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]]>Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst.
31. Jahrgang.
II. Semester. II. Sand.
Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. Wilh. Grunow.)
1872.
Tschudi, Thierleben der Alpenwelt 9. Auf¬
lage. S. 338.
In Frankreich ist der Präsident des Parlaments von jeher eine der ein¬
flußreichsten Persönlichkeiten im Staate gewesen. Er leitet die Versammlung
genau nach den Weisungen der herrschenden Regierung. Unter dem zweiten
Kaiserreich verstand Herr Schneider mit derselben Virtuosität die unliebsamen
Erörtungen der Herren Thiers, Jules Favre und Gambetta zu unterdrücken,
und die erlauchten Falzbeine der Versammlung in Bewegung zu setzen, als
jetzt unter der Aegide des Herrn Thiers der republikanische Präsident der
Assemble'e Herr Gre'op die Beklemmungen des Herrn Nouher und die Auf-
lehnung der unbotmäßigen Rechten zum Schweigen bringt. Bei diesem Volke,
bei welchem die theatralische Jnscenirung der Parlamentsdebatten Alles, ihr
Inhalt der öffentlichen Meinung gegenüber fast nichts ist, und die Geschäfts¬
ordnung eigentlich nur den Zweck hat, als großes, gesetzliches Universal-Falz-
bein der Majorität gegen die Minderheit zu dienen, ist natürlich die Rolle
des Präsidenten der Versammlung von eminenter politischer Bedeutung. Er
entscheidet so zu sagen den Gang und Ausgang der Verhandlungen, er erntet
der Regierung die parlamentarischen Früchte und Siege, welche ihr der wetter¬
wendischen öffentlichen Meinung gegenüber ein Existenzbedürfniß sind. Er
wird deshalb auch in einem Meer von Zufriedenheit erhalten. Herr Schneider
durfte unter dem zweiten Kaiserreich dem Staat jährlich für zerbrochne Teller
und vermißte Servietten eine Summe ansetzen, welche den Gehalt eines preu¬
ßischen Staatsministers bei weitem übertrifft. Und Herr Gre'op wird für seine
Dienste sogar mit der Aussicht belohnt, der Nachfolger des Herrn Thiers zu
werden.
Der Sprecher des englischen Unterhauses ist seinerseits eine ganz englische
Pflanze. Auch er bezieht zwar, den englischen Anschauungen gemäß, für seine
kurzen Leistungen während der Parlamentssession einen nach unseren continen-
talen und zumal deutschen Begriffen enormen Gehalt. In allem Uebrigen
aber ist er das gerade Gegentheil seines französischen Collegen. Er ist weder
der Fatseur der Regierung noch der herrschenden Partei. Seine Persönlichkeit
wird ohne jeden Wahlkampf meist einstimmig zu Anfang der Legislaturperiode
bestimmt und bis zum Ende derselben, ja häufig auf Lebenszeit unverändert
beibehalten. Er spricht während der Verhandlungen nur das Allernothwen-
digste. Er hat nur eine Aufgabe: zu sehen, nämlich den Redner zu sehen,
welcher unter allen zum Worte sich meldenden im Augenblicke der allein geeig¬
nete ist. Er hat nur einen Sinn: das Auge des Sprechers. Im übrigen
können Cheers oder Hohngelächter und Verwünschungen, täuschendes Hahnen¬
geschrei und klägliche Katzenlaute das Haus erfüllen, der Herr Sprecher hört
es nicht. Denn darin besteht das Correctiv der englischen Geschäftsordnung
gegen englische Ewalds oder gegen englische Seitenstücke zu dem I)r. Schulz
aus Heidelberg — wenn es nämlich in Altengland je einen Menschen geben
könnte, der zu Gunsten der Franzosen sein Volk beschimpfen möchte.
Der Präsident des deutschen Reichstags hat eine wesentlich andere
Stellung als sein englischer und französischer College. Ihm wirft die Stelle
so wenig Güter oder hervorragenden politischen Einfluß in den Schooß wie
die Mitgliedschaft des Reichstags den übrigen Abgeordneten. Sein Amt ist
in Folge der außerordentlich intensiven Arbeiten und Leistungen des Reichs¬
tags während der letzten 5 Jahre ein ganz unvergleichlich arbeitsvollcres ge¬
wesen als jemals dasjenige französischer oder englischer Präsidenten. Seine
Stellung ist. bei der Leidenschaft und Verbitterung unserer politischen, religiö¬
sen und selbst wirthschaftlichen Parlaments-Debatten des letzten Lustrums,
eine bei weitem verantwortlichere, als diejenige irgend eines Präsidenten eines
andern gesetzgebenden Körpers. Sie ist aber auch in demselben Maaße eine
persönlich aufreibendere.
Diese Fülle schwieriger Aufgaben konnte in keine bessere Hand gelegt
werden, als in diejenige des Präsidenten aller gesammtdeutschen Parlamente,
welche wir seit beinahe fünfundzwanzig Jahren gesehen haben, in die Hand des
Appellativnsgerichtspräsidenten Dr. Eduard Sun s o n. Wenn lange die Partei¬
gegensätze gemildert sein werden, welche heut unser Volk trennen — ganz
verschwinden werden sie ja nie — wird man die Weisheit und Gerechtigkeit
erst vollwürdig schätzen, mit welcher Präsident Simson in einer Reihenfolge
außerordentlichster Zeiten und Verhältnisse die oftmals recht wilden Wogen
der parlamentarischen Debatte zu ebnen und zu meistern wußte. Namentlich
jede parlamentarische Minderheit wird, wenn jemals ihren Wortführern irgend
welche Bedrückung Seiten der Mehrheit oder Seiten des Präsidenten drohen sollte,
an Simson's Namen, als den ihres besten Schutzpatrons in unseren Tagen,
mahnend erinnern. In dieser Hinsicht ist sein Beispiel das wohlthätigste, das
gegeben werden konnte. Nicht minder aber wird immer mustergültig bleiben
die mächtige Energie und die sittliche Würde, mit welcher er jeder Ausschreitung
auf der Stelle strafend entgegentrat, um die höchste Kanzel des deutschen
Reichs, die Tribüne des Reichstags, rein und unentweiht zu überliefern den
nachfolgenden Geschlechtern.
Das Leben Dr. Eduard Simson's wie seine natürlichen Anlagen haben
in gleichem Maße ihn zur Lösung dieser höchsten Aufgabe befähigt, welche
das deutsche Parlament an eines seiner Mitglieder zu vergeben hat. Wir
sind der lebhaften Theilnahme unserer Leser gewiß, wenn wir ihnen über dieses
Leben und diesen Charakter erzählen, was wir wissen.
Martin Eduard Simson ist den 10. November 1810 in Königsberg
geboren. Eine jener beglückten Naturen, deren Kindheit und Knabenjahre
von keiner drückenden Sorge verdunkelt sind, denen behagliche Verhältnisse,
hochgebildete Eltern und die öffentlichen Erziehungsmittel und Anregungen
einer bedeutenden Stadt, die zeitige und breite Entwickelung seltener Anlagen
gestatten, hat Eduard Simson, überaus früh gereift, die Schul- und Gymna¬
sialclassen seiner Vaterstadt zurückgelegt. Noch heute erzählt der gefeierte
Germanist Albrecht, einer der Götttnger Sieben, mit lebhafter Freude davon,
wie im Jahre 1826 der kaum sechszehnjährige Jüngling Simson. an der
Spitze der Abiturienten, aus dem Gymnasialleben scheidend, Lehrer und Schüler
und den großen geladenen Kreis der Hörer mit einer vollendeten griechischen
Ansprache begrüßte. Das rein griechische Profil des hochgewachsenen jungen
Mannes, das sonore milde Organ, und die klassische Form und Gedanken¬
richtung seiner durchaus selbstständigen Rede hinterließ den Zuhörern einen
tiefen Eindruck. Albrecht, der damals gleichfalls erst 25 Jahre zählte, jedoch
bereits seine berühmte Schrift über die „Gewere" geschrieben hatte, und in
Folge dessen bereits als Professor des deutschen Rechts und Staatsrechts nach
Königsberg berufen war, fesselte den talentvollen Studenten der Rechte Sun<
son wohl am meisten unter den damaligen Docenten Königsbergs und
zog den jungen Mann bereitwillig zu näherem vertraulicheren Umgang an
sich heran. Für beide Männer, zumal für Simson, ist der damalige Gedan¬
kenaustausch, der 22 Jahre später erneuert wurde, als Beide Mitglieder des
Frankfurter Parlaments waren, von unvergessenen Werthe und Eindruck
gewesen. Namentlich weiß Simson noch heute mit der ihm eigenen Innigkeit
und Herzlichkeit des Ausdrucks zu rühmen, welche tiefen Blicke in das ganze
Wesen des Rechts und der Rechtsentwickelung nicht nur, sondern in das
Wesen und die Methode höchster wissenschaftlicher Forschung überhaupt ihm
der verehrte Lehrer eröffnet habe. Die eigenthümliche Gedankenschärfe und
schneidende Kritik Albrecht's, seine wunderbare Fähigkeit in der methodischen
Construction der Rechtsideen und -Begriffe und dabei jene echt vornehme Ruhe
und Milde des Wesens, die nur dann einem lebhafteren Tempo wich, wenn
es galt, einen oberflächlichen Denker zu bekämpfen: das waren vielleicht gerade
diejenigen Eigenschaften, deren Simson's volle, warme Natur, die bis dahin
vornehmlich in der Schönheit der Formen und in der Hoheit der Ideen des
Alterthums ihr Genüge gefunden hatte, zur Reife des Mannes und Gelehrten
am meisten bedürfte.
Drei Jahre lang oblag Simson seinen Studien in seiner Vaterstadt,
dann suchte er die berühmtesten Hochschullehrer des damaligen Preußens, Sa-
vigny in Berlin und Niebuhr in Bonn auf, nachdem er zu Ostern 1829 als
Doctor beider Rechte promovirt hatte — im achtzehnten Lebensjahre. Die
beiden hochgefeierten Männer nahmen ihn freundlich auf, besonders Niebuhr,
an den er gut empfohlen war. Ein überaus merkwürdiges Ereigniß, das
wir aus Simson's eigenem Munde vernommen haben und hier ausführlich
mittheilen, weil es für die Betheiligten äußerst characteristisch ist, sollte ihm
die Gunst, ja Dankbarkeit Niebuhr's in noch höherem Grade zuwenden. Sim-
son war im Wintersemester 1829 auf 1830 nach Bonn gekommen. Der Win¬
ter war sehr hart, und zwei Dinge schienen dem jungen Doctor zur Be¬
kämpfung der grimmigen Kälte, nach langjähriger Bekanntschaft mit dem
Königsberger Winter unentbehrlich: ein sehr warmer bequemer langer Rock
und der herzstärkende Genuß kräftigen guten Kaffees, bei den abendlichen und
wohl auch nächtlichen Studien. Das erste dieser Bedürfnisse erfüllte ein Klei¬
dungsstück vollständig, von dessen äußerer Erscheinung, nach Farbe, Schnitt
und Rubricirung unter moderne Gewandungen, trotz der liebevollen De¬
tailmalerei, welche sein Eigenthümer ihm fast vierzig Jahre später bei Erzäh¬
lung dieser Jugenderinnerungen noch widmete, wir nur eine höchst unvoll¬
kommene Borstellung zu haben leider bekennen müssen. Es genügt indessen
vielleicht, wenn wir unsern Lesern versichern, daß dieser Tuchcomplex allen
denjenigen Ansprüchen zugleich genügte, welche ein moderner Mensch an einen
Ueberzieher, Gehrock, Mantel und Schlafrock zu stellen nur irgend berechtigt
ist. Simson stand mit ihm auf, ging mit ihm aus und durchwachte mit ihm
die Abende und Nächte bei den Büchern. In der Scala moderner Kleider-
namen dürfte daher der mystische Begriff des „Gottfried" noch am ersten der
Vielseitigkeit jener ehrwürdigen Mobilie nahe kommen. Zu den besten ver¬
borgensten Tugenden dieses seltenen Gewandes gehörte aber vor Allem eine
Brusttasche, die auch ungewöhnliche Erwartungen von Geräumigkeit übertraf,
und nicht minder zwei äußere Handtaschen, welche abwechselnd das seidene
Taschentuch des Besitzers aufzunehmen pflegten. Die innere Brusttasche da¬
gegen war gewöhnt, außer sehr gelehrten Dingen namentlich auch die Vor¬
räthe an Kaffee zu beherbergen, welchen Simson in Quantitäten von nicht
unter einem Pfund in gemahlenen Zustande eigenhändig einzukaufen und sich
daheim nicht minder eigenhändig zuzubereiten pflegte.
Es war ein sehr kalter Februarabend des Jahres 1830, als er abermals mit
einem Pfunde Kaffee in der Tasche seine Studirlampe anzündete, und nun zu-
nächst der behaglichen Zimmerwärme bei einer fesselnden Lectüre genoß. So war es
ziemlich spät geworden und der Kaffee über den Büchern vergessen, als plötzlich von
der Straße drunten ein ganz ungewöhnlicher Lärm heraufschöll, der immer mäch¬
tiger, störender durch die Nacht hallte. Eiliges Laufen, wirre angstvolle Stim¬
men, jagende Pferde, das Rasseln schwerer Wagen, jetzt der gewaltig erregende
Laut der Sturmglocke. Simson riß das Fenster auf: über den halben Him¬
mel, nach dem entgegengesetzten Ende der Stadt zu malte sich der blutige
Schein einer großen Feuersbrunst. Dort ungefähr muß Niebuhr's Haus
liegen, sagte sich Simson, und dieser Gedanke riß ihn mit einem Male mitten
unter die hastende Menge, die so wenig wie er das brennende Gebäude zu
bezeichnen wußte. Erst Angesichts des Feuers staute sich der Menschenstrom.
Aber nun flog Simson mitten unter die vordersten Helfer bei der Brand¬
stätte, denn in der That das Haus Niebuhr's stand in hellen Flammen. Eben
führte man den Mann, der im siebenunddreißigsten Jahre noch beherzt die
Freiheitskriege mit geschlagen, und mit E. M. Arndt der hereinbrechenden
Reaction muthig getrotzt hatte, durch den plötzlichen Schreck, unter dem Ein¬
bruch des entfesselten Elements, körperlich und geistig gebrochen die Treppe
des Hauses herab. Er schwankte und zitterte und nur der eine verzweifelte
Ausruf drängte sich immer wieder über seine Lippen: „Meine Manuscripte!
Meine Manuscripte!" Bekanntlich hat sich diese Besorgniß Niebuhr's glück-
licher Weise nicht erfüllt. Simson aber fühlte sich von dem jammervollen
Anblick seines Lehrers tief ergriffe". Jetzt, wo die schneidige Kälte der Februar¬
nacht den bejahrten Mann schüttelte, gewahrte Simson, daß man in der Eile
der persönlichen Rettung ihn nur mit einem ganz dünnen Röckchen bekleidet,
die Treppe hinabgeführt hatte. In einem Augenblick hatte sich Simson seines
Mantel-Schlafrockes entledigt und den verehrten Lehrer in dessen wohlige Fal¬
ten gehüllt. Dann, als er sich — bei der allgemeinen Bestürzung von Nieman¬
dem erkannt oder beachtet — überzeugt hatte, daß Niebuhr in dem gegenüber¬
liegenden gastlichen Hanse Bethmann-Hollweg's Aufnahme gefunden habe,
rannte er, selbst vom Frost geschüttelt, nach Hause. Wenige Tage später
veröffentlichte das Bonner Localblatt eine Danksagung Niebuhr's. in welcher
Simson neben der tiefsten Rührung des gefeierten Forschers über die allge¬
meine werkthätige Beihülfe der Bonner Bürgerschaft bei dem ihm widerfah¬
renen Brandunglücke, zu seinem Schrecken plötzlich etwa folgenden Schlu߬
zeilen begegnete: „insbesondere danke ich auch dem mir völlig unbekannten edeln
Manne, der mir in der Unglücksnacht seinen eigenen Mantel umwarf. Möge
derselbe einen baldigen persönlichen Dank durch Abholung des Mantels er¬
möglichen; er wird sich als Eigenthümer legitimiren durch Benennung der in
den Taschen befindlichen Gegenstände." Simson fiel sein Pfund Kaffee mit
Centnerlast auf die Seele, als er dies las, und an Abholung des Mantels
war natürlich unter so compromittirenden Verhältnissen gar nicht zu denken
— wenn er nicht schon ohnehin darauf verzichtet hätte, um seine Gutthat im
Verborgnen zu lassen. So blieb der geheimnißvolle Mantel in der Verwah¬
rung Niebuhr's, und alle Nachforschungen nach dem unbekannten Wohlthäter
wären wahrscheinlich stets erfolglos geblieben, wenn nicht ein heiterer Zufall
Simson's Geheimniß verrathen hätte. Auf einem Spaziergang im Frühjahr
1830 nämlich, mit dem Sohne Bethmann-hollweg's, Simson's Studienfreunde,
nahm der letzter? plötzlich ein unerklärliches Interesse an dem Zipfel des sei¬
denen Tuches, das Simson aus der äußeren Rocktasche hervorschaute, und
rief, nachdem er sich sogar dieses Tuches selbst bemächtigt hatte, nach einer
flüchtigen Prüfung der Namensbuchstaben L. 8. mit großer Bestimmtheit aus:
„Sie sind entlarvt! Sie sind also der Besitzer des Mantels mit dem Pfund
Kaffee, der schmerzlich gesuchte unbekannte Wohlthäter. Ja freilich, Alles
stimmt ja aufs vollständigste — wie wird sich Niebuhr freuen!" Und nichts
hielt den jungen Mann zurück, sofort die freudige Entdeckung zu melden.
Die Innigkeit, mit welcher Niebuhr seine Dankbarkeit erwies, war für
Simson zwar beschämend, aber persönlich und wissenschaftlich doch von
nachhaltigster Bedeutung. Niebuhr behandelte ihn fortan wie seinen eigenen
Sohn. Im häuslichen Kreise, in der Runde seiner vertrautesten Schüler durfte
Simson fortan nicht fehlen, ja manche Stunde hat er allein Auge in Auge
dem trefflichen Manne gegenübergesessen und hohe Weisheit und Wissenschaft
von den Lippen vernommen, die ein Jahr später sich für immer schließen
sollten. Und auch für die weiteren Studien Simson's. die er unmittelbar
nach der Julirevolution in Paris fortsetzte, mit sehr geringer Freude an den
Scheineffecten des Bürgerkönigthums, mit frohesten Behagen dagegen an den
damaligen trefflichen Lehrkräften der Sorbonne, sind Niebuhr's herzliche Empfeh¬
lungen an die französischen College», und Niebuhr's Briefe an Simson selbst
dem Letzteren von segensreichen Folgen gewesen.
Mit dem Jahre 1831 beginnt die praktische Laufbahn Simson's als Do¬
cent und Beamter. Wir sind weit entfernt, uns der Charakteristik der heuti¬
gen preußischen Juristencarriere anzuschließen, welche uns vor kurzem ein geist¬
reicher jüngerer preußischer Jurist in den Worten gain „Und wenn der hei¬
lige Geist heut herniederstiege und in Preußen Jura studirte, er brächte es
auch zu nichts." Aber sicher ist, daß das Talent in jenen Jahren, als Sim¬
son seine practische Thätigkeit begann, bei weitem schneller ausrückte, als heute.
Und dennoch muß auch den Zeitgenossen die Carriere Simson's als eine un¬
gewöhnlich rasche und günstige erschienen sein. Uns Modernen dagegen er¬
scheint sie fast märchenhaft: mit einundzwanzig Jahren Pnvatdocent
in Königsberg, mit dreiundzwanzig Jahren (1833) außerordentlicher Pro¬
fessor, mit vierundzwanzig Jahren schon Mitglied des damaligen Tribu-
mais für das Königreich Preußen! Wir verfolgen Simson's academische
und amtliche Laufbahn hier gleich zu Ende, um im Folgenden "seine
öffentliche Thätigkeit ungestört darstellen zu können. Seine Berufscarriere
ist um so kürzer zu fassen, als seine academische Wirksamkeit, welche mit
Abschluß seiner eigentlichen Studien von Haus aus bestimmt war, sein
hauptsächlicher Lebensberuf zu werden, doch mehr und mehr vor seiner amt¬
lichen richterlichen Thätigkeit in den Hintergrund getreten ist. Wesentlich
seiner akademischen Lehrthätigkeit — wenn auch nicht minder seinen richter¬
lichen Functionen zu Liebe — trat er 1847 eine längere Reise nach England
an, um die dortigen Geschworenen und Friedensgerichte gründlich kennen zu
lernen. Und dann hat er noch einmal nach dem Scheitern des Verfassungs¬
werkes des Frankfurter und Erfurter Parlamentes und dem Hereinbrechen
der schlimmsten Reaction in Preußen, im Jahre 1852, die directe Berührung
mit der academischen Jugend als Lehrer der Hochschule zu Königsberg freu¬
dig und ernst gesucht, bis das Jahr 1860 durch seine Versetzung an das Apel-
lationsgericht zu Frankfurt an der Oder seinen academischen Vorlesungen dau¬
ernd ein Ende bereitete.
Daß Simson allmählig seine richterliche Stellung als seinen Hauptberuf zu
betrachten gewöhnt wurde, war wol weniger Sache freier Wahl, als der Macht
der öffentlichen Verhältnisse; am wenigsten etwa die Folge einer Verminderung
wissenschaftlicher Strenge gegen sich selbst oder verringerten Forschungseifers.
Im Gegentheil, keine Zeit wohl hat gerade der practischen Anwendung mo¬
derner Rechtswissenschaft so sehr bedurft, und ihr soviel zu danken, als die
vierziger und fünfziger Jahre in Preußen. Aber man wird begreifen, daß
das hohe Gefühl von Verantwortlichkeit und Selbststrenge, welches Simson
bei allen seinen öffentlichen Functionen ausgezeichnet hat, ihm auf die Dauer
immer dringender die Frage vorführen mußte, ob er bei der monatelangen
Abwesenheit vom Sitze der alma, nadei- zu Königsberg in Folge seiner zahl¬
reichen politischen Pflichten auch seinen Hörern ein nützlicher Lehrer, seinen
Collegen ein in wissenschaftlicher Weiterbildung ebenmäßig fortschreitender
College sein könne. Und diese Frage hat seine Bescheidenheit verneint. So
entsagte er denn, als er als Vicepräsident des Apellationsgerichtes nach Frank¬
furt a. O. versetzt wurde, seinem academischen Wirken gänzlich. Am 30. Ja¬
nuar 1869 ward er zum ersten Präsidenten dieses Gerichtshofes ernannt und
steht noch heute in dieser Stellung.
Von dem Augenblicke an, wo sich Simson den öffentlichen Angele¬
genheiten zuwandte, hat seine politische Laufbahn die Erfolge und die
Schnelligkeit seiner Carriere als Beamter noch überflügelt. Wie sehr viele
der Männer, welche das Jahr 1848 scheinbar plötzlich berühmt machte, hatte
Simson bis dahin nur auf dem bescheidenen Schauplatz seiner Vaterstadt, in
seiner Eigenschaft als Mitglied des Königsberger Stadtverordnetencollegiums
seit 1842 gewirkt. Aber dieses Wirken war, bei der damaligen Bedeutung
Königsbergs für ganz Deutschland, eine Borbereitung, die zu den höchsten ge¬
meindeutschen politischen Aufgaben wol befähigte. Neben Berlin und Bres-
lau war ja Königsberg damals die politisch und geistig weitaus anregendste
Stadt der preußischen Monarchie.
Königsberg selbst, die Stadt seines Werdens und Wirkens, wählte Sim-
son 1848 ins deutsche Parlament. Wol die glänzendsten Namen der Pauls¬
kirche: Dcchlmann, Albrecht, Welcker, Mathy, Beseler, Soiron, Bassermann, zu
Anfang selbst Schmerling, zählten zu der Fraktion, der Simson beitrat, dem
Casino, oder der preußischen Erb-Kaiserpartei, wie sie später vorzugsweise ge¬
nannt ward. Mit ihr hat er, ein Vierteljahrhundert der Entwickelung der
Zeiten vorauseilend, das Herz der freudigsten Hoffnungen voll, an jenem
sonnigen 18. Mai des Jahres 1848 die Schritte in feierlichem Zuge zur
Paulskirche gelenkt; mit ihr ein Jahr über gestritten um die besten Güter
der Nation; mit ihr endlich fast genau nach Jahresfrist seit dem fröhlichen herz¬
erhebenden Eingang, die Paulskirche verlassen, tiefgebeugt, schwer leidend an Leib
und Seele, der höchsten Hoffnung seines Lebens auf unbestimmte Zeit entsa¬
gend. Daß die Partei, welche aus Dahlmann's Feder und unter Albrecht's
und Droysen's eifriger Unterstützung schon am 24. April 1848 es wagte, den
„Entwurf eines deutschen Reichsgesetzes" zu veröffentlichen, welches die Grund¬
züge der heutigen Reichsverfassung enthält, nicht größere Erfolge in Frankfurt
errang, darf heutzutage gewiß mehr noch unseligen und unabwendbaren
äußeren Ereignissen und Verhältnissen zugeschrieben werden, als den kantischen
und politischen Fehlern dieser Partei selbst. War doch schon durch die Ber¬
liner Märztage sehr Schlimmes ohne alles Zuthun der Partei vollendete
Thatsache: die tiefe Kluft zwischen Heer und Bürgerthum, Hof und Volk,
zwischen den nationalen Traditionen der Hohenzollern und den widerwilligen
Mittelstaaten, unter Oesterreichs geheimem Rath und Beistand. Aber viel
hat auch das Parlament und die Partei selbst verdorben. Vor allem jener
kühne Mißgriff des eigenen Führers Heinrich von Gagern, der ohne jede Füh¬
lung mit der Partei durch den improvisierten Vorschlag der Ernennung des
österreichischen Erzherzogs Johann zum Reichsverweser der perfiden Habsbur¬
gischen Staatskunst mitten in die diametral entgegengesetzten Interessen des
deutschen Volkes Eingang verschaffte. Dann die auch von der preußischen
Partei zugelassene endlose Berathung der Grundrechte, ehe die wichtigste
Frage, diejenige der staatlichen Organisation Deutschlands gelöst war. Dann
die schweren Fehler gegen die preußische Regierung aus Anlaß des Malmöer
Waffenstillstandes, die selbst Dahlmann durch die Macht seines Wortes und
seiner Persönlichkeit mit begehen half. Und endlich, vor dem entscheidendsten
Schritte noch, welcher dem Vaterlande die Errungenschaften der großen Be¬
wegung sichern sollte, bei der Kaiserwahl, die Duldung von demokratischen
Compromißparagraphen in der Reichsverfassung, welche einem ehrliebenden
Fürsten die Annahme der revolutionären Krone von Haus aus unmöglich
machen mußten. Doch, wie wäre es möglich, in dem Raum dieser Blätter und
bei diesem Anlaß die Schuld an dem Niedergang der Hoffnungen des großen
Jahres gerecht abzuwägen. Gewiß, daß die Männer, denen Eduard Simson
sich zugesellte, überall das Beste und Größte erstrebten, was die bewegten
Tage erreichbar vor Augen stellten.
Als Redner und Parteimann hat Simson keine hervorragende Rolle im
Parlament gespielt. Um so wirkungsvoller dagegen war seine Stellung im
Bureau des Hauses, das ihn schon bei seiner ersten Constituirung zum Secre-
tair und im September an Soiron's Stelle zum Vicepräsidenten wählte. Und
noch bedeutsamer, obwohl den officiellen, stenographischen Verhandlungen ferne,
war der Einfluß seines Hauses auf seine Freunde. Denn Simson war einer
der wenigen Abgeordneten, welchen die eigenen Verhältnisse gestatteten, mit
Familie hier zu leben. Seine Salons gewährten den Parteigenossen die
beste Anregung und Erholung. In früher Jugend hatte er seine treffliche
Gattin heimgeführt, die nun in der improvisirten Reichshauptstadt den fami¬
lienlosen Vertretern deutscher Nation die Sorgen der großen Politik am häus¬
lichen Heerd zu verscheuchen suchte. Kaum eine der zahlreichen Parlaments¬
monographien jener Tage, die nicht mit Dank und Freude von den unter
Simson's Dach verlebten Stunden zu erzählen wüßte.
Aber auch in diese friedlichen Stunden drängten sich mehr und mehr der
Ernst und die Sorgen der politischen Arbeit. Denn schon im November, mit
Einsetzung des Ministeriums Manteuffel in Berlin, war die Stellung der
preußischen Partei der Nationalversammlung zu Preußen eine sehr schwierige
geworden. Der offene Conflict mit der eigenen Volksvertretung war in Berlin
ausgebrochen, und ferner wie je lagen dem rein feudalen Ministerium Sym¬
pathien mit der Verfassungsarbeit des Frankfurter Parlamentes. Und gerade
in letzter Hinsicht bedürfte die Partei dringender als jemals einer freundlichen
Zusage von Berlin, weil das Verhältniß der Nationalversammlung zu
Oesterreich täglich ein düstereres wurde, seitdem bereits Ende October der Aus¬
schluß des Donaustaates aus dem künftigen Reiche grundsätzlich entschieden
war. Unter diesen Verhältnissen sandte das Parlament Simson, Beckerath
und Hergenhahn nach Berlin, um der preußischen Regierung Beistand und
Vermittlung im Conflict mit der Volksvertretung anzubieten, und ein Ein-
verständniß über die deutsche Reichsverfassung anzubahnen. Die Sendung
war eine erfolglose. Hart und schroff wies man die im innern Conflict an¬
gebotene Hülse und Vermittelung zurück und beobachtete in Betreff der deut-
schen Verfassung kühle Zurückhaltung. Als die Commissäre sich den Präsi¬
denten Gagern nachkommen ließen, erlangte dieser zwar wiederholt, und
namentlich am 27. November eine mehrstündige Audienz beim König, mußte
indessen schon damals auf das Angebot der Deutschen Kaiserkrone aus des
Königs Munde Worte hören wie diese: „Das Haus Habsburg steht voran
und ich bin kein Friedrich I. oder Friedrich II." „ Wenn Oesterreich aus¬
schiede, so würde Deutschland ein getheiltes oder gemindertes sein, und ich
mag nicht der erste Kaiser sein, der eine verstümmelte Krone trüge."
So niederschlagend solche Aeußerungen indessen fürs Erste wirken mochten,
allmählig richtete sich die Partei wieder auf an der Zuversicht, daß Preußen die
vollendete Thatsache der Kaiserwahl nicht werde von sich weisen können, ohne
mit allen nationalen Traditionen seiner Politik zu brechen. Unter Glocken¬
geläute und Kanonendonner wurde am 28. März 1849 König Friedrich Wil¬
helm zum Kaiser von Deutschland gewählt. An der Spitze der großen Kaiser¬
deputation, in welcher Arndt, Dahlmann, Mittermaier, Raumer, Biedermann,
Zachariä U.A. hervorragten, reiste Simson nach Berlin. Die Führung dieser
denkwürdigen Deputation fiel ihm zu, da er seit dem Eintritte Gagern's in
das Reichsministerium an Schmerling's Stelle, Mitte December zum ersten
Präsidenten der Nationalversammlung gewählt und seither von vier zu vier
Wochen wiedergewählt worden war. Die Aufnahme und das Schicksal der
Kaiserdeputation sind bekannt, weniger bekannt aber, daß die Deputation
selbst, eben so wie der Hof. sehr getheilter Ansicht darüber war. ob in der
königlichen Antwort eine Zurückweisung der Kaiserkrone liege oder nicht.
Als entschiedene Zurückweisung empfand die Antwort Simson. Er war noch
aufs tiefste erschüttert und erregt, als die Stunde der Königlichen Tafel
schlug, die im Schloß Bellevue eingenommen wurde. Simson saß zur Linken
des Königs. Auch der König war sehr aufgeregt, und gegen, einige Mitglie¬
der der Deputation, wie namentlich den Vertreter für Lauenburg, hart und
abstoßend. Zwischen dem König und Simson wurde die Discussion bei Tafel
so scharf und rasch, daß die Höflinge sich auf eine Katastrophe gefaßt machten.
Das versöhnlichste Gegenstück zu diesem peinlichen Diner bildete dagegen der
Abend desselben Tages, wo die Deputation zum Prinzen von Preußen, dem
jetzigen Kaiser, zu Thee geladen war. In den Kreisen des Prinzen wurde
die Antwort des Königs keineswegs als Ablehnung aufgefaßt. - Die Gela¬
denen speisten an kleinen Tischen, zu vier oder sechs Personen. Augusta, die
Prinzessin von Preußen, vertrat ihren Tischgenossen gegenüber lebhaft und
beredt die Ueberzeugung, daß die Antwort des Königs keine Ablehnung ent¬
halte. Bekümmert äußerten dagegen Simson und die übrigen Abgeordneten,
die mit der Prinzessin an einem Tische saßen, ihre gegentheilige Ueberzeugung.
Datrat der Prinz von Preußen lächelnd mit den Worten hinzu: „Ich glaube
gar, man streitet sich hier," und bestätigte laut und entschieden die Ansicht seiner
hohen Gemahlin. So schien bis zum Scheiden der Kaiserdeputation von Berlin
doch mindestens die letzte Entscheidung noch nicht gefaßt, noch nicht Alles verloren.
Aber um so peinlicher wirkte die königliche Antwort auf die Parteien, auf
die weiteren Vorgänge in der Paulskirche. Schon am 11. April setzte die Linke
den Antrag (Kierulf-Bogt) durch: „Die Reichsversammlung erklärt feierlich
vor der deutschen Nation, an der in zweiter Lesung beschlossenen und
verkündeten Reichsverfassung wie an dem Wahlgesetze unwandelbar festzuhalten."
Die Vorberathung der Maßregeln zur Durchführung dieses Beschlusses wurde
einem Ausschuß von 30 Mitgliedern überwiesen. Noch ehe dieser Dreißiger-
Ausschuß indessen am 23. April seinen Bericht erstattete, hatte Preußen die
Bundesregierungen in einer Note eingeladen, sich über die Verfassung vom
28. März zu verständigen. Damit war das Vereinbarungsprincip klar aus¬
gesprochen und die langverhaltene Renitenz Oesterreichs und der Mittelstaaten
hatte den Vorwand zu einer legitimen Kundgebung gefunden. Nur die klei¬
neren Staaten, unter Badens'Führung und Württembergs Beitritt, forderten
Preußen in einer Collectivnote auf, Kaiserwahl und Verfassung unbedingt
anzunehmen und nicht durch das Festhalten an dem Vereinbarungsprineip
das Vaterland zu gefährden. Bayern dagegen wies „Einheitsstaat" und
„Erbkaiserthum" aus das Entschiedenste von sich und Oesterreich rief seine Ab¬
geordneten zurück, da das Parlament durch die Kaiserwahl den Boden des
Rechtes und Gesetzes verlassen habe. Unter solchen Verhältnissen faßte die
Versammlung am 26. April den Beschluß, die Regierungen, welche die Ver¬
fassung noch nicht anerkannt hätten, dazu, wie zur Anerkennung des Reichs¬
oberhauptes und des Wahlgesetzes aufzufordern; auch sollten dieselben jetzt von
ihrem Rechte der Landtagsauflösung keinen Gebrauch machen. Die provisorische
Centralgewalt solle diese Beschlüsse zur Ausführung bringen. Bassermann,
Mathy, Briegleb und Watzdorf reisten zu diesem Zwecke als Reichscommissare
nach Berlin, München, Hannover und Dresden.
Inzwischen hatten die Kammern in Berlin, Hannover und Dresden die
Reichsverfassung angenommen. Hannover hatte die Annahme mit der Kam¬
merauflösung beantwortet. Preußen war am 27., Sachsen am 28. April
diesem Schritte gefolgt. An demselben Tage richtete Preußen eine Note nach
Frankfurt, in welcher es die Reichsverfassung und Kaiserwürde definitiv ab¬
lehnte. Damit war dem Wirken der Partei Simson^s im Parlament der
Boden entzogen. Sie war vor die Alternative gestellt, entweder auf ihre
Sitze zu verzichten, oder mit der Linken für bewaffnete Revolution einzustehen.
Noch einmal zwar ging Simson's Name Ende April bei der vierwöchentlichen
Präsidentenwahl fast einstimmig aus der Urne hervor; er führte sein Amt
weiter, bis er gegen Ende Mai unter schwerem körperlichem und seelischem
Leid heftig erkrankte. Noch einmal am 4. Mai errang die einst so mächtige
Mehrheit einen Sieg, indem sie den Antrag des Dreißiger-Ausschusses: „Die
Nationalversammlung solle die Regierungen, die gesetzgebenden Körper der
Einzelstaaten, das gesammte deutsche Volk auffordern die Reichsverfassung zur
Anerkennung und Geltung zu bringen", mit 190 gegen 188 Stimmen durch¬
setzte, gegenüber wilden Anträgen der Linken auf bewaffnete Erhebung gegen
die rebellischen Fürsten, Einsetzung einer provisorischen Regierung u. s. w.
Aber während auch der Mehrheit die Macht fehlte, diesen, ohnehin das bis¬
herige Maaß überschreitenden Beschluß durchzuführen, war in Dresden, in der
Pfalz, in Baden die Revolution ausgebrochen, verlangte die Linke die feierliche
Anerkennung dieser Aufstände, war der Einmarsch Preußens in Sachsen er¬
folgt. Das neue Programm Gagern's: durch die moralische Macht der Cen-
tralgewalt die Durchführung der Reichsverfassung zu unterstützen, ward vom
Reichsverweser verworfen.
Am 10. Mai unterlag das Gagern'sche Programm auch im offenen Parla¬
mente, während mit 188 gegen 147 Stimmen die Linke jubelnd den Beschluß
durchsetzte: „Dem schweren Bruche des Reichsfriedens, den die preußische Re¬
gierung durch unbefugtes Einschreiten in Sachsen sich hat zu Schulden kommen
lassen, durch alle zu Gebote stehenden Mittel entgegen zu treten." Die Ant¬
wort Preußens auf diesen Beschluß war die Verordnung vom 14. Mai, in
welcher das Mandat der preußischen Abgeordneten für erloschen erklärt wurde.
Noch einmal fast einstimmig erklärte am 16. die Versammlung diese Verord¬
nung für unverbindlich. Aber schon am 21. Mai zeigten 65 Abgeordnete des
früheren Centrums, an ihrer Spitze Simson, Gagern, Dahlmann, E. M.
Arndt, Biedermann, Beseler, Mathy, Droysen, Duncker u. A. überhaupt der
Kern der preußischen Partei, die Niederlegung ihrer Mandate an. Motivirt
war dieser Schritt u. A. damit: „Die Reichsversammlung hat nur die Wahl,
entweder unter Beseitigung der bisherigen Centralgewalt das letzte gemeinsame
und gesetzliche Band zwischen allen deutschen Regierungen und Völkern zu
zerreißen und einen Bürgerkrieg zu verbreiten, dessen Beginn schon die Grund¬
lage aller gesellschaftlichen Ordnung erschütterthat, oder auf die weitere Durch¬
führung der' Reichsverfassung durch gesetzgebende Thätigkeit von ihrer Seite
und unter Mitwirkung der provisorischen Centralgewalt Verzicht zu leisten.
Die Unterzeichneten haben unter diesen beiden Uebeln das letztere als das für
das Vaterland geringere erachtet — und übergeben das Verfassungswerk für
jetzt den gesetzlichen Organen der Einzelstaaten und der selbstthätigen Fort¬
bildung der Nation." In dieser Beschränkung lag freilich ein sehr geringes
Maß tröstlicher Hoffnungen für die Zukunft — indeß konnte und durfte der
Austritt der preußischen Partei nicht länger verschoben werden. Keinem ist
der Schritt vielleicht schwerer gefallen als Simson. Als er dennoch seinen
Namen unter die Erklärung setzte, reichte ihm Dahlmann die Rechte und sagte:
„Sie sind mein Freund — Sie haben die nöthige Herzenshärtigkeit er¬
wiesen." —
Es ist bekannt, mit wie geringen Hoffnungen die preußische Partei ein
Jahr später das Erfurter Parlament beschickte, und wie gegründet sich dieses
Mißtrauen erwies. Indessen, seitdem die Partei am 28. Juni 1849 in Gotha
beschlossen hatte, auch die Unionsverfassung anzuerkennen, war es Pflicht der
Parteigenossen, dafür zu wirken und einzutreten. So folgte denn auch Sim-
son der an ihn ergangenen Wahl in das Erfurter Volkshaus, und wurde
auch hier, nach der Eröffnung der Versammlung am 20. März 1850 zum
Präsidenten des Volkshauses erwählt. Einer der Schriftführer war Otto von
Bismarck-Schönhausen. Dieses amtliche Verhältniß Simson's zu dem heutigen
deutschen Reichskanzler führte zu einem für die damalige politische Denkweise
des jungen Bismarck höchst charakteristischen Conflict. Auf der Journalisten¬
tribüne des Volkshauses befanden sich zwei Reporter, welche an einflußreiche
Zeitungen ihre Berichte in einem sehr prononcirt antiösterreichischen Sinne
schrieben. Der eine von ihnen ist heute als politischer Schriftsteller und
Reichtagsabgeordneter sehr bekannt. Bismarck ließ an Beide — mit der Unter¬
schrift „das Schriftführeramt des Volkshauses zu Erfurt, von Bismarck" —
Schreiben ergehen, in welchen er ihnen anzeigte, daß ihnen .die Sitze auf der
Journalistentribüne sofort entzogen würden, wenn sie nicht augenblicklich die
verwerflichen Angriffe auf Oesterreich in ihren Berichten einstellten. Der eine
der vergewaltigten Reporter, der heutige Reichstagsabgeordnete, beantwortete
das Schreiben Bismarck's mit einem überaus höhnischen und in der Form
ungehörigen Briefe. Der andere aber wandte sich an Simson mit der
Frage, ob der junge Schriftführer wirklich im Namen des Schriftführer¬
amtes die Aufforderung an ihn zu richten berechtigt gewesen sei. Bei
Beginn der nächsten Sitzung forderte Bismarck mit Ungestüm vom Präsiden¬
ten Satisfaction wegen der Antwort des Reporters. Simson sagte ihm diese
zu, bestellte ihn aber gleichzeitig Abends 8 Uhr in das Präsidentenzimmer,
um beiderseits die Satisfaction zu vereinbaren, welche Bismarck dem andern
Berichterstatter schuldig sei. Bismarck erschien zur bestimmten Stunde, aber
nur um jede Verbindlichkeit einer Satisfaction gegen den Federfuchser ent¬
schieden zu bestreiten. „Da saßen wir denn bis zwei Uhr Nachts" erzählte
uns Simson, »und tauschten unsere Gedanken aus, daß die Wände dröhnten.
Sie müssen sich den gewaltigen Mann zwanzig Jahr jünger denken. Und
am Ende gab Bismarck doch Satisfaction, und ich ihm auch, indem ich seinem
Beleidiger den Sitz wirklich entzog. Der andere Reporter behielt natürlich den
seinen."
Am 29. April bereits waren die Arbeiten des Erfurter Parlaments voll-
endet durch fast unveränderte Annahme der Unionsverfassung. Aber die Arbeit
der Volksvertretung wie der Regierung ist vergeblich gewesen. Kaumein halbes
Jahr später demüthigte sich Preußen zu Olmütz, und am 14. Mai 1851 schloß
der Kreislauf der deutschen Einheitsbestrebungen mit der Reactivirung des
Bundestages. Präsident Simson, wie soviele andere seiner Strebensgenossen
von Frankfurt, Gotha und Erfurt, hielt unter solchen Verhältnissen eine fernere
Betheiligung an der politischen Arbeit nutzlos, und zog sich daher Ende 1852
ganz vom öffentlichen Leben zurück, lediglich seinem Amt und seinen Studen¬
ten sich widmend. Er hatte bis dahin, trotz des Scheiterns der nationalen
Hoffnungen der Revolutionsjahre, seit August 1849 — von Königsberg ge¬
wählt — in der zweiten preußischen Kammer seinen Sitz behauptet und hier
eine hervorragende Rolle gespielt. So war er 1849 — 50 Mitglied des Ver¬
fassung - Revisionsausschusses und nach dem Scheitern der deutschen Unions¬
verfassung einer der Führer der compacten und kräftigen Opposition gegen
die undeutsche und würdelose Politik des reactionären Ministeriums Manteuffel
gewesen. Aber mit dem völligen Durchbruch der Reaction, nach Beugung
des kurhessischen Verfassungsrechtes, der Paeification Schleswig-Holsteins, der
Veräußerung der deutschen Flotte und der retrograden Bewegung auf allen
Gebieten des inneren preußischen Staatslebens, entsagte er seiner letzten parla¬
mentarischen Function auch im engern Vaterlande.
Erst als mit der Regentschaft des Prinzen von Preußen und mit dem
Ministerium Schwerin-Auerswald die Verheißung einer neuen Zeit über
Deutschland kam, nahm Simson wieder ein Mandat für das Abgeordneten¬
haus an. So saß er 1858—60 für Königsberg, 1861 für Wetzlar. 1862
bis 67 für Montjoie-Malmedy in der Preußischen II. Kammer als
einer der Führer der Altliberalen, von allen Parteien gefeiert wegen
seiner Erfahrung, Gesinnung und Beredsamkeit. Das allgemeine Vertrauen
seiner Collegen übertrug ihm in den Jahren 1860 und 61 die Präsidenten¬
würde des Abgeordnetenhauses, bis nach Uebernahme der Regierungsleitung
durch Bismarck die schärfer sich zuspitzenden Parteiconflicte auch einen schärfer pro-
noncirten Fortschrittsmann, Grabow, auf den Präsidentenstuhl erhoben. Aber
bei einem heilverkündenden Ereignisse von eminenter Bedeutung hatte Simson noch
als Präsident des Abgeordnetenhauses die Glückwünsche der Volksvertretung
darzubringen gehabt: bei der Krönung König Wilhelm's I. zu Königsberg
am 18. October 1861. — Die hervorragendste, wenn auch verborgenere Leistung
Simson's als preußischer Abgeordneter war wohl seine Leitung der Justizcom¬
mission, deren Vorsitzender er eine Reihe von Jahren hindurch, in guten und
bösen Tagen gewesen ist, bis er 1867, seinem Reichstagsmandate zu Liebe,
überhaupt eine Wiederwahl ins Preußische Abgeordnetenhaus ablehnte.
Das neue Deutschland seit 1866 hat Simson, wie die meisten seiner ehe-
maligen Frankfurter Kampfgenossen, welchen beschieden war, die große Zeit
noch zu erleben, auf Seiten der national-liberalen Partei gesehen. Er ist aber
auch hier einer eigentlichen Parteithätigkeit entrückt worden durch die stete
Wahl zum Präsidenten aller norddeutschen und deutschen Reichstage vom Früh¬
jahr 1867 an bis 1872, sowie des deutschen Zollparlamentes von 1868 bis
1870. Den Werth und die Größe der Leistungen Simson's in dieser Stel¬
lung haben wir schon eingangs zu würdigen versucht. Sie werden mit jedem
Jahre höher geschätzt werden. So darf der edle gute Mann auch auf
sein Leben in jeder Beziehung, namentlich aber auf sein politisches
Streben das Göthe'sche Wort anwenden: „Was man in der Jugend wünscht,
hat man im Alter die Fülle." Als eine merkwürdig ausgleichende Gunst des
Schicksals namentlich liegt in der Fügung, daß demselben Manne, der
einst mit fast gebrochenem Herzen aus dem preußischen Königsschlosse trat,
als der vierte Friedrich Wilhelm die deutsche Krone von sich wies, beschieden
gewesen ist, der Sprecher der deutschen Volksvertretung zu sein bei jeder Ge¬
legenheit, wo der Reichstag den Schirmherrn des Norddeutschen Bundes auch
als Schirmherrn der nationalen Hoffnungen Deutschlands begrüßte. So am
3. October 1867 bei Ueberreichung der Adresse des Reichstags auf der Hohen«
zollernburg; so zu Berlin am 19. Juli 1870, am Tage der frechen französi¬
schen Kriegserklärung, so endlich an der Spitze einer anderen, glücklicheren
Kaiserdeputation am 18. December 1870 im französischen Königsschlosse zu
Versailles. Es war ein gutes Zeichen, daß die gesetzlichen Vertreter des deut¬
schen Volkes an der Wiege des neuen Kaiserthums standen, ein ebenso gün¬
stiges Zeichen aber, daß Präsident Sun son ihr Sprecher war; der Mann, der
in seltenem Grade entschiedenen Freimuth mit maßvoller Würde und vollen¬
deter Redegabe verbindet. Nun allerdings ist ihm das Haar gebleicht und in
das ruhige freundliche Antlitz haben die Jahre ihre Furchen gegraben. Aber
aufrecht und geistesfrisch wie immer steht er unter dem jüngeren Geschlechte.
Möge er noch lange ausdauern an der Spitze des deutschen Parlamentes, der
„ewige Präsident" Simson!
Die Wiederaufrichtung des deutschen Reiches hat ein Hauptziel des im
Jahres 1858 begründeten volkswirthschaftlichen Congresses — Deutschlands
wtrthschaftliche Neugestaltung — in ungeahnter Raschheit verwirklicht. Aber
die eigentliche Aufgabe des Congresses ist damit noch keineswegs erfüllt; denn
das deutsche Reich steht erst im Entwurf und in seinen Umfassungsmauern
fertig da. während der innere Ausbau durch zahlreiche Einzelgesetze erst ganz
allmählich vollendet werden kann und gleichzeitig sogar die Grundlage gegen
äußere Angriffe und innere Unterwühlung noch fortdauert geschützt und ge¬
stützt werden müssen. Wir dürfen nicht in Abrede stellen, daß der freihändle¬
rische Fortschritt, dessen Hauptträger der volkswirthschaftliche Congreß seit vierzehn
Jahren gewesen ist, in neuester Zeit sehr heftige Angriffe erfahren hat und in
nächster Zukunft voraussichtlich einen harten Stand haben wird. Die Frei¬
heit kann keine idealen Zustände schaffen und der schnelle Uebergang aus un¬
freien in freie Verhältnisse wird überall auch seine Schattenseiten und Unbe¬
quemlichkeiten haben. Es rächt sich jetzt bitter, daß man in Deutschland den
unteren Klassen die Arbeitsfreiheit, die Freizügigkeit, die Verehelichungsfrei-
heit, die Coalitionsfreiheit und verschiedene andere politische und wirthschaft¬
liche Grundrechte so lange vorenthalten hat. Das Volk macht von den so
rasch erworbenen Rechten und Freiheiten nicht überall den wünschenswerthen
Gebrauch, insbesondere hat der gewaltige Zuzug in die großen Städte, die
dort entstandene Wohnungsnoth, der Gründungsschwindel in den höheren
Ständen und die Strikelust in den unteren Ständen viele Leute bedenklich ge¬
macht — und da kommen nun verschiedene Gelehrte, Bureaukraten und so¬
cialistische Arbeiterführer, um die freie Concurrenz für die Uebel der Gegen¬
wart verantwortlich zu machen und vom deutschen Reiche zu verlangen, daß
es die kranke Zeit auch in socialer Hinsicht durch allerlei Kraftmittel heile,
welche die kaum erworbenen Grundrechte und Freiheiten wieder beschränken
würden, während es umgekehrt gerade jetzt Aufgabe der Wissenschaft und der
practischen Staatskunst ist, die neue wirthschaftliche Reichsgesetzgebung im
Volksbewußtsein zu befestigen und die Massen an die mit den neuen Freihei¬
ten verbundenen Pflichten zu gewöhnen, gleichzeitig aber davor zu warnen,
den Staat mit einer directen Lösung der socialen Frage zu behelligen.
Die Männer des volkswirthschaftlichen Congresses werden sich auf schwere
Kämpfe gefaßt machen müssen, um das Errungene zu behaupten, und das
Vorgefühl der schon erlittenen und noch mehr bevorstehenden Anfechtungen
ist auch in den Verhandlungen des diesjährigen Congresses deutscher Volks¬
wirthe in Danzig in den Tagen vom 26. — 29. August d. I. zum Ausdruck
gekommen. — Es war unter den alten Mitgliedern dieses Congresses schon
vorher bekannt geworden, daß die sogenannten Katheder-Socialisten eine
Art volkswirthschaftlichen Gegencongreß beabsichtigen und zu ihrer ersten
Conferenz auf den 6, und 7. October nach Eisenach eingeladen und in der
Einladung die „absoluten Angehörigen der Manchesterschule" oder die An¬
hänger des sogenannten „absoluten laisser tairs et laisser passer" ausge¬
schlossen haben. Man darf auf eine interessante Interpretation des Begriffes
„Manchesterschule" oder der politischen Phrasen des sogenannten „luisser Kurs
et Is-isser passer" und auf eine noch interessantere Charakteristrung der soge¬
nannten „absoluten" Angehörigen der Manchesterschule in Eisenach gespannt
sein, sobald die dort erscheinenden Katheder-Männer es nicht etwa vorziehen
sollten, die Oeffentlichkeit auszuschließen. Die Professoren, denen auf ihrem
Katheder Niemand widerspricht, sollten sich über jeden Widerspruch doppelt
freuen und siehe da — sie beginnen ihr erstes öffentliches Auftreten zur
Erörterung der socialen Frage mit dem Ausschluß einer ganzen Schule, die
sie nach einer politischen Phrase als Anhänger des „absoluten luisser taire et
laisssr passer" verurtheilen zu können glauben. Die Einseitigkeit, welche
aus der Einladung zur Eisenacher Conferenz spricht, läßt dies ganze Unter¬
nehmen schon in der Anlage als verfehlt erscheinen, weil man die Geg¬
ner ausschließt, anstatt sie zu hören und zu widerlegen!*) Mit Recht machte
der Präsident des Danziger Congresses, Dr. Braun, in seiner Eröffnungsrede
darauf aufmerksam, daß der volkswirthschaftliche Congreß seine Mitglieder nicht
auf ein Programm schwören lasse, daß er den gegnerischen Ansichten nicht den
Mund verschließe, daß er fern von jeder zunftmäßigen Ausschließlichkeit und
von jedem Conventikelwesen die wirthschaftlichen Probleme erörtere und daß
die Freiheit des Meinungsaustausches mit vollster Oeffentlichkeit die Lebens¬
lust des Congresses und Vorbedingung jeder dauerhaften gesunden Leistung
sei. — Die diesjährigen Congreßverhandlungen haben denn auch dargethan,
daß innerhalb des volkswirthschaftlichen Congresses ganz erhebliche Gegensätze
bestehen und daß dieselben regelmäßig im lebhaften Kampf der Geister auf
einander platzen. Der Congreß sprach sich nur über drei Gegenstände nahezu
einstimmig aus, nämlich über die Fragen der Zolltarifreform, der Binnen¬
schifffahrt und der Arbeiter-Hülff- und Invaliden-Cassen, während in der wich¬
tigen Banknoten- und Reichsbank-Frage die Freunde und Gegner der Reichs¬
bank und des Monopols sich gerade die Wage hielten und jeden Beschluß
ablehnten und in der Frage der Unentgeltlichkeit des Volksschulunterrichtes
nur eine kleine Majorität für Unentgeltlichkeit votirte. In der Eisenbahn¬
frage wurde auf jede Abstimmung verzichtet und die Fortsetzung der Berathung
auf den nächsten Congreß vertagt.
Wir beginnen mit der wichtigsten und ausführlichsten Verhandlung, welche
den diesjährigen Congreß beschäftigte.
Die dritte, beinahe einstimmig angenommene Resolution betraf nämlich
die Frage der Hülff- und Invaliden-Cassen, mit welcher sich der
Congreß einen vollen Tag in der eingehendsten Weise beschäftigte. Stadtrath
Rickert von Danzig erstattete darüber einen eben so gediegenen wie inter¬
essanten Bericht, welcher wohl unbedingt als die beste Leistung des diesjährigen
Congresses bezeichnet werden kann. Die Frage der Arbeiter Hülff- und In-
validen-Cassen ist in letzter Zeit sehr in den Vordergrund getreten, weil man
darin ein Hülfsmittel erblickt, um die Last der Armenpflege zu erleichtern, vor
der sich die Communen in Folge der Reichsgesetze über Freizügigkeit und über
den Unterstützungswohnsitz immer mehr zu fürchten scheinen, so daß man hier
und da schon verschiedene Beschränkungen der Freizügigkeit vorgeschlagen hat.
Unter der früheren preußischen Gewerbeordnung bestand ein Zwang für Ar¬
beiter und Unternehmer, zu gewerblichen Hülfscassen beizusteuern. Nach der
norddeutschen Gewerbeordnung entbindet der Nachweis, einer andern Casse
anzugehören, den Gewerbsgehülfen von der Pflicht, einer durch Ortsstatut er¬
richteten Casse beizutreten. Der Reichstag hat nun schon vor einigen Jahren
die Vorlage eines Gesetzes verlangt, welches Normativbedingungen für die
Errichtung solcher gewerblichen Hülfscassen aufstelle und die Beitragspflicht
regeln soll; seit 1869 beschäftigt dieser Beschluß den Bundesrath. Inzwischen
ist in diesen Cassen Verwirrung eingetreten, die Communen können ihren
Verpflichtungen nicht nachkommen, mehrere der durch Ortsstatute errichteten
Zwangscasfen sind eingegangen. Es fragt sich daher, welchen Standpunkt
die Reichsgesetzgebung in dieser wichtigen Frage künftig einnehmen und ob der
Versicherungszwang gerade gegen die Classe der gewerblichen Hülfsarbeiter
durchgeführt werden soll. Der Referent Rickert verneint die Zweckmäßigkeit
des staatlichen Einschreitens hauptsächlich deshalb, weil er die Ueberzeugung
habe, daß die Frage auf anderem Wege besser gelöst werde. Er lieferte zu¬
nächst den statistischen Nachweis, daß es keineswegs Gesellen und Fabrikarbeiter
seien, die vorzugsweise den Gemeinden als unterstützungsbedürftig zur Last
fallen. In Berlin besteht nur der vierte Theil der Unterstützten aus Männern,
drei Viertheile aus Frauen und Kindern. In der Fabrikstadt Elberfeld
werden nur 1297 Personen unterstützt. Danzig habe mindestens 6 — 6000
unterstützte Personen, obwohl es keine Fabrikstadt sei und das Gesetz über
die Zwangscassen hier kaum eine Voraussetzung habe. Die Maßregel der
obligatorischen Hülfscassen sei, wie die Erfahrung lehre, ganz unzureichend
motivirt, weil es gar nicht die Industrie-Arbeiter sind, welche die Gemeinden
vorzugsweise belasten. Es sei daher durchaus unnöthig, für diese Classe der
Bevölkerung, die überdies nur etwa Is Procent ausmache, eine Ausnahms-
Gesetzgebung zu erlassen; etwas Anderes als eine Ausnahme, als ein xrivils-
gium oäiosurll für Arbeiter sei der Zwang zum Beitritt zu Unterstützungs-
cassen nicht. Die bisherigen Zwangscassen haben factisch auch nichts geleistet.
Die ausgebrachten Beiträge seien gegenüber der Armenetats der Communen
zu unbedeutend, in Danzig nur 4000 Thaler auf 100,000 Thaler, in Elber-
feld nur 13,000 auf 80,000 Thaler. Die Zwangscassen, deren Verwaltung
nothwendig eine büreaukratische sein müsse, erfordere auch verhältnißmäßig viel
zu theuere Verwaltungskosten, diese Kosten betragen durchschnittlich mehr als
13 Procent der Gesammtleistungen. Hierzu kommt, daß bei den Zwangs¬
cassen verhältnißmäßig nur geringe Beiträge verlangt werden können und daß
sich dafür nichts leisten läßt. Ferner werde bei den bisherigen Zwangscassen
in dem Arbeiter das Gefühl der vollen wirthschaftlichen Verantwortlichkeit
nicht geweckt, sondern er glaube im Gegentheil durch seine pflichtmäßigen
Beiträge auch seine Pflicht gegen seine Familie genügend erfüllt zu haben.
Darum müßten die Arbeiter auf frei zu bildende Cassen hingewiesen werden,
zu denen sie dann auch gerne freiwillig erheblichere Beiträge übernehmen
würden. Am Schlüsse seines Vortrags wendete sich der Referent zur Unter¬
suchung der Frage: wo denn nun die Abhülfe der gegenwärtigen Zustände
liege? Er fand sie in der Form der Armenpflege selbst. Der Arbeiter solle
volle Freiheit, daneben aber auch volle Verantwortlichkeit für seine Existenz
haben, indem ihn die Commune, falls er sich nicht mehr zu erhalten vermöge,
in das Arbeitshaus verweise, das allerdings abschreckend wirken müsse, um
eine rationelle Armenpflege zu Wege zu bringen. Also fort mit der Senti¬
mentalität unserer 'communalen Armenpflege, wobei die Unterstützten oft besser
leben als die Unterstützenden! Der Referent empfahl dieses Thema zu wieder¬
holter Behandlung auf dem Congreß und schlug in der Hauptsache folgende
Resolutionen vor: „1) Es ist nicht gerechtfertigt, für die Gesellen, Gehülfen
und Fabrikarbeiter einen Zwang zum Beitritt zu gewerblichen Hülff- und
Invaliden-Cassen gesetzlich festzustellen. 2) Der Staat hat die Aufgabe, die
freie Entwicklung und die möglichste Benutzung von Hülff- und Jnvaliden-
Cassen für alle Berufsclassen dadurch zu fördern, daß er im Wege der Gesetz¬
gebung über die Verwaltung, die Beitragsbedingungen und die Leistungen
dieser Cassen Bestimmungen trifft, welche eine erfolgreiche und dauernde Wirk¬
samkeit derselben sichern. Auch ist zugleich Vorsorge dafür zu treffen, daß das
Vermögen der Hülff- und Invaliden-Cassen zu keinem andern als zu dem in
den Statuten derselben ausgesprochenen Zwecke verwendet wird."
Der Ccrreferent Professor Böhmert von Zürich fügte diesen beiden An¬
trägen noch einen dritten hinzu, dahin lautend: 3) „Es ist wünschenswert^,
die Arbeiter-Hülfscassen so zu organisiren, daß sie möglichst weite Kreise um¬
fassen und die Freizügigkeit der Arbeiter nicht beeinträchtigen. Die Unter¬
nehmer sollten, im eigenen geschäftlichen Interesse die Selbstversicherung der
Arbeiter auf jede Weise fördern und entweder einzeln oder in Vereinen sich
der Arbeiter-Hülfscassen thätig annehmen." — Vor Begründung dieses
Antrags suchte der Redner zunächst aus den Erfahrungen der Schweiz nach-
zuweisen, daß man die Industrie mehr durch Zwangsinstitute beschränken solle,
während sich das freie Cassenwesen der Arbeiter schon nach allen Richtungen
hin entwickle. Nicht die Arbeiterbevölkerung rufe die Bedrängniß der Ge¬
meinden durch Zunahme der Armuth hervor, die Industrie vermindere um¬
gekehrt gerade die Armuth. Die armen Gemeinden der Schweiz flehten in
Zeitungsinseraten förmlich um Begründung von Fabriken und versprechen den
Unternehmern alle möglichen Erleichterungen. Professor Kinkelin in Basel
habe über den Stand der gegenseitigen Hülfsgesellschaften der Schweiz im
Jahre 1865 berichtet. Es bestanden damals 632 Hülfsvereine mit mehr als
96,000 Mitgliedern. Die Einnahmen betrugen 1865: 1,529,098 Franken und
die Ausgaben 1,059,418 Franken. Nur in seltenen Fällen sei der Beitritt
zu diesen Cassen obligatorisch in Folge von Reglements von öffentlichen Be¬
hörden, von Eisenbahnverwaltungen, Fabrikbesitzern ze. Die große Mehrzahl
dieser Cassen beruhen auf Freiwilligkeit. Das Sparen sei eine sittliche That;
zu einer solchen dürfe man Niemanden zwingen, sie wolle in der Freiheit voll¬
bracht sein. Jeder Zwang nehme dem Arbeiter die Freudigkeit. In vielen
Fällen sei die Abführung des ersparten Geldes an eine obligatorische Hülfs-
casse absolut unwirthschaftlich. Der Fabrikarbeiter wolle vielleicht später zur
Landwirthschaft übergehen und da kommen ihm seine Ersparnisse besser zu
gute. Ein anderer Arbeiter wolle seine alten Eltern unterstützen; ein dritter
seinen Kindern eine bessere Erziehung angedeihen lassen. Viel besser wäre es
im Allgemeinen für den Arbeiter jedenfalls, zur Gewinnung einer eigenen
Häuslichkeit sich die Mittel zu sparen. Also fort mit solchem Schablonenhaften
Zwange! Auch bei den Arbeitgebern werde die Freiwilligkeit der Leistungen
für die Arbeiter diesen weit mehr nützen, da sich die Leistungen dann den
jedesmaligen Verhältnissen besser anpassen würden. Die sociale Zukunft könne
vielleicht dahin führen, daß die Arbeiter nur bei solchen Unternehmern arbeiten
wollen, welche statutarische Rechte auf Antheil von Gewinnüberschüffen ein¬
räumen oder doch mindestens Reservefonds ansammeln, aus denen die Arbeiter
in bestimmten Fällen Unterstützung empfangen. Die Selbsthülfe der Arbeiter
verfahre viel schöpferischer als dem Staat möglich sei. Man solle daher von
einem directen Eingreifen der Staatsgewalt «brachen und dafür die positiven
Aufgaben der Arbeiter, der Unternehmer und des Publicums nachdrücklich be¬
tonen. Der Arbeiter müsse wirthschaftlich gebildet und daran gewöhnt werden,
sich selbst zu versichern. Die freiwilligen Cassen sollten bezirksweise organiftrt
werden, es müsse die Freizügigkeit der Arbeiter den Cassen gegenüber gesichert
sein, indem der Versicherungsschein vielleicht für den Fall des Wegzugs rück¬
käuflich gemacht werde. Die Verficherungs- und Hülfscasfen müßten vor Allem
individuell gehalten werden, damit kein Mitglied feiner Beiträge wieder ver¬
lustig werde. Die Unternehmer sollten einzeln oder in Genossenschaften sich
der Hülfscassen der Arbeiter kräftig annehmen und Zuschüsse nach einem an¬
gemessenen Maßstabe leisten, um namentlich auch solchen Personen, welche eine
Versicherungsanstalt gewöhnlicher Art entweder gar nicht oder nur zu un¬
verhältnismäßig hohen Prämien aufnehmen würden, die Möglichkeit der Be¬
theiligung zu verschaffen. Ferner müsse das gesammte Publieum ein Inter¬
esse daran nehmen. Gemeinnützige Männer müßten den Arbeitern mit Rath
und That zur Seite stehen, um sie vor Schaden zu bewahren.
Nach diesen Ausführungen der beiden Referenten constatirte ein Arbeiter
Benkmann aus Danzig, als Bevollmächtigter für den Verband der deutschen
Gewerkvereine, das Verlangen der Arbeiter, daß der Beitrittszwang zu den
gewerblichen Hülfscassen aufgehoben werde. Die Gewerkvereine hätten bereits
vor zwei Jahren beim Reichstage um Aufhebung des Zwanges petitionirt.
Der leise Zwang, den die deutsche Gewerbeordnung noch ausspreche, wonach
der Arbeiter mindestens einer Casse angehören müsse, könnte den Gewerk¬
vereinen bei eigennütziger Tendenz schon erwünscht sein, weil er ihnen Arbeiter
in Masse zuführe, aber die Gewerkvereine wollten im individuellen Interesse
des Arbeiters volle Freiheit. Die freien Cassen der Gewerkvereine sicherten
den Arbeiter bei Veränderung seines Wohnsitzes gegen Verlust, da die Mit¬
gliedschaft nicht von dem Wohnsitze bedingt sei, sie gewöhnen ihn an Selbst¬
verwaltung und machen ihn zu einem seiner Selbstverantwortlichkeit bewußten
Staatsbürger, während der Arbeiter durch eine ihm angewiesene Ausnahms-
stellung gedrückt werde und in seinen eigenen Augen entwürdigt erscheine.
Die bestehenden freien Cassen der Arbeiter seien noch mangelhaft, die Statuten
würden aber an der Hand der Erfahrung verbessert werden. Die Mangel-
haftigkeit der Statuten liege zum Theil in der Mangelhaftigkeit der Arbeiter¬
statistik. Vorläufig würden vier, durch plötzliches Unglück invalid gewordene
Arbeiter mit je 2 Thaler wöchentlich unterstützt. In dieser Thatsache liege
doch schon ein Fortschritt gegen früher. Der Arbeiter, der sich nicht versichere,
möge die Folgen tragen und ins Arbeitshaus verwiesen werden; man möge
dann aber auch das Streben der Arbeiter, ihre Lage zu verbessern, denselben
nicht als Verbrechen anrechnen und mit denselben lieber sich gütlich ausgleichen,
als wie hier jetzt in Danzig zuvor erst sehen, wie weit die Kräfte derselben reichen.
Den ebenmitgetheilten Argumenten für die Freiheit des Hülfscassenwesens
trat zunächst Otto Wolff aus Stettin entgegen, der in den Zwangs-
hülfscassen ein Mittel erblickte, um die bereits so vielfach angefochtene und
manchen Gemeinden unbequem werdende Freizügigkeit zu retten. Er bemerkte,
daß der Referent Rickert einen etwaigen Conflict zwischen der Armenunter¬
stützungspflicht zwischen den Gemeinden und der Freizügigkeit durch eine Reform
der Armenpflege beseitigen wolle, doch reiche es nicht aus, die Armen ins
Armenhaus zu schicken, man müsse dann die Armenpflege überhaupt ihres
obligatorischen Characters entkleiden. Den Conflict mildern heiße ihn nicht
aufheben-, consequent sei allein, wer die Zwangsarmenpflege durch die frei¬
willige ersetze, er seinerseits freilich halte dies für unmöglich. Selbst der hart¬
herzigste Mensch wolle doch nicht Leute, wenn auch aus eigenem Verschulden,
neben sich verhungern sehen. Nun gebe es Nothstände, die der Staat um
seiner Existenz wegen fernhalten müsse. Bestände keine gesetzliche Pflicht zur
Armenpflege, fo würde die Staatsgewalt leicht in excentrische Bahnen und
zu communistischen Maßregeln gedrängt werden können. So lange aber auch
nur ein Rest von Zwangsarmenpflege bestehe, seien Conflicte derselben mit
der Freizügigkeit nicht unmöglich. Obwohl er die Arbeiterbewegung nicht so
harmlos auffasse, fürchte er dieselbe doch nicht so sehr wie die Thorheiten der
Kapitalisten. Die Schwärmerei derselben für die idyllischen Zustände vollster-
Verkehrsfreiheit sei bereits zu Ende. Bis wir zu den gesegneten Zuständen
der bessern Zukunft gelangten, komme eben eine sehr unbehagliche Zwischen¬
zeit. Dieselbe Bourgeoisie, der Johann Jacoby nicht links genug saß, sei
jetzt bereit, die ganzen wirthschaftlichen Freiheiten zum Fenster hinauszuwerfen,
weil der Hauswirth die Miethe steigere, weil die Louis-Wirthschaft lästig sei,
weil der Thiergarten stinke ze. ze. Nun trete der Berliner Magistrat auf und
verlange einen Eingriff in die Freizügigkeit und Gewerbefreiheit, diese Grund¬
lagen des deutschen Reiches. Die Möglichkeit eines Conflicts zwischen diesen
Grundfreiheiten und der communalen Armenpflege sei nicht zu leugnen. Würden
nun zur Milderung des Conflicts Zwcmgshülfscassen eingerichtet, so sei es
eine fehlerhafte Auffassung, darin einen Eingriff in die wirthschaftliche Frei¬
heit zu erblicken, denn dann würde jede Steuerzahlung, mit der man nicht
einverstanden, ein solcher Eingriff. Wer die Vertheilung der Lasten, die ein
Correlat gewisser wirthschaftlicher Freiheiten seien, für falsch halte und vor
der Commune noch erst andere Kreise zu ihrer Tragung heranziehen wolle,
der verlange keinen Eingriff in die wirthschaftliche Freiheit. Vor der Com¬
mune seien die großen Fabrikunternehmer heranzuziehen und womöglich in einer
Weise, die frei sei von den Schattenseiten der Zwangsarmenpflege der Com¬
munen und die betreffenden Institute zu wirthschaftlichen Erziehungsanstalten
für die Arbeiter erhebe. Er erblicke in den Zwangscassen eine wirthschaftlich
richtige Vertheilung der Armenlast. Der Einwand, daß man nicht einzelne
Classen der Bevölkerung herausgreifen dürfe, beseitige sich d«res die Erwieder¬
ung, daß man zunächst den greife, den man fassen könne. Die Knappschafts-
casse für die Bergarbeiter hätte sich so ziemlich bewährt. Noch besser sei für
die ländlichen Arbeiter gesorgt, welche in einer Art Productivgenossenschaft
mit den Grundbesitzern leben. Die Dienstboten seien bei ihren Herrschaften
versichert. Ob nach Aufhebung der Innungen, Cassen, wie er sie sich denke,
für die Gesellen durchführbar seien, möge dahin gestellt bleiben. Er würde
jedes größere Etablissement verpflichten eine Casse einzurichten, in welche die
Arbeiter mitzahlten und die sie mitverwalteten. So würde das Gehässige des
Zwanges doch wohl in einem milderen Lichte erscheinen.
Der auf Wolfs folgende Dr. Eras von Breslau verhehlte nicht, daß die
eben gehörte Rede einen peinlichen Eindruck auf ihn gemacht habe. Dieselben
Motive ließen sich auch für ein gemäßigtes Einzugsgeld anführen. Die Cassen
mit niedriger Einlage und Beitrag könnten nichts erreichen ; mache man Ein¬
lage und Beitrag groß, so habe man ein für einen freihändlerischen volks-
wirthschaftlichen Congreß geschmackvoll zugestutztes Zuzugsgeld. Der tiefere
Grund des Conflicts zwischen Freizügigkeit und Armenpflege sei der Reiz der
großen Städte für Leute, die sich ihrer schwachen Productionskraft bewußt
seien. Dergleichen Leute könnten sich auf dem platten Lande schwer einen
behaglichen Zustand verschaffen; in der großen Stadt finde man leichter ein
Unterkommen und allerlei Zuschüsse zu seinem Lebensvedarf, die schmackhafter
seien, als das auf dem Lande gereichte Almosen. Dieser Zuzug des Proleta¬
riats sei wesentlich also eine Folge der Sentimentalität, die im städtischen
Armenwesen herrschte. Im Breslauer Asyl sür Obdachlose bilde dieses Pro¬
letariat den Haupttheil der Gäste. Hier sei der Angriffspunkt in dieser Frage
zu suchen. Was die Organisation der Zwangscassen anlange, so weise Dr.
Wolff auf das relativ Gute der Knappschaftscassen hin; er kenne dieselben
aus dem Ruhrdistrict her, er selbst habe dort einer Enquete-Commission bei¬
gewohnt, und in dieser war man der Ansicht, daß die Knappschaftscassen nicht
zum Muster für Gewerbshülfscassen dienen könnten. Der Mangel der Frei¬
zügigkeit, welcher dieselben charakterisire, wurde als arger Mißstand bezeichnet.
Auch Oberberghauptmann von Carnall in Breslau theile die Ansicht von der
Trefflichkeit der Knappschaftscassen nicht. Die Gesetzgebung habe für bessere
Garantien zu sorgen, wozu die Normativbedingungen Gelegenheit böten.
Eine Controle der Verwendung müsse gegeben sein. Die Strikes gingen nicht
so harmlos vor sich, wie ein Romanschriftsteller es sich vielleicht ausmale. Die
Mehrzahl derselben werden mittelst unerhörten Zwangs zu Stande gebracht,
und die Freiheit Strikecassen zu gründen unter einem andern Vorwande dürfe
nicht als Ausfluß der wirthschaftlichen Freiheit geschützt, sondern müsse vom
Gesetzgeber als die Organisation des Zwanges verhindert werden. Die Reso¬
lution, welche er vorschlage, lege den Finger in die Wunde und würde eher
verstanden werden als die Resolution des Referenten. Sie lautet: „1) Die
seit Einführung der Freizügigkeit und Gewerbefreiheit beobachtete vermehrte
Belästigung größerer Städte durch Proletariat ist mittelst Einführung von
Zwangshülfseassen nicht zu beseitigen, sondern nur durch eine rationellere
Handhabung der Armenpflege und durch Unterbringung der arbeitsfähigen
Unterstützungssuchenden in Arbeitshäusern zu heben. 2) Das Arbeiter-Hülff-
und Invaliden-Cassenwesen ist in der Weise gesetzlich zu regeln, daß Norma¬
tivbestimmungen erlassen werden, welche namentlich die Verwaltung der ange¬
sammelten Gelder zu Strikes und agitatorischen Zwecken verhindern und eine
möglichst große Publicität der Verwaltung sichern. Im Uebrigen ist die Or¬
ganisation der Cassen den betheiligten Arbeitern zu überlassen."
Der nach Eras austretende Dr. A. Meyer von Berlin nahm denselben
Standpunct ein wie Dr. Wolfs. Er warnt vor einer zu schroffen Betonung
des Princips und der Doctrin; ein kleines Opfer auf dem Gebiete der kom¬
munalen Armenpflege dürfe man nicht scheuen, wo es sich darum handle, das
große Princip der Freizügigkeit zu retten. Es sei zu unterscheiden zwischen
Zwangscassen und Cassenzwang. Die ersten verwerfe auch er, dagegen wolle
er, daß der Arbeiter gesetzlich gehalten sei, einer öffentlich anerkannten gewerb¬
lichen Hülfscasse beizutreten, die unter gewisse Normativbedingungen gestellt
sei. Diese Cassen seien ein Zweig des Versicherungswesens. Die Versiche¬
rungsanstalten für den wirthschaftlich geschulten Theil der Nation seien vom
Staate controlirt, die für den wirthschaftlich weniger geschulten Theil des
Volkes würden in der laxesten Weise gehandhabt. Er wünsche im Princip,
daß der Arbeiter in voller Freiheit seine Existenz versichere; für den Fall wo
dieses nicht geschehe, wolle er subsidiarisch Versicherungszwang statuiren. Nicht
alle Gemeinden ließen sich in die Kategorien Danzig oder Elberfeld bringen;
es gebe auf dem Lande Fabriken, z. B. die Sodafabriken, welche die Gesund¬
heit der Arbeiter in 10 bis 12 Jahren angriffen, ohne daß die Besitzer dadurch
unterstützungspslichtig würden. Die kranken Arbeiter fielen den Gemeinden
zur Last; warum hier nicht Cassenzwang einführen? Die Prosperität der Ge-
werksvereinscassm beruhe zum großen Theil auf den „verfallenen Geldern"
derjenigen, die irgend einen Strike nicht mitmachten; der Unterstützungszweck
werde durch solche Cassen, die zugleich Strike-Zwecke verfolgten, nicht erreicht.
Ein Verbot solcher Cassen sei fruchtlos; es müsse ihnen aber das Recht der
juristischen Person versagt bleiben- Der Cassenzwang würde nur darin be¬
stehen, daß die Arbeiter gewisser Categorien gehalten seien, einer öffentlich
anerkannten, z. B. in das Handelsregister eingetragenen Casse beizutreten.
Der Angriff des Dr. Eras auf die Knappschaftscassen sei kein glücklicher ge¬
wesen; die schlesischen Cassen ständen durchaus in Ansehen und würden für
unentbehrlich gehalten; ihrer Ablösung durch Gewerkvereinseassen würde mit
großer Besorgniß entgegengesehen. Die Vergleichung des Cassenzwangs mit
einem gemäßigten Einzugsgeld sei nicht glücklicher; das letztere würde
ganz unwirtschaftlich ohne Gegenleistung dargebracht, der Cassenzwang
hingegen nöthige zu einer durchaus verständigen Handlung, die der Arbeiter
eigentlich aus eigener Einsicht vollbringen solle. Eine solche Bevormundung
trete ja auch in andern ausnahmsweisen Fällen ein, z. B. beim Verschwender.
Dr. Eras habe die tiefere Ursache und die Symptome verwechselt, indem er
den Anreiz der großen Städte auf ärmere Personen hervorgehoben; es handele
sich aber im Wesentlichen mit um Einrichtungen, die den ländlichen Gemeinden
und kleineren Städten zugute kommen sollten. Der Staat solle ein Zwangsrecht
haben, wo ohne Uebung desselben bedrohliche Zustände herbeigeführt werden
könnten.
Nach der Rede von Dr. A. Meyer vertheidigte noch Bürgermeister v. Lin¬
singen aus Ueltzen die Gemeindebehörden gegen die Angriffe von Seiten der
Gewerkvereine. Die Vertreter der kleinen Städte Hannovers hätten auf den
dringenden Wunsch der Arbeiter selbst die Beibehaltung der Zwangseassen
befürwortet, die dort seit 30 Jahren beständen und aus denen die alten Ar¬
beiter jetzt Unterstützung erwarteten, während die jungen von neuen Ideen
erfüllten Gesellen nicht zahlen wollten. Die freien Cassen würden sich nicht
bewähren und den Gemeinden die Sorge für die unterstützungsbedürftigen
Arbeiter überlassen. Der Zwang müsse und werde einst fallen; jetzt sei man
aber noch nicht so weit, um ihn aufheben zu können, denn der Arbeiter sei
sich seiner wirthschaftlichen Selbstverantwortlichkeit noch nicht bewußt.
Nach erfolgtem Schluß der Debatte resumirte Stadtrath Rickert die De¬
batte. Der Ruf nach gewerblichen Zwangseassen sei nur eine Wirkung der
Furcht vor den Strikecassen der Gewerkvereine, es fehle aber der Nachweis,
die Zwangseassen in wirksamer Weise einführen zu können und die dagegen
erhobenen Bedenken seien nicht widerlegt worden. Man möge doch einmal
den Weg der Freiwilligkeit versuchen; ehe dies nicht geschehen, dürfe man
nicht für einen Theil der Arbeiter ein Ausnahmegesetz schaffen. Die Reso¬
lution, welche die Herren Eras und Oppenheim vorschlugen, erscheine ver¬
früht. Die Frage wegen der Arbeitshäuser möge dem nächsten Congreß vor¬
behalten bleiben. Professor Böhmert sprach sich ebenfalls für Vertagung der
Frage wegen der Arbeitshäuser aus und polemisirte gegen die Ausführungen
des Herrn Dr. Wolff und Dr. A. Meyer, womit dieselben von früher be¬
kannten Grundsätzen zurücktraten.
Durch die Anordnung von Zwangseassen greife der Staat in die Lohn¬
frage ein. Die Höhe des Lohnes werde durch Zwangsbeiträge der Unter¬
nehmer künstlich verdeckt, was beiden Theilen nachtheilig sei und namentlich
nicht angehe, wenn eine Industrie am Weltmarkt sich betheilige, wo doch die
Industrien anderer Länder ohne die Belastung der Unternehmer durch Zwangs¬
beiträge mit ihnen concurriren. — Dr. Eras zog den von ihm in Gemein¬
schaft mit Oppenheim gestellten Antrag zurück. Bei der schließlichen Abstim¬
mung wurden die von Rickert und Böhmert gestellten Anträge fast einstimmig
angenommen.
Wir haben im Vorstehenden über die Debatte in Betreff der Arbeiter-
Hülfscassen ausführlich berichtet, weil die officiöse preußische Provinzial-
correspondenz eben jetzt, 14 Tage nach Schluß des Danziger Congresses ge¬
lassen verkündigt, daß die preußische Regierung in der Ausdehnung des
Cassenzwanges oder der Zwangscassen einen Schritt zur Lösung der socialen
Frage erblicke und weil die betreffenden Danziger Verhandlungen über diese
so brennende sociale Frage am eingehendsten und sachlichsten geführt wurden
und schließlich zu einer ziemlich allseitigen Uebereinstimmung führten. Nur
wenn dies der Fall ist, können wir den auf Congressen gefaßten Resolutionen
ein größeres Gewicht beilegen.
Als die deutschen Armeen in raschem Siegesfluge das weite Gebiet
zwischen Saarbrück, Rheims, Paris, Dijon und Belfort von den Resten der
französischen Feldarmee gesäubert hatten, trat an allen wichtigeren Punkten
dieses Gebiets, namentlich in den größeren Städten, die deutsche Verwaltung
mit jener Schnelligkeit und jenem schlagfertigen Organisationsgeschick auf,
welches den Franzosen so oft Rufe der Bewunderung abgenöthigt hat. Wie
im Felde die Feldpost „allzeit voran" war, so wurde auch das Postwesen
in dem Occupationsgebiete von allen Administrationszweigen zuerst in Wirk¬
samkeit gesetzt. Kaum hatten die letzten Schüsse verhallen können, kaum die
widerwilligen französischen Receveurs ihre Postschalter zu schließen vermocht,
da erschien bereits die deutsche Post und eröffnete den Franzosen die Ver¬
bindung mit dem großen Verkehrsstrome draußen, dessen Canäle ihnen sonst
viele Monate hindurch hätten verschlossen bleiben müssen. Unzweifelhaft wird
der künftige Geschichtsschreiber des letzten großen Krieges diese Thatsache als
ein Moment von höchster kulturgeschichtlicher Bedeutung hervorheben müssen;
sie steht unseres Wissens einzig da; noch hat kein anderes Volk der alten oder
neuen Zeit während eines Vernichtungskampfes von solchem Umfange seinem
Feinde zugleich mit dem Kanonendonner die Segnungen eines friedlichen Ver¬
kehrs gebracht. Schon am 20. August 1870, unmittelbar nach den ersten ent¬
scheidenden Schlägen unseres Heeres, ließ das General-Postamt zu
Berlin eine besondere Post-Administration für das französische Gebiet zu
Nancy ins Leben treten. Diese Verwaltungsbehörde ging, indem sie das
Landes-Postwesen für Frankreich im Rücken der deutschen Armee unausgesetzt
organisirte, zur erfolgreichen Erfüllung ihrer Aufgabe später nach Rheims
vor, wo sie ihre Wirksamkeit bis unter die Mauern von Paris ausdehnend
während des ganzen Krieges bis zum 2, März 1871, in Thätigkeit blieb,
dem Tage, an welchem die Ausübung des Landes-Postdienstes in Folge einer
zwischen den General-Postdircctoren Stephan und Rampont abgeschlossenen
Übereinkunft an die französische Verwaltung zurückgegeben wurde.
Nahezu 8 Monate lang hat die deutsche Post-Administration sonach eine
überaus wichtige, von Freund und Feind gleich geschätzte Thätigkeit entfaltet;
ihre Einrichtungen haben wesentlich dazu beigetragen, die Occupation in allen
Beziehungen zu erleichtern. Endlich hat sie, wie in politischer Hinsicht, so
auch finanziell sich als sehr erfolgreich erwiesen; denn sie schloß nach Ab¬
zug aller Betriebs- und Verwaltungskosten mit einem rein en Ueb ersehn sse
von 121,428 Thalern 29 Sgr. 6 Pf. ab, der größtentheils aus dem von
französischen Bewohnern gezählten Porto entstanden ist und zugleich einen
Maßstab für die umfangreiche Benutzung der deutschen Postämter durch die
Franzosen liefert.
Wenn irgend eine Klasse von Beamten bei dem rühmlichen Wetteifer
aller Staatsorgane während dieses ewig denkwürdigen Krieges sich
einen Anspruch auf Anerkennung von Seiten der Nation erworben hat, so
ist es die ehrenwerthe Postbeamtenschast des Reichs. Davon geben die Ver¬
handlungen des deutschen Reichstags nach Beendigung des Krieges unzwei¬
deutige Zeugnisse. Allein es galt, diesem Ausdrucke der Anerkennung, die in
beredten Worten sich kundgegeben hatte, noch durch eine nationale That
eine größere Weihe zu geben, das Andenken jener aufopfernden Wirksamkeit
deutscher Männer dem Gedächtnisse der späteren Zeit zu überliefern, als strenge
Lehre, als leuchtendes Vorbild. Der Mann, welcher diesem Gedanken Form
und Ausdruck gab, war der General-Postdirector Stephan, dem die deutsche
Nation bekanntlich eine vollständige Neugestaltung des PostWesens, verdankt.
Neben seinen großen Reformplänen für das Gebiet des internationalen Verkehrs
unablässig zugleich mit der Hebung der Lage der Postbeamten, mit der Förde¬
rung ihrer materiellen und — wie selten bei einem Verwaltungschef von so
umfassenden Wirkungskreise! — auch ihrer geistigen Interessen beschäftigt,
gab er die Anregung dazu: den bei Verwaltung des französischen PostWesens
im Occupationsgebiete gewonnenen Ueberschuß zur Errichtung einer Stif¬
tung zu verwenden, welche die Bestimmung erhalten sollte, die Wohlfahrt
der Angehörigen der deutschen Reichspost zu fördern, und insbesondere den
Beamten und ihren Hinterbliebenen Unterstützung zu gewähren; ein dauern¬
des Andenken an den siegreichen Krieg Deutschlands gegen Frankreich, wie
es erhebender und menschenfreundlicher nicht gedacht werden kann. Die
Reichsregierung und der deutsche Reichstag kamen diesen Intentionen in
vollem Maße entgegen und, nachdem von dem erwähnten Ueberschusse 9000
Thaler an die Bayerische und 7000 Thaler an die Württembergische Postver-
waltung zu gleichem Zwecke überwiesen waren, — denn auch die süddeutschen
Postbeamten haben volles Anrecht auf eine solche Berücksichtigung — wurde
durch das Gesetz vom 20. Juni 1872 die Restsumme von 100,000 Thalern
dem Kaiser zur Begründung der Stiftung zur Verfügung gestellt. Kaiser
Wilhelm hat das Protectorat der durch Allerhöchste Ordre ä. ä. Regensburg,
den 29. August 1872 nunmehr ins Leben gerufenen Stiftung übernommen;
> dieselbe führt den Namen: „Kaiser Wilhelm-Stiftung für die An¬
gehörigen der deutschen Reichs-Postverwaltun g" und wird von
dem General-Postamte in Berlin verwaltet, welches für die sichere Anlegung
des Stiftungsvermögens und die zutreffende Verwendung der Zinsen des¬
selben sowie etwaiger Donationen zu sorgen hat. Das Statut der Stiftung,
welches so eben veröffentlicht worden ist, läßt bei vollem realistischem Detail,
das die Sicherstellung des Stiftungsvermögens, die Art der Bewilligungen
und die Rechnungslegung an den obersten Rechnungshof des Reichs betrifft,
die humanen Zwecke des Begründers, sowie dessen idealistische Richtung in
prägnanter Weise hervortreten. Die Förderung der sittlichen und geisti¬
gen Bildung der Beamten stellt der Leiter der Reichspost als Hauptziel der
Bestrebungen voran. Demgemäß sollen nach dem Wortlaute des Statuts
Beamte, welche eine „besondere Befähigung dargethan haben", durch Reise¬
stipendien aus den Stiftungseinkünften in den Stand gesetzt werden, zum
Nutzen der Verwaltung in fremden Ländern ihre Sprachkenntnisfe zu erwei¬
tern und die Post- und Verkehrseinrichtungen des Auslandes zu studiren.
Eine vortreffliche Appellation an das ciceronicmische: <Momg,in söinxer g,ppo
etudes Zlorias g,t<Mo ÄvicU lanatis kuistis, (Zuirites! Angehörige von Reichs-
Postbeamten können, wenn sie würdig und geeignet sind, ebenfalls Stipendien
erhalten, um in ihren Studien aus Universitäten, höheren Schulen, Kunst-
Instituten u. s. w. wirksam gefördert zu werden. Endlich wird das Stif¬
tungsvermögen für Hinterbliebene von Postbeamten, namentlich als Beihülfe
zur' Aufnahme der ersteren in Erziehungsanstalten, Waisenhäusern u. s. w.
und zur Erlangung von Freistellen in solchen Anstalten Verwendung finden:
eine Perspective von überaus segensreicher, fruchtbringender Wirksamkeit.
Wir würden dieser Maßregel, für welche der specielle Kreis der Post¬
beamten ihrem Chef in hohem Grade dankbar sein muß, nicht eine so ein¬
gehende Besprechung gewidmet haben, wenn sich die Errichtung dieser Stif¬
tung nicht als ein wichtiger Beitrag zur Lösung der socialen Frage
characterisirte, deren Wogendrang vielleicht an tausend Punkten das morsche
Gebäude unserer heutigen, fast bis zur Nervosität angespannten Gesellschafts¬
verhältnisse zu zertrümmern im Begriffe steht. Die Maßregel, schon an sich
bedeutungsvoll, muß außerdem im Zusammenhange mit den sonstigen Humani¬
tären Organisationen des General-Postdirectors Stephan, namentlich mit den
Post-Spar- und Vorschußvereinen, welche bereits bedeutende wirthschaftliche
Productivassociationen der Postbeamten geworden sind, sowie mit den Ein¬
richtungen für die Lebensversicherung der letzteren unter staatlicher Vermitte¬
lung, mithin als ein Glied in der Reihe wichtiger socialer Fortschritte unter
der Postbeamtenwelt betrachtet werden. Welcher Segen durch solche Ma߬
regeln geschaffen werden kann, bedarf nicht erst der Hervorhebung. Unver¬
schüttete Noth kann beseitigt, schwere Bedrängniß gemildert, das unter dem
Drucke der Verhältnisse schmachtende, nach Befreiung sonst vergeblich ringende
Talent aus den Banden der Aermlichkeit, jener ärgsten Feindin geistigen
Schaffens, erlöst, und der vollen Entfaltung reicher Kräfte, die vielleicht der
Verwaltung das entlehnte Pfund einst mit reichen Zinsen erstatten können,
freie Bahn geöffnet werden. Allein auch vom Standpunkte der politischen
Oekonomie verdienen diese Stephan'schen Einrichtungen größte Beachtung.
Denn sie lösen jene Aufgabe des Staats: welche in der Unterstützung
der öffentlichen Wohlfahrtsbestrebungen, in der Hinwegräumung von Hinder¬
nissen für die freie Entwickelung der Nationalkraft besteht, für ihren Kreis
in mustergültiger Weise; sie geben der Staatsverwaltung bedeutsame Finger¬
zeige, wie die Wohlfahrt eines wichtigen Bruchtheils der Staatsangehörigen,
deren Integrität gegenüber der ungeheuren Steigerung der Preisverhältnisse
einen harten Kampf zu bestehen hat, auf rationelle Weise zu heben ist. Denn
man täusche sich nur nicht über den Werth der in neuerer Zeit den Beamten
gewährten Gehaltsverbesserungen; dieselben waren fast überall das Signal für
Anwendung der beliebten Tactik der Hauswirthe, den Miethswerth ihrer
Häuser proteusartig zu heben. Dem Beamten wurde dadurch nicht blos die
soeben erlangte Zulage wieder genommen, sondern auch der Begriff der Hei¬
math, des süßen „g.t tome," schlimmer als jemals durch die Nothwendigkeit
vagirenden Nomadenlebens in Miethskasernen vergällt. Dabei blieb denn
wenig für Ausgleichung der sonstigen Preissteigerungen übrig, durch welche
der Kaufmann die Last des Geschäfts dem Consumenten aufzubürden pflegt.
Wenn der Staat von seinem umfassenden Standpunkte aus in der Weise,
wie es die Stephan'schen Organisationen zeigen, an der Lösung der
socialen Frage für die Beamten sich betheiligt, so wird damit nicht bloß das
düstere Gespenst des Pauperismus aus diesen Sphären verscheucht, son¬
dern es wird auch ein frischerer Geist in den Beamtenkreisen erweckt werden,
der für die Belebung des Interesses an dem Gedeihen der Staatswohlfahrt
von hoher Wichtigkeit ist, jenem Grundsatze edler Geistesanschauung gemäß,
welcher in dem: xro rsxudliea est, aum luäsrs viäemur gipfelt.
Seitdem wir neulich in diesen Blättern den augenblicklichen Stand des
Kampfes zwischen der deutschen Cultur und der slavischen Barbarei in Ober¬
schlesien zu zeigen versucht haben, ist eine zu kurze Spanne Zeit verflossen,
als daß sich in der Situation etwas Wesentliches verändert hätte. Nichts¬
destoweniger halten wir es für unsere Pflicht, so wie unser Auge selbst, auch
das aller wahrhaft patriotisch gesinnten Leser wieder einmal auf diese Stelle
hinzulenken, um, wenn es auch nicht immer durchschlagende Ereignisse zu be¬
richten giebt, das Treiben und Weben der dort gegeneinander spielenden
Kräfte nach'ihrer ganzen Bedeutung verstehen zu lernen. Unser Volk vor
allen andern ist ja, sollen wir sagen in der glücklichen oder unglücklichen Lage,
einer fortwährenden, nimmer rastenden, gewissenhaftesten und energischsten
Grenzbegehung rings um seine ganze territoriale Heimath zu bedürfen. Leider
ist dieselbe in der Praxis sehr oft nur allzu fahrlässig geübt worden und
setzen wir hinzu, leider wird sie auch in diesem Momente noch, sei es aus
bloßer Bequemlichkeit und träger Vertrauensseligkeit, sei es aus ebenso
tadelnswerther Unkenntnis) des wahren Sachverhaltes noch immer nicht mit
jener strengen Genauigkeit geübt, die uns ein Ehrenpunkt und zugleich eine
der wesentlichsten Existenzbedingungen für Deutschland zu sein scheint. Ver¬
nachlässigen aber Andere ihre Pflicht, die ja bei der unendlichen räumlichen
Ausdehnung des Objectes nur durch ein freiwilliges Zusammenwirken vieler
Kräfte erfüllt werden kann, so soll das für uns ein um so stärkerer Sporn
sein, an unserer Stelle wenigstens Alles zu sagen und zu thun, was uns vor
Schaden behüten oder den schon durch schwere Versäumnisse angerichteten
wieder einigermaßen gut machen kann. Denn daß unendlich viel bereits ver¬
dorben ist. das werden sich die Leser als das Facit unseres neulichen Berichtes
entnommen haben.
Wie viel bereits verdorben ist, das ließe sich für alle die, welche den zeit¬
gemäßen Glauben an die unumstößliche Beweiskraft statistischer Zahlenreihen
theilen, am schlagendsten an dem gegenwärtigen Procentsatz der mit deutscher
Schulbildung versehenen oberschlesischen Militärpflichtiger nachweisen. Seit
zwanzig, dreißig Jahren ist derselbe fortwährend gesunken, begreiflich genug,
da seitdem die Bevölkerungszahl sich ungefähr verdoppelt, die Zahl der Schulen
aber nur ganz unbedeutend vermehrt hat. Die inzwischen vollzogene außer¬
ordentliche Schulrevision wird, wenn erst ihre Resultate veröffentlicht sind, dies
und noch viel anderes Unerquickliche zur allgemeinen Kenntniß bringen. Da
die Erkenntniß eines Uebels herkömmlich als die erste Vorbedingung zu seiner
Heilung angesehen wird, so wollen auch wir, wenn auch mit einiger Reserve,
dieser Hoffnung leben. Freilich gehört sehr viel dazu, um das oberschlefische
Schulwesen aus seiner gänzlichen Verwahrlosung auf einen einigermaßen leid¬
lichen Stand zu bringen. Zuerst sehr viel Geld zu besserer Dotirung der
vorhandenen Stellen, denn für 60 Thlr. jährlichen Gehalt entschließt sich selbst
in Oberschlesien heutzutage Niemand zu verhungern, noch dazu unter fort¬
währenden Aergernissen und Mühsalen. Zweitens noch viel mehr Geld zur
Creirung und Ausstattung neuer Stellen, deren der Regierungsbezirk Oppeln,
eine Bevölkerung von etwa 900,000 Seelen, nach dem Durchschnitt des übrigen
Schlesiens etwa 3—400, vielleicht auch noch mehr bedürfte. Dazu noch einige
Seminarien, da die vorhandenen nicht entfernt genügen. Geschieht dieß alles
und wird es im Laufe der Jahre möglich, einen ausreichenden Zufluß von
Candidaten dahin zu lenken, so ist für die statistischen Tabellen und für die
Commisstonsberichte in den Kammern vielleicht etwas gewonnen, für die
Sache selbst, für den Kampf gegen das unbändig sich aufbäumende Slaven-
thum gar nichts, so lange die Allmacht des Clerus in bisheriger Weise fort¬
dauert oder gar, wie es nach natürlichen Gesetzen zu erwarten steht, sich noch
fester einfrißt. Durch das vielbesprochene Schulaufsichtsgesetz wird er nicht im
mindesten gehindert, die Seelen der schulpflichtigen Eltern und Kinder von
der Schule und der in ihr vertretenen deutschen Bildung abzuwenden. Man
wird sie, wenn die Polizei ihre Schuldigkeit thut, exacter als bisher in die
Schule hineinzwingen können, aber keine Gewalt der Erde kann verhüten, daß
sie nicht das Gift, was dort in sie eingeflößt wird, so schnell wie möglich
wieder aus ihrem System herauszudestilliren versuchen sollten, wozu der na¬
tionale Schnaps und der nationale Fetischismus, den man Katholicismus
nennt, völlig ausreichen.
Auch hier also ist es an letzter Stelle eine gründliche Reform des Clerus,
die allein Heil bringen könnte. Daß davon fürs erste trotz der officiellen
Ausweisung der jesuitischen Wanderprediger und ihres ungeheuerlichen und
revolutionären Unfugs in diesem Winkel nicht zu denken ist, versteht sich von
selbst. Der oberschlefische Clerus ist durch und durch schulfeindlich, weil er,
wie der gesammte deutsche katholische Clerus, die Begriffe von Bildung und
Unterricht auf der einen Seite und von deutsch-nationalem Geiste und Pro¬
testantismus oder Ketzerei auf der anderen Seite identificier. Er ist national
slavisch oder jetzt mit einer von uns schon neulich beleuchteten höchst staats¬
gefährlichen Escamotage der Begriffe slavisch und polnisch propagandistisch¬
polnisch gesinnt, weil er die Begriffe Polenthum und Stupidität identificirt.
Er ist es auch dann, wenn er aus deutschem Blute stammt: in majorem vel
xioriam wird dies verleugnet und mit Füßen getreten. Geschieht dies ja ge¬
rade hier auf recht eclatante Weise von den obersten Spitzen des Clerus selbst,
warum sollte der gemeine Troß es anders halten? So um nur ein neuestes
Stückchen zu erwähnen, hat neulich ein strebsamer jüngerer Curatus, Herr
Cichon — wohlbemerkt mit dem echt polnischen n zu schreiben, damit man
sogleich sehe, wohin er gehören will — in einem wesentlich deutschen Städt¬
chen, Kreuzburg, den seit langer Zeit dort üblichen Gebrauch der deutschen
Sprache beim Gottesdienst abgeschafft und polnisch dafür substituirt. Alle
Klagen der armen deutschen Katholiken bei dem deutschen Bischof von Bres-
lau haben bis jetzt nichts gefruchtet. Sie sollen sich gewöhnen, die Begriffe
deutsch und katholisch als unvereinbar zu empfinden und es ist leider nicht
zu zweifeln, daß sie unter dem Drucke einer systematischen Lüge und Verhetzung
von Seite ihrer Seelsorger, es auch thun werden. Dieser eine Zug wird nur
den befremden, der überhaupt von der deutschen Gesinnung eines deutschen
Bischofs noch irgend etwas erwartet. Wir an Ort und Stelle haben uns
nicht gewundert, als wir neulich hörten, daß derselbe Breslauer Fürstbischof
einen der gefährlichsten und gewissenlosesten geistlichen Agitatoren der polnischen
Propaganda, der in der Diöcese Posen sich unmöglich gemacht hatte, in seine
Matrikel, in die eines wesentlich deutschen Bisthums, aufgenommen und nach
Oberschlesien instradirt hat. Was also selbst einem Ledochowski in Posen
zu arg wurde, das kann noch unter dem väterlichen Mantel des deutschgebo¬
renen Hrn. Heinrich Förster, Fürstbischofs von Breslau, auf Schutz und Be¬
förderung rechnen, wenn es nur gegen Preußen, gegen das Reich und gegen
die deutsche Nationalität Dienste leistet. Ob Herr Förster damit in Rom oder
vielmehr bei den wahren Herren des päpstlichen Roms und des Papstthums,
den Jesuiten vergessen machen will, was er als Mitglied der bischöflichen Op¬
position auf dem vaticanischen Concil verbrochen hat? Schien es doch eine
Zeit lang, als wenn er in eine Art von Gewissenskampf hineingerathen sei,
der ihm sein Amt verleidete — ein seltener Anblick bei einem Würdenträger
der jesuitisch zugestutztem neukatholischen Hierarchie, sei es nun ein Caplan,
oder ein Cardinal, denn Gewissen und Gewissenskämpfe existiren bekanntlich
nur bei Ketzern oder solchen, die es werden wollen: für die Gläubigen giebt
es nur den Gehorsam, der stumm ist. Zur völligen Beruhigung des Bres¬
lauer Bischofs mag der Hinweis darauf dienen, daß es in den Augen der Je¬
suiten keine größeren und vollgültigeren Beweise ächt kirchlicher Gesinnung
giebt, als er sie durch seine systematische Verfolgung der deutschen Nationali¬
tät und der deutschen oder preußischen Gesinnung innerhalb des Clerus und
der Laienschaft seiner Diöcese in verschwenderischer Fülle liefert.
Der Breslauer Bischof konnte sich rühmen, daß die altkatholische Be¬
wegung bisher von seiner Diöcese so gut wie ferne geblieben sei. Dies wollte
um so mehr besagen, als einige ihrer hervorragendsten Leiter, wie der vor
Kurzem verstorbene d. h. von seinen geistlichen Amtsbrüdern zu Tode geär¬
gerte Baltzer und der rüstigste Vorkämpfer der guten Sache, Reinkens, dieser
Diöcese angehören, und als hier ein Anton Theiner, später ein Johannes
Ronge ihre Heimat gehabt haben. Jetzt erst regen sich einige schwache Spuren,
die sich nicht, mehr auf vereinzelte und deshalb leicht zu überwältigende tsstes
vvriwtis aus dem Clerus selbst beschränken, sondern auch in die Laienwelt
hinübergreifen. Aber es sind im deutschen Theile der Diöcese nur schüchterne
Anfänge, wogegen seltsamerweise der slavische, oder wie er mit der erwähnten
systematischen Namensfälschung gemein hier heißt, der polnische Theil, d, h.
Oberschlesien sehr merkwürdige Erscheinungen zeigt. Dort ist in der Person
des freilich schon ziemlich bejahrten, aber doch noch rüstigen Weltpriesters Ka¬
minski in Kattewitz ein tüchtiger Vorkämpfer für die ächte alte Katholicität
erstanden, der sich rasch trotz hundertfachen Bannes und der gewöhnlichen
finsteren Heimtücke pfäffischer Verfolgungsschliche eine nach taufenden zählende
Gemeinde hauptsächlich aus den slavischen Katholiken gebildet hat, die noch
fortwährend wächst. Dieser Katholicismus verträgt sich natürlich mit der
Treue gegen den Staat und das Reich, während der Neukatholicismus, man
darf wohl sagen, selbstverständlich hochverräterisch sein muß. Ein Zeugniß
dafür legt jede Nummer des Blattes ab, welches Kaminski unter dem Titel
pranäg, (Wahrheit) schreibt und das nicht sowohl weil es das Organ eines
Altkatholiken, sondern weil es patriotisch und loyal ist, von dem übrigen
Clerus mit dem giftigsten Hasse verfolgt wird, während natürlich jene anderen
Blätter, die fortwährend versteckt oder offen Revolution predigen, von ihm
mit allen Mitteln des Geldbeutels und Beichtstuhls subventionirt werden. —
Am 20. September 1862 meldeten die Zeitungen die am Tag zuvor er¬
folgte Ankunft des Herrn von Msmarck-Schönhausen in Berlin. Am 18.
und 19. September waren die letzten Verständigungshoffnungen hinsichtlich
des Militärbudgets im Abgeordnetenhaus zu Boden gefallen. Am 17. hatte
der Kriegsminister von Roon die Aussicht eröffnet, daß die Regierung für
das Budget von 1862 in eine auf Voraussetzung der zweijährigen Dienstzeit
beruhende Herabminderung willigen werde. Für das Budget von 1863 hatte
er Erklärungen, namentlich über die Modalitäten, unter welchen die Regierung
eine ähnliche Herabminderung zugestehen könne, sich noch vorbehalten. Am
18. September aber mußte der Kriegsminister in der Budgetkommission —
welche in Folge der vortägigen Erklärung des Ministers unter Aussetzung
der Plenarsitzungen den Auftrag erhalten hatte, dem Hause neue Vorschläge
zu unterbreiten — erklären: daß für das Jahr 1863 eine auf der factischen
Einführung der zweijährigen Dienstzeit beruhende Herabminderung der Kosten
für das Heer nicht thunlich sei. Nunmehr beschloß die Commission, dem
Hause die Fortsetzung der Plenarberathung über das Budget anzuempfehlen,
deren Anfang darin bestanden hatte, in den einzelnen Capiteln des Militär-
Haushalts alle Kosten für die Reorganisation zu streichen. Es konnte kein
Zweifel sein, daß diese Streichung bis zum Ende durchgeführt werden würde.
Am 23. September fand die Schlußabstimmung über das Budget statt, in
welcher alle bisher provisorisch beschlossenen Streichungen definitiv genehmigt
wurden. Die Minister der Finanzen, des Auswärtigen und des Handels, die
Herren von der Heydt, Graf Bernstorf und von Holzbrink reichten ihre Ent¬
lassung ein. Am 25. September brachte der Staatsanzeiger die königliche
Ordre, daß der bereits beurlaubte Ministerpräsident Fürst Hohenlohe definitiv
von seinen Functionen entbunden und daß der Wirkliche Geheime Rath von
Bismarck-Schönhausen unter gleichzeitiger Ernennung zum Staatsminister mit
dem Vorsitz im Staatsministerium provisorisch beauftragt werde. Bald wurde
den Ministern, die um ihre Entlassung nachgesucht, dieselbe bewilligt und dem
Staatsminister von Bismarck-Schönhausen sowohl das Ministerium des Aus¬
wärtigen, als der definitive Vorsitz im Gesammtministerium übertragen.
So werden wir also in dieser Woche die zehnte Wiederkehr der Minister¬
ernennung des jetzigen deutschen Reichskanzlers begehen. Welch eine Laufbahn,
welche Kette von Erfolgen, zusammengedrängt auf einen zehnjährigen Zeitraum!
Und welcher Gegensatz zwischen dem Anfang und dem Heute! Man sucht
vergebens nach etwas Aehnlichem.
Welche Unpopularität hat dieser Staatsmann in den ersten Jahren seiner
Ministerlaufbahn auf sich geladen! — Und daß diese collossale UnPopularität,
in der sich Haß und höhnisches Mitleid zu mischen glaubten, in eine bis zur
Paralysirung aller öffentlichen Selbstthätigkeit gehende Hingebung umgeschlagen,
das ist noch nicht einmal das Wunderbarste. Weit erstaunlicher erscheint, daß
der Staatsmann, als ihn die Wogen der öffentlichen Abneigung zu begraben
schienen, mit lächelnder Miene versicherte: er werde der populärste Mann
werden, den Deutschland in neuerer Zeit gehabt. Heute kann man nur fin¬
den, daß die Voraussagung noch zu bescheiden gelautet hat, obwohl sie einer
Stimmung gegenüber, wie diejenige, an welche sie gerichtet wurde, kaum
glaublich erschiene, wenn sie nicht in hundert Zeitungsberichten zweifellos über¬
liefert wäre.
In der ersten längeren Aeußerung des neuen Ministers vor der Budget¬
commission des Abgeordnetenhauses kam der Ausspruch vor: die Einheit
Deutschlands werde nur durch Blut und Eisen hergestellt werden. Niemals
hat das Wort eines Staatsmannes wohl einen größeren Aufruhr hervorge¬
rufen. Die wenigen, sehr wenigen Leute, die damals kaltes Blut besaßen,
wurden an jene Novelle erinnert, wo ein junger Mensch, durch Intrigue in
ein Irrenhaus gelockt, ohne seinen Aufenthalt zu erkennen, sich einige Zeit im
Unterhaltungszimmer der Anstalt bewegt und dann plötzlich in die sonderbare
Gesellschaft den Ausruf hinausschleudert: ich bin in einem Irrenhause! wodurch
die verschiedenartigsten Aeußerungen des Unwillens und eine allgemeine Pro¬
testation hervorgerufen werden. Wer damals nicht in der Phrase befangen
war — aber freilich, wie viel gab es solcher, die es nicht waren? — konnte
bei dem Ausspruch des Ministers höchstens den Ort und die Unumwundenheit
auffallend finden, aber die Richtigkeit war im Grunde so selbstverständlich,
daß sie den Ausspruch unnöthig erscheinen ließ. Wie in aller Welt hätte
denn Deutschland einig werden sollen? Sind jemals mächtige Herrschafts¬
stellungen durch Complimente beseitigt, sind jemals Staaten durch Resolutio¬
nen errichtet worden? Und "doch welcher Aufruhr! Man toastete auf Eisen
und Kohle, als die Bringer der deutschen Einheit. Aber Eisen und Kohle
verbinden ganz Europa durch Locomotiven und Schienenwege; sie können bald
Europa, Asien und Afrika verbinden, aber der Universalstaat, der so weit
reicht, als die Continuität der Schienenwege, ist noch nicht einmal der Traum
eines Müßigen geworden. Ein gutes Schienennetz wird sicher die Einheit
eines Staates befördern, wenn sie schon da ist, oder wenn andere mächtige
Factoren die noch nicht vorhandene begründen. Aber Eisen und Kohle an
sich als Bringer der Einheit zu feiern, dazu gehört jene traumseltge Unklar¬
heit, welche so oft und so lange öffentliches Unglück über Deutschland ge¬
bracht hat.
Wir wollen nicht fortfahren, den Contrast zwischen heute und vor zehn
Jahren auszumalen, soweit es sich um die Persönlichkeit handelt, auf welche
der Contrast sich am stärksten reflectirt. Wir möchten uns lieber daran erin¬
nern, was Deutschland vor zehn Jahren war, und was es heute ist. Damals
trostlos zerrissen, die gesunden Gedanken über das künftige nationale Gemein¬
wesen in dem überhandnehmenden Hader der Parteien erstickt und wie es schien
für immer zu Grunde gehend, die althabsburgische und die altbourbonische
Tradition, die letztere unter dem zweiten Bonaparte, zum Schaden Deutschlands
neu erblühend, nirgend ein Ausweg, als jener trostlose wie ihn der Ausgang
des 16. Jahrhunderts sah, die Zeichen einer aufreibenden Krise ohne andere
Lösung, als die allgemeine Ermattung. So standen wir vor zehn Jahren.
Heute haben wir die Gefahr zu vermeiden, durch den Glanz und die Stärke
5.' ' ,
unserer Stellung uns in allzugroße Sicherheit wiegen zu lassen. Wahrlich
eine beispiellose Gefahr im Leben der deutschen Nation, nach deren Gleichen
wir an tausend Jahre in unserer Erinnerung suchen können.
Noch schreiten wir aufwärts, noch ermessen wir nicht das Ende und
die Ergebnisse der Führung, der wir jetzt folgen. Ebenso wenig die Be¬
wegung der Kräfte, die in einer ganz veränderten Constitution Europas sich
neue Mittel und neue Wege suchen werden. In keiner Weise können wir die
ungeheuere Veränderung, in der wir mit unserem Dichten und Trachten noch
begriffen sind, übersehen. Aber aus dem Contrast zwischen dem verzweiflungs¬
voll verworrenen Anfang mit dem Aufschwung, in dem wir jetzt begriffen
sind, können wir doch Einiges lernen, dessen Beherzigung schon jetzt höchst
wünschenswert!) und für den weiteren Fortschritt höchst dienlich ist.
Was hat denn jene Verwirrung der ersten sechsziger Jahre, nachdem der
Eintritt der Regentschaft sich doch so hoffnungsvoll angelassen, im letzten
Grunde hervorgebracht? Vor Allem doch, daß wir nach Anleitung einer Lieb¬
lingsvorstellung des deutschen Liberalismus, deren Vorzug nicht die Klarheit
ist, unternahmen, den Rechtsstaat zu formen, während wir noch gar nicht den
Staat hatten. Das Recht in allen Ehren; obwohl in der sittlichen Entwick¬
lung ihm nicht das alleinige Wort gebührt. Aber die Rechtsnorm der öffent¬
lichen Zustände kann überhaupt erst eintreten, wenn die regelmäßige Bahn
der dauernd wirksamen Kräfte im ausgebildeten Gemeinwesen gefunden ist.
Die deutschen Terntorialbildungen waren keine ausgebildeten Gemeinwesen,
die eine regelmäßige Harmonie im Innern und eine bleibende Bahn nach
Außen hätten innehalten können. Sie waren die Bruchstücke, die sich zum
Planeten wieder zusammenfügen mußten, um nun erst eine freie Stellung im
Weltsystem und ein inneres Gleichgewicht der eigenen Kräfte zu gewinnen.
Das Recht ist der Hüter einer naturgemäßen Ordnung, die aber nur in langen
Krisen erkämpft wird. Wenn sie vorhanden, mag sie als heilige Ordnung,
segensreiche Himmelstochter gefeiert und Alles an ihre Bewahrung gesetzt
werden. Aber man kann nicht verlangen, daß diese Himmelstochter das Chaos
beschwört, ehe es sich ins Gleiche gesetzt hat, sie, die nur „das Gleiche frei
und leicht und freudig bindet." Wir sollten uns das für unsern im Grunde
sicher gelegten, aber noch nicht vollendeten Reichsbau merken. Wir sollten
flüssige Formen mit weniger Ungeduld da ertragen, wo wir uns sagen müssen,
daß die Kräfte, welche unverrückbare Formen tragen könnten, in ihrer Stetig¬
keit noch nicht erprobt, vielleicht noch gar nicht hervorgetreten sind.
Und ein Zweites, Tiefgreifenderes sollte uns jene Erinnerung beherzigen
lehren. Der Haß, welcher den wirksamsten Staatsmann des neunzehnten Jahr¬
hunderts bei uns anfänglich empfing, rührte zum Theil allerdings davon her,
daß wir meinten, willkührlich in der schönen Arbeit am Rechtsstaat unter-
brochen zu sein.' Aber der größte Theil jenes Hasses hatte eine andere Quelle.
Es war der Zorn unserer träumerischen Natur gegen einen Mann, der unsere
Forderungen und Einbildungen an den Bedingungen des wirklichen Handelns
ermaß. Es ist unglaublich, aber eine unleugbare Thatsache, daß wir das
Schwerste erträumten und meinten, der fortgesetzte Traum müsse uns das
wirkliche Gut bringen. Dabei gestaltete sich Jeder seinen eigenen Traum und
haderte mit aller Welt, daß Jeder den seinigen für den schönsten und be¬
gehrenswerthesten erklärte.
Es geht nicht anders, wie sehr auch eingebildete Klugheit dawider eifern
möge: die Massen können die Völkergeschicke nicht zur Reife bringen. Das
deutsche Volk ist nicht das einzige, welches durch den Traum einer hehren
Zukunft sich über die Armuth einer verkümmerten Gegenwart hinweggesetzt
hat. Aber unsere Eigenthümlichkeit war, daß wir über dem Traum nicht
nur verlernten, an die Besserung der Gegenwart selbst Hand anzulegen, son¬
dern einen förmlichen Haß nährten gegen jede practische Methode, die unhalt¬
bare Gegenwart zu überwinden und durch den wirklichen Ersatz den Traum
des Ersatzes überflüssig zu machen. Wie der Zustand der Erfüllung ein Traum
war, so sollten auch die Mittel traumhaft sein. Dieser Gemüthszustand dünkt
uns selbst ein Traum, und doch hat er gleichmäßig alle Parteien bei uns
Jahrzehende lang beherrscht. Sind wir wirklich gründlich bekehrt und be¬
lehrt? Wir sind wahrlich durch keinen Träumer erlöst worden, und Tausende
unseres Volkes haben bei dem Werk von Blut und Eisen geblutet. Aber der
geistige Antheil einer Nation, die geistig am höchsten dasteht, an der Grün¬
dung ihres Staates ist doch verhältnißmäßig so gering, daß die Gründung
in Mancher Augen noch wie das Werk eines fremden Zauberers dasteht. Es
giebt zuweilen wunderliche Reden, als sei der Nation damit das Beste ge¬
raubt, daß Alles für sie gethan worden. Wer nichts mehr zu thun hat, ist
am Ende. Die Gemüther, die solche überflüssige Sorgen nähren, haben keine
Ahnung von den ungeheuren Gefahren, von den feindlichen Kräften, die gegen
den deutschen Staat anstürmen werden, sobald er nicht mehr in der Zeit eines
auserwählten Rüstzeuges steht. Bereiten wir uns vor, um das, was mehr
für uns als von uns erarbeitet worden, zu behaupten und mit unserer ganzen
Lebenskraft zu durchdringen, wenn das Werk die Probe bestehen wird, ohne
den Meister fortzuleben. Dazu gehört nicht/ daß wir uns vorzeitig zur Füh¬
rung drängen; aber, daß wir auf die scheinbar stillen Wogen lauschen, die
sich eines Tages bäumen werden und uns prüfen, wie wir uns ihnen ent¬
gegenstellen. Es ist sehr gefährlich, wenn wir, die Arbeit vermissend, von
Gefahren der Erschlaffung träumen und dabei versäumen, auf das nahe Heer
der Feinde zu achten.
Wenn bis jetzt Eingehenderes über die theatralischen Aufführungen der
classischen Zeit vermißt wird, bei welchen die Natur selbst die Bühne abgab,
so möchten wir den Grund dafür suchen in der äußerst schwierigen Beschaffung
des einschlagenden Materials und in der geringen Vertrautheit mit der Geschichte
der weimarischen Parkanlagen. Jene unvergleichlichen Schöpfungen Göthe's, Kne¬
bel's u. s. w. haben nämlich im Laufe eines Jahrhunderts so erhebliche Um¬
änderungen erfahren, daß diese sich leider ohne Illustrationen nicht klar zur
Darstellung bringen lassen. Es giebt nur wenige Stellen, welche das Cha-
racteristische und das Ursprüngliche sich bewahrt haben und zu diesen gehört
unzweifelhaft jener Ort, an dem 1782 d. 22. Juli im Parke zu Tiefurt Gö¬
the's Fischerin aufgeführt wurde. Wer den Versuch macht, selbst mit den
kärglichen Anhaltepunkten, welche das Stück darbietet, die Bühne zu be¬
stimmen, der wird ohne Bedenken dieselbe an jener Stelle suchen, an der einige
runde Stufen am rechten Ufer in den Fluß hinabführen. Unmittelbar rechts
an diesem Eingang stand die Fischerhütte, vor der aus mächtigen Steinen er¬
baut der Feuerheerd und einige Sitze sich befanden und vor dieser Hütte spiel¬
ten die Hauptpersonen des Stücks. Nur wenige Schritte oberhalb dieser An¬
lage war die Schöpfstelle, die von den Büschen des Ufers überragt wurde.
Das Orchester befand sich in einer für die Zuschauer unsichtbaren Laube,
da sie hinter einem mächtigen Baume wenige Schritte von dem zur rechten
Hand lag; während die beiden noch übrigen Fischerhütten dazu bestimmt wa¬
ren, entweder das Nebenpersonal in sich aufzunehmen, oder als bloße Staffage
zu dienen. Letzteres war bei der Hütte der Fall, welche auf dem jenseitigen
Ufer unmittelbar neben dem jetzt dort sich befindlichen natürlich später erst
gesetzten Denkmale des Prinzen Constantin stand; sie war nicht erst für die
Aufführung erbaut, sondern man hatte dem dort stehenden Badehause das
Ansehen einer Fischerhütte gegeben. Auch bei ihr waren wie neben den übrigen
allerhand Fischergeräthschaften aufgehängt. Endlich lag die eben erwähnte
für das Nebenpersonal bestimmte dritte Fischerhütte nur wenige Schritte links
von der Hauptscene hinter vier oder wie man will auch fünf Ahornbäumen,
während der Hintergrund von dem hohen mit starken Bäumen besetzten Berge
gebildet wurde, der ganz wie heute von dichtem Unterholze bedeckt war. Der
Zuschauerraum befand sich unterhalb des Tempels ungefähr 16 Schritte von
der Haupthütte entfernt, und war dem Mittelpunkte der Handlung am näch¬
sten. Wir wissen von Goethe selbst, daß die Zuschauer in der Mooshütte
saßen, deren Wand gegen das Wasser zu ausgehoben war"). Aber auch sie
war für die Aufführung eigens umgestaltet; man hatte aus ihr ein Zelt im
chinesischen Geschmack gemacht, das von einem dunkelgrünen Wachstuche ge¬
schirmt wurde, dessen äußerer Rand mit Metallglöckchen besetzt war. Eine
dicke in chinesische Schnörkel auslaufende mit Laubwerk umgebene Säule war
der Hauptträger dieses Zeltes, in dessen Spitzen natürlich ebenso wenig die im
Winde spielenden Glöckchen fehlen durften. Selbstverständlich war der fürst¬
liche Zuschauerraum von dem übrigen Theile des Parkes durch Pfähle und
Seil abgesperrt und die nicht geladenen Zuschauer mußten sich mit dem ober¬
halb der Bühne befindlichen schwach gestützten Stege begnügen, der die herr¬
liche Aussicht auf den Fluß gewährte, im übrigen aber auch den Nachtheil
hatte, daß die Zuschauer beim Einbrechen desselben zum Ergötzen Aller ein
unfreiwilliges Bad genossen. Bis zum Eintritt der Lichteffecte, auf den
eigentlich die Wirkung des Stücks berechnst war, lag die ganze Gegend in
einem wunderbaren Halbdunkel, das nur mattes, verstecktes, hinter Bäumen
in Glaskugeln angebrachtes Licht durchbrach, und es gewährte eine überaus
große Ueberraschung, als die Scene durch Feuer an allen Enden beleuchtet
wurde, daß unter allen Bäumen dichtgedrängte Zuschauer besonders im Hin¬
tergrund der Bühne unter dem dichten Buschholze hervorschauten.
Wir müssen, um jedem Zweifel an der Richtigkeit unserer Schilderung zu
begegnen, hervorheben, daß in unsern Tagen wesentlich andere Stromver¬
hältnisse vorhanden sind, welche die Aufführung der Fischerin erschwert haben
würden. Denn man mag die Stelle betreten, wenn man will, so wird man
finden, daß der Fluß in seinen jetzigen Verhältnissen sich nicht recht eignen
will, um einen Kahn stromaufwärts in die Scene eintreten zu lassen. Ent¬
weder ist der Fluß an der Stelle reißend, oder so seicht, daß man fast trocke¬
nen Fußes an das jenseitige Ufer gelangen kann. Damals war die Ilm an¬
ders geartet. Sie floß ruhig in tiefem Bette dahin, weil das Wasser durch
eine Wasserkunst, die im Interesse der Gärtnerei unterhalten wurde, gestaut war,
und somit dürften alle Bedenken schwinden, welche vielleicht noch gegen die
Richtigkeit unserer Angaben vorzubringen sind. Auch schon der Umstand, daß
am Landungsplatz des Fischers eine Fähre für das gegenüberliegende Bade¬
haus sich befand, bestätigt die Richtigkeit des Behaupteten.
Die Vorbereitungen zur Aufführung begannen schon am 12. Juli. Mit
Unterbrechungen (12., 13., 1S„ 20., 22. Juli) arbeiteten 2—3 Zimmerleute
an der Herstellung der Bühne und des Zuschauerraumes. Indessen war am
16. Juli der Druck des Stücks beendet, welchen der Buchdrucker Glüsing in
Weimar für Goethe und natürlich auf Rechnung der Herzogin Amalia be¬
sorgte. Das Stück erschien in bescheidenem Gewände und mehr als 160 Exem¬
plare/) die jetzt selten geworden sind, wurden überhaupt nicht abgezogen. Nur
24 erhielten ein einfaches anspruchsloses Kleidchen, das in Pergamentpapier
bestand, und der Titel des aus 22 Octavblättern bestehenden Stücks lautete
abweichend von dem in die Werke übergegangenen: „Die Fischerin, ein
Singspiel. Auf dem natürlichen Schauplatz zu Tiefurth vorgestellt 1782."
Nachdem Corona Schröter die Komposition vollendet, begannen unter
Eilenstein die Clavierproben, welche mit den Mitwirkenden, dem Hoftanz¬
meister Aulhorn und dem Secretair Seidler abgehalten wurden. Besonders
gut scheint die Erlernung nicht gegangen zu sein, weil man nicht weniger als
16 Stunden damit ausfüllte. Auch mit den 12 Chorschülern, welche bei der
Aufführung in der linken Fischerhütte waren, scheint man nicht besser gefahren
zu sein: denn hier waren sogar 18 Singstunden bis zur Aufführung nöthig;
vielleicht auch, daß Goethe seine Ansprüche ungewöhnlich hoch stellte, da er
nach der Aufführung der Frau von Stein das bekannte Wort zurief: „sie haben
hundert Schweinereien gemacht." Indessen im Allgemeinen schien er zufrieden;
wenige Tage nach der Aufführung gab er seine Zufriedenheit Knebeln brief¬
lich zu erkennen. Man hatte sich in, der That angestrengt; 8 Proben sür die
Fischerin lassen eine nicht untüchtige Leistung voraussetzen. Der Effect muß
wunderbar gewesen sein. Besonders Corona Schröter muß sich in der Be¬
leuchtung reizend ausgenommen haben. Sie hatte sich roth und weiß ge¬
kleidet und mit goldenen Tressen geschmückt. Ihr Hütchen, das eine besondere
Rolle spielte, war von Tasse mit entsprechendem rothem Bande. Ueber die
Aufführung selbst ist uns nichts von Bedeutung und Interesse überliefert
worden. Höchstens daß wir einen Maßstab für derartige Festlichkeiten hin¬
sichtlich der Kosten erhalten haben; die ganze Comödie kostet mit Aufrechnung
jeder kleinen Leistung nicht mehr als 113 Thlr. 12 Gr. 7 Pf.
Das Fest schloß mit einem Souper der Geladenen mitten auf der Ilm,
auf der zu diesem Zwecke ein schwimmendes Gerüste oberhalb der Bühne an¬
gebracht war. Noch lange schauten Stadt- und Dorfbewohner diesem fröh¬
lichen Mahle zu und mancher erspähte und merkte sich die Stellen, wo die
Herrschaften mit einem fast unbegreiflichen Uebermuth die entleerten silbernen
Teller in den Fluß hinabwarfen. Da fanden sich, nachdem sich die Scene
geleert, natürlich viele Fischer, — aber gefunden und gefischt hat keiner etwas;
denn es war dafür gesorgt, daß die Teller und Schüsseln von Netzen auf¬
gefangen wurden, die man zu ziehen — wohlweislich nicht unterlassen hatte.
Als Louis Napoleon den Präsidentenstuhl der französischen Republik be¬
stieg, hatte er zunächst noch gar kein Verhältniß zur Armee. Bei dieser war
vielmehr die einzige wahrhaft populäre Persönlichkeit gerade der Concurrent
und Gegner Napoleon's, der General Cavaignac, welcher in der Junischlacht
die militärische Ehre der Armee wieder hergestellt hatte. Der Prinz-Präsident
beeilte sich denn auch, den „Degen Frankreichs" aus der Scheide zu ziehen,
um durch sein Blitzen das Heer zu blenden; aber da er bei dieser Gelegenheit
nicht nur den Soldaten, sondern auch den Pfaffen gefallen wollte, so fiel dies
militärische Debüt kläglich genug aus. Am 16. April 1849 beantragte der
Cabinetspräsident Odillon Barrot eine Creditbewilligung von 1,200,000 Fran¬
ken, um ein Expeditionscorps unter General Oudinot auf römischem Gebiet
zu unterhalten. „So wird denn die französische Republik zum ersten Mal
das Schwert ziehen," schrieb der National, „und zwar, Dank der Regierung
des Herrn Bonaparte, gegen die italienische Freiheit. . . . Wenn wirklich
unsere Truppen nach Rom geschickt werden, um den weltlichen Thron des
Papstes wiederherzustellen, so hat sich Frankreich für immer entehrt." — Ende
. April erschien Oudinot vor Rom; aber sein Angriff scheiterte; der erste mili¬
tärische Versuch des neuen Napoleon war eine häßliche Schlappe. — Unter
diesem Eindruck gingen die Wahlen zur gesetzgebenden Nationalversammlung
vor sich. Die Abstimmung des Heeres bewies, wie wenig Fortschritte der
Bonapartismus in ihm gemacht, und doch kam sie merkwürdiger Weise der
Sache des Präsidenten zu Gute. Sie trug nämlich einen vorwiegend socia¬
listischen Character. Es schien, als ob der von den ..Volksmännern" ge¬
streute Same jetzt wirklich aufginge in der Armee. Zumal von den Pariser
Truppen erhielten Männer wie Ledru Rollin, Lagrange oder gar der social-
democratische Unteroffizier Boichot doppelt so viel Stimmen als die Generale
Cavaignac, Lamoriciöre und Bedeau. Diese innere Abwendung aber von den
nicht bonapartistischen Heerführern war immerhin ein Gewinn, wenn auch
andererseits der Prinz-Präsident mit der Socialdemocratie ebenfalls nicht mehr
auf gutem Fuße stand. Nicht nur diese nämlich, sondern überhaupt die Linke
lebte unter der beständigen, sehr gerechtfertigten Angst vor einem Staats¬
streiche, und der Tod des Marschalls Bugeaud, des entschlossensten und ge-
fürchtetsten Gegners jedes Aufruhrs, gab den Radicalen den Muth, sich jenes
Atys durch einen Aufstandsversuch zu entledigen. Ihre Blätter erklärten am
13. Juni den Präsidenten und das Ministerium als außerhalb der Ver¬
fassung, forderten die Nationalgarde auf, sich zu erheben und „die Brüder im
Heer, eingedenk zu sein, daß sie Bürger und daß ihre erste Pflicht darin be¬
stehe, die Verfassung zu vertheidigen." Unter Führung ihres Obersten For-
restier, sowie Ledru Rollin's, Felix Pyat's und der Unteroffiziere Boichot und
Rattier begann die Artillerie der Nationalgarde Barrikaden zu bauen. Der
Aufstand mißlang indeß; die Truppen standen zur Regierung; „gemäßigt ge¬
sinnte" Abtheilungen der Infanterie der Nationalgarde zerstörten die radicalen
Druckereien und ihre Artillerie wurde von der Negierung aufgelöst. Auch in
Lyon, wohin die falsche Nachricht vom Gelingen der Empörung gelangt war,
blieben die Truppen gegenüber einer wilden Emeute der Regierung treu.
Diese Ereignisse mußten Louis Napoleon darauf aufmerksam machen,
wie sehr er für seine Zwecke der Armee bedürfe, und er begann nun, sich
in jeder Weise und zwar keineswegs erfolglos um die Soldatengunst zu be¬
werben, wobei ihm sein Name natürlich der förderlichste Helfer war. Er
begriff zugleich, daß er die Armee am besten auf seine Seite ziehen werde,
wenn er offen Farbe bekenne und flotten Schrittes lossteuere auf den Kaiser¬
thron. In diesem Sinne wechselte er am 31. Oetober sein Ministerium; an
Stelle der Männer von selbstständiger Bedeutung wählte er gefügige Neulinge.
Das Kriegsministerium übernahm dabei aus den Händen des Generals
Rulhieres der General Hautpoul, und unter diesem Minister kam ein Vor¬
schlag zu wiederholter Debatte, der für die Wehrpflichtsverhältnisse
Frankreichs von großer Bedeutung war, der Vorschlag, daß der
Staat die Beschaffung der Stellvertreter übernehmen solle.
Man war in militärischen Kreisen dieser Idee aus leicht begreiflichen Grün¬
den sehr hold, und schon ein Jahr früher hatte sie in einem Amendement des
Generals Lamoriciere ihren Ausdruck gefunden, die Republikaner jedoch hatten
mit Recht die Proposition abgelehnt, da sie der Gleichheit widerstrebe und
eine Art Kopfsteuer auf alle 20jährigen Franzosen lege, die sie entweder be¬
zahlen — oder dienen müßten. Jetzt trat auch der Minister Hautpoul gegen
das Project auf und fügte jenen Argumenten noch den sehr gewichtigen Gegen¬
grund hinzu, daß wenn man einmal eine definitive Befreiung vom Dienst für
eine dem Staat zu zahlende Summe gestattet habe, es sehr schwer halten
dürfe, sie im gegebenen Augenblicke, selbst wenn das Vaterland in Gefahr sei,
zurückzuziehn,*) — Diese interessanten Verhandlungen zeigen auf alle Fälle,
daß der später der Regierung Napoleon's mit so großem Recht vorgeworfene
Gedanke der Exoneration keineswegs ihr specifisch angehört, sondern bereits
unter der Republik debattirr worden ist, die es übrigens in militärischen
Dingen nirgends über Projecte hinaufgebracht hat.
Für Louis Napoleon waren zur Zeit alle solche Prinzipienfragen gleich-
giltig; für ihn handelte es sich jetzt lediglich um Fragen der Macht.
Da es in Paris so gute Wirkung gehabt, daß der Präsident gleich bei
Uebernahme seines Amtes ungewöhnlicherweise die ganze Militärgewalt der
Hauptstadt, d. h. das Commando über Truppen und Nationalgarde, in Einer
Hand, der Changarnier's, vereinigt hatte, so beeilte er sich nun, auch im
Süden und Westen Frankreichs die Militärmacht dadurch zu stärken, daß er
das Commando über 8 Militärdivisionen in die Hände dreier Generale, der
Befehlshaber zu Lyon, Montpellier und Bordeaux, zusammenfaßte. Das
Verhältniß zu Changarnier freilich erfuhr bald darauf eine Erschütterung,
die endlich zum völligen Bruche führte. Gelegentlich der Lagerübungen und
Revuen in den Ebenen von Satory und bei Se. Maur, denen Louis Na¬
poleon im Herbst 18S0 beiwohnte, hatte nämlich die Partei des Präsidenten
mit allen möglichen Mitteln, namentlich aber durch reichliche Libationen
geistiger Getränke, das „heilige Feuer" des Bonapartismus bei den.Truppen
geschürt. Der in Strömen fließende Wein hatte seine Wirkung nicht verfehlt
und in den Knall der Champagnerflaschen mischte sich überall der Ruf: Vivs
Xapolöon, vivs ! — Die Nationalversammlung hatte das übel
vermerkt, und General Changarnier sah sich in Folge dessen veranlaßt, als
Oberbefehlshaber gegen die plumpen Bestechrwgsversuche einzuschreiten und
durch einen Tagesbefehl jene Lebehochs zu tadeln und zu verbieten. Louis
Napoleon wagte nicht, hiergegen aufzutreten; die Schuld blieb auf dem Kriegs¬
minister sitzen und General Hautpoul nahm in Folge dessen als solcher seine
Entlassung^), wurde aber zum Gouverneur von Algier ernannt. Sein Nach¬
folger wurde General Schramm. — Changarnier spielte unterdessen eine
sehr zweideutige Rolle. Bei Gelegenheit eines an sich unbedeutenden und
gleichgiltigen Zwischenfalles, erließ er einen Tagesbefehl, der das unbedingte
Verbot enthielt, irgend welchen Aufforderungen zur Hilfleistung zu gehorchen,
die etwa von Seiten der Nationalversammlung oder andern civilen Behörden
an die Truppen gerichtet würden. In der Versammlung interpellirt, leugnete
er jedoch diesen Inhalt des Tagesbefehls ab und gab zu verstehn, seine Ordre
habe nur den Zweck, etwaige Anforderungen anderer Leute, welche die Armee
mißbrauchen wollten, von vornherein unmöglich zu machen. Daß hiermit kein
Anderer als der Präsident gemeint sei, war klar und die Versammlung be¬
stätigte es durch ihren Jubel. Louis Napoleon aber ließ nun den Wortlaut
jenes Tagesbefehls veröffentlichen, und Changarnier sah sich dadurch in der
peinlichsten Weise bloßgestellt. Damit aber nicht genug. Das Ministerium
war durch Changarnier's Erklärungen geradezu verdächtigt; da es aber nicht
wagte, seine Absetzung auszusprechen, so trat es ab und machte einem
dreisteren Cabinete Platz. In diesem übernahm General Reynault de
Se. Jean d'Ange'ip das Kriegsministerium und die erste Maßregel des¬
selben war die Absetzung Changarnier's und die Theilung seines bisherigen
Commandos unter die Generale Baraguay d'Hilliers und Perrot. — Das
neue Ministerium freilich bestand nur 14 Tage, da ihm die Nationalversamm¬
lung wegen der Entlassung Changarnier's ein Mißtrauensvotum ertheilte;
diese selbst aber blieb aufrecht erhalten und das war ein bedeutender Erfolg
für den Präsidenten. Denn die einzige bedrohliche Chance, welche er sich
gegenüber sah, war die Bildung eines Parlamentsheers unter Changarnier.
Damit hatte es nun gute Wege.
In dem neuen „Uebergangsministerium aus Fachmännern" erhielt Gene¬
ral Randon das Portefeuille des Kriegs. Aber man bedürfte, um einen
entscheidenden Schlag zu thun, einer Anzahl von Generalen von zweifelloser
und blinder Ergebenheit. Sah man sich unter den vorhandenen Befehls¬
habern um, so schienen die älteren nicht verwegen genug, die jüngeren aber
saßen meist als Frondeurs im Parlament. „Eine durch und durch kaiserliche
Idee triumphirte über diese Schwierigkeit, und der unermüdliche Ritter des
Napoleonismus, Persigny, gwg mit Enthusiasmus an die Verwirk¬
lichung des vom Präsidenten hingeworfenen Wortes: „Wenn wir
Generale machten!?"*) Der Commandant Fleury, Sohn eines Pariser
Kaufmanns, ein ächter „Mveur", der einer der ersten Offiziere war, die sich
Louis Napoleon völlig ergeben hatten undden dieser deshalb zu seinem Ordonnanz¬
offizier ernannt hatte, wurde nach Algerien gesandt „auf Remonte nach
Generalen und Offizieren", die keinen Anstand nehmen würden, zu jedem
Plane die Hand zu bieten. Er hatte keine große Mühe dabei. Die Aus¬
sicht, Carriere zu machen und reiche Belohnungen zu empfangen, die Ab¬
neigung gegen den Parlamentarismus, die Reminiscenzen des Kaiserthums
wirkten für ihn zusammen. Se. Arnaud. de Cotte, Espinasse, Marulaz,
Rochefort. Feray, Dulac. d'Allonville, Gardarens de Boisse, Herbillon und
Canrovert gehören zu den in dieser Zeit Gewordenen.**) Um ihren Namen
etwas mehr Popularität zu verschaffen, wurde, trotz des Widerstrebens der
gesetzgebenden Versammlung, eine Expedition nach Kabylien unternommen,
deren Kommando der zum künftigen Kriegsminister bestimmte General Se.
Arnaud erhielt. Die großen und seltenen Dienste, welche er in Kabylien
leisten werde, wurden schon vorher von den bonapartistischen Journalen ver¬
herrlicht, und wenn die Vorstellung, daß man einen „großen" General so
wie einen „großen" Schauspieler durch Reclame creiren könne, auch nicht zu¬
traf, und trotz aller Anstrengung in Kabylien Se. Arnaud nur einen sueeök;
ä'estime errang, so genügte doch auch dieser schon, um ihn für die Zukunft
brauchbar zu machen.
Wenn man sich in solcher Weise eines ergebenen Officiercorps, zumal
einer ergebenen Generalität zu versichern bestrebt war, so hatte man schon
früher Schritte gethan, sich auch die Sympathien des so wichtigen Unter of¬
ficiercorps zu erwerben, indem man bei der Nationalversammlung einen
Gesetzesvorschlag zur Erhöhung des Unterofficiergehalts einbrachte. Der Kriegs¬
minister begründete die Proposition mit der gewiß sehr richtigen Erfahrung,
daß die Unterofficiere, sobald sie die Hoffnung verloren hätten, die Epauletten
zu bekommen, sich beeilten, den Dienst zu verlassen. Napoleon I. habe bereits
gesagt: „Man muß durch alle Mittel die Soldaten zu bewegen suchen, bei
der Fahne zu bleiben, und man wird das leicht erreichen, wenn man den alten
Soldaten große Achtung erweist. Man sollte die Gage nach Verhältniß der
Dienstjahre erhöhen; denn es liegt eine große Ungerechtigkeit darin, einen Ve¬
teranen nicht höher zu besolden, als einen jungen Menschen." Statt auf
diesen sachgemäßen Vorschlag einzugehn, brachte die Opposition einen Gegen¬
entwurf ein, welcher, um sich bei der Armee nicht unpopulär zu machen, aller¬
dings ebenfalls die Erhöhung der Löhnung proponirte, aber auf Kosten des
Effectivbestandes. Die Majorität endlich, die es weder mit der Regierung
noch mit der Armee verderben wollte, schlug vor, statt der Gehaltserhöhung
eine Prämie für das Rengagement zu zahlen.*) So entstand das
System der „Prime", welches wesentlich dazu beigetragen hat, die Masse der
Kapitulanten in der französischen Armee zu erhöhen, eine Erscheinung, die
übrigens der Abneigung der Franzosen gegen den persönlichen Dienst und
ihrem lebhaften Vorurtheil für „of visux", für die alten Soldaten, gleich¬
mäßig entgegenkam.**)
Im October 1851, der gewöhnlichen Zeit des Garnisonwechsels, wurde
die Truppenzahl in Paris und Umgebung außerordentlich vermehrt, so daß
die Kasernen nicht ausreichten und die Mannschaften zum Theil in die Forts
einquartirt werden mußten. 29 Regimenter Infanterie, 8 Jägerbataillone und
eine entsprechende Anzahl von Reiterei, im Ganzen 80,000 Mann wurden nach
und nach, in und bei der Hauptstadt vereinigt. Regelmäßige Uebungen für
den Fall eines Straßenkampfes wurden täglich vorgenommen, und die Stabs-
officiere erhielten Befehl, in bürgerlicher Kleidung die von ihnen bei einem
etwaigen Kampfe einzunehmenden Stellungen und die benachbarten Gebäude
sorgfältig zu studiren. Ein Bankett, welches das erste Lanciers-Regiment dem
neu eingerückten siebenten Lanciers-Regiments gab, wurde benutzt, um der
Armee die Parole zu geben. Oberst von Rochefort charakterisirte seinen Er¬
öffnungstoast als „ein Signal des Angriffs gegen die Anarchisten, ihre An¬
hänger und Führer" und trank auf das Wohl desjenigen, „der der Armee die
Aufgabe, welche sie zu erfüllen habe, so sehr erleichtere, auf das Wohl des
Prinzen Napoleon, des Staatsoberhauptes." Der Commandeur des begrüßten
Regiments, Oberst Feray, bezeichnete die Armee als den Rettungsanker des
Landes; „die in ihren Reihen herrschende Disciplin und Eintracht haben es
ihr ermöglicht, sich auf der Höhe der ihr gestellten Aufgabe zu halten."*)
Ueber diese Aufgabe herrschte bei der Pariser Armee kein Zweifel mehr; sie
erwartete nur das Zeichen. In ihrem Commando wurde Baraguay d'Hil-
liers durch den noch zuverlässiger erscheinenden Marschall Magnam ersetzt.
Dieser versammelte einige Zeit nach seiner Ernennung alle für ein Komman¬
do in Paris ausersehenen Stabsofficiere in seinem Salon und hielt ihnen eine
Anrede, in welcher es hieß: „Meine Herren, es könnte sich in kurzer Zeit er¬
eignen, daß Ihr commandirender General es für angezeigt hielte, sich einem
Unternehmen von höchster Wichtigkeit anzuschließen. Sie werden seinen Be¬
fehlen ohne Widerrede gehorchen . . . Sollte übrigens Einer unter Ihnen
sein, der Anstand nimmt, mir zu folgen, so sage er es und wir trennen uns,
ohne aufzuhören, uns zu achten. Sie wissen, um was es sich handelt . . .
Wir müssen Frankreich retten . . . Was auch geschehen möge, meine Verant¬
wortlichkeit wird Sie decken." — Begeisterter Zuruf folgte diesen Worten,
wie denen des General Reybel, der im Namen aller Officiere erklärte, daß sie
ihre Verantwortlichkeit mit der des Marschalls verbänden. — Zum Befehls¬
haber der Nationalgarde wurde General Lavoestine ernannt, ein guter
Cavallerie-Officier und leidenschaftlicher Bonapartist, dem Oberst Vieyra als
Berather zur Seite stand.
Nachdem so die Pariser Armee völlig gewonnen war, galt es auch an
die Spitze des Kriegsministeriums den Mann zu stellen, der zu Allem bereit
war. Der Präsident wechselte sein Kabinet und übergab das Portefeuille des
Krieges dem General Leroy de Se. Arnaud, dem Manne, der bestimmt
war, die wichtigste Rolle bei dem bevorstehenden Staatsstreiche zu spielen.
Seine erste Amtshandlung war ein Rundschreiben an die commandirenden
Generale, das ihnen die Pflicht unbedingten Gehorsams nachdrücklichst ein¬
schärfte und dessen Sinn er noch dadurch erläuterte, daß er gleichzeitig das in
allen Kasernen angeschlagene Decret der Nationalversammlung abnehmen
ließ, in welchem sich diese das Recht unmittelbarer Verfügung über die Trup¬
pen beilegte. Ein Versuch der Nationalversammlung hiegegen zu protestiren,
fiel in sich zusammen. Es wurde ihr nur eine Wache zugestanden, welcher sie
die Losung geben könne.
In der Nacht des 2. Decembers richtete General Lavoestine an alle
Colonels der Nationalgarde den bestimmten Befehl, ohne seine ausdrückliche
Ordre unter keinem Vorwande Rappel schlagen zu lassen. Alle Trommeln,
deren man habhaft werden konnte, wurden überdies unbrauchbar gemacht.
Nachdem so die Nationalgarde beseitigt worden, rückten auf Se. Arnaud's
Befehl die Truppen aus und besetzten die wichtigsten Punkte der Stadt, Oberst
Espinasse aber bemächtigte sich des Palastes der Nationalversammlung.
Während dessen fand die plötzliche Verhaftung aller einflußreicheren Mitglieder
der Opposition statt, die meist in ihren Betten überrascht wurden. Von Of-
ficieren gehörten dazu die Generale Cavaignac, Lamoriciere, Changarnier,
Bedeau, Le Flo, Oberstltn. Charras, Capitain Choiak und Lieutenant Valen¬
tin. Die bedeutendste bürgerliche Persönlichkeit unter den Verhafteten war
Monsieur Thiers, „Is Nöpnistopdelös <Zv notrs siecle." — Gegen Mor¬
gen wurden dann mehrere Decrete und Proclamationen angeschlagen, welche
Volk und Heer von dem Geschehenen in Kenntniß setzten und vom Volk im
Wesentlichen die Consularverfassung des Jahres VIII, vom Heer den Beistand
zur Rettung des Vaterlandes verlangten. Versprechungen und Schmeicheleien
folgten:
„Im Jahre 1830 und im Jahre 1848 hat man Euch wie Besiegte behandelt.
Nachdem man Euere heldenmüthige Uneigennützigkeit geschändet hatte, verschmähte man
es, nach Eueren Sympathien und Wünschen zu fragen und dennoch seid Ihr die Elite
der Nation. Heute, in diesem feierlichen Augenblicke will ich, daß die Armee ihre
Stimme hören lasse. stimmet frei als Bürger, doch vergeßt als Soldaten nicht, daß
die strengste Pflicht der Armee vom General bis zum Soldaten der passive Gehorsam
für die Befehle des Oberhauptes der Negierung ist . . . Soldaten, ich spreche Euch
nicht von den Erinnerungen, die mein Name mach ruft; sie sind tief eingegraben in
Euer Herz. Wir sind durch unauflösliche Bande aneinander geknüpft. Euere Ge¬
schichte ist die meinige. Die Vergangenheit hat für uns eine Gemeinsamkeit des Ruhms
und der Unglücksfälle; die Zukunft wird für uns eine Gemeinsamkeit der Gesinnungen
und der Größe Frankreichs haben!"
Die Truppen, ohne von dieser Proklamation begeistert zu werden, zeigten
sich bereit, zu gehorchen. Als die Bevölkerung erwachte, fand sie die Ver¬
fassung gestürzt und die Militärregierung aufgerichtet. Der Widerstand, der
sich am 2. December zeigte, war, Dank der großen Entschiedenheit der Exe-
cutivgewo.le, gering. Oberst Lauriston machte zwar einen Versuch, die ihm
untergebene Legion der Nationalgarde zu versammeln; die Bekanntmachung,
daß jeder Nationalgardist, der sich in Uniform auf der Straße zeige, ohne
Weiteres erschossen werde, kreuzte ihn jedoch. Ein Theil der Nationalver¬
sammlung versuchte, seine Sitzungen in einer Mairie aufzunehmen und er¬
nannte den General Oudinot zum Befehlshaber in Paris. Einen Augenblick
schien es wirklich, als ob dieser Rumpf der Nationalversammlung noch etwas
bedeute; die ersten gegen ihn abgesandten Detachements zögerten, ihn ausein¬
anderzutreiben, und es entspannen sich zwischen den Volksvertretern und den
Soldaten förmliche Verhandlungen. Die Officiere verriethen eine gewisse Scheu
vor unmittelbarer Anwendung der Gewalt gegen die Deputirten; die Unter-
officiere aber sprachen im arrogantesten Ton in die Unterhandlung hinein
und drängten ihren Vorgesetzten die in ihnen selbst entflammten Leidenschaften
auf. Bald war denn auch dieses Rumpfparlament gesprengt, und der Prinz-
Präsident hielt einen Umritt durch die Stadt. Zu seiner Rechten ritt der
ehemalige König von Westfalen als Marschall von Frankreich,- dann folgten
die Generale Excelman's, Se. Arnaud, Magnam, de Flahaut, Daumas, La-
voestine, der Oberst Murat u. A. — eine glänzende Suite. — Ganz ohne
Kampf sollte sich aber auch diese Revolution nicht vollziehen. Obgleich Se.
Arnaud den Befehl bekannt machte, daß jede Person, welche beim Bau oder
bei Vertheidigung von Barrikaden oder mit den Waffen in der Hand betroffen
Würde, erschossen werden solle, so wurden, zumal in der Vorstadt Se. An-
toine, dennoch Barrikaden errichtet, und am 4. December nahm der Aufstand
eine drohende Haltung an. — Es ist oftmals und mit sehr guten Gründen
behauptet worden, daß dieser so spät hervortretende bewaffnete Widerstand
gegen den Staatsstreich nicht spontan, sondern erst in Folge der Anstrengungen
bonapartistischer agsnts provoe^eurs entstanden sei. Die Partei des Präsi¬
denten habe eines blutigen Sieges bedurft. Seit Stunden, ja seit Tagen
standen die Soldaten auf dem Pflaster: ließen die Pariser sie so stehen, als
wenn es weiter nichts wäre, so drohte die Verschwörung lächerlich zu werden,
und an diesem Umstände hätte sie noch nachträglich scheitern können. Aus
dieser Furcht heraus soll man in den schweigenden Massen geschürt und sie
zum Widerstande gereizt haben. Was gegen diese sonst sehr wahrscheinliche
Annahme spricht, ist der Umstand, daß es ausschließlich ein Theil der Bour¬
geoisie war, der die Waffen ergriff. Die unteren Classen sahen, eingedenk der
Junischlacht dem Kampfe ohne Sympathie, ja mit hämischer Schadenfreude
zu, und diese Spaltung des Volkes von Paris gab den Bonapartisten von
vorn herein gewonnenes Spiel. Nachmittags schritt General Magnam zum
Angriff. Es war ein kurzer, aber blutiger Kampf. Die Truppen, angefeuert
durch starke Getränke und Geldspenden, gingen gegen die verhaßte Emeute
mit Wuth vor und gaben nirgends Pardon. Noch vor Abend waren sie
überall Sieger.
Napoleon erwies sich dankbar gegen das Heer. Schon am 5. December erließ
ereinDecret, wonach die Kämpfe im Innern als Feldzüge gerechnet
werden sollten, und seitdem figurirte in den Armeelisten der 4. December als
LamxaZns as ?aris. Zur Unterstützung für alte Militärs wurde ein Credit
von 2 Millionen eröffnet; der active Cadre der Generäle und des General¬
stabs wurde in seinem früheren Umfange wieder hergestellt, ebenso die Zahl
der im Mai 1848 reducirten Militärdivisioncn; auf den Fahnen wurde der
Hahn durch den Adler ersetzt, und der Prinz-Präsident, in dessen Hände die
durch das Plebiscit sanctionirte Verfassung vom 14. Januar 18S2 den Ober¬
befehl über die Land- und Seemacht legte, bezog die Tuilerien.
Als dann durch Decret vom 22. Jan. 1852 die Güter der Familie Or¬
leans eingezogen wurden, ward ein namhafter Theil dieses ungeheueren Ver¬
mögens der Dotation der Ehrenlegion zugewiesen, um als Renten für
die Ritter derselben oder als Ausstattung der neugeschaffenen mit einem Jahrge¬
halt von 100 Franken verbundenen Militärmedaille verwendet zu werden.
Den alten Soldaten des ersten Kaiserreichs wurde dieAuszahlung von Jahrgeldern
versprochen, welche die Nationalversammlung kurz vor ihrer Auflösung verweigert
hatte, und der Armee eine allgemeine Erhöhung des Soldes in Aus¬
sicht gestellt. Außerdem fand ein sehr ausgedehntes Avancement statt und
ein großer Theil der Sessel in dem neu geschaffenen reich dotirter Senate,
fast ein Drittel, wurde hohen Officieren zugesprochen. — Am 10. Mai endlich
vertheilte der Prinz-Präsident mit feierlicher Anrede an die Regimenter von
Paris die wiederhergestellten kaiserlichen Adler, „Emblem und Inbegriff einer
Unsterblichen Vergangenheit der Gloire und des Triumphs!" — Im Gegen¬
satz zu diesen der Armee gespendeten Belohnungen wurde der National-
garde das Recht genommen, selbst ihre Officiere zu wählen und das Er¬
nennungsrecht der Regierung, resp, dem Präfecten übertragen. Demselben
Mißtrauen in die Bürgerwehr entsprang ein Decret vom 11. Januar 1852,
welches den Titel VI des Gesetzes von 1832 abschaffte. Seitdem existirte in
Frankreich kein gesetzlicher Modus mehr, um die mobile Nationalgarde einzu¬
berufen. Merkwürdig! Diese Militärherrschaft begann mit einer Schwächung
der nationalen Wehrkraft. —
Es war noch nicht lange her, daß General Changarnier in der Natio¬
nalversammlung den Prätendenten mit Hohn und Verachtung überschüttet
und die Versicherung gegeben hatte, daß nicht eine einzige Compagnie die
Waffen für ihn ergreifen würde. — Und jetzt!? — Die Armee war in der
Anerkennung des napoleoniden vorangegangen; bald folgten ihr die andern
Stände nach. Bei der Rundreise, welche der Prinz-Präsident durch Frankreich
machte, jubelte ihm überall das Landvolk als dem Nachfolger des großen
Kaisers zu; und wenn er den Kaufleuten von Bordeaux gegenüber die welt¬
berühmte Versicherung gab: I/Lmxir« e'eLt la paix, so übersetzte sie sofort
der französische Witz in: I-'ümxirs c'sse , und war gewiß, nicht fehl¬
zugreifen. Am 21. November wurden 7,800,000 Stimmen für, nur 283,000
gegen die Wiederherstellung des Kaiserreiches abgegeben, und am Jahrestage
des Staatsstreiches bestieg Napoleon III. den Thron. Es war bezeichnend,
daß Se. Arnaud, welcher wie die Generale Magnam und Castellan „in Folge
der außerordentlichen Ansprüche auf öffentliche Dankbarkeit, welche sie sich durch
die im December 1861 geleisteten Dienste erworben" eben zum Marschall er¬
nannt worden war, es war bezeichnend sagen wir, daß der Kriegsminister
vom Balcon des Pavillon de l'Horloge das Plebiscit verlas, welches das Kai¬
serreich wieder herstellte.*)
Das neue Empire leitete sich in der That sehr friedlich ein. Bei der
Eröffnung der großen Staatskörper hielt Napoleon eine Rede, in welcher es
in Bezug auf das Budget von 18S3 hieß- „Sie werden ersehen, daß unsere
Finanzlage niemals besser gewesen ist . . . Nichtsdestoweniger wird der Esfec-
tivbestand der Armee, der schon im Lauf der letzten Jahre um 30,000 Mann
verringert worden ist, noch eine weitere Reduction von 20,000 Mann erfah¬
ren." Die Regierung brauchte eben Geld und Friedensglauben und sie selbst,
wie alle Welt war durch 37 Friedensjahre und die leichten Erfolge in Afrika
in den festen Glauben eingewiegt worden, daß die militärischen Kräfte Frank¬
reichs vollauf seiner europäischen Rolle entsprächen. Bald sollte sich diese An¬
schauung als ein Irrthum zeigen. — Die orientalische Frage trat an
Europa heran. Am 10. April 18S4 wurde zwischen Frankreich, England und der
Türkei das als enteilte ovräialö bezeichnete Einvernehmen hergestellt. Die
Nation sah dem Kriege ohne Begeisterung aber mit selbstgefälliger Siegesge¬
wißheit entgegen; das Heer wünschte den Krieg glühend, um endlich etwas
anderes zu sein, als „die Armee des 2. Decembers." Hierin stimmte es mit
den äußersten Radicalen überein, welche durch Barbe's Mund*) die Schwächung
des kriegerischen Geistes in Frankreich für einen unersetzlichen Verlust erklärten.
Die Armee sei das Volk; was werde aber aus diesem Volke, wenn es nicht
einmal mehr gut genug sei, eine Lunte abzubrennen! —
Am 26. Mai 1854 landeten die Verbündeten im Piräus und an dem¬
selben Tage rief Napoleon die kaiserliche Garde wieder ins Leben. Seit
seiner Jugend hatte ihm dies als Traumbild vorgeschwebt. Es ist bekannt,
wieviel die Traditionen der Garde zur Popularität des ersten Kaiserreichs
beigetragen hatten. Veteranen haben keine andere Erinnerung als ihre Fahne.
Die Soldaten der napoleonischen Garde hatten daher überall im Lande eine
Legion von Rhapsoden gebildet und fünfzehn Jahre hindurch den Ruhm des
Kaiserreichs gesungen. Das wußte Napoleon III. sehr wol, und schon in
seiner Erstlingsarbeit, den „Rkveriss politiquss" (1832) verlangte er in seiner
.Konstitution der Republik" die Wiederherstellung der kaiserlichen Garde. Jetzt
war der Augenblick da, den Traum zur Wirklichkeit zu machen, und obgleich
ein zur Discussion dieser Maßregel niedergesetztes Comite von Stabsoffieieren
sich entschieden gegen dieselbe aussprach und auf die Unzuträglichkeiten auf¬
merksam machte, welche das Bestehen einer privilegirten Truppe selbst während
der großen Kriege des ersten Kaiserreichs gehabt, so setzte Napoleon dennoch
seinen Jugendtraum durch. Die neue Garde bildete eine gemischte Division
aller Waffen und umfaßte in 2 Infanterie-Brigaden: 2 Grenadier- und 2
Voltigeur-Regimenter zu je 3 Bataillonen und 1 Bataillon FuWger, in
einer Cavalleriebrigade: 1 Kürassier-Regiment zu 6 Escadrons und das frühere
Regiment der Gulden. Dazu kam 1 Regiment Gendarmerie, 1 reitende Ar¬
tillerie-Brigade zu 5 Batterien und 1 Compagnie Genietruppen. Dies Corps
von im Ganzen 20,000 Mann wurde bestimmt, unter dem Divisionsgeneral
Regnauld de Se. Jean d'Angely an der Seite der englischen Garde seine
ersten Lorbeeren im Orient zu sammeln. Stolz waren die Worte, mit welchen
Napoleon III. ihr beim Abmarsch zur Krim die Adler verlieh:
„1,6 ärapeau as ig. Francs tickte avec Iiouoeur sur ees rives IviutiuvW
on lo vol auäaeieux as nos aiglss u'etait xgs enoore xarveuu. gaiäe
imxsi'ig.le, rexresentation deroiciue as la, gloire et cle 1'llonneur militaire,
est lei Zev^ut moi, entouravt 1'Dmpereur awsi M'autrekois, xortunt la
meme rmitorme, le nome 6rg.xeg.u et s^-me surtout äans le eoour les meines
sentiments ac ä^veueweut Z. 1a xatrie. lieeevex aom: ces ciraveaux,
vous eonäuirout ^ 1^ Zloire, comme ils out eonäuit vos xeres, eomme
ils vieimeut ä'^ eonäuirs vos cüMÄi'aäsL."
Vorausgegangen waren der Garde bereits in den Orient unter dem Be¬
fehl des Marschalls de Saint-Arnaud die vier Divisionen Canrobert, Bos-
quet, Napoleon und Force.
Dies französische Hilfscorps umfaßte die Linien - Regimenter No. 6, 7, 19,
20, 26, 27, 39, 44 und 50. die leichten Infanterie-Regimenter No. 7 und 22, die
Zuaven-Regimenter 1, 2 und 3, das 3. Marine-Jnfanterie-Regt,, das 1., 3., 5. und
9. sowie das algierische Jäger-Bataillon, das 1. und 4. Regt, der Chasseurs d'Afri-
que, 1 Detachement Spcchis, das 6. Dragoner- und 6. Kürassier-Regt., 8 fahrende,
3 reitende, 2 Fuß-, 1 Gebirgs- und ^/z Park-Batterie, eine Nakctierscction und die er-
ford runden Genie- und Gensdarmerie-Abtheilungen.
Im Juli 1854 standen 40,000 Franzosen bei Varna, aber sie konnten
fürs Erste nicht gebraucht werden, weil ihre Organisation nicht vollendet war:
ein Fehler, der sich 1859 und 1870 wiederholt hat.
Merkwürdig ist es, daß sich bei den Franzosen, sobald sie auf dem Kriegs¬
theater erschienen, ihre alte Neigung zeigte, fremde Truppen für ihren
Dienst anzuwerben. Seit dem Feldzugsbeginn beschäftigte Se. Arnaud der
Wunsch eine irreguläre türkische Reiterei zu organisiren und zu diesem Zweck
von den Banden der Baschi-Bosuks (d. i. Strudelköpfe) Nutzen zu ziehen,
welche als türkische Freischaaren das Land plündernd und verwüstend durch¬
zogen. Der arabische General Uoussuf wurde aus Algier berufen, um die
Organisation und Führung dieser Cavallerie zu übernehmen. Er sollte, zum
Verdruß Omer-Pascha's 8 türkische Regimenter „LxMs ä'Orient/ in franzö¬
sischem Solde errichten, und Se. Arnaud, ganz eingenommen von dieser Idee,
schrieb während die Sache noch in den ersten Anfängen war, an den Kriegs¬
minister: „Lies Koinmes, <M sans soläe et sans vivres etuient 1a, terreur 6u
, sont tres-äoeiles entre »08 mains et le generu! en t'ers, des LoLaciues,
imssi rÄlouwdlos et xout-Ltrs xlug rvcloutÄdlss <iue Ich vrais Oosaquos nu
mal^otai ?5l.sI<öNltLeK wenns ö'ela.ii'Lüi's."Das war ein großer Irrthum.
Kaum war Joussus mit seiner neuen Truppe im Lager von Varna angekom¬
men, als auch schon die Desertionen begannen. Jede Nacht verschwand ein
Theil derselben, oft mehr als hundert auf einmal; die ganze Organisation
erwies sich als verfehlt und die unbrauchbare Truppe mußte aufgegeben werden.
Der Enthusiasmus jedoch, mit dem man ihre Schöpfung in die Hand genom¬
men, bleibt characteristisch für eine Lieblingsneigung der Franzosen.
Es liegt außerhalb der Aufgabe dieser Betrachtungen, näher einzugehen
auf die Leistungen der französischen Armee im Krimkriege; unläugbar aber
sind dieselben, was Tapferkeit der Truppen, Energie der Führung und Be¬
harrlichkeit der obersten Leitung anbetrifft, als sehr bedeutend anzuerkennen.
Es schien der Welt, als ob mit den kaiserlichen Adlern der militärische Geist
der besten Napoleonischen Zeit dem Heer zurückgegeben sei, und Niemand war
mehr von dieser Ueberzeugung durchdrungen, als eben die französischen Trup¬
pen selbst. Mit den Elitesoldaten der Garde wetteiferten die Zuaven, welche
von der Alma, der Tschernaja und dem Malakof her Europa mit ihrem
Namen erfüllten, und es war vortheilhaft für den vermehrten Ruhm der
Generale, daß der Oberbefehl so rasch aus einer Hand in die andere überging.
Nach Saint-Arnaud's frühzeitigem Tode hatte Canrobert das Commando
übernommen; als dieser sich durchaus nicht mit Lord Raglan zu stellen wußte,
übergab er den Befehl provisorisch an Pelissier, bis er definitiv durch Mac
Mahon ersetzt ward. Alle diese Namen, sowie den des tapferen Bosquet um¬
gab nun eine gesteigerte Gloire. — Die Medaille hatte indessen auch ihre
Kehrseite. Gleich beim Beginn der Campagne, noch in Varna, hatten sich,
ganz abgesehen von Cholera und Typhus, die unzulängliche Ausrüstung des
Heeres mit Transportmitteln, die schlechten Verpflegungs- und Lazareth-Ein-
richtungen lähmend den Operationen in den Weg gestellt, und Unthätigkeit
und Mißmuth hatten die Disciplin in bedenklicher Weise erschüttert. Dazu
war dann die verfehlte Expedition des Generals Espinasse in die Dobrudscha
gekommen, welche statt „den Kaiser am 1.5. Aug. mit einem Siege zu be¬
schenken" einen furchtbaren, völlig nutzlosen Menschenverlust zur Folge hatte
und sehr böses Blut machte.^) Selbst nach Minderung jener Uebelstände
blieb dieser nachtheilige Einfluß zurück, und es ist bezeichnend, daß in einem
Durchschnitt von dreißig Jahren (1835 bis 1865) der Procentsatz der Be¬
strafungen im Jahre 1855 bei Weitem der höchste von allen ist.^) Auf diese
Zustände hatte jene Schule von Algier offenbar einen nachtheiligen Einfluß
ausgeübt, in welcher rohe Gewaltthat, freches Sichgehenlassen, ungestrafte
Plünderung, weithin bekannte Käuflichkeit hoher Officiere die Mannszucht
untergraben hatten, die dann die Befehlshaber vergebens durch cynische
Härte, namentlich gegen die ihnen untergeordneten Officiere, wieder herzustellen
suchten. In letzterer Hinsicht ercellirte vor Allen Pelissier, welcher in der Krim
die Officiere in empörender Weise behandelte, ja mit Schimpfworten über¬
schüttete, sodaß es zuweilen zu furchtbaren Auftritten kam. Geschah es doch,
daß ihn ein beschimpfter Lieutenant einmal beim Kragen packte und arg zu¬
sammenschüttelte, ja ein anderer Mißhandelter zog, rasend vor Erbitterung,
das Pistol aus der Schärpe und drückte auf Pelissier ab. Die Waffe versagte,
und der General verfügte mit glücklicher Wendung und ohne eine Miene zu
verziehen: „Fünf Tage Arrest für diesen Herrn, weil er seine Waffe in so
schlechtem Stande hat." — Solche Auftritte gewähren Einblick in die tieferen
Strömungen im Innern der Armee.
Ernster aber noch als diese disciplinarischen waren die organisato¬
rischen Schwächen der Armee, welche der Krimfeldzug enthüllte. Man
hatte erst 20, dann 40,000 Mann in den Orient senden wollen, aber man
sah bald ein, daß diese geringe Macht zu den Zielen, welche man erreichen
wollte, in gar keinem Verhältniß stand und der Krieg, einmal begonnen,
nahm Proportionen an, die ganz andere, sehr unerwartete Opfer forderten. Die
in ihm aufgewendete Truppenmacht erreichte sogar in Folge der Nachschübe
nach und nach die Höhe von 200,000 Mann, und um sie während der Be¬
lagerung von Sebastopol auf dieser Höhe zu halten, hatte der Kriegsminister
große Schwierigkeiten zu überwinden. Drei Jahre lang mußte das ursprüng¬
lich nur 80,000 Mann betragende Recrutencontingent auf 140,000 Mann er¬
höht werden. Aber damit war es nicht gethan. Canrobert und nicht min¬
der Pelissier sendeten nämlich immer aufs Neue an den Minister drängende
Depeschen folgenden Inhalts:
„Es ist unerläßlich, die Lücken unserer Effeetivs zu füllen; wenn Sie
aber fortfahren, uns Kinder von zwanzig Jahren zu schicken, die wenig in-
struirt sind, so werfen Sie das Geld unnütz fort; diese bevölkern nur die Hos¬
pitäler, ohne gute Dienste zu leisten. Wir brauchen fertige Männer und exer-
cirte Soldaten."
Die Generale wollten also keine neuausgebildeten Conseribirten, sondern
gediente Mannschaft als Nachschub haben, und daher entschloß man sich end¬
lich zu einem Schritt, der die Mangelhaftigkeit der militärischen Institutionen
in schlagender Weise darthat: man ließ sich nämlich herbei, aus jedem in
Frankreich gebliebenen Regiment eine Elite auszusondern und diese nach und
nach in die Krim zu senden. Man rekrutirte also eine Feldarmee von nicht
großer Stärke aus dem Gesammt-Heere und zwar derart, daß die in der Hei¬
mat!) gebliebenen Truppen aufhörten, eine Streitmacht zu sein und zu Depots
der Feldregimenter herabsanken, als welche sie unfähig gewesen wären, Frank¬
reich zu schützen. — Dies war ein ganz abnormer Zustand, dessen Gefährlich¬
keit sich auch der Kaiser nicht verhehlte. Er beschloß deshalb, das jährliche
Contingent auf 100,000 Mann zu bringen und aus einem Theil desselben
eine Reserve zu schaffen, indem er eine Quote der Rekruten flüchtig aus-
ererciren ließ, dann aber wieder co»Z6 rsiwuvonMg in die Heimath sandte,
um sie im gegebenen Fall als „domines kalts et Lvläats exp6riwelit6s" ein¬
berufen zu können.*) Diese halbe Maßregel war Alles, was Napoleon III.
vom gesetzgebenden Körper zur Verbesserung der so sehr mangelhaften Wehr-
verfafsung erreichen konnte, von deren Schäden freilich laut nicht geredet wer¬
den durfte.
Inzwischen war noch während des Krieges eine sehr einflußreiche und
tiefgreifende Maßregel in Bezug auf die Wehrpflichtigkeit getroffen worden,
welche, wie wir bereits (vergl. Seite 42) angedeutet, schon mehrfach angeregt
worden war. Durch Gesetz vom 26. April 1855 hatte man nämlich
dem Remplacement die Exoneration substituirt und zugleich die „primos
reiisÄAeweiit" und die Armee-Dotationscasse geschaffen.
Bis zu dieser Zeit galten beständig die Einrichtungen von 1832.
Jeder Kriegsunlustige, den das Loos zum Dienen bestimmte, mußte selbst für
den Stellvertreter sorgen. Die Regierung hatte indessen zur Erleichterung
des Geschäfts besondere Gesellschaften concessionirt, welche gegen feste Spesen
die Vermittelung zwischen dem kriegsunlustigen bourZöois und dem kriegs¬
lustiger oder geldbedürftigen Freigeloosten übernahm. Der Preis der Stell¬
vertretung blieb dabei dem freien Uebereinkommen überlassen und regelte sich
ganz börsenmäßig nach Angebot und Nachfrage. — Die auf diese Weise ge¬
stellten Remplacements bildeten 28 Prozent der Armee und hatten sich wäh¬
rend des Krieges durchaus als das schlechtere Element derselben erwiesen. Es
galt, sie fortzuschaffen, und es galt zugleich, Geldmittel zu gewinnen, um sich
ein gutes Unterosfiziercorps und „alte Soldaten" zu erhalten, dies Idol der
Franzosen, nach welchem ja auch die Generale aus der Krim so oft und so
dringend verlangt. Wie war das zu machen? Sollte man die allgemeine
Wehrpflicht proclamiren? Das erschien durchaus unvereinbar mit den Sitten
und Anschauungen der Franzosen. Sollte man das Rengagement, d. h. die
erneute Kapitulation ausgedienter Soldaten zum Hauptmittel machen? Das
hatte große Schwierigkeiten; denn in der modernen Gesellschaft, wo das
bürgerliche Leben so viel mehr Gewinn und Annehmlichkeiten bietet als das
militärische, entschließen sich tüchtige Menschen nur schwer zur Diensterneue¬
rung, wenn man ihnen nicht bedeutende Vortheile verspricht. Um diese gewähren,
um aus dem Militärdienste einen Beruf machen zu können, an dessen Ende
der Krieger ein Ruhegehalt fände, groß genug, um seinen Bedürfnissen zu ge¬
nügen, bedürfte es bedeutender Summen, und solche waren nur dann zu be¬
schaffen, wenn der Staat den Handel mit Stellvertretern übernahm. Dieser
wurde ihm durch das Gesetz von 186S (mit Ausnahme des Tausches zwischen
Verwandten) zugesprochen. In Folge dieses Gesetzes mußte jeder junge Mann
sich schon vor der Loosung darüber entscheiden, ob er sich freilaufen wolle
oder nicht. Ersteren Falles zahlte er eine jährlich von der Regierung festzu¬
stellende Summe (in friedlichen Zeiten, z, B. in den sechziger Jahren, meist
2600 Francs) in die Dotation scasse der Armee ein. Dadurch war
er von jeder Dienstpflicht, auch für den Fall der Desertion
seines Stellvertreters, völlig frei; denn es gab nun keine bestimmten
Stellvertreter mehr für bestimmte Personen, vielmehr wurde der Freigekaufte
in Folge seiner Zahlung auf die Rekrutenquote seines Bezirks angerechnet. —
Da früher diejenigen, welche sich freigeloost hatten, auch keines Vertreters be¬
durften, jetzt aber alle diejenigen, welche nicht dienen wollten, sich freizukausen
hatten, so war die Zahl dieser tZxomZrss natürlich weit größer als die der
früher Vertretenen, und die Dotationscasse machte ein gutes Geschäft. Den
Ausfall an Menschen, der dabei entstand, deckte die Regierung theils durch
das Einstellen gewordener Mannschaft (euAg.Z<zg)*) oder, und dieß schien
eben das Wünschenswerteste, durch Capitulation ausgedienter Soldaten
(röNMZ6s). Diesen Leuten flössen nun die von den Vertretern eingezahlten
Summen zu und zwar unter dem Namen einer „prime" (Handgeld) und
einer „ranks x^e" d. h. höherer Besoldung. Der Wiedereintritt auf volle
sieben Jahre berechtigte zu einer Prämie von 2200 Franken und einer täg¬
lichen Soldzulage von 10 Centimes, bei Wiederanwerbungen auf kürzere Zeit
zahlte die Casse einen Preis von 310 Franken für jedes Jahr der übernom¬
menen Verpflichtung und die gleiche ng,nes Nach 14 vollendeten Dienst¬
jahren wurde die Zulage auf 20 Centimes täglich gesteigert, für das Neu-
Engagement aber keine Prämie mehr bezahlt. Bis zum Jahre 1864 wurde
die eine Hälfte der primo beim Eingehen der Capitulation, die andere beim
Dienstaustritt baar gezahlt. Später legte man, um den Mann schärfer zu
fesseln und mehr Geld in der Hand zu behalten, auch die erste Hälfte in
Rentenbriefen an und händigte dem Manne nur die Zinsen ein. — Der große
Ueberschuß in der Dotationscasse der Armee, welcher auch Vermächtnisse und
Geschenke zufließen durften, und der Gewinn, den sie etwa durch vortheilhafte
Bewirthschaftung erzielte, durfte ausschließlich dem Heere zu Gute kommen
und gestattete daher, namentlich die Pensionsansprüche der Wiedergeworbenen
außerordentlich günstig zu gestalten. Mit diesen Mitteln bildete sich die Ne¬
gierung einen bedeutenden Stamm von Berufssoldaten.*) Wenn das nun
augenblicklich als ein Vortheil scheinen mochte, so muß man es von einem
höheren Standpunkte doch entschieden als Unzuträglichkeit betrachten, daß der
Staat die sehr wenig populäre Industrie übernahm, militärische Stellvertreter
zu beschaffen. Der Staat ward wieder zum Werber**) und unwillkürlich leistete
er der Rekrutirung schlechter, schon bestrafter Soldaten Vorschub, deren Zahl
in der Armee immer größer ward. — Herr von Montalembert und andere
Redner, welche das Gesetz vom 26. April 1855 in der Kammer bekämpften,
beschränkten sich indeß darauf, die financiellen Nachtheile desselben zu kenn¬
zeichnen, und es ging trotz ihres Widerspruchs mit 204 gegen 64 Stimmen
durch."*) Worauf sie nicht hingewiesen hatten, was aber weit ernstere und
schwerere Gründe gegen die Eroneration und Dotation hätte abgeben können,
das waren neben den schon unter der Republik geltend gemachten politi¬
schen Bedenken (vergl. Seite 42) die moralischen Schatten, welche das Ge¬
setz theils auf die Armee selbst, theils auf die ganze Nation warf. — Ein
sittlicher Nachtheil von hervorragender Bedeutung war namentlich die ge¬
setzliche Ehelosigkeit aller Pflichtigen, auch die Wiederangeworbenen und
selbst die ältesten Unteroffiziere nicht ausgenommen. Diese Einführung des
Cölibats in die Armee trennte sie natürlich in ähnlicher Weise vom Volk wie
den Mönch von der Gemeinde. Grade die kräftigsten Männer des Volkes
und zwar in bedeutender Anzahl wurden bis zu ihrem 45. Lebensjahre von
der Begründung eines Haushaltes, von der Vaterschaft abgehalten und zu
einem wüsten Leben genöthigt. Die unwürdige Einrichtung der Militär¬
bordelle, welche die Folge davon war und das physische Uebel durch Vor¬
beugung vor verheerenden Ansteckungen mindern sollte, legte zugleich den
Keim zu größerem sittlichem Verderben, indem sie auch in dem jungen Sol-
baten, der später in das Dorf heimkehrte, das Gefühl der Scham ertödtete.^)
Und außer diesem Schaden zog noch so mancher andere im Gefolge der Ero-
neration und Dotation heran. Tarile Delord sagt: „Die Prämie setzte den
Soldaten zahlreichen Versuchungen aus, da er sich in Rücksicht auf sie allerlei
Lurus, namentlich aber Branntwein und Tabak in reichlichen Dosen gestattete
und sich nach und nach in einen Automaten verwandelte, der mechanisch alle
Exercitien machte. Der Soldatenstand bedarf der Illusionen, ja des Ideals,
welches in der Hingabe an die Fahne, in der Achtung vor den Anführern
lebt. Das neue Gesetz aber drohte Frankreich eine permanente Armee im
übelsten Sinne des Wortes zu geben, d. h. eine Armee, die sich nicht durch
die Nation erneuert, nicht in die Nation zurückkehrt, die sich im Gegentheil
von Tag zu Tag mehr von ihr absondert, eine Armee, welche aus Soldaten
besteht, die ihre Renten haben, die die starken und schwachen Seiten des Ruhmes
kennen, die statt des Marschallstabes eine Branntweinflasche im Tornister
tragen, über ihre Führer schlechte Witze reißen, jeder schöneren Empfindung
unzugänglich sind, ja sie verhöhnen, eine Armee, in welcher statt der Dis¬
ciplin die Gewohnheit herrscht — mit einem Worte eine Söldner-Armee."
— General Trochu aber beurtheilte das Gesetz von 1855. nachdem er die
Folgen desselben ein Jahrzehend lang beobachtet, folgendermaßen: „Durch die
Eronerations- und Dotationsdecrete ist das Gefühl der persönlichen Pflicht
und des Gemeinsinns erloschen. Alle Anstrengungen richten sich darauf, die
Loskaufssumme aufzubringen. Bald wird nur noch das unterste Proletariat
genöthigt sein zu dienen. Schon kann man den Moment berechnen, wo
die französische Armee fast nur noch aus bezahlten Stellvertretern bestehn
wird; denn beständig etabliren sich jetzt Versicherungsgesellschaften zu
Gunsten der Eroneration und große Journale laden den Staat ein, an die
Spitze derselben zu treten. Wie muß es um die Moralität, die Achtung, die
Würde der französischen Waffen stehn, wenn man als verschiedene Formen
schweren Unglücks, gegen das man sich zu versichern strebt, nebeneinanderstellt.-
Feuersbrunst, Ueberschwemmung, Hagelschlag und Waffendienst!"
Niemals war die französische Nation weiter entfernt von der allgemeinen
Wehrpflicht, niemals hatte sie sich von dem Gedanken derselben theoretisch und
praktisch entschiedener abgekehrt, als zu der Zeit, da das zweite Kaiserreich auf
seiner Höhe stand.
In den Jahren von 1854 bis 1859 vermehrte der Kaiser die französische
Armee, indem er die Zahl der Linienregimenter auf 102, die der Jäger¬
bataillone auf 20 brachte und außerdem ein neues Zuaven- und ein neues
Turco-Regiment errichtete. Die Kavallerie-Regimenter wurden von 5 aus
6 Schwadronen gebracht. Auch die wenig populäre Karäo imporialo wuchs
langsam an und bestand beim Ausbruch des italienischen Krieges aus 2 Di¬
visionen Infanterie, einer Division Cavallerie, einer Division Artillerie und
einer Genie-Abtheilung, im Ganzen 30,000 Mann Elitetruppen, welche nicht
nach dem Zollmaß oder der Körperschönheit, sondern aus den Tüchtigsten,
Bestgedienten aller Waffen der Armee ausgesucht und, mit sorgfältig
gewählten Offizieren besetzt, durch höheren Rang und höheren Sold als die
Linie an die Person des Kaisers attachirt wurden. So umfaßte die active
Armee 382 Bataillone Infanterie, 3 Bataillone Pontoniere, 403 Escadrons,
153 Batterien, von denen 36 reitende, und 3 Regimenter Genietruppen, d. h.
(ohne Trains u. f. w) an Combatt arten 396,000 Mann mit 918 Feld¬
geschützen. Auf 30 Soldaten kam durchschnittlich 1 Offizier.
Als der Krieg mit Oesterreich ausbrach, standen von den 396,000 Com-
battanten 380,000 unter Waffen und außerdem befanden sich etwa 1S0,000
Mann auf eonM renouvolMs. (Berge. Seite SS). Die Zahl der Eronerirten
war 42,217, für welche nur 13,713 Rengage's in den Reihen standen. Die
Aushebung des Jahres 18S9 war auf 140,000 Mann gebracht. Die 1S0.000
Beurlaubten wurden als Heeresreserve einberufen, aber nur mit großer
Mühe vereinigt; denn sie hielten sich für definitiv befreit und entsprachen
den Erwartungen in keiner Weise. Trotz ihrer Einberufung konnte man da¬
her nur mit 210,000 Mann die Alpen überschreiten, und da Friedens- und
Kriegsformation, Disloeirungs- und Necrutirungs-Rayons sich nicht ent¬
sprachen, so hatte, wie einst die Orient-Armee bei Varna, das Heer seine
Organisation auf italienischem Boden zu vollenden, und stand zu diesem Zwecke
vierzehn Tage lang bei Alessandria in einer zwischen dem Po und dem Ge¬
birge des Montserrat eingeklemmten Stellung mit lauter Desileen hinter sich,
eng concentrirt. Nur der vollständigen Unthätigkeit und Kopflosigkeit der
Oesterreicher hatte sie es zu verdanken, daß sie nicht noch unfertig geschlagen
wurde, wie es ihr 1870 einem thatkräftigen Feinde gegenüber in ähnlicher
Lage geschehen ist. Gyulais Aengstlichkeit, seine fast krankhafte Furcht vor
Umgehungen gestattete den Franzosen den ersten Erfolg im ersten Treffen
(Montebello) und bestärkte sie dadurch wunderbar in ihrer schon mitgebrachten
Siegeszuversicht. Napoleon III. taxirte seinen Feind richtig, als er jenen zehn
Meilen langen Flankenmarsch ,,a ig, barbv 6o I'oniiöwi" ausführte, der an¬
gesichts eines anderen Gegners tödtlich werden mußte für seine Armee, der in
diesem Falle aber nicht nur glücklich gelang, sondern durch das unglaubliche
Zurückgehen der Oestreicher aus der Lomellina noch belohnt wurde wie ein
Sieg. Es kämpften wohl die Götter für Italien und — <Ma on xorclere
volunt, xnus clomelltvut! — Wäre es doch sonst in der That unbegreiflich,
daß ein anderer schwerer Fehler Napoleon's III., die so weite Entsendung
Mac Mahon's, ebenfalls ganz ungestraft blieb; wäre es doch sonst unver¬
ständlich, daß die Franzosen, statt bei Magenta gründlich geschlagen zu wer¬
den, wie es die unklugen Dispositionendes Kaisers und Mac Mahon's ver¬
dient hätten, vielmehr einen glänzenden Sieg davon trugen. Doch waren
allerdings die Franzosen den Oesterreichern in mehreren Stücken auch wirklich
überlegen: in der größeren Selbständigkeit ihrer Generale und Stabsoffiziere,
in der Kampfweise ihrer Infanterie, in der Bewaffnung ihrer Artillerie und
vor Allem in der nationalen Geschlossenheit ihrer Armee gegenüber dem viel¬
sprachigen österreichischen Heere. Dieser Ueberlegenheit und ebenfalls wieder
den Unterlassungssünden ihrer Gegner war denn auch der Gewinn der Schlacht
von Solferino zu verdanken.
Der Erfolg und der Glanz der Ueberlegenheit in den aufgeführten Punk¬
ten blendeten Europa, blendeten die französische Armee selbst. — Wir müssen
jene Ueberlegenheit etwas näher ins Auge fassen. — Der größte Theil der
Generale hatte gute, oft reiche Kriegserfahrung. Von den anwesenden
Marschällen und Divisionsgeneralen waren 28 sogenannte ^.trieams, 18 über¬
dies auch noch (ürimeens; nur ein einziger General machte in Italien seine
erste Campagne.'") — Was die Mannschaft betrifft, so war auch sie zum
großen Theile kriegserfahren, und „61an" und „mei-am" müssen ihr in hohem
Grade zugesprochen werden. Der Kaiser wußte wohl, was er that, als er in
seiner Genueser Proclamation vom 12. Mai 18S9 den Soldaten zurief:
„Daus 1s. t>g,eg,ille äviv euren cowMotes et u'adlmäoimen p»8 vo» lÄiigz
pour courir en avant. Oötien veus ä'un trop gro-na clam!
O'est ig. seule ellose <zue,je reäoute." Diese Warnung, welche gleichzeitig
eine so entschiedene Schmeichelei war, hat nicht wenig Effect in der Armee
gemacht, um so mehr, als der Kaiser, der ja selbst im Felde stand, was seit
Napoleon I. nicht mehr vorgekommen war. stets generös und sofort be¬
lohnte. Die Aussicht auf Belohnung durch Avancement oder Orden mit
Penston hat sehr wesentlich zur Steigerung des entrain beigetragen. —
Neben dem elau zeichnete den französischen Soldaten aber das „sentiment
iiMviäuel" aus. Dies setzte sich zusammen aus Selbstgefühl und Findig¬
keit, aus Eitelkeit, Ehrgeiz, Dünkel und dem festen Zutrauen, ganz unzweifel¬
haft zu siegen. Eine wunderbare Ueberzeugung ihrer Unfehlbarkeit beseelte
die französischen Soldaten, und da ihnen der erste Sieg im ersten Gefecht
wurde, da auch später keine „revers inattonäuti" vorfielen, so setzte sich dieser
Jnfallibilitätsschwindel in fast allen Kreisen der Armee so fest und verkündete
sich überall so zuversichtlich als unanfechtbares Dogma, daß fast ganz Europa
blindlings daran glaubte. — An fremden Truppen waren nur drei Ba¬
taillone Turcos bei der Armee; auf sie aber und auf die 9 Bataillone Zuaven
käme, wenn man den Zeitungen und den Berichterstattern folgen wollte, ein
so unverhältnißmäßiger Ruhmesantheil, daß er für die halbe Armee ausreichen
würde. Nicht ohne Absicht hatte man wol jene bunten Helden jedem Corps
(mit Ausnahme des IV,) zugetheilt und sie stets in erster Linie verwendet,- man
wollte einen besonderen Effect mit ihnen machen und hat sie daher auch nach¬
her, selbst auf Kosten der übrigen Infanterie herausgestrichen.
Der italienische Feldzug ist übrigens für das französische Heer durch
seine so schnell, so unverdient und verhältnißmäßig auch leicht errungenen
Erfolge verhängnißvoll geworden. Die Kehrseite der glänzenden Medaille
des „Sortiment iliäiviäuöl", der Umstand nämlich, daß der Soldat immer nur
mit sich beschäftigt ist und daher auch in der Masse nur so lange vorgeht,
als diese avaneirt, sofort aber aus Rand und Band geht, sobald die Masse,
vielleicht gar unerwartet, zum Zurückweichen genöthigt wird, diese Kehrseite
kam den französischen Heerführern nicht recht zur Anschauung, und die schnell
aufgekommene demokratische Schmeichelphrase: „L'est I« gönvral Loläat, qui
» SilWL 1a, dawills av Loltsi'imo!" welche bei der allerdings schlechten höheren
Führung freilich nicht ganz unbegründet erscheint, war von ungemein schäd¬
lichem Einfluß. Die Soldaten fingen an, die Officiere an ihre Pflicht zu er¬
innern. „Du avant los öMulvttes!" war das verderbliche Stichwort dieser
Richtung.
Wenn diese psychologischen Betrachtungen die leitenden Kreise der französischen
Armee nach dem Feldzuge von 1889 kaum beschäftigt haben dürften, so stellten
sich desto ernstere Reflexionen in Bezug auf die fundamentale Or¬
ganisation des Heerwesens ein. Es war doch sehr bedenklich, daß trotz
der Einberufung der in rLlwuvel-M« befindlichen Reserve Frankreich nicht
im Stande war, gleichzeitig zwei große Armeen an seinen Grenzen zu halten,
daß nach Aufstellung eines Heeres von wenig mehr als 200.000 Mann in
Italien, Alles was in Frankreich übrig blieb, nicht ausreichte, um einer In¬
vasion am Rhein entgegentreten zu können; denn wieder hatte man wie einst
in die Krim, so jetzt über die Alpen die Elite der Armee geführt, und was
man in der Heimat zurückließ, war zwar zahlreich, aber unfähig, in kürzerer
Zeit eine solide Armee zu bilden,^) — Nach Abzug der Depots und der Be¬
satzungstruppen hätte man nicht mehr als 60.000 Mann an die Ostgrenze
werfen können. Wenn Kaiser Franz Joseph nach der Schlacht von Solferino
im Festungsviereck Stand gehalten und den bereits beginnenden Marsch der
preußischen Armee an den Rhein abgewartet hätte, so mußte der italienische
Krieg mit einer kläglichen Niederlage Frankreichs enden. Wie aber sollte
dieser Zustand geändert, wie eine brauchbare und zuverlässige Reserve geschaffen
werden?
Napoleon III. war unterrichtet und scharfblickend genug, um die Ursache
des Verdorrens der Neservekräfte zu erkennen. In einer Rede, welche er 18S7
an die großen Staatskörper gerichtet, hatte er die Absicht angekündigt, die
Dienstzeit auf 3 bis 2 Jahre zu reduciren. die fertige Mannschaft dann aber
als bereite Reserve 6 bis 6 Jahre lang zur Verfügung der Armee zu stellen.
Nur die Garde solle auch fernerhin als Elite aus alten Soldaten bestehen.*)
Kam der Plan zur Ausführung, so waren allerdings jährlich 90,000 Mann
wirklich auszubilden, aber die Armee, welche dann 9 Jahrgänge von je 90,000
Mann umfaßte, hätte nach Einberufung der Reserven und mit Einschluß der
Officiere und Unterofficiere 800,000 Mann gezählt — eine Ehrfurcht gebie¬
tende Macht. Der Gedanke des Kaisers war jedoch von allen maßgebenden
Persönlichkeiten höchst ungünstig aufgenommen worden. Noch immer hielt
man die 7jährige oder wie sie sich in der Praxis meist gestaltete, fünfjährige
Dienstzeit für ganz unerläßlich zur Ausbildung des französischen Soldaten; die
Ideen Soult's (vgl. III. Quartal S. 448) waren noch überall herrschend, und der
Gedanke so kurzer Ausbildungsfristen großer Recrutencontingente. wie jenes
Project sie mit sich brachte, war den bequemen französischen Officieren gerade¬
zu unerträglich. Ein solches Verfahren hätte gar zu sehr an die in jedem
Jahre neubeginnende, rastlose Arbeit des preußischen Officiercorps erinnert,
welche Marschall Marmont „un t^van ä6eouiÄMnt" genannt, ein „uMicr
qui donne I'iäüo ein supxlies dos Dgna'iäLs" und das bei aller Anstrengung
doch nur eine „Mi'ac nktiomrlv poi'tLetioimöö" zu erziehen im Stande sei. —
War der Kaiser ein Mann von Energie und wahrem moralischem Muthe,
so mußte er jetzt nach den Erfahrungen des italienischen Feldzugs jenen Ge¬
danken von 18S7 entschieden wieder aufnehmen. Dazu aber hatte er nicht den
Muth; der Widerspruch seiner Prätorianer genügte; des Projectcs ward nicht
mehr erwähnt; noch weniger natürlich der allgemeinen Wehrpflicht.
Wie man über diese in den kundigsten und wolmeinendsten Kreisen Frankreichs
damals dachte, mögen Betrachtungen des Historikers Boutirac zeigen, der, wie
der Kaiser nach einer Lösung der schwierigen Heeresfrage suchend, folgender¬
maßen urtheilt:
„Die Conscription scheint definitiv in unsere Sitten übergegangen zu sein.
Einige bezeichnen sie als eine despotische Einrichtung, andere nennen sie con-
form mit den Principien der Demokratie: Alles hängt ab von der Art, wie
man sie anwendet. Es ist unbestreitbar, daß im demokratischen Staat jeder
Bürger verpflichtet ist, das Vaterland zu vertheidigen; aber man muß durch¬
aus einen Unterschied machen zwischen der Pflicht, Haus und Herd zu ver¬
theidigen und der Nöthigung, mehre Jahre in einem Regiment zu dienen. . .
Das preußische System ist ausschweifend. Es erstreckt sich auf eine zu große
Zahl von Bürgern und kann niemals auf Frankreich angewendet werden, wo
man zwischen Militär und Civil einen Unterschied macht. Man hat versucht,
uns eine Reserve zu bilden, indem man die Nationalgarde errichtete; aber die
Nationalgarde wird niemals eine ernsthafte Einrichtung (Institution Lvrieusv)
sein. Sie setzt sich aus Menschen zusammen, die keine Waffengewohnheit, aber
Neigung zur Seßhaftigkeit haben: sie auszuererciren ist ebenso eine Gefahr
für die Regierung, als eine Plage für die Bürger. . . Es handelt sich
darum, bei nicht zu starkem Friedensstande im Augenblicke der
Gefahr eine kriegsgeübte Reserve zu haben. Das preußische
System entspricht dieser Anforderung; aber, wie schon gesagt, man
kann es in Fran kreich nicht einführen. — Die Frage ist ernst und ver¬
langt eine prompte Antwort!"
Der Kaiser fand keine solche. Er begnügte sich durch Decret vom 10.
Januar 1861 zu verfügen, daß von den 100,000 Mann des jährlichen
Contingents ein Theil („xrLmiörv xortion") in die stehende Armee eintreten,
der gesammte Rest aber („ciöuxiömo xmtion") als Krümper in besonderen
Depots exercirt werden sollte, und zwar im ersten Jahre 3, im zweiten 2 und
im dritten Jahre 1 Monat lang. Er hoffte, bei cousequenter Durchführung
dieser Maßregel in einigen Jahren eine Reserve von 200,000 leidlich ausge¬
bildeten und gut ausgerüsteten Soldaten zu erhalten, die immerhin besser seien,
als die bisherigen Beurlaubten.*)
Sehr gerne hätte der Kaiser die Divisionirung der Regimenter und die
Aufstellung von Armeecorps schon im Frieden durchgeführt.**) Im Frieden
bestanden nämlich, außer dem Gardecorps, den Armeen von Paris und Lyon
und der Cavallerie-Division von Luneville, gar keine permanenten Brigaden,
Divisionen und Armeecorps in unserem Sinne, sondern das ganze europäische
Frankreich war in 6 Armeecorps-Bezirke unter Marschällen und diese wieder in
22 Militär-Divisionen unter Divisions-Generalen getheilt, welche endlich in 90
Sub-Divisionen unter Brigade-Generalen zerfielen, die den 89 Departements
entsprachen, nur das Departement Corfica war in 2 Subdivisionen getheilt.
Jeder dieser Generale führte die obere Aufsicht über die häufig wechselnden, an
Zahl sehr verschiedenen Truppen, welche gerade in seinem Bezirke standen, ohne
aber in das Detail des Dienstes wesentlich eingreifen zu dürfen. Man wollte
durch dies System, außer der größeren Centralisation und Gleichförmigkeit in
der ganzen Armee, auch noch die Möglichkeit wahren, bei jedem ausbrechenden
Kriege die Zusammensetzung der Truppen zu Brigaden, Divisionen und Corps
und die Besetzung der höheren Stellen gerade so einzurichten, wie es für den
speciellen Fall am zweckmäßigsten schien. Der Kaiser aber hatte erkannt, daß
diese Vortheile untergeordnet seien gegenüber dem großen Vorzug des preußi¬
schen Systems, nach welchem ein General die Truppe, welche er im Felde
führt, schon im Frieden commandirt und ihre Ausbildung leitet, so daß sich
beide Theile kennen und die ganze Truppe ein Gefühl alter Zusammengehö-
r!gkeit durchdringt. Napoleon setzte jedoch dies Project seinen militärischen
Räthen gegenüber ebenso wenig durch, wie das Verlangen eines unabänder¬
lichen Jahrescontingents. Seltsames Schauspiel eines Monarchen, der sich den
Anschein politischer Allmacht gibt und nicht einmal im Stande ist, im eignen
Reiche das für gut Erkannte durchzuführen. Cin Beweis, daß die Einsicht ohne
den Charakter nutzlos ist. — Welch' andere Frucht hat der ernste Ueberzeu¬
gungskampf getragen, den in ganz denselben Jahren König Wilhelm seiner
ebenfalls widerstrebenden Landesvertretung gegenüber siegreich, wenn auch schwe¬
ren Herzens durchfochten! — Der Wille ist's, der macht den Mann!
Es ist noch gar nicht lange her, daß Marseille unbedingt der blühendste
und wichtigste Hafen am ganzen Mittelmeer war. Das alte Massillia, dessen
freisinnige städtische Verfassung Aristoteles pries, hatte seinen Ruhm bewährt.
Würdig und großartig stand der Geburtsort der Marseillaise und — des
Herrn Thiers in allen seinen Handelsbeziehungen da, eine wahre Königin des
mediterrannischen Meeres. Barcelona, Genua, Trieft, durch hohe Bergschranken
vom Binnenlande getrennt, schwer zugängig, konnten mit der leicht erreichbaren
Stadt unfern der Rhonemündungen nicht concurriren. Selbst das geschäftige
Livorno zeigte mehr locale Bedeutung. Von Neapel, das faul gleich seinen
Lazzaroni ist, konnte keine Rede sein — denn Campanien war nie ein handel¬
treibendes Land; Palermo begnügte sich mit seinem Wein- und Orangehandel.
Brindisi nannte man gar nicht, Venedig stagnirte in seinen Lagunen, wie es
Jahrhunderte schon stagnirt. Was Konstantinopel, Smyrna, Alexandria betraf.
so blühten und handelten sie allerdings — aber in ihrer halbbarbarischen
Weise.
Marseille hatte keinen Rivalen, Marseille fürchtete keine Mittelmeerstadt.
Durch Marseille fluthete Frankreichs reicher Handel nach dem Süden;
von hier aus wandten sich die zahlreichen Industrieproducte nach Spanien
und Italien; von hier aus wurde Aegypten und die Levante versorgt. Die
zahlreichen Bedürfnisse der Militäreolonie Algerien nahmen ihren Weg über
Marseille. Trat man heraus aus der Prachtstraße Og-lmMörs nach dem
(Zua,i Napoleon, so lag dicht gedrängt Schiff an Schiff im ^melen ?ort vor
den Augen des erstaunten Zuschauers. Ueber zwei Millionen Tonnen Ladung
gingen allein jährlich in 18,000 Schiffen von diesem einen Ort aus und ein.
Er genügte nicht mehr und der neue Hafen entstand, das großartige Werk
der Compagnie Talabot, welche 1864 die Docks 6«z I-z. ^olistw der Benutzung
übergab. Was ist der alte Hafen gegen diese neuen immensen Constructionen,
die auf Grund und Boden des einst weltberühmten Pestlazareths sich erheben!
An Zoll erhob hier Frankreich jährlich — SO Millionen Franken. Wand
an Wand lagen sie da die Dampfungethüme der Nössagöriss lux^rialss —
jetzt N. maritimes — und der englischen ?. und 0., der Peninsular und
Oriental Company. Schaut hinaus auf das blaue Meer, da kräuselt Dampf¬
wolke an Dampfwolke, da taucht Segel auf Segel auf, da ziehen Schlepper
die mächtigen Kauffartheischiffe in den Hafen, da kreuzt munter die Felucke
mit dem dreieckigen lateinischen Segel. Lang hingestreckt zieht sich Kai an
Kai, in die See schweifend, die Häfen umfassend, dahinter die großartigen
Waarenhäuser, gleich Dutzenden von mächtigen Casernen und groß genug,
ein Armeecorps zu beherbergen; am Ufer stöhnen und dampfen die Krahne,
durcheinander schwirren die Stimmen der Provencalen, Italiener, Griechen
und Levantiner, oft laut singend, orientalisch gesticulirend. Sicher, wir stehen
hier an einer Pforte des Orients.
Und nun zurück zur Kuh Lamwbiörö, nicht nur der ersten Straße Mar¬
seilles, dessen Stolz sie ist, sondern einer der imposantesten Hauptstraßen aller
Metropolen Europas. Da erhebt sich die Börse, da stehen die prachtvollen
Monstrehotels, da sind von Gold und Fresken strotzende Cafes, glänzen die
herrlichsten Magazine mit luxuriösen Schaufenstern, da wölbt sich der wunder¬
bare Naturdom gigantischer Ulmen. Und wie belebt ist diese einzige Straße!
Hier zieht das amphibische Geschlecht der Blaujacken umher, dort wandelt
calculirend der reiche Geschäftsmann mit gelbem glattrasirten Antlitz; er über¬
schlägt die Summe, die er verdient; es kann ihm nicht fehlen — muß doch
alles nach Marseille strömen.
Und dieses Marseille, das so blühend, so unternehmend, so großartig
und frischwagend vor uns steht — es hat einen argen Stoß empfangen.
*
Ueber seine geographische Lage kann ein Platz nicht hinaus und eine Stadt
ist an den Boden gefesselt. Zwei Franzosen waren es, welche, unbewußt,
Marseille den Stoß versetzten, den es jetzt schwer empfindet. Kaiser Napoleon
wünschte einen Krieg mit Oesterreich, er führte ihn durch, schuf Italiens Ein¬
heit und inaugurirte den Mont-Cenis-Tunnel. Ferdinand v. Lesseps projec-
tirte den Suez-Canal und führte ihn auch glücklich aus. Es ist merkwürdig
wie kurzsichtig man in commercieller Beziehung sein kann; so ging es den
Marseillern — wir haben freilich jetzt gut reden! Hätten sie vorausgesehen
was kam — sie würden sicher nicht dem italienischen Krieg zugejauchzt und
Herrn v. Lesseps als Abgeordneten in die Kammer geschickt haben. Als ihnen
aber die Augen aufgingen, da rächten sie sich so gut es gehen wollte. Wo
verfluchte man das Kaiserreich mehr als in Marseille, wo begrüßte man die
Republik freudiger als hier. Aber, was geschehen war, war nicht mehr zu
ändern.
Der Suezcanal ward eröffnet und er bewährt sich. Italien hat seine
Einheit und eine nationale Regierung mit nationalen Interessen, die dem
Handel wohlwill und durch Italien zu lenken versucht, und mit Erfolg lenkt,
was einst an Waarenströmung zum Theil über Marseille ging.
Wer heute Marseille, das republikanische, erschaut, erkennt die kaiserliche
Stadt nicht wieder. Wir haben die Rückseite des mattgewordenen Bildes vor
uns. Die Glorie früherer Tage schwindet, wenn sie nicht schon geschwunden
ist. Seht die Schifffahrt an, wie sie jetzt jährlich eine Abnahme zeigt, wie
die eigene Rhederei Marseilles gesunken ist und Fremde 'seine Schiffe gekauft
haben, denn der levantinische Handel hat unzweifelhaft begonnen neue Bahnen
einzuschlagen. Die Güter werden jetzt mehr und mehr in flachgehenden, aber
dennoch eine große Tonnenzahl haltenden Dampfern verfrachtet, deren Kohlen¬
verbrauch durch gute technische Vorrichtungen auf ein Minimum zurückgeführt
ist. Und diese Dampfer im Mittelmeer sind wesentlich in italienischen oder
englischen Händen, nehmen von italienischen Häfen ihren Ausgangspunkt.
Herrscht auch in MarseiZe noch Leben genug, sieht man auch noch gefüllte
Waarenhäuser, so ist es doch Thatsache, daß an vielen seiner sonst überfüllten
Kalm heute buchstäblich Gras wächst und die an den leeren Magazinen an¬
gehefteten Zettel mit Z, louLt- sagen das Uebrige. Wo sind sie denn geblieben,
die Ueberlandreisenden, die nach Aegypten und Indien von hier aus abgingen
und manchen Franken in Marseille sitzen ließen? Fragt die hungrig gewor¬
denen wehmüthigen Bootsleute, die Gepäckträger und ähnliche Menschen —
ihre Klagen geben Antwort und Auskunft.
Italiens Häfen dagegen sind im Aufschwung begriffen, und Venedig wie
Brindisi reißen mehr und mehr an sich, was Marseille einst besaß. Der Mont-
Cenis-Tunnel und die Brennerbahn thun ihre Schuldigkeit und das Loch, das
man durch den Gotthard zu bohren beginnt, es wird weiter wirken. Brindisi
erwacht zu neuem Leben. Sein Hafen war im Alterthum so ausgezeichnet
und hatte eine so vorzügliche, den Eingang des adriatischen Meeres beherr¬
schende Lage, gerade den ionischen Inseln gegenüber, daß er schon früh und
ganz naturgemäß die Völker zum Handel einladen mußte. Dieser ganze Theil
Italiens, oder vielmehr wie er im Alterthum hieß, die hesperische Küste, war
dicht bedeckt mit reichen griechischen Städten. Hier lag Sybaris. die Stadt
üppiger Schwelger, aber auch Crotona, wo Pythagoras seine Weisheit lehrte.
Damals waren die Römer noch eine wilde Rotte latinischer Bauern, kaum
bekannt jenseit der Albancrberge und der Tiber. Aber Rom erstarkte in den
Waffen und die griechischen Kolonien, weniger kriegerisch als merkantil gesinnt,
fielen unter seine Herrschaft. Brundifium wurde 686 von den Römern er¬
obert, die hier, den vorzüglichen Hafen benutzend, ihre Hauptflottenstation er¬
richteten, als sie den nach Osten zugelegenen Gegenden ihre Aufmerksamkeit
zuwandten. In Brindisi endigte des Römerreichs wichtigste Straße, die Via
Appia, hier ward (um 220 v. Chr.) einer der ältesten lateinischen Dichter,
Quintus Ennius, geboren, der bereits den schönen bequemen Hafen seiner Va¬
terstadt besang.
Aber der herrliche Hafen verfiel, und die Stadt, welche im Mittelalter noch
60,000 Einwohner zählte, hat heute kaum 10,000. Das italienische Parla¬
ment, Brindisis Wichtigkeit erkennend und bemüht, den wichtigen Punkt zu
neuem Leben zu erwecken, bewilligte der Regierung die Mittel, um den Hafen
mit allen Anforderungen der Neuzeit zu versehen und ihn zu einem Werke
ersten Ranges zu erheben. Seit dem Jahre 1866 begannen ununterbrochen
die Arbeiten, und der Hafen naht seiner Vollendung. Fast neun Meter ist die
Tiefe des Binnenhafens geworden, der somit den größten Dampfern entspricht,
und an seinen beiden, die Stadt umgebenden Armen mit steinernen Kaim
versehen ist; am östlichen Hafen auf eine Länge von 132 Meter, am westlichen
Hafen, bis wohin ein Strang der Eisenbahn führt, aus eine Länge von 365
Meter. Der Außenhafen, eine halbe Stunde lang und eine viertel Stunde
breit, ist vollkommen sicher, groß genug, um eine ganze Flotte aufzunehmen,
und mit Dämmen eingefaßt.
Brindisi ist nicht nur der Ausgangspunkt italienischer Dampfer, auch
englische und die des österreichischen Llohd legen hier an; von hier aus wird
jetzt am bequemsten die Ueberlandroute angetreten, nachdem Post und Passa¬
giere mit der Eisenbahn die ganze Länge Italiens durchfahren und somit
einen Vorsprung vor allen nördlicher gelegenen Häfen: Marseille, Genua,
Venedig, Trieft gewonnen haben. Diese Bedeutung Brindisis ist auch all¬
seitig anerkannt worden; sie bezieht sich auf Personen, Briefe, Eilgüter, wäh¬
rend im eigentlichen Güterverkehr Trieft und Venedig den Vorrang besitzen.
Wenn es aber auf Zeitersparnis? ankommt, dann hat allemal Bnndisi den
Vorrang. Die bisherige Ueberlandpost von London über Calais und Mar¬
seille nach Alerandria brauchte 164 Stunden; via Brenner und Bnndisi
wurde sie auf 1S0 Stunden und via Mont-Cenis-Tunnel auf 147'/z Stunden
abgekürzt.
Neben dem Brief- und Personenverkehr ist aber wesentlich der Güter¬
verkehr zu berücksichtigen. Es wird keinem Spediteur einfallen, seine Güter
mit der Eisenbahn für theures Geld nach Bnndisi zu senden und sie dort
auf Schiffe umladen zu lassen, wenn er sie gleich in Venedig oder Trieft ver¬
laden kann. Trieft wird für den Osten seine Bedeutung behalten, wenn ihm
auch die türkischen endlich der Vollendung entgegengehenden Bahnen Abbruch
thun werden. Venedig, das so lange in seinen Lagunen geschlummert, das
von seinem gewaltigen Rivalen Trieft überholt wurde, es wird auch wieder
sich aufraffen; seine Lage nahe an den drei Uebergangspunkten der Alpen
Mont-Cenis, Gotthard, Brenner wird ihm nun wieder die Vortheile bringen,
die seit dem Zeitalter der Entdeckungen verloren gingen; es kann wieder die
Königin der Adria werden, wenn seine Canal- und Hafenbauten in den
Stand gesetzt werden, welchen die Gegenwart erheischt.
Venedig, nachtgeborgen,
Für dich giebt's keinen Morgen.
Stirb mit verhülltem Haupte
Entthronte Königin!
So sang einst Alfred Meißner und es schien als ob der Dichter Recht be¬
halten sollte. Wir haben aber jetzt die Symptome eines Wiedererwachens
und Gesundens vor uns. In diesen Tagen ist die größte Dampfergesellschast
der Welt, die „Peninsular and Oriental Company" bei der italienischen Re¬
gierung darum eingekommen, die alte Lagunenstadt zum Ausgangspunkte
ihrer adriatisch-ägyptischen Fahrten machen zu dürfen. Und diese Gesellschaft
ist berühmt wegen ihrer transatlantischen Spürnase, die Dampfer mit dem
?. und 0. im Wimpel, sie sind überall da zuerst, wo ein neuer Weltverkehrs¬
punkt eröffnet wird. An der Säule des Markuslöwen wird wieder das Han¬
delstreiben des Mittelalters rege und Massilia schaut neidisch herüber nach der
Rivalin am adriatischen Meere. So lenkt der Weltverkehr in neue Bahnen;
in ihm ist nicht Ruhe noch Rast und hat er die alten Straßen ausgetreten,
dann sucht er wiederum neue, bringt vergessene Plätze in Aufnahme und stürzt
blühende Städte herab von dem innegehabten Throne.
Wir kehren, nachdem wir die wichtige Verhandlung über die Arbeiter-
Hülfs-Cassen vorweggenommen, zu der chronologischen Reihenfolge der Ver¬
handlungen des Congresses zurück.
Die Zolltarifreform bildete den ersten Gegenstand der Tagesordnung
und wurde mit besonderer Rücksicht auf die gegenwärtige Gestaltung der wirth¬
schaftlichen Verhältnisse Deutschlands und auf die Provinz, in welcher der
Congreß diesmal tagte, erst in Danzig dem Programm mit eingefügt. In
der That ist noch kein so geeigneter Zeitpunct für die Zolltarifreform wie der
gegenwärtige da gewesen, weil die finanzielle Lage des deutschen Reiches eine
beispiellos glänzende ist und statt des Zollparlaments jetzt ein Reichstag mit
vollem Budgetrecht besteht. Der Congreß brauchte nur sein altes Programm
— Abschaffung des Schutzsystems und Vereinfachung des Tarifs — zu wieder¬
holen. Die ursprünglich vorgeschlagene Resolution forderte speciell nur die
Aufhebung des Roheisen-Einfuhrzolls, weil derselbe einer der schlimmsten
Schutzzölle und namentlich verderblich für die Ostseeländer sei — und außer¬
dem die Aufhebung des noch einzigen Ausfuhrzolls, desjenigen auf Lumpen,
welcher die ganze Ausfuhr lästigen Cvntrolmaßregeln unterwirft. Der Con¬
greß ging noch weiter, indem er auch die Aufhebung der Eisenfabrikatzölle,
namentlich für Stab- und Walzeisen und sodann im Interesse der inländischen
Papierfabrikation auch die Beseitigung der Einfuhrzölle auf Chemikalien für
dringlich erklärt. In der Debatte wies der Redacteur der Hamburger Bör¬
senhalle, Dannenberg, sehr schlagend nach, daß die Fabrikate des Zollvereins
keines Schutzes mehr bedürfen, weil sie auf dem Hamburger Weltmarkte die
englischen Waaren mehr und mehr verdrängen. So verkaufen die zollvereins-
ländischen Glasfabrikanten ihre Artikel in Hamburg ebenso billig wie die
englischen und belgischen, während sie im zollvereinsländischen Harburg etwa
20 Procent theurer verkaufen und mithin diese enorme Differenz als künstlichen
Schutzzoll in die Tasche stecken.
Gleich wirksam und wichtig war die Erklärung des Kösliner Papierfab¬
rikanten Wehrend, welcher lebhaft für die Aufhebung der Zölle auf Chemika¬
lien plaidirte und dabei bemerkte, daß die Papierfabriken die Beseitigung des
Lumpenausfuhrzolls und die Vertheuerung der Lumpen wohl ertragen und
mehr als bisher Lumpen-Surrogate verarbeiten könnten, wenn nur die Che¬
mikalien billiger würden. Beide Maßregeln, die Aufhebung der Chemikalien-
und Lumpenausfuhr-Zölle, müßten gleichzeitig getroffen werden. Ein geringer
Meinungsstreit entstand bei der Zollreformfrage nur über die Näthlichkeit der
Forderung von Aequivalenten Seitens des Zollvereins. Ein Redner bean¬
tragte, als ein Aequivalent von England, dem man die Aufhebung des Roh¬
eisenzolls nicht schenken dürfe, die Ermäßigung des englischen Spirituszolls
zu fordern, ein solcher Congreßbeschluß werde im ganzen Osten die lebhafteste
Zustimmung finden. Man entgegnete mit Recht, daß eine Frage der innern
Zollreform von dem Zustandekommen eines internationalen Vertrags nicht
abhängig gemacht werden dürfe und daß England obendrein augenblicklich
kein Interesse an der Aufhebung der deutschen Eisenzölle habe, da es kaum
seinen eigenen Eisenbedarf decken könne. Nach diesen sachgemäßen Auseinan¬
dersetzungen vereinigt sich der Congreß einstimmig zu folgendem Beschlusse:
„Die gegenwärtige Lage unserer Wirthschaftsverhältnisse verlangt die unge¬
säumte Wiederaufnahme und Fortführung der vom Zollparlament begonnenen
Zolltarifreform durch die gesetzgebenden Factoren des deutschen Reiches bis das
Ziel dieser Reform, und zwar 1) die consequente Beseitigung des Schutzsystems,
2) die Zurückführung des Tarifs auf wenige nach finanziellen Rücksichten
ausgewählte Positionen ganz erreicht sein wird. Am dringendsten nothwendig
ist die Aufhebung der Eisenzölle, der Einfuhrzölle auf Chemikalien und des
Lumpen-Ausfuhr-Zolls."
Mit gleicher Uebereinstimmung bekundete der 'volkswirtschaftliche Congreß
in Danzig sein lebhaftes Interesse an der Hebung der deutschen Strom -
und Canalschifffahrt, indem er unter Anhörung der Klagen der deut¬
schen Stromschiffe nach kurzer Debatte beschloß: „Der Congreß spricht wieder¬
holt sein Bedauern über die großen Schäden aus, welche durch ungenügende
Fürsorge für die Verhältnisse der Binnenschifffahrt, insbesondere für die Ver¬
besserung des Zustandes der bestehenden Wasserstraßen und Errichtung von
neuen Canälen dem Volkswohlstande fortdauernd zugefügt werden. Als ein
geeigneter Schritt zur Abhülfe wird empfohlen, daß für die einzelnen Strom¬
gebiete besondere Wasserbaudirectionen errichtet werden, wie solche für die
preußische Eldstrccke durch Errichtung einer Elbstrombaudirection mit Erfolg
angebahnt ist."
Die drei übrigen auf dem Danziger Congresse verhandelten Fragen: Die
Bankfrage, die Schulgeldfrage und die Eiscnbahnfrage führten zu keinem solchen
Resultate, wie die Debatte über die Arbeiterhülfscassen. Da wir schon einen
großen Raum dieser Zeitschrift beansprucht haben, müssen wir es einer
andern Feder überlassen, über diese Fragen eingehender zu berichten
und wollen die Ergebnisse der Debatte nur in kurzen Worten zusammen¬
fassen. -
In der Schulgeldfrage wurden drei verschiedene Standpuncte geltend
gemacht. Der Hauptreferent Wolff beantragte eine Erklärung: „daß die
Unentgeltlichkeit des Schulunterrichts verwerflich sei." Der Correferent Op¬
penheim wünschte eine Resolution „daß die Unentgeltlichkeit des öffentlichen
Schulunterrichtes den Grundsätzen der Volkswirthschaft nicht zuwider sei."
Prof. Böhmert wollte den Schwerpunct in die Selbstverwaltung der Ge¬
meinden verlegen und wünscht ein Votum dahingehend: „daß der Staat den
Gemeinden die Erhebung von Schulgeld nicht verbiete oder unmöglich mache.."
Ueber alle diese Anträge siegte der am weitesten gehende des Oberbürgermeisters
v. Winter, welcher allgemein die Unentgeltlichkeit des öffentlichen Volksschul¬
unterrichts forderte. Es muß jedoch bemerkt werden, daß die Majorität für
diesen Antrag keine sehr starke war und daß sich insbesondere viele der regel¬
mäßigen Besucher des Kongresses nicht damit befreunden wollten. Auf das
Votum selbst wirkten mehr politische und kirchliche als volkswirthschaftliche
Hände ein. Der Hauptredner führte das preußische Landrecht und die preu¬
ßische Verfassung als wichtige bestimmende Gründe für das Votum an und
warnt, sich in der Bekämpfung des Grundgesetzes der Unentgeltlichkeit zu Hrn.
von Muster zu gesellen. Bewegender war das Argument des Hrn. Seyffardt
aus Crefeld, welches aus der Erfahrung rheinpreußischer Städte entnommen
war: daß die ausschließliche Aufbringung der Volksschulkosten aus Gemeinde¬
mitteln die Vertreter der weltlichen Gemeinden erst mit dem rechten lebendigen
Interesse für das Unterrichtswesen erfülle. Einer der wirksamsten Angriffe
auf das Schulgeld war die Scheu vor der Kirche. Man fürchtet, daß die
Ultramontanen die Erziehung der Jugend in ihre Hand bekommen und sie
eventuell auch unentgeltlich übernehmen werden, wenn die Gemeinden es nicht
thun. Die Anhänger des Schulgeldes gaben zu, daß man aus praktisch-poli¬
tischen Gründen sich in Städten mit dichter Arbeiterbevölkerung oder in ganz
armen ländlichen Gemeinden oder da wo man Ultramontane zu bekämpfen
hat, sehr wohl von Fall zu Fall für die Unentgeltlichkeit entscheiden könne,
daß aber die staatsseitige Proelamirung des absoluten Princips der Unent¬
geltlichkeit des Volksschulunterrichtes erstens aus ethischen und Volkswirth-
schaftlichen Gründen, zweitens aus Rücksichten auf das materielle Wohl der
Schule und der Lehrer und drittens im Interesse der Selbstverwaltung der
Gemeinden theoretisch verwerflich sei. —
Während die Erörterungen der Schulgeldfrage wenigstens zu einer be¬
stimmten Meinungsäußerung führten, ging aus den Verhandlungen über die
Banknotenfrage gar kein bestimmter Beschluß hervor. Die brennende
Forderung unserer Tage, welche die Umwandlung der preußischen Bank in
eine Reichsbank mit alleinigem Recht zur Notenausgabe verlangt und sich aus
das Votum des letzten deutschen Handelstages stützt, fand auch in Danzig
entschiedene Vertretung.
Der Hauptreferent Dr. Wolff beantragte Anlehnung an diesen Reichsbank-
Beschluß des deutschen Handelstages mit ewigen weiteren Cautelen gegen den
Notenschwindel. Er wurde darin von Dr. A. Meyer und von Seyffardt aus
Crefeld unterstützt. Dagegen erhoben sich für freie Notenausgabe nach gesetz¬
lichen Normativbedingungen der Reihe nach Dr. Dorn (Trieft), Dr. Gensel
(Leipzig), Professor Böhmert (Zürich), Bankdirector Schottler (Danzig) und
Dr. Nentzsch (Dresden). Die Vertreter der Reichsbankidee glaubten anfäng¬
lich den Sieg wohl ziemlich sicher zu erringen, allein sie vermochten keine
Majorität zu erzielen. Der Handelstag wurde vom volkswirtschaftlichen
Congreß nicht als Autorität in dieser Frage anerkannt, es wurde vielmehr
hervorgehoben, daß die Interessen der Landwirthe, der Handwerker und Ar¬
beiter und überhaupt die allgemeinen Staats- und Finanz-Interessen gleich
maßgebend sein müßten und bei einer Beherrschung des Credits und Verkehrs
durch eine Centralbank und wegen der Gefahr eines Zwangseurses im höchsten
Grade beeinträchtigt werden könnten. — Das negative Votum des Volkswirth-
schaftlichen Congresses wird hoffentlich den Erfolg haben, daß man sich in der
Wissenschaft und in der Presse ohne Rücksicht auf Autoritäten mit den wirt«
liehen Gründen und Thatsachen, welche für und gegen eine Reichsbank sprechen,
um so eingehender beschäftigt.
Die Verhandlungen über die Eisenbahn-Beschwerden wurden im Congreß
eigentlich nur angeregt, um die Freiheit des Verkehrs auf den Schienenwegen
und eine freiere Entwicklung des Speditionsgewerbes anzubahnen. Insbe¬
sondere wurde das zunächst für Elsaß-Lothringen eingeführte, demnächst aus
den süddeutschen Eisenbahnverband ausgedehnte System des Wagenraum- und
Colii-Tarifs als ein bedeutender Fortschritt in der Praxis des Eisenbahn¬
verkehrs gerühmt und dessen Ausdehnung auf das gesammte deutsche Reich
vorgeschlagen. Ferner wurde die Anstellung von Versuchen empfohlen, in¬
wiefern Maßregeln, durch welche die Functionen der Herstellung und Er¬
haltung des Bahnkörpers, der Traction und der Spedition in weitem Um¬
fang getrennt werden, aus technischen Gründen durchführbar seien. — .Der
Congreß trug mit Recht Bedenken, ohne eingehende sachliche Prüfung sich für
bestimmte neue ihm besonders empfohlene Systeme der Eisenbahn-Administra¬
tion auszusprechen und vertagte diese Untersuchungen auf den nächstjährigen
Congreß.
Es verdient noch Erwähnung, daß der diesjährige Congreß in Danzig
für alle Theilnehmer außer den Verhandlungen noch außerordentlich viel ander¬
weitige Belehrung bot, indem die Mitglieder unter Begleitung des Herrn
Oberbürgermeisters v. Winter nicht nur die Sehenswürdigkeiten der Stadt, ins¬
besondere des ehrwürdigen Rathhauses und Franziskanerklosters und anderer
Bauwerke, sondern auch die modernen neuen Danziger Canalisations-Anlagen
mit dem Pumpwerk und dem Büchelungsterrain in Augenschein nahmen, nach¬
dem sie durch einen höchst instructiven Vortrag des Herrn v. Winter im Con-
greßlocal selbst dazu vorbereitet worden waren. Obwohl die Zahl der Theil-
nehmer des diesjährigen Congresses wegen der weiten Entfernung von Danzig
nur gering war und sich auf etwa 200 Personen beschränkte, so wird doch
Niemand die weite Reise bedauert, sondern unauslöschliche Erinnerungen aus
der Ostmark des deutschen Vaterlandes mit hinweggenommen haben. Man
muß es tief bedauern, daß eine Anzahl gelehrter deutscher Nationalökonomen,
anstatt auf dem volkswirtschaftlichen Congresse ihre Ansichten zu vertreten,
eine Art Gegencongreß in Eisenach in Scene setzen wollen. Wir wünschen
den dort erscheinenden Mitgliedern von Herzen ein gedeihliches Zusammen¬
wirken und erblicken schon darin einen Fortschritt, daß die Herren Professoren
endlich von ihren Cathedern ins Volk hinabtreten wollen; allein die Veran¬
stalter der Zusammenkunft haben ihre Einladung mit der Phrase vom „ab¬
soluten laisser taire et ImMer passer", womit sie ihre Gegner abthun zu
können glauben, zu einer sehr unglücklichen Stunde abgefaßt und werden sich
nun auch der öffentlichen Kritik voll und ganz unterwerfen müssen. —
Bekanntlich ist die vorjährige Landtagsession nicht geschlossen, sondern
vertagt worden. Welches Jahr giebt denn aber einer Landtagsession ihren
Namen? Diejenige, welche formell jetzt noch fortdauert, wurde eröffnet am
27. November 1871, vertagt am 10. Juni 1872. nachdem sie seit Ende März
unterbrochen gewesen dadurch, daß die Präsidenten beider Häuser keine Sitzun¬
gen anberaumten. Am 21. October wird nach dem am 10. Juni von beiden
Häusern in Uebereinstimmung mit der Regierung gefaßten Beschluß die Session
wieder aufgenommen werden. Wir sind also noch in der Session von 1871.
Denn die Sessionen werden nach den Jahren bezeichnet, in welche ihre Eröff¬
nung fällt.
Liegt darin irgend etwas Bedenkliches, vielleicht gar Verfassungswidriges?
Muß nicht jedes Jahr seine eigene Session haben? Davon steht nirgend etwas
geschrieben. Die Verfassung bestimmt nur, daß der Landtag in dem Zeitraum
vom November bis Januar jeden Jahres und außerdem so oft die Umstände
es erheischen einberufen werden soll. Es wird auch die Legislaturperiode auf
drei Jahre festgesetzt. Aber es steht kein Wort in der Verfassung, daß die
Geschäfte der höchstens dreijährigen Legislaturperiode — denn dieselbe kann
durch Auflösung des Hauses der Abgeordneten nach königlichem Ermessen ab¬
gekürzt werden — in mehreren Sitzungsperioden, etwa in drei durch Land¬
tagsschluß getrennten Sessionen, besorgt werden müssen. Es steht verfassungs¬
rechtlich nicht das Mindeste im Wege, die Geschäfte einer Legislaturperiode
in einer einzigen, nur durch Vertagung mit Zustimmung des Landtags unter¬
brochenen Sitzungsperiode erledigen zu lassen. Die Unterscheidung von beson¬
deren Sitzungsperioden, welche sich durch den vom König verkündigten Land¬
tagsschluß beendigen, innerhalb der Legislaturperiode hat nur einen einzigen
rechtlichen Anhalt und einen einzigen Praktischen Zweck. Artikel 64 der Ver¬
fassungsurkunde bestimmt nämlich, daß Gesetzvorschläge, welche durch eines der
Häuser oder den König verworfen worden, in derselben Sitzungsperiode nicht
wieder vorgebracht werden dürfen. Die zulässige aber nicht nothwendige Ab-
schließung der Sitzungsperiode hat also folgenden Zweck. Man will einerseits
verhindern, daß durch factiöses Zurückkommen auf einen Gegenstand, über
welchen augenblicklich keine Einigung möglich, der Fortgang der Geschäfte
aufgehoben werde; man will andererseits vermeiden, daß ein abgelehnter Ge¬
setzvorschlag während der ganzen Legislaturperiode ruhen müsse, die Verfassung
legt es in die Vereinbarung der Regierung mit dem Landtag das Verbot der
Wiederaufnahme abgelehnter Gesetzvorschläge durch Vertagung einer formell
als continuirlich behandelten Session bis an das Ende der Legislaturperiode
zu erstrecken. Die Vereinbarung ist nothwendig, weil die Regierung allein
den Landtag nur auf dreißig Tage vertagen kann und weil sie die Vertagung
in einer als continuirlich betrachteten Session ohne Zustimmung des Landtags
nicht wiederholen darf. Dagegen kann die Regierung den Landtag jederzeit
oder doch nach Votirung des Budgets schließen und durch den Schluß und
die Wiedereröffnung einer neuen Sitzungsperiode die Wiederaufnahme abge¬
lehnter Gesetzvorschläge ermöglichen.
Wie verhält sich nun die Erstreckung der vorjährigen Session auf das
laufende und eventuell selbst auf das nächste Jahr zu dem praktischen Zweck
der erwähnten Berfassungsbestimmungen?
Nehmen wir an, die Regierung brächte in der fortgesetzten Session nur
Gesetzvorlagen ein, welche in den früheren Theilen der Session nicht vorge¬
kommen sind, darunter das Budget für 1873, so stände einem solchen Ver¬
fahren verfassungsrechtlich gar nichts im Wege. Wie aber, wenn die Re¬
gierung, was doch der allgemeine Wunsch ist und beinahe eine Forderung des
öffentlichen Wohles, noch in der laufenden Session auf die Reform der Steuern
zurückzukommen beabsichtigte, nachdem ein desfallsiger Gesetzvorschlag im ersten
Theil der Session abgelehnt worden?
Nach Erledigung gewisser Gesetzvorlagen die Session schließen und zugleich
eine neue eröffnen, würde sich nicht empfehlen. Nach der durch die Geschäfts¬
ordnungen feststehenden Praxis beider Häuser bewirkt der Schluß einer Session
formell die Ungültigkeit nicht nur aller während der geschlossenen Session oft
mit großer Mühe und Arbeit geförderten Commissionsberichte, sondern auch
die Ungültigkeit der von einem Haus über einen Gesetzvorschlag gefaßten Be¬
schlüsse, wenn der Gesetzvorschlag noch nicht dem andern Haus vorgelegen oder
wenn die Beschlüsse überhaupt etwas anderes enthalten, als die einfache Zu¬
stimmung zu einer im anderen Haus angenommenen Vorlage. Gerade um
zu vermeiden, daß die Beschlüsse des Abgeordnetenhauses über die Kreisord¬
nungsvorlage formell ihre Gültigkeit verlieren, ist die Session von 1871 noch
nicht geschlossen, sondern vertagt worden. Es müßte also in dem angegebenen
Falle die Einbringung eines neuen Steuergesetzvorschlages verschoben werden,
bis alle wichtigen Arbeiten des letzten Theiles der Session beendigt sind.
Schwerlich wird dies lange Zeit vor dem Beginn der neuen Reichstagssession
der Fall sein. Die Steuerreform müßte also bis zum Herbst 1873 ruhen;
ein viel zu langer Zeitraum für den allgemeinen Wunsch und für das wirk¬
liche Bedürfniß.
Es muß also auf andere Auswege gesonnen werden, deren sich mehr
darbieten. Man könnte die Bestimmung des Artikel 64 für die Session von
1871 außer Kraft setzen durch ein besonderes Gesetz, welches einer Verfassungs¬
änderung gleich zu achten und daher von jedem Haus binnen einundzwanzig
Tagen zwei Mal gutgeheißen werden müßte. Man könnte auch, da der
wiederum vorzulegende Steuerreformplan keinesfalls mit dem abgelehnten völlig
gleichen Inhalts sein wird, durch eine buchstäbliche Interpretation nach eng¬
lischer Art sich der Beobachtung des Artikel 64 überheben. Das Präeedenz
wäre indeß kein gutes und der zuvor genannte Ausweg scheint der empfehlens-
werthere. —
Die Aussichten der Landtagssession sind übrigens durch den Inhalt der
bevorstehenden Gesetzvorlagen sehr bedeutende. Die Einführung der Civil¬
standsregister scheint sich zu verwirklichen. Ein Gesetz gegen den Mißbrauch
der geistlichen Amtsgewalt wird verheißen. Der Beschluß des Herrenhauses
über die Kreisordnung, wie er auch ausfalle, wird für die Stellung dieses
Staatskörpers folgenreich sein, und die Steuerreform endlich bietet legis¬
latorischer Weisheit die dankbarste und verdienstlichste Gelegenheit. Dankbar,
weil das Richtige, glücklich gefunden, hier zur allseitigen Wohlthat wird; ver¬
dienstlich, weil das Richtige in der That zwar nicht unfindbar, aber auch
keineswegs leicht zu finden ist. Möge unsern Gesetzgebern die Weisheit ge-
schenkt werden, deren wir bedürfen, um unseres Glückes froh und würdig zu
werden, und die sich bei der erstmaligen Berathung der Steuerreform noch
Die Erhöhung der Preise so mancher Bedürfnisse des Lebens und der
Arbeitslöhne hat der Meinung einer starken Entwertung des Geldes in un¬
serer Zeit großen Vorschub geleistet und zur Schadloshaltung ist dafür die
Betheiligung an Grundstücken in aufstrebenden Städten und an gesunden in¬
dustriellen Unternehmungen empfohlen worden.
Es läßt sich gewiß nicht leugnen, daß in den letzten Jahren, und na¬
mentlich seit Beendigung des deutsch-französischen Krieges, viele Bedürfnisse
des Lebens, — als Miethen. Fleisch, Arbeitslöhne — stark gestiegen sind und
man sich heute nicht mehr denselben Comfort des Lebens für dieselbe Summe
Geldes verschaffen kann.
Wer die nöthige Einsicht hat, um ein sicheres Urtheil sich selbst zu bilden,
was gesund und was ein Product überreizter Speculation ist, für den mag
sich auch eine Betheiligung an industriellen Actien-Unternehmungen oder Er¬
werb von Grundstücken eignen — ich möchte nur jene Leute, welche durch
ihre Stellung im Leben dem kaufmännischen Treiben ferner stehen, warnen,
nicht leichten Sinnes ihre sauer ersparten Vermögen an Unternehmungen zu
wagen, die ihnen vielleicht große Dividenden versprechen, von deren Solidität
sie aber keine sichere Ueberzeugung haben.
Denn Niemand sollte vergessen, daß große Dividenden und große Risicos
fast immer Hand in Hand gehen.
Besonders sind jetzt jene Unternehmungen aufgekommen, welche ein be¬
stehendes lucratives Etablissement auf Actien übernehmen und durch Aus¬
dehnung zu noch erhöhter Rentabilität bringen wollen. Ich bin nun der
unmaßgeblichen Meinung, daß aus reiner Menschenliebe so leicht Niemand
sein lucratives, von ihm vielleicht durch lange schwere Zeiten endlich zur
Blüthe geführtes Unternehmen einem Consortium überläßt, sondern daß in
9 unter 10 Fällen der Abgeber die Konditionen für sich so luerativ ansieht.
daß er glaubt, im Verlaufe seines Geschäfts den größten Nutzen für sich zu
finden. Ich glaube ferner, daß in den weitaus meisten Fällen der bisherige
Eigner besser weiß, was er abgiebt, als die Uebernehmer, was sie kaufen.
Aehnlich verhält es sich mit den neuen Bank-Gründungen — indem die
Gründer sich von vornherein eine Prämie von ö—20 und mehr Procenten
von den Liebhabern solcher Actien zahlen lassen — dazu dann als Verwal¬
tungsräthe ihre Tantieme jährlich verdienen und durch ihren Einfluß noch
manchen indirecten Vortheil genießen, — lassen sie sich von dem Publicum
ihre Ideen recht ansehnlich bezahlen und wenn man jetzt immer dieselben
Firmen unter den Gründungs-Consortien findet, so kann man sich kaum der
Ansicht erwehren, daß sie sich selbst nicht allzu sehr um das fernere Wohl und
Wehe ihrer Kinder kümmern können, da diese Herren fast alle selbst auch ganz
bedeutende Geschäfte für ihre alleinige Rechnung führen. In früherer Zeit,
wo den Actien-Unternehmungen fast nur solche Geschäfte zufielen, zu deren
Betrieb das Vermögen der Einzelnen nicht ausreichte, übernahmen die Urheber
solcher Etablissements auch zugleich die moralische Verpflichtung, ihre besten
Kräfte und Erfahrungen auf das Gelingen derselben zu verwenden, dies kann
man bei vielen Schöpfungen der Neuzeit kaum erwarten, denn dazu haben
die meisten modernen Gründer zu viel auf ihre Schultern genommen. De߬
halb sollten kleinere Kapitalisten nicht im blinden Vertrauen auf die Namen
der Gründer bauen, sondern sich immer nur an die Unternehmer selbst halten
und ihre Hände davon lassen, wenn sie selbst nicht ein ausreichendes Urtheil
über deren Rentabilität und Solidität haben.
Auch glaube ich, daß man sich über die behauptete Entwertung des
Geldes mit der festen Erwartung trösten kann, daß darin in nicht allzu ferner
Zeit ein Umschwung eintreten wird. — denn entweder wird die Concurrenz
den Werth der Papiere und des Geldes wieder in normale Verhältnisse führen,
oder irgend ein nuevo^ra event erschüttert das Vertrauen, welches die Grund¬
bedingung für derartige Conjuncturen ist, und dann wird eine Zeit kommen,
wo alle Papiere, — wenn auch nicht, wie die Times neulich meinte, werth¬
los, so doch in durchaus verändertem Werthverhältnisse zum Gelde stehen. —
Denn darüber mag sich ein Jeder beruhigen, daß die Entwerthung des Geldes
nicht in enormer Production von Gold und Silber seinen Grund hat. — in
den Hauptproductionsländern hat die Gewinnung von Edelmetallen eher ab¬
genommen als das Gegentheil. —
Der einzige Grund liegt in der Speculation. welche momentan gar keine
Grenzen zu kennen scheint.
Sie fand durch den Friedensschluß und die Veränderung, welche die
Kriegscontribution in der financiellen Lage Frankreichs und Deutschlands
brachte, eine brillante Gelegenheit sich zu rühren und immer weiter zu eilt-
wickeln und wußte geschickt auch die hohe Politik ihrem Interesse dienstbar
zu machen, indem man betreffenden Orts wohl begriff, daß nur mit ihrer
Hülfe die Milliarden-Anleihen möglich seien.
Die Gerechtigkeit erfordert, daß man den obersten Leitern der Specula-
tion die Anerkennung nicht versagt, daß sie in ihrem Fache wirkliche große
Künstler sind.
Da ist z. B. die Bank von Frankreich mit einer Noten-Emission von
Milliarden Francs, die Zwangscours haben und das Goldagio hält sich
auf 8—10 pro mille, wogegen das Staatspapiergeld der Vereinigten Staaten
13—15 xro colit schlechter wie Gold steht; — trotzdem haben die Vereinigten
Staaten den festen Willen, ihre Schulden in 20—30 Jahren abzubezahlen,
und was mehr ist, auch die Kraft dazu, — während in Frankreich doch Jeder¬
mann seinem Schöpfer danken wird, wenn sie ihre Schulden nicht vergrößern
müssen; an Tilgung denkt auch der Sanguinischste nicht. —
Aber auch die deutschen und englischen Lenker der Finanzwelt sind keine
Dilettanten — denn trotzdem Milliarden neuer Werthpapiere mit den alten
in Concurrenz getreten sind, haben sich die letzteren nicht nur behauptet, son¬
dern sind durchschnittlich ganz bedeutend im Course gestiegen.
Es würde sehr interessant sein, wenn einmal ein Statistiker die Tausch¬
werthe der Papiere an verschiedenen Daten vergleichend ausrechnete, damit
man sich einmal klar darüber würde, wie colossal die Schwankungen sind im
Tauschwerthe; denn in solchen Perioden speculativer Erregung der Börsen
treibt das eine Papier das andere, — alle steigen miteinander, wie die Auf¬
stellung einiger von einander ganz unabhängigen Werthe illustriren:
Gönnen wir den Speculanten die Freude, eine Zeit lang im Besitze von
Werthen zu sein, deren Höhe sich nur so lange halten kann, als sie gegen¬
seitig Vertrauen zu einander haben, deren Vermögen aber beim ersten Sturm
jämmerlich zusammenbricht.
Aber der kleine Capitalist, der sich sein Geld ersparen will fürs Alter
oder seine Kinder, sollte der Versuchung widerstehen, durchs Börsenspiel zu
profitiren >
Nachdem bereits wiederholt die Acten des Großen Generalstabs sich den
Bearbeitern einzelner Abschnitte und Episoden des deutsch-französischen Krieges
geöffnet haben und die Fortführung des Großen Generalstabswerkes, nicht aus
irgend welchen persönlichen, sondern aus inneren sachlichen Gründen noch einer
geraumen Zeit bis zu seiner Bollendung bedarf, durfte man erwarten, daß vor
Allem die Thaten der preußischen Garde im Feldzuge 1870 — 71 recht
bald eingehende Darstellung auf Grund der besten Quellen erfahren würden.
Denn wenn auch keinem deutschen Corps vor dem andern und auf Kosten
eines andern nachgerühmt werden soll, es habe sich ausgezeichnet in den Tu¬
genden des Soldaten, die von Allen in demselben Maße erfordert wurden
und von Allen in demselben Maße geleistet worden sind: so ist doch durch
den Gang der Ereignisse dem einen Corps vor dem andern ein größerer und
entscheidenderer Antheil an den ruhmvollsten Thaten des deutschen National¬
krieges beschieden gewesen. Und wer wollte leugnen, daß die preußische Garde,
diese zugleich älteste und mächtigste Kerntruppe der deutschen Heere, in dem
großen Kriege so viel unvergängliche Heldenthaten aufzuweisen, so viel
blutige Lorbeeren gepflückt habe wie irgend ein anderes deutsches Corps.
Von ihrem schwersten aber glorreichsten Schlachttage an, dem Tage von Se.
Privat, dann bei Sedan wie vor Paris, bis ans Ende der Belagerung und
Beschießung, immer fällt ihr dieselbe ehren- und mühenreiche Rolle zu, den
eisernen Ring der deutschen Heere um den Feind an der entscheidendsten, an
der schwierigsten Stelle zu schließen und geschlossen zu halten gegen jede
Gegenwehr und jeden Angriff. Und überall hat die preußische Garde diese
höchsten Anforderungen, die an eine Elitetruppe nur je gestellt worden sind,
nicht blos erfüllt, sondern mit beispielloser Bravour und in wetteifernder
Todesverachtung der Officiere und Mannschaften weitaus übertroffen.
Die berechtigte Erwartung, daß eine Specialgeschichte dieser ungewöhnlichen
Leistungen erscheinen werde, ist befriedigt durch eine Schrift von Rudolph
Lindau, die preußische Garde im Feldzuge 1870-71, Berlin, E- S.
Mittler Sohn, 1872. Der Verfasser hat jedenfalls aus den vorzüglich¬
sten deutschen Quellen geschöpft, und nicht minder allen Schriften des Feindes,
welche über dieselben Vorgänge berichten, seine Beachtung geschenkt — frei¬
lich tritt die Oberflächlichkeit und Unwahrheit französischer „Kriegsgeschichte"
niemals deutlicher zu Tage, als im Vergleich mit dem Inhalt deutscher
Kriegsacten. Der Verfasser hat ferner — und gewiß mit Recht, wenn er
die Menge seines Lesepublicums ins Auge faßte — eine nichttechnische Dar¬
stellung seines Stoffes gegeben, und daher von einer Specification der Be¬
wegungen der einzelnen Truppenabtheilungen u, s. w. abgesehen. Dadurch
ist die Darstellung der Ereignisse eine ^ununterbrochene, das Werk auch für
weiteste Kreise zu einer ebenso fesselnden als erhebenden Lectüre geworden,
deren Reiz nur erhöht wird dadurch, daß der Verfasser überall als Augen¬
zeuge die Ereignisse vorführt und seine Schilderungen der Gegend und
Witterung, der Stimmungen und Kämpfe mit einer Localfarbe belebt, die
so treu und warm in der That nur von einem Augenzeugen bewahrt
werden konnte.
Von Berthold Auerbach's, Zur guten Stunde, Stuttgart
1872, Hoffmann'sche Verlagshandlung, liegen uns die ersten 15 Lie¬
ferungen vor. Dieses vortreffliche, von Ludwig Richter, Karl Hofes,
Paul Thumann, I. Schmorr, Moritz von Schwind, Paul Meyer-
heim, C. Ille, Adolph Menzel, A. von Ramberg u. A. außerordent¬
lich reich illustrirte Werk enthält die vorzüglichsten kleineren Erzählungen des
berühmten Verfassers der Dorfgeschichten, die sich namentlich in seinen Dorf¬
kalendern früher zerstreut fanden, in stattlichster Form gesammelt. Doch ist
auch manches neue hinzugekommen, was beweist, daß die volksthümliche Phan¬
tasie und Lebensweisheit des alternden Dichters noch jugendfrisch arbeitet.
Da vor Weihnachten die letzte, zwanzigste, Lieferung der zweibändigen Samm¬
lung jedenfalls erschienen ist, so empfehlen wir unsern Lesern schon jetzt dieses
interessante Buch als ein Festgeschenk von bleibendem Werthe zu verdienter
Beachtung.
Das Leben Bunsen's, von seiner überlebenden Wittwe geschrieben, hat
allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen und große Anerkennung sich ver¬
dient. Mit warmer Pietät, aus unmittelbarster Bekanntschaft heraus, wird
hier ein Mann uns geschildert, der in staatlichen und kirchlichen Angelegen¬
heiten eine Rolle gespielt, der auch als Gelehrter mit Achtung genannt zu
werden pflegte, ein Mann der in politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen
Kreisen sich viele Freunde erworben. Und indem die Wittwe des verstorbenen
Ministers aus seinen eigenen Aufzeichnungen, aus seinen Briefen ihre per¬
sönlichen Erinnerungen ergänzte und vervollständigte, bietet sie uns ein Buch,
das gerne und viel gelesen worden ist. Das englische Original ist nun auch
durch Professor Nippold ins Deutsche übersetzt und überarbeitet. Die deut¬
sche Ausgabe ist mehr wie eine Uebersetzung. Gerade über die politische Thä¬
tigkeit Bunsen's hat dem Uebersetzer noch vieles neue und werthvolle Material
zu Gebote gestanden. Und wenn man auf den Werth des Inhaltes hin das
Leben Bunsen's ansieht, so wird Jeder der deutschen vor der englischen Aus¬
gabe den Vorzug geben müssen. Die literarische Verarbeitung dagegen ist
eine recht ungeschickte. Es wird zuerst immer ein Abschnitt des englischen
Buches mit dem in der englischen Ausgabe schon gedruckten urkundlichen
Materials übersetzt, und dann folgen die Zusätze die der deutsche Herausgeber
zu machen im Stande war. Sollte einmal das englische Original als Ganzes
ungestört erhalten werden, so war dies nicht wohl zu ändern. Aber es ist
doch sehr die Frage ob nicht eine etwas feinere Behandlung das ganze Buch
für den deutschen Leser genießbarer gemacht hätte. sachlicher wäre jedenfalls
die Einfügung der Zusätze an den betreffenden Stellen gewesen, wo sie sachlich
hingehören.
Wir glauben hier das äußere Leben Bunsen's als bekannt voraussetzen
zu dürfen. Auch über seine wissenschaftlichen und seine kirchlichen Bemühun¬
gen beabsichtigen wir nicht viel zu sagen. Bon früh an hatte er die verglei¬
chende Religionsgeschichte von weiten und umfassenden Gesichtspuncten aus
ins Auge gefaßt und unter allen wechselnden Verhältnissen seines Lebens ist
er dieser Aufgabe treu geblieben. Ueber den Werth, den seine Beiträge zu
ihrer Lösung haben mögen, wird man sehr verschieden urtheilen können; einer¬
lei, auch wer nicht viel von seinen Resultaten hält, muß den Eifer und die
Ausdauer des Studiums in Vunsen anerkennen. Er war dabei ein Mann
von entschieden ächter Religiosität, ein persönlich warmer überzeugungstreuer
Bekenner des evangelischen Glaubens. Auch an eigentlich theologischen Dingen
nahm er ein gewisses persönliches Interesse; nicht gerade zu den „liberalen"
Theologen könnte man ihn rechnen, (dazu ist seine biblische Kritik viel zu
zahm) aber einer gewissen mittleren Richtung schloß er sich an, der Partei der
positiven Unionstheologie oder dem rechten Centrum unserer kirchlichen Gegen¬
sätze oder wie man sonst diese Richtung noch beschreibend nennen könnte.
Mit der kirchlichen Verfassungsfrage hat er sich viel zu schaffen gemacht.
Allerlei hat er darüber geschrieben, allerlei auch dafür gethan, viel und an¬
haltend darüber correspondirt. Wir können uns nicht rühmen, daß wir aus
der Lectüre der betreffenden Papiere ein klares Bild gewonnen, was eigentlich
er angestrebt. Ein unbedingter Bewunderer Bunsen's könnte nun vielleicht
meinen, daß in uns, dem Leser, der Grund dieser Unklarheit läge, — das
müßten wir uns gefallen lassen. Aber wir hegen die unbescheidene Ver¬
muthung, daß es wohl den meisten seiner Leser so ergehen dürfte. Ja, wir
erlauben uns sogar den Satz aufzustellen: auch darin ist Bunsen ein Geistes¬
verwandter seines königlichen Freundes, daß er ebenso wenig wie jener gewußt,
was sie eigentlich gewollt haben mit allen ihren Projecten und Versuchen auf
kirchlichem Gebiete. Die Unklarheit und Verschwommenheit des Gedankens
haben Beide, der König und Bunsen, zu selten erreichter Virtuosität aus¬
gebildet.
In der Erinnerung der Menschen wird Bunsen vornehmlich leben als
Genosse und Freund Friedrich Wilhelm des Vierten. Wir glauben nicht, daß
heutzutage schon ein irgendwie unbefangenes Urtheil über den wunderlichen
Charakter dieses Königs wird gesprochen werden können. Wir heutigen, die
wir unter den Folgen dieser unseligen Regierung theilweise noch immer
leiden und erst kürzlich von dem Alpdrucke jener traurigen Zeit freier zu
werden anfangen, wir urtheilen leicht zu bitter und zu gereizt über die Per¬
sönlichkeit jenes Monarchen. Und zu einer einigermaßen objectiven Erwägung
und Untersuchung des Urtheiles, den an den Resultaten seiner Regierung der
König oder bestimmte andere Personen zu tragen haben, dazu reicht das be¬
glaubigte und zuverlässige historische Quellenmaterial noch lange nicht hin:
erst sehr weniges ist dafür uns geboten. Das reichhaltigste darüber enthält
bis jetzt unzweifelhaft diese Publication in drei Bänden. Die schätzbarsten
Beiträge zur Zeitgeschichte des Königs Friedrich Wilhelm IV. hat uns die
deutsche Ausgabe dieses Werkes gebracht. Und wenn wir auch vieles über¬
flüssige Papier voll persönlicher Details über Bunsen und über einen ganzen
Bienenschwarm höchst uninteressanter Menschen in England und in Deutsch¬
land mit dem historisch wichtigen zusammen zu kaufen gezwungen werden, der
Werth des Quellenmaterials ist ein so bedeutender, daß er vielen Ballast
wieder gut macht.
Es ist nicht die Absicht dieses Artikels, das neue wesentliche Material zu
einer historischen Schilderung jener Negierung zu benutzen, ebenso wenig wie
eine allseitige Charakterzeichnung Bunsen's hier versucht werden soll. Wir
heben vielmehr eine Beziehung aus und fügen das andere nur gelegentlich
bei. Der Politiker, der praktische Staatsmann Bunsen ist hier unser Object.
Nicht sowohl Bunsen's Antheil an der kirchlichen Gedankenwelt seines Königs,
als seine rein politischen Bestrebungen, seine diplomatischen Dienste sollen hier
auf Grund des uns jetzt dargebotenen authentischen Materials einer kritischen
Betrachtung unterzogen werden.
Es ist bekannt, daß Bunsen den politischen Fragen sich nicht zuerst, nicht
Lua, sxouw gewidmet, daß er vielmehr in Rom durch Niebuhr in diese Sphäre
eingeführt wurde. In voller Abhängigkeit von Niebuhr erscheint er Anfangs
auf der Bühne. Aber in dieser Stellung des lernenden Schülers von Nie¬
buhr ist er doch nicht lange verharrt. Schon sehr bald stoßen wir in seinen
Briefen auf Aeußerungen eines sich emancipirenden Urtheiles. Und seit er in
Rom nach Niebuhr's Abgange in selbständige amtliche Wirksamkeit eingetreten
war, bildete sich immer mehr der Kreis politischer Anschauungen und Be¬
strebungen in Bunsen zu einem eigenartigen Wesen aus.
Wollten wir den Inhalt seines politischen Denkens mit einem kurzen
Worte bezeichnen, so würden wir sagen, ein gemäßigt Liberaler, ein Anhänger
des Constitutionalismus ist Bunsen gewesen, der revolutionären Demokratie
ebenso abgeneigt wie reactionären Feudalismus. Bunsen war immer ein
Monarchist, niemals ein Revolutionär; aber von Jahr zu Jahr fast neigt er
sich immer stärker der konstitutionellen Doctrin zu; er wird je älter an
Jahren desto liberaler. In einer Beziehung ganz besonders trennte er sich
dabei immer auffallender von dem Geiste Niebuhr's ab: dem Zeitgeiste, der
herrschenden allgemeinen Strömung der öffentlichen Neigung hatte er sich mehr
und mehr hingegeben. Es gehörte Bunsen schließlich zu denjenigen Politikern,
welche von der alleinseligmachenden Kraft ihres konstitutionellen Dogma über¬
zeugt find und welche ihre liberalen Verfassungsgedanken überall, unter allen
Verhältnissen anwenden wollen. Der englische Aufenthalt vollendete diesen
Zug in seinem Charakter. Auch ihm galt Nachahmung englischer Politik
bald über Alles; der kosmopolitische Liberalismus drückte auch ihm
sein Gepräge auf: der historischeren Art seines ehemaligen Lehrers und
Freundes war er zuletzt ganz fremd geworden. Und von den specifischen
historisch gegebenen Eigenthümlichkeiten des preußischen Staates hatte er doch
nur eine sehr verschwommene unklare Vorstellung.
Bunsen hat seine politischen Theorien nirgendwo im Zusammenhange
entwickelt. Was wir so eben gesagt, ist die Gesammtsumme aus vielen ein¬
zelnen Aeußerungen, die wir aus seinen Schriften und Briefen uns zusammen¬
stellen mußten. Mehr wie diese politische Theorie wird uns seine staatsmän¬
nische Praxis interessiren.
Von 1822 bis 1838 vertrat er in Rom die preußische Negierung. In
glänzender gesellschaftlicher Stellung (seine Ehe mit einer reichen Engländerin
hatte ihn zu einem reichen Manne gemacht) in glücklicher Häuslichkeit, von
wissenschaftlichen und künstlerischen Größen aufgesucht und Allen ein bereiter
Freund und Rathgeber, — so waren dies für ihn Jahre schöner und frucht¬
barer Wirksamkeit. Seinem königlichen Herrn war er persönlich in Italien
bekannt geworden, mit dem Kronprinzen hatte er freundschaftliche Beziehungen
gewonnen; er gab sich der Hoffnung hin, dereinst noch Größeres für Preußen
wirken zu können in der künftigen Regierung, von der er schöne Früchte er¬
wartete. Die kirchlichen Interessen waren es neben der künstlerischen Neigung,
in welchen er mit des Kronprinzen Gesinnung sich begegnete. Ein gleiches
kirchliches Gefühlsleben war das Band zwischen Friedrich Wilhelm IV. und
Bunsen, das trotz aller sonstigen Differenzen beide immer wieder einander
verband. Zunächst in den Tagen des alten Königs konnte sich dies noch nicht
so nachdrücklich geltend machen, aber die Sympathie der Beiden, die doch auch
damals schon bestand, leitete weiteres ein und beeinflußte in nicht seltenen
Momenten auch damals schon Bunsen's Haltung.
Als praktischer Staatsmann hatte Bunsen sich in dieser römischen Zeit
zu zeigen eine glänzende Gelegenheit gehabt. Gerade die deutsche Biographie
bietet darüber interessantes Material, und der Herausgeber, Nippold, hat das¬
selbe außerdem in den Preußischen Jahrbüchern noch zu vermehren gewußt.
Diese Gelegenheit boten die Händel Preußens mit der Curie. Ob Bunsen
practisch sich dabei bewährt, und so der Aufgabe sich gewachsen zeigt? Diese
Frage unbedingt zu bejahen wird nicht leicht Jemand sich veranlaßt fühlen.
Nicht er allein ist verantwortlich zu machen für das Mißgeschick Preußens
auf diesem Gebiete, ebensowenig ist er aber freizusprechen von einem guten
Theile der Verschuldung, an der allerdings auch noch andere Persönlichkeiten
partieipiren.
Es war einmal gleichsam die Parole ausgegeben, daß nach den Er¬
schütterungen der Revolutionszeit die conservative Politik der Regierungen
möglichst eng der Kirche sich anzuschließen habe. Und eine Belebung kirch¬
lichen Sinnes und kirchlicher Institute wurde innerhalb der katholischen eben¬
sowohl als innerhalb der evangelischen Kirche für wünschenswerth erachtet.
Auch den protestantischen Mächten galt es als ihre Pflicht und Aufgabe, An¬
sehen, Bedeutung und Macht des katholischen Clerus zu fördern. Wir dürfen
uns das heute nicht verbergen, Papstthum und Jesuitismus hätten seit 1815
unmöglich zur heutigen Stellung sich entwickeln können ohne Connivenz und
Gunst der Staatsregierungen. Aus der damaligen Lage der Dinge, aus dem
Sinne der damaligen Menschen läßt sich psychologisch dieser Zug der Ent¬
wickelung erklären, begreiflich machen, — ihn zu rechtfertigen vor den Ge¬
richten der deutschen Geschichte wäre ein vergebliches Bemühen. Es ist wohl
der wundeste Punkt vielleicht die einzig und allein verwundbare Stelle in der
sonst so reinen, herrlichen und großen Gestalt Niebuhr's, diese seine kirch¬
liche Politik gegenüber dem römischen Papstthume. So viel wir sehen, ist
für die schwächliche und unstaatliche Haltung Preußens in Rom gerade Nie¬
buhr's Einfluß zuerst maßgebend gewesen. Bunsen ist dann im Großen und
Ganzen in die Niebuhr'sche Erbschaft in Rom nur eingetreten. Zwar konnte
er sich nicht immer die Augen gegen die Folgen und Früchte verschließen
welche das preußische System zeitigen mußte; er hat dann einzelne Versuche
gemacht, der Abhülfe, der Vorkehr weiteren Uebels, und doch nach solchen
Intervallen besserer Einsicht arbeitete er nach dem einmal angenommenen
Systeme weiter. In allen controverser Fragen, soweit es eben möglich
schien, nachzugeben, mit der jesuitischen Curie immer und immer wieder güt¬
liche Verhandlungen zu pflegen, — von dieser Methode konnte auch Bunsen
nicht abkommen. Und in wunderbarer Selbstverblendung hielt er sich für
den Mann, der dazu im Stande wäre, in Rom Concessionen zu erhandeln
und der Schroffheit clericalen Uebermuthes die Krallen zu beschneiden. Als
ob jemals etwas anderes als das verständliche quos vM den Priester im
Zaume gehalten hätte! —
Im Jahre 1827 war Bunsen von seiner Regierung über die kirchlichen
Zerwürfnisse zu Rathe gezogen und ihm war die Verhandlung in Rom auf¬
getragen worden. Er schmeichelte sich in der Frage der gemischten Ehen ein
Compronuß erhandelt zu haben. Geschäftig und thätig bemühte er sich,
nach allen Seiten hin einen passenden moäns vivomli durchzusetzen, welcher
den kirchlichen Forderungen die schärfsten Spitzen abnehmen und das staat¬
liche Recht wenigstens leidlich aufrecht erhalten könnte. scheinbar gelang
ihm dies. Die Frucht seiner Bemühungen war ein päpstliches Breve, zwei¬
deutig in seiner Fassung, aber nachgiebig in seinem Inhalte, wie wenigstens
Bunsen ihn auffaßte. Er glaubte eine Zeit lang damit einen großen Erfolg
in seinem Leben verzeichnen zu dürfen. Es war ein trügerischer Schein. Mochte
er die päpstlichen Concessionen in seinem Sinne interpretiren, ihre Fassung
bot immer noch genug Spielraum, daß durch eine andere Auslegung gerade
der entgegengesetzte Sinn hineingebracht werden konnte. Irgend welche ob¬
jective, deutliche und zweifellose Sicherheit sür die preußische Negierung hatte
Bunsen's diplomatische Kunst nicht eingebracht. Gewiß, bon-z, nao hatte er
eine solche erlangt zu haben behauptet und geglaubt. Sein lebhaftes Tem¬
perament hatte ihn zur Annahme verleitet, daß das, was er wünschte, schon
objective Thatsache geworden wäre. Der Optimismus des preußischen Unter¬
händlers war gerade in Rom am wenigsten gerechtfertigt. Eine Zeit lang
ging es leidlich, weil die deutschen Kirchenleiter milde Persönlichkeiten waren
und dem Jesuitismus ihrerseits nicht Vorschub leisteten. Aber wie wenig im
Grunde erreicht worden war, das zeigte sich sofort nach dem Tode des Cölner
Erzbischofs Spiegel, desjenigen Kirchenfürsten, dem es um Versöhnung der
Gegensätze wirklich Ernst gewesen war. Freilich, an der Erhebung Droste's
trägt Bunsen, soweit wir sehen, keine Mitschuld; im Gegentheil, auf das
peinlichste hatte dieser selbstmörderische Act der preußischen Krone auch ihn
berührt. Erst in den Wirren, welche dieser Fanatiker Hervorries, reisten die
wahren Früchte der sogenannten Bunsen'schen Errungenschaften. Die schwan¬
kenden zweideutigen Aeußerungen der Curie zerflossen jetzt in nichts und die
Schroffheit der alten clericalen Prätensionen trat aus dem Nebel der schein¬
baren Nachgiebigkeit allzu deutlich hervor.
Was war zu thun? Bunsen wurde 1837 zur Beilegung des Conflictes
nach Deutschland berufen; er sollte in neuen Verhandlungen sein Heil ver¬
suchen. Galt er doch, und zwar mit Recht, als ein sachverständiger Beur¬
theiler der in Frage stehenden Rechtsverhältnisse, als ein gemäßigter, im
Ganzen richtig denkender Theoretiker. Seine Schwäche war nicht die theo¬
retische Einsicht, wohl aber der practische Optimismus, den irgend eine Freund¬
lichkeit oder beschwichtigende Phrase des Gegners irre leiten konnte. Und in
ein sehr fatales Dilemma hat er damals seinen Staat hineingesteuert, aus
dem ohne Schädigung kaum wieder herauszukommen war. Wir schildern hier
nicht die oft erzählten Vorgänge selbst. In der Krisis des Herbstes 1837
verlor Bunsen völlig das Gleichgewicht: von einem Extrem fiel er ins andere.
Die letzte Aussöhnung mit dem Erzbischof von Cöln, welche Bunsen versuchte,
führte zu offenem Bruche. Der gefühlsselige Schwärmer erscheint dem starren
Fanatiker gegenüber unfreiwillig in halb komischer Beleuchtung. Nach der
offenen Verhöhnung der preußischen Regierung war man in sehr peinlicher
Lage und wie sollte man den offenen Rebellen jetzt strafen? Bunsen vertrat
die schärfste Maßregel. Auch auf seinen Rath erfolgte die Verhaftung und
Wegführung Droste's. Nun aber entsprach es sofort dem Character dieser
Rathgeber, daß man einlenkte; nachdem man den Bischof tödtlich beleidigt,
hatte man diese That in Rom zu erläutern resp, zu rechtfertigen. Dazu
machte sich Bunsen wieder auf den Weg. Unterwegs besprach er sich auch
mit Metternich: die ganze Ueberlegenheit Metternich's über den diplomatischen
Dilettanten zeigt uns Bunsen's eigener Bericht; selbst eine Blöße thatsächlich
falsche Informationen zu besitzen wußte der österreichische Staatskanzler so zu
verdecken, daß er Bunsen ganz gewaltig imponirte. Und nun erfolgte die
erste persönliche Demüthigung Bunsen's. Trotz der fulminanten Kriegser¬
klärung des Papstthums gegen Preußen am 10. Dezember 1837 ließ er sich
zu begütigenden Vorstellungen verführen; er glaubte immer noch eine Aus¬
söhnung der Gegensätze anbahnen zu können. Persönlich war seine Stellung
unhaltbar geworden, er erhielt die erbetene Entlassung, — für.ihn mußte dies
Resultat eintreten, ebenso wenn man energisch weitergehen, als wenn man
nachgiebig einlenken wollte. Es ist bekannt, wie von da ab immer offenkundiger
die Principlosigkeit in Berlin Platz griff, wie man von einer Position zur
anderen zurückging, bis zuletzt der unstaatliche Sinn des neuen Königs Fried¬
rich Wilhelm's IV., dessen unheilvoller Einfluß als Kronprinz schon manches
verschuldet, die Niederlage vor der Curie untersiegelte. Auch zu diesen letzten
Entschlüssen war Bunsen herbeigezogen worden. Wohl war er bemüht ge¬
wesen, das nackte Msr xgeeavi zu hindern, der factischen Nachgiebigkeit hatte
er zugestimmt. Wie man einmal diese Dinge behandelt und verfahren hatte,
durfte man froh sein ohne neuen öffentlichen Schimpf davonzukommen.
Fassen wir unser Urtheil zusammen. Bunsen's Antheil an dem Conflicte
des preußischen Staates mit der römischen Curie giebt ihm nicht das Recht
des staatsmännischen Lorbeers. Wir verkennen nicht, daß er einer verbrei¬
teten Anschauung huldigte, wenn er das Einvernehmen mit dem Papstthums,
die Cooperation clericaler Tendenzen mit der preußischen Verwaltung anstrebte.
Wir heben ausdrücklich noch einmal hervor, daß aus seinen Aufzeichnungen
sich manche Aeußerungen beibringen lassen, welche von seiner theoretischen Ein¬
sicht in die Natur des Jesuitismus Zeugniß ablegen. Aber alles das mildert
doch nur wenig das Schlußurtheil, daß seine Methode der practischen Behand¬
lung dieser schwierigen Dinge die preußischen Interessen nicht wenig geschädigt
hat. Gerade bei entscheidenden Momenten dieser Geschichte sehen wir, wie
sein dilettantisches Ungeschick, seine optimistische Einbildungskraft das Fehl¬
schlagen der Verhandlungen herbeigeführt oder wenigstens erleichtert hat. Auf
uns wenigstens hat die aufmerksame Lecture seiner Biographie immer stärker
den Eindruck gemacht, wie wenig Bunsen gerade für die diplomatische Seite
des römischen Postens damals geeignet gewesen ist. In politischen Aufgaben
war er niemals etwas anderes als ein geistreicher Dilettant.
Für die gesellschaftliche Seite der römischen Stellung, auch daran lassen
die hier vorliegenden Mittheilungen uns wenigstens keinen Zweifel, war er
wie geschaffen, vielleicht passender als irgend ein Anderer, der dazu hätte ge¬
wählt werden können. Seine wissenschaftlichen und künstlerischen Ver¬
dienste um die Deutschen in Rom verdienen das allerunumwundenste Lob.
Viele seiner Zeitgenossen hat er sich dadurch zu Dank verpflichtet und vielen
Dank mit Recht dafür von von Vielen geerntet. Wie schade, daß gerade
damals von dem römischen Gesandten neben gesellschaftlicher Eleganz und
wissenschaftlichen Interessen auch noch staatsmännisches Talent erfordert wurde!
Werfen wir einen Blick auf die inneren Verhältnisse des fran¬
zösischen Heerwesens nach Erlaß des Januardecrets von 1801.
Nach der Zählung von 1862 hatte Frankreich 37,400,000 Einwohner,
von denen jährlich 320,000 Jünglinge das dienstpflichtige Alter von 20 Jahren
erreichten. Der Dienst wurde vom 1. Januar an gerechnet, doch berief man
die Heerespflichtigen gewöhnlich erst im Mai zum Aushebungs-Depot, um
körperlich untersucht zu werden. Hierbei ergab sich durchschnittlich ein
Drittel als unbrauchbar. Ein erschreckendes Resultat! — „Stellen wir
uns vor", sagt A. Consul"), „daß wir zu einem volkstümlichen Feste wie
die des alten Griechenland berufen seien; es ist das Fest der französischen
Jugend. Der Frühling des Vaterlandes soll sich entfalten, so sagte man zu
Athen. Alle Jünglinge, welche Männer geworden, 326,000, ziehen vorüber.
Da kommen als Vorhut zuerst die, welche unter dem militärischen Maaß
geblieben sind; man zählt ihrer 18,100; die zweite Gruppe, die der Brust¬
kranker, umfaßt mit denen, die an allgemeiner Körperschwäche leiden, fast
eine Armee: 30,300 Mann. Dann kommen Verkrüppelte, Blinde, Taube,
Stammelnde, Zahnlose, zusammen 37.000, dann mehr als 6000, welche mit
den Worten bezeichnet werden: une plialanZe on ig, äedauenö xi^ooeö, ä es
me jo el'lüns, s. du tail-s hos rav^Zeh; Hautleidende und Scrophulöse folgen
in Stärke von 7700, endlich solche, die an fallender Sucht, Krämpfen, Geistes¬
krankheit oder anderen Uebeln leiden: 10,400 Mann. Also unter 325.000
Dienstpflichtigen sind 109,000 Unbrauchbare! — Die. welche für dienstfähig
erklärt sind, sehen traurig aus, wenn sie unter Führung eines Corporals zur
Loosung durch die Straßen ziehn, ob sie gleich ihren Hut mit Bändern
schmücken und sich. Neuvermählten gleich, einen Geiger voranschreiten lassen."
Es frug sich nun, wie sich der dienstfähige Rest von mindestens 210,000
Mann zu den Bedürfnissen des Jahreseontingents stellte. Von den 100,000
Mann, welche dasselbe gesetzlich beanspruchte, wurden von vornherein durch
„Dispense"*) 13.000 in Abzug gebracht, sodaß es auf 87.000 sank. Auf
weitere 2000 Mann verzichtete dann die Regierung zu Gunsten persönlicher
Befreiung (exomptions) solcher jungen Leute, die unter Befürwortung der
Behörden Dienstbefreiung für sich in Anspruch nahmen. Damit also minderte
sich die Inanspruchnahme des Jahreseontingents auf 84,600 Mann herab. —
Ferner kauften sich jährlich ungefähr 20,000 Mann frei*") (d. h. ein Fünftel
des gesetzlichen Contingents), und da für diese Lxoiuzrös die Regierung 11,500
Mann alter Soldaten als Rengage's unter den Fahnen behielt und nur 8500
Mann als sogenannte Berwaltungsstellvertreter aus dem laufenden Jahrgang
anwarb, so ermäßigte sich das jährliche Contingent auf 73,000 Mann, von
denen jedoch nur 64,500 wirkliche Recruten, der Rest Werbesoldaten waren.
Statt der 300,000 Jünglinge, welche die Altersclasse bot, statt der 210.000.
welche davon dienstfähig waren, statt der 100,000, welche das Gesetz heischte,
forderte man also thatsächlich nur 73,000 junge Leute und nur 64.000 zogen
das Necrutenloos. Für ein Land von fast 38 Millionen Einwohnern ist diese
Zahl ungemein niedrig. Frankreich hätte von seinen 210,000 Dienstfähigen
sehr wohl 175.000 Mann einstellen können, ohne zu rigoros zu verfahren.
Aber auch jene 73,000***) kamen keineswegs zur wirklichen Einstellung in die
Armee. Das Contingent zerfiel ja in zwei poi-lions, von denen nur die erste
wirklich zur Truppe einberufen (appol«) wurde, während die andere als
Krümper jene flüchtige Ausbildung erhielt, die, auf 6 Monate im Lauf von
3 Jahren vertheilt, sie befähigen sollte, als Reserve verwendet zu werden.
Wenn die beiden Portionen zu gleichen Theilen angenommen wurden, so
mußte man doch wenigstens 37,000 Mann frisches Blut in die eigentliche
Armee bringen; aber selbst das war nicht der Fall. Bei der großen Ver¬
schwendung in allen Verwaltungszweigen und vor Allem im Kriegsministerium
reichte nämlich das Jahresbudget von 100 Millionen Thalern nicht aus, um
die Armee auf dem nomineller Friedensstande von 400,000 Mann zu halten.
Ihre Effectivstärke war selten über 3V0, meist nur 330 Tausend Mann. Nun
befanden sich aber mindestens 123,000 Nengage's und mit Einschluß der Ver¬
waltungsstellvertreter, der Freiwilligen, welche Officiere werden wollten, der
Officiere, Gensdarmen, Fremdentruppen u. s. w. 240,000 Berufssoldaten im
Heer. Neben ihnen war also nur noch für 100,000 Mann Raum und dieser
Raum wurde durch 7 Jahrgänge von je nur 23,000 Mann ausgefüllt, von
denen sogar die ältesten noch beurlaubt werden mußten. — 23,000 Mann!
Der Kriegsminister Niet hat es selbst vor dem gesetzgebenden Körper zuge¬
standen, daß diese geringe Zahl das eigentliche Jahrescontingent von Frank¬
reich war.
Die Einziehung der Recruten zu den Fahnen (also en routs) geschah
meist erst im Herbst des ersten Dienstjahres, so daß sich dadurch die Dienst¬
zeit schon um ^ Jahr, also auf 6'//. Jahr herabminderte. In noch höherem
Grade fand dies aber in der Folge (wenn nicht kriegerische Verhältnisse ein¬
traten) durch Beurlaubung statt. Nachdem der Conscrit, nämlich der
Rest des ersten und das ganze zweite, dritte und vierte Jahr bei der Fahne
gestanden, wurde er für das halbe fünfte und dann meist für drei viertel des
sechsten Jahres beurlaubt (cong'6 as six moi») und nachdem er dann noch
wiederdrei Monate bei der Truppe gewesen, fand seine Entlassung auf unbestimmte
Zeit (en eong«; tvmpoi'kirv r6nouv(zia.bis) statt. Thatsächlich befand sich
der Ausgehobene der Premier» xortion also nur 4 Jahre bei der Fahne, der
der clöuxiölinz porticin, der Krümper, während dreier Jahre im Ganzen nur
(i Monat. Die Zahl dieser Krümper blieb übrigens weit unter dem ur¬
sprünglichen Ansatz zurück. Wenn nur 23,000 Mann jährlich in das stehende
Heer eingereiht wurden, so hätte die clczuxiöino Portion jedesmals 52,000
Mann umfassen sollen; sie hat diese Höhe aber niemals auch nur entfernt
erreicht. Im Jahre 1861 wurden 33,200 als Krümper ausgebildet, und größer
dürfte die Zahl kaum je geworden sein.
Nach dem Kriegs etat vom November 186V stellten sich (abgesehen von
dem ausländischen Ersatz der Turcos, der Spahis und der Fremdenlegion)
die Stärken der verschiedenen Waffen folgendermaßen:
Dies stehende Heer sollte nun in sieben Jahrgängen an Ersatz-Ele¬
menten begreifen:
Bei der Garde ergab sich das Verhältniß ungefähr so. daß ^ des
Ersatzes aus Wiederangeworbenen bestand, '/z, aus eigentlichem Ersatz, wäh¬
rend Krümper gar nicht eingestellt wurden. Die Provincialin sanierte
setzte sich annähernd folgendermaßen zusammen: 157,000 Mann eigentlicher
Ersatz, 47,000 Wiedergeworbene, 90^000 Krümper, zusammen 294,000 Mann.
Ein Bataillon von 700 Mann enthielt also in seinen 7 Jahrgängen:
374 Mann eigentlichen Ersatz, 112 Wiedergeworbene, 214 Krümper. Von
diesen hatten gedient: 112 Mann mindestens 84 Monat, 374 Mann durch¬
schnittlich 29 bis 30 Monat und 214 Mann durchschnittlich 4 Monats) Das
Durchschnittsalter der Militärs stellte sich in der ganzen Armee auf 27^2
Jahr."') — Was die Depot bataillone anbetrifft, so war ihre Kriegs¬
stärke 505 Mann, wovon 440 Combattanten. Diese bestanden aus 240 Mann
jüngsten Ersatzes, 56 Nengages (Unterofficiere u. s. w.) und einer Kriegsver-
(Strcfflcur's Zeitschrift. 187«. III. Heft.)
Stärkung von 144 Krümpern von viermonatlicher Dienstzeit. Um hieraus ein
Feldbataillon (4. Bataillon der Infanterie-Regimenter) zu formiren, mußte
man noch 260 Krümper heranziehen, Leute, die dem vorletzten Jahrgange an¬
gehörten und nicht mehr als eine dreimonatliche Ausbildung genossen hatten.
Wenn diese Maßregel getroffen wurde, so brachte sie zu den 90,000 Krümpern
älterer Jahrgänge, welche kriegsetatgemäß sogleich in die Linienregimenter ein¬
gereiht wurden, einen abermaligen Zuwachs von 26,000 Mann Krümpern.
Der Nest des Vorraths der letzteren, nämlich 4000 Mann, blieb zur Ver¬
fügung.
Das regelmäßige Armee-Budget betrug im Jahre 1864: 366,620,367
Francs, das Supplementärbudget 7,8V0,000 Francs.
Versuchen wir nun, ein Bild der Geistesverfassung der franzö¬
sischen Armee zu entwerfen, wie sich dasselbe in deren einzelnen Bestand¬
theilen während der sechsziger Jahre darstellt, indem wir damit zugleich den
Hinweis auf die Verhältnisse der militärischen Erziehung, des Unterrichts und
des Avancements verbinden.
In Folge der Stellvertretung besteht die Masse der Soldaten des
eigentlichen Ersatzes fast nur aus Söhnen der ärmsten Volksclassen und
zwar besonders aus den ackerbauenden Districten, und da in Frankreich der
Volksunterricht sehr mangelhaft ist, so kann oft mehr als ein Viertheil der
neu eintretenden Recruten weder lesen noch schreiben. Die Erzählungen ihrer
älteren Cameraden in den Wachtstuben und Casernen bilden fast die einzigen
Quellen, aus denen solche Recruten irgendwie Geschichte lernen und diese
schildern stets in übertriebenen, aber glänzenden Farben den Ruhm und die
Macht der französischen Armee und bemühen sich Alles, was nicht dieser an¬
gehört, verächtlich herabzusetzen. Es wird systematisch dafür gesorgt, daß in
jeder Compagnie einige „Lustigs" und gewandte Erzähler seien, welche den
jungen Recruten von dem Ruhm der beiden Kaiser Napoleon und von der
Macht des Heeres fort und fort erzählen. Alle diese den ärmeren Classen an¬
gehörenden Soldaten hegen aber innerlich einen gewissen Haß gegen die durch
Reichthum, Bildung und sonstige sociale Annehmlichkeiten bevorzugten Classen
und sind erfreut, daß das Heer seit dem Staatsstreiche als die bestimmende
Macht im Lande erscheint.
Wenn schon in dieser Stimmung der Ausgehobenen eine den bürgerlichen
Kreisen abgeneigte Haltung der Armee zu erkennen ist, so spricht sich eine
solche auf das entschiedenste in den Reihen der Wiederangeworbenen aus.
Von diesen „Grognards" wird der rein militärisch-napoleonische Geist auf
jegliche Weise gehegt und gepflegt. Gelten sie doch sich selbst und dem Volk
für eine Art Erbstück Napoleon's I. und sind das auch in gewissem Sinne
wirklich. Sicherlich aber zum Schaden von Heer und Volk. Denn Napoleon,
indem er den Soldaten übermäßig lange bei der Fahne behielt, legte einen
großen Theil der lebendigen Kräfte der Nation lahm und entfremdete sie auf
die Dauer ihrer natürlichen Bestimmung. In den Rengage's nun hat seine
Schule sich bis zur Gegenwart fortgesetzt und hat einen Staat im Staat ge¬
schaffen, der erfüllt ist von Ideen, die den sonst geltenden modernen Grund¬
sätzen feindlich gegenüber stehen.") — Außer diesen Stellvertretern sind un¬
gefähr noch 8—10,000 Kinder von Soldaten und Marketenderinnen, die als
„onkants alö tronxv" von frühester Kindheit an in den Kasernen erzogen
werden und fast mit der Muttermilch schon militärische Gesinnungen eingesogen
haben, im Heere. Die meisten dieser ontants <Zcz troupo dienen als Unterof-
ficiere oder Gendarmen, während die Muthigsten und Fähigsten es bis zu
Officieren bringen. Sie athmen ganz denselben Geist wie die Grognards.
Als besonders eigenthümliches Element erscheinen die 30 bis 40 Tausend
Freiwillige ohne Stellvertretungsprämie, die als Söhne Fortunas im
Heere dienen. Es sind dies größtentheils junge wilde Bursche aus den ver¬
schiedensten Ständen, die daheim in der Werkstätte, oder dem Laden, oder der
Studirstube es nicht aushalten konnten und vom Waffenruhme und der Lust
nach kriegerischen Abenteuern getrieben, als gemeine Soldaten in das Heer
eintraten. Ihre Zahl ist jedoch in Abnahme begriffen. Vor 1852 meldeten
sich durchschnittlich jährlich 10,000; 1854 stieg die Zahl auf 21,955 ; dann fiel
sie 1856 auf 19,546, 1858 auf 11,845, 1859 sogar trotz des Krieges auf 2,244
und 1860 auf 2,192. Es scheint das ebensowol Folge des Stellvertreter¬
wesens zu sein als eine Abnahme der kriegerischen Neigungen der Franzosen
zu bedeuten. Die meisten Freiwilligen dienen bei der Artillerie, nur sehr wenige
bei der Reiterei. — Gerade diese Classe von Soldaten bildet wesentlich mit
das unruhige, vorwärtstreibende, stets kriegerisch gesinnte Element des Heeres,
dessen Beispiel hierin ungemein ansteckend auf alle Uebrigen wirkt. Die
Meisten solcher Freiwilligen bringen es zu Unterofficier-, viele aber auch zu
Officierstellen. Auch diese Classe der Soldaten hegt nur äußerst geringe Sym¬
pathien für die übrige Bevölkerung und es schmeichelt ihrem militärischen
Stolze, solcher schroff gegenüberzustehen."**)
Zu diesen personellen Ursachen einer tiefgreifenden Entfremdung von
Heer und Volk gesellt sich nun noch eine locale: Der Wechsel der Gar¬
nisonen. Dieser ist so häufig, daß es selten vorkommt, daß ein Truppen¬
theil sich länger als zwei Jahre in derselben Stadt befindet. Eine Trennung
der Soldaten von der Civilbevölkerung wird eher begünstigt als verhindert,
und von blutigen Raufereien zwischen ihnen und den Arbeitern, wie solche
besonders in den größern Garnisonsstädten des Südens ziemlich häufig vor¬
kommen, nehmen die Militärbehörden selten viel Notiz und suchen die Schul¬
digen möglichst straflos durchkommen zu lassen.*)
Was das Verhältniß des Soldaten zu seinen Vorgesetzten
betrifft, so characterisirt es sich durch entschiedenen Mangel an Autoritäts¬
glauben. Französischerseits ist gerade dieser Zug oft in sehr rosigem Licht
betrachtet worden. Anfangs der sechsziger Jahre schrieb z. B. der Zpeewtour
militirii'L: »Der französische Soldat erblickt mit Ausnahme des Grades in
allen seinen Officieren, vom Unterlieutenant bis zuM Marschall, nur seines
Gleichen; er hat die klare und sichere Ueberzeugung, daß er denselben nur
in Hinsicht des Commandos nachsteht. Weder Erziehung, noch Bildung, noch
Geburt machen einen wesentlichen Unterschied zwischen ihnen. Das Gefühl'
der Gleichheit ist so stark, daß das Gefühl des Ich unter der absoluten Herr¬
schaft des Gesetzes, der Disciplin völlig verschwindet. Welchen Feinden könnten
solche Soldaten wol nachstehen? Welche menschliche Kraft vermöchte wol
Soldaten Widerstand zu leisten, die ihren Vorgesetzten gleich stehen, die alle
Helden sind!?"") Dieselbe Zeitschrift brachte an anderer Stelle***) eine den
französischen Zuständen sogar noch lebhafter zustimmende Besprechung desselben
Themas, die sich zugleich schroff ablehnend gegen preußisches Wesen richtete.
Da heißt es: „Die französische Armee ist die am meisten demokratische der
Welt: Muth, Arbeit, Kenntnisse führen unbedingt zu allen Graden; die Car¬
riere ist unbegrenzt. Seit langer Zeit hat der französische Soldat volle bür¬
gerliche Würde; er gehorcht ohne Widerstreben; denn vielleicht befiehlt er selbst
ja schon am folgenden Tag. Er und der Officier sind eines Stammes; herz¬
liche Vertraulichkeit mindert die Herbigkeit des Befehls. Der aus der Truppe
emporsteigende Mann wechselt nicht, so zu sagen, seine ganze Atmosphäre.
In Preußen dagegen ist das Avancement von Unterofsicieren lächerlich; hoch-
müthige Traditionen verdammen sie, isolirt zu vegetiren, wenn sie je zum
Epaulett gelangen. Unsere Soldaten sind die Gefährten ihrer Officiere, die
preußischen nur Fußschemel derselben." Dieser sanguinischen Anschauungsweise
stehen aber andere Urtheile schroff gegenüber. Schon Marschall Bugeaud
sagt, daß der französische Soldat Befehle in der Regel nur dann befolgt,
wenn es ihm nicht zu sauer wird. General Trochu gesteht ein. daß der Geist
der militärischen Hierarchie und Subordination im französischen Heere im
Verschwinden, ja fast schon erloschen sei, wie das auch in den höchst nachlässig
oder gar nicht erwiesenen Honneurs äußerlich zu Tage trete. „I,K violvnce
«lang un eluzk autorise Jo murwurv ein sudoi'ämmü" — das ist eine allgemein
verbreitete Maxime, und gerade deshalb muß die Disciplinar-Strafgewalt
so außerordentlich umfassend und stark sein. Während bei uns in Deutsch¬
land der Vorgesetzte nur über die direkten Untergebenen Strafgewalt hat
und zwar erst vom Compagniechef an (3 Tage Arrest), hat in Frankreich
jeder Vorgesetzte über jeden Untergebenen Strafgewalt. Schon der Ser¬
geant kann über den Corpora! und dieser über den Gemeinen 4 Tage Ca-
sernenarrest oder 2 Tage salls alö police- verhängen.
Die Seele der französischen Armee auf der einen, das revolutionäre Ele¬
ment derselben auf der andern Seite sind die Unter offieiere. Sie befinden
sich in dem unglücklichen Stadium des Ueberganges, sind alle mit ihrer „Zwit¬
terstellung" nicht zufrieden, brennen vor Ehrgeiz und wollen Officier werden
um jeden Preis. Diese halbgebildeter Leute, welche in allen Casernen eigene
Lesezimmer und Bibliotheken haben, lesen außer Dienst mit Leidenschaft die
Geschichte Frankreichs und mit Borliebe natürlich die der Revolution, weil
das Brutale, Volkstümliche derselben ihnen zunächst liegt und am meisten
zusagt. Da nähren sie sich nun mit revolutionären Vorstellungen und mit
der Hoffnung, unter ähnlichen Verhältnissen auch einmal ihr Glück zu machen,
wie so viele der Männer, von denen die Bücher erzählen. Und so sehnt sich
der Unteroffizier nach Kampf, sei es ein äußerer oder ein innerer; die Mittel
sind ihm gleich — er will Officier werden/) Nicht wenige Unterofficiere von
den zurückgebliebenen Regimentern haben während des Knmkricges auf ihre
Galons verzichtet, um als Gemeine mit zu Felde zu ziehen. — Diese Avance¬
mentssucht der Unterofficiere hat ihren vornehmsten Grund in der socialen
Vermischung des Officierstandes mit dem ihrigen, welche ungemein schädlich
wirkt. Fast die Hälfte der Lieutenants und Capitains ist aus dem Stande
der Unterofficiere hervorgegangen, und obgleich vor diesen weder die alten
Troupiers, noch diejenigen Unterofficiere viel Respect haben, welche selbst ihren
ehemaligen Cameraden in die Officiercharge nachzufolgen hoffen, so drängt der
Ehrgeiz jeden Einzelnen doch mit großer Gewalt vorwärts. Dadurch aber, daß
die befähigsten Unterofficiere in so großer Zahl zu Officieren avanciren, wird
das Unterosficiercorps in seiner Gesammtheit geschädigt: es verliert seine besten
Elemente. Namentlich bei der Artillerie und dem Genie erwachsen eigenthüm-
liebe Uebelstände daraus, daß man, um dem Grundsatz der Gleichheit zu hul¬
digen, auch bei diesen Specialwaffen an dem Avancement der Unterofficiere
festhält. Ein tüchtiger Wallmeister oder Zeugwart ist kaum noch zu finden.
„Und all' diese Mängel nimmt man nur deshalb in den Kauf, um dem un¬
verständigen Eigensinne der öffentlichen Meinung gerecht zu werden, die sich
doch durchaus nicht erhitzt, wenn sich z. B, der älteste Geselle dem jüngsten
Meister fügen muß, der zufällig vermögender war als er, oder die keinen An¬
stoß nimmt, wenn auf andern Gebieten des Staatsdienstes die dargethane
wissenschaftliche Befähigung die schärfsten Grenzen zieht."")
Die nicht aus den Reihen der Unteroffiziere hervorgehenden Officiere
entstammen den Militärschulen.
Da ist erstens die Schule von Saint-Cyr. (Eintrittsalter 17 bis 20
Jahr, Jahrespension 1500 Francs, Cursus 2 Jahre.) Diese öoolo imxürialo »xü-
eialo militaire dient zur Bildung von Officieren der Infanterie, Cavallerie und der
Marine. Die Bedingungen zum Eintritt sind ein bestandenes Examen und frei¬
willige Verpflichtung zu längerer Dienstzeit. Die Organisation ist rein militärisch.
— Nicht ausschließlich Militärbildungsanstalt ist die polytechnische Schule zu
Paris, aus welcher die jungen Leute hervorgehen, welche später als Untcrlieutenants
auf der Artillerie- und Ingenieur-Schule zu Metz weiter ausgebildet werden. Die
Ausnahmebedingungen und die Cursuszeit entsprechen denen der Schule von Se. Cyr;
die Pension ist geringer. — Die öeols imporicrlo (l'^pplieat-ion no l'artil-
lerik et an Zünio zu Metz hat einen zwei-bis dreijährigen Cursus, welcher als
vierjährige Dienstzeit angerechnet wird.(!) Nach der Abgangsprüfung treten die Un¬
tcrlieutenants sogleich als wirkliche Artillerie- oder Genie-Officiere in die Armee. —
Die öoolv imperialo et'applieatiou ä'neae, major zu Paris ist dem Gc-
uerolstabe angeschlossen und erhält außer den 30 besten Zöglingen von Se. Cyr
jährlich 22 besonders empfohlene Untcrlieutenants aus der Armee. Der Cursus ist
zweijährig, und nach Abcommandirungen zu den verschiedenen Waffen kommen die
Officiere in den Generalstab.**)
Die Menge der aus den höheren Classen in die Armee tretenden Offi¬
ciere nimmt allmählig aber stetig ab. Die Zahl der zur Schule von Saint-
Cyr angemeldeten jungen Leute pflegte früher jährlich 2000 zu betragen; in
den letzten Jahren des Kaiserreichs sinkt sie auf 000. Ein großer Theil der
Officiere besteht aus Officierssöhnen, die auf Kosten des Staates von frühester
Kindheit an in den Militärschulen, namentlich zu La Fleche, erzogen und dann,
nach beendigtem Offiziers-Examen in der Schule von Se. Cyr, als Unter¬
Lieutenants in die verschiedenen Regimenter eingetreten sind. Diese sind Sol¬
daten durch und durch, kennen häufig weder Familien- noch irgendwie andere
bürgerliche Interessen und wünschen nichts Anderes, als ihren Ehrgeiz zu be¬
friedigen und sich ein schnelles Avancement zu erwerben. Man kann immer¬
hin annehmen, daß drei Viertheile aller französischen Generale und Stabs-
officiere aus solchen Officierssöhnen bestehen, und es gibt viele Familien, in
denen der Officiersdienst schon mehrere Generationen hindurch förmlich erblich
geworden ist.
Wenn nun diese Männer an und für sich wohl das beste Element des
französischen Officiercorps sind, so tragen sie doch um so mehr bei zu der
Entfremdung des Heeres vom Volke, als sie sich fast niemals verheirathen, so
lange sie im Dienste sind. Dazu fehlen ihnen fast immer die Mittel.
Nur bei der Garde und einigen Cavallerie-Regimentern findet man ziem¬
lich häusig Officiere mit Vermögen; sonst gibt es viele Infanterie-, Dragoner-
und Lanziers-Regimenter, die auch keinen einzigen Officier mit Privatvermögen
besitzen. Alle diese vielen Tausende von mittellosen Officieren führen ein
armes Soldatenleben, verkehren fast nur unter sich, wechseln sehr häufig ihre
Garnisonen und stehen allen übrigen bürgerlichen Interessen der Bevölkerung
vollkommen gleichgültig, mitunter sogar entschieden feindselig gegenüber. Jeder
Kampf, der ihnen Auszeichnung und schnelle Beförderung bringt, ist ihnen er¬
wünscht, der Zweck desselben völlig gleichgültig.*)
Die Stellung des Officiers in der Gesellschaft entspricht
diesen Umständen; sie ist eine ganz andere, fast entgegengesetzte wie die seiner
Standesgenossen in Preußen. Ein französischer Officier^) kennzeichnet sie in
folgenden scharfen Zügen: „Der Officier nimmt im Publieum eine Stellung
ein wie etwa der Schweizer bei der Pfarrkirche oder der Feldwächter im Dorf.
Meist zieht er einher ,,ontourö ä'un Mrtum <Zs wdae, ä'i^uoiÄuoe av
Mi-osse", so daß man so viel als möglich die Thüren vor ihm verschließt.
Seine sauber gebürstete aber abgeschabte Tunica erregt das Lächeln des
reichen Krämers, sein so geduldig erobertes Epaulett öffnet ihm selbst einen
officiellen Salon nur mit der größten Mühe. Diese Ausschließung ist sprich¬
wörtlich, und nur selten bringen hervorragende geistige Begabung oder Fa-
milienverbindungen einzelne Ausnahmen hervor. — Was den aus der Truppe
hervorgegangenen Officier betrifft, so gilt er nicht mehr und nicht weniger
als die elg-sse iuiÄ'iourcz selbst, aus der er emporgestiegen, und was wollen
die andern Elemente bedeuten, die sonst hinzukommen? Da sind die Schüler
von Se. Chr, unter denen es ebensoviele unintelligente und faule Burschen
gibt, wie anderwärts auch; da sind Freiwillige, unverbesserliche Thunichtgute,
die irgend eine Protection in der Armee unterbrachte; da sind Polytechniker,
die daran verzweifelten, im Civildienst angestellt zu werden; und eine solche
Gesellschaft bildet das Officiercorps der Armee!" ...
Diese Schilderung ist hart, gewiß zu hart; aber sie ist außerordentlich
bezeichnend.
Das Avancement geschieht theils K I». tour, theils an elioix. Mit
dem letzteren Modus ist zu allen Zeiten in Frankreich ein frevelhafter Mi߬
brauch getrieben worden, der auch unter dem zweiten Kaiserreich in voller
Blüthe war. „Die höchsten Grade wurden verliehen, ohne an das Interesse
des Landes und seiner Vertheidigung zu denken. Der sehr begehrte Generals¬
rang wurde ehrgeizigen und unruhigen Personen ertheilt, um sie zu verlocken
und sie dem Kaiserreiche zuzuführen, ohne sich zu beunruhigen, ob die danach
Strebenden jene Eigenschaften besaßen, welche die Devise aller großen Heer¬
führer erheischt: Vir domus proeliaucll peritus, ein vortrefflicher Mann, der
zu kämpfen versteht."*) — Den Avancements-Bestimmungen liegt noch immer
die Verordnung vom 16. März 1838 zu Grunde. Ziemlich eng gezogen sind
die Grenzen des Lebensalters, innerhalb deren Einer den nächst höheren
Grad erreichen kann. Nicht Sitte und Individualität, sondern das Gesetz
entscheidet dabei, und da jeder Officier sehr bald weiß, ob er in der Tour auf¬
rücken müsse, oder Aussicht auf raschere Beförderung habe, so ergeben sich schon
hierdurch zwei scharf unterschiedene Classen von Officieren innerhalb derselben
Charge, deren Interessen auseinandergehen. Wer sich früh sagen muß, daß
er unter allen Umständen, er möge so tüchtig sein, wie er wolle, für höhere
Chargen zu alt werde (und in diesem Falle sind fast alle ehemaligen Unter-
officiere), den beseelt gewiß selten feuriger Eifer. Die Folge ist eine allgemein
hervortretende Gleichgiltigkeit im Dienstbetriebe. — Nur in ganz außerordent¬
lichen Fällen für glänzende Auszeichnung im Kriege oder bei dringendem Be¬
dürfnisse kann ein Grad übersprungen werden.
Die Verschiedenheit des Officiercorps übt nachtheiligen Einfluß auf das
Verhältniß der Untergebenen zu den Vorgesetzten und umgekehrt.
Wenn ein Hauptmann mit aller Bestimmtheit zum Voraus weiß, daß sein
Lieutenant dereinst über ihn hinweg zum Stabsofficier ausrückt, so kann das
dem Ton im Officiercorps nicht günstig sein. Zwischen den verschiedenen
Classen desselben herrscht daher meist eine Gereiztheit, die sich als beständige
Reibung im Dienstbetriebe fühlbar macht. Wenn die deutschen Officiere zu-
nächst immer und überall den Gentleman in sich achten, so ist davon in
Frankreich nicht die Rede. In keiner europäischen Armee stehen die Officiere
nach den Gradabstufungen so geschieden da, als in der französischen, wo grund¬
sätzlich die Classen der Lieutenants, der Capitains, der Stabsofficiere und Ge¬
nerale, eine jede streng für sich geschieden, in besonderen pensions ihre Mahl¬
zeiten einnehmen, „um die Achtung und den Gehorsam nicht zu gefährden
und um zu verhindern, daß Vorgesetzte bei den Freuden der Tafel nichts aus¬
plaudern, was den Untergebenen vorenthalten bleiben soll." Hiermit ist aber
auch dem frischen Strom der Ideen, dem kräftigenden Wechselwirken im Ver¬
kehr älterer und jüngerer Männer ein Damm vorgeschüttet. Spricht es doch
ein französischer Stabsofficiere selbst aus: „Verderblich und hemmend für die
Entwickelung der Fähigkeiten des Officiers und denselben in seinen eigenen
Augen herabsetzend ist die Entfernung, in welcher ihn die meisten Stabs-
Officiere von sich halten, sowie die Rohheit, mit welcher sie ihn, wenn er
gefehlt hat, in Gegenwart seiner Untergebenen herunterreißen. Nicht die ge¬
ringste Bemerkung darf sich der Subalternofficier gegen seinen Vorgesetzten
erlauben, ohne daß dieselbe für Insubordination erklärt wird, und es scheint,
als ob die Stabsofficiere es für durchaus nothwendig hielten, ihre Superiorität
fühlen zu lassen, indem sie ihre Untergebenen anschnauzen."
Auch die Cameradsch äst im engeren Sinne, das treuherzige Verhält¬
niß der Alters- und Chargengenossen, leidet an jener Verschiedenheit der Avan¬
cementsaussichten, der Bildung und Herkunft und ebenso an der der politischen
Ansichten und an dem übertriebenen sentiment iuäiviäuel — zu deutsch: Eigen¬
liebe. Ein scharfer Beobachter^), der in langem Verkehr mit französischen
Officieren ihre gegenseitigen Redensarten gesammelt und summarisch zusam¬
mengestellt hat, erzählt, man sei zu Paris gewohnt, die Officiere einzutheilen
in I. (Meiers avec eäneaticm und II, (Meiers Sims 6Äueation. Sie schimpfen
sich unter einander wie folgt:
I. sagt zu II.: ?arvenu, Lr6tin, ^tre eomwuv (Schusterseele), brüte iu-
eurable.
II. sagt zu I.: (Meier ä'uristoerg,es, ü'auticckamw'ö, vit üatteur (Speichel¬
lecker), dö,s acwlateur, poseur (Geck), ktüseur ac eourdettes (Tanzmeister).
Besonders wirft der Adelige dem Bürgerlichen vor, daß er moralisch ewig
ein Lump beide, daß er in Civil wie ein Polizei-Agent aussehe, daß er un-
cultivirte Hände und immer Blasen auf den Füßen habe, daß er wöchentlich
nur einmal das Hemd wechsele, Lotto spiele, Tapeten-Arbeit mache, grobe
Wäsche trage, sich mit einer Dienstdirne verlobt habe und, die eigene niedere
Herkunft vergessend, seine Untergebenen Schlute."
In der Dien stführung der Truppentheile tritt das französische System
der Centralisation stark hervor. Der Colonel steht in den meisten Bezie¬
hungen direct mit dem Kriegsminister in Verbindung und befiehlt jeden
Dienst innerhalb seines Regiments, das fast stets in einer Garnison vereint
steht. Und zwar wird, dem schematischen Sinn der Franzosen gemäß, der
Dienst so eingerichtet, daß alle 24 Compagnien, alle 3 oder 6 Escadrons,
alle 12 oder 8 Batterien desselben an jedem Tage genau dieselbe Beschäfti¬
gung haben/") — Der Lieutenant-Colonel führt keinen Truppentheil,
sondern ist in der That lediglich Stellvertreter des Obersten. — Der Major
hat etwa die Stellung unseres etatsmäßigen Stabsofsiciers. — Die üb¬
rigen Stabsosficiere des Regiments heißen bei der Infanterie edok
tlo batMon — bei der Cavallerie, wo sie die aus 2 Escadrons bestehende
Division commandiren, edel ä'eLea.dron, bei der Artillerie führen die Ab-
theilungs-Commandanten denselben Titel. Diese Stabsosficiere, so wie die
Capitaine haben in Frankreich auch nicht annähernd die Selbstständigkeit wie
bei uns. Es hat das seinen Grund zum nicht geringen Theil in der
übertriebenen Theilung der Arbeit. Schon die Ausbildung des Re¬
kruten geschieht nicht bei der Compagnie, sondern entweder beim Depot
des Regiments oder unter Leitung eines besonders dazu commandirten
Stabsofsiciers. Allerdings haben hierdurch die Cadres während des Win¬
terhalbjahres einen ziemlich bequemen Dienst, aber es kann dabei die Aus¬
bildung der Compagnie nicht so aus Einem Guß sein, es kann sich nicht
zwischen den Rekruten und ihren nächsten Vorgesetzten das enge Verhältniß
entwickeln, als wenn die Capitaines, von ihren Officieren und Unterofsicieren un¬
terstützt, die militärische Erziehung der Recrutenvom ersten Tage an übernehmen,
wie dies bei uns geschieht/") — Aber auch nach Einstellung der Recruten in die
Compagnie hat deren Hauptmann bei Weitem nicht den Einfluß wie iq»
Preußen. So wird das Schießen, Turnen, Fechten bei der Infanterie, das
Reiten bei der Cavallerie, das Reiten und Fahren bei der Artillerie
nicht, wie bei uns, unter der ausschließlichen Leitung und Verantwortung der
Capitaines betrieben, sondern bei jedem Regiment oder Bataillon ist ein Ca-
pitaine oder Lieutenant mit der Oberleitung dieses Dienstes beauftragt, und
hat dieser, wenn auch nicht gleichzeitig alle Mannschaften, doch einen großen
Theil derselben in diesem Dienstzweige auszubilden, — Weit entfernt hier¬
durch Leistungssteigerungen zu erzielen, gewährt diese auf die Spitze getriebene
Theilung der Arbeit fauler Routine Vorschub und macht allgemeine und
allseitige Ausbildung der Officiere unmöglich. — Die Feldmanöver,
die bei uns fo wirksam, namentlich zur Ausbildung und Prüfung der
Stabsofficiere dienen, sind ebenfalls ganz mechanischer Natur; und außer
Dienst ist von anhaltender und ernster Beschäftigung vollends kaum die
Rede.
Ganz unglaublich viel „flaniren" die Officiere. I'Ikiuzi' e'est unz LcioucL;
Lo piomMvr e'(!8t vögvter, tlcmöi' e'est vivrcz! — L(!on Gautier spricht in
einem Rückblick auf diese Zustände") geradezu aus: „Auf die Officiere, welche
arbeiteten, zeigte man mit Fingern und behandelte sie als Sonderlinge"; die
Negimentsschulen existirten nur auf dem Papiere; und die „De'half" be¬
merken über denselben Gegenstand: „Um von der Masse der Truppen ganz
zu schweigen, in welcher der Elementarunterricht gar nicht oder nur unvoll¬
kommen vorbereitet ist, wie viele Beispiele von höheren Officieren könnte man
leider anführen, von Männern, in deren Hände unmittelbar die Geschicke des
Krieges gelegt waren und denen die elementarsten und unentbehrlichsten Kennt¬
nisse ihres Faches fremd waren!"
Ein entschiedenes Hinderniß für jede consequente wissenschaftliche Thätig¬
keit der Officiere ist übrigens das Lagerleben. Als getreuer Nachahmer
seines Oheims rief Napoleon III. schon 1864 das Lager von Boulogne
wieder ins Leben, an welches sich so glorreiche Traditionen knüpften. Aber die
dortigen Gesundheitsverhältnisse waren so ungünstig, die Terrainschwierigkeiten so
") lisvus ÄW yuestiovs bistorliuss. Juni 1871. L, Gautier erzählt u. A>:
„Als General Frossard in seiner Eigenschaft als Präsident des Gcncralrathes die Archive
der Häute-Marne besuchte, sprach er in meiner Gegenwart die denkwürdigen Worte- „Warum
verbrennt man nicht die Hälfte dieser alten Papiere?" Die Archive von Chaumont enthalten
aber gerade die reichsten Materialien für die alte Geschichte und Geographie von Frankreich.
Und General Frossard gehört zu den Genie-Officieren und wurde später Gouverneur des kaiser¬
lichen Prinzen! Jene Worte, die ich selbst gehört (ich war Archivar des Departements), erinnern
mich an die Aeußerung eines anderen Generals, welcher Inspector der Militärschulen war: „Es
ist sehr hübsch von euch, daß ihr arbeitet, meine Kinder; ich für meinen Theil bin ohne das
so weit gekommen." Am 4. August starb der unglückliche General Donay den Heldentod bei
Weißenburg; erst am Tage vorher hatte er sich dazu verstanden, eine Karte anzusehen. Kurze
Zeit vor Sedan spazierte einer unserer Generale mit einem meiner Freunde, der mir die Sache
erzählt hat, am Ufer eines großen Flusses und fragte! „Wie heißt dieses Wasser?" Es war die
Maas. Er wußte nichts davon. Ein Anderer fragte um dieselbe Zeit, wie weit Metz von der
Grenze entfernt sei; ein Anderer, ob Thionvillc am Rhein liege."
groß, daß man es schon nach zwei Jahren wieder aufgab. Ganz insgeheim
ließ der Kaiser auf der kreidigen, unfruchtbaren Champagne pouilleuse zwei
Meilen von Chalons durch Unterhändler ein bedeutendes Terrain kaufen, auf
welchem die Truppen im Sommer 1857 ein Lager bezogen und welches seit¬
dem jährlich von 20 bis 33 Tausend Mann bewohnt wurde. Jedes Jahr
führte das oberste Commando des Lagers ein anderer Marschall von Frank¬
reich , und vom 18. bis 25. Aug. pflegte der Kaiser im Lager zu verweilen.
In diese Zeit fielen die größten Manöver, bei denen zuweilen bestimmte
Fragen militärischer Theorie praktisch beantwortet werden sollten. Der höchste
Effectivbestand der Truppen im Lager von Chalons fällt in das Jahr 18S8
mit 76,400 Mann, der mittlere in das Jahr 1869 mit 29,700, der niedrigste
in das Jahr 1865 mit 18.000 Mann.*) Man hatte gehofft, in diesem Lager
und in anderen, kleineren, welche nach dem Muster desselben errichtet wurden.
Schulen militärischer Tüchtigkeit und Disciplin, Pflegestätten ächt soldatischen
Geistes, großartige Uebungsplätze für die Feldadministration und das Mili-
tärmedicinalwesen zu besitzen; aber die Stabilität der Lager, die laxe Praxis
und die Unmöglichkeit auf dem unzureichenden Terrain, die Truppen ange¬
messen zu beschäftigen, ließen diese Hoffnung zu Schanden werden, und bald
wurden die Lager, weit entfernt, die deutschen Manöver zu ersetzen, eine Quelle
fauler Routine und immer neuer Selbsttäuschung für Officiere wie Soldaten.
Dennoch behielt man sie bei und hörte nicht auf, sie zu preisen. „I.a Lastro-
manie" nennt ein französischer Schriftsteller^) diese Lagersucht, die ihren Ur¬
sprung übrigens nicht bloß in falschen Ansichten über Truppenerziehung, son¬
dern auch in politischen und ökonomischen Verhältnissen hat.
Der ungeheuere Preis der Ländereien in Frankreich und besonders in der
Umgegend von Paris führt die Negierung dazu, sich damit zu begnügen, wenn
die Truppen in den Lagern untergebracht sind, ohne zu bedenken, daß das
ihnen angewiesene kleine Gelände weder eine gründliche Ausbildung noch ein
Manövriren zuläßt. Nicht selten lagern Divisionen aus einem Terrain, das
kaum für Uebungen eines Regiments ausreicht.
Die Truppenführer verlieren durch die fortwährende Bevormundung in
den Lagern an Selbstständigkeit. Da ihnen überall die Hände gebunden sind
und die Zeit ihnen vorgeschrieben wird, können sie. ohne mit anderen Truppen-
theilen zu collidiren, selbstständig kaum etwas vornehmen, und die Mannschaften
haben, ohne ausgebildet zu werden, so viel Zeit übrig, daß sie, abgeschlossen
von der Welt und deren Umgang, nur zu sehr geneigt sind, auf schlechte Ge¬
danken zu kommen.
Man will die Moralität, den innern Halt und die Disciplin der Truppen
verbessern, sagt Brunechasse, und hält das Lager für das passende Hülfsmittel
dafür. — „Die Zügellosigkeiten des Lagerlebens indessen und der schädliche
Einfluß, welchen die Langeweile und der unausgesetzte Umgang mit den ver-
dorbensten Subjecten auf die Moralität der jungen Soldaten ausübt, werden
dazu wohl ebenso wenig beitragen, als das schlechte Beispiel, welches die
Truppen an ihren Officieren und selbst an Generalen stets vor Augen haben.
— Entschließt man sich aber dazu, ähnliche Etablissements, wie die berüchtig¬
ten Locale Mourmelons bei den Lagern zu beseitigen, so werden die scheu߬
lichsten Verirrungen der Natur die Folge sein, wie sie in Afrika und in den
Bagnos vorkommen."
Die Disciplin wird nicht allein durch dies fortgesetzte Nebeneinanderleben
von Vorgesetzten und Untergebenen gelockert, sondern auch durch den bösen
Einfluß Einzelner im Lager weit mehr untergraben, als in der Garnison.*)
Das Lager ist der Heerd aller Complotte und Emeuten, und während es die
Truppen weder so abhärtet, wie man allgemein glaubt, und auch nicht da¬
zu beiträgt, sie nüchtern und wachsam zu machen, hat der Staat dadurch be¬
deutende Mehrausgaben.
Die Schäden der Lager werden jedoch in Frankreich, wenn nicht verkannt,
so doch ignorirt. Wieviel Unheil aber hat namentlich das Lager von Cha-
lons dem wahren militärischen Geiste Frankreichs bereitet! Wie richtig sind die
folgenden Betrachtungen eines patriotischen französischen Officiers: „Bei
Chalons, da hatten unsere jungen Officiere unter festen und comfortabeln
Zelten, bei stets ohne Mühe gesicherten Mahlzeiten, die falschen Ideen über
das Feldleben eingesogen. Da hatte die Intendanz die üppige Verpflegung
von Armeen gelernt, aber von unbeweglichen Armeen. — Da hatten die
Schießübungen der Artillerie uns die Zuversicht auf die stets unbestrittene
Ueberlegenheit unserer Geschütze eingeimpft, da hatte die Cavallerie gelernt,
Neeognoseirungen mit Regimentern in Escadronsdistance auszuführen. — Da
hatten die Generale gelernt, wöchentlich einmal zwischen zwei Mahlzeiten zu
siegen, da war Lorbeer und Ruhm von denjenigen leicht errungen, die die
Gunst dazu bestimmt hatte, große Männer zu werden, wenn an sie aus der
festgesetzten Liste die Reihe kam. Das Lager von Chalons war das Treib¬
haus für die Avancements geworden. — Viele derjenigen, welche an unserer
Spitze marschirten, waren eben nur die großen Krieger des kleinen Mour-
mclon." —
Wenn dies ein allgemeines Bild geben mag der inländischen Verhält¬
nisse des französischen Heerwesens, so erübrigt endlich noch, in kurzen Zügen
den Einfluß der ausländischen Expeditionen auf die Armee zu
schildern.
In Algier ging der kleine Krieg, der Wechsel zwischen der Bekämpfung
aufständischer Stämme und der Beraubung unterworfener seinen hergebrachten
verderblichen Weg. Doch brachte Randon's bedeutende Expedition Groß-Ka-
bylien in Abhängigkeit von Frankreich (1856/7) und gab dadurch der kriege¬
rischen Bedeutung der algierischen Kämpfe einen neuen Impuls. Alle Ver¬
suche jedoch, die Eingeborenen der europäischen Cultur und dem französischen
Staatsleben zu gewinnen, scheiterten an dem nationalen Widerwillen derselben
und an dem starren und gewaltthätigen Militär-Regime. Zwar wurde 1858
der Versuch gemacht, die Verwaltung unter ein eigenes Ministerium für Al¬
gier und die Kolonien zu stellen, welches zuerst Prinz Napoleon und dann
Graf Chasseloup-Laubat übernahm; allein schon 1860 wurde dies Ministerium
wieder aufgehoben und dafür abermals ein alle Gewalt umfassendes General-
Gouvernement eingesetzt, welches der Warschall Pilissier erhielt. Die rohe
Menschenverachtung der französischen Militärbehörden rief indeß den Aufstand
von 1864 hervor, während dessen Pelissier starb. Marschall Mac Mahon
übernahm nach ihm das Commando, und nach Niederwerfung des Aufstan¬
des bereiste der Kaiser Napoleon das Land. In dem Schreiben, in welchem
er nach seiner Rückkehr dem Gouverneur Rathschläge für die zukünftige Ver¬
waltung gab, legte er besonderen Nachdruck darauf, daß es ihm sehr zweck¬
mäßig erscheine, die Eingeborenen für die französische Armee anzuwerben; das
werde bedeutend zu ihrer Civilisirung beitragen und Frankreich gute Truppen
verschaffen. Es ist die alte französische Neigung, fremde Truppen zu enga-
giren. — Ende 1868 bestand die Armee von Algier, einschließlich der
Marine aus 71,700 Mann, von denen 57,200 Europäer (Franzosen und
Fremdenlegion) und 12,000 Eingeborene (Turcos und Spahis). 2500 Mann
befanden sich in den Strafcompagnien. — Als Kriegsschule hatte Algier seinen
Werth völlig verloren; als eine Quelle moralischen Verderbens, namentlich
auch für das Officiercorps wirkte der Aufenthalt unter den ungesunden Ver¬
hältnissen des unterworfenen Barbarenlandes weiter/')
Man kann nicht behaupten, daß die Erfolge der französischen Waffen
in Cochinchina und namentlich in China günstiger auf den Geist der
französischen Truppen gewirkt hätten. Die blendenden Siege einer kleinen
Minderzahl über so unendlich überlegene feindliche Volkskräfte berauschten den
Soldaten und wenn General de Montauban als Feldherr auch zurückblieb gegen
seinen britischen Kampfgenossen, so zeigte er doch durch die Plünderung und
brutale Zerstörung des Sommerpalastes von Peking, an welcher Theil zu
nehmen die Engländer in soldatischem Stolze verschmähten, daß die Fran¬
zosen marei«me tun^ours ^ I», töte <l<z ig, civilisation. Während der Kämpfe
i. I. 18et0 betrug die Stärke des französischen Corps in China 9—10,000
Mann : nach dem IÄpos6 la. siwütion av von 1863 betrug die
Gesammtstärke in China und Cochinchina nur noch 1900 Mann.
Ein grelles Licht namentlich auch auf die personellen Verhältnisse der
französischen Armee warf die Expedition nach Mexico. Die blutige
„Nose von Puebla", welche Bazaine pflückte, war bald entblättert und
Frankreich hat ihre Dornen schmerzlich empfinden müssen. In Bazaine selbst
aber offenbarte sich wieder eine jener ehrgeizigen ränkevollen Condottieren-
naturcn, wie sie so oft in der Geschichte der romanischen Heere und nicht zum
mindesten in der französischen Armee aufgetreten sind. Eine sonderbare Il¬
lustration zu der von Napoleon III. beabsichtigten „Reorganisation der latei¬
nischen Rasse" durch die mexicanische Expedition! „Im Vollbesitze der Ge¬
walt, ohne Controle, von Werkzeugen und Abenteuerern jeder Art umgeben,
überdies durch hohe Gönner in der Heimath geschützt, begann Bazaine ein
Spiel von Intriguen." Mit allen Mitteln suchte er dem edlen unglücklichen
Kaiser Maximilian entgegenzuarbeiten, dessen natürlicher aufopfernder Beschützer
zu sein, ihn die Politik seines Herrn und seine Soldatenehre gleichermaßen
verpflichteten. Bis zum Abzüge des französischen Heeres trieb er dies ver¬
derbliche Spiel; seine Vermählung mit einer jungen reichen Mexikanerin war
ebensogut eine Karte desselben, als seine geheimen Verbindungen mit allen
Feinden des deutschen Prinzen, denen er sogar wiederholt und an verschiedenen
Orten Kriegsmunition verkaufte.') Daß diese verräterischen Umtriebe des
französischen Marschalls das Ziel verfolgten, den schwachen und unkundigen
Herrscher zu einer baldigen Abdankung zu treiben, um dann selbst, sei es den
Präsidentenstuhl der Republik, sei es den Thron Mexicos zu besteigen — das
ist kaum zu bezweifeln. Der Plan gelang nicht; schwer aber waren die Opfer,
welche die mexicanische Unternehmung Frankreich auferlegte. Außer 5—-6000
Todte, außer einer unglaublichen Erschöpfung seiner militärischen Magazine,
außer dem ganz unschätzbaren politischen Prestige des Kaiserreichs kostete die
Expedition rund 570 Millionen Franken. — Nach einer halbofficiellen Ueber¬
sicht haben die Kriege und Kriegsoperationen seit der Thronbesteigung des
dritten Napoleon folgende Summen in Anspruch genommen:
Rechnet man hierzu die 570 Millionen der mexikanischen Expedition, so
ergiebt sich, ganz abgesehen von den regelmäßigen Heeresbudgets, bis zum
Jahresanfang 1868 eine Kriegsauögabe von 3808 Millionen. Dabei war
die Armee seit dem Krimkriege von Jahr zu Jahr an innerem Werthe ge¬
sunken.
So lagen die Dinge, als Preußen die Schlacht von Sadowa schlug.
Am 9. August hat der König von Spanien das Gesetz unterzeichnet,
welches allmählich die Sclaverei auf Cuba und Portorico abschafft. Damit ist
nun endlich das große Werk gekrönt und die Sclaverei verschwindet völlig
vom amerikanischen Boden. Alle Staaten haben nach und nach, trotz so
vieler thatsächlicher und scheinbarer Gründe gegen die Abolition sich dem mora¬
lischen Drucke fügen müssen und die neue Welt wird endlich von einem Schande
stecke gänzlich befreit sein. Die Sache ist an und für sich wichtig genug, um
darauf zurückzukommen, sie bildet einen Markstein In der Culturgeschichte und
so, wie man heute die letzte Hexenhinrichtung zu Glarus im Jahre 1782 als
einen Wendepunkt betrachtet, so wird man den 9. August 1872 als den
Schlußtermin ansehen, an welchem der Fluch der wohlgemeinten That des
Las Casas ihr Ende erreichte.
Die ersten Negersclaven wurden 1806 nach Amerika durch die Portugiesen
geschleppt. Zwei voll. Jahrhunderte bestand das Institut, ohne daß sich eine
Stimme gegen dasselbe erhob, bis 1727 die Quäker zuerst in Pennsylvanien
für die Abschaffung der Negersclaverei zu wirken begannen. Frankreich erklärte
1790 die Freiheit seiner Sclaven. — Napoleon I. führte die Sclaverei wieder
ein. Am 1. August 1838 erfolgte die Freilassung der Sclaven in den briti¬
schen Kolonien, zehn Jahre später in den französischen Kolonien; die spanischen
Republiken hatten zugleich mit ihrer Losreißung vom Mutterlande ihre Scla¬
ven emancipirt und in unserm Lande bildet Lincoln's berühmte Emancipations«
Proclamation vom 1. Januar 1863 den Ausgangspunkt der Sclavereiab¬
schaffung im ganzen Gebiete der Union. Brasilien und die spanischen Colo¬
nien allein waren zurückgeblieben; aber es konnte nur eine Frage der Zeit
sein, bis wann auch dort die Sclaverei zu Falle kam. Jene beiden durften
nicht zurückbleiben, nachdem die Union vier Millionen Schwarzen mit einem
Schlage die Freiheit geschenkt und so erließ Brasilien im verflossenen Jahre
sein sehr weises Sclavenbefreiungsgesetz und nun folgt endlich Spanien für
Cuba und Portorico, indem es ähnlich wie Brasilien, die all mählige Ab¬
schaffung einführt.
Wie ist die Sclaverei heute auf Cuba beschaffen und wie werden die
Folgen der Emancipation dort sein, das sind die beiden Fragen, welche wir
Angesichts der Maßregel des Königs Amadeus uns aufwerfen. Nach dem
officiellen Census zählt Cuba 1,396,530 Einwohner, doch mag deren Anzahl
sich jetzt in Folge der chronisch gewordenen Aufstände vermindert haben. Unter
dieser Zahl werden 370,000 Negersclaven angegeben; allein, das ist viel zu
niedrig gegriffen, indem ihre Gesammtzahl auf der Insel wohl 600,000 er-
reichen dürfte. Dem Bertrage von 1817 zuwider, wodurch sich Spanien gegen
Großbritannien, Frankreich und Portugal verpflichtete, keine Neger mehr einzu¬
führen, wurden jährlich 10,000 bis 12,000 Schwarze importirt. Noch im Jahre
1860 versicherte der britische Generalconsul in der Havana, Crawfurd, positiven
Nachweis über die Einfuhr von 26,000 Sclaven in jenem Jahre in Händen zu
haben — und so ist es fortgegangen bis in die allerneueste Zeit, Man be¬
gnügte sich in Cuba nicht mit den Sclaven, welche die „Zucht" lieferte, son¬
dern holte heimlich frische Waare. Im Jahre 1817, zur Zeit des Ueberein-
kommens mit England, gab es auf der ganzen Insel nur 2000 Negersclaven.
Wie anders denn läßt sich der Zuwachs bis auf 600.000 erklären, als durch
fortgesetzten Sclavenhandel und Sclavenschmuggel. Der Preis eines Neger¬
sclaven ist in Cuba in den letzten 30 Jahren von 2000 aus 6000 Francs
gestiegen, so daß die heutige Sclavenbevölkerung der Insel ein Capital von
3600 Millionen Francs reprcisentirt. Da in Afrika ein Neger durchschnittlich
nicht mehr als 100—180 Francs werthet, so haben die 600,000 Sclaven den
Sclavenhäudlern höchstens 00 Millionen Francs gekostet, welche sie den Afrikanern
in Waffen, Pulver, Branntwein, Geweben und anderen Waaren bezahlten. Fer¬
nando Garrido bemerkt in seinem Werke über Spanien, die Verwaltung habe
im Durchschnitt 2S0 Francs per Neger erhalten, um ein Auge zuzudrücken
und die Einfuhr nicht gewahr zu werden, und zwar sei die Prämie von 48
Francs im Jahre 1843 allmählich auf 260 und zuletzt bis auf S26 Francs
per Negersclaven gestiegen.
Die Negersclaven Cubas sind ganz besonders kräftige, athletische Ge¬
stalten, wozu wohl hauptsächlich der Umstand beitragen mag, daß es auf
keiner andern Insel Westindiens so viele Vollblutneger gibt und die schwarze
Bevölkerung aus dem afrikanischen Mutterlande so häufig frischen Zuwachs
erhielt. Fast alle durch ihre Muskulatur und Körperkraft ausgezeichneten
Stämme Äthiopieus sind auf der Insel vertreten.
Die Gesetze für die Negersclaven Cubas und der spanischen Colonien
überhaupt sind humaner als sie in unseren Südstaaten waren. Nach den
I^g'of alö Ills Inäiirs kann ein Negersclave zu jeder Zeit gegen die Erlegung
von S00 Dollars seine Freiheit erkaufen und die Syndici sind beauftragt über
dieses Recht der schwarzen Bevölkerung zu wachen. Ebenso kann eine schwangere
Sclavin für 1L Dollars die Freiheit ihrer Leibesfrucht und für 30 Dollars
jene eines neugeborenen Kindes erkaufen. Dagegen sind die Negersclaven auf
Cuba schlechter gekleidet und schlechter genährt, als in unseren Südstaaten,
arbeiten aber auch weniger und minder anstrengend und haben mehr Gelegen¬
heit zu etwas Eigenthum zu gelangen, als dieses bei uns der Fall war. Eine
große Leidenschaft haben die cubanischen Schwarzen für das Lottospiel, weil
sie darin das vortheilhafteste Mittel erblicken, um rasch zu einem namhaften
Betrage zu gelangen; und zwar sind es gewöhnlich eine Anzahl Neger ein
und desselben Stammes, welche zusammen ihr Glück wagen und — eine be¬
merkenswerthe Thatsache! — wenn ihnen dasselbe hold ist, die gewonnene
Summe, soweit dieselbe reicht, zum Loskauf ihrer Stammesgenossen aus der
Sclaverei verwenden.
Es ist äußerst verständig von der spanischen Regierung, daß sie nicht die
plötzliche, sondern die allmählige Emancipation der Sclaven auf Cuba
durchführt. Dänemark, welches 1848 alle Sclaven auf den benachbarten
Inseln Se. Thomas und Se. Croix emancipirte, ließ doch für eine Reihe
von Jahren eine Art Hörigkeitsverhältniß fortbestehen, damit der Neger, dem
bisher alle jene unzähligen Triebfedern des freien Arbeiters fehlten, welcher
als Sclave jede Thätigkeit haßte, weil sie ihm keinen Nutzen brachte, allmäh¬
lich den Segen der freien Arbeit kennen und schätzen lernte. Jeder eman¬
cipirte Neger war verpflichtet zu arbeiten, um sich auf diese Weise allmählig
daran zu gewöhnen, für seinen eigenen Unterhalt zu sorgen. Keinem ehe¬
maligen Sclaven war, so lange das Hörigkeitsverhältniß dauerte, gestattet,
seinen Dienstherrn — den er selber wählen durfte — wieder zu verlassen, be¬
vor er bei Gericht nachzuweisen vermochte, daß er bei einem andern Arbeit¬
geber Erwerb gefunden habe. Nur in dem Falle, daß ein Neger sich durch
Fleiß und Sparsamkeit so viel Eigenthum erworben hatte, um eine selbst¬
ständige, wenn auch noch so bescheidene Existenz gründen zu können, endete
die Hörigkeit noch vor Ablauf der durch das Gesetz bestimmten Frist. Viele
Neger sind auf diese Weise zum Bewußtsein des Segens der freien Arbeit
gelangt und auf Se. Thomas tüchtige Leute geworden. Von der Mehrzahl
läßt sich das jedoch nicht sagen, trotzdem sie in einem Vierteljahrhundert Zeit
genug hatten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, ordentliche Menschen zu werden.
Die Emancipation hat auch ihre Kehrseite und wie die Bauernemancipation
in Nußland zunächst nachtheilig für die Betreffenden wirkt, so ist dies in
noch weit höherem Maße mit den Negern der Fall. Cuba wird in dieser
Beziehung seinem Schicksale nicht entgehen, der wirthschaftliche Rückschlag wird
ein empfindlicher sein und ob nicht auch der moralische eintritt, ist leider kaum
zweifelhaft, wenn wir die Resultate ins Auge fassen, welche die Emancipation
auf den übrigen westindischen Inseln, den englischen und französischen hervor¬
gebracht hat. Wir müssen aufrichtig sein, dürfen nicht wieder Vogel?tranß
den Kopf in einen Steinhaufen stecken, sondern müssen das kommende Uebel
zu bekämpfen suchen. Ich könnte ähnliche Schattenseiten der Folgen der Eman¬
cipation massenhaft aus unseren zerrütteten Südstaaten beibringen, indessen
hier passen um der politischen und geographischen Verhältnisse willen mehr die
Beispiele aus Westindien.
Als England die Sclaverei in Westindien abschaffte, gab es gleichzeitig
den freigewordenen Negern einige Borrechte, um ihnen den Kampf ums Da¬
sein zu erleichtern. So z. B. sollten ihren Produkten die Häfen des Mut¬
terlandes zu günstigeren Bedingungen geöffnet sein, als den Erzeugnissen
fremder Colonien. Der Neger dachte indessen nicht daran, von solchen Vor¬
theilen zu profitiren, er fühlte kein Bedürfniß zu arbeiten, er wollte nicht ar¬
beiten. Das höchste, wozu er sich in einigen Fällen emporschwang, war die
Pflege einiger Bananen; sie genügten vollkommen zur Befriedigung seiner Be¬
dürfnisse. Die Produktion mußte natürlich in Folge dessen, bei dem fast ab¬
soluten Mangel brauchbarer Arbeitskräfte ungemein fallen. Uebrigens darf
man auch nicht vergessen, daß der freie Neger selbst beim besten Willen die
Concurrenz mit der Sclavenarbeit in Cuba und Brasilien nicht hätte auf¬
nehmen können, indem das zur Bebauung des Landes nöthige Capital fehlte.
Niemand hatte nach der Emancipation Lust, sein Geld hypothekarisch auf
Plantagen zu geben, weil man einsah, daß jetzt keinerlei Sicherheit für einen
rationellen Betrieb derselben mehr da sei, daß die Plantagenbesitzer selbst beim
allerbesten Willen die Zinsen nicht würden bezahlen können. In Folge dieser
Umstände versank das einst so blühende Jamaica immer mehr in Armuth
und Elend. Die nachstehenden Daten zeigen den jährlichen Durchschnittsexport
dieser Insel vor und nach der Sclavenemaneipation und jeder Unbefangene
wird aus diesen Zahlen besser wie aus einer detaillirten Schilderung den Er¬
folg der Emancipation auf wirthschaftlichem Gebiete herauslesen. Der durch¬
schnittliche jährliche Export von Jamaica betrug:
Die weißen Plantagenbesitzer waren einfach ruinirt. Das wäre schließlich
das wenigste gewesen und man hätte sich darüber trösten können, wenn nur
die ehemaligen Sclaven selbst zu einer größern Prosperität gelangt wären;
denn diese 300,000 an der Zahl überragen die Weißen um das hundertfache.
Hat aber die Emancipation den Negern wirklich Vortheile gebracht. Leider
wenig! Die Schwarzen hatten mit der Freiheit weder Sinn für dieselbe noch
Moralität angenommen; da der Neger keine der Beschränkungen kennt, welche
die Civilisation dem Menschen auferlegt, so fühlt er auch nicht den Druck der
an sie gebundenen Nothwendigkeiten. Seine natürlichen Bedürfnisse sind so
außerordentlich leicht befriedigt, daß es seinerseits durchaus keiner Anstrengun¬
gen bedarf. Die Schwarzen sind daher, statt intelligenter Ackerbauer Squat-
ters geworden, die an einem beliebigen Puncte zigeunermäßig sich niederlassen,
ihn beliebig verlassen, um dann einen andern aufzusuchen. Der größte Theil
aber ergab sich dem Nichtsthun. Um leben zu können brauchte er wöchentlich
eine Stunde zu arbeiten und das war genug. Als Sclaven waren die Neger
durchschnittlich gut gehalten worden, sie schmerzte es nur, daß sie arbeiten
mußten; der Verlust der Freiheit war ihr geringster Schmerz. Im Großen
Ganzen hat die Emancipation überall eine Verwilderung der Schwarzen, einen
Rückschlag ins afrikanische Wesen zur Folge gehabt: in Surinam, auf Haiti,
auf Guadeloupe, in unseren Südstaaten. Cuba wird es nicht besser ergehen
und es muß sich auch auf die Folgen gefaßt macheu. Da aber die Welt
Colonialproducte haben muß und der Schwarze nicht arbeiten will, so ist die
Heranziehung anderer Arbeiter, asiatischer, nöthig geworden. Daher der co¬
lossale Ausdehnung annehmende Kulihandel, der doch nur eine mildere Form
des Sclavenhandels vorstellt. Aber ich breche ab — das ist ein Capitel,
welches besonders besprochen werden muß.
Am Is. September unterwarf ich die Lage Oesterreichs einer Beleuchtung
unter dem Eindruck der Dreikaiserzusammenkunft. Die in dieser Betrachtung
aufgestellten Gesichtspunkte haben eine authentische Bestätigung erfahren durch
die Erklärungen, welche Graf Andrassy am 24. September vor dem Budget¬
ausschuß der reichsräthlichen Delegation abgegeben. Graf Andrassy constatirte
vor Allem, daß Oesterreich auf das, was es in den letzten Jahren verloren, auf¬
richtig und definitiv verzichte. Die österreichisch-ungarische Monarchie habe nur
verloren, was sie nicht zu erhalten vermochte, was aber auch zu ihrem Ge¬
deihen nicht nothwendig war. Graf Andrassy deutete als directen Verlust
nur denjenigen der Lombardei und Venetiens an. Ein indirecter Verlust be¬
trifft die vormalige Theilnahme am deutschen Bund und die Präsidialstellung
in demselben. Daß Oesterreich auf diesen Besitz nicht minder aufrichtig ver¬
zichtet, sprach Gras Andrassy mit der denkbar größten Deutlichkeit in den
Worten aus: „die Absicht des Kaisers von Oesterreich bei dem Besuch in
Berlin sei lediglich dahin gegangen, den aufrichtigen guten Beziehungen zu
dem neu constituirten Deutschland einen klaren Ausdruck zu geben."
Gras Andrassy führte weiter aus, daß „wenn Oesterreich-Ungarn seine
jüngsten Verluste verschmerzt habe, es von nun an nichts mehr verlieren
könne und dürfe. Es will den Frieden mit Allen, in erster Linie mit den
Nachbarstaaten, aber es will auch, um sich zu behaupten, die Ueberzeugung
hervorrufen, daß es als Freund verläßlich und als Feind gefährlich sein
kann." Der Minister constatirte, daß gewisse panslavistische Tendenzen, die
sich fortwährend zur Aufgabe machten, Rußland zu Oesterreich in Gegensatz
zu bringen, in den maßgebenden Kreisen des großen Nachbarreiches keine
Unterstützung finden.
Ganz besonders hervortretend ist die Uebereinstimmung mit der hier ge¬
gebenen Ausführung bei den Aeußerungen über die Türkei. Der Minister
sagte, die von Oesterreich-Ungarn befolgte Politik sei der Türkei gegenüber
eine traditionelle, welche den Bortheil der Zuverlässigkeit für sich habe; dies
schließe aber nicht aus, daß Oesterreich mit den übrigen Ländern des Orients,
welche theils integrirende Theile des türkischen Reiches, theils selbstständige
Staaten sind, die besten Beziehungen zu unterhalten bestrebt sei und das
regste Wohlwollen für ihre Betheiligung und ihre Entwickelung bethätige.
Noch bestimmter drückte sich der Minister dann weiterhin aus, der Gedanke
einer Ausdehnung der Reichsgrenzen nach irgend einer Richtung hin sei aus¬
geschlossen. Denn welcher Reichshälfte sollten die Erwerbungen denn zufallen?
Jede solche Ausdehnung würde nur eine Last für Oesterreich-Ungarn sein.
Wir dürfen in Uebereinstimmung mit unserer früheren Ausführung dem
Ausspruch des Ministers hinzufügen, daß jede Eroberungspolitik der öster¬
reichisch-ungarischen Monarchie die Beschränkung des jetzt bestehenden Dua¬
lismus theils zur Voraussetzung, theils zur Folge haben müßte.
Ganz in Uebereinstimmung mit dem hier Gesagten bezeichnet der Mi¬
nister die Aufgabe der österreichisch-ungarischen Negierung im Orient dahin,
die volkswirtschaftlichen Interessen zu fördern, die Communicationsmittel zu
heben und dadurch dem Handel zwischen Oesterreich-Ungarn und dem Orient
freie Bahn zu brechen.
Wir haben nur hinzuzufügen, was wir früher ausgeführt, daß nämlich
auch schon die Wahrnehmung der volkswirtschaftlichen Interessen Oesterreich-
Ungarns im Orient der ungarischen Reichshälfte allein nicht gelingen würde;
daß also die orientalische Frage d. h. die Sicherung der Interessen Oesterreichs
auf der Balcanhalbinsel denjenigen Parteien einen Zügel anlegt, welche den
Dualismus bis zur Separation durchführen möchten. Die Forderungen der
orientalischen Politik, welche die Lebensinteressen Ungarns berühren, sind eine
der wirksamsten Bürgschaften für die Einheit der Monarchie. Sie rufen dem
Dualismus das „bis hierher und nicht weiter" zu und gebieten den radicalen
Gegnern der Deakpartei vom Standpunkte des wahren ungarischen Patriotis¬
mus ein unabweisbares „Zurück".
Nach einer Krisis von fast vier Monaten sind in Bayern wieder regel¬
mäßige Zustände eingetreten; und es ist wenigstens ein fester Abschluß er¬
reicht, von dem aus wir die Ereignisse betrachten können.
Frägt man, was den Anstoß zur Idee eines Systemwechsels gab, oder
welches die inneren Gründe für eine so überraschende Absicht waren, so ist
man freilich noch heute ebenso im Ungewissen wie damals. In der Regel
geht dem Wechsel der Kabinete doch ein Umschwung der öffentlichen Meinung
voraus, die Partei, die schließlich ans Ruder kommt, erlangt im Volke, im
Parlamente oder in irgend welcher anderen Beziehung einen überwiegenden
Einfluß und ihre Berufung zur Ministerliste ist in der Regel nur der for¬
melle Vollzug, die äußere Anerkennung jener Ueberlegenheit, die sie bereits
der Sache nach besitzt. Allein von dieser Situation ging die bayerische Mi¬
nisterkrisis keineswegs aus, sie hatte, wenn man es staatsrechtlich ausdrücken
will, durchaus keinen parlamentarischen Charakter. Im Gegentheil die Partei,
der sie zum Ruder verhelfen sollte, war gerade damals als Hegnenberg starb,
in entschiedenem Niedergange begriffen, ihre materiellen Mittel waren keines¬
wegs sehr einladend um einem neuen Kabinete zur Basis zu dienen und ihr
moralisches Ansehen konnte sie noch weniger empfehlen. Wer die Reihe der
hervorragenderen Geschehnisse in Bayern betrachtet, die sich seit dem Schlüsse
der Landtagssession ergaben, der muß vielmehr zu der Einsicht gelangen, daß
eine successive Abnahme des particularistischen Geistes und eine stetige Op¬
position gegen die klerikalen Principien die charakteristischen Züge der baye¬
rischen Politik waren.
Die formelle Majorität, welche lange Zeit die Kammer terrorisirt hatte,
besaß schon längst nicht mehr jene hemmende Bedeutung; der Hader der kle¬
rikalen Organe ließ schon damals erkennen, welche Zwietracht in der Partei
entstand. Weder das Verhalten, das die Regierung an den Tag legte, gab
einen Anhaltspunkt, daß man es auf eine Veränderung der bisherigen
Richtung absehe; noch konnte man aus der Art wie das Publikum sich ver¬
hielt, den Schluß ziehen, als sei man einer nationalen Politik hier müde ge¬
worden. Wir betonen diese Situation weil sie gerade ein charakteristisches
Merkmal für die eintretende Ministerkrisis war, d. h. weil sie am schlagend¬
sten beweist, wie wenig dieselbe aus dem Bewußtsein des Volkes hervorging
und von der öffentlichen Meinung unterstützt ward.
Als Hegnenberg am 2. Juni starb, dachte noch Niemand daran, daß ein
anderer als ein Gesinnungsgenosse der nationalen Partei zum Präsidium be¬
rufen werden könnte, ja viele gaben sich der Hoffnung hin, Hohenlohe selbst
würde sein früheres Portefeuille wieder erhalten, was freilich ohne eine theil¬
weise Erneuerung des gesammten Kabinets nicht möglich gewesen wäre.
Alle die übrigen Gerüchte, die in der Zwischenzeit verbreitet wurden,
entbehrten der Begründung und erst als dasjenige auftrat, welches man für
das allerunbegründetste halten wollte, da zeigte es sich, daß man diesmal vor
wirklichen Combinationen stehe. Die Verblüffung in München war co¬
lossal, sie war so groß, daß man noch nicht an die Sache glaubte, selbst als
Gaffer bereits nach Collegen suchte. Die Zeit, welche damit begann, ist
keine sehr würdige sür Bayern und bliebe besser aus den Annalen des Landes
gestrichen, ja selbst von ganz gemäßigter Seite erhoben sich Einwände gegen
diese Persönlichkeit und Warnungen gegen dies Princip. Denn die Thätig¬
keit, welche Herr von Gaffer bis dahin am Stuttgarter Hofe entfaltet hatte,
mochte ihm zwar bei den dortigen Particula-rihten, aber keineswegs in Bayern
Geltung verschaffen, wo der Unterschied der Ansprüche, die man an Cavaliere
und Minister stellt, noch sehr bedeutend ist. Auch diejenigen Persönlichkeiten,
auf welche Herr von Gaffer verfiel, um seine Liste zu ergänzen, vermochten
den Nimbus seiner Mission nicht'sonderlich zu erhöhen, ja sie schadeten der¬
selben fast ebenso als die zahlreichen Ablehnungen, die er erhielt. Nicht des¬
halb, weil man etwa die Integrität derselben bezweifelt hätte , sondern vor
allem darum, weil das Cabinet, das bisher lediglich einen particularistischen
Anstrich hatte, nun immerhin in ultramontane Färbung kam. Peinlicher
noch als die Lage an sich schon war, wurde sie durch die Thatsache, daß
während des August der deutsche Kronprinz in Bayern verweilte — wir
brauchen das Bild nicht auszuführen, das sich hieraus ergab.
Selbstverständlich waren alle Augen aus die Lösung der bayerischen Kri¬
sis gerichtet, alle Blätter variirten das Thema und erschöpften sich in Com¬
binationen, die nur durch die Dreikaiserzusammenkunft eine erfreuliche Störung
erlitten. Bayern war auf derselben zwar durch einen seiner Prinzen ver¬
treten, aber daheim blieben die Verhältnisse noch immer beim Alten, d. h.
in jener Ungewißheit, die selbst für die Eingeweihten nicht zu durchdringen
war. Fest schien nur so viel, daß die Chancen der Gasserischen Liste sich täg¬
lich consolidirten, daß dieselbe zuletzt fünf Namen umfaßte, und daß das
Publicum den Scenenwechsel fast stündlich erwartete.
Aber ein Tag um den andern verstrich, der September ging schon zur
Neige, da traf die Kunde ein, daß alle Besorgnisse umsonst, daß alle Com¬
binationen vereitelt, daß Gaffer seiner Mission enthoben sei. Warum dieser
plötzliche Umschlag erfolgte, darüber freilich wußte Niemand etwas zu melden.
Die Sensation, die diese Kunde in München machte, war bedeutend, man
war ja bereits auf das Schlimmste gefaßt, man war gewohnt, Bayern als
das Land der Experimente zu betrachten. So sehr die Stimmung durch das
lange vergebliche Warten getrübt worden war, so rasch bellte sie sich auf, als
die Nachricht kam, daß man sich noch in elfter Stunde eines Besseren be¬
sonnen und daß dem Lande das klägliche Schauspiel eines Rückfalles erspart
sei. Denn wenn auch die Namen, die zum Besitze der vacanten Portefeuilles
berufen waren, kein sehr entschiedenes Vorgehen in nationaler Richtung ver¬
bürgten, so gaben sie doch andererseits die Garantie, daß sie nicht den Stand¬
punkt der Reservatrechte zur Grundlage ihrer Politik machen würden. Beide,
Herr v. Pfretzschner sowohl als der neue Finanzminister Berr haben im Bun¬
desrath rege Fühlung mit den Interessen und der Politik des Reiches erlangt,
die Art, wie sie Bayern dort vertraten, gab ihnen außerdem ein großes per¬
sönliches Ansehen.
Aber die wesentlichste Bürgschaft für die Richtung einer neuen Negie¬
rung liegt nicht in den Personen, sondern in den Verhältnissen, unter denen
sie ihr Amt verwalten. Gerade hier indessen hat die Krisis in wohlthuendster
Weise gewirkt, indem sie die Gegensätze schärfer ausprägte und eine Reihe
von Dingen ins Licht setzte, die man früher nur unklar beurtheilt hatte.
Wir haben oben bereits erwähnt, daß die öffentliche Meinung nichts mit
jenem particularistischen Versuch gemein hatte; aber wir dürfen noch mehr
versichern, daß der Particularismus durch denselben geradezu gelitten hat,
weil man ihn gegen den Wunsch und die Interessen des Landes in Scene
gesetzt hatte. Die Gründe für diesen umgekehrten Erfolg sind leicht zu er¬
rathen. Denn während man Anfangs gar nicht daran dachte, die eigentlich
klerikalen Elemente zur Candidatur heranzuziehen, ergab es sich doch unter
der Hand, daß diese sich alsbald der Gelegenheit bemächtigten und den Be¬
strebungen, um die es sich handelte, einen ultramontanen Character gaben.
Mit diesem Namen wenigstens bezeichnete die Menge das bevorstehende Mi¬
nisterium, und mußte es das ganze Odium, das die Thätigkeit dieser Partei
verdient, bereits als Pathengeschenk in Kauf nehmen. Viele ließen sich da¬
durch abhalten, in die Candidatenliste einzutreten, andere bestätigten eben da¬
durch, daß sie eintraten, diesen Ruf. Doch wir haben oben bereits darauf
hingewiesen.
Ein anderer Grund, warum diese Gelegenheit das Ansehen der anti¬
nationalen Richtung schädigte, war die furchtbare Zwietracht, welche sich eben
in Folge dessen zwischen den beiden Hälften der clericalen Partei entspann.
Es ist bekannt, daß dieselben schon geraume Zeit im Streite liegen, weil die
Extremen sich ganz aus den römischen Standpunkt stellen, während die ge¬
mäßigte Partei wenigstens die Thatsachen acceptirt und das Reich als Vater¬
land anerkennt. Den inneren (bayrischen) Angelegenheiten gegenüber bestand
freilich eine gewisse Gemeinschaft, die Superioritcit der Kirche über den Staat
ward von beiden gleichmäßig vertreten; nun aber ward die Aussicht auf den
Systemwechsel zum Zankapfel zwischen beiden. Die Gemäßigten (hinter denen
besonders der höhere Clerus steht) nahmen mit Vergnügen die Chancen eines
Gasserischen Cabinets an. ja man behauptet, daß ihre Anhänger bei Hose
diese Candidatur erst geschaffen hätten; den Extremen aber erschien sie von
Anfang an als eine Halbheit und sie wiesen deshalb jedes derartige Project
mit einer Schroffheit zurück, die an Cynismus grenzte.
Da die Krisis lange genug dauerte, so hatten beide Theile Gelegenheit,
ihre Meinungsverschiedenheit in gründlicher Weise an den Mann zu bringen
und den Riß unheilbar zu machen, der von Anfang an bestand.
Wir haben oben behauptet, daß die Verhältnisse, unter denen das neue
Ministerium seine Herrschaft antritt, entschieden geklärt und zum Theile sehr
günstig sind. Sie sind es deshalb, weil der Particularismus durch die jüngste
Krise entschieden an Terrain verloren hat und weil die klerikale Partei, die
ihnen gegenübersteht, wie nie vorher zerrissen ist. Schon vor geraumer Zeit
haben die historisch-politischen Blätter ihre Gesinnungsgenossen gewarnt, die
Macht der Katholiken doch nicht zu überschätzen, diese Warnung war niemals
mehr begründet, als eben jetzt in Bayern.
Was aber die Stellung des Ministeriums weiterhin sehr erleichtert, das
ist die kluge Art und Weise wie sich die nationale Partei und wie sich vor
Allem die preußische Regierung der ganzen Angelegenheit gegenüberstellte, in¬
dem die letztere auf jeden kategorischen Einfluß und die erstere auf jede heftige
Action verzichtete. Man wußte in jenem Lager wohl, daß die Vernunft um
so leichter siegt, je weniger man ihr Gewalt anthut. Die Aufgaben, welche
das neue Cabinet vor sich sieht, sind allerdings keine leichten und dasselbe be¬
darf wohl die Gunst der öffentlichen Meinung in hohem Maße; allein es
besitzt sie auch. Denn in letzter Reihe ist es doch nur das Product derselben,
wenigstens ist kein anderer sachlicher Grund ersichtlich, warum die Minister¬
liste Herrn v. Gaffer's, die bis auf das Justizportefeuille bereits complet war,
von Sr. Majestät nicht acceptirt ward. Benutze das gegenwärtige Ministe¬
rium die Hebel in kluger Weise, die ihm zur Verfügung stehen, so kann es
sich der klerikalen Chicanen, die ihm nicht erspart bleiben werden, ohne son¬
derliche Gefahr erwehren. Es wird vor Allem im Reiche einen unbedingten
und starken Rückhalt finden und seine Lage ist ja von vornherein dadurch ge¬
bessert, daß die Entscheidung der großen und capitalen Principienfragen dort
erfolgt, daß besonders der kirchenrechtliche Streit aus den Händen Bayerns
nach Berlin verlegt ward. Gerade in dieser Richtung hat der aufklärende
Geist der Zeit mehr als irgendwo anders gewirkt; denn die Situation, welche
die Regierung auf kirchlichem Gebiete heutzutage vorfindet, ist nicht mehr an-
nähernd von jener Gefährlichkeit, wie sie unmittelbar nach dem vaticanischen
Concil und am Beginne des Krieges war. Im Gegentheile wird jeder auf¬
merksame Beobachter wahrnehmen, daß eine entschiedene Abnahme der kleri¬
kalen Gesinnungen eintritt; die Art, wie Bayern auf der Katholikenversamm¬
lung in Breslau vertreten war, das Verhalten der bayrischen Bischöfe und
der ewige Conflict der Parteipresse tragen viel dazu,bei. Nicht weniger aber
macht sich auch der Altkatholicismus verdient; indem er dem Staate den
legitimen Anlaß bietet, auf kirchlichem Gebiet Reformen zu urgiren. Er ist
für Bayern von der höchsten Wichtigkeit und deshalb ist es nöthig, daß wir
noch mit wenigen Worten den gegenwärtigen Erfolg desselben feststellen.
Allerdings ist das Häuflein seiner Anhänger nur klein und auch die
Mittel, über welche sie gebieten, bleiben weit hinter denen zurück, welche andere
Vereine besitzen, aber nichts destoweniger ist ihre Existenz noch immer ein
Gegenstand von öffentlichem Interesse. Es ist dies Interesse natürlich nicht
mehr dasselbe, das völlig neue Erscheinungen hervorrufen, man hat nicht mehr
mit jener Spannung auf ihre Beschlüsse geblickt, wie sie der erste Congreß
in Anspruch nahm, aber anderseits darf man es auch nicht unterschätzen,
welchen wichtigen Antheil sie an den Ereignissen hatten, die sich auf dem
Gebiet der inneren Politik seit Jahresfrist vollzogen. Darin liegt ihre Be¬
deutung und das Recht, das sie auch heute noch auf die Theilnahme des
Volkes haben.
Der Congreß der diesmal zusammentritt, hatte ein noch allgemeineres
Gepräge gewonnen, als im vorigen Jahr. Neben den bekannten Führern
fand sich Herr Michaud ein, der früher an der Madeleine-Kirche in Paris
fungirte und jetzt sich ganz mit dem Studium der deutschen Wissenschaft ver¬
traut macht, aus England der Bischof von Lincoln, aus Utrecht der dortige
Erzbischof; die Sympathien, welche Rußland der ganzen Bewegung entgegen¬
trägt, sind notorisch und erfuhren auch diesmal einen persönlichen Ausdruck.
Das nächste Ziel, welches der Congreß sich setzte, war selbstverständlich
religiöser Natur, es mußte sich darum handeln, die Seelsorge kräftiger zu or-
ganisiren und denjenigen Katholiken, die an der bisherigen Lehre hängen, die
Gelegenheit zu sichern, daß sie ihre religiösen Bedürfnisse bei Priestern desselben
Bekenntnisses befriedigen.
In dieser Richtung, nämlich was die Erweiterung der religiösen Gemein¬
schaft betrifft, sind freilich viele Hoffnungen der Altkatholiken unerfüllt ge¬
blieben. Es war vor allem unmöglich, die Massen zur Betheiligung an
dem neuen Organismus heranzuziehen, denn diese verharrten ungebeugt in
jener Position, die sie seit Jahrhunderten innehalten und bei ihnen fanden
auch die Verdächtigungen, die man über die Führer verbreitete, am meisten
Eingang. Es gelang, bei der großen Menge den Altkatholicismus mit der
Ketzerei zu identificiren. Allein auch in den gebildeten Ständen stieß man
auf mancherlei Schwierigkeit, denn hier wird der Maßstab der Gedankenfrei¬
heit an die Religion gelegt und jeder macht sich selbst sein eigenes Programm.
Es war von vornherein unmöglich jene Grenze von Reformen zu finden, die
allen gleichmäßig entsprochen hätte und dazu kam der weitere Umstand, daß
eine Menge von denkenden Männern zwar innerlich Mit der Bewegung voll¬
ständig harmonirten, aber nicht das mindeste Bedürfniß fühlten sich äußerlich
derselben anzuschließen.
Unter diesen Umständen kann von einer Massenwirkung des Altkatho¬
licismus natürlich keine Rede sein; gleichwohl fehlte es nicht ganz an einer
äußeren Ausbreitung; es wurden wenigstens im Kleinen neue Positionen
gewonnen. Die Gemeinde in München, die sich in der Gasteigkirche ver¬
sammelt, hat nichts von ihrer früheren Rührigkeit verloren; im Westen ist
Cöln das Hauptquartier der Bewegung ' und die Pantaleonskirche, die die
Altkatholiken dem Feldpropst Nanczanowski abrangen, war der erste große
Sieg ihrer Legitimität.
Daß in der Ostmark des Reiches die Stellung nicht erschüttert ist, das zeigen
die Vorgänge gegen den Ermeländer und zwischen diesen großen Knotenpunkten
liegen zahlreiche kleinere Stationen, die das Leben der Bewegung verbürgen
und ihre Beziehungen zum Publicum oder zur Wissenschaft aufrecht erhalten.
Wir erinnern an die Universitäten Bonn und Breslau, an die Haltung, die
die Hochschule München dieser Angelegenheit gegenüber einnimmt. Speciell
in Bayern nimmt auch die Provinz lebendigen Antheil. Fast jeder der acht
Kreise hat seinen eigenen Mittelpunkt für jene Bestrebungen, wie die Namen
sindet, Mering, Kempten und Andere dieß zeigen. Natürlich liegt es uns
gänzlich fern, damit etwa aus eine besondere Expansionskraft hinzuweisen,
oder gar zu behaupten, die Bewegung besitze breiten Boden im Volk; aber
andererseits sind doch auch Jene Lügen gestraft, die schon zu Beginn behaup¬
teten, daß nach wenig Wochen kein Mensch mehr von der Sache reden würde.
Für die Regierungen, die außerhalb der Action stehen, liegt ihr Schwer¬
punkt auch ganz wo anders als in der religiösen Mission, die sie sich selber
zuschreibt. Für uns ist ihre hohe Wichtigkeit vielmehr in dem politischen
Moment gelegen, das sich damit verbindet und das zu jener ganzen Richtung
den Anstoß gab, die jetzt in der inneren Politik des Reiches herrscht. Die
schroffe und entschiedene Stellung, welche die Centrumsfraction zur Stunde
einnimmt, ward dadurch wesentlich gezeitigt und klargestellt; die Nothwendig¬
keit, auf dem Gebiet der Schule die Unabhängigkeit des Staates zu wahren,
das Eherecht und viele andere bürgerliche Verhältnisse von der Vormundschaft
der Kirche zu befreien, erkannte man in dringendster Weise an der Hand
jener MißHelligkeiten, die sich aus dem — Altkatholicismus ergaben.
Rand dieser Richtung hin greift er tief in das moderne Leben ein und
aus diesem Grunde gewinnt er auch für jene ein wirkliches Interesse, die
weder alte noch neue Katholiken sind.
Dasselbe' Mußte sich noch wesentlich steigern, wenn man die positiven
Beschlüsse, die der Congreß zu Cöln veröffentlichte, ins Auge faßt. Sie be¬
rühren den dogmatischen Theil, den Glaubensinhalt fast gar nicht, aber sie
fassen die staatsrechtliche Seite der Frage mit einer Energie und einem
Scharfblick aus, der die Regierungen nöthigen wird, darauf Bedacht zu neh¬
men. Aber keiner wird diese Nöthigung so nahe treten, als eben der baye¬
rischen, denn keine blieb ihren Versprechungen bisher so viel schuldig, keine
hat einen so ausgebreiteten Schauplatz dieser Mißstände und so ergiebige
Mittel zur Hand, als sie die bayerische Verfassung bietet. Jedenfalls ist die
Losung diese Fragen eine der nächsten und bedeutendsten Aufgaben für das
neue Cabinet, zumal nachdem von Berlin schon das Signal zum Kampfe ge¬
geben ist. Dann wird es sich zeigen, wie es sich mit nationalen und libe¬
ralen Gesinnungen verhält, welche die öffentliche Meinung demselben bis jetzt
Seit der trefflichen Festschrift, welche Böckh im Jahre 1863 unter dein
Titel „Geschichtliche Entwickelung der amtlichen Statistik des preußischen
Staates" dem internationalen statistischen Congreß zu Berlin 1863 heraus¬
gab, hat das königlich preußische statistische Bureau eine besondere Darstellung
nicht mehr gefunden — die zahlreichen Publicationen natürlich abgerechnet,
welche von diesem Institute selbst auszugehen pflegen. Jede Schrift, welche
dieses in Deutschland weitaus erste Institut für wissenschaftliche und prac-
tische Statistik auf allen Gebieten nach seinem Werdegang und seinen heu¬
tigen Leistungen darzustellen unternimmt, darf auf ein großes und aufmerk¬
sames Publicum rechnen und so wird von Vielen auch die neueste Schrift
über diesen Gegenstand „Das königlich preußische statistische Bu¬
reau und seine Dependentien, Geschichte, Organisation und Verwal¬
tung, von Leon Puslowsky, einem außerordentlichen Mitgliede des königlich
Preußischen statistischen Seminars, Berlin, Puttkammer und Mühl¬
brecht, 1872" mit demselben günstigen Vorurtheil in die Hand genommen
werden, wie von uns. Aber die Schrift bietet wenig, um sich diese Gunst
zu erhalten. Wenn der Verfasser sich dazu hinreichend vorgebildet erachtet
hätte, um sich an eine Characteristik des Strebens, der Leistungen, der Größe
der Auffassung und der Vielseitigkeit der Disciplinen des preußischen statisti¬
schen Bureaus im Vergleich zu andern deutschen und ausländischen dieser Art
zu wagen und diese Aufgabe mit einer auf der Höhe der Zeit und ihres
Wissens stehenden Gründlichkeit zu behandeln und durchzuführen: so wäre
seine Arbeit, gleichviel ob mehr oder minder gelungen, doch um ihres Strebens
willen achtbar gewesen. Aber was wird uns hier geboten? Im ersten Ab¬
schnitt die „Vorgeschichte des königlich preußisch statistischen Bureaus", im
zweiten „die geschichtliche Entwickelung des königlich preußisch statistischen
Bureaus in den Jahren 1805 bis 1872" — also schon an sich ein Stoff,
auf welchem nach Böckh's Vorgang nur noch für Aehrenlese eine Tagelohn
zu gewinnen war. Und dann: Diese dürre Aufzählung von Namen, Daten
und Registrandenabschriften, versetzt mit einigen uralten Anecdoten, die selbst
den alten Napoleon auf Se. Helena nicht verschonen, nennt das außerordent¬
liche Mitglied des statistischen Seminars zu Berlin „Vorgeschichte" und
„Geschichte" der preußischen Statistik? Und was bietet das Buch im Uebrigen ?
nominell in den vier weiteren Abschnitten gerade genug, nämlich „die
Organisation und Verwaltung des königlich preußisch statistischen Bureaus",
sodann auch die „geschichtliche, Entwickelung des Seminars des preußisch
statistischen Bureaus", „die Bibliothek des königlich statistischen Bureaus"
und endlich die „Publicationen des königlich preußisch statistischen Bureaus".
Thatsächlich aber nur einige beliebige Bemerkungen über alle diese Stoffe,
wie sie etwa ein Calculator oder Registrator leisten würde, wenn er zu seinem
jähen Schrecken von seinem Chef den Auftrag erhielte, ein Buch des vor¬
liegenden Titels und Inhaltes in Eile abzufassen.
Aber damit ist die schwächste Seite dieses Werkes des außerordentlichen
Mitgliedes des königlich preußisch statistischen Seminars noch nicht berührt.
Das Buch ist nämlich bei Lichte besehen in allen Abschnitten eine ebenso
grobe und unnütze Schmeichelei auf den Chef des preußisch statistischen
Bureaus den Geheimen Rath Ernst Engel, wie eine dreiste Ueberhebung
über eine ganze Anzahl von Volkswirthen, die zwar nicht Mitglieder des
Berliner statistischen Seminars sind, wie der Herr Verfasser, aber dagegen
seit einigen zwanzig Jahren öffentliche Beweise ihrer Leistungsfähigkeit und
ihres Wissens abgelegt haben. — Diese Art von Engelmacherei ist jedenfalls
wenig nach dem Geschmack des hochverdienten Leiters des ersten statistischen
Bureaus des Continentes, und wenig nach dem Geschmacke des deutschen
gebildeten Publikums.
Der Thronwechsel des Jahres 1840 in Preußen bezeichnet den Anfang
einer neuen Epoche der preußischen und auch der deutschen Geschichte. Vor¬
boten, Symptome, Anfänge eines neuen Lebens, neuer reformirender Thätig¬
keit traten da überall zu Tage. Nach dem officiellen Stillstande der letzten Re¬
gierung erhoffte man jetzt vorwärtsgehende Bewegung auf den verschiedensten
Gebieten. Und ein paar Entschließungen Friedrich Wilhelm's IV., ein paar
Berufungen literarischer und künstlerischer Größen waren im Anfang der
neuen Regierung genug die Menschen mit der Zuversicht zu erfüllen, daß
Größeres und Schöneres noch bevorstehe. Auch Bunsen theilte diese Hoff¬
nungen, auch er jubelte dem neuen Könige entgegen. Die persönlichen Be¬
ziehungen zu Friedrich Wilhelm brachten ihn nach dem Sturze von 1838
jetzt auch wieder in eine hervorragende Stellung.
Schon in Rom, wir berührten dies in unserem ersten Artikel, war er
dein Kronprinzen nahegetreten. In seinen Briefen sieht man bisweilen, wie
aufmerksam er seinen Blick auf die zukünftige Sonne gerichtet hielt, wie
werthvoll es ihm war von dorther Zustimmung zu seinen Rathschlägen zu
erhalten. Von dem diplomatischen Posten in Rom zurückzutreten war ihm
selbst lieb: daß er sich unmöglich in Rom gemacht, fühlte er wohl selbst.
Eine höhere Stellung in Berlin in einem der Ministerien hatte ihm 1837
und 1838 vorgeschwebt. Daß er 1838 etwas in Ungnade gefallen, war
offenbar. Jedoch wurde er 1839 auf den Gesandtschaftsposten in der Schweiz
gestellt, einerseits eine Rehabilitation, andererseits ein Amt, an dem ihm
nicht viel liegen konnte. Sobald Friedrich Wilhelm IV. die Zügel ergriff,
wurde Bunsen aus seinem „Palaos" erlöst. Die oberste Leitung des öffent¬
lichen Unterrichtswesens, zu der er sich befähigt hielt und für welche er wirk¬
lich schätzenswerthe Eigenschaften mitgebracht haben würde, fiel ihm allerdings
nicht zu, aber zu anderen Aufgaben wurde er berufen, die dem neuen Könige
wahrhafte Herzenssachen waren. Eharacterisch für Bunsen ist es aber, —
wir möchten diesen kleinen Zug nicht übergehen — daß er selbst einmal
weint, ein Mann wie er sei vielleicht zum Propheten, nicht aber zum thätig
eingreifenden Staatsmann geeignet; Präsident einer königlichen Commission
für Kirche und öffentlichen Unterricht möchte er werden, ohne selbst die Ad¬
ministration in die Hand zu nehmen. Wir nennen dies ein charakteristisches
Zeugniß seiner Selbsterkenntniß- über allgemeine Gesichtspunkte verfügte er
in reicher Fülle, theoretische Einsicht in die Verhältnisse von Kirche und
Schule und Staat besaß er, zur Anregung von Reformen und Reformplänen
war er bereit und eifrig. Das Detail der Praxis, die Abwickelung der Ge¬
schäfte war nicht seine Sache. An Ausdauer fehlte es ihm dafür, an Geschick
der Verwaltung. Wir müssen sagen, überall wo wir ihn als praktischen
Staatsmann einer praktischen Aufgabe gegenüber sehen, fühlen wir uns ge¬
neigt, diese Worte der Selbstcharacteristik zu wiederholen.
Im Frühling 1841 wurde Bunsen aus der Schweiz abberufen. In
Berlin wurde er bei der Entwirrung des kirchlichen Conflicts zu Rathe ge¬
zogen. Der König selbst wünschte ihm eine Gelegenheit zu Erfolg in der
Welt zu geben; er schickte ihn nach England, dort das Bisthum Jerusalem
durchzusetzen. Wir haben hier über dies seltsame Projekt und Unternehmen
des preußischen Königs nichts Neues zu sagen: daß dies Experiment mit den
allgemeinen Ideen der Beiden, .die es betrieben, über Kirchenverfassung in
innerem ideellen Zusammenhange gestanden, ist uns allerdings wahrschein¬
lich. Ueber Reform der Kirchenverfassung war schon seit mehreren Jahren
zwischen beiden verhandelt, ohne daß zur Ausführung der Reformgedanken
ein Schritt geschah. Doch wurde im Zusammenhang gerade mit diesen Ge¬
danken noch zu wiederholten Malen an Bunsen's Fixirung in Berlin gedacht.
Wohl äußerte Bunsen noch oft, seinem eigentlichen Wunsche entspreche es,
aus den Geschäften auszuscheiden und seinen wissenschaftlichen Arbeiten auf
irgend einem Landgute allein zu leben, jedoch erscheint dem aufmerksamen
Leser seiner damaligen Aufzeichnungen dies als eine vorübergehende Selbst¬
täuschung, der er sich allerdings noch zu verschiedenen Zeiten hingeben konnte.
Selbst die Wittwe urtheilt (II. 193), auf die Dauer würde Bunsen das
Landleben nicht ertragen haben; der Verkehr der Geister, der Streit der
Meinungen war das Lebenselement für ihn. Und damals war doch sein
Ehrgeiz darauf gerichtet, das, was er in London angebahnt, auch weiter zu
entwickeln — ein näheres Verhältniß Preußens zu England, welches sofort
eine selbständigere Haltung gegenüber dem bisher dominirenden Einflüsse
von Oesterreich und Nußland zur Folge haben mußte — ja eigentlich sollte
ihm der Londoner Posten auch nur „die Brücke ins Vaterland" sein. Das
Ministerium des öffentlichen Unterrichts, eine leitende Stellung bei der Person
des königlichen Freundes — daß er darauf hinzielte, geht aus vielen gleichsam
gelegentlich hingeworfenen vertraulichen Aeußerungen hervor. Daß die
preußische Beamtenwelt solchen Dingen feindlich entgegengearbeitet, daß sie
ihm dies verhindert habe, ist wenigstens Bunsen's Annahme gewesen. Wir
haben eben nicht das Material zu sagen, was eigentlich oder welche Persön¬
lichkeit Bunsen von Berlin und der Staatsleitung fern gehalten habe. Genug,
er ist nicht zum Ministerposten gelangt, er hat vielmehr 1841—1834, fast
13 Jahre lang, Preußen in London vertreten.
Ueberschauen wir im Ganzen seine Londoner Thätigkeit, so wird im
Ganzen dasselbe Urtheil wie über die römische Zeit gesprochen werden können.
In der Londoner Gesellschaft, in politischen wie kirchlichen und wissenschaft¬
lichen Kreisen nahm er die ehrenvollste Stellung ein; man fühlt sich, dieser
Biographie gegenüber, fast versucht, den oft gehörten Ausspruch zu wiederholen,
daß Bunsen vortrefflich die deutsche Wissenschaft der englischen Gelehrtenwelt
bekannt gemacht, sie dort zu hohem Ansehen gebracht, sie nachdrucksvoll und
würdig vertreten. Bunsen, selbst ein Mann der Wissenschaft, war gerade für
diese Seite geeigneter als seine Vorgänger und Nachfolger. Und da es ihm
gelang, vortreffliche persönliche Beziehungen zu gewinnen, sowohl zu der
königlichen Familie, als zu den leitenden Persönlichkeiten aller englischen Par¬
teien, da er, wie wir sahen, zu den näheren Freunden und Vertrauten auch
seines königlichen Herrn gerechnet werden durfte, so brachte er bald eine sehr
angenehme Temperatur des Verkehres zwischen England und Preußen zu
Stande. Er setzte es durch, daß König Friedrich Wilhelm zur Taufe des
Prinzen von Wales in London erschien. Die Schöpfung des preußisch¬
englischen Bisthumes in Jerusalem war sein Verdienst. Zu einer Bethätigung
diplomatischer Kunst war lange keine Gelegenheit geboten. Auf die allgemeine
Weltlage hat er nicht Einfluß geübt, was nach neuerdings gegebenen Auf¬
schlüssen von seinem Vorgänger in London, Heinrich von Bülow, in gewissem
Sinne gerühmt werden kann.
Seine eigentlich politische Leistung bis zur Revolution ist seine Arbeit
auf den Geist Friedrich Wilhelm's in der kirchlichen Frage und in der An¬
gelegenheit einer preußischen Verfassung. Es ist sehr zu bedauern, daß der
vollständige Briefwechsel des Königs und seines Freundes noch nicht hat
mitgetheilt werden können. Die Veröffentlichung desselben würde eine be¬
deutende Lücke unserer historischen Kenntniß auszufüllen im Stande sein, —
hoffen wir, daß nicht allzulange er uns vorenthalten bleiben wird. So viel
wir hier sehen, hat Bunsen die Nothwendigkeit preußischer Reichsstände immer
wieder betont, und der königlichen Aengstlichkeit, nicht zu viele und zu tief
eingreifende Rechte zu concediren, zur Aufstellung eines kühnen, weitgehenden
Programmes zugeredet. Wir lesen hierj Denkschriften Bunsen's, durch die
er einzelne eigenthümliche Details, mit denen der König die Stände bekleiden
wollte, als untauglich oder zweckwidrig darlegte. 1843 schien der König he-
reit zu sein, irgend etwas zu versuchen: die Besprechungen, die er im Sommer
1845 am Rheine mit Metternich hatte, todtsten aber das Project, noch ehe
es geboren. Hin und her wurde gerathschlagt; Rußland, Oesterreich und
auch England redeten hinein: Bunsen's Aufzeichnungen lassen uns in das
Gewirr der Meinungen hineinsehen und wenigstens einen Theil der Motive
des Königs erkennen. Wir meinen, wer hier aufmerksam dem leider lücken¬
haften Materials folgt, kann die theoretische Einsicht Bunsen's in das, was
damals schon nothwendig geworden, nur anerkennen, wir begrüßen auch
mit Bunsen den Vereinigten Landtag von 1847 als einen wesentlichen Fort¬
schritt, als den Anfang einer wirklichen Verfassung für Preußen. Zu praktischer
Thätigkeit hierbei wurde er gar nicht aufgefordert, — desto dringender er¬
wünscht wurde sein Auftreten 1848 in Preußen und Deutschland.
Wenn wir heute die Vorgänge, die Tendenzen, die Thaten und Ent¬
würfe jenes Jahres beurtheilen, verfallen wir nur zu leicht in den Fehler,
vom Boden des heute Erreichten aus einen unbilligen Maßstab an Diejenigen
anzulegen, welche die Lehrzeit 1818 bis 1866 noch nicht durchgemacht hatten.
Nicht schwer ist es das Unpractische und Verfehlte, das Unreife und Unreale
in dem Thun der besten Patrioten jener Zeit aufzuweisen. Wer Nutzen von
der Betrachtung jener Geschichte haben will, darf diese Kritik nicht unter¬
lassen. Aber es gilt bei dieser sachlichen Kritik doch ein Doppeltes nicht zu
verbergen oder zu gering anzuschlagen: einmal, jene unpractische Richtung
der deutschen Einheitsbewegung war ganz allgemein mit nur sehr sporadischen
und momentanen Ausnahmen verbreitet, gerade bei den tüchtigsten und ehren-
werthesten nationalen deutschen Politikern; und daneben war doch ein sehr
gewichtiges zweites Moment der Störung oder Hemmung der Mangel an
aufrichtiger Theilnahme, welche die Einheitsbewegung in den maßgebenden
Kreisen Berlins gefunden hat. Wir würden die Letzten sein, zu leugnen, daß
die revolutionäre Bewegung den damaligen König von Preußen in seinen
tiefsten Ueberzeugungen und festgewurzeltsten Gefühlen heftig verletzte und
vielfach verletzen mußte. Nichtsdestoweniger können wir bei gewissenhafter
Erwägung von Personen und Zuständen die Möglichkeit nicht für ganz un¬
denkbar erklären, daß eine energische, aufrichtige und ihres Zieles sichere Lei¬
tung der Bewegung durch die officielle Negierung von Preußen auch zu
einem befriedigenden Resultate hätte hinführen können. Das größte Hinder¬
niß war und blieb der Character des Königs. Eine der peinlichsten und un¬
sichersten Aufgaben wäre es immerhin gewesen, ihn so zu behandeln oder
zu führen, daß er in den Hafen deutscher Einheit die Deutschen eingeführt
hätte.
Welche Rolle Bunsen 1848 übernehmen würde, ergab sich wie von selbst.
Deutsche und liberale Gedanken hatte er ja oft schon seinen Freunden aus-
gesprochen und auch seinem Könige wiederholt schon dargelegt. Einer libe¬
ralen Verfassung in Preußen und einer Herstellung größerer Einheit in
Deutschland war er mit Begeisterung ergeben. Diese seine Gesinnung war
bekannt. Und gerade weil man wußte, daß er zu den einflußreichsten Freun¬
den des Königs gehörte, daß er seinen persönlichen Einfluß in der natio¬
nalen und liberalen Richtung schon mehrfach bei Friedrich Wilhelm IV. gel¬
tend gemacht, aus diesen Gründen erwuchs ihm die Aufgabe, den König mit
der Bewegung zu befreunden, ihn für ein thätiges Vorgehen zu gewinnen.
Bunsen mußte Vielen als derjenige Staatsmann erscheinen,, der die natio¬
nale Politik Preußens durchzuführen und zu leiten berufen wäre. Und einen
Anstoß nach dieser Seite zu geben, zu rathen und zu warnen fühlte er sich
gewiß berufen. Mit fester Hand den schwankenden König zu leiten und bei
dem als richtig Erkannten festzuhalten — dazu war er nicht der Mann. Er
selbst hat im Sommer 1847, als ihm die Nothwendigkeit eines liberalgesinnten,
parlamentarischen Ideen zugänglichen Staatsleiters für Preußen klar ge¬
worden war, die Selbsterkenntniß von sich gehabt, daß „er nur dazu politisch
taugen würde, um vorn oder oben am Mastkorb schauend zeitige Winke zu
geben vor den Stürmen und Klippen, die am Horizonte erscheinen, nicht
aber am Steuerruder zu sitzen." Und so war es auch in der bewegten Zeit
von 1848 und 1849. Rathen und Warnen, Erinnern und Bitten, Erklären
und Erläutern — das wckr Burlsen's Sache und unermüdlich war er in
diesem Werke. Wiederholt hat er es versucht, vermittelnd und vereinigend
zwischen Berlin und Frankfurt, zwischen der großen deutschen Nationalpartei
und dem preußischen Staate, zwischen der Aristokratie deutschen Geistes und
dem preußischen Königthum die Brücke zu schlagen und so die Bewegung zu
einem guten Ziele zu lenken! —
Anfangs, im Frühlinge und auch noch im Sommer 1848 waren die
Ideen Bunsen's über die deutsche Bewegung sehr unklare und unbestimmte:
ein deutliches Programm staatsmännischer Action hatte er damals noch nicht
ergriffen. Ende Juli dagegen, als er selbst nach Berlin berufen wurde, drang
er nach und nach zur Erkenntniß des Wesentlichen und Wichtigen durch. Es
galt, die Patrioten in Frankfurt, jene große um Gagern geschaarte Partei,
mit der preußischen Negierung in Verbindung zu bringen und zu erhalten.
Es war die Aufgabe Berlin und Frankfurt zu übereinstimmender Action zu
bewegen. Bunsen hat damals sehr gut diesen Gesichtspunkt ergriffen und
auf beiden Seiten ihn geltend gemacht. Ueber seine Conferenzen und Be¬
sprechungen geben eigene Aufzeichnungen uns Aufschluß. In Berlin fand er
doch viel Bedenklichkeiten gegen die Art des Auftretens, auch der National¬
partei in Frankfurt, man traute nur wenig den Parlamentariern. Und in
Frankfurt hatte man große Abneigung gegen das exclusive Preußenthum.
Dies gegenseitig kühle ablehnende Verhalten der beiden Pole machte es
Bunsen nicht möglich, als Minister des Auswärtigen ins Reichsministerium
einzutreten. Ob dadurch wirklich Vertrauen und Eintracht hergestellt worden
wäre? Wir glauben daran doch nicht recht. Aber, wenn auch ein vollstän¬
dig sicheres Urtheil heute bei der immer noch unvollständigen Information
nicht zu fassen ist, Eines ergibt sich doch schon mit großer Sicherheit. Ein
ganz unheilvoller „Mißgriff" war Gagern's kühner Griff, die Einsetzung des
Reichsverwesers, die Behauptung der Frankfurter Souverainetät. Mit diesen
Schritten der Frankfurter hatte man sich fast unwiederbringlich von Berlin
entfernt und eine Uebereinstimmung zwischen Königthum und Regierung von
Preußen einerseits und der großen konstitutionellen und nationalen Partei
in Frankfurt andererseits kaum noch möglich gelassen. Eine solche dennoch
herbeizuführen, zerarbeiteten sich einzelne wohlgesinnte Männer, keiner leb¬
hafter wie Bunsen. Den König hatte er anfangs für zugänglich der neuen
Aufgabe angesehen; nach und nach lernte er ihn besser kennen. Auf Bunsen's
Zureden gab er wiederholt nach und ging auf Maßregeln nationaler Politik
ein; darauf aber war das, was er gebilligt, wieder eine „abscheuliche Politik",
seine Billigung ein „Mißverständniß" — immer störten Zwischenfälle, un¬
vorhergesehene Ereignisse seinen Gleichmuth und seinen Entschluß.
Zum zweiten Male war im Januar 1849 Bunsen an seiner Arbeit. Er
brachte es dahin, daß Preußen zur Frage -des Verhältnisses von Oesterreich
Stellung ergriff: die berufene Note vom 23. Januar ist eigentlich Bunsen's
Werk. Auch hierfür hatte er dann wieder in Frankfurt gewirkt. Es war
noch einmal ein Sonnenblick, ein kurzer Moment, in dem das Gelingen trotz
allem noch erreichbar schien. Bald ging er vorüber. Wieder hatte Bunsen
bleibend nichts erzielt.
Die Papiere Bunsen's, die uns jetzt vorgelegt sind, zeigen uns seinen
staatsmännischen Character doch ziemlich deutlich. Niemand kann es beikommen,
zu sagen, daß gerade Bunsen's Eigenthümlichkeiten den Mißerfolg bei Fried¬
rich Wilhelm nach sich gezogen. Nein, verlorene Mühe wäre es wohl selbst
für einen Halbgott gewesen, mit diesem Könige etwas auszurichten. Nichts¬
destoweniger gewinnen wir von Bunsen's Kapacität als Staatsmann auch
einen nicht gerade sehr günstigen Eindruck. Redlicher Wille, eine bis zu
einem gewissen Grade richtige theoretische Einsicht war mit einer äußerst leb¬
haften Phantasie und einem sehr sanguinischen Temperamente gepaart. Sehen
wir von der oft salbungsvollen oft süßlichen Einkleidung seiner Gedanken in
seinen Büchern ab, — das Gefühl spielt bei ihm eine herrschende Rolle.
Wenn ihm ein Gedanke gefällt, wenn er eine Sache unternimmt, so ist er
voll Begeisterung und Zuversicht; überschwcinglich ist seine Hoffnung und
sein Vertrauen: es muß und wird gehen, wie er es sich gedacht. Stößt
er in seinem kurzen Galopp auf Hindernisse, so ist er um so leichter aus
der Fassung gebracht: verstimmt und gedrückt sieht er nun Alles schwarz an,
was so rosig ihm vorher gelacht hatte: er fällt von einem ins andere Ex¬
trem. Nüchterne, sachliche, objective und staatsmännische Erwägung kommt
selten bei ihm vor! Vor Jahren hat einmal einer unserer Historiker, der
Bunsen persönlich nahe gestanden — R. Pauli — über ihn geurtheilt:
„Auch uns erscheint in seinem staatlichen Streben dieselbe Eigenthümlichkeit
tadelnswert!) wie in seiner Wissenschaft, daß er nämlich das letzte Ziel stets
zuerst mit unvergleichlicher Wärme, mit einer Borstellung ergriff, die in ihm
selber bereits Wirklichkeit geworden, und daß er dann schließlich bei einem so
realen Objecte wie die Politik nicht die Mittel, nicht die Characterkraft be¬
saß, dem Punkte, den sein divinatorischer Geist in der Ferne richtig erschaut.
Schritt für Schritt durch Beseitigung der entgegenstehenden Hindernisse nahe
zu kommen." Wir meinen dies Urtheil ist durch die Biographie überall be¬
stätigt worden. Und so will es uns scheinen, als ob der romantische und
unklare König in Bunsen nicht denjenigen Berather finden konnte, dessen
er gerade so sehr bedurft hätte. Es ist schwer zu sagen, ob die Enttäuschung
Bunsen's über Friedrich Wilhelm nicht oft gerade darin ihre Ursache gehabt,
daß Bunsen sich über des Königs Zustimmung zu lebhafte Illusionen ge¬
macht und in den freundschaftlichen königlichen Redensarten mehr gehört hat,
als jener zu sagen gewillt war. Wahre und herzliche Freundschaft des Königs
für die Person Bunsen's bedeutete doch nicht immer Zustimmung zu Bunsen's
politischem Vortrage: ob wohl Bunsen die mitunter nicht deutlich gezogene
Grenzlinie zwischen beiden sich immer genügend vergegenwärtigt hat? Das
eben scheint uns sehr fraglich; und gerade seine eigene Erzählung der in¬
timen Conferenzen regt den Zweifel an.
Daß Friedrich Wilhelm die ihm gebotene Kaiserkrone, wie sie nun ein¬
mal zugerichtet war, als eine „Schandkrone" verachten, daß er sie nicht an¬
nehmen würde, das mußte Bunsen seit Februar 1849 klar sein. Und die Ver¬
suche der preußischen Negierung auf anderem Wege eine Art von Einigung
Deutschlands zu erzielen hat Bunsen sofort als einen Act politischer Nothwendig¬
keit begrüßt und mit seinen guten Wünschen die einzelnen Schritte aus dieser Bahn
begleitet. Sehr bestimmt und entschieden gehörte Bunsen zu denjenigen Poli¬
tikern, welche von dem Ernste der Unionspolitik des Herrn von Radowitz
überzeugt waren und an ihn als einen Retter in der Noth glaubten. Mit
welchen offenen und geheimen Feinden man dabei zu kämpfen hatte, haben
uns nun gerade die Mittheilungen Bunsen's gezeigt. Die Perfidie Han¬
novers und Sachsens, welche heimlich gegen das preußische Bündniß intri-
guirten, die offene Feindschaft Bayerns und Württembergs und des öster¬
reichischen Reichsverwesers — das waren feindliche Gewalten, gegen welche
Nadowitz, von seinem Könige nur lau unterstützt und von listigen Gegnern
in Berlin umringt, nicht aufkommen konnte. Der Versuch, die Resultate
von 1848 auf anderem Wege als dem Frankfurter zu erzielen, war mi߬
glückt. Und in Preußen brach die traurige Zeit der Reaction an, eine Zeit,
die wahrlich zu den allertraurigsten und niedrigsten Perioden preußischer Ge¬
schichte gerechnet werden muß.
Wie gesagt, Bunsen hatte Nadowitz sein Vertrauen geschenkt. Allzu¬
groß waren aber nicht seine Hoffnungen aus Erfolge der damaligen Politik
gewesen. Er hatte doch manches gelernt in letzter Zeit. „Seit 1848 bin ich
mündig geworden, sagt er einmal. Die letzten Schuppen sind mir von den
Augen gefallen und die letzten Thränen werden auch bald in ihnen ver¬
trocknen." Für manche einzelne Phase der preußischen Politik 1849 und 1860
gewinnen wir aus seinen Briefen Aufschlüsse. Im Herbste 1850 leuchtete
ihm noch einmal eine Hoffnung auf, es werde sich Preußen doch noch er¬
mannen und den feindlichen Mächten der Reaction sich nicht unbedingt aus¬
liefern: im November hat der Tag von Olmütz Alles vernichtet.
Ueberblicke man die nächsten, letzten Jahre der amtlichen Wirksamkeit
Bunsen's, so muß man urtheilen: nach Allem, was vorgefallen, hätte Bunsen
Ende 1850 seinen Abschied nehmen müssen. Gerade wie er über Dinge und
Personen urtheilte, mußte er abgehen, lieber als in der Gefahr leben, weg¬
geschickt zu werden. Es war doch Bunsen durch die letzten Ereignisse noch
mehr als vorher zu einem feurigen Bekenner liberaler Grundsätze, constitu-
tioneller Theorien geworden. Man sagt nicht zu viel, wenn man behauptet,
daß er sich in den Fragen der inneren preußischen Politik als principieller
entschiedener Gegner des damaligen Regierungssystems (seit 1850) gefühlt
hat. Für ihn aber durchkreuzten und berührten sich unablässig die Fäden
der inneren und der äußeren Angelegenheiten. Man wird nicht umhin können,
zuzugeben, daß wirklich 1848 bis 1858 diese Wahrnehmung Bunsen's in den
Thatsachen begründet war. Wir meinen nun, dieser Gegensatz hätte dazu
beitragen sollen, Bunsen zum Rücktritt zu bewegen. Einfluß auf den König
besaß er kaum noch, weder in innerer noch äußerer Politik, er selbst hatte
doch seit März 1849 nicht mehr das alte Vertrauen in seinen königlichen
Freund gesetzt. Weshalb also hielt er aus? Die Motive sind aus seinen
Aeußerungen zusammenzulesen und aus seinein Character auch nicht unschwer
zu begrejfen. Er meinte vor Allem, er müsse aushalten auf seinem Posten,
dort könne er doch der Sturmfluth der Reaction noch einigen Widerstand
bringen, er könnte vor völliger Unterordung unter Nußland Preußen schützen
und gute Beziehungen zum parlamentarischen England noch Pflegen. Gegen
Rußland und die russische Partei des Absolutismus in Berlin war er sehr
erzürnt, andererseits war er ein Parteigänger Englands und des in England
blühenden Parlamentarismus. Allerdings sind wir der Meinung, ein Cha-
racter, aus etwas härterem und festerem Stoffe gebildet, würde nicht die
Losung aller Schwachen und Halben adoptirt haben, daß es besser sei, auch
den politischen Gegnern zu dienen, um sie nur nicht zu völlig unbeschränkter
Herrschaft kommen zu lassen. Und wenn Bunsen nun noch dazu annahm,
seine Freundschaft für den königlichen Freund zwinge ihn auszuhalten, so
war das eine ganz unpolitische Weichheit, ein neues Symptom jener ge¬
schilderten Eigenschaft, das Sachliche und das Persönliche stets zu vermischen.
Wie naiv klingt z. B. die Aeußerung: „Ich diene nicht dem Minister, son¬
dern dem Könige und dem Vaterlande. Wenn sie wollen, daß ich weggehe,
sollen sie mich wegjagen, sonst bleibe ich hier und vertheidige König und
Vaterland, solange ich kann." Was soll eigentlich der Minister, der die
auswärtige Politik eines Staates leitet, mit einem Gesandten anfangen, der
sich in vollem Gegensatz zur ministeriellen Politik fühlt und auf seine per¬
sönliche Stellung zum Könige pocht? Schief und unwahr sind derartige Ver¬
hältnisse, in denen ein wirklicher Staatsmann nicht leicht es lange aushält.
Ganz unbedingt hätte Bunsen abtreten müssen, als ihm zugemuthet wurde,
das berüchtigte Londoner Protokoll zu unterzeichnen. Es ist bekannt, mit
welchem Eifer, mit wie hoher patriotischer Begeisterung Bunsen die deutsche
Sache in der Schleswig-holsteinischen Angelegenheit vertreten hat. Es ist
eigentlich dies der unbestreitbarste Rechtstitel, den sein Andenken auf die
dankbare Erinnerung der Deutschen geltend zu machen hat. Wo er konnte,
erhob er seine Stimme für das deutsche Recht in dieser Sache. Und auch
mit practisch brauchbaren Rathschlägen hat er eingegriffen in die Lösung
dieses Knotens. Als zuletzt der Rückschlag der allgemeinen Bewegung seit
1850 auch hier die deutsche Position wieder wegzuschwemmen begann, wider¬
setzte sich anfangs Bunsen der Strömung mit Erfolg. Im Sommer 18S0
trat er der englischen Anmaßung mit Würde und Selbstgefühl entgegen.
Seine Denkschriften aus jener Zeit liest heute noch der deutsche Patriot mit
herzlicher Genugthuung. Aber als nachher nun die preußische Politik sich
dem Machtwort der deutschfeindlichen Mächte, Rußland, Frankreich und
England fügte, da gab auch Bunsen Schritt für Schritt nach. Mit leb¬
haftem Gefühle von der UnWürdigkeit jener preußischen Haltung, ja bluten¬
den Herzens über seine ihm dictirten Handlungen, fügte er sich in das, was
ihm auferlegt war; nachdem er sich lange gesträubt, unterzeichnete er selbst
das Protokoll, das verdammende Todesurtheil über seine ganze für Schles¬
wig-Holstein ausgebotene Thätigkeit; er zeichnete, „um dem Könige sein Opfer
nicht noch schwerer zu machen." Die Biographie Bunsen's meint, es würde
seinem Eharacter mehr entsprochen haben, wenn er bei diesem Anlaß seine
Stelle niedergelegt; dies sei auch in seiner eigenen Familie — und man
könne vermuthen auch von ihm selbst — nicht verkannt worden. „Doch kann
dies nur als Vermuthung hingestellt werden, eine Frage über diesen Gegen¬
stand hätte ja geradezu als ein Vorwurf gegen ihn erscheinen können." Wir
sehen, wie selbst die intimsten Freunde über sein Verhalten doch nachher
Zweifel gesuhlt haben. Unser Urtheil wird dadurch bestätigt.
Leider können wir über Bunsen's politisches Auftreten beim Ausbruch
des orientalischen Krieges nicht günstiger urtheilen. Wir reden hier nicht
von den Ursprüngen oder dem Anlaß desselben; wir erzählen nicht den diplo¬
matischen Feldzug. Wir berichten nur mit einem Worte die Lage. Als der
Conflict zwischen Frankreich und Rußland drohende Gestalt annahm, gab es
in Preußen zwei Strömungen: die Einen waren für engsten Anschluß an
Frankreich und England, um Rußlands Uebermacht zu brechen. Andere
meinten auf russischer Seite stehen zu sollen. Der Gegensatz der Liberalen
und Absolutisten sprach sich auch hierin aus. Die Parlamentarier standen
auf westmächtlicher, die Reactionäre auf russischer Seite. Wir sind der Mei¬
nung, daß damals für jede Ansicht erwägenswerthe Gründe angeführt werden
konnten — wir sind dieser Meinung, obwohl wir offen es aussprechen, daß
die Politik Manteuffel's, eine für Rußland wohlwollende Neutralität, sich
durch den Ausgang als die beste gerechtfertigt hat. Nichtsdestoweniger finden
wir es begreiflich, daß man auch in gut unterrichteten Kreisen damals die
Parteinahme für die Westmächte empfohlen hat. Bunsen stand seiner ganzen
Vergangenheit, seiner damaligen Stellung, seiner principiellen Ueberzeugung
nach an der Spitze der westmächtlichen Partei. Er empfahl dringend und
unermüdlich diese Politik: für sie war er thätig. Welche Illusion, wenn er
glaubte, daß die russische Partei in Berlin, deren maßgebenden Einfluß er
unzähligemale beklagt hatte, jetzt eine antirussische Politik zulassen würde!
Allerdings die Mission Pourtales' (December 1853) war ein Fühler, wie weit
England einem solchen Anschlusse entgegen kommen würde, eine angedeutete
Möglichkeit, daß man in Berlin doch Bunsens Politik vielleicht in Betracht
ziehen wollte. Schon in London verlief der Versuch ohne Erfolg. Und in
Berlin hielt man im Ernste gar nicht daran fest. Im Februar und März,
als der Krieg sicher in Aussicht stand, forderte Bunsen seinen König zu
offener Offensive gegen Rußland auf: da sich die Berliner Politik für die
andere Seite entschied, war die Entlassung Bunsen's die Folge. Das war
die ganz natürliche Folge des politischen Gegensatzes zum Ministerium Man-
teuffel, ein Ereigniß, das längst hätte eintreten sollen. Allen den bitteren
Aeußerungen Bunsen's selbst über seine Gegner, aber auch der ganzen Dar¬
stellung der Biographie gegenüber müssen wir doch nackt und bestimmt den
Satz wiederholen: es ist sehr naiv, zu verlangen, daß das Ministerium einen
politischen Gegner in solchem Amte belassen soll: der Gesandte ist doch nichts
weiter als das Organ der ministeriellen Politik; und die ganz selbständige
Action im Auslande wird niemals einem diplomatischen Agenten gestattet
werden dürfen. Es ist alles andere eher als das Zeugniß eines politischen
Charakters, wenn Bunsen seit 1830 (November) dies noch nicht begriffen
hatte. Nachher ist ihm doch, wie es scheint, eine Ahnung davon ausgegangen.
Inconsequenz und Halbheit war es, wenn er nicht den nöthigen Entschluß selbst
gefunden und jetzt gleichsam sich auferlegen lassen mußte. Sehr seltsam klingt
uns dann immer noch die Versicherung Bunsen's: „die Königin, Prinz Albert,
Lord Clarendon und Lord John Rüssel haben mir auf die allererfreulichste
Weise bereits ihre volle Billigung meines Verfahrens ausgesprochen". Als
ob dies englische Zeugniß für den preußischen Minister irgend etwas
besagte! Ob der Vorwurf, daß er in seinen Aeußerungen in London zu weit
gegangen und in gewissem Sinne Preußen eigenmächtig engagirt habe, —
ob dieser damals von seinen Gegnern. erhobene Vorwurf gerechtfertigt ge¬
wesen, das läßt sich aus dem bis jetzt vorliegenden Materials nicht mit
Bestimmtheit ausmachen. Ueberhaupt, Lücken sind noch überall in unserer
Kenntniß dieser Vorgänge, und es wird nicht überflüssig sein, hier noch
ausdrücklich anzumerken, daß unser Material ein ganz einseitiges ist, daß
es vornämlich Bunsen's eigene Auffassungen und Anschauungen wiedergiebt.
Der Ergänzung von der anderen Seite wird es bedürfen.
Die politische Laufbahn Bunsen's war damit zu Ende. Seinen wissen¬
schaftlichen Arbeiten, die er stets im Auge behalten, und denen er seine Muße
immer gewidmet, lag er nun ausschließlich ob. Bei dem Eintritt der Regentschaft
in Preußen 1838 tauchte die Möglichkeit in der Ferne auf, ihn im Ministerium
der neuen Aera noch einmal die Bühne betreten zu sehen. Ernstlich scheint
er damals selbst es nicht mehr gewünscht zu haben.
Die Schlacht von Königgrätz wurde von der eiteln französischen Nation
wie eine eigene Niederlage empfunden, und die Regierung, welche sich selbst von
„patriotischen Beklemmungen" gequält fühlte, sah sich mit ungemessenen Vor¬
würfen überhäuft, weil sie den Sieg der Preußen „zugelassen". Einst hatte
der Kaiser geschrieben: „laut gouvernkment, qui ne revznäiquei'g. Ja liZruz
an Kulm, ers-mirs. IaFrancs". Seltsamerweise glaubte er jetzt den Augenblick
gekommen zu dieser Revendication; aber die frechen Ansprüche Napoleon's III,
aus „Entschädigungen" in Deutschland wurden von König Wilhelm mit
schweigender Verachtung bei Seite geschoben. Wenn Frankreich ihnen Nach¬
druck geben wollte, so mußte es zum Schwerte greifen. Wohl dachte man
daran; wohl fühlte man, die entscheidende Stunde habe geschlagen. Aber da
wiederholte sich das Schauspiel von 1840: die Armee zeigte sich kläglich ver¬
wahrlost; sie war ganz offenbar unfähig, den Kampf mit Preußen aufzu¬
nehmen. Napoleon mußte die Forderungen seines Gesandten desavouiren
und auf jede „Entschädigung" verzichten. Nun wandte sich die volle Ent¬
rüstung der beleidigten Franzosen gegen den Kriegsminister und fiel über
diesen mit den Keulenschlägen patriotischen Zornes und den giftigen Pfeilen
des Spottes her, weil die Armee nicht bereit gewesen sei, den „berechtigten
Vorrang Frankreichs in Europa" zu verfechten. Der Minister, Marschall
Randon, richtete, um diesen Vorwürfen entgegenzutreten, zu Schluß des
Jahres 1866 ein interessantes Memoire an den Kaiser, das besser als irgend
eine andere Schilderung darlegt, in welcher Weise die militärische Situation
Frankreichs von einem großen Theile der höchststehenden französischen Gene¬
rale angesehn und überschätzt wurde, und das wir daher im Auszuge mit¬
theilen müssen. *) Randon sagt:
„Unsere Diplomatie entschuldigt sich gern damit, sie habe nicht mehr leisten können,
weil das Heer nicht bereit gewesen sei. Sie behauptet, man habe bei Billafranca
Frieden schließen müssen, man habe an dem Kampfe zwischen Oesterreich und Preußen
sich nicht betheiligen können, weil die Armee nicht bereit gewesen. Wenn jetzt Preußen,
treu seinen Instincten gewaltsamen Ehrgeizes, drohend gegen uns aufträte, so sollen wir
nicht bereit sein, es daran zu erinnern, daß wir uns seit Jena nicht wieder allein mit
ihm gemessen haben. — Wir sind nicht bereit!? Wenn das heißen soll, daß wir
nicht im Stande seien, sofort und auf der Stelle 400,000 Mann mit aller denkbaren
Ausrüstung für einen großen Krieg an die Grenze zu werfen, dann ist es allerdings
wahr. Auf so ungeheuere Ereignisse aber von heut bis niorgen vorbereitet zu sein,
ist überhaupt unmöglich, oder es bedürfte eines Friedensfußes, für den das Bud¬
get keines Landes ausreicht. Alle Männer, welche bisher den Geschicken der Armee
Frankreichs vorgestanden, haben sich auf eine angemessenere Situation beschränkt, die
indeß die Möglichkeit einer prompter Mobilisation der Strcitkrcifte einschloß. — In
diesem Sinne waren wir 1869 bereit; denn die Cadres enthielten 600,000 Mann,
von denen nur 200,000 die Alpen passnt hatten,*^) Es war also möglich, eine neue
Armee zu errichten . . . Wir waren auch 1866 bereit; denn ein Rapport des Kriegs¬
ministers legte dar, daß wir bei Einberufung der Reserve in einem Monate 450,000
Mann unter Waffen haben konnten, die Armeen in Afrika, Mexico und Rom unge¬
rechnet/) Derselbe Hecrcsstand besteht gegenwärtig, vermehrt noch durch die aus Atom
zurückgekehrten Truppen, und er muß bald noch wachsen durch die aus Mexico heim¬
kommenden Divisionen. Wir befinden uns also durchaus auf dem Nor¬
male tat."
Nach eingehender Besprechung der Cadre-Verhältnisse, der Approvisionnemcnts und
der Bewaffnung tritt Marschall Nandon mit der größten Entschiedenheit den Bestre¬
bungen einer ungeduldigen Neuerungssucht entgegen, die in einem so kritischen Augen¬
blick, wie d. I. 1867, das altbewährte Gesetz von 185S angriffen. Er vertheidigt die
KonF-rAizmonts avec primo (gegen welche sich bereits eine öffentliche Polemik zu richten
begann) und meint, es wäre ein schlechter Moment, die französischen Institutionen einer
ungünstigen Kritik zu unterziehen.
„Was! Eine Nation wie die französische, die in wenigen Wochen 600,000 Sol¬
daten unter ihre Fahnen vereinigen kann, die in ihren Arsenälen 8000 Feldgeschütze,
1,800,000 Flinten und Pulver für einen Krieg von zehn Jahren lagern hat, sollte
nicht stets bereit sein, mit den Waffen für bedrohte Ehre oder für verkanntes Recht ein¬
zutreten? Was! Eine Armee soll nicht bereit sein, ins Feld zu rücken, die in ihren
Reihen jene Veteranen von Afrika, Sebastopol und Solfcrino zählt, die befehligt wird
von so erfahrenen Generalen und einer so großen Menge junger Officiere, welche in
Afrika und Mexico ihre Schule gemacht!? Welches wäre denn diejenige Armee Euro-
Pas, die da ähnliche Elemente von Erfahrung und Energie enthielte!? — Sollten
aber die Banden der Hierarchie und Disciplin uns erschlafft sein? O dann eilen wir,
sie herzustellen, das ist wichtiger als Zündnadelgewehre!"
Trotz dieses famosen Elaborates, welches offenbar mehr vom Styl des
Zeitungsschreibers als des Kriegsministers an sich hat, gewann der Kaiser
kein neues Zutrauen zu Marschall Randon, dessen Optimismus er keineswegs
theilte. Die erste Ankündigung, daß Frankreich eine Reorganisation
seiner Wehrkräfte für nothwendig halte, die Depesche Lavalette's vom 1K.
September 1866, war unmittelbar vom Kaiser inspirirt. Gleich darauf trat
unter seinem Vorsitze eine Commission von Generalen zusammen, um den
Entwurf eines neuen Wehrgesehes zu berathen und hielt am 6. November
zu Se. Cloud ihre erste Sitzung.
Was von den Ereignissen des Jahres 1866 den Franzosen am meisten
imponirt hatte, das war das Aufgebot der Massen, welche sich so wohl
geschult und wohlgerüstet um Preußens Fahnen 'gesammelt hatten. War
ihnen unsere Landwehr doch immer nur als eine mehr wie zweifelhafte Miliz
erschienen, und hatten sie doch keine Ahnung davon, was es heißt, wenn ein
Volk stark ist durch traditionelle militärische Staats-Erziehung. —
Man fühlte sich solchen Leistungen gegenüber schwach und beeilte sich, Ma߬
regeln zu treffen, das Versäumte nachzuholen und dem bisher gering geschätzten
preußischen Vorbilde nachzueifern. — Als Frucht ihrer Berathungen ver¬
öffentlichte die Commission am 12. December schon ein Memoire, in welchem
es heißt:
„Das Project zur Reorganisation der Armee gründet sich auf die Er¬
wägung, daß Frankreich, um seinen Rang in Europa zu bewahren, im Stande
sein muß, eine Armee von (Alles in Allem) 800.000 Mann aufzustellen.
Zu diesen 800,000 Mann muß jedoch nothwendigerweise noch eine bewaffnete
Macht hinzukommen, welche die Ordnung im Inneren aufrecht erhält und
Küsten und Festungen besetzt, indeß die Armee an den Grenzen kämpft."
Im Einzelnen stellte der Plan 3 Kategorien Wehrpflichtiger auf: Stehen-
des Heer, Reserve, mobile Nationalgarde. Im stehenden Heer oder in
der Reserve sollte die Dienstzeit 6 Jahre und demnächst nach Austritt
aus der einen oder andern Kategorie noch 3 Jahre in der mobilen Natio¬
nalgarde, im Ganzen also 9 Jahre dauern. Zur mobilen National¬
garde sollten auch alle Diejenigen gehören, welche sich
vom Dienst im stehenden Heere losgekauft hatten. —
Die Reserve, wie die bisherige äeuxiömcz portion des Contingents aus
den Dienstpflichtigen hoher Losungsnummern bestehend, sollte wie jene in
besonderen Depots auserercirt werden und zur freien und unbedingten Ver¬
fügung der Regierung stehn. Man wollte sie in zwei Aufgebote (promior
et Leeonil dan) theilen, von denen das erstere auch im Frieden zur Comple-
tirung der Cadres einberufen werden könnte, während der zweite Ban nur
zur Uebung herangezogen werden sollte. Das Minimalmaß wurde um
1 Centimeter herabgesetzt.
Der Moniteur begleitete den Entwurf noch mit einigen offiziösen Er¬
läuterungen, welcher den Franzosen zu Gemüthe führte, wie es ein Fehler
der bisherigen Sitte sei, daß man den Waffendienst als Steuer, nicht als
Pflicht aufgefaßt und daher die Stellvertretung als Recht statt als Toleranz
beansprucht habe; über die Dotation und Eroneratiou aber brach er gradezu
den Stab mit den bezeichnenden Worten: „II xout arriver un i'oui-, on la
c-uffe as ciotation ait beaucvux 6'g.rxent et le M?s ML »sse^ Ac sol-
äats".
Marschall Randon war mit den Ideen des Entwurfs nicht einverstanden
und so übernahm der eigentliche Autor desselben, Marschall Niet, an seiner
Statt das Kriegsministerium.
Randon war jedoch nicht der Einzige, der sich mit jenem Entwürfe unzu¬
frieden zeigte. Er kannte die Stimmung der Franzosen offenbar besser als
Niet; denn eine gewaltige Erregung und Entrüstung des Publikums begrüßte
das Bekanntwerden des Niet'schen Entwurfs und illustrirte dieZmilitärischen
und kriegerischen Neigungen der Franzosen in eigenthümlicher Weise. Es
erhob sich ein allgemeiner Sturm gegen das Project, welchem die erschreckte
Regierung eilig wich, so daß es in seiner ursprünglichen Form gar nicht zur
Vorlage im gesetzgebenden Körper kam, sondern von vornherein wesentlich
amendirt und abgeschwächt wurde. Diejenigen Leute, welche nicht zum stehen¬
den Heere ausgehoben wurden, sollten, diesen tiefgreifenden Veränderungen
zufolge, nicht mehr zur Reserve, sondern unmittelbar zur Mobil¬
garde designirt werden, welche letztere somit nicht, wie eigentlich beabsichtigt
war, aus Reserven und ausgedienter Soldaten, sondern aus den nicht ein¬
gezogenen und den losgekauften Mannschaften bestehen sollte, so daß sie ge¬
wissermaßen an die Stelle der Reserve des ursprünglichen Planes trat, ohne
jedoch im Stande zu sein, zur Verstärkung der Feldarmee verwendet werden
zu können. Der Hauptzweck des Projects: Schöpfung einer starken Re¬
serve, war damit natürlich fallen gelassen. Außerdem wurde das Maß der
Eremptionen vom Dienst in der Mobilgarde bedeutend erweitert, die Eintheilung
der Reserve in zwei Aufgebote aufgegeben und die gesammte Reserve in die
Kategorie des beabsichtigten ssoonä bau gestellt, der nur im Fall eines Krieges,
nachdem alle vorhergehenden Klassen völlig erschöpft sind, auf Grund eines
besonderen Gesetzes einberufen werden, im Frieden aber wie bisher als cleu-
xi(!ins xortiou des Ersatzes nur flüchtig auserercirt werden darf.
Der Widerstand der Bourgeoisie gegen den von der
Regierung gemachten Anlauf zur Vorbereitung allgemeiner
Wehrpflicht drang also siegreich durch. Die Zusammensetzung des stehen¬
den Heeres blieb im Wesentlichen die alte; nur daß die bisher faktische Ver¬
kürzung der Präsenzzeit von 7 aus 5 Jahre gesetzlicher Regelung unterworfen
und die Gesammtdienstpflicht von 7 auf 9 Jahre verlängert wurde. Der
Traum des Marschalls Niet, Frankreich mit einem Heer von 1,232,000 Mann
auszustatten, scheiterte an der Abneigung der Franzosen gegen den persön¬
lichen Waffendienst. Es ist ihnen theuer zu stehn gekommen!
Am 7. März 1867 legte die Regierung dem gesetzgebenden Körper den
Entwurf über eine neue Organisation der Armee und die Ein¬
führung einer mobilen Nationalgarde vor. Sie forderte:
Dieser Gesetzentwurf legte also für den Kriegsfall allen Franzosen ge¬
wisser Altersklassen die Dienstpflicht im Heere oder in der Mobilgarde auf;
für den Frieden aber behielt er die Exoneration bei. — Unter Verkürzung
der activen Dienstpflicht um 2 Jahr (welche factisch ja immer stattgefunden
hatte) sollten vier Jahrgänge ausgebildeter Reserven gewonnen werden, wäh¬
rend gleichzeitig vier Jahrgänge der äLuxi<mi<z Portion verfügbar wären. —
Diese Aufstellung der Mobilgarde endlich sollte gestatten, die gesammte Armee
im freien Felde zu gebrauchen.
Wenn Niet gehofft hatte, seine Gesetzesvorlage von dem gesetzgebenden
Körper noch in der laufenden Session votirt zu sehn, so hatte er sich geirrt.
Die sonst so fügsame Legislative zeigte sich in durchaus ablehnender Stim¬
mung, und namentlich Ollivier trat dem Entwurf gleich am ersten Tage
mit Heftigkeit entgegen. Nur das wurde wiederhergestellt, was man vor zwei
Jahren (durch die Reduction von 1866) zerstört, und zugleich ein Credit für
bessere Bewaffnung ") und Befestigung eröffnet, mit dessen Hilfe Niet die
Armee sofort um 200 Compagnien^), 25 Batterien, 20,000 Pferde vermehrte
und die durch den mexikanischen Krieg furchtbar geleerten Zeughäuser und
Magazine wieder mit Rüstungs- und Bekleidungsstücken und Materialien
füllte. — Die Berathung des Wehrgesetz-Entwurfs wurde dagegen auf die
Herbst-Session hinausgeschoben. — Unterdeß begann eine gewaltige Agitation
gegen denselben, und namentlich aus Arbeiterkreisen erhielt der Kaiser eine
große Zahl von Petitionen, in welchen es hieß: „Wir können eine so schwere
Last wie die allgemeine Wehrpflicht nicht tragen. Das flache Land ist schon
entvölkert, dem Ackerbau mangeln die Hände; wir können unsre Kinder nicht
entbehren! Das vorgeschlagene Gesetz erfüllt uns mit Schmerz und Schrecken;
unsere Grenzen sind ja nicht bedroht; wäre das der Fall, wir würden uns
Alle in Masse erheben! Möge der Kaiser unsren Besorgnissen, daß alle unsre
Kinder zu Soldaten genommen werden^ könnten, ein j Ende machen!"^) —
Einstimmig hoben die Bittschriften hervor, daß Frankreich keine Angriffs-,
sondern nur Vertheidigungskriege zu führen habe; es werde aber von keiner
Seite bedroht, folglich bedürfe es keiner Heeresreform.
Groß und tiefgehend war die Agitation namentlich auch in der Lite¬
ratur.") Seur wenige der bedeutendsten Schriften können wir aus der außer¬
ordentlichen Menge Herausheben. — Direct für den Regierungsentwürf trat
M. Paixhans auf, der, obgleich Mitglied des Staatsrathes, in höchst ober¬
flächlicher Weise für den Gedanken schwärmt, daß Frankreich die Extreme des
englischen Söldnerwesens und der preußischen allgemeinen Wehrpflicht durch
die neue Heeresverfassung vereinigen solle. Er begeistert sich gleichermaßen
für die Eroneration, die Prämien und die Berufssoldaten wie für die flüchtig
ausgebildeten Krümper, zu deren Gunsten er auf die Volontairs von 92, die
It!v6k <ZU die Guerillas von 1810 und die preußische Armee von 1813
verweist, offenbar »hre Kenntniß von all diesen Dingen. Gegenüber dem
Regierungsentwurf wünscht er übrigens Herabsetzung der activen Dienstzeit
von ä auf 3 Jahr und provincielle Recrutirung. — Weit entfernt, von den
Preußen etwas lernen zu wollen, ist General Eh an garnier, der ebenfalls
zu dieser Zeit in die Schranken der Publizistik hinabstieg. Er verwirft sowohl
die Eroneration als das Krümperwesen und findet in cousequenter Durch¬
führung des Gesetzes von 1832 das Heil. — Derselben Meinung ist natür¬
lich auch der Herzog von Aumale, dessen interessante, bei dieser Gelegenheit
erschienene Schrift wir so oft citirt haben. Das bedeutendste und gewaltig
durchschlagende Wort sprach aber der General Tro es u mit seinem berühmten
Buche: „I/unuvv t'ran<M8e en 1867". Dieser Cyclus von Monographien,
welcher ungeheures Aufsehn machte, saßt sowohl die kantischen und psychologi¬
schen, als die organisatorischen Seiten des französischen Heerwesens ins Auge
und unterzieht sie einer ebenso wahrheitsbegierigen als scharfen Kritik. Sein
Urtheil über das Exonerations- und Dotationsgesetz von 1855 haben wir
bereits angeführt. Da er überzeugt ist, daß man das bessere preußische
System nicht durchsetzen werde, verlangt er unter Verminderung der Zahl
der Berufssoldaten eine möglichste Erschöpfung des Jahrescontingentes,
üjährige Dienstzeit bei der Fahne, 3jährige bei der Reserve. Indeß nicht die
Anschwellung der Massen scheint ihm die Hauptsache zu sein, sondern eine
gute Reserve, tüchtige und zahlreiche Cadres, welche dieselbe aufnehmen können,
vollkommene Bereitstellung guten und reichlichen Kriegsmaterials und sorg-
faltige Ausbildung der Specialwaffen. — Bemerkenswerth ist es, daß sich
unter all den bedeutenderen Stimmen keine einzige zu Gunsten der
allgemeinen Wehrpflicht ausspricht.
Einen besonders acuten Character und brennende Schärfe erhielt jede
Discusston über die Armee durch das drohende Kriegsgewitter, das sich mit
der Luxemburger Frage am politischen Himmel aufthürmte. Zum 30. April
wurden alle Offiziere und Unteroffiziere, welche sich in Urlaub befanden, zu
den Fahnen berufen und die Presse erging sich in Wuthausbrüchen gegen
Preußen, welche alle leidenschaftliche Jnstincte der gallischen Nation auf das
Gewaltsamste erregten. Unter solchen Eindrücken bildeten sich in den Ost-
nnd Nord-Departements von Frankreich Freischützen-Compagnien
(8vel6t6s ä<zö ^ranotiieuis), welche militärisch organisirt, mit Präcisionswaffen
ausgerüstet und uniformirt, regelmäßige Waffenübungen hielten. Allein das
Departement der Vosges zählte 10 solcher Compagnien, „simplos et ma-reales".
Auch in Aisne, Meurthe, Mosel, Ober- und Nieder-Rhein bestanden deren.
In dieser Erscheinung begrüßte die Regierung, freilich irrthümlich, eine Zu¬
stimmungserklärung zu dem Niet'schen Project der Mobilgarde und bemühte
sich in der Folge eifrig, durch die Saräe modils jene Franctireurs dem stehenden
Heere zuzuführen. Es geschah das ausgesprochenermaßen ganz besonders auch
zu dem Zweck, die Franctireurs im Fall einer Invasion als Soldaten ver¬
wenden und legitimiren zu können, während sie andernfalls als Rebellen
oder Insurgenten behandelt werden konnten. *) Diese Bemühungen der Re¬
gierung stießen jedoch auf sehr lebhaften Widerstand seitens der Franctireurs;
sie wünschten ihre volle Unabhängigkeit zu erhalten und durch kein Gesetz be¬
schränkt zu werden. Die Bewegung kam vor der unerwünschten Einmischung
des Gouvernements zu völligem Stillstande, und die Folge dieses Verhaltens
war die spätere, fast rechtlose Stellung der Franctireurs im Kriege 1870/71,
als sie ohne Verbindung, ohne Konsequenz, mit allen Mängeln unreifer
Schöpfungen behaftet, zu den Waffen griffen.
Das luxemburgische Gewitter ging zu Frankreichs großem Glück unschäd¬
lich vorüber. Wenn man bedenkt, wie sein Heer im Jahre 1870 mit dem
Chassepotgewehr die Kriegsprobe bestanden hat, so kann man sich ungefähr
denken, wie es ihm 1867 ohne Hinterladungsgewehr gegangen wäre! —
Ein kleines, wenn auch freilich sehr unzureichendes Ventil wurde der Kriegs¬
lust indessen durch die Expedition nach Rom geöffnet. Hier hatten die
Franzosen durch die Legion von Antibes, welche Niet ausdrücklich für einen
integrirenden Theil der französischen Armee erklärte, schon längere Zeit wieder
Fuß gefaßt; im Oetober 1867 setzten sie sich auch unter eigner Fahne aufs
Neue fest und lieferten Garibaldi das Gefecht von Mendana, bei welchem
zum ersten Male die Chassepots ihre „Wunder thaten".
Als im gesetzgebenden Körper am 19. Dezember 1867 die Debatten über
das Wehrgesetz wieder aufgenommen wurden, regnete es Amendements. Mehr
als hundert wurden eingebracht, und der größte Theil von ihnen ging auch
durch. Gleich in einer der ersten Sitzungen wurde von der äußersten Linken
die allgemeine Wehrpflicht verlangt, und Marschall Niet nahm diesen
Gedanken auf, freilich aber nur, um ihn für Frankreich zu verwerfen. „In
Preußen sei dies Gesetz allerdings den französischen Revolutionsheeren nach¬
geahmt und zu einer gewaltigen Kriegsmaschine gebildet worden; diese Wehr¬
verfassung sei aber die drückendste der Welt und werde in dieser Ausdehnung
auch schwerlich lange beibehalten.werden können. Die Bedingungen, unter denen
Preußen seine Wehrkraft organisirt habe, seien in Frankreich nicht vorhanden;
wenn man hier die allgemeine Volksbewaffnung einführen wolle, so müsse
man gleichzeitig auf „den militärischen Geist und die Disciplin verzichten".
Wie dürfe man es aber dann wagen, mit solchen Massen eines Tages gegen
eine Nation zu marschiren, welche von langer Hand her geschickt organisirt
sei und in welcher der militärische Geist in einem Grade herrsche, wie Frank¬
reich ihn nie erreichen werde!" — — Die Organisation, welche er, der
Minister, vorschlage, genüge, um Frankreich vor einem Angriffe zu schützen;
durch sie werde der Friede gesichert werden.
Wurde aber die allgemeine Dienstpflicht nicht eingeführt, so wurde
doch die Exoneration verworfen, Stellvertretung und Num¬
mertausch für den Heeresdienst dagegen beibehalten. In diesem
Punkte gingen die Beschlüsse des gesetzgebenden Körpers also über Niet's
Borlage hinaus. Besondere Bedeutung hatte ferner ein Antrag, welcher statt
neunjähriger nur achtjährige Dienstzeit und für den Dienstpflichtigen das Recht
verlangte, sich nach Ablauf der ersten sechs Jahre zu verheirathen. Rouher
rechnete der Deputation vor, daß durch Annahme dieses Vorschlages der pro-
jectirten Landarmee 60,000, der Marine 24,000 Mann entzogen würden und
somit die Effectivstärke auch nach Erlaß des neuen Gesetzes nicht viel bedeu¬
tender sein würde als bisher. So wurde denn in der Sitzung vom 27. De¬
zember der Antrag auf achtjährige Dienstzeit mit 177 gegen 81 Stimmen
verworfen, und die neunjährige Dienstzeit, die Hauptbestimmung des
Entwurfs, angenommen. Dagegen wurde folgenden Tags die zweite Hälfte
des Amendements, welcher das Heirathen nach sechsjähriger Dienst¬
zeit betraf, mit 237 gegen 11 Stimmen votirt, obwohl Niet den Antrag
lebhaft bekämpfte. — Für die Mobilgarde wurde in der Sitzung vom
2. Januar 1868 die Stellvertretung verworfen, eine demokratische
Maßregel, mit welcher sich die Oppositionsblätter sehr einverstanden erklärten;
denn damit sei das Princip der allgemeinen Wehrpflicht zur Geltung gebracht.
„Das Princip, ja!" so höhnten andere Blätter, „das Princip spielt in
unserem modernen Leben überall da eine große Rolle, wo eben die Realität,
die gemeine Wahrheit fehlt!" —
Am 14. Januar wurde das ganze Militärgesetz vom Corps legislatif
mit 200 gegen 60 Stimmen angenommen und sofort auch im Senat einge¬
bracht. Hier hielt am 27. Januar Brenier eine von Feindschaft gegen
Preußen strotzende Rede, sprach sich zu Gunsten unbedingter Wiederherstellung
des französischen Uebergewichts in Europa aus, erklärte die bisherigen Rüstungen
für unzureichend und verlangte, daß man alle lebendigen Kräfte der Nation
aufbiete, um der Welt Achtung', ja Schrecken einzuflößen. Michel Chevalier
sprach gegen das Gesetz. Frankreich solle auf^le Schiedsrichterrolle in Europa
verzichten. Allen andern ebenbürtig zu sein, sei schon eine große Stellung.
Der Kaiser möge seinen Spruch: I'empire e'ost 1a Mix zur Wahrheit machen;
dadurch werde er mehr für die Größe des Landes thun als durch ein Wehr¬
gesetz, dessen innerer Werth selbst nach dem Urtheile vieler Militärs noch sehr
zweifelhaft sei und das weder in den Salons noch in den Hütten freudig
aufgenommen werde. Chevalier's Stimme verhallte. Vice-Admiral Bouet-
Mllaumez plädirte zu Gunsten der Vorlage, der er dem preußischen System
gegenüber den Preis ertheilte, weil das Hereinziehen aller Elemente des Volks
in die Armee diese weniger ausdauernd und tüchtig mache. Auch Niet er¬
klärte voll großer Zuversicht: „Mit einer Armee wie die, welche das Gesetz
organisiren soll, mit einer Nationalgarde von 500,000 Mann, mit den Be¬
festigungen von Paris und Lyon, von Langres und Belfort, mit dem schönen
verschanzten Lager von Metz, mit Straßburg, Lille und so vielen anderen
wichtigen Festungen glaube ich, daß unser Land fest auf den Frieden bauen
darf und die schlimmen Gedanken unserer Nachbarn nicht zu fürchten braucht."
Am 29. Januar wurde das Militärgesetz vom Senate mit 125 Stimmen
gegen die eine Chevalier's angenommen.
So konnte endlich nach funszehnmonatlichen Vorbereitungen und siebzehn
Sitzungen ig, loi militaire <1u 1. kevrioi' 1868 sammt dem Specialgesetze
für die Bildung der Saras nationale mobile erlassen werden. Das Militär¬
gesetz zerfällt in zwei Artikel, von denen der erste die schon erläuterten, so
wesentlich amendirten Bestimmungen über die Wehrpflicht enthält, während
der zweite die alten Bestimmungen des Gesetzes von 1832 über Loskauf und
Stellvertretung wieder herstellt, indem er das Dotativnsgesetz vom Jahre 185S,
sowie die das röNMgölnent und die vxonäration ein servieo betreffenden Be¬
stimmungen aufhebt. *) In letzterer Maßregel lag ein Verzichten auf die durch
die Dotationscasse erzielte Conservirung der, namentlich auch von Trochu, so
lebhaft angefochtenen, alten Soldaten. Es ist bemerkenswerth, daß diese Ein¬
buße von Berufssoldaten nicht gescheut wurde, obgleich das neue Nekrutirungs-
gesetz die Zahl der unausgebildeten Mannschaft so bedeutend vermehrte.
Die nach fünfjähriger Präsenz zur Reserve übergetretenen Mann¬
schaften können nur im Kriege auf kaiserliche Verfügung einberufen werden,
und zwar in der Art, daß die ältere Classe nicht vor gänzlicher Erschöpfung
der jüngeren herangezogen werden darf. Wie sie dann verwendet werden
sollen, davon sagt das Gesetz nichts; bei der Abneigung, welche die Franzosen
aber gegen den Gedanken haben, Verheirathete in das stehende Heer einzu¬
reihen, dürfte der größte Theil der Reservisten wohl zur Bildung fünfter und
sechster Bataillone bestimmt oder wie die Krümper mit der Mobilgarde ver¬
einigt werden. Die Soldaten der Reserve dürfen sich nämlich, wie bereits
erwähnt, während der drei letzten Jahre ihrer Dienstzeit in der Reserve ohne
Erlaubniß verheirathen; indeß alterirt dies ihre Verpflichtungen nicht.
In jedem Jahre fanden in der französischen Armee vom 1. September bis
I. April große Winterbeurlaubungen, sog. semestres, statt. Nach den Ab¬
sichten des Kriegsministers sollten dieselben von nun an umfassen: im zweiten
Dienstjahr ein Viertel des Contingents, im dritten ein Drittel, im vierten
zwei Fünftel und im fünften und letzten Dienstjahre die Hälfte und zwar
diese bis zur gänzlichen Entlassung. Danach dauerte die effective Dienst¬
zeit nur vom 1. September des ersten bis zum 1. September des vierten
Jahres, also überhaupt nur 4 Jahre, und auch von diesen war noch ein
monatelanger Urlaub abzurechnen.
Alles in Allem muß man das Gesetz als eine halbe Maßregel bezeichnen.
Das Om-ps legislo-til hielt die jährliche Bewilligung des Contingents aufrecht,
verweigerte die Bezeichnung der äöuxisms portion als eine zu freier und un¬
bedingter Verfügung der Regierung stehende Reserve und stellte sie nur für
die Mobilgarde zur Disposition.
Was die mobile Nationalgarde betrifft, so wurde sie gebildet:
1) aus denen, die sich im Jahre 1867 freigelost hatten oder sich in späteren
Jahren freilosen würden — 2) aus denjenigen, welche als älteste Brüder von
Waisen, älteste Söhne 70jähriger oder blinder Väter u. s. w. seit 1867 dienst¬
frei geworden — 3) aus denjenigen, welche sich seit 1867 hatten remplaciren
lassen. — Man muß dem gegenüber anerkennen, daß innerhalb der Mo¬
bilgarde die allgemeine Wehrpflicht principiell angenommen
wurde. — Freilich nur principiell; practisch wurde für eine Menge von
Hinterthüren gesorgt, welche Dienstunlustigen das Entschlüpfen sehr leicht
machten. So ist zwischen Familiengliedern der Tausch bis einschließlich des
6. Grades der Verwandtschaft gestattet; eine Menge von Beamten find
<zö ipso befreit; 10 Procent der Familienernährer dürfen durch die Behörden
befreit werden u. s. w.*) — Dabei ist der Dienst nichts weniger als drückend.
Nur Is Mal im Jahre darf geübt werden, jedesmal nur einen Tag lang.
Niemand darf gezwungen werden, auch nur eine Nacht außerhalb seines Hauses
zuzubringen, Niemand braucht zur Uebung zu kommen, der ferner als eine
Tagesfahrt vom Sammelplatze wohnt, und befreit von der Uebung sind alle
die, welche nachweisen können, daß sie bereits eine genügende Fertigkeit in
der Handhabung von Waffen haben. — Ein Nachtrag zu dem Gesetze ge¬
stattet unter gewissen Bedingungen die Bildung von Franctireurcompagnien
neben den Mobilgarden. — Man sieht, wie durchaus einer laxen Praxis die
Wege geöffnet wurden; und sie sind in der That ohne Zaudern massenhaft
betreten worden.
Denn die Hoffnung des Marschalls Niet, die Einrichtung der Mobilgarde
werde vom Volke mit Begeisterung aufgenommen werden, zeigte sich als ein
großer Irrthum. Daß dem Gesetze über die Mobilgarde rückwirkende
Kraft beigelegt und die in den Jahren 1864 bis 66 dienstpflichtig gewor¬
denen, aber nicht in das Heer eingestellten Mannschaften jetzt in die Stamm¬
rollen der Mobilgarde notirt werden sollten, erregte allgemeine Entrüstung,
und weit entfernt, sich zu diesen Einzeichnungen „zu drängen" (wie manche
Zeitungen verkündet hatten), fanden sogar an manchen Orten bei Einschrei¬
bung der Mobilgardisten höchst bedenkliche Unruhen statt. So zu Nantes
(12. März), Toulouse, Neuilly, Bordeaux, Dijon, Grenoble. Das Volk
rottete sich zusammen, durchzog, die Marseillaise singend, die Straßen, rief:
„Vivs la ReMdli^uL! L. das les nobiles! ^ das ILmpsreur!'' verwun¬
dete die einschreitenden Gensdarmen und konnte nur durch Aufbieten militä¬
rischer Kräfte zur Ruhe gebracht werden. Solche Erscheinungen stimmten
schlecht zu den officiellen Berichten des Moniteur und kennzeichneten besser
als alle democratischen Redensarten den militärischen Sinn der Franzosen
und ihren Beruf für die allgemeine Wehrpflicht.
Fast gleichzeitig begegnete auch die Contingentvorlage, welche am
4. März zur Berathung kam, im gesetzgebenden Körper lebhafter Opposition.
Der Forderung der Regierung- 100,000 Mann zu bewilligen, stellte Picard
den Antrag entgegen, nur 80,000 zu gewähren; er drang indessen nicht durch,
und der Gesetzentwurf wurde am 9. März mit 230 gegen 12 Stimmen an¬
genommen.
Wie jede Halbheit fand das neue Militärgesetz Gegner bei allen
Parteien. — Die ächten Bonapartisten, die natürlich Anhänger der
Exoneration gewesen, beklagten schmerzlich den Verlust der guten Unteroffiziere,
welche das Aufhören der Rengagements mit Prime nicht überdauern könnten,
und gaben zu erwägen, wie doch die öffentliche Sittlichkeit gar nicht gefördert
sei; denn jetzt könne jeder junge Taugenichts, welcher eine „gute" Nummer
gezogen, als Stellvertreter ein besseres Geschäft machen, als bisher mit allen
Prämien für lange Dienstzeit. — Die Partei der Orleans ließ sich durch
den Mund des Herzogs von Aumale wie folgt vernehmen:
„Im Jahre 1841 hatte Frankreich eine gute Armee; die Reserve war unvoll¬
kommen, aber sie existirte, sie war greifbar; in dem Augenblick, wo man sie diseutirie,
war sie zu den Fahnen gerufen. Um ihr in Zukunft ein Rudiment von Instruction
z» sichern — war es nothwendig, die militärischen Einrichtungen zu schwächen, ohne
das Land zu soulagiren? Das ist gerade das Gegentheil von dem, was die preußische
Regierung in den vier Jahren gethan, welche dem letzten Feldzuge vorausgingen: sie
hat ihre Linien-Armee auf Kosten der Landwehr verstärkt."*)
Die republikanische Partei, welche den Ideen Trochu's huldigte,
ließ sich bei einem Vergleiche der französischen und preußischen Streitkräfte
wie folgt vernehmen:
„Alle Welt verkündet hier die democratischen Grundsätze und nimmt sie eifrig in
Anspruch; aber gerade bei der Institution, welcher sie zumeist als Grundlage dienen
sollten, weist man sie zurück und klammert sich an ein System der Privilegien, an ein
veraltetes, antinationales (?) und demoralisirendes System. Hoffen wir, daß die Stunde
der allgemeinen persönlichen Dienstpflicht ohne Stellvertretung bald schlage!"**)
Solchen Stimmen gegenüber besserten sich die Anhänger des Niet'-
sehen Gesetzes, ihrerseits die Vorzüge desselben und namentlich die Vor¬
trefflichkeit der Reserve und der Mobilgarde in möglichst glänzendes Licht zu
stellen, wobei sie ebenfalls stets direct auf Preußen Bezug nahmen. Von be¬
sonderem Interesse ist in dieser Beziehung ein,IÄ3u>i utopigucz Kur in. uou-
VLlIo loi militaire von Senne-Jacques.***) Da heißt es unter Anderem
wie folgt:
Was die preußische Landwehr betrifft, so hat sich trotz ihrer kurz vorher durch¬
geführten Reform im Kriege 1866 doch gezeigt, daß man sie nicht vor den Feind
bringen dürfe. Mit Ausnahme des Treffens von Langensalza, wo sie sich den han-
noverschen Kürassierer gegenüber schwach genug gezeigt hat, ist sie zu nichts Anderem
verwendet worden, als um in den Straßen von Dresden und Prag zu bummeln.
Viel gewichtiger ist die Rolle unserer französischen Reserve! Emge-
reiht in die alten, oder besser gesagt, activen Truppen, bildet sie den Einschlag dieses
Gewebes und ermangelt zu ihrem großen Vortheil besonderer Cadres, wie sie in Preu¬
ßen bestehn, wo die Regimenter ihre besten Officiere ungern genug hergeben müssen,
um jenen Bastard-Anhängseln etwas Leben zu geben! — Wie steht es nun mit der
deutschen allgemeinen Dienstpflicht!? Zwölf Jahr Dienst, eiserne Disciplin,
Unmöglichkeit vorwärts zu kommen ohne Geburt oder Vermögen — das ist die Bilanz
des preußischen Soldaten. Es wird ihn sicherlich wenig trösten, wenn er weiß, daß
die Nichtgcstaltung der Stellvertretung ihm zu eventuellen Drillcameraden ebensogut Fritz
an die Seite stellt, der da wohlhabend ist, als Hermann, welcher arm ist! — Wie
anders bei uns! Was das Nemplacement betrifft, so ist es allerdings ein Privi¬
legium (xrivata. lex), welches denen, die Geld haben, die Fähigkeit gewährleistet, dies
Geld auch zu brauchen. Es befreit sie ja nicht vollständig vom Dienst, aber es ge¬
stattet ihnen, sich in der Armee durch einen Stellvertreter repräsentiren zu lassen. Neh¬
men wir an, Peter, Paul und Jakob seien Capitalien. Peter kauft Grundbesitz, Paul
führt ein vergnügtes Leben, Jakob aber hält sich einen geschickten Stellvertreter. Würde
es nicht eine Verachtung der Freiheit und des Eigenthumsrechtes sein, wenn man Jakob
hindern wollte, sich einen Nemplacant zu miethen, während man Peter gestattet, Häuser
zu kaufen, oder Paul, seine hübschen Maitressen luxuriös zu unterhalten? ... Und
im Grunde ist ja die Dienstpflicht allgemein. ... Jacques Bonhomme sei
ins Wasser gefallen. Am Ufer stehen zwei junge Leute, beide gleich muthig, der eine
reich, der andere arm. Jener bietet diesem seine Börse, wenn er versuchen wolle, den
alten Jacques zu retten. Gesagt, gethan! Aber Jacques sammt seinem gemietheten
Retter, unfähig, gegen die Fluth anzukämpfen, drohen beide zu ertrinken. Da wirft
unser Reicher sich ebenfalls in die Wellen und rettet beide. — Jacques Bonhomme
ist Frankreich; der arme junge Mann ist der Nemplacant, der reiche Jüngling aber
— der Mobilgardist!
Nicht übel, diese Parabel von Jacques Bonhomme! Aber ist sie nicht
bezeichnend für den unendlichen Leichtsinn und die fasrige Frivolität, mit
welcher man in Frankreich die ernstesten Fragen behandelt!? Und hat denn
1870/71 der Mobilgardist den Stellvertreter und Frankreich gerettet; ist er
nicht vielmehr selbst von der Fluth verschlungen worden!? — Auch in den
Kreisen übrigens, welche sie geschaffen hatten, blieb die Mobilgarde nicht lange
Mode. Die „Kranes militaire" hatte sich zu Anfang für die neue Institution
so begeistert, daß sie sich unter dem neuen Titel: „^ournalv de ig, garäv na-
tiornrlL inobilö, ^lonitour av 1a ä6tense ein ?g.^s" ausschließlich den Inter¬
essen der Mobilgarde widmen wollte. Bald aber gab sie, wie es scheint mit
der Hoffnung, daß die Institution lebensfähig sei, auch jenen Titel auf und
vertrat vom October 1869 ab als „ki'rtmev nitida>!re" nur nebenbei und ge¬
legentlich das specielle Interesse der mobilen Nationalgarde, die damals schon
dem Schicksal aller Moden von gestern verfiel, indem man sich über sie
lustig machte.
Es ist nicht zu verkennen, daß die toi du I. ^prier wol geeignet war,
die Wehrkräfte Frankreichs allmählig wesentlich zu verstärken. Seine An¬
wendung verminderte schon in den Jahren 1868 und 1869 die Ausfälle des
Contingents. In 1868 stieg die xrsmiöi-e xortion (von 23,000) auf 40.000
im folgenden sogar auf 60,490 also auf über die Hälfte des Contingents.
Wenn das Gesetz 9 Jahre, also bis Juli 1876, wirken konnte, und wenn der
gesetzgebende Körper in jedem dieser Jahre 100,000 Mann bewilligte, so hätte
es die active Armee mit Einschluß der Reserve wol auf die Stärke von
800,000 Mann gebracht, von denen nur noch 130,000 Mann etwa Krümper
der äöuxiömö portion gewesen wären. Mit dem preußischen Wehrsystem
konnte es aber auch dann noch nicht concurriren; denn nicht nur verfügte Nord¬
deutschland mit seiner 12jährigen Waffenpflicht auf alle Fälle über drei Jahr¬
gänge mehr, sondern es stellte auch jährlich 90 bis 100,000 Mann factisch
ein und bildete sie gründlich aus. Bis zum Jahre 1870 bestand die ganze
Vermehrung der dienstgeübten Mannschaft Frankreichs, die ihm das neue Ge¬
setz verschaffte, lediglich in den 17,000 und 27,000 Recruten, die 1868 und
1869 über das frühere Maß hinaus eingestellt wurden. Nimmt man dazu
die zwei ältesten Reservejahrgänge (Einstellung von 1861 und 1862) von je
2!),000 Mann, die durch das neue Gesetz der Armee zugelegt waren, so hat
man mit der ungefähren Zahl von 90,000 Mann die gesammte Ver¬
mehrung an dienstgeübter Mannschaft, welche bis 1870 die fran¬
zösische Armee seit 1866 gewonnen hatte. — Wenn sich die französischen Macht¬
haber diese Lage vergegenwärtigten, so mußte sie ernste Sorge erfüllen. Sie
sahen voraus, daß die Wehrkraft Norddeutschlands von Jahr zu Jahr in
Dimensionen anwuchs, mit denen sie nicht Schritt halten konnten. Waren
die'neuen Provinzen einmal völlig assimilirt, das Reserve- und Landwehrsystem
auch hier und in den Kleinstaaten ein Jahrzehnt durchgeführt, so war gar
keine Aussicht mehr, gegen die ungeheure Macht auszukommen. Diese Be¬
trachtungen sind.es unzweifelhaft gewesen, welche grade im Kriegsministerium
jene Stimmungen nährten, die von Tag zu Tage entschiedener hindrängten
auf den Krieg mit Preußen.
Am 22. Jan. 1868 beseitigte der Kaiser eine altberühmte Institution der
französischen Armee; es erfolgte die Aufhebung der Elite-Compag¬
nien. Sämmtliche Grenadiere und Voltigeure wurden in die Compagnies du
Centre eingereiht, in denen dafür eine Anzahl von Gefreiten (s<Mg.es et«z Premier«
ciasKv) ernannt wurden und die das lange angestrebte bisher den Elite-Compag¬
nien vorbehaltene Recht bekamen, die rothen Epauletten der Grenadiere und
das bisherige vornehme Abzeichen der Elitesoldaten, den Kinnbart tragen zu
dürfen. — Den älteren Trnppenofficieren gefiel die Aufhebung der Elite-
eompagnien durchaus nicht; die jüngeren, welche mit der Maßregel einver¬
standen waren, rechneten es dem Marschall zum besonderen Verdienst an, daß
er dieselbe „gewagt" habe, und man konnte bei solcher Gelegenheit wol spotten
hören: Die Bataillonschefs hätten deshalb eine so große Vorliebe für die
Elitecompagnien gehabt, weil deren Vorhandensein ihnen jedes Besinnen er¬
spart habe, wo sich der rechte und wo sich der linke Flügel des Bataillons
befinde.
Das Kriegsbudget für das Jahr 1869 wurde (und zwar nur für
das Landheer), ausschließlich aller außerordentlichen Ausgaben, auf 380 Mil¬
lionen Francs d. i. 101 ^/z Millionen Thaler berechnet, während das Kriegs-
budget des Norddeutschen Bundes sich nur auf 66 Millionen Thaler belief.
Garnier-Pages berechnete, daß Frankreich für Armee und Marine mehr aus¬
gebe, als ganz Norddeutschland und Oesterreich zusammen. Es war das un-
läugbar eine sehr bedeutende Last, und am 20. März 1869 ergriff die Opposi¬
tion bei Vorlage des Contingentsgesetzes die Gelegenheit, sich lebhaft über
diesen Druck zu beschweren und die Herabsetzung der Rekrutenzahl von 100
auf 80 Tausend zu verlangen. Es gelang Niet indessen, dies Amendement zu be¬
seitigen und die 100,000 Mann wurden bewilligt. Auch die großen Militär-
commandos, durch deren Aufhebung der Deputirte Picard etwa eine Million
zu sparen dachte, erklärte der Minister für ein nothwendiges Glied der Armee-
Organisation. Nur durch sie sei es möglich, schnell mobil zu machen. „Krieg
oder Frieden", so rief er in der Sitzung vom 12. April, „das macht mir ganz
und gar nichts aus! In acht bis neun Tagen können wir 600,000 Mann
marschfertig haben!"
An demselben Tage schrieb der Kaiser an Nouher, er wünsche, daß zur
Verherrlichung des 100 jährigen Geburtstages Napoleon's I.. der auf den
15. August 1869 fiel, von diesem Datum an jeder der alten Soldaten der
Republik und des Kaiserreichs eine Jahrespension von 250 Francs erhalte.
„Diese hundert Jahre", hieß es in jenem Briefe, „haben viele Ruinen gehäuft;
aufrecht geblieben ist aber die große Gestalt Napoleon's; sie ist es, die uns
noch heut leitet und beschützt und die mich aus nichts zu dem gemacht hat,
was ich bin." — Das letzte ist unzweifelhaft wahr; das andere nur in dem
Sinne, daß allerdings Frankreich und zumal die Armee an der „Legende" Na¬
poleon's noch immer litt, wie das ein kleiner Kreis von Franzosen auch ein¬
sah, und wie es namentlich Trochu so energisch ausgesprochen hat.
In jeder Weise bestrebte man sich, den kriegerischen Neigungen des Volkes
zu schmeicheln und ihm durch militairische Schauspiele zu imponiren. In dieser
Absicht befahl Niet allen Garntsonscommandanten, Sonntagsparaden abzu¬
halten, was bisher nicht üblich gewesen, da „es gut sei, daß die in der Woche
beschäftigten Bevölkerungen von Zeit zu Zeit die Truppen in Waffen sähen". —
Im Lager von Chalons ließ der Kaiser am 24. Juni, dem Jahrestage von
Solferinv, diejenigen Soldaten zusammentreten, welche den italienischen Feld-
zug mitgemacht und hielt ihnen eine Ansprache, in der es hieß: „Bewahrt
ewig in Eurem Gedächtnisse die Erinnerung an die Kämpfe unserer Borfahren,
wie derer, an denen Ihr selbst Theil genommen; denn die Geschichte der von
uns geführten Kriege ist die Geschichte des Fortschritts der Civilisation!" —
Die Heeresstärke am 1. Juli 1864 war nach den officiellen Rapporten des
Ministers die folgendes: Bei den Fahnen zur Stelle 379,220. disponible
Beurlaubte 234,329; Summa 713.549. Nach Abrechnung der Nonvaleurs
654,351. davon in erster Linie aufzustellen 893,329.
Am 13. August starb der Kriegsminister, Marschall Niet. Mit
ihm schien das Haupt der französischen Kriegspartei gefallen zu sein; sein
Tod wurde von vielen als Friedensbürgschaft aufgefaßt. An seiner Stelle
wurde General Leboeuf zum Kriegsminister ernannt. Leboeuf, welcher mehre
Feldzüge in Algerien und die Kriege in der Krim und Italien mitgemacht
hatte, war ein braver Soldat, ein vortrefflicher Artillerist, als solcher aber
recht eigentlich Specialist, und an das Werk Niet's, welches dieser unvollendet
hinterließ, trat er keineswegs mit dem Eifer und der Ueberzeugung heran,
mit welchem jener davon geschieden. Ueber das deutsche Heerwesen scheint er
völlig unklare Begriffe gehabt zu haben; das französische überschätzte er außer-
ordentlich. Er hatte die Armee in weit schlechterem Zustande als der, in
welchem er ihre Leitung übernahm, die Kriege in der Krim und in Italien
siegreich durchfechten sehn; so meinte er, werde.sie jetzt doch noch besser den
Kampf gegen Deutschland führen können.**) Leboeuf behielt sein Portefeuille
auch, als Ollivier am 2. Januar 1870 das neue „liberale" Cabinet be¬
gründete, und wurde Anfangs März zum Marschall ernannt.
Im gesetzgebenden Körper verlangte die Budgetcommission eine Herab¬
setzung des Contingents auf 90,000 Mann, ein Verlangen, das in der
Armee auf lebhaften Widerspruch stieß, weil es die Voraussetzungen, auf
welchen das Niet'sche Wehrwesen ruhte, schon im dritten Jahre seines Be¬
stehens in einem wesentlichen Punkte alterirte.
„Die ganze Stärke unserer „Kriegsmacht", schrieb ein hervorragendes Fachjournal***),
„besteht aus 9 jährlich votirten Contingenten. Was sich etwa noch außerhalb dieser
Contingente befindet, ist dienstfrei. Das Gesetz schreibt zwar vor, daß hieraus eine
mobile Nationalgarde gebildet werde; aber man weiß, was daraus geworden ist! . . .
Berücksichtigt man die Verluste und Abgänge aller Art. welche sich auf jene 9 Con-
tingente vertheilen, sowie den Bedarf der Marine, so ist bekanntlich eine Totalstärke
von 900,000 Mann erforderlich, um auf 700,000 Soldaten rechnen zu tourner. Es
folgt hieraus naturgemäß, das das jährliche Contingent immer 100,000 Mann zählen
muß, wenn man nicht die militärische Macht Frankreichs verringern will."
Leboeuf schien anfangs diese Ansichten zu theilen, bequemte sich jedoch
schließlich dem Verlangen der Commission und willigte in die H crab setz u n g
des Contingents. Wenn man die Sache nicht principiell und als Vor¬
gang für die Zukunft nahm, hatte sie freilich nicht gar zu viel zu sagen;
denn wenn von dem Contingente des vorigen Jahres 64,000 der ersten und
46,000 Mann der zweiten Portion zugewiesen worden waren, so traten jetzt
ebenfalls 54,000 unter die Fahnen und der Unterschied bestand allein darin,
daß man der Reserve nur 36.000 Mann zuwies. Die Commission verlangte
ferner und zwar schon für 1870 eine Reduction der kaiserlichen
Garde ^zunächst um 4 Schwadronen) und auch hiermit zeigte sich der Mi¬
nister einverstanden. Von den sechs großen Militäreommand os wurden
das II., III. und V. aufgelöst; auf dem Fortbestand derer zu Paris, Lyon
und Nancy beharrte dagegen die Regierung, doch wurden die Gehälter der
drei Commandanten, welche bisher 130, 100 und 72 Tausend Francs be¬
tragen, um je 20,000 Francs herabgesetzt.*) — Das Ganze war vielleicht nur
eine erheuchelte Friedenscomödie. — Besonders schätzenswert!) erschien den
Franzosen die Mittheilung Leboeuf's, daß in Friedenszeiten die Mobilgarde
ruhig „auf dem Papier bleiben" und gar nicht eingeübt werden solle. Für
ihren Zweck genüge es, wenn in den Departements die Majors mit ihren
Secreta'ren und den Magazinen beibehalten würden; wenn Krieg ausbräche,
wären die jungen Leute leicht genug dahin zu bringen, „ein Gewehr zu
tragen." — Die Gesammtersparniß am Militärbudget, welche bis zum 21.
Juni beschlossen wurde, betrug 17,843,000 Francs.
Das neue „liberale Kaiserthum" sollte durch das Plebiscit ratisicirt
werden. Man weiß, daß am 8. Mai 1870: 7,210,296 Stimmen für das¬
selbe, nur 1.630,610 Stimmen gegen dasselbe abgegeben wurden. Aber be¬
denklich schien die Abstimmung des Heeres. Obgleich sie der strengsten
Controlle unterworfen gewesen, so stimmten doch vom Landheer über 40,000,
von der Manne mehr als 5000. von den Truppen in Algier fast 6000 mit
Nein.**) Die Elemente des Aufruhrs fühlten sich durch diese Thatsache er-
muthigt und schon am Abend des 9. Mai kam es zu Paris vor der Caserne
„Prinz Eugen", deren Insassen zur Hälfte mit „Nein" gestimmt haben sollten,
zu Ruhestörungen, die sich an den folgenden Tagen in anderen Stadttheilen
wiederholten. Sie wurden zwar leicht unterdrückt; immerhin waren doch Barri¬
kaden gebaut worden und Verwundete und Todte auf dem Platze geblieben.
Der Kaiser gab sich den Anschein, als lege er der Heeresabstimmung gar keinen
Werth bei, zumal gerade solche Truppen, die mit „Nein" gestimmt, brav gegen
die Aufrührer gefochten hatten; er schrieb dem Marschall Canrobert einen
Brief, worin er ihn aufforderte, den ihm untergebenen Truppen mitzutheilen,
daß er gegenüber den lächerlichen und übertriebenen Gerüchten über die Ab¬
stimmung der Soldaten gänzlich unerschüttert sei in seinem Zutrauen in den
guten Geist derselben; ja er fuhr sogar in die Caserne „Prinz Eugen" und
wurde daselbst wie auch in anderen Casernen enthusiastisch empfangen. — In¬
deß schickte der Kriegsminister doch die frondirenden Zöglinge der Militär¬
schule als Gemeine in ein Regiment und versetzte viele Unterofficiere aus
Paris nach Afrika; und auf den Boulevards witzelte man, als Loosung und
Feldgeschrei seien in den Tuilerien ein für allemal „Liberalismus und Chasse-
pot" ausgegeben worden.
Am 29. Juni fragte der Marineminister bei dem Seepräfecten von
Cherburg an, welche Vorräthe dort für eine Flotten-Expedition nach
der Nord- und Ost-See aufgehäuft seien. — Tags darauf wurde im ge¬
setzgebenden Körper dasContingentgesetz votirt. Glais-Bizoin verlangte
eine Herabsetzung auf 80,000 Mann; Graf Latour wollte wieder auf 100.000
zurückkehren; Leboeuf stimmte ihm bei, erklärte sich schließlich aber wie im
vorigen Jahre mit 90,000 zufrieden und Ollivier proclamirte, daß zu keiner Zeit
die Regierung eine freimüthigere Friedenspolitik befolgt habe, daß nie¬
mals der europäische Friede weniger bedroht gewesen sei, als
jetzt. — Das Contingent von 90,000 Mann wurde bewilligt, und die Fran¬
zosen waren überzeugt, daß sie in Frieden schlafen könnten hinter einer
Armee, die allerdings viel Geld kostete und die sie contre-coeur bezahlten, die
sie jedoch als eine mag'utique s,rin6s priesen. „Sonderbarer Widerspruch!
denn im Grunde verachteten sie diese Armee und machten somit ihr Palladium
aus einer Einrichtung, welche sie weder achteten noch kannten."*)
Am 6. Juli 1870 reichte Leboeuf dem Kaiser folgende „Note somwairo
Kur ig, Situation ac l'iirmkö" ein.
„Fünfzehn Tage nach einem vom Kaiser ertheilten Befehle würde man zwei Ar¬
meen zu »50,000 Mann aller Waffengattungen und 875 Feuerschlünde mit 1. und
2. Munitionsapprovisionirung ins Feld gestellt haben. Außerdem blieben noch: im
Innern 161.500 Mann, in Algerien 50,000 Mann, in Civita-Vecchia 6500 Mann,
also im Ganzen 238.000 Mann, die mit den obigen 350,000 Mann 588,000 für
den Krieg verwendbare Leute ergeben. Zahlt man dazu die Nichtcombattanten mit
74,546 Mann, so erhält man 662,546 Mann als den Stand der regulären Armee.
Dazu müssen vom ersten Tage an 100,000 bewaffnete, uniformiren, organisirte Mo¬
bilgarden mit ihren Cadres gerechnet werden. Vom Tage des kaiserlichen Befehls an
können in 3 Wochen 3 Zouaven- und 3 Tirailleur-Regimenter von Algerien nach dem
Rhein gebracht werden; mehr als ein Monat gehört dazu, die 4 Regimenter Chasseurs-
d'Afriques nach Toulon und Marseille zu bringen "
Der Kaiser konnte also jedenfalls auf 388,000 Combattanten rechnen.
Von diesen blieben indessen abzuziehen: 76,000 Rekruten d. I. 1869, die noch
einige Zeit zu weiterer Ausbildung in den Depots bleiben mußten, 60,000
Mann für Algier; 63,000 Mann Cadres und alte Soldaten für die Depots.
Es blieb also übrig eine active Feldarmee von 400,000 Mann. — Wenn man,
wie es möglich schien, die Armee von Algier auf 30,000 Mann reducirte, so
erhielt man noch 20,000 alte Soldaten, welche mit den 138,000 in den Depots
zurückgelassenen Mannschaften vierte Bataillone in Marsch-Regimentern bilden
konnten, so daß man unter allen Umständen einer Armee von 600,000 Mann
gewiß war.*)
Das Schreiben des Kriegsministers schloß mit den Worten: 1'Iwn-
nour as <Z«ZM!w6er g, I'Lmpwkur nie vouloir bien me äomior MS oräres ä
I'Köuro nomo qu« sa, r^solution est in-retöe."
I.« ministre ac la Zuerro.
Naroelml I^e Lohnt.
Es erklärt sich wohl in erster Linie aus der Bedeutung der socialen
Frage für unsere ganze Cultur und sodann aus dem Verlangen nach Uni¬
versalheilmitteln, daß man der Eisenacher Conferenz mit solcher Spannung
entgegensah. Die Freunde und Gegner dieser Versammlung hatten auch da-
für gesorgt, die Erwartung zu steigern, weil kein deutscher Congreß bisher
noch so eigenthümlich und mit solchem Aufwand von öffentlichen Namen
und Autoritäten in Scene gesetzt worden war und weil noch keine Einladung
zu solchen Versammlungen der publicistischen Kritik eine so breite
Handhabe geboten hatte. Nicht minder wirksam waren die Notizen,
welche vorher von Berlin aus die Runde durch die deutsche Presse
machten, daß die preußische Regierung im innigen Einverständnisse mit den
Veranstaltern, sei und von dem Ausgange dieser Conferenz ihr weiteres Vor-
gehen in der socialen Frage abhängig machen werde. Nach einigen Andeu¬
tungen schien es sogar, als solle jedes in Eisenach gesprochene Wort direct
an die preußische Regierung telegraphirt werden. So hat denn auch
die officiöse „Provinzial-Correspondenz" unmittelbar nach dem Schluß
der Verhandlungen nicht versäumt, der Conferenz ihr solennes Belobigungs¬
attest auszustellen und daran die bedeutsame Mittheilung zu knüpfen: „Die
tiefgehende Wichtigkeit der verhandelten Fragen und der mit denselben zu¬
sammenhängenden Pflichten des Staates wird von der Regieru-ng des deut¬
schen Reiches so entschieden anerkannt, daß dieselbe im Begriff steht, sich über
die dabei in Betracht kommenden Gesichtspunkte und Aufgaben zunächst mit
der österreichisch-ungarischen Negierung ins Einvernehmen zu setzen. Die
zu diesem Zweck schon früher verabredeten gemeinsamen Berathungen werden
in wenigen Wochen stattfinden."
Die am 6. und 7. October in Eisenach versammelt gewesenen Männer
sind durch diese Vorgänge in eine Lage versetzt worden, welche dem endlichen
richtigen Verständniß der socialen Frage nur förderlich sein kann. Sie haben
die öffentliche Aufmerksamkeit viel lebhafter als andere ähnliche Versamm¬
lungen auf sich gezogen und das Publicum wird nunmehr hoffentlich auch
ihre Grundanschauungen und Heilreeepte etwas schärfer prüfen.
Bis zu den Tagen von Eisenach lag die „neue Richtung in der socialen
Frage", welche die Gegner mit dem Namen „Katheder-Socialismus" getauft
haben, vor der Welt noch in Zweideutigkeit und Phrasenverhüllung da,
welche ihren Gipfelpunkt in dem „sittlichen Pathos" fand, das alle Eingela¬
denen mitbringen sollten, die außerdem noch „das absolute laisssr kairo
Ig-isser passer" nicht für richtig halten durften. Außerdem war das Pub¬
likum mehrfach daran erinnert worden, daß die neue Richtung „einen acade-
mischen Ausgangspunkt habe" und daß sie sich in Gegensatz gegen „den volks-
wirthschaftlichen Congreß" und die darin vertretenen „Doktrinäre des Kapitals"
stellen werde. Ein 10 Tage vor dem Congreß in der „Augsburger Allge¬
meinen Zeitung" erschienener „Orientirungsartikel", welcher sich in der Lage
erklärte, „die wünschenswerthe Erläuterung zu der fraglichen Einladung zu
geben", vindicirte der socialen Conferenz schon im Voraus die Rolle eines
Vermittlers zwischen zwei Extremen, nämlich zwischen denjenigen, welche in
seltsamer Vermessenheit sich den Namen der deutschen Volkswirthe beigelegt
haben und zwischen „den Internationalen". „Die einen sind bornirt con-
servativ und die andern fanatisch revolutionär"; die einen sind „Doctrinäre
des Kapitals", die andern „Doctrinäre der Arbeit", die einen sind „Opti¬
misten" und die andern „Pessimisten". Dazwischen sollte man sich nun in
Eisenach „aus den Standpunkt unbefangener Erkenntniß der socialen That¬
sachen stellen" oder „auf den Standpunkt der Reform statt auf den Stand-
Punkt der Revolution oder des die Revolution provocirendenZConservativis-
mus." — Nach anderen Koryphäen sollte die neue Richtung „die berechtigten
Forderungen des Socialismus" mit denen der gesellschaftlichen Ordnung ver¬
söhnen.
Solche Versprechungen und dunkle Andeutungen mußten den Appetit
einer an die alte Hausmannskost der britischen volkswirtschaftlichen Schule
gebohrten Menge aufs lebhafteste reizen. Hierzu kam, daß die meisten ge¬
lehrten Natioyal-Oekonomen der neuen Richtung bisher nur sehr selten von
ihren Kathedern ins Volk herabgetreten waren und die harte Arbeit der Ne-
formagitation und Volksaufklärung den Männern des volkswirrhfchaftlichen
Congresses überlassen hatten. Dieser volkswirthschaftliche Congreß hat offen¬
bar seine poetische schöpferische Zeit damals gehabt, als er die Zunftschranke,
das Concessionswesen, die Schutzzölle, die Wuchergesetze, die Spielbanken und
Lotterien, die Niederlassungs- und Heirathsbeschränkungen und andere Ver¬
kümmerungen des deutschen Wirthschaftslebens bekämpfte und an dem Auf¬
bau des Genossenschaftswesens eifrig mitarbeitete. Das norddeutsche und
später deutsche Parlament hat das Programm des Congresses verwirklicht
und die in den Vorarbeiten, Berichten und Verhandlungen des Congresses
niedergelegten Grundsätze und Reformvorschläge zum Theil wörtlich in die
neue Reichsgesetzgebung mit aufgenommen. Der volkswirthschaftliche Con¬
greß ist nunmehr in eine etwas prosaischere Periode eingetreten und hat auch
unter dem vorwiegenden Interesse des Publicums für die große Politik ge¬
litten. Es haben sich auch seit 1866 im Schooße des Congresses selbst manche
früher schlummernde Gegensätze und Differenzen herausgestellt und es hat
ihm der Nachwuchs frischen Blutes und die größere Theilnahme der Gelehrten¬
welt in den letzten Jahren allerdings gefehlt und das Interesse an seinen
Verhandlungen etwas abgeschwächt. Aber Niemand konnte ahnen, daß man
in den Bestrebungen des volkswirtschaftlichen Congresses selbst, welcher von
Anfang an eine Arena für gelehrte und ungelehrte Männer aller wirth¬
schaftlichen und politischen Parteien eröffnet hatte, ein Hinderniß der Lösung
der socialen Frage erblicken könne und für diese durchaus volkswirthschaft¬
liche Angelegenheit einen Gegencongreß in Scene setzen müsse.
Wenn man nun aber gerade die sociale Frage zum Gegenstande beson¬
derer Berathungen machen und einen Separatcongreß dafür berufen wollte,
so würde es nahe gelegen haben, doch wenigstens vorher mit einigen Freun¬
den des volkswirtschaftlichen Congresses zusammenzutreten, anstatt wie es
geschehen ist, consequent jeden regelmäßigen Besucher und jedes der mehr als
20 Vorstandsmitglieder von den Veranstaltungen eines socialen Congresses
auszuschließen. In ähnlicher Weise hat man den Vater des deutschen Ge¬
nossenschaftswesens, Schulze-Delitzsch, ignorirt, von dem die ^Rheinische Zei-
tung" berichtete, daß er über die ihm schließlich noch zugekommene Kreuz¬
bandeinladung der Herren Einladenden, unter denen mehrere Männer seien,
welche der deutschen Genossenschaftsbewegung sich stets feindlich zeigten, sich
sehr derb geäußert habe. „Er erklärt sich jederzeit bereit, mit Feinden und
wahren und falschen Freunden über die sociale Frage zu discutiren. Aber
er findet eine Beleidigung nicht seiner Person, sondern der Stellung, welche
er als Anwalt der deutschen Genossenschaften, als erwählter Vertreter dieser
großen Sache einnimmt, daß man ihn zu Vorbesprechungen nicht zuzieht,
sondern hinterher durch Kreuzband einladet, nachdem Tagesordnung und Re¬
ferenten und die Liste der einzuladenden Personen vorher festgestellt sind.
Die deutschen Genossenschaften und deren Anwalt haben nicht nöthig, von
jenen Herren sich das Attest der Berechtigung ihrer Existenz ausstellen zu
lassen."
Die Einladung nach Eisenach lautete unter Anderem auch dahin, daß
man Männer aller politischen Parteien, welche „sittliches Pathos" ;c.
haben, zur Betheiligung aufgefordert habe, während es in dieser Sache doch
allein auf die Berücksichtigung der verschiedenen „wirthschaftlichen Par¬
teien" ankommt und man von vornherein Confusion in die Behandlung der
socialen Frage hineinbringt, wenn man die Politik und die Staatsgewalt
obenan stellt. Man würde es rechtfertigen können, wenn Politiker auf Grund
der politischen Phrase des „absoluten Jen-z»er taire vt imsser M88ör" Ge¬
sinnungsgenossen einladen. Wenn aber Männer der Wissenschaft die öffent¬
liche Besprechung der brennendsten Frage ihres Faches nach einer Partei¬
schablone und mit Ausschließung einer ganzen Schule von theoretischen und
practischen Mitarbeitern einleiten und organisiren, so versündigen sie sich an
dem heiligen Geist der Wissenschaft, welche nicht nach Autoritäten und Par¬
teien, sondern nur nach Wahrheit fragt und jede Kritik willkommen heißt.
Eine Reihe von hervorragenden Organen der deutschen Presse hat schon
die ganze Einleitung dieser socialen Conferenz mit ihrem Ketzergericht über
gleich strebende Männer als einen im deutschen Congreßleben bisher uner¬
hörten Vorgang bezeichnet, welcher nur in persönlicher Gereiztheit und Leiden¬
schaftlichkeit der Hauptveranstalter seinen Grund haben und unmöglich zur
Versöhnung der Gegensätze und Vermittlung der Parteien beitragen könne,
wie es der echten deutschen Wissenschaft ziemen würde.
Die wirklichen Verhandlungen haben diese Vermuthungen und Befürchtun¬
gen leider nicht vollständig widerlegt. Einer der Hauptveranstalter der Eisenacher
Conferenz, Professor SchmolIer, eröffnete die Verhandlungen mit einer Polemik
gegen die nicht eingeladenen Besucher des „volkswirthschaftlichen Con-
gresses" und besonders gegen die „Berliner volkswirthschaftliche Gesellschaft."
Nach seinen Worten „nahm es fast den Anschein, als ob die Partei, die
früher im Namen der Menschenrechte die Erlösung der nicht privilegirten
Classen von hartem Druck gefordert, jetzt nur noch Sinn und Interesse für
den einseitigen Classenstandpunct der Unternehmer habe, als ob sie unter
volkswirtschaftlicher Freiheit jetzt nur noch Freiheit für die großen Unter¬
nehmer und Capitalbesitzer, für die großen Gesellschaften verstehe, das Pub-
licum auszubeuten. Eine dieser entgegengesetzte Richtung konnte von einem
Auftreten auf dem volkswirtschaftlichen Congreß nichts erwarten. (Warum
nicht? Entscheiden dort Fäuste und Namen oder Gründe und Thatsachen?)
Es galt auch hier nicht den neuen Wein in alte Schläuche zu
fassen ?c."
Die weiteren fünf Erwägungen und Resolutionen, welche dann später
Professor Schmoller in der Frage über Gewerkvereine und Strikes vorgeschla¬
gen hat — und die Reden und Vorschläge von Prof. Brentano über die
deutsche Fabrikgesetzgebung sowie endlich die Ausführungen von Dr. Engel
über die Wohnungsnoth hätten ebenso gut auf dem volkswirtschaftlichen
Congresse vorgebracht werden können und würden daselbst kein schlechteres
Schicksal als das der Ablehnung oder Verdünnung oder Vertagung erduldet
haben, welches ihnen in Eisenach im Kreise nahestehender Gesinnungsgenossen
zu Theil geworden ist.
„Der neue Wein," welchen die Referenten und Hauptveranstalter des
Eisenacher Congresses dem deutschen Volke vorsetzen wollten, ist nämlich in
der Discussion so mit Wasser vermischt worden, daß er schließlich von selbst
in die alten Schläuche des volkswirtschaftlichen Congresses hineingelaufen
ist. Die himmelstürmenden fünf Thesen Schmoller's in der Strikesrage, welche
Jedermann im Wortlaut nachlesen muß, wurden auf drei bescheidene Puncte
reducirt, welche folgendermaßen lauten!
Eine wahrhaft tragikomische Fügung des Schicksals will es, daß man
mit diesen Eisenacher Resolutionen nur frühere Beschlüsse des volkswirt¬
schaftlichen Congresses bestätigt hat.
Im Jahr 1866. ehe noch die Coalitionsfreiheit in Deutschland durchge¬
führt war, beschloß der volkswirtschaftliche Congreß von Nürnberg wörtlich:
„Alle Eingriffe der Gesetzgebung in die Coalitionsfreiheit der Arbeiter,
welche die Vereinigung derselben bei Auflösung ihrer Arbeitsverhältnisse be¬
schränken und irgendwie eine Ausnahmestellung derselben gegen die übrigen
Classen der Gesellschaft rechtlich begründen, widerstreiten dem gemeinsamen
Interesse der Arbeiter und Arbeitgeber, sind unvereinbar mit den ersten
Principien der Gerechtigkeit und vom wirthschaftlichen wie vom socialen
Standpuncte gleich verwerflich." '
Weiter beschloß der Lübecker, volkswirthschaftliche Congreß von 1871:
„Zur Verhütung von Arbeitseinstellungen empfiehlt der volkswirthschaftliche
Congreß den betheiligten Kreisen die Einrichtung von Bergleichsausschüssen."
Bei den betreffenden Lübecker Verhandlungen wurden zwar die Gewerk¬
vereine von einigen Seiten lebhaft angegriffen, von anderen Seiten aber eben
so warm vertheidigt. Endlich hat der letzte volkswirthschaftliche Congreß in
Danzig, auf welchen die deutschen Gewerkvereine einen besonderen Vertreter
gesendet hatten, dem Antrage desselben gemäß sich gegen Zwangshilfscassen
und für Bestimmungen zur Förderung der freiwilligen Arbeitereassen aus¬
gesprochen. —
Anlangend die Wohnungsfrage, so hat sich der Nürnberger Congreß deut¬
scher Volkswirthe damit weit eingehender als der Eisenacher Congreß be¬
schäftigt und sich namentlich gehütet, der Gesetzgebung einen sogenannten
„Häuser- und Mieth-Wucher" zu denunciren, nachdem man die Abschaffung
aller Wuchergesetze schon früher durchgesetzt hatte.
Die Fabrikgesetzgebung ist ein Gegenstand, mit welchem sich die ersten
^volkswirtschaftlichen Congresse bei Gelegenheit der allgemeinen Gewerbe¬
gesetzgebung ebenfalls mehrfach in dem Sinne beschäftigt haben, daß man
Ausnahmen von der allgemeinen Erwerbs- und Vertragsfreiheit bei Kindern
und Unmündigen, die sich nicht selbst schützen können, als selbstverständlich
erachtete, ohne freilich soweit zu gehen wie Professor Brentano. Die Eise¬
nacher Conferenz hat aber die Brentano'schen Vorschläge so gemäßigt, daß
man darin den Referenten kaum wiedererkannte. Die Resolutionen geben,
so wie sie angenommen sind, der Kritik immer noch eine Handhabe,
insbesondere erscheint die Ausdehnung der Fabrikgesetzgebung auf verheirathete
Frauen bedenklich; allein kein Freihändler würde sich darüber so erhitzen, um
einem Kathedersocialisten deshalb ernstlich zu zürnen und diese Beschlüsse
etwa als Ausgangspunkt einer neuen Richtung in der socialen Frage zu
betrachten. Die anstößigste These lautet auch weit genug: „Diese Fort¬
bildung der Fabrikgesetzgebung ist mit nothwendiger Unterscheidung
auch auf verheirathete Frauen auszudehnen." Da hat doch der Gesetzgeber noch
Spielraum genug!
Alles in Allem hat die Eisenacher Conferenz — wenn man lediglich vom
Standpunctder nicht eingeladenen Gegner aus urtheilen wollte — dem Volkswirth-
schaftlichen Congreß nur genützt. Ihr gedachtet es böse mit ihm zu machen und
Gott hat es gut gemacht. Das Professoren-Element hat sich als ein sehr nutz-
liebes und geistig belebendes Ferment öffentlicher Discussionen erwiesen; allein
die Herren Gelehrten haben sich überzeugt, daß sie der practischen Lebens¬
erfahrungen und der Ergänzung und Berührung mit anderen Lebensberufen
dringend bedürfen. Die vorgeschlagenen Resolutionen, welche stark nach der
Studirlampe rochen und englische Erfahrungen unvermittelt und unverdaut
auf deutsche Verhältnisse übertragen wollten, machten einen fremdartigen Ein¬
druck und stießen auf verdienten Widerspruch. Die Uebereinstimmung betraf
eigentlich nur den principiellen Punkt, daß man den Staat als wichtiges
Organ neben und resp, über dem Verkehrsleben anerkennen müsse, was man
auch von Seiten der enragirtesten Freihändler, so viel wir wissen, nie ernst¬
lich in Abrede gestellt hat. Es handelt sich nur um Regel oder Ausnahme.
Die meisten deutschen Volkswirthe haben bisher die Freiheit der Bewegung
und Concurrenz und die Selbstthätigkeit von Individuen und freien Ge¬
nossenschaften als Regel betrachtet und für jede Ausnahme und staatliche
Schranke den Beweis der Nothwendigkeit gefordert. Man möge in Zukunft
sich über das Maß dieser Ausnahmen und staatlichen Bevormundung und
Beglückung in friedlicher Discussion verständigen und sich nicht wieder in
künstliche Gegensätze hineinarbeiten.
Die Eisenacher Conferenz hat den unbestreitbaren Nutzen gehabt, daß
die gelehrten Nationalökonomen hoffentlich nun lebhafteren Antheil an der
Aufklärung des Volkes über wirthschaftliche Fragen nehmen und sich nicht
schämen werden, dabei auch selbst noch etwas hinzuzulernen. Ueber das
Ziel, daß wir in und mit dem Staate Alle glücklich werden wollen, sind
wir Alle einig; aber in Betreff des Weges müssen wir uns verständigen und
bei den Wegen, welche nach Rom führen oder von der Gesetzgebung einge¬
schlagen werden sollen, geht die Schwierigkeit an. Dabei müssen wir vor
Allem bedenken, daß wir nicht über eine Schablone glücklich werden können,
sondern der Verschiedenheit der menschlichen Naturen und ihren Schwächen
ebenso Rechnung tragen müssen, als der UnVollkommenheit des Staates. —
Die sociale Conferenz und der volkswirtschaftliche Congreß mögen im¬
merhin noch einige Jahre unvermittelt neben einander stehen und sich scharf
kritisiren. Das wird beiden Organen gutthun; denn auch der volkswirthschaft-
liche Congreß bedarf der Aufrüttelung und des Zuzugs frischer Kräfte, da¬
mit er nicht glaube, auf früheren Lorbeeren ausruhen zu können und etwa
im nächsten Jahre in Wien sein OaMg, finde. Er muß mehr arbeiten als
auf den letzten Congressen und sollte sich die Herren in Eisenach zum Muster
nehmen, welche bis tief in die Nacht hinein discutirt haben. Den Eisenachern
aber möge die Kritik, welche sie herausgefordert haben, auch gut bekommen.
Sie mögen bedenken, daß die wissenschaftliche Wahrheit keiner Namen und
Autoritäten und Parteien und auch keines Wohlwollens einer Regierung be-
darf, sondern daß sie überall da zu finden ist, wo sie gleichstrebende Menschen
mit einem Herzen ohne persönliche Leidenschaft suchen.
Es lebe die Concurrenz!
Gestern, den 7. October, hat Lourdes seinen großen Tag gehabt. Von
allen Gegenden Frankreichs haben in den letzten Tagen fromme Pilgrime
ihre Schritte nach dem Orte gelenkt? der so plötzlich berühmt geworden ist.
Man schätzt die Zahl der Wallfahrer, welche heute in der kleinen Stadt ein¬
treffen werden, auf mindestens 30,000 und es ist angekündigt worden, daß
der Bischof von Tarbes, zu dessen Sprengel Lourdes gehört, und mehrere
andere hohe Würdenträger der Kirche den versammelten Massen in geistlichen
Dingen zu Diensten stehen werden. Sehr schwierig wird es sein, für die
ungeheure Menge von Menschen, welche sich dorthin in Bewegung gesetzt
haben, in jenem Städtchen, welches nicht viel über vier Tausend Einwohner
zählt, Unterkunft zu beschaffen.
Lourdes liegt im Departement Hautes Pore'ne'es, Arrondissement Argeles,
nicht weit von Tarbes, also im südlichsten Winkel Frankreichs, und zeichnete
sich bis zum Jahre 1858 durch nichts Anderes als dadurch aus, daß es einen
lebhaften Kuhhandel trieb. Es streckt sich im Thal von Lavedan am Ein¬
gang einer Bergschlucht hin, wo man es als eine Art Verbindungsglied
zwischen Gebirg und Ebene hingesetzt zu haben scheint. Der rundliche Hügel,
aus dem es erbaut ist, wird durch das Zusammentreffen von drei Thälern
gebildet, und diese Lage gab ihm früher eine gewisse Wichtigkeit in Kriegs¬
zeiten. Es ist ein häßliches, düsteres und unregelmäßig angelegtes Nest mit
engen krummen Gäßchen, die ebenso schlecht gepflastert als von übelgebauten
windschiefen Häusern überragt sind. Ungefähr in der Mitte befindet sich eine
Art Marktplatz, ein großes Viereck, wo die Faullenzer und Klatschgevattern
des Ortes sich zu versammeln pflegen. Die einzige Merkwürdigkeit des Ortes
ist die uralte Burg, die sich über ihm auf dem Kamm eines steilen Felsens
erhebt, unter welchem der Gavebach hinrauscht. Eine Ueberlieferung sagt,
daß dieses Felsenschloß früher für uneinnehmbar gegolten, da selbst der mäch¬
tige Charlemagne vergeblich dessen Erstürmung versucht habe. Gewiß ist, daß
der Connetable Duquesclin bei aller seiner Unerschrockenheit es nicht einzu¬
nehmen vermocht hat, und daß der Herzog von Anjou nicht glücklicher ge¬
wesen ist. Nach wiederholten Stürmen zog er sich entmuthigt und in Ver-
wirrung zurück. Offenbar ist die Stadt im schützenden Schatten dieses Boll¬
werks erbaut worden und zwar will man die Entstehung der ersten Häuser
derselben bis ins zehnte Jahrhundert zurückverlegen.
Das Wunder, welches gegenwärtig Heere von frommen Pilgern hier¬
herführt, begab sich nach den mir vorliegenden „Annales de Lourdes", einem
beiläufig recht abgeschmackten Jesuitenmachwerk, im Jahre 1868 und gehört
in den Kreis der jetzt wieder stark blühenden Marialegenden. 18S4 war in
Rom das neue Dogma von der unbefleckten Empfängniß der Mutter Gottes,
d. h. die Lehre, daß sie ohne Zuthun eines Mannes, also auf übernatürliche
Weise, vom heiligen Geiste empfangen habe, definirt und proclamirt wor¬
den. Dasselbe fand keinen rechten Anklang in Frankreich, obwohl es die
Leib- und Lieblingslehre Pius des Neunten war. Selbst Starkgläubige ver¬
hielten sich kühl und vorsichtig dagegen, und so sah man sich genöthigt, ihm
mit einem Wunder unter die Arme zu greifen. Der Pfarrer von Lourdes
hatte die Gefälligkeit, dasselbe mit Hülfe eines blödsinnigen Mädchens von
vierzehn Jahren in Scene zu setzen. Ein Amtsbruder, der Curs von Bartres,
secundirte ihm dabei, indem er Bernadette Soubirous, so hieß die Blödsinnige,
von ihrer Kuhheerde hinweg nach Lourdes schickte, damit sie sich dort vom
Pfarrer auf ihre erste Communion vorbereiten lasse. Was ihr dabei einge¬
lernt worden ist, mag man aus den „Annalen" schließen, die ungefähr Fol¬
gendes berichten:
Am 11. Februar 1838 befanden sich drei Kinder von Lourdes, darunter
Bernadette, an den Ufern der Gave beim Reißersammeln. Nicht fern von
der Stadt, bei der Höhle von Massavielle, fanden sie reichlich, was sie suchten.
Die beiden andern lasen sich ein Bündel zusammen und gingen dann heim.
Bernadette Soubirous aber folgte ihnen mit leeren Händen. Sie hatte nichts
gesammelt. „Wohl aber trug sie Werthvolleres an ihren armen bescheidenen
Heerd." Während ihre Gefährtinnen lachend und sich neckend in der Höhle
umhergesprungen waren, hatte sie eine himmlische Erscheinung gehabt. In
die Grotte eintretend, hatte sie plötzlich ein Geräusch wie das Brausen eines
Sturmwindes vernommen und dann „in einer Oeffnung der Felsen über sich
wie in der Bleiumfasfung, welche die heilige Jungfrau auf Fenstern mit
gothischer Glasmalerei umgibt, eine Dame erblickt, die sie mit mildem Lächeln
anschaute. Diese Dame war von wundersamer Schönheit und strahlte von
Lichtglanz. Das kleine Mädchen zitterte wie vor einem Zauber. Lange be¬
trachtete es die Erscheinung, dann betete es, indem es instinctmäßig merkte,
daß sie vom Himmel stammte, inbrünstig seinen Rosenkranz ab. Nachdem
die Vision endlich verflossen, ging Bernadette nach Hause, auf ihrem Herzen
eine schwere, aber süße Last, ihr Geheimniß, jenes hinreißend holde Bild,
welches sie mit unruhigem Bangen, mit Sehnsucht und Wonne erfüllte."
Natürlich Entledigte sich das Mädchen dieser Bürde vor ihrem Pfarrer.
Ebenso natürlich ist, daß dieser ihr den Rath gab, die Höhle von Massavielle
wieder aufzusuchen und zu sehen, ob ihr die leuchtende Dame wieder erscheine.
Bernadette that, wie ihr geheißen, und die Dame kam richtig wieder. Nicht
weniger als achtzehn Mal sah das Mädchen das himmlische Bild und in der
letzten Zeit hatte es auch die Herablassung, mit der kleinen armen Hirtin zu
sprechen. Noch aber wußte diese nicht, mit wem sie sich unterhalten durfte.
„Da endlich, am 25. März, sagte Bernadette auf Anweisung ihres geistlichen
Führers zu der Erscheinung- Madame, wollen Sie mich wohl wissen lassen,
wer Sie sind? Da erhob die lichte Gestalt ihren Blick von dem Kinde,
breitete ihre Arme aus und sprach, indem sie Heller wie je vorher strahlte
und das Auge in die Glorie des Himmels versenkte: Ich bin die unbe¬
fleckte Empfängniß! worauf sie verschwand. Bernadette eilte zu ihrem
Pfarrer und berichtete ihm mit großer Freude, was der Name der leuchten¬
den Frau in der Höhle am Gave sei. Da ging dem Pfarrer und da ging
dem christlichen Volke ein Licht auf. Man begriff, man erkannte. Es war
die heilige Jungfrau, die Mutter Gottes, welche in eigener Person gekommen
war, um das Dogma zu bestätigen, welches der heilige Vater der Christen¬
heit vier Jahre vorher verkündigt hatte."
Natürlich machte die Sache großen Lärm. Es gab viele Gläubige; aber
auch Ungläubige, welche sich nicht scheuten, Bernadetten verfängliche Fragen
zu stellen, bei denen sie sich in Widersprüche verwickelte. Die Geistlichkeit
sorgte daher, daß sie aus der Gegend wegkam, und jetzt befindet sie sich in
einem Kloster bei Nevers. Der Bischof von Tarbes aber setzte eine Com¬
mission nieder, um die Angelegenheit zu untersuchen, und das Ergebniß war,
daß dieser Prälat am 18. Januar 1862 ein „Mandement" erließ, in welchem
er die Geschichte für wahr und die Erscheinung in der Grotte von Massa¬
vielle für echt erklärte, „zumal das Wunder dadurch bezeugt und bekräftigt
worden, daß es andere Wunder im Gefolge gehabt." Ob der würdige Herr
wohl selbst an seine Worte glaubt? Jedenfalls glaubt er, daß man in
Sachen der Religion auch dem neunzehnten Jahrhundert noch starke Dinge
zumuthen kann und dieser Glaube ist leider kein Aberglaube, wenn man auch
keineswegs annehmen darf, die Massen, welche seitdem nach Lourdes gewall-
fahrtet sind, seien allesammt von dem dort geschehenen Wunder überzeugt,
vielmehr hervorgehoben werden muß, daß die Politik namentlich an dem
jetzigen Aufschwung der Pilgerfahrten weit mehr Antheil hat, als die Reli¬
gion, und daß „unsere liebe Frau von Lourdes" für die Unternehmer jener
Fahrten nicht sowohl die Unbefleckt-Empfangene, als die Patronin Alt-Frank¬
reichs, die Patronin des mit den? Ultramontanismus verbündeten Legitimis-
mus ist.
Die Pilger begeben sich nach Tarbes mit der Eisenbahn. Von dieser
Stadt müssen sie den Weg bis nach Lourdes, wo man vor der Wunderhöhle
jetzt eine kleine Kapelle errichtet hat, in Kutschen und aus Bauernwagen
zurücklegen, da es gegenwärtig dort keine Postbeförderung gibt. Eine solche
existirt nur im Sommer. Lourdes ist indeß von Tarbes nur 18 Kilometer
entfernt und der Weg dahin führt durch das anmuthige und wohlbebaute
Thal von Bigorre. Keine von den Oertlichkeiten, die der Wanderer passirt,
hat irgendwelche historische Bedeutung, als das zur Linken der Straße ge¬
legene Dorf Benac, wo sich im Mittelalter eine starke Burg befand, deren
Besitzer in den Kreuzzügen von sich reden machten und von der noch Reste
eines Streitthurmes zu sehen sind. Die Bevölkerung von Lourdes beträgt
ungefähr 4200 Seelen. Es ist ein stilles alterthümliches Oerrchen, wo die
Glocke den Leuten schon um 9 Uhr Abends zu Bett läutet. Es erfreut sich
eines Wochenblattes und im Schlosse gibt es einen Gouverneur, der die
größte Mühe hat, die Zeit todtzuschlagen. „II s'olmuie beg-uconri." Das
ist der Ort, von dem uns soeben der Telegraph berichtet:
„Merzig Tausend Pilger haben sich hier versammelt und wohnten- so¬
eben der Messe bei, welche der Bischof von Carcassone unter freiem Himmel
celebrirte. Nach der Ceremonie hielt der Monsignor von Tarbes einen po¬
litisch-religiösen Sermon. Die Wallfahrer nahmen diese Predigt mit dein
Rufe: „Es lebe Frankreich! Vivat der Papst!" auf. Um zwei Uhr gab es
eine große Procession, welche circa zweihundert Banner trug, die alle Länder
repräsentirten und die man schließlich in der Kirche niederlegte. Unter ihnen
befand sich auch die Fahne von Elsaß Lothringen. Alle Fahnen waren mit
Krepp verhüllt, um die Trauer anzudeuten, welche Frankreich über sein und
des heiligen Vaters Unglück empfindet. Während die Procession auf die
Kirche zuschritt, rief das Volk ohne Aufhören: „Vive in, I'i-loco! Vive le
?aps!''. Neunzehn Abgeordnete der Nationalversammlung betheiligten sich
an dem Aufzuge. Es waren die Herren Belcastel, Lagrange, Dumont,
Franclieu, Rodez, Chesnelong, Dufour (aus dem Departement Basse Pyre'-
nach), Boysse, Resseguier, Bonald, Debarreau, Desseigne, Feligonde und de
la Bruyere. Von Bischöfen waren zugegen die von Auch, von Carcassonne,
von Meute, von Lucon, von Tarbes und der von Indien. Nach Einweihung
der Fahnen hielt der Erzbischof von Auch eine Rede, in welcher er seinen
Zuhörern empfahl, sich ruhig zu verhalten und zu keiner Art von Kund¬
gebung hinreißen zu lassen. (Er wird gewußt haben, daß ihnen ein demon¬
stratives „Vivo Höiu'i VI.!",auf der Zunge saß.) Die Revolution habe ihre
Agenten hergesandt, um Unruhe und Verwirrung anzustiften. Auch von
anderer Seite hörte man Letzteres behaupten. Aber bis jetzt ist noch nichts
von solchen Agenten zu sehen gewesen."
^utodivAraxd? ok Hoiaee Kreole? or: Recvlloetions ok Ä Lus? I.ne.
I^onäon, La.my80n I^vo et Loup. 1372.
Die persönlichen Erinnerungen eines Mannes von hervorragendem Talent
und scharf ausgeprägter Individualität werden unter allen Umständen In¬
teresse beanspruchen können. Die Erfahrungen eines Lebens, verbracht in
unablässiger anstrengender Arbeit, Anfangs in den niedrigsten Regionen, zu¬
letzt im Kreise der Pflichten eines Berufes, der so hoch steht, und von so be¬
deutendem Einfluß auf die politischen Bewegungen des Tages ist wie die
amerikanische Presse, müssen ohne Zweifel Vieles enthalten, was dem Neu¬
gierigen willkommen und für den ernsten Denker lehrreich ist.
So ist es nicht zu verwundern, daß Greeley's „Erinnerungen an ein
arbeitsvolles Leben" bei ihrem ersten Erscheinen in seinem Baterlande be¬
trächtliches Aufsehen erregten und mit Begierde gelesen wurden. Hatte man
in ihm doch seit geraumer Zeit schon nicht nur einen der hervorragendsten
Politiker Amerikas erblickt, sondern zugleich einen Mann von weit größerer
Unabhängigkeit des Urtheils und weit kräftigerem und entschiedenerem Cha-
racter, als man gemeinhin unter den Kammerherrn und Kammerdienern des
souveränen Volkes findet.
Jetzt aber ist dazu noch ein anderes Moment getreten, durch welches
diese Memoiren für weitere Kreise Interesse gewinnen und für den Ameri¬
kaner doppelt werthvoll werden. Greeley ist Candidat einer mächtigen Par-
teien-Coalition für das Weiße Haus in Washington. Der Journalist wird
sehr wahrscheinlich — gewiß ist es noch nicht; denn die Partei, welche Grant's
Wiederwahl betreibt, zählt ebenfalls viele Anhänger und befiehlt über ein
Heer von Beamten — Präsident der größten Republik der Erde, oberster
Leiter der Politik eines Staates werden, der mit jedem Jahre mehr Weltmacht
geworden ist.
Das ist die Seite der Sachlage, nach der uns, diesseits des großen
Wassers, diese Aufzeichnungen vorzüglich Interesse einflößen. Für die Ame¬
rikaner fallen andere Umstände mehr ins Gewicht. Greeley ist unter Aus¬
nahmeverhältnissen zum Repräsentanten und Willensträger einer Partei ge-
wählt worden, er ist der Fahnenträger dieser Partei in einem Kampfe, dessen
Ausgang für eine Reihe von Jahren das Verhalten der amerikanischen Re¬
gierung gegen einen sehr wichtigen Theil der Union und die Beziehungen
der sich dort unter neuen und schwierigen Umständen Gesicht zu Gesicht
gegenübergestellten Racen entscheiden wird, und so werden autobiographische
Offenbarungen, welche auf die Natur, die Fähigkeit und die Ueberzeugung
desselben Licht werfen, vorzüglich in der Richtung der inneren Politik mit Auf¬
merksamkeit von jenen studirt worden sein.
Nun sind wir nicht oft einem Buche begegnet, welches gründlicher und
unverhüllter den Character seines Verfassers darstellt als dieses. Greeley ist
von Jugend auf an das öffentliche Leben gewöhnt und zwar an das öffent¬
liche Leben Amerikas, wo Staats- und Volksmännern nicht die geringste Ver¬
heimlichung gestattet ist. Man hat ihn vom ersten Augenblick an in einer
Weise mit dem von ihm geschaffenen Organ identificirt, wie bei dem System
der Anonymität, welches die meisten Zeitungen festhalten, kaum mit einem
andern Journalisten geschehen ist. Man hat ihn behandelt, als ob er in
einem Glashause wohnte, das Kleinste an ihm der Besprechung unterzogen,
ihn gepriesen und geschimpft, nicht in seiner Eigenschaft als Zeitungsschreiber,
sondern als Privatperson und mit Nennung seines Namens.
Zudem ist er ein Character, der von Natur mit seinen Ansichten und
Empfindungen nicht hinter dem Berge hält, vielmehr unter allen Umständen
offen und unverblümt mit der Sprache herausgeht. Zu tapfern Sinnes,
um aus Furcht schweigsam zu sein, zu rauhen Wesens, um aus Zartgefühl
das Eine und das Andere unerwähnt zu lassen, fast ohne Reue und Bedauern
über irgend einen Punct in seiner Vergangenheit und, wo solch ein Gefühl
sich regt, ohne alle Scheu, zu bekennen, daß er geirrt und gefehlt, hat Gree¬
ley in feinen Memoiren sich in einem Grade selbst portraitirt, wie sehr
wenige Politiker der alten Welt zu thun wagen würden.
Mit der größten Aufrichtigkeit spricht er von seinen Erfahrungen und
Erlebnissen in der Vergangenheit, von der Armuth seiner Jugendjahre, seinen
Entbehrungen, seinen Bemühungen, sich emporzuringen, seinen späteren Er¬
folgen, seinen Beziehungen zu verschiedenen Parteien und deren Führern,
seinem häuslichen Leben und seinen Liebhabereien. Die Art seines Vertrags
ist wohl berechnet, den Leser zu fesseln und seine Aufmerksamkeit wach zu er¬
halten. Indeß giebt er uns hier keine fortlaufenden Denkwürdigkeiten. Die
Aufgabe, sein Leben zu schreiben, bleibt einer andern Hand überlassen. Er
hat uns nur eine Reihe von Aufzeichnungen geliefert, die halb Erzählung,
halb Betrachtung derjenigen Partien seines Lebens, derjenigen Züge seiner
Erfahrungen und Beobachtungen sind, welche ihm selbst die interessantesten
zu sein und für Andere die meiste Belehrung und Unterhaltung zu gewähren
scheinen. Im Allgemeinen ordnet er seinen Stoff nach der Zeitfolge, aber er
steht nicht einen Augenblick an, dieselbe zu unterbrechen, wenn es ihm für
die Einheit des Gegenstandes passend scheint.
So haben wir hier seinen eigenen Bericht von dem Hauptgang und
Haupttor seines Lebens, von jeder einzelnen der politischen und gesellschaft¬
lichen Bewegungen, an denen er betheiligt gewesen ist, von einigen der be¬
deutsamsten Auftritte, bei denen er auf der Staatsbühne mitwirkte, und das
alles ist mit einer Fülle von Einzelheiten ausgestattet, welche in einer eigent¬
lichen Autobiographie unmöglich gewesen wäre, welche uns aber die wahre
Geschichte seines Geistes, seinen Character und seine eigenthümlichen Mei¬
nungen weit eindringlicher und klarer vor Augen stellt, als solch eine Selbst¬
biographie im Stande wäre.
Man sagt, daß die Dirigenten der Parteien in den Vereinigten Staaten
gewohnt seien, ihre Präsidentschafts-Candidaten mit einer Wache zu um¬
geben, um sie vor der Berührung mit unwillkommenen und zudringlichen
Beobachtern und AusHorchern zu bewahren und sie selbst an unvorsichtigem
Gebrauch von Feder und Papier zu hindern. Dieser Brauch, der den Zweck
hat, den von der Partei Nominirten vor Schädigung seiner und ihrer Aus¬
sichten abzuhalten, besteht wirklich. Er hängt mit dem Grundsatz zusam¬
men, nach dem man meist solche Candidaten heraussucht, deren Vergangenheit
nicht hinreichend markirt und nicht genügend im Gedächtniß der Leute ist,
um gegen irgend eine Fraktion oder irgend ein Interesse des Volkes zu ver¬
stoßen.
Diese Regel ist in Greeley's Fall ganz augenfällig unbeachtet geblieben.
Wenige Leute werden sich in Amerika finden lassen, die so viele unvorsichtige
Dinge gesagt und gethan, so oft und so stark der öffentlichen Meinung An¬
stoß gegeben haben, als der Herausgeber der „Tribune". Und einem Horace
Greeley Schweigen aufzuerlegen, würde selbst über die Macht der amerikani¬
schen Parteidisciplin hinausgehen. Wenn er trotz des vor uns liegenden
Buches und dessen, was es in die Erinnerung zurückruft, als ein brauchbarer
Candidat mit guten Aussichten gilt, so muß jene Disciplin entweder viel
stärker wirken, als die, welche sie in den Händen haben, jemals zu glauben
pflegten, oder eine bedeutende Persönlichkeit und gewisse volkstümliche Eigen¬
thümlichkeiten müssen hinreichen, alle die üblichen und landläufigen Einwürfe
gegen einen allzu notorischen öffentlichen Character aufzuwiegen. Denn nie
kümmerte sich jemand weniger darum, ob er Feinde verletzte oder Freunde
compromittirte und erschreckte, als der Gegenstand dieser Betrachtung.
Dieser Zug absoluter Unbekümmertheit um die Folgen seines Thuns in
Betreff der öffentlichen Meinung geht auch durch sein Buch. Er gesteht
offen, daß er ein Socialist, wenn auch kein Communist ist. Wir erfahren,
daß er zu den Teetotalern gehört, daß er stark zu den Begetarians, d. h.
zu den guten Leuten hinneigt, welche das Fleischessen für unzuträglich und
unvernünftig halten, ja daß er halb und halb an die Lehre der Geister¬
klopfer glaubt, während er doch wieder einer Menge hausbackener Wahr¬
heiten mißtraut, die, wenn wir anders die amerikanischen Spiritualisten rich¬
tig beurtheilen, neun Zehntel derselben tödtlich verletzen müssen. Seine Mit¬
theilung über Margaret Füller, die einige Zeit als ein Mitglied seines Haus¬
halts bei ihm lebte, zeigt zugleich eine gewisse Hinneigung zu den sogenann¬
ten „Weiberrechten", welche nicht geeignet ist, die, welche es mit dem Alten
zu halten gedenken, zufrieden zu stellen, und andererseits einen Glauben an
den heilsamen Einfluß eines „Gatten und etlicher fröhlich umherhüpfender
Kinderchen", welcher die gegen solche Segnungen aufkreischende Schwestern¬
schaft in Wuth versetzen muß.
Diejenigen, welche mehr von Characteren als von Meinungen halten
und der Ansicht sind, daß die Politik eines Präsidenten der Vereinigten
Staaten zwar im Allgemeinen durch das Programm seiner Partei geregelt
wird, daß aber die Klugheit und der Erfolg seiner Verwaltung in großem
Maße von seinen persönlichen Eigenschaften abhängen, namentlich, wo es sich
um einen Mann von starkem Willen voll Selbstvertrauen und leidenschaft¬
lich festgehaltene Ueberzeugungen handelt, werden sich durch diese Aufzeich¬
nungen nicht zu Herrn Greeley hingezogen fühlen. Denn dieselben zeigen
eine nur mittelmäßige Bildung und Erziehung, und ein lebendiges, aber
beschränktes Verständniß, einen gesunden Menschenverstand, der aber so wenig
durch Lernen cultivirt ist, daß er uns keinerlei Sicherheit vor den tollsten
Verirrungen in Betreff solcher Dinge gewährt, welche nicht in das Bereich
seiner eigenen Erfahrungen fallen, und ein zähes Festhalten an vorgefaßten
Meinungen, welchem nur die Leichtfertigkeit gleichkommt, mit der sie sich bei
ihm auf unzureichende und unpassende Voraussetzungen hin bilden.
Kurz, Horace Greeley hat ohne Zweifel seine Tugenden. Aber es ist
ungefähr der letzte, welchen Staatsmänner wählen würden, um ihn mit einem
bedeutenden Maße directer Gewalt und einem noch größeren Maße indirecten
Einflusses auszustatten, den der damit Bekleidete nach seinem Belieben, un-
controlirt von verantwortlichen Räthen und sehr wenig gehindert vom Con-
gresse, ausüben kann.
Für einen beträchtlichen Theil seiner Anhänger im Norden der Union
aber machen die Antecedentien, welche Greeley zum Regenten untauglich er¬
scheinen lassen, und die Eigenthümlichkeiten, welche diese Untauglichkeit be¬
leuchten, gerade seine Hauptanziehungskraft aus. Er ist für sie ein Mann
von persönlicher Bedeutung und zugleich einer Ihresgleichen. Er übt
auf ihre Einbildungskraft allen den Einfluß aus, welcher einer scharf aus-
geprägten Persönlichkeit in einem Lande zufällt, wo Standesrechte nicht
eristiren.
Greeley begann sein Leben als Sohn eines kleinen Farmers in New-
hampshire, der rasch in die noch niedrigere Stellung eines Tagelöhners herab¬
sank. Er ging noch als Knabe in die Welt hinaus und wurde der Drucker¬
junge bei einem Blättchen auf dem Lande, dann Setzer. > Nach jahrelanger
harter Arbeit am Setzkasten und gleich harter, aber wenig besser bezahlter
Arbeit in der Redaction von Parteijournalen und Flugblättern für Wahl¬
campagnen, gründete er endlich die „Newyork Tribune", die sich langsam zu
einem mächtigen Organ seiner Partei und zu einem werthvollen Besitzthum
emporschwang. Er ist ein Mann, der viel gelesen, aber doch immer nur die
Bildung eines Autodidacten hat, von einfachen, um nicht zu sagen, unge¬
hobelten Manieren, simplem Geschmack, ein Sonderling in Tracht und Ge-
bahren, kurz, in seiner Erscheinung, seinen Gewohnheiten, seinen Ideen, nach
seiner Denkart und seinen Borurtheilen einem Bauer von Vermont oder
Ohio so ähnlich, als der Herausgeber eines angesehenen Newyorker Journals
irgend sein kann. Er besitzt ein gutes Theil von dem Ton und Tact des
Farmers und bemüht sich, noch mehr davon an den Tag zu legen. Er spricht
in ihrem trockenen Humor, liebt es, gerade herauszusagen, was er auf dem
Herzen hat, wie sie, verschmäht Spitzfindigkeiten und gesuchte Ausdrücke und
feine Wendungen wie sie. Seine Borliebe für die Landwirthschaft und das
Landleben wird von der bäuerlichen Bevölkerung, die er in der „Tribune"
mit Fleiß und Geschick über die neuesten Entdeckungen und Verbesserungen
auf ihrem Gebiet belehrt, als ein weiterer Beweis für seine einfache Art
und seine Ähnlichkeit mit ihnen betrachtet. Kurz, weil er kein Mann von
feiner Bildung und Sitte ist und sich bemüht, dies noch mehr zu scheinen,
weil er keine ausgebreiteten Kenntnisse, keine politische Gelehrsamkeit besitzt,
hält jene Klasse der amerikanischen Bevölkerung ihn für geeigneter als einen
„Gentleman", einen Gelehrten und Staatsmann wie Adams, den die Partei
Schurz's in Cincinnati nominirt haben wollte, vom Volke der Union zum
Präsidenten derselben erwählt zu werden. Das Ideal eines Bauern soll, so
wollen es die souveränen Bauern, die Politik einer der ersten Nationen der
Welt leiten.
Wenn nun Greeley's Memoiren unsere Meinung von der Tauglichkeit
desselben für die Bekleidung der höchsten Stelle unter den Staatsmännern
Amerikas nicht günstig gestalten, so stellen sie doch seinen persönlichen Cha-
racter vielfach in ein freundliches und angenehm wirkendes Licht. Wir be¬
gegnen hier strenger Moralität ohne irgendwelche Spur von Heuchelei und
Schroffheit, eifrigem, fast leidenschaftlichem Ernst in der Erfassung der Tages¬
fragen, der aber völlig frei von Hohn und Bosheit ist, strammen Festhalten
an den Grundsätzen, die er sich gebildet, verbunden mit großherzigen Wohl¬
wollen selbst gegen die, welche von demselben am weitesten abweichen, und
infolge dessen mit dem steten Bestreben, denselben Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen. Solche Eigenschaften reichen allerdings nicht aus, einen großen
Staatsmann zu machen, aber sie zeigen uns in ihrer Gesammtheit das Bild
eines ehrenwerthen Menschen, eines guten Nachbars und eines schätzens-
werthen Staatsbürgers.
Greeley ist aufgestellt worden als Borkämpfer für die Reform des Civil¬
dienstes in der Union. Sein unglücklicher Brief über diesen Gegenstand, ver¬
bunden mit seinem Schweigen Angesichts der schändlichen Practiker des Tam-
many-Reichs, hat den Eindruck hervorgerufen, daß es ihm mit dieser Sache
nicht Ernst sei. Aber diejenigen, welche sich seiner kurzen Wirksamkeit im
Congreß und seines entrüsteten und erfolgreichen Ankämpfens gegen die Mi߬
bräuche des „Meilengeldes" oder der Reisespesen-Erstattung und der Lieferung
von Büchern, welche die werthvollsten Einnahmen der Bundesgesetzgeber bil¬
deten, erinnern — ein Ankämpfen, welches in seiner Schrift kurz und wahr¬
heitsgemäß erwähnt ist — werden Greeley kaum im Verdacht haben, daß er
geneigt sein könnte, faule Ränke zu dulden und Begehrlichkeiten durch die
Finger zu sehen, die er, pflichtmäßig zurückzuweisen hätte.
Seine socialistischen Versuche serner flößen wenig Vertrauen in sein Ur¬
theil ein; aber sein offenes Geständniß, daß sie fehl geschlagen und aus wel¬
chen Ursachen, sowie seine entschiedene Zurückweisung des Communismus
zeigen, daß er nicht nur fähig, sondern auch Willens ist, von den Lectionen
practischer Erfahrung Nutzen zu ziehen. Sein Verhalten gegen den secessio-
nistischen Süden gefiel im Norden nur Wenigen und ist der einzige Punkt auf
seiner politischen Laufbahn, über den er in apologetischer Weise sich äußert,
wie wenn er das Bedürfniß fühlte, sich zu vertheidigen. Aber wir Unpartei¬
ischen müssen zugeben, daß derjenige, welcher zu verschiedenen Malen dem
Norden die Trennung vom Süden angerathen hatte, zugestehen müsse, daß
der Süden zur Secession berechtigt sei. Und wir sind der Ansicht, daß der
artige und maßvolle Ton, in dem er von den Besiegten spricht, seine Ver¬
theidigung der jetzt unpopulären Lehre, daß, wenn ein Aufstand die Dimen¬
sionen eines Bürgerkriegs angenommen hat, die daran betheiligt Gewesenen
nicht hinterher als Verbrecher behandelt werden können, und sein Eintreten
für baldige Entlassung des Secessionisten - Präsidenten Jefferson Davis ihm
mehr Ehre machen als die grimmigste Declamation gegen die Sclavenhalter
und Hochverräther, die er hätte abschießen können.
Wohl am meisten geeignet, Greeley's Ruf als Politiker zu schädigen,
sind gewisse volkswirtschaftliche Partien seines Buches. Namentlich die
Engländer werden seine Ansichten über die Zollgesetzgebung Amerikas für
thörichte Weisheit erklären. Er ist nicht blos ein heftiger Fürsprecher der
Schutzzölle, sondern zeigt sich auch völlig unfähig, den Werth von Thatsachen
und Beweisgründen, welche sich auf den Gegenstand beziehen, richtig zu be¬
urtheilen. Allerdings kann er die ein für alle Mal angenommenen Behaup¬
tungen seiner Partei mit Genauigkeit und in flüssiger Rede wiederholen.
Aber er gestattet, daß man ihn dahin versteht, seine Feindschaft gegen den
Freihandel habe ihre letzte Ursache in dem Nothstande, von dem er Zeuge
war und der ihn mitbetraf, als das plötzliche Einströmen englischer Waaren,
nach dem Kriege von 1812, die heimischen Fabrikanten vom Markte vertrieb.
Als ob es, um diesem vorübergehenden Nothstand abzuhelfen, der Billigkeit
und Gerechtigkeit entsprochen hätte, eine ewige Steuer zu Gunsten der Spin¬
ner, die sich in Newhampshire noch der alten Kunkel, und der Weber, die
sich des großväterlichen Handwebstuhls bedienten, auf jede amerikanische Fa¬
milie zu legen.
Und dabei ist Greeley so unzugänglich für Gründe, so blind gegen Be¬
trachtungen, die auf der Hand liegen, daß er behauptet und dabei bleibt, daß
einmal und zwar beträchtliche Zeit hindurch englische Fabrikerzeugnisse in
den Vereinigten Staaten unter dem Kostenpreise verkauft worden seien, nicht
aus Nothwendigkeit und wegen Ueberfüllung des Marktes, sondern um das
Aufblühen der amerikanischen Manufacturen zu vernichten. Als ob Kauf¬
leute und Fabrikanten sich einen schweren, unmittelbaren und persönlichen
Verlust blos um der Aussicht willen auf einen zukünftigen Vortheil und Ge¬
winn auszusetzen Lust haben könnten, einen Gewinn, den ihnen überdieß ihre
Concurrenten daheim sofort streitig machen würden.
Wäre Greeley selbst Kaufmann oder Fabrikant, so sagt „Saturday Re-
view", dem wir den größeren Theil dieser Betrachtung entnehmen, so würde
sein in der Praxis gewonnenes Wissen ihn vor einer solchen abgeschmackten
Behauptung bewahrt haben. Aber er besitzt eben nicht die allgemeine Bil¬
dung, die ihn in den Stand setzen würde, ohne jene practische Erfahrung die
Unmöglichkeit von so etwas zu entdecken. Seine theoretischen Argumente,
sein allgemeines Raisonnement werden durch diesen äußersten Mangel an
einem weiten Gesichtskreise, durch jenes Haschen nach Grundsätzen, die nur
eine gründliche Ausbildung an die Hand geben kann, verdorben. Aber wenn
er über Dinge schreibt, die er gesehen und gefühlt hat, wenn er aus Erfah¬
rung spricht, so befähigt ihn sein gesunder Menschenverstand fast immer,
den Wust von Vorurtheilen und Irrthümern, die er eingesogen, bei Seite zu
kehren und sein Bericht ist dann im Allgemeinen der Art, daß man ihm ver¬
trauen und aus ihm Nutzen ziehen kann. Der Leser findet in diesen Er¬
innerungen nicht nur ein klares Bild des Mannes selbst, der sie niederschrieb,
sondern auch viele höchst lehrreiche Skizzen des amerikanischen Lebens, wie es
war und noch ist, und er wird, Alles in Allem genommen und noch mancher¬
lei Mängel und Schäden zugegeben, geneigt sein, besser von beiden zu denken,
als viele seiner ausgearbeiteten, aber weniger einfachen und weniger geradezu
redenden Berichte ihn zu denken bewogen haben möchten.
Als im französischen Ministerrathe der Marschall Leboeuf die Erklärung
abgab, die Armee sei zum Kriege bereit, wurde die Frage an ihn gerichtet,
was er unter diesem Wort verstehe. Und er antwortete mit stolzer Zuver¬
sicht : die Armee sei mit Allem dergestalt ausgerüstet, daß man binnen Jahres¬
frist auch keinen Gamaschenknopf anzuschaffen brauche; sie sei eben ganz und
gar „aredixröt". Die Berechnungen, welche der Kriegsminister dem Kaiser
vorgelegt hatte und welche wir mitgetheilt haben, stimmten vortrefflich auf
dem Papiere. Was für eine bittere Enttäuschung war es daher für Napo¬
leon, als er bei Uebernahme des Oberbefehls, nachdem drei Wochen Mvbil-
machungszeit verstrichen, nicht mehr denn etwa 200,000 Mann in den Cadres
der Rheinarmee vorfand.
In einem vom Kaiser Napoleon inspirirter Memoire") hat er in allge¬
meinen Zügen den Plan gezeichnet, den er für den Feldzug gegen Preußen
entworfen hatte. Da heißt es in der Hauptsache wie folgt:
„Der Kaiser wußte, daß Preußen in kurzer Zeit 900,000 Mann mobil machen
konnte und mit Beihülfe der Südstaaten 1,100,000 Mann, denen Frankreich nur
600.000 Mann entgegenstellen konnte. Und da die Zahl der streitbaren niemals
mehr als die Hälfte des Effectivstandcs enthält, so war Deutschland bereit, 550,000
Mann ans das Schlachtfeld zu führen, während Frankreich nur ungefähr 300,000
Mann hatte, um dem Feinde entgegenzutreten. Um diese numerische Ueberlegenheit
auszugleichen, hätten die Franzosen durch eine äußerst schnelle Bewegung den Rhein
überschreiten, Süddeutschland vom Nordbund trennen und durch den Eclat eines erste»
Erfolges Oesterreich und Italien sich zu Verbündeten machen müssen. Wenn es gelang,
die Verbindung der süddeutschen Armeen mit den norddeutschen zu verhindern, so war
die preußische Armee um 200,000 Mann schwächer, und so das Mißverhältniß in der
Zahl der streitbaren vermindert. Wenn Oesterreich und Italien gemeinschaftliche
Sache mit Frankreich machten, so stellte sich die Ueberlegenheit der Zahl zu dessen
Gunsten heraus."
» „Dieser Plan hatte nur dann eine Möglichkeit des Erfolges, wenn der Feind an
Geschwindigkeit überflügelt wurde. Zu diesem Zwecke mußte man in wenigen Tagen
auf bestimmten Puncten nicht allein die gegebene Anzahl Soldaten versammeln, sondern
auch das nothwendige Kriegsmaterial, wie Wagen, Train, Artillericparks, Pontons,
Kanonenschaluppen, um den Uebergang über den Rhein zu schützen, endlich die unab¬
lässige Verproviantirung mit Schiffszwieback, um eine zahlreiche Armee zu ernähren,
welche vereint marschirt. Der Kaiser schmeichelte sich, dieses Resultat erreichen zu
können, und das war sein Irrthum, da alle Welt (!) in der Illusion lebte, daß eine
Concentration von so viel Menschen, Pferden und Kriegsmaterial durch die Eisenbahnen
mit der nothwendigen Ordnung und Präcision geschehen könne, ohne daß Alles schon
lange im Voraus von einer vorsorgenden Verwaltung regulirt worden sei."
Dieser Irrthum im Verein mit den Fehlern der militärischen Organisa¬
tion Frankreichs vereitelte den Plan des Kaisers. „Als er am 28. Juli zu
Metz anlangte, begann er zu fürchten, daß unüberwindliche Hindernisse alle
seine Entwürfe im Keim ersticken würden." —
Napoleon III. hat sich über die Art der französischen Mobil¬
machung gegenüber der preußischen in seinen Studien von Wilhelmshöhe*)
so bezeichnend und genau unterrichtet ausgesprochen, daß man nicht begreifen
kann, warum er die so klar erkannten Uebelstände nicht beseitigt hat. Er
sagt: „Wenn die Mobilmachung angeordnet wird, gehen, wie dies nicht an¬
ders sein kann, die allgemeinen Anordnungen von Paris aus, aber mit
allen speciellen Anordnungen ist das ebenso der Fall. — Der
Kriegsminister schickt den 89 Commandeuren der Ersatzdepots den Befehl, die
beurlaubten und Reserve-Mannschaften einzuberufen. Diese Commandeure in
jedem Departement, die die Listen aller Dienstpflichtigen haben, schicken nun
den 36,000 Maires die Namen der einzuberufenden Individuen und befehlen
ihnen, diese in ganz Frankreich zerstreuten Leute zu bestimmtem Termin in
die Depots zu sammeln." Von 100 Infanterie-Regimentern befanden sich
bei Ausbruch des Krieges nur 35 in derselben Garnison mit ihrem Depot.
So stand z. B. das 87. Regiment zu Lyon, während sein Depot in Se. Malo
lag; das 98. Regiment garnisonirte zu Dünkirchen hatte aber sein Depot zu
Lyon.") — Da nun jedes Bataillon von seinen 8 Compagnien 2 zur For-
Mation des Depotbataillons abgab und zu seiner Completirung auf Kriegs¬
stärke 250 Reserven bedürfte, so kann man abnehmen, welche ungeheure
Menge von Menschen mit einem Schlage in Bewegung gesetzt wurden. —
„Von Marseille bis Brest, von Bayonne bis Lille (fährt Napoleon fort) sind
nun alle Straßen und Wege im eigentlichsten Sinne des Wortes von den^
Soldaten durchzogen, da sie von einem Ende Frankreichs bis zum andern
gehen müssen, um ihre Depots zu suchen und von dort wieder weiter ziehen
müssen, um sich ihren Regimentern anzuschließen." (Es ist vorgekommen, daß
Reservisten aus dem Elsaß nach Algier geschickt wurden, dort eingekleidet
wurden und dann mit ihrem Regiments wieder in das Elsaß zurückkehrten.)
..Die ganze Organisation für die Kriegszeit ist erst zu
schaffen: man muß die Regimenter bezeichnen, die zur Bildung von Bri¬
gaden und Divisionen bestimmt sind, man muß oft von weit her die
Batterien und Genie-Compagnien kommen lassen, die diesen Divisionen zuge¬
wiesen werden; man muß die Intendantur, die Trainparks, den Krankendienst
organistren; man muß den Stab eines jeden Armee-Corps, einer jeden Divi¬
sion und Brigade bilden: auf diese Weise sind mehrere Hundert Generale,
Officiere aller Grade, Intendanten, Chirurgen gezwungen, sich in Eile beritten
zu machen und zu equipiren und sich zu einem Corps zu begeben, das sie
nicht kennen."*)
Eben so unvollkommen und schwerfällig wie die Mobilmachung des Per¬
sonals ist die des Materials; auch in Bezug aus dieses rächte sich die über¬
mäßige Centralisation auf das Empfindlichste. Da der Kriegsminister
allgewaltig herrschte und die Regimenter ohne Zwischeninstanz direct unter
ihm standen, so wendete sich nun Alles an Leboeuf, der mit seinem g.la«-
im>j0r-g6u6rat Lebrun und seinem ganzen Stäbe vom Beginn der Mobil¬
machung a'n den Kopf verloren hatte. Die Intendantur aber, auf die
er sich hätte stützen sollen können, zeigte sich ihrer Aufgabe in keiner Weise
gewachsen.**) Die vermittelnde Thätigkeit von Corps- und Divisions-Jnten-
danturen, welche in Preußen auch zur Friedenszeit bestehen, fehlte. Die (Zen¬
tralbehörde aber, der auch die Verwaltung der Militärgerichtsbarkeit und des
Sanitätswesens zufiel, war einerseits mit Arbeit überhäuft, andererseits herrsch¬
ten (französischen Aussprüchen zufolge) Flatterhaftigkeit, Unordnung, ja Un¬
redlichkeit in ihren Reihen und wirkten um so schlimmer, als die Beschaffungs-
und Aufbewahrungs-Weise der Kriegsmaterialien im Frieden in jeder Be¬
ziehung unpractisch und mangelhaft war. Trotz wiederholter Befehle des
Kaisers befanden sich die Lagerutenfllien nicht bei den Truppentheilen, sondern
meist zu Paris und Versailles. Die Fahrzeuge der Truppen waren fast
sämmtlich an zwei Orten, in Vernon und Satory, aufgestapelt und lagen
nicht einmal auf den Rädern, so daß ihre Zusammensetzung großen Aufent¬
halt verursachte. Die Gewehre waren ebenfalls bei den Regimentern nicht
zur Stelle, die Kriegschargirung nicht ausreichend.*) Der Kaiser selbst sagt:
„Kleidung, Ausrüstung, Lazarethgeräthschaften, Munition,
Werkzeuge werden in Frankreich, anstatt daß sie in den Magazinen des be¬
treffenden Corps sein sollten, aus den Central-Magazinen und gewöhnlich aus
Paris genommen, um in die Depots der verschiedenen Waffengattungen ge¬
schickt zu werden. — Die Artillerie- und Trainpferde sind zwar von
den Bauern entnommen oder direct, wie in Preußen, gekauft; aber wenn sie
erst einmal in die Remontirungsdepots gebracht sind, kommt es bei dem
Mangel einer in Friedenszeiten gut vorbereiteten, richtigen Bertheilung der
Mannschaften und Pferde sehr oft vor, daß in manchen Depots Massen von
Pferden und keine Reiter sind, in andern viel Reiter und keine Pferde. —
Wenn man sich nun klar macht, wieviel Proviant jeder Art für eine Ar¬
mee von 400,000 Kämpfern mit mehr als 100,000 Pferden und beinahe
1S,000 Wagen erforderlich ist; dann wird man verstehen, was für eine Riesen¬
arbeit eine Verwaltung zu überwinden hat, wenn in Friedenszeiten nichts
geschehen ist. was diese Arbeit erleichtern könnte." — „Die Kriegsadministra¬
tion in Frankreich gleicht einer vortrefflichen Maschine, deren Theile mit Kunst
gearbeitet, aber alle einzeln in den Werkstätten aufbewahrt werden. Wenn
man sie in Bewegung bringen soll, ist die Arbeit lang und schwierig, denn
man muß alle Räder zusammensuchen und miteinander verbinden, mit einem
Wort die Maschine vollständig wieder zusammensetzen, von der einfachsten
Schraube bis zu dem complizirtesten Theile. In Deutschland hingegen ist die
Maschine zusammengesetzt: damit sie in Gang kommt, braucht sie blos ein
Bischen Wasser, Kohlen und Feuer."**)
Soviel von der Mobilmachung. — Fassen wir nun die Armee selbst
ins Auge. Hat sie den Krieg gewollt? Nicht mehr als ganz Frankreich.
Ohne Frage ist sie niemals unter Napoleon III. so kriegsunlustig gewesen, als
grade 1870. Keine Spur von der glühenden Kampfsucht, welche die Reihen
des Heeres vor dem Krimkriege beseelte; nicht einmal ein Abglanz des flackern-
den Enthusiasmus, der sie umleuchtete, als sie im Jahre 1889 den tomba»
dischen Feldzug begann.
Und trotzdem hat ein französischer Schriftstellers entschieden recht, wenn
er bei einer Besprechung der „ILssponsadlös as ig, guorre as 1370" von dem
Grundsatze ausgeht: „tout Is mvnäs vvulg.it ig. Zusirs!" Freilich aber —
dies „vouloir" war kein bewußtes, klares, ächtes Wollen, das sich deutlich
des Zweckes und der Mittel bewußt ist — es waren vielmehr unklare An¬
wandlungen, eitle Aufwallungen, oder wie die Franzosen es nennen „V«üIIöit6s",
welche, mit leidenschaftlichen Phrasen großgefüttert, der Masse der Franzosen
über den Kopf wuchsen. Durch wen und in wie weit und aus welchen Grün¬
den dabei von oben her Anstoß gegeben worden ist, das kann an dieser Stelle
keine Untersuchung finden — genug, daß die Armee dem Kriege gerade so
gegenüber trat wie die ganze Nation: halbwillig und unvorbereitet, aber
alles von Chassepot und Mitrailleusen hoffend; sich selbst überschätzend, prah¬
lend, ohne Disciplin, aber tapfer; ohne Vertrauen auf ihre Führer, aber voll
Zutrauen aus das Glück.
Die aus Afrika herangezogenen Truppen waren 3 Regimenter Zuaven,
3 Regimenter Turcos, 4 Regimenter Chasseurs d'Afrique und das 9. Jäger-
Bataillon. Die Truppen, welche dort blieben, ergaben mit den fürs erste noch
in Civita Vecchia belassenen kleinen Corps und dem Observationsdetachement
an den Pyrenäen 36 Bataillone, 34 Escadrons und 10 Batterien, sodaß für
den Feldgebrauch gegen Deutschland disponibel blieben: 344 Bataillone, 218
Escadrons und 180 Batterien. Sie traten als Rhein-Armee in 8 selbststän¬
digen Armee-Corps auf und zwar**):
Normalmäßig hätte dies eine Armee von 330 bis 340 Tausend Com-
battanten repräsentirt; die mangelhaften Reserveeinrichtungen ließen aber nur
eine sehr viel geringere Stärke erreichen. Die Früchte des Gesetzes von 1868
kamen der Reserve natürlich erst zum allerkleinsten Theile zu Gut, Ihre
1. Portion bestand bei Ausbruch des Krieges aus 32,800 Mann, die Krüm¬
permasse aus etwa 92,000 Mann. Die Zahlen hätten etwas höher sein
können; aber es waren von Seiten der Divisionscommandos gegen den Wort¬
laut der Ministerialverordnung eine große Menge von Verheirathungen im
ersten Jahrgange gestattet worden und alle diese Leute fielen französischer
Sitte gemäß aus.') Dies beeinträchtigte die Zahl der Reservisten. — Die
vor 1869 eingestellten Contingente hatten niemals mit dem Chassepot exercirt;
da sie es nun in die Hände bekamen, verstanden sie nicht damit umzugehen.
Dies beeinträchtigte den Werth der Reservisten.^) Große Störungen aber
traten bei Einziehung derselben ein. In einzelnen Depots fanden massen¬
hafte Anhäufungen statt, ohne daß schleuniger Abfluß zu ermöglichen war,
weil die Bahnen überladen waren. Irrthümer beim Dirigiren des Nach¬
schubes zu den in der Bewegung befindlichen Regimentern waren unvermeid¬
lich und eine große Anzahl geriet!) dabei an Punkte, wo man den augenblick¬
lichen Standort ihrer Truppentheile nicht einmal kannte. Endlich sah sich
das Kriegsministerium genöthigt, den Befehl zu geben, die Reserven, wo man
sie fände, aufzugreifen und an das nächste Depot abzuliefern. Von der
naiven Verzweiflung, in welche manche Behörden bei dieser Verwirrung ge-
riethen, ist die Depesche des Commandanten der Territorial-Division von Mar¬
seille ein classischer Beweis. Er telegraphirt: „9000 Reserven hier; ich weiß
nicht wohin mit ihnen. Um mir Luft zu machen werde ich sie alle nach
Algier mit den im Hafen vorhandenen Transportschiffen schicken."^*)
Beim Corps Failly kamen die ersten Reserven erst am 26. Juli an ; und oft
trafen sie bei den marschirenden Truppentheilen unvollständig ausgerüstet ein,
was die Verlegenheit der Truppen um so mehr steigerte, als sich die Beklei-
dungs- und Ausrüstungsgegenstände nur bei den Depots befanden.
Die alte Abneigung der Franzosen nach abgelegtem Dienste bei der
Fahne, noch einmal zur Truppe zurückzukehren, machte sich übrigens in wider¬
licher Weise geltend. Nicht nur entzogen sich in vielen Gegenden, ramme-
ln Süden, unglaublich viele Reservisten dem Dienst und wurden bei der Lang¬
samkeit des bureaukratischen Apparates selten wieder zur Gestellung gebracht;
sondern die Eingezogenen kamen sich geradezu wie unglückliche Opferlämmer
vor, verloren alle Haltung und Würde und nahmen die Mildthätigkeit der
Bürger in Anspruch.
Die Mobilgarden anlangend, so hatte sich in Frankreich selbst bis
kurz vor Ausbruch des Krieges eine wenig günstige Meinung von ihrem
militärischen Werthe Bahn gebrochen. Ihre halb departementale, halb alli-
täusche Stellung war vollkommen unklar. Bei Berechnung der für einen
Krieg aufzustellenden Heeresmacht führten zwar die meisten Militärschriftsteller
die hohe Ziffer von einer halben Million Mobilgarden mit auf, bemerkten
aber fast stets, daß auf diese unausgebildeten, unorganisirten Massen kein
Werth zu legen sei. „Unter Niet's Leitung hätte, wenn der ursprüngliche
Plan festgehalten wäre, die mobile Nationalgarde ein brauchbares Instrument
werden können, aber Leboeuf vernachlässigte sie ganz, die Bataillone haben
kaum ein einziges Mal exercirt. Sagte er doch in der Kammer ,,g,pee eotte
äesinvoituro yui lui est propre": „Ihr bewilligt mir 18 Millionen, das ist
für die Nationalgarde zu viel, viel zu viel."*) — Auch Marschall Bazaine
sagt**): „Die Mobilgarde hätte, namentlich als Reservetruppe, eine sehr nütz¬
liche Einrichtung sein können, wenn ihre Formation nicht aus Mangel an
Mitteln hinausgeschoben worden wäre. Im Augenblick des Kriegsausbruches
waren nicht einmal ihre Rahmen überall gebildet, die Leute hatten keine
Unterweisung empfangen und die Waffen lagen noch in den Zeughäusern.
Erst in elfter Stunde wurde diese junge und muthige Truppe aufgeboten."
Nun sollte im letzten Augenblicke das Möglichste für sie geschehen. Am
9. Juli richtete der Kriegsminister ein Rundschreiben an alle Corpsführer,
welches sie aufforderte, in kürzester Frist ein namentliches Verzeichniß derjenigen
Officiere mitzutheilen, welche, wegen angegriffener Gesundheit beurlaubt, mit
ihrem oder einem höheren Grade in die Mobilgarde einzutreten wünsch¬
ten. Von dieser Volkswehr sollten zunächst 143 Bataillone der Osthälfte
Frankreichs (die der 1. bis 7. Militär-Division) aufgestellt werden, welche
wenigstens theilweise insoweit auf dem Papiere organisirt waren, daß die
Mannschaften in die Listen eingetragen und die meisten Officiere ernannt
waren. Zur Beschleunigung dieser Neubildungen war beabsichtigt, alle Mo¬
bilgarden in die Lager von Chalons, Lannemezan, Se. Maur, Sathoney und
Pas des Lanciers zusammenzuziehen.
Die militärische Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit der Mobilgarden war
eine sehr verschiedene. Ganz entschieden schlecht zeigten sich die Pariser.
Ihr wüstes Geschrei, ihr unaufhörliches Bewitzeln der militärischen Einrich¬
tungen, immer wiederholter vorlauter und bubenhaster Zeitungskrakehl kenn¬
zeichnete sie schon während ihrer Formirung. Als die drei ersten Bataillone
jedoch nach Chalons abrücken sollten, konnte man es sich doch nicht versagen
„zur Hebung des moralischen Elements der Hauptstadt" einen Triumphzug
aus ihrem Marsch zum Bahnhofe zu machen. Der verunglückte aber total.
Und ebenso widerlich wie ihr Ausmarsch war ihre bekannte Meuteret gegen
den Marschall Canrobert im Lager von Chalons. Ein großer Theil der
provinziellen Mobilgarden, namentlich die des Ostens, Nordens und
Nordwestens hat eine sehr viel bessere Haltung als die Pariser gezeigt; aber
der eigentlich militärische Geist, der Geist freudigen, selbstbewußten aber
unbedingten Gehorsams, hat auch in den Reihen der besten dieser Garden
zum großen Nachtheil der französischen Sache fast überall gefehlt.
Von den Fran ctireurs, welche sich im Jahre 1867 mit so großem
Pomp installirt hatten, war natürlich zunächst noch keine Rede. „Und doch",
sagt Bazaine, „wenn sie nur besser bewaffnet gewesen wären, so hätten in
den Grenzdepartements die Zollbeamten, die Forstläuser, die Flurschützen, ja
die städtischen Feuerwehren zusammentreten und bei einem Vertheidigungs¬
kriege treffliche Dienste leisten können. Aber die Grenzjäger und Förster
hatten nichts in der Hand als ihr mangelhaftes Perkussionsgewehr, ja die
Diedenhofer Feuerwehr, deren gediegene Erscheinung wie die einer Genietruppe
anmuthete, führte sogar noch Flinten mit Steinschlössern."
Die fremden Truppen, welche Frankreich im Kriege 1870 ins Feld
führte, zumal die Turcos, sind der Gegenstand sehr leidenschaftlicher, schwer¬
lich gerechter Angriffe gewesen. In vielen Beziehungen scheinen sie sogar die
nationalfranzösischen Truppen an militärischen Tugenden übertroffen zu haben.
„Französische Officiere sagen, daß wer lange bei den Turcos (tiraillkurs m-
ali^vues) oder bei den ekasseurs ü'^trie^us gestanden, sich schwer an den
Mangel an Subordination bei den französischen National-Regimentern ge¬
wöhnen könne. Wenn auf dem Rendezvous oder im Lager die Bataillone
wie ein Bienenschwarm auseinanderstoben, um Kartoffeln, Rüben oder Zwie¬
beln auf den umliegenden Feldern zu suchen, so blieben nur die besser dis-
ciplinirten, bedürfnißlosen Turcos bei den Gewehren. Auch die preußischen
Festungs-Commandanten bestätigen, daß sie von allen Kriegsgefangenen am
leichtesten in Ordnung zu erhalten waren."*) Uebrigens suchten die Fran¬
zosen, ihrer Gewohnheit nach, sogleich nach Kriegsausbruch im Auslande
für ihre Armee zu werben. Natürlich faßten sie dabei vorzugsweise die
Schweiz ins Auge, und seit dem 30. Juli war der Bundesrath benach¬
richtigt, daß in den Cantonen Waadt und Genf Werbungen auf Rechnung
Frankreichs stattfanden. In Folge dessen wurden alle Cantone von Seiten
des Bundesrathes darauf aufmerksam gemacht, daß solche Anwerbungen unter
den augenblicklichen Verhältnissen die Neutralität der Schweiz compromittiren
würden, und aufgefordert, jedem derartigen Versuch energisch entgegen zu
treten.**)
In der Armee Napoleon's III. erscheinen viele der schlimmsten Fehler
der sinkenden Armee des ersten Napoleon in kaum veränderten Formen. Das
Mißverhältniß zwischen den Marschällen und Corpsgeneralen, die Jndis-
ciplin der Soldaten, der Mangel an Sicherheitsdienst auf dem Marsch wie
im Lager traten 1870 gerade ebenso hervor wie 1813. Die Restauration
und das Bürgerkönigthum fristeten ihr Dasein unter dem Schutze der Napo-
leon'schen Veteranen und wußten sich hierdurch vor den Anschlägen des kriegs¬
müden Europa sicher. Die Se. Cyr's, Marmont's, Soult's, Bugeaud's ze.
waren als Heerführer hinlänglich gekannt. Dagegen blieb es dem zweiten
Kaiserreich vorbehalten, seine Existenz der unter der Restaurations- und Juli-
Negierung erzogenen und großgewordenen militärischen Generation der „Afri-
cains" anzuvertrauen und seine Schlachten mit den aus dieser Schule hervor¬
gegangenen Generalen zu schlagen/) Diese kannten sich untereinander genau,
sehr viel genauer als die Welt sie kannte; sie wußten, daß sie zumeist Rou¬
tiniers seien, und einer warf dem andern Mangel an Energie und Initiative,
Abhängigkeit vom Schema und Reglement vor; keiner traute dem andern
wahre Feldherrneigenschaften zu. — Weil die Marschälle nach alt napoleo¬
nischer Tradition ungern gehorchten und nur unter dem Kaiser stehen wollten,
so wurden nicht getrennte Armeen formirt, sondern alle 8 Corps traten direct
unter des Kaisers Befehl. Dieser aber trug durch seine Characterschwäche
nicht wenig zu den Niederlagen bei. Er, der sich zwanzig Jahre lang als
das allein verantwortliche Staatsoberhaupt benommen hatte, besaß nicht den
Muth, als oberster Kriegsherr das allerdings schwere Joch des Armee-Ober¬
commandanten nach Wörth und Spicheren auch nur vierzehn Tage lang
weiter zu tragen, sondern begab sich seiner souverainen Machtvollkommenheit
zu Gunsten seiner Marschälle, welche nach eigenem Belieben — Einer auf
den Ruhm des Andern eifersüchtig — ohne Plan und Uebereinstimmung
handelten und in Führung der ihnen anvertrauten Armeen die höchste Un¬
fähigkeit an den Tag legten. Selbst die Belassung Leboeuf's und Lebrun's
an der Spitze der Operationsleitung hätte, falls die Befehlsgebung in der
Person des Kaisers concentrirt geblieben wäre, niemals jene unheilvollen Fol¬
gen nach sich ziehen können, welche die Theilung der Streitkräfte und des
Kommandos in der That herbeiführte.
Wie die Armee von ihren Führern dachte, zeigen die zahlreichen bekannten
aufgefundenen Briefe von französischen Officieren.
Ein österreichischer Generalstabsofsicier^), welcher die Franzosen während
des Krieges sehr sorgfältig beobachtet hat, sagt: „Vom 6. August angefangen,
ist mir bei jeder Gelegenheit eine widrige Erscheinung entgegengetreten; wo
ich auch mit Soldaten Gespräche anknüpfte, überall mußte ich den Ausdruck
des Entschlusses hören, diesen oder jenen General zu hängen oder zu erschießen.
Das waren natürlich leere Worte; aber von Sinn für Autorität zeugten
sie nicht."
Wie sehr man sich übrigens selbst im Einzelnen bei der Stellen-
besetzung vom Zufall leiten ließ, beweist der Umstand, daß man an die
Spitze der Mitrailleusenbatterien nicht diejenigen Capitains stellte, welche 1869
bei den Uebungen in Meudon die Bedienung gelernt, sondern solche, die sie
niemals gesehen hatten.*)
Der Aufenthalt in den Lagern und die Kriegführung in Algerien hatten
die Officiere, statt sie abzuhärten, an viele Bequemlichkeiten gewöhnt,
die mit den Bedingungen großer europäischer Kriege völlig unvereinbar sind.
Jeder von ihnen beanspruchte ein geräumiges Zelt, eine Feldequipage mit
Vorrathssachen, ein mit dem Namen xoxote belegtes Material und eine
Reserve von Lebensmitteln und alles dies soll ihm fast auf dem Fuße folgen.**)
Diese Neigung zur Lagergemächlichkeit überbürdete aber auch jeden ein¬
zelnen Soldaten namentlich durch die Theile ihrer Wirtes ä'abri dergestalt,
daß er nur mit Mühe den Bewegungen auf dem Schlachtfelde zu folgen ver¬
mochte, daher sah man in allen neueren Kriegen Frankreichs, daß stets, wenn
von den Truppen eine entscheidende Action zu fordern war, ihnen eine größere
Beweglichkeit dadurch zu geben versucht wurde, daß man sie ihr Gepäck ab¬
legen ließ. Im Laufe des Krieges von 1870 war Gelegenheit, die zahllosen
Jnconvenienzen einer solchen Maßregel aus das Empfindlichste kennen zu
lernen. Gingen doch z. B. nach der Schlacht am 18. Aug. die Tornister
zweier ganzer Armee-Corps, der Corps Canrobert und L'Admirault, vollständig
verloren, und beim VII. Corps warf ein einziges Infanterie-Regiment auf
einem heißen Marsche noch viele Meilen vom Feinde (französischem Bericht
zufolge) 800 Tornister und 700 Gewehre fort. Haufenweis lagen die Sol¬
daten in den Chausseegraben und riefen den sie aufmunternden Officieren
Flegeleien zu.
Die Neigung zur Lagerbequemlichkeit offenbart sich auch in der unge¬
meinen Wichtigkeit, mit der der französische Soldat die Bereitung seines
Mittagsessens behandelt. Seine Friandise nöthigt ihn zu so vielen Aus¬
flügen in ^die umliegenden Gärten und Ortschaften, daß es nicht Wunder
nehmen darf, die deutschen Geschosse so oft. bei Weißenburg, Wörth, Mars-
la-Tour, Mouzon u. f. w. in die Kochtöpfe schlagen zu sehn und eine Be-
weglichkeit und Unregelmäßigkeit in die französischen Lager kam, die nicht
anders, denn als eine fortgesetzte Verwirrung und Unordnung characterisirt
werden kann.*)
Die Disciplin der französischen Armee war im Feldzuge 1870 von
Anfang an schlecht. Die grade in den letzten Jahren ungemein gesteigerte
Leichtfertigkeit und Genußsucht, innere Rohheit und ungezügelte Leidenschaft¬
lichkeit unter dem täuschenden Firniß äußerer Politur hatte auf die Armee
zersetzend und verderbend eingewirkt. Obendrein hatten extreme politische
Parteien in ihren Reihen Verbreitung gefunden und sowohl die bestehende
Negierung ihres Ansehens beraubt als die Soldaten dem Socialismus zu
nicht geringem Theil gewonnen. Daher klagten fast alle Generale und Offi-
ciere über die Zuchtlosigkeit in den Regimentern und fürchteten sich doch auch
wieder, energisch gegen dieselbe einzuschreiten. Bancalari berichtet, daß er
wiederholt der Klage begegnet sei, daß viele Commandanten unmittelbar nach
Beginn der Feindseligkeiten die sehr heilsamen Disciplinarmittel gleichsam
suspendirt hätten und daß ein Coquettiren mit der stets zur Auflehnung und
zu Widerreden geneigten Mannschaft Platz gegriffen habe, so daß es den
Unterführern schwer wurde, mit den Untergebenen auszukommen, wenn nicht
ihre Persönlichkeit selbst imponirte. — Die Niederlagen in der ersten Hälfte
des August erschütterten die Manneszucht bis ins Mark. Da heißt es in
aufgefangenen Briefen: „Die Disciplin ist völlig gelockert. Das Marodiren
an der Tagesordnung. Es empfiehlt sich, diese Truppen per Eisenbahn nach
Chalons zu befördern, um der Bevölkerung einen so überaus traurigen Anblick
zu ersparen." — Oder: „Wir sind geradezu davon gelaufen, um hier 30-
bis 40000 Mann stark, ohne Lebensmittel und ohne Fourage bei Mars-la-
Tour zu campiren. Die Dörfer sind ausgesogen, wir ruiniren das Land.
Die Märsche sind enorm um 6 Uhr Abends waren wir noch nicht zur Ruhe
gekommen und hatten nichts genossen; dabei einen Marsch von 10 liöuos
querfeldein hinter uns. Die Nächte sind kalt; unsere Bagage ist uns abhanden
gekommen; die Fatigue war so groß, daß die Mannschaften ihr Gepäck weg¬
warfen, und man sah die Wege bedeckt mit Hemden, Schuhen, Bürsten,
Säbeln und selbst Gewehren, genügend, um eine Reihe Wagen damit zu be¬
laden. So ist die französische Armee, und so haben wir den berühmten
13. August (den Napoleonstag) verlebt. Heute Morgen erhalten wir wieder
Ordre, uns marschfertig zu machen; es wird wie immer sein; kaum zeigt sich
ein Preuße, so ziehen wir ab." — Andere Briefe sprechen von „Verrath"
oder lassen erkennen, daß den Truppen vorgespiegelt worden, ihre forcirten
Märsche seien nöthig, um die Preußen auf ihrem Rückzüge zu ereilen und zu
vernichten. So begann also das Lügensystem schon vor Gambetta, und hat
nicht wenig dazu beigetragen bei den immerwährenden Enttäuschungen die
schon so widerspenstigen Soldaten noch mehr aufzureizen. Immer häufiger
kam es vor, daß sie ihre Vorgesetzten thätlich angriffen, und namentlich für
die Schlacht von Sedan ist es von vielen französischen Officieren constatirt,
daß ihre Leute selbst auf sie geschossen haben.
Die Jndisciplin war indessen nicht überall gleich groß. Oft zeigte sich
an ihrer Stelle eine vielleicht ebenso traurige Indolenz. Der Commandant
David, der bei Beaumont schwer verwundet wurde, schrieb während des Rück¬
zuges der Armee Mac Mensor's von Reims nach Sedan in sein Tagebuch:
„Trotz unserer Niederlage zeigt sich keine Demoralisation bei unseren Soldaten
und hätten sie Brod, so würden sie fröhlich singen. Die guten Leute fühlen
nicht die Gefahr unserer Niederlage für unser Vaterland, — arme Bauern
ohne Unterricht und Erziehung, in deren Herzen das Wort Baterland keine
Saite erklingen läßt „l«z mot as xatris us Krit vlbror aueurw eorclö oux."
Und dies Wort aus dem Tagebuche eines Todtgeglaubten wurde von allen
französischen Militairschriftstcllern mit voller Beistimmung als besonders
charakteristisch wiederholt.*)
„Das Vorherrschen des Gefühls persönlicher Ehre bildet ehr¬
süchtige Generale, welche den Staatszweck gern bei Seite setzen, sei es zu
Gunsten einer großartigen theatralischen, sei es einer zwecklosen kleinlichen
That; es wirkt lediglich in Momenten der Aufregung und hat im Kampf¬
gewühl selbst sein einziges Wirkungsfeld. — Das Gefühl für staatliche,
Ehre jedoch, welches die Preußen beseelt, enge verwandt mit Vaterlandsliebe¬
leitet in allen Verhältnissen zur Pflichterfüllung; ihm ist der Kampf eine
Obliegenheit wie alle anderen, und die unscheinbarste Verrichtung wird in ihrer
Ausführung nicht weniger durch dasselbe beeinflußt, als die glänzendste Unter¬
nehmung."**) Diese treffende Characteristik erinnert an das Wort eines alten
französischen Generals aus der ersten Kaiserzeit, welcher oft gegen die Preußen
gefochten hatte und der da sagte: „I,s goläat ü-auhg-is se bat pour sa, gloii-s
et xour uno eioix! I^ö solclat xrussisu se da,t — xar 1a croix et son
Lörment! pour sou roi > xour 1a gloire et Is bouksur as Lg, Mi'le!" ***)
Diese feste Unterlage fehlt den Franzosen und die windige Phrase: mz
Lvrs pa-s I'Iwmwö. ^ fers ma Mi'le!" vermag sie nicht zu ersetzen. -— Diese
Gesichtspunkte erklären Vieles in den großartigen Ereignissen, mit denen der
Krieg begann: in den Schlachten von Weißendur g und Saarbrücken,
von Spichern und Wörth. Die entsetzliche Flucht, welcher sich die Armee
Mac Mahon's nach der letztgenannten Schlacht hingab, ist weltberüchtigt. Es
war um allen inneren Halt des Franzosen geschehen, sobald er bemerkte, daß
seine alten gewohnten Erb- und Hausmittel im Gefecht nicht die erwartete
Wirkung thaten. Und nun gewahrten die, oftmals durch Intriguen empor¬
gehobenen, ihren Soldaten stets fernstehenden Commandeurs mit Entsetzen,
daß auch auf die sonst besten Truppen nicht mehr zu zählen sei. Die Des¬
peration hierüber und die Verzweiflung über den Mangel an ergiebigen Nach¬
schüben bemächtigte sich aller leitenden Kreise, schuf bald Waghalsigkeit bis
zur Tollheit, bald Kleinmuth bis zum völligen Verzagen, erzeugte im ganzen
Räderwerke eine gründliche Verwirrung und riß schließlich gleich einer mächtig
angeschwollenen Lawine das ganze Gebäude der bestandenen Kriegsordnung
über den Haufen.*)
Jene schwankende Zuverlässigkeit der Franzosen zeigte sich ferner recht
deutlich in dem großen Drama von Metz. Anfangs schien es, als ob mit
dem Augenblick, wo Bazaine den Kaiser thatsächlich absetzte (d. h. mit dem
Tage, wo Napoleon versprach, keinerlei Einfluß mehr auf die Operationen
auszuüben und den Marschall Leboeuf aus seiner Stellung als Major-Ge¬
neral entließ) ein ganz neuer Geist in die französische Armee einziehen wolle.
Das Hauptquartier änderte seinen Character durchaus. Bisher hatten sich
Massen von Zuschauern bei demselben umhergetrieben, welche die militärische
Promenade nach Berlin mitmachen wollten, und namentlich war dem Heer
eine große Anzahl zweideutiger Weiber gefolgt, die Vieles dazu beitrugen,
den Ernst der Kriegführung nicht aufkommen zu lassen. Alles war eitel Ver¬
gnügen und Zerstreuung gewesen, und jene Schwäche der Franzosen: bei Un¬
ternehmungen aller Art den Erfolg und nicht auch die Mittel ins Auge zu
fassen, die zum Ziele führen, war durch leichtfertigen Chauvinismus bei Ge¬
neralen, Officieren und Soldaten wie bei dem Bürger zum Ausdruck gekom¬
men. Das ward nun alles anders. Noch im Laufe des 7. August fuhren
zwei Eisenbahnzüge, mit der Demimonde beladen, von Metz nach Paris zurück,
und auch sonst säuberte Bazaine die Stadt und das Hauptquartier von allen
unnützen Elementen und zeigte den Willen, mit eiserner Entschlossenheit auf¬
zutreten.**) — In dieser zusammengenommenen Stimmung schlugen die Fran¬
zosen jene großen Schlachten vor Metz, in denen sie zwar den Sieg, nicht aber
den Ruhm einbüßten und in denen sie die Deutschen den blutigen Lorbeer
theuer bezahlen ließen. — Telegraphirte doch König Wilhelm damals in rit¬
terlicher Anerkennung des Gegners: „Unsere Truppen thaten Wunder der
Tapferkeit gegen einen gleich braven Feind, der jeden Schritt
vertheidigte und oft Offensivstöße unternahm, die jedesmal
zurückgeschlagen wurden." Aber dieser energische Aufschwung sank bald in
sich zusammen. Unerhört wird es immer bleiben, daß eine Armee von gegen
200,000 Mann, gestützt auf eine der stärksten Festungen der Welt, mit jedem
Vortheil des Terrains und der inneren Linien, es nicht vermochte, den ehernen
aber doch nur dünnen Ring zu sprengen, mit welchem sie eine nur wenig
stärkere Armee umschloß! Wie mußte endlich der Geist des Heeres erschlafft
sein, wenn am 10. October ein Kriegsrath, dem unter Bazaine's Vorsitz die
Marschälle Canrobert und Leboeuf, die Generale Frossard. de l'Admirault,
Decaön, Soleil, Lebrun und Coffinieres de Nordeck anwohnten, sich entschloß,
auf jede weitere Action zu verzichten, „weil die Verluste auf den Geist der
Armee zerstörenden Einfluß üben könnten." — Wir wollen hier in keiner
Weise auf die Vermuthungen eingehen, welche man über die politischen Gründe
von Bazaine's Verhalten aufgestellt, weil die Acten über seinen „Verrath"
nicht spruchreif sind; aber widerwärtig ist das Schauspiel, welches er und die
Armee am Schluß der großen Katastrophe gab. In diesem Augenblicke furcht¬
baren Unglücks des Vaterlandes regnete es Beförderungen (selbst bis zum
Divisionsgeneral) und Orden der Ehrenlegion. Der Durst nach Epauletten
und Bändern, den das Kaiserreich groß gezogen, wuchs mit jedem Tage; das
Schicksal des Vaterlandes wurde vergessen, und die Armee von Metz zeigte das
traurige Schicksal des Ehrgeizes ohne Scham, der Bewerbungen ohne Würde.
— Am 28. October wurden die meisten Beförderungen — sig'n6 en Klane
— und ganze Massen von Decorationen von Bazaine vertheilt.
Auf einem Stuhle sitzend, der auf einen Frachtwagen gestellt wa^, langte
der von Bazaine als tanto entthronte Kaiser Napoleon im Lager von Chalons
ein*), wo von Mac Mahon im Anschluß an die Trümmer seines bei Weißen¬
burg und Wörth geschlagenen Armee-Corps ein zweites Heer gebildet wurde.
Folgendes war sein Bestand:
Als Verstärkung der Armee konnten von Linien-Truppen nur noch
herangezogen werden: aus Civita Vecchia: 2 Infanterie-Regimenter, 2 Es¬
cadrons, 2 Batterien; aus Algier: 4 Infanterie-Regimenter, 3 Bataillone
Turcos, das Fremdenregiment, 1 Husaren-, 2 Chasseurs- und 4 Spahis-Re-
gimenter; von der sy amis chen G r euz e: 2 Chasseurs-Regimenter; von Lyon:
1 Husaren- und 1 Dragoner-Regiment. — Das waren sehr unzureichende
Kräfte und man mußte deshalb eilig für anderweite Verstärkungen
sorgen.
Diese Aufgabe siel bereits einer neuen Regierung zu. Das Ministerium
Ollivier war der feindlichen Haltung der Kammer gewichen und der 74jährige
General Cousin Montauban, Graf v. Palikao war am 10. August an die
Spitze des Cabinets getreten und hatte zugleich das Portefeuille des Krieges
übernommen. Die erste Handlung des neuen Ministeriums war die Annahme
des Amendements Keratry: die verabschiedeten Soldaten, die zu den Classen
1856 bis 1863 gehörten, einzuberufen: alle unverheiratheten und
kinderlosen Bürger von 25 bis 35 Jahren zum Dienst heran-
zuziehn, den Credit zur Unterstützung der Familien der Mobilgarden von
4 Millionen auf 20 Millionen zu erhöhen und der Armee den Dank zu po-
liren, welchen sie durch ihre Tapferkeit bei den ersten unglücklichen Gefechten
verdient. — Diese Maßregeln gingen über die berühmte soge¬
nannte 1<zveo ert eng.88ö vom 23. August 1793 schon hinaus! —
Außerdem wurde ein Antrag Jules Favre's angenommen, die Reorgani¬
sation der Nationalgarten auf Grundlage des Gesetzes von 1831
durchzuführen; ein Credit von 1000 Millionen Francs wurde eröffnet und,
wie zur Zeit der großen Revolution den Assignaten, so jetzt den Bankbillets
Zwangscours gewährt.
Für den Augenblick konnten jene umfassenden und großartigen Ma߬
regeln natürlich noch keinen Ertrag haben. Als erstes und nächstes Mittel
der Armeeverstärkung boten sich vielmehr die vierten Bataillone und
die Depot-Compagnien des stehenden Heeres dar. Wie schon erwähnt,
waren bei Kriegsausbruch die Infanterie-Bataillone von 8 auf 6 reducirt und
die nun pro Regiment überschießenden 6 Compagnien dem Depot überwiesen.
Hier war aus je 4 derselben ein 4. Bataillon formirt, aus den beiden andern
aber der Crystallisationskern für ein 6. Bataillon gebildet worden. Je 3 und
3 der vierten Bataillone sollten nun gemäß einem Decret vom 19. Juli zu
Marsch-Regimentern zusammengefügt und aus ihnen vier Corps: IX,
X, XI und XII aufgestellt werden, von denen das Letztere unter Heranziehung
von Linien- und Marine-Truppen auch wirklich zu Stande kam und oben
bei der Armee von Chalons bereits aufgeführt worden ist. In Folge der
damit verbundenen Neuformationen wurden 200 Lieutenants zu Capitains,
400 Souslieuants zu Lieutenants allein in der Infanterie ernannt. Unüber¬
windliche Schwierigkeiten traten jedoch der Bildung der andern drei Corps
entgegen, welche man als Reserve-Armee aufzustellen beabsichtigte. Zunächst
fehlte es an Reserve-Mannschaften zur Completirung der 4. Bataillone, da
die vorhandenen kaum ausreichten, die Feldtruppen auf die normalmäßige
Kriegsstärke zu bringen; dann mangelte es aber auch an Zeit und Ruhe,
um so complicirte Neuformationen zu vollenden, da Alles für dieselben neu
zu schaffen war. Man gab daher den Plan ganz auf, und obgleich ein XII.
Corps bestand, ist in der Folge von einem IX., X. und XI. Corps der Fran¬
zosen nirgends mehr die Rede gewesen/)
Die Festungen an der Ostgrenze, sowie auch Paris und Lyon waren meist
von vierten Bataillonen und Depot-Truppen besetzt, die zu nicht geringem
Theile eben-nur aus Rekruten bestanden, und die Rücksicht hierauf, sowie auf
die unvergleichlich bedrängte Lage überhaupt, führte zur Deeretirung einer
Menge unregelmäßiger Neuformationen. In diese Zeit fällt der
Beschluß, sämmtliche in Frankreich lebende Pompiers in 24 Bataillone zu
vereinigen und-gegen den Feind zu führen — was sich in der Folge als un¬
ausführbar erwies, da diesen friedlichen Männern, meist ausgedienter Sol¬
daten, die Idee des nationalen Ruhmes viel zu fern lag, um sie zu so außer¬
ordentlicher Hingabe zu bewegen. — Eine andere ebenso ungenügende Pallia¬
tivmaßregel war die Aufbietung der Douaniers (2000 Mann) und der
Sergents de Ville (3000 Mann), welche mit den Pompiers zu einer In¬
fanterie-Division unter dem General Soumain zusammengestellt wurden. —
Beschlossen wurde auch die Errichtung einer Cavallerie-Division unter Gene¬
ral Blamholt, welche aus 4 Regimenter berittener Gendarmen bestehen sollte,
nämlich aus 4 Escadrons der Garde de Paris (480 Pferde) und 2000
reitenden Feldhütern und Departementalgendarmen. — Auch der,
später in vollem Maße ausgeführte Gedanke, für den Artilleriedienst von
Paris sämmtliche ausgediente Artilleristen der benachbarten Departe¬
ments heranzuziehen stammt aus dieser Zeit/*)
Großartig und folgereich war die Heranziehung der Seeleute zum
Landdienste, welche aus allen französischen Häfen herangeführt wurden und
deren Oberbefehl in Paris der Admiral Saisset übernahm.
Nicht an Menschen, wohl aber an Officieren und Waffen, fehlte es bei der
gleichzeitig mit gesteigerter Energie in Angriff genommenen Organisirung der
Mobilgarde. Auch sie wurde in Regimenter formirt, deren Zahl am
3. September auf 53 gestiegen war. Die von Paris wurde aus dem Lager
von Chalons, wo sie sich jener wilden Excesse schuldig gemacht, wieder nach der
Hauptstadt zurück gesandt, und überhaupt ist in dieser Periode des Krieges
die Mobilgarde nur zur Besetzung von Städten und Festungen verwendet
worden. ,
Am 11. August forderte der Minister des Innern die Präfecten auf,
freiwillige Bürgerwehren oder Freischütze ncorps zu bilden, damit diese
gegen den Feind marschirten. Sie sollten Alles in Allem täglich 1 Frank und
verabschiedete Officiere zu Führern erhalten. Am Schluß heißt es: „Handeln
Sie, handeln Sie ohne Verzug; die Landesbewaffnung möge Ihre beständige
Sorge sein!" Waffen wurden den Freiwilligen verheißen, fürs Erste sollten sie
sich mit den Flinten der Feuerwehr im Schießen einüben.
Die wirklichen Leistungen waren um diese Zeit noch ganz ungenügend.
Zwar wurden an vielen Orten bedeutende Summen zur Ausrüstung von Frei¬
corps und zur Organisation des Widerstandes dargeboten; aber es war keine
Einheit und Folgerichtigkeit in diesen Bestrebungen. Der Impuls zu dem
später kräftiger auftretenden Parteigängerwesen, welches uns Deutschen oftmals
so unbequem, den Franzosen aber so verderblich geworden ist, stammt indeß
schon aus dieser Zeit. Sämmtliche größere Städte Frankreichs, wie Lilie,
Marseille, Nantes u. s. w. folgten Paris nach und errichteten Freicorps; ja
Marseille stellte sogar eine berittene Schaar, die den Namen Volontmres
cdeval erhielt. Bombonnel, der bekannte Pantherjäger, organisirte zu Dijon
eine Freischützencompagnie des Departements Cüte d'or,*) und fast alle Behörden
forderten in der leidenschaftlichsten Weise zum bewaffneten Widerstande auf.
Hieran aber knüpfte sich eine lange Reihe der allertraurigsten Erscheinungen.
Nicht das war schlimm, daß sich allenthalben aufgeputzte Bataillons clW vsn-
gours, tlos oui-8, des mei^xiäes und tgi. bildeten und in den Straßen
der Städte als Beduinen oder Hochschotten ausstaffirt, umherbummelten.
Höchst schädlich, und zumal für Frankreich selbst, jedoch war es, daß sich ein
nichtswürdiges Buschklepper- und Strauchdieb-Wesen durch jene Aufrufe zu
jeder Schandthat berechtigt hielt und unter der Maske des Patriotismus
den verbrecherischen Gelüsten und dem Blutdurst fröhnte, und sich all den
wilden Leidenschaften hingab, die sonst der starke Arm des Gesetzes ge-
zügelt hatte.*)
Die Sprache der Regierung zielte vorzugsweise auf Beschwichtigung der
furchtbar erregten Leidenschaften hin, welche ihr selbst so gefährlich zu werden
drohten.
In Paris wurde ein Vertheidig ungscomitee ernannt, als dessen
Mitglieder Marschall Vaillant. Admiral Nigault de Genouilly, Baron I. David,
Bautenminister, sowie die Generale de Chaband la Tour, Guiod, d'Autemarre
d'Erville und Soumain fungirten und welchem der von den Wogen der Po¬
pularität mächtig emporgehobene General Trochu prcisidirte, der zum
Gouverneur von Paris ernannt worden war.
Palikao, den man in Paris gewohnt war, „den schlechtesten Kerl in
Frankreich" nennen zu hören, scheint nun ein Jntriguennetz angesponnen zu
haben. Er und sein Ministerium nahmen eine höchst befremdende Haltung
gegen den Kaiser an. Ohne seine Ermächtigung, ja ohne ihn auch nur davon
zu benachrichtigen, berief es die Kammern und schien es in seinen Erlassen
ängstlich zu vermeiden, auch nur den.Namen Napoleon's zu nennen. Palikao's
nächster Zweck war, den Kaiser von Paris fern zu halten, um selbst die höchste
Macht in Händen zu behalten. In einer, bereits oben citirten, wenn nicht
von Napoleon III. geschriebenen, so doch offenbar inspirirter Broschüre**) ist dies
deutlich erkennbar gemacht. Da heißt es: „Als der Kaiser im Lager von
Chalons anlangte, wurde in einem Kriegsrathe beschlossen, daß die daselbst
gesammelten Truppen unter dem Befehle des Marschalls Mac Mahon die
Richtung nach der Hauptstadt nähmen und daß der Kaiser nach Paris zurück¬
kehre, wie es ihm seine Pflicht vorschrieb. Als dieser Entschluß der Regierung
in Paris bekannt wurde, erregte er deren heftigste Opposition. Paris, sagte
man, sei in vollkommenem Vertheidigungszustande; die Armee von Chalons
müsse dazu verwendet werden, Metz zu entsetzen; die Rückkehr des Kaisers
würde von der öffentlichen Meinung sehr schlecht beurtheilt werden. .. . Der
Kaiser trat dem nicht entgegen; er sah wohl, daß sein Handeln durchaus in
den Hintergrund gedrängt werde; aber er war nicht mehr weder Chef der
Regierung noch der Armee, und so entschloß er sich, für seine Person dem
Heere zu folgen, obgleich er wohl fühlte, daß, wenn Erfolge errungen wür¬
den, man diese und zwar mit Recht den Feldherrn zuschreiben würde, wäh¬
rend man bei Unglücksfällen alle Verantwortlichkeit auf sein Haupt häufen
werde." — Welch eine jammervolle Situation spricht sich in diesen Wor¬
ten aus!
Der Plan des Flankenmarsches der Armee Mac Mahon's gegen Metz
rührt von Palikao her, der sich einbildete, damit ebenso getreulich die erfolg¬
reiche Situation von 1792 zu copiren, wie Napoleon III. durch seine ver¬
zettelte Aufstellung im August das Vorbild seines großen Odins vom Jahre
1815 copirt haben wollte. Palikao meint»): „Im Jahre 1792 wie 1870
hatten die feindlichen Armeen mit bedeutender Uebermacht die Offensive er¬
griffen und den ihnen gegenübertretenden französischen Heerestheilen partielle
Niederlagen beigebracht. In beiden Fällen bildete die preußische Armee den
wesentlichsten Bestandtheil der feindlichen Streitkräfte, damals, wie jetzt, war
ihre Organisation, ihre Disciplin und ihre Tactik nach dem Urtheil von
ganz Europa vortrefflich. — 1792 wie 1870 bestanden die französischen Ar¬
meen zum Theil aus den Resten geschlagener Truppen, zum Theil aus jungen,
ungeübten Soldaten, die jedoch alle fehlenden militärischen Eigenschaften
durch einen fast überreizten Patriotismus ausglichen; beide Male waren die
französischen Corps durch bedeutende räumliche Trennung der Gefahr aus¬
gesetzt, einzeln von überlegenen Kräften angegriffen und vernichtet zu werden.
Im Jahre 1792 vereinigten sich zwei der französischen Heereskörper unter
fortwährenden Gefechten gegen den andrängenden Feind mit einander, boten
ihm dann die Schlacht, siegten (?) und retteten dadurch Frankreich." Dies
Mittel war erprobt — folglich, schließt der Verfasser, mußte 1870 der Marsch
Mac Mahon's über Verdun auf Metz zu gleichem Resultate führen. — Kann
sich verblendetes Epigonenthum wohl mehr bloßstellen, als es in dieser selbst¬
gefälligen und doch so durchaus schiefen Analogie geschieht?! Mac Mahon
war bekanntlich weit entfernt, die Ansicht des Chinesenbesiegers zu theilen.
„Nur unter den Wällen von Paris", so war sein Wort, „kann meine Armee,
wenn sie ausgeruht und organisirt sein wird, hoffen, dem Feinde ernstlichen
Widerstand zu leisten." Aber der Minister bestand auf seinem Willen, und
Marschall Mac Mahon, wenn auch widerstrebend, gehorchte ihm. Doch nicht
mit einer Kanonade von Valmy endete die Ausführung von Palikao's Plan,
fondern mit dem Kesseltreiben von Sedan! —
Elf süditalienische Abgeordnete haben im September d. I. einen offenen
Brief an den Ministerpräsidenten Lanza erlassen, in welchem sie ihn um
Abhilfe des grauenvoll unsicheren Zustandes in Süditalien, speziell im ehe¬
maligen Königreich Neapel, angehen. Die Regierung wird aufgefordert, ener¬
gische Maßregeln zu ergreifen, denn so, wie die Sache jetzt liege, könne sie
unmöglich bleiben, das Königreich sei beschimpft und jeder ehrliche Patriot
müsse sich vor den Fremden schämen, die in so großer Anzahl Italien be¬
suchten, aber hauptsächlich das Opfer der heimischen Gauner und Briganten
würden. „Die Ueberreste der alten calabrischen Banden, verstärkt durch neue
Rekruten treiben auf das Unverschämteste ihr Wesen in den Provinzen Oa-
Isdria entra, ?iineipato Literiorö und Lasili^aw." Der Brief schildert, wie
der berüchtigte Räuber Manzi aus dem Gefängnisse ausbrach, wie er seine
alten „Jagdgründe" wieder aufsuchte, keck sich durch die Distrikte wagte, in
denen sich Militärstationen befinden, und wie er schließlich Salerno, eine
Provinzialhauptstadt und Sitz einer Division, bedrohte. Solche Thatsachen
könnten nur die Achtung vor dem Gesetze und das Vertrauen zur Regierung
vollständig erschüttern und unter dem gemeinen Volke die Ansicht hervor¬
bringen, daß man von obenher das Räuberwesen geradezu begünstige. Der
Brief erzählt weiter von der fast märchenhaften Gefangennahme des Signor
Mancufi durch Briganten, wenige Schritte vor seinem Hause und von der
fabelhaften für ihn verlangten Lösesumme. Wie die Gazetta ti Salerno be¬
richtet, wurden aus der Stadt Boten mit 25000 Lire in baarem Gelde, an
den Vertrauensmann der Räuber abgesandt, um Mancufi auszulösen, allein
sie trafen denselben nicht und kehrten um. Die Gazetta schreibt: „Die Boten
aus der Stadt hatten Besehl, auf der Montellastraße vorwärts zu gehen,
bis sie einen Mann träfen, der, nach dem Austausche gewisser Zeichen, sie
über Berge und durch Wälder zum Ziele führen werde."
Ist es nicht, als ob wir einen Räuberroman lasen, als ob Fra Diavolo
und Rinaldo Rinaldini auferstanden wären? Und in der That, sie sind auf¬
erstanden, Süditalien ist eine große Räuberhöhle, nicht nur das platte Land,
das bergige Innere, sondern namentlich auch die großen Städte, in welchen
die Camorra wieder ihr Wesen zu treiben beginnt. Sie ist da oder viel¬
mehr dieser Geheimbund, der sich vom Vater auf den Sohn forterbt, hat
noch niemals aufgehört, er hat sich eingeschüchtert wohl zeitweilig zurückge¬
zogen, lebt jetzt aber wieder auf. So oft man ihr auch den Garaus hat
machen wollen, die Camorra erhob doch stets wieder ihr Haupt. Noch Franz II.
versuchte es gleich nach seinem Regierungsantritte, ließ viele Camorristen fest¬
nehmen und auf die Inseln transportiren, nun aber setzten sich in Folge
dieser Maßregel die Camorristi mit dem Revolutionscomite in Verbindung
und halfen zur Verbreitung des Kriegs mit. So ragt dieses Gaunerthum in
die Politik hinein. Nach dem Einzuge Garibaldi's in Neapel suchte der
Minister Liborio Romano die Camorristen nützlich zu verwerthen, indem er
aus ihnen eine Art Polizei bildete; doch that dies auf die Länge nicht gut.
Spaventa, der ihm in der Polizeiverwaltung Neapels folgte, wollte die Ca-
morristen durch die Camorristen vertilgen, indem er einen Theil derselben
anstellte, damit er die andern verfolge; doch auch dieses führte zu keinem
Ziele. Die Camorristen bestehen bis auf den heutigen Tag.
Der gelehrte Professor Zupetta in Neapel hat eine Abhandlung über
das Wort Camorra geschrieben, welches nicht italienischen Ursprungs ist. Er
behauptet, es gehöre jenem semitischen Dialekt an, den ein Theil der Be¬
völkerung Maltas redet. Auch glaubt er daraus nicht mit Unrecht die Fol¬
gerung ziehen zu dürfen, daß die Camorra ursprünglich auf Malta entstanden
und von da über die Insel Sicilien nach Neapel sich verbreitet habe.
Aus den hohen städtischen Aemtern sind die Mitglieder des großen
Gaunerbundes nun verschwunden, aber die ganze niedere Beamtenwelt Neapels
bildet jetzt einen grauenvollen Rattenkönig von Gaunern, der recht gut als
Erbschaft oder Fortsetzung der Camorra betrachtet werden darf. In Neapel
sieht es augenblicklich folgendermaßen aus. An den Halteplätzen der Fiaker
befinden sich Subjecte, die von jedem Einsteigenden unter irgend einem Vor-
wande Geld erpressen; in allen öffentlichen Speise- und Trinklokalen, in den
Schauspielhäusern wimmelt es von Taschendieben, die brillante Geschäfte
machen und mit denen Gensdarmen und Polizeidiener gut Freund find. Auf
den Plätzen, Märkten, den verkehrsreichsten Straßen sind die Gauner statio-
nirt, in den Hotels haben sie Verbindung mit der Dienerschaft und am Hafen
mit den Zollbeamten. Jeder dort aufgestellte Facchino gibt sich für einen
Staatsbeamten aus, stürzt über die Ankömmlinge her und liefert angeblich
das Gepäck in der Dogana ab — zwanzig Procent der Colii aber verschwin¬
den, das ist hergebrachter Stil. Der Fremde ist in Neapel verrathen und
verkauft und der Polizist drückt allemal ein Auge zu, denn seine Maxime ist
^Leben und leben lassen". Und er lebt gut. An den Eisenbahnstationen end¬
lich derselbe Schwindel.
Aber nicht allein der Fremde leidet unter diesem großartigen Räuber-
unwesen, auch der ehrliche Einheimische. Sobald ein Bauer mit Früchten,
^Gemüsen oder Vieh zum Verkaufe in die Stadt eintritt, ist auch einer jener
aufdringlichen Gauner bei ihm, der das Mäklergeschäft besorgt, seinen
Clienten vor Uebervortheilung schützt, ihm aber dafür eine gehörige Steuer
auferlegt. Wo nur das Volk sich belustigt und z. B. auf Straßen und
Plätzen Karten, Würfel oder mit in die Luft geworfenen Münzen spielt, da
fehlen diese bekannten Spießgesellen nicht: sie sorgen dafür, daß kein Betrug
verübt werde, ziehen aber ihre Steuer ein, die nicht verweigert wird, aus
Angst vor Rache der Gauner.
Gegenwärtig, d. h. im September 1872, sind von dem Militärcomman-
danken der Provinz Basilicata allein 86,142 Lire und 50 Centesimi auf die
Gefangennahme verschiedener Briganten ausgesetzt. Für die Habhaftmachung
Capuccino's sind 23,515 Lire versprochen, für jene Alfano's 21,565 und 500
für ein Weib Namens Parente. Wenn der Staat es sich so ungeheure
Summen d. h. 5000—6000 Thaler für einen Räuber kosten läßt, dann
müssen dies schon schlimme Gesellen sein. Manzi, der jetzt entronnen ist, hat
120 Mordthaten auf dem Gewissen und doch wurden bei seiner Verurtei¬
lung all'con8t!M2i attenuünti angenommen.
So liegen die Verhältnisse und wir wollen weitere Thatsachen zur Be¬
gründung unseres Ausspruchs anführen, daß es im neuen Königreich Italien
kaum besser geworden ist als in der alten Räuberzeit der Bourbonen. Es
sieht schlimm aus mit der italienischen Cultur, wenn wir auch keineswegs
verkennen wollen, welche üble Erbschaft Victor Emanuel in Neapel angetreten
hat und wie er hier den Augiasstall seiner Vorgänger zu fegen hat. Zunächst
einige Illustrationen aus der Uebergangszeit, wofür uns Fräulein Power
Cobbe eine unternehmende Engländerin, das Material geliefert hat. Sie schrieb
1864 ein vortreffliches Skizzenbuch aus Italien, in welchem das Nachstehende
zu lesen ist. Unter den italienischen Briganten befinden sich Männer aus
angesehenen Familien, die im Namen des vertriebenen Königs von Neapel
und des Papstes mit einer Art von Fanatismus Mord und Straßenrand
treiben. Vor Allem ein Marquis Alfred de Trasegnies aus Namur in Bel¬
gien, welcher sich der Bande Chiavone's als Freiwilliger anschloß. Fräulein
Cobbe beschreibt ihn als einen hübschen blassen Edelmann von 30 Jahren
mit schwarzem Barte, mit aristokratischen Manieren und von vorzüglicher
Bildung. Er trug ein phantastisches Jagdcostum, Revolver, Dolch und Cara-
biner. Mit einem Empfehlungsbriefe an den Abbate Bryan kam er nach
Rom und der fromme Geistliche sandte ihn zum Räuber Chiavone. Der
Marquis wurde später als gemeiner Mörder erschossen — es hinderte nichts
das Urtheil, trotzdem der päpstliche Kriegsminister Graf Merode sein Oheim
und die ersten belgischen Adelsfamilien seine nächsten Verwandten waren.
Der Geistliche Bryan protestirte dagegen, daß man Trasegnies mit Strolchen
und Mördern in ein Gefängniß zusammen gesperrt habe, doch der comman-
dirende Offizier erwiderte, daß er den Marquis nur in die Gesellschaft ge¬
than habe, welche er in der Freiheit selbst gewählt hatte.
Ein verwandter Geist war der österreichische Lieutenant Zimmermann,
der mehr Künstler und Dichter als Soldat war und den sein romantisches
Gemüth unter die Räuber trieb. Er schrieb Verse auf seinen Raubzügen,
sang und spielte mehrere Instrumente. Ihm war es ein poetisches Bedürfniß,
sich in den Wäldern herumzuschlagen, um hübsche Aussichten und schöne
Mädchen aufzusuchen. Spanien lieferte in der Person des Don Jose Borge's
einen kühnen Bandenführer. Er ward mit einem Dutzend anderer „Glaubens¬
helden" zusammen gefangen und, während er eine spanische Litanei sang,
erschossen. Das seltsamste Exemplar unter jenen Briganten war ein Räuber¬
mädchen, Maria Olivieri aus Calabrien. Sie beging aus Glaubensfanatis¬
mus nicht weniger als vierzig Mordthaten und unter den Opfern befand sich
ihre eigene Schwester. Als man sie aufknüpfte, war sie 23 Jahre alt und
— sehr hübsch. Hinter diesen Banditen stand unzweifelhaft die klerikale
Partei, welche mit Feuer und Schwert hauste und die Nsssa nisi LriMnti,
die Brigantenmesse, erfunden hatte, welche direct den Weg zum Himmel öffnete.
Die Patronen, welche von den Geistlichen ausgetheilt wurden, trugen, nach
Fräulein Cobbe, das offizielle päpstliche Siegel, die dreifache Krone und die
Himmelsschlüssel "). Alles geschah „im Interesse der Kirche und des Königs".
In den Jahren 1868 und 1869 versuchte die italienische Regierung Ernst
zu machen. General Pallavicini, welcher sich den Ehrennamen eines
„Brigantenjägers" erworben hat, nahm die Sache in die Hand und erklärte
rund heraus, daß er „den wilden Bestien" ein Ende machen wolle. Wie
schlimm steht es um die öffentliche Sicherheit eines Landes, wenn ein hoch¬
gestellter General in seinen Kundmachungen solche Ausdrücke gebraucht! So
viel an ihm lag, hat General Pallavicini Wort gehalten; freilich betrieb er
die Ausrottung des Brigandaccio nach der Art einer Parforcejagd; Distrikte
wurden mit Militär umstellt, abgetrieben und die „Beute" kurzweg nieder¬
geschossen, damit ein mißgestimmtes Gericht nicht durch ein sanftes Urtheil
wieder verdarb, was der Soldat gut gemacht.
Drei Banditenhäuptlinge, die ihr Handwerk im großen Stile trieben,
machten Pallavicini am meisten zu schaffen. Sie führten alle drei vorzüg¬
liche Namen: Guerra (Krieg), Pace (Frieden) und Fuoco (Feuer). Alle drei
wurden erschossen. Als sie beseitigt waren, glaubte Pallavicini Ruhe zu
haben. Allein es ging wie mit der Hydra — die abgehauenen Köpfe wuchsen
nach und Signor Carbone trieb sein Räuberwesen so kräftig, wie alle drei
Vorgänger zusammengenommen. Der Aufforderung sich zu ergeben, hatte er
stets ein trotziges Nein entgegengesetzt, obwohl man ihm günstige Bedingungen
geboten hatte. Da kam Pallavicini, umstellte ihn in der Gegend von Mor-
della und ließ ihm keinen Ausweg. Carbone beschloß mit seiner ganzen Bande
sich nun den Behörden zu stellen, was er in folgender Weise ausführte.
Mordella ist ein 8000 Einwohner zählendes Städtchen in den Apenninen,
kaum zehn Meilen von Neapel entfernt. Zur nicht geringen Ueberraschung
der guten Bürger zog eines Tages nun Carbone bis an die Zähne bewaffnet
mit seiner ganzen Schaar in die Stadt, friedlich, ohne ein Kind anzurühren
und zwar direkt auf die Kirche zu. Dort verrichten alle — elf an der Zahl
— ihr Gebet; dann legen sie die Waffen auf dem Hochaltar nieder und er¬
klären feierlich, daß sie Gefangene der Civilbehörde seien. Dieser Erklä¬
rung schließt sich die Brigantessa Antonia Scarrano an, welche gemeinschaft¬
lich mit den Räubern „gearbeitet". Das darf nicht Wunder nehmen. Jene
Briganten waren in ihrer Weise „fromme Leute". Sie hatten eine Zeit lang
einen Priester bei sich gehabt, der ihnen regelmäßig Messe lesen mußte, der
die Beichte hörte und, was die Hauptsache war, ihnen Absolution ertheilte.
Alle waren über und über behängt mit Kreuzen, Amuletten und Heiligen¬
bildern, die aus der päpstlichen Hauptstadt stammten. Carbone wußte wohl,
warum er sich den Civilbehörden stellte: diese sperrten ihn ein, Pallavicini
hätte ihn erschossen.
Vor uns liegt die amtliche italienische Berbrecherstatistik für das Jahr
1867; eine neueren Datums haben wir nicht erhalten können; da aber in
fünf Jahren wenig besser geworden ist, so wird es erlaubt sein, auf jene
zurückzugreifen, um die Criminalzustände zu charakterisiren. Danach betrug
die Zahl der Mordthaten in jenem Jahre 2626, worunter 306 von Weibern
verübte. Italien hat in Bezug auf Morde in Europa den Borrang, denn
auf 100,000 Seelen entfallen beinahe 11 Morde! In Spanien über 8 —
in England und Schweden nur 2. Aber in Italien selbst muß man zwischen
dem Norden und Süden einen großen Unterschied machen; der Norden ist
hierin kaum verschieden von dem übrigen Europa, aber in dem ehemals
päpstlichen Gebiete und im ehemaligen Königreich Sicilien — da erreicht das
Verbrechen einen schauderregenden Höhenpunkt. Auf Venetien kommen kaum
2 Morde auf je 100,000 Seelen im Jahre — aber auf Calabrien fast 31.
„Alle südlichen Provinzen stehen in dem traurigen Blutkapitel in vorderster
Reihe: Sicilien, Sardinien, die Marken und Umbrien." So heißt es in dem
offiziellen Bericht. Da wird es begreiflich, wenn das neapolitanische Blatt
Pungolo schreibt: „Der Zustand der Dinge ist in hohem Grade beunruhi¬
gend; wir haben unbedingt strengere Gesetze im Interesse der öffentlichen
Sicherheit nöthig. Die alte Camorra ist in ihrer scheußlichsten Gestalt wieder
auferstanden; am hellen Tage wird den Leuten aus offener Straße Geld ab¬
gepreßt. Mordthaten kommen in wachsender Menge vor — die Gesetze sind
Sie wünschen unpolitische Briefe aus Berlin über die Vorgänge des
wissenschaftlichen, künstlerischen und socialen Lebens. Sie vertrauen einer
Feder, die zwar viele trockene Zahlen, aber keine idealen Gegenstände aus
Beruf behandelt, daß sie bei ausnahmsweiser Veranlassung mit ganz beson¬
derer Empfänglichkeit solchen Dingen gerecht zu werden im Stande sei. Es
möge zunächst mit der Kunst gewagt, sein, wenn Sie die Grillen eines Laien
nicht fürchten, der bei Kunstgegenständen nur danach fragt, was sie ihm ge¬
währen, nicht aber danach, was das verehrte Publikum pflichtschuldigst dabei
zu denken hat.
Wir haben wieder einmal eine Ausstellung von Gemälden und plastischen
Bildwerken in den Sälen der Academie der Künste. Dieser Ausstellungen,
die bekanntlich in der Regel ein Jahr um das andere stattfinden, ist die diesma¬
lige die 48ste. Nach allgemeinem Urtheil hebt sich das durchschnittliche Können der
Maler, der durchschnittliche Werth der Gemälde seit Jahren zusehends mit
sicherem Fortschritt. Die Technik, die Energie der Farbe, die Correctheit der
Zeichnung, das Geschick der Composition, die treue Nachahmung des Lebens,
der Muth in der Auswahl interessanter Gegenstände und die Fähigkeit, ihnen
die malerische Seite abzugewinnen, alle diese guten Eigenschaften sehen un¬
sere Optimisten in erfreulicher Zunahme, und ich will gar nicht leugnen, mit
einem gewissen Recht, vielleicht mit vollem Recht. Werden denn nun aber
Bilder gemalt, bei denen einem das Herz aufgeht, die einen tiefen Gehalt
des Menschenlebens in bedeutender Erscheinung, mit Glanz und Frische in die
Seele des Beschauers senken und die, was vielleicht die Hauptsache ist, uns
etwas zeigen, was wir zum ersten Male sehen, aber schon lange zu sehen
verlangten. Nur wenn solche Eigenschaften zusammentreffen, hat man doch
die höchste Freude an der Kunst. Aber solche Forderungen sind vielleicht un¬
billig, unbillig gegenüber einer Künstlergeneration, die sich erst langsam und
fleißig in den Besitz aller ihrer Mittel setzt. Mit der vollen Herrschaft über
die Mittel kommt vielleicht die Zeit, um jene hohen Anforderungen zu stellen
und auch zu erfüllen. Treten wir mit gutem Willen an das Geleistete, und
hoffen wir für die Zukunft das noch Vermißte.
Gleich beim Eintritt in den ersten Saal fällt uns ein großes Bild in
die Augen: der Bau der ägyptischen Pyramiden von Gustav Richter, das uns
eine Zeit lang auf das Erfreulichste fesselt. Wir bedauern nur, daß wir das
Bild nicht in ganz jungen Jahren sehen können, daß wir ihm nicht mit dem
ersten Blick des für die Wirkungen der Malerei, empfänglich gewordenen
Auges begegnen. Denn das ist ganz ein Bild, wie sich eine kindliche Seele
die Bilder denkt: die reinste Pracht und die gefälligste Harmonie der Farben,
der Reiz des Fremden und des Großen, schöne Frauenbilder und unheimliche
aber prächtige Männer, eine reiche Scene mit einem ganz einfachen Vorgang.
Wenn man jung ist. geht es Einem wie jenem Liebhaber in Goethe's Wil¬
helm Meister, der der Ansicht war, der Reiz der alten Gemälde für den
Kenner bestehe eben darin, daß die Farben verblaßt und nachgedunkelt seien,
und sich seinerseits an die Gemälde von frischer Farbe hielt. Sicherlich ist
der frische Farbenglanz nicht das Höchste der Malerei, aber etwas Erfreu¬
liches ist er. wenn die Farbe so behandelt ist: so reine Töne, eine so prächtig
aufsteigende Scala von den dunklen Farben der Rayentypen zu den hell strah¬
lenden Glanz-Gewändern bis zu dem kräftigen sonnigen Blau des ägyptischen
Himmels. Mit den Jahren macht man freilich Ansprüche an Gemälde, die
hier nicht befriedigt sind, aber auch nicht befriedigt werden wollten. Man
sucht geistige Tiefe, individuelle Charakteristik und dergleichen. Aber jener
Reiz der Farbe, wenn er mit anmuthiger Zeichnung verbunden sich der Natur
des gewählten Gegenstandes anpaßt, ist zu allen Zeiten ein erfreulicher Triumph
der Malerkunst gewesen. So mögen manche Gemälde von Titian, so die
besten von Paolo Veronese auf ihre Zeitgenossen gewirkt haben. Neuerdings
hat Makart als Virtuose der Farbe mannigfache Bewunderung errungen.
Aber die Wirkung dieses Malers, auch nur von Seite der Farbe betrachtet,
ist durch eine gewaltsame Mischung der Töne erreicht, die auf die Dauer
schon für sich abstoßend wirkt. - Dazu kommt nun verletzende Beschaffenheit
der Gegenstände, die Unnatur der Zeichnung, Composition u. s. w. Von
alledem ist auf dem Richter'schen Bild keine Rede.' Soll man an einem Ge¬
mälde die Farbenwirkung in ihrem ungetrübten Reiz genießen, so muß der
Gegenstand von unschuldiger Natur und mit nicht allzu großem Ernst der
Characteristik behandelt sein. Gerade so finden wir es hier: einen prächtigen
König und eine liebreizende Königin, die sich am sonnigen Tage den auf¬
steigenden Königsbau besehen. Es werden wohl mächtige Steine geschleppt
und eine jugendliche Phantasie glaubt an die Schwere der Arbeit. Aber der
letzteren Druck und Jammer, ihr Keuchen und Stöhnen, die zornige Geißel
ihrer Aufseher und der Ingrimm ihrer Sclaven sind nicht zu sehen, und das
ist gut so für das, was hier erreicht werden sollte. Und ebenso sieht man
dem Arbeitsherrn und seinem Gefolge nichts Anderes an, als die Höhe der
Lebensstellung und das harmlose Interesse an dem großen Werk, das sie aus¬
führen lassen, aber nichts von Tyranneneigenfinn, nichts von Cäsarenwahn¬
sinn, nichts von prahlerisch-phantastischer Vermessenheit. Und das ist wiederum
gut. Man sieht die Macht und die Untertänigkeit im prächtigen Sonnen¬
glanze, in phantastisch-fremdartiger und doch naturwahrer Erscheinung, beide
den allgemeinen Character ihres Looses zur Schau tragend, ohne die tiefen
Furchen der Last so verschiedenartig gewaltiger Lebensloose. Und nochmals
sei es gesagt, es gibt Stimmungen, vorzugsweise in der Jugend, aber sich
forterhaltend durch das Leben, in denen uns wohlthätig ist. an den allge¬
meinen Character der Lebensloose auf bedeutende und zugleich gefällige Weise
erinnert zu werden, in denen die Phantasie sich gern solchen Ausgangspunkt
wählt, um den eigenen Trieb bedeutsam gerichtet, aber nicht eingeengt und
übermächtig bestimmt zu empfinden.
Daneben hängt ein ganz anderes Bild: das Abendmahl von v. Geb-
hardt. Man hat die Ausstellungscommission tadeln wollen, daß sie unmittel¬
bar neben das glänzende Richter'sche Bild ein Gemälde gebracht, dessen Be¬
deutung nur in dem Ausdruck der Figuren und in der geistigen Tiefe des
dargestellten Vorganges liegt, ohne jeden selbstständigen Reiz der Farbe und
Form. Wir wollen indeß uns nicht den Tadlern anschließen und vielmehr
die niemals zu allseitiger Zufriedenheit lösbare Aufgabe einer solchen Com¬
mission bedenken. Das Gebhardt'sche Gemälde, wenn man auch von seinem
tagesfreudigen Nachbar herkommt, man wird vor ihm verweilen und bald
wissen, daß man das bedeutendste Bild der Ausstellung vor sich hat. Wenn
die höchste Aufgabe der Malerei ist — aber nicht etwa ihre alleinige —
merkwürdige Vorgänge des tieferen Geisteslebens zur Anschauung zu brin¬
gen, so ist hier zur Lösung einer solchen Aufgabe ein sehr eigenthümlicher,
aus innigem Glauben an die gesuchte Lösung hervorgegangener Anlauf ge¬
nommen.
Es ist oft gesagt worden, die religiöse Malerei habe sich in unseren Ta¬
gen überlebt, die Beschauer brächten nicht mehr den Glauben hinzu, aus
welchem die Empfänglichkeit, und die Maler nicht mehr den Glauben, aus
welchem die Erfindung stammt. Hier ist nun wieder einmal ein religiöser
Gegenstand, die bekannte, von einem größten Meister in einem weltberühmten
Bilde dargestellte Scene des Abendmahls. Aber der Versuch ist wohl ange¬
than, das unvergängliche Recht der religiösen Malerei dem Beschauer einzu¬
prägen, der Geistiges zu empfinden im Stande ist. Von dem Urheber dieses
Bildes wurde kürzlich die Aeußerung berichtet, daß man biblische Gegenstände
wieder tiefer erschöpfen könne, wenn man einerseits vom Typischen Abstand
nehme, andererseits auch nicht die Erscheinung zu erreichen strebe, wie sie die
damalige Wirklichkeit gezeigt haben möge, sondern die Thatsachen wie Tra¬
ditionen des eigenen Volkes behandeln-, nie habe die christliche Kunst eine
dauernde Höhe erreicht, ohne das zu thun. — Ein geistreicher, tief begründeter
Ausspruch, der noch Tieferes enthält, als der unmittelbar ausgedrückte Sinn
besagt. Wenn man nämlich weder die ethnologisch-empirische, noch die katho¬
lisch-typische Gestaltung anstrebt, sondern die Borgänge wie Traditionen des
eigenen Volkes behandeln will, als welche sie doch nicht mythisch und typisch
überliefert sind, so muß man den Geist der Vorgänge aus der katholisch¬
typischen Einkleidung befreien und ihn in seiner historischen, in seiner nicht
magischen, sondern sittlichen Wirksamkeit anschauen und ergreifen. Wenn
die Malerei dies den biblischen Erzählungen gegenüber vermöchte, so wäre
dies erst der Beginn einer protestantisch-religiösen Malerei. Denn bis auf
einige verunglückte Versuche ethnologisch-empirischer d. h. religiöser Darstellung
hat sich die protestantische Malerei mit einer schwachen Reproduction der ka¬
tholischen Typen begnügt, während doch die eigenthümliche Religiosität des
Protestantismus in der Musik den vollen Ausdruck gefunden hat.
Die Scene des Abendmahls ist schon von I^ong-rclo ela Vinci mit einem
rein sittlichen Gehalte dargestellt worden. Die verschiedenartigen Gemüths¬
bewegungen der Jünger bei der Verkündigung des Meisters, daß unter ihnen
der Verräther weilt, bilden den Inhalt des Gemäldes, dessen lebendig schöne
Composition und unvergleichlicher Reichthum an natürlich bedeutsamer Cha-
racteristik die Bewunderung der Welt geblieben, nachdem es längst zu Grunde
gegangen. In der That verläßt dieser Gehalt beinah das religiöse Gebiet,
als Darstellung einer höchst ergreifenden, aber völlig natürlichen Stimmung,
die sich ähnlich äußern würde, auch wenn der Verrath nicht dem himmlischen
Meister der Wahrheit gälte. Nur in dem Bilde des Meisters und einiger
Apostel ist religiöse Idealität als herrschender Characterzug ausgedrückt, aber
nicht gerade als bewegende Stimmung des Moments.
Das Bild nun, das wir vor uns haben, stellt nicht den Eindruck der
Jünger dar bei der Ankündigung des Verraths in ihrer eigenen Mitte, son-
drn den Eindruck dei der Ankündigung des unmittelbar bevorstehenden Scha¬
dens Christi. Diese Stimmung ist mehr religiös als weltlich, sie erlaubt
wenigstens, den religiösen Hintergrund der bewegten Seelen Hervorscheinen zu
lassen; und mit eigenthümlicher Tiefe ist dieser Hintergrund erfaßt. Es sind
die Armen im Geist, denen die Sonne ihres Lebens sagt, daß sie ihnen ent¬
schwinden wird, es ist die Innigkeit beschränkter, aber gemüthstiefer Men¬
schen, die in Schmerz und Staunen hervorbricht. Man fühlt, diese Menschen
lassen sich die Sonne ihres Lebens nicht entschwinden, sie wird unvergänglich
aufleuchten in ihrem Inneren, und hingerissen von ihrem Glänze werden sie
der Welt die Auferstehung des Gekreuzigten verkündigen. — So wird uns
die Entstehung des Christenthums begreiflich, als das höchste Wunder, nicht
der Magie aber, des Geistes, der sich sein Heiligstes nicht rauben läßt, son¬
dern es triumphirend über die Welt erhebt, es tausendmal mit dem Tode
besiegelt und endlich zur gestaltenden Weltmacht bildet.
Das Bild, das wir hier sehen, ist in drei Gruppen getheilt. Der linken
Seite des Beschauers gegenüber beginnt die Gruppe mit einem sitzenden
Apostel, in dem das abwehrende Erstaunen über das unerwartet Ungeheuere
sich ausprägt, an ihn schließen sich nach der rechten Seite des Beschauers zu
drei andere Apostel, in welchen die erschreckte Begierde nach näherer Kunde,
tief schmerzliches Verlangen nach der Erklärung des Furchtbaren, dumpf er¬
staunte Neugierde und endlich der tiefe herzliche Jammer über das unzweifel¬
hafte Schicksal ausgedrückt sind. Die zweite oder mittlere Gruppe bildet
Christus, umgeben von drei Aposteln: zur Rechten Christi der jugendliche
Johannes im kindlichen Glauben, als ob liebevolles Zudringen das Schicksal
noch abwenden könne, zur Linken Christi ein älterer Apostel mit der Innig¬
keit überströmender Hingebung, aber ohne Ausdruck von Hoffnung den Meister
beschwörend; neben diesem stehenden Apostel ein anderer sitzend, voll Theil¬
nahme den Worten des Johannes lauschend, in tiefer Bewegung, ebenfalls
ohne den Ausdruck der Hoffnung. Die dritte Gruppe gegenüber der Rechten
des Beschauers besteht aus vier Gestalten: aus dem hinausschleichenden Ver¬
räther und aus einem Apostel, der jenem betroffen nachblickt; von den beiden
anderen Gestalten der Gruppe ist die eine in wilden Schmerz versunken, aus
dem die andere sie emporzurichten sucht.
Wenn Leonardo da Vinci das jugendliche Alter in vier Gestalten, das
Mannesalter in ebensoviel, das Greisenalter in fünf Figuren mit höchst ver¬
schiedenartigen Typen characterisirt hat, so finden wir hier bis auf zwei eini¬
germaßen greisenartig characterisirte Gestalten nur Physiognomien des mitt¬
leren Lebensalters. Wenn bei Leonardo vier Gruppen, jede zugleich unter sich
lebendig verbunden und ebenso lebendig auf die Hauptgruppe bezogen sind,
so sind hier alle Figuren entweder auf den Mittelpunct, oder, von der äußeren
Scene abgewendet, nur auf ihren inneren Schmerz bezogen, mit Ausnahme
des Judas und des ihm nachblickenden Apostels. Kein Glanz der Gewänder,
keine Schönheit der Gestalten und Physiognomien, keine Gegensätze interessanter
Characteristik. In Allen mit Ausnahme Christi und des Verräthers derselbe
Menschentypus, unterschieden nur durch den Grad und die zufällige Beziehung
der Bewegung des Momentes. Die Wirkung und das Verdienst des Ge¬
mäldes liegt in der Macht seiner Grundstimmung, im dauernden Verhältniß
dieser Apostel zu ihrem Meister, welches durch die furchtbare Verkündigung
der Stunde nur auf eine bestimmte Art zum Vorschein kommt, aber nicht ver¬
ändert wird.
Man erzählt von Leonardo da Vinci, daß er nach Ißjähriger Arbeit an
seinem Abendmahl die Gestalten Christi und des Verräthers nicht so, wie er
gewollt, habe vollenden können.
An diesen beiden Gestalten scheitert auch unser Bild, dessen Eindruck un¬
vergleichlich wäre, wenn der Urheber anstatt des in Form und Miene durch¬
aus edel, aber in dem typischen Ausdruck permanenter Resignation gehaltenen
Christus uns den Originalkopf des sittlichen Genius geschaffen hätte, der der
als unvermeidlich erkannten Katastrophe mit dem Enthusiasmus der Selbst¬
opferung entgegengeht mit dem Schmerz des Losgerissenseins von einem ge¬
liebten Dasein, der sich in das Glück der größten Pflichterfüllung verwandelt.
Und nun der Verräther. Es ist das classische Gründergesicht der heutigen
Zeit. Wir könnten uns wohl denken, daß dieser Judas unter die Jünger
gerathen sei, weil er bei einem erwarteten Volksaufstand im Trüben zu fischen
geglaubt, wären die Physiognomien dieser Jünger nicht so, daß wir ihnen
ansehen und also auch Judas ihnen ansehen mußte, daß sie niemals einer
Gewaltsamkeit fähig waren. Der Friede des Evangeliums liegt auf ihnen,
und der Petrus der evangelischen Erzählung, wenn er anders unter ihnen ist,
erscheint hier nur in der Erschütterung wilder Trauer. Und wenn dieser
Judas sich zu diesem Meister und zu diesen Jüngern hätte verirren können,
so begreift man doch nicht, wie diese ihn einen Tag unter sich haben dulden
mögen. Von dem Judas Leonardo's sagt Goethe, daß er von keineswegs
häßlicher Bildung sei, wie denn der gute Geschmack in der Nähe so reiner
und redlicher Menschen kein eigentliches Ungeheuer dulden könne. Diese
Grenze des guten Geschmacks und der innern Wahrheit ist hier nicht innege¬
halten, obwohl dieses Ungeheuer für die Erfahrungen aller Zeiten durchaus
nichts Ungewöhnliches an sich hat.
Es ist eine Bauernstube, in die uns das Gemälde versetzt, die Wand
braunes Holzgetäfel zum Zeichen des Festes mit einer Guirlande verziert, um
den Tisch hölzerne Sessel ohne Lehnen, die Modelle der Köpfe mögen die
keltischer oder esthnischer Bauern gewesen sein. Aber mit dem Zug des innern
Lebens, der ihnen geliehen, sind sie wahre Typen der Sanftmüthigen des
Evangeliums, denen das Erdreich zu Theil werden soll.
Auf Leonardo's Bild erstreckt sich die Tafel in beträchtliche Länge, weil
die Speisenden nur auf der Seite sitzen, von welcher sie dem Beschauer das
Gesicht zukehren. Auf unserem Bilde erscheinen die Speisenden weit enger
zusammengedrängt, einige kehren dem Beschauer den Rücken zu, wobei dem¬
selben durch zwanglos herbeigeführte Seitenbewegungen doch das Antlitz nicht
entzogen wird. Im Ganzen erscheinen durch diese Enge des Bildes die Jünger
nur um so mehr als die Trabanten, die mit dem Sinn immerfort auf ihren
Planeten gerichtet sind. —
Die Wegführung der Juden in die babylonische Gefangenschaft von dem
Altmeister Bendemann ist den Dimensionen nach das größte Bild der Aus¬
stellung. Der Muth, eine solche Fläche mit bedeutenden Figuren, die unter
sich durch ein großes Begebniß verbunden sind, zu beleben, hat an sich schon
etwas den Beschauer Erhebendes. Und hier ist Alles edel gedacht und durch¬
geführt, der Fluß der Linien, welche die Gruppen begrenzen, wie die Characte-
ristik der einzelnen Gestalten. Aber die Malerei solcher Gegenstände bleibt
symbolisch, eine berechtigte, aber nicht die höchste Art der Malerei. Wir nennen
symbolisch hier nicht diejenige Kunst, welche ganz fremdartige Dinge zum
Zeichen von Vorstellungen macht, mit denen die ersteren durch viele künstlich
gesuchte Mittelglieder zusammenhängen. Symbolisch ist auch schon diejenige
Kunst, welche, außer Stande, das was sie geben will, ganz zu geben, sich
mit einem Theil der Handlung begnügt, welcher etwa als der vornehmste er¬
scheint. Auf diese Weise nun ist die Kunst überhaupt symbolisch im weitesten
Sinn. Aber wir verstehen hier unter symbolisch etwas Engeres, Mangelhaftes.
Eine Darstellungsart nämlich, welche sich an die Hauptsache der Handlung
hält, mit Hinweglassung alles dessen, was die letztere verständlich und möglich
macht. Grade das soll die Kunst leisten, sie soll die Züge der Handlung er¬
greifen, welche der Phantasie das lebendige Verständniß vermitteln, nicht aber
sagen: das und das geschieht; nun denke dir das Wie, die Möglichkeit nach
Kräften hinzu.
Unser Bild zeigt den triumphirenden Nebukadnezar, dem seine Königin
triumphirend folgt, vor ihr schreitet der geblendete König Hiskias, die Krone,
die er zum Spotte tragen muß, auf dem Haupt; unterhalb dieses Zuges
plündernde'Soldaten, erschlagene Leichen, im Raube weggeführte Frauen, in
der Mitte dieses Jammers der unerschütterliche Seher, mit seinem in Trauer
versunkenen Freund; auf der andern Seite Männer und Frauen, die den
Propheten verwünschen, weil das eingetroffen, was er vorhergesagt. Nament¬
lich in der letzteren Gruppe sind die Frauengestalten, denen der Künstler den
jüdischen Typus gelassen, bei ihrer verblendeten Wuth von erhabenem Ausdruck.
Aber hat dieses Ganze nun die Wahrheit des Lebens, ist es nicht blos eine
Uebertragung der symbolisirenden Sage auf die Leinwand? Daß orientalische
Sieger den unterworfenen Gegner verstümmeln und dann zwingen, vor ihrem
Triumphwagen einherzuschreiten, überliefert freilich die Sage und unterläßt
nicht, oftmals hinzuzufügen, wie die Unglücklichen ihr Schicksal mit edler Fas¬
sung getragen. In der Wirklichkeit aber erlahmt der Uebermuth an der
schnellen Wirkung der ausgeübten Qual, deren Schonungslosigkeit das Opfer
nicht lange widersteht. Wie lange soll wohl ein blinder König vor schnauben¬
den Rossen einherwandeln? Und ist es wohl denkbar, daß beim Einzug des
Triumphators noch die Leichen der Erschlagenen die Luft verpesten, daß in
demselben Augenblick noch geraubt und gemordet wird? Und ist solcher Augen¬
blick der unmittelbar andrängenden Vernichtung derjenige, wo der Weise in
gedankenvolles Brüten versinkt? Die Sage bringt alle solche Züge zusammen
und überläßt der Phantasie, die Zwischenglieder in auf- und untertauchenden
Umrissen hinzuzufügen. Die Malerei, die sich nur der Sage anschließt, bleibt
symbolisch; sie wendet sich bittend an die Phantasie, das zu ergänzen, was
die Phantasie grade von der Malerei erwartet hatte.
Das Verhältniß der poetischen und der malerischen Anregung zur Phan¬
tasie wird trotz Lessing's berühmter Grenzbestimmung immer wieder mißver¬
standen. Einen Beweis giebt das interessante Bild von Plockhorst: der Kampf
um den Leichnam Mosis. Man erinnert sich der Sage, auf die Goethe mehr¬
mals gekommen ist, in Prosa und in Versen:
Ueber Mosis Leichnam stritten
Selige mit Fluchdämonen u, s. w.
Die Sage ist hochpoetisch, aber eigentlich völlig unmalerisch. Die auf
einer zeitlichen Bilderfolge hineilende Phantasie bringt das Dunkel der Nacht,
in welchem der ehrwürdige Leichnam schwebt, bringt das Flammenschwert des
Engels und die grauenvolle Erscheinung der Nachtdämonen zusammen. Ge¬
malt heben sich diese Bilder und Eindrücke auf. Wir sehen einen ehrwürdigen
Todten von Engeln getragen, die schöne Erscheinung eines majestätischen
Engels, an dessen Schwert wir die Absicht des Malers erkennen, Flammen¬
strahlen von ihm ausgehen zu lassen; wir sehen auch die satanische Majestät,
hinlänglich abstoßend, ohne lächerlich zu sein. Aber wo bleibt das geheimniß-
volle Grauen und der himmlische Glanz jener von der Sage erweckten Phan-
tasiebilder? Die Nacht muß uns umfangen, wenn der himmlische Glanz uns
mit überirdischem Reiz berühren soll. Solche Wirkungen bringt die Malerei
höchstens bei skizzenhafter Andeutung hervor, wenn sie auf den ihr eigentlich
zukommenden Triumph der deutlichen Ausführung verzichtet.
In das Kapitel der Verwechselung poetischer und malerischer Erregung
der Phantasie gehören auch die unserer Zeit eigenthümlichen Bilder mit lyrisch
novellistischen Stoffen. Eine Braut am Hochzeitsmorgen, je nachdem sie glück¬
strahlend oder ernst gehalten ist, kann dem Beschauer sehr viel zu denken
geben, weil man ihr zutraut, daß sie selbst viel zu denken hat. Aber sehen
kann man diese Gedanken nicht, es ist eigentlich eine Gefälligkeit von dem
Beschauer, wenn er sie dem Bilde zutraut. Aber eine Periode, die vielleicht
schon am Aufhören ist, nahm solche Anregungen dankbar auf, bei denen es
der Maler nicht zu schwer hatte. Das beste Bild der Art auf der jetzigen
Ausstellung nennt sich: Erinnerung an die Villa Borghese. Es zeigt einen
jungen Geistlichen im rothen Priesterkleid auf einer Gartenbank, dem das
Gebetbuch auf die Erde gefallen, während der Hut neben ihm auf der Bank
liegt, in selbstvergessener Haltung, während in der Ferne ein junges Paar
lustwandelt. Ueber die Beziehung dieser drei Personen kann man nun Allerlei
denken. Man fühlt sich aber doch nur dazu aufgelegt, weil die Gestalt des
jungen Priesters überaus anziehend geglückt ist. Das lustwandelnde Paar
könnte interessanter sein.
Landschafts- und Sittenbilder giebt es wieder die Menge und sehr vieles
Anziehende darunter. Aber die Landschaftsbilder, die alle Heimlichkeiten
der Natur, alle zur Versenkung einladenden Momente belauschen und fest¬
halten, man hätte sie gern eines oder das andere im eigenen Zimmer und
würde sich daran erlaben. In der Menge eilt man daran vorüber, wenn man
nicht aus besonderer Absicht verweilt.' Es ist wie mit den Sonaten und
Liedern zwischen den großen musikalischen Formen. Im weiten Raum unter
einer großen Zuschauermenge kann man dergleichen nicht genießen, oder man
muß sich künstlich isoliren und stimmen.
Das Sittenbild ist der beliebteste Gemäldestoff unserer Zeit geworden.
Aber nicht Jedermann hat den besonders lebhaften Geschmack dafür, mag er
damit auch zu den Ausnahmen, vielleicht zu den Sonderlingen zählen. Jeden¬
falls erfordern auch diese Bilder ihre eigene Stimmung und ihre eigene Um¬
gebung. Wenn die Empfänglichkeit für wahrhaft Bedeutendes eben Nahrung
gefunden, wäre es auch nur durch halbvollendete Intentionen, ist man für die
kleine Tragik und für den kleinen Humor nicht aufgelegt.
Es verdient bemerkt zu werden, daß nach den beiden großen Knegöjahren
so wenig Schlachtenbilder erschienen sind. Aber so großartig der moderne Krieg
'se, so wenig malerisch ist die moderne Kampfesform. Sie gestattet dem Maler
nur die episodische Darstellung. Die Darstellung einer ganzen Schlacht mittelst
eines einzelnen Momentes erfordert Hülfsmittel und Eingebungen des Genius,
die sich nicht oft finden können. Bleibtreu hat eine solche Eingebung gehabt
bei seinem ausgezeichneten Bilde der Schlacht von Königgrätz, indem er die
Feldherrngruppe in vornehmer äußerer Ruhe bei tiefer geistiger Spannung
vergegenwärtigte, das weite Schlachtfeld mit den vom Pulverdampf verhüllten
Massen ohne Individualisirung der Kämpfergruppen andeutete. Der Character
des letzten großartigen Kampfes wird gewiß noch in bedeutungsvollen Epi¬
soden malerisch ergriffen werden. Aber die Zeit für so etwas kann nicht so¬
gleich kommen, die Eindrücke wollen geklärt und überwältigt, die malerischen
Mittel und Möglichkeiten erwogen und ausgereift sein.
Was die Porträts betrifft, so zeigen sie im Allgemeinen, wie viel reiche
Leute es heut zu Tage giebt, die das Vergnügen bezahlen können, sich so
imposant, als es sich thun läßt, zur Schau gestellt zu sehen. Am meisten
künstlerisch bei solchen Aufgaben weiß Gustav Greis zu verfahren, indem er
den äußerlichen Effect vermeidet und auf den von Zuthaten unbeeinträchtigten
Ausdruck des individuellen Lebens mit Glück ausgeht. Das Porträt einer
eleganten Salondame prunkt dennoch nicht mit dem Effect, Sammt. Seide
und Juwelen wiederzugeben, wie sie am Kauftisch glänzen. Auch ist es keine
jener Zurschausitzungen oder Zurschaustellungen. Die Dame stützt sich, wie in
zwanglos bewegter Unterhaltung, vorübergehend mit beiden Händen auf die¬
selbe Stelle des Divans, was der ganzen Figur einen äußerst lebenswahren
Ausdruck verleiht.
Unter den plastischen Bildwerken ist Begas habendes Mädchen, in Mar¬
mor ausgeführt, der Gegenstand der Bewunderung oder des verwerfenden
Tadels. Denn dieser Künstler hat es dahin gebracht, daß er nur noch Be¬
wunderer oder Feinde zählt. Eine Stellung, die zuweilen dem wahren Genie,
zuweilen auch der falschen Prätention zu Theil wird. Wir möchten uns, einige
Wünsche vorbehalten, für die Bewunderer des Künstlers und für die Echtheit
seiner genialen Kraft erklären. Aber den Streit, den seine Werke bereits erregt
haben, können wir hier nicht ausfechten. Was die vorliegende Figur betrifft,
so drängt sich ihr lebensvoller Reiz auch dem Widerwilligen auf. Diese üppigen
und doch jugendlich zarten Formen, die mit dem halb kindlichen Gesicht nicht
in Widerspruch stehen. Aber allerdings ist die Durchbildung der Formen keine
gleichmäßige und an einigen Theilen der Gestalt wird die Ueppigkeit zur Un-
form. Es ist das. was Begas Gegner am meisten an ihm tadeln, daß er
über den glücklichen Wurf des Ganzen, über den Zauber einzelner Partien
unbesorgt wird um andere Partien, die nun ausfallen müssen, wie es die
Anlage fordert, unbekümmert, ob das schön oder wenigstens naturwahr, oder
auch nur möglich ist. Der vollendete Künstler legt seine Werke so an, daß
kein Theil der Ausführung ihn aus das Unschöne, geschweige denn auf das
Im Laufe des verflossenen Sommers sollte, so hatten im Frühjahr die
Zeitungen gemeldet, zu Cannstatt in Württemberg eine große berathende
Versammlung der Zigeuner unter Vorsitz ihres Königs Joseph Reinhardt
stattfinden. Schon einige Monate früher war vom Zusammentritt eines sol¬
chen Zigeunerparlaments die Rede gewesen, und zwar hatte Unter-Türkheim
der Ort sein sollen, wo es zu tagen bestimmt wäre. Zum Leidwesen der
Cannstadter und Türkheimer Wirthe und zu großem Verdruß einer Anzahl
von Correspondenten, Feuilletonisten und Touristen wurde beide Male nichts
aus der Sache, und die Zigeuner verschwanden wieder aus den Zeitungen
und aus dem Gespräch, bis sie vor einigen Monaten plötzlich als Entführer
der kleinen Anna Böckler wieder auftauchten. Das Kind ist bis heute noch
nicht wiedergefunden, aber es ist seit seinem Verschwinden so viel Halbwahres
und Unwahres durch die Presse gegangen, daß es die Mühe zu lohnen scheint,
die Zigeuner einmal nach der Wahrheit zu Portraitiren. Eine gelehrte Unter¬
suchung über ihre Herkunft und Sprache liegt uns dabei fern, und auch aus
ihrer Geschichte — wenn bei einem Volksstamm ohne festen Wohnsitz und
ohne schriftliche Ueberlieferung von Geschichte zu reden ist — sollen nur ein
paar Farbenstriche zu dem Bilde verwendet werden, welches überdieß in der
Hauptsache nur die in Deutschland und dessen Nachbarländern umherziehenden
Zigeuner darstellen soll.
Der Abstammung nach sind die Zigeuner wahrscheinlich ein Volk des
südöstlichen Asiens, vielleicht Hindus niederer Kaste. Was sie von da nach
dem Nordwesten wandern ließ, ist unbekannt, ebenso, wie die Zeit, die sie ge¬
braucht, der Weg, den sie durchmessen, und die Reihe von Schicksalen, die sie
erlebt haben, bis sie im Jahre 1417 in starken Zügen in Deutschland er¬
scheinen. Möglich, daß die Sagen, die sie damals mitbrachten, ein paar
Körner Wahrheit enthielten, daß eine dunkle Erinnerung an ein oder das
andere Factum in dem Liede verkörpert war, nach welchem sie aus ihrer Hei¬
math von „Undewol, der über den Wolken wohnt", vertrieben und zu ewigem
Wandern verurtheilt worden waren, weil sie ihm ungehorsam gewesen; daß
sie einmal aus Aegypten, dann aus Kleinasien ausgewiesen worden, daß sie
eine Zeit lang bei den Magyaren als Musikanten und Jongleure gewesen
sind. Gewiß ist nur, daß sie 1417 in Schaaren, die viele Hunderte von
Köpfen zählten, die Grenze Deutschlands von Südosten her überschritten, in
Böhmen und Bayern, in der Schweiz und in Sachsen erschienen und zuletzt
bis über die Elbe vordrangen. Einzelne Züge schwärmten durch Frankreich
bis nach Spanien aus, andere setzten nach England über. Ihre Führer traten
mit fürstlicher Pracht und großen Titeln auf: in Augsburg nannte einer
derselben sich „Michael, Herzog von Aegypten", in Bologna ließ ein anderer
sich als „Andreas, Fürst der Aegypter" begrüßen. Das Volk dieser Poten¬
taten aber geberdete und nährte sich meist in der Weise der Landfahrer: es
trieb allerlei Hokuspocus, wahrsagte, zauberte, bettelte und stahl daneben nach
Möglichkeit. In Paris traten 1427 Zigeuner sogar als christliche Pilger
auf und „thaten Wunder".
Zuerst kam man ihnen nicht unfreundlich entgegen. Indeß machten ihre
unklaren Vorstellungen über Mein und Dein sie bald zur Landplage, und so
geschah es, daß binnen Kurzem allenthalben Verfolgung und Verbannung
über sie verhängt wurde. Nicht wenige wurden als Diebe gehenkt, andere
als Zauberer oder Hexen verbrannt. Bisweilen stellte man förmliche Hetz¬
jagden gegen sie an. Noch im Jahre 1725 befahl der König Friedrich Wil¬
helm von Preußen, „die Zigeuner, welche sich in dem königlich preußischen
Staatsgebiete betreten lassen und über achtzehn Jahre alt sind, ohne Unter¬
schied des Geschlechts, mit dem Galgen zu bestrafen." Aber das seltsame
Volk lebte unausrottbar fort trotz Galgen und Scheiterhaufen, und noch in
später Zeit prunkte in duldsameren Gegenden an seiner Spitze bisweilen ein
„Herzog von Aegypten" oder ein „König von Galiläa" oder gar ein „Kaiser
von Tunis", der den Thron bestiegen, nachdem sein Vorgänger von der
gestrengen Obrigkeit des Nachbarländchens gerädert oder geviertheilt worden
war. Fast scheint es, als ob die Zigeuner unter solcher Verfolgung besser ge¬
diehen wären, als in den späteren menschlich denkenden Zeiten. In Frank¬
reich war ihnen bis 1789 der Lieutenant criminel beinah ohne Unterlaß auf
den Fersen. Seit der Revolution ließ man sie unbehelligt und gewährte
ihnen sogar stillschweigend alle Rechte der übrigen Staatsangehörigen. Die
Folge aber ist, daß ihre Zahl mit jedem Jahre abnimmt, und daß sie den
Namen „1Zon6mioiiL" an eine andere Gesellschaftsclasse abgetreten haben, die
mit ihnen nur die Unarten, nicht das Blut gemein hat. Ebenso wird in
Italien seit einem Menschenalter eine starke Abnahme ihrer Zahl wahrge¬
nommen. In Spanien wurden sie von der heiligen Inquisition ungefähr
ebenso eifrig und gewissenhaft aufgespürt und zur Verzierung kirchlicher Ehren¬
tage mit Scheiterhaufen und ähnlichem Schmuck verwendet wie die Mauren
und Juden, und doch blieb das Land ihnen werth bis auf unsere Tage, wo
sie hier gleichfalls sich vermindert haben. In England, wo im siebzehnten
Jahrhundert viele Tausende von Zigeunern herumschwciften, obwohl sie dort
nicht weniger verfolgt wurden als auf dem Festlande, sind sie gegenwärtig
viel seltener anzutreffen als bei uns. Sie vertragen, wie bemerkt, keine gute
Behandlung, und ihr Haupterwerbszweig in der Vergangenheit ist ihnen
durch die modischen Geisterklopfer und durch die bureaumäßig eingerichteten
Wahrsagereien mitten in London arg geschmälert worden. Uebrigens sind
sie hier ganz harmlose Leute, die sich meist als Kesselflicker, Scherenschleifer
oder Besenbinder nähren und nur bisweilen mit den Gerichten zu thun be¬
kommen, weil die Neigung zum Pferdediebstahl in einigen Familien erblich
ist. Das Volk ist ihnen im Allgemeinen nicht gram, und selbst in kleinen
Orten verschmähen die Honoratioren nicht, sich zu den gelegentlich veran¬
stalteten Zigeunerbällen einladen zu lassen. Die Neste der englischen Zigeu¬
ner scheinen jetzt keine geschlossene Familie mehr zu bilden, wie zu der Zeit,
wo sie zu Kelso in der südschottischcn Grafschaft Berwick ihre Königin hatten.
Doch halten die dortigen Angehörigen des Volkes zusammen und bewohnen
noch wie zu Jacob's des Ersten Tagen einen eigenen Stadttheil. Die Fürsten-
familie der englischen Zigeuner zerfällt in die Zweige der Lee, der Morris
und der Pinfold, indeß scheint es mit dem Erbrecht und der Appcmage in
derselben nicht glänzend bestellt zu sein, da erst vor Kurzem eine „Zigeuner¬
königin" im Arbeitshause untergebracht werden mußte. — Auf Ungarn
scheint unsere halb scherzhafte Vermuthung, daß die Zigeuner zu ihrem Ge¬
deihen Verfolgung bedürfen, nicht zu passen: sie haben hier seit Jahr¬
zehnten alle Freiheit genossen und sind weder an Zahl zurückgegangen
noch haben die characteristischen Züge ihres VoMthums sich verwischt.
Dagegen bestätigen wieder die Donaufürstenthümer unsere Regel. Die
Zigeuner sind hier am zahlreichsten angesiedelt, und doch erlitten sie bis
auf die neueste Zeit gerade hier die härteste Behandlung. Noch in den vier¬
ziger Jahren konnte in der Hauptstadt der Walachei folgende Verkaufsanzeige
erscheinen: „Bei den Söhnen und Erben des verstorbenen Sirder Nikolaus Nita
in Bukarest sind 200 Zigeunerfamilien zu verkaufen, unter denen die Männer
meist Schlosser, Goldschmiede, Schuhmacher, Musikanten und Ackerleute sind.
Weniger als fünf Familien auf einmal werden nicht abgegeben, dagegen ist
der Preis für jede Person um einen Ducaten niedriger als gewöhnlich an¬
gesetzt und in Betreff der Zahlung wird jede mögliche Erleichterung gewährt
werden."
Die äußere Erscheinung der Zigeuner ist bekannt. Sie sind durch¬
schnittlich von Mittelgröße, schlank und kräftig gebaut, von schwarzen Haaren und
Augen und braungelber, bisweilen schwarzbrauner Gesichtsfarbe ohne Wangen-
rothe. Die Männer sind meist schöner oder, wenn man will, weniger häßlich
als die Frauen, die überdieß sehr rasch verblühen. Doch kommen unter letz¬
teren auch Schönheiten vor, wie denn die Fürstin Gagarin und die Gräfin
Tolstoi, wenigstens durch ihre Mutter, vielleicht durch beide Eltern, diesem
Wandervolke angehören und ihre Erhebung zu so hohem Range sicher nur
körperlichen Vorzügen verdanken. „Welches Land sie auch bewohnen",
sagt Gerando von den Zigeunern, „unter welchem Volke sie auch ihr
Lager aufschlagen, überall zeigen sie dieselben Gewohnheiten, dieselben
Laster. Ueber das ganze Festland ausgebreitet und unter verschiedenen
Völkern lebend, hat dieser zerstreute Menschenstamm einen eigenthümlichen
Character bewahrt, der sich nirgends verleugnet. Er bleibt der Bewegung,
welche die Menschen um ihn fortreißt, stets fremd, und zwischen den Zigeu¬
nern in Ungarn und denen in den französischen Pyrenäen-Departements läßt
sich kein Unterschied entdecken."
Der Zigeuner selbst bezeichnet sich überall mit den Worten „Rom" oder
„Romimanusch" (Zigeunermensch) oder „Galo" (der Schwarze) oder „Dades-
kero Tschawo" (des Vaters Sohn). Ueberall hält er an seiner alten Sitte
und Sprache fest. Sehr selten geschieht es, daß er außer seinem Stamme
heirathet. Ohne seine Muttersprache je aufzugeben, eignet er sich sehr leicht
andere Sprachen an, und so kommt es, daß viele Zigeuner neben jener noch
deutsch und polnisch, russisch und französisch, italienisch und spanisch verstehen
und sprechen. Besitzen sie bei ihrem Nomadenleben nur sehr selten einige
Schulbildung, so fehlt es ihnen bei ihrer scharfen Beobachtungsgabe und
ihrem halben. Verstände doch keineswegs an Kenntnissen, wie sie das Leben
unter allerlei Menschen und Verhältnissen darbietet. Von Hause aus
furchtsam und feig*), ist der Zigeuner zum eigentlichen Kriegsdienst
wenig brauchbar. Dagegen leistet er als Spion gute Dienste, voraus¬
gesetzt, daß er sich nicht etwa beiden Theilen verkauft hat. Hervor¬
stechende Eigenschaften desselben sind serner Dreistigkeit und Frechheit gegen
solche, denen er damit imponiren zu können glaubt, und Geschmeidigkeit und
Unterwürfigkeit gegenüber denen, die ihm als Mächtige erscheinen. Immer
dankt er solchen, wenn sie ihm eine Rücksicht oder Wohlthat erwiesen haben,
mit Kniebeugung und Handkuß. Seine Begehrlichkeit artet Schwachen gegen¬
über in den meisten Fällen in Unverschämtheit aus. Seine Kinder liebt er
so zärtlich, daß er sie trotz seines cholerischen Temperaments sür ihre Unarten
fast niemals züchtigt. Die Ehrliebe des civilistrten Menschen ist ihm eben so
fremd, wie dessen Trieb zur Arbeit. Am liebsten lebt er träge in den Tag
hinein, und ein Gewerbe, welches viel Muskelanstrengung oder viel Sitzfleisch
erfordert, ist niemals sein Geschmack. Auf das Lügen und Täuschen versteht
er sich aus dem Grunde. Leichtsinnig läßt er jeden Tag für das Seine sorgen
und für die fernere Zukunft den Zufall walten, eine Leichtlebigkeit, die ver¬
muthlich neben seiner Furcht vor dem Tode Ursache gewesen ist, wenn man
fast nie von Selbstmorden unter den Zigeunern gehört hat. — Ein
übler Charakterzug wieder ist von ihm seine Unbarmherzigkeit gegen
Thiere. Seine Pferde strengt er bei kargen Futter über Maß und Gebühr an.
Mitleidslos hält er den gefangenen Igel, während derselbe noch lebt, an sein
Lagerfeuer, um ihm die Stacheln abzusengen. Aeußerst unreinlich und lieder¬
lich, liebt er doch Putz und Prunk. Die Weiber kleiden sich, soweit möglich,
in schreiende Farben und stecken sich, wenn nicht goldene, Ringe von Silber
oder Messing an die Finger. Der Mann trägt, wenn er's haben kann, eine
Schnurenpikesche, einen Jägerhut mit Federn und hohe Stiefel, welche die
Beinkleider bis an die Knie aufnehmen. Gern sieht er's, wenn der Rock einen
grünen Kragen und eben solche Aufschläge hat. Denn Grün bedeutet, daß er
nach Zigeunerbegriffen ein unbescholtener Mann ist. Wer vom Hauptmann
für ehrlos erklärt ist, darf nichts Grünes an sich tragen. Recht komisch sieht
es aus, wenn man Zigeunern begegnet, an deren Fingern dicke Siegelringe
blitzen, während ihnen das schmutzige Hemd aus den Ellbogen der Jacke hängt,
und an deren zerrissenem Schuhwerk mächtige silberne Pfundsporen klirren.
Unter dem Geschirr eines nicht allzuarmen Zigeunerhaushalts befindet sich
stets ein silberner Becher, der ihnen niemals feil ist. Wohlhabende Familien,
deren es unter den Zigeunern mehr giebt, als man nach ihrem bettelhafter
Auftreten vermuthen sollte, führen einen förmlichen Schatz von Pretiosen
Ketten, Ringen, Dosen, Uhren von Gold und massiv silbernes Tischgeräthe
mit sich herum.
Zur Nahrung dient dem Zigeuner jede Speise, die der Landmann zu
genießen Pflegt. Doch zieht er Fleisch, besonders recht settes, der Pflanzenkost
vor. Nur kommt ihm nicht häufig diese Lieblingsspeise vor den Mund, wie
schon seine Bezeichnung des Sonntags andeutet, der bei ihm „Masello Dioch",
d. i. Fleischtag, heißt. Igel, Eichhörnchen, Frösche, desgleichen junge Gänse
und Enten, die er den Bauern mit Angelruthen wegzufangen versteht, sind
ihm Leckerbissen. Fleisch von gefallenem Mes, selbst Aas verzehrt er ohne Ekel.
Dagegen ist er nicht dahin zu bringen, Pferdefleisch zu genießen. Wenn der
Igel durch Absengen von seinen Stacheln befreit, gebrüht, ausgeschlachtet und
reichlich mit Zwiebeln und Knoblauch gespickt ist, wird er am Spieß gebraten
oder in Essig gedämpft und dann ohne anderes Gewürz, selbst ohne Salz,
begierig verschlungen. Aehnlich verfährt man mit dem Eichhörnchen, Der
ausgeweitete Fuchs dagegen muß einige Tage in fließendem Wasser liegen
und wird dann in einem tüchtig ausgeheizten Erdloche, mit Laub und Sand
und darüber mit glühender Asche bedeckt, gebacken. Zu seinem Salat verwendet
der Zigeuner gern eine Pflanze, die das Volk Zigeunersalat benennt, ferner
die Melde und die Blätter des Löwenzahns.
Geistige Getränke nimmt der Zigeuner, wenn er sie haben kann, in
Massen zu sich. Selbst Kinder bekommen schon in zartem Alter Branntwein
zu trinken, der neben der Zwiebel und dem Safran als Universalheilmittel
gilt. Liebich erzählt^): „Mir ist ein etwa 23 Jahre zählendes Zigeunerweib
vorgekommen, welches ein ganzes Quart Branntwein auf Einem Sitze, ich
könnte fast sagen, in Einem Zuge, ohne betrunken zu werden, bis auf den
letzten Tropfen zu leeren vermochte, und von welchem dessen mit gleich er¬
staunenswerther Gabe ausgerüsteter Ehemann versicherte, daß es noch mehr zu
bezwingen im Stande sei." „Wein zieht er dem Branntwein vor, Bier aber setzt er
ihm nach. Ein gleich großes Bedürfniß ist ihm der Tabak, den er raucht, schnupft,
kaut, ja sogar mit Lust und Begierde verschlingt. Ich selbst habe gesehen, daß
eine Zigeunerin den ganzen Inhalt einer ziemlich großen Tabaksdose mit Ver¬
gnügen auffraß. Die Ziegen machen es ebenso." „Als Delikatesse gilt, wenig¬
stens bei den ungarischen Zigeunern, wie mir aus glaubhaften Munde ver¬
sichert worden ist, ein aus Tabaksasche und Tabakssaft zusammengerührter
Brei, Modscha genannt."
Sehr selten wird der Zigeuner von Krankh eilen heimgesucht. Die Gicht
kennt er gar nicht. Dagegen ist er dem Scharlachfieber, das er Lolo sehn,
d. i. die rothe Kälte nennt, den Masern, der Bräune, den Blattern und der
Syphilis ausgesetzt. Wunden heilen bei ihm überraschend schnell, auch die
genannten Krankheiten überwindet er leicht, und trifft ihn nicht ein Unfall,
ein Sturz vom Pferde oder vom Seile, so stirbt er regelmäßig den natür¬
lichen Tod an Altersschwäche.
An Aberglauben leidet der Zigeuner nicht oder nur insofern, als er
etwas auf Vorbedeutungen und Umgänge giebt. Seine Sprache hat kein
Wort für Gespenst. Dagegen benutzt er den Aberglauben Anderer, um ihnen
Geld oder Geldeswerth zu entlocken, indem namentlich die Weiber als Wahr¬
sagerinnen unter den Bauern der von ihnen durchzogenen Dörfer auftreten,
ihnen ihre Träume deuten und ihnen sich zur Hebung von Schätzen anbieten.
Auch mit Besprechen von Krankheiten der Menschen und des Viehes, sowie
mit dein Verkauf von Amuleten geben sie sich ab.
Von Religion ist bei dem Zigeuner kaum die Rede. Er glaubt zwar an
ein göttliches Wesen, aber seine Vorstellungen von demselben sind sehr ver-
worren und zum Theil komisch. Er nennt es „Bara Dewel", d. i. der große
Gott. Bon ihm kommt „das göttliche Feuer", der Blitz und „der göttliche
Zorn", der Donner. „Der große Gott giebt Schnee und Regen, und seine
Lichter (die Sterne) brennen am Himmel." Stirbt dem Zigeuner ein Kind,
so hat es der große Gott „getroffen" und wird dafür unter den gräulichsten
Lästerungen verwünscht, was beiläufig auch bei andern Unglücksfällen ge¬
schieht. Daß der Zigeuner an eine persönliche Fortdauer nach dem Tode glaubt,
scheint zweifelhaft, obwohl die große Verehrung und Pietät, die er den Ver¬
storbenen widmet, die Frage bejahen lassen könnte. Sein höchster Schwur ist:
„Ap i Mulenda!" d. i. bei den Todten, und nie geht er am Grabe eines
Stammgenossen vorüber, ohne ein paar Tropfen Wein, Bier oder Brannt¬
wein als Libation darauf auszugießen. Gewiß ist, daß sie weit davon- ent¬
fernt sind, auf ein besseres Leben im christlichen Sinne zu hoffen. Aber wie
sie sich die Unsterblichkeit vorstellen, ist nicht zu sagen. Vielleicht ähnlich wie
die Indianer, die im Jenseits Heerden fetter Büffel zu jagen erwarten.
Wenigstens ließe sich etwas der Art nach der Erzählung der alten Frau bei
Liebich schließen, die oder deren Vorfahr im Traume gestorben zu sein glaubte
und sich nun in einem großen, schönen Garten befand, der von zahlreichen
fetten Igeln schwärmte.
Giebt der wandernde Zigeuner sich unter Christen immer für einen
Katholiken, (zigeunerisch, „Truschullengero", d. i. Kreuzmacher) aus —
Protestant (zigeunerisch „Pessoschereskero", d.i. Dickkopf) will er niemals sein,
— so giebt er doch nicht das Geringste auf den Glaubensinhalt der Kirchen¬
lehre und macht höchstens die äußeren Gebräuche mit. Er weiß etwas vom
Fegefeuer, welches er „Deweleskeri Jack", das göttliche Feuer nennt, aber an
den Begriff der Seelenläuterung denkt er dabei nicht. Er bekreuzigt sich und
beugt das Knie vor Heiligenbildern, wohnt der Messe bei und hört scheinbar
andächtig die Predigt an, von der er nichts versteht. Bisweilen geht er auch
zum Abendmahl, oder „ißt", wie er sich ausdrückt, „das göttliche Blatt", die
Hostie, aber ohne'die leiseste Ahnung von der Bedeutung des Sacraments.
Seine Kinder läßt er regelmäßig taufen, jedoch nur um das übliche Pathen-
geschenk zu gewinnen, ja manche lassen die Ceremonie, um mehr damit zu
verdienen, an drei oder vier Orten wiederholen, wobei es ihnen ganz gleich
ist, ob der Pfarrer der katholischen oder der evangelischen Kirche angehört.
Niemals werden die Taufzeugen aus der eigenen Nation genommen, stets
müssen es Fremde sein. Confirmiren lassen die Zigeuner ihre Kinder nur
da, wo sie schon seit Jahren festen Wohnsitz und Eigenthum erworben haben.
Wenn sie nach der Eheschließung, die vor dem Hauptmann erfolgt, in der
Regel noch die kirchliche Trauung nachsuchen, so hat dies einzig den Zweck,
um der Frau einen Platz in der Reiselegitimation des Mannes zu ver-
schaffen. Welche Vorstellung sich der Zigeuner vom Gotte der Christen macht,
wollen wir nach Liebich an zwei Beispielen zeigen. Er unterscheidet zwischen
„Baro Puro Dewel", d. i. dem großen, alten Gott, und „Dikno Tarro
Dewel", d. i. dem kleinen, jungen Gott. Jener ist nach seiner Meinung
schon längst gestorben, und statt seiner wird die Welt jetzt von dem kleinen
jungen Gott regiert. Dieser ist aber nicht etwa der Sohn seines Vorgängers
auf dem Himmelsthrone, sondern der eines armen Zimmermanns und hat
das Weltregiment mit Gewalt an sich gebracht. Nach Andern indeß lebt der
alte Gott noch, hat aber abgedankt und sich, weil er schwach und müde ge¬
worden, gleichsam auss Altentheil zurückgezogen. Die Dreieinigkeit sodann
ist für den Zigeunerverstand gar nicht vorhanden. Ein sonst recht kluger
Zigeuner bezeichnete den Satz in unserem Glaubensbekenntniß: „Der empfangen
ist vom heiligen Geiste" als nicht übersetzbar in seine Sprache und deshalb
als unverständlich sür ihn.
Dürftig ist die Poesie der Zigeuner. Ihre Lieder, die von Mund zu
Mund gehen, sind fast ausnahmslos kindischen und armseligen Inhalts und
selbstverständlich sehr mangelhaft in der Form. Wer etwas davon kennen
zu lernen wünscht, dem empfehlen wir die Proben, welche Liebich gesammelt
hat. Es ist aber nichts von Werth darunter.
DieErwerbszweigeder Zigeuner sind wechselnder und vielgestaltiger Art.
Mit besonderer Vorliebe werden sie Musikanten, Metallarbeiter und Seil¬
tänzer. Ihr Talent zur Musik ist unzweifelhaft. In kurzer Zeit lernen sie,
lediglich durch Nachahmen und Nachhören Trompete und Horn, Flöte und
Clarinette zu blasen, namentlich aber die Violine zu spielen und zwar mit
Meisterschaft. Selbst der einfachen Maultrommel wissen sie wunderbare Laute
zu entlocken. Die ihnen eigenthümlichen Weisen sind reich an Melodie, feurig,
wild und stürmisch und dabei wieder zart, weich und wehmüthig, frei von
aller Künstelei und voll von Contrasten, die sie auf eine selbst den feinge¬
bildeten Musiker überraschende Weise zu lösen verstehen. Als Schmiede und
Schlosser zeigen sie ungemeine Geschicklichkeit, desgleichen in der Verfertigung
von Drahtgeflechten, Sieben, Mäusefallen, Vogelkäfigen und Ketten. Aller¬
liebst sind ihre Schnitzereien aus Maßholder und Nußbaum, ihre Stöcke aus
Eichenholz oder Weißdorn, ihre Löffel, Schüsseln und Becher aus Ahorn und
Linde. Die Gelenkigkeit und Schmiegsamkeit seiner Glieder macht ihn beson¬
ders geeignet zur Erlernung und Ausübung aller gymnastischen Künste, und
so gehören nicht wenige der Seiltänzer und Taschenspieler zweiten und dritten
Ranges, die sich auf unsern Jahrmärkten und Vogelschießen produciren, dem
Volke der Zigeuner an. Nicht selten endlich reisen Zigeuner auch als Kammer¬
jäger von Ort zu Ort. — Neben diesen mehr oder minder ehrenwerthen Gewerben
betreiben fast alle Zigeuner noch allerlei andere, die mehr oder minder auf Tau-
fchung und Betrug hinauskommen. Der nochweit verbreitete Aberglaube und die
Leichtgläubigkeit des Landvolks unterstützt sie dabei in einem Grade, den Mancher
nicht für möglich halten wird. Fast überall herrscht unter den Bauern noch
die Meinung, daß man Häuser durch Zaubersprüche gegen Brand sichere,
und daß man bereits ausgebrochene Feuersbrünste durch solche geheimnißvolle
Formeln beschwören könne, und dieser Glaube wird von den Zigeunern bestens
benutzt. Bekannt ist ferner, daß ihre Weiber überall auf ihren Durchzügen
das Wahrsagerhandwerk betreiben. Gewöhnlich lesen sie dann den Leuten
ihre Zukunft aus den Linien der Hand, seltener aus der Karte, bisweilen
auch aus dem in der Tasse zurückgebliebenen Kaffeesatz. Desgleichen treiben
sie Traumdeuterei. Endlich suchen sie auch durch die Behauptung, Mittel
gegen allerlei Krankheiten zu besitzen, Geld zu verdienen, wie das von fahren¬
den Leuten zu allen Zeiten geschehen ist. Sie wollen durch Amulete jede
Krankheit fernhalten und durch Besprechung, „Verthun" oder „Versöhnen",
wie der Volksausdruck für solche Manipulationen lautet, Fieber, Kopfweh,
Gliederreißen u. tgi. bannen können. Vorzüglich aber bieten sie sich den
Bauern als Viehärzte an. Sie mögen in dieser Hinsicht einige altbewährte
Mittel durch Ueberlieferung kennen. Aber in der Regel ist ihr Treiben da¬
bei Schwindel, und nicht selten wird den betreffenden Thieren die Krankheits¬
ursache erst heimlich von ihnen beigebracht, um bei der angeblichen Heilung
ebenso heimlich entfernt zu werden. Wenn sie z. B. dem Rindvieh das Maul
mit Fett bestreichen, so wird es nicht fressen, und wenn sie dann, als Heil¬
künstler angenommen, unter allerhand Hokuspokus das Fett entfernen, so wird
die Freßlust sich sofort und in einem um so höheren Grade wieder einstellen,
je länger das Thier, von Ekel abgehalten, der Krippe oder Weide entsagt hat.
Im Allgemeinen gilt der Satz, daß der Zigeuner nur solche Gewerbe
betreibt, welche sich mit seinem Wandertriebe vertragen und keine große und
dauernde Körperanstrengung erfordern. Geige, Horn und Flöte kann er
überall mit sich führen, eine kleine Schmiede läßt sich an jedem Zaun oder
Baum improvisiren, und das Handwerkszeug des Seiltänzers liefert ihm, so¬
weit er's nicht in seinem Wagen hat, bereitwilligst das Städtchen oder Dorf,
in dem er seine Kunst zu produciren vorhat.
VenMkmoe! und V6ed6auee! Das waren die Rufe, unter denen sich der
Sturz des Kaisertums und die Aufrichtung des (Zsuvornsment as la V6-
terks nationale vollzog. Der Sturz des Kaisertums! — Als man den
General Trochu, den kaiserlichen Befehlshaber zu Paris, im Ministercvnseil
fragte, ob er einen Aufstand nöthigenfalls auch mit Gewalt niederhalten werde,
bejahte er dies entschieden und betheuerte der Kaiserin, er werde, wenn es
sein müsse, auch gern sein Leben für das Heil Ihrer Majestät und Ihrer Dy¬
nastie opfern und sich für die bestehende Ordnung auf den Stufen des gesetz¬
gebenden Körpers oder der Tuilerien tödten lassen. *) Und dieser selbe General
war am 4. September Morgens Stadtgouverneur des Kaiserreichs und
Abends Chef der entgegengesetzten Regierung. — Eine traurige Wieder¬
holung so mancher ähnlichen früheren Vorgänge in der französischen Heeres¬
geschichte, von denen freilich kaum einer von so jäher Plötzlichkeit gewesen ist.
Den Parisern aber schien solch Verhalten schon ganz selbstverständlich. Nicht
ein Wort auch nur der Erklärung, geschweige denn der Entschuldigung hält
Jules Favre in seinem den Ereignissen des 4. September gewidmeten Buche**)
für nöthig, um Trochu's Rolle zu erläutern. Es erscheint ihm ganz in der
Ordnung, daß der vom Kaiser eingesetzte Gouverneur nicht einen Schuß zur
Vertheidigung der bestehenden Regierung abfeuert, sondern seinen Degen den
neuen Gewalthabern zur Verfügung stellt — natürlich unter der Bedingung,
daß sie ihn zum militärischen Dictator ernennen! — Kann man sich wundern,
wenn die Truppen solchem Vorbilde folgten!? Die Garde de Paris be¬
nahm sich sogar noch besser als Trochu. Als Schutzwache des letzten Bollwerks
der Regierung im Palasthofe des Lorps löLisIatik aufgestellt, droht sie doch
wenigstens, auf die hereinbrechenden Pöbelhaufen zu schießen; sie thut es zwar
nicht, aber sie verläßt ihren Posten doch noch mit dem Rufe: Vive l'Lmvörizui-!
— Die Linientruppen verhalten sich aber ganz genau wie Trochu. Der
wüsten Prozession, welche zur Verkündigung der Republik die Straßen durch¬
zieht, begegnet ein eben auf dem Bahnhofe angelangtes Infanterieregiment.
Alle Welt erschrickt; man erwartet Widerstand. Die Soldaten stutzen; man
schleppt Wein herbei, umringt sie, überschüttet sie mit Phrasen, und die Truppe
nimmt die Kolben in die Höhe und sinkt widerstandlos in die Arme des Ge-
sindels. — Charakteristisch ist die Art, wie die Verkündigung der Republik
bei vielen Mobilgarden aufgenommen wurde. Im Lager von Sathonay
z. B. jagten die Offiziere den Sendboten der neuen Regierung mit Gewalt
aus dem Lager. Aber nun empörten sich die Mobilgarden gegen ihre Offi¬
ziere und verfuhren mit ihnen ebenso wie jene mit dem Regierungscommissär,
und in dem allgemeinen Tumulte trat ein Theil der Mannschaft die eilige
und geheime Reise in die geliebte Heimath an. *)
Am 6. September richtete der neue Kriegsminister Leflö, derselbe Ge¬
neral, welcher bei dem Staatsstreiche Louis Napoleon's als Qucistor der
Nationalversammlung arretirt worden war, eine Ansprache an die Armee,
welche den Zweck hatte, den imperialistischen Theil derselben in das revolutio¬
näre Lager herüberzuziehn. Darin hieß es: „Wenn ein General sein Kom¬
mando schlecht geführt hat, nimmt man es ihm; wenn eine Regierung durch
ihre Fehler das Heil des Vaterlandes gefährdet, setzt man sie ab: das hat
Frankreich jetzt gethan . . . Wir haben die Gewalt nicht usurpirt, sondern
nur den Kampf in unsre Hand genommen . . . Heut wie vor achtzig Jahren
bedeutet der Name „Republik" innige Einheit der Armee und des Volkes zur
Befreiung des Vaterlandes!"**)
Vor Allem kam es auf die Vertheidigung von Paris an. Von
hier mußte der Impuls zu fernerem Widerstande ausgehen; hinter den Wällen
der Hauptstadt konnte man hoffen, die vorhandenen lockeren Truppenforma¬
tionen zu einem festeren Gefüge zu bilden und ihre noch mangelhafte Aus¬
rüstung mit den reichen Hilfsmitteln der Weltstadt zu vervollständigen; end¬
lich war es allein durch eine nachhaltige Vertheidigung von Paris möglich,
die nothwendige Zeit zur Organisation neuer Streitkräfte im Lande zu ge¬
winnen, welche erst Paris und Metz entsetzen und dann mit den entfesselten
Kräften der Nation den verhaßten Feind über die Grenze werfen sollten.***)
Die Negierung der nationalen Vertheidigung war nicht in Zweifel dar¬
über, daß die deutschen Armeen direct auf die Hauptstadt losmarschiren und
schnell vor ihren Thoren erscheinen würden. — Unmittelbar vor' der Ein¬
schließung hielt am 13. Sept. Trochu eine große Revue über die Pariser
Streitkräfte ab, um die Bevölkerung durch Schaustellung der geschaffenen
Kräfte zu ermuthigen. Es war eine der größten Paraden, welche die Welt
je gesehen hat.1-)
Wohl mußte der Anblick einer so ungeheuren leidlich geordneten Trup¬
penmacht den Parisern die Möglichkeit des Widerstandes deutlich vor Augen
rücken, und es fehlte auch nicht an lebhaften Ausbrüchen der Begeisterung,
zumal wenn beliebte Volksmänner und berühmte Dichter, Künstler oder Ge¬
lehrte in den Reihen der Nationalgarde bemerkt wurden; im Ganzen aber
war die Stimmung lau. Trochu und sein Stab hatte ein wenig kriegerisches
Gepräge; sie konnten alle miteinander nicht reiten.")
Die vorhandenen Linien-Truppen bestanden aus dem XIII. und
XIV. Armee-Corps.
Das bei Weitem tüchtigste Element der Besatzung von Paris, tüchtiger
als die meist aus vierten Bataillonen oder Depots zusammengesetzten Linien¬
truppen waren die Seeleute, während der ganzen Belagerung die Lieb¬
linge von Paris. Es waren ungefähr 18,000 Mann."*) Mit wahrer Be¬
geisterung spricht ein Augenzeuge""") von ihnen. „Ich rede nicht von ihren
unvergleichlichen Leistungen", sagt er, „haben doch sie hauptsächlich die Forts
in Stand gesetzt, welche bei ihrer Ankunft ganz vernachlässigt waren; haben
doch sie das Vorbild strenger Disciplin, unbeugsamen Muthes, frischer männ¬
licher Energie gegeben. Nein, was die Pariser besonders erstaunte, war die
ausgesuchte Höflichkeit, die gründliche Bildung der Marineofficiere, die Fein¬
heit ihrer Manieren, ihre gewählte Sprache."
Sehr wohl thaten die Seeofficiere daran, daß sie ihre Leute mit größter
Sorgfalt fern hielten von der übrigen Besatzung der Weltstadt. — Nennen
wir zunächst die Franctireurs. Die Zahl ihrer Legionen läßt sich nicht
genau bestimmen, da der Kriegsminister selbst sie nur annähernd kannte. Da
waren an Infanterie und Cavallerie: I,es amis cis 1^ I^une, leg IZelaireui K
1'rg.lledetti. die ^iraillsurs Mi'isiens und die lirlüHeurs as la Lsinö, die
Delairours narisiens, die Oaralzinicirs xarisiens, die Lelaireurs ein; la Karclo
nationale, die Lavaliörs as 1a Kövudliqns u. a. in. Auch bei den Special-
waffen zeichneten sich mehrere und zwar tüchtige Frcmctireur-Corps aus, so:
Joch Latteriss l'Levis pol^tkelinic^no, Iss Lsrvants 6es NitraiUeuses und
bei dem Genie: 1a livFiou ass Volonwires und ig Lataillon ach Ninours
auxiliaires. Alle zusammen waren es wohl 15 bis 18 Tausend Mann. Als
Paris blockirt war, erschienen die Frcmctireurs des Fußvolks, welche sich speciell
dem Parteigängerkriege hatten widmen wollen, als solche überflüssig, und es
war im Kriegsrathe die Rede davon, die schon bestehenden Corps mit der
regulären Armee zu vereinen. Aber hierin, wie in andern Dingen, konnte
man sich nicht entscheiden. Man wagte nicht, diese Bataillone anzurühren,
weil sie hoch in der Gunst des Publicums standen, dessen Phantasie sie be¬
schäftigten, und weil sie durch ihren Eifer, der in der regelmäßigen Armee
rasch erkaltet wäre, Soldaten wie Mohne zur Nachahmung aufforderten. Man
ließ sie also bestehen, raubte ihnen aber die Initiative und zog sie so viel
als möglich in die Rahmen der projectirten Operationen hinein. Vielleicht
wäre es besser gewesen, ihre Neigung zu kühnen Handstreichen, bei welchen
es mehr auf Verwegenheit als auf Disciplin ankommt, zu fördern und aus¬
zubeuten.
Die Pariser Mobilgarden, welche nach den abscheulichen Ausschrei¬
tungen im Lager bei Chalons in die Hauptstadt zurückgeschickt worden waren,
wollten auch hier nicht gut thun. Sie machten Trochu sehr viel zu schaffen
und er überhäufte sie mit Proclamationen. Mannszucht und militärischer
Geist gingen ihnen völlig ab; sie waren nach Zufall in die neuernchteten
Cadres eingereiht und ihre Offiziere, meist reiche junge Leute aus guten Fa¬
milien, doch völlig unwissend in militärischen Dingen, hatten nicht den ge¬
ringsten militärischen Einfluß auf sie. Endlich schickte man sie auf die Forts
— einen Ehrenposten, wie man ihnen, um die Pille zu verzuckern, sagte.
Aber auch dort setzten sie ihre gewohnte Unordnung fort. So wählten sie,
um nur ein Beispiel anzuführen, den einzigen Brunnen eines Forts, der gutes
Trinkwasser hatte, um in ihn das zu entleeren, was Moliere im „Arzt wider
Willen" den Ueberfluß des Getränkes nennt*). Gassenbubenstreiche, die im
Lager, dem Feinde gegenüber, Verbrechen sind.
Mehr Vertrauen flößten die Mobilen der Provinz ein. Es wären
das an 100,000 Mann: Leute aus der Bretagne, welche dem Rufe Trochu's,
ihres Landmannes, in großen Massen gefolgt waren, Bewohner von Berry,
der Franche-Comte', der Champagne, der Normandie und Pikardie, von Au-
vergne und von Burgund. Diese junge Mannschaft wußte zwar ebensowenig
vom militärischen Leben als die Pariser; aber auf ihren braven, kräftigen
und ruhigen Gesichtern las man, daß es solide Leute seien, mit denen man
Alles unternehmen könne, wenn man es verstehe, sie zu führen. Die Bre¬
tagne waren die ersten zur Stelle. „Die armen Kerle!" ruft Sarcey aus,
„ich sehe sie noch vor mir mit ihren langen Haaren, ihren erstaunten Ge¬
sichtern unter den großen runden Hüten, als sie ankamen in Paris. Die
meisten sprachen nicht einmal französisch und es war nicht möglich, sich ihnen
verständlich zu machen."
Hinter den Mobilen stand die Nationalgarde ((ZÄi'as nationale s6-
clöntaire). die allerdings noch kaum organisirt war. Ihr hatte die gestürzte
Regierung immer und mit großem Recht mißtraut und sich der berühmten
Definition erinnert: „Die Nationalgarde ist die Nation in Waffen gegenüber
der Regierungsgewalt." In einigen Stadtvierteln war sie völlig unterdrückt
gewesen, in allen war sie gesichtet und nur aus Leuten zusammengesetzt, auf
welche das Gouvernement zählen zu dürfen geglaubt hatte. Aber auch diesen
war durch reinen Paradedienst jeder innere Halt genommen, und zu Officieren
hatten sich nur noch Männer gemeldet, die sich nach dem rothen Bändchen
sehnten oder einfach wünschten, zu den officiellen Festlichkeiten eingeladen zu
werden. Wer sich von den Bürgern dem Dienst entziehen konnte, that es
gewiß, selbst auf die Gefahr hin, jährlich drei Tage im „Höwl aux naricots"
eingesperrt zu werden. Jetzt indessen hielt es jeder für seine Pflicht, in die
Nationalgarde einzutreten. — Von früher her bestanden eben einige Batail¬
lone, die im Großen und Ganzen von wohlhabenden Bürgern, Kaufleuten,
Aerzten, Advocaten und Beamten gebildet waren und je 800 bis 1000 Mann
zählten, nun aber auf etwa 1200 Mann kamen. Sie hießen die „alten Ba°
taillone". Ihnen stellte man dann in den Bezirken, welche bisher keine Na¬
tionalgarde gehabt hatten, wie in Belleville, Menilmontant u. f. w., „neue
Bataillone" zur Seite, deren man übrigens auch in den reicheren Stadvierteln
gründen mußte; denn die Zahl der Anmeldungen war so bedeutend, daß die
alten Rahmen sie nicht alle aufnehmen konnten. Von S0.000 Mann stieg
die Masse der Nationalgarten allmählich bis auf eine Viertel-Million; aber
dabei befanden sich 28,000 Sträflinge und 6000 Sektirer, die zu Allem fähig
waren, was gegen die sociale Ordnung streitet.*) Gegen die Ansicht der Re¬
gierung, welche die bisherige theuere und unbequeme Uniform: Waffenrock
und Czako überall einführen wollte, entschied man sich durchweg für Gürtel¬
jacke und Käpi, und selbst die alten Bataillone nahmen bald diese Tracht an,
welche für lange hinaus die Tracht aller Pariser werden sollte. Man ging
nur noch in ihr aus, ja selbst wenn man Civil anlegte, behielt man doch
das Käpi auf dem Kopfe, um sich unter allen Umständen als Vaterlands-
Vertheidiger zu legitimiren. — Was die Haltung der Nationalgarde betrifft,
so machte sich auch in ihr jener Hang zu selbstständiger Opposition geltend,
der alle Augenblicke in Unbotmäßigkeit umschlägt, und gab nicht selten An¬
laß zu ernsteren Besorgnissen. Allgemeine Unordnung herrschte namentlich
in den Reihen der „neuen Bataillone" und gleich anfangs ließen sie sich ihren
Vorgesetzten gegenüber zu einer Sprache hinreißen, die eine traurige Zukunft
in Aussicht stellte.
Die widerharige Nationalgarde discutirte die Befehle, schmollte mit ihren
Führern, die sie sich doch selbst gewählt hatte und wenn ihr ein Auftrag un¬
nütz oder verdrießlich erschien, so scheute sie sich nicht, Alles zum Teufel zu
wünschen.*)
Das allgemeine Aufgebot der Nationalgarde hatte unter anderen Uebel¬
ständen eine sehr traurige Seite. Zur Herstellung der vielerlei Vertheidigung^-,
Ausrüstungs- und Bekleidungsgegenstände brauchte man ungemein viele Arme.
Aber namentlich in der ersten Zeit war es kaum möglich, sie zu finden, weil
alle Welt Soldat spielte. Nichts erschien dem Handwerker und Arbeiter wür¬
diger, als ein Flingot über die Schulter zu hängen und auf den Wällen
Schildwacht zu stehn. Mit Verachtung blickten die Helden auf die Arbeiter
hinab, welche in der Werkstatt geblieben waren und behandelten sie fast wie
Feiglinge — als wenn ein übermenschlicher Muth dazu gehörte, auf einer
Platform, 6000 Meter vom Feinde, spazieren zu gehen. Statt zu arbeiten
fand man es viel unterhaltender, sich unter dem Vorwande: man müsse erer-
ciren oder Wache stehn, zu versammeln, und die Zeit bei Spielen, Lachen und
ganz besonders beim Trinken zu verbringen.
Die Nationalgardisten erhielten einen Tages so it von 1^ Franken,
welchen die meisten Männer vertrauten, so daß später noch 7S C. für die
Frauen und 25 für jedes Kind zugelegt werden mußten. Der Finanzminister
Picard hatte sich der Besoldung der Nationalgarde im Staatsrathe widersetzt,
weil sie dem Schatze eine Tagesausgabe von 800 Tausend bis zu 1 Million
Franken verursache. Jules Favre aber kannte seine Leute. „Ohne den Sold",
erklärt er selbst^*), „wäre Bewaffnung und Einübung der Nationalgarde und
damit die Vertheidigung von Paris unmöglich gewesen." Gegen Bezahlung
aber wollte das Proletariat Hobel und Hammer sehr gern mit der Flinte
vertauschen. Die berühmten Nationalwerkstätten von 1848 (vergl. III. Quartal
S. 503) kehrten in anderer Form wieder. Hier lag der Samen des Kommune¬
aufstandes. Einmal bewaffnet, begannen die „Miserables" Victor Hugo's sich zu
fühlen, und vor Allem auffallend war der Eifer, mit welchem die der „Interna¬
tionale" ergebenen Bataillone sich mit Chassevots und Patronen versahen. Das
ist der Unterschied eines plötzlichen allgemeinen Aufgebots von der deutschen
allgemeinen Wehrpflicht!
Wenn die gewaltige Armee der Hauptstadt ebenso tüchtig als groß
gewesen wäre, so hätte man Paris und seine Umgebung mit einem Radius
von etwa 20 Kilometer sehr wol activ vertheidigen können; denn die deutsche
Armee, welche die Cernirung unternahm, war nur 122,000 Mann Fußvolk
und 24,000 Reiter, also noch nicht halb so stark als die pariser Armee und
auf jeden Schritt der Cernirungslinie kam wenig mehr als ein Infanterist.
Doch die französischen Truppen hatten ein deutliches Gefühl ihres geringeren
Werthes; sie beschränkten sich ausschließlich auf die militärische Zone der
Forts, und Trochu forderte die Bewohner der Umgebung auf, mit Lebens¬
mitteln nach Paris zu kommen.*)
Trochu selbst bekennt/*) daß er die Absicht, Paris ohne Hilfsarmee zu
vertheidigen, als eine „luZMizinz tolle" betrachtet und bezeichnet habe; diese
Vertheidigung sei aber unumgänglich nöthig gewesen, um Frankreichs Ehre
zu retten, — Trotz der 400,000 Bewaffneten, welche Paris umschloß, hatte
Trochu, als am 17. September die preußischen Kolonnen vor Paris an¬
langten, nur über 86,000 noch nicht vollständig ausgebildete Mannschaften
zur Verwendung im freien Felde zu gebieten, da er 100,000 M. bedürfte, um
täglich die Außenwerke, die Forts und die Wälle der Stadtbefestigung besetzen
zu können. Die dem Feinde bei CHZMon entgegengeworfenen jungen Trup¬
pen (28,000 M. des 14. Korps) vermochten nicht, dem feindlichen Artillerie¬
feuer zu widerstehen. Folgenden Tages erließen Gambetta und Trochu,
wie sich denken läßt, fulminante Proclamationen, und eine Stelle des sehr
schwachen militärischen Berichtes wurde berühmt in Paris, die Phrase:
„Einige unserer Soldaten haben sich mit bedauerlicher Eile zurückgezogen."
Seit diesem Tage wurde das Arretiren von Soldaten zu einer wahren Manie
der Nationalgarde und selbst Officiere entgingen ihrer Wuth nicht. Ende
September glaubte Trochu ein besonderes Exempel statuiren zu müssen: 21
Soldaten, Deserteure eines Linienregiments, wurden mit verkehrt angezogenen
Waffenröcken und einem Plakate auf der Brust durch die Straßen geschleppt
und dann erschossen,*) In diesen Tagen erhitzte sich der „Patriotismus"
derart, daß man beschloß, durch Nationalsubscription eine Ehrenmuskete für
denjenigen aufzubringen, der den König von Preußen erschießen werde. 2000
Subscribenten, jeder mit einem Sou, unterschrieben sich sofort.**)
Der Verlust des Plateaus von Chü-tillon warf die Besatzung von Paris
in die strengste Defensive zurück. Die hierauf folgenden sechs Wochen mußten
dazu benutzt werden, die Mobilgarden auszubilden, um sie mit der aktiven
Armee zu Ausfällen verwenden zu können, sowie die Nationalgarten (260
Bataillone) regelmäßig zu formiren. Während dieser gebotenen sechswöchent¬
lichen Unthätigkeit der Besätzungs-Armee von Paris nach außerhalb vollendete
der Feind seine Umschließungslinien, die bei späteren Ausfällen nicht mehr zu
durchdringen waren. Es muß anerkannt werden, daß Trochu jene Zeit, so¬
weit es die Befestigung der Enceinte betraf, vortrefflich benutzt hat, obgleich
die ganze Arbeit auf seinen Schultern lastete. Weniger erfolgreich waren seine An¬
strengungen, die Mobilgarden zu kriegstüchtigen Truppen zu machen. Dem
Gouverneur zur Seite standen mehre Commissionen, welche sich mit dem
Studium und der Anwendung der Vertheidigungsmittel beschäftigten.***)
Trochu rechnet es sich als Verdienst an, daß er in Paris allem Drängen
nach Massenausfällen mit improvisirten Truppen, die nur schwere Opfer ohne
reellen Erfolg gehabt haben würden, so viel als möglich widerstanden habe.
Sein (von Duerot herrührender) Plan war der, in der Richtung auf Rouen
nach Havre durchzubrechen. Von der Halbinsel Gennevilliers aus glaubte er
am leichtesten über Argenteuil und Corneilles die feindlichen Linien sprengen
zu können. Die bei Lille organisirte Nordarmee sollte hierbei die rechte Flanke der
Ausfalls-Armee decken, welche in Eilmärschen über Rouen bis Havre vor¬
dringen sollte, um sich am Meer mit allen Hülfsquellen des Landes in Ver¬
bindung zu setzen.
Die Ausführung dieses Planes erforderte vor allen Dingen Ruhe und
Geduld; davon aber hatten die Pariser nichts übrig. Trochu's abwartendes
Verhalten wurde überschüttet mit boshafter Kritik, mit bitteren Bemerkungen
und malitiösen Sticheleien. Man schimpfte ihn den General Trop-in oder
ve xrownäis, und den Chef seines Stabes, Schmitz, hieß man den General
Contre-Ordre, und als Trochu nun gar die Unvorsichtigkeit hatte, in einer seiner
unendlich vielen Proklamationen auszusprechen, daß er nicht abgehen werde
von seinem Plan, daß er sich noch in keinem seiner Urtheile geirrt habe und
daß man dies einst aus seinem, bei dem Notar Herrn Ducloux niedergelegten
Testament ersehen werde — da brach die Flut des Spottes mit verdoppelter
Schärfe los. Welche freche Selbstüberschätzung, welche übermüthige Fri¬
volität kündigten die damaligen Gassenlieder gegen Trochu im Munde der
Soldaten und Nationalgarten an! Ist da auch nur eine Spur von
Vertrauen in den Führer? eine Spur, der für gute Truppen absolut
nothwendigen Selbstentäußerung und des freimüthigen Sichbescheidens und
Hingebens, durch welche Heere stark sind und siegen?! Unaufhörlich haschte
die Besatzung von Paris nach Phrasen und konnte sich nicht genug darin
thun, „as pa^or 6<z mots."
Unterdessen wurde der Ausfall nach Le Bourget in blutigem Kampfe
zurückgeschlagen und gelangte nach Paris die Nachricht von dem Fall von Metz.
Ihr reihte sich aber auch bald die von Thiers Rundreisen im Auslande an,
und die Hoffnung auf Frieden electrisirte Paris. Grade diesen Zeitpunkt
wählte die Partei der Socialdemocraten, um sich der Gewalt zu bemächtigen.
Der Aufstand vom 31. October zeigte, daß die Hoffnungen der September¬
männer, die Bestie zähmen zu können, indem man sie wärmte und fütterte,
ihr Waffen gab und ihr schmeichelte, falsch gewesen waren. Bretagnische
Mobilgarden, wackere einfache Landleute retteten diesmal noch Paris vor
der Herrschaft der Communisten. — Nach so furchtbaren Fehlschlagen
und Erschütterungen herrschte in der Hauptstadt die tiefste Niedergeschla¬
genheit, als plötzlich in der Mitte des melancholischen Novembermonats
wie ein Sonnenstrahl durch den Nebel eine „Siegesnachricht" drang. Die
Taubenpost verkündete, daß General d'Aurelles de Paladine die Deutschen
zurückgedrängt und Orleans wieder genommen habe. Lassen denn auch wir
Paris und vergegenwärtigen wir uns, was inzwischen in der Provinz geschehen
war.
Das Gouvernement der nationalen Vertheidigung hatte eine schlimme
Erbschaft übernommen : die Staatskassen und die Magazine leer, die regulären
Armeen kriegsgefangen, das Land in politische Parteien zerspalten, frischer
genialer Männer ganz entbehrend, die feindlichen Heere im Anzüge gegen die
Loire, alle Autorität im Lande geschwunden. Und doch gibt es vielleicht kein
Land in der Welt, das ein solches Unglück leichter zu ertragen vermöchte und
schneller und kräftiger den Massenkrieg organisiren könnte, als grade Frankreich.
Am 1.6. September ließ sich eine Delegation der Regierung zu
Tours nieder. Sie bestand aus den Herren Cremieux, Glais-Bizvin
und Fourichon und übernahm die Aufgabe, die verschiedenen Dienstzweige
in Betrieb zu erhalten und womöglich hinter der Loire eine Hilfsarmee zu or¬
ganisiren. Das war ein ungeheures Unternehmen; denn es bestand keine
Truppe mehr; es gab in den Depots nur Männer, freilich in großer Zahl,
aber ohne irgend einen Anfang von Organisation; in ganz Frankreich zählte
man in jenem Augenblick nur^6 Geschütze, welche bereit waren, ins Feld zu
rücken; den andern fehlten Bespannung und Bedienung, vielen sogar die
Laffetten. Mit Unrecht haben die Anhänger Gambetta's der ersten Regierung in
Tours Unthätigkeit vorgeworfen. Sie that, was sie konnte. Sie ließ Truppen
aus Afrika kommen und schuf den Kern der Loire-Armee, nämlich das
XV. Corps zu Bourges unter den Befehlen des Generals de la Mvtte-
rouge. Seine Organisation wurde trotz der großen Schwierigkeiten, welche
namentlich die Beschaffung von Offizieren machte, anfangs October zum Ab¬
schluß gebracht. Es war etwa 30,000 Mann stark und sollte Orleans halten.
In den Vogesen sammelte sich gleichzeitig unter General Cambriels ein
Corps, welches die dortigen Engpässe vertheidigen und dem Volkskriege zum
.Anhalte dienen sollte. Im Westen arbeitete man unter Leitung des Generals
Fiereck an der Bildung von Bataillonen mobiler Nationalgarde. Alle diese
Versuche hatten indessen keinen besonderen Erfolg. Die Deutschen, welche ein
augenscheinliches Interesse hatten, keine neuen Streitkräfte sich bilden zu lassen^
führten ihre Schläge überall dahin, wo dieselben Festigkeit gewannen. Zahl¬
reiche Fehlschläge in Einzelheiten folgten aufeinander und die Arbeit der Or¬
ganisation litt darunter beträchtlich. Bald entstanden Verwickelungen im
Schooße der oberen Verwaltung; der Admiral Fourichon legte das Porte¬
feuille des Krieges nieder, so daß es mehrere Tage ohne wirklichen Inhaber
blieb/) In den Feldlagern 'und Casernen gab es hin und her laufende Sol¬
daten, aber nirgends solide, krieggeübte Truppen. Von Begeisterung oder
gar einem geregelten rationellen Verfahren war nirgends die Rede, und das
Auseinanderfallen des Volksheeres wäre offenbar im October erfolgt, wenn
nicht plötzlich wie ein vsux ex mkoliivg, der Mann mit der eisernen Faust
erschienen wäre, dessen die Franzosen immer benöthigt waren, wenn sie Et¬
was leisten sollten.**)
Am 9. October kam Gambetta; welcher mit außerordentlichen Voll¬
machten seiner College« bei der Regierung versehn, Paris im Luftballon ver¬
lassen hatte, in Tours an, um sich an die Spitze der Vertheidigung zu stellen.
Er übernahm die beiden Ministerien des Kriegs und des Innern und er¬
nannte im Bereiche des ersteren den Civil-Jngenieur Charles de Freycinet zu
seinem Delegirten.
Die militärische Situation war in diesem Augenblick die folgende:
Paris und Metz waren blokirt. — Die Loire-Armee (nur noch 25,000 Mann)
bei Artenay und bald darauf bei Orleans geschlagen, begann einen Rückzug,
der erst im Innern der Sologne endete. — Die Armee des Generals Cam-
briels (auf 24,000 Mann zusammengeschmolzen) gab die Vogesen auf und
suchte in Besancon Schutz. *) Im Westen befanden sich unter Ke'ratry
30,000 Mann mobiler Nationalgarde, nur nothdürftigst ausgerüstet und en-
cadrirt, ohne Cavallerie und Artillerie. Sie bildeten von Chartres bis Ev-
reux eine schwache, widerstandsunfähige Vertheidigungslinie. — Im Norden
befanden sich zwar in den festen Plätzen Garnisonen, doch keine Truppen im
freien Felde. Alles in Allem zählte man etwa 40,000 Mann reguläre In¬
fanterie, 40,000 Mobilgarden, 6000 Reiter und 100 Geschütze. — In ad¬
ministrativer Beziehung war die Lage nicht beruhigender, und die Einrich¬
tung des Kriegsministeriums in Tours stieß auf die größten Schwie¬
rigkeiten. Das Cabinet des Ministers, ein Ausschuß zur Erforschung der
Vertheidigungsmittel, Directionen der Infanterie, Artillerie und des Genies,
Intendantur, Sanitätsdienst, Rechnungswesen — alles mußte neu geschaffen
werden. Ein Kundschaftsamt wurde eingerichtet und besondere Wichtigkeit
und Ausdehnung erhielt das Kartenamt, welches während der vier letzten
Monate des Krieges 15,000 Karten an die Generalstabe vertheilte, die deren
bis dahin vollständig entbehrt hatten.
Mitte October wurde Frankreich in vier militärische Regionen
eingetheilt:
1. Nord-Region: General Bourbaki zu Lille, rechts der Seine. 2. West-Re-
gion: General Fiereck zu Le Maus. 3. Central-Region: General de Pohles zu
Bourges. 4. Ost-Region: General Cambriels.
Ein Regierungsdecret vom 28. October ertheilte den aus Depottruppen
formirter 39 Marschregimentern die Bezeichnung als Linien-Jnfan-
terie-Regimenter mit den Nummern 101 bis 193; Gambetta war je¬
doch weit entfernt, sich vorzugsweise auf diese Rudimente oder Ableger der
alten Armee stützen zu wollen. Was er durchsetzen wollte, das war die
levös en masse in der vollsten und umfassendsten Bedeutung des Wortes:
wie er dasselbe verstand. Die ihm zu Gebote stehenden Menschenmassen be¬
rechnete er nach den Angaben des „?roZrös <Ze I^on" wie folgt:
Die Mobilgarde (alle Mann von 20 bis 26 Jahren) wenigstens S00.000.
Die Classe von 1869: 80,000 Mann; die Classe von 1870: 240,000 Mann.
Das macht schon 820,000 Soldaten. Rechnet man hierzu die wieder einbe¬
rufenen Militairs bis zu 33 Jahren, die Freiwilligen, die Franctireurs und
die mobilistrte Nationalgarde, so erreicht man leicht die Zahl von 1 Million
200 Tausend Mann, „jung, thätig, voll soldatischen Eifers". Um dieses Re¬
sultat zu erzielen, erließ die Regierung in Tours das bekannte Decret
über das Massenaufgebot vom 2. November 1870,*)
Dieses Decret übertrifft alle Forderungen des berühmten Augustgesetzes
von 1793. Ebenso wenig wie dies letztere aber eine w ah re Is oss s n masss
hervorgebracht, d. h. eine tumultuarische und allgemeine Bewegung von kurzer
Dauer, welche alle waffenfähigen Menschen in freiwilligem Massensturm auf
den Feind sich stürzen läßt, ebenso wenig hatte das Decret Gambetta's diesen
Erfolg. 1793 und 1870 sind es Requisitionen, Aufgebote, um die es
sich handelt, und wenn man sich das klar macht, so kann man nicht umhin, dar¬
über zu staunen, wie gehorsamgewöhnt sich die französische Nation, die im Ein¬
zelnen und bei Kleinigkeiten so rebellisch und frech erscheint, jenen ungeheueren
und umfassenden Anforderungen gegenüber darstellt. Die Regierung der Na¬
tionalvertheidigung begehrte mehr als der Convent; es standen ihr die Schreck¬
mittel des letzteren nicht zur Verfügung und dennoch ist die Leistung der
Nation 1870/71 eine mindestens gleich große wie 1793/94. — Der militärische
Geist der Franzosen hatte 1870 den offenen Bankerott erlebt, der kriegerische
Geist des Volks erwies sich vollauf zahlungsfähig. Aber es zeigte sich auch
wieder, daß dieser allein nicht ausreicht, um Heere zu schaffen, und daß die
innige Verbindung kriegerischen und militärischen Geistes dazu gehört, um
beharrlich zu siegen.
Seit dem Novemberdecret lag der Hauptaccent der französischen Landes¬
vertheidigung durchaus auf der Hilfs-Armee. Sie zerfiel in folgende Ka¬
tegorien:
1. Die mobile Nationalgarde. Die einzelnen Bataillone in provisorische Infan¬
terie-Regimenter, die Artillerie-Compagnien zum Theil in provisorische Artillerie-Regi¬
menter zusammengestellt. 2. Der mobilisirte Theil der seßhaften Nationalgarde, zum
Theil in Legionen formirt. 3. Der Nest der seßhaften Nationalgarde, ohne erkennbare
Formation, als in einzelnen Bataillonen. 4. Verschiedene Legionen, wie die irländische
Legion und die aus den ehemaligen päpstlichen Zuavcn gebildete Legion des Obersten
Charrette. S. Die Freicorps und Franctireurs, deren Zahl, Stärke und Formation
im Einzelnen sich jeder Berechnung entzieht.
Die Ausführung des November-Dekrets wurde nicht dem
Kriegsministerium, sondern dem Ministerium des Innern zugewiesen. Es
hatte dies nicht nur für die Aufbringung der Mannschaft und deren Beklei¬
dung und Bewaffnung, sondern auch für die Errichtung der Cadres und die
Ausbildung zu sorgen. Natürlich mußte das departementsweise geschehen
und die Hauptlast der Arbeit fiel auf die Schultern der Präfecten. Die Frist,
bis zu welcher die organisirten Bataillone dem Kriegsministerium über¬
wiesen werden sollten, warder 19. November. Dieser unerhört nah gesteckte
Termin konnte natürlich nicht innre gehalten werden, obgleich man sich für
den Anfang thatsächlich darauf beschränkt hatte, die Unverheirateten zu
den Fahnen zu berufen. Auch dies ergab aber noch eine Masse von 5 bis 6 Hun¬
derttausend Mann, welche selbstredend in keinem Verhältniß zu der kurzen
Frist von 17 Tagen stand, binnen derer sie aufgestellt werden sollten. — Um
den Abmarsch zu erleichtern und die Ausbildung zu fördern, verfügte Gam-
betta am 25. November die Errichtung von Ausbildungslagern auf
verschiedenen Territorien, mit der Absicht, aus dieser Institution eine der
bleibenden Grundlagen der künftigen Heeresreform zu machen.*)
Am 10. Dezember erging der Befehl, die Schaaren der Mobilisirten, in
welchem Zustande sie sich auch befinden mochten, in die Lager abzusenden.
Von da an übernahmen die unter dem Kriegsministerium stehenden Lagerver¬
waltungen die Aufgabe, Bewaffnung und Ausbildung zu vervollständigen und
die Massen in regelmäßige Truppentheile zu formiren.**)
Von ungeheurer Schwierigkeit war die Aufgabe, für die neu geschaffenen
gewaltigen Massen, d. h. für zunächst 4 bis 5 Hunderttausend Mann, aus
einer zerrütteten, meist aus Depottruppen bestehenden regulären Armee die
Cadres zu schaffen. Freycinet hat sicherlich Recht, wenn er sagt: „Eine
befriedigende Lösung dieser Aufgabe ist unmöglich." Um die Lücken der
Off leiern o rps zu füllen, wendete man drei Hauptmittel an: Erstens ver¬
doppelte man die Stärke der Compagnien, um die Zahl der erforderlichen
Hauptleute auf die Hälfte herabzusetzen, da ein guter Capitcnn bekanntlich
das am schwersten zu findende Stück des Räderwerks ist. Diese Maßregel
war natürlich bei Truppen ohne Schule und Mannszucht doppelt bedenklich
und gefährlich. Zweitens warb man im größten Maßstabe Officiere aller
Grade aus den Reihen der Armee, indem man die Corpsführer ermächtigte,
aus den Unterofficieren, ja selbst aus den Gemeinen zu schöpfen, und drittens
gestattete man in der Hilfsarmee die Ernennung von Nichtsoldaten und von
Fremden zu Officieren, wobei die Verhältnisse während des amerikanischen
Bürgerkrieges als Vorbild dienten.*)
Es versteht sich von selbst, daß bei den hastigen Neuernennungen eine
Menge oft schwerer und widerwärtiger Mißgriffe vorkamen, zumal selbst für die
vorhandenen Officiere jeder Anhalt zur Beurtheilung ihrer Antecedention fehlte,
da die Personalacten des Kriegsministeriums in Paris lagen. — Alles in
Allem aber muß man anerkennen, daß auch auf diesem Gebiete in kurzer
Frist Außerordentliches geleistet worden ist und sich die organisatorische Energie
der Franzosen glänzend bewährt hat.
Wenn mit den durch die geschilderten Maßregeln ausgebrachten Heeres¬
massen der große Krieg geführt werden sollte, so wollte ein Erlaß vom 14.
Oel. 1870 die örtliche Vertheidigung in den Departements, den
kleinen Krieg, organisiren. Er bestimmte, daß jedes Departement, dessen
Grenzen weniger als 100 Kilometer vom Feinde entfernt sei, dadurch von
Rechtswegen als „im Kriegszustande befindlich" erklärt sei. Unter dem kom-
mandirenden General des Departements sollte dann sofort ein „militärischer
Ausschuß" zusammentreten, um dem Feinde alle Arten von Vorräthen zu
entziehen, die Wege zu sperren, Feldschanzen aufzuwerfen, Defileen zu verthei¬
digen, ja, wenn es sein mußte, Alles das, was dem Feinde Nutzen bringen
könne, zu vernichten. Ergänzende Bestimmungen vom 23. und 29. Oktober
regelten die Art der Ausführung der „Verödung". Die Bevölkerung hat
sich namentlich in letzterer Beziehung meist spröde gezeigt; denn die Zerstörung
der Straßen, Gebäude und Lebensmittel traf sie selbst ja natürlich noch weit
härter als den Feind.
Fassen wir nun, so weit es der beschränkte Raum erlaubt, die Armeen ins
Auge, welche mit den durch die Regierung zu Tours aufgebrachten Streit¬
kräften ins Feld gestellt wurden. Es waren das gegen Ende des Jahres
1870, im Augenblicke der suprömes ekkvrts as Trance die folgenden:
I. Armee unter General B o ur b a k i: XV., XVIIl., XX, Corps, etwa 90,000
Mann stark.—II. Armee unter General Chanzy: XVI., XVII., XXI,, XIX. und
XXV. Corps, etwa 150 bis 170,000 Mann stark. — Nord-Armee unter General
Faid herbe: XXII. und XXIII. Corps, etwa 50,000 Mann stark. — Corps von
Le Havre unter General Briand, etwa 20,000 Mann stark. — Ost-Armee
unter verschiedenen Generalen: das Corps Garibaldi's. die selbstständige Division
Cremer und das in Bildung begriffene XXIV. Armee-Corps.*)
Die I. und II. Armee waren aus den Streitkräften gebildet, welche ur¬
sprünglich als Loire- und West-Armee formirt gewesen waren. Und zwar
bestand anfangs die Loire-Armee unter Aurelles de Paladine aus dem
XV. und XVI. Armee-Corps, zu denen sich später das XVII. und XVIII.
gesellten. Die West-Armee unter Keratry setzte sich allmählig aus dem
XIX., XX. und XXI. Corps zusammen, von denen indessen die beiden ersteren
später zur Loire-Armee herangezogen wurden, während das XXI. Corps im
Lager von Conlie verblieb.
Im Osten hatte von Anfang an eine schwer zu durchblickende Ver¬
wirrung geherrscht. Die autonomen Neigungen, welche sich in Marseille,
Lyon und anderen Städten, Hand in Hand mit föderalistischen und socia¬
listischen Bestrebungen zeigten, stellten die Autorität der Regierung von Tours
lange Zeit hindurch geradezu in Frage. Die „Armee von Lyon", welche sich
zu Anfang des Volkskrieges bildete, stand ganz unter dem Einfluß dieser
Strömungen.
Hier traten also ganz dieselben Erscheinungen hervor, welche einst in der
Zeit der ersten Revolution alle Bande der Disciplin unter den Truppen und
den Freiwilligen derart lockerten, daß zuletzt Niemand ihrer Herr war. —
Die Ernennung des Generals Cambriels zum Befehlshaber der Ostregion
hätte diese Verhältnisse vielleicht bessern und ordnen können, wenn nicht das
Erscheinen Garibaldi's neue Verwickelungen und Schwierigkeiten bereitet
hätte. Dieser war, hingerissen von dem Nebelbilde einer Wiedergeburt „der
großen französischen Republik" am 9. October zu Tours erschienen und hatte
Frankreich seinen Degen zur Verfügung gestellt. „Der hat uns gerade noch
gefehlt!" soll Cremieuxaus gerufen haben, als seine Ankunft gemeldet ward.**)
Am nächsten Tage erhielt er den „Oberbefehl über sämmtliche Freischaaren"
und eilte sogleich nach Dole, um sofort die Organisation seiner Streitkräfte
zu beginnen. Diese ging bei Weitem nicht so schnell von der Stelle als er
gehofft. Es konnte nicht ausbleiben, daß die unbestimmte Machtvollkommen¬
heit, die ihm ertheilt war, zu Conflicten zwischen ihm und anderen Befehls¬
habern führen mußte. Die Zerwürfnisse zwischen Cambriels und Garibaldi
nahmen sogar Formen an, welche Gambetta zu persönlichem Einschreiten
nöthigten, ohne daß es ihm den Frieden herzustellen gelang. Ueberdies war
der italienische Condottieri bei der Landbevölkerung, ja bei einem großen
Theil der ihm zugewiesenen Truppen äußerst unpopulär, zumal er die katho¬
lischgläubige Stimmung derselben oft in der gröblichsten Weise verletzte. Als
er durch die bretonische Legion verstärkt werden sollte, weigerten sich diese
frommen Leute, unter dem Feinde des Papstes zu fechten. Noch Mitte No¬
vember war er zu Autun in Organisationsarbeiten begriffen. Alles in Allem
hat Garibaldi seine „Vogesen-Armee" auf 18,000 Mann gebracht").
Die Schaaren Garibaldi's gehörten fast allen Nationen an; vorzugs¬
weise jedoch waren Polen, Franzosen, Italiener und Spanier vertreten.**)
Wo sie zum Gefecht gekommen sind, haben sie sich gut geschlagen, was ihnen
trotz der Panik von Dijon zugestanden werden muß. Sie sind es, welche im
Feldzuge 1870/71 neben den afrikanischen Truppen das fremde Element
im französischen Heere darstellen, welches, wie wir im Laufe unserer
Darstellung nachgewiesen, zu allen Zeiten einen characteristischen Bestandtheil
desselben gebildet hat. Beliebt hat sich dasselbe in Frankreich nicht ge¬
macht, und wir glauben es gern, wenn Georges Sand in ihrem Tagebuch
versichert, daß das Landvolk die Franctireurs mehr als den Feind gefürchtet
habe und daß die Excesse von Garibaldi's Corps eine Schande für das Heer
gewesen seien.
Wenn man die Gesammtleistungen der Dictatur Gambet-
ta's ins Auge faßt, so muß man dieselben als ganz außerordentlich aner¬
kennen.***)
Rücksichten auf den von uns schon so sehr in Anspruch genommenen
Raum und auf die Geduld unserer Leser gestatten uns nicht, die Organisation
der einzelnen Armeen ins Detail zu verfolgen und die Verhältnisse der
Armee in Paris bis zur Capitulation unserer Betrachtung zu unterziehen,
und nur das Gesammtresulta t aller Neuformationen Frank¬
reichs seit dem Zusammenbruch der kaiserlichen Armee sei noch in allgemei¬
nen Angaben unserer Schilderung angereiht.
Durch Einberufung der Klasse von 1869 im Juli und der Klasse von
1870 im Oetober, sowie durch die Heranziehung aller ausgedienter unverhei-
ratheten Soldaten bis zum 33. Lebensjahre waren die Depots gefüllt wor¬
den und hatten nach und nach bis Ende Januar 1871 hergegeben:
An Mobilgarden wurden im Laufe des Krieges ungefähr 300 Ba¬
taillone in einer durchschnittlichen Stärke von 1000 Mann aufgestellt und
aus diesen bis zum Ende des Krieges 89 provisorische Infanterie-Regimenter
sowie 4 provisorische Artillerie-Corps mit im Ganzen 52 Batterien (worunter
12 Mitrailleusen-Batterien) formirt. Die wirklich ins Feld gestellten Mohn'
garder dürften somit etwa 300,000 Mann betragen haben; doch befanden
sich derer noch in beträchtlicher Anzahl in den Depots.
An einheimischen un d fremden Frei-Corps sind ungefähr 33,000
Mann aufgetreten.
Welche Stärke die Nationalgarde erreicht hat, ist nicht genau festzu¬
stellen. Diejenige von Paris wurde im Laufe der Belagerung aus 260,000
Mann gebracht; die „mobilisirte Nationalgarde" der Provinzen schätzt, wie
schon angegeben, Freycinet auf 180,000 Mann. In den Lagern befanden
sich am Schluß des Krieges circa 700,000 Menschen, denen es jedoch am
nothwendigsten mangelte.
Sieht man von den letztgedachten ungeordneten Massen ganz ab und
rechnet überhaupt nur diejenigen Truppen, welche wirklich zur Verwendung
gegen den Feind gekommen sind, so hat Frankreich in dem letzten Kriege nach
Vernichtung seiner eigentlichen Feldarmee, die Ueberbleibsel der letzteren nicht
eingerechnet, noch aufgestellt:
Die Leistung des Convents ist damit vollständig in den Schatten gestellt,
umsomehr als die active Armee im Jahre 1870 viel vollständiger verloren
war, wie es trotz aller Zerrüttung und Auflösung während der ersten Revo¬
lution der Fall gewesen ist. Auch der Verlust an Officieren durch die Aus¬
wanderung hat in den neunziger Jahren niemals so ungeheure Verhältnisse
angenommen wie der durch die Gefangenschaft im Jahre 1870. Endlich war
damals relativ viel mehr Kriegsmaterial vorhanden als 1870/71 , und wenn
die massenhafte Erzeugung und Herbeischaffung desselben auch durch die Fa¬
brikations- und Verkehrs-Mittel der Neuzeit ungemein erleichtert wurde, so
bleibt die schnelle Ausrüstung der neugeschaffenen Armee doch immer noch eine
bewunderungswürdige Leistung.
Daß trotz so großer Anstrengungen die Entscheidung keine andere war
als die. welche schon durch die Tage bei Metz und Sedan festgestellt worden,
ist höchst lehrreich. Hatte der erste Theil des Feldzuges die Ueberlegenheit
des Heeres der allgemeinen Wehrpflicht über die Conscriptions-Armee mit
Stellvertretung, die Ueberlegenheit eines in fester Treue stehenden, königlichen,
trefflich befehligten Heeres über eine unzuverlässige, kriegsministerielle, nur admi-
nistrirte Armee dargethan, so zeigte nun der Volkskrieg, daß die allgemeine
Wehrpflicht als solche nicht das Entscheidende sei, sondern nur insofern,
als sie die Militär isch e Erzi ehung der Nation bedeute, nur insofern, als
sie die Jugend des Volkes hineinführe in festgeschloffene Rahmen, welche aus Be¬
rufssoldaten gebildet sind. Wenn man erwägt, welche furchtbaren Anstrengungen,
Entbehrungen, Verluste und Leiden die deutschen Heerestheile - bereits durch¬
gemacht und erlitten hatten, als ihnen die Massenheere Gambetta's entgegen¬
geführt wurden, die ihnen an Zahl fast überall gewaltig überlegen waren,
und wenn man dann sieht, wie diese Wogen des Volksaufgebots eine
nach der andern an jenen ruhig und schnell vorschreitender Corps zerschellen,
dann erkennt man, was Mannszucht. Befehlsordnung und feste Formen werth
sind, und wer etwa bisher noch unentschieden schwanken mochte, ob er der Idee
des Milizheeres oder der des Cadreheeres den Vorzug geben sollte, dem wird
der Volkskrieg in Frankreich die Augen geöffnet haben.
Vor einem halben Jahre legten sich zwei deutsche Kriegsschiffe vor Port-
au-Prince auf Haiti, drohten mit Beschießung und verschafften deutschen
Kaufleuten ihr gutes Recht. Wenn heute italienische und französische Schiffe
im Piräus erschienen und ein Bombardement in Aussicht stellten, falls die
griechische Negierung den Herren Serpieri und Roux ihr Recht nicht gewährt,
so wäre das genau derselbe Fall. Die Regierung des Königreichs Griechen¬
land ist nicht um ein Haar besser als jene der Negerrepublik Haiti. Jetzt, wo
allerdings die Intervention Frankreichs und Italiens angekündigt ist, wo man
in Athen sieht, daß Ernst gemacht wird, da dreht und wendet man sich auf
eine abscheuliche Welses da entstellt man Thatsachen und macht das alte Wort
Oraeeia mena-rx wieder zur Wahrheit. Wir wissen freilich, daß es mit diesem
Griechenland und seinem Pseudohellenenthum schon sehr weit gekommen ist;
habgieriger, schmutziger tritt dieser Staat von Großmachtsgnaden nach außen
aber nirgends auf, als in der Lauriumfrage. Allen Respect vor den
Türken, die wenigstens Hornet die Absicht haben, ihre Schulden zu be¬
zahlen! Diese mohammedanische Türkei schreitet vorwärts — natürlich auch
eum gis.no xalis — aber das christliche Griechenland, für das so viele —
Ignoranten und tüchtige Leute schwärmten, das man bejammerte ob des
grausamen Türkenjochs, es könnte heute sehr, sehr viel von der Türkei lernen.
Bor allem Ehrlichkeit.
Eine faule, unwissende Race sitzt in einem der schönsten Länder der Welt;
das Klima ist herrlich, die Lage des Landes, vom Meere allseits umspült, ist
eine wunderbare; der Boden bringt Reichthümer wie wenig andere Länder
Europas und dabei leidet das Volk Hunger oder stirbt am Fieber in stagni-
renden Sümpfen , die vor zwei Jahrtausenden noch elyseische Gefilde waren;
sein Land verdorrt am Fuße von Gebirgen, die mit ewigem Schnee bedeckt,
ihm eine immerwährende Quelle der Feuchtigkeit sein könnten; es führt Me¬
talle aus den europäischen Culturstaaten ein. während sie unbenutzt auf der
Oberfläche seines Bodens liegen,- aber es ist zu faul, die Hand danach aus¬
zustrecken, um sie aufzuheben. Kommt nun aber einmal ein intelligenter
Fremder, wendet er den Boden, hebt er dessen Schätze, wird er durch Fleiß
und Findigkeit reich, beutet er die Weinberge, die Kanäle, Minen oder sonst
etwas ihres Grundes und Bodens aus, dann erhebt sich der Neid des faulen
Eingeborenen, dann wird das stupide Knownothingthum derselben im vollen
Maße wach, und räuberisch gehen sie darauf aus, sich mühelos die Früchte,
die der andere gebaut, anzueignen. Wir haben ähnliches oft genug bei deut¬
schen Landsleuten erleben müssen, die — z. B. in slavischen Landen — Pio¬
niere der Cultur waren, die lachende Oasen in der Einöde schufen und die
dann nur als „Culturdünger" betrachtet und bei Seite geschoben wurden.
Wir können daher auch vollkommen mit dem Italiener und Franzosen fühlen,
die nach redlicher Arbeit von der halbbarbarischen griechischen Regierung bei
Seite geschoben werden sollen. Möge doch das verrottete Hellenenthum sich
ein Beispiel an Japan nehmen, wie eine Regierung von Fremden lernen und
mit deren Hilfe in die Reihe der modernen Culturstaaten eintreten könne!
Wenn das Cabinet des Königs Georg erst einmal so weise wie das des Mi¬
kado sein wird, dann wird es auch mit Griechenland besser gehen und die Ge¬
setzgebung auf jenem Boden wieder zu Ehren kommen, auf dem ein Solon und
Lykurg gelebt.
Die Geschichte der Lauriumminen, die wir mit diesen strengen aber ge¬
rechten Worten einleiten, ist folgende. Im Mai des Jahres 1863 landete
ein kleines Boot in der Bai von Agastira an der Südspitze Attikas. Heraus
stiegen der Franzose Roux und der Italiener Serpien, sie durchstreiften die
Einöden, kletterten über Fels und Berg und standen endlich am Kap Ko-
lonnäs, das seinen Namen von den noch übrig gebliebenen Säulen des Mi-
"ervatempels zu Sunium führt. Aber den archäologischen Resten strebten jene
beiden nicht nach; sie suchten Reichthümer von reellerem Werthe. Sie wußten,
daß hier großartige alte Bergwerke betrieben worden waren, die unter The-
mistokles blühten und zur Zeit des Perikles ihren höchsten Glanz erreicht
hatten. Silber, Blei, Zink, Antimon war hier gefunden worden. Es ist
nicht nöthig, hier die Geschichte dieser Lauriurnminen bis zur Zeit des Ver¬
falls Griechenlands zu verfolgen. Als Strabo schrieb, glaubte man, sie seien
erschöpft und in der letzten Notiz, die wir über sie haben, durch Pausanias
174 n. Chr., ist von ihnen als etwas längst Vergangenem die Rede.
Wie man sich leicht vorstellen kann, bietet die Oberfläche des Bodens,
der Jahrhunderte lang, zuweilen gleichzeitig von 20,000 Sclaven, durchwühlt
wurde, eine ungeheure Masse von Schlacken und Halden dar, die zuweilen
berghoch aufgeschüttet und jetzt mit Gras und Strauchwerk überwachsen sind,
so daß man ihre ursprüngliche Beschaffenheit nicht mehr zu erkennen vermag.
Diese Schlacken und Halden sind aber noch ungemein reich an Metallen, denn
die Alten, bei denen Berg- und Hüttenwesen nicht jenen hohen Stand ein¬
nahm, wie in unsern Tagen, warfen vieles bei Seite, was heute noch als
sehr werthvoll erscheint. Wir machen hier gleich auf den Unterschied zwischen
Schlacken und Halden aufmerksam. Erstere iseorius) sind künstliche Producte;
sie sind die Abfälle, welche bei der Verhüllung der Erze entstehen. Wird
dieser Verhüttungsprozeß nun schlecht durchgeführt, so geht leicht noch eine
Menge werthvollen Metalls mit in die als unnütz fortgeworfenen Schlacken
über. Das war bei den Lauriumwerken der Fall und wer heute, an der
Hand der neuen wissenschaftlichen Prozesse, dieselben einer abermaligen Ver¬
arbeitung unterwirft, der hält eine reiche Ernte. Die Halden dagegen sind
natürliche Producte; sie sind der Abfall beim Bergbau selbst. Wenn der
Bergmann das edle Erz und Metall im Schachte loslöst, fallen auch Neben-
producte ab; ist er nicht sehr sorgfältig, nicht genau mit der Natur dieser
Abfälle vertraut, so wirft er leicht auch noch Verwerthbares bei Seite und
das ist ebenfalls in Laurium der Fall gewesen. Um diese Halden, griechisch
Ekbolade's, handelt es sich bei der „Lauriumfrage".
Griechenland hatte sich natürlich um diese Schätze nicht gekümmert. Die
beiden Fremden aber, von denen Roux der Inhaber eines großen Geschäfts
in Marseille ist und Serpieri Bergwerke in Sardinien besitzt, durchforschten
den Boden, fanden die von Rasen überwachsenen Schlacken und stiegen — wohl
die ersten lebenden Wesen seit 2000 Jahren — in die Schachte und Stollen
der alten Hellenen hinab, wo sie ein eisernes Schlägel und eine irdene Gruben¬
lampe entdeckten, aber auch, neben diesen Reliquien aus alter Zeit, fanden,
daß hier viel, sehr viel Geld zu verdienen sei. Als practische Leute setzten sie
sich sofort mit den Behörden des Dorfes Laurium in Verbindung und kauften
diesem den wüst liegenden Grund und Boden ab, auf dem die Schlacken und
Halden lagen. Der Contract wurde aufgesetzt, regelrecht unterschrieben und
die Bauern von Laurium, die plötzlich so viel Geld erhielten, wie sie niemals
geträumt, veranstalteten eine großartige Festlichkeit zu Ehren der Fremden.
Rour und Serpieri kehrten nun befriedigt nach Athen zurück. Sie hatten
jetzt blos noch mit der Regierung zu unterhandeln, da in Griechenland der
Bergbau Regal ist. Der französische Gesandte vermittelte das Geschäft und
gegen die geringe Summe von 10,800 Franken erhielten die beiden Fremden
das Eigenthumsrecht über den von ihnen erkauften Boden bei Laurium. In
dem Coneesfionsgesuche derselben an die Regierung heißt es: „I,g. soeieto äs-
mancls la, Concession ein clioit ä'exvloiter Ich anciennes mines existent sur
uns certaine etenäue (1000 liectaies environ) as ig, commune ä<z taurina,
et los anciens minsrais ac la Miene arZentitöre existent aux alentours cles-
clites ruines." In legaler Form wurde dies auch gewährt. Man beachte
wohl, sie erhielten das Recht, die alten silberführenden Zinkerze (g^I^ne ar-
AeiuMre) auszunutzen.
Sofort gingen die Unternehmer, denen bedeutende Kapitalien zu Gebote
standen, in wahrhaft großartiger Weise an die Arbeit und schufen an einem
Orte, an welchem bisher nur einsame Ziegenhirten zu sehen waren, ein mäch¬
tiges Culturcentrum. Das Aufblühen der Stadt Laurium an der Stelle
eines elenden Dorfes hatte in der That etwas Amerikanisches. Eine Eisenbahn
von 10 Kilometer Länge, die erste in Griechenland überhaupt, wurde gebaut;
Hotels und Arbeiterwohnungen erhoben sich, großartige Hüttenwerke wuchsen aus
dem bis dahin sterilen Boden auf, zehn deutsche Meilen vortrefflich maccada-
misirter Straßen durchzogen das Gebiet; von nah und fern strömten Arbeiter
herbei. Tausende, die am Hungertuche genagt, fanden reichlichen Lohn und im
Hafen lagen da. wo sonst höchstens ein Fischerboot gelandet, stolze Dreimaster
mit der italienischen, englischen oder französischen Flagge. Das war eine
Leistung, die nicht zu unterschätzen ist, es war in dem verkommenen Griechen¬
land eine Stätte gegründet worden, wie sie bis dahin dort nirgends zu finden
war.
Wie sollte da der Neid der Regierung, der Griechen überhaupt und der
landesüblichen Banditen nicht rege werden? Eines Tages wurden die Direc-
toren benachrichtigt, daß Kytzos, „Fürst von Attika", wie er sich bescheiden
nannte, von ihnen eine Abgabe von nur 60,000 Francs verlange; zum Glück
wurde dieser Räuber getödtet ehe er diese Summe einstreichen konnte; mit dem
berüchtigten Sparvs und seiner Bande wäre es jedoch beinahe zu einer Schlacht
gekommen; schon waren die Arbeiter der Hüttenwerke bewaffnet in Reih und
Glied gestellt, als noch rechtzeitig eine Truppenabtheilung von Athen erschien.
Unterdessen beschlich die griechische Regierung und das Volk eine ähnliche
Stimmung, wie jene Räuber sie hatten; der Neid wuchs aufs höchste. Man
sah Fremdlinge, welche den heiligen Boden Griechenlands ausbeuteten und
dadurch zu einem colossalen Reichthum gelangten. Aber wie ihnen beikommen;
an den gewöhnlichen Steuern, die schon ein erkleckliches in die Staatscassen
lieferten, hatte man noch nicht genug und die Henne zu schlachten, welche die
Eier legte, ging auch nicht gut an.
Nachdem man einige Zeit experimentirt, erließ die Regierung mit Zu¬
stimmung der Kammer ein Gesetz, welches alle Schlacken und Halden
(Ekbolades) alter Bergwerke für Regierungseigenthum erklärte und gab diesem
Gesetze rückwirkende Kraft. Sie belegte nicht nur die fernere Erzeugung von
Metallen in Laurium mit einer fast tödtlichen Steuer, sondern verlangte nicht
weniger als zwei Millionen Francs Nachzahlung, für das in den vorher¬
gehenden Jahren producirte Metall. Da waren Khtzos und Sparvs doch
nur kleine Lumpen und Beutelschneider!
Die Gesellschaft weigerte sich indessen zu zahlen und die Gesandten
Italiens und Frankreichs in Athen fanden Gelegenheit, sich ihrer bedrohten
Landsleute anzunehmen. Die Griechen aber dachten an kein Nachgeben und
glaubten an keine fremde Intervention, sie rechneten aus, daß Roux und
Serpieri eine Milliarde Francs bereits aus den Lauriumminen gezogen hätten.
Indessen diese Schätzungen waren trügerischer Natur; man wußte ja nicht
genau, wie viel Schlacken die Fremden verarbeitet hatten und der Prozentsatz
der Schlacken an Metall (Blei, Silber, Zink) wechselte auch sehr stark. Die
kriegerischen Ereignisse in Westeuropa waren bei diesen Verhältnissen der
griechischen Regierung äußerst günstig und obgleich die edlen Hellenen am
Fuße der Akropolis „Frankreichs Siege" feierten, waren sie doch andererseits
praktisch genug, um Frankreichs Verlegenheit und Niederwerfung gegenüber
der Lauriumgesellschaft auszubeuten. Weder Italien noch Frankreich konnte
damals daran denken, das Benehmen der griechischen Negierung durch diplo¬
matisches Einschreiten zu ändern und so war denn die Gesellschaft auf Gnade
oder Ungnade in die Hände ihrer Widersacher gegeben. Es ist ein ganz ab¬
scheuliches Stück, das hier vor unsern Augen sich abspielt. Die Herren Rour
und Serpieri mußten sich auf Unterhandlungen verlegen und boten ihre Rechte,
ihre Werke, alles was sie mit Mühe und Intelligenz geschaffen, für 14 Mil¬
lionen Francs der griechischen Regierung zum Verkaufe an. Das war nicht
viel für ein Etablissement, das, nach griechischer Rechnung, eine Milliarde
binnen wenigen Jahren abgeworfen haben sollte.
Damals war Komonduros Premierminister in Athen; ihm schien der
Preis nicht zu hoch und er versprach das darauf bezügliche Gesetz der Kammer
vorzulegen. Allein König Georg war anderer Meinung und Komonduros
trat ab. Ihm folgte Deligeorgis. der ein Memorandum geschrieben hatte,
welches die griechische Ansicht vertritt und darauf besteht, daß jenes Gesetz
(vom Jahre 1871) im vollen Umfange, einschließlich seiner Rückwirkung, auf¬
recht erhalten bleiben müsse. Nun verloren Frankreich und Italien die Ge¬
duld und außer scharfen Collectio-Noten nach Athen gingen auch Flotten ins
Mittelmeer ab. So liegt die Sache heute und die Entscheidung wird nicht
lange mehr auf sich warten lassen. Deligeorgis will zugeben, daß die Lau-
riumfrage vor griechischen Gerichten entschieden werde; allein diese bieten
heute keine Garantie für einen gerechten Spruch und mit Recht lehnen Frank¬
reich und Italien diesen Vorschlag ab. Die Stimmung im ganzen griechischen
Volke ist zu aufgeregt, als daß man dort eine ruhige Beurtheilung des Falles
erwarten könnte. Andererseits lehnte aber König Georg es ab, die Sache vor
einem internationalen Gericht entscheiden zu sehen, da sie innerhalb der Com-
petenz griechischer Justiz liege.
Auch eine Wortklauberei ist bei dem Fall im Spiele. Wir haben oben
den französischen Text aus der Concessionsurkunde mitgetheilt; danach dürfen
die Herren Roux und Serpieri die anoiens amol-Als ausbeuten. Die grie¬
chische Regierung aber behauptet, es erstrecke sich dies nicht auf die Halden
(Ekbolades), sondern nur auf die Schlacken (sevri-^e). Die Halden lagen todt,
die Schlacken lagen todt ehe die Fremden kamen, Griechenland faulte und that
nichts, aber jetzt — ü-ugW oonsumsro vadi.
Griechenland zeigt uns nicht nur keinen Aufschwung, sondern einen Rück¬
gang seit dem Jahre 1862, als es den biederen Hellenen einfiel, ohne jeglichen
Grund den harmlosen König Otto zu verjagen, der dreißig Jahre für ihr Wohl
gewirkt hatte. Man brauchte zur Abwechselung ein Nevolutiönchen. Nun
kommt der Aufschwung, die Blüthe hieß es. Aber Finanzen. Ackerbau. Straßen
Handel — alles ging zurück und als der Dänenjüngling sein neues Reich
zum ersten Male bereiste, da war er in Gefahr, beim Passiren eines Flusses
zu ertrinken, über welchen in der türkischen Zeit allerdings noch eine Brücke
geführt hatte.
Am 22. October haben beide Häuser des Lqndtags ihre Sitzungen wieder
eröffnet, die sie durch gemeinsamen Beschluß vom 10. Juni d. I. in Ueberein¬
stimmung mit der Negierung vertagt hatten.
Im Abgeordnetenhause legte der Finanzminister Camphausen den Ent¬
wurf zum Staatshaushaltsgesetz für 187S vor und verband damit einen Ueber-
blick über den glänzenden Zustand der Staatseinnahmen im laufenden Jahre.
Dieser Zustand ist nicht etwa der französischen Kriegsentschädigung zu ver¬
danken, sondern lediglich dem Wachsthum der innern Einnahmequellen. Aller¬
dings aber muß man als Hauptförderungsmittel dieses Wachsthums die Er¬
gebnisse des Krieges von 1870—71 in Anschlag bringen: Das allgemeine
Vertrauen, wenn nicht auf den Frieden, doch auf die Kraft Deutschlands,
nöthigenfalls auch große Kriege ohne Störung seiner inneren Entwickelung
zu führen; ferner das Vertrauen auf eine glückliche Entwickelung der innern
Zustände Deutschlands, welche durch die Institution des deutschen Reiches
verbürgt erscheint. So weist denn die Verwaltung des Handelsministeriums,
welche die Bergwerks- und Eisenbahnverwaltung in sich begreift, in den drei
ersten Vierteljahren des laufenden Jahres gegen das Vorjahr eine Mehrein¬
nahme von über 10^ Millionen Thaler aus. Ferner hat die Stempelsteuer
in Folge der Periode der Häuserspeculation und der Spekulation mit Grund¬
stücken, sowie in Folge der Gründungsperiode ein ungewöhnlich hohes Er¬
trägnis? geliefert, dessen Ursachen wir freilich keine Fortdauer wünschen können.
Auch der Ertrag der directen wie der indirecten Steuern hat für das nächste
Jahr überall höher veranschlagt werden können, als im Vorjahr. Im Jahre
1873 werden ferner — und dies ist die einzige Folge der französischen Kriegs¬
entschädigung im preußischen Staatshaushalt für 1873 — die Matrikularbei-
träge für das Reich um 6 Millionen Thaler sich ermäßigen. Bei diesem
günstigen Zustand der Staatseinnahmen hat die Regierung in dem Haushalt
für 1873 eine Million Thaler zur Deckung der außerordentlichen Kosten aus¬
geworfen, welche die Einführung der neuen Kreisordnung erheischen wird.
Als eine neue dauernde Ausgabe erscheint die Vertheilung von 4^/z Millionen
Thaler jährlich zur Verfügung für die Provinzialzwecke an die ständischen
Organe derjenigen Provinzen, welche nicht wie Hannover und Hessen-Nassau
mit sogenannten Provinzialfonds ausgestattet sind. Außerdem sollen Schulden
im Betrag von 7 bis 8 Millionen Thaler getilgt werden. Die Civilbeamten ^
sollen erhöhte Gehaltszuschüsse zur Bestreitung ihrer Wohnungsausgaben er¬
halten im Betrage von über 2 Millionen Thaler. Ungefähr ebensoviel soll
für die bessere Versorgung der Anstalten für Kunst und Unterricht ausge¬
worfen werden.
Soviel zur vorläufigen Uebersicht. Bei einer Einnahme von über 206
Millionen betragen die dauernden Ausgaben des nächsten Jahres nach dem
vorgelegten Entwurf 183 Millionen, die außerordentlichen Ausgaben über
72/2 Million, wonach noch immer ein beträchtlicher Ueberschuß bleibt. Die
einzelnen Theile des Haushaltes werden uns noch beschäftigen, wenn wir
über die Berathung derselben durch den Landtag berichten. Dann werden
wir auch erst zu sprechen kommen auf die neue Aufstellung der Ausgabeposten,
welche der Finanzminister getroffen hat, um dem in der vorigen Session ver¬
einbarten Gesetz über die Oberrechnungskammer zu entsprechen.
Am 23. October hat das Abgeordnetenhaus eine neue Geschäftsordnung
angenommen, welche in allen wesentlichen Stücken der viel besseren Geschäfts¬
ordnung des Reichstages nachgebildet ist.
Wir kommen nun zum Herrenhaus. Dasselbe begann am 22. October
die Berathung der Kreisordnung, des Gesetzes, über welches die vom Herren¬
haus mit der Berichterstattung beauftragte Commission so lange Zeit bedürfte
ins Reine zu kommen, daß um dieses Umstandes willen die Landtagssession
1871 bis 72 nicht in der bisher üblichen Weise vom König für geschlossen
erklärt worden ist. Wir haben schon an dieser Stelle mehrmals ausgeführt,
daß wir die Folgen des formalen Schlusses der Sitzungsperioden innerhalb
ein und derselben Legislaturperiode im Allgemeinen nicht für günstig halten
und daß wir deshalb die Selbstvertagung der Häuser, wenn sie herbeizuführen
ist, dem Schluß der Sitzungsperioden vorziehen. Es ist ein offenbarer Ge¬
winn, daß die im Abgeordnetenhaus durchberathene Kreisordnung, nachdem
die nothwendige Erholungspause für den Landtag eingetreten, bei Wiederauf¬
nahme der Sitzungen sogleich vom Herrenhaus in Angriff genommen werden
kann, während der formale Schluß der Sitzungsperiode sowohl die Frucht der
Arbeiten des Abgeordnetenhauses, als den Bericht der Herrenhaus-Commission
ungültig gemacht hätte.
Man wußte längst, daß der erwähnte Bericht dem Herrenhaus die Ab¬
lehnung der Kreisordnung empfiehlt und den weiteren Vorschlag macht, das
Herrenhaus möge die Regierung ersuchen, Provinzialgesetze über die Kreis-
verfassung vorzulegen. Die Herren von Kröcher als Referent, Freiherr von
Zedlitz, Graf Brühl, Graf zur Lippe, v. Kleist-Retzow, Graf Pfeil vertheidigten
diesen Standpunkt in der Generaldebatte, welche die Sitzungen vom 22. und
23. October ausfüllte, während der Minister des Innern, Graf Eulenburg,
das Gesetz vertheidigte, wie es mit Zustimmung der Regierung aus dem Ab¬
geordnetenhaus gekommen, und darin unterstützt wurde von den Herren Graf
Arnim, Dr. Baumstark, Oberbürgermeister Gobbin. Der Minister sprach glück¬
lich, mit gesundem Menschenverstand und Witz. Aber diese Waffen prallen
ohnmächtig ab an Gegnern, deren Hirnschale aus vorweltlichem Gestein ge¬
bildet scheint, und nicht aus den durchlässigen Substanzen, welche dem leben¬
digen Odem der Gegenwart Zutritt zu der Seelenthätigkeit verstatten. Die
Anschauungen, welche aus so eigenthümlich planirten Seelen ans Tageslicht
treten, wollen wir uns diesmal nicht näher ansehen. Sie sind ohnedies seit
langer Zeit bekannt und ihre Haupteigenthümlichkeit besteht darin, sich nicht
organisch fortzubilden, was das Recht des lebendigen Geistes ist. "Da bei
Gesetzentwürfen, welche die Regierung eingebracht hat, kein Haus des Land-
tages sich der Einzelberathung entziehen darf, so hat die Herrenhauscommission
sich der Mühe unterziehen müssen, das Gesetz Paragraph für Paragraph mit
Abänderungsvorschlägen zu versehen. Erst wenn über diese sämmtlich im
Einzelnen berathen und abgestimmt ist, kann das Herrenhaus, wie seine Com¬
mission ihm empfiehlt, das ganze Gesetz verwerfen. Die Commission hat nun
Sorge getragen, das Gesetz mit ihren Abänderungsvorschlägen, die von der
Majorität ohne Zweifel angenommen werden, dermaßen zuzurichten, daß bei
der Abstimmung über das Ganze nicht nur die feudalen Herren, die grund¬
sätzlich gegen jede lebendige Kreisverfassung sind, sondern auch die liberalen
Herren, die eine gute Kreisordnung lebhaft herbeiwünschen, nur Ursache haben
werden, dagegen zu stimmen. Unseres Erachtens sollten aber die liberalen
Herren bei der Schlußabstimmung für das ganze Gesetz stimmen, wie schlimm
es immer zugerichtet sei. Die Wiederherstellung aller für eine gedeihliche Re¬
form unerläßlichen Bestimmungen wird Sache des Abgeordnetenhauses sein.
Wenn dann die feudale Majorität des Herrenhauses das Gesetz bei der Rück¬
kehr aus dem Abgeordnetenhaus zum zweiten Mal bis zur Unannehmbarkeir
verunstaltet, dann wird in der gehörigen formell unanfechtbaren Weise die
Unmöglichkeit constatirt sein, mit diesem Herrenhaus zu einer gedeihlichen Re¬
form der Kreisverfassung zu gelangen. Was dann?
Es wird jetzt der Regierung oft zum Borwurf gemacht, daß sie nicht mit
drastischen Mitteln, mit Drohungen eines Pairschubs und dergleichen der feu¬
dalen Majorität des Herrenhauses die Nothwendigkeit zu Gemüth führe, die
Kreisordnung ohne Verunstaltung ihrer reformatorischen Tendenz anzunehmen.
Ein höchst ungeschickter und taktloser Vorwurf! Die Leute, die ihn erheben,
denken sich, daß die Regierung Abstimmungen erpressen soll mit der Hetzpeitsche
in der Hand. Wenn das dem Herrenhaus gegenüber Recht ist, würde man es
dem Abgeordnetenhaus gegenüber im entsprechenden Fall etwa billig finden?
— und ob die Hetzpeitsche erhoben werden soll, kann doch immer nur die Regie¬
rung entscheiden, und nicht etwa diejenigen, die sie ihr jetzt in die Hand geben
möchten. Wir danken für solche Staatsbürgerschaften und für ein öffentliches
Staatsleben in diesem Styl. Für eine Negierung. die ihrer Würde und ihrer
Pflicht auch nur einigermaßen sich bewußt ist, giebt es in einer Lage, wie die
gegenwärtige, nur Einen Weg. Die Regierung darf öffentlich keine Drohung
erheben. Aber sobald sie die Ueberzeugung gewonnen, daß eine der großen
Staatskörperschaften durch den Aufruf an ihre politische Weisheit und an die
hohen Pflichten ihres Berufs niemals mehr auf einen gedeihlichen Weg zu
leiten ist, muß sie den Entschluß fassen, diese Staatskörperschaft entweder von
der Wurzel umzugestalten oder sie aus dem Staatsleben gänzlich zu eliminiren.
Letzteres scheint uns im vorliegenden Fall das Richtige. Wir hoffen von der
vorläufigen Vereitelung der Kreisordnung die wohlthätige Frucht einer Be¬
seitigung des Herrenhauses mittelst eines Pairschubs, der nur den einen
Zweck hat, das Herrenhaus seine eigene Aufhebung beschließen zu lassen.
Die Verhältnisse der polnischen Bevölkerung zum preußischen Staate einer
Besprechung zu unterziehen, dürfte neuerdings ein doppelter Anlaß vorliegen.
Wir haben das secular-Jubiläum der polnischen Theilung erlebt, d. h. die
deutsche Festfeier des wiedergewonnenen polnischen Landes. Aber indem sich
Westpreußen anschickte, diese historische Erinnerung durch ein Freudenfest neu
zu beleben, erhoben sich gerade in letzter Zeit die Klagen über eine polnische
Propaganda, über die Uebergriffe polnisch-katholischer Agitation in die Ord¬
nungen deutscher Schule. Gerade jetzt ist es daher an der Zeit, daß aufs
neue ein Buch uns zu Gesicht geführt werde, welches vor mehr als einem
Jahre zuerst die Verhältnisse in Posen kritisch untersucht und fixirt hatte.
Das Verhältniß der Provinz Posen zum preußischen Staats¬
gebiete. Von H. v. H. auf T. Zweite erweiterte Ausgabe.
Berlin 1872 bei Kortkampf." So lautet der Titel einer Arbeit, die auf
das gründlichste und eingehendste die Zustände in Posen erörtert und mit
scharfem Blicke die Aufgaben des preußischen Staates ins Auge faßt, das
bisherige Verfahren der Behörden prüft, das Nothwendige darlegt. Von
großer Sachkenntniß und ächt politischem Blicke zeugt überall diese Schrift;
— politische Parteiliebhabereien drängen sich nicht ungebührlich vor: wer sich
über diese schwierigen und vielfach nicht genug gekannten Dinge unterrichten
will, findet hier erwünschte Belehrung. Möge kein preußischer Politiker sie
verschmähen!
Die Versäumnisse der Regierung, die Nichtachtung auf die Fortschritte
des Polonismus zieht der Verfasser ans Licht, — die Früchte solcher Indiffe¬
renz liegen erschreckend heute zu Tage. Sehr lehrreich ist der Rückblick auf
die Maximen der Verwaltung seit 1813: „mit jedem neuen Chef der Ver¬
waltung ist fast ein neues System zur Geltung gelangt, das oft den vorauf¬
gegangenen Anschauungen schnurstraks entgegenlief." Flottwell hatte das durch¬
schlagende Princip der Germanisirung ganz rückhaltlos aufgestellt und zur Durch¬
führung zu bringen versucht; leider hielten seine Nachfolger, Arnim, Beur-
mann, Bonin, Puttkammer daran nicht fest, wie verschieden sie auch
.onst unter sich waren; sie ließen die Dinge viel zu sehr gehen. Weit besser
wirkte das Regiment des Herrn von Horn: indem er ein liberaler preu¬
ßischer Beamter aus der alten guten Schule der durch Intelligenz, Integrität
und Pflichtgefühl ausgezeichneten preußischen Bureaukratie vor allem Sach¬
lichkeit und Unparteilichkeit allen Regierungsmaßregeln zur Grundlage gab,
wollte er einerseits den wirthschaftlichen Fortschritt der Provinz befördern
und damit den Anlaß der polnischen Opposition zu gerechten Klagen weg¬
nehmen; zugleich aber trat er der Agitation des polnisch-ultramontanen Adels
und Clerus mit Einsicht und Energie entgegen. Freilich, seine Wirksamkeit
fand in der allgemeinen Haltung der Staatsregierung ihre natürlichen Gren¬
zen. Die neue Wendung der allgemeinen preußischen Politik trat erst unter
seinem Nachfolger, dem Grafen Königsmark, ein: über seine Erfolge
zu reden, wäre noch zu früh. Das, was in Posen noch zu thun ist, wiegt
jedenfalls schwerer, als das, was schon gethan ist. Unsere Broschüre formulirt
die Aufgabe sehr richtig: „jede Förderung des Wissens in der Pro¬
vinz ist auch eine Förderung des Deutschthums". Das ist die
Parole, nach der in Posen gehandelt werden muß. Es handelt sich darum,
die Schule weit mehr als bisher zu einem Bildungsmittel des polnischen Volkes
zu machen, die Zügel staatlicher Aufsicht straffer anzuziehen; es handelt sich
zugleich darum, dem Clerus auf die Finger zu sehen, eine antipreußische Agi¬
tation des Clerus, wo man auf ihre Spuren trifft, mit der alleräußersten
Strenge niederzuhalten. Die Provinzialregierung ist heute dazu im Stande,
sie wird von dem Staatsministerium nach Kräften unterstützt: möge sie zeigen
was sie vermag! An Fingerzeigen, an Nachweisungen des Nothwendigen ist
die kleine Schrift reich; wollten wir das Einzelne aushalten, so müßten
wir fast Wort für Wort abschreiben. Wir empfehlen lieber die Lecture des
G
Eins der liberalen Mitglieder des Herrenhauses, der Breslauer Professor
der Staatswissenschaften, Tellkampf, hat schon im vergangenen Winter
seine Gedanken über die Grundzüge einer nothwendigen Reform unserer Kreis-
ordnung in dieser kleinen Schrift niedergelegt. Gerade jetzt, wo die Debatte im
Herrenhause selbst im Gange ist, mag es gestattet sein, unsere Leser darauf hin¬
zuweisen. Man kann nicht sagen, daß durch Originalität der Grundgedanken
oder der Einzelausführungen oder durch eine besonders schlagende Beweis¬
führung sich diese Schrift vor ähnlichen auszeichnet. Niemand wird von Tell-
kampf die Ideenfülle oder die historische Belesenheit Gu eist's erwarten: den
Spuren Gneist's folgt er im Ganzen. Jedoch ist im Ganzen eine gute Zu¬
sammenstellung des Wesentlichen geglückt, und manchem Herrenhäusler oder
manchem Sonntagspolitiker wird sicher heilsame Belehrung aus den Worten
des Verfassers zu Theil werden. Die Darstellung des englischen Selfgovern-
ment entbehrt am meisten der Anziehungskraft, dagegen war es verdienstlich,
unserem deutschen Publikum auch einmal über die nordamerikanischen Ver¬
hältnisse etwas zu erzählen. Der betreffende Abschnitt bildet das eigentlich
Verdienstvolle und Eigenthümliche der ganzen Arbeit; er hat originalen Werth.
Hoffen wir, daß die Erörterungen des Herrenhauses ein brauchbares Resultat
zur Welt fördern. Wir hoffen dies mehr von der Gewalt der Verhältnisse
selbst, als von der Ueberzeugungskraft dieser oder ähnlicher gutgemeinter
Broschüren, auch wenn sie etwas weniger langweilig geschrieben sind als die
Wie oft ist der Zweifel geäußert worden, ob es möglich sei, streng wissen¬
schaftliche Gegenstände in populärer Form darzustellen; so volksthümlich, daß
weite Leserkreise außerhalb der Fachgelehrten gewonnen würden, so wissen¬
schaftlich , daß die Zunft das Werk als zünftige Leistung gelten lasse. Wir
lassen dahingestellt, in wieweit dieser Zweifel angesichts der populär belehren¬
den Bücher und Schriften auf allen Gebieten des menschlichen Wissens, die
alljährlich allein in Deutschland erscheinen, heut noch erlaubt ist. Sicher ist,
daß gerade die Naturforscher aller Schulen und Richtungen längst aus dem
stillen Schaffen und Forschen ihrer Studirstuben und Laboratorien heraus¬
getreten sind mitten auf den Markt des Lebens und in Rede und Schrift
Tausende von Hörern und Lesern gesucht und gefunden haben außer den Stu¬
denten zu ihren Füßen.
Als Friedrich von Tschudi zum ersten Mal sein Thierleben der
Alpen weit herausgab, war unter den Gelehrten das Streben, allen Ge¬
bildeten der Nation die eigenen Forschungen zugänglich zu machen, keineswegs
verbreitet. Man war damals fast sicher, das Kopfschütteln der Collegen her¬
auszufordern, wenn man für das Volk schrieb, und der Erfolg beim Publikum
war sehr zweifelhaft. Schon in diesem Sinne darf Tschudi's Werk als ein
bahnbrechendes bezeichnet werden. Es hat seither Hunderte von Nachahmern
gefunden; wenige aber erreichen ihn in der Begabung, den Leser in der ge¬
fälligsten, liebenswürdigsten und dennoch gründlichsten Weise in die Geheim¬
nisse seiner Wissenschaft einzuführen; keiner hat Tschudi darin übertroffen.
Und neben der einmüthigen begeisterten Zustimmung der Presse und der eifri¬
gen Betheiligung des Publikums an dem Unternehmen — die sich am besten
in dem Erscheinen der vorliegenden neunten Auflage ausspricht — hat auch
die Wissenschaft selbst einstimmig dem Werke die höchste Achtung und Aner¬
kennung zugesprochen.
Der reichverdiente, ungewöhnliche Erfolg dieses Werkes mag zum Theil
allerdings dem Stoffe selbst zugeschrieben werden. Kaum ein Kapitel des
Buches, bei welchem nicht die ergreifendsten und besonders durch die liebevolle
Beachtung des Details wirksamsten Schilderungen der Alpenwelt den Leser
fesselten. Auch in den Kapiteln, welche die Fauna der niederen Bergregion
zum Gegenstande haben, erblicken wir die Hochalpen doch so zu sagen im
Hintergrunde, und wenn wir dann den Thieren und Pflanzen der eigentlichen
Alpen- und Schneeregion folgen, führt uns Tschudi mit Meisterschaft ein in
die zauberhafte Einsamkeit ewiger Schneewüsten oder colossaler Felsenlabyrinthe.
Diese landschaftliche Anziehungskraft des Stoffes wird noch erhöht durch die
Eigenthümlichkeit der Forschung und Beobachtung der wilden Thiere der Hoch¬
alpen. Selten nämlich ist es möglich, das Leben dieser Thiere etwa in der
Gefangenschaft zu beobachten, da die meisten derselben in der Gefangenschaft
entweder verkümmern oder ihrer Natur nach (man denke z. B. an die Gemse
oder den Lämmergeier u. s. w.) hier keinen Spielraum für ihre freien Lebens¬
gewohnheiten oder Bewegungen haben. Der Schilderer des alpinen Thierlebens
konnte sich daher im großen Ganzen nur auf eigenen Augenschein oder die
beglaubigten Beobachtungen anderer Augenzeugen, wie u. A. auch diejenigen
des verdienten Malers W. Georgy stützen, der außer E. Rüttimeher dem
Werke Tschudi's die außerordentlich sorgfältigen, naturtreuen und lebensvollen
Zeichnungen beigefügt hat, die I. I. Weh er mit der vollendeten Technik und
Eleganz seiner Kunst-Anstalt wiedergeben ließ. Diese Selbstbeobachtung und
Selbstdurchdringung des verarbeiteten Stoffes Seiten des Verfassers wie Seiten
der Künstler gibt dem Werke Tschudi's eine unvergleichliche Frische und Un¬
mittelbarkeit, die uns aus jeder neuen Auflage von neuem entgegentritt, da
überall neue eigene und fremde Beobachtungen sich nachgetragen, neue größere
Zusätze sich eingeschoben finden.
Möge das treffliche Buch, namentlich zur Weihnachtszeit, recht viel Leser
Daß die Zigeuner auch Kinderraub treiben, ist oft behauptet worden.
Neben dem Fall mit Anna Böller wurden in den letzten Monaten noch zwei
andere gemeldet, und Liebich führt aus thüringischen Blättern noch drei an,
die sämmtlich der neuesten Zeit angehören.
Anfangs 1860 verschwand das Kind eines Gerichtsactuars in Striegau.
Der bekümmerte Vater suchte es vergebens und kam auch nach Cöslin, wo
in einer Plantage ein Kind ausgesetzt worden war. Später, Anfangs October
des genannten Jahres traf zu Callins in Pommern eine Zigeunerbande ein,
und ein gerade durchreisender Fremder aus Striegau bemerkte bei derselben
das vermißte Kind, welches von dem hiervon benachrichtigten Vater denn auch
wirklich als das seinige erkannt wurde.
Kurz nach diesem Vorfall wurde in einer andern schlesischen Stadt
wieder ein Kind, wie man glaubte, von Zigeunern, entführt. Einige Zeit
nachher fand man eine Kinderleiche in einer Düngergrube nicht fern von
da, und es wurde vermuthet, daß es die Leiche des vermißten Kindes
sei. Bald darauf hörte man, daß zu Schweidnitz ein Zigeuner verhaftet
worden, der den Kinderraub förmlich als Gewerbe betrieben habe. Er hatte
sich einen falschen Namen beigelegt und war mit drei Kindern als Musikant,
Marionetten-Spieler und Kammerjäger herumgezogen. Seine Frau, die sich
mit Wahrsagen und Kartenschlagen ernährt und nebenbei etliche Diebstähle
verübt hatte, war ebenfalls beschuldigt, verschiedene Namen geführt zu haben.
Die Kinder, welche dieses wackre Ehepaar bei sich hatte, schienen zwar Zigeuner¬
kinder zu sein, erzählten aber übereinstimmend von zwei blondhaariger andern
Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren, welche die Eltern lange Zeit
mit sich herumgeführt und zuletzt an den „Onkel Winter", einen kinderlosen
Zigeuner, abgetreten hätten.
Aus Csüd in Ungarn endlich berichteten die Zeitungen um die Mitte des
Jahres 1862 folgende Schauergeschichte: „Vor einigen Tagen hörte ein Pandur
an einem abgelegenen Orte einen schrecklichen Schrei von einer Kinderstimme
ausstoßen. Er eilte hin und überraschte drei Zigeuner, die einem fünfjähri-
gen Mädchen die Augen ausstechen wollten. Sie hatten das Mädchen wohl
schon verletzt, doch waren die Augen der Sehkraft noch nicht beraubt. Der
Pandur nahm die drei Verbrecher gefangen und befreite das Mädchen, welches
irgendwo gestohlen sein mußte und vermuthlich nur geblendet werden sollte,
damit ihm als einer blinden Bettlerin reichlichere Almosen zuflössen. Die
drei Landstreicher waren ebenfalls Bettler, der Eine hatte keine Zunge, der
Andere einen gebrochenen und krumm gebliebenen Fuß und der Dritte war
ebenfalls ein Krüppel."
Wie viel an allen diesen Mittheilungen wahr, läßt sich nicht feststellen.
Gewiß ist, daß bisweilen Kinder von Zigeunern entführt worden sind. Oft
aber wird es nicht geschehen sein, da die Zigeuner gewöhnlich mit eigenen
Kindern reichlich gesegnet sind und daher nicht nöthig haben, sich fremde zu
stehlen und sich die Mühen und Kosten der immer doch ziemlich problema¬
tischen Erziehung zu Seiltänzern u. s. w- aufzubürden.
Die Dieb stähle der Zigeuner, bei denen sie große Gewandheit an den
Tag legen, beschränken sich in der Regel aus Kleinigkeiten, Eßwaaren, Klei¬
dungsstücke, Wäsche u. tgi. Sie sind die Spatzen und Mäuse in der Zunft
der Diebe. Raub und Einbruch ist von ihnen im Allgemeinen nicht zu
fürchten; denn dazu fehlt ihnen die nothwendigste Eigenschaft, der persön¬
liche Muth.
Wie erwähnt, standen die Zigeuner bei ihrem ersten Erscheinen in Deutsch¬
land, wo sie Anfangs als ein einziges ziemlich großes Heer auftraten, unter
einem einzigen Oberhaupt, der sich Herzog, Graf, Woywode, bisweilen auch
König nannte. Der Titel „Zigeunerkönig" hat sich in England erhalten, wo
ein Träger desselben 1841 hoch in den Achtziger das Zeitliche zu segnen ge¬
ruhte. In Deutschland scheint eine so hohe Würde nur im Kopfe mancher
Feuilletonisten, unter den Zigeunern selbst aber nicht zu existiren und ebenso
wenig anderswo auf dem Festlande. Wie die Zigeuner überhaupt, so zer¬
fallen auch die, welche Deutschland durchwandern, nach Liebich in verschiedene
Gruppen, die nicht mit einander in Verbindung stehen. Es giebt nach
diesem Gewährsmann drei Landsmannschaften: die altpreußische, die vorzüglich
in Posen und Schlesien haust, die neupreußische und die hannoversche. Jede
dieser Landsmannschaften hat ihre bestimmten Farben und hält eine bestimmte
Baum- oder Strauchart für heilig. Die Farben der altpreußischen Zigeuner
sind Schwarz und Weiß, und der Baum, den sie verehren, ist die Tanne.
Die Neupreußen führen als Farben Grün und Weiß und halten den Mai¬
baum, d. i. die Birke, für heilig. Die Hannoveraner endlich haben als Na¬
tionalfarben Schwarz, Blau und Gelb und verehren den Mehlbeerbaum,
der beiläufig in der Zigeunersprache Jarriengero Morinengero Ruk heißt.
Wie weit die Ehrfurcht vor diesen Bäumen geht, zeigt die Thatsache, daß
vor nicht sehr langer Zeit in Thüringen ein Bauer, welcher die seine Wiese
oder seinen Obstgarten umzäunende Mehlbeerbaum-Hecke ausgerottet hatte,
von einem Zigeuner im Zorn über diesen Frevel erschossen wurde. — Das
allen Zigeunern gemeinschaftliche Wappen, welches das Bildniß eines
Igels zeigt, wird dadurch ein die drei Landsmannschaften unterscheidendes,
daß die vorzugsweise in Altpreußen verkehrenden Zigeuner dem Igel ein
Tannenreis, die in den neuen Provinzen umherziehenden ihm ein Birken¬
blatt, die hannoverschen endlich ihm das Blatt eines Mehlbeerbaumes in das
Maul geben.
Der Hauptmann der Landsmannschaft hatte früher unbeschränkte Macht
und Gerichtsbarkeit über dieselbe. Er besaß auch das jus glaäii. Auch jetzt
übt derselbe das oberste Richteramt in der ihm untergebenen Partei der
Zigeuner aus, nur kann er das Recht über Leben und Tod nicht mehr gel¬
tend machen, da ihn gegenwärtig die Gesetze des Staates treffen würden, wenn
er Hinrichtungen vollstrecken lassen wollte. — Vor etwa hundert Jahren, so
erzählt die Sage der Zigeuner, als der große Krieg war (der siebenjährige,
vielleicht auch der dreißigjährige; denn von Zeitrechnung ist in solchen
Erzählungen nicht die Rede), herrschte in Deutschland ein Hauptmann,
der sich Maximilianus, Großcornet der Zigeunernation nannte. In der
Nachbarschaft von Cöthen, im Walde bei Vollstedt, pflegte er fein Volk zu
versammeln und über die Schuldigen Gericht zu halten. Man zeigt dort
noch heutigen Tages eine alte Eiche, in welche eiserne Haspen mit Ringen
eingeschlagen sind, als diejenige, an welche er sein Pferd fest zu binden
pflegte. Er war ein prachtliebender Herr, der seinen Stock und Hut mit
Goldtressen verzierte, und dessen Flinten und Pistolen mit Silber ausge¬
legt waren. Sein Gericht war kurz, sein Spruch streng. Selbst ge¬
ringe Versehen wurden von ihm mit dem Tode bestraft. Ein Scharfrichter
— zigeunerisch „Guschwalo" — der ihn überall hin begleitete, vollstreckte ohne
Verzug das ergangene Urtheil, indem er dem armen Sünder mit einem eisernen
Hammer die Stirn einschlug. In späteren Jahren ergriff den Hauptmann
Furcht vor der Rache der von ihm gemißhandelten Familien, und er ließ
deshalb die Söhne der von ihm verurtheilten Leute ebenfalls hinrichten. Aber
seinem Schicksal entging er deshalb doch nicht. Als er seinem Neffen die
Hand, mit welcher er einen Zweig von dem heiligen Baume gebrochen, hatte
abhauen lassen, wurde er von dem Vater des Knaben, einem kaiserlichen
Reitersmann, der ihm denselben zur Erziehung anvertraut, mit einer silbernen
Kugel erschossen. In der Kirche zu Vollstedt wird, wie diese Sage behauptet,
noch jetzt der silberne Becher aufbewahrt, aus dem der Großcornet trank, und
seine rothe mit Gold durchwirkte Schabracke dient dort als Altardecke.
Der Hauptmann, den die Zigeuner „Gako", d. i. Oheim, nennen, ein
Prädicat, welches besondere Hochachtung ausdrückt und bisweilen auch Nicht-
zigeunern ertheilt wird, denen man etwas Angenehmes sagen oder seinen
Respect beweisen will, hat allerlei Pflichten und Befugnisse. Er hat das
Standesregister und die Acten der ihm untergeordneten Landsmannschaft in
Ordnung zu halten, weshalb er sich auf die Kunst des Schreibens verstehen
muß. Jede Geburt und jeder Todesfall muß ihm gemeldet und von ihm in
dazu bestimmte Bücher eingetragen werden. Er allein hat das Siegel der
Landsmannschaft zu führen und aufzubewahren. Er bestätigt die geschlossenen
Ehen und schlichtet vorkommende Streitigkeiten. Bei ihm haben Ehepaare,
die getrennt sein wollen, sich wegen der Scheidung zu melden. Er verhängt
Strafen, welche vorzüglich in Schlägen oder Verstümmelungen, und in der
Ausschließung aus der Gemeinschaft des Volkes auf kürzere oder längere Zeit
bestehen. Er kann endlich ehrlos machen und diese Strafe, welche „Prasapenn"
genannt wird, dadurch wieder ausheben, daß er den mit ihr Belegten in feier¬
licher Versammlung aus seinem Becher trinken läßt.
Alle sieben Jahre zur Pfingstzeit versammelt sich jede Landsmannschaft
.um ihren Hauptmann an einem von diesem bestimmten Orte zur Ordnung
allgemeiner Angelegenheiten. In dringenden Fällen wird Rath und Urtheil
vom Einzelnen auch in der Zwischenzeit beim Hauptmann nachgesucht, dessen
Aufenthalt allen Banden stets bekannt ist. In jenen größeren Versamm¬
lungen wird Bericht erstattet über allerlei Vorkommnisse der letzten Vergangen¬
heit, und der Hauptmann entscheidet wichtigere Streitfragen und ertheilt seine
Befehle für die Zukunft, worauf man einige Tage mit Schmausen, Zechen und
Tanzen verbringt. Daher die zu gewissen Perioden wiederkehrenden zahlreichen
Züge von Zigeunerbanden nach einer und derselben Richtung.
Bei Ausübung seines Rtchteramtes stehen dem Hauptmann ein General¬
anwalt „Tschatscho-Haskero", eigentlich Wahrsprecher, und ein Protocollant,
„Poreskero" d. i. Federmann, zur Seite. Der erstere kann auf Milderung,
oder auch auf Verschärfung der vom Hauptmann verhängten Strafen an¬
tragen, in welchem Falle das aus ihm, dem Hauptmann und dem Protocoll-
führer bestehende Nichtercollegium durch Stimmenmehrheit entscheidet. Bei
allen solchen wie andern feierlichen Gelegenheiten trägt der Hauptmann einen
Dreispitz mit Silberquaste auf dem Kopfe und ein breites Seitenhaut in den
Farben und mit dem Wappen der Landsmannschaft um den linken Oberarm.
Die Würde des Hauptmanns ist lebenslänglich, aber nicht erblich. Sie
wird vielmehr durch einstimmige Wahl der erwachsenen männlichen Mitglieder
der Landsmannschaft erworben. Unbedingtes Erforderniß bei dem Candidaten
ist rein zigeunerische Abkunft. Den Vorzug unter mehreren Bewerbern erhält
der, aus dessen Familie schon einmal ein Hauptmann hervorgegangen ist.
Sobald der Name des neuen Oberhauptes ausgerufen worden ist, wird
mit Trompeten ein Signal gegeben und dann überreicht man dem Erwählten
zwei übers Kreuz gelegte Zweige von den der Landsmannschaft heiligen
Bäumen, einen mit Blumen geschmückten Teller, auf dem ein Krug mit Wein
steht, und den Dreispitz mit der silbernen Quaste sowie das Zigeunersiegel.
Er setzt den Hut auf, trinkt den Krug ohne abzusetzen aus, und hält dann,
nachdem er letzteren zertrümmert, eine Rede an sein Volk, in welcher er die
Zigeunerbräuche, wie sie überliefert sind, gebührend zu beobachten und die
Gesetze gehörig zu handhaben verspricht, und nach welcher ihm die Versam¬
melten durch Handschlag Treue und Gehorsam angeloben. Ein Gelage mit
Tanz, rauschender Musik, Gesang und Schießen aus Flinten und Pistolen
beschließt die feierliche Handlung. Jeder neuerwählte Hauptmann hat die
Verpflichtung, einen Baum der von seiner Landsmannschaft verehrten Gattung
zu pflanzen und für dessen Erhaltung Sorge zu tragen.
In engeren Kreisen regieren die Familienväter. Ihnen haben nicht blos
die Kinder und Enkel, sondern auch die Familien verstorbener Brüder unbe¬
dingt Gehorsam zu leisten. Sie sind bei Eheschließungen um ihre Ein¬
willigung zu bitten, sie bestimmen die Erwerbsart, der sich die Glieder der
Familie zu widmen, und die Richtung, welche sie bei ihrer Wanderung zu
nehmen haben. Sie führen auch die gemeinschaftliche Kasse, in welche der
Verdienst und Gewinn abgeliefert werden muß. Eine sehr wichtige Rolle
neben ihnen spielt die „Großmutter", das älteste Weib der Bande. Ohne
ihre Zustimmung wird nicht leicht etwas unternommen. Ihr Wort, verständig
oder unverständig, gilt wie die Stimme der Weisheit selbst. Selbst ihr
Schweigen, wenn ein Plan besprochen wird, findet Beachtung und wird als
Verwerfung der in Rede stehenden Sache angesehen.
Liebe zu unbeschränkter Freiheit und stetemWechsel treibt den Zigeuner
von Ort zu Ort und von Land zu Land. Nur in seltenen Fällen hat er
oder sucht er eine bleibende Heimath. Darum findet sich in seiner Sprache auch
kein Wort für den Begriff wohnen. Selbst die kürzeste Gefangenschaft ist ihm
unerträglich, und um der Einsperrung zu entgehen, bricht er zu jeder Stunde
der Nacht auf, mag das Wetter noch so grausam und seine Kleidung noch so
dürftig sein. Der „arme Mann", Tschorela Rom, wie der Zigeuner sich
gern bezeichnet, zieht stets ein Nachtquartier, wo Wiesengras oder Waldmoos
sein Unterbett und der dunkle Himmel sein Dach ist, dem Ausenthalt im ver¬
schlossenen Zimmer vor.
Die Zigeuner heirathen sehr jung. Lieben sich ein Bursch und ein
Mädchen und haben sie Grund zu befürchten, daß einer der beiden Vater nicht
gleich in ihre Verheirathung willigen werde, so entfliehen sie miteinander und
schließen sich einer andern Bande an, kehren aber nach Verlauf einiger Wochen
zum Vater der Braut zurück. Der Bräutigam wirft sich vor diesem auf die
Knie und bittet um Verzeihung, worauf ihm der Vater gewöhnlich etliche
Ohrseigen verabfolgt, dann aber sich erweichen läßt und dem künftigen
Schwiegersohn gestattet, zwei Jahre bei seiner Bande zu verweilen, eine
Periode, die als Prüfungszeit gilt, und während welcher er dem Vater Ge¬
horsam zu leisten und jeden Erwerb an diesen abzuliefern hat. Ist diese Zeit
vorüber, so wird der Hauptmann angegangen, die jungen Leute ehrlich zusam¬
menzugeben. Derselbe untersucht, ob der Bräutigam „Dadeskero Wahl",
väterliche Hand, hat, d. h. aus reinem Zigeunerblut entsprossen ist, und ob
nicht etwas gegen ihn vorliegt, was die Ausschließung aus der Gemeinde zur
Folge hat. Findet er, daß Alles in der Ordnung ist, so vollzieht er die
Trauung. Der Vater wird von ihm aufgefordert, feierlich seine Einwilligung
zu geben. Die Brautleute knieen vor dem Hauptmann nieder, geloben sich
Liebe und Treue, wechseln auch wohl die Ringe, falls sie solche haben, und
werden dann von jenem zu Eheleuten geweiht, indem er aus einem mit Blumen
umwundenen, mit Wein gefüllten irdenen Kruge einige Tropfen auf ihre Köpfe
gießt, den Krug auf ihre Gesundheit leert und das Gefäß dann hoch in die
Luft wirft, damit er beim Niederfallen zerbreche. Je mehr Scherben, desto
mehr Glück für das neue Ehepaar. Ist die Witterung günstig, so findet die
Ceremonie unter freiem Himmel statt, wo dann der Hauptmann auf einer
Rasenbank sitzt, die mit einer Laube geflochten aus Zweigen von dem der
Landsmannschaft heiligen Baume überdacht ist. Den Beschluß der Feier bildet
ein Tanz, den der Hauptmann mit seiner Frau eröffnet, und ein gewaltiges
Zechgelage auf dessen Kosten. Wenn irgend möglich, werden die Hochzeiten
am Pfingstsonntage, zigeunerisch „Pattersiakro Dioch", d. i. der Laub- oder
Blättertag, gehalten. Nahe Verwandte, sogar Geschwister zu heirathen, ist
erlaubt, doch kommt es nach Liebich in unserer Zeit nicht mehr vor, daß eine
Schwester die Gattin ihres Bruders wird.
Die Ehen der Zigeuner sind leicht lösbar. Ohne Weiteres verstößt der
Mann die Frau, wenn sie seinen Erwartungen irgendwie nicht entspricht, und
selten findet sie dann beim Hauptmann Hülfe. Ehebruch dagegen kommt fast
nie vor und wird, wenn der Fall dem Hauptmann geklagt wird, grausam
bestraft. Die Frau bekommt dann einen Schnitt über die Nase, und ihr Ver¬
führer muß sich aus einer Anzahl Gewehre eins aussuchen, mit dem ihm der
Hauptmann alsdann das Arm- oder Kniegelenk entzweischießt. Beide Theile
trifft außerdem Ausschließung aus allem Verkehr mit unbescholtenen Zigeunern
für einige Zeit, während welcher ihnen verboten ist, grüne Farben zu tragen.
Die Zigeuner in Deutschland führen gewöhnlich zwei Namen: einen
deutschklingenden, der dazu bestimmt ist. in öffentlichen Urkunden, Reisepässen,
Gewerbescheinen u. tgi. zu figuriren, und einen andern, der -im Verkehr mit
Ihresgleichen gebraucht wird. Bon jener Gattung find die gewöhnlichsten:
Winter, unter dem eine weitverzweigte Familie reist, Weiß, Mettbach, Rose,
Reinhard, Keck, Freiwald, Petermann, Hanstein, Gastel, Wappler und Kiefer.
Von der andern Art nennen wir nur die auffälligen und unverständlichen
Namen Hosobenglo, der in der Familie Keck, Voige, der unter den Mett¬
bachs, Lamo, der unter den Hanstein's vorkommt, ferner die Namen Clarstey,
Vernet, Superdento, Wisiko, Rahemus, Tanneputz und Schuckelpatz. Den
Mädchen legt man in der Taufe oft vornehme Namen wie Apollonia, Cres-
eentia, Lila bei. Die Männer erhalten gewöhnlich noch einen von ihrer be¬
sondern körperlichen oder geistigen Eigenschaft hergenommenen Beinamen, z. B.
„Sastereskero", der Eiserne. „Sorelo", der Starke, „Lolo", der Rothe, „Galo
Tschawo", der schwarze Bursch.
Wie die Zigeuner sich selbst solche Spitznamen beilegen, so auch den Län¬
dern und Städten, die sie durchwandern, und den Flüssen, die sie auf ihren
Zügen überschreiten. Oesterreich nennen sie „Moliakro Tena", das Weinland,
Preußen „Blawado Tena", das blaue Land, Bayern, wegen der dort herrschen¬
den polizeilichen Strenge, „Tschiwalo Tena", das nichtswürdige Land, Han¬
nover, wegen des Wappenzeichens dieser Provinz, „Grajaskare Tena", das
Pserdeland, Sachsen, wegen der Kurschwerter auf seinem Schilde, „Charotiko
Tena", das Schwertland. Die Schweiz heißt bei ihnen das Käseland, Gro߬
britannien das Wasserland. Wien bezeichnen sie mit einem Worte ihrer Sprache,
welches Bienenstock bedeutet, Berlin ist ihnen die „hochbeinige Stadt", Erfurt
die „große Glockenstadt", München die „Pfaffenstadt", Augsburg die „Augen¬
stadt" und Nürnberg die „Nierenstadt". Die Oder heißt in der Zigeunersprache
„Galo Parm", das Schwarzwasser, die Elbe „Berojungero Parm", das schiff¬
bare Wasser, der Rhein „Rino".
Wie der Wilde im amerikanischen Urwalde, so hat auch der Zigeuner
gewisse Zeichen, durch die er sich mit seinem Stamm verständigt. Wo ein
Romimanusch unter Dach übernachtet hat, zeichnet er das Bild einer Harfe
an die Wand und setzt, wenn er zu schreiben versteht, seinen Namen darunter.
Hat er die Nacht im Freien zugebracht, so wird dasselbe Zeichen in einen
nahestehenden Baum eingeschnitten. Auch ein Fetzen seines Kleides, an einem
Bauch oder Strauch befestigt, giebt den später etwa vorüberziehenden Leuten
seiner Nation Andeutung, daß Schuckelpatz oder Hosobenglo oder wie der Be¬
treffende sonst heißt, hier verweilt hat. An jedem Kreuzweg, den ein Einzelner
oder eine ganze Bande passirt hat, wird ein solches Zeichen als Wegweiser
für die Nachfolgenden zurückgelassen. Seitwärts von dem Kreuzweg nämlich
wird zur Sommerszeit oder im Winter, wenn kein Schnee gefallen ist, ein
Baumast mit mindestens drei Zweigen dergestalt in die Erde gesteckt, daß die
Spitze des mittleren und längsten die genommene Richtung zeigt, während die
Nebenzweige sich gleichsam als Flügel ausbreiten. Oder man schichtet drei
Steine übereinander, von denen der größte die Basis bildet und der obenauf¬
liegende kleinste mit seiner Hauptecke den einzuschlagenden Weg angiebt. Wieder
ein anderes Zeichen dieser Art ist, daß man in den Sand oder Schnee drei
wagrecht parallel laufende, durch einen senkrecht gezogenen Querstrich verbun¬
dene Striche macht, deren mittelster länger als die andern ist und als An¬
deutung des von den Vorausgezogenen gewählten Wegs dient.
Liebesverhältnisse zwischen getrennt von einander wandernden Zigeunern
werden ebenfalls durch Zeichen unterhalten und getrennt. So deutet ein Ein¬
knicken an dem obenbeschriebenen mittleren Baumästchen an, daß man von
einer bisher geliebten Person nichts mehr wissen will, und daß sie nicht etwa
nachfolgen und den vergeblichen Versuch einer Aussöhnung unternehmen soll.
Hat sich ein Liebespaar entzweit, und hofft der eine oder der andere Theil
Wiederherstellung des abgebrochenen Verhältnisses, so wirft er bei dem Zu¬
sammentreffen mit dem nur Schmollenden oder ernstlich Erzürnten ein Karten¬
blatt in die Höhe. Greift dieser darnach, um es zu erHaschen, so ist Friede
geschlossen. Streckt er aber nicht einmal die Hand darnach aus, so ist an keine
Versöhnung mehr zu denken. Stumme, aber stets wohlverstandene Liebeserklä¬
rungen erfolgen von Seiten des Burschen durch Zusammenknicken des Hut¬
randes. Antwortet das Mädchen durch Zusammenrollen ihres Kopf- oder
Halstuches oder ihres Schürzenbandes, so bedeutet dies Erhörung und Gegen¬
liebe.
Schuhsohlen gelten bei den Zigeunern als verunreinigend. Im höheren
Grade aber sind dies ihnen Kleider der Frauen. Jemand mit Schuhwerk
schlagen oder werfen ist unter den Zigeunern eine besonders schwere Beleidi¬
gung. Alle Gegenstände, gleichviel wie werthvoll, welche ein Weib mit dem
Fuße berührt oder mit seinem Rocksaum auch nur leise gestreift hat, müssen
bei Seite geworfen und dürfen nie wieder in Gebrauch genommen werden.
Die größte Injurie, die ein Zigeuner dem andern zufügen kann, ist die, daß
er zu ihm sagt: „Ich stecke deinen Kopf unter das Kleid deiner Frau." Dann
giebt es sofort einen blutigen Kampf, der nicht selten bedenkliche Folgen hat.
Gerathen Zigeuner in solcher Weise ernstlich aneinander, so wird die Rauferei
in der Regel bald allgemein, Weiber und Kinder, selbst die Hunde, betheiligen
sich, packen, schlagen und kratzen einander, werfen, stechen und beißen sich und
stoßen gellendes Geschrei dazu aus.
Bisweilen findet auch eine förmliche Herausforderung zum Zwei kämpfe
statt, der dann in Gegenwart der ganzen, die Kämpfer im Kreise umstehenden
und durch Wort und Geberde anfeuernden Bande mit Faust und Fuß, manch¬
mal auch mit dem Messer ausgefochten wird. Vorher wird dabei Rock und
Hemd ausgezogen, damit sie nicht Schaden leiden; „die Haut kann zerrissen
und zerstochen werden, sie wächst von selber wieder und ohne daß es Geld
kostet." Wer Schimpf einsteckt, wird verachtet und gemieden, bis er sich noth¬
gedrungen zum Zweikampf entschließt. Grundlose Herausforderungen gebietet
der Zigeunercomment zwar ebenfalls anzunehmen, aber nach ausgefochtener
Sache kann der Herausforderer beim Hauptmann verklagt werden, der ihn mit
Ohrfeigen, Peitschenhieben, ja bei schweren Fällen mit zeitweiliger Ausstoßung
aus der Landsmannschaft bestraft.
Früher wurden nach Liebich, der es aus dem Munde von Zigeunern
selbst hat, altersschwache und lebensmüde Leute des Stammes mit ihrer Zu¬
stimmung lebendig begraben. Man machte im tiefen Walde vor ihren
Augen eine Grube, legte sie, mit ihren besten Kleidern angethan, hinein und
schüttete sie mit Erde zu, indem man dazu den Vers sang:
„Dscha tete, tscha tete,
O Polopent baro wele."
Diese Worte bedeuten: Geh hinunter, geh hinunter, die Welt wird groß,
d. h. sie wächst und mehrt sich auch ohne dich, oder so, daß für dich kein
Raum mehr ist.
Der Tod eines Zigeuners erfüllt die ganze Bande mit Trauer, und laut
erschallt die Wehklage. Nur die Wittwe schweigt. Die Leiche wird rasch der
Erde übergeben. Das Grab muß von Zigeunern gemacht werden. In den
Sarg legt man die Waffen des Todten und einen Zweig des der Landsmann¬
schaft heiligen Baumes, auch gießt man reichliche Libationen von Wein oder
Branntwein über ihn aus. Ein Hauptmann wird mit Waldhornmusik be¬
erdigt und durch Flinten- und Pistolenschüsse, die über sein Grab abgefeuert
werden, nach Kräften geehrt. Die Kleider eines verstorbenen Zigeuners, so¬
weit er sie nicht in die Erde mitbekommt, und sein Bettzeug verbrennt man
unter freiem Himmel. Ist die Asche erkaltet, so tritt einer der älteren Ver¬
wandten des Todten hinein, und je nachdem wie sich der Abdruck des Fußes
am andern Morgen gestaltet hat, schließt man, ob ein erwachsenes oder jugend¬
liches Glied der Familie dem Verstorbenen zunächst nachfolgen werde. Auf
das Grab pflanzt man, je nach der Landsmannschaft des Verblichenen, einen
Mehlbeerbaum, eine Birke oder eine Tanne, die, wenn sie nicht gedeihen,
am Jahrestage des Ablebens der betreffenden Person durch neue ersetzt werden.
Zum Schlüsse ein paar Worte über die Zigeuner, die man in der
Gegend von Berleburg angesiedelt hat.*)
Zwischen dem Ederkopfe, da wo die Lahn ihren Lauf nach Osten be¬
ginnt und Dill, Sieg und Eder von derselben Bergkuppe nach Süd, West
und Nord hinabströmen, zwischen dem Siegerland, dem preußischen Oberhessen
und dem früheren Großherzogthum Berg liegt in dem Gebirgsknoten. der von
den Ausläufern des Westerwaldes und des Rothaargebirges gebildet wird, das
„Wittgensteinsche". Berge mit schönstem Buchenwald bedeckt, schmale gewun¬
dene Thäler mit saftigen Wiesen, kleine Dörfer, Viehheerden, Kohlenmeiler,
Forellenbäche bilden den landschaftlichen Character dieses anmuthigen
Stückchens Erde, Hier siedelte der Graf Kasimir von Wittgenstein vor
etwa dreihundert Jahren eine Anzahl wandernder Zigeuner an, die noch
jetzt in drei Colonien fortvegetiren. Die eine derselben, die „Lause"
genannt, liegt eine Achtelmeile von Berleburg, einige hundert Schritt
von der Landstraße, hart am Walde und besteht aus 7 Hütten und 32 Be¬
wohnern. Die andere, ebenfalls nicht weit von Berleburg entfernt, heißt
„Altengraben" und zählt in zwei Hütten eine Bevölkerung von 22 Köpfen.
Die dritte endlich befindet sich bei dem Dorfe Saßmannshausen und umfaßt
38 Menschen in 8 Hütten. Alle drei Zigeunerdörfer tragen denselben Cha¬
racter: die Häuser derselben sind elende Geniste aus Besen und Holz, das
Geschirr und Geräth darin besteht aus einigen Töpfen und Schüsseln, einigen
Brettern und Klötzen, das Volk, das in diesen Baraken haust, ist faules
schmutziges Gesindel.
Als die Zigeuner sich hier niederließen, waren sie Heiden oder wenn man
will ohne alle Religion. Gegen reichliche Pathengeschenke ließen sie sich be¬
wegen, Protestanten zu werden. Später verdienten sie sich wieder Pathengeld
durch Uebertritt zur katholischen Kirche, dann nochmals, indem sie von Neuem
evangelisch wurden. Sie hätten dieses Wechseln des Rockes in mtmitum fort¬
gesetzt, wenn die betreffenden wackeren Seelenhirten den Schwindel nicht zu¬
letzt gemerkt hätten. Jetzt gelten die beiden zuerst erwähnten Dörfer für ka¬
tholisch', das dritte für protestantisch.
Die wittgensteinschen Zigeuner leben fast nur vom Bettel und kleinen
Diebereien. Ihre Faulheit ist geradezu ungeheuer. Sie lernen nichts und
verstehen nichts und hungern lieber, als daß sie sich der kleinsten Arbeit
unterziehen, liegen im Sommer in der Sonne und frieren im Winter, obwohl
sie den Wald, wo sie Brennholz holen könnten, vor der Thür haben. Immer
wird ohne Gedanken an die Zukunft in den Tag hineingelebt. Niemals wird
ein dortiger Zigeuner eine Arbeit übernehmen, für die er nicht gleich an dem¬
selben Tage den Lohn erhält; denn mit dem Morgen rechnet er nicht. „Eines
Abends", so erzählt Dorn, „kommt ein alter Herr, Graf T., auf einem Spa¬
ziergange an einen angeschwollenen Bach, der für gewöhnlich mit Hülfe zweier
großer Steine ohne Mühe zu überschreiten, jetzt aber durch den Regen in ein
knietiefes und einige Ruthen breites Flüßchen verwandelt ist. Als er verlegen
umherblickt, kommt so ein Schwarzkopf den Waldeshang herunter. „He,
Andres, Du hast ja breite und starke Schultern, willst Du mich über den
Bach tragen? Du sollst auch ein Trinkgeld erhalten." — „Zu Befehl. Ex¬
cellenz", lautet die Antwort, „das ist's gerade, was sich der Andres wünscht."
— Damit beugt sich der Bursche nieder, nimmt den schmächtigen, durchaus
nicht schweren Herrn auf den Rücken und steigt mit seiner Last ins Wasser.
„Nur langsam, nur vorsichtig", mahnt Graf X> „Bringst Du mich glücklich
hinüber, so sollst Du ein gutes Trinkgeld kriegen. Komm nur morgen früh
zu mir. Heute habe ich kein Geld bei mir." O weh, das war unvorsichtig
geredet: der arme Graf hatte sich nicht überlegt, daß er auf einem Zigeuner
ritt. „Was!" ruft dieser. „Der Herr Graf Excellenz haben kein Geld bei
sich. Da kann ich armer alter Mann nicht weiter tragen." Spricht's, wirft
seinen Reiter ab, mitten ins Gewässer und läuft windschnell davon."
Niemand denkt leicht daran, Zigeuner zu Garten- oder Ackerarbeiten zu
miethen, da sie höchstens den vierten Theil dessen vor sich bringen, was An¬
dere leisten. Dagegen eignen sie sich vortrefflich zum Botenlaufen. Mit fast
unglaublicher Schnelligkeit besorgen junge Männer Geschäfte, die sie Tage¬
reisen weit durch Wälder und Flüsse, über Berg und Thal führen. Der Fall
ist constatirt, daß ein solcher Bote, mit einem Stück Schwarzbrod ausgerüstet,
Morgens vor Sonnenaufgang im Hochsommer aufbrach und Abends die Ant¬
wort brachte, nachdem er 14 deutsche Meilen über das Gebirge zurückgelegt
hatte. Sonst verrathen die Wittgensteiner Zigeuner keine Wanderlust. Eben¬
so weichen sie von anderen Leuten ihres Namens dadurch ab, daß sie sich
nicht mit Wahrsagen und Seiltänzerkünsten abgeben. Auffallend ist, daß sie
gute Soldaten liefern , nur schade, daß sie das Gute, welches die militärische
Zucht ihnen beibringt, stets mit der Uniform wieder ablegen. Sie sind eben
unverbesserlich. Die Fürsten von Wittgenstein und die preußische Regierung
haben alles Mögliche versucht, um aus ihnen nützliche Orts- und Staats¬
bürger zu bilden. Umsonst. Die Einwirkung wohlwollender Pfarrer und
Amtleute sind vergeblich gewesen. Die Zigeuner bleiben Fremdlinge im Hause,
ohne Verständniß und Interesse für Land und Volk, die sie aufgenommen
haben, und lediglich Sclaven des eigenen täglichen Bedürfnisses.
Als sich im Februar 1814 die Friedensverhandlungen zwischen den
Verbündeten und Napoleon I- zerschlagen hatten, in welchen dem doch schon
vom Throne gleitenden Imperator die Grenzen von 1792 angeboten worden
waren, schrieb dieser an seinen Bruder"), den König Joseph: „8i .j'avais
sign6 los aneiennss limites, ^'aurais couru aux armes äsux ans am es,
et j'aurais an a la nation pus es n'Stall point uns paix, qus
^'avaig si^n^, mais uns Kapitulation!" Genau ebenso denkt jetzt,
da Deutschland den alten Raub, Lothringen und Elsaß, zurückgenommen
hat, das ganze französische Volk, und so tief zerklüftet von Parteiwuth und
socialen Gegensätzen es auch sonst erscheint: in jenem Verlangen nach Revendi-
cation und Revanche sind seine Weisen wie seine Narren — Renan wie
Victor Hugo — Eins.
Von diesem, und von keinem anderen Standpunkte aus ist die Reorgani¬
sation des französischen Heerwesens zu betrachten.
Die Grundlage der künftigen militärischen Organisation Frankreichs soll
in einer neuen loi militairs gelegt werden, welche aus einem Rekrutirungs-
gesetze und einem Organisationsgesetze bestehen wird, von denen das erstere
im Mai 1872 zur Berathung in der Nationalversammlung gelangte.
Das Rekrutirungsgesetz besteht aus 80 Artikeln und zerfällt in
folgende fünf Titel:
I. Titel: Allgemeine Bestimmungen. (Art. 1 bis 7.) — II. Titel: Von
der Aushebung, (clos axpols Art. 8 bis 35.) 1. Abschnitt: Von der Auf¬
stellung der Grundlisten und von der Loosung (Art. 1 bis 15). 2. Abschnitt: Bon
den Exemptionen, den Dispensationen und den Zurückstellungen. (Art. 16 bis 26).
3. Abschnitt: Bon den Nevisivns-Behörden und den Cantonlisten für die Rekrutirung.
(Art. 27 bis 32.) 4. Abschnitt: Von den Departements-Matrikeln. (Art. 33 bis 35.)
— III. Titel: Vom Militärdienst. (Art. 36 bis 45.) — IV. Titel: Vom frei¬
willigen Eintritt, vom freiwilligen Weiterdienen (renZaZomont) und
von dem einjährig freiwilligen Dienst (onZaZomeut oonäitioiuzl ä'un an).
(Art. 49 bis 58.) — V. Strafbestimmungen. (Art. 59 bis 68.) — Am Schluß
folgen: Besondere Bestimmungen (Art. 69 bis 73) und Uebergangs-Be-
stimmungen. (Art. 74 bis 80.)
Am 27. Mai 1872 begann die Nationalversammlung die Berathung
des Nekrutirungsgesetzes. Als Einleitung der Generaldebatte
richtete General Chanzy folgende Mahnung an die Versammlung:
„Der Präsident der Republik machte uns neulich darauf aufmerksam, daß es nicht
gut sei, die heute zu verhandelnden Fragen leidenschaftlich zu erörtern, da Europa das
Auge auf uns gerichtet habe. Ich glaube, daß es nützlich ist, an diesen weisen Rath
zu erinnern. Seit einem Jahre hat die Commission das Gesetz ausgearbeitet, alle Welt
ist einig; ich bitte die Versammlung die Debatte so viel als möglich abzukürzen."
Der erste Redner von Bedeutung war General Trochu. Er entrollte
ein Bild der Zustände, an denen Frankreich im Kriege 1870 zu Grunde ge-
gangen und nannte die Legende Napoleon's und die Demoralisation der
Armee als die Hauptgründe des Falls.
Wenn Trochu als Grundlage jedes gesunden Heerwesens die sociale Dis¬
ciplin bezeichnete, so gab die Versammlung gleich in den nächsten Sitzungen
(28. und 29. Mai) einen vollgiltigen Beweis, daß sie keine Spur davon
habe. Oberst Denfert, der Vertheidiger Belforts, erhob sich nämlich gegen
das militärische Princip des passiven Gehorsams, welches die Mannszucht
lockere und Tage wie den 18. Brumaire und den 2. December möglich mache.
Dieser passive Gehorsam habe in der französischen Armee den Geist der
Initiative getödtet und sich so als eine Hauptursache der Niederlage er¬
wiesen. An seine Stelle sei das Princip der individuellen Verantwortlichkeit
zu setzen; denn die intelligente Initiative jedes einzelnen Heeresgliedes sei der
Grund der preußischen Erfolge. Die Ausführung dieses Gedankens sollte nur
die Einwände des Obersten Denfert gegen die Vorlage begründen, welche
nicht genug für den Unterricht thue, nur eine verstümmelte Anwendung der
allgemeinen Wehrpflicht sei und dem Kriegsminister eine zu große Gewalt
einräume; sie trug aber allerdings einen, für jedes militärische Ohr peinlichen
Charakter. Hatte die Majorität schon das Lob der Preußen kaum ertragen
und in heftigen Unterbrechungen ihren Unwillen zu erkennen gegeben, so trat
General Changarnier mit leidenschaftlichem Zorn zu Gunsten des passiven
Gehorsams ein und begann seine Rede mit den herausfordernden Worten: „Ob¬
gleich ich nicht einige Monate in einer Käsematte von Belfort zugebracht..."
Ein radicaler Abgeordneter, Pichat, rief ihm zu: „Wir, wir heißen Belfort!
Ihr heißet Metz!" und zu Beginn der Sitzung des nächsten Tages erklärte
Oberst Denfert, daß er sich Pichat's Wort aneigne und ebenfalls ausrufe:
„Wir heißen Belfort! Ihr heißet Metz!" Die Linke brüllte BravoI Die Rechte:
Zur Ordnung! Changarnier drohte dem Obersten Denfert mit der geballten
Faust und die Linke schrie ihm: „Metz! Metz!" entgegen, als er das Wort
ergriff.
Welch eine abscheuliche Scene zwischen zwei hervorragenden hohen Offi-
cieren, im Schooße einer souveränen Versammlung und bei Gelegenheit einer
Debatte über militärische und nationale Disciplin!
In diesem ekelerregenden, durch Gambetta wo möglich noch übertroffenen
Ton schloß eine Diskussion, welche General Chanzy mit der feierlichen Bitte
um leidenschaftslose Kürze eröffnet hatte. — Der kriegerische Charakter der
Versammlung sprach sich auch darin aus, daß die Parteien zum Theil Offi-
ciere an ihre Spitze sollten: das linke Centrum den General Chanzy, die Linke
den Obersten Denfert,
Am 30. Mai begann die Specialdebatte. Der erste Titel des Ge-
setzes umfaßt in 7 Aüikeln die „allgemeine Bestimmungen". Sie lauten:
Artikel 1. Jeder Franzose ist zum persönlichen Kriegsdienst verpflichtet.
Artikel 2. Bei den französischen Truppen gibt es weder Geldprämien noch irgend
welchen Engagements-Preis.
Artikel 3. Jeder Franzose, der nicht zu jedem militärischen Dienst untauglich
erklärt worden ist, kann vom 20. bis zum 40. Lebensjahr nach dem vom Gesetz be¬
stimmten Modus zum stehenden Heere oder zu den.Reserven einberufen werden.
Artikel 4. Die Stellvertretung ist aufgehoben. Dispensationen vom Dienst in den
vom Gesetz bezeichneten Fällen schließen keine definitive Dienstbefreiung in sich.
Artikel S. Die unter den Fahnen befindlichen Männer nehmen an keinem Wahl¬
act Theil.
Artikel 6. Jede organisirte und bewaffnete Abtheilung ist den militairischen Ge¬
setzen unterworfen und gehört zur Armee. Sie ressortirt entweder vom Kriegs - oder
Marineminister.
Artikel 7. In das französische Heer wird Niemand zugelassen, der nicht Fran¬
zose ist. Vom Kriegsdienst sind ausgeschlossen und können unter keinerlei Vorwand in
der Armee dienen:
1) Diejenigen Personen, welche zu einer Leibes- oder schimpflichen Strafe verur¬
theilt gewesen sind;
2) diejenigen Personen, welche zu einer Correctionsstrafe von 2 Jahren Gefängniß
und darüber, und außerdem durch richterliches Erkenntniß zur Stellung unter Polizei-
Aufsicht und zur ganzen oder theilweisen Untersagung der städtischen und staatlichen
Bürgerrechte oder der Familienrechte verurtheilt worden sind.
Die Artikel 1 bis 4 wurden fast ohne Discussion angenommen; sie
schließen sich eng an das deutsche Vorbild an*), auf welches der Anfang des
Commissionsberichtes mit denselben Worten hinwies, mit denen Napoleon III.
zu Wilhelmshöhe seine Neorganisationsvorschläge einleitete: „Große Nieder¬
lagen schließen große Lehren in sich." — Die Artikel S und K sind wesentlich
politischer Natur. In ihnen kommen die Erfahrungen zum Ausdruck, welche
man im Jahre 1870 vom Mai-Plebiscit an bis zu den Erfahrungen mit den
Franctireurs vom October gemacht.
Ueber Artikel 3 (Nichttheilnahme an den Wähler) entspann sich eine
längere Debatte.
Gegen diesen Artikel trat besonders ein radicaler Lyoner, Herr Millcmd,
in die Schranken. Er sieht in Artikel 5 einen Anachronismus in einem Ge¬
setze, das aus allen Bürgern Soldaten, aus allen Scldaten Bürger machen
will, und meint, die Revanche sei überhaupt nur unde: der Bedingung mög¬
lich, daß man eine wahrhaft nationale Armee schaffe. Da aber nicht nur der
Berichterstatter, der Kriegsminister und General Dunod, sondern merkwür¬
digerweise auch Herr Gcunbetta zu Gunsten des Artikels 6 sprachen, so wurde
derselbe mit 639 gegen 34 Stimmen angenommen. Während also in Deutsch¬
land die Angehörigen des Heeres wenigstens an den Landtagswahlen Theil
nahmen, ist die demokratische Republik Frankreich zu der wohlbegründeten
Ueberzeugung gelangt, daß sie ihren Kriegern keine Wahl mehr gestatten könne.
Der Artikel 6, welcher folgenden Tags zunächst zur Speeialdebatte gestellt
wurde, hat seine besondere Bedeutung darin, daß durch ihn, wie es auch in
den Motiven ausgesprochen ist, ipso die Nationalgarde aufgehoben
wird, „für die ja ohnehin bei einer Dienstverpflichtung bis 40 Jahr die Ele¬
mente im Lande fehlen würden."
In Frankreich ist fortan jede bewaffnete Truppe, welche sich nicht den
Kriegsbehörden des Staats unterordnet als revolutionär und „Kors ac ki^
loi" zu betrachten, und diese Bestimmung rechtfertigt sich, wenn man bedenkt,
daß Alles, was in Frankreich als Mobilgärde, Nationalgarde, Franctireur-
Compagnie und dergleichen existirte, im gegebenen Augenblicke stets und immer
nichts Anderes als ein schlagfertiges Revolutionseontingent darstellte — eine
Erfahrung, die sich nie grausamer als bei der Vertheidigung und nach der
Uebergabe von Paris bewährt hat. — In den Motiven für Artikel 6 wird
außerdem noch hervorgehoben, daß im letzten Kriege den vom Staate beauf¬
tragten bewaffneten Körpern mehrfach die Anerkennung als Soldaten ver¬
weigert worden sei, ein Uebelstand, welchem nur dadurch endgültig vorge¬
beugt werden könne, daß man keine andere bewaffnete Macht als die Armee
dulde. Der Artikel, mit welchem der erste Theil des Wehrgesetzentwurfes
schloß, wurde ohne nennenswerthe Debatte angenommen.
Den zweiten Theil des Wehrgesetzentwurfes bilden die Titel II bis V.
In den „allgemeinen Motiven" heißt es: „Die Armee soll nicht nur eine
kräftig organisirte permanente Macht sein, sondern auch eine große Schule,
in welcher alle Elemente der Nation nach und nach ihren militärischen Unter¬
richt empfangen, ehe sie in das bürgerliche Leben übergehen — und ein großer
Rahmen, in welchen diese ausgebildeten und nach ihrer Leistungsfähigkeit ver¬
theilten Elemente an dem Tage eintreten, an welchem das Vaterland in seiner
Unabhängigkeit oder in seiner inneren Sicherheit bedroht ist." — Im Uebrigen
legen die Motive einen großen Nachdruck auf die socialen Zustände Frank¬
reichs und auf die Abnahme des militärischen Geistes in Folge der Zunahme
des Reichthums und des Luxus. Die allgemeine Wehrpflicht werde diesen
Geist wieder neu beleben.
Titelll enthält in seinem ersten Theile (Artikel 8—16) die Bestimmungen
über die Ausführung der Vorarbeiten in den Kantons zum Zwecke der Re-
crutirung.
spätestens am 15. Januar müssen sich alle Militmrpflichtigen des laufenden Jahr¬
ganges auf den Mmrieen anmelden. Die Maires stellen Stammrollen auf. Dann
werden die Militairpflichtigen und ihre Angehörigen in jedem Kanton zu einem öffent¬
lichen Termine zusammenberufen, welchen der Sous-Präfekt in Gegenwart der Maires
abhält. — Es wird zur Loosung geschritten, wie bei uns, und zugleich die
Loosungsliste angelegt, an deren Spitze diejenigen Militairpflichtigen stehen, welche wegen
Versuches der Entziehung vom Militärdienst :c. die Berechtigung, an der Loosung Theil
zu nehmen, verloren haben. In die Loosungsliste werden die von den Militairpflich¬
tigen, ihren Angehörigen oder den Maires gestellten Anträge auf Exemption oder Dis-
pensation eingetragen. Der Sous-Präfect setzt seine Bemerkungen hinzu. — Nach
Art. 10, welcher verfügt, daß alle jungen Leute, gleichviel wo sie sich befinden, als
an ihrem Geburtsort, resp, dem Wohnort ihrer Aeltern domicilirend betrachtet werden,
werden viele jungen Leute genöthigt sein zur Gestellung von einem Ende Frankreichs
zum andern zu reisen und zwar nicht nur wenn sie 20 Jahr alt geworden sind, son¬
dern auch zu allen etwa nachfolgenden Terminen.
Der zweite Theil des II. Titels, Art. 16 — 27 beschäftigt sich mit den
Exemptionen, Dispensationen und Zurückstellungen.
Artikel 16 nimmt die körperlich Unbrauchbaren aus.
Art. 17: Dispensirt sind: 1) das älteste von den verwaisten Geschwistern, die
weder Vater noch Mutter haben, 2) der einzige oder älteste Sohn, resp, in Ermange¬
lung eines solchen oder eines Schwiegersohnes, der einzige oder älteste Enkel einer
Wittwe oder eines blinden oder 70jährigen Vaters; auch soll auf den Zweitältesten
Bruder dieser Dispens übergehen, falls der älteste blind oder sonst unheilbar krank
ist, 3) soll vom Dienst befreit sein der älteste von zwei zusammen.zur Loosung kommen¬
den Brüdern, falls der jüngere für diensttauglich erklärt worden, 4) der einen Bruder
im stehenden Heere hat, 5) derjenige, dessen Bruder im Dienst gestorben, verwundet
oder im Dienst erkrankt ist. — Auch soll, falls die Bedingungen dieses Artikels sud
1 und 2 während der Dienstzeit eintreten, der Betreffende nach einjährigen Dienst
im Heere beurlaubt werden.
Art. 13 läßt eine Zurückstellung auf 2 Jahre von solchen Leuten zu, welche
uoch nicht das erforderliche Maß von 1 Mir. 54. Ctmtr. erreicht haben. Werden sie
nicht ausdrücklich davon entbunden, so müssen sie sich während dieser Zeit wieder bei
derselben Aushebungsbehörde gestellen.
Art. 19. Bedingungsweise vom Militärdienst befreit sind: 1) die Mitglieder des
öffentlichen Unterrichts und die Zöglinge der höheren normal-Schule von Paris, welche
vor der Auslosung dem Rector der Akademie das von diesem angenommene Versprechen
abgegeben haben, sich auf zehn Jahre dem Lehramte zu widmen, wofern sie dieses Ver¬
sprechen einhalten; 2) unter denselben Bedingungen die Professoren der öffentlichen Taub¬
stummen- und Blinden-Jnstitute; 3) die Pension genießenden Zöglinge der Schule für
lebende orientalische Sprachen und der diplomatischen Schule (Levis «Zeh Odartss),
wenn sie zehn Jahre, sei es in diesen Anstalten, sei es im Staatsdienste zubringen;
4) die Mitglieder und Novizen der dem Unterricht gewidmeten gesetzlich anerkannten
und als allgemeinnützige Anstalten zugelassenen geistlichen Genossenschaften sowie die
Direktoren, Lehrer und Hilfslehrer der von weltlichen Genossenschaften gegründeten
oder unterhaltenen Schulen, wofern diese Genossenschaften dieselben Bedingungen
erfüllen, sämmtlich unter der Voraussetzung, daß die Betheiligten vor der Auf-
lösung dem Rektor der Akademie das Versprechen geben, sich auf zehn Jahre dem
Unterricht zu widmen, und daß sie dieses Versprechen einhalten; 5) die jungen Leute,
welche, ohne in eine der vorstehenden Kategorien zu fallen, einem der in Artikel 79
des Gesetzes vom 15. März 1850 und in Artikel 67 des Gesetzes vom 10. April
1867 vorgesehenen Fülle angehören und rechtzeitig dasselbe Versprechen abgeben; 6) die
von den Erzbischöfen und Bischöfen bezeichneten geistlichen Zöglinge, die sich dem geist¬
lichen Amte widmen, oder die jungen Leute, welche sonst die theologische Laufbahn in
einem der vom Staate unterhaltenen Bekenntnisse gewählt haben, mit der Bedingung,
daß sie dem Militärdienste verfallen, wenn sie diese Studien aufgeben oder wenn im
Alter von 26 Jahren die Ersteren nicht in die höheren Orden aufgestiegen sind und
die Letzteren nicht die Weihe empfangen haben.
Art. 20 und 21 enthalten weitere Detail-Bestimmungen dieser Art. Nach
Art. 22 ist eine provisorische Dispensation bei solchen jungen Leuten zulässig, welche
die einzige Stütze ihrer Familie sind und durch ein Zeugniß der Ortsbehörde nach¬
weisen, daß sie ihre Pflicht als solche wirklich erfüllen.
Von all diesen Punkten gab in der Nationalversammlung nur Artikel
19 zur Debatte Anlaß und wurde in der oben gegebenen Form erst etwas
später nach abermaligen Conferenzen mit dem Unterrichtsminister angenommen.
Am 1. Juni wurde die Berathung festgesetzt und veranlaßte der wichtige
Artikel 23, welcher von den G e stellungs-Aufschüben handelt, eine lebhafte
Debatte.
Gegen diese Aufschübe tritt Herr Gambetta in die Schranken.
Als Secundant Gambetta's fungirt General Guilleaut, während
General Chanzy das Verlangen des radicalen Führers als Parteitaktik be¬
zeichnet und sogar erklärt: Unser Gesetzentwurf ist ein Bau. aus dem man
nicht einen Stein wegnehmen kann, ohne daß das Ganze zusammenbricht;
etwaige Vervollkommnungen müssen einer späteren Periode vorbehalten bleiben.
Am Schlüsse dieser zweitägigen Debatte wurde Art. 23 in folgender Fas¬
sung und zwar der erste Theil fast einstimmig, der zweite mit 590 gegen 86
Stimmen — angenommen:
In Friedenszeiten können den jungen Leuten, welche vor der Auslassung darum
nachgesucht haben, Einberusungsaufschübe bewilligt werden. Zu diesem Behuf müssen
sie nachweisen, daß es für ihre Ausbildung im Handwerk oder für den Ackerbau, das
Gewerbe oder den Handel, welche sie für eigene Rechnung oder für Rechnung ihrer
Angehörigen betreiben, unerläßlich ist, daß sie ihren Arbeiten nicht sofort entrückt
werden. Der Einberufungsaufschub gewährt weder eine Befreiung noch einen Dispens.
Der Gestellungspflichtige, welcher einen solchen Einberufungsaufschub erwirkt hat, behält
die ihm durch das Loos zugefallene Nummer und muß nach Ablauf des Aufschubes alle
Verpflichtungen erfüllen, welche ihm das Gesetz nach Maßgabe seiner Nummer auferlegt.
Hieran soll sich dann Artikel 24 in folgendem Texte anschließen:
Die Gesuche um Aufschub sind an den Maire (persönlich und nicht an den Ge¬
meinderath) zu richten; dieser prüft sie und der Gemeinderath gibt sein Gutachten ab;
sie werden dann dem Nevisionsrath unterbreitet und abschriftlich dem Unterpräfectcn
mitgetheilt, welcher sie mit seinen eigenen Bemerkungen und allen nothwendigen Doku¬
menten an den Präfecten sendet. Es können für das ganze Departement und für jede
Klasse nur Aufschübe der Einstellung bis zu 4 Procent der Zahl der jungen Leute,
welche sich in der genannten Klasse für den Militärdienst eignen und in dem ersten
Theil der Listen der Cantonal-Recrutirung einbegriffen sind, bewilligt werden.
Artikel 25 bestimmt, daß ein Aufschub nur auf ein Jahr ertheilt, aber zwei Jahre
hintereinander wiederholt werden kann.
Art. 26. Die jungen Leute, welche vom Dienst in der activen Armee, dem
Art. 17 des gegenwärtigen Gesetzes gemäß, befreit werden, die jungen Leute, welche als
Stützen ihrer Familien frei sind, so wie die jungen Leute, welchen ein Aufschub in der
Einstellung bewilligt wird, werden durch ein Reglement des Kricgsiuiuisters zu gewissen
Uebungen angehalten. Wenn die Ursachen der Befreiung vom Militärdienste aufhören,
so sind sie allen Verpflichtungen der Klasse unterworfen, zu welcher sie gehören.
Art. 27. Die jungen Leute, welche vom Dienst in der activen Armee laut des
Art. 17 befreit sind, die als Stützen ihrer Familien befreiten jungen Leute, sowie die,
welche eiuen Aufschub in der Einstellung erhalten haben, werden in Kriegszeiten wie
die Leute ihrer Klasse einberufen. Die Militärbehörde verfügt alsdann über sie nach
den Bedürfnissen der verschiedenen Dienste.
Die kurze Debatte über diese Artikel zeugt von der Strenge, mit welcher
die Versammlung, die Commission an der Spitze, nach den letzten Zwischen¬
fällen und Gambetta's Ermahnungen vorzugehen entschlossen ist. Als Herr von
Meaur nämlich beantragt, Artikel 27 zu streichen, widersetzt sich dem General
Billot im Namen der Commission. Das Gesetz sei in seinen Dispensationen
so weit gehend als irgend möglich: im Kriegsfall aber müsse jeder unbedingt
zur Stelle sein. Die Versammlung ist damit durchaus einverstanden.
Der dritte Theil des Titels II (Art. 27—32) regelt das eigentliche Ne-
krutenaushebungsgeschäft.
Alljährlich hält zu diesem Zwecke in jedem Canton ein „Nevisions-Rath" öffent¬
lichen Termin ab; derselbe besteht aus dem Preisenden, als Präsidenten, einem Präfcctnr-
Nath, einem Mitgliede des General-Rathes des Departements, einem Mitgliede deö
Arrondissements-Rathes und einem von der Militär-Behörde zu bestimmenden General
oder Stabsofficier. Zugegen sind ferner- ein Mitglied der Intendanz (Jurist), der
Bezirks-Commandant (oommanäaM <in roorutoinsut), ein Militärarzt, der Sous-
Präfcct und die Mcnrcs der Gemeinden. Die Militärpflichtiger müssen in dem Termin
erscheinen, sie werden gemustert und können angeben, bei welcher Waffe sie zu dienen
wünschen. Die Necrutirungs-Vorarbeiten werden geprüft, Beschwerden über dieselben
entgegengenommen, die Ereuiptions- und Dispensationsgesuche erledigt. In den Füllen,
wo es sich um Ercmption wegen körperlicher Gebrechen handelt, wird der Arzt gehört.
Die durch Stimmenmehrheit getroffenen Entscheidungen des Ncvisivns-Rathes sind end-
giltig, Recurs ist nur zulässig an den „Staatsrath für Jncompetcnz und Überschreitung
der Machtbefugnisse." Die Entscheidungen können auch wegen Gesctzverlctzung ange¬
griffen werden, aber nur Seitens des Kriegsministers.
Nach Feststellung der Eremptionen und Dispensationen schliefst der Nevisionsrath
die Nccrutiruugsliste für den Canton definitiv ab. Nachdem dieses Geschäft in sämmt¬
lichen Cantons des Departements beendet ist, tritt der Nevisionsrath, verstärkt durch
noch zwei Mitglieder des Generalrathes, in der Hauptstadt des Departements zusammen
und entscheidet über die Anträge auf Dispcnsation zur Unterstützung der Familie oder
auf vorläufige Zurückstellung.
Der vierte Theil des II. Titels (Art. 33 bis 36) handelt von den De-
partements - Matrikeln.
Nachdem das Necrutirungs^Verfahren beendet ist, wird für jedes Departement auf
Grund der Cantorilisten eine Matrikel angelegt, In dieselbe werden sämmtliche Mili¬
tärpflichtige des Jahres, mit Ausnahme der zu jeglichem Militärdienst untauglich erklärten,
eingetragen. Bei jedem Militärpflichtiger wird vermerkt, ob und wo er eingestellt oder
in welchem Verhältniß er belassen ist, sowie jede Veränderung, welche in seiner Stel¬
lung bis zur Ueberführung in die Territorial-Armee eintritt. Die in den Listen
stehenden haben zu diesem Zwecke jeden Wechsel ihres Domicils beim Maire zu melden,
welcher binnen acht Tagen hiervon Meldung zur Berichtigung der Matrikel erstattet.
Die Controle der ins Ausland verziehenden Wehrpflichtigen ist Sache der Consuln.
Der Titel III. umfaßt die Artikel 37 bis 4S und präcisirr die
Militärdienstpflicht. *)
Art. 36 lautet: Jeder Franzose, welcher nicht für jeglichen Militär¬
dienst untauglich erklärt ist, gehört: fünf Jahre lang zur activen
Armee, vier Jahre lang zur Reserve der activen Armee, fünf Jahre
zur Territ orial-Armee, sechs Jahre zur Reserve der Territorial-Armee:
1) Die active Armee besteht, außer dem Personal, welches sich nicht im Wege
der Aushebung recrutirt, aus allen jungen Leuten der zuletzt aufgerufenen fünf Alters¬
klassen, welche zu einem der Dienstzweige des Heeres tauglich befunden sind.
2) Die Reserve der activen Armee besteht aus allen Mannschaften der nächst-
ältcren vier Jahresklassen, welche gleichfalls zu einem der Dienstzweige des Heeres taug¬
lich befunden sind.
3) Die Territorial-Armee besteht ans allen Mannschaften, welche die für das
stehende Heer und die Reserve vorgeschriebene Dienstzeit erfüllt haben.
4) Die Reserve der Territorial-Armee besteht aus den Männer», welche die Dienst¬
zeit in dieser Armee beendet haben. Die Territorial-Armee und die zweite Reserve
werden districtwcise durch ein Verwaltungs-Reglement formirt werden; zu ihr gehören
alle Wehrpflichtigen, welche ihren Wohnsitz im Bezirke haben.
. Gegen die fünfjährige Dienstzeit und für die dreijährige
hatten die Herren Keller, Trochu, Randot und Chevandier Amendements ein¬
gebracht und trat zuerst der klerikale Deputirte Keller unter dem Beifall
auch seiner politischen Gegner in die Schranken.
Noch entschiedener als Keller erhob sich General Trochu gegen die fünf¬
jährige Dienstzeit. Er sagt u. A.:
„Die Commission macht gegen meinen Antrag hauptsächlich geltend, daß es sich
für jetzt überhaupt nur um Ueb ergan gs be Stimmungen handle und daß mein
System der wirklich allgemeinen und gleichwährenden Dienstpflicht
einer späteren Zukunft vorbehalten bleiben müsse. Allein die Zeit der Halb¬
heiten und schüchternen Versuche scheint mir vorüber."
Zuerst bemüht sich General Ducrot, die Ausführungen seines „vor¬
trefflichen alten Freundes Trochu" zu widerlegen. In seinen Augen ist eine
dreijährige Dienstzeit nicht genügend, den Soldaten in allen Theilen seines
Berufes entsprechend auszubilden; unbestreitbar scheint ihm dies namentlich für
die Cavallerie und Artillerie. „Wir haben", sagt er, „in ganz Frankreich
nur wenig Leute, die wirklich zu reiten verstehen; die besten Reiter lieferte
uns das Elsaß und diese haben wir also jetzt verloren. Die dreijährige
Dienstzeit sei daher schon im Interesse der Specialwaffen durchaus verwerflich.
Ihm gegenüber constatirt der Abgeordnete Randot das Befremden der
Laien über so große Verschiedenheiten in den Anschauungen der Fachmänner
und befürwortet die unbedingte Anlehnung an das preußische Vorbild. General
Chanzy dagegen tritt für die Regierungsvorlage ein. Er sagt:
„Wir dürfen uns nicht darüber täuschen, daß wir nicht nur durch die
Zahl, sondern auch durch die größere Solidität der feindlichen Armeen besiegt worden.
Nun haben wir aber jetzt noch nicht das nöthige Handwerkszeug, näm¬
lich die nöthigen Cadres, um in kurzer Zeit eine bedeutende Anzahl
von Soldaten ausbilden zu können: es wäre also äußerst unklug, schon jetzt
mit allen Traditionen und Gewohnheiten, namentlich also auch mit der fünfjährigen
Dienstzeit, zu brechen."
Am 8. Juni sprach sich Herr Thiers, nachdem er in der Einleitung darauf
aufmerksam gemacht, daß Fankreich und Europa ihn höre, in gleichem Sinne
aus. Es war jene bekannte Rede, in der er die beliebte Unbesieglichkeit seiner
Nation in die Phrase hüllte: „Die Schuld lag nicht an dem Gesetze von 1832,
sondern lediglich an der Ueberstürzung. Nicht also das preußische System hat
das französische, sondern die preußische Ne gi erun g hat die französische besiegt,
(Zustimmung.)" In einemMonate, welcher leicht durch Unterhand¬
lungen zu gewinnen war, konnte man eine Million krtegs"
tüchtiger Soldaten und noch mehr ins Feld stellen.
Noch einmal erhob sich Trochu zu Gunsten seines Amendements auf
dreijährige Dienstzeit. Er wies darauf hin, wie er nach Sadowa dem Kaiser¬
reiche gerathen, Frieden zu halten und sich in langer Nuhe der Reorganisation
seiner Armee und seiner militairischen Institutionen zu widmen. Dasselbe sage
er jetzt der Republik. „Ich ruse ihr zu: Steckt euer Schwert in die Scheide,
erleichtert die belasteten Finanzen! Denkt nicht daran, bei dem dermaligen
Zustande unseres Landes, Europa an die Wirklichkeit der Drohungen glauben
zu machen, welche diese militärischen Kräfte, von denen man so sehr viel
spricht, vorzubereiten scheinen... Benutzen Sie diese Friedenslage zu
dem ungeheuren Werke der gleichzeitigen Reorganisation der
Nation, der militärischen Institutionen und der Armee, zu dieser
gleichzeitigen Reorganisation, und n ich t, wie Sie dahin zu neigen scheinen,
lediglich zur Organisation der Armee.
Mit diesen Worten hat Trochu den Kernpunkt der ganzen Frage be¬
rührt; aber die Nationalversammlung empfand dies entweder nicht, oder sie
ignorirte es, weil sie eben nicht für die allgemeine Zukunft der Nation, sondern
für eine Revanche-Armee arbeiten wollte. — Bei der Abstimmung wurden
die aus dreijährige Dienstzeit zielenden Amendements mit 4S5 gegen 277 Stim¬
men verworfen.
Am 10. Juni gelangten drei von den Generalen Chareton, Guillemaut
und Hrn. Andre herrührende Amendements zur Verhandlung. — General
Chareton, der Autor eines in allen Details ausgearbeiteten, mit großem
Ernst durchdachten Heeressystems, verlangt den gleichen Effectiv-Stand wie
Deutschland, der mit fünfjähriger Dienstzeit unvereinbar sei, und nimmt auch
das von Trochu in der letzten Debatte ebenfalls warm ausgesprochene Ver¬
langen nach Provinzial-Armee-Corps wieder aus. Die gleichen Anschauungen
vertritt General Guillemaut in einer Rede, welche sichtlichen Eindruck macht
und von Thiers mit Zeichen lebhafter Ungeduld begleitet wird. Zu Gunsten
der Regierungsvorlage erhoben sich Changarnier, der die Kammer bat, sich
„nicht eine Stunde" von der fünfjährigen Dienstzeit abbringen zu lassen, und
der Referent der Commission, endlich aber in heftigster Erbitterung Herr
Thiers selbst, welcher aus der Annahme der fünfjährigen Dienstzeit in der
schroffsten Weise eine Cabinetsfrage machte, so daß Gambetta unter unbeschreib¬
licher Aufregung des Hauses erklärte, daß er und seine Gesinnungsgenossen in
Folge dessen an der Abstimmung nicht Theil nehmen würden, weil aus der
militairischen plötzlich eine politische Cabinetsfrage geworden sei. Damit war
der Sieg Thiers' entschieden; die auf vierjährige Dienstzeit zielenden Amende¬
ments wurden mit 447 gegen 36 Stimmen abgelehnt und am folgenden Tage
ward Artikel 36 der Commissionsvyrlage in allen Theilen
angenommen.
Am 12. Juni wurde die Debatte fortgesetzt und die Artikel 37 bis 41 ohne
Discussion angenommen. Ihr Inhalt ist folgender:
Artikel 37 bestimmt, daß die Seetruppcn und die sonstigen Corps der ^ruso <Zo
mLi' 5 Jahr activ und nur 2 Jahr in der Reserve zu dienen haben; dann aber zur
Territorialarmee übertreten. — Es gehören in diese Categorie:
1) Freiwillige und Capitulcmten der Marine, auf welche in erster Reihe gerechnet
wird. 2) Diejenigen Mannschaften, welche vor dem Ncvisionsrath den Wunsch zu er¬
kennen geben, auf der Marine zu dienen und dazu für tauglich erachtet werden. 3) Das
in Ermnngcluug hinreichender Kräfte (sud 1 und 2) vom Kriegsminister anzuweisende
Nccrutcncontingcnt. Dasselbe wird dem ersten Theil der Cantonal -Necrutirungsliste
durch Loosung entnommen, doch ist der Tausch (Permutation) mit zur Landarmee
designirter Mannschaften vor dem Eintritt gestattet.
Artikel 38 setzt fest, daß das Dienstjahr mit dem 1. Juni des Jahres beginnt,
in welchem die Loosung stattfindet. Am 30. Juni jeden Jahres wird denjenigen Mann¬
schaften, welche in einer der vier Categorieen des Heeres (vgl. Artikel 36) ihre Dienst¬
pflicht erfüllt haben, ein Uebcrlrittszeugniß in die nächste Categorie, resp, den aus der
zweiten Reserve Ausscheidenden ein EntlassungSzcugniß ausgehändigt. In Kriegszeiten
wird dieses Zeugniß sofort nach Ankunft der Ersatzmannschaften ertheilt.
Letzterer Bestimmung zufolge findet also der Uebertritt zur Reserve und
Landwehr resp, der Austritt aus dem Heeresverbande auch in Kriegszeiten
statt, eine von den deutschen Bestimmungen abweichende und mit dem Begriff
der „Ehrenpflicht der Vertheidigung des Vaterlandes" wohl nicht recht zu ver¬
einbarende Maßregel, die indeß altfranzösischer Sitte entspricht und eine
Einrichtung der Söldnerheere in die moderne Volksarmee herüber zieht.
Artikel 39. Alle jungen Leute der aufgerufenen Classe, welche wegen
Lcibesgebrechcn nicht vom Militärdienste befreit, in Anwendung der Bestimmungen
des gegenwärtigen Gesetzes nicht dispensirt, keinen Aufschub für die Einstellung erhalten
oder nicht der See-Armee zugetheilt sind, gehören zur activen Armee und
werden zur Verfügung des Ministers gestellt. Diese jungen Leute werden
alle in die verschiedenen Corps der Armee eingeschrieben und in die genannten Corps
oder in die Bataillone der Jnstrnctionsschnlen gesandt.
Artikel 40. Nach einem einjährigen Dienste der jungen Leute werden unter den
Fahnen nur noch so viel Leute gehalten, als jedes Jahr von dem Kriegsminister fest¬
gesetzt wird. Sie werden nach der Reihenfolge der Nummern auf dem ersten Theil
der Necrutirungsliste eines jeden Cantons und in dem von dem Beschlusse des Mini¬
sters festgesetzten Verhältnisse genommen. Dieser Beschluß wird erlassen, sobald alle
Operationen der Recrutirung beendet sind.
Artikel 41 gab wieder Anlaß zu lebhafter Discussion. Er lautet:
Ungeachtet der Bestimmungen des vorstehenden Artikels kann der Militär, der
sich in der Kategorie deren befindet, welche nicht unter den Waffen bleiben sollen, der
jedoch nach dem im obigen Artikel erwähnten Jahre nicht lesen und schreiben kann und
den vom Kriegsminister angeordneten Prüfungen nicht genügt, während eines zweiten
Jahres in seinem Corps festgehalten werden. Der sich in derselben Kategorie
befindende Militär, welcher durch den vor seinem Eintritt in den Dienst erhaltenen
Unterricht oder durch den Dienst erhaltenen Unterricht oder durch den, welchen er unter
der Fahne erhalten hat, alle geforderten Bedingungen erfüllt, kann nach sechs Monaten,
zu den Zeitpunkten, welche der Kriegsminister festsetzt und vor dem Ablaufen eines
Jahres, dem obigen Artikel gemäß, einstweilen aus dem activen Dienste entlassen und
in seine -Heimath gesandt werden.
Erst in Folge eines abermaligen unmittelbaren Eingreifens des Präsi¬
denten der Republik wurde dieser Artikel 41 mit 341 gegen 253 Stimmen
angenommen.
Ohne Discussion gelangten die Schlußartikel des dritten Titels zur An¬
nahme. Sie lauten:
Art. 42. Die jungen Leute, welche nach der in dem Artikel 40 und 41 vorge¬
schriebenen Dienstzeit nicht unter den Waffen festgehalten worden, bleiben in der activen
Armee in ihrer Heimath zur Disposition und sind zur Verfügung des Kriegsministers.
Sie werden durch ein Reglement des Ministers Revuen und Uebungen unterworfen.
Art. 43. Die in die Reserve der activen Armee versetzten Leute bleiben nach dem
im Organisationsgcsetze vorgeschriebenen Modus in die Armeelisten eingeschrieben.
Die Einberufung der Reserve der activen Armee kann in einer getrennten und unab¬
hängigen Weise für die Land- und für die See-Armee stattfinden; sie kann auch klassen¬
weise geschehen, wobei mit der wenigst ältesten Klasse begonnen werden wird. Die
Leute von der Reserve der activen Armee sind während der Dienstzeit in der erwähn¬
ten Reserve genöthigt, an zwei Manövern Theil zu nehmen. Die Dauer dieser Manö¬
ver kann vier Wochen nicht überschreiten.
Art. 44. Die zur Disposition gestellten Leute der activen Armee und die Leute
von der Reserve können sich ohne Ermächtigung verheirathen. Die verheiratheten
Männer bleiben den Dienstverpflichtungen der Klassen unterworfen, zu denen sie ge¬
hören. Indeß treten die zur Disposition gestellten oder sich in der Reserve befindenden
Leute, welche Väter von vier lebenden Kindern sind, von Rechts wegen in die Terri¬
torial - Armee.
Art. 45. Spezielle Gesetze bestimmen die Grundlagen der Organisation der acti¬
ven Armee, der Territorial - Armee und der Reserve.
Titel IV des Recrutirungsgesetzes handelt von den Kapitulationen
und den bedingten Capitulationen. Die ohne erhebliche Discussion
angenommenen Artikel 46—52 lauten:
1. Abtheilung. Von den Capitulationen. Art. 46. Jeder Franzose
ist ermächtigt, eine freiwillige Capitulation von einem Jahre zu folgenden Bedingungen
einzugehen: Der freiwillig Angeworbene muß 1), wenn er in die See-Armee eintritt, 16
Jahre alt sein, braucht nicht die vom Gesetze vorgeschriebene Größe zu haben, jedoch unter
der Bedingung, daß, wenn er im 18. Jahre diese Größe nicht erlaugt hat, er nicht
definitiv eingereiht wird; 2) wenn er in die Land-Armee eintritt, 18 Jahre alt sein und
zum wenigsten die Größe von 1 Meter 54 Centimeter haben; 3) lesen und schreiben
können; 4) im Besitze seiner bürgerlichen Rechte sein; 5) weder verheirathet noch
Wittwer mit Kindern sein; V) muß ein Zeugniß Betreffs seines guten Lebenswandels
und seiner guten Sitten besitzen, welches ihm der Mare seines Domicils ausstellt :c.
Art. 47. Die Dauer der freiwilligen Kapitulation betragt fünf Jahre. Die
Jahre der freiwilligen Kapitulationen zählen für die Dauer des im Art. 37 festgesetzten
Militärdienstes. Im Falle eines Krieges wird jedem Franzosen, welcher der für die
active Armee und die Reserve vorgeschriebenen Dienstzeit genügt hat, gestattet, in der
activen Armee ein Engagement für die Dauer des Krieges einzugehen.
Art. 48. Den Leuten, welche, nachdem sie den Bedingungen der Art. 41 und 42 des
gegenwärtigen Gesetzes Genüge geleistet, zur Verfügung gestellt sind, kann gestattet werden,
in der activen Armee zu bleiben, bis sie ihre fünf Jahre Dienstzeit vollendet haben.
Art. 49. Die freiwillig Angeworbenen, die Leute, welchen gestattet worden ist,
in der aktiven Armee zu bleiben, so wie die, welche, nachdem sie zur Verfügung gestellt,
ermächtigt worden sind, ihre fünfjährige Dienstzeit in der genannten Armee zu vollen¬
den, können ohne ihre Zustimmung nicht beurlaubt werden.
Art. 50. Die freiwilligen Kapitulationen werden nach den Artikeln 34, 35, 36,
37, 38, 39, 40, 42 und 44 des Civilgesetzbuches vor den Maires der Hauptorte
der Kantone eingegangen. Die Bedingungen betreffs der Dauer der Kapitulationen
werden in den nämlichen Act eingereiht. Die übrigen Bedingungen werden den Kon¬
trahenten vor der Unterzeichnung vorgetragen und an dem Ende des Actes Erwähnung
davon gemacht, widrigenfalls der Act keine Gültigkeit hat.
2. Abtheilung. Von der Erneuerung der Kapitulationen. Art. 51.
Die Erneuerung der Kapitulation kann für wenigstens ein Jahr und für höchstens zwei
Jahre angenommen werden. Die Erneuerung der Kapitulationen kann nur während des
letzten Dienstjahres angenommen werden. Sie darf bis zum Alter von 29 für die Kor¬
porale und Soldaten und bis 32 Jahre für die Unterofficiere erneuert werden. Die
übrigen Bedingungen werden in einem Reglement, das in das Bulletin clos Isis ein¬
zurücken ist, festgesetzt werden. Die Erneuerung der Kapitulation nach fünfjährigem
Dienst unter den Fahnen giebt das Recht auf einen höheren Sold.
Art. 52. enthält noch nähere Bestimmungen über die Kapitulation, die aber ohne
allgemeines Interesse sind.
Diese Artikel umgeben das Rengagement gegen früher mit wesentlichen
Einschränkungen, und die Motive bezeichnen das als eine wichtige Neuerung.
Man wahrt sich die Möglichkeit, eine größere Anzahl gedienter Leute unter
den Fahnen zu halten, ohne die Truppen zu nöthigen, Taugenichtse und ge¬
scheiterte Existenzen in ihren Reihen zu behalten.
Die Artikel 83—68 beschäftigen sich mit der Einführung des In¬
stitutes der Einjährig-Freiwilligen. Die Motive betrachten das¬
selbe zunächst als Ersatz für Loskauf und Stellvertretung. Der Ausgangs¬
punkt ist also ein ganz anderer wie einst in Preußen, und ein deutscher Be¬
urtheiler kennzeichnet den Unterschied sehr treffend mit folgenden Worten:
„Aus der heiligen Gluth der Hingebung für König und Vaterland ward vor nun-
mehr 60 Jahren die Institution in Preußen geboren. Ein hoher sittlicher Gedanke
trug sie. Man begehrte als ernste Pflicht, was seit 1867 für die meisten europäischen
Länder in ein wohl paragraphirtes Recht verwandelt worden ist. Erst gab es in
Preußen Freiwillige, dann die Paragraphen. In den anderen großen Staaten, in
welchen die Militär-Gesetzgebung nach preußischem Muster umgewandelt wird, wächst
die Institution erst aus den Paragraphen heraus — eS wird sich damit nothwendig
ein Unterschied zwischen Original und Copie herausstellen, der ebenso leicht zu begreifen,
als auch, wie z. B. in Oesterreich, recht erheblich fühlbar ist. In noch viel höherem
Grade wird das in Frankreich der Fall sein, wo die Zahl der Unterrichts - Anstalten,
welche die Berechtigung zum einjährigen Dienst gewähren können, eine außerordentlich
beschränkte sein soll und jener großartige Einfluß auf die Hebung der Volksbildung, den
wir in Preußen damit erzielt haben, dadurch vollständig fortfallen muß."
Die betreffenden Artikel lauten:
Art. 53. Den jungen Leuten, welche ihre Diplome als Laelwlioi's of lottres
und LaeliLliei's og sviLnoes erhalten haben, denen, welche der Centralschule der Künste
und Manufacturen, den nationalen Schulen der Künste und Gewerbe, dem Conser-
vatorium der Musik angehören oder für reif für die genannten Schulen erklärt worden
sind, den Zöglingen der nationalen Schule der Thierärzte und nationalen Ackerbau¬
schulen wird gestattet, vor der Ziehung, in der Landarmee bedingte Engagements von
einem Jahr, deren Modus durch ein Reglement bestimmt wird, einzugehen.
Art. 54. Abgesehen von den im vorstehenden Artikel bezeichneten jungen Leuten
können, um ein solches Engagement einzugehen, vor der Ziehung auch noch die zuge¬
lassen werden, welche eine der Prüfungen bestehen, die in den verschiedenen, vom Kriegs-
Minister veröffentlichten Programmen gefordert werden.
Art. 55. Der einjährige Freiwillige kleidet, equipirt und unterhält sich auf seine
Unkosten. Indeß kann der Kriegsminister ausnahmsweise die jungen Leute, welche bei
ihrer Prüfung Beweise großer Fähigkeit abgelegt haben und nach den von dem Regle¬
ment vorgeschriebenen Förmlichkeiten nachweisen, daß sie in der Unmöglichkeit sind, die aus
dem vorstehenden Artikel entspringenden Kosten zu bestreiten, theilweise oder ganz von
denselben entbinden.
Art. 56. Der einjährige Freiwillige ist allen Dienstverbindlichkeiten unterworfen,
welche den Leuten, die sich unter den Fahnen befinden, auferlegt sind. Er ist den von
dem Kriegsminister vorgeschriebenen Prüfungen unterworfen. Wenn nach einem
einjährigen Dienst der Freiwillige diese Prüfungen nicht besteht, so
ist er genöthigt, ein zweites Jahr unter den Bedingungen zu dienen,
welche das genannte Reglement festsetzt. Jedenfalls wird er in Kriegs-
zeiten im Dienst zurückgehalten werden. Die unter den Fahnen kraft des Freiwilligen-
Engagements verbrachte Zeit zählt in der Dauer des vom Artikel 36 des gegenwär¬
tigen Gesetzes geforderten Militärdienstes. Falls eine Mobilmachung eintritt, marschirt
der einjährige Freiwillige mit dem ersten Theile der Classe, der er durch sein Engage¬
ment angehört.
Art. 57. In dem Jahre, welches der Einberufung der Classe vorangeht, können
die in Art. 54 erwähnten jungen Leute, welche ihre Studien in der Facultcit oder
in den Schulen, denen sie angehören, nicht beendet haben, die sie aber in einer be¬
stimmten Zeit zu beenden wünschen, von der Militärbehörde einen Aufschub für den
Eintritt in das Corps erlangen, in dem sie sich engagirt haben. Der Aufschub kann
ihnen nur bis zum vollendeten 23. Lebensjahre bewilligt werden.
Art. 58. Nachdem die einjährigen Freiwilligen alle von Art. 66 geforderten
Prüfungen bestanden haben, können sie ihre Bestallungsbriefe als Unterofficiere oder
entsprechende Stellen erhalten. Specielle Gesetze werden die Verwendung dieser jungen
Leute, sei es in der Disponibilität, sei es in der Reserve der activen Armee, sei es in
der Territorial-Armee, oder in den verschiedenen Dicnstzweigcn, für welche sie ihre
Studien am geeignetsten erscheinen lassen, bestimmen.
Nicht mit Unrecht wurde von mehreren Seiten das Institut der Ein¬
jährig-Freiwilligen in der Form, in welcher es die vorstehenden Artikel fest¬
stellen, als zu exclusiv bezeichnet. Trotz dieser Einwürfe wurde der Artikel votirt.
Eine erhebliche Abschwächung des Instituts der Einjährig-Freiwilligen besteht
darin, daß sie nicht wie in Preußen dazu herangebildet und dazu berufen
werden, in der Reserve oder in der Territorial-Armee Ossi clere zu werden.
Zu Artikel 34 wurde am 19. Juni ein Amendement des Generals
Guillemaut angenommen, wonach die Ziffer der jährlich zum Freiwil¬
li gendienst zu verstattenden jungen Leute nach Departements und im Ver¬
hältniß zum Gesammt-Contingent fixirt werden soll. Dann werden die Artikel
S6 und 57 ohne Weiteres acceptirt. — Zu Art. 57 erwirkt der Bischof Du-
panlonp, daß die Einberufung der Freiwilligen nicht blos bis zu ihrem
23., sondern bis zu ihrem 24. Lebensjahre verschoben bleiben kann. Der
Bischof von Orleans hält dies für nothwendig, damit die jungen Leute nicht
mitten in ihren Studien unterbrochen würden; die wichtigen Lehrgänge der
„Rhetorik" und namentlich der Philosophie für die gelehrte Jugend erfordern
seiner Ansicht nach mindestens je zwei Jahre. — Zu Art. 58 beantragt Herr
Target, daß der Nummerntausch „zwischen Brüdern, Schwägern und Ver¬
wandten bis zum sechsten Grade exclusive" gestattet sein soll. Das Amende-
ment wird getheilt und der Nummerntausch zwischen Brüdern unter Aus¬
schließung des Restes mit 306 gegen 271 Stimmen zugelassen.
Titel V des Gesetzes enthält die Strafbestimmungen. (Art. 59—
68.) Die Motive zu denselben heben hervor, daß die Strafen namentlich in Rück¬
sicht auf die Wichtigkeit und Richtigkeit der Matrikel bemessen seien, in denen
jeder Dienstpflichtige verzeichnet stehe, und daß mit der neuen Strafe der
öffentlichen Bekanntgebung der Namen derer, die im Kriegsfalle ausbleiben,
lediglich ein Appell an das Ehrgefühl beabsichtigt werde. Die Strafen sind
zum Theil sehr streng.
Den fünf Haupttiteln des Gesetzes sind als Anhang noch besondere
und Uebergangsbestimmungen angefügt.
Mein den Artikeln 69 bis 73 enthaltenen besonderen Bestimmungen verordnen:
1) Daß jeder Soldat bei der Truppe, abgesehen von seiner militärischen Ausbil¬
dung, Unterricht nach einem vom Kriegsminister zu erlassenden Reglement erhalten soll.
— 2) Daß allen Militairs an Sonn - und Feiertagen Zeit und Freiheit gegeben
werden soll, ihre religiösen Bedürfnisse zu befriedigen. — 3) Daß Jeder, der 12 Jahre
activ, darunter wenigstens 4 Jahre als Unterofficier dient, Anspruch auf Civilversorgung
nach Maßgabe seiner Fähigkeiten und Kenntnisse erwirbt; ein besonderes Gesetz wird
bestimmen, welche Stellen für die Civil-Vcrsorgungsberechtigten zu reserviren sind. —
4) Daß Niemand vor vollendetem 30. Lebensjahre zu einem Civil- oder Militäramte
zugelassen werden darf, wenn er sich nicht darüber ausweiset, daß er den Anforderungen
des Militärgesctzes genügt hat. — 5) Daß der Kriegsminister vor dem 31. März
jedes Jahres der National-Versammlung über die Ausführung des gegenwärtigen Ge¬
setzes im vorhergehenden Jahre Bericht zu erstatten hat.
Am Schluß trifft das Gesetz folgende Ueber gangsbestimmung en:
Art. 74. Die Bestimmungen dieses Gesetzes treten für die active Armee erst mit
dem 1. Januar 1873 in Kraft. — Gleichwohl wird die ganze Classe 1871 zur Ver¬
fügung des Kriegsministers gestellt; die jungen Leute dieser Classe, welche nicht zu dem
vom Kriegsminister bestimmten Contingent gehören, werden der Reserve der activen
Armee und nicht, wie das Gesetz vom 1. Februar 1868 bestimmt, der mobilen National¬
garde überwiesen. — Sie bleiben in der Reserve ebenso lange, wie die zum Contingent
gehörenden Mannschaften derselben Classe sich in der activen Armee und in der Reserve
befinden. Dann gehen Beide nach den Bestimmungen des Artikel 36 dieses Gesetzes
in die Territorial-Armee über. — Die Dienstzeit der Classe 1871 wird, in Ueberein¬
stimmung mit den Bestimmungen des Gesetzes vom 1. Februar 1868, vom 1. Juli 1872
gerechnet; nur für diejenigen Leute dieser Classe, welche vor dem Aufruf freiwillig ein¬
getreten sind, datirt sie nach dem Decret vom 5. Januar 1871, vom 1. Januar 1871.
Art. 75 bestimmt, daß die jungen Leute, welche nicht zur Classe 1871 gehören,
auf ihren Antrag schon vor dem 1. Januar 1873 als einjährig Freiwillige zugelassen
werden können, wenn sie den Vorschriften der Art. 53 und 54 genügen.
Art. 76. Die nach dem Gesetz vom 1. Februar 1868 dienstpflichtigen Mann¬
schaften der Classen 1867, 1863, 1869 und 1870, welche zum Contingent der Armee
gehörten, werden nach erfüllter Dienstpflicht in der Reserve in die Territorial-Armee
versetzt. — Die jungen Leute dieser Classen, welche nicht in das Contingent eingereiht
worden sind und daher jetzt zur mobilen Nationalgarde gehören, werden vom 1. Ja¬
nuar 1873 an zur Reserve der Armee versetzt und verbleiben darin so lange, wie die
Leute derselben Classen, welche zum Contingent gehörten. Sie werden dann nach
den Bestimmungen des Art. 36 des gegenwärtigen Gesetzes in die Territorial-Armee
versetzt.
Art. 77. Die auf Grund des Gesetzes vom 21. März 1832 aufgerufenen Mann¬
schaften der früheren Classen, mögen sie zum Contingent dieser Classen gehört haben
oder nicht, gehören bis zum 40. Lebensjahre zur Territorial-Armee. — Diese Mann-
schaften werden noch nachträglich in Bezug auf ihre Dienstbrauchbarkeit untersucht.
Art. 78. Die jungen Leute, welche, statt der mobilen Nationalgarde überwiesen
zu werden oder in derselben zu verbleiben, nach den vorstehenden Bestimmungen zur
Reserve gehören, werden nach einem vom Kriegsminister zu erlassenden Reglement
Uebungen und Controllversammlungen unterworfen.
Art. 79. Die Bedingung, lesen und schreiben zu können, um freiwillig in das
Heer zu treten oder nach einem Dicnstjcchre zur Disposition beurlaubt zu werden, tritt
erst mit dem 1. Januar 1875 in Kraft.
Art. 80. Alle Bestimmungen der früheren auf die Recrutirung der Armee be¬
züglichen Gesetze und Decrete werden aufgehoben.
So war denn die allgemeine Wehrpflicht gesetzlich einge¬
führt in Frankreich. Wohl hatten die französischen Zeitungen recht, als
sie dies Ereigniß für eine der bedeutendsten Thatsachen unserer Zeit erklärten.
Sie sahen außerdem darin ein Anzeichen, das geeignet sei, diejenigen zu trösten,
welche in Folge des herben Nationalunglücks in Entmuthigung zu versinken
drohten, und zugleich die würdigste Antwort, welche Frankreich denen ertheilen
konnte, „die sich schmeicheln, seinem Todeskampfe beizuwohnen und ihm in
Form liebevoller Tröstungen etwas zu frühzeitig Leichenreden halten."*) —
Er fragt sich, in wieweit die letzteren Anschauungen berechtigt sind; es fragt
sich, ob die allgemeine Wehrpflicht sich auch in Frankreich als practisch durch¬
führbar erweisen wird, und ob sie — wirklich als dauernde Institution zur
Durchführung gelangend — in Wahrheit die Wehrkraft des Landes steigern
oder vielmehr den Parteien, welche 1871 keinen Anstand genommen, sich an¬
gesichts des Feindes so furchtbar zu bekämpfen, nur noch als Waffe dienen
wird, um das Werk socialer Zerrüttung nur noch mit größeren Kräften fort¬
zusetzen und einem schrecklichen Ende zuzuführen. Schon bei den bisherigen
conservativen Militärsystemen haben wir jede Revolution unter Beistand der
Armee siegen sehn; wie werden erst die Parteien um die Truppen buhlen, wenn
dem Heere durch das Zuströmen einer Menge Intelligenzen ohne sittliche Kraft
das Gift politischer und socialer Zersetzung weit intensiver zugeführt wird als
bisher, wenn ein verstärktes Contingent aus den dem Communismus hul¬
digenden Arbeiterkreisen in seine Reihen tritt! Und wenn die Parteien nicht
unmittelbar die active Armee zu ihrem Willen finden sollten, bietet sich ihnen
nicht in den ganz oder halb ausgebildeten großen Neservemassen ein für ihre
Zwecke unschätzbares Menschenmaterial dar, das unter der Führung von Dema¬
gogen statt der Schutz, der Fluch des Vaterlandes werden muß?! — Nein,
die allgemeine Wehrpflicht ist nicht der fruchtbare Boden, aus dem heraus die
Blüthe nationaler und sittlicher Größe wächst; sittliche Kraft und feste Staats-
ordnung müssen vielmehr vorhanden sein, um die allgemeine Wehrpflicht
als Frucht tragen zu können.
Nach Alledem, was wir in unserer Darstellung des französischen Heer¬
lebens während eines ganzen Jahrhunderts über den Mangel an Stetigkeit
in den Bestrebungen der Nation und über die Unfähigkeit gesagt haben, ein
und dasselbe Ziel selbstlos und liebevoll, zäh und besonnen zu verfolgen,
glauben wir indessen nicht an eine consequente Durchführung der all¬
gemeinen Wehrpflicht. Man darf nicht verkennen, daß vor sechszig Jahren,
als die große Neuerung bei uns in Preußen eingeführt wurde, die Verhält¬
nisse des ganzen Lebens, namentlich in den herb geschulten armen Landen
Norddeutschlands einer solchen strengen Maßregel unendlich viel mehr ent¬
gegenkamen, als die complicirte sociale Situation der Jetztzeit. Zeit und
Kräfte werden heut in ganz anderem Maße verwerthet, als damals, und man
darf es sich gestehn, daß eine neue Einführung der allgemeinen Wehr¬
pflicht, wenn das Borbild Preußens fehlte, auch in Deutschland zur Zeit auf
die größten Schwierigkeiten stoßen würde. Nun aber will Frankreich die Wehr¬
pflicht in sehr viel radicalerer und schrofferer Weise einführen, als sie bei uns
besteht, und doch zugleich durch das Loos Unterschiede in den aufzuerlegenden
Leistungen statmren, welche der „Gleichheit" thatsächlich widersprechen. In
dieser Weise eingerichtet, würde die allgemeine Wehrpflicht auch bei uns
nicht aufrecht zu erhalten sein. Denn abgesehen davon, daß in Frankreich
die Gesammtdienstpflicht auf 20 Jahre festgesetzt ist, während man sie in
Preußen aus gewichtigen Gründen von 19 auf 12 Jahre herabgesetzt hat, tragen
alle einzelnen Bestimmungen des französischen Gesetzes den bürgerlichen Verhält¬
nissen durchweg weniger Rechnung als die deutsche Wehrverfassung. Während
bei uns in Deutschland, wenigstens für die Hauptmasse des Heeres, das Fußvolk,
praktisch eine nur Z^jährige Dienstzeit besteht, soll bei den Franzosen die eine
Hälfte des Contingents 5 Jahre, die andere Hälfte 1 Jahr dienen. Fünfjährige
Dienstzeit bei allgemeiner Wehrpflicht, das ist eine Forderung, der ein modernes
Volk nicht entsprechen kann, und einjährige Dienstzeit, das ist eine Frist, in
welcher die schwierige Erziehung eines modernen Soldaten, der nicht von vorn¬
herein ausnahmsweiser Bildung theilhaftig ist, nicht vollendet werden kann.
Auf der einen Seite also 'wird zu viel, auf der andern zu wenig verlangt.
Die auf ein Jahr eingestellte Hälfte des Contingents entspricht ganz und gar
der äsuxie;in<z portion, und die Bestimmung, daß die Commandeurs solche
Leute, welche lesen und schreiben können, bereits nach 6 Monaten entlassen
dürfen, setzt für einen großen Theil dieser äeuxiöme portion sogar wieder die
Dienstzeit auf das alte Krümpermaß herab. Damit aber ergeben sich Schwie¬
rigkeiten der peinlichsten Art. Der Einjährig-Freiwillige, an welchen wissen¬
schaftliche Anforderungen gestellt werden, die wesentlich höher sind als die in
Deutschland erhobenen, dem indessen keineswegs die Aussicht eröffnet wird,
Reserveofficier zu werden, der muß sich selbst equipiren und ein Jahr dienen,
ja er kann, wenn ihn der Commandeur nicht für gut ausgebildet erklärt,
noch länger als ein Jahr bei der Fahne festgehalten werden; ein Bauernsohn
aber, der lesen und schreiben kann, wird, wenn er der äeuxiöine Portion an¬
gehört und nicht ein gar zu arger Tölpel ist, nach 6 Monaten entlassen.
Dergleichen ist doch undurchführbar! Es läßt sich mit Händen greifen, daß
binnen Kurzem den Einjährig-Freiwilligen auch das Recht wird zuerkannt
werden müssen, nach 6 Monaten zur Entlassung kommen zu dürfen. Nun sind
aber diejenigen Eingestellten, welche lesen und schreiben können, in der Haupt¬
masse zugleich auch die, welche über gewisse Geldmittel gebieten, d. h. dieselben,
welche sich früher freizukaufen pflegten. Soweit diese Leute der äöuxiömo
xortion angehören, ist ihre militärische Leistung derjenigen vor dem Kriege
schon fast gleich und damit ist bereits ein mächtiger Schritt dazu geschehen,
daß die gutsituirte Minderheit auch in Zukunft wieder den besitzlosen Massen
den Löwenantheil an der Arbeit für toutes les gloiros Z<z la ?ranev überläßt.
Und welche bedenklichen Chancen öffnen sich etwaigen unreinen Specu-
lationen! Wir erinnern an unsere auf französischen Urtheilen beruhende Schil¬
derung des französischen Officiercorps, das zu so großem Theile den unteren
Kreisen der Gesellschaft entstammt; wir erinnern daran, daß wir wiederholt
darauf hingewiesen haben, wie namentlich das Leben in Algier, in den ara¬
bischen Bureaus, aber auch manches andere Verhältniß in weiten Kreisen des
französischen Officiercorps eine Haltung in Geldfragen begünstigte und oft an
die Oeffentlichkeit gelangen ließ, die mit nichts weniger bezeichnet werden kann,
als mit dem Worte „Integrität". Wie, wenn nun unter den jungen Leuten
der clouxismo Portion sich Viele finden, welche gern eine vielleicht namhafte
Summe opfern, um ihre militärischen Leistungen so günstig beurtheilt zu sehn,
daß sie bereits nach 6 Monaten entlassen werden können?! Liegthier nichteine
große Gefahr? Wäre es nicht viel schlimmer, wenn sich ein Freikaufssystem
gegenüber einzelnen Compagniechefs oder Regimentscommandeurs einnistete,
als wenn die Exoneration noch allgemein zu Recht bestünde?!
Und welches Mißtrauen bringt die Regierung selbst dem Heer der allge-
meinen Wehrpflicht entgegen. Das Territorialsystem ist abgelehnt, „weil Be¬
zirksarmeen die politische Meinung ihrer Bezirke haben würden". Die Castro¬
manie, die Lagersucht steht wieder in voller Blüthe. Ausbildungslager sollen
in einem Umfange eingerichtet und bezogen werden, wie es selbst unter dem
Kaiserreiche unerhört gewesen. Welch ein Schaden für die Nation in intel-
lectueller, sittlicher, ja auch in materieller Beziehung! Weit entfernt, den sich
freiwillig meldenden jungen Dienstpflichtigen, wie in Preußen, zu gestatten,
ihrer Dienstpflicht im Heimathsorte zu genügen und in Mußestunden unge-
stört ihren Studien oder ihrem bürgerlichen Berufe nachzugehn, will man in
jenen permanenten Lagern die Armee fern halten von der Berührung mit
bürgerlichen Elementen und hat z. B. den Corps in Paris geradezu ver¬
boten, Freiwillige aus der Hauptstadt anzunehmen. Dergleichen würde bei
uns für unerträglich gelten, und ist auch in Frankreich unerträglich — auf
die Dauer. Aber auf die Dauer ist offenbar die ganze Einrichtung, wie sie
das Gesetz festgestellt hat, durchaus nicht berechnet; sie ist ganz unverkennbar
ein Compromiß mit einem Augenblickszweck, unddieserZweckistdie Revanche.
Stellen wir uns einmal die französische Armee vor nach völliger
Durchführung des Heeresgesetzes, also nach 20 Jahren. Das Jahres -
contingent, welches in ganzer Stärke in die Armee eingestellt werden soll,
beträgt 180,000 Mann. Im stehenden Heere, welches fünf solche Con-
tingente umfassen soll, würden also (nach Abrechnung von 10 "/<, Abgang)
675,000 Mann Ausgehobener stehn. Rechnet man hiezu den Stamm an Offi-
cieren, Unteroffieieren, Fremdentruppen u. f. w., im Ganzen 120,000 Mann,
so ergibt sich eine Stärke des stehenden Heeres von 793,000 Mann.—
Die Reserve des stehenden Heeres würde vier Jahrgänge umfassen, also
(unter Abrechnung von 16 "/<> Abgang) 310,000 Mann stark sein. Die Terri¬
torialarmee würde fünf Jahrgänge, also (unter Abrechnung von 20 "/<>
Abgang) 600,000 Mann umfassen. Die Reserve der Territorialarmee
endlich würde in sechs Jahrgängen (mit 33^2 °/o Abgang) die gleiche Summe
von 600,000 Mann ergeben. Wenn man diese gewaltigen Zahlen zusammen¬
rechnet, so ergibt sich die formidable Heeresstärke von 2 Millionen 205 Tausend
Mann.
Die Zusammensetzung der Armee würde sich dabei etwa folgender¬
maßen stellen:
Active Armee: Stamm 120,000 Mann, fünf Jahrgänge der xrsmiörs xortion:
314,000 Mann, ein Jahrgang Krümper: 30,000 Mann; 15,000 Einjährig-Freiwillige —
Summa: 479,000 Mann.
Reserve der activen Armee: ?römiörs xortion: 260,000 Mann, Zeuxiönuz
xortion: 200,000 Mann, ehemalige Einjährig-Freiwillige: 50,000 Mann.— Summa:
50,000 Mann.
Territorial-Armee: Besteht analog zu ^ aus ehemaligen Soldaten langer Dienst¬
zeit und zu 2/z aus Krümpern.
Wenn man nun von den Krümpern absieht, deren Brauchbarkeit als
Soldaten jedenfalls eine ungemein geringe sein wird, und auch alles das
ausschließt, was vermuthlich an die Depots abgegeben wird, so ergibt sich
als Zahl der vollständig kriegstüchtigen Mannschaften der
künftigen französischen Heeresmacht unter Abrechnung des erfah¬
rungsmäßigen Abgangs:
Diese Ziffer würde allerdings erst nach zwanzigjähriger ununter¬
brochener Arbeit erreicht werden, und ob es zu einer solchen kommt, ob
die französische Nation die ihr durch das neue Gesetz auferlegten Lasten zwan¬
zig Jahre lang tragen wird, das ist doch in hohem Grade zweifelhaft. Wir
möchten es auf Grund unserer eingehenden Betrachtung des französischen
Heerwesens bestimmt verneinen. Wenn aber auch jene Berechnung immer
hin noch in der Luft schwebt, so ist Frankreich doch im Stande, augen¬
blicklich und noch mehr nach Verlauf einiger Jahre auf Grund des in dem
Militärgesetz vorliegenden Kompromisses eine sehr bedeutende, eine der eben
berechneten Heereskraft, nicht allzu ungleiche Angriffsarmee aufzustellen. Man
muß sich dabei der auffallenden und sehr wichtigen Thatsache erinnern, daß
dem französischen Heeresgesetze in den „Uebergangsbestimmungen" eine fast
absolut rückwirkende Kraft gegeben ist, derart, daß selbst Hunderttausende,
welche bereits längst definitiv aus jedem Militairverhältnisse entlassen waren
plötzlich wieder für dienstpflichtig erklärt sind. Fast alle die durch jene Ueber¬
gangsbestimmungen für dienstpflichtig erklärten Mannschaften, nämlich die
Contingente von 1863—71 (nremiörö und clsuxiöms Portion), sowie sämmt¬
liche Mannschaften der Classen 1867 bis 1870, welche nicht eingestellt waren,
und also der Mobilgarde angehörten, haben aber während des letzten Krieges
gedient und repräsentiren eine Menschenmasse, die sehr wohl auf 1 Million
anzuschlagen ist. Den Kern dieser gewaltigen Masse kriegssähiger und zu¬
meist kriegskundiger Menschen bildet die kaiserliche Armee von 1870, welche
Deutschland zu derselben Zeit, als seine Heere immer neue Opfer bester und
edelster Kräfte auf dem Schlachtfelde zu bringen hatten, leider in deutschen
Festungen füttern und wärmen mußte, um sie nun wieder als den Stamm
und Hauptanhalt einer Rache-Armee in Rechnung zu stellen. Man kann
dem gegenüber fast zu einem Gefühl momentanen Bedauerns hingerissen wer¬
den, daß die modernen völkerrechtlichen Formen das uralte Recht, Kriegs¬
gefangene zu Sclaven zu machen, außer Uebung gesetzt haben. Da nun auch
die Territorialarmee sofort formirt werden soll, welcher nach Artikel 77 des
neuen Wehrgesetzes alle körperlich brauchbaren Mannschaften bis zum 40.
Lebensjahre angehören, so ist jenes Gesetz im Grunde genommen ein bestän¬
diger Ausruf zur Je,v6u en masse, ein chronisches Volksaufgebot, und seit
seinem Erlaß verfügt Frankreich allerdings über nahezu 2 Millionen Menschen
für kriegerische Zwecke. Für die größte Masse dieser Menschen gelten freilich
alle die tiefgreifenden und entscheidenden Ausstellungen, welche wir an den
Volksheeren Gambetta's gemacht und hervorgehoben haben.
Die regelmäßige Armee Frankreichs soll nach dem der National¬
versammlung seitens der Commission für die Armee-Organisation vorzulegen¬
den Entwurf aus zwölf Armee-Corps bestehen: elf für das eigentliche
Frankreich und eins für Algerien. Die Zusammensetzung der Armee-
Corps sür Frankreich wird folgende sein: drei Infanterie-Divisionen zu zwei
Brigaden. Jede Brigade soll bestehen aus zwei Regimentern und einem Ba¬
taillon Jäger, dann aus Artillerie. Genietruppen und Cavallerie in einem
Verhältniß, das noch nicht festgesetzt ist. Das Armee-Corps von Al¬
gerien wird zählen: vier Zuaven-Regimenter, vier Regimenter algerischer
Jäger (Turkos), ein Fremdenregiment, drei Infanterie-Regimenter und drei
Bataillone Jäger. Die Disziplinartruppen, d. h. die drei Bataillone leichter
afrikanischer Infanterie und die fünf Strafcompagnien, bleiben außerhalb dieser
Bildung und sollen in keinem Falle die Colonie verlassen.
Diese Organisation sührt zu einem Ganzen von 135 Infanterie-Regi¬
mentern, 4 Zuaven-, 4 Turko-Regimentern, einem Fremdenregiment und 36
Bataillonen Jäger. Es bestehen aber jetzt nur 126 Infanterie-Regimenter,
4 Zuaven-, 3 Turko-Regimenter, 1 Fremdenregiment und 30 Jäger-Bataillone.
Es wären also noch 9 Infanterie-Regimenter, 1 Turko-Regiment und 9 Jäger-
Bataillone zu bilden.*)
Zur Zeit ist in den Organisationsarbeiten dem Anschein nach eine Art
Ruhepunkt eingetreten. Der alte Dünkel, die alte Selbstüberschätzung sind
damit sogleich wieder eingekehrt in die Reihen der französischen Armee, und
Herr Thiers hat nicht Anstand genommen, schon wieder deutlich zu ver-
stehn zu geben, daß diese Armee die bestmögliche sei. Gönnen wir
dem alten Herrn diesen Glauben von Herzen! Uns aber ist aus der Ge-
sammtdarstellung der französischen Armee von der großen Revolution bis zur
Gegenwart die Ueberzeugung hervorgegangen: erstens, daß die allgemeine
Wehrpflicht als Institution kein en Boden in Frankreich findet, weil sie sich
dort seit ihrem ersten Auftauchen im Jahre 1793 immer nur momentan als
Palliativmittel, als „Volksaufgebot" möglich — und vergeblich gezeigt hat,
und zweitens, daß eine gesunde Heeresverfassung für Frankreich, wie
freilich für alle Länder der Welt, nur möglich ist aus Grund einer gesunden,
von der gesammten Nation freudig hochgehaltenen Staatsverfassung.
Ob das französische Heer der Zukunft Erhalter und Mehrer des Reiches,
oder ob es wie in Spanien Feilbieter und Todtengräber desselben werden
wird, das muß sich in einer vielleicht nicht fernen Zukunft entscheiden. Uns
scheint es, als ob der militärische Geist Frankreichs in dau¬
erndem, schon lange währendem Niedergang begriffen sei.
Anziehend bleibt es und lehrreich zugleich, den eigenthümlichen Wand¬
lungen zu folgen, welche die Goethe'schen Schöpfungen vom Entwurf bis zu
ihrer höchsten Vollendung sowohl dem Inhalte als der Form nach erlebt
haben. Auch für die Herstellung der chronologischen Folge vieler Einzelheiten,
die jetzt angestrebt wird, erweisen sich je nach Umständen die Originale Goethe's
oder deren gleichzeitige Abschriften als höchst wichtig. Leider ist in dieser
Beziehung ein gewaltiger Verlust für die Literatur der klassischen Periode da¬
durch herbeigeführt worden, daß über dem handschriftlichen Nachlaß der Her¬
zogin Anna Amalia ein Unstern gewaltet hat. Gerade sie war es ja, die
wie sich leicht nachweisen läßt, einen großen Theil der Geistesproducte Wei¬
marischer Koryphäen nach ihrer unmittelbaren Vollendung entgegennahm.
Und gerade in deren Ursprünglichkeit finden wir den Werth, weil wir um so
sicherer die Wandlungen solcher Schöpfungen beurtheilen können, die sie bis
zu ihrer Veröffentlichung durchlebt haben.
Wenn man auch im Allgemeinen weiß, daß die Venetianischen Epigramme
in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht auf uns gekommen sind, so ist doch die
Textesänderung nur in geringem Maße dem Leser vor die Seele gestellt wor¬
den und ein Versuch, das Alter der Epigramme zu untersuchen und festzu¬
stellen, ist natürlich an dem Mangel geeigneter Mittel gescheitert. Wir treten
daher den Beweis um so lieber an, daß Amalia's Nachlaß für die kritischen
Arbeiten eine bedeutende Fundgrube sei und kommen dabei auf das Exemplar
der Venetianischen Epigramme zurück, welche Goethe der Herzogin in einer
nicht mehr festzustellenden Zeit, jedenfalls aber im Jahre 1791 als Geschenk
übermittelte.
Merkwürdiger Weise ist man über das lidöUuw epigiÄMivativum, wie
es Goethe bei seinem allmähligen Entstehen wiederholt nennt, in mancherlei
Irrthümern befangen und vielleicht trägt diese Benennung am meisten dazu
bei, daß man an ein Buch gedacht, in welches Goethe förmlich hineingearbeitet
und mit Vorbedacht die Reihenfolge der Epigramme bestimmt habe, wie wir
sie in der Ausgabe letzter Hand vor uns haben. Das ist völlig irrig. Ge¬
rade so verschieden, wie die maßgebenden Eindrücke seines Lebens in Venedig
waren, so sind es auch seine Epigramme, die er auf die verschiedensten Blätter
hinwarf. Und wenn er von der Vollendung dieses Epigrammen-Büchleins
spricht, so konnte es sich nur darum handeln, die verschiedenen Blätter gleich¬
mäßiger zu gestalten, zu ordnen, wo Verwandtes zusammenzufügen war, um
endlich durch eine Reinschrift das Buch fertig zu stellen. Aber auch in der
vollendeten Gestalt haben die Venetianischen Epigramme das Aeußere eines
Buches nie gehabt. Es wäre auch ganz gegen das Interesse Goethe's und
die. Tendenz der Schöpfung gewesen, wenn er die Epigramme in feste Ord¬
nung gebannt hätte, weil er fortwährend weiter baute, einfügte und zusammen¬
schob. Und gegen die Tendenz meinen wir, war eben die Buchform, weil streng
genommen jedes Epigramm ein selbstständiges Product war. das erst durch
die Ordnung der einzelnen Blätter Anschluß bekam. Daher kommt es, daß
in kürzerer oder längerer Folge der Epigramme eine und dieselbe Idee sich
vertreten und ausgebauet findet; aber Niemand wird finden, daß ein durch¬
gehender Gedanke walten und verarbeitet werden sollte.
In diesem Sinne gestaltete er sein Epigrammenbüchlein zu einem Album.
Jedes Epigramm ließ er in lateinischen Lettern auf ein besonderes Quart¬
blatt mit Goldrand schreiben und überreichte diese in doppelter Kapsel liegen¬
den Blätter der Herzogin Amalia. Der Titel: Epigramme. Venedig 1790.
befand sich ebenso wie die selbstgeschriebene Widmung auf je einem losen
Blatt. Sie lautete:
Sagt wem geb ich dieß Büchlein? Der Fürstinn die mirs gegeben
Die uns Italien jetzt noch in Germanien schafft.
Sprache Goethe's eigenes Zeugniß nicht dagegen, so könnte man versucht
sein, den Inhalt des Albums als die vollständige Schöpfung seines Ve¬
nedi ger Aufenthaltes anzusehen. Da aber das Album, das schon aus äußeren
Gründen ganz unversehrt auf uns gekommen ist, nur 73 Epigramme enthält,
so können wir nicht im Besitze aller zu Venedig geschaffenen sein, weil Goethe
am 4. Mai die Zahl derselben schon auf 100 angab *). Aus welchem Grunde
der Dichter eine vollständige Mittheilung an die Herzogin nicht beliebte, läßt
sich nicht ermitteln; auch darf man an ein längst vorbereitetes. in Italien
selbst überreichtes Geschenk, dessen Inhalt bei dem unerwarteten Ausbleiben
der Herzogin durch Neuschöpfungen überholt wurde, nicht denken, da Material
und Einband ächt deutschen, ja specifisch weimarischen Ursprungs sind.
Ungeachtet dieser Umstände bleibt das Exemplar der Herzogin Amalia
für die Literaturgeschichte höchst wichtig: weil es doch noch immer sehr frühen
Ursprungs ist und vor dem Juni 1791 schon vorhanden war. Den Be¬
weis enthält merkwürdiger Weise das Album selbst. Bevor Goethe zwölf
seiner Sinngedichte für das Juniheft der deutschen Monatsschrift auserwählte,
benutzte er das Exemplar der Herzogin und wählte auffälliger Weise so, daß
er nicht ein einziges der im Album der Amalia vorhandenen Epigramme
zum Abdruck bestimmte. Und als er offenbar gegen seinen Willen in der
Wahl zweier Epigramme irre geleitet war, strich er die Anfangsworte aus
seinem Wahlzettel wieder durch, der mit Bleistift geschrieben die Überschrift
trug: Epigrammen. Venedig 1790. Selbst dieser Wahlzettel ist für die Ent¬
stehungsgeschichte der Epigramme höchst wichtig, weil wir aus der Folge der
Aufzeichnungen sehen, daß Goethe nach keiner festbestimmten Ordnung in
einem Buche wählte, sondern daß auch ihm noch die Epigramme auf losen
Blättern vorlagen: er hätte sonst die Ordnung, wie sie heute in den Werken
vor uns liegt und die erst 1796 sich präcisirte, benutzt. Er wählte aber in
der Reihenfolge: (nach Strehlke) II, Ur. 2, (4), 21, 8. S, (Is), 25, 20, 13,
III, 149, 3, II, 30, 15"), 11, 101 und gerade die letzte Nummer dürfte für
die Nichtigkeit unserer Ansicht über das Aeußere seines Epigrammen-Büchleins
maßgebend sein. Die Wahl selbst war sorgfältig; das Mitzutheilende hielt
sich in den Grenzen des Erlaubten; und jedenfalls wirkte Herder's Einfluß
noch nach, der ja, wie wir wissen, dringend dem Dichter von der Publication
der Epigramme in ihrer Gesammtheit abgerathen hatte. Gleiches gilt auch
von der Mittheilung der Epigramme im Octoberhefte der deutschen Monats¬
schrift, in dem aber drei im Album der Herzogin sich befindliche Sinngedichte
und zwar bei Strehlke II 61, 57, 18 abgedruckt wurden, die in der Ueber¬
sichtstabelle wie die des Juniheftes berücksichtigt worden sind.
Wenn wir nun in dem Album der Herzogin jedenfalls eine große An¬
zahl der ältesten Epigramme und zwar in ihrer ursprünglichen Form vor
uns haben, von denen sogar eine Reihe erst in diesen Tagen**) veröffentlicht
worden ist, fo erweist sich diese Quelle auch in anderen Beziehungen höchst
wichtig. Denn sie läßt eben die feinen und characteristischen Aenderungen er¬
kennen, welche Goethe bis 1796 an den Epigrammen vornahm, wo er freilich
eine ungleich größere Anzahl in Schiller's Musenalmanach und zwar 103
zum Abdruck brachte. Von den 73 Epigrammen unseres Albums benutzte er
dabei nur 59; 14, die wir jetzt kennen, ließ er jedenfalls wegen ihres bedenk¬
lichen Inhaltes ganz weg und fügte aus seinem Vorrathe 45, streng genom¬
men 46 andere hinzu, da er zwei (Strehlke II Ur. 23 und 22), welche bisher
eines ausmachten, getrennt behandelte. Von jenen 59 ließ er 38 unverändert,
18 mit kleinen, die wenigen übrigen mit bedeutenden Veränderungen zum Ab¬
druck gelangen.
Wer die Aufgabe hat, Goethe's Schöpfungen eingehender zu würdigen
und sich die wunderbaren Feinheiten zu vergegenwärtigen, die er bei der Re¬
daction seiner Arbeiten zur Geltung zu bringen strebte, wird Goethe's Thätig¬
keit nunmehr leicht nachgehen können. Gerade die Venetianischen Epigramme
eignen sich ihres Inhaltes wegen zu solchen Betrachtungen und das Stil'den
nach Vollendung der Form tritt nirgends evidenter als in diesem Theile
des geistigen Schaffens eines Goethe zu Tage.
Berlin, den 3. November 1872.
Die parlamentarische Situation hat sich diesmal rascher entwickelt, als
irgend wer sich träumen lassen konnte. Wahrscheinlich ist es nur ein einziger
Kopf, der diese Entwickelung im Bilde vorher geschaut hat, bevor sie sich
vollzog.
Noch vor 8 Tagen setzte ich an dieser Stelle auseinander, daß wenn das
Herrenhaus die Kreisordnung werde durchberathen und Paragraph für Para¬
graph mit seinen Abänderungen werde unannehmbar gemacht haben, bei der
Schlußabstimmung über das Ganze die liberale Minorität sich dennoch nicht
mit der ein solches Gesetz trotz aller feudalen Abänderungen principiell ver¬
werfenden Majorität vereinigen dürfe. Ich hatte die Möglichkeit im Auge,
daß eine Majorität für das Gesetz aus den liberalen Herren und aus den
durch die feudalen Abänderungen zufriedengestellten Herren sich ergeben könne;
und ich hielt für wünschenswert!), daß diese Möglichkeit sich verwirkliche, da¬
mit das Gesetz im Abgeordnetenhause zunächst seine richtige Gestalt wieder¬
erhalte, um dann vom Herrenhaus entweder unverändert angenommen zu wer¬
den, oder so verworfen, daß die Verwerfung zum Ende des Herrenhauses
führe. Die Dinge haben sich rascher entwickelt, wie Ihre Leser wissen. Die
liberale Minorität erachtete das Gesetz durch die Abänderungen der Majorität
für dermaßen in seinen Grundlagen umgeworfen, daß sie der Gefahr sich
überhoben glaubte, durch das ihrerseits verwerfende Schlußvotum an der
Schuld betheiligt gehalten zu werden, die Kreisordnung vereitelt zu haben.
So wurde das Gesetz schließlich mit der überwältigenden Majorität von 146
gegen 18 Stimmen abgelehnt. Die 28 bejahenden Stimmen setzten sich zu¬
sammen aus den 3 Ministern, welche Mitglieder des Herrenhauses sind und
an ihrer Vorlage so lange festhalten mußten, als dieselbe noch irgend eine
Aussicht zu haben schien. Außerdem wurden bejahende Stimmen abgegeben
durch Is Herren von gemäßigt conservativer Richtung.
Vor der Schlußabstimmung hatte der Minister des Innern, Graf Eulen¬
burg, dem Hause angekündigt, daß nach verworfener Kreisordnung die lau-
sende Landtagssession unmittelbar geschlossen und eine neue sogleich werde er¬
öffnet werden, deren erste Aufgabe sofort wieder die Kreisordnung sein werde.
Denn die Negierung sei mit voller Zustimmung des Königs von der noth¬
wendigen Durchführung dieses Gesetzes so überzeugt, daß diese Durchführung
mit allen Mitteln, welche die Verfassung gewährt, von der Staatsregierung
werde versucht werden.
Die Schlußabstimmung hatte am 31. October stattgefunden, am 1. No¬
vember wurde der Landtag durch den stellvertretenden Vorsitzenden des Staats¬
ministeriums, Kriegsminister v. Roon, unter Verlesung des königlichen Schlie¬
ßungsbefehls, ohne rückblickende Rede geschlossen, Am Abende desselben Tages
veröffentlichte der Staatsanzeiger bereits die Einberufung des Landtages zu
der neuen Session auf den 12. November.
Es scheint außer Zweifel, daß die nächsten Tage einen sogenannten Pair-
schub bringen werden. Ein solcher wäre auch nicht als aufgegeben zu be¬
trachten, wenn er bei Eröffnung der neuen Session noch nicht sollte einge¬
treten sein. Denn zunächst muß das Abgeordnetenhaus die Kreisordnung
wiederum annehmen, was von Seiten derselben wahrscheinlich mittelst einer
bloc Abstimmung geschehen wird. Wir hoffen, daß diese Voraussetzung
auch dann sich erfüllt, wenn die zu allererst als Regierungsvorlage wiederum
einzubringende Kreisordnung einige Abweichungen enthalten sollte von der
Gestalt, in welcher der Gesetzentwurf zuletzt aus dem Abgeordnetenhaus her¬
vorgegangen war. Wie kurz man diese Geschäftsformalitäten durch den Eifer
des Abgeordnetenhauses sich immerhin denke, sie werden doch einige Zeit be¬
anspruchen. Es wäre Nichts versäumt, wenn erst während dieser Zeit, also
nach Eröffnung der neuen Session, der Pairschub eintreten sollte.
Die Hauptfrage der Situation liegt indeß gar nicht mehr in der Durch¬
dringung der Kreisordnung. Diese erscheint durch den unvermeidlich gewordenen
Pairschub gesichert. Die Hauptfrage ist aber, ob die Regierung die außer¬
ordentliche Maßregel eines Pairschubs unter dem Gesichtspunkte einer um¬
sichtigen Politik ergreifen darf lediglich zu dem Zweck, ein regelmäßiges Gesetz
durchzubringen, wie wichtig dasselbe immerhin sei. Soll ein Pairschub toe
d. h. zur Durchführung einer Gesetzesmaßregel vorgenommen werden, so darf
die betreffende Maßregel kein regelmäßiges Gesetz, sie muß vielmehr eine Ver¬
fassungsänderung sein. Denn wollte man den Pairschub zur Durchdringung
der regelmäßigen Gesetze anwenden, so könnte man. wie Fürst Bismarck ein¬
mal selbst im Herrenhause, und zwar im Januar 1865 in seiner treffenden
Weise ausgeführt hat, in die Lage kommen, bei jedem wichtigen Gesetz eine
neue Schicht von Pairs über die vorhandenen lagern zu müssen, die aus den
verschiedensten Gründen zu der neuen Gesetzvorlage oppositionell stehen können.
Nein, man muß die Staatskörperschaften so bilden, daß sie den wahren Ge-
sichtspunkt der Staatsweisheit in den wechselnden concreten Beziehungen der
Gesetzvorlagen zu treffen wissen. Man kann unmöglich bei jeder solchen Ge¬
setzvorlage eine Pairschicht act Iroe über die vorhandenen lagern. Daraus
entstände das unbeholfenste, widerspruchvollste Conglomerat. Nein äußerlich
würde eine Ueberfüllung des Herrenhauses entstehen. Diese haben wir aller¬
dings noch nicht, aber das widerspruchsvolle Conglomerat haben wir. Darum
muß der jetzt unvermeidlich gewordene Pairschub benutzt werden, nicht um
blos die Kreisordnung durchzubringen, sondern um die preußische Verfassung
zu revidiren.
Man kann unmöglich annehmen, daß der Staatsregierung dieser Ge¬
sichtspunkt entgehen sollte. Aber Niemand ist vorläufig zu sagen im Stande,
auf welche Art von Revision die Regierung ausgehen wird. Um so mehr ist
es vielleicht noch Zeit, daß die öffentliche Meinung ihren Ausspruch abgebe,
der freilich nur in Gestalt der ersten vielfarbigen Mannigfaltigkeit bis zur
Wiedereröffnung des Landtags zu Tage treten kann. Denn bis zum 12. No¬
vember wird die öffentliche Meinung über diese tiefgreifende Frage, deren
Lösung mit überraschender Schnelligkeit sich aufgedrängt hat, zu keiner Eini¬
gung zu gelangen vermögen.
Wir unsererseits vermögen uns nicht der Annahme zu entschlagen, daß
an dem Tage, wo Ernst gemacht wird mit der Reform des Herrenhauses,
gleichzeitig Ernst gemacht werden muß mit der Reform des Abgeordneten¬
hauses. Man übersieht zu häufig, daß nicht nur unser Herrenhaus, sondern
ebenso unser Abgeordnetenhaus auf dem mangelhaftesten und zufälligsten
Vildungsmodus beruhen, daß nicht blos die Leistungen des einen, sondern
auch die des anderen Staatskörpers seit der Wirksamkeit der preußischen Ver¬
fassung zurückgeblieben sind hinter dem, was der Staat von seinen höchsten
Körperschaften fordern mußte und fordern durfte. Nicht blos in der Ge¬
schichte des Herrenhauses gibt es unerfreuliche Blätter. Der Kampf des Ab¬
geordnetenhauses gegen die Heeresreform, aus welchem sich der Verfassungs¬
conflict entwickelte, ist auch ein solches Blatt. Darum sagen wir: ein anderes
Herrenhaus, ein anderes Abgeordnetenhaus, oder noch lieber: kein Herren¬
haus — kein Abgeordnetenhaus, sondern an Stelle beider als berathender
Kilt mitbeschließender Factor der preußischen Gesetzgebung neben dem König
der deutsche Reichstag.
Wir gehen auf keine dieser Möglichkeiten näher ein, so lange die Ab¬
setzten der Staatsregierung nicht hervorgetreten sind. Erst die Verkündigung
dieser Absichten kann den Kern bilden, um welchen die öffentliche Meinung
^ Widerspruch oder Zustimmung sich krystallisirt. Die allgemeine Noth¬
wendigkeit aber, daß der jetzt von der Staatsregierung als unvermeidlich an¬
rannte Pairschub nicht blos zur Durchdringung eines einzelnen Gesetzes,
sondern zur Neubildung der preußischen Staatsverfassung führe, ist zu unserer
Genugthuung von den einsichtigsten Organen der öffentlichen Meinung schon
mit Nachdruck hervorgehoben worden. Wir können nur wünschen, daß dies
bis zur Eröffnung der neuen Landtagssession und während dieser Session so
lange, bis die Regierung mit ihrer Absicht hervorgetreten ist. mit steigender
Kraft und mit steigender Klarheit über den wahren Umfang der vorliegenden
Die Arnoldi'sche Buchhandlung zu Leipzig hat ein Lieferungs¬
werk begonnen, welches unter den zahlreichen Freunden und Freundinnen der
Lieder Franz Schubert's mit Beifall und Freude begrüßt werden wird: Il¬
lustrationen zu Franz Schubert's vorzüglichsten Liedern von
Robert Stieler; uns liegt das erste Heft mit sechs Blättern vor: Ständ¬
chen, Die Stadt, Am Meere, Der Doppelgänger, Des Mädchens Klage, Der
Lindenbaum. Der Farbendruck ist, wie bereits bei früheren Prachtwerken der¬
selben Verlagshandlung, in vorzüglicher Weise aus der lithographischen An¬
stalt von I. G. Bach dargestellt. Jedes dieser und der künftigen Blätter,
von denen jedes für sich cartonnirt ist, enthält auf farbigem Grunde eine vom
reichsten und sinnigsten Blüthen-, Blätter- und Rankenwerk umrahmte weiße
Tafel von mannigfaltigster Form, — bald einer Laube gleich, bald wie ein
Blätterdom gebildet u. f. w. —, welche in der oberen Hälfte, wiederum farbig,
die Illustration und zu deren Füßen den Text des Liedes enthält. Die Il¬
lustrationen selbst sind außerordentlich zart und sorgfältig ausgeführt und der
Stimmung des Textes aufs glücklichste angepaßt. Als besonders gelungen
bezeichnen wir die Compositionen zu den Liedern „Die Stadt", „Des Mädchens
Klage", „Der Lindenbaum". Die Gelehrten, welche die Erforschung des Lebens
der menschlichen Seele zu ihrer Berufsaufgabe gemacht haben, mögen darüber
streiten, ob die gleichzeitige Zusammenwirkung von Musik und Malerei auf
unsere Sinne und Empfindung eine angenehme oder störende sei. Aber un¬
zweifelhaft wirken Poesie und bildende Kunst vortrefflich zusammen. Und vor
Allem ist das deutsche Lied eines der anregendsten Motive für die schaffende
Kraft unserer besten Künstler. Schubert's Lieder sind längst Volkslieder in
des Wortes edelstem Sinne geworden. Sie haben hier eine ihrer würdige
illustrirte Darstellung und Ausgabe gefunden, die gleichzeitig von Sängern,
welche ihrer Noten sicher sind, in Salons und Concerten als elegantes Lib¬
Im October d. I. fanden wir in der Mehrzahl der deutschen Zei¬
tungen folgende „identische Note": „Die gesammelten Schriften und
Reden von Dr. Johann Jacoby" (Hamburg, Verlag von Otto Mei߬
ner) geben, chronologisch geordnet, ein vollständiges Bild des bedeutenden
Mannes. Die Sammlung, obwohl zum größten Theil aus Aufsätzen politi¬
schen Inhalts bestehend, bietet selbst denjenigen, die nicht Jacoby's Stand¬
punkt theilen, einen interessanten Einblick in das Geistesleben eines tief philo¬
sophisch gebildeten Mannes, der in den Aufsätzen über „Hegel und die nach-
gebornen", in der „Parallele zwischen Kant und Lessing", in dem von einem
gründlichen Studium des Aristoteles zeugenden Essay über „das Wesen und
die Wirkung der Griechischen Tragödie" am unzweideutigsten sein ideales Stre¬
ben nach Wahrheit documentirt. Diese Erkenntniß wird auch diejenigen, welche
sich durch den Standpunkt, den Jacoby in nationalen Fragen, so vor allem
in der Frage der Annexion von Elsaß und Lothringen, einnimmt, abgestoßen
fühlen, bewegen können, die Schriften Jacoby's nicht als die eines unversöhn¬
lichen auf Irrwegen befindlichen Gegners, sondern als die Schriften eines
Philosophen zu behandeln, von dem auch der Gegner lernen kann." —
Was uns an dieser Note auffällt, ist erstens die Zeit ihrer Veröffent¬
lichung und zweitens deren eigenthümlicher Inhalt. Unsere Gründe sind
folgende:
Das Buch selbst ist schon im Hochsommer d. I. erschienen. Die Reclame
erscheint erst im Spätherbst, zu jener Zeit, wo die welken Blätter lebensmüde
zur Erde sinken und ein rauher, regenschwangrer Wind über die kahlen Stoppel¬
felder hinfährt. In der Zwischenzeit machte der Name Jacoby zweimal die
Runde durch die deutschen Zeitungen. Es hieß, er habe sich von Königsberg
nach Berlin begeben, um am letzteren Orte die „demokratische Presse" zu re--
organisiren. Wir zweifeln nicht an der Nichtigkeit dieser Nachricht, insbeson¬
dere nicht daran, daß der fraglichen Reise der angegebene Zweck wirklich zu
Grunde lag. Jedenfalls aber ist der Zweck verfehlt worden. Denn der Zustand
der Berliner Presse überhaupt, und der der „demokratischen" insbesondere, ist
heute noch ganz derselbe, wie damals. Es gibt in Berlin gute und schlechte,
anständige und unanständige, konservative und liberale, nationale und fort¬
schrittliche Zeitungen, aber keine „demokratische" im Sinne Jacoby's, mit
Ausnahme eines einzigen Blattes, welches nach jener viel berufenen Ne-
orgcmisationsreise dieselbe Armuth an Gedanken , Abonnenten und Inseraten
zeigt, wie vorher. — Das zweite Mal hieß es Jacoby werde in Berlin zum
Landtag gewählt werden. Indessen der dritte Berliner Wahlkreis, welcher
inzwischen durch den Rücktritt von Schulze<Delitsch erledigt war, verwarf die
Candidatur von Jacoby und wählte statt dessen einen Königl. Preußischen
Geheimen Regierungsrath a. D. Namens Kerse, von welchem wir im Grunde
nichts wissen, als daß er den Wählern in seiner Candidatur-Rede erzählt hat,
„wie er, mit dem Jagdrock von Büffeln bekleidet, Scalpe und Bärentatzen am
Gürtel, durch die amerikanischen Prärien gewandert ist; wie er durch den
glühenden Sand in Afrikas Wüste seinen schäumenden Hengst gespornt hat;
wie ihn in Paraguay die Spitzen des Jesuitenstaates in Procession empfangen
haben, während das Volk jubelte: Hallelujah, Hosianna, der Geheime Re¬
gierungsrath Kerse ist da." — Nachdem dieser geographische Cursus von den
wißbegierigen Wählern mit Dankbarkeit und Vergnügen aufgenommen worden
war, erntete Herr Kerse schließlich mit der Versicherung: „Ein ungebildetes
Weib kann nie die Mutter einer großen Nation werden" einen
wahrhaft frenetischen Beifall der gebildeten Wähler der Metropole der In¬
telligenz. Einem Auswärtigen ist letzteres vielleicht unbegreiflich; allein doch
bloß deshalb, weil er sich in den hohen Gedankenflug des „richtigen" Berliners
nicht zu finden weiß. Dieser Gedankengang war offenbar bei einem jeden
Einzelnen der vereinigten Beifallspender folgender: „Ich bin ein gebildeter
Berliner; folglich ist meine Frau auch eine gebildete Berlinerin. Ein unge¬
bildetes Weib kann nicht die Mutter einer großen Nation werden: folglich
kann es ein gebildetes. Folglich kann meine Frau als eine gebildete Berli¬
nerin die Mutter einer großen Nation werden. Folglich werde ich der Vater
einer gebildeten Nation und stehe jroß da!"
Natürlich konnte unter solchen Umständen Niemand Anders gewählt
werden, als der Königliche Geheime Regierungs-Rath a, D. Kerse. Er erhielt
beinahe alle Stimmen; sein fortschrittlicher Gegencandidat Herr Oberlehrer
Petsch, welchen kein Geringerer, als Herr Schulze-Delitzsch selbst empfohlen hatte,
erhielt nur vier Stimmen — und Jacoby nur zwei. Der letztere wird sich mit
philosophischem Gleichmuthe über diesen Mißerfolg zu trösten wissen. Er verab¬
scheut ja die „Erfolg-Anbeter" und muß daher, vermöge des N-gumentum n,
coutrui'lo, an dem Mißerfolg sein besonderes Vergnügen haben. Natürlich
nicht an dem Mißerfolge Anderer — denn das wäre ja gemeine Schaden¬
freude, welche einem Philosophen nicht ziemt, — sondern an dem Mißerfolge
seiner selbst.
Während also dieser Standpunkt bei einem Autor, wie Jacoby, sehr ge-
rechtfertigt erscheint, vermag ihn natürlich der Verleger des Buches durchaus
nicht zu theilen. Für ihn, von seinem mercantilen Standpunkte aus, welchem
mit den „Manchestermännern" jedes sittliche Pathos fremd ist, erscheint jede
Schlappe des Autors als eine Schlappe für das Buch, und folglich als eine
Schlappe für sich selbst. — Vielleicht ist hierin der Grund zu suchen, warum
jetzt noch, Monate nach dem Erscheinen des Buchs, von welchem man Anfangs
ohne Zweifel annahm, der Name des berühmten Verfassers werde allein hin¬
reichen, alle vierzehn Tage eine neue Auflage zu bewerkstelligen, diese identische
Note ihre verspätete Nunde durch alle Zeitungen macht. Und vielleicht er¬
klärt sich daraus auch der Inhalt der Note. Seit dreißig Jahren spielt
Jacoby eine hervorragende Rolle in der preußischen Politik; all sein Dichten
und Trachten ist entweder ausschließlich politisch, oder doch ganz und gar von
Politik durchdrungen; namentlich sind dies seine Schriften und Reden. Man
hat ihn zwar zum Oeftern „den Königsberger Philosophen" genannt. Aber
man verband damit gewiß nicht den Begriff des Fachgelehrten. Auch seinen
begeistertsten Anhängern ist es niemals eingefallen, ihn mit Kant und Fichte,
mit Hegel und Schilling, oder auch nur mit v. Hartmann und Schopenhauer,
auf eine Linie zu stellen. Man nannte ihn einen „Philosophen", aber man
dachte dabei nicht an die Gelehrsamkeit, sondern an den Charakter.
Man wollte damit nicht sagen, dieser Mann wird ein neues System erfinden,
welches die Wissenschaft reformirt. Man wollte sagen, dieser Mann ist ein
stoischer Charakter, welchen die Freuden und Leiden dieser Welt unberührt
lassen; nichts ficht ihn an, weder Sonnenschein, noch Regen, weder Volksgunst
noch Kerkerhaft, weder das „Hosiemncch" noch das „Kreuzige"; selbst die
größten welthistorischen Ereignisse gehen ohne Eindruck an ihm vorüber, er
kann aus ihnen nichts lernen, sie vermögen seine Principien nicht umzustoßen,
ja nicht im Geringsten zu modificiren; er haust in stolzer und erhabener
Einsamkeit im Kreise weniger, mit äußerster Sorgfalt ausgewählter Einge¬
weihter; nur selten, wenn es Noth und Pflicht gebietet, kommt er herunter
gestiegen, gleich dem Alten vom Berge, und verkündet der Menge, deren Ohr
an seinen Lippen hängt und nach den Worten seines Mundes dürstet, Worte
des Heils und der Weisheit, um dann wieder in sein erhabenes Dunkel zu
schwinden; auch im Abgeordnetenhause enthält er sich der profanen Arbeiten
in den Commissionen, zu welchen ja die gewöhnlichen parlamentarischen Kuli's
gut genug sind, auch mischt er sich nicht mit Rede und Gegenrede in den
täglichen Kampf der Parteien; nur einmal in jeder Sitzungsperiode bricht er
sein majestätisches Schweigen, um im steinernsten Lapidarstyl eine kurze Rede
wider die Reichsverfassung, oder wider das preußische Budget im Allgemeinen
zu halten, welche Rede mit einem jener drei zerschmetternden Citate schließt,
wovon das eine heißt: „liucro in LtZi'vitiuin", das andere: „OontlÄ Iwstöm
astöi-na !indol1t!>.s esto!" das dritte: „Die Wahrheit führt ein Schwert, Ge¬
rechtigkeit hat es geschmiedet"; er kennt keine Freundschaft, das Princip gilt
ihm Alles, das haben selbst seine Freunde von der Fortschrittspartei an ihm
erfahren, auch sie hat er seiner Ueberzeugung geopfert.
Franz Ziegler, ebenfalls ein Demokrat, aber von etwas anderem Stoffe,
Franz Ziegler, dessen Witz ewig jung bleibt, wie Jacoby ewig feierlich, nannte
einstens im Abgeordneten-Hause Johann Jacoby den „König Rhamses von
Aegypten", weil er gleich jenen, Jahrtausende alten, sitzenden Steinbildern,
ewig in derselben Stellung auf seinem Sitze verharrte, die Beine dicht neben
einander, die Füße gerade an sich gestreckt und die Handflächen aus den spitzen
Knieen, die rechte Hand auf dem rechten, und die linke Hand auf dem linken.
„König Rhamses von Aegypten" und „Philosoph Jacoby von Königsberg"
galten für synonym.
Nun kommt aber der Hamburger Verleger der „Gesammelten Schriften
und Reden" und gibt Jacoby den Politiker preis, um Jacoby den Philo¬
sophen zu retten. Er macht das belangreiche Zugeständniß, es gebe allerdings
wohl Menschen, welche in der Politik „Jacoby's Standpunkt nicht theilen",
oder welche durch den Standpunkt, den Jacoby in nationalen Fragen, so vor
Allem in der Frage der Annexion von Elsaß-Lothringen, einnimmt, „sich ab¬
gestoßen fühlen"; aber gerade diesen, fügt er hinzu, sind die gesammelten
Werke zu empfehlen, denn der Herr Verfasser ist „ein tief philosophisch
gebildeter Mann", er hat sogar den Aristoteles studirt und seine
Aufsätze gewähren einen interessanten Einblick in sein Geistesleben, man soll
ihn daher nicht als einen auf Irrwegen befindlichen unversöhnlichen Gegner
betrachten, sondern als einen „Philosophen, von dem auch der Gegner
lernen kann."
Das Letzte ist ein logischer Lapsus. Man kann überhaupt stets von
seinen Gegnern lernen, von politischen sowohl, wie von philosophischen. Un¬
sere Freunde zeigen uns unsere Fehler unter vier Augen, unsere Feinde im
Lichte der Oeffentlichkeit, Das ist der ganze Unterschied. Aber auch abge¬
sehen davon müssen wir Johann Jacoby gegen den Inhalt der identischen
Note auf das Allerentschiedenste in Schutz nehmen. Wäre Jacoby nichts, als
Philosoph, im wissenschaftlichen Sinne des Wortes, dann wäre er wenig,
und in Wirklichkeit ist er viel. Seine Aufsätze über Hegel und die Hege¬
lingen und über die griechische Tragödie, desgleichen seine Parallele „Kant und
Lessing" verrathen allerdings einen gewissen Grad von philosophischer Bildung,
auch fehlt es, wenn wir von der „Griechischen Tragödie" absetzn. nicht an
Kenntniß des Gegenstandes. Aber damit ist auch Alles gesagt, Irgend etwas
wissenschaftlich Neues erfährt man aus diesen „Philosophischen" Schriften nicht.
Auf diesem Gebiete liegt also nicht Jacoby's Bedeutung. Sie liegt aus¬
schließlich auf politischem Gebiete. Jacoby ist der Urtypus des abstracten
vormärzlichen Liberalismus, dessen Religion die Opposition war, und zwar
die Opposition aus Princip, die Opposition um der Opposition willen; jenes
Liberalismus, welcher stets auf der äußersten Linken sitzen will, ohne Rücksicht
darauf, was denn den Gegenstand bildet, nach welchem man bemißt, was
Rechts und was Links ist; jenes Liberalismus, welcher aus Consequenz in-
consequent wird, weil er nur auf sich und seinen Platz sieht und darüber ver¬
gißt, daß die Welt während dessen nicht stillsteht.
Wenn Jemand seine „Gesammelten Schriften" herausgiebt, so pflegt er
seine Laufbahn als geschlossen zu betrachten. Auf Jacoby als Politiker
(nicht auf Jacoby als Philosophen) dürfte dies Anwendung finden. Wenig¬
stens wird ein Berliner Wahlkreis ihm ein Mandat nicht wieder anvertrauen.
Der Berliner Bürger ist fortschrittlich gesinnt, allein Jacoby hat'sich ja mit
der Fortschrittspartei überworfen und sich mit Guido Weiß und einigen we¬
nigen Getreuen als äußerste Linke constituirt. Endlich hat er sich Bebel und
Liebknecht in die Arme geworfen. Letzteres wird ihm am Wenigsten verziehen.
Der Berliner Bürger ist augenblicklich wirthschaftlich im Zustande reactionärer
Beklemmung. Weil Berlin sich aus einer Residenz-, Garnison- und Beamten-
Stadt in eine Handels- und Fabrikstadt, aus einer märkischen in eine preußische,
und aus einer preußischen in eine deutsche Stadt verwandelt hat, weil es
riesig wächst, weil dieses schnelle Wachsthum Gliederschmerzen veranlaßt, weil
die alte Weißbier-Gemüthlichkeit aufhört, sich hin und wieder Gefindel zeigt,
die Concurrenz zunimmt, und der Kampf um das Dasein täglich mehr Kraft¬
aufwand fordert, hat der Berliner Bürger einen gründlichen Haß gegen die
wirthschaftliche Freiheit gewonnen. Wie man im Mittelalter, als der „schwarze
Tod" in der Mitte des Is. Jahrhunderts wüthete, behauptete, die Juden
hätten die Brunnen vergiftet und sie schaarenweise todtschlug; wie man später,
so oft eine Rinderpest oder ein sonstiges „Viehheerden" sich zutrug, behauptete,
das Vieh sei verhext und die alten Weiber dutzendweise als Hexen verbrannte,
so haßt jetzt der Berliner die „Manchestermänner" und die „Socialdemokraten"
gleichmäßig. Er setzt seine Hoffnung auf die „Kathedersocialisten", weil er
erwartet, diese Gelehrten, welche mit der Regierung ja so intim seien, würden
ein Mittel erfinden, welches die Regierung „energisch" in Vollzug setzen
werde, um „dem ganzen Schwindel ein Ende zu machen". Zwar wollen
die Einsichtigen behaupten, diese Auffassung sei zu thöricht, als daß sie sich
lange behaupten könne. Allein die Judenverfolgung und der Hexenbrand
waren noch viel sinnloser und grausamer; und wie lange haben diese Geistes¬
krankheiten nicht gedauert?
Betrachten wir also Jacoby's politische Laufbahn als abgeschlossen, so
müssen wir, obgleich wir nur mit deren Allfang, aber durchaus nicht mir
deren Ende einverstanden find, dennoch erklären, daß die Uebersicht, welche
uns die „Gesammelten Schriften und Reden" über die Entwickelung
und die Thätigkeit dieses Mannes während der letzten dreißig Jahre gewähren,
von dem höchsten Interesse ist. Wir haben hier gleichsam ein physisches Ob¬
ject, in welchem sich die Geschichte des politischen Geistes während dieser für
Deutschland so außerordentlich wichtigen Periode spiegelt. Im Anfang ist
der Spiegel von außerordentlicher Schärfe und Klarheit, und er steht in der
richtigen Distanz und Stellung zu den Dingen, um sie gut und treu aufzu¬
fassen. Später ändert sich dieses. Der Spiegel wendet sich von den Dingen
mehr ab, und ein trüber Hauch beginnt ihn zu bedecken. Die objective Nichtig¬
keit der Wiedergabe hört auf, dafür aber finden wir Ersatz in der subjec-
tiven Beschaffenheit der Person, welche typisch ist für eine ganze Reihe zeit¬
genössischer Erscheinungen. Das subjective, pathologische, psychologische Inter¬
esse tritt an die Stelle des objectiven, physiologischen, historischen. Dadurch
scheidet sich von selbst die Laufbahn in zwei Perioden, von welchen wir im
Zweifel sind, welche von ihnen wichtiger ist für die Geschichte unserer Zeiten.
Jedoch ist diese Sammlung kein Buch für politische Kinder, oder auch
nur für angehende Politiker. Sie könnten sich den Tod davon holen, und
zwar um so sicherer, je größer die Aufrichtigkeit ist, mit welcher hier Alles
Gutes und Böses, neben einander ausgekramt wird. Es ist ein Buch für
Staatsmänner, welche selbst in dem letzten Menschenalter thätig waren und
hier zu erkennen vermögen, wie sich der Proceß vollzieht, der einen von Haus
aus der Freiheit und dem Fortschritte ergebenen Mann allmählich so sehr in
die absolute Verneinung drängt, daß er sich schließlich auch gegen Freiheit und
Fortschritt feindselig wendet, blos deshalb weil dieselben sich zu realisiren be¬
ginnen, und wie er sich so in Abstractionen verflüchtigt, daß er Staat und
Nation um ihres concreten Inhalts wegen verachtet und sich zur Bekämpfung
derselben mit den vaterlandslosen Schwarzen und Rothen vereinigt. In der
That ein sehr trauriger, aber außerordentlich lehrreicher Hergang.
Es ist ein Buch für zukünftige Geschichtsschreiber, sowohl für die Staats-,
als auch für die Cultur- und Geistesgeschichte. Es zeigt uns, wie ein Mann
von bedeutender Befähigung, ein Mann von warmem Herzen und scharfem
Geiste, sich durch den schweren Druck enger Verhältnisse und veralteter In¬
stitutionen hindurchwindet und durchkämpft, wie er als mächtiger und beredter
Kämpfer für die Unterdrückten auftritt ohne Furcht vor Gefahr und Verfol¬
gung, wie er nicht weniger für die nationale Idee eintritt, in der National¬
versammlung, wie in dem Nationalverein, wie er aber dann die staatlichen
Gebilde, welche er ideal ersehnt, auf das Entschiedenste befehdet, sobald sie in
die reale Erscheinung getreten sind, wie er sich immer mehr der Gegenwart
abwendet und in seinem Blatte, der „Zukunft", die bisherigen Freunde und
Parteigenossen, welche, die Einen früher, die Andern später, die Basis accep-
tiren, welche aus den Ereignissen von 1866 hervorgegangen, deshalb mit einer
Schonungslosigkeit und Unduldsamkeit verfolgt, welche sich seltsam ausnimmt
in dem Munde des bisherigen Anwaltes des Unterdrückten, welcher politischer
Kctzerrichter gegen Andersgläubige geworden zu sein scheint in demselben Augen¬
blicke, wo die bürgerliche Zurücksetzung der religiös Andersgläubigen aushört.
Es zeigt uns ferner, wie der Mann, welcher so stolz ist auf seine Consequenz,
dadurch, daß er dieselbe lediglich formell auffaßt und die Zeitereignisse voll¬
ständig ignornt, aus einem aufrichtigen Freunde der Humanität, der Cultur
und Gesittung, aus einem Vorkämpfer des moralischen Verfassungs- und
Rechtsstaates mit Freiheit der Person und des Eigenthums, zu einem Anno^
lythen von Bebel und Liebknecht wird, d. h. zu einem Anhänger des auf das
Gesammteigenthum basirten „Volksstaates", welcher „Krieg dem Capital" und
Classen-Kampf predigt und das persönliche Eigenthum und die persönliche Frei¬
heit in dem vernichtenden Schlunde der allgemeinen Barbarei verschwinden zu
machen droht, indem er die Pariser Commune, dieses an Gewaltthat so reiche
und an Ideen so arme Scheusal, als leuchtendes Vorbild aufstellt.
Treten wir den Thatsachen etwas näher. Johann Jacoby ist geboren
in Königsberg und wohnhaft daselbst. Mit Ausnahme eines kurzen Aufent¬
halts in Heidelberg, einiger Sommer-Reisen und Bade-Touren und der je¬
weiligen politischen Reisen, hat er sich niemals an einem andern Orte aufge¬
halten, als in der „Stadt der reinen Vernunft", welche staatsrechtlich erst seit
Kurzem zu Deutschland gehört. Königsberg hat im Beginn des Jahrhunderts
furchtbar gelitten und trotzdem im Jahr 1813 Großes geleistet. Es herrscht
dort die in einzelnen Dingen nicht ungerechtfertigte Meinung, der Staat thue
nicht genug für Ostpreußen und für seine Provinzialhauptstadt. Einige sagen:
der Staat thut nichts für uns, und deshalb müssen wir ihm Opposition
machen, um ihn für die Vernachlässigung zu bestrafen; Andere sagen: die
Negierung thut nichts für uns, wir müssen ihr daher entgegenkommen, um
ihre Gunst zu gewinnen. So kommt es, daß hier die Mittelparteien fehlen
und die hyperconservativen Regierungsmänner auf der einen, die radicalen
Oppositionsmänner auf der andern Seite, einander schroff gegenüber stehen.
Dies zeigt sich namentlich bei den Wahlen, aus welchen reihum Männer der
äußersten Rechten oder Männer der äußersten Linken in demselben Bezirke
hervorgehen, je nachdem die Regierung, welche sich niemals neutral hält, siegt
oder unterliegt.
Natürlich waren vor länger als einem Menschenalter die Dinge noch
schärfer gespannt; und inmitten jener Spannung erwarb sich Ostpreußen das
große Verdienst, unter Hintansetzung seiner materiellen Interessen (Eisenbahn
u. s. w.) den idealen Gütern der Nation , namentlich dem durch die Natur
der Dinge und feierliche Verbriefung wohlbegründeten Anspruch Preußens auf
eine constitutionelle Verfassung, oder wie man damals sagte auf „Reichsstände"
die nachdrücklichste Befürwortung zu leihen, — ein Verdienst, das kaum we¬
niger hochzuschätzen, als die ein Menschenalter früher betheiligte Initiative
zur Abwerfung des Joches der Fremdherrschaft (1812 -und 1813).
Am 29. August 1840 zog der neue König in Königsberg ein, begleitet
von dem ominösen Herrn v. Rochow. Namens der Stadt begrüßte ihn der
Oberbürgermeister von Auerswald. Rochow und Auerswald, — diese beiden
Namen reichen hin, die Situation zu bezeichnen. Der Oberpräsident von
Schön verlas das Decret, welches den preußischen Huldigungs-Landtag am
K. Sept. 1840 eröffnete. Schon am 6. Sept. stellte ein Königsberger Depu-
tirter, dessen Namen Deutschland heute leider schon vergessen zu haben scheint,
der Kaufmann Heinrich, den Antrag auf Einführung von Reichsständen und
einer constitutionellen Verfassung. Der Antrag wurde von dem Oberpräsidenten
von Schön, dem Oberburggrasen von Brünneck, dem Oberbürgermeister von
Auerswald und dem Deputaten von Saucken-Tarputschen unterstützt und mit
90 Stimmen gegen 5 angenommen. Das Land jubelte Beifall. Der König
erließ einen nicht ungnädigen Abschied. Von allen Seiten gingen Petitionen
ein für den Königsberger Beschluß. Es waren die Flitterwochen der neuen
Herrschaft. Der Rückschlag blieb bekanntlich nicht aus.
Es waren zwei politische Schriften, welche damals die allgemeine Auf¬
merksamkeit auf sich zogen. Die eine war betitelt: „Woher und Wohin?"
die andere: „Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen."
Die Schrift „Woher und Wohin", als deren Verfasser sich später der Ober¬
präsident von Schön herausstellte, schloß mit den Worten:
— „Nur durch Gcnernlständc kann und wird in unserem Lande ein öffentliches
Leben entstehen. Ist der Tag dazu angebrochen, so läßt die Sonne sich nicht in ihrem
Lauf gebieten. Schon im Jahr 1813 sah man die erste Morgenröthe eines solchen
öffentlichen Lebens auftauchen, und die äußersten Spitzen gen Ost und West in unserm
Laude sind noch davon erleuchtet! Daher kam damals, als der König rief, Alles, Jung
und Alt, zu seinen Fahnen, ja fürwahr in voller Treue kam man in Preußen des
Königs Rufe zuvor. Tritt für uns erst das volle öffentliche Leben ein, so sind wir
unüberwindlich und unser Thron steht dann auf einer Höhe da, auf der er, nach dem
Culturzustande des Volkes, zu stehen verdient. — Die Zeit der sogenannten väterlichen
oder patriarchalischen Negierung, für welche dos Volk aus einer Masse Unmündiger
bestehen und sich beliebig leiten und führen lassen soll, läßt sich nicht zurückführen.
Wenn man die Zeit nicht nimmt, wie sie ist, das Gute daraus ergreift und es in
seiner Entwickelung fördert, dann straft die Zeit." —
Die „Vier Fragen" erschienen im Februar 1841, unmittelbar vor Er¬
öffnung des ostpreußischen Landtags. Es war ein kleines Schriftchen, aber
schwer an Inhalt und erfüllt von einer unerbittlichen Logik.
Die vier Fragen waren: 1) Was wünschen die preußischen (Königsberger)
Stände? 2) Was berechtigte sie? 3) Welcher Bescheid ward ihnen? 4) Was
bleibt ihnen zu thun übrig?
Die Antworten lauteten so: Zu 1. Sie wünschen Theilnahme der Bürger
am Staat. — Zu 2. Das Bewußtsein eigener Mündigkeit und ihre bereits
am 22. Mai 1815 erfolgte Mündigsprechung berechtigte sie dazu. — Zu 3.
Als Bescheid ward ihnen: — Anerkennung ihrer treuen Gesinnung — Ab¬
weisung der gestellten Anträge — vertröstende Hindeutung auf einen zukünf¬
tigen unbestimmten Ersatz. — Zu 4. Dem gegenüber bleibt ihnen nichts
übrig, als Das, was sie bisher als Gunst erbeten, nunmehr als klar erwie¬
senes Recht in Anspruch zu nehmen. —
Neben der Schärfe der Logik, der Sachkenntniß und dem Ernst, war es
vor Allem die große Mäßigung, welche die Schrift auszeichnete. Dieselbe
erschien anonym und geheimnißvoll. Sie war in Mannheim verlegt. An
demselben Tage und in derselben Stunde tauchte sie an allen Orten der preu¬
ßischen Monarchie auf. Sämmtliche Deputirte der Provinziallandtage er¬
hielten sie, ohne zu wissen von wem. Nach Berlin kam sie zuletzt. Als von
der Hauptstadt aus der Befehl der Confiscation erging, war es zu spät, die
Verbreitung war schon vollendet. — Der Eindruck der Schrift war bewälti¬
gend, nicht nur in Preußen, sondern in ganz Deutschland, welches damals
schon ahnte, seine Zukunft werde in Preußen entschieden. Der Verfasser war
unbekannt. Man rieth zuerst auf Schön. Dann hieß es, nein, Schön sei
es nicht. Aber wer sonst? Wer vermochte eine so imponirende Sprache zu
führen?
Da wurde das Geheimniß enthüllt, und zwar durch den König. Der
Verfasser, der gegen alle Andern, gegen die ganze Welt seine Autorschaft so
sorgfältig verbarg, hatte sie nur einer Person offenbart, und zwar der höchsten
Person im Staat. Er hatte dem König die Schrift vorgelegt mit einem ehr¬
furchtsvollen Schreiben, welches unterzeichnet war: Dr. Johann Jacoby, prak¬
tischer Arzt in Königsberg.
Die Antwort war die Einleitung einer Untersuchung wegen Hochverrathes,
Majestätsbeleidigung, Aufregung zum Mißvergnügen, frechen und unehr¬
erbietigem Tadels der Landesgesetze u. s. w. Gleichzeitig verklagte Preußen
die Schrift beim — Bundestage, und dieser verfügte mit ganz unerhörter
Schnelligkeit, schon am 13. März, ihr Verbot in sämmtlichen deutschen Bundes¬
staaten , Liechtenstein und Vaduz mit Inbegriffen. — Die Untersuchung hatte
seltsame Schicksale. Das Obcrlandesgericht in Königsberg behauptete, nur
das Kammergericht in Berlin sei competent. Das letztere dagegen erklärte
das erstere für competent und sich für incompetent. Darüber ging das Jahr
1841 zu Ende. Am 20. April 1842 erging das Erkenntniß erster Instanz.
Der Criminal-Senat des k. Kammergerichts in Berlin sprach den Angeklagten
wegen des Hochverraths frei, verurtheilte ihn aber wegen Majestätsbeleidigung
u, s. w. zu einer Festungsstrafe von zwei und einem halben Jahre und zum
Verlust der Nationalkokarde. Drei Vierteljahre später, am 20. Januar 1843,
nachdem die ganze Procedur beinahe zwei Jahre gedauert hatte, hob der
Appellations-Senat des Kammergerichts die Verurtheilung auf und erkannte
auf gänzliche Freisprechung.
Während dieser zwei Jahre war Jacoby der Liebling der Nation ge¬
worden. Seine Provinz, sein Land, ganz Deutschland stand hinter ihm. Man
faßte den Proceß so auf. als wenn er in Sachen des Johann Jacoby von
Königsberg, Klägers, wider die königliche Krone von Preußen, Verklagte, auf
Erfüllung des Vertrags vom 22. Mai 1815 und auf Mündigsprechung des
Volkes geführt würde. Wir Alle sahen in Jacoby's Verurtheilung unsere
eigene Niederlage, in seiner Freisprechung unsern eigenen Sieg; und wir
glaubten fest, die Weltgeschichte werde das Erkenntniß des Gerichtes vollstrecken.
Das starre Festhalten Jacoby's an dem verbrieften Rechte; seine ewig wieder¬
holte Mahnung an Erfüllung des königlichen Wortes, eine Mahnung, welche
das Volk befriedigte, weil sie strenge und ernst, und die das monarchische Ge¬
fühl nicht verletzte, weil sie dabei höchst ehrerbietig war; die Furchtlosigkeit
in der Vertheidigungsweise, bei welcher er keinen Zoll zurückwich, sondern sein
Recht, das sich am Ende immer mehr mit dem Rechte des Volkes auf Mün¬
digsprechung zu identificiren schien, immer von Neuem und immer besser und
tiefer begründete; seine Vertheidigungsschriften, welche er in der Schweiz
drucken lassen mußte, die aber trotz Bundestag und Landespolizei in Deutsch¬
land den Weg in alle Hände zu finden wußten; seine stets klare, bestimmte,
überzeugende Ausdrucksweise, welche das damals so beliebte Mittel der Phra¬
seologie gänzlich verschmähten; das elende stagniren der Verfassungsfrage in
Preußen, dieses ewige Experimentiren, dieses ewige Hangen und Bangen
in schwebender Pein, das keine Partei befriedigte und mit jedem Tage
mehr reizte, — Alles das machte Jacoby zum gefeiertsten Manne in Deutsch¬
land. Niemals sind einem einfachen Privatmann größere Ehren erwiesen
worden.
Das war der Zenith seines Ruhmes.
Daß derselbe sich nicht verminderte, dafür sorgten die ewig erneuerten
Anklagen, welche die preußische Justiz — zur höchsten Ehre ihrer Unabhängig¬
keit sei dies gesagt — mit ewig erneueren Freisprechungen beantwortete. Im
Jahre 184S wurde er abermals in Untersuchung gezogen, und zwar wegen
den Schriften: „Preußen im Jahre 1845" und „Das königliche
Wort Friedrich Wilhelms des Dritten." In erster Instanz wieder
zu zwei und einem halben Jahre Festung verurtheilt, wurde er durch Er¬
kenntniß des ostpreußischen Tribunals in Königsberg abermals freigesprochen.
Im Jahre 1849 klagte man ihn wegen Theilnahme an dem sogenannten
„Rumpf-Parlamente" des Hochverraths an; die Geschworenen erklärten ihn
„nichtschuldig" und der Gerichtshof sprach ihn frei.
Aber dieser Mann, der so stark war im Fordern des verbrieften Rechtes,
erwies sich schwach und unvermögend in Handhabung der Kunst der prac-
tischen Politik, d. h. in dem Gebrauche des geforderten Rechtes, nachdem es
gewährt war. Um diesen Mangel auszugleichen, ist er, je mehr sein Alter m-
und sein Erfolg abnahm, desto mehr nach Links gerückt. Am Beginn seiner
Laufbahn Vorkämpfer der konstitutionellen Monarchie, und zwar der preu¬
ßischen Monarchie, — ist er jetzt utopistischer Republikaner. Bor 1866 jahre¬
lang getreues Mitglied des Nationalvereins, hat er seitdem die einheitlichen
und nationalen Einrichtungen, welche das letzte Lustrum gebar, auf das Feind¬
seligste bekämpft. Früher Vertheidiger des Rechtsstaates, verlangt er jetzt ab¬
solute Einmischung der Regierung in das wirthschaftliche Leben der bürger¬
lichen Gesellschaft. Zuerst Altliberaler und Fortschrittsmann, ist er nach und
nach Volks-Partei-Mann, föderativer Republikaner, Social-Demokrat und An¬
hänger der Herren Bebel und Liebknecht geworden.
Am 20. Januar 1870 hielt er in der Wählerversammlung des zweiten
Berliner Wahlkreises (Landtag) eine, Rede, deren Urheber ebensogut der Com-
munarde Bebel oder der Professor Schmoller hätte sein können. Er verlangte
„gleiche Theilnahme an dem Genuß und den Gütern der Erde" für „Alles,
was Menschen-Antlitz trägt". Er verlangt von dem Staat, daß er diesen
Zustand herbeiführe dadurch, daß er sich in die Privatwirthschaft einmische
um „eine gerechtere Vertheilung des Arbeitsertrages" zu erzielen. Was das
ist, wie es der Staat zu Stande bringen soll, darüber beobachtet er das tiefste
Schweigen. Soll die Gesetzgebung Minimalsätze für den Lohn und Maximal¬
sätze für die Preise und die Miethen fixiren? Und wie soll man ein solches
Gesetz durchführen? Soll man den Arbeitnehmer, welchem der Lohn zu niedrig
ist, zur Arbeit mit Gewalt anhalten? Soll man den Arbeitgeber, welchem die
Löhne zu hoch sind, zwingen, dennoch fortarbeiten zu lassen, auch wenn er und
sein Geschäft darüber zu Grunde geht? Oder soll man dem Minister des
Innern, Grafen zu Eulenburg, eine unbeschränkte Polizei-Dictatur übertragen?
Oder soll man den Handelsminister, Grafen von Jtzenplitz, ermächtigen, sich
in jedem Geschäfte der Casse zu bemächtigen und nach eigenem Gutdünken
die Geschäfts-Erträgnisse zu vertheilen? Wo würde man aber unter solchen
Umständen die Narren finden, welche geneigt wären, ein Geschäft zu betreiben?
Oder will man die Leute dazu zwingen? Und wenn, ist die Regierung, wenn
sie Jemandem ein Geschäft octroyirt oder die fernere Fortführung eines Ge¬
schäftes aufzwingt, nicht auch verpflichtet, ihn mit dem dazu erforderlichen
Geld und Verstand zu versehen? Und woher denn das Alles nehmen, ohne
zu stehlen? — Das Programm vom 20. Januar 1870 ist sonach entweder
weiter nichts, als der fromme Wunsch, es möge überhaupt noch viel schöner
und besser werden auf Erden, — ein Wunsch, den Jedermann theilt. Oder
es bedeutet die unbedingteste Dictatur der jeweiligen Regierung, die absolute
Unterdrückung der wirthschaftlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Freiheit,
für die vormals Jacoby so muthig und glänzend gestritten. Da wir aber
an eine solche Apostase nicht glauben können und wollen, so bleibt uns nur
der erste Theil der Alternative übrig. Zwar können wir uns von der Ueber¬
zeugung nicht trennen, daß es Jacoby im Januar 1870 eben so gut und
ehrlich gemeint hat, wie im Januar 1841. Aber das können wir nicht leug¬
nen, daß in dem Inhalt seines Programms eine höchst bedauerliche rück¬
schreitende Metamorphose eingetreten ist. Das Recht ist durch die Willkühr,
die Ueberzeugung durch die Laune, der ernste Beruf durch leichtes Dilettanten-
Werk, die unerbittliche Logik durch die prätentiöse Phrase („Menschen-Antlitz"
u. tgi.), die durchsichtige Klarheit durch verschwommenes Dunkel verdrängt
worden.
Sollen wir das Alles Jacoby persönlich zum Vorwurfe anrechnen? Soll
uns diese traurige Gegenwart blind machen gegen eine glorreiche Vergangen¬
heit? —
Nein, gewiß nicht! Das wäre die höchste Ungerechtigkeit. Achten wir
die Person, aber lassen wir uns durch diese Achtung nicht blind machen für
die Fehler der Sache. Suchen wir uns diese Wendung genetisch-pragmatisch
zu erklären. Jacoby, welcher stets der sogenannten „konstitutionellen Ent¬
wickelung" der süddeutschen Staaten eine besondere Vorliebe bewahrt hat, ist
nichts als der norddeutsche Ableger des vormärzlichen süddeutschen Liberalis¬
mus, welcher letztere bekanntlich auf ein französisches Reiß gepfropft und da¬
bei so allumfassend naiv war, daß der badische Abgeordnete v. Itzstein. seiner
Zeit der beste Kopf unter den süddeutschen Liberalen, mit dem communistischen
Schneider Weitling ein zartes Einverständniß unterhielt, wobei natürlich nicht
der Schneider, sondern der Baron der „Dupe" war. Jener Liberalismus war
stark in der Negation und schwach in der Affirmation, groß im Fordern und
klein im Bewahren. Sein Idealismus schlug um in eine Abstraction, welche
alles Concrete verschmähte. Seine Bekämpfung schlechter Regierungen führte,
auf dem Wege der Verwechslung der jeweiligen Staatsregierung mit der
ewigen Staats-Jdee, schließlich zu einer Verneinung des Staates als solchen;
ein dialektischer Prozeß, der viel Entschuldbares und Begreifliches hat in
einem lebensunfähigen Kleinstaat, aber angesichts der staatbildenden Kraft
Preußens und der Hohenzollern, namentlich in der zweiten Hälfte des neun¬
zehnten Jahrhunderts, gelinde ausgedrückt, ein starker Anachronismus ist.
Dazu kommt weiter etwas: Jener veraltete süddeutsche Liberalismus,
welchen wir heut zu Tage vor Allem auch in Süddeutschland als einen
überwundenen Standpunkt betrachten dürfen, hatte eine Eigenthümlichkeit, wo¬
durch er sich merkwürdig abhob von dem Parteileben aller übrigen euro¬
päischen Cultur-Staaten. In den letzteren strebt jede lebensfähige politische
Partei nach der Gewalt, theils aus Selbsterhaltungstrieb, theils um ihr
Programm verwirklichen zu können. Der vormärzliche Liberalismus war ent¬
gegengesetzter Meinung. Er hatte eine wahre Idiosynkrasie. gegen die Arbeit,
d. h. gegen jede unmittelbaren practischen Erfolg anstrebende Thätigkeit. Statt
den „Erfolg anzubeten", verabscheute er ihn. Das Streben nach der Gewalt
war in seinen Augen nicht blos ein Fehler, — es war ein Verbrechen; und
als endlich der Zufall des Jahres 1848 die bisherigen Führer, halb wider
deren Willen, an die Spitze der Geschäfte gebracht hatte, galten sie sofort
als „Verräther"; und im Grunde genommen durften sie sich darüber gar
nicht beschweren; denn es waren ja nur ihre eigenen Ideen, die sich nun
gegen sie kehrten. Höchstens galt es für erlaubt, sich von einer revolutionären
Bewegung tragen zu lassen, wie Danton, welcher (wahrscheinlich ohne die
„Wahrhaften Geschichten des Freiherrn von Münchhausen" gelesen zu haben)
behauptete, er sei auf einer Kanonenkugel in das Ministerium geflogen. End¬
lich als letztes, aber nicht unwichtigstes Moment ist noch jene Unkenntniß
der praktischen Geschäfte zu erwähnen, welche die Schwierigkeiten unterschätzen
und die rechtzeitige Anwendung der Mittel zur Ueberwindung derselben ver¬
absäumen ließ und so zu Mißerfolgen führte, welche letztere man dann, statt
sie als Folge von Fehlern anzuerkennen, als Tugend glorificirte, indem man
Ungeschick als Stoicismus erklärte.
So kam man zu dem Princip: Entweder Mißerfolg, oder Erfolg
nur durch Umwälzungen; ein Drittes gibt es nicht, oder es ist Abfall und
Verrath. Auf diesem Wege gelangt man schließlich zu Bebel und Liebknecht,
und diesen Weg ist Johann Jacoby gegangen. Wir haben dies ohne Haß
und Gunst nachzuweisen versucht; und wenn unser Urtheil zuweilen etwas
strenge lautet, so sagen wir zur Entschuldigung mit Johann Jacoby:
Die W-ihrheit führt ein Schwert,
Gerechtigkeit
Hat es geschmiedet.
Dänische Alterthumsforscher waren es, welche die heute allerdings nicht
mehr mustergiltige, aber der Bequemlichkeit halber immer noch beibehaltene
Eintheilung der vorhistorischen Zeit in Stein-, Bronze« und Eisenperiode
durchführten. In Dänemark z. B. nahm man an, daß die Eisenperiode etwa
bis zur Zeit der Geburt Christi zurückreiche, das Bronzealter noch ein oder
zwei Tausend Jahre weiter rückwärts und was vor diesem lag. nannte man
dann das Steinzeitalter. Die Anschauungen, welche dieser Eintheilung zu
Grunde lagen, waren etwa folgende: 1) Es gab eine Zeit im westlichen und
mittleren Europa, in welcher die Verwendung von Metallen für schneidende
Werkzeuge jeglicher Art unbekannt war und der Mensch sich daher mit Stei¬
nen, Knochen, Holz oder andern Substanzen zur Herstellung seiner Geräthe
und Waffen behelfen mußte. — 2) Dieser Periode folgte eine andere, in
welcher der Gebrauch des Kupfers oder des mit Zinn vermischten Kupfers,
also der Bronze, bekannt wurde und allmählig den Gebrauch der Steinwerk¬
zeuge für gewisse Zwecke verdrängte, während diese für andere noch im Ge¬
brauche blieben. — 3) Es kam dann eine Zeit, in der wieder die Bronze
ihrerseits von Eisen und Stahl abgelöst wurde; diese Periode währt bis
heute fort.
So ist die allgemein noch gültige Anschauung; doch liegt auf der Hand,
daß man bei der Annahme dieser Classification keinenfalls eine bestimmte
Chronologie mit in den Kauf zu nehmen hat oder um ein paar Hundert
oder gar Tausend Jahre herüber oder hinüber markten darf. Ebensowenig
darf man sich einbilden, daß durch ganz Mittel- oder Westeuropa gleichzeitig
überall das Stein- und dann das Bronzealter geherrscht habe. Der Zustand
der Civilisation war früher zwischen den einzelnen Ländern Europas noch weit
verschiedener, als heutzutage. Während der Serbe in der Herzegowina oder
Montenegro heute noch Wagen besitzt, an denen nicht ein Loth Eisen ver¬
wendet wurde, rollen wir auf Eisenbahnen dahin. Es müssen aber früher
noch schneidigere Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Völkern statt¬
gefunden haben, da der Verkehr ein weit beschränkterer als heute war und so
können wir uns recht gut vorstellen, daß z. B. in Italien schon die Eisenzeit
herrschte, während andere Länder Europas noch in der Bronzeperiode oder gar
in der Steinzeit steckten.
Nun läßt sich aber keineswegs annehmen, daß, wenn Bronze bei einem,
Volke in Gebrauch kam, sofort auch die Benutzung der Steingeräthe aufhörte
oder wenn das Eisen zur Verwendung gelangte, die Bronze gleich vollständig
bei Seite geworfen wurde. Im Gegentheil, beide werden immer noch eine
Zeit lang gemischt neben einander gebraucht worden sein, wie Segelschiffe
neben Dampfschiffen. In dem neuen englischen Werke von Evans über
das Steinzeitalter Großbritanniens*), auf welches wir hier näher
eingehen wollen, finden wir diese Vermischung durch ein sehr hübsches Bei¬
spiel ausgedrückt: „Wie die drei Hauptfarben des Regenbogens sich über¬
fangen, untermischen und gegenseitig beschatten, so auch diese drei Stadien der
Civilisation." Es liegt auf der Hand, daß die ersten Bronzegeräthe selten
sein mußten und hoch im Preise standen zu einer Zeit, als noch allgemein
Steinwaffen gebraucht wurden und ebenso ging es mit dem Eisen, das nach
seiner Entdeckung dem glücklichen Besitzer einen gewaltigen Borsprung über
seinen mit einer Bronzewaffe versehenen Gegner gab. Im Anfange mochte
ein Bronze- oder Eisenschwert nur in den Händen eines großen Häuptlings
sein , der nicht weniger stolz auf seinen Besitz war, wie heute ein Neger auf
den Besitz eines Feuergewehres inmitten seiner nur mit Speeren oder Bogen
bewaffneten Landsleute. Im Beginn jeder neuen Periode waren diese Me¬
talle nur auf Wenige beschränkt; sie nahmen nach und nach aber überHand,
verdrängten die alten Geräthe und herrschten schließlich allein, so wie der
Hinterlader jetzt den Vorderlader bei allen europäischen Heeren verdrängt hat.
Aber kehren wir zu unseren prähistorischen Zeiten zurück. Es ist nicht
blos Vermuthung, daß die drei Perioden allmählich in einander übergingen
und daß je zwei von ihnen, also Stein- und Bronzezeit, Bronzezeit und
Eisenzeit in der Grenzepoche vermischt neben einander bestanden. Die alten
Grabstätten, welche in der letzten Zeit so oft geöffnet und untersucht wurden,
geben uns hierfür die Gewißheit. So wurde z. B. zu Gristhorpe in Uork-
shire das Skelett eines britischen Häuptlings in einem Sarge, aus einem
Cichenstamme bestehend, ausgegraben, bei dem Perlen, die Samen der alt¬
heiliger Mistel und eine ganze Reihe von Steinwaffen lagen. Mitten zwischen
diesen aber ein Dolch aus Bronze, der gewiß als etwas besonders kostbares
seinem Besitzer mit ins Grab gegeben worden war, in einer Zeit, als die
Steinwaffen noch allgemein herrschten. Indessen waren die dänischen Alter¬
thumsforscher keineswegs die ersten, welche auf die Thatsache hinwiesen, daß
Stein und Bronze dem Eisen vorangingen, wenn auch ihnen das Verdienst
nicht abgesprochen werden darf, daß sie diese Einteilung zuerst systematisch
wachten und ihr allgemeine Anerkennung verschafften. Schon 1632 finden
K>ir in Clüver's Aerwaniiw antiquae lidii III darauf hinzielende Bemer¬
kungen und 1714 ist es Johannes Oesterling, Student zu Marburg, welcher
in seiner Dissertation (ac armis laxideis veterum Oattoruw) über die alten
Steinwaffen unserer Vorfahren, die Donnerkeile u. s. w. Ansichten ausspricht.
welche die als Bahnbrecher gerühmten Dänen erst 1832 zum Besten gaben.
Die alten Schätze unserer Literatur in dieser Beziehung müssen nur erst wieder
ans Licht gezogen werden und dann wird die Priorität mancher „neuen" Ent¬
deckung den Deutschen zufallen. Auch Evans hebt hervor, daß die Dänen
in seiner Heimath Vorgänger gehabt hätten; er führt den Bischof Lyttleton
und Sir William Dugdale an.
Während wir nun aber den Anfang des Eisenzeitalters in unseren Landen
um den Beginn der christlichen Aera setzen — Aegypter, Hellenen u. s. w.
kannten es ja weit früher — bleibt uns für die Fixirung der Bronze- oder
der Steinzeit ein weiter Spielraum offen, bei dem tausend Jahre früher oder
später oft kaum in Betracht kommen. Die Begriffe sind elastisch und was
in Deutschland zu passen scheint, stimmt nicht in Belgien oder England. Man
kann herüber und hinüber markten. Das Steinalter aber zeigt dieselben Be¬
ziehungen zu den beiden ihm vorangehenden Perioden wie der Gipfel eines
Berges zu dessen Abhängen und Ausläufern. Die letzteren müssen erst über¬
wunden sein, ehe wir an die Erklimmung des ersteren denken können. Da liegt die
Spitze vor uns, wir klimmen und klimmen und finden schließlich, daß sie so
hoch und steil ist, daß wir nicht hinauf gelangen können. Aber es gelingt
uns doch wenigstens mit Hilfe unsrer Instrumente sie zu messen und am Ende
kommt doch noch der kühne Kummer, der sie bewältigt, wie das Matterhorn
bewältigt worden ist. Aber noch scheint er nicht geboren zu sein. Das Stein¬
zeitalter erstreckt sich rückwärts durch all die unbekannten Reihenfolgen von
Jahrhunderten, als der Mensch schon die Erde bewohnte, aber den Gebrauch
der Metalle nicht kannte; es hat also ein Forscher, wie Evans, gerade genug
zu thun, wenn er seine Untersuchungen auf diese Periode beschränkt. Zwischen
den beiden Extremen derselben, dem unbekannten Ausgangspuncte und dem
Ende, welches die Bronzezeit berührt, müssen aber ganz entschieden sich Unter¬
abtheilungen nachweisen lassen, welche zur Erleichterung der Forschung und
des Studiums dienen. Als die Dänen die drei Abtheilungen allgemeiner
bekannt machten, überwiesen sie dem Steinzeitalter alle jene Steingeräthe und
Waffen, die in der Nähe der Erdoberfläche sowie in Gräbern, in alten Wohn¬
stätten oder in Cairns, d. h. Steinhaufen oder Steinpyramiden von Menschen¬
händen errichtet, gefunden wurden. Diese nannten sie die Steingeräthe der
Steinzeit. Diese erste Eintheilung wurde indessen allmählich als ungenügend
erkannt. Man entdeckte, daß Zeitstufen im Gebrauche der Steingeräthe selbst
vorhanden waren. Außer den nahe der Erdoberfläche, mit den Werken mensch¬
licher Thätigkeit untermischten aufgefundenen Steingeräthen, fand man in
großer Menge solche, welche ein.«eit höheres Alter anzeigten. Dahin gehören
namentlich die Funde von Steingeräthen in Höhlen, die noch unter den Tropf'
Steinschichten oder unter alten Alluvialschichten mit den Ueberresten solcher
Thiere aufgefunden wurden, die heute ganz oder in jener Fundgegend wenig¬
stens ausgestorben sind. In keinem Falle ist eine Spur von Metallgeräthen
als echter Begleiter von Steinwerkzeugen in den Knochenhöhlen, den alten
Kies- oder Thonbetten aufgefunden worden. So unterscheiden sich also schon die
Oberflächensteinwerkzeuge von den Steingeräthen der Höhlen und Allu-
vionen; aber es giebt für beide, so gewonnene Unterabtheilungen noch einen
characteristischen Unterschied. Jene von der Oberfläche sind, wenigstens in den
meisten Fällen, polirt, während jene der Höhlen oder, wie die Geologen sagen,
der quaternären Kiesablagerungen, nicht geschliffen, sondern zugehauen und
gespalten sind. Auch ergeben sich Abweichungen in der Form.
Auf diesen durchgreifenden Unterschied zwischen älterer und jüngerer
Steinperiode zuerst hingewiesen zu haben, war das Verdienst Evans'. Er
war es, welcher im Jahre 1869, als die Entdeckungen von Boucher de Perthes
^in Sommethal die Aufmerksamkeit der Forscher anregten, zuerst die Verschieden¬
artigkeit der beiden Perioden andeutete. Es folgte dann der Schluß, daß
zwischen beiden Abtheilungen ein ungeheuerer Zeitraum liege und damals erst,
nicht eher, kam man zu dem Bewußtsein von der gewaltigen Ausdehnung,
welche die Steinperiode überhaupt besitzt. Die Nothwendigkeit, Unterabthei¬
lungen herzustellen, lag vor und Sir John Lubbock schuf die Namen der pa-
läolithischen und neolithischen Periode für die alte und neue Steinzeit. Für die
Paläolithische Zeit nimmt Evans dann mit gutem Grunde abermals eine
Trennung in zwei Abtheilungen vor, er unterscheidet die Zeit der Höhlen und
die Zeit der Alluvionen, da sowohl die Fauna als die Werkzeuge dieser beiden
Unterperioden nicht unbeträchtlich von einander abweichen. Bei der Unter¬
suchung der einzelnen in unseren Museen aufbewahrten Steingeräthschcisten
beginnt Evans mit den jüngsten, jenen, die auf der Erdoberfläche gefunden
wurden und geht allmählich zu den älteren über. Das ist die richtigste Me¬
thode , denn so kann der Verfasser von dem Bekannteren zum Unbekannteren
vorschreiten. Niemand darf einen Zweifel darüber hegen, daß die oft fein und
mit großer Mühe polirten und geschliffenen Feuersteine aus der Oberflächen¬
periode wirklich das Werk von Menschenhänden sind, so sehr auch Manche
Zweifel über die älteren Sachen hegen. Solche polirte Messer, Pfeilspitzen
und Beile, mit Spitzen und Schneiden, die scharf wie aus Stahl gearbeitet
sind, zeigt uns der erste Theil des Werkes. Man betrachte nur den abgebil¬
deten polirten Celt aus Diorit, welcher zu Burwell Fen in Cambridgeshire
gefunden wurde und man muß gestehen, daß hier ein ausgesucht feines
Exemplar von bearbeiteten Steine vorliegt. Der Leser wird völlig überzeugt
von der hohen Technik, die in der Verarbeitung von Stein mit Stein Platz
gegriffen hat, und kann nun auch zu den roheren Formen übergehen, bei denen
es für das ungeübte Auge manchmal zweifelhaft wird, ob in der That Men-
schenhände dieselben geschaffen haben. Uebung macht hier den Meister und die
Erkenntniß wird nicht jedem leicht.
Ein sehr interessanter Abschnitt in Evans' Werke behandelt die Art und
Weise wie die Steingeräthe in vorgeschichtlichen Zeiten fabricirt wurden, und
als Vorbild dienen dem Verfasser die alten Feuersteinfabriken der Gegenwart,
die trotz Zündhütchen und Hinterlader noch nicht ganz ausgestorben sind.
In England werden noch wöchentlich etwa 250,000 solcher „Flinte" geschlagen,
die regelmäßig nach Afrika ausgeführt werden, wo die alten Feuersteingewehre
Europas unter den Negern Absatz gefunden haben. Zu Brandon schlägt mit
Hämmern und Stahlmeißeln ein geübter Flintschläger zwischen 16,000 und
l8,000 Stück in der Woche und so wie er noch heute sein Geschäft be¬
treibt, so auch der Urmensch im Steinzeitalter. Doch der Mann der Gegen¬
wart hat ja eiserne Werkzeuge bei seiner Arbeit, wird man einwerfen. Aber
Evans ließ große Feuersteinkugeln mit Steinhämmern und Steinmeißeln
bearbeiten und der Flintschläger stellte mit deren Hilfe Werkzeuge her, die ganz
jenen der Steinzeit glichen. Der berühmte schwedische Archäolog Nilsson hat
dasselbe Experiment gemacht und es kann daher kein Zweifel über die Art
und Weise aufkommen, wie die alten Steingeräthe hergestellt wurden. In¬
dessen moderne Experimente und die Theorie könnten uns einmal im Stiche
lassen; da helfen dann dem Forscher die alten Fabriken, die man aufgefunden
hat, die Orte, an denen die Feuersteingeräthe massenhaft von dem Urmenschen
zugehauen wurden. Und solche Fabriken sind keineswegs selten. Eine der
interessantesten hat vor wenigen Jahren Ernst Perrault an der Saone ent¬
deckt"); er wies die Geräthe, Beile, Pfeilspitzen, Hämmer, Mahlsteine in allen
Stadien der Entwicklung nach und zeigte deutlich, wie die alten Steinzeit¬
künstler arbeiteten. Eine fernere Anschauung, wie die Steinzeitmenschen ihre
Werkzeuge und Waffen herstellten, geben uns noch heute aus Feuerstein,
Obsidian gefertigte Waffen verschiedener wilder Völkerschaften in Australien,
Südamerika u. s. w., deren Verfcchrungsart meist bekannt ist. In allen Fällen
war der Polirstein, auf welchem die alten Geräthe durch Abschleifen geglättet
wurden, feststehend; er drehte sich nicht und fast immer sind die Polirstriche
auf den alten Geräthen der Länge nach verlaufend, nicht der Quere nach und
dies ist dann auch ein Kriterium der echten alten Werkzeuge. An unechten
ist für leichtgläubige Liebhaber auch schon kein Mangel mehr. Man hat aber
auch die Beweise, daß durch Sägen mit Feuersteinen unter Beihülfe von
Wasser die alten Steingeräthe hergestellt wurden, ein Prozeß, der bis in die
neueste Zeit den Neuseeländern noch bekannt war. Die Löcher und Höhlungen
in den Steinbeilen, die dazu dienten um den Schaft aufzunehmen, wurden
gleichfalls mit Sand und Wasser unter Beihilfe eines Stocks herausgeschliffen; auch
dieses Experiment wiederholte Evans, so daß wir über die Art, wie die Alten
ihre Steinwerkzeuge verfertigten, nicht mehr in Zweifel sein können. Wir
haben also folgende Methoden. 1. In der paläolithischen Zeit, jener der
Anschwemmungen, der Driftperiode der Engländer, wurden die Geräthe nur
durch Zuschlagen derselben und zum allergrößten Theile aus Feuerstein her¬
gestellt. 2. In der mittleren Periode, die man auch Renthierzeit genannt
hat, weil damals der Mensch der Steinzeit mit dem jetzt in Mitteleuropa
ausgestorbenen Ren zusammenlebte — z. B. in den französischen Höhlen und
Schussenried in Schwaben — war das Schleifen und Poliren noch nicht Ge¬
brauch, aber die Geräthe sind bereits mit weit größerer Sorgfalt als in der
paläolithischen Zeit gearbeitet. 3. In der neolithischen oder Oberflächenzeit
des westlichen Europa kommen außer Feuerstein schon zahlreiche andere Mine¬
ralien zur Verwendung; alle Geräthe sind geschliffen und polirt. 4. Die
Steinwerkzeuge, welche auch während der Bronzezeit noch im Gebrauch bleiben,
zeigen "vollendete, oft feine Formen, schöne, regelmäßige Durchbohrungen und
sorgfältige Politur. Einzelne Pfeilspitzen zeigen eine so vollendete Technik,
als seien sie aus Eisen geschmiedet.
Nachdem Evans uns genau mit der Art und Weise vertraut gemacht,
wie die Menschen der Steinzeit ihre Geräthe darstellten, läßt er die einzelnen
Geräthe Revue Passiren und bespricht deren Gebrauchsanwendung. Er be¬
ginnt, seinem Systeme getreu, mit den neolithischen Funden. Da begegnet
uns zunächst unter den Oberflächengeräthen am häufigsten der Celt oder
Steinmeißel. Es kann kein Zweifel darüber aufkommen, daß der Name dieses
Werkzeugs nichts mit den Kelten zu thun hat, sondern vom lateinischen esltis,
der Meißel, abgeleitet ist. Die Form des Celts ist typisch; er zeigt ein mehr
oder weniger flaches Blatt mit ovalem Querschnitt, mit geraden Seiten und
ist an einem Ende, dem zugeschärften, breiter als am andern; die Länge
wechselt zwischen 2 und 16 Zoll. Es sind dies die Donnerkeile des aber¬
gläubigen Landvolks, welches ihnen übernatürliche Kräfte beimaß. Noch im
Jahre 1734 war die Pariser Akademie über diese „Donnerkeile" im Unklaren,
während doch, wie wir erwähnt, zwanzig Jahre früher in Deutschland der
Marburger Studiosus Oesterling die Sache bereits entschieden hatte. Die
Cette bestehen aus sehr verschiedenem Material, Feuerstein, Thonschiefer,
Porphyr, Serpentin, Grünstein u. f. w. Auch Achat, Jaspis, Obsidian ist
dazu verwandt worden, je nach den Mineralien, die dem Menschen der Stein¬
zeit am leichtesten zur Hand waren. Im südlichen oder östlichen England
war der Feuerstein aus dem Kreidegebirge der am meisten verwandte Stoff,
während im Norden und Westen, wo der Feuerstein selten ist, metamorphische
Gesteine verwandt wurden. Man kann die Cette wieder in roh zugehauene
und feinere scheiden. Die ersteren, obgleich weit über das Land verbreitet,
werden eben wegen ihres unscheinbareren Aeußern seltener in den Sammlungen
gefunden, da sie in der Menge Feuersteine, zwischen denen sie liegen, nur für
ein geübtes Auge zu unterscheiden sind. Dann giebt es noch theilweis polirte
und ganz polirte Cette; die letzteren sind die schönsten, häufigsten, aber auch
jüngsten. Bon allen Arten führt Evans schöne Beispiele mit guten Abbildungen
an. Was den Gebrauch dieses Instruments betrifft, so war er sehr mannich-
faltig, ja der Celt kann als das universalste aller Werkzeuge der Steinperiode
betrachtet werden, wofür schon die Häufigkeit seines Vorkommens spricht.
Als Axt, Beil, Meißel, ja als Messer diente er je nach seiner Größe. Man
fällte mit ihm Bäume, höhlte Canoes aus, grub damit Wurzeln; er war
ein Geräth, das dem Menschen im Kampf mit der Natur ums Dasein äußerst
nützlich wurde und wohl weniger im Kampfe gegen den Nebenmenschen diente,
denn hierfür warenzahlreiche andere Jnstrumentevorhanden. An den Celt schließen
sich verschiedene andere ähnliche Geräthe an, die wir indessen hier nicht alle auf¬
zählen können. Es folgen dann die durchbohrten Aexte, die theils als Hausgeräth,
theils als Schlachtbeil dienten, die Hämmer und Hammersteine, letztere zum Stoßen
der Nahrung in Steinmörsern benutzt, die einfachen Mahlsteine. Letztere be¬
stehen aus einem ausgehöhlten, festliegenden Stein und einem kleinen Läufer;
zwischen beiden zerrieb der Steinzeitmensch sein Getreide, wobei natürlich eine
große Menge Sand mit ins Mehl überging. Dieses Urmodell der Mühle
gilt heute noch in Abessinien, wie in ganz Ostafrika und eine Abbildung der¬
selben kann man in Livingstone's Werk über den Sambesi finden. Die Hand¬
mühle oder Querr, auf den Hebriden und in den schottischen Hochlanden noch
in diesem Jahrhundert im Gebrauche, war nicht viel anders gestaltet und Re¬
ferent fand solche alte Quernsteine noch vor wenigen Jahren auf den Hebriden,
wenngleich außer Gebrauch gesetzt. Damit sind die friedlichen Geräthe erschöpft.
Die Waffen bestanden in Lanzen und Pfeilen, deren Spitzen häusig
genug gefunden werden; dazu mag man noch Schleudersteine gesellen und
die schon erwähnten Beile. Außer diesen Steinwaffen und Steingeräthen ge¬
hören der neolithischen Periode aber auch Instrumente aus Knochen an, die
man in alten Gräbern aufgedeckt hat. Lanzenspitzen, Asien, Nadeln aus
diesem leicht bearbeitbaren Materials wurden gefunden; dazu Hämmer und
Aexte aus Hirschhorn (letztere ^ häufigsten in skandinavischen Ländern). Die
Spindeln waren aus Stein, die persönlichen Zierrathen aus Jet, Bernstein,
Schiefer gearbeitet. Die einfachste Zierrath ist der Knopf aus Jet oder
Schiefer; schon seltener ist das Halsband aus Bernstein- oder Jet- oder
Knochenperlen, die gegen das Ende der neolithischen Periode hin, schon zu¬
weilen mit Bronzewaffen gesellt, auftreten. Man kann sich nun den Mer-
schen der Steinzeit mit Hilfe dieser Geräthe und Zierrathen vorstellen, wie er
jagt, kämpft, häuslich beschäftigt ist, wie die Frauen spinnen und Korn reiben,
wie sie sich schmücken und begraben werden. Aber die chronologische Frage
liegt nach wie vor im Argen. Aus der großen Verbreitung der Steinwerk¬
zeuge über weite Strecken und aus der großen Anzahl, die gefunden wurden
und noch gefunden werden, dürfen wir wohl auf eine lange Dauer der neo-
lithischen Periode schließen — aber wie lange sie währte, das ist ein Räthsel,
welches schwer zu lösen sein wird.
Das größte Verdienst Evans' liegt jedoch nicht in den Aufklärungen
über die neolithische, sondern über die paläolithische Zeit. Hätte er die letztere
zuerst abgehandelt, so würde, sagt er, wohl einiger Grund gegeben worden
sein, zu vermuthen, daß wir in ihren Geräthen die ersten Anstrengungen
menschlicher Kunst vor uns hätten. Allein dieses ist nicht der Fall. Die
Forscher in der frühesten Geschichte der Menschheit gleichen den Reisenden,
die nach den Quellen großer Ströme suchen. Sie erreichen eine Stelle, wo
nur noch geringe Spuren der Menschen sich zeigen und das Thierleben fremde
und bisher unbekannte Formen angenommen hat — aber ihr weiteres Vor¬
dringen wird gehindert. Sie haben die Quelle des Stroms nicht gefunden,
können aber auch nicht mit Sicherheit sagen, daß an ihm weiter aufwärts
keine Menschen mehr wohnen, so gering auch die Spuren waren, welche sie
zuletzt gefunden. stach allen Analogien zu schließen, sagt Evans, kann dar¬
über kein Zweifel aufkommen, daß die menschliche Rasse bis zu einer Periode
zurückgeführt werden wird, die älter als die pleistocene und quaternäre ist,
wenngleich der Beweis hierfür nicht in Europa aufgefunden werden dürfte.
Nach dieser Vorbemerkung wenden wir uns den zwei Abtheilungen zu,
in welche die paläolithische Zeit geschieden wurde und wir bemerken, daß wenn
auch die Ueberbleibsel menschlicher Thätigkeit dieser beiden Perioden manch¬
mal gleichalterig sein mögen, dennoch darüber kaum ein Zweifel herrschen
dürfte, daß die Geräthschaften der Höhlen jüngeren Datums als jene der
Flußanschwemmungen sind. Einige Zugeständnisse werden dabei der Ansicht
zu machen sein, welche die Werkzeuge, die man in den Höhlen fand, mehr
für „häusliche" der Steinzeitmenschen erklären, während man die in den Flu߬
anschwemmungen entdeckten als die im Freien benutzten ansehen kann, gerade
so, wie nach einem Untergange unserer Civilisation Messer und Gabel eher
in den Ruinen der Häuser, Hacke und Pflugschar aber auf dem Felde ge¬
funden werden würden. Aber dennoch deuten die Höhlenfunde auf eine jüngere
Zeit, als die Funde der Alluvionen. Wir wissen ja und das ist durch manches
Zeugniß belegt, daß noch in historischer Zeit Völkerschaften in Höhlen hausten.
Kpeeus c-rant pro «Zomimbus sagt der ältere Plinius, und Claudian, im Be¬
ginne des fünften Jahrhunderts schreibt:
I^ronaeisquo gud antris
iFnea ümNmoao leZers oeianni^ n^mpIiÄv
womit er nur die Donnerkeile, die Feuersteingeräthe, gemeint haben kann, die
in den Höhlen der Pyrenäen gefunden werden. Allein erst vor vierzig Jahren
begann man, namentlich in Belgien und Frankreich sich mit den Höhlenmen¬
schen zu beschäftigen, während die wichtigsten Entdeckungen in dieser Beziehung
durch Lartet, Christy, Falconer, Fraas u. a. erst in die letzten 10—15 Jahre
fallen. Evans selbst ist der Durchforscher der Kent's Cave bei Torquay.
Die Geschichte einer dieser Höhlen ist gewöhnlich auch die der anderen.
In den Kalksteinhöhlen, den häusigsten in England wie auf dem Continent,
findet das Wasser durch Sprünge, Ritzen und Spalten seinen Weg in den
Felsen. Wenn es, wie gewöhnlich, viel Kohlensäure in Auflösung enthält,
so beginnt es auflösend auf den Kalkstein zu wirken, es wird durch den Ge¬
halt an doppelkvhlensaurem Kalk „hart". Die Massen von Gestein (Kalk),
welche auf diese Weise gelöst und fortgeführt werden, sind außerordentlich groß,
ja so gewaltig, daß man dadurch die Erdbeben hat erklären wollen. Es ist
dies die sog. Einsturztheorie: die vom Wasser ausgehöhlten Räume stürzen
zusammen. Aber, was die Erdbeben betrifft, so ist diese Theorie als völlig
beseitigt anzusehen. Eine Berechnung, die allerdings auch Zweifel zuläßt,
giebt an, daß innerhalb eines Jahres 140 Tonnen Kalk von einer englischen
Quadratmeile Kalkboden durch das Wasser fortgeführt werden können, oder
in unsere Verhältnisse übersetzt, von einer deutschen Quadratmeile 59,500 Ctr.
Sicher sind indessen auf diesem Wege unsere Kalksteinhöhlen entstanden, die
meist lange, gewundene Gänge zeigen, und Thieren wie Menschen Zuflucht
gewährten und zwar beiden, denn es ist in vielen Fällen sehr schwierig zu
entscheiden, ob zuerst Thiere oder Menschen die Höhlen bewohnten. Gewöhn¬
lich bietet eine solche Höhle, wenn man sie zuerst entdeckt den Anblick einer
langen Spalte dar, die mehr oder minder mit verschiedenen Lagen von Geröll,
Stalagmiten, Kies u. s. w. erfüllt ist. In der Kent's Höhle fand Evans in
der Reihenfolge von oben nach unten: 1) Große Kalksteinblöcke, die von der
Decke herabgefallen und theilweise durch Stalagmit verkittet waren. 2) Eine
3 bis 12 Zoll starke Lage von schwarzer schlammiger Dammerde. 3) Stalag¬
mit, ein zusammenhängendes 1 bis 3 Fuß dickes Lager bildend, hier und da
mit Kalksteinbrocken. 4) Rothe Höhlenerde, in der Stärke sehr wechselnd und
bis zu 50 Procent eckige Kalksteinbruchstücke enthaltend. Sie ist das Lager,
in dem die Knochen ausgestorbener Säugethiere und die Geräthe von Men¬
schenhand angetroffen werden. Ueber dieser und unter dem Stalagmit zieht
sich in einem Theil der Höhle ein 2—6 Zoll starkes Band hin, aus demselben
Stoffe wie Ur. 2 bestehend, aber mit Holzkohle, zahlreichen Feuersteinwerkzeugen,
Knochen und Thierzähnen durchmengt. Ueber dem Stalagmit und namentlich
in der schwarzen Dammerde sind zahlreiche Ueberbleibsel verschiedener Perioden
gefunden worden: mit Tutter versehene Cette, Bronzemesser, Stückchen Roh¬
kupfer, über 400 Feuersteinscherben, Spindelwirtel, Knocheninstrumente, Töpfer¬
waare — einige von entschieden römischem Character — zahlreiche Säugethier-
reste von lebenden Arten und endlich einige Menschenknochen, an denen man
Spuren nachweisen will, die auf Kannibalismus deuten.
Es liegt auf der Hand, daß die Ueberreste der Kent's Höhle über dem
als Ur. 2 bezeichneten Stalagmit zur neolithischen oder Oberflächenperivde der
Steinzeit gehören und es ist anzunehmen, daß die Steinzeitmenschen jeglicher
Periode, ob Kannibalen oder nicht, die Höhlen des Districts, in dem sie
jagend und fischend umherzogen, sich zum Obdache auserwählten. Aber
mit diesen verhältnißmäßig modernen Höhlenbewohnern haben wir es nicht
zu thun; sie sind die Leute der polirten Geräthe; wir müssen jetzt die älteren
Höhlenmenschen betrachten, die in derselben Höhle wohnten, als der Stalagmit,
auf welchem die jüngeren Höhlenmenschen wandelten, noch gar nicht aus dem
Wasser abgesetzt war. Wie lange Zeit darüber vergehen mußte, ehe die ein
bis drei Fuß dicke Stalagmitdecke gebildet wurde, welche die Geräthe und
Knochen deckt, ist schwer zu bestimmen, da das Verhältniß der Ablagerungs¬
mengen nach Umständen sehr schwankt. Aber außer dem Stalagmit geben
uns die mit den menschlichen Gerathen aufgefundenen Knochen ausgestorbener
Säugethierarten einen ferneren Beweis für das hohe Alter der Menschen, die
hier lebten. Die von Boyd Dawkins aufgestellte Liste der Säugethierreste
von Kent's Cave enthält folgende Thiere: der braune Bär (Hrsus ^rews),
der Höhlenbär (II. sxelasus), der Grizzlybär (II. 5ewx), die Höhlenhyäne
(IlznkNg, szMaöa), der Höhlenlöwe (?eus I,co var. «xel-ron,), der Niesenhirsch
(Lervus meZaeews), das Renthier ((ü. Ila-anäus), der Ur (Los xrimiMnius)
der Auerochs (Los Lisov), das wollige Nashorn (Mwoceros tielwrlumrs),
das Mammuth «Msplms xrinuZemus). Eine stattliche Gesellschaft, in der
der alte Höhlenmensch der paläolithischen Zeit lebte. Boyd Dawkins hat
auch in seiner Arbeit den Unterschied zwischen der Fauna der pleistocenen,
quaternären oder paläolithischen Periode und jener der neolithischen hervor
gehoben. Von 48 gut bestimmten Arten der paläolithischen Zeit, lebten nur
noch 31 in der neolithischen und von diesen letzteren leben dauernd 25 bis
heute in England fort. Der Höhlenbär, der Höhlenlöwe, die Höhlenhyäne
sind mit den großen Dickhäutern zusammen ausgestorben; der Riesenhirsch
aber blieb noch. Das Nenthier, erst ungemein häusig in der postglacialen
Periode, lebte noch in kleiner Zahl, während der vordem seltene Edelhirsch
nun häufig wurde und die Weidegründe einnahm, welche früher das Ren be¬
sessen. Mit dieser einen Ausnahme hatten sich alle der arktischen Thierwelt
ungehörigen Vertreter, wie Moschusochs und Murmelthier, nach Norden
während^ der neolithischen Periode zurückgezogen. In der letzteren traten in
England nun Ziege, Schaf, das langstirnige Rind (Los lonKilrons) und
der Hund auf. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse in Deutschland, wie
Fraas an den Funden bei der Schussenquelle gezeigt hat.
Unter dem Stalagmit der Kent'shöhle in der Höhlenerde sind nun Löwe
und Hyäne sehr häufig; ebenso Grizzly- und Höhlenbär. Fuchs, Wolf und
Vielfraß sind selten; das Mammuth ist nicht häufig, dagegen sind das wollige
Rhinoceros, der Auerochs und das Renthier wieder gemein. Hierzu kommt
noch der säbelzahnige Tiger. Das sind die Thiere der paläolithischen Zeit in
der Höhle. In der schwarzen Dammerde aber, über dem eine Reihe von Jahr¬
tausenden repräsentirenden Stalagmitlager tritt uns die jüngere neolithische
Fauna entgegen: Hund, langstirniges Rind, Reh, Schaf. Ziege, Schwein,
Kaninchen, die alle in der Höhlenerde fehlen.
Hier ist nun naturgemäß die Frage aufzuwerfen: brachte der Mensch die
Ueberbleibsel dieser Thiere in die Höhle oder waren sie nach und nach einzeln
von Menschen und Thieren bewohnt? Wahrscheinlich lebten in solchen Höhlen,
wo die Knochen der Thiere sich ungebrochen finden, zuerst die Thiere; sie
starben dort eines natürlichen Todes und erst später siedelte der Mensch sich
dort an. Wo aber die Knochen der Thiere augenscheinlich zerbrochen, oder
gar der Länge nach aufgeschlitzt sind, um zum Marke zu gelangen, wo die
Knochen vom Feuer geschwärzt erscheinen, wo sie zwischen den Nadeln und
Spinnwirteln der Weiber liegen, da darf man wohl schließen, daß sie von
den Menschen als Jagdbeute in die Höhle geschleppt wurden. Das ist der
Fall in Kent's Cave wie Evans, im Hohlefels in Schwaben'wie Fraas
nachwies.
In noch ältere Zeit, zu einer noch früheren Rasse führen uns endlich
die Waffen und Geräthe zurück, welche in den Fluthan schwemmungen, der
sog. Drift der Engländer gefunden wurden. Dieser Zweig unserer Kunde der
Alterthümer des Menschengeschlechts ist vergleichsweise noch jung zu nennen.
Boucher de Perthes war es, der im Jahre 1847 zuerst auf die Feuersteinge-
räthe hinwies, die man in den Sand- und Kiesgruben bei Abbeville im nörd¬
lichen Frankreich ausgrub. Er nahm für sie menschlichen Ursprung in An¬
spruch und das gleiche verlangte 1855 ol-. Rigolet für die Funde von Se.
Acheul. Er hatte dort, zehn Fuß unter der Oberfläche im Verein mit den
Knochen ausgestorbener Thiere Feuersteinwerkzeuge gefunden die, so roh sie
auch waren, unzweifelhaft die Spuren menschlicher Thätigkeit zeigten. Die
Zahl der Ungläubigen war groß, zumal in Frankreich. Man glaubte die
Herren Boucher de Perthes und Rigolet hätten sich gewaltig getäuscht. Da
ging im Jahre 1858 eine englische Commission, bestehend aus Dr. Falconer,
Prestwich und Evans nach Abbeville und Amiens, untersuchte die Ablagerungen
und war so glücklich, selbst 17 Fuß unter der Erdoberfläche unzweifelhaft echte
Feuersteingeräthe in sieu zu finden. Es konnte nun nicht mehr der geringste
Zweifel an den Entdeckungen der Franzosen aufkommen und bald wurden
auch in England, Belgien, Deutschland :c. ähnliche Funde gemacht. In
England speziell erinnerte man sich, daß schon im 18. Jahrhundert in der Ziegel¬
erde von Hoxne (Suffolk), dann im Themsethal ganz gleiche Funde gemacht
worden waren, die noch in den Sammlungen aufbewahrt werden.
Werkzeuge und Geräthe aus der Periode der Flußanschwemmungen theilt
Evans mit Berücksichtigung ihres Aeußern in drei Abtheilungen: 1. Feuer¬
steinscherben , die als Pfeilspitzen oder Messer dienten. 2 Zugespitzte Messer,
Lanzenspitzen gleich. 3. Ovale oder mandelförmige Scherben mit einer Schneide.
Letztere wohl das Universalinstrument der ältesten Steinzeitmenschen darstellend'
denn diese Form wird am häufigsten gefunden. So weit bis jetzt unsre
Kenntniß reicht, zeigt kein einziges der in den Flußanschwemmungen gefundenen
Werkzeuge Spuren von Schliff oder Politur. Sie sind die rohesten, ein¬
fachsten, nur durch Zuhauen gewonnenen Geräthe, welche wir überhaupt kennen
und vom Kenner selbst kaum von den unpolirten Werkzeugen der Höhlenbewohner
zu unterscheiden. Ein Bedenken stößt uns jedoch bei diesen ältesten Geräth«
schaften unserer Erde auf: wir haben — ein oder zwei Ausnahmen abge¬
rechnet — bei den Werkzeugen keine Spuren der Menschen selbst gefunden,
keinen Skelett- oder Schädeltheil. Bei der großen Zerstörbarkeit der letzteren
indessen und dem hohen Alter, welches den Gerathen der Flußanschwemmungen
entschieden zukommt, darf dies indessen kein Wunder nehmen. Die Aechtheit
jener ältesten Zeugen menschlicher Thätigkeit steht darum nicht minder außer
Die schweizerische Revisionspartei hat letzten Sonntag bei der Neuwahl
des Nationalraths einen unerwartet großen Sieg davongetragen. Als am
12. Mai unsere Gegner den Entwurf zu einer neuen Bundesverfassung zwar
mit geringer Volksmehrheit, aber doch mit dreizehn Cantonen gegen neun zu
Grabe getragen hatten, da erwarteten wir nichts Anderes als entweder einen
entschiedenen ultramontanen Rückschlag oder doch einen Versuch, den durch¬
gefallenen Entwurf durch allerlei Zugeständnisse. Verschlimmbesserungen und
durch Ausmerzung des Grundsätzlichen dem Volke mundgerecht zu machen, ein
Versuch, welcher die Initiative im Schooße der Bundesversammlung noth¬
wendig den Gegnern der Revision in die Hände gespielt hätte.
Allein unsere Gegner thaten so gut wie gar nichts, um ihren Sieg aus¬
zubeuten. Allerdings standen die Neuwahlen vor der Thür, allerdings sahen
sie sich gegenüber eine gewaltige Minderheit, welche ihnen zudem noch durch
die gefaßte Ruhe, mit der sie die Niederlage vom 12. Mai aufgenommen,
eine gewisse Scheu einflößte. Was aber noch viel mehr als diese beiden Rück¬
sichten unserer Gegner zur Unthätigkeit einer Boa nach eingenommenem Fraße
verdammte, das war die eigenthümliche Zusammensetzung ihrer eigenen Partei
nicht etwa blos aus verschiedenen Elementen, sondern aus grundsätzlichen
Gegnern. Ihren Kern bildeten nämlich die Ultramontanen der früheren
Sonderbundscantone einerseits, die Cantonesen der protestantisch-französischen
Schweiz andererseits. Einig waren die beiden Flügel der Partei einzig dar¬
über, daß die neue Bundesverfassung zu verwerfen sei; in den Gründen hier¬
für gingen sie aus einander, ja theilweise wider einander. Zwar für Auf¬
rechthaltung der Cantonssouverainetät sprachen sich beide Theile aus, allein
die Cantonesen aus blinder Vergötterung der Cantone, die Ultramontanen
umgekehrt, weil sie die Cantone noch mehr verachteten und weniger fürchteten
als den Bund. Andererseits ist unsern französischen Cantonesen die kirchliche
Wirthschaft der Ultramontanen in der Seele zuwider. Hätte die neue Ver¬
fassung blos Artikel enthalten, welche in Sachen der Schule, der Kirchen und
Klöster endlich einmal Ordnung geschafft hätten, so wären wenigstens Waadt
und Neunburg unbedenklich für sie eingetreten, ja in letzterem Canton wurde
die kluge Mäßigung des Entwurfs nach dieser Richtung hin ausdrücklich
zum Vorwand genommen, um die Revision als zu wenig weit gehend zu
verwerfen.
Als es nun den vereinigten Anstrengungen dieser ungleichen, theilweise
feindlichen Brüder gelungen war, die Vorlage der neuen Bundesverfassung
zu Falle zu bringen, da fanden sich diese plötzlich an einander geschmiedet
wie zwei Galeerensklaven. Jeder von ihnen hätte gern etwas Besonderes ge¬
than, keiner vermochte es ohne den andern, und der Schluß war, daß eben
beide gar nichts thaten. Vor einem ultramontanen Rückschlag bewahrten
nur die Cantonesen, vor einer Partialrevision die Ultramontanen, für welche
alles und jedes Rütteln am gegenwärtigen Zustand der Dinge ein Verlust
ist. Zwar versucht wurde Mancherlei. Gaspard Mermillod, Pfarrer von
Genf, wäre gern Bischof von Gens geworden. Bisher war er blos Bischof
von Hebron und Generalvicar Marilley's, des Bischofs von Freiburg (früher
Lausanne) und Genf. Durch eine kirchliche Palastrevolution ward Marilley
genöthigt, für Genf abzudanken und Mermillod an seine Stelle gesetzt. Noch
zwar hat ihn der „Staat" Gens nicht anerkannt und der Streit beginnt erst
jetzt so recht. Aber bezeichnend an diesem Handel sind zwei Dinge: erstens
das ausdrückliche Zugeständniß von ultramontaner Seite her, daß man vor
dem 12. Mai oder bei anderem Ausfall dieses Tages solchen Gewaltact nicht
gewagt hätte, zweitens die erfreuliche Wahrnehmung, daß gerade das Haupt
der Genfer Revisionsgegner, Staatsrath Carteret, es ist, der am entschiedensten
den von Mermillod hingeworfenen Handschuh aufgenommen hat und daß der¬
selbe in Bern anfrug, ob er bei seinem Vorgehen am Bund einen Rücken
finden werde. — Neben dieser kirchlichen Streitigkeit ward von unsern Geg¬
nern auch die sogenannte cantonale Action in Scene gesetzt. Während es
für uns längst ein Satz der Erfahrung ist, daß gerade die Hauptfragen un-
seres öffentlichen Lebens gar nicht mehr auf cantonalem, sondern nur noch
auf eidgenössischen Boden gelöst werden können, stellten sich unsere Gegner
plötzlich, als wollten sie die Cantone aus ihrem Schlafe wachrufen, und ver¬
sprachen durch eine cantonale Action auf der ganzen Linie alles Gute der
verworfenen Bundesverfassung in den einzelnen Cantonen einzubürgern. Die
Hörner bliesen und schwiegen wieder. Im Canton Waadt wurde den ein¬
gesessener Schweizern aus anderen Cantonen das Stimmrecht in cantonalen
und communalen Angelegenheiten ertheilt, in Zug eine Verfassungsrevision an¬
geregt. Das war Alles. Niemand machte Ernst mit der Sache. — Kam
schließlich noch Alt-Bundesrath Dubs mit seinen schmalspurigen Eisenbahnen.
In bengalischer Beleuchtung zeigte er uns die Schweiz, durchfurcht von hundert
und hundert Localbahnen. Das Geld dazu sollte den Gemeinden kommen,
sie wüßten selbst nicht wie. Einen Augenblick ward man stutzig. Man hat
von den Fähigkeiten des Abtrünnigen immer noch eine zu hohe, von seinem
Character eine zu gute Meinung, um ihn für einen einfachen Schwindler und
Intriganten zu halten. Bald aber löste sich auch dieses Trugbild in Nebel
auf. Die Erstellungskosten dieser schmalspurigen Eisenbahnen zeigten sich be¬
deutend größer, als zuerst angenommen worden, während ihre Verwendbarkeit
zum Waarentransport so ziemlich gleich Null ist.
Während so unsere Gegner Seifenblase um Seifenblase steigen ließen,
rückte der Tag der Entscheidung immer näher. Jene gingen ohne Feldzeichen
in den Kampf, und wenn sie überhaupt eine Fahne hatten, so war diese
sorgfältig eingewickelt und unsichtbar. Wir dagegen schaarten uns, durch den
12. Mai auch nicht von ferne entmuthigt, um den Adler der Revision. In
diesem Zeichen siegten wir so ziemlich genau mit zwei Drittel gegen ein Drittel
Stimmen. Zwar zählen wir im neuen Nationalrath, trotzdem er in Folge
der Bevölkerungszunahme sich um acht Mitglieder verstärkt hat, höchstens
3—4 Nevisionsfreunde mehr als im alten, ja wir haben in Genf, in der
Waadt, in Wallis, in Unterwalden, Schwyz und Zug sogar an Boden ver-
loren. Gleichwohl ist unsere Stellung eine ungleich bessere als vor dem
12. Mai. Der Hauptvorwurf, den man damals dem Entwurf zur neuen
Bundesverfassung machte, war der, das Volk habe eine Revision des Bundes
von 1848 nie verlangt und nicht einmal gewünscht — das ganze Machwerk sei
ein „Herrenbund". Nun haben aber am 27. October alle Candidaten un¬
serer Partei dem Volke offen erklärt, daß sie, falls gewählt, sofort eine neue
Revision an die Hand nehmen würden. Wählte nun das Volk sie gleichwohl,
so erklärte es dadurch seine Zustimmung zu ihrem Vorhaben, es nahm sie
und sich selbst für eine neue Revision in Pflicht. Zudem hatte es am 12. Mai
den Anschein, als stünden Konfessionen und Nationalitäten sich entgegen, der
deutsch-protestantischen Schweiz die katholische einerseits, die romanische anderer¬
seits. Dieser Schein ist verflogen: neben den Cantonen Schaffhausen, Zürich,
Basel und Bern, die in ihren Vertretungen auch die letzten Gegner der Re¬
vision (so Zürich Dubs) ausgemerzt haben, steht nun das fast ausschließlich
katholische Solothurn und das französische Neuenburg. Die katholischen Can-
tone Luzern und Tessin sind wenigstens getheilt, getheilt auch das paritätische
Bünden; die ebenfalls paritätischen Aargau und Se. Gallen sind mit je einer
einzigen Ausnahme revisionistisch, Glarus und Thurgau ganz. So bildet
unsere Parrei ein geschlossenes Ganze mit festem Ziel, während unsere Gegner
uns nichts entgegen zu setzen vermögen, das einem Princip auch nur von
ferne ähnlich sieht, weder den katholischen Glauben noch das romanische Blut,
ja nicht einmal die Cantonalhoheit, seit zwei Drittel unseres Volkes über sie
zur Tagesordnung geschritten sind.
Durch die am 2. December zusammentretende Bundesversammlung wird
ein frischer Luftzug wehen. Höchst wahrscheinlich wird der Bundesrath ganz
aus Freunden der Revision bestellt und sodann der am 12. Mai verworfene
Entwurf zu einer neuen Bundesverfassung sofort einer neuen Berathung unter¬
breitet werden. Daß demselben — so schnell brechen gute Gedanken sich Bahn —
schon jetzt die Mehrheit des Volkes gewonnen ist, bezweifelt Niemand mehr.
Fraglich ist nur, wie zu diesem Entwurf der in letzter Zeit eher revisions¬
feindlich gewordene Ständerath sich stellen wird. Hier liegt der Knoten. Ob
Der Altmeister unserer deutschen Historiker, Leopold von Ranke, hat be¬
kanntlich die Muse seines Alters dazu bestimmt, noch eine Anzahl neuer Ar-
Venen abzuschließen und seine früheren Werke selbst noch einmal zu revidiren.
Der Historiker des sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts Mr exceller-os
hat dabei vorzugsweise die neuere Zeit ins Auge gefaßt. Wenn er schon
früher einmal den Werdeproceß des preußischen Staates in Deutschland in
einem Ueberblicke zu entwickeln unternommen, so bewegen sich seine jüngsten
Studien mit Vorliebe auf dem Boden der neueren preußischen und deutschen
Geschichte. Mit freudigem Danke nehmen wir entgegen, was er uns von
dieser Art bietet.
Vor Jahresfrist haben wir in diesen Blättern unseren Lesern Bericht
erstattet über den ersten Band eines neuen Geschichtswerkes von Ranke (Die
deutschen Mächte und der Fürstenbund. Deutsche Geschichte
von 1780 bis 1790. Leipzig, Duncker und Humblot. 1871.) Seitdem
ist der zweite das Ganze abschließende Band erschienen. Er umfaßt die Er¬
eignisse von 1787 bis 1790. den Ausgang Josef's II. Die große Virtuosität
des Darstellers diplomatischer Geschichte verläugnet sich hier nirgendwo. Die
russische und östreichische Politik, die damals in naher Allianz den orienta¬
lischen Krieg gewagt haben, erfahren eine selbständige Würdigung, welche der
einer jeden Macht innewohnenden Tendenz gerecht zu werden vermag. Neben
den allgemeinen Verhältnissen sind auch die Persönlichkeiten der maßgebenden
Fürsten und Staatsmänner so gezeichnet, daß dem aufmerksamen Leser ein
treues Bild aller das öffentliche Leben bestimmenden Factoren sich ergeben
muß. Doch es ziemt sich kaum, hier eingehender die Eigenthümlichkeiten
Ranke's darzulegen. Auch den neueren Schriften sind sie deutlich aufgeprägt.
Die Art und Weise, fast möchten wir sagen die Manier Ranke's ist nun seit
bald SO Jahren so individuell und so fest geworden, daß jeder in Deutsch¬
land sie kennt. Daß Ranke's eigene Sympathien mit dem Staate Friedrich's
des Großen sind, wer wollte daran zweifeln? Desto bewundernswerther ist
es, wie er es versteht, auch alle die andern Mächte jener Zeit zu characteri-
siren und in ihrer relativen Berechtigung anzuerkennen. Er selbst sagt ein¬
mal: „Unmöglich wäre es, unter allen Kämpfen der Macht und der Ideen,
welche die größten Entscheidungen in sich tragen, keine Meinung darüber zu
haben. Dabei aber kann doch das Wesen der Unparteilichkeit gewahrt bleiben.
Denn dies besteht nur darin, daß man die agirenden Mächte in ihrer Stel¬
lung anerkennt und die einer jeden eigenthümlichen Beziehungen würdigt. Man
sieht sie in ihrem besonderen Selbst erscheinen, einander gegenübertreten und
mit einander ringen; in diesem Gegensatz vollziehen sich die Begebenheiten
und die weltbeherrschenden Geschicke. Objectivität ist zugleich Unparteilichkeit."
Wir meinen, hierin hat Ranke sehr deutlich seine Methode historischer Be¬
trachtung geschildert. Wir fordern Unparteilichkeit vom Historiker. Aber ein
anderes ist es, auf ein eigenes Urtheil ganz zu verzichten, ein anderes ist es,
auch bei sehr entschiedener, eigner subjectiver Parteinahme die Motivirung
aller Parteien, auch der gegnerischen, aufzufassen und zum Verständniß zu er¬
heben. Soweit gehen wir freilich nicht, daß wir dem Historiker, der alle
Lagen menschlicher Verhältnisse sich zum Verständniß zu bringen hat, als
Richtschnur den Spruch aufstellen wollten: eompreuclre Wut, e'est MrÄonner
Wut; — aber das verlangen wir von ihm, daß er von jeder Seite Personen
und Zustände und Ereignisse sich einmal ansehe und so zu einem möglichst
allseitigen, d. h, möglichst objectiven Verständniß und Urtheil gelange. Die
Objectivität des Historikers besteht nach unserer Ueberzeugung nicht in der
Farblosigkeit oder Unentschiedenst seines Urtheiles, sie besteht in der all¬
seitigen Betrachtung und Beleuchtung des historischen Objectes. Und niemals
hat ein Historiker noch sich dem Ideale dieser universalhistorischen Objectivität
so weit genähert, als es Ranke zu Theil geworden ist. Welchen Theil der
neueren Geschichte er auch gerade behandeln mag, er steht immer auf der
Hohe, von der er Alles, Großes wie Kleines, überschaut. Das Größenver¬
hältniß der Hügel und Berge, der Lauf der Bäche und Flüsse, die Abstu¬
fungen der Cultur in der Landschaft; — alles das ist von seinem Stand¬
punkte aus in dem richtigen Verhältnisse sichtbar. Der Ueberblick über das
Ganze ist ihm gegeben.
Wohl wissen wir, daß weit verbreitet die Ansicht vorgefunden werden
kann, Ranke's Objectivität bestehe in dem Mangel oder der Zurückhaltung
eines eigenen Urtheiles. Wir streiten nicht mit denjenigen, die diese Ansicht
aussprechen. Wir sind überzeugt davon, daß nur die Unkenntniß Ranke'scher
Werke, die Unwissenheit, die sich im Scheine großen Wissens bläht, oder ten¬
denziöse Berläumdung und absichtliche Bosheit die Quellen solchen Urtheiles
sind: mit beiden zu streiten wäre vergeblich.
Das letzte Jahr hat noch eine zweite Frucht Ranke'scher Studien ge¬
zeitigt. 1871 erschien noch „Der Ursprung des siebenjährigen
Krieges. Leipzig, Duncker und Humblot." An die frühere preußische Ge¬
schichte, die bis zum Jahre 1756 reichte, schließt sich dies Buch unmittelbar
an. In dem großen Jahre 1870 in dem alle Herzen von den gewaltigen
Erschütterungen des deutschen Krieges erregt waren, vermochte auch der alte
Herr in Berlin nicht bei seinen sonstigen Studien sich zu beruhigen. Er nahm
eine ältere Abhandlung wieder vor, welche einer der Begebenheiten gewidmet
war, die diesen Zusammenstoß Frankreichs und Deutschlands vorbereitet
hatten. Als einen Tribut brachte er die umgearbeitete und vervollkommnete
Studie früherer Tage jetzt den großen Ereignissen und Handlungen des letzten
Jahres dar. Die Forschung der letzten Jahre hatte das Dunkel schon ge¬
lichtet, in dem lange Zeit der Ursprung des 7jährigen Krieges begraben war.
Ranke's Sache war es da, die Resultate fremder Forscher zusammenzustellen,
zu sichten und zu ordnen. Es gelang ihm noch einzelne Lücken des Materials
zu ergänzen. Mutter Natur scheint ihn mit der instinktiven Witterung be¬
gabt zu haben, so daß er wie durch Inspiration in jedem Archive sogleich
auf das wichtigere stößt und oft selbst in schon durchwühltem Boden noch
neue Schätze aufdeckt. Einen Fortschritt der historischen Information pflegen
immer Ranke's Schriften zu bezeichnen, — so auch hier. Zugleich aber ist
dies Buch eine klare und übersichtliche Zusammenfassung von allem, was
bisher über den Gegenstand gewußt wurde. Ja noch mehr. Dies Buch steht
unter den bedeutendsten und vollendetsten historischen Kunstwerken in der
allerersten Reihe. An Plastik und Kunst der Darstellung übertrifft es selbst
die besten und genialsten seiner bisherigen Leistungen. Die Disposition des
sehr verschlungenen und complicirten Gewebes diplomatischer Feldzüge ist in
einer Weise geglückt, daß der Zusammenhang alles Einzelnen immer klar über¬
schaut und jede Einzelheit selbst an richtiger Stelle zum Ausdruck gebracht
wird. Wer immer für große Politik oder für schwierige staatliche Verhältnisse
nur das geringste Interesse hat, darf dies Buch nicht ungelesen lassen.
Mittlerweile, während der Meister Neues schafft und hervorbringt, schreitet
auch die Herausgabe seiner sämmtlichen Werke rüstig vorwärts, welche
die Buchhandlung von Duncker und Humblot unternommen hat. Bis jetzt
sind schon 24 Bände erschienen. Sie enthalten die Deutsche Reformations-
geschichte (1—6), Abhandlungen zur Deutschen Geschichte 1SS5 bis
1619 (7) die Französische (8—13) die Englische Geschichte (14—22) das
Leben Wallen stein's (23)") und kleinere Abhandlungen (24).
Die Werke Ranke's bezeichnen ganz bestimmte Epochen in der Entwicklung
unserer historischen Literatur. Der Einfluß, den sie auf die historische Wissen¬
schaft ausgeübt haben, ist ein so gewaltiger und so maßgebender gewesen,
daß eine Umarbeitung der älteren Werke auch durch Ranke selbst durchaus nicht
wünschenswert!) erscheint. Aufgabe einer Sammlung der Werke, welche gleich¬
zeitig sie dem größeren Publikum leichter zugänglich macht, ist es, die literarischen
Denkmale so zu sammeln, wie sie auf ihre Zeit und die Wissenschaft gewirkt
haben. Wenn der greise Meister selbst wiederholt diesem Gedanken Ausdruck
verleiht, so wird ihm jeder Sachkundige darin zustimmen, Daneben sind aller¬
dings Aenderungen und Zusätze an vielen Stellen von ihm beliebt worden.
Gerade die letzteren, die Zusätze, find äußerst interessant und werthvoll, ebenso
die kleineren Noten, als die größeren neu beigegebenen Excurse. Aenderungen
im Texte, eigentliche Umarbeitungen des Textes begegnen nicht gerade häufig;
aber sie kommen doch vor. Dürfen wir ganz aufrichtig unsere Meinung be¬
kennen, so würden wir wünschen, daß Ranke von seinem Principe auch an
diesen Stellen nicht abgewichen wäre. Welche Stellung er zu seinen Nach¬
folgern in der betreffenden Literatur nehmen will, hätte sich doch auch in
anderer Weise darthun lassen, etwa durch besonders bezeichnete Anmerkungen
oder nachträgliche Excurse.
Der neueste (24.) Band trägt den Specialtitel: Abhandlungen und
Versuche. Erste Sammlung." Er vereinigt Altes und Neues in sich.
Ein paar Abhandlungen aus der 1832 und 1833 von Ranke herausgegebenen
historisch-politischen Zeitschrift — über die Bildung der großen Mächte Europas,
über die politischen Theorien der neuern Zeit. Eng daran schließt sich die
(lateinische) Habititationsrede des Meisters aus dem Jahre 1836 über Ver¬
wandtschaft und Unterschied von Geschichte und Politik, eine sehr geistreiche
und feine akademische Rede, die merkwürdiger Weise vielen Fachgenossen, ge¬
schweige denn dem größern Publikum unbekannt geblieben war. Auch einige
Abhandlungen, die er in der Akademie gelesen, sind hier zugängiger gemacht,
so die einschneidende Kritik der Memoiren von Pöllnitz und der Markgräfin
von Bayreuth über Friedrich Wilhelm I. Das ist jene Untersuchung Ranke's
aus dem Jahre 1849, in deren Fußstapfen neuerdings 1869 und 1870
Droysen getreten ist. Vergleicht man diese Studien der beiden Historiker
ersten Ranges mit einander, so ergiebt sich, daß das Resultat der Kritik in
seinen Grundzügen schon von Ranke vor zwei Jahrzehnten gefunden war:
Droysen hat es in Einzelheiten modificirt und durch ein äußerst fesselndes
und spannendes Detail bereichert. Jetzt bei dem Wiederabdrucke macht
Ranke Gebrauch von einzelnen Zusätzen seines Nachfolgers, der in einer
geradezu unbegreiflichen Weise von der früheren Leistung seines akademischen
Collegen seinerseits gar nicht Notiz genommen hatte. Aus den Schichten
der Akademie ist auch der Briefwechsel Friedrichs des Großen mit dem Prin¬
zen von Oranien hier aufgenommen worden.
Die preußische Geschichte behandeln auch zwei neue Abhandlungen 1)
über den Fall Danckelmann's, und 2) über die erste Redaction der Geschichte
der schlesischen Kriege von Friedrich II.: beide Artikel bringen neue Aufschlüsse
und legen Zeugniß davon, daß unser Altmeister trotz seiner Jahre in unge¬
schwächter rüstiger Geisteskraft und unverminderter Arbeitsenergie schafft und
wirkt. Möge ihm und uns noch lange, lange Zeit ein gütiges Geschick die
Fortdauer dieser Thätigkeit gewähren! Möge die volle Muße ihm noch ge¬
gönnt sein, in der er voll und reif das zum Abschlüsse führe, was er in jün¬
Nach längerer Unterbrechung erhalten Sie wieder einen Bericht aus
Schwaben. Die Zeiten sind vorbei, wo das politische Leben unseres Klein¬
staats noch die Aufmerksamkeit der Politiker in weiteren Kreisen auf sich zog,
und eine ungewohnte Ruhe, um nicht zu sagen Erschlaffung, hat in allen
Zweigen des öffentlichen Lebens Platz gegriffen. Wohl ist unsere Stände¬
kammer seit einigen Tagen zusammengetreten, um über die sehr praktischen
Fragen einer gründlichen Reform des Steuerwesens und einer weitern Aus¬
dehnung des Staatseisenbahnbaues schlüssig zu werden; aber man folgt ihren
Verhandlungen nur mit geringem Interesse: es fehlt überall an der Initiative
zu selbständigem Schaffen, zu principiellen Neugestaltungen auch auf dem
Boden der provinciellen Rechtssphäre, man fühlt selbst hier, nicht blos auf
dem Gebiete der hohen Politik, daß die Geschicke unseres Staats nicht mehr
in Stuttgart sondern in Berlin bestimmt werden.
Die deutsche Partei hat in den Commissionswahlen wie bei den Wahlen
zur Vieepräsidentenstelle ihre Candidaten mit großer Majorität durchgesetzt,
und Hölder, ihr bisheriger „Führer" ist so eben durch königl. Decret zum Vice-
Präsidenten der Kammer ernannt worden. Man sieht hieraus, daß das
Ministerium im gegenwärtigen Augenblicke eifrig bemüht ist, der deutschen
Partei die Hand zu bieten: es hat seine Stimmen in der Kammer ange-
wiesen, so weit es nur immer angeht, mit den nationalen einig zu gehen;
so daß es den Anschein haben könnte, als ob letztere gegenüber den etlichen
20 Stimmen der vereinigten ultramontanen und Volkspartei über den ganzen
Rest von 60—70 Stimmen gebieten und doch wäre dieß eine große Täuschung.
Ueberhaupt ist — von der ultramontanen Partei abgesehen — zur Zeit das
ganze bisherige Parteiwesen in Württemberg in sichtlicher Zersetzung begriffen.
Die Volkspartei wird thatsächlich nur noch durch das Interesse einiger nord¬
deutschen Literaten zusammengehalten: und die Ueberzeugung, daß auf der
bisherigen Bahn keine politischen Erfolge, namentlich keine parlamentarischen
Lorbeeren mehr zu erringen sind, ja nicht einmal mehr eine Stelle im Stutt¬
garter Gemeinderath zu erzielen ist, macht sich immer mehr geltend. Fast
möchte man glauben, diese Partei habe bei der neulichen Abgeordnetenwahl
für die Stadt Stuttgart den letzten Versuch gemacht, nochmals in die Action
zu treten, wenn auch ohne Erfolg. Denn obgleich die nationale Partei dies¬
mal auf dem schwierigen Boden der Residenz einen ganzen, entschiedenen Mann
in der Person Wächter's als Candidaten aufgestellt hatte, der dem Philister-
thum zu prononcirt erschien, und obgleich die Hofclientel noch im letzten
Augenblicke die Weisung erhalten hatte, für den Candidaten der vereinten
ultramontanen und Volkspartei einzutreten, war diese Coalition dennoch mit
ihrem Candidaten unterlegen. Dabei machte man die Wahrnehmung, daß die
strebsamen Mitglieder der bisherigen Volkspartei jetzt unter der Firma des
neu begründeten „freien Wahlvereins" bessere Geschäfte zu machen hoffen, als
unter der Fahne des Beobachters. Aber auch die bisherige „deutsche Partei"
ist trotz dieses neuesten Siegs'unverkennbar in einem Zustand der Auflösung.
In den Jahren des erbitterten Kampfes 1866—70 aus Elementen der ver¬
schiedensten Lebens- und Parteistellungen zusammengeschmiedet durch die natio¬
nale Idee, welche die sonst vorhandenen Gegensätze zurücktreten ließ, mußte
dieser Verband von dem Augenblick an gelockert werden, wo das Ziel der
bisherigen Bestrebungen mit der Errichtung des Reichs gesichert war. Die
bisherige Einheit ist zwar nach wie vor im Allgemeinen vorhanden, aber sie
kann nicht mehr zur Grundlage einer Parteibildung dienen, in einer Zeit, in
der es außer den Ultramontanen an einem Gegner fehlt, der einen weiteren
Kampf lohnen würde. Wir wollen damit nicht leugnen, daß in gewissen
tonangebenden Kreisen Stuttgarts noch eine bitterböse Stimmung gegen die
neuen Verhältnisse herrscht, welche auch bei der mit dem größten Mißtrauen
verfolgten Anwesenheit des deutschen Kronprinzen sich offenbarte, aber was
sie zu Tage fördert, sind doch nur unschädliche Spielereien, kleinliche Malicen
oder harmlose Rückerinnerungen an vergangene Größe. Müssen doch jetzt selbst
die Männer der Hofpartei „rückhaltslose Hingebung" an das Reich zur Schau
tragen und können sie ihrer wahren Gesinnung nur noch unter verschlossenem
Couvert durch die Wahl demokratischer Candidaten Ausdruck geben. Wir
haben deßhalb auch bisher die von dieser Partei herbeigeführte Berufung
v. Sicks in das Ministerium mit Stillschweigen übergangen. Denn Sick kann
trotz aller Vielrednerei und Vielgeschäftigkeit weder in Stuttgart noch in
Berlin jemals eine parlamentarische Bedeutung neben v. Mittnacht erlangen,
der seinem Collegen durch seine kalte Ruhe und durch die Sicherheit des
Handelns weit überlegen ist: Sick ist vielmehr die lebendige Personifikation
des Gegensatzes von Können und Wollen, welcher dermalen den Rest der
reichsfeindlichen Elemente in Schwaben charakterisirt. Andererseits ist er ganz
besonders geeignet, bei der neuesten Entwicklung unserer inneren Verhältnisse
die Pathenstelle zu versehen. Je mehr nämlich das deutsche Reich sich zum
Staatsganzen herausbildet, um so mehr tritt in denjenigen Sphären der
bisherigen Staatsthätigkeit, welche vom Reiche nicht berührt werden, wiederum
jener patnmoniale und patriarchalische Charakter in den Vordergrund, welcher
in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts der öffentlichen Ver¬
waltung in den Territorien der Mediatisirten eigen war. Dem Staats¬
dienst wird mehr und mehr der Stempel des fürstlichen Dienstes aufgedrückt;
man interessirt sich von Oben für die Person jedes Einzelnen mit jener liebes¬
würdigen Theilnahme und Fürsorge, welche dem kalten büreaukratischen
Staatsdienst bisher ganz fremd war. Man begnügt sich nicht mehr mit Orden
und Ehrenzeichen, sondern beschenkt bei Gelegenheit selbst die höchsten Staats,
beamten mit einigen hundert Thalern für besondere Dienste oder zur Auf¬
besserung ihrer Finanzen, Gerade diese durch die neuesten Zeitverhältnisse
herbeigeführte Verquickung des öffentlichen Dienstes mit so zu sagen patrimo-
nialen Regiment ist der passende Boden für die Thätigkeit' des Herrn v. Sick.
Während er im Innern die Rolle des Majordomus oder Hausmaers spielen
soll, ist Herrn von Mittnacht die ungleich schwierigere Rolle zugefallen, auf
dem schlüpfrigen Boden der Reichspolitik die Bedingungen der Forterhaltung
dieses harmlosen politischen Stilllebens zu sichern.
Die nationale Partei hat hiernach keinen Anlaß, zumal bei dem neuesten
Entgegenkommen der Regierungsorgane, sich dem Ministerium gegenüber feind¬
lich zu verhalten — und doch läßt sich nicht leugnen, daß gerade der neueste
woäus vivencli zwischen ihr und der Regierung wesentlich dazu beiträgt, die
bisherige Parteiorganisation zu zerstören. Es war nicht zu hindern, daß seit
1870 eine Reihe von Elementen, welche bis dahin jedes offene Bekenntniß
zum deutschen Programm vermieden hatten, gleichsam mit Regierungserlaub¬
niß der nationalen Partei beitraten und durch ihre Stellung als Abgeordnete
Einfluß auf die Richtung derselben gewannen. Die Folge war eine matte,
unentschiedene Haltung in den wichtigsten Fragen der nationalen Politik, so¬
wohl im Verhältnisse zur Regierung als zur ultramontanen Gegnerschaft.
Die Parteigenossen vom Lande aber verwarfen, hierdurch mißtrauisch geworden,
letzten Sommer auf einer Delegirtenversammlung das von Stuttgart aus vor¬
gelegte Zukunftsprogramm in der ausgesprochenen Absicht, statt allgemeiner
Redensarten eine bestimmte Aeußerung über die Zielpunkte der Partei gegen¬
über den brennenden Fragen der Gegenwart herbeizuführen, selbst auf die Ge¬
fahr hin, der Negierung auch fernerhin unangenehm zu sein. Seitdem ist
es nicht gelungen, eine Einigung über ein neues Programm herbeizuführen.
Wir erkennen hierin einen Fingerzeig für die nationale Partei Schwabens,
daß dieselbe ihren bisherigen Particularismus, eine eigene schwäbische „deutsche
Partei" sein zu wollen, aufgeben und sich nach den Gegensätzen scheiden muß,
welche die Parteigruppirung im Reichstage bestimmen, sie wird dadurch — und
die konservative Seite hat bereits einen rühmlichen Anfang hierzu gemacht —
genöthigt werden, mit den Parteigenossen in den Nachbarstaaten engere Füh¬
lung zu gewinnen, und wird so durch ihre Auflösung die Weiterentwickelung
der nationalen Sache im Süden nur fördern. —
Die Angelegenheit des Bischofs Hefele von Rottenburg hat hier zu Lande
durchaus nicht das Aufsehen erregt, welches die Manifestationen dieses Mannes
auswärts hervorgerufen haben. Die ultramontane Partei hat bei uns längst die
unbedingteHerrschastin der katholischen Kirche erlangt. Allerdings mußte man der
protestantischen Mehrheit gegenüber, welche im Lauf der Zeiten schon wieder¬
holt Anfälle von fanatischer Eifersucht gezeigt hat. mit einer gewissen Vorsicht
auftreten und es läßt sich nicht leugnen, daß Herr v. Hefele und seine Leute
sich hierbei' von Anfang an als sehr gewandte Spieler erprobt haben. Durch
die Allianz mit der Volkspartei und dem Hof wußte man das Mißtrauen
der Masse zu beschwichtigen, während man von der Regierung ein Zugestand'
riß um das andere erlangte. Unter dem Schein des Kampfes gegen den
Cäsarismus, des Eintretens für die Freiheiten des Landes gelang es, den
Nimbus des Liberalismus um sich zu verbreiten und zugleich die Fäden der
großdeutschen Bewegung überall in den Händen zu behalten. Zu diesem
Zwecke unterhält man auch jetzt ein eigenes Organ, das in Stuttgart er¬
scheinende „Deutsche Volksblatt", welches wesentlich auch auf außerkatholische
Kreise berechnet ist, und mit großem Geschicke eine gewisse ablehnende Haltung
gegen die Bestrebungen des Herrn Ketteler und Genossen heuchelt, ohne doch
den letzteren irgend wie entgegen zu treten; äußerlich tritt es als das officielle
Organ der Katholiken im Lande auf. welches sich seit Jahren der Original-
correspondenzen des Herrn v. Hefele erfreut, während es in politischen Fragen
durch engen Anschluß an die Tendenz des „Beobachters" den Beifall der
Volkspartei zu erlangen sucht. Die Masse des katholischen Volkes erhält
eine ganz andere Kost. Neben der Berliner „Germania", welche bereits in die
fernsten Winkel des Landes gedrungen ist, wird dieselbe ausschließlich durch
kleine Wochenblätter gespeist, welche, von der übrigen Presse wie von den
politischen Kreisen ganz unbeachtet, seit Jahren das katholische Publikum be¬
herrschen und in der Manier verwandter bayrischer Blättchen über Cleriker
und Laien einen Terrorismus ausüben, dem sich selbst freier denkende Männer
nicht mehr zu entziehen vermögen. Auf diese Weise ist es gelungen, dem Jn-
fallibilitärsdogma in Württemberg allgemeine Anerkennung zu verschaffen, so-
daß sich factisch nicht eine einzige kirchliche Stimme dagegen erhob. Hatte sich
doch selbst das Organ der schwäbischen Volkepartei, der Beobachter, von Be¬
ginn des Streits auf die Seite der Jnfallibilisten gestellt und jeden verun¬
glimpft, der es wagte, dem Dogma entgegenzutreten! Die Curie hat also
allen Grund, mit Herrn v, Hefele zufrieden zu sein. An die Gewissensscrupel,
von welchen letzterer in seinem Schreiben an Dr, Bauerband vom 1l. No¬
vember 1870 spricht, haben hier zu Lande nur Wenige geglaubt. Hefele war
seit den vierziger Jahren stets einer der eifrigsten Vorkämpfer der eurialistischen
Ansichten gewesen. Den Kampf zwischen wissenschaftlicher Ueberzeugung und
Unterwerfung unter das kirchliche Gebot hatte er seit Jahren hinter sich. Er
wußte, daß es sich bei der Frage von der Jnfallibilität. wie bei der unbe¬
fleckten Empfängnis?, um eine kirchliche Dogmenfabrikation und nicht um eine
Gewissensfrage handelte: für ihn wie für Herrn v, Ketteler kam vielmehr
von Anfang an nur die Opportunist in Frage. Mochte die höchste kirchliche
Gewalt dem Papst oder dem Concil zuerklärt werden, so mußte er sich unter¬
werfen, nachdem Papst und Concil einig waren. Nach seinen Antecedentien
konnte es Herrn v. Hefele mit der Forderung der moralischen Unanimität
als Bedingung der Giltigkeit der Concilienbeschlüsse unmöglich Ernst sein;
denn diese Forderung enthielt angesichts des Dissenses der deutschen Bischöfe
die eigenthümliche und in sich unhaltbare Prätention, daß die ungelehrten
spanischen, italienischen und orientalischen Bischöfe ein weniger geeignetes
Medium seien, die Eingebungen des heiligen Geistes durch ihren Mund der
Welt zu verkünden, als die gelehrten deutschen Bischöfe. Offenbar hatten die
Verlegenheiten des Herrn v. Hefele ihren Grund viel weniger im Gewissen
als in gewissen Rücksichten auf seine äußere Stellung. Er hatte sich der Re¬
gierung und den politischen Parteien gegenüber in eine schiefe Situation ge¬
bracht, welche ihn nöthigte, zur Erhaltung seines und des katholischen Ein¬
flusses überhaupt nach der einen und der anderen Seite Engagements einzu¬
gehen, welche ihm zwar äußerlich den Heiligenschein des Liberalismus ver¬
schafften, mit seinem eigenen kirchlichen Standpunkt aber unvereinbar waren.
Wie sollte es auch für die Dauer möglich sein, gleichzeitig der Liebling des
Vatikans, des württembergischen Hoff und der schwäbischen Demokratie zu
sein? Herr v. Hefele findet daher nur wenig Theilnahme, nachdem er sich
in dem Netz gefangen, das ihm seine eigene Eitelkeit gelegt hatte. Nur in
Stuttgart nimmt man die Discreditirung des Mannes, den man namentlich
den protestantischen Würdeträgern gegenüber so sichtlich bevorzugt hatte, mit
erklärlichen Bedauern auf. Hatte er doch eben erst durch seine Unterzeich¬
nung der Fuldaer Denkschrift den Beweis geliefert, daß das von ihm früher
angeordnete Kirchengebet für Kaiser und Reich nur das Product einer vor¬
übergehenden Stimmung gewesen war! —
Als neuestes theilen wir Ihnen zum Schluß noch mit. daß unser schwä¬
bischer Kriegsminister neuestens mit der Exigenz eines Extraordinariums von
nicht weniger als 17 Millionen Gulden für Militärzwecke vor die Stände-
Kammer tritt, d. h, er verlangt das 2^fache des ordentlichen Militärbudgets,
wie es feit den Bersailler Verträgen besteht. Die Grenzboten hatten sofort
nach Abschluß der Versailler Militairconvention darauf hingewiesen, daß die
Bestimmung des Art. 12, nach welcher Ersparnisse, welche unter voller Er¬
füllung der Bundespflichten als Ergebniß der obwaltenden besonderen Ver¬
hältnisse Schwabens an der Pauschalsumme von 223 Thalern pr. Mann mög¬
lich werden, zur Verfügung Württembergs verbleiben sollen — nur geeignet
sei, das Land fortwährend in Täuschungen einzuwiegen. Nun ist die Ent¬
täuschung mit überraschender Schnelligkeit gekommen: die Schwaben können
sich jetzt die Segnungen dieser Militairconvention an den Fingern- abrechnen
und das Glück, einen eigenen Kriegsminister und eine eigene Kriegsverwaltung
zu besitzen, vollauf genießen. Wir brauchen kaum zu bemerken, daß die Höhe
dieser Exigenz wesentlich den Zweck hat, für eine Reihe von Jahren der Mi¬
litärverwaltung außerordentliche Geldmittel zur Verfügung zu stellen und da¬
mit auch für die Zukunft unliebsame Anläufe auf die fernere Beibehaltung
der kostspieligen eigenen Militärverwaltung ein für allemal abzuschneiden.
Man rechnet auf die Willfährigkeit der jetzigen Kammer, deren Mehrzahl aus
Beamten besteht, von denen ein ernster Angriff auf die Reservatrechte nicht
zu erwarten ist. Diese Vorlage steht somit in engster Verbindung mit der
Neubesetzung der Gesandtschaftsposten in Wien und Petersburg. Man könnte
Angesichts der Unschädlichkeit dieser jüngsten schwäbischen Diplomaten, welche
mit geringem Gehalt eine höchst precäre Stellung auf jenen bedeutenden
Plätzen einzunehmen haben, diesen neuesten Act der schwäbischen Politik be¬
lächeln, wäre es nicht allbekannt, in welch unglaublicher Weise in den letzten
Jahren die Interessen der württembergischen Staatsangehörigen von dieser
Diplomatie vertreten worden sind. Man denke sich einen württembergischen
Bevollmächtigten in Se. Petersburg, der keine Mittel zur Repräsentation,
nicht einmal eine ordentliche Kanzlei besitzt, dem die Rechtsverhältnisse und die
Behördenorganisation des Staats, bei dem er accreditirt ist, gänzlich fremd
sind und dem auch keinerlei Berather zur Seite steht. Man wird es dann
erklärlich finden, wenn wir behaupten, daß in den letzten Jahren Behörden
und Privaten geradezu hilflos waren, wenn es sich auch nur um die einfachste
Insinuation in Rußland handelte.
Bekanntlich hat Herr v, Mittnacht die heftige Sprache des von dem
württembergischen Bevollmächtigten im Bundesrath verfaßten Majoritäts¬
gutachtens des Justizausschusses über den Laster'schen Antrag desavouirr und
behauptet, sein Stellvertreter, „„der von ihm keine detaillirte Instruction er¬
halten"", habe solches gleichsam auf eigene Rechnung gefertigt: man bringt
hiermit die Thatsache in Zusammenhang, daß Herr v. Mittnacht für die
Fortsetzung der begonnenen Arbeiten über die Civilstrafordnung einen andern
Bevollmächtigten nach Berlin geschickt hat. Daß in Nürnberg über den
Laster'schen Antrag zwischen Mittnacht und Fäustle verhandelt wurde, steht
trotz der officiellen Ableugnung im württembergischen Staatsanzeiger und in
Das Fest der Jugend naht wieder heran — das höchste Fest Aller, die
jugendfrisch in den Lichterglanz des Weihnachtsbaumes blicken, mögen sie noch
soviel an Jahren zählen. Ein guter Theil deutschen Schaffens auf allen Ge¬
bieten ist darauf gerichtet, in der kurzen Stunde der Ueberraschung des hohen
Winterfestes Andere zu erfreuen, und betrachtet den Weihnachtsmarkt als den
lohnendsten Markt des Jahres. Putz und Flitter, Süßigkeiten und Tände¬
leien oder schweres werthvolles Geräth schenken sich die Nationen, die dem
Deutschen seine Weihnacht nachzuahmen angefangen haben. Dem Deutschen
ist unter den Aepseln, Nüssen und Pfefferkuchen und der Ergänzung practischer
„Bedürfnisse", welche das Auge der Liebe für uns ersonnen hat, wenn wir sie
nicht selbst empfanden, und neben der Erfüllung stiller Wünsche oder Lieb¬
habereien, ein Geschenk gewiß: ein neues Buch. Kein Alter und kein Ge¬
schlecht, kann dieser Gabe entgehen, keines wird darauf verzichten wollen! So
Manchem wird an diesem Tage, nicht blos bis zum nächsten Christtag, son¬
dern für sein Lebtag durch ein neues Buch aus lieber Hand eine neue Welt
erschlossen. Wir Deutschen sind eben einmal „Ideologen", wie uns der erste
Napoleon nach der Schlacht von Jena spöttisch nannte. Mit derselben In¬
brunst, mit der das deutsche Kind sein Bilderbuch vom heiligen Christ er¬
bittet, hofft die deutsche Jungfrau am Weihnachtsabend auf ihre Classiker-
ausgabe, der deutsche Gelehrte auf ein lange ersehntes Fachwerk. Diese
Blätter, die mit dem Tannenbaum immer grün bleiben, haben von jeher
ihre Leser gern zur Umschau und sorgfältigen Auswahl geführt auf den Weih¬
nachtsbüchermarkt.
Ein Fest der Jugend, der jugendfrischem und jugendkräftigen Empfindung
erwartet uns. So mag denn auch an die Spitze der diesjährigen Weihnachts¬
bücherschau ein Unternehmen gestellt werden, welches Jung und Alt gleich
lebhaft ansprechen und fesseln wird.
Wir, die wir mit dem „Struwelpeter" aufgewachsen sind, und als erste
Bilderbuchpoesie die Verse einsogen: „Ein toller Wolf in Polen fraß den
Tischler sammt dem Winkelmaß", wir erkennen die Wahrheit des Wortes,
welches die heutige Erziehungsweisheit ausmacht: „Das Beste ist gerade
gut genug für Kinder."
Dieses Wort könnte als Motto an die Spitze der Jllustrirten Monats¬
hefte gestellt werden, welche Julius Lohmeyer im Verlag von Alphons
Dürr in Leipzig unter dem Titel „Deutsche Jugend" herausgibt, während
Oscar Pietsch die künstlerische Leitung der Illustrationen übernommen hat.
Denn zum ersten Male sammelt eine lediglich der Unterhaltung und Beleh¬
rung der deutschen Jugend gewidmete Monatsschrift die besten Dichter, die
hervorragendsten Jugendschriftsteller und die tüchtigsten Künstler der Nation
unter ihre Mitarbeiter. Eine Jugendzeitschrift, an welcher Dichter von Gottes
Gnaden mitwirken, wie Emanuel Geibel, Klaus Groth und Friedrich Boden-
stedt, zu welchem Eduard Möricke, Ottilie Wildermuth, Julius Sturm, Her-
manu Masius, Hermann Kurz u. A. Märchen, Erzählungen und die belehrenden
Beiträge schreiben und alle Koryphäen der deutschen Zeichnung : Ludwig Richter,
Oscar Pietsch. Paul Thumann, A. v. Werner, Albert Hendschel. Ludwig Burger,
I. v. Führich, Gustav Spangenberg, Fedor Flinzer und viele Andere die „Bilder"
liefern — eine solche Zeitschrift ist noch nicht dagewesen. Indessen nicht blos in
Bezug auf den Kreis ihrer Mitarbeiter steht die „Deutsche Jugend" unüber¬
troffen da. Auch in der Höhe und Bedeutung ihrer Ziele. So manche- große
illustrirte Zeitschrift für Erwachsene hat schon das gute Wort „national" zum
Aushängeschild gewählt, sobald es in Mode war und das Zeichen und Siegel
der Zeit ausdrückte, während in der Stimmung des Alltags von nationalem
Geist darin blutwenig zu spüren war. Von dem Verleger und dem Heraus¬
geber aber, die das vorliegende Unternehmen ins Leben riefen, dürfen wir
überzeugt sein, daß sie das an die Spitze des Werkes gestellte Versprechen
voll und ernst meinen: „an ihrem Theil beizutragen zu einer Bildung unseres
Volkes in nationalem Sinne", und „daß sie vor Allem auch dahin wirken
wollen, jene besten Schätze deutschen Wesens, auf denen zuletzt die Macht und
Größe und die Zukunft unseres Volkes ruht, deutschen Ernst und deutsche
Gemüthsinnigkeit, Sittenreinheit und frommen Sinn, Wahrheitsliebe und
Pflichttreue in dem nachwachsenden Geschlechte zu beleben und zu befestigen."
Können wir der Jugend, die aus unseren Händen die Gaben des „Christ¬
kindchens" empfängt, ein besseres Buch übergeben, als dasjenige, welches mit
diesen Vorsätzen begonnen, mit diesen Mitteln zur Vollbringung ausgerüstet
ist? Und wer wollte seinem Kinde die Freude versagen, am nächsten Schul¬
tag nach dem Feste den Mitschülern oder Mitschülerinnen zu verkünden:
„Denkt einmal, ich bin abonnirt! — auf die „Deutsche Jugend"!"
Wir bringen von jetzt an bis zum Fest jede Woche eine „Weihnachts¬
bücherschau", und bitten die für diese Rubrik geeigneten Werke behufs recht¬
zeitiger Auswahl, Vertheilung und Besprechung baldigst einsenden zu wollen.
Es geschah.Anfangs Juli 1848, daß der Name des Freiherrn von Stock-
mar dem deutschen politischen Publikum zuerst öffentlich bekannt wurde. Als
damals die provisorische Centralgewalt des Reichsverwesers in Frankfurt ein¬
gesetzt wurde, suchte man nach geeigneten Personen zur Bildung eines
Ministeriums. Natürlich, nur erprobte Liberale, als zuverlässig bekannte
konstitutionelle konnte man brauchen: sehr schwierig war die Wahl für alle
Posten, am schwierigsten aber für das auswärtige Amt. Man brauchte einen
Mann, der die europäischen Verhältnisse überschaute, der die große Politik der
Höhe schon kannte, und der dabei der deutschen nationalen Bewegung zu
dienen entschlossen war. Wenig Auswahl hatte man unter den berufsmäßigen
Politikern. Und ob man einen preußischen Diplomaten würde gewinnen
können, war noch sehr zweifelhaft. Nüchterne Erwägung hat damals schon
manchem Politiker gesagt, daß nur der engste Zusammenschluß der National¬
partei mit der preußischen Regierung irgend ein Resultat fördern könne.
Leider war diese Erwägung aber noch nicht verbreitet genug, träumerische
Begeisterung hatte die meisten Menschen gefesselt; „in Frankfurt gingen die
Dinge nach der Manier von Wolkenkuckuksheim." In diesem Frankfurter
Chaos, in welchem die Gegensätze und verworrenen Meinungen sich noch nicht
abgeklärt hatten, tauchte an einer Stelle die Ansicht auf, das Neichsministe-
rium des Auswärtigen müßte Stockmar anvertraut werden. Davon wurde
geredet und auch nach außen geschrieben. Bunsen sprach dann in London mit
Lord Palmerston. Verwundert fragte der: „Wer ist Stockmar?" „Wer anders",
entgegnete Bunsen, „als der Freiherr von Stockmar, den Sie sehr gut kennen".
Und in der That, den englischen Ministern war er schon sehr gut bekannt, in
Deutschland noch sehr wenig. In Deutschland suchte dann Gewinns in der deutschen
Zeitung über ihn zu orientiren. „Wir wissen nur Einen Mann, der dieser Stelle
gewachsen ist: von Stockmar. Er ist der vertraute und bewährte Rathgeber des
Königs Leopold, diese Eine Empfehlung mag uns genügen. Er ist aus bürgerlichem
Stande, aus einer ärztlichen Thätigkeit in die politische und diplomatische
Stellung herübergetreten und hat den einfachsten und schlichtesten Sinn bewahrt,
Kopf und Herz auf dem rechten Fleck behalten; er ist in alle großen euro¬
päischen Verhältnisse der Kabinete und Staaten eingeweiht, mit dem englischen
Staatswesen aus langer nächster Kenntnißnahme innig vertraut, mit den
englischen Staatsmännern, mit einer Reihe von Fürsten persönlich bekannt,
von Allen geachtet, von Vielen zu Rathe gezogen, bei Vielen beliebt; nur bei
Louis Philipp und in Nußland war er es nicht; auch das mag ihn uns em¬
pfehlen." Leider haben sich die Aussichten damals zerschlagen, in eine eigentlich
amtliche Thätigkeit ist Stockmar nicht eingetreten.
Es hat Stockmar zu denjenigen Staatsmännern gehört, welche ohne
selbst eine bedeutende active Rolle zu spielen doch den Ereignissen sehr nah
gestanden. Dem Gange des öffentlichen Lebens sah er hinter den Coulissen
zu, mehr wie einmal hat er bei der Regie des Schauspieles hülfreiche Dienste
geleistet, und für eingeweiht in den Zusammenhang der Ereignisse durfte er
meistens gelten. Nun ist es eine sehr glückliche Fügung, daß Stockmar von
dieser Gunst seiner Stellung, seiner Verbindungen und der durch sie gewon¬
nenen Einsicht den Anlaß genommen hat, Einzelnes sich aufzuzeichnen. Nach¬
dem er gestorben, kamen feine Papiere an seinen Sohn. Und dieser ist es,
der das ihm vorliegende Material — einige wenige für die Veröffentlichung
bestimmte Aufzeichnungen, Briefe an und von Stockmar, Tagebücher und
Niederschriften zu eigenem Gebrauch — zu einem sehr lesenswerthen und
interessanten Buche zusammengestellt hat. So viel man sehen kann, ist das
vorliegende Buch mit großem Geschick aus dem eben charakterisirten Materials
zusammengearbeitet, so daß mit Pietät die Bruchstücke lesbar gemacht und
aneinandergereiht sind, ohne den ursprünglichen Charakter der väterlichen
Aufzeichnung zu zerstören. Neben das „Leben Bunsen's" treten diese „Denk¬
würdigkeiten Stockmar's"; dem Inhalte und Quellenwerthe nach sind beide
Bücher einander ebenso verwandt wie nach dem literarischen Charakter der
Veröffentlichung. Zu einem Vergleiche beider Männer fordert mehr wie ein
Umstand heraus.
Aus einer Coburger Familie stammte Stockmar. Im Jahre 1787 ge¬
boren, widmete er sich dem Studium der Medicin, prakticirte als Arzt in
Coburg und machte als solcher die Feldzüge 1814 und 181K mit. Er hatte
den Prinzen Leopold von Coburg damals kennen gelernt; zu seinem Leibarzt
berief ihn dieser Prinz 1816, als er der Gemahl der englischen Thronerbin
Charlotte wurde. So kam Stockmar nach England. Er lebte sich damals
schnell in englische Verhältnisse ein; vorsichtig, zurückhaltend, beobachtend stand
er den englischen Dingen und Personen gegenüber. Zu einem richtigen Ur¬
theil über dieselben ist er bald gelangt. Als die Prinzessin Charlotte im
November 1817 gestorben, blieb er bei dem Prinzen, bald in der Stellung
des vertrauten Secretairs und Freundes.
Er hatte als solcher Gelegenheit, die leitenden Kreise englischer Staats¬
männer kennen zu lernen: er beobachtete gut und aufmerksam. Wir finden,
daß seine Urtheile überall die eines sichern und ruhigen Mannes sind, der
durch den Schein und das äußere Auftreten sich nicht leicht täuschen läßt,
der den Dingen auf den Grund zu sehen liebt und vor allem ein unab¬
hängiges, auf eigener Untersuchung und Beobachtung und Erwägung be¬
ruhendes Urtheil sich zu bilden versteht. Sein Auge haftete in England
nicht auf den insularen Dingen allein, die hohe Politik von Europa war
vielmehr das Objekt seiner Untersuchungen. Und so bildete er sich im Laufe
der Jahre eine ganz selbständige eigenartige Anschauung aus von der politischen
Lage der damaligen Welt, von ihren Bedürfnissen und dem wünschenswerthen
Gange der Dinge. Er lebte in England, er sah dem parlamentarischen
Wesen zu. Den damaligen Tones abgeneigt, auch persönlich wie sein Prinz
in Beziehungen zu der Opposition verflochten, wurde er ein warmer Anhänger
des liberalen Parlamentarismus: daß eine liberale constitutionelle Staats¬
einrichtung in den Culturstaaten des Continentes nöthig geworden, davon
war er durchdrungen, und ganz besonders in Preußen und Deutschland schien
diese Forderung ihm berechtigt zu sein. Gleichzeitig aber überzeugte er sich
damals auch schon von der UnHaltbarkeit der deutschen Bundesverhältnisse:
daß Preußen an die Spitze der deutschen Staaten treten, eine Leitung der
gemeinsamen deutschen Angelegenheiten an sich ziehen müsse, bildete ebenso
schon damals einen Theil seines politischen Glaubensbekenntnisses.
Wir erhalten aus jener Zeit des englischen Aufenthaltes am Hofe des
Prinzen Leopold einzelne sehr wichtige Aeußerungen von ihm. Irgend welchen
direkten Einfluß auf die englische Politik haben aber weder Prinz noch
Secretair damals gehabt. Als Prinz Leopold für die Krone des eben damals
befreiten und zu selbständigem Staate sich zusammenfassenden Griechenland in
Aussicht genommen wurde, als ihm die Frage gestellt wurde — Ablehnen
oder Annehmen — da war Stockmar nicht ganz mit dem Verhalten seines
Prinzen zufrieden. Wir sind der Ansicht, daß immer noch nicht jeder Punkt
in diesem räthselhaften Spiele um die griechische Krone aufgeklärt ist, —
neue Aufschlüsse bringen uns diese Papiere allerdings, aber nicht solche, welche
endgültig den Prinzen von dem Vorwurfe der Zweideutigkeit oder des Hin¬
haltens befreien — wir sehen hier, daß Stockmar vollständig weder die erste
Annahme noch die folgenden Zweifel auf Seiten Leopold's gebilligt hat; wir
möchten in sein Urtheil einstimmen. Eine Probe der durchaus verständigen
und realistischen Auffassungsweise politischer Fragen, wie wir sie durch sein
ganzes Leben bei ihm finden, gab er damals schon ab, als er des Prinzen
rasche principielle Annahme des Rufes ohne Sicherstellung der von ihm zu
fordernden Bedingungen mißbilligte. Die schiefe Stellung, in die Leopold ge¬
rathen ist, als er nun nachher doch noch ablehnte, war die Folge der ersten
übereilten und unklaren Zusage. Ungleich reifer als der Prinz war damals
Stockmar, Ungefähr ein Jahr nachher wurde dem Prinzen die belgische Krone
entgegengetragen. Aus dem griechischen Vorgange hatte er aber doch einiges
gelernt. Jetzt benahm er sich geschickt und klug, und so kam das Königreich
Belgien zu Stande. Stockmar begleitete seinen jetzt königlichen Freund auch
nach Belgien. Er war und blieb in der Stellung des Vertrauten; alle häus¬
lichen und politischen Fragen wurden zwischen beiden discutirt. Eine große
geschäftliche Routine und einen freien politischen Blick hatte sich Stockmar
erworben. Aus seinen Aufzeichnungen empfangen wir sehr schätzbare Infor¬
mationen, z. B. über Polignac's Annexionsgelüste 1829, über die belgischen
Verhandlungen 1831, die inneren englischen Zustände 1834. Nachher nach
dem Regierungsantritte der Königin Victoria trat Stockmar in ihren Dienst,
Leopold überließ ihn als einen zuverlässigen Berather und Freund der jungen
noch unerfahrenen Nichte.
Dem Hause Coburg ist in unserem Jahrhundert ein glücklicher Stern
aufgegangen. Nicht wenig hat zu den dynastischen Erfolgen die Persönlichkeit
Leopold's beigetragen. Neben und hinter ihm aber stand Stockmar als ein
geschickter, weitblickender Rathgeber, oft auch als guter Agent bei vertraulichen
discreten Angelegenheiten. Wie glücklich war es, daß er Leopold's Entsagung
auf den englischen Jahresgehalt angerathen und auch zu Wege gebracht! Wie
geschickt vermittelte er die portugiesische Ehe des coburgischen Prinzen Ferdinand!
Und wie eifrig und erfolgreich war sein Bemühen, der jungen englischen
Königin den Neffen Leopold's, den Prinzen Albert zum Gemahl zu geben!
Was er als der Vertraute des älteren Coburgers, dem doch in England eine
ähnliche Aufgabe zugedacht gewesen war, erfahren und gelernt hatte, war er
jetzt bereit zu Gunsten des jüngeren Coburgers zu verwerthen. Die politische
Einsicht in die englischen Verhältnisse, die angeknüpften persönlichen Be¬
ziehungen zu den leitenden Staatsmännern Englands, seine Stellung in der
coburgischen Familie und in den Hofkreisen Englands (war doch die Mutter
Victoria's die Schwester Leopold's), — alle diese Mittel stellte er in den Dienst
des coburgischen Familienprojektes einer Ehe Victoria's mit ihrem Vetter dem
Prinzen Albert.
Wir erzählen hier nicht, wie es gelungen ist, die Sache auszuführen, —
die Hauptsache war jedenfalls, daß die junge Königin dem Plane ihrer Ver-
wandten entgegenkam und daß in der wirklich herzlichen Neigung der beiden
jungen Leute die Ehestifter entschiedene Unterstützung fanden. Nachdem die
Verlobung eingeleitet war, fiel Stockmar die Aufgabe zu, den Prinzen Albert
für seinen Beruf zu erziehen. Und das ist ihm planmäßig gelungen. Den
Geist und Sinn des Prinzen selbst leitete Stockmar in seinen politischen Stu¬
dien; seine persönliche Einführung in die doch ziemlich schwierigen Verhält¬
nisse des Hofes der jungen Königin übernahm Stockmar zu arrangiren. Nicht
sehr freundlich kam man dem deutschen Prinzen bei Hofe entgegen; Stockmar
wußte die Schwierigkeiten zu mindern oder zu beseitigen. Die ökonomische
Stellung Albert's war sein Werk. Uns scheint in allen diesen delicaten
Dingen der eigentliche Regisseur Stockmar gewesen zu sein. Und fragen wir,
was das eigentlich Characteristische für sein Thun gewesen, so zeigt uns die
Beobachtung seiner Schritte und seiner Maximen, wie geschickt und verständig
er die gegebenen Verhältnisse zu nehmen wußte, wie er auf das Positive aus¬
ging und, den einmal ergriffenen Zielpunkt fest im Auge, als Practiker mit
der Realität der Dinge sich abfand. Derartige Aufgaben delicater Natur zu
lösen, derartige persönliche Verhältnisse schwierigen Characters befriedigend zu
gestalten, ist oft eine dornigere und mühvollere Aufgabe, jedenfalls ist sie
weniger lohnend, als die Leitung einer großen politischen Action. Stockmar
war ein Mann, auch diesen Dingen gewachsen. Und allen Grund haben die
Coburger in Belgien, in England, in Deutschland, diesem „geheimen Agen¬
ten" ihrer Familienpolitik für seine damaligen und späteren Dienste dankbar
zu sein.
Als Rathgeber und Freund blieb von nun an Stockmar dem englischen
Herrscherpaar zur Seite. König Leopold hatte ihn den jüngeren Verwandten
überlassen. Eine officielle Stellung hatte er eigentlich nicht mehr; Arzt der
Seelen und der Leiber war er, wie man es gerade brauchte. Im Cabinette
und in der Kinderstube machte er sich gleichmäßig nützlich. Politisches und
Persönliches besprach man mit ihm; zuverlässig und verschwiegen und voll
guten Rathes, durch Erfahrung und Einsicht gereift, so bewährte er sich in
jedem Falle; kurz er war ein Mann, auf den man bauen konnte. Und doch
hielt er sich in großer äußerer Unabhängigkeit. Er hatte sich nicht in Eng¬
land fixirt; er führte eigentlich ein Doppelleben, in Deutschland und in Eng¬
land. Seine Frau und Familie lebte in Coburg; er brachte sie nicht mit
sich an den Hof. Er kam und ging, wie es ihm paßte: er hatte sich keines¬
wegs gebunden. Um so eindringlicher und gewichtiger war das Wort seines
Rathes oder seiner Mahnung.
Der Gang der Dinge brachte es mit sich, daß dieser Mann auch der
Praetischen Gestaltung der deutschen Verhältnisse näher treten mußte. Das
ist es, was unser Interesse an ihm eigentlich anzieht.
Erinnern wir uns, daß seit 1841 Bunsen in London als preußischer Ge¬
sandter lebte. Wie es nun nur ganz natürlich war, daß die Beiden, Bunsen
und Stockmar, in vielfache und häufige Berührung mit einander kommen
mußten, so stellte sich auch eine gewisse Verwandtschaft oder Ueberein¬
stimmung ihrer politischen Anschauungen heraus, welche beiden Männern för-
derlich für die Befestigung der eigenen Ansicht werden konnte. Bunsen
schwärmte bekanntlich für die englische Verfassung als Muster der Continen-
talstaaten. Von Stockmar wissen wir, daß er derselben Gesinnung huldigte
und der Einführung freier Verfassungen auf dem Festlande Beifall und Mit¬
hilfe zollte. Wir erfahren z. B., daß er sich selbst einen großen Antheil an
der Annahme der belgischen Verfassung durch Leopold zugeschrieben hat: ihre
Schwächen übersah er nicht, aber er hielt sie doch für lebensfähig. Und
wenn Bunsen damals, 1841—1843 einer preußischen repräsentativen Ver¬
fassung das Wort redete, damals die Einführung einer solchen erwartete, so
konnte bei Stockmar dieser selbe Gedanke Wurzel fassen. Bei dem freundschaft¬
lichen Besuche Friedrich Wilhelm IV. in England lernte er nun den König
und seine Umgebung persönlich kennen. Selbstverständlich hatten Bunsen's
Gespräche ihn vorher schon orientirt. Und wenn schon früher die allgemeine
Erwägung der europäischen und deutschen Verhältnisse ihn dahin geführt, daß
er Preußen an die Spitze des deutschen Bundes gesetzt haben wollte, so richtete
sich jetzt mehr und mehr sein Augenmerk auf diese Wünsche und Bestrebungen.
Wir sehen in seinen Papieren, wie ihm die Gestaltung der preußisch-deutschen
Angelegenheiten jetzt mehr und mehr ins Herz wächst. Seine Gedanken rich¬
teten sich dabei sofort auf diejenigen Momente hin, durch welche sich solche
Programme vielleicht realisiren ließen. Er meinte, aus der östlichen Allianz
mit Oestreich und Rußland möchte Preußen sich loslösen und eine Politik
der Bundesreform versuchen. Für beides schien ihm engerer Anschluß an
England die Losung, wobei zugleich das Einlenken in constitutionelle Bahnen
in Preußen vorausgesetzt würde. Also, ganz ähnlich wie Bunsen's lautete
sein Rathschlag an Preußen. Bei der Anwesenheit des Königs in England
scheint er einzelne preußische Minister in liberalem Sinne bearbeitet zu haben.
Bei seinen Reisen nach Deutschland sah er den mächtig wachsenden öffent¬
lichen Geist in der Nation und fürchtete, daß die Führer des Staates durch
Zögern und Ablehnen gerechter Forderungen schwer einzuholende Versäumnisse
verschuldet hätten. Wir erhalten ferner die Notiz, daß 1846 aus Anlaß der
Krakauer Vorgänge Stockmar eine Denkschrift verfaßt und überreicht habe,
in welcher er Methode und Mittel einer politischen Action angab, wie er sie
für Preußen als möglich und wünschenswert!) ansah. Leider liegt der Wort¬
laut nicht vor: es wäre höchst interessant, zu sehen, wie er im Detail diese
Angelegenheit angefaßt hat. Im Sommer 1847 war er in Berlin und sah
den Sitzungen des vereinigten Landtages zu. Er war weder mit der Regie¬
rung noch mit der Opposition einverstanden: er sah aus beiden Seiten Halb¬
heit und Unklarheit. Mag bei diesem Urtheil auch die Erinnerung an das
englische Parlament seine Kritik etwas zu scharf zugespitzt haben, jedenfalls
war ihm klar geworden, daß die Dinge in Berlin endlich in Bewegung ge¬
kommen.
Schon feit einiger Zeit hatte Stockmar die Symptome einer herannahen¬
den revolutionären Krisis zu erkennen geglaubt, ganz besonders in Frankreich.
Ueber die Wirthschaft der Orleans ist von einem Anhänger der gemäßigten
Mittelparteien selten ein vernichtenderes Urtheil gesprochen worden als von
Stockmar. Die Intriguen der spanischen Heirathen, das unwahrhafte Ränke¬
spiel des scheinheiligen Guizot hatte ihn mit gerechter sittlicher Entrüstung
erfüllt: er weissagte nichts Gutes. Die Pariser Februarrevolution traf ihn
also nicht unvorbereitet; für ihn stand sie in engstem Zusammenhange mit
jener schmachvollen Geschichte der spanischen Heirathen: er hatte etwas Aehn-
liches erwartet. Als Staatsphilosoph aber schöpfte er für sein konstitutionelles
System aus dem französischen Beispiel Lehren und zog Nutzanwendungen
daraus für andere Länder.
Die deutsche Bewegung von 1848 griff ihm recht eigentlich ins innerste
Herz. Mit dem nationalen Ziele derselben war er ganz einverstanden; die
deutsche Einheit hatte seine vollste Sympathie: was er seit 1814 als Auf¬
gabe der deutschen Entwickelung gesehen, das also sollte jetzt wirklich ins
Leben treten! Die öffentliche Stimmung, welche eine größere Einheit in
Deutschland forderte, begrüßte er freudig. Im März äußerte er seine Ge¬
danken, die eine merkwürdige Klarheit uns zeigen, wenn wir sie mit den
Ideen Anderer vergleichen. Daß man in Berlin an entscheidender Stelle
hinter dem öffentlichen Impulse zurückblieb, „schweigend, zaudernd und wie
es scheint halb unentschlossen, halb dem Irrthum zugewandt", — darüber
empfand er allerdings sofort beunruhigende Bedenken. Würde sich dagegen
das preußische Königthum an die Spitze der Bewegung stellen, so hoffte er
eine dauernde Beruhigung des Volkes, sonst fürchtete er den Riß zwischen
Norden und Süden entstehen zu sehn. „Heute noch würde ich eine Consti-
tuirung sämmtlicher constitutionellen Staaten Deutschlands in einem Bundes¬
staat unter dem Vorsitz des Königs von Preußen als Kaiser von Deutschland
für möglich halten. In diesem Bundesstaat kann vor der Hand Oestreich
gar keine Stelle finden." Und wir meinen mit einer Bestimmtheit und Klar¬
heit, wie sie damals nur wenigen Politikern zu Theil geworden, sprach da¬
mals, am 18. März 1848, Stockmar die beiden Gedanken aus, von denen
die Zukunft Deutschlands in der That abhing: 1) Oestreich hat einstweilen
aus dem deutschen Bunde auszuscheiden, 2) in engem Anschluß an den oren-
ßischen Staat, unter preußischer Leitung, hat die Constituirung Deutschlands
zu erfolgen.
Und wenn wir die deutsche Revolution von 1848 auf die Ursachen ihres
Fehlschlagens hin prüfen, so steht auch der historischen Betrachtung das jetzt
unumstößlich fest. Die Gründe, weshalb ein deutsches Reich trotz aller idealen
Begeisterung nicht zu Stande kam, sind 1) der große Fehler, daß man nicht
von vornherein die Oestreicher draußen ließ, daß sie in Frankfurt mittagten
ja sich dort sogar in die erste Reihe drängten; und 2) die Lauheit und
Lockerheit, in welcher ebensowohl die nationale Partei selbst zu dem preu¬
ßischen Staate verblieb, als auch in welcher sie das deutsche Zukunftsreich zu
Preußen sich dachte.
Politische Schlagworte üben oft einen sinnbetäubenden, irre leitenden
Zauber auf die Menschen aus, einen Zauber, der selbst wohlgesinnte und
einsichtige Köpfe zu verwirren stark genug ist. Zu diesen politischen Irrlichtern
gehört Wort und Begriff „Bundesstaat". Man meinte, Deutschland solle
und müsse ein Bundesstaat sein. Man folgerte daraus, eine Centralgewalt
müsse und solle an der Spitze des Ganzen stehen, als etwas Anderes oder
Höheres, wesentlich von den Regierungen der Einzelstaaten unterschieden. Die
preußische Partei dachte daran, in irgend einer Weise dem preußischen Könige
zu seiner preußischen Königsmacht auch diese Bundesregierung zu übertragen.
Andere bundesstaatlich Gesinnte zogen vor, eine ganz neue Centralgewalt zu
backen, beliebige fürstliche oder bürgerliche Personen auszuwählen und ihnen
Organe zu schaffen. Das fatalste war aber dabei dies, daß die beiden Vor-
stellungskreise des Anschlusses an Preußen und des Bundesstaates sich nicht
scharf von einander schieden, daß ganz brave Patrioten von dem einen zum
andern übergingen. Sehr isolirt waren und blieben diejenigen Männer,
welche auf das Fundament des bestehenden preußischen Staates dies neue Ge¬
bäude des deutschen Reiches setzen wollten, welchen die Hauptsache dieser An¬
schluß oder diese Verschmelzung mit Preußen war und blieb. Die leidige
Vorstellung von einem „Bundesstaate" brachte die Meisten von diesem poli¬
tischen Axiome wieder ab; sie eben führte die Meisten dahin, neben und über
den preußischen Staatsorganen in mehr oder weniger künstlicher Weise noch
etwas gesondertes Neues für die Neichsregierung zu ersinnen.
Das eben ist nach unserm Urtheile der wesentliche Fortschritt der letzten
Jahre über die Einheitsbewegung von 1848 hinaus, daß^die fundamenti-
rende Bedeutung des preußischen Staates für das deutsche
Reich in ganz anderer Weise erkannt und festgehalten wird. Leider müssen
wir zugeben, daß Neste des alten Irrthums auch heute noch vorkommen. Auch
unter den Freunden des neuen deutschen Reiches, auch in den eigentlich natio¬
nalen Parteien unseres Reichstages und unserer deutschen Landtage giebt es
noch manche wackere Gesinnungsgenossen, welche für Schaffung von Reichsor-
ganen, für eine größere Lösung der Neichsregierung von der preußischen Ver¬
waltung schwärmen; es kommen Momente vor, in welchen der Spuk des
„Bundesstaates" auch im deutschen Parlamentshause wieder umgeht. Gönnen
wir unseren Staatsrechtstheoretikern die theoretischen Distinctionen und Be¬
griffssonderungen, — solange nur die Praxis an der 1866 und 1867 ergriffenen
Basis festhält!
Weßhalb diese Abschweifung? Es lag uns daran, die ganze Bedeutung
und Tragweite der politischen Gedanken Stockmar's hier verständlich zu
machen. Welch ein Unterschied zwischen ihm und seinen meisten Gesinnungs¬
genossen von 1848! Dieser Sohn eines deutschen Kleinstaates, der sein Leben
außerhalb Deutschlands zugebracht, der von dem Studium europäischer Poli¬
tik herkam, der die Principien des englischen Parlamentarismus in die Tie¬
fen seines Geistes aufgenommen hatte, dem dagegen der preußische Staat
eigentlich doch ein fremdes Wesen war (und auch geblieben ist), — er sprach
den Gedanken aus, der mehr wie irgend eines anderen Politikers damaliges
Programm ein politisch brauchbarer war, Vorläufer des später Verwirklichten.
So viel wir wissen, war Stockmar der Erste der im Frühjahr 1848
öffentlich an die Adresse der Frankfurter Versammlung jene beiden Grundge¬
danken mit der nöthigen Deutlichkeit aussprach. Er forderte in der deutschen
Zeitung vom 27. Mai den Ausschluß Oesterreichs; — er bedauerte diese
Nothwendigkeit, er ließ auch die andere Alternative noch offen, daß die deut¬
schen Theile Oesterreichs dem preußisch-deutschen Reiche sich unterordnen wollten;
jedoch an die damit angedeutete Zerreißung Oestreichs glaubte er selbst nicht;
es war ein Glied seiner Argumentation, mehr wie ein ernstlich gemeinter Vor¬
schlag. Am einfachsten würde ihm der Einheitsstaat erscheinen. Da aber diese
Möglichkeit wohl auf Widerstand stoßen würde, so empfiehlt er eine andere
Form, welche die vernünftige Selbstständigkeit der Theile einstweilen möglichst
schonen wollte, welche aber dem Uebergange in den Einheitsstaat allen Vorschub
leistete. An die Spitze berief er natürlich Preußen; das sollte unmittelbares
Reichsland werden, unter Kaiser, Reichsministerium und Reichsparlament; die
übrigen Staaten nannte er mittelbares Reichsgebiet, weil sich dort noch die
Partikularregierung zwischen Kaiser und Reich einschieben würde. Die formale
Einkleidung in die Formel des mittelbaren und unmittelbaren Reichslandes ist
bei dem Projekte Nebensache, — die Hauptsache ist, daß Preußen Centrum
und Schwerpunkt des Ganzen wird, und daß zunächst schon die Verfügung
über die vorhandenen Kräfte der preußischen d. h. der Neichsregierung anheim¬
fällt. Jede Reibung zwischen Preußen und dem Reich, jeder Gegensatz und
Widerspruch ist ausgeschlossen; denn die preußische Verwaltung selbst ist nach
diesem Plane die des ganzen Reiches.
Wir verschweigen nicht, daß für jeden praktischen Politiker in Preußen
noch allerlei Anstoß in jenem EntWurfe sich findet. Man hat schon als solchen
hervorgehoben, daß Stockmar Frankfurt zur Reichshauptstadt machen will.
Aber so bedenklich diese oder ähnliche Ausstellungen klingen, gewiß bleibt es,
daß sie Nebenpunkte betreffen. Die Hauptsache bleibt doch die Identität der
preußischen mit der deutschen Regierung. Man vergleiche nur diesen Entwurf
mit der Siebzehnerverfassung, in welcher ihr Autor Dahlmann schon recht
bedenkliche Concessionen an jene unklare und unbestimmte, in der Luft
schwebende Reichsidee gemacht hatte. Oder man vergleiche Stockmar's Grund¬
riß mit den gutgemeinten aber confusen und unpraktischen Vorschlägen, welche
Prinz Albert in London und Bunsen nach Deutschland gelangen ließen. Die
einfachen und gesunden Gedanken Stockmar's wurden damals gar nicht recht
verstanden, selbst die deutsche Zeitung fühlte sich durch sie befremdet. Und
die Vortrefflichkeit des Bundesstaates gegenüber seinen Projekten versuchte
man ihm deutlich zu machen. Man lockte damit aus ihm entschiedenen und
principiellen Protest gegen alle „Föderation" , gegen alle unklaren und un¬
sauberen Staatsmischungen hervor.
Dies ist der Moment in Stockmar's Leben, in welchem er als Acteur
selbst auf die Bühne trat. Als coburgischer Bundestagsgesandter kam er
nach Frankfurt, und wirkte dort für seine Ideen. Das ist die Zeit, in welcher
jene an der Spitze dieses Artikels besprochene Aussicht, Stockmar ins Reichs-
Ministerium aufzunehmen, angeregt worden ist. Man sieht: der rechte Mann
würde in die rechte Stelle gekommen sein.
Ein anderes ist es, die richtigen Gedanken über die wünschenswerthe
Gestaltung der Politik zu erfassen, zu hegen und überzeugend darzulegen: —
ein anderes, den richtigen Weg zur Verwirklichung derselben zu wissen, zu
zeigen und selbst zu betreten. In ganz eminenter Weise eigneten Stockmar
die beiden Eigenschaften, die nur in ihrer Verbindung den wirklichen Staats¬
mann erschaffen. Das xunotum saUens für die nationale Politik, deren Um¬
risse er schärfer und richtiger und cousequenter als viele seiner Genossen gesehen
und gezeichnet hatte, war die Frage, ob es gelingen könne, den preußischen
Staat, d. h. zunächst König Friedrich Wilhelm IV., für diese Idee zu ge¬
winnen. In jenem Augenblicke durfte das noch als eine offene Frage gelten.
Man nahm fast allgemein an, daß der gefühlsselige König einige Neigungen
nach dieser Richtung habe. Aber nicht nur platonische Liebe durfte man in
Berlin für die deutsche Braut empfinden, sondern man mußte auch entschlossen
sein, sie mit thätiger Lievesumfassung zu bezwingen. Daß das die entschei-
dende Frage sei, sah Stockmar sofort. Ehe man handeln konnte, mußte man
wissen, wie weit der König zu einer wirklichen Action mitwirken würde.
Dies zu constatiren, schlug Stockmar den directen Weg ein; er legte
schon im Mai dem preußischen Könige seine Gedanken vor. Er erhielt keine
Antwort. Dann ging er selbst nach Berlin und hatte mit Friedrich Wilhelm
eine Unterredung am 8. Juni, über deren Inhalt leider uns nichts positives
bekannt wird. Für Stockmar war das Resultat die Einsicht, daß Friedrich
Wilhelm IV. nicht der Mann war, der auf jene deutschen Gedanken und
Projekte eingehen würde. Also gleich beim ersten Schritte ein negatives Er¬
gebniß, die Klarheit darüber, daß die erste und absolut nothwendige Voraus¬
setzung des Stockmar'schen Planes nicht vorhanden sei.
Es charakterisirt Stockmar, daß er nun dem Frankfurter Jubel, auch
seiner Freunde, als Pessimist und Skeptiker gegenüber stand. Ihm mußte
die Hoffnung Deutschlands damals schon als gescheitert gelten. Er selbst
fühlte sich nun auch weder berufen noch geneigt, persönlich einzugreifen, an¬
zuthun. Eine andere trübe Einsicht hatte er im Juni noch aus Berlin
mitgebracht: die tiefe Abneigung des Königs gegen das constitutionelle System
hatte sich ihm offenbart; ihm war klar, daß eine Verständigung mit einer
gemäßigt liberalen Mittelpartei über das Werk der preußischen Verfassung
der König gar nicht wünschte, daß ihm die Ausschreitungen der Berliner
Straßendemokraten schon darum gar nicht so unlieb waren, weil sie Anlaß
und Vorwand zur Reaction bilden mußten. Natürlich stimmte dies seine
Hoffnungen noch tiefer herab. Resignation in dies negative Ergebniß war
ihm die Frucht der Berliner Reise.
Nun sind allerdings noch Augenblicke wiedergekommen, in denen auch
Stockmar die Möglichkeit wieder aufleuchtete, daß es dennoch gut gehen könnte-
So, als Bunsen im Juli nach Deutschland kam, als man von dem Eintritts
dieses persönlichen Freundes des preußischen Königs in das Reichsministerium
sprach, — dann würde auch Stockmar sich nicht mehr entzogen haben. Auch
diese Combination scheiterte, weil die Verständigung zwischen der deutsch¬
preußischen Partei in Frankfurt und der preußischen Regierung sich doch nicht
recht anknüpfen wollte.
Wir verfolgen nicht weiter die einzelnen Schritte, die Stockmar noch im
Herbste und Winter that, um das Terrain zu erforschen, ob sich vielleicht
doch noch eine Operation lohnen würde. Ganz so unmöglich konnte es doch
für einen entschlossenen patriotischen Mann nicht sein, in Berlin Ordnung zu
schaffen, eine preußische Verfassung ins Leben zu rufen, wenn nöthig auf dem
Wege der Octroyirung, und zugleich den werdenden deutschen Reichsbau fest
an Preußen zu binden. Besonnen, practisch lauten da seine Ratschläge und
Briefe. Zu nüchterner Vorsicht ermahnte er besonders jene Freunde in
Frankfurt, auf das wesentliche wies er sie hin. Die Illusionen der Frank¬
furter Heißsporne hatte er niemals getheilt. Und jene Schwankungen des
politischen Urtheils, wie sie bei Bunsen in so tragikomischer Weise uns
begegnen, hatte er also nicht durchzumachen. Wer den Unterschied eines
sanguinischen, phantasiereichen und ungenauen Kopfes und eines nüchternen
verständigen, exacten Realisten erfassen will, muß die Berichte mit einander
vergleichen, welche Bunsen und Stockmar von einzelnen wichtigen Gesprächen
in ihren Denkwürdigkeiten uns hinterlassen haben. Bei Stockmar Erzählung
und Sprache präcis, knapp, mit scharfem Verständniß das wesentliche hervor¬
hebend — bei Bunsen alles verschwommen, unsicher, unkritisch, so daß der
Leser häusig der Gefahr sich ausgesetzt sieht, den thatsächlichen Bericht mit
den subjektiven Empfindungen Bunsen's über diese Thatsachen durcheinander¬
gemengt zu empfangen!
Dem Erfurter Parlament gehörte Stockmar auch an, ohne große Hoff¬
nungen von demselben zu hegen. Darauf ist er dann wieder in seine alte
Stellung zum englischen Königshofe zurückgekehrt, bis er hochbetagt sich nach
Coburg zurückzog: die Muße seines Alters hat er in zufriedenen Stillleben
dort hingebracht. —
Seine Denkwürdigkeiten sind reich an Aufschlüssen über die deutsche, die
englische und die europäische Lage auch aus dem Jahrzehnte nach 1848.
Neue Thatsachen, neue Lichter für eine Geschichte der Zeit bringen sie
uns an mehreren Stellen. Es ist nicht möglich, hier das Einzelne zu er¬
wähnen. Der historische Kritiker wird hier die gute Information und das
besonnene Urtheil Stockmar's überall hochschätzen und auch da ihm Aner¬
kennung nicht versagen, wo sein Urtheil für ein befangenes und einseitiges
gelten muß. Es ist nicht zu vergessen, daß Stockmar zum englischen Hofe
die engsten Beziehungen hatte, — der englische Standpunkt macht sich mehr
wie einmal geltend. Es ist auch nicht zu verkennen, daß am Maaße eng¬
lischer Verfassungszustande und englischer Politik vielfach seine Urtheile sich
gebildet haben, so z. B. beim Ausbruche des orientalischen Krieges. Ja, wir
meinen, in jenen Jahren, nach dem Fehlschlagen der deutschen Sache, für die
er so lebhaft sich interessirt hatte, sei er nicht mehr ganz ohne Verstimmung
über Preußen und Deutschland geblieben. Seine Urtheile über Preußens
Staatsmänner die seine deutschen Pläne ihm zerstört hatten, sind jetzt ein¬
seitiger geworden. Und der liberalistisch-englische Standpunkt, in welchen sich
vielfach auch die Interessen und die Neigungen der coburgisch-englischen
Herrscherfamilie verschlingen mochten, haben ihm zuletzt eine unbefangene
Würdigung Preußens sehr erschwert und fast völlig verdunkelt.
Für den Politiker und den politischen Beobachter unseres Jahrhunderts
sind die Bemerkungen, die sich durch seine Denkwürdigkeiten zerstreut finden,
von ganz unschätzbarem Werthe. Heben wir hier noch eines seiner reifsten
und bestdurchdachten Urtheile heraus. Wir sagten schon, daß er auf dem
Boden des liberalen England sich seine politischen Dogmen gebildet und vom
englischen Parlamentarismus seinen Geist ganz erfüllt hatte. Und doch kam
er am Abende seines Lebens zu der Einsicht, daß die neuere Entwicklung
Englands seit der Reformbill, die gerade den constitutionellen Politikern auf
dem Continente als die Vollendung des englischen Verfassungsideales erscheint,
auf einen Abweg gerathen sei. Im Juli 18S8 formulirte er seine Ansicht
dahin, daß es seit der Reformbill im englischen Parlamente eine Partei gebe,
deren Ziel die Om n ipotenz desHauses der Gemeinen sei, eine Partei,
welche die Vernichtung der Theorie und Praxis der alten parlamentarischen
Verfassung beabsichtige und erstrebe. Die Omnipotenz des Unterhauses sei der
Umsturz selbst und der Tod der wahren alten Verfassung von England (tue
omnipotönev ok ein? Housv ot Lowinons is Jnvolution itseli ana Ü6!un to
dirs druf viel englisü Loustitutiou). Auf diesen Satz müßte sich eine neue
Partei erst bilden in England, eine Partei welche es der Regierung möglich
mache, durch das Gleichgewicht der drei Staatsfactoren und nicht blos nach
Gutdünken des Einen derselben zu handeln. Er schließt: „Ich verzweifle
nicht, aber unmuthig und bange kann es Einem werden, wenn man betrach¬
tet, welchen Ministern und welchem absurd usurpatorischen Hause der Gemeinen
Englands Schicksal gegenwärtig in die Hand gelegt ist. Es wird nicht
untergehen, aber es hat bereits an seiner früheren Weltstellung bedeutend ver¬
loren, und dieser Verlust kann in nächster Zeit noch größer werden."
Der Scharfblick Stockmar's ist durch die Ereignisse von 1858 bis 1871
glänzend bestätigt. Jeder unbefangene Beobachter der englischen Entwickelung
in unserer Gegenwart wird diese Sätze unterschreiben.
Wir haben einige Male Bunsen und Stockmar gegenüber gestellt. Zu
einer solchen Vergleichung ladet uns alles ein. Ein moderner Plutarch würde
diese beiden Lebensläufe in Parallele zu einander erzählen können. Und wie
urtheilt Bunsen, der ja den englischen Verhältnissen in ähnlicher Weise seine
Politische Richtung verdankt, über dies neuere England? Anfangs 18S3 hat
er sein Gutachten abgegeben. „Die allmählige Kräftigung des monarchischen
Elementes im Laufe der gegenwärtigen Regierung macht sich immer mehr
bemerklich. Der Thron gelangt mehr und mehr wieder zu voller Ausübung
seiner gesetzmäßigen Rechte. Seit Wilhelm III. ist nie ein Monarch so ein¬
flußreich und selbstständig gewesen, als es die Königin Viktoria nach einer
17jährigen Negierung geworden ist. Sie ist die erste, welche nichts weder zu
verbergen, noch von den Ministern für sich und das königliche Haus zu ver¬
langen hat. So steht sie dem aus der Aristokratie gebildeten Ministerium
viel freier gegenüber, als ihre hannöverischen Borgänger. . . . Die Monarchie
steht da, wie sie dastehen soll nach der englischen Verfassung, als Beschützerin
des aristokratischen sowohl, als des demokratischen Elementes. . . . Die uner¬
schütterliche Basis dieser steigenden Erstarkung des königlichen Ansehens liegt
in der Treue und Wahrhaftigkeit des Characters der Königin und der Rein¬
heit aller Familienverhältnisse des königlichen Hauses. . .. Aus diesen That¬
sachen allein folgt schon, wie kurzsichtig diejenigen Cabinette und Politiker
des Festlandes sind, welche auf einen innern Verfall Englands und seiner Mo¬
narchie, seiner Aristokratie und seines Wohlstandes rechnen." —
Wir gestehen, wir haben selten ein politisches Urtheil mit größerem Er¬
staunen gelesen. Es klingt ganz unglaublich, daß ein historisch-politisch ge¬
bildeter Mann so etwas niederschreiben konnte. Bei Journalisten untergeord¬
neter Bildung mag so etwas passiren. Daß aber ein Staatsmann durch die
öffentlichen Loyalitätsdemonstrationen für die persönlich beliebte königliche
Frau sich imponiren läßt, für sie, deren Tugend und Sittenreinheit und ver¬
ständige Biederkeit einen wohlthuenden Contrast bildet zu dem lange genug
ertragenen Blödsinn und. der Liederlichkeit auf dem Throne, — daß ein Staats¬
mann die persönliche Achtung der englischen Nation vor dieser Königin nicht
zu unterscheiden weiß von der politischen Bedeutung des königlichen Factors
im englischen Staatsleben: das glaubt man nur. wenn man es schwarz auf
weiß vor sich sieht. Ueberhaupt, ein Vergleich Bunsen's und Stockmar's fällt
nirgendwo zu Bunsen's Gunsten aus.
Wahrlich, tief zu beklagen ist die bedauerliche Fügung des Geschickes,
daß ein Mann von Stockmar's politischem Talente seine eminenten Kräfte
nicht dem practischen Dienste seines deutschen Vaterlandes dauernd ge¬
widmet hat!
Mannigfaltig sind die Erscheinungen, in welchen die seit der Thronbe¬
steigung des Kaisers Alexander II. zur Geltung gelangte Regierungsweise
sich als eine planmäßige Neuerung und Verbesserung früherer Zustände be¬
kundet. Mit freudigem Selbstbewußtsein und nicht ohne ein mitleidiges
Lächeln durfte das lange Verzeichnis; der zeitgemäßen Umgestaltungen, deren
sich das russische Reich seit dem 19. Februar 1853 erfreut, die seitens der
„Times" vor der Berliner Drei-Kaiser-Zusammenkunft geäußerte Hoffnung
entgegennehmen- „Kaiser Alexander werde Einfluß empfangen, keinen ausüben;
die Grundsätze der Freiheit dürften dadurch in das Herz Rußlands getragen
werden. Es ist wundersam, mit welcher Hartnäckigkeit sich das Ausland im
Allgemeinen einer genauen und vorurtheilsfreien Würdigung der hier in
neuester Zeit vollzogenen Thatsachen verschließt; man stellt sich Rußland noch
immer als Sibirien, die Gegenwart noch immer als Vergangenheit vor. Die
Grundsätze der Freiheit haben längst auch im Herzen Rußlands Wurzel gefaßt.
— An der allgemeinen Wiederbelebung hat selbst die orthodoxe griechische
Kirche ihren Antheil, und kaum kann irgend ein anderes Zeichen überzeugen¬
der darthun, als dieses, wie kräftig der Geist der Neuzeit auch östlich der
Weichsel sich Bahn bricht. Schweigen! — war der kategorische Imperativ
für die russische Gesellschaft einer jetzt alternden Generation, die nun blöden
Auges auf die Vergangenheit wie auf einen Traum, nicht selten scheuen und
bangen Blickes auf die Gegenwart, auf die Zukunft und trauernd auf die
gute alte Zeit zurückschaut. Schweigen! — war vor Allem der Grundsatz
der rechtgläubigen Kirche, dem sich die Hirten nicht weniger entschlossen selbst
unterwarfen, als sie es von der Heerde verlangten. Abgeschlossen in sich und
nach außen ging sie still und lautlos ihren Weg.
Das ist im Laufe des letzten Jahrzehnts ganz anders geworden; man
schweigt nicht mehr, man redet und läßt reden. Man erkannte auch hier, daß
eine möglichst weit verbreitete Aufklärung der Sache nur nützen könne. Man
ließ die Schranken nach innen und außen fallen; gestattete dem Priester den
Verkehr und freien Meinungsaustausch mit den Laien, diesen die geistige Mit¬
arbeit an dem Werke religiöser Aufklärung und ging über die Grenzen des
Reiches hinaus, um mit anderen Kirchen, denen man sich verwandt fühlte,
Beziehungen anzuknüpfen, dogmatische Erörterungen zu pflegen und wo mög¬
lich Bündnisse zu schließen. Man muß mit dem luftdichten Verschluß, unter
dem die russische Kirche früher leben und blühen zu können vermeinte, mit
dem mumienhaft vertrockneten Geistesleben verflossener Tage vertraut sein, um
die tiefgehende Bedeutung, die Großartigkeit dieser Wandlung voll würdigen,
den Entschluß zu einer inneren Wiedergeburt auch vom Standpunkt des
Andersgläubigen mit ganzer Freudigkeit begrüßen zu können. Die orthodoxe
Kirche spricht! Und sie spricht mit einer Freisinnigkeit und Offenherzigkeit,
welche beweisen, wie sehr sie von der Nothwendigkeit ihrer Neugestaltung
durchdrungen, wie entschieden der Bruch mit der Vergangenheit ist.
Das Dunkel, in welches die orthodoxe Kirche sich früher hüllte, ver¬
wehrte der Allgemeinheit bisher den Zutritt zu ihrer Lehre und zu ihrer Ver¬
fassung. Es war schwer die äußeren Erscheinungen mit den Satzungen, mit
der innern Gestalt in einen kritischen Vergleich zu setzen. Das Urtheil über
die Kirche war daher nicht immer ein günstiges. Heute, wo sie vor aller
Welt verkündet, welches ihre leitenden Anschauungen sind und welche Refor¬
men sie einzuführen bereit ist, darf bekannt werden: sie ist besser als ihr Ruf.
Und wenn diesen freimüthigen Erklärungen die That gefolgt sein wird, dann
wird der allgemeine Ruf auch nicht mehr schlechter sein als sie selbst. Denn
wir dürfen nicht vergessen, daß diese Erklärungen abgegeben worden find, zu
derselben Zeit, wo von Rom aus durch das Dogma der Unfehlbarkeit eine
hochmüthige Hierarchie der Gesellschaft und dem Staate den Krieg erklärt!
Aber nicht erst seit Jahr und Tag hat die russische Kirche die bezeich¬
nete Stellung und Haltung gewählt. Schon im Jahre 1862 hatte sich zu
Moskau ein „Verein der Freunde geistlicher Aufklärung" gebildet, dessen Zweck
dahin ging: „die Verbreitung und Entwickelung religiös-sittlichen und an¬
deren Wissens zu fördern, welches den Bedürfnissen des orthodoxen Glaubens
entspricht, und zwar sowohl unter der Geistlichkeit wie unter den übrigen
Volksclassen, durch Herausgabe von Schriften religiösen und sittlichen Inhalts
und kurzer gemeinverständlicher Abhandlungen ähnlicher Art zur Erbauung
des Volkes, durch Vorlesungen über Gegenstände aus dem Gebiete des ortho¬
doxen Glaubens, der Kirche und des christlichen Lebens und durch andere
Mittel." Ohne der Zustimmung der obersten Kirchenbehörde versichert zu
ein, wäre es unmöglich gewesen, ein derartiges Unternehmen zu beginnen.
Mit dieser und der alsbald erfolgten Allerhöchsten Bestätigung des Vereins
war der Grundsatz der kirchlichen Reform und der Theilnahme der Laienwelt
an der Lösung religiöser Fragen öffentlich anerkannt. In die Oeffentlichkeit
ist indessen, wenigstens später, von der Wirksamkeit des Vereins nicht mehr
viel gedrungen.
Andererseits machten sich die neuen Lebenszeichen auch nach außen hin
geltend. Es wurden mit der bischöflichen Kirche in England und Amerika
Unterhandlungen angeknüpft, um eine Vereinigung mit derselben anzubahnen.
Diese Unterhandlungen zogen sich in die Länge, wurden abgebrochen und
wieder aufgenommen und hatten doch für einzelne dringende practische Ver¬
hältnisse einigen Erfolg. So lief im Herbst 1870 bet dem heiligen spröd,
der obersten Verwaltungsbehörde der russischen Kirche, von dem Ausschuß
der amerikanischen Bischöfe ein Schreiben ein, mit dem Vorschlage, für das
Gebiet Aljaska, also für die ehemals russischen Besitzungen in Nord-Amerika,
eine beiderseitige Gemeinschaft bei Verabreichung des Abendmahls an die An¬
gehörigen beider Kirchen einzuführen. Diesem, an sich kleinen Zugeständniß
war doch eine principielle Bedeutung nicht abzusprechen. Die Vorsicht, mit
der man zu Werke ging, hatte jedenfalls eine eingehende Prüfung der beiden
Glaubenslehren und Kirchencinrichtungen im Gefolge, als deren werthvollste
Frucht hier der Uebertritt des Dr. Overb cet zur griechischen Kirche betrachtet
wird. Denn dieser hat es nun, mit Genehmigung .des heiligen Synods,
unternommen, in England innerhalb der anglikanischen Gemeinde unter Bei-
beHaltung des Ceremoniells der westlichen Kirche eine locale orthodoxe Kirche
zu stiften.
In demselben Maße, als man sich der bischöflichen Kirche freundschaft¬
lich zu nähern bestrebt war, wuchs die Kälte gegen Rom. Längst hatte man
die Erfahrung machen müssen, daß die katholische Geistlichkeit, besonders in
den westlichen Gegenden des Reichs , das religiöse Gebiet nicht - als ihr ein¬
ziges betrachte, daß ihr dort weit verbreiteter Einfluß in politischer Beziehung
nicht unbedenklich sei. Die Geschichte des letzten polnischen Aufstandes führte
zu der Erkenntniß, daß diesem Einfluß auf das Entschiedenste gesteuert wer¬
den müsse. Man entschloß sich, der römischen Curie jede Macht über die
katholischen Unterthanen Rußlands zu entziehen. Der mit Rom gepflogene
Meinungsaustausch flößte nur die Unwandelbarkeit dieses Entschlusses ein und
während die Unterhandlungen noch fortgesetzt wurden, schritt man zur That
Was hierauf den polnischen Katholiken gegenüber dabei auch geschehen sein
mag, man irrt, wenn man darin nur Ausschreitungen eonfessioneller Un¬
duldsamkeit erblickt. Die Beweggründe waren politischer Natur. Polen sollte
beruhigt, wirklich ein für alle Mal eine russische Provinz werden. Der dem
Reiche unerläßliche innere Friede konnte aber so lange nicht gesichert gelten,
als der bisherige Einfluß der römischen Curie auf das Volk fortdauerte. Nun
duldete man einfach nicht länger, daß russische Unterthanen noch eine an¬
dere Gewalt als die Gesetze Rußlands anerkannten und that damit denselben
Schritt, den Deutschland heute zu thun im Begriff ist. Das Ziel wurde er¬
reicht ziemlich schnell und ohne viel Lärm, weil man eben entschieden und
ohne Schwanken handelte.*)
Dieser Kampf war endgültig entschieden, als das Concil zu Rom die
Kirchenfrage für das ganze übrige Europa zur brennenden machte und zu¬
nächst die altkatholische Bewegung hervorrief. Nirgends ist diese
Wiederbelebung, der Gewissensfreiheit und des Geistes in der katholischen
Kirche von Anfang an mit größerer Theilnahme verfolgt worden, als von
der griechisch-orthodoxen Kirche.
Die orthodoxe Kirche erhoffte aus den Folgen jener Spaltung im anderen
Lager eine Kräftigung und Förderung der selbstunternommenen Wiederbele¬
bung. Diese Hoffnungen gewannen eine festere Gestalt, als es möglich wurde,
unter der bisherigen reinen Negation der Concilsgegner doch auch irgend eine
positive Satzung wenigstens angedeutet zu finden. Die Annahme der Bezeich¬
nung als Alt-Katholiken, das Zurückgehen auf die ersten vier Jahrhunderte
der christlichen Lehre war zwar noch kein sicher greifbares Programm, die
Haltung der Unzufriedenen noch keine bestimmte und einmüthige, — indeß
die allgemeine Uebereinstimmung in der Anerkennung der ersten vier Jahr¬
hunderte erweckte die Aussicht, die „Abtrünnigen" vielleicht in den Schooß der
orthodoxen Kirche aufnehmen zu können; sie mit offenen Armen zu empfangen
war man bereit. — Das Feld in dieser Beziehung zu untersuchen, ging Herr
Ossium, Professor der vergleichenden Theologie, vor einem Jahre nach Mün¬
chen und nahm an der Alt-Katholiken-Versammlung Theil. Es war das keine
private Handlung. Als solche wäre sie unmöglich, undenkbar gewesen. Herr Ossi¬
um besuchte den Congreß vielmehr mit Genehmigung und als Abgeordneter
seiner Kirchenbehörde. Diese Entsendung eines Vertreters zu einer freien
oppositionellen Versammlung, deren Zweck der Kampf gegen eine unliebsame
aber immer nach dem geschichtlichen Recht bestehende Macht war, seitens
der Landeskirche eines Reiches, dessen Gesetze die Secten verbieten oder
den Sectirern die bürgerlichen Rechte entziehen, war an sich von der größten
Bedeutung, ein viel versprechendes Merkzeichen auf dem neuen Entwickelungsgang
der orthodoxen Kirche. Thatsächlichen Erfolg hatte die Sendung des Herrn
Ossium vorläufig noch nicht. Doch ganz abgesehen davon, ob man in München schon
die nöthige Uebereinstimmung im Glauben zu gewinnen hoffte, so war man vor
Allem noch nicht klar geworden, über die gemeinsame Stellung zur Mutter¬
kirche. Furchtsam wurde der vielfach verbreitete allein richtige Gedanke einer
Trennung von der päpstlichen Kirche noch zurückgewiesen, und ohne diese Tren¬
nung war an irgend eine Vereinigung mit der griechischen Kirche selbstver¬
ständlich nicht zu denken:
Daß man die volle Loslösung der Alt-Katholiken von Rom hier sehn¬
lichst wünschte, lag in der Natur der Sache und wurde von Professor Ossium
auch öffentlich in den Vorträgen über den Alt-Katholicismus und den Ver¬
einigungsgedanken ausgesprochen, welche er nach seiner Rückkehr vor einem
zahlreichen Publikum hielt. Da der Alt-Katholicismus an die ersten vier
Jahrhunderte anknüpft, und der griechische Katholicismus die erste unverfälschte
Fortsetzung jener Zeit sei, so bezeichnete der Redner die Vereinigung und deren
Ausführung als eben so leicht wie erwünscht. Die Meinung des Publikums
war getheilt. Es fehlte nicht an Stimmen, welche riethen, sich lieber inner¬
halb der eignen Grenzen zu halten und an'eine Vereinigung der Alt-Katho¬
liken dann zu denken, wenn sich auch in Rußland altkatholische Gemeinden
gebildet hätten. Die größte Mehrheit schloß sich indeß den Wünschen der
Kirche an und sofort gingen hervorragende Geistliche und hochangesehene
Glieder der Laienwelt daran, Hierselbst einen Verein zu stiften, der möglichst
nahe Beziehungen mit den auswärtigen Alt-Katholiken anknüpfen und Pflegen
sollte. Es ist das Verdienst des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch, dieses
Unternehmen vor Allen gefördert zu haben. Am 14. Februar d. I. versam¬
melte man sich zum ersten Male. Es waren 40 Herren, Laien und Geistliche,
zugegen, unter diesen auch dem Auslande bekannte Männer, wie Professor
Ossium, der Oberpriester Wasslijew, das frühere Haupt der orthodoxen Ge¬
meinde zu Paris, und der frühere Geistliche an der Wiesbadener Kapelle, der
gelehrte Oberpriester Janischew. Aus Nützlichskeitsrücksichten einigte man sich
dahin, sich als Petersburger Abtheilung der alten Moskaner Gesellschaft zu
constituiren. Doch nahm man nur theilweise die Satzungen" derselben auf,
und ging namentlich über dies Programm weit hinaus durch Annahme der
folgenden dritten Satzung: Beziehungen mit den Vorkämpfern der rechtgläubigen
Wahrheiten im Auslande zu unterhalten, ihnen eine moralische Unterstützung zu
leisten und an der Verbreitung gesunder Begriffe über die orthodoxeKircheim auslän¬
dischen Publikum mitzuarbeiten. Darin ist der eigentliche Kern und Zweck des Vereins
ausgesprochen. Unter den bestimmenden Ursachen, welche den Plan zur Reife ge¬
bracht, wird ausdrücklich „die wichtige religiöse Bewegung, welche sich im Westen
geltend macht" genannt und hinzugefügt: „der Verein wird'die Mittel haben,
dem Gange dieser Bewegung zu folgen und denen der Vorkämpfer die Hand zu
reichen, welche ihre Blicke auf die rechtgläubige Kirche richten." Wenn da¬
neben betont wurde, daß der Verein ein nicht officieller sei, so war es doch
bekannt, daß das Unternehmen von officieller Seite von vornherein gutge¬
heißen worden, und der heilige spröd säumte denn auch nicht, dem Programm
seine Zustimmung zu ertheilen und durch seinen Oberprocurator um die
Allerhöchste Bestätigung nachzusuchen, welche sofort gewährt wurde.
In der öffentlichen Kundgebung dieser Gedanken und Zwecke bestand die
erste Thätigkeit des neuen Vereins. In dem Schriftstück, welches darauf be¬
rechnet war, demselben in Rußland allgemeinen Anklang zu erwerben, heißt
es u. A.: „Augenblicklich wird der Mangel eines solchen gesellschaftlichen
Mittelpunkts noch fühlbarer und kann derselbe für die Erfolge der Ortho¬
doxie geradezu nachtheilig werden; denn bei der gewaltigen religiösen Bewegung
im Westen Europas steht zu erwarten, daß man sich immer häusiger an uns
Russen als Mitglieder der rechtgläubigen Kirche wenden wird. Wer aber
soll diese Fragen beantworten? Der Kirchen-Obrigkeit steht es nicht.an, sich
auf alle Einzelheiten der religiösen Fragen einzulassen, welche unsere Epoche
bewegen; ihr Wort ist nur in entscheidenden Fällen am Orte." In gleichem
Sinne wirkte der Erzbischof Wasslijew durch eine höchst bedeutungsvolle Rede,
welche die gewinnende Auslegung der griechischen Glaubensregeln und die
großen Reformgedanken enthielt, die zu Anfang dieses geschichtlichen Ueber¬
blicks den gewaltigen Umschwung innerhalb der rechtgläubigen Kirche beleuch¬
ten. Auch wurden die Zwecke des Vereins dem Auslande in Broschüren zu¬
gänglich gemacht. — Um der Vereinigung mit den Altkatholiken practische
Förderung zu Theil werden zu lassen, begab sich Herr Wasslijew nach Frank¬
reich, um das dortige Haupt derselben, den Abbe Michaud, für den Gedanken
zu gewinnen. Diese Sendung scheint nicht ohne Erfolg gewesen zu sein, da
verlautet, Herr Michaud beabsichtige zur griechischen Kirche überzutreten und,
wie Dr. Overbeck in England, eine westliche orthodoxe Kirche in Paris zu
stiften. — Ebenso hat sich Nußland an dem Kölner Altkatholiken-Congreß
bekanntlich noch viel lebhafter betheiligt, als ein Jahr früher an dem Mün¬
chener.*) Auch hier kann von einem gewissen Erfolge gesprochen werden. Jeden¬
falls darf die russische Kirche für das, was sie in letzter Zeit zu Gunsten der
Vereinigung gethan und thun zu wollen erklärt hat, in den Worten des
Professors Reinkens volle Anerkennung erblicken, mit welchen derselbe unter
Zustimmung der Delegirten-Versammlung über das Verhältniß der Altkatho¬
liken zu den andern Confessionen Bericht erstattete. Wenn er zunächst als
unzulässig bezeichnete, daß die Einigungsversuche von den officiellen Behörden
der Kirchen ausgingen und forderte, daß die Einigung in den Herzen der
Gläubigen wurzeln müsse, so entspricht das ganz den Anschauungen, welche
den Petersburger Verein ins Leben riefen. Mit ihm wird sich daher der
für die Verhandlungen über die Wiedervereinigung der christlichen Bekennt¬
nisse eingesetzte Ausschuß in Verbindung setzen.
Auf dieser Grundlage können die vorbereitenden Verhandlungen viel¬
leicht ersprießlich wirken, da man im Uebrigen allseitig darin übereinstimmt,
daß die Grundlage der Einigung die heilige Schrift und die alten ökumeni¬
schen Glaubensbekenntnisse sein müßten, ausgelegt nach dem Glauben der
Jahrhunderte der ungeteilten Kirche. Noch können wir nicht voraussagen,
welche Förderung der Altkatholicismus der Theilnahme der griechischen Kirche
etwa zu danken haben wird oder welche Unterstützung das deutsche Reich in
seinem Kampf gegen das Papstthum, in der Zustimmung der russischen Ge¬
sellschaft, Kirche und Negierung finden mag, sicherlich aber die rechtgläubige
russische Kirche theilw^ise unter dem Einflüsse der religiösen Bewegung im
Westen Europas auf eine Entwickelungsstufe gelangt, die, bei freimüthigen
und rüstigem Vorwärtsstreben, für sie selbst und das ganze russische Reich
zu den freudigsten Hoffnungen berechtigt.
In keiner anderen Periode unserer deutschen Geschichte tritt das deutsche
Bürgerthum mit solcher Macht und Bedeutung als das entscheidende und
maßgebende Element des öffentlichen Lebens hervor, als im vierzehnten und
fünfzehnten Jahrhundert. Mag man dies nun als eine besondere Ehre für
den deutschen Bürger ansehen und preisen wollen oder mag man darin nur
ein Symptom der ungünstigen Wendung unserer allgemeinen deutschen Ent¬
wickelung erkennen — jedenfalls steht die Thatsache fest, daß in -der bezeich¬
neten Zeit Bürger und Städte in Deutschland eine Stellung für das Ganze
eingenommen haben, wie weder vorher noch nachher.
Eine Centralgewalt mit wirklicher Kraft der Action war nicht vorhanden.
Den Theilen war Freiheit gelassen, nach ihren Bedürfnissen und Zwecken sich
zu entwickeln und zu gestalten. Die Städte, welche in ihren eigenen Verhält¬
nissen sich schon ganz autonom verwalteten, erfreuten sich gerade damals
großer Blüthe ihres Handels. Das nördliche und nordöstliche Europa wurde
in den Handelsbeziehungen abhängig von diesem deutschen Städtethum. Den
Mittelpunkt desselben bildete der Bund der sogenannten Hansa. Zum
Schutze des Handels gestiftet schwang sich dieser Verein Mittel- und nord¬
deutscher Städte im vierzehnten Jahrhundert zu einer handelspolitischen
Macht ersten Ranges auf; die nördlichen Staaten Europas waren überall
von seinen Einwirkungen getroffen und berührt. Die Geschichte dieser Hansa
ist ein Bild, an dem sich der Sinn unserer heutigen Handelsstädte erfreuen
und die Thatkraft unseres heutigen Bürgerthums erquicken kann. Vor allem
in jenen Städten, welche die Erben hansischer Handelsgröße heißen dürften,
sollte die Erinnerung an jene Thaten der Vorfahren gehegt und gepflegt werden.
Und das geschieht jetzt auch in einer Weise, die man zu allgemeiner Nach¬
ahmung nur empfehlen könnte.
Es existiren in Hamburg, Lübeck und Bremen heute Geschichtsvereine,
welche mit rühriger Thätigkeit und wissenschaftlichem Eifer die Erinnerungen
der heimathlichen Vorzeit pflegen und gute Früchte zu Tage bringen. Durch
ein Zusammentreten dieser Vereine ist zu einem neuen Unternehmen der
Anlaß gegeben worden, welches für die allgemeine deutsche Geschichts¬
forschung noch größere Bedeutung haben wird als jene Lokalvereine sie an¬
sprechen können.
In der Geschichte der Hansa bildet der Friede von Stralsund 1370
einen hervorragenden Moment. Er bezeichnete den Sieg der Hansa über
Dänemark, den Ausgangspunkt für die unbestrittene Herrschaft der Hansa in
den nordischen Waaren. Im Mai 1870 hat die Stadt Stralsund die Ge¬
dächtnißfeier seines Ereignisses begangen- Der Pommer'sche Geschichtsverein
lud jene drei hansischen Vereine zur Theilnahme ein. Gemeinsam veröffent¬
lichten darauf die vier Vereine ein Preisausschreiben für die beste historische
Bearbeitung der großen dänischen Kriege, welche zum Stralsunder Frieden
führten. Aber man blieb nicht bei dieser einmaligen Gemeinsamkeit, dieser
Allianz für die eine vorübergehende Aufgabe stehen; man beschloß einen dau¬
ernden Verein zu gründen, der die Bestimmung in sich trage, die vereinzelten
Quellen hansischer Localforschung in ein gemeinsames Bett zu leiten, der sich
im engen Anschluß an die allgemeine deutsche Geschichtswissenschaft selbst größere
Aufgaben stelle. In der Pfingstwoche 1871 wurde zu Lübeck die constituirende
Versammlung gehalten, welche den Hansischen Geschichtsverein ins
Leben treten sah. Es ist damit ein Unternehmen begonnen, das über locale
Interessen herausgeht und es wohl verdient, daß auch das weitere Publicum
gebildeter und für geschichtliche Dinge interessirter Kreise seine Theilnahme
ihm schenke.
Eine Anzahl bewährter und angesehener Geschichtsforscher hat sich zu¬
sammen gethan für die allen Norddeutschen gemeinsame Aufgabe, ein sicheres,
unerschütterliches und dauerhaftes Fundament hansischer Geschichte zu schaffen.
Es ist hervorzuheben, mit welcher Energie einer unserer ersten Historiker,
Georg Waitz, diese Sache ergriffen und in eine Erfolg verheißende Bahn
geleitet hat. Ihm verdankt der neue Verein die Bezeichnung der zu lösenden
Aufgaben, die Hinweisung.auf den Weg, auf welchem die Mittel für die
Lösung der Aufgabe zu beschaffen seien, ihm verdankt der Verein zuletzt auch
das Contingent jüngerer Kräfte, die in Waitz' Schule gebildet, als die täg¬
lichen Arbeiter für den Verein eingetreten sind. Seit der Gründung des
Vereines war ein Jahr verflossen, als man wiederum in Lübeck zusammen¬
kam, im Mai 1872; da konnte man freudigen Sinnes schon die Wahrneh¬
mung aussprechen, daß der Anfang glücklich gemacht und die Hoffnung frucht¬
reichen Gedeihens eine wohlberechtigte sei.
Der Verein fand allerdings eine Thatsache vor, an die er sich gleich von
vornherein anlehnen, auf der er weiter bauen durfte. Es hatte doch die histo¬
rische Commission in München, ^jene'von der Munificenz und der wissenschaft¬
lichen Begeisterung König Maximilian's II. von Bayern ins Leben gerufene
vortreffliche Institution, der die deutsche Geschichtswissenschaft schon mehr wie
eine herrliche Frucht verdankt — es hatte doch die historische Commission sich
schon die Aufgabe gestellt, auf Anregung und Antrag L app enberg's, die
sogenannten H an sa-Recesse zu sammeln und zu publiciren. Zwei stattliche
Bände dieser Sammlung in mustergültigster Weise sind schon erschienen. Nun
hat die Münchener Commission neuerdings beschlossen, bis zum Jahre 1430
ihr Werk zu führen und dann, nachdem der Weg einmal gezeigt und gebahnt,
die Fortsetzung hansischen Händen zu überlassen, Hier hatte also der neue
Verein anzuknüpfen. Er bezeichnet es als seine nächste Aufgabe, die Hansa-
reeesse von 1430 ab zu veröffentlichen. Daneben steht eine andere nicht minder
wichtige Aufgabe. Es gilt neben den Recesftn das Quellenmaterial zu ver¬
vollständigen — die eigentlichen Urkunden jenen Beschlüssen und Abschieden
der Hansatage hinzuzufügen. Auch Stadtbücher, Stadtchroniken, culturhistori¬
sches Material zur Geschichte der einzelnen Hansestädte, so weit die Städte
selbst nicht schon sich die Herausgabe desselben angelegen sein lassen, soll durch
den Verein allgemein zugänglich gemacht werden. Man sieht, kostspielige und
schwierige Arbeiten sind hier angegriffen worden. Es liegt auf der Hand, daß
es nicht möglich ist, mit den gewöhnlichen Einkünften solcher Vereine diese
Leistungen zu bestreiten. Es ist ein gutes Zeichen, daß man sofort dies er¬
kannt und auf Herbeischaffung weiterer Subventionen bedacht gewesen ist.
Waitz hat es sofort ausgesprochen, wo die Geldhülfe gesucht werden müsse;
er meinte, die reichen Hansestädter würden sich schämen müssen, wenn sie,in¬
dolent genug wären, sich den Grundstein zu dem Ehrendenkmale ihrer Ge¬
schichte von einem süddeutschen Fürsten setzen zu lassen, ohne bereitwillig den
Ausbau und die Vollendung in die eigene Hand zu nehmen. Man hatte das
Vertrauen in den Lokalpatriotismus der großen norddeutschen Städte, und
dies Vertrauen hat nicht getäuscht.
Der Vorstand hat sich an alle die Städte / welche direkte Beziehungen
zur Hansa gehabt, mit der Bitte gewendet, sein Vorhaben durch Geldunter¬
stützungen zu fördern. Jährliche Beiträge hat er im Ganzen von 92 deutschen
und außerdeutschen Städten gefordert. Davon haben 38 solche gewährt, zum
Theil recht beträchtliche. Bis zur Generalversammlung von 1872 hatten 43
noch keine Antwort gegeben, — ausdrückliche Ablehnungen sind von 11 Städten
eingelaufen, unter denen sich allerdings einige größere Communen, wie Stettin,
Frankfurt a. d. Oder, Königsberg in Preußen, befinden, deren unwissenschaftlicher
Sinn uns räthselhaft bleibt. Das Resultat ist, daß über 2l00 Thaler jährlich für
seine großen wissenschaftlichen Arbeiten dem Vereine zu Gebote stehen. Ein
Resultat, das uns doch im Ganzen ein sehr erfreuliches zu sein scheint, ein
thatsächlicher Erweis von der historischen Richtung unseres heutigen Bürger-
thums, von der Achtung unserer Städte vor ihrer eigenen Geschichte. Möchte
der gute Anfang auch diejenigen, die bisher noch zurückgeblieben oder gezau¬
dert, zum Eintritt und zur Theilnahme bewegen!
Derartigem wissenschaftlichen Unternehmungen ist es eigenthümlich, daß
eine gewisse Zeit vergeht, bis ihre ersten Früchte dem Auge der Welt sich
zeigen. Daß gut und fleißig und richtig gearbeitet wird, dafür bürgen die
Namen der verdienten Historiker, welche dem Unternehmen Pathen geworden
und im Vorstande oder auch nur im Vereine den Gang der Dinge beauf¬
sichtigen. Für die übrige Welt legt der Verein Zeugniß ab seines wissen-
schaftlichen Strebens einmal durch die jährlichen Generalversammlungen mit
ihren öffentlichen Vortrügen, sodann aber auch durch eine von ihm, heraus¬
gegebene Zeitschrift.
Von den Hansischen Geschichtsblättern liegt der erste Jahrgang
1871 uns vor.*) Er berichtet uns zunächst von den Tendenzen und Arbeiten
des Vereins und liefert uns dann eine Anzahl kritischer Forschungen über
einzelne wichtige oder interessante Fragen der Hansischen Geschichte. Mantels
in Lübeck, Frensdorff und Pauli in Göttingen, von Rosen in Stralsund und
Koppmann in Hamburg haben dazu beigesteuert, alles Arbeiten ernster, wissen¬
schaftlicher Art, deren Werth nicht gering und nicht vorübergehend ist. Wer
sich für die Geschichte unseres deutschen Städtewesens interessirt, wird sich an
dem hier Geborenen erfreuen.
Möge der Verein, — mit diesem Wunsche schließen wir unseren Bericht
an dieser Stelle — gedeihlichen Fortgang haben, der dem glückverheißenden
Anfange seines Lebens entspreche! Möge er seine Aufgaben lösen, zur Ehre
seiner Gründe und zum Vortheil unserer historischen Wissenschaft! Möge er
ein Vorbild werden anderen Vereinen und anderen Unternehmungen, welche
auf Gemeinsamkeit der Arbeit und der Ziele gegründet werden müßten! —
Viele werden diese Ueberschrift für einen böswilligen Scherz halten und
dahin auslegen, daß Herr Constantin Frantz, der leider ihnen vermuthlich viel
weniger bekannt sein wird, als mancher andere historische Constantin, unter dem
Epitheton orrians eines verwirrten Babyloniers ihnen vorgestellt'werden solle.
Wir verwahren uns auf das entschiedenste gegen diese Deutung unserer Ueber¬
schrift. In der Construction unserer Ueberschrift steht der Genetivus des
Herrn Constantin Frantz zu der babylonischen Verwirrung vielmehr logisch
und thatsächlich nur in dem angenehmen Verhältniß des Erfinders und Er¬
zeugers. So wie man ohne jeden Anlauf injuriandi, sins stucjio et im,
sagen kann: das Gesetz der Schwere des Jsaak Newton oder die Geschichte
des Kaiserreichs des Herrn Adolphe Thiers, ohne damit behaupten zu wollen,
daß Thiers Kaiser oder Newton schwer gewesen sei, so wenig würde die Zeile
unserer Ueberschrift ausreichen, um Herrn Constantin Frantz einer vorbedachten
Verwirrung zu bezüchtigen. Vielmehr wiederholen wir hiermit nochmals aus¬
drücklich: Herr Constantin Frantz hat weder direct noch indirect sich an dem
Thurmbau zu Babel und an der hieraus resultirenden babylonischen Ver¬
wirrung betheiligt, sondern nur dieses verhängnißvolle Ereigniß in unmittel¬
bare Beziehungen zu unserem Zeitalter gesetzt. Herr Constantin Frantz ist
also gleichsam der „Gründer" und Vorsitzende im Verwaltungsrath bei jenem
Unternehmen, welches sich die Ausbeutung der babylonischen Verwirrung in
unserer Zeit zum Ziel gesetzt hat. Alles nämlich, was die Welsen, die rothe
und schwarze Internationale, die Polen, die Kreuzzeitungsritter und verwandte
Geister irgend genirt, hat Gott der Herr ausdrücklich mit seinem Zorn und
Fluch belegt und zwar bei Gelegenheit des Thurmbaues von Babel. Um
deßwillen sind die heutigen Nationen und vor allem die Nationalitätsbestre¬
bungen unseres Jahrhunderts auch geradezu des Teufels und danken keines¬
wegs Gottes Willen, sondern seiner bei dem großen Zorne fast unbegreiflichen
Langmuth ihr augenblickliches, aber natürlich nur ephemeres Bestehen. Das
entdeckt zu haben, ist das große Verdienst des Herrn Constantin Frantz. Er
ist über die Anschauungen des Himmels offenbar gut inspirirt. Hören wir
ihn also selbst.
Die Beziehungen des Herrn Constantin Frantz zur babylonischen Ver¬
wirrung finden wir aufgezeichnet in dem — natürlich bei Noßberg in Leipzig
— vor Kurzem erschienenen Büchlein: „Die Religion des National¬
liberalismus." Dieses Opus hat das mit allen Constantin Frantz'schen
Schriftwerken gemein, daß es eigentlich von allem Andern mehr redet, als
von dem, was sein Titel besagt. Wir erfahren nämlich keineswegs etwa
daraus, was der Herr Verfasser unter „Nationalliberalismus" oder unter
dessen „Religion" versteht. Ferner hat diese Schrift mit allen Constantin
Frantz'schen Schriften gemein, daß sie mit einer „Einleitung" anfängt, welche
sich vom Schluß und der Mitte nur dadurch unterscheidet, daß sie zufällig
an den Anfang gedruckt ist, unmittelbar hinter die „Druckfehler, welche von
dem Leser zu verbessern sind", und unter denen namentlich auf S. 216 Z.
von unten die Lesart „Sonnenschein" statt „Mondenschein" viel zum Ver¬
ständniß des Ganzen beiträgt. Der Stil des Herrn Constantin Frantz hat
sich glücklicherweise auch nicht verleugnet — es ist der gedruckte Ewald, wie
es ihn sprechert, wie er leibt und lebt. Und nicht minder hat der Verfasser
auch hier sein ungewöhnliches Talent geübt, hochmoderne Stoffe zu einem
ansäuerlichen Ragout einzuschlachten und sie auf dem nicht mehr ungewöhn¬
lichen Wege des allgemeinen Salats bis zur Unkenntlichkeit zu versetzen. Die
Betrachtungen nämlich, welche Herr Constantin Frantz an das „Priesterstraf¬
gesetz", „Kirche und Staat", „das Schulaufsichtsgesetz", „die Botschaft in
Rom", „das Jesuitengesetz", „die evangelische Kirche", „Folgen der großen
Erfolge" zu knüpfen im Stande ist, könnten mit derselben Berechtigung einer
Abhandlung über die menschlichere Behandlung der Schiffsjungen oder über
die Zahnkrankheiten der höheren Affengattungen oder über die Protuberanzen
der Sonne gewidmet werden. Der alte Commines, der in den Tagen
Ludwig's XI. Frankreich „eine von der Vorsehung speciell'regirte Confusion"
nannte, hat leider die Schriften des Herrn Constantin Frantz noch nicht ge¬
kannt. Er würde sonst jedenfalls in seinem Urtheile maßvoller gewesen sein.
Doch zurück zu den Beziehungen des Herrn Constantin Frantz zu der
Babylonischen Verwirrung. Wir ersuchen unsre Leser, ja recht aufmerksam
nachzulesen! Denn schon der gelehrte Welfe Prof. Wappäus hat in den
„Göttinger Anzeigen" Klage darüber erhoben,, daß sein Schützling Herr Con¬
stantin Frantz „ziemlich isolirt" dastehe und wohl gar „völlig ignorirt" werde.
Das ist in Anbetracht der von Wappäus entdeckten eminenten Begabung des
Herrn Constantin Frantz „für die Naturseite der Staaten und das geogra-
graphische Element in der Geschichte" in der That ebenso verwunderlich,
als daß man bis jetzt in Deutschland dieses Talent immer nur in den stillen
Lagerräumen bei Roßberg in Leipzig mit Todtgeburten niederkommen ließ
statt es doch mindestens im Reichskanzleramte oder als unentbehrlichen Rath¬
geber der deutschen Krone zu verwerthen. Auch der Verfasser selbst widmet
einige seiner düstersten Klagen und Prophezeiungen den schlechten Menschen,
die ihn nicht lesen, indem er uns verräth, welchem Jammer wir entgegen¬
gehen, wenn wir Ihn, wie bisher, nur unter den alten Büchern des Herrn
Roßberg der Unsterblichkeit entgegenschimmeln lassen. Er läßt sich hierüber also
vernehmen: „Gerade also wie die Religion nicht umhin kann, dem einzelnen
Menschen fortwährend seine Sündhaftigkeit vor Augen zu stellen, obwohl der
alte Adam doch niemals in ihm stirbt, so sind auch dem Staate ununter¬
brochen seine Mängel vorzuhalten, obwohl er bis ans Ende der Tage voller
Mängel bleiben wird. Diese Kritik ist das Salz, das ihn vor der
Fäulniß bewahrt." (S. Is).
Diese Kritik übt denn Herr Constantin Frantz auch reichlich, obwohl
er später (S. 131) zu dem Resultate kommt: „Das deutsche Reich ist über¬
haupt kein Staat, sondern nur eine Anstalt für einzelne besondere Zwecke."
— Nun wissen wir aber doch Gott sei Dank — mögen wir nun mehr ein
Staat oder mehr eine Suppenanstalt von Frcmtzens Gnaden sein — an
wen wir uns zu wenden haben, wenn jemals Fäulnißerscheinungen im
deutschen Reiche zu Tage treten sollten. Diese carbolsäuerlichen Eigenschaften
des Herrn Constantin Frantz sind aber immerhin eine Kleinigkeit gegen¬
über dem Zauber seiner intimsten Beziehungen zur Babylonischen Verwir¬
rung. Darüber theilen wir im Folgenden die schönsten und kräftigsten
Stellen (S. 22—37) wörtlich mit.
„Schon der Name Nationalliberalismus besagt, daß er die Beförderung
der deutschen Nationalität sich zum besonderen Zweck macht und darin vor¬
kommenden Falls (?) auch den Maßstab seines Urtheils findet. Nach christ¬
licher Ansicht hingegen ist die Nationalität etwas blos Natürliches, dem an
und für sich keine Heiligkeit zukommt. Und eben darin zeigt sich, wohin der
Nationalliberalismus hinausläuft. nehmlich auf Berläugnung des Chri¬
stenthums durch ein neues Heidenthum. Ich glaube.gern, daß bei
weitem die Meisten diese Folge nicht übersehen, allein dies ändert die Sache
nicht, und nichts ist so gewiß, als daß das Nationalitätsprin¬
cip den Grundlehren des C h ri se meh ums'durchaus old er spricht.
Die Bibel weiß nur von einer Schöpfung des Menschen, nicht aber von einer
Schöpfung der verschiedenen Völker, als welche vielmehr erst später durch eine
innere Zersetzung der ursprünglich einigen Menschheit entstanden, wie die Er¬
zählung von dem babylonischen Thurmbau besagt. Daß diese Erzählung
offenbar in mythischem Gewände auftritt, gerade wie auch die Erzählung vom
Sündenfall, thut gleichwohl ihrer inneren Wahrheit nicht den geringsten Ein¬
trag. Und diese Wahrheit ist so wichtig, daß sie nicht nur eine Haupt¬
leuchte für die Geschichtsphilosophie bildet, sondern zugleich auch den Eckstein
des gesammten Völkerrechtes... Wie ist nun der Bibel nach die Entstehung
der Völker zu erklären? Als etwas blos Zufälliges wird sie in der Genesis
keinesweges geschildert. Dennoch aber sind die verschiedenen Nationalitäten
infolge dessen nicht als göttliche Stiftungen anzusehen, so daß sie dadurch
mit einer besonderen Weihe bekleidet wären. Vielmehr wird ausdrücklich ge¬
sagt, daß die Völkerscheidung eine That des göttlichen Zornes war, wonach
in dem Dasein der verschiedenen Völker nicht sowohl der gött¬
liche Wille erkannt werden muß, als vielmehr der göttliche
Unwille. Die Völkerscheidung war eine über die Menschheit verhängte
Strafe. Die Frage ist jetzt, was den göttlichen Zorn veranlaßte und was
er bedeutet? Die bis dahin noch ungeschiedene Menschheit, lesen wir, wollte
eine Stadt mit einem Thurm bauen, der bis in die Wolken reichen sollte.
Und das wollten die Menschen deshalb, weil sie selbst schon die Ahnung da¬
von hatten, sie möchten vielleicht zerstreut werden. Ihr innerer Zusammen¬
hang war also schwach geworden, und deshalb suchten sie die Einheit durch
materielle Mittel zu erhalten. Nämlich durch Begründung eines dominirenden
Centrums" (Preußen?), „wodurch sie sich einen Namen in der Welt machten,
und so die Anschauung ihrer eigenen Macht und Größe gewonnen, die ihnen
hinterher zu einem neuen Einheitsbande" (Bundesverfassung?), „dienen sollte.
Wodurch war denn aber der innere Zusammenhang so schwach geworden?
Darüber enthält zwar die biblische Erzählung selbst keine
Andeutung, es wird aber dem Ganzen der biblischen Lehre durchaus ent-
precher, wenn wir die Ursache in der Trübung des Gottesbewußt¬
seins" (1866, 1870/71, Annexionen, Erfolgcmbeterei?) „suchen. Die Menschheit
hatte sich einig gefühlt, solange sieden einen und selben Gott verehrte, und
von dem göttlichen Wesen dieselben Vorstellungen hegte, sobald aber ver¬
schiedene religiöse Vorstellungen aufkamen, begann der innere Zerfall. . . .
So konnte auch das zusammenhaltende Band hinfort nur ein Werk
menschlicher Macht und Kunst sein, — der babylonische Thurm, als das
Sinnbild materieller Centralisation." (Deutsches Reich?) „Darüber eben ent¬
brannte der Zorn Gottes, der eine solche materielle Einheit nicht wollte, sondern
eine Einigkeit im Geiste, beruhend auf dem gemeinsamen Gottesbewußtsein.
Und so fuhr der Herr darnieder, daß die bis dahin einige Menschheit
in verschiedene Völker zersprengt wurde. Diesen Vorgang innerlich aufgefaßt,
werden wir aber vielmehr sagen, daß die Menschen sich selbst schon dem wahren
Gotte entzogen hatten, und darum entzog sich dann auch Gott den Menschen,
worauf mit dem früher gemeinsamen G ottesbew ußt sein auch das Mer sch-
heitsbewußtsein verschwand, sich in ein blos völkerschaftliches Be¬
wußtsein auflösend."
Diese Worte bedürfen keines Commentars. Sie zeigen, bis zu welcher
sittlichen Verwilderung, bis zu welcher Blasphemie, der Fanatismus der Auf¬
lehnung gegen das Recht der Deutschen Nation auf eine lebensfähige, Deutsch¬
lands würdige Staatsform führen kann! Der Verfasser begnügt sich nicht
mehr, wie in seinen früheren Schriften, die Millionen und aber Millionen
seiner Landsleute, welche freudig und gehobenen Herzens die Einheit Deutsch¬
lands begrüßten und heut mit ihr leben und sterben, mit den gröbsten Schimpf¬
worten zu belegen, und^ihnen die allergemeinsten Motive unterzuschieben. Nein,
Herr Constantin Frantz greift heute, wie auch das übrige Corps der Rache
gegen das Deutsche Reich, in Gottes allmächtigen Rathschluß selbst ein. Ihn
beseelt die Dreistigkeit, uns seine Anschauung als die Anschauung Gottes,
seinen ohnmächtigen Zorn als den Zorn Gottes wider das Deutsche Volk
zu verkündigen, obwohl er selbst zugestehen muß, daß darüber „die biblische
Erzählung selbst keine Andeutung enthält" und obendrein „diese Erzählung
offenbar in mythischem Gewände auftritt!"
Und um die Kläglichkeit seiner Arbeit voll zu machen, gesteht uns
Herr Constantin Frantz, daß diese seine „Erörterungen", die er, bescheiden
wie immer, „ein motivirtes Urtheil über das principielle Verhältniß des
Nationalliberalismus zum Christenthum" nennt, nicht einmal der ange¬
rufenen Quelle, der heiligen Schrift, gefolgt sind, sondern „daß er sich dabei
im Wesentlichen auf Schelling's Philosophie der Mythologie und
der Offenbarung stütze!" (S. 30. 31).— Nun, daß alle abstrusen Geister,
in Deutschland seit bald hundert Jahren, wenn Noth an Mann kommt, sich
stets auf Vater Schelling berufen, sind wir gewöhnt. Wir finden das sogar ebenso
natürlich, als daß Schelling und Hegel noch bei Lebzeiten erklärten: Kein einziger
meiner Schüler hat mich verstanden, außer Einem, und dieser Eine hat mich mi߬
verstanden ; — dieser Eine ist übrigens Herr Constantin Frantz auch nicht ge¬
wesen. Aber das ist in der That völlig neu, daß Schelling seine „Philosophie
der Mythologie" gegen die Nationalliberalen von heute geschrieben haben soll. —
In Betreff der übrigen Kapitel des Frantz'schen Buches genügt nach diesen
Proben wohl die Versicherung, daß sie vollkommen auf der Höhe dieses Kapitels
stehen. —
Wir sind weit entfernt, solche Attentate auf die Ehre und die gesunde
Vernunft unsres Volkes tragisch zu nehmen. Und unser Herrgott, dessen
heiliger Name und Wille dem Verfasser immer mehr mit dem eigenen Dichten
und Trachten zusammenwächst, wird sich ahne die Beihülfe irgend eines Sterb¬
lichen auch des Herrn Constantin Frantz erwehren können.
Wer die Langeweile des öden Räsonnirens aus siebenzehn Druckbogen zu
überwinden im Stande ist, wird das Buch nicht ohne große, vom Verfasser
freilich unbeabsichtigte Heiterkeit aus der Hand legen, und auch der versöhn¬
lichen und sehr tröstlichen Schlußbetrachtung nicht entrathen.
So schreibt heute — möchte man bei jeder Seite einschalten — der
föderale deutsche Particularismus! Noch nicht zehn Jahre sind vergangen,
als er die Mehrzahl der deutschen Regierungsorgane, bedeutende Zeitschriften
und große Tagesblätter beherrschte. Die Großdeutschen in corpore, stellen¬
weise die süddeutschen Demokraten, daneben die Mehrzahl der preußischen
Feudalen, waren stille oder vernehmliche Gesinnungsgenossen des Herrn
Constantin Frantz. Ihm standen die Spalten der Cotta'schen „Deutschen
Vierteljahrsschrift" allezeit offen. — Wenige Jahre rückwärts gerechnet, bis
1870, ist wenigstens noch ein Zeitungsorgan vorhanden, das Herrn Con¬
stantin Frantz' Ideen vollständig vertrat, wiedergab, und zufällig auch bei
seinem Verleger erschien: die weiland „Sächsische Zeitung." Auch sie ist dem
rauhen Kriegesbesen, den wir Babylonier die heilige Erhebung des deutschen
Volkes wider den Erbfeind jenseit und diesseit unsrer Grenzen nennen, erlegen,
wie das nun einmal im beiderseitigen Verhältniß des Kehrichts zum Besen
begründet ist. Seit dieser Zeit hat Herr Constantin Frantz und die übrigen
würdevollen Geister, welche sich in der „Sachs. Zeitung" zusammenfanden
kein Organ mehr. Nur der Verleger ist ihm geblieben, der mit derselben
Uneigennützigkeit eine Constantin Frantz'sche Broschüre nach der andern druckt,
wie früher die „Sächsische Zeitung." Leser finden sich — wie schon Prof.
Wappäus mit Recht klagt — diesseits und jenseits des Oceans ausnahmsweise
höchstens in Hannover, oben bei den Eiderdänen, in Hietzing und in gewissen
dem Erlöschen nahen Verwaltungsmittelinstanzen eines gewissen deutschen
Mittelstaates. Andere Leute können sich nun einmal weder an der Begabung
des Herrn Konstantin Frantz für „die Naturseite der Staaten", noch an der¬
jenigen für „das geographische Element in der Geschichte" erquicken, und blicken
lieber auf das mächtige jugendliche deutsche Reich und seinen Riesenkampf gegen
alle Mächte der Finsterniß, als auf den Quacksalber, der das Salz aufbietet,
welches das Reich vor Fäulniß bewahren soll.
Die parlamentarische Situation seit dem Schluß und der Wiedereröffnung
des Landtages hat bis jetzt den Verlauf gehabt, welchen ich in meinem Brief
vom 3. November angenommen. Der Landtag wurde am 12. November mit
einer kurzen geschäftsmäßigen Rede durch den stellvertretenden Vorsitzenden
des Staatsministeriums eröffnet. Diese Rede indeß, wie kurz immer, zeichnet
,der Session eine bedeutungsvolle Aufgabe vor. Ich habe an dieser Stelle die
Frage früher berührt, ob der in der Session von 1871 abgekehrte Entwurf
wegen Reform der Classensteuer in einer Session wieder eingebracht werden
dürfe, welche formal als die Fortsetzung der Session von 1871 gelten mußte.
Dieses Zweifels sind wir nun überhoben und so hat die Hartnäckigkeit des
Herrenhauses ihr Gutes im Großen und Kleinen. Die Regierung hat die
Einbringung dieses gegen den früheren Entwurf übrigens wesentlich verän¬
derten Gesetzes sofort in der Thronrede angekündigt. Dasselbe thut die Thron¬
rede mit den kirchlichen Gesetzen, bestätigend, daß trotz des Zeitverlustes, wel¬
chen die Session erlitten, an einen Aufschub jener Gesetze nicht zu denken ist.
Schließlich wird die Wiedereinbringung der Kreisordnung und die Durch¬
führung derselben durch „alle Mittel, welche die Verfassung an die Hand
giebt", verheißen.
Ich hatte nun bereits am 3. November geschrieben, daß die Kreisord¬
nung mit einigen Modificationen gegen den Entwurf, wie er von den Ab¬
geordneten an das Herrenhaus gelangt war, zunächst wieder dem Abgeord¬
netenhause werde vorgelegt, und hier voraussichtlich ohne Zeitverlust werde
angenommen werden. In der gestrigen Sitzung der Abgeordneten ist nun
diese Einbringung geschehen und man weiß, daß die Regierung durch Vor¬
verhandlungen mit den Vertrauensmännern der liberalen Fractionen Sorge
getragen hat. die alsbaldige Annahme des Gesetzes durch die Abgeordneten
zu sichern. Die vorgeschlagenen Abweichungen von dem früheren Compromiß
sind unwesentlich. Die Gestalt, welche das Compromiß zwischen der Regie¬
rung und den liberalen Fractionen des Abgeordnetenhauses der Kreisordnung
gegeben, habe ich an dieser Stelle unter dem 31. März d. I. ausführlich
skizzirt und beleuchtet. Der Leser wird sich erinnern, daß zwischen die Orts¬
gemeinde und die auf ganz neuen Grundlagen constituirte Kreisgemeinde der
vereinbarte Entwurf eine weitere communale Bildung in der Amtsbezirks¬
gemeinde einschiebt. Der Amtsbezirk hatte nach der ursprünglichen Absicht der
Regierung nur eine Verwaltungseinheit ohne communale Organe sein sollen.
Auf den Wunsch der liberalen Fractionen hat nun die Regierung einen Amts¬
ausschuß als eommunales Organ zugelassen, jedoch nur facultativ, sofern die
im Amtsbezirk vereinigten Ortsgemeinden unter einander eine mehr oder
minder umfassende Gemeinschaft wünschen. Ferner hatte die linke Seite des
Liberalismus eine Bestimmung durchgesetzt, wonach die Bestimmung des Re¬
gierungsentwurfes, daß Gemeinden, welche ihre Polizei selbst in vorschrifts¬
mäßiger Weise handhaben können und wollen, zu Amtsbezirken erklärt wer¬
den dürfen, dadurch verengert wurde, daß eine solche Gemeinde mindestens
S00 Einwohner aufweisen muß. Von derselben Seite war die Bestimmung
durchgesetzt worden, daß die zusammengesetzten Amtsbezirke mindestens 800
und höchstens 3000 Einwohner umfassen sollen. Es war mit dieser Bestim¬
mung darauf abgesehen, die Amtsbezirke auf communale Bildungen anzulegen.
Dazu eignet sich weder der zu kleine, noch der zu große Amtsbezirk: der erstere
nicht, weil ihm die communalen Organe zu kostspielig werden, der zweite nicht,
weil für ein mit der Ortsgemeinde concurrirendes Communalleben die Ver¬
schiedenartigkeit und Entfernung der Gemeinden ein Hinderniß sein wird.
Diese Zahlenbestimmungen hat nun aber die Regierung als hinderlich für den
nächsten, wesentlich administrativen Zweck der Amtsbezirke wiederum ausfallen
zu machen sich ausbedungen. Außerdem hat die Regierung, welche in dem
Compromißentwurf bei der Ernennung der Amtsvorsteher an eine Vorschlags¬
liste des Kreistages gebunden worden war, sich das Recht der Berufung gegen
diese Liste an ein künftiges Provinzialorgan bedungen. Ein paar weitere
Abänderungen haben keinerlei grundsätzliche Bedeutung.
Ich deutete bereits am 3. November an, daß der erwartete Pairschub
vermuthlich erst eintreten werde, nachdem das Abgeordnetenhaus über die
Kreisordnung sich wiederum schlüssig gemacht, oder wenigstens, nachdem der
Beschluß der Abgeordneten als feststehend betrachtet werden könne. Dies be¬
stätigt sich nunmehr. Aber ich führte weiter aus, daß die Hauptfrage der
Situation gar nicht mehr in der Durchbringung der Kreisordnung, sondern
in der Reform der preußischen Verfassung liege. Denn jede Reform des
Herrenhauses kann nur mittelst einer Verfassungsänderung sich vollziehen.
In dieser Hinsicht leben wir noch in voller Spannung.
Ist eine Reform des Herrenhauses überhaupt beschlossene Sache? Wie
weit wird sie sich erstrecken? Wird sie das Abgeordnetenhaus unberührt lassen?
Dies sind die Fragen der Situation.
Ich habe schon früher ausgeführt, warum es fast undenkbar ist, daß die
Regierung den Pairschub blos zur Durchdringung der Kreisordnung und
nicht zu einer Reform der Staatskörperschaften benutzen sollte. Die parla-
mentarischen Organe des preußischen Staates sind in den ungünstigsten Zeit¬
verhältnissen falsch gebildet worden. Im Grunde ruhen beide auf Octroyirun-
gen, zu denen in einer Reactionsperiode das Königthum gedrängt wurde,
während es noch im Kampfe stand und keineswegs den Prozeß der Verfas¬
sungsbildung ruhig beherrschte. Diese Oetroyirungen waren Waffen, Streit¬
mittel eines noch unentschiedenen Kampfes, zubereitet halb nach dem Drang
der Noth, halb nach der Willkür subjectiver Laune. Die wahren Verfassungs¬
bildungen aber sind die Niederschläge und Wahrzeichen der wiedergekehrten
Harmonie. Daß den heutigen gesunden Bedingungen des deutschen Staats¬
lebens die preußischen Verfassungsorgane nicht entsprechen, konnte längst schon
keinem Weitblickenden zweifelhaft sein. Nun ist zur Beseitigung des Mangels
der günstigste, natürlichste Anlaß vorhanden. Das Herrenhaus hat eine uner¬
läßliche Gesehvorlage vereitelt, ein Pairschub ist unvermeidlich geworden. Die
Umbildung der so aller innern Harmonie nothwendig beraubten Körperschaft
erscheint ebenso dringend, als die Durchdringung eines einzelnen, durch den
früheren einseitigen Character des Herrenhauses vereitelten Gesetzes. Die
Neubildung des Herrenhauses ist aber eine Verfasfungsreform und was liegt
näher, als bei der normalen Constituirung der ersten Kammer an die ent¬
sprechende Normalisirung der zweiten zu denken. Denn auch unser Abgeord¬
netenhaus ist anormal gebildet. Man denke nur an das Dreiklassen-Wahl¬
system, von dem der Reichskanzler gesagt hat, ein elenderes Wahlgesetz kenne
er nicht: ein Ausspruch, gegen den Niemand Einspruch erhoben hat, als der
Urheber des Gesetzes. Aber unser Abgeordnetenhaus ist auch viel zu zahl¬
reich. Man hat bei der Vergrößerung des preußischen Staates im Jahre
1866 ganz mechanisch 80 neue Abgeordnete den früheren 332 hinzugefügt,
indem man das Verhältniß der Einwohnerzahl, die auf einen Abgeordneten
kommen, so belassen hat, wie es war, als der preußische Staat 8 Provinzen
umfaßte. Nur die unumgängliche Eile konnte eine so äußerliche Methode der
Erweiterung eines Verfassungskörpers ihrer Zeit entschuldigen. Es ist hohe
Zeit, diese Methode, nachdem sie in zwei Legislaturperioden zur Anwendung
gekommen, durch eine besser bedachte zu ersetzen.
Es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, daß die Regierung mit ihren
Neformvorschlägen im Laufe dieser Session hervortreten wird. Aber die Be¬
schaffenheit dieser Vorschläge muß schon darum noch völliges Geheimniß sein,
weil sie im Schooße der Regierung selbst noch nicht festgestellt, vielleicht noch
nicht einmal erörtert ist und wohl auch vor der Rückkehr des Fürsten Bis-
marck keine Erörterung erfahren wird.
Auch die öffentliche Meinung fordert beinah einstimmig die Umbildung
des Herrenhauses, ohne sich bis jetzt klar zu sein weder über das Ziel, noch
über die weiteren Consequenzen einer solchen Reform.
Wir unsererseits halten nicht zurück mit der Ueberzeugung, daß uns der
Uebergang der Functionen des preußischen Landtags in seinen beiden Häusern
auf das einfache Haus des deutschen Reichstages weitaus das beste Beste
schiene. Sollten aber zu einer solchen Reform alle in Betracht kommenden
Kreise nicht vorbereitet sein, so scheint uns doch das Verlassen des Zwei¬
kammersystems ein dringendes Gebot vorurtheilsfreier Erwägung und Staats¬
klugheit. Es ist schon in vager Weise die Vorstellung vielfältig aufgetaucht,
daß das Herrenhaus nur durch einen Staatsrath ersetzt werden dürfe. Dieser
Staatsrath könnte unseres Erachtens nur das künftige Oberverwaltungsgericht
des preußischen Staates sein. Aber nur nicht wieder zwei Kammern mit
denselben Formen parlamentarischer Geschäftsbehandlung! Man gebe der
künstigen ersten Kammer, wie bisher, das Recht der Zustimmung oder Ver¬
werfung neuer Gesetze. Man gehe selbst noch weiter und binde sich, wie es
die Neichsregierung mit dem Bundesrath thut, für die Einbringung neuer
Gesetze an die Zustimmung des neuen Staatsrathes. Werden die so einge^
brachten Gesetze bei den Abgeordneten unverändert angenommen, so bedürfen
sie nur der Vollziehung durch den König. Werden sie verändert, so bedürfen
sie der abermaligen Zustimmung des Staatsrathes. Aber dieser Staatsrath,
oder wie er heißen möge, um keinen Preis sei er ein öffentlich in parlamen¬
tarischen Formen berathschlagender Körper. Er sei, wie der Bundesrath, eine
Behörde, die solidarisch auftritt. Die Minorität möge unter gewissen Mo¬
dalitäten, wie es beim Bundesrath auch der Fall ist, das Recht erhalten, ihr
Seperatvotum zu vertreten. Aber der Character des parlamentarischen Lebens,
die öffentliche Geltung der Individualität, das Fraetionswesen und all der¬
gleichen bleiben dieser Körperschaft fern. Die Lobredner des Zweikammer¬
systems haben noch nie bedacht, daß mit diesem System überhaupt nur Ernst
zu machen ist, wenn die beiden Kammern nicht blos durch ihre Zusammen¬
setzung, sondern wesentlich durch die Form ihres Wirkens unterschieden sind.
Bei gleicher Form des Wirkens hat die Art der Zusammensetzung entweder
gar keinen Einfluß, aber lediglich d e n Einfluß, die sogenannte erste Kammer
Zur schwächeren, lebloseren, eintönigen Doublette der zweiten zu machen. Stahl's
bestes Wort war: ein englischer Bock ist noch jedesmal zu einem Dogma
des festländischen konstitutionellen Staatsrechts gemacht worden. Daß der
höchste Staatsgerichtshof Englands, nachdem er das Unterhaus als steuerbe¬
willigenden Körper von sich ausgeschieden, dieselben Formen annahm, die mit
der Zeit für das Unterhaus zweckmäßig und gebräuchlich wurden, ist ein eng¬
lischer Bock, der den Engländern die Gewähr ihrer Verfassung schon seit lange
zu gefährden angefangen. Das Festland hat aus diesem Bock ein Dogma
gemacht, dessen verderbliche Folgen überall zu Tage liegen, und das gleich¬
wohl noch so unerschüttert ist, daß es in einem jüngsten staatsrechtlichen
Werke als die eowmmüs opinio der gebildeten Völker bezeichnet werden konnte.
Möge denn der leitende deutsche Staat durch seinen leitenden Mann endlich
die fallende Hand an diesen schädlichen Aberglauben legen!
Vor etwa einem Jahre tauchten zum ersten Mal an den Schaufenstern
unsrer Buch- und Kunsthändler einzelne Blätter eines Werkes auf, welche
sich für nichts weiter ausgaben als für „Blätter aus dem Skizzenbuche" eines
bis dahin für die Meisten namenlosen Künstlers. Wenn der Besitzer der
Buch- oder Kunstanstalt mehr sentimental angeflogen oder „stilvoll" gebildet
war, so wählte er aus dem Skizzenbuch etwa Blätter wie „Hessischer Mädchen¬
kopf", die „Poesie", „Mädchen, Tauben fütternd", „Kranker Mann am Altar"
oder „Trauerndes Mädchen" u. s. w. War der Inhaber der Kunstbude da¬
gegen fröhlicher angelegt, so hing er aus demselben „Skizzenbuche" Blätter
aus, so voller Lust, Poesie und Humor, daß die Weisen und die Thoren noch
tausend Schritt, nachdem sie seinen Laden passirt hatten, die Lippen nicht
zusammenbrachten. In andern Fällen hatte das Publikum, dessen Neugier
auf so exorbitante Weise herausgefordert war, wenigstens unter den Neclamen
und Inseraten die Lösung aller derartiger Räthsel gefunden! Ja, unter
dem Strich der Zeitungen waren sogar Menschenfreunde bisher dafür besorgt
gewesen, dem Leser alle möglichen begehrenswerther Dinge nach den innern
und äußern Eigenschaften, bis auf die freventlich nachgeahmte Etikettirung
und Verpackung lange vor der Zeit zu schildern, wo der Leser den wünschens-
werthen Gegenstand zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Und hier so ganz
das Gegentheil im Verfahren. Keine Annonce, keine Reclame, keine Auf¬
klärung. Nichts als die sprechenden, packenden Bilder selbst ließen Künstler
und Verleger zum Publikum reden. Dieses Verfahren war originell, einige fanden
es auch rücksichtslos, abscheulich! Aber auch das schadete dem Werke nichts. Der
Kreis vor den Schaufenstern, in denen das Skizzenbuch auflag. wurde deßhalb
nicht lichter. Wir brauchen eigentlich nicht zu sagen, welches Werk wir
meinen. Denn schon beweisen manche Erzeugnisse deutscher Kunst und In¬
dustrie, daß dasselbe, ohne ein genaueres Abwägen der ärgerlichen Feinheiten
geistigen Eigenthums als Gemeingut der deutschen Nation betrachtet wird.
Und es steht zu vermuthen, daß die Wiener Weltausstellung dafür noch
manches Beweisstück nachbringen wird.
Wir meinen A. Hendschel's Skizzenbuch (Verlag von F. A. C.
Prestel, Frankfurt a. M., Photographie von Th. Huth daselbst). Der
Name des Künstlers, der mit diesem einen Werke die Gunst des deutschen
Publikums in allen Schichten und allen Provinzen des Reichs in seltenem
Maße erobert hat, ist in der That bis dahin wenig genannt worden. Nicht
die schlechtesten Talente und Kräfte geben dem stillen Beifall und der kritischen
Aufmunterung gleichstrebender Kenner den Borzug vor der lauten Zu¬
stimmung der Menge. Nicht die Unfähigsten bescheiden sich, Lernende zu sein, in
Jahren, in denen das Mittelgut längst die höchsten Leistungen seines Schaffens
erreicht glaubt und der Welt mitgetheilt hat. A. Hendschel hat diese vor¬
nehme Zurückhaltung der echten Künstlernatur bisher beobachtet. Wenige
seiner Zeichnungen sind in einzelnen Blättern oder in besonderer Ausgabe erschienen.
Hier nennen wir: Die Compositionen zu Hauff und Lichtenstein, zu Shakes¬
peare, Götz v. Berlichingen, zu Dornröschen, zu Aschenbrödel — bei letzterem Werk
sind die Zeichnungen des Künstlers durch den Holzschnitt ebenso grauenhaft
verhunzt worden, als das schöne Märchen durch die haarsträubenden Jahr¬
marktsverse Müller's von Königswinter. Im Ganzen hat aber A. Hendschel
wie gesagt bisher wenig veröffentlicht. Fast nur gezwungen ist er vor das
Publikum getreten; gezwungen niemals durch die Noth des Daseins wie so
mancher andere Künstler. Denn sein Bater, der verdiente Geograph und Karto¬
graph H. Hendschel, — noch bekannter als Herausgeber von „Hendschels Tele¬
graph" — war in der glücklichen Lage, seinen Kindern eine tüchtige vielseitige
Erziehung gewähren und ihnen eine sorgenlose Existenz bereiten zu können.
Auch nicht die schlimmen Erfahrungen, die A. Hendschel bei Wiedergabe seiner
Schöpfungen im Holzschnitt mehr als einmal gemacht hat, und die ihn zum
dauernden Feind — nicht des „edeln Holzschnitts" — wohl aber der Holz¬
schneideret gemacht haben, sind seiner größern Productivität für die Oeffent-
lichkeit hinderlich gewesen. Mehr als das: sein ganzer Bildungsgang, seine
Eigenart. Hielt ihn doch das Publikum, das ihn kannte, und selbst ein
guter Theil seines vertrauteren Kreises, mehr für einen tüchtigen Kunstlieb¬
haber als für einen productiven Künstler. Und im Grunde hatte dieses Ur¬
theil in doppeltem Sinne so Unrecht nicht. Denn seine Kunst hat Hendschel
wirklich so lieb wie Einer, und bis dahin hat er auch immer am liebsten für
sich, aus Lust an der Sache, an der Kunst selbst, geschaffen.
Albert Hendschel ist geboren 1834 zu Frankfurt a. M., als zweiter Sohn
seines ebenerwähnten Vaters. Er besuchte zuerst ein Privatinstitut, dann das
Gymnasium seiner Vaterstadt, zugleich den Elementarunterricht indem berühmten
Staedel'schen Kunstinstitut, da er schon frühzeitig große Neigung und manches
Geschick zu künstlerischem Treiben zeigte, das sich durch kein Stirnrunzeln und
durch keine wohlgemeinte Warnung seiner gestrengen Gymnasialprofessoren
unterdrücken ließ. Im Gegentheil förderte die Pedanterie so manches alten
Pädagogen unfreiwillig den Darstellungstrieb des Schülers auf einem ganz
andern Gebiete als demjenigen klassischer Exercitien. Da entstanden höchst un¬
klassische Randzeichnungen zu Ovid als Illustrationen zu den gelehrten Er¬
läuterungen des braven Professors. Und sie müssen schon damals die bewun¬
dernde Aufmerksamkeit der kleinen Zeitgenossen erregt haben, denn der rand¬
gezeichnete Ovid ist seither spurlos verschwunden. Da wurden Männlein und
Weiblein beweglich von Hendschel in Wachs modellirr und an einem Haar zu
fröhlichem Tanze veranlaßt, während der Gestrenge auf dem Katheder vielleicht
eben die tragische Geschichte der Niobe erläuterte, bis ein plötzliches lautes
Kichern der Jugend ihn herablockte vom Olymp. Dann saßen Alle so un¬
schuldig da, und auch die sorgfältigste Nachforschung ergab nichts. Denn
Männlein und Weiblein waren längst an den Haaren ins Tintenfaß versenkt
und harrten zu gelegenerer Zeit ihrer schwarzen Auferstehung.
Im Jahre 1847 trat A. Hendschel ganz in die Kunstschule des Staedel'schen
Instituts über, und zeichnete, nach Beendigung des Elementarunterrichts unter
Prof. Jac. Becker, nach der Antike unter Passavant und E. secirte. Hieran
reihten sich die Modell-(Akt-)Studien unter dem Bildhauer I. N. Zwerger,
E. E. Schäffer und E. Seelilie. Nach solcher Vorbildung ging Hendschel in
die Malschule des Prof. Becker über, dessen Specialschüler er bis 1865 blieb.
Dazwischen wurden natürlich ab und zu Reisen und Besuche guter Gallerien
unternommen, zuletzt eine längere Reise nach Italien in den Jahren 186!)
und 1870. Dagegen hat Hendschel Akademieen absichtlich gemieden. Die in-
krustircnde Einseitigkeit, die Gefahr der Manier, welche sie im Gefolge haben,
schien ihm auf der Hand zu liegen. Seine Lehrmeisterin war und blieb die
Natur, veredelt durch das sorgfältige Studium alter und neuer guter Meister.
So hat er nie eine specielle Richtung eingeschlagen. Er hat sich nie gefragt:
Schlägt dieß in Dein Fach? wenn er den Drang fühlte. Geschautes oder Ge¬
dachtes -zu bilden. Was ihm gefiel und ihn begeisterte, mußte herhalten. Ob
es gelingen konnte oder nicht, war ihm einerlei, da er der hehren Göttin Kunst,
seinem innern Drang opferte, indem er schuf.
Aus diesem Geiste heraus sind vorzugsweise auch die Blätter geschaffen,
die in Hendschel's Skizzenbuche vereinigt sind. Viel zu eng jedenfalls
faßt ein großes illustrirtes Unterhaltungsblatt den Charakter dieser Blätter,
wenn es ihren Verfasser einen „Humoristen" nennt. Humor die Fülle steckt
ja unzweifelhaft darin. Aber so hoch wir den echten Humor psychologisch und
künstlerisch stellen, aus dieser — beiläufig bemerkt ganz zufälligen — Auswahl
von Blättern des Hendschel'schen Skizzenbuches ist doch weit mehr ersichtlich
als ein köstlicher Humor, der auch da wo er weniger berechtigt oder gelungen
erscheint, (wie z. B. in den Blättern „Rabbiner", „Seifenmännchen" u. s w.)
niemals zur Karrikatur oder Fratze herabsinkt. Vielmehr spricht uns aus allen
Hendschel'schen Skizzen, den launigen wie den ernsten eine gewaltige poetisch e
Kraft an, die Scherz und Ernst des Deutschen Volkslebens gleich mächtig zu
durchdringen weiß.
Wir würden in detaillirte Erörterungen und Schilderungen jedes einzelnen
Blattes eintreten müssen, wenn wir mehr als allgemeine Gesichtspunkte hier
anregen wollten. Und dabei würden wir doch den Meisten nur Bekanntes
schildern, den Wenigen aber, die das prächtige Werk noch nicht kennen, doch
im entferntesten nicht eine treue Vorstellung von dem Inhalt dieser Blätter
bieten können. Wir begnügen uns daher mit zwei Worten. Einmal mit der
Bemerkung, daß die Wahl der Photographie hier als Vervielfältigungsmittel im
Gegensatz zum Holzschnitt nur sehr gebilligt werden kann, wenn sie auch viel¬
leicht den Preis etwas vertheuert. Denn sie vermittelt die wirklichen Ideen,
die wirklichen Linien des Künstlers, nicht jenes matte Surrogat derselben, das
die xylographische Anstalt zu bieten vermag, nachdem des Künstlers Zeichnung
„geschnitten" worden. Und zweitens ist nur mittels der Photographie — die
beiläufig bemerkt als Fachleistung hier ganz vorzüglich vertreten ist — möglich
gewesen, das Hendschel'sche Skizzenbuch so wie es leibt und lebt und geworden
ist, nachzubilden. Denn „Skizzen" sind diese Blätter nicht etwa in dem Sinne
einer anmaßlichen Bescheidenheit des Künstlers, der eine vollendete Leistung für
Skizzen ausgeben möchte, um bet dem Beschauer die bewunderndste gradatio
!l minoro aä limjus zu erzeugen. „Skizzen" sind es auch wieder nicht in dem
Sinne, daß der Künstler, etwa wie mancher Andere, dem Publikum mit rüh¬
render Offenheit darin gesteht: für Euch ist die Skizze immer noch gut genug;
kein Strich mehr wird daran gemacht. Nein, wir glauben nicht zu irren, wenn
wir annehmen, daß Albert Hendschel, indem er seine Skizzen veröffentlichte,
nur aussprechen wollte: Vollendetes soll es nicht sein, wohl aber soll
das Publikum ihm nachspüren können, wie und warum er so geschaffen
hat. Die sichtbaren Spuren früher anders gezogener Umrisse vieler seiner Ge¬
stalten offenbaren dem aufmerksamen Beschauer, warum der Künstler den
jetzigen Contouren den Vorzug gab. Dieser Einblick in den geistigen Werde¬
proceß dieser Schöpfungen ist mit das Jnteressanteste an dem schönen Werke.
Denn er gestattet einen werthvollen Rückschluß auf das selbstprüfende fein¬
sinnig sichtende Urtheil des Künstlers.
Möge auch diese Weihnacht recht Vielen das prächtige Werk unter dem
Christbaume bescheeren!
Das bibliographische Institut hat da ein paar überaus glückliche Griffe
gethan. Handlich, angenehm zu fassen, wenn auch eng, doch sehr hübsch und
deutlich gedruckt, liegen zwei starke Bände vor uns, die eine geradezu erstaun¬
liche Stofffülle bergen. Das Handlexikon ist zwar einigermaßen zum „Walzer"
geworden, aber wer hätte das ganze menschliche Wissen in einen engeren
Nahmen als auf 2000 Seiten zu bannen vermocht! Es ist dies ein compri-
mirtes Conversationslexikon, das durch ungemein billigen Preis sich aus¬
zeichnet und in der That die ganze Summe der Erkenntniß in alle Kreise zu
tragen vermag. Da aber in vielen Stücken das Wort nicht ausreicht, so ist
ein Atlas kleiner, aber dennoch zweckdienlicher Karten angefügt, welche nicht
nur die politische und physikalische Geographie versinnbildlichen, sondern auch
historische Karten (z. B. das Anwachsen Preußens), ethnographische Tableaux,
thier- und pflanzengeographische Karten :c. vorführt. — Das deutsche Jahr¬
buch bringt in übersichtlichen, gut geschriebenen und für Jedermann lesbaren
Revuen die Fortschritte im Gebiete der Literatur. Künste und Wissenschaften
im Jahre 1871. Die Geschichte haben v. Wydenbrugk und Prutz, die Lite¬
ratur A. Stern und H. Bartling, die Kunst Bruno Meyer, die Geographie
N. Andree, die Naturwissenschaften O. Dämmer, Klein und F. Ratzel, die
Volkswirthschaft A. Lammers und Minoprio, die Landwirthschaft Karl Birn¬
baum bearbeitet. Wir vermissen nur die mächtig aufblühende Anthropologie
und Ethnologie, der im nächsten Bande ein Plätzchen einzuräumen wäre, das
man leicht gewinnen könnte, wenn die sehr breitspurig behandelten, unter¬
geordneten über Gebühr berücksichtigenden Abschnitte über Kunst auf das ge¬
hörige Maß zurückgeführt würden. Sehr viel Ephemeres ist hier aufgeführt,
ja selbst der Brand von Chicago ist uns in dieser Rubrik nicht geschenkt.
Dankenswcrthe statistische Tabellen erhöhen den Werth des Jahrbuchs beim
Nachschlagen. Hoffen wir, daß es sich einbürgere, es ist eine fortlaufende
Ergänzung zu jedem Conversationslexikon, wie es denn auch aus den „Er¬
Indem wir in einem der vorstehenden Artikel dieses Heftes die heiteren
Leistungen eines entwickelten Welsen dem verdienten Gelächter preisgeben, ver¬
säumen wir nicht, in demselben Hefte vier Arbeiten vorläufig kurz zu er¬
wähnen, welche zwar ebenso wie die Sachen des Herrn Constantin Frantz
die neueste Zeit und die Reichsverfassung zum Gegenstande haben, aber frei¬
lich in ganz anderem Sinne wie die Schöpfungen des Stifters der „Religion
des Nationalliberalismus".
Zwei dieser Arbeiten sind Geschichtswerke über die neueste Zeit. Das
eine, ein Stück Weltgeschichte, umfaßt nur die Zeit von 1867 bis 1871 und
berichtet kurz, doch unter Mittheilung alles Wesentlichen und in recht lesbarer
Darstellung des colossalen Stoffes, in zwei Bänden die Geschicke aller Cultur¬
völker der Erde während der größten Epoche der deutschen Geschichte. Den
deutschen Verhältnissen ist daher naturgemäß auch die sorgfältigste und aus¬
gedehnteste Beachtung geschenkt in einem Geiste, der durchaus auf der Höhe
der großen Zeit steht. Das Werk ist von Eduard Amt geschrieben und
bei Duncker und Humblot in Leipzig 1872 erschienen. Es bildet die
Fortsetzung zu den früheren geschichtlichen Arbeiten des Verfassers („Geschichte
der Gegenwart." 1860—1867, 2 Bände) und zugleich die letzten Bände von
„Becker's Weltgeschichte". — Das andere der erwähnten Geschichtswerke hat
lediglich „die Geschichte der deutschen Einheitsbestrebungen bis
zu ihrer Erfüllung, 1848 — 1871" im Auge. Es ist von dein natio¬
nalen Schwaben K. Klüpfel in Tübingen geschrieben — der schon vor
zwanzig Jahren ein ähnliches Werk über die deutschen Einheitsbestrebungen
bis zu ihrem Scheitern im Jahre 1848 herausgegeben hatte — und bei
Julius Springer in Berlin verlegt. Bis jetzt (Ende 1872) liegt leider
nur noch der erste Band vor, der nach einem kurzen geschichtlichen Rückblick
auf die Entwickelung des nationalen Gedankens seit den Befreiungskriegen
die Geschichte der Jahre 1848 und 1849 einer sehr eingehenden Darstellung
unterwirft, uns gründlich über die Reaktionszeit, die neue Aera nach 1859,
den preußischen Conflict, die Anfänge des Ministeriums Bismarck unter¬
richtet und bis zum Vertrag von Gastein führt: „bis zu dem Punkt, an
welchem es nicht mehr zweifelhaft erscheint, daß der Dualismus von Oester¬
reich und Preußen nur durch das Schwert zu überwinden sei." Den zweiten
Band, welcher bis zur Gründung des deutschen Reiches reichen wird, haben
wir leider erst in Jahresfrist zu erwarten.
Aber was lange währt, wird gut. Das Buch ist vortrefflich geschrieben:
klar, unparteiisch, lebendig, treu und fest in seiner deutschen Gesinnung, ohne
jeden Aufwand in gelehrtem Quellenapparat. So mag es nicht blos jedem
Gebildeten, sondern auch dem Historiker von Fach eine willkommene Ueber-
ficht bilden über einen Zeitabschnitt unserer Geschichte, der an Lehren und
Nutzanwendungen für die Strebungen der Gegenwart reicher ist, als irgend
ein anderer. Das fast gänzliche Fehlen von Quellencitaten wird der Fach¬
gelehrte freilich noch leichter als der gebildete Laie verschmerzen, für den das
Buch doch vorzugsweise geschrieben ist. Da die Urkundensammlungen über
das letzte Decennium weder so vollständig noch so allgemein bekannt find,
als diejenigen über die fünfziger und den Anfang der sechziger Jahre, so wird
sich übrigens schon von selbst bei dem zweiten Bande ein größerer Reichthum
an Citaten und Belegstellen einstellen, deren fast gänzlicher Mangel im ersten
Bande diesem in den Augen mancher Leser einiges von seinem Werthe
mindern dürfte.
Von den obenerwähnten Arbeiten über die deutsche Reichsverfassung
rührt die eine von einem Hannoveraner, dem Obergerichtsassessor Justus
Dr. Westerkamp („Ueber die Reichsverfassung", Hannover, Carl Rümpler
1873) her, die andere von einem Baiern, dem ordentl. Prof. zu Würzburg
und tgi. hair. Hofrath Joseph von Held, (Leipzig, F. A. Brockhaus 1872).
Wir begnügen uns für heute auf diese interessanten, und durchaus eigen¬
artigen literarischen Erscheinungen hinzuweisen, und behalten uns vor, die
Erörterungen und Ergebnisse der Verfasser eingehender zu verfolgen. Nur
die einleitenden Hauptgedanken der beiden Verfasser seien zu Nutz und Frommen
des Herrn Constantin Frantz hier noch erwähnt. Von Held, der Baier,
schreibt: „Die Errichtung des deutschen Reiches auf Grundlage der Verfassung
vom 16. April 1871 ist ein geschichtliches Ereigniß von unberechenbarer Be¬
deutung. Keine Nation vermag etwas Großartigeres aufzu¬
weisen." Und der Hannoveraner Westerkamp sagt: „Die Reichsverfassung
ist die beste, freieste, volksthümlichste Verfassung, deren sich Deutsch¬
land oder einer der deutschen Staaten seit vielen Jahrhunderten erfreut hat."
Wir bringen von jetzt an bis zum Fest jede Woche eine „Weihnachts-
bücherschcm", und bitten die für diese Rubrik geeigneten Werke behufs recht¬
zeitiger Auswahl, Vertheilung und Besprechung baldigst einsenden zu wollen.
Während in der letzten Zeit vielfach von einer rothen und einer schwar¬
zen Internationale die Rede war, und ofsiciöse Stimmen von einem geheimen
Einverständnis) der letztern, mit der man die Ultramontanen und namentlich
deren Führer und Vorfechter, die Jesuiten, meinte, wissen wollten, ist eine
solche Uebereinstimmung in den nächsten Zielen, ein solches Bündniß gegen
den beiden gleich verhaßten gegenwärtigen Staat von der ultramontanen
Partei mit Entrüstung geleugnet worden.
Die Presse dieser Partei, die Vereine, in denen sie sich organisirt hat,
die Bischöfe, die ihre Führer sind, glaubten dreist das gerade Gegentheil davon
behaupten zu können. Die Väter der Gesellschaft Jesu sind nichts weniger
als Vertreter radical demokratischer Grundsätze; sie sind vielmehr zu allen
Zeiten Stützen des Staates im conservativen und legitimistischen Sinne ge¬
wesen. Sie haben sich's immer angelegen sein lassen, die Ehrfurcht vor der
bestehenden Obrigkeit zu pflanzen, zu pflegen und vor liberalem Unkraut zu
behüten. Ihre Lehren, ihre Erziehungsmethode sind recht eigentlich darauf
angelegt, die Throne vor dem immer weiter um sich greifenden revolutionären
Geiste zu sichern. Sie sind die treuesten und tapfersten Streiter gegen die
Ideen von 1789, die Europa verwirrt und in Brand gesetzt haben, und unter
denen der Gedanke der Volkssouveränetät die verderblichste ist. Wo man sich
von ihnen lossagte, sie auftrieb, ist jedesmal die Partei des Umsturzes oben
auf gekommen, da die Jugend dann verwilderte und sich in radicalen Wahne
berauschte.
Folgen dann düstere Weissagungen von den Wirkungen, welche das
Jesuitengesetz unfehlbar nach sich ziehen müsse. Man hat seine zuverlässigsten
Freunde, seine werthvollsten Bundesgenossen mit blöder Verkennung ihrer
Natur, mit schnödem Undank für ihre Leistungen von sich gestoßen. Nun
kann es nicht fehlen, daß Deutschland binnen Kurzem eine Beute der rothen
Demokraten, der Socialisten, Communisten und anderer schreckbarer Menschen
wird. Wir aber, so schließt die Litanei der Jesuitenfreunde gewöhnlich mit
frommem Augenverdrehen, waschen unsere Hände in Unschuld, wir haben es
gut gemeint.
Die Denkschrift „der am Grabe des heiligen Bonifacius versammelt ge--
wesenen Bischöfe" aber äußert sich in der Sache folgendermaßen: „Man sagt
zwar, die Gesellschaft Jesu habe unmoralische und staatsgefährliche Grundsätze,
Diese Behauptung ist aber, so lange dieselbe nicht durch unwidersprechliche
Thatsachen erwiesen ist, was bekanntlich bisher nicht geschehen, eine Injurie
gegen die katholische Kirche und eine Unwahrheit. Die katholische Kirche
kann keinen Orden mit unmoralischen oder staatsgefährlichen Grundsätzen oder
Tendenzen in ihrem Schooße dulden. Der Jesuit ist ein katholischer Christ
und Priester wie jeder andere, dem Glauben, der Sittenlehre und den Gesetzen
der katholischen Kirche in Allem ohne jegliche Ausnahme unterworfen. Das
ist die Wahrheit, alles Andere ist Unwahrheit und Vorurtheil, und so lange
die katholische Kirche selbst ein Recht hat auf ihre christliche Ehre, hat sie
auch das Recht, zu fordern, daß man kein ihr angehöriges Institut, für wel¬
ches sie die Verantwortung trägt, als unmoralisch oder staatsgefährlich be¬
zeichne. Will aber behauptet werden, daß einzelne Mitglieder der Gesellschaft
Jesu sich des schweren Borwurfs der Jmmoralitcit und Staatsgefährlichkeit
schuldig gemacht haben, so fordert die Gerechtigkeit, daß auch der Einzelne
nicht verurtheilt werde, ohne vorhergegangene Untersuchung und Constatirung
der von ihm begangenen Schuld."
Prüfen wir jenes Lob der Gesellschaft Jesu und entsprechen wir der
Aufforderung der Bischöfe, die gegen dieselbe wegen staatsgefährlicher Lehren
erhobene Beschuldigung zu beweisen. Es wird nicht schwer halten, das Lob
mindestens sehr einzuschränken und die Beschuldigungen wenigstens in so weit
zu rechtfertigen, als sich darthun läßt, daß eine sehr erhebliche Anzahl jesuiti¬
scher Schriftsteller, darunter die angesehensten Moralisten des Ordens, ganz
entschieden revolutionäre Grundsätze, zum Theil mit einem dem Fanatismus
der Jacobiner und Communarden völlig ebenbürtigen Eifer, vorgetragen haben.
Zunächst allerdings ist zuzugeben, daß die katholische Kirche mit Einschluß
der Jesuiten seit dem Sturze des ersten Napoleon und^besonders in den Jah¬
ren der Restauration als Verbündete der legitimistischen Partei aufgetreten
und von dieser als solche willkommen geheißen und nach Kräften begünstigt
worden ist. Auch jetzt sehen wir jene Partei in enger Verbindung mit den
schwarzen Herren in Gens und Rom agitiren und conspiriren. Der verjagte
König von Neapel, der carlistische Prätendent in Spanien, Gras Chambord
und was sonst in die „alte gute Zeit" zurückwollte, sie alle sahen und sehen
in den Ultramontanen und Jesuiten höchst werthvolle Freunde und Gesiw
nungsgenossen, und zwar mit Recht. Aber der Legitimismus hat jene zu
Glaubensverwandten und Gehülfen nur insofern, nur deshalb, weil er mit
hum die Macht über die Völker theilen, ja weil er ihnen, weil er Rom die
oberste Stelle, die Macht auch über Fürst und Staat einräumen, weil er dem
Papst im Sinne des Syllabus gehorchen, weil er ihm zunächst zur Wieder¬
erlangung seiner weltlichen Krone verhelfen will.
Kein Geld , keine Schweizer! Keine Unterwerfung unter die Curie,
keine Unterstützung durch die Jesuiten. Wer die Selbstständigkeit der katho¬
lischen Kirche gegenüber dem Staate, d. h. das Recht derselben, sich in dessen
Angelegenheiten zu mischen, dessen Gesetze und Freiheiten nach Belieben für
nicht vorhanden anzusehen, anerkennt, dem steht man zu Diensten, wer
nicht, dem nicht.
In diesem Sinne war gemeint, was der bedrängte Papst in der Allocu-
tion vom 17. September 1860 zu den Fürsten sagte: „Möchten sie doch
endlich sich überzeugen, daß die katholische Religion allein die Lehrerin der
Wahrheit, die Erzieherin aller Tugenden ist, und daß in ihr allein das Heil
und die Unversehrtheit des Staates beruht." Und so ist der oratorische
Seufzer zu verstehen, mit welchem am 13. September 1864 ein Bischof die
katholische Generalversammlung zu Würzburg schloß: „Ja, was wäre es,
wenn die ganze Welt katholisch (soll heißen: dem Willen des Papstes Unter¬
than) wäre! Dann würden die Altäre heilig gehalten, die Throne ständen
unerschütterlich fest, die Werkstätten wären dem Herrn geweiht, die Verhält¬
nisse des Staates im Großen, der Familie im Kleinen vom vierten Gebote
beherrscht." Der Vater wäre Herr im Hause, der Fürst Herr im Lande, und
der — Papst Herr über die Fürstenfamilie und über die Welt. Das ist das
Ideal des Redners, der ultramontanen Armee, in deren Namen er spricht,
und der Garde dieser Armee, der Gesellschaft Jesu.
Die Jesuiten kämpfen für den Absolutismus der Fürsten nur, wo er
ihnen zum Absolutismus des Papstes zu helfen verheißt. Allerdings nennen
sie das Kind nicht beim rechten Namen, nennen sie es Freiheit der Kirche.
Aber worin besteht diese angebliche Freiheit? Hase") hat es uns schon 1868
gesagt: „In der Freiheit, die künstigen Cleriker abgeschlossen von der natio¬
nalen Bildung und vom Lichtstrom der Wissenschaft in bischöflichen Semina¬
rien zu erziehen, in der Freiheit der Bischöfe, diese Cleriker in unbedingtem
Gehorsam zu erhalten, in der Freiheit des Papstes, nur Bischöfe desselben
Gehorsams zu dulden und durch sie der Kirche seine Willkür zum Gesetz zu
machen, endlich in der Freiheit der gesammten Priesterschaft die Gewissen der
Laien zu beherrschen und mitunter ein Landesgesetz ungestraft oder doch mit
dem Ruhme eines bescheidenen Märtyrerthums zu übertreten. Was man die
Freiheit der katholischen Kirche genannt hat, war die Unfreiheit des katholi¬
schen Volkes.
Am schamlosesten hat der berühmte Cardinal Bellarmin "*) diese Pseudo-
freiheit mit den Worten definirt: „Wenn der Papst irrte, indem er Laster
lehrte und Tugenden verböte, so würde die Kirche gehalten sein, zu glauben.
die Laster seien gut und die Tugenden böse. Denn in zweifelhaften Dingen ist
die Kirche verpflichtet, sich bei dem Urtheilsspruch des obersten Priesters zu be¬
ruhigen und zu thun, was er vorschreibt, nicht zu thun, was er verbietet."
Der Katholicismus als politische Macht, als Ultramontanismus, beugt
die Geister in ihrem tiefsten Innern und begünstigt dadurch den Despotismus
im staatlichen Leben bis zu der angegebenen Grenze. Aber zunächst gilt dieß
nicht ohne Weiteres von der katholischen Kirche überhaupt. Wir selbst haben
gehört, wie Leute, wie Lamennais, Ventura, Lacordaire, Nosmini und Mon-
talembert eine Zeit lang mit dem Segen des vorigen und des jetzigen Papstes
den Bund des Katholicismus mit der Freiheit der Völker verkündigten.
Als Lamennais seine Absicht, die Kirche mit dem freien Staat zu ver-
öhnen, durch den berühmten Hirtenbrief Gregor's des Sechzehnten von 1832
vereitelt sah, konnte er sich auf Gregor den Siebenten als auf den Heros der
Volksfreiheit berufen, der Fürsten abgesetzt und ihre Unterthanen vom Eide
der Treue entbunden hat, ja der geradezu der Meinung war, daß „die Fürsten
vom Teufel angereizt, über Menschen ihres Gleichen aus blinder Gier und
unerträglicher Anmaßung zu herrschen trachteten."
Die Theorie der Volkssouveränetät und des „gesellschaftlichen Vertrags"
gilt gewöhnlich für eine Erfindung Rousseau's. Sie ist aber eine ziemlich alte
katholische Anschauung. In ihrer rohesten Gestalt, als Streitfrage über die
Berechtigung der Ermordung von Tyrannen, wurde sie bereits auf dem
Concil von Constanz verhandelt. Die heilige Versammlung sah sich durch
politische und persönliche Gründe verhindert, wenigstens über bestimmt vor¬
liegende Fälle ein Verdammungsurtheil auszusprechen, Die Bettelmönche
pflegten über die Meinung, ob Jedermann berechtigt sei, denjenigen, der sich
dem gewöhnlichen Nechtsgange entziehe, den Gewalthaber, den Fürsten, durch
Mord zu beseitigen, oder allgemein gefaßt, die Staatsordnung unter Um¬
ständen umzustürzen, Autoritäten für und wider anzuführen und zu dem
Schlüsse zu kommen, daß diese Berechtigung sich beweisen lasse.
Die Jesuiten sind dann weiter gegangen. Das Phantasma des
Mittelalters, daß der Papst die Sonne, der Kaiser nur der Mond der Welt
sei, setzte sich nach der Reformation in die Rechtstheorie um, daß Gott in
unmittelbarer Gründung des Papstthums dem heiligen Petrus und seinen
Nachfolgern die Regierung der Kirche übergeben habe, dem Fürsten die
weltlichen Dinge nur mittelbar durch das Volk. Auch die weltliche Obrigkeit,
so lehrte man, ist von Gott eingesetzt, aber Gott hat sie nicht einer be¬
stimmten Person übergeben, er hat nicht eine bestimmte Regierungsform ein¬
gesetzt, sondern diese geht aus dem Willen des Volkes hervor, welches daher
unter gewissen Verhältnissen ein Königreich auch in eine Aristokratie oder
Demokratie verwandeln kann. Der Unterschied von der modernen Doctrin
der Volkssouveränetät besteht nur darin, daß die katholische Theorie nicht
zur Befreiung des Volkes, sondern einzig und allein zur Verherrlichung der
Hierarchie erfunden ist.
Diese entschieden revolutionären Lehren sind vor Allem von den Jesuiten
vorgetragen und vertheidigt worden. Wir begegnen in der Literatur des
Ordens einer ganzen Reihe von Schriftstellern, die sich vorzüglich dadurch
einen Namen erworben haben, daß sie als eifrige Vorkämpfer für die Idee
der Volkssouveränetcit, als Advocaten des Rechtes zur Revolution, ja als
entschiedene und rückhaltslose Fürsprecher der Abschaffung und Verjagung,
selbst der Ermordung von Fürsten aufgetreten sind, die sich mißliebig gemacht.
Im Folgenden die Belege dazu, denen wir nur wenige Bemerkungen hinzu¬
setzen. Der Orden, der sich bekanntlich nie verändert, der „bleiben wie er
ist, oder aufhören muß zu existiren", mag sich selbst anklagen.
Der Jesuit Lainez, welcher auf der Synode von Trient den Satz vor¬
trug, daß die Kirche unter der von Christus eingesetzten Papstmonarchie als
eine Magd geboren sei, die keinerlei Art von Freiheit, Macht oder Juris-
diction habe, lehrt dabei von den menschlichen Gesellschaften und Staaten im
Gegensatz zu der allein von Gott gegründeten Kirche: „Sie besitzen ihr Wesen
von Anfang an und, gestalten sich dann ihre Negierung. Daher sind sie frei,
und ist die Quelle aller Gewalt bei den Gemeinheiten, welche dieselbe ihren
Obrigkeiten mittheilen, ohne sich dadurch dieser Gewalt selbst zu begeben."
Der bereits erwähnte Jesuit Cardinal Bellarmin, der in seiner Schrift:
„vo Romans ?0ntiüee" sagt: „die staatliche Gewalt liegt im Volke, wenn
sie nicht vom Volke auf den Fürsten übertragen wird", „das weltliche Fürsten-
thum stammt von Menschen, aus dem Völkerrecht, das kirchliche Fürstenthum
stammt allein von Gott, aus göttlichem Recht", äußert sich in seiner Abhandlung:
„I)e Mraw'is LeelWiao rnilitluitis": „Die Staatsgewalt ruht unmittelbar in
der gesammten Menge. Diese Gewalt wurde von der Menge nach natür¬
lichem Rechte auf Einen oder Mehrere übertragen. Von dem Uebereinkommen
der Menge hängt es ab, ob sie Könige oder Consuln oder andere Obrigkeiten
über sich setzt. Daraus folgt, daß, wenn ein gültiger Grund vorhanden ist,
die Menge ein Königreich in eine Aristokratie oder Demokratie oder auch
umgekehrt verwandeln kann, wie es die Römer thaten."
Wir möchten bezweifeln, daß man die Volkssouveränetät und das Recht
zur Revolution unverhüllter und entschiedener proclamiren könnte. Von einer
Legitimität der herrschenden Dynastien, von einem Rechte, welches die Fürsten
über oder doch neben dem Volksrechte hätten, weiß weder der Concilsredner
noch der gelehrte Cardinal irgend etwas. Aber es kommt noch besser.
Der spanische Jesuit Mariana hat in seinem vielgebrauchten Hand¬
buche: „v<z lie^e et ReAs instiwtiono"*), dem eine in den rühmendsten Aus-
drücken abgefaßte Gutheißung seines Provinzials vorgedruckt ist, fast alle Fragen
der modernen Politik über die Collisionen zwischen Volks- und Fürstenrecht
behandelt und ausnahmslos gegen das letztere entschieden. Das Volk kann
nach ihm die höchste Gewalt an Einen oder Mehrere übertragen, es steht bei
dem Belieben des Volkes, neue Könige zu machen, es kann einem Fürsten
wegen Tyrannei oder Vernachlässigung seiner Pflichten, seine Vollmacht ent¬
ziehen und ihn absetzen, es ist stets befugt, die Folgen der Regierung zu ändern
und nur darin durch göttliches Recht gebunden, daß es niemals einen ketzerischen
König zulassen darf. Man begegnet in der genannten Schrift folgenden
Aussprüchen:
„Die zu große Macht der Könige und der Sklavensinn der Völker, welche
der Willkür ihrer Fürsten schmeichelten und nachgaben, hat (die eigentlich nach
Todesfällen von Königen eintreten sollende Berechtigung des Volkes, nach
Belieben den Nachfolger zu ernennen, abgeschafft und) die Erbfolge eingeführt."
Dieselbe möge auch, so fährt unser Jesuit fort, für die Ruhe der Staaten
gut sein, und ferner könnten die Fehler eines Erbfürsten, zumal in zartem
Alter, durch eine geeignete Erziehung beseitigt werden. „Gelingt das aber
nicht", heißt es weiter, „so muß das Volk darüber hinwegsehen, so lange das
öffentliche Wohl es erlaubt und die verderbten Sitten des Fürsten nur Privat¬
sachen betreffen. Gefährdet er jedoch dadurch das Wohl des Staates, ver¬
achtet er die väterliche Nation, will er sich nicht bessern, so muß man ihn
meines Erachtens absetzen und einen andern an seine Stelle bringen, was in
Spanien häusig geschehen ist. Wie ein reißendes Thier muß er durch Aller
Geschosse angegriffen werden, weil er unmenschlich und ein Tyrann ge¬
worden ist."
„Die Gesetze der Erbfolge müssen durchaus fest sein, und Keinem darf zu¬
stehen, ohne den Willen des Volkes daran etwas zu ändern; denn vom Volke
sind die Rechte der Herrschaft abhängig. Wenn aber an der Art der Erbfolge
etwas umgestaltet werden soll, so gebührt dieß dem Volke; denn was. um des
gemeinen Besten willen durch Uebereinstimmung Aller bestimmt worden ist,
warum sollte das nicht durch den nämlichen Willen des Volkes wieder umge¬
ändert werden können?"
Ein guter König ist nach Mariana ein solcher, der „sich nicht für den
Herrn des Staates und der Einzelnen ansieht, sondern nur für einen Vorstand,
der von Bürgern besoldet wird." „Wenn sie ihm Widerstand leisten, so werden
wir vielmehr ihrem Ausspruche als dem Willen des Königs beitreten. Dieß
gilt, wenn die Rede davon ist, Abgaben aufzulegen, Gesetze zu heben, einen
Nachfolger zu krönen oder die Erbfolge zu übertragen. Denn das sind Sachen
die auch das Volk, nicht blos den König angehen. Wie könnte ferner ein
Volk seinen König, wenn er durch böse Sitten den Staat mißhandelt und in
einen offenbaren Tyrannen ausartet, züchtigen, ihn der Herrschaft berauben
und ihm, wofern es nöthig , das Leben nehmen, wenn das Volk nicht die
größere Gewalt zurückbehalten hätte, als es dem König dessen Antheil abtrat."
Wir fragen nicht, wie viel an diesem Raisonnement richtig ist. Aber wir
dürfen wohl fragen, ist das die Sprache eines Legitimisten, eines getreuen
Hüters der Völker vor der Revolution, oder nicht vielmehr die eines Vorläufers
Rousseau's und der Redner im Jacobiner-Club von 1790? Der Convent er¬
klärte Ludwig den Sechzehnten für einen Tyrannen, der Convent vertrat das
französische Volk, und was würde der Jesuit Mariana dazu gesagt haben!
wenn er statt 1690 erst 1790 geschrieben hätte? Nun, er hätte einfach der
Vertretung der Franzosen haben Recht geben müssen, als sie ihren König
köpften, weil sie ihn für einen Tyrannen hielten und — weil sie mehr Macht
hatten als ihr König.
Die Frage endlich, ob ein Souverain auch den Gesetzen unterworfen sei,
beantwortet Mariana folgendermaßen: „Der König bilde sich nicht ein, daß
er weniger unter dem Gesetz stehe, als jeder Unterthan oder Adelige, zumal
da mehrere Gesetze nicht von dem Fürsten, sondern von dem ganzen Volke ge¬
geben sind, dessen Ansehen und dessen Gewalt in Befehlen und Gebieten größer
sind als die des Königs, wie wir oben gezeigt haben. Solchen Gesetzen muß
der König also nicht allein gehorchen, sondern er darf sie ohne Einwilligung des
Volkes nicht einmal abändern. Ja, das Volk kann den König zwingen, die Ge¬
setze zu erfüllen, die es erlassen hat, und es ist befugt, den Ungehorsamen vom
Throne zu stürzen und ihn, wofern es nöthig ist, mit dem Tode zu bestrafen."
Nun denn, wenn ein Orden, der solche Lehren in seiner Mitte entstehen
und wachsen sah, der keinerlei Einspruch dagegen that, der ihnen durch einen
seiner höchsten Würdenträger vielmehr seine Approbation ertheilte, wenn die
Gesellschaft Jesu, welche die Bolkssouveränetät in ihrer flachsten und gröbsten
Auffassung und mit ihren furchtbarsten Consequenzen, genau im Sinne von
Marat und Se. Just, vortrug und geltend machen wollte, uns jetzt als Damm
und Mauer gegen die Ausbreitung, als zuverlässigste Verbündete im Kampfe
gegen die Anwendung solcher Lehren angepriesen wird — dürfen wir uns
dann nicht die Frage genehmigen, ob Leute, die uns dergleichen Lob und Em¬
pfehlung zu Gehör geben, ihre fünf Sinne noch beisammen haben, oder, wenn
dieß vorauszusetzen, ob sie in ihrer unaussprechlichen Dreistigkeit vermuthen,
wir hätten an den unsrigen Schaden gelitten?
Wir sind aber noch lange nicht zu Ende mit unsern Citaten aus der
Jesuitenliteratur, und es werden viel gefährlichere Dinge aufs Tapet kommen.
In der Zeit, wo in Frankreich die Ligue gegen Heinrich den Dritten und
den von diesem zu seinem Nachfolger bestimmten Heinrich von Navarra ge¬
schlossen wurde, veröffentlichte der Jesuit Wilhelm Rosseus oder, wie er
eigentlich hieß, Rcnnold ein Buch, welches im Tone des glühendsten Fana¬
tismus die staatsgefährlichen Lehren von Bellarmin, Lainez und Mariana
vortrug, die im Vorigen mitgetheilt sind. Auch diese Schrift, die den Titel:
„Oe .justÄ reipublicae OnristiÄNg, in regos imxios et Ilaeretieos anotvrit^w"
führte und 1592 zu Antwerpen erschien, erfreute sich der Approbation der je¬
suitischen Obern. Was für Ungeheuerlichkeiten aber darin neben einigen rich¬
tigen Meinungen gelehrt worden, möge man aus folgenden wörtlich heraus¬
gehobenen Stellen ersehen.
Die verschiedenen Regierungsformen sind nicht natürlichen, geschweige
denn göttlichen Rechts, sie stammen nur „aus den Sitten der Volker, welche,
bewogen von nothwendigen Ursachen und Bedürfnissen des Gemeinwohles
bald die bald jene Formen des Gehorchens und Gebieters annahmen." „Dies
gilt auch von der Königswürde, welche keinen andern Ursprung hat als die
übrigen Gewalten; denn die, welche sich Könige wählten, konnten sich ja auch
Consuln oder Herzöge wählen. Und hiermit hängt auch die Erbfolge allein
vom Willen des Volkes ab, wie die römische Geschichte zeigt." „Alles dieses
hat bestimmt weder Gott noch die Natur geordnet, sondern nur der Wille,
das Belieben, die Einrichtung und freie Einsetzung der Völker, entweder
gleich zu Anfang, als sie ihre Staaten gründeten, oder später, als sie die¬
selben verbesserten. Haben Einige gegen den Willen des Volkes durch Gewalt,
durch böse Künste u. d. die Herrschaft an sich gerissen, so haben die Philo¬
sophen und Gesetzgeber solche stets als grausame Tyrannen und gewaltthätig?
Räuber verabscheut und verdammt und durch Aussetzung von Ehren und
Belohnungen jeden Bürger aufgefordert, sie zu ermorden. Mögen wir nach
dem ersten Ursprung der Herrschaft forschen oder die verschiedenen legitimen
Regierungsformen betrachten, immer muß man auf das Ansehen der Gesammt¬
heit, des Volkes, als auf ihre wahre und eigentliche Quelle zurückkommen."
„Wer ist wohl so ganz und gar von der gesunden Vernunft verlassen
daß er dem Staate die Befugniß absprechen sollte, sich selbst gegen innere
und äußere Feinde zu wehren? Und zu diesen gehören blutige, grausame und
ungerechte Fürsten, welche eine Pest der menschlichen Gesellschaft sind. Was bei
kleinen Gefahren erlaubt ist, daß ist gewiß bei größeren gestattet. Wenn
der König träge ist, sich nicht um die Geschäfte kümmert, so hat das Volk
das Recht, ihn links liegen zu lassen und sich selbst zu helfen. Ja es ist
sogar seine Schuldigkeit und gereicht ihm zum Ruhm und zur Ehre, des
Königs Wahnsinn zu bändigen und durch Unterdrückung des Einen die
Sicherheit Aller zu begründen, wenn er gegen den Staat frevelt, die vater¬
ländischen Gesetze verletzt, die Religion (d. h. natürlich das Papstthum
zu dessen Gunsten dies Alles vorzüglich vorgetragen wird) verachtet und freie
Völker zu seinen Sklaven herabwürdigt. Erst der Staat (unter welchem
Ausdruck der Autor stets das Volk oder vielmehr, wie häufig auch die heu¬
tigen Demokraten, seine Partei versteht), dann der König!"
An einer andern Stelle lesen wir bei Pater Rosseus: „Die eigentliche
königliche Macht wird erst verliehen in dem feierlichen Act der Krönung durch
die Bischöfe (die ihm also diese nur zu verweigern brauchen, um sein Recht
auf den Antritt der Regierung illusorisch zu machen); nicht aber gebührt sie
ihm von Natur oder durch Abkunft. Ganz augenfällig besteht zwischen den
christlichen Königen und Völkern eine Festsetzung, ein Abkommen oder Ver¬
trag (da hätten wir wörtlich den contrat social des Philosophen im Schlo߬
park von Montmorency), wodurch zuerst der König sich verpflichtet, gerecht
und christlich zu regieren, dann das Volk, in rechtmäßigen Dingen zu ge¬
horchen. Durch diese Eide und die der Königsherrschaft angehängten Bedin¬
gungen sind die Regierungen aller christlichen Völker den Gesetzen der Gerech¬
tigkeit, Billigkeit, vorzüglich aber denen der Religion und des Glaubens
so unterworfen, daß, sowie der König ihretwegen vom Volke mit der könig¬
lichen Macht bekleidet wird, er auch, falls sie fehlen, nicht in Wahrheit König
genannt werden darf, sondern es nur dem Namen nach ist, wie ein Bild aus
Erz oder ein Gemälde, das einen Menschen darstellt, auch wohl Mensch hei¬
ßen mag."
„Wer da leugnet, daß Reiche und Herrschaften aus gerechten Gründen
von den alten regierenden Häusern auf neue übertragen werden können,
(Rosseus hat dabei offenbar den Führer der katholischen Ligue, für die er
schrieb, den Herzog von Mayenne oder den König von Spanien im Auge,
der erweislich nach der Krone Heinrich des Vierten strebte) wer den christ¬
lichen Völkern die Verpflichtung auferlegt, nimmer denen zu gehorchen, welche
sie einmal an die Spitze gestellt haben, der ist nicht nur ein Verräther der
christlichen Völker und Könige und mit Recht der Majestätsbeleidigung
(nach dem Zusammenhange der Beleidigung der Majestät des Volkes, der
Verletzung der Volkssouveränetät) schuldig, sondern er muß auch wie ein Ke¬
tzer angeklagt und zur Hölle verdammt werden, als ein Feind des Christen¬
thums und christlichen Glaubens, als ein Beleidiger der göttlichen Majestät."
So lesen wir wörtlich im zweiten von den elf Capiteln der genannten
Schrift, Seite 84. Den Schluß des auch sonst vielfach interessanten Kapitels
aber bildet folgende Stelle:
„Aus dem, was bisher über den Ursprung und die Gewalt der Könige
gesagt ist, ergiebt sich, daß die Gewalt aller christlichen Könige beschränkt ist.
und daß sie den einzelnen Gliedern des Staates sowie dem Ganzen desselben
in der Art vorgesetzt sind, daß das Volk ihre Macht erweitern, beschränken,
verändern, ja, wenn es die Umstände verlangen, von Grund aus aufheben
und eine andere Regierungsform an ihre Stelle setzen kann. Dieß alles haben
wir hinreichend bewiesen durch den Ausspruch der Natur des Völkerrechts,
durch die Einrichtungen des Christenthumes, die Bestimmungen der Concilien,
die Statuten der Reichsversammlungen, und diese Beweise werden genügend
stark sein. Folgt aus dem Bemerkten auch, daß die Unterthanen dem König
großen Gehorsam schulden, so ist doch eben dadurch zugleich der Beweis er¬
bracht, daß noch größer der Gehorsam ist, den die Könige dem Staate und
seinen Gesetzen schuldig sind, da der Staat (immer das Volk) über den
Königen steht."
Wir könnten die Behauptung, daß eine Anzahl angesehener Jesuiten ge¬
gelehrt haben, es stehe den Völkern zu, ihre Könige abzusetzen und die Füsten-
würde abzuschaffen, als mit dem Gesagten erwiesen betrachten und die Sache
damit für erledigt ansehen. Aber dieselbe Lehre kommt bei einigen von den
genannten jesuitischen Vätern sowie bei andern Schriftstellern des Ordens
noch in Verbindung mit der Behauptung vor, daß der Mord von Tyrannen
erlaubt sei. Ehe wir zu dieser letzteren übergehen, müssen wir noch einen
Punkt kurz besprechen, der zum Verständniß derselben nicht unwesentlich bei¬
zutragen geeignet scheint.
Bellarmin behandelt diesen Gegenstand namentlich vom kirchlichen
Standpunkte in seinem Buche: „vo liomcmo ?ontiKee", wo es heißt: „Das
kirchliche Gemeinwesen muß vollkommen sein und sich selbst genügen für seinen
Zweck; denn so sind alle wohlgeordneten Staaten eingerichtet. Also muß
es alle Gewalt haben, welche zur Erreichung seines Zweckes erforderlich ist.
Nothwendig aber ist für den geistlichen Zweck die Gewalt, sich der weltlichen
Dinge zu bedienen und über sie zu verfügen, weil ja sonst böse Fürsten un¬
gestraft die Ketzer in Schutz nehmen und die Religion zu Grunde richten
könnten. Folglich hat die Kirche diese Gewalt." „Ferner kann jeder Staat,
weil er vollkommen sein und sich selbst genügen muß, einem andern ihm nicht
unterworfenen Staate Befehle ertheilen und ihn zwingen, seine Regierung zu
verändern, ja auch seinen Fürsten abzusetzen und einen andern zu wählen,
wenn er sich nicht auf anderem Wege gegen dessen Beleidigungen sichern kann.
(Eine völkerrechtliche Maxime, die in der Praxis allerdings oft verwirklicht
worden, mit dem Katechismus der Legitimisten aber nicht in Einklang zu
bringen und im Grunde nichts Anderes als die Proclamirung des Rechts der
Stärkeren ist.) Der geistliche Staat wird das um so mehr dem weltlichen,
ihm unterworfenen befehlen und ihn nöthigen können, seine Verwaltung zu
ändern, seine Könige abzusetzen und andere zu wählen, wenn er sein geist¬
liches Wohl nicht auf andere Weise zu schützen vermag." Von der Kirche
gelangt der Autor dann folgerecht zu den christlichen Völkern, denen er nicht
nur das Recht, sondern auch die Pflicht beilegt, ketzerische und ungläubige
Könige zu stürzen. „Wenn die Christen", so fügt er hinzu, „vordem den
Nero, den Diocletian, den Julian und den Valens nicht absetzten, so unter¬
blieb dies nicht deshalb, weil ihnen die Befugniß, sondern weil ihnen die
Macht dazu mangelte."
Aehnlich wie Vellarmin äußern sich über den Gegenstand eine große
Menge anderer Schriftsteller der Gesellschaft Jesu, von denen wir hier nur
einige reden lassen.
Molina lehrt in seiner Schrift: „vo justitm ot, M-o": „Der Papst
kann, wenn ein übernatürlicher Zweck es.erheischt, die Könige absetzen und
ihrer Staaten berauben. Er kann auch in weltlichen Dingen ihr Wächter
sein, ihre Gesetze beseitigen und überhaupt unter den Christen gebieten, thun
und richten, was ihm für das allgemeine Wohl und den übernatürlichen
Zweck nützlich erscheint."
I. Gretzer sagt, was die Macht des Papstes betreffe, mit der er die
Könige und Fürsten bändige, so würden diese sie nicht für ungebührlich oder
vernunftswidrig halten, wenn sie nur ruhig und sorgfältig überlegten, was
die Pflicht des obersten Hirten der Seelen sei, und welche Befehle und Ver¬
heißungen Christus dem Petrus ertheilt habe.
JohannvonLugo behauptet: „Jesus Christus, der die Verkünder seines
Wortes aussendet, ist der oberste Fürst; seine Abgesandten können also die, welche
das Predigen hindern, kraft der in ihrer Sendung liegenden Gewalt beseitigen.
Ein ungläubiger Fürst, welcher in seinen Staaten die Predigt des Evangeliums
hindert, ist seinen Unterthanen schädlich. Die Kirche kann zur Vertheidigung dieser
Unterthanen einschreiten und die ihnen zugefügten Unbilden abwehren, indem
sie den Fürsten aufjedeWeise nöthigt, das Predigen der Glaubenslehre zu er¬
lauben. Jeder selbstständige Staat hat das Recht, Gesandte an andere Fürsten
zu Friedensunterhandlungen zu schicken. Werden diese belästigt oder miß-
handelt.so ist der Staat oder Fürst, der sie aussandte, befugt, sie zu vertheidigen
und nöthigenfalls sie auf passende Art zu rächen. Das gleiche Recht hat dem¬
nach die Kirche. Jeder Fürst, der sich der Verkündigung ihrer Lehre wider¬
setzt, (der deutsche Kaiser z. B., so könnten die Ordensbrüder des Autors jetzt
schließen, wenn er eine Lehrentscheidung des 1870 unfehlbar gewordenen Pon-
tifer, die ihm staatsgefährlich erscheint, nicht verkündigen ließe) ist in dieser
Beziehung ein Tyrann, und die Kirche kann ihn zwingen, von seinem Ver¬
fahren abzustehen. Der Papst übt als höchster Richter dieses Zwangsrecht
aus, wenn er gläubige Fürsten (z. B. die Bourbonen, wenn sie mit Hülfe
der heiligen Jungfrau den Thron Frankreichs wiederbestiegen hätten, in Be¬
treff Deutschlands, so könnten jene Ordensbrüder einzuschalten geneigt sein)
beauftragt, die Verkünder des Glaubens in den Ländern der Ungläubigen zu
beschützen und diejenigen zu zügeln, welche ihnen widerstehen."
Hurtado billigt diese Lehre, Er setzt hinzu, daß der Papst, zugleich
weltlicher Fürst, den Ungläubigen den Krieg erklären und sie damit über¬
ziehen könne, in welchem Falle die anderen Fürsten bei diesem Kriege nur
als seine Bevollmächtigten erscheinen.
Alphons Salmeron: „Der Papst hat Macht über die ganze von
Christen bewohnte Erde und über die weltlichen Fürsten, Könige und Obrig-
ketten, welche das Gesetz Jesu bekennen. Denn sie alle sind seiner mittelbaren
oder indirecten Negierung und Anordnung unterworfen, er kann ihnen wie
der Hirt seinen Schafen befehlen, nicht blos sie bitten und ernähren, daß sie
alle Kräfte ihrer Reiche und alle ihre Macht für das Heil der Seelen und für
die Verbreitung des Evangeliums aufbieten. Wenn sie aber dem nicht nach¬
kommen, so hat er das Recht, sie als Rebellen zu bestrafen, und wenn sie irgend
etwas gegen die Kirche oder die Ehre Christi unternehmen, so kann er sie
ihrer Reiche und ihrer Herrschaft entsetzen, ihre Staaten einem andern Fürsten
geben und ihre Unterthanen vom Eide der Treue entbinden, damit das Wort
des Herrn erfüllet werde, welches er durch den Mund des Propheten Jeremias
sprach: Heute habe ich euch gesetzt über die Völker und Königreiche, um zu
nehmen, zu entreißen, zu zerstören, zu verderben, zu zerstreuen, aufzubauen
und niederzuwerfen."
Andreas Philopator: „Hieraus schließt die ganze Schule der Theo¬
logen und Rechtsgelehrten, und es ist dies nicht allein gewiß, sondern auch
eine Glaubenssache, daß jeder christliche Fürst, welcher sich vom katholischen
Glauben trennt, und auch Andere davon losreißen will, von diesem Augen¬
blicke an aller Macht und aller Würde nach göttlichem und menschlichem
Rechte verlustig gehe, und zwar ohne vorheriges Erkenntniß des geistlichen,
d. h. des obersten Richters, daß zugleich alle Unterthanen des Eides der Treue
falls sie ihm denselben als ihrem rechtmäßigen Fürsten geschworen haben,
entbunden sind, und daß sie einen solchen Menschen als einen Abtrünnigen
und Ketzer, als einen erklärten Feind des Gemeinwesens mit bewaffneter
Hand nicht nur verjagen können, sondern selbst müssen, aus daß er nicht
Andere verderbe und durch Beispiel und Befehl vom wahren Glauben ab¬
wendig mache."
In ähnlichem Sinne sprachen sich Santarell, Cornelius a Lapide
Bauny, Lessius und Alagon sowie Ribadaneira aus. Wir citiren
aber ihre Aeußerungen nicht, sondern gehen nunmehr zu denjenigen jesuitischen
Moralisten über, welche sich mit der Frage der Erlaubtheit des Tyrannenmor¬
des beschäftigt und dieselbe bejaht haben.
Luther hat in seinen „Tischreden" über diesen Gegenstand gemeint, daß
ein Mann das Aeußerste thun dürfe, wenn er tödtlich gekränkt werde in
seiner Hausehre. Er sagt: „Wenn ich einen, der gleich kein Tyrann wäre, bei
meinem Eheweibe oder Tochter ergriffe, so möchte ich ihn wohl umbringen.
Item, wenn er diesem sein Weib, dem Andern seine Tochter, dem Dritten
seine Aecker mit Gewalt nähme, und die Bürger und Unterthanen träten zu¬
sammen und könnten seine Gewalt und Tyrannei nicht länger dulden, so
möchten sie ihn umbringen wie einen Mörder und Straßenräuber. Aber wenn
man mich ergriffe als einen Prediger ums Evangeliums willen, so wollte ich
mit gefalteten Händen meine Augen gen Himmel heben und sagen: Mein
Herr Christe, hier bin ich, ich habe Dich bekannt und gepredigt, ist's nun
Zeit, so besehe ich meinen Geist in Deine Hände! und wollt also sterben."
Um das Recht des Widerstandes gegen katholische Ueberwältigung befragt,
hat er lange dafür gehalten, einem Christen zieme sich nicht, mit dem Schwert
sich zu wehren, sondern zu leiden wie sein Herr Christus, und der Kurfürst
dürfe sich, wenn es zur Gewalt käme, als ein Christ dem Kaiser ebensowenig
widersetzen, als der Wittenberger Bürgermeister dem Kurfürsten.
Ganz anders die Doctoren der Gesellschaft Jesu; vor allen Juan Mari-
ana, welcher die Sache im sechsten und siebenten Kapitel seines Werkes:
,,ve liege et liegis institutione" ausführlich erörtert. Er fragt zunächst:
„Darf man einen Tyrannen tödten?" dann: „Darf man einen Tyrannen mit
Gift aus der Welt schaffen?" beide Fragen werden von ihm bejaht. „Sicher¬
lich kann der Staat", so sagt er, „dem die Könige ihre Gewalt verdanken,
unter dringenden Umständen den König vor seinen Richterstuhl laden und
ihn, falls er sich nicht bessern will, der Negierung entsetzen. Denn der Staat
hat dem Fürsten die Gewalt nicht so übertragen, daß er sich nicht eine grö¬
ßere vorbehalten haben sollte. Außerdem sehen wir, daß Tyrannenmorde
allezeit hoch gepriesen wurden, wie Thrasybul, Harmodius und Aristogiton,
Cassius, Chärea, Stephanus (der Domitian ermordete), Martialis (der Mör¬
der Caracalla's) und die Prätorianer. die den Heliogabal erschlugen." „Wer
hat je deren Kühnheit getadelt und sie nicht vielmehr des höchsten Lobes
würdig erachtet? Und es giebt ein allgemeines Gefühl, gleichsam eine Stimme
der Natur, die in unser Herz gelegt ist, ein Gesetz, das in unsern Ohren tönt,
vermöge dessen wir das Schändliche vom Ehrenwerthen unterscheiden. Dazu
nehme man an, daß ein Tyrann einem reißenden und toll gewordenen Thiere
gleicht, welches allenthalben Verwüstungen anrichtet, raubt, brennt und mordet.
Soll man darüber wegsehen? Soll man es nicht vielmehr loben, wenn jemand
mit Gefahr seines Lebens den Staat von ihm errettet? Man darf behaupten,
daß gegen die Tyrannen die Geschosse Aller gerichtet werden müssen als gegen
ein grausames Ungeheuer, welches sich auf die Erde begeben hat, um zu wür¬
gen, so lange es die Glieder regen kann."
„Darin", so fährt Mariana fort, „sehe ich sowohl Philosophen als Theo¬
logen übereinstimmen, daß ein Fürst, der einen Staat mit Waffengewalt in
Besitz genommen hat, ohne ein Recht darauf zu haben, ohne daß die Bürger
es gutheißen, von einem Jeden getödtet werden könne." „Wenn aber ein
Fürst mit Zustimmung des Volkes oder durch Erbschaft herrscht, so muß
man seine Fehler und Laster so lange tragen, bis er die Gesetze des Anstandes
und der Zucht, an die er gebunden ist, hintansetzt. Wenn er den Staat zu
Grunde richtet, das Wohl des Ganzen wie der Einzelnen mit Füßen tritt,
die öffentlichen Gesetze und die heilige Religion verachtet, so darf man es nicht
länger tragen. Jedoch muß man wohl erwägen, wie man sich eines solchen
Fürsten entledigen soll. Der leichteste und sicherste Weg ist, daß sich die
Stände, wenn es angeht, versammeln und berathen, was zu geschehen habe.
Ihrem einmüthigen Beschlusse muß Folge geleistet werden." Wenn der Fürst
den Borstellungen derselben nicht nachkommt und keine Hoffnung der Besserung
giebt, so steht es dem Staate zu, über ihn das Urtheil zu sprechen und ihn
der Regierung zu entsetzen, ja, „wenn es die Sache mit sich bringt, wenn der
Staat nicht anders geschützt werden kann, den Tyrannen für einen öffentlichen
Feind zu erklären und ihn mit dem Schwerte zu todten."
„Aber was ist zu thun, wenn die Nation nicht zusammentreten kann,
was wohl oft vorkommen mag? Hier ist dasselbe zu urtheilen, nämlich, daß,
wenn der Staat verhindert wird, sich zu versammeln, jeder den Entschluß
fassen darf, für die offnen und verderblichen Laster des Fürsten Rache zu nehmen,
und wer hier, den öffentlichen Wünschen entsprechend, ihn zu ermorden versucht,
der thut meines Erachtens ein gutes Werk. So ist die Rechtsfrage entschieden,
daß es erlaubt ist, einen Tyrannen zu tödten. Und fürwahr, vortrefflich
würde es mit den Angelegenheiten der Menschen bestellt sein, wenn es viele
Leute mit starker Seele gäbe, die sich nicht bedenken, für die Errettung des
Vaterlandes Leben und Glück aufs Spiel zu setzen. Aber die Meisten hält die
Begierde nach Sicherheit von so großem Wagniß ab. Deswegen kann man
unter den Tyrannen des Alterthums so wenige finden, die den Streichen ihrer
Unterthanen erlegen sind. Und in der That ist es ein heilsamer Gedanke,
wenn die Fürsten sich überzeugen, daß sie, falls sie den Staat unterdrücken
und sich durch Laster und Schändlichkeit unerträglich machen, in einer Lage
leben, daß ihre Ermordung nicht nur für gerechtfertigt, sondern auch für lobens¬
wert!) und rühmlich gilt." ,
Nach diesen Grundsätzen findet unser Jesuit die That des Dominikaners
Element, der am 1. August 1589 Heinrich den Dritten von Frankreich mit
einem vergifteten Dolche erstach, höchst preiswürdig. Es war nach ihm „ein
Muth, der ebenso ausgezeichnet, als die That bewundernswürdig ist." Element
war „ein Jüngling einfachen Geistes und nicht starken Körpers, aber eine
höhere Kraft stählte Körper und Geist." Ungeheuren Ruhm", so heißt es
anderswo in der citirten Schrift, „erwarb er sich durch den Königsmord."
Mariana wirft dann im sechsten Kapitel die Frage auf: Ist es erlaubt,
einen Tyrannen mit Gift zu beseitigen? Wir lesen da Folgendes: „Rühmlich
ist es. diese ganz pestilenzialische und ruchlose Tyrannenbrut aus der mensch¬
lichen Gesellschaft zu vertilgen. Denn wie abgefaulte Glieder abgeschnitten
werden, damit sie den übrigen Körper nicht anstecken, so muß auch jene bestia¬
lische Wuth, die in Menschengestalt gekleidet ist, von dem Staatskörper ent¬
fernt und mit dem Eisen abgetrennt werden." „Daß ein Tyrann durch offne
Gewalt mit den Waffen getödtet werden dürfe, entweder durch einen Angriff
auf seinen Palast oder in einer Schlacht, bedarf keines Beweises mehr. Aber
man darf ihn auch ermorden mit List, im Hinterhalte wie Ehud den Moabiter-
könig Eglon niederstreckte. Es beweist zwar größere Kraft und höhere Mann-
haftigkeit, Feindschaft offen zu üben und ohne Versteck sich aus den Feind zu
stürzen. Aber es ist nicht weniger ein Beweis von Klugheit, Betrug und
Hinterlist anzuwenden, womit sowohl für den Einzelnen als für den Staat
weniger Gefahr verbunden ist. und ich lobe mir die Sitte der Spartaner,
welche dem Mars einen weißen Hahn opferten, wenn sie in einer Feldschlacht
gesiegt hatten, hingegen einen fetten Ochsen, wenn der Feind einer List oder
im Hinterhalt erlegen war." „Indessen fragt sich's, ob es auf gleiche Weise
erlaubt sei, einen öffentlichen Feind oder Tyrannen durch Gift und tödtliche
Kräuter umzubringen. Unseres Wissens ist das oft geschehen, und wir glauben
nicht, daß jemand, der zum Morde entschlossen ist, die dazu gebotene Gelegenheit
fahren lassen und sie erst dem Urtheil der Theologen unterbreiten wird. Ferner
ist der Mord durch Gift mit weit weniger Gefahr und größerer Hoffnung auf
Straflosigkeit verbunden; er trübt die öffentliche Freude nicht, da der Tyrann
vertilgt, der Urheber der dadurch hervorgerufnen öffentlichen Freude aber gerettet
wird." „Wir untersuchen indeß hier nicht, was die Menschen thun, sondern was
die Gesetze der Natur erlauben, und nach diesen ist es völlig einerlei, ob du
mit dem Dolche oder mit Gift mordest, besonders da ja List und Trug beim
Tyrannenmorde gestattet sind." „Zwar fällt es schwer, einem Fürsten Gift
beizubringen, da er von seinen Hofleuten umgeben ist, jede Speise vorher
kosten läßt und von Wachen beschützt wird. Aber wenn sich eine Gelegenheit
findet, wer ist dann wohl so spitzfindig und subtil, daß er einen Unterschied
zwischen beiden Todesarten machen wollte!"
Mariana meint dann, indem er damit die Versigtungsbefugniß zu be¬
schränken glaubt, man dürfe das Gift dem König nicht in Speisen oder Ge¬
tränke mischen, sondern es ihm nur von außen beibringen, so daß er nicht
selber zu seinem Tode beitrage. „Denn man hat ja auch Gift von solcher
Wirkung, daß ein Stuhl oder ein Kleid, damit bestrichen, zu tödten vermag.
So haben ja oft die maurischen Könige ihre Feinde ermordet durch über¬
sandte kostbare Geschenke, Kleider, Leinwand. Waffen, Sättel."
„Nun könnte aber", so schließt der fürchterliche Jesuit seine Erörterung,
„jemand gegen den Tyrannenmord überhaupt einwenden, daß das Concil zu
Constanz in der vierten Session den Satz verdammt hat. daß ein Tyrann von
einem jeden Unterthan nicht nur mit offener Gewalt, sondern auch durch
Hinterhalt und List getödtet werden könne. Aber ich finde nicht, daß Papst
Martin der Fünfte dieses Decret des Concils gebilligt habe, und ebenso wenig
ist dieß durch Eugen den Vierten oder dessen Nachfolger geschehen, von deren
Beistimmung die Concile von Constanz und Basel allein Gültigkeit erhielten.
Dazu war jenes Decret durchaus kein allgemeines, sondern speciell gegen die
Lehre der Hussiten gerichtet, welche glaubten, daß jeder Fürst durch eine schwere
Sünde seine Herrschaft verliere."
Mariana ist der eifrigste und dreisteste Bertheidiger des Rechts zum
Königsmorde, aber keineswegs der einzige in seinem Orden.
Sa lehrt in seinen „Aphorismen der Beichtväter" unter dem Worte
l^i'Alnus: „Derjenige, welcher einen Staat, den er rechtmäßig an sich ge¬
bracht hat, tyrannisch regiert, kann nur durch ein öffentliches Urtheil abge¬
setzt werden; sobald aber dieses Urtheil gefällt ist, kann sich jeder zum Voll¬
strecker desselben auswerfen. Ein solcher Fürst kann durch das Volk abgesetzt
werden, obschon es ihm ewige Treue geschworen hat, im Falle man ihn wegen
seiner schlechten Negierung zuvor ermahnt hat und er sich nicht bessern will.
Was aber Denjenigen betrifft, der die höchste Gewalt usurpirt hat und sie
tyrannisch übt, so darf jeder aus dem Volke ihn ums Leben bringen, wenn
es kein anderes Mittel giebt, sich des Tyrannen zu entledigen; denn er ist
ein öffentlicher Feind." Es mag hierbei bemerkt werden, daß Sa in derselben
Schrift unter dem Worte <H1sri<:u8 den Satz ausspricht: „Der Aufruhr eines
Geistlichen gegen einen König ist nicht Maiestätsverbrechen, denn ein Geist¬
licher ist nicht Unterthan des Königs."
Valencia in seinen Commentarien, Oisp. S (Zug,oft. 8 as Iwrmeiäio,
wirft die Frage aus: „Ist es jedem Staatsbürger erlaubt, einen Tyrannen
zu,ermorden? Antwort: Entweder ist der Tyrann ein solcher, der, ohne un¬
rechtmäßiger Weise sich der Herrschaft bemächtigt zu haben, von seiner an sich
legitimen Gewalt einen für die Gesellschaft gefährlichen Gebrauch macht, oder
ein solcher, der sich die Herrschaft angemaßt hat und sich nur durch Gewalt
im Besitz derselben erhält. Im erstern Falle steht es keinem Privatmann zu,
ihm das Leben zu nehmen; denn nur dem Staate ist es erlaubt, sich eines
Tyrannen dieser Art zu entledigen; er allein hat das Recht, ihn anzugreifen
und alle Bürger aufzufordern, dem gemeinen Wesen zu Hilfe zu kommen.
Im andern Fall hat jeder, wer es auch sei, das Recht, den Tyrannen zu er¬
morden, es wäre denn, daß aus einem solchen Morde ein noch größerer Nach¬
theil für die Gesellschaft erwüchse."
Bonarscius in seinem „^mMtlieatrum novorum" richtet an die Stadt
Rom folgende Frage: „Warumhast Du den Tarquinius entthront und seine
Familie vertrieben? Der an Lucretia verübte Frevel berechtigte Dich dazu.
Und Du solltest keine Ursache haben, den König von Frankreich — er meint
Heinrich den Vierten — einen tyrannischen Herrscher und Unterdrücker der
Freiheit, vom Thron zu stoßen? Kein Krieger sollte sich finden, der seine
Waffen gegen diese wilde Bestie erhöbe?"
Salas in seinem ^raetaws as I^-idus, Huaest, 95, sagt: „Ebenso wie
ihr sagt, Gott gebe den Königen die Macht, Verbrecher mit dem Tode zu
bestrafen, sage ich, Gott als Urheber der Natur hat solche Macht auch dem
Staat gegeben, der sie den Königen cediren kann, sowie auch der Staat durch
die Einrichtung der Natur das Recht hat, einen Tyrannen abzusetzen und
selbst zu tödten, wenn er denselben auf keine andere Weise los werden kann."
Tann er äußert sich in seiner Abhandlung ,,of justitia, (Zuaestio 8, u.
32, 34 kurz und bündig: „Jedem Bürger eines unterdrückten Staates ist er¬
laubt, einen Tyrannen, der sich im Wesentlichen als solcher zeigt, zu tödten."
Bei Suarez in seiner „vstensio 1?iäoi vat,lwliea,s, I.. VI. ä<z torma,
M-iunenti üäelitktii;, e. 4, n. 14 heißt es: „Es handelt sich darum, ob ein
Fürst wegen einer tyrannischen Regierung von einem Privatmanne umgebracht
werden darf. Zunächst muß man hier unterscheiden, ob jemand sich selbst oder
den Staat vertheidigen will. In dem ersteren Fall ist wieder zu unterscheiden
ob er sein Leben oder seine gesunden Glieder oder bloß seine äußeren Glücks
güter zu vertheidigen hat. Denn zur Vertheidigung der letzteren ist es nicht
erlaubt, einen König zu tödten, weil dessen Leben mehr werth ist als diese
Güter, und dann auch, weil er gewissermaßen Gott vorstellt und dessen Platz
vertritt. Allein wenn es sich um die Vertheidigung des eignen Lebens handelt,
welches der König dem Unterthan gewaltsam rauben will, so ist es diesem
in der Regel gestattet, sich zu vertheidigen, wenn dieß auch den Tod des
Fürsten nach sich ziehen sollte. Ist aber von der Vertheidigung des Staates
selbst die Rede, so findet diese nur in dem Falle statt, daß der König den
Staat wirklich angreift, um ihn ins Verderben zu stürzen, die Bürger zu
tödten u. d. Alsdann ist es gewißlich erlaubt, dem Fürsten, selbst durch Er¬
mordung desselben, Widerstand zu leisten, falls die Vertheidigung nicht anders
geschehen kann. Denn wenn dieß für das eigne Leben erlaubt ist, so ist es
noch mehr für das allgemeine Beste gestattet, und überdieß hat der Staat
alsdann ja einen gerechten Vertheidigungskrieg gegen einen ungerechten An¬
greifer, wäre dieser auch der eigne König. Also jeder Bürger kann in diesem
Falle als Glied des Staates und von demselben ausdrücklich oder stillschweigend
beauftragt, denselben vertheidigen."
Und weiterhin sagt derselbe jesuitische Schriftsteller (ein „(loetor 8'i'g.vis ot
plus"): „Nachdem ein König rechtmäßig abgesetzt ist, ist er nicht mehr König
noch rechtmäßiger Fürst; ja wenn ein solcher König nach seiner Absetzung
in seiner Hartnäckigkeit beharrt und die Negierung mit Gewalt in den Händen
behält, so ist er auch dem Namen nach ein Tyrann. Durch das über ihn
ausgesprochene Urtheil wird er der Regierung gänzlich verlustig, sodaß er auf
sie durchaus keinen rechtlichen Anspruch mehr hat. Er kann mithin auch von
demselben Augenblicke an in allen Stücken wie ein Tyrann behandelt und
folglich auch von jeder Privatperson getödtet werden."
Jacob Keller sagt in seiner Schrift: „Wie ein Katholik den Mord
eines Tyrannen zu betrachten hat": „Ist er durch Erbfolge, Wahl oder durch
ein anderes Recht auf den Thron gelangt, so darf er weder von einem Bürger
noch von einem Fremden getödtet werden. Welcher Trost bleibt aber dann
dem betrübten Vaterlands? Die, welche die Sache reiflich erwogen haben,
antworten: wenn man den Tyrannen nicht vor einen höheren Richterstuhl
bringen kann, so ist die Lage der Dinge so verzweifelt, daß die Theologen
die Absetzung des Tyrannen rathen, und fragt man nun Wetter, ob der ab¬
gesetzte Tyrann vom ersten Besten ums Leben gebracht werden darf, so geht
die Meinung bewährter Autoren dahin, daß die Stellung eines abgesetzten
Tyrannen sich von derjenigen andrer Verbrecher nicht unterscheidet."
Aehnlich Franz Toletus, Lessius, Fernandius, Delrio und
namentlich Beccanus, welcher in seiner „Lumms. ?kLoIogig.ö" sagt: „Wie
aber, wenn die Tyrannei unerträglich wird? In solchem Falle muß der Fürst
erst vom Staate und den Ständen oder von einem Andern, der dazu Macht
und Ansehen besitzt (der Autor denkt ohne Zweifel an den Papst) seiner
Würde entsetzt und für einen Feind erklärt werden, damit es erlaubt
sei, etwas gegen ihn zu unternehmen, denn dann hört er auf, Fürst
zu sein."
Paul Comitolus sagt in seinen „Moralischen Entscheidungen": „Ein
Fürst, der die Staatsbürger mißhandelt, ist ein wildes, grausames Thier und
darf wie ein solches behandelt werden."
Daß Rosseus ganz wie Mariana denkt, wenn es sich um den Fürsten¬
mord handelt, versteht sich nach den oben mitgetheilten Auszügen aus seinem
berüchtigten Buche von selbst. Nur bringt es die Tendenz seiner Schrift mit
sich, daß er vorzüglich das Recht zur Ermordung ketzerischer Könige betont.
Wenn er dreierlei Tyrannen kennt, zu deren ersten Arten er alle Könige zählt,
welche das Eigenthumsrecht verletzen, gegen die Gesetze des Staates regieren
und die Gebote der Sitte und des Anstandes übertreten, so hält er doch für
die ärgste und ruchloseste Gattung von Tyrannen die ketzerischen Fürsten.
Gegen diese wüthet er auf das Grimmigste, wobei ihm jeder ketzerische König
ohne Weiteres nothwendig unter die Tyrannen gehört.
„Die ketzerischen Könige sind", so behauptet er, „allezeit Gegenstände der
Verachtung gewesen. Chrysostomus, Lucifer, Erzbischof von Sardinien,
Athanasius und alle Propheten haben behauptet, daß dieselben schlechter als
Hunde seien. Ein solcher König ist der größte Bösewicht unter den Menschen;
er muß nach dem Befehle der heiligen Schrift getödtet werden, kann
über keinen Christen herrschen, kann gegen Katholiken nicht als Zeuge vor
Gericht auftreten, kein Christ darf mit ihm Umgang pflegen. Er ist der
Religion gefährlicher als der Sultan, und seine Ketzerei beraubt ihn seiner
königlichen Würde, so daß er zum Privatmann herabsinkt und keiner ihm zu
gehorchen braucht."
Als Beispiele solcher verabscheuenswerten Fürsten führt Rosseus Philipp
August von Frankreich, Johann von England, Heinrich den Vierten von Frank¬
reich, die deutschen Kaiser Friedrich den Zweiten und Otto den Vierten, Sancho
von Portugal und zwei Könige von Schottland an.
Im Allgemeinen aber ist jeder Fürst nach dem Urtheile dieses Jesuiten
ein Ketzer, wenn er sich in kirchliche Angelegenheiten mischt, wenn er Ketzer,
die von den Bischöfen als solche verdammt worden sind, nicht aus der Kirche
treibt, wennn er (das möge man in München und an anderen katholischen
Höfen sich gesagt sein lassen; denn was Rosseus glaubt, glauben auch seine
heutigen Ordensgenossen) gestattet, daß Entscheidungen von Concilien (z. B.
die Unfehlbarkeit vom Juli 1870) wieder in Frage gezogen werden; ferner,
wenn er ketzerische Bücher nicht vertilgt, wenn er Versammlungen von Ketzern
(z. B. Altkatholiken) nicht hindert, wenn er seine Gesetze nicht nach den
Kirchensatzungen einrichtet (kein Concordat abschließt, welches diese Satzungen
respectirt, oder ein solches aufhebt), wenn er die Ausbreitung der Kirche nicht
unterstützt, wenn er sich weigert, die Decrete der Kirchenversammlungen zu
genehmigen und bekannt zu machen" (was seit 1870 auch dagewesen ist).
Alles das müssen die Fürsten leisten, wenn sie nicht in die Kategorie der
Ketzer fallen wollen. Versäumt ein König diese Pflichten, übertritt er diese
Gebote, so verliert er sofort sein königliches Recht und wird ein Tyrann, der
abgesetzt werden muß und, wenn wir's streng nehmen, vogelfrei wird.
Das Buch Mariana's lenkte die öffentliche Aufmerksamkeit um so mehr
auf sich, als sich mit ziemlicher Sicherheit herausstellte, daß Element und Ra-
vaillac, sowie die Mörder der beiden Oranier mit den Jesuiten in Verbindung
gestanden hatten. Mariana's Schrift wurde auf Befehl des Pariser Parla¬
ments vom Henker verbrannt, und die allgemeine Entrüstung über diese und
andere Jesuitenmachwerke nöthigte den Ordensgeneral Aquaviva, 1614 in
einem Normativ zu erklären:
„As Zeiueeps societatis nostras roliZiosus xrg.osnmg.t iMrwa.rö, licitum
S88v umouiquv xersonae guoeunguv praotoxtu t^i'immüis reZes ant xrin-
eipes oeoiäore seu lnortvm eis inacliinari."
Aber diese Erklärung war mindestens ebenso gefährlich als die Ansicht,
gegen die sie erlassen wurde. Sie war echt jesuitisch abgefaßt. Der Ton liegt
auf unieuiyuö und quoeunCuL. Daß Niemand zum Fürstenmorde befugt sei.
Niemand aus irgend einem Grunde, lag nicht darin. Sie erlaubte nur nicht
Jedem, Könige und. Fürsten zu ermorden und nicht unter jedem Vorwande,
daß die Betreffenden Tyrannen seien.
Wir dürfen uns wohl weiterer Hinweise aus die Moral, die in unsern
Citatengruppen liegt, enthalten.
Unter allen fremden Literaturen ist die englische diejenige, welche wir uns
am meisten zu eigen gemacht haben. Während aus den andern immer nur
einzelne Schriftsteller, selbst nur einzelne Bücher in Deutschland populär ge¬
worden sind, hat sie von Anfang an bis jetzt Heimathsrecht bei uns
gehabt. Ein Mal nur, während der achtzehn Jahre nach'der Julirevolution,
wurde sie von der französischen etwas bei Seite gedrängt, aber auch nur
während dieser kurzen Epoche. Die Reaction gegen die französische Literatur
datirt keineswegs erst vom letzten Kriege. Sie begann mit der Februarrevo¬
lution, sie gewann unter dem zweiten Kaiserreich mehr und mehr an Aus¬
dehnung und Kraft. Jetzt ist die französische Literatur, außer auf der Bühne,
wo sie sich noch als Gewohnheit behauptet, so gut wie verschwunden, und
den Platz, welchen sie freigelassen, hat die englische triumphirend ausgefüllt.
Eine zweite Sammlung brittischer und amerikanischer Schriftsteller ist
daher für Deutschland keineswegs zu viel; im Gegentheil, sie kann als ein
dankenswerthes Unternehmen bezeichnet werden. Im Januar 1872 begonnen,
hat sie noch vor Ablauf des Jahres bereits über dreißig Bände und meistens
wirklich gediegene Werke gebracht. Daß die weiblichen Namen vorherrschen,
ist kein Vorwurf für die Verlagshandlung, selbst keine Eigenthümlichkeit der
Sammlung; seit Dickens, Thackeray und Lever todt sind und Bulwer fast
gänzlich verstummt ist. behaupten die Frauen in England das Feld der Bel¬
letristik, auf welchem nur Anthony Trollope und Wilkie Collins ihnen noch
erfolgreich Concurrenz machen dürften.
Das bedeutendste Frauenwerk der Sammlung, „Niäälewareli, a LWÄ^
ok?tovineiul Jude do LreorZs Lliot", liegt uns in diesem Augenblick noch
nicht vollständig vor und bleibt daher für eine spätere, besondere Besprechung
aufgespart. Von „liodert ^.iusleigli do N. Lraääou" (vol. 11 bis 13)
läßt sich nur im Ganzen sagen, daß wir von der Verfasserin noch kein so ge¬
mäßigt gehaltenes und sorgfältig gearbeitetes Buch gelesen haben. Der Stoff
ist zu reichhaltig, um in Einzelheiten eingehen zu können; eines Characters
nur sei erwähnt: Margery's der gefeierten Schauspielerin, welche trotz ihrer
wahrhaften Leidenschaft für den Helden edelmüthig zurücktritt, um ihn einer
länger Liebenden zu überlassen. Da wir hier zum dritten Male dieser Ge¬
stalt in neuen Productionen begegnen, scheint sie bestimmt, ein Heldinnentypus
mehr zu werden.
„I'Komasing, do tuo ^utlior ok voiotkv" (vol. 24) ist kein Typus,
sondern nur sie selbst. Eigentlich sollte sie nicht Thomasina heißen, ihre
Mutter findet, gestehen wir es, nicht mit Unrecht, den Namen ganz abscheulich-
Wer heißt denn Thomasina? — O, seit fünf Generationen hat es stets einen
Thomas oder eine Thomasina in der Bertram'schen Familie gegeben, erläutert
Anthony Bertram, der Vater der neuen Thomasina, und alle die Thomastna's
sind bedeutende Frauenzimmer gewesen: seine liebe Schwester und seine liebe
Cousine, die beide todt sind; und seine Tante, die noch lebt, die Schwester
seines Baders, Mrs. General Grey, ist allerdings nicht ganz einnehmend —
sie hat es bei ihrem alten General so schwer gehabt und es sich dabei ange¬
wöhnt, unangenehm zu sein — aber a remarkadls >poena» ist sie doch, und
endlich wünschen Sir Richard und Lady Bertram, daß ihr erstes Enkelkind
den traditionellen Familiennamen trage. Sobald die junge Frau hört, daß
Sir Richard und Lady Bertram es wünschen, läßt sie ohne weitere Widerrede
das Geschick des unglücklichen Namens über ihr kleines Mädchen ergehen.
Anthony ist ein Modellsohn; mit vierzig Jahren gehorcht er, wie mit vieren,
und zwar nicht blos für seine eigene Person, sondern auch im Namen seiner
Frau. Diese langweilt sich in ihrer schwiegertöchterlichen Nichteristenz langsam
zu Tode, was die Familie, Thomasina inbegriffen, sehr kühl aufnimmt. Ein
Kind, welches an einer kränkelnden, traurigen Mutter hängt, muß ein halber
Engel sein und das ist Thomasina nicht. Thomasina besteht vorläufig noch
gänzlich aus Eigenwillen und Egoismus, aber dabei hat sie gesunde Vernunft¬
instinkte, will endlich nicht immer so viel mit „großen Leuten", sondern mit
Gespielen ihres Alters verkehren und nebenbei etwas lernen. „Ich will Euch
etwas sagen, Anthony," sagt sie zu ihrem Vater, „ich will aufhören, Euch
so zu rufen und s, äuoe zu sein, nicht weil Tante Thomasina es wünscht,
sondern weil ich es wünsche." Sie weiß auch gleich, wohin sie will: zum
Verwalter, Herrn Windsor, wo die älteste Tochter, Polly, ihre kleineren Ge¬
schwister unterrichtet. Was geschähe wohl nicht, wenn Thomasina es wünscht?
Sie kommt in Polly Windsor's Schulstube, Polly kommt dadurch häusiger
mit den Herrschaften in Berührung, und — der kindliche Anthony ist aller¬
dings fünfzig Jahr alt, hat aber noch ein zwanzigjähriges Herz. — „Möchtet
Ihr gern eine Stiefmutter haben?" frägt eines Tages Mrs. General Grey
ihre Großnichte. „Wißt Ihr, Vater, daß Tante Thomasina sagt, Ihr würdet
eines Tages Polly heirathen?" frägt Thomasina die jüngere bei der nächsten
Gelegenheit den Urheber ihrer Tage. — „Sie würde mich nicht mögen," ant¬
wortet Anthony; „Ihr wißt, daß ich alt genug bin, um ihr Vater sein zu
können." — „Ich finde Euch nicht so sehr alt," sagt Thomasina, „und ich habe
sie sagen hören, daß sie Leute in mittleren Jahren am liebsten hat; sie denkt,
daß junge Männer meistens albern sind." — Genug, Thomasina ermuthigt
Anthony, sein Glück zu versuchen; er thut es, und Polly will, aber Sir
Richard will nicht. Was dem unverschämten Jungen einfällt! Will aus Liebe
heirathen, in seinen Jahren,"und noch dazu die Tochter des Verwalters! An¬
thony kann doch nicht gegen Papas Willen heirathen — das sieht man ein ;
Polly und er geben einander auf, sind aber ernstlich unglücklich; Thomasina
ist beleidigt, denn ihr Plan ist gescheitert. ,Ale läßt ihre Erdbeeren
mit Sahne stehen, streichelt des Vaters dünnes graues Haar, sagt mitleidig:
„armer Anthony!" und geht würdevoll zu Bett, ohne den Großeltern gute
Nacht zu wünschen. Zum Glück ist dieses mal Mrs. General Grey gleicher
Ansicht mit ihrer Großnichte, und wenn zwei Thomafina's dasselbe wollen,
kann selbst Sir Richard Bertram ihnen keinen langen Widerstand entgegen¬
setzen. Anthony darf seine Polly heimführen, muß aber seinerseits V erwalter
werden und Thomasina statt seiner als Sir Richard's Erbin anerkennen. Wie
trotzdem das gesunde, freundschaftliche Verhältniß zwischen dem Vater und der
Tochter sich fort erhält, wie Thomasina „Polly und ihre Buben" protegirt und die
Familie am Ende glücklich wieder unter das großväterliche Dach und in ihre
rechtmäßige Stellung zurückbugsirt, wie bitterlich Sir Richard, als er mit
zweiundachtzig Jahren das Zeitliche gesegnet, von seinem sechzigjährigen Erben
beweint wird — das Alles ist, dem Anfang entsprechend, mit dem weiblichsten
wohlthuendsten Humor geschildert.
Von mehreren Bänden mit „Ltorios" sind zwei hervorzuheben: „Ilcnv
it ng.pr>onoä gnü otksr Ltoriös do Urs> ?arr" (vol. 22—23). Die Ver¬
fasserin liebt als Schauplatz via-worlä Mevs, wie die Engländer stille, kleine
Orte nennen, die nicht an den Schienenwegen der Neuzeit liegen und daher
in ihren Häusern wie in ihren Gewohnheiten noch einiges vom Altherkömm¬
lichen behalten haben. Und wenn Mrs. Parr ihre Geschichten nach London
oder in irgend eine der großen Manufakturstädte verlegt, so behandelt sie mit
Vorliebe out-morta xooxlo, unter denen es natürlich an „extraordinairen
Frauenzimmern" auch nicht fehlt. Alt-England hat Vorrath an dieser eoinmoäitv
dermaßen reichlich, daß es dem Continent sogar umsonst davon abgiebt. Die
beiden Exemplare, welche Mrs. Parr uns liefert, Miß Pamela Plummidge, ge¬
nannt 01ä-?am, „gigantisch an Leib und Geist", und Miß Sally Noggs in
eisengrauem Alpaca, „mit dem Auge eines Falken", sind jedem humoristischen
Leser dringendst anzuempfehlen.
Einen besondern Reiz haben- die schottischen Romane von Mrs. Oliphant.
Es liegt über ihnen eine Melancholie, welche das ganze Empfindungsleben,
ja, selbst was von Leidenschaft erscheint, zu einer gleichsam puritanischen Feier¬
lichkeit abdämpft. Die Vollendung dieser Darstellungsweise finden wir im
ersten Buche von ,,^.äa,in Al'g,öMö ok NossZrÄv" (vol. 31—32). In „Jto
I-aircl ok Uorlg,>v" (vol. 14—15) wird mit ergreifender Wahrheit die Herzens¬
tragödie einer schlichten, tüchtigen Hausfrau geschildert. Keine hinschmachtende
Liebesheldin kann so die Sympathie in Anspruch nehmen, wie die weder geist¬
volle, noch gebildete, noch poetische Martha Livingstone, die Mistreß, wie sie genannt
wird, die Frau des liebenswürdigen, aber charakterlosen Livingstone von Norlaw.
Ein Mädchen, welches sie nie mit Augen gesehen, hat ihre ganze Ehe in eine
bittere Täuschung verkehrt, Mary von Melmar, Norlaw's Cousine und erste
Liebe. Der Verheiratung mit ihm und dem Hause des Vaters enflohen, um
einen Franzosen zu heirathen, ist Mary von Melmar seit langen, langen
Jahren verschollen. Aber Norlaw hat sie nicht vergessen. Die Erinnerung
an ihre unvergleichliche Schönheit hält ihn unter einem Banne, welcher stär¬
ker ist. als Alles. Ihr Vater will das undankbare Kind enterben, Norlaw in
alle ihre Rechte einsetzen Norlaw würde eher Hungers sterben, als Mary's
Platz einnehmen. Gatte der bravsten, treuesten Frau, Vater von drei hoff¬
nungsvollen Knaben, ist er im Innern seines Herzens immer noch der
verlassene Verlobte Mary's von Melmar. Anstatt für seine Familie zu sorgen
und zu schaffen, schwärmt und seufzt er für die Verlorene. Ihr Vater stirbt; Nor¬
law hat nur noch einen Gedanken: Mary auffinden und in ihr Erbe zurückführen.
In der fieberhaften Rastlosigkeit dieses Suchens versäumt er noch rücksichtsloser
als bisher alle seine Pflichten; die Knaben werden nicht erzogen, Hab' und Gut
geht stückweise verloren. Als der Ritter Mary's von Melmar auf dem Todes¬
bette liegt, ist er der Armuth so nahe, daß er, würde ihm noch ein Morgen
gegönnt, als Bettler aufwachen müßte; dennoch sind seine letzten Worte: „sie
ist immer nur Mary für mich." Selbst die letzen Augenblicke gehören nicht
seiner treuen Gefährtin, und was sie als Gattin erlitten hat, das soll sie als
Mutter nochmals zu erleiden haben: ihr jüngster, liebster Sohn, des Vaters
Ebenbild, erklärt sich zum Erben von Norlaw's Thorheit. „Ich will thun
was mein Vater wünschte — sollte sie im entferntesten Winkel der Erde ver¬
borgen sein, ich will sie heimbringen!" ruft er, und macht sein Wort wahr,
entdeckt Mary von Melmar und wird ihr Schwiegersohn. Doch seine Mutter
kann ihm und ihrer Nebenbuhlerin verzeihen: ihr ältester Sohn giebt ihr
endlich, was immer ihr Recht gewesen wäre, den ersten Platz im alten Hause
von Norlaw.
Schärfer, um nicht zu sagen, schreiender kann es keinen Gegensatz geben, als
den zwischen dieser „schottischen Mutter", und „Mis Lenore," der Heldin von
„Nova-hoc, Snektlieart!" do RKoäa.LrouMon" (vol. 8—9). „Kirloktlis?erioä!"
murmelt der Held, als er sie zum ersten Male gesehen hat. „?ron all Snell,
Vovä I^ora, activer us!" und die Leserin wird es wiederholen. Der Leser
nicht. „6o<,ä-do6, Lweetueart!" ist das seltene Ding: ein Frauenroman für
Männer. Nur sie können „Mis Lenore", dieses Gemisch von Eigensucht,
Eigenliebe und Eigensinn, dieses innerlich wie äußerlich völlig undisciplinir-
bare Geschöpf, welches ganze zwei Bände hindurch nicht den schwächsten
liebenswürdigen Zug, nicht die leiseste gute Regung offenbart, ihrer körper¬
lichen Schönheit und ihres wildweiblichen Naturells wegen absolviren, obgleich
auch sie diese Alles verzeihende Nachsicht mehr gegen kleine Persönchen aus¬
zuüben pflegen, als gegen eine so große Person, wie Mis Lenore. Dieses
Vergreifen in den Körperverhältnissen der Heldin ist der einzige psychologische
Irrthum, welcher der Verfasserin nachzuweisen sein dürfte, sonst ist ihr Buch
mit einer unangreifbaren Logik geschrieben. Es gehörte Muth, ja mehr,
Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst dazu, sich Mis Lenore deutlich vorzustellen
und dann diese Conception auszuführen. Die Verfasserin hat diesen Muth
und diese Rücksichtslosigkeit gehabt, und das Resultat ist ein Werk gewesen,
in welchem nicht eine Seite zu finden ist, die langweilig, aber ebensowenig
ein Wort, das erquickend wäre. Gequake von Anfang bis zu Ende verfolgt
man das in Worten wie in Gedanken gleich rohe Mädchen, wie es sich mit
wahnsinniger Thorheit um Glück und Leben bringt und sich zuletzt wüthend
gegen den Tod wehrt. Man wird durch das Talent der Verfasserin ge¬
zwungen, ihr Buch durchzulesen, aber man athmet auf. wenn man fertig ist,
und man wünscht unwillkürlich, sie möchte einem kein zweites der Art zu-
muthen —- indem man es sonst wieder lesen müßte.
Ebenfalls peinigend, wenn gleich in anderer Weise, wirkt „LoMmiu?,
g, liomimee do MA-imiel Ilantliorns (vol. 30), die letzte Erzählung, welche
der amerikanische Romandtchter geschrieben. Seine Tochter hat sie, ungefeilt
wie sie sich vorfand, herausgegeben, ein Verfahren, das wir nicht genug
billigen können, denn Nichts hat je unser literarisches Gefühl mehr verletzt,
als das „Fertigmachen" unvollendet gebliebener Schöpfungen durch Nach¬
lebende. Aus dieser Pietät ergiebt sich indessen wiederum, daß wir „Septimius"
nur als Entwurf beurtheilen dürfen, so ausgearbeitet er im Einzelnen auch
schon erscheint. Ungefähr in der Mitte des Buches finden wir die erste Ge¬
liebte des Helden in seine Halbschwester verwandelt, und ähnliche Verände«
rungen würden vielleicht vom Dichter noch mehrere vorgenommen worden sein.
Die Hauptidee wird gleich Anfangs in einem Frühlingsgespräch zwischen drei
von den Hauptpersonen: Septimius, seiner Halbschwester und deren späterem
Gatten dargelegt. „Es bedeutet Nichts, ob wir leben oder nicht", sagt Sep¬
timius. — „Es bedeutet Nichts!" wiederholt Rose. „Es bedeutet Nichts, und
es ist solch ein Comfort zu leben, so vergnüglich, so süß!" — „Ja, und es
giebt so viele Dinge zu thun", spricht Robert; „den Feldern Ertrag abzu¬
gewinnen, thätig mit den Männern und glücklich mit den Frauen zu sein;
sich zu unterhalten, zu arbeiten, zu kämpfen —" — „Ja, aber so bald an¬
gehalten zu werden, bevor unsere Thätigkeit zu irgend einem bestimmten Ende
gediehen ist", sagt Septimius düster. „Ich zweifle, wäre mir die Wahl
gelassen worden, ob ich das Dasein unter diesen Bedingungen angenommen
hätte: so viel Umstände mit der Vorbereitung zum Leben, und dann gar
kein eigentliches Leben; ein schwerer Anfang und Nichts weiter." — „Immer
dieselbe Klage!" sagt Robert. „Septimius, wie lange wünscht Ihr zu leben?"
— „Für immer", antwortete Septimius. „Das ist nicht zu lange für Alles,
was ich zu wissen wünsche." — Später sagt Septimius zu seinem Religions-
lehrer: „das ganze menschliche Geschlecht so zahlreich und mannichfach es sei,
ist seit dem Beginn der Zeiten nicht dahin gelangt, die Welt, in der es lebt,
kennen zu lernen. Wir lernen nichts. Wir werden aus unsern Studien
fortgerissen, bevor wir das Alphabet inne haben. Wie die Welt jetzt be¬
schaffen ist, dünkt sie mir verfehlt, weil wir nicht lange genug leben." —
„Septimius", fährt hier der Dichter fort, „war kein Anfänger im Zweifeln;
im Gegentheil, es schien ihm, als wär' er selbst, in seiner Knabenzeit, nie
etwas anderes gewesen, als ein Zweifler und Frager, der Nichts geglaubt,
obgleich ein dünner Schleier von Ehrfurcht ihn von der Untersuchung gewisser
Fragen abgehalten hatte. Und jetzt kam der neue fremde Gedanke, die Welt
sei genügend für den Menschen, wenn er nur für sie genügend sei, wieder
und wieder über ihn, und zugleich ein gewisses Gefühl, dessen er sich schon
früher bewußt gewesen, daß wenigstens er nicht zu sterben brauche." —
„Warum sollte ich sterben?" fragt er sich stolz. „Ich kann nicht sterben, wenn
ich werth bin zu leben. Wenn ich nun in diesem Augenblick sagte: daß ich
nicht sterben will, oder doch erst nach Jahrhunderten und Jahrhunderten,
bis die Welt erschöpft ist? Laßt andere Menschen sterben, wenn sie nach¬
geben wollen; laßt den, der stark genug ist. leben." — Der Vorwurf des
Romans ist hiermit angedeutet: Hawthorne selbst nennt ihn: „g, Konmuee ot'
ImmortÄlit?." Aus dem Bedürfniß entspringt der Willen ihm genugzuthun,
aus dem Willen das Versuchen, dem Bedürfniß genugthun zu können. Leider
entspricht die Entwickelung nicht der Anlage; so rein spiritualistisch diese ist,
so materiell ist jene. Die ganze Handhabung hat etwas Jongleurhaftes, wo¬
runter bisweilen sogar eine gewisse Skurrilität hervorguckt, das Schlimmste,
was ein Autor bei der Behandlung eines mystischen Gegenstandes sich er¬
lauben kann. Er corrigirt dann gleichsam seine eigene Schöpfung. Höchst
wahrscheinlich würde bei der Ueberarbeitung Hawthorne selbst diesen falschen
Ton auf seinem Gemälde wahrgenommen und verwischt haben.
George Macdonald ist, wie immer, in seinem „Wilfrid Cumbermeder" (vol.
(Z—7) ernsthafter bei der Behandlung des Mystischen. Den Muth zum Uner¬
klärlichen hat er nicht — wer hat ihn denn heutzutage? Shakespeare würde
sich jetzt sicherlich nicht getrauen, Hamlet's Vater auftreten zu lassen. Aber
an das Geheimnißvolle in uns wenigstens glaubt Macdonald durch und durch.
Darum versteht er Dissonanzen aufzulösen. Wie feierlich friedlich z. B. schließt
die uns vorliegende Autobiographie. „Vater, hülle mich ein in Dich. Der
Sturm, so lange still, wacht auf; noch ein Mal schlägt er seine wilden
Flügel. Laß ihn' sich nicht emporschwingen in die Luft, wo mein Geist schwebt.
Ich wage nicht zu denken, aber mein Herz ist in Deiner Hand. Mich einem
Ausspruch von Dir zu beugen, brauch' ich das noch zulernen? Ist es nicht
genug, daß ich, sobald ich etwas als Deinen Willen erkannt, im Stande sein
werde, zu sagen: Dein Wille geschehe? Nein, es ist nicht genug; ich bedarf
mehr. Lehre Du mein Herz. Deinen Willen so zu lieben, daß ich nicht länger
danach frage, was seiner Bestimmung nach sein oder nicht sein soll, und still
in seiner Heiligkeit ruhe." Stellen gleich dieser, welche in jedes Erbauungsbuch
paßten, finden sich in allen Büchern Macdonald's, Wilfrid Cumbermeder
aber ist vorzugsweise reich daran. Die Natur- und Charakterschilderungen
sind mit dem gleichen Ernst behandelt. Am ergreifendsten von den letztern
ist die des jungen Ungläubigen, welchen die starre Do^naeit seines Vaters in
den Zweifel und zuletzt in die Verzweiflung hineintreibe.
Das, was die Engländer plot und wir Verwicklung nennen, ist dagegen
unbedeutend. Eine Heirath, die zu beweisen bleibt, ein unechter Baronet im
Besitz, wo er nicht sein sollte, und der ächte Erbe, nämlich Wilfrid, draußen,
wo er ebenfalls nicht sein sollte — das ist Alles. Wo die Engländer ihre
plots hernehmen, wenn die Heirathen je besser regulirt werden sollten oder
gar das Erstgeburtsrecht einst aufgehoben würde, das ist schwer vorherzusagen.
Nachdem das geknechtete Italien frei geworden und weder der Krimkrieg noch
der indische Aufstand eine Katastrophe mehr herzugeben haben, ist die bri¬
tische Erfindung mit aller Liebe zu der heimlichen Heirath und zu dem ver¬
drängten Erben zurückgekehrt. Auch „H.. Lud^s ok (IIg,g8 do Hobin-
soiv' (vol. 33—34) ruht auf der bekannten Heirath und dem unbekannten Erben.
Nur ist zum Glück die Heirath eine ausnahmsweise honette und der Erbe ein
Original. Außerdem hat der Verfasser es verstanden, uns das ganze erste
Buch hindurch in athemloser Spannung zu erhalten und später als diese
dem ruhigen Lesen weichen muß, uns durch vortreffliche Charakterschilderung
zu entschädigen und zu fesseln.
Daß er weder heimliche Heirathen. noch verdrängte Erben anwendet, ist
der große Vorzug von Anthony Trollope. Bei ihm kommen die Erben
immer ganz ordentlich zu dem Ihrigen, wenn überhaupt etwas zu vererben
ist, und die Heirathen geschehen sämmtlich auf vorschriftsmäßigen Wege, wenn
sie nicht auseinandergehen. Die Heirath, welche auseinandergeht, weil ent¬
weder das Mädchen oder der Mann sich eines Anderen, und nicht immer
eines Bessern besinnt, ist der ti'ick Anthony Trollope's. In Husta«;
vismonäs" (vol. 35 — 36) bereuen nicht weniger als drei Männer ihren
Antrag unmittelbar nachdem sie ihn gemacht haben, eine Braut sagt am
Hochzeitsmorgen Nein und die Heldin selbst erklärt drei Verehrern ihre Liebe,
d. h. ihre Bereitwilligkeit, sich mit dem, welcher eben da ist, zu verehlichen,
und bekommt keinen einzigen. Man ist förmlich froh, daß sie zuletzt wenig¬
stens einen Vierten kriegt, daß noch eine zweite Heirath zu Stande kommt,
und daß die Diamanten gestohlen werden. Die Diamanten, welche in Form
eines Halsbandes 10.000 Pfund Sterling werth sind, und die kleine Heldin,
welche gar nichts werth ist, füllen die beiden Bände. Allerdings fehlen alte
Bekannte nicht. Lady Glencorn ist nach wie vor 1'autant tvrriblc; der hohen
Gesellschaft, Herr Palliser repräsentirt unveränderlich die Farblosigkeit der
vollendeten pi'oiMötv, Herr Gresham, Herr Grey, seine Frau, die schrecklich
unschlüssige Alice aus Lg.n von korgivc; Koi? — alle sind wieder da, selbst
der ont<« ok 0anium und Madame Max Goesler. Aber sie nehmen nur
einige Capitel ein und vom vulcs ok 0anium dürfen wir sogar die Hoffnung
hegen, ihn im nächsten Romane Anthony Trollope's begraben zu sehen. Daß
es in diesem nicht geschieht, ist gut: wie hätte Lizzie sonst Platz genug für
ihre Lügen und ihre Diamanten, die nicht ihre sind, behalten sollen? Weiter
mußte viel Raum bleiben, damit Jedermann sich schlecht aufführen, schlecht behan¬
delt werden könnte^ennöVör^doel^böKavLsbacll^ tosomedoclvund wird seinerseits
bacllv oder vero dü,ello usvä oder ti-(^t«6. Zum Schluß verheißt der Verfasser uns,
daß wir späterhin noch mehr von Lizzie zu hören bekommen sollen. Obgleich
„dieses junge Frauenzimmer" der Charakteristik ihrer leiblichen Tante nach
tÄ8o, Äisnomzst, Keai'tlöss, el'not, irieligious, unZi-Ätekul, in<zg,n, ignoiAnt
Kreeciv ana vns ist, werden wir doch ihr Wiedererscheinen nicht ungern sehen,
denn trotz Allem ist pooi- I^i^^is, wie Anthony Trollope sie mit unwillkührlich
zärtlichem Mitleid nennt, der österreichischen Bezeichnung nach, eine seiner
„unterhaltlichsten" Heldinnen.
Literarisch höchst interessant ist „Albert Lunel" (vol. 28—29) ein Roman
des verstorbenen Lord Brougham, welcher bei seinen Lebzeiten nicht veröffent¬
licht worden. Vor fast dreißig Jahren geschrieben, ist er wie ein Denkmal
einer früheren Periode, der aeademisch geregelten, gegenüber der heutigen,
in welcher die Individualität die umfassendste Freiheit errungen hat.
Seit dem verwichenen Monat haben sich in der inneren Politik von
Bayern mannigfache Umgestaltungen ergeben, die zwar äußerlich ziemlich ge¬
räuschlos vorübergingen, aber nichts destoweniger von tiefer Wirkung sind.
Sie berühren fast sämmtliche Gebiete des staatlichen Lebens. Die Krisis, die
in wirthschaftlicher Beziehung heranwuchs, und die Kämpfe, die sich um die
kirchliche Frage drehten, gehören Hieher. Durch die Gemeindewahlen, die in
naher Aussicht stehen, treten die communalen Angelegenheiten in den Vorder¬
grund; eine Reihe von Reformen betrifft die Schule und den akademisch.'» Unter
richt. Und zu alle dem kommt der tiefe und nachhaltige Eindruck, den die
Vorgänge in Berlin auf Bayern machten, der Funke, der aus den erhitzten
Gemüthern des Nordens über die Mainlinie herübersiel und die Gegensätze
zu neuem Bewußtsein und neuer Schärfe entsandte.
Fassen wir den Gesammteindruck zusammen, den uns die bayerischen Zu¬
stände in diesem Augenblicke machen, so geht durch dieselben ein viel kräfti¬
gerer Zug und eine raschere Aktion, als dies seit geraumer Zeit der Fall war.
Denn die Ministerkrisis mit ihrer endlosen einschläfernden Entwicklung hatte
einen Zustand von Apathie geschaffen, der nicht als gesundes Symptom er¬
scheinen konnte, mag man ihn nun als endliche Ermüdung oder als anfäng¬
liche Gleichgültigkeit betrachten. Daß diese Stimmung sich fortsetzen würde,
stand zu befürchten, da zumal das neue Cabinet im Anfange gar leise trat und
da auf einen kräftigen Anstoß von Außen nicht zu rechnen war.
Bald indessen schlug die Stimmung um, die bis in die Mitte des vo¬
rigen Monats hineinreichte. Es kam ein schärferer, ja fast ein scharfer Wind,
der Bewegung in die stagnirenden Verhältnisse brachte. Die Regierung zog
die Zügel fester, und in den regungslosen Massen begann es wieder zu vi-
briren.
Den Mittelpunkt der Aktion und der Agitation bildete wie es in Bayern
selbstverständlich ist, die kirchliche Frage; hier war der Streit auf mehreren
Gebieten gleichzeitig entbrannt.
Die ersten fulminanten Scenen die wir hier im Auge haben, spielten
auf dem rauhen Boden der katholischen Bauernvereine. Dieselben waren seit
geraumer Zeit ein Gegenstand der heftigsten Polemik, aber die Polemik war
bisher nur von den Liberalen ausgegangen, die mit richtigem Blick die Ge¬
fahr erkannten, welche aus einer corporativen Einigung der gröbsten Massen
hervorgeht. Nun wandte sich mit einemmale das Blatt, nun kamen plötzlich
aus dem katholischen Lager selbst und zwar von Seite des geistlichen Ober¬
hirten die heftigsten Angriffe gegen die Wirksamkeit jener Bauernvereine. Die
Thatsache um die es sich handelt, ist bekannt; man weiß, daß es der Bischof
von Passau war, der jene erbitterte Fehde begann, aber welche Bedeutung sie
für die gesammten Zustände Bayerns hat, das weiß man wohl nur im
eigenen Lande. Die tiefe Zerrissenheit, welche die ultramontane Partei be¬
herrscht, erhielt damit ihre letzte und schwerste Bestätigung; denn die äußerste
Rechte, welche bisher schon mit den Gemäßigten, mit der Regierung und mit
den reinen Partikularsten jede Gemeinschaft zerrissen hat, trat nun auch gegen
die bischöfliche Autorität in offenem Kampf ein. Sie nahm den Fehdehand¬
schuh, den Heinrich von Passau ihr hingeworfen, ohne Bedenken auf und er¬
widerte die schweren Anklagen in einem Tone, der wahrhaftig an die Barri¬
kaden mahnte.
Der Sachverhalt an sich ist ziemlich einfach.
Die Bauernvereine verdanken ihren Ursprung wesentlich zwei ultramon¬
tanen Parteiführern, die in der Abgeordnetenkammer sich schon mehrfach
durch ihre Maßlosigkeit hervorgethan, dem Frhn. von Hafenbrädl und dem
Stadtpfarrer Pfahler. Ihr Zweck war kein anderer, als das Princip der
Association auch auf das bäuerliche Leben zu übertragen, das sich bisher dem
Vereinswesen ziemlich unzugänglich erwiesen hatte, um so einen mächtigen
Hebel für die klerikalen Zwecke und für den geistlichen Terrorismus zu schaffen.
So lange man lediglich dem Norddeutschen Bund gegenüberstand, war das
Hauptbestreben darauf gerichtet, den Geist des Particularismus zu schärfen,
jetzt nachdem die Politik des Reiches so entschieden gegen die kirchlichen Ueber¬
griffe auftritt, ist der katholische Charakter dieser Bereine in den Vordergrund
getreten. Indessen nahm ihr Einfluß bereits seit geraumer Zeit sehr merklich
ab; die Versammlungen wurden wenig besucht und endeten nicht selten mit
einem offenen Skandal; wiederholt sah sich die Regierung genöthigt, durch
amtliches Einschreiten den Schluß derselben zu erzwingen.
Und nun kommt noch der letzte tödtliche Stoß, der vom Bischof selber
ausgeht! Es ist richtig, der Bischof der niederbayrischen Diöcese, in welcher
die Bauernvereine allein festen Boden fanden, ist kein Mann von consequenten
Charakter; er hat sich abwechselnd durch großen Liberalismus und durch
ebenso großen Fanatismus bekannt gemacht; aber in dem vorliegenden Falle
verfolgt er ganz gewiß ein richtiges Princip. Denn nach seiner Ansicht führt
es zum moralischen und materiellen Ruin des Volkes, wenn der gemeine
Mann sich zum Werkzeug politischer Agitationen macht und daß dieß mit
den genannten Vereinen wirklich beabsichtigt wird, das weist er durch un-
widerlegliche Thatsachen nach. Um diesem Standpunkte Geltung zu verschaffen,
wird kein Mittel verabsäumt; ja der Bischof gründete sogar ein eigenes Blatt,
das diese specielle Mission verfolgt.
Natürlich fiel die Meute seiner Gegner in wildester Weise über ihn her,
allein auch die Regierung ward des Unwesens müde und veröffentlichte eine
kategorische Entschließung, die auf schärfere Überwachung jener Agitation
gerichtet war.
Zieht man aus alledem das Facit, so darf man wohl sagen, daß das
Capitel der „Bauernvereine" in den letzten Zügen liegt und .daß einer der
gefährlichsten Hebel, über welche die klerikale Parthei verfügt, zerbrochen ist.
Von beiden Seiten, sowohl von der weltlichen wie von der geistlichen Au¬
torität, werden jene Vereine bedrängt. Die Basis, auf welcher sie errichtet sind,
nämlich der Corporationsgeist des Bauernstandes hat sich als eine unrichtige
erwiesen und so haben sie einzig die Mission erfüllt, die tiefe Zerrissenheit
unter den Klerikalen von neuem zu besiegeln.
Der Gegensatz, der zwischen jenen und den Anhängern des Reiches be¬
steht, bildet sich überhaupt immer unversöhnlicher heraus, — wenn nur die
Regierung dies endlich begreifen und völlig auf die eine Seite treten möchte,
anstatt mit beiden zu laviren, Das letztere ist leider bei Vollzug des Jesuiten¬
gesetzes geschehen, worin sich Bayern seiner nationalen Pflichten nicht völlig
bewußt war. Auch hier dürfen wir bekannte Thatsachen voraussetzen. Man
weiß allgemein, daß die einzige aber auch die centrale Niederlassung jener
schwarzen Garde in Regensburg bestand, wo sie Bischof Senestrey unter seinen
besonderen Schutz nahm. Die Mehrzahl derselben war angesichts der bevor¬
stehenden Ereignisse freiwillig davongegangen, aber drei von ihnen blieben
hartnäckig zurück: Pater Ehrensberger, der durch sein Heimathrecht gedeckt ist;
Graf Fugger, welcher als Standesherr sein universelles Dominik in Anspruch
nahm; und Pater Löffler, der einfach die Prätension erhob, daß seine hohen
Verbindungen ihn schützen sollten. Er fungirt nämlich als Hausprälat und
Erzieher bei der Erbprinzessin von Taxis, die sich ganz der jesuitischen Richtung
ergeben hat.
Es wäre wünschenswert!) gewesen, daß die Regierung gegen jene beiden
letzteren Herrn kräftiger vorgegangen wäre als sie dies that. Denn die Rechts¬
frage lag so klar, daß sie in drei bis vier Schlußfolgerungen zu erschöpfen
ist und überdies würde es dem Ansehen der Regierung nur entsprochen haben,
wenn sie auf eine so lange ventilirte Frage ihre Antwort sofort ertheilt hätte.
Denn es liegt ja auf flacher Hand, daß das ursprüngliche Recht der Standes¬
herrn ihren Aufenthalt in Deutschland nach Belieben zu wählen erloschen ist,
seitdem dies „Privilegium" durch die Freizügigkeit erlosch. Daß die Reichs¬
verfassung der Bundesakte und die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen,
wird wohl Niemand in Abrede stellen, und da das Reich die Jesuiten ver¬
bannt hat, so ist die Berufung auf die bayrische Verfassung ganz unzulässig.
Selbst wenn die Freizügigkeit der Standesherren übrigens noch das „Vor¬
recht" wäre, das sie war, so stünde im vorliegenden Falle nicht die Eigen¬
schaft des Standesherrn, sondern die des Jesuiten in erster Reihe und die
Nachtheile, welche die letztere mit sich bringt, könnten nicht durch die Vortheile
ausgeschlossen werden, die mit der ersteren verknüpft sind.
So liegt das materielle Recht in dieser Frage, aber anstatt sich darauf
zu stützen, betrat die Regierung den langen Weg der Formalien; von
der Kreisbehörde ging man an das Cultusministerium, von diesem an das
Ministerium des Innern und von da wieder hinab zur Kreisregierung. Es
war ein Lürculus vitiosus, zwar richtig vom Gesichtspunkte der administrativen
Competenz, aber doch fehlerhaft darin, daß die Regierung gleichzeitig Woche
um Woche consumirte und damit den Schein gewann, als wolle sie die Sache
verzögern, als wisse sie in einem so wichtigen Falle nicht recht, was sie machen
solle. Das aber wirkt auf die öffentliche Meinung immer am schlimmsten.*)
Was den anderen Pater betraf, den fürstlichen Erzieher, so rief dieser vollends
die Intervention des Kaisers von Oestreich an, der als Vormund seiner Zög¬
linge fungirt, und wenn auch Niemand die Dinge kennt, die etwa hinter den
Coulissen vorgingen, das Resultat ist jedenfalls, daß Pater Löffler noch heute
in Regensburg verweilt. Nach seinen eigenen etwas selbstbewußten Aeuße¬
rungen denkt er auch gar nicht daran, die Stadt zu verlassen, das einzige
Zugestä'ndniß, das er der öffentlichen Meinung machte, bestand darin, daß er
die Kleidung der französischen Abbes annahm.
Auch den Altkatholiken blieb die Regierung Vieles schuldig. Der größere
Aufschwung, den die Bewegung seit dem Cölner Congreß genommen hatte,
die tiefen und indignirenden Eindrücke, welche die Fuldaer Denkschrift auch
in Baiern hinterließ, legten es nahe, daß die verschiedenen altkatholischen Ver¬
eine sich neuerlich mit ihren Angelegenheiten an den Minister wandten. Das
Gesuch, welches sie vorlegten, war der einfachsten Art und nur auf die eigenen
Versprechungen des Ministeriums gegründet; man wollte zunächst nichts, als
die Einräumung einer Kirche haben. Das erste Pelidna, das unter Bezug¬
nahme auf die Umgestaltung der Verhältnisse diese Gunst, (man dürfte rich¬
tiger sagen dies Recht) urgirte, ging von Straubing aus, indem das dortige
Nothlokal zu enge ward; allein die betreffende Beschwerde ward einfach abge¬
wiesen, man fand, die bisherige Räumlichkeit sei weit genug. Auch das Gesuch
des Münchner Comite's um endliche Ueberweisung der dem Staate gehörigen
Studien-Kirche, ist bereits in jenes bedenkliche Stadium des Todtschweigens
getreten, womit man die erste derartige Bitte unschädlich zu machen hoffte.
Dieser auffälligen und unklugen Vernachlässigung, womit die Regierung
einen Hebel bei Seite stößt, der ihr die allerwichtigsten Dienste leisten könnte,
steht wenigstens die wachsende Sympathie des Publikums gegenüber. Ohne
jede Demonstration, aber mit stetiger Zunahme wendet sich die Einsicht des
Volkes jenen kleinen mühsam-kämpfenden Gemeinden zu, und dieselben werden
noch an Ansehen gewinnen, je mehr die Demoralisation erkennbar wird, die
sich unter den Fittigen des Pfaffenthums versammelt hat.
In letzterer Hinsicht hat München allerdings ein Beispiel erlebt, das
bislang ohne Beispiel war, und dessen moralische Untiefen erst successive
ergründet werden. Der Leser weiß, welche Angelegenheit wir im Auge haben;
die äußeren biographischen Verhältnisse jener abenteuerlichen Person sind zur
Genüge bekannt geworden und die Sensation, die der Zusammenbruch ihres
Unternehmens hervorrief, fand einen Wiederhall weit über die deutschen
Grenzen. Auf diesen Theil der e-iuso ecMdi'k wollen wir hier nicht zurück-
kommen; denn der Schwerpunkt liegt nicht in den Millionen, die dabei zu
Verluste gehen, sondern in den Elementen, aus welchen diese Schwindelgeschäfte
hervorwuchsen, und in den Allianzen, welche dieselben fanden. So lange es
sich blos um ein finanzielles Unternehmen handelte, sah die öffentliche Mei¬
nung gelassen zu; man lächelte zwar über die verwegenen Spieler, aber Credit
ist eben ein subjectiver Begriff, den jeder gewähren mag, wie es ihm beliebt.
Doch dabei blieb die Entwicklung der ganzen Frage leider nicht stehen. Schon
wirthschaftlich betrachtet, wuchs sie in kolossale Dimensionen hinein; das
Schlimmste indessen war, daß sie bald zur politischen Parteisache erhoben
ward. In einer unbegreiflichen Verblendung, ohne Rücksicht auf den späteren
nothwendigen Zusammenbruch, identificirte die ultramontane Partei ihre
Interessen mit denen der Adele Spitzeder; der größte Theil der extremen Blätter
war mit Reclamen für sie gefüllt und sie selber gründete ein politisches Organ'
das sich dem Treiben von „Vaterland" und „Volksbote" würdig anschloß.
Seitdem die Sache in diese Bahnen gerathen war, nahm sie erst einen
akuten und wirklich bedrohlichen Charakter an; die Christianisirung des Capi¬
tals war nun die Parole, und das Weib, das mit dem Gelde der kleinen
Leute einen schwindelnden Luxus trieb, ward als „fromme Fee", als „Wohl¬
thäterin der Armen" u, tgi. vergöttert. Der Andrang zu ihrer Bank wuchs
in progressiven Dimensionen; ein Heer von Agenten und Bauernfängern war
bestellt, um die Ankömmlinge an die richtige Adresse zu dirigiren; daneben
aber tauchte eine ganze Menge von Concurrenz-Unternehmungen empor, die
pilzartig aus der Erde schössen und sämmtlich in kürzester Zeit zu schwung¬
vollen Betriebe kamen.
Die Calamität war keine geringe und die Regierung mußte auf die eine
oder andere Art bedacht sein, Abhilfe zu schaffen, wenn sie nicht neben dem
Capitale ihrer Unterthanen auch noch ihr eigenes Ansehen riskiren wollte.
Der Entschluß, einzuschreiten, ward ihr nicht leicht und die rechtliche Situa¬
tion lag nicht sehr günstig; man konnte ihr weder auf Grund des Gewerbe¬
gesetzes noch auf Grund des Handelsgesetzbuchs beikommen. Für eine Crimi-
naluntersuchung fehlte es an erreichbaren Anhaltspunkten, und ehe man
jenes oft genannte außerordentliche Verordnungsrecht der Negierung geltend
zu machen wagte, wollte man doch die weitere Entwicklung erwarten. Aber
die Entwicklung war eine jähe; zweimal nacheinander in rascher Folge erließ
das Ministerium eine Warnung, sich an derartigen Geschäften zu betheiligen,
dann erfolgte der Handgriff, der unvermeidlich war, wenn man die Sache
radikal sistiren wollte. Derselbe stand indessen mit den Gesetzen im vollkom¬
mensten Einklang, denn er war auf Art. 1193 der bayr. Civilproceßordnung
gestützt und wurde nicht von der Negierung sondern von den Gläubigern
provocirt. Ueber die Resultate, welche gegenwärtig von dem Gantgerichte
sowie von dem Untersuchungsrichter erhoben werden, machen wir Mittheilung,
Es mögen jetzt über zehn Jahre vergangen sein, als der Verfasser dieser Zeilen
eines Abends, wie schon öfters zuvor, in die häuslichen Räume eines der da¬
mals gefeiertsten deutschen Hochschullehrer eintrat. Der ehrwürdige Gelehrte
und treffliche, unbeugsame Character, bei dem zwei Generationen gelernt haben
zu denken und — klar und fest zu wollen und zu handeln, war an jenem
Abend in einer ganz besonders heitern Stimmung. Nach dem Abend¬
tisch ergriff er ein kleines unscheinbares Octavbändchen und schickte sich an,
wider seine Gewohnheit vorzulesen. Zuvor aber erklärte er, daß ihm das
kleine Buch einen seltenen Genuß bereitet habe; denn namentlich schildere es mit
seltener Treue, mit dem glücklichsten Humor und mit den feinsten Nüancen
des Dialectes und der Eigenart das Familienleben der ostpreußischen Heimath
des verehrten alten Herrn. Wir hingen an den Lippen des Meisters so an¬
dächtig und lauschend, wie jemals vordem im Colleg, als er uns jetzt mit
wunderbarer Modulation der Stimme und mit jugendlichster Frische einige
Kapitel vortrug, die er auf dem Katheder noch nie gelesen hatte: „Morgen
ein Vierteljahr"; „Mütterchen" „Schühchen" u. s. w. Der Eindruck dieser
Vorlesung steht heute, nach zehn Jahren, noch so tief und lebendig vor uns,
wie damals. Alles fragte nach dem Titel und dem Verfasser des kleinen Buches.
Darauf lautete die Antwort: „Aus unsern vier Wänden von Rudolf
Reichen an." Mehr wußte niemand, auch der Meister nicht. Daß der Name des
Verfassers ein Pseudonym sei, galt wol Allen in unserm damaligem Kreise als ausge¬
macht. Die Meisten riethen zuversichtlich auf eine Dame. So sein und zart, so
glücklich und bewegend, könne nur Frauenhand die kleinen Geheimnisse des Lebens
und Treibens der Kleinen schildern. Einige wollten sogar die Verfasserin
kennen, aber sie hüllten den Namen in kluges Schweigen. Dieses Schweigen
stellte sich als sehr klug heraus, als kurze Zeit darauf bekannt wurde, daß
der Name Rudolf Reichenau durchaus von keinem Mitgliede des zarten Ge¬
schlechts Pseudonym getragen werde, sondern seinem rechtmäßigen männlichen
Inhaber angehöre und daß dieser, obwohl im heiratsfähigen Alter, ledig
geblieben, sogar ein bischen schwermüthigen Temperamentes und ein Jurist
aus Ostpreußen sei.
Mit diesem einen Werke hatte Rudolf Reichenau sich dauernden
Ruhm in der Geschichte der deutschen Literatur erworben. Denn wieviele
giebt es, welche die schwere aber unendlich lohnende Aufgabe unternommen
und gelöst haben, des Kindes Denken, Fühlen und Handeln zu schildern?
Wie lange ist es her, seitdem hervorragende Gelehrte begonnen haben, die
geheimnißvollen Regeln und Gesetze, welche das Leben der menschlichen Seele
beherrschen, auch an dem Maßstabe des kindlichen Seelenlebens zu prüfen,
und die Entwickelung der menschlichen Sprache namentlich an der Sprach¬
entwickelung des Kindes zu studiren, nicht blos an dem psychologischen und
sprachlichen Organismus der Erwachsenen?
Rudolf Reichenau hat in seinem ersten Werke, ohne jede Prätension und
selbst ohne jeden Schein von Studium, eine so tiefe Beobachtung der Kinder¬
welt bewiesen, wie Wenige vor ihm. Gerade das machte ihn mit Recht zu
einem der bevorzugtesten Lieblinge des deutschen Volkes in allen Ständen und
Stämmen. Allerdings waren diese „Bilder aus dem Jugend- und Familien¬
leben" an der preußischen Nordostmark entstanden, wie unser Professor richtig
geahnt hatte, und die eigenthümliche Klangfarbe der Heimath herrschte überall
vor. Aber soweit die deutsche Zunge klingt, drang zum Herzen, was aus dem
Herzen kam. Ueberall bahnte sich dieses Buch den Weg zum Schooß der
deutschen Familie, da sein vornehmster eigenartigster Reiz in seiner liebe¬
vollen Beobachtung und Schilderung der kleinen Geheimnisse des deutschen
Kinder-und Familienlebens bestand. Und gerade Süddeutschland sprach durch seine
vornehmsten Organe in dem einmüthigen lauten Beifall, der das schlichte
Büchlein begrüßte, das gute Wort, daß deutsche Häuslichkeit und deutsches Eltern¬
glück überall dasselbe sei von dem schwäbischen Meer bis zur Nord- und Ost¬
see, und überall verwandte Herztöne erklingen lasse.
In dieser schlichten Ausstattung erlebte Rudolf Reichenau's Erstling
nahezu ein Dutzend starke Auflagen. Mit der Zeit waren jedoch zwei bedeut¬
same Neuerungen dazu getreten.
Einmal nämlich hatte sich zu dem Dichter des Büchleins „Aus unsern
vier Wänden" derjenige bildende Künstler als Illustrator gefunden,
der zu bildlichen Darstellungen aus dem Kinderleben wohl der in Deutschland
berufenste war, und der heute noch unbestritten als Meister auf diesem Ge¬
biete gilt: Oscar Pietsch. Die erste illustrirte Ausgabe erschien
1865. Auch diese ist heute vergriffen und daher durch eine zweite illustrirte
Auflage, welche in diesen Tagen erschienen ist, ersetzt worden. Auch die illu¬
strirte Ausgabe ist längst zum Gemeingut unsres Volkes geworden, und es
wäre daher nutzlos, über die Vortrefflichkeit der Zeichnungen von Oscar
Pietsch mehr zu sagen, als daß Text und Bild sich vollkommen ebenbürtig
sind. Wenn die Priorität der Conception nicht zweifellos dem Schriftsteller,
dem Dichter gebührte, fo ließe sich wohl die Frage aufwerfen, welche der
Heiden Kunstdarstellungen der andern zum Vorbild gedient hat. So innig
und congenial fügt sich Bild an Wort. Unter den sinnigsten Gaben für
den Weihnachtsbaum wird diese illustrirte Ausgabe von Reichenau's „Aus
unsern vier Wänden", wie überhaupt alle Werke Rudolf Reichenau's, die wir
im Nachstehenden noch anführen, eine der ersten Rangstufen behaupten.
Denn zu dem ersten Bändchen Rudolf Reichenau's war mit den Jahren
noch ein zweites und drittes getreten, deren jedes abermals von dem deut¬
schen Publikum mit freudigem, mächtigem Beifall begrüßt wurde. Zwischen
dem Erscheinen jedes der früheren und des neuen Bändchens lagen Jahre;
Beweis genug, wie ernst und sorgfältig der Verfasser arbeitete, wie schwer
und mühsam der köstliche Humor, der auch in diesen neueren Werken „schlank
und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen" uns bezaubert, in der vorwiegend
ernsten Natur des Dichters zum Durchbruch und zur schriftlichen Fixirung
gelangte. „Ku aben und M abcd en", „Auswärts und Daheim" hießen
die Titel der neueren Arbeiten Reichenau's. Ihr Inhalt war von selbst ge¬
geben durch die im Einzelnen ewig wechselnde, im Ganzen ewig gleichbleibende
Entwickelung der menschlichen Natur aus dem süßen unbewußten Traum der
Kindheit zu dem stets klareren verantwortlichen Dasein heranwachsender und
großgewordener Menschenkinder. Vielfach ist Angesichts dieser neueren Arbeiten
Rudolf Reichenau's geäußert worden, das erste Werk sei von keinem der fol¬
genden erreicht worden. Wir meinen: jedes in seiner Weise ist mustergültig.
Und nur das wäre ein entschiedener Fehler der Werke gewesen, welche die
Spiel- und Lernjahre der Jugend bis zur Beendigung der Hochschulstudien
schildern, wenn der Verfasser auch bei ihnen nur die zarten duftigen Töne
seiner Schilderungen aus der ersten Kindheit hätte anwenden wollen. Denn
wie der Landschafter Mittel« und Vordergrund in markigeren Farben dar¬
stellen muß, als Luft und Ferne, so muß auch der Dichter die Spiel-, Lern-,
Flegel- und Wanderjahre junger Menschen kräftiger schildern, wenn das Ab¬
bild wahr sein soll, als die fernen Tage, wo das Mutterauge dem Kinde
noch allein Licht und Freude spendete.
Wiederum vergingen Jahre, ehe Reichen«» seine jungen Freunde, die
er in „Auswärts und Daheim" bis zum Gipfel der Erziehung geführt hatte,
auch die Pfade der Liebe wandeln ließ. Es geschah dies in seinem vierten
Bändchen „Liebesgeschichten". Niemand wird von Reichenau Liebesgeschichten
verlangen, die durch schwierige Schürzungen des Knotens recht verwirrt und
pikant gemacht sind, bei denen das blendende Farbenspiel einer bewegten
Handlung die Armuth an Charakterschilderung oder psychologischer Motivi-
rung verbergen soll. Im Gegentheil, Reichenau zeigt sich auch in seinen
„Liebesgeschichten" als der feine Beobachter und Schilderer des inneren stillen
Lebens im Menschen, als ein rechter Herzenskundiger. Auch Diejenigen, denen
es unter den „Knaben und Mädchen", Auswärts und Daheim" manchmal
zu laut, unbändig und realistisch herging, wurden durch die „Liebesgeschichten"
Reichenau's wieder völlig befriedigt.
Nun, wieder nach Jahren des Schweigens, bietet uns Reichenau sein
neuestes Werkchen: „Am eigenen Herde. Aus den neuen vier Wänden." *)
Die Liebenden , welche in den „Liebesgeschichten" „sich endlich gekriegt"
haben, treten uns hier in dem Glück und Glanz ihrer jungen Häus¬
lichfeit entgegen. An Feinheit der Beobachtung, an Humor und an
Reinheit der Schilderung, steht dies Büchlein keinem der früheren nach.
An den tiefsten Gedanken und Beziehungen, die in der heitern Schreibart
des Verfassers hingeworfen sind, ist es vielleicht reicher, als irgend
eine seiner früheren Arbeiten. So kann das sehnsüchtige mächtige Hervor¬
brechen der Liebe zwischen der Mutter und der glücklich verheiratheten Tochter,
das Heimweh der jungen Frau nach dem mütterlichen Herd, die Sehnsucht
der Mutter nach einem Besuche des Kindes wohl kaum zarter und dennoch
freier von aller Sentimentalität geschildert werden, als in den Kapiteln „Die
junge Hausfrau", „Mutter und Tochter", „Im April". Daneben fehlt es
aber natürlich nicht an einer Menge der fröhlichsten und heitersten Abschnitte.
So sind die Bildungs- und Erziehungsmittel, welche eine Vorurtheilsfreie aber
langathmige Frau Nachbarin oder eine Kaffeegesellschaft einer jungen Frau
gewähren kann, auf das kostbarste geschildert. Und eine der reizendsten Mono¬
graphien der ganzen Sammlung bietet das Kapitel „Hausfrieden", das zwar
nur wie lueusg, von lueenäo so überschrieben zu werden verdient, aber uns dennoch
nicht etwa den Anfang des siebenjährigen Krieges des jungen Musterehepaares,
oder bei Nademacher's oder bei Alborn's erleben läßt, und uns daher keines¬
wegs mit Besorgnissen für den ferneren Familienfrieden oder über die Friedens¬
bedingungen erfüllt. Denn Hausfrieden und Hauskrieg wird in diesem Ab¬
schnitte nur in aiümg, piu von Hund und Katze aufgezeigt. Die Schilderung
der innersten Gemüthsbewegung der beiden Hausthiere, ihres Treibens, des easus
Kokil u. s. w. zeugt von bedeutenden diplomatisch-zoologischen Vorstudien des Ver¬
fassers. Aus dem Schlußkapitel, das natürlich „Taufe" überschrieben ist,
erfahren wir übrigens, daß unser Musterehepaar sich bereits vor dem Jahre
1848 seinen eigenen Herd gegründet hat, und so dürsten wir wohl — wenn
auch freilich vielleicht wieder erst nach längerer Pause, noch mit einem Bänd¬
chen über das höhere Lebensalter von Rudolf Reichenau beschenkt werden,
welches naturgemäß dann eine der feinfühligster lebendigsten und werth¬
vollsten Dichtungen abschlösse, die über deutsches Familienleben jemals in
Prosa geschrieben worden sind.
Die Sitzungen dieser Woche, welche nur das Abgeordnetenhaus gehalten
hat, sind vorzugsweise der ersten und zweiten Lesung der neuen Kreisord¬
nungsvorlage gewidmet gewesen. Den Unterschied dieser Vorlage von dem in
der vorjährigen bis in dieses Frühjahr sich erstreckenden Session vereinbarten
Entwurf habe ich im vorigen Brief angegeben. Das Resultat der dies-
wöchentlichen beiden Lesungen ist die unveränderte Annahme der neuen Vor¬
lage durch das Abgeordnetenhaus. An der letzten Bestätigung dieser Annahme
bei der dritten Lesung besteht kein Zweifel.*) So ist denn die Regierung in
der Lage, mit dem nothwendigen Pairsschub vorzugehen, dessen Veröffent¬
lichung in den nächsten Tagen erwartet wird. Es besteht sogar eine gewisse
Nothwendigkeit, mit den neuen Pairsernennungen nicht länger zurückzuhalten.
Wollte nämlich die Regierung mit diesen Ernennungen etwa warten, bis die
Kreisordnung bei den Abgeordneten endgültig genehmigt und von dort zu
den Herren gelangt ist, so könnte die bisherige Majorität hier eine Commis¬
sion ihrer Parteigenossen wählen, welche möglicherweise mit der Berichterstat¬
tung über die Vorlage niemals zu Stande käme. Die Befürchtung entspricht
der kleinlichen Taktik der Majorität des Herrenhauses, welche der Kreisord¬
nungsvorlage gegenüber einmal versucht wurde.
Man spricht davon, daß die neuen Herren überwiegend höhere Staats¬
beamte sein werden, wie es vollkommen der Sachlage entspricht. Denn noch
mehr als die Annahme der Kreisordnung ist die Aufgabe der neuen Herren,
wie schon mehrmals hervorgehoben wurde, die Reformen der Staatskörper¬
schaften, insonderheit des Herrenhauses selbst, auf Grund einer von der Re¬
gierung zu ergreifenden Initiative, Zu dieser Reform bedarf die Regierung
Männer, auf die sie als Mitarbeiter schon länger zu zählen gewohnt ist, welche
die Resignation besitzen, einer vorübergehenden aber darum nicht minder verant¬
wortlichen Aufgabe sich zu unterziehen, welche endlich den Standpunkt der Staats¬
aufgabe einzunehmen wissen ohne Beirrung durch gesellschaftliche Interessen.
Es hat vielfach Aufmerksamkeit erregt, daß der Reichskanzler und Mi¬
nisterpräsident, dessen Abwesenheit bei der ersten voraussichtlich vergeblichen
Berathung der Kreisordnung im Herrenhause man nachträglich so klug ge¬
worden ist, erklärlich zu finden, nicht bei der jetzigen Berathung, wo es sich
um die Durchbringung des Gesetzes mit allen Mitteln der Verfassung handelt,
erschienen ist. Aber was sollte den leidenden Ministerpräsidenten hierzu be¬
wegen? Er hat oft genug bewiesen, daß er seine angegriffene Gesundheit den
Forderungen seines Amtes nur zu sehr nachsetzt. Aber im Augenblick liegt
nicht einmal eine irgendwie dringende Amtspflicht vor. Die Kreisordnung
gehört dem besonderen Verwaltungszweig des Ministerpräsidenten nicht an.
Zu ihrer sachkundigen Vertretung ist der Minister des Innern Mannes ge¬
nug, wie er erst in dieser Woche glänzend bewiesen hat. Im Herrenhaus
kann nicht die Autorität des Ministerpräsidenten, sondern nur der Hinzutritt
neuer Mitglieder die Kreisordnung zur Annahme bringen. Die Ernennung
solcher Mitglieder ist unter der nachdrücklichen Befürwortung des Minister¬
präsidenten beschlossene Sache. Zur Auswahl dieser Mitglieder braucht er
nicht persönlich nach Berlin zu kommen. Warum also soll er jetzt den ihm
so nöthigen Urlaub abkürzen? Die Reform der Staatskörperschaften kann,
wenn auch in dieser Session, doch nicht mehr in diesem Jahre zur Berathung
kommen. Die Berathung der desfallsigen Maßregeln durch das Staatsmini-
stenum kann also ohne Schaden bis zum Januar ausgesetzt werden, wo der
Ministerpräsident sein Amt wieder vollständig übernimmt.
Aus den Verhandlungen bei Gelegenheit der ersten und zweiten Lesung
der Keisordnung ist wenig hervorzuheben. Die Bedeutung und der Geist des
Gesetzes sind hinlänglich 'besprochen, für alle Diejenigen 'wenigstens, die sich
überhaupt dieselben klar zu machen vermögen.
Bet der ersten Lesung bemühte sich der ultramontane Redner Herr von
Mallinkrodt eine Seite des Gesetzes zum Ziel seines Witzes zu machen, deren
Schwäche er selbst doch nicht zur Verwerfung des Gesetzes erheblich genug
fand. Aus der früheren ausführlichen Analyse des Gesetzes, die ich unter
dem 31. März an dieser Steile gegeben, erinnern sich die Leser vielleicht, daß
zur Wahl der Kreisvertretung, des sogenannten Kreistages drei Wahlverbände
gebildet werden: aus dem großen ländlichen Grundbesitz, aus den Städten
und aus dem kleinen ländlichen Grundbesitz. Die Schwierigkeit lag nament¬
lich in dem Unterscheidungsmerkmal der beiden Klassen des ländlichen Grund¬
besitzes. Die ursprüngliche, in der vorjährigen Session eingebrachte Regie¬
rungsvorlage hatte als Merkmal des großen'Grundbesitzes denjenigen Umfang
vorgeschlagen, welcher mit einem Reinertrag von 1000 Rthlr. zur Grund¬
steuer eingesetzt ist. Dagegen hatte das Abgeordnetenhaus beschlossen, es sollte
nach Abzug der auf den Wahlverband der Städte gefallenen Kreistagstimmen
die Ernennung der übrigen Kreistagmitglieder zwar nach Bestimmung der
Regierungsvorlage zwischen den großen und kleinen Grundbesitz, zu welchem
letzteren die Landgemeinden gehören, gleich getheilt werden, es sollte aber zum
großen Grundbesitz jeder Besitzer gerechnet werden, dessen Beitrag erforderlich
ist. um die erste Hälfte der auf den ländlichen Grundbesitz fallenden Kreisab¬
gaben aufzubringen. Als nun die Regierung statistische Erhebungen anstellen
ließ, welche Folgen dies für die Scheidung der beiden Grundbesitzklassen erge¬
ben würde, stellte sich heraus, daß danach die Wahlverbände des großen
Grundbesitzes ganz überwiegend aus kleinen Grundbesitzern bestehen würden.
So schlug denn die Regierung in der diesmaligen Vorlage als Merkmal
des großen Grundbesitzes wiederum nicht den Beitrag zu den Kreisabgaben,
sondern den Beitrag zur Staasgrundsteuer vor, und zwar den Beitrag von
76 Rthlr. und darüber. Die Regierung brachte jedoch gleichzeitig Ausnahmen
in Vorschlag für die Kreise der Provinz Sachsen und Neuvorpommern we¬
gen der dortigen abweichenden Verhältnisse. Außerdem beantragte die Regie¬
rung die Befugniß der Revision bezw. Abänderung des Merkmals für die
künftige Provinzialvertretung. Ueber die schwankende Beschaffenheit dieses
Maßstabes lassen sich nun bequem einige gute Witze machen. Der Grund¬
fehler liegt meines Erachtens darin, daß nicht die Grundsteuer zur einzigen
Kreis- und überhaupt Gemeindeabgabe gemacht worden ist. Dann könnte
man ein durchweg nach der Höhe der Grundsteuer abgestuftes Stimmrecht
einführen und man brauchte gar keine besonderen Wahlverbände, oder höch¬
stens einen Wahlverband der Städte und einen des Landes. Die Abweichung
der jetzigen Vorlage in Betreff des Unterscheidungsmerkmals von dem in der
vorjährigen Session gefaßten Beschluß des Abgeordnetenhauses hat übrigens
so wenig grundsätzliche Bedeutung, daß ich sie in dem vorigen Brief gar
nicht zu erwähnen für nöthig hielt. Denn, wie auch von mehreren Rednern
hervorgehoben wurde, ist sehr die Frage, ob die Aufnahme fast alles selbst¬
ständigen, d. i. nicht in Gemeinden belegenen Grundbesitzes in den Wahlverband
der großen Grundbesitzer dem Einfluß des liberalen Elements auf den Kreis¬
tagen zu Gute kommen würde. Der Vorschlag der jetzigen Regierungsvorlage
ist also weder liberal noch illiberal, sondern einfach sachgemäß, so lang man
an der gesonderten Abstimmung zweier Grundbesitzklassen festhält.
Am 21. November stand die Prüfung und Entlastung der Staatsregie¬
rung wegen der Staatshaushaltsrechnung für das Jahr 1868 mit den Be¬
merkungen der Abrechnungskammer zu Berathung. Die Vorlage gab dem
Herrn Abgeordneten E. Richter die erwünschte Gelegenheit, in der bekannten
blasphemischen Weise die geachtetsten Institutionen und Persönlichkeiten des
preußischen Staates herabzuziehen. Er sprach davon, daß die Oberrechnungs-
kammer die Schnupftabaksdose des Grafen Moltke revidire, während er im
Uebrigen ihre Arbeit als lodderig bezeichnete. Das Verehrungswerthe und
Große bedarf, wie wir aus Shakespeare wissen, der Clowns, die es vergebens
mit Unglimpf bewerfen müssen, damit es in seiner Unversehrbarkeit erscheine.
Das ist die Rolle des Herrn Richter, die er im Landtag auf ebenso aner-
kennenswerthe Weise versieht, wie im Reichstag Herr' Bebel und seine
Freunde. —
In dem Bericht über die Eröffnung der Session machte ich auf die be¬
deutenden Vorlagen aufmerksam, die in Aussicht standen. Mehrere derselben
sind nun eingegangen. Gleichzeitig mit der Kreisordnung brachte der Minister
des Innern ein Gesetz über die Ausstattung der Provinzialgemeinden mit
besonderen Fonds ein. Schon in der zweiten Sitzung des Abgeordnetenhauses
am 13. November war ein Schreiben des Staatsministeriums an den Prä¬
sidenten des Hauses verlesen worden, worin das Staatsministerium anzeigt,
daß nach Annahme der neuen, für jeden Gesetzentwurf drei Lesungen statu-
irenden Geschäftsordnung das Staatsministerium die Gesetzvorlagen ins künftige
in der Regel dem Präsidium schriftlich zugehen lassen werde. Die einleitende
Befürwortung durch den betreffenden Minister wird von nun an in der Regel
bei der ersten Lesung stattfinden, welche darüber zu entscheiden bestimmt ist,
ob die Speeialberathung sofort im ganzen Hause stattfinden soll, oder ob der
Entwurf zuvor an eine Commission zu verweisen ist.
Unter der neuen Form sind bisher eingebracht worden: der Gesetzentwurf
betreffend die Abänderung der Klassensteuer und der klassificirten Einkommen¬
steuer; ferner seitens des Cultusminister ein Gesetzentwurf von der höchsten
Bedeutung, betreffend die Grenzen des Rechts auf den Gebrauch der kirchlichen
Straf- und Zuchtmittel, und andere mehr technische Gesetzvorlagen. Die Er¬
läuterung aller dieser Entwürfe versparen wir auf den Zeitpunkt, wo sie zur
Berathung kommen, demnach die Erläuterung zugleich dem Verständniß der
Die Arnoldische Buchhandlung in Leipzig, deren freundliche
Illustrationen zu Franz Schubert's Liedern wir neulich erwähnten, bietet uns
zum Feste noch eine besonders glücklich gewählte, feine Gabe in den „Kleinen
Vorlagen zur Blumenmalerei von Marie Remy". Das Werk ist
gleich dem erstgenannten auf Lieferungen eingerichtet, und auch hier liegt uns
zur Zeit blos die erste Lieferung vor. Aber schon jetzt läßt sich erkennen, in
welchem Sinne die Aufgabe unternommen und gelöst ist. Die Künstlerin
bietet Blumen, welche sie nach der Natur gemalt, treu studirt und künstlerisch
gruppirt hat, zur mannigfaltigsten praktischen Verwerthung und Verwendung.
Wir erblicken das größte Verdienst dieses Unternehmens in der gediegenen
Anleitung, welche diese Vorlagen ausübenden Dilettanten zur Aneignung der
nöthigen'Technik gewähren, und sie dadurch befähigen, selbst die Natur nach¬
zubilden, andere Blumen und Pflanzen zu geschmackvollen Sträußchen ver¬
einigt darzustellen. Und wenn die Technik in Gouache — in der die Vorlagen
ausgeführt sind, glücklich bewältigt ist, so mag auch die Aquarell- und
namentlich die Oelfarbe versucht werden. Alle die bisher gebotenen Blumen
und Blüthen verrathen die geübte Künstlerin und Lehrerin ihrer Kunst, und
zugleich eine recht sinnige wahre Ausfassung der Natur. Wir würden uns
sehr freuen, wenn diese bescheidenen und doch so ansprechenden Blätter das
ihrige dazu beitrügen, der augcnverderbenden zeitraubenden Spielerei mit ge¬
theiltem Stramin u. s. w. oder wie sonst die Zwangsdienste am Stickrahmen
heißen mögen, zu verdrängen, und dagegen unsern Mädchen und Frauen eine
recht frische selbstschaffende Pinselführung in ihren Musenstunden zu lehren.
Die Mannigfaltigkeit der Verwendung solcher kleinen Gemälde ist schon nach
der Anleitung, welche der Umschlag 'bietet, eine erstaunlich große. Und die
Phantasie der Maler und Malerinnen, die bei diesen Vorlagen in die Schule
gehen, wird vermuthlich, wenn es noth thut, noch ein ganzes Theil andere
Nutzanwendungen für die kleinen Bilder hinzu erfinden.'
Die jetzt vorliegenden sechs Blätter enthalten Veilchen, Pfirsich- und
Aprikosenblüthen, Vogel mit Kirschenzweig, Nuß- und Apfelblüthenzweig,
Stiefmütterchen, Feldblumenstrauß, Waldbeeren, wilde Rosen, Vergißmein¬
nicht, Schneeglöckchen, Erdbeeren, Wald- und Wiesenblümchen. Hoffentlich
beschenkt uns die Künstlerin aus dem fast unbegrenzten Felde ihres Genres
mit einer recht stattlichen Anzahl ähnlicher Blätter.
Von Julian Schmidt, dem Versasser der „Deutschen Literatur¬
geschichte", dem vieljährigen Herausgeber unsers Blatts, erscheint in diesen
Tagen die „Geschichte der französischen Literatur seit Ludwig XVI." in zweiter
Auflage, vollständig umgearbeitet und mit ganz neuen Forschungen bereichert.
Indem wir uns eine ausführliche Anzeige vorbehalten, machen wir unsere
Leser vorläufig daraus aufmerksam.
Unsere Culturgeschichtschreibung, die jetzt mit Recht so bevorzugte liebens¬
würdige Schwester der ernsten Klio, wagt sich auf allerlei Gebiete, welche die¬
ser unzugänglich bleiben. Jndirect ist Herder der Begründer der Culturge¬
schichte als Wissenschaft gewesen. Sein Einfluß auf sie ist aber außerdem auch
ein ganz directer. Denn was er im allgemeinen als Geschichte bezeichnet,
würden wir jetzt wesentlich Culturgeschichte nennen. Das geistige Leben der
Völker, die verschiedenen Zielpunkte ihrer höchsten idealen Interessen in Poesie
und Religion, Wissen und Glauben sind, wie man weiß. Lieblingsthemata
der Herder'schen Geschichtsbetrachtung. Noch inniger aber verwandt oder der
eigentliche Schöpfer derjenigen Culturgeschichte, die wir als die moderne und
noch enger als die moderne deutsche Form davon bezeichnen können, ist er
dadurch geworden, daß ihm zuerst das Auge für das eigentliche Naturleben des
Geistes innerhalb der verschiedenen historischen Individualitäten, Völker wie
einzelner Menschen geöffnet war. Der Ausdruck „Volksseele", der gegenwärtig
zu den fruchtbarsten und inhaltreichsten Grundbegriffen aller wahrhaft wissen¬
schaftlichen Forschung auf geschichtlichem Gebiete gehört, ist von Herder bekannt¬
lich in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit noch nicht
ausgesprochen, er hat ihn erst zwanzig Jahre später geschaffen. Aber sein
Inhalt ist schon dort vollkommen erfaßt und allseitig ins Leben gesetzt. Das
eigentliche feste und bleibende in den wechselnden Typen der geistigen Produc-
tionen der Völker und Zeiten, was als das dauernde im Wechsel und zugleich
als jenes letzte, geheimnißvolle Band alles Lebens erscheint, das nur geahnt,
aber nicht analysirt, nur mit symbolischen Namen wie „Lebenskraft, Natur¬
anlage u. tgi." angedeutet, aber nicht erklärt werden kann, — dieß alles ist
von Herder zuerst in die Betrachtung und Behandlung der Geschichte einge¬
führt worden. Und insofern ist er auch im aller specifischsten Sinne der Schöpfer
der Culturgeschichte namentlich derjenigen BeHandlungsweise derselben, die von
dem deutschen Geiste dieser Zeit mit besonderer Energie und mit großartigem
Erfolge gepflegt wird.
Dieser Umweg, auf dem wir bei unserm eigentlichen Thema angelangt sind,
ist uns nöthig erschienen, um alle, denen der Gegenstand an sich vielleicht eini¬
ges Interesse abgewinnt, ehe sie sich noch dazu verstehen können, ihn in seiner
Ausführung durch zwei Bände im einzelnen zu verfolgen, oder auch alle dieje¬
nigen, denen „Roß und Reiter", als der Titel eines Buches, verwunderlich vor¬
kommt, von vornherein auf den Standpunkt zu führen, von wo aus der Ge¬
nuß und die Beurtheilung des hier Gebotenen allein auszugehen hat. Denn
„Roß und Reirer" ist ein ächtes Stück deutscher Culturgeschichtschreibung im
Geiste Herder's — obgleich Herder nie daran gedacht hat, die Beziehungen des
Thierlebens zu der Menschenwelt monographisch darzustellen, und ein wichtiger
Beitrag zur Kenntniß der deutschen Volksseele, als des würdigsten Objects
deutscher geschichtlicher Forschung.
So wenig nämlich auch Herder selbst gewillt war, der Culturgeschichte, deren
Begriff als Wissenschaft er gefunden, durch die naturgemäße Beziehung auf
die deutsche Volksseele ihre eigentlich fruchtbare und zukunftsreiche Basis zu
unterbreiten, fo hat er doch in seinen früheren Tagen und gelegentlich auch
in den gesunden Momenten seiner späteren Periode auch dafür den Anstoß
gegeben. Es wäre ungerechtfertigt, die neue Phase der germanistischen Stu¬
dien seit dem Anfang dieses Jahrhunderts unmittelbar auf den Anstoß Her¬
der's zurückzuführen, aber es darf bei einer tiefer eindringenden Analyse doch
auch nicht übersehen werden, wie viel befruchtende Keime von ihm aus gleich¬
sam gegen seinen Willen auf die Romantiker und durch diese mittelbar auf
die eigentlichen Schöpfer unserer Wissenschaft, die Grimm's und ihre ältesten
Genossen, geflogen sind.
Und in diesem Sinne ist auch unser „Roß und Reiter" eine Frucht des
Herder'schen Geistes, nicht nur so, daß der Begriff der Erforschung der Volks¬
seele, ohne welche auch dieses Buch nicht existiren würde, durch ihn geschaffen
worden, sondern auch in der besondern Beziehung auf das deutsche Wesen.
Die Vermittelung, die vielleicht dem Verfahren selbst als die nächste Quelle
seiner eigenen Anregung gilt, ist allerdings besser mit Händen zu greifen, so
zu sagen auf jeder Seite, in jedem Satze zu fassen, als jene entfernte und fast
verschüttete Lebensader, die uns Heutigen beinahe zur Mythe geworden ist,
Wie überall, wo wir einer lebendig beseelten Forschung im Bereiche des
nationalen Alterthums und der nationalen Züge des jetzigen Volksthums be¬
gegnen, ist es auch hier der Altmeister Jacob Grimm selbst, der als der eigent¬
liche Vater und Erzeuger sich kund giebt. Wir glauben, daß Niemand, er
möge noch so hohen Werth auf seine eigene Geisteskraft, seinen eigenen Fleiß
und sein eigenes Wissen legen, in diesem Ausspruch eine Beeinträchtigung
seines Verdienstes finden wird. Gewiß kommt dereinst eine Zeit, in der sich
die unmittelbare, persönlich wirkende Kraft jenes einzigen Heroen nationaler
Wissenschaft nicht mehr so coneret, nicht mehr so derb, wenn wir so sagen
dürfen, in allen denen fühlbar macht, die auf seiner Bahn vorwärts gehen.
Aber jetzt ist diese Zeit noch nicht gekommen, wenn auch die krankhafte Eitel¬
keit dieser und jener kleiner und kleinster Lichter es wähnt, die weit über den
Meister hinausgekommen sein wollen, weil sie kleine zufällige Versehen dessel¬
ben, recht eigentliche laxLus ealami, an denen jeder anständige und bescheidene
Geist stillschweigend vorübergeht, mit großem Geräusch aufdecken und mit ihrem
Wissen, d. h. durch die Hilfsmittel, die sie auch nur bei ihm und nirgends
anders gelernt haben und nirgends anders lernen konnten, am wenigsten na¬
türlich aus ihrem eigenen unproductiven Geiste, zu corrigiren oder zu meistern
beflissen sind. Einstweilen ist es noch die höchste Ehre und das größte Lob,
wenn man von einem Buche, das in den Kreis der von Jacob Grimm ge¬
schaffenen Geisteswelt gehört, sagen kann, daß es des Meisters würdig
sei. -
„Roß und Reiter" würde nicht geschrieben, oder wenigstens nicht so ge¬
schrieben sein, wenn nicht die deutsche Mythologie zuerst die tiefen und viel¬
seitigen Bezüge der Thierwelt auf den Glauben und das Gemüthsleben, die
Cultur und die durch die Religion geweihte häusliche Sitte unserer Vorzeit
erschlossen hätte. Wer jemals einen Blick in das 21. Capitel jenes Buches
gethan hat, erinnert sich, wie dort unter allen den heiligen Geschöpfen das
Pferd, das edelste, klügste, vertrauteste Hausthier, mit besonderer Hervorhebung
behandelt wird. Auch sonst, wo der Schöpfer unseres Wissens von dem
Glaubensleben unserer Volksseele gelegentlich auf die Bedeutung dieses Thieres
in den Cultusgebräuchen überhaupt, in dem Mythenkreise dieses oder jenes
Gottes oder Heroen, in der Zauber- oder Wahrsagerkunst zurückkommt, geschieht
es immer mit einer fühlbaren, der Stimmung des Volkes genau ent¬
sprechenden Wärme der Zuneigung, die auf den Leser sympathisch wirkt, auch
wenn er, wie es den meisten unserer Stubengelehrten geht, gar wenig Gele¬
genheit gehabt hat, sich mit eigenen Augen und durch eigene Erfahrung mit
der Individualität dieser Thiergestalt vertraut zu machen und sie lieb zu ge¬
winnen. Es läßt sich aber leicht begreifen, wie ein pasfionirter Reiter und
wirklicher berufsmäßiger Pferdekenner von diesen Stimmen und Zeugnissen
unseres Volkes gerade für dieses Thier ergriffen und so zu sagen begeistert
werden muß. Erfährt er doch daraus, was für jedes wohlgeordnete Gemüth
der Hauptreiz und zugleich der Hauptwerth der Geschichte im allgemeinen ist,
daß seine Stimmung nicht die eines zufälligen Individuums, auch nicht die
der zufälligen Mode des Tages ist, sondern in der Tiefe der Seelenanlage
seines ganzen Volkes wurzelt. Und in diesem Sinne möchten wir die tiefste
und nachhaltigste Anregung zu dem Buche vorzugsweise in Grimm's Mytho¬
logie suchen, wie denn auch begreiflich ein großer Theil des Materials, das
der spätere Culturhistoriker benutzt, schon von dem Altmeister zusammengebracht
worden war. Ebenso begreiflich aber ist es, daß der spätere Forscher auf seinem
eigenen Wege, den ihm die Hand seines Führers gewiesen, noch manche
Nachlese gefunden hat. Seit dem Jahre 1844 ist ja, wie jedermann weiß,
eine unendlich fleißige Thätigkeit erwacht, alle die Reste unserer Vorzeit, die
sich in diesem oder jenem Versteck, vor den Unbilden der Zeit und der sie
nicht mehr verstehenden Menschen geborgen hatten, sorgfältig hervorzuziehen und
durch Einfügung an die rechte Stelle wieder zu neuem idealem Leben zu wecken.
Mit vorzüglichem Eifer ist dies in Bezug auf alles das geschehen, was zu
unserm ursprünglichen Glauben, zu der idealen Welt- und Naturanschauung
unserer heidnischen oder äußerlich christlich gefärbten Altvordern gehört und
in dieser Hinsicht ist jeder spätere Forscher mit Wahrheit in den Stand gesetzt,
den Meister zu übertreffen.
Neben der Mythologie ist es die Geschichte der deutschen Sprache, worin
dem Verhältniß der Thierwelt zu unserer Volksseele einige der ausführlichsten
Abschnitte gewidmet sind, so besonders Cap. 2, 3 u. 5. Hier kommt es darauf
an, aus dem unermeßlichen Einblick in die Sprache nicht bloß einer Periode
deutschen Lebens, sondern aller seiner Perioden, wie ihn Jacob Grimm ge¬
öffnet und selbst bisher unübertroffen besessen und gebraucht hat, das eigentliche
Fühlen und Empfinden, das besondere Motiv der Phantasie und des Ver¬
standes herauszufinden und gleichsam neu zu erzeugen, welche die ursprüngliche
Namengebung veranlaßt haben. Von einer solchen Verwerthung linguistischer
Momente, wie sie durch Jacob Grimm zuerst gezeigt und in großartigster
Ausdehnung gehandhabt worden ist, hat vor ihm die Culturgeschichte oder
die Wissenschaft überhaupt keine Ahnung gehabt. Jetzt wird Niemand, der
ein culturgeschichtliches Thema behandelt, sich dieses Weges entschlagen können,
und mit welchem Erfolge er betreten werden kann, davon legt „Roß und
Reiter" ein vollgiltiges Zeugniß ab. Selbstverständlich wird hier immer der
Subjectivität, dem in sich selbst gefestigten Jnstinct oder nennen wir es lieber
der selbstgewisser Intuition, ein weiterer Spielraum verstattet sein, als etwa in
den sog. exacten Wissenschaften, und die Ergebnisse können nicht auf dieselbe
allgemein und unter allen Bedingungen absolut unantastbare Richtigkeit
Anspruch machen, wie ein richtig gerechnetes Exempel. subjective Anlage,
reiche Uebung und Erfahrung, vor allem ein angeborener Sinn für das
eigentlich volkstümliche, für die Besonderheit der Stimmungen und Mischungen
einer Volksseele, sind hier ebenso wünschenswert!), wie die solideste Methodik
des Lernens und Wissens und die routinirteste Technik. Unter allen wird
sich niemand in Hinsicht aus die harmonische Vereinigung aller dieser Eigen¬
schaften mit dem Altmeister selbst vergleichen lassen. Auch da, wo er anderer
subjectiver Anschauung nach, sich gelegentlich einmal zu einem Irrthum hat
fortreißen lassen, ist auch dieser in jedem Falle wieder die Quelle neuer Wahr¬
heit geworden. Denn er entspringt stets aus einem Ueberschwall von Ein¬
drücken und Gedanken, nicht aus dem Gegentheil davon. Billigerweise kann
man bei keinem der Nachfolger jene einzige Totalität der Gaben fordern, es
genügt schon, wenn sie unter dem befruchtenden Einfluß ihres Borbildes das,
was ihnen selbst zugetheilt ist, so gewissenhaft und treu wie möglich zur
Verwerthung im Dienste der Wissenschaft zu bringen bereit sind. Je nach
den individuellen Vorbedingungen wird sich der eine mehr als geübter Linguist
im specifischen Sinne, der andere mehr als lebendiger Kenner der Gegenstände
und ihrer practischen Beziehungen zum Leben und zur Geschichte zu bethätigen
haben. Aber jeder wird dafür Sorge tragen müssen, daß er die Seite, die
in ihm die weniger stark angelegte ist, durch umfassende und methodische
Anlehnung an die Thätigkeit anderer verstärke.
Der Verfasser von „Roß und Reiter" gehört zu der unter unsern Fach¬
genossen seltener vertretenen Kategorie, die sich kraft natürlicher Neigung und
berufsmäßig geforderter Bildung mit Entschiedenheit der reellen Seite seines
Gegenstandes zuwendet. Aber er hat auch alles gethan, um der formellen,
der sprachlichen Begründung desselben gerecht zu werden. Er ist kein Linguist
vom Fache, trotzdem ist es ihm nur selten begegnet, entweder wirklich vor¬
handene sprachliche Bezüge, die zur Erhellung seiner Bilder oder zu ihrer
eigentlichen Beseelung nothwendig, mindestens sehr dienlich wären, nicht zu
bemerken, oder auch sich zu nicht bloß gewagten, sondern über die Grenzen
des wissenschaftlich Möglichen hinausgehenden Combinationen und Folgerungen
verleiten zu lassen. Von letzteren wollen wir einige Beispiele, nicht um das
Verdienst des Forschers zu schmälern, sondern nur als Belege, die für ihn
und andere in gleichem Falle nicht ohne Nutzen sein können, anführen,
während wir für das erstere auf Ergänzungen unsererseits verzichten. Denn
im Grunde hat Niemand das Recht, einen Autor für das verantwortlich zu
machen, was er nicht gegeben hat, sondern bloß nach der Meinung seiner
Leser oder Kritiker wohl hätte geben können oder sollen. Die Verant¬
wortlichkeit beginnt erst mit dem wirklich Geleisteten und für dieses ist sie aller¬
dings eine unbegrenzte.
Dahin gehört, wenn der Orts- und Familiennamen Heldrit mit jenem
edelen Thiere in sprachliche und dadurch auch sachliche Verbindung gesetzt wird,
dem der Verfasser begreiflich so viel Ehren als möglich zuwenden will. Er
knüpft zunächst an das in der Edda, im Wafthrudnismal 18 überlieferte,
V!Ar!är (denn so und nicht ViZM ist die dortige Namensform). Dieses nordische
V. ist das Feld „auf dem sich im Kampfe (v!gi) finden Surtr, der verzehrende
Feuerdämon und die freundlichen Götter", also die letzte Wahlstatt, die des
Weltunterganges. Die bloß aus der Sache selbst geschöpfte, man möchte
sagen rein rationelle oder rationalistische und insofern relativ nicht alte,
wenigstens nicht uralte Entstehung dieses mythologischen Ausdrucks liegt auf
der Hand. Er ist, wie unzählige andere der Edda nichts weiter als das
Ergebniß speculativer Abstraction, die sich in die besondere Gestaltung des
germanischen Heidenthums im Norden zuletzt eindrängte. Schon deshalb wäre
es kaum zu glauben, daß er sich auch auf deutschem Boden fände, denn dieser ist,
so lange er noch dem Heidenthum gehörte, von solcher gelehrten oder gelehrt
sein wollenden Verbrämung ganz frei geblieben. Eine spätere Uebertragung
wäre vollends undenkbar. Aber rein linguistisch genommen, stehen noch
größere und geradezu unüberwindliche Schwierigkeiten im Wege. Held, der
erste Theil des zweigliedrigen deutschen Wortes, sollte dann als die Ueber¬
setzung oder Uebertragung von Vig gelten; falls man Held in dem auch uns
noch geläufigen Sinn, sieghafter Kämpfer, nimmt, scheint dieß möglich. Ein
Blick aber auf die zahlreichen Ortsnamen, in denen dieses Held in der ältesten
Zeit erscheint, ergiebt, daß es damit nicht identificirt werden darf: es scheint
eine andere sachliche Bedeutung gehabt zu haben, ob wie Weigand will, die
von Hütte, die nachweislich auch in der gewöhnlichen Sprache des 11. Jahrh,
noch besteht, oder ob es mit dem Stamme unseres noch jetzt geläufigen
„Halde" etwas zu thun hat, lassen wir dahin gestellt. Der zweite Theil der
Verbindung kann aber durchaus nicht mit dem nord. Mr zusammengebracht
werden, er müßte denn jetzt „Reit" lauten. Ueberdieß ergiebt die urkundliche
Schreibung des fraglichen Stammes wenigstens für dessen zweiten Theil
sofort die richtige Erklärung. Er lautet nämlich „riet" unser noch jetzt
lebendiges „Ried", was wir in den verschiedensten Umformungen an un¬
zähligen Ortsnamen oder auch allein als selbständigen Ortsnamen zur Be¬
zeichnung der Bodenbeschaffenheit finden. Damit fällt die ganze Combination,
denn ein für den Kampf geeignetes Ried hat wenigstens mit dem Rosse nichts
zu thun, und ist überhaupt, wie ein Cavallerist am besten weiß, eine bedenk¬
liche Wahlstatt. Uebrigens wird der immerhin dunkele erste Theil des
Wortes, um dieß nur gelegentlich zu bemerken, nach der ältesten urkundlichen
Schreibung weder mit „Hslä, dsros", noch mit „II. tuZurium" etwas zu
thun haben. Der Name lautete ursprünglich Helriöt und das d ist wie so
oft in deutschen Mundarten nur zur Bequemlichkeit der Aussprache später
angeschoben. —
Ebenso wenig wird sich die versuchte Jdentificirung oder Anlehnung von
Hube oder Hufe an Huf, Pferdehuf und insofern die Erklärung jenes Agri-
culturausdruckes aus der symbolischen Bedeutung des Hufes rechtfertigen
lassen. Hube ist deutlich z. B. das griechische xH?r-i?, und hat ursprünglich
auch einen sehr verwandten Sinn, wenn man nur das griechische Wort nicht
mit unserm „Garten" übersetzt, wobei wir immer zunächst an eine zur Lust
des Auges bestimmte eigentlich dem Luxus und nicht dem Bedürfnisse dienende
Anlage denken. Auch das griechische Wort besagt nichts weiter, als ein
besonderes ausgeschiedenes Stück Land, das eben deshalb unter Umständen
auch das sein konnte, was wir Garten nennen. Genau dasselbe besagt unser
Hufe: es ist ein Complex von Ackerland, wahrscheinlich immer nicht bloß durch
ideale, sondern durch sehr reale Marken von dem übrigen Gefilde getrennt,
d. h. ursprünglich meist eingezäunt, wie noch jetzt so viele Feldstücke in unsern
Waldgebirgen, zugleich aber auch dem intensiven Ackerbau des Einzelhoses
(Mnsus) gewidmet. Wo sich die Anfänge dessen, was wir jetzt Garten nennen,
schon in unserer ältesten Vorzeit etwa entwickelt haben mögen — es scheint
aber, als wenn dieß überall erst unter dem Einfluß römischer landwirt¬
schaftlicher Vorbilder geschehen sei — gehört natürlich der Garten auch zur
Hufe und löst sich erst später von ihr, je mehr sie selbst bei den veränderten
Gewohnheiten in der Benutzung und Vertheilung des Grundeigenthums ein
antiquirter Begriff wurde und je mehr die Gartencultur im Fortschritt der
äußeren Civilisation an selbständiger Bedeutung gewann. Huf dagegen gehört
deutlich zu dem Stamme, den wir in unserem Zeitwort „heben" noch in seiner
einfachsten Gestalt übrig haben. Ob aber Hufe und Huf zuletzt auf eine und
dieselbe, im Urgrund der Sprache ruhende Wurzel zurückzuführen seien, ist
für diesen Fall gleichgiltig. Jedenfalls fehlt dann erst recht jede Beziehung
an^ das Roß. —
Anderes, was uns wohl auch noch bedenklich erscheint, wollen wir nicht
weiter heranziehen. Die angeführten Beispiele, bei denen wir etwas aus¬
führlicher zu verweilen uns nicht entschlagen konnten, sollen freilich nicht dazu
dienen, das überall sichtbare Bestreben des Autors, sich aller durch die Wissen¬
schaft ihm gegebenen linguistischen Hilfsmittel zur Belebung seines Stoffes im
vollsten Umfang zu bedienen, herabzusetzen oder an dem Fleiße und der Sorg¬
falt, mit der er sich auf einem ihm ursprünglich fremden Gebiete, sattelgerecht
erweist, irgendwie zu mäkeln, aber sie mögen doch für ihn und andere, die
in seinem Falle sind, als eine gelinde Ermahnung zu möglichster Vorsicht
und Bescheidung an ihrer Stelle sein. Wir würden es dankbar erkennen,
wenn unsere Bemerkungen in diesem Sinne, in demselben, dem sie entstammen,
auch aufgenommen würden.
Es ist leicht zu begreifen, daß die Sprache mit um so größerer Genauig¬
keit und Ausführlichkeit den Dingen gegenüber verfährt, je mehr diese dem
Volksbewußtsein an das Herz gewachsen, oder was meist dasselbe sein wird,
in die Bedürfnisse und den Gebrauch des täglichen Lebens verflochten sind.
Darum ist es nicht zu verwundern, daß es möglich war, drei und sechzig ver¬
schiedene Pferdenamen, d. h. solche, die als Appellative zur Bezeichnung des
ganzen Thieres dienen, zusammenzubringen. Sie stammen aus den verschiedensten
Zeiten und aus den verschiedensten Gegenden unseres Landes. Auf einmal
und an einer Stelle ist immer nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil davon
in Gebrauch gewesen, etwa höchstens ein Drittel davon, die übrigen würden
anderwärts und zu anderen Zeiten ebenso fremdartig geklungen haben wie
persische oder arabische Wörter. Der Forscher dagegen, dem es um die Er¬
kenntniß der deutschen Volksseele in ihrer Totalität zu thun ist, ist vollkommen
berechtigt, sie alle als deutsches Eigenthum anzusprechen, gerade so wie er auch
auf anderen Gebieten alle particulciren oder von der Zeit weggespülten Ge¬
bilde des deutschen Wesens als lebendige Bestandtheile desselben verwerthet.
Unter diesen drei und sechzig Namen sind drei und zwanzig, so viel man in
ihre Urbedeutung hineinsehen kann, von der Bewegung, als von der hervor¬
ragendsten körperlichen Eigenschaft des Thieres, entnommen, fast ebenso viel
beziehen sich auf die Geschlechts- und Altersunterschiede, eine kleinere Zahl auf
die Gestalt, einige auf die Stimme, das Gewieher, noch einige auf besondere
Eigenschaften, die nicht dem Individuum, sondern der Gattung zukommen.
Freilich sind unter diesen Namen eine nicht geringe Anzahl von entschieden
fremden, die erst durch auswärtige Cultureinflüsse in Deutschland eingebürgert
werden konnten. Hierin spiegelt die Sprache das Sachverhältniß zutreffend
ab. Denn, wie wir noch weiter zu bemerken Gelegenheit haben werden:
keines unserer wichtigsten Hausthiere ist in seinem ganzen BeHaben und in
der Art. wie sich der Mensch zu ihm verhält, so stark von der Mode des
Tages berührt, wie das Pferd. Schon darum darf es mit Recht als das
edelste und vornehmste von allen gelten, als dasjenige, was sich dem Menschen
in seinem Verhältniß zu den Culturbewegungen am nächsten stellt. Auf diese
Weise kann es nicht auffallen, daß selbst unsere populärste Bezeichnung, das
Wort „Pferd" dem spätlateinischen xaravereZus entlehnt, aber freilich nach
Inhalt und Form so angedeutscht ist, daß der naive Sprachinstinct es unbe¬
denklich als einheimisches Gut ansieht. Freilich erst seit einer verhältnißmäßig
d. h. nach geschichtlichem Maße kurzen Zeit, denn noch während des Mittel¬
alters ist sein wohlbekannter und vielgebrauchter sprachlicher Vorgänger xterkrit
(worin noch sehr deutlich die fremde Vorlage nachklingt) Msrit, xtert ein
Luxusthier, das zunächst nur innerhalb der Kreise des höfischen Lebens ge¬
bannt und gebraucht wird. Es ist das zum Reiten auf der Reise für die Ge¬
bildeten jener Zeit dressirte Thier, also mehr oder minder im Gegensatz zu
dem Streitroß und dem Ackergaul selbst die gebildetste Figur innerhalb der
ganzen Gattung. Seit dem Zusammenbruch der echt mittelalterlichen Bil¬
dung, „des höfischen Lebens", ist der Ausdruck wie so viele andere der feinen
Moden in gröbere Hände übergegangzn und dadurch von selbst vergröbert
worden. Merkwürdig aber bleibt es immer, daß doch ein großer Theil des
eigentlichen Volkes sich gegen dies Fremdwort spröde verhalten hat: im Süd-
öfter hat es das echt deutsche Roß nicht zu verdrängen vermocht und ebenso
wenig im Nordwesten das in seinem Ursprung freilich sehr zweifelhafte Page.
Es ist bemerkenswerth, daß diese beiden altdeutschen Namen gerade da
hafteten, wo das Volksleben überhaupt am geschlossensten sich in seiner ange¬
stammten Eigenart behauptete. Denn altdeutsch darf man wohl auch Page
nennen, weil es, wenn es nicht deutsch sein sollte, jedenfalls vordeutsch ist
und zwar aus einer ethnographischen Vergangenheit, in die bis jetzt kein Licht¬
strahl der Wissenschaft zu dringen vermag. Nicht einmal unsere allzeit fertigen
Keltomanen haben es bisher gewagt, das seltsame Wort für sich zu bean¬
spruchen. — Das naturwüchsige Bauernthum des Südostens, das Landvolk
bayrischen Geblütes südlich von der Donau, weiß noch jetzt nur von Pferden
in der Stadt, während es selbst nur mit Rossen zu Acker oder zum volks-
thümlichen Rennplatz zieht, den noch keine albernen Marotten und geckenhaften
Nachäffungen des „Sport" verunzieren. Ebenso kennt das niedersächsische
und niederfränkische Bauernthum, an Kraft und derber Vierschrötigkeit des
Charakters jenem bayrischen ebenbürtig, aber in den äußern Formen und in
der Gemüthsstimmung etwas weicher oder humaner geartet, eigentlich nur
jenes „Page", was denn auch in so viele Orts- und Personennamen (Pagenstecher
vom ersten deutschen Parlamente her z. B. wohlbekannt) übergegangen ist. Erst
die alles Alterthümliche mit ihrem scharfen Zahn zernagende Gegenwart scheint
auch dies „Page" anzutasten, wenigstens beginnt es in einzelnen Strichen,
in denen es heimatsberechtigt ist, schon für ein Pferd niederen Ranges, also
nicht mehr als allgemeiner und insofern neutraler Gattungsname zu gelten.
Dies wäre der erste Schritt zu seiner völligen Verdrängung. Denn ist ein
solches Wort erst einmal in den Winkel der Verächtlichkeit geschoben, so
schämt sich einer nach dem andern es zu gebrauchen, bis es ganz verschillt,
oder höchstens noch einmal als Schimpfwort aus der erregten Tiefe des Ge¬
müthes hervorsprudelt. Das oberdeutsche Roß haftet noch fester, wozu mit
beitragen mag, daß es in dem höheren und höchsten Stil des schriftgemäßen
Ausdrucks eingebürgert ist. Aber mehr noch wirkt dazu doch die ethno-
graphische Individualität jenes bayrischen Stammes. Sie ist ohne Frage am
wenigsten unter allen deutschen von den Strömungen der allgemein deutschen
Bildung und Mode berührt, im Guten wie im Bösen noch am meisten auf
sich selbst und ihre eigenen alterthümlichen Jnstincte gestellt. Die niederdeutsche
Volksart ist schon durch die Berührung mit der See und vielleicht noch mehr
durch den Protestantismus, der sie zwar nicht ganz besitzt, aber doch in ihr
so fest und tief wie nirgends anders sitzt, um vieles aufgeschlossener und den
Mächten des geistigen Fortschrittes zugänglicher.
Wo aber das fremde Pferd nunmehr volksthümlich und insofern echt
deutsch geworden ist, da finden wir uns auf dem auch sonst allen fremden
und einheimischen Cultureindrücken zugänglichsten Gebiete unseres Vaterlandes.
Es ist der breite mittlere Strich, den Riehl einst zum Erstaunen mancher, die
nur ein Süd- und Norddeutschland kannten, als eine selbstständige ethno¬
graphische und Cultur-Gruppe entdeckt hat, eine Entdeckung, die freilich nicht
so schwer zu machen war, und die auf keinen Fall zu jenen wunderlichen
Triasmarotten mancher unserer jetzt glücklich verschollenen doctrinären Politiker
umgefälscht werden durfte. Es sei uns dabei noch die Bemerkung vergönnt,
daß der fränkische Ortsname Pagenhardt, den unser Autor mit dem nieder¬
deutschen Page in Verbindung setzen will, keineswegs etwas damit zu thun
hat. Denn nach der Mundart würde er unfehlbar Pfagenhardt lauten müssen,
und was noch entscheidender ist, die Mundart kennt ja in dieser Landschaft
das Wort überhaupt nicht. Es bliebe also nur die Annahme niederdeutscher
Kolonisation und Namengebung übrig, für die es an jeder Spur fehlt. Die
einfachste Erklärung knüpft an den in unsren Waldraum so oft wiederkehren¬
den Ausdruck „Streitwald, Zankstück" und sieht in Pagenhardt, was sprachlich
dasselbe bedeutet, nichts als eine auf die benachbarte menschliche Ansiedlung
übertragene Waldbezeichnung, etwa wie Lindenhardt, Buchwald und dergl.
bekannte Ortsnamen geworden sind.
Jedenfalls aber ist mit Recht von unserem Autor hervorgehoben
worden, daß der oder die Namen des Rosses in unendlich zahlreicherer Fülle
zu Ortsnamen verwandt sind, als die der andern Hausthiere. Auch hierin
spiegelt sich die besondere Liebhaberei des Volksgemüthes für dieses eine Thier,
gerade so wie die genau damit zusammenhängende Beobachtung, daß, während
alle andern an sich indifferenten Hausthiernamen, man denke an Ochs, Hund,
Schwein, an und für sich schon als arge Schimpfwörter gelten, sobald sie
auf Menschen übertragen werden, die Namen des Pferdes nie in solcher Weise
verwandt werden, sondern im Gegentheil, wie „Pferdegedächtniß", „Pferde¬
arbeit" u. s, w. darthun, eher im lobenden, wenigstens nur im verstärkenden
Sinne als sog. Volkssuperlative, d. h. als eine der naiven Phantasie zugänglichere
Steigerungsform im Gegensatz zu der abstract abgeblassten der gewöhnlichen
Comparation durch Ableitungssilben am Ende des Wortes. Dabei ist
nicht zu übersehen, daß der alte allgemeinste Name „Roß" noch jetzt in seinem
Dasein als Ortsname oder Name von Oertlichkeiten (Berge, Wälder, Flüsse,
Bäche) seine ehemalige Oberherrschaft auch da bezeugt, wo er jetzt gar nicht
mehr in der Mundart des Volkes existirt und dieser ebenso fremdartig vor¬
nehm gegenüber steht, wie es etwa das alte pkaeiit im 12. und 13. Jahr¬
hundert an derselben Stelle einst gethan haben mag, Dutzende von Roßbach,
Roßau, Noßfeld, Roßberg, Roßthal (jetzt in Roßstall durch die unglückliche
Etymologie moderner schriftgelehrter Beamten verkehrt) beweisen dies, die durch
ganz Mitteldeutschland zerstreut sind. Der Bauersmann, der seine Heimath
in diesen Orten hat, kann, wenn er über die Bedeutung ihrer Namen jemals
nachdenken sollte, was er wahrscheinlich nie thut, so wenig wie über die Ety¬
mologie und Geschichte seines eigenen Namen Michel oder Hans, sich das Räthsel
höchstens nur aus der Bibel Luther's oder aus dem Gesangbuch lösen, worin
noch das Roß seinen Ehrenvorzug vor Pferd behauptet.
Ueberhaupt haben nur drei andre Thiere sich so massenhaft zur Namen¬
gebung unseres Alterthums geeignet erwiesen, wie das edelste Hausthier. Es
sind die drei furchtbarsten und insofern vornehmsten ungezähnten und un¬
zähmbaren Herrscher der Wildniß, der Bär und Wolf von den Vierfüßlern,
der Adler, d. h. von der älteren Sprache gewöhnlich in der einfachen Form
Ar, Am oder Arndt verwendet, von den Bewohnern der Lüfte. Diese drei dienen
auch, was noch bemerkenswerther ist, in überschwänglicher Fülle zu Namen
der Menschen und Beinamen der Götter, niemals aber ist diese höchste Ehre
einem der Namen des Rosses zu Theil geworden. Doch wohl, weil es trotz
seiner adeligen Stellung, die es den andern thierischen Hausgenossen gegenüber
stets von der fernsten Urzeit bis auf den heutigen Tag behauptet, immer nur
ein Hausthier, ein Knecht des Menschen war, wogegen sich jene dem Menschen
an sich feindlichen Gesellen eben dadurch als überlegen und insofern als von
noch reinerem oder vornehmeren Blute erweisen. Unsere Volksseele steht hier
unter der Macht einer ganz andren Stimmung als z. B. die griechische. Das
griechische Philippos (Pferde- oder Roßlieb), Hippokrares (Roßgewaltiger) und
Hunderte ähnlicher Bildungen haben auf deutschem Boden keine Parallelen.
Höchstens das mythische Heroenpaar, Hengist und Horsa, könnte zur Noth
damit verglichen werden, in denen das heilige Stammessymbol der Sachsen,
das springende weiße Roß, gleichsam menschlich substanziirt erscheint. Denn
alle die mit Mare oder Mar zusammengesetzten Namen, von dem ältesten
streng geschichtlichen Maroboduus an, werden mit dem altdeutschen Stamme
Mar, d. h. doch wohl Mars. der später allerdings gewöhnlich mit verhärtetem
Endeonsonant als Mark auftritt, nichts zu thun haben, selbst wenn dieses
Stammwort ursprünglich der deutschen Sprache angehört, und nicht, wie die
jetzt überwiegende, uns jedoch unrichtig scheinende Meinung ist, erst aus dem
Keltischen importirt sein sollte.
Unsere jetzigen Familiennamen zeigen freilich eine große Zahl von Be¬
ziehungen auf Namen des Rosses. Dieses Wort selbst ist häufig genug als
solcher gebraucht — Pferd so viel wir wissen, niemals. Noch mehr Zusammen¬
setzungen oder Ableitungen davon, wie Roßberg, Roßkranz, Roßtäuscher oder
wunderlich verballhornt — deutscher, Roßmäßler (soviel wie Pagenstecher, Ro߬
schlächter, eigentlich der Roßfleisch (Maß) zur Benutzung bringt) Noßhirt,
Rößler:c>, ebenso von Mars, wie Mähr, Marheinecke, Mahrzahn ze,, und
den andern Pserdenamen. Aber sie sind alle keine nomina im altrömischen
Sinne, sondern bloße eoguomiug. meist von der Beschäftigung hergenommen,
wie so viele tausende unserer übrigen Familiennamen, oder Spitznamen, neben
denen der wirkliche erlosch, wie bei Roß. Mähre, Hengst, Stute, oder auch mit
fortgeführt wurde, wie bei Marheinecke, d. h. Pferdeheinrich. —
Um so reicher hat aber unsere Volksphantasie in der Erfindung von
Eigennamen für das Lieblingsthier gewaltet, wie immer, in dem Bestreben,
dadurch das Individuum der Seele möglichst nahe zu bringen. Es wäre an
sich schon ein lehrreiches Stück Culturgeschichte, -wollte man uns diese vom
grauesten Alterthum bis heute in Cirkulation befindlichen Pferdenamen in
ihren vollen geschichtlichen Beziehungen erörtern. Welch andere Welt öffnet
sich, wenn wir dem „ersten aller Rosse", jenem Sleipnir des Göttervaters,
wörtlich dem sanft dahin gleitenden — weil er fast immer nur in den Lüften
und auf den Wolken fährt — begegnen, oder jenein Hrimfaxi, dem Reif-
mähnigen, jenem Gulltoppr, dem Goldgelockten. — Dagegen in der Zeit der
höfischen Bildung, die ähnlich wie das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert
so stark französisch augelackt ist, tauchen auf einmal dafür Namen auf wie
Volatin, Bonthart, Entereador, die das altheimische in den Hintergrund
des elementaren Volkslebens zurückdrängen, weshalb dann auch der Volks-
thümlichste, nicht salonfähige Held Dietrich von Bern noch sein gut deutsch
benanntes Roß. Belebe, Blässe reitet, dagegen der schon ganz in den höfischen
Aether erhobene Rüedeger von Bechelaren den Boimunt. was freilich, wie
uns überliefert wird, ein alter normannischer d. h. also wohl nordisch ger¬
manischer Riesenname sein soll, aber so wie er im Mittelalter auch in Deutsch¬
land cursirte, nur aus dem Mund der französisch sprechenden und ganz zu
Franzosen gewordenen Nachkommen Hrolfs vernommen werden konnte. Dazu
als neueste Paradestücke der blasirten Geschmacklosigkeit unsere hochfeinen
Sportsnamen, wie Moawija, Tamerlan, Lady Jane, Lohengrin, eine grausen¬
hafte Konfusion aller möglichen Anklänge aller möglichen und unmöglichen
Zeiten und Nationen. Daneben die schlichte, beinahe nüchterne Bescheidenheit
in den allgemein üblichen Pferdenamen unter dem Volke: Schimmel, Fuchs,
Rappe, Blässe :c. oder ein Hans, Grete. Liese, — charakteristisch genug doch
auch hier, so weit es Eigennamen von Menschen sind, meist fremdes Gut,
wenn es auch nicht mehr als solches verstanden wird, und nur das ebenso
populäre „Fritz" aus dem deutschen Sprachvorrath geschöpft. Die unermeßliche
Gewalt, welche das Fremde, die fremde Mode, sowohl wie die fremde Cultur
zwei Dinge, die oft identisch, oft aber geradezu entgegengesetzt sind — auf
das deutsche Volksthum, aus die deutsche Volksseele geübt haben, läßt sich an
solchen scheinbar kleinen Zügen^fast noch deutlicher, jedenfalls handgreiflicher
darthun, wie in dem. was man die großen Interessen des Volkes und das
Großleben der Geschichte zu nennen Pflegt. Ochse und Schwein, im minderen
Grade der Hund, weil auch er theilweise zum Luxusthier sich hat umformen
lassen müssen, sind freilich von diesem seltsamen Anflug aus allen Ecken der
ethnographischen Windrose bewahrt geblieben, aber dafür waren es immer
nur „gemeine Thiere", ähnlich wie auch das gemeine Volk am spätesten und
zufälligsten von dem fremden Lack der Mode oder Bildung zu genießen be¬
kommt.
Ausnahmen von diesem Gesetze sind zuzugeben: gerade bei „Roß und
Reiter" werden wir auf eine der merkwürdigsten geführt. Wir denken an
den Genuß des Fleisches von diesem Thiere, das doch einst, wie man weiß
und wie unzählige geschichtliche Zeugnisse darthun, obenan unter den Lieblings¬
speisen unserer ächt nationalen Küche stand. Gegenwärtig widerstrebt dem
ächten Volke nichts so sehr wie „Pferdefleisch« trotz aller Roßschlächtereien.
Pferdefleischessender Vereine und ihrer glänzenden Diners mit den ellenlangen
Menüs aus puren Bestandtheilen ihres gastronomischen Cultusgegenstandes
zusammengesetzt. Der wahre Mann aus dem Volke — wozu Niemand die
kosmopolitisch zerfahrenen Proletarier unserer Großstädte, die Affilirten der
Internationale, rechnen wird — entschlösse sich wohl noch eher zu einem Hunde
oder sogar Katzenbraten, wenn es durchaus Fleisch sein soll, und das ordonanz-
mäßige „Huhn im Topfe" d. h. ins Deutsche übersetzt, das richtige Stück
grünes oder geräuchertes Schweinefleisch nicht zu erschwingen ist. Ebenso be¬
kannt wie die Thatsache der einstmaligen Sitte des Pferdefleischessens ist auch
die Geschichte seiner Verdrängung. Die Kirche hat hier etwas erreicht, was
ihr auf dem innern Gebiete im Bereiche sittlicher Regungen des Herzens und
des Empfindungslebens niemals gelungen ist, nämlich eine totale Sinnes¬
änderung des deutschen Menschen. Es ist ihr schwer genug damit geworden
und sie kann auf diesen Triumph beinahe ebenso stolz sein, wie auf die von
ihr durchgesetzte Gewöhnung der Laien sich von ihr zehnten zu lassen. Freilich
der Zehnte hat seine stark reale Seite und selbst wenn er nicht schon von
Moses geboten gewesen wäre, würde ihn der sprichwörtliche gute Magen der
Kirche immer als erste Christenpflicht empfunden und verlangt haben. Das
Pferdefleisch dagegen steht mit den kirchlichen Finanzen in keinem sichtbaren
Zusammenhang, und daß sich unsere ältesten Bekehrer und ihre Nachfolger
dennoch so viel Mühe gegeben haben, es von dem deutschen Tisch zu ver¬
bannen, beweist, daß sie unter Umständen auch ästhetischen Regungen zugäng¬
licher sein konnten, als man glaubt. Denn nur solche, ihr eigener durch Un-
gewohnheit begründeter Abscheu davor, hat ihnen die Energie verleihen können,
mit der sie diese Sitte besiegten, nicht das alttestamentliche Speiseverbot, das
z. B. ja auch den von der Kirche oder den Kirchenmännern nicht bloß sehr
gern gegessenen, sondern auch gehetzten Hasen strengstens verpönte. Daß
aber das Volk selbst sich so schnell und gründlich fügte, darf vielleicht als ein
Beweis nicht bloß für seine Hingebung an die Kirche und seine gutmüthig
Gläubigkeit, sondern auch für den richtigen Jnstinct seiner Zunge und seines
Magens gelten. Denn ohne Frage ist es im Vergleiche zu den sonst ge
bräuchlichen Fleischsorten das mindest Schmack- und nahrhafte, so viel au
seine Parteigänger zu seinem Lobe sagen mögen.
Wäre dieß nicht den Eiferern der Kirche zu Hilfe gekommen, so würde
ir oder unere Bauern noeute mit demelbenBeaenerdeei ver
wg
speisen, wie zur Zeit des heiligen Bonifaz oder Columban. Denn daß de
Teufel in seiner Verkleidung mit allen möglichen Attributen und Besitztümern
unserer eigenen volksthümlichen Götter auch der Pferdefuß zu Theil geworde
ist, würde Niemand gehindert haben, sich an Roßschinken gütlich zu thun
wenn er nur besseren Geschmackes gewesen wäre als der Schweinsschinken.
Sonst ist gerade das Verhältniß der deutschen Volksseele zu dem Pfer
so recht darnach angethan, um das Dauernde im Wechsel, die festen und ewige
Typen, welche sie als im wesentlichen immer dieselbe durch allen fremden Wu
wieder herstellt, recht zu veranschaulichen. Denn gewiß, uns gilt das Pferd
nicht mehr als das Reitthier der Götter, wir füttern nicht mehr wie einst,
Herden von weißen Rossen in heiligen Hainen, um aus ihrem Gewieher, ode
aus dem Stampfen ihrer Hufe Orakel zu erhalten. Darüber und über s
vieles andere, was die Naturanschauung der Vorzeit dem edelen Thiere in
liebevoller Ueberschwänglichkeit andichtete und ebendeshalb anbetend verehrte, dürfen
wir jetzt lächeln. Aber dicht neben der so sehr kleinen Schaar der völlig Aufge
klärten und Nüchternen lagert sich unabsehbar über alle Hügel und Thäle
das Heer der minder Gebildeten, der Ungebildeten und ganz Rohen. Und dies
empfinden, wenn man ihre Sprache, ihre Sprichwörter, ihren Glauben —
nicht den angelernten irgend einer offiziellen Kirche, sondern alles das, was
ihre Seele als eine lebendig sie bewegende und stärker als sie selbst wirkende
Macht empfindet — auch nicht viel anders die Natur des Pferdes, als sie
ihre Voreltern zwei tausend Jahre früher empfunden haben. Nur die Formen
diees Glaubens ndeändert,meitnitdurreieTat oder durch den
activen Gestaltungsproceß des Volksgeistes selbst, sondern durch übermächtige
Eindrücke fremder Typen, die sich die reflectirende Langsamkeit und gewissen¬
hafte Schwerfälligkeit des deutschen Wesens da, wo es darauf ankommt eine
fertige Production gleichsam in die Oeffentlichkeit der Weltgeschichte hinaus
zu schicken, zu Nutze machten. Wie überall ist es vorzüglich das westliche
Nachbarvolk, das mit seiner angeborenen Frivolität oder richtiger mit dem
völligen Mangel aller sittlichen Bedenken gegen sich selbst und die eigene ab¬
solute Vortrefflichkeit, stets rasch bei der Hand war, wo es galt irgend eine
Evolution des allgemein europäischen Culturlebens in die Handgreiflichkeit des
wirklich Geschehenen oder Gealtetenumueen. Damit ita der ranöche
Volksgeist von der Natur selbst zum privilegirten Erzeuger dessen gestempelt,
was wir gleichfalls mit einem französischen Ausdruck „Mode" nennen. Eigent¬
lich ist dieser Begriff dem deutschen Gebiete so völlig fremd, daß es unmöglich
ist, auch nur annähernd eine Uebertragung in unsere Sprache zu geben, was
doch sonst mit allen Fremdwörtern — wenn auch nur annähernd — geschehen
kann, falls man sich Mühe darum giebt. Die „Mode", jene ächt französische
Tochter und National-Göttin, wird auch immer nur Frankreich gehören und
durch sie wird es in seiner Art die übrige Welt beherschen, so lange es selbst
eristirt. Denn gleichviel wie stark sich die Andern gelegentlich wenden und
drehen mögen, sie werden diese Ketten doch nie abschütteln. — Diese Mode
hat nun auch, wie sich an einzelnen concreten Beispielen nachweisen ließ und
wie hundert andere beizubringen wären, zwar nicht den Typus, aber die
Formen unseres Verhältnisses zu dem Pferde fast überall unter ihre Zwangs¬
herrschaft gebracht. So weit damit bloß dem Luxus des Lebens und nicht
seinen eigentlichen Bedürfnissen eine begreiflich principiell verkehrte, weil fremd¬
artige oder von außen aufgedrungene Gestaltung gegeben wird, wäre nicht
viel darüber zu sagen. Aber wenn z. B. unsere moderne Manier der Sports,
der Wettrennen nach englischem Muster, in thörichter Verkennung der deutschen
Eigenart, der Besonderheit der Bedürfnisse der Heimath, der Individualität
des deutschen Rosses, wahrhaft zerstörend auf die besten und wichtigsten Eigen¬
schaften von Roß und Reiter nach ächt deutschem Typus wirkt, dann ist es
Zeit zu einer Reaction von Seite derer, die auf der Höhe der practischen
Einsicht die verkehrte Richtung der eingeschlagenen Bahn zu übersehen ver¬
mögen. In solchen Fällen bloß auf die ungestörtere Naturkraft des Volks¬
geistes und die daraus von selbst folgende Reaction der Vernunft zu ver¬
trauen, heißt die Hände aus Trägheit, die an Gewissenlosigkeit streift, in den Schoß
legen. So wenig wir, wenn wir Verstand und Gewissen haben, auf einem viel
höheren und entscheidenderen Felde, dem des religiösen Lebens, uns heute dabei
beruhigen dürfen, daß sich alles von selbst machen werde, und daß es über¬
flüssig sei, das schon leider so tief eingefressene Krebsgeschwür des Jesuitismus
und Mtramontanismus mit dem schärfsten Messer des Operateurs radical
auszuschneiden — so wenig, wenn es erlaubt ist das kleinste oder kleine
neben das größte zu stellen — dürfen alle deutschen Kenner und Sachver¬
ständigen in Bezug auf den edelsten, weil zu den höchsten nationalen Zwecken,
der Vertheidigung des Vaterlandes, unentbehrlichen Genossen des Menschen
müde werden, den Unfug der Mode, der unsere heimische Pferdezucht und
Redekunst untergräbt, an den Pranger zu stellen und ihn nicht bloß mit Wor¬
ten, sondern mit Thaten zu vernichten. Wir andern, die wir ebenso sehr vom
Standpunkte des theoretischen Beobachters der Culturschwingungen im Volks¬
leben, wie von dem des Patrioten, dem alles, was zu der Größe und Eigen-
art seines Volkes gehört, bedeutsam und ehrwürdig ist, dem Gegenstand in
seiner ganzen Wichtigkeit nahe zu treten versuchen, vermögen doch wenig zu
thun, weil der bloße Stubengelehrte hier, wo es sich um die Praxis im emi¬
nentester Sinne handelt, eine ebenso lächerliche Figur spielen würde, wie der
vielberufene „lateinische Reiter" in der Manege oder auf dem freien Felde.
Wir freuen uns, neben den zahllosen andern Bereicherungen unseres
Wissens, die wir aus M. Jähns' schönem Buche gewonnen haben, auch den
Trost mit fort nehmen zu können, daß sich allerdings seit einiger Zeit eine
Wendung zum Bessern vollzieht. Auch hatte der Schaden noch nicht so tief
gefressen, daß dadurch die Leistungen unseres deutschen Pferdes in den großen
weltgeschichtlichen Aetionen. zu denen es in den letzten Kriegsstürmen berufen
war. irgendwie geschmälert worden wären. Auch hier wie überall, wo etwas
Gesundes und Tüchtiges in deutschen Lebensgestaltungen, mögen sie Namen
haben wie sie wollen, unter all dem confusen Wüste einer unklaren und ihrer
Ziele völlig unbewußten Gährungsperiode der deutschen Nation sich erhalten
oder herausgearbeitet hat, gebührt Preußen das hauptsächlichste Verdienst
daran. Preußen hat es verstanden, den Pferdetypus zu pflegen und zu ent¬
falten, der für alle practischen Bedürfnisse, die an die deutsche Nation im
Krieg und Frieden herangetreten sind, sich als der wahrhaft brauchbare und
insofern ächt nationale erwiesen hat. Dem preußischen Pferde gebührt daher
ein voller Antheil an dem Ruhme, den unsere deutsche Reiterei, freilich zunächst
noch populärer als „Cavallerie", sich in Hunderten von Gefechten und Schlach¬
ten im letzten Kriege wieder erworben hat, nachdem ihre Siegeskranze, die sie
aus dem siebenjährigen Kriege zuletzt heimgebracht hatte, schon bedenklich
welk geworden waren. Wir sind überzeugt, daß sie diese ihre Lorbeeren, die
sie gestern erworben, frisch zu bewahren sich bemühen und so bald wieder
einmal die Trompete gegen den Erbfeind oder die Erbfeinde ruft — denn
wo wären wir nicht von Erbfeinden umlagert? — sich ebenso herrliche neue
verdienen wird. Denn die deutsche „Cavallerie" wird, wie sie einst der
Schrecken der Römer und zu jeder Zeit, wo das deutsche Volk seiner selbst
bewußt blieb, allen andern Reitern und Neitervölkern, ebenso den halbthieri¬
schen Ungarn des 10. Jahrhunderts wie den ungarischen Husaren der schlesi-
schen Kriege, überlegen war, auch in allen zukünftigen Kriegen eine große
Aufgabe zu lösen haben, so daß auch hier die ewige „Dauer im Wechsel" sich
bewährt. Denn die abschätzigen Nergeleien doctrinärer Theoretiker, meist bla-
sirter Friedenssoldaten, können jetzt ebenso von der Theorie, wie von der
glänzendsten Praxis gänzlich widerlegt heißen. Alle Verbesserungen der Hinter¬
oder Vorderlader werden der deutschen Reiterei ihre kriegerische Kraft nicht
nehmen, falls sie nicht selbst an ihrem Beruf irre wird. Denn dieser ist ein
durch die Natur der Sache selbst gegründeter und insofern ein ewiger. ES
hat uns überrascht und in gewisser Hinsicht seltsam berührt, daß Niemand
diesen ächten Naturberuf der deutschen Cavallerie energischer und wuchtiger in
Worte gekleidet hat, als der Mann, der bei den Sachkennern als der Regene¬
rator der preußischen d. h. deutschen Cavallerie gilt und den wir Laien mit
den Berliner Straßenjungen nur als die heiter populäre Gestalt des „Vater
Wrangel" kennen. Wie wir werden die meisten Leser dasselbe Gefühl theilen,
wenn sie folgende von Jähns citirte Worte des ehrwürdigen Nestors unseres
deutschen Kriegsheeres sich zu Gemüthe ziehen, von deren Existenz sie gewiß
so wenig wie wir selbst eine Ahnung hatten. „So lange die Schlachtfelder
Unebenheiten und Bedeckungen zeigen, die Ueberraschungen zulassen, so lange
der Pulverdampf eine Wolke über das Gefecht legt, so lange Schlachtenlärm
und Gefahr noch mittelmäßigen Geistern die Entschlußfähigkeit raubt, so lange
unsere Gegner Menschen bleiben, denen eine geschlossen heranstürmende Reiter¬
masse einen andern Eindruck als eine Scheibe macht, so lange darf die Hoff¬
nung hoher, ruhmvoller Thaten, trotz aller erhöhten kantischen Brauchbarkeit
der andern Waffengattungen, bei der Cavallerie nie verschwinden."
Der Verfasser des in der unterstehenden Note angeführten Buches ist der Vater
des „Figaro", und dieser wiederumist wohl der treueste Spiegelder eigentlichen
und echten pariser Journalistik, einer Denkart und Thätigkeit, die im Guten
wie im Bösen außerhalb der großen Seinestadt keinem Seitenstück begegnet.
Ueberall eingeführt, über alle Vorgänge aus erster Hand unterrichtet,
kennt ein durch Talent populär gewordner pariser Journalist das, was man
dort Welt nennt, aus dem Grunde. Ein liebenswürdiger Plauderer, ein
lebendiger Erzähler, theilt er uns dieses sein Wissen in der unterhaltendsten
Weise mit, über deren Vorzügen wir leicht vergessen, daß der leichtsinnige
Patron sonst herzlich wenig gelernt hat, und daß er mit einer Selbstgefällig¬
keit und Dreistigkeit auftritt, die wir bei einem deutschen College» ganz und
gar unverzeihlich finden würden. Er redet selbst in reiferem Alter wie ein
aufgeweckter zuversichtlicher Schulbube schwatzt, wenn der Vater oder Lehrer
nicht dabei ist. Er erzählt alles, was ihm in die Feder fließt, nicht immer
ohne Verschönerung durch Flausen, aber stets ohne eine Spur zögernder
Schüchternheit, gleichviel ob es ihm selbst oder einem Freunde sehr zur Ehre
gereicht. Er rechnet eben auf Nachsicht, und er findet sie nicht bloß bei sei¬
nem nächsten Publicum, sondern auch in der Regel bei uns. Wir nehmen
ihn, wie er ist, und wenn er kein Tugendbild, kein grundgelehrter Hahn ist.
so ist er dafür amüsant. Man mag ihn, wenn man ihn ausgelesen hat. für
einen Schlingel, ja für ein bischen Lump halten, aber ausgelesen hat man
seinen Artikel oder sein Buch, und das passirt bekanntlich manchem Bessern
nicht immer.
Alles Gesagte gilt in besonders hohem Grade vom „Figaro". Er ist
die lebendigste und frischeste der pariser Zeitungen, vielleicht auch die in ihrer
Art am besten geschriebene, zu gleicher Zeit aber die frivolste, dreisteste und
unzuverlässigste, wo es sich um ernste Dinge handelt. Wir erwarten daher,
wenn der Gründer und leitende Geist des Blattes uns hier seine Denkwürdig¬
keiten bietet, gleichfalls jenen Eigenschaften zu begegnen, und in der That,
wenn irgend welche Dinge die Zeitung Villemessant's überbieten könnten an
Leichtfertigkeit, so würde es in diesen Aufzeichnungen geschehen sein. Aber
ergötzlich ist ihr Geplauder und so ergötzlich, so voll von sprudelnder Laune,
von witzigen Schilderungen und allerliebsten Anekdoten, daß wir aus dem
Lachen nicht herauskommen und Lust verspüren, unsere Leser an dieser heitern
Stimmung zu betheiligen, wie hiermit geschieht.
Das Buch zerfällt in zwei Theile, von denen uns der erste Erinnerungen
des Verfassers aus seinem eigenen Leben mittheilt, wogegen der zweite eine
Porträtgalerie ist, die mit Ausnahme des letzten, den Grafen Chambord dar¬
stellenden Bildes lauter Schriftsteller, zunächst Villemot, dann Solar, darauf
Roqueplan und endlich Alexander Dumas, umfaßt.
Seine Jugend verlebte Villemessant größentheils auf einem bei Blois ge¬
legenen Gute seiner Großmutter, einer Frau de Se. Loup, die er mit ebenso
viel Liebe als Geschick zeichnet. Sie war die Landedeldame der „guten alten
Zeit", schier unglaublich unwissend, aber sonst höchst achtungswerth und wür¬
dig. Sie verstand sich aufs Beten und Spinnen, sonst aber auf wenig mehr,
nicht einmal auf die Mode und ihren Fortschritt. Einmal hatte ihr Gemahl
ihr aus Paris einen feinen Hut mitgebracht. Sie setzte ihn nur ein einziges
Mal auf, dann wanderte er in Musselin geschlagen in einen Kleiderschrank,
wo er ungestört fünfzehn Jahre verblieb, nach deren Verlauf die treffliche alte
Frau damit einer jungen Dame ein Geschenk machte, natürlich in der Erwar¬
tung, diesebe werde sich schmücken.
Der Enkel that bei ihr nicht viel mehr, als daß er umherlief, den Vö¬
geln im Walde mit Sprenkeln, später den Mädchen mit HeiratlMnträgm nach-
stellte und seine Jacken und Hosen rasch abriß. Seine Schwester brachte ihm
die Elementarkenntnisse bei. Von höherem Unterricht war nicht die Rede;
denn seine Großmama war der Meinung, daß er zu vornehm sei, um das
Lernen nöthig zu haben. Dagegen studirte er die kleine Welt, in der er lebte,
namentlich den weiblichen Theil derselben, fleißig, und bei diesem Bemühen ge¬
schah es, daß einer von seinen Heirathsanträgen Annahme fand, da er damals
schon das reife Alter von achtzehn Jahren erreicht hatte. Vorher aber war
ihm ein Abenteuer passirt, welches in seiner Komik dem besten an die Seite
gesetzt werden kann, was die humoristische Literatur aufzuweisen hat.
Don Juan de Villemessant hatte sich unter andern in eine verheirathete
Frau aus der arbeitenden Klasse verliebt und durfte derselben Besuche ab¬
statten, wenn der Mann nicht zu Hause war. Ein tugendhafter Nachbar
bekam das weg. schlich sich, als ein solcher Besuch gerade im Gange war, an
die Thür und klopfte. Es wurde nicht geöffnet, jener aber war seiner Sache
sicher, und so blieb er, um eine Entdeckung durch den Mann herbeizuführen,
bis zu dessen Heimkehr an der Thür auf Wache. Der junge Sünder, der in¬
folge dessen nicht entwischen konnte, versteckte sich, als der Mann wirklich kam,
und eine Stunde voll Todesangst war die Folge. Vielleicht hätte es damit
sein Bewenden gehabt, aber das Unglück wollte es anders. Um sich den Schweiß
abzutrocknen, der ihm in dicken Tropfen auf Stirn und Nase stand, griff der
Junge nach seinem Taschentuch, und jetzt ereilte ihn sein Verhängniß. Es
war damals Mode, sich die Fingernagel sehr lang wachsen zu lassen, einer
von diesen Haken erfaßte unglücklicher Weise die Spindel einer musikalischen
Dose, die sich durch Zufall mit dem Schnupftuch in einer und derselben Tasche
befand, und jetzt erfolgte ein Auftritt von allerhöchster Tragikomik. Wie von
einer Tarantel in den Finger gestochen, sprang der zukünftige Gründer des
„Figaro" aus seinem Winkel empor und davon, kriegte von dem betrogenen
Ehemann auf dem Wege zur Thür etliche Ohrfeigen und Fußtritte, wurde
die Treppe hinabgeschlenkert und fuhr schließlich zum" Hause hinaus. Die
verrätherische Schnupftabaksdose aber spielte während dieser ganzen Procedur,
wie wenn sie ihren Besitzer noch obendrein verspotten wollte, ganz vergnüglich
die Melodie von Casimir Delavigne's Parisienne:
,A ti-g-vers le ter, Is den usf datAillous
Narelwns ö, 1a vietoirs l"
Man sollte meinen, daß für einen so gestimmten Nichtsnutz eine Verhei-
rathung mit achtzehn Jahren das Dienlichste gewesen '-wäre. Villemessant
selbst aber sagt uns, daß er nach zweijähriger Ehe ganz eben so schlimm ge¬
wesen wie vorher.
Die zweite hübsche Geschichte, die wir dem ersten Theil der Memoiren
entnehmen, spielt in Nantes, wo Villemessant in den ersten Jahren seiner
Selbstständigkeit eine Stelle bei einer Versicherungsgesellschaft bekommen hatte.
Er ging hier viel mit Bühnenhelden um, und dabei äußerte er sich eines
Tages abfällig über den ersten Liebhaber, der damals am Theater von Nantes
wirkte. Der Director, welcher zugegen war, vertheidigte jenen und meinte, er
möchte doch einmal den Herrn Kritiker an dessen Stelle sehen. Villemessant
erwiderte, das solle ihm werden, und er werde die Rolle besser spielen, als
der Getadelte. „Topp", sagte der Director, „und ich wette 1800 Fras., daß
Sie nicht einmal wagen werden, die Bühne zu betreten." Er wagte damit
nichts, wie die Sache sich auch gestalten mochte. Ging Villemessant auf die
Wette ein und ließ ihn schließlich seine Dreistigkeit im Stich, so behielt der
Director Recht und bekam überdieß 1600 Fras. Hatte Jener dagegen den
Muth, auf den Brettern zu erscheinen, so verdoppelte er dadurch ohne Zweifel
die Einnahme der Kasse für den Abend. Villemessant nahm die Wette an
und sah sich einen Monat zur Einübung auf seine Rolle als Antenor in
dem Vaudeville „Eine Leidenschaft" gewährt. Der Director ging ihm dabei
gefällig und großmüthig an die Hand, that aber zugleich Alles, was in seinen
Kräften stand, um die Wette unter die Leute zu bringen, so daß die Stadt
mehrere Wochen in der größten Aufregung war.
Kopf an Kopf stand am Abend der Entscheidung das Publikum vor
dem Theater, und kaum waren die Thüren geöffnet, so war das Haus auch
schon bis zum Paradies hinauf gepfropft voll Menschen. Die Vorstellung be¬
gann mit irgend etwas, worauf Niemand Acht gab. Dann folgte das Stück,
in dem Villemessant zeigen sollte, was er taugte, und jetzt mag er selbst
weiter erzählen:
„Nunmehr dicht vor das Wagniß gestellt, mit dem einen Fuß schon auf
den Brettern, fühlte ich, wie mir der Muth vor der drohenden Gefahr aus¬
gehen wollte. Ein Krampf packte mich, wie Nebel und Funken fuhr mir's
vor den Augen herum. Ich empfand in den Beinen das nervöse Zittern des
Rekruten, der zum ersten Mal ins Feuer soll, und deutlich hörte ich das
Ticktack meines Herzens, welches wie der Perpendikel einer Wanduhr schlug.
Als ich den Ruf: Vorhang auf! vernahm, stockte mir all mein Blut in den
Adern . . . Die Gardine hebt sich . . . Heda! Sie sind d'ran, schreit mir Einer
in der Coulisse zu. Sie sind an der Reihe. Vortreten, vorwärts... Den
Teufel auch, ich weiß gut genug, daß ich jetzt spielen soll! Aber Furcht und
Aufregung nageln mich an die Stelle. Meine Entschlossenheit schwindet. Na
denn, trete vor, wer's fertig kriegt, ich weiche nicht aus der Coulisse... Da
stürzt einer meiner Freunde meuchlings auf mich los und versetzt mir einen
herzhaften Stoß in den Rücken. Ich kannte drei Schritte nach vorn ... Ich
stehe auf der Bühne. Ich bin richtig da . . . Ein fürchterliches Hurrah begrüßt
mein Erscheinen, der ganze weite Saal zappelt und windet sich in homerischen
Gelächter . . . Und wenn ich hundert Jahre alt würde, nimmermehr würde ich
den Eindruck vergessen, den auf all mein Sein und Wesen der Anblick dieses
Ungethüms mit tausend Gesichtern machte, wie es mich mit glotzenden Augen
anstierte, mich mit Blicken verschlang und mit seinen Operngläsern nach mir
zielte, wie wenn es mich füsiliren wollte."
Noch war jedoch nicht Alles verloren. Unser Held erlangte, während die
Zuschauer sich damit vergnügten, ihn auszulachen, seine Selbstbeherrschung
wieder, und es gelang ihm, seine Rolle ganz leidlich abzuhaspeln. Aber es
stand ihm noch eine Gefahr bevor: nichts Geringeres als ein Lied. Indeß
war er glücklicher Weise nach dieser Seite hin von Natur begabt, auch hatte
er sich bereits vor einem weniger zahlreichen Publikum als Sänger bisweilen
hören lassen, und als es jetzt galt, seine Kunst zu zeigen, sang er kräftig
d'rauf los. Die Zuhörerschaft ermuthigte ihn nun durch Beifallsbezeugungen,
die nicht mehr ironisch gemeint waren. Darauf kamen ein paar Couplets,
die unter Guitarrenbegleitung vorzutragen waren, und hier war das Glück
seiner Vermessenheit abermals gewogen. Die Guitarre war sein Lieblings¬
instrument, und statt sich von einem Geiger des Orchesters mit einem Pizzi¬
cato begleiten zu lassen, wie üblich, begleitete er sich selbst auf einer wirklichen
Guitarre, und zwar mit solchem Erfolg, daß er sich den Applaus des Hauses
wie im Sturm eroberte. Von diesem Augenblick an war sein Sieg entschieden,
und bis zum Fallen des Vorhangs schwamm er förmlich in Triumphen. Er
gewann seine Wette mit bestem Recht, verwendete den Ertrag derselben als
anständiger Mensch, indem er die Schauspieler mit einem Souper regalirte.
und beschloß damit in würdigsten Stil seine Laufbahn als Jünger Thalias.
Später wurde Villemessant nach Paris verschlagen, und irgend ein andrer
Wind lenkte sein Lebensschiff an das Gestade des Journalismus, wo es ihm
Anfangs nicht brillant erging. Aber bald wendete sich das Blatt. Eines Tages
blätterte er bei einem Bekannten, der als Unterredacteur des „Siecle" mit
der Scheere zu arbeiten hatte, in einem Modejournal, und da fiel ihm auf,
wie wenig die ärmliche Ausstattung desselben zu einer Zeitung für elegante
Damen paßte. Sofort regte sich der Geschäftsmann in ihm, das Bild einer
Modezeitung, wie sie sein muß, ging ihm auf. Ein Buchhändler gab die
nothwendigen Gelder dazu her. und kurz darauf stach das neue Blatt, von
seinem Gründer „Sylphide" getauft, in die See, um bald als flottes Fahr¬
zeug Furore zu machen. Villemessant richtete seine Aufmerksamkeit mit ange-
bornem Jnstinct auf alles, was die Anziehungskraft des Unternehmens erhöhen
konnte. Er machte selbst nach allen Richtungen Reclame und verstand die
Reclame in der Form der Annonce in sein Blatt zu leiten. Er ließ die Um¬
schläge desselben parfumiren, er pachtete von de Girardin das Recht, alle
Wochen eine Art Feuilleton in die „Presse" zu rücken, in welchem er alle
Schwänke. Possen, Anekdoten und Wortspiele der „Sylphide" anmuthig grup-
pirte. So aber wurde letztere binnen Kurzem zu einer äußerst lohnenden
Spekulation, und ihr Redakteur stieg schnell aus ärmlichen Umständen zu
verhältnißmäßigem Wohlstand empor, der später, nach Gründung des „Fi¬
garo" zum Reichthum anwuchs, so daß Mllemessant gegenwärtig als drei-
oder vierfacher Millionär zu den am besten situirter unter den Pariser
Zeitungsschreibern gehört.
Der zweite Theil der Memoiren schildert die darin vorgeführten Persön¬
lichkeiten vorzüglich durch Anekdoten, bei denen der Verfasser lediglich seinem
Gedächtnisse folgt und ohne methodische Anordnung des Stoffes rein was ihm
gerade einfällt, erzählt. Was er uns giebt, ist gedrucktes Geplauder. aber er
hat damit vielleicht das interessanteste Buch zu Stande gebracht, welches seit
dem Kriege die Pariser Presse verlassen hat. Er erzählt uns nur von Leuten,
die ihm wohl bekannt waren, und nur solche Dinge, die er selbst erlebt oder
beobachtet hat. Die Folge davon ist, daß seine Mittheilungen eine Frische
und Autenticität haben, die uns reichlich dafür entschädigen, daß sie nicht
vollständig sind. Hier und da begegnen wir in den Einzelheiten kleinen Un-
genauigkeiten, im Ganzen aber sind die Porträts von großer Treue.
Wer in den letzten zehn Jahren die hauptsächlichsten Pariser Zeitungen
gelesen hat, wird sich an August Villemot erinnern. Er war der interessanteste
und zugleich der achtbarste der „enroniquöurs". Immer erschien er in dem,
was er schrieb, als Gentleman. Sein Wijz war eben so groß wie sein Tact
und sein Wohlwollen gegen Jedermann. Er redete auf dem Zeitungspapier
wie ein mit der anmuthigsten Unterhaltungsgabe Beglückter in der Gesellschaft
guter Freunde sprechen würde. Nichts lag ihm ursprünglich ferner, als sich
seinen Unterhalt mit der Feder zu erwerben. Er wußte nicht einmal, daß er
literarische Fähigkeiten besaß, bis Mllemessant ihn um Beiträge für ein Jour¬
nal bat, welches er zu gründen beabsichtigte. Villemot war damals Secretär
am Theater der Porte Se. Martin und kam häufig in das zu diesem gehörige
Kaffeehaus, wo Mllemessant ihn plaudern hörte und bei sich dachte, „wenn
der sein Geplauder niederschreiben wollte, was für ein Journalist würde er
sein?" Villemot lachte herzlich, als ihm diese Idee vorgetragen wurde. Wie
sollte er schreiben, er. der nie eine Feder eingesetzt hatte als in Geschäfts¬
sachen! Aber als der „Figaro" gegründet wurde, ging dessen Herausgeber im
Ernste zu ihm und sagte: „Jetzt ist der große Tag gekommen, und Sie müssen
mir eine Causerie für meine erste Nummer schreiben." Der arme Villemot
war wie aus den Wolken gefallen, er hatte die frühere Andeutung für Spaß
gehalten, aber die Versuchung, die in einem Honorar von zwanzig Franken
für den Artikel lag. bewog ihn. Ja zu sagen.
Indem er dem guten Rathe seines Freundes folgte, schrieb der neuent«
deckte mi-omyueur ganz so, wie er zu seinen Freunden im Kaffeehause sprach,
und gewann damit bald einen Ruf. Er blieb sein ganzes Leben Junggeselle
und speiste regelmäßig bei andern Leuten, da der Reiz seiner Unterhaltung
sehr hoch geschätzt war. Diese Gewohnheit half ihm wesentlich bei seiner
literarischen Thätigkeit, welche, obwohl nicht arm an klugen Gedanken, doch
im Wesentlichen auf der Wiedergabe von Geschichtchen aus dem täglichen
Leben beruhte. Seine eigenen Anekdoten waren übrigens oft so gut als alle,
die er hörte, z. B. die folgende.
Als Theatersecretär hatte er die Stücke im Manuscript zu lesen, welche
junge Autoren zur Ausführung einreichten. Er bemerkte dabei, daß dieselben
meist nicht viel Neues enthielten, wurde allmählig des Durchlesens überdrüssig
und legte die Manuskripte uneröffnet bei Seite. Nun kam eines Tages ein
junger Dramatiker zu ihm, um ihn zu fragen, was über das Stück beschlossen
worden, welches er angeboten hatte. Villemot hatte es noch nicht einmal ge¬
öffnet, aber um den Autor loszuwerden, sagte er, daß er nach Durchlesung
des Stückes die Ansicht gewonnen hätte, daß der Stil desselben sich für dieses
besondere Theater nicht recht eigne ^- der Stil wäre vielleicht zu gut, „mit
einem Worte, man muß sich gewöhnen, so zu schreiben, wie man spricht",
setzte er hinzu. Als der Aspirant sich dadurch nicht werfen ließ, versuchte es
Villemot mit der Behauptung, das Arrangement des Stückes ermangle des
Interesses. Hierauf nahm sein Besuch kaltblütig die Manuscriptrolle vom
Pulte, knüpfte das rosenrothe Band, das sie zusammenhielt, auf und ent¬
wickelte vor dem verblüfften Kritiker ein Heft vollkommen weißen, mit nichts
beschriebenen Papiers. Die Geschichte nimmt ein gutes Ende; denn Villemot
versprach bei seiner Ehre, fortan alles zu lesen, was dieser Dichter ihm vor¬
legen werde, und empfahl später ein Stück desselben dem Odeon, wo es Glück
machte.
Eine andere hübsche Geschichte Villemot's, die uns hier erzählt wird, ist
folgende.
Ein Schiff brachte eine Operntruppe nach Rio de Janeiro. Der Im-
pressario hatte geschworen, daß er nur einen Tenor mitnähme, der eine fabel¬
haft hohe Einnahme haben werde. Eines Tages aber fanden die Sänger
auf dem Deck Lust und Neigung, sich vor einander hören zu lassen, und siehe
da, plötzlich hielten sie inne und sahen sich verblüfft an, denn sie hatten
erkannt, daß sie allesammt Tenöre waren. Auf der Stelle liefen sie zu dem
Impressario, überhäuften ihn mit einer Fluth von wenig schmeichelhaften
Beinamen und fragten, wie er sich habe unterstehen können, sie so zu täuschen.
Er entschuldigte sich, so gut es gehen wollte, und schloß zuletzt mit der Ver¬
sicherung, daß in den ersten acht Tagen nach ihrer Ankunft an ihrem
Bestimmungsorte drei von ihnen am gelben Fieber sterben, zwei andere
während der Proben das Zeitliche segnen würden und daß der einzige Ueber¬
lebende sein definitiver Tenor sein sollte.
Noch hübscher ist die Geschichte von Bixio und seinem Freunde Durand,
die wir in abgekürzter Form nacherzählen. Durand, war Secretär in einem
Bureau der Regierung, ein musterhafter Ehemann mit einer liebenden, aber
sehr eifersüchtigen Gattin, welche ihm aus Furcht vor den Verführungskünsten
der Hauptstadt für seine Gänge von seiner Kanzleistube bis nach Hause durch¬
aus nicht mehr als die unbedingt nothwendige Zeit gestatten wollte. Bixio
begegnete ihm eines.Abends, als er raschen Schrittes zum Essen heimging,
bemächtigte sich seiner und nöthigte ihn, mit ihm bei Vefour in lucullischen
Stil zu tafeln. Man trank reichlich von verschiedenen Weinsorten, die vor¬
trefflich waren, die Unterhaltung war lebhaft, und Durand gestattete dem
Freunde, ihn erst in einen Cigarrenladen, dann ins Theater zu führen.
Dann meint Bixio (!) der die Rolle eines vollkommenen Mephistopheles spielt:
da eine Gardinenpredigt nun doch unvermeidlich sei, so könne sein Freund
das Stück ebenso gut bis zu Ende sehen als nicht. Durand willigt ein, geht
ganz im Interesse an der Vorstellung auf und merkt darüber nicht, daß Bixio,
der sich mit dem Versprechen, bald wiederzukommen, entfernt hat, ziemlich
lange wegbleibt. Dieser benutzt seine Abwesenheit, rasch nach dem Hause
seines Freundes zu fahren, Madame Durand zu sprechen und sie zu fragen,
wo ihr Mann sei. Der Verdruß der Dame ist stark zu spüren, und Bixio
schürt ihn noch, indem er ihr mit höflichen Ausdrücken allerlei sagt, was wie
Trost und Beruhigung klingt, aber in Wahrheit einem ganz entgegengesetzten
Zwecke dient. Endlich verläßt er sie, indem sie immer noch ohne alle Kennt¬
niß des wirklichen Sachverhaltes ist und von wachsendem Verdacht gequält
wird. In das Theater zurückgekehrt, nimmt Bixio wieder von seinem Opfer
Besitz, nöthigt es. nach dem Schluß der Vorstellung bei Tortoni Eis mit
ihm zu essen und hält es dort fest, bis die Kellner die Läden schließen und
von der Polizeistunde zu reden anfangen. Dann empfiehlt Bixio seinem
Freunde nun hübsch ordentlich zu Muttern zu gehen, die der Arme kälter als
das Eis Tortoni's findet, als er ihr Bericht über die Ereignisse des Tages
abstattet.
„Deine Geschichte ist ja allerliebst erfunden, und niemals hätte ich ver¬
muthet, daß Du so viel Erfindungsgabe besaßest", sagt Madame Durand,
indem sie mit kleinen Schritten und drohender Miene auf den über ihren Un¬
glauben erstaunten Secretär zugeht.
„Aber ich werde Bixio als Zeugen aufrufen."
„Wahrhaftig, mein Lieber, Du hast kein Glück; Du wirst ungefähr zwei¬
hundert Personen in Paris kennen" . . .
„Ja, wenigstens", sagt der Secretär.
„Nun denn, von diesen zweihundert Personen wenigstens mußt Du
gerade den Herrn Bixio wählen."
»Ja, und warum nicht?"
„Nun, weil er einen Theil des Abends bei mir zugebracht hat."
„Das ist unmöglich."
„Das ist so möglich, daß Bixio selbst mit Entrüstung von Deinen
Ausschweifungen sprach."
Durand fühlte, wie ihm der Kopf wirbelte, er fragte sich, ob er verrückt
geworden.
Das schlimmste von der Sache aber war, daß trotz aller Vorstellungen
Bixio's Madame Durand niemals ihre Meinung änderte, was zeigt, daß es
leichter ist, Unfug zu stiften, als ihn wieder gut zu machen. Selbst als sie
Wittwe geworden, glaubte sie wol, daß am Morgen nach jener verhängniß-
vollen Nacht zwischen Bixio und seinem Freunde eine Verabredung zur Besei¬
tigung ihres gerechten Verdachtes stattgefunden habe.
Der arme Villemot starb zu Anfang der Belagerung von Paris an
einem Gehirnschlag. Alle seine Freunde schrieben diesen Unfall seiner großen
Angst um das Schicksal Frankreichs und seiner Hauptstadt zu. Mit Ver¬
gnügen erfahren wir, daß seine Feder ihn pecuniär sehr günstig stellte. In
Paris wird man sich seiner wenigstens eine Generation lang als des Muster-
Tagsschriftstellers erinnern, welcher stets interessant zu sein wußte, ohne je die
Achtung zu vergessen, die er sich selbst und den Lesern schuldig war.
Der grenzen- und rücksichtslose Leichtsinn der literarischen Welt von Paris,
welche man mit dem Worte „LoKumiens" zu bezeichnen sich gewöhnt hat, ist
kaum besser beleuchtet worden, als durch die folgende Geschichte, die uns
Villemessant's Buch von Felix Solar, einem der Gründer des Blattes „Epoque"
erzählt.
Solar und sein Mitarbeiter in der Redaction überredete die Besitzer dieser
Zeitung, als Reclame für dieselbe einen riesenhaften Triumphwagen Herrichten
und denselben während des Carnevals von 1847 durch die Straßen von Paris
Paradiren zu lassen. Auf diesem Fuhrwerk wollte man eine Anzahl von Flei¬
scherburschen, Lehrjungen und ähnlichen Leuten gruppiren, welche so heraus¬
geputzt wären, daß sie die Charaktere in den „Söhnen des Teufels", einer
Novelle Paul Feval's, darstellt, welche in dem Blatte erscheinen und mit
dieser Gruppe dem Publikum annoncirt werden sollte. Einige andere
sollten neben ihnen die verschiedenen Berufsklassen repräsentiren, welche
vom Bücher- und Zeitungsdruck leben. Einige schüchterne Seelen wendeten
gegen den Gedanken die ungeheuren Auslagen ein, die seine Verwirklichung
kosten würde. Aber ihre Einwürfe wurden überstimmt und die Ausführung
des Plans beschlossen.
Am Sonnabend schien alles endgültig geordnet, und am nächsten Mor¬
gen sollte der Triumphwagen seine Rundfahrten über die Straßen und Plätze
von Paris beginnen, um sie bis zum folgenden Dienstag fortzusetzen. Da
ward man plötzlich gewahr, daß noch eine unumgänglich nothwendige Persön¬
lichkeit fehlte — ein weiblicher Character, der irgend eine olympische Gottheit
darstellte. Hier aber trat den Herren eine große praktische Schwierigkeit in
den Weg; denn auf der einen Seite mußte man wissen, daß sich nicht leicht
eine achtbare Dame von ansehnlichem Aeußern herbeilassen würde, sich den
Pflichten der Situation zu unterziehen, auf der anderen aber stand man vor
der Unmöglichkeit, sich zu dem Zwecke ein Frauenzimmer aus der nicht tugend¬
haften Classe zu miethen, weil damals in der Person des Herrn Delessert ein
Polizeipräsident mit streng moralischen Ansichten über Paris regierte, welcher
jede öffentliche Schaustellung verboten hatte, die auch nur entfernt gegen An¬
stand und Sittsamkeit verstieß. Man brauchte hier aber nicht blos ein
Frauenzimmer, sondern ein stattliches Frauenzimmer, denn sie'sollte der un¬
umgängliche oberste Hauptschmuck der von Solar erdachten Composttion wer¬
den, indem sie einen Scepter in der Rechten und eine Krone von vergoldeter
Pappe auf dem Kopfe auf dem Gipfel des Wagens Platz nahm.
Der Generalstab der Zeitung befand sich noch im Zustand hoffnungs¬
loser Verlegenheit, als ein Diener eine Dame meldete, die Herrn Solar zu
sprechen wünschte, aber nur englisch reden könnte. Solar prüfte die Karte,
welche sie hergeschickt hatte, und fand auf der Rückseite derselben ein paar
empfehlende Worte von Charles Dickens. Im Verlauf der Unterhaltung, die
nun folgte, ergab sich's, daß die englische Dame, die eine auffallend schöne
Person war, als Anfängerin auf dem Gebiet literarischer Production eine
Novelle geschrieben hatte, die sie übersetzt und in Solar's Blatt veröffentlicht
zu sehen wünschte. Sie wollte gerade wieder gehen, als dem Franzosen eine
glänzende Idee durch den Kopf schoß. Er bat die Dame, noch einen Augen¬
blick zu bleiben und setzte ihr dann auseinander, daß unter der literarischen
Collegenschaft in Paris eine Art von Freimaurerei bestände, in die sie noth¬
wendig aufgenommen zu werden streben müsse.
„Aber ich will ja gern Alles thun, was erforderlich ist", sagte die Eng¬
länderin.
„Nun gut denn, so vernehmen sie, daß morgen alle französischen Schrift¬
steller und einige fremde Sommitäten, Victor Hugo, Balac, Dumas, Scribe,
Musset. Eugen Tue, Theophile Gautier, Lamartine, Meyerbeer, Alphonse Carr,
Paul de Kock. Liszt, Thalberg, Roger de Beauvoir. alle endlich, welche meinem
Journal Zeichen ihrer Sympathie geben wollen, sich zu einer prachtvollen
öffentlichen Procession vereinigen und in Personen des gigantischen Werkes
Paul Fcval's, „I.s ?jls an viable" verkleidet, welches wir in diesen Tagen
in unserer Zeitung zu bringen vorhaben, theils zu Pferde, theils auf einem
glänzenden Triumphwagen, den die Gesellschaft der Schriftsteller uns herge¬
richtet hat, die Straßen der Stadt durchziehen werden."
„Ja, aber welche Beziehung hat das auf mich?" fragte die Engländerin
ängstlich.
„Eine sehr natürliche Beziehung, mein Fräulein. Wenn Ihnen erlaubt
würde, bei dieser rührenden Kundgebung mitzuwirken, so würden Sie sich ge¬
wissermaßen mit allen berühmten Männern Frankreichs in Verbindung setzen.
Von Stund an würden Sie für keinen dieser Herren mehr eine Unbekannte sein,
und da Ihr Name mit denen dieser Sommitäten von den Journalen genannt
werden würde, die über dieses Fest Bericht erstatten werden, so könnte ich" —
Um es kurz zu machen, die unglückselige Dame bestieg, wenn wir Herrn
de Villemessant glauben dürfen, als olympische Gottheit gekleidet, den Wagen
der Reclame-Macher, und zwar in der vollen Ueberzeugung, daß die aufge¬
putzten Leute um sie lauter literarische Celebritäten seien, und daß ihr zugleich
mit dem Sitz unter oder vielmehr über ihnen eine große Ehre angethan wor¬
den sei. Solar hatte die Vorsicht gebraucht, neben sie einen Mitverschwornen
zu setzen, der etwas englisch sprach und so ihre Fragen beantworten konnte,
und da sie kein Wort Französisch redete und verstand, so blieb sie vollkommen
in ihrer Täuschung. „Niemals hätte ich," so bemerkte sie am nächsten Mor¬
gen gegen Solar, „mir gedacht, daß alle diese großen Männer so lustig und
natürlich wären. Meyerbeer und Balzac thaten auf dem ganzen Wege weiter
nichts, als daß sie Brod und Wurst verspeisten, und was Scribe und Victor
Hugo betrifft, so ließen sie den Wagen vor jeder Weinschenke halten."
Wir erfahren noch, daß die leichtgläubige Engländerin niemals über ihren
Irrthum aufgeklärt wurde, und der Autor der Memoiren versichert uns, daß
die Geschichte durchaus keine Erfindung enthält.
Recht ergötzlich sind einige Seiten des Buches, die von einer Manie
handeln, welche man als die chronische Krankheit unseres Zeitalters bezeichnen
kann. Wir meinen, die Einfalt, mit der man sich durch Zeichnungen bei
Speculationen betheiligt, von denen man nicht das Allermindeste versteht.
Dorfpfarrer und andere Leute, die gar keinen Begriff von Geschäften
haben, wollen und müssen durchaus ihr Geld in californischen Gesellschaf¬
ten, Actien halb oder ganz fauler amerikanischer Eisenbahnen oder ähnlichen
waghalsigen Unternehmungen anlegen. Lillemessant giebt uns einen kurzen
Briefwechsel, den er meist mit einen, wackern Priester geführt hat, und der
ein gutes Beispiel für diese Art Bethörtheit ist. Der geistliche Herr
schickte sechs Francs als Subscription auf das Blatt „Chronique" ein und
legte zugleich eine Banknote von tausend Francs bei, die Herr de Villemessant
nach Gutdünken in californischen Bergwerksactien anlegen sollte. Der Empfän¬
ger seines Briefes antwortete ihm, daß die betreffenden Gesellschaften von
Dieben und Gaunern gegründet und verwaltet wären, und sandte ihm seine
Note zurück. Aber der Cure schrieb wieder, dankte ihm sehr für seine Mit¬
theilung und bat schließlich, infolge derselben — blos fünfhundert Francs in
kalifornischen Papieren anzulegen. Das Geld lag richtig dabei. Nichts kann
den Eifer dessen dämpfen, der sich vorgenommen hat, von der oder jener Sorte
Actien zu kaufen, selbst die überzeugendste Belehrung nicht, daß er werthloses
Papier kauft, und Mllemefsant hat am Ende nicht sehr unrecht, wenn er den
Satz aufstellt: „l'^etiormairs est naturöllement 6ikpos6 g, ig, perte." Wir
finden davon in seiner Schrift ein Beispiel in der Person eines Herrn de
Nougon, der als Actionair an der Wochenschrift „Oabinet as leeturs" sich
daran gewöhnt hatte, bei jeder Generalversammlung Nachzahlungen zu leisten.
Endlich aber begab sich's, daß die Actionaire endlich einmal eine Dividende
bekamen, und jetzt ging es in Folge dieser unerhofften Umwälzung lang ein¬
gewurzelter Gewohnheiten im Kopfe Nougon's so durcheinander, daß er sich
zu Bett legen mußte und an seinem Glücke starb.
Nestor Roqueplan hatte gleich manchem andern Theaterdirector ein Grauen
vor dem Durchlesen oder Anhören von Bühnenstücken, die bei ihm eingereicht
wurden, und in seinem Fall war dieses Gefühl so unüberwindlich stark, daß
er nicht einmal Werken von Autoren mit allgemein anerkannten Witz und
Geschmack sein Ohr zu leihen im Stande war. Als Siraudin und Duma-
noir ihre „Vendetta" geschrieben hatten, konnten sie Roqueplan durchaus nicht
dazu kriegen, daß er sich das Stück vorlesen ließ. Da hörten sie eines Tages,
daß er sich bei Auteuil herumtriebe, gingen hin, um sich ihn zu fangen, und
fanden ihn in seinem Garten unter einem großen Baume, wo er fest einge¬
schlafen war. Nicht weit davon war eine Schaukel. Sie nahmen den Strick
davon und banden ihn an den Baum. Natürlich wachte er dabei auf, und
indem er die beiden Poeten vor sich stehen sah, begriff er sofort seine Lage.
„Weiß schon, was Ihr vorhabt", sagte er, „Ihr wollt mir Euer Dings da
vorlesen." Und das thaten sie denn auch. Gelassen verübten sie das ganze
Stück an ihm, worauf Siraudin, der mit Papier und Dinte versehen ausge¬
rüstet war, ihn den Ankaufscontract unterschreiben ließ, zu welchem Zwecke
sie ihm den rechten Arm losbanden. Das Stück hatte sehr großen Erfolg,
und Roqueplan pflegte nach dieser Zeit zu behaupten, daß er es freiwillig
gelesen.
Ein charakteristischer Zug von Roqueplan könnte mit Vortheil von einigen
unsrer Zeitgenossen in Deutschland nachgeahmt werden, z, B, in den Direc-
tionszimmern gewisser berliner Theater. Er hatte die größte Achtung und
Verehrung vor der Reinheit der französischen Sprache und war sofort mit
einer Correctur bei der Hand, wenn seine Freunde gemeine Worte oder un-
gebührliche Abkürzungen sich gestatteten.
Als Villemessant im Alter von ein und zwanzig Jahren von den Ufern
der Loire nach Paris kam und bald nachher die Mittel zur Gründung des
Modejournals „Sylphide" fand, nahm er, wie wir gesehen haben, zu allerlei
Manövern seine Zuflucht, um dem Blatte Leser zu gewinnen. Unter andern
originellen Einfällen kam ihm bei dieser Jagd auf Abonnenten auch der. die,
welche das Blatt bestellten, zu einem Concert einzuladen. Genau bekannt mit Henri
Herz, bat er diesen, ihn zu dem Zwecke auf einen Abend seine Salons oder
doch einen Theil derselben zu vermiethen. Herz lehnte die Vermiethung ab.
erbot sich aber freundlich, ihm die Zimmer gratis zu überlassen. So blieb
nur noch die Schwierigkeit, eine Anzahl bedeutender Künstler zu gewinnen.
Die Sterne der musikalischen Welt ließen sich ohne viel Zögern engagiren,
aber Villemessant überlegte sich, daß in Paris ein Mann lebte, dessen Anwe¬
senheit in seinem Concert, wenn sie auch nur fünf Minuten dauerte, für das
Unternehmen mehr Werth hatte, als alle musikalischen Größen zusammenge¬
nommen.
Dieser Mann war Alexander Dumas, der damals in der vollen Frische
seines Rufes stand. Villemessant ließ den großen Mann durch einen Freund
sondiren und bearbeiten, und siehe da, mit Erfolg, er empfing die bestimmte
Zusage, Dumas werde sich in den Herrschen Salons einstellen. Sein Plan
war also gesichert, er konnte einen literarischen Löwen zeigen, um dann die
Leserzahl seiner Modezeitung zu vermehren. Als der betreffende Abend kam,
waren die Zimmer, wo das Concert stattfand, gestopft voll Menschen. End¬
lich verbreitete sich das Gerücht, daß Dumas aus seiner Kutsche gestiegen,
und die Aufregung, die niemand nach der Plattform der Musiker blicken ließ,
sondern Aller Augen auf die Thür gerichtet hielt, erreichte ihren Gipfel. Als
der sehnlichst Erwartete eintrat, erhob sich die ganze Versammlung von ihren
Stühlen. „Sinais kzouv<zi-g,in x6n6trg,ut A^us une sslls als sveewclö n'a,
pi-oäuit un est Med", sagt Villemessant. Wenn er mit irgend jemand sprach,
fo wurde der glückliche Sterbliche sofort der Zielpunkt aller Opernguker.
Dumas war zu dieser Zeit die erstaunlichste Gestalt in der schönen Li¬
teratur Europas. Seine ungeheuere Fruchtbarkeit, sein gleichmäßiger, über¬
raschender Erfolg in allem, was er in die Hand nahm, seine für die Arbeit
wie für das Vergnügen gleich verschwenderisch ausgestattete Natur, die wun¬
derbare Ueberfülle seiner Erfindung verschafften ihm eine geradezu fabelhafte
Celebrität. Alle Welt las seine Romane, und die Elite von Paris ging in
seine Stücke. Schon in seinem bloßen Namen lag ein magischer Reiz, so daß
einem Schauspiel schon die Aufmerksamkeit eines zahlreichen Publicums gesichert
war, wenn sein Name auf der Ankündigung stand.
Auch äußerlich, in Gesicht und Körperbau hatte er etwas Jmponirendes.
„Wie der Schriftsteller in sich alle Fähigkeiten vereinigte, so war der Mensch
ein Musterbild der physischen Vollkommenheit verschiedener Racen, Er hatte
von Negern das gekräuselte Haar und die vollen Lippen, auf welche das
europäische Element ein feines, geistreiches Lächeln gelegt hatte, von der süd¬
lichen Race hatte er die Lebhaftigkeit der Geberde und Rede, von der Race
des Nordens den soliden Bau und die breiten Schultern. Es war eine
Taille, welche jede Nebenbuhlerschaft zittern ließ, ein russischer Leibgardist mit
französischer Grazie."
Obwohl Dumas der Typus eines Faiseurs in der Literatur war, hatte
er doch in Wahrheit große Gaben. Sein Gedächtniß und seine Erfindungs¬
kraft waren gleich gewaltig, seine Raschheit im Auffassen und Produciren
suchten Ihresgleichen. Aber diese Eruberanz, welche seinem literarischen Schaffen
so sehr günstig war, wurde seinen pecuniciren Verhältnissen verhängnißvoll.
Er war ein heilloser Verschwender. Kein Romandichter, der sich vorsetzt, einen
recht gründlichen Vertilger seines Besitzes zu malen, wird je ein Wesen er¬
schaffen, welches in diesem Fache mehr leistet als Dumas Pore. Eine kleine
Geschichte, die Villemessant uns von ihm erzählt, schildert ihn in dieser Eigen¬
schaft besser als alle lange und sorgfältige Beschreibung.
Eines Tages ging er zu dem Buchhändler Millaud und sagte, er brauche
dreitausend Francs, die jener ihm' Conto eines demnächst zu liefernden Ro¬
manes geben müsse. Millaud willigte ein, doch unter der Bedingung, daß
Dumas sich in sein Cabinet einschließen lasse und ihm da die beiden ersten
Capitel des Werkes schreibe. In drei Stunden waren die Capitel fertig und
Millaud befreite seinen Gefangnen. Dieser aber verlangte sofort noch fünf¬
undzwanzig Louis; denn er hatte von den dreitausend Francs nichts mehr
übrig als zwei Goldstücke. Wie hatte er's aber fertig gebracht, den Rest zu
verthun? Millaud's Cabinet hatte eine kleine Hinterthür, und die hatte er
abzuschließen vergessen. Dumas war hinausgeschlüpft, gewiß nicht auf lange,
denn dafür bürgte der Haufen beschriebener Blätter, den er abgeliefert, dennoch
hatte er's möglich gemacht, in dieser kurzen Zeit so viel Geld los zu werden.
Ein ander Mal hielt er vor einer befreundeten Thür an, um sich hundert
Francs zu leihen. Als er das Haus verließ, bewunderte er einen Topf mit
Essiggurken, die ihm sein Freund dann zum Geschenk machte. Das Dienst¬
mädchen trug ihm den Topf in seine Droschke hinab, und Dumas gab ihr
die hundert Francs als Trinkgeld. Der Reichthum des Hauses Rothschild
hätte sich vor Gewohnheiten dieser Art nicht zusammenhalten lassen, und so
geschah es denn auch, daß Dumas, als er starb, nicht mehr als zwanzig
Francs hinterließ — er, der durch sein Talent und seine unverwüstliche
Arbeitskraft Millionen verdient hatte.
Das letzte Porträt in Villemessant's Galerie ist das des Grafen von
Chambord. Das Capitel von ihm ist eine sehr curiose Illustration von dem.
was an dem kleinen Hofe einer gefallenen Dynastie vorgeht. Schwer läßt
sich eine menschliche Laufbahn vorstellen. die weniger Wohlgefallen und Be¬
friedigung erweckte, als die des Erben einer entthronten Familie, der fort¬
während Besucher empfängt, die mit denselben langweiligen und melancholischen
Schmeicheleien kommen. Wenn der gute Heinrich V. aber Herrn von Ville-
messant empfängt, so erfreut er sich der Abwechselung einer ganz eignen Sorte
von hofmännischer Denkart und Rede. Der Redacteur des „Figaro" betet
den Chef der Bourbonen an, aber er betet ihn mit ganz absonderlicher Frei¬
müthigkeit an. Er sagt z. B. dem Grafen geradeheraus, was für ein hübsches
Gesicht er hat, setzt aber sogleich hinzu, wäre er auch so häßlich wie Papa
Cre'mieux, so würde er, Villemessant, trotzdem seinen legitimistischen Grund¬
sätzen treu bleiben, und übrigens könne er seinen Henri Cinq mehr leiden
als er's eigentlich verdiene. Worauf Henri sogleich zu antworten pflegt:
„Geht mir mit Ihnen ebenso." In der That, kein amerikanischer Interviewer
h
Wir hatten nun genug gesehen von den „?celles Davaiäks" im Theater
Alhambra, in denen die hochgeschürzten Ballerinen beim Tanzen als Augen¬
weide für den „süßen" Mob jedesmal durch Reflexstrahlen von bengalischen
und elektrischem Lichte in allen möglichen Regenbogenfarben colorire wurden,
wir hatten die Princesse de Trebizonde und den „Re'veillon" in dem Musen¬
tempel der prachtvollen Galme Se. Hubert, für welche jeder Brüsseler leiden¬
schaftlich eingenommen ist, ferner im M^aere alö ig, Nonnais die französisch
singende, aber deutsch fühlende Primadonna Fräulein Edelsberger bewundert,
wir hatten die Museen Brüssels, selbst Würtz's hypergeniale Compositionen
im grandiosen Style Ruben's gesehen, hatten täglich unsre Irrfahrten zwischen
dem Lake ach Rille Oolonnss, im Vergleich zu dem unsre deutschen vaUg
wahrhafte Troglodyten-Wohnsitze sind, und dem Oak6 an eorele getheilt,
dessen Name den guten Brüsseler Bürgern eine seltsame Beziehung zu dem
Preußischen Gesetze „sur les cercles" (Kreisordnung) zu haben schien, —
und wollten nun endlich „etwas Anderes" genießen, das einen wohl¬
thätigen Gegensatz zu alledem bildete, und geeignet war, unser ästhetisches
Gleichgewicht wieder herzustellen. Waterloo war die Parole. Freilich
waren die letzten Farbentöne des Herbstes dem Erlöschen nahe. Grau in
Grau schien undurchdringlicher Nebel die Landschaft gespenstig einzuhüllen,—:
aber wir hatten Muth, und ein trotz unsrer löblichen Absichten keineswegs
trockner Sonntagsmorgen sah uns vom Quartier Le'opold, dem fashionablen
Theile Brüssels, mit dem Luxemburger Bahnzüge nach Groenendael hin¬
dampfen. Die englische stage-Coach, welche sonst vom Hotel de Taxe in
Brüssel nach Waterloo abging, war längst „Suppl'lass", weil selbst Engländer
nicht verwegen genug sind, im November-Nebel Schlachtfelder zu besuchen
und dort strategische Studien zu machen. Indessen war uns der Himmel
nicht ganz abhold; von Zeit zu Zeit lösten sich die düstern Wolkenvorhänge,
hörte der feine Sprühregen auf. Groenendael Mit vlämischer Bevölkerung,
anmuthig eingerahmt von waldigen Ausläufern des Sontenbosch, war bald
erreicht; hier bestiegen wir den Post-Omnibus („leg atkuents" nach der offici-
ellen Bureau-Sprache Belgiens) und gelangten in ein und einer halben Stunde
auf den historischen Boden des Schlachtfeldes. In Mont Se. Jean, das an
dem Kreuzungspunkte belegen ist, wo die Straßen nach Nivelles und Genappe
sich von der Brüsseler Chaussee abzweigen, drängten sich uns trotz des schlechten
Wetters Führer auf; wir zogen indessen vor, allein zu gehen; denn wir hatten
den Plan der Schlacht im Kopfe. Mont Se. Jean mit seiner Meierei, die
am Schlachttage als Feld-Lazareth diente, lag unmittelbar hinter dem Centrum
der englischen Defensiv-Aufstellung, die einen Höhenrücken einnahm, der sich
westlich bis Braine l'Alleud. östlich bis Ohain erstreckt. Bei Braine l'Alleud
auf dem rechten Flügel standen die Niederländischen Bataillone unter General
Chasse, dann folgten die Briten unter Mitchel und Clinton sowie die
hannöverschen Landwehrbataillone. Dahinter als Reserve die Braunschweiger.
Im Centrum (bei der Meierei Me. Se. Jean) folgten die britischen Garden
mit der Division Alten, dann die hannöverschen Feldbataillone, endlich die
Brigade Ompteda von der deutschen Legion; in Reserve dahinter die Nassau¬
ischen Truppen, verdeckt durch die Abdachung des Höhenrückens. Jenseits der
Genapper Straße stand Platon mit 2 britischen Brigaden, S niederländischen
Bataillonen sowie 2 hannöverschen Brigaden. Auf dem linken Flügel Violen's
Reiterei. Im zweiten Treffen endlich die Hauptmasse der Cavallerie, die Briten
und die niederländische Reiterdivision als Reserve. — Vor der englischen Front
dehnte sich die große Thalsenkung aus, welche die französische Aufstellung
auf den gegenüberliegenden Höhen von den Engländern trennte. Napoleon's
Centrum war die an der Genapper Straße belegene Ferne La belle Alliance,
der rechte Flügel berührte Schloß Frichemont. Westlich von der Meierei La
belle Alliance stand der französische linke Flügel, namentlich Rente's Corps;
die Garden (Infanterie und Artillerie) bildeten die Reserve hinter dem Centrum.
Zwischen den beiden Aufstellungen, gegenüber dem linken Flügel der Franzosen
waren Schloß und Pachthof Hougomont ein vortrefflicher Stützpunkt der
britischen Aufstellung. Vor dem Centrum der letzteren, in der Thalsenkung,
hatten Truppen der deutschen Legion die Meierei La Haye — Sainte besetzt; auf
dem linken Flügel der Engländer endlich waren die Pachthöfe Papelotte und
la Haye der nassauischen Brigade anvertraut, die Herzog Bernhard von
Sachsen-Weimar commandirte. Die Infanteriewaffen beider Heere hatten be¬
kanntlich ziemlich gleiche Stärke, nur an Cavallerie und Artillerie war Napo¬
leon überlegen.
Wir begannen unsere Wanderung von Me. Se. Jean über Braine nach
Hougomont, wo Rente's Corps um Mittag den Kampf eröffnet hatte. In
diesem Gehöft waren von den heldenmütigen Vertheidigern (britische Cold-
streams, Nassauer und Hannoveraner) Wunder der Tapferkeit verrichtet worden.
Fast den ganzen Tag über hatte Napoleon Angriff über Angriff gegen diese
feste Position richten lassen; jedesmal mußten die Franzosen an der Garten¬
mauer umkehren, obwohl sie zum Theil den Garten bereits genommen hatten;
zuletzt vereitelten Verstärkungen von Clinton's Division die Absichten der
Franzosen gänzlich. Ein Denkstein ist britischer Seits in dem denkwürdigen
Garten errichtet. Deutsche Denkmäler suchten wir vergeblich. Ein Feldweg
führte uns auf die Straße von Genappe zurück, an die Mauern der Meierei
La Haye Sainte (zwischen Mont Se. Jean und La belle Alliance etwa in
der Mitte belegen). Wie friedlich lag das stattliche Gehöft da; die Umfassungs¬
mauern leuchteten weißgetüncht in die Landschaft hinein; grüne Saaten brei¬
teten sich rechts und links aus. Nach diesem Punkte hin hatte Napoleon
seine furchtbarsten Stöße gerichtet, um das Centrum der Briten zu durch¬
brechen und ihren linken Flügel zu umgehen. Umsonst waren die Angriffe
Ney's auf dem linken Flügel (bet Papelotte) von Platon, der den Sieg mit
dem Leben bezahlte, und von den Reserven unter Lord Somerset und Ponsonby
abgeschlagen, umsonst die auf der Linie zwischen La Haye Sainte und Hougo¬
mont anstürmenden Schwadronen Michaud's von den Braunschweigern und
der deutschen Legion geworfen worden: zuletzt hatte La Haye Sainte dem
schrecklichen Anprall der durch Kellermann's Kürassiere und durch Theile der
Garden verstärkten Centrumstruppen weichen müssen: Ehre dem Heldenmuth
des Majors von Baring, der mit kaum 400 Mann der deutschen Legion
stundenlang die Position gegen ungeheure Uebermacht vertheidigt hatte! An
der Giebelseite des Wohnhauses, nach der Chaussee zu, meldet eine gußeiserne
Tafel die Namen der gefallenen Braven; Kugelspuren im Innern des Gehöfts
konnten wir nicht entdecken; auch die Scheuerthür ist natürlich hergestellt,
durch welche die Franzosen einzeln eingedrungen waren. Welche Gefühle
erfüllten uns, als wir uns den Kampf vergegenwärtigten! Die Einnahme des
Gehöfts (gegen 6 Uhr Abends) hätte verhängnißvoll für den Ausgang der
Schlacht werden müssen. Wellington aber, der an der berühmten Ulme bei
Mont Se. Jean den ganzen Kampf geleitet hatte, war unerschütterlich ge¬
blieben in dem Glauben an Blücher, und — die Preußen kamen wirklich!
Um ein und ein halb Uhr Nachmittags konnten die ersten preußischen Geschütze
gegen die Stellungen auf dem rechten Flügel der Franzosen das Feuer er¬
öffnen. Zwischen Frichemont und Plancenois (letzteres hinter der französischen
Front belegen) entwickelten sich die Brigaden Lastthin und Hiller von Bülow's
Corps. Der wichtigste Punkt war unstreitig das Dorf Plancenois,
eine kleine Strecke südöstlich von La belle Alliance. Napoleon erkannte dies und
schickte dorthin Garden auf Garden gegen Hiller und Ryssel, indem er die Truppen
durch die falsche Nachricht von Grouchy's Eintreffen anfeuern ließ; auch be¬
gann er bei La Haye von Neuem durch Erlon's Corps furchtbare Stöße gegen
die Braunschweiger und Hannoveraner zu richten, deren Wanken zuletzt
Wellington selbst mit den Garden aufhalten mußte. Doch der Tag wurde
durch den Kampf bei Plancenois entschieden, gegen 8 Uhr endlich waren die
französischen Garden nach heftigem Ringen dort zum Weichen gebracht. Der
rKhte französische Flügel war zerdrückt, in unaufhaltsamer Flucht lösten
sich die französischen Colonnen nach Genappe und der Sambre zu auf.
Wellington und Blücher begrüßten sich als Sieger bei der Meierei La belle
Alliance, links an der Straße von Me. Se. Jean nach Genappe, an dem¬
selben Punkte, wo die Mitte der französischen Aufstellung gewesen war.
Wir hatten von La Haye Sainte unsere Schritte an dem Gordon-Denk¬
male vorbei nach der Butte du lion gelenkt, dem 200' hohen Erdhügel, den
die Niederländer zum Andenken an die Schlacht an der Stelle errichtet haben,
wo der Prinz von Oranien verwundet wurde. Sinnend standen wir auf der
Rampe, die den colossalen Löwen umgiebt, der drohend nach der französischen
Front hinüberschaut, und überblickten noch einmal das Schlachtfeld. Bor uns
lag die 2000 Schritt breite Thalsenkung, in welcher der Kampf am heftigsten
gewüthet hatte. Die Braven, deren Blut diesen Boden geröthet, haben für
uns mit gekämpft; ohne Waterloo wäre kein Wörth, kein Sedan mög¬
lich gewesen. Werfen die letzteren schon ihren Schatten den kommenden Er¬
eignissen voraus? und wird dem Sedan ein zweites Waterloo folgen? Oder
wird endlich das heiße Ringen des Germanen und Romanen um die Welt¬
herrschaft aufhören? Wir erhielten unten am Fuße des Löwenhügels eine
seltsame Antwort auf diese Fragen! In dem Zimmer des Concierge, in dessen
Buch wir unsere Namen einschrieben, hingen Bilder, welche Napoleon glori-
ficirten. Unser Blut kochte beim Anblick des Schlachtgemäldes von Austerlitz,
und als wir in begreiflichen Patriotismus dem Wächter des Denkmals unsire
Verwunderung darüber aussprachen, daß solche Bilder im Angesichts des
Löwenhügels hingen, wurde er heftig erregt, uns die Worte entgegenhaltend:
ok, e'sealt un ßiÄnä K6i-os, un graiui Lmpeisui'. War die Antwort nicht
bezeichnend genug, und zumal von einem Belgier? Uns Deutschen war
plötzlich der alte Raeenstreit wieder aufgegangen, -— und wir erkannten,
welch ungeheuren Einfluß die Sprache allein schon auf die geistige Richtung
ausübt! Drüben im Hotel iZu Nus6«z, wo die zahlreichen Reliquien vom Schlacht¬
felde aufbewahrt werden (darunter viele Waffen und auch ein Sporn von
Napoleon), war die Wirthin die Tochter eines Engländers, der in der
Schlacht mitgefochten hatte; ihre Aeußerungen klangen ganz anders; sie war
gleichfalls der Ansicht, daß jene Glorificationen Napoleon's, dessen Ruhm ja
Niemand verdunkeln kann, dort nicht am Platze sind, wo ein germanisches
Denkmal seine Niederlage verewigt. Doch wir rissen uns los von dem Ge^
zart; wir wollten noch Plancenois sehen und das Denken alter Preußen
besuchen. Denn dort hatten unsere eigenen Väter mitgefochten; dort war
das Schicksal des Tages entschieden worden. Links von dem ziemlich
schmutzigen Gehöft dotis ^Ilianee, das jetzt an der Seitenfront eine Tafel
zum Andenken an den Sieg trägt, während vorn die Aufschrift: „üstaminet"
wenig Verlockendes hat, zweigt sich der Weg nach Plancenois ab, den wir
einschlugen: die Schlucht, in der einst Tausende geblutet hatten. Am nörd¬
lichen Ende des Dorfes, ziemlich versteckt, leuchtete uns das preußische
Denkmal entgegen: eine sehr einfache Säule in gothischem Stile, etwa als
sähen wir die oberste Spitze von dem Monument auf dem Kreuzberge bei
Berlin abgenommen und auf einen niedrigen Sockel gesetzt. Ein eisernes
Gitter umgiebt das Denkmal, .dessen Spitze die Franzosen 1832 abgebrochen
haben, das aber wieder hergestellt ist. Die Inschrift war bei dem trüben
Nachmittagslichte kaum zu lesen: „Die gefallenen Helden ehrt dankbar König
und Vaterland." „Sie ruhen in Frieden." Zwei Jungen aus dem langge¬
streckten Dorfe hatten uns nach dem Standorte des Denkmals hingeführt;
auf die Frage, ob der Schulmeister ihnen von der Schlacht etwas erzählt hätte,
antworteten sie verneinend. Die Straße, welche unmittelbar an dem Denkmal
vorbeiführt, war in traurigem Zustande; rings um den Sockel der Spitzsäule
innerhalb des Gitters wuchs dichtes Gras. Das Ganze machte in der
Novemberdämmerung einen düstern Eindruck; doch hoben sich unsere
Herzen bei dem stolzen Gedanken: das Denkmal ist unserer Väter theures
Erbtheil. Und wir hatten es nun selbst gesehen, hatten den Boden
betreten, der durch kostbares Blut geweiht war. In Gedanken verloren
trafen wir in Mont Se. Jean ein, wo uns der Wirth des Hotel ass
Lolormes, obwohl Franzose von Erziehung und Denkart, freundlich empfing.
Spät Abends saßen wir wieder im Oeck6 an cineta; zu Brüssel, und dachten
an die preußische Kreisordnung: ein neues Waterloo schien uns zu winken!
Nachdem die Kreisordnung am 26. Nov. in dritter Lesung von den Ab¬
geordneten angenommen worden, wurde der vielbesprochene Pairsschub noch
in dieser Woche erwartet. Er ist bis heute nicht bekannt, und dies hat natür¬
lich allerlei Gerüchte hervorgerufen, welche die Maßregel selbst in Zweifel
stellen wollen. Die Herrenhausmajorttät soll sich erbötig erklärt haben, die
Kreisordnung nun doch anzunehmen. Andere Gerüchte wollen wissen, daß die
Herren zwar zur Annahme bereit seien, aber um den Anstand zu wahren, ver¬
langten sie, einige scheinbare Abänderungen vornehmen zu dürfen. Dies
würde nun aber das Abgeordnetenhaus verletzen, weil diesem der Minister
des Innern in der bündigsten Weise erklärt hat, die Annahme der bei der
jetzigen Vorlegung von der Regierung verlangten Abänderungen sei der Preis,
um welchen die Negierung für die fernere Unabänderlichkeit des Gesetzes ein¬
treten wolle. Alle diese Zweifel müssen sich in den nächsten Tagen heben.
Ein Theil der bisherigen Herrenhausmajorität wird jedenfalls bei der Ab¬
lehnung der Kreisordnung verharren. Der größere Theil wird um irgend
welchen Preis, wahrscheinlich auch schon um einen größeren Pairsschub zu
hintertreiben, sich zur Annahme verstehen und die Verleugnung der so pomp¬
haft verkündeten Erklärung: „Brechen aber nicht biegen zu wollen" , auf sich
nehmen. Der öffentlichen Meinung würde dieser Ausgang aber wenig genügen,
weil mit demselben die Reform des Herrenhauses aufgegeben schiene, welche
eine unableugbare Nothwendigkeit ist, deren Vollzug wegen der bevorstehenden
interconfessionellen Gesetze auch keinen langen Aufschub mehr gestattet.^
Ich glaube nun, daß, wenn der Pairsschub jetzt auf wenig Ernennungen
beschränkt bleiben sollte, die Frage der Herrenhausreform damit doch nicht im
negativen Sinn entschieden wäre, sondern nur vertagt bis zur Rückkehr des
Fürsten Bismarck, also um 4—5 Wochen. Sollte eine große Anzahl Pairs.
ernennungen jetzt unmittelbar erfolgen, so wäre dies ein Zeichen, daß die An¬
regung der Herrenhausreform in dieser Landtagsession von der Regierung be¬
reits beschlossen worden. Es ist wahrscheinlich, daß zum Austrag dieser
Frage das Erscheinen des Fürsten Bismarck vor Ablauf seines Urlaubs kürz¬
lich gewünscht worden. Da jedoch der Minister der Ruhe noch nothwendig
bedürfte, so sind jedenfalls die Modalitäten der Maßregel noch nicht festgestellt,
während sich in den nächsten Tagen zeigen wird, ob wenigstens der Entschluß
zur Reform überhaupt feststeht. Wenn jetzt nur einige Pairsernennungen er¬
folgen, so ist dies jedoch nicht das geringste Hinderniß, daß in einigen Wochen
deren so viel nachfolgen, als die bis dahin gefaßten Entschließungen erfordern
werden.
Die Sitzungen des Abgeordnetenhauses vom 27. und 28. November waren
mit Berathungen von Anträgen der ultramontanen Abgeordneten Reichen-
sperger und von Mallinckrodt ausgefüllt. Der Antrag des Ersteren lief darauf
hinaus, daß die Regierung einen infallibilistischen Religionslehrer anstatt des
neuerdings so viel genannten Lehrers Woltmann am Gymnasium zu Brauns¬
berg anstellen solle, oder doch wenigstens gestatten, daß die Gymnasiasten dem
Religionsunterricht dieses Lehrers ohne weiteres fern bleiben dürfen, während
der jetzige Cultusminister verordnet hat, daß dies nur geschehen darf, wenn
für den auf dem Gymnasium versäumten Religionsunterricht ein anderweiter
Ersatz nachgewiesen worden. Die Begründung des Antrags lief immer darauf
hinaus, daß nach § 13 der preußischen Verfassung die römisch-katholische Kirche
ihre Angelegenheiten selbständig ordnet, und daß folglich der Staat ihr
schuldig sei, auch an Staatsanstalten den katholischen Unterricht nur durch
solche Personen ertheilen zu lassen, welche nach der Erklärung der römisch¬
katholischen Kirche römische Katholiken sind. Ganz richtig. Aber seit dem
Erlaß der preußischen Verfassung hat sich ereignet, daß aus der einen römisch¬
katholischen Kirche zwei geworden sind: eine infallibilistische und eine fallibi-
listische. Welche von beiden hat nun darüber zu befinden, welche Personen
der Staat gehalten ist, für römische Katholiken anzusehen? Offenbar eine so
gut wie die andere. Deshalb kann der Staat bis zum Austrag des Schis¬
mas nichts thun, als jeden Katholiken in dem Genuß der Rechte belassen,
welche der letztere vor dem Ausbruch des Schismas besessen hat.
Der von Herrn von Mallinckrodt gestellte Antrag bezweckte, den Ausschluß
der Mitglieder geistlicher Congregrationen oder Orden von der Lehrthätigkeit
an öffentlichen Volksschulen als verfassungswidrig hinstellen zu lassen, weil
der Artikel 4 der preußischen Verfassung bestimmt, daß die öffentlichen Aemter
unter Einhaltung der von den Gesetzen festgestellten Bedingungen für alle
dazu befähigten gleich zugänglich sind. Das Gesetz oder die Gesetze über die
Bedingungen der Anstellungsfähigkeit zu den öffentlichen Aemtern sind aber
noch nicht erlassen, sondern die Bedingungen werden von der Staatsverwaltung
aufgestellt und überwacht.
Auch der Artikel 24 der Verfassung kann hiergegen nicht angerufen werden.
Denn im zweiten Absatz dieses Artikels heißt es zwar, daß den religiösen Un¬
terricht in der Volksschule die Religionsgesellschaften leiten; im dritten Absatz
aber wieder, daß der Staat die Lehrer der öffentlichen Volksschulen anstellt.
Beide Anträge wurden natürlich mit großen Majoritäten verworfen.
Man kann fragen, zu welchem Zwecke solche Anträge eingebracht werden»
und es ist die Meinung laut geworden, der Zweck könne nur die Aufregung
religiöser Leidenschaft bei der katholischen Bevölkerung sein.
Wie dem sei: diese wiederholten Anträge und die vielseitige eingehende
Durchsprechung der Materien des interkonfessionellen Rechts, d. h. des Rechtes,
welches, nach der Natur des Staates überhaupt und insonderheit des preußi¬
schen Staates sowie des deutschen Reiches, die Religionsgesellschaften in ihrem
Verhältniß zum Staat beanspruchen dürfen, ist von hohem Werth. Lange
Zeit war diese Materie unbeachtet geblieben und daher vielfachen Verdun¬
kelungen unterlegen, welche zu großen praktischen Schäden geführt haben, die
nun endlich geheilt werden müssen, nachdem sie zu Gefahren für die deutsche
Nation und den deutschen Staat, sowohl als Reich wie als Einzelstaat, heran¬
gewachsen sind,
Eine reiche und sehr empfehlenswerthe Sammlung von Kinder- und
Jugendschriften ist aus dem Verlage von Carl Flemming in Glogau
hervorgegangen. Sie umfaßt alle Bedürfnisse des Kindes- und Jugendalters.
Bilderbücher für das erste Kindesalter mit kurzen Sprüchen oder Verschen
oder kurzen lebensvollen Geschichten, die sich Lessing's Vorschrift wohlweislich
zu Herzen nehmen, ihre Moral in sich selbst vorzutragen, nicht ungenießbar
und dem Kinde unverständlich anzuhängen. Dahin rechnen wir „Hellmund
und Helläuglein" von Heinrich Jade, ein Büchlein mit recht freund¬
lichen Zeichnungen von Leopold Venus, und einer kräftigen heiteren Lebens¬
philosophie in dem gereimten Text. Dann Kindergeschichten von Friede
Amerlan mit sehr fein colorirten Bildern von L. Mühlig. ein Buch das
seine Stoffe für die Kleinen mit großem Glück von draußen wie von daheim,
aus Wald und Feld, Stadt und Land zusammengetragen und recht gesund,
spannend und belehrend behandelt hat. Dann nennen wir mit denselben
Vorzügen zwei Werkchen für Kinder in den ersten Schuljahren, die anfangen
mit Verständniß zu lesen, für „das reifere Kindesalter", wie es auf dem Titel
des einen derselben, „Vier d eutsche Mark ein" von Marie Hansteen, heißt,
und Schwalben, Erzählungen, Sagen, Skizzen und Märchen von E. Ebeling
und B. FithSs. Auch hier wieder trefflich colorirte Bilder von L. Venus und
R. Leineweber. Für die reifere Jugend beiderlei Geschlechts liegen aus dem
Flemming'schen Verlage Neuheiten vor: Straßburg, v, E. Ebeling. zwei
Bände Geschichtsbilder von Ferdinand Pflug, und Frau Therese,
eine Erzählung aus dem Elsaß, von Amalie Godin. Das letztere ist
vielleicht mehr für heranwachsende Mädchen, die Geschichtsbilder mit ihrem
Pulverdampf, ihren zahlreichen Todten und Vermißten und ihrem kräftigen
nationalen Schwung mehr für angehende Vaterlandsvertheidiger berechnet.
Uebrigens ist auch die bewegte Zeit, welche „Frau Therese" im Elsaß durch¬
lebt, wohlgeeignet, manches tapfere Knabenherz zu fesseln. Die Erzählung
Straßburg endlich wird von der Jugend beiderlei Geschlechts mit gleicher
Freude und gleichem Nutzen gelesen werden. Denn es ist die Geschichte wie
Straßburg wälsch wurde, erzählt aus einer Zeit wo es wieder und für immer
deutsch geworden ist. Die farbigen Illustrationen zu all diesen Büchern für
die reifere Jugend von R. Leineweber. Julius Scholtz, Chr. Sell, sind
geradezu künstlerisch vollendet. Als Krone der ganzen Sammlung nennen
wir aber den 7. Band von Hermann Wagner's „Hausschatz" für die
deutsche Jugend. An Erzählungen, Sagen, Gedichten, Lebens- Volks- und
Thierbildern von Hermann Wagner, Heinrich Jade, Guido Hammer, Friedr.
Gerstäcker, or, Otto Buchner, Ferd. Pflug. G. Wirth, Heinrich Noe u. A.
ist das Werk so reich und sorgfältig ausgestattet wie an feinen saubern
Farbendruckbildern und Holzschnitten. Auch die Einbände und Aeußerlich-
keiten der Ausstattung aller dieser Jugendschriften sind sehr geschmackvoll, wie
man es von dieser Verlagshandlung gewohnt ist, der soviel technische Mittel
zu Gebote stehen. In dieser Hinsicht erinnern wir nur beiläufig daran, daß
die Karten dieses Verlags längst als die nächst besten nach der Generalstabs¬
karte anerkannt sind.
Mit den vorzüglichsten Bildern von Oscar Pietsch „Aus unsern vier
Wänden" hat die Verlagshandlung von F. W. Grunow in Leipzig zwei
Kinderschriften geziert, deren lebendige Verse von Pauline Schanz geschrieben
sind, und den Titel tragen: Mancherlei aus des Lebens Mai und
Unter den Kleinen. Das Streben, die vortrefflichen Bilder des Künst¬
lers, die für das — wohl über Kinder aber nicht für Kinder geschriebene —
Werk Rudolf Reichenau's ursprünglich gezeichnet wurden, auch zu zwei wirk¬
lichen Kinderbilderbüchern zu verwenden verdient warme Anerkennung und wird
namentlich in der Welt der Kleinen allseitigen Beifall finden.
Für die höchste Stufe der jugendlichen Entwickelung dagegen ebenso wie
für Erwachsene empfiehlt sich als ein treffliches Lern- und Lehrbuch auf allen Gebieten
der modernen Gewerbe, Industrie und Fabrikation, des Bergbaues und der Land¬
wirthschaft, der Schifffahrt und des Handels, u. f. w. das bei Otto Sy amer in
Leipzig erscheinende „Buch der Erfindungen", von welchem die neueste
sechste (Pracht.) Ausgabe eben bis zum Schlüsse des dritten Bandes, d. h.
bis zur Hälfte des ganzen Werkes gediehen ist. Eine Reihe der ersten
Fachkenner ist an dem Werke thätig. Eine fast unzählige Menge vortreff¬
licher Illustrationen bringt uns auf allen Gebieten des hoch entwickelten
modernen Erfindungswesens die geheimnißvollen Kräfte und Gewalten zur
Anschauung, die mit Licht und Wärme, mit Dampf und Electricität rings
um uns schaffen — auch über und unter der Erde, bei Tag und bei Nacht.
Das Werk ist, was es dem Titel nach sein soll, eine auf dem Anschauungs¬
unterricht beruhende Encyclopädie des heutigen Erfindungswesens aller Cul¬
turvölker der Erde, mit ausreichenden Aufschlüssen aus der menschlichen Cul¬
tur-, Krrnst-, Handels- und Jndustriegeschichte und reich und gehaltvoll aus¬
gestattet mit bildlichen Erläuterungen des Textes.
Unser Mitarbeiter, Herr Max Jähns, Hauptmann vom Nebenetat
des Großen Generalstabes zu Berlin, hat die vor Kurzem in den Grenzboten
unter dem Titel „Frankreich und die allgemeine Wehrpflicht" zu Ende geführte
Arbeit über die neuere und neueste französische Heeresgeschichte in bedeutend
größerem Umfange in diesen Tagen als besonderes Werk herausgegeben,
(Leipzig. F. W. Grunow). Das stattliche Buch führt den Titel: „Das
französische Heer von der großen Revolution bis zur Gegen¬
wart", eine culturhistorische Studie von Max Jähns. Diesen Blättern ziemt
natürlich nicht, über ein Werk sich zu äußern, das zum größeren Theil ihnen
selbst entnommen ist. Aber wohl dürfen sie die besondere Ausgabe einer
Arbeit zur Kenntniß ihrer Leser bringen, deren Erscheinen bereits von den
hervorragendsten militärischen Fachschriften und politischen Tagesblättern
freudig verkündigt worden ist.
Mit Ur. R beginnt diese Zeitschrift einen neuen Jahrgang,
welcher durch alle Buchhandlungen und Postämter des In- und
Auslandes zu beziehen ist.
Leipzig, im December 1872.Die Verlagshandlung
Vergegenwärtigen wir uns einmal die Entwickelung der deutschen Geschichte
in ihren Grundlinien, so tritt uns ein eigenthümliches Verhältniß zwischen
Nord und Süd entgegen. Der eigentlich staatenbildende Geist ist im Nord¬
deutschen mächtiger ausgeprägt als im Süddeutschen. Die Zeiten des Mittel¬
alters, in denen man von einem wirklichen deutschen Reiche reden kann, sind
gerade diejenigen, in welchen Norddeutschland das Fundament des Ganzen
gebildet. Die Ottonischen Kaiser haben Deutschland regiert. Eine kurze
Frist ist es noch dem rheinischen Geschlecht der Salier gelungen, das Reich
zu erhalten; der Conflict der Salier aber mit den Sachsen warf darauf den
Thron um. Und wenn dann die süddeutschen Staufen noch einmal das
fallende Reich zusammengeleimt haben, nicht für lange Zeit hat dieser süddeutsche
Leim vorgehalten. Das deutsche Reich hat ein Ganzes gebildet, so lange sein
Schwerpunkt im Norden gelegen; wurde er nach Süden verschoben, so trat
die Gefahr der Auflösung ein. Und dies hat seit dem 13. Jahrhundert sich
noch weiter entwickelt. Nord und Süd gingen immer weiter auseinander.
In allen den Fürstentümern und Bisthmnern, Abteien und Städten des
Südens schoß der Particularismus der Deutschen lustig ins Kraut. Der
Norden, der nicht ganz die Höhe der Zersplitterung des Südens erreichte,
lebte meist für sich und seinen eigenen Interessen und Aufgaben.
Es verleiht der Geschichte des 13, Jahrhunderts einen ganz besonderen
Reiz, zu bemerken und zu verfolgen, wie damals in Deutschland eine patriotische
Bewegung erwacht ist, welche eine Erstarkung des Reiches gegenüber den Ter¬
ritorialgewalten, eine Erhebung des Centrums gegenüber der Peripherie laut
und immer lauter forderte. Die Kaiser aus habsburgischen Hause, Maxi¬
milian I. und sein Enkel Karl V. haben sich dieser Stimmung bemächtigt und
den Anlauf gemacht zu einer Erneuerung des untergegangenen Kaiserthums
von Deutschland. Ihr Versuch ist gescheitert. Es war doch in den letzten
drei Jahrhunderten der deutsche Süden nicht fähiger geworden, als eigentliches
Fundament den Reichsbau zu tragen, und es hatte die religiöse Bewegung
des 16. Jahrhunderts eine Scheidewand aufgerichtet zwischen dem Katholi¬
cismus des Hauses Habsburg und dem Protestantismus, dem die überwiegende
Majorität der Deutschen sich hingegeben hatte. Wenn eine neue Vereinigung
Deutschlands von süddeutschen. Elementen aus schon für unwahrscheinlich im
16. Jahrhunderte gellen durfte, so war es sicher unmöglich, auf den Boden
der alten Kirche das neue Reich zu stützen. Das Fürstenhaus, das Land, dem
eine Neugestaltung Deutschlands gelingen konnte, mußte ein norddeutsches und
ein protestantisches sein.
Nachdem heute dies Ziel erreicht ist, nachdem dies Postulat der deutschen
Geschichte seit dem Ausgange des Mittelalters nicht mehr allein theoretisches
Postulat deutscher Historiker, sondern handgreifliche Wirklichkeit unseres Lebens
geworden — heute mag es sich geziemen auf den Weg, den die Geschichte
Deutschlands in den letzten Jahrhunderten gegangen, zurückzuschauen und die
Frage zu stellen: ist es eine Nothwendigkeit unserer Geschichte zu nennen, daß
grade das Reich der Hohenzollern, das Kurfürstenthum Brandenburg der
Grundstein der deutschen Zukunft geworden? Gestelle war die Aufgabe schon
dem 16. Jahrhundert. Es galt gegenüber den unfruchtbaren Versuchen der
katholischen Habsburger die norddeutschen Kräfte zu sammeln und auf Grund
und im Anschluß an das protestantische Princip ein der Erweiterung fähiges
politisches Wesen zu bilden.
Mir scheint es nicht richtig, wenn man den Hohenzollern des 16. Jahr¬
hunderts schon derartige Gedanken und Pläne, schon die Anfänge einer der¬
artigen Politik beilegen will. Aber neben Brandenburg gab es damals ein
anderes norddeutsches und protestantisches Land, das allerdings die Führung
der historischen Aufgaben unserer Nation auf sich genommen hat. Am An¬
fang des 16. Jahrhunderts schwang sich Sachsen zu einer großen nationalen
Bedeutung empor. An der Spitze der Reformpartei im Reiche hat eine Zeit
lang der sächsische Kurfürst Friedrich gestanden, — er zugleich der glückliche
Schützer und Schirmer Luther's und der protestantischen Anfänge.
Welch eine Stellung fiel damit Sachsen zu! Die Führung der prote¬
stantischen Partei war bei Sachsen: in der Geschichte der deutschen Reformation
ist auf jedem Blatte und bei jedem Ereigniß von Sachsens Haltung die Rede.
Das Interesse des Historikers der deutschen Reformationszeit haftet vornämlich
an den sächsischen Dingen. Die Alternative — Habsburg oder Sachsen —
hat damals Jahrzehnte lang über Deutschland geschwebt.
Gewiß, dem sächsischen Kurhause hat damals nur das Eine gefehlt —
ein fähiger Staatsmann, der die Situation seines Landes erkannt und die
Mittel desselben benutzt hätte! Jene, Kurfürsten, Friedrich der Weise, Johann
der Beständige, Johann Friedrich-der Großmüthige, sie waren sehr brave,
ehrbare Leute, aber schlechte Politiker, sie waren mehr fromm als klug: sie
beteten, wo sie denken, sie redeten,, wo sie arbeiten sollten. Sie haben für sich
und ihr Sachsen unendlich viel' verpaßt, sie haben gegen die Zukunft des
Protestantismus schwer gesündigt.
Das wurde anders, als ein junger Fürst aus , einer Seitenlinie des Hau¬
ses den Kurhut, den er dem Better von Haupte gerissen,'W^Äfsetzte. als er
in kurzer Zeit sich mit seiner Thatkraft und seiner Einsicht-zum Führer des
protestantischen Deutschland aufwarf. Da sah es aus, als ob in Kurfürst
Moritz der Mann erschienen sei, welcher der deutschen Geschichte ihre Bahn
anweisen und ihre Richtung bestimmen werde. Es war ihm nicht beschieden,
seine volle Größe in bleibenden Resultaten zu erweisen. Noch im Beginn
seiner Laufbahn raffte eine feindliche Kugel den 32jährigen weg: er wurde
nicht ersetzt. Sein Nachfolger war nicht der Mann, auf der Höhe, auf die
ihn Moritz gestellt, sich nur aufrecht zu erhalten, bald war Sachsen wieder auf
dem Niveau der übrigen deutschen Territorien angelangt. Und die von Moritz
ergriffene Möglichkeit allgemeinerer Bedeutung war dahin, als Sachsens Fürsten
sich und ihr Land mit einem engherzigen und beschränkten Confesfionalismus
identificirten. Das war auch damals im 16. Jahrhundert nicht möglich, auf
die Orthodoxie einer einzelnen Confession eine leitende Stellung zu gründen.
In der ungeheueren Krisis des 30jährigen Krieges war Sachsen schon völlig
aus der Rolle herausgefallen: die Stelle im protestantischen Norden war leer
geworden; erst Brandenburg-Preußens Großer Kurfürst hat in der zweiten
Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts die Aufgabe, an der Sachsen sich verge¬
bens versucht, aufgenommen und gelöst.
Die Reformationszeit in Deutschland ist reich an interessanten Persön¬
lichkeiten. In verschwenderischer Fülle und Mannigfaltigkeit sind Helden des
Geistes und der Feder und des Schwertes über die Gauen Deutschlands aus¬
gestreut. Theologen und Dichter, Denker und Historiker, Ritter und Bürger.
Krieger und Redner, eigenartige und ursprüngliche Geister und Charaktere in
jeder Richtung begegnen dem forschenden Auge überall im damaligen Volke.
Und auch wer die Schaar der Fürsten jener Zeit prüfend und musternd durch¬
wandert, trifft auf nicht wenige stattliche und achtungswerthe Gestalten, got-
tesfürchtige und fromme Bäter ihres Landes, religiöse Borbilder ihrer Unter¬
thanen, patriarchalische Beschützer der neuen kirchlichen Pflanzungen und neben
ihnen schlagfertige Soldaten, feurige Reitcrsleute und lustige Zecher, oder sorg¬
same Hauswirthe und treue Aufseher der Landesverwaltungen.
Einer aber ist unter ihnen, der Seinesgleichen nicht hat, — ein einziger
Staatsmann, der politisch denkt und politisch handelt, ein einziger deutscher
Landesfürst, der den großen Politikern seiner Zeit ebenbürtig ist.
Das ist Moritz von Sachsen.
Vergleicht man ihn mit seinen fürstlichen Berufsgenossen, so berührt
seine Erscheinung wie ein fremdartiges Wesen. Er, ein Protestant, hat im
Kriege des katholischen Kaisers gegen die deutschen Protestanten auf der Seite
des Kaisers gestanden: er hat redlich dazu mitgeholfen dem Kaiser die
Protestanten unter die Füße zu werfen. Nachdem er seinen Lohn dafür weg¬
hatte, — die sächsische Kur — hat er eine Empörung der Protestanten gegen
Kaiser Karl eingeleitet, vorbereitet, durchgesetzt: ihm fast ausschließlich ist
die öffentliche Anerkennung des Protestantismus im Reiche, der Religionsfriede,
zu verdanken.
So bewegt sein politisches Thun sich in jähem Wechsel. Auf realen
Machterwerb hatte er immer sein Auge gerichtet, um politische Macht war
es ihm zu thun und fast scheint es, als ob ideale Interessen ihn wenig er¬
faßt hätten. Die religiösen Impulse der Reformationszeit haben auf ihn
wenig gewirkt. Theologische Streitfragen, die Lieblingsthemata seiner Zeit¬
genossen, sind ihm ziemlich gleichgiltig: kühl und nüchtern steht er den
kirchlichen Dingen gegenüber. So ist es gekommen, daß der Retter des
Protestantismus in Deutschland nicht einmal den Protestanten ein sehr warmes
Andenken hinterlassen: der erste „Verrath" wird ihm nicht vergessen, für die
spätere Errettung ist man ihm wider Willen dankbar. Grade sein Mangel
an persönlicher Wärme, das Deficit religiöser Begeisterung ist bei einem
Fürsten der Reformationszeit eine Sünde, für die man keine Verge¬
bung hat.
Wer dagegen die politische Natur dieses Mannes betont, wer aus
den Voraussetzungen der Lage, den Eigenschaften dieses Charakters die Politik
dieses Fürsten zu erklären unternimmt, kann sehr leicht in die Gefahr kommen,
für einen unbedingten Bewunderer einer sehr verrufenen Sache oder einen
Advocaten politischer Treulosigkeit und Selbstsucht angesehen zu werden.
Das ist die Klippe, an welcher der Historiker des Kurfürsten Moritz leicht
scheitern kann. Versuchen wir sie zu umgehen!*)
>
Es wird nöthig sein, die politische und territoriale Situation kurz zu
zeichnen, in welche Moritz als sächsischer Kleinfürst eingetreten ist.
Die sächsischen Lande waren 1485 in zwei Massen getheilt, die kurfürst¬
liche und die herzogliche. Bei dieser Theilung war aber nicht alle und jede
Gemeinsamkeit zwischen den ernestinischen Kurfürsten und den albertinischen
Herzogen aufgehoben. Genug Anlaß zu Hader und Streit war geblieben.
Die territorialen Reibungen und nachbarlichen Fehden brachen nicht ab. Im
albertinischen Hause selbst war noch für einen jüngeren Prinzen ein Stück
Land abgezweigt, für Herzog Heinrich, den Bruder des Herzogs Georg von
Sachsen. Dieses Heinrich's, der sich mit einer mecklenburgischen Prinzessin
vermählt, Sohn war Moritz.
In jenes sehr durcheinander gemischte und ineinander verschlungene Netz
territorialen Kleinlebens in Sachsen und Thüringen war nun der große
religiöse und politische Gegensatz des 16ten Jahrhunderts hineingefahren.
Die Kurfürsten von Sachsen waren von Anfang an die politischen Führer der
Protestanten; unter ihrem Fittige entfaltete Luther seine reformatorischen
Principien und in ihren Landen baute er seine kirchlichen Anstalten aus.
Als der Kaiser und das officielle Reich die Reformation Luther's verworfen,
als die Unterdrückung der neuen religiösen Richtung und der neuen protestan¬
tischen Kirchen der kaiserlichen Politik zur Losung geworden, da wurde unter
Kursachsens und Hessens Leitung ein Bund der protestantischen Territorien
zur Vertheidigung eben sowohl ihrer landesherrlichen Autonomie als ihrer
evangelischen Landeskirchen geschlossen. Somit stand Kursachsen an der
Spitze des protestantischen Deutschland und der fürstlichen Opposition gegen
Karl V.
Die sächsischen Herzoge dagegen hatten sich dieser Partei nicht ange¬
schlossen. Ihr Stammherr Albert war einer der eifrigsten Anhänger Habs-
burgs gewesen: in habsburgischen Dienste hatte er militärische und politische
Lorbeeren errungen. Auch Herzog Georg gehörte dieser Richtung an. Er,
einer der kräftigsten Fürsten aus der älteren Generation der Reformations¬
zeit, war zugleich ein entschiedener und heftiger Gegner Luther's. Politisch
und kirchlich war er der geeignete Nebenbuhler seines kurfürstlichen Betters.
Die territoriale Eifersucht und Feindschaft erhielt in dem allgemeinen Gegensatz
neue Nahrung und willkommenen Anlaß. Reibungen konnten nicht aus¬
bleiben. Und sobald die katholische Tendenzpolitik des Kaisers auf feindliche
Schläge gegen die Protestanten sann, bot sich ihr als Helfer der katholische
Herzog von Sachsen, der mitten unter den Protestanten saß. Georg war
auf katholischer Seite der Mann der That, der selbst zur Action drängte:
winkte ihm bei einer solchen doch der Kurhut von Sachsen als Lohn seiner
Opfer für Kaiser und Kirche!
Der jüngere Bruder Georg's, Herzog Heinrich, dagegen hielt sich mehr zur
protestantischen, kursächsischen Seite: er ist zuletzt offen zur evangelischen Religion
übergetreten und auch Mitglied des Schmalkaldener Bundes geworden. So
verwickelt lagen die Verhältnisse zwischen den sächsischen Nachbarn und
Stammesvettern.
Viele Mittel besaß man am Freiberger Hofe nicht. Drei Söhne hatte
Herzog Heinrich: Moritz, August und Severin. Der letzte starb jung. Bei der
Erziehung der Prinzen Moritz und August mußten die Verwandten aus¬
helfen. Auf die Entwickelung des heranwachsenden Moritz war es von Ein¬
fluß, daß er viel an den benachbarten Höfen sich aufhielt; bei dem Kurfürsten
von Mainz und bei seinem Oheim Herzog Georg. Besonders des Letzteren
Art machte ihm Eindruck. Es wird erzählt, Herzog Georg habe von diesem
Neffen Großes erwartet, der es liebte, bei den Gesprächen und Berathungen
reiferer Männer zugegen zu fein. Verbindungen und Beziehungen mit den
Ministern Georg's knüpften sich ihm an. Ihm stand ja die Aussicht auf
Georg's Erbe offen. Die zahlreiche Familie desselben starb dahin; auch der
letzte Sohn, den Georg noch schnell vermählt hatte, um so vielleicht die Fort¬
dauer seiner Linie sicher zu stellen, verschied kinderlos. Und mochte da Georg
ganz zuletzt noch wenigstens die katholische Zukunft seines Landes testamen¬
tarisch zu garantiren versuchen, das war und blieb ein aussichtsloses, unwirk¬
sames Mittel. Nach seinem Tode, im April 1339, kam Herzog Heinrich zur
Regierung. Bald wurde auch das Herzogthum protestantisch. Und auch Moritz,
der Erbprinz, war in diese protestantische Richtung schon hineingeboren. Er
für sich war und blieb bei diesem protestantischen Bekenntniß. Seiner Mutter,
die nicht ganz ohne Sorgen in dieser Hinsicht gewesen zu sein scheint, hatte
er die Versicherung ertheilt, er würde bei seinem Glauben verbleiben. Ge¬
gründeter wohl war die Voraussetzung, daß er aus politischem Felde an die
Tradition Herzog Georg's sich halten, daß er nicht, wie sein schwacher Vater,
ohne Weiteres dem kurfürstlichen Vetter sich unterordnen würde. Es hat nicht
an Lockungen von der einen, an Warnungen und Mahnungen von der an¬
deren Seite gefehlt. Ganz ähnlich wie Georg, war auch Moritz in der An¬
lehnung an „große Herren" sein Glück zu suchen geneigt, d. h. eine gewisse
Empfänglichkeit für die durch kaiserlichen Dienst zu erwerbende Machterhöhung
wurde bei ihm vorausgesetzt.
Ein Gegensatz zur Regierung seines Vaters war nicht zu verkennen.
Dieser schwache Fürst war kaum im Stande, sein Land und sein Haus zu
regieren. Die Wirthschaft am Hofe gerieth in solche Unordnung, daß die
Stände sich anschickten, einzuschreiten. Da starb Heinrich am 18. August 1541.
Und Moritz übernahm die Negierung 20 Jahre alt. Seine Verbindung
mit den von Heinrich entfernten Ministern Georg's hatte er nie aufgegeben;
gegen den Willen der Eltern hatte er des heldenmütigen Landgrafen Philipp
von Hessen Tochter Agnes schon heimgeführt. Nun kehrten die alten Räthe
wieder in die Geschäfte zurück, und eine sichere, besonnen, consequente poli¬
tische Arbeit begann. Zunächst ließ er die weitere- Zersplitterung des H.aus-
besitzes nicht zu: er fand den Bruder August mit einer Apanage ab, ohne
ihm wieder ein eigenes Gebiet zuzuweisen. Er lehnte den Eintritt in den
Schmalkaldener Bund ab. Er näherte sich dem kaiserlichen Hofe, zu persön¬
lichen Diensten bereit. Und die Rechte, die er zu haben glaubte, hielt er mit
Entschlossenheit fest, zu kriegerischem Schutze gerüstet.
Das erste Auftreten des jungen Herzogs sticht ab nicht nur von der un¬
fähigen Schwäche Heinrich's oder dem rastlosen Ehrgeize Georg's, nein auch
mit den andern deutschen Fürsten verglichen, zeichnet es sich durch Entschieden¬
heit der Haltung und durch maßvolle Sicherheit des Strebens sofort vortheil¬
haft aus. Innerhalb der Parteien des damaligen Deutschland ergriff Moritz
sofort eine eigenthümliche, selbständige und feste Stellung.
Es waren damals die Jahre, in welchen der protestantische Bund auf
der Höhe seiner Macht und seines Einflusses stand. Durch seine europäische
Politik war Kaiser Karl damals genöthigt, von den Plänen der Feindschaft
gegen die Protestanten abzugehen, wenigstens einstweilen sie ruhen zu lassen
und eine Verständigung mit ihnen zu suchen. Die religiöse oder kirchliche
Wiedervereinigung war nicht gelungen, aber einen moäus vivendi glaubte
man gefunden zu haben, als 1541 Kaiser Karl einstweilen sie anerkannte und
die weitere Consolidirung der protestantischen Landeskirchen geschehen ließ.
Ja, um nur die politisch-kirchliche Stellung des Schmalkaldener Bundes nicht
noch weiter um sich greifen zu lassen, mußte Karl die Fürsten des Bundes
freundlich behandeln, sie begütigend und besänftigend anfassen. Es ließen
einzelne sich gewinnen. Der lebhafte Landgraf Philipp war jetzt voll Eifer
für seinen Kaiser. Er brachte auch seinen Schwiegersohn Moritz zuerst in
direetere Beziehungen zum Kaiser: dessen Fortschritte in der Welt schienen ihm
am Herzen zu liegen.
Wie schon gesagt, den Eintritt in die protestantische Verbindung hatte
Moritz verweigert. Schutz der etwa bedrohten protestantischen Religion hatte
er auch seinerseits zugesagt, aber in den Bund trat er nicht ein. Zunächst
hielten ihn die alten stets weiter fortgehenden Händel davon zurück, die er
mit dem Kurfürsten von Sachsen noch hatte. Dem jungen, noch unerfahrenen
und unerprobten Neuling gegenüber schlug Kurfürst Johann Friedrich einen
hohen Ton an. Die Naumburger und Meißener Angelegenheiten behandelte
er ohne Rücksicht auf die Rechte und Ansprüche des jungen Herzogs. — Von
Johann Friedrich, den er verachtete und in der That politisch weit übersah,
wollte sich Moritz nichts gefallen lassen. Er griff zu bewaffneter Abwehr.
Daß es nicht damals gleich zu einem sächsischen Bruderkriege gekommen, hat
nur Philipp's Dazwischenkunft verhindert. Ein böses Symptom für Moritz
war es dabei gewesen, daß die öffentliche Meinung der protestantischen Kreise
sich offen und heftig für Johann Friedrich geäußert. Der Aerger der Parte;
über die Selbständigkeit des Anfängers des Kleinfürsten hatte sich deutlich
Luft gemacht. Auch das trieb ihn zum Kaiser.
Und mehr und mehr lockte ihn die kaiserliche Staatskunst. Immer
deutlicher, immer fester gestaltet traten aus dem Nebel anfangs allgemein
gehaltener Worte bestimmte politische Aufgaben heraus. Der Kaiser bereitete
seinen Protestantenkrieg vor, indem er sich einzelne Protestanten als Helfer
und Diener gewann.
Wir bewundern mit Recht die außerordentliche Virtuosität, mit der die
Minister und Diplomaten Karl's das große Unternehmen vorbereitet und zu¬
gerichtet halZn. Es ist eines der Meisterstücke diplomatischer Arbeit, Aber
nicht mindere Anerkennung verdient die Leistung des jungen Sachsenfürsten,
eines Politikers im 24ten und 25ten Lebensjahre. Er zeigte keine Eile und
keinen Eifer, unter die Streiter des Kaisers eingereiht zu werden, sich seinen
Lohn zu verdienen. Sehr vorsichtig hielt er sich zurück, — er vermied es, sich
zu binden. Er wartete bis man ihn brauchte: er hatte es bis zuletzt in der
Hand die Bedingungen nicht fertig annehmen zu müssen, sondern sie ver¬
handeln und bedingen zu dürfen. Bei aller Zögerung riß der Faden der
Unterhandlung nie ab. Und trotz allem war bis zum letzten Abschluß ihm
auch die Möglichkeit offen, nicht mit dem Kaiser gegen die Protestanten,
sondern mit den Protestanten gegen den Kaiser zu gehen. Seinen Gedanken
enthüllt uns diese den Protestanten zugekehrte Seite am besten.
Da war für ihn der Ausgangspunkt dies: daß er am protestantischen
Religionsbekenntniß principiell festhalten, daß er aber jenem damaligen pro¬
testantischen Bunde nicht beitreten d. I). sich nicht unterordnen wollte. Unter
die Führung eines Johann Friedrich sich zu stellen war ihm unmöglich. Er
war Moritz' specieller Gegner und Rivale, er war dazu so unfähig und so un¬
glücklich in der Leitung der gemeinsamen protestantischen Angelegenheiten, daß
es einem politisch denkenden Kopfe nicht anstehen konnte unter ihm zu dienen.
Vor der persönlichen Ehrenhaftigkeit und Frömmigkeit des Kurfürsten wird
man die höchste Achtung hegen und dabei doch von seiner politischen Fähig¬
keit die allergeringste Meinung haben dürfen. Die Organisation des großen
protestantischen Bundes war eine schwerfällige; eine wirkliche Action desselben
war kaum zu erwarten.
Als die Vorboten des kaiserlichen Sturmes am Himmel sich zeigten, war
es Moritz' Absicht einen protestantischen Vertheidigungsbund neu zu bilden,
dessen Leitung einem Triumvirate zu übertragen wäre, nämlich Johann
Friedrich, Philipp und Moritz selbst. Aus die allgemeine Haltung würde
damit Moritz einen direkten Einfluß, ja nach der Lage der Dinge und Per-
hören, da Philipp leichter für des Schwiegersohnes Anschauung zu gewinnen
war, den bestimmenden und maßgebenden Einfluß erlangt haben. Was
Moritz an dem Plane gefiel, stieß den Kurfürsten ab. Johann Friedrich be¬
antwortete diese Vorschläge mit der Aufforderung. Moritz solle in den Schmal-
kaldener Bund eintreten. So konnte man sich nicht verständigen.
Nun blieb für Moritz nur noch seine Verbindung mit Philipp in Kraft.
Der Faden riß nicht so schnell, und seltsam, ganz ist er eigentlich nie abge¬
brochen. Eine Zeitlang, im Herbst 1545 und Winter auf 1546, hielt er sich
noch neutral, als Vermittler, der mit beiden Theilen gut zu stehen wußte.
Wohin ihn aber schließlich seine Neigung ziehen würde, zeigte sich bald immer
deutlicher.
Wir folgen hier nicht allen einzelnen Windungen und Biegungen des
diplomatischen Weges. Bei den Protestanten blieb Alles beim Alten. Eine
festere Organisation, die mögliche europäische Allianz wurde ebensowenig zu
Stande gebracht als der richtige Augenblick zur Action gegen den noch in der
Rüstung begriffenen Kaiser benutzt. Ohne festen Gedanken und sichere Führung
trieb man in den Wirbel des Krieges.
Und in diesem Augenblicke sonderte sich Moritz noch weiter ab von seinen
Glaubensgenossen. Seine eigenthümliche Behandlung der kirchlichen Angelegen¬
heit deutete sich damals schon entschiedener an. Er stand doch etwas anders
zu der kirchlichen Sache als die meisten andern Fürsten. Er repräsentier uns
die zweite Generation der Reformationszeit.
Jene älteren Menschen hatten von ihren ersten Anfängen an die Luther'sche
Bewegung miterlebt. Sie hatten mit dem ersten Impulse leidenschaftlicher
Begeisterung die Reformation der Kirche aufgefaßt. Fürsten wie Theologen
des älteren Geschlechtes lebten und starben ihrem religiösen Gefühle.
In der zweiten Generation überwog schon die Reflexion, der Verstand
über das Gefühl. Bei den doctrinären Naturen in dieser zweiten Generation
äußert sich dies Ueberwiegen des Verstandes in der Rechthaberei und der theo¬
logischen Zanksucht, welche jene Kämpfe der verschiedenen Nuancen lutherischer
Orthodoxie zu sehr traurigen Erscheinungen der Kirchengeschichte gestempelt
hat. .In dieser zweiten Generation traten aber hier und da auch mehr
praktische, mehr politisch angelegte Köpfe auf, welche mit einer gewissen persön¬
lichen Nüchternheit, mit einem gewissen, wenn ich so sagen darf, Jndifferen-
tismus mehr auf die öffentlichen Erscheinungen und Resultate der kirchlichen
Veränderung als auf die religiöse Wurzel oder die theologische Begründung
sahen. Es ist des Historikers Amt, weder die jüngere noch die ältere Gruppe,
weder die eine noch die andere Seite zu verdammen, sondern alle, eine jede
in ihrer relativen Berechtigung zu verstehen. Allerdings, das Verdammen
nach der eigenen Neigung ist leichter als das Verstehen verschieden gearteter
Gegensätze.
So viel ich nun sehe, ist Moritz der Erste der Politiker aus dieser jüngeren
zweiten Schicht von Menschen der Reformationszeit. Im Großen und Ganzen
war der Boden des kirchlichen Lebens für ihn die Reformation Luther's, die
auf Luther'schen Sätzen auferbaute evangelische Landeskirche. An allen ihren
wesentlichen Eigenschaften wollte er fest halten. Sie wollte er auch verthei¬
digen. Aber sein Eifer bei dieser Vertheidigung war nicht so hitzig wie das
Auftreten seines hessischen Schwiegervaters, nicht so starr wie die Haltung des
Kurfürsten Johann Friedrich. Jene wollten nach allem was sie seit einem
Vierteljahrhundert erlebt hatten, auf die Theilnahme an dem damals er¬
öffneten großen Concile der Kirche sich gar nicht mehr einlassen. Moritz meinte,
die protestantischen Theologen sollten mit ihren „Disputir- und Zankbüchern"
etwas aufhören; man sollte die tüchtigsten Theologen aufs Concil schicken,
damit sie eine Vergleichung mit der Kirche in allem was Glauben und Ge¬
wissen gestatte, ins Werk richteten: für diejenigen Punkte, in denen man sich
nicht einige, machte er sich anheischig vom Kaiser Toleranz zu erbitten und zu
erlangen.
Wir begreifen es leicht, daß bei den protestantischen Eiferern eine solche
Anschauungsweise Entsetzen erregte. Wir begreifen auch die religiösen und
sittlichen Motive dieses Entsetzens. Aber wir sind deßhalb doch nicht im
Stande, das Programm des Herzog Moritz von vornherein ein unprotestan¬
tisches zu schelten — vorausgesetzt, daß Moritz auf ihm stehen bleiben wollte.
Beide Wege konnten zum Ziele, zum Schutz des Protestantismus führen:
welcher der bessere war, das hing von praktischen Erwägungen ab.
Kommen wir zum Abschluß. Mit den Protestanten verständigte sich
Moritz nicht mehr. Sein Minister Karlowitz, der die letzte Verhandlung ge¬
führt, reiste sogleich weiter an den kaiserlichen Hof. Nachher kam Moritz
persönlich dahin. Er war dem Kaiser gewonnen. Und wenn er keinen
Anstand hatte, selbst loszuschlagen auf den Kurfürsten, so winkte ihm der
Lohn, den schon Herzog Georg zu ergreifen gedacht hatte, — die sächsische
Kur. In der kirchlichen Frage aber hatte Moritz keineswegs die Bedingung
des Kaisers, die rückhaltlose Unterwerfung unter das Concil auf sich ge¬
nommen. Weit, sehr weit war er der katholischen Politik entgegengekommen:
er hatte allerdings verheißen die eventuellen Decrete des Conciles in seinem
Lande nicht anfechten zu wollen, aber er hatte doch die praktisch sehr nutzbare
ausdrückliche Concession des Kaisers dafür eingetauscht, „wenn auf dem Concil
zwei oder drei Artikel (und damit ist gemeint Priesterehe, Laienkelch, Recht¬
fertigungslehre) unverglichen blieben, so sollte Moritz mit seinen Unterthanen
bis zu weiterer Vergleichung darin ungefährdet bleiben."
^ Wir sehen, auch bei dem Dienstvertrage mit dem Kaiser, war die nicht
unbedingte Unterwerfung unter den Katholicismus, war eine verklausulirte
Erhaltung des protestantischen Zustandes von Moritz durchgesetzt worden.
Es kam darauf an, ob er bei der späteren Erörterung auf seinem „Scheine"
auch gegen den siegreichen Kaiser beharren würde.
Zunächst belaste er die politischen Früchte seines Thuns ein. Im
Sommer 1546 brach endlich der Protestantenkrieg Karl's V. aus. Die Heere
der Schmalkaldener manoeuvrirten im Süden gegen den Kaiser: ihrer Ueber¬
macht hielt Karl Stand und kam nach und nach in den Vortheil. Da fiel
Moritz den Protestanten in den Rücken. Er drang ins Kurfürstenthum
Sachsen ein, er eroberte und besetzte das Land. Schnell wendeten sich die
Heere des Bundes, ihr Heimathsland zu retten. Moritz mußte weichen.
Aber schon zog der Kaiser heran und brachte die Sache zur Entscheidung.
Auf der Lochauer Heute bei Mühlberg wurden die Protestanten bis zur
Vernichtung geschlagen, der Kurfürst selbst gefangen. Der Landgraf zog sich
zurück. Das Land Sachsen kam nach und nach in die Gewalt der Sieger.
Moritz empfing seinen ausgedungenen Lohn.
Er wurde Kurfürst von Sachsen. Aber von den Ländern, welche die
Ernesttner bis dahin besessen hatten, mußte er ein gutes Theil wieder ihnen
zurückgeben, mehr als ihm lieb und bequem war. Anfangs gedachte er sogar
sie unter seine Oberhoheit zu bringen, sie zu apanagiren wie er es seinem
Bruder gethan, aber er setzte dies nicht durch. Bei den Verhandlungen stieß
Moritz auf den Widerspruch des Kaisers. Karl glaubte auch gegen Moritz
sich eines Gegenpartes versichern zu müssen: eine ihm feindlich gesinnte
fürstliche Vetterschaft, die zwischen seinen Territorien selbständig saß, sollte
Moritz auf den Dienst passen: jedenfalls war sie in ihrem Rachedurste in
jedem Augenblicke, falls Karl des Rückschlages bedürfte, zur Niederhaltung
oder Verkleinerung des neuen Kurfürsten zu gebrauchen. Jahre lang schleppte
sich dieser Zustand hin. dessen Druck Moritz aufs empfindlichste fühlte. Es
war einer der Wermuthstropfen, welche Karl sofort seinem Diener in den
Siegestrank mischte.
Den hessischen Schwiegervater hatte Moritz mit dem Kaiser auszusöhnen
unternommen. Der Landgraf unterwarf sich, er ergab sich „zu Gnade und Un¬
gnade" in die Hand des Kaisers. Und nur die Versicherung war dagegen
gewährt, daß das „nicht zu körperlicher Strafe und nicht zu beständigem Ge¬
fängniß" führen sollte. Aber wider sein Erwarten und wider die Meinung
der Unterhändler, des neuen sächsischen und des brandenburgischen Kurfürsten,
wurde Philipp gefangen gehalten. Eine große Unachtsamkeit und Unvor¬
sichtigkeit bei dem Abschluß der Kapitulation hatten sich die beiden Fürsten
zu Schulden kommen lassen. Sie hatten geglaubt überhaupt Freiheit vom
Gefängniß versprechen zu dürfen, während Karl nur ein immerwährendes
ausgeschlossen hatte. Als sie nun empört über die Ueberlistung auf-
brausten und dem Kaiser Treubruch vorwarfen, brachten die kaiserlichen
Staatsmänner sie dazu, daß sie selbst schriftlich das Recht des Kaisers be¬
scheinigen, also ihren eigenen Fehler anerkennen mußten. Sie verlegten
sich auf das Bitten. Man hielt sie hin. Für Moritz war dies besonders
peinlich. Ihm schob die öffentliche Meinung die Schuld für die Gefangenschaft
des Landgrafen zu. Entrüstet bezeichneten damals und bezeichnen heute noch
viele Protestanten ihn als den Verräther, der seinen Stammesvetter beraubt,
seinen Schwiegervater ins Gefängniß des Kaisers geliefert, und diesen Verrath
eben durch den hinterlistigen Abfall von der Sache seiner Glaubensgenossen
vollbracht habe.
Sind diese Vorwürfe begründet? Der erste — ja! Der zweite und letzte
— nein!
Die albertinische Tendenz gegen den ernestinischen Kurfürsten hatte Moritz
voll und ganz in sich aufgenommen. Die territoriale und dynastische Rivalität
ihrer Häuser war er durch einen großen Schlag zur Entscheidung zu bringen
entschlossen. Rechtsverletzungen, Rücksichtslosigkeiten von dem mächtigeren
Nachbar hatte er selbst genug erfahren, — Aussöhnung, gütliche Vergleichung
hatte er mit hastigem Nachdrucke mehr wie einmal gefordert. Daß die
Spannung, wenn sie so weiter gehe, schlimme Consequenzen haben könne,
hatte er nicht verborgen. Aber der Größere legte dergleichen Drohworten des
Kleinen keine Tragweite bei. Und gleichzeitig lockte nun des Kaisers Gunst
ihn mit Aussichten des Erwerbes und der Erhöhung. Ganz gewiß, es ist
der Ehrgeiz des fürstlichen Jünglings, der ihn zu den weiteren Schritten ge¬
trieben hat. Er wollte eine große politische Rolle spielen; er fühlte sich
dazu geschaffen. Die kleine untergeordnete Stellung, die er geerbt, bot dazu
kaum eine Aussicht: Macht war ihm nöthig, und Macht wollte er haben.
Selten ist dieses Verlangen nach politischer Macht so stark in einem Menschen
ausgeprägt gewesen, als in diesem Moritz. Diese Leidenschaft hat seine Seele
ganz ausgefüllt und politischer Ehrgeiz ist die Triebfeder seines Lebens.
Vorwärts zu kommen, war sein Vorsatz. Dagegen wogen die etwaigen Be¬
denken, durch des feindlichen Vetters Sturz zu steigen, bei ihm nicht schwer:
als die That möglich war, griff er zu.
Ich preise dieses Verfahren nicht. Ich tadle es nicht. Ich halte den Vor¬
wurf selbst für theilweise begründet.
Meine Absicht ist nur das wirklich vorhandene Motiv, — die politische
Tendenz, die in der persönlichen Begabung des Mannes und in der über¬
kommenen Situation der Verhältnisse begründet ist, — zu vollem Ausdruck
gebracht zu sehen. Aber die anderen Anklagen sind nicht gerechtfertigt oder
wenigstens nicht in dem üblichen Sinne gerechtfertigt. Daß Landgraf Philipp
ins Gefängniß wandern mußte, war nicht Moritz' Wille, ja es war ihm eine
heftige Kränkung. Sein Fehler war, daß er nicht ordentlich aufgepaßt, nicht
mißtrauisch genug gewesen war. Auch ein begabter Politiker muß eine Lehr¬
zeit durchmachen: und damals ertheilte die Staatskunst des Kaisers diesem
politischen Anfänger eine Lection, die ihm das Blut zu Kopf steigen ließ, die
ihm den bittersten Stachel für immer einpflanzte. Aber er hat etwas gelernt
aus diesem Vorgange, er hat nachher seinem kaiserlichen Lehrmeister die Vor¬
züge seiner Schule selbst bewiesen, in einer Weise, die den Meister noch weit
übertroffen.
Daß Moritz' Gegnerschaft gegen Johann Friedrich und die Schmalkal-
dener nicht den Abfall vom Protestantismus bedeutet, ist schon ersichtlich aus
dem, was ich von seinen Verhandlungen mit dem Kaiser erzählt. Als er ins
Feld zog, betheuerte er seinen Protestantismus noch seinen Landständen, er
theilte ihnen die Zusage des Kaisers mit, daß eine Religionsveränderung in
Sachsen nicht verlangt würde. Er hielt im alten wie im neu erworbenen
Gebiete seine Hand über dem kirchlichen Zustande, wie er bis dahin sich ent¬
wickelt und festgesetzt hatte.
Die allgemeine Ordnung sollte auf dem Reichtstäge in Augsburg 1547
und 1348 erfolgen. Es ist bekannt, wie Karl als Sieger dem Reiche seine
Entschlüsse damals aufgelegt hat. Die kaiserliche Macht wurde zu einer dem
Particularismus bedenklichen Höhe gesteigert. Karls Wille regierte in der
That das Ganze und die Einzelnen. Es ist der Gipfel seines Lebens. Die
Protestanten wurden gezwungen, das Concil zu beschicken. Und so stark war
Karl's Stellung, daß er es durchsetzte, von Seiten der alten Kirche einige Con¬
cessionen den in den Schoß der Kirche zurückkehrenden Ketzern entgegen zu
bringen. Das sogenannte Augsburger Interim ist sein Werk. Wurde es
wirklich den einzelnen Landeskirchen auferlegt, wurde sein Inhalt wirklich im
Leben ausgeführt, so war für den Protestantismus der Anfang vom Ende
gekommen.
In den Augsburger Verhandlungen über diese Angelegenheit machte
Moritz zunächst die ihm gewährten Concessionen geltend, jene ihm zugesagte
Duldung einiger nicht verglichenen Artikel und die mit des Kaisers Zustim¬
mung seinen Landständen garantirte Religionsübung. Nicht von vorneherein
lehnte er seinerseits die Pflicht ab, die kaiserlichen Vorlagen zu erörtern.
Nein, er betheuerte mit großer Geschicklichkeit seine persönliche Bereitschaft
sich dem Kaiser zu fügen. Aber da er doch mit des Kaisers Gutheißen seinem
Lande bestimmte Zusagen gemacht, so sei er verpflichtet nicht ohne seine Land¬
stände dem Reichsgesetze sich zu unterwerfen. Eine persönliche Discussion
zwischen Karl und Moritz hat darüber Statt gefunden. Alles was Karl von
dem neuen Kurfürsten erpreßte, war sein Verzicht auf einen Protest im Reichs¬
tage : er ließ sich überstimmen, ja er betheuerte Alles thun zu wollen, um in
Sachsen das Interim annehmen zu lassen.
Er hat die so schwierige Frage, in der er dem Kaiser nicht beipflichten
konnte, in der er aber auch mit dem Kaiser nicht brechen durfte, dilatorisch
behandelt. Was er eigentlich damit gemeint, das war in Sachsen selbst bald
zu spüren.
Er begann mit seinen Ständen und mit seinen Theologen über die An¬
nahme des Interim zu handeln. Mit viel Geräusch trat er dafür auf; eine
Verhandlung jagte die andere: der Kaiser durfte nicht über ihn klagen. Aber
war es ihm Ernst? wollte er mehr als zum Scheine dem Protestantismus
seiner Landeskirche mit Hülfe des Interim zu Leibe gehen?
Wenigstens Melanchthon, seinen namhaftesten Theologen, schützte er vor
dem Zorne des Kaisers. Er verbürgte sich bei Karl für Melanchthon's fried¬
liches Verhalten, und er beschwor Melanchthon von aller heftigen Polemik
gegen das Interim zu lassen. Ueberhaupt die theologische Kriegführung auf
Seiten der Protestanten gegen die Alte Kirche wollte er einstweilen zum
Schweigen bringen. Nach langen Discussionen kam das Leipziger Interim
zu Stande, eine nicht unbedeutende Abschwächung des Augsburger Religions¬
gesetzes. Das wurde nun verkündigt, es wurde auch eine neue Kirchenagende
angefertigt. Aber wie es mit Allem gemeint sei, legte Moritz selbst einmal
dar für Jeden, der nur verstehen wollte. Er erschien unter seinen Ständen,
nicht in feierlichem Aufzuge, im Jagdcostüme mit Stiefeln und Sporen ganz
ungenirt und zwanglos; er erklärte, er verlange nicht einen Wechsel der
religiösen Ueberzeugung, er sei mit der äußeren Befolgung der angeordneten
Ceremonien zufrieden. Ja, in der Praxis sah man auch davon ab. Lauten
Widerspruch, der des Kaisers Auge auf Sachsen gezogen, duldete er nicht,
aber sonst ließ er die kirchliche Praxis auch ohne Rücksicht auf seine Gesetze
geschehen. Melanchthon bezeugte freudig, daß eine innere kirchliche Aenderung
in Sachsen nicht stattgefunden. An der Spitze der protestantischen Landes¬
kirchen stand und blieb Sachsen; der protestantische Geist fand an dem Kur¬
fürsten Schutz: unter der leichten Hülle des Interim wuchs die Pflanzung,
vor äußeren Anfechtungen leichter bewahrt als durch trotzigen Protest und
Auflehnung wider den Willen des Kaisers.
So eben war Moritz' Art in kirchlichen Dingen. Uebereifrig war er
sicher nicht, — persönlich kam es ihm auf eine Kleinigkeit mehr oder weniger
nicht an; so marschirte er 1548 in einer katholischen Procession ganz offen
mit, sich dem Kaiser gefällig zu erweisen. Wir wundern uns nicht, daß die
protestantischen Zeloten diese, wenn man so will, leichtfertige Weise, diese
äußerliche Manier die kirchlichen Streitfragen zu behandeln nicht billigten, daß
sie ihr Wehe über diesen Judas riefen. Aber eine nüchterne Betrachtung
der damaligen Lage möchte doch wohl der erfolgreichen Rechnung des Fürsten
beistimmen. Es dürfte doch die Meinung nicht ganz ungegründet sein, welche
grade dieser kursächsischen Taktik ein Hauptverdienst um die Erhaltung der
protestantischen Landeskirche zuschreibt.
Und wie die Kirche seines Landes seiner Politik den Schutz ihres Be¬
standes dankte, so richtete sich auch unermüdlich seine Pflege und Sorge auf
das Schulwesen in seinen Gebieten hin. Die innere Verwaltung des Landes
war überhaupt von einem Geiste sorgsamer aufmerksamer Thätigkeit geleitet:
Ordnung und Zweckmäßigkeit sind nach allen Richtungen des inneren Staats¬
lebens die Merkmale seines Thuns.
Er selbst ist und bleibt ein merkwürdiger Mensch.
In Erstaunen versetzt uns immer aufs neue die frühe Reife und Selbst-
ständigkeit seines politischen Wesens. Und nicht in der Darlegung genialer
Conceptionen, großartiger Entwürfe, nicht in dem Erfassen weiter Gesichts¬
punkte oder ferner Ziele beruht der eigenthümliche Zauber, mit dem sein
Thun den politischen Beobachter anzieht; nein er lebt immer ganz im Moment,
er scheint immer nur das nächste praktische Ziel im Auge zu haben: sein
politisches System enthüllt sich erst, wenn er die Aufgabe gelöst hat. Viele
Fäden nach den verschiedensten Seiten hin hält er in seiner Hand: dem Zu¬
schauer mag sich das Gewebe oft verwirren, er allein übersieht es mit un¬
getrübter Klarheit. Widersprechende Dinge scheint er gleichzeitig zu betreiben:
der Widerspruch löst sich, sobald der Endpunkt des Unternehmens erreicht ist.
Ein kalter Rechenmeister ist dieser junge Mann, der mit 25 Jahren durch
seine politischen Schachzüge das mächtigste Kurfürstenthum des Reiches an
sich gebracht, der nachher mit 30 Jahren dem Herrn der Welt die Netze ge¬
stellt, in denen Karl's Weltpolitik ihre Niederlage gefunden hat.
Kühl und überlegt, weitschauend und nachhaltig ist seine Politik.
Und doch ist Moritz selbst ein sehr lebhafter, wilder, heißblütiger Geselle.
Er war von mittlerer Größe, zu einer gewissen Fülle der Gestalt hinneigend.
Leidenschaftlicher Jäger, kühner Reiter, schlachtenlustiger Kriegsmann, war er
zugleich beim Spiele, beim Zechen, bei leichtfertigen Weibern nichts weniger als
spröde gesinnt. Zur Zeit des Augsburger Reichstages, in Gegenwart von Kaiser
und Reich hielt er mit seinen Genossen (so erzählt ein Augenzeuge) „also Haus,
daß der Teufel darüber lachen möchte und viel Sägers in der ganzen Stadt
davon war." Sein täglicher Lebenswandel gab vielfach Aergerniß: ihn kümmerte
es nicht. Heftig und aufbrausend war er, dabei aber doch sehr verschwiegen und
sehr zurückhaltend mit seinen politischen Gedanken. Er vertraute gern seinem
Talente, im leichten Gespräche wichtige Dinge zu behandeln und große ent¬
scheidende Abmachungen zu treffen. Seine Briefe sind eine sehr fesselnde Lecture.
Kräftig und saftig, oft cynisch ist Sprache und Ausdruck, — man merkt es
bald, daß man es nicht mit einem trockenen Geschäftsmanne oder mit einem
blos rechnenden Politiker, sondern auch mit einem Manne von lebhaftem
Temperament und stürmischem Blute zu thun hat.
Das Verhältniß zur Gemahlin blieb äußerlich ohne Störung. Sehr jung
war der Ehebund geschlossen; ein geistiges Band scheint aber niemals vor¬
handen gewesen zu sein. Die Herzogin begleitete ihn nicht auf seinen ver¬
schiedenen Zügen und Reisen Sie ließ ihm alle Freiheit, die er nur wünschte.
Sie hatten eine Tochter, die nachher des berühmten Oraniers Gattin ge¬
worden ist.
In seinem Dienste arbeiteten Räthe nicht ohne eigene Erfahrung und
eigene Bedeutung. In die wahren Gedanken des Herrn war keiner von ihnen
eingeweiht: sie erhielten ihre Aufgaben zugetheilt: niemals übersahen sie das
ganze Feld, auf dem Moritz agirte. Zwar schrieb Karlowitz sich das Verdienst
zu, Moritz zum Kurfürsten erhoben zu haben: sehr empfindlich brachte es ihm
Moritz zum Bewußtsein, wie wenig ihm im Grunde an seinem Minister lag.
Es ist eine Scene uns überliefert, die mir wie in photographischem Bilde den
Fürsten und sein Treiben firirt zu haben scheint. Als gerade eine der wich¬
tigsten Entscheidungen zwischen Kaiser und Kurfürst bevorstand, als man in
Spannung der Antwort des Kaisers auf die Fürbitte für die Freilassung des
Landgrafen entgegensah, da wollte Moritz von der Bühne sich entfernen, ein
schönes Weibsbild in München zu seinem Vergnügen zu besuchen. Wie er
eben den Schlitten bestieg, stürzte Karlowitz ihm nach, ihn bittend und be¬
schwörend, zu dem wichtigen Staatsgeschäfte zu bleiben. Darauf aber achtete
Moritz nicht: „ich will nach München fahren", war die einzige Antwort, die
dem Minister zu Theil wurde. Und als jener nun auf offener Straße zu
schimpfen und zu schelten begann, trieb Moritz sein Pferd zum Lauf an, —
und ließ jenen in seinem ohnmächtigen Zorne da stehen und reden! Das ist
eine Probe, wie Moritz seinem persönlichen Lebensgenuß mitten in den größten
Staatsgeschäften nachging — auch ein Beispiel von der selbstbewußten Ironie
und gleichgültigen Sicherheit, mit der er selbständig seinen Weg ging. Er
glaubte es selbst zu wissen, wann er zu scherzen und zu spielen, wann er zu
arbeiten und zu handeln hatte.
Und gab er sich damals, im ersten Besitze der Kur und der bedeutenden
ihm gewordenen Stellung im Reiche, dem Genusse und den Freuden des
Lebens hin, — auch in jener Zeit hielt er die Augen geöffnet und achtete
auf die Anzeichen des politischen Wetters. Als es ihm klar wurde, daß eine
neue Erhebung gegen Karl's Absolutismus und Reactionspolitik im deutschen
Volke sich regte, da warf auch er sich wieder in eine Thätigkeit hinein, die seine
Action kühn und umsichtig für die neue Situation zurichtete.
Er war jetzt noch weniger der Meinung als früher, daß der Protestan¬
tismus aufgegeben werden könne. Sehr bestimmt und sehr deutlich nahm er'
das als die principielle Basis seines Thuns. Einst, 1546, war es ihm nicht
möglich gewesen, zum Schutze desselben mit bewaffneter Macht den anderen
Protestanten sich zuzugefellen: der Gegensatz gegen Johann Friedrich, der
eigene politische Ehrgeiz hatte ihn davon abgehalten. Und die Macht, die
reale Macht, die er anstrebte, hatte ihm damals gefehlt. Eben durch seinen
Anschluß an den Kaiser war ihm diese reale Macht erst zu Theil geworden.
Jetzt hatte er sie in der Hand, — jetzt konnte er anders auftreten. Und seine
Macht wie seinen Kopf stellte er jetzt in den Dienst der protestantischen Sache.
Freilich auch diesmal verband sich ihm das allgemeine mit einem persön¬
lichen Interesse. So lange er sich mit den Ernestinern nicht verglichen, drohte
eine protestantische Erhebung die Errungenschaft des früheren Krieges ihm zu
entreißen. Nach dieser Seite bedürfte er einer Garantie von den Ernestinern
selbst und von den anderen protestantischen Fürsten. Was ihm auf dieser
Seite half, war die in keinem Augenblicke ganz abgebrochene Beziehung zu
dem Schwiegervater und den Schwägern in Hessen. Er ließ es sich angelegen
sein, Landgraf Philipp aus der Haft zu befreien. Alle seine Vorstellungen
halfen beim Kaiser nichts, aber sie befestigten doch seine Verbindung mit
Hessen. Und die hessischen Minister sind es darauf gewesen, welche ihm bei
den anderen Protestanten das Wort geredet haben. Großem Mißtrauen be¬
gegneten zuerst seine Eröffnungen. Nach dem Vorgange von 1546 erwartete
man von ihm nichts gutes. Erst nach und nach wich der Verdacht, nach und
nach ordnete man seiner Führung sich unter.
Es hatte sich schon ein Bündniß einzelner norddeutscher Fürsten gegen
den Kaiser gebildet. Die Pläne des Kurfürsten Moritz mit dieser protestan¬
tischen Defensionspartei zu verbinden, war eine schwierige Sache. Für die
gemeinsamen Aufgaben die Allianz der Franzosen zu gewinnen, war Moritz
leichter. Er übersah die europäische Gegenstellung der großen Mächte; er
wußte wo und wie Hülse gegen Karl zu finden war. Die Ungeschicklichkeit
und Unbehülflichkeit der Schmalkaldener besaß er nicht: so benutzte er die
Chancen des französischen Angriffes auf den Kaiser zu seinem deutschen
Unternehmen.
Und noch an ganz anderer Stelle wußte er einen Verbündeten zu suchen,
— den eigenen Bruder Karl's. König Ferdinand. Durch das Project, seinem
spanischen Sohne Philipp die Nachfolge im deutschen Kaiserthum zuzuwenden,
hatte Karl sich seinen Bruder entfremdet. Offen trat natürlich Ferdinand
nicht auf, aber Moritz wußte genug von dem Verhältnisse der Brüder, er
stand Ferdinand nahe genug, um unter gewissen Verhältnissen auch auf ihn
rechnen zu können.
Das feinste aber war. wie er sich Karl selbst gegenüber verhielt. Immer
noch war er Karl's ergebenster Diener, der die Aufträge der kaiserlichen Politik
ausführte. Trotz der Differenzen in der kirchlichen Angelegenheit, welche 1550
deutlich herausgetreten waren, übernahm es gerade damals Moritz, einen
Strafauftrag des Kaisers gegen das protestantische Magdeburg zu vollstrecken.
Als kaiserlicher Hauptmann zog er zu Feld. Aber ihm war es Gelegenheit
und Vorwand, ein Heer unter seinen Fahnen zu sammeln. das er ohne Ver¬
dacht zu erregen für jede Kriegsthat bereit halten konnte. Und daß er
Achtung gebietend inmitten der Gegensätze stand und mit beiden Seiten zu¬
gleich eine Zeitlang verhandeln konnte, das war die Stellung, die seinem
eigenen Charakter sehr wohl entsprach und für jeden Fall ihn sicher stellen
mußte. Erst als auf protestantischer Seite sich alles das Verwirrte und Feind¬
liche löste, da erst ließ er nach und nach die Maske fallen: ganz offen
erklärte er sich erst, als er schon zum Ueberfalle auf den Kaiser unter¬
wegs war.
Was ist es eigentlich, das den Kurfürsten zu dieser Erhebung gegen den
Kaiser bewogen? Man hat in sehr scharfsinniger Erörterung und Zergliederung
seiner Motive gemeint, die Besorgniß durch einen neuen protestantischen Auf¬
stand um die Früchte seiner früheren Thaten gebracht zu werden, habe ihn
vermocht, sich dem Aufstande anzuschließen, um nicht durch ihn zu verlieren.
Ich gebe zu, daß dies Motiv sich nachweisen läßt. Aber es ist nicht die
Hauptsache. Oder würde Moritz seine sächsische Stellung nicht auch haben
befestigen, ja noch erweitern können, wenn er als wachsamer Vorposten auf
die Symptome der Empörung geachtet und als Vorkämpfer der kaiserlichen
Politik sie bekämpft hätte? Nein, neben den particulären Interessen wirkte auch
auf ihn das allgemeine Princip. Gegen die gewaltsame Regierung Karl's V.
hatte er als Kurfürst mehrfach angekämpft; der Verfassungsänderung wie
Karl V. sie beabsichtigt, hatte er sich widersetzt; dem spanischen Successions-
projecte trat er in den Weg und dem Protestantismus seines Landes ge¬
stattete er zuletzt immer lauteren Ausdruck. Ich meine, jene privaten Ange¬
legenheiten hätte er sehr wohl aus kaiserlicher Seite zu ordnen vermocht: der
principielle Gegensatz, der Protestantismus ist es, der ihm seine Stelle anwies,
für den er 1552 eintrat.
Und folgt man nun der diplomatischen Einleitung dieses Ereignisses von
1552, so liegt es nahe, diesen neuen Bund der Protestanten gegen den Kaiser
mit dem früheren von 1546 zu vergleichen. Wie anders verliefen jetzt die
Dinge! Daß eine starke Hand jetzt die protestantische Sache führe, zeigt sich
auf Schritt und Tritt. Vorsichtig geschahen die ersten Anknüpfungen mit den
anderen Protestanten. Allmälig und langsam wand man sich durch die ent¬
gegenstehenden Hindernisse und Bedenken hindurch. Viele wollten davon nichts
wissen, daß man am besten den Protestantismus gegen den Kaiser verthei¬
dige, indem man den Kaiser angreife. Den Schritt von der reinen Defensive
zu einer offensiven Action kostete Moritz viel Mühe seinen Genossen begreiflich
zu machen. Und auch ohne Frankreich vorzugehen, hielt Moritz für unmöglich.
Bet den Unterhandlungen stellte sich heraus, daß man den Franzosen einen
Preis für ihre Unterstützung^zu zahlen habe, — die lothringischen Bisthümer-
Man gab sie weg.
Für uns Spätere ist das einer der schwersten Vorwürfe, daß die deutschen
Protestanten deutsches Gebiet an Frankreich ausgeliefert haben. Und in der
That, es ist und bleibt immer eine Schmach für eine Nation, wenn sie vom
eigenen Leibe Stücke losreißen muß, des Fremden Hülfe zu bezahlen. Es
frommt nicht, diese Wunde zu verkleistern oder zu verdecken. Aber erklären
und verstehen können wir die historische Thatsache auch hier. Es war das
nationale Gefühl durch das Vorwalten der.kirchlichen Interessen in jener
Zeit bedeutend abgeschwächt: die protestantischen Kirchen zu retten, galt als
das wichtigste, für das man auch schweren Preis zu zahlen sich entschloß. Und
die Hervigkeit unseres Urtheils mildert sich vielleicht auch durch den Hinblick
auf eine ganz ähnliche Abtretung, welche in unserer Gegenwart Italiens
größter Staatsmann demselben Frankreich für eine ähnliche Aufgabe zu ge¬
währen sich hat überwinden müssen.
Wie dem auch sei, Moritz entschloß sich dazu, den Preis zu zahlen für die
Hülfe, die ihm nöthig schien. Seine Sache war es, nicht mehr als eben nöthig
den Franzosen gewinnen zu lassen.
Mit Energie und Rücksichtslosigkeit den Krieg zu führen, war ein weiteres,
zu dem Moritz sich entschlossen. 1546 hatten die Schmalkäldener sich vielfach
mit halben Zusagen ihrer Nachbarn begnügt, die Neutralität wichtiger Terri¬
torien anerkannt. Jetzt hieß es, wer sich widersetzen wolle, den werde man
als Gegner treffen und sein Gebiet als Entschädigungsmaterial für die Kriegs¬
kosten behandeln. Abgesehen war es dabei vorzugsweise auf die gut kaiser¬
lichen geistlichen Fürsten in Mittel- und Süddeutschland. Wer sich aber an¬
schließen wollte, war willkommen. Auf seine Religion wurde nicht gesehen:
Religionsfreiheit für jeden Reichsstand, also auch den katholischen, war die
Parole.
Am kaiserlichen Hofe hatte man von den Bewegungen und Rüstungen
allerdings Kunde erhalten. Karl war nicht ungewarnr. Aber er unterschätzte
die Sache. Nach den Erfahrungen von 1S46 glaubte er nichts Großes den
Protestanten zutrauen zu dürfen. Er meinte, es sei noch immer möglich die
Gegner zu zertheilen und zu zerstreuen: er urtheilte, des jungen Kurfürsten
Moritz sei er sicher, gegen ihn brauchte er ja nur die Ernestiner loszulassen,
um ihn in Ruhe zu halten. Schwer hat er sich getäuscht. Er erwartete Moritz
bei sich in Innsbruck zu politischen Conferenzen: da kam die Botschaft, mit
feindlichem Heere sei er im Anzug.
Ganz plötzlich war die Erhebung geschehen. Ueberraschend, verwirrend,
niederschmetternd sielen die ersten Schläge. Nach Tirol wälzte sich in stürmischer
Eile der Kriegszug, den Kaiser persönlich zu treffen. Karl hatte so gut wie
nichts entgegenzustellen. Ob irgend welcher Widerstand geleistet werden könne,
hing von Ferdinand ab. Und Ferdinand rieth zur Unterhandlung. zu Con¬
cessionen. Im Auftrage seines Bruders hatte er mit Moritz eine Besprechung
in Linz; sie endete mit einer Vertagung auf S Wochen, nach welcher Frist
eine- größere Versammlung entscheiden sollte. Diese 5 Wochen hatten die
Protestanten also die Hand frei zu militärischen Thaten. Moritz warf sich
auf Tirol. Die Klause wurde erstürmt, die tirolische Landesregierung zog von
den Pässen ihre Soldaten zurück: Ferdinand wollte sein Land nicht neuer
Gefahr aussetzen, um seines Bruders Person zu schützen. In der Hinsicht
stimmte das Ergebniß genau zu Moritz' Berechnung. Mitten in der Nacht
mußte Karl fliehen. Mit genauer Noth gelang seine persönliche Rettung.
Es ist der Todesstoß für Karl's Politik, von dem er sich nicht wieder voll¬
ständig erholt hat.
Ich trete in das Detail der Verhandlungen des Sommers 1552 nicht
ein. Dem widerstrebenden Kaiser wurde von Ferdinand und von der Ma¬
jorität der am Kriege nicht betheiligten Fürsten im sog. Passauer Still¬
stande die Concession abgerungen, welche die Duldung der protestantischen
Kirchen, die Aufhebung der Resultate von 1548 bedeutete.
Dafür verzichtete der Fürstenbund auf territoriale Veränderungen in
Deutschland. Dem Franzosen wurde gleichzeitig begreiflich gemacht, daß die
bewilligte Annexion der lothringischen Bisthümer ihm im rheinischen Elsaß keine
Ermächtigungen ertheilt habe.
Das Resultat von 1552 ist vorzüglich das Werk des Kurfürsten Moritz.
Wenn er vor wenigen Jahren mitgeholfen, die spanisch-katholische Politik des
Kaisers zur bestimmenden Macht über Deutschland zu erheben — so war eS
jeht sein Werk vor allen, daß Karl's Tendenzen aus Deutschland herausge¬
schlagen wurden. Die officielle Anerkennung und Duldung der protestantischen
Kirchen ist sein Verdienst.
Was er also erbaut hatte, war er nun zu schützen und zu erhalten bereit.
Unruhige Elemente waren noch genug vorhanden. Sein Kriegsgenosse von
1552 Markgraf Albrecht war nicht durch den Frieden zufriedengestellt. Der
Kaiser selbst wühlte und intriguirte. den Boden des Passauer Vertrages wieder
zu erschüttern. Allem traten die beiden entgegen, welche sich 1552 verständigt
hatten, — Ferdinand und Moritz. Schon im Jahre 1553 hatte Moritz zum
Schutze des Friedens wieder zu schlagen. Gegen Markgraf Albrecht mußte
er zu Feld ziehen. Es kam bei Sievershausen zum Treffen, am 9. Juli
1553. Das sächsische Heer siegte. Aber Moritz war schwer verwundet. Und
bald nachher am 11. Juli gab er seinen Geist auf, — etwas mehr als 32
Jahre alt.
Was seine letzten Ziele gewesen, wer will unternehmen es zu sagen? Auch
1553 stand er wieder in geheimen Verhandlungen mit Frankreich. Gerüchte
gingen viele herum: einen großen Angriff auf den Kaiser habe er geplant,
seine Erhebung zum römischen Könige d. h. also an die Spitze des deutschen
Reiches hätten ihm die Franzosen angeboten. Ob das begründet gewesen?
In der Weise, wie es uns heute angedeutet vorliegt, klingt es sehr unwahr¬
scheinlich — war doch der römische König Ferdinand. Karl's Bruder, damals
sein Alliirter. Was er in Gedanken geführt, das können wir nicht wissen.
Aber daß er etwas beabsichtigt, etwas mehr als die Niederhaltung Albrecht's,
das anzunehmen berechtigt uns seine Action von 1546 und 1552. Auch da¬
mals hätte vor dem Ziele Niemand zu sagen gewußt, welches das wirkliche
Ziel seiner vielseitigen Thätigkeit in jedem Falle war. Diesmal war er vor
dem Abschlüsse selbst weggerafft, — und damit ist uns der Schlüssel seines
Geheimnisses für immer entzogen.
Und übersieht man, was Moritz schon bis dahin in den Anfängen
seines politischen Lebens, in dem Lebensalter, in welchem meistens die
politischen Charactere noch nicht zu ihrer vollen Reife gelangt sind, in einem
Zeitraum von sieben Jahren erreicht und geleistet hat, — die Gründung einer
bedeutenderen norddeutschen Hausmacht und die Sicherung des Religionssriedens
für den bedrohten Protestantismus — dann erhebt sich wie von selbst in uns
die Betrachtung, daß Größeres, wirklich Großes bei längerem Leben ihm noch
möglich gewesen wäre! Und hätte ein Mann seines Geistes noch weiterhin
über den Geschicken seiner Nation gewacht, und die Führung der Angelegen¬
heiten noch weiterhin in seine Hand genommen, es ist nicht zu sagen, wie an¬
ders die deutsche Geschichte sich gestaltet haben würde!
Die volle Bedeutung eines Staatsmannes für sein Volk ist ersichtlich
aus dem, was er gethan und vollbracht hat — sie wird aber ebenso fühlbar
in der Lücke, die sein vorzeitiges Abscheiden unausgefüllt hinter sich zurückläßt.
Dieser retsende Zeitungscorrespondent Mr. Henry Stanley ist in der
That ein höchst merkwürdiger Mensch. Sein Werk: „Wie ich Livingstone
auffand" ist ein mächtig dickes Buch und auf der braunen Decke mit einer
Goldvignette geziert, die uns die Scene vorführt, wie Livingstone und Stanley
sich in Udschidschi treffen. Wenn man den etliche Pfund schweren Band in
der Hand wiegt, so kann man seine Bewunderung dem Verfasser nicht ver¬
sagen, der erst Anfang August in Europa eintraf, seitdem Dutzende und
Dutzende von Zeitungsartikeln schrieb, bei zahllosen Versammlungen und
Zweckessen als Redner auftrat, England und Schottland bereiste — und Anfangs
November einen reich illustrirten, mit Karten versehenen Band von 720 Seiten
fix und fertig dem staunenden Publikum vorlegt. Das mache ihm jemand
einmal nach! Wir brauchen wohl kaum zu bemerken, daß ein solches Werk
nothwendigerweise Spuren der Flüchtigkeit trägt; doch wollen wir über diese
hinwegsehen und dafür das prächtige Erzählertalent, die erstaunliche Frische,
den Fleiß bei der Zusammenstellung der Arbeit, den Muth und die Selbst-
verläugnung des Verfassers hervorheben, der seine halb ritterliche, halb geschäft¬
liche, immerhin lebensgefährliche Sendung mit so großem Geschick durchgeführt.
Das Buch beginnt mit der bekannten Geschichte, wie Herr Bennett, der
Eigenthümer des „New-York Herald", im Grand Hotel zu Paris eine mitter¬
nächtliche Unterhaltung mit Stanley hat und ihn beauftragt, den Orient
und Afrika zu bereisen. Sein Auftrag lautet zu besuchen und zu schildern:
den Khedive und Suezcanal, Sir Samuel Baker und den Nil, Jerusalem,
den Sultan und Konstantinopel, die Krim, den Kaukasus, das kaspische
Meer, Persepolis, Bagdad, Persien und Indien; endlich soll er Livingstone
in Jnnerafrika suchen. Gewiß ein Auftrag, wie er noch keinem Reporter er¬
theilt wurde! Aber Stanley sagte?es und reiste ab. Das ereignete sich im
Oktober 1869, und im Januar 1871 bereits, also nach fünf Viertel Jahren,
hatte er auf der Nilinsel Philae ein Duell zwischen dem Hauptingenieur
Baker's und „einem tollen Franzosen" verhindert, er war in der Grabkirche
gewesen, hatte mit dem Gesandten der Vereinigten Staaten die Moscheen Stam-
buls besucht, auf den Wällen Sebastopols gestanden, mit dem Civilgouverneur
des Kaukasus in Tiflis dinirt, in der russischen Gesandtschaft zu Teheran
gewohnt, seinen Namen auf die Ruinen von Persepolis geschrieben, war durch
Persien nach Indien gereist und von Bombay über die Insel Mauritius
nach Sansibar an der ostafrikanischen Küste. Das ist eine Leistung; keine
Frage. Wie Stanley schildert, davon möge die nachstehende Beschreibung des
großen Handelsemporiums Sansibar einen Begriff geben. „Ich schlenderte
durch die Stadt. Ich empfange den Eindruck enger, winkliger Gassen, wei߬
getünchter Häuser, mörtelgepflasterter Straßen in den sauberen Quartieren;
ich sehe Alkoven zu beiden Seiten, vor denen rothbeturbante Banianen sitzen,
und schmutzige Sommerwollstoffe, Drucke, Calicos, kurz allerlei im Hinter¬
grund. Oder Fluren, dicht bedeckt mit Elephantenzähnen, oder dunkle Winkel
in denen rohe Baumwolle aufgestapelt liegt, Borräthe von Eisenwaaren,
Nägeln, Geräthschaften. Das Alles im Banianenquartier. Dann wieder
Straßen mit üblem Geruch, ja stinkend, mit Schweiß gebadeten gelben und
braunen Körpern, auf denen wollhaarige Köpfe sitzen, hingelungert vor die
Thüren elender Hütten, keifend, lachend, schandernd, dazu der untermischte Ge¬
ruch von Häuten, Theer, vegetabilischen Abfällen, Excrementen — das ist das
Negerquartier. Dann wieder Straßen mit hohen, solid ausschauenden Häusern,
flachdachig, mit großen geheizten Thorwegen, Bronzeklopfern, mit Portiers, die
mit untergeschlagenen Beinen dasitzen und am Thore die Besucher empfangen;
ich sehe eine schmale, seichte Seezunge ins Land treten, darauf Dhaus (arabische
Fahrzeuge), Canoes, Boote, ein oder zwei im Schlamm der Ebbe liegende
altmodische Schleppdampfer; wieder taucht vor mir auf „Nasimoja", „Ein
Cokosbaum", wohin allabendlich die Europäer mit langsamem Schritte wan¬
deln um die frische Luft zu schöpfen, welche über die See herstreicht, während
der Tag vergeht und die rothe Sonne im Westen sinkt; oder ich sehe die
Gräber einiger Matrosen, welche ihre Ankunft in diesem gefährlichen Klima
mit dem Tode bezahlten; oder ich erblicke das große Haus, in dem Dr. Tozer
lebt, der Missionsbischof von Centralafrika, und worin die Schule für kleine
Afrikaner ist. Und noch viele andre Dinge sehe ich."
Stanley ging sofort an die Organisirung seiner Expedition ins Innere.
Von all seinen Arbeiten und Unternehmungen giebt er einen vorzüglichen,
ins Einzelne gehenden Bericht, wobei auch manche persönliche Gehässigkeiten
gegen den englischen Consul in Sansibar, Dr. Kirk, mit unterlaufen, die
wir hier übergehen können. Es lag Stanley daran, den Zweck seiner Expe¬
dition völlig geheim zu halten und so täuschte er die Europäer in Sansibar
über dieselbe; nur so ganz nebenbei fragte er nach Livingstone, über den er
natürlich Zuverlässiges nicht erfuhr. Mit großer Energie wurden die Vor¬
bereitungen rasch betrieben und dabei nur ein Fehler begangen. Stanley
engagirte als Gehülfen zwei englische Matrosen, Farquhar und Shaw, ein
paar trunkene, nichtsnutzige, herabgekommene Subjecte, welche ihm im Innern
viel Aerger verursachten, dort aber auch beide starben. Mit den Eingeborenen
dagegen war er glücklicher, da er mehrere der ehemaligen Begleiter des
Reisenden Speke engagiren konnte. Nach einem Monat angestrengter Arbeit
hatte Stanley seine Tauschmittel, seine Garde, seine Esel und Pferde bei¬
sammen, die in vier arabischen Dhaus nach dem Festlande, nach dem Kara-
vanenausgangspunkt Bagamojo übergesetzt wurden. Genau wird berichtet von
den „Askari" oder bewaffneten Dienern, von den „Pagasi" oder Trägern, von
den „Doll", den Zeugballen, von den „Fundo" oder Perlen, von den Kupfer-
drahtrollen, die alle als Geld und Tauschmittel dienten, um Stanley und
seine aus 192 Menschen bestehende Karavane im Innern zu unterhalten.
Sechs Wochen verbrachte er in Bagamojo bis alles in Ordnung war; dann
nahmen die Pagasis ihre Bündel auf den Kopf, die Esel wurden gesattelt
und beladen, Stanley — Bana Mkuba oder der große Herr genannt — stieg
zu Pferde; der Kirangosi oder Führer entfaltete das amerikanische Banner
mit den Sternen und Streifen, die Aftare feuerten eine Salve ab — und fort
ging es, dem Innern Afrikas zu.
Ehe wir aber dem reisenden Correspondenten weiter folgen und von
Unjanjembe, Udschidschi, Tanganjika u. s. w. reden —Namen, die manchem
Leser fürchterlich klingen — wollen wir etwas orientirend geographisch ver¬
fahren und bitten den Leser eine Karte zur Hand zu nehmen. Die Insel
Sansibar, von wo die Expedition ausging, wird vom sechsten Grade südlicher
Breite geschnitten. Am Festlande ihr gegenüber, nur durch einen wenige
Meilen breiten Kanal getrennt, liegt Bagamojo, der Ausgangspunkt der
Karavanen nach dem Innern. Die Karavanenstraße führt gerade in west¬
licher Richtung nach einem Stapelplatz Namens Unjanjembe, der in gerader
Linie etwa 90 deutsche Meilen vom Meere entfernt ist. Hier haben die arabischen
Kaufleute Niederlagen von Elfenbein und Sclaven errichtet. Wieder weiter
westlich von Unjanjembe, etwa 80 deutsche Meilen von letzterem entfernt,
liegt der Handelsplatz Udschidschi am östlichen Ufer des großen Tanganjikasees.
Wenn die schwarzen Eingeborenen und ihre Häuptlinge in diesen Gegenden
nicht unter sich oder mit den Arabern in Krieg verwickelt sind, so ist die Straße
für eine größere Karavane ohne Gefahr zu passiren. Sind jedoch Fehden
ausgebrochen, wie zur Zeit als Stanley hier reiste, dann wird der Weg ge¬
fährlich und der Wanderer muß große Umwege machen. Keinenfalls aber ist
der Weg, der meist durch ebenes Land führt, schwierig zu finden. Fluthen
erscheinen als das einzige natürliche Hinderniß, und Führer bekommt man
überall. Die ganze Straße von Bagamojo nach Udschidschi ist so genau be¬
kannt wie die Chaussee von Leipzig nach Berlin und die Schwierigkeiten liegen
nur im Klima und den Eingeborenen. Zunächst hat der Europäer sich mit
dem Fieber abzufinden, von dem er bis zu seiner Ankunft in Udschidschi etwa
ein halbes Dutzend Anfälle zu überstehen hat. Auch seine Leute machen ihm
zu schaffen; sie desertiren, mentem, verlangen höhere Zahlung an Perlen und
Kupferdrath, als ausbedungen, oder sterben auch an der Cholera. Der
Mensch ist eben das schlechteste Transportmittel und in den in Rede stehenden
Regionen Afrikas ist aus verschiedenen Ursachen leider kein anderes verwend¬
bar. Am schlimmsten aber ist der Reisende daran, wenn ihm seine Vorräthe
ausgehen sollten; diese dienen als Tauschmittel, sind sein Geld und ohne dieses
ist auch im „idyllischen" Lande der Schwarzen gar nichts zu haben. Ein
Reisender in Centralafrika ohne Vorräthe ist schlimmer daran als ein Mensch
in Berlin ohne Geld. Führen die Eingeborenen keinen Krieg, ist der Reisende
gesund, seine Karavane im guten Stande, die Wache gehörig bewaffnet, dann
mag er sich wohl befinden; alles hängt dann von seiner Energie, seinem
Muth, seinem Austreten ab. Räuberei kommt selten vor, immer Kriegszeiten
ausgenommen. Das Tributsystem an der Karavanenstraße zwischen dem
Meere und dem Tanganjikasee ist so vortrefflich ausgebildet wie bei uns das
Steuersystem und selbst die betrunkenen Negerhäuptlinge an der Straße sind
weise genug die Karavane nicht zu berauben, damit ihnen die milchende Kuh
nicht verloren gehe. Dagegen enthalten sich auch die sklavenjagenden Araber
an der Straße meist aller Gewaltthaten; ihre „Jagdgründe" liegen weiter
im Innern. Das Land selbst ist, wüste Striche abgerechnet, wohl bevölkert
und die Neger führen Flinten als Waffen, die ihnen von den Händlern zu¬
gebracht werden.
Die Seen, von denen die Rede sein wird, und die sich zwischen 3 Grad
nördlicher Breite und 12 Grad südlicher Breite erstrecken, sind die nachstehen¬
den. Der Panganjikasee, 130 deutsche Meilen von dem Meere entfernt,
von Nord nach Süd gegen 100 Meilen lang und durchschnittlich 15 Meilen
breit, 2800 Fuß über dem Meere. Er hat von Norden her einen Zufluß,
den Rusisi, keinen bekannten Abfluß und steht mit den übrigen Seen Jnner-
afrikas in keiner Verbindung. — Nördlich vom Tanganjikasee erstreckt sich
etwa gleich lang und groß der Montan Nzige, 1864 von Baker ent¬
deckt und Albertsee getauft. Aus ihm fließt der Hauptarm des Nil ab.
Höhe dieses Sees über dem Meere 2720 Fuß. — Oestlich von dem obenge¬
nannten liegt ein großer See, der Ukerewe, 1858 von Speke entdeckt und
Vietoriasee getauft. Sein Abfluß, der Somerset, geht in den Montan Nsige,
mithin ist der Ukerewe der eigentliche Quellsee des Nil. An seinem südlichen
Ufer fand Speke 1858 eine Höhe von 4700 Fuß über dem Meere, an seinem
nördlichen aber, auf seiner zweiten Reise mit Grant 1862, 4300 Fuß. Hieraus
kann man, wenn keine Messungsfehler vorliegen, schließen , daß der Ukerewe
aus zwei oder mehreren, näher zu erforschenden Seen besteht. — Südlich
und westlich vom Tanganjikasee liegt eine Reihenfolge von Seen, die Living¬
stone seit dem Jahre 1868 entdeckte, die durch Flußläufe mit einander ver¬
bunden sind und deren schließlichen Verlauf Livingstone nicht kennt; er ver¬
muthet jedoch die Quelle des Nil in diesen Seen und Flüssen gefunden zu
haben, eine falsche Ansicht, denn neuerdings ist von Dr. Behm unter Berücksich¬
tigung alles einschlagenden Materials nachgewiesen worden, daß die Flüsse
und Seen, welche Livingstone entdeckte, den oberen Lauf des an der afrikanischen
Westküste mündenden Congo ausmachen. Wir haben uns hier mit den
Gründen für diese unsrer Ansicht nach durchaus zutreffende Meinung nicht
aufzuhalten, sondern skizziren nur flüchtig das Fluß- und Seensystem, welches
Livingstone entdeckte. Zwischen 10 und 11" südl. Br. fließt, südlich vom
Tanganjika-See von Osten nach Westen der Tschambesistrom — nicht zu
verwechseln mit dem weiter gelegenen Sambesi — und mündet in den großen,
von Ost nach West sich erstreckenden, etwa 4000 Fuß über dem Meere ge¬
legenen Bargweolosee. Dieser hat einen nördlichen Abfluß, den großen
Luavulastrom, der in den Moero-See fällt, aus diesem heraus tritt und
in den Kamolondo-See geht. Wiederum tritt am Nordende des letzteren
ein Fluß in mannigfachen Krümmungen heraus, Webb's Lualaba genannt,
der in einen etwa 2000 Fuß hoch gelegenen, noch nicht besuchten Namen¬
losen See mündet. Der obere Congo durchläuft also unter verschiedenen
Namen vier Seen. In den Lualaba fällt aber noch der Loekifluß, welcher
ein Abfluß des weiter westlich gelegenen Lincolnsees ist. Es handelt sich
also bei Livingstone's Entdeckungen um nicht weniger als um fünf neue Seen.
Freilich fünf Jahre mühevoller Arbeit hatte es den großen Forscher gekostet,
ehe er so weit war und schließlich langte er in Udschidschi an, völlig entblößt
von allen Mitteln, in der peinlichsten Lage. Da traf ihn Stanley, just zur
rechten Stunde.
Nachdem wir solchergestalt die Leser geographisch orientirt, können wir
den Faden von Stanley's Erzählung wieder aufnehmen. Das erste Unglück,
welches diesen traf, war der Tod seiner beiden Pferde, „die an einer mysteriösen
Krankheit starben." Wir hätten das Herrn Stanley voraussagen können;
unter hundert Pferden vermag kaum eines in Süd- und Jnnerafrika, etwa
vom 18. Breitengrade an, auszudauern; die Thiere gehen dort fast alle an
einer klimatischen Krankheit zu Grunde; übersteht aber eines dieselbe, so ist
es acclimatisirt und heißt ein „gesalzenes" Pferd. Die Esel dagegen starben
langsamer hin: das Wetter, Ueberanstrengung und Krokodile machten ihnen
den Garaus und nicht ein einziger erreichte Udschidschi. Die Landschaften am
Wege, die Stanley durchzog, waren von außerordlicher Abwechslung und zum
Theil sehr schöner Scenerie. Wir lesen von dichten Urwäldern, von wüsten
Plateaus, zahlreichen kleinen Dörfern, ungeheuer ausgedehnten mit Getreide
bestellten Flächen. Im allgemeinen war das Land da, wo der Boden frucht¬
bar ist, wohl bevölkert und gut angebaut. Der Weg war regelmäßig und
wenn auch keine europäische Chaussee, doch fortwährend belebt; viele arabische
Karavanen begegneten dem Reisenden, dann folgten lange Reihen von Trägern
mit Elfenbein beladen, oder eine Sklavenkette, mit dem Halse in Holzgabeln
gesperrt, aber meist fröhlichen Muthes. Drei Wochen war Stanley von
Bagomojo unterwegs als ihm ein Araber, Saum Ben Raschid, begegnete,
der nicht weniger als 300 Elephantenzähne nach der Küste transportiren ließ.
Von ihm erhielt Stanley die ersten Nachrichten über Livingstone. Er hatte
den wandermüden Forscher in Udschidschi getroffen, Hütte an Hütte mit ihm
gewohnt und beschrieb ihn als alt, mit langem grauem Bart, durch schwere
Krankheit herabgekommen und geschwächt. Aber das war schon vor sehr
langer Zeit gewesen. (Schluß folgt.)
Die clericale Mehrheit des tiroler Landtags gab schon oft und viel zu
reden von ihren Sondergelüsten, ihrem wunderlichen Staatsrecht, dem Veto
der Bischöfe in Schulsachen, dem Privileg zur Ablehnung der Kriegshülfe,
ihrem Wahrspruch über die Decemberverfassung u. tgi. in. Aber ihre jüngste
Leistung hat unseres Erachtens die früheren doch fast in Schatten gestellt.
Am 8. Oktober dieses Jahres versammelte sich im Palaste des Fürsten
Salm zu Wien ein föderalistisches Kränzchen, worin auch Tirol mannhaft
vertreten war. Die Vorkämpfer der österreichischen „Rechtspartei" beschlossen
beharrlichen passiven Widerstand gegen die Decemberverfassung durch Nicht-
beschickung des Reichsrathes und seiner Delegationen, eventuell auch der Land¬
tage. Diesen parlamentarischen Strike recht drastisch in Scene zu setzen war
Niemand geschickter als der Jesuitenklub im tiroler Landtage. Im Vertrauen
auf seine mächtigen Helfer übernahm er die Initiative. Anlaß dazu gab die
Rektorwahl an der Universität Innsbruck. Damit verhielt es sich folgender-
maßen.
Das provisorische Gesetz vom 29. September 1849 verordnete, daß der
Rektor an sämmtlichen österreichischen Universitäten nur aus der Zahl der
ordentlichen Professoren, d. i. solcher, die vom Kaiser ernannt und auf die
Staatsgesetze vereidet sind, ernannt werden solle. Der Concordatsminister
Graf Leo Thun hob indessen zu Gunsten der Jesuiten, denen die neuerrichtete
theologische Fakultät in Innsbruck auf Grund einer kaiserlichen Entschließung
überantwortet wurde, diese Bestimmung auf, und bedeutete in einem an den
akademischen Senat daselbst gerichteten, aber nie veröffentlichten Erlaß vom
6. November 1867, „daß jene Priester der Gesellschaft Jesu als Professoren
der theologischen Fakultät ohne weiteres anzuerkennen sein werden, welche
der Vorstand der Ordensprovinz dem akademischen Senate als solche namhaft
machen wird," und erklärte die akademischen Gesetze auch gültig für die Wahl
des Universitätsrektors aus dieser Fakultät. Hiernach mußte das Rektorat
der Reihe nach je im dritten, und, nach Errichtung der medicinischen Fakultät
je im vierten Jahre, einem Jesuiten übertragen werden. Da mit derselben
Würde auch ein Sitz im tiroler Landtag verbunden ist, ergab sich schon
wiederholt, daß die Vertretung der Wissenschaft daselbst einem Jünger Loyola's
zufiel. Gegen diese höchst eigenthümliche Einrichtung, wodurch die Männer
der Finsterniß zu Wortführern des Lichtes bestellt wurden, legten, angesichts
der Heuer wiederkehrenden Zwangswahl eines Jesuiten, die Professoren der
drei weltlichen Fakultäten schon um letzte Ostern beim Unterrichtsminister
Verwahrung ein. Herr v. Stremayr fand sich hierauf veranlaßt, in einer
Verordnung vom 26. Juni auszusprechen, daß der Rektor der Innsbrucks
Universität bis auf Weiteres nur von den weltlichen Fakultäten zu wählen sei.
Dieser Erlaß und die Rektorwahl, die in Folge desselben auf Dr. Ullmann,
einen Professor der juristischen Fakultät, fiel, griff den Affiliirten der Jesuiten
tief ins Herz, namentlich dem fanatischen Ignaz Giovanelli, dem Führer
der verfassungsfeindlichen jesuitischen Clique im Landtag. Da ein bloßer Protest
die von der Regierung bereits genehmigte Rektorwahl nicht umstoßen und dem
weltlichen Rektor den Eintritt in den Landtag nicht verwehren konnte, ver¬
faßte er eine Jnterpellation, in welcher er die ministerielle Verordnung als
einen „Gewaltakt", eine „Verletzung der heiligsten religiösen Gefühle des
Landes", einen „Eingriff in die Rechte des Landtags" und eine „tiefe Krän¬
kung der eigenen Ehre seiner Mitglieder" bezeichnete. Daran knüpfte sich die
Anfrage: „Ist die hohe Regierung gesonnen, das ungesetzliche Borgehen, in¬
sofern dadurch der tirolische Landtag getroffen wird, gut zu machen, und in
welcher Weise?" Zugleich erklärten die Unterzeichner dieser Jnterpellation,
daß sie zwar während der nächsten acht Tage noch an den Landtagssitzungen
theilnehmen, jedoch wenn eine „genügende" Erklärung während dieser Frist
nicht erfolgt wäre, oder dem Professor Ullmann das (beim Eintritts vorge¬
schriebene) Handgelöbniß abgenommen würde, von den weiteren Sitzungen, an
denen sich dieser Professor betheilige, wegbleiben würden. Da zur Beschlu߬
fähigkeit des Landtags die Anwesenheit von wenigstens 36 Mitgliedern erfor¬
derlich ist, und beim Ausbleiben vieler Wälschtiroler die gewöhnliche Zahl sich
auf höchstens 52 (statt auf statutarisch 68) erstreckt, so lag in dieser Erklärung
der 30 jesuitischen Interpellanten zugleich die Drohung, den Landtag zu schlie¬
ßen, falls ihnen die Regierung nicht zu Willen wäre. Daß sich diese so tief er¬
niedrigen werde, glaubten sie selbst nicht und stützten hierauf ihren Plan.
Denn wenn der Landtag beschlußunfähig wurde, so war auch den Wahlen
für die im Reichsrathe erledigten fünf Sitze, und den in Aussicht stehenden
Verhandlungen über Tchulfragen und Landwehr ausgewichen, und damit das
Programm der „Rechtspartei", so weit es sich dem passiven Widerstand gegen
die Neichsrathsbeschickung und alle Reichsgesetze in Schul- und Wehrsachen
zur Aufgabe machte, glänzend erfüllt.
Der Landtag wurde am 6. November eröffnet. Der Statthalter Graf
Taafe legte schon in den ersten zwei Sitzungen die Gesetzentwürfe über
Schulaufsicht, Errichtung und Erhaltung der Volksschulen. über die Regelung
der Rechtsverhältnisse ihrer Lehrer, endlich über die theilweise Abänderung des
Statuts der Landesvertheidigung vor. Bei Beginn der zweiten Sitzung am
7. November wurde die Jnterpellation der Jesuiten verlesen. Der Statthalter
erwiderte darauf zunächst, daß Universitätsangelegenheiten nicht zur Competenz
des Landtags, sondern zu derjenigen der Regierung gehören. Er werde daher
rücksichtlich der Beantwortung des Schriftstückes die höhere Weisung abwarten.
Als aber sein Schützling, der jesuitenfreundliche Landeshauptmann Dr. C. Rapp
den Rektor bei Abnahme des Handgelöbnisses der neu eingetretenen Landtags¬
mitglieder überging, diese auch auf wiederholtes Ersuchen Ullmann's verweigerte,
hatte Graf Taafe nicht ein Wort der Einsprache gegen diese Mißachtung
des Gesetzes, erkannte damit vielmehr, in offenem Widerspruch mit seiner
früheren Erklärung, das Recht des Landtags an, über die Zulassung des
Rektors zu entscheiden.
Gegen dieses pflichtwidrige Vorgehen des Landeshauptmanns legten die
verfassungstreuen Abgeordneten und die drei weltlichen Fakultäten energisch
schriftliche Verwahrung ein. Gleich zu Anfang der Sitzung vom 9. wurden
zwei dieser Proteste verlesen. Als aber auch die übrigen verlesen werden
sollten, forderte verabredeter Maßen einer der leidenschaftlichsten Söldner der
Jesuiten, unter maßlosem Unglimpf über die Erzieher der künftigen Intelligenz
des Landes und unter schmählichen Denunziationen wider die Presse, zur Ge¬
nugthuung für den Landeshauptmann einfachen Uebergang zur Tagesordnung.
Die Entgegnungen Dr. Ullmann's und seines Amtsgenossen des Professor
Wildauer verhallten natürlich an tauben Ohren. Die Landtagsjesuiten setzten
ihren Willen durch.
Die Entscheidung stand nun beim Rathe der Krone, und zwar, da es
sich voraussichtlich auch um Schließung oder Auflösung des Landtags handelte,
in letzter Instanz beim Kaiser. Während die Jnterpellation die Regierung
ganz unverholen vor die Thüre setzte, glaubte diese nicht nachsichtig genug
vorgehen zu können. Man wollte den Landtag zunächst die fünf Wahlen zum
Reichstag vollziehen lassen, wenn man auch wußte, daß die Herren so wenig nach
Wien kommen würden, wie die bisherigen vier Abgeordneten. Dann wollte man
die Beantwortung der Jnterpellation ablehnen, den Landeshauptmann zur Ver-
eitung des Rektors auffordern, und bei fortgesetzter Widersetzlichkeit der Inter¬
pellanten den Landtag schließen. Diese weise Maßhaltung ist nur dadurch
erklärlich, daß für ein schärferes Vorgehen die allerhöchste Genehmigung nicht
zu erlangen gewesen sein dürfte.
Kaum hatte Graf Taafe diese ministeriellen Aufträge erhalten, so berief
er seinen getreuen Freund, den Landeshauptmann Dr. C. Rapp in die
innsbrucker Hofburg um mit ihm abzumachen, „wie die Comödie zu Ende zu
spielen sei." Denn die Jesuiten wünschten die Umgehung des Handgelöbnisses,
die Regierung die Vermeidung eines Skandals bei Schließung des Landtags.
Die Sitzung vom 13. war zur Abwickelung der großen Action bestimmt.
Sie ließ sich sehr friedlich an. Wie im tiefsten Frieden wurden einige Unter¬
stützungsgesuche erledigt, eine Eisenbahn durch das Overtnnthal einstimmig
befürwortet, ein Gesetz gegen den Vogelfang und betreffs der Vertilgung schäd¬
licher Insekten angenommen. Selbst die nun folgenden Wahlen für die
fünf Reichsrathssitze nahm die „Rechtspartei" diesmal nach der weisen Anord¬
nung des Bischofs von Briren ohne Vorbehalt vor und gab ihren passiven
Widerstand gegen die Decemberverfassung nur dadurch zu erkennen, daß sie
mit Zweidrittel Mehrheit lauter Individuen zu Reichsräthen erkor, deren
Nichterscheinen im Reichsrath nicht dem leichtesten Zweifel unterlag. Während
der letzten Abstimmung war der Statthalter eingetreten, um noch vor Schluß
der Sitzung den ministeriellen Bescheid kundzugeben. Er erklärte im Namen
der Regierung, daß dem Landtage nur die Entscheidung über die Zulassung
von gewählten Abgeordneten zustehe, nicht aber jene von Virilstimmen,
namentlich nicht die Prüfung über die Art und Weise der Bestellung des
Rektors. Deshalb lehne die Regierung die Beantwortung der Jnterpellation
ab, und überweise die Verantwortung für alle nachtheiligen Folgen den Inter¬
pellanten. Schließlich forderte er den Landeshauptmann auf, pflichtmäßig dem
Rektor das Handgelöbniß an Eidesstatt abzunehmen. So weit entsprach er
vollkommen seiner Instruction. Alles folgende hingegen beruhte auf seinem
eigenen Belieben und der mit dem Landeshauptmann getroffenen Verabredung.
Um die weitere Ausführung des ministeriellen Auftrages nämlich zu verhindern
verlangte nun im geheimen Einverständnisse mit dem Statthalter jenes vor¬
laute Mitglied der Jesuitenpartei, den Schluß der Sitzung, um die so eben
bekannt gewordene Mittheilung in gebührende Erwägung zu ziehen. Der
Landeshauptmann ließ sofort abstimmen, und die clericale Mehrheit erklärte
sich natürlich für den Antrag. In der Tagesordnung für die nächste Sitzung
am folgenden Morgen fehlte wiederum die Abnahme des Handgelöbnisses.
Aber es kam gar nicht mehr zu jener Sitzung, das Schriftstück, das dem Trotze
der Jesuiten gegen die Regierung die Krone aufsetzt, war schon bereit.
Am 14. früh versammelten sich im Sorbitenkloster beim Bischof von
Brixen sämmtliche Mitglieder der Jesuitenpartei, und unterzeichneten daselbst
die Eingabe an den Landeshauptmann, worin sie erklärten, mit Berufung
auf ihre Jnterpellation und die darauf ertheilte Antwort, den weiteren
Sitzungen des Landtags, an denen Herr Professor Dr. Ullmann theilnehme,
fern zu bleiben. Kurz nach Behändigung dieser Zuschrift, fand sich der
Statthalter beim Landeshauptmann ein, und übergab ihm als Antwort
darauf die Mittheilung: „daß der tiroler Landtag wegen Verweigerung der
nach §. 6 der Geschäftsordnung obliegenden Pflichterfüllung und dadurch
herbeigeführten Beschlußunfähigkeit über besonderen allerhöchsten Auftrag (!)
geschlossen ist." Sollte das Gesetz aufrecht erhalten und die Würde der Re¬
gierung gewahrt werden, so mußte vor allem auf Abnahme des Handgelöb¬
nisses bestanden, und die Interpellanten durch den Landeshauptmann oder
dessen liberalen Stellvertreter gedemüthigt werden. Statt dessen ersparte Graf
Taafe dem Landeshauptmann die wohlverdiente Beschämung und bot den
Jesuiten Gelegenheit, die Sitzungen des Landtags durch Clubbeschluß aufzu¬
heben und die Durchführung des Gesetzes zu hindern. Der Sieg stand daher
auf ihrer Seite, er war die Prämie ihres Trotzes, und die hinkende Antwort
des Statthalters enthielt nur ein Geständniß der ministeriellen Schwäche.
Jeder andere Statthalter hätte für dieses Vorgehen seine Entlassung er¬
halten, Graf Taafe aber sitzt nun auf seinem Posten fester als je. Er gilt an
maßgebender Stelle als der einzig mögliche Regierungsvertreter für Tirol,
und wenn einmal wieder die Fundamentalartikel zum Zuge kommen, als der
künftige Präsident des Ministerrathes. Seine Beziehungen zu hohen Personen
entheben ihn jeder Verantwortlichkeit, und zarte Frauenhände sind bemüht
sie noch enger zu knüpfen. Die schlechte Lösung der Aufgabe, die ihm übertragen
war, dient ihm nur zu neuer Empfehlung bei jener höheren Macht, die wie
aus den Wolken Oesterreichs Geschicke lenkt. Für das gegenwärtige Ministe¬
rium aber ist dieser Vorgang ein neuer Beweis, daß die Wahlreform seine
Lebensfrage ist. In ihr liegt die Grundbedingung des Fortbestandes, die
Bürgschaft der Verfassung.
Am 30. November hat der König die Ernennungen von 24 Pairs voll¬
zogen. Wie verlautet, waren 25 Berufungen beabsichtigt. Die Zahl ist nicht
erreicht worden, weil der Staatsminister Freiherr v. d. Heydt aus Gesund¬
heitsrücksichten die Berufung abgelehnt hat. Offieiell ist die Liste der neuen
Ernennungen erst in der Sitzung des Herrenhauses vom S. December bekannt
geworden, wo der Präsident Graf Stolberg dieselbe verlas. Die meisten
Namen indeß, sowie die Zahl derselben, waren seit Anfang der Woche bekannt,
wo den Ernannten ihre Berufungen zugestellt wurden. Es ist auffallend, mit
welcher Enttäuschung die Ernennungen in einem großen Theil der Presse aus-
genommen worden sind, so daß selbst Organe, die sonst durch klares Urtheil
ausgezeichnet sind, nur Ausdrücke des Mißmuths gefunden haben. Worauf
bezieht sich aber eigentlich die Enttäuschung? Daß bei der veränderten Stim¬
mung eines Theiles der Herren die Ernennungen hinreichen, der Kreisordnung
die Majorität zu verschaffen, darüber kann kein ernster Zweifel aufkommen.
Der Mißmuth hat also keinen Gegenstand als die Voraussetzung, daß eine
Reform des Herrenhauses aufgegeben sei, weil, um diese durchzusetzen, die
Zahl der Ernennungen allerdings nicht ausreicht. Allein — und wir haben
dies schon an dieser Stelle angedeutet — die Reform des Herrenhauses ist
eine so große und eingreifende Maßregel, ihre Folgen für die preußische und
selbst für die Verfassung des deutschen Reiches sind so unverkennbar, daß eine
solche Maßregel ohne die Gegenwart des Ministerpräsidenten und Reichskanzlers
höchstens im Allgemeinen beschlossen werden kann. Die Berufung von Pairs
in so großer Zahl, um die Annahme der Herrenhausreform durch dieses Haus
sicher zu stellen, setzt aber nicht nur den Beschluß jener Reform voraus, son¬
dern auch die Annahme eines bestimmten Planes zur Umwandlung der preu¬
ßischen Verfassung. Wie ist es denkbar, daß ein solcher Plan angenommen
worden sei in Abwesenheit des Fürsten Bismarck, und wie kann Jemand, der
etwas ruhige Ueberlegung besitzt, sich wundern, daß man nicht eine große
Anzahl Pairs beruft, wenn man noch nicht weiß und wissen kann, wofür
sie eintreten sollen? Man käme in die Gefahr, Pairs zu berufen, die für den
Reformplan, über welchen die Negierung selbst erst noch klar und einig werden
muß, auf keine Weise einzutreten im Stande wären.
Wenn nun ein großer Theil der öffentlichen Meinung vor lauter Pessi¬
mismus nicht einmal zu so einfachen Ueberlegungen kommen kann, sondern
sich lieber in Befürchtungen von Intriguen, von Unentschlossenheit, von un¬
sicherem Gang der Regierung gefällt, so ist das doch ein recht ungünstiges
Zeichen für den geringen Grad, welchen der politische Muth und die politische
Einsicht bei uns erst erreicht haben. Bei den harmlosesten Anstößer, bei den
unschädlichsten Verzögerungen geräth die öffentliche Meinung in tausend Aengsten
und schenkt den thörichtsten Gerüchten, welche Leichtsinn oder Böswilligkeit
verbreiten, das bereitwilligste Gehör. Man ist durch ununterbrochene Erfolge der
äußeren und inneren Politik, wie sie Deutschland noch nie erlebt hat, verwöhnt
bis zur Schwäche. Selbst einen kühlen Betrachter können schwere Besorgnisse
anwandeln bei dem Gedanken an die Zeit, die nicht ausbleiben kann, wo die
deutsche Nation die Probe abzulegen hat, was sie vermag ohne eine Alles
bemeisternde Führung. —
Die 24 neu ernannten Pairs sind den Kreisen des höheren Staatsdienstes,
activen und inactiven, in Militär und Civil entnommen, bis auf zwei, welche
dem Stand der großen Grundbesitzer ohne öffentliches Amt angehören. Man
muß sagen, daß die Wahl der Personen durchaus tactvoll getroffen wurde.
Es waren dabei mehr Klippen zu vermeiden, als man sich gewöhnlich klar
macht. So wurde z, B> die Berufung einer Anzahl hervorragender Abgeord¬
neten vermuthet. Nun steht es aber so, daß das Abgeordnetenhaus von den
hervorragenden Befähigungen in seiner Mitte keine einzige entbehren kann,
während es zweifelhaft ist, wo in den außerparlamentarischen Kreisen der
Ersatz nöthigenfalls zu finden wäre. Politisches wie parlamentarisches Talent
sind bei uns noch auffallend selten, am seltensten aber die Verbindung beider.
Dem größten parlamentarischen Talent, das wir seit dem Vereinigten Land¬
tag auftreten sahen, fehlte jede Spur politischer Fähigkeit, und der größte
politische Redner und Denker, den unsere heutigen parlamentarischen Versamm¬
lungen zählen, ist kein parlamentarischer Taktiker, d. h. kein Talent, das sich
bei festem praktischen Wollen zu accomodiren versteht und dadurch zu lenken
und die parlamentarischen Situationen für die Erfolge zu verwerthen. Sehen
wir aber auch von den höchsten Ansprüchen ab, so zählt das Abgeordnetenhaus
dennoch keine entbehrlichen Kräfte, wenn man nicht etwa an solche Namen
sich hätte wenden sollen, die nur bei den Abstimmungen zum Vorschein
kommen. Diese Klippe ist vermieden worden. Allein es gab noch andere
genug. So lange man noch nicht weiß, wie das Herrenhaus zu reformiren
und bezw. zu ersetzen ist, darf keine Berufung von Elementen in dasselbe
stattfinden, die mit seinem Character völlig unverträglich sind. Auch dies
vermieden zu haben, ist ein Verdienst der Regierung, welches mit großer
Wärme ein Redner der bisherigen Majorität des Herrenhauses, der Graf
Schulenburg-Beetzendorf anerkannte. Er begrüßte die neu eingetretenen Mit¬
glieder folgendermaßen: „Ich begrüße Sie wegen der Zartheit, mit welcher
die Wahl Ihrer Personen dem Character dieses Hauses angepaßt ist; ich be¬
grüße Sie wegen der treuen Dienste, welche Sie der Krone und dem Lande
geleistet haben; ich begrüße Sie in Ehrfurcht wegen Ihres Alters." So
konnte ein eifriger Kämpfer der alten Majorität angesichts der neuen Pairs
nicht umhin zu sprechen. Der Ausbruch seines Gefühls war zwar von leb¬
hafter Heiterkeit des Hauses begleitet, aber es war die Wahrheit und nicht
die Unrichtigkeit der Worte, welche diese Heiterkeit hervorrief. Uebrigens
konnte der Redner nicht unterlassen, der Hoffnung Ausdruck zu geben, daß die
neuen Pairs zwar der Kreisordnung, aber doch nicht der Reform des Herren¬
hauses ihre Dienste leihen würden. Dieser Hoffnung gegenüber ist wohl zu
sagen, daß die Haltung der neuen Pairs bei einer etwaigen Reform des Her¬
renhauses von dem Geist dieser Reform abhängen wird, wie es von Rechts¬
wegen bei allen Herren der Fall sein sollte.
Die einzige Ausstellung, die an den neuen Berufungen zu machen wäre,
trifft nicht die Regierung, sondern das schon bemerkte sparsame Vorkommen
der politischen und parlamentarischen Talente. Es möchte unter den neuen
Pairs kein einziger sein, der im Stande wäre, mit einer gewissen populären
Kraft, mit dem Nachdruck einer hohen Stellung und gediegenen Bildung die
wahrhaft staatsmännisch-conservativen Anschauungen zu vertreten, welche nach
dem Beruf, wie er dem Herrenhaus zugedacht ist, daselbst immer die Majo¬
rität haben sollten. Aber wenn es auch nur Eine solche Persönlichkeit gäbe,
so wäre die Regierung an derselben sicherlich nicht vorbeigegangen.
Die Sitzung am 6. December, wo die Kreisordnung wiederum zur
ersten Berathung stand, wurde im Uebrigen von der alten Majorität zwar
reichlich benutzt ihr Herz auszuschütten, aber staatsmännische Gesichtspunkte
fanden sich nur in den Vorträgen des Ministers des Innern. Wie oft ist
nicht der Rücktritt des Grafen Eulenburg als eine Nothwendigkeit grade für
die Reform der Kreisverfassung erklärt worden! — Das sei ein Werk, hieß
es, welches einen ganz anderen Mann erfordere. Wir möchten wohl wissen,
wo der Mann zu finden sein soll, der geeigneter gewesen wäre, die gesunden
und nothwendigen Gedanken der Kreisverfassungsreform an allen in Betracht
kommenden Stellen mit gleichem Glück und mit gleichem Erfolg der Ueber¬
zeugung zu vertheidigen, wie Graf Eulenburg. Noch körperlich unwohl, ent-
gegnete er auch in der Sitzung vom 6. December den aufgebrachten Rednern
der alten Majorität nicht nur mit Schlagfertigkeit, sondern überdies, wie es
einem Minister in der Regel zukommt, ohne zu verletzen und, wie es auch
dem bedeutenden Redner nicht immer glückt, unter treffender Herbeiziehung
allgemein gültiger Wahrheiten. Von den Rednern der alten Majorität da¬
gegen erstieg der Herr v. Kleist-Retzow den Gipfel der Komik, indem er den
Grafen Eulenburg darstellte: inmitten des durch die Kreisordnung herbeige¬
führten Chaos, auf Trümmern seine Cigarre rauchend. Der Kladderadatsch
wird sich dieses Bild nicht entgehen lassen und seine besondere Dankbarkeit dem
Herrn von Kleist-Retzow zu bezeigen nicht verfehlen.
In der Sitzung des Herrenhauses vom 7. December wurde die Special-
verhandlung über die Kreisordnung begonnen und zu Ende geführt. Das
Ergebniß war die unveränderte Annahme des Gesetzes. Eine namentliche
Abstimmung, welche die zuverlässige Constatirung der Majorität gestattet,
fand nur bei einem Paragraphen statt. Danach betrug die Majorität für
die Regierungsvorlage 114 gegen 87 Stimmen. Die Abstimmung über das
Gesetz im Ganzen ist auf den 9. December angesetzt, und wird wahrscheinlich
die definitive Annahme des Gesetzes, vielleicht mit einer etwas kleineren Majo¬
rität ergeben, wenn, wie angenommen wird, noch einige Herren anlangen
sollten, die das Gesetz zu verwerfen entschlossen sind. Aber schon heute kann
man behaupten, daß die Berufung von 24 neuen Herren völlig ausreichend
gewesen ist. die Annahme der Kreisordnung zu sichern. Die Regierung hat
sich nicht verrechnet, sondern ist auf Grund sicherer Ermittelungen vorge-
gangen. Die Pessimisten, deren unaufhörliche Zweifelsucht an dem gedeih¬
lichen Fortgang jeder guten Maßregel wohl nicht bloß Temperamentsfehler,
sondern oft tendenziöses Mannöver ist, sind wieder einmal geschlagen, ohne
daß sie sich bessern werden. —
Das Abgeordnetenhaus hat in der vergangenen Woche die erste (allge¬
meine) Berathung des Staatshaushaltes für 1873 vorgenommen und einige
kleinere Vorlagen von technischer Beschaffenheit erledigt.
Wiederum beginnen wir unsre Umschau auf dem Weihnachtsbüchermarkt mit
Jugendschriften, dießmal aus dem Verlage von Velhagen und Kla-
sing in Bielefeld und Leipzig. Eine stattliche und reichillustrirte Sammlung
für alle Lebensalter tritt uns auch hier entgegen. Vor Allem sind Text und
Bilder aller dieser Jugendwerke Originalien, nicht etwa— nach der Fabrikations¬
methode andrer Literatur verfertigt, alte Artikel oder Cliches aus dem „Da¬
heim", dessen Inhalt der Verlagshandlung zu freier Verfügung gestanden
hätte. —
Wir nennen zuerst Robert Reinick's Märchen-Lieder- und Ge¬
schichtenbuch; zuerst, einmal aus Pietät gegen den Heimgegangenen Ver¬
fasser, sodann weil es unter den uns vorliegenden Werken der Verlagshand¬
lung verhältnißmäßig für das früheste Jugendalter bestimmt ist. Zwanzig
Jahre sind vorüber, seit der Verfasser dieser köstlichen Lieder, Märchen und Er¬
zählungen sein klares Auge für immer geschlossen hat. Aber Alt und Jung
wird sich an dieser zum erstenmale vollständig erschienenen Sammlung der
Jugendschriften heute noch gerade so lebendig und herzlich erfreuen, als seien
sie erst gestern aus der Feder geflossen. Die Zeichnungen und Holzschnitte
sind des Textes würdig, echt künstlerisch erfunden und sorgfältig ausgeführt.
Wenn wir sagten, daß dies Werk sich im Verhältniß zu den übrigen Werken
der Jugendliteratur der Berlagshandlung jüngeren Kindern empfehle, so bietet
es doch auch Größeren und selbst Erwachsenen reichen Genuß.
Der patriotisch-historischen Jugendschriften, welche die Ver-
lagshandlung dieses Jahr für den Weihnachtstisch vorbereitet hat, sind drei.
Zwei davon, verfaßt von Wilhelm Petsch, mit je 8 Illustrationen von
H. Lüders, „Unser Fritz" und der „Eiserne Pri n z" betitelt, schildernder
deutschen Knabenwelt das Leben und die Thaten der beiden königlichen Füh¬
rer, die seit dem dänischen Krieg und dem böhmischen Feldzug, und vollends
seit dem großen Kriege gegen Frankreich, in dem sie den Feldmarschallsstab
sich errangen, auch jedem deutschen Knabenherzen theuer, und leuchtende Vor¬
bilder der Tapferkeit, des Muthes und der Aufopferung für das Vaterland
geworden sind, des deutschen Kronprinzen und des Prinzen Friedrich Karl.
Die Darstellung des reichen Lebens der Prinzen ist gewandt und fesselnd, und
bietet eine Fülle bisher weniger bekannten Materials, namentlich aus dem
Privatleben der Helden. Die Bilder von Heinrich Lüders, der in Böhmen
und in Frankreich bekanntlich selbst mit gekämpft hat, verrathen nicht selten
eigene Local- und Situationsstudien. — Noch höher indessen als diese gefälli¬
gen Schriften, die ihre Stoffe aus dem großen Leben der Gegenwart entneh¬
men, möchten wir das Werkchen Robert König's stellen: „Der alte
Nettelbeck und die Belagerung von Colberg" im Jahre 1807. Hier ist
ein ernstes und liebevolles Studium der besten historischen Quellen über jene
glorreiche Vertheidigung der Stadt Colberg und die Lebensschicksale des bür¬
gerlichen Helden, der so lange den sieggewohnten Schaaren des Frankenkaisers
trotzte, in durchaus schlichter und ergreifender Darstellung verwendet. Alles
ist so lebendig und natürlich erzählt und der Gegensatz jener bösen Tage, wo
der Erbfeind im Herzen unsres Landes stand, mit der stolzen Gegenwart so
anregend zum Nachdenken und selbstredend, daß wir dieses Werk Robert
König's vor Allem den Eltern als eine treffliche Weihnachtsgabe für ihre
Kinder empfehlen möchten. Die Illustrationen von Lüders und der beigege¬
bene Plan der Belagerung von Colberg erhöhen die Anschaulichkeit des
Textes.
Als ein besonderes Verdienst der Verlagshandlung bezeichnen wir die
Wiedererweckung des Schweizerischen Robinson, des ehrwürdigen Jo¬
hann David Wyß durch I. Bonnet zu neuem, und hoffentlich recht
gedeihlichem Leben. Bekanntlich ist dieses Werk unter den zahllosen Robin¬
sonaden, die Daniel Defoe's ewig jugendliches und literansch wie kulturge¬
schichtlich ewig denkwürdiges Werk hervorgerufen hat, lange die verbreitetste
gewesen. Die Erklärung dieser Thatsache ist einfach, wenn man berücksichtigt,
daß die Tiefe der Idee des Robinson von Wyß nahezu diejenige seines Vor¬
bildes erreicht. Der Urrobinson wird Hülflos, ohne alle Hoffnung auf Mit¬
wirkung Anderer auf eine wüste Insel verschlagen, um vor unsern Augen
schrittweise, mit unendlichen Mühen, einen geringen Theil der Erfolge zu er¬
ringen, welche die Kulturwelt, aus der er gewaltsam herausgeschleudert ist,
in Tausenden von Jahren sich zu eigen gemacht hat. In dem schweizerischen
Robinson von Wyß dagegen strandet eine ganze Familie an einer wüsten
Insel, nicht ohne Werkzeug, Schießgeräth u. s. w.; indessen auf seine Kraft
allein angewiesen, wäre doch jedes Glied dieser Familie, wären — na¬
mentlich die Kinder sicherlich den Gefahren. Schrecknissen und Entbehrungen
der Wildniß erlegen. Das Buch will also darlegen den materiellen und sitt¬
lichen Halt, den die Familie gewährt. Es will die Familie darstellen als
dus ursprünglichste und unentbehrlichste Glied in der Kette der menschlichen
Gesellschaft. Dieser hohe Gedanke ist in vorzüglichster und mannigfaltigster
Weise durchgeführt. Die Bearbeitung von I. Bonnet hat sich angelegen sein
lassen, die Längen und veralteten Stellen des Originals auszumerzen und
dafür ein wirklich modernes Buch zu schaffen, ohne doch dem Geiste des Ori¬
ginals irgend zu nahe zu treten; die Bilder von F. Specht und A., über¬
haupt die ganze Ausstattung des Werkes, sind recht gefällig und lehrreich
und selbst ein Plan der Insel ist beigegeben, der, wie uns versichert wird, nach
den besten Quellen gezeichnet ist.
Die Schweiz hat noch in einem anderen Werke derselben Verlagshand¬
lung, und zwar nicht blos dem Namen nach, besondere Berücksichtigung ge¬
funden. August Feierabend, der bekannte, von den Jesuiten gemaßregelte
Se. Galler Arzt, hat „Die schweizerische Alpenwelt für junge und
alte Freunde der Alpen" geschildert, und zwar in einer so anziehenden und
selbständigen Darstellung, daß man das sehr hübsch ausgestattete und durch
dreizehn zweifarbige Tonbilder von Ernst Heyn und Fr. Specht gezierte Buch
wohl als eine Ergänzung der bekannten Alpenwerke von Tschudi, Berlepsch,
Senn u. A. bezeichnen kann.
Zuletzt, doch keineswegs als das geringste der diesjährigen Weihnachts¬
bücher der Verlagshandlung, erwähnen wir Otto Klasing's „Naturge¬
schichte der deutschen Vögel, mit besonderer Berücksichtigung ihrer
Haltung und Wartung, für junge und alte Freunde der Vogelwelt." Der
Verfasser selbst erklärt, sein Werk solle keine systematische und methodische
Naturgeschichte, sondern ein unterhaltendes Buch für Freunde der Natur aus
allen Altern sein. Gewissermaßen ein Buch für Liebhaber der Vögel von
einem Liebhaber geschrieben. Das ist es denn auch geworden. Wer mit
Lust und Liebe die Eigenarten, die Gewohnheiten, die Bedürfnisse und kleinen
Untugenden der deutschen Vögel studiren will, der wird gern die absichtlich
vermiedenen lateinischen Namen und wissenschaftlichen Classificationen der ge¬
fiederten Helden des Buches daran geben für die Fülle eigener Beobachtung,
zuverlässiger, anektodischer und ernster Einzelzüge, welche der Verfasser bietet.
Sehr zahlreiche, treffliche Holzschnitte erhöhen den Werth und das Verständniß
des anmuthigen Werkes für alle Leser-
Noch einmal haben wir eine wirklich reizende Weihnachtsgabe der
Arnoldischen Buchhandlung in Leipzig zu erwähnen. Sie trägt keine
Jahreszahl ihres Erscheinens, wie andere Bücher thun, um sich auf dem
dichtgedrängten Büchermarkt kräftig um das Gefallen zu schlagen, da hier
nach dem Bismarck'schen Worte, ebenso wie im Gesellschafts- und Verfassangs-
leben immer nur die Jüngste am besten gefällt. Dieses Büchlein des Arnol¬
dischen Verlags aber verschmäht die neueste Jahreszahl, und es thut wohl
daran, wie uns dünkt. Denn das kleineDing hat etwas, ja sogar sehr viel
vom Frühling und Sommer an sich, und die fragt man auch nicht, ob sie
heurig sind. Dieses Büchlein spricht uns unwillkürlich an: „mich könntest
Du der Liebsten schenken — wofern Du nämlich nicht ehrsamer Hausvater
bist, und auch dann wird es die Frau nicht verwünschen". Wir denken, dieses
„Tagebuch" könne nie veralten. Es enthält für jeden Tag im Jahr ein
weißes Blatt, das oben mit einem guten Sinnspruch eingeführt wird, am
Fuße die Geburth- und Sterbetage bedeutender Menschen verkündigt. So
tritt man Tag für Tag an mit den Gedanken und Sinnsprüchen hervor¬
ragender Dichter, im Gedanken an die Geburt oder den Heimgang berühmter
Namen auf allen Gebieten menschlichen Strebens. Das ist schon eine Art
stiller Andacht für sich. Wir meinen, dieses Buch könne späten Geschlechtern
noch in die Hand fallen ohne Schaden für uns und sie. Wie uns etwa die
Tagebücher oder Stammbücher unserer Altvordern über die gute alte Zeit,
würde es unsere Nachfahren vielleicht doch anders berichten über die angeblich
so schnöden materiellen Tage, die wir heute nennen. Sie werden sich sagen,
daß die Blüthen und Ranken, die Blumen und Früchte, die Tannen und
Schneebehänge, in denen hier Maria v. Reichenbach die zwölf Monate
des Jahres kunstvoll versinnbildlicht, auch in künftigen Tagen nicht färben-
prächtiger und poetischer aufgefaßt und wiedergegeben werden können, als in
diesem „Tagebuch" um Anno 1872.
In noch ernsterer Weise gemahnt das berühmte Laienbrevier Leopold
Schefer's an den Ernst und die Weihe der enteilenden Tage, an die höchsten Be¬
stimmungen der Menschheit, die in Stunden und Tagen erstrebt werden sollen,
um in Jahren und Jahrhunderten erreicht zu werden. Es ist in Sechszehnter
Auflage bei V eit Comp. in Leipzig in sehr geschmackvoller, eleganter Aus¬
stattung erschienen. Das Werk ist längst mit dem religiösen Gemüths- und
Seelenleben der Gebildeten unsers Volkes so innig verwachsen, daß ein weiteres
Wort der Anerkennung darüber wirklich überflüssig erscheint. Auch die innere
Anordnung des Werkes, das die erbaulichen Betrachtungen jedes Tages durch¬
dringt mit einem das Ganze und Ewige umfassenden hohen und freien Blick,
darf als bekannt vorausgesetzt werden. Dagegen ist unverkennbar, daß die
Sprache und die Gedanken Leopold Schefer's in ihrer Eigenart und Höhe
vorzugsweise zu dem beschränkteren Kreise reichgebildeter und durchgearbeiteter
Menschen reden. Es war daher lange Zeit schon Wunsch der Verlagshand¬
lung, den zahlreichen Nachfragen nach einer populäreren Umarbeitung des
Originals gerecht zu werden. Nun hat sie diese Absicht ausgeführt, ol'. Julius
Bvlla in Hagenau im Elsaß hat das Laienbrevier Leopold Schefer's einer
freien prosaischen Bearbeitung unterzogen, die dem Original in der Anordnung
und Auffassung des Stoffes im Allgemeinen wol ziemlich treu folgt, im Einzelnen
jedoch stets des Zweckes sich bewußt ist, für eine umfangreichere Leserwelt den
ungreifbareren oder übersinnlicheren Ausdruck und Gedanken des Vorbildes in
bestimmteren Rahmen zu fassen. Die Ausstattung dieser fein nachempfundenen
prosaischen Uebertragung gibt derjenigen des Originals an Glanz nichts nach.
Das ernsteste und schwermüthigste aller Werke, die jemals vor der fröh¬
lichen Weihnacht hinausgegangen sind, ist aber unbestreitbar die Sammlung
„Kinderrodtenlieder" von Friedrich Rückert, aus seinem Nachlasse
herausgegeben von Sauerländer's Verlag in Frankfurt a. M. Und den¬
noch, wie viele deutsche Eltern werden nach der Sammlung des großen Dich¬
ters gerne greifen und sie verborgen an die dunkelste Stelle legen unter den
Weihnachtsbaum, die um so dunkler ist, als man dem lieben Heimgegangenen
Kinde nicht „aufbauen" kann am heiligen Abend. In dem Lande der allge¬
meinen Wehrpflicht, zwei Jahre nach dem größten Kriege, den die neue Ge¬
schichte kennt, haben leider sehr viele deutsche Eltern auch erwachsene, kräftige
Söhne zu beweinen, die um die Weihnachtszeit dahinsanken an der Marne
und Loire, bei Amiens und in der Franche Comte, wie die Halme vor dem
Arm des Schmieders. Und Allen, die ein liebes Kind unter den Rasen
betten mußten, klein oder bei Jahren, in der Heimath oder in der
Fremde, wird dieses Buch in Schmerz und Tröstung der beste Be¬
gleiter sein. Denn wenn auch manche der Lieder, welche in die Samm¬
lung aufgenommen sind, wohl nur Rückert's großer Meisterschaft in der
Form ihre Entstehung verdanken, und wohl von ihm selbst aus dieser
Sammlung ausgeschieden worden wären, so ist doch sicherlich selten Eltern¬
schmerz und Elternleid bei dem Tode eines Kindes rührender und ergreifender
im Liede ausgeströmt als hier. —
Trotz der neuerdings veröffentlichten , durch die militärische Stellung ihrer
Verfasser und die Vorzüge ihrer Quellen unvergleichlichen Kriegsschriften des
Mittler'schen Verlages werden die illustrirten Kriegswerke auch neben
jenen streng militärischen Quellenwerken ihren Leserkreis und ihre Berechtigung
noch lange behaupten. Wir meinen natürlich nur diejenigen Illustrationen
aus dem deutsch-französischen Kriege, die wirklich „nach der Natur" auf-
genommen sind, nicht etwa die zahlreichen völlig werthlosen Fabrikate, die für
„authentische Aufnahmen unseres Specialschlachten-Malers" und dergl. aus¬
gegeben werden. Natürlich waren die Herausgeber der großen illustrirten
Zeitschriften am ersten in der Lage, auf diesem Felde treffliches Material zu
sammeln und zu veröffentlichen. So haben denn auch die Verleger der beiden
größten deutschen illustrirten Zeitungen die bedeutendsten Ausgaben illustrirter
Kriegswerke veranstaltet. Eduard Hallberger in Stuttgart und I. I.
Weber in Leipzig. Dem ersten Werke verleiht der Text von Prof. Wil¬
helm Müller einen ebenso hohen Werth wie die sorgfältigen Illustrationen.
Bei dem Weber'schen Werke dagegen „Jllustrirte Kriegschronik 1870/71"
sind entschieden die Illustrationen die Hauptsache; diese aber auch in einer
Treue, Virtuosität und räumlichen Größe vorgeführt wie in keiner andern
Sammlung. In einem höchst eleganten roth-goldenen Einband meldet sich
das Werk auch dieses Jahr zum Feste. Die Landschafts-, Situations- und
Schlachtenbilver der Weber'schen Kriegschronik werden Jedem, der „draußen"
war. mit größter Genauigkeit in vollendeter Ausführung mindestens eine oder
andere der Actionen oder Gegenden vorzaubern, die er in Feindesland gesehen
hat. Als drittes und keineswegs schlechtestes im Bunde der beiden angeführten
illustrirten Kriegswerke, nennen wir das bereits früher wiederholt in d. Bl.
rühmlich erwähnte Kriegswerk von Georg Hiltl, illustrirt von
Woldemar Friedrich u. A. (Bielefeld und' Leipzig, Velhagen und
Klasing, 1873), das nun in 4 Abtheilungen vollständig vorliegt. Ueber die
Vorzüge des Hiltl'schen Textes, die namentlich in gewissenhaftem Studium
des besten vorhandenen Materials neben einer Fülle aus eigenem Augenschein
Gesammelten, und aus eigenen Kriegsfahrten gewonnenen localen und
persönlichen Details bestehen, haben wir uns schon früher ausgesprochen.
Als eine ganz besondere Zierde des Buches erklären wir aber wiederholt die
trefflichen, feinen, wunderbar treuen Zeichnungen Woldemar Friedrich's, die
ganz ausgezeichnet geschnitten sind. Woldemar Friedrich ist einer der wenigen
Künstler unter den'Berufsgenossen, die sich das Soldatenleben in Krieg und
Frieden zum Vorwurf genommen haben, der nicht auf den ersten Blick er¬
kennbar ist, der dem individuellen Vorgang, Porträt oder Landschaftsbild
auch individuellen Ausdruck verleiht. Nur seine Lieblingsmotive verrathen
ihn hie und da dem Kenner: das feine Geäst winterlich entlaubter Bäume
und — feiste Pferdeschenkel, die auch dann unweigerlich vorgestellt werden,
wenn ihre üppige Rundung, historisch betrachtet, mindestens zu Zweifeln
Veranlassung bietet. Aber im Ganzen bietet das Werk die erfreulichste Voll¬
ständigkeit und künstlerischste Ausarbeitung in seinen bildlichen Darstellungen,
die sich denken läßt. Und auch hier hat die Verlagshandlung nur Neues ge¬
geboten, nichts aus dem reichen Jllustrationsschatze ihres „Daheim" entnommen.
In allen illustrirten deutschen Zeitschriften finden wir in diesen Wochen
Probeblätter aus einem Werke, die sich durch ihre außerordentliche Schönheit
und Sauberkeit auszeichnen und Landschaften, Thierstücke oder Genrebilder aus
dem Gebirgsleben darstellen. „Aus deutschen Bergen" heißt der Titel
des Werkes, dem sie entnommen sind, „ein Gedenkbuch vom Bairischen Ge¬
birge und Salzkammergut", geschrieben von zwei der namhaftesten bairischen
Schriftsteller Hermann Schmid und Karl Stieler. Die Zeichnungen
sind von den hervorragendsten deutschen Landschaftern, Genre- und Thier¬
malern entworfen, von G. Cloß, W. Diez, A.v. Ramberg, K. Raupp,
I. G. Steffan, Fr. Voltz. I. Watterund A., die Holzschnitte von Adolf
Cloß (Verlag von A. Kron er. Stuttgart, 1873). Wir können freilich
nicht durch die Pracht der Illustrationen auf unsre Leser wirken. Und mit
Worten allein läßt sich der künstlerische Werth dieses Buches nicht schildern.
Es ist so glänzend ausgestattet, daß es die feinsten Salons zieren wird. Aber
damit haben wir, so ehrenvoll die Ausstattung des Werkes für die deutsche Kunst¬
industrie auch ist. doch eigentlich nur Aeußerliches erwähnt. Das Buch ist
weit mehr als ein Salonschaustück. Der begleitende Text der prächtigen
Bilder ist mit einer heimathlichen Wärme und Innigkeit, mit einer Sachkennt¬
niß und Freude geschrieben, wie selten ein Buch über die Berge, aus den
Bergen. Dabei haben die beiden Schriftsteller die heiteren und lichteren
Bilder aus dem Gebirg ihrer Heimath recht passend nach ihrer vorwiegenden
Richtung und Begabung vertheilt; Stieler hat mehr die glänzenden, farben¬
reichen Partien des Landschafts- und Volkslebens, Schmid mehr die schwer-
müthig ernsten Theile, mehr die harten Linien seines Landes und Volkes zu
schildern übernommen. Die äußerliche Eintheilung des Werkes ist recht passend.
In dem ersten Haupttheil werden wir von den Vorbergen aus in die innersten
Tiefen der bairischen Hochwelt, dann in das Salzkammergut geführt; der
zweite Abschnitt bietet unter dem Titel „das Bergdorf" culturhistorische Skizzen
aus dem bairischen Volksleben; daran reihen sich die Abschnitte „Bergschlösser"
und „statisches Landleben"; dann folgt eine werthvolle Studie Schmid's
über die Thier- und Pflanzenwelt seines heimathlichen Gebirges, und schlie߬
lich eine Abhandlung über den „geognostischen Bau der bairischen Alpen"
von Dr. H. Haushos. So möge das schöne Werk vom Fels zum Meer eine
recht erfolgreiche Wanderung antreten in der Weihnachtszeit!
Mit besonderer Freude werden alle Besitzer und Freunde der berühmten
Aquarellen Eduard Hilde b r ardt's. aus dessen Reise um die Erde,
den Entschluß der Verlagshandlung^ (R, Wagner, Berlin) begrüßen, aus
den zwanzig bereits vor mehreren Jahren veröffentlichten Blättern noch ein
oder zwei Hefte aus dem an 300 Abbildungen bestehenden Originalschatz des
Meisters in Farbendruck herauszugeben. Die Verlagshandlung hat diesen
Entschluß zur günstigsten Zeit mit vorläufig einem Heft ausgeführt, und
wir sind der festen Ueberzeugung, daß der Beifall des Publikums, welcher
schon diese Ueberschreitung der ursprünglich beabsichtigten Grenzen veranlaßte,
den Verleger auch zur Veröffentlichung der in Aussicht genommenen zweiten
Nachlieferung noch ermuntern wird. Die uns vorliegende erste Nachlieferung
enthält fünf Blätter aus China. Japan und Ostindien: die Ladrone-Jnseln
in China, Straße in Tientsin, japanische Dchunke, den Hafen von Singapurs
und die goldene Pagode in Rangoon. Ueber die Vorzüglichkeit der Chromo¬
lithographie dieser Blätter, welche der Frische und Klarheit der Pinselführung
Eduard Hildebrandt's vollständig gerecht geworden sind, haben wir uns schon
früher ausgesprochen. Wir können uns daher begnügen, heute zu bestätigen,
daß dieselben Vorzüge in den in diesen Tagen veröffentlichten fünf Blättern
in demselben Maße hervortreten wie bei den früheren. Die Herren Stein-
beck und Loeillot, denen wir diese Arbeit danken, haben auch in diesen
Blättern ihre Meisterschaft der Imitation von neuem glänzend bekundet.
Mit Januar beginnt diese Zeitschrift einen neuen
Jahrgang, welcher durch alle Buchhandlungen und Postämter
des In- und Auslandes zu beziehen ist.
Leipzig, im December 1872. «
Die Verlagshandlung
Wie in England, so bestehen auch in Nußland neben der herrschenden
Staatskirche eine große Anzahl Secten zum Theil sehr eigenthümlicher Art.
Namentlich der Südwesten und noch mehr der Osten des Reiches ist voll von
solchen „Raskolniken", d. h. Ketzer, wie die Kirche sie nennt, oder „Staro-
wenzen", d. h. Altgläubige, wie sie selbst sich bezeichnen. Die Mehrzahl
dieser Afterkirchen entstand in Folge der Veränderungen, welche der Moskaner
Patriarch Nikce um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, von der Negie¬
rung unterstützt, in Bezug auf die bis dahin gebräuchliche Bibelübersetzung
und auf die Gebete und Gesänge beim Gottesdienste einführte. Die Ent¬
stehung anderer scheint in sehr alte Zeiten zurückzureichen und ist wohl
auf die mongolische Beimischung im Blute eines Theils der Bevölkerung
Rußlands zurückzuführen.
Jene Mehrzahl ist ziemlich harmloser Natur. Unter sich wieder in eine
Menge kleiner Kreise gespalten, unterscheidet sie sich von der orthodoxen Kirche
fast nur in Aeußerlichkeiten, auf die man jedoch großen Werth legt. Einige
und zwar die Meisten weichen nur darin von der Staatskirche ab, daß sie
deren Clerus, deren Bibel, deren liturgische Bücher nicht anerkennen, den
Namen Jesu Issus, nicht wie jener Jissus ausgesprochen wissen wollen, beim
Gebete zweimal das Halleluja, beim dritten Male aber „Gepriesen sei Gott!"
sagen, das Kreuz nicht mit den drei ersten Fingern der rechten Hand, sondern
— um die zwei Naturen Christi anzudeuten — mit dem Zeige- und Mittel¬
finger schlagen, und bei der Taufe, nicht wie die Angehörigen der Staatskirche
von der rechten zur linken Seite, sondern umgekehrt um den Taufstein gehen.
Andere verwerfen Communion, Firmelung und Trauung und haben statt der
Priester nur Aelteste, welche ihre Taufen vollziehen. Die Meisten halten
zugleich die alte Sitte und Tracht fest, verschmähen das in dieser Beziehung
von Europa Eingedrungene, lassen Bart und Kopfhaar ungeschoren, rauchen
keinen Tabak, auf Grund des Ausspruchs Jesu: nicht was in den Körper
eingehe, sondern was aus ihm herausgebe, sei Unreinigkeit und Befleckung
Hierher gehören auch die Malakani, d. h. Milchtrinker, die sich auch Jlci-
christiani, d. h. wahre Christen nennen. Sie wohnen auf der Krim und in
anderen Gegenden am Schwarzen Meere und empfangen die Sacramente nur
„im Geiste", genießen von Getränken nur Milch, und erwarten den baldigen
Eintritt des. tausendjährigen Reiches. Hierher sind ferner die Theodosianer
zu rechnen, deren Priesterinnen sich „Christowa Newiestu", d. h. Bräute
Christi nennen, und welche nur Heirathen auf Zeit schließen und die aus
solchen vorübergehenden Begegnungen der Geschlechter entsprossenen Kinder
aussehen. Endlich mögen von dieser Classe der russischen Secten noch die
Dusoborgen genannt werden, die „Kämpfer im Geiste", welche an die Stelle
des üblichen Cultus einen rein geistigen setzen wollen. Sie führen ihren Ur¬
sprung auf Sadrach, Mesach und Abednego, die „drei Männer im feurigen
Ofen" zurück. Christus ist nach ihnen nicht der Heiland und Erlöser, dieser
wird vielmehr aus ihrer Mitte hervorgehen. Ihre Dogmen drücken sich kurz
in den Formeln aus: der Mensch ist der Tempel, das Herz der Altar Gottes,
der Wille zum Guten das Brandopfer darauf, der Gott zustrebende Geist der
Hohepriester.
Andere Secten aber sind weniger harmlos, einige sehr gefährliche
Schwärmer^ in deren Glauben und deren Bräuchen das unheimliche Element
hervortritt, welches asiatische Einwanderung dem Russenvolke beigemischt hat.
So halten die bei Saratoff und in Sibirien zahlreich angesiedelten Mo-
relschtschiks für Christenpflicht, sich, nachdem sie ihrer Meinung nach in
den Stand vollkommener Reinheit gelangt sind, „Gott ganz zu opfern",
d. h. sich selbst umzubringen oder gegenseitig abzuschlachten. 1868 fand auf
den Gütern eines Herrn von Gurieff an der Wolga ein solches mystisches
Opfer im großen Stile statt: 47 Männer und Frauen stachen einander auf
einem Flecke todt. Ein anderer Zweig dieser wilden Heiligen zieht dem Eisen
den Strick, wieder ein anderer das Feuer vor. Wiederholt „starben" noch in
den letzten Jahrzehnten in Sibirien ganze Schaaren solcher Fanatiker in
großen Gruben oder einzeln liegenden Gehöften, die sie vorher mit -Reißig-
haufen umschichtet hatten, „der Sünde durch die Feuertaufe ab." Bei Tunen
in den östlichen Vorbergen des Ural sollen vor einigen Jahren nicht weniger
als siebzehnhundert Morelschtschiks auf einmal freiwillig den Feuertod ge¬
sucht und gefunden haben.
Eine andere sehr unheimliche Erscheinung im Bereiche des Raskol sind
die sogenannten Chlysten oder Geißler. Sie sollen um den Anfang des
vorigen Jahrhunderts entstanden sein, dürften aber weit älter sein. Bon
ihrem Glauben ist nur bekannt, daß sie der Meinung sind, das Auftreten
des Antichrists und der Untergang der Welt stehe nahe bevor. Die Ehe gilt
unter ihnen für Sünde und ebenso das Zahlen von Abgaben. Ihre reli¬
giösen Uebungen bestehen im Absingen von mystischen Hymnen und Gebeten,
sowie in tanzartigen Sprüngen und Verrenkungen, bei denen sie einander
geißeln, bis das Blut herabfließt. Dabei gerathen sie bisweilen in eine Auf¬
regung, die auch außerhalb der Secte stehenden Leuten gefährlich wird. Im
Sommer 186V zogen die Chlysten von Balaschoff, mehrere hundert Köpfe
stark, aus dem Orte hinaus ins freie Feld, um eine große Geißelung zu
feiern. Auf dem Rückwege, wo alle mit Striemen und Wunden bedeckt und
in rasende Verzücktheit versetzt waren, warfen sie sich plötzlich unter der
Führung eines Bauern, den sie für Christus hielten, auf die nichts Arges
ahnenden Zuschauer, ergriffen einige und knittelten sie so lange, bis sie den
Geist aufgaben. Andere wurden von ihnen todtgetreten, wieder andere zwischen
Holzwagen getrieben, welche die Schwärmer dann anzündeten, sodaß jene Un¬
glücklichen erstickten oder verbrannten.
Bestehen die genannten Secten durchweg aus wüsten Schwärmern, die
an die orientalischen Selbstpeiniger, den semitischen Molochsdienst und die
mittelalterlichen Flagellanten erinnern, so gilt dieß bei den Skopzen, die
wir, da in den letzten Monaten auch in der deutschen Presse wiederholt von
ihnen die Rede gewesen ist, ausführlich besprechen wollen, nur von den unter¬
geordneten Mitgliedern der Secte, nicht von den Führern derselben, die viel¬
mehr nach allem, was wir von ihnen wissen, schlaue Betrüger sind.
Der Name Skopzi ist der Plural von Skopez, d. h. im Russischen ein
Entmannter, ein Verschnittener, ein Eunuch, und schreibt sich von dem
Hauptkapitel des Glaubens der Secte her, welches die Lehre enthält, die
Seligkeit werde, da jeder geschlechtliche Verkehr Sünde sei, nur durch Castnrung
erreicht.
Als Gott die Menschen schuf, so sagen die Skopzen, meinte er sie für
ein geschlechtsloses Leben zu erschaffen. Sie sollten sich allerdings fortpflanzen,
aber nur durch Küsse. Allein Adam und Eva gingen über diese Absicht des
Schöpfers hinaus, und darin bestand der Sündenfall, der sie aus dem Para¬
diese vertrieb — eine Behauptung, die auch von andern Mystikern aufgestellt
worden ist. Aus dem ersten Sündenfall entwickelten sich andere, und die
Welt wurde immer verderbter, bis es endlich den Herrn erbarmte und er
seinen Sohn sandte, um seinen ursprünglichen Willen wieder zur Geltung zu
bringen. Der Hauptpunkt der Predigt Christi war der Satz, daß die Menschen
die Erlösung von der Sünde und dem Fluche in der „Feuertaufe", d. h. in
der Entmannung vermittelst eines glühenden Eisens zu suchen hätten. Im
Uebrigen ist uns die Lehre des Heilandes in sehr verunstalteter und ver¬
stümmelter Weise überliefert worden. Völlig unversehrt blieb nur das
19. Hauptstück des Evangeliums Matthäi. wo deutlich gesagt ist, daß
niemand des göttlichen Geistes theilhaftig werden und in das Himmelreich
eingehen kann, der nicht verschnitten, also des Geschlechtstriebes entledigt ist.
Denn dort heißt es im zwölften Verse! „Denn es sind etliche verschnitten.
die sind aus Mutterleibe so geboren, und sind etliche verschnitten, die von
Menschen verschnitten sind, und sind etliche verschnitten, die sich selbst ver¬
schnitten haben, um des Himmelreiches willen. Wer es fassen mag, der
fasse es." Und in der Bergpredigt ruft uns der Erlöser zu, indem er vom
Begehren nach Weibern redet: „Aergert dich ein Glied, so haue es ab und
wirf es von dir. Es ist besser, daß eins deiner Glieder verderbe und nicht der
ganze Leib in die Hölle geworfen werde."
Bon selbst versteht sich, daß Christus seiner Lehre sein Beispiel hinzufügte
und sich selbst der „Feuertaufe" unterzog, welche die einzig wahre Taufe ist,
und daß die Apostel desgleichen thaten. Die echte christliche Kirche folgte
dann diesen Beispielen. Unter anderm geschah dieß von dem großen Kirchen¬
vater Ongenes, desgleichen waren alle die Heiligen, welche von der traditio¬
nellen kirchlichen Malerei mit kleinen Bärten oder völlig bartlos dargestellt
werden, freiwillig Entmannte. Nur wurde mit Rücksicht auf die menschliche
Schwachheit in späterer Zeit zugelassen, daß das glühende Eisen bei der
Operation durch ein gewöhnliches Rasirmesser oder Stemmeisen ersetzt werde.
Nachdem nun Jesus Christus der Welt das Geheimniß der Erlösung durch
das rothe Eisen offenbart, schied er von hinnen. Vorher aber verhieß er,
abermals zu erscheinen, um die Lebendigen und die Todten zu richten, die
Lebendigen, das sind die Skopzen, die Todten, das sind die nicht verschnitt-
nem Sünder. Diese Wiederkunft des Heilandes ist bereits erfolgt. Sie fand
in der Person des Kondrät Seliwanoff statt, der wieder niemand
anders ist als der Czar Peter der Dritte, „Christus, unser wahrer Gott, ge¬
boren von der unbefleckten Jungfrau, die als Kaiserin Elisabeth Petrownci
hieß." Diese Kaiserin herrschte in eigner Person nur zwei Jahre. Dann
übertrug sie die Regierung einer ihr ähnlichen Hofdame und zog, nachdem sie
den Namen Akulina Jwanowna angenommen, zuerst in das Gouverne¬
ment Orel, wo sie bei dem Skopzenpropheten Filimon lebte, dann nach
Bjelogrod im Gouvernement Kursk zurück, wo sie unsichtbar „hinter einer
goldenen Mauer" noch 1868 die Verehrung der Gläubigen genoß. Der von
ihr geborene Sohn Peter wurde von ihr als Knabe nach Holstein gesandt.
Nachdem er hier zum Manne gereift, entmannte er sich, vollzog dieselbe
Operation an vielen Anderen und wirkte allerlei Wunder. Auf den Thron
berufen, mußte er sich vermählen. Da er aber seiner Gemahlin infolge der
Feuertaufe, der er sich unterzogen, nicht gefiel, wollte sie ihn zu Ropscha
ermorden lassen. Doch entkam er den Nachstellungen Orlvff's. indem er den
Posten eines Wache haltenden Soldaten bezog, und von jetzt an verschwand
er den Augen der Welt, um nach einiger Zeit in Gestalt des Bauern Seli¬
wanoff wieder aufzutreten. Als solcher setzte er die in Holstein begonnene
erlösende Thätigkeit zunächst in Moskau, dann in den Ländern des Westens
fort, wo er allenthalben die Feuertaufe predigte, Viele bekehrte und eine
Menge von Wundern verrichtete. In seine Heimath zurückgekehrt, wurde er
im Gouvernement Tula wegen Proselytenmacherei festgenommen, vor Gericht
gestellt und dann im Dorfe Sosnowka mit Knutenhieben bestraft, worauf
man ihn nach Jrkutsk in Sibirien deportirte.
So wird uns in seinen „Leiden", einer plumpen Nachahmung der
evangelischen Passionsgeschichte, erzählt. Kaiser Paul, so berichten die Skopzen
weiter, ließ Seliwanoff, als er von seiner Lehre gehört, aus der Verbannung
zurückkommen und gewährte ihm eine Audienz, in der er sich von ihm die
Feuertaufe predigen ließ, doch nahm er den Glauben nicht an. Unter Czar
Alexander dem Ersten lebte Seliwanoff unbehelligt zu Petersburg, wo
ihm der Skopze Sladownikoff eine stattliche Wohnung eingerichtet hatte,
und wo es ihm gelang, eine große Anzahl Personen nachhaltig zu
überzeugen, daß er „Christus, der wahrhaftige Gott" sei. Auf dem Gipfel
der Herrlichkeit gelangt und von höchster Verehrung umgeben, wurde er, als
man endlich außerhalb der Gemeinde innegeworden, daß die Feuertaufe doch
etwas mehr als eine bloße Verstümmelung zu bedeuten habe, von Neuem
verfolgt. Indeß begnügte man sich bei dem duldsamer Charakter der Regie¬
rung Alexander's, ihn in das Kloster von Suzdal zu bringen, wo er noch
heutigen Tages lebt. Wenn er das Gericht über die Lebendigen und die
Todten noch nicht gehalten hat, so wird er seine Gründe haben. Denn er
könnte „nach seinem göttlichen Dafürhalten" in jedem Augenblick dazu schreiten,
und wenn es ihm belieben wird, so „werden sich vor ihm alle Kaiser und
Fürsten der Erde mit solcher Inbrunst beugen, daß man vielleicht das Rasir-
messer bei Seite thun und wie vor Alters nur mit dem rothen Eisen ope-
riren wird."
Ueber diese Erlebnisse und VerWandelungen Seliwanoff's und namentlich
über dessen vollständige Identität mit dem Czaren Peter besitzen die Skopzen
die sichersten Nachrichten und Zeugnisse, unter denen vorzüglich die Mittheilungen
von hohem Werthe sind, welche der vertrauteste Jünger ihres Messias, der
Hoflakai Semjon Kobeljoff hinterlassen hat.
Die profane Geschichte des heiligen Mannes jedoch lautet einfacher und
glaubwürdiger. Sie ist in Kurzem folgende. Unter dem Kaiser Paul trat
der Bauer Seliwanoff auf dem Dorfe Stolbowo im Gouvernement Orel als
Prophet auf, predigte die geschlechtliche Verstümmelung als Mittel zur Selig¬
keit, gewann für diese Lehre eine Anzahl reiche Leute, die ihm ihr Vermögen
zur Verfügung stellten, wurde aber endlich von den Gerichten gefaßt und zu
Knutenstrafe und Verbannung nach Sibirien verurtheilt. Ein von dort
zurückgekehrter Skopez, der moskauer Kaufmann Kolesnikoff, berichtete einige
Zeit nachher dem Czaren, daß Seliwanosf in Jrkutsk als Peter der dritte
angesehen werde, worauf Paul denselben zurückkommen und als einen Wahn¬
sinnigen ins Irrenhaus sperren ließ, Paul's Nachfolger, Alexander, schickte
ihn 1802 in eine Strafanstalt. Die reichen Anhänger des Propheten aber
wußten ihm nach kurzer Zeit die Freiheit zu verschaffen, und nun lebte er
mehrere Jahre umgeben von Glanz und Pracht in den Häusern der Peters¬
burger Millionäre, die der Secte beigetreten waren. 1820 indeß schritt die
Behörde abermals gegen sein Treiben ein und sandte ihn in das Kloster von
Suzdal, wo er zu Ende der zwanziger Jahre gestorben ist.
Die Akulina Jwanowna, welche als Gottesmutter und zugleich als ehe¬
malige Kaiserin Elisabeth verehrt wurde, ist eine Person, deren Vergangen¬
heit nicht aufgehellt worden ist. Vielleicht ist sie eine und dieselbe Persön¬
lichkeit mit der, welche im Jahre 1844 von den Skopzen zu Morschansk im
Gouvernement Tamboff als Gottesmutter angesehen wurde. Ihr Alter läßt
diese Vermuthung zu; denn Anna Sachanoff, wie die Heilige sich hier nannte,
zählte damals fast hundert Jahre.
Ein dritter hochgeehrter Heiliger der Sekte ist der Bauer Schiloff; denn
in ihm erblickt dieselbe den Fürsten Daschkoff, der zu den Günstlingen Peter's
des Dritten gehörte und nach der Mythologie der Skopzen nichts geringeres
als die Wiederkunft des Lieblingsjüngers Jesu, Johannes, war. Die Kaiserin
Katharina ließ ihn in Dünaburg einsperren. Paul schickte ihn nach Schlüssel¬
burg, wo er 1799 als Gefangener starb. Sein dort befindliches Grab ist eins
von den Heiligthümern der Secte, deren Mitglieder zu ihm wallfahrten.
Unter dem vorletzten Czaren wurde mehrmals gegen die Secte eingeschritten,
und eine Anzahl ihrer Angehörigen ging in die Verbannung nach Sibirien.
Andere flüchteten sich nach den Donaufürstenthümern, wo sie sich seitdem vor¬
züglich in Galacz und Bukarest, vor Allem aber in Jassy stark verbreitet
haben. Beinahe alle Droschkenkutscher sollen hier der Secte angehören. Die
Regierung läßt sie gewähren, und sie bemühen sich eifrig um Proselyten,
nehmen jedoch nur Russen auf. Charakteristisch ist in dieser Beziehung die
Antwort, die Andreas Kuzin. ihr Prophet und Vorsteher in Jassy, einem
Zigeuner ertheilte, der sich bereit erklärte, gegen Zahlung von hundert Ducaten
sich der Feuertaufe der Skopzen zu unterwerfen. „Einem Russen," so sagte
jener zu dem sich Meldenden trocken, „würden wir gern zweihundert Ducaten
geben, auch mehr, wenn er's verlangte; Du aber bekommst nicht einmal zwei;
denn Du hast für uns keinen Werth, Dich können wir nicht brauchen."
Im Allgemeinen kam bei den früheren Processen gegen die Skopzen nicht
viel heraus. Die Angeklagten waren, so einfältig sie sonst auch sein mochten,
auf das Leugnen und Verdrehen der Thatsachen gut eingeschult. Die alte
Gerichtsverfassung kam ihnen zu Statten. Die Polizei hatte in vielen Fällen
blöde Augen und ein schlechtes Gedächtniß, da die reichen Mitglieder der Secte
Bestechungen nicht sparten. Gewöhnlich ergab die Untersuchung nur, daß der
Angeklagte das unselige Opfer einer Gewaltthat gewesen war, die ein Unbe¬
kannter im Freien oder in einer Schenke an ihm verübt hatte, während er
im Schlafe oder im Zustand schwerer Betrunkenheit gewesen war. Von den
Geheimnissen der Secte wußte derselbe nicht das Mindeste, ja die bloße Existenz
eines Vereins von Entmannten war ihm, wenn der Richter ihm Glauben
schenkte, unbekannt, vielleicht eine schändliche Fabel, vom bösen Feinde ersonnen
und unter die Leute gebracht. Hatte der Richter diesen Glauben nicht gleich
bereit, so wurde er ihm in der Regel dadurch beigebracht, daß man ihm die Hand
vergoldete, wo es dann eine Freisprechung oder im schlimmsten Fall eine milde
Strafe gab, gleichviel, ob es sich um einen Verführten oder um einen Ver¬
führer handelte.
Dieß wurde mit der Einführung der Geschwornengerichte anders, die be¬
kanntlich seit ungefähr zehn Jahren schon für alle Strafsachen in Rußland
eingesetzt sind. Die Bestechung eines öffentlichen aus mehreren Richtern zu¬
sammengesetzten Tribunals wie die Jury, die bewußte Parteinahme eines sol¬
chen Gerichts sind so ziemlich Dinge der Unmöglichkeit. Auch die Polizei ist
seit einiger Zeit in Rußland etwas besser geworden, und so nahmen die letzten
Processe meist einen sehr andern Ausgang als die früheren.
Im Jahre 1863 gingen aus den russischen Ortschaften am Asoff'schen
Meer, namentlich aus den Gemeinden Berdiansk und Milttopol zahlreiche
Klagen über das Umsichgreifen des Skopzenthums ein. Es erfolgte eine Un¬
tersuchung der Sache, welche die Richtigkeit der Eingaben zeigte. Das Un¬
wesen hatte wirklich schon weite Kreise der Bevölkerung ergriffen. Man fand
eine Menge verstümmelter Männer und Frauen vor. Die Hauptschuldigen,
darunter die Bäuerin Babanin, welche die Versammlungen der Skopzen von
Militopol geleitet und als Prophetin gegolten hatte, gingen ins Exil nach
Sibirien, Andere bestrafte man milder.
Bald indeß machte man die Entdeckung, daß man am Asoff'schen Meer
nur auf einen Nebenzweig der Secte gestoßen war. Der Mittelpunkt der
letzteren war die Stadt Morschansk im Gouvernement Tamboff. Hier waren
— so erzählt ein stark romanhaft gefärbter und in Betreff der darin vorkom¬
menden Millionen wo nicht ganz unglaubwürdiger, doch stark übertreibender
Bericht — in der Neujahrsnacht von 1369 bei dem Stabscapitän Scott
Gäste beisammen, zu denen auch der Polizeiminister Trischatny gehörte. In
der Mitternachtsstunde wurde letzterer hinausgerufen, wo ihm ein Diener des
Kaufmanns Ploticyn einen Brief seines Herrn übergab, in welchem derselbe
um die Freigebung von drei in Gewahrsam befindlichen Frauen bis zum
Morgen bat, wo sie sich dem Schließer wieder stellen würden. Dem Schreiben
war eine Erkenntlichkeit von zehntausend Rubeln in Bankbilleten beigelegt.
Trischatny zeigte zunächst Brief und Geld der Abendgesellschaft drinnen, über¬
gab sie dann der Behörde und schritt schließlich zur Verhaftung Ploticyn's.
Soweit wäre die Sache in der Ordnung. Nun aber wird die Erzählung
einigermaßen fabelhaft. Man fand, nachdem eine gründliche Untersuchung an¬
geordnet worden, die wunderbarsten Dinge. Die Häuser, welche der Verhaf¬
tete in Morschansk besaß, bildeten ein zusammenhängendes Stadtviertel- Die
Fenster nach der Außenseite hin waren verhängt und zum Theil verrammelt.
Das Innere glich einem Labyrinth von Kammern und Gängen. Zuletzt
entdeckte man unter dem Erdgeschoß vier tellerartige Räume, in die ein ver¬
borgener Gang führte, und hier stieß man auf einen ungeheuren Schatz:
Rollen von Jmperialen in Schubladen, Haufen von Silbermünzen, die in
halbvermoderten Säcken unter den Steinplatten des Fußbodens oder hinter
den Eisenthüren in den Wänden lagen, endlich hundert Reichsbankbillete,
jedes zu hunderttausend Rubeln.
Ploticyn war, so lautet unsere Erzählung weiter, nichts Geringeres als
das jetzige Oberhaupt der Skopzenseete in ganz Rußland. Der Schatz in
seinen Kellern, ungefähr dreißig Millionen Rubel, war ohne Zweifel ein Theil
der Mittel, mit denen vie Skopzen in früheren Jahren, wo es noch keine
ehrlichen und pflichtgetreuen Trischatnys gab, die Bemühungen der Regierung,
ihr den Schleier abzureißen und sie zur Bestrafung zu bringen, vereitelt hatte.
Zugleich aber schienen diese Millionen nach den bei Ploticyn mit Beschlag
belegten Schriftstücken noch zu einem bedenklicheren Zwecke aufgehäuft worden
zu sein. Die Skopzen hatten diesen und vermuthlich noch andere Schätze an¬
gesammelt, um damit zu gegebner Zeit — Einige fügten hinzu: im Einver-
ständniß mit der geheimen polnischen Nationalregierung — die dermalige
Staatsordnung des russischen Reiches zu Falle zu bringen um auf deren
Trümmern einen Staat nach dem Gesetz der Feuertäufer zu errichten.
Wieviel hiervon wahr ist, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen. Daß die
dreißig Millionen, von denen während der Untersuchung mehrere im Hand¬
umdrehen verschwunden sein sollen, und daß die Verbindungen der Skopzen
mit den Polen Mythe sind, ist als ausgemacht zu betrachten. Ploticyn war
ein sehr reicher Mann, und daß die Skopzen Gegner der jetzigen Staatsord¬
nung sind, wird später gezeigt werden. Aber sie sind eine zu weichliche Seele,
um den Umsturz derselben selbst in die Hand nehmen zu wollen, erwarten
ihn vielmehr auf dem Wege des Wunders. Ohne Zweifel hat man in den
Kellern Ploticyn's viel Geld, vielleicht ein paar Millionen gefunden. Gewiß
ist sodann, daß man in dessen Hause nicht weniger als neun verstümmelte
Frauen antraf, und daß sich darunter die leibliche Schwester desselben befand.
Endlich ist sicher, daß die dort saisirte Korrespondenz eine weite Verzweigung
der Secte erkennen ließ, und daß durch sie verschiedene reiche und angesehene
Kaufleute in den Hauptstädten Rußlands, unter andern der mehrfache Millio¬
när Tretjakoff in Petersburg, arg compromittirt waren. Das Urtheil des
Gerichts siel ziemlich streng aus. Ploticyn wurde seiner Standesrechte und
Ehrenzeichen für verlustig erklärt und in die entlegeneren Gegenden Sibiriens
verbannt. Außer ihm traf noch zwölf männliche und neunzehn weibliche An¬
geklagte die Strafe der Verbannung nach dem fernen Nordasien. Der Bauer
Kusnezoff wurde wegen Verstümmelung seiner selbst und elf anderer Personen
zu vierjähriger Zwangsarbeit in den Bergwerken verurtheilt. Das „vorge¬
fundene Kapital" wurde vom Gerichtshofe den Erben Plotieyn's ausgehändigt,
der „Sache wegen der verschwundenen Summe" wollte man „weiter keine
Folge geben", die dem Polizeiminister übersandten zehntausend Rubel sprach
das Urtheil dem Reichsschatze zu.
Infolge der Entdeckungen in Plotieyn's Hause wurden in den verschieden¬
sten Gegenden des Reiches Processe gegen Skopzen anhängig gemacht, und
aus den Ergebnissen derselben entwickelten sich wieder Untersuchungen an an¬
dern Orten in langer Kette, die sich noch jetzt nicht ganz abgewickelt hat und
kein Ende zu haben scheint. Gegenwärtig sind solche Untersuchungen gleich¬
zeitig in Petersburg, wo man Zeugen aus den fernsten Gegenden vernahm,
in Moskau, in Tula, Tamboff und Riga im Gange. In Moskau waren es
zunächst die Gebrüder Kudrin, welche ins Auge gefaßt wurden. Man ent¬
deckte dabei, daß erstens diese selbst, dann aber auch mehrere der in ihrem
Hanse lebenden Weiber verschnitten waren, ferner, daß einige Dutzend Skopzen,
größtentheils Frauen, des Nachts zu wüsten Andachtsübungen zusammenzu¬
kommen pflegten, und daß in dem Hause eine photographische Anstalt einge¬
richtet war, welche Bilder der Heiligen und der Gottesmutter der Secte nach
allen Gegenden des Reiches versandte, sogar unter die lutherischen Finnen bei
Schlüsselburg und nach den Ostseeprovinzen.
Ein Theil der weniger schuldig befundenen Seetirer wurde, um vernünftig
zu werden, der geistigen Pflege von Klöstern übergeben, und auf diesem Wege
ist Einiges über ihre Aussagen in die Oeffentlichkeit gelangt. Besonders
lehrreich sind hier die amtlichen Urkunden des Klosters von Solowez, die der
Archimandrit desselben Dositheus der heiligen Synode überreichte, und die mit
andern Mittheilungen unlängst in dem Buche „Vorlesungen in der kaiserlichen
Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer" in Petersburg publicirt worden
sind. Aus den Aussagen der Skopzen, denen wir hier begegnen, geht hervor,
daß die Secte aus einer kleinen Anzahl von schlauen Betrügern und vielen
Betrogenen besteht, welche letztere, allesammt ohne Bildung, zum Theil sehr
reich, der Mehrzahl nach aber unbemittelt sind. Viele gehören den untersten
Graden des Militärs an.
Das Geständnis? dieser letzten Klasse der Verführten lautete fast immer
ziemlich gleich. Sie beantworteten die ihnen vorgelegten Fragen gewöhnlich
in folgender Form: „Geboren in dem oder dem Jahr, in diesem oder jenem
Orte, getauft nach christlichem griechisch-russischem Ritus, in der christlichen
Religion äußerst mangelhaft unterrichtet, des Lesens und Schreibens unkun¬
dig, bei Einweihung in den Militärdienst ohne irgend eine Vorstellung von
häretischen Lehren und ohne Kenntniß vom christlichen Glauben." Sonst ist
aus den Aussagen dieser Skopzen zu ersehen, daß sie, wenn auch ohne religiöse
oder anderweitige Bildung, doch meist Leute waren, welche zu einer ernsten
Auffassung der Dinge und zur Aufnahme der Wahrheiten der Religion hin¬
neigten. Die Propheten des Skopzenthums bemerkten diese ernste Stimmung
und wußten sich ihnen zu nähern und sich ihnen zunächst nicht sowohl durch
Mittheilung der Lehren und Pflichten der Secte als durch einen wenigstens
anscheinend reinen und gottseliger Lebenswandel zu empfehlen. Mit der Ent¬
hüllung ihrer Geheimnisse beeilten sich diese Proselytenmacher überhaupt nicht.
Vielmehr ließen sie in dem Neophyten bis zum Act der Entmannung kaum durch
irgend eine Aeußerung oder Handlung den Argwohn aufkommen, daß er im
Begriff sei, das Christenthum mit einer fast völlig davon verschiedenen Reli¬
gion zu vertauschen und zugleich der gewöhnlichen Welt zu Gunsten einer ihr
ganz abgewendeten Secte zu entsagen. Erst nach vollzogener Castrirung, nach¬
dem dem Neubekehrten keine Wahl mehr gelassen ist als die Zugehörigkeit
zur Secte, weiht man ihn wirklich in deren Mysterien ein, aber nicht ohne
ihn vorher zur strengsten Geheimhaltung derselben zu verpflichten.
Wir geben nun einiges Nähere über den Glauben und die gottesdienst¬
lichen Bräuche der Skopzen.
Die geschlechtliche Verstümmelung oder um mit den Rednern der Secte
zu sprechen, „die Feuertaufe" oder „Beschneidungstaufe" ist das höchste gute
Werk, die Thür zu vollkommener Erlösung, das „Siegel Gottes", von dem
die Offenbarung des Apostels Johannes handelt. Sie zerfällt in eine höhere
und verdienstlichere Klasse, die „das große Siegel" heißt und in gänzlicher
Beseitigung des betreffenden Körpertheiles besteht, und in eine zweite Klasse,
das „kleine Siegel", welches einfache Castrirung bedeutet. Dieses Opfer ist
nach der Lehre der Skopzen unerläßlich für den Eingang ins Himmelreich.
Wer mit einem Weibe geschlechtlichen Verkehr pflegt, begeht schwere Sünde
und fordert die göttliche Strafe heraus wie David durch seinen Verkehr mit
dem Weibe des Urias. Dann ist es ganz einerlei, ob sie verheirathet sind
oder nicht. Unsere eigenen Eltern waren heillose Sünder, als sie uns das Leben
gaben. So scheint es in einigen Skopzengemeinden zu den Ceremonien zu gehören,
die der Proselyt vor seiner schließlichen Einweihung in die letzten Geheimnisse
der Secte durchzumachen hat, daß er einen Zettel, auf dem die Namen seines
Vaters und seiner Mutter stehen, mit Füßen tritt. Dasselbe hat er dann mit
einem Stück russischen Geldes und mit einem Heiligenbilde zu thun. Das
Geldstück versinnbildet den Staat, das Bild wird mit Füßen getreten, um an¬
zudeuten, daß der Betreffende der orthodoxen Kirche entsagt.
Die Skopzen bilden nämlich einen eigenen geheimen Staat und eine un¬
sichtbare Kirche, die ihre besonderen Heiligen hat. Diese Heiligen, nicht die
Czaren, sind auch ihre Fürsten, und wenn sie dieselben nicht sehen, so ist die
Zeit nicht fern, wo sie hervortreten und die öffentliche Gewalt in die Hand
nehmen werden. Inzwischen wird die stille Gemeinde von Stellvertretern der¬
selben, wie Ploticyn einer war, regiert. Kaiser Peter der Dritte war die im
Evangelium verheißene und im Glaubensbekenntniß ausgesprochene Wieder¬
kunft Christi oder vielmehr, er ist diese Wiederkunft noch. Es ist nicht wahr,
daß jener Seliwanoff, in dessen Gestalt er nach seiner angeblichen Ermordung
zu Ropscha die Lehre von der seligmachenden Feuertaufe predigte, im Suzdal-
schen Kloster gestorben sei. Der wiedergekehrte Christus ist niemals gestorben,
weder als Peter der Dritte in Ropscha noch als Seliwanoff in Suzdal. Er
ist nur von hier nach der Gegend von Jrkutsk versetzt worden, wo er noch
heute in der Verborgenheit lebt. Er hat zwölf Apostel, die mit den zwölf
Jüngern Christi die vierundzwanzig Aeltesten bilden, welche nach dem fünften
Hauptstück der Offenbarung Johannis mit den wunderbaren vier Thieren voll
Augen um den Stuhl des Lammes sitzen, „Harfen und goldene Schalen voll
Rauchwerk in den Händen, welches sind die Gebete der Heiligen." Als Mit-
regentin in diesem mystischen Staate, diesem auf die Erde herniedergesunkenen
Himmelreich ist die ebenfalls bereits erwähnte und gleichermaßen noch lebende
Mutina Jwanowna, jene Gottesmutter, die als Kaiserin Elisabeth Petrowna
hieß. Endlich verehrt die Seele auch in dem Czaren Paul und dessen Sohn
Alexander große Heilige, und es scheint, daß auch diese nach der Meinung
der Skopzen sich vor ihrem Scheiden aus der sichtbaren Welt der Feuertaufe
unterzogen haben.
Die rechtgläubige, morgenländische Kirche ist das Reich des Antichrists,
welches die Apokalypse in ihrem siebzehnten Kapitel unter dem Bilde einer
großen Buhlerin beschreibt. „Und ich sah das Weib sitzen auf einem rosen¬
farbenen Thier, das war voll Namen der Lästerung und hatte sieben Häupter
und zehn Hörner. Und das Weib war bekleidet mit Scharlach und Rosin-
farb und übergoldet mit Gold und Edelsteinen und Perlen und hatte einen
goldenen Becher in der Hand voll Greuels und Unsauberkeit . . .
Und an ihrer Stirne stand geschrieben der Name: das Geheimniß, die große
Babylon, die Mutter . . . aller Greuel auf Erden. Und ich sah das
Weib trunken von dem Blut der Heiligen und von dem Blut der Zeugen
Jesu. Und ich verwunderte mich sehr, da ich sie sah." Die Priester dieser
Kirche sind demzufolge nicht mehr werth als die Priester der Heiden, und die
von ihnen dargereichten Sacramente haben durchaus keine Kraft und Bedeu¬
tung. Die Skopzen besuchen daher die Kirchen, nehmen an dem Gottesdienste
und am heiligen Abendmahle Theil und lassen ihre Kinder von dem ortho¬
doxen Popen taufen, aber dieß alles geschieht nur, um den Nachbarn nicht
als zum Naskol gehörig verdächtig zu werden, und in der Ueberzeugung, daß
es gleichgültige Dinge sind, die dem Heil der Seele so wenig schaden, wie sie
ihm nutzen. Der wahre Gottesdienst ist allein der, welchen die Secte abhält,
die wahre Taufe die Bezeichnung mit dem Siegel des Lammes, die Feuertaufe,
die Befreiung vom Geschlechtstrieb, die Entmannung.
Indeß findet vielleicht in allen, jedenfalls in manchen Skopzengemeinden
auch eine Wassertaufe der Neophyten statt, bei der es folgendermaßen zugeht.
Der Betreffende wird in ein großes Zimmer geführt, welches von Kerzen er¬
leuchtet wird (aller Gottesdienst der Secte wird bei Nacht abgehalten) und
in welchem sich ein Taufbecken von solcher Tiefe befindet, daß ein Mensch
darin untertauchen kann. Die in dem Saale Versammelten rufen ihm bei
seinem Eintritt zu: „O Bruder, der du kommst, dich in Christi Namen selbst
zu taufen, ziehe den Herrn Christus an!" Der Täufling taucht nunmehr
mit den Worten: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen
Geistes. Amen!" in das Wasser und sagt, nachdem er wieder aufgestanden:
„O Herr, erbarme Dich meiner Seele! Nimm sie auf in die Schaar der
Gerechten und trage sie ein in das Buch des siebenten Himmels." Der
Vorsteher der Gemeinde sagt dann dem Getauften das Glaubensbekenntniß
zum nachsprechen vor, und hierauf legt der letztere das Gelübde ewigen
Schweigens ab, indem er spricht: „Nun, o Herr, nachdem ich Dein Gesetz
empfangen habe, will ich nimmermehr davon reden, weder zu meinem
Vater noch zu meiner Mutter, noch zu den Nachbarn, noch zu den Leuten,
die über die finstere Welt gebieten (die Obrigkeit). Lasse ich darüber nur ein
Wort laut werden, o Herr, so vergieb das nie, so erbarme dich meiner
nicht. Dann schlage mich das Kreuz nieder, Du, der am Kreuze starb. Amen!"
Nach diesem Gelübde singt die Versammlung einen Lobgesang auf die
Mutter Gottes. Dann sagt der Leiter des Gottesdienstes: „Erbarme Dich
mein, o Fürst Gottes" — worauf er den Namen eines der Heiligen der
Skopzen nennt, eine Formel, die ihm der Getaufte nachspricht, und die so
oft von Beiden, immer mit einem anderen Namen, wiederholt wird, als die
Secte Heilige hat.
Ueber die Aufnahmeceremonien bei den Selbstverstümmlern in Jassy wird
berichtet, daß das Gemach, in welches die Aufzunehmenden geführt werden,
beim Eintritt derselben finster ist. Sind sie eingeführt, so zünden die zu
ihrem Empfang Versammelten Kerzen an, die sie in der Hand tragen, und
von denen jeder Neophyt auch eine erhält. Dann müssen die letzteren vor ein
Kreuz treten und geloben, in Betreff dessen, was sie in der Versammlung
sehen oder hören werden, strengste Verschwiegenheit zu bewahren, keine Fleisch¬
speisen zu essen, geistige Getränke zu vermeiden und öffentliche Orte zu fliehen,
wo man ihm sein Geheimniß entlocken könnte. Nachdem dies geschehen, legen
alle Anwesenden große weiße Hemden an und tanzen und springen zu wilden
Gesängen so lange, als sie es aushalten können. Dies dauert gewöhnlich
einige Stunden. Hierauf trinken sie Thee, und bei dieser Gelegenheit erhalten
die Neulinge ein narkotisches Mittel, welches sie in fühllosen Schlaf versenkt
.und die Skopzen in den Stand setzt, die bewußte Operation an ihnen zu
vollziehen.
Die Versammlungen der Skopzen fallen nicht auf die christlichen Sonn¬
tage und überhaupt nicht auf einen bestimmten Tag jeder Woche, sondern
werden von den Vorstehern jedesmal festgesetzt und den Eingeweihten kund¬
gegeben. Sie beginnen in der zehnten Abendstunde und dauern gewöhnlich
bis zum Anbruch des Morgens. Man eröffnet sie mit Liedern, welche von
den geistlichen Dichtern der Seete gedichtet sind und von Mund zu Mund
fortgepflanzt werden. Liturgische Bücher, in denen sie aufgezeichnet wären,
kennt man nicht. Ebenso wenig sind gedruckte oder geschriebene Gebetbücher
unter den Skopzen im Gebrauch. Jene Lieder aber sollen zwar von Gott
inspirirt sein, bestätigen das aber weder durch ihren Inhalt, der ein Durch¬
einander von allerhand Ausrufungen und zum Theil abgeschmackten Behaup¬
tungen ist, noch durch ihre Form, die sowohl im Stil als im Versmaß und
Reim viel zu wünschen übrig läßt. Man sehe sich z. B. folgendes Lied an,
welches in der Skopzengemeinde von Militopol beim Gottesdienst im Ge¬
brauch war:
„Segen über Dich, heilige Versammlung. Deine Gläubigen wollen dem
Herrn Ruhm darbringen in himmlischer Verzückung. Die Gemeinde bittet
den heiligen Geist, auf sie hernieder zu lächeln. O Herr, unser Leben, senke
Dich herab aus dem siebenten Himmel! Er kommt und schreitet durch die
Dörfer. Licht wohnt in ihm. Das Wort ist ergangen von dem Propheten:
wir sollen keine Sünde begehen. O meine Geliebten, ich will euch etwas
Wichtiges vermelden: der Schatz soll aufgestellt werden. Die geheime und
verborgene Mauer senkt sich um uns herab vom Himmel, und das Wasser
des Lebens strömt uns zu. Zögere nicht, denn ich bin auf dem Wege, die
Aussaat einzuernten. Unser Vater, der Czar Peter der Dritte, leidet zum
letzten Mal und neigt sich betend vor Zebaoth. Alle Metropoliten und Se¬
natoren sind voll Staunen über sein schweres Leiden. O mein himmlischer
Vater, ich gehorche Dem, was Du geboten. Deinen Befehl erfülle ich, ich
lehre ihn meinen kleinen Kindern und gebiete ihnen, dem Gesetze Gehorsam
zu leisten. Führe das himmlische Wort und bitte für uns bei Zebaoth, o
Du unser geliebter Vogel! Unser Licht, o Herr, bald wird es im Himmel
und auf Erden herrschen, Ruhm, Preis und Ehre sei Gott dem Herrn in
Ewigkeit. Amen!"
In der Regel singen bei solchen Zusammenkünften die Männer. Sie
sitzen dabei auf Stühlen oder Bänken und schlagen den Text zu der Melodie,
indem sie die flachen Hände auf die Schenkel fallen lassen; denn in einem
Psalme David's heißt es: „Alle Völker, klatscht mit den Händen". Die Frauen
stehen, machen tempoartige Gesten und stampfen tactmäßig mit den Füßen.
Manche verlassen auch wohl ihren Ort und wirbeln ein Stück fort, indem sie
sich um ihre Achse drehen. Nach einer Pause lösen die Weiber des „Schiffes",
(so nennt sich nach altkirchlicher Ueberlieferung eine solche Versammlung) die
Männer im Singen ab. Alle Versammelten erheben sich, mehr und mehr in
Verzückung gerathen, klatschen in die Hände, hüpfen empor und drehen sich
mit ausgebreiteten Armen gleich den persischen Derwischen in Kreisen tanzend
durch den Saal, bis die Verzückung in Zuckungen übergeht und sie halb ohn¬
mächtig niedersinken.
Man bezeichnet diese wilden Tänze, die Gott besonders wohlgefällig sein
sollen, mit einem Worte, welches „Arbeit" bedeutet, und die Stimmung, die
dazu treibt, mit einem andern, welches unserem „Eifer" entspricht. Schon
die heilige Schrift kannte diesen Gottesdienst, sagen die Skopzen, die in dieser
Hinsicht ihr Seitenstück in den Shakern Amerikas haben. So tanzte Mirjam,
die Schwester Moses', beim Durchgang durch das rothe Meer, und David,
der Prophet und König, bei der Wiederkehr der Bundeslade. Mit solchem
Reigen feierten die Engel und Erzengel im Himmel den Sieg über Lucifer.
In dieser Weise, also tanzend, betete der Heiland zu Anfang seiner Passion
im Garten Gethsemane mit seinen Jüngern und mit solchen Umdrehungen
um sich selbst fuhr er bei der Verklärung auf dem Berge Tabor gen Himmel.
Nachdem die Tänze und Gesänge genügend aufgeregt hatten, fing jene
Babanin, die in Militopol die Versammlungen der Skopzen leitete, an, zu
predigen und zu weissagen. Die Bibel in der Hand trat sie auf einen Teppich
in der Mitte des Saales, während die Andern um sie herum niederknieten.
„Beten wir mit Inbrunst," rief sie, „auf daß Christus wiederkomme." Nach
einer Pause sagte sie dann: „Jetzt ist er in unsrer Mitte. Und nun öffnet
eure Ohren; denn ich werde euch Wunderbares verkündigen. Sehet hier das
Buch der Zeugung, die schriftkundige Gottesgelehrte wird euch daraus vor¬
lesen." Dies geschah nun, indem sie irgend ein dunkles Kapitel, am liebsten
aus der Offenbarung Johannis, wählte, über welches sie dann allerhand selt¬
same Einfälle und Phantasien vortrug, die zum Theil in schlechte Verse und
Reime gekleidet waren. Zuletzt wendete sie sich von der Versammlung ub
und an einzelne Glieder derselben, besonders an solche, die neu beigetreten
waren.
Das eine Mal deutete die Babanin gewisse Kapitel und Verse der Apo¬
kalypse aus, indem sie darin die letzten Regierungsperioden und Regenten
Rußlands geweissagt fand. Den zweiten Vers des sechsten Kapitels: „Und
siehe ein weißes Pferd, und der darauf saß, hatte einen Bogen, und ihm ward
gegeben eine Krone, und er zog aus, zu überwinden, daß er siegete," bezog
sie auf den Kaiser Peter den Dritten, welcher nach ihrer Meinung gesiegt
hatte, weil er ein Verschnittener gewesen war. Der vierte Vers jenes Kapitels
der Offenbarung lautet bekanntlich: „Und es ging heraus ein anderes Pferd,
das war roth,, und dem, der darauf saß, ward gegeben, daß er den Frieden
nehme von der Erde, und daß sie sich unter einander würgeten, und ihm
ward ein großes Schwert gegeben'. Damit ist aber nach der Auslegung der
Skopzenprophetin niemand anders als der Czar Alexander der Erste gemeint,
der den großen Krieg gegen die Heiden im Westen führte. Vers fünf und
sechs bezog die Babanin auf sich und ihre Glaubensgenossen selbst. Man
liest da: „Und da das Lamm das dritte Siegel aufthat, hörte ich das dritte
Thier sagen: Komm und siehe zu! Und ich sahe, und siehe, ein schwarzes
Pferd, und der darauf saß, hatte eine Wage in der Hand. Und ich hörte
eine Stimme unter den vier Thieren sagen: Eine Maß einen Groschen, und
drei Maß Weizen um einen Groschen, und dem Oel und Wein thue kein Leid
an." Dies deutete die Babanin in folgender abgeschmackter Weise: die Maß
Weizen versinnbildet die Verschneidung der Heiligen, die drei Maß Gerste, die
auch blos einen Groschen werth sind, wollen besagen, daß ein Gläubiger
welcher noch nicht verschnitten ist, für seiner Seelen Heil dreimal mehr arbeiten
muß als ein Verschnittener. Das Oel stellt die göttliche Gnade und der
Wein die selige Freude dar, die Dem, welcher die Feuertaufe erhalten hat,
nicht gestört werden soll.
Den achten Vers, welcher lautet: „Siehe, ein falbes Pferd, und der daraus
saß, deß Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach, und ihnen ward
Macht gegeben, zu tödten das vierte Theil auf Erden mit dem Schwert und
Hunger und durch die Thiere auf Erden", behandelte die Auslegerin als eine
Weissagung vom Kaiser Nicolaus, der das Volk des Herrn, die Skopzen, den
wilden Thieren, nämlich den Bischöfen der orthodoxen Kirchen und den un¬
reinen Gerichtspersonen überantwortet habe.
Das „Siegel Gottes", endlich, von dem im neunten Kapitel gesagt ist,
es werde die Menschen vor den aus den Brunnen des Abgrundes aufgestiegenen
Heuschrecken mit Skorpionenschwänzen bewahren, ist nach der Deutung der
Babanin nichts Anderes als die Operation der Verschneidung, die von der
Seete auch „das kaiserliche Siegel" genannt wird.
Indem die Prophetin sich zuletzt an die Einzelnen wendete, sagte sie jedem
ermunternde Worte, die aber immer einen mystischen Klang hatten. Dem Einen
rief sie zu: „Du sollst gleich dem Propheten Habakuk Gast in allen Städten
sein. Du bist weiß wie eine Taube, und du sollst die weißen Tauben füttern."
Vermuthlich war damit gemeint, daß der Betreffende als „Wanderer" umher¬
ziehen und den entfernten Brüdern predigen solle. Häufig werden solche
'Reisen angetreten, die zu dem Charakter des russischen Landvolkes sehr gut
passen, und die reichen Mitglieder der Secte machen sich's zur Ehre, solchen
Wanderpropheten eine bequeme Herberge zu geben.
Zu einem Andern, der grade für die Verschneidung vorbereitet wurde, die
gewöhnlich am Schlüsse solcher Gottesdienste vorgenommen wird, sagte die
Babanin: „O vielgeliebte Seele, du sollst vom Himmel Zeichen erhalten, über
welche sich das ganze Haus Israel verwundern wird. Der himmlische Vater
wird dir die Krone mit sieben Zinken reichen. Dazu bedarf es nichts weiter,
als daß du dein Blut für Christum vergießest."
Die Versammlung hörte dieses wüste Kauderwelsch wie eine von Gott
eingegebene That tiefergriffen an. Viele schluchzten laut vor Rührung und
vergossen Thränen.
Wir sehen, die Sonne des neunzehnten Jahrhunderts bescheint noch keines¬
wegs alle Winkel der Erde. Aber diese slawischen Secten sind doch wilder
und unheimlicher als alles, was die romanische und germanische Welt in dieser
Richtung heutzutage noch aufweist. Wir werden demnächst ein Seitenstück
zu den Skopzen in einer Schilderung der amerikanischen Shaker geben, die
ebenfalls glauben, daß die Wiederkunft Christi im vorigen Jahrhundert er¬
folgt und das tausendjährige Reich angebrochen ist, die ebenfalls den geschlecht¬
lichen Verkehr für Sünde halten und Gott ebenfalls durch Tanz verehren.
Aber das Bild wird doch ein ganz anderes, freundlicheres und fried¬
(Schluß).
Nachdem Stanley einen Monat unterwegs war, erreichte er Simbamwenni,
die „Löwenstadt", in dem fruchtbaren und dicht bevölkerten Thale Ungercngeri.
Hier mußte tüchtig Wegsteuer in Gestalt von Baumwollstoff und dem afrika¬
nischen Klima ein Tribut durch einen heftigen Fieberanfall gezahlt werden.
Das Wetter war schrecklich — es war die Regenzeit und die noch übrigen
Esel und die Treiber waren mehr als einmal daran in den angeschwollenen
Sümpfen und Flüssen zu ertrinken. Die nächste Hauptstation war Ugogo
(U bedeutet Land, Wa das Volk, also Wagogo die Leute aus Ugogo , dessen
Häuptling oder Sultan ganz bedeutende Zölle von Stanley erpreßte; das Land
war aber vortrefflich bebaut, das Volk unabhängig und kühn. Als Stanley's
Begleiter Shaw, der damals noch lebte, die Lust ankam, die Wagogo ein wenig
zu prügeln, stellten sie ihn würdevoll zur Rede: „Dürfen wir gleich Sklaven
von den Masungu (Weißen) geprügelt werden? Wir sind freie Leute." Immer
weiter ins Innere, grade nach Westen hin geht der Zug und nichts vermag
Stanley aufzuhalten: hier sinkt ein Träger in Folge der Pocken todt nieder,
ein Esel steht um, die Leute mentem, werden zur Ruhe gebracht und singen
am nächsten Tage dem „großen Meister" Stanley ein Loblied; heute campirt
er im Walde, morgen in einer Wüste, am dritten Tage an einem reißenden
Flusse. All das wird vortrefflich erzählt und endlich werden wir durch ein
herrliches Wiesen- und Weideland geführt, auf dem das Brüllen zahlreicher
Rinderheerden, das Meckern der Ziegen und Schafe erklingt. Dann rücken
wir, am 23. Juni 1871, neunzig Tage nach dem Abmärsche aus Bagamojo,
mit Stanley in dem großen Handelsemporium Unjanjembe (Spekes Käses)
ein. Die Sterne und Streifen der amerikanischen Flagge flattern im Winde,
die Leibwache, mit neuem Tarbusch geschmückt, feuert ihre Flinten ab, die
Pagasi haben ihre besten Lendenschürzen hervorgeholt. Es ist für Jnnerafrika
ein pompöser Aufzug.
Die arabischen Händler in Unjansembe empfingen Stanley in sehr gast¬
freier Weise und seine Schilderung des großen Karavcmenplatzes, der uns schon
durch Burton und Speke bekannt wurde, ist unterhaltend und belehrend zu¬
gleich. Die Neuigkeiten, die man hier indessen erfuhr, waren sehr ernster
Natur, denn ein Häuptling Namens Mirambo von Ujoweh hatte die nach
Udschidschi führende Straße — welche Stanley ziehen mußte — versperrt, und
erklärt, daß keine Karavane mehr dieselbe ziehen dürfe; es sei denn über
seinen todten Körper. Damit war aber der arabische Handel zwischen Küste
und Tcmganjikasee völlig brach gelegt und die Araber beschlossen, koste es
was es wolle, die Straße mit Waffengewalt zu eröffnen. Der Krieg sollte
so lange fortgesetzt werden, „bis Mirambo's Bart unter den Füßen der Araber
lag und bis diese wieder sicher, nur mit dem Spazierstöcke bewaffnet, durch
das Land ziehen könnten". Stanley lag natürlich auch daran, daß die Straße
bald frei werde und so beschloß er mit den Arabern gemeinsame Sache zu
machen; er wurde ihr Verbündeter und nun erleben wir das — sicher noch
nicht dagewesene Schauspiel — daß der reisende Correspondent eines großen
Blattes einem Negcrhäuptling Krieg erklärt und sich mit ihm herumpaukt.
Die Araber und ihre Leute zählten 2255 Mann, davon waren 1500 mit
Flinten bewaffnet. Zu Mfuto, einem verpallisadirten Handelsposten drei
Tagereisen westlich von Unjanjembe, ward eine große Revue abgehalten; dann
zog man in den Kampf. Stanley stellte 60 Mann und ließ den Rest seiner
Leute und sein Gepäck in Mfuto zurück. Anfangs ging alles gut; ein ver¬
schanztes Dorf des Häuptlings Mirambo ward mit Sturm genommen und
zwei Tage später schnitt man einem seiner Chefs, den man gefangen nahm,
„die Kehle ab, wie einem Schaf oder einer Ziege". Einer der Araber, sont
Ben Sayd, zog dann mit S00 Mann gegen Wiljankura, Mirambo's Haupt¬
festung, während Stanley, siebergeschüttelt, in seinem Zelte bei der Haupt¬
macht zurückblieb. Es dauerte nicht lange, so gerieth das Lager in fürchter¬
liche Aufregung, ungünstige Nachrichten trafen ein: Wiljankura war durch
sont Ben Sayd erstürmt worden, dann aber waren die Araber in einen
Hinterhalt gerathen und von Mirambo massakrirt worden. Man hielt Kriegs¬
rath und zog auf Mfuto zurück, wo Stanley's Leute zitternd und zagend sich
zusammenfanden. Mit wenigen Ausnahmen schildert er sie als eine feige,
großmäulige „Niggerrotte". Wie Stanley nun mit der geschlagenen Armee
nach Unjanjembe retirirte, wie Mirambo einen Sturm auf die Stadt versuchte
und dieser abgeschlagen wurde, wie er sich entschloß, einen weiten Umweg zu
nehmen, um Mirambo und seine Armee zu umgehen, wie er endlich nach
Ueberwindung zahlloser Schwierigkeiten am 20. September nach Udschidschi
aufbrechen konnte — das Alles wird höchst effectvoll erzählt und muß im
Buche selbst nachgelesen werden.
Die Geschichte des Marsches von Unjanjembe nach Udschidschi ist eine
Reihenfolge von Fieberanfällen, Desertionen, Unterhandlungen wegen zu hoher
Wegzölle, von Gefahren und Abenteuern mannigfaltiger Art. Der 3. November
war ein bemerkenswerther Tag für Stanley. „Gegen 10 Uhr Vormittags
erschien aus der Richtung von Udschidschi her eine Karavane von achtzig
Waguhha (Bewohner Uguhhas). Wir fragten nach Neuigkeiten und hörten,
daß gerade ein weißer Mann von Manjuema her in Udschidschi angelangt
sei. Das überraschte uns alle. Ein weißer Mann? fragte ich. — Ja, ein
weißer Mann, lautete die Antwort. — Wie ist er gekleidet? — Gleich dem
Herrn, antworteten sie, auf mich zeigend. — Ist er jung oder alt? — Er ist
alt, und hat weiße Haare im Gesicht und ist krank. — Wo kommt er her?
^ Aus einem sehr fernen Lande jenseit Uguhha, Manjuema genannt. —
So; und er hält sich jetzt in Udschidschi auf? — Ja, wir sahen ihn noch vor
acht Tagen. — Glaubt ihr, daß wir ihn dort noch treffen werden? — „Sigun,"
wir wissen es nicht. -- War er schon je zuvor in Udschidschi? — Gewiß, er
brach vor langer Zeit von dort aus auf."
Nun war Stanley sicher, in wenigen Tagereisen mußte er Livingstone
treffen; er eilte Tag und Nacht vorwärts und sah endlich am 10. November
den breiten Spiegel des Tcmganjikasees vor sich aufblitzen. Wieder wird die
Flagge der Vereinigten Staaten entfaltet, wieder trällern die Salven der
Leibwache; eine große Menschenmenge strömt dem neuen Ankömmling entgegen;
aber hastig windet er sich durch und nun steht er endlich vor dem abgemagerten,
in Noth sich befindenden großen Reisenden, dem er Hülfe bringt, den er ent¬
deckt hat. Wie die Männer sich begrüßten, haben die Zeitungen uns schon
lange erzählt. Von Bagamojo aus war der unternehmende Correspondent
gerade 236 Tage unterwegs gewesen.
Die Schilderung seines Zusammenlebens mit Livingstone in Udschidschi
weiß Stanley äußerst lebhaft und malerisch zu geben. Das „Postpacket" für
den Doctor, das ein Jahr lang in Unjanjembe gelegen, wurde übergeben und
der so lange von der Außenwelt Abgeschlossene hörte zum ersten Male von
den großartigen Umwälzungen, die in Frankreich und Deutschland stattgefun¬
den; er las Briefe von Freunden und Kindern, fragte lebhaft nach diesem
und jenem, die Araber sandten Reis und Huhn und Stanley ließ den Kork
der letzten ausgesparten Flasche Champagner springen. Der kranke, herunter¬
gekommene Mann, dessen Magen kaum noch eine Tasse Thee vertragen konnte,
begann nun wieder mit Appetit civilisirte Speisen zu essen, er entwickelte einen
Löwenhunger, kräftigte sich allmählich und rief einmal über das andre: „Sie
haben mich zu neuem Leben gebracht!" Von Livingstone spricht Stanley durch¬
weg mit der größten Hochachtung; während er gerne anderen Leuten, von
denen er zu berichten hat, Eins anhängt. So halten wir seine Mittheilungen
über den verdienstvollen englischen Consul in Sansibar, Dr. Kirk, dem früheren
Reisegefährten Livingstone's, für durchaus verfehlt.
Stanley erzählt uns, daß er Livingstone „als ein großes Item für seine
Zeitung betrachtete. Ich beabsichtigte eine Unterredung mit ihm zu halten,
alle Einzelheiten, die er sagte, zu berichten, sein Leben und seine Person zu
schildern, dann an rsvoir zu sagen und zurück zu marschiren." Aber aus dem
bloßen Zusammensein und Reisen mit Livingstone entsprang allmählich eine
Freundschaft, eine Hochachtung für das „große Item", wenn auch Stanley
stets als gewissenhafter Reporter darauf bedacht war, Alles, was Livingstone
sagte, stenographisch niederzuschreiben. Die Expedition war ja ein commer-
cielles Unternehmen, kühn geplant, tüchtig, voller Energie und muthvoll aus¬
geführt. Uebrigens machte sie sich bezahlt, denn der Verleger des New-Uork-
Herald taxirte den directen Nutzen, den er durch Stanley's Berichte gewann,
auf nicht weniger als 80,000 Dollars.
Stanley schildert den Mann, um dessentwillen er die große Reise unter¬
nommen, folgendermaßen: Dr. Livingstone ist etwa 60 Jahre alt, obgleich
er, als er sich wieder erholt hatte, wie einer aussah, der eben erst die fünfzig
überschritten hat. Sein Haar ist noch bräunlich, beginnt aber an den Schläfen
zu ergrauen; der Bart ist sehr grau schon. Seine braunen Augen sind un¬
gemein glänzend; er hat einen Blick so scharf wie ein Falke. Nur seine de-
fecten Zähne deuten sein Alter an. Seine Figur, die bald wieder sehr kräftig
erschien, ist nur wenig über Mittelgröße und nur wenig an den Schultern
gebeugt. Wann er geht, hat er einen festen, aber schweren Tritt, gleich einem
Manne, der überarbeitet ist. Er trägt eine Marinemütze; seine Kleidung war,
als ich ihn znerst sah, vielfach geflickt und ausgebessert, aber skrupulös rein¬
lich. — Livingstone's Art und Weise mit den Schwarzen umzugehen, war
geradezu erstaunlich; er kannte sie von ihrer guten und schlechten Seite, wußte
alle ihre Eigenthümlichkeiten zu benutzen und hatte sich während seiner dreißig¬
jährigen Reisen in Afrika völlig in sie eingelebt. Die Araber und Mischlinge
in Udschidschi haßten ihn anfangs, doch bald wußte er sich Aller Liebe und
Zuneigung zu gewinnen. Stanley sah wie man ihm allgemein Achtung ent¬
gegentrug. Kein Muhamedaner ging an ihm vorüber ohne ihn mit den
Worten: „Gottes Segen ruhe auf dir" zu begrüßen. Jeden Sonntag Morgen
versammelte er eine kleine Gemeinde um sich, der er predigte und aus der
Bibel vortrug, gewöhnlich in Kisawaheli, der an der Ostküste gesprochenen
Sprache.
Livingstone gab Stanley einen Ueberblick seiner Entdeckungen. Wir haben
dieselben weiter oben kurz skizzirt. Er, sowohl wie Stanley, glaubt, daß es
sich dabei um die Nilquellen handelt, eine Ansicht die jedoch von keinem
Geographen in Europa getheilt wird. Livingstone konnte damals keine Ahnung
von den Entdeckungen haben, die unser Landsmann Georg Schweinfurth im
niam-niam und Monbuttu gemacht hatte. Livingstone wird sich arg enttäuscht
fühlen, wenn er erst Gewißheit darüber erhält, daß er die Congo- und nicht
die Nilqvellen entdeckt hat. Schrieb er doch in seiner Depesche vom 20. Februar
1872 an Lord Granville: „Wer würde riskiren in den Kochtopf der
Menschenfresser zu rennen und in schwarzes Fleisch eingesetzt
zu werden für etwas anderes als den großen alten Nil?"
Auf seinem Wege nach Udschidschi wandte sich Stanley nicht rechts noch
links — er hatte nur sein Ziel vor Augen: Livingstone möglichst schnell zu
erreichen und ihn zu „interviewen." Jetzt, da er ihn aufgefunden, wohl und
munter angetroffen, ermöglichten Stanley's Mittel den beiden Reisenden, ge¬
meinschaftlich ein geographisches Problem von hoher Wichtigkeit zu lösen und
für die Lösung desselben erhielt Stanley dann auch von der Londoner geo¬
graphischen Gesellschaft die goldene Mctoriamedaille. Es- handelt sich darum
nachzuweisen ob der Rusisi-Fluß, von dem wir zuerst durch Burton und
Speke Nachricht erhalten hatten, in das Nordende des Tangajikasees ein¬
münde oder abfließe. War das letztere der Fall und führte der Rufisi in
Baker's Montan Nzige — wogegen vom hypsometrischen Standpunkte nichts
einzuwenden war — so lagen die Nilquellen im Tanganjika. Bei der Fahrt
nach dem Nusisi, die Stanley und Livingstone unternahmen, stellte sich heraus,
daß der Fluß in den See mürbe und daß er von keiner großen Bedeutung
sei. Er strömt durch eine kleine Alluvialebene; nördlich von dieser liegt eine
Gebirgskette, die der Nusisi durchbricht; jenseits derselben heißt er Kwamgere;
seinen Ursprung hat er in dem kleinen Kivosee. Etwa 20 englische Meilen
nördlich von seiner Mündung empfängt er von Nordwest her den Luanda¬
fluß; außerdem münden noch siebzehn andere Gewässer in ihn ein. Mit
dieser Entdeckung war durch Stanley festgestellt worden, daß der Tanganjika
ein für sich abgeschlossener, mit den übrigen innerafrikanischen Seen in keiner
Verbindung stehender See sei. Die Gestade des nördlichen Endes waren dicht
mit Fischerdörfern besetzt, von denen ganze Flottillen kleiner Canoes ausliefen;
am Ufer weideten große Viehheerden, die Abhänge der Hügel waren bewaldet
oder dicht mit Mais, Kassave, süßen Kartoffeln u, s. w, bestellt. Das Volk
lebte glücklich und zufrieden, und es machte auf unsere beiden Reisenden einen
betrübenden Eindruck, wenn sie bedachten, daß die Schwarzen für ein Paar
Ellen Baumwollenzeug von den Arabern aufgekauft und nach Sansibar
geschleppt wurden, um dort Gewürznelken zu pflücken oder Lastträgerdienste
zu thun. Der Verkehr mit den Schwarzen war im allgemeinen ein freundlicher,
sie forderten allerdings große Durchgangszölle und nur zweimal war es
nothwendig, ernsthaft einzuschreiten, wobei Livingstone seine vortreffliche Manier
Mit den Leuten umzugehen, sehr zu statten kam.
Nach vierwöchentlicher Abwesenheit waren die beiden Reisenden am
13. December 1871 wieder in Udschidschi angelangt. Livingstone entschloß
sich, mit Stanley bis Unjanjembe zu gehen um dort neue Vorräthe in
Empfang zu nehmen, die ihm die Fortsetzung seiner Reisen und die endgiltige
Lösung der Congo-Nilfrage ermöglichen sollten. Er schrieb zahlreiche Briefe
und übergab sein versiegeltes Tagebuch Stanley. Um den noch fortdauernden
Krieg mit Mircnnbo zu umgehen, ging man von Udschidschi nicht direct in
östlicher Richtung auf Unjanjembe, sondern auf einer mehr südlichen Route.
Nachdem man feierlich Weihnachten begangen — wobei Hammelbraten vom
fettschwänzigen Schafe, Pombe (Bier der Schwarzen), frische Milch, Bananen,
Fische, Zwiebeln, süße Kartoffeln auf der Tafel standen — brach man am
27. December in zwei Canoes auf, von denen das eine die englische, das
andere die amerikanische Flagge führte, fuhr auf dem Tanganjika 60 Meilen
südlich bis Kap Tongwe und brach nun zur Landreise nach Unjanjembe auf,
das am 18. Februar 1872 auch glücklich erreicht wurde. Dort fand man
neue Nachrichten — am meisten freute sich aber Livingstone, „der wie ein
Held aß", über neue Schuhe und Strümpfe, die ihm ein Freund dorthin ge¬
sandt hatte. Dreißig Ladungen Güter lagen für Livingstone bereit und 40
Ladungen übergab ihm Stanley, so daß er für vier Jahre nun wieder mit
Vorräthen versehen war. Am 14. März nahmen beide Abschied von einander
und am 6. Mai war Stanley, nachdem er aufs Ruhmvollste seine Aufgabe
durchgeführt, wieder in Vagamojo.
Das ist in kurzen Worten der Verlauf der Stanley-Livingstone-Expedition,
die in der Geschichte der Erdkunde wie in jener des Zeitungswesens für immer
ein glänzendes Blatt sein wird.
Ich bin weit entfernt, über den jüngst in Hannover verhandelten Proceß
Grote juristische Betrachtungen anstellen zu wollen. Noch weniger will ich
die Frage beantworten, ob der welfische Pastor der Vergehen schuldig, deren
man ihn anklagt. Das mag er selbst mit seinen Richtern ausmachen. Für
uns Andere hat das wenig Interesse. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung
sind dagegen die Aufklärungen, welche uns jener Proceß über den Bestand,
über das wechselseitige Verhältniß und über die Taktik der betreffenden poli¬
tischen Parteien gebracht hat. Wir halten uns hier an die zur Oeffentlichkeit
gelangten Urkunden, deren Aechtheit von allen Seiten anerkannt ist. Betrachten
wir uns zunächst die Briefe des Kaufmanns Eduard Kerrl, welche zum Theil
an den Pastor Grote, zum Theil an die welfisch gesinnte Redaktton der
„Hannover'schen Landes-Zeitung" gerichtet sind. Die Briefe datiren von Anfang
1872. Pastor Grote verweilt in Gmunden am Traunsee, um dort seine Ge¬
schäfte zu betreiben. Ich werde darüber weiter unten berichten. Kaufmann
Kerrl schreibt nun an den „am Hofe des Königs" weilenden Pastor. Der
Eingang seines Briefes macht die höchsten Erwartungen rege. Er lautet sehr
pathetisch, nämlich so: „Gruß, herzlichen Gruß zuvor! Sie weilen jetzt in der
geheiligten Nähe unseres Königs, geleite der Herr Ihre Schritte und stärke
Sie mit seinem heiligen Geiste, daß von Ihrer Zunge wahrhaftige Worte des
Trostes und der Ermuthigung für unsern König und Herrn stießen mögen!"
Und was folgt dann? Die Uebersendung einiger Unterstützungsgesuche, vulgo
„Bettelbriefe", welche Herr Kerrl Herrn Grote zur Befürwortung empfiehlt.
Der eine ist von einem gewissen Thies; derselbe ist von einem gewissen Becker bei
Georg Rex angeschwärzt worden; er soll namentlich in der Weinschenke mit
einem „preußischen" Polizei-Beamten „conspirirt", d. h. ein Paar Worte ge¬
sprochen, und sonstige Schandthaten dieser Gattung verübt haben. Herr
Kerrl versucht es, den Angeschwärzten „Höchsten Orts" rein zu waschen und
behauptet, Becker habe „gelogen".
Der andere Bettelbrief hat einen „Arbeitsmann" nebst „bescheidener aber
bedürftiger Familie" zum Urheber. Der „Bescheidene" will seine silberne
Hochzeit feiern. Er besitzt bereits alles dazu Erforderliche, mit alleiniger Aus¬
nahme von etwas Kleingeld. Dieses wird von Gmunden erwartet. Der
„Hofrath" Ouro Klopp hatte es übernommen, „es seiner Majestät vermerken
zu lassen", (sie!), allein der Umzug von Hietzing nach Gmunden „verhinderte
den Vortrag der Sache". Nun soll sie der Pastor höchsten Orts vortragen
und das Gesuch damit befürworten, daß der Sohn der Silber-Jubilare „als
Trompeter mit bei Langensalza gewesen ist." Wenn also der
Sohn bei Langensalza trompetet hat, dann muß Georg Rex dem Vater die
silberne Hochzeit Herrichten, — wenigstens wenn es Herr Kerrl wünscht, und
wenn es Pastor Grote befürwortet. Wirklich recht patriarchalisch! — Dann
kommt noch ein dritter Bettelbrief zur Sprache, nämlich der des „Expedienten
Meyer". Doch genug davon! Thies, Meyer und der „bescheidene" Arbeits¬
mann sind nur Exemplare einer weit verbreiteten Gattung,
Das ist es, was Herr Kerrl verlangt; sehen wir nun, was er dafür bietet
Er erbietet sich erstens, wenn es möglich wäre, alle vier Wochen einmal
Nachricht über das Wohlbefinden der „theuren Herrschaften" in Hietzing zu
bekommen, diese Nachricht unter den „Getreuen" zu verbreiten, damit „das
Interesse nicht erkalte." — Zweitens erbittet er sich viele, recht viele Bilder
der „theuren Herrschaften". Auch diese allerhöchst-eigenhändig unterschriebenen
Bildnisse der theuren Herrscher-Familie will er unter „den tapferen Jungens"
(wahrscheinlich der Fremden-Legion?) verbreiten. Er fügt die Versicherung bei:
„Das wird eine Freude sein, wenn meine Calenberger die Bilder empfangen" und
setzt, offenbar um der größeren Bekräftigung willen, drei riesige Ausrufungs¬
zeichen dahinter. Wenn man das, was Herr Kerrl verlangt, und das, was
er bietet, mit einander vergleicht, so wird man finden, daß das Prädicat
„theuer" weniger auf die „Herrscher-Familie" paßt, als auf Herrn Kerrl und
seine Leistungen. Herr Kerrl scheint das selbst zu begreifen. Denn er fügt
für die Herrscher-Familie noch ein drittes Versprechen bei: nämlich „die Hand
des Herrn werde den grimmen Adler, welcher seinen Raub immer fester packe,
eines schönen Morgens wider die Wand werfen, daß er quakt." Man sieht,
Herr Kerrl zahlt mit einem Wechsel auf die Vorsehung, von welcher er ganz
gewiß ist, daß sie ihn nicht honoriren wird. So zahlte ja auch Ferdinand
Lassalle seine Getreuen mit einem Wechsel von 3,000,000 Thaler, welchen er
auf die preußische Negierung zog. Das ist so die Art der politischen Schulden¬
macher und Pumpkünstler. Indessen wollen wir darüber mit Herrn Kerrl
nicht weiter rechten. Vielleicht waren für ihn nur Gründe der Symmetrie
maßgebend. Auf drei Bettelbriefe mußten doch auch drei Verheißungen kommen.
Von diesem Gesichtspunkt wäre er gerechtfertigt. Es kommt ja immer nur
darauf an, den rechten Standpunkt zu finden.
Weit interessanter ist der zweite Brief.
Man weiß, daß in Deutschland die sogen. „Volkspartei" sich 1867 und
schon früher, auf die Seite der legitimistischen Reaction stellte. Schon im
Jahre 1865 glorificirte die rothe „Neue Frankfurter Zeitung" (ihr Eigenthümer
ist der Socialist und Börsenspekulant Leopold Sonnemann) den Kurfürsten von
Hessen als den „Engel des Lichts"; und von dem Kronprinzen Ernst August
von Hannover, von welchem der Verfasser von „Um Scepter und Krone" ver¬
sichert, er habe sich während der Schlacht von Langensalza einen Pfannkuchen
gebacken, versicherte die Frankfurter Zeitung, „er sei damals in einer Nacht
vom Knaben zum Manne gereift." Julius Frese ging zu Beust; der Kur¬
hesse und „Mußpreuße" Trabert versicherte, Kurfürst Friedrich Wilhelm sei
die beste Republik; und der uralte bayerische „Miliz-Greis" Kolb schickte von
München, wo er die Diäten eines „Auswärtigen" bezog, die beweglichsten
Klagelieder in ein welfisches Blatt nach Wien.
Der Brief des Herrn Kerrl zeigt uns nun deutlich, wie dieser welfische
Legitimist von seinen Bundesgenossen, den reichsfeindlichen Föderativ-Repub-
likanern, denkt. Er hält sie für „sonderbare Schwärmer", welche man so
bald wie möglich über Bord werfen muß. Er schreibt an die Hannover'sche
Landeszeitung, sie solle sich nicht wieder beigehen lassen, die „föderativem"
Reden des Dr. Schnell zu publiciren, welcher sich zu viel um Deutschland,
zu wenig um Hannover kümmere/könne sie aber mit solchen „Elementen,
welche die reinen Partei-Tendenzen der Welsen compromittirten", nicht ganz
brechen, so möge sie wenigstens „derartige Reden, wenn sie solche nicht ganz
zurückweise, der Art corrigiren und zustutzen, daß dieselben dem Ideen-Gange
und der Gesinnung der (welfisch-legitimistisch gesinnten) Leser entsprechen."
Also ein Bischen Censur, und wenn es Noth thut — der Zweck heiligt ja
die Mittel — auch ein wenig Entstellung. Charakteristisch sind dabei folgende
Auslassungen:
„Obwohl ich seit der Gründung des Wahlvcreins der festen Ueberzeugung war,
daß es sich früher oder später herausstellen werde, wie unsere rein legitimistisch-hanno-
versche Partei von den wenigen Herren Demokraten als Grundstein für ihre erträumte
deutsche Zukuufts-Aera benutzt werden solle, so befürchtete ich aber nicht, daß dieselben
so schnell mit ihren eigensten Tendenzen herauskehren würden. Diese wenigen Köpfe
dürfen sich nicht einbilden, daß sie tausende gesinnungstüchtige hannoversche Männer
vermittelst vorläufigen scheinbaren Eingehens ihrerseits auf die von uns angestrebte
Restauration unseres Königlichen Hauses später derart dummschwatzcn und irreleiten
können, daß dieselben sich für Realisirung ihrer heißspornigen fictiven Ideen verwenden
lassen."
Den „föderativem und fictiven Ideen dieser „Demokraten" stellt Kerrl mit großem
Nachdruck folgendes antideutsches, particnlaristisches Weisen-Programm entgegen: „Wir
wollen mit den außerhalb Hannovers lebenden Deutschen als iliren Parteifreunde nichts
zu schaffen haben, da dieselben unsere Specialität nicht vollkommen zu fassen vermögen,
wir wollen uns aber am allerwenigsten aus den Trümmern der preußischen conserva-
tiven Partei, und wäre es selbst Herr Gerlach, Brocken zusammenzulesen, mit denen
wir gemeinschaftliche Ziele anstreben würden. Nur in den engeren Grenzen unseres
hannoverschen Vaterlandes wollen wir die Liebe und Treue zu unserm angestammten
Königshause wachhalten, erneuern, erfrischen."
Zum Schlüsse richtet er an die Herren „Föderalisten" folgende, nicht mißzuver¬
stehende Warnung:
„Mögen sich die Herren hüten, und es nicht selbst dahin bringen, daß wir ihnen
zu zeigen uns für gezwungen halten, wie schon seit lange unsere legitimistisch-hanno-
versche Partei majorenn ist. und daß sie (die Demokraten) nicht bei einer etwaigen un¬
vermeidlichen Collision aus dem Sattel in den Sand gesetzt werden."
Wir sind nun in der That begierig, was die Herren „Demokraten",
„Föderativrepublikaner" und „Volkspartei-Männer" nach solchen nicht mißzu¬
verstehender Erklärungen zu thun gesonnen sind, wie sie solche jeden Tag von
ihren theueren Freunden, den Weisen und den Ultramontanen — desgleichen
von ihren Affiliirten, der Fraction Kleist-Retzow und Senfft-Pilsach im preu¬
ßischen Herrenhaus —, hören können. Beharren diese „Demokraten"
gleichwohl bei ihrer Alliance. so bekennen sie, entweder daß sie mit
offenen Augen betrogen sein wollen, oder daß das ganze Bündniß auf gegen¬
seitige Uebervortheilung angelegt ist. Denn daß ihr ganzer „Föderativ-Re¬
publikanismus" von Haus aus bloße Maske sei, werden sie nicht zugestehen
wollen und folglich fehlt uns das Recht, ein Solches zu behaupten. Denn
in Ermangelung eines Geständnisses, kann man solche Dinge ja niemals be¬
weisen.
Neben diese Aufschlüsse über den „ländlichen Wahlverein in Hannover"
und über die zwei Seelen, „welche, ach, in seiner Brust wohnen", reiht sich
würdig eine Aufklärung über den „deutschen Rechtsschutz-Verein" an, welcher,
wie ich vorausschicken muß, mit dem deutschen Rechtsschutz-Verein in London,
dem Verein zum Schutze des Rechtes der Deutschen im Ausland, leider nicht
das Geringste zu schaffen hat. Er hat seine Namen wie weus a non weoncio.
Er will nicht Rechte schützen, sondern Vorrechte. Er besteht aus einer Reihe
Sächsischer, Mecklenburger und Preußischer Junker, unter welchen wir denn
abermals jenen angeblichen „Demokraten" oder Föderalisten", den Dr. Schnell
aus Hannover vorfinden, welchen Herr Kerrl in seinen welfischen Briefen zum
Gegenstande mißliebiger Betrachtungen gemacht hat. Von den andern „Demo¬
kraten" wollen wir, lediglich pro eoloraMa. ca-usa, anführen: Herrn von Oertzen
den bekannten „verdrießlichen Bundesbrüder aus Mecklenburg" und den Junker
Hans von Plüskow, berüchtigt durch die „Sauhiebe", welche er wider den
Fürsten Bismarck versuchte. Letzterer, nämlich Plüskow, sitzt im Vorstand
(Außschuß) und wird von Herrn Oertzen vertreten. Ohne Zweifel hat Virgilius
die Cocristenz dieser „edeln Herrn und lieben Freunde" im Voraus geahnt
als er sang:
„— ^reaäss ambo,
„lZt oantars xares et resxonäörs xar^ti"
Anstatt weitere Betrachtungen über die Natur und den Zweck dieses
Vereins anzustellen. wollen wir seine neuesten Thaten erzählen. An seinen
Früchten sollt Ihr ihn erkennen. Am 23. Mai 1872, also nach dem großen
Krieg und nach Wiederaufrichtung von Kaiser und Reich, wodurch die meisten
der bisherigen ehrlichen Gegner der deutschen Einheit bekehrt worden sind, —
versammelt sich dieser Verein in Leipzig, und zwar im Sitzungs-Zimmer
des erbländischen Credit-Vereins. Aus dem Sitzungsprotocoll, welches „vor¬
gelesen und genehmigt" ist, theile ich wörtlich Folgendes mit:
„Nach erfolgter Bewillkommnung der erschienenen Herrn eröffnete Herr Graf
Bernstorff die heutige Sitzung unter Mittheilung der in Folge der vorjährigen Beschlüsse
geschehenen Schritte, und legte zunächst eine vom Herrn Constantin Frantz verfaßte,
in Druck gelegte Schrift vor, welche unter dem Titel „Das neue Deutschland" in
Leipzig erschienen ist, dazu bemerkend, daß dem Verfasser 65 Thlr. Beihülfe gewährt
worden, 5 Thlr. aber zu Nebenspesen Verwendung gefunden hätten. — Ferner bemerkte
derselbe, daß die Gesammteinnahme >des Vereins vom Jahre 1870—1371 370 Thlr.
5 Sgr. betragen und dadurch, daß 65 Thlr. an Constantin Frantz, 6 Thlr. zu Neben¬
kosten, 300 Thlr. an Pastor Grote für Arbeiten an der Hannoverschen Landeszeitung
verwendet worden, erschöpft sei. — Anlangend die diesjährigen verfügbaren Mittel, im
Gcsammtbctrage von 406 Thlr. 5 Sgr. theilte der Herr Vorsitzende mit, daß er dem
oben erwähnten Herrn Constantin Frantz als Beihülfe zur Verfassung und Her¬
ausgabe einer anderweiten Schrift die Summe von 100 Thlrn. gegeben
habe und bitte er, ihm dieser von ihm eigenmächtig gezählten Summe halber Indem¬
nität zu ertheilen. — Ferner entscheidet man sich dahin, noch anderweite 100 Thlr.
an Herrn :c. Frantz zu überweisen, während 175 Thlr zur Unterstützung der
Hannoverschen Landeszcitung, und zwar insbesondere zur Erlangung der Mitwirkung
des Herrn Pastor Grote an dieser Zeitung zu verwenden sein sollen, zu welchem Be¬
trage man noch anderweite 25 Thlr. verwilligtc, welche der Herr Vorsitzende als Vor¬
schuß auf die diesjährigen, bis zur Generalversammlung im Jahre 1873 fälligen Jah¬
resbeiträge für den Herrn Pastor Grote zu verwenden sich bereit erklärt und
beauftragt wird. — Weiter wurde die Wahl des Vorstandes vorgenommen und durch
Acclamation der jetzige Ausschuß in den Personen der Herren Graf v. Bernstorff auf
Gartow, Landrath v. Plüskow auf Kowalz, Kammerherr v. d. Planitz auf Nauendorf
wieder gewählt, gleichzeitig aber für den Fall, daß Herr v. Plüskow sich veranlaßt
sehen sollte, die auf ihn gefallne Wahl nicht anzunehmen, Herr Kammerherr von Oertzen
als dessen Stellvertreter bezeichnet, welche eventuelle Wahl seitens dieses Herrn acceptirt
wurde. — Bezüglich des nächstjährigen Versammlungsorts wurde Leipzig festgehalten.
Endlich wird Herr Landrath v, Plüskow für Mecklenburg, wie Herr Graf v. Bernstorff
für Hannover und Kammerher v. d. Planitz auf Nauendorf für Sachsen
ermächtigt, Vereinsangelegenheiten mit den innerhalb ihrer Landesgebiete befindlichen
Vereinsmitgliedern zu besprechen und dieserhalb Versammlungen derselben vorzunehmen."
Hieraus ist zunächst zu ersehen, daß nach der unmaßgeblichen Ansicht
dieser edeln Herren und lieben Freunde, Hannover keineswegs eine preußische
Provinz, sondern ein „Land" ist, wie Sachsen und Mecklenburg, und daß
die „Landesgebiete" unter dem Triumvirat der Herren v, Plüskow, v. Bern-
storff und von der Planitz stehen. Der alte Komödien-Dichter Terenz, welcher
ein sehr frecher Mensch war, würde vielleicht statt „Triumvirat" den aus dem
altrömischen Gottesdienst bekannten Opfer-Ausdruck „Suovetaurilium" ge¬
braucht haben. Wir thun dies nicht, sondern beugen unser Haupt in Ehr¬
furcht vor der erbländischen Credit-Vereins-Weisheit, Wir erlauben uns, zu
selbiger nur folgende eben so bescheidene, als wohlmeinende Randglosse zu
machen. Zunächst ist es erfreulich zu vernehmen, daß jene Herren, welche ja
zum Theil recht wohlhabend sind, mit ihren Mitteln doch sparsam zu Werk
gehen. Die ganze vornehme Gesellschaft weiß nicht mehr aufzubringen, als
300—400 Thaler per Jahr; und Das ist allerdings zu wenig, um das
„Deutsche Reich" über den Haufen zu rennen, wenn überhaupt, was ich be¬
zweifle, so heroische Absichten zu Grunde liegen sollten.
Der vormalige deutsche Bund und die Bundesversammlung in Frankfurt
am Main, welche letztere in guten Dingen fo wenig und in schlechten so viel
geleistet hat — namentlich in, politischen Ketzergerichten — würde in einem
solchen Verein sofort „subversive" Tendenzen gewittert und die Urheber und
Mitglieder desselben den Gerichten überliefert haben, zum Zwecke der Verur¬
teilung zum Tode oder zu lebenslänglichem Zuchthaus. — Hat man ja doch
damals den harmlosesten Sterblichen, der zugleich einer unserer größten Dichter
ist — ich meine Fritz Reuter — zum Tode verurtheilt und ihn dann seine
ganze Jugend auf einer Festung vertrauern lassen, bloß deßhalb, weil er als
Student ein schwarz-roth-goldenes Bändlein getragen und einer „Burschen¬
schaft" angehörte. — Heut zu Tage, zur Zeit der „Militär-Dictatur" und
des „Säbelregimentes" ist man menschlicher. Man lacht darüber, wie die
„armen Ritter" ihre Pfennige zusammenschießen, um Maculatur drucken zu
lassen; und wenn man Neigung hätte, sie zu verurtheilen, so wäre es doch
nur dazu , die Schriften des Herrn Konstantin Frantz zu lesen. Was letzteren
anlangt, so ist endlich, das große Räthsel gelöst, auf wessen Kosten seine un¬
sterblichen Werke edirt werden. Denn von dem Verleger behauptete man
schon lange, er sei, um mit dem Fürsten Bismarck zu sprechen, si bete"
um auf seine eigene Gefahr und Kosten diesen Verlag zu übernehmen.
Es ist ja sehr begreiflich, daß gewisse Junker sich in der frischen, freien
Luft des deutschen Reiches sehr unbehaglich fühlen und Alles aufbieten, ihre
Herrenhäuser, Ritter-Kurier und sonstige Maikäfer-Schachteln intact zu halten.
Aber daß sie sich dazu solcher Mittel bedienen, daß sie von Pastor Grote
und Constantin Frantz die rettenden Thaten erwarten, — das ist doch
wirklich hochkomisch.
Es erinnert an jenen fanatischen Bauer in Altbayern, welcher von dem
„Cooperator" (Kaplan) verlangte, er solle den „Fürsten dieser Welt" (damit
meinte er den Fürsten Bismarck) — todtbeten.
Als nach den Erfolgen der unvergleichlichen Waffenthaten des deutschen
Heeres im Jahre 1870 im Januar 1871 endlich das lange ersehnte deutsche
Reich in Versailles errichtet worden, faßte Dr. A. Essenwein, erster Director
des Germanischen Museums in Nürnberg, welcher schon während des Krieges
mit Eifer möglichst viel Original'Quellen zur Geschichte des Krieges gesammelt
hatte, den Plan, ein Album anzulegen, in das sämmtliche Personen, welche
in diesem denkwürdigen Kriege in hervorragender Weise thätig gewesen, eigen¬
händig einige Worte einschreiben sollten. Nach geschlossenem Frieden besuchte
der geheime Legationsrath Abeken das Germanische Museum. Er erfuhr von
diesem Plane und billigte ihn nicht nur, sondern versprach auch die weit-
gehendste Mitwirkung zur Ausführung desselben. Ja er übernahm sogar die
Besorgung aller in Berlin zu schreibenden Albumblätter. Auch an den
anderen Orten, in München, Dresden, Stuttgart, Carlsruhe:c. fand Essen¬
wein für seine Wünsche ein allgemeines Entgegenkommen und so entstand
binnen wenigen Monaten ein höchst werthvolles Album von über hundert
Blättern, das der großen deutschen National-Anstalt, welche es besitzt, durch¬
aus würdig ist. Es enthält eigenhändige Einzeichnungen des Kaisers, der
prinzlichen Heerführer, des Reichskanzlers, des Grafen Moltke, aller deutschen
Fürsten und Prinzen, welche an dem Kriege Theil genommen, aller hervor¬
ragenden Generale, der einflußreichsten Minister und Diplomaten, so wie
mehrerer anderer zu den Ereignissen in naher Beziehung stehenden Personen.
Ueberall wohin die Kunde von diesem Album drang, erregte es lebhaftes
Interesse. Porträts und Handschriften sind ja bekanntlich sehr wesentliche
Anhaltspunkte für Beurtheilung des Charakters der Menschen. Daneben
wirft auch die Auswahl der Sprüche ein Schlaglicht auf die Ansichten dieser
Männer.
Es ist daher gewiß ein glücklicher Gedanke, daß die Hofbuchhandlung
S. Soltau in Nürnberg eine Vervielfältigung dieses Kriegs-Albums in ge¬
treuen Facsimiles unternommen hat.
Die erste Abtheilung von 50 Blatt liegt vor: die zweite soll binnen
Kurzem folgen. Es ist ein sauber ausgestattetes Heft in groß Quart. Die
Nachbildungen der Handschriften in Lithographie sind ohne Zweifel getreu.
Wir blättern mit großem Interesse in dem Buche, betrachten die so überaus
verschiedenartigen.Züge, deren Manche uns befremdend genug erscheinen. Das
was diese hohen Herrn geschrieben, ist nicht weniger merkwürdig.
Das erste Blatt gehört streng genommen nicht in diese Folge, ist aber
von besonderem Interesse, denn es ist eine Abbildung jenes kleinen Blattes
aus Bismarck's Taschenbuche, auf welches der Fürst am Abende des
18. August im Bivouak bei Rezonville jene vom Kaiser ihm dictirte und
eigenhändig unterschriebene Depesche an die Kaiserin schrieb, welche als
Ur. 23 der officiellen Kriegs-Depeschen allgemein bekannt ist. Der Kron¬
prinz schrieb:"
„Furchtlos und beharrlich
General v. der Tann:
„Auf das Wissen soll sogleich folgen das Können".
Graf Moltke:
„Alle Zeit, treu bereit,
Für des Reiches Herrlichkeit".Minister Jolly:
„Im Großen entschieden,
Im Kleinen nachgiebig".
Von besonderem Werthe ist die Einzeichnung Bismarck's. Er giebt
mit seinen gewaltigen Schriftzügen seine eigene Biographie in Lapidarstil.
Kriegsminister v. Prankh schrieb: „Ein Staat, welcher sein Heer vernach¬
lässigt und dasselbe verkümmern läßt, geht trotz aller Civilisation dem sichern
Verfalle entgegen." Prinz Friedrich Carl hat den Wahlspruch:
„Ich wäg's, Gott walt's"
eingezeichnet. General v. Hartmann schrieb eine Stelle aus seiner am
28. September 1872 bei Gelegenheit der Grundsteinlegung zu den neuen Be¬
festigungen in Straßburg gehaltenen Rede. Prinz Leopold von Hohen-
zollern citirt den Spruch Goethe's:
„Thu immer das Rechte i» Deinen Sachen,
Das Andere wird sich von selber machen".
Der Preußische Gesandte von Werther schrieb :
„Der Du betrachtest dieses Blatt,
Wenn ich schon längst gestorben,
Denk': „war Er auch ein Diplomat,
Hat Er doch nichts verdorben",
u. s. w. — Wir können nicht Alles anführen. Ein Jeder findet etwas
Anderes, das ihm besonders gefällt. — Wohl kein Deutscher wird das in¬
teressante „Gedenkbuch" ohne Befriedigung aus der Hand legen.
Am 9. December fand im Herrenhaus die Schlußberathung und Schlu߬
abstimmung über die Kreisordnung statt. Ihre Leser wissen, daß das Gesetz
in namentlicher Abstimmung mit 116 gegen 90 Stimmen angenommen worden.
Die Majorität setzte sich zusammen aus der alten Minorität, aus einer Anzahl
liberaler Herrenhausmitglieder, die in der vorigen Session fehlten, aus den
vierundzwanzig neu ernannten Herren und aus nur drei Mitgliedern, die der
ehemaligen das Gesetz verneinenden Majorität angehört haben. Aus der
Generaldiscussion, welche der Schlußabstimmung nochmals vorausging,
ist nur eine Rede des Herrn Kohleis, Bürgermeisters der Stadt Posen,
hervorzuheben. Bei den früheren Verhandlungen über das Gesetz so¬
wohl im Abgeordneten- als im Herrenhaus, hatte eine Bestimmung des Ge¬
setzes, auf die ich noch keine Veranlassung, hatte einzugehen, mehr als einen
Zwischenfall hervorgerufen. Die Bestimmung nämlich, daß die Kreisordnung
auf die Provinz Posen vorläufig noch keine Anwendung finden soll- Polnische
und ultramontane Abgeordnete haben sich diesen Punkt nicht entgehen lassen,
ohne etwas damit auszurichten. Denn die Majorität des Landtages begreift
sehr wohl, daß man einer dem preußischen Staat principiell feindlichen oder
doch von feindlichen Einflüssen geleiteten Bevölkerung nicht Rechte und Pflichten
in die Hand geben kann, wie es die neue Kreisverfassung mit der außerhalb
des behördlichen Organismus stehenden, also von dem directen Einfluß der
Staatsregierung unabhängigen Bevölkerung thut. Solche Maßregeln sind
nur möglich, wo Volk und Regierung in demselben Boden des Staatsgefühles
wurzeln. Diesmal sprach nun ein liberales und deutschgefinntes Mitglied
über die Ausnahmestellung der Provinz Posen.*) Herr Kohleis leugnete die
einstweilige Nothwendigkeit der Ausschließung seiner Provinz von den Wohl¬
thaten der neuen Kreisverfassung nicht. Aber er suchte die Ursachen zu er¬
gründen , und die Mittel, dem Uebel abzuhelfen. Er führte aus,
daß die Zähigkeit des polnischen Elementes in Posen wesentlich von
der russischen Grenzsperre herrührt. Bei einer freisinnigen Handelspolitik von
Seiten Rußlands müßte die Provinz Posen die Durchgangs- und Vermittelungs¬
region für den großen Waarenverkehr zwischen dem europäischen Osten und
Westen sein, und damit der lebhafteste Anziehungspunkt deutscher Colonisation.
Durch die russische Handelssperre wird dieser Proceß gestaut. Wenn eine
Aenderung dieses Systems, das vor Allem für Rußland verderblich ist, nicht
in der Hand der deutschen Politik liegt, so schlug Herr Kohleis doch eine An¬
zahl von Mitteln vor, das Uebel zu mildern, welche die preußische Regierung
theils in der Hand habe, theils Rußland gegenüber, anzustreben berech¬
tigt sei.
Im Abgeordnetenhause kam am 9. December das Gesetz wegen Abände¬
rung der Classensteuer und der Einkommensteuer zur ersten Berathung. Das
Resultat derselben war die Wahl,einer Commission zur Vorbereitung der
weiteren Berathung. Ich ziehe es daher vor / die Erläuterung des Gesetzent¬
wurfs bis zu den Verhandlungen der zweiten Berathung, in welcher das
Haus sich erst entscheiden wird, zu »ersparen. Aus der ersten Berathung ist
nur eine ausgezeichnete Rede des Abgeordneten Löwe hervorzuheben, worin
er namentlich die Nachtheile der Mahl- und Schlachtsteuer, von denen man
nicht schlimm genug denken kann, wiederum vor Augen stellte. Es ist das
sehr nöthig und verdienstlich. Denn bekanntlich wollte die Regierung in der
vorigen Session in Verbindung mit einer Reform der Classensteuer die Mahl-
und Schlachtsteuer aufheben. Die desfallsige Gesetzvorlage wurde aber verworfen,
weil viele Abgeordnete fanden, daß die Mahl- und Schlachtsteuer keinesfalls am
dringlichsten zu beseitigen und überhaupt garnicht so übel sei. In ihrem dies¬
maligen Entwurf hat sich nun die Regierung auf die Reform der Classensteuer und
einige nicht wesentliche Veränderungen der Einkommensteuer beschränkt. Es ist das
geschehen, weil eine Reform um so leichter der Vereitelung ausgesetzt wird, je mehr
sie auf verschiedenen Punkten gleichzeitig einsetzt. Doch ist Seitens eines Abgeord¬
neten ein Gesetzentwurf zur Beseitigung der Mahl- und Schlachtsteuer selbständig
eingebracht worden.
Das Herrenhaus erledigte am 10. December eine Gesetzvorlage über die
Ablösung der Reallasten in Schleswig-Holstein, auf die ich ihrer technischen
und lokalen Beschaffenheit wegen nicht näher eingehe.
Im Abgeordnetenhause stand am 11. December der Gesetzentwurf betreffend
die Ausstattung der Provineialverbände mit eigenen Fonds zur ersten Be¬
rathung. Auch hier wurde die Wahl einer Commission beschlossen, auch hier
verspare ich die Erläuterung bis zur Berichterstattung über die zweite ent¬
scheidende Berathung. Die Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 13. December
war einigen technischen Vorlagen gewidmet, unter denen hervorzuheben sind:
die Aufhebung des Jagdrechts in Hessen und Schleswig-Holstein, die Ge¬
währung von Wohnungsgeldern an die Staatsbeamten. —
In dieser Woche ist es eine Wohlthat für den Berichterstatter, daß er
das Eingehen auf wichtige Gegenstände der Landtagsverhandlungen mit Fug
sich auf einen späteren Zeitpunkt ersparen konnte, denn die allgemeine Auf¬
merksamkeit ist von einer ganz anderen Frage der inneren Politik vollständig
in Anspruch genommen. Seit Mitte der Woche verbreitete sich die Kunde,
die seitdem ihre Bestätigung gefunden hat, daß Fürst Bismarck den Vorsitz
im preußischen Staatsministerium niederlegen wolle. Mit Recht sieht die
National-Zeitung in diesem Schritt das Anzeichen einer Krisis, in welche
Preußen und das Reich gekommen, deren Ausgang sich noch nicht übersehen
läßt. Unerwartet, wie die National-Zeitung meint, kommt diese Krisis jedoch
selbst dem nichteingeweihten denkenden Beobachter nicht. Ein solcher Beo¬
bachter hat sich längst sagen müssen, daß es nicht bleiben kann bei dem bis¬
herigen Nebeneinander der obersten Reichsbehörden und der obersten Behörden
des preußischen Staats. Die Verbindung zwischen beiden lag nur in der
Person des Fürsten Bismarck, in seiner gleichzeitigen Stellung an der Spitze
beider Behörden. Aber die wenig durchgreifenden Befugnisse eines preußischen
Ministerpräsidenten gestatteten dem Fürsten die Herstellung des nöthigen Zu¬
sammenwirkens und Jneinandergreifens nur mittels eines persönlichen Kraft¬
aufwandes, dem keine menschliche Natur auf die Dauer gewachsen sein kann.
Es war also längst klar, daß der Zeitpunkt einmal kommen mußte, wo der
Fürst erklären würde, die ungleichartige Doppellast auf keine Weise mehr
tragen zu können. Auch das war schon seit längerer Zeit vorauszusehen,
daß dieser Zeitpunkt nicht mehr fern sein könne. Die zunehmende Kränklich¬
keit des Fürsten und die zunehmenden Dimensionen der Doppelaufgabe
drängten gebieterisch zur Beschleunigung. Es kann nicht überraschen, daß der
Fürst den Moment seines Wiedereintritts in die Geschäfte dazu gewählt hat
um zu verlangen, daß seine geschäftliche Aufgabe in einer Weise regulirt werden
müsse, wodurch die Last derselben für eine menschliche Kraft überhaupt trag¬
bar wird.
Da giebt es nun viele kluge Leute, theils wohlmeinend, theils übelwollend,
welche beweisen, daß dem Fürsten die Abgabe des Vorsitzes im preußischen
Staatsministerium nicht Ernst sein könne. Man schlägt die Sammlungen der
Reden des Grafen Bismarck nach und findet, daß er einmal, nämlich bei Be¬
rathung der norddeutschen Bundesverfassung, ausgeführt hat, daß der Bundes¬
kanzler nothwendig vom preußischen Ministerpräsidenten abhängen müsse. Man
schlägt weiter nach und findet, daß der Bundeskanzler, als im norddeutschen
Reichstag verantwortliche Bundesminister an der Spitze der verschiedenen Ge¬
schäftszweige verlangt wurden, dieses Verlangen bekämpft und dabei gesagt
hat, daß die collegiale Ministerverfassung ein Fehler sei, von dem auch
Preußen so bald als möglich loszukommen suchen sollte. Man schließt aus
diesen beiden Reden, daß der Fürst jetzt seine Absicht auf die Reform der
preußischen Ministerialverfassung, insbesondere auf Beseitigung ihres collegia-
len Charakters gerichtet, und das Verlangen, den Vorsitz bei dieser Ministe¬
rialverfassung niederzulegen nur gestellt habe, um den Fortbestand derselben
unmöglich zu machen.
Man darf nun nicht vergessen, daß die bestehende Ministerialverfassung
dem Ministerpräsidenten nicht blos Schwierigkeiten bereitet durch die collegiale
Beschlußfassung über gewisse wichtige Staatsangelegenheiten. Wohl noch
mehr ist dies der Fall durch die selbständige Stellung der einzelnen Minister
in ihren Verwaltungszweigen. Eine Maßregel mag für die Gesammtpolitik
noch so wichtig sein, der Ministerpräsident hat kaum ein Mittel, den betreffen¬
den Minister zu ihrer Inangriffnahme zu nöthigen, als den sehr umständlichen
und überdies nicht sehr wirksamen Weg der collegialen Beschlußfassung. —
Wenn wir nun zugeben wollen, daß eine durchgreifende Reform der preu¬
ßischen Ministerialverfassung am besten geeignet wäre, dem Reichskanzler und
Ministerpräsidenten seine Doppellast erträglich zu machen, so können wir uns
doch sehr wohl auch einen anderen Weg denken. Und es ist sehr die Frage,
ob Fürst Bismarck nicht diesen andern Weg als den jedenfalls leichter zu¬
gänglichen zunächst im Auge hat.
Jene Stimmen, die wir erwähnten, vergessen mit ihren Citaten aus
Reden, welche der einstige Bundeskanzler im norddeutschen Reichstag gehalten,
daß das deutsche Reich doch nicht identisch ist mit dem norddeutschen Bund
der Reichskanzler nicht identisch mit dem ehemaligen Bundeskanzler. Die be¬
treffenden Verfassungsbestimmungen sind ziemlich gleichlautend, aber die Be¬
dingungen und Erfordernisse der beiden Staatsgebilde sind in dem Grade an¬
dere, als sie verschieden sind an Umfang und an Bedeutung der Glieder, in
denen sie bestehen. Im norddeutschen Bund war Preußen der einzige große
und zwar unverhältnißmäßig große Staat. Hier konnte man die Bundes-
functionen ganz abhängig denken von den Einzelstaaten und von dem größten
darunter. Die Reichsfunctionen müssen selbständig gedacht werden, und da¬
nach müssen die Behörden eingerichtet und betrachtet werden. Der norddeutsche
Bund hatte nur ein Präsidium, das Reich hat einen Kaiser. Und wenn dies
nur ein Namensunterschied zu sein scheint, vielleicht nur als solcher von Anfang
gedacht war, so knüpft sich an den Namen doch mit Nothwendigkeit, weil sie
in der Natur der Verhältnisse liegt, die Selbständigkeit der Reichssouveränität.
Der Reichskanzler ist eine kaiserliche Behörde, ernannt vom -Kaiser zur Aus¬
übung der Reichssouveränität, nicht mehr zur Ausübung einer den Einzel¬
staaten und insbesondere dem preußischen Staat, so zu sagen, nur anhängen¬
den Function. Man kann die Sache also jetzt umkehren und sagen: die kai¬
serliche Behörde muß ganz selbständig hingestellt werden in ihrem Geschäfts¬
kreis von allen preußischen Staatsbehörden. Man kann sogar noch weiter
gehen und aus dem Umstand, daß der König von Preußen als deutscher
Kaiser verpflichtet ist, die Kraft seines Staats vorzugsweise dem Reich zu
widmen, die Forderung herleiten, daß den kaiserlichen Behörden den könig¬
lichen gegenüber ein Requisitionsrecht zustehe.
Das Kriegsministerium ist seiner Natur nach keine preußische Behörde
mehr; es wird also als Zweig der kaiserlichen Verwaltung unter den Reichs¬
kanzler treten. Wenn dann das Reichskanzleramt noch durch einen dauernden
Vertreter der rechtsgesetzgeberischen Aufgaben des Reichs vervollständigt wird,
so ist die Trennung der'Geschäftszweige vollzogen. Es kann dann eine Re¬
organisation des preußischen Ministeriums stattfinden, aus welchem die Ver¬
waltungen des Auswärtigen, des Krieges und der Marine ausgeschieden sind.
Es ermöglicht sich dann eine Theilung des mit Geschäften überladenen Mi¬
nisteriums des Innern, vielleicht in eine Centralverwaltung der technischen
Polizei, in welche das Medicinalwesen aus dem Cultusministerium herüberzu¬
nehmen wäre, und in eine Centralverwaltung der Friedenspolizei und der or¬
ganisatorischen Angelegenheiten der Localverrvaltung. Der kaiserlichen Behörde
müßten die königlichen Behörden für die Zwecke des Reiches zur Verfügung
stehen. Auf den Fortgang aller dem einzelstaatlichen Bereich verbleibenden
Angelegenheiten hätte dann allerdings der Reichskanzler keinen unmittelbaren
Einfluß mehr. Die Wirkung wäre vielleicht, daß die Grenzen der Reichs-
funetionen sich destomehr ausdehnen.
Wir denken nicht entfernt daran, aus den besprochenen Möglichkeiten die
wahrscheinlichere zu bezeichnen. Wir haben dieselben überhaupt nur dargelegt,
um den Inhalt und die Wichtigkeit der Frage anzuzeigen, welche der Reichs¬
kanzler aufgeworfen und seit seiner gestern erfolgten Rückkunft jedenfalls zum
ersten Gegenstand seiner Anstrengungen gemacht' hat.
Ungarn ist dem westlichen Europa, zu dem wir in diesem Falle Deutsch¬
land anrechnen. heute noch ein halb unbekanntes Land. Seine landschaft¬
lichen Schönheiten und Schattenseiten, die Vorzüge und Untugenden in dem
Leben und den Sitten seiner Bewohner, die ganze Organisation seiner Ge¬
sellschaft und Wirthschaft, selbst die Gestaltung seiner politischen Verhältnisse,
die Kämpfe, Strebungen, Kampfmittel und Bündnisse seiner Parteien u. s. w.
sind uns im Grunde nur wenig mehr bekannt als dieselben Verhältnisse in
Jnnerrußland und der Türkei. Am wenigsten kennen und beurtheilen wir
richtig die Fortschritte, welche das eminent begabte Volk in den wenigen
Jahren gemacht hat, seitdem der Alp der östreichischen Reaction ihm von der
Brust genommen ist und es im eigenen Hause durch seine eigenen Leute regiert.
Diese Thatsache, daß erst ein kaum nennenswerter Zeitpunkt verflossen ist,
seitdem die Ungarn ein selbständiges Staatsleben führen, ist auch zugleich der
Hauptgrund, warum in Deutschland über das reiche innere Leben, das dort
an der untern Donau und Theiß zu neuer Blüthe sich regt, bis jetzt so
wenig geschrieben worden ist. Man begnügte sich bei uns bisher mit den
alten Gemeinplätzen alter Ueberlieferungen oder mit schwergelehrten Unter¬
suchungen über die ethnographische Abstammung der Magyaren, und die her¬
vorragendsten Züge ihrer Geschichte, die aber weitab liegen von den wichtig¬
sten Erscheinungen ihres modernen Volkslebens. Nun hat der zähe Ver¬
fassungskampf der Ungarn sein Ziel erreicht: ein Kampf, der vielleicht nur
in der inneren Geschichte weil. Kurhesseus annähernd ein Seitenstück findet, aber
diese und selbst die englischen Verfassungskämpfe überragt an Kraft und zäher Aus¬
dauer. Denn nicht Individuen kämpften in Ungarn "um das Recht des Landes,
sondern das ganze Volk. Nicht mit Einzelnen, nicht mit Jahren und Jahr¬
zehnten erstarb das lebendige Bewußtsein an der liefen Bedeutung der Kämpfe
der Ahnen. Jede Generation vielmehr löste die frühere ab in "dem Ringen
nach dem einen unverrückter Ziel und führte ihrerseits den alten Kampf fort
bis ans Ende ihrer Tage. Dieser Kampf und das glückliche Ende desselben
sind beispiellos in der Geschichte. Wenn immerhin der Tag von Königsgrätz,
also ein deutscher Sieg, die Widerstandskraft der Habsburgischen Velleitäten
auch Ungarn gegenüber gebrochen und den „Ausgleich" gezeitigt hat, so bedürfte
es doch jener wunderbaren Ausdauer und Mäßigung der Magyaren, ihrer
Schule und Erfahrung in den Rechts- und Verfassungskämpfen, um das
Ideal ihrer Träume sofort kräftig und rein in die harte Wirklichkeit des
österreichischen Kaiserstaates einzufügen. Sie haben diese Aufgabe meisterhaft
gelöst. Ihre Minister und Staatsmänner haben sich seitdem entschieden als
die politisch leitenden Köpfe der Gesammtmonarchie erwiesen, zugleich als die
natürlichsten und wärmsten Freunde der nationalen Erfolge Deutschlands und
haben demgemäß auch wiederholt die gefährlichsten Widersacher eines fried¬
lichen guten Einvernehmens mit Deutschland von ihren hohen cisleitha-
nischen Posten hinabgestoßen.
Dies sind nur einige Andeutungen darüber, warum das politische, ge¬
sellschaftliche, wirthschafrliche, sittliche' und literarische Leben und Streben der
Magyaren im höchsten Grade das Interesse aller gebildeten Deutschen bean¬
sprucht, und warum gerade dieses Buch auf das Wärmste zu begrüßen ist.
Denn es bietet uns dasjenige, was wir am wenigsten bisher in Deutschland
besaßen: Kenntniß von Land und Leuten, Production und Verkehr, Partei
und Politik, Literatur und Geschmack in Ungarn. Und alles das in jener
fesselnden, glücklichen Form der Darstellung, jener Feinheit der Auffassung
und Beobachtung und jener Treue der Wiedergabe, die ein so competenter
Beurtheiler, wie der deutsche Generalpostdirectör Stephan in offener Reichstags-
sihung, als die hervorragendsten Eigenschaften der Reisebeschreibungen des Ver¬
fassers anerkannte. Auch die Zurückhaltung, die der Verfasser neuerdings in
seinem literarischen Schaffen beobachtet, ist dem vorliegenden Buche sehr zu
statten kommen. Form und Inhalt lassen gründliche Feile erkennen. Nur
der kleinste Theil des Inhaltes ist bereits früher veröffentlicht; so nicht ganz
die Hälfte der „Entdeckungsreise in das Tokayer Land" in einer größeren
nordd. Zeitung und das „Lebensbild des Minister Schäffle in auf- und ab¬
steigender Linie" theilweise vorher in diesen Blättern, Das Buch liest sich vor¬
trefflich, und wenn man es durchgelesen hat, ist man nicht nur um einige
Stunden köstlicher Unterhaltung und Freude, sondern um ein sehr ansehn¬
liches Stück „Menschenkenntniß", Land und Völkerkunde reicher geworden,
und hat namentlich in Betreff verschiedener ungerechter Spin - und Antipathien
einen neuen Menschen angezogen.
''
Brauns Werk vermeidet gleichwohl mit Recht die Form gewöhnlicher
Reisebeschreibungen. Denn das Ich und die kleinen abziehenden Erlebnisse
jeder Reise stören einheitliche, ernstere Betrachtungen. So hat denn Braun
seinen Stoff in verschiedene selbständige Untersuchungen zerlegt, die das ihm
— und ohne Zweifel auch uns — Schilderungs- und Wissenswürdigste aus
dem Ungarlande unter bestimmten großen Rubriken darstellen. Die Landschaft
des ungarischen Hoch- und Tieflandes hat selten einen so glücklichen «childerer ge>
funden wie diesen. Der ungarische Weinbau, zumal die Erzeugung des edelen
Tokaiers erfährt hier eine äußerst sachverständige und gründliche Darstellung,
die gehoben wird durch eine merkwürdige Parallele über die Production und
Productionsfähigkeit des deutschen Weinbaues, namentlich im Rheingau, der
Handelspolitik welche beide seit alten Zeiten erfahren haben u. s. w. Dann
folgt zur Abwechslung ein persönliches Bild: der Geistesgang, die politische
und schriftstellerische Laufbahn des ungarischen Parteiführers und Dichters Moriz
J6kai (Iükai M6r), der bekanntlich auf der ungarischen Linken unter den Gegnern
der Deäkpartei, im Reichstag sitzt und dessen Werke uns leider bisher nur in
sehr willkürlichen und sinnlosen Kürzungen und in einer geradezu haar¬
sträubenden deutschen Uebersetzung aus dem Kühtmann'schen Verlag in Bremen
theilweise zugänglich gemacht worden sind. Braun ist mit Jökai persönlich
befreundet und vertraut geworden, und hat an ihm und andern gastfreien
Edelleuten des schönen Landes die Führer zum Kerzen und dem geheimen
inneren Leben des Volkes gefunden, das er uns schildert. So war denn auch
ein Aufenthalt von wenigen Wochen, dem freilich gründliche, gelehrte Studien
des Verfassers vorausgingen, und den die vielfache practische Thätigkeit des
Verfassers in Politik und Volkswirthschaft und seine außergewöhnliche Beo-
bachtungs- und Fassungsgabe sehr viel nutzbarer machten als bei hundert
anderen Touristen, ausreichend, um das Material zu diesem Buche zusammen¬
zutragen, welches in dem Lande selbst, das es schildert, verdientes Aufsehen
macht. Die Herren von der magyarischen Linken, die Braun kennen lernte,
waren für ihre Person durchaus frei von dem Deutschen-Haß oder richtiger
der Deutschen-Furcht, welche ihre Partei als solche documentirt hat. Ein
besonderer großer Abschnitt des Buches ist daher der Untersuchung über die
Ursachen des Deutschen-Hasses in Ungarn und den Mitteln ihm zu begegnen,
seiner Therapie, gewidmet. Das Lebensbild des Ministers Schäffle^ist ge¬
wissermaßen als Illustration der berechtigten und mindestens erklärlichen Seiten
des Deutschenhasses in Ungarn beigefügt, um dem Bruder Ungar in amas.
vin zu zeigen, daß wir für diese Species von „Schwob" auch keine über¬
mäßigen Sympathien empfinden. In diesem Sinne erfüllt dieser Lebenslauf
in auf- und absteigender Linie einen guten Zweck in diesem Buche.
Die beiden Cabinetsstückchen der Sammlung aber dürften wohl in den
fenilletonistisch gehaltenen Artikeln zu finden sein: „Ein Franzose in Ungarn
1860—6l", (nach den „Geographischen Plaudereien" des Malers Lancelot)
und „ein Ungar in Frankreich, 1870—71", (nach dem „Blutigen Brod" des
J6kai M6r). Namentlich die letztere Erzählung, an der so viel eigene gute
Zuthat von Braun selbst ist, daß er sie wohl sein eigen Kind hätte nennen
dürfen, ist die spaßhafteste und dennoch thatsächlich begründetste Persiflage des
Französischen Franctireurwesens während des letzten Krieges, die uns bis jetzt
vorgekommen ist. Ihre Komik liegt ebensosehr in den wunderlichen Situationen
des Helden — einem ungarischen Jüngling der Kuh ö<zur — in die er durch
seine Franzosenfreundschaft und seinen Deutschenhaß unter dem großen Franeti-
reurgeneral Scribinski, unter eigener Führung in Paris und bis an das Ende
der Commune versetzt wird, als in der feinen durchdachten Satire der Diction.
So möge denn durch recht eifrige Lectüre des Buches der Wunsch und
Zol'et des Verfassers in Erfüllung gehen, der es hervorrief, und den Braun
in seiner ungarischen Vorrede an J6kat M6r, dem das Buch gewidmet ist,
klar und bündig also ausdrückt:
„Es hat sich die Gefahr von Irrungen und Verwirrungen zwischen
beiden Nationen gezeigt. Diese Gefahr hatte ihre Hauptursache im Mangel
an gegenseitiger Kenntniß. Wir Deutsche erfahren leider zu wenig über Ungarn
und dieß Wenige fließt nicht immer aus lauteren Quellen. Ich bin mir be¬
wußt, daß ich wenigstens unbefangen beobachtet habe; und dies gibt mir die
Hoffnung, zur Verständigung beitragen zu können."
Gewiß, wenn außer der natürlichen Freundschaft und Interessengemein¬
schaft der beiden Nationen, ein Buch zu dem beiderseitigen guten Verhältnisse
etwas beizutragen vermag, so ist es dieses.
Wenige der Werke über den deutsch-französischen Krieg, welche sich
bei ihrem Erscheinen als die vorzüglichsten Darstellungen priesen, sind heute
noch brauchbar, seitdem das Werk des Großen Generalstabes theilweise ver¬
öffentlicht ist, und einzelne Kriegsabschnitte eine wirklich strategisch-historische
Bearbeitung auf Grund der Kriegsacten gefunden haben. Diese Werke, die
im eminenten Sinne die bisher einzig vollgenügenden genannt werden dürfen,
sind wie das große Generalstabswerk selbst und die Arbeit des Major Blume
über den Krieg nach Sedan. bei E. S. Mittler K Sohn in Berlin er¬
schienen. Wir nennen heute an neuesten Erscheinungen des Mittler'schen
Verlags, mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, ihnen bald einen besondern
größern Artikel zu widmen, die beiden Werke, welche die Operationen der
I. Armee unter General v. Steinmetz und General v. Manteuffel schildern.
Der Major im Großen Generalstabe A. v. Schelk gibt nach den Operations¬
acten des Obereommandos der I. Armee die Darstellung der Operationen
unter General v. Steinmetz vom Beginne des Krieges bis zur Kapitulation
von Metz. Das Werk, welches mit einer Uebersichtskarte und zwei trefflichen
Plänen versehen ist — darunter die beste Karte der Schlachtfelder um Metz,
die uns bis jetzt zu Gesicht gekommen ist — gibt namentlich Aufschluß über
die so oft und in so vielfachen Versionen ventilirte Frage, ob und welche
Fehler dem damaligen Obercommandanten der I. Armee zu machen sind. Natür¬
lich ist diese Frage nicht in dem räsonnirenden Tone der mehr oder minder zu¬
friedenen Strategen der Tagespresse, sondern mit der Feinheit und Objectivität
beantwortet, welche einer Bearbeitung der Acten durch einen höheren General-
Stabsoffieier geziemt. — Die Operationen der ersten Armee unter General von
Manteuffel dagegen, von der Kapitulation von Metz bis zum Fall von
Peronne hat auch dießmal der Oberst im Generalstab Hermann Graf
Wartensleben nach den Operationsacten des Obereommandos der I. Armee
dargestellt, derselbe Verfasser, der schon durch seine Schrift über die „Opera¬
tionen der deutschen Südarmee" ein ebenso großes Geschick zu fesselnder Dar¬
stellung und geschickter Gruppirung seines Stoffes, als zu einem trefflichen
Vortrag seines Actenmaterials bewiesen hat. Um so willkommener wird man
diese neue Arbeit heißen, die über die von dem mißvergnügten Theil der
deutschen Presse am ungünstigsten beurtheilten Actionen unseres großen Krieges
sehr erfreulichen, dem Oberbefehlshaber der I. Armee gerade durch die Objec¬
tivität und Unwiderleglichkeit der darin mitgetheilten gleichzeitigen Documente
doppelt ehrenvollen Aufschluß bietet. Auch' dieser Schrift sind zwei treffliche
Karten beigegeben. Die beiden Werke über die Operationen der I. Armee sind
übrigens dadurch noch besonders interessant, daß ein Theil der nämlichen
Waffenthaten schon vom Feind „geschichtlich" dargestellt ist und die. deutsche
Gründlichkeit und Wahrhaftigkeit unserer Darsteller ebenso wie die Taktik
unserer Führer dadurch nur in um so höheres Licht treten. — Außerdem hat der
Hauptmann im Generalstabe des V. Armee-Corps Stieler von Heyde-
kampf nach den Tagebüchern und Gefechtsberichten der Truppen die Schick¬
sale des V. Armeecorps im Kriege gegen Frankreich höchst an¬
schaulich, bewegend und treu geschildert.' Die Helden des V. Corps, die aus
den verschiedensten Provinzen der preußischen Monarchie unter das Commando
des Generals von Kirchbach zusammenströmten, werden das Erscheinen der
trefflichen Monographie über ihren Antheil am Kriege mit besonderer Freude
begrüßen. Die fünf Karten von Weißenburg. Wörth, Sedan, Valenton und
Petit Bicötre veranschaulichen nur den geringsten Theil der Gefechtsfelder,
auf denen das V. Corps sich mit unsterblichem Ruhm bedeckte. Eine Karte
der Stellungen und Gefechte des Corps um Paris wird schwer vermißt. —
Endlich haben zwei weitere Schriften des Mittler'schen Verlags großes Auf¬
sehen erregt. Die eine ist betitelt: Die Systeme der Heeresergänzung
und die Personalwehrsteuer von C. E. Knebel, Landrath des Kreises
Zoll le., in welcher nachgewiesen ist, daß das von der Kölnischen Zeitung
angeregte oder wieder aufgewärmte System der Personalwehrsteuer keineswegs
eine Ergänzung unseres Systems der allgemeinen Wehrpflicht sei, sondern
zu einem unserem Staatsrechte ganz fremden anderen Systeme führen würde.
Die andere Schrift aber, welche wegen des Aufsehens, das sie erregte,
trotz ihrer durchaus ruhigen und objectiven Darstellung wohl zu den
„Sensationsschriften" gerechnet werden darf, ist das dritte Heft der
bekannten „Kritischen und unkritischen Wanderungen über die Gefechts¬
felder der preußischen Armeen in Böhmen 1866" und beschäftigt sich
speciell mit dem Gefecht bei Trautenau. Obwohl diese Action der preu¬
ßischen Waffen bekanntlich längst durch das Werk des Großen Generalstabes
eine meisterhafte Darstellung gefunden hat, so ist doch diese Monographie
so reich und bedeutend an neuen Aufschlüssen, daß sie von preußischen wie
österreichischen Fachschriften als die vorzüglichste Schilderung des denkwürdigen
Gefechtes anerkannt wird. —
Wir schließen unsre dießjährige Aufzählung an Kinder- und Jugend¬
schriften mit den neuen Werken des Verlags von Otto Span er in
Leipzig, die uns leider so spät zugegangen, daß wir nothgedrungen uns auf
eine kurze Aufzählung des Vorzüglichsten beschränken müssen. Die uns vor¬
liegenden Jugendschriften umfassen die Bedürfnisse der Kindheit und Jugend
an Unterhaltung und Belehrung, etwa vom S. Jahr an bis zu den höhern
Gymnasialclassen und den Fortbildungsclassen der Töchterschulen. Für das
Verständniß der ersten Jahre, die „etwas erzählt" haben und „Bilder" sehen
wollen ist „das Buch der schönsten Kinder- und Volksmärchen" von Ernst
Laufes berechnet. Es liegt in dritter Auflage vor und enthält die beliebtesten
Märchen und Sagen mit gegen 70 Illustrationen. Von „der Jugend Lieb-
lings-Märchenschatz" von Franz Otto, mit fast 120 Abbildungen liegt uns
die 2. Auflage vor. Viele dieser „Haus- und Volksmärchen, Sagen und
Schwänke" werden sich allerdings auch des Beifalls sehr kleiner Leute erfreuen.
Aber durchschnittlich sind sie auf ein reiferes Alter berechnet, namentlich die
zahlreichen verdienstvollen Bearbeitungen der Sagen und Märchen, fremder
Völker, die nicht ohne einige geographische und geschichtliche Kenntnisse voll-
kommen verstanden werden können. Für frische Schilderung des Thierlebens
in Wort und Bild sorgen die beiden Bände des „Buches der Thierwelt"
von Dr. Karl Klotz, die beide in vierter Auflage, zusammen mit über 330
Bildern geziert, vorliegen. Vielen der Abbildungen würde größere typische
Bestimmtheit und Treue nichts schaden, da wir hier denn doch aus dem Ge¬
biete der Märchen bereits vollständig herausgetreten sind und die Bücher der
Jugend richtige und exacte Vorstellungen wirklicher Geschöpfe beibringen
sollen. In dieser Hinsicht erachten wir nach der Seite der Illustrationen weit
untadliger „das Kleid der Erde oder die Wanderungen durch die grüne Na¬
tur", die Dr. Karl Müller v. Halle in zweiter Auflage, mit 2S5 Abbildungen,
der Jugend aus dem Gebiete der Botanik vorlegte. Endlich sind als erstes
Geschichtsbuch aus der vaterländischen Vergangenheit die „Deutschen Ge¬
schichten für die Kinderstube" zu empfehlen, die' jetzt in dritter Auflage mit
über 283 Illustrationen vorliegen und an deren erster einst der hochverdiente
Vater des Afrikareisenden Eduard Vogel mitwirkte. Sie führen in zwei Ab¬
theilungen bis ans Ende des Mittelalters. — Außerordentlich reich sind die
neuen Werke der Verlagshandlung für die reifere Jugend. Da erwähnen wir
als reichillustrirte Sammlung der wichtigsten Ereignisse der Zeitgeschichte in
geschmackvoller Darstellung die „Zeitbilder", die, unter den Beiträgen einer
Reihe namhafter Schriftsteller von Ernst «tötzner herausgegeben sind; und die
sehr vollständige und gründliche Beschreibung der Natur, Bewohner. Fauna,
Pflanzen u. s. w. der Inseln der Südsee unter dem Titel „Oceanien" von
Fr. Christmann und Richard Oberländer. Das Werk ist durch nahezu 300
gute Holzschnitte, Tonbildern und Karten anschaulich gemacht. — Am
werthvollsten jedoch erscheinen uns die in ihrer Ausstattung wie in ihrem In-
halt vortrefflichen Bücher, welche der heranwachsenden Jugend einzelne Heroen
der politischen und Kulturgeschichte der modernen Völker, vor Allem des eigenen
Vaterlandes vorführen. Dahin zählt das Buch der „Dichter und Wi'ssens-
fürsten" des 18. und 19. Jahrhunderts von Franz Otto, welches den Lebens¬
und Geistesgang von Winckelmann. Lessing, Klopstock, Herder, Goethe und
Schiller, A. v, Humboldt, Leopold v. Buch und Karl Ritter vorführt. Aus
der neuen Welt, den Vereinigten Staaten von Nordamerika sind, aus der
Feder von Franz Otto und Dr. H. Schramm, „Vier große Bürger, die Wohl¬
thäter und Helden ihres Volkes," unserer Jugend als Vorbilder hingestellt:
Washington, Franklin, Lincoln, und Friedr. Will), v. Stender,, der Organi¬
sator der amerikanischen Streitkräfte im großen Unabhängigkeitskriege. In
vierter Auflage bietet Franz Otto der reifern Jugend seine vortrefflichen
spannenden Lebensbilder aus der Zeit des siebenjährigen Krieges in seinem
bekannten Werke „Der Große König und sein Rekrut". Von demselben Ver-
fasser ist unter dem Titel „Auf hohen Thronen" die Geschichte vom „Alten
Fritz", von Joseph dem Zweiten und dem „neuen Cäsar" (Napoleon I.) ge¬
schildert. - Bei Joseph II. und bei Napoleon I. würden indessen unserer Ansicht
nach die Herren Jugendschriftsteller gut thun, in Zukunft mehr den neuesten
Forschungen eines Springer, Hauffer, Sybel U. A.. als den ausgetretenen Ge¬
leiter früherer Generationen zu folgen. Auch aä usum DvIMim ist eine
minder hohe Schätzung der beiden Herrscher nur eine sehr wohlthätige zeitige
Warnung vor falschen Größen. Dagegen verdient den ungeteiltesten Bei¬
fall das neue Buch von Oskar Höcker „Unterm Halbmond". „Aus Moltke's
Leben", das die Wanderjahre Moltke's im Osmanischen Reiche an der Hand
der Quellen gut und lebendig erzählt. — Als letztes und keineswegs als ge¬
ringstes Buch unter den Jugendschriften des O. Spamer'schen Verlags nennen
SZV
wir das zweibändige Werk „Hellas" von Dr. Wilhelm Wagner, mit gegen
300 Abbildungen, das durch seine vorliegende dritte Auflage schon zeigt, in
welchem Maße es sich die verdiente Gunst des Publikums erworben hat. —
Alle diese Werke sind auch äußerlich sehr geschmackvoll und elegant ausge¬
stattet. —
Im vorigen Jahre begonnen und in diesem fortgesetzt hat Dr. Albert
Forbiger sein Werk Hellas und Rom (Leipzig, R. Reisland). .Bis jetzt
liegen zwei Bände dieses Unternehmens vor. dem das ganze gebildete Publi¬
kum Deutschlands und nicht etwa bloß Philologen und solche i, die es werden
wollen, die reichste Unterstützung schuldig ist. Nach einer funfzigjährigen
schriftstellerischen Thätigkeit über die Begabung des Verfassers zur Behandlung
seines Stoffes ein Wort zu verlieren, wäre natürlich mehr als überflüssig.
Der Verfasser hat, nach dem Vorgange Bekker's u. A. , die „populäre Dar¬
stellung des öffentlichen und häuslichen Lebens der Griechen und Römer",
und zwar zunächst Rom im Zeitalter der Antonine (l.^u. 2. Bd.) in erzäh¬
lende Form gekleidet, in die Form der Reisebeschreibung eines angesehenen Grie¬
chen, der Italien und Rom besucht und hier zu allen Kreisen Zutritt hat.
So bietet denn das Werk ein ungemein lebendiges, vollständig treues, auf
die umfassendsten Studien gegründetes Lebens- und Kulturbild politischen und
privaten Lebens aus einer der besten Perioden der Kaiserzeit. Die wissen¬
schaftlichen Belege seiner Darstellung, einen reichen Citatenschatz und größere
und kleinere Anmerkungen über die Citate und andre Forscher, hat der Ver¬
fasser, um den Fluß seiner Erzählung nirgends zu stören, am Schlüsse jedes
Kapitels zusammengestellt und im Text durch besonderen Druck diejenigen
Zahlen der Anmerkungen besonders hervorgehoben, welche auch für weitere
Kreise besonderes Interesse bieten! Möge die treffliche Arbeit recht viele Freunde
und Förderer finden, um die Fortsetzung derselben und namentlich ihre Aus¬
dehnung auf die hellenische Welt bald herbeizuführen.
Schließlich erwähnen wir noch kurz an dieser Stelle, mit dem Vorbehalte
eine eingehendere Besprechung zu einer gelegenerer Zeit folgen zu lassen, das
Erscheinen eines neuen Kunstwerkes aus'dem Verlage von Alphons Dürr
in Leipzig, nämlich die Herausgabe des Beider-Cyclus zu Aschenbrödel
von Moritz von Schwind'im Holzschnitt. Bisher waren diese köstlichen
Bilder bekanntlich nur in den Thaeter'schen Kupferstichen bei Piloty und Loehle
zu München vervielfältigt. Die Dürr'sche Ausgabe in Holzschnitt bietet nun
außer den genialen Compositionen Schwind's, die in rühmlicher Sorgfalt und
Vollendung den Thaeter'schen Stichen im Holzschnitt nachgebildet und natür¬
lich auch sehr erheblich billiger sind als jene, einen trefflichen begleitenden
Text aus der Feder von. Dr. Herrmann Luecke, der in der eingehendsten Weise
die tiefe ethische Bedeutung des Märchens sowohl als die Zeichnungen Schwind's
in ihrer vollen Bedeutung und Sinnigkeit erläutert. — Von dem in dem¬
selben Verlage erschienen Jugeudwerk „Deutsche Jugend" haben die bisher
vorliegenden drei ersten Hefte alle Erwartungen erfüllt.
Mit Januar beginnt diese Zeitschrift einen neuen
Jahrgang, welcher durch alle Buchhandlungen und Postämter
des In- und Auslandes zu beziehen ist.
Leipzig, im December 1872.Die Verlagshandlung