
unterthänigst vermeldet, daß ihm die unlängst verlaufenen Händel und ihm
wegen etlicher Leute zugestandenen Widerwärtigkeiten Ursache geben, daß er
der Religion und Freiheit seines Gewissens bei dieser seiner Bestallung wegen
uns unterthänigst gedenken mußte, und aber er uns hierüber von den jetzigen
Streiten in Religions-Sachen sein Bekenntniß unterthänigst übergeben, als
wollen wir ihn bei solcher seiner Confession gnädigst verbleiben lassen, ihn
auch in dem und sonsten wider alle Unbilligkeit und Beschwerung, so ihm in
diesem unserem Kanzleramte begegnen möchte, wann wir denselben berichtet,
jederzeit gnädigst schützen und handhaben."
Offenbar hatte sich Kreil, eingedenk des schrecklichen Geschickes, welches
einem seiner Vorgänger, dem Kanzler Dr. Craco unter dem Kurfürsten August
bereitet worden war, hierdurch zu sichern gesucht. In Folge eines Streites
mit dem Hofprediger Dr. Mirus zu Dresden hatte Kreil seinem Herrn ein
Glaubensbekenntniß abgelegt, welches unter Verwerfung der Ubiquitäts-Lehre,
namentlich in Bezug auf das Abendmahl, genau der Lutherischen Auffassung
folgte. Er fügte jedoch bei, daß er der Meinung des Philippi (Melanchthon's)
sei, und daß erst der Beweis geführt werden müsse, Philippus sei calvinisch
gewesen. Wie sehr damals die Gemüther durch die theologisch-dogmatischen
Streitigkeiten bewegt wurden, zeigt auch ein Streit, in welchem der Kurfürst
Christian I. mit seinem eigenen Hofprediger Dr. Mirus gerathen war. Jener
hatte bei einer Kindtaufe bei dem Stallmeister von Holtzendorff zu Dresden
einen Becher mit dem Trinksprüche eingeweiht: Es gilt der Gesundheit aller
ehrlichen Gesellen, unter denen weder Flaccianer, noch Calvinisten sich befin¬
den. Ich, Christian, bin weder Calvinisch, noch Flaccianisch, sondern gut
christlich, und will was ich jetzt sage, in der dritten und vierten Predigt
hören. — or. Mirus machte deshalb dem Kurfürsten Vorstellungen, daß er
in allen Verhältnissen als Borbild seines Volkes zu handeln habe. Auf die
Entgegnung des Kurfürsten, daß Alles nur zu Ehren eines kurfürstlichen
Dieners geschehen sei und er keineswegs das Ministerium verachte, Mirus
solle ihn mit solchen Dingen verschonen, sonst würde er ihm eine Antwort
geben, die er fühlen solle, — erwiderte Mirus: „Kurs. Gnaden, Sie werden
dem heiligen Geist das Maul nicht stopfen, Sie haben sich an mir müde
gebissen." Der Kurfürst antwortete: „Dem heiligen Geiste begehre ich nichts
vorzuschreiben, aber Dir will ich das Maul binden, packe Dich!" Da Mirus
noch stehen blieb, rief ihm der Kurfürst zu: „Ich habe zu arbeiten, gehe oder
ich will Dir Füße machen." — Die kurfürstlichen Geheimen Räthe wurden
hierüber gehört und beschlossen, den Dr. Mirus wegen seines Hochmuthes und
Trotzes zur Verantwortung zu ziehen. Dieser verweigerte aber jede Antwort,
unter Berufung auf sein Beichtvater-Amt, wobei er die Ueberzeugung aus¬
sprach, daß die Beschwerde über ihn nicht von dem Kurfürsten, sondern von
andern heillosen und gottlosen Leuten herrühre, worunter er besonders auf
Kreil zielte. Mirus wurde jedoch am 29. Juli 1588 nach dem Königstein ge¬
bracht. Nachdem er aber am 16. September 1588 einen Revers dahin aus¬
gestellt hatte, daß er sich etlicher ganz unbescheidener, ungebührlicher und be¬
schwerlicher Reden gegen des Kurfürsten Person habe verlauten lassen, wurde
er wieder aus dem Gefängnisse befreit. Dieser Mann hatte bei der Kurfürstin
Sophie, einer Tochter des Brandenburg'schen Kurfürsten Johann Friedrich
großen Einfluß erlangt, sie war streng lutherisch und es wurde ihr ein unaus¬
löschlicher Haß gegen Kreil eingeflößt, den sie als Verführer ihres Gemahles
zum Calvinismus betrachtete.
Die Lutheraner schäumten unterdessen vor Wuth und lärmten ohne
Unterlaß auf den Kanzeln gegen die Calvinisten und Philippisten. Der
Kurfürst erließ deshalb am 28. August 1588 ein f. g. Friedens - Mandat,
wodurch „alles Schmähen und Lästern, das ärgerliche Gezänke und Gebeiße"
verboten wurde. Die Orthodoxen ließen sich jedoch nicht beschwichtigen, was
die Entfernung Mehrerer vom Amte zur Folge hatte. Freisinnigere Männer,
namentlich Dr. Urban Pierius und Dr. Gundermann, wurden als Superin¬
tendenten, jener nach Wittenberg, und dieser als solcher nach Leipzig berufen.
Die ihres Amtes entsetzten Geistlichen fanden in dem Herzogthume Sachsen
Schutz. Die Fürsten aus der, der Kurwürde entsetzten, Ernestinischen Linie
hatten schon durch die Stiftung der Universität Jena (1547) das Banner des
strengen Lutherthumes aufgerichtet. Daher erklärt sich auch, daß der auf
den Kurfürsten Christian I. folgende Administrator Friedrich Wilhelm von
Sachsen-Altenburg alsbald auf die Verfolgung des Kreil einging.
Ferner hatte Christian I. bei der Taufe seiner jüngsten Tochter Dorothea
die lutherische Formel der Teufels-Beschwörung als unnöthig wegzulassen ge-
boten. Die drei Consistorien und die Superintendenten wurden zum Gut-
achten aufgefordert, und da diese, sowie die meisten Prediger sich dahin aus-
sprachen, daß sie sich die Abschaffung des Exorcismus gefallen ließen, wurde
durch ein kurfürstliches Decret vom 4. Juli 1591 befohlen, hinführo Keinen
mehr zum Kirchendienste zu ordiniren, oder kommen zu lassen, der sich mit
dem Bedenken der anderen Kirchendiener nicht vergleichen würde. Hierdurch
entstand jedoch eine große Aufregung im Volke, indem dieses die Taufe ohne
die Teufels-Beschwörung für unwirksam hielt. Unter anderen Scenen kam
es vor, daß ein Fleischer in Dresden dem Taufzuge seines Kindes mit ge¬
zücktem Beile in die Kirche folgte und dem Geistlichen drohte, ihm den Kopf
zu spalten, wenn er die Teufels-Beschwörung weglassen würde, — was denn
den Geistlichen zu deren Vornahme trotz des kurfürstlichen Verbotes bewog.
Auch mehrere Prädicanten, etliche 20*), hatten bei Pirna dem Kurfürsten
eine Supplication wegen Wiedereinführung des Exorcismus überreicht. Kreil
soll nach der Angabe eines einzigen, wegen seiner Gehässigkeit offenbar sehr
verdächtigen Zeugen, Caspar Triller, dem Kurfürsten dieß als eine Zusammen-
rottirung der Pfaffen dargestellt haben, weßhalb Jene auch des folgenden
Tages wären bestrickt worden.
Ferner ließ der Kurfürst von den Theologen Salmuth, Steinbach und
Pierius eine Bibel-Uebersetzung in Folio mit praktischen Anmerkungen aus>
arbeiten, welche jedoch nur bis zu einigen Büchern des alten Testamentes
gelangte. Man nannte sie später nur die Kreil'sche Bibel, obgleich Kreil
selbst durchaus keinen unmittelbaren und selbständigen Antheil daran ge¬
nommen hatte.
Die von dem Kurfürsten in Verbindung mit andern Fürsten gewährte
Hülfe für Heinrich IV. von Frankreich an Mannschaft und Geld wurde so
gedeutet, als sollten dadurch nur die Calvinisten unterstützt werden.
Bald nach diesen Vorgängen starb jedoch der Kurfürst in einem Alter
von 30 Jahren und nach einer nur 5jährigen Regierung, — am 25. Sept.
1591. — In seinem Testamente hatte er seinen unmündigen 5 Kindern den
Herzog Friedrich Wilhelm von Sachsen-Altenburg, und seinen Schwiegervater,
Kurfürsten Johann Georg von Brandenburg zu Vormündern, zugleich aber
seinen Kanzler Kreil zum Testaments - Executor ernannt, und unter warmer
Empfehlung desselben an seine Kinder, angeordnet, daß er in seiner Stellung
an der Spitze der Verwaltung bleiben solle.
Noch ehe aber die Leiche des Kurfürsten bestattet worden war, hatte
bereits ein Ausschuß von 11 Personen aus der Ritterschaft dem Herzoge
Friedrich Wilhelm als Administrator von Kursachsen ein Gesuch überreicht,
in welchem verlangt wurde, daß dem Kanzler Kreil das große Jnsiegel ge¬
nommen, und von einer anderen vornehmen Person der kurfürstlichen Leiche
vorangetragen werde. In diesem ersten Verlangen drückt sich sehr klar der
Unwille des Adels darüber aus, daß er seit der Zeit August's von der
obersten Leitung der Staatsgeschäfte ausgeschlossen und diese den begabteren
Männern aus dem Gelehrten-Stande übertragen worden war. Ferner wird
in dem Gesuche fortgefahren: „Dieweil der Kanzler von den Ständen dieses
Landes in großem Verdacht sey, daß er der vornehmste Beförderer in an¬
gestellter Aenderung der Religion wäre, auch solches zum Theil in's Werk
gesetzt, ihm auch alle geheime und vornehmsten Sachen Seiner Gnaden Selig
bewußt, so bete die Landschaft unterthänigst, Euer Fürstliche Gnaden wollen
denselben Handfest machen, alle die schriftlichen und anderen Sachen, so er
bey sich in seinem Hause, versiegeln lassen. Ferner bete die Landschaft unter¬
thänigst, weil etliche unter ihnen Ihre Prädicanten das Predigt-Amt gelegt,
die Kirchen verboten, Euer Fürstliche Gnaden wollten gnädig geruhen, die¬
selben Prädicanten hinwieder ihres Amtes und Gottesdienstes, wie es bey
Kurfürst Augustus sowohl, als eine zeither auch bey Kurfürst Christian ge¬
halten, in ihren befohlenen Kirchen Brauch und Vorsorge lassen."
Der Administrator antwortete darauf, daß der erste Punkt erledigt sey.
Ferner: „Es hörten Seine Fürstliche Gnaden nicht gerne, daß der Kanzler
so in bester Verdacht bey der Landschaft und weil Seine Fürstliche Gnaden
von dem gemeinen Geschrei, darauf dieselbe doch nicht hätte gründen können,
solches gleichergestalt gehört, die Fürstliche Wittwe auch um die Be¬
strickung des Kanzlers anhalten lassen, so sollte derselbe behandfestigt werden,
doch dergestalt, daß die Landschaft darauf bedacht seyn sollte, daß derselbe
hinförder mit erheblich Ursach besprochen werden möchte, maassen dann auch
Zindelinus (dieser war ein jüngerer Rath und wohnte in dem Hause des
Kreil) von abhanden nicht kommen zu lassen allbereit Befehlig geschehen,
Ihre Fürstliche Gnaden zu denen gedenken, daß die jetzo neu eingesetzten
Prädicanten also stracks nicht abzuschaffen, aus Ursachen, weil Ihrer Fürst¬
lichen Gnaden derselben Confession noch nicht bekannt wäre. Diejenigen
Pfarrer aber, so allbereits nicht abgesetzt, möchten wohl mit ihren alten
Prädicanten hinwieder versorgt und zum Predigen zugelassen werden."
Dieser Befehl wurde auch am 23. October 1S91, am Tage vor der
Beisetzung des Kurfürsten, in der Mittags-Stunde, als Kreil aus der Kanzlei
nach Hause ging, ausgeführt, indem einige Trabanten ihn in seinem Hause,
(dem jetzigen Hotel de Pologne in der Schloß-Straße) strenge bewachten.
Während derselbe hier bestrickt war, wurde der vorige Kanzler Dr. Peifer
wieder als solcher eingesetzt.
Die Verhaftung des Dr. Kreil war eine durchaus gesetzwidrige. Sie
geschah im Namen der Landschaft, ohne daß diese den Auftrag dazu ertheilt
hätte; ja, diese war zu jener Zeit gar nicht versammelt. Sie geschah ohne
gesetzlichen Grund, hauptsächlich auf Wunsch der verwittweten Kurfürstin
Sophie und deren Anhänger, ohne auch nur das ordentliche Gericht darum
anzugehen.
Durch dieses gewaltthätig« Verfahren gegen Kreil, sowie durch die Be¬
strickung der Hofprediger Salmuth und Steinbach in Dresden wurde der
Pöbel, namentlich in Leipzig, zu groben Excessen gegen Solche, die im Ver¬
dachte standen, Calvinisten zu sein, aufgeregt. Man versäumte später nicht,
diese Unruhen ebenfalls dem Kreil zur Last zu legen, während sie doch allein
durch das Zufahren der jetzigen Gewalthaber herbeigeführt worden waren.
Gegen Kreil wurden nun auf dem Landtage zu Torgau im Februar
1692 die ersten Beschwerden erhoben. Danach wurde er beschuldigt, daß er
dem Kurfürsten in „Aenderung des Regiments und der Religion, auch zur
Hülfe in Frankreich gerathen habe. Solche Sachen seyen dem Kurfürsten ge¬
meiniglich vor oder über der Mahlzeit vorgebracht worden, wodurch er er¬
zürnet, in Grimm und Zorn darauf gegessen und getrunken habe. Ja, Kreil
habe den Kurfürsten gegen den Kaiser, die Kurfürsten und Fürsten des Reiches
verhetzt, wodurch Land und Leute in Gefahr gesetzt und der Kurfürst, wie
manniglichen bewußt, in solch Betrübniß und Schwermüthigkeit gerathen,
daß er des Todes darüber hätte seyn müssen. Kreil, dieser Rädelsführer,
habe gerathen, die Kammer- und Hofräthe zusammenzusetzen. Es sey auch zu
vermuthen, daß vieler Potentaten, wie deren vom Adel, Warnungsschreiben
dem Kurfürsten niemals vorgebracht, sondern von Kreil Hinterhalten. In
Religionssachen habe er Niemanden, als der seiner Meinung gewesen, zu sich
gezogen und mit Leuten außerhalb Landes geprakticirr. Dieser ehrliche Vogel
hätte, wenn es schon der Kurfürst so hätte haben wollen, nicht allein rathen,
sondern von dem Kurfürsten erbitten sollen, Andere in solche Rathschläge zu
nehmen. In seinem Kanzellariat-Amt sey kein ehrlicher vom Adel zu¬
gezogen worden , dagegen hätten grobe, gotteslästerliche Calvinisten bey
Kreil gelehrte und fürnehme Leute seyn müssen. Viele fromme, gelehrte und
gottesfürchtige Lehrer und Seelsorger habe Kreil aus dem Lande jagen helfen.
Er habe die Liblia Luttieri und vateenismum zu verfälschen angefangen.
Das Testament deS Kurfürsten habe Kreil geschmiedet und deßhalb habe er
seiner nicht vergessen, sondern sich selbst zum Legatario eingesetzt, und durch
seiner böse, falsche Practik zu Verderb seines Vaterlandes, zum Regiments-
Adjuncten sich selbst angegeben. Er habe viel ehrlicher vom Adel angegriffen
an Ehr und gutem Leumund und ihnen an ihren Freiheiten und Gerechtig¬
keiten, sonderlich an ihrem jure Mronatus Einhalt gethan, gerathen, daß
die ganze Landschaft durch Schwert zum calvinischen Glauben gedrungen
würde, den Herrn um's Leben gebracht."
Diese Beschuldigungen tragen den Charakter der Uebertreibung zu sehr
an der Stirne, als daß sie in der Folge hätten aufrecht erhalten werden
können, zumal da es an allen Beweisen fehlte, und die Stände sich erst am
24. April 1692 an den Administrator mit der Bitte wandten, ihnen alle
Schriften, die sich auf Kreil's Verhalten bezögen, mitzutheilen.
Da indessen nach Verlauf mehrerer Jahre weder eine Anklage erhoben,
noch Kreil verhört worden war, wendete sich dessen Gattin an das Reichs¬
kammer-Gericht. Dieses war zur Annahme von Beschwerden wegen ver¬
weigerter oder verzögerter Rechtshülfe allgemein competent. Die Beschwerde¬
führerin erwirkte hier auch ein unbedingtes Mandat vom 14. März 1Ü94,
durch welches dem Administrator befohlen wurve, den Anklägern einen ge¬
wissen Termin zur rechtlichen Begründung ihrer angemaßten Beschuldigung
bey Meidung ewigen Stillschweigens zu setzen, dagegen des Gefangenen Ver¬
theidigung anzuhören und ihm unverlangte Justiz widerfahren zu lassen,
oder die Verhaftung auf gewöhnliche Urphed zu relaxiren. — Obgleich nun
schon damals die Mandate des Reichs-Kammergerichtes von den mächtigeren
Reichsständen in der Regel nicht befolgt wurden, so hatte dasselbe doch die
Wirkung, daß der Administrator, nach Ablehnung des Auftrages durch die
Regierungs'Räthe in Dresden, eine Commission von 6 Mitgliedern aus der
Zahl der Professoren von Leipzig und Wittenberg ernannte, welche baldigst
den peinlichen Proceß gegen Kreil einzuleiten hatte. Die Acten sollten als¬
dann inrotulirt, versiegelt und nach Tübingen oder sonst auf eine unverdäch¬
tige und außer diesen Landen gelegene Universität zum Verspruch gesandt
werden. — Auch diese Commissarien suchten den Auftrag von sich abzulehnen,
aber vergeblich. Nun wurde endlich nach Jahren, am 26. Juni 1L9S
das erste Verhör mit Kreil auf dem Königstein abgehalten. Er protestirte
lebhaft gegen das eingehaltene Verfahren und dictirte seine Einwendungen
dagegen dem Notare während zweyer Tage. Die Acten gelangten dann
endlich an die Tübinger Juristen-Facultät, welche damals auf der Seite der
strengen Lutheraner stand, aus welchem Grunde die Gegner Kreil's gerade
diese gewählt hatten. Allein diese gab am 21. Mai 1396 ihr Gutachten
dahin ab, daß ihnen solch Werk (das eingehaltene Verfahren) etwas fremd
fürkomme, dem Kreil zwar die begehrte Relaxation noch zur Zeit abzuschlagen,
jedoch Zutritt seiner Befreundeten, auch eines Advocaten zugelassen werde, daß
ferner Kreil auf des klagenden Syndici vorgebrachte Jnquisitional-Artikel noch
zur Zeit zu antworten nicht schuldig sey. sondern dem Syndico, ob er wolle,
förmlich zu klagen und articuliren bevorstehen, ihm auch hierzu von Amts¬
wegen Zeit angesetzt seyn solle.
Dieses Urtheil wurde aber nicht befolgt und deßhalb von dem Kreil'schen
Advocaten am 9. December 1ö96 bei dem Reichskammergerichte ein schärferes
Mandat unter Androhung der Acht erwirkt. Dieses wurde aber dadurch
lahm gelegt, daß bey dem Erzbischofe in Mainz die Revision dagegen an-
gezeigt wurde, ein bequemes Rechtsmittel, um die Sache auf die lange Bank
zu schieben.
Man versuchte nun aber noch einen andern Weg, um die Sache definitiv
dem Reichskammergerichte zu entziehen. Man wendete sich nehmlich durch
eine besondere Deputation an den Reichs-Hofrath zu Prag und erwirkte hier
ein kaiserliches Rescript vom 7. Mai 1597 an das Reichs - Kammergericht,
worin diesem befohlen wurde, an der Jurisdiction des Administrators der
Kursachsen und an dem wider Kreil laufenden Proceß keinen Eintrag zu
thun, oder dem Kaiser, woferne etwas Erhebliches dawider vorhanden, mit
ehesten umständlich zu berichten, inmittelst aber bis zu weiterer Resolution,
hierinnen mit fernerem Proceß in Ruhe zu stehen.
Offenbar war dieses Rescript erschlichen worden, da es sich keineswegs
darum gehandelt hatte, sich in den Criminalprozeß gegen Kreil einzumischen,
sondern gerade umgekehrt, denselben zu beschleunigen und dem Beschuldigten
das rechtliche Gehör und die Vertheidigung durch Rechtsbeistande zu gestatten.
Jetzt wurde man dreister. Die Frau des Kreil wurde sogar wegen einer
von ihr übergebenen Supplication ihres eingekerkerten Mannes ebenfalls in
ihrer Wohnung bestrickt.
Bei dem Mangel an Beweisen machte man den Versuch, den Kreil
in einem Verhöre vom 22. August 1598 durch ein mit seiner falschen Unter¬
schrift versehenes, angeblich von ihm an den Kur-Pfälzischen Kanzler Oesen
gerichtetes Schreiben ac dato Waldheim den 19. Juli 1591, zu hintergehen.
Kreil selbst drückt sich darüber so aus: „Ein Schelm und Bösewicht habe
dieses Schreiben höflich erdichtet, darinnen er jenem vermeldet, daß er den
Kurfürsten nun zur neuen Reformation bewogen und dieser nunmehr gänzlich
dem Calvinismo zugethan sey; item, daß die vom Adel, so sich darwider
setzen, allbereit in's schwarze Register eingeschrieben; Item da dieselbe vom
Adel der neuen Reformation nicht subscribiren würden, sollten dieselben mit
dem Schwerd gerichtet oder ja an Ort und Stelle, da sie Leib- und Lebens¬
gefahr zu erwarten, geführt werden. — Da sollte ich nun sagen, wo dasselbe
schwarze Register zu befinden, desgleichen, wo man die vom Adel hinführen
wöllen. — Er habe aber sein Lebtag an Dr. Oesen kein Wort geschrieben,
derselbe sey seines Wissens auch allbereit, da solch' Schreiben datirt und ge¬
schehen seyn sollte, todt gewesen.
Unterdessen waren bei dem großen Aufsehen, welches dieser Proceß überall
hervorgerufen hatte, von mehreren Fürsten, namentlich dem Landgrafen
Moritz von Hessen, dem Pfalzgrafen Philipp, und Heinrich IV. von Frankreich
mehrfache Interventionen ergangen, um zu bewirken, daß Kreil wenigstens
gegen Caution von seiner langjährigen Untersuchungshaft freigelassen werde,
was aber vom Administrator verweigert wurde.
Die gegen das reichskammergerichtliche Verfahren eingelegte Revision
wurde verworfen, weil die Taxe von 1500 Rheinischen Goldgulden nicht
hinterlegt worden war. Nachträglich am 2. Januar 1601 wurde jedoch das
Geld herbeigeschafft und in Prag ein weiteres kaiserliches Decret vom 2. Mai
1601 ausgewirkt, worin gerügt wird, daß der zur Hinterlegung der Taxen
und Beibringung der Revisions-Beschwerde anberaumte Termin zu kurz ge¬
wesen sei. Sodann wird bemerkt, daß dies Werk ja jetzo in einem andern
Standt als vor diesem hasste, dieweil Dr. Kreil's Eheweib selbst noch 1598
angehalten, diese Sache hierhero an unsern kayserlichen Hof zu avociren, da¬
durch sie sich also s, loro priori abgewandt, auf welches aber wir sie an den
Administrator der Chursachsen remittirt. Es wolle demnach das Reichs¬
kammergericht auf Dr. Krellen's und der Seinigen nichtiglich angegebenen
Desertion eaussae (der Revision) keinen statt thun, sondern dem peinlichen
Proceß seinen Gang lassen und also der Chursachsen darwider an Ihrer
Jurisdiktion keinen Eintrag thun-
Von diesem Decrete gilt das nehmliche, wie von dem früheren. Das
Reichskammergericht hatte nicht in die an sich unbestrittene Jurisdiktion von
Kursachsen in Kriminalsachen eingegriffen, sondern nur das nichtige Ver¬
fahren, wozu es competent war, cassirt und der sächsischen Regierung auf¬
gegeben, die Einleitung eines ordnungsmäßigen Anklage-Verfahrens unter
Wahrung der Rechte des Kreil auf Vertheidigung nachzuweisen. Außerdem
ist es auffallend, daß der Reichshofrath aus den von der Ehefrau des Kreil
eingeleiteten Schritten einen Verzicht des Letzteren selbst aus die Entscheidung
durch das Reichs-Kammergericht herleitete, was um so weniger statthaft war,
als Kreil gegen etwaiges nachtheiliges Beginnen der Seinigen stets protestirt
hatte. Endlich konnte die dem Dr. Kreil günstige Verwerfung der Revision
von Kursachsen nur auf dem Wege der Restitution wieder beseitigt werden,
und diese war bei der Reichskammergerichts-Visitation selbst anzubringen.
In dem Decrete des Neichshofrathes wird zur Erklärung der langen
Dauer des Processes angeführt, daß 160 Zeugen über mehr als 80 Beweis-
Artikel und dazu gestellte Fragestücke hätten abgehört werden müssen. In
dem Hauptwerke von Richard wird nirgends auf diese Aussagen der Zeugen
Bezug genommen, es scheint also, daß Richard keine Kenntniß derselben er.
halten hat. Kiesling hat in seiner Fortsetzung der Ristoria motuum von
Löscher, Schwabach 1770, in der Beilage einen „Extract und aus dem wider
Kreil verführten Inquisitions-Beweis verfaßte Deducirung, was Kreil in
seinem Cancellariat-Ambt vorgenommen und habe vornehmen wollen", mit¬
getheilt, ohne jedoch die Quelle anzugeben, von wem er denselben erhalten
hat. Er führt nur an, daß man diesen, auf 71 kleinen Quart-Seiten ge¬
druckten Extract wohl schwerlich in einer Privat-Bibliothek antreffen werde.
Derselbe trägt aber das Gepräge der Aechtheit an sich. Danach sprechen die
meisten Zungen nur von Hörensagen und von dem, was sie von Kiell und
den Vorwürfen gegen denselben halten. Als das Ergebniß der Beweise wird
am Schlüsse hervorgehoben:
1) daß Kreil die Religion habe ändern und den Calvinismus habe ein-
schieben wollen,
2) daß er den Ltatum xuWeum et imxerü, und desselben Einigkeit und
Trarquillität zu turbiren, und also erimon Is-esas irmjestatig zu begehen,
vermessentlich sich habe gelüsten lassen,
3) daß er die Rittermäßigen und andere Unterthanen verachtet, und
schmehlichen angegriffen habe.
Dabei wird anerkannt, daß dies Alles augenscheinlicher bewiesen worden
wäre, wenn nicht Kreil die betreffenden Urkunden wegprakticirt und verbrannt
habe, wie die gemeine Rede, das gemeine Gerücht gegangen wäre, und was
mehrere Zeugen <Zs auäiw bestätigt hätten.
Die Anklage stand danach auf sehr schwachen Füßen. Man wandte sich
daher im Juni 1601 wieder an den kaiserlichen Hof, und zwar durch mehrere
Vertraute, welche zugleich darauf bezügliche Schreiben der Kurfürstin Sophie
und deren Sohn Christian (des nachherigen Kurfürsten Christian II. und sog.
Merseburger Bierkönigs) zu überbringen hatten. In dem Schreiben der Kur¬
fürstin kommt die auffallende Stelle vor: „Und nachdem nunmehr das wider
Dr. Kreil gefuerte Zeugknus genzlichen zum Ende gebracht, auch denen von
E. K. Maj. allergnädigst dazu verordneten Räthen zu vorsprechen überschickt
worden, Als hab ich durch eine vortraute Persohn, die vornembsten über Ihn
genugsam ausgeführten und erwiesenen Händel daraus zusammenziehen lassen
und dieselben E. K. Maj. hierneben unterthänigst zu übersenden, die höchste
Nothdurft zu sein erachtet. Unterthänigst und demüthigst Bittende. Weilt
E. K. Mas. allergn. und clerlich darin befinden werden, wie ganz bößlicher
Weise Kreil hochgedachten meinen geliebten Herrn, fehl. Geb. vielseitig? und
arglistiger weise betrogen und hintergangen, desselben churf. Namen betrüg-
licher Weise wider seinen geschworenen Eide und Pflicht gemißbraucht und
aus eigener Bewegnus etzliche Sachen, so wider den Religions- und Land¬
frieden laufen, auch nicht allein diesen Landen, sondern dem ganzen Heyligen
Römischen Reiche große Zerrüttung« verursachen können, practiciren und
zu wergk zustellen sich unterstanden, E. K. Maj. wolle die allergnädigste Ver¬
ordnungen thun, damit zu Vorhüttung eines künftigen größeren Uebels und
Unheils auch dergleichen boshaftigen und pflichtvergessenen Leutten zur Ab¬
wehr das sie sich dessen sonderlich an diesem Orthe künftigk nicht mehr unter-
fangen durffen, eine recht große Straffe wieder ihn erkannt werden
möge" u. f. w.
Man ersteht aus diesem Schreiben, daß der Kaiser bereits diejenigen
Räthe bestimmt hatte, welche das Urtheil fällen sollten, ohne daß Kreil hier¬
über gehört worden war, ferner daß die Kurfürstin ihr Interesse an der ern¬
sten Bestrafung des Kcell deutlich dem Kaiser an das Herz legte. Es war
gebräuchlich, daß in weitläufigen Rechtssachen zugleich ein Auszug aus den
Acten für die Referenten angeschlossen wurde; es ist daher sehr wahrscheinlich,
daß der oben erwähnte von Kiesling uns erhaltene Auszug der nehmliche ist,
welcher in dem Schreiben erwähnt wird. Der Kaiser willfahrte dem Gesuche
der Kurfürstin und die von ihm verordneten Räthe, das kaiserliche Appel¬
lationsgericht zu Prag ließen auch auf das Urtheil nicht warten. Es wurde
überraschend schnell schon am 8. September 1601 im Namen des Kaisers
Rudolph II. gefällt und lautete ganz übereinstimmend mit der Bitte der
Kurfürstin dahin, daß Angeklagter Nikolas Kreil mit seinen vielfältigen Bösen
und wider seine Pflicht fürgenommenen und daheim und mit fremden Herr¬
schaften und denselben abgefertigten gebrauchten Practiciren und allerhand
arglistigen Fürnehmen dadurch er wider den aufgerichteten Landfrieden und
Turbirung gemeiner Vaterlandsruhe und Einigkeit gehandelt, welches Alles,
wie zu Recht ausführlich gemacht und bewiesen, sein Leib und Leben verwirkt
und mit dem Schwert Andern zur Abscheu gerechtfertigt werden solle.
Dieses erwünschte Jnformativ-Urtheil wurde sogleich, als auf Belehrung der
Rechtsgelehrten (ohne Angabe von welchen) von dem Administrator erfolgt, in
ein förmliches Erkenntniß umgewandelt und dem Kcell am 22. September 1601
eröffnet. Welchen Eindruck dies auf Kreil hervorbrachte, ergiebt sich aus dessen,
noch am nehmlichen Tage an den Administrator gerichtetem Schreiben. „Nun
um dessen Vorlegung im Originale gebeten, nicht erhalten können; dieses gehe
gegen den Inhalt der Acten und gestellten Anträge, gegen den gebräuchlichen
einem Weibe und von Rechtsgelehrten, wie es Rechtens und vom K. Kammer«
gericht befohlen und sonder Zweifel auch erkannt sei.
Allein diese gesetzlich zulässige Einwendung eines Rechtsmittels gegen
das Todes-Urtheil fand keine Beachtung. Denn der Administrator trat am
folgenden Tage vom Regiments ab, und der 18 Jahre alt gewordene Christian
trat die Regierung an; es war unter diesen Umständen für Anhörung von
Kreil's Beschwerden keine Zeit übrig. Das Urtheil war außerdem nichtig,
weil es von einem auswärtigen unzuständiger Gerichte gesprochen worden
war, es hätte von dem durch Kurfürst August speciell für peinliche Sachen
errichteten Schöppenstuhle zu Leipzig, oder wie in dem früheren Stadium des
Processes bereits geschehen, und überhaupt in dem Instructions-Commissorium
angeordnet war, von einer auswärtigen Juristen-Facultät, gefällt werden
müssen. Ein weiterer Nichtigkeitsgrund lag darin, daß dem Kreil trotz der
Entscheidung des R. Kammergerichts das rechtliche Gehör, die Mittheilung der
angeblichen Beweise und die Defension durch einen Rechtsgelehrten versagt
worden war. In solchen Fällen konnte aber die Nichtigkeits-Beschwerde in
peinlichen Sachen, besonders wenn es sich um die Todesstrafe handelte, bei
dem R. Kammergerichte verfolgt werden.
Kreil wurde nun nach Dresden gebracht. Dem Pfarrer Nicolaus Blume
zu Dohna, sowie den beiden Diaconen Tobias Rudolf und Adam Müller
zu Dresden war aufgetragen worden, den Kreil „zur Buße zu reitzen und
zu ernähren." In welch merkwürdiger Weise dieß geschah, ist in der später
gedruckten, jetzt sehr selten gewordenen Leichenpredigt vom 10. October 1601
aufbewahrt worden.*) Kreil versicherte trotz allen Drängens wiederholt seine
Unschuld. Am 9, October 1601 wurde Kreil, der so krank und schwach war,
daß er, nur nothdürftig bekleidet, auf einem Stuhle getragen werden mußte,
vor die Schöppenbank gebracht und das hochnothpeinliche Halsgericht mit ihm
abgehalten. Kreil hatte sich bis dahin mit der Hoffnung getragen, daß man
nur eine Territion mit ihm vornehmen und der junge Kurfürst ein Blut¬
urtheil bei dem Antritte seiner Regierung gegen ihn nicht vollziehen lassen
werde. Als aber der Stab über ihn gebrochen wurde, gerieth er außer aller
Fassung, er schrie laut: Herr Richter! was soll das sein? Ihr sprechet
schon das Urtheil und brechet schon den Stab, ehe Ihr mich höret. Ich bin
unschuldig und habe das Urtheil in gebührender Frist geläutert, überdieß,
wie dieses auch meine Freunde gethan, an das Reichskammergericht appellirt,
nochmals appellire ich hier an die Kais. Majestät, dergleichen böllöücig. hem¬
men die Execution, ich bitte, meine Exceptiones dem Kurfürsten fürzubringen
und mich meine Läuterung und Appellation prosequiren lassen.
Der Fiscal hielt dem Kreil entgegen, daß die von ihm angezogene
Läutterung sowie die Appellation seiner Freunde dem Kurfürsten alsbald vor¬
gelegt worden sei, dieser jedoch beschlossen habe, daß das von Kais. Majestät
wohlgesprochene Urtheil nichts desto weniger ausgeführt werden solle, und
deßwegen ausdrücklicher und ernstlicher Befehl erlassen worden sei. Kreil
wiederholte, daß der ganze Proceß null und nichtig sei. Ich armer Mann!
rief er verzweifelt aus, bin mit dem Urtheil übereilet worden. Doch alles
Protestiren blieb vergeblich, das Gericht erhob sich, die Bänke wurden um¬
geworfen und man schleppte Kreil auf den Markt, wo eine besondere Bühne
aufgerichtet war. Der Scharfrichter schlug ihm das Haupt ab, hob es hoch
in die Höhe und rief zu dem versammelten Volke: Kreil! Das war ein
Calvinischer Streich, seine Teufelsgesellen mögen sich wohl fürsehen, denn
man schont allhier keinen!
So war der Justizmord vollendet! Den Kurfürsten hatte man zwei
Tage vor dem Blut-Acte aus Dresden entfernt, damit er nicht etwa zur
Gnade bewogen werden könne. Dagegen versagte es sich die Kurfürstin
Sophie nicht, in Gesellschaft einiger Hofdamen von der Gallerie des neuen
Stallgebäudes aus dem blutigen Schauspiele zuzusehen; es war sogar auf
deren Befehl das Blutgerüste, welches vorher etwas entfernter gestanden,
wieder abgebrochen und näher an jenes Gebäude gerückt worden.
Der Letchenprediger Blum warnte aber am Schlüsse seiner fanatischen
Rede noch besonders vor ähnlichem Beginnen, indem er ausrief: Hütet Euch
auch und menget Euch nicht in fremde Händel, sonderlich aber ihr welt¬
lichen Räthe, menget Euch nicht in geistliche Händel; habt nit einen Fuß
in der Regierung, den andern auf der Kantzel, schreibet dem heiligen Geist
bey Leibe nicht für, wie er lehren und strafen soll, bindet ihm nicht das
Maul, seyd nicht klüger, als Gott, sonst folget darauf Gottes Zorn und
straft.
Hieneben hütet, ja hütet Euch auch ihr Weltlichen, daß Ihr Gottes
Engel, Legaten und Bottschafter weder mit Worten, noch Werken antastet,
Es seynd Christi Freunde, wer sie antastet, der tastet seinen Augapfel an,
der kann nicht viel leiden; lasset's Euch trewlich gesagt seyn, was jener christ¬
liche Herr sagte: Ich will lieber den Kayser, als einen Diener Christi zum
Feinde haben. Warumb? Wann ich einen Kayser erzürne, habe ich einen
schlechten Menschen wider mich, wann ich aber einen trewen Diener Christi
Wider mich habe, alßdann habe ich auch Gott wider mich! —
Die Pfäffische und junkerliche Selbstvergötterung und Herrschsucht bleibt
überall und zu allen Zeiten dieselbe.
Den 1. Januar. An W. Meister geschrieben. Rein, ruhig, hatte das
alte Jahr zusammengepackt. Kam der Herzog, viel geschwatzt über äußere
und innere Zustände, Theater u. s. w. Nachmittags sCorona und M. Abends
mit ihnen in die Stadt. Traurige Nachricht vom Tode der B. Mitgenossen
den Schmerz.^)
sDen 2. Januar. Früh den ersten Theil von Wilhelm Meister ge¬
endigt.) 2)
Den S. Januar. Schlittenfahrt nach Ettersburg. Draußen allerley
Tollheit. Ertemporirte Komödie. Mit Fackeln hereingefahren.-')
sDen 11. Januar. Eckhof aß mit mir, erzählte die Geschichte seines
Lebens.)
Den 13. Januar. Westindier gespielt.
sDen Is. Januar. Conseil. Kamen die wilden Schweine von
Eisenach.Z
Den 16. Januar. 4) Früh Hazze in der Reitbahn. Mir brach ein
Eisen in einem angehenden Schweine von der Feder weg. Wttzlebens Jäger
ward geschlagen. Mittags mit der Herrschaft nach Tiefurth. Abends Picknick.
Beim Herzog geschlafen. Hatte traurige in mich gezogene Tage.
Den 17. Januar. Ward Christel von Laßberg in der Ilm vor der
Floßbrücke 5) unter dem Wehre von meinen Leuten gefunden, sie war Abends
vorher ertrunken. Ich war mit dem Herzog auf dem Eis. Nachmittags be¬
schäftigt mit der Todten, die sie herauf zur (-) gebracht hatten. Abends zu
den Eltern. Zu C.") aus der Probe.
Den 18. Januar. 7) Mit dem Herzog ausgeritten, ein Stündchen aufs
Eis. Am Hof zu Tisch. Nachmittag zu O, einen Augenblick im Sterne.
Ins Concert. Nachts mit dem Herzog und Knebeln herüber. Knebel blieb
bey mir im Garten. Viel über der Christel Todt. Das ganze Wesen dabei,
ihre letzten Pfade :c. s: in stiller Trauer einige Tage beschäftigt, um die
Scene des Tods, nachher wieder gezwungen zu theatralischen Leichtsinn.
Verschiedene Proben.: 1
Den 30. Januar zur H(erzogin) Geburtstag das neue Stück.
sDen 1.—9. Februar.2) Diese Woche viel auf dem Eis, in immer
gleicher fast zu reiner Stimmung. Schöne Aufklärungen über mich selbst
und unsere Wirthschaft. Stille und Vorahndung der Weisheit. Immer fort¬
währende Freude an Wirthschaft, Ersparniß, Auskommen. Schöne Ruhe in
meinem Hauswesen gegen vorm Jahr. Bestimmteres Gefühl von Ein¬
schränkung und dadurch der wahren Ausbreitung.) Die Empfindsame wieder
gegeben.
Den 10. Februar.3) Das Publicum wieder in seinem schönen Lichte
gesehen. Dumme Auslegungen.
Den 12. Februar. Conseil. Fortdauernde reine Entfremdung von
den Menschen. Stille und Bestimmtheit im Leben und Handeln. In mir
viel fröhliche bunte Imagination. Lila neu verändert.
sDen 13. Februar. Früh auf's Eis. Waren die Fremden alle da.
Bey O gegessen. Mit ihr Nachmittags wieder auf's Eis. Abends im
Garten. Nachts zu O- Im Mondschein mit ihr spacieren.)
Den 14. Februar. Dacht ich über meinen veränderten, vermenschlichten
Gesichtspunkt, über Geschäfte, besonders über das ökonomische Fach.
sDen 15. Februar. Mit Corona gegessen. Nachmittags auf's Eis.)
sDen 16. Februar. Aristofanes studirt, bey O gegessen. Nach Tische
im Garten, kam Krause, dann Herder. Abends den 1 Act der neuen Lila
dictirt.)
sDen 23. Februar. Erwin und Elmire.)
sDen 1.—10. März. stockende, verschlossene Tage.)
sDen 15. März. Einsiedeln gezeichnet. Bey (Z zu Tische, lebhaftes
Gespräch. Seltsame Währung in mir. Ball gespielt im Garten. Abends
die Kinder.)
sDen 20. März kam Edelsheim.)
s^Den 23. März früh gebadet, gefochten, nach Tiefurt. Beim Herzog
gegessen. Wedel war sehr stockig. Nach Tische im Stern. Dann kam
Corona in den Garten. Abends zum Herzog, wo Edelsheim war. Viel ge¬
schwatzt.)
sDen 27. März. Die glücklichen Bettler aufgeführt. Der Herzog war
viel in Milttair-Gedanken und ich ganz fatal gedrückt von allen Elementen,
es währte noch einige Tage.)
Den 28. März. Schöner Tag, ich zog auf den Wiesen und in der
Umgegend umher.
sDen 29. März. Kam früh die Herzogin Louise mit der Waldner zu O
Mit ihrer Mutter gegessen. Um Belvedere herum geritten. Abends im
Garten.)
Den 1.—10. April. Blos vegetirt still und rein. Die Felsen und Ufer
arbeiten sehr vorgerückt. Fort vegetirt, in tausend Gedanken an unsere Ver¬
hältnisse und Schicksale. Unruhe des Herzogs. Erwachend Kriegsgefühl,
g, tempo Brief des Fürsten von Dessau. sJch wühlte still an Felsen und
Ufer fort.)
sDen 12. April war mir Egmont wieder in den Sinn gekommen.)
sDen 13. April. Früh 6 Uhr mit Corona weggeritten. Sie begleitete
mich bis Kleinhettstedt, ritt zurück, in Kranichfeld gegessen.) Ich war gegen
1 Uhr in Ilmenau. sZu Fuße nach Stützerbach. Hirschhörner, Glaser und
leichtfertige Mädels. Nachts regnete es, wir konnten nicht zurück.)
Den 14. April. Tags über Thorheiten. Müh in der Glashütte.
Dann Glasern geschunden. Abends nach Ilmenau/)
Den 18. April. Im Schneegestöber nach Weimar.
Den 10. Mai nach Leipzig.
lDen 11. Mai bei Oeser). der Fürst kam gegen Mittag. Vorschlag
mit ihm zu gehen. Kurz gefaßter Entschluß.
IDen 12. Mai. Auerbachs Hof. Werther's Bemerkung.)
Den 13. Mai. Nach Wörlitz.
l^Den 14. Mai. Nach Treuenprietzen.)
Den 16. Mai. Nach Potsdam, Nachmittag nach Sans-souci. Kastellan
ein Flegel. Abends nach Berlin.
Den 17. Mai. Spalding's Predigt.
Den 19. Mai Manöver.
tDen 20. Mai nach Tegeln. Ueber Charlottenburg nach Potsdam.)
Den 23. Mai nach Wörlitz.
Den 1. Juni. Von Alstedt nach Weimar. sUnerwartet schön die
Gegend. Nach Tiefurt. Seltsame Nachricht. Herein. Sachen durchgesehen.
Wieder hinaus.)
lDen 20. Juni. Mit dem Herzog nach Tiefurt. Nach Tische. Homer
Bottmers.Z
Vom 1.—8. Juli gearbeitet an dem Kloster und der Einsiedelet zum
Namenstag der Herzogin.
Den 9. Juli. Den Namenstag der Herzogin gefeiert.
IVom 10.- 28. Juli. Im Stillen fortgekrabelt. Körperlich gelitten,
fatale Lichter über allerley Verhältnisse.)
lDen 31. Juli. Beschäftigt mit dem morgenden Maurerfest. Der
Herzog ist zusammengefaßt. Knebel hat eine falsch wahr hypochondrische Art
die Sache zu sehen, die ihm wird böses Spiel machen.)
Den 7. August. Abends angefangen zu schwimmen im Floßgraben,
schöne Mondnächte.
Den 8. August im großen Fluß geschwommen.
Den 9. August nach Allstedt.
Den 10. August kam der Fürst von Dessau.
Den 28- Augu se. Wundersames Gefühl vom Eintritt in das 30. Jahr
und Veränderung mancher Gesichtspunkte.
Den 9. September nach Erfurt zu Dalberg.
Den 10. September nach Eisenach.
Den II. September nach Wilhelmsthal.
Den 14. September das Jagen.
Den 17. September auf der Wartburg gegessen, Abends Komödie.
Den 18. September nach Weimar zurück.
Den 19.-24. September. Mit dem Bau-Unwesen des Landschafts¬
hauses beschäftigt. Ließ meine Büste von Klauer versuchen. Grillen zum
neuen Schloßbau. War in Jena.
Den 2. Oetober. Erste Probe des Jahrmarkts von Plundersweilen.
Den 3.-4.0et ob er für mich. An Wilhelm Meister gedacht und geschrieben.
Den 6. October. Kammeral-Bilance von 1777. Mancherlei gedacht
über die vorige und jetzige Wirthschaft. Auch mit eigenem Hauswesen be¬
schäftigt. Nach Ettersburg die Theaterpossen zurecht gemacht.
Den 20. Oetober. Komödie in Ettersburg. Der Jahrmarkt von
Plundersweilern.
IDen 24. Oetober. Der Herzog sprach mit mir über seinen Aerger,
der Vertraulichkeit Wedels und des Prinzen mit Uechtritz.)
IDen 19. November. Zog die Herzogin Mutter herein von Ettersburg.)
IDen 20. November. Abends in Tiesurt. Wurde Corona krank.)
IDen 29. November. Knebels Hypochondrie.)
^December (ohne Tag). Schrieb einige Scenen an Egmont, war zuge¬
froren gegen alle Menschen.)
IDen S. December. Alba und Sohn. Aß zu Hause. Machte eine
Runde zu Fuß aufs Eis. Abends zu O Gaglia^) gelesen.)
>Den 6. December. Früh in der Ilm gehabt. Mit Wedeln im
Jägerhaus zu den Hühnern und Phasanen. Geritten mit ihm nach Tiefurt.
Knebel hatte. Las sein Tagebuch vom vorm Jahr. Der Herzog kam.
Mittags zu Hause gegessen, dann zu Wieland, ins Concert. Zu O, war
ihre Mutter da.)
IDen 7. December. Vor Tag im Sterne, zu Hauses Angefangen an
Blondel. lBei O gegessen. Abends Cr. und M.Z
sDen 8. December. Bey Herdern gegessen. Nach Tiefurt, wo mich
alles an den Menschen ärgerte, darum macht ich auch weg nach Hause, hatte
Lust zu nichts. Aristophanes. Konnte mich des Schlafs nicht erwehren.)
IDen 9. December. Conseil. Leidig Gefühl der Adiaphorie so vieler
wichtig sein sollender Sachen. Zu G. gegessen wenig aber gut, nach Tisch
gesprochen, sie kommt mir immer liebenswürdig vor. obgleich fremder. Wie
die übrigen auch. Nachher zu Hause, die toskanische Ordnung gezeichnet.
Lust zur Baukunst. Wenn nur die Aufmerksamkeit dauerte)
sDen 13. December früh Monolog Arkas.s
sDen 14. December. Feuer in der Schule. Abends Tanz bei O)
Gespräch mit dem Herzog über Ordnung. Politik und Gesetze. Verschiedene
Vorstellung. Man darf sich nicht mit Worten ausdrücken; sie wäre leicht
mißverstanden und dann gefährlich. Indem man unverbesserliche Uebel an
Menschen und Umständen verbessern will, verliert man die Zeit und verdirbt
noch mehr, statt daß man diese Mängel annehmen sollte gleichsam als Grund¬
stoff und nachher suchen diese zu kontrebalanciren. Das schönste Gefühl des
Ideals wäre, wenn man immer rein fühlte, warum man's nicht erreichen kann.
Diese letzte Zeit meist sehr still in mir. Architectur gezeichnet um noch
abgezogener zu werden. Leidlich reine Vorstellung von vielen Verhältnissen.
Mit Knebeln über die Schiefheiten der Societät. Er kam darauf mir zu er¬
zählen, wie meine Situation sich von Außen ausnähme. Es war wohl ge¬
sagt von außen. — Wenn man mit einem lebt, soll man mit allen leben,
einen hört, soll man alle hören. Vor sich allein ist man wohl reine, ein
anderer verrückt uns die Vorstellung durch seine, hört man den dritten, so
kommt man durch die Parallaxe wieder aufs erste zurück.
^Garstiges Licht auf Fr. ^ geworfen durch viele seiner Handlungen, die
ich eine Zeit her durchpassiren lassen.) Gutheit von Steinen^. Warnung
solcher Menschen. Gut aber nur selten. Oefters ziehen sie einen in ihre
arme enge Vorstellung. — Jedes Menschen Gedanken und Sinnart hat etwas
Magisches. sHundsföttisches Votum von Kalb in der Bergwerkssache. Mir
war die <I sehr lieb, gutmüthiger Sohn.) Ich bin nicht für diese Welt ge¬
macht, wenn man aus einem Hause tritt, geht man auf lauter Koth und
weil ich mich nicht um Lumpereien kümmere, nicht klatsche und solches Rap-
porteurs nicht halte, handle ich oft dumm. Viele Arbeit in mir selbst, zu
viel Sinnens, daß Abends mein ganzes Wesen zwischen den Augenknochen
sich zusammen zu drängen scheint. Hoffnung auf Leichtigkeit durch Gewohn¬
heit. Bevorstehende neue Eckelverhältnisse durch die Kriegskommission. Durch
Ruhe und Geradheit geht doch alles durch.
sKnebel ist gut aber schwankend und zu gespannt bei Faulenzerei und
Wollen ohne was anzugreifen. Der Prinz in seiner Vorliebschaft höchst
arm,) der Herzog immer sich entwickelnd und wenn sichs bei ihm merklich
ausschließt, kracht's und das nehmen die Leute immer übel auf. Im ganzen
wird spät vielleicht nie die Schwingung zu mindern sein, die der Ennui unter
den Menschen hier erhält. Es wachsen täglich neue Beschwerden und niemals
mehr als wenn man glaubt, eine gehoben zu habend)
sDen 30. December. 2) Mit Seckendorf nach Apolda gefahren. War
die Jagdpartie vergnügt. Nachts bis halb 1 Uhr mit Seckendorf die Neu¬
jahrsnacht geschmiedet.)
sDen 31. December halb 6 Uhr auf. Gegen 9 auf die Jagd. Leid¬
lich geschossen. Abends zu Pferd schnell herein),
Der Communekrieg hatte auf die Verhandlungen über den Definitiv¬
frieden mit Deutschland einen nachtheiligen, verzögernden Einfluß geäußert.
Die Conferenzen, durch welche der Definitivfrieden herbeigeführt werden sollte,
Waren am 28. März zu Brüssel eröffnet worden. Bei der Unsicherheit, in
Welche die Regierung von Versailles gerieth durch den Ausbruch des Commune¬
krieges, ohne daß sie darum ihre zum Theil unberechtigten Prätentionen
aufgab, geriethen diese Conferenzen bald ins Stocken und wurden am 4. Mai
ganz abgebrochen; jedoch schon am ö. Mai zu Frankfurt am Main wieder
aufgenommen. Hier trafen von französischer Seite die Minister des Aus¬
wärtigen und der Finanzen, Jules Favre und Pouyer - Quertier mit dem
Fürsten Bismarck von deutscher Seite zusammen und unter der kräftigen und
zugleich mäßigen Einwirkung des Letzteren ward bereits am 10. Mai der
Desinitivfriede von den Bevollmächtigten der beiden Nationen unterzeichnet.
Derselbe bestätigte im Wesentlichen den Präliminarfrieden und definirte nur
Fragen genauer, welche zu secundären Anstünden hätten führen können. —
Herr Thiers wendete nun seine größeste Sorge der möglichst baldigen Aus¬
führung dieses Friedens zu und hier muß ihm das unbedingteste Lob ge¬
spendet werden von jedem Unbefangenen, welcher Partei er immer angehöre
und welche Meinung er im Uebrigen von Herrn Thiers haben möge. Die
allmälige Ausführung des Friedens durch die allmälige Bezahlung der
Kriegscontribution von fünf Milliarden brachte mit sich die allmälige
Räumung des besetzten französischen Gebiets seitens der Deutschen. Herr
Thiers sann zunächst nur darauf, soviel als möglich und sobald als möglich
Geld herbeizuschaffen, um die Deutschen bezahlen zu können, damit sie recht
bald den größten Theil des von ihnen besetzten Frankreichs und endlich recht
bald Frankreich gänzlich räumten. Am 2. März 1874 sollte die ganze Kriegs¬
contribution an Deutschland abbezahlt sein. So sagte es der Vertrag. Herr
Thiers aber glaubte diese Sache früher ins Werk setzen zu können und warf
sich mit aller Kraft hieraus. Schon am 6. Juni ließ Thiers durch Herrn
Pouyer - Quertier der Nationalversammlung einen Gesetzentwurf vorlegen,
welcher die Regierung zur Erhebung einer Anleihe von 2^ Milliarden er¬
mächtige. Das Geld, welches die Anleihe einbrächte, sollte vornämlig ver¬
wendet werden zur Bezahlung der zwei ersten Milliarden an Deutschland.
Der Gesetzentwurf ward am 21. Juni von der Nationalversammlung an¬
genommen und am 27. Juni wurden auf die Anleihe statt der verlangten
2V2 Milliarden S Milliarden gezeichnet. Obwohl man nun weiß, wie es bei
dergleichen Anleihezeichnungen hergeht, so darf doch nicht geläugnet werden,
daß dieses Resultat ein gewaltiges Zeugniß war für den Credit Frankreichs
in ganz Europa-, welchen es nun einmal dem natürlichen Reichthum des
Landes, der Arbeitsamkeit, Intelligenz und Oeconomie seiner Bewohner und
nebenbei der verhältnißmäßigen immer anerkannten Solidität seines Handels¬
standes verdankt. Solchen Gründerschwindel wie in Berlin und Wien hat
es in Paris nie gegeben (? die Red.), obwohl Paris — unter dem zweiten
Kaiserreich — die Geburtsstätte des 0r6an mobilier, das Nest des Pereire
und Mire's war. Wie großartig aber immer der Credit Frankreichs in ganz
Europa sich bei Gelegenheit dieser ersten Anleihe erwiesen haben mochte, —
diese Anleihe gab keine andere Möglichkeit als diejenige, dem dringendsten
Gläubiger einen Theil der Schuld abzubezahlen. An die Stelle dieses
dringendsten und unangenehmsten Gläubigers traten andere, welche das Geld
her geliehen, aber keineswegs her geschenkt hatten, um ihn zu befriedigen.
Frankreich hatte fünf Milliarden an Deutschland zu zahlen, außerdem war
seine Staatsschuld durch den Krieg mit allen seinen Unfällen und Ver¬
schleuderungen um weitere fünf Milliarden etwa vermehrt worden. — Frank¬
reich hatte anfangs 1871 etwa 10 Milliarden mehr Schulden, als im Juli
1870. Diese Schulden mußten zunächst wenigstens verzinst werden, später
mußte man doch auch an ihre Amortisirung denken. Das jährliche Ausgabe¬
budget Frankreichs war also im Vergleich zu demjenigen unter dem Kaiser¬
reich jetzt um mindestens eine halbe Milliarde vergrößert. Dabei ist nur die
Verzinsung der neuen Schuld in Anschlag gebracht, es ist keine Rücksicht ge¬
nommen auf die Bedingungen, welche bei Contrahirung der Anleihen ein¬
gegangen werden mußten, auf die endlich bevorstehende Amortisation, auf die
vollständige Desorganisation der französischen Armee, des Armeematerials,
des Festungssystems, — an deren Beseitigung doch um so mehr gedacht
werden mußte, da Frankreich sich vom Friedensschluß ab mit dem Gedanken
an eine Revanche trug, welche überdies nach der Meinung der Staatslenker
sobald als möglich gesucht werden sollte.
Unter allen Umständen mußten neue Einnahmequellen für den Staat
eröffnet werden, durch neue Steuern, durch neue Zölle. Man konnte bei dem
Aufsuchen dieser Quellen von zwei Gesichtspunkten ausgehen: entweder die
Vermehrung der Staatseinnahmen in einer gerechten und progressiven Ein¬
kommens- und Vermögenssteuer suchen, — oder in einer Erhöhung und Ver¬
mehrung der Zölle und der indirecten Steuern. Herr Thiers war immer der
entschiedenste Parteigänger des letzteren Systems gewesen. Jede directe Steuer
war ihm in der Seele verhaßt; hier stand er absolut auf dem beschränktesten
Bourgeoisstandpunkt; natürlich war er auch ein entschiedener Protectionist,
entschiedener Feind des Freihandels. Jndirecte Steuern sollten also neu auf¬
gesucht und alte erhöht werden; Herr Thiers legte sich keine Rechenschaft da¬
von ab, daß, wenn solche indirecte Steuern bedeutende Einnahmequellen
eröffnen sollen, sie fast immer den Verkehr, aus welchem sie fließen, beschränken,
also — man kann sagen, — an ihrem eignen Ruin arbeiten, wie dies die
Finanzgeschichte des modernen Italiens erfahrungsmäßig auch Demjenigen
bewiesen hat, welcher sich mit der größten Hartnäckigkeit sträubte, diese ein¬
fache Sache g, priori begreifen zu wollen. Herr Thiers kämpfte mit Händen
und Füßen gegen die Einführung direkter vernünftiger Steuern und mit
gleichem Eifer für die Vermehrung und Erhöhung der Zölle. In letzterer
Richtung mußte er sich nothwendig gegen das von Napoleon III. adoptirte
Freihandelssystem und gegen die Handelsverträge wenden, welche Napoleon III.
mit den meisten Staaten Europas abgeschlossen hatte. Er that dies mit
einer Art blinder Wuth, welche, wie es scheint, sein Haß gegen Napoleon III.
wesentlich vergrößerte.
Gegen das Beste, was das zweite Kaiserreich geschaffen hatte, wendete
Herr Thiers zuerst seine volle Kraft, um es zu Falle zu bringen. In erster
Linie mußte über den zu Ende gehenden Handelsvertrag mit England tractirt
werden, Belgien, Italien, die Schweiz, welche sich alle während des Krieges
Frankreich sympathisch gezeigt hatten, mußten nachfolgen. — In allen diesen
Ländern begriff man den Haß des Herrn Thiers gegen das Freihandelsprincip
kaum. Die Engländer, welche zuerst an die Reihe kamen, wollten Frankreich
möglichst zu Gefallen leben; aber sie wollten ihre eignen Interessen nicht
opfern, und da sie fanden, daß unter dem Schutze des Freihandelssystems
Frankreich ebensogut seinen Vortheil fand, hatten sie eine Art Mitleid mit
Frankreich und mit Herrn Thiers. Es fiel auf, daß die Auflösung des Han¬
delsvertrags mit England und der ähnlichen Verträge mit den andern be¬
freundeten Ländern, ganz abgesehen von Principien, Frankreich keinen beson¬
deren Vortheil, sogar nur für seine Staatseinnahmen bringen könne, so lange
das neue System des Herrn Thiers durchlöchert bleibe. Und durchlöchert
mußte es bleiben, so lange Deutschland, wie in anderen so auch in
den Beziehungen des Handels, Frankreich seine Gesetze dictirte, was
voraussichtlich noch lange der Fall war. — Erwog man dies und erwog
man das Verlangen Frankreichs nach einer nicht zu lange hinausge¬
schobenen Revanche, so mußte das Auftreten des Herrn Thiers in der Sache
der Handelsverträge zugleich als ein höchst unpolitisches erscheinen. Frank¬
reich, welches, um zur Revanche zu gelangen, bestrebt sein mußte, soviel
Freunde als möglich auswärts zu bewahren oder zu gewinnen, that mit dieser
Handelspolitik des Herrn Thiers einen der Schritte, welche drohten, ihm
Freunde zu entziehen oder es zu isoliren. Keineswegs war dieser der einzige
Schritt. Mag vor vielen Jahrhunderten die Möglichkeit bestanden haben,
daß ein Land sich mit einer chinesischen Mauer umziehe und gar noch daraus
Vortheil erringe, heute besteht diese Möglichkeit nicht mehr. Bei der Ent¬
wicklung des modernen Verkehrs wird jedes Land, welches diese mongolischen
Proceduren anwenden will, dies zum Theil gar nicht können und, soweit es
dies kann und es hartnäckig durchsetzt, davon nur Nachtheil und Schaden
haben. — Am 16. Juli begannen die Unterhandlungen mit England betreffs
der Umänderung des englisch-französischen Handelsvertrags im Sinne des
Herrn Thiers; d. h. im schutzzöllnerischen Sinne. Dieselben machten sehr
langsame Fortschritte, wie das aus dem vorhergesagter vollständig klar
sein wird.
Aber nicht allein im Auslande erregte die Handelspolitik, in deren Bahnen
Herr Thiers nun Frankreich despotisch leiten wollte, Kopfschütteln und Wider-
willen. Auch in Frankreich und in der Nationalversammlung selbst. — Die
Partei, welche später Herrn Thiers vom Throne gestürzt hat, vertrieb ihn
allerdings keineswegs aus Rücksicht auf seine reaktionäre öconomische Politik;
allein sie konnte sich den äußerlichen Anschein geben, ihm nur wegen dieser
ganz widersinnigen ökonomischen Politik Opposition gemacht zu haben. Denn
in der That war die erste Partei, welche klar, bewußt, deutlich erkennbar sich
in der Nationalversammlung gegen Herrn Thiers erhob, die freihändle-
rische, welche schon gegen Ende Juni etwa 160 Häupter zählte. Wenn in
dieser wichtigen, nicht blos einseitig wichtigen Frage die Nationalversammlung
sich so lange als es geschah, dem dietatorisch ausgesprochenen Willen des
Herrn Thiers, entgegen der Ueberzeugung einer großen Mehrheit fügte, so kam
dieses nur daher, daß überhaupt die herrschenden Classen in Frankreich sich
stets eines persönlichen Retters oder auch — Sündenbocks dringend bedürftig
fühlen. Bis jetzt sahen die „alten Parteien" diesen provisorischen Retter und
Sündenbock noch in Herrn Thiers und sie waren zugleich der Meinung, daß
dieser provisorische Retter und Sündenbock am geeignetsten sei, sie zu
einem definitiven, — natürlich irgend einem Monarchen, hinüberzuführen.
Wir gelangen hier mit Nothwendigkeit zu dem interessanten Capitel der
Prätendenten — der monarchischen Prätendenten, wie sich von selbst versteht.
Diese Herren ziehen sich wie ein rother Faden durch die ganze kurze Geschichte
der neusten französischen Republik, und um die letztere zu verstehen ist es gut,
diese Herren von vornherein aufs Korn zu nehmen.
Die Prätendenten sind die Bourbons, die Orleans und die Napoleons.
Sprechen wir also von ihnen.
Haupt der bourbonischen Linie und zugleich der einzig lebende französische
Bourbon ist der Graf Chambord, Herzog von Bordeaux, Sohn des 1820
ermordeten Herzogs von Berri und Enkel Carl X. Er ward am 29. Sept.
1820, sieben Monate nach dem Tode seines Vaters geboren und da nun auf
ihm die bourbonische Thronfolge beruhte, nannte man ihn in Frankreich das
Kind des Wunders. Als sein Großvater gezwungen ward, den französischen
Thron zu räumen, wollte er zuerst zu Gunsten des Grafen Chambord,
welcher bei dieser Gelegenheit den Titel Heinrich V. annahm, abdanken;
allein diese Abdankung ward vom Volke nicht ratificirt, der Graf Chambord
mußte mit seinem Großvater und seiner Mutter, der Herzogin von Berri,
ins Exil nach England wandern, während die Orleans sich des vacanten
Thrones von Frankreich bemächtigten. — Der Graf Chambord blieb zuerst
der Erziehung seiner Mutter überlassen; als aber diese, nach ihrer ver¬
unglückten Schilderhebung in der Bretagne, in der Citadelle von Blaye am
22. Februar 1833 einer kleinen Tochter genesen war, hielt man es für an>
gemessen, alle Beziehungen zwischen Mutter und Sohn abzubrechen. Seine
Erzieher, so mehrfach sie wechselten, waren doch alle starre Legitimisten und
Clerieale, die auch auf den großen Reisen, welche er angeblich zu seiner Aus¬
bildung machte, die frische Luft des modernen Lebens von ihm fern zu halten
wußten. — Im Jahre 1843, also im Alter von 23 Jahren, trat der Graf
Chambord zuerst als Prätendent auf, indem er zu London die Häupter der
legitimistischen Partei vollständig mit königlichem Ceremoniell empfing. —
Unmittelbar nach der Februarrevolution verhielt er sich ziemlich ruhig, obwol
er nicht unterließ, in zur Veröffentlichung bestimmten Briefen an seine An¬
hänger seine legitimistischen Principien wiederholt zu besiegeln. Damals trat
zuerst die Idee einer Fusion zwischen der Bourbonischen und der Orleans'schen
Linie auf, dergestalt, daß der Graf Chambord auf den Thron seiner Väter
zurückgeführt, den Thronfolger Louis Philipp's, den Grafen von Paris, als
seinen Erben anerkennen sollte. Legitimisten und Orleanisten conspirirten für
diese Fusion; daß die Republik von 1848 nicht dauern könne, war für sie
eine ausgemachte Sache und in der Präsidentschaft Louis Napoleon's sahen sie
lediglich einen Uebergangszustand, dem ihre fusionisirte Monarchie folgen
müßte. Im Jahre 1852 wurden sie allerdings eines anderen belehrt und
mit der Begründung des zweiten Kaiserreichs zog sich der Graf von Chambord
wiederum in den Hintergrund, ohne allerdings seine Ansprüche und seine
Correspondenz mit getreuen Anhängern aufzugeben. — Es muß hier bemerkt
werden, daß der Graf Chambord sich Ende 1846 mit einer modenesischen
Prinzessin vermählt hatte und daß sich von Anbeginn wenig Hoffnung auf
Nachkommenschaft aus dieser Ehe zeigte. In der That ist dieselbe bis auf
den heutigen Tag kinderlos geblieben und man dürste aus ihr höchstens noch
ein neues „Kind des Wunders" erwarten.
Sehr großes Herzeleid verursachten dem Grafen Chambord die Ver¬
änderungen, welche seit dem Jahre 1839 in Italien vorgingen. Mit den
dortigen Bourbonen ward schnell und gründlich aufgeräumt. Aber mehr noch
schmerzte den Grafen die „Beraubung des heiligen Vaters". In einem seiner
Briefe aus dem Jahre 1861 erklärte er die Vertheidigung der weltlichen
Herrschaft des Papstes gradezu für eine Angelegenheit Frankreichs, eine
Sache, für welche er bereit sei, mit seinem Blute zu zahlen; im Jahre darauf
rieth er seinen Anhängern in Frankreich, sich der Wahlen zu enthalten, soweit
sie nicht sicher wären, Anhänger des Papstes in den gesehgebenden Körper
bringen zu können; 1863 machte er eine Reise nach dem heiligen Lande und
schlug bei der Rückkehr eine Zeitlang sein Hoflager in Luzern auf, wo er
zahlreiche Clerieale und Legitimisten empfing, mit denen er sich herablassend
von den Leiden des Papstes und Frankreichs unterhielt, welchem letzteren nach
seiner eignen und der Ansicht seiner Anhänger nur von ihm das Heil kommen
könne. — Im Jahre 1866, als Venetien aus den Händen Oestreichs in die-
jenigen des Königreichs Italien überging und die ganze Stadt Venedig sich
mit der italienischen Tricolore schmückte, mußte diese auch auf dem Palaste
aufgezogen werden, welchen der Graf Chambord in Venedig besaß. Das war
ihm ein Gräuel, er haßte alle Tricoloren, nicht blos die des italienischen
„Ktrchenräubers und Verdammten", sondern ebenso gut die französische, die
Fahne der Revolution. Seiner Ueberzeugung nach konnte Frankreich das
Heil nur zurückkehren mit der weißen Fahne der alten Monarchie, mit dem
Lilienbanner. Er beeilte sich, seinen entweihten Palast in Venedig zu ver¬
kaufen. Zu seiner gewöhnlichen Und Hauptresidenz hatte er schon mit dem
Tode seines Großvaters Froschdorf bei Wiener Neustadt erwählt.
Während der Dauer des zweiten Kaiserreichs war dem großen Publi-
eum nur durch sporadische Erscheinungen näher getreten, daß weder die
Legitimisten, noch die Orleanisten, noch die Fufionisten ihre Hoffnungen be¬
graben hätten. Die Hoffnungen der Legitimisten erschienen aber allgemein
als die am wenigsten begründeten; daß die Franzosen 70 oder 80 Jahre aus
ihrer Geschichte ausstreichen könnten, wie es doch „Henri V." ohne allen
Zweifel von ihnen verlangte, daran wollte Niemand glauben. Indessen
waren die „alten Parteien", welche niemals aufgehört hatten, zu existiren,
schon seit 1869, als ein Gefühl der Unhaltbarkett des zweiten Kaiserreichs
durch ganz Europa ging, wieder rühriger geworden; dann brach der große
Krieg aus und es folgte in ihm Unglück auf Unglück. Man erinnert sich,
wie in Folge davon in Frankreich sich eine Neigung zu dunklem Mysticismus
verbreitete, wie Hoffnungen auf Wunder gebaut wurden und wie der Clerus
diese Neigungen sofort ausbeutete, um eine ihm nützliche Zerknirschung und
Mirakelgläubigkeit zu nähren, keineswegs ohne Erfolg. Die Stimmung, die sich
hierbei eines großen Theiles Frankreichs bemächtigte, war nicht in Dishar¬
monie mit der dunkeln mystischen Weise, in welcher Henri V. von Jugend auf
gewöhnt worden war und sich später durch unausgesetzte Uebung selbst gewöhnt
hatte, die Mission des französischen, halb theokratischen Königthums aufzu¬
fassen, dessen einziger wahrer Repräsentant nur er sein konnte. — Im Westen
bildete sich unter Charette ein vollständig clerical-legitimistisches Armeecorps;
dessen Kern Mächten die päpstlichen Zuaven und andere päpstliche Söldner
französischer Zunge aus, welche durch das Aufhören der weltlichen Herrschaft
des Papstes herrenlos geworden waren. Die Thaten dieses Corps wurden
von der legitimistischen und clericalen Presse dermaßen ausposaunt, daß man
in der Ferne hätte glauben können, es halte allein noch Frankreich und es
werde ganz sicher die Deutschen aus dem Lande treiben und Frankreich, wenn
nicht anders, durch ein Wund er befreien. Während der Bürger und Bauer
sich schlug, oder, wenn er sich nicht schlug, doch wenigstens in Waffen oder
im Lager stand, nahmen die grauen Häupter der „alten Parteien" lustig und
mit erneuter Kraft ihre Maulwurfsarbeit auf und arbeiteten im Stillen, der
für Henri V-, jener für die Orleans, der dritte für die Fusion.
Wir haben der allgemeinen Gründe gedacht, welche es bedingten, daß
aus den Wahlen vom 8. Februar 1871 eine monarchistische Mehrheit hervor¬
gehen mußte. Aber die stille Arbeit der „alten Parteien" kommt sicherlich
auch in Betracht. Als diese nun ihre Arbeit mit Erfolg gekrönt sahen, als
sie sich zu Bordeaux bei einander fanden und sich zählen konnten, da schwoll
ihnen vollends der Kamm, — aber sie sahen zugleich, daß sie, um den
definitiven Sieg zu erringen, zur Parole: „Fusion" schwören müßten. Denn
weder die Legitimisten allein, noch die Orleanisten allein, waren stark genug,
um eine Majorität in der Nationalversammlung zu erlangen. Die Fusion
zu Wege zu bringen, daran ward nun von den Häuptern der monarchischen
„alten Parteien" stark gearbeitet. Bei dieser Fusion hatte der Graf Cham-
bord immerhin ein bedeutendes Wort mitzusprechen. Den Politikern der
alten Parteien schien er etwas spröde, es galt in ihren Augen, ihn von
seinen „vorgefaßten Meinungen", welche wirklich doch in das Jahr 1871
allzuwenig hineinpaßten, ein wenig zurückzubringen oder ihn wenigstens dahin
zu bringen, daß er erlaube, diese Meinungen vor dem französischen Volke ein
wenig zu verdecken oder zu bemänteln. In solchem Sinne ward er von den
Politikern mit zahlreichen ehrfurchtsvollen Briefen bombardirt.
Es ist nicht daran zu zweifeln, daß der Graf Chambord große Neigung
hatte, wirklicher Henri V- zu werden. Aber er hatte auch einmal die feste
Ueberzeugung, daß er einzig Frankreich retten könne, daß er den Franzosen
das höchste Glück bringe, wenn er einmal die Gnade habe, sich als ihr Herr¬
scher häuslich niederzulassen, und daß er ihnen dieses Glück nur voll bringen
könne, wenn er mit dem Lilienbanner, ohne jegliches constitutionelle Feigen¬
blatt und zugleich als Retter der Religion d. h. Wiederhersteller der welt¬
lichen Herrschaft des Papstes komme. Seine Gemahlin, eine verständige Frau,
welche durchaus keine Lust hatte, Königin von Frankreich zu werden, welche
trotz oder wegen der Kinderlosigkeit der Ehe einen beträchtlichen Einfluß aus
den Grasen Chambord übte, bestärkte ihn in seinen bourbonischen Hartnäckig¬
keiten und sorgte zugleich dafür, daß wenn Henri V. einen „königlichen" Brief
an einen seiner „politischen" Correspondenten schrieb, dieser zugleich an Voll-
blutslegitimisten oder Vollblutsclericale gelangte, welche natürlich nichts Ei¬
ligeres zu thun hatten, als diesen Brief, welcher die ganze „Politik" der „Po¬
litiker" compromittirte, zum Nutzen aller Welt abdrucken zu lassen, um ihren
„Roh" reinlich zu erhalten. So ging es mit einem derartigen Brief aus dem
Anfang Mai 1871, in welchem sich der Graf Chambord bereits vollständig
gebärdete, als ob er schon Henri V. sei und rundweg erklärte, daß er aller¬
dings, wie man von ihm behaupte, entschlossen sei, für die „Unabhängigkeit
des Papstes wirksame Garantien zu erlangen". „Feien Sie überzeugt, schrieb
er seinem politischen Correspondenten, man wird mich rufen, weil ich das
Recht, die Ordnung, die Reform bin, weil nur ich Vollmacht habe, alles
wieder an seine richtige Stelle zu bringen, gerecht und gesetzlich zu regieren,
damit den Uebeln der Vergangenheit abzuhelfen und eine neue Zukunft vor¬
zubereiten." — Er versicherte zugleich, daß er das alte Schwert Frankreichs
führe und in der Brust das Herz eines Königs und Vaters trage, welches
keiner Partei angehöre. Es scheint, daß dieser Herr, welcher ohne die Schuld
selner Gemahlin zu legitimen Vaterfreuden nicht gelangen konnte, sich in dieser
Beziehung an dem französischen Volke schadlos halten wollte. Unzurechnungs¬
fähig erscheint er in vielen Beziehungen, zu vielen als daß es hier möglich
wäre, sie aufzuzählen, aber am unzurechnungsfähigsten wohl, wenn er behauptet,
keiner Partei anzugehören. Wie denn? wer im Jahre 1871 die weltliche
Herrschaft des Papstes wiederherstellen will, — denn nichts anderes bedeuten
die wirksamen Garantien, — wer im Jahre 1871 den Thron Frankreichs auf
Grund des Rechtes von Gottes Gnaden besteigen will, — der gehört keiner
Partei an?
Die Fusion war auf dem Plan, aber es wollte nicht mit ihr vorwärts
gehn. Der Graf Chambord machte Reisen an den Grenzen Frankreichs
herum, hielt sich bald in der Schweiz, bald in Belgien auf und erwartete,
daß, wie ihm von den Fufionisten versprochen war, die Orleans'schen
Prinzen zur Huldigung zu ihm kommen würden. Allein diese schämten sich
damals noch, die ganze Vergangenheit ihrer Familie zu verläugnen und hielten
es zum Theil auch wohl für unklug und überflüssig. Nun hob schon am
8. Juni die Nationalversammlung die Gesetze vom 12. April 1832 und vom
26. Mai 1848 auf, durch welche zuerst die älteren Bourbons und später die
Orleans aus Frankreich verbannt wurden. Der Graf von Chambord begab
sich hierauf anfangs Juli nach seinem Schlosse Chambord, welches mit seinem
Park und seinen Gärten eine Oase in der wüsten Sologne bildet. Dieses
Schloß von Franz I. erbaut, von 1726 bis 1733 von Stanislaus Leszcisnski
bewohnt, war 1748 dem Marschall von Sachsen, 1809 von Napoleon dem
Marschall Berthier, Prinzen von Wagram geschenkt worden. Nach dessen
Tode ging es an dessen minderjährigen Sohn über und ward dann 1821
durch eine Na lion alsub Scription für den Herzog von Bordeaux, das
Kind des Wunders, angekauft. Von diesem Liebespfand seines Frankreichs
aus entsendete am 3. Juli der Graf Chambord ein wirkliches Manifest, in
welchem er sich bereit erklärte, Frankreich zu helfen, daß es sich aus dem
Ruin erhebe und in der Welt seinen Rang wieder einnehme. Zugleich pro-
testirte er zwar dagegen, daß man ihm absolut reactionäre Absichten unter¬
lege, erklärte aber zugleich sein entschiedenes Festhalten an der weißen Fahne.
„Dieses Banner, sagte er, hat die Barbarei In jenem Africa besiegt, welches
Zeuge war der ersten Waffenthaten der Prinzen meiner Familie. Dieses
Banner wird auch die neue Barbarei besiegen, von der die Welt bedroht ist."
Was den zuletzt erwähnten Satz betrifft, so muß man sich erinnern, daß
während der letzten Kämpfe an der Loire eine Hessen-darmstädtische Compagnie
das Schloß Chambord erstürmt hatte, während ein ansehnliches französisches
Truppencorps von der Armee Chanzy es in panischen Schrecken räumte.
Franzosen und Deutsche hatten im Schlosse gehauset und es ist wahrscheinlich,
daß der Keller desselben sich in einem etwas angegriffenen Zustande befand,
auch mögen die bequemen inneren Räume etwas in Unordnung gerathen sein.
Der Prätendent setzt dies mit Biederkeit auf die alleinige Rechnung der
„modernen Barbaren", denen er mit seinem Lilienbanner droht. Setzt es
nicht eine unglaubliche Geistesverwirrung aus, wenn ein Mensch, der in
seinem Leben nichts gethan hat, als faulenzen, der das große Land, zu
welchem er redet, kaum kennt, sich vermißt, eben dieses Land aus dem Un¬
glück zu retten! Frankreich, welches sich jetzt schon etwas von den mystischen
Anwandlungen erholt hatte, denen es in den letzten Monaten des Krieges
anheimgefallen war, zeigte keine große Neigung, von der Bereitwilligkeit des
Retters Gebrauch zu machen; ja, was schlimmer war, es fand sich sogar eine
Anzahl Legitimisten in der Nationalversammlung, welche es für angemessen
hielt, ihr Festhalten an der Tricolore gegenüber der weißen Fahne aus¬
drücklich und öffentlich zu erklären. Nur der hohe Clerus und die Partei,
welche er direct leitete, zeigten sich als unbedingte Anhänger Chambord's. —
Indessen glaubten die Fusionisten doch keineswegs, wie es damals behauptet
wurde, allen Muth verlieren zu müssen. Daß der Graf von Chambord der
Arbeit der Fusionisten nicht ein für alle Mal ein Ende machen wolle, ergiebt
sich genügend aus seiner Erwähnung der Orleans als „Prinzen seiner Fa¬
milie" in dem Manifest vom 6. Juli selbst.
Die Prinzen der Familie Orleans, welche in der modernsten Geschichte
Frankreichs eine Rolle spielen, sind die beiden Söhne des verstorbenen Herzogs
von Orleans, der Graf von Paris, — der präsumtive Thronfolger — und
dessen jüngerer Bruder, der Herzog von Chartres; — dann von den noch
lebenden Söhnen Ludwig Philipp's, der Herzog von Nemours, der Prinz
von Joinville und der Herzog von Aumale. Alle diese Prinzen folgten 1848
Louis Philipp ins Exil.
Der Graf von Paris, geboren 1838, und der Herzog von Chartres, ge¬
boren 1848, erhielten zu Eisenach, wohin sich ihre Mutter, die Herzogin
Helene, alsbald zurückgezogen hatte, unter deren Augen durch vortreffliche
Lehrer eine sorgfältige Erziehung, welche sie durch Reisen vervollständigten.
Der Herzog von Chartres zeigte früh eine lebhafte Neigung für das Waffen-
Handwerk; als junger Officier machte er 1869 den italienischen Feldzug in
der Armee Victor Emanuel's mit; dann ging er 1862 nach Amerika und
diente während des Sonderbundskrieges dort in der Armee der Union unter
Mac Clellan. Diesmal hatte ihn auch sein älterer Bruder, der Graf von
Paris, begleitet, der, von stillerer Natur, vorzog, sich mit Studien über die
socialen und politischen Verhältnisse Europas zu beschäftigen. Beide Prinzen
verließen den Dienst der americanischen Union, als die Dinge in Mexico sich
verwickelten und sie fürchteten, etwa gegen Frankreich kämpfen zu müssen.
Der Graf von Paris, welcher sich 1864 mit einer Tochter des Herzogs von
Montpensier vermählte, schrieb über politische und sociale Dinge mehrere
Artikel in der Revue <Ich cieux NonÄes und veröffentlichte auch ein unab¬
hängiges Buch über die englischen Trabes-Unions. — Zu gleicher Zeit kam
ein Buch des Herzogs von Chartres: Reiseerinnerungen heraus, welches haupt¬
sächlich verschiedene Schlachtfelder im Rheinthale behandelte. Die beiden
Brüder stellten sich in dem Jahre, da Napoleon's III. Herrschaft ernstlich zu
wanken begann, durch diese Publikation gewissermaßen Frankreich in ihrer
Eigenart vor. Der Herzog von Chartres hatte sich schon 1863 mit einer
Tochter des Prinzen von Joinville vermählt.
Der Herzog von Nemours ist 1814 geboren, wurde schon 1826 von
Carl X. zum Obersten, dann von seinem Vater 1834 zum Brigadegeneral
und 1837, nachdem er die Expedition von Constantine mitgemacht hatte,
zum Divisionsgeneral ernannt. Er verheirathete sich 1840'. seine beiden Söhne,
geboren 1842 und 1844, führen den Titel Graf von En und Herzog von
Alencon; der Graf von En, mit einer brasilianischen Prinzessin verheirathet,
erhielt als Mitgift die Würde eines brasilianischen Marschalls. Der Herzog
von Nemours war von Jugend auf wegen seines zugeknöpften Wesens bekannt
und in Frankreich stets wenig beliebt. Er war stets ein eifriger Anhänger
der Fusion und auch der einzige der Prinzen von Orleans, welcher während
des Exils dem Grafen Chambord einen Besuch machte. Nicht weniger günstig
als er zeigte sich der Fusion und der Unterwerfung unter den Grafen Cham¬
bord sein junger Neffe, der Herzog von Chartres, sobald derselbe mündig
geworden war.
Der Prinz von Joinville, 1818 geboren, wurde von seinem Vater für
die Marine bestimmt und machte frühzeitig Seereisen. Vor S. Juan d'Ulloa
1838 erhielt er die erste Gelegenheit, sich als Seemann bemerkbar zu machen.
Nachdem er 1840 die Asche Napoleon's I. von Se. Helena zurückgeholt hatte,
heirathete er 1843 eine brasilianische Prinzessin, wurde in demselben Jahre
Contreadmiral und 1845 Viceadmiral. Schon vor dem Exil hatte er an¬
gefangen, für die Revue clef äeux moucles Artikel, hauptsächlich über Marine¬
angelegenheiten zu schreiben und setzte diese Beschäftigung fluch im Exil fort.
Mit dem Grafen von Paris und dem Herzog von Chartres ging auch
Joinville beim Ausbruch des großen Bürgerkriegs nach Amerika, ohne indessen
Dienste zu nehmen. Er führte bei dieser Gelegenheit seinen jungen Sohn,
den Herzog von Ponthievre, geboren 1845, mit sich. Der Prinz von Joinville
ist jetzt fast vollständig taub.
Der Herzog von Anmale, 1822 geboren, ging zum ersten Mal 1840
als Ordonnanzosficier seines ältesten Bruders, des Herzogs von Orleans, nach
Afrika; hier machte er eine militärische Prinzencarriere und zeigte sehr früh
das Geschick, seine geringsten Thaten großartig illustriren zu lassen. Schon
1842 ward er Brigadegeneral und 1843 Divisionsgeneral, als welcher er
das Obercommando der Provinz Constantine erhielt.
Im Jahre 1844 verheirathete er sich mit einer neapolitanischen Prin¬
zessin und wurde 1847 zum Generalgouvemeur von Algier ernannt; er folgte
in diesem Amte dem alten und altbewährten Marschall Bugeaud. der von
einem Guizot und anderen kurzsichtigen Leuten vertrieben ward. Kein ver¬
nünftiger Mensch wird behaupten wollen, daß der 28jährige Knabe Aumale
ein Ersatz sein konnte für jenen alten Krieger und Braven und daß Bugeaud
ohne Intrigue aus Afrika entfernt ward. Aber schon 1848 erfolgte die Aus¬
treibung Louis Philipp's aus Frankreich; Aumale gab sein Commando ab
und ging mit seinem Bruder Joinville, der sich zur selben Zeit an den
afrikanischen Küsten aufhielt, ins Exil. Auch Aumale schrieb in die Kvvuc;
6s8 Äsux M0NÄS8, besonders über die Geschichte afrikanischer Truppen. —
Im Jahre 1861 antwortete er verschiedenen frechen Aeußerungen des Prinzen
Jerome-Napoleon. — bekannter unter dem gemüthlichen Namen Plonplon —
durch eine Broschüre: I^ters sur I'IiistoiriZ as I^'auch, — welche in Frank¬
reich gedruckt, aber auch sogleich confiscire, gerichtlich verfolgt, und, wie sich
von selbst versteht, verurtheilt ward. Lange zerbrachen sich die Leute den
Kopf darüber, ob nicht in Folge der Beleidigungen und Herausforderungen,
welche bei dieser Gelegenheit dem biederen Plonplon zugeschleudert worden,
ein Duell zwischen diesem und Aumale unvermeidlich sei. Die Freunde
Plonplon's erklärten aber von vornherein ein solches für absolut unmöglich.
— Lange vor diesem Vorfall hatte der Herzog von Aumale begonnen, an
einer Geschichte des Prinzen von Conde' zu schreiben. Diese mußte in der
That höchst interessant für ihn sein. Man erinnert sich der außerordentlich
mysteriösen Art, in welcher der letzte Conde sein Leben endete, der Mord¬
gerüchte, welche sich an dessen Tod knüpften, der reichen Erbschaft, welche in
Folge desselben dem Herzog von Aumale zufiel. — Im Jahr 1862 begann
man in Paris die Geschichte des Prinzen von Conde' zu drucken; 1866 vor
der Ausgabe wurden die Exemplare dieses sehr mittelmäßigen Buches confis-
cire; Aumale begann einen Proceß, und im Jahre 1869 ward endlich das
Buch, welches durch die Verfolgung weit über seinen Werth gesteigert war,
dem Verleger zurückgegeben, — Der Herzog von Aumale hatte zwei Söhne,
den Prinzen von Conde', geboren 1844, und den Herzog von Guise, geboren
1884. Der erstere ist im jugendlichen Alter schon 1866 gestorben. — Der
Herzog von Aumale ist ohne Zweifel der rührigste, lebhafteste, aber auch
intriganteste der Prinzen von Orleans. Er war innerlich immer ein Gegner
der Fusion, der einzige entschiedene Gegner der Fusion in seiner Familie,
theils aus guten, theils aus schlechten Gründen, — aus guten, weil er
einsah, daß ein clerical-legitimistisches Regiment nach der Art des Grafen
von Chambord zu dem modernen Frankreich passe, wie die Faust aufs Auge,
— aus schlechten, weil er stets Hoffnungen setzte auf selbständige Speculationen,
die er ohne Familienrücksichten zu betreiben gedachte.
Wir reden hier nicht von dem jüngsten Sohne Ludwig Philipp's, dem
Herzog von Montpensier, geboren 1824, welcher durch seine Ehe mit der
Schwester der spanischen Königin Jsabelle und seine Einmischung in die
spanischen Angelegenheiten nach Jsabellens Austreibung für Frankreich
einigermaßen unmöglich ward.
Die Prinzen von Orleans hatten seit 1848 keinen großen Lärm in
Europa gemacht, aber ihre Prätentionen hatten sie ebensowenig aufgegeben
als der Graf von Chambord. Der Herzog von Nemours arbeitete mit den
Legitimisten und Fusionisten, der Herzog von Aumale ward durch seinen
Zwist mit dem Prinzen Plonplon unwillkürlich allen Lagern näher geführt,
welche das zweite Kaiserreich bekämpften. Von 1869 ab wurden auch die
Orleans viel aufmerksamer als bisher und sobald das Kaiserreich am
4. September 1870 gestürzt war, kamen einige von ihnen, die offenbar ihre
Koffer längst gepackt hatten, nach Paris, um der Nationalvertheidigung ihre
Dienste anzubieten. Diese wurden aber nicht angenommen, und die Herren
gebeten, das Land wieder zu verlassen. — Während der Verzweiflungskampfe
im Westen, Ende 1870 und Anfang 1871, zeigten sich dort wiederum der
Prinz von Joinville und der Herzog von Chartres; der erstere, welcher sich
durch seine Taubheit allzu bemerkbar machte, ward auf Befehl Gambetta's
verhaftet und in Se. Malo wieder nach England eingeschifft; der letztere aber
in bescheidener Stellung blieb bis zum Ende unter dem Namen Robert Lefort
in der Armee Chanzy. — Am 1. Februar präsentirten sich der Herzog von
Aumale und der Prinz von Joinville zu den Wahlen in die National¬
versammlung. Joinville betheuerte seine leidenschaftliche Liebe zu Frankreich
und zur Freiheit ohne Rücksicht auf die Regierungsform, wenn — natürlich —
die Freiheit nur durch die Garantien der Ordnung und politischen Moralität
beschützt sei, welche allein einer Regierung Dauer geben können. Aumale
ließ sich weitläufiger aus: er gab zunächst zu, daß seine Sympathien der
konstitutionellen Monarchie angehörten; er verglich dann das jetzige Unglück
Frankreichs mit dem Glücke, dessen dasselbe unter der Regierung seines Vaters
genösse» habe; aber er versicherte zuletzt, daß er nicht erelusiv sei, daß er auch
gegen die Republik nichts habe, wenn Frankreich sich für diese entscheide, daß
er ihr in diesem Falle treu dienen werde. Durch politische Ehrlichkeit,
Geduld, Eintracht und Selbstverläugnung könne Frankreich nicht blos gerettet
sondern auch reconstruirt (Elsaß-Lothringen!) und zu neuem Leben geführt
werden. — Beide Prinzen wurden gewählt, traten aber vorerst nicht in die
Nationalversammlung ein. Sie konnten das allerdings gar nicht, da das
Verbannungsgesetz vom 26. Mai 1848 noch gar nicht aufgehoben war. Aber
Herr Thiers widersetzte sich ihrem Eintritt in die Versammlung bis auf
Weiteres überhaupt; er wollte mit Recht das Feld ihrer Intriguen, die nie¬
mals ganz aufgehört hatten und jetzt neue Blüthen trieben, möglichst be¬
schränken. Nur gegen das Versprechen, daß die Prinzen vorläufig nicht und
nicht ohne seine Meinung eingeholt zu haben, ihre Sitze in der National¬
versammlung einnehmen würden, verpflichtete er sich, der Aufhebung des
Verbannungsgesetzes und der Validation ihrer Wahlen nichts in den Weg
legen zu wollen. Außerdem versprach er ihnen, die große finanzielle Specu-
lation, welche den Prinzen vor Augen schwebte und von welcher wir bald
weiter reden werden, zu begünstigen. Die Prinzen versprachen; am 8. Juni
ward darauf das Verbannungsgesetz aufgehoben und die Wahlen wurden für
gültig erklärt.
Schon am 9. Juni trafen Joinville und Aumale in Versailles ein. blieben
aber vorläufig ihrem Versprechen getreu; am 24. Juni waren schon alle Glie¬
der der Familie Orleans in Frankreich zurück und trieben sich herablassend,
möglichst auffällig populär, den väterlichen Regenschirm unter dem Arm, die
moderne Cigarre im Munde, auf den Boulevards umher. Einige jüngere Mit¬
glieder erhielten alsbald Anstellungen in der Armee — ohne Gehalt , wie
ausdrücklich hervorgehoben ward, als ob diese außerordentlich Reichen Herren
Frankreich ein Opfer brächten, wenn sie auf den dürftigen Gehalt eines Es¬
cadronchefs oder eines Capitains verzichteten, oder als ob Frankreich etwas
gewinne, wenn es einige solche dürftigen Gehalte erspare. Der Herzog von
Chartres ward als Escadronchef in das 3. Regiment afrikanischer reitender
Jäger nach der Provinz Constantine gesendet, wo damals noch immer der
arabische Aufstand nicht ganz unterdrückt war. Die Orleans hatten überall
so ergebene Diener, daß übereifrige Correspondenten algierischer und franzö¬
sischer Zeitungen schon weitläufig von Heldenthaten des jungen Herzogs gegen
die aufständischen Araber berichteten, noch ehe derselbe bet seinem Regiments
eingetroffen war. Am 16. September 1871 vertagte sich die National¬
versammlung ; als sie am 4. December wieder zusammentrat, hielten es Join-
ville und Aumale für unerläßlich, ihre Sitze einzunehmen; sie verhandelten
darüber mit Thiers, welcher ihnen ihr Wort nicht zurückgeben wollte. Sie
fügten sich anscheinend, doch nicht ohne einen öffentlichen Appel, der in Wirk¬
lichkeit an die Nationalversammlung selbst gerichtet war. Thiers hätte viel¬
leicht weniger gegen den Eintritt des Prinzen von Joinville in die Versamm¬
lung einzuwenden gehabt, welcher durch seine complete Taubheit so ganz wie
zum Abgeordneten geschaffen erschien, desto mehr mißfiel ihm das Erscheinen
des intriganten Aumale. Er spielte nun einen letzten Trumpf aus, indem
er am 8. December der Nationalversammlung einen Gesetzentwurf über die
Orleans'schen Güter vorlegte. Er meinte. der Anstand werde es den Prinzen
verbieten in die Nationalversammlung einzutreten, so lange diese über die Fa¬
milien- und persönlichen Interessen der Prinzen zu verhandeln habe und er
hoffte, diese Verhandlungen würden sich, da weit wichtigere Dinge vorlagen,
ziemlich lang hinausziehen. Was den erstern Punkt betrifft, so hatte er sich
gründlich verrechnet. Aumale und Joinville ruhten nicht. Am 18. December
interpellirte der Abgeordnete Jean Brünet die Nationalversammlung wegen
des Fehlens der Prinzen von Orleans- Der Minister des Innern antwortete
daraus, die Prinzen wären gegenüber Herrn Thiers und einer Commission
der Nationalversammlung gewisse Verpflichtungen eingegangen; Thiers halte
es für unzulässig, sie dieser Verpflichtungen zu entbinden, wolle aber für seine
Person nicht scharf auf dem Festhalten an denselben bestehen. In der That
avpellirte er hierdurch implicite an die Ehre der Prinzen.
Die Nationalversammlung nahm nun fast einstimmig eine Tagesordnung
an, wonach sie es nicht für angemessen hielt, die Verantwortung betreffs einer
Verpflichtung zu übernehmen, die ihr gegenüber nicht eingegangen sei oder in
dieser Beziehung einen Rath zu ertheilen. Am nächsten Tage, am 19. De¬
zember erschienen Joinville und Aumale in der Nationalversammlung und
ließen sich hier an ihrem häuslichen Heerde, im rechten Centrum nieder. Die¬
ses „rechte Centrum" war die eigentliche Orleanistische Partei der Versamm¬
lung; während die „Rechte" von mehr oder minder ausgesprochenen Legiti-
misten und Fusionisten gebildet ward, aus denen sich die specifisch chambor-
distisch klerikale „äußerste Rechte" abhob.
Am 30. Dezember beging die französische Akademie die ungeheuerliche
That, den Herzog von Aumale, dessen litterarischen Leistungen früher Erwäh¬
nung geschehen ist, zu ihrem Mitgliede zu erwählen; neben ihn setzte sie den
großen Sprachforscher und positivistischen Philosophen Littre', den Alleinverfasser
des vollständigsten und merkwürdigsten Wörterbuchs der französischen Sprache,
hinter welchem die gleichartige Arbeit der Brüder Grimm, so verdienstlich sie
sei, in vielen Stücken doch zurückbleibt. Littre und Aumale! welcher Abstand!
Auf der einen Seite der unermüdliche Ordner des ganzen französischen Sprach-
schätzet, auf der andern Seite der Schreiber kleiner Artikel und Geschichten
pro clomo! Aber während der fusionisttsche Bischof von Orleans, der schmäh¬
licher Weise auch Mitglied der Akademie ist, die Wahl des Herzogs von Anmale
gan^ in der Old^ung fand, ward er durch diejenige Lider^'s völlig in Tollwuth
versetzt. Im Jahre 1863, als Littre"s Candidatur zuerst auftrat, hatten es
die .gemeinen Denunciationen des Mannes vom heiligen Tornister noch ver¬
mocht, die großen Gelehrten aus der Akademie auszuschließen. Jetzt nicht
mehr! trotz Syllabus und Jnfallibilität. Das war mehr, als Sanct Dupan-
loup ertragen konnte. Der Mann Littre', diese rothe Fahne, machte auf ihn
den Eindruck als wenn er ein wirklicher Stier gewesen wäre. Er gab seine
Demission ein; diese ward aber von der invaliden Akademie nicht an¬
genommen.
Die Politik feiert. Zwar erzählen uns die Eingeweihten, daß der hohe
Bundesrath seine den profanen Blicken entzogene Thätigkeit noch emsig fort¬
setzt, diplomatische Hellseher wissen von allerlei Plänen zu künden, die der
leider noch immer nicht ganz genehme Reichskanzler im Schatten seiner
Zurückgezogenheit schmieden soll und die Pariser Journale benachrichtigen
uns alles Ernstes, daß in der deutschen Hauptstadt zur Zeit nichts Geringeres
betrieben wird, als die Erhebung des Prinzen Friedrich Karl auf den
spanischen Königsthron. Nichtsdestoweniger ist ganz Berlin darin einver¬
standen, daß die politische Saison mores begonnen hat. Einen deutlicheren
Beweis, daß der Parlamentarismus in unserm öffentlichen Leben der Haupt-
factor geworden ist, kann es nicht geben. Seit die Arena am Dönhofsplatze
geschlossen und der Lärm der Kämpfenden verhallt ist, fühlt sich der gewissen¬
hafte Staatsbürger berechtigt, nun auch einmal der harmloseren und an¬
genehmeren Seiten des Erdendaseins sein Auge zuzuwenden. Alle Berech¬
nungen für die nächste Zukunft pflegen in der Frage zusammenzulaufen:
wann werden wir das staubige Berlin verlassen können? Glücklich Alle,
denen es vergönnt ist, ein schmuckes Waldland aufsuchen und am Busen der
Mutter Erde in vollen Zügen Verjüngung trinken zu können, bis der Herbst¬
wind und die fallenden Blätter von Neuem an des Lebens Ernst gemahnen.
Inzwischen suchen wir Zurückbleibenden uns einzurichten, so gut es eben
gehen will. Mit Todesverachtung schlucken wir den Staub unseres Thier¬
gartens, träumen in der glühenden Atmosphäre unserer Fichten- und Kiefern¬
wälder vom fernen Hochgebirge und genießen zu Tegel und auf dem Pichels-
werder, in Treptow und in Lichterfelde, inmitten eines wahren Jahrmarkt¬
gewühls geputzter Weltstädter die „köstliche Landluft". Der Hauptzufluchtsort
unserer eleganten Welt, der Zoologische Garten, hat vor Kurzem in dem zu
Charlottenburg eröffneten Palmengarten einen Nebenbuhler erhalten. Die
großen Erwartungen, welche man von dieser neuen Schöpfung seit Jahren
gehegt, find nicht getäuscht worden. Nur schade, daß das Ganze noch sehr
merklich den Mangel des Unfertigen trägt. Die Anlage ist großartig und
geschmackvoll. In einem schönen und geräumigen Park erhebt sich auf
terrassenförmig aufgebauter Anhöhe ein stolzer, in einer glücklichen Mischung
von Gothik und Renaissance ausgeführter Ziegelrohbau, die Wirthschaftsräume
enthaltend, vor ihm eine weite Esplanade, hinter ihm das Glasgewölbe des
Palmenhauses. Das letztere wird sich im Arrangement wie im Bestände mit
den besten derartigen Etablissements messen dürfen. Freilich kann dies Stück
Tropenwelt mit der unbeweglichen Luft und dem feierlichen Schweigen in
einem Augenblick, wo draußen an der Spree ab und zu eine angenehme
Brise weht, wo selbst im düstern Tannenwald Fink und Amsel schlagen, daß
es eine Herzensfreude ist, noch nicht die volle Wirkung seines Zaubers aus¬
üben. Wenn aber einst die weite Ebene im Schneegewande erstarrt liegen
wird, dann wird wohl Mancher in der wohligen Temperatur dieses immer¬
grünen Hains des Winters herbe Unbill zu vergessen suchen. Unter allen
Umständen ist die „Flora" für Berlin ein wirklicher Gewinn. Hoffen wir
nur, daß ihr Gründer, Fürst Putbus, mehr Glück mit ihr hat, als mit
anderen seiner Schöpfungen.
Nicht mit den Freuden des Naturgenusses allein aber hat uns der heurige
Lenz so reichlich beschenkt; in den Tempeln der dramatischen Kunst hat die
Muse in den letzten Wochen ein überreiches Füllhorn dankenswert her Gaben
ausgeschüttet. Im Vordergrunde steht das Gastspiel des Meininger Hof¬
theaters auf der Winterbühne des Friedrich-Wilhelmstädtischen Theaters. An
Tagen mit 26 und mehr Grad Hitze im Schatten sieht man das Haus bis
in den letzten Winkel gefüllt; in allen Gesellschaftscirkeln sind „die Meininger"
das A und O der Unterhaltung; sie haben in unseren Vorstellungen über
das Wesen der Schauspielkunst, wenn nicht eine vollständige Revolution, so
doch eine gewaltige Gährung hervorgerufen. Die Meininger Truppe trat
unverhohlen als Rivalin unserer Hofbühne auf, und wenn ein abschließendes
Urtheil im Augenblick auch noch nicht möglich sein mag — das wenigstens
kann mir Sicherheit gesagt werden: sie wird «us dem Wettkampfe mit Ehren
hervorgehen. Zu einer unmittelbaren Vergleichung beider Theile gab Shake-
speare's „Was ihr wollt" Gelegenheit. Im Kgl. Schauspielhause war das¬
selbe das eigentliche Zugstück der Saison gewesen. Nichtsdestoweniger stehe
ich keinen Augenblick an mit der Behauptung: den Meiningern gebührt der
Preis. Was dieselben, unter der kunstsinnigen Fürsorge und Leitung ihres
Fürsten, bis zur Bollendung ausgebildet haben, ist die samische Einrichtung
und das Zusammenspiel. In beiden Punkten sind sie, was wenigstens das
genannte Stück betrifft, den Unsrigen überlegen. Bekanntlich hat der Herzog
von Meiningen ein besonderes Gewicht auf die Herstellung historisch richtiger
Costüme und Dekorationen gelegt. Man kann durchaus nicht zugeben, daß
dies eine irrelevante Aeußerlichkeit sei, deren zu starke Betonung sogar den
eigentlichen Kunstwerth der Aufführung beeinträchtigen müsse, im Gegentheil,
es ist ein selbstverständlicher nothwendiger Bestandtheil einer harmonisch
vollendeten Leistung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es einige denkende
Zuschauer nicht stören sollte, wenn wie bei uns, Maria, Olivia's Kammer¬
mädchen in einer Art von Balletgewand modernsten Schnittes auftritt, wenn
Malvolia, Olivia's Haushofmeister, in dem Costüm eines jugendlichen, reichen
Edelmanns erscheint, wenn die Scene vor Olivia's Hause durch eine Garten-
deeoration gebildet wird, die man morgen ebenso gut in einem der aller-
neuesten Lustspiele verwenden kann. Von all solchen Verstößen bei den
Meiningern keine Spur. Im Gegentheil, da ist Alles mit größter historischer
Gewissenhaftigkeit ausgeführt, ohne doch den Eindruck des Gesuchten, des
Kleinlichen oder des Geschmacklosen zu machen. Und weit entfernt, daß die
äußere Hülle den eigentlichen Inhalt überwucherte, dient sie vielmehr nur
dazu, den verschiedenen Charakteren eine lebendigere, individuellere Farbe zu
verleihen.
Auch das bis in die kleinsten Einzelheiten trefflich einstudirte Zusammen¬
spiel macht nirgends den Eindruck des Gekünstelten. Mehr als eine Scene in
„Was ihr wollt" bietet dem Ensemble drohende Klippen. Die gefährlichste ist
jener Moment, in welchem Maria mit der Erzählung von Malvolio's Verrückt¬
heit die Junker lachen macht, „daß sie Milzstechen bekommen". Wer dieses
Lachquartett angesehn und nicht aus Herzensgrund mitgelacht hat. der mag
getrost darauf verzichten, sich noch jemals an einer Komödie erheitern zu wollen.
Wie abgeblaßt nimmt sich dagegen dieselbe Scene auf unserer Hofbühne aus!
Die Junker geben sich da freilich die erdenklichste Mühe, das Publikum zu
elektrisiren, aber der neckischen Jungfer, die mit ihrer übersprudelnden Lustig¬
keit die Partner anstecken soll, ihr fehlt der Glaube an sich selbst. Und das
führt mich zu der weiteren Thatsache, daß die Meininger nicht nur im Zu¬
sammenspiel, sondern auch mit verschiedenen Einzelleistungen den Sieg davon¬
getragen haben. Zum mindesten ist die Darstellerin der Kammerjungfer Maria
der hiesigen Inhaberin der gleichen Rolle weit überlegen; auch die Gräfin
Olivia des Frl. Sekel hat mehr Leben und Eigenart, als die betreffende
Mondscheinfigur, welche Frl. Keßler uns auf unserer Bühne vorzuführen
pflegt. Frl. Meyer ferner ist unstreitig eine tüchtige Schauspielerin und ge¬
reicht dem tgi. Schauspielhause zur Zierde; aber ihre Viola ist zum größten
Theil eine moderne Coquette, während bei den Meiningern Frl. Hausmann
diesen aus keuscher Jungfräulichkeit und erstaunlicher Gewandheit, aus edler
Sentimentalität und schalkhafter Keckheit so seltsam gemischten Mädchencha¬
rakter in wahrhaft klassischer Einheitlichkeit zur Darstellung bringt. Unüber¬
trefflich ist dagegen die Leistung unseres Döring als Malvolio; doch dürfen
wir nicht verschweigen, daß auch auf der Meininger Bühne der geckenhafte
Haushofmeister einen freilich ganz anders gearteten, aber doch sehr achtungs¬
werthen Vertreter hat. Junker Tobias von Rülp und Junker Christoph von
Bleichwang mögen sich hüben und drüben die Wage halten — prächtige Kerle
auf beiden Seiten. Dagegen ist in der Rolle des Narren wiederum unser
Kahle dem Meininger Darsteller überlegen.
Noch größeres Aufsehen aber, als mit „Was ihr wollt" hat die fremde
Truppe im Berliner Publikum mit „Julius Cäsar" gemacht, jedoch meines
Trachtens nicht in gleich verdienter Weise. Was hier besonders imponirte,
war außer den klassischen Decorationen auch wieder das trefflich geschulte
Ensemble, welches in den berühmten Volksscenen in der That die Feuerprobe
glänzend bestand. Namentlich die unvergleichlich großartige Scene auf dem
Forum war von hinreißender Wirkung. Im Uebrigen aber kann von dieser
Leistung nicht behauptet werden, daß Schale und Kern sich deckten; mit Aus¬
nahme des Herrn Barnay, welcher als „Ehrenmitglied" den Marc Anton
spielte, gegenwärtig aber bereits ausgeschieden ist, erhoben sich die Schauspieler
nicht über das Niveau des Mittelmäßigen. Eine Vergleichung, wie bei dem
vorhin erwähnten Stück, war hier im Augenblick freilich nicht möglich; wenn
mich aber mein Gedächtniß nicht trügt, so war die Aufführung des „Julius
Cäsar", mit welcher Laube vor 4 — 6 Jahren in Leipzig Furore machte,
doch bedeutender. Diese Bemerkung darf um so weniger unterdrückt werden,
als der Enthusiasmus der Berliner den Meiningern gegenüber einen Augen¬
blick in blinden Verherrlichungswahnsinn auszuarten drohte. Aber das bleibt
auf alle Fälle wahr: die Meininger haben uns eine Methode gezeigt, von
welcher sie Leitung unserer Hofbühne sehr viel lernen könnte. Mögen immer¬
hin die Meininger dieselbe im Ganzen etwas einseitig ausgebildet haben, unsere
Hofbühne besitzt die Mittel, in dieser Methode die ausgezeichnetsten Kräfte
zu verwenden und so das Vollendete zu erreichen. Daß sie es bisher keines¬
wegs erreicht hat, wird ihr heute Jeder sagen, der die Gäste in der
Friedrich. Wilhelmstadt nur einmal besucht hat.
Ob Sie es auf den Zorn des Herrn von Friesen hin wagen werden,
mir nochmals in Ihren Spalten das Wort zu gestatten, weiß ich nicht.
Herr von Friesen erklärt bekanntlich alle Correspondenzen aus Sachsen, na¬
mentlich in nicht spezifisch sächsischen Blättern (und ein solches sind ja Ihre
„Grünen"), wenn sie nicht durchaus „wohlmeinend" für ihn und seine Collegen
sind, für el-iming, iassas majestatis. Ob ich nun „wohlmeinend" werde im
Sinne dieser Herren Minister schreiben können, ist mir freilich zweifelhaft,
nämlich sofern sie darunter das verstehen, daß Jemand Alles loben soll,
was sie thun, und tadeln, was ihre Gegner thun — daß ich es aber wohl
meine mit Sachsen als Land, mit dem sächsischen Throne, ja auch mit der
Regierung als solcher, soweit auch hier der Spruch gilt: appollkrs a malo
intormato g,ü molius inkorm-naun, das kann ich mit gutem Gewissen ver¬
sichern. Sie werden sich erinnern und mir bezeugen, daß ich schon bald nach
dem Anfange der Regierung König Albert's meine Ueberzeugung dahin aus¬
sprach, daß. was an der Politik Sachsens nach außen und innen jetzt Be¬
fremdliches wahrzunehmen sei, nicht auf des Königs Rechnung komme, sondern
lediglich auf die der Minister. Und noch jetzt kann ich mich — trotz entgegen¬
gesetzter Meinungen, denen ich hier zum Theil selbst in Kreisen begegne, wo
dies Wunder nehmen muß, von der Ansicht nicht trennen, daß, was heut' in
Sachsen geschieht, keineswegs als der Ausfluß einer positiven Willensrichtung
des neuen Monarchen, wohl gar als die eigentliche Signatur seines Regi¬
mentes anzusehen sei, sondern daß man höchstens sagen könne: der König
läßt es geschehen. Warum? Vielleicht weil er sich streng in den Grenzen
seiner UnVerantwortlichkeit gegenüber seinen verantwortlichen Ministern halten
will. Vielleicht, weil er sich sagte, die Minister haben factisch im Augen¬
blicke — seit dem Uebertritte der Fortschrittspartet auf ihre Seite — in den
Kammern die Mehrheit (was freilich nur halb richtig ist, da sie nichtsdesto-
weniger noch immer häufig starke Niederlagen in einer und der anderen
Kammer erleiden). Vielleicht, weil er sich erst noch genauer über die Stimmung
und die ganze Lage des Landes orientiren will, ehe er die bisherige Regierungs-
politik entweder positiv als sein Werk und als so von ihm gewollt anerkennt,
oder aber modificirt.
In dieser Beziehung wäre es wohl gut gewesen, wenn König Albert die
Absicht bereits durchgeführt hätte, die man ihm gleich anfangs beimaß, —
durch persönliche Besuche in den verschiedenen Theilen seines Landes sich mir
dem Volke und das Volk mit sich direkter bekannt zu machen. Kein Zweifel,
daß König Albert, bei dem ihm inne wohnenden klaren, nüchtern verständigen,
dabei so sehr Zutrauen erweckenden Wesen, diesen doppelten Zweck vollständig
erreicht und so auf die leichteste und sicherste Weise über die Stimmung des
Landes sich unterrichtet hätte. In dieser .Hinsicht begrüße ich daher die
offiziöse Andeutung, die ich so eben lese von einem bevorstehenden Ausfluge
des Königs ins Land mit Freuden.
Beiläufig gesagt, ist es eigenthümlich, daß diejenige Stadt, welche König
Albert fast unmittelbar nach seiner Thronbesteigung mit seinem Besuche be¬
ehrte, in der er lange und, so viel man annahm, mit sichtlichem Behagen
verweilte, deren verschiedenen Vertretern er die liebenswürdigsten Dinge über
die Tüchtigkeit ihrer Selbstverwaltung, den in ihr herrschenden Geist u. s. w.
sagte, daß Leipzig gerade die Stadt ist, gegen welche dermalen die Politik
der Regierung, das ist des Ministeriums, sich vorzugsweise und mit einer un¬
verkennbaren Gereiztheit richtet. Denn Leipzig ist. das weiß Jedermann im
Lande, die Hauptpflanze der Pflegstätte des nationalen Geistes, den in der
Gestalt der nationalliberalen Partei die Minister in ihrer Presse und ihren
Kammern so heftig angegriffen haben, Leipzig ist der Sitz des Reichsvereins,
den Herr von Friesen geradezu als der Negierung misfällig und bedenklich
bezeichnete; Leipzig ist mit seinem „Tageblatt" (trotz einzelner Ausschreitungen
des letzteren, die ein großer Theil des intelligenten Leipzig misbilligt) doch so
verwachsen, daß der gegen letzteres geführte Schlag — wie die bereits erfolgte
und noch angekündigten Kundgebungen von dort bezeichnen — beinahe von
ganz Leipzig als gegen sich selbst geführt betrachtet und empfunden wird.
Wie gesagt, es erscheint sonderbar, daß dieselbe Stadt vom Monarchen in so
ostensibler Weise bevorzugt und sympathisch behandelt, von seinen Ministern
auf jede Weise angefeindet und verletzt wird.
Doch das ist nur eines von den vielen Räthseln, welche den ganzen
dermaligen Verlauf der sächsischen Regierungspolitik allen denen aufgiebt,
welche sich nicht entschließen können, zu glauben, die Minister handelten ohne
Plan und ohne Berechnung der Consequenzen ihres Handelns, lebten gleichsam
nur so in den Tag hinein und von der Hand in den Mund. Woher und
wozu dies Alles? —
Diese Frage ist vielfach selbst in solchen Kreisen gehört, wo man sonst
Alles gut zu finden pflegt, was das Ministerium thut. Ein Gefühl der Be¬
sorgnis der Bangigkeit beschleicht wenigstens die etwas selbständiger Denken¬
den unter den Anhängern des Ministeriums, wenn sie sehen, wie dieses täglich
mehr nach einer schlimmsten Seite hin gedrängt wird und dadurch eine immer
weitere Kluft zwischen sich und einem großen Theile des Volkes öffnet. Ja:
woher und wozu? so muß man auch fragen; aber Antwort darauf zu geben
ist schwer. Daß eine im Stillen wirkende, weithin nach oben verzweigte Partei
unausgesetzt thätig ist und gewesen ist, das Ministerium in diese Richtung
hinüber- und von der etwas mehr liberalen, in die es schon einmal umschlagen
zu wollen schien, wieder abzudrängen, daran ist kein Zweifel. Aber wodurch
diese Partei gerade jetzt ermuthigt, wodurch das Ministerium gerade jetzt unter
deren Einfluß mehr denn je gebracht worden ist — da liegt das Räthsel.
Und da ist es freilich scheinbar das Nächste, zu sagen, der König selbst neige
jener Partei zu. Gleichwohl sage ich noch jetzt aus vollster Ueberzeugung:
Nein! Und es ist nicht blos der Wunsch, daß dem nicht so sei, der mich
behaupten läßt, es sei wirklich nicht so, sondern die feste Zuversicht, daß ein
Monarch von des Königs Albert Wesen und Vergangenheit die Herrschaft
einer Partei nicht wollen kann, die wahrlich keinen Segen für das Land
bringen würde. Aber, freilich, gut, sehr gut wäre es, wenn bald etwas ge¬
schähe, damit jene Befürchtung nicht Platz griffe, vielmehr die entgegengesetzte
Ueberzeugung, von der ich sicherlich glaube, daß sie zur Zeit in der großen
Mehrzahl des Volkes noch unerschüttert lebt, die Ueberzeugung, König Albert
sei und bleibe Einflüsterungen von feudaler, illiberaler, einseitig vartikula-
ristischer, vollends reichsfeindlicher Seite, von wannen solche auch komme, —
unzugänglich, nicht blos erhalten, sondern bestärkt und befestigt würde. Es
ist etwas Eigenthümliches um die zarte Pflanze „Vertrauen", zumal eines
ganzen Volkes, und es wäre schade, wenn über die so voll und kräftig auf¬
geschossene Blüthe des Vertrauens im Sachsenvolke zu seinem neuen Könige
auch nur der leiseste schädigende Hauch hinwegginge in der Form von Be¬
sorgnissen, die, ich wiederhole es. meiner Ueberzeugung nach, unbegründet
sind, aber freilich durch so manches Vorgehen des Ministeriums anscheinend
Mit Ur. S? beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal, welches
durch alle Buchhandlungen und Postämter des In- und Auslandes
zu beziehen ist.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, im Juni 1874.Die Verlagshandlung.
Seit der ersten Auflösung der alten deutschen Burschenschaft gibt es eine
deutsche Burschenschaft nicht mehr, nur einzelne Burschenschafter. Der Versuch,
alle diese einzelnen Verbindungen wieder zu vereinigen in dem gemeinsamen
Bunde nicht einer, sondern der deutschen Burschenschaft ist oft gemacht worden
und immer vergebens. Die Gründe für das bisherige Scheitern dieser Versuche
liegen auf der Hand. Eine Erneuerung der alten Burschenschaft im Sinne
der ersten Gründer derselben, d. h. als einer Verbindung, welche alle
deutschen Studenten, mindestens alle vaterländisch gesinnten Studenten um¬
fassen sollte, ist heutzutage einfach unausführbar. Auf jeder Universität wird
eine namhafte Anzahl von Studirenden sich infolge ihrer Vermögensverhält¬
nisse oder infolge individueller Neigungen oder Vorurtheile allem Verbindungs¬
leben fernhalten; eine große Anzahl wird in dem anspruchsvollen Wohlleben
der Corps das höchste Glück der academischen Freiheit finden; viele Andre
wollen wenigstens nicht Burschenschafter werden, weil sich noch aus alten
Tagen die verläumderischen Entstellungen der Demagogenriecher an den Namen
der Burschenschaft heften, während den Corps alle Gunst der Reactionsjahr¬
zehnte und des antinationalen Particularismus zu statten gekommen ist.
Also von einer Vereinigung aller heute deutsch gesinnten Studenten in einen
Burschenbund, wie ihn die alte Burschenschaft anstrebte, kann heute, wenig¬
stens für lange Jahre, nicht mehr die Rede sein. Um so weniger, weil
erstens auch die Corps und die NichtVerbindungsstudenten vaterländische Ge¬
sinnung für sich in Anspruch nehmen, und diese in der That auch bei allen
nationalen Kämpfen der letzten zehn Jahre wohl kaum in geringerem Maße
bethätigt haben, als die deutschen Burschenschafter. Und zweitens, weil die
Corps es schon unter des durchlauchtigsten deutschen Bundes schützendem Pri-
vilegio zu einer einheitlichen Organisation, Grundverfassung und Leitung
gebracht haben, welche die deutschen Burschenschafter seit Auflösung der ersten
alten Burschenschaft nie mehr erreicht haben.
Hiernach kann der Versuch der Bildung einer deutschen Burschenschaft
sich dermalen nur an die jetzt vorhandenen einzelnen deutschen Burschenschafter
wenden, immerhin mit der Hoffnung und dem Vorsatze, dem einmal geeinten
Bunde die größtmöglichste Ausdehnung unter der academischen deutschen Jugend
zu gewinnen. Aber auch alle diese Versuche sind bisher gescheitert. Dem¬
jenigen, der nicht selbst im burschenschaftlichen Leben und Wirken jahrelang
mitteninne gestanden ist, wird die Erklärung dieser Thatsache immer schwer
fallen. Aber sie ist unleugbar, und schließlich auf sehr wenige Thatsachen zu¬
rückzuführen. Die eine dieser Ursachen ist die geradezu lächerliche Mannig¬
faltigkeit und Divergenz der Grundprincipien der einzelnen deutschen Burschen¬
schafter. Es gibt Burschenschafter, die sich nur durch ein winziges Feigen¬
blättchen vom schönsten Corps unterscheiden; Burschenschafter, die sich getrost
zum Wingolf gesellen könnten; Burschenschafter, die mit dem greisenhafter
Ernst einer Sterbecasfe auf Gegenseitigkeit, sich für eine „Lebensverbindung"
erklären; sehr viele Burschenschafter, die sich für die „richtige" oder „allein
richtige" Burschenschaft halten und mit einer, ihrer Unfehlbarkeit entsprechen¬
den Geringschätzung auf alle übrigen Burschenschafter Deutschlands, nament¬
lich aber auf diejenigen der nämlichen Universität hinabsehen; viele Burschen¬
schafter, die man in die größte Verlegenheit versetzt, wenn man sie ersucht,
Jemandem in deutschen Worten die „Principien der Couleur" klar zu machen.
Wie sollte es möglich sein, soviel Sinne, soviel corporative Unfehlbarkeit
unter einen Hut zu bringen?
Diese Aufgabe war um so schwieriger, als bis zum deutsch-französischen
Krieg und bis zur Gründung des deutschen Reiches der Begriff des deutschen
Patriotismus und der theoretisch-politischen Arbeit, der vorbereitenden Er¬
ziehung für das öffentliche Leben, die sich jede deutsche Burschenschaft zum
Ziel setzen konnte und sollte, in verschiedenen Gegenden Deutschlands sehr
verschieden definirt wurde. Es ist bekannt, wie oft und wie zahlreich die
deutschen Burschenschafter über des Zieles Grenzen, welche die Stellung des
academischen Bürgers selbst vorschrieb, Hinausschossen. Der deutsche Student,
mag er noch so lebhaft den Thatendrang und die Kraft der Jugend in sich
fühlen, soll nicht selbst eingreifen in das pracrisch-polirische Leben der Nation;
sondern er erfüllt die höchsten Zwecke seines academischen Studiums voll¬
kommen, wenn er neben seiner Berufsbildung und der Verbreiterung seines
humanistischen Wissens und Strebens, diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten
gewinnt, die ihn geeignet und willig machen, nach dem Schluß des acade¬
mischen Studiums, dem gesammt-deutschen Vaterlande ein nützlicher, werk-
thätiger Bürger zu werden. Die schwersten Schicksale sind über die deutschen
Burschenschafter aus der Verkennung dieser Aufgabe des deutschen Studenten
gekommen. Gewiß trifft der größte Antheil der Schuld die Denuncianten
und Verleumder seit den Tagen der Centraluntersuchungscommission in Mainz,
jene berufenen „Demagogenriecher" welche die reinen patriotischen Bestrebungen
der alten Burschenschaft in das Dunkel von Geheimbünden scheuchten, und
die edelsten Kräfte der deutschen Jugend zwangen, sich als staatsgefährliche Ver.
schwörer zusammenzurollen. Aber wer wollte andrerseits heute die deutschen
Burschen, welche das Frankfurter Attentat, die Göttinger Revolution u. f. w.
ins Werk setzten, welche so manchen Barrikadenkampf des Jahres achtundvierzig
nähren halfen, von der Anschuldigung freisprechen, daß sie die wahre, die
edelste Aufgabe des deutschen Studententhums verfehlt, eine Fülle herrlicher
Jugendkraft vorzeitig vergeudet, für das kräftigste Manneswirken brach gelegt,
in den Tod, ins Gefängniß, in die Verbannung getrieben haben.
Nicht viel günstiger gestalteten sich die Verhältnisse der deutschen Burschen¬
schafter in Betreff ihrer politischen Ziele, d. h. in dem Hauptpunkte ihrer
Existenz und Berechtigung, seitdem im Jahr 1859 von den Tagen des ita¬
lienischen Krieges an, der nationale deutsche Gedanke wieder mächtig im
öffentlichen Leben sich regte. Der Schreiber dieser Zeilen kann von jenem
Zeitpunkt an aus eigener Erfahrung reden, und er hat bis heute die freund¬
lichsten Beziehungen zu den gegenwärtigen Burschenschafter unterhalten.
Wer, wie er. auf Grund genauer Kenntniß mancher burschenschaftlichen
Archive seit fünfzehn Jahren, sein Urtheil abgibt, wird nicht zaudern zu be¬
kennen, daß, bis zur Gründung des deutschen Reiches, die deutschen Burschen¬
schafter diesseit und jenseit des Main in ihrem politischen Programm nur
allzuengen Anschluß an die herrschende Tagesmeinung und Partei gesucht,
und dadurch abermals den zu politischem Wirken nur vorbereitenden Charakter
des academischen Studiums verkannt haben. Die Conflictszeit in Preußen
hat einen erheblichen Theil der preußischen Burschenschafter schon in den
Verbindungskneipen zu bedingungslosen Nachbetern der alleinseligmachenden
Fortschrittspartei erzogen. Die Schleswig - holsteinische Frage hat in ganz
Deutschland Burschenschafter zu demselben negativen Programm geworben.
Mit Aufrichtung der Mainlinie im Jahr 1866, und der Trennung der alten
Fortschrittspartei in eine größere (nationale) und eine kleinere (oppositionelle)
Partei, ist die Verästelung der politischen Bestrebungen der deutschen Burschen¬
schafter — soweit von solchen überhaupt die Rede war — und die Tendenz,
sich der im engeren Vaterlande bestbeleumundeten Partei mit Haut und Haaren
anzuschließen, immer größer, die Hoffnung auf eine Einigung aller deutschen
Burschenschafter immer geringer geworden. Kurz, in ihrer Zersplitterung
und Ohnmacht, bet trefflichsten Kräften, bieten die deutschen Burschenschafter
ein deutliches Abbild, einen Mikrokosmus ihres Vaterlandes.
Einmal, ein einziges Mal erschien der geeignete Augenblick, wo eine
Einigung aller Burschenschafter möglich gewesen wäre. Aber keine Hand
streckte sich aus, ihn festzuhalten und nutzbar zu machen — wir wollen Nie-
mandem zürnen, daß es nicht geschah. — Wir meinen, während der gewaltigen
Erhebung des deutschen Volkes gegen Frankreich, dann in den glücklichen
Tagen, aus denen das deutsche Reich hervorging, wäre dieser Moment da
gewesen. Das deutsche Reich ist erstanden. Auch die am hartnäckigsten der
deutschen Staatsgemeinschaft widerstrebenden Dynastien haben sich dem neuen
Gemeinwesen damals anbequemt. Die deutschen Burschenschafter aber, —
sie, die den Namen tragen, der zuerst aus den Befreiungskriegen die Ver¬
heißung künftiger Erneuerung deutscher Volks« und Kaiserherrlichkeit aus¬
sprach und bedeutete, während des langen faulen Friedens, der den Ver¬
trägen von 1815 folgte, — die deutschen Burschenschafter sind heute noch so
zersplittert und uneinig, wie vor dem großen Krieg. Ja, das Schlimmste in
ihrer ganzen Geschichte ist ihnen gerade durch die Gründung des deutschen
Reiches widerfahren. Sie haben alle, ohne Ausnahme, nach den bis¬
herigen Grundlagen ihres Verbindungsstrebens, scheinbar die Berechtigung
und den Inhalt ihrer Existenz verloren. Die Verheißung einer künftigen
Einheit Deutschlands, die Wiederaufrichtung der alten Kaiserherrlichkeit, welcher
die alte deutsche Burschenschaft und nach ihr die besten ihrer Nachfahren zu¬
strebten, ist erfüllt. Manche unter den Burschenschafter, die es mit ihren
alten theuren Traditionen ernst meinen, haben sich darum auch in den letzten
vier Jahren häufig die Frage vorgelegt: was sie nun noch auf dieser Welt
thun sollten, welche Ziele ins Auge zu fassen seien, um in der neuen Zeit
den alten ehrwürdigen aber verantwortungsvollen Namen einer deutschen
Burschenschaft fortführen und zu neuen Ehren bringen zu können?
Eine Antwort auf diese Fragen — wir wiederholen Ehren- und Existenz¬
fragen für die Zukunft der deutschen Burschenschafter — erhält man indessen
entweder gar nicht, oder in einer Weise, welche die völlige Verkennung alles
burschenschaftlichen Wesens und Sinnes bekundet. Die allermeisten deutschen
Burschenschafter betrachten sich nun, mit Vollendung der deutschen Einheit,
der kopfzerbrechenden zeitraubenden Beschäftigung mit den öffentlichen An¬
gelegenheiten ihres Vaterlandes und mit der Vorbildung ihrer Mitglieder zu
tüchtigen Bürgern und Politikern überhoben. Sie vertrauen mehr oder
minder dem lieben Gott, der ja erfahrungsmäßig keinen Deutschen verläßt,
und daneben Bismarck, daß das deutsche Reich auch ohne die Beihülfe der
deutschen Burschenschafter beisammen bleiben werde. Sie haben sich dagegen
großentheils das edle Ziel gesetzt, mit den Hausmitteln der Corps, d. h. mit
patenter Aeußerlichkeiten, Mensuren, glänzenden Couleurfesten und dergl., die
erste Stelle in der academischen Achtungsscala zu erobern. Dieses thörichte
Streben bedarf eigentlich nicht erst der Abfertigung. Wenn dieses Ziel
auf diese Weise wirklich zu erreichen wäre — was aber durchaus bezweifelt
werden muß — so wäre nichts erreicht, als daß die deutschen Burschen-
schaften allen und jeden Anspruch auf Fortführung ihres Namens verloren
hätten, weil sie dann mit fliegenden Fahnen ins Lager der Corps über¬
gegangen wären. Wir geben gern Ausnahmen zu; wir räumen ein, daß
manche deutsche Burschenschaft, und in allen mindestens einzelne Mitglieder,
mit vollem Ernst und schwerer Besorgniß die heute vorherrschende materielle
Richtung der deutschen Burschenschafter und die fernabliegende Aufgabe ihrer
Zukunft ins Auge fassen und mit einander vergleichen. Aber zur lebendigen
That, zur Heilung der weitverbreiteten krankhaften Apathie, zu einem ge¬
sunden neuen Leben und Streben ist es nirgends gekommen. Und doch wird
das beschämende Gefühl der Zersplitterung und das Bedürfniß nach Einigung
unter den deutschen Burschenschafter heut, nach Verwirklichung des deutschen
Einheitsideals, und Angesichts der strammen einheitlichen Organisation der
Corps, so allgemein und drückend empfunden werden, wie je zuvor. Dafür
sprechen mannigfache Anzeichen. In jüngster Zeit noch ist von der Burschen¬
schaft Rugia in Greifswald die Einladung zu einem allgemeinen Burschentag
nach Eisenach für die Pfingsttage ausgeschrieben worden. Aber wie wir
hören, ohne allen Erfolg. Viele fürchteten durch ein allgemeines Cartell in ihrem
harmlosen Stillleben oder in ihrem zünftigen Privilegium auf alleinige Pnn-
cipienreinheit beeinträchtigt zu werden, und schrieben ab. Aber nicht an dem
Widerspruch Einzelner scheiterte das löbliche Unternehmen. Vor Allem, wie
wir meinen, an der Rathlosigkeit der Unternehmer selbst, die sich in dem Pro¬
gramm der Einladung ausprägte. Denn der Zweck und die Grundlage der neuen
Einigung der deutschen Burschenschafter sollte nur sein diese Einigung selbst,
ohne jedes bestimmte Programm des künftigen gemeinsamen Wirkens. Man
hoffte die künftige Basis gemeinsamer Anschauungen mühelos decretiren zu
können, wenn einmal die Einheit da wäre. Man nahm sich schon vor. allen
Burschenschafter den Namen der Burschenschaft abzusprechen, die sich dem
Eisenacher Bund nicht fügen würden. Und doch wollte man nur eine Gegen¬
einigung gegen die Corps dort zu Stande bringen, und glaubte damit allein
schon die Zukunftsaufgabe der deutschen Burschenschaft in der Hauptsache
gelöst zu haben.
Alle aufrichtigen Freunde der deutschen Burschenschafter werden es als
eine besonders günstige Fügung anerkennen, daß aus einer so nebelhaften
Grundlage die Einigung der deutschen Burschenschafter nicht gelungen ist. —
Ueber die Nothwendigkeit dieser Einigung brauchen wir nach der bisherigen
Entwickelung kein Wort zu verlieren. Sie wird auch von allen Burschen¬
schafter, mindestens im Princip, anerkannt. Nur die Frage bietet Schwierig,
leiten, auf welcher Grundlage des Strebens und Wirkens die nothwendige
Einigung wirklich erreicht werden kann. Und gerade in dieser Hinsicht scheint
uns gewissermaßen schon der historische Name „Burschenschaft" das
Programm der Zukunft auszudrücken, und jeden Zweifel und jedes Schwanken
auszuschließen. Vom Pregel und von der Oder bis zum Rhein, von der
Ostsee bis zur Jsar und zum Neckar sollte, meinen wir, dasselbe Pflichtgefühl
und derselbe nationale esprit col'ps alle Burschenschafter erfüllen können.
Das eine ist doch Allen unleugbar: daß der Ehrenname, den sie gemeinsam
tragen, nicht blos durch studentische Äußerlichkeiten verdient wird; daß viel¬
mehr der ernstliche Wille hinzukommen muß, diesen Namen in dem Sinne
zu führen, der historisch feststeht, der zu einem bestimmten Begriff geworden
ist. Als das Unwandelbare, von Zeit und Ort Unangerührte, in diesem
Begriff erscheint aber die Pflicht jeder Burschenschaft, ihre Mitglieder zu
tüchiigen, gerade jenseits der academischen Jahre werkthätigen Dienern des
deutschen Vaterlandes zu erziehen, sie mit einer ausreichenden geistigen Mitgift
zu dieser hohen Aufgabe zu versehen. Wer dieses Ziel bei der Burschenschaft
nicht sucht und will, thut besser den Namen nicht zu führen; denn er mi߬
braucht ihn/
Die Mittel, dieses Ziel zu erreichen, sind bei der heutigen Gestaltung
der deutschen Verhältnisse so klar vorgezeichnet, daß man sie unmöglich ver¬
fehlen kann. Nicht eindringlich genug kann wiederholt werden: Niemand
verlangt und erwartet von Studenten Betheiligung an praktischer Politik,
Niemand Parteinahme für eine der Parteien oder Fractionen des öffentlichen
Lebens, auch nicht von Burschenschaftern. Soweit aber sind wir allerdings.
Dank unserer nationalen Einigung gediehen, daß jeder den Zweifel in seine
vaterländische Gesinnung und Opferwilligkeit als schwere Beleidigung zurück¬
weist. Und da ist jeder Regung des empörten Gefühls einzuhalten, daß das
wohlmeinende Bekennen deutscher Gesinnung nicht genügt, mindestens nicht
in den Reihen unserer academischen Jugend, und namentlich nicht in den Kreisen
der deutschen Burschenschafter. Denn diese Betheuerungen sind aus den
Lagern der größten Feinde des Reichs tagtäglich mit derselben Bestimmtheit,
mit demselben Aufwand von Entrüstung zu hören. Man würde auch ihnen
einfach glauben müssen, wenn man nicht allein an die That und das Streben
den Maßstab des Urtheils legen könnte. Die Vaterlandsliebe aus den
Lippen führt auch der Reichsfeind. Die Vaterlandsliebe des Burschen¬
schafters muß sich bethätigen. Er muß statt eines widerwilligen ein
freudiger Patriot, statt eines Lippenbekenners Herzens- und Pflichtbekenner
der deutschen Vaterlandsliebe sein, auf der Hochschule und für sein ganzes
Leben. Und dazu gehört eifrige, durch das gleichartige Streben der Ver¬
bindungsgenossen allein gedeihlich geförderte Arbeit. Es gilt vor Allem,
den Begriff der Vaterlandsliebe mit einem bestimmten Inhalt zu füllen.
Jeder soll wissen, warum er sein Vaterland lieb hat, warum er Deutschland
über Alles, über Alles in der Welt stellt, wie es in dem alten Burschenliede
heißt. Dazu bedarf es einer genaueren Bekanntschaft mit dem Vaterlande,
seiner Geographie, Ethnographie, Geschichte u. s. w. Weiter soll Jeder seine
Vaterlandsliebe nicht nur hegen wie eine Gefühlsneigung, sondern wie eine
Charaktereigenschaft. Dazu ist ein stetiges, zur Gewohnheit gewordenes,
gewissermaßen zum Bedürfnisse des täglichen Brodes gesteigertes Interesse für
die öffentlichen Angelegenheiten Deutschlands erforderlich. Dieses Interesse
jedem ihrer Mitglieder abzugewinnen, anzulernen, ist die deutsche Burschen¬
schaft so berufen wie verpflichtet. Es wird aber nur zu gewinnen sein durch
diejenige Vorbereitung, die erforderlich ist. damit es lebendig werde und sich
bethätigen kann. Diese Vorbereitung ihrerseits wird in gleichem Maße eine
theoretische wie empirische sein müssen, d. h. es gehört einerseits dazu, die
Kenntniß der bestehenden öffentlichen Gesetze und Zustände Deutschlands auf
allen Gebieten des politischen, socialen, religiösen, wirthschaftlichen Lebens,
andererseits die Kenntnißnahme von allem Geschehenden, das mit der natio¬
nalen Idee in Verbindung steht. Wer wollte leugnen, daß in unsern, auf
allen Gebieten des öffentlichen Lebens unvergleichlich productiven Tagen, eine
Fülle von Arbeit, aber auch von fruchtbarster Anregung Jedem, auf diesem
weiten Felde geboten ist, der sich ernstlich müht, etwas heimzubringen?
Soviel ist jedenfalls zu thun, daß Niemandem unter den Burscherschaftern,
der dieses Ziel verfolgt, in den Semestern und Jahren, in denen er dem
Verbindungsleben sich widmen kann, erhebliche Gefahr droht, aus Mangel an
Beschäftigung die berechtigte Aufgabe objectiver politischer Vorbildung mit
dem ihm nicht zukommenden Eingreifen in practisch-politisches Wirken, mit
dem Anschluß an öffentliches Parteileben zu vertauschen. Die Gefahr ganz
in Abrede zu stellen, liegt uns fern. Immer wird es warmblütige, den
Fesseln des regelrechten Studiums widerstrebende Naturen auch unter den
Burschenschaftern genug geben, welche vorzeitig sich in die Bahnen thätiger
Parteinahme gedrängt fühlen, und Andere zu drängen suchen, um dann, nach
Bismarck's Wort, am liebsten als Journalisten, vielleicht auch als Abgeordnete,
ihren vorbestimmten Beruf zu verfehlen. Vielleicht sind diese Schwarmgeister
sogar diejenigen, die zeitweise auf ihre Verbindung den größten Einfluß üben.
Aber das academische Leben ist jedem Einzelnen verhältnißmäßig so kurz zu¬
gemessen, und das Selbstgefühl eines Jeden ein so großes, daß solche persön¬
liche Einflüsse nur immer ganz vorübergehende und locale bleiben werden.
Und wenn selbst die Möglichkeit zugegeben werden könnte, daß eine oder
mehrere burschenschaftliche Verbindungen sich unter dem Banne bestimmter
Persönlicher Einflüsse, oder landläufiger Parteischibolethe und -Phrasen halten
lassen könnten, immerhin würden diese bestimmten Ideen entsprechen, die
unsere lebendige Gegenwart bewegen. Und immer besser ist die Angewöhnung
bestimmter idealer Anschauungen — die ohnehin das nüchterne Leben rasch
genug modelt und corrigirt — als die baare Ideenlosigkeit, der kalte Egois¬
mus des Brotstudenten, die crasse Treibjagd nach Amt und Beförderung,
welche so viele Studenten und leider auch Burschenschafter heute als einzige
Aussteuer außer ihren Berufskenntnissen von der Universität ins praktische
Leben mitnehmen.
Wenn wir der deutschen Burschenschaft das hohe Ziel stellen, in diesen
Verhältnissen umgestaltend zu wirken, so verhehlen wir nicht, daß wir damit
eine Reform an Haupt und Gliedern befürworten; eine Neuerung
zunächst im ganzen burschenschaftlichen, ja allgemein studentischen Leben, die
jedem academischen Bürger und namentlich jedem Burschenschafter bis zum
innersten Herzen dringen, und ihn zwingen soll. Partei zu nehmen für oder
wider die Anforderungen der neuen Zeit, die unsrer Ansicht nach unerläßlich
sind, und darum auch ihre Durchführung erfordern mit oder ohne die
deutschen Burschenschafter, wenn diese etwa sich seitab stellen sollten. Voll¬
zieht sich diese Reform, so wird sie ihres Gleichen nicht haben in der Ver¬
gangenheit, bis zu den glorreichen Tagen der alten deutschen Burschenschaft.
Auch diese wandelte von Grund aus das innerste Wesen des deutschen
Studententhums. Tausende unsrer Musensöhne erfreuen sich täglich heute
noch an den Liedern, die jene urkräftige Zeit geboren, denen aus neuerer Zeit
nichts ähnliches in solcher Fülle, Gewalt und Reinheit an die Seite zu setzen
ist, zum Beweise dafür, daß niemals wieder so mächtig als damals patriotischer
Sinn für die Herzen der academischen Jugend fruchtbar und nachwirksam
geworden ist. Und ungleich günstiger als damals stehen heute die Zeichen
für die Erreichung der Reform, die wir fordern. Im vollen Lichte des Tages,
unbedroht, unbeargwöhnt kann sich der reiche Patriotismus unsrer deutschen
academischen Jugend entfalten.
Namentlich eine Beihülfe, die unentbehrlichste zum Gelingen der Reform:
die Mitwirkung der academischen Lehrer, ist heute reichs- und
landesgesetzlich unbedingt gewährt. Daß nun die academischen Lehrer sich
energisch an der von uns geforderten Reformbewegung betheiligen, ist freilich
nicht blos wünschenswert!), sondern absolut nothwendig.
Auch in dieser Hinsicht sind die ersten Jahre nach den Befreiungskriegen
unerreichte Vorbilder bis heute. Der Fluch der Karlsbader Beschlüsse, das
während der Reactionsjahre gegen die academischen Lehrer fortwuchernde
Mißtrauen, haben sich mit der Macht der Trägheit und Gewohnheit ver¬
bündet, und ein Verhältniß zwischen Lehrenden und Lernenden geschaffen, wie
es trübseliger nicht gedacht werden kann. Die deutschen Professoren sind bald
gezählt, deren Einfluß auf die Hörer über den Hörsaal hinausreicht, welche die
hohe Würde und Kraft ihres Amtes dazu benutzen, auch außerhalb ihrer reinen
Lehrthätigkeit willenlenkend und erhebend auf die academische Jugend zu wir-
ken. Der geistige Verkehr zwischen Lehrern und Schülern ist in Deutschland
nirgend spärlicher, als auf unsern Universitäten. Gelegentliche Besuche auf
Hausbällen der Professoren, auf Commersen der Studenten, sind bisher fast
die einzigen Erscheinungsformen des gegenseitigen persönlichen Verkehrs außer¬
halb des Hörsaals, und gewiß ein sehr beschränktes und materielles Surrogat
für jene edelste geistige Wechselwirkung, welche Professoren und Studirende
einander bieten könnten und sollten. Wir sind weit entfernt, unsere Pro¬
fessoren etwa allein verantwortlich machen zu wollen für dieses traurige Ver¬
hältniß. Wenn irgend wer, so haben sie schwer und hart gelitten unter dem
peinlichen Mißtrauen, das die deutschen Regierungen von 1819 bis 1866
ihren Universitäten in so reichem Maße zu Theil werden ließen, und das
z. B. in Leipzig noch heute in der Function eines Kgl. Kommissars bei der
Universität verkörpert ist. Beinahe fünfzig Jahre lang galt jeder außeramt¬
liche Verkehr des Professors mit seinen Studenten für staatsgefährlich, und
die Weisheit dieser Staatsraison blüht heute noch gleichfalls am reichsten in
Sachsen, wo ein bucolisches Mitglied der ersten Kammer sich jüngst mit dem
Tadel hervorwagte, daß ein Leipziger Professor der Landwirthschaft sich erdreiste,
seine Zuhörer in freien Zusammenkünften über Staatswirthschaft und Politik
zu belehren. — Sodann mag der Hochschullehrer mit vollem Recht einwenden,
daß er erst dann seine Freistunden der studentischen Reformbewegung zu
widmen bereit sei, wenn diese erkennbar geworden und aus eigenem Antrieb
der studentischen Kreise hervorgegangen sei. Und diese Zeit ist nach dem oben
Ausgeführten bisher allerdings noch nicht gekommen.
Aber das allergrößte Interesse, diese Bewegung zu beschleunigen, und
mit allen Kräften zu unterstützen, hat gerade der edle Stand unserer Hoch¬
schullehrer. In seinen Reihen prägt sich der deutsche Idealismus — der
den Feinden unsres deutschen Wesens und Staates immer so unbegreiflich
bleiben wird, wie dem ersten Napoleon „Jos MoloZues dö ^vns," — am
reinsten und selbstlosesten aus. Natürlich Brotprofessoren werden, namentlich
in gewissen Kleinstaaten, in denen man sich gegen Aufhebung der Zwangs-
collegien sträubt — wohl ziemlich solange zur Kategorie der unausgestorbenen
Racen zählen. wie Brotstudenten. Aber die bei weitem größte Mehrzahl
unsrer Hochschullehrer erkennt in der Erweckung und Kräftigung idealer
Gesichtspunkte, Charakteranlagen und Strebungen unter den Hörern die beste,
ja die einzige Gewähr für das eigene gedeihliche Wirken. Und sie am we¬
nigsten werden verkennen, daß die innere Reorganisation, die wir hier zunächst
den Burschenschafter empfehlen, die Vorbereitung der Studirenden für das
künftige nationale Wirken, ebensosehr ein dringendes Bedürfniß des gesammten
deutschen Volkes befriedigt, wie sie zur Unterstützung der Hoffnung vonnöthen
ist. daß die alte Niveaulinie unsrer Hochschulen nicht herabgedrückt werden möge.
Denn am wenigsten unsren Hochschullehrern wird die leidige Thatsache
fremd sein, daß die allermeisten jungen Männer, die heute die Universität
verlassen, um ins „Philistertum" überzutreten, auch wirklich „Philister" wer¬
den im schlimmen Sinne des Wortes. Nicht mehr „Deutschland, Deutschland
über Alles", sondern der Beruf, die Carriere, der Broterwerb ist die Losung
der bei weitem größten Mehrzahl der jungen Gelehrten, welche nach Absol-
virung des Universitätsexamens in die Praxis des Lebens übertreten. Es ist
geradezu erstaunlich, aber mit einer Fülle von Persönlichkeiten und Zahlen
nachzuweisen, daß die deutschen Burschenschafter in den fünfziger und sechs-
ziger Jahren unsres Jahrhunderts, d. h. in den Zeiten, wo das Bekenntniß
nationaler Politik in den Augen des arieien r6gien« zu den Todsünden ge¬
hörte, das allergrößte Contingent politischer Charaktere gestellt haben, die in
den .Parlamenten, oder in ihren localen Kreisen noch heute mit größtem
Nutzen wirken. Und ebenso unleugbar, wenn auch sehr traurig, ist die That¬
sache, daß mit der wachsenden Sicherheit und Vollendung der nationalen
Entwickelung der für die öffentlichen Angelegenheiten verwendbare Nachwuchs
aus der Burschenschaft, wie aus den studentischen Kreisen überhaupt, immer
dürftiger geworden ist. Man braucht nur irgend einen der „Parlaments¬
almanache" in Alters- und Berufstabellen der Abgeordneten aufzulösen, um
hierüber allen Illusionen zu entsagen. Dasselbe lehrt Jedem, der eine Probe
machen will, ein Blick in seine nächste Umgebung, eine Revue der Namen
und Männer, die in seinem engeren Kreise die Träger der nationalen Be-
wegung sind. Man wird durch alle diese Beobachtungen zu dem
überraschenden Resultat geführt, daß fast ausschließlich die
reichsfeindlichen Parteien, die Socialisten. Ultramontanen
undJunker, sich mit jungemNachwuchs verstärken, die reichs-
treuen Parteiendagegen in ihrem Wirken hauptsächlich auf
ein mindestens im Zenith der Lebenstage se ehendes Geschlecht
angewiesen sind.
Die beispiellos dankbare Aufgabe, diesen Mißstand zu beseitigen, fällt
heute der academischen Jugend zu; in erster Linie, ihren Traditionen gemäß,
den deutschen Burschenschafter. Die energische Beihülfe aller nationalen Hoch¬
schullehrer, — ja über den Kreis der Hochschule hinaus, aller der Männer,
die für die Entwickelung des deutschen Staatslebens gegen die Feinde unsrer
nationalen Fortbildung eintreten — ist ihnen dabei gewiß. Niemand erwartet
und fordert von den deutschen Burschenschafter, daß sie, infolge dieser Mit>
Wirkung Anderer, ihrer studentischen Selbstregierung, ihren studentischen Ver¬
bindungsformen entsagen sollen. Nur die Anregung systematischer Fortbildung
und Vorbereitung wird die Autorität der Lieblingslehrer geben, niemals die
Verpflichtung auferlegen, lo verba ma^istri zu schwören oder in der Kneipe
Privatissima zu hören. Immerhin mag auch fernerhin der deutsche Burschen¬
schafter seine Ehre mit darein setzen, in der äußeren Stellung und Haltung
der Verbindung, in den ritterlichen Uebungen des Studenten, allen Commi-
litonen ebenbürtig sich zu zeigen. Nur mag er nicht vergessen, daß das ganze
Verbindungsleben in seinen studentischen Formen nur das Mittel ist zu einem
höheren Zweck, nur das Gefäß, welches edle Schätze der Nation birgt.
Jede der deutschen Burschenschafter, die in diesem Sinne den Anfang
einer Einigung Aller versuchen wollte, würde sich ein hohes Verdienst erwer¬
ben. Daß der Versuch gleich zu Anfang das Ziel der völligen Einigung
erreicht, ist weder zu erwarten, noch nothwendig. Das dringende, überall
im deutschen Reiche in gleichem Maße vorhandene Bedürfniß solcher Bestre¬
bungen wird der beste Bundesgenosse der kühnen Pioniere sein. Außerdem
stehen ihnen die nationalen deutschen Hochschullehrer, alle Männer, die sich
dem Dienste des Vaterlandes gewidmet haben, vor allem auch die reichsfreund¬
liche deutsche Presse zur Seite, zur Verfügung, mit Rath und That.
Der kühne italienische Patriot Wilhelm Pepe faßte dem verzagenden
Bruder einst die Verheißung besserer Tage zusammen in den Worten: die
Menschen sind die Zeiten. Wir rufen heute mit demselben Vertrauen den deut¬
schen Burschenschafter zu: die Zeit ist da, mögen die Männer nicht fehlen! Die
deutschen Burschenschafter stehen an dem Wendepunkt ihres Daseins, ihrer
historischen Mission. In ihrer Hand liegt es heute noch, ob der künftige
Geschichtsschreiber von ihnen zu berichten haben wird, daß sie ruhmlos abge¬
storben seien mit der Erreichung der nationalen Einheit, oder daß sie dem
deutschen Reiche die tüchtigsten Bürger, ein starkes Geschlecht reichstreuer,
kampfbereiter Männer hervorbrachten!
Obgleich die Angelegenheit der Orleans'schen Güter weit in das Jahr
1872 hineinspielt, wollen wir doch diese unsaubere Sache — wenn nöthig
mit Hülfe der Compagnie Richer. — schon hier so kurz als möglich abhan¬
deln. Unmittelbar nach dem Staatsstreich von 1881, am 22. Januar 1832
erließ der damalige Prinz - Präsident. Louis Bonaparte, zwei Decrete betreffs
der Orleans'schen Güter. Das erste Decret verpflichtete die Orleans binnen
einem Jahre ihren Grundbesitz in Frankreich zu verkaufen. strittige Punkte
vorbehalten. In Betreff des Grundbesitzes, der in den bestimmten Terminen
nicht verkauft sei, sollte die Domänenverwaltung die nothwendigen Schritte
nach dem Gesetz vom 10. April 1832 thun, welches Louis Philipp über die
Güter der ältern vourbonischen Linie hatte ergehen lassen. Louis Napoleon
motivirte dieses Decret sehr einfach damit, daß Ludwig XVIII. 1816 mit den
Gütern der napoleonischen Familie grade eben so verfahren sei, dann wieder
Louis Philippe 1832 mit den Gütern der älteren Bourbons. Die Maßregel,
fügte er hinzu, sei jetzt um so nothwendiger, als es darauf ankomme, den
Einfluß zu vermindern, welchen der Familie Orleans ein Grundbesitz von
300 Millionen Francs Werth in Frankreich verleihe. Dagegen ließ sich auch
nicht das Mindeste einwenden. Im zweiten Decret ward zunächst ausgeführt,
daß nach altem französischem Rechte alle Güter, die einem Prinzen gehörten,
sobald dieser zum Throne gelange, von Rechtswegen dem Krondomanium
anheimfielen. Louis Philipp habe diese Bestimmung umgangen, indem er
die Güter, die er vor seiner Thronbesteigung besaß, seinen Söhnen, mit Aus¬
schluß des ältesten, und unter Vorbehalt der Nutznießung, geschenkt habe. Es
sollte demnach eine Untersuchung darüber angestellt werden, welche der Or-
leans'schen Güter von Rechtswegen dem Staate angehörten und dem Doma-
nium folglich nicht entzogen werden dürften. Das Erträgniß der an den
Staat zurückfallenden Güter sollte wohlthätigen Staatsanstalten überwiesen
werden. Auch dagegen ließ sich nichts einwenden. Allein, dieselben Leute,
welche allen Ungerechtigkeiten, die der Staatsstreich über tausende von ehrlichen
Leuten brachte, ruhig zugesehen hatten, empörten sich jetzt über eine durchaus
gerechte Maßregel, weil dieselbe Prinzen gestohlenes Gut nicht lassen wollte!
Der Herzog von Nemours und der Prinz von Joinville protestirten
gegen diese Decrete und besonders gegen ihre Motivirung in einem Briefe an
die Testamentsvollstrecker des Königs Louis Philipp. „Einen Augenblick,
hieß es in diesem Briefe, haben wir daran gedacht, die Zurückhaltung aufzu¬
geben, welche das Exil uns auferlegt und selbst die Angriffe zurückzuweisen,
welche auf so unwürdige Art gegen den besten der Väter gerichtet werden . . .
Aber ...» In der That, Niemand hat bestritten, daß Louis Philipp ein
ausgezeichneter Familienvater war, auch Louis Napoleon nicht. Im Gegen¬
theil, man warf ihm vor, daß er ein zu guter Familienvater war, der seine
Regierung benutzte, um bei jeder Gelegenheit seine Familie auf Kosten Frank¬
reichs zu bereichern. Dieser Vorwurf aber würde sehr schwer zu widerlegen
sein. Der Herzog von Aumale, welcher durch die Erbschaft des mysteriös
„verstorbenen" Prinzen Conde' sehr bereichert war, hatte den oben erwähnten
Brief nicht mitunterzeichnet.
Die Vorlage, welche die Regierung des Herrn Thiers am 8. December
1871 der Nationalversammlung betreffs der Orleans'schen Güter machte, be¬
sagte, daß die Decrete vom 22. Januar 1882 aufgehoben seien; die kraft
dieser Decrete vom Staate mit Beschlag belegten und bisher noch nicht ver¬
äußerten Güter sollten ohne Verzug ihren Eigenthümern (den Prinzen von
Orleans) zurückgegeben werden, ohne daß diese indessen das Recht hätten,
gegen die Käufer der schon veräußerten Güter oder deren Rechtsnachfolger
eine Klage zu erheben; die Prinzen von Orleans sollten endlich auf jede For¬
derung an den Staat wegen der Ausführung der Decrete vom 22. Januar
1852 verzichten. Wenn man die eigentliche Sachlage erwägt, so ward hier
den Prinzen von Orleans ein sehr ansehnliches Weihnachtsgeschenk gemacht.
Indessen ihnen genügte das noch lange nicht und hauptsächlich deshalb hielten
sich Joinville und Aumale des Versprechens für entbunden, nicht in die
Nationalversammlung eintreten zu wollen. Im Allgemeinen wollte es den
Franzosen wenig scheinen, daß es mit der Bereicherung der ohnehin reichen
Familie Orleans eine so große Eile habe, während Frankreich noch mit so
vielen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte und viele tausende von Familien,
deren Männer im letzten Kriege Leben und Gesundheit daran gesetzt hatten,
sich in der äußersten Noth befänden. Politiker meinten, es sei nicht klug, den
Orleans viele Millionen in die Hand zu spielen, welche sie benutzen könnten,
um gegen die Republik zu conspiriren und sich Anhänger zulaufen. Diesen
ward erwidert, daß man deshalb keine Sorge zu haben brauche, da die Or¬
leans nur zu nehmen, nicht zu geben gelernt hätten. Am 24. November 1872
nahm die Nationalversammlung die Vorlage der Regierung — nach >dem Bor¬
schlage ihrer Commission aber mit weitergehenden Begünstigungen für die
Prinzen von Orleans — an. Nach sehr mäßigen Berechnungen gewannen
dieselben netto bei diesem Geschäftchen 67 Millionen Francs. Sie strichen
dieselben ruhig ein, wahrscheinlich sich vorbehaltend, Frankreich zur Belohnung
auf ihre Weise zu retten. —
Der Kaiser Napoleon begab sich, aus seiner sanften Gefangenschaft zu
Wtlhelmshöhe entlassen, zu seiner Gemahlin und seinem Sohne nach Chiselhurst.
Was die Römer nicht könnten, konnte er auch nicht; er konnte nicht umhin,
gegen seine Absetzung und diejenige seiner Dynastie in der scandalösen
Sitzung der Nationalversammlung vom 1. März zu Protestiren. Er rief den
Herren von Bordeaux zu: das französische öffentliche Recht für die Gründung
jeder legitimen Regierung sei das Plebiscit; außerhalb dieses Rechtes gebe
es nur Usurpation und Unterdrückung; vor dem nationalen Willen wolle er
sich beugen, aber auch nur vor diesem. Dieser Protest konnte für den Augen¬
blick auch nicht die mindeste Wirkung haben: das Volk im Allgemeinen kaute
an Sedan und die Presse sagte ihm. daß es Sedan mit allen Konsequenzen
lediglich Napoleon III. verdanke; — in der Nationalversammlung waren
die Bonapartisten augenblicklich so schwach vertreten, daß sie kaum den Mund
öffnen durften, wie die Sitzung vom 1. März hinlänglich bewiesen hatte, —
in der Armee hätte Napoleon III. viele und treue Anhänger haben sollen;
Hunderte und tausende verdankten Napoleon III. Alles. Allein grade die
meist Begünstigten wendeten sich jetzt mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit
von dem alten, kranken, abgesetzten Kaiser. Es war so süß für sie, sich ein¬
zubilden, daß sie Alles nur ihrem Verdienste verdankten, und die Schuld
ihrer unübertrefflichen Imbecillität auf den sterbenden Mann abzuwälzen.
Der junge kaiserliche Prinz, dem noch ein Jahr zuvor alle möglichen hervor¬
ragenden Eigenschaften angedichtet waren, war nun auf einmal zu einem
ganz gewöhnlichen Knaben herabgesunken, wie man sie zu Dutzenden auf
jeder Gasse findet. Aber, was beweist das? Wenn es den Legitimisten und
Orleanisten gelingt, die Republik zu disereditiren. werden sie davon ernten?
Das ist mehr als zweifelhaft. Die kleine Zahl der thätigen Bonapartisten.
Herrn Rouher an der Spitze, verzweifelte nicht im mindesten, obwohl sie
vorerst eine kurze Zurückhaltung beobachtete. Verwaltungsbeamte, von ge¬
nügender Routine, wie sie ein jedes Regiment braucht, welches nicht offen
freisinnig und demokratisch sein will, lieferten in großer Zahl nur die
Bonapartisten. Wie hätte man sie in den Reihen der Legitimisten finden
sollen, die es unter ihrer Würde hielten, sich mit dem thatsächlichen Leben
des modernen Frankreichs bekannt zu machen? Selbst in den Reihen der
entschiedenen Orleanisten waren sie selten. Welche Macht hat aber nicht die
Verwaltung in einem Lande, dessen Ideal noch immer die äußerste Centrali¬
sation ist! — Das anständige Benehmen der Kaiserin Eugenie während der
letzten Verzweiflungskampfe Frankreichs, als sie jedes Ansinnen, sich im
Interesse der napoleonischen Dynastie diplomatisch einzumischen, mit der größten
Entschiedenheit zurückwies, war ganz geeignet, nicht blos ihr, sondern auch
ihrem Sohne die Herzen vieler Franzosen zu gewinnen. Darauf kann eine
Legende gebaut werden, und der Anfang dazu ist bereits bei Gelegenheit des
Processes Bazaine gemacht worden. — Wer heute läugnet, daß Napoleon III.
in einigen Jahren der Welt als Märtyrer, als Opferlamm, als der eigent¬
liche Begründer der französischen Demokratie vorgeführt werden könne, der
kennt die Franzosen und ihre Geschichte nicht. Unbestreitbar ist es auch, daß
der bonapartistische Cäsarismus niemals die Souveränetät des Volkes ge-
läugnet hat. wie die Legitimisten, wie die Orleanisten, wie Herr Thiers.
Der bonapartistische Cäsarismus hat sich immer auf das souveräne Volk als
die letzte Instanz berufen, niemals hat er die Souveränetät des Volks zu
Gunsten irgend einer Versammlung eseamotiren wollen. Wenn er sich aller
möglichen Kunstgriffe bediente, um die Volkssouveränetät unwirksam zu
machen, so war dies eine ganz andere Sache; er übte wenigstens die Cäsaren-
autorität seinem eignen oft wiederholten Zugeständnis nach immer nur als
Delegirter, als Vollmachtträger des Volkes. Wenn man diese und ähnliche
Dinge, wie z. B. die materielle Wohlfahrt von Frankreich unter dem zweiten
Kaiserreich erwägt, so kann man nicht behaupten, das Kaiserreich sei ohne
Hoffnung; wird die Republik eliminirt, so hat der Bonapartismus mehr
Hoffnung, als die Prätendenten der andern monarchistischen Parteien. Dann
kann auch der junge kaiserliche Prinz wieder bald jenes Licht des Geistes
werden, als welches er galt, solange sein Vater auf dem Throne Frank¬
reichs saß.
Der Prinz Jerüme Napoleon (Plonplon) hat stets eine große Neigung
gezeigt, auf eigne Hand und neben seinem Vetter Napoleon III. Politik zu
treiben. Dies Spiel hat er auch nach Sedan fortgesetzt. Dieser Prinz ist
nun allerdings als Prätendent eine absolute Unmöglichkeit; obgleich es viele
Leute giebt, welche seinen Geist loben, haben doch selbst diese eine sehr
schlechte Meinung von seinem Character, und — was schlimmer ist, — er hat
dem Schicksal nicht entgehen können, für eine lächerliche Persönlichkeit zu
gelten. Obwohl er jetzt anfangs sich ziemlich im Hintergrunde hielt, zeigte
sich doch bald schon sein Bestreben, seine Rechte als französischer Bürger
geltend zu machen und seine Sache — vorläufig — von derjenigen der
Dynastie zu trennen, welche die Nationalversammlung am 1. März für ab¬
gesetzt erklärt hatte.
Nachdem wir uns nun im Allgemeinen über die Prätendenten orientirt
haben, deren Angelegenheiten in der nächsten Zeit immer wieder das übrige
Leben des französischen Volkes durchbrechen, wenden wir uns zu diesem
Leben und namentlich zur Thätigkeit der Nationalversammlung zurück. Unter
den wichtigen Dingen, mit welchen sich die Nationalversammlung zu Versailles
unmittelbar nach dem Communekrieg zu besassen hatte, steht in erster Reihe
die Angelegenheit der „katholischen Petitionen". Eine Anzahl von Ober¬
hirten der französischen Kirche, unterstützt von einer entsprechenden Anzahl von
Lämmern, hatte an die Nationalversammlung Petitionen gerichtet, durch
welche sie ein Einschreiten Frankreichs gegen die Lage verlangten, in welcher
der Papst durch die italienische Occupation Roms versetzt sei. Sie forderten
nicht gradezu den Krieg gegen Italien zur Wiedereinsetzung des Papstes in
seine weltliche Herrschaft, — allein der Krieg saß doch eigentlich aus der
Spitze dieser Petitionen. Die italienische Regierung wurde darin sehr un¬
sauber als eine „meineidige und räuberische" tractirt und die National¬
versammlung ersucht, dieser Regierung ein „unaustilgbares Brandmal" auf¬
zudrücken; die ganze Action Italiens in Betreff der weltlichen Herrschaft des
Papstes wurde als „Attentat" bezeichnet; als „s^erilösium". Diese katho¬
lische Agitation fiel zusammen mit dem Aufenthalt des Grafen Chambord
auf seinem Liebespfand, welches zu bemerken nicht überflüssig ist. Die An¬
gelegenheit kam in der Nationalversammlung am 22. Juli zur öffentlichen
Verhandlung. Der Berichterstatter Pajot (vom Departement du Nord), e!n
in der Wolle gefärbter Clencaler fand die Petitionen der Bischöfe äußerst
gerechtfertigt, die weltliche Herrschaft des Papstes äußerst nothwendig, und
grade, sagte er, als Frankreich seine Truppen von Rom zurückgezogen und
den Papst der Willkür der undankbaren Italiener überlassen habe, grade da
hätten auch die Niederlagen Frankreichs ihren Antrag genommen. Pajot
wollte nicht grade sogleich Italien den Krieg erklären, allein er verlangte,
daß die wichtige Frage diplomatisch behandelt und demgemäß die katholischen
Petitionen dem Ministerium des Aeußern überwiesen würden. Wir werden
sogleich sehen, welche wichtige Rolle bei dieser ganzen Angelegenheit die Ueber¬
weisung an das Ministerium des Auswärtigen spielte.
Herr Thiers mischte sich in die Debatte. Er nahm die Gelegenheit wahr,
vom chauvinistischen Standpunct eine Anklage gegen Napoleon III. zu erheben.
Die Folgen von Napoleon's Nationalitätenpolitik sind vorauszusehen gewesen
und seien vorausgesehen worden; diese habe mit Nothwendigkeit zur Einheit
Italiens und zur Einheit Deutschlands — zum Nachtheile Frankreichs —
geführt. Mit der Herstellung der Einheit Italiens sei der Fall der weltlichen
Herrschaft des Papstes gegeben gewesen. Jetzt stehe Frankreich vor dieser
Thatsache und könne sie augenblicklich nicht ändern. Eine diplomatische Be¬
handlung der Angelegenheit sei nur möglich, wenn Frankreich diese bis in
die äußersten Consequenzen verfolgen könne. Diese aber seien der Krieg
gegen Italien, — und fast alle Mächte Europas ständen in dieser Sache
auf der Seite Italiens. Eine vorsichtige Politik sei jetzt für Frankreich
eine Nothwendigkeit, man solle ihm, dem Präsidenten der Republik keine
andere aufnöthigen. Der Bischof Dupanloup bezeugte Herrn Thiers sein
volles Vertrauen; dieser dankte dafür. Nun brachte Herr Marcel Barthe
von der Linken (vom Departement der Nieder-Pyrenäen) eine Tagesordnung
ein: „Die Nationalversammlung, im Vertrauen aus den Patriotismus und
die Klugheit des Chefs der erecutiven Gewalt der Republik, geht zur Tages¬
ordnung über." Herr Thiers erklärte, daß er sowohl diese Tagesordnung,
als den Antrag der Commission auf Ueberweisung an die Negierung an¬
nehme, diese im Sinne seiner früheren Auseinandersetzungen. Das war eine
Schwäche des Herrn Thiers; denn er wußte sehr wohl, daß es sich für einen
sehr großen Theil der Majorität bei dieser Gelegenheit gar nicht um die
„Unabhängigkeit des Papstes" sondern darum handelte, einen der Männer
des 4. September, den Minister des Auswärtigen, Herrn Jules Favre aus
den Ministerium herauszubeißen. Wenn die ganze Sache nicht so sehr
traurig wäre, könnte sie in diesem Punkte spaßhaft erscheinen. Der Thränen -
Held Jules Favre, dieser fromme Mann, welcher den Beichtstuhl für ein ganz
geeignetes Instrument hält, sich wegen kleiner Privatschwächen mit seinem
Gewissen abzufinden, sollte grade bei dieser Gelegenheit aus dem Ministerium
hinausgeworfen werden. Es verhielt sich so: die Gegner Jules Favre's wu߬
ten recht wohl, daß dieser Herr sehr gern Pius wieder in voller Herrlichkeit
auf seinem Throne gesehen hätte, aber sie wußten ebensowohl, daß ihm eine
Restauration des päpstlichen Thrones absolut unmöglich sei und daß ihm die
Überreichung der Petitionen an sein Ministerium nur Verlegenheiten bereiten
konnte. ohne jeden sonstigen Zweck.
Die Linke hatte einen Antrag auf namentliche Abstimmung über den
Commissionsantrag (Pajot) gestellt. Jetzt nun zog im Namen der Linken
Gambetta diesen Antrag zurück, in Folge der Erklärungen und übereinstim¬
mend mit den Erklärungen des Herrn Thiers, „welche die Anforderungen
der Gewissensfreiheit mit dem Friedensbedürfnisse Europas in Einklang bringen."
Der Ultramontane Keller, erst neuerdings im Arrondissement Belfort wieder
gewählt, erhob sich wüthend: „was Herr Gambetta annehme, das könnten
er und seine Freunde nicht annehmen." Darauf eine zügellose Debatte ohne
einen Funken von Vernunft. Während derselben brachten die Herren Guiraud,
Target und Delille eine vermittelnde Tagesordnung ein, welche die beiden
Anträge Pajot und Barthe mit einander verschmolz und lautete: „Die Na¬
tionalversammlung, im Vertrauen auf die Klugheit und die patriotischen Er¬
klärungen des Chefs der Executive, überweist die Petitionen an den Minister
des Aeußeren." Dieser Antrag war ein Vertrauensvotum für Herrn Thiers
und ein Mißtrauensvotum für Herrn Jules Favre; er ward mit 431 gegen
82 Stimmen angenommen, nachdem der Antrag Barthe mit 375 gegen 273
Stimmen verworfen war. Jules Favre nahm am 23. Juli in Folge dieses
Votums seine Entlassung.
Obgleich nun dieses Votum sich nicht für einen Krieg gegen Italien
aussprach, so muß man doch sagen, daß die ganze Debatte nichts als eine
Reihe von Unklugheiten war. In der That, was sagte selbst Herr Thiers?
Er sagte doch nichts anderes, als daß er recht gern gegen Italien Krieg
führen würde, wenn er es nur könnte. Die Ultramontanen zeigten sich nur
dümmer als Herr Thiers, aber feindseliger auch nicht. Welche Politik ist
das nun für ein Land in der Lage Frankreichs 1871! Man weiß sehr
Wohl, daß Frankreich in zahlreichen Classen des italienischen Volkes noch
große Sympathien hatte. Es wäre für Frankreich darauf angekommen, diese
Sympathien zu hegen und zu pflegen. Man that das Gegentheil: alle diese
thörichten Leute, welche durch die zufällige Situation des 8. Februar 1871
berufen waren, Frankreich zu repräsentiren, riefen Italien zu: Wartet nur,
sobald wir können, soll es mit eurer Herrlichkeit halv ein Ende haben! So¬
bald wir können. Die Italiener wurden also darauf angewiesen, sich so
einzurichten, daß Frankreich so spät wie möglich und wo möglich niemals
kann. Für Italien bedeutet dies absolut nicht anderes als enge Alliance
mit Deutschland. Diese Politik der Majorität der französischen Nationalver¬
sammlung und — fügen wir es hinzu — der Regierung gegen Italien ist
gleichbedeutend mit Jsolirung, mit unvernünftiger Entfernung aller Sympa¬
thien, welche man sich zu erwerben allen Grund hätte, wenn sie nicht existir-
ten. — Dieselbe unzurechnungsfähige Politik ward auch gegenüber andern
Ländern beobachtet, welche Frankreich freundlich gestimmt, ihm ihre Freund¬
schaft noch während des letzten Krieges nicht durch Worte, sondern durch
Thaten bewiesen hatten. Die einzige heiß gesuchte Alliance war für die un¬
zurechnungsfähige Majorität der Nationalversammlung, dieses Kind eines
unglücklichen Schicksals, die Alliance mit dem unfehlbaren Papstthum, mit
dem Unsinn, mit dem Rückschritt. Aber niemals hat sich eine Nation aus
großem Unglücke erhoben durch den Bund mit dem Rückschritt; immer nur
durch die Freiheit, immer nur indem sie es in der Freiheit, unter welcher be¬
sonderen Form dies auch sein mochte, den andern um mehrere Schritte zuvor^
zuthun suchte. —
Vom 7. Juli ab beschäftigte das Gesetz über die Organisation der Gene¬
ralräthe die Nationalversammlung. Diese Generalräthe der Departements
— eine Art Provinziallandtage - hatten immer bestanden, aber in äußerster
Abhängigkeit von der Centralregierung. Die monarchistischen Parteien waren
jetzt der Meinung, daß ihr Weizen in der Decentralisation blühe, einer
Meinung, von welcher sie in nicht allzulanger Zeit zurückkommen sollten.
Das Gesetz über die Generalräthe oder die Organisation der Departements
ward am 10. August 1871 mit 609 gegen 126 Stimmen angenomen. Nach
demselben erhielten die Generalräthe der Departements das Recht, ihren Prä¬
sidenten und ihr Bureau zu wählen; ferner sollte danach jeder Generalrats
eines Departements eine ständige Commission aufstellen, welche über die In¬
teressen des Departements wache. Die Linke, welcher das Gesetz nicht weit
genug ging, stimmte gegen dasselbe. — Am 12. October fanden die Wahlen
in die Nativnalräthe statt. Es wurden meist Republikaner und Halbrepubli¬
kaner gewählt, d. h. Leute, welche sich die Republik eben gefallen ließen, weil
sie einsahen, daß auch von ihrem beschränkten Gesichtskreise aus vor der Hand
nichts Anderes möglich sei. Am 24. October traten die Generalräthe zu ihrer
ersten Sitzung zusammen und bestellten ihre Bureaux zum größten Theil im
Sinne des Herrn Thiers; am 11. November wurde diese erste Session der
Generalräthe geschlossen; weitaus die meisten hatten die Gelegenheit wahrge¬
nommen, sich für die allgemeine Wehrpflicht, für den obligatorischen Unter¬
richt in der Volksschule und für die Grundsätze des Freihandels auszusprechen,
— lauter Dinge, die allerdings für Frankreich besonders gesund erscheinen
mußten, denen aber Herr Thiers mit seinem Bourgeoisthum, mit seinem
literarischen Aristocratismus und mit seinem inveterirten ProteetioniSmus nicht
hold sein konnte. — Auf der Insel Corstca war der Prinz Jerome-Napoleon
(Plon-plon in den Generalrats gewählt worden; er rechnete nun stark da¬
rauf, daß er durch allgemeinen Zuruf zum Präsidenten des Generalrathes
von Corsica werde ernannt werden und ließ zum diesem Ende alle Minen
springen. Herr Thiers in seiner ausbündigen Wuth gegen allen Bonapartis-
mus sendete, um diesem erschrecklichen Unglück vorzubeugen, sogleich einen
eignen Commissär, in der Person eines unbedeutenden Bruders des Herrn
Jules Ferry (Mitgliedes der Regierung vom 4. September) nach Corsica und
ließ diesen Commissär zum Ueberfluß von einem Geschwader von Panzerschiffen
begleiten. — Der Prinz Jerome Napoleon ist zu wohl erzogen, als daß er
Begegnungen aufsuchen sollte, die unnütze Unannehmlichkeiten mit sich bringen
könnten. Als er die Annäherung des Herrn Ferry junior und seiner Panzer¬
schiffe erfuhr, benutzte er den angenehmen Umstand, daß ihn der Generalrats
von Corsica nicht mit Enthusiasmus zum Präsidenten wählte, um sofort mit
Entrüstung die undankbare Insel zu verlassen. Der Prätor Ferry junior
fand, als er in Ajaccio ans Land stieg, nichts mehr zu thun; um aber seine
Anwesenheit auf Corsica und die Anwesenheit des Panzergeschwaders an der
Küste einigermaßen zu rechtfertigen, löste er wenigstens den Municipalrath
der Stadt Ajaccio auf und ging dann stolz wieder an Bord. —Bemerkt
muß noch werden, daß die Negierung sich sogleich — natürlich mit vollster
Einstimmung der Nationalversammlung von Versailles, vorbehalten hatte,
in Betreff des Generalrathes des Seinedepartements (Paris) besondere Ma߬
regeln zu ergreifen.
Am 11. Juli 1871 brachten 217 Abgeordnete einen Gesetzentwurf wegen
Entwaffnung der Nationalgarde vor die Nationalversammlung. In der
Reihe der Unterzeichner befanden sich auch die Generale Trochu, Ducrot und
Chanzy. Wenn die allgemeine Wehrpflicht in Frankreich durchgeführt und
die Republik aufrecht erhalten wurde, so war allerdings die Beibehaltung der
Nationalgarde überflüssig, ja widersinnig. Sie ist eine der Zwitteror¬
ganisationen, welche der sogenannten constitutionellen Monarchie entsprechen.
Die Nationalgarde hatte in Frankreich unter Louis Philipp und unter der
zweiten Republik bestanden; das Kaiserreich ließ nur lächerliche Trümmer
von ihr übrig; es wollte nichts kennen als die stehende Armee. Wie Mangel-
haft die Organisation der Nationalgarde auch unter dem Julikönigthum und
der ihr folgenden Republik gewesen war, man kann nicht sagen, daß sie
militärisch ganz ohne Nutzen war. Die Mannschaft Frankreichs, soweit sie
nicht in das stehende Heer eingestellt ward, erlernte wenigstens die Rudimente
des Waffenhandwerks und außerdem blieb sie nicht absolut fern dem Ge¬
danken, daß auch sie bei der Vertheidigung des Landes eine Rolle zu spielen
habe. Die Aussonderung mobiler Detachements war durch das Gesetz vor¬
gesehn. Durch das Militärgesetz von 1868 ward den mobilen Detachements
unter dem Namen der Mobilgarde eine neue Organisation gegeben, welche
aber durchaus auf dem Papiere blieb. Als dann 1870 das militärische Un¬
glück über Frankreich hereinbrach und endlich an eine factische Organisation
der Mobilgarden und der mobilifirten Nationalgarten gegangen ward, konnte
sich doch diese Organisation in nichts von jenen Improvisationen unterscheiden,
wie sie etwa in America während des Bürgerkrieges vorkam. Ja, wenn
man einen Unterschied aufstellen will, so würde es nur dieser sein, daß die
Leiter der Dinge in America in gutem Glauben, mit Vertrauen und mit
Energie ans Werk gingen, während dieselben in Frankreich lange zögernd,
mißtrauisch und eher mit dem Willen, diese Improvisationen in Mißeredit zu
bringen, als ihnen Werth zu verleihen, vorschritten.
In Frankreich war nunmehr, nach Beendigung des Communekrieges die
Aufhebung und Entwaffnung der Nationalgarten mehr ein Werk der Rancune,
als der Nützlichkeit und Nothwendigkeit. Die pariser Nationalgarde, dieses
rothe Gespenst der Herren von Versailles, war ja ohnehin entwaffnet. Man
hätte ohne Weiteres mit dem Fortgang der Entwaffnung zuwarten dürfen,
bis man eine wirkliche neue Heeresorganisation hatte und wenigstens deren
voraussichtliche Leistungsfähigkeit einigermaßen abschätzen konnte. Die Generale
hatten am allerwenigsten Grund, ihren Namen unter eine Gesetzvorlage zu
setzen, welche die Entwaffnung der Nationalgarde herbeiführen sollte; na¬
mentlich die Herren Trochu und Ducrot hätten sich von der Unterzeichnung
fern halten sollen; denn mit Grund durfte man ihnen persönliches Mi߬
vergnügen über die Vorwürfe zuschreiben, die ihnen wegen der ganz schlechten
Organisation und Verwendung der pariser Nationalgarde mit Recht gemacht
worden waren. Die übrigen Unterzeichner des Gesetzvorschlages, waren theils
ganz unzurechnungsfähige Menschen, die man mit der Erinnerung an die
Nationalgarten der Commune, — ees Kommes a trente sous — zu Dingen
hätte treiben können, von denen sich sonst die kühnste Phantasie nichts träumen
läßt, theils waren es schlaue Speculanten auf die Wiederherstellung des alten
— legitimen — Königthums, dessen erstes Bedürfniß selbstverständlich eine
stehende Armee ohne irgend welche fatale Beimischung ist, welche irgendwie
als unabhängig angesehen werden könnte. Mit ungeheuerer Majorität wurde
am 24. August das Gesetz über die successive Auflösung der Nationalgarde
angenommen. Diese Auflösung wurde ohne die Unruhen, welche von mancher
Seite befürchtet waren, noch vor dem Ende des Jahres 1871 durchgeführt.
Der Pact von Bordeaux hatte die Negierr ngsform durchaus in der
Schwebe gelassen; indessen zeigte sich bei verschiedenen Wahlen, daß sich das
Land immer entschiedener der gemäßigten oder conservativen Republik zuneigte;
bei den aufrichtigen Republikanern entstand außerdem die Besorgniß vor den
Wühlereien der Monarchisten, welche schon jetzt das Volk nicht zu der er¬
wünschten Ruhe kommen und größere Beunruhigung in späterer Zeit mit
Sicherheit voraussehen ließen. Bei den gemäßigten Republikanern neueren
Datums trat hierzu noch die Furcht vor den sogenannten rothen Republieanern,
denen Frankreich durch eine natürliche Reaction leicht in die Arme getrieben
werden könnte, wenn die stillen Wühlereien der Monarchisten einmal deut¬
licher ans Licht traten. Die Ueberzeugung, daß die Nationalversammlung
welche aus den Wahlen vom 8. Februar hervorgegangen war, grade gut
genug gewesen sei, um den Frieden zu schließen, daß sie aber in jeder anderen
Beziehung das französische Volk nicht mehr repräsentire, gewann immer mehr
Verbreitung. — Aus diesen Ansichten ging der Antrag, welcher den Namen
des Abgeordneten Rivet (Departement Correze) trägt hervor, welcher am
12. August vor die Nationalversammlung gebracht ward. Danach sollten
die Vollmachten des bisherigen Chefs der Executive, Herrn Thiers, unter
dem Titel eines Präsidenten der Republik auf drei Jahre verlängert werden;
wenn aber die Nationalversammlung sich früher auflöse, nur auf solange,
bis die neue Versammlung an ihrer Stelle constituirt sei; der Präsident als
Chef der executiven Gewalt sollte jeden seiner Acte durch einen Minister
contrasigniren lassen. Der Antrag ward an eine Commission gewiesen und
erhielt hier unter dem Einfluß des Legitimisten Admet und des Orleanisten
Vitot, welcher letztere zum Referenten ernannt ward, eine Gestalt, welche
eigentlich das Gegentheil des ursprünglichen Antrags Rivet war. — In dem
Commissionsantrag affirmirte die Nationalversammlung vor allen Dingen ihre
constituirende Gewalt und ihre S o no e ran etat. womit sie sich doch
implicite ihre Permanenz sicherte, so lange es ihr nicht selbst gefiel, sich auf.
missen. Allerdings sollte nun Herr Thiers den Titel „Präsident der Republik"
annehmen, doch sollten seine Vollmachten nicht auf drei Jahre verlängert
werden, sondern er sollte dieselben unter der Autorität der Nationalversamm¬
lung ausüben, die ihn demgemäß ohne Weiteres abberufen konnte. Der
Präsident der Republik sollte die von der Versammlung beschlossenen Gesetze
verkündigen, ihre Ausführung veranlassen und controliren. Es ward ihm
auch gestattet den Berathungen der Versammlung beizuwohnen, nach vor¬
heriger Benachrichtigung derselben. Außerdem hatte Herr Thiers das Recht,
seine Minister zu ernennen und zu entlassen, welche ebenso, wie er selbst der
Versammlung verantwortlich sein sollten.
Die Regierung erhob gegen diesen gefährlichen Antrag eigentlich keinen
Einwand. Der Justizminister Dufaure verlangte nur die Einfügungen eines
ausdrücklichen Vertrauensvotums für Herrn Thiers. Dieser hatte offenbar
wieder ein zu großes Vertrauen in seine parlamentarische Geschicklichkeit.
Am 30. und 31. August ward der Commissionsantrag in der Nationalver¬
sammlung , wie man sich denken kann, sehr lebhaft debattirt. In der That
alle Gegensätze der Parteien treten hier scharf ans Licht. Souveränität des
Volks und Souveränetät der Versammlung, — schleunigste Auflösung und
Permanenz der letztern, -- Vollmacht zum Constituiren oder nicht — Re¬
publik und Freihalten des Bodens für monarchistische Wühlereien, so lange
die Monarchie noch nicht einfach declarirt werden kann. Das ganze Gesetz,
von nun ab unter dem Namen des Gesetzes Rivet-Vitet bekannt, ward, ein¬
begriffen das Amendement Dufaure, am 31. August mit 491 Stimmen gegen
nur 93 angenommen. Herr Thiers hatte sich der Abstimmung über den
Punkt der constituirenden Gewalt enthalten, die Windfahne aber, welche da¬
mals Unterrichtsminister war, Herr Jules Simon, dieses Mädchen für Alles,
was zwischen Internationale und absoluter Monarchie liegt, stimmte für die
constituirende Gewalt der Nationalversammlung. Das sicherste Resultat der
Abstimmung vom 31. August war, daß die monarchistische Partei wieder
einen großen Schritt auf der Bahn gethan hatte, ihre Uebermacht zu befestigen
und schließlich über die Geschicke des ermüdeten Frankreichs zu entscheiden.
Wir glauben, daß dieses Resultat nicht erreicht worden wäre ohne die wind¬
mühlenartige Beweglichkeit und den eitlen Geschickltchkeitsdusel des Herrn
Thiers und seiner ergebensten Anhänger. Schicksal! der Mann, in welchem
Frankreich beim Friedensschluß nothwendig seinen Retter sehen mußte,
stand nicht auf der Höhe seiner Aufgabe; auch bei dieser Gelegenheit hatten
die Monarchisten der Versammlung einen bedeutenden Theil ihres Ueberge¬
wichtes der reactionären Zoll- und Finanzpolitik des Herrn Thiers zu ver¬
danken. Dieser, welcher nunmehr den Titel „Präsident der Republik" führte,
während die Rechte der Nationalversammlung streng darüber wachte, daß
nicht etwa das Land, dessen Präsident der Präsident einer Republik war, für
eine Republik erklärt werde, — dieser hielt es für angemessen, sich bei der
Nationalversammlung für das Votum vom 31. August zu bedanken und
ernannte am 2. September Herrn Dufaure zum Vicepräsidenten des Mi¬
nisterraths.
Am 4. September 1870, drei Tage nach Sedan, war in Paris die Re¬
publik erklärt worden. Die Männer des 4. September wurden, seit es eine Na¬
tionalversammlung gab, von deren Majorität scheel angesehn. Einige von ihnen,
in erster Reihe Herr Jules Simon, machten sich klein, legten sich vor der monar¬
chistischen Majorität nieder, um ihr kleines Ministerdasein zu fristen, verblen¬
det genug, trotz aller Schlauheit, daß ihre Erniedrigung ihnen Gnade vor den
Augen jener Majorität bringen könne. Schon am 24. August 1871 verbot die
republikanische Regierung strenge jede Feier des 4. September, des Jahrestags
der Erklärung der Republik und in Paris traf sie Vorbereitungen, um jedem
Zuwiderhandeln wider ihr Verbot gewaltsam einen Dämpfer aufsetzen zu
können. Was hat Herrn Thiers und den Seinigen alle diese unmännliche
Kriecherei genützt? Unter den beständigen Präoccupationen der Majorität
befand sich auch diese, daß ja nicht Paris wieder als Hauptstadt Frankreichs
anerkannt werde und daß jeder Schein vermieden werde, als ob Paris die
Hauptstadt Frankreichs sei. Aus dieser Präoccupation ging der Antrag
Ravinel hervor, demzufolge alle Ministerien definitiv nach Versailles verlegt
werden sollten. Die armen Schächer sahen nicht ein, daß dies einfach un-
möglich sei. Die Minister mit ihren Leibbedienten konnten schon in Versailles
ein Unterkommen finden. Aber ein Ministerium in einem großen Lande,
insbesondere, wenn dasselbe in seiner Verwaltung so centralisirt ist, wie
Frankreich, läßt sich nicht unter dem ersten besten Zelte unterbringen. Mochte
nun also beschlossen werden, was da wollte, die eigentliche Arbeit des Mi¬
nisteriums mußte doch in Paris geschehen; man kam also mit diesem Be¬
schlusse, wie in ähnlichen Fällen sehr oft zu gleichem, nur zu dem Erfolge,
daß die Minister mit ihren sehr entbehrlichen Unterbedienten nach Ver¬
sailles übersiedelten und daß dadurch die Arbeit der Ministerien auf eine ganz
unerhörte Weise complicirt und erschwert wurde. Diese Complication und
Erschwerung lag jedenfalls nicht im Interesse Frankreichs. Allein, was ver¬
standen überhaupt die Mitglieder der Nationalversammlung und besonders
die der unglücklichen Majorität, von Geschäften. Die blinde Wuth mußte
ihnen alle Geschäftskenntniß ersetzen. Wie konnten sie sonst auf die unsinnige
Idee kommen. Paris durch Versailles ersetzen zu wollen, die Weltstadt
Paris durch einen ihrer Beschlüsse decapitalisiren zu können. Am 8. Decem¬
ber ward in der Nationalversammlung noch ein Anlauf genommen, das Ge¬
setz Ravinel vom 8. September zu Fall zu bringen. Dieser Anlauf ging
merkwürdiger Weise von dem Orleanisten Grafen Duchatel (gewählt im De¬
partement Charente-inse'rieure) aus. Derselbe trug auf die Uebersiedelung
der Executive, der Ministerien und der Nationalversammlung nach Paris an,
obgleich er früher dagegen gestimmt hatte. Er verlangte die Erklärung der
Dringlichkeit für seinen Antrag; dieselbe ward unter großem Halloh verwor^
fen; in der Debatte wurden von der Rechten auch Herrn Thiers, der oftmals
ZU erkennen gegeben hatte, daß es ihm schwer sei fern von Paris zu leben,
wieder recht nette Liebenswürdigkeiten gesagt. Paris wird sich ohne Zweifel
in einigen Jahren damit befreunden, nicht die Capitale der „Ruraux" zu sein
und wird begreifen, daß es dies ganz gut aushalten kann. Dann wird es
aber sicher den Monarchisten der „alten Parteien" erst recht gefährlich sein.
Am 3. August 1871 hatte Frankreich die erste Milliarde seiner Kriegs-
contribution an Deutschland abbezahlt; die deutsche Occupationsarw.ce war
auf 150,000 Mann reducirt worden. Gleichzeitig waren Unterhandlungen im
Gange, welche eine weitere Reduction der deutschen Occupation in Frankreich
und des von den Deutschen oceupirtcn französischen Gebietes bezweckten, wäh¬
rend in Verbindung damit der finanzielle Uebergang Elsaß-Lothringens aus
französischen in deutsche Hände erleichtert werden sollte. Es kam hierbei vor
allen Dingen darauf an. die neue Zollgrenze zwischen Elsaß-Lothringen und
Frankreich nicht allzu plötzlich und allzu scharf belastend hervortreten zu lassen.
Deutschland, ohne seine Interessen zu vernachlässigen, benahm sich bei dieser
Gelegenheit sehr coulant, und schon am 15. September konnte der National¬
versammlung ein Gesetzentwurf vorgelegt werden, der nach allen vernünftigen
Annahmen von ihr hätte angenommen werden müssen, da er einerseits dem
Handel und der Industrie von Elsaß-Lothringen bedeutende Bordseite ver¬
schaffte und diesen abgetretenen Provinzen die Uebergangsperiode leichter machte,
da er andrerseits die Reduction der deutschen Occupationsarmee auf 50.000
Mann und die sofortige Räumung der vier Departements Aisne, Aube, Este
d'or und Jura einschloß. Franzosen, welche sich in Elsaß-Lothringen Sym¬
pathien für die Revanche erhalten wollten, welche zufrieden sein mußten,
wiederum vier Departements von der Anwesenheit der verhaßten Prussiens
befreien zu können, hätten diesem Vertrage, sollte man meinen, ohne viel
Splitterrichterei sofort zustimmen sollen.
Allein die Herren zu Versailles schwelgten eben jetzt im Vollgefühl ihrer
constitutrenden Gewalt und ihrer Souveränetät; was kümmerte sie Frankreich,
sie hatten genug mit ihrem Parteihader zu schaffen und die Majorität genug
mit ihren Ideen der Wiederherstellung der Monarchie, welche in ihren Augen
das erste Bedürfniß Frankreichs war. Der Vertrag ging daher aus der
Debatte vom 16. September in einer Gestalt hervor, welche von einer ein¬
fachen Ratification oder Gutheißung sehr verschieden war. Und doch waren
die Unterschiede wieder sehr unklare und mehr nominelle als thatsächliche,
außerdem wurde Herr Thiers ermächtigt, jeden Vertrag zu ratificiren, welcher
den Artikeln des Beschlusses vom 16. September entspreche. Am gleichen
Tage vertagte sich die Nationalversammlung bis zum 4. December. Herr
Thiers, so unsympathisch er wegen seiner Gensdarmenseele sein mag, war
und ist doch ein viel besserer Patriot als die Herren, welche die Majorität
der Nationalversammlung bilden. Die schnöde Behandlung, welche dem von
ihm mit Deutschland vereinbarten Bertrage in Versailles zu Theil wurde,
hätte ihn bestimmen können, die Sachen gehen zu lassen, etwa nur um seinen
Gegnern zu zeigen, was dabei herauskomme. Doch er adoptirte dieses System
keineswegs, arbeitete vielmehr rüstig fort an der weiteren Befreiung des
französischen Territoriums von der fremden Occupation. Er hielt sich, was
ihm hoch anzurechnen ist, frei von jeder Animosität über die Feindschaft und
insigne Stupidität der Mehrheit der Versammlung.
Schon am 8. October reiste der Finanzminister Herr Pouyer-Quertier
nach Berlin ab, um auf der Grundlage der Beschlüsse der Nationalversamm¬
lung vom 16. September dort neue Unterhandlungen anzuknüpfen, und schon
am 12. October konnte er dort zwei neue Conventionen unterzeichnen, welche
allerdings an dem früheren Vertrage nichts irgend Wesentliches änderten, aber
doch den Herrn von Versailles eine kindische Befriedigung bereiten konnten,
den einen über die künftigen Zollverhältnisse zwischen Elsaß-Lothringen und
Frankreich, den andern über die Reduction der deutschen Besatzungsarmee in
Frankreich. Frankreich verpflichtete sich nun die letzte Hälfte der zweiten
Milliarde Kriegscontribution und 150 Millionen Zinsen für die noch übrig
bleibenden drei Milliarden Kriegscontribution, zusammen 660 Millionen ab¬
zubezahlen mit je 80 Millionen Francs am 15. Januar, 1. Februar, 15. Februar,
1. März, 16. März. 1. April und 16. April und mit 90 Millionen Francs
am 1. Mai. Dagegen wollten die Deutschen sofort ihre Occupationsarmee
auf 60,000 Mann reduciren, und nunmehr die sechs Departements Aisne,
Aube, Code d'or, Häute Saone, Doubs und Jura vollständig räumen, unter
dem Borbehalt, dieselben wieder zu besetzen, falls die Franzosen ihre Zahlungs¬
termine nicht einhielten.
Als am 4. December 1871, nach ihrer Vertagung, die Nationalversammlung
wieder zusammengetreten war, ward auch der regelmäßige diplomatische Ver¬
kehr zwischen Frankreich und Deutschland wieder hergestellt. Herr Thiers er¬
nannte den legitimistischen Vicomte de Gontaut-Biron (Deputaten der Nieder-
Pyrenäen) zum Botschafter in Berlin und nachdem dieser dem deutschen
Kaiser seine Creditive überreicht hatte, wurde deutscherseits der Graf Arnim,
welcher sich bisher nur in außerordentlicher Mission in Paris aufgehalten
hatte, als ordentlicher Botschafter bei der französischen Regierung beglaubigt.
Die Generalräthe der Departements, welche am 11. November auseinander¬
gegangen waren, hatten den Erwartungen, welche die monarchistische Majo¬
rität der Nationalversammlung im Sinne der Decentralisation, wie sie die¬
selbe verstand, ursprünglich von ihnen hatte, nur wenig entsprochen. In
diesen Generalräthen überwog entschieden jenes Element des gesunden Menschen¬
verstandes, welches endlich einmal Ruhe vor den Prätendenten und ihren seil¬
tänzerischen Anhängern verlangte, das Element der gemäßigten Republik.
Die Generalräthe hatten sich wenn auch unter verschiedenen Formen, die sie
grade für erlaubt hielten, über drei Dinge sich entschieden und deutlich aus¬
gesprochen. Sie verlangten die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, sie
erklärten sich gegen die Schutzzöllneret des Herrn Thiers für den Freihandel
und sie forderten den obligatorischen Unterricht in der Volksschule. Diese
letztere Forderung ist allerdings eine der wichtigsten für Frankreich. Der
unentgeltliche Unterricht ist für jedes Land, wenn man die Dinge bei Licht
besteht, nur eine secundäre Frage. Der obligatorische Unterricht entwickelt
alle Fähigkeiten des Volkes ohne Unterschied und die allgemeine Wehrpflicht
wird ohne ihn immer nur eine Redensart bleiben. Aber es ist absolut noth'
wendig, daß der Staat den obligatorischen Volksschulunterricht als eine Sache
betrachte, die ihn angeht und nicht die Priester, die er daher diesen aus den
Händen nehmen muß.
Gestützt auf die vielen Meinungsäußerungen der Generalräthe brachte
der Unterrichtsminister, Herr Jules Simon, am 16. December seinen Entwurf
eines neuen Volksschulgesetzes vor die Nationalversammlung. Herr Jules
Simon ist einer jener hohlen Menschen, welche den Stil über die Sache stellen,
von der Sache eigentlich nichts wissen, kein Gefühl für dieselbe haben, aber
sich mit schönen Redensarten über diesen Mangel hinweghelfen. Solche
hohle Menschen existiren nicht blos in Frankreich, sondern in allen Ländern.
Es ist möglich, daß sie in Frankreich etwas mehr Aussicht auf Erfolg haben,
als anderswo, weil in Frankreich mehr als anderswo auch für die Massen
die Form, in der die Dinge dargestellt werden, einen hohen Werth hat. Herr
Jules Simon hatte das zweite Kaiserreich vielfach wegen der Vernachlässigung
des Primarschulunterrichtes angegriffen; jetzt nun, da er Minister war und
etwas für die Durchführung der von ihm früher vertheidigten Meinungen
hätte thun sollen, legte er der Nationalversammlung einen Entwurf vor. der
— näher angesehen, practisch beleuchtet, — alles beim Alten ließ, dem Clerus
factisch nichts von seinem Einfluß auf die Volksschule nahm. — Für den
gesunden Menschenverstand giebt es eigentlich nichts Dümmeres als diesen
Entwurf. Allein Herr Jules Simon vermochte durch die -niedrige Dummheit,
welche er beging, doch nicht die Gnade der monarchistisch-elericalen Partei
auf sein sündiges Haupt hinabzuziehen. Seine Vorlage ward an eine
Commission gewiesen, die fast nur aus Legitimisten und Elericalen bestand
und zu deren Präsidenten der wilde Bischof von Orleans, der Mann vom
heiligen Tornister, kurz Monseigneur Dupauloup ernannt ward.
Während wir dieses schreiben, liegt vor uns das Generalbudget Frank¬
reichs für das Jahr 1874. In demselben finden wir an Ausgaben für die
öffentliche Schuld und Dotationen 1210,574,401 Fres.; dann für Landarmee
und Marine zusammen 639,433,978 Fras.; daneben für das Ministerium
des öffentlichen Unterrichts, des Cultus und der schönen Künste 96.076,068 Fras.
Der Abstand zwischen diesem Ministerium und den vorhergehenden ist an und
für sich groß. Aber wir haben da vor uns ein sehr complicirtes Ministerium
des öffentlichen Unterrichts, des Cultus und der schönen Künste. Der offene>
liebe Unterricht steht allerdings voran, aber was mag von dem Budget für
das complicirte Ministerium wohl auf ihn kommen?
Wir finden unter unseren Händen ein höchst interessantes Heft, welches
im Jahre 1869 veröffentlicht wurde, um dem französischen Volke die
Segnungen recht klar zu machen, welche das zweite Kaiserreich über dasselbe
gebracht habe. Dieses Heft: ,,?roFrös as la Trance sous le Aouvernewellt
lap6ria1" giebt über manche Verhältnisse besseren Ausschluß als ein gewöhn¬
liches Budget, und es möge uns gestattet sein, einige Zahlen aus demselben
zu citiren. Wir finden in diesem interessanten Heft, daß die Einnahmen
Frankreichs — natürlich durch Erhöhung und Vermehrung der Steuern —
sich von 1851 bis 1866 um 745 Millionen vermehrten. Von den 745 Mill.,
um welche das Einnahmebudget 1866 größer war als 1851, wurden verwendet
mehr als 1861 für die Gehaltsaufbesserung des Personals des katholischen
Cultus jährlich Francs 6.548.000, für Gebäude zum Nutzen des katholischen
Cultus und für Extraordinaria 4,376.000 Francs; zu Gunsten der nicht
katholischen Culte 37,500 Fr.; für Gehaltsaufbesserungen der Lehrer und
übrigen Beamten des öffentlichen Unterrichts 3,248.000 Fr.; für andere
Bedürfnisse des öffentlichen Unterrichts und für Schulhäuser 2.221,000 Fras.
— Im Jahre 1851 wurden für den gesammten öffentlichen Primarunterricht
in Frankreich vom Staat, den Departements und den Communen zusammen
37 Millionen Francs ausgegeben; im Jahre 1865 73 Millionen. Mit dieser
Summe mußte den Bedürfnissen von 4,515,967 Schülern genügt werden.
Auf 100 Schüler kommen demnach etwa 1600 Fras., gradezu eine erbärmliche
Summe. Und wieviel von der Vermehrung dieses Primarschulbudgets fiel
zum großen Schaden der bürgerlichen Erziehung dem Pfaffenthume zu?
Dieses ist schwer festzustellen, aber wer Frankreich kennt, wird unbedingt mit
uns antworten: das Meiste.
Man bedenke, daß für den Secundärunterricht von 909 Instituten 279
vom Clerus geleitet waren und daß diese 279 vom Clerus geleiteten Institute
beinahe ebensoviele Schüler zählten als die 630. welche sich in weltlichen
Händen befanden. Das Budget des Cultus stieg von 1851 bis 1869 von
42.576.550 Fras. auf 53.674.386 Fras.; hauptsächlich. wie sich von selbst
versteht, kam die Vermehrung dem katholischen Cultus, seinem Personal und
seinen Gebäuden zu Gute. Für die schönen Künste und für die Gestüte, die
ja bis 1870 auch unter das Budget des Cultus fielen, wurden sehr erhebliche
Summen aufgewendet. Man kann also ungefähr berechnen, was von dem
complicirten Budget des Cultus, der schönen Künste und des gesammten
öffentlichen Unterrichts — den begünstigten höheren einbegriffen, auf diesen
letzteren kommen mag. — Im Jahre 1869 belief sich die Summe, welche der
Staat für das ganze Ausgabebudget des Unterrichts verwendete, auf
26,107.421 Fras. Diese Summe ist nicht erhöht worden seitdem. Grade in
Frankreich wäre das doch höchst nothwendig; während die sogenannten
leitenden Classen durch die Regierung Louis Philipp's und dann durch das
zweite Kaiserreich bis aufs Mark corrumpirt sind, findet sich in den minder
begünstigten Classen des Volkes ein wahrer Schatz von Rechtschaffenheit,
Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Familiensinn und natürlicher Intelligenz, wie er
vielleicht in keinem anderen Lande Europas anzutreffen ist. Die Regeneration
Frankreichs beruht wesentlich auf der Entwicklung der Fähigkeiten der niederen
Classen, auf ihrer Bildung. Es erheben sich ja finanziell Leute genug
aus diesen Classen, aber es fehlt ihnen dann immer das Selbstvertrauen, die
Leitung der Geschicke ihres Landes selbständig in die Hand zu nehmen.
Wir möchten nicht sagen, daß es die Aristokratie der Wissenschaft in
Frankreich ist, welche sich theils gleichgültig, theils abwehrend gegen die all¬
gemeine Volksbildung erhebt. Es ist vielmehr die Aristokratie des Stiles —
und in der Uebertreibung und Parodie die Aristokratie der Phrase. Herr
Jules Simon ist ein Mitglied der Aristokratie der Phrase und von Allem,
was er gegen das zweite Kaiserreich für den Volksunterricht vorgebracht hat,
hat er nie in seinem Leben irgend etwas gefühlt. Herr Thiers gehört der
Aristokratie des Stiles an; der vernünftigste Gedanke von einem Arbeiter in
mittelmäßigem Französisch ausgedrückt empört ihn, diesem guten Gedanken
wird er nie gerecht werden, während er möglicherweise sich vor einer
Dummheit beugen würde, die in academischen Französisch entwickelt würde.
Grade die entwicklungsfähigen Classen in Frankreich, diejenigen, auf welchen
Frankreichs zukünftiges Wohl beruht, sind durch diese und ähnliche Verhält¬
nisse auf die äußersten Mittel angewiesen, um sich die ihnen gebührende
Geltung zu verschaffen, um nur die Wege zu öffnen, auf denen sie zu dieser
Geltung gelangen können. Wir mögen sagen: leider! aber die Thatsache wird
durch dieses: leider! nicht im mindesten geändert.
Herr Thiers schloß das Jahr 1871 ab mit seltsamen Reden über Finanz¬
fragen, namentlich am 27. December mit einer wüthenden Philippina gegen
die Einkommensteuer.
Die Reconstitution Frankreichs machte im Jahre 1871 keinen Schritt
vorwärts. Das Schicksal hatte gewollt, daß die Leitung Frankreichs in die
Hände einer Kammermajorität gegeben ward, welche ursprünglich nur bestimmt
war, Frieden zu schließen, und in die Hände eines eigensinnigen reactionären
alten Mannes, der von der neusten Entwickelung Europas durchaus nichts
wissen will. Das Unglück hatte es gewollt, daß dieser eigensinnige David
Frankreich als sein bester Mann erscheinen mußte. Sein Patriotismus war
unbestreitbar und — im Vergleich mit der Majorität, welche aus den Wahlen
vom 8. Februar 1871 hervorging, war er immer noch einigermaßen vernünf¬
tig. Man muß so sprechen, wenn man keine Parteirücksichten zu beobachten
hat, wenn man die Weltgeschichte beobachten will. Zwischen dem alten eigen¬
sinnigen, aber wenigstens gebildeten reactionären Bourgeois Thiers und einer
fast thierischen Junkermajorität in der Kammer stellte sich alsbald ein Wider¬
streit heraus, dem der Freund Frankreichs nur mit Schmerzen zusehen konnte.
Man mußte gegen die vollständig unzurechnungsfähige, von einigen der eor-
rumpirtesten Intriganten und eitelsten Schwachköpfe. Broglie, Changarnier.
Audiffret-Pasquier u. s. w. geleitete Majorität eigentlich für den gebildeten,
aber bornirten Bourgeois Thiers Partei nehmen. Allein! wie schwer ward
dieses wieder!
Gegen das Versailler Unglück reagirte das verständige französische Volk in
theils unsinniger, bedauerlicher, thätiger Weise, theils in höchst vernünftiger,
aber leider zu passiver Weise, wie einmal die Verhältnisse lagen. In der be¬
dauerlichen, aber thätigen Weise durch den Pariser Communekrieg, in der
vernünftigen, aber passiven Weise durch die immense Arbeit, an welche sich
das Volk in den Departements sogleich wieder begab, als kaum der Friede
geschlossen war, und an welcher es mit der Gleichgültigkeit, welche die Noth
des Einzelnen gegen das Allgemeinwohl erzeugt, auch während des Commune¬
krieges blieb, durch diese immense Arbeit, welche so große Triumphe an der
Wiener Weltausstellung von 1873 feierte. — dann durch die Wahlen, für
die Municipalitäten, für die Generalräthe, für die Ergänzung der National¬
versammlung von Versailles, Wahlen, welche den Volkswillen deutlich genug
documentirten. Aber was kümmerten diese Wahlen die Herren zu Versailles.
Diese sagten einfach, man müsse die Wahlgesetze „verbessern", d. h. so abän¬
dern, daß die Wahlen zu ihren Gunsten ausfallen müßten. — und sie wer¬
den schwerlich jemals anders denken lernen, als bis eine große Revolution
von oben oder unten sie für immer wegschwemmt.
Die Keime der Dinge, welche sich 1872 und 1873 bis heute entwickeln
sollten, sind in allen Hauptzügen schon 1871 sichtbar.
„Die Zeiten, wo das Großherzogthum Posen auf dem Leuchter stand und
ganz Polen durch Bildung und Wissenschaft vorleuchtete, sind unwiederbringlich
vorüber. Das sich auf den Schauplatz der Oeffentlichkeit drängende neue Ge¬
schlecht erweckt keine Hoffnung für die Zukunft. In dem unaufhörlichen
Kampfe mit dem deutschen und jüdischen Element räumen wir den Gegnern
das Feld. statt daß wir aus dem unversieglichen Lebensquell unserer
Nationalität neue Kräfte schöpfen sollten. Gott hat uns über das „Stück"
Erde zu Hütern gesetzt und darum wäre es unsere Aufgabe, es mit allen
Kräften zu vertheidigen. Doch anders faßt der große Haufe diesen Kampf
auf, anders geschieht es bei uns im Großherzogthum. Wir selbst bahnen
den Deutschen den Weg nach Warschau (!). und wenn sie die Hauptstadt
Polens heute noch nicht beherrschen, so ist dies nicht unser Verdienst, sondern
es ist lediglich der Vorsehung zu verdanken, die uns wunderbar vor gänzlicher
Ausrottung schützt."
So klagt ein polnisches Blatt über den Verfall des Polenthums in der
Provinz Posen. Aehnlich lauten die Berichte aus Galizien, obwohl dort von
Seiten des Staates den Deutschen nicht der geringste Vorschub geleistet wird,
von Russisch-Polen zu geschweigen, wo die polnische Sprache und das polnische
Volksthum systematisch unterdrückt wird.
Wie rechtfertigen sich diese Klagen aus dem eigenen Lager in der preu¬
ßischen und seit drei Jahren auch unzweifelhaft deutschen Provinz Posen?
Die Polen besitzen nur einen einzigen nationalen Erwerbszweig, es ist
die Landwirthschaft. Jeder Mißerfolg, jeder Unfall, jeder Verlust auf diesem
Gebiet bedeutet eine Schwächung, eine Verringerung der ganzen nationalen
Lebensbedingungen. Nun, die Polen der Provinz Posen haben seit einer
langen Reihe von Jahren fast nur Verluste in dieser Richtung zu verzeichnen;
in den letzten Monaten nehmen diese einen Umfang an. wie früher noch nie.
Schon seit der preußischen Besitznahme im Jahre 18is ging fort und fort
von den großen Landgütern und Herrschaften eins nach dem andern aus
polnischem in deutschen Besitz über. Schon vor zehn Jahren war der Um¬
fang des Rittergutsbesitzes der Deutschen größer als der des Großgrund¬
besitzes der Polen. Nur war der Bodenwerth bet diesen wohl noch höher,
als bei jenen, denn auf fettem Lehmboden konnten sie sich besser halten.
Der erste Gegenstoß gegen dieses nationale Verhängnis; wurde von den
Polen dadurch geführt, daß ihre Aristokratie ihre Kapitalien in posenschen
Gütern anlegte. So kamen die Fürsten Czartoryski und Sapieha, die Grafen
Plater u. a. in das Posensche. Aber die deutsche hohe Aristokratie fand
trotz der außerordentlich steigenden Güterpreise es auch immer noch vortheil¬
haft, ihre überschüssigen Kapitalien ebenfalls in posener Gütern anzulegen.
Und so giebt es jetzt wenige regierende deutsche Fürstenhäuser, von denen sich
nicht Mitglieder dort angekauft hätten; neben ihnen finden sich noch viele
andere Fürsten, Prinzen, Grafen u. f. w. So ist Graf Otto von Stolberg-
Wernigerode seit 1863 durch Kauf von meistens polnischen Vorbesitzern, nach
dem Fürsten von Thurn und Taxis, der größte Grundbesitzer des Kreises
Krotoschin.
Neben dem deutschen Adel kamen auch deutsche Kaufleute und Industrielle.
Der Hamburger Holzhändler Beyme erstand die ausgedehnte Herrschaft
Opalenitza und der bekannte Groß-Unternehmer Stroußberg kaufte eine ganze
Reihe von großen Gütern und Herrschaften, darunter die Herrschaft Lissa, die
der Fürst Sulkowskt an ihn veräußerte, und mehrere Güter des Verschwenders
Grafen Grabowski, von dem noch unlängst der Fürst von Pleß eine Herr¬
schaft im Kreise Czarnikau erstand. Bet einer Wettwerbung mit deutschem
Kapital, welches aus Handel und Industrie entströmt, sollen die Polen wohl
immer den Kürzeren ziehen.
Doch der polnische Adel ist kühn und unternehmend. Mit Neid und
Verwunderung sah er, wie der Deutsche, der Jude in Bankgeschäften im
Fluge große Reichthümer sammelt. Er glaubte beiden endlich die Kunst ab¬
gesehen zu haben — er gründete kurz hinter einander zwei Bankgeschäfte, die
Hypotheken-Bank Tellus und die Diskontobank Matecki und Komp. — Das
Unterfangen, mit nationaler Leichtfertigkeit begangen, mit nationaler Leicht¬
fertigkeit fortgeführt, sollte ihn zum Verderben gereichen. Seit einigen
Monaten sind beide Geschäfte bankerott und die Unternehmer nebst allen, die
mit ihnen im Zusammenhange standen, sind mit in den Sturz verwickelt.
Namentlich alle diejenigen Gutsbesitzer, welche Grundanlehen von dem Tellus
erhielten, müssen dieselben jetzt, wo das Geld so schwer zu erlangen ist, baar
zurückerstatten. Im Unvermögensfalle werden ihnen die Güter subhastirt.
Diesem Schicksal verfällt denn jetzt fast jede Woche das eine oder das andere;
außerdem werden viele aus freier Hand verkauft. Käufer sind meistens
Deutsche. Im Kreise Wongrowitz sind z. B. kurz hinter einander vier große
polnische Güter in den Besitz von Deutschen übergegangen.
Das Unglück der Polen ist groß, und man könnte es mit Mitgefühl
betrachten, wenn sie endlich in sich gingen und für die Zukunft eine Lehre
daraus entnahmen, anstatt nur vermehrten Haß gegen die Deutschen und
gegen das Deutschthum daraus zu schöpfen. An ihrer Stelle wollen wir
Grund und Quelle des gegenwärtigen Unglücks insbesondere, des Verfalles
der höheren Klassen der ganzen Nation im allgemeinen untersuchen.
Als nächster Grund stellt sich sofort die allgemein verbreitete UnWirth-
schaftlichkeit und Verschwendungssucht heraus. Beides entspringt aber dem
Mangel an Geistesregsamkeit und Geistesbildung. Es fehlt dem polnischen
Edelmann deshalb die Einsicht in das wirthschaftliche Getriebe und die Lust
an geistiger, wie überhaupt an jeder Arbeit, dagegen ist der maßlose Hang
zu sinnlichen Vergnügungen allgemein mit einem solchen Geisteszustande ver¬
bunden und bei den polnischen Edelleuten heimisch.
Dieser Hang kann nicht ohne Ausartung bleiben und bringt dann min¬
destens Zerrüttung der Vermögensverhältnisse z. Th. auch der Gesundheit,
und zerstört mehr oder weniger den sittlichen Halt, indem er aus dem rui-
nirten Edelmann in allmählicher Steigerung einen Abenteurer, einen Lungerer,
einen Schwindler, einen Verbrecher macht.
Die polnischen Frauen schlagen einen ganz verschiedenen Weg ein. Die
wenigsten von ihnen und jetzt wenigere, als jemals, beschäftigen sich mit
Büchern, an denen sie in den Pensionsanstalten Geschmack gewonnen haben
— selbstverständlich nicht mit deutschen, sondern mit französischen, zumal es
polnische nicht eine so große Anzahl giebt. Sie lesen alles durcheinander, am
meisten zwar Romane, aber auch Geschichtswerke. Gedichte, politische Zeit¬
schriften, Broschüren und Bücher, wissenschaftliche, religiöse, auch wohl
philosophische Werke u. s. w. Von allem verstehen und behalten sie etwas
und sind also auch im Stande, über alles zu sprechen, was vielen deutschen
Männern höchlich imponirt, nur über die Hauswirthschaft nicht, für die sie
sich so wenig interessiren, wie für die Erziehung der Kinder. Beides ist den
„Domestiken" überlassen. Solche Frauen halten den Verfall des Vermögens
und der Familie wenigstens nicht auf.
Bei weitem mehrere beschleunigen ihn aber, indem sie es den Männern
in der Vergnügungssucht und Verschwendung gleich thun oder auch sie darin
übertreffen. Es kann nicht fehlen, daß sie mit ihnen auch das moralische
Herabsinken theilen. Als letzte Zuflucht bleibt ihnen dann immer noch —
die Kirche, bei der sie sich durch maßloses Mitmachen aller möglichen Uebun¬
gen und durch unbegrenzte Unterwürfigkeit gegen die Priester Sühne und
Vergebung ihrer früheren Sünden holen. Ihre heruntergekommenen gelehrten
Stamm- und Standesgenossinnen enden meistens in gleicher Beschäftigung,
wenn auch mit etwas mehr Anstand.
Eine dritte Gattung der polnischen Frauen begibt sich schon früh aus
diesen Weg, indem sie den ihrigen von dem der leichtfertigen Männer trennen.
Sie nehmen entweder den Schleier als Klosterjungfrauen, indem sie ihre ganze
Habe der Kirche zuführen, oder sie bleiben auch in ihrem weltlichen Stande
wenigstens blinde Anhängerinnen der Priester; ihre Söhne erziehen sie zu
Jesuiten oder bornirten Priestern.
In allen den genannten Fällen männlicher oder weiblicher Charakterent¬
wickelung wird, abgesehen von der ganz darniederliegenden Geisteskultur. Ver¬
mögen weder erworben noch vermehrt, sondern nur verbraucht oder doch ver¬
graben.— Eine einzige polnische Familie giebt es in der Provinz, welche
musterhaft wirthschaftet und die ihren Besitz bisher mächtig ausgebreitet hat,
sie besteht aus den Nachkommen des Generals von Chlapowski. Durch den
Konkurs des Tellus ist auch sie in den allgemeinen Verfall mit hineingerissen.
Bei all diesen unabweisbaren Anzeichen und Beweisen, daß alles, was
dem polnischen National-Götzen opfert, unvermeidlich dem Verderben bestimmt
ist, haben die polnischen Nattonaleiferer immer noch nicht genug verlorene
Brüder neben sich, sondern sie wenden fort und fort alle Kräfte und Mittel an,
um alles, was polnisch spricht, mit in den Strudel zu reißen. So begrüßt
ein polnisches Blatt mit großer Genugthuung die Aussicht, daß die Familie
Radziwill nach Verkauf ihres Palais in Berlin „für immer unter ihren Stamm¬
genossen auf der Erde ihrer Vorfahren wohnen" und also mit ihnen — zu
Grunde gehen werde. Namentlich kommt dabei die eifrige Propaganda für
Alt- und Großpolm unter den oberschlesischen Bauern und Arbeitern in Be¬
tracht. Doch sind solche Bemühungen glücklicher Weise ziemlich erfolglos.
Der „Francais", ein Pariser Blatt, dem offiziöse Beziehungen zu¬
geschrieben werden, hat neuerdings wiederholt die Dreistigkeit gehabt, sich bei
Darstellung der Ereignisse und Ursachen, welche zum jüngsten deutsch¬
französischen Krieg führten und an dessen Ausbruch er natürlich Preußen
und Deutschland die alleinige Schuld beimißt, auf die bekannte Schrift
Benedetti's „Ug. Mission en ?ruLse" mit jener Zuversicht sich zu beziehen, mit
der unbestreitbare historische Aktenstücke und Quellenwerke citirt werden. Die
norddeutsche Allg. Zeitung hat dieses Verfahren, welches darin gipfelt, auch
im Jahr 1874 noch die Behauptung zu wagen, daß der berufene Vertrags¬
entwurf Benedetti's, der die Annexion Belgiens vorschlug, und der mit den
eigenen Schriftzügen des französischen Botschafters und mit den eigenhändigen
Randbemerkungen des Kaisers Napoleon in deutschem Gewahrsam sich be¬
findet, „sous In äietöö 6<z Nonsieur ne Lismarli" entstanden sei, sehr milde
einen „Anachronismus" genannt. Der „Francais" hat sich durch diese hu-
mane Charakterisirung eines Verhaltens, das in Deutschland unter Deutschen,
Lüge und Fälschung genannt wird, ermuthigt gefühlt, darin zu beharren
und dafür in den letzten Tag Seiten des Organes des deutschen Kanzlers die
zeitgemäße Erinnerung geerntet, daß Herr Benedetti seine „Enthüllungen"
lediglich aus dem Grunde im besten Zuge plötzlich gestoppt habe, weil der
deutsche Reichsanzeiger ihm bereits 1871 klar gesagt, die Papiere des Herrn
Rouher seien durch den Krieg in deutsche Hände gefallen. Wir wissen
nicht, ob diese Andeutung, die s. Z. Herrn Benedetti's schriftstellerischen Be¬
mühungen in der Fälschung der modernen Zeitgeschichte ein Ziel setzten, für
die Leiter des Francais ausreichend sein wird. Nach den bisherigen Leistungen
dieses Blattes - einem der relativ anständigsten der französischen Tages¬
presse — ist diese Enthaltsamkeit kaum zu erwarten. Um so mehr aber ent¬
steht für die deutsche Presse die Verpflichtung an den der ganzen civilisirten
Welt längst actenmäßig bekannten Vorgang. der hier von französischer Seite
wieder in Frage gestellt wird, diejenigen Urtheile der Ausländer zu knüpfen,
die durch ihre Stellung und Kritik die höchste Beachtung verdienen. Wo die
Mythenbildung so kräftig wuchert, wie gegenwärtig in Frankreich, wo sie auf allen
Gebieten mit derselben Virtuosität gleichzeitig in Scene gesetzt wird: bei den Bin.
tungen stigmatisirter Mägdlein, den Muttergotteserscheinungen auf den Kirsch¬
bäumen , wie in der jüngsten Zeitgeschichte und den göttlichen Missionen der
verschiedenen Prätendenten um den Thron der französischen Republik; da ist
es an der Zeit, die Mitwelt immer wieder daran zu erinnern, daß zwei mal
zwei vier ist, nicht fünf oder sieben.
Unter den unverdächtigen Ausländern, welche sich in ihrer Indignation
über die Unverfrorenheit der Mythenbildung in Frankreich, der jüngsten Zeit¬
geschichte herzhaft angenommen haben, geburt unzweifelhaft dem L o rd D un-
sany und seiner Schrift „Gallier oder Teuton e "*) ein hervorragender
Platz. Die sämmtlichen Abhandlungen dieses Werkes, die allerdings zunächst
an das englische Publikum sich wenden, und vom englischen Standpunkte aus
die Verhältnisse des Continentes beurtheilen, zeugen von ebenso feinem Ver¬
ständniß und gesunder Realpolitik, als von völliger Beherrschung des histo¬
rischen und wissenschaftlichen Materials, welches dabei in Frage kommt. Zum
Beweise dieses unseres Urtheils geben wir nachstehend, unter freudiger Empfeh¬
lung der deutschen Ausgabe des Werkes, die wesentlichsten Stellen desjenigen
Kapitels, welches bei Lord Dunsany die Ueberschrift „Graf Benedetti"
trägt. Er urtheilt folgendermaßen.
„Graf Benedetti ist kein Mann von Bedeutung wie Herr Thiers und
läßt sich mit diesem weder durch die Schärfe seines Verstandes, noch durch
den Einfluß, den er auf seine Landsleute ausübte, vergleichen. Der Name
Benedetti wird jedoch stets mit zwei Ereignissen verknüpft werden, von denen
das eine zu den verhängnißvollsten, das andere zu den schimpflichsten der
Annalen europäischer Diplomatie zählt. Bei dem Bruche Frankreichs mit
Preußen 1870 befolgte er seine Instructionen, Krieg unvermeidlich zu machen,
mit nur zu großem Erfolg. Bei den früheren Verhandlungen 1866 — 67,
dem geheimen Anschlag gegen Belgien, erndtete er für Frankreich alle Schmach,
während der Vortheil, den die projectirte Verrätherei versprach, verloren ging.
Dem letzteren Gegenstande, dem Anschlage des Ex-Kaisers, das befreundete
und ruhige Belgien in Besitz zu nehmen, das zu respectiren ihm ein Vertrag
und die Ehrlichkeit zur Pflicht machten, wird dieses Capitel gewidmet sein.
Die Schuld des Ex-Kaisers ist klar wie irgend eine andere historische That¬
sache bewiesen; eingeräumter Fakta, welche diese Schuld darthun, sind wenige;
sie sind einfach und entscheidend. Sie beleuchten überdteß die Grundsätze des
zweiten Kaiserreiches und zeigen, daß sie wesentlich dieselben waren, wie die
des ersten, und deshalb mit der Sicherheit Europas unvereinbar. Ganz
abgesehen jedoch von ihrer belehrenden Seite und Wichtigkeit, ist die Ge¬
schichte des Benedetti'schen Anschlages so auffallend, so voll sogar von dra¬
matischem Interesse, daß sie der Aufmerksamkeit wohl werth ist. Welches
sind nun die zugegebenen Facta (die bestrittenen vorerst bei Seite lassend),
welche die Absicht Frankreichs feststellen, im tiefen Frieden in das Gebiet
eines befreundeten Nachbars einzufallen und dasselbe wegzunehmen? Erstens
ist zugegeben, daß Frankreich 1866 — 67 „Gebietsentschädigung" für die
deutschen Erwerbungen und die Allianz Preußens im östreichisch-deutschen
Kriege suchte. Graf Benedetti theilt uns mit, daß er angewiesen war, dies
und jenes deutsche Gebiet und Festung, und das Herzogthum Luxemburg zu
verlangen. Er sagt uns weiter, daß Preußen solche Concessionen verweigerte,
und Frankreich vorgeschlagen habe, den gewünschten Ersatz anderswo zu
suchen. Es wird ferner von Benedetti zugegeben, daß die Annexion Belgiens
durch Frankreich der Gegenstand einer Besprechung war; die Anregung hierzu
soll aber von Bismarck ausgegangen sein. Diese Forderungen und die nach¬
folgenden Verhandlungen blieben bis 1870 ohne Resultat. Als Frankreich
in jenem Jahre Preußen den Krieg erklärt hatte, veröffentlichte Graf Bismarck
im Juli „den" geheimen Entwurf zu einem Vertrage zwischen Frankreich und
Preußen; und gab an, daß derselbe von dem französischen Gesandten Benedetti
im Jahre 1867 in Vorschlag gebracht worden sei. Die französische Regierung
läugnete voll Entrüstung die Existenz des Projektes, worauf Bismarck ein
lithographirtes Fac-Sinne des Original-Dokuments, mit all seinen Radirungen,
Korrekturen und Veränderungen veröffentlichte, und dabei bemerkte, daß das
in seinem Besitze sich befindliche Original in Graf Benedetti's Handschrift und
auf das gewöhnliche Kanzlei-Papier der Französischen Gesandtschaft geschrieben
sei. Hierauf gab Benedetti zu. daß das angeführte „Projekt" in seiner
Handschrift sei; behauptete jedoch, daß es nur ein roher Entwurf von ihm
wäre, der die von Graf Bismarck hingeworfenen, von Frankreich aber ver¬
worfenen Andeutungen wiedergebe. Da diese Behauptung durch keinerlei
Beweise unterstützt wurde, so überließ Graf Bismarck, der damals noch nicht
im Besitze der in Cerc^ay weggenommenem Briefe war. diese Ausrede des
Grafen Benedetti dem Urtheil der Welt.
Nach dem Frieden unternahm es Herr Benedetti. seine Sache durch ein
Buch, Meine Mission in Preußen zu vertheidigen, worin er in großer
Länge seine frühere Behauptung gänzlicher Unschuld an dem „Projekte"
wiederholte. Da die Dokumente, welche seine Abläugnungen unterstützen
konnten, noch fehlten, so erklärte er diese Thatsache, indem er angab, dieselben
befänden sich in Herrn Rouher's Händen, der sie nicht im auswärtigen Amte
deponirt habe. Als Antwort veröffentlichte Bismarck gerade die Dokumente,
auf welche sich Benedetti berufen. Dieselben waren von den Deutschen in
Rouher's Hause nahe bei Ceryay weggenommen worden. Diese Dokumente
jedoch, weit entfernt davon, Herrn Benedetti zu rechtfertigen, lieferten gerade
die noch fehlenden Glieder, welche das Vertragsprojekt mit den Instruktionen
seiner eigenen Regierung bezüglich der Erwerbung Belgiens und Luxemburgs
für Frankreich verketteten. Graf Bismarck fügte hinzu, daß er „andere in¬
teressante Papiere" in derselben (Benedetti's) Handschrift besitze, die, wenn es
Noth thäte, veröffentlicht werden würden. Graf Benedetti jedoch versuchte
keine weitere Antwort, und ließ seines Gegners letzte Beschuldigung un¬
erwidert. Dies sind die eingeräumten Thatsachen." Lord Dunsany unter¬
sucht nun, welche dieser Thatsachen Benedetti in seiner Schrift entkräftet habe
und fährt dann fort: „welche Beweise hat er vorzubringen, die seine behaup¬
tete Unschuld und die Schuld des Grafen Bismarck feststellen würden?
Absolut nichts! Seite 194 sagt Benedetti sehr wahr. „Man wird mich
fragen, warum ich nicht meine Correspondenz vom Ende des Jahres 1866
zur Unterstützung meiner Argumente vorbringe? Der Grund ist folgender:
In jenem Augenblicke gab es keinen Minister des Auswärtigen. Herr Nouher
hatte die Correspondenz, die ich mehrere Tage lang mit ihm geführt, nicht
im auswärtigen Amte hinterlegt, weil er es nicht übernommen hatte." Fatale
Behauptung! Graf Bismarck erscheint als Nemesis der Französischen
Diplomatie. Im Jahre 1870 trat er Frankreich mit dem Original-Texte
des skandalösen „Projektes" entgegen, und 1871 rief er die fehlenden Doku¬
mente aus ihrem Berstecke hervor, die seinen Gesandten vernichten sollten.
Diese Documente waren wirklich für Herrn Benedetti verloren, der sehnlichst
gehofft haben muß. daß dieselben das Licht nie wieder erblicken; aber sie
wurden in der Rüstkammer seines Gegners sicher aufbewahrt, um im kritischen
Momente vorgewiesen zu werden. Es ist eine Eigenschaft des starken, un¬
gestümen und etwas herrschsüchtigen Charakters des Grafen Bismarck, sich
sehr klar auszusprechen und gerade aufs Ziel los zu gehen. Seine Antwort
auf Graf Benedetti's versuchte Rechtfertigung war die Veröffentlichung der
eigenen Correspondenz des unglücklichen Gesandten mit seiner Regierung und
der Instruktionen, nach denen er handelte, im deutschen Reichs-Anzeiger.
Die Veröffentlichung fand am 20. Oktober 1871 statt, und wenn jemand
vorher den französischen Ursprung des berühmten Projektes bezweifelt hatte,
so ließ sie für eine solche Ungläubigkeit keine weitere Entschuldigung übrig.
Ein erster Brief vom Gesandten, bei seiner Ankunft in Berlin, an den
auswärtigen Minister Frankreichs ist vom 5. August datirt und bestätigt den
Empfang des „Textes der geheimen Bedingungen". Er spricht den eifrigen
tvurf zu einem Vertrage einschickte, welcher ganz im Sinne jener Instruktionen
abgefaßt war. Der Entwurf ist in Paris mit Zusätzen und Verbesserungen
in einer anderen Hand versehen und nimmt, so geändert, die genaue
Form des bekannten „ Vertr ags-Projektes" an. Man darf wohl
sagen, daß es keines weiteren Beweises bedürfte und kein Beweis so weit
gehen konnte, die Thatsache festzustellen, daß das Vertrags-Projekt in Graf
Benedettl's Handschrift in Uebereinstimmung mit den Instruktionen seiner Re¬
gierung entworfen war. Daher folgt, daß die Behauptung, Graf Bismarck
habe ihn angerathen, gänzlich falsch ist. Jener Minister aber, der die
ganz offizielle Correspondenz zwischen Benedetti und der französischen
Regierung in seinen Händen hatte, hielt es für passend, noch mehr von
den vermeintlich fehlenden Dokumenten ans Licht zu ziehen. Er veröffent¬
lichte den Brief des auswärtigen Ministers von Frankreich, worin er Graf
Benedetti den Empfang des Vertrags-Entwurfes meldet. Er ist auf offi¬
zielles Kanzlei Papier geschrieben. Er spricht von einer Entschädigung an
Holland für den Verlust Luxemburgs*), von den Kosten des Uebereinkommens,
und kommt zurück auf die sofortige Besitznahme von Luxemburg und die
zukünftige Annexion Belgiens nach dem geheimen Vertrage. Die Depesche
ist lang und zeigt in manchen verschiedenen Wendungen, daß die Annexion
Belgiens beim Kaiser feststand. Ein Antwortschreiben von Graf Bene¬
detti vom 29- August, drückt Zweifel darüber aus. ob Graf Bismarck
wirklich entschlossen, seine Rolle in dem geplanten geheimen Vertrage durch¬
zuführen. Benedetti äußert den Argwohn, daß Preußen mit Rußland
in Unterhandlung gestanden, und solche Versprechungen seiner Hülfe erhalten
habe, und geringen Werth auf eine französische Allianz legen dürfte. Dieß
scheint der Anfang des Endes der Intriguen des Grafen Benedetti gewesen
zu sein. Er hatte um diese Zeit seinem Gegner die Waffen in die Hand ge¬
geben, die dieser stets zum Verderben gegen ihn kehren konnte. Er war in
Unterhandlungen hineingezogen worden, die Zeitverlust brachten; Preußen
hatte unterdessen seine Magazine wieder gefüllt, die Lücke, welche der letzte
österreichisch-preußische Feldzug verursacht, ausgefüllt, und sich möglicher Weise
die Allianz Rußlands gesichert. Die Unterhandlungen wurden jedoch damals
noch nicht abgebrochen. Obgleich Benedetti genug Scharfsinn besaß, um schon
damals einzusehen, daß es Preußen nicht um einen Vertrag zu thun war,
der Frankreich allein Vortheil bringen mußte, so war er einem Bismarck doch
nicht gewachsen. Das Ziel dieses scharfsinnigen Ministers war, wie er uns
erzählt, im Interesse des Friedens; doch überlassen wir die „französischen
Diplomaten jenen Illusionen, die ihnen so eigenthümlich sind". Graf Bis¬
marck hielt es nicht für nothwendig, mehr von der in Cerxay weggenommen
Correspondenz zu veröffentlichen, obgleich er von einem der Briefe spricht, der
in Benedetti's „Handschrift sei, wie so viele andere interessante Dokumente der¬
selben Art." Er schließt die veröffentlichte Correspondenz mit den Worten:
„Wir haben jedoch keinen Wunsch, uns in Enthüllungen einzulassen, außer
denen die durchaus nothwendig sind, um uns zu vertheidigen. . . . Bis wir
gezwungen werden, diese Arbeit wieder aufzunehmen, werden wir der Ver¬
suchung widerstehen, einen rückhaltloseren Gebrauch von dem disponiblen um¬
fangreichen Material zu machen." Es ist unnörhig zu sagen, daß Graf Bene¬
detti eine Verwirklichung dieser Drohung nicht herausforderte. Ganz und
gar durch dieselben Dokumente wiederlegt, auf die er sich zu stützen vorgab,
um seine Unschuld festzustellen, da er an ihre Nicht-Existenz glaubte,
stand er durch seine eigenen Zeugen, die gleichsam aus dem Grabe hervorge¬
rufen waren, vor Europa überführt da. Und wessen ist das napoleonische
Frankreich in der Person seines Gesandten überführt worden? Es kann ohne
Scheu erwidert werden: Eines wortbrüchigen, schändlichen und seeräuberischen
Planes gegen einen schutzlosen, harmlosen Nachbar, den zu vertheidigen es
durch einen Vertrag verpflichtet war. Es verlohnt sich der Mühe, diesen
Punkt zu untersuchen, weil er den Maßstab für die politische Moralität in
einem Lande abgibt, das nach napoleonischen Grundsätzen regiert wird, und
für die Sicherheit, die jedes schwache oder unvorbereitete Land genießen würde,
sollte diese verderbliche Regierung wieder hergestellt werden. Eine solche Ver¬
letzung allen Völkerrechts würde zu den napoleonischen Traditonen passen.
Das wahre Wesen des Napoleonismus ist die Unterschiebung des Flittergoldes
„Ruhm" für das solide Gold der Ehre und Ehrlichkeit. Es kann nicht zu
häufig wiederholt werden, daß Herr Thiers, indem er aus einem Manne, der
weder verlässig, ehrlich, noch achtbar war, den nationalen Helven machte,
seine Landsleute — und wie sein Betragen 1840 zeigte — sich gleichfalls de-
moralisirte. Die alles durchdringende Idee des napoleonischen Frankreichs ist,
daß „Ruhm." der dort wiederum nur ein Synonym für französischen Erfolg
ist, alles heilige — sogar einen offenbaren Verstoß gegen Wahrheit. Ehrlich¬
keit, Gerechtigkeit und Völkerrecht. Diese Perversion des nationalen Gewissens
machte die schändlichen geheimen Unterhandlungen hinsichtlich Belgiens im
Jahre 1866 möglich. Es war dieselbe Ursache, die zu den falschen Vorwän¬
den im Juli 1870 führte. Der beste Freund Frankreichs kann nicht bedauern,
daß es sich sogar durch die größten militärischen Unglücksfälle und eine noch
schmachvollere diplomatische Bloßstellung von der sittlichen Degradation des
Napoleonismus los machen sollte. Seine Schande ist trotz der deutschen Occu-
pation seines Territoriums in diesem Augenblicke geringer, als sie gewesen
sein würde, wenn die Besitzergreifung Belgiens nach dem benedettischen „Pro¬
jekte" zur Ausführung gekommen wäre.
Fassen wir alle bekannten Einzelnheiten der denkwürdigen Verhandlung
mit den ersichtlichen Interessen der streitenden Parteien, und das wirkliche
Resultat ins Auge, so ist es nicht schwer, die fehlenden Verbindungsglieder in
Uebereinstimmung mit der Wahrscheinlichkeit und den Aufstellungen des
Grafen Bismarck zu finden. Graf Benedetti wurde nach Berlin geschickt,
mit Forderungen nach deutschem Land und Festungen, deren Abtretung weder
die Ehre noch die Sicherheit zuließ. Die Forderung war so übel gewählt
und so beleidigend, daß der friedliebendste Deutsche Krieg bei weitem vor¬
gezogen hätte. Graf Bismarck erkannte sofort seinen Vortheil; denn sein
Gegner hatte gerade das Schlachtfeld angeboten, auf dem sich ganz Deutsch¬
land vereinigen würde und müßte. Er erwiderte Benedetti einfach, daß die
Forderung Krieg bedeute und daß er, wenn der Kaiser denselben nicht
wünsche, besser nach Paris zurückginge und auseinandersetzte, wie die Sachen
ständen. Benedetti erklärte prahlerisch auf seinen Forderungen bestehen zu
müssen, kehrte nach Paris zurück und theilte seinem Gebieter mit, daß denk-
sches Gebiet nur durch einen glücklichen Krieg erlangt werden könne.
Napoleon III. erkannte seinen Fehler und überlegte, daß so lange er seine
Besitzungen vergrößern und angrenzendes Gebiet haben könnte, es nichts
ausmachte. auf wessen Kosten dies geschähe. „Es ist übel, einen Wolf
scheren", sagt das Schortische Sprichwort, und da war das belgische Schaf
mit seinem reichen, unbeschützten Fließ, das den Scherer lockte. Graf Benedetti
kehrte mit seinen neuen Instruktionen zurück. Es war nicht länger preußisches
noch sogar deutsches Gebiet (Luxemburg ausgenommen, das in einem po¬
litischen Sinne deutsch war), das verlangt werden sollte. Luxemburg gehörte
dem Könige von Holland, der entschädigt werden konnte. Belgien war
vorher französisch gewesen und konnte mit Frankreich wieder vereinigt werden.
(„Wiedervereinigung und Rektificirung der Grenzen" sind diplomatische Aus¬
drücke für Räuberei.) Durch diesen Plan würde Deutschland selbst nichts
verlieren und konnte offen darum angegangen werden, bei der Beraubung
Anderer mitzuhelfen. Dies war augenscheinlich der rohe Entwurf zu dem
berühmten „Vertrags-Projekte". Er wurde zuerst ohne Zweifel versteckt und
später in seiner ganzen Ungerechtigkeit und Niederträchtigkeit, seiner princip¬
losen Gier und kurzsichtigen Schlauheit dem — von allen Männern in der
Welt gefährlichsten — Grafen Bismarck vorgelegt! Daß dieser mit einem Blicke die
Schwäche seiner Gegner und den gewaltigen Vortheil sah, den Preußen von
einem solchen Mißgriffe ziehen konnte, heißt einfach sagen, daß es Graf
Bismarck war. Die Politik des Ex-Kaisers hatte Frankreich ohne einen
einzigen Freund gelassen, England ausgenommen, und hier war ein Plan,
der sich auf Verrath gegen diesen Freund gerade stützte. Alles, was Preußen
für sich bedürfte, hatte es bereits erreicht. Seine Politik ging dahin, den
Status Huo aufrecht zu halten, und keineswegs das Territorium und die
militärische Macht Frankreichs zu vergrößern; noch weniger, ihm seinen Raub
gegen den begreiflichen Groll Englands oder Rußlands zu garantiren. Das
Spiel des Grafen Bismarck war einfach Aufschub; jeder Monat stärkte die
neue Organisation Deutschlands. Wenn sich der französische Unterhändler
nur der Illusion hingeben wollte, daß er seinen scharfsinnigen Gegner über¬
liste, und irgend einen Beweis von dem beabsichtigten Verrathe, der Frankreich
England gegenüber compromittiren sollte, beibrachte, so war das diplomatische
Spiel gewonnen; und gewonnen war es sicher — mit wie vieler Geschickltch-
keit von Seiten des preußischen Spielers, dürfte die Welt nie erfahren. Der
erstaunlich falsche Zug seines französischen Gegners wird aber stets die
Schande französischer Diplomaten bleiben. — So gelesen. ist die ganze Ge¬
schichte vollständig verständlich, zusammenhängend und wahrscheinlich. <ste
wirft einen ganz unauslöschlichen Schandflecken auf die Ehre des napoleonischen
Frankreichs, compromittirt jedoch Preußen nicht.*
Mit Ur. beginnt diese Zeitschrift ein neues Vuartal, welches
durch alle Buchhandlungen und Postämter des In- und Auslandes
zu beziehen ist.
Privatpersonen, gesellige Vereine, Lesegesellschaften,
Kaffeehäuser und Conditoreien werden um gefällige' Berücksichtigung
derselben freundlichst gebeten.
Leipzig, im Juni 1874.Die Verlagshandlung.
^