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]]> So lang es deutsche Universitäten gibt, ist gute deutsche Sitte, daß un¬
sere Fürsten ihre Söhne auf die hohen Schulen senden, um zugleich mit den
Söhnen der Unterthanen brüderlich aus dem Meisheitsquell der irlma, mater
zu trinken. So zogen schon vor der Reformation die jungen Fürstensöhne
nach Beendigung ihres häuslichen Unterrichts unter der Aufsicht eines Hof¬
meisters und in Gesellschaft ihrer früheren Gespielen, die zugleich Pagen¬
dienste versahen, nach Leipzig oder Helmstädt, Tübingen oder Heidelberg —
und dann noch ein Paar Jahre in froher Jugend- und Wanderlust durch
die schöne, lustige, weite Welt, von einem befreundeten Fürstenhöfe zum an¬
dern —, oft bis nach Italien, Frankreich und durch die Niederlande nach
England. So lernten sie die Welt und das Leben kennen und knüpften neue
freundliche und nützliche Bande mit anderen Fürsten.
Auch Pommerns Fürstensöhne folgten gern dieser Sitte und dem
Zuge ihrer jungen, lebenslustigen Herzen. Schon im Anfange der Refor¬
mation studirte seine Fürstliche Gnaden Barnim IX., Sohn des großen Bo-
gislav X. von Pommern, zu Wittenberg und begleitete als jugendlicher Rector
der Universität seinen theuren Lehrer Luther zur Disputation mit Eck nach
Leipzig. Bogislav's Enkel, Herzog Philipp von Vorpommern-Wolgast und
Rügen, verlebte seine Jugend an dem Hofe seines Oheims, des Pfalzgrafen
Ludwig, und auf der ehrwürdigen Universität Heidelberg — der Nuperta,
nach dem Pfalzgrafen Ruprecht I. so genannt, der diese Hochschule 1346 stif¬
tete. Von Jugend auf in Luther's Lehre erzogen, stand der junge Philipp
im Jahre 1636 vor dem Reformator in der Schloßkirche zu Wittenberg —
neben ihm die bräutlich schöne Maria, Tochter des Kurfürsten Johann
Friedrich von Sachsen — und Luther segnete diesen Bund für's Leben ein.
Treu hielt Philipp stets zur Lehre seines Luther. Als re/, aber Her¬
zog nahm er die Schmalkaldischen Artikel ohne Zaudern für fein Ländchen an.
Auch Melanchthon war dem pommerschen Fürstensöhne bei Gelegenheit
des Beilagers in Wittenberg nahe getreten. Für's ganze Leben blieben sie
in freundlichen Beziehungen. Bei der Erziehung seiner Kinder erbat sich der
Herzog oft Rath vom „Lehrer Deutschlands". Melanchthon sandte
einen ausführlichen Erziehungsplan. Darin heißt es: „Sofern der Knabe
Trägheit an den Tag legt, soll er durch körperliche Züchtigung zum Fleiß
angehalten werden!"
Mit solcher Instruction sandte Herzog Philipp seine Söhne — die jün¬
geren noch im Kindesalter — auf die Universität Greifswald.
Voll Scham über die Unwissenheit, den Eigensinn und die Fehlschlusse
der Klostergeistlichen auf der Kirchenversammlung zu Kosemitz, hatte der große
Wradislaw 1436 die Universität Greifswald gegründet, in der Hoffnung, in
seinem Lande Wissenschaft und Bildung erblühn zu sehn. Vor 20 Jahren
hatten die Professoren der Universität Rostock, vor dem Bannstrahl der Kir¬
chenversammlung zu Basel geflohen, in Greifswald eine Freistätte gefunden —
sie wurden die ersten Lehrer der jungen pommerschen Hochschule. Durch die
Bemühungen Johann Bugenhagen's und Knipstrow's, des eifrigen Schülers
von Luther und Melanchthon, war Greifswald nach Wittenberg die erste
Universität, die Luther's Lehre öffentlich annahm.
Nach Melanchthon's Erziehungsplan, unter der Leitung eines Präceptors
und in Gemeinschaft mit den Edelknaben Otto v. Below, Michael v. Böhm,
v. Damitz und v. Platen, lagen die jungen Fürsten ihren Studien ob. Im
Winter und Sommer standen sie pünktlich um 6 Uhr auf, sprachen ein Ge¬
bet aus dem kleinen Katechismus Martin Luther's und lasen ein Kapitel aus
der Bibel. Montags und Dienstags folgten Vorträge über Dialektik und
Cäsars Commentarien. Von halb zehn bis zum Mittagessen um 11 Uhr
körperliche Uebungen und Belustigungen. Von 12—1 Uhr sang ein gelahr¬
ter und in der Musica erfahrener Geselle mit I. F. G. und unterwies sie
auf einem Instrument. Um halb 2 ging der Magister mit ihnen die Regeln
der Arithmetik durch: „damit sie sich etwas zu rechnen gewöhnen, indem
solche Kunst ihnen künftig in der Regierung ganz dienlich fein werde!" Nach
einer Explication von Cicero's Briefen, folgte um 4 Uhr Feast-Unterricht. —
Mittwoch Vormittag wurden sententiöse Carmina recitirt, „damit es
I. F. G. nicht fehle, zu Zeiten mit Gelahrter familiariter versificiren zu kön¬
nen!" Zugleich wurden praktische Uebungen in der edlen Verskunst vorge¬
nommen. Nach Tische Syntax oder epitowen (Auszug) moralis IMosoMiae
?!M)i>i (NLianelMomL), damit die jungen Fürsten die gehörten Vorschriften
der Dialectik auch anzuwenden vermöchten. — Donnerstags und Freitags
vor Tische: Melanchthons Rhetorik und Cicero's Rede für den Dichter
Archias. Arithmetik und Terenz, Fechtstunde oder Spaziergang. — Sonn-
abends vor Tisch „componiren die genannten Herren und Knaben Ar¬
gument« und — lassen sich waschen!" Nach Tisch: eWinen oräi-
zmnäorum. — Am Sonntage explicirte der Magister vor der Predigt das
Evangelium „Grekisch" und repetirte dasselbe nach der Abendpredigt.
An zwei Wochentagen sagten I. F. G, bei Tisch abwechselnd lateinische
Reden her, „um sich darauf zu gewöhnen, öffentlich zu sprechen." Einer der
gelahrten Räthe hatte hierauf zu antworten, Donnerstags Abend wurde
während der Mahlzeit im Beisein der Räthe versificirt.
Abends 8 Uhr wurden Melanchthons historische Schriften tractirt, in's
Lateinische oder Deutsche übersetzt, ein Kapitel aus Luther's Bibelübersetzung
gelesen, gemeinsam gebetet und zu Bett gegangen. —
So ging in jener Zeit die Absicht alles Unterrichts allein auf die Fer¬
tigkeit einer correcten, dialektisch und rednerisch ausgebildeten Darstellung in
lateinischer Sprache. Fast in jeder Stunde wurde Latein getrieben, — alle
übrigen Lehrzweige gaben nur den Stoff dazu her, die Sprachdarstellung nach
allen Seiten zu vollenden. Heißt es doch schon in der pommerschen Kirchen¬
ordnung von 1535: „Die prueeeptoröK sollen mit den cliseiMlis alle Wege
lateinisch, und nicht deutsch reden, als welches an sich leichtfertig
und bei den Kindern ärgerlich und schädlich!" Dafür spricht auch
die Schulordnung, welche Luther und Melanchthon 1538 für die sächsischen
Schulen entworfen: bei 26 wöchentlichen Schulstunden sind 2 für Religion,
6 für Musik und — 18 für Latein bestimmt. Das Griechische tritt erst 1580
in der Schulordnung Kurfürst August's auf.
Im Januar 1560 — wenige Monate vor dem Heimgange seines Freun¬
des Melanchthon zu Wittenberg — starb Herzog Philipp. Sein ältester
Sohn, der 18jährige Johann Friedrich, blieb jetzt nach Bestimmung der Vor¬
münder in Wolgast, um als zukünftiger Regent unter der Leitung seiner
Mutter, seiner Räthe und eines „guten, sittigen und gelarten Präeeptors"
seine Studien in der Heimat zu beenden. Seine drei jüngeren Brüder Bo-
gislav, Ernst Ludwig und Barnim aber wurden nach Greifswald zurück¬
geschickt — „weil am Hofe die Studia junger Herren nicht sonderlich ge¬
deihen !"
Die Universität Greifswald aber war zur Zeit in einer gar traurigen
Verfassung. Im Jahre 1524 hatte hier die Pest so furchtbar gewüthet, daß
fast alle Professoren und Studenten die Stadt verließen und zum großen
Theil nach dem berühmten Wittenberg gingen. Wegen Mangel an Zuhörern
mußte die Universität sogar längere Zeit geschlossen werden. Unter den Be¬
mühungen Herzog Philipp's wieder geöffnet, wollte das alte Leben doch lange
nicht wiederkehren. Es fehlten besonders die Mittel, um neue tüchtige Lehrer
herbeizurufen. Die jungen Herzöge fühlten sich immer unbehaglicher in der
verödeten kleinen Universitätsstadt — die stille Heimat ward ihnen zu eng —
sie sehnten sich hinaus in die weite, bunte, lockende Welt! Dabei ging ihnen
alle Lust am Arbeiten verloren, sie verbrachten die Zeit damit, an Mutter
und Schwestern, Bruder und Vormünder Briefe zu schreiben — voll immer
wiederkehrender Bitten, eine andere Universität beziehen zu dürfen. Der Lec-
tionövlan Meister Philipp's kam fast ganz in Vergessenheit.
Endlich gaben die Vormünder: der Oheim Herzog Johann Friedrich von
Sachsen — „die Königliche Würde zu Polen" — und Fürst Wolfgang zu
Anhalt den jugendlich ungestümen Bitten der fürstlichen Studenten nach.
Ernstlich wurde die Wahl einer geeigneten Universität in's Auge gefaßt, aus
der die jungen Herzöge mit Erfolg weiter studiren konnten. Herzog Johann
Friedrich von Sachsen stimmte für die Hochschule Jena, an deren Gründung er
so innigen Antheil hatte und wo das akademische Leben und die Wissenschaften
jetzt grade in voller Frühlingsblüthe standen. Aber die Herzogin-Witwe Maria,
die besorgte Mutter, wollte von Jena nichts wissen — die Rauflust der
Jenenser Studenten war schon damals bei allen Völkern übel berüchtigt. . .
und grade in Pommern flössen ja noch reichlich die Mutterthränen um den
jungen pommerschen Edlen Christian von Podevils. der vor kaum einem
Jahr als Jenenser Student bei einer abendlichen Studentenrauferei auf offe¬
ner Gasse erstochen ward. Die fromme Tochter Johann Friedrich des Gro߬
müthigen stimmte lebhaft für ihr heimatliches Wittenberg, das sie so oft in Be¬
gleitung ihres Vaters besucht hatte — in dessen Kirche sie ihrem seligen
Gatten durch Luther's Hand verbunden war. Wie oft hatte Johann
Friedrich doch seine Kinder zu Luther und Melanchthon in's Haus geführt,
um sie mit einem frommen Kernworte aus dem Munde der verehrten Män¬
ner und — mit einem schäumenden Becher Eindecker Biers zu erquicken. Die
treue Mutter sah ihr Wittenberg noch immer in dem reinen Glänze leuchten,
den Luther und Melanchthon zu ihrer Mädchenzeit darüber ausgossen.
Sie war glücklich, als sie die Vormünder überredet hatte — als es für ihre
Söhne Ernst Ludwig und Barnim hieß: Auf! nach Wittenberg! —
Die helle Sonne des 3. Mai 1S63 lacht fröhlich und lockend durch
die kleinen bunten Scheiben des alten herzoglichen Residenzschlosses zu Wol¬
gast. In der weiten Halle, deren Wände im Schmuck von stattlichen Hirsch¬
geweihen, blanken Waffen und den großen Bildnissen alter todter Herzoge
von Pommern und Rügen und ihrer Gemahlinnen prangen, herrscht ein reges
buntes Leben. Der ganze Hof ist versammelt — alte ehrwürdige Räthe in
langen ernsten Gewändern und der glänzend geschmückte hohe Adel von Vor¬
pommern und Rügen. Auf hochlehnigen Stühlen, aus dem heimatlichen der¬
ben Eichenholze wunderlich geschnitzt, die rothen Sammetkissen von den fiel-
ßigen Händen längst verstorbener Herzoginnen mit Gold- und Silberfäden
kunstvoll gestickt, sitzen die Herzogin Witwe Maria und ihre Töchter Amalia,
Margaretha und Anna nebst Fräulein Georgia, der Stiefschwester Herzog
Philipp's — alle mit ihren besten seidenen und sammtenen, reich mit kost¬
barem Pelz verbrämten Gewändern und blitzenden Goldhauben angethan.
An ihren Stühlen lehnen die jungen Herzöge: der 21jährige Johann Friedrich —
dem Namen nach regierender Fürst, der in der That aber die Lasten und
Sorgen des Regiments bei seiner Jugend noch herzlich gern seinem kundigen
Kanzler und den Räthen überläßt; — der l 9jährige Bogislaw und der kleine
Kasimir. Auch die jungen Herzöge sind mit kostbaren Wämsern, blitzenden
Wehrgehenken und güldenen Kettlein geschmückt. Eine feierliche Staatsaction
muß vor sich gehen, denn sonst geht Herzogin Maria mit ihren Töchtern be¬
scheiden in selbst gewebten linnenen und wollenen Gewändern einher und die
Herzöge in Kollets von Hirschleder.
Es ist auch eine für damalige Zeit gar wichtige Begebenheit: zwei junge
Söhne des Herzoglichen Hauses sollen heut aus der Heimat scheiden — auf
mehrere Jahre, um in dem fernen Wittenberg den Studien obzuliegen. Und
in dieser Stunde sollen sie feierlich entlassen werden.
Da stehn sie, schmuck angethan mit den neuen derben Wämsern von
jagdgrünem Tuch und den sauberen hirschledernen Hosen, eine weiße gestickte
Linnenkrause um den entblößten Hals, am oberen Ende der Halle, bescheiden
vor dem regierenden jungen Bruder, der edlen Mutter, dem Kanzler und den
Räthen--der 18jährige hochgewachsene Ernst Ludwig mit den edlen
milden Zügen und der brave frohsinnige Barnim im ganzen Glück seiner
sorglosen vierzehn Jahre. Ihre Augen leuchten von Jugendlust und frohesten
Hoffnungen. . . draußen lacht ja die wunderschöne Frühlingswelt im Son¬
nenglanz — die Lerchen jubiliren und die Obstbäume stehen in voller weißer
Blüte und aus allen Kelchen strömt ein süßer weicher Frühlingsduft und in
diese wunderschöne weite Welt dürfen sie jetzt hinausziehn — in weite unbe¬
kannte traumhafte Fernen — sorglos und frei.
Leise winkt der hochmögende Kanzler von Wolgast, Herr Valentin von
Eickstedt, der schon unter Herzog Philipp zum Segen des Landes dies wich¬
tige Amt inne gehabt. — und aus dem Gefolge der beiden reiselustigen Her¬
zöge tritt, eine gewaltige Pergamentrolle in Händen, bedächtig und etwas
zaghaft ein älterer Mann vor. Es ist der Hofmeister von Küssow. Mit 10
Edelknaben, denen auf „unterthänige Bitten ihrer Eltern diese Gnade erzeigt
ist", nebst einem Magister, Küchenmeister, Koch. Barbier und mehreren
Dienern soll er Ihre Fürstliche Gnaden auf die Universität begleiten, obgleich
er selber Weib und Kind, Haus und Hof in Pommern zurückläßt.
Der Hofmeister von Küssow entrollt das Pergament, verbeugt sich tief
vor der Herzogin-Witwe und ihren Töchtern, vor dem regierenden Fürsten
und schließlich vor seinen beiden fürstlichen Zöglingen und liest nach demüthig
erbetener Erlaubniß vor versammeltem Hofe die Instruction vor, welche er
selber für die Lebensweise und die Studien seiner Pflegebefohlenen verfaßt
hat, Sie lautet:
„Erstlich sollen sich Ihre Fürstliche Gnaden vor allen Dingen zur Got¬
tesfurcht gewöhnen, gerne beten, in heiliger Schrift sich unterweisen lassen,
des Sacraments und Abendmahls unseres Herrn Christi oft gebrauchen und
sich von solchem göttlichen Leben niemals abwenden lassen, denn sonst I, F.
G. in allen andern Handlungen und Vornehmen kein Gedeihen und Glück
haben werden. Wie die Schrift sagt: iuitium s^piontiae error cloiniui —
der Weisheit Anfang ist Gottesfurcht — und der Psalm: nisi äorninus
euLtoäi^t eivitatsm — wo der Herr nicht die Stadt behütet, wacht der Wäch¬
ter umsonst. Es sollen sich auch I. F. G. mit Fleiß vorsehen, daß sie bei
der reinen Lehre göttlichen Worts bleiben und von dem wahren Verstände
der augsburgischen Confession, die I. F. G. Herr Vater, christlichen Gedächt¬
nisses, amplectiret, bis in seine Grube erhalten und die man in der Kirchen¬
ordnung aufs Neue verfaßt, — sich durch Secten und Rotten, der nun viele
sind, nicht lassen abwenden.
„Darnach sollen I. F. G. fleißig und oft bei sich bedenken, warum sie
ausgeschickt sind: nämlich darum, daß sie in guten Künsten und Sitten mögen
zunehmen, Herren und Fremden künftig sruchtdarlich dienen, auch ihren be¬
fohlenen und angeerbten Landen und Leuten mit fürstlichem, christlichem, löb¬
lichen Regimente vorstehen, auf daß sie Gottes Segen und manniglichen
Ruhm und Lob empfangen mögen. Denn wenn I. F. G. solches nicht thä¬
ten, ladeten sie den Zorn Gottes auf sich. So wäre es auch ihnen bei den¬
selben Herrn, Fremden und der Landschaft sehr schimpflich, zugeschweigen, was
sie sich selber für Schaden zufügten, wenn sie ihre blühende Jugend also lie¬
ßen verfließen, keine Frucht schafften, dessen sie künftig in bevorstehender Re¬
gierung und im Alter genießen möchten. So fügten auch I. F. G. derselben
Herren Brüder und sich selbst nicht geringen Schaden zu, daß sie solche
ansehnliche Summa Geldes, so darauf gehn wird, vergeblich und
ohne Frucht thäten verschwenden, die man sonst zur Nothdurft und I. F. G,
Regierung und zum Landes Besten anwenden könnte. Das und Anderes
werden I. F. G. oft bedenken und sich von ihren Studien durch leichtfertige
Leute, so nicht wissen, was Furcht des Regiments und wie die erhalten wer¬
den müsse, abwenden lassen.
„Zum anderen sollen und wollen sich I. F. G. aller guten Tugenden
und fürstlichen Sitten befleißigen, sich nicht zur Unflätigkeit in Kleidern,
Saufen und anderem unordentlichen Leben bewegen lassen und nicht bald fol¬
gen, was etwa ein Unverständiger vornimmt — sondern viel mehr Acht haben
auf verständige, weise Leute, dieselben gern hören und ihren Lehren folgen,
damit I. F. G. bei Fremden Ruhm und gutes Lob empfangen mögen; sich
auch dermaßen fürstlich und gnädiglich gegen derselben Diener, die es mit
I. F. G. unterthänig und treulich meinen, verhalten, daß zur Klage keine
Ursache gegeben werde, sondern männiglich I. F. G. zu dienen Lust und
Liebe habe.
„Auf der Reise sollen und wollen I. F. G. gegen die verordneten Ge¬
leitsleute Wohlwollen zeigen und ihnen, sobald sie an den Wagen kommen,
die Faust geben, sich gnädiglich gegen sie geberden und allzeit zum Mahl for¬
dern und über Tisch fein sittsamlich sein. Auch sollen I. F. G. sich des
Redens gewöhnen, nicht immer stillschweigend bei fremden Leuten sitzen, doch
der Reden und Worte gute Acht haben.
„Da die Universität Wittenverg nicht unterlassen wird, I. F. G. mit
besonderer Reverentie und Ehrerbietung zu empfangen, so sollen I. F. G.
Allen, die sie begrüßen werden, die Faust geben und sich ihnen geneigt zeigen.
Auch soll Herzog Ernst Ludwig sich mit einer von ihm selbst zu entwerfenden
lateinischen Antwort gefaßt halten. Das wird ihm zu Anfang guten Ruhm
und Namen machen.
„I- F- G. werden sich auch des Herrn Vaters letzter Ermahnung erin¬
nern und ohne gemeinsamen Rath der zur Regierung Verordneten in deren
Abwesenheit niemals etwas versprechen, verschreiben oder vergeben.
„Zur Pflege ihrer Gesundheit sollen I. F. G. sich alles unordentlichen
Essens und Trinkens enthalten.
„Der Hofmeister hat darauf zu sehn, daß Küche und Keller zur rech¬
ten Zeit geöffnet werden, nicht den ganzen Tag offen stehn, was dem Gesinde
zum Fressen und Saufen Ursach geben würde.
„Auch hat der Hofmeister fleißig Acht auf I. F. G. zu geben, sie zu
allem christlichen und tugendsamen Leben und Wandel anzuhalten, und oft¬
mals dazu zu vermahnen. Solchen treuen Erinnerungen sollen I. F. G.
gern folgen und dieselben nicht ungnädig vermerken. Zudem soll der Hof¬
meister fleißig Aufsicht haben, daß I. F. G. vor allem Schaden, so viel ihm
zu thun möglich, behütet bleiben, — daß Niemandem Leichtfertiges zu ihnen
gestattet werde, damit sie in Gottesfurcht und göttlicher reiner Lehre, guten
fürstlichen Sitten und Leibes Gesundheit nicht einigen Schaden und Abbruch
empfangen möchten. Sorglich soll er darauf Acht geben, daß die jungen
Herzoge mit Kleidern reinlich und' sauber gehalten und ihre Kleider und Ket¬
ten wohl verwahret werden. Die Gemächer I. F. G. hat er zur rechten
Zeit auf- und zuschließen zu lassen. Niemandem soll gestattet sein, bei nacht¬
schlafender Zeit aus- und einzulaufen.
„Würden sich „sterbende Leuffte", Kriegsnoth und sonst der Arten Tu¬
mult erheben, was I. F. G. in Wittenberg gefährden möchte, so hat der
Hofmeister dies alsobald dem Fürsten Wolfgang zu Anhalt und dem Kur¬
fürsten von Sachsen anzuzeigen und ihren Rath und Gutbedünken zu erholen,
solches auch ungesäumt an den Wolgaster Hof zu berichten.
„Im Fall I. F. G. von den Autoribus etwas dediciret und von ihnen
Verehrung dafür gefordert wird, soll der Hofmeister solches zum Besten ent¬
schuldigen: die Herren seien jung und er habe dessen keinen Befehl empfan¬
gen! Geschehen aber von ansehnlichen bekannten Leuten Dedicationes, so hat
er solche gen Hof gelangen zu lassen und Bescheid zu gewärtigen.
„Nicht weniger soll der Magister I. F. G. in allen christlichen und
fürstlichen Tugenden ernähren und unterweisen, auch mit besonderem Fleiß
darauf sehn, daß sie die Hauptartikel unseres christlichen Glaubens, nach der
prophetischen und apostolischen Lehre und augsburgischen Confession, rein
ohne einige „Corruptelen" zu Grunde lernen und verstehen mögen, derhalben
die Artikuln von der Rechtfertigung, von der Buße, von der Absolution und
von den Sacramenten mit I. F. G. oft repetiren und bei dem Verstände,
wie sie Martinus Lutherus seligen Gedächtnisses erkläret, bleiben lassen.
„Daneben soll der Magister allen Fleiß anwenden, daß I. F. G. etwas
Fruchtbarliches möchten studiren und in Sonderheit reinlich Lateinisch reden
und Schreiben lernen.
„Ferner hat der Magister aus die I. F. G. zugeordneten Edelknaben
fleißig Acht zu geben, daß sie gottesfürchtig und in ihren Studien fleißig
seien, treulich I. F. G. aufwarteten, sich reinlich hielten und zu aller christ¬
lichen Ehrbarkeit schickten, — dem Hofmeister, wie dem Magister Gehorsam
leisteten, widrigenfalls man sie mit Ruthen streichen und ihres
Dienstes mit Schimpf entlassen solle.
„Bei Vermeidung von Strafe und Ungnade haben die Edelknaben
aufzuwarten, wenn I. F. G. zur Kirche und Universität gehn und insonder¬
heit sollen sich die Truchsessen und Schenken, so zu Tisch dienen, vor den an¬
dern Edelknaben befleißigen, daß sie artig und reinlich lernen aufwarten, —
wenn die Herren fremde Leute haben, sich nicht voll saufen, damit sie von
verständigen Fremden bei ihrem Aufwarten nicht mögen verspottet und ver¬
lacht werden.
„In der Herzöge Haus haben sich die Edelknaben auch alles Gezänkes,
Haderns und Schlagens, bei Vermeidung der Herren Ungnade, Strafe und
Entlassung gänzlich zu enthalten. Desgleichen sollen sie sich mit den Stu¬
denten und Professoren in keine feindliche Händel oder Schlägereien ein¬
lassen, sich vielmehr gegen männiglich friedlich, freundlich und dienstlich be¬
zeigen.
„Küche und Keller sollen sie melden, Niemanden dorthin führen, dort
auch nicht zechen und Bcmketto anrichten — sich vielmehr der Nüchternheit
befleißigen und stets dasjenige thun, was Ehrlichen von Adel rühmlich ist
und ihnen wohl ansteht.
„Der Küchenmeister hat zur rechten Zeit einzukaufen, Alles in der
Küche spärlich zugehn zu lassen, das Übrigbleibende mit Fleiß aufzuheben,
alle Sonnabend dem Hofmeister Rechnung zu legen und über Alles ein or¬
dentliches Register zu halten. Dem Koch soll er Alles zum Kochen zustellen
und in der Küche warten, bis Alles über das Feuer gebracht ist. Er muß
beim Anrichten zugegen sein und Niemandem gestatten, in die Küche zu lau¬
sen, darin zu essen oder zu trinken. Außer der ordentlichen Mahlzeit dürfen
in der Küche keine Speisen bereitet werden.
„Der Koch soll treulich und fleißig in der Küche walten, zur rechten
Zeit das Mahl fertig halten, damit I. F. G, nicht lange darauf zu warten
haben, — gut Acht geben, daß ihnen kein Gift, oder was sonst Scha¬
den bringen könnte, möchte zugeschoben werden, — auch verhüten, daß aus
der Küche etwas verschleppt werde, überhaupt in Allem I. F. G. Frommen
und Bestes befördern und nach seinem höchsten Vermögen Schaden wehren
und abwenden.
„Endlich hat der Barbier, der auch zugleich die Dienste eines Keller¬
knechts verrichtet, bei Strafe und Ungnade sich der Heilung aller Schäden zu
enthalten, denn da er I. F. G. wäscht, möchten diese dadurch beschädigt wer¬
den. Alle Sonnabend soll er I. F. G. mit guter reinlicher Lauge
waschen. Das fürstliche Tischzeug hat er sorgsam zu verwahren und sauber
zu halten, den Tisch zu decken, Brod und „Almissen" aufzulegen, Niemanden
in den Keller zu führen, dort keine Zechen und Gelage anzurichten und nur
auf Anweisung des Hofmeisters Getränk daraus zu verabfolgen. . ."
Mit einer Verneigung gegen die jungen Fürsten und den ganzen Hof
legt der Hofmeister Christian von Küssow das Pergament in die Hände des
Kanzlers Valentin von Eickstedt. Dieser wendet sich an die Herzoge Ernst
Ludwig und Barnim: „Sind Eure Fürstliche Gnaden gewillt, diese Euch vor¬
gelesene Instruction nach bestem Wissen und Gewissen und mit allen Kräften
unverbrüchlich zu halten, so bekräftiget dies hier vor Gott und I. F. G. der
Frau Herzogin und Euren fürstlichen Geschwistern und dem hohen Adel
Eures Landes mit Eurem fürstlichen Handschlag, Unterschrift und Siegel!"
„So wahr uns Gott helfe, wir wollen es!" — und die jungen Fürsten
schlagen kräftig in die Rechte des Kanzlers ein und unterschreiben und unter-
fiegeln das Pergament eigenhändig.
In ähnlicher Weise werden der Hofmeister, Magister, Küchenmeister,
Koch und Barbier, die Edelknaben und Diener in „Pflicht und Eid" ge¬
nommen.
Bei dem herzlichen Abschiede beschenken die Mutter und Schwestern und
Fräulein Georgia die glücklichen Studenten mit selbstgearbeiteten „Schleiern",
um den Hals zu tragen, und feinen Nastüchlein — Herzog Johann Friedrich
reicht ihnen schöne Rapiere und sagt traurig: „Ich und Herzog Bogislav
möchten wohl herzlich gern mit Euer Liebden in die schöne weite Welt ziehn —
aber wir müssen gar gewaltig regieren! Doch wollen wir Euch eine Weile
das Geleit geben."
Draußen auf dem Schloßhof halten schon lange einige Rollwägen, mit
stattlichen Fässern Butter und gepökeltem Ochsenfleisch, Talglichtern und ge¬
trockneten Fischen und Kleidertruhen beladen.
Der ganze Hof führt die Reisenden zu den Wagen — und hinein geht's
in die blühende Frühlingswelt, in das freie, selige Studentenleben. —
Bis Treptow begleiten Johann Friedrich und Bogislav zu Pferde die
Brüder. Beim Abschiede verspricht Johann Friedrich die Brüder Studio in
Wittenberg zu besuchen. Dann kehren sie traurig nach Wolgast zurück. In
Mecklenburg und in der Mark widerfährt den jungen fürstlichen Studenten
und ihren 16 Begleitern „eine stattliche Kur- und fürstliche Ausrichtung".
Sie erhalte« Wagen und Pferde und der Hofmeister kann die eigenen Ge¬
spanne in die Heimat zurücksenden. Der Kurfürst zu Sachsen läßt sie an der
Landesgrenze mit vielen ehrerbietigen Worten empfangen. Wie sie aber zu
Belzick ankommen, erhalten nur die beiden Fürsten allein Herberge im Schloß
und eine „Ausrichtung auf einem Tisch!" Zur großen Entrüstung des Hof¬
meisters muß das Gesinde mit den Junkern in der Herberge des Städtleins
bleiben und um I. F. G. Geld zehren. Wie der Fourier den kurfürstlichen
Schaffner um einen oder zwei Wagen für Geld anspricht, erhält er die spitze
Antwort: „Wenn der Herr Kurfürst reist, ist er auch so gerüstet, daß er fort
kann; das sollten Eure Herren auch thun!"
Am 14. Mai langen unsere Reisenden in Wittenberg an. Aus Pietät
gegen den großen Reformator nehmen sie in Luther's früherer Behausung
Quartier, im ehemaligen Augustinerkloster. Professor Georg Kracow hat die
Wohnung von dem Doctor Martin, Luther's zweitem Sohne, der zwar
Theologie studirt hat, aber kein Amt bekleidet, gemiethet. Diese Wohnung
beschreibt der Hofmeister Christian von Küssow in einem Briefe: „Vor I. F.
G, ist erstlich eine große Eßstube, darnach eine getäfelte Stube, daran zwei
Kammern, worin der Magister, Edelleute und Jungen schlafen; darnach ha¬
ben I, F- G. an derselben getäfelten Stube ein klein Stüblein zu zwei
Tischen, da beide in. g, H. allein inne sind, und dabei eine Kammer mit
drei „Spanbetten", da I. F. G. und ich schlafen. Unten im Hause ist eine
gute Küche, darin ein schöner Brunnen, So ist auch sonst vor I, F. G, ein
guter Keller, daß I. F. G. mit Gemächern ziemlich versehen!"
Auch sonst hatte Professor Kracow für unsere Studenten noch allerlei
Commissionen. So hatte der gute Johann Friedrich schon am 21. Januarii
1563 „dem achtbaren Hochgelarten lieben getreuen Georg Kracow, der Rechte
Doctor und Professor zu Wittenberg" eigenhändig geschrieben „um ein altes
ehrliches Weib, so dem Koch in der Küche mit Auswaschen und Anderem die
Hand reichen kann, dazu Leinwand und Betten in Acht und Verwahrung habe
und sonst mit Aufsicht und Vorrichten helfe!"
Am Tag nach der Ankunft empfängt die Universität unsere Studenten
gar stattlich und verehrt ihnen eine Lage Nenoll — ein herrliches starkes
Bier. Herzog Ernst Ludwig antwortet selbst IMns — und macht nach dem
Urtheil des biedern Christian Küssow seine Sache sehr gut. Der Kurfürst
sendet seinen Neffen ein Faß Rheinwein und zwei Faß Landwein und etliche
Scheffel Hafer. Der gute alte Fürst Wulf zu Anhalt schickt seinen Mündeln
ein Faß Zerbster Bier, etwas vom Hirschwildprett „nebst etliken Lampreten"
und meldet sich für die andere Woche zum Besuch an.
Ein neues buntes, lustiges — ja glänzendes Studentenleben erwartet die
jungen Fürsten. Zu Wittenberg halten sich viele vornehme Herren, Grafen
und Freiherrn auf — wenn auch nicht gerade stucliorum cuusg.! Mit Die¬
nern und Rossen ziehn sie gern durch die Lande, von einer Universität zur
andern — um sich „die Universität zu besehn" und ihr junges Leben zu ge¬
nießen. Sie entfalten eine den bescheiden erzogenen jungen pommerschen
Fürsten schier unbekannte Kleiderpracht, und sonstigen Aufwand, so daß sich
der ehrliche Hofmeister Küssow veranlaßt sieht, an den heimischen Hof zu
schreiben: „Es wird nöthig sein, daß meinen gnädigen Herrn die Marder-
Futter nachgesandt werden. Am Pfingsttage sind die Oestreichischen und Mäh¬
rischen Herrn, deren sechs hier sind, meinen gu. H. viel zu stattlich gekleidet
gewesen, haben alle Marder-Röcke, mit Seidenatlas überzogen. Auch hat
Fürst Wulf zu Anhalt an. gu. Herren angezeigt, daß I. F. G. zum wenig¬
sten zwei gute Klopfer (Klepper) haben müßten, da sie mit zur Kirche ritten,
denn das wäre gar gebräuchlich unter den Herrn. Er wäre zu Leipzig gewesen,
hätte allewege seine Pferde gehabt. So hätten's auch hier zu Wittenberg
Leute geringern Standes gethan: Der Graf von Gorka, der Graf von Schassow
und andere mehr! Meine gu. Herren aus dem Kloster in die Kirchen sehr
weit haben, und ist nicht geringer, als aus dem Schloß Wolgast bis an den
Wolgastischen Gottesacker. Wenn's regnet ist es ziemlich unstetig und kothig!"
Um die Ehre des Hauses zu wahren, sendet Herzog Johann Friedrich
bei nächster Gelegenheit die Marderfutter und erlaubt seinen Brüdern, den
Seiden-Atlas dazu von Nickel Kufner, dem berühmten Handelsherrn in
Leipzig, zu entnehmen. Die gewünschten „Klöpffer" werden den fürstlichen
Studenten aber nur unter der Bedingung versprochen: „daß die Herrn nicht
weiter, als in der Stadt, zur Kirchen und sonst des Reitens sie gebrauchen,
damit E. Liebden kein Unfall, Schaden oder Nachtheil widerfahre" — woraus
der Hofmeister und Magister fleißig Aufmerkung haben sollen.
Die feierliche Jnscription der jungen Fürsten gibt zu solennen Lustbar¬
keiten Anlaß. Zum „Görlitzer Hause" — wo schon Luther und seine Freunde
gern fröhlich waren — wird ein festliches Gelag veranstaltet, bei dem
auch die Professoren-Frauen und Töchter zugegen sind und mit den Studen¬
ten wacker tanzen. Maskirte Umzüge, öffentliche Redeacte mit obligaten
Schmausereien, Comödien und Mufikgesellschaften, Landpartien und sonstige
Kurzweil wechseln lustig mit einander ab. Mit der ganzen Unbefangenheit
und Frohsinnigkeit unverdorbener Gemüther geben sich die fürstlichen jungen
Studenten dem Reiz des neuen Lebens hin. Der Wittenberger Himmel hängt
ihnen voll eitel goldner Geigen.
Studenten und Professoren beeifern sich, I. F. G. ihre Dienste anzu¬
bieten und sich ihnen angenehm zu machen — um sie nebenbei ein wenig zu
schröpfen. Doctor Paulus Eberus schenkt ihnen seine Confession de s-iera-
insuw, schön in Gold gebunden, D. Caspar Peucerus. der Tochtermann
Philippi (Melanchthons), dem Herzog Barnim einen anzutun .isti'mwmicum
aus gutem Golde und dem Herzog Ernst Ludwig einen Sonnenzeiger von
Perlmutter, — Magister Sebastianus Frvschell seine Predigten von den
Engeln und Teufeln, auch seinen Katechismus, schön in Gold gebunden,
3 Exemplare — eins für die Herzogin Maria; und D. Kracow gar ein Faß
Zerbster Bier. Später ladet D. Kracow I. F. G. zum Gastmahl und gibt
ihnen dabei ziemlich deutlich zu verstehn, er erwarte, daß sie ihn für all' seine
Aufmerksamkeiten mit einem guten Pommerschen Klepper bedenken möchten,
dessen er zu seiner Reise an den Kurfürstlichen Hof gar zu benöthigt sei. —
Ein Anhaltischer Rentmeister rühmt ihnen seinen in Witrenverg studirenden
Sohn zur Aufnahme in ihr Haus: er schreibe eine reinliche Handschrift und
habe etwas auf der Laute gelernt!
Als Gegengeschenk an die Professoren schickt der regierende Herzog aus
Pommern — Ochsen und getrocknete Fische, wie schon Herzog Philipp seinem
Freunde Melanchthon für Dedicationen verehrt hatte. Für die Inseription
bestimmt Johann Friedrich nach weidlicher Ueberlegung mit seinen Räthen —
2 Dublonen.
Ihr trefflicher Bormund, Fürst Wolfgang von Anhalt, besucht seine jun¬
gen Freunde und ladet sie zu sich nach Koswig ein. Um sie abholen zu
lassen, sendet er sogar zwei Schiffe nach Wittenberg. Es vergeht wohl kaum
eine Woche, wo „der gute Alte" nicht eine Keule, Buch und Blatt von einem
selbsterlegten wilden Schwein oder gar einen ganzen Hirsch, lebendige Neun¬
augen und fette Elblachse in die Küche seiner Mündel schickt. Auch die Edel¬
leute Hans von Thumm und Marschall Töfer sorgen fleißig für Wildprett
und Geflügel. Ochsen und getrocknete Fische, holländische Käse, Butter und
Lichte liefert die Heimath „zur Nothdurft!" Gar häufig sind nun Dr. Ca-
merarius und Dr. Peucer, der auch zugleich Arzt der jungen Fürsten ist,
und andere Professoren und viele Studenten bei I. F. G. zu Gast und helfen
all diese guten Braten von Herzen gern verzehren und leeren gar manchen
Becher edlen Weines und Zerbster Bieres auf die Gesundheit ihrer jungen
Wirthe. Dafür werden diese oft von ihren Gästen zu Doctorpromotionen
und zu — Gevattern gebeten. Als Pathengeschenk dürfen sie — je nach der
Gelegenheit und der Würde ihrer Gevattern — einen, höchstens sechs Thaler
verehren.
Trotz der Neuheit und den Lockungen des lustigen academischen Lebens
vergessen unsere Studenten doch das Studiren und die Instruction nicht,
welche sie aus der Heimath mitnahmen. Sie stehn morgens um 6 Uhr auf
und legen sich abends um 9 Uhr mit dem Hofmeister schlafen. Gleich nach
dem Aufstehn lesen sie ein Capitel in Kramers Historien und in der Bibel,
worauf die Lectionen beginnen. „Suppendes und Drinkendes entschlagen sie
sich morgens gänzlich." Auf der Universität selbst hören sie täglich nur eine
öffentliche Lection, „da es ihrem fürstlichen Stande nicht wohl ansteht, oft
und viel des Tags in's Kollegium zu gehn." Zu Hause aber lesen sie fleißig
mit dem Magister Cäsar und Terenz und üben das Leu-omoon äomiui 1>1,i-
liM Lominczj, das Sleidanum und andere Historien, um neben dem Latei¬
nischen auch Historien zu lernen, Dialectiea und Moralphilosophie. Mitt¬
wochs und Sonnabends erfinden und componiren sie Argmnenta, „daß I. F G.
selbst etwas dichten und machen können!" Herzog Ernst Ludwig hört beim
Hofmeister und Magister täglich Civil-Recht und übt sich nach dem Essen
eine Stunde auf der Laute, welches „Exercitium I. F. G. künftig allerlei
Melancholie vertreiben kann."
Morgens um 10 und abends um 3 Uhr wird gegessen. Es giebt täglich
„ordinäre sechs Schüsseln und darüber nicht!" Nur wenn besonders ansehn¬
liche Leute zu Gast sind, weiß der Hofmeister „die Drinken nach Gelegenheit
zu reguliren!" Die Edelknaben warten bei Tisch auf.
Außerhalb der Stadt zu spazieren — „Fahrendes oder sonst weitläufiges
Gehendes", ist I. F. G. verboten. Auf den Gängen in die Kirche oder in
die Universität begleiten sie stets die Diener und Edelknaben und „warten
fleißig und züchtig auf."
Sehr oft schreiben unsere fürstlichen Studenten nach Hause an den „Hoch-
geborner Fürsten, freundlichen lieben Herrn Bruder Herzog Johann Friedrich"
oder an die Mutter, — besonders auch, was sie von der Politik und Kriegs¬
ereignissen erfahren. Das neue heitere Studentenleben nimmt sie aber so in
Anspruch, daß sie sich fast regelmäßig am Ende ihrer kurzen flüchtigen Briefe
entschuldigen: „sie hätten gern mehr geschrieben, aber keine Weile" gehabt
und wohl gar schließen: „Lido! cito! eitissimk! Ew. Liebden freundlich lieber
Herr Bruder." — Diese Briefe werden oft mit wundersamer Gelegenheit be¬
fördert: bald einem durchreisenden Apotheker, bald einem Magister mitgegeben. —
Um so weniger aber ist Hofmeister Christian von Küssow von dem
Aufenthalte in Wittenberg erbaut — schon von der ersten Stunde an. Er
ist ja nur mit Widerwillen von Hause fortgegangen, von Weib und Kind
und seinem Landgute. Schon zwei Tage nach seiner Ankunft in Wittenberg
schreibt er einen Klagebrief an den Kanzler von Eickstedt nach Wolgast und
bittet flehentlich, seiner Stellung enthoben zu werden. „Ich bitte, Ihr wollet
mein Weib und arme Haushaltung, die mir gar zu Grunde gehen wird,
lassen befohlen sein und helfen, daß ich bald möge erlöset werden. Denn
sollte ich länger hier liegen, das Meine versäumen und verzehren, müßte ich
auf meine alten Tage an den Bettelstab gerathen!" Auch über die Wohnung
und den Wirth hat Küssow fortwährend zu klagen. „Wie meine gu. Herren
hier ankommen, ist nichts im Hause gewesen — ohn' Spinden, Bänke, Tische,
habe mehr denn 2S Thaler dem Tischler geben müssen. Fenster und Oefen
sind zerbrochen; müssen in. gu. Herren alles gegen den Winter machen lassen;
der Wirth, Dr. Martinus, kehret sich nirgends an. Beschwerlich ist auch,
daß über I. F. G. sieben Stuben von allerlei Studenten bewohnt werden:
Franzosen, Pollacken, Schwaben und Franken, welche ihren Ein- und Aus¬
gang vor den Stuben in. gu. Herren haben, zu Zeiten allerlei Tumult er¬
heben, Tags und Nachts ein- und auslaufen — der Eine pfeifet, der Andre
singet. Wie es denn leicht zu ermessen, wie es bei solchen jungen Leuten
zugeht. Nun habe ich mit dem jungen Martins Luthero, so unten im Hause
wohnet, geredet, daß es in. gu. H. nicht gelegen sein würde, Solches zu
dulden, I. F. G. hätten auch nicht anders gemeinet, dieweil sie ja eine statt¬
liche Miethe geben, sie würden das Haus alleine inne haben; — ich hätte
ernstlichen Befehl, das Haus zur rechten Zeit auf- und zuschließen zu lassen
und wäre nicht Gebrauch in fürstlichen Wohnungen. Tag und Nacht auf-
und einzulaufen. Man wüßte auch, wie junge, zu Zeiten trunkene und un-
verständige Leute mit Feuer und Licht umgingen. Wo dies nicht könne ge¬
ändert werden, müßten in. gu. Herren sich nach einer gelegenerer Wohnung
umsehen. — Zum andern ist es leider mit Martino, dem Sohne, dahin ge¬
rathen, daß er in großer Armuth ist, im Hause nichts hat, weder zu essen,
noch zu trinken, sich auch sonst sehr leichtfertig hält mit Saufen und viel
loses Gesinde an sich hängt. Er war erst der Meinung, es müßte Alles
vollauf aus meiner gu. H. Küchen und Keller gehen, das ich mit nicht ge¬
ringer Beschwer und Verbitterung habe abschaffen müssen, denn sonst meinen
gu. H. ein Großes aufgehen würde. Es geschehen dennoch allerlei Unterschleif,
das ich so genau nicht warten kann. Doctor Martinus und sein Gesinde
haben zu Küchen, Keller und anderen Gemächern doppelte Schlüssel, holen
des Nachts, was ihnen gefällt; habe Alles müssen lassen umändern!"
Am 7. Aug. schon zieht Küssow mit seinen gu. Herren aus dem Kloster
in Dr. Krucigers Haus — „ein schön verschlossen Haus, das I. F. G. allein
inne haben und von Niemand gehindert werden; habe nach vieler fleißiger
gepflogener Verhandlung diese Behausung nicht wohlfeiler als um 120 Gul¬
den jährlich bekommen können. Wenn dies auch 20 Florin mehr Miethe ist,
so wird dies in der Haushaltung drei doppelt wiederum zu erholen sein.
Denn den Winter über müßten in. gu. Herren mit Essen, Trinken. Holz und
aller Nothdurft herhalten — Martinus Lutherus hat jetztund nichts!"
Wie bitter weh es dem ehrlichen Christian Küssow und seinen jungen
Herzögen, die von Kindheit auf in Frömmigkeit und in höchster dankbarer
Verehrung für den großen Reformator Doctor Martin Luther erzogen sind,
durch die Seele schneidet, daß sie hier dessen Lieblingskind — sein Martinchen —
so finden: ohne Amt, ohne Thätigkeit. — in Noth und Elend und sittlicher
Verkommenheit — ein schmarotzender Genosse von reichen ausländischen Stu¬
denten bei ihren ausschweifenden Gelagen und nächtlichen Straßentumulten! —
Viel Sorge und Noth machen dem biederen Hofmeister auch die theuren
Zeiten in Wittenberg und — seine ewige Geldnoth! Wo sind die goldnen
Zeiten geblieben, wo ein solider Wittenberger Studiosus das ganze Jahr
mit 8 Goldgulden trefflich auskommen und ein flotter Student mit
16 Gulden jährlich Ig,utv — prächtig leben konnte? — Wo ein Pfund
Fleisch 4 Pfennige, eine Mandel Eier 3 Pf., ein Scheffel Korn 3 Gro¬
schen, ein Paar Schuhe 6 Gr., eine Kanne Wein 6 Pf. und eine Kanne
Bier gar nur 2 Pf. kosteten? Und doch blühte diese goldne Zeit noch vor
kaum 20 Jahren in Wittenberg: — Kriegsnoth und Pest und Sittenverderb-
niß haben die Blüte des Wohlstandes gebrochen.
Luther ist todt--sein liebeszorniges Donnerwort gegen die wach¬
sende Sittenverderbniß und maßlose Ueppigkeit ist verstummt!
Sinnlos wuchs der Kleider-Luxus und die Verschwendung bei Gastereien.
Gegen diese Maßlosigkeiten bei Studenten und Professoren mußten von den
Behörden förmliche Einschränkung^ Gesetze erlassen werden. So bestimmte
das neue Mandat vom Jahre 1562 für die Universität Wittenberg: „Wenn
ein Rector, Doctor oder Licentiat für sich selbig Hochzeit hält, einen Sohn
oder eine Tochter ausgiebet, der soll Macht zu bitten haben 10 Tische
Gäste und auf einen jeden Tisch 12 Personen, daß also über 120 Personen,
ohne die Diener, nicht sollen geladen werden. NagiLtri sollen 6 Tische oben
berührter Maßen zu setzen haben!" ... Und solch eine stattliche Hochzeits¬
ausrüstung wird von den Betheiligten als eine ungebürliche Einschränkung
betrachtet, — das Gesetz nur murrend inne gehalten oder durch allerlei List
umgangen. Rectoratsschmäuse und Promotionen geben ebenfalls die erwünsch¬
teste Veranlassung zu dem maßlosesten Schlemmen, — und Promotionen sind
an der Tagesordnung. So findet am 24. Februar 1564 in der Universität
die Promotion von 53 Magistern statt — und eine einzige Juristen-Promo¬
tion zieht oft nicht weniger als 7 stattliche Collationen nach sich. Die Juri¬
sten sind überhaupt bei Festlichkeiten und Lustbarkeiten die Tonangeber, und
die Juristen-Bälle berühmt — ja berüchtigt. Häusig laden die Studiosi der
Rechtsgelahrtheit die Professoren mit ihren Frauen und Töchtern zum
Abendessen und Tanz in das „Görlitzer Haus" — aber die sittigen Tänze,
die selbst ein Luther und Melanchthon mit Wohlgefallen ihre Söhne und
Töchter tanzen sahn, sind in wilde unsittliche Wirbeltänze ausgeartet. —
Damit hängt das unberufene Eindringen der Studenten in Hochzeitsgesell¬
schaften eng zusammen und die frivolen Neckereien der Braut — selbst in der
Kirche. Bei allen größeren Hochzeitsgesellschaften müssen zwei Professoren
zugegen sein, um durch ihr Ansetzn zu verhindern, daß wüste Studentenhaufen
in das Hochzeitshaus dringen, die Braut und andere Jungfrauen ergreifen
und wild im „Satyr" und anderen unanständigen Tänzen herumschwingen,
sich toll und voll trinken und zuletzt gar blutige Händel anfangen.
Zwar sind den Studenten ImPeetyi'^s avium ot »tuäiorum von der
Universität verordnet, Professoren und Magister — aber nicht all zu selten
sind diese Sitten- und Studien-Meister noch zügelloser als ihre Zöglinge.
Für ein Geldgeschenk sehn sie ihren Pflegebefohlenen bei kaum glaublichen
Ausschweifungen nur zu willig durch die Finger und — da sie meistens selber
Wein und Bier ausschenken — befördern sie die wüste Trunksucht der Stu¬
denten schon aus Eigennutz und saugen die Aermsten, die bei ihnen „Habi-
tation, Disciplin und Tisch" haben, nach Kräften aus. (Schluß folgt.)
Es ist kein Wunder, wenn diese Ansichten Herders eine radikale Umänderung
des Tons und Ganges der Lyrik zur Folge hatten. Die beengenden Regeln sielen,
erlöst ward man von der schleppenden Steifheit und geschraubten Dunkelheit
der Horazischen Ode. Wenn es nun Talente gab, die dichterische Urkraft be¬
saßen, wie mußten die Blüthen keimen und aufbrechen! Und das Geforderte
und Erwartete geschah, es ging wirklich wie ein neuer Frühling durch Deutsch¬
lands Gauen.
Die Frühlingssonne will Alles beleben, überall regt sich Streben und
Bildung. Die linde, lebensträchtige Luft weckt Lerchen und Nachtigallen zu
holdem Gesänge. Die Menschen entweichen den dumpfen Gemächern; auch
Faust verläßt den tristen Bücherhaufen; unter dem Hauch der allbelebenden
Sonne wie neugeboren, jubelt die Seele mit den Vögeln um die Wette.
Fade Anakreontiker, wüthige Barden, verzückte Seraphiker, die verschie¬
densten Naturen versuchten es jetzt gleichmäßig mit seelenvollen, flugbaren
Liedern, die vielfach sofort mit der Melodie herausgesungen wurden oder bald
ihre Komponisten fanden. Da ertönten feurige, schwungvolle Hymnen, feier¬
liche und rührend ernste Romanzen. Und Alles ward gelehrter Mühsamkeit
entlastet; überall drang ein frischer, innig wahrer Naturton durch; die Sprache
ward sinnlich, lebhaft, herzig und anschaulich; die Gedichte, leichter geglie¬
dert, bewegten sich frei und keck; Alles erfreute durch einschmeichelnden, musika¬
lischen Tonfall.
Einmal aufgeweckt durch des Frühlings holden, belebenden Blick, wer
versuchte da nicht zu singen? Da ergriff es nicht bloß wirklich poetische Naturen,
wie I. G. Jacobi und den Maler Müller mit zauberischer Allgewalt,
daß sie die französirende Anakreonrik oder Klopstock'sche Grandezza aufgaben
und volksmäßig, schlicht und herzlich sangen. Auch so unpoetische und steife
Menschen wie der titanisch in die Höhe gereckte Dichter gräßlicher Sturm¬
und Drangstücke Kling er und viele schrullenhafte und aufgedunsene Klop-
stockianer, wie Fr. Stolberg und Voß, brachten es in der günstigen Mai¬
luft, die aus Herder's Schriften sie anwehte, zu innig empfundenen, liedmäßigen
Gesängen.
Den Umschwung veranschaulichen am deutlichsten Bürger und Goethe;
Bürger vorzüglich, wenn man ihn mit dem Göttinger Dichterbund vergleicht.
Bürger hatte als Göttinger Student in freundschaftlichem Verkehr mit dem
literarisch interessanten Boje gestanden; seit Frühjahr 1772 war er Justiz¬
beamter in Alten-Gleichen bei Göttingen. Um Boje schaarten sich von nun
ab neue Freunde, ein ganzer Kreis studirender Jünglinge, die bekanntlich seit
Mai 1772 zu einem förmlichen Bunde zusammentraten. Eine gewisse Ver¬
bindung mit Bürger blieb bestehen; vielfach fand die Schaar, wenn sie in
poetischen Streifzügen, Kleist's Frühling in der Tasche, in die Natur pilgerte,
bei Bürger gastliche Aufnahme.
Und doch besteht ein tiefer Gegensatz zwischen dem Göttinger Bunde und
Bürger. In Bürger gewinnen eben immer mehr die neuen Ansichten Her¬
der's über Poesie Gestalt und Leben; der Göttinger Dichterbund schwört im
Ganzen noch auf Klopstock. Die jungen Studenten ergötzten sich bei ihren
feierlichen Sonnabendssitzungen in urteutonischer Begeisterung an Klopstock's
Hermannsschlacht, die 1769 erschienen war. Sie tanzten beim Mondenschein
eichenlaubbekränzt um die deutsche Eiche und schwuren sich ewige Freundschaft.
Sie feierten Klopstock's Geburtstag und ließen den mit Rosen und Levkoyen
bestreuten Sessel für ihn leer. Sie tranken auf ihn und Hermann. sie spra¬
chen, den Hut auf dem Kopfe, ein Zeichen echten Klopstock'schen Mannesstol¬
zes, von Freiheit und Tugendgesang; sie schwuren Eide auf den inzwischen
vollendeten Messias wie auf das Evangelium. Man kann sich nicht wun¬
dern, daß diese jungen Dichter durch Klopstock's Oden, die 1771 erschienen,
von Neuem zu horazischen Oden sich entflammen ließen, gegen die Herder
kürzlich in Vertilgungseifer losgezogen war.
selbst der kranke, weiche Hölty warf seinen träumerischen, kindlichen,
sentimentalen Schwärmereien für ländliche Einsamkeit dies steife, schwer wal¬
lende Brokatgewand über:
Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh!
Jedes Säuseln des Baums, jedes Geräusch deS Bachs,
Jeder blinkende Kiesel
Predigt Tugend und Weisheit ihm. — —Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh!
Engel segneten ihn, als er geboren ward,
streuten Blumen des Himmels
Auf die Wiege des Knaben aus.
Hochtrabender, aufgeschwemmter, affectirter ist Fritz Stolberg, der freiheits¬
wüthige, wilde, wortreiche Feind abstract gedachter Tyrannen:
Freiheit! Der Höfling kennt den Gedanken nicht!
Der Sclave! Ketten rasseln im Silberton;
Gebeugt das Knie, gebeugt die Seele,
Reicht er dem Joch den erschlafften Nacken!
O Namen! Namen! Festlied wie Siegsgesang!
Tell! Hermann! Klopstock! Brutus! Timoleon!
O ihr, wem freie Seele Gott gab,
Flammend in's eherne Herz gegraben.
Daß dergleichen schwülstige Tiraden bloße Grimasse und Anstellerei, Mum¬
merei und Lüge waren, hat das spätere Leben des Mannes bewiesen; er
ward „Höfling" wie einer und konnte endlich seiner erschlafften Seele nur
Festigkeit und Ruhe schaffen im altverbrieften Katholicismus.
Ganz Ramler ist der derbe, eckige Mecklenburger, der „sassische Bauer"
Boß. Er machte seine Oden absichtlich dunkel: „Warum sollte die Poesie,
diese Schatzkammer der Sprache und erhabener Gedanken (!) nicht auch
Studium verdienen?" Und die Gedanken, die er in dieses Schema hinein¬
preßte, waren manchmal erstaunlich erhaben. Nein! dem Plattesten und Fa¬
desten verlieh der Wortschwall der poetisch aufgethürmten Umschreibung den
trügerischen Schein der Erhabenheit.
Jene Nacht, in der die jugendlichen Deutschthümler in die breit verästele
Krone einer deutschen Eiche kletterten, um sich Laub zur Bekränzung ihres
Bardenhauptes zu holen, in der sie dann also geschmückt um die „Bundes¬
eiche" tanzten, wird in einer Ode mit alkäischem Maß „poetisch" beschrieben;
etwa so:
Urplötzlich trug uns feuriger Ungestüm
Zum weiten Obdach, und von gccichcltcn
Laubkränzen all' umhüllt die Scheitel,
Fügten wir Bund mit getreuem Handschlag. —
Man begreift Herder's Abneigung gegen solche Poesie; man begreift den
Wunsch, dies geschraubte und doch hohle, platte Zeug durch das einfach „ge¬
sungene Lied" zu verdrängen.
In antiken Distichen, also „classisch", besingt Boß die Wehmuth jener
Septembernacht des Jahres 1773, welche die beiden Stolberge und Claus¬
witz aus Göttingen entführte. Vorschwebt, wie es scheint, Klopstock's Ode
„an Ebert", in der er dem schwermuthsvollen, gewaltig in ihm lebenden Ge¬
danken nachhängt, was einst sein wird, wenn all die Freunde, all die Lieben:
der zärtliche Giseke, der redliche Cramer, der edelmüthige Gellert, der freie,
gesellige Rothe, der erfindende Schlegel, der geliebteste Schmidt nicht mehr
sein werden — wenn einschlummernd sich Vater Hagedorn entfernt, —
Ebert, was sind wir alsdann?
Stirbt dann auch Einer von uns, und bleibt nur Einer noch übrig;
Bin der Eine dann ich; — —
Hat mich dann auch die schon geliebt, die künftig mich liebet,
Ruhe auch sie in der Gruft---
Leitet den sterbenden Greis! Ich will mit behenden Fuße
Gehn, auf jegliches Grab
Eine Cypresse pflanzen — — — —
Zitternd mein Haupt gen Himmel erheben und weinen und sterben! — —
Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele
Faßt dich, Gedanke, nicht mehr!
Angeregt durch diese echt Klopstock'schen „Nachtgedanken", „an dem frem¬
den Feuer gewärmt/', dichtet nun der biedere, hausbackene Voß; die Schablone
bieten die antiken Elegiker; Ton und Bewegung sein deutsches Borbild. Weil
ihm nun die Verse gelingen in der Sprache, die „für ihn dichtet und denkt",
glaubt er Dichter zu sein; er ist Dichter der alten, vorherder'schen Zeit, nach
Herder nichts weiter als „ein wissenschaftlicher Reimer". Also Voß:
Drei auf einmal raubte dein Wink dem seligsten Bunde,
Meine Stolberg' euch, zärtlicher Clauswitz und dich. —
Und so entfliegen sie alle, von: schicksalschwangeren Wetter
Hierhin und dorthin wie Spreu unter die Himmel gestürmt. —
Hölty, du zögerst hier, des Liebenden ängstliches Zögern.
Ach! du lauschest nicht mehr Nachtigalltönen mit uns,
Angeblinkt vom grünlichen Schimmer der purpurnen Sonne
Hinter den Saaten! Der Lenz (1774) raubt dich und Cramer und
Hahn. —
Bürger, ich komme nicht mehr von lachenden Freunden begleitet,
Einsam komm ich und still unter dein ländliches Dach. —
Aber wenn er nun kam, so fand er sicher keinen, der gleich fühlte wie er.
Bürger hat nie in antiken Formen gedichtet. Ihm wollte sogar eine Ueber¬
setzung der Ilias in Hexametern als „das fatalste Geschleppe" und die „un¬
angenehmste Ohrenfolter" erscheinen. Sein Streben war nie die Vossische,
des Studiums bedürftige Dunkelheit und Gesuchtheit. Seit Herder's erstem
Fragment strebte er in allen seinen Schöpfungen nach der Unmittelbarkeit und Ge¬
meinverständlichkeit der Volkssprache.
Von den Naturgaben, die Herder in den Briefen über Ossian von dem
echten Volkssänger erwartete, besaß er mächtig drängend die Sinnlichkeit.
Auch sie stand in schroffem Gegensatz zu den Göttingern, zu ihrem verstiege¬
nen, rigoristischen Tugendheldenthum. Man weiß, wie Bürger zu seinem Un¬
heil von dieser Sinnlichkeit fessellos, maßlos, fast dämonisch beherrscht ward.
Er war jedenfalls den „Schwächungen" der modernen Civilisation nicht er¬
legen.
Naturgang wendet kein Aber und Wenn;
O kalte Vcrnünftler, wie zwinget ihr denn,
Daß Liebe zu lieben verlernet?
Machte ihn nicht Alles zum naiven Volksdichter geschickt? Konnte er nicht
Herder's Ideal am besten verwirklichen?
Zu Anfang hatte er Romanzen gedichtet im Gleim'schen Stil, roh, bur¬
lesk, voll von Obscönitäten, 1771 auf 1772: Die abenteuerliche, doch wahr-
saftige Historia von der wunderschönen, durchlauchtigen kaiserlichen Prinzessin
Europa. eine Travestie aus die ovidische Erzählung. Ader seitdem er Mai
1773 Herders „herrliche Blätter" (die Briefe über Ossian in den Blättern
deutscher Art und Kunst) gelesen, kann er sich in den alten bänkelsängerischen
Ton nicht mehr finden.
In jeder Beziehung gab er Herder Recht. Das beste Zeugniß für seine
völlige Beistimmung, zugleich für seine Abhängigkeit von Herder ist der
„Herzensausguß über Volkspoesie" in Bürgers deutschem Museum (1776); in
derselben Zeitschrift stand im folgenden Jahre Herders Abhandlung über die
Aehnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst.
Jeder Satz Bürgers ist Herderisch gedacht; überall blickt der Gegensatz
gegen Gottsched wie Klopstock durch. Der Dichter sollte nicht bloß für die
obersten Klassen da sein; sein Beruf ist, gleich verständlich und unterhaltend
für Alle zu dichten, dem widerstrebt die „Quisquiliengelahrtheit" unserer Na¬
tion. „Möchte dies gelehrte Treiben seinen alten Gang anderswohin im¬
mer gehen, nur nicht in der Poeterei. Die deutsche Muse sollte nicht auf
gelehrte Reisen gehen, sondern ihren Naturkatechismus zu Hause auswen¬
dig lernen. Wo steht in diesem geschrieben, daß sie fremde Phantasieen und
Empfindungen einholen und ihre eigenen in fremde Mumm er el hüllen
soll? Daß sie keine deutsche Menschensprache, sondern gleichsam eine Gört er¬
sprach e stammeln soll?*) Man will nicht wie seines Gleichen, sondern wie
Völker anderer Zeiten und Zonen, oft gar wie der liebe Gott und die hei¬
ligen Engel empfinden. Man erkundige die Phantasie und Fühlbarkeit des
Volkes im Ganzen, um jene mit gehörigen Bildern zu füllen und für diese
das rechte Kaliber zu treffen. Ein Dichter, der dies vermag, wird durch
seinen Gesang ebenso sehr den verfeinerten Weisen als den Bewohner des
Waldes, die Dame am Putztisch, wie die Tochter der Natur hinter dem
Spinnrocken und auf der Bleiche entzücken. Die Natur weist der Poesie das
Gebiet der Phantasie und Empfindung, dagegen die „Belustigungen des Ver¬
standes und Witzes"**) der Versmacherkunst an. Wahre volksmäßige Poesie
ist in unsern alten Volksliedern zu finden. Oefter lauschte darum der
Verfasser in der Abenddämmerung dem Zauberschall der Balladen und
Gassenhauer unter den Linden des Dorfs (Alten-Gleichen), auf der Bleiche
und in der Spinnstube." Hier kann man den Ton der volksmäßigen
Ballade und Romanze lernen; die höhere Lyrik (man darf es doch
auf die Klopstock'sche beziehen) mag hinlaufen, wohin sie will. Durch Po¬
pularität kann die Poesie das werden, wozu sie Gott geschaffen und in
die Seele seiner Auserwählten gelegt hat. Die Muse der Ballade 'und Ro¬
manze hat auch Ilias und Odyssee gesungen. Unsere Dichter müssen von den
Gipfeln ihrer wolkigen Hochgelahrtheit herabsteigen. Möchte doch ein deut¬
scher Perry aufstehen, die Ueberbleibsel unserer Volkslieder sammeln und
dabei die Geheimnisse der magischen Kunst der Volkspoesie mehr aufdecken als
bisher. Zur Nachahmung im Ganzen wären sie freilich nicht; aber für
den einsichtsvollen Dichter würden sie eine reiche Fundgrube sein."
Er selbst studirte 1772 mit dem Göttinger Bündler, dem mädchenhaft
weich fühlenden Schwaben Miller, dem späteren Dichter des Thränenromans
Siegwart, die Minnesänger; er glaubte auch in ihnen Natur- und Volkspoesie
vor sich zu haben.
Seine Vorliebe für die Volksklänge unter den Linden des Dorfs und
auf der Bleiche führte ihm eines Sommerabends 1773 beim Mondschein einige
Verse aus einem verschollenen deutschen Volksliede zu, das ein Bauermädchen
sang: es war die Anregung zur ersten deutschen „Romanze", die nach
Herder'scher Vorschrift gedichtet ward, zur Lenore. Die von Herder vermißte
Würde und Poesie kehrte in die bänkelsängerisch verstümmelte Dichtungsart
zurück. Bürger an Boje: „Ich denke, Lenore soll Herders Lehre einigermaßen
entsprechen."
1774 erschien das Gedicht im Göttinger Musenalmanach; Goethe sagt,
daß es „mit Enthusiasmus von den Deutschen aufgenommen sei." Es ent¬
zückte den Bauer in der Schenke; und in den vornehmen schöngeputzten Ge¬
sellschaften im Hause Lilis trug es Goethe selbst vielfach vor. Auch hier
mochte man das Gedicht immer wieder hören. Es tönte neu und wunderbar,
wie aus einer andern Welt in die an Künstelei und gelehrte Anspielungen
und Einkleidungen gewöhnte Zeit hinein; so frische, ungekünstelte Bewegung,
so rührende ergreifende Klänge hatten die Klopstock'schen Oden nirgends.
Hier war wirklich mit dem Geist der Opitz und Gottsched radical gebrochen.
Es folgten „der wilde Jäger", das „Lied vom braven Mann", und
Anderes, was wir noch von Bürger in allen unsern Gedichtsammlungen ha¬
ben. Auch im Liede traf er den freien von Reflexionen nicht beschwerten
Volkston: „Mit Hörnerschall und Lustgesang, als ging es froh zur Jagd."
„O was in tausend Liebespracht, das Mädel, das ich meine, lacht."
Herder hatte der sinnlich und lebhaft empfindenden Brust den drückenden
Alp der Theorien abgenommen, und der Ton, der dieser Brust nun entquoll,
traf sofort allüberall in gleichgestimmte Seelen und regte sie zu ähnlichen
naturfrischen Gesängen an.
Von den Göttingern dichtete Balladen vorzüglich Fritz Stolberg'
In der Väter Halle ruhte
Ritter Rudolf's Hcldmarm;
Rudolf, den die Schlacht erfreute,
Rudolf, welchen Frankreich scheute
Und der Sarazenen Schwarm.
Aber er ist ohne Söhne; seine Erbin ist „Agnes mit den goldnen Locken";
es liebt sie „Albrecht mit der offnen Stirne"; und er wird wieder geliebt:
Aber Horst, der hundert Krieger
Unterhielt im eignen Sold,
Rühmte seines Stammes Ahnen
Prangte mit erfochtuen Fahnen,
Und der nater war ihm hold.
Ein Zweikampf kann den Streit allein entscheiden; die Jungfrau folgt
demselben mit ängstlichem Blicke,
— Sah den edlen Albrecht sinken,
Sank wie Albrecht und erblich. —
Auch Lieder sinden sich bei den Göttingern nach Herders Anregung und
Bürgers Vorgang ein. Hölty: „Der Schnee zerrinnt"; „Die Luft ist blau,
das Thal ist grün"; „Mir träumt', ich wär' ein Vögelein"; „Ueb' immer
Treu' und Redlichkeit". Miller: „Was frag' ich viel nach Geld und Gut."
Fr. Stolberg: „Sohn, da hast du meinen Speer". Voß: „Seht den Himmel
wie heiter"; „Willkommen im Grünen, der Himmel ist blau." Der von Voß
seit 1776 weiter geführte Musenalmanach brachte denn auch die allbekannten,
unendlich oft gesungenen „Lieder" von Claudius: „Bekränzt mit Laub den
lieben vollen Becher"; „Der Mond ist ausgegangen"; letzteres nahm auch
Herder in seine „Volkslieder" auf. Und wie viel Andere — man denke z. B.
an den Maler Müller und Schubart — verlassen den Klopstock'schen Kothurn,
die Klopstock'sche Seraphik! —
Bürger fiel später hier und da wieder in den alten burlesken Ton zurück;
man kennt die Weiber von Weinsberg, Frau Schnips, Gedichte voll obscöner
und roher Ausdrücke.
Auch in der echten, reinen Ballade konnte er sich nicht immer frei halten
von Unflath; der Zug seines Gemüths, der ihn überhaupt befähigte, sicher
und fest den von Herder geforderten populären Ton zu treffen (und nicht,
wie Gleim, bloß zu affectiren), artete bei ihm gern, es war die Folge einer
gewissen Unbändigkeit und Wüstheit der Natur, in's Plebejische aus.
Es ^se bekannt, wie an dieser Stelle ihn später tief einschneidend und
verwundert Schillers Kritik in der Jenaer Literatur-Zeitung 1791 traf. Der
Kritiker, welcher seinerseits durch rastlose Arbeit an sich selbst von rohen und
ungebärdigen Anfängen zu reiner Kunstidealität sich geläutert hatte, machte
für die Cruditäten des Dichters den Menschen Bürger verantwortlich. „Der-
Geist dieser Gedichte ist kein gereifter, kein vollendeter Geist, dessen Producten
nur deßwegen die letzte Hand fehlt, weil sie — ihm selbst fehlt".
Diese Seite an Bürger stellt den gefährlichen Abweg dar, zu dem Her¬
ders Theorien verleiten konnten, den Abweg zur rohen Natur, zur plebe¬
jischen Volksthümlichkeit. Es wäre ein Unglück gewesen, wenn Deutschlands
Entwickelung auf dieser Bahn weiter gegangen; ein gütiges Geschick hat uns
davor bewahrt.
Zu Anfang freilich riß Bürgers Romanzendichtung auch die Gebildeten
der Nation, denen in der Cultur des Geistes ursprüngliches Gefühl noch nicht
erstickt war, mit in ihren Triumphzug. Man jubelte der Befreiung der lange
unterdrückten Natur- und Gotteskraft in unserem Busen mit lautem Beifall
zu. Aber das konnte allmählich nicht unempfunden bleiben, daß das Ideal
mit dieser Art von Poesie nicht erreicht sei; man harrte noch des Dichters, in
dem Freiheit und Gesetz, Leben und Form zu schöner Harmonie sich eini¬
gen sollten. Natur und Individualität mußten in ihm unverkümmert und
ungebrochen sein; aber dieser Natur mußte als eine ursprüngliche Gabe zu¬
gleich inne wohnen festes Gefühl für Maß, Nundung und Grenze. Dann
hatte Herder erreicht, was er als das Höchste dunkel ahnte.
Bürger selbst wendete sich mit den Jahren von dem alles mit sich fort¬
reißenden, stürmischen, idivtistisehen Ton seiner Gedichte wieder ab und bildete
immer mehr einen Hang zu Ramler'scher Correctheit aus. Dies war nun
erst recht verfehlt. Und sein begeisterter Schüler K. W. v. Schlegel war be¬
fugt, sich fast überall „der alten Lesarten" gegen die pedantischen Correcturen
anzunehmen.
Und noch ein Mangel haftete an Bürger. Seine Sachen kosteten ihm
noch viel zu viel Schweiß, Arbeit und Mühe. Es ging ihm ähnlich wie
Lessing. Er gesteht es selbst, fast mit Lessings bekannten Worten aus dem
Schlußaufsatz der Hamburger Dramaturgie, daß er die lebendige Quelle nicht
in sich fühle, die unaufhaltsam von selbst strömt; er „muß jeden armseligen
Tropfen erst mit großer Anstrengung heraufpumpen."
Alle Gerechtigkeit erfüllte erst Goethe. Er war wirklich Herders Volks¬
sänger im gebildeten Jahrhundert.
Ihn hatte die Natur wundersam mit der ganzen Fülle von naturfrischer,
originaler Empfindung ausgestattet, die jener mit so lauter Stimme erheischt
hatte. Hier die Forderung, hier — man möchte fast an prästabilirte Wechsel¬
beziehung glauben — die Erfüllung, ganz und groß ohne die Verirrungen
Bürgers: hier fehr früh innige Verschmelzung von Freiheit und Gesetz, von
Bildung und Natur. (Schluß folgt.)
Am 17. September fand die Eröffnung der Alpenbahn statt, welche den
Mont Cenis durchschneidet. Ein großes Werk menschlicher Kunst ward hier¬
mit vollendet. Wer erinnert sich nicht der Schwierigkeiten der Durchbohrung,
wer nicht der Befürchtungen, die man hinsichtlich der Luftbeschaffenheit an
einen Tunnel knüpfte, den ein Eisenbahnzug in frühestens zwanzig Minuten zurück-
^ge; ein Tunnel, dessen Wände und Wölbungen von einer Stärke wie die keines
ähnlichen Bauwerkes durch einen der mächtigsten Berge Europa's gebildet werden!
Die Bahn verbindet das eben vollendete Königreich Italien mit der jun¬
gen Republik Frankreich, deren Jugend sich freilich nur auf die Form, nicht
auf die Substanz bezieht. Auch diese Form ist bekanntlich keine neue, etwa
aus dem Verjüngungsbrunnen geschöpfte Gestalt, sondern ein Costüm, das
zum dritten Male aus der Garderobe der Vergangenheit herbeigeholt wird.
Die Italiener, zum ersten Male wieder seit dem Untergang des weströmischen
Reiches ein politisch einiges Volk, hoffen von dieser Einheit das Wunder der
Verjüngung. Unter den Franzosen sind viele, welche das Costüm der Repu¬
blik gern wieder in den Schrank der historischen Reliquien hängen möch¬
ten, noch ehe der Staub der Antiquitätenkammer herausgeschüttelt ist. Wüßte
man nur, in welchem Costüme sich Frankreich behaglich fühlen, sich sicher
und stattlich ausnehmen wird! Wie dem sei, es war Frankreich, die Repu¬
blik, welcher die Aufgabe zufiel, das junge Italien bei Gelegenheit des ge¬
lungenen Alpendurchstichs als doppelt eng verbundenen Nachbar zu begrüßen.
Das war kein leichter Fall. Diese Republik des heutigen Frankreich wird
nicht von Republikanern regiert, und alle geistreichen Franzosen sind darüber
einig, daß ihre Republik gerade nur so lange möglich sei, als die Republi¬
kaner davon bleiben oder als den Nichtrepublikanern gelingt, sie davon zu
halten. Die Regierer dieser nichtrepublikanischen Republik also hegen ein
starkes Mitgefühl für das Papstthum, und haben außerdem eine starke Neigung
für schwache, in sich zersplitterte Nachbarvölker. Das Königreich Italien hat
die Zersplitterung des italienischen Volkes vernichtet und dem Papstthum sei¬
nen weltlichen Besitz abgenommen. Das letztere konnte nur geschehen, weil
deutsche Waffen den französischen Arm zu Boden geschlagen, der über das
Papstthum zur Verewigung von Italiens Schwäche gebreitet war. Niemand,
wie der jetzige Präsident der französischen Republik, der kleine vielberedte Herr
Thiers, hat so lebhaft bedauert, daß Italien seine für Frankreich so vor¬
theilhafte Zersplitterung abgethan, und daß das Papstthum, dieses alte, nicht
immer, aber oft beherrschte Werkzeug der französischen Politik, das noch jedem
französischen Staatsmann begehrenswerth erschienen, durch die Bildung des
italienischen Königreichs so viel von seiner Macht verloren. Und doch konnte
man sich der Anstandspflicht nicht entziehen, mit diesem Nachbar Glückwünsche
und feierliche Händedrücke zu tauschen. Es war ein Biß in einen sauren
Apfel, der dem Beißenden sehr sauer ankam.
Am 17. September, als der Eröffnungszug von dem italienischen Bar-
donnecchia in dem französischen Maoane eingetroffen, war von der Regierung
der Republik nur der Handelsminister Herr Victor Lefranc anwesend. Der
Telegraph hat nicht verfehlt, zu berichten, das Zusammentreffen mit den
italienischen Ministern und Autoritäten sei ein freudiges gewesen. Herr
Lefranc begleitete den zurückkehrenden Zug nach Bardonnecchia, wo von Sei¬
ten Italiens ein Festmahl veranstaltet war. Herr Bisconti Venosta. der ita¬
lienische Minister des Aeußeren, wünschte sich in einer längeren Rede dazu
Glück, diesem Feste der friedlichen Annäherung zwischen zwei großen Nationen
beiwohnen zu können. Da mußte Herr Lefranc doch antworten. Er that es
mit Glück, so daß die italienischen Hörer ihn mit Beifall überschütteten. Sein
italienischer College hatte ihm den Weg gebahnt. Derselbe hatte den fried¬
lichen und industriellen Charakter des vollendeten Werkes und nur diesen
hervorgehoben. Es lag wie ein Alp auf der Brust des Herrn Lefranc, was
alles Frankreich gegen Italien auf dem Herzen habe, und was umgekehrt die
Italiener gegen Frankreich im Herzen bergen möchten. Nun machte er für
alles Uebel die Politik verantwortlich und pries dafür die Industrie. Aber
die Politik ist doch unentbehrlich, man kann ihr doch nicht bloß ein Pereat
bringen. Der Redner fühlte etwas davon; das Gefühl wurde mächtig und
drang auf die Lippen, daß die französische Politik mangelhaft gewesen sei.
Allein, fügte er hinzu. „Frankreich hat seine Fehler schwer gebüßt." Das
war sprudelndes Wasser auf die Mühle der Italiener. Sie brachen in stür¬
mischen Beifall aus. Es fehlte nicht viel, sie hätten gesungen: „O glückliche
Buße, o heilsame Buße, sie hat uns nach Rom, unserer Hauptstadt geführt!
Es lebe die Hand, die die Geißel geschwungen, es lebe der Deutschen Schwert
und Haupt!" Herr Lefranc mochte bei sich denken, Frankreichs Fehler sei
vielmehr gewesen, daß es Italiens wie Deutschlands Geschäfte so weit habe
gedeihen lassen, um durch einen letzten gewaltigen Krieg gekrönt zu werden.
Aber das durfte er nur in den Bart murmeln.
Des Abends fuhren die Festgenossen nach Turin, wo die Stadt ihrerseits
ein großes Fest bereitete. Am 18. hatte Herr Lefranc Audienz beim König
von Italien. ' Victor Emanuel, höchst achtungswerth als König und Soldat,
soll nicht stark sein in der Conversation. Er warf etwas hin, daß Italien
und Frankreich Schwestern seien vom alten Latium her. Wer will den
Königen verübeln, wenn sie nicht genau Bescheid wissen in der Archäologie!
Abends 10 Uhr erschien in Turin auch der französische Minister des
Aeußern, Herr de Remusat. So lange hatte Herr Thiers gebraucht zu dem
Entschluß, ob er Frankreich bei dem Fest in Turin durch einen Vertreter der
allgemeinen Staatsangelegenheiten oder bloß durch den technischen Minister,
den besagten Herrn Lefranc vertreten lassen solle. Er hatte in der elften
Stunde das Erstere gewählt. Die Scene von Bardonnecchia wiederholte sich
zu Turin in Gestalt einer brillanten Variation. Die erste Rede hielt der
Bürgermeister von Turin als Gastgeber. Jetzt war die Reihe an Herrn
de Remusat. Der Minister, dem man feine literarische Bildung nachrühmt,
fand doch als Mittelpunkt seines Redeschmucks nichts Besseres, als das hin¬
geworfene Wort Victor Emanuels, wie Herr Lefranc es vernommen. Die
Schwestern von Latium mußten wieder auf die Bühne treten. Aber man
tritt doch nicht so bloß herein, es bedarf eines Motivs, einer Antithese. Bei
der Antithese, die Herr de Remusat seinen Schwestern von Latium voraus¬
schickte, entwickelte er eine wunderbare Bescheidenheit. Er bedauerte, nicht in
der harmonischen Sprache zu den Gästen reden zu können, deren Laute so
eben erklungen: „Wenn ich aber eine minder süße und minder wohlklingende
Sprache rede, so bedenken Sie, daß dieselbe wie die Ihrige aus dem mann¬
haften Idiom Ihrer Ahnen hervorgegangen ist, was beweist, daß wir, Ita¬
liener und Franzosen, zwei lateinische Racen sind und berufen, einander zu
verstehen." (Allgemeiner Beifall.) Herr de Remusat, als Mann von gelehr¬
ter Bildung, wird sich erinnern, wie weit es mit dem lateinischen Charakter
der französischen Nation her ist. Es gab eine Zeit, wo man in Frankreich
vor Allem fränkisch sein wollte und sich brüstete mit Klodwig und Carl dem
Großen. Dann wurde Mode, für den Erben der römischen Civilisation
zu gelten. Doch heißt es hier: setz' dir Perücken auf von Millionen Locken,
du bleibst doch immer was du bist, die alte keltische Race, die einst der
römische Cäsar zu seinen Füßen gesehen, die in eigenthümlicher Selbstbefangen-
heit jederzeit am Schwächsten darin gewesen ist, fremdes Wesen zu verstehen
und fremdes Verdienst zu erkennen. Eine Lehre wie die von 1870 freilich
macht auch französische Redner gelegentlich bescheiden, wie wir sehen. Doch
ist solche Bescheidenheit nie von langer Dauer gewesen. Herr de Remusat
hätte, wie er in seinem Toast erzählte, gern und immer zu den gehörten
Reden „si, si" gesagt. Wie schön wäre es, wenn er dieses si« seinem
Volke beibrachte, wo es sich um die Rechte der Nachbaren handelt!
Auch Herr Remusat huldigte, nachdem er sich an der lateinischen Schwe¬
sternschaft gelabt, der Industrie. Er meinte, „das Verdienst der neuen Straße
läge darin, daß sie dem Kriege nicht dienen könne, der sie augenblicklich schließen
würde." Wie schwer mag dem französischen Minister geworden sein, bei
diesen Worten einen Stoßseufzer zu unterdrücken! Denn wäre Italien noch
so schwach, wie ehedem, so wäre mindestens Sardinien Frankreichs Vasall
und die Mont-Cenis-Baehr eine vortreffliche Militärstraße für Frankreich,
Heute ist Italien selbstständig und stark genug, um kein fremdes Heer die
Alpenbahn passiren zu lassen, wenn es dasselbe nicht für eigene Zwecke ge¬
rufen. So war die Rede des Vertreters von Frankreich ein Gemisch aus
bitterer Resignation und schwach motivirten Liebeslockungen.
Die Erwiederung des Vertreters von Italien, als welcher Herr Visconti
Venosta das Wort nahm, legte ein Zeugniß echt politischen Tantes ab. Der
Minister gab seine Befriedigung kund, „durch das Werk des Alpendurchstichs,
welches der ganzen Menschheit von Nutzen sein wird, Italiens Beziehungen
zu Frankreich wachsen zu sehen." Also, erst der allgemeine menschheitliche
Nutzen, hinterher das Wachsthum der Beziehungen zu Frankreich. Herr Ve¬
nosta betonte diese Stellung in seiner kurzen Rede zweimal. Indem er auf
die Gesundheit des Präsidenten der französischen Republik und auf die Freund¬
schaft der beiden Länder trank, fügte er hinzu: und auf das gute Einver¬
nehmen der Nationen, deren Einklang eine Bürgschaft des Fortschritts und
des allgemeinen Gedeihens ist. Es könnten die italienische und die franzö¬
sische Nation, es können aber auch alle Nationen gemeint sein, von deren
Einklang das allgemeine Gedeihen abhängt.
Von besonderen Zärtlichkeiten für ihren beweglichen Nachbar haben die
italienischen Staatsmänner bei diesen Festen sich auffallend fern gehalten. Es
scheint, sie wissen nur zu gut, was jener Nachbar ihrem Lande gönnt. Wenn
alle Welt von der Politik an die Industrie als die eigentliche Königin dieser
Feste sich zu wenden eilte, so war darin mehr Verlegenheit als Aufrichtigkeit.
Die gegenwärtige Regierung Frankreichs beschäftigt sich mit Beseitigung der
freisinnigen Handelsverträge und nicht zuletzt des Vertrages mit Italien. Was
hilft es, wie Herr de Remusat zu declamiren: „Die Schranke der Alpen ist ge¬
fallen"; wenn hinter den Alpen sich die Schranke der Zölle um so dichter
aufrichtet! Auch dies entging dem italienischen Staatsmann nicht und war
zum Theil der Grund, weßhalb er den Nutzen des Alpendurchstichs für die
Menschheit voranstellte. Denn der Triumph bleibt der Menschheit, auch wenn
die Nächstbetheiligten sich den Segen eines großen Werkes durch verworrene
Leidenschaft beeinträchtigen.
So standen sich Frankreich und Italien gegenüber: Dort sauersüße Schmei¬
chelei, hier tactvolle Bezeichnung der Sachen, wie sie stehen.
Kaum eine andere Stadt in Deutschland wird sich rühmen können, daß
ihre Entwicklung so singulär und ihr geistiges Leben so eigengestaltig ist, wie
München. Wir weisen den Leser nur flüchtig auf jene Kämpfe hin. die hier seit
den Zeiten Adels das politische Leben erfüllen, wir erinnern ihn an jene Con¬
flicte, die auf wissenschaftlichem Gebiete stattfanden, als die Autochthonen zür¬
nend den „Berufenen" entgegentraten. Wie epochemachend waren die Leistungen
und Stürme der Künstlerwelt, wieviel hat der literarische Kreis, den König
Max zu seiner Tafelrunde berief, geleistet für die innere Entwicklung der Stadt.
Und als nun im vergangenen Jahre die süddeutsche Residenz auch ihrer
nationalen Pflicht so glänzend genügt hatte, da schien es. als ob nun
ein Stillstand, ein innerer Abschluß erreicht sei, die singuläre Bedeutung der
Stadt schien absorbirt zu werden von einer gleichmäßigen deutschen Ent¬
wickelung.
So schien es — allein das Schicksal ging andere Wege und in die reiche
Geschichte der Stadt wird wieder ein neues Blatt gefügt, eigenartig und
fesselnd, wie nur irgend ein anderes. Wieder steht München im Bordergrunde
eines geistigen Kampfes, der tief in alles deutsche Leben eingreift — es ist zum
centralen Schauplatz der religiösen Frage und Freiheit geworden.
In diesem Zusammenhange muß man den Altkatholischen Congreß be¬
trachten, der dort zusammentrat. Nicht als Lösung des brennenden Streites,
sondern als erster merkwürdiger Versuch zur Lösung ist er interessant; nicht
der Abschluß, sondern die Initiative hiezu ist das Verdienst von München.
Und in diesem Sinne verdient die Versammlung ohne Zweifel das allgemeinste
Interesse, auf welchem Standpunkt auch der Einzelne stehen mag.
Allein, obwohl die Agitation in diesem untrennbaren inneren Zusammen¬
hange mit München steht, so vermied sie doch immerhin jeden localen
Charakter.
Schon bei Zeiten hatte sich das dortige Comite mit allen katholischen
Städten Deutschlands, besonders am Rhein, in Verbindung gesetzt, und ge¬
wann dadurch eine breitere Basis und jene hohen persönlichen Kräfte, die für
den Erfolg unentbehrlich sind. Auch das nähere Progamm und die ganze
Organisirung ward bereits in der Vorbesprechung zu Heidelberg festgestellt,
und so war ein festes systematisches Gefüge hergestellt, als die Delegirten aller
Länder in München zusammentrafen.
Natürlich war der eigentliche Kern der Versammlung deutsch, denn eine
nationale Frage ist es ja, um die es sich für uns in letzter Reihe handelt,
allein dem universalen Charakter, der ihr eigen ist, entsprach, daß auch die
Deputirten außerdeutscher Staaten geladen wurden. Wie richtig diese Erwä¬
gung war, zeigte der Erfolg.
Aus Rußland und Spanien, aus Holland und England waren Abge¬
sandte erschienen, die Kirche von Utrecht und die Griechen hatten ihre Ver¬
treter, Nicht wenige derselben bekleideten einen hohen Rang in der diplo¬
matischen oder gelehrten Welt, und auf manchen werden wir im Laufe der
Darstellung näher zurückkommen.
Wir geleiten den Leser nun in den gefüllten Saal, wo die vorberathende
Versammlung am 22. September begann. Manche fesselnde Gestalt begegnet un¬
sern Blicken, und doch waren diese nicht das wichtigste Element für den Erfolg.
Die Mehrzahl der Deputaten, die man fast auf 500 schätzt, kam vielmehr aus
dem Bürgerstande; es waren Menschen, die ohne kritischen Scharfsinn, aber
mit dem Vollgewicht einer ehrlichen Ueberzeugung Hand an die Sache legten.
Sie vertraten das Volk; ihre Betheiligung ist von unendlichem Einfluß auf
die Zukunft der ganzen Bewegung.
Unter den Klerikalen, die erschienen waren, bemerkte man fast sämmtliche
Namen, die während der jüngsten Monate berühmt geworden sind. Wir
erinnern an Dr. Woltmann, den Religionslehrer aus Braunsberg, an Ka-
minsky aus Kattowitz. an Dr. Tangermann aus Unckel, auch Pfarrer Renftle,
der dem bayrischen Kirchenrecht so manche Schwierigkeit bereitet, sie alle waren
anwesend. Indessen dominirte dieses Element keineswegs, wie etwa zu befürchten
stand, sondern die ganze active Leitung der Debatte lag in der Hand von
Männern, welche zu den ersten Namen in Deutschland zählen. — Wie Sie
aus den Tagesblättern wissen, war das Präsidium an Professor Dr. von
Schulte (den berühmten Kanonisten) übertragen; zu seinen Stellvertretern
wurde Windscheid aus Heidelberg und Nationalrath Keller aus der Schweiz
ernannt. Tiefer Ernst lag auf Aller Zügen, als der Vorstand die Versamm¬
lung eröffnete, denn in allen Herzen lebte das Gefühl, daß man an eine
Sache griff, die seit Jahrhunderten keine Hand zu berühren wagte. Niemand
wußte, wie weit die Gewalt des Augenblicks den Einzelnen treiben würde,
und dennoch wußte jeder, daß der Maßstab dieser Stunde von ungeheurer
Tragweite für alle Zukunft war. Die Grundlage der Verhandlungen bil¬
dete ein Programm, welches wenige Tage vorher von den bedeutendsten Mit¬
gliedern der Versammlung vereinbart worden war. Nach dem Abschluß der
Redaction wurde dasselbe dem greisen Lehrer Herrn Stiftsprobst Döllinger
vorgelegt und dieser AugenblickZwird allen denen unvergeßlich bleiben, welche Zeu¬
gen desselben waren. Döllinger lebte nämlich in der ständigen Sorge, es
möchte der Eifer der Reform zu weit reichen, er empfand einen entschiedenen
Zweifel gegen die Selbstbeherrschung der Versammlung. Und obwohl Nie¬
mand schroffer von der Kirche verstoßen worden ist, so hängt doch von allen
Nltkatholiken keiner treuer, ja man darf fast sagen unerbittlicher an eben
dieser Kirche. Das Programm, welches von den Professoren Reinkens und
Huber verfaßt worden war, schien dem großen Kirchenlehrer zu weit zu gehen,
oder wenigstens sah er darin die Möglichkeit einer Lostrennung von der alten
römischen Kirchenverfassung. Döllinger erblaßte, es bedürfte aller Mittel der
Ueberredung, um ihn zu beruhigen, und der Augenblick war in der That er¬
greifend, als er langsam zur Feder griff und zögernd unterschrieb. ^IgA Mew!
Das war am Tage vor der Versammlung, und wir erwähnen den Vor¬
fall, weil wir die Genesis des ganzen Programms sowie die enorme Gewis¬
senhaftigkeit, mit welcher man zu Werke ging, damit in ein richtiges Licht
setzen.
Kehren wir nun in den Saal zurück, wo dies Programm soeben den
Delegirten zur Berathung vorgelegt wird. Es trägt in seiner letzten Fassung
sieben Unterschriften (Döllinger, Reinkens, Maßen, Langen. Schulte, Huber
Friedrich), und betont die politische Seite, welche die Frage nun einmal darstellt,
ebenso entschieden, als die rein religiöse.
Der Gegensatz dieser Standpunkte trat natürlich auch in der Debatte zu
Tage und zwar an einem doppelten Punkte. Denn innerhalb der altkatho¬
lischen Glaubensgenossen waren zwei Richtungen vertreten, von welchen eine
entschieden in der politischen Energie des heutigen Systems herangewachsen
war — und dieser lag weit mehr die Macht des Staates, als die Größe der
Kirche am Herzen. Darum betonte sie denn auch vor allem die Gefährlich¬
keit der neuen Lehre; sie wollte die Kirchenhoheit des Staates in möglichst
weiten Grenzen und den helfenden Eingriff desselben in möglichst intensiver
Form erzielen.
Die andern aber waren Puritaner. Ihnen verschwand die politische
Seite der Jufallibilität vor der Erwägung, daß ein Glaubenssatz dadurch
geschädigt und entweiht werde, sie zeigten selbst bei den gegenwärtigen Wir¬
ren die Tendenz, nur ja die kirchlichen Befugnisse nicht zu Gunsten der
Staatsgewalt zu schmälern. Diese Richtung war vertreten durch die Profes¬
soren Cornelius Stumpf und Massen.
Die Stelle des Programms, an welcher sie zum erstenmal entschieden
hervortrat, besprach die Erziehung des Klerus in den geistlichen Seminarien
und forderte hiebei die Überwachung und Mitwirkung des Staates. So
allbekannt nun auch die Mängel dieser Erziehung sind, so sehr auf der
Hand liegt, daß keine private Einwirkung denselben gewachsen ist, so ward
doch von Seite der genannten Herrn der lebendigste Widerstand erhoben, man
dürfe der Kirche eine so wichtige Mission wie die Erziehung des Klerus nicht
verkürzen, man müsse das Selfgovernment auch in dieser Beziehung an¬
streben.
Der Mann, der dieser Ausführung am kräftigsten entgegentrat, war der
Regierungsrath Keller in Aarau. Er vertritt, wir wollen nicht sagen das
weltliche, aber doch das praktische Princip auch in kirchlichen Dingen und der
enorme Erfolg seiner derben treffenden Worte bewies, daß er den Sinn der
Menge richtig erkannt hatte.
Ein zweiter Anlaß, bei dem der obenerwähnte tiefgehende Unterschied zu
Tage trat, ergab sich, als die Organisation »on altkatholischen Gemeinden
berathen wurde. Wie diese Frage sachlich die Wichtigste des ganzen Kon¬
gresses war, so bot sie auch in der formellen Behandlung das meiste Interesse.
Es liegt natürlich auf der Hand, daß die Lebensfähigkeit der ganzen
Bewegung wesentlich von der Organisirung derselben bedingt ist, und daß der
Congreß sich dieser Aufgabe nie und nimmer entziehen durfte, wenn er über¬
haupt beabsichtigte, eine That zu thun. Für die Organisirung selbst aber
gibt es leine andere Form, als die des politischen Vereins oder die der kirch¬
lichen Gemeinde, und das ist der Grund, warum die Errichtung dieser beiden
fast nothwendig in das Programm der Altkatholiken aufgenommen werden
mußte.
Da auch vom Comite in Köln ein ähnlicher Antrag vorlag, so nahm
man diesen zum Ausgangspunkt der Verhandlung. Die Debatte hatte rasch
einen Höhepunkt erreicht, wie er im ganzen Congreß nicht wiederkehrte; man
fühlte wohl, daß hier der Kernpunkt aller Agitation, aber auch der Kernpunkt
aller Schwierigkeiten lag.
Nachdem mehrere Redner gesprochen hatten (darunter vorzüglich Staats¬
anwalt Streng aus München), faßte der Präsident von Schulte die Streit¬
frage in eine Resolution zusammen, welche höchst mäßig in ihren Forderun¬
gen war, und die er nun der Berathung unterbreitete. Es war darin be¬
tont, daß der permanente Nothstand, in dem sich die altkatholischen Familien
befinden, die Errichtung einer regelmäßigen Seelsorge fordert, und daß sich
im Anschluß an diese Seelsorge altkatholische Gemeinden bilden sollten, wo
die Personen hiezu vorhanden sind und das Bedürfniß gegeben scheint.
Gegen diese Form des religiösen Lebens trat Döllinger entschieden auf,
weil sie den Keim zur Sektenbildung enthalte, und weil die Staatsregierung
in der Alternative, ob sie die große katholische Kirche oder die Altkatholiken
preisgeben solle, sicher die letzteren im Stiche lassen werde. Es läßt sich nicht
leugnen, daß den Worten des großen Meisters eine scharfe Logik und eine
reiche Erfahrung zu Grunde lag, aber das letzte Motiv seines Auftretens
waren doch nicht Verstandesgründe; es war eine unausgesprochene Bangigkeit,
daß sich die altkatholische Action vergreifen möchte an dem heiligen unantast¬
baren Leib der Kirche. Döllinger selbst hatte kurz vorher in der Versamm¬
lung ausgeführt, daß die Kirche von Utrecht nicht eine Sekte, sondern voll-
kommen echt und unverfälscht katholisch sei, warum warnte er nun die Alt¬
katholiken vor der Sektenbildung? Warum sollen dieselben, wenn sie dem
ständigen Nothstand auch eine regelmäßige und organisirte Aushilfe (Seel¬
sorge) entgegenstellen. von der Gemeinschaft der alten Kirche abtrünnig wer¬
den? Die Gefahr, daß die Staatsregierung die Altkatholiken auf ihre Hilfe
warten läßt, besteht ohne Zweifel, aber mußte man nicht eben hieraus einen
Grund entnehmen, sich selber zu helfen; und wie soll diese Hilfe wirksam sein,
wenn nicht die Betroffenen sich in engem Verbände aneinanderschließen?
Der Vortrag des Professor Schulte, worin er seine Resolutionen moti-
virte, war ein oratonsches Meisterstück, und obwohl sich Döllinger zum zwei¬
tenmal« erhob und das ganze Gewicht seines Namens in die Wagschale warf,
so vermochte er doch den Sinn der Hörer nicht mehr zu gewinnen. Innerlich
war die Entscheidung gefallen, als das letzte Wort von Schulte siel, das vom
stürmischen Beifall fast erstickt ward. Das Gefühl, daß man nicht auöeinan
der gehen dürfe ohne That, hatte in allen Gemüthern die Oberhand, und
eine Reihe von Rednern gaben ihm ungestümes Zeugniß. Von Klerikern
sprachen Fnednch und Michelis in diesem Sinn, von Professoren Huber und
Reinkens, von Kammermitgliedern, die im Saale anwesend waren, Frhr.
v. Stauffenberg und Dr. Volk.
So wurden denn die Resolutionen, die auf Gemeindebildung abzielen,
fast einhellig angenommen, und wenn Döllinger diesen Beschluß auch für ge¬
fahrvoll erklärt hatte, so schloß er sich doch, nachdem er gefaßt war, nicht von
demselben aus. Die Gerüchte eines Zwiespalts, die von den ultramontanen
Blättern triumphirend gemeldet wurden, sind deshalb keineswegs begründet;
und wie wir aus mündlicher Unterredung wissen, hat sich Döllinger mit der
vollzogenen Thatsache sogae vollkommen ausgesöhnt. Nur das hatte er nie
Die Bestrebungen der Deutschen Reichs - Postverwaltung haben auf dem
Gebiete der internationalen Verkehrsbeziehungen neuerdings einen wichtigen
Erfolg erzielt' die Herabsetzung des Portos für Briefe zwischen
Deutschland und den Bereinigten Staaten von Amerika. Be¬
kanntlich nimmt diese Korrespondenz, nach dem Verlangen der Absender, ihren
Weg entweder über Belgien und England, von wo sie mit den Dampfern der
Cunard- und der Jumar-Linie nach New-Aork befördert wird; oder sie gelangt
mit den Steamern des Norddeutschen Lloyd (von Bremen) und der Hamburg
Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (von Hamburg), neuerdings auch
mit den Dampfern des Stettiner Lloyd (von Stettin), zur Versendung. Lange
Zeit haben die Portosätze für Briefe zwischen Deutschland und Amerika ihre
Höhe unbeweglich behauptet; sie betrugen auf der Englischen Linie ursprünglich
13 Sgr., auf den Deutsch-Amerikanischen Linien 6'/2 Sgr,, entsprachen also
ebensowenig dem mächtigen Aufschwünge, welchen der Verkehr der beiden Hemi¬
sphären genommen hatte, wie dem Gedanken der Einführung eines Weltportos,
welches den Culminationspunkt der modernen Entwickelung des Postwesenö
bildet. Den ersten Anlaß zu einer Reform der Portosätze für die Deutsch-
Amerikanische Correspondenz nahm die Reichs - PostVerwaltung aus der Ein¬
richtung directer Fahrten des Stettiner Lloyd, einer jungen unternehmenden
Linie, zwischen Stettin und New-Hort. Diese Gesellschaft erbot sich, das See¬
porto (die Gebühr für den Seetransport der Briefpackete) zwischen Stettin und
New-Z)ort so niedrig zu stellen, daß die Post im Stande war, das Porto für
die mit diesen Dampfern zu befördernde Correspondenz auf 2Vs Sgr. (6 Cents)
für den einfachen Brief zu ermäßigen. Der norddeutsche Lloyd und die Ham¬
burger Actien-Gesellschaft entschlossen sich nach mehrfachen Verhandlungen, den
Anforderungen des Reichs-General-Postamts entsprechend, denselben Seeporto¬
satz für ihre Routen anzunehmen. In Folge dessen ist vom 1. October 1871
ab das Porto auf allen drei Deutsch -Amerikanischen Linien gleich¬
mäßig normirt worden; es beträgt 2^ Sgr. (6 Cents) für den frankirten
Brief und ü Sgr. (12 Cents) für den unfrankirten Brief, bei einem Gewichte
von 13 Grammen bei der Einlieferung in Amerika und von je 1 Loth für
Briefe aus Deutschland. Zugleich gelang durch Verhandlungen mit der
Belgischen, Großbritannischer und der Washingtoner PostVerwaltung sowie
mit den Britischen und Amerikanischen Dampfschifffahrts-Gesellschaften das
Porto zwischen Deutschland und Amerika auf der Route über Belgien
und England bis aus 3 Sgr. für den einfachen Brief zu ermäßigen. Deutsch¬
land kann sich zu diesen, durch den Einfluß seines einheitlichen Staats¬
postwesens erreichten Ergebnissen mit Recht beglückwünschen. Hier wie
in anderen Beziehungen documentirt die Einheit des Reichs sich dem
Auslande gegenüber in lebensvoller, wirksamer Weise. Möchte nur auch bald
mit Frankreich ein ähnliches Resultat erzielt werden! Leider sind die äußerst
starren fiscalischen Anschauungen in Versailles einer Erleichterung des inter¬
nationalen Verkehrs durchaus entgegen. Die PostVerwaltung der Vereinigten
Staaten hat deshalb schon seit längerer Zeit den unmittelbaren Verkehr, d. h.
die Auswechselung directer Briefpackete mit Frankreich, abgebrochen. Aehnliche
Verhältnisse traten bei den Unterhandlungen wegen Regelung des directen
PostVerkehrs zwischen Italien und Frankreich im Jahre 1869 ein. Italien,
von dem französischen Einflüsse eingeschnürt, hat damals zum Theil nachgeben
müssen. Es fragt sich aber, ob unter solchen Umständen dennoch durch Ver¬
einbarung mit allen übrigen Staaten, unter Ausschluß Frankreichs, das
Project eines allgemeinen PostVereins sich verwirklichen läßt. Unseres
Erachtens kann Frankreich nur durch eine solche Isolirung auf posta¬
lischem, wie auf commerciellen Gebiete unter gemeinsamen Vorgehen aller an¬
deren Staaten zu Anschauungen gebracht werden, welche dem Culturfortschritt
der Neuzeit und den berechtigten Anforderungen der civilisirten Welt ent¬
sprechen.
Wie in internationaler Beziehung, so sind auch auf dem Gebiete desinternen
Deutschen PostVerkehrs von der Reichs-PostVerwaltung nicht unerhebliche Er¬
leichterungen ins Werk gesetzt. Vom 13. Oktober d. I. ab wird man zur
Einziehung von Geldern bis zum Betrage von SO Thalern oder 87^ Gulden
S. W, sich der Pvftmandate bedienen können. Der Absender eines solchen
Maubads hat das Schuldobject, in Gestalt einer quittirten Rechnung, eines
quittirten Wechsels u. s. w. der Postanstalt am Wohnorte des Schuldners
recommcmdirt zu übersenden. Die Post besorgt die Einziehung des Geldes
von dem ihr im Mandate bezeichneten Schuldner und übermittelt den Betrag
dem Absender durch Postanweisung. Letzterer hat dafür 5 Sgr. im Voraus,
und daneben die Gebühr für die Postanweisung zu entrichten. Die Einrichtung
hat große Vorzüge vor dem bisherigen Verfahren der Entnahme von Pvst-
vorschuß; sie ist sicherer und zum Theil billiger. Einen weiteren Fortschritt
bilden die bisher nur für den Verkehr der Behörden gebräuchlich gewesenen,
vom !ö. October ab auch für die private Korrespondenz gestatteten Briefe
mit Behändigungsscheinen. Es hat gewiß schon Jeder das Bedürfniß
gefühlt, über die Behändigung eines werthvollen Documents, über die Zu¬
stellung einer wichtigen Mittheilung u. s. w. ein Anerkenntnis) des Adressaten
zu erlangen. Das Recepisse des recommandirten Briefes erfüllt diese Anforde¬
rung nicht; denn es bringt uns nur die Unterschrift des Empfängers. Künftig
wird dieser Mangel durch den Behändigungsschein beseitigt, da dieser zugleich
aus den Inhalt, den Gegenstand des Briefes Bezug nimmt. Der
Werth eines solchen Scheines, namentlich in rechtlicher Hinsicht, leuchtet ein.
Endlich beabsichtigt das Reichs-General-Postamt, dem Vernehmen nach,
eine für den buchhändlerischen Verkehr überaus wichtige Maßregel: die Ver¬
sendung extraordinärer Zeitungsbeilagen durch die Post. Bis¬
her durfte man nämlich den durch die Post debitirten Zeitungen, Zeitschriften
u. s. w. Beilagen, welche nach Format, Papier und Druck nicht als wirkliche
Bestandtheile der betreffenden Zeitung anzusehen waren, nicht beifügen. Man
konnte z. B. und der Neuen Preußischen Zeitung, welche bekanntlich von der
Post vielfach für Landbewohner debitirt wird, Zeichnungen von landwirth-
schaftlichen Maschinen nicht versenden. Künftig, von einem noch zu bestimmen¬
den Termine ab, wird dies gestattet sein. Die Versendung solcher Zeitungs¬
beilagen soll auf Antrag des Verlegers stattfinden. Letzterer würde sie der
Aufgabe-Postanstalt vorzulegen haben, welche die Beilagen für eine sehr mäßige
Gebühr (etwa 1 Pfennig) zu stempeln und sie alsdann dem Verleger zurückzu¬
geben hat. Dieser erlangt dadurch das Recht, solche gestempelte Beilagen
innerhalb eines bestimmten Zeitraums mit einer beliebigen, für seine Zwecke
geeigneten Zeitung durch die Post debitiren zu lassen. Unzweifelhaft wird eine
derartige Einrichtung der weiten Verbreitung v on Preß erzeugnissen in
— Die auswärtige Politik eines Reiches hat
sich nach Interessen und nicht nach Sympathien und Gefühlen zu richten —-
diesen Satz bekennen heute wohl alle deutschen Politiker als richtig. Und
dennoch, die alte in unserem politischen Leben so gut wie eingewurzelte Ge¬
wohnheit des Denkens und Redens erhält in jedem einzelnen Falle auch heute
noch die Oberhand über jene Maxime, die wir alle mit dem Munde beken¬
nen. Der geniale Leiter der deutschen Politik ist allerdings frei von Ge¬
fühlsimpulsen in feiner diplomatischen Action — die öffentliche Meinung aber,
so weit sie sich in unserer Presse spiegelt, steht heute noch auf dem Boden,
den sie in dem 4. und 5. und K. Jahrzehnt unseres Jahrhunderts erreicht-
sie hat von dem großen Zuge, der unser auswärtiges Amt beseelt, bisher
noch wenig gelernt.
Wie beschämend und wie betrübend dieser Sachverhalt auch fein mag,
deutlich liegt er vor in den Erörterungen unserer Zeitungen über Oestreich.
Alles fließt über von Betheuerungen und Versicherungen unserer Sympathien
für unsere „deutschen Brüder" in Oestreich. Dem Ministerium Hohenwart
wird freigebig unsere Verachtung und Abneigung votirt. Von einem Gegen¬
satz der deutschfreundlichen Haltung , zu der Graf Beust sich entschlossen, und
der deutschfeindlichen Politik, welche Graf Hohenwart verfolge, wird geredet
und unheilvolle Prophezeiungen an diese Mahnung geknüpft. Wir verstehen
sehr wohl, wie ein Gefühlsmensch solche Anschauungen loslassen kann. Wir
verstehen aber nicht, wie man solche Ergüsse mit irgend welcher Interessen-
Politik zu vereinen unternehmen will.
Es ist noch immer das alte Lied, das wir 1863 und 1863 gesungen.
Die öffentliche Meinung, die liberale Presse forderte 1853, daß Preußen auf
die Seite der Westmächte gegen den absoluten, allen Liberalen verhaßten
Czaren trete. Und doch hätten die Interessen Preußens vielmehr seinen An¬
schluß an Rußland nahe gelegt. Und 1863! — wer erinnert sich nicht der
ohnmächtigen Declamationen unseres Abgeordnetenhauses, der kurzsichtigen
Politiker, welche über die russische Allianz'Bismcirck's ihren Weheruf ertönen
ließen? Wieder war das Gefühl der Feindschaft gegen das reactionäre Ru߬
land stark genug, alle kaltblütigeren Erwägungen unserer Interessen zu ver¬
drängen. Zum' Glücke hielt damals. 1863, ein Staatsmann die Dinge in
fester Hand, der 1863 im entscheidenden Momente uns abging.
Heute scheint die politische Lage Deutschlands ein gutes Verhältniß zu
Oestreich wünschenswert!) zu machen.' Viele Motive dafür liegen auf der Hand:
andere, die wir in öffentlicher Discussion noch nicht berührt sehen, wollen auch
wir heute noch nicht besprechen. Auf der anderen Seite ist verständlich, daß
selbst Graf Beust durch die Ereignisse gezwungen ist, seinen Groll im Busen
zu verhüllen und feine Intriguen gegen Deutschland für jetzt zur Ruhe zu
setzen: auch Oestreichs Interessen scheinen für den Augenblick freundliche Be¬
ziehungen zu Deutschland zu fordern. Gastein und Salzburg sind die Symp¬
tome und die Früchte dieser beiderseitigen Entschlüsse. Die Garantie des all¬
gemeinen Friedens für die nächsten Jahre, vielleicht auf längere Zeit, ist in
ihnen enthalten. Und wenn nun an der Richtigkeit dieser letzten Sätze kein
Mensch zweifelt, was sollen denn die Tiraden bedeuten, die man täglich über
Oestreich liest? Wir fragen, wo ist ein irgendwie zuverlässiger Anhalt gegeben
für die Annahme, daß Graf Hohenwart,' soweit an ihm, die auswärtige Po¬
litik Beust's nicht unterstützen würde? Ist denn die Wiener Presse in Deutsch¬
land nicht ausreichend gekannt? oder bürgt der Charakter der Wiener Jour¬
nalisten dafür, daß ihre Insinuationen auf mehr als bloßer Feindschaft gegen
Hohenwart beruhen?
Die inneren Zustände im Kaiserstaate an der Donau sind so verwirrt
und so verfahren, daß schwer hält, ein objectives Urtheil darüber sich zu bil¬
den. Jedenfalls aber ist das sicher: an dem heutigen Wirrwarr tragen die
größte^Schuld die liberalen Ministerien, die deutsch-östreichische Reichstags-
Majorität und die Wiener Presse, die mit ihrer Freisinnigkeit sich brüstet. Kein
Deutscher wird für die Czechen wohlwollende Gefühle heute empfinden und
aussprechen; kein deutscher Politiker wird heute dem Auftreten der deutschen
Parteien in Oestreich im letzten Jahrzehnt irgend welchen Beifall oder ihrer
heutigen Lage irgend Sympathien zollen dürfen. Fremd sind uns alle Par¬
teien im östreichischen Ländercomplexe: neutral stehen wir dem inneren Kampfe
gegenüber: unser ganzes Interesse ist darin enthalten, daß der östreichisch-un¬
garische Kcnserstaa't als Ganzes in der Haltung verbleibe, die er neuerdings
Deutschland gegenüber eingenommen hat.
Wenn heute das Ministerium Hohenwart. nachdem seine auf die Deutsch-
östreicher sich stützenden Vorgänger nicht verstanden, die Verfassung in Cislei-
thanien in's Leben zu rufen, das Erperiment macht, gewisse Modifikationen
an der cisleithanischen Verfassung vorzunehmen, um sie lebensfähiger zu gestalten,
muß uns dann der Protest der deutschen Partei gegen diese Modification'en sofort
den Gedanken aufzwingen, eine deutschfreundliche Haltung des Gesanunt-
staates sei mit diesen Aenderungen in Oestreich unverträglich? Nein, wenn
sogar Graf Beust, der noch vor Jahresfrist alles, was ihm erdenklich und
möglich schien, gegen unser deutsches Reich gethan hat, heute der Einsicht in
die politische Nothwendigkeit seiner Lage sich gefügt und eine an Deutschland
sich anschließende Friedenspolitik sich erwählt/— weßhalb sollte Gras Hohen-
wart zur Befriedigung czechischer und polnischer Frondeurs mit uns Händel
suchen müssen? Die Wiener Parteipresse mag dies behaupten; — für uns
ist dies kein Grund es zu glauben, — Ja, aber die ultramontanen Ten¬
denzen Hohenwart's? Gewiß, daran zweifeln wir keine Secunde, das steht
auch für uns fest: heute sind die Feinde Deutschlands, nachdem die Schwarz-
Gelben zur Zeit nichts wider uns unternehmen können, vornehmlich in den
Schwarzen und in den Rothen zu sehen. In ganz Europa werden die Re¬
publikaner und die Ultramontanen bei jeder Schwierigkeit, die uns in den
Weg tritt, aufjubeln und ihre Gesinnungsgenossen im Inneren Deutschlands
so viel als möglich unterstützen. Wir geben auch das Weitere zu: Die Ultra¬
montanen sind uns weit gefährlicher als die Republikaner. Aber aus allen
diesen Voraussetzungen ziehen wir doch nicht den Schluß, daß das Ministe¬
rium Hohenwart mit seinen ultramontanen Verbündeten einen Feldzug gegen
uns in nächster Zeit zu unternehmen beabsichtige oder in diesem Sinne die
auswärtige Politik des Gesammtreiches zu beeinflussen Lust hätte. Auch in
dieser Beziehung halten wir an dem Satze fest — den wir aus der Betrach¬
tung der Geschichte als Erfahrungssatz gewonnen haben — daß nicht die
Sympathien, sondern die Interessen über die auswärtige Politik eines Staa¬
tes entscheiden. Die Lage, welche so mächtig war, selbst den Grafen Beust
uns gegenüber zum Friedensapostel zu bekehren, dieselbe Lage wird auch den
Grafen Hohenwart trotz aller ultramontanen Allianzen seiner inneren Politik
zur Ruhe nach außen zwingen.
Man sollte in Deutschland sich den inneren Wirren Oestreichs gegenüber
eine Lehre ziehen aus dem Verhalten der Ungarn. Freilich nicht einzig aus
den erlogenen und gefärbten Berichten der Wiener Presse darf man hier die
Aufklärung über den Thatbestand schöpfen wollen. Vor uns liegt ein Be¬
richt, welcher der Kölnischen Zeitung darüber zugegangen ist (Ur. 270
vom 29. September, 2tes Blatt). Wir haben allen Grund, ihn als unbe¬
fangen und richtig anzusehen. Darnach behalten die Ungarn vor der Hand
sich eine zuwartende Stellung vor; sie glauben sich nicht berechtigt, die Action
des Grasen Hohenwart zu hindern, so lange er sich in dem Nahmen des
dualistischen Ausgleiches von 1866 bewege. Für die Ungarn sind nicht ihre
Sympathien, con'stitutionelle oder absolutistische, sondern ihre ungarischen In¬
teressen allein maßgebend. Und werden diese nicht berührt (wir sahen bis
jetzt keinen Beweis für die Wiener Insinuationen, daß daran gerüttelt wer¬
den sollte; wir können uns sehr wohl vorstellen, daß dieselben aufrecht bleiben),
so liegt für die Ungarn kein Grund zu irgend welcher Parteinahme bei den
cisleithanischen Kämpfen vor. Das ist praktische Politik. Wir verstehen,
wie den Ungarn möglich geworden, ihre Wünsche in solchem Umfange
1867 durchzusetzen. Unsere deutsche Presse könnte viel, sehr viel von dieser
kühlen realistischen Behandlung schwebender Fragen lernen.
Wir wiederholen, die Parteiungen in Oestreich gehen uns Deutsche gar
nichts an. Unser Interesse ist völlig zufriedengestellt, wenn Oestreich als
Ganzes in den Bahnen ausharrt, die in Gastein'und Salzburg eingeschlagen
sind. Wie im Innern die Oestreicher sich einrichten, ist ihre Sache: mögen
sie sehen, wie sie mit einander fertig werden. Und wenn unsere Tagespresse
die Politik des deutschen Reiches fördern und die öffentliche Meinung auf¬
klären und leiten will, so möge sie dem hier ausgesprochenen Gedanken auch
bisweilen Ausdruck verleihen.
Aehnliche Erörterungen ließen sich anknüpfen an die Aeußerungen der
meisten Zeitungen über Frankreich und Rußland. Auch diesen Staaten
gegenüber gelangen Sympathien und Antipathien viel mehr zur Haltung als
die kalte Erwägung unserer deutschen Interessen. Wir gedenken ein andermal
d
Zwischen zwei wöchentlichen Briefen ist
Zeit genug einen Ausflug zu machen, bei dem man wenig oder nichts ver¬
säumt, wenn die Politik immer noch, wie heut, obgleich unterdessen der Herbst
eingezogen ist, Ferien macht. Vor acht Tagen stand das Laub an den Bäumen
noch fest, heut heult der Sturmwind, mit Regen vermischt, durch die Straßen
und bedeckt die Trottoirs auf beiden Seiten der Linden mit einem Teppich
von abgestreiften Blättern, auf welchen der Fuß gleitet, während unendlicher
Staub 'in den Wolken des Sprühregens beweist! daß trotz alles Wechsels
der Dinge und trotz aller Cultursortschritte die Mark auch des neuen Reiches
Streusandbüchse bleibt.
Vielleicht ist dieser Ruhm ein Entgelt für das, was sonst der Provinz
versagt ist, welche unter allen Provinzen des preußischen Staates am meisten
das Uebergewicht der Hauptstadt empfindet. Nicht so. als ob dadurch der
eigenthümliche Charakter der Provinz verloren ginge, aber es fehlt an einem
Mittelpunkt, indem sich der natürliche Mittelpunkt zu einem Mittelpunkt des
ganzen Staates und jetzt des neuen Reiches gestaltet hat. Wie ganz anders
sieht es in einer wirklichen Provinzialhauptstadt, wie Breslau, aus. Für das
ganze Land von Oderberg bis Grüneberg ist Breslau noch immer der Mittel-
und Vereinigungspunkt, gewissermaßen eine erste Instanz, während Berlin
die zweite ist. In das Abgeordnetenhaus schickt die Provinz 66, in den
Reichstag 35 Abgeordnete. Das ist allerdings eine schmale Delegation für
mehr als vierthalb Millionen Schlesier und nicht zu verwundern, wenn
diese ein starkes Gelüste nach mehr Autonomie haben, als sie jetzt be¬
sitzen. Sie sind stolz auf ihre Initiative im Jahre 1866, wo sie in der That
einen Beweis von wahrer Vaterlandsliebe gaben, als sie bei der schwankenden
Stimmung, welche damals in Preußen herrschte, als die am meisten Gefähr¬
deten, zuerst ihre Opferwilligkeit bekundeten, und sie haben eine tiefe Idiosyn¬
krasie gegen Alles, was der Centralisation ähnlich sieht. Vor allen Dingen
besitzen' sie der Hauptstadt gegenüber nicht eine Spur von jenem Respect,
welchen selbst der gebildetste und selbständigste Mann in einer französischen
Provinz Paris ent'gegenträgt, und sie finden sogar Breslau überlegen, so¬
weit nicht die Einwohnerzahl oder jenes unbestreitbare Uebergewicht in Be¬
tracht kommt, welches die Anwesenheit einer Centralregierung ausübt. Auch
ist nicht abzuleugnen, daß eine solche Provinzialhauptstadt gewisse Vor¬
züge besitzt. Der Standpunkt der großen Masse der Residenzbewohner ist ein
sehr beschränkter. Die Stadt genügt ihnen vollkommen, über ihre letzten
Häuser — an die anstoßenden 'Vergnügungsorte — geht ihr Gesichtskreis
nicht hinweg, während in einer Provinzialhauptstadt'der Verkehr zwischen
Stadt und Land ein unendlich regerer und anregenderer ist. Die Doppellebigkeit
in Stadt und Land ist das Geheimniß der politischen Bildung überhaupt,
wie sich namentlich in England zeigt. Jede Existenz, die auf den einen oder
den anderen Aufenthalt beschränkt ist, wird einseitig. Der Landmann (im
weitesten Sinne des Worts) verrennt sich in enge, kleinherzige Ideen, der
Städter, soweit er nicht bloß dem Gewinn nachjagt, verliert sich in Specula-
tionen, ohne jede Rücksicht auf die thatsächlichen Verhältnisse, an welchen sich
bekanntermaßen die kühnsten Gedanken sehr unangenehm stoßen. Weil eine
landbesitzende Aristokratie die Vortheile beider Lebensweisen vereint, weil sie
aus dem väterlichen Boden Kraft und Bestimmtheit saugt, und wiederum in
der Stadt sich im regsten Verkehr mit den politischen und geistigen Interessen
halten kann, hat sie ein unbestreitbares Uebergewicht über die andern Stände,
welches sie nur durch grobe Fehler verlieren kann. Es dauert vielleicht eine
Zeit, wo sich bei uns das Streben nach provinzieller Autonomie stärker gel¬
tend macht, als bisher der Fall gewesen ist.
Die Einheit der Race, das starke monarchische Gefühl, die ruhmbedeckte
Armee sind Gegengewichte, welche jede Gefahr der Centrifugalität verhüten,
und wie die Verhältnisse in Preußen liegen, ist nur zu wünschen, daß die
Provinzen sich zu immer größerer Selbstständigkeit entwickeln. Der Proceß
wird zugleich den anderen der Verschmelzung der deutschen Staaten erleichtern,
für dessen glücklichen Vollzug durchaus nothwendig ist, daß die nöthige Ein¬
heit das eigene Leben, welches in den Einzelstaaten, fast bis auf die kleinsten
herab, pulsirt, nicht zerstört.
Von Breslau fährt man jetzt in zehn oder zwölf Stunden (je nach der
Schnelligkeit der verschiedenen Züge) bis Prag. Die Route ist schön, be¬
sonders in dem schlesischen Bergwerksreviere und dann weiter von Liebau aus
auf böhmischen Boden, wo die Eisenbahn an den Schlachtfeldern des Jahres
1866 vorbei, durch das von Skalitz sogar hindurch führt. In Prag feierten
die Czechen grade das Fest ihres Landespatrons, des heiligen Wenzel. Unter
zehn Läden war vielleicht einer geöffnet und die Stadt wimmelte von Land¬
leuten, welche nach dem Hradsch'in wallfahrteten. wo die Wenzelskapelle im
Dome Sanct Veit dicht gefüllt war (es gehört nicht viel dazu) und nach dem
Roßmarkt, wo vor der mit einer Kapelle überbauten Statue des Heiligen
geistliche Lieder gesungen wurden. Wenn die Deutschen nicht etwa Alle in
Teplitz waren, wo an demselben Tage (28.) eine große Demonstrativnsver-
sammlung stattfand, so müssen sie sehr kleinlaut sein. Uebrigens kann man
es den Czechen nicht verdenken, wenn sie die Herren in Prag sein wollen, denn
die Stadt ist verführerisch schön. Nur etwas zu politisch. Ich glaube, in
London und Paris werden nicht so viel Zeitungen gelesen, wie dort. Dafür
ist man auch auf dem Laufenden der höhern und' höchsten Politik und die
czechischen Politiker sind mittheilsam. Aus dem Munde eines solchen habe
ich erfahren, daß demnächst dem armseligen deutschen Reich mit seinen 40
Millionen Seelen ein Slavenreich von 140 Millionen entgegengestellt werden
wird, vor welchem jenes in ein bodenloses Nichts versinken muß.
Hoffentlich kommt diese Enthüllung noch nicht zu spät, um einige Gegen¬
maßregeln zu treffen. Doch würden sie'— nach czechischer Ansicht, den über¬
wältigenden Thatsachen gegenüber durchaus vergeblich sein und wir haben
also nur so lange Frist bis — das Slavenreich zu Stande gekommen ist,
Alle Welt in Deutschland betrachtet als Nothwendigkeit und zugleich als
gemeinsame deutsche Ehrensache, daß so bald als möglich eine neue deutsche
Hochschule in großem Style die Neste der alten Straßburger Universität wie¬
der aufnehme, sie erweitere und ausbaue: so soll dem wiedergewonnenen deut¬
schen Grenzlande in der neuen Universität eine neue ächt deutsche Zierde ver¬
liehen werden. Die Neugründung der Universität Straßburg ist in der That
ganz zweifellos eine der wichtigsten und nothwendigsten Maßregeln, die
im neuen Reichslande vorgenommen werden müssen. Das Beispiel von
Bonn schwebt allen diesen Wünschen vor; den unendlichen Segen, den Bonn
für die preußischen Rheinlande gewirkt, ruft man mit Recht als Bürgschaft
dafür an, daß man ähnliches am Oberrhein erwarten dürfe.
Es erhebt sich die Frage, wie soll die Neugründung eingerichtet werden.
Die Antwort darauf lautet: auf dem Fuß unserer deutschen Hochschulen hat
die neue Schwesteranstalt sich einzurichten; nach den sonst erprobten Grund¬
sätzen und Principien unseres deutschen Universitätswesens verfahre mau bei
dieser Gründung. Man soll sich an das schon bewährte halten und vor Ex¬
perimenten mit neuen Dingen hüten. Selbstverständlich schließt dieser Grund¬
satz nicht aus, daß man Einzelnes bessere, daß man in Einzelheiten auf
die ausnahmsweise anders gearteten Verhältnisse im Elsaß Rücksicht nehme.
Im Großen und Ganzen aber sollen unsere deutschen Hochschulen Vorbild
für die neue sein. Sind unsere Hochschulen wirklich so beschaffen, daß man
sie als nachahmungswerthe, als Muster bezeichnen darf? Im letzten Men¬
schenalter ist viel über diese Frage verhandelt worden, Reformprojecte sind
aufgetaucht, discutirt, ueta, gelegt. Praktisches und Unpraktisches in bun¬
tester Mischung ist zu Tage gefördert. Es wäre nicht uninteressant, diese
ganze Literatur einmal zusammenzustellen und zu besprechen. Doch das ist
heute nicht unsere Absicht. Wir wollen nur auf diese Dinge flüchtig hin¬
deuten und unsererseits theoretische Spekulationen zu vermeiden suchen. Es
ist bekannt, daran darf wohl erinnert werden, daß im September und Octo-
ber 1849 in Berlin unter Vorsitz des um unsere Universitäten so hochver¬
dienten Geheimrathes Johannes Schulze Conferenzen von Deputaten der
preußischen Universitäten Statt fanden, welche eine ganze Reihe von Fragen
über die Organisation der Universitäten besprochen und begutachtet haben.
In diesen Arbeiten findet sich mancher brauchbare Reformvorschlag: daß im
Wesentlichen Alles bleibe, wie es ist, diese Voraussetzung liegt zu Grunde.
Und in der That, dies scheint uns auch die wohlbegründete Ueberzeugung zu
sein, aus welche die Erörterungen unserer hervorragendsten Gelehrten hinaus¬
kommen. In jüngster Zeit haben Döllinger und von Sybel in ihren
Rectoratsreden dieser Ueberzeugung einen sehr beredten Ausdruck verliehen:
auf die bewundernde Hochachtung, die das Ausland unserem Universitätswesen
zollt, auf die ausgesprochene Absicht, nach unseren deutschen Ideen auch im
Auslande sich richten zu wollen, dürfte mit Fug und Recht hingewiesen wer¬
den. Auch die vielgelesene, geistreiche und anmuthige Skizze, die ein anony¬
mer „Deutscher Professor" vor zwei Jahren veröffentlicht"), prägt diesen sel¬
ben Grundgedanken aus und regt durch allerlei Details zur Weiterbesprechung
einzelner Reformvorschläge an. Einen „frommen Wunsch für die preußischen
Universitäten" hat zwar Ubbelohoe in den Preußischen Jahrbüchern (Mai
1870) niedergelegt, der aber wohl wenig Aussicht aus Erfüllung hat: von
den Provinzialständen der verschiedenen Provinzen sollten die Universitäten
abhängig sein, gewissermaßen Provinzialinstitute werden. Auch wir sehen
allerdings gewisse Gefahren der Centralisation auf wissenschaftlichem Gebiete;
jedoch können wir uns nicht vorstellen, daß auf dem von Ubbelohde empfoh¬
lenen Wege eine wirkliche Abhülfe geschaffen werde. Wir glauben, die Uni¬
versitäten sind Staatsanstalten und als solche werden und müssen sie erhalten
werden. Wenn die jüngste Gestaltung der Verhältnisse die Gefahr herauf¬
beschworen hat, einer einseitigen und parteiischen Centralisation die Universi¬
täten auszusetzen, so würde die Provinzialisirung derselben ganz unfehlbar
den Verfall in Localinteressen und engherzige Beschränktheit nach sich ziehen.
Vor den beiden Klippen wird die Universität nur dann bewahrt, wenn die
wissenschaftliche Gesammtmeinung aller zu wissenschaftlichem Urtheile Berufenen
die Controle über das Universitätswesen ausübt und in jedem einzelnen Falle
auszuüben in den Stand gesetzt wird. Wir kommen auf diesen Gedanken
zurück. Der Entwurf des preußischen Unterrichtsgesetzes, den der Minister
von Muster 1869 eingebracht, begnügt sich in dem die Universitäten be¬
treffenden Abschnitte mit einer Darstellung des gegenwärtigen Zustandes.
Reformen enthält er nur in dem Punkte der akademischen Gerichtsbarkeit.
Gutachten der Landesuniversitäten sind eingefordert über den Entwurf; sie
sind aber nicht veröffentlicht worden und nur über die Frage der Zulassung
von Nealschulabiturienten zu den Facultätsstudien sind die eingeholtem Vota
dem größeren Publicum zugänglich gemacht. Soviel wir wissen, hat keine
der Universitäten einschneidende Aenderungen gefordert. Da es sich nun jetzt
um die Neugründung und Organisation einer deutschen Hochschule handelt,
der wir alle das beste Gedeihen aus patriotisch bewegtem Herzen wünschen,
so möchten wir ein paar einzelne Punkte hier besprechen, deren Berücksichti¬
gung bei der Neuschöpfung wir für wünschenswert!) ansehen.
1) Man war früher auf den Universitäten der Ansicht, daß die Cura-
toren nicht zum Gedeihen der Universitäten dienten; ja nicht allein sür über¬
flüssig oder unnütz, sondern meistens sür schädlich wurden sie gehalten. Auch
jene Reformconferenz von 1849 sprach sich für die Abschaffung derselben aus.
Gerade weil einst in der Zeit der Demagogenhetze und der unwürdigen Mi߬
handlung der Universitäten sie eingeführt waren, richtete sich nach 1848 die
liberale Strömung gegen dieselben. Und auch in der Conflictszeit in Preußen
wurden ähnliche Stimmen laut. Irren wir nicht, so hat sich dies geändert;
und mehr und mehr bricht sich in Universitätskreisen die Anschauung Bahn,
daß sobald gelingt, nur eine einigermaßen qualificirte Persönlichkeit als
Curator zu bestellen, dann die betreffende Universität heilsame Pflege und
kräftige Förderung ihrer Interessen gerade durch ihren Curator erwarten darf.
Ob räthlich, dies Amt mit einer Verwaltungsstelle zu combiniren, ob
besser, einen besonderen nur dies Amt bekleidenden Mann anzustellen
— eine ganz allgemeine Regel wird es dafür wohl nicht geben. Die Wahl
eines, wenn wir den Ausdruck hier brauchen dürfen, Berufscurators, ist eine
äußerst schwierige: die Männer sind selten, die dafür zu brauchen sind. Nur
das möchten wir sagen, ist die Universität in einer Provinzialhauptstadt, so
wird als Regel sich empfehlen, den Oberpräsidenten, der ja doch schon den
Vorsitz des Provinzialschulcollegium zu führen hat, auch mit dem Curatorium
zu betrauen. Auf Straßburg trifft dies letztere zu. Und wir sind auch der
Ansicht: später wird gewiß dem altpreußischen Beispiel hierin zu folgen auch
dort rathsam sein. Einstweilen, für die Zeit der Organisation, für die erste
Zeit der akademischen Anfänge ist aber sicherlich in der Austeilung eines beson¬
deren Kurators der richtige Weg eingeschlagen. Und wenn sich die Zeitungs¬
nachrichten wirklich bestätigen sollten, daß Herr von Roggenbach für die¬
sen Posten ausersehen sei, so wäre das einer der besten Griffe, den unser
Reichskanzler in Personalfragen jemals gethan hat. Die schönsten Hoffnungen
für die Zukunft erhielten dadurch eine gewisse Berechtigung sich zu äußerm
2) Die übliche Dreitheilung des Lehrerpersonales in ordentliche und außer-
ordentliche Professoren und Privatdocenten ist in ihren heutigen Wechsel¬
beziehungen, in ihren heutigen Verhältnissen durchaus beizubehalten, resp, auf
Straßburg zu übertragen. Gerade in dieser Gruppirung des Personals sehen
wir einen Grundpfeiler der Universitäten, eine Wurzel ihrer Blüthe: daran
darf gar nicht gerührt werden.
4) Die Vertretung der Universität als Ganzes ist jetzt verschieden geord¬
net. Auf einzelnen Universitäten gibt es ein General-Concil aller ordent¬
lichen Professoren, auf anderen nur einen akademischen Senat, der aus der
Wahl der Professoren hervorgeht. Wir treten hier nicht für ein radikales
Nivellirer dieses Unterschiedes ein: man kann den einzelnen Universitäten selbst
überlassen zu sagen, was sie vorziehen. Wo es sich aber um eine Neugrün¬
dung handelt, da empfehlen wir nach eigener Erfahrung ganz unbedingt die
Einrichtung eines Generalconciles neben dem Senate, der dann für Discipli-
narsachen u. s. w. einen Ausschuß des Conciles bildet. Eine Vertretung der
Gescunmtinteressen einer Universität, der gemeinschaftlichen Angelegenheiten aller
Wissenszweige kann auch nur von der Gesammtheit der Professoren mit Er¬
folg geführt werden. Und gerade für die Straßburger Hochschule, welche erst
sich zusammenzuleben hat, wird ein solches Concil sich nützlich erweisen.
4) Was die Bildung der Facultäten angeht, so möchten wir eine Ab¬
weichung von dem bestehenden Rechte der preußischen Universitäten empfehlen.
Die Reform, die wir wünschen, ist auch oft schon besprochen und discutirt,
in Preußen aber noch nicht in's Leben getreten. Ueber die theologische
(oder die theologischen — denn wir vertrauen, daß Straßburg mit zwei
theologischen Facultäten sofort ausgestattet werden soll), die juristische,
die medicinische Facultät ist nichts zu sagen: die philosophische ist der
Gegenstand des Streites — seit langer Zeit. Ja, darauf verzichten wir hier,
mit Argumenten diejenigen zu überzeugen, die schon in anderer Ansicht sich
festgesetzt haben; wir sehen von den theoretischen Fragen ab; und da wir
selbst einer philosophischen Facultät anzugehören die Ehre haben, wollen wir
uns lieber auf die praktischen Folgen der heutigen Zusammensetzung dieser
Facultäten berufen. „Weg mit diesem Zopf!" — das ist unsere Losung.
Eine Facultät' soll in sich zusammenhängende Wissenschaften darstellen. Wir
wissen sehr wohl, wie es gekommen ist, daß die heutigen philosophischen Fa¬
cultäten gerade in dieser Gestaltung fertig geworden sind. Nach der Regel,
„was man nicht decimiren kann, das sieht man für ein neutrum an", wird
eine Wissenschaft, die sonst nicht untergebracht werden kann, in die philoso¬
phische Facultät gesteckt oder doch darin gehalten. Die Praxis des Lebens in
den philosophischen Facultäten schwebt zwischen Scylla und Charybdis: entweder
machen die Vertreter der verschiedenartigsten Wissenschaften in jeder Einzel¬
frage den Anspruch, ein eigenes Urtheil zu haben, gleichviel wie weit von
ihrem Fache die Frage abliegt, und dann wird das Resultat meistens aus
persönlichen Rücksichten gebildet, oder aber der vielleicht einzige Vertreter einer
Wissenschaft herrscht in seinem Gebiete souverän und die Facultät ist nur das
Sprachrohr dieses Einzelnen. Gerade dies letztere pflegt bei Facultäten, die
wenig Veränderungen in ihrem Bestände erleiden, allmälig usus zu werden.
Uns ergibt sich, daß rationell und empfehlenswert!) nur diejenige Verbindung
von Wissenschaften ist, bei welcher alle einzelnen Disciplinen in einem solchen
Ganzen irgend welche Verwandtschaft oder Beziehung zu einander haben. Die
einzelnen Glieder einer Facultät müssen für die Fragen, in denen sie oft
wichtige Entscheidungen zu treffen haben, irgend ein Verständniß besitzen
und dürfen nicht täglich in die Lage gebracht werden, in Dingen zu urtheilen,
von denen sie nichts oder so gut wie nichts verstehen. Gegen diese an dem
wissenschaftlichen Gewissen einzelner Universitätslehrer fortwährend ausgeübte
Nothzucht kann die Tradition der Universitäten kaum ein Gewicht ausüben.
Tief würden wir beklagen, wenn eine philosophische Facultät in der Zu¬
sammensetzung der preußischen Universitäten in Straßburg neu geschaffen wer¬
den sollte. Was wir positiv empfehlen würden, ist dies: die sogenannten
cameral istischen Fächer reihe man in die juristische Facultät ein. Die
cameralistischen Studenten sind doch grösztentheils, fast ausschließlich Juristen:
den Lehrern der Staatswissenschaften wird es nichts schaden, wenn sie ge¬
nöthigt sind, die Beziehungen zur Jurisprudenz zu pflegen und ebenso wenig
den Juristen das Einströmen staatswissenschaftlicher Dinge in ihre mit be¬
sonderem Behagen festgehaltene civilrechtliche Anschauungsweise Schaden brin¬
gen. Man bilde sodann eine naturwissenschaftliche und eine philoso¬
phische Facultät im engeren Sinne, in welcher die verschiedenen Zweige der
Sprachwissenschaften und der Philologie, Geschichte und Philosophie zu ver¬
bleiben haben. Erfahrungen liegen für eine solche Scheidung heute schon vor
von Tübingen, Dorpat und in eingeschränkterem Sinne auch von Zürich.
Die Bildung besonderer staatswissenschaftlicher Facultäten erscheint uns über¬
flüssig. Wir hoffen, daß es nicht allzu lange dauern wird, bis auf sämmt¬
lichen deutschen Hochschulen nach der angedeuteten Richtung die philosophische
Facultät aus einander gesprengt ist. Wir reden nicht einer gewaltsamen Maßregel
das Wort, wir wünschen auch diese Gestaltung unseren Universitäten selbst
zu überlassen, — nur das möchten wir erbitten, daß offenbar unzweckmäßige
Einrichtungen in Straßburg nicht erst neu eingeführt werden.
S) Auf ihrem Lehrerkörper beruht die ganze Universität. Gedeihen oder
Stillstand oder Verfall hängt davon ab, daß fortwährend und ohne Unter¬
brechung ungeschwächt die Tüchtigkeit des Lehrerpersonales aufrecht erhalten
werde. Die Persönlichkeiten der Professoren entscheiden über die Universität.
Und gerade die Frage, auf welchem Wege verschafft man einer Universität
die tüchtigsten Lehrer, durch welche Mittel kann eine Garantie für gute Be¬
rufungen gegeben werden, diese Frage ist Mittelpunkt aller Erwägungen, die
über die Zukunft unserer Hochschulen angestellt werden können. Schon dar¬
über hat man recht oft und recht theoretisch gestritten, welche denn eigentlich
die besten Universitätslehrer seien. Unsere Meinung ist die: der größere Ge-'
lehrte, wenn nicht eben Abwesenheit jeglichen Lehrtalentes constatirt ist, wird
auch der geeignetere Lehrer für eine Universität sein: ein völliger Mangel an
der Qualifikation zum Lehrer ist bei selbstständigen Forschern äußerst selten;
man müßte denn das Lehren, das Einführen in die Arbeit des Forschens
gleich setzen wollen mit hervorragender Redebegabung. Das ist aber durchaus
nicht dasselbe. Und die letztere sehr schätzbare Eigenschaft, die in jedem Fache
den Professor ziert und ihm besondere Vorzüge verleiht, wird absolut ge¬
fordert werden müssen doch bei verhältnißmäßig wenigen Professuren. Die
üblichen Borgänge bei Berufungen werden der Mehrzahl unserer Lehrer im
Allgemeinen, soweit nöthig, bekannt sein.. Die Facultäten pflegen dem Mi¬
nister eine oder mehrere Persönlichkeiten für eine vacante Stelle mit mehr
oder weniger ausführlicher Motivirung vorzuschlagen. Diese Vorschläge haben
nur die Bedeutung eines Gutachtens. Der Minister ernennt, wen er will;
er kann, wenn es ihm gutdünkt, ohne Angabe der Motive irgend wen er¬
nennen. Wir setzen aber dieser Schilderung hinzu, daß in der Regel die
Vorschläge der Facultäten beachtet oder daß doch die Motive der Ablehnung
eines Vorschlages angedeutet werden: oft auch fragt der Minister an, ob
eine bestimmte Persönlichkeit der Facultät passe. Fälle anderer Art kommen
allerdings heute noch vor: meistens aber liegt dann in dem Falle selbst
irgend ein Moment, das diese scheinbare Nichtachtung der Facultät rechtfer¬
tigen könnte. Wir wollen freilich nicht verschweigen, daß bei theologischen
Vacanzen unter dem Ministerium Muster die Praxis bisweilen auch noch
einen ganz anders gearteten Charakter gezeigt hat: nicht leicht wird irgend
Jemand diese tendenziösen Berufungen billigen wollen. So ist, im Ganzen
angesehen, heute der Stand der Berufungsfrage. Bietet er die wünschens-
werthen Garantien? Wir sagen unumwunden: Nein. Oft hört man von
Professoren felbst das Verlangen aussprechen, daß das ministerielle Ernen¬
nungsrecht in wesentlichen Punkten beschränkt werden möge; den Facultäten
mit Zustimmung des Senates (oder des Generalconcils) denkt man die Neu¬
berufungen ganz aufzutragen. Wir würden ein solches Cooptationsrecht für
den allerschlechtestm Weg halten, gegen dessen Wiedereinführung wir mit
äußersten Anstrengungen uns schützen würden. Die Erfahrung, die man auf
der einzigen Universität, die dies Privileg heute noch hat und heute noch
ausübt, alljährlich machen kann, muß jeden Schwärmer für volle Selbst-
ständigkeit der Universitäten gründlichst curiren. Nein, wir halten nicht
für zweckmäßig und auch nicht für heilsam, die Berechtigung des Ministers
in diesen Dingen zu beschränken, ganz abgesehen davon, daß jede Aenderung
in diesem Punkte auf praktische Schwierigkeiten stoßen würde. Wir vindi-
ciren den Facultäten das Recht des Vorschlages, des Gutachtens — eine
Mitwirkung des Generalconciles oder Senates, an die vielfach gedacht wird,
bietet nach unserer Anschauung nicht die geringsten Vortheile, befördert dage¬
gen Intriguen und Cotenenwesen — die endgiltige Entscheidung kann nur
die Staatsregierung, d. h. der Unterrichtsminister haben.
Man gefällt sich oft in der Schilderung und Ausmalung aller der
„Menschlichkeiten" die bei einer solchen Machtfülle des Ministers Passiren
können und oft passiren. Wir stellen sie nicht in Abrede. Jeder Professor
wird im Stande sein, mehr oder weniger drastische Anekdoten darüber zu er¬
zählen: auch wir könnten damit aufwarten. Und dennoch befürchten wir
nicht, bei einigermaßen unbefangenen Beobachtern der preußischen Praxis ernst¬
lichen Widerspruch zu erfahren, wenn wir sagen: in der Regel, im Großen
und Ganzen hat auch das so angefeindete Ministerium Muster bei akademi¬
schen Anstellungen sachlich und gut gewählt, immer die theologischen Facul¬
täten ausgenommen. Und wenn nicht alle Wünsche der Facultäten erfüllt
werden, kommt nicht vor, daß auch die Facultäten „Menschlichkeiten" wal¬
ten lassen? Nun, wie unlieb es manchem unserer Collegen klingen mag, auch
die Facultäten erscheinen uns nicht unfehlbar, und manche Angelegenheit sieht
von dem Mittelpunkte des Unterrichtswesens anders aus, als in der Local-
beleuchtung einer Universitätsstadt. Persönliche Rücksichten entscheiden mehr
wie einmal auch bei Faeultätsvorschlägen: bisweilen werden Loealgrößen dem
Minister genannt, deren Namen die speciellsten Fachgenossen außerhalb des
Dunstkreises der vorschlagenden Facultät niemals gehört haben. Wir schlie¬
ßen : an dem heute in Preußen bestehenden Rechte wird nichts zu ändern sein;
ein neues Verfahren ist nicht zu finden. Aber allerdings einen Zusatz möch¬
ten wir empfehlen, und wir glauben, daß grade er die möglichen Uebelstände
der heutigen Praxis mildert oder ganz beseitigt. Man gestatte den zum Ur¬
theile competenten Gelehrtenkreisen die Möglichkeit einer Kritik jeder akademi¬
schen Anstellung, freilich einer Kritik nach beiden Seiten hin, sowohl gegen¬
über der Facultätsmeinung als der ministeriellen Entscheidung. Der Reichs¬
anzeiger oder das Centralolatt der Unterrichtsverwaltung bringe nach abge¬
schlossener Thatsache einen amtlichen Bericht über jede akademische Berufung,
d. h. man veröffentliche zunächst die Facultätsvorschläge mit kurz ercerpirter
Motivirung derselben, sodann ganz kurz die Zustimmung oder Ablehnung
des Ministers und im letzteren Falle einer selbständigen Ernennung des Mi¬
nisters ebenfalls in Kürze die Motive zu derselben, resp, die Namen des¬
jenigen oder derjenigen, welche zu dieser Ernennung ihren Rath ertheilt ha-
ben. Hierdurch wird vor allem erreicht, daß vor dem sämmtlichen Ge-
lehrtenpublicum Deutschlands feder Theil die moralische Verantwortlichkeit
für seine Thaten auf sich zu nehmen gezwungen ist. Jede Famltät und
jeder Minister und jeder Rathgeber, dessen Wort den Minister leitet, alle Be¬
theiligten werden behutsamer sein, wenn sie wissen, die ganze wissenschaftliche
Welt wird über ihre Thaten zu Gericht sitzen, Der gefährlichste Feind un¬
serer Universitäten, der Personalismus, pflegt das Licht öffentlicher Kritik zu
scheuen. Lassen wir in unser akademisches Leben dies Licht voll hineinströmen,
und wir haben ihn gebannt, oder doch in die engsten Schranken zurückgewie¬
sen! Und wie in unserem Staatsleben nicht sowohl formelle Schranken und
Gesetze über juristische Verantwortlichkeit die Garantie einer guten Verwal¬
tung bilden, sondern vielmehr die öffentliche Meinung, die parlamentarische
Kritik, so auch hoffen wir von der stetig geübten Controle der wissenschaft¬
lichen, ja der gebildeten Kreise überhaupt, einen wohlthätigen und wirksamen
Einfluß auf die Zukunft unserer Hochschulen. Möchte man etwaige büreau¬
kratische Bedenken an entscheidender Stelle schnell und kräftig überwinden
und sofort mit diesen Mittheilungen den Anfang machen. Das sind die bei¬
den Reformwünsche, die wir heute hier aussprechen wollten, — die rationel¬
lere Vertheilung der Wissenszweige unter die Facultäten, die öffentliche Con¬
trole über die akademischen Ernennungen. Was zunächst in diesem Augen¬
blicke Straßburg angeht, so liegt es auf der Hand, daß hier Facultäten gar
nicht zu fragen sind, — hier kann also nur von Ernennungen die Rede sein.
Wir sind von den besten Absichten des Neichskanzleramtes und des intendir-
ten Curatoriums vollständig überzeugt. Hoffen wir, daß nachdrücklicher und
durchschlagender Erfolg diese ersten Ernennungen kröne. Für die Hauptfächer
erste Größen, Namen erprobter Tüchtigkeit und anerkannten Ranges, und
wo es nicht möglich ist, diese zur Uebersiedelung nach Straßburg zu bewegen,
wenigstens solche akademischen Lehrer, bei denen Grund zur Vermuthung ge¬
geben ist, daß sie dereinst erste Größen ihres Faches werden könnten! Die
Zeitungen berichteten kürzlich, viele Bewerbungen seien schon erfolgt von
namhaften Gelehrten. Wir wissen nicht ob dem so ist. Das aber glauben
wir erwarten zu dürfen, daß der westliche Vorposten unserer deutschen Wis¬
senschaft nur den allertüchtigsten Streitern anvertraut werden soll! —
Die Naturfrische war zunächst das Haupterforderniß; und wie war sie
ungetrübt und unermattet in diesem Menschen.') Wie besaß er mitten in einem
gelehrten und ceremoniellen Jahrhundert jene ganz einzige Gabe, sich harm¬
los und naiv, unmittelbar und rein zu geben, wie es der Moment gerade
brachte. Frei und ohne alles Bedenken spricht und singt er das Empfundene
und Angeschaute so hin, ohne daß es etwas Besonderes sein und vorstellen
soll; es löst sich gleichsam mit Naturnothwendigkeit von dem bewegten Innern
los. Die deutsche Quisquiliengelehrtheit belastet diesen naiven Geist nicht;
fröhlich und heiter ist er, ein Kind des Glückes, mehr als unter seinen
Büchern in Natur und Leben, in harmlosen, freiem Verkehr mit Welt und
Menschen herangewachsen. Und die großen Augen haben die Dinge da draußen
mit reinem Blick betrachtet, fest und sicher gefaßt und der Seele zu treuem
Besitz eingesogen. Fast nirgends hat sich der Dichter bei bloßem Wortkram
zu begnügen gebraucht, womit man uns Alle oft genug in der Jugend ab¬
speist; fast überall ward ihm zu Theil, sofort der Sache, der sinnlichen An¬
schauung sich zu bemächtigen.
Und nun dazu dieses Göttergeschenk, allem Wirklichen eine poetische Ge¬
stalt zu geben; die Fähigkeit, über Alles den Duft seines tiefen, herzigen
Gemüths zu hauchen, in immer neuen Wendungen und Formen, wie sie sich
jedesmal als die einfachsten, sprechendsten und erschöpfendsten aufdrängten,
das reiche, innere Vorstellungs-, Gefühls- und Gedankenleben sichtbar, hör¬
bar zu machen, zum Mitgenuß für Andere aus sich heraus zu stellen.
Was konnte Herder diesem höchst begnadigten Naturkinde leisten?
Hier fand er Alles, was sein kritischer Takt ihm als das Einzige, was
noth thäte, im Geist gezeigt hatte. Er brauchte nur ganz zu befreien, die
letzten Schranken niederzureißen, jede störende Rücksicht, jedes fremdartige Ele¬
ment rein auszuscheiden, die bequemsten Formen der Aeußerung dem treiben¬
den und quellenden Genius zuzuweisen, ihm würdige Anregungen zu geben, so
war Deutschlands größter Dichter geboren- - Alles das hat er ihm wirklich
geleistet.
In Leipzig ging Goethe noch am Gängelbande der französirenden Alexan¬
drinerpoesie. Auch er spielte mit poetischen Masken, mit Dämon, Thyrfis
und Dorilis. Herder verlangte völlige Wahrheit. Goethe hatte bis jetzt be¬
wußtlos rieben einander gedichtet Natürliches und Gemachtes: hier hatte er
lebendig Empfundenes hingesungen, daneben vielfach noch prosaische Gedanken
in poetisch-rhetorische Formen kunstmäßig eingekleidet. Herder belehrte ihn,
daß er in denjenigen Gedichten, bei welchen ihm übrigens selbst auch am
wohlsten gewesen, gerade auf der richtigen Fährte gegangen sei: wo er nichts
erklügelt und zurecht gemacht habe, sondern wo Alles wie von selbst gewor¬
den sei, wo die gehobene Stimmung Form und Ablauf der Rede gleichsam
im natürlichen Wachsthum von innen hinaus gestaltet habe.
Und jede metrische und jede grammatische Fessel verschwand. Nicht
Meißener Dialekt! Idiotismen! Nicht Alexandriner! nicht die Opitzische Ac-
centregel! sondern die freien Rhythmen der Klopstock'schen Hymnen, oder die
einfachen sangesmäßigen Formen des Volksliedes und der Romanzen oder der
Hans Sächsischen Knittelverse.
Das kam dem Dichter Alles so wundervoll bequem. Und Bequemlichkeit
sagte seiner ruhig gelassenen Natur außerordentlich zu. Zu Göttingen be¬
schäftigten sich die von Herder angeregten B ürger und Miller mit den deut¬
schen Minneliedern; Goethe, dem Straßburger Kreise überhaupt, „lagen sie
zu weit ab"; die Sprache hätte man erst studiren müssen, und „das war
nicht unsere Sache; wir wollten leben und nicht lernen." „Hans Sachs, der
meisterliche Dichter, lag uns am nächsten; wir benutzten den leichten Rhyth¬
mus, den sich willig anbietenden Reim. Es schien diese Art so bequem zur
Poesie des Tages und deren bedurften wir jede Stunde."
So hat denn Goethe den alten Meistersänger in seinen eigenen Versen
auf's herrlichste besungen: Hans Sachsens poetische Sendung.
Auch dieses Gedicht nämlich fällt der Conception nach in unsern Zeit¬
abschnitt, wenn es auch erst in den ersten Monaten des Weimarer Lebens
vollendet ward. Wie stellt der gleichgestimmte Dichter den lange verkannten
und mißachteten Meister anschaulich und warm gezeichnet vor uns hin! Wie
bringt er seinen treuherzig-einfachen Ton zu Ehren! Ist es nicht, als ob wir
den Alten selbst hörten:
Sollst halten über Ehr' und Recht,
In allem Ding seyn schlicht und schlecht,
Frummkeit und Tugendlieder preisen,
Das Bd'ß mit seinem Namen heißen.
Nichts verlindert und nichts verwitzelt ;
Nichts verzierlicht und nichts verkritzelt,
Sondern die Welt soll vor dir stehn,
Wie Albrecht Dürer sie hat gesehn. —
Wer hatte dem Dichter gelehrt, fremdem Ton zu lauschen, fremden Ton
zu treffen? — Dies dankt der geniale Jüngling seinem Freunde Herder. Und
doch! ganz der alte Nürnberger Ton des sechszehnten Jahrhunderts ist es
nicht mehr; hinter den Knittelversen und alterthümlichen Worten liegt ein
Geist verborgen, den kein Hans Sachs und kein Herder geben konnte! Der
Dichter des 18. Jahrhunderts, mit seiner tieferen, reicheren und edler gebil¬
deten Seele hebt, sobald er diese verklungenen Formen wieder zum Leben
weckt, sie weit über ihre ursprüngliche Schlichtheit und Hölzernheit hinaus.
^6 ist ähnlich, was wir hier hören, ähnlich naiv, volksthümlich und wahr,
und doch geistiger, inniger, von höherer Geburt. Könnte man's bei Hans
Sachs wohl lesen, was da steht von dem holden Mägdlein am Bach, wie
sie sitzt
Mit abgesenktem Haupt und Aug' —
Hat Nosen in ihren Schooß gepflückt —
Und bindet ein Kränzlein sehr geschickt
Mit hellen Knospen und Blättern drein —
Für wen mag wohl das Kränzlein sein?
So sitzt sie auf sich selbst geneigt
In Hoffnungsfülle ihr Busen steigt,
Ihr Wesen ist so ahndevoll.
Weiß nicht, was sie sich wünschen soll,
Und unter vieler Grillen Lauf
Steigt wohl einmal ein Seufzer auf.
Konnte dieses sinnige, träumerische, liebliche Wesen ein Kind des Hans
Sächsischen Geistes sein? Ist's nicht Gretchen? Ist's nicht Clärchen?
Unter solchen Händen durfte auch der von den Kunstpoeten so verachtete
Vers mit seinen Hebungen der tiefsinnigen Fausttragödie zum Kleide dienen.
Und so steht nun der Dichter überall zu den Formen, die er sich nach
Herder'scher Unterweisung aneignet. Bürger zieht das Vorgefundene eher
herab als hinauf; bei Goethe kommt das, was der aufgenommenen Form
und Weise gewissermaßen als Idee vorschwebt, ohne völlig realisirt zu sein,
zu Abschluß und Vollendung. Mit leiser, zarter Aenderung, sich selber un¬
bewußt verklärt und vertieft er das Alte; es scheint noch dasselbe; aber
„ausgestoßen hat es jeden Zeugen menschlicher Bedürftigkeit".
Auch die andern Weisen, die durch Herder bekannt wurden, und die
mehr für lyrische Sachen sich eigneten, waren dem leichtlebigen, des Genius
vollen, jugendlichen Dichter so recht „bequem".
Bequem aber mußte allerdings die Form durchaus sein; denn das dich¬
terische Leben quoll in dieser reichen Seele so mächtig, daß es vielfach vom
Singen gar nicht bis zum Aufschreiben kam — der Dichter sang und summte
eine Weise vor sich hin; er staunte, wenn's zu Ende war, und konnte nun
das Verklungen? nicht wieder zusammenfinden, — oder daß, wenn geschrieben
wurde, das Papier vor der fluthenden Macht des dichterischen Stromes
nicht erst zurecht gerückt werden konnte, daß man die Verse in der Diagonale
quer herunterschrieb, daß man die kritzelnde und schnarrende Feder wegwarf,
die hie und da den Dichter in seinem nachtwandlerischen Thun störte, sondern
nur den Bleistift brauchen konnte, der die Züge so willig hergab wie das
Gemüth die Verse.
Durch Feld und Wald zu streifen,
Mein Liedchen wegznpfeifen,
So ging's von Ort zu Ort.
Konnte für diesen jugendlich trunkenen Schöpfungsdrang ein angenehmerer,
fördernderer Lehrer gedacht werden als der radical emancipirende Herder,
der nichts weiter forderte als empfindungsvolle Improvisationen und für deren
ungehindertste Entfaltung die allerbequemsten Weisen bot. Würde Goethe
aus, sich selbst den Muth gehabt haben, so keck Bücher und Regeln zu ver¬
achten und nur den Genius walten zu lassen, würde er selbst die Formen so
sicher gefunden haben, in die er nun seine Gedanken so frei und leicht ein¬
strömen ließ?
Klopstocks Hymnen nahmen nun freilich vielfach ein wildes, heidnisches
Feuer an. Man fühlte sich keiner irdischen Kraft und Hülfe benöthigt, etwa
dem Sophotleischen Ajas gleich:
Mit Göttcrhülfe mag der Nichtige
Sich Sieg erringen; ich vertraue fest!
Erstreiten werd' ich Ruhm auch ohne sie!
Mehr! wie der Prometheus der griechischen Sage.
„Das productive Talent verließ mich keinen Augenblick. — Wie ich nun
über diese Naturgabe nachdachte und fand, daß sie mir ganz eigen angehörte
und durch nichts Fremdes weder begünstigt noch gehindert werden könne, so
mochte ich gern hierauf mein ganzes Dasein gründen." Und dann ertönte in
den heiligen Rhythmen Klopstock's von den stolzen und trotzigen Lippen des
„Prometheus" ein wildes Lied:
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Thränen gehenket
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herren und Diener?
Wie hatte sich der Ton Klopstock'scher Demuth und anbetender Verzückung
geändert!
Shakespeares Dichterkraft hatte Goethe schon in Straßburg in einer
sprudelnden Rede mit Prometheus „Menschenschöpfung" verglichen: „er bildete
ihm Zug für Zug seine Menschen nach, nur in kolossaler Größe; er belebte
sie mit dem Hauche seines Geistes; er redet aus allen und man erkennt ihre
Verwandtschaft." Jetzt hatte der Redner selbst schon eine ganze Welt von
Niesen seiner Art und seines Gepräges aus sich geboren, Andere beschloß die
Seele schon; sie harrten des Lichtes: Goetz und Weisungen, Marie und Adel¬
heid, Georg und Franz, Clavigo und Carlos, Faust und Gretchen, Egmont
und Klärchen. Er war selbst der Menschenbildner Prometheus:
Hier sitz' ich, forme Menschen
Und meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich
Und Dein nicht zu achten,
Wie ich! —
Und auch andere Wellen der aufgeregten Jünglingsseele ergossen sich in
dieses dithyrambische Bett.
In der ersten Zeit nach dem Weggang von Straßburg quälte die Er¬
innerung an die verlassene Friederike. Da irrte er wirr und wüst, ein un-
stäter „Wanderer", durch Wald und Flur. Selbst Wind und Wetter, Hagel
und Regenschauer hielten ihn nicht daheim. Aber auch hier hebt ihn das
stolze Vertrauen auf seinen Genius „über'n Schlammpfad mit den Feuer¬
flügeln", da hallen wilde Klänge hinaus in die sturmdurchsauste Luft; im
wirbelnden „Halbunsinn" bacchantischer Rede hält er unheimliche Zwiesprache
mit sich und den Göttern, die er kaum über sich fühlt:
Wen Du nicht verlässest, Genius,
Nicht der Regen, nicht der Sturm
Hauche ihm Schauer über's Herz..
Wen dn nicht verlässest, Genius,
Wird dem Regengewölk,
Wird dein Schloßeusturm
Entgegeusingm
Wie die Lerche,
Du da droben!
Wandeln wird er
Wie mit Vlumcnfüßen
Ueber Denkalivus Flulhschlamm,
Python tödtend, leicht, groß,
Pythius Apollo. —
Anakreon, Theokrit, Pindar sind es jetzt, an denen Muth und Muth
seines stolzen Genius sich entzündet. Aber er feiert sie nicht in griechischen
Versen, sondern in den freien Silbenmaßen des Klopstock'schen Hymnus, in
der musikalischen, idiotischer, kecke Inversionen nicht scheuenden Sprache, die
Herder verlangt und geübt hatte.
Sein „Feierkleid" ist aus dem Zeuge geschnitten, welches den andächtigen
Gefühlen der „Frühlingsfeier" das Gewand gab. Er kennt dieses Gedicht
genau; es summt ihm in jeder ähnlich gestimmten Stunde in den Ohren.
Wer gedenkt nicht der schönen Stelle in Werther's Leiden. Werther berichtet
unterm 16. Juni: — „Das Gewitter war vorüber und ich folgte Lotten in
den Saal. Wir traten an's Fenster; es donnerte abseitwärts und der herr¬
lichste Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg
in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand, auf ihren Elln-
bogen gestützt; ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf
mich; ich sah ihr Auge thränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige, und
sagte: Klopstock! Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in
Gedanken lag und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in
dieser Losung über mich ausgoß."
War's auf unmittelbare Anregung dieser Ode, daß der sprühende Genius,
den nun jede Gelegenheit „bereit" fand, sofort die ähnlichen Klänge ertönen
ließ in dem Gedichte „Ganymed?" Auch hier bei aller Ähnlichkeit des Rhyth¬
mus, der Laute und Vorstellungen, wie anders Goethe als Klopstock! Dort
David, hier Faust am Ostertage; dort alttestamentliche Unterwerfung unter
den Ewigen, hier pantheistische Versenkung in das Allleben der unend¬
lichen Natur.
Wie im Morgenglanze
Du rings mich anglühst,
Frühling, Geliebter!
Mit tausendfacher Lieb es Wonne
Sich an mein Herz drangt
Deiner ewigen Wärme
Heilig Gefühl,
Unendliche Schöne!
Und noch Eins ist zu bemerken, ähnlich wie vorhin bei den Studien
nach Hans Sachs. Ist es nicht, als hörten wir hier zwar Klopstock: aber
von aller ungesunden Affectation und forcirten Erhabenheit erlöst und geheilt,
frei von allen Erdenmalen, ganz Gesundheit, Natur und Maß, und doch
Hoheit, Gemüthstiefe, und auch hier Religion?
'
Hinauf! Hinauf strebts —
Aufwärts an deinen Busen,
Allliebender Bater.
Ist diese Verklärung, Weiterbildung der entlehnten Form auch Herder-
sches Verdienst? Der behutsame Analyse wird sie als Ergebniß und Ausfluß
der originalen Anlage des Dichters selbst bezeichnen müssen. Aber von dem
Inhalt kommt Einiges wohl wieder auf Rechnung Herder'scher Anregungen;
zunächst was verwandt ist mit dem, was Klopstock in der Frühlingsfeier äußert,
und dann auch wohl die eigenthümliche spinozistische Modification der Klop-
stock'schen Religiosität,
Zunächst muß man sich gegenwärtig halten, daß man es mit Gefühlen
zu thun hat, die in dieser Zeit Grundstimmung der Dichterseele zu sein schei¬
nen; Werther und Faust sehnen sich ähnlich wie der Dithyrambiker, auf Flügeln
des Adlers oder Kranichs den Schranken des Irdischen entrückt zu werden.
Wenn Werther in dem Wimmeln der Frühlingswürmchen die Ge¬
genwart des Allmächtigen fühlt, fühlt das Wehen des Alllieben¬
den, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält, so drängt er
sich wie vergöttert heran an das innere, glühende, heilige Leben der Na¬
tur und sehnt sich mit den Fittigen des Kranichs zu dem Ufer des unge¬
messenen Meeres, um aus dem schäumenden Becher des Unendlichen jene
schwellende Lebenswonne zu trinken und nur einen Augenblick in der uneinge¬
schränkten Kraft seines Busens einen Tropfen der Seligkeit des Wesens zu
fühlen, das Alles in sich und durch sich hervorbringt.
Und nach Faust's Meinung ist jedem eingeboren,
Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt,
Wenn über schroffen Fichtenhöhn
Der Adler ausgebreitet schwebt
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimath strebt.
Also dreimal derselbe eigenthümliche Drang, sich in's All zu versenken;
ist es eine originale Regung der Seele? Liest man die Frühlingsfeier vorher,
so spürt man im Ganymed und in der Wertherstelle schon an der Wahl der
Worte deutlichste Nachwirkung; und kennt man Giordano Bruno und Spi¬
noza, so findet man kaum noch etwas, was der Dichter sich selbst verdankt,
als jene schöne Vermischung pantheistischer und christlicher Andacht zu so herzig
dichterischen einschmeichelnden Sehnsuchtslauten.
Wer führte aber Goethe zu jenem Gedichte Klopstock's, wer zu Spinoza,
als Herder? In Beziehung auf Spinoza setzen Manche umgekehrt eine Ein¬
wirkung Goethe's auf Herder voraus, und nehmen dieselbe erst in den 80er
Jahren an, z. B. Hettner in der Geschichte der deutschen Literatur im I8ten
Jahrhundert (III, 2. S. 73) und Tochter in seinem Buche über Schiller's
Verhältniß zur Wissenschaft (S. 92). Daß Goethe und Herder zur Zeit der
Italienischen Reise in den Hauptpunkten völlig Eins sind, sagt Goethe selbst,
so daß er dem Herder'schen Gespräche über Gott völlig beistimmen kann; daß
beide vorher, im Jahre 1784, auf Veranlassung des Jacobi-Mendelsohn-
schen Streits über Lessing's Spinozismus, den Spinoza noch einmal durch-
studirt haben, ist auch zweifellos.
Aber Goethe studirt auch da den Spinoza erst auf Herder's Anregung,
wie aus einem Briefe an Fr. H^ Jacobi hervorgeht; ja es scheint, als ob er
ihn damals überhaupt zum ersten Mal wirklich läse. Herder hatte sich aber
schon zu Ende des Nigaer Aufenthalts Auszüge aus Spinoza gemacht, die
dasselbe Verständniß für den Philosophen zeigen, wie 18 Jahre später. Wenn
also von beiden zu Straßburg in dem inhaltreichen Winter von l770—71
auch über Spinoza gegrübelt ward, wie es sowohl nach Goethe'sehen wie Her-
der'sehen Bericht feststeht, so kann kaum ein Zweifel sein, von wem der Im¬
puls ausging.
Was Goethe von Klopstock unterschied, war vorzüglich die Freiheit von
allem ungesunden Ueberschwang, von convulsivischer Exaltation; er hatte schon
in seinen Jugendjahren einen reinen, natürlichen Zug zu edlem Maß und
ruhiger Einfalt. Diese eigenthümliche Anlage seines Wesens ward weiter
ausgebildet in dem Studium der Griechen; auch zu den Griechen ward er
durch Herder geleitet. Was er an ihnen hatte, fühlte Goethe schon in Stra߬
burg; um den Freunden, welchen er die (auch von Herder inspirirte) Shake¬
speare-Rede hielt, die Eigenthümlichkeit dieses griechischen Wesens, das er
fühlte, aber noch nicht erklären konnte, wenigstens anzudeuten, berief er sich
„der Kürze halber" auf Homer, Sophokles und Theokrit, „die Haben's ihn
fühlen gelehrt". Und die Griechen ließen ihn nun nicht los; in Wanderers
Sturmlied treten sie uns wieder entgegen: Ancckreon, Theokrit, Pindar. Wer¬
ther studirt die Griechen, wie sein reales Gegenbild: man weiß es aus Kest-
ner's Bericht. Merkte er bald, worin sich griechische Auffassungsweise von
dem prometheisch-faustischen Drang seiner Seele unterschied? Die Griechen
begleiten ihn nach Weimar, immer tiefer fühlte er ihres Geistes Hauch; bald
stand Herder wieder an seiner Seite; er konnte ihn begriffsmäßig lehren, was
griechische Art sei.
Er hat es in der schönen Abhandlung „Nemesis" (Zerstreute Blätter 178K)
so entwickelt: „Den Griechen hat die Muse jenen reinen Anblick aller Ge¬
stalten in Kunst und Dichtkunst, jenes unübertriebene und nichts übertreibende
Gefühl für das Wahre und Schöne aller Art gegeben, das Allen einen
so klaren Umriß, eine so bedeutungsvolle Grazie anschuf, als wir bei andern
Völkern vergebens suchen dürsten." Und später heißt's: „Es scheint, daß wir
diesen sanften Umriß des menschlichen Daseins ziemlich aus den Augen ver¬
loren haben, indem wir glauben, daß die Vorsehung immer nur dazu mit
uns beschäftigt sein müsse, um uns aus unsern Grenzen zu rücken, unsere
Schranken unendlich zu erweitern und uns die Ewigkeit in der Zeit, d. i.
den Ocean in der Nußschale zu genießen zu geben."
Goethe nahm diesen Geist des Maßes griechischer Sophrosyne immer
mehr in sich auf; er stärkte in seiner Seele die von der Natur eingeborene
verwandte Kraft, bis endlich alle Wüstheit früherer Jahre abgethan war und
sicher und fest dem Gemüth als unverbrüchliche Lebensmarime sich eingeprägt
hatte, was er selbst in den Versen ausspricht:
Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung!
Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker,
Keinen der thätige Mann, der dichtende Künstler, der Herrscher.
Wenn er nun der alten Klopstock'schen Hymnenform sich noch bediente,
wie mußte Ton und Form sich von Klopstock'sehen Schwulst, wie aber der In¬
halt und Gruudcharcckter der Gedanken von dem überwallenden Promotheus-
stolz seiner eigenen Jugend entfernt haben! Wenn jetzt ein Gewitter ihn zur
Andacht ladet, wie einst Klopstock, wenn er jetzt in Klopstock'schen Rhythmen
seinem Gefühl Ausdruck gibt, wie wird es aussehen?
Grenzen der Menschheit (Tiesurter Journal 1782).
Wenn der uralte,
Heilige Vater
Mit gelassener Hand
Aus rollenden Wolken
segnende Blitze
Ueber die Erde sa t,
Küss ich den letzten
Saum seines Kleides,
Kindliche Schauer
Treu in der Brust.
Wie einfach und doch wie majestätisch! Der von Herder empfohlene
Klopstock'sche Ton ist noch beibehalten, aber zu reiner Idealität verklärt.
Was in ihm lag von Schönheit und Erhabenheit der Potenz nach, ist Wirk¬
lichkeit, Energie, Vollendung geworden. Alles so hingegossen, so ohne Zwang,
Riß und Sprung, so ohne forcirtes und aufgeblasenes Echauffement; rein,
edel und groß, und darum schließlich doch wirkungsvoller als bei Klopstock.
Klopstock stürzte sich auch wohl in den Ocean der Weltenalle, schwebte
unter ewigen Geistern und Engeln; auch Goethe sehnte sich einst, aus dem
schäumenden Becher des Unendlichen zu trinken, in prometheischem Stolze
fühlte er sich den Göttern gleich; jetzt haben die Griechen ihn gelehrt zu
respectiren „jene strahlenfcine Linie, über welche Nemesis nicht hinausläßt":
Was unterscheidet Götter von Menschen?
Ein kleiner Ring
Bekränzt unser Leben,
Und viele Geschlechter
Reihen sich dauernd
An ihres Daseins
Unendliche Kette.
Aehnliche Klopstock'scher Hymnenpoesie verwandte Gedichte aus der Zeit
vor Goethe's Übersiedelung nach Weimar sind: Der Wanderer, An Schwa¬
ger Kronos, Adler und Taube, Herbstgefühl, Gesang der Geister über den
Wassern. In dem letzten ist der eigenthümliche Glieder-Parallelismus der
Psalmenpoesie bemerkbar, wie ihn Klopstock nachgeahmt und Herder oft charak-
terisirt hat:
Seele des Menschen,
Wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen,
Wie gleichst du dem Wind!
Und eingedenk der Herder'schen Andeutung, daß dieser Ton auch wohl
für einen deutschen Shakespeare sich eigne, verwerthete ihn Goethe auch für
das dramatische Fragment Prometheus; auch der erste Entwurf der Iphigenia
ist dieser Art, der Dichtung von dem Tantalidengeschlecht, das darum ein so
furchtbares Schicksal hatte, weil ihnen um die Stirne geschmiedet war ein
ehernes Band: „Mäßigung, Rath und Weisheit war ihnen verborgen. Zur
Wuth ward jede Begier und ihre Wuth war unendlich."
Alle diese Gedichte sind der beste Beweis dafür, daß Herder ein Recht
hatte, diese Seite der Klopstock'schen Poesie nicht anzutasten, sondern auch
der neuen Zeit, die sonst mit der Vergangenheit schroff abbrechen sollte, zu
weiterer Pflege und Ausbildung zu empfehlen. (Schluß folgt.)
Schon im Jahre 1557, als Melanchthon zur Reorganisation der Uni¬
versität Heidelberg gegangen war, verließ der dritte Theil der Studenten
Wittenberg und jetzt ruhte der Lehrer Deutschlands schon seit drei
Jahren neben Doctor Martin» in der Schloßkirche zu Wittenberg. Die
Blüte Wittenbergs ist dahin — für immer. Das Heil der Wissenschaft wird
nur noch in den weitschweifigsten Disputationen erblickt. Davon berichtet
ein Zeitgenosse: „Man disputirt vor Tische, während des Tisches, nach
Tische — man disputirt öffentlich und privatim — überall und zu jeder
Stunde. Es ist die Ansicht der Zeit: Die Disputationen können nicht allein
frisch und frech zu reden machen und die Zunge — sondern auch der Jugend
Verstand in guten Künsten schärfen — eine Disputation bringt mehr Nutzen,
denn 20 IketionW!" — Nach jeder Disputation wird dann weidlich gezecht
und — mit Ohrfeigen und allerlei anderen wenig feinen Handgreiflichkeiten
weiter disputirt: „Hör' Du Sau, Du Hund, Du Narr, oder wer Du bist,
Du grober Esel... hast Du etwas gegen meine Thesis einzuwenden?" —
Natürlich hat der Gegner in ebenso feiner Weise sehr viel einzuwenden —
und schließlich schleudern sich beide Disputanten zur größeren Bekräftigung
ihrer Einwendungen die dicksten Bücher an den Kopf — zur großen Er¬
bauung ihrer Zuhörer. — Die Professoren halten sich oft viele Monate fern
von der Universität bei irgend einem Hofe auf, für den sie allerlei Geschäfte
besorgen und Gesandschaften an andere Höfe ausrichten. Natürlich fallen in¬
zwischen ihre Lectionen aus. Auch die Magister müssen vielfach zum Fleiß
in den Vorlesungen ermahnt werden — selbst bei Androhung von Körper-
und Geldstrafe. Auch die Streitsucht unter den Universitätslehrern dieser
Zeit ist so groß, daß der Rector Sabinus an der Albertina zu Königsberg
selbst Professoren und Doctoren mit Carcer- und körperlicher Strafe
bedroht, wenn sie nicht einträchtiger mit einander leben.
So macht sich Ueppigkeit und Prunksucht neben der größten Bettelhaf-
tigkeit — pedantische Trägheit und Aufgeblasenheit neben der lächerlichsten Un¬
wissenheit breit.
Natürlich gibt es auch unter diesen Lehrern und diesen Studenten
in Wittenberg freundliche, leuchtende Ausnahmen. Solch' ein wohlthuendes
Lichtbild aus dem Wittenberger Studentenleben jener Tage bieten die jungen
pommerschen Fürstensöhne. Fromm und sittlich rein, fleißig und fröhlich
leben sie unter dem wüsten Treiben dahin — sie haben sich ihre glückliche
Unbefangenheit noch ganz bewahrt. Die fast klösterlich strenge Erziehung
ihrer Kindheit hält trefflich vor.
Doch sorgenvoll schaut Hofmeister Christian Küssow darein. Von Tag
zu Tage fühlt er sich unbehaglicher in dem Wittenberger Leben. Besonders
beunruhigt unaufhörlich seine treue Hofmeisterseele, daß in der Wirthschaft
„so viel drauf geht!" Schon um Pfingsten, wenige Tage nach Ankunft der
jungen Fürsten in Wittenberg, schreibt er an den regierenden Herzog Johann
Friedrich nach Wolgast einen viele Seiten langen wirthschaftlichen Klage¬
brief: „Für die Edelleute und Knaben haben Betten gemangelt, daß ich drei
Stand Betten habe miethen müssen; muß auf ein halb Jahr 7 Thaler
geben, würde auf ein Jahr 14 Thaler laufen. Wenn nun Euer Fürstliche
Gnaden drei Stand Betten mit allem Zubehör von den Aemtern gegen
Michaelis könnten schicken lassen, so wären E, F. G. der Unkosten enthoben.
Sonst wird so viel drauf gehn, wie vermeldet. Lichte sind hier sehr theuer,
und würde den Winter über ein Großes aufgehn, wenn sie alle sollten hier
erkauft werden; möchte nicht unrathsam sein, E. F G. ließen so viel Lichte
herschicken, daß nieine gnädigen Herrn und Diener den Winter könnten aus¬
kommen. Alles ist sehr theuer hier. Hielte dafür, wenn E. F. G. nach voll¬
zogener Ernte etliche Ochsen und Schafe anherschickten, würden meine gnädigen
Herren des Ausgebens etwas verschonet. Der Koch zeigt an, daß nur eine
Tonne Butter mit ander geschickt, welche fast auf sein soll. Nun ist die But¬
ter hier außen sehr theuer und nicht wohl zu bekommen; aus der greifs-
waldischen Rechnung findet sich, daß alle Jahr acht Tonnen Butter drauf
gegangen. Darum werden E. F. G. gnädige Vorsehung thun lassen, daß
etliche Tonnen Butter förderlich werden anhergeschickt; denn Alles hier zu
kaufen läuft sehr in's Geld. Es werden E. F. G. auch gnädige Vorsehung
thun lassen, daß gegen Michaelis allerlei trockene Waare möge ander geschickt
werden, also: trockne Lachse, Pekel, Störe, Brandt-Wildprett, Pointe, Wild-
prett, etwa 20 gute Seiten Speck, ne;in Stockfisch, Schollen und Rochen und
daß die Butter möge mit dem Ersten heraußer kommen!"
Mit solchen Speisekammer-Nöthen wechseln die Klagen des armen Hof¬
meisters über beständigen Geldmangel nicht sparsam ab. Bald klagt er in
seinen Briefen an den Kanzler von Eickstedt. an den einflußreichen Groß-
Hofmeister Ulrich von Schwerin oder an S. F. G. Herzog Johann Friedrich
jammervoll über das viele Trinkgeld und sonstige Kosten auf der Herreise,
bald, daß viel draus gehe, „denn I. F. G. von fremden Herrn, Grafen und
vom Adel viel Ueberlaufens haben. Nun es aber angefangen und I. F. G.
hier sind, muß es ausgeführt werden, sonst würde es I. F. G. und dem
ganzen Lande schimpflich sein." Oder: „das Gesinde, Koch und Kellerknechte
halten dringend um ihre gewöhnliche Besoldung, Winterkleidung und andere
Gebürnisse an!" — und es ist kein Geld in der Kasse I. F. G.
Ueberdies peinigt den armen Küssow fortwährend die Sehnsucht nach
Weib und Kind in der Heimat und die Sorge um seine Wirthschaft. Er
schreibt keinen Brief an den Herzog Johann Friedrich oder an den Kanzler
und Großhofmeister, ohne gar kläglich um Enthebung von seinem Hofmeister¬
posten zu bitten. Ja, als er hört, daß Herzog Erich von Braunschweig auf
seinem abenteuerlichen Kriegszuge schon in Mecklenburg Hause und nächstens
wohl in sein liebes Pommern einfallen könne, schreibt er tiefbekümmert —
fast in Verzweiflung an den Kanzler von Eickstedt: „Es hat ein gar seltsam
Ansehn, als ob man mich armen Teufel verderben wolle und ist Alles so
eingerichtet. Kommt Hennig von Melde — (der ihm versprochene Nachfolger
als Hofmeister der fürstlichen Studenten) — nicht, werde ich vorrücken und
sehn, wie es in diesen gefahrvollen Zeiten den Meinen geht, denn ich gräme
mich jetzt, daß mir schier Hörner aus dem Kopfe wachsen."
Erst die wiederholte Drohung Küssow's, daß er auf keinen Fall länger
als bis Ende September in Wittenberg bleiben werde, bewirkt, daß Otto von
Ramin Anfang October in Wittenberg anlangt, um Küssow abzulösen und
den Hofmeisterposten bei I. F. G. zu versehn, bis der schon längst bestimmte
Hofmeister Hennig von Melde im December seine Stelle einnimmt. —
Nach der Sitte der Zeit wird unsern Studenten auch noch die Ehre zu
Theil: nach einander zu Rectoren der löblichen Universität Wittenberg er¬
wählt zu werden. Natürlich ist dies nur ein Ehrenamt. So lehnt auch der
junge Rektor Herzog Ernst Ludwig „die Neception und Jnscription der Scho¬
laren als ungelegen, gefährlich und bedenklich" von vornherein ab. Dies wird
von seinem regierenden Bruder und dessen Räthen höchlich belobt. — Die
Professoren erwählen zu diesen Ehrenrectoren gern vornehme und reiche Stu¬
denten, die sich stattlich zu präsentiren wissen und etwas drauf gehn lassen
können, um ihrer Universität dadurch neuen Glanz zu verleihen---und
sich die schöne Gelegenheit zu einer solennen Rector-Kostung und anderen
Gastereien nicht entgehen zu lassen.
Die Wahl Ernst Ludwig's zum Rector berichtet Otto von Ramin am
26. October an die Herzöge Johann Friedrich und Bogislav nach
Wolgast: „Mein gnädiger Fürst und Herr, Herzog Ernst Ludwig wurde am
Tage innre Lvangelistiu; durch sechs der vornehmsten Professoren, Unter
welchen Doctor Peucer Orator war, mit vorhergehender Protestation. daß
solche Aufforderung ihrem alten wohlhergebrachter Gebrauch gemäß, in die
Schloßkirche von der Universität gefordert; darauf sich S. F. G. in zierlicher
lateinischer Oration gnädiglich erboten und alsbald mit Herzog Barnim zu
Roß nach der Kirche vor obgemeldeten Professoren gezogen. Dabei warteten
unter Andern fünf östreichische Freiherr« I. F. G. auf den Dienst. Als
man nun zur Kirche kam, führte man S. F. G. in die Sacristei. wo die
ganze Universität versammelt war. Daselbst wurde von dem gewesenen Rec-
tor Paulo Grellio, 'Ilnzologmv (lvetorv, nach geschehener unterthäniger Dank¬
sagung, daß sich S. F. G. so weit gedemüthigt, mit einer langen lateinischen
Rede der Nagistratus univeisiwtis oder das Rectorat S. F. G. im Beisein
Herzog Barnims und obgenannter Freiherrn mit besonderem Fleiß unter-
thänigst befohlen, deferirt und aufgetragen. Demselben antwortet S. F. G.
mit Fürstlicher zierlicher Bescheidenheit frei heraus lateinisch — dermaßen,
daß sich die Umstehenden und männiglich darob verwundern, und gibt nach
langer Aufführung der Beschwerniß dieses Amts bei dieser fatalen Zerrüt¬
tung aller Zucht, Ehrbarkeit und Disciplin zuletzt seine gnädige
Zustimmung, welches mit höchster Danksagung von der Universität aufge¬
nommen wird. Alsofort wird S. F. G. wieder in die Kirche geführt und
daselbst von obgesagtem gewesenem Rector, nach Verreichung der InsiZniou
universitatis in Gegenwart der ganzen Schule mit großer xomxa, und langer
wohlgefaßter oration Keetor sekoluo xudliee renuncirt und proclamirt und
als ein Spiegel den Studenten, darnach in Zucht und Ehrbarkeit zu richten,
vorgestellt; wurde auch Sr. F. G. zum Vice-Rector Vitus Ortell, Winschenius
Junior, Doktor juris, stracks adjungirt... Es wird wohl mehr darauf gehn,
hoffe aber, dasselbe werde S. F. G. künftig zu vielem Nutzen sein!"... Folgt
natürlich Bitte um Geld und Küchennothdurft. Fürst Wulf von Anhalt,
der gute Alte, schreibt bei dieser festlichen Gelegenheit an seinen Mündel:
„Wir wünschen E. Lbdn. zu solchem, als einem christlichen löblichen Amt
von Gott dem Allmächtigen göttliche Gnad und viel Glück und Heil und
verehren E. Lbdn. ein wildes Schwein, freundlicher Wohlmeinung, auch in
Erachtung daß E. Lbdn. der Zeit vielleicht etliche Doctores und Herrn von
der Universität zu sich laden werden!" — Das Lüftchen auf stattliche Nec-
toratsschmäuse und sonstige Festlichkeiten des neuen Rectors hätten die Her¬
ren Professoren und Studenten sich jedoch fast vergehen lassen müssen. Rector
Ernst Ludwig hat wohl den redlichsten Willen zu Festen, aber — kein Geld.
Wiederholt erbittet er von Hause die nöthige klingende Münze, um den ge¬
wünschten rectorlichen Glanz entfalten zu können, erhält aber nach langem
Harren die ziemlich kühle Antwort: es werde von den Fürstlichen Brüdern
und Räthen unnöthig erachtet, derenwegen solemiui, essen zu machen — im
Uebrigen sei das oküeium schier halb zu Ende gelaufen! — Zum Glück weiß
der junge Rector andern Rath: in höchster Noth borgt er von dem vortreff¬
lichen Hoflieferanten Nickel Kuffner in Leipzig 200 Thaler und endlich wird
auch die wiederholte dringende Bitte unserer jungen Studenten um etwas
Privat-Geld von dem regierenden Herrn Bruder erfüllt. Am 13. April 15t>4
erhält der junge Rector iliaguineus 60 und Herzog Barnim 39 Thaler —
zugleich aber auch ihr Hofmeister die eindringliche Weisung: Acht zu geben,
daß dies Geld „nicht unnütz, sondern wohl angeleget werde, sonst würden
I. F. G. Mühe haben, ein ander Mal etwas zu erhalten". Es habe so
schon große Mühe gemacht, dies Geld zu erlangen, da--„die Aepfel,
Birnen und Nüsse noch nicht zeitig!"
Von jetzt an sollen unsere jungen fürstlichen Studenten aus der Geld¬
noth aber gar nicht wieder herauskommen. Jeder ihrer vielen Briefe in die
Heimat spricht vom besten Wohlbefinden und — schlechtesten Kassenbestcmde.
Bald lautet ihr Geldnothschrei: „Ich bitte Ew. Liebden zum neuen Jahre
recht sehr um 100 Thaler, denn allhier ist das Geld sehr lieb, insonderheit
dem, der nit viel hat!" — oder: „Ich bitte Ew. Liebden um die versproche¬
nen 40 Thaler, da ich in Wahrheit des Geldes sehr benöthigt bin!" Bald
klagt der junge Barnim, daß er Bücherschulden habe, die der Hofmeister nicht
für ihn bezahlen wolle und bittet um 30 Thaler: „ich bin allhier also gar
vergessen, daß man mich nicht durch einen löchrigen Zaun ansieht" dann wie¬
der um 60 Thaler, „da ich schon 40 Thaler schuldig bin." „Die vorigen
30 Thaler, die ich bekam, war ich bereits schuldig! Das will ich wiederum
um E. Lbd. mit Leib, Haut und Haar verdienen!" Ernst Ludwig schreibt:
„Ich kann Ew. Liebden nicht bergen, daß mir Geld von Nöthen ist, damit
ich meine Schulden, so ich gemacht, möge ablegen. Bitte, Ew. Liebden wol¬
len mir bei dem Hofmeister gewißlich 60 Thaler übermachen!" Dann bittet Bar¬
nim wieder um..die Mittel, ein ihm dedicirtes Gedicht würdig belohnen zu
können, denn: „äeäeeus est, 8oinnM suirnzi-e nilnllzue ä^re — es ist schimpf¬
lich, immer anzunehmen und nichts geben! Nur sehr selten erhalten die bei¬
den Studenten eine klingende Antwort auf ihre echten — Studenten-Briefe.—
Neben der Geldnoth zieht sich durch fast alle Briefe die Bitte um ein Paar
neue und bessere „Klopfer", denn die beiden kleinen Pferdchen, die sie von
Hause erhalten haben, reichen für den großen schweren pommerschen Wagen —
die einzige Equipage I. F. G. — auf den entsetzlichen Wittenberger Wegen
in keiner Weise aus. Da die bessern Klopfer immer noch nicht anlangen,
bittet Barnim S. Liebden schließlich demüthig, ihm wenigstens für eine Reise
zu Fürst Wulf einen guten Klepper mit Zubehör zu leihen--vielleicht
denkt der kecke Student bei sich: „Ew. Liebden, wenn ich den biedern Klopfer
nur erst hier habe — mit dem Zurückschicken soll's solche große Eile nit ha¬
ben!" Zugleich bittet er Bruder Johann Friedrich, ihm einen guten Pferde¬
jungen anzuschicken, mit dem er sich über den Lohn schon einigen werde:
„denn hier in Wittenberg sind solche Jungen schlimme Bösewichter und wol¬
len nichts Gutes thun!"---- Ich bitte auch ganz freundlich, E. Lbd. wolle
mich doch ein Paar guter Büchsen mit der ersten Botschaft überschicken. Ich
will mich auch das wiederum verpflichten, daß ich, dieweil hier ein Messer¬
schmidt ist, so neulich von Dresden gekommen, der gar gute Dolche macht,
und fein reinlich ausarbeitet, wie das Rapier ist, so E. Lbd. mich in meinem
Abzüge schenkte, E. Lbd. will einen hübschen Dolch bestellen, der gar reinlich
gemacht ist, und hiermit Gott dem Allmächtigen in seinen reichen Schutz und
Schirm befohlen haben; der bewahre E. Lbd. lange gesund! — Im nächsten
Briefe bedankt Barnim sich für die erhaltene — Zusage des Kleppers und
der Büchsen, doch unterläßt er nicht, klüglich hinzuzufügen: „E. Lbd. wollen
an den Verses denken, der so lautet: Li» eilte, <mi cito an.t — und mich mit
der Erst damit verehren und nicht lange damit »erziehn, denn: vir eunctator
Lvmxei' Il^dot incommoäum!" Auch der viel geduldigere, milde Ernst Lud¬
wig kommt aus der Kleppemoth nicht heraus, er bittet S. Lbd. um einen
fein gerittenen Braunen und will dann den kleinen Hans zurückschicken,
„denn der Klopfer schon einmal oder zweien mit mir gefallen ist!"
Bei all diesen Bitten um Geld, Klepper, Büchsen, gedörrte Fische oder
um „eine gute Strick Winde" — eine gute Koppel Windhunde, die Ernst Lud¬
wig dem kursächsischen Marschall Hans Löser „beim Trunk" versprochen but,
fehlt jedoch selten die brüderliche Zusicherung: „das will ich um E. Lbd.
wiederum mit Leib, Haut und Haar freundlich verdienen!" —
Diese ewige Noth um Geld und Klepper verleidet den fürstlichen Studenten
den Aufenthalt in Wittenberg gar bald. Der Reiz der Neuheit ist auch vor¬
über. Sie sehn das Wittenberger Leben nicht mehr mit den Augen der un¬
befangenen Jugendlust an--die Schleier sinken: das zügellose Treiben
der meisten übrigen Studenten und so vieler Professoren steht plötzlich in sei¬
ner ganzen Wüstheit vor den reinen Augen der jungen pommerschen Her¬
zöge. Die Stadt Wittenberg selbst*) vermag ihnen durch Sehenswürdigkeiten
wenig Ersatz zu bieten. Nach kaum einem Jahre fühlen sich I. F. G. auf
der Universität unbehaglich und immer unbehaglicher — sie wollen um jeden
Preis fort von Wittenberg. Dazu kommt die Sehnsucht, sich in der Welt
weiter umzusehn. „Was allhier zu sehn ist, das habe ich Alles wohl behal¬
ten, wollte gern weiter. Will mich aber noch erboten haben, daß ich bis auf
Michaelis will bleiben, aber darnach nicht länger; ist meine Gelegenheit gar
nicht, will und kann's nicht thun, aus Ursachen, die ich der Feder nicht will
vertrauen!" schreibt Ernst Ludwig am 5 April 1564 an seine Brüder Jo¬
hann Friedrich und Bogislav nach Wolgast. Seine Feder sträubt sich, eine
Schilderung des wüsten zügellosen Studentenlebens in Wittenberg zu ent¬
werfen. Viel mehr hiervon verräth schon ein späterer Brief des jungen Bar-
nim an seinen Bruder, der sie zum längeren Bleiben bewegen will: „Wenn
E. Lbd. nur ein Viertel Jahres hier sein sollten, würden E. Lbd. schon viel
anders darüber richten, als jetzt, da es E. Lbd. vielleicht so schön und zierlich
fürgetragen wird, daß E. Lbd. meinen, daß allhier das Paradies, obgleich
er hier mit Saufen und andern Dingen mehr, so allhier zu erwähnen un¬
nöthig, so unordentlich zugeht, als es vielleicht an andern Orten nicht ge¬
schehen mag. E. Lbd. kann ich auch freundlicher Meinung nicht verhalten,
wie daß man uns allhier belügt und daß wir in aller verlogenen Leute
Munde müssen unigetragen werden, daß wir es schon allerwegen, wo wir
schier hinkommen, hören müssen , welches uns sehr beschwerlich ist und wohl
eine große Ursache wär, daß wir von hinnen ziehn möchten. Dessen wollen
E. Lbd. auch zu gelegener Zeit bei den Räthen eingedenk sein!"
Selbst die Festlichkeiten, mit denen Herzog Ernst Ludwig sein Rectorat
beschließt und der junge Barnum die akademischen Fasces übernimmt, ver¬
mögen die Unlust der beiden Studenten an ihrem Aufenthalt in Wittenberg
mir vorübergehend zu dämpfen. Bei diesen akademischen Festlichkeiten halten
beide Brüder wieder stattliche Reden. Der Hofmeister Hennig von Melde
schreibt darüber an den heimischen Hof: „Das ist noch das Beste bei der
ganzen Dignität, daß sich I. F. G. bisweilen exerciren müssen." Ernst Lud¬
wig ladet zu seiner stattlichen Nectorats-Kostung den Fürsten Wulf zu An¬
halt und den Herzog Alexander, Sohn des Kurfürsten August, durch eigen¬
händige lateinische Briefe — sämmtliche Professoren der Universität, viele
Geistliche, die beiden Bürgermeister, den Buchdrucker Johann Luft, Maler Lucas
Kranach den Jüngeren, den Apotheker und viele der vornehmsten Studenten
aber durch ein solennes Thema ein. An fünf Tischen wird gar köstlich
gegessen und getrunken. Die pommerschen Edelknaben warten dabei auf.
Fürst Wulf kann aber nicht erscheinen: der „König von Czippern" plagt
ihn zur Stunde wieder dermaßen, daß er die Lust meiden muß. Der gute
Alte läßt sich beim Ehrenfeste seines Mündels durch einige Edelleute vertre¬
ten. Die jungen Fürsten aber besuchen darauf den am Zipperlein darnieder¬
liegenden Bormund in Coswig. Selbst der böse gestrenge König von Czip¬
pern vermag da ein frohes Pvculiren des guten Alten und seiner jungen
Gäste nicht zu verhindern. Denn unsere Studenten finden nach ihrer Rück¬
kehr zu den Wittenberger Studien nicht nur Veranlassung, sich schriftlich bei
Fürst Wulf für viele bezeigte Ehre, Liebe, Freundschaft und Wohlthat zu
bedanken, sondern auch zu bitten: was sie oder ihre Diener Ungebührliches
und Ungeschicktes begangen, nicht bösem Borsatze, sondern der Jugend und
seinem guten Bier und Wein zuzumessen.
Der junge leichtherzige Barnim, bei allen Studenten besonders beliebt,
weil er die Relegation zweier vornehmen Studenten zu verhindern gewußt
hatte, legt die akademischen Fasces mit einer gut memorirten lateinischen
Rede in die Hände des Studiosus Graf Johann Georg von Solms nieder.
Aber erst nach einigen Monaten erlaubt ihm der Bestand seiner Kasse, die
übliche Rectorats-Kostung auszurichten — um so mehr ist jetzt sein jugend¬
licher Ehrgeiz, dieselbe möglichst glänzend zu feiern. Er schreibt deswegen
an seinen alten Großoheim Barnim XI., der jetzt von der Regierungslast in
dem anmuthigen Kolbatz ausruht, und bittet ihn: einige von seinen berühm-
ten Maränen aus dem nahen Madüesee, „weil ich, Herzog Barnim
wegen des Nectorats etliche vornehme und gute Leute einladen muß, uns
auf unsere Kosten und Zahlung gegen den anstehenden Leipziger Neujahrs¬
markt zukommen zu lassen." Der alte Barnim, wohl eingedenk der frohen
Zeit, wo er selber in Wittenberg jugendfröhlich studirte und als Rector mit
Luther und Melanchthon zur Leipziger Disputation in Begleitung von 200
bewaffneten Studenten zog, sendet sogleich „XX Dröge Murenen" — „mit
ganz freundlicher Bitte, E. Lbd. wollen dieselben, so gut sie sein, von uns,
als dem einigen Vettern fürlieb freundlich auf- und annehmen!" Diese Ma¬
ränen machen nicht geringes Aufsehn unter den zahlreichen Gästen bei der
Nectorats-Kostung —- nicht nur wegen ihrer Seltenheit und des schmackhaften
Fleisches — noch mehr durch die Geschichte, die der junge Barnim von ihnen
zu erzählen weiß, und die unter seinen Gästen — selbst unter den Professoren
und Geistlichen viel gläubige Ohren findet. Soll nämlich ein Abt des
Klosters Kolbatz, ein großer Lebemann und Feinschmecker, dem Teu¬
fel seine arme Seele verschrieben haben, wenn dieser ihm bis zum nächsten
Mittag 12 Uhr ein schönes Gericht Maränen liefere, die bis dahin nur in
einem See Italiens vorkamen. Mit Lüsternheit und doch mit Bangen sah
der Abt der nächsten Mittagszeit entgegen — nur noch eine halbe Stunde
fehlte an 12 Uhr... aber schon saust der Teufel mit einem ganzen Sack voll
Maränen über den Madüe-See daher.. . Dem armen Abt sinkt das fein¬
schmeckerige Herz in die Knie--doch plötzlich stößt der gute dumme Teu¬
fel einen garstigen Schrei und noch garstigeren Schwefelduft aus und läßt
vor Schreck den Sack mit den Maränen in den Madüe-See fallen: er hat
soeben einen Blick auf die Klosteruhr geworfen und diese hat der listige Bru¬
der Thürmer aus Sorge für die Seele seines Abtes um eine Stunde voraus¬
gestellt! —
Aber nicht einmal diese Festlichkeiten vermögen die Unlust der jungen
Fürsten an dem Wittenberger Leben zu verdrängen — ihr Unmuth und die
Sehnsucht in die Weite zieht sich immer rückhaltloser durch alle ihre Briefe
in die Heimat. Ernst Ludwig schreibt an seinen regierenden Bruder: „Ich
muß die Wahrheit bekennen, daß einem jungen Menschen nichts Lieberes
kann widerfahren, denn daß er sich ein wenig unter fremden Leuten umsehe
und viel Leute, Sitten und Mores lerne; weil ich noch jung und zu reisen
Lust!" Zunächst möchten sie gern an die sächsischen Höfe ziehn. Kurfürst
August hat I. Lbd. eingeladen und versprochen, ihnen die Merkwürdigkeiten
der sächsischen Bergstädte zu zeigen. - Immer ungestümer — ja fast trotzig
wird die Forderung, Wittenberg zu verlassen. So schreibt Ernst Ludwig an
Johann Friedrich: „Weil auch fast füglich die Zeit, so wir allhier zu bleiben
gewilligt, verflossen ist, so werden E. Lbd. unterdeß auf Mittel und Wege
bedacht sein, damit wir aus Ostern (1565) vermittelst göttlicher Verleihung
an andre Oerter mehr gesandt werden, da wir mehr können sehn und lernen.
Denn ich will nicht länger hier bleiben, will auch gleichfalls an die Räthe
schreiben und mich nochmals, wie zuvor geschehn, erklären. Darnach sich E.
Liebden haben zu richten!" Noch kecker tritt der junge Barnim auf: „Ew.
Liebden mögen machen und rathschlagen, wie Sie wollen, unsere Gelegenheit
ist es nicht, daß wir länger hier bleiben!"
Auf diese Weise ist zwischen den reiselustigen Studenten und den fürst¬
lichen Brüdern in der Heimat, die sie zum längeren Bleiben in Wittenberg
bewegen wollen, nach und nach eine kleine unfreundliche Spannung eingetre¬
ten. Zum Glück fehlt ihnen das nöthige Reisegeld, sonst würden sie auch
ohne Erlaubniß der Vormünder und des regierenden Bruders in die weite
Welt gehn. Nur die Vorstellungen der zu diesem Zweck nach Wittenberg
entsandten pommerschen Räthe: des Großhofmeisters Ulrich von Schwerin
und des Kanzlers von Eickstedt — und das freundliche Zureden des alten
Fürsten Wulf haben sie überhaupt bewegen können, zu versprechen: noch bis
Pfingsten 1565 in Wittenberg zu bleiben und fleißig zu studiren. Beides
halten die jungen Fürsten mit großer Gewissenhaftigkeit.
Als aber wieder der Frühling über Wittenberg kommt und die jungen
Herzen in neuer Wanderlust und Freiheitshoffnung schwellt und dennoch von
der Heimat wieder neue hochbepackte Proviantwagen eintreffen, deren Inhalt
die Küche reichlich wieder bis Michaelis versorgt hätte--da bricht der
Unmuth unserer Studenten auf's Heftigste aus. Sie fürchten, bis zum Herbst
in Wittenberg zurückgehalten zu werden und erklären sehr bestimmt: daß sie
zu Johannis auf jeden Fall abreisen würden „das ist mein Ernst und zuver¬
lässige Meinung!"
Das wirkt. Bon Pommern langen denn auch wirklich gegen Johannis
Reiter, Wagen und Pferde und vor allen Dingen das nöthige Reisegeld an —
und auch noch etliche pommersche Thaler darüber, um verschiedene brummende
Bären zu beschwichtigen. Mit Jubel geht's an das Abschiednehmen bei dem
Kurfürsten von Sachsen und dem Fürsten Wulf, den der böse König von
Czippern gezwungen hat, die Regierung und sich selber im Herbst niederzu¬
legen. Die Krankheit erlaubt dem guten Alten nicht einmal, an dem solen¬
nen Abschiedsschmause Theil zu nehmen, den seine Mündel der ganzen Uni¬
versität geben. Dagegen läßt er diese Gelegenheit nicht vorübergehen, seine
jungen Freunde vor der garstigen Majestät von Czippern zu warnen. Er
schreibt ihnen kurz vor dem Festschmause bei Uebersendung von Fischen:
„Fürstliche liebe Vettern, ich bitt, Euer Liebden wollen sich des Trunks bei
ihrem Gelag, auch auf der Reise so viel als möglich enthalten!" — mag er
auch kurz vorher an den Hofmeister Hennig von Melde geschrieben haben:
„Mit uns hat es die Gelegenheit, daß wir am Zipperlein darnieder liegen,
sonsten aber, Gottlob! ziemlich bei Gesundheit sind — halten aber, daß es
mehr des Tanzes, denn des Trunkes Schuld!" —
Fröhlich wenden I. F. G. nun Wittenberg den Rücken und sich zunächst
der Heimath zu. Es ist ein stattlicher Reisezug von 60 Pferden, mit
dem die Jünglinge an dem fürstlichen Hoflager des alten Barnim zu Alten-
Stettin zum Besuch anlangen. Den Nest des Sommers verleben sie in alter
wiederhergestellter Liebe und Eintracht am Hofe zu Wolgast im Kreise der
Geschwister und der Mutter. Im Herbst wird ihre Sehnsucht in's Weite
endlich gestillt. In Begleitung ihres Hofmeisters Dietrich von Schwerin und
einiger anderer Edelleute geht's im schnellen fröhlichen Zuge durch das schöne
deutsche Land — über Belgien nach Frankreich. Zu Angers wird Quartier
genommen, um hier in aller Muße Frankreichs Sprache und Sitte zu lernen.
Wie ein Donnerschlag überrascht indeß in diesem fröhlichen Leben der Wunsch
— ja, der Befehl der Brüder, schleunigst zur Lehnempfängniß und Landeö-
huldigung in die Heimath zurückzukehren. Dazu haben unsere Reisenden nun
nicht die geringste Lust. Sie senden den Brüdern schriftliche Vollmacht, in
ihrem Namen die Landesbelehnung und Huldigung entgegenzunehmen: „denn
es unsere große Nothdurft erheischet, allhier zu bleiben" — sie könnten doch
nicht mehr zur festgesetzten Zeit in der Heimath anlangen wegen der Kriegs¬
unruhen in den Niederlanden — sie hätten jetzt erst ordentlich angefangen,
die französische Sprache zu verstehn — und es sei ihnen sehr bedenklich, „heimlich
von hinnen zu ziehn, wir hätten denn dem Könige die Reverenz gethan und
unsere Dienste angeboten — auch anderer obwaltenden Ursachen halben!"
Um die Brüder durch ihr Nichterscheinen nicht allzu sehr zu erzürnen, sendet
der leichtherzige Barnim ihnen durch ihren Abgesandten voetoi' .juris Bern¬
hard Nacht zwei Rapiere, die der Doctor auf der Durchreise in Paris kaufen
soll, „die besten, so er bekommen kann, welche ich E. Lbd. fri. will schenken,
fri. bittend, E. Lbd. wolle sie vorlieb und gut annehmen!" Der Hofmeister
schreibt zugleich, er habe die Abreise „bei I. F. G. mit keinen Bitten erhal¬
ten können, habe es derowegen zu I. F. G. gu. Willen und Wohlgefallen
müssen beruhen lassen!"
Solche Gründe finden aber daheim bei den Brüdern, Vormündern und
Räthen wenig geneigtes Ohr. Sogleich wird der Amtshauptmann von Neuen-
Kamp, Joachim von Jasmund. nach Frankreich abgesandt, die Reisenden zur
schleunigen Rückkehr zu bewegen und ihre Abreise am französischen Hofe zu
entschuldigen. Als Reisegeld muß Nicolaus Kuffner 2000 Kronen anschaffen:
„dies sei aber das letzte Geld, welches I. Lbd. von Hause erhalten würden,
denn die zur Regierung verordneten Räthe beschwerten sich schon, daß die
fürstliche Kammer mit ungewöhnlichen großen Ausgaben belastet werde und
schon so von Geld entblößt sei, daß sich fürder nichts mehr nachschicken lasse,
was I. Lbd. in Schimpf und Spott bringen könne. Zu borgen sei mißlich, da der
Wucher dermaßen eingerissen, daß man das Hundert nicht unter 8 — 12 Gul¬
den bekommen könne, auch Niemand ihnen bei ihrer Minderjährigkeit leihen
werde." — Aber noch ehe diese 2000 Kronen nebst den brüderlichen Ermah¬
nungen und Warnungen den Jünglingen zu Gesicht kommen, finden sie in
Frankreich einige gefällige Geldseelen, die sie gegen allerlei kleine Erkenntlich¬
keiten nie darben lassen. So schreibt Ernst Ludwig ganz unbefangen an sei¬
nen fri. l. H, Bruder nach Hause: „Wir geben Ew. Liebden hiermit zu
wissen, daß wir von Charles de Börne, Factor zu Paris, durch Ueberschrei¬
bung Kork Besenbosell 125>0 Kronen allhier empfangen, bitten demnach fri..
Ew. Lbd. wolle die Vorsehung thun, daß die Summe Peter Baumann zum
Sunde (Stralsund) wiederum möge erlegt werden', das sein wir freundlich zu
verdienen geneigt!" — Der freundliche liebe Herr Bruder scheint aber wenig
geneigt zu solchen Vorsehungen — in ziemlich kategorischen Briefen wenden
I. F. G. sich daher in Geldealamitäten wiederholt direct an die Wolgasti¬
schen Räthe: „Wir haben bei uns beschlossen, daß wir auf den zukünftigen
Frühling vermittelst göttlicher Verleihung uns allhier an der Königl. Majest.
Hof ein Jahr lang wollen begeben, also begehren wir nochmals an Euch
sämmtlich, Ihr wollet dahin bedacht sein, damit wir unsern fürstlichen Unter¬
halt an diesen Orten haben mögen und uns innerhalb 3 Monaten 2000
Kronen zu unserm jetzigen Unterhalt auf Lion oder Antorf übermachen; auch
mit dem ersten durch einen Einspänner, was wir zu unserm fürstlichen Unter¬
halte auf ein Jahr haben mögen, überantworten und die Dinge nicht lange
aufhalten. Sind Euch sämmtlich und sonderlich Gnade und gnädige Beför¬
derung zu erzeigen geneigt. Datum Augiers, den 20. Nov. ultro 1L06." ...
Und nach kaum acht Wochen gehn I. F. G. den „ehrbaren lieben Getreuen"
schon wieder scharf zu Leibe, fordern die Zahlung von 1000 Gulden an einen
Pariser Kaufmann, der ihnen diese Summe, da sie des Geldes hart entblößt,
freundlich geborgt — „doch wollet Ihr die Dinge nicht so aufziehn, wie es
uns oft nunmalen wiederfahren! Nicht wenig mißfällt und beschwerlich ist
uns auch, daß Ihr den Konrad Besenbosell noch nicht befriediget habt, wel¬
cher sich derohalben bei uns beschweret. Gehirnen demnach nochmalen an Euch
sämmtlich, Ihr wollet die Kaufleute bei Zeiten bezahlen und die Sachen
nicht also hintenan setzen, sonsten würde erfolgen, daß die Kaufleute sehr ver¬
drossen und unwillig sein würden!"
Mit dem geborgten Gelde geht's nun lustig an den Hof des jungen
sechzehnjähriger Karl IX. und seiner herrschsüchtigen Mutter Katharina von
Medicis, von denen die Reverenz der pommerschen Fürstensöhne sehr gnädig
aufgenommen wird. In dies flotte Hofleben zu Paris und Fontainebleau
platzt Joachim von Jasmund mit seinen allerstrengsten Abrufebriefen wie ein
Donnerschlag hinein. Mit schwerem Herzen entschließen sie sich nach einigen
Wochen zur Heimreise und verabschieden sich bei der Königlichen Würde zu
Frankreich, bei welcher Gelegenheit der Hofmeister Dietrich von Schwerin eine
zierliche „Abdankung" in lateinischer und französischer Sprache hält.
Um Pfingsten 1567 langen I. F. G. wieder wohlbehalten in der pom-
merschen Heimat an.. . Ernst Ludwig, um schon nach zwei Jahren bei der
Landestheilung die Last der Regierung als Herzog von Pommern-Wolgast
kennen zu lernen — und Barnim, um 30 Jahre lang als Herr der Aemter
Rügenwalde und Bülow ein freundliches Privatleben zu führen, bis ihn kurz
vor seinem eigenen Ende der Tod seines Bruders Johann Friedrich noch auf
drei Jahre zum regierenden Herzog von Pommern-Stettin macht.
Das Gepräge der öffentlichen Versammlung war wesentlich verschieden
von der Zusammenkunft der Delegirten, es verhielt sich zu dieser, wie eine
Plenarsitzung zum Ausschuß. Nun waren Tausende und Abertausende aus
allen Ständen zugegen, nun sollten die Bestrebungen der Altkatholiken die
Feuerprobe der Publicität bestehen und versuchen, welchen Eindruck sie auf
die Gemüther der Menge machen. Die letztere war zahlreicher erschienen, als
man zu Anfang erwarten durfte: es waren am ersten Tage fünf, am zweiten
fast siebentausend Seelen. Die prächtigen Räume des Glaspälastes, der zur
Versammlung bestimmt war, hoben die äußere Erscheinung derselben ganz
unermeßlich, sie fügten zu der breiten Basis die rechte Höhe und bestimmten
damit das Ebenmaß der großartigen Contouren. Wie gewaltig erdröhnte
jede Stimme in dieser domartigen Halle, wie voll ergoß sich das Licht von
oben herab — die Weihe, die auf der ganzen Versammlung lag, hatte Raum
zur Entfaltung.
Wer das Publieum näher betrachtete, dem mußte die reiche ständische
Gliederung auffallen, die vom berühmten Gelehrten hinabreichte bis zum ein-
fachen Arbeiter. Diese Thatsache ist zu wichtig für die Verbreitung und de߬
halb für den Erfolg der Altkatholischen Idee, als daß wir ohne weiteres an
derselben vorübergehen dürften. Unter den gebildeten Classen waren vor allen
die Professoren der Universität sehr stark vertreten, die ja bekanntlich zuerst
gegen das neue Dogma Protest erhoben. Aber auch zahlreiche Lehrer der
Gymnasien und selbst der Volksschulen waren erschienen, obwohl sie sich be¬
wußt waren, daß diese Anwesenheit ihren geistlichen Vorgesetzten schwerlich
entgehen würde. In ganz hervorragender Weise betheiligte sich auch der Be¬
amtenstand, der in München fast nur aus vorgeschrittenen Männern besteht,
und in politischen Fragen entscheidend ins Gewicht fällt; das größte Contingent
von allen aber lieferten ti.e bürgerlichen Elemente, der gebildete Mittelstand
und jene Klassen, die bei ihrer gewerblichen und commerciellen Thätigkeit den
Sinn für öffentliche Interessen keineswegs verloren haben. Auch Arbeiter
waren mannigfach zugegen, aber nicht von jenem unheimlichen radicalen Ge¬
präge, wie es die Socialdemokraten gegenwärtig geschaffen haben, sondern ehr¬
liche treuherzige Gesichter, denen es Ernst mit der Sache war, denen der be¬
stehende Conflict wirklich zu Herzen ging.
Es war eine schwierige Aufgabe, für dieses Auditorium von so verschie¬
denen Bildungsgraden einen Ton zu finden, der auf der Höhe des Gegen¬
standes stand und dennoch allen gleich verständlich wurde. Allein fast sämmt¬
lichen Rednern muß man das Zeugniß geben, daß sie dieser Schwierigkeit
vollkommen gewachsen waren. Jeder hatte seine subjective Art, der er selber
treu blieb und die ebendadurch die Menge am Sichersten fesselte. Auch äu¬
ßerlich war dieser schlagende Wechsel der Persönlichkeiten von Bedeutung,
wenn man bedenkt, daß das Publicum genöthigt war, mehr als 3 Stunden
und meistens stehend den Vorträgen anzuwohnen. Die Gefahr der Ermüdung
war dadurch wesentlich verringert und das Publicum bewies in der That
durch seine ununterbrochene Aufmerksamkeit, wie sehr es die Sache ernst nahm.
Es kann uns hier nicht mehr obliegen, den objectiven Inhalt der ge¬
stimmten Verhandlungen darzustellen; wir setzen voraus, daß derselbe durch
die Tagespresse dem Leser zur Genüge bekannt geworden. Was wir uns hier
zur Aufgabe machen, das ist die Charakteristik der einzelnen Persönlichkeiten
und die Darlegung jener Ideen, die aus dem positiven Material der Ver¬
handlungen hervorgehen.
Unter den activen Theilnehmern des Congresses d. h. unter denen, die
selbständig in die Darstellung ein griffen, nimmt Schulte unbestritten den ersten
Rang ein. In seiner Persönlichkeit vereinigen sich fast alle Borzüge, die für
das öffentliche Auftreten von Belang sind, denn mit einer hervorragend ari¬
stokratischen Erscheinung und den feinsten weltmännischen Formen verbindet
sich jene innerliche moralische Kraft, die über den Hörer unwillkürlich Gewalt
gewinnt. Die Autorität, die Schulte besitzt, beruht auf dem Gleichgewicht
seiner geistigen Anlagen, denn der Wärme des Gemüthes steht eine Schärfe
der Kritik zur Seite, die in dieser Vereinigung nur selten gefunden wird.
Höher aber als beide ist ohne Zweifel sein Charakter anzuschlagen und die
glänzendsten Siege erfocht er da, wo er seiner Überzeugungstreue vollen Aus¬
druck gab. Schon in den geschlossenen Berathungen war die Rede Schulte's
o!e bedeutendste, die überhaupt gehalten wurde, und noch entschiedener darf
man dieß für die öffentliche Versammlung behaupten. Ohne der Würde des
Gegenstandes und seiner eigenen Person das Mindeste zu vergeben, fand er
doch jenen populären Ton, der gerade die bürgerlichen Zuhörer vollkommen
begeisterte und zugleich den Gebildeten als vollendetes Meisterwerk erschien.
Die Lügenhaftigkeit und die Gewaltthat, mit welcher das infallible Dogma
erzwungen wurde, ist niemals schlagender beleuchtet worden.
Daß man Schulte zum Präsidenten wählte, war ein glücklicher Takt,
denn keiner von allen hätte in gleicher Weise vermocht, die Einheit
der Versammlung aufrecht zu erhalten und an den kritischen Punkten, wo
eine Meinungsverschiedenheit zu Tage trat, den gemeinsamen Grundgedanken
zu beleben.
Derjenige Redner, welcher Schulte am nächsten stand, wo es den öffent¬
lichen Eindruck galt, war Professor Reinkens aus Breslau. Er war dort
während 7 Jahren Domprediger gewesen und hatte sich der Gunst des großen
Diepenbrock in besonderem Grad erfreut; auch Bischof Förster, der Nachfolger
des Genannten, hielt große Stücke auf den jungen Gelehrten. Er hatte ihn
ausersehen, um in das Domcapitel einzutreten und dort auf der hierarchischen
Stufenleiter schnell emporzusteigen, aber Reinkens besaß Selbstgefühl und
Selbstverleugnung genug, um diesen verführerischen Plan von sich zu weisen,
und seine Kraft ausschließlich der Wissenschaft zu wahren. Schon damals
nämlich sing Dr. Förster an, mehr und mehr in die römisch-glatte Bahn zu
gerathen, die ihn zuletzt in einen Abgrund von Widersprüchen führte und
die ihn gegenwärtig zu einem der gefügigsten Werkzeuge der Jesuiten gemacht
hat. In ihrem Geiste stieß er denn den begabtesten Mann der ganzen Diöcese
und der Universität, von sich.
Zwei Winter, die dem Concil unmittelbar vorhergingen, hatte Reinkens
in Rom verbracht; man war bestrebt, ihn dort für eine der vorberathenden
Commissionen zu gewinnen und seine bedeutende Kraft für die Interessen der
Curie zu verwerthen. Aber eben dieser Ausenthalt trug dazu bei, Reinkens
völlig denselben zu entfremden, er gab ihm auch das ungeheuere Material an
die Hand, über das er gegenwärtig verfügt. Wenige Menschen werden eine
ähnliche Einsicht in die Hofintriguen des Vatikans und in die geheimen Um-
triebe der Jesuiten haben als eben Reinkens und es ist wahrlich ein hohes
Glück, daß solche Kenntnisse in solchem Sinne verwerthet werden.
Der Eindruck, den er in München gemacht hat, ist bei Priestern und
Laien, bei Männern und Frauen, bei den Gebildeten wie bei den niederen
Klassen derselbe — er ist der Liebling des hiesigen Publicums geworden.
Seine öffentlichen Vorträge wie seine Predigt in der Nicolaikirche waren
mustergiltig in jeder Weise und es ist begreiflich, wenn das Münchner Comite
sich bemüht, ihn für den Winter hier festzuhalten. Denn gerade diese takt¬
volle und distinguirte Art wird der Bewegung ein großes Publicum verschaffen,
und die altkatholische Sache in der öffentlichen Meinung, wie bei der Staats¬
regierung gleichmäßig empfehlen.
Die Erfolge, welche Schulte und Reinkens davongetragen, wurden eigent¬
lich nur noch von einem Redner erreicht — und das war Pater Hyacinthe. Die
Art, wie er von der Versammlung empfangen wurde, ist ein ehrenvolles
Zeugniß für die geistige Freiheit und Toleranz der Deutschen, und alle be¬
deutenden französischen Journale nahmen auch hiervon Notiz. Hyacinthe
selbst schien am meisten hierüber verblüfft zu sein, aber er zeigte schon nach
wenigen Worten, daß er der Sympathien werth war, welche man ihm ent¬
gegentrug. So echt französisch auch sein äußeres Auftreten war, so nahe
stand doch seine geistige Auffassung und sein ganzes religiöses Leben der deut¬
schen Art. Erstaunlich war, wie sehr er seine Rede verständlich zu machen
und wie genau die große Menge ihr zu folgen wußte; der Beifall, der selbst
bei den verstecktesten Feinheiten zu Tage trat, lieferte den Beweis. Die
besten Parthien des gesammten Vortrags waren offenbar jene, wo der ele¬
gante Conversationston die Oberhand gewann oder wo das höchste Pathos
durchbrach: hier wurde Hyacinthe dramatisch und riß alle Hörer in unge¬
stümer Empfindung fort. Aber mit wenigen Sätzen gab er ihnen die Ruhe
des Denkens wieder, die er bedürfte, wenn er sich nun an ihre geistigen
Kräfte, an ihr Erkenntnißvermögen wandte. Der kurze Weg, als Hya¬
cinthe von der Rednerbühne herabstieg, war für ihn ein ununterbrochener
Triumphzug. Ueberall verneigte sich das Publicum und reichte ihm die
Hände, aber der stürmische Applaus erstickte die Worte des Einzelnen. Wem
vergönnt war, das sorgfältige Manuscript des Redners einzusehen, der
fand erst hier die volle Formenschönheit des Stils und der Ideen, denn im
Laus der Rede hatte der momentane Eindruck jede kritische Betrachtung ab-
sorbirt. Hyacinthe überließ sein Manuscript an Hrn. Professor Monod aus
Paris, der die Berichterstattung für den Temps übernommen hatte, und die¬
ser war es natürlich auch, der zuerst den vollen Wortlaut der Rede brachte.
Eine eigene Gruppe bei den öffentlichen Vorträgen bildeten jene Redner,
welche als Deputirte ihrer Länder Grüße zu überbringen hatten. Am besten
von ihnen sprach Professor Munzinger aus der Schweiz, und ein Curiosum
war jedenfalls die in holländischer Aussprache gehaltene deutsche Rede, welche
ein junger Geistlicher aus Utrecht vortrug. Sie ist bei weitem unverständ¬
licher geblieben, als die Worte des Pater Hyacinthe, allein die Persönlichkeit
des jungen Mannes besaß soviel Ernst und Würde, daß er selbst in dieser
fragmentarischen Form die höchste Aufmerksamkeit und lauten Dank gewann.
Die Sympathien, welche Professor Schwicker aus Ungarn mitbrachte, hatten
insoferne ganz besonderen Werth, weil Ungarn kraft seiner Kirchenverfassung
am meisten Ursache hat, gegen die römischen Uebergriffe zu Protestiren, weil
es mit einem Wort dabei am meisten zu verlieren hat. Hierzu kommt, daß
man in Ungarn allein noch Aussicht hat, einen der dortigen Bischöfe für die
Altkatholiken zu gewinnen, und daß überhaupt die Magyaren in Sachen der
Opposition sehr schätzbare Bundesgenossen sind. Auch hinter der Persönlich¬
keit des Pfarrer Anton, der Wien zu vertreten hatte, steht eine Zahl von
nahezu 3000 Familien, die zum Theil durch ihre Stellung und ihre ma¬
teriellen Mittel doppelt ins Gewicht fallen.
Eine andere Gruppe, die sich aus der Menge durch gemeinsame Eigen¬
thümlichkeiten und ein spezielles Gepräge hervorthat, war das kleine Häuflein
der pflichttreuen und deshalb gemaßregelten Priester, deren Persönlichkeit die
vollen Sympathien des Publicums fand. Wir haben auf die einzelnen be¬
reits im ersten Theile") hingewiesen und fügen hier nur die Bemerkung bei,
daß dieselben in der öffentlichen Versammlung durch Dr. Tangermann ver¬
treten wurden, der im Namen seiner Leidensgefährten sprach.
Sehr werthvoll erscheint die Thatsache, daß auch den öffentlichen Sitzun¬
gen (sowie den geheimen) zahlreiche Abgeordnete der Fortschrittspartei an¬
wohnten, unter ihnen Stauffenberg, Volk und Marquardfen. Denn da die
Lage der Altkatholiken im Landtag unvermeidlich zur Sprache kommt, so war
von Belang, daß gerade die Wortführer der liberalen Partei ein so voll¬
ständiges und günstiges Bild von den Zielen der Bewegung erlangten.
Welche weitgehende Bedeutung man der letzteren im Auslande beilegt,
dafür haben wir einen greifbaren Beweis (um nur einen anzuführen) in
dem massenhaften Zudrange fremder, meistentheils eigens angekommener Be¬
richterstatter. Zwei lange Tafeln waren von denselben in Beschlag genom¬
men und mehrere derselben vertraten sogar englische und amerikanische Journale.
Noch eine Reihe von interessanten Einzelnheiten wäre aus der öffentlichen
Versammlung zu berichten, wenn wir nicht fürchten müßten, den Leser allzu¬
lange in Anspruch zu nehmen. Diejenige, die bisher in der Oöffentlichkeit am
meisten Sensation gemacht hat, ist ohne Zweifel die Abwesenheit Döllingers.
Natürlich haben die Ultramontanen und auch viele liberale Journale den
Dissensus, welcher in den Vvrberathungen zu Tage trat, bedeutend erweitert
und daß Döllinger nun gar im Glaspalaste fehlte, sowie daß das angenom¬
mene Programm nicht mehr mit seinem Namen unterzeichnet war, das Alles
kam dieser tendenziösen Nachricht außerordentlich zu statten. Man übersah
dabei nur, daß der Antrag an eine Versammlung eben von den Antragstel¬
lern und der Beschluß derselben von den Beschließenden (das ist von dem sie
vertretenden Präsidium) unterzeichnet wird, man übersieht einfach die Mitthei¬
lung derjenigen, die mit Döllinger bereits an der Pforte des Glaspalastes
gesprochen und sich durch den Augenschein überzeugt haben, daß nur die
wahrhaft demonstrativen Beifallsrufe den berühmten Meister zurückgeschreckt
haben, plötzlich mitten in das unvermeidliche Hoch von 7000 Kehlen hinein¬
zutreten. Vor Allem aber darf man nicht übersehen, daß Döllinger zur Ver¬
wirklichung der gefaßten Beschlüsse nun selber die Hand bietet. In seiner
Wohnung kamen die Männer zusammen, die gegen ihn gestimmt haben, ja
sogar in der Redaction der stenographischen Berichte strich Döllinger man¬
ches mit eigener Hand was ihn gereute, weil es zu stark gegen die jetzigen
Beschlüsse des Congresses hervortrat. Es ist wahr, daß er nach seiner Per¬
sönlichkeit nicht sehr zu einem acuten und energischen Vorgehen geneigt ist,
aber er weiß auch das Gewicht von 400 gewiegten Stimmen zu schätzen und
hat auch jener Politik, die sie ihm vorschlugen, seine volle thätige Unterstützung
verbürgt. So und nicht anders liegt der vielbesprochene Conflict mit
Döllinger.
Sehr interessante Details traten bisweilen über die intolerante und sit¬
tenlose Haltung der Geistlichkeit zu Tage, ohne daß man darauf erpicht ge¬
wesen wäre, solche Fälle gerade hervorzukehren. Man konnte sie nur nicht
absolut verbergen: im Ganzen aber muß unbestreitbar die außergewöhnliche
Decenz und Mäßigung gerühmt werden, mit welcher man so viel scanda-
löses und effectvolles Material bei Seite schob. Man überließ getrost der
Presse, dem Volk zu zeigen, welch traurige Beispiele moralischer Verkommen¬
heit fast täglich unter dem Priesterstande vorkommen, die Versammlung aber
berührte dieselben nur vorübergehend, wo sie auf den für die Altkatholiken
bestehenden Nothstand hinwies.
Dem großen Congreß im Glaspalaste folgten noch einige Vorträge, die
ausschließlich für Damen gehalten wurden. Auch hier fanden sich zahlreiche
Frauen aus dem Bürgerstande ein, auch hier war von den vier Rednern,
welche auftraten. Prof. Reinkens schnell der Liebling geworden. Sie alle
schilderten den tiefen Einfluß, den die Corruption der Kirche auf die Familie
üben müsse, aber die wenigsten trafen hier den völlig rechten Ton, und vor
allem die rechte Mitte dessen, was man den Frauen geistig zutrauen und
was man ihnen vorenthalten dürfe. Reinkens setzte am meisten voraus.
er sagte niemals, „das kann ich hier nicht näher erörtern" und deßhalb ge«
fiel er unbestritten am besten.
Unterdessen macht der Landesreformverein sehr rege Fortschritte, die Gel¬
der, die er bedarf, laufen vor Allem aus England reichlich ein und die Agi¬
tation findet auch auf dem Platten Lande fruchtbaren Boden. Mit wel¬
chen Gesinnungen die Staatsregierung ihr entgegenkommt, wird wohl un¬
verblümt an den Tag treten, wenn die eingereichte Jnterpellation in der
Kammer verhandelt wird. In dieser Entscheidung gipfelt zunächst die Zu¬
kunft der ganzen Bewegung allein; daß diese Entscheidung günstig ausfällt,
Die deutschen Zeitungen haben sich seit einer Woche mehrfach mit einer
Reihe von Artikeln beschäftigt, welche der in der Ueberschrift genannte Herr
in einem belgischen Blatt, der zu Brüssel heraufkommenden „liovue Milvi'g.1k"
hat erscheinen lassen. Das Interesse, welches das Factum bietet, dürste indeß
noch nicht ganz erschöpft sein. Nicht als ob der Urheber eine so gar wich¬
tige Person wäre. Man könnte den Aufgang des Gestirnes August Reichen-
sperger am Himmel der französisch redenden Welt vielleicht unbeachtet lassen,
wenn der Augenblick, wo dieser Sternwandel merkbar wird, nicht so bedeut¬
sam wäre, und wenn nicht die Vermuthung eine gewisse Berechtigung hätte,
daß Herr Reichensperger weniger dem eigenen Trieb, als einem höheren Ge¬
bot, vielleicht sogar einem infalliblen, gehorcht hat.
Das Auftreten der ultramontanen Fraction im ersten deutschen Reichs¬
tag hatte nach vielfacher Auffassung den Zweck, die Reichsregiernng zu son-
diren, ob sie die Bundesgenossenschaft des Ultramontanismus anzunehmen
geneigt sei, natürlich um sich zu solchen Gegendiensten zu verpflichten, wie sie
die päpstliche Partei gewohnt ist zu fordern und sehr oft zu empfangen. Die
Reichsregierung ihrerseits scheint diesen Sondirungsversuch sehr übel vermerkt
zu haben. Die Organe der Reichsregierung erklärten auf verschiedenen We¬
gen immer denselben Standpunkt, nämlich, daß die Reichsregierung überall
nur nationale Politik treibe, niemals aber sich dienstbar machen wolle noch
dürfe confessionellen Tendenzen, die über das nationale Interesse, wie über
die nationalen Grenzen hinausführen. Die national gesinnten Deutschen aller
Confessionen stimmten diesen Erklärungen bei. Dabei konnte nicht fehlen,
daß die Stellung der sogenannten Centrumsfraction, ja die bloße Existenz
derselben vielfach einer verwerfenden Kritik verfiel, denn man sagte sich: was
soll eine Partei im Reichstag und welches Recht hat eine Partei zu bestehen,
die nicht einen Weg der nationalen Wohlfahrt. Bildung, Sittlichkeit und
Eintracht verfolgt, sondern die aus der Nation mit ihrer jetzigen Größe und
Kraft ein Mittel für einen ausländischen Zweck macht.
Daß nun Herr A. Reichensperger oder irgend ein anderes Mitglied der
angegriffenen Fraction den Versuch einer Vertheidigung unternimmt, das
kann nur willkommen geheißen werden, weil es auf jeden Fall Belehrung
verspricht. Daß aber Herr A. Reichensperger sich mit seiner Vertheidigung
an die französisch denkende Welt richtet, das muß nothwendig in Deutschland
sehr befremden. Gesetzt, seine französischen Leser sprächen alle Herrn Reichen-
sperger und dessen Partei von den Anklagen seiner deutschen Landsleute frei,
was hat derselbe damit gewonnen? Er hat vielleicht dem Ausland Mittel
geliefert, die dortigen Leidenschaften zu erhitzen, indem das Ausland sich um
so besser einreden kann, daß die in Deutschland zum Sieg gelangte nationale
Richtung durch und durch von einem Geist der Ungerechtigkeit erfüllt sei.
Aber wie merkwürdig! Wessen sieht sich Herr Reichensperger angeklagt?
Man zeiht ihn, daß er und die Seinen nicht national, sondern ultramontan,
ausländisch gesinnt seien. Was thut Herr Reichensperger? Er hält eine
Rede an das Ausland, an das vorzugsweise deutschfeindliche Ausland, darüber,
wie ungerecht er mit den Seinen des Mangels an deutscher Gesinnung be¬
zichtigt werde!
Freilich die Wendung ist nicht nicht neu, daß die Todfeinde Deutsch¬
lands sich für seine wahren, ja für seine einzig verständigen Freunde erklär¬
ten. Wie oft hat das Napoleon I. gethan, und Napoleon III. wollte dasselbe
thun, als die für Deutschland bestimmten Proclamationen ihm in den Kof¬
fern blieben. Das deutschfeindliche Ausland wird gern Herrn Reichensperger
das Zeugniß des besten deutschen Patrioten geben, aber denkt derselbe, daß
er damit in unseren Augen, in den Augen irgend eines unbefangenen Deut¬
schen gereinigt ist? Beweist seine Vertheidigung nicht schon durch das Tri¬
bunal, vor dem er sie führt, daß die Anklage begründet ist? Selbst wenn
Herr Reichensperger in Deutschland nur die Aussicht hätte, ungehört ver¬
dammt zu werden, was wir entschieden verneinen, selbst dann dürfte er nicht
von dem Ausland seine Freisprechung erwirken wollen. Denn wie kann das
Ausland entscheiden, und noch dazu der gegen Deutschland am meisten er¬
bitterte Theil des Auslandes, wer ein guter Deutscher ist, wer nicht? Man
hat die deutschen Ultramontanen beschuldigt, sie hätten einen Sieg der frau-
zösischen Waffen vielleicht nicht ungern gesehen. Nun beweist Herr Reichen-
sperger vor einem französischen Publicum, daß er ein guter Deutscher sei.
Warum erzählt er nicht, wie inbrünstig er den Sieg der deutschen Waffen
gewünscht hat?
Bei diesem Punkt hält er sich wohlweislich nicht auf. Er dreht viel¬
mehr den Spieß herum, wie man zu sagen pflegt, indem er behauptet, die
nationale Richtung in Deutschland wolle mittels des Reichstages dem Katho¬
lizismus zu Leibe, wolle eine nationale Kirche und endlich einen kosmopoli¬
tischen Humanismus, das Ideal der Freimaurerei aufrichten. Seit wann ist
denn aber die Nationalkirche der Weg zum kosmopolitischen Humanismus?
Ist nicht die Nationalkirche vielmehr die Nationalisirung, wenn man fo will,
eines an sich kosmopolitischen Gebietes, des religiösen nämlich? Diese sonder¬
bare Behauptung, welche Herr Reichensperger aufstellt, sieht sie nicht ganz
danach aus, als wolle ihr Urheber dem katholischen Ausland Angst ein¬
flößen vor der deutschen Nationalkirche? So nämlich, daß er dem katholischen
Ausland den Gedanken beibringt, die deutsche Nationalkirche, die übrigens
einstweilen nur in der Vorstellung des Herrn Reichensperger existirt, werde,
auf ihrem heimischen Boden zum Sieg gelangt, alsbald zu einer allge¬
meinen Propaganda fortschreiten.
Sollte in der EinPrägung und Verbreitung dieses Gedankens vielleicht
der Zweck des Pamphletes zu suchen sein, welches Herr Reichensperger artikel¬
weise von Brüssel hat ausgehen lassen? Wäre das der ultramontane Pa¬
triotismus: das deutsche Volk, nachdem die Denunciationen politischer Uni-
versalherrschaftsgelüste nicht mehr verfangen, religiöser Universalherrschafts-
gelüste zu verdächtigen? Schlecht wäre das Mittel nicht, denn die religiösen
Leidenschaften sind selbst heute noch mächtiger in der Welt, als die politischen,
wenn es darauf ankommt, die innerste Lebensfiber der Massen zu berühren.
Wir werden sehen, ob das von Herrn Reichensperger angeschlagene Thema in
der Presse des katholischen Auslandes etwa eine lange Reihe von Variationen
Die Specialconvention zwischen Deutschland und Frankreich, welche die
Versailler Versammlung am Vorabend ihrer Ferien beschäftigte und von der¬
selben so unglücklich verbessert wurde, hat seitdem ein gespenstisch-ruheloses
Dasein geführt und es kann Niemanden Wunder nehmen, wenn ihr bei dem
Vielen Hin- und Herwandern zwischen Versailles und Berlin — der Artikel 3
verloren gegangen ist, mit welchem die französische Nationalversammlung sie
verschönert hatte. Das wird, so versichert man, die Lösung der verwickelten
Fragen sein, wenn auch heute noch nicht gestattet ist, Genaueres darüber
mitzutheilen, denn die Verhandlungen schweben noch und Herr Thiers hat
das Actenstück, welches ihm vorliegt und welches die definitiven Entscheidungen
der Reichsregierung enthält — in diesem Augenblicke wenigstens — noch nicht
unterzeichnet. Daß er sich bald dazu entschließen wird, ist hier für zweifellos
anzusehen, denn die Vortheile der Convention sind ja für Frankreich so augen¬
scheinlich, daß dieselbe deßhalb hier, als sie zuerst in die Oeffentlichkeit drang,
nicht günstig aufgenommen wurde. Ob in einzelnen Punkten Frankreich kleine
Zugeständnisse gemacht sein mögen, so hat die Reichsregierung doch ihren
Zweck erreicht und die beschleunigte Räumung ist lediglich das Aequivalent
für die Elsaß und Lothringen gewährten Zollerleichterungen, während die
finanziellen Ansprüche des Reiches so weit gewahrt sind, als sie ohne das
bisherige Specialpfand überhaupt gewahrt werden können.
Sobald der Reichstag zusammentritt, wird er sicherlich mit Freuden be¬
grüßen, daß die Occupation des französischen Gebietes noch weiter hat be¬
schränkt und endlich ein Theil der dort noch stehenden deutschen Truppen
zurückgezogen werden können. Unterdessen ist auch der Schleier von dem Pro¬
gramm der nächsten Session hinweggezogen worden und in der Absicht der
Negierung liegt, daß die Verhandlungen möglichst kurz und bündig aus¬
fallen sollen. Deßhalb hat sie den schwierigsten Punkt von der Tagesordnung
abgesetzt und will sich in Beziehung auf den Militäretat noch einmal mit
einem Provisorium behelfen. Aus verschiedenen Gründen wird sich im Reichs¬
tage kein ernster Widerstand gegen diesen Vorschlag erheben. Die rechte Seite
wird jeden Vorschlag der Regierung unterstützen, durch welchen diese möglichst
freie Hand erhält und die nationalliberale Partei fürchtet im Grunde des
Herzens nichts so sehr, als die Möglichkeit eines neuen Conflicts, der aus
den militärischen Fragen nur zu leicht entspringen kann, denn es gibt nicht
wenige, welche zum Beispiel die Herbeiführung der zweijährigen Dienstzeit
zur Sprache zu bringen allezeit für opportun halten und welche nach dem
letzten glücklichen Kriege die Zeit mehr als je für gekommen erachten, um mit
ihren Wünschen hervorzutreten. Bei der heutigen Zusammensetzung des Reichs¬
tages ist allerdings nicht zu besorgen, daß sich die Mehrheit der Versamm¬
lung zu einer Unbesonnenheit verleiten läßt, aber das Verhältniß der Regie¬
rung zur Volksvertretung wird vergiftet, wenn jene sieht, daß die Erfahrungen
des letzten Jahrzehnts, so beredt dieselben auch sprechen, doch selbst an Solchen,
die sich für gute Patrioten halten, ohne Eindruck vorübergegangen sind.
Der erste October ist vorübergegangen ohne irgend eine Ruhestörung
und die Behörden haben also Recht gehabt, daß eine Wohnungsnot!) in dem
Maße, wie von der socialistischen Partei behauptet wurde, nicht existirt. Die
Uebertreibungen werden nur den Erfolg gehabt haben, die schon sehr hohen
Ansprüche der Hauswirthe noch zu steigern. Dennoch sind die Zustände der
Art, daß sie die ernsteste Aufmerksamkeit verdienen. Die finanziellen Factoren,
welche den Unternehmungsgeist im Häuserbaue beherbergen, sind schon hin¬
reichend erörtert. Man übersieht aber zwei andere Punkte von mindestens
gleich großem Gewicht. Zuerst wird die Wohnungsnoth dadurch gesteigert,
daß nach einem uralten deutschen Charakterzüge die Städtebewohner gern
möglichst gedrängt zusammenwohnen und eine schwer zu überwindende Scheu
haben, sich weiter als unbedingt nöthig von dem Mittelpunkte des Lebens zu
entfernen. Es gilt dies gleichmäßig von den Wohlhabenden, wie von den
Armen und vor wenigen Jahren machte der erste Versuch einer Villen-Colonie
(das sogenannte Westend hinter Charlottenburg) wenigstens finanziell voll¬
kommen Fiasco. Die Gesellschaft, welche das Unternehmen begründet hatte,
löste sich auf und erst jetzt, nachdem dasselbe lange in andere Hände überge¬
gangen ist, fängt es an zu prosperiren. Hierzu kommt, daß die Eisenbahnen
unglaublich wenig Rücksicht auf die localen Bedürfnisse nehmen. In Ham¬
burg gibt es längs der Stadt drei oder vier Eisenbahnstationen, wo man
ein- und aussteigen kann, hier geschieht nichts Aehnliches. Als vor einigen
Jahren die Artilleriewerkstätten von hier nach Spandau verlegt wurden, schaffte
man die Arbeiter, da sie in dem engen Spandau keine Wohnung finden konn¬
ten, früh mit einem Extrazuge dorthin und Abends wieder zurück. Ich weiß
nicht, ob dies heute noch der Fall ist, aber sicherlich könnte man umgekehrt
hiesige Arbeiter in rasche Verbindung mit ihren auswärts gelegenen'Woh¬
nungen setzen und wenn die gegenwärtigen Eisenbahnverwaltungen außer
Stande sind, solche Einrichtungen zu treffen, so muß dieß den Wunsch hervor¬
rufen , daß der Staat sich in's Mittel legt. Aber auch abgesehen hier¬
von, könnte in der Stadt selbst, wenn auch nahe ihrer Peripherie, mehr für
Arbeiterwohnungen gesorgt werden, die für Hauseigenthümer eben so gewinn¬
bringend sind, als große Wohnungen, und es ist nicht Mangel an Capital
oder Credit, welcher solche Bauthätigkeit hindert, sondern die Unlust, mit den
„kleinen Leuten" zu thun zu haben', die unbeschreibliche Gleichgültigkeit und
der gränzenlose Egoismus, welcher die besitzenden Klassen und besonders das
eigentliche Bürgert'hum beherrscht. Um Alles in der Welt wollen diese Klassen
nicht, aus der süßen Gewohnheit des Daseins gestört werden: sie bezahlen ihre
Steuern, sie stellen ihre Söhne unter die Fahne, sie sind auch fleißig, sparsam
und moralisch, aber an der wirthschaftlichen Freiheit wollen sie nicht rühren.
Die Konservativen sehen das Uebel in dem Mangel der christlichen Liebe.
Will man sich nicht religiös, sondern politisch ausdrücken, so wird man besser
sagen: es ist der Mangel an Einsicht. Alle gesellschaftlichen Verhältnisse sind
in'einem ungeheuern Umschwung begriffen, es haben sich schwere Uebelstände
eingestellt und um sie zu lindern, bedürfte es einer großartigen Initiative
der Besitzenden. Die Regierung ist außer Stande Abhülfe zu schaffen, ob¬
gleich sie viel weiter steht und viel unbefangener urtheilt, als die Mittel¬
klasse. Diese letztere freut sich gedankenlos des gegenwärtigen Augenblicks,
und wenn Jemand aus ihr in die Zukunft zu sehen versucht, so hat er schwer¬
lich einen andern Gedanken, als den elenden Trost: ^nrös nous I» cI61uM.
Der sächsische Cultusminister, Herr von Falken sie in, hat sich nach
18jähriger Verwaltung seines Ministeriums in den verdienten Ruhestand
zurückgezogen. Auch sein erster Rath, Herr Dr. Hubel, welcher seit fast
40 Jahren dem Cultusministerium angehört hat, wird nach officiösen An¬
deutungen diesem Beispiele folgen. Es würde voreilig sein, schon jetzt ein
vollständiges Bild von dem entwerfen zu wollen, was das Ministerium Fal¬
ken se ein auf dem Gebiete des sächsischen Kirchen- und Schulwesens gelei¬
stet hat. Bekanntlich hat bereits die Universität Leipzig Herrn von Fal¬
ken se ein durch eine Deputation ihr Bedauern über seinen Rücktritt aus¬
drücken lassen und dabei rühmend alles dessen gedacht, was derselbe für die
Landesuniversität gethan hat. Und in der That hat letztere auch alle Ursache
zum Danke, da sie nicht mit Unrecht das Schooßkind des Cultusministeriums
genannt zu werden pflegte. Gewiß wird sich Jedermann auch schon darüber
freuen, wenn für die Pflege der Wissenschaft von Seiten der Regierung mit
vollen Händen gesorgt wird. Nur muß dabei die Bedingung gestellt werden,
daß die anderen Zweige des öffentlichen Unterrichts in gleichem
Verhältniß wie die Universität gefördert, daß nicht ein solches „Schooßkind"
mit einseitiger Vorliebe gehegt und gepflegt werde, während andere Gebiete
über eine gewisse Vernachlässigung zu klagen haben. Dies letztere gilt zunächst
von dem höheren Schulwesen (Gymnasien und Realschulen) in Sachsen,
und es soll Aufgabe der nachfolgenden Blätter sein, den gegenwärtigen Stand
desselben kurz zu kennzeichnen, und nachzuweisen, daß dasselbe fortan einer
ganz besonderen Fürsorge von Seiten des Cultusministeriums bedarf, wenn
es mit dem Aufschwung der Landesuniversität und mit der Entwickelung des
Schulwesens in den übrigen deutschen Staaten gleichen Schritt halten soll.
Sehen wir auf die Summen, welche einerseits für
die Universität Leipzig, andrerseits für die Gymnasien und Realschulen des ganzen
Landes verwendet werden, so scheinen diese nicht in dem richtige» Verhältniß
zu stehen. Nach dem ordentlichen Staatsbudget für 1870/71 beträgt der
jährliche Zuschuß des Staates:
Dazu kommen auf die zweijährige Finanzperiode im außerordentlichen Staats¬
budget :
Im Ganzen schießt demnach der Staat auf die Finanzperiode 1870/71 für
die Universität Leipzig zweimal 66,653 Thlr., plus 75,000 Thlr., oder
mehr zu als für sämmtliche Gymnasien und Realschulen des Landes. Damit
soll keineswegs gesägt sein, daß der Zuschuß für die Universität herabgesetzt
werden müsse, vielmehr soll nur darauf hingedeutet werden, um wieviel der
Zuschuß für die Gymnasien und Realschulen erhöht werden müßte, wenn für
dieselben insgesammt ebensoviel verwendet würde als für die einzige Univer¬
sität. Und daß hier wirklich eine Ungleichheit obwaltet, unter welcher das
höhere Schulwesen (Gymnasien und Realschulen) in Sachsen bisher entschie¬
den gelitten hat, das beweist die vergleichende Statistik auss UnWider-
leglichste.
Das Cultusministerium selbst hat in einem dem vorletzten Landtag mit¬
getheilten Expose' (Landt. Mittheil. I. K. 1868, S. 1462 ff.) zugegeben, daß
unser Land hinsichtlich seines höheren Schulwesens hinter Preußen bedeu¬
tend zurückstehe. Zur Vervollständigung des dort gegebenen Materials nach
den neuesten Quellen für das Jahr 1870 diene Folgendes:
Sachsen müßte also nach dem preußischen Maßstab statt 12, mindestens
2 1 Gymnasien haben. Das Verhältniß wird aber noch ungünstiger, wenn
man die übrigen für das höhere Unterrichtswesen bestimmten Anstalten in's
Auge faßt. Außer seinen 208 Gymnasien besitzt nämlich Preußen:
1) 40 Progymnasien, von der Regierung anerkannt und zur Aus¬
stellung des Zeugnisses für einjährige Freiwillige berechtigt, in der Regel alle
Gymnasialklassen, mit Ausnahme der Prima, also VI bis II, umfassend.
Nicht gerechnet sind hierbei die zahlreichen noch nicht anerkannten Progym¬
nasien, welche nur die unteren Klassen haben, wie solche auch Sachsen einige
in Verbindung mit Realschulen besitzt.
2) 76 Realschulen I. Ordnung, welche hinsichtlich der Klassenzahl
und Cursusdauer ganz nach dem Muster der Gymnasien organisirt sind.
3) 13 Realschulen II. Ordnung, bei welchen das Lateinische weg¬
fallen und der 9jährige Cursus der Realschulen I. Ordnung um 1 oder 2
Jahre verkürzt werden kann. Schon ihre geringe Zahl gegenüber den Real¬
schulen I. Ordnung (13 gegen 76) beweist, wie wenig Anklang die Realschu¬
len II, Ordnung in Preußen finden, und es herrscht daher dort das Bestre¬
ben, eine Anstalt, die zunächst als Realschule II. Ordnung auftritt, möglichst
bald zu einer solchen der I. Ordnung fortzubilden.
4) 70 höhere Bürgerschulen, welche von dem Cultusministerium
anerkannt und zur Ausstellung des Freiwilligenzeugnisses berechtigt sind.
Man hat also darunter etwas ganz Anderes zu verstehen, als was man bei
uns zu Lande „höhere oder erste Bürgerschule" nennt, denn die preußischen
höhern Bürgerschulen sind vollständig nach den Vorschriften für die Real¬
schulen I. Ordnung eingerichtet und unterscheiden sich von diesen nur dadurch,
daß ihnen die Real-Prima fehlt, daß sie nur die Realklassen VI bis II um¬
fassen, gerade so, wie die Progymnasien nur die Gymnasialklassen VI bis
II haben.
Diesem reichgegliederten Organismus steht Sachsen mit seinen 9 Real¬
schulen I. Ordnung (2 Dresden, Leipzig, Annaberg, Chemnitz, Döbeln,
Plauen, Zittau, Zwickau), die übrigens gar nicht, wie die preußischen, eine
9jährige, sondern nur eine 7jährige Cursusdauer haben, und 1 Realschule
II. Ordnung (Reichenbach) ziemlich dürftig gegenüber.
Ziehen wir die preußische Provinz Sachsen mit 2,067,066 Ein¬
wohnern (also mit ca. 356,000 Cinw. weniger als das Königreich Sachsen)
zur Begleichung heran, so hat dieselbe: 25 Gymnasien (gegen 12 des
Königreichs Sachsen), 1 Progymnasium, 6 Realschulen I. Ordnung, eine der
II. Ordnung, 4 höhere Bürgerschulen. Noch schlagender wird der Gegensatz,
wenn man einzelne preußische Städte in's Auge faßt. So hat die Stadt
Berlin allein 10 Gymnasien (davon 3 seit 1861 neugegründet) mit
4845 Schülern, ein anerkanntes Progymnasium, 7 Realschulen
und 2 anerkannte höhere Bürgerschulen mit 3868 Schülern. —
Dagegen zählen die 12 sächsischen Gymnasien zusammen nur 2748
Schüler und die 10 Realschulen 3098 Schüler. — Ja, die Gesammtzahl
der sächsischen Gymnasiasten wird fast von der einzigen Stadt Breslau er¬
reicht, deren 4 Gymnasien (ein 5. wird gegenwärtig begründet) von 2 408
Schülern besucht werden.
Stellen wir also die obigen Ergebnisse noch einmal übersichtlich zusam¬
men, so finden wir in
Nimmt man nach der letzten Volkszählung von 1867 die Einwohner¬
zahl Preußens zu 24,043,296 und die Sachsens zu 2,423,401 an. so kommt
Die Anzahl der Schüler, welche höhere Schulen besuchen, beläuft sich
Wäre in Sachsen der Zudrang zu den höheren Schulen verhältnißmäßig so
groß wie in Preußen, so müßten nicht S900, sondern 10,400 Schüler vor¬
handen sein.
Wenn übrigens das sächsische Cultusministerium in jenem oben erwähn¬
ten Expose das Uebergewicht Preußens auf dem Gebiete des höheren Schul¬
wesens fast ausschließlich auf Rechnung der Militärgesetzgebung setzen will,
so ist dies doch nicht ganz zutreffend. Allerdings ist die Erlangung der Be¬
rechtigung zum einjährigen Freiwilligendienst ein bedeutender Factor für den
stärkeren Besuch der höheren Schule, und wir können diese Thatsache nur
mit Freuden begrüßen, insofern eine große Anzahl junger Leute, die sonst
nach erfolgter Konfirmation schon aus den unteren Klassen abgehen würden,
veranlaßt werden, wenigstens bis zur Untersecunda vorzuschreiten und sich
dadurch etwas mehr als eine elementare Bildung anzueignen. Aber die Frei¬
willigenberechtigung gibt nicht allein den Ausschlag für Preußen. *)
") Da das preußische Berechtigungswesen nicht allgemein bekannt ist, so geben wir im
Folgenden eine übersichtliche Zusammenstellung der einzelnen Berechtigungen. Dieselben gel¬
ten für die gleichnamigen Klassen der Gymnasien und der Realschulen I. O.
An den Besuch der höheren Schulen knüpfen sich dort vielmehr noch
andere wichtige Berechtigungen, entweder für gewisse Zweige der Verwaltung
und des öffentlichen Dienstes überhaupt, oder für den Eintritt in öffentliche
Lehranstalten. Gerade das Berechtigungswesen läßt erkennen, welche hohen
Ansprüche der preußische Staat an seine Beamten stellt. Wie viel geringer
sind bei uns in Sachsen diese Ansprüche! Wie oft aber kommt hier auch vor,
daß der Mangel an allgemeiner Bildung in den schärfsten Contrast tritt zu
der Stellung, welche der Beamte in der Gesellschaft einnimmt.
Die vergleichende Statistik ergibt, daß auch die oft gehörte Be¬
hauptung (Vergl. die Aeußerung des Cultusministeriums in den Landt.
Mieth. 1868. II. Kammer, S 2031), in Sachsen absolvirten ver¬
hältnißmäßig mehr junge Leute als in Preußen den vollstän¬
digen Gymnasialcursus, auf Irrthum beruht. Für das Jahr 1870
betrug die Zahl der Gymnasialabiturienten
Die Einwohnerzahl Preußens etwa 10mal so groß angenommen als die
Sachsens, mußte letzteres 283 statt 234 Abiturienten liefern.
Noch ungünstiger für Sachsen aber erweist sich das Verhältniß, wenn
man die 390 Abiturienten der preußischen Realschulen I. O. mit in Anschlag
bringt; denn man darf dieser Zahl nicht die 91 Abiturienten der sächsischen
regulativmäßigen Realschulen gegenüberstellen, da letzteren bis zu diesem
Jahre die zwei oberen Klassen der preußischen Realschulen I. O. fehlten. —
Ueberdies zeigt auch die Schulstatistik der erst 1866 zu Preußen hinzugekom¬
menen Provinzen (Hannover u. s. w), sowie die der übrigen nord- und
Entsprechende Rechte sind an die Progumnasicn. die Realschulen II. O. und die höheren
Bürgerschulen geknüpft.
süddeutschen Staaten, daß leider Sachsen hinter dem gesammten
Deutschland in der Entwickelung seines höheren Schulwesens erheblich
zurückgeblieben ist. Im Jahre 1870 zählte nämlich:
Hannover, bei 1.937,637 Einwohnern (also ca. '/^ Million weniger
als Sachsen): 17 Gymnasien (3 mehr als Sachsen), 2 Progymnasien, 9
Realschulen und 14 höhere Bürgerschulen.
Schleswig-Holstein, bei 981,718 Einwohnern: 10 Gymnasien,
1 Realschule, 3 höhere Bürgerschulen.
Hessen-Nassau, bei 1,379.743 Einwohnern: 11 Gymnasien, 2
Progymnasien, 8 Realschulen, Is höhere Bürgerschulen.
Thüringische Staaten und Anhalt, bei 1,346.141 Einwohnern:
17 Gymnasien (3 mehr als Sachsen), 1 Progymnasium, 10 Realschulen
und 4 höhere Bürgerschulen.
Mecklenburg, bei 639,388 Einwohnern: 9 Gymnasien, 2 Pro¬
gymnasien, 9 Real- und höhere Bürgerschulen. Nach diesem mecklenburgischen
Maßstabe müßte Sachsen 3 3 Gymnasien und 33 Realschulen haben.
Hessen-Darmstadt, bei 823,138 Einwohnern: 6 Gymnasien,
1 Progymnasium, 10 Realschulen.
Baiern, bei 4,823.421 Einwohnern: 28 Gymnasien, 78 Latein¬
schulen, 9 Knabenseminare, 6 Realgymnasien zur Vorbereitung auf das Poly-
technicum (außerdem 33 staatliche Gewerb-, Handels- und Landwirthschafts-
Schulen.)
Württemberg, bei 1,778,479 Einwohnern: 13 Gymnasien, Lyceen
und protestantische Klosterschulen, 9 Oberrealschulen (außerdem 106 Latein-
und Realschulen).
Baden, bei 1,434,970 Einwohnern: 13 Lyceen und Gymnasien,
3 Pädagogien (Progymnasien), 30 höhere Bürgerschulen.
Diese Angaben genügen, um die unerfreuliche Thatsache festzustellen, daß
Sachsen, welches sich in anderen Zweigen menschlicher Cultur mit jedem
deutschen Staate getrost messen kann, auf dem Gebiet des höheren Schul¬
wesens nicht nur von Preußen, sondern auch von den übrigen deutschen
Staaten sich vollständig hat überflügeln lassen. Dafür spricht auch die be¬
trübende Erscheinung, daß, während allerwärts die höheren Schulen bedeu¬
tend vermehrt worden sind, in Sachsen seiner Zeit 5 Gymnasien (Kamenz
und Löbau vor 1833, Chemnitz, Annaberg und Schneeberg nach 1833) un¬
verantwortlicher Weise aufgehoben worden sind, von denen erst eins, nämlich
das zu Chemnitz, im Herbst 1868 wieder ins Leben gerufen worden ist.
Bereits auf dem vorletzten Landtage hatte die II. Kammer die Gründung
von mindestens vier neuen Gymnasien resp. Realschulen beantragt (Landt.
Mittheil. II. Kammer, 1868, S. 3048). Nach den Beschlüssen der I. Kam-
mer, denen dann auch die II. beitrat, sollte zunächst ein Gymnasium in
Chemnitz und eine Realschule mit landwirtschaftlicher Abtheilung (Döbeln)
gegründet werden, zugleich sollte aber „das Ministerium die Frage einer wei¬
teren Vermehrung der Gymnasien des Landes in Erwägung ziehen und hier¬
über der nächsten Stände-Versammlung Mittheilung machen."
Allein, abgesehen von den 60,000 Thlr. für das bereits beschlossene
Gymnasium zu Chemnitz, fand sich in dem Budget 1870/71 kein weiteres
Postulat für Gründung neuer Gymnasien, und auch von der gewünschten
Mittheilung über eine weitere Vermehrung der Gymnasien des Landes zeigte
sich keine Spur. Und doch hatte das Cultusministerium selbst schon im
Jahre 1866 ein Postulat von 30,000 Thlrn. zur Gründung eines ganz un¬
entbehrlichen Gymnasiums für Neustadt-Dresden eingestellt. Dasselbe
wurde aber später aus unbekannten Gründen wieder zurückgezogen und ist
bis jetzt, trotz aller Petitionen der Dresdener Stadtverordneten, noch nicht
wieder zum Vorschein gekommen. Nachdem aber lange genug Chemnitz als
das einzige Beispiel in Deutschland hat dastehen müssen, daß eine Stadt mit
mehr als 50,000 Einwohnern nicht einmal ein Gymnasium besaß, wird es
wahrlich auch Zeit, daß ein Stadttheil der Residenz, der jetzt mindestens
60,000 Einwohner zählt, nicht länger eines Gymnasiums entbehrt. Oben in
der statistischen Uebersicht ist erwähnt worden, daß Berlin allein 10 Gymna¬
sien und Breslau deren 4 resp. 5 besitzt. Wie unzulänglich erscheinen daneben
die zwei Altstädter Gymnasien Dresdens, von denen obendrein das Vitzthum-
sche Geschlechtsgymnasium eine Familienstiftung und wegen seiner hohen
Schulgeldsätze (72 resp. 100 Thlr.) nur den wohlhabenden Ständen zugäng¬
lich ist l Gerade an dem Beispiele der Haupt- und Residenzstadt zeigt sich am
schlagendsten, wie wenig seit langer Zeit in Sachsen für eine Vermehrung
der Gymnasien geschehen ist.
II. Obere Leitung des höheren Schulwesens in Sachsen.
Wie ist es überhaupt möglich gewesen, wird mancher fragen, daß Sachsen in
dieser Weise hinter allen deutschen Staaten hat zurückbleiben können? Es las¬
sen sich dafür mancherlei Erklärungsgründe anführen; doch wird man nicht
fehlgreifen, wenn man den Hauptgrund in dem Mangel einer fachmänni¬
scher Oberleitung sucht. Bis jetzt haben in dem sächsischen Cultus¬
ministerium ausschließlich Juristen und Theologen die oberste Leitung des
gesammten Unterrichtswesens in Händen gehabt. Es sei ferne, die Verdienste,
welche sich einzelne unter diesen hohen Beamten um das Schulwesen erwor¬
ben haben, verkleinern zu wollen. Aber das wird kaum bestritten werden
können, daß zu Zeiten, namentlich damals, wo man jene 5 Gymnasien auf¬
hob, auch in der oberen Leitung ein volles Verständniß dafür, was die hu¬
manistische, mehr ideale Bildung der Gymnasien auch in einem vorwiegend
industriellen Lande, wie Sachsen, zu bedeuten hat, nicht vorhanden ge¬
wesen ist.
Wie anders in Preußen, wo die Leitung des Erziehungs- und Unter¬
richtswesens seit langen Zeiten den Händen ausgezeichneter Schulmänner
anvertraut ist, welche nach festen und wohlgeprüften Grundsätzen verfahren.
Wir erinnern beispielsweise an die tiefgreifende und umfassende Wirksamkeit
des Dr. Johann Schulze, einer anregenden, überall die Wissenschaftlichkeit
fördernden, Geist und Leben weckenden Kraft, welcher von dem geistvollen
und kenntnißreichen Staatsminister Freiherrn von Altenstein s1817—1840)
als technischer Rath für das höhere Unterrichtswesen in das Ministerium
berufen wurde und demselben von 1818 bis 185,8 angehörte. In Preußen
nimmt man die Provinzialschulräthe, welche die höheren Schulen in den ein¬
zelnen Provinzen zu beaufsichtigen haben, aus der Reihe der Gymnasial-
directoren und der gegenwärtige Leiter des höheren Schulwesens, Geh. Ober-
Regierungsrath Dr. Wiese ist ein vormaliger Lehrer des Joachimsthalschen
Gymnasiums zu Berlin, ein Mann, der sich durch seine philologische und
pädagogische Tüchtigkeit in der Lehrerwelt einen ehrenvollen Namen erworben
hat. Was dieser Mann für die Hebung und Mehrung der preußischen
Gymnasien und Realschulen, für verbesserte Stellung der Lehrer gethan hat,
davon sind seine höchst lehrreichen Werke über die Geschichte und Statistik,
sowie über die gesetzlichen Grundlagen des preußischen höheren Schulwesens")
ein redendes Zeugniß, und ihm gehört wohl ein guter Theil der warmen
Anerkennung, welche im vorigen Jahre Kaiser Wilhelm dem Cultusminister
von Muster sür den großen Aufschwung der höheren Unterrichtsanstalten
Preußens aussprach.
Warum haben wir nicht auch in Sachsen einen solchen Fachmann im
Cultusministerium, welcher die Bedürfnisse der Schule und der Lehrer aus
eigener Erfahrung kennt; der ihre Leistungen selbständig beurtheilen kann,
der für die möglichste Förderung seines Verwaltungsgebietes das lebhafte
Interesse eines ehemaligen Mitarbeiters mitbringt? Warum haben wir nicht
auch in Sachsen solche officielle Werke über das höhere Schulwesen, welche
auch dem Laien einen gründlichen Einblick in die Verhältnisse gestatten wür¬
den? Der Minister v. Bethmann-Hollweg ließ von 1860 ab das
„Centralblatt für die gesammte Unterrichtsverwaltung in Preußen" heraus-
geben, damit ein urkundenmäßiger Nachweis seiner Verwaltung geführt wer¬
den könnte; warum haben wir in Sachsen nichts Aehnliches?
III, Begriff der höheren Schule. Ueber den Begriff der höheren
Schule herrscht in Sachsen im Allgemeinen noch viel Unklarheit. Bald wird
schon die erste Bürgerschule größerer Städte zur höheren Schule gerechnet,
bald wird letztere mit den Fachschulen zusammengeworfen. Diese Unklarheit
verwirrt die wichtige Angelegenheit der Lehrerbildung und erschwert die Frage,
ob die höheren Schulen Staatsanstalten oder städtische Anstalten sein sollen.
Auch in der officiellen Sprache ist der Begriff der höheren Schule
nicht festgestellt. — Einige Ministerialverordnungen führen als höhere Schu¬
len auf: Gymnasien, Progymnasien, Lehrerseminare, höhere Bürger- und
Realschulen; aber welcher Umfang einem Progymnasium oder einer höheren
Bürgerschule zukommt, wer will das in Sachsen sagen? Das Ministerium
selbst ist geneigt, den Unterschied zwischen Volksschule und höherer Schule
einerseits, und zwischen Fachschule und höherer Schule andrerseits zu ver¬
wischen. Eine Verordnung vom 15. April 1850 stellt geradezu die Lehrer¬
seminare, die höheren Bürgerschulen und Realschulen mit der Volksschule
auf gleiche Stufe, indem das Ministerium darin die Erklärung abgibt, daß
es ihm „unthunlich" und „bedenklich" erscheine, für die genannten Schulen
einen Unterschied zwischen Volksschullehrern und akademisch gebildeten Lehrern
zu machen. Ferner kann man in den Nachträgen zu dem Realschulregulativ
vom 2. December 1870 lesen, daß für die Realschulen II. Ordnung einiger
Fachunterricht, wie z. B. im kaufmännischen Rechnen und in der Buchführung
nachgelassen ist, und bekannt ist die Absicht der Regierung, mit der Realschule
I. O. in Döbeln einige Fachklasfen für Landwirthe zu verbinden. Bei solchen
Maßnahmen kann doch wohl von einer tieferen Auffassung der Bedeutung
der höheren Schule nicht die Rede sein.
Anders begreift man in Preußen die allgemeine Aufgabe der Realschulen
und höheren Bürgerschulen und die Bedeutung, welche dieselben für das öffent¬
liche Leben und die nationale Bildung erlangt haben. „Die Realschulen und
die höheren Bürgerschulen," heißt es unter anderen in der Unterrichts - und
Prüfungsordnung v. 6. Oct. 1889, „haben die Aufgabe, eine wissenschaft¬
liche Vorbildung für die höheren Berufsarten zu geben, zu denen akade¬
mische Facultätsstudien nicht erforderlich sind. Für ihre Einrichtung ist daher
nicht das nächste Bedürfniß des praktischen Lebens maßgebend,
sondern der Zweck, bei der diesen Schulen anvertrauten Jugend das geistige
Vermögen zu derjenigen Entwickelung zu bringen, welche die nothwendige
Voraussetzung einer freien und selbstständigen Erfassung des späteren Lebens¬
berufs bildet. Sie sind keine Fachschulen, sondern haben es, wie das
Gymnasium, mit allgemeinen Bildungsmitteln und grundlegenden Kenntnissen
zu thun. Zwischen Gymnasium und Realschule findet daher kein
principieller Gegensatz, sondern ein Verhältniß gegenseitiger Ergänzung
statt. Sie theilen sich in die gemeinsame Aufgabe, die Grundlage der ge-
sammten höheren Bildung für die Hauptrichtungen der verschiedenen Berufs¬
arten zu gewähren. Die Theilung ist durch die Entwickelung der Wissen¬
schaften und der öffentlichen Lebensverhältnisse nothwendig geworden, und
die Realschulen haben dabei allmählich eine coordinirte Stel¬
lung zu den Gymnasien eingenommen." „Nur in dem Maße/'
lautet eine andere Stelle der angeführten Unterrichtsvrdnung, „in welchem
die Aufgabe der allgemeinen und ethischen Bildung von der Real- und höhe¬
ren Bürgerschule erkannt und gelöst wird, kann sie die irrige Vorstel¬
lung, sie vermöge und wolle rascher und leichter als das Gym¬
nasium für den praktischen Lebensberuf vorbereiten und Kenn e-
rlöse mittheilen, die sich unmittelbar verwerthen lassen, be¬
richtigen und der Ueberzeugung Eingang verschaffen, daß gerade dann nicht
für die Schule, sondern sür das Leben gelernt und ein höherer Grad von
Brauchbarkeit erreicht wird, wenn die für die Zwecke des Lebens nöthigen
Kräfte ihrem Wesen und ihrer Bestimmung nach, an und für sich selbst aus¬
gebildet werden. Die Schule dient dem Leben und achtet auf seine Anforde¬
rungen , das beweist die Existenz gerade der Realschulen und die Einrichtung
ihres Lehrplans: aber sie hat es mit der Jugend zu thun und kann bei ihr
zu der Bildung, welche die einzelnen Berufsarten erfordern, nur den allge¬
meinen und dauernden Grund legen wollen. Alle Berufsbildung muß
sich aus freie menschliche Bildung des Geistes und des Gemü¬
thes gründen." — „Wird diese wahrhafte Realität des Lebens von den
Realschulen übersehen, so wäre von ihnen kein Gewinn für das Leben in der
Nation zu hoffen: sie würden alsdann eine wissenschaftliche und
sittliche Geistesbildung nicht gewähren, sondern den materiel¬
len Zeitrichtungen dienstbar sein, was gegen ihre Bestimmung
ist." — Was sagt dagegen das Regulativ für die Realschulen im Königreich
Sachsen vom 2. Juli 1860 über die Aufgabe der Realschulen? Die Realschulen
sollen den „näheren Dienst des Lebens" und „praktische Zwecke" im Auge
haben!
Die preußische Regierung hält also daran fest, daß die unwissen¬
schaftliche Praxis des Nützlichkeitsprincips den Charakter einer
allgemeinen höheren Bildungs anstalt aufhebe, und nicht ge¬
eignet sei, dem wirklichen Bedürfniß des Lebens zu genügen.
Die sächsische Regierung dagegen hat zum Theil die Realschule der materiellen
Zeitrichtung dienstbar gemacht und sie dadurch ihrer Bestimmung entfremdet.
Was ist aber überhaupt eine höhere Schule*)? Von der Elemen¬
tarschule, Volks- oder Bürgerschule, unterscheidet sich die höhere Schule
durch einen über das nächste Bedürfniß hinausgehenden Unterricht, von den
Fachschulen durch die Ziele allgemeiner geistiger Bildung, von der Uni¬
versität durch den vorbereitenden Charakter ihres Unterrichts.
Die höheren Schulen haben außer der ihnen mit der allgemeinen
Volksschule gemeinsamen Bestimmung, bei der religiösen, sittlichen und na¬
tionalen Erziehung der Jugend Hülfe zu leisten, den besonderen Zweck, die
Grundlagen der wissenschaftlichen Bildung zu gewähren, welche zur Theil¬
nahme an den höheren Aufgaben des Lebens im Staat, in der Kirche und
in der bürgerlichen Gesellschaft befähigt.
Die höheren Schulen sondern sich nach der historischen Entwickelung
des höheren Schulwesens in Preußen gegenwärtig in zwei Richtungen, eine
gymnasiale und eine reale.
Die Gymnasien sind vorzugsweise und nach ihrer ursprünglichen Be¬
stimmung die eigentlichen Vorbereitungsanstalten für die Universitätsstudien.
Vermöge der universellen Bedeutung ihrer Mittel zu diesem Zweck sind sie
zugleich am meisten geeignet, die Grundlage höherer Geistesbildung überhaupt
zu gewähren.
Die Realschulen haben, im Gegensatz zu den Nützlichkeitsschulen frühe¬
rer Zeit, überwiegend die Bestimmung, die für praktische Berufsarten, sowie
für den Eintritt in höhere technische Fachschulen erforderliche allgemeine
wissenschaftliche Vorbereitung zu geben.
1) Die vollständigen Gymnasien haben 6 aufsteigende Klassen,
Sexta bis Prima, von denen die drei oberen Klassen in eine untere und
obere Klassenstufe getheilt sind.
2) Progymnasien, welche als solche anerkannt und mit Berechti¬
gungen versehen sind, haben die 5 Gymnasialklassen von VI bis II. Det
Lehrplan der Progymnasien richtet sich in allen Beziehungen nach dem der
Gymnasien.
3) Die vollständigen Realschulen, oder Realschulen I.Ordnung,
bestehen wie die Gymnasien aus l> aufsteigenden Klassen. In III dehnt sich
der Cursus, um das Pensum der Klasse mit Gründlichkeit zu absolviren, in
der Regel auf zwei Jahre aus. II und I haben regelmäßig einen je zwei¬
jährigen Cursus.
4) Die Realschulen II. Ordnung unterscheiden sich von denen I. Ord¬
nung darin, daß jene sich unabhängiger von den Rücksichten auf die Forde¬
rungen der Behörden nach besonderen localen Bedürfnissen einrichten. Das
Lateinische kann in ihnen zu den fakultativen Lehrgegenständen gerechnet wer¬
den oder ganz wegfallen; sie sind unbehindert, den Cursus der III und II
auf je ein Jahr zu beschränken. — Diese Realschulen II. O. finden, wie schon
oben bemerkt, wenig Anklang in Preußen.
5) Die anerkannten und zu Entlassungsprüfungen berechtigten höheren
Bürgerschulen umfassen die Klassen VI bis II und befolgen in denselben
im Wesentlichen den Lehrplan der Realschulen I. Ordnung, sind auch im
Uebrigen nach denselben Grundsätzen eingerichtet. Der Cursus der ersten
Klasse solcher Anstalten hat daher die Dauer von 2 Jahren, und das Latei¬
nische gehört auch bei ihnen zu den obligatorischen Unterrichtsgegenständen.
Mit den meisten höheren Lehranstalten sind Elementar-Vor Schulen
von 1, 2 und mehr Klassen verbunden, um zur Erlangung der für den Ein¬
tritt In die Sexta erforderlichen Elementarkenntnisse Gelegenheit zu geben.
In die Vorschule können Kinder ohne alle Vorkenntnisse aufgenommen wer¬
den. Es geschieht in der Regel nicht vor dem vollendeten 6. Lebensjahre. —
Die Aufnahme in die Sexta der höheren Schule geschieht vorschriftsmäßig
in der Regel nicht vor dem vollendeten 9. Lebensjahre.
Vergleicht man die höheren Schulen Sachsens mit denen in unserem
„Nachbarstaate" Preußen, so wird man finden, daß nur das sächsische
Gymnasium dem Namen und der Sache nach mit dem preußi¬
schen Gymnasium zusammenfällt, daß hingegen die sächsischen
Progymnasicn, Realschulen I. O. und höheren Bürgerschulen
von den preußischen Schulen gleichen Namens ganz bedeutende
Verschiedenheiten zeigen. Progymnasien und höhere Bürger¬
schulen nach preußischer Terminologie gibt es bei uns nicht
einmal annäherungsweise. Auch die sächsische Realschule I.
Ordnung fällt mit der preußischen Realschule I.Ordnung durch¬
aus nicht zusammen, denn letztere hat einen 9jährigen Cursus mit Schü¬
lern vom 9. bis zum 18. Jahre, erstere dagegen nur einen 7jährigen, mit
Schülern vom 10. bis zum 17. Jahre. Die elementaren Vorkenntnisse, welche
bei der Aufnahme in die unterste Klasse, die Sexta, nachgewiesen werden
müssen, sind in Preußen und Sachsen genau dieselben, obgleich die Aufnahme
in Sachsen um ein Jahr später erfolgt! Auch die Borschulen, eine gewiß
sehr zweckmäßige Einrichtung, finden sich bei uns in Sachsen nicht vor.
Um jede Verwirrung der Wegrisse zu verhüten, was ja so leicht geschehen
kann, dürste sich wohl empfehlen, in so engverbundenen Staaten wie die
deutschen jetzt sind, mit dem gleichen Namen auch nur die gleiche
Sache bezeichnen. Das Jndigenat, die Gemeinsamkeit des Militär- und
Postwesens, und die Berechtigungen der höheren Schulen machen das Zu¬
sammenfallen des Namens mit der Sache sogar unbedingt nothwendig. Nach
dem Reglement der PostVerwaltung des norddeutschen Bundes vom 15. Febr.
1868 § 1 ist für die Annahme als Posteleve das Reifezeugniß eines
Gymnasiums oder einer Realschule I. Ordnung erforderlich. Werden nun
etwa die Reifezeugnisse einer sächsischen Realschule I. Ordnung den Reifezeug¬
nissen der Gymnasien und der Realschulen I. Ordnung in Preußen gleichge¬
stellt, da doch bei jener der Cursus um 2 Jahre kürzer ist, d. h. um 1 Jahr
später beginnt und um 1 Jahr früher endet, als bei diesen, der Abgang bei
jener schon im 17., bei diesen erst im 18. Jahre erfolgen kann? Diese offen¬
bare Ungerechtigkeit findet auch statt bei der Annahme als Portepeesähnrich.
Nach der Verfügung des sächsischen Kriegsministers vom 1. März 1867 sub 9
sind von der Portepeejunkerprüfung dispensirt: diejenigen Aspiranten, welche
im Besitze eines vollständigen Abiturientenzeugnisses eines sächsischen Gymna¬
siums oder einer nach dem Regulative vom 2. Juli 1860 organisirten sächsi¬
schen Realschule sind. Demnach werden auch hier die 17jährigen Abiturienten
unserer Realschulen mit den l 8jährigen Abiturienten der Gymnasien völlig
auf eine Linie gestellt. Diesen Widersprüchen kann nur dadurch gründlich
abgeholfen werden, daß sich das Cultusministerium endlich entschließt, die
sächsischen Realschulen völlig nach dem Muster der preußischen Real¬
schulen I. Ordnung zu reorganisiren.
Die Leiter des höheren Unterrichtswesens in Sachsen scheinen zu glauben,
daß durch Steigerung der Zahl der wöchentlichen Lehrstunden das Schulziel
schneller zu erreichen oder für den praktischen Lebensberuf schneller vorzube¬
reiten sei, als dies in „unserem Nachbarstaate" für möglich gehalten wird.
Abgesehen von den unteren Klassen und mit Ausschluß der Gesang- und
Turnstunden ist in Preußen die wöchentliche Stundenzahl
in Sachsen dagegen
Zu diesem Uebermaß von Unterrichtsstunden gesellt sich noch, namentlich
an manchen Realschulen, eine Ueberbürdung der Schüler mit häuslichen Ar¬
beiten. Was sind die Folgen solchen Borgehens? Die begabtesten Köpfe
allein vermögen dieses Uebermaß von Unterricht zu ertragen, die mittleren
Köpfe erliegen demselben aber vollständig. Durch diese Ueberfüllung des Gei-
steh tritt bei einzelnen Schülern mit zunehmenden Jahren ein Grad geistiger
Stumpfheit ein, der denn doch die Frage nahe legt, ob hier nicht ein ener¬
gisches „Halt" geboten erscheint. — Solche Zustände sind aber nur möglich,
wo das Schulwesen, wie in Sachsen, der fachmännischer Leitung ent¬
behrt, welche aus eigener Erfahrung überall das rechte Maß zu finden
weiß. (Schluß folgt.)
Ursprüngliche Klopstock'sche Odenform nach dem Vorbild des Horaz fin¬
det sich bei Goethe nur einmal verwerthet in dem choriambischen Hymnus am
Anfang des Mahomet:
Theilen kann ich auch nicht dieser Seele Gefühl,
Fühlen kann ich auch nicht allen ganzes Gefühl,
Wer, wer wendet dein Fied'n s^n Ohr?
Dem bittenden Auge den Blick?
Hebe, liebendes Herz, dem Erschaffenden dich!
Sei mein Herr du, mein Gott! Du alllicbender, du!
Der die Sonne, den Mond und die Stern'
schuf, Erde und Himmel und Dich.
Diese Horazianische Poesie hatte durch Herder den Todesstoß erhalten;
man fühlt selbst bei Goethe den Zwang und die Unnatur; sie mußte all-
mählig verbluten wie die Anakreontische Tändelei.
An die Stelle der letzteren trat auch bei Goethe seit Straßburg das
volksthümliche Lied. Seit dem Umgang mit Herder lauschte er wie Bürger
auf die Weisen des Volkslieds, und lernte ihm den empfindungsvollen, ein¬
fachen echt deutschen Ton ab.
Aber auch diese lyrische Form hat das tiefe, von selbsteigenem Leben
quellende edle Dichtergemüth über das, was er vorfand und was ihn zuerst
anregte, und zwar in der Richtung der dem Liede gleichsam immanenten In¬
tentionen weit hinausgehoben.
„Aus der mündlichen Sage" veröffentlichte Herder in seinen Volksliedern
das „Röschen auf der Haide"; es war ihm schon in Straßburg bekannt.
Es sah ein Knab' ein Röslein stehn —
Der Knabe sprach: ich breche Dich —
Doch der wilde Knabe brach
Das Röslein auf der Handen,
Röslein wehrte sich und stach;
Aber er vergaß danach
Beim Genuß der Leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Hciidm.
Herder hat: „Es sah", „Der Knabe", „Das Röslein" Goethe führt leise,
fast unbemerkt und zart den von Herder in dem 10. Briefe über Ossian.
hervorgehobenen „Vorschlag" ein, der dem Hauptwort weit mehr „poetische
Substantialität und Persönlichkeit" verleiht: 'Sah (Sah), 'Knabe (Knabe)
sprach, 's Röslein oder 'Röslein (Röslein) sprach. Die Schlußstrophe heißt
danach bekanntlich bei Goethe:
Und der wilde Knabe brach
's Röslein auf der Haiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt' es eben leiden.
Röslein u. s. w.
Und wenn Herder von dem Volkslied „Kinderton" verlangte, was ist mehr
Kinderton, das schroffe logische „Doch" oder das treuherzig sabulirende „Und" ?
Und wichtiger als alles dies: die Umänderung am Ende, wie hält sie
Alles einfach und einheitlich bei der traurigen Geschichte vom armen Röslein,
das nun eben zu schwach ist, Gewaltthat zu wehren: und war doch „so
jung und morgenschön" (Herder: so frisch und schön); stimmt's nicht zu kind¬
licher Wehmuth? Das Volkslied stört mit seinem Ausgang das Interesse,
das durch den Refrain fest und bestimmt dem Röslein zugewandt ist. Der
Goethe'sche Schluß stellt die Einheit der Empfindung, die lyrische Grund¬
stimmung wieder her. Und hingehaucht, sanft verschwebend und verklingend
dieser neue Schluß! wie täppisch und fast sinnlich roh das „Volkslied" selbst.
Durch wenige Striche ist es von dem sinnig nachfühlenden Dichter erst auf
die Höhe gehoben, die der Idee noch vorschwebte, die Herder richtig bezeichnet
hatte; Goethe hat es erst vollendet und zu sich selbst gebracht.
Was verdankt der Hochbegnadigte Mensch dem Lehrer? Er stellte ihn
so, daß er seinen Genius rein und frei gewähren lassen konnte; er gab ihm
Anregung und Gelegenheit; um es mit einem Schiller'schen Gegensatz zu sagen:
er gab den „Zufall", den der Dichter zum „Zweck" gestaltete. Er zeigte ihm
wirklich gefühlte Poesie; wie der Ton auch sein mochte, ob Knittelreim, ob
reimloser Hymnus, ob Lied, ob Ballade, sofort klang es, wenn er echt
poetisch war, in dieser Seele von Neuem wieder. Der Haidenrösleinton gleich
noch einmal im „Veilchen;" in den „Werken" freilich weit davon getrennt;
jenes unter den „Liedern", dieses unter den „Balladen;" und ist doch das
zweite unmittelbar dem ersten nachgesungen: wieder drei Strophen zu 7 Ver¬
sen; dort die Geschichte vom Röslein, das auf der Haide stand, hier das
wehmüthige Duldergeschick des „Veilchens", das auf der Wiese stand und
das ein Mädchen nicht brach, sondern trat; hier fehlen die Dornen, hier fehlt
jedes Widerstreben ganz; keine Drohung: ich steche dich! nein der Wunsch:
Ach! wär' ich nur
Die schönste Blume der Natur, (wie's Röschen?)
Ach, nur ein kleines Weilchen,
Bis mich das Liebchen abgepflückt
Und an dem Busen matt gedrückt!
Ach nur, ach nur
Ein Viertelstündchen lang!
Ach! aber ach! Das Mädchen — zertrat das arme Veilchen. Nicht stach
es- „ es starb und freut' sich noch: Und sterb' ich denn, so sterb' ich doch
durch sie! durch sie! zu ihren Füßen doch!
Es ist kein Zweifel, das „Volkslied" regte zunächst zu einer kleinen zar¬
ten Besserung an: allmälig blühte daraus eine ganz neue, noch weichere,
dornenlosere Auffassung hervor. Und das neue Lied nun von einer klang¬
vollen, schmelzenden Mädchenstimme vorgetragen — es ist mehr wie „Volks¬
lied": ganz Gefühl und Natur, wie dort: aber gehoben durch eine reiche,
tiefe, gebildete Seele.
Sofort mußte dieser lebensfrische, dem Volkslied abgelauschte Ton sich
auch in den „Liebesgedichten" zeigen; einfach und natürlich entquollen sie
bei jeder wirklichen „Gelegenheit": nie auf eine „künftige Geliebte". Goethe
fagt selbst: „Liebesgedichte habe ich nur gemacht, wenn ich liebte": — konnte
Herder hier irgend Etwas anders wünschen?
Das ganze Verhältniß zu Friederiken stellt sich uns Nachgeborenen in
sinnlicher Lebensfülle ziemlich klar vor die Seele, wenn wir die erhaltenen
Gedichte etwa so hinter einander lesen: Nach Sesenheim („Ich komme bald,
ihr gold'nen Kinder"), Ueber Tisch („Nun sitzt der Ritter an dem Ort"); zu
beiden ist das Ende des 10. Buches von Wahrheit und Dichtung zu ver¬
gleichen ; Auf einen Baum im Wäldchen bei Sesenheim („Dem Himmel wachs'
entgegen"). Friederike („Jetzt fühlt der Engel, was ich fühle"). Willkommen
und Abschied („Es schlug mein Herz: geschwind zu Pferde!"), Morgenständ¬
chen („Erwache Friederike"), Mit einem gemalten Band („Kleine Blumen,
kleine Blätter"), Mit einem goldnen Halskettchen („Dir darf dies Blatt ein
Kettchen bringen"), Als ich in Saarbrücken war („Wo bist du itzt, mein un¬
vergeßlich Mädchen?"), Neue Liebe, neues Leben („Herz, mein Herz, was
soll das geben!"), Maillet („Wie herrlich leuchtet mir die Natur?"), An die
Erwählte („Hand in Hand! und Lipp' auf Lippe"), Entfernung von der Ge¬
liebten („Ach bist du fort?"), „Ein grauer, trüber Morgen/'
Goethe stellt in Wahrheit und Dichtung im 17ten Buch: „Herz, mein
Herz, was soll das geben?" (auf Friederike), und: „Warum ziehst du mich
unwiderstehlich" (auf Lili) zusammen und bemerkt: „Hat man sich diese Lieder
aufmerksam vorgelesen, lieber noch mit Gefühl vorgesungen, so wird
ein Hauch jener glücklichen Stunden gewiß vorüberwehen!" „Ja allerdings!
jene „glücklichen Stunden" haben diese süßen, herzinnigen Lieder geboren; sie
strömten, wie es Herder wollte, aus dem Nothdrang der Leidenschaft; sie
führen, gesungen, die sympathisch gestimmte Seele „mit unendlicher Gewalt"
dorthin zurück:
Und an diesem Zauberfädcheu.
Das sich nicht zerreißen läßt,
Hält das liebe lose Mädchen
Mich so wider Willen fest;
Muß in ihrem Zauberkreise
Leben um auf ihre Weise.
Die Vereint'rung, ach! wie groß!
Liebe! Liebe, laß mich los. —Reizender ist mir des Frühlings Blüthe
Nun nicht auf der Flur;
Wo du, Engel, bist, ist Lieb' und Güte,
Wo du bist. Natur!--
1774 gab Bürger die erste Probe zu der von Herder geforderten neuen,
echten deutschen Nomanzenweise. Goethe trug die Lenore vielfach vor. Sollte
es nicht auch hier, wie beim Haidenröslein geschehen sein, daß es der Wecker
Ward für einen schlafenden Trieb seiner eigenen Seele? War nicht auch die¬
ser Ton natürlich, frisch, poetisch? schlug er nicht in dem unendlich reich be¬
saiteten Herzen gleichgestimmtes Singen und Klingen wach?
„Der untreue Knabe" dürfte sich zu Bürgers Lenore verhalten wie das
"Veilchen" zum ursprünglichen „Röschen auf der Haide." Es zeigt sich in
diesem Beispiel, wie viel denn doch selbst dieser volle, große, geniale Mensch
Außenwelt verdankt.
Es war ein Knabe frech genung,
War erst aus Frankreich kommen.
Der hatt' ein armes Mädel jung
Gar oft in Arm genommen.
Und liebgekost und licbgeherzt,
Als Bräutigam herumgescherzt
Und endlich sie verlassen.
Es bricht dem „Mädchen" das Herz, wie Clavigo's Untreue Marien
tödtete. Die Erinnerung an Friederike klingt hier und dort quälend nach.
Die Stund', da sie verschieden war,
Wird bang dem Buben, graust sein Haar,
Es treibt ihn fort zu Pferde.
Er gab die Sporen kreuz und quer
Und ritt auf allen Seiten;
Herüber, hinüber, hin und her,
Kann keine Ruh erreiten;
Neit't sieben Tag' und sieben Nacht,
Es blitzt und donnert, stürmt und kracht,
Die Fluthen reißen über.
Er duckt sich unter „Gemäuerwerk, bindet's Pferd hauß' an"; die Erde
„erwühlt" sich unter ihm; „er stürzt wohl hundert Klafter." Er steht drei
Lichtlein schleichen; er „krabbelt nach"; sie „irrführen" ihn
Die Quer und Lang',
Trepp' auf, Trepp' ab, durch enge Gang'
Verfall'ne wüste Keller.
Auf einmal steht er hoch im Saal,
Sieht sitzen hundert Gäste,
Hohläugig, grinsen allzumal —
unten an sein „Schcitzel". mit weißen Tüchern angethan, die wend't sich. —
Der Bürger'sche Ton mit seinen populären Worten und Wendungen
läßt sich nicht verkennen; ohne die Lenore wäre auch diese Ballade nicht. Und
doch wieder, wie weit geht die Nachahmung über Borbild und Anregung
hinaus! Der wüste Abschluß der Lenore, wohl gar verbrämt mit einer „Mo¬
ral" widerstrebte dem Sinn, widerstrebte der Hand des Dichters; er schließt
ähnlich fein, bloß andeutend wie in seinem Haideröslein."
Und noch Eins: Wer sollte die Lenore singen? „Der untreue Knabe
wird in Claudine von Villa Bella von Crugantino zur Cither vorgetragen;
zum Singen ist auch der „König von Thule" bestimmt, der Februar 17?6
in der ältesten Faustbearbeitung dem singenden Gretchen so in den Mund
gelegt ward:
Es war ein König in Thule
Einen gold'nen Becher er hätt'
Empfangen von seiner Buhle
Auf ihrem Todesbett.
Auch diese Ballade ist schon in der ältesten Fassung leichter, einfacher,
übersichtlicher und abgerundeter als Bürger's Lenore.
Die schönsten Balladen aber gehören erst der Weimarer Zeit an. Der
„Erlkönig", eine Arie des Singspiels „Die Fischerin", geht wieder direct auf
Herder'sche Anregung zurück. Selbst der Name wäre nicht ohne Herder;
denn einen Erlkönig gibt es in keiner Sage" (Grünne); aber Herder's „Stim¬
men der Völker" hatten aus dem dänischen „Ellerkonge" (Elbenkönig, Be¬
herrscher der Elbe) den Erlkönig gemacht.
Herder: Erlkönigs Tochter.
Herr Otus reitet spät und weit
Zu bieten auf seine Hochzcitlcut'.
Die Elfen locken ihn zum Tanzen; sie bieten ihm nach einander güldne
Sporen, ein feines, weißes Hemd von Seide, einen Haufen Goldes, und als
er sich weigert, denn frühmorgen ist sein Hochzeittag, schlägt ihn die Elfe
auf's Herz, tödtliche Krankheit wird folgen ihm.
Die Braut hob auf den Scharlach roth,
Da lag Herr Otus, und er war todt.
Bei Goethe nicht ein Bräutigam, sondern ein Kind, getödtet nicht wun¬
derbar von tückischer Eisensand, sondern von jenen unheimlichen natürlichen
Schauern, die die leicht beschwingte ängstliche Kinderphantasie in mehliger
Nacht im düstern Erlenwalde aus sich selbst erzeugt: der Mensch erdrückt von
den dunkeln Gefühlen, welche die Natur gegen Berechnung und Willen aus den
Tiefen seiner Seele plötzlich hervorbrechen läßt. Einmal personificiren sich die
dämonischen Kräfte zu lockenden Wasferweibern, dann zu Erlkönigs Töchtern.
Wie eignete sich dieser verschleierte, düstere, ahnungsreiche Inhalt zu dem
von Herder so schön beschriebenen Balladenton:
In anoioM times in IZritÄin Isto
LorZ Ilonr^ pas well Kilo^vue!
Und wie hat Goethe diesen Ton mit seinem eigenthümlichen, nur der
Empfindung zugänglichen clair-obscur getroffen! wie hineingelegt all das
„Unnennbare", das sonst nur mit dem Gesänge, wie Herder sagt, „strvmweis
in unsere Seele zieht", wie der musikalischen Composition dadurch vorgearbeitet,
wie dieselbe angereizt! Ueberall beherrscht diesen Menschen ohne Grübeln und
Rechnen das sicherste, weil völlig natürliche und ureigene poetische Formgefühl.
'
Herder hatte die Natur frei gemacht: welch Glück für Deutschlands
Lyrik, ja für Deutschlands Poesie überhaupt, daß sein erster Schüler eine
Natur besaß, so edel, fein und tief organisirt, so hinhängend nach idealer
Schönheit und ebenmäßiger Vollendung! So ward dann „an des Jahrhun¬
derts Neige" das höchste Ideal erreicht: innigste Verschmelzung und Durch¬
dringung von Freiheit und Gesetz, von Natur und Cultur, von originalen,
echt deutschem Inhalt und klassischer Form: da stand es in „edler, stolzer
Männlichkeit",
Das Jünglingszeitalter dieser neuen Poesie fällt in die Jahre 1770— 75.
Kaum vergleichen läßt sich in den meisten Stücken der neue Geist mit dem
alten; wie durch plötzlichen Zauber brach er heraus; den Zauderst ab
schwang Herder, Goethe erfüllte voll und groß, was dieser ge¬
ahnt und gefordert hatte. Er gab uns schon in diesen ersten Jahren
eine Lyrik, die alles Vorhandengewesene überragte; ihr folgte allmälig eine
Blüthenpracht, die mit jedem Besten jeder Zeit und Zone den Vergleich nicht
zu scheuen braucht. Deutsche Lieder, deutsche Balladen, wer sagt sie nicht?
wer singt sie nicht? Sie sind unser Stolz und unsere Lust; jeder Fremde,
der sie zu verstehen vermag, bewundert sie; in alle gebildeten Sprachen sind
sie übersetzt: eine unendliche Fülle von Goethe bis Heine und Uhland herab;
ein unversiegbarer, unerschöpflicher Strom; Herder hatte das Gestein aufge¬
schlagen, den Fluch und Bann gelöst; sprudelnd ergoß sich der Quell in die
von ihm gewiesene Bahn.
Herder's Verdienst, man kann es nicht verkennen, ist ein bedeutendes;
Goethe verdankt ihm nahezu Alles, was einer genialen Naturkraft von außen
gegeben werden kann: Wegräumung aller störenden Hindernisse, Oeffnung,
Ehrung und Anweisung der richtigsten und bequemsten Wege. Er konnte es
nicht glücklicher treffen, als es ihm in Straßburg zu Theil ward. Ohne
mühsames Studium erhält er Aufschlüsse und Belehrungen der fruchtbarsten
Art fast in dem Moment, wo er danach die größte Sehnsucht tragen mußte,
wo er jedenfalls derselben am Meisten benöthigt war.
Unwillkürlich erinnert man sich einer Stelle in der Italienischen Reise,
wo der Berichterstatter einige ähnliche außerordentliche „ Konstellationen" und
glückliche Zufälle erwähnt: Ich werde mich wohl noch in eine Prinzessin ver¬
lieben, um den Tasso, mich dem Teufel ergeben müssen, um den Faust zu
schreiben. „Denn bisher ist's so gegangen. Um mir selbst meinen Egmont
interessant zu machen, fing der Römische Kaiser mit den Brabantern Händel
an, und um meinen Open einen Grad von Vollkommenheit zu geben, kam
der Züricher Kayser nach Rom. Das heißt doch ein vornehmer Römer, wie
Herder sagt, und ich finde es recht lustig, eine Endursache der Handlungen
und Begebenheiten zu werden, welche gar nicht auf mich gerichtet sind. Das
darf man Glück nennen." Nie ist dem Glückskind ein Zufall gelegener ge¬
kommen, als die Bekanntschaft mit Herder in Straßburg. Kaum dürfte sich
ahnen lassen, was der Genius in selbstgenugsamer Jsolirung, was er ohne
Herder's und Bürger's Vorgang und Anregung in völligster Beschränkung
auf seine ureigenen Besitzthümer, was er etwa in der Zeit Opitzens oder
Gottsched's hätte leisten mögen.
Hat der Dichter nun seinerseits das Nöthige gethan, daß die Nach¬
welt der großen Leistung des jungen Kritikers immer hinreichend gedenk blieb?
Wenn er in Wahrheit und Dichtung mit der rechten liebevollen Wärme dem
verdienstvollen Lehrer die gebührende Anerkennung zu Theil werden ließ, so
war keine Gefahr, daß Herder's Name je in Vergessenheit kam, daß ihm je
die zukömmliche Ehre versagt ward. Denn wo gibt es einen Bericht über
die literarischen Zustände des vorigen Jahrhunderts, der auch nur annähernd
so viel Leser hätte als Goethe's Konfessionen; man kann, glaube ich, sagen,
sie halten ganz allein allen andern Darstellungen zusammen die Wage.
Wunderlich aber ist, wie Goethe hier mit Herder verfährt. Man kann
nicht behaupten, daß geradezu übergangen wäre, welche neuen Erkenntnisse
ihm plötzlich durch Herder geöffnet wurden: Es verging kein Tag, „der nicht
auf das fruchtbarste lehrreich für mich gewesen wäre. Ich ward mit der Poesie
in einem ganz andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen,
der mir mehr zusagte. Die hebräische Dichtkunst, die Volkspoesie, die älte¬
sten Urkunden als Poesie geben das Zeugniß, daß die Dichtkunst überhaupt
eine Welt- und Vvlkergabe sei, nicht ein Privaterbtheil einiger feinen gebil¬
deten Männer. Ich verschlang das Alles; und je heftiger ich im Empfangen,
desto freigebiger war er im Geben, und wir brachten die interessantesten
Stunden zusammen zu."
Wie kühl und gedämpft! — und für den nicht sonsther Orientirten ziem¬
lich dunkel, fast orakulös. Jedenfalls nicht anreizend, aus dem Dickicht und
Gestrüpp der wundersam geordneten Werke Herder's sich die Schriften zusam¬
menzusuchen, welche näheren Aufschluß geben würden.
Und diese kurzen, in äußerst gelassenen Ton, im Ton der „vornehmen
Römer" vorgetragenen Bemerkungen sind unter einer solchen Menge aus¬
stellender, ja herabsetzender Mittheilungen wie verschüttet, daß es leichthin
streifenden Lesern passiren kann, sie über den andern ganz zu vergessen und
von Herder wirklich das Bild eines „gutmüthigen Polterers" mitzunehmen.
Wie Goethe ihn nennt, eines Polterers, der dem jugendlichen Dichter in pe¬
dantischen Ernst seine unschuldige Siegelsammlung, seine Neigung für Ovid's
Verwandlungen zu verleiden suchte, der sich nicht bloß über das unbenutzte
Bücherbrett, sondern auch über seinen Familiennamen ganz unzarte Scherze
Glaubte, der von seiner stolzen Höhe herab den treuherzig anschmiegsamen
Studenten in stets widersprechenden, bitterm, bissigen Humor mißhandelte,
der selbst, wenn jener feinen Ansichten zustimmte, in unausstehlicher Launen¬
haftigkeit ihn schalt, aufzog und herunterriß.
Und diesem Bilde gegenüber was war ihm Herder wirklich gewesen!
Und was hat er weit über die an dem Dichter sichtbaren Wirkungen
hinaus der ganzen Nation geleistet! Aus den von ihm in sprudelnder
Rede hingeworfenen Anregungen ging zum Theil unmittelbar, zum Theil
durch Vermittelung des Goethe'schen Götz und Faust, Bürger's und des Ma¬
lers Miller, wie der Musäus'schen Volksmärchen die romantische Schule, aus
ihnen die germanistische Philologie, aus ihnen die Schlegel'schen und Grimm-
schen Brüder, Tieck, Schelling und Hegel, aus ihnen die Erweiterung unseres
Schriftwesens bis an das Thor der Weltliteratur, aus ihnen aber auch die
Erweckung und Befreiung des nationalen Selbstgefühls hervor: unsere großen,
die Poesien aller Zeiten und Nationen nachbildenden Uebersetzer, ebenso wie
die deutschen Patrioten Arndt, Jahr und Fichte sind von Herder'schen Ge¬
danken angeregt und durchdrungen.
Und daneben nun diese vornehme Weise Goethe's, die dem unendlich
verdienstvollen Manne nicht einmal klar, rein und uneingeschränkt den Dank
zollt, den er ihm persönlich schuldete: es ist recht verdrießlich, verdrießlich,
weil ihm dadurch die Anerkennung der Nation verkümmert ist.
Man kann sich ja denken, wie Goethe darauf kam, so über Herder zu
berichten. Er deutet's in den beigefügten Reflexionen über „Nichtdankbarkeit,
Undank und Widerwillen gegen den Dank" selbst an: „Ich bin von Natur
so wenig dankbar, als irgend ein Mensch, und beim Vergessen empfangenes
Gutes konnte das heftige Gefühl eines augenblicklichen Mißver¬
hältnisses mich sehr leicht zum Undank verleiten/'
Man weiß, daß sich später zwischen ihm und Herder allerdings ein
„Mißverhältniß" herausbildete. Und es läßt sich nicht verkennen, wieviel
Schuld daran Herder hatte. Auch uns ärgert ja, wenn der Alte aus hämi¬
scher Mißgunst gegen den neuen durch Goethe, Schiller und Kant bewirkten
Aufschwung deutscher Bildung, weil man jetzt ohne ihn auszukommen wußte,
sich in absichtliche Ueberschätzung der alten, abgelebten Literatur verlor, die
er einst selbst so stürmisch angerannt hatte.
Aber darüber darf die Nation jedenfalls nicht der unendlichen Ver¬
dienste vergessen, die der jugendliche, alle Tiefen aufwühlende Herder in den
ersten zwölf Jahren seiner literarischen Wirksamkeit um die Neugestaltung und
Erfrischung des verbildeten und verkommenen Nationalgeistes sich erworben hat.
Eine Seite seiner reichen und fruchtbringenden regenerirenden Thätigkeit
haben die obigen Zeilen behandelt; sie wollten ein bescheidener Beitrag zu
dem Danke sein, welchen das deutsche Volk dem Namen eines Mannes schul¬
det, den eigene spätere Verirrungen und die übelgestimmte Darstellung seines
größten Schülers mit Unrecht in Vergessenheit gedrückt haben.
Als im vergangenen Sommer urplötz¬
lich über uns das französische Kriegswetter hereinbrach, hieß es ganz allge¬
mein, der französische Militärbevollmächtigte in Berlin habe durch seine Be¬
richte zum Ausbruch des Krieges nicht unwesentlich beigetragen. Nachher
sind einzelne dieser Berichte in Paris zur Veröffentlichung gelangt, sie haben
den Verfasser in ganz anderem Lichte gezeigt als wir in Deutschland ihn
uns gedacht hatten. Und feit jetzt eine vollständigere Publikation seiner mili¬
tärischen Berichte über das preußische und deutsche Heerwesen uns vorliegt,
(linWvrts annal'W Berief 6c; Berlin 18K6—1870 Mr le Lolonel lZ-non
Ltokkel, koeler aktuelle militaire en ?russe. ?g,riK, (?a,i'nor Irreres 1871)
erkennen wir in dem Baron stosset nicht allein einen verständigen, gewissen¬
haften Berichterstatter, sondern auch einen Beobachter und Beurtheiler unserer
deutschen Einrichtungen, der mit scharfem Blicke das Wesentliche gesehen und
verstanden und, wie man wohl sagen darf, den Nagel auf den Kopf getrof¬
fen hat. Ein einleitender Brief an einen Freund läßt sich über die französische
Gegenwart und über den Krieg selbst aus. Wir sehen einen Franzosen vor
uns, der von glühender Vaterlandsliebe beseelt ist, der aber nicht allein, wie
die Größen des Tages in Frankreich, wie jene Thiers, Favre, Gambetta
seinen Patriotismus vor der Welt paradirt, fondern auch voll Einsicht und
Muth geradezu ausspricht, daß er überall die Zeichen des sittlichen und
geistigen Verfalles Frankreichs gewahr wird; wir citiren den Satz wörtlich:
-/Vnjourä'Iiui es <M in^t-triste xreLliue a I'eMl ac nos äesastres, ce sont.
los L>invtüines si t'r g, x x g, n t s ac ig, cleeaäenee nor-ne et intel-
lectuelle on nous homines tombes et la, eiainte gue la, lormidg-dle
Je<M «z^ni vient ä'etrL inüigee ä. 1a I^ranee no lui g.it rien axpris. Ueber¬
haupt ein merkwürdiges Verhängniß! Ein Franzose, der ganz von dem Ge¬
fühle durchdrungen ist von der Unvermeidlichkeit des französisch-deutschen
Krieges, und der gleichzeitig immer mehr von der Ueberlegenheit des deutschen
über das französische Heer sich überzeugt! Unzweideutig spricht sich sein Haß
gegen Deutschland aus, aber nicht blind hat ihn dieser Haß gemacht, nein
sein Auge ist durch ihn geschärft worden: das unvermeidliche Geschick, das
in dem unvermeidlichen Kriege seinem Vaterlande von dem durch Preußen
disciplinirten und geführten Deutschland droht, — dies Bild ist ihm bei allen
seinen Ausführungen gegenwärtig.
Wir unterlassen, hier die Stellen zu sammeln, in denen über Frank¬
reich sich der Autor ausspricht. Wir wünschten vielmehr auf die Charakteri¬
stik unseres Heerwesens die Aufmerksamkeit politischer Kreise zu lenken, auf
jene Schilderung und Entwickelung der Gcundzüge unserer preußischen Hee¬
resorganisation, die dieser Franzose mit bewundernswerther Einsicht und
Offenheit und mit sachverständiger Unbefangenheit und Parteilosigkeit gegeben
hat. Auf die technischen Details gehen wir natürlich nicht ein: die Grund¬
gedanken unseres Heerwesens gilt es aufzuzeigen. Möchte die Folgerung für
die praktische Politik unserer Reichsvertretung unmittelbar daraus hervor¬
springen !
Wiederholt kehrt in diesen Berichten der Gedanke wieder, daß es ethische
Prinzipien seien, auf denen das deutsche Heerwesen sich aufgebaut habe. Im¬
mer wieder sucht der Berichterstatter die Vorzüge der allgemeinen Dienstpflicht
hervorzuheben und durch Beleuchtung von den verschiedensten Seiten her die
Trefflichkeit dieses Systemes recht klar zu machen: der allgemeine Schulunter¬
richt, den jeder durchmachen muß, die allgemeine Militärpflicht und das, alles
öffentliche und private Leben erfüllende allgemeine Pflichtgefühl sind die Säu¬
len des deutschen Staates. Er erzählt, wie man nach dem Kriege von 1813
das Heeresgesetz 1814 erlassen; er erörtert dann die Unvollkommenheiten der
Ausführung des Grundgedankens, die Mängel und Schwächen des preußischen
Heerwesens, wie sie seit 18S0 immer allgemeiner fühlbar wurden: die Reor¬
ganisation von 18K0 ist ihm die gelungenere Ausführung des großen, schon
früher als richtig erkannten, aber praktisch nicht durchgeführten Prinzipes.
Sehr deutlich und allgemein faßbar entwickelt dieser Franzose die unter¬
scheidenden Merkmale des Zustandes vor und nach 1860: erst seit der Armee¬
reorganisation ist die allgemeine Wehrpflicht eine Thatsache. Folgt man die¬
sen Rapports in die Einzelausführungen, durch welche immer das Thema
vernehmbar hindurchklingt, fo wird man vielfach an das erinnert, was die
Erfahrungen und Beobachtungen dieses letzten Krieges uns allen an die
Hand gegeben. Die höhere Intelligenz im deutschen Heere, bei den Officieren
wie bei den Soldaten, hat uns zum Siege über den wälschen Nachbar ge¬
führt. Nicht oft genug kann stosset die allgemeine Bildung, die Sachkennt¬
nis den Studieneifer rühmen, mit welchem man überall die Vervollkommnung
unserer Armee betrieben hat: ein glänzenderes, ein durchschlagenderes Zeug¬
niß der ganz außerordentlichen Leistungen unserer Militärverwaltung läßt
sich kaum schreiben, als ein sachverständiger Feind hier abgelegt hat.
Wollten wir Einzelheiten hervorheben, so würden wir auf die Erörterung
über unseren Generalstab hinweisen, die Schilderung des Vorganges bei der
Mobilmachung, die oft wiederkehrende Bewunderung der unermüdlichen Sorg¬
falt mit der die höchsten Spitzen sich der Ausbildung der einzelnen Truppen,
der sorgsamen Pflege des Details hingeben. Ueberhaupt, das springt jedem
aufmerksamen Leser in die Augen, welch einen ganz hervorragenden Antheil
unser König persönlich an den Verdiensten unseres Heeres ansprechen, darf.
Ist dies auch dem unterrichteten Politiker nicht neu, so erfreut doch, auch
von diesem Beobachter den Sachverhalt so unbefangen dargestellt zu finden.
Nach seinem Zeugniß ist die Thätigkeit in der obersten Heeresleitung eine
rastlose, eine gradezu staunenswerthe. Auf den Lorbeeren des böhmischen
Feldzuges ruhte man nicht aus; besser wie jeder Kritiker hatte man hier die
Fehler, die schadhaften Stellen bemerkt, und mit ganzer Energie war man
entschlossen zu verbessern, wo nur Verbesserungen Platz greifen konnten. 1870
hat alle Welt gesehen, daß selbst die Helden von 1866 sich nicht zu gut ge¬
halten, noch zu lernen. Wir find zu der ganz bestimmten Erwartung berech¬
tigt, daß es heute nicht anders geworden sei.
Baron stosset läßt doch seine geheime Hoffnung durchschimmern, daß
selbst seine Landsleute, für wie unverbesserlich sie sich auch erklären mögen,
aus der Einsicht in die preußischen Einrichtungen Nutzen ziehen könnten —
(weßhalb hätte er auch sonst seine Berichte in den Druck gegeben?) — wir
wollen nach der Lectüre des Buches unseren Wunsch aussprechen, daß unsere
Politischen Männer, vor allen unsere Neichöboten einen mehr wie flüchtigen
Blick dem französischen Werke schenken möchten. Denn die Ueberzeugung
muß in jedem Leser sich bestätigt finden und sich befestigen, daß an den
Grundsätzen unseres Heerwesens nicht gerüttelt werden darf.
Freilich, der Reichstagsabgeordnete hat die patriotische Pflicht, nicht allein
mit dem Munde sich zu diesem Gedanken zu bekennen — dessen würden viel¬
leicht nur eine Handvoll Deputirter sich weigern — nein, auch den Konse¬
quenzen dieses Grundaxiomes sich nicht zu entziehen und in seinem praktischen
Verhalten fein theoretisches Bekenntniß zu erhärten.
Ein solches Wort richtet sich selbstverständlich nicht an die Mitglieder
der Fortschrittspartei. Ihnen bestreiten wir weder das Privilegium, nichts
mehr lernen zu dürfen, noch halten wir für ersprießlich, gegen ihre unfehl¬
baren Doctrinen ins Feld zu ziehen. Den anderen Parteien aber insgesammt,
und besonders unseren national-liberalen Freunden sprechen wir den hoff¬
nungsreichen Wunsch aus, daß sie bei der Berathung des Militäretats,
mag er detaillirt oder als Ganzes, in definitiver oder in provisorischer
Gestalt ihnen vorgelegt werden, immerfort den Grundsatz sich gegenwärtig
erhalten: an den heutigen Fundamenten unseres Heerwesens
darf nicht gerüttelt werden. Die Zukunft der liberalen Parteien
fordert, daß jene Kritik, mit der man 1861—1863 den sachverstän¬
digen, und jetzt auch durch die Erfahrung von 1866—1871 als sol¬
chen legitimirten Vertretern unserer Heeresleitung bald hier bald dort wi¬
dersprochen und „eins zu versetzen" sich bemüht, jetzt nicht wieder in's Leben
zurückgeführt werde. Das Vaterland erwartet von jenen, die sich die na¬
tionalen zu nennen lieben, Enthaltsamkeit und Entsagung von laienhafter
Einrede. Man mißverstehe uns nicht. Wir werden niemals unbedingte Un¬
terwerfung des Reichstagsabgeordneten unter die höhere Einsicht des Mini¬
sters als eine Tugend ansehen: hier nur, wo die überlegene technische Kennt¬
niß ganz auf der andern Seite steht, hier ziemt sich demjenigen, der zu
den Grundsätzen des Ganzen sich bekennt, im einzelnen sein Urtheil unterzu¬
ordnen. Der offenbaren Unfähigkeit gegenüber, wie wir sie in den Departe¬
ments des Innern und des Cultus leider heute noch vor uns sehen ist der
— ? —
Fröbel, der schon in seinem ersten staatswissenschaftlicher Werke, der 1846
erschienenen neuen Politik, das lebhafteste Gefühl gehabt hatte von dem Zu¬
sammenhang der gesellschaftlichen und politischen Fragen, hat diesen Zusam¬
menhang nie wieder aus dem Auge verloren. Die neueste größere Arbeit von
ihm ist eine Darstellung der Volkswirthschaftslehre unter eigenthümlichen und
fruchtbaren Gesichtspunkten. Das Werk führt den Titel „Die Wirth¬
schaft des Menschengeschlechtes auf dem Standpunkt der
Einheit idealer und realer Interessen." Bis jetzt ist unter dem
besonderen Namen: „Die Grundverhältnisse und allgemeinen Vorgänge der
Wirthschaft" der erste Theil im Herbst 1870 erschienen.
Fröbel besitzt, auch wo er sich eines ganz neuen Gebietes bemächtigt,
sogleich die Gabe einer ungemein klaren und fesselnden Darstellung. Auf
nationalökonomischen Felde hatte er davon schon eine Probe abgelegt in der
186S veröffentlichten Abhandlung „Oestreich und der Freihandel."
Was ist nicht von englischen und französischen wie deutschen Schriftstellern über
dieses Thema geschrieben? Der Reiz der Neuheit war in Bezug auf den Inhalt
völlig erschöpft, als Fröbel für diese wissenschaftlich durchgekämpfte Sache das
Wort nahm zu dem praktischen Zweck, die zurückgebliebene wirthschaftliche
Entwickelung Oestreichs durch einen kühnen Entschluß der dortigen Staats¬
männer wie der öffentlichen Meinung womöglich zu beflügeln. Die für den
wissenschaftlichen Sieg verspätete Anwaltschaft Fröbel's hat auch den prakti¬
schen Erfolg nicht gehabt, den sie beabsichtigte. Aber wer die Gründe für
den Freihandel einleuchtend und erschöpfend zusammengestellt lesen will, der
wendet sich am besten an Fröbel's Abhandlung.
Das neuere Werk ist mehr als eine klare Zusammenfassung der erreichten
Einsichten. Es fügt der gewonnenen Erkenntniß einige bedeutende Gesichts¬
punkte theils neu hinzu, theils bringt es einzelne solche, die bereits aufgestellt
waren, zum ersten Mal zur folgerichtigen Geltung.
Der Hauptgesichtspunkt ist die Einheit oder genauer die organische Ver¬
bindung der realen und der idealen Interessen. Die Darstellung dieser Ein¬
heit ist aber die Ethik. Es entsteht die Frage, wie verhält sich die Wirth¬
schaftslehre zur Ethik? Offenbar als ein Theil derselben. Die Wirthschaft
umfaßt einen Theil der technischen Mittel für die menschliche Sittlichkeit.
Da aber die organische Verbindung der realen und idealen Interessen — wir
reden hier mit Fröbel's Ausdrücken, die wir unsererseits mit anderen tauschen
würden — noch vielfach verkannt wird, so gibt Fröbel in seiner Darstellung
der Wirthschaftslehre wesentliche Ausführungen, die an sich in die Ethik ge¬
hören würden. Er ist dabei einer gewissen Undeutlichkeit nicht entgangen.
Es scheint nämlich hin und wieder, als sei die Wirthschaftskunst gleichbedeu¬
tend mit der menschlichen Kunst in ihrer Totalität, welche die Sittlichkeit ist.
Was die menschliche Thätigkeit von jeder Thätigkeit innerhalb der Natur
unterscheidet, ist ihr Kunstcharakter, d. i. der Charakter methodischer Absicht¬
lichkeit. Es darf als Erwerb unserer deutschen Philosophie für die Anschau¬
ung der sittlichen Welt gelten, daß die menschliche Kunst einen einheitlichen
Zweck und ein einheitliches System von Mitteln bildet, und daß es einer der
Fortschritte menschlicher Entwickelung ist, den stets, aber anfangs nur in-
stinctiv und unvollkommen vorhandenen Zusammenhang menschlicher Thätig¬
keit immer mehr zum Bewußtsein und zur Wirksamkeit zu bringen. Wie soll
nun die umfassende menschliche Kunst heißen? Ist sie die sittliche, ist sie die
Wirthschaftskunst.
Wir streiten um mehr als Worte. Die Frage heißt: welches ist der ge¬
staltende Begriff der menschlichen Thätigkeit? Die betreffende Untersuchung
kann hier nicht angestellt werden. Was Fröbel betrifft, so wäre seiner
Darstellung der Wirthschaftslehre wahrscheinlich zu Gute gekommen, wenn
er auf diese Frage nicht bloß gelegentlich, sondern mittelst einer grundlegen¬
den Untersuchung eingegangen wäre. Es würde sich vielleicht gefunden haben,
daß die menschliche Thätigkeit sich in eine Mehrheit von Sphären spaltet
und daß der Hauptbegriff jeder Sphäre sich als Mittelpunkt des ganzen Sy¬
stems ansehen läßt. Mit anderen Worten: Daß aus dem Begriff jeder be-
sonderer Sphäre die übrigen als Mittel folgen. Dies schließt nicht aus, daß
alle diese besonderen Begriffe wiederum unter eine höchste Einheit fallen.
Es wird seinen großen Vortheil haben, wenn man aus dem Gedanken
der Wirthschaft die Gesammtheit der menschlichen Thätigkeit ableitet: wenn
man beispielsweise zeigt, wie die wirthschaftlichen Motive zerstört werden, wie
mithin die Wirthschaft selbst zusammenfällt, wenn es nicht Werthe gibt, die
wirtschaftlich nicht meßbar sind, weil sie keine unmittelbare wirthschaftliche
Function ausüben, die also, um den Widerspruch in ein Wortspiel zu kleiden,
nur dadurch wirthschaftliche Mittel sind, weil ohne sie die Wirthschaft keinen
Zweck hat. Der neue Gedanke, den Fröbel in der vorliegenden Arbeit ein¬
leuchtend machen will, ist näher der von der wirthschaftlichen Bedeutung der
unendlichen, bisher als unwirtschaftlich betrachteten Werthe. Ein gewisses
Bedenken gegen die Darstellung dürfen wir aber nicht zurückhalten.
Die Darstellung kann synthetisch oder analytisch zu Werke gehen. Wird
synthetisch verfahren, so darf dieß in einer Wirthschaftslehre nur so geschehen,
daß die betreffenden Kapitel als Lehrsätze aus der Ethik bezeichnet und alle
Voraussetzungen der Letzteren aufgenommen werden, namentlich auch die
Voraussetzung, daß die sittliche Idee sich in gegensätzlichen Perioden entwickelt.
Didaktisch überzeugender ist vielleicht der analytische Weg. Auf diesem muß
untersucht werden, wie weit das Bedürfniß nach individuellem Genuß und
die individuelle Freude an dem Erwerb, sei es am Besitz oder an der Er¬
werbsthätigkeit, ausreichende Triebfedern der menschheitlicher Wirthschaft sind.
So wird sich zeigen, daß die idealen Güter und Ziele in den Gesichtskreis
der Wirthschaft treten, indem sie die Motive der Letzteren vervollständigen
und sicherstellen.
Fröbel verfährt synthetisch, indem er einen Begriff der menschlichen Ge¬
sammtanlage gibt, aus welchem sowohl die endlichen wie die unendlichen
Motive folgen. Wollte man die menschliche Gesammtanlage anders zeichnen,
so würde der Widerspruch gegen die Wirklichkeit Jedermann in die Augen
fallen. Allein nichts desto weniger ist wahr, daß die menschlichen Motive
in den verschiedenen Culturperioden in sehr verschiedenem Verhältniß wirken,
daß die idealen Motive zwar niemals gänzlich unwirksam sind, aber doch
mißkannt werden, und nur in Folge eines für das herrschende Bewußtsein
unerklärten Widerspruchs sich geltend machen. Fröbel weist den Vorwurf des
Militarismus als einen in sich selbst zerfallenden zurück, weil es ohne nutz¬
bringende Werthe auch keine idealen geben könne. Hierbei ist doch zweierlei
übersehen. Einmal bedeutet der Vorwurf des Militarismus nicht die Schätzung
des Nützlichen, sondern die Ueberschätzung desselben. Die Geringschätzung des
Nützlichen war der hellenischen Welt, die periodische und locale Überschätzung
ist der modernen Welt eigen, aber auch schon einzelnen Kreisen einer alten
Cultur. In diesem Sinn bezeichnet der Militarismus eine Verlciugnung der
vollständigen Anlage der Menschheit. Vielleicht wäre sehr lehrreich, die
Ursachen und Folgen der Wirksamkeit des Utilitätsprincips unter verschie¬
denen Culturbedingungen auszusuchen. Die Chinesen sind ein utilistisches
Volk vielleicht vermöge einer Schranke ihrer Begabung, die Ungko-Amerikaner
vielleicht vermöge einer Durchgangsstuse ihrer Cultur, die heutigen Engländer
vielleicht in Folge eines Versiechens der höheren Volkskräfte. Daß es einen
falschen Militarismus gibt, bezeugt Fröbel selbst in dem Kapitel über Geschäft
und Beruf, in welchem er das Wesen des Militarismus, ohne die betreffende
Ansicht mit diesem Worte zu bezeichnen, ganz richtig darein setzt: daß der
Beruf überall als Geschäft angesehen wird.
Es ist nicht wahr, daß mit der Ausbreitung der nutzbringenden Künste
und Machtmittel genau in demselben Verhältniß die sittlichen Kräfte wachsen.
Ein Wachsthum der sittlichen Mittel kann stattfinden, ohne daß diese
Mittel ihrem wahren Zweck dienstbar bleiben. Damit pflegt der Verfall der
Nationen zu beginnen. Andrerseits Pflegen die idealen Motive erst dann in
ihrer Reinheit zur Herrschaft zu gelangen, wenn das Gebiet des Nutzens bis
zu einer gewissen Grenze durchmessen und zu einer periodischen Ruhe gelangt
ist. Wir können auch sagen, daß die Menschen den richtigen Sinn für die
unendlichen Werthe nur dann erlangen, wenn ihre materielle Arbeit und der
daran geknüpfte Verkehr für einen längeren Zeitraum gewisse stehende und
regelmäßige Bahnen erobert hat. In den Zeiten materiellen Fortschritts,
die aber leicht auch diejenigen großer Verkehrs- und socialer Schwankungen
sind, werden die endlichen Werthe und ihre Gewinnung das menschliche Ge¬
müth nahe ausschließlich in Besitz nehmen. Die unendlichen Werthkräfte,
Kunst, Religion, Wissenschaft werden auch in solchen Zeiten nicht verschwin¬
den, aber sie werden in sehr elementarer Weise operiren. Aberglaube und
Freigeisterei werden sich in die religiöse Wirkung theilen, plumpe Sinnlichkeit
und Raffinement in die künstlerische, Stoffanhäufung und Pscudo-Origina¬
lität in die wissenschaftliche. Wenn der Glaube an die idealen Motive wieder
erwacht, so ist das ein Zeichen, daß die materielle Entwickelung sich einem
relativen Abschluß nähert, wenigstens ideell, sofern sie daran ist, ihr nächstes
Gebiet zu übersehen und abzustecken. Möglicherweise nähern wir uns heut
einem solchen Zeitpunkt, aber damit auch der stationären oder aristokratisch
conservativen Anschauungsweise der Weltentwickelung, welche Fröbel so treffend
M widerlegen weiß.
Abgesehen davon, daß Fröbel die Einheit der idealen und realen Inter¬
essen an einigen Punkten zu eng gesaßt hat, erweist sich der von ihm ge-
nommene Gesichtspunkt dieser Einheit fast in jedem Kapitel seiner Wirth¬
schaftslehre fruchtbar und überzeugend.
Fröbel hat die allgemeine Wirthschaftslehre in 16 Kapiteln dargestellt.
In dem ersten Kapitel wird die Wirthschaft als Vermögensbildung erklärt.
Wenn das Thier innerhalb der Schranken seiner natürlichen Vermögensaus¬
stattung beharrt, so steigert der Mensch immerfort sein Vermögen durch Neu¬
bildung. Dies ist der Begriff der Wirthschaft als eines die Menschheit unter¬
scheidenden Grundzuges. Gleich hier bei diesem ersten grundlegenden Begriff
tritt der Gedanke des unendlichen Werthes bestimmend hinzu. Denn welcher
Mensch würde seiner Wirthschaft nicht bald Grenzen setzen, wenn sein Antheil
an der Vermögensbildung nur ihm zu Gute käme, oder auch nur seinen
nächsten Angehörigen, wenn er anders deren hat? Die Idee der solidarischen
Menschheit tritt hier in das Bewußtsein, wenn auch für die Mehrzahl der
wirthschaftenden Menschen noch verhüllt. Der gewöhnliche Mensch hört nicht
auf zu wirthschaften, weil er glaubt, er könne das noch zu Erwerbende zur
Befriedigung eines ungeahnten Wunsches brauchen; oder weil er sich über¬
haupt nicht von seinem Dasein und der dazu gehörenden wirthschaftlichen
Thätigkeit in der Vorstellung ernstlich trennen kann; oder weil ihm schmei¬
chelt, als reicher Mann zu sterben; oder weil er wirklich Angehörige hat, die
er glücklich zu machen wünscht. Hinter dem Allen liegt aber der Trieb über
das eigene Dasein hinaus, der unendliche Trieb der Menschheit.
Im zweiten Kapitel wird das Vermögen als Inbegriff der menschlichen
Machtmittel erklärt. Im dritten Kapitel werden die Bedingungen des Ver¬
mögens aufgesucht und die Bestandtheile desselben entwickelt. Die Letzteren
sind dreierlei: individuelle Anlagen und Fertigkeiten; natürliche oder ver¬
arbeitete Erzeugnisse der äußeren Natur; sociale Anlagen und Gebilde.
Im vierten Kapitel wird der Werthbegriff aufgestellt. Fröbel bestimmt
diesen Begriff als Inhalt des Vermögens. Deutlicher wäre wohl gewesen,
wenn der Werth als die Einheit des Vermögens erklärt worden wäre. Wohl¬
gemerkt nicht als die formal zusammenfassende Einheit bloß, sondern als die¬
jenige Einheit, in welche die verschiedenen Vermögensbestandtheile sich ideell
auflösen und durch welche sie unter einander vergleichbar werden. Es ist der
Werthbegriff, welcher bewirkt, daß die qualitative Verschiedenheit der Ver¬
mögensbestandtheile auf einen quantitativen Unterschied reducirbar wird. Im
fünften Kapitel wird die Lehre vom Geld behandelt. Das Geld ist nichts
anderes als die Darstellung des Werthes, d. i. der verwirklichten Einheit des
Vermögens. Darum begründet das Geld die Solidarität der Menschheit,
weil es die Einheit nicht nur des individuellen, sondern des gesellschaftlichen
Vermögens verwirklicht. Das Geld ist, und auf diesen Punkt in Fröbel's
Darstellung machen wir besonders aufmerksam, seiner wahren Bedeutung nach
Creditzeichen, wenn auch das Metallgeld, in den feinen Sorten wenigstens,
dem Creditzeichen ein Faustpfand hinzufügt.
Im sechsten Kapitel wird der Preis behandelt. Der Preis entsteht aus
dem Werth. Bei dem Werth kommt es daraus an, die in die qualitativ
einheitlich gedachte Vermögenssudstanz aufgenommenen Bestandtheile quanti¬
tativ zu bestimmen. Hierbei machen sich zunächst individuelle Bedingungen
geltend. Kommt es aber daraus an, die Bestandtheile des gesellschaftlichen,
nicht blos des individuellen Vermögens nach ihrem quantitativen Verhältniß
zu bestimmen, so treten zahlreiche Momente socialer Natur hinzu, welche den
Preis als den social actuellen Werth bedingen. Das ganze Kapitel ist durch
Klarheit, Vollständigkeit und die richtige Stellung der in Betracht kommenden
Momente ganz besonders hervorzuheben.
Aus dem Preis folgt der Gewinn. Es gibt keinen Vermögenstausch,
der nicht gewinnbringend ist, und zwar für beide Theile. Wo dieser Erfolg
nicht eintritt, ist der Handel fehlerhaft gewesen. Daß im Tausch als solchem
der Gewinn, und zwar der redliche Gewinn gesucht werden kann und soll,
liegt darin, daß die vertauschten Vermögensbestandtheile neue Verbindungen
eingehen sollen, durch welche latente Kräfte der Vermögensbildung zur Wirk¬
samkeit gelangen.
Der Begriff des Gewinns führt auf den Begriff des Kapitals. Das
Kapital ist das Vermögen in seiner Function als Vermögen bildende Macht.
In diesem Kapitel, dem achten, sind die aus dem Kapitalbegriff sich ergeben¬
den Unterbegrisse, deren Auffassung so lange an Unklarheit gelitten hat, auf
das Überzeugendste erhellt und vereinfacht. Dasselbe gilt vom neunten Ka¬
pitel, welches den Credit behandelt. Hier ist besonders der Gedanke bemer¬
kenswerth durchgeführt, daß der Credit selbst eine Kapitalsform und folglich
eine bestimmte Art erlangten Vermögens ist. Ferner aber ist die Ausführung
hervorzuheben, daß alles Kapital nur im Creditverhältniß zur Wirksamkeit
gelangen kann. Das heißt, alle anderen Kapitalsformen suchen die Verbin¬
dung mit dem Credit, und die Kapitalkraft des Credites besteht darin, andere
Kapitalformen anzuziehen und dem Creditbesitzer dienstbar zu machen. Im
Zehnten Kapitel wird der Begriff des Geschäfts auseinandergesetzt, als die
Vereinigung von Geldkapital und Arbeitskraftkapital. Das erste vertritt hier
alle übrigen erforderlichen Kapitalsformen. Das Geschäft muß, wenn es die
ihm innewohnende Absicht erreicht, das angewendete Geldkapital sowohl als
die angewendete Arbeitskraft nach dem Marktpreis verzinsen, außerdem aber
einen Ueberschuß abwerfen, der als Rente bezeichnet wird, und als dessen Be¬
dingung das Glück, d. h. ein Zusammentreffen solcher Umstände anzusehen
ist, welche die Geschäftsbegründung herbeizuführen niemals in ihrer Gewalt
hat. Im elften, zwölften und dreizehnten Kapitel wird diese dreifache Wir¬
kung des Geschäfts: Kavitalzins, Arbeitslohn und Rente, jede einzeln erörtert.
'
Im vierzehnten Kapitel werden aus den Gegenständen oder Gebieten
der Vermögensbildung die wirthschaftlichen Geschäftszweige abgeleitet. Im
fünfzehnten Kapitel wird dem Geschäft der Beruf entgegengestellt als sittlich
künstlerische Thätigkeit, die um ihrer selbst willen da ist, oder, was hier das¬
selbe heißt, deren Gegenstände um ihrer selbst willen hervorgebracht werden,
oder: was nochmals dasselbe ist, zum unmittelbaren Besitz und Genuß für
den anschauenden Geist.
Das letzte, sechzehnte Kapitel umschreibt die wirthschaftlichen Wirkungs¬
kreise, nämlich Privatwirthschaft und Volkswirthschaft; innerhalb der ersteren
Personen-, Familien- und Genossenwirthschaft, innerhalb der zweiten, die na¬
türliche und die bewußte Volkswirthschaft, an welche sich die Weltwirthschaft
anschließt.
Man erkennt aus dieser Skizze — so kurz sie ausfallen mußte — wie wir
hoffen, den natürlichen und einleuchtenden Gang der Fröbel'schen Ent¬
wickelung.
Durch das ganze Werk zieht sich eine schlagende Widerlegung der Irr¬
thümer des Socialismus an jedem einzelnen Punkt, wo dieselben sich mit
der Wirthschaftslehre berühren. Wir müssen uns jedoch versagen, dieser Po¬
lemik hier zu folgen. Die Grundgedanken derselben hat Fröbel übrigens
in einem besonderen Vortrag zusammengefaßt: „Die Irrthümer des Socialis¬
mus". Leipzig 1871.
Wenn es eine Aesthetik der wissenschaftlichen Darstellung gibt, die in
nichts anderem bestehen kann, als in der mühelosem Klarheit, in der über¬
zeugenden Natürlichkeit der begrifflichen Entwickelung, so zeichnet diese Eigen¬
schaft das hier besprochene Wer? aus. Der zweite Theil, welcher die wirth¬
schaftlichen Wirkungskreise behandeln soll, wird damit die praktischen Fragen
der Gegenwart, soweit sie auf dem wirthschaftlichen Gebiet liegen, aufneh¬
men. Möge dem Verfasser dieselbe glückliche Hand zu Gebote stehen, mit
der er den grundlegenden Theil aufgeführt hat. Die öffentliche Aufmerksam¬
keit und vielseitiger Dank werden ihm alsdann nicht fehlen.
Drei Tage vor der Eröffnung der Reichstagssession sind die hierher ver¬
pflanzten und eine ganze Woche lang andauernden Verhandlungen zwischen dem
deutschen Reich und Frankreich über die Nachtragsconvention zum Friedens¬
verträge beendigt, und zwar, wie versichert wird, in einer für beide Seiten
befriedigenden Weise beendigt worden. Gegen Baarzahlung einer gewissen
Summe auf die vierte Halbmilliarde wird der Rest durch Wechsel gedeckt, die
vor dem Fälligkeitstermine nicht an den Markt gebracht werden. Der Ver-
sailler Artikel 3 ist verschwunden oder wenigstens jeder Bedeutung beraubt.
Die ganze Abmachung beweist vor aller Welt, daß der Reichskanzler
Alles thut, was in seinen Kräften steht, um Frankreichs Lage erträglich zu
machen. Nie ist ein Sieger, nach einem furchtbar ernsten Kampfe, fo scho¬
nend und rücksichtsvoll gegen den Besiegten aufgetreten, als Deutschland dem
unruhigen Nachbarlande gegenüber. Dank wird es freilich dafür nicht ernten,
aber Fürst Bismarck rechnet ohne Zweifel mit der sicheren Divination, welche
ihn schon bald nach der Schlacht bei Sedan und in stärkerem Maße nach der
Uebergabe von Paris, das Friedensbedürfniß des französischen Volkes richtig
erkennen ließ, daß jeder Zeitgewinn die Garantien des Friedens verstärkt.
Die Behandlung mag freilich den Franzosen nicht gefallen. Eine Unbillig-
keit von Seiten des Siegers würde sie in den Stand setzen, einen rührenden
Schmerzensschrei auszustoßen; ein Beweis, daß der Sieger auf ihren Verfall
speculirte, würde den wenigen einsichtigen Patrioten, die es in Frankreich gibt,
willkommen sein, um daraus die Nothwendigkeit einer vorjährigen Vertheidi¬
gung zu deduciren; aber der leitende Staatsmann Deutschlands führt nicht
nur den Friedensvertrag auf das Liberalste aus, sondern kommt den Besieg¬
ten soweit möglich entgegen — vorausgesetzt, daß sie ihre Kriegsentschä¬
digung zahlen, was im Verein mit der Abtretung zweier Provinzen und den
Verlusten des letzten Krieges gerade die Wirkung haben wird, sie ungefährlich
zu machen. Dem Eber sind die Hauer etwas abgefeilt worden!
Die Veröffentlichungen Benedetti's über seine diplomatische Thätigkeit
am preußischen Hofe sind ein unschätzbarer Beitrag zur Vorgeschichte des letz¬
ten Krieges. Der französische Diplomat hat zunächst sich selbst vor dem
Ruf der Lächerlichkeit gerettet, in welchen ihn die Veröffentlichung des be¬
rühmten Vertragsentwurfes gebracht hatte. Die Thatsache freilich, daß er
sich bei dieser Gelegenheit von dem Grafen Bismarck gründlich hat täuschen
lassen, kann er nicht aus der Welt schaffen, aber seine Berichte zeigen ihn
als einsichtsvollen und unbefangenen Beobachter, als verhältnißmäßig feinen Kopf
und als einen Diplomaten, der überall Erfolg gehabt haben würde, wo ihm —
kein Bismarck entgegentrat. Die Ueberlegenheit dieses Letztern wird freilich
dadurch noch mehr in's Licht gestellt, je mehr sein Gegner an Bedeutung ge-
^wirrt. Die Veröffentlichungen der Benedetti'schen Actenstücke liefern überdies
einen weiteren Beweis, daß Graf Bismarck Frankreich keine Compensationen
angeboten hat. Ueber diesen Punkt ist jetzt auch für den hartnäckigsten Geg¬
ner der Bismarck'schen Politik, wenn er nur nicht absichtlich die Augen
schließt, kein Zweifel mehr möglich Als am 23. Juli vorigen Jahres die
Times den von Benedetti niedergesehriebenen Vertragsentwurf veröffentlichte,
der Napoleon's Begehrlichkeit unzweifelhaft belegte, wiegte sich die neu¬
trale Diplomatie und ein großer Theil der neutralen Presse in der bequem¬
sten Ungläubigkeit. Man hatte kein Urtheil über die Sache' und hütete sich,
die französischen Ableugnungen näher zu untersuchen. Jetzt hat die Inä6-
xonäMeo, welche damals auch neutral war, den Verdruß, Actenstücke ver¬
öffentlichen zu müssen, welche beweisen, daß der Kaiser Napoleon nicht nur durch
seine Diplomaten annexionistische Politik trieb, sondern sich selbst mit einem
obscurer belgischen Literaten einließ, der ihm Aussichten auf die Annexion
Belgiens machte. Jetzt wird freilich alle Schuld auf den Kaiser Napoleon
geschoben und die Behandlung, die ihm zu Theil wird, erinnert an die Fabel
vom todten Löwen. In Deutschland wenigstens weiß man, daß die an¬
nexionistische Politik Napoleon's die vollste Billigung der ungeheuern Mehr¬
heit des französischen Volkes hatte und die Belgier könnten allenfalls
auch wissen, daß die Republik in Frankreich über die Mehrung des Reiches
gerade so denkt, wie die Kaiser und Könige.
Die Ereignisse in Oestreich erregen hier, wie begreiflich, steigende Aufmerk¬
samkeit und das große Publicum sympathisirt lebhaft mit den Deutschen, wäh¬
rend die Regierung die absoluteste Zurückhaltung beobachtet. Angenehm freilich,
mögen ihr die Ereignisse in Oestreich nicht sein, aber abgesehen davon, daß die
Entscheidung noch nicht gefallen ist, und daß sie immer noch eben so gut nach der
einen, wie nach der andern Seite fallen kann, ist auch die deutsche Regierung
gänzlich außer Stande, irgend eine Einwirkung auf Oestreich auszuüben, möge
dort geschehen, was wolle. Dies ist so einleuchtend, daß jede Sympathie-
bezeigung von deutscher Seite für die Deutschen in Oestreich eine Gedanken"
losigkeit ist, denn einen praktischen Erfolg kann sie nicht haben.
Die wichtigste Aeußerung der Thronrede betrifft diesmal die auswärtige
Politik. Zum Wenigsten wird keine andere Stelle die öffentliche Aufmerk¬
samkeit innerhalb wie außerhalb Deutschlands in gleichem Grade auf sich
ziehen und dabei die mannigfaltigsten Deutungen hervorrufen. Die Worte:
„In dieser Richtung — nämlich nach der Richtung, das Vertrauen in die
friedenverbürgenden Absichten des neuen deutschen Reiches zu stärken — ist
es eine besonders wichtige, aber mir auch besonders willkommene Aufgabe,
mit den nächsten Nachbarn Deutschlands, den Herrschern der mächtigen
Reiche, welche dasselbe von der Ostsee bis zum Bodensee unmittelbar begren¬
zen, freundschaftliche Beziehungen von solcher Art zu pflegen, daß ihre Zu¬
verlässigkeit auch in der öffentlichen Meinung aller Länder außer Zweifel
stehe;" werden bei dem ersten Eindruck an nicht wenigen Orten als die An¬
kündigung der wiedergeborenen heiligen Allianz aufgefaßt werden. Man
wird aus dieser Erklärung des deutschen Kaisers hie und da, in Frankreich
namentlich, bemüht sein, ein Schreckbild zu machen. Wohlwollende Beurthei-
ler werden sich den Beweis angelegen sein lassen, daß die neue Allianz der
Ostmächte des europäischen Continents etwas ganz anderes bedeute und be¬
deuten müsse, als der alte sogenannte heilige Bund unseligen Andenkens.
Ihr Berichterstatter glaubt sich berechtigt, die Worte des deutschen Kai¬
sers, deren Eindruck beim Vortrag übrigens unverkennbar war, einer noch
mehr ernüchterten Auffassung zu unterwerfen. Nicht um eine tendenziöse
Wiederherstellung der ostmächtigen Allianz in irgend einem Sinne kann es
sich nach den Ausdrücken der Thronrede handeln. Vielmehr nur um die
Absicht der Reichsregierung, das zu großer Befriedigung erreichte Einverständ-
niß mit Oestreich nicht in dem Licht erscheinen zu lassen, als hätten die bei¬
den mitteleuropäischen Großmächte sich in der Absicht einander genähert, auf
irgend einem Punkte gemeinsam der russischen Politik entgegen zu treten,
oder auch nur dieses Reich von ihrem EinVerständniß auszuschließen. Der
deutsche Kaiser stellt deshalb die Begegnungen, welche er in diesem Sommer
mit den Monarchen der Nachbarreiche gehabt, ganz auf dieselbe Linie der be¬
wirkten Kräftigung des allgemeinen Vertrauens in eine friedliche Zukunft
Europas. Diese Gleichstellung hindert jedoch nicht, daß die Befriedigung
einen besonderen Ausdruck erhält, welche das ganze deutsche Volk empfindet
über die Befreiung unserer nachbarlichen Beziehungen zu Oestreich von jeder
Trübung durch die Erinnerung an Kämpfe, welche eine „unerwünschte Erb¬
schaft tausendjähriger Vergangenheit" waren.
Die politische Lage wird also diese sein. Die drei Ostmächte machen
nirgends hin tendenziös Front. Aber sie werden sich über jeden wichtigen
Zwischenfall der europäischen Politik vor Allem untereinander verständigen.
Der deutschen Politik fällt naturgemäß fürs erste hierbei die Rolle der Ver¬
mittelung zu. Dies ist um so leichter, als Rußland, fortdauernd mit großen
inneren Reformen beschäftigt, außerdem aber durch seine nothgedrungenen
Fortschritte in Innerasien in Anspruch genommen, so lange an keinen aggres¬
siven Schritt gegen die Türkei denken wird, als die Zustände des letzteren
Reiches den Zusammenhalt bewahren. Sobald in die Zersetzung des türki¬
schen Staatswesens ein ernstlicher Stillstand kommt, ist ein großer Anlaß
des Mißtrauens zwischen Oestreich und Rußland zur Ruhe gebracht. Es
wird nicht fehlen, daß Rußland neuerdings vermeidet, der panslavistischen
Bewegung in Oestreich, wenn eine solche überhaupt Beachtung verdient, den ge¬
ringsten Schein der Begünstigung zu Theil werden zu lassen. Die gleiche
Enthaltung wird sich Oestreich dem russischen Polen gegenüber auferlegen.
Noch bestimmter läßt sich die Lage vielleicht so fassen, daß die deutsche
Regierung in europäischen Dingen jederzeit die Billigung der östreichischen
suchen, niemals aber die Billigung benutzen wird, um einen wichtigen Schritt
ohne Vorwissen Rußlands, geschweige denn zu dessen Nachtheil zu unter¬
nehmen.
Soviel über die auswärtige Politik, bei der übrigens auch das freund¬
liche Verhältniß Deutschlands zu Italien und der Schweiz aus Anlaß der
Gotthard-Bahn in der Thronrede seine Erwähnung gefunden hat.
Was nun die inneren Aufgaben des Reiches betrifft, so ist der wichtigste
Punkt für dieselben in der Thronrede die Ankündigung, daß die Uebergangs¬
zeit, welche die Reichsverfassung bis Ende 1871 für die Militärausgaben be¬
stimmt, daß die Geltung des sogenannten Pauschquantums nur noch auf
das Jahr 1872 ausgedehnt werden soll. Auf manchen Seiten war die Er¬
wartung und der Wunsch rege gewesen, die Reichsregierung möge das Pausch¬
quantum für die Militär-Ausgaben noch auf drei Jahre, also bis Ende 1874
beantragen. Im Frühjahr 1874 spätestens muß ein neuer Reichstag ge¬
wählt werden. Die definitive Feststellung der Militärausgaben, welche bis
Ende 1874 zu erfolgen hätte, würde durch diese Verlängerung des Provi¬
soriums recht eigentlich zur Wahlfrage gemacht. Dieser Wunsch, die Heeres¬
ausgaben zur Wahlfrage zu machen, und die Hoffnung, den Heeresaufwand
desto knapper bemessen zu können, je weiter der Zeitpunkt für die definitive
Bewilligung desselben hinweggerückt wird von den glorreichen Fragen der
Jahre 1870 und 1871. gaben das Verlangen einer Verlängerung des Pausch¬
quantums auf drei Jahre ein. Aus der Thronrede dagegen ergibt sich, daß
die Reichsregierung nicht daran denkt, einem solchen Verlangen zu willfah¬
ren, geschweige dasselbe ihrerseits zu hegen. Man muß vielmehr annehmen,
daß die Reichsregierung entschlossen ist, die Frage der Ausgaben für das
Reichsheer nunmehr in der Session von 1872 zugleich mit dem Gesetz über
die Organisation des Reichsheeres, welches Artikel 61 der Reichsverfassung
vorschreibt und durch dieses Gesetz, wie es Artikel 62 derselben Verfassung
verlangt, zu erledigen.
Im Uebrigen ist aus der Thronrede zu entnehmen, daß die gegenwär¬
tige außerordentliche Session des Reichstags eine kurze sein wird, wie das
allseitige Bedürfniß fordert. Die Aufgaben der Session sind: Die Be¬
willigung eiserner Fonds für die Reichsverwaltung aus den Mitteln der
französischen Kriegsentschädigung; die erste budgetmäßige Aufstellung der Aus¬
gaben für die unmittelbaren Reichslande; die bessere Gehaltsstellung der
Reichsbeamten. Diese Maßregeln werden grundlegende Theile des Reichs¬
budgets bilden.
Eine Maßregel von höchster Wichtigkeit ist die Münzreform, deren Re¬
gelungsvorschlag aber noch dem Bundesrath vorliegt, und bei welcher über¬
dies für jetzt nur die ersten grundlegenden Schritte in's Auge gefaßt sind.
Vielleicht verdient bemerkt zu werden, daß die kaiserliche Thronrede die
Vorlage des Münzgesetzes schon in der diesmaligen Session zwar nicht aus¬
schließt, aber auch nicht ankündigt. Man muß demnach auf die Möglichkeit
gefaßt sein, daß der Bundesrath die Entscheidung über die Münzgesetzvor¬
lage so schwierig findet, um die Einbringung derselben auf das kommende
Frühjahr zu verschieben. Es fehlt nicht an Stimmen der Sachkenner, welche
einen solchen Aufschub rathsam finden. Der bisherige Vorschlag, wie er an
den Bundesrath gelangt ist, flößt tief greifende Bedenken ein, während die
Einigung über Vorschläge von wesentlich anderer Natur in wenigen Wochen
weder gelingen, noch die öffentliche Meinung hinlänglich vorbereitet finden
durfte.
Außer Budget- und Münzwesen wird sich der Reichstag diesmal nur
noch mit wenigen, heilsamen aber leicht zu erledigenden Vorlagen zu beschäf¬
Der größte Theil Chicago's, der „Deutschen Stadt" des amerikanischen
Westens, ist in Asche gesunken!
An Hunderttausend Menschen sehen obdachlos, mittellos, dem harten
Winter entgegen. Hunderte haben in der Schreckensnacht, als das fürchter¬
liche Element entfesselt über die friedlichen Schlaf- und Wohnstätten der Stadt
hinloderte, ihre Ernährer und Erhalter verloren. Unsre deutschen Brüder,
die mit Vorliebe in Chicago den Kreis ihres Wirkens suchten, wenn sie über
den Ocean gezogen waren, sind durch das ungeheure Brandunglück vor
Allen hart betroffen. Denn sie gehören zu den betriebsamsten, geachtetsten
und begütertsten Bürgern der schwergeprüften Stadt. Viele unsrer Lands¬
leute saßen in der Gemeindevertretung und im Stadtrath von Chicago; die
besten Firmen der Stadt hatten deutschen Klang, Aber gerade die Haupt¬
sitze des geschäftlichen Lebens und Verkehrs haben die Flammen von Grund
aus zerstört. Noch fehlen genaue Ziffern darüber, wie sich Verluste und
Opfer unter Amerikaner und Deutsche vertheilen —> aber da in der Stadt
von über 300,000 Einwohnern mindestens ein Drittel aus Deutschen bestand,
so greifen wir keinesfalls zu hoch, wenn wir annehmen, daß wohl der dritte
Theil des ungeheuren Verlustes von einer halben Milliarde Dollars zerstör¬
ter Werthe, und der noch schmerzlichere an Hunderten vernichteter Menschen¬
leben Angehörige unsres Blutes betroffen hat, daß mindestens 23,000 Deutsche
obdachlos über dem zerstörten, in der Fremde schwererrungenen Heerd und Eigen
umherirren. Wie Manchem unter ihnen ist die Mühe eines ganzen harten
Manneslebens für immer vernichtet!
Hülfe, rasche Hülfe thut noth!
Niemand unter uns mag sich der Pflicht seines Beitrags entledigt glau¬
ben, weil uns der Telegraph zugleich mit der Schreckenskunde die tröstliche
Versicherung erster liebebereiter Hülfe der Schwesterstädte Amerika's überbrachte.
Niemand mag sich getrösten, daß ohne sein Zuthun die wunderbare Spann¬
kraft amerikanischer Verhältnisse, welche Chicago in fünfunddreißig Jahren
von einem Beobachtungsposten an der Grenze der indianischen Wildniß zur
Centralstelle des Getreide- und Schlachtviehexporthandels der nordamerikani¬
schen Freistaaten erhob, den armen Opfern der Brautnacht Hülfe und Lin¬
derung schaffen, oder daß gar die eigenen, sonst für die Ausfuhr bestimmten
Vorräthe der Stadt ihren Bürgern Auskommen gewähren könnten. Denn
Jeder kann sich berechnen, in welch ungeahntem Maße dieses Verhängnis)
die größten Unglücksfälle überragt, welche seit Jahrhunderten die Wuth ent¬
fesselter Naturgewalten über menschliche Stätten und die Errungenschaften
menschlichen Fleißes gebracht hat. Der große Brand von London, Hamburg
und Pera, die Erdbeben, welche reiche Colonieen in Südamerika vernichteten,
die Ausbrüche feuerspeiender Berge, die schlagenden Wetter in den Tiefen
unsrer Bergwerke, haben vergleichsweise geringe Opfer gefordert gegen die
schreckliche Verwüstung, die eine Nacht über die Herrscherin des Michigan-
see's heraufführte. Vergessen wir das Eine nicht: es gilt, fast hundert¬
tausend Menschen durch die Schrecknisse der rauhen Jahres¬
zeit sind urchzu helfen, bis mildere Monate ihnen gestatten, das Ver¬
lorene wieder aus Schutt und Trümmern aufzurichten.
Und vor Allem: wir erfüllen nur eine einfache Dankespflicht in dem,
was wir für Chicago thun! Wir wollen nicht sammeln Deutsche für Deutsche,
sondern Menschen für Menschen, wie die Bürger von Chicago ohne Unter¬
schied der Sprache und des Blutes für uns gethan haben!
Die Unglücklichen, für welche ihr Unglück nun an unsere Herzen und
Börsen klopft, haben allezeit den Leiden, wie den Hoffnungen und Freuden
unseres Volkes und den höchsten Aufgaben unseres Zeitalters die regste Theil¬
nahme erwiesen. Sie standen in vorderster Reihe, als vor'in Jahre galt,
die schweren Leiden unseres Krieges zu lindern; Berichterstatter der Chicagoer
Presse waren über den Ocean gekommen, um ihren Mitbürgern nach eigenem
Augenschein von den ruhmvollen Waffenthaten unserer Heere treue Kunde zu
geben. Lange, bevor wir in Deutschland die Zug- und Gewerbefreiheit kann¬
ten, fanden unsere Söhne und Brüder in Chicago bei jeder Freiheit des
Verkehrs eine deutsche Heimath. Mit einer auch für Amerika ungewöhnlichen
Ausdauer und Rührigkeit, wußten die Bürger dieser Stadt Wohlstand und
Reichthum in ihre Stadt zu ziehen — aber auch nirgends in der Union wa¬
ren Schulen und milde Anstalten und die mannigfachsten öffentlichen und
humanen Interessen besser bewahrt und besorgt als hier. Und in dem großen
Kampfe, den die nordamerikanische Union unter des Präsidenten Lincoln Führung
für die menschlichen Strebungen unserer Zeit erfolgreich führte, stand kaum
eine Stadt des gewaltigen nordamerikanischen Staates so treu und opfermüthig
ein für die Aufhebung der Sclaverei und die im edelsten Sinne des Wortes
"republikanische" Regeneration der Vereinigten Staaten, als die „Deutsche
Stadt" des Westens.
Heise ihr darum, wer kann!
Unter den zahlreichen Sammlungen der Kriegsdepeschen aus dem jüngsten
deutsch-französischen Kriege verdient die bei Alphons Dürr in Leipzig er¬
schienene Ausgabe: „Die amtlichen Kriegsberichte der Jahre 1870
bis 1871", entschieden größte Verbreitung und freudigste Anerkennung.
Vor Allem unterscheidet sie sich sehr vortheilhaft von der weitverbreiteten Ge¬
schmacklosigkeit, die amtlichen Botschaften aus dem größten der Kriege in
mikroskopischen Lettern und in dem unvermeidlichen Gewände eines Photo¬
graphie-Albums dem Leser vorzuführen. Die Dürr'sche Sammlung ist ein
Buch; die Lettern, welche die großen Thaten der beiden Jahre vorführen,
sind edle große deutsche Lettern, in ihren Formen an die ehrwürdigen Ty¬
pen unserer Chroniken erinnernd; das Papier dagegen entspricht den höchsten
Anforderungen der modernen Zeit; jede der 130 Großquartseiten des Werkes
ist von wechselnden Zierrahmen eingefaßt, die A. Gottschald in Chemnitz
sinnreich gezeichnet hat. Außerdem schmücken treffliche Holzschnitte als Titel¬
blatt, zum Eingang und Schluß das Werk. A. Wislicenus in Düsseldorf
zeichnete als Titelblatt die „Siegerin Germania nach vollbrachter That",
Moritz v. Schwind zum Eingang die helläugige Germania, die mit der Kö¬
nigskrone auf dem Haupte den Schlachtenschild von der heiligen Eiche nimmt,
D. Raue endlich zum Schlüsse die friedenkündende Germania, das Schwert
mit dem Oelzweig umwunden. Es ist wirklich eine „Prachtausgabe" der wich¬
tigsten Nachrichten dieser großen Tage, die der Herausgeber passend einleitet
mit dem Aufrufe des Königs Wilhelm „An mein Volk!" vom 31. Juli 1870
und abschließt mit den Abschiedsworten des deutschen Kaisers an die Solda¬
ten der deutschen Armee, welche der Oberfeldherr den ruhmreichen Waffen¬
gefährten nachrief, als er am Is. März 1871 in Nanzig den fränkischen Bo¬
den verließ. Auch die Aufnahme der denkwürdigen Briefe des Kaisers an
seine Gemahlin über die Schlacht von Gravelotte und von Sedan ist sehr zu
loben. Der Text der Kriegsberichte ist sorgfältig mit den Originaldepeschen
verglichen. Bei dem von der Verlagsanstalt gestellten Preise kann sich Jeder¬
mann den Genuß bereiten, die große Zeit an der Hand gerade dieser schönen
Sammlung noch einmal zu durchleben und dabei mag ihn doppelt freudig
das Bewußtsein erheben, daß er durch den eigenen Genuß der deutschen
Jnvalidenstiftung einen Beitrag zuführt; denn für diese ist der Rein¬
ertrag des Werkes bestimmt.
Die Geschichte Spaniens im Mittelalter ist von dem Gegensatz der alten
eingesessener christlichen Landesbewohner gegen die eingedrungenen Araber
islamitischen Bekenntnisses beherrscht. Das ganze Leben der spanischen Nation
wird auf allen Gebieten durch diesen. Streit erfüllt, der beides Nacenkampf,
und Religionskrieg, bedeutet. Im 8. Jahrhundert unserer Zeitrechnung er-
gossen sich die Fluthen des arabischen Völkerstromes tief in die pyrenäische
Halbinsel hinein: bis in die nördlichsten Gebirge wurden die Trümmer des
gothischen Reiches zurückgeworfen; und erst von diesen äußersten Zufluchts¬
stätten aus begannen die Nachkommen der Gothen sich Stück für Stück von
dem islamitischen Herrschaftsgebiete zurückzuerobern. Christliche Könige und
christliche Kriegerschaaren rangen sieben Jahrhunderte lang mit den Mauren
um den Besitz dieses herrlichen Landes: oft siegreich, oft zurückgeworfen, ein¬
mal einen mächtigen Schritt vorwärts, um dann wieder das Eroberte fahren
zu lassen, jedesmal aber in erneuertem Aufschwünge vorwärts, — durch glän¬
zende Siege und tragische Niederlagen, durch Erhebungen und Unfälle hin¬
durch : so ist ihnen endlich gelungen, dem Islam den größten Theil der Halb¬
insel wieder abzugewinnen. Aber wen will es wundern, daß ein solcher
Kampf siebenhundertjähriger Dauer auf den Charakter und die Geschicke der
spanischen Nation bleibende Eindrücke hinterlassen?
Es ist leicht zu verstehen, wie ein heißblütiges Volk, das unausgesetzt für
Haus und Heerd und Glauben zu kämpfen sich gewöhnt hat, nach und nach
in fanatischem Kriegseifer sich berauscht. Man hatte gelernt, Krieg und
Abenteuer aufzusuchen, allein in militärischen Erfolgen die Ehre des Ein¬
zelnen zu sehen: ein Leben voll Gefahren, voll unruhiger Aufregung und
romantischer Ritterlichkeit war für den Spanier allein anziehend geblieben:
an bürgerlicher, ruhiger und stätiger Arbeit fand er wenig Gefallen. Aber
damit verband sich nun auch sofort eine andere Seite seines Charakters, die
ebenso durch die Geschichte des spanischen Mittelalters ihre volle Ausbildung
erhalten. Jener Feind, den man mit solcher Anstrengung bekämpft und
schließlich niedergerungen hatte, war der Bekenner einer dem Christenthume
feindlichen Religion: es konnte gar nicht ausbleiben, daß der Spanier von un¬
bändigsten Drange beseelt wurde, des Gegners Kirche und' Religion zu ver¬
nichten. Heißer Kriegsmuth und fanatischer Glaubenseifer sind die beiden
Eigenschaften, welche die spanische Nation aus dem Mittelalter in die Neuzeit
begleiten.
Und wie nun jener ewige Krieg des spanischen Mittelalters einmal ge¬
führt worden war, so hatte die einzelnen Spanier nicht einmal die Gemein¬
samkeit ihrer Interessen wider denselben Feind zusammengehalten. Jeder
mächtige Herr, jeder reiche Baron oder Graf, jede Stadt und jede Landschaft
pflegte den Maurenkrieg auf eigene Hand zu führen. Was man dem Islam
abgewann, bildete nicht einen Staat, sondern es entstanden eine ganze Reihe
kleiner selbstherrlicher Reiche neben einander. Erst nach und nach traten ein¬
zelne dieser Länder zu Gruppen zusammen: einzelne Reiche wurden, — auf
welchem Wege auch immer, ist für unsere Betrachtung gleichgültig — unter
demselben Regenten vereinigt, wenn auch jedes derselben die alte eigenthüm¬
liche Verfassung in voller Selbständigkeit noch behielt. Im fünfzehnten Jahr¬
hundert gab es zuletzt fünf solcher Ländercomplere. Im Norden und in der
Mitte der Halbinsel waren mit Ca stillen Leon und Gallicim und andere
kleine Besitzungen unlöslich verbunden. Daneben bestand im Osten die Krone
Aragon mit ihren Rebenlauben Catalonien und Valencia. Es lag auf der
Hand, daß die weitere Vereinigung von Castilien und Aragon auch sofort
das staatliche Uebergewicht auf der Halbinsel und die Zukunft Spaniens ent¬
schieden haben würde; diese Vereinigung war auch schon mehrfach versucht
worden, sie hatte sich aber nicht zu behaupten vermocht. Ein Vasall von
Castilien hatte sich im 12. Jahrhundert zur Unabhängigkeit emporgearbeitet:
den Westen und Nordwesten der Halbinsel nahm die Krone Portugal ein,
die glücklich einem jeden Versuche widerstand, in die alte Unterordnung sie
zurückzuzwingen. Und ebenso war auch der äußerste Norden, Navarra, die
viel begehrte Grenzscheide französischen und spanischen Verlangens, der Unter¬
werfung oder Vereinigung eines Nachbarreiches zuletzt immer wieder glücklich
entgangen. Außerdem war noch ein mohammedanisches Reich aufrecht ge¬
blieben, Granada, der letzte Nest arabischer Herrlichkeit. Aber ihm drohte
der Untergang unvermeidlich, sobald die Christen erst unter sich einig ge¬
worden und zu einem letzten energischen Aufschwünge sich aufraffen würden.
Um die Mitte des 15. Jahrhunderts waren freilich in Castilien wie in
Aragon die staatlichen Zustände sast einer völligen Auflösung nahe. In den
einzelnen Theilreichen war die mittelalterliche Verfassung verschieden gestaltet:
als gemeinsam ihnen allen läßt sich hervorheben, daß Adel und Clerus, hier
und da auch die Städte, die Rechte der alten gothischen Volks-Versammlung
überkommen und zu staatsgefährlicher Bedeutung gesteigert hatten. Von seinen
Ständen war der Landesfürst abhängig, in allem und jedem Acte an ihre
Zustimmung und ihren guten Willen gebunden. In Castilien war die Macht
der Krone fast zu einem Scheine geworden; wild und wüst tobten kleine und
große Ritter und Herren durch das Land: alles Recht und aller Besitz war
vor ihnen unsicher: das Gesetz des Landes war das Recht des Stärkeren.
Die Beamten waren dem Adel dienstbar; alle Führerposten waren aus seiner
Mitte besetzt; eigenwillig entschieden die Adelsfactionen über Krieg und
Frieden. Dauernd herrschte im Adel selbst Uneinigkeit und Parteiwesen:
portugiesische, narvarrische, aragonische Verbindungen, Verbrüderungen der
Guzman, Davalos, Pachecos, und wie diese Familien hießen, durchkreuzten
in buntem Spiele einander die Pfade, kurz, die Gefahr lag nahe, daß diese
Fehden die Krone von Castilien in kleine Stücke und Scherben zerschlugen,
und daß aus dem Ruine dieses Königreiches kleine autonome Adelsherrschaften
wieder erwüchsen.
Den Höhepunct so unseliger Verwirrung bildet die Regierung Juan II.
Der Besitz der Krone wurde damals fast vollständig an Günstlinge verschleu¬
dert: wechselnde Adelshäupter waren die eigentlichen Herren im Lande. Der
Sohn und Nachfolger Juan's, Heinrich IV., hatte wohl die Einsicht in die
Verderblichkeit der Zustände, aber er vermochte nichts zu ändern oder zu
bessern. Nun wurde im Adel die Meinung verbreitet, das einzige Töchterchen,
das die Königin geboren, Juana, sei ein Sprößling verbotenen Umganges,
nicht ein Kind des Königs selbst; man erklärte, sie nicht als Thronerbin an¬
zuerkennen. Die dem Könige feindliche Adelsfaction erhob einen Halbbruder
des Königs zu ihrem Führer: Heinrich entthronend, wollte man unter dem
Scheinkönigthum des Infanten Alfons das Land beherrschen. Als Alfons
in frühem Alter gestorben, galt es, dieser antiköniglichen Partei ein neues
Werkzeug, eine neue Puppe zu finden: als solche bot sich ihnen die jüngere
Schwester Alfons und Heinrichs. Jsabella dar. Man wollte die siebzehn¬
jährige als Königin ausrufen; sie aber lieh sich nicht solchem Beginnen: „so
lange ihr Bruder Heinrich lebe, sei er der König," lautete ihre Antwort an
den Chef der Insurgenten, aber sie erklärte zugleich sich bereit, einen Com-
promiß für die Zukunft anzubahnen. Nicht Königin einer Adelsfaction oder
Räuberin der brüderlichen Krone zu werden, vielmehr Thronerbin und Nach¬
folgerin des Bruders, von ihm selbst anerkannt und von allen Parteien im
Lande gutgeheißen: darauf zielte ihr Ehrgeiz. Es gelang ihr. In Toros
de Guisando wurde das Abkommen im September 1468 besiegelt. Und wenn
auch darnach wieder König Heinrich zu Gunsten seiner Tochter, die er selbst
als solche stets betrachtete, die eben stipulirte Erbfolge Jsabellas umzustoßen
suchte, so meinten Jsabella und ihre Freunde, der jungen Fürstin einen taug¬
lichen Gemahl zum Schützer, zum Vertreter ihres Anspruches zu finden.
Es boten sich Jsabella manche Bewerber an. Unter ihnen fesselten zwei
vornehmlich das Auge des Politikers: der Erbe der Krone Aragon und der
portugiesische König. Wie auch Jsabella sich entschied, in jedem der beiden
Fälle schien das staatliche Interesse Fortschritte machen zu müssen: sei es
durch Vereinigung von Castilien und Portugal, sei es durch Annexion von
Aragon; jedenfalls mußten der äußern Abrundung eben so Vortheile er¬
wachsen, als der Aufrichtung des Staatswesens im Innern. Bei Jsabella
gewann bald Ferdinand, der Aragonese den Vorzug. Schon am 7. Januar
1469 wurden Deputirte beider Theile über die Sache einig. Dann galt es,
trotz alles Widerspruches und aller Hindernisse die König Heinrich gegen diese
Ehe erhob, die Hochzeit zu Stande zu bringen. Prinz Ferdinand, von we¬
nigen Getreuen begleitet, als Diener verkleidet, schlich sich heimlich ins casti-
lische Land; am 13. October traf er seine Braut in Valladolid; treue Freunde
mußten das Geld für die Hochzeitskosten Herleihen; am 19. October wurde
das Herrscherpaar eingesegnet, Ferdinand und Jsabella, die Schöpfer und
Gründer der spanischen Monarchie.
Noch einmal stellte sich dem Paare der Anspruch jener Prinzessin Juana
entgegen. Nach Heinrichs Tod nahm der portugiesische König auf sich,
ihre Rechte zu vertreten. Obwohl schon wiederholt die castilischen Cortes
Jsabella gehuldigt, hatte sie noch einen Krieg gegen einen Theil des Landes¬
adels und gegen Portugals Intervention zu bestehen. Mit hingebender Treue
hingen Einzelne ihr an, vor allen die mächtigen Familien der Mendozas,
Henriquez und Alba; auch die Städte leisteten nachdrückliche Hülfe: so wurde
man des Widerstandes Herr; die Schlacht von Toro 17. März 1476 be¬
festigte die neue Krone und die auswärtigen Mächte erkannten darauf das
Herrscherpaar an.
In Aragon waren die inneren Zustände nicht besser geordnet als in
Castilien: ein Bild staatlicher Unordnung und Auflösung bietet auch Aragon.
Die Königsmacht war hier einer fortlaufenden ständischen Controle unter¬
worfen, sogar die Gerichtsbarkeit war einem ständischen Beamten unterstellt.
Der Vater Ferdinands, König Juan II., hatte sich bemüht, eine kräftigende
Reform anzubahnen; aber der gewaltigen Schwierigkeiten war er noch durchaus
uicht Herr geworden, er hatte höchstens dem Sohne den Weg gewiesen; und
er hatte sich auch das größte Verdienst daran zuzuschreiben, daß Ferdinand die
castilische Ehe durchsetzen und seine und seiner Gemahlin Stellung in Castilien
nach und nach befestigen konnte. Nach seinem Tode — 1479 — fiel die Krone
Aragon jenem Herrscherpaar zu: was 1469 angebahnt und sicher vorbereitet
war, trat somit 1479 wirklich ins Leben.
Allerdings, nicht in formellem Acte hat man damals ausgesprochen,
daß Castilien und Aragon aufgehört hätten zu existiren und daß ein neues
spanisches Reich ihre Stelle einnehmen solle. Nein, auf die Aeußerlichkeit
der Bezeichnung hat man keinen Werth gelegt. Man ließ Sonderverfassung
und Sonderregierung in beiden Reichen fortbestehen; man duldete, daß in
Castilien der Name Jsabellas. in Aragon der Ferdinands herrsche; man gab
den Cortes sogar nach, daß sie die besondere Nechtsverwahrung aussprachen,
der eine Gatte dürfe sich nicht in die Regierungsangelegenheiten des anderen
einmischen: die alten Formen blieben aufrecht. Die Vereinigung bestand
zunächst nur darin, daß die beiden Regenten ein fest verbundenes Paar bil¬
deten, von einem Willen beseelt, von einer Erkenntniß geleitet. Durch
das Zusammenleben, durch das Befolgen derselben gemeinsamen Politik konnte
sich die Einheit des Volkes und des Staates von Spanien weit leichter und
weit dauerhafter herausbilden, als durch einen Bruch in den Verfassungs-
formen der beiden Territorien. Und es war ja nicht zu besorgen, daß der
einheitliche Geist, der in Castilien in castilischen, in Aragon in aragonischer
Formen waltete, in sich selbst in Zwiespalt gerathe: dereinst, in der Zukunft
mußten dann auch die beiden Reiche in den Kindern der Könige auf dieselbe
Persönlichkeit vererben und somit zu dem einheitlichen Geiste der Negierung
später die einheitliche Form sich hinzusinden.
Ferdinand und Jsabella — der Papst hat ihnen später den Ehrennamen
der Katholischen Könige verliehen — bilden ein Herrscherpaar, dem die Ge¬
schichte nichts gleiches an die Seite zu stellen hat. Ein politisches Genie
ersten Ranges, verbunden mit einer Frau, die selbständige Bedeutung hat und
die auch für sich allein zu den hervorragenderen fürstlichen Damen gezählt
werden müßte: — das ist ein Zusammentreffen, das sich in solcher Weise nicht
wiederholt hat.
Jsabella, am 22. April 1481 geboren, war ein Jahr älter als ihr Ge¬
mahl: sie, eine mittelgroße Gestalt mit braunem, ins Röthliche spielenden
Haare, mit blauen Augen, mit gefälligen einnehmenden Zügen, eine Dame
von äußerst liebenswürdigem anmuthigem, fröhlichem Wesen, die ihre Umge¬
bung vollständig zu bezaubern pflegte: er, eine leichte, gewandte Erscheinung,
elegant und gewinnend in seinem Auftreten, mit großer natürlicher Bered¬
samkeit ausgestattet, ein leidenschaftlicher Reiter und Jäger, auch bisweilen
ein Liebhaber fremder Frauen. Das Verhältniß zwischen den Gatten war
ein gutes: die Königin blieb dem Gemahle zugethan und ergeben, auch wenn
seine eheliche Treue bisweilen ihr Anlaß zu Klagen und Verdrießlichkeiten
bot. Sie war eine sorgsame Gattin und aufmerksame Mutter; die Erziehung
der Töchter bewachte und leitete sie mit eifrigstem Fleiße. Und in ihrem
königlichen Berufe war sie unermüdlich; sie entsagte keiner Beschwerde und
Mühsal, sie ging keiner Gefahr und keinem Hinderniß aus dem Wege. Selbst
voll Verständniß für die Bedürfnisse und die Geschäfte ihres Staates, war
sie stets willig und bereit, den Rath der verständigen Politiker zu hören, auf-
zufassen und durchzuführen. Ihr Sinn war erfüllt von der höchsten Fröm¬
migkeit und Demuth. Ihre Seele lag dem Beichtvater offen: von ihm er¬
trug sie nicht nur, nein sie erwartete von ihm den strengsten Tadel, die
herbste Zucht ihres Lebens, um kein kirchliches Gebot zu verletzen. Beson¬
ders eifrig bemühte sie sich, die kirchlichen Posten mit sittenstrengen Mönchen
zu besetzen: auf das Ganze der spanischen Kirche hielt sie ihr Auge gerichtet.
Und zu diesen Eigenschaften der Königin bildete der Charakter des
Mannes die richtige Ergänzung. Durch und durch ein Verstandesmensch, ein
überlegter Rechner, ein Realpolitiker, war er ein entschiedener Vertreter des
Mittelstandes: die unteren Klassen schützte er überall gegen den Adel, auf
strenge unnachsichtige Gerechtigkeit drang er, sparsam hielt er mit den Finanzen
der Königreiche Haus: selbst den Vorwurf spröden Geizes hat er nicht ge¬
scheut. Er war nicht besonders wahrheitsliebend: seine Reden und seine
Thaten wurden von seinem Interesse bestimmt: von religiösen Motiven und
kirchlichen Rücksichten, so gottesfürchtig und heilig er auch bisweilen geredet,
ist gewiß nicht viel in ihm vorhanden gewesen. Wenn Jsabella aus wirk¬
lich kirchlichem Herzen geredet und gehandelt, so haben Ferdinand zu seiner
kirchlichen Politik doch nur seine politischen Zwecke bestimmt. Aber in diesen
kirchlichen Angelegenheiten wie in den politischen Fragen verstand er vor¬
trefflich, die bestehenden Verhältnisse zu benutzen, die Strömungen des spanischen
Geistes zu ergreifen und in meisterhafter Berechnung die Entwicklung in heil¬
same Bahnen zu lenken.
Man hat vielfach die großen Resultate jener Doppelregierung den Ver¬
diensten Jsabella's in erster Linie zugeschrieben. Der spanische Akademiker
Clemencin hat in ausführlicher Erörterung das Lob der großen Königin
verkündet, und W. Prescott, der Historiker jener Epoche par exe<z11si>c:v,
hat in seiner unübertrefflichen und hinreißenden Erzählung dasselbe Thema
behandelt und zu allgemeiner Anerkennung jenen Vorzug Jsabellas erhoben.
Wir können uns dieser Auffassung nicht anschließen. Uns scheint von den
beiden Fürsten Ferdinand das größere politische Genie gewesen zu sein, der
eigentliche Kopf des Regimentes und zugleich der thätige Arm der Ausfüh¬
rung. Jsabellas Größe besteht darin, daß sie den Rath des Gemahles und
der anderen einsichtigen Minister hörte und befolgte, daß sie auf die noth¬
wendigen Maßregeln einging und ihre formelle Billigung zu den Regierungs¬
geschäften ertheilte. Im Innern der spanischen Halbinsel schloß Jsabella sich
der Einsicht Ferdinands an; nach außen war unstreitig die Leitung ganz aus¬
schließlich des Gemahles Sache. „Ferdinand hat, — s" urtheilt Macchia-
vetu, gewiß ein competenter Richter — von einem schwachen Fürsten sich zu
dem angesehensten und berühmtesten Herrscher der Christenheit gemacht-, und
wenn wir seine mannichfachen Resultate erwägen, müssen wir gestehen, sie
alle sind großartig und einige sogar wahrhaft außerordentlich." Grade in
der auswärtigen Politik zeigt sich Ferdinands Größe: seine Ziele sind der
Natur seines Staates entsprechend gewählt; seine Mittel stehen im Verhältniß
zu seinen Kräften ; die Art und Weise seiner Action ist von dem jedesmaligen
Bedürfniß eingegeben; und die diplomatische Campagne gelangt nicht min¬
der ruhmvoll und sieggekrönt zu ihrem Ende als die militairische Entfaltung
der spanischen Volkskräfte.
Wir erinnern zunächst ganz kurz an das Walten der katholischen Könige
im Innern ihrer Reiche. In verschiedenen Richtungen lag ein weites Feld
ihrer organisatorischen Thätigkeit offen: bezeichnend ist, wie sie verfahren
sind. Weit entfernt, politische Theorien, abstracte Sätze verwirklichen zu wollen,
nahmen die Könige bei jeder Maßregel von dem Bestehenden den Ausgang:
an vorhandene Institutionen sich anlehnend, war ihr Bestreben, das vorge¬
fundene politische Material in staatlichem Sinne zu entwickeln, auszubilden,
umzubiegen: selbst die staatsfeindlichen Elemente zwangen sie in den Dienst
ihrer Monarchie.
Das Nothwendigste war, daß man der Rechtsunsicherheit, der allgemeinen
Verwirrung und Auflösung des geordneten Lebens ein Ende mache. Man
benutzte ein altes populäres Institut zu diesem Zwecke. Schon im Mittel¬
alter hatten die Städte Castiliens Bündnisse, „Verbrüderungen", Iioi'mumiiulW,
zu gegenseitigem Schutze wider die Uebergriffe und Bedrückungen des Landes¬
adels geschlossen; wiederholt hatten diese Bündnisse große Ausdehnung ge¬
wonnen und mit bewaffneter Hand ebensowohl gegen den König als gegen
den Adel sich behauptet. Hieran knüpften Ferdinand und Jsabella an, indem
sie zugleich in die Einrichtung wesentliche Veränderungen einschoben. Auf
den Cortes von Madrigal 1476 brachten sie eine neue Verbrüderung aller
Städte in Castilien zu Stande: diese „heilige Brüderschaft" sollte die Waffe
gegen den Adel abgeben. Die Krone selbst übernahm die Führung, sie setzte
ihre Ehre ein, daß man ihrem Walten Gehorsam schaffe. Die Königin per¬
sönlich bemühte sich in Andalusien 1477 den Widerstand einzelner Großen
zu brechen und zu strafen; scharfe Verordnungen wurden erlassen, zuletzt hießen
die Cortes von Tordelaguna 1485 den Blutcodex der Hermandad mit lautem
Beifall gut, und verkündigten ihn als Landesgesetz. Der Arm der neuen
Landesjustiz traf schnell und schneidig, und auch die Höchsten und Trotzigsten
waren bald von ihm niedergebeugt und dem ordentlichen Richter unterworfen.
Ein höchstes königliches Tribunal, aus Personen des dritten Standes besetzt,
wachte über der localen Rechtspflege. In Toledo wurde 1480 die Codifica
lion des Landesrechtes angeordnet, und die Ausführung des Beschlusses Ju¬
risten königlicher Ernennung übertragen.
In wenigen Jahren war der Zustand, wie er in Heinrichs IV. Zeiten
geblüht, vollständig getilgt. Zwar hatte noch einmal der Adel, vom Herzog
von Jnfantado geführt, die Unzufriedenheit mit der Negierung recht deutlich
an den Tag gelegt; in offenem Manifeste forderte die Opposition Abschaffung
der Hermandad, welche der Adel durchaus nicht billigen könne, dagegen Ein¬
setzung eines Adelsausschusfes, welcher der Regierung zur Seite stehen, ihre
Acte controliren und erst gutheißen sollte, ehe sie zur Ausführung kämen.
Vor solchem Proteste würden die früheren Könige gezittert haben : die Zeiten
waren vorbei. In sehr bestimmtem Tone erging die königliche Antwort: „Die
Hermandad ist eine heilsame Einrichtung für die gestimmte Nation und von
derselben gebilligt; des Königs Prärogative ist, zuzuziehen in seinen Rath
wen er will; gefällt dem Adel dies nicht, so mag er vom Hofe wegbleiben;
wir denken nicht daran, das Beispiel Heinrichs IV. zu erneuern und zum
Spielball des Adels zu werden." Diese königliche Erklärung hat ihre Wir¬
kung nicht verfehlt: Niemand wagte mehr, was früher an der Tages¬
ordnung gewesen, activen Widerstand zu leisten. Und von Jahr zu Jahr
befestigten sich diese Zustände. Die Hermandad hatte 1498 ihre Aufgabe er¬
füllt: da löste man sie auf und behielt nur wenige Polizisten bei, ein schwaches
Abbild der großen Bedeutung dieses mächtigen Körpers.
Das Königthum fühlte sich sicher und stark durch die herzliche Zustim¬
mung der unteren Stände. Jeder Schritt der Negierung geschah in Ueber¬
einstimmung mit der gesetzlichen Landesvertretung der Cortes. Die Könige
sorgten aufmerksam dafür, daß jede bedeutendere Stadt ihre Vertreter zu den
Cortes sendete. Um die Unterstützung des Bürgerthums war es ihnen vor¬
nehmlich zu thun: auf die Mitwirkung des Adels legten sie weniger Gewicht;
ja, wiederholt beriefen sie die mächtigeren Herren gar nicht zu den Sitzungen
der Reichsstände. Es gab Mittel anderer Art, den Adel von dem Willen
der Krone abhängig zu machen.
Im 15. Jahrhundert war fast aller Besitz an den Adel verschleudert
worden; das Krongut war aufs äußerste reducirt; an Reichthum, Besitz und
materiellen Mitteln stand die Krone hinter dem Adel weit zurück. Nun
hatten fofort 1476 die Städte auf den Cortes verlangt, daß die Rechtstitel
der königlichen Verleihungen aus früherer Zeit untersucht würden. Der
große Kardinal Mendoza redete Jsabella zu, und 1480 ordnete sie Revision
dieser Verhältnisse und Rückgabe der in letzter Zeit verliehenen Güter an-
Der Adel weigerte sich anfangs. Daraus schritt man bei Einzelnen mit Ge¬
walt, bei Andern mit Ueberredung, bei Dritten mit Abfindungssummen für
nachweisbare Rechte ein. Mendoza und der Königin Beichtvater, Talavera,
gestalteten in kurzer Frist die Besitzverhältnisse zu Gunsten der Krone voll¬
ständig um. Und wenn früher Ämter im Hof- und Staatsdienst fast nur
den Adelsherren zugefallen, so stellte man jetzt meistens nicdriggeborene Ju¬
risten an, die von der königlichen Gnade ganz abhingen: die Gunst der
Monarchen wurde ein Preis, um den sich der ehrgeizige Adelige jetzt nach¬
drücklich zu bewerben hatte. Noch mehr. Es kam dahin, daß der weniger
Begüterte für seine Subsistenzmittel an das persönliche Wohlwollen des Kö¬
niges sich gewiesen sah. Durch eine ganz außerordentlich geschickte Operation
brachte Ferdinand die Bertheilung aller der kleinen Rittergüter und Ritter¬
pensionen in seine Hand.
Im Zeitalter der Kreuzzüge waren nach dem Vorbild jener großen
Ritterorden der gesammten Christenheit auf spanischem Boden der Orden von
San Jago de Campostella, von Calatrava, von Alcantara erwachsen, welche
den heiligen Krieg gegen den Islam lebendig zu erhalten übernahmen. Diese
Orden hatten auf allerlei Weise große Reichthümer sich erworben; unter for¬
meller Oberhoheit des Papstes wurden sie von dem Großmeister geleitet, ganz
unabhängig und unberührt von dem Willen des Landesfürsten. Alle kleineren
Leute adligen Standes gehörten diesen Orden an; sie waren durch die Ver¬
leihung der Güter und Renten, über die der Orden verfügte, durchaus von
dem Gebote des Ordensmeisters abhängig. So waren diese Adelseorporationen
in sich geschlossen, voll Unabhängigkeitssinn, wahre Staaten im Staate: so
lange dieser Zustand dauerte, konnte Alles, was die Könige sonst schufen,
in jedem Augenblicke dem Einstürze ausgesetzt scheinen. Nun war natürlich
nicht daran zu denken, daß diese Institute, die durch so viele Adern mit dem
Gesammtleben der Nation zusammenhingen, sich einfach hätten beseitigen oder
auflösen lassen. Aber wenn man die Gebieter der Orden, factisch die Leiter
der Adelsmajorität, mit dem Könige, mit der höchsten staatlichen Gewalt zu¬
sammenfallen machte — so war das ein Gedanke, so einfach und einleuchtend
als genial und folgenreich: er war das El des Columbus für die monarchische
Gewalt. Als im Orden von San Jago 1476 die Großmeisterwürde erledigt
war, eilte Jsabella ins Kapitel, die Wahl ihres Gemahles in seine Stelle zu
sollicitiren. Höchst ungern willfahrte man ihr; und so bedenklich sah Ferdi¬
nand noch die Lage an, daß er nicht für sich selbst annahm, sondern seine
Wahl auf einen Anderen übertrug, einen kleinen, armen, einflußloser Ritter,
der als sein Geschöpf ihm als Werkzeug für die Negierung dieses Ordens
diente. Ein Jahrzehnt später läßt er seine Absicht deutlicher sehen. Bei der
Wahl im Orden von Calatrava 1487 erschien er persönlich, zeigte den Rittern
eine Bulle des Papstes, welche die Großmeisterwürde durch päpstliche Auto¬
rität ihm übertrug. Er erzwang Annahme der Bulle durch Drohung mit
offener Gewalt. Alle Einreden der Unzufriedenen halfen nichts. Ferdinand
blieb Großmeister, unumschränkter Gebieter über Calatrava. Den Orden von
Alccmtara unterwarf er sich 1494, indem er den Großmeister zu freiwilliger
Abdankung, zum Tausche dieser Stellung mit dem Erzbisthum Sevilla be¬
wog. Endlich als 1499 jener von ihm eingesetzte Meister von San Jago
starb, machte er sich selbst zu dessen Nachfolger. Seine Herrschaft über den
gesammten Adel war jetzt auf gesetzlicher Basis gegründet. Wohl oder Wehe,
beschränkter Besitz öder materieller Vortheil, einflußreiche Stellung oder aus¬
sichtslose Zukunft: alles und jedes hatte der Einzelne von dem Könige zu
erhalten; und Ferdinand ließ Niemanden in Zweifel, daß er nur den Gefü¬
gigen und Gehorsamen berücksichtigen wolle; zugleich aber wußte jeder Ge¬
horsame, daß der Dienst des Königes ihm reiche Belohnungen bringen werde.
Das Resultat blieb nicht aus. Der spanische Adel, vor Kurzem noch so
trotzig und selbstherrisch, wurde zum gefügigen Werkzeug des königlichen Ehr¬
geizes und der königlichen Politik: man konnte bald untrüglich auf ihn zählen.
Und die Kirche gelang es in ähnliche Unterordnung unter das König¬
thum, in ähnliche Abhängigkeit von dem königlichen Willen zu bringen. Nicht
allein in Spanien, fondern auch in den anderen Ländern Europas rangen
schon seit dem 14. Jahrhundert die Landesregierungen mit der sich überall
einmischenden Regierungsgewalt des Papstthumes. Noch unausgetragen
schwebte dieser Kampf der territorialen mit der centralistischen Tendenz des
kirchlichen Lebens, als die Regierung der katholischen Könige sich der Erle¬
digung dieser Fragen zuwandte. Für Spanien kam die Controverse damals
zum Abschluß. Die Krone forderte vom Papste, daß er auf alle Eingriffe
in spanisches Kirchenwesen verzichte, daß dem Könige ein ganz unbedingtes
Präsentations- d. h. Ernennungsrecht zu allen wichtigeren Ämtern der Kirche
zustehe. Rom widersprach anfangs diesen Zumuthungen: nichtsdestoweniger
setzten Ferdinand und Jsabella jenes Concordat durch, das genau nach den
spanischen Wünschen diese Verhältnisse regelte.
Die Kirchenpolitik der katholischen Könige bietet der historischen Be¬
trachtung zwei Seiten dar; und ich glaube, zwei Motive können für sie auch
als maßgebend angesehen werden. Sowohl von religiöser, als von politischer
Seite ist die Thätigkeit der Könige zu beleuchten; von diesen beiden Impulsen
sind sie bewegt worden. Indem die Anstellung der Geistlichen Sache der
Staatsregierung wurde, war ebensowohl ihre Herrschaft über die Kirche be¬
gründet als auch die Möglichkeit ihr eröffnet, an Stelle laxer und unkirchlich
gesinnter Menschen strenge, eifrige, religiöse Geistliche zu bringen. Auch von
diesem Gesichtspunkt der Religiosität, einer gründlichen Reinigung des kirch¬
lichen Personales, einer durchgreifenden Reformation der kirchlichen Ein¬
richtung empfahlen sich die Satzungen des spanischen Concordates und die
wachsenden Befugnisse der Krone in kirchlichen Dingen. Diese frommen Ter-
denzen gingen mit den staatlichen Interessen Hand in Hand. Mit Ernst
und Nachdruck ist damals durch die Staatsgewalt die Reformation der Kirche
in Spanien durchgeführt worden. Wer erwägt, welchen ganz gewaltigen
Einfluß die strenge Richtung der Spanier im sechszehnten Jahrhundert auf
die Aufrichtung des Katholicismus in ganz Europa ausgeübt hat, der mag
die Bedeutung jener Maßregeln für das kirchliche Leben des Abendlandes
ermessen.
In ganz ähnlicher Weise ist auch die Erneuerung der Inquisition
aufzufassen. Auch diese Einrichtung fällt gleichzeitig unter den religiös-kirch¬
lichen und den politischen Gesichtspunkt. Für die Reinheit des Glaubens
und der Kirche wurde gesorgt, und zugleich der Staatsregierung eine Maschine
zur Verfügung gestellt, mit der sie jeden Gegner erreichen, treffen und ver¬
nichten konnte.
Faßt man Alles, was wir hier nur in kurzen Umrissen skizzirt haben,
zusammen, vereinigt man alle die einzelnen Maßregeln in dem Brennpunkte
einer einheitlichen von den Königen systematisch und mit Bewußtsein geübten
Politik, so versteht man zu würdigen, welche Umgestaltung bis zum Aus¬
gang des 15. Jahrhunderts das spanische Volk erfahren hat. Der moderne
Staat mit seiner ganzen monarchischen Machtfülle war ins Leben getreten.
Jene Anarchie, welche vordem das Land zerfleischte und zerriß, war gründlich
beseitigt. Die Macht und Selbstherrlichkeit des Adels war gebrochen: von
der Krone war er abhängig, der Stand im Ganzen und jeder Einzelne.
Ueber Adel und Kirche gebot der Wille der Krone mit absolutem Worte.
Und der Bürger war geschützt, geachtet: das Fundament der königlichen Macht
bildete der Bürgerstand.
Nachdem Ruhe und Sicherheit zurückgekehrt war, entfaltete sich Handel
und Verkehr und Gewerbfleiß zu schöner Blüthe. Reichthum kehrte ins Land
ein. Der europäische Handel, in dem Barcellona und die catalonischen Städte
im Mittelalter eine erste Rolle gespielt, suchte aufs neue diesen Weg auf.
Und seit erst im fernen Westen jenseit des Oceans der Spanier seine Ent¬
deckungen und seine Eroberungen zu machen begann, schwelgte das spanische
Volk im Genusse seines neuen Reichthumes, seines lachenden Wohlstandes,
seines zunehmenden Glückes.
Wer will heute dem spanischen Patrioten verargen, wenn er jene
Jahrzehnte etwa von 1495 bis 1515 als die goldene Zeit seiner Nationalge¬
schichte feiert?
Es ist auch dieselbe Zeit, in welcher die neu gekmftigte spanische Mon-
archie die erste Großmacht des modernen Europa zu werden vermochte.
(Schluß.)
IV- Wissenschaftliche Bildung der Lehrer und Prüfungen
für das höhere Lehramt. Rangordnung der Lehrer. Die Un¬
klarheit über den Begriff der höheren Schule, das Zusammenwerfen derselben
theils mit der Volksschule, theils mit den Fachschulen, hat bewirkt, daß man
an die Qualification der Lehrer sür höhere Schulen in Sachsen zum Theil
sehr ungleiche Anforderungen stellt, und dadurch Zustände schafft, die dem
Gedeihen unseres höheren Schulwesens nicht förderlich sein können.
Unsre Anschauungen werden auch hierbei an Klarheit gewinnen, wenn
wir sächsische Zustände den preußischen gegenüberstellen.
Wer in Preußen das Amt eines ordentlichen Lehrers an einer höheren
Schule verwalten will, muß die Universität drei Jahre besucht haben. Der
Besuch der Universität setzt Gymnasialbildung voraus. Der Prüfung für das
Lehramt an höheren Schulen (pi'0 lÄeullAtiz äoesnäi) haben sich diejenigen
Kandidaten zu unterziehen, welche sich die Qualification als wissenschaftliche
Lehrer an Gymnasien, Progymnasien, Realschulen oder höheren Bürgerschulen
erwerben wollen. Um zur Prüfung zugelassen zu werden, ist erforderlich:
g.) das Gymnasiälzeugniß der Reife sür die Universitätsstudien. — d) das
Universitätsabgangszeugniß über das vollendete akademische Triennium. —
Bei denjenigen Schulamtscandidaten, welche sich vorzugsweise für den Unter¬
richt in den neueren Sprachen an Realschulen bestimmen, wird als ent¬
sprechende Ergänzung des Trienniums auch der Nachweis eines oder zweier
zum Zweck der Spracherlernung in Frankreich und in England zugebrachter
Semester angenommen. — Auch diejenigen Studirenden, welche sich nicht der
Theologie widmen, können sich bei der Prüfung pro ks-eultatö äoeenäi die
Qualification für den Religionsunterricht erwerben. — Der verschie¬
dene Umfang der Schulen gleicher Kategorie, der Gymnasien und Progymna¬
sien einerseits, sowie der Real- und höheren Bürgerschulen andrerseits, be¬
gründet keine Verschiedenheit des Prüfungsverfahrens. Auch
der Artunterschied zwischen Gymnasium und Realschule hat keinen wesent¬
lichen Einfluß auf die wissenschaftliche Prüfung. Principiell richtet sich die
Prüfung nach den Anforderungen des Gymnasiums, und die einem Candida-
ten zuerkannte Befähigung zum Unterricht an Gymnasien qualificirt ihn im
Allgemeinen zugleich für den Unterricht an Realschulen.
Die wissenschaftlichen Fächer, in denen in Preußen eine ksleultu« äooenäi
erworben werden kann, sind: 1) Das philologisch-historische Fach; 2) das
mathematisch-naturwissenschaftliche; 3) Religion und Hebräisch; 4) die neueren
Sprachen.
Nach dem Ergebniß der schriftlichen und mündlichen Prüfung, sowie der
Probeleetion, stellt die königl. wissenschaftliche Prüfungscommission denjenigen
Kandidaten, welche die Prüfung bestanden haben, ein Zeugniß entweder des
ersten oder des zweiten oder des dritten Grades aus, womit im All¬
gemeinen die Qualification entweder für die oberen (Prima und Ober-
secunda, unbedingte kaoultus äoekuäi), oder die mittleren (Untersecunda,
Ober- und Unter-Tertia), oder die unteren Klassen (Quarta, Quinta,
Sexta) bezeichnet wird. — Geprüfte Candidaten der Theologie haben sich,
wenn sie ein Lehramt verwalten wollen, gleichfalls der Prüfung pro tacul-
wt» äoeeuÄi zu unterziehen. Geeigneten Falls dürfen sie auf einige Zeit als
Lehrer der unteren und mittleren Klaffen angenommen werden. In den un¬
teren Klassen der höheren Schulen tonnen auch tüchtige Elementarlehrer be¬
schäftigt, eventuell in einzelnen Fällen mit Genehmigung des Ministers an¬
gestellt werden. — Der Lehrer, welcher einen höheren Unterrichtsgrad erlan¬
gen will, hat sich einer Ergänzungsprüfung zu unterziehen.
Alle pro tueultÄt« cioeenäi geprüften Schulamtseandidaten müssen, be¬
vor sie sich zu einer Anstellung im gelehrten Schulfache melden dürfen, min¬
destens ein Jahr lang bei einem Gymnasium oder einer Realschule in prak¬
tischer Unterrichtsübung gestanden haben. — Das Probejahr kann in der
Regel nur an einem Gymnasium oder einer vollständigen Realschule, nicht
an einem Progymnasium oder einer höheren Bürgerschule abgehalten werden.
— Ueber das Ergebniß des Probejahres wird dem Candidaten durch das
königl. Provinzial-Schulcollegium ein Zeugniß ausgestellt. — Das Zeugniß
über den Ausfall des Probejahres bildet eine wesentliche Ergänzung des dem
Candidaten über das Ergebniß der wissenschaftlichen Prüfung ertheilten Zeug¬
nisses und ist bei Bewerbungen um eine Lehrerstelle jedesmal mit vorzulegen.
(Verf. vom 30. März 1867.)
Die Rangordnung in den Lehrercollegien der höheren Schulen Preu¬
ßens ist: Director, etatsmäßiger Oberlehrer, etatsmäßiger ordent¬
licher Lehrer, wissenschaftlicher Hülfslehrer, technische und Elemen¬
tarlehrer (für die Vorschulen).
Als Regel ist anzunehmen, daß bei einem Gymnasium resp, einer Real¬
schule mit 7 ordentlichen Lehrern (mit Ausschluß des Directors) 3 Stellen
als Oberlehrerstellen zu bezeichnen sind. — Zu denjenigen Lehrerstellen, mit
welchen der Titel Oberlehrer verbunden ist, dürfen nur solche Schulmän¬
ner gewählt und vorgeschlagen werden, die nach der Vorschrift des Regie-
neues für die Prüfung pro Konie^es üoeenäi ihre Befähigung für den Un¬
terricht in den beiden oberen Klassen dargethan haben. Denjenigen ordent¬
lichen Lehrern, welche durch längere Verwaltung des Ordinariats einer mitt¬
leren oder unteren Klasse sich als besonders tüchtige Lehrer und Erzieher be¬
währt und sich um die Schule ein bedeutendes Verdienst erworben haben,
kann der Titel eines Oberlehrers als persönliche Auszeichnung ver¬
liehen werden. Dieser Titel berechtigt jedoch keineswegs zum Eintritt in
eine etatsmäßige Oberlehrerstelle. Ascensionen innerhalb der etatsmäßigen
Oberlehrerstellen bedürfen selbst an städtischen Schulen der Genehmigung des
Ministeriums. —
Man wird schon aus diesen wenigen Bestimmungen entnehmen können,
daß das consequente Streben der preußischen Regierung nicht blos dahin
geht, zusammenhaltende Ordnung in das Schulwesen zu bringen, wie solche
die Verhältnisse eines großen Staates nothwendig machen, sondern daß das
Interesse wahrhaft wissenschaftlicher und sittlicher Bildung und die darauf
gegründete Wohlfahrt, Kraft und Ehre der Nation, der Beweggrund aller
getroffenen Bestimmungen ist. In Preußen wird der Schule, von der Ele¬
mentar- und Volksschule an bis zu den Gymnasien, die Aufgabe gestellt, die
ihr anvertrauten Zöglinge vor allen auch zu Staatsbürgern zu erziehen,
welche den Willen und die Kraft besitzen, mit edler Hingebung und wahr¬
haft nationaler Gesinnung sich dem Wohle der Gemeinde und des Staates
zu widmen.
Sehen wir nun zu, wie es im Königreich Sachsen mit der Vor¬
bereitung zum höheren Lehramte, mit den Prüfungen für dasselbe, mit An¬
stellung, Rang und Titel der Lehrer steht.
Zufolge des Regulativs für die Prüfungen der Candidaten des höheren
Schulamtes vom 12. December 1848 ist „die Commission für Candidaten
des höheren Schulamtes" in drei Sectionen getheilt:
Die I. Section für die Prüfung der Candidaten des Gymnasialschul¬
amtes; die II. für die Prüfung der Candidaten des höheren Volks- und
Realschulamtes; die III. für die Prüfung der künftigen Fachlehrer an Gym¬
nasien und höheren Volksschulen in den mathematischen und Naturwissen¬
schaften. — Was die Zulässigkeit zur Prüfung anlangt, so kann das Mini¬
sterium von dem Maturitätszeugniß eines Gymnasiums und von dem vollen
et-iöimiuw g.eg.äömieura dispensiren. Zulässig sind auch 1) Candidaten und
Lehrer des niederen Volksschulamtes, welche ihre Studien (?) auf der Uni¬
versität fortgesetzt haben, 2) Lehrer der Mathematik und Naturwissenschaften,
wenn sie vor der Universität die polytechnische Schule und die höhere Ge¬
werbeschule besucht haben. — Die Prüfung in Section I und III stimmt im
Großen und Ganzen mit dem preußischen Prüfungsmodus überein. Anders
freilich ist es um die Prüfung in Section II bestellt. Wer sich dem Examen
für die Candidatur des höheren Volksschulamtes (nach sächsischer Rang¬
ordnung: Progymnasien, Schullehrerseminarien, höhere Bürgerschulen und
Realschulen!!!) unterwirft, hat 1) behufs der schriftlichen Prüfung eine aus¬
führliche wissenschaftliche Arbeit in deutscher Sprache über eine Frage aus
dem Gebiete der Logik, Psychologie, Pädagogik, Sittenlehre, Geschichte oder
deutschen Grammatik auszuarbeiten. — 2) Die mündliche Prüfung ist:
s,) aus Philosophie mit besonderer Rücksicht auf die Fertigkeit in An¬
wendung der logischen Operationen und Kenntniß der Psychologie; d) aus
die Grundbegriffe der christlichen Glaubens- und Sittenlehre; e) auf Ge¬
schichte, namentlich deutsche und sächsische in Verbindung mit Geographie;
d) auf die Elemente der Arithmetik, Geometrie und Naturlehre; L) auf die
Kenntniß und den richtigen Gebrauch der deutschen Sprache; t) auf die all¬
gemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre, einschließlich der Methodik, zu
richten.
Jeder, der das vorstehende Quodlibet über die Prüfung in Section II
betrachtet, wird sich die Frage vorlegen müssen: Kann das Jemand nieder¬
geschrieben haben, der nur den geringsten Begriff vom höheren Schulwesen
hat? Würde nicht jeder Primaner eines Gymnasiums, von der Psychologie
und allgemeinen Unterrichts- und Erziehungslehre einmal abgesehen, dieses
Examen mit Glanz bestehen können? Setzt man bei einem Primaner im
mündlichen Maturitätsexamen nicht die Kenntniß und den richtigen Gebrauch
der deutschen Sprache selbstverständlich voraus? Wir wundern uns, daß in
einer Prüfungsordnung für das höhere Schulamt eine solche Section wie
Ur. II einen Platz finden konnte, noch mehr aber müssen wir uns wundern,
daß dieses Regulativ von 1848 bis 1871 in Kraft bleiben konnte.
Doch führen wir zur Vervollständigung erst noch einige Stellen aus
einer Verordnung vom 18. April 1830 an, welche einen Nachtrag zum Re¬
gulativ vom 12. December 1848 enthält. Es heißt daselbst: „Vielfältig ge¬
machte Erfahrungen haben dem Ministerium des Cultus und öffentlichen Un¬
terrichts die Ueberzeugung gegeben, daß es überhaupt un thunlich er¬
scheint, von den Hülff- und ständigen Lehrstellen an Schullehrerseminarien,
höheren Bürger- und Realschulen solche Schulamtscandidaten auszuschließen,
welche nur die Seminarbildung (-— und was war das damals für eine! —)
erhalten und akademische Studien nicht gemacht haben, oder bei sonstiger
Befähigung (?) das §. 10 (Reg. vom 12. December 1848) geforderte Prü¬
fungszeugniß nicht beibringen." Und weiter: „Abgesehen davon, daß schwer¬
lich jemals die für das höhere Schulamt akademisch gebildeten und hieraus
in Gemäßheit des Regulativs geprüften Candidaten in ausreichender Anzahl,
um das sehr umfängliche Bedürfniß zu decken, vorhanden sein dürften, so
erscheint überhaupt eine allzuscharfe Abgrenzung zwischen
akademischer und derjenigen Bildung, welche auf anderen
Wegen erlangt wird, namentlich in der Anwendung auf die
Vo ils sehnlich rer sehr bedenklich, wie denn unläugbar auf den Lan¬
desseminarien in nicht geringer Anzahl Schulamtscandidaten gebildet werden
(namentlich 1860 und weiterhin), welche vollkommen geeignet sind,
auch ohne akademische Studien gemacht zu haben, Lehrerstel¬
len an Bürger- und Realschulen zu bekleiden, deren Berufseifer
aber leicht erkalten könnte, wenn ihnen die Aussicht, in einen umfassenden
Wirkungskreis mit der Zeit einzutreten, durch eine solche Ausschließung all¬
zusehr beschränkt würde." — Zur Vervollständigung des Bildes vom höhe¬
ren Schulwesen in Sachsen führen wir noch die Verordnung vom 1. Juni
1865 an, nach welcher Volksschullehrer auf zwei hinter einander fol¬
gende Jahre zum Besuch der Universität auch ohne Gymnasial-Maturi-
tätszeugniß behufs der Erlangung einer höheren Berufsbildung zugelassen
werden. Nach Ablauf dieser zwei Jahre sind diese „Pädagogen" zulässig
zur Prüfung für das höhere Schulamt Sect. II. Nach bestandener Prüfung
erlangen sie die Befähigung zur Anstellung als Oberlehrer an einer höheren
Schule z. B. einer Realschule I. Ordnung.
Im Königreich Sachsen gilt mithin dem Ministerium des
Cultus und öffentlichen Unterrichts der Besuch eines Volks¬
schullehrer-Seminars oder einer Gewerbeschule für eine ge¬
nügende Vorbereitung aus Universitätsstudien. Die so Vor¬
bereiteten brauchen dann obendrein nur zwei Jahre die Uni¬
versität zu besuchen, um ihre Studien zu vollenden und zur
Prüfung für das höhere Schulamt zugelassen zu werden. Ist
die Prüfung glücklich bestanden, so öffnen sich dem Candidaten die Pforten
der höheren Schule. Mag derselbe sich in der Prüfung auch das Zeugniß
„vorzüglich" nicht erworben haben, so kann er dennoch in oberen und mitt¬
leren Klassen als Lehrer verwendet werden. Zwischen den Lehrern an einer
sächsischen höheren Schule gibt es keinen Unterschied des Ranges und des
Titels. Das Prädicat „Oberlehrer" gebührt jedem ordentlichen Lehrer
(Reg. vom 2. Juli 1860, §. Is). Es gibt, die technischen Lehrer höchstens
ausgenommen, nur Oberlehrer. Es kommt vor, daß der Candidat die Vo-
eation zum Oberlehrer bereits in der Hand und die Universitäts-Matrikel
noch in der Tasche hat. Das Probejahr wird meistens erlassen oder besteht
nur dem Namen nach. Man würde sehr irren, wollte man glauben, daß
wenigstens die Prüfung in Sect. II erforderlich wäre, um Anspruch auf eine
ordentliche Lehrerstelle an einer höheren Schule in Sachsen zu haben. That¬
sächlich ersetzt die theologische Prüfung der Candidaten der Theologie die
Prüfung für das höhere Schulamt! Ja, als ordentliche Lehrer (Oberlehrer)
sind sogar Elementar-Volksschullehrer oder überhaupt Lehrer zulässig,
welche niemals vor einer wissenschaftlichen Prüfungs-Commission gestanden
haben. (Vergl, Reg. vom 2. Juli 1860, §. 10.)
Wohin solche Zustände führen müssen, ist mit Händen zu greifen.
Die Leichtigkeit an einer höheren Schule als Oberlehrer anzukommen
und damit einen höheren Gehalt zu erlangen, enthält für viele Unberufene
eine große Versuchung. Philologen und Mathematiker stecken ihre Fachstu¬
dien auf, und machen das Examen in Sect. II. Der Volksschullehrer, sobald
er die Mittel beisammen hat, bezieht zwei Jahre lang die Universität, treibt
Logik und Psychologie, und macht das Examen in Sect. II. Daß dem
Wesen des Lehramtes und der hohen Bedeutung, welche dasselbe für das Ge¬
meinwohl hat, widerspricht, wenn es des Erwerbes wegen als Mittel zum
Zweck und mehr als Geschäft, denn als ein Beruf gewählt und getrieben
wird, wer fragt in Sachsen darnach? — Den Volksschulen werden in den
sogenannten „Pädagogen" für sie immerhin werthvolle Kräfte entzogen und
finden an höheren Schulen Verwendung, wo sie nicht am Platze sind. Volks¬
schule und höhere Schule werden durch die Aufhebung der Grenzen zwischen
akademischer Bildung und der Bildung, welche auf anderen Wegen erlangt
wird, in gleicher Weise geschädigt. Während es für eine aufgeklärte Schul-
Verwaltung keine höhere Aufgabe geben sollte, als das Bildungsbedürfniß
unserer Zeit durch wohlbefähigte Kräfte in die rechte Bahn zu leiten und der
geistigen Verflachung, welcher so vieles Vorschub leistet, entgegenzuwir¬
ken durch Lehrer, welche den höchsten Erfordernissen des Lehrers und Erzie¬
hers gewachsen sind; hat das sächsische Ministerium des Cultus und öffent¬
lichen Unterrichts Einrichtungen gewagt, welche nothwendigerweise zu einer
Degeneration unseres höheren Schulwesens führen müssen.
Nun behauptet man freilich, es fehle in Sachsen sür die höheren Schu¬
len an wissenschaftlich gebildeten Schulamts-Candidaten. Wir sollten aber
meinen, daß unter den Hunderten von jungen Männern, welche jetzt jährlich
auf der Landesuniversität Philologie, Mathematik und Naturwissenschaften
studiren, für unsere Gymnasien und Realschulen stets die hinreichende Anzahl
Schulamts-Candidaten herangebildet werden müßten, so daß man nicht nöthig
hätte, zu den „Pädagogen" zu greifen. Für was sonst werden jährlich die
enormen Geldmittel an die Universität gewendet, wenn dieselbe nicht einmal
den Mangel wissenschaftlich gebildeter Lehrer an unseren höheren Schulen
zu decken vermag? Es ist recht erfreulich zu vernehmen, daß der Besuch der
Universität Leipzig von Semester zu Semester steigt, daß der Ruf derselben
selbst Amerikaner, Asiaten und Afrikaner herbeizieht; aber wie stimmt das zu
der Thatsache, daß das Ministerium sich gezwungen zieht, die Oberlehrer-
stellen an den höheren Schulen des Landes mit Volksschullehrern zu be¬
setzen ?
Wir wollen hoffen, daß der neue Unterrichtsminister die Gefahr erkennt
und ihr zu steuern sucht, zunächst durch Berufung eines mit dem höheren
Schulwesen vertrauten Fachmanns in das Ministerium.
V. Aufwand für die höheren Schulen und Lehrerbesoldun¬
gen. Wenn man sich ein deutliches Bild von dem Stande des höheren
Schulwesens in Sachsen machen will, so ist die Frage nach dem Aufwand
für die höheren Schulen und nach der Besoldung der Lehrer nicht zu um¬
gehen. Auch ist hierbei eine Vergleichung mit den Verhältnissen in „unserem
Nachbarstaate" besonders lehrreich.
Der Gesammtaufwand für die höheren (königlichen und städtischen) Schu¬
len beträgt:
Davon kommen auf die Lehrerbesoldungen
Stände Sachsen in Bezug auf den Aufwand für seine höheren Schulen
und auf die Besoldung der Lehrer an denselben, Preußen im Verhältniß der
Einwohnerzahl (2,423,401 E. und 24,043,296 E.) gleich, so müßten für Sach¬
sen die Zahlen 504.000 Thlr. und 353,000 Thlr. lauten, d. h. Sachsen
müßte für seine höheren Schulen im Ganzen 188,000 Thlr.. davon für Leh¬
rerbesoldungen allein 121,000 Thlr. mehr aufwenden!
Nicht weniger überraschende Thatsachen kommen zum Vorschein, wenn
man Dresden und Berlin in Parallele stellt. Wir gehen auf das Jahr 1869
zurück und nehmen die Einwohnerzahl von Dresden nur zu 150,000, die von
Berlin zu 702.450 an:
Der Aufwand für die höheren Schulen betrug:
davon fallen auf die Besoldung der Lehrer
in Dresden 47,000 Thlr., in Berlin 382,000 Thlr.
Wollte Dresden mit Berlin sich auf gleiche Stufe stellen, so müßte der Auf¬
wand für seine höheren Schulen 102,000 Thlr. betragen und müßten davon
81,000 auf Besoldungen kommen. Dresden müßte also an die Besoldung
seiner Lehrer 34,000 Thlr. mehr wenden, als jetzt dafür aufgebracht wird.
Ueber die letztere Zahl braucht man sich nicht zu wundern, wenn man die
Besoldungsverhältnisse in Dresden mit denen in Berlin vergleicht. An sechs
Berliner Realschulen erhalten die Directoren 2200 Thlr. Gehalt incl. Woh¬
nung a 300 Thlr.; der Durchschnittsgehalt der ordentlichen Lehrer ist 920
bis 925, an der einen Schule sogar 975 Thlr. An den zwei höheren Bür¬
gerschulen in Berlin erhalten die Directoren 1900 Thlr. Gehalt incl. Woh-
mung, und ist der Durchschnittsgehalt der ordentlichen Lehrer 805 und 837'/-z
Thlr. — In Dresden dagegen beziehen die Directoren der beiden städtischen
Realschulen außer der Wohnung einen Gehalt von 1200 Thlr., während die
Lehrergehalte im Durchschnitt 714 und 696 Thlr. betragen!
In Preußen sind, sowohl an den königlichen als an den städtischen Anstal¬
ten, für die Lehrerbesoldungen die vom Cultusminister im EinVerständniß mit
dem Finanzminister im Jahre 1863 festgestellten normal-Etats maßgebend.
Diese Etats sind für die Gymnasien und die denselben gleichstehenden höhe¬
ren Schulen aufgestellt worden. Danach bestehen für die Normalbesol¬
dungen der Directoren und der ordentlichen Lehrer nach Verschiedenheit der
Orte, an welchen die Anstalten sich finden, drei Klassen Sie betragen jährlich
Es beträgt somit in Preußen der Durchschnittsgehalt eines Lehrers für
Städte von der Bedeutung der sächsischen Gymnasialstädte 950 resp. 850
Thlr., während noch in dem letzten sächsischen Budget ein solcher von nur
800 Thlr. angenommen ist. Warum stellt sich Sachsen, dessen blühende Fi¬
nanzen ja stets so gerühmt worden sind, in diesem Punkt dem verschrieenen
Militärstaat Preußen, der angeblich für die Pflege der Wissenschaft und
Kunst so gut wie Nichts übrig haben soll, nicht wenigstens gleich oder sucht
ihn gar zu überflügeln? An den Lehrer einer höheren Schule macht das so¬
ciale Leben dieselben Ansprüche wie an jeden andern auf der Universität ge¬
bildeten Beamten. Wie soll er aber diesen Ansprüchen bei seiner für die
gegenwärtigen Preise der Wohnungen und der Lebensbedürfnisse kärglichen
Besoldung genügen? Man sehe nur, wie namentlich in den größern Städten
die Lehrer sich durch Pensionäre, durch übermäßige Privatstunden einen Neben¬
verdienst zu verschaffen suchen, um sich und ihre Familie standesgemäß ernäh¬
ren zu können! Ob dieser außerordentliche Verbrauch an Kräften, diese Stö¬
rung des Familienlebens ihrem eigentlichen Beruf an der Schule heilsam sei,
darnach wird nicht gefragt.
Wie man aus den Zeitungen erfährt, ist der Stand der preußischen Fi¬
nanzen trotz des überstandenen Krieges ein so günstiger, daß sämmtliche Mi¬
nisterien von dem preußischen Landtage eine durchgehende Aufbesserung der
Beamtengehalte postuliren werden. Der Reichskanzler soll eine Aufbesserung
um 40 Procent für aNein zureichend halten"). Sehr erfreulich wäre, auch
bei uns zu Lande von ähnlichen Absichten zu hören, zumal da ja nach einer
neulichen (offenbar officiösen) Mittheilung die Vorberathung für das nächste
Budget schon jetzt ergebe, „daß die Intelligenz, die Thätigkeit und der Er¬
werbsfleiß des lebenskräftigen sächsischen „Volks" auch die schwere Kriegs¬
zeit finanziell trefflich zu verwerthen gewußt habe, und daß hierdurch der
ausgezeichnete Stand der sächsischen Finanzen aufs Neue documentirt werde."
Unseres Wissens hat bereits im vorigen Jahre das sächsische Justizministerium
und in diesem Jahre das Rcichspostamt seinen Beamten jene nothwendige
Ausgleichung zukommen lassen. Möchte doch endlich auch das Cultusmini¬
sterium diesem Beispiele folgen! Und zwar sollte das Cultusministerium, wie
dies in Preußen mit allem Nachdruck und mit gutem Erfolg geschieht, den
aufzustellenden Normaletat nicht nur bei den seiner eigenen Verwaltung un¬
terstehenden Anstalten einführen, sondern ebenso gut verlangen, daß derselbe
auch an den städtischen Gymnasial- und Realschulen zur vollständigen Gel¬
tung gelange. Denn hier ist, wie das preußische Cultusministerium ausge¬
sprochen hat, der Grundsatz zu verfolgen, daß die Städte, welche eigene höhere
Lehranstalten unterhalten und für dieselben die staatliche Anerkennung und
den Genuß aller mit dem Besuch derselben verknüpften Vortheile erlangt ha¬
ben, hinsichtlich der Lehrergehalte mindestens denjenigen Ansprüchen genügen,
welche der Staat für feine eigenen Anstalten gelten läßt. Hätte unser Cul¬
tusministerium nach dieser Richtung seine Aufgabe erkannt, so könnte nicht
vorkommen, daß man erst Ende 1870 in Dresden einen gewaltigen Fort¬
schritt zu machen geglaubt hat, wenn man für die Lehrer der Kreuzschule
einen Durchschnittsgehalt von 810Thlr. (übrigens eine seltsame runde Zahl!)
festgesetzt hat, und daß man selbst in Leipzig erst zu einem solchen von 900
Thlr. gelangt ist. In preußischen Städten von dieser Größe setzt der Nor¬
maletat einen Durchschnittsgehalt von 0 50 Thaler fest, und für die Haupt¬
stadt Berlin, sowie die Landesschule Pforta ist sogar ausdrücklich noch ein
höherer Betrag angenommen. Zum weiteren Vergleich mögen noch einige
selbstsprechende Zahlen dienen. Der Director des städtischen Gymnasiums
zum grauen Kloster in Berlin bezieht 2900 Thlr. Gehalt, der des königl.
Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums 2780 Thlr. — Der Rector der Dresdener
Kreuzschule 1700 Thlr. und Amtswohnung. Der Rector der preußischen
Landesschule Pforta hat 2334 Thlr. Gehalt, der nächste Lehrer 1760 Thlr.
— Die Nectoren der sächsischen Landesschulen zu Meißen und zu Grimma
1700 Thlr., die nächsten Lehrer 1200 resp. 1100 Thlr. und freie Wohnung.
Dies sind statistische Thatsachen, welche die oft gehörte Behauptung, daß der
große Staat seine Beamten und Lehrer schlechter bezahle als der kleine,
Lügen strafen.
VI. Stellung der Lehrer. Pensionswesen. Fürsorge für
die Hinterlassenen. Im Allgemeinen Landrecht für die königl. preußi-
schen Staaten von 17 94 heißt K. 68: „Die Lehrer bei den Gymnasien und
anderen höheren Schulen werden als Beamte des Staats angesehen/' —
Art. 23 der preußischen Verfassungsurkunde vom 31. Januar 1850 lautet:
„Alle öffentlichen und Privat-Unterrichts- und Erziehungs-Anstalten stehen
unter der Aufsicht vom Staate ernannter Behörden. Die öffentlichen Lehrer
haben die Rechte und Pflichten der Staatsdiener." — Auch in dem am
4. November 1869 dem Landtage zu Berlin vorgelegten Entwürfe eines Un¬
terrichtsgesetzes haben nach §. 122 die Direktoren und Lehrer an höheren
Schulen die Rechte und Pflichten der Staatsbeamten.
Wie in Preußen, so werden auch in den übrigen deutschen Staaten,
selbst in Oestreich, die Lehrer als Staatsbeamte angesehen. Nur Sachsen
macht in dieser Beziehung eine Ausnahme, die man unmöglich zu den „be¬
rechtigten Eigenthümlichkeiten" rechnen kann. Die Folge davon ist, daß sich
bei uns zu Lande die Lehrer der höheren Schulen in einer völlig unklaren,
nicht durch Gesetze festbegrenzten Stellung befinden, welche für sie durchaus
peinlich und ihrer wissenschaftlichen Bildung unwürdig ist. Während jeder
Calculator oder Registrator nach einer gewissen Dienstzeit seine Rechte durch
das Staatsdienergesetz gesichert weiß, sehen sich die sächsischen Gymnasial- und
Ncalschul-Directoren und Lehrer in allen Stücken auf die „Gnade" ihrer
vorgesetzten Behörde angewiesen, und was es mit dieser Gnade auf sich hat,
kann sich jeder denken, der da weiß, wie gerade gegen die Lehrer, höhere wie
niedere, der Standpunkt der äußersten Sparsamkeit gewahrt wird. — Ein
Ausfluß der Staatsdienereigenschaft ist für die Gymnasial- und Realschul¬
lehrer in Preußen und in den übrigen deutschen Staaten, daß für sie hin¬
sichtlich der Emeritirung und der Wittwenpension selbstverständlich die Be¬
stimmungen des Staatsdienergesetzes gelten. Wie steht es in diesen Beziehun¬
gen für sie in Sachsen?
Die Pensionirung der Lehrer an höheren Schulen ist in Sachsen durch
kein Gesetz geregelt. Allerdings ist auf dem letzten Landtage, in Folge der
Anregung des Abgeordneten der zweiten Kammer Herrn Dr. Rentzsch, das
Cultusministerium aufgefordert worden, ein Gesetz in Betreff der Emeri¬
tirung von Lehrern an höheren Schulen einzubringen. Aber diesen ist mit
einem solchen einzelnen Gesetz, in welchem man sie, trotz ihres bescheidenen
Einkommens, wo möglich noch mit besonderen Beiträgen für einen Emeri-
tirungsfond belegt, nicht geholfen; sie müssen dringend wünschen, daß ihre
ganze Stellung gesetzlich geregelt werde, was nur auf dem von Preußen und
den anderen deutschen Staaten längst eingeschlagenen Wege geschehen kann,
indem man die Lehrer an höheren Schulen unter das Staatsdiener¬
gesetz stellt.
Was die Wittwenpension anlangt, so können die Lehrer an höhe¬
ren Schulen allerdings ein Gesetz für sich geltend machen, nämlich das alle
Lehrer betreffende Gesetz über die Penfionskasfe für Wittwen und Waisen
der Lehrer an evangelischen Schulen von 1840 resp. 1888. Nach demselben
gehören die Lehrer, welche akademische Studien gemacht haben, der ersten
Pensionsklasse an, welche ohne allen Unterschied des Gehaltes jährlich 8 Tha¬
ler zu zahlen hat und dafür jeder Wittwe einen Anspruch von 75 Thlr.
und jeder Waise von 15 Thlr. jährlich zusichert. Warum gestattet man aber
nicht, wie dies in Preußen und anderwärts Gesetz ist, wenigstens den aka¬
demisch gebildeten Lehrern' sich an der allgemeinen Staatsdiener-Wittwenkasse
zu betheiligen, die doch in einer auskömmlicheren Weise für die Hinterlassenen
sorgt? Denn während ein solcher Lehrer, mag er als Anfänger 460 Thlr.
oder als Rector 1600 Thlr. Gehalt haben, beispielsweise für Wittwe und
drei Waisen ohne Unterschied zusammen nur 120 Thlr. erlangt (was bei den
jetzigen Preisen völlig ungenügend erscheinen muß), erhalten die Wittwe
und drei Waisen eines' Staatsdieners bei 800 Thlr. Gehalt bereits 160 Thlr.,
bei 1000 Thlr. Gehalt 200 Thlr., bei 1200 Thlr. Gehalt 240 Thlr., bei
1600 Thlr. Gehalt 320 Thlr. u. s. f.
Unser höheres Schulwesen hat in diesem Jahre schmerzlichen Verlust er¬
litten durch den Tod von zwei der gelehrtesten und tüchtigsten Gymnasial-
directoren, welche sich um das sächsische Schulwesen hohe Verdienste erworben
haben. Dieselben hatten außer freier Dienstwohnung einen Gehalt von 1700
resp. 1600 Thlr. Nach dem sächsischen Staatsdienergesetz würden deren Witt¬
wen wenigstens 200 Thlr. Pension erhalten. Und was steht denselben nach
dem Pensionsgesetz für Wittwen und Waisen der Lehrer an evangelischen
Schulen, das auch für sie gilt, gesetzlich zu? — 75 Thlr., schreibe fünf-
undsiebenzig Thaler!!! Paßt dieser Betrag auch nur einigermaßen zu der
Stellung, welche die Familie eines Gymnasialdirectors auch nach dem Tode
des Ernährers im socialen Leben einnehmen soll? Und gibt diese Thatsache
nicht den schlagendsten Beweis ab für die Geringschätzung, unter welcher der
höhere Lehrerstand in Sachsen bis heute zu leiden hat? Ist etwa das Be¬
wußtsein, daß dieser gesetzliche Pensionsbetrag häufig im Gnadenwege, d. h-
durch ein Almosen aus der Staatskasse auf einen existenzfähigen Betrag ge¬
steigert wird, für den höheren Lehrer ein standesmäßiges, in seinem schweren
Beruf ermuthigendes?
VII. Die Gymnasien und Realschulen, Staats- oder
städtische Anstalten? Ueber diese Principienfrage ist auf dem Landtage
im Jahre 1868 viel discutirt worden, doch ist man zu keiner Entscheidung
gekommen (et. Landt. Mittheil, der II. Kammer, S. 2018 ff.). Am conse-
quentesten hat der Herr Abgeordnete Haberkorn sowohl für die Gymna¬
sien, als für die Realschulen den Charakter von Staatsanstalten geltend ge¬
macht (S. 2027 ff. und 2042), und auch der Cultusminister gab zu, „daß
das Gymnasialwesen (warum nicht das Realschulwesen ebenso?) als eine all¬
gemeine Obliegenheit des Staates mehr und mehr anerkannt wer¬
den müsse, wenn auch immerhin hier und da noch Beiträge von Seiten der
Städte, die ein Gymnasium zu haben wünschen, zu geben sein werden" (S.
2031). Thatsächlich stehen in Sachsen die Dinge so.
^. Als reine Communalan se alten sind anzusehen:
a) Sämmtliche Volksschulen;
b) Von den höheren Schulen: 1) die Kreuzschule zu Dresden;
2) die beiden Gymnasien in Leipzig; 3) die beiden Realschulen in Dresden;
4) die Realschule in Leipzig; 6) die Realschule in Chemnitz und «) die Real¬
schule in Zwickau.
L. Als reine Staatsanstalten gelten:
a) Höhere Fachschulen: 1) die Universität Leipzig; 2) die poly¬
technische Schule in Dresden; 3) die höhere Gewerbeschule in Chemnitz; 4)
die Akademieen der bildenden Künste in Dresden und Leipzig; S) die Aka¬
demie für Forst- und Landwirthe in Tharandt; 6) die Bergakademie in Frei¬
berg; 7) die 10 Schullehrerseminare in Annaberg, Bautzen, Borna, Dresden
(2), Grimma, Rossen, Planen, Waldenburg, Zschopau; 8) das Lehrerinnen¬
seminar in Callnberg und 9) die Thierarzneischule in Dresden.
b) Höhere Schulen: 1) die Fürstenschule zu Meißen (wird im Staats¬
budget nicht mit aufgeführt); 2) die Fürstenschule zu Grimma; 3) das Gym¬
nasium in Chemnitz; 4) die Realschule in Annaberg; S) die Realschule zu
Plauen (mit dem städtischen Gymnasium vereinigt); 0) die Realschule zu
Zittau (mit dem städtischen Gymnasium vereinigt) und 7) die Realschule in
Döbeln.
e) Sonstige Schulen: 1) die 5 Baugewerkenschulen in Dresden, Leip¬
zig, Chemnitz, Plauen, Zittau; 2) die Werkmeisterschule in Chemnitz; 3) eine
Anzahl Fortbildungs- und Speeialgewerbschulen (Vergl. Budgetvorlage auf
die Jahre 1870 und 1871. S. 304), 4) die Taubstummenanstalten in ^Dres¬
den und Leipzig.
(Z. Gemischte Anstalten sind: 1) die Realschule II. O. in Reichen¬
bach; 2) die 5 Gymnasien in Bautzen, Freiberg, Zwickau, Plauen und
Zittau.
Die zuletzt genannten L Gymnasien, welche früher rein städtische waren,
sind im Verlauf der Zeit fast vollständig in die Verwaltung des Staates
übergegangen und können gegenwärtig als Staatsanstalten angesehen
werden, da die Beiträge der betreffenden Städte von dem Zuschüsse des Staa¬
tes bedeutend überwogen werden. Es leistet nämlich für das Gymnasium zu
Aus der so eben gegebenen Zusammenstellung scheinen wie von selbst
solgende Grundsätze hervorzugehen:
1) Die Errichtung und Erhaltung der Volksschulen ist
reine CommunaIsaehe;
2) Die Errichtung und Erhaltung der höheren Lehranstal¬
ten ist reine Staatssache.
Nur die größten Städte des Landes sind bisher im Stande gewesen,
höhere Schulen zu erhalten. Allein Dresden reicht mit seinem einen
Gymnasium nicht aus, ebenso wenig Leipzig mit seiner einen Realschule.
Ob beide Städte den Staatszuschuß werden entbehren können, dürfte zwei¬
felhaft sein. Schon die ungenügenden Lehrergehalte an den städtischen Real¬
schulen in Dresden und Leipzig legen die Vermuthung nahe, daß diesen
Städten schwer fällt, ihre höheren Schulen zu erhalten. Selbst die städtische
Realschule in Chemnitz ist von Seiten des Staates auf eine Aversionalsumme
von jährlich 3000 Thlr. angewiesen und wenn wir nicht irren, findet etwas
Aehnliches bei der städtischen Realschule in Zwickau statt.
VIII. Schluß. Als Endergebniß der kurzen Darstellung des höheren
Schulwesens in Sachsen und der Nergleichung desselben mit dem höheren
Schulwesen in den übrigen deutschen Staaten dürfte sich wohl ergeben, daß
dasselbe durchaus nicht auf einer beneidenswerthen Höhe steht, wie man ge¬
meinhin annimmt, sondern daß es vielmehr der ganz besonderen Fürsorge
des Cultusministeriums bedarf, wenn Gymnasien und Realschulen bei uns
auf den Standpunkt gelangen sollen, welchen dieselben in den übrigen deut¬
schen Staaten, vor allen in Preußen, schon einnehmen. Das höhere Schul¬
wesen in Sachsen bedarf vor Allem einer durchgreifenden, gesetzlichen Rege¬
lung. Insbesondere ist dringend zu fordern:
1) Die Berufung eines Fachmannes in das Ministerium für das Gymna¬
sial- und Realschulwesen;
2) Die vollständige Gymnasial- und Universitätsbildung für die Ober-
lehrer an Realschulen und Beseitigung der Section II bei den Prüfungen
für die Kandidatur des höheren Schulamtes;
3) Staatsdienereigenschaft der Lehrer an höheren Schulen und Erhöhung
der Gehalte mindestens in Uebereinstimmung mit dem preußischen Normaletat;
4) Vermehrung der Gymnasien und Realschulen im Verhältniß zu den
übrigen deutschen Staaten;
5) Gleichstellung der sächsischen Realschulen I, Ordnung mit den Real¬
schulen I. Ordnung in Preußen und zwar: ir) in Hinsicht auf Klasseneinthei¬
lung und Cursusdauer; K) in Hinficht auf Zahl der Lehrstunden (wöchentlich
nicht mehr als höchstens Z2); v) Vereinfachung der Maturitätsprüfung, dafür
Prüfung beim Uebergang aus Classe II in Klasse I;
6) Sammlung der Gesetze und Verordnungen für die höheren Schulen
und in bestimmten Zeitabschnitten wiederkehrende, übersichtliche, geschichtlich¬
statistische Darstellung des gescunmten höheren Unterrichtswesens.
Wir wollen hoffen, daß der neue Chef des Ministeriums des Cultus
und öffentlichen Unterrichts, Herr v. Gerber, feine Fürsorge nicht allein
der Universität, sondern ebenso den höheren Schulen, den Gymnasien und
Realschulen, zuwenden werde. Wir hegen die feste Ueberzeugung, daß der
sächsische Landtag mit derselben Bereitwilligkeit wie bisher dem Ministerium
des öffentlichen Unterrichts die Mittel zur Verfügung stellen wird, welche
nothwendig sind, damit die höheren Schulen des Königreichs Sachsen den
gesteigerten Anforderungen genügen können, welche durch die gemeinsamen
Einrichtungen des Deutschen Reiches bedingt sind.
Von den vielen Ministerkrisen, die „das Land der Experimente" erlebt
hat, ist vielleicht keine mit solcher Spannung erwartet worden, wie der Por¬
tefeuillewechsel im August dieses Jahres. Es war nicht so sast die Sympa¬
thie für populäre Persönlichkeiten, die denselben urgirte, als die Antipathie
gegen die damaligen Besitzer der Gewalt, und gegen ein System, das mit
seiner schüchternen Politik alle Theile zugleich befriedigen wollte. Und doch
waren die Zeiten laut und gebieterisch, die Gegensätze wuchsen mit jeder
Stunde und mit ihnen wuchs die Ungeduld der öffentlichen Meinung. Schon
damals war die kirchliche Frage auf jenen Höhepunkt acuter Entwickelung
gediehen, daß ein bloßes Zusehen des Staates nicht mehr möglich schien.
Aber eben das war dem Ministerium nicht genehm. Es wollte sich im¬
mer noch die Entscheidung vorbehalten und übersah dabei, daß sie ihm von
klerikaler Seite bereits vorweggenommen war; es wollte nach seiner eigenen
Meinung handeln, und doch war die öffentliche Meinung bereits so stark ge¬
worden, daß ihr das letzte Wort gebührte.
Die eigenthümliche Stimmung oder besser die Verstimmung, in welcher
sich München damals befand, ist ein Unicum in der Geschichte der Stadt.
Alle Blätter äußerten ein zügelloses Mißbehagen, der gemeine Mann, der
über die Straße ging und der angesehene Bürger schmähte über die Thaten¬
losigkeit der Regierung, Versammlungen wurden gehalten und endlich blieb
dem König kein Ausweg übrig, als dem Urtheil der Menge die Sanction zu
ertheilen.
Es geschah mit Widerwillen, aber es geschah. Die Männer, die aus dem
Ministerium ausschieden, waren Graf Bray, Hr. v. Schlör und der Minister
des Innern v. Braun. An ihre Stelle traten Graf Hegnenberg und der
Regierungspräsident der Pfalz v. Pfeuffer, auch das Portefeuille der Justiz,
das bisher durch Hrn. v. Lutz neben dem Cultusministerium verwaltet wor¬
den war, fand einen eigenen Vertreter. Es wurde dem Rathe Dr. Fäustle
übergeben, während das Portefeuille des Handels und der öffentlichen Arbei¬
ten interimistisch mit dem Präsidium verbunden ward. Die Stimmung, wo¬
mit das Publicum dieser Zusammensetzung entgegenkam, war Anfangs keines¬
wegs eine günstige. Vor allem hatte man ungern gesehen, daß nicht das
gesammte Cabinet neugebildet wurde, denn man sah in dem Verbleiben von
drei bisherigen Ministern (Prankh, Psretzschner und Lutz), eine Fortdauer der
bisherigen Maximen; und man hegte offen den Verdacht, daß die , welche
neu berufen waren, sich bald dem alten System unterwerfen würden, nicht
umgekehrt. Daß man indessen im gegebenen Falle hiezu keinen Grund hatte,
wird ein näherer Blick auf die Persönlichkeiten zeigen.
Allerdings ist richtig, daß Graf Hegnenberg zur großdeutschen Partei
gehörte — als es noch eine großdeutsche Partei im Lande gab.
Allein dieselbe ist heutzutage von den Ereignissen so absolut überholt, daß
ein einsichtsvoller Mann, der seine Politik auf den Boden der Thatsachen
stellt, nicht mehr mit ihr rechnen kann. Und diese Eigenschaft muß man dem
Grafen Hegnenberg in erster Reihe zuerkennen. Sie ist während der langen
Zeit, wo er das Präsidium der zweiten Kammer führte, entschieden zu Tag
getreten und wenn man damals seine parlamentarische Geschicklichkeit vor
allem hochhielt, so hielt man doch den strengen Rechtssinn und jene fast an¬
tike Redlichkeit, die Hegnenberg besaß, noch unendlich höher. Die nationale
Basis, welche die äußere Politik von Baiern gewonnen hat, zu verfolgen,
ist nicht blos ein Gebot der Klugheit, sondern sie ist eine rechtliche Verpflich¬
tung geworden, seit die Versailler Verträge existiren. Nie und nimmer, des¬
sen darf man sicher sein, hätte Hegnenberg das Portefeuille des Aeußern
übernommen, wenn er nicht gewillt wäre, den Inhalt dieser Verträge im
vollsten Sinne und ohne jede resörvs-tlo mentalis zu erfüllen.
Wie er über die innere Politik denkt, das hat seine Vergangenheit zur
Genüge erwiesen. Er war „liberal" zu einer Zeit, wo dies zu sein noch
weniger leicht war als heute, und wenn er nun die schwere Last eines Porte¬
feuilles übernommen hat, so geschah es deßhalb, weil ihm unerträglich
erscheint, „daß die ganze Cultur in Baiern durch die Umtriebe der Klerikalen
in Frage gestellt wird". Nur mit Rücksicht hierauf ließ sich Hegnenberg
trotz seiner tieferschütterten Gesundheit, trotz der glänzenden Privatstellung
die er besaß, bewegen, das Opfer dieses Amtes zu bringen. Wahrlich, wäre
er bereit, die Dinge gehen zu lassen, wie sie gehen wollen, so hätte er dies
um einen leichteren Preis erreichen können, aber die Entschlossenheit,
die in seinem Entschlüsse liegt, ließ erwarten, daß er keine Thätigkeit
auf sich nehmen wolle, die thatenlos wäre. Ein Minister der wirklich
liberal ist, kann der kirchlichen Frage nicht aus dem Wege gehen, er muß
dieselbe vom Standpunkte des modernen Culturstaats aufgreifen; denn Li¬
beralismus und Absolutismus gipfelt jetzt in diesem Punkte. Das baierische
Ministerium aber ward gewissermaßen aä toe gewählt, wenn wir so sagen
dürfen. Nur deßhalb, weil er in der kirchlichen Krisis absolut unthätig war,
wurde Graf Bray entlassen und wenn sein Nachfolger nichts wäre, als ein
ehrlicher Mann, so müßte er wissen, daß er sich durch diese Nachfolge
allein schon zur Thätigkeit verpflichtet. Was die Persönlichkeit
der beiden anderen Minister anlangt, die in das neue Cabinet treten, so bie¬
tet auch hier die Vergangenheit eine Bürgschaft der Zukunft. Herr v. Pfeuffer,
der früher Polizeidirector von München und damals schon prädestinirter Mi¬
nister des Innern war, hat die letzten Jahre seiner Thätigkeit als Regie¬
rungspräsident der Pfalz verbracht. Nicht nur die Fähigkeiten, die er im
Gebiete der Verwaltung besitzt, sondern vor allem die seltene Humanität, die
seine Amtsführung leitete, hat ihm dort einen unvergeßlichen Namen bereitet
und hat es dahin gebracht, daß die Stellung seines Nachfolgers keine der
leichtesten ist. Pfeuffer ist die Verkörperung einer Maxime, die man im
Staatsdienste bisher fo sehr vernachlässigt hat: er stellte stets den Menschen
über den Bureaukraten. Das viele Gute, das man in Baiern hätte wirken
können, wenn der Beamtenstand diesem Grundsatz jederzeit gefolgt wäre, und
der unberechenbare Schaden, den die Cultur des Landes daraus nahm, daß
das Gegentheil geschah, kommt erst jetzt allmälig zum Bewußtsein des Vol¬
kes und der Negierung.
Erst jetzt finden die wenigen Männer ihren vollen Werth, die sich von
diesem bureaukratischen Marasmus frei erhalten haben, und wenn Pfeuffer,
der noch ein junger Mann ist, heute an den Ministertisch berufen ward,
so lag der Grund vor allem in dem Uebergewicht, das er nach dieser Seite
hin besitzt.
Was seine nationalen Ueberzeugungen anlangt, so war er darin weiter
vorgeschritten, als der Mehrzahl seiner Collegen lieb sein mochte; hiezu
kam, daß die Pfalz, der er vorstand, fast nur durch n^tionalliberale Depu¬
tate vertreten ist, und daß man ihm nicht ohne Grund eben diesen Regie¬
rungsbezirk überwies. Im vergangenen Jahre, als der Kronprinz von Preu¬
ßen nach Frankreich zog, war sein Hauptquartier drei Tage lang im Hause
des Präsidenten.
Der untrennbare Zusammenhang, in welchem die klerikalen Tendenzen
zur nationalen Frage stehn, läßt leicht errathen, welche Stellung Herr
v. Pseusfer auch in dieser Beziehung einnimmt. Die dritte der Excellenzen,
die in das neue Ministerium eintraten, ist Dr-. Fäustle, bis dahin Rath im
Ministerium der Justiz. Bekanntlich hatte derselbe auf die erste Einladung,
das Portefeuille zu übernehmen, ablehnend geantwortet und zwar nur de߬
halb, weil die damalige Constellation des neuen Cabinets nicht eben das
Beste erwarten ließ. Fäustle (der der Sohn eines Schullehrers in Augsburg
ist) hat die Carriere des Richters von der untersten Stufe an durchgemacht
und die Unabhängigkeit, die dieser Stand gerade in Baiern genießt, entsprach
ganz seinem persönlichen Charakter. Aus seinen Ueberzeugungen machte er
nie ein Hehl, denn schon vor Jahren trat er offen in die Reihen der Fort¬
schrittspartei und unterzeichnete das Programm, das diese kurz vor den Land¬
tagswahlen erließ. Auch als Redner in öffentlichen Versammlungen trat er
hervor: kurzum, man wußte was man von seiner Amtsführung erwarten
durfte. Den drei neuernannten Ministern stehen jene drei gegenüber, die in
ihrem Amte verblieben — Hr. v. Pfretzschner, v. Lutz und Frhr. v. Prankh.
Indessen soll man bei diesem Ausdrucke nicht an einen Gegensatz der Gesin¬
nung denken. Denn der erste und letztgenannte sind lediglich Fachminister
und schließen sich der Majorität des Cabinets an, und was Hrn. v. Lutz
betrifft, so hat derselbe offen erklärt, daß nur der Widerspruch mit dem Gra¬
sen Bray ihn an einem energischen Vorgehen gegen die Ultramontanen ver¬
hindert habe.
Beide Herren hatten ihre Demission dem König eingereicht, und da die-
selbe mit der Entlassung Bray's beantwortet ward, so hat Hr. v. Lutz kein
weiteres Hinderniß für sein Borgehen.
Dies ist die äußere Gruppirung der Männer, die das neue baierische
Ministerium bilden, die in einem Augenblicke an's Ruder griffen, wo die
Krisis auf ihren Höhepunkt gekommen war, wo die Schicksale dieses Landes
abermals alle Blicke der Denkenden auf sich zogen.
Die Aufnahme, die das neue Cabinet im Publicum fand, war Anfangs,
wie schon bemerkt, eine äußerst reservirte, man war durch zu viele Täuschun¬
gen mißtrauisch geworden.
Entschiedener, als die öffentliche Meinung im Volke, trat die Presse her¬
vor; sie hatte sich rascher wieder erholt und ein ruhiges objectives Urtheil
gewonnen. Mit Genugthuung begrüßten die liberalen Blätter die neuerwähl¬
ten, denen eine so schwierige Aufgabe zugefallen war; sie fühlten, daß das
Vertrauen des Volkes denselben entgegenkommen müsse, um eine sichere und
befriedigende Lösung zu erreichen.
Um so wüthender aber griffen die Ultramontanen an, obwohl die Mi¬
nister ihre Gesinnung noch durch keine Handlung verrathen hatten, und die¬
ser Angriff war in den Augen aller Gutgesinnten das günstigste Prognosti¬
kon. Geschadet hat dem neuen Cabinete nur eine Partei, und zwar die so¬
genannte Centrumsfraction, die von Versöhnung faselte und sich den Anschein
gab, als wäre sie der wahre Repräsentant der künftigen Politik. Natürlich
war wieder Herr Huttler der unvermeidliche Faiscur in diesem Falle, denn
ohne viel zu fragen, oktroyirten seine beiden Blätter dem neuen Ministerium
das zweifelhafte Glück ihrer Freundschaft. Einen Augenblick ließ sich das
Publicum durch die frömmelnden Phrasen der Postzeitung und durch die
plumpen Gemeinplätze des baierischen Kurier düpiren, denn wer auf die Düpe
speculirt, bleibt niemals allein; aber bald vermochten die aufdringlichen Sym¬
pathien dieser Duodezfractivn dem Ministerium nicht weiter zu schaden. Daß
sie ihm etwa hätten nützen können, das kam wohl überhaupt für Niemanden
in Frage, der bis 10 oder Is zu zählen weiß.
Der erste Act von politischer Tragweite, womit das neue Ministerium
debütirte, war der Erlaß an den Erzbischof von München. Natürlich fand
derselbe ein sehr verschiedenes Urtheil, denn vielen ging er zu weit und noch
weit mehreren erschien er ungenügend, aber im Ganzen trug er doch ein so
entschiedenes Gepräge, daß er als Thatsache von hoher Bedeutung in
Betracht kam. Er hatte das Verdienst, daß er den schwankenden Conflict
zwischen Staat und Kirche wenigstens im Princip feststellte, wenn er auch
Praktische Maßregeln vorbehielt; daß er die Verfassungsverletzung der Bischöfe
und die Staatsgefährlichkeit ihrer Doctrinen wenigstens in nacktester Weise
aussprach, wenn er auch nicht der Schuld die Strafe folgen ließ. Mit einem
Wort, das Ministerium hatte eine Linie markirt, hinter die es nicht mehr
zurücktreten durfte, ohne sich selber preiszugeben.
Auf diesen Erlaß, der zu den werthvollsten Ackerstücken der baierischen
Politik zählt, kam eine doppelte Antwort. Die erste derselben ist vom
Münchener Erzbischof gezeichnet und ist, was ihre Genesis und ihren Ton
betrifft, so charakteristisch, daß sie wohl ein näheres Wort verdient. In der
brutalsten Weise sprach der Verfasser seine Genugthuung aus, daß er das ge>
than habe, was geschehen sei und leugnete dreist den Buchstaben des Gesetzes,
den er verletzt hatte. Der Eindruck in der öffentlichen Meinung war stupend.
Man hatte sich niemals allzuhohen Erwartungen hingegeben, denn die gei¬
stige Persönlichkeit des Erzbischofs war geeignet, vor jeder Illusion zu
schützen, allein, daß er den Cynismus so weit treiben, daß er in dieser plum¬
pen Form sich rechtfertigen oder auf eine Rechtfertigung verzichten würde,
das hatten doch selbst jene nicht geglaubt, die ihm einen Rest von Mitleid
bewahrt hatten.
Außerdem war ausgefallen, daß die erzbischöfliche Erwiderung fast
zwei Monate nach dem Erlaß des Cultusministers erschien. Dieser Umstand
wirst auf die Entstehung des bewußten Actenstücks ein bedeutungsvolles Licht,
denn er bestätigt die Vermuthung, daß das Ordinariat im Anfang gar keine
Replik beabsichtigt habe.
Allein bekanntlich steht dasselbe weniger unter dem Einfluß seiner eigenen
Ideen, als vielmehr unter dem Druck derjenigen, die ihm von Seite der römi¬
schen Nuntiatur octroyirt werden. Diese forderte die Erwiderung, sie
scheint das berüchtigte Wort zum Princip zu nehmen, das durch Benedetti
vor wenigen Tagen bekannt ward: LruslZMiz I<z roi. Zudem hatte sich der
Erzbischof gerade um jene Zeit nach Passau und Regensburg begeben, wo
die fanatischsten Suffragane regieren und die Jesuiten, die in letzter Stadt
als „Gäste" des Bischofs Senestrey wohnen, ließen nichts unversucht, um
den unbeholfenen und rathlosen Metropoliten zu gewinnen.
In wie nahem Zusammenhange der Erlaß mit dieser Gesellschaft stand,
bewies unter Anderem der Umstand, daß unmittelbar nach demselben auch
Bischof Senestrey eine „Antwort" sandte, die durch keine Frage provocirt
war und nur in potenzirter Weise das erste Schreiben copirte.
So spitzten sich denn die Gegensätze immer weiter zu; die Feindseligkeit
zwischen Staat und Kirche stieg, man wartete nur auf den Augenblick,
um zum offenen Kampf zu schreiten. Diese Gelegenheit war naturgemäß ge¬
boten, als die Kammer am 20. September zusammentrat. Nun war ein
legitimer und weithin sichtbarer Schauplatz für den kirchlichen Streit gefun¬
den, nun sollte das neue Ministerium sein parlamentarisches Debut und seine
politische Feuerprobe bestehen.
Sehr interessant war das Verhalten, womit die patriotische Partei die
Session inaugurirte. Sie gab sich der Hoffnung hin, daß angesichts der
religiösen Wirren volle Eintracht unter ihren Mitgliedern herrschen werde,
und daß die Centrumsfraction, die in der deutschen Frage gesondert votirt
hatte, wenigstens in der römischen Frage mit ihr zusammengehen werde. Die
Parole, welche die Patrioten so oft an ihre Bauern erlassen hatten, ward
nun sogar unter den Deputirten der Partei colportirt, die Religion (hieß es)
ist in Gefahr. Trotzdem aber sonderten sich etwa 15 Mitglieder der Rechten
zu eigenen Clubversammlungen ab, und nahmen im „Deutschen Hause"
(sit venia, verbo) ein eigenes Local.
Im Club der Schwarzen, der im Bamberger Hof installirt war, begann
unterdessen das alte wüste Treiben. Ein Terrorismus ohne Grenzen erdrückte
jede eigene Ueberzeugung; die Herrschaft führten nicht die gemäßigten,
sondern die extremsten Elemente der Partei. Man wußte anfangs nicht,
worauf die ungeheure Rührigkeit der Ultramontanen gerichtet sei, die schon
begann ehe noch von einer Sitzung die Rede war; nun freilich ist bekannt
geworden, daß Herr Jörg sich die äußerste Mühe gab, um ein Mißtrauens¬
votum gegen das neue Ministerium zu erwirken. Dieser Versuch fand indes¬
sen nicht die nöthige Majorität.
Um so radicaler gingen die Ultramontanen bei der Wahl des Directo-
riums zu Wege, das sie gegen allen parlamentarischen Gebrauch ausschlie߬
lich mit ihren Parteigängern besetzten. Auch hier hatte Jörg seine Hand im
Spiele, denn da er selbst die Rolle des ersten Secretärs übernahm, so war
ihm daran gelegen, eine Persönlichkeit auf den Präsidentenstuhl zu heben,
welcher er selbst an Geschäftskenntniß wie an Energie überlegen ist. Eine solche
fand sich denn auch in der Person des Baron Ow, dessen stille Vorzüge
weit größer sind, als seine parlamentarischen Eigenschaften. Nach gleichem
Maßstab ward auch die Stelle des zweiten Präsidenten und des zweiten
Secretärs besetzt.
Noch plumper, als dieses Vorgehen, war indessen die Ernennung der
Ausschüsse, wo es sich doch selbstverständlich um die Besetzung mit Fachmän¬
nern in erster Reihe handelt. Allein auch hier entschied fast nur die Partei¬
stellung. Ja es schien nicht zu genügen, daß unbekannte Namen an dieser
Stelle prangten, sondern man wählte sogar solche, die sich ohne Weiteres
discreditirt hatten. — Das frappanteste Beispiel dieser Art ist die Wahl der
Herren Kolb und Grell in den Ausschuß für Finanzen. Bekanntlich plädirte
der erstere gerade in dem Augenblick für eine Reduction der Armee, als der
deutsche Krieg die Debatten unterbrach, und nicht nur diesen, sondern vielen
anderen unentbehrlichen Instituten unseres Staatslebens steht derselbe als
Socialdemokrat schroff gegenüber. Was aber den Herrn Franz Xaver
Greil betrifft, so braucht man wohl nur den Namen desselben zu nennen,
um die Unerhörtheit dieser Wahl zu charakterisiren. Er war es ja, der als
Budgetreferent einen Geschäftsbankerott der Kammer herbeiführte wie er bis¬
her noch ohne Gleichen ist, da man nach fünf Monaten noch kaum ein Drit¬
tel des Staatshaushalts erledigt hatte. Drastischer als durch diese Wahlen
hätte die patriotische Partei der Kammer kaum ausdrücken können, daß
die Ereignisse eines großen Jahres spurlos an ihr vorübergegangen find,
und wenn man noch vor Kurzem dort das Wort vernahm, daß die Gesetz¬
gebung hinter 1848 zurückgehen müsse, so zeigte nun die That, daß man
hinter 1870 zurückgeblieben war.
Was die eigentliche Thätigkeit der Kammern betraf, so zeichnete sich die¬
selbe mehr durch negative, als positive Resultate aus und war vortrefflich
geeignet, um die Nothwendigkeit einer neuen, minder schleppenden Geschäfts¬
ordnung zu illustriren.
Diese und die Jnterpellation des Abgeordneten Herz waren entschieden
die bedeutendsten Vorlagen, welche während der wenigen öffentlichen Sitzungen
zur Sprache kamen.
Was den Gesetzentwurf über den Geschäftsgang des Landtags anlangt,
so war damit vor allem bezweckt, den schwerfälligen Apparat der 6 Ausschüsse
aufzuheben, und die unmittelbare Verhandlung vor dem Plenum zu erweitern.
Da die parlamentarischen Kräfte der Ultramontanen denen der Fortschritts¬
partei in keiner Weise gewachsen sind, während die vertrauliche Berathung
der Ausschüsse dem klerikalen Einfluß alle Chancen öffnet, so war man auf
den heftigsten Widerspruch der patriotischen Partei gefaßt. Allein auf der
anderen Seite hatten doch die letzten Wochen über die Untauglichkeit des bis¬
herigen Verfahrens ein so vernichtendes Zeugniß gefällt, daß selbst die vir¬
tuosesten Reactionäre nicht zu widersprechen wagten, und so ward der Ent¬
wurf der Regierung denn unverändert angenommen. Wie arg der geschäftliche
Marasmus in letzter Zeit geworden ist, mag man daraus entnehmen, daß
der Präsident am Schlüsse der Session geradezu für nöthig fand, das Nichts¬
thun der Kammer mit objectiven Hindernissen zu entschuldigen.
Die Herz'sche Jnterpellation betraf, wie die Leser wissen, die Kirchen¬
frage und forderte das Gesammtministerium heraus, seinen Standpunkt zur
altkatholischen Bewegung darzulegen. Die Aufregung in München war eine
ungeheure, ob und wie diese Antwort ertheilt werden würde und die Ver¬
zögerung derselben schärfte die Spannung.
Um so glänzender und entschiedener erwies sich das Ergebniß. Denn die
Negierung hat sämmtliche Fragen der Fortschrittspartei bejaht und dem com
creten Fall eine principielle Tragweite gegeben, die heute noch unberechen¬
bar ist.
Bon neuem und mit allem nur denkbaren Nachdruck wird das Dogma
der Unfehlbarkeit als rechtlich nicht existirend erklärt und denen, die es ver¬
worfen, wird der volle Schutz des Staates gewährleistet. Nicht bloß der
Einzelne steht hiermit auf gesetzlichem Boden, wenn er die Annahme der
neuen Lehre verweigert, sondern auch die Gemeinden, die sich unter diesem
Gesichtspunkt vereinigen, haben alle korporativen Rechte und Privilegien der
katholischen Kirche. Den Eltern wird das religiöse Erziehungsrecht unverkürzt
gewährt und eine legislative Aenderung des bisherigen Kirchenrechts steht
unweigerlich in Aussicht. Auch der Laie erkennt die tiefen und wichtigen
Rechtsgrundsätze, die in dieser Erklärung liegen, und darnach läßt sich wohl
ermessen, wie tief der moralische Eindruck war. Natürlich fehlte es nicht an
Zweiflern, denen die Verwirklichung dieser Theorien sehr serneliegend schien;
allein selbst wenn man dem Ministerium nicht mit dem Vertrauen entgegen¬
kommt, das es verdient, so sind doch die Umstände zwingender Art. Denn
nicht um die Ansichten des einzelnen Fachministers handelt es sich, sondern
um die Erklärung des Gesammteabinets und nicht in der Form eines belie¬
bigen Erlasses, sondern in den Formen eines feierlichen Staatsaetes ward
dieselbe gegeben. Die Interessenten, die dabei betheiligt sind, sind zu zahl¬
reich, als daß man sie ignoriren dürfte, und wenn die Regierung besorgt
war, das Versprechen zu geben, so sind jene besorgt, daß es erfüllt werde.
Zudem weiß jedermann, daß der König selbst an der Antwort seines Cabi-
nets den persönlichsten Antheil hat.
Die Fortschrittspartet, deren Hilfe die Regierung unbedingt bedarf, und
deren Mißtrauensvotum sie mehr zu fürchten hat, als das der Patrioten, ist
von der Erklärung höchst befriedigt und der Vertreter der Jnterpellation, der
Abgeordnete Herz hat erklärt, daß er dies Gefühl im höchsten Grade theile.
Um so toller ist der Ingrimm der patriotischen Deputirten, die in der
ministeriellen Antwort eine offene Kriegserklärung sehen; und ihre Stimmung
hätte sich ohne Zweifel in einem ähnlichen Acte Luft gemacht, wie es der
cinticipirte Protest gegen die Jnterpellation war, wenn nicht die Vertagung
des Landtags entgegengetreten wäre.
Baiern aber hat mit diesem Tage eine Zukunft angebahnt, die zu seinem
H
Drei Sitzungen des Reichstages endeten damit, die Beschlußunfähigkeit
der höchsten deutschen Körperschaft an den Tag zu bringen. Erst in der
vierten Sitzung konnte die hohe Versammlung ihre Arbeiten aufnehmen und
in der fünften zur Wahl ihres Vorstandes schreiten. Das geringe Pflicht¬
gefühl, welches viele Reichstags-Mitglieder dieser Erfahrung zufolge für ihren
wichtigen Beruf an den Tag legen, hat nicht wenig Befremdung und vieler-
seits sogar lebhaftes Mißfallen hervorgerufen. Aus Reichstagskreisen wird
hier und da zur Entschuldigung ein Vorwurf gegen die Negierung geltend
gemacht. Man sagt, die Negierung habe versäumt, von dem ungefähren
Zeitpunkt der Reichstags-Eröffnung die Abgeordneten einigermaßen früh zu
verständigen. Acht Tage seien nicht ausreichend für die Abgeordneten, sich
von ihren mannigfaltigen anderen Geschäften und Pflichten frei zu machen.
Die Berufung des Reichstages auf den 16. October erfolgte bekanntlich durch
kaiserliches Decret vom ü. desselben Monats, welches der Reichsanzeiger am
7. October Abends veröffentlichte.
Indessen muß doch bemerkt werden, daß Jedermann in Deutschland seit
Monaten wußte, der Reichstag werde im October zusammentreten. In der
ganz genauen Bestimmung des Eröffnungstages hängt die Reichsregierung
selbst, die ja nicht allmächtig ist, von mancherlei nicht vorherzusehenden Um¬
ständen ab. Uns dünkt, wer einen hohen Beruf für das Vaterland über¬
nimmt, unterwirft sich damit auch der Nothwendigkeit, der Forderung dieses
Berufs zu unvorhergesehener Frist gewärtig zu sein.
Doch wollen wir denjenigen Mitgliedern, welche durch ihr verspätetes
Erscheinen den Versuch des Reichstags, seine Geschäfte aufzunehmen, drei
Mal vereitelten, gern jeden Vorwurf ersparen. Dagegen vermögen wir nicht
einzusehen, weßhalb ein Theil der liberalen Partei sich so heftig dagegen
wehrt, die zur Beschlußfähigkeit des Hauses erforderliche Mitgliederzahl herab¬
zusetzen. Das englische Unterhaus zählt ungefähr 600 Mitglieder und die
Anwesenheit von 40 reicht zur Beschlußfähigkeit hin. Man sagt nun, das
passe für England, aber nicht für Deutschland; in Deutschland würde
das Ansehen des Reichstages unter der geringen Fülle seiner Versamm¬
lungen leiden.
Dies ist eine Behauptung, für die es gar keinen Grund gibt, den man
sich denn auch hütet, beibringen zu wollen. Es gibt ja Dinge, die nur
darum unbeweisbar sind, weil sie sich von selbst verstehen. Da ist es denn kein
schlechter Kunstgriff, eine Sache, die sich weder von selbst versteht, noch be¬
weisbar ist, unter die selbstverständlichen Dinge aufzunehmen.
Als ob davon die Rede wäre, daß der Reichstag wochenlang in der
Stärke von 40 theilnehmenden Mitgliedern wichtige Geschäfte erledigen und
große Fragen berathen soll! Vielmehr die geringe Anzahl der zur Beschlu߬
fähigkeit erforderlichen Mitglieder ist das wirksamste Mittel, diejenigen Sitzun¬
gen, auf die etwas ankommt, voll zu machen. Unbedeutende Dinge, rein
formale Geschäfte können wahrlich von einer geringen Zahl erledigt werden,
ohne daß das Ansehen des Reichstags auch nur um einen Schatten vermin¬
dert wird. Was hätte es z. B. gethan, wenn die Wiederwahl des Präsi¬
diums, über die der ganze Reichstag einig war, von wenigen Anwesenden
wäre vorgenommen worden? Die Gewählten hätten ganz genau gewußt,
daß die Abwesenden nur darum abwesend waren, weil sie keinen anderen
Vorstand wünschten. Aber es ist eine harte, ungebührliche Zumuthung, daß
Mitglieder um eines rein formalen Geschäftes willen sich von wichtigen An¬
gelegenheiten drei Tage früher losreißen sollen, deren sie vielleicht unumgängig
bedürfen, um überhaupt ohne Schaden abkommen zu können. Was läßt
sich dagegen einwenden, daß die formalen oder untergeordneten Dinge von
denen allein besorgt werden, die gerade am abkömmlichsten sind? Ist
das deutsche Volk wirklich so pedantisch, daß es nichts mehr von sei¬
nem Reichstag hält, wenn derselbe einen Schriftführer oder auch mehrere
nicht nahezu in seiner Vollzahl gewählt hat; wenn er nicht in seiner
Vollzahl beschlossen hat, eine Frage wegen Ventilation des Sitzungöraumes
an irgend eine Stelle zu richten u. s. w.? Die Gefahr aber, bei wichtigen
Fragen überstimmt zu werden, wird die Parteidisciplin in Wünschenswerther
Weise schärfen. Die deutschen Abgeordneten werden sich daran gewöhnen, dem
Ruf des Parteivorstandes zu folgen und sich einzurichten, daß sie ihm folgen
können, was sie auch vornehmen mögen. Eine illoyale Ausbeutung der zu¬
fälligen numerischen Schwäche einer Partei durch die etwa anwesenden Gegner
muß durch die parlamentarische Sitte verhütet werden, Wir wären das letzte
aller Völker, wenn wir eine solche Sitte bei uns nicht einbürgern könnten.
Aber dergleichen Befürchtungen sind nur Selbstverleumdungen; gutmüthige
und ehrenhafte Loyalität ist ein Grundinstinct der deutschen Natur. Nichts
ist leichter, als daß der jedesmalige Präsident die Parteiführer verständigt,
wann eine wichtige Frage auf der Tagesordnung erscheinen soll. Diejenige
Partei, welche sich trotz rechtzeitiger Benachrichtigung am Tage der Abstimmung
lässig oder mangelhaft disciplinirt zeigt, unterliegt mit Recht. Die weitere
Correctur ist dann Sache der Wähler. Das Moralisiren aber, daß jeder
Abgeordnete auch bei den unbedeutendsten, wenn auch unumgänglichen Dingen
an seinem Theil die überflüssige Vollzahl herstellen soll, um das Ansehen des
Reichstags nicht zu gefährden, ist ein Ausfluß deutscher Pedanterie, die wir
leider noch nicht abgelegt haben, und deren ohnmächtiges Predigen das An¬
sehen des Reichstags schließlich viel mehr gefährdet, als ein paar ohne Auf¬
sehen von wenigen Anwesenden erledigte Geschäfte.
In der 6. Sitzung brachte der Abgeordnete Schulze-Delitzsch die unver¬
meidliche Jnterpellation der Fortschrittspartei ein, ob nicht die Reichsver¬
fassung nächstens dahin geändert werden solle, daß die Reichstagsmitglieder
Diäten erhalten. Der Präsident des Reichskanzleramtes antwortete, der
Bundesrath habe auf Bericht seines Verfassungsausschusses den bezüglichen
Gesetzesvorschlag des Reichstages vom 25. April 1871 einstimmig abgelehnt.
Die Fortschrittspartei denkt, die Diäten durch Zähigkeit zu erobern. Die
jetzige Neichsregierung ist indessen keine Freundin passiver Abwehr. Es wird
nicht fehlen, daß wenn der Reichstag die Anträge der Fortschrittspartei auf
Einführug der Diäten sich wiederholt aneignen sollte, von conservativer Seite
Gegenanträge auf Abänderung anderer Verfassungsartikel gestellt werden,
vielleicht solcher Artikel, welche die Rechte des Reichstags betreffen. Es ist
eine bekannte Thatsache, daß die Diäten die Zusammensetzung der Wahlver¬
sammlungen verändern. Mit Bezug auf die Bürgschaften, welche in der
Diätenlosigkeit liegen, sind bei der Gründung des Norddeutschen Bundes die
Rechte des Reichstages bemessen worden, welche dann unverändert in die
Reichsverfassung übergegangen sind. Will man das damalige Compromiß
Seit vier Tagen sind wir wieder im parlamentarischen Leben, aber noch
gleichen wir einem Menschen, der, nach langem, schweren und müden Schlaf,
die Augen nur halb aufmacht und die Glieder dehnt, ohne sich in dem Lichte
des Tages zurecht zu finden. Die frühere Anstrengung war groß und die
Pause zu kurz, um eine rechte gierige Lust nach der neuen Thätigkeit erstehen
zu lassen, während ohnedieß kein Ereigniß von Bedeutung zu solcher anspornte.
Die feierliche Eröffnung des Reichstags im weißen Saale des königlichen
Schlosses war am Montag um 1 Uhr angesetzt; zu dieser Stunde war aber
in dem prächtigen Raume nur ein erschreckend kleines Häufchen von Abgeord¬
neten versammelt^), an welchem der Kaiser beim Eintritt vorüberging. Zu¬
fällig stand ganz vorn der Fürst Hohenlohe, an welchen der Kaiser heran¬
trat und ihm freundlich die Hand reichte. In den wenigen Minuten, welche
der Kaiser in den Gemächern zubrachte, ehe er wieder in den Saal trat, hatte
sich die Versammlung zwar etwas vermehrt, aber man konnte sich nicht dar¬
über täuschen, daß sie noch immer sehr unvollzählig war und die erste Sitzung
im Neichstagsgebäude bewies dies bald unzweifelhaft, indem der erste Na¬
mensaufruf die Beschlußunfähigkeit constatirte, ein Uebel, dem erst am Mitt¬
woch abgeholfen werden konnte. Alle Welt verurtheilt diese Saumseligkeit.
Aber die Einigkeit geht wie gewöhnlich nur so weit, als die Negation geht.
Hinsichtlich der Mittel zur Abhülfe gehen die Ansichten aus einander. Die
Einen meinen, die Quelle des Uebels liege in der Diätenlosigkeit, die Andern
verlangen eine Herabsetzung der zur Beschlußfähigkeit erforderlichen Zahl von
Abgeordneten.
Was die Thatenlosigkeit betrifft, so hat die Erfahrung gelehrt, daß
im Abgeordnetenhause der Besuch auch in den Anfängen mancher
Session viel zu wünschen läßt. Bei den heutigen Geldverhältnissen ist
eine Entschädigung von drei Thalern täglich durchaus unzureichend, um die
Kosten zu decken, welche einem Abgeordneten durch seinen Aufenthalt hier
verursacht werden. Will man die Sache principiell behandeln, so muß man
eine Entschädigung feststellen, welche den Abgeordneten in den Stand setzt,
ohne eigene Opfer sich parlamentarischer Thätigkeit zu widmen. Andernfalls
berücksichtigt man günstigsten Falls nur die Klasse von Abgeordneten, welche
es gerade bei einem Zuschuß von 3 Thalern, seitens des Staats, möglich oder
mit ihren materiellen Interessen verträglich findet, parlamentarische Pflichten
auszuüben. Im Jahre 1848 konnten' allenfalls oberschlesische Bauern von
drei Thaler täglichen Diäten etwas zurücklegen. Heute steht sich selbst ein
Handwerker, der in socialistischer Agitation macht (und ein Anderer als ein
Agitator wird ja nicht in das Parlament gewählt), in gewöhnlichen Zeiten
so gut, daß ihn die Diäten nicht zu sehr verlocken können. Es ist über diese
Frage so viel gesprochen und geschrieben worden, daß man einen gewissen
Widerwillen hat, sie nochmals zu berühren. Ohnedies hat der Reichstag in
seiner letzten Sitzung die Diätenzahlung gefordert. Aber zu den frühern Grün¬
den gegen dieselbe sollte gerade jetzt'noch die Erkenntniß kommen, daß der
steigenden socialen Bewegung gegenüber dringend nothwendig ist, das be¬
sitzende Element in den Parlamenten zu verstärken. Zugegeben, daß Deutsch¬
land arm, sehr viel ärmer als England oder Frankreich ist, so ist es doch
nicht so arm, um nicht ein Parlament beschicken zu können. Einem Einzelnen
wird eine parlamentarische Session schwerlich mehr kosten, als eine Bade- oder
Vergnügungsreise, wie sie im Sommer aus Norddeutschland vielleicht zwanzig-
oder dreißigtausend Menschen unternehmen. In der Zahl der Vermögenden
gibt es genug Solcher, welche die nöthige Bildung für parlamentarische Thä¬
tigkeit besitzen. Es fehlt nur die Neigung dazu, und daß diese fehlt, ist
hauptsächlich die Folge der langen Ohnmacht, zu welcher die Volksvertretung
bei uns verurtheilt gewesen ist und welche allerdings keine Lust erwecken konnte,
behagliche Verhältnisse zu verlassen. Idealismus sse etwas sehr Schönes und
die tapfern Abgeordneten, welche unter Manteuffel und dann wieder in der
Zeit des „inneren Conflicts" auf ihrem Posten aushielten, sicher, daß ihre
einzige Belohnung Maßregelung und Zurücksetzung sein würde, verdienen alle
Bewunderung —' aber im politischen Leben ist der Regel nach das mate¬
rielle Interesse viel wichtiger, als das ideale Bestreben. Der demokratische
Liberalismus wurde zweimal, im Herbst 1848 und im Jahre 1863, von dem
Volke im Stich gelassen. Er war den wohlhabenden Klassen zu weit gegan¬
gen und den jetzigen Socialisten geht er nicht weit genug, so daß er" sich
thatsächlich zwischen zwei Stühle setzt. Seit der Begründung der norddeut¬
schen Bundesverfassung hat der gegenwärtige Reichskanzler fest daran gehal¬
ten, daß die Diätenlosigkeit das'Gegengewicht des allgemeinen Stimmrechts
bleiben müsse. Der Ausdruck ist vielleicht nicht ganz stichhaltig. Wenn die
Socialisten so zahlreich wären, wie sie zuweilen vorgeben zu sein, so könnten
sie statt zwei oder drei, dreißig oder vierzig Abgeordnete in den Reichstag
schicken und mit der Hälfte des Geldes, welches für einen einzigen Strike aus¬
gegeben wird, könnten diese Abgeordneten erhalten werden. Viel richtiger ist,
die Diätenlosigkeit als einen Barometer der wahren Stimmung anzusehen.
Wo ein ernstes Interesse im Spiel ist, wird man auch Opfer bringen, bloße
Worte, die gar nichts nützen, sind überall billig und am billigsten in Deutsch-
land. Der Reichskanzler hat Manches gethan, was früher oder später der
liberalen Partei zu Gute kommen muß, und obgleich er nie ein Wort dar¬
über gesagt hat, so ist vielleicht diese Einführung der Diätenlosigt'eit einer der
größten Dienste, den er ihr erwiesen hat. Nur müßte sie, statt sich dagegen
zu sperren, das Angebot rückhaltlos annehmen, und darauf weiter bauen,
um ein möglichst unabhängiges Parlament zu erlangen. Die persönlich unab¬
hängigen Männer, welche heut einen Reichstag füllen könnten, sind etwas
konservativer als im Durchschnitt die Liberalen, aber das Durchschnittsniveau
politischer Gesinnung ist auch seit 24 Jahren in Deutschland so weit zu Gun¬
sten des Liberalismus emporgestiegen, daß man sich diese Zögerung wohl
gefallen lassen kann.
Ist man schon über alle Gebühr in die Diätenfrage verrannt, so ist
man es noch mehr in die Vollzähligkeit der Versammlung. Es gibt kein be¬
liebteres Argument in Deutschland als die „Würde". In der ersten Debatte
eines Clubb's von sechs Leuten kann man sicher als erstes Argument die
„Würde" der verehrlichen Versammlung hören. Eine Herabsetzung der Be¬
schlußfähigkeit des Reichstages wäre auch gegen die Würde der Nation. Wenn
wir einmal ohne Rückhalt sprechen wollen, so möchten wir fragen, wieviel denn
unter den Mitgliedern einer großen Versammlung zu irgend einer Zeit wirk¬
lich zählen? Immer nur verhältnißmäßig Wenige. Wenn aber eine An¬
gelegenheit zur Verhandlung kommt, die ein brennendes Interesse berührt, so
wird ein Parlament voll, nicht bloß vollzählig, sein und wenn zur Beschlu߬
fähigkeit nur der zehnte Theil seiner Mitglieder anwesend sein müßte. Die
frommen Ermahnungen und die Strafreden locken nicht einen Mann in das
neue Reichstagsgebäude, so glänzend es auch ist: die Ueberzeugung, daß seine
Stimme in's Gewicht fallen kann, daß es sich um einen Gegenstand handelt,
für den sich die Wähler interessiren, führt die Säumigen von allen Seiten
herbei. Der Glaube an die Nothwendigkeit einer vollzähligen Versammlung
ist ein Aberglaube, am meisten heut in Deutschland, wo man doch sicher sein
kann, daß ein starker und patriotischer Geist in allen Ständen herrscht. Aber
keine Logik wird im Stande sein, Jemandem einzureden, es sei von beson¬
derer Wichtigkeit, daß Herr Simson 206 statt 205 Stimmen erhält.
Der ehemalige kaiserlich französische Botschafter am Hofe zu Berlin,
Graf Benedetti, hat vor mehreren Wochen unter dem Titel: „Na Mission
den ?i-us8e" zu Paris ein Buch veröffentlicht, aus welchem die deutschen
Zeitungen bereits vielfältige Mittheilungen gebracht haben. Am 20. October
hat sich zur Ueberraschung nicht Weniger, am Meisten aber wohl des Gra¬
fen Benedetti selbst, auch der deutsche'Reichsanzeiger bewogen gefunden, sich
mit dem obengenannten Werke zu beschäftigen.
Die Schrift des Grafen Benedetti ist wohlgeeignet als Grundlage einer
Studie über die bonapartische Staatskunst und vonapartische Staatsmänner,
die wir uns vorbehalten. Heute beabsichtigen wir nur einige Bemerkungen
über das Verhalten des deutschen Reichskanzlers gegenüber denjenigen Lockungen
bonapartischer Staatskunst, deren Träger Graf'Benedetti war.
Schon als die Note des deutschen Kanzlers vom 29. Juli 1870 ver¬
öffentlicht wurde, begriff alle Welt, daß der korsische Diplomat, eines der
dreistesten und schlauesten Werkzeuge des Kaisers Napoleon, der überlegenen
Kunst eines Meisters zum willenlosen Spielball gedient hatte. Dabei ist es jedoch
die Sache der öffentlichen Meinung Deutschlands, über den wesentlichsten
Punkt des in Frage kommenden Sachverhalts sich nicht täuschen zu lassen,
weder durch die Freude an der Ueberlegenheit des deutschen Staatsmannes,
noch durch die Betroffenheit, welche Europa bei dem Anblick dieser Ueber¬
legenheit empfand.
Fürst Bismarck hat mit einem geriebenen und zudringlichen Diplomaten
nicht aus Muthwillen gespielt, und auch nicht darum, weil er der Negierung,
welche dieser Diplomat vertrat, etwas nehmen oder sie ins Unglück stürzen
wollte. Fürst Bismarck hat während seines ganzen Verkehrs mit Herrn
Benedetti unter dem Druck der Nothwehr gegen die napoleonische Politik
gestanden. Derselbe Drang der Nothwehr ist' es auch gewesen, welcher im
Juli 1870 deutscherseits zur Veröffentlichung der geheimen, durch Herrn
Benedetti geführten Verhandlungen über Belgien den Grund gegeben hat,
und nicht minder ist es die Nothwehr, welche die Berichtigung verlangt hat,
die Herrn Benedetti's Darstellung seiner Verhandlungen mit der preußischen
Regierung soeben durch den Reichsanzeiger erfährt.
Als Fürst Bismarck durch seine Note vom 29. Juli 1870 die geheimen
Anträge Frankreichs der Öffentlichkeit übergab, that er einen Schritt, der
seiner diplomatischen Praxis zuwider lief, und zu dem er wahrscheinlich ungern
und schwer sich entschloß. In der Epoche, welche vom Krimkrieg bis zur
Berufung des Fürsten Bismarck an die Spitze der auswärtigen Angelegenheiten
Preußens reicht, war es Mode geworden und geblieben, diplomatische Schrift¬
stücke nur auszuarbeiten, um sie, abgesendet, alsbald zu veröffentlichen. Bis¬
marck war es, der diese üble Gewohnheit durch sein Beispiel sofort abstellte;
eine Gewohnheit, die lediglich aus der geringen Sicherheit entsprang, welche
die Leiter der auswärtigen Angelegenheiten aller europäischen Staaten in
ihrem Berufe empfanden. Sobald unter den staatsmännischen Mittelmäßig¬
keiten der Epoche ein Minister erschien, der sich vertraute und wie ein Selbst¬
vertrauender handelte, wuchs auch das Selbstgefühl der anderen gegenüber
dem europäischen Publicum. Nicht die Bedeutung der einzelnen Personen im
Verhältniß zu ihres Gleichen wurde gehoben, aber das Niveau der ganzen
Zunft hob sich, sobald sie wieder einen Meister zählte.
Wenn nun gerade Bismarck im Augenblick der Eröffnung des Krieges
mit Frankreich vertrauliche Verhandlungen der verantwortlichsten Art seiner¬
seits in die Oeffentlichkeit brachte, so konnte ihn nur ein zwingendes Gebot
der Staatslage dazu bringen. Die napoleonische Negierung hatte ein wüthen¬
des Geschrei anstimmen lassen über den Ehrgeiz Preußens, der sich angeschickt
habe, das harmlose Frankreich durch Besetzung des spanischen Thrones in
den Rücken zu nehmen. Freilich war das angebliche Werkzeug dieses welt¬
umspannenden Ehrgeizes von der spanischen Thronecmdidatur auf die erste
Nachricht von den' Anschuldigungen und von der heuchlerischen Entrüstung,
zu welchen diese Candidatur den Vorwand gab, zurückgetreten. Nichts desto-
weniger fuhr die napoleonische Negierung fort, die Lage so darzustellen, als
habe Frankreich zum Schwert gegriffen, weil Preußen die Universal-Monarchie
Carls des Fünften zu erneuern auf dem Wege sei.
Da galt es denn, nicht damit zu säumen, der betroffenen Diplomatie
und öffentlichen Meinung Europas den wahren Kriegsanlaß vor Augen zu
bringen, den Anlaß, der in nichts anderem bestand, als daß Preußen sich
geweigert hatte, der französischen Eroberungssucht zum Schilde zu dienen.
Deutschland hatte begonnen, 'sich unter Preußens Führung theils mittels des
norddeutschen Bundes, theils mittels der süddeutschen Zollvereins- und Kriegs¬
bündnisse zu konsolidiren. Frankreich glaubte damit sein europäisches Ueber¬
gewicht gefährdet, welches auf der politischen Theilung und Ohnmacht Deutsch¬
lands beruhte. Für eine Kräftigung, welche Deutschland auf Niemandes
Kosten lediglich durch Verbesserung seiner inneren Einrichtungen erworben,
verlangte Frankreich Entschädigung' erst durch deutsches Gebiet, dann durch
Deutschlands Hilfe bei der Verses'lingung eines unabhängigen, unter die be¬
sondere Bürgschaft der europäischen Mächte gestellten Staates. Als diese
Preisgebung eigenen Landes und diese Hilfe bei einem frechen Raub verwei¬
gert wird, ergreift Frankreich den nichtigsten Vorwand, der überdies alsbald
in sich zusammenfällt, sich von Preußen bedroht zu erklären, und ihm den
Krieg anzukündigen. In solcher Lage kam es darauf an, die wahre Kriegs¬
ursache zu enthüllen, selbst mit Bruch des diplomatischen Geheimnisses. Hatte
doch Frankreich mit diesem Geheimniß Mißbrauch getrieben, indem es das
Ansinnen zur Hilfe bei einer räuberischen Vergrößerung an Preußen stellte.
Graf Bismarck hat schon in der Note vom 29, Juli 1870 erklärt, wes¬
halb er jene Zumuthungen nicht sogleich zurückwies, vielmehr dieselben vier
Jahre lang sich erneuern ließ. Graf Bismarck konnte hoffen, daß diese Zu¬
muthungen eines Tages auch ohne Krieg zwischen Deutschland und Frank¬
reich nicht länger fortgesetzt werden könnten. Lag doch die Bedrängniß vor
aller Augen, in welche die napoleonische Negierung gegenüber den Bedürf¬
nissen und Wünschen des französischen Volkes von Tag zu Tag mehr geriet!).
Durfte man doch voraussehen, daß diese Regierung entweder zu Grunde gehen
oder unter solche Controlen parlamentarischer Einwirkung gestellt werden
würde, die ihr die Wagnisse abenteuerlicher Politik verbieten mußten. Man
durfte hoffen, daß Frankreich, den Aufgaben innerer Entwickelung aufs Neue
zugewendet, chauvinistischen Träumen entsagen würde. War es unter solchen
Voraussetzungen nicht eine kluge und patriotische Politik, die Illusionen
französischer Abenteuerlichkeit zwar nicht zu ermuntern, aber in ihren Ver¬
suchen gewähren zu lassen bis zu dem Tage, wo ihre unwiederbringliche Zer¬
störung nicht mehr einen blutigen Krieg hervorzubringen brauchte?'
Die Dinge sind anders gekommen. Die napoleonische Regierung, den
Verlust ihrer Alleinmacht durch das wieder erwachte Bedürfniß nach öffent¬
lichem politischen Leben voraussehend, suchte diesem Verlust durch einen plötz¬
lichen Ausbruch des Chauvinismus, den sie gewaltsam anfachte, zu begegnen.
Man kann zweifelhaft sein, ob dies Jnstinct der Selbsterhaltung war, so¬
fern der Uebergang der Staatsmacht auf die öffentliche Meinung und das
Parlament dem Bonapartismus nur eine kurze Lebensfrist gestellt hätte.
Der deutsche Kanzler aber, der die Pflicht hatte, jeder Möglichkeit, seinem
Lande einen schweren Kampf zu ersparen, Raum zu lassen, mußte die bona-
partische Zudringlichkeit bis zu dem Tage hinzuhalten suchen, wo sie auf die
eine oder die andere Weise unschädlich gemacht sein würde.
Dies ist geschehen. Der Versuch ist mit großem Geschick durchgeführt
worden, bis die bonapartische Politik, das Ende ihrer Macht befürchtend, im
letzten Augenblick, wo sie über ihre eigene Existenz noch verfügte, dieselbe ein¬
zusetzen beschloß, gleichzeitig mit Frankreichs Bestand und gesellschaftlichen
Wohl. Wir wissen, daß der Einsatz verloren wurde. Aber Frankreich ist
nicht in das Verderben gelockt worden, es hat sich mit unerhört gewaltsamen
Uebermuth in das Verderben gestürzt, oder, was auf eins hinaus kommt, in
dasselbe stürzen lassen.
Das Ende des Is. Jahrhunderts ist die Zeit, in welcher die modernen
Großmächte sich ausgebildet haben. Durch die Concentration der französischen
Volkskräfte wurde die Krone von Frankreich in den Stand gesetzt, die Unter¬
werfung Europa's unter ihren Willen zu versuchen. Indem gegen diese fran¬
zösischen Pläne die anderen Nationen sich zur Wehre setzten, entstand das
System gemeinsamer europäischer Politik, an dem alle bedeutenderen Staaten
sich zu betheiligen hatten. In dem Gegensatz gegen Frankreich hat auch Spa¬
nien seine eigenthümliche Stellung in Europa gesucht und gesunden: zunächst
die Verhältnisse und Beziehungen Aragons waren es, von denen der Conflict
mit der französischen Macht hier seinen Ausgang nehmen mußte.
Es ist nicht unsere Absicht, einen Abriß der Geschichte europäischer Po¬
litik, etwa von 148S bis 161S, hier zu geben; und ebenso ist es nicht möglich,
die Entwicklung der spanischen Thätigkeit in diesen Händeln durch die einzelnen
Begebnisse hindurch zu begleiten. Unsere Absicht an dieser Stelle richtet sich
vielmehr darauf, das Bild, das wir von der inneren Politik der katholischen
Könige entwarfen, durch eine nur die Hauptpunkte möglichst präcis hervor¬
hebende Skizze der Machtzunahme Spaniens nach Außen zu vervollständigen.
Die spanische Monarchie, wie sie durch die verständigen und einsichtigen
Maßregeln der Könige ermöglicht und gezeugt war, hat sofort sich an den
europäischen Fragen betheiligt und ihre sehr realistischen Interessen in Europa
verfolgt. Wenn Spanien durch die Vereinigung von Castilien und Aragon
zusammengewachsen war, so war darnach Ferdinands erster Gedanke, in
dieser Richtung weiterzugehen, alles was geographisch zu Spanien gehörte,
das ganze Gebiet der pyrenäischen Halbinsel dem neuen Doppelreiche einzu¬
verleiben: sofort ist ihm damit aber auch das weitere Ziel verbunden, auf alte
dynastische Ansprüche des Hauses Aragon fußend, außerhalb Spaniens die Macht
seiner Krone durch weitere Einverleibungen so zu stärken, daß der drohenden
Uebermacht Frankreichs ein ausreichendes Gegengewicht geschaffen werde. Und
dies doppelte Endziel hat Ferdinand durch mehr als dreißig Jahre hindurch
mit zähester Consequenz festgehalten, im einzelnen Momente nach den momen¬
tanen Konstellationen der allgemeinen Lage es modificirend. Wesentliche Lücken
im Endresultate sind freilich geblieben: nicht aller Verhältnisse vermochte er
Herr zu werden oder zu bleiben, aber Großes und Fruchtbares hat er doch
erreicht und für Spanien sicher befestigt. Ein gerade den Politiker mit ge¬
waltigem Zauber festhaltendes Interesse haftet an seiner Erscheinung; und
mehr durch seine diplomatische Virtuosität als durch sein militärisches Glück
spannt er unsere Aufmerksamkeit und Bewunderung auf's höchste.
Als Ferdinand die Negierung in Aragon überkam, fand er die Thatsache
einer sehr empfindlichen Einbuße an Macht, die in letzter Zeit seinem Vater¬
lande beigebracht war, vor. Die Grafschaften Roussillon und Cerdana hatte
man an Frankreich 1462 abtreten müssen, um nur des Besitzes von Catalo-
nien nicht verlustig zu gehen. Auch Navarra war der aragonischer Hand,
die sich nach ihm ausgestreckt und es eine Weile gehalten, entgangen: eine
offene Wunde im eigenen Körper der aragonischer Krone war also nicht zu
verbergen. Gerade an dieser Stelle mußte Ferdinand zu heilen und auszu¬
gleichen suchen; er mußte es unternehmen, den seit dem 13. Jahrhundert hier
an der Grenze von Spanien und Frankreich schwebenden Streit auf eine für
Aragon vortheilhafte Weise zu schlichten, die französischen Fortschritte, die in
den letzten Zeiten offenbar gemacht waren, definitiv zurückzutreiben und die
pyrenäische Halbinsel für immer wieder gegen den unruhigen Nachbar zu
schließen. Sehr bezeichnend war, daß Ferdinand diesen schweren Ring-
kampf sofort mit diplomatischen Mitteln begann. Und zwar sind es die Hei-
rathen oder Verlöbnisse seiner Kinder , mit denen er schon damals operirte:
sein ältestes Töchterchen bot er dem französischen Thronfolger, seinen kleinen
Sohn der Erbin von Navarra an. Mit beiden Offerten kam er nicht zum
Ziele; ja die Prinzessin von Navarra ging 1484 eine französische Ehe ein,
und für mehr als zwei Jahrzehnte war damit jede Aussicht auf die Annexion
von Navarra wieder versperrt. Desto bestimmter aber war sein Auge auf
die Grenzlande Roussillon und Cerdana, die sein Vater verloren, gerichtet.
Und seiner Beharrlichkeit ist gelungen, den ungünstigen Verhältnissen hier
eine Concession abzuringen. Gewissermaßen private Verhandlungen wurden
am französischen Hofe angeknüpft: welchen Werth Ferdinand auf diesen Er¬
werb legte, hatte er wiederholt angezeigt. Als er sich überzeugte, König
Karl VIll. werde den Besitz nicht fahren lassen, war er zu einer mäßigen
militärischen Demonstration bereit: in die Allianz mit England und den
Habsburgern trat er 148!) ein, welche den Anfall der Bretagne an die fran¬
zösische Krone zu verhindern geschlossen war. Er unterstützte die Operationen
der Engländer und Niederländer durch Absendung eines spanischen Hülff-
corps; er gewann die Zusage seiner neuen Alliirten für seine Zwecke; er legte
durch die Eheverabredungen mit den beiden Dynastien damals den Grundstein
zu seiner europäischen Bedeutung. Und doch war er vorsichtig und maßvoll,
nicht zu weit für die bretagnische Frage sich bloßzustellen. Nur gering war
die militärische Hülse der Spanier: daß gleichzeitig der Entscheidungskrieg in
Granada gekämpft wurde, entschuldigte seine geringeren Leistungen in Nord¬
frankreich. Für unsere Betrachtung fällt noch mehr in's Gewicht, daß auch
während des Krieges er immer die Mittel und Wege fand, bei König Karl
seine Forderung geltend zu machen, für deren Erfüllung er vom Kriege zu-'
rücktreten würde. So fügte sich alles nach Ferdinand's Wünschen. Die
Bretagne mußte dem französischen Könige bleiben; König Heinrich von Eng¬
land wurde abgefunden, auch der Habsburgische Mar beruhigt — und auf
Grund der Abtretung von Roussillvn und Cerdana wurde eine nähere Ver¬
ständigung zwischen Ferdinand und Karl eingeleitet.
Zur persönlichen Begegnung mit König Karl VIII. kamen im Herbste
1492 Ferdinand und Jsabella an die pyrenäische Grenze, vom Ruhme eines
herrlichen Sieges umstrahlt, durch das Gefühl großer Leistungen sichtlich er¬
hoben. Die Arbeit, an der sich mehr als sieben Jahrhunderte abgemüht
hatten, war endlich von ihnen vollendet: Granada war gefallen und der
Islam definitiv von der Halbinsel gebannt. Der Glanz der Gottesstreiter,
der siegreichen Erlöser Spaniens von schwerer Plage, ruhte auf dem katholi¬
schen Königspaare. Unendlichen Jubel rief die unter ihren Auspicien eben
damals geschehene Entdeckung eines fernen Welttheils hervor: die Aussicht in
eine an Ehren und Gewinnen reiche Zukunft war dem strebsamen Spanier
gerade damals eröffnet. Und nun erlangten diese doppelt erfolgreichen und
glücklichen Fürsten auch noch ein Drittes: die Pyrenäengränze gegen Frank¬
reich wurde auf's neue gesichert. Der geographischen Abrundung des Staates
war man also an zwei Stellen näher gekommen; und in den europäischen
Angelegenheiten hatte man schon eine Achtung gebietende Haltung sich
erkämpft.
Man wird die Frage aufwerfen müssen, weszhalb Karl VIII. jene Ab¬
tretung bewilligt habe. Und die Antwort kann keine andere sein, als daß er
für seine großen Absichten in Italien damit Spaniens Neutralität zu kaufen
gedachte. Karl glaubte durch den Vertrag von Barcellona für die nächste
Zeit Ferdinand gebunden zu haben: das war sein Motiv bei dem Abschlüsse
— eine Illusion seiner unbedachten und waghalsigen Phantasie! —
In den dem Vertragsabschlüsse vorhergehenden diplomatischen Verhand¬
lungen hatte Karl seine Absicht durchblicken lassen, von den europäischen
Allianzen Ferdinand in Zukunft fern zu halten: er hatte die Verheirathung
^on Ferdinand's Kindern an seinen Consens knüpfen wollen, vornehmlich in
der Meinung, ein durch Familienbündnisse gestärktes Verhältniß Spaniens zu
den Habsburgern und zu der in Neapel regierenden Familie zu hindern.
Lange hatte sich Ferdinand gegen diese Fessel gesträubt; endlich, um jene
Grenzlande zu erhalten, hatte er sie mit einer Modification annehmen zu
sollen geglaubt. Sonst aber hatte er in dem Allianztractate alle Unterstützung
den Franzosen zugesagt und einzig jedes Auftreten Spaniens gegen den Papst
ausgeschlossen: dem katholischen König stand wohl an, ausdrücklich festzu¬
setzen, daß er niemals gegen den heiligen Vater in Rom Feindseligkeiten zu¬
lassen würde. Man nahm das als eine Phrase, eine diplomatische Floskel
ohne Bedeutung: sür Ferdinand aber war es die Pforte, durch die er der
erdrückenden französischen Freundschaft wieder entgehen konnte.
Und nun erfolgte im Herbst 1494 Karl VIII. epochemachender Kriegszug
durch Italien auf Neapel, der alle Verhältnisse Italiens über den Haufen
warf und das ganze politische Europa verwirrte und entsetzte. Wir erinnern
ganz kurz an die alte noch unausgetragene Controverse. Den Anjous hatte
Neapel im 14. Jahrhundert gehört; nachher aber war es in die Hand ge¬
kommen jener aragonesischen Fürsten, welche Sicilien besaßen. Die Anjous
hatten ihre Ansprüche keineswegs fallen gelassen: als 1438 von der Haupt¬
linie des Hauses Aragon eine unebenbürtige Seitenlinie in Neapel und Sici¬
lien sich abzweigte, waren die Versuche der angiovinischen Partei in Neapel
neu ausgelebt, und ihre Ansprüche vertrat jetzt König Karl mit der ganzen
Macht seines französischen Staates. Ferdinand von Aragon hatte sich mit
seinen neapolitanischen Vettern nicht besonders freundlich gestellt, dagegen
wiederholt zu erkennen gegeben, daß er sich als den eventuellen Erben in
Neapel ansehen wollte. Er erfuhr von den Kriegsplänen Frankreichs; er
unterhandelte nach allen Seiten mit allen betheiligten Parteien. Karl hat
lange Zeit die Idee gehabt, Ferdinand werde, eben durch jene Abtretung
1493 befriedigt, ihm nicht in den Weg treten und die neapolitanischen Vettern
nicht schützen: in Rom zeigte Karl dem Papste sogar an, daß Ferdinand sein
Unternehmen gebilligt habe. Einer so offenen Erklärung widersprach Ferdi¬
nand sofort: er läugnete, sich gebunden zu haben. Andererseits aberwünschte
er unter dem Drucke der französischen Kriegsgefahr von Neapel wichtige Rechte
zu erlangen, sei es Abtretung eines Landstriches, sei es Einräumung des
Besatzungsrechtes der Festungen und Häfen. Den Papst — es war Alexan¬
der VI., eine Creatur der spanischen Partei — warnte er, sich mit Karl ein¬
zulassen: auf's lebhafteste suchte er die Anlehnung an die Habsburgische Macht
zu gewinnen, durch die er schon in dem bretagnischen Kriege vorwärts ge¬
kommen war.
Ein verdecktes Spiel von Unterhandlungen allerwärts, eine stets offen
gehaltene Auswahl der verschiedensten Auswege — diese Merkmale charakteri-
Siren Ferdinand's Action in dieser so bedeutsamen Krise, Lange hatte er selbst
geschwankt ob Einvernehmen mit Karl oder Widerspruch gegen ihn rathsamer
wäre: wenigstens hat er über beides verhandelt. Oder wäre es nicht für
Spanien ein großer Gewinn gewesen, wenn es um den Preis einer zeitweili¬
gen Duldung der französischen Macht in Neapel Frankreichs Zustimmung zur
gewaltsamen Annexion von Navarra eingetauscht hätte? Lockend war diese
Aussicht: Ferdinand hat auch mit diesem Plane geliebkost. Zuletzt entschied
er sich doch für die andere Seite der gestellten Alternative. Und mit einer
in der That fast naiven Doppelzüngigkeit, mit einer meisterhaft gehandhabten
Interpretation brachte er es dahin, daß der heilige Vater, dem der spanische
Sohn ungeschmälerten Gehorsam gelobt und schuldig zu sein bekannte, um
Schutz gegen den Franzosen ihn anging. Aller Fesseln des Tractates von
Varcellona war er damit erledigt: Karl war es, der in ihnen sich verstrickt
Und festgefahren hatte. Ranke hat einmal früher sehr hübsch über diese Action
Ferdinand's geurtheilt in seiner feinen ironischen Weise: „Es ist nicht geradezu
Treulosigkeit, doch Treue ist's wahrhaftig auch nicht." Und bewunderns-
Werth ist die Kunst, mit welcher jetzt Ferdinand die große europäische Coali-
tion gegen Frankreich, als den europäischen Friedensstörer, in Scene gesetzt,
auf die Weltbühne herausgeführt und dort mit seinen verborgenen Fäden,
unsichtbar aber fühlbar, geleitet hat. Der wollüstige und doch so thatkräf¬
tige Vater der Christenheit, jener Alexander VI., und der ritterliche und doch
so spießbürgerliche Kaiser des Erdballes, jener edle Max von Oestreich —
nichts als Drathpuppen sind sie, von Ferdinand's geschickter Hand zum Reden
und Springen, zum Losschlagen und Stillstehen geleitet. Sein Werk ist es,
wenn 1496 fast ganz Europa gegen Karl VIII. aufstand und wenn der so
glorreiche Zug nach Neapel ohne jeden Erfolg für Frankreich armselig im
Sande verlief.
Ein greifbares Resultat für Spanien war allerdings dies Mal ebenso
Wenig eingeheimst worden, — aber der Rivale war mitten in der Ernte ge¬
stört, Ferdinand's Rechte und Chancen eines Erwerbes von Neapel waren
gewahrt, und seine Stellung unter den anderen Mächten hatte einen gewal¬
tigen Umschlag erfahren. Die nächsten Früchte der großen Coalition waren
die Ehebündnifse, die jetzt Ferdinand mit den Habsburgern und den Tudors
knüpfte: dynastische und politische Allianzen wurden zu gleicher Zeit in ihnen
besiegelt und bekräftigt. Nun stand Spanien im Mittelpunkte eines großen
Systemes, einer schönen Zukunft gewiß.
Wir bemerkten vorhin, wie im Kriege von 1489 und 1490 Ferdinand
"icht allzu große Anstrengungen gemacht für seine Verbündeten. Aehnlich
auch jetzt. Sobald erst 1496 die Resultatlosigkeit des französischen Unter¬
nehmens gegen Neapel für ihn feststand, erlahmte sein kriegerischer Eifer: den
vorher angekündigten Einfall in Frankreich unterließ er, diplomatische Mittel
dagegen bot er auf's neue auf, sich mit König Karl über ein Kompromiß zu
verständigen, das für Spanien reellen Gewinn sichere. Seine Politik zu ver¬
stehen, seine Action nicht in allzu lügnerischen Sinn zu deuten, müssen wir
uns stets seines Verhältnisses zu Neapel selbst erinnern. Niemals hatte er
die Spaltung des aragonischer Besitzes, die 14S8 eingetreten, als eine defini¬
tive angesehen, niemals die Herrschaftsrechte der Krone Aragon über Sicilien
und Neapel rückhaltlos aufgegeben: den Rückfall dieser Provinzen an Aragon,
auf welchem Wege auch immer, hatte er stets im Auge behalten: jene Für¬
sten, die Bastarde des Hauses, hatte er doch nur vorläufig als factische Herren
dort geduldet — das Haupt der Familie, dem die oberste Entscheidung und
oberste Herrschaft in allen Theilen des Gesammtbesitzes gebühre, war und
blieb er. Fassen wir diesen Gedanken auf, so erscheint vielleicht Ferdinand's
Verhalten in etwas milderem Lichte. Wir entschuldigen und entlasten seine
Politik nicht von dem Vorwurfe schroffsten Parteiwechsels und rücksichtsloser
Beraubung der Vettern, aber wir verstehen doch nun besser, welche politi¬
schen Motive seiner doppelseitigen Action zu Grunde gelegen.
Noch vor dem Abschlüsse eines Waffenstillstandes der kriegführenden Par¬
teien hatte 1497 Ferdinand die Idee angeregt, daß zwischen den beiden Prä¬
tendenten, Spanien und Frankreich, vielleicht Neapel gütlich getheilt werden
könnte. Man unterhandelte darüber lebhaft: doch ehe man dies Compromiß
gefunden, starb Karl VIII. im April 1498. Eine Aenderung der französischen
Politik hatte dies nicht zur Folge; auch der Nachfolger Ludwig XII. hielt
an den italienischen Eroberungsgedanken fest, und auch auf Mailand als
Nachkomme einer Visconti erhob er Ansprüche. Neue Störungen in Italien
waren vorauszusehen. Kaiser Maximilian wollte die Hoheit des deutschen
Reiches mit neuer Kraft in Italien geltend machen. Der Papst und die Bor-
gia's strebten nach unabhängigem fürstlichem Besitze; auf Neapel hatten auch
sie ihr Auge geworfen: von allen Seiten war alles in Italien unsicher und
schwankend.
Da geschah es nun, daß der Gedanke einer freundschaftlichen Lösung
aller dieser Wirren, wie ihn 1497 Ferdinand angeregt hatte, bei Ludwig XII-
Wurzel faßte und bestimmtere Gestalt annahm. Nach und nach einigten sich
Ludwig und Ferdinand; und wie sie im November 1300 einig geworden,
schritten sie ohne Scheu oder Scham zu rascher That. Neapel wurde im
Jahre 1301 besetzt, der schwache König Federigo vertrieben. Spaniens Schutz,
den er anrief, enthüllte sich als Einverständnis) mit dem Angreifer. Die
Beute wurde getheilt. Ludwig und Ferdinand fügten ein jeder seiner Krone
ein Stück des Königreiches Neapel hinzu.
Europa mußte dies seltsame Schauspiel geschehen lassen. Zwei der größe-
ren Mächte hatten nach ihrer Convenienz den Besitz eines kleineren Fürsten
unter sich völlig getheilt. Ueber den Schwächeren waren ganz unprovocirt
die Stärkeren hergefallen und hatten ihn sich unterworfen.
War das ein Resultat, das Bestand haben konnte, mit dem Ferdinand
sich begnügen durfte? Nicht lange dauerte der Friede und die Freundschaft.
Die Spanier wußten es einzurichten, daß sie in Neapel das numerische Ueber¬
gewicht über die französischen Truppen erlangten: ihr erster Feldherr, Gonzalo
de Cordova, führte den Befehl. Eine Zeit lang stand man ruhig neben ein¬
ander; inzwischen bereitete man die Lösung mit großer Umsicht und Behut¬
samkeit vor. Plötzlich gab es Streit zwischen den Soldaten der beiden Na¬
tionen: den Anlaß benutzten die Spanier: trotz tapferster Gegenwehr schlugen
sie die Franzosen zum Lande hinaus und überwältigten auch den Rest des
Königreiches, der ihnen bis dahin gefehlt. Und Ferdinand ist nun auch Kö¬
nig der beiden Sicilien geblieben; trotz der baroken Weise seines Eintrittes,
trotz der naiven Brutalität gegen seinen Mitbesitzer hat seine Herrschaft sich
behauptet: Frankreich hat in die vollendete Thatsache später sich zu fügen
gehabt.
Es ist gar nicht zu verkennen, diese Annexion von Süditalien an das
spanische Reich ist vornehmlich durch die persönliche Geschicklichkeit Ferdinand's
Zu Wege gebracht. Indem er jede Gelegenheit, die sich bot, ausnutzte, indem
er jedes verfügbare Mittel ganz rücksichtslos verwerthete, hat er diesen Macht-
Suwachs Spaniens vollendet. Wie er dabei im einzelnen Augenblicke die
europäischen Gegensätze und Rivalitäten sich dienstbar gemacht, dies ist hier
aus einander zu setzen nicht möglich — im großen haben wir die Richtungen
bezeichnet, innerhalb deren er agirt, und die Mittel angedeutet, mit denen
^ operirt.
Auf der heimischen Halbinsel war inzwischen die Verschmelzung Castiliens
Und Aragons zu einer politischen Einheit mächtig gefördert, ein spanisches
^ationalgefühl in den Kriegen gegen Granada und Frankreich und in Ita¬
lien, in den beutereichen Seefahrten über's Weltmeer erwacht und gehoben.
Was diesseit der Pyrenäen noch selbstständig war, durfte man hoffen auch
Uvah hinzuzugewinnen. Navarra war keinen Augenblick vor drohendem Ueber-
fall sicher-, ewe spanische Partei wurde daselbst von den Spaniern fortwährend
Unterhalten und gefördert. Mit Portugal stand es etwas anders: an eine
Eroberung dieses Königreiches war nicht zu denken, aber die vielfache und
Ununterbrochene Verflechtung der portugiesischen mit der spanischen Geschichte
^atte bis dahin innere Schwierigkeiten einer Bereinigung nicht geschaffen,
^ut wenn dies neue Spanien selbst durch dynastische Allianzen allmcilig sich
^bildet, so lag doch auch der Gedanke nahe, durch ähnliche Vorkehrungen
^ der nächsten Generation vielleicht das pyrenäische Reich zu vollenden.
Der nächste Erbe der katholischen Könige war ihr einziger Sohn, Juan,
ein sehr schwächlicher Jüngling, den die Aeltern 1497 schon im 19. Lebens¬
jahre mit der Habsburgischen Prinzessin Margarethe vermählt: die Besorgniß
war alle die Zeit vorhanden, daß er eines längern Lebens nicht genießen
werde. Und so kam es auch: wenige Monate nach der Hochzeit war er eine
Leiche. Was man längst schon bedacht und berechnet, als Grundlage der
Zukunftsideen für wahrscheinlich gehalten, das war jetzt eingetreten: die neue
Monarchie war ohne männlichen Erben. Die Könige hatten noch vier Töchter;
in Voraussicht dieses traurigen Falles hatten sie nun ihr ältestes Kind, Jsa-
bella, mit dem portugiesischen Thronerben schon 1490 verheirathet. Auch
dies wurde durch einen Todesfall gestört, der portugiesische Prinz starb und
1495 kam Portugal an einen anderen Prinzen, Manuel. Der bewarb sich
um die Hand der jungen Wittwe Jsabella; sie sträubte sich lange heftig ge¬
gen eine zweite Ehe: endlich, wenige Tage vor dem Tode ihres Bruders
Juan, als seine Krankheit immer wahrscheinlicher sie selbst zur Thronerbin
designirte, gab sie nach. Und so schien es nach dem Tode Juan's als ob
dereinst Spanien und Portugal unter Manuel dem Großen und Jsabella
zusammenwachsen würden, wie vordem Castilien und Aragon es widerfahren.
Diesem Paare wurde von den spanischen Ständen schon gehuldigt: der frohe-
sten Zuversicht gab man sich hin, als die Hoffnungen aus Sprossen dieses ge¬
segneten Bundes bekannt wurden. Nein, unerbittliches Unglück verfolgte die
portugiesische Combination. Eine Stunde nach der Geburt eines Sohnes,
Miguel, starb Jsabella. Miguel war es nun, der auf sich die spanischen
und portugiesischen Erbrechte vereinigte. Auch ihm wurde der Eid von den
Cortes schon geleistet. Aber eine neue Niederlage dieser Hoffnungen und Ent¬
würfe blieb nicht aus. Im Spätsommer 1500 starb der kleine Knabe. Und
was Ferdinand zum Heile der Halbinsel ersonnen, war nun zunächst ganz
außer Frage. Erbberechtigt war nun die zweite Tochter, Juana, welche mit
dem Habsburgischen Erzherzoge, dem Sohne des Kaisers Max, vermählt war:
sie oder ihr ältestes Kind mußte in Zukunft hier eintreten; einen Sohn hatte
sie damals — Karl — der ja später wirklich der Erbe geworden ist. Jedoch
vielleicht würde auch sie oder ihr Sohn frühzeitig sterben? Diesen Gedanken
scheint man damals nicht als unwahrscheinlich abgewiesen zu haben; und auf
welcher Linie Ferdinand's Entwürfe sich in diesem Falle bewegten, das noch"
ten wir darin angedeutet sehen, daß sofort nach des kleinen Miguel Tode
Verhandlungen über eine neue Ehe des portugiesischen Manuel mit der dritten
Tochter, Maria, eröffnet wurden: schon nach wenigen Wochen fand die Hoch'
zeit statt, welche eventuell der portugiesischen Vereinigung eine neue Möglich'
keit bereitete. Kurz, was in Ferdinand's Macht stand, hat er gethan, das
Phrenäische Reich herbeizuführen —- den Tod seiner Kinder und Enkel zu
hindern, war er nicht Meister.
Damals, an der Schwelle des neuen Jahrhunderts, waren schon ganz
neue Combinationen in der politischen Welt aufgetaucht. Der große Um¬
schwung in der Gesammtlage Europa's hatte'sich damals schon angedeutet:
die großen politischen Ereignisse des sechszehnten Jahrhunderts haben gleich
in die ersten Anfänge ihre Schatten hineinfallen lassen. Bisher hatte über
Europa die französische Herrschaft als drohende Wolke sich gezeigt, — jetzt
trat der ungeheuere Koloß der habsburgischen Weltmonarchie aus dem Reiche
der Träume und Phantasien in die Wirklichkeit unheilschwanger hinein. Bis¬
her hatten dem Habsburgischen Projectenmacher, Kaiser Maximilian I., die
Mittel gefehlt, seine ungeheuerlichen Eroberungs- und Herrschaftsgelüste zu
verwirklichen; bisher hatte gerade der Gegensatz zwischen seinen Plänen und
seinen Machtmitteln den römischen Kaiser in etwas zweifelhafter, grotesker
Beleuchtung gezeigt: das war nun doch ganz anders. Wenn wirklich zu dem
Besitze der Niederlande und der östreichischen Herzogthümer, zu den mit hef¬
tigem Verlangen umworbener ungarischen und böhmischen Kronen, zu allen
den Ansprüchen und Forderungen auf die Schweiz, auf Italien, auf Bur¬
gund , — wenn wirklich zu allem diesem Habsburgischen Zukunftsmateriale die
solide, kräftige, leistungsfähige und in nationaler Kraft sich entfaltende spa¬
nische Monarchie hinzugebracht werden sollte, dann in der That schien die
Universalmonarchie in Fleisch und Blut sich darstellen zu können, und jeden¬
falls die Hegemonie in Europa an das Habsburgische Reich übergehen zu
Müssen. Und seit dem Spätsommer 1500, seit Juana die spanische Erbin
geworden, stand diese Zukunft in Aussicht.
Dies Ende hatte Ferdinand der Habsburgischen Ehe nicht vorgezeichnet
gehabt. Er hatte nicht die Vereinigung der Häuser Habsburg und Spanien
w einem Haupte, sondern allein ein politisches Bündniß der beiden gegen die
französischen Uebergriffe erstrebt: von jeder Intimität mit Max hatte er sich
weislich fern gehalten; wiederholt hatte er ihn benutzt, und wiederholt auch
die Verbindung mit ihm gelockert und durch Kompromisse mit Frankreich vor¬
wärts gearbeitet. Auch jetzt, nach 1500, schloß er sich nicht unbedingt an
d'e Wünsche der Habsburger an; und mehr wie einmal sind Ferdinand und
Max auf dem Punkte gewesen, offen mit einander zu brechen und in feind¬
lichem Zusammenstoße die dereinst zur Gemeinsamkeit bestimmten Staatswesen
f^es versuchen zu lassen.'
Gegen die Erbfolge Juanas war nichts zu machen: als eine gegebene
^röße mußte Ferdinand sie acceptiren. Im Jahre 1502 kamen Juana und
Gemahl, der Erzherzog Philipp, nach Spanien und nahmen die Erbhul-
^gnug der Cortes des Landes entgegen. Ob Ferdinand wohl in dieser Zeit
versucht, den Sinn seines Schwiegersohnes sich zu gewinnen und ihn für die
spanischen Gesichtspunkte zu formen? Wir wissen es nicht, aber als Ver¬
muthung dürfen wir es aussprechen und für wahrscheinlich halten. Jeden¬
falls hat Philipp sich nicht als Werkzeug Ferdinand's wollen behandeln lassen
und hat nachher offene Feindschaft nicht gescheut.
Nicht bis zum Ende sollte die so segensreiche und erfolggekrönte Regie¬
rung der katholischen Könige als gemeinsame fortdauern: schon 1504 starb
Königin Jsabella, zwölf Jahre vor ihrem Gatten, auf's heftigste von ihrer
Nation betrauert.
Eine eigenthümliche Verwicklung in Spaniens Zuständen rief ihr Tod
hervor. Die Krone von Castilien war nun erledigt, Ferdinand von Aragon
— wir erinnern an die frühere Bemerkung, daß er nur als Rathgeber der
Frau in Castilien gewirkt, daß formell die Selbstständigkeit der Kronen hatte
beibehalten werden müssen — Ferdinand hatte nun in Castilien nichts mehr
zu befehlen. König von Castilien war jetzt Juana, das heißt, das Habsbur¬
gische Regiment, die Habsburgische Politik mußte in die inneren Zustände der
Halbinsel eingreifen. Juana selbst litt an geistiger Störung, und war per¬
sönlich zur Führung der Geschäfte unfähig.
Wenn daher die factische Negierung Philipp's die Folge sein mußte, so
hatte Königin Jsabella, dieser Wendung vorzubeugen, angeordnet: bei Ver¬
hinderung ihrer Tochter solle Ferdinand die Regentschaft übernehmen; und
die caflilischen Cortes hatten diese Anordnung ratificirt. Aber Philipp erhob
Einsprache. Hin und her wurde verhandelt und gestritten — zuletzt mußte
Ferdinand sich fügen: im Sommer 1506 räumte er das Feld, ging nach Ara¬
gon und Neapel, zunächst ganz aus dem Wege zu sein. Seine Hoffnung
war, daß die unsinnige Wirthschaft der niederländischen Umgebung Philipp's
Unruhen in Castilien erzeugen würde, durch die seine Rückberufung ermög¬
licht werden könnte. Ehe dies zur That gereift, plötzlich im September 1306
starb Philipp, zum großen Glücke für Ferdinand und Spanien. Die Habs¬
burgische Episode war einstweilen ausgespielt und seit Juli 1507 hatte die
Zügel in Castilien wie in Aragon wieder Ferdinand gemeinschaftlich in der
Hand, dort als Vormund seiner kranken Tochter und seines unmündigen
Enkels, hier aus eigenem Rechte wie früher. In den alten Bahnen ging die
Entwicklung jetzt ungestört wieder vorwärts.
Und noch einen großen bleibenden Erfolg für Spaniens Zukunft haben
die Annalen seiner Geschichte verzeichnet. Die seit seinem Regierungsantritt
so consequent gewünschte Abrundung nach Norden fand er Gelegenheit noch
durchzusetzen. Nachdem er seit 1S06 eine Zeit lang in freundlichen Bespre¬
chungen und Verhandlungen mit der rivalisirenden französischen Macht sich
bewegt hatte (wir werden sogleich das Thema derselben bezeichnen), brachte
er 1511 in ähnlich geschickter Weise, wie schon einmal 149«, eine neue allge¬
meine Coalition gegen Frankreich zu Stande, um Ludwigs XII. das Gleich,
gewicht störende italienische Politik zu bestreiten. Auf dem Boden Italiens
erfochten die Spanier dies Mal weniger Lorbeeren, — es war gar nicht
Ferdinands Absicht dorthin auf entscheidende Schläge oder schnelle Resultate
gerichtet — das Gut, dessen Besitz ihn reizte, lag vielmehr an der spanisch¬
französischen Grenze, es war das oft begehrte Navarra. Gestützt auf eine
Päpstliche Bulle wider des Franzosenkönigs Helfer, gleichsam als Vollstrecker
eines himmlischen Urtheilsspruches, in mitten dieses die Franzosen vollauf be¬
schäftigenden Krieges ließ er in Navarra seine Truppen einbrechen und das
Land besetzen. Nachher hat er es behauptet und bis in die Pyrenäen die
Grenze gegen Frankreich vorgeschoben. Die Annexion des spanischen Navarra
ist eine vollendete Thatsache geblieben.
Bis zu seinem Tode hatte also Ferdinand die spanischen Geschicke noch in
seiner Hand. Und später mußte einer seiner Enkel — außer Karl, hatte Juana
ILOZ in Spanien noch einen zweiten Sohn geboren, Ferdinand — die beiden
Kronen von Castilien und Aragon, nebst Navarra und Gra-nada, ungetheilt
empfangen: die spanische Monarchie in ihrer einheitlichen Gestaltung mußte
ünmer mehr das vorzüglichste Resultat dieser Epoche der katholischen Könige
werden.
Weniger klar und einfach gestalteten sich die italischen Verhältnisse. Wir
sahen. Neapel war glücklich gewonnen und einstweilen bei der spanischen
Krone verblieben. Dagegen war das Herzogthum Mailand, also die Herr¬
schaft über Norditalien, noch immer ein Besitz, den alle Welt begehrte und
dessen Zukunft Ferdinand nicht gleichgültig bleiben konnte: solange die fran¬
zösischen Ansprüche auf Mailand aufrecht erhalten wurden, war auch Neapel
der spanischen Hand nicht gesichert. Mit wechselndem Glücke, aber mit hart¬
näckigem Entschlüsse strebten die Franzosen und die Habsburger sich in den
besitz Mailands zu setzen. Jtalische Patrioten und italische Prätendenten
hofften als unabhängigen italischen Staat es erhalten zu können: militärische
und diplomatische Feldzüge sind vierzig Jahre hindurch um Mailand geführt
Worden : bunteren Wechsel seiner Herrscher hat dies lombardische Land niemals
gesehen. Ferdinand von Spanien hat nun — soweit wir wenigstens aus
seinen einzelnen Akten seinen Grundgedanken zu verstehen im Stande sind —
von dem Augenblicke an, daß die Zukunft des habsburgisch - spanischen Ge-
sammtreicheö in Aussicht stand, seinerseits einen eigenen Gedanken verfolgt,
der als Basis eines Comprvmisses zwischen den Parteien aufgestellt zu werden
verdiente und in der That als eine glückliche Lösung dieser Verwicklungen
und Differenzen auch von uns bezeichnet werden muß. Ueber seinen Plan
verhandelte er mit Frankreich 1303—1509, und auch 1513 nahm er ihn
wieder auf: oft nur in Andeutungen, oft auf verhüllenden Umwegen, von
den verschiedensten Ausgangspunkten aus, ist das immer der Mittelpunkt
seiner Combinationen, daß die Habsburgischen und die französischen Ansprüche
in einem Ehepaare zusammengelegt werden sollen, dem die beiden Rivalen
freundlich gesinnt wären und an dessen Entwickelung beide Seiten Interesse
besäßen. Die ungeheuere Machtanhäufung in einem einzigen Habsburger,
welche Kaiser Max sich zum Ziele gesetzt, wünschte Ferdinand zu vermeiden:
er schlug vor, dem jüngeren Enkel Ferdinand Mailand zu verleihen und ihn
dann mit einer französischen Prinzessin zu verheirathern er selbst zeigte an,
daß er daran denke, diesem Paare Neapel zu geben. In diesem Gedanken¬
kreise entsprang auch die Differenz, in der er sich Max gegenüber wegen der
Vertheilung der gemeinschaftlichen Ländermassen befand. Max ließ sich nicht
davon abbringen, daß alle die Länder, so verschieden auch ihre Nationalität,
ihr Charakter, ihre Zustände sein möchten, auf den ältesten Enkel Karl ver¬
erbt werden müßten. Ferdinand wünschte Karl zum Herrn der Niederlande,
Oestreichs und der östlichen Königreiche, zum Kaiser von Deutschland bestimmt
zu sehen: dem jüngeren Bruder, Ferdinand, hatte er Ober- und Unteritalien
zuweisen und demselben auch die Negierung von Spanien übertragen wollen.
Allerdings, nicht die Einheit Spaniens brauchte er zu zerreißen, wenn er
Karls Macht von hier entfernen wollte; nein, dies Spanien, das Werk seines
Lebens, würde er gewiß nicht zerstören; — aber nach seinem Tode war ja
doch die Königin in Castilien wie in Aragon jene unglückliche Juana, und
zunächst noch nicht ihre Söhne; und war sie selbst unfähig zu regieren, so
mußte also für sie einer der Söhne Regent werden. Der Regel nach war na¬
türlich der ältere, Karl, der Vertreter seiner Mutter; aber war es nothwendig
dieser Regel zu folgen? Ferdinand meinte den jüngeren in Spanien gebo¬
renen und erzogenen Ferdinand vorziehen und ihm die Regentschaft testamen¬
tarisch übertragen zu sollen. Als Regent von Spanien, als König von Ne¬
apel, als Herzog von Mailand würde dieser Ferdinand seinem Bruder, dem
Kaiser Karl zur Seite getreten sein! Ein deutsch-niederländisches und ein
spanisch-italienisches Reich — darin summirt sich Ferdinand des Katholischen
Zukunftspolitik.
Der Historiker, der an der Geschichte des 16. Jahrhunderts diesen Ent¬
wurf messen will, wird nicht übersehen können, welche Vorzüge ihm vor dem
thatsächlichen Verlauf der Erbschaftsfrage beiwohnen: jene verhängnißvolle
Verkettung deutsch-niederländischer mit spanischen Gebieten, die so oft als
falsch erkannte und trotz besserer Einsicht beibehaltene Prämisse der Geschichte
des 16. Jahrhunderts, sie wäre gar nicht eingetreten und der nationale Ge¬
nius hier wie dort wäre durch unnatürliche Aufgaben nicht gehemmt und
verkrüppelt worden! Doch es ist unnütz diesem Gedanken heute nachzuhängen:
wir haben ihn ausgesprochen, um die Tragweite und den Inhalt der ferdi¬
nandischen Realpolitik recht scharf zu bezeichnen.
Kaiser Maximilian ließ sich nicht dafür gewinnen: am Gegensatze des
Habsburgischen zu dem spanischen Programme hielt er fest. Und Ferdinand
hat selbst sogar auf dem Todtenbette sich zu dem Habsburgischen Systeme
bekehren lassen. Der überwältigende Eindruck des französischen Kriegszuges
Franz I. ISIS zeigte die französische Uebermacht in so drohendem Lichte, daß
nöthig schien, alle entgegenstehenden Elemente auf's engste zusammenzu¬
binden. Die Habsburger hatten in Spanien selbst unter den Ministern Fer¬
dinands sich einen Anhang geschaffen, der Ferdinand bis zuletzt für die Habs¬
burgischen Interessen bearbeitete: in der letzten Krankheit war sein politischer
Geist erschüttert; wenige Tage vor seinem Tode stieß er sein früheres Testa¬
ment um: mit einem Zuge der Feder vernichtete er selbst, was er in den
letzten Jahren vorgebaut hatte: am 23. Januar 1S16 verschied er.
Der Habsburgische Karl trat nun in die spanische Erbschaft ein. Das
Fundament seiner europäischen Stellung ist die Monarchie der katholischen
Könige gewesen. Geld und Soldaten und Staatsmänner hat Spanien ihm
geliefert: und der spanische Geist ist der Kitt geworden, der die Theile seines
Reiches verbunden und die einzelnen Aufgaben seiner Negierung zu einem
Ganzen zusammengehalten.
Wir kamen Abends in Temi an, und freuten uns über das muntere
gewerbliche Leben, das noch immer in den Straßen währte; es schien gerade
Markttag zu sein. Des andern Morgens früh verließen wir den Geburts¬
ort des großen Historikers Tacitus, um den weltberühmten.Wasserfall des
^cuno zu besichtigen. Nahe bei der Stadt liegt eine große Eisenhütte, die
von Pius VI. im Jahre 1781 gegründet wurde und dazu dient, das Eisen,
das reichlich in den benachbarten Bergen, meist als Niederschlag ehemaliger
Seeen, gefunden wird, zu verarbeiten. Anfangs führte uns der Weg durch
Hecken, dann durch Oelpflanzungen, aus denen der gedehnte, recitative Wech¬
selgesang der Landleute zu uns herüberscholl. Der Berg wurde immer ma¬
lerischer, insofern er immer mehr sich in ein Thal hiueinschlang. Die obere
breite Landstraße, die ebenfalls von dem thatkräftigen Pius VI. angelegt wor¬
den, verspätten wir uns auf die Rückkehr. Als der Weg umbog, sahen wir
plötzlich vor uns im Grunde zwischen bräunlichem Terrain die gelblichen
Fluthen des Velino sich uns entgegenschlängeln, während rechts auf einer ab-
schüssigen Felshöhe höchst romantisch ein altes, verräuchertes Städtchen mit
wenigstens sechs Hänserschichten übereinander, mit ausgehängter Wäsche, dazwi¬
schen wieder Oliven und Cypressen thronte, und uns zum ersten Mal den
Anblick eines ächten römischen Bergstädtchens mit seinem Schmutz und Ver¬
fall gab. Auch die Einwohner hatten ein für uns ganz neues Gepräge; bis
nach Assisi hin noch der lebhafte, muntere Geist, der zumal dem Toskaner
eigen ist, hier mit einemmal ein trägerer Gang, ein stumpferer Blick, ein mehr
verwahrlostes Aeußere; aber zugleich auch üppiger und mächtiger entwickelte
Formen statt der sehnigen Schlankheit des Toskaners und Umbriers. Ein
Führer gesellte sich zu uns und führte uns Angesichts der rosig von der Sonne
beleuchteten Berge den schmalen Pfad zwischen dem Tuffgeröll des Thales
hin. Die Tuffsteine sind hier von zweierlei Art, einmal tropfsteinartig,
sodann compact, hell mit dunkleren Streifen. In vielen finden sich
Abdrücke von Besten, sowie von den Blättern der Pappel, Steineiche,
Buche und anderer Bäume. — Ein dumpfes Rauschen verkündigte uns
die Nähe des berühmten Falls; wir beschleunigten unsere Schritte. — Zu¬
erst trafen wir auf sein Vorspiel für uns, auf sein Nachspiel, wenn man sich
in den Lauf des Velino selbst versetzt, dem wir entgegengingen. Aus einem
Felsenschlunde sprudelte auf unerklärliche Weise mit großer Kraft ein mäch¬
tiger Wasserstrahl empor und schoß wie Pfeile oder Schlangen seine wei߬
schimmernden Fluthen über mächtige, abschüssig glatte Felsblöcke in das sich¬
rere Bett hinab. Wir klommen die steilen Tufffelsen dem Falle gegenüber hinan
und plötzlich enthüllte uns ein Vorsprung, der den Fall bis dahin verdeckt,
dessen ganze Majestät, indem uns gleichzeitig jedoch ein feiner und dichter
Sprühregen verhinderte, allzuschnell und vorwitzig unser Auge in die Reize
des erhabenen Naturschauspiels dringen zu lassen. Wir setzten uns an den
äußersten Rand des Felsens und staunten lange Zeit in völligem Selbst¬
vergessen in das unermüdliche, donnernde und schäumende, kühle und erregte
Leben der Natur hinein. Das Wasser stürzte mit toller Lust von der hohen
Wand hinab, zerstäubte in weißen feinen Staub, erregte unten im Kessel,
der es empfing, einen wahren Höllentcmz, Gischt und Donner, und stürmte dann
brausend weiter. Wir verließen die Stelle, wo Byron dem Fall des Velino
die Krone aller Wasserfälle zuerkannte, die er in seinem bewegten Leben ge¬
sehen, und kletterten hinüber auf den Vorsprung, wo Napoleon sich zu
seinem Privatgenuß einen steineren Pavillon dicht vor die donnernden Flu¬
chen hatte hinbauen lassen. Wie mag er hier, im Anblick der Majestät die¬
ses Falles, in der Werkstätte seines gewaltigen Geistes weltumstürzende Pläne
geschmiedet haben, während der feine Sprühregen sein erhitztes Antlitz kühlte.
Man möchte sich dort auf den Vorsprung setzen, wo keck ein Bäumchen in
die Höhe ragt, indeß zu beiden Seiten die Wassersäulen hinabschießen und
ihm nichts anhaben können. Auch dort oben am Rand, wo ahnungslos die
Fluthen ihrem jähen Fall sich entgegenstauen, wiegt sich eine Pinie sorglos
über dem Abgrund. Sie ist vielleicht eine späte Enkelin der Bäume, die
schon zu Roms Zeiten diesen Fall umgaben. Dem Römer werk ist auch
dieses Naturschauspiel! So wenig es den Anschein hat: dieser Fall ist ein
Bruder des Colosseums, des Mausoleum Hadriani, und anderer Bauten des
alten Rom, die noch jetzt der Welt imponiren. Denn auch der Sinn für die
Großartigkeit und Schönheit der Natur war den Römern so wenig fremd,
als irgend einem Volke, wenn auch allerdings zunächst landwirthschaftliche
Rücksichten die Ursache zur Erschaffung dieses Falles gewesen sind.
Der Velino entspringt an einem Hügel bei Torrita, wo sich ein Theil
der Quelle nach Westen, ein Theil nach Osten wendet, und eben den Velino
bildet. Während seines 97 Kilometer langen Laufes empfängt er das Was¬
ser des Lagolango, Lago Nipasottile, sowie des Flusses S. Susanna, die
beim Monte Terminillo vom ewigen Schnee einer der höchsten Appeninen-
spitzen sich nähren, und aus unterirdischen Grotten dem Flusse reichlich koh¬
lensauren Kalk zuführen. Durch die Ablagerungen desselben ist die ganze
Hochebene von Riedl entstanden, auf welcher die Stadt Riedl selbst liegt. —
In alter Zeit bildete der Fluß in dieser Ebene einen Sumpf, der die Gegend
ringsum verpestete, da er keinen Ausweg fand, die Felswand gegen die von
Nordosten in einem rechten Winkel zum Velino herkommende Nera vielmehr
sich immer höher emporthürmte, in Folge der Kalksinterablagerungen des
Flusses. Plinius sagt darüber z. B.: „I^vers illo NarmoiÄ vulgo uuncu-
VKWr yuig, ibi imvmor et s-^xum ereseit." Marcus Curius Denta¬
ls, der dreimal Consul gewesen war und als Besieger der Sabiner ge¬
feiert wurde, faßte den genialen Plan, den Sumpf trocken zu legen, indem
er Bahn durch die Kalkbank des Abhanges brach, und damit dem Velino
Wohl seinen ursprünglichen Lauf wiedergab, der jetzt in sein eigentliches Bett
zurücktrat und zu beiden Seiten Höhlen und Teiche als Andenken seiner
Überschwemmung zurückließ, — Das Thal Velinus blühte fortan wieder
so auf, daß ihm der Ehrentitel „Tempe" beigelegt wurde. —
Damit ist aber die Geschichte dieses Wasserfalles noch keineswegs, selbst
nicht in Bezug aus's Alterthum erschöpft. Tacitus berichtet uns, daß, als
zu Tiberius Zeiten der Tiber Rom überschwemmte, Atejus Capito und Lucius
Aruntius beauftragt wurden, eine Abhülfe dafür zu finden. Sie beantragten,
daß die Flüsse und See'n, durch welche der Tiber anwüchse, abgelenkt würden.
Dagegen widersetzten sich außer den Florentinern, die die Ablenkung der Chiana
in den Arno als ihr Verderben bezeichneten, auch die Bewohner von Rimini,
die dasselbe von der Nera (im Alterthum nar) behaupteten, sowie die Reati-
ner, welche erklärten, daß ihr Thal überschwemmt würde, wenn man den
Velinus bei seinem Einfluß in den nar verstopfte. Auf den Rath des Piso
wurde denn auch dieser Plan aufgegeben.
Aber selbst der Ausweg des M. Curius Dentatus hielt nicht auf ewig
vor. Im Flußbett des Velinus befanden sich zahlreiche Höhlen, die sich all-
mälig durch Niederschlag ausfüllten, so daß um's Jahr 1400 eine neue große
Überschwemmung des Velino eintrat. Die Nietiner legten daher einen neuen
Kanal an, geriethen aber dadurch mit den Ternianern in Conflict, weil sie
sich nicht vorher mit denselben darüber vereinigt hatten, und diesen doch der
Bezirk der Marmore gehörte. Der Condottiere Brannio Fortebraccio führte
deßhalb in Auftrag der Ternianer einen neuen Kanal aus, den er durch einen
Wachtthurm von dem berühmten Ingenieur Aristoteles von Bologna befesti¬
gen ließ. Als aber bald darauf in Rom eine neue Überschwemmung eintrat,
so maß man die Schuld dem Brannio bei, der sich durch den verstärkten Zu¬
fluß zum Tiber an Rom hätte rächen wollen, von wo er kurz vorher ver¬
trieben worden. — Aber auch dem Velinothal selbst half der Kanal nicht viel,
indem bald darauf dasselbe von einer neuen Überschwemmung heimgesucht
wurde. Der Papst Paul III. beauftragte deßhalb den Architekten Antonio
ti San Gallo mit der Renovirung des Canals, der aber während der Arbeit
im Jahre 1546 starb. — Trotz dreier Emissäre, die dem Thale gegeben wor¬
den, blieb es sumpfig. Clemens VIII. nahm auf die Bitten der Reatiner
hin die Vertiefung des Canals von Dentatus in die Hand, und ließ sich
dafür von denselben jährlich ein halbes Pfund Gold für den Bau des S. Pe¬
ter bezahlen. Der Architekt Fontana führte zwei Wasserleitungen auf Bö¬
gen davon ab, in die Acqua Paolina und Clementina; aber bald darauf trat
eine neue Überschwemmung in Rom ein, wenn auch nicht von dorther.
Dagegen dienten die Wasserleitungsbögen den neapolitanischen Briganten zum
Uebertritt in römisches Gebiet, so daß eine Schutzmauer gegen dieselben er¬
richtet werden mußte.
Aber jetzt fingen die Bewohner des Nerathales mit Klagen an. Der
Velino füllte mit seinem Niederschlag auf das Bett der Nera, so daß diese
gestaut wurde und Überschwemmungen anrichtete. Pius VI. gab der An¬
gelegenheit endlich einen definitiven Abschluß, indem er den Zusammenfluß
beider Ströme weiter unten bewirkte, so daß der niederfallende Velino das
Bett der Nera nicht mehr verstopfen konnte.
Doch uns zog es mächtig nach Rom, wo wir gar bald durch eine drei¬
tägige, unerhörte Überschwemmung von der Nothwendigkeit noch mancher
andern Wasserbauten schlagend überzeugt, und auch zu einem näheren Stu¬
dium über die Beschaffenheit des Velinofalles mit veranlaßt wurden. Eine
Hauptursache der Tiberüberschwemmungen ist jedenfalls die gewissenlose Ab¬
Holzung der Berge um Rom herum, welche leider noch jetzt fortdauert und
wer weiß, wie lange schon gedauert haben mag. Hat man einmal durch
zahlreiche Wasserbauten Rom vor Überschwemmungen und das Land vor
Versumpfung und Fieberluft sicher gestellt, einem der Hauptschaden an Ita¬
liens Cultur, dann wird eine fleißigere Bodeneultur der üppigen Campagna,
und die Anlage von neuen Straßen und Gebäuden in ausgedehntem Maßstab
in der Stadt selbst, — Rom in jeder Beziehung zu einer der gro߬
artigsten und anziehendsten Hauptstädte der modernen Welt erheben. Und
wir zweifeln nicht, daß es in einigen Jahrzehnten dahin kommen wird, wenn
die Italiener in dem Eifer und dem Aufschwung fortfahren, der sie jetzt er¬
griffen zu haben scheint.
Unter den Creaturen. welche der liebe Herrgott in seiner unaussprechlichen
Gnade, oder in einer Anwandlung von Zorn in diese socialdemokratische
Welt gesetzt hat, befindet sich ein vierfüßiges Thierchen, das während der
Belagerung der großen Metropole der Franzosen einen nicht unbedeutenden
Ruf erlangt hat: ich meine die Ratte. Fern liegt mir, in die Geheimnisse
der Pariser Kochkunst eindringen zu wollen, und noch ferner bei den Scenen
zu verweilen, in denen jenes Geschöpf, nach allen Regeln der culinarischer
Wissenschaft zubereitet, eine Hauptrolle spielte. Gallische Zustände und gallische
Ratten sind so verzwickt, so schwer erforschlich, schwer verständlich, daß wir
scheu fern von ihnen bleiben. Es ist Altenglands, meri^ via Englands Ratte,
der diese Zeilen in tiefster Ehrfurcht gewidmet sind. Als wunderbare Mären
von Rattendincrs und Ratten-,,in;tit soupeis^ zu uns über den Canal dran¬
gen, als unsere Excentriks nach Ost- und West-Looe in Cornwall oder nach
Hanwell eilten, dem Paradies der englischen Feldratten, oder intime Be¬
kanntschaft mit den Rattenfängern der Kloaken von London machten, um sich
angelegentlich nach dem Geschmack und der regelrechten Zubereitung von Rost¬
rat und Ratsteak zu erkundigen, als der dreieinige Disraeli (Romanschreiber,
Preisschweinezüchter und Staatsmann) mit seinen essigsauren, gloryhungrigen
Tones, als die Herren Gladstone, Grandville u. Comp. mit ihren philosophisch
puritanerhaften Liberalen Deutschland und den Zar beim lebendigen Leibe zu
verschlingen drohten, als im High- und Lowlife Londons von nichts anderem
die Rede war, als von republikanischen Meetings und Anerkennung der nun
längst zur Mythe gewordenen Regierung des vom Himmel herabgestiegenen He¬
ros Gambetta, da erfaßte auch mich Deutschen das Nattensieber. In die City,
zu den Rattenfängern, die in traulicher Nähe der Rothschild, Baring u. Comp.
Hausen, eilte ich, um mit dem Geschöpf, das damals außer den Cloaken Lon¬
dons auch die Träume der Lords belebte, nähere Bekanntschaft machen. Doch
nicht als Wissender für Wissende schreibe ich; das Reich der Buffon, Cuvier
und Humboldt wage ich nicht zu betreten, in ihm bin ich Fremdling;
nur was ich über das Nimmersatte, alles zerstörende Geschlecht erfahren, ge¬
sehen, gehört, will ich mittheilen.
Die britische Landratte, um die es sich hier einzig und allein handelt,
zerfällt in zwei Arten, die schwarze Ratte (mus r^deus) und die braune Ratte
(mus (leeulmmu8). Erstere ist die nationale, autochthone, torystische Ratte;
hocharistvkratisches Blut fließt in ihren Adern, keine unter ihnen zählt weniger
denn tausend Ahnen, ihre Vorväter waren in Britannien das erste Raub¬
gesindel, das schamlos, alles was ihm vorkam, raubte, plünderte und fraß.
Die Andere ist ein Eindringling, deutscher Abkunft; die Legende sagt, daß
Wullenweber's Geist sie beseele: sie ist mit Leib und Seele ein Wigh, mit
den Hannoveranern kam sie, in Georg I. Suite befand sie sich. Als dieser
Monarch in königlicher Gondel vom Schiff an's Land gerudert und als König
von Parlaments Gnaden den Boden des vereinigten Königreichs betrat, so
nahm auch der braune Wanderer, schwimmend wie ein muthiger Soldat,
Besitz von Großbritannien und Irland, und herrscht seit dieser Zeit über alle
seines Geschlechts als unumschränkter Meister und Herr, die ganze Rattensippe
der britischen Inseln ist ihm Unterthan. Hermann Masius in seinen Natur-
Studien sagt vom Sperling: „er ist ein gemeiner Vogel, ein Proletarier mit
allen Listen und Lastern seines Geschlechts, Verachtung und Verfolgung sind
sein Erbe/' Nun, was der Sperling unter den Vögeln, das ist die Ratte
unter den Säugethieren. Nichts kann gemeiner, habsüchtiger, sittenloser, ge¬
fräßiger und fruchtbarer sein, als eine Ratte. Beobachte man das Thier nur
einmal im Palast, in der Hütte, in Küche und Keller, im Käseladen und
der Milchkammer, im Viehstall und den Cloaken, überall die gleiche, frech
proletarierhafte, kommunistisch diebische Habsucht, Gefräßigkeit und Gemein¬
heit. Wenn im Vollen, dann wählerisch, nur mit dem Besten zufrieden, ein
wahrhafter Gastronom, ein Sybarit, der feine Seide und weichen Sammet sehr
wohl vom harten Linnen und Stroh zu unterscheiden weiß. Wenn in beschränk¬
ten Umständen, in Armuth, dann mit jeder Nahrung zufrieden, die seinen
Magen stillen, seinen steten Heißhunger befriedigen kann, seien es nun Schuh¬
sohlen oder Koth. Doch im weichen Daunenbett wie in den Kloaken, dieselbe
Sorglosigkeit, dasselbe lazaronihafte Nichtsthun, dieselbe socialdemokratische
Plünderungssucht, als hätte sie Privatisfima bei den Internationalen gehört,
dieselbe cynische Schamlosigkeit, dieselbe Streit-, Zank- und Raufsucht. Wenn
nun auch ein Proletarier vom besten Schrot und Korn, so besitzt die Ratte
doch noch eine Menge Charaktereigenthümlichkeiten, die etwas Aristokratisches
an sich haben und die, will man das Thier recht kennen lernen, nicht über¬
sehen werden dürfen. Sie ist schlau wie der Fuchs, aber auch so geleckt wie
er, beharrlich und ausdauernd wie ein Pferd, geschickt wie ein Biber, behende
wie eine Katze, muthig wie ein Tiger, besonders wenn in Schaaren, todes¬
verachtend wie ein Löwe, und dann aus der anderen Seite, ein gemeiner Kan¬
nibale, ein Kindermörder, ein Zerstörer der eigenen Race. Wo immer der
Mensch haust, da findet sich die Ratte ein. um ihn zu bestehlen; wo eine
Hütte steht und eine Kornfeime daneben, da ist sie mit ihrem Gesinde!; nur
einen Ort besucht das gottlose Thier nicht: die Tempel und die Kirchen.
Wie schon oben angedeutet, gibt es in England zwei Arten von Ratten,
von denen die braune, nach Angabe des geistreichen, aber verbissen torystischen
Naturforschers Waterton mit der Dynastie Hannover nach England gekom¬
men sein soll, wo sie in unglaublich kurzer Zeit die einheimische schwarze auf
kannibalistische Weise, bis zur Ausrottung vertilgt habe. Es scheint jedoch,
als ob sich der edele Hochtory hier in einem zwiefachen Irrthum befinde.
Zwar ist wahr, daß die schwärze, bei weitem kleinere Ratte seit der Thron¬
besteigung Georg I. sehr selten in England geworden ist, doch von einem
gänzlichen Aussterben ist noch keine Rede, da man sie in der Umgegend des
Towers von London, in der Brauerei von Whitbread und in den Raffine¬
rien zu Whitechapel in großer Menge antrifft. Sie allein herrscht dort als
Meister und wehe der braunen Ratte, die es wagen sollte, sich dort blicken
zu lassen: mit vereinten Kräften würde der freche Eindringling Vertrieben oder
vertilgt werden. Was nun weiter die Angabe des „Auffressens" der Schwä¬
cheren betrifft, eine Angabe, die vielfach von Naturforschern Waterton nach¬
gesprochen ist, so muß auch diese in gelinden Zweifel gezogen werden. Kaum
darf man annehmen, daß die braune Ratte Millionen ihrer schwarzen Schwe¬
stern gefressen habe, um so mehr, da man weiß, daß es unter dem Ratten¬
geschlecht Sitte ist, alle Kranken und Alten der eignen Sippe zu verzehren.
Vielmehr ist- wahrscheinlich, daß die um ein Drittheil kleineren schwarzen
männlichen Thiere während der Brunstzeit von den großen braunen abge¬
bissen wurden, worauf die Sieger dann mit den schwarzen Damen davon¬
liefen, die nun in gegebener Zeit mit Halbblut niederkamen. Wenn dann
die junge Brut ihrerseits zur Maturität herangewachsen war, was in sieben
Monaten geschieht, so begatteten sie sich abermals mit den braunen, die Jun¬
gen wurden Heller und so fort während vieler Generationen, bis endlich die ganze
Brut aus Bollblutbraunen bestehen wird; während die schwarzen Ratten,
nachdem sie so lange, als die Natur ihnen erlaubt,' gelebt haben, zu eristiren
aufhören und so die Race allmälig ausstirbt. Hinsichtlich der Herkunft des
braunen wighistischen Eindringlings berichtet Dr. Carpenter in seiner Aus¬
gabe der Cuvier'schen Werke, daß die braune Ratte aus Persien stamme, wo
sie noch heute in Erdhöhlen Hause und erst 1737 in Folge eines Erdbebens
ihre Migration begonnen, die Wolga schwimmend überschritten und sich dann
über ganz Europa verbreitet habe. Krankheiten und Epidemien scheinen
nicht unter den englischen Ratten zu herrschen, ausgenommen eine, über welche
wir Menschenkinder so bitter zu klagen haben, die Freßsucht. Alle Ratten,
die uns zu Gesichte kommen, sind dick und fett und nichts deutet an ihnen
auf Krankheit. Nichts destoweniger sind sie die geschicktesten und durchgreifend¬
sten Allopathen der Welt, denn, sollten sie unter sich irgend ein Individuum
finden, das aussätzig, lendenlahm, oder mit irgend welcher Schwäche, möge
sie nun von Alter oder Krankheit herrühren, behaftet sei, so heilen sie alle
diese Krankheiten sofort dadurch, daß sie den Patienten mit Haut und Haar
verschlingen. Zu gleicher Zeit bilden die Ratten die friedlichste aller Republi¬
ken, denn sollte irgend ein innerer Streit, ein Kampf ausbrechen, so sammeln
sie sich um die Kämpfenden, und ohne Rücksicht auf Sieger oder Besiegten,
oder auf die Ursache des Streites, machen sie schnell der Fehde dadurch ein
Ende, daß sie die Duellanten in Stücke zerreißen und den Weg aller Speisen
wandeln lassen: auf diese Weise wird der Friede auf die schnellste und gründ¬
lichste Weise wieder hergestellt.
Die Zerstörungswuth der Ratte, ihre erstaunliche Fruchtbarkeit, ihre
Ubiquität, endlich ihre Hartnäckigkeit, da wieder aufzutauchen, wo sie vordem
schon gehaust, selbst auf die Gefahr hin, hier zerstört zu werden, alles dies
veranlaßte sicherlich die Vorsehung, ihr Feinde auf allen Seiten zu schaffen,
vom Menschen bis zum Reptil herab, um ihre Race in den gehörigen
Schranken zu halten. Mit einem Wort, die arme Ratte, obgleich sie als
Kloakenreiniger in London wie in Paris unschätzbare Dienste leistet, obgleich
sie, gleich anderen Geschöpfen, unzweifelhaft eine Mission zu erfüllen und eine
providentielle Nützlichkeit hat, findet nirgends auch nur ein Fünkchen von
Sympathie: welch eine Welt von Händen, Klauen und Schnäbeln sind wider
sie gekehrt! Sie wird verfolgt, wie Rom einen abtrünnigen Priester verfolgt,
ohne Gnade, ohne Barmherzigkeit. Doch das Compensationssystem eristirt
auch für die Ratte, wie für alle übrigen Creaturen. Umringt von Gefahren,
stets auf dem (jul-vivo, sollte man meinen, daß sie ein Leben voll fieber¬
hafter Unruhe führe. Bewahre! Dieselbe Vorsehung, die ihr Zähne gegeben,
ganz besonders geeignet für die Arbeit, welche sie zu vollbringen haben, hat
ihr auch einen Charakter verliehen, in voller Harmonie mit ihrem Loose.
Und sicherlich gibt es kein Thier, das ein sorgloseres, glücklicheres, indifferen¬
teres Aussehen hat, als die Ratte, wenn man sie aus der Ferne betrachtet.
In der Gefahr legt sie eine wahrhaft unglaubliche Kaltblütigkeit an den Tag,
gleichsam als wäre sie von dem Princip durchdrungen, uicht zu verzweifeln,
so lange noch ein Fünkchen von Leben übrig ist: bei solchen Gelegenheiten
entwickelt die Ratte einen hohen Grad von Schlauheit und bekundet einen an
Vernunft grenzenden Instinkt. Eine ganz eigenthümliche Thatsache ist, daß
männliche Ratten, wenn sie alt und verdrießlich werden, der Welt entsagen,
sich in die Einsamkeit zurückziehen und in voller Feindschaft und Widerwillen
mit ihrer ganzen Sippe leben. Auf diese Weise wird ihnen möglich, noch
längere Zeit am Leben zu bleiben und am Ende eines natürlichen Todes zu
sterben, wogegen, wenn sie unter den Ihrigen verblieben wären, sie beim er¬
sten Anfall von Podagra oder Schwäche gefressen sein würde. In dieser
beschaulichen Zurückgezogenheit erreichen sie oft in Folge des guten Lebens,
der geregelten Gewohnheiten und der ungestörten Nachtruhe eine übernatür¬
liche Größe und Dicke, sowie ein hohes Alter, und erweisen sich als äußerst
kräftige und entschiedene Gegner gegen jedes Thier, dem in den Sinn kommen
sollte, sie anzugreifen. Neben ihrer auffallenden Entschlossenheit und Wildheit
bei Vertheidigung ihres Lebens besitzt die Ratte, trotz ihres schwachen und
verächtlichen Aeußern. Anlagen und Neigungen, welche sie zu schlimmen Fein¬
den auch des Menschen machen. Die mitternächtlichen Einbrüche und Dieb¬
stähle, die in London alltäglich ausgeführt werden, sinken in nichtssagende
Unbedeutendheit, verglichen mit den Zerstörungen der Cloakratten, die sich in
einer Woche auf einen höheren Werth belaufen, als die jährlichen Annecti-
rungen der Oontlömon ok tlnz nigin. Ihren Tribut, den sie von England,
besonders in London fordern, übertrifft noch die Communalabgaben und die
Armensteuer, die doch bei der chaotischen Unordnung in der städtischen Ver¬
waltung an's Fabelhafte grenzen. Bekannt ist, daß schon im Anfang der
fünfziger Jahre bei einer großen Rattenjagd in den Cloaken von Paris, wäh¬
rend eines zweimonatlichen Treibens nahe an 600,000 getödtet wurden. Nun
darf man annehmen, daß kaum die Hälfte des Ungeziefers gefangen wurde,
demnach also 1,200,000 dieser Thiere unter Paris existirten. Eine gleiche,
wenn nicht doppelt große Anzahl wird in dem handeltreibenden London Hau¬
sen. Man berechne nun, daß zehn Ratten täglich nur ein Pfund Fleisch ver¬
zehren, was sehr wenig ist, so macht dies bei 600,000 Ratten 60,000 Pfund
Fleisch und bei 1,200.000 ungefähr 1S00 vollständige Ochsen pro Woche.
Doch diese Statistik hat für London sowie für Paris zwei Seiten. Wenn
man die Berechnung weiter treibt und annimmt, daß sämmtliche Ratten mit
einemmal abgethan wären, so findet man, daß jährlich 77,896 Ochsen oder
besser gesagt, 38,948 Tonnen animalische und vegetabilische Stoffe, die
aus den Häusern Londons in die Cloaken gespült werden, unvertilgt
bleiben, und so in Fäulniß und Gährung übergehen würden. Würde
nicht jedes Loch, jede Ecke in der großen Metropole mit schädlichen Dünsten
angefüllt sein und eine tödtliche Pestilenz über der Stadt hängen, gleich einem
Würgengel, der nichts verschont? Abgesehen aber von den Beschädigungen
der Gebäude, Zerstörung von Meubeln u. s. w, benagen die Ratten auch die
Extremitäten von Kindern, wenn diese im Schlaf liegen. Im letzten Winter
berichtete die hiesige Polizeizeitung mehrere wahrhaft gräßliche Beispiele von
Angriffen dieser Bestien auf Kinder und selbst auf erwachsene Personen. Diese
Beispiele könnten in's Unendliche ausgedehnt werden. Indessen, neben dieser
hyänenhaften Natur zeigt die Ratte auch wieder Züge von großer Sanftheit,
sowie sie sich, gleich Hund und Katze, an den Menschen gewöhnt. Es ist
mir in dieser Hinsicht ein Beispiel aus Thüringen erinnerlich, wo ein Land¬
wirth eine Ratte mit einem Naben und einer Katze, wenn ich nicht irre, als
Polizisten gegen das Ungeziefer in seinem Hause hielt. Der Engländer Jesse
und der Prediger Cotton wollen selbst gesehen haben, daß blinde Ratten von
ihren Kindern oder Freunden geführt wurden. Die Mutterliebe der Ratten
kann allen anderen Thieren als gutes Beispiel empfohlen werden, und weit
entfernt davon, unsaubere, verkommene Thiere zu sein, wie manche glauben
mögen, sind sie im Gegentheil aristokratisch in ihren Gewohnheiten und Ma¬
nieren. Sir W. Jardine in seiner trefflichen Naturgeschichte sagt: „die Ratte
ist ein sehr reinliches Thier, denn selbst, wenn sie in einem Graben ihr Ob¬
dach hat, oder in einer Kloake mitten unter Schmutz und Unrath, so bewahrt
sie sich doch beständig vor jeder Verunreinigung und die Feldratten haben sehr
häufig ein Fell von großer Schönheit." Dasselbe wird von den Pariser, Gre-
nobler und Londoner Handschuhmachern sehr gesucht, welche es zur Anfertigung
von Damenhandschuhen, besonders der Daumentheile benutzen; auch der Hut¬
macher verschmäht nicht die Nattenfelle, die bei ihm dann die Rolle von
Biberfellen spielen.
Am Schluß dieser kleinen Rattologic kann ich nicht umhin, auch noch
der Rattenfänger und der Rattenkämpfe zu gedenken. Mayhow gibt uns in
seinem berühmten Werke „Loulou lÄdour tua I^onäcm 1'vor die Resultate
seiner Nachforschungen betreffs der Nattenpits (Ort, wo die Rattenkämpfe statt¬
finden), und der Ratten welche jährlich dort umgebracht werden. Er sagt:
es gibt in London vierzig öffentliche Rattenvits, die hauptsächlichen in Bier¬
häusern (public IwriLW). In jedem derselben werden wöchentlich gegen zwan¬
zig getödtet, was gegen 1000 jährlich ausmacht, oder eine Gesammt-
summe von 54,080 Ratten, welche jährlich in den Rattenkämpfen fallen. Er
constatirt ferner, daß er aus ganz sicherer Quelle erfahren habe, daß jährlich
in den privaten und öffentlichen Kämpfen gegen 104,000 ihr Leben lassen
müssen. Hierbei muß bemerkt werden, daß fast sämmtliche Thiere Feldratten
find, Kloakratten werden wegen eines möglichen giftigen Bisses nur sehr
selten bei den Kämpfen zugelassen — die meistens von Gärtnern und kleinen
Farmern nach London gebracht werden. Londoner Rattenfänger gibt es etwa
fünfundzwanzig. Die Häupter unter ihnen sind die Herren Shaw und sadin
die sich rühmen, jeder jährlich zwischen 8-0000 Ratten zu fangen. Man
kann bei diesen Matadoren der Nattenfängerzunft 500—1000 Exemplare
zum Verkauf vorräthig finden und beide zahlen den Landleuten für den An¬
kauf derselben mehr als 200 Pfd. Sterl., also gegen 1400 Thlr. jährlich.
Zu weit würde hier sühren, wollten wir näher auf die Rattenkämpfe eingehen
und die Hunde und deren Dressur beschreiben, die in diesen Wettkämpfen neben
dem Frettchen eine Hauptrolle spielen.
Von den Provinzen ist Schottland, besonders in den kleinen Städten an
der Küste, wo" die rothen Heringe ausgenommen werden, von diesem Unge¬
ziefer überschwemmt. Hier leben sie zwischen Steinhaufen und in Felsenlöchern
am Meeresufer und kommen des Nachts in unzähligen Schaaren hervor, um
die stinkenden Fischüberreste zu fressen. Wenn die Fischzeit vorüber ist, so
ziehen diese Horden in dichten Massen davon. Einem Feinde gleich, der in
fremdes Gebiet einfällt, verbreiten sie sich über die Dörfer, Farmhäuser und
Korndiemen der Nachbarschaft; wenn aber die Zeit des Fischfanges wieder be¬
ginnt, fo erscheinen auch sie wieder an ihrer gewohnten Stätte, denn ihr
niemals irrender Jnstinct hat ihnen die rechte Zeit ihrer Ernte verkündet.
großer Anlage, bedeutenden Inhaltes, ausgezeichneter Ausführung verdient
wohl, daß an dieser Stelle die Leser darauf aufmerksam gemacht werden. Es
handelt sich um ein Werk, das nicht allein durch die solideste Forschung und
die durch und durch wissenschaftliche Natur der Grundlegung, sondern auch
durch die künstlerische Gestaltung und die Feinheit der Darstellung auf einen
allgemeinen Leserkreis berechnet ist.
Der Verfasser, Professor Karl von N vo rden, gehört zu den aller-
tüchtigsten unter der jüngeren Generation unserer Historiker. Kritische An¬
lagen, weite und erschöpfende Gesichtspunkte zeichnen auch seine Arbeiten in
mittelalterlicher Geschichte schon aus. Seit einer Reihe von Jahren hat er
dann der Geschichte des parlamentarischen England und seiner Politik in
europäischen Fragen seine Thäiigkeit zugewendet. Eine Reihe von Abhand¬
lungen sind ihm aus diesen Studien erwachsen (Zur Literatur und Geschichte
des englischen Selfgovernement — die parlamentarische Parteiregierung in
England — Ranke und Macaulay — die preußische Politik im spanischen
Erbfolgekrieg — der Rücktritt Pitts im Jahre 1801), welche alle in der von
H. v. Sybel herausgegebenen historischen Zeitschrift erschienen sind und zu
den besten Zierden derselben gehören. Als Privatdozent in Bonn war er
schon mit großem Erfolge thätig. Im Frühling 1868 in Greifswald zum
ordentlichen Professor der Geschichte ernannt, wurde der Verfasser im Som¬
mer 1870 zum Nachfolger von Reinhold Pauli auf dem Lehrstühle in
Marburg berufen. Und zu unseren wirksamsten akademischen Lehrern dür¬
fen wir ihn zählen. Was das Amt des historischen Lehrers auf den Univer¬
sitäten vornehmlich sein soll, auch die weiteren Kreise der Studirenden aller
Facultäten und Wissenszweige weiß Novrden durch seine Borträge anzuziehen
und zu fesseln: möchten aus solcher Arbeit ihm selbst und seinen Hörern die
segensreichen Früchte nicht ausbleiben!
Der erste Band, der bis jetzt vor uns liegt, kündigt sich an als den An¬
fang einer Darstellung des spanischen Erbfolgekrieges, welche selbst den Theil
eines größeren Ganzen bildet. Die europäischen Verhältnisse, die Fragen der
großen europäischen Gesammtpolitik sind es, welche den Gegenstand der Er¬
zählung ausmachen. Wir sehen dem Buche selbst an, daß der Verfasser
zuerst die englische Geschichte des 18. Jahrhunderts sich zum Vorwurf ge¬
wählt hatte. Die Grundlegung und erste Entwicklung des parlamentarischen
Staates in England war von Macaulay und von Ranke schon hin¬
reichend geschildert; unser Verfasser hat selbst in einer der oben genannten
Abhandlungen eine vergleichende Charakteristik der Leistungen beider großen
Historiker angestellt, die tiefgreifenden Schwächen und Fehler des Engländers,
seine Befangenheit in einer ganz unhistorischen Parteidoctrin, seine Verzer¬
rung und Fälschung der Geschichte scharf und schneidig gegeißelt, dagegen die
großen Vorzüge Ranke's mit Ruhe und Objectivität dargelegt, ohne sich zu
einem übertriebenen und maßlosen Loblied auf unseren deutschen Meister ver¬
führen zu lassen. Bekanntlich sind die beiden Werke an der Schwelle des
18. Jahrhunderts stehen geblieben. Zwar hat in England Earl Stan-
hope, der schon früher als Lord Mehon eine englische Geschichte von 1713
bis 1783 geschrieben, gleichsam zur Ausfüllung der Lücke zwischen Macaulay
und seinem früheren Buche kürzlich eine Geschichte der Königin Anna er¬
scheinen lassen, aber das ist eine sehr ungenügende, kaum mittelmäßig zu nen¬
nende Arbeit, die wir auf dem Continente ohne Schaden ganz unberücksichtigt
lassen dürfen. Es war noch eine offene Aufgabe, dort wo Ranke und Ma¬
caulay abbrechen, den Faden der Erzählung aufzunehmen und durch diejenige
Zeit hindurch weiter zu führen, in welcher das System des Parlamentaris¬
mus im Innern sich befestigt und Englands Machtstellung nach Außen sich
vollständig entwickelt hat. Aber der erste Plan der Arbeit hat sich doch bald
erweitert, und eine Geschichte der europäischen Verwicklungen, in denen Eng¬
lands Politik eine maßgebende Rolle gespielt, ist der eigentliche Inhalt des
Werkes geworden.
Mit einer gewissen Genugthuung dürfen wir darauf hinweisen, wie um¬
fassend unsere heutigen Historiker ihre Aufgabe sich zu stellen und in welchem
Umfange sie ihre Studien einzurichten pflegen. Von allen Seiten wird das
Material zu einer wissenschaftlichen Behandlung verwickelter Fragen herbei¬
geholt und nicht leicht eine wesentliche Aufschlüsse verheißende Fundgrube un¬
benutzt zur Seite gelassen. So hat auch Noorden die gesammte sehr weit¬
läufige gedruckte Literatur sich vollständig zusammengesucht und sie erschöpfend
benutzt; sodann hat er über die verschlungene diplomatische Action auch Zu¬
gang gesucht zu den für seine Zwecke wichtigsten Archiven von Holland, von
England und in Berlin. Er gibt selbst an, daß für die Fortsetzung seines
Geschichtswerkes auch die Pariser und Wiener Archive zu benutzen sein wer¬
den. Da er im Haag und in London in Besitz des wichtigsten Stoffes ge¬
langt zu sein hoffte, durfte er auf die späteren Bände die anderweitige
Forschung aufschieben. Man könnte immer denken, daß zu etwaigen Modi-
ficationen, vielleicht in Folge der Wiener Studien, sich Gelegenheit auch
später bieten werde.
Wer an dies großartig angelegte Werk herantritt, fühlt sich zunächst
dadurch freundlich berührt, daß eine breit ausgeführte Schilderung der Zu¬
stände, auf Grund derer die spätere Geschichte sich aufbaut, vorangeschickt ist.
Die materiellen Verhältnisse, Handel und Wandel, Landwirthschaft und In¬
dustrie, die geistigen Strömungen in Kirche und Staat, in Wissenschaft und
Literatur erfahren eine Skizze, welche die charakteristischen Züge des Zeitalters
in scharfen Umrissen heraustreten läßt. Der gewaltige Gegensatz der Inter¬
essen und Tendenzen von Frankreich einerseits und England-Holland andrer¬
seits ist klar dargelegt. Die Nothwendigkeit des Zusammenstoßes ist das
Ergebniß. Und die spanische Erbschaftscontroverse ist nicht sowohl Grund
und Ursache, als Anlaß und Vorwand dieses gewaltigen Krieges. Daß
eigentlich England und Holland, damals in engster politischer Verbindung
unter Wilhelm III., die Gegner Frankreichs gewesen, daß sie den Erbfolge¬
krieg eigentlich aufgenommen haben, mehr noch als das in seinen dynastischen
Wünschen durch Ludwig XIV. gestörte und verletzte Haus Habslmrg — dies
als das Motiv des Krieges wird mit überzeugenden Beweisen dargethan.
Indem Noorden bis in's Eiyzelnste hinein die diplomatischen Actionen vor
dem Kriege und in den ersten Kriegsjahren auseinanderlegt, weiß er durch
das sehr energische Festhalten der leitenden Gesichtspunkte seine Leser stets
in Spannung zu halten und auch für die diplomatischen Details zu inter-
essiren: die wirksam gewordenen Persönlichkeiten werden alle so gezeichnet, daß
eine ganze Gallerie historischer Charakterköpfe gewonnen wird, in denen die
biographische Kunst unseres Geschichtsschreibers sich hübsch zu entfalten Ge¬
legenheit hat. Königin Anna, Lord und Lady Marlborough, Godolphin,
besonders aber der mit großer Vorliebe behandelte Bolingbroke, Heinsius in
den Niederlanden, Prinz Eugen unter den Oestreichern — wer wird nicht
mit großem geistigem Genuß in der Anschauung dieser Figuren verweilen?
Die Verflechtung der persönlichen Tendenzen und Leidenschaften mit den sach¬
lichen Interessen der verschiedenen Staaten ist mit einer meisterhaften Deut¬
lichkeit herausgearbeitet; und gerade wenn wir solche Abschnitte dieses Buches
mit den correspondirenden Theilen in den englischen formell oft so blenden¬
den Geschichtsbüchern zusammenhalten, gerade dann zeigen sich die Vorzüge
dieses deutschen an Ranke's Muster gebildeten Historikers in dem glänzendsten
Lichte. Von aller Effecthascherei, allen den künstlich aufgesetzten Lichtern,
allen den außerhalb der Sache liegenden pikanten Seitenbemerkungen, von
allem diesem Aufputz, der uns auch bei den guten historischen Werken eng¬
lischer Literatur den Genuß stört -— von dergleichen hält Noorden sich rein.
Wir müssen sagen, mit dieser Leistung hat sich der Verfasser in die erste Reihe
unserer heutigen Geschichtschreiber hinaufgeschwungen; — möge er sich dort
behaupten und in den weitesten Kreisen unserer gebildeten Welt die ihm ge¬
bührende Achtung und Anerkennung sich erwerben.
Mit der diplomatischen geht die militärische Geschichte Hand in Hand:
die Feldzüge selbst werden so weit erzählt, als es zur Beurtheilung der Si¬
tuation nothwendig ist. Dem Leser werden von dem nichtmilitärischen Schrift¬
steller nicht ungebührlich viel militärische Details zugemuthet. Die lichtvolle
Erläuterung der handelspolitischen Situation ist ein Seitenstück zu der mili¬
tärischen Geschichte: der Verfasser zeigt, daß alles, was zu seiner Aufgabe
von kriegsgeschichtlicher und nationalökonomischer Seite beigebracht werden
kann, ihm geläufig ist; und seine Meisterschaft über den Stoff verräth sich
dabei in der maßvollen und übersichtlichen Auswahl der hierhin gehörenden
Details, in der Gruppirung der von anderen verwandten Wissenschaften ent¬
lehnten Kenntnisse.
Einfach und klar, überzeugend und logisch ist die Anordnung des Gan¬
zen: das Knochengerippe einer guten Disposition trägt die Ausführung des
Einzelnen. Mit sicherer Hand ist jedem Abschnitt und jedem Detail der ihm
gebührende Platz angewiesen. Dagegen dürfen wir eine Ausstellung nicht
unterdrücken, deren Vorhandensein leider zugegeben werden muß; und das ist
der unebene, wenig geglättete und gesellte Styl des Verfassers. Irren wir
nicht, so hängt dieser Mangel gerade mit einem Vorzuge seiner Natur zu¬
sammen. Der Gedankenreichthum des Verfassers, die Fülle von Beziehungen
und Anspielungen, die sich ihm unwillkürlich in seinen einzelnen Satz hinein¬
zudrängen scheinen, dürfte wohl der Grund davon sein, daß es bisweilen
schwer ist, in einem Zuge größere Partien zu lesen: wer die Mühe nicht
scheuet, manchen Satz zu wiederholen, der wird sich reichlich belohnt finden
durch die originellen und selbstständigen Jdeenverbindungen, die dann erst
recht sichtbar werden. Niemand sollte sich von der Lectüre des Buches durch
diese stylistischen Anstöße wegschrecken lassen: reiche Belehrung und unverhoff¬
ten Genuß aris ihm stehen wir nicht an zu garantiren. Möchte in der Fort¬
setzung seines Werkes, hoffentlich auch in zweiter Auflage des ersten Bandes
der geehrte Autor diese eine Schwäche zu beseitigen keine Mühe scheuen: so
wird er sein Werk zu einem ganz vollkommenen zu gestalten im Stande sein.
In dem Aufsatz „Der deutsche Reichskanzler und Herr Benedetti" haben
wir gezeigt, daß Fürst Bismarck, als er in seiner Note vom 29. Juli 1870
vertrauliche Verhandlungen mit dem Botschafter Frankreichs der Oeffentlichkeit
Preis gab, zu diesem ungewöhnlichen Schritt durch einen ebenso ungewöhn¬
lichen Stand der Nothwehr gezwungen war. Frankreich hatte an Preußen
und dessen Verbündete den Krieg erklärt aus Anlaß der politisch sehr harm¬
losen Präsentation eines Prinzen des fürstlichen Hauses Hohenzollern zum
spanischen Thron. Der Prinz hatte obendrein seine vorläufige Zustimmung
zu dieser Präsentation, welche die in Spanien interimistisch bestehende Regent¬
schaft an die Cortes zu bringen gedachte, bereits zurückgezogen auf die Nach¬
richt hin, welche Besorgnisse eine solche Aussicht in Frankreich errege. Eine
Kriegserklärung unter diesen Umständen erschien dem überraschten und betrof¬
fenen Europa als eine solche Ungeheuerlichkeit, daß die öffentliche Meinung
unwillkürlich nach geheimen Gründen suchte. In solchen Fällen wird nur
zu leicht der Unschuldige mit dem Schuldigen verwechselt. Die Verwirrung
der Gemüther, welche durch die plötzliche Nähe einer gewaltigen Katastrophe
entsteht, suchte die napoleonische Regierung zu benutzen und sich darzustellen
als befindlich im Stande der Vertheidigung gegenüber dem angeblichen Ehrgeiz
Preußens, der im Schilde führe, Frankreich im Rücken zu nehmen. Da war
es denn Zeit für den Leiter der deutschen Politik, mit den Beweisen nicht zu¬
rückzuhalten, aus welcher Seite ehrgeizige Anschläge gewesen, und wo das Be¬
streben zu Hause, die Grenzen der europäischen Staaten zu verrücken. Die
Wirkung dieser Beweise war die eines moralischen Donnerschlages. Die Augen
waren der Welt geöffnet, wo in dem ausbrechenden Kampfe der Angriff und
wo die Vertheidigung zu suchen, wo die Bedrohung der Nachbarn und wo
der Wille, die Verträge zu achten. Der Eindruck, welchen Europa, durch die
Enthüllung der napoleonischen Pläne empfangen, konnte auch durch die E»
eignisse des Krieges nicht ausgelöscht werden. Man sah in dem Besiegten
den gerecht Bestraften.
Wenn Fürst Bismarck in der Bedrängniß einer überraschenden und ge¬
fahrvollen Lage, unter dem Druck einer unerhört dreisten Beschuldigung den
wahren Sitz der Verschwörung gegen die Ruhe Europas durch die Bekannt¬
machung eines Stückes geheimer Verhandlungen kennzeichnete, so hat Graf
Benedetti, indem er in dem obengenannten Buch seinerseits eine Reihe ge¬
heimer Actenstücke der Oeffentlichkeit übergibt, keinen ähnlichen Entschuldigungs¬
grund. Der deutsche Kanzler gebrauchte die Veröffentlichung als Waffe der
Nothwehr für seinen Staat. Graf Benedetti gebraucht sie zum Schutz
seiner Person. Der ehemalige Botschafter zu Berlin erwähnt mehreremal,
wie ihm sehr wohl bewußt, daß eine solche Hervorziehung amtlicher Docu-
mente, die sich auf den geheimen Verkehr der Regierungen beziehen, allen gu¬
ten Regeln zuwider sei. Die außerordentliche Dringlichkeit aber, mit welcher
er eine Verletzung rechtfertigt, die sich durch ihre Folgen zu bestrafen pflegt,
zeigt er immer nur in den ungerechten Angriffen auf seine Person. Als ob
dem Staatsmanne, der diesen Namen verdient, an der eigenen Person etwas
liegen dürfte! Und diese ungerechten Angriffe, die Herr Benedetti erfährt, wo¬
rin bestehen sie? Er führt selbst an, man habe ihm nachgesagt, daß er seine
Regierung im Dunkeln gelassen über den Umfang der deutschen Streitkräfte,
über die schnelle Bereitschaft derselben, im Felde zu stehen, und dergl. mehr.
Als ob diese Anschuldigungen etwas anders enthielten, als das nichtigste
Zeitungsgeschwätz, als ob Herr Benedetti, selbst wenn dergleichen Behauptun¬
gen sich auf die Tribüne der französischen Volksvertretung mehr als einmal
verirrt haben sollten, das Urtheil darüber nicht mit größter Ruhe hätte der
Geschichte anheimstellen dürfen! Welcher ernsthafte Franzose wird bei einiger
Gemüthsruhe daran glauben, daß die französische Negierung vier Jahre nach
der Kraftentfaltung, deren Preußen sich im Jahre 18K6 fähig gezeigt, auf
Herrn Benedetti hätte warten müssen, um den Krieg, den sie gegen Deutsch¬
land unternahm, nicht für ein Kinderspiel zu halten? Zum Ueberfluß sind ja
die Berichte des technischen Beobachters der französischen Negierung, des Ba¬
ron stosset, längst gedruckt, um zu beweisen, daß man in Paris von'der
Stärke der deutschen Wehrverfassung nach allen Seiten unterrichtet war.
Wenn Herr Benedetti sein ungewöhnliches Verfahren, eine lange Reihe
geheimer amtlicher Berichte der Oeffentlichkeit zu übergeben, mit Vorwänden
von so offenbarer Nichtigkeit rechtfertigt, so entsteht naturgemäß die Frage
nach den wahren Beweggründen. Sollte Herr Benedetti allein deshalb diese
vielen geheimen Documente hervorgezogen haben, um sich unter dem Vorwand
einer überflüssigen Vertheidigung als glänzenden Beobachter und politischen
Propheten zu zeigen? Wir vermögen auch das kaum zu glauben. Das Ver¬
dienst der politischen Voraussicht schmilzt allzu sehr zusammen einem Staats¬
mann wie dem Fürsten Bismarck gegenüber, der gelegentlich seine Absichten
mit der rückhaltlosesten Offenheit enthüllt. Weiter aber hat Herr Benedetti
im Wesentlichen nichts berichtet, als was ihm der deutsche Kanzler nicht ver¬
barg oder was die sonstigen Umstände mit fast unzweifelhafter Deutlichkeit
vor Augen legten. Wenn Herr Benedetti blos darum sein Buch heraus¬
gegeben, um seinem eignen Ruhm ein unvergängliches Denkmal zu setzen, so
ist zu fürchten, daß die Anerkennung, dieses Ruhmestitels weder jemals weit¬
verbreitet noch ausdauernd sein wird.
Je aufmerksamer wir die vertraulichen Berichte, welche der französische
Botschafter an seine Regierung gesandt, mit allen jetzt zwischen dieselben ge¬
streuten Bemerkungen lesen, desto mehr prägt sich uns eine andere Hypothese
über den Beweggrund dieser Herausgabe ein. Herr Benedetti zeigt sich er¬
staunlich beflissen, den Leser zu überreden, daß er, der Botschafter, niemals das
unmittelbare Organ des Kaisers Napoleon gewesen. Nur mit den Ministern,
welche während der Sendung des Herrn Benedetti an den preußischen Hof
die auswärtigen Angelegenheiten Frankreichs leiteten, hat der Botschafter in
Beziehung gestanden, und von ihnen seine Weisungen empfangen, nur ihnen
seine Beobachtungen übermittelt. Nie haben der Kaiser und der Botschafter
über die Minister hinweg Gedanken getauscht, geschweige denn, daß der Bot¬
schafter jemals mit geheimen Verhandlungen ohne den Minister vorgegangen
sei. Er hat sich stets aufs Strengste in den Weisungen gehalten, die ihm
der Minister gab.
Sieht das nicht aus, als sollte vor Allem der Kaiser Napoleon aus dem
Spiel gebracht werden, als sollte alle Verantwortlichkeit für die Leitung der
auswärtigen Angelegenheiten in Frankreich auf die betreffenden Minister ge¬
worfen werden? Herr Benedetti versichert wiederholt, er habe nicht einmal
die Ehre gehabt, dem Kaiser jemals schriftlich oder mündlich seine Rathschläge
auf Grund der in Berlin gemachten Beobachtungen zu unterbreiten.
Die Frage indeß, wie sich der Antheil an den Früchten der auswärtigen
Politik Frankreichs in den letzten fünf Jahren des Kaiserreichs zwischen dem
Kaiser und seinen Ministern stellt, hat für den deutschen Leser vorläufig eine
untergeordnete Bedeutung. Die Geschichtsforschung mag einst dieser Frage
ihre Aufmerksamkeit zuwenden, und diese Darstellung des Herrn Benedetti
mag für die Entscheidung in Betracht kommen. Für jetzt ist es höchstens die
bonapartische Partei in Frankreich, welche ein gewisses Interesse darin finden
mag, die Last der Vorwürfe, unter welcher der Name Napoleon III. erliegt,
zu mindern.
Auch dieser Erfolg, wenn er in gewissen Kreisen des französischen Publi-
cums erreicht werden sollte, scheint ein so geringfügiger, daß um seinetwillen
die Veröffentlichung des Herrn Benedetti noch nicht völlig erklärbar wird. Auf
die Spur allerdings hat uns die sorgfältige Fernhaltung des Kaisers durch
Herrn Benedetti von den Einzelheiten der diplomatischen Action geführt, daß
die Schrift höchst wahrscheinlich ihren Ursprung hat in den Bedürfnissen der
napoleonischen Action auf die öffentliche Meinung. Wenn Herr Benedetti
die Gelegenheit benutzt, sich selbst in das möglichst vortheilhafte Licht zu stellen
und alle gegen ihn geschleuderten Vorwürfe möglichst zu entkräften, so ist
dies doch ein Zweck, der nur nebenbei, wenn auch mit allen Mitteln ver¬
folgt wird.
Der eigentliche Zweck der napoleonischen Politik aber, welcher das Buch
des Herrn Benedetti inspirirt hat, dürfte in der Abwendung der moralischen
Niederlage zu suchen sein, welche die Enthüllung der napoleonischen Anschläge
gegen Belgien dem Kaiser gebracht. Die Familie Bonaparte schmeichelt sich
mit dem Gedanken einer früheren oder späteren Rückkehr auf den Thron
Frankreichs. Das ist äußerst natürlich. Die bonapartische Politik rechnet
einstweilen weder in Petersburg noch in Wien noch in Rom d. i. in dem
Rom des Königs von Italien, darauf, Sympathien für ihre Wiederherstellung
zu finden. Sie rechnet und verrechnet sich vielleicht einstweilen nur noch mit
Sympathien, die sie in England glaubt finden zu können. Sie meint viel¬
leicht, der wiedergefundene Aneinanderschluß der continentalen Ostmächte be¬
dinge von selbst eine Wiederanlehnung Englands an Frankreich, wie in den
Zeiten Louis Philipps, und England wisse, daß England auf den Thron
Frankreichs sich keinen bessern Alliirten wünschen könne, als Napoleon III.'
oder seinen Nachfolger. Hat nicht Napoleon III. an Englands Seite im
Wesentlichen für Englands Interesse den Krimkrieg geführt?
Nichts aber hat die englischen Sympathien für Napoleon III. so stark
und so dauernd erkältet, als die Enthüllung seiner Anschläge auf Belgien.
Diese Enthüllung muß um jeden Preis ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Dies
ist eins der nächsten Gebote der napoleonischen Action. Der Herr und der
Diener treffen in ihrem Interesse hier lebhaft zusammen. Für den diploma¬
tischen Ruf des Grafen Benedetti war es ein tödtlicher Schlag, daß die Art
und Weise an den Tag gekommen, mit welcher er die Theilnahme an den
französischen Anschlägen auf Belgien hatte dem Fürsten Bismarck aufdringen
wollen. Der Herr und der Diener, so scheint es, haben gemeinschaftlich die
Actenstücke redigirt, deren Kundmachung den Herren befreien soll von dem
Verdacht abenteuerlichen Ehrgeizes, den Diener von dem Vorwurf täppischer
Ungeschicktheit.
Die Actenstücke konnten es freilich nicht allein thun, es mußte eine Fabel
hinzukommen. Als Fabeldichter indeß haben Herr und Diener kein bemer¬
kenswerthes Geschick gezeigt und die Gemeinsamkeit ihrer Autorschaft hat
nicht wie bei mancher französischen Fabel das Genie der Erfindung befruchtet.
Gleich nach der Note des deutschen Kanzlers vom 29. Juli 1870 versicherte
Herr Benedetti: der Belgien betreffende Vertragsentwurf sei ihm auf dem
Zimmer des Fürsten Bismarck von dem Letzteren in die Feder dictirt worden.
Etwas Besseres ist Herrn Benedetti auch heute noch nicht eingefallen. Ueber
den Werth des Einfalls aber hat das Gelächter der Welt gerichtet.
Der Einfall des Herrn Benedetti besagt, daß Fürst Bismarck dem fran¬
zösischen Botschafter ein Vertragsconeept dictirt hat, um es in den preußi¬
schen Archiven aufzubewahren. Seit wann lassen sich die Botschafter zu solchen
Diensten herbei? Seit wann ist das Papier der französischen Botschaft das
Conceptpapier des auswärtigen Amtes in Preußen? Wenn Herr Benedetti
wirklich jemals nach dem Dictat des Fürsten Bismarck geschrieben, so hätte
er es doch nur thun können, um den allfälligen Inhalt seiner, der franzö¬
sischen Regierung zu Gesicht zu bringen.
Noch größer womöglich ist die innere UnWahrscheinlichkeit der Benedetti'-
schen Fabel. Fürst Bismarck soll der napoleonischen Negierung den bewaff¬
neten Beistand Preußens zur Eroberung Belgiens aufgedrungen haben! Wer
möchte glauben, von allen neuerlichen Enthüllungen abgesehen, daß Napoleon III.
so etwas zurückgewiesen hätte, und wer möchte sich nur einen Augenblick
überreden, daß Fürst Bismarck ein solches Anerbieten gemacht? Zu welchem
Zweck, muß man doch fragen. Hat Fürst Bismarck nicht gezeigt, daß er die
Zwecke der deutschen Politik ohne Frankreich und gegen Frankreich zu erreichen
verstand? Waren diese Zwecke im August 1866, in welche Zeit Herr Bene¬
detti die Entstehung des fraglichen Vertragsentwurfes, jedenfalls ganz richtig
versetzt, nicht schon im Wesentlichen erreicht? Hatte Fürst Bismarck die Bünd-
nißverträge mit Süddeutschland nicht bereits abgeschlossen? Wäre es möglich,
daß er Belgien den Franzosen hätte ausliefern wollen, geschweige denn seine
starke Hand zu dieser Erwerbung leihen, um seinerseits nichts zu gewinnen,
als die Erlaubniß, Süddeutschland unter den erschwerenden Bedingungen des
Vertragsentwurfs an sich heranziehen zu dürfen, das er so zu sagen schon in
der Tasche hatte?
Betrachten wir nun, welche Mittel Herr Benedetti in feiner neuesten
Schrift anwendet, um allen diesen UnWahrscheinlichkeiten zu begegnen. Er
behandelt den Gegenstand in einem Capitel, welches die Ueberschrift führt:
„Die verschiedenen Vertragsentwürfe, welche den Gegenstand vertraulicher Unter¬
handlungen in Berlin gebildet haben." Auffällig ist zunächst, daß Herr Bene¬
detti den in der Circular-Depesche des deutschen Kanzlers vom 29. Juli 1870
wiedergegebenen Vertragsentwurf ganz mit Stillschweigen übergeht, welcher
im Jahre 1866 französischerseits zu der Zeit geplant wurde, als dem drohen¬
den Krieg zwischen Preußen und Oestreich durch eine europäische Konferenz
vorgebeugt werden sollte. In diesem Entwurf verlangte Frankreich das Gebiet
zwischen Rhein und Mosel gegen Zusicherung seines bewaffneten Beistandes
für Preußens Vergrößerung in Deutschland. Indessen mag Herr Benedetti
zu dieser Uebergehung die besten Gründe gehabt haben. Ihm liegt weit mehr,
wie es scheint, an der Entkräftung des Verdachtes französischer Anschläge
gegen Belgien. Zu diesem Zweck schafft der ehemalige Botschafter einen weit¬
läufigen Apparat herbei zur Begründung seiner Versicherung, die Pläne ge¬
gen Belgien kämen allein auf Rechnung des Fürsten Bismarck. Herr Bene¬
detti theilt zu diesem Zweck Berichte mit, die er im Juli 1866 aus dem
preußischen Feldlager nach Paris gesendet, in welchem die Rede ist von den
Erwerbungen, welche Preußen damals auf Kosten seiner besiegten Feinde in
Deutschland zu machen beabsichtigte, und welche Frankreich nur zulassen wollte,
wenn es seinerseits auf Kosten Deutschlands sich vergrößern dürfe. Da soll
Fürst Bismarck die Augen der Franzosen, wie schon bei früheren Gelegenheiten,
auf Belgien gelenkt haben. Dies der vornehmste Beweis des Herrn Benedetti.
Aber was beweist er in der That? Wir glaubeNj herzlich, gern, daß
Fürst Bismarck in der Nothlage, die Früchte der preußischen Siege auf dem
Schlachtfelde durch die Begehrlichkeit Frankreichs nach deutschem Boden schmä¬
lern lassen zu sollen, nach der vorläufigen Auskunft gegriffen hat, die begehr¬
lichen Blicke anderswo hinzulenken. Wer sagt nicht einem Räuber, den man
nicht gleich zu Boden schlagen kann: „Warum willst du just meine Schätze?
Die Welt hat so viel andere Schätze und viel schönere". Die Hauptsache ist,
daß Fürst Bismarck, wie Herr Benedetti selbst berichtet, diesem begreiflich
machte, wie Preußen nach einem glorreichen Siege am wenigsten in der Lage
sei, durch Frankreich deutsches Gebiet wegnehmen zu lassen. Daß Preußen,
im Felde gegen Oestreich stehend, bei noch völlig unentschiedener Fortdauer
des Krieges, nicht in der Lage war, der französischen Begehrlichkeit alle er¬
denklichen Aussichten abzuschneiden, sieht ein Blinder. Herr Benedetti indeß
unterzog sich damals der Aufgabe, die preußischen Annexionen zu verhindern,
was ihm nicht gelang.
Kaum waren die Präliminarien zu Nikolsburg abgeschlossen, so erhob
Frankreich durch Herrn Benedetti seine bekannte Compensationsforderung,
welche Rheinbaiern, Rheinhessen und Mainz nebst preußischen Gebietstheilen
umfaßte. Herr Benedetti zeigt sich einigermaßen besorgt, daß er nicht für
den Urheber dieser Forderung gehalten werde. Seine Berichte erweisen in der
That, daß er sich die Schwierigkeit, Frankreich mit deutschem Gebiet zu ver¬
größern, keiner Zeit verborgen, daß er den allseitigen Entschluß der deutschen
Nation, dergleichen nicht zu dulden, recht gut gekannt hat. Dies schließt
freilich nicht aus, daß er den Augenblick, wo der definitive Friede zwischen
Preußen und Oestreich noch nicht abgeschlossen war, für geeignet gehalten,
den deutschen Regierungen durch Gewalt und Drohungen abzupressen, was
sie bei einiger Freiheit des Entschlusses nie gewähren durften.
Wenn man den französischen Zeitungen glauben darf, so stände der da¬
malige Minister des Auswärtigen, Herr Drouin de L'huys, im Begriff, der¬
artige Berichte des Herrn Benedetti zu veröffentlichen, weil er nicht Lust habe,
die ihm bereits vom Kaiser Napoleon in einem Brief an Herrn de Lavalette
vom 12. August 1866 zugewälzte Verantwortlichkeit für die unzeitige franzö¬
sische Compensationsforderung auf die Dauer allein zu tragen. Wie dem sei,
Herr Benedetti hat diese Compensationsforderung jedenfalls mit der Unge-
berdigkeit eines auf Einschüchterung ausgehenden Diplomaten unterstützt. Dies
geht indireet aus dem selbst veröffentlichten Bericht hervor, worin er fort¬
während die Festigkeit des Auftretens und der Sprache für das einzige Mittel
erklärt, zum Ziele zu gelangen. Er gelangte nicht zum Ziel, sondern schied
vom Fürsten Bismarck mit der Miene, den Krieg nach Paris zu bringen.
Dort aber besannen Herr und Diener sich eines Besseren. Die Kompensation
durch deutsches Gebiet wurde nicht nur aufgegeben, sondern ihre Billigung
durch den Kaiser sogar verleugnet. Gleichwohl hatte Herr Benedetti bei Ueber¬
gabe der Forderung an den Fürsten Bismarck geschrieben, er habe den Ent¬
wurf von Vichy, dem damaligen Aufenthalt des Kaisers Napoleon, zugesen¬
det erhalten.
Jetzt kommt der gefährliche Moment, welcher den Vertragsentwurf in
Betreff der Eroberung Belgiens gebar, gleichermaßen gefährlich für Herrn
Benedetti's diplomatischen Ruf, wie für den Credit der napoleonischen Politik.
Herr Benedetti legt zunächst großes Gewicht auf den Umstand, daß Fürst
Bismarck in der Circular-Depesche vom 29. Juli 1870 die Mittheilung des
Entwurfes in das Jahr 1867 verlegt hatte. Offenbar war dies nur ein in
der dringendsten Situation aus Eile begangener Irrthum. Allein auf diesen
Umstand kommt gar nichts an. Der erste französische Borschlag. Belgien
mit preußischer Hülfe zu erwerben, kann sehr wohl in das Jahr 1866 fallen,
und darum doch wer weiß wie oft noch erneuert worden sein.
Herr Benedetti versucht nun glauben zu machen, Fürst Bismarck habe,
nach Zurückweisung der französischen Compensationsforderung, die Jniative
ergriffen, Frankreich durch die Verheißung Belgiens zu beschwichtigen. Allein
wenn das im Juli im Hauptquartier zu Mähren ein Nothbehelf fein konnte,
um der französischen Zudringlichkeit gegenüber einen Aufschub zu gewinnen,
so hatte eine solche Verheißung gar keinen Grund mehr, nachdem Fürst Bis¬
marck bereits eine französische Kriegsdrohung, erhoben zum Behuf der Kom¬
pensation mit deutschem Gebiet, angenommen hatte, ohne daß die Drohung
sich verwirklichte. Herr Benedetti bedauert selbst, nicht in der Lage zu sein,
seine Berichte zu veröffentlichen in Betreff der angeblich vom Fürsten Bis¬
marck ergriffenen Initiative, Belgien französisch zu machen. Herr Benedetti
erzählt, er habe bei dem in der Verwaltung des Auswärtigen eingetretenen
Jnterimisticum seine deßfallsigen Berichte an den Staatsminister Rouher ge¬
sandt, dieser aber dieselben in seinen Privatacten aufbewahrt. Für diese
höchst aufrichtig bedauerte Lücke hat sich die glücklichste Abhilfe gesunden. Die
betreffende Korrespondenz ist auf dem Landsitz des Herrn Rouher von preußi¬
schen Husaren, wie wir uns zu erinnern glauben, entdeckt worden. Die
Correspondenz lehrt, daß der Vorschlag der französischen Vergrößerung, wel¬
cher die Grenze von 1814, Luxemburg und Belgien umfaßte, Herrn Bene-
detti von Paris aus vorgeschrieben wurde; daß Herr Benedetti die Vollmacht
erhielt, von jeder Berichtigung der deutschen Grenze nöthigenfalls abzusehen,
und daß er, von dieser Vollmacht aus wohl bekannten Gründen Gebrauch
machend, den von ihm redigirten Vertragsentwurf zur Genehmigung nach
Paris sandte, um ihn demnächst dem Fürsten Bismarck zu Präsentiren. Der
Fürst aber, von den Anstrengungen des Jahres 1866 bis zur Erschütterung
der Gesundheit erschöpft, beurlaubte sich auf mehrere Monate von den Ge¬
schäften. Der Vertragsentwurf blieb einstweilen Concept. Die französische
Regierung aber glaubte des Vertrags und seiner Zusicherung bewaffneter Hilfe
nur für die Erwerbung Belgiens zu bedürfen, in Betreff Luxemburgs aber
ungefährdet vorgehen zu können. Der Versuch, im Frühjahr 1867 unter¬
nommen, brachte die schwerste Enttäuschung. Preußen dachte nicht daran,
die Thore Luxemburgs, das seine Soldaten besetzt hielten, den französischen
Adlern zu öffnen. Einen Augenblick sah man die Hände Preußens und Frank¬
reichs an das Schwert gelegt. Dann verzichtete Frankreich auf die Erwer¬
bung Luxemburgs, und Preußen zog seine Besatzung aus der Festung. Nichts¬
destoweniger kam noch in demselben Jahre Herr Benedetti im Auftrag seiner
Regierung auf die Eroberung Belgiens für Frankreich unter dem Schutze
Preußens zurück. Das Alles erzählt uns der Reichs-Anzeiger an der Hand
von Dokumenten, welche, wie wir vermuthen dürfen, theils bei dem durch
französische Kugeln verursachten Brande von Se. Cloud, theils auf dem Land¬
sitze des Herrn Rouher durch preußische Soldaten gefunden wurden.
Welche Tragicomödie, dieses Buch des Herrn Benedetti! Wie erheiternd
wirkt jetzt Herrn Benedetti's und seines muthmaßlich hohen Mitarbeiters Kunst
in der Redaction von Ackerstücken! Da ist ein Brief des Kaisers Napoleon
an Rouher, welchen die September-Regierung veröffentlicht hat. Der Brief
ist vom 26. August 1866, aus der Zeit, wo Frankreich die Erwerbung Bel¬
giens mit preußischer Hülfe zuerst ernstlich in's Auge faßte. Da ist davon
die Rede, daß die bisherigen Bundesfestungen in das Eigenthum der Einzel¬
staaten zurückkehren müßten: „ainÄ Imxsmdourg ü, ig, l^-mes, Na,z?<>ne<z g,
ig, ?i'ussk" <zen Da findet es der Kaiser angenehm, wenn Preußen, anstatt
Sachsen in den norddeutschen Bund aufzunehmen, dasselbe annectiren und den
König von Sachsen auf dem linken Rheinufer entschädigen wollte. Es ist
noch nicht hinzugesetzt: unter französischer Oberhoheit. Wohl aber ist hinzu¬
gesetzt, daß alles dies nur freundschaftlich anheimgegeben werden dürfe. Die
Hauptsache befindet sich im Postscriptum, welches lautet: „Benedetti kann
folglich bis auf einige kleine Aenderungen im Princip annehmen.
„Siehe da, ruft siegesgewiß Herr Benedetti, der Kaiser spricht von an¬
nehmen! Muß da nicht ein Vorschlag vorangegangen sein, von dessen An¬
nahme die Rede ist?" Als ob das Wort „annehmen" sich bloß auf formu-
lirte Vorschläge, nicht auch auf Eventualitäten beziehen könnte! In der
Instruction vom 16. August 1866 für Herrn Benedetti, welche ihm nach der
Mittheilung des Reichs-Anzeigers durch einen Herrn Chauvy aus Paris über¬
bracht wurde, ist das Wort „g.ceoiMi'" genau in dem letzteren Sinne ge¬
braucht, nämlich für den Fall, daß die Vereinigung Belgiens mit Frankreich
auf zu große Hindernisse stoßen sollte.
Am Schluß seines Capitels schwingt sich die Phantasie des Herrn Bene¬
detti zu solchem Flug auf: der Kaiser habe den preußischen Vertragsentwurf
durch seine Randbemerkungen dahin modificirt, daß Frankreich seine Erwer¬
bungen auf Luxemburg und die Grenze von 1814 beschränken wolle: das sei
so viel gewesen, als die preußische Anerbietung ablehnen.
Diese Versicherung würde kaum des Lachens lohnen, wenn sie bloß nach
der inneren Wahrscheinlichkeit zu prüfen wäre. Nun aber liegt der wahre
Sachverhalt in zweifellosen Documenten vor. Da wirkt des Lügens aufge¬
wandte Mühe durch den Contrast, in den sie sich sogar mit dem sinnlichen
Augenschein versetzt, allerdings blitzartig komisch. Es paßt nur Ein Citat
für Herrn Benedetti, die Frage des Prinzen Heinrich an Sir John Falstaff:
„Welchen Kniff, welchen Vorwand, welchen Schlupfwinkel kannst Du nun aus¬
sinnen, um Dich vor dieser offenbaren Schande zu verbergen?" Mau schreibt,
daß Herr Benedetti mit einer Antwort beschäftigt ist. Wir empfehlen ihm
die Ausrede Falstaff's: „ich war ein Lügner aus Jnstinct!"
Die Sitzungen dieser Woche begannen am 22. October mit der Berathung
über das Gesetz, betreffend die Bildung eines Reichskriegsschatzes. Der erste
Redner war Dr. Löwe als Wortführer der Fortschrittspartei. Es gab eine
Zeit, wo dieser Redner auch von seinen politischen Gegnern nicht ungern
vernommen wurde. Das war, als er vor ungefähr 10 Jahren aus Amerika
zurückgekommen war. Damals erschien der ehemalige Reichsregent in purtidus
noch immer als ein glühender Freiheitsmann, was man so nennt, aber nicht
minder zeigte er ein warmes patriotisches Gefühl, und es schien, als habe er
in Amerika einigermaßen begriffen, wann es im Staatsleben frommt, den
Wunsch zur That zu machen. Mit Bedauern sehen wir den Abgeordneten
Löwe um so hartnäckiger die Pfade des unbelehrbarer Doctrinarismus wan¬
deln, je mehr der deutsche Staat, den so viele Generationen vergeblich ge¬
träumt, eine große Wahrheit geworden ist.
Herr Löwe wollte natürlich nichts von einem Reichskriegsschatz wissen.
Man könne das Geld zur Mobilmachung jederzeit borgen. Der Redner sprach
das große Wort gelassen aus: „Nicht die ersten 40 Millionen sind es, auf
die es im Kriege ankommt, sondern die letzten!" Der einfache Menschen¬
verstand antwortet, daß wenn die Millionen ausgehen, ehe das Kriegsziel
erreicht ist, der Friede nicht so vortheilhaft ausfallen wird, wie er vielleicht
hätte ausfallen können. Wenn aber die Millionen im Anfang fehlen, so
wird bald der Feind im Lande stehen, und das Geld, so wie noch andere
Dinge, holen, wo er sie findet.
Herr Löwe fuhr fort, die Ueberflüssigkeit des Kriegsschatzes darzuthun,
indem er den Patriotismus des Volkes als jederzeit bereit zur Anschaffung
der Kriegsmittel pries. Dabei mußte er sich freilich erinnern, daß beim Aus¬
bruch des letzten Krieges die Zeichnungen zur Kriegsanleihe den ausgeschrie¬
benen Betrag nicht erreichten. Aber daran, meinte der Redner, sei nicht das
Volk Schuld gewesen, sondern bloß die Börse. Ohne Zweifel wird uns Herr
Löwe empfehlen, im Wiederholungsfalle an die feindliche Negierung zu schrei¬
ben: „Wartet ein wenig, bis wir das nöthige Geld haben; wir bekommen
es sicher; die Verzögerung liegt nur an der Börse, die auf den niedrigsten
Cours wartet." — Als Redner nach der Regel stellte der Sprecher den stärk¬
sten Grund an's Ende. Er sagte: „Ihr meint, die Wiederholung des Krie¬
ges mit Frankreich stehe bevor; aber ihr haltet euch nur an den Oberstrom
der öffentlichen Meinung; im Grunde des Herzens sind die Franzosen dafür,
uns alles zu lassen, was wir gewonnen: Siegesruhm, Milliarden und Elsaß-
Lothringen. Auch die Kriegerischen unter ihnen wollen nicht eher losschlagen,
als bis der französische Soldat deutsch sprechen gelernt hat, und das dauert
bis an's Ende der Tage. Zu allem Ueberfluß aber hat Deutschland, wie die
Thronrede angezeigt hat, jetzt Oestreich und Rußland zu Freunden."
Ist das nicht die subalternste Kannegießerei? Wir führen dergleichen wahr¬
lich nicht an, um ein Wort der Widerlegung zu verlieren. Wir wollen sogar
zugeben, daß zu allen Zeiten in Parlamenten so gesprochen wird, wenn auch natür¬
lich nicht von den Rednern, welche das Maximum des parlamentarischen Niveau's
bezeichnen, sondern von denen, welche nach dem Minimum gravitiren. Auch wissen
wir wohl, daß die Worte des Vertreters der Fortschrittspartei auf die Abstimmung
gar keinen Einfluß gehabt haben. Aber wir bedauern solche Reden um des Reichs¬
tags willen. Gegenüber einer Regierung voll der kühnsten und reichsten Ini¬
tiative ist die Rolle des Parlaments an sich schon keine leichte. In solchen
Zeiten muß das Parlament diejenigen Bedürfnisse, welche der Regierung weniger
erreichbar sind, für seine schöpferische Initiative aufsuchen. Eine Opposition aber,
der man in jedem Wort anhört, daß sie nur opponire, um zu opponiren, und welche
sich dabei in Bezug auf Geist und Originalität so wenig in Unkosten steckt,
kann nur die Wirkung haben, das Vertrauen zu den parlamentarischen Ein¬
richtungen zu schwächen. Man sollte sich darüber niemals einer Täuschung
hingeben, daß der Parlamentarismus auf dem Glauben, auf der fortwähren¬
den Theilnahme der gebildeten Klassen beruht. Daß das Parlament einen
unmittelbaren Rapport zu der großen Volksmasse gewinnt, kann immer nur
Ausnahme sein. Die Theilnahme der Gebildeten aber kann unmöglich erhal¬
ten bleiben, wenn in den Reden hervorragender Parteiführer eine solche Un¬
fähigkeit hervortritt, die Wirklichkeit und die offenbaren politischen Thatsachen
zu würdigen.
Genau in die Fußtapfen des Dr. Loewe trat der Abgeordnete Richter bei
Berathung des Gesetzes über die Rückzah.tun g' der ersten Kriegsan-
leihe. Ercitirte Amerika, wo die Regierung" die Fondsankäuse im Vor¬
aus ankündige. Präsident Delbrück antwortete: „Die Details der einzelnen
Transaetionen vorher zur öffentlichen Kenntniß zu bringen, würde für die Ban¬
quiers von Interesse sein, für die Neichssinanzen weniger. Die Folge solcher
Veröffentlichungen würden Speculationen sein, welche die Durchführung der in
Aussicht genommenen Pläne zur Unmöglichkeit machen." Die Anekdote, welche
derselbe Abgeordnete im Style Münchhausens bei dem Gesetz über die Controle
des Reichshaushaltes von dem ausgestopften Hauptmann erzählte, fand durch
den Bundescommissar Camphausen die verdiente Zurückweisung. Seltsamer¬
weise wollte Herr Richter sein Recht, diese Anekdote auf die Tribüne des
Reichstags zu bringen, damit begründen, daß sie vor einem Jahre unwider-
legt durch einen Theil der Presse gegangen sei. Also jede Albernheit, durch
deren Widerlegung der Angegriffene sich unnöthig herablassen würde, erhält
durch des letzteren Zurückhaltung das Bürgerrecht auf der ersten Tribüne der
Nation! Welche traurige Vorstellung von dem Ernst und der Würde der
Verhandlungen des Reichstags!
Nachdem die zweite Sitzung dieser Woche durch Interpellationen ausge¬
füllt war, die sich auf militairisch-technisches Detail bezogen, legte der Reichs¬
kanzler am Mittwoch die Uebereinkunft zu dem Friedensverträge mit Frank¬
reich vor. Alsdann fand nur noch eine kurze Sitzung am Freitag statt, wo
als neuer Gegenstand das Rayon-Gesetz zur Berathung kam, dessen Details
Allmälig hat sich der weite Raum' des neuen Reichstagssaales gefüllt
und ein paarmal hat derselbe schon von mächtigen Reden wiederhallt; die
Tribünenbillets sind so gesucht als je, aber den Mittelpunkt des öffentlichen
Interesses hat trotz alledem bis jetzt das Parlament nicht gebildet. In erster
Linie stand vielmehr, im Anfang der Woche wenigstens, die niederschlagende
Enthüllung, welche der Reichsanzeiger gegen Beneoetti und die Napoleonische
Politik brachte und die, von London nicht zu reden, selbst in Paris und
Brüssel als endgültig entscheidend angenommen worden ist. Nur am Main
und Neckar gibt es noch einige Unbestechliche, welche sich durch nichts, selbst
die Wahrheit nicht, bewegen lassen, dem Fürsten Bismarck Pardon zu er¬
theilen. Der Ruhm dieses Staatsmannes ist in den letzten Wochen riesen¬
groß gewachsen und er dankt dies seinem alten Gegner Benedetti, der es der
Welt erst recht klar gemacht hat, was dilatorisch heißt, ein Wort, welches
der strengste Purist nicht mehr aus dem deutschen Wörterbuche wird entfernen
wollen. Aber wozu wären Gründe, wenn es nicht Leute gäbe, die sich selbst
durch die besten nicht überzeugen ließen. In dem diplomatischen Kampf bis
auf's Messer, der seit dem vorigen Juli von den Unterlegenen gegen Bismarck
geführt worden ist, ist auch nicht der Schatten eines Beweises beigebracht
worden, daß er Frankreich jemals ein Versprechen gemacht hat. Wenn er
es gethan hätte - so würde ihn die Mitwelt und die Geschichte doch ent¬
schuldigen, aber er hat gethan, was Niemand für möglich gehalten hätte,
er hat Napoleon und dessen Diplomaten Jahre lang hingehalten und wenn
auch durch die jetzigen Enthüllungen an den Tag gekommen ist, welche Mittel
Graf Bismarck angewendet hat, um sein Ziel zu erreichen, so gehört doch
immer noch die Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie es möglich gewesen ist,
dieses Spiel jahrelang in wechselnden Phasen fortzusetzen, ohne daß Der, dem
es gilt, jemals eine Ahnung von der ihm zugedachten Rolle hat. In Bene-
detti's Buch hört man zwischen der Zeilen das Zähneknirschen des endlos
getäuschten Diplomaten. Man muß sich nur klar machen, was es heißt, ihn
dilatorisch zu behandeln. Jahre lang muß Graf Bismarck mit ihm auf
dem vertraulichsten Fuße gestanden haben, wenn ihm nicht Varzin einmal
eine Zuflucht und Erholung bot, und in dieser ganzen langen Zeit hat er
nie einen ernsten Verdacht gegen sich aufkommen lassen und hat doch nie sich
compromittirt. Man erzählt — ich glaube, es soll nach dem Kriege von
1866 gewesen sein, — daß der Graf Bismarck, als ihm der französische Ge¬
sandte einmal mit Krieg drohte, gelacht und gesagt habe: Krieg wollen Sie?
Aber wir werden Sie massacriren. Die Anekdote ist gewiß erfunden, aber
gerade so, mit einer überwältigenden Offenheit, muß Fürst Bismarck seinen
Gegner behandelt haben.
In Bezug auf unsere innern Angelegenheiten läßt sich schon jetzt mit
einiger Sicherheit sagen, daß der Kriegsschatz angenommen werden wird.
Vergeblich hat Dr. Löwe die europäische Lage als idyllisch geschildert und den
„Unterstrom" der öffentlichen Meinung in Frankreich geltend gemacht. Es
gibt in Frankreich keinen solchen Unterstrom. Neun Zehntel der Franzosen
wollen den Frieden, ja den Frieden um jeden Preis, haben ihn auch im Mai
und Juni vorigen Jahres gewollt, aber das letzte Zehntel kommt allein in
Betracht und, was man auch sagen mag, unter den gebildeten Franzosen
herrscht nur ein Gefühl, das des Hasses, nur ein Verlangen, das nach Rache
gegen Deutschland. Ob sie heute eine friedlichere oder auch nur höflichere
Miene annehmen, ist unendlich gleichgültig; an dem Tage, wo sich ihnen
nur ein Schimmer von Möglichkeit des Erfolges bietet, werden sie losschlagen-
Zweifelhafter als das Schicksal des Kriegsschatzgesetzes dürfte das des
Münzgesetzes sein. Alle Welt prophezeit der Regierung eine Niederlage,
Kenner der parlamentarischen Verhältnisse glauben aber, daß jede positive
Opposition gegen das Gesetz nur eine Minderheit sei und daß, um doch etwas
zu erreichen, schließlich die Mehrheit sehr wohl für den Entwurf der Regie¬
rung sein könne. Ohne Veränderung wird er freilich nicht aus diesem parla¬
Wir sind gewöhnt, in der classischen Literatur des Alterthums die Typen
einer jeden Dichtungsart zu suchen und zu finden. Ueberraschen muß daher,
wenn diese Gewohnheit auf einem Gebiet der Literatur einer Täuschung be¬
gegnet, umsomehr aber muß überraschen und dabei das Interesse fesseln, wenn
dieses Gebiet gerade dasjenige ist, welches in der Gegenwart die hervorragendste
Stelle einnimmt: wir meinen den Roman.
In der That erfreut sich der Roman in der modernen Welt vorzugs¬
weise vor anderen Dichtungsarten in alleiA Kreisen der Gesellschaft, und bei
beiden Geschlechtern, trotz des verschiedenen Bildungsganges derselben gleicher
Theilnahme, er ist überhaupt jetzt die einzig wirklich populäre Dichtungsart.
Vom nationalen Standpunkt aus dürfen wir hinzufügen: er ist auch die dem
germanischen Geiste entsprechendste Dichtungsart, besteht doch sein Haupt¬
wesen in der Entwickelung und Schilderung von Charakteren und der Indi-
vidualisirung der Menschen und Dinge. Auf diesem Gebiet der Literatur
errang daher der deutsche Geist durch Göthe in Werther, Wilhelm Meister und
den Wahlverwandtschaften die Palme, welche uns in Epos und Drama andere
Nationen noch streitig machen mögen.
In der antiken Welt sehen wir uns vergeblich nach einem Romane um,
welcher, wie im Epos Ilias und Odyssee, wie im Drama die vier großen
Athener, uns mit dem Nimbus eines Werkes ersten Ranges entgegenträte.
Daher kommt wohl auch, daß die — immerhin vorhandene und nicht werth¬
lose — Nomanliteratur des Alterthums selbst in solchen Kreisen verhältni߬
mäßig fremd ist, in denen die antiken Epiker, Dramatiker, Geschichtsschreiber und
Philosophen völlig geläufig sind. Daher dürfte gerechtfertig sein, die Blicke
der Leser ein Mal diesem so wenig besuchten Gebiet der classischen Literatur
zuzuwenden und zwar, der ältesten bedeutendsten Erscheinung dieser Dichtungs¬
weise aus den Zeiten des griechischen Alterthums, den in der Ueberschrift ge¬
nannten: Babyloniaka des Jamblichos. —
Als erste unbestritten der Gattung des Romans in dem eben festgestellten
Sinne angehörige Erscheinungen nennt die Literaturgeschichte bei den Römern
gegen Ende der Negierung Hadrians (117—138) den „Goldenen Esel" des
Apulejus, welcher vollständig erhalten ist, und bei den Griechen um die Zeit
von 100—180 nach Christus die „Babyloniakci" des Jamblichos, welche nur
in dem Myriobiblon des Photius (cod, 94) im Auszug erhalten sind.
Aus dem wirklichen Alterthum (worunter wir hier nicht den mit dem
Jahre 476 nach Christus traditionell abgegrenzten Zeitraum, sondern die noch
nicht vom Christenthum ergriffene Zeit der Geistesthütigkeit der Alten ver¬
stehen) ist von eigentlichen Romanen bei den Römern nur der Goldene Esel
des Apulejus, bei den Griechen vollständig gar keiner erhalten und von
den wenigen griechischen im Auszug geretteten Romanen ist der des Jam¬
blichos der älteste. >— Nach Photius waren das classische Dreigestirn griechi¬
scher Romandichtung: Heliodor, Jamblichos und Achilles Tatius. Da indessen
Heliodor und Achilles Tatius Christen waren, so bleibt Jamblichos von den
drei bedeutendsten Meistern seiner Kunst als der einzige übrig, welcher sowohl
der Zeit als der Religion nach dem wirklichen Alterthum angehört. Der im
Myriobiblon des Photius enthaltene Auszug seines Werkes ist daher nicht
blos der älteste aus dem wirklichen Alterthum erhaltene Rest eines griechischen
Romanes, sondern es ist auch der einzige Rest eines solchen von Bedeutung.
Von den Lebensverhältnissen des Jamblichos (— welcher mit keinem
der beiden dem 4. Jahrhundert nach Chr. angehörigen Platoniker dieses Na¬
mens verwechselt werden darf —) ist Folgendes bekannt:
Er war aus Syrien gebürtig, gehörte aber nicht zu den zahlreichen, Sy¬
rien bewohnenden Griechen, sondern war der Sohn eingeborner syrischer Ael-
tern, redete syrische Sprache und lebte nach syrischen Sitten.
Später erhielt er einen Babylonier zum Pflegevater und dieser brachte
ihm babylonische Sprache, Sitten und Ueberlieferungen bei. Die Siege Tra-
jan's, welche um .113 nach Chr. Babylonien dem römischen Reiche unter¬
warfen, führten einen abermaligen Wechsel des Bildungsgangs unsres Autors
herbei. Sein Pflegevater ward gefangen, als Sclave verkauft, jedoch weil er
in asiatischer Weisheit wohl unterrichtet war. Secretär des Kaisers. Jam¬
blichos eignete sich nun, um Rhetor zu werden, neben der ihm bereits geläu¬
figen syrischen und babylonischen noch die griechische Sprache an. Neben den
Studien, deren Ergebniß sein Roman ward, hatte er sich unter Leitung seines
babylonischen Pflegevaters noch der Magie gewidmet und zwar mit solchem
Erfolg, daß er im Jahr 167 nach Chr. nicht blos einen abermaligen Krieg
zwischen den Römern und Parthern, sondern auch dessen Ausgang richtig
prophezeihte; er hatte den Sieg der Römer vorhergesagt, und in der That
mußte der Partherkönig Bologeses von Lucius Verus, Mark Aurel's Mitregen¬
ten, besiegt, über den Euphrat fliehen und das parthische Reich einen demüthi¬
genden Frieden mit Rom schließen. Jamblichos verhehlt auch in seinem Romane
dem Leser keineswegs seine Bedeutung auf dem Felde der Magie und giebt
ihm in einer Episode desselben insbesondere die interessante Notiz, daß die
Magie der Babylonier sich in eine Magie der Heuschrecken, eine der Löwen,
eine der Mäuse, eine des Hagels und eine der Schlangen theilt, und daß die
Magie der Mäuse die älteste ist, weßhalb auch das Wort: „Mysterien" in
dankbarer Anerkennung des Ursprungs nach den Wort: „Maus" 05?.-
benannt sei. —
Der Titel des Romans des Jamblichos ist, wie bereits oben vorüber¬
gehend erwähnt ward: /o^o^«» vtx«>,, Babyloniaca, Babylonische
Geschichten, gleich denen der meisten anderen griechischen Romane, der Ae-
thiopica des Heliodor, der Babyloniaca, Chpriaca und Ephesiaca der drei
Xenophon u. a. entlehnt von dem Geburtsort des Helden und der Heldin,
welche beide aus Babylon gebürtig waren. Das Werk bestand nach Photius
aus 16, nach Suidas aus 39 Büchern, — Ein vollständiges Manuscript
desselben war noch bis zum Jahr 1670, wo ein Brand es vernichtete, in der
Bibliothek des Escurial vorhanden. Eine zweite vollständige Handschrift be¬
fand sich im Besitze Jungermanns, welcher zu Anfang des siebzehnten Jahr¬
hunderts starb, und ist seitdem verschwunden. —
Wir lassen nun den bei Photius erhaltenen, nachstehend zum ersten
Mal in deutscher Uebersetzung erscheinenden Auszug des Romans
selbst (mit Weglassung einiger unwesentlichen Episoden) folgen, und bemerken
dabei, daß Fragmente desselben auch bei Suidas und Leo Allatius erhalten
sind, deren wesentlichste wir gleichfalls im Folgenden wiedergeben.
Rhodanes und Simonis waren beide schön von Gesicht und Gestalt: ihre
gegenseitige Liebe war durch die Ehe befestigt worden. Garmos, König von
Babylonien, entbrannte nach dem Tode seiner Gemahlin von Liebe zur Simo¬
nis und stürmte in sie, ihn zu heirathen. Simonis gab ihm eine abschlägige
Antwort. Sie wurde deßwegen mit goldenen Ketten gefesselt, und Rhodanes
durch die königlichen Eunuchen Sakas und Damas an das Kreuz gehängt.
Auf Betrieb der Simonis ward Rhodanes vom Kreuze herabgenommen und
beide flohen: er das Kreuz, sie die verhaßte Heirath.
Garmos ließ deßhalb dem Sakas und Damas Nasen und Ohren
abschneiden, und sandte sie sodann zur Aufsuchung der Flüchtlinge aus. Sie
traten in zwei Abtheilungen die Nachsuchung an.
Rhodanes und Simonis rasteten zuerst auf einer Wiese. Rhodanes fand
hier verborgenes Gold, welches die Aufschrift der Löwensäule ihm anzeigte.
Es zeigte sich hier aber auch ein gespensterhaftes Ungethüm, einem Bocke
ähnlich (^et/on ?t P«<5^«), welches die Simonis umarmte. Sie flohen hier¬
auf von der Wiese, Simonis mit Hinterlassung ihres Kranzes. Ihr Verfolger
Damas hätte sie beinahe hier eingeholt: Hirten hatten ihm die Wiese ver¬
rathen. Er fand hier den Kranz der Simonis und schickte ihn zur Beschwich¬
tigung an den Garmos.
Nhodanes und seine Gattin trafen auf ihrer Flucht bei einer Hütte auf
eine alte Frau. Diese wies ihnen eine Höhle, welche ein und eine halbe
Stunde lang war und auf der andern Seite einen unter Buschwerk versteckten
Ausgang hatte. Kaum hatten sie sich hier verborgen, so langte Damas an
und fand als Spur ihre Pferde. Er fragte die Alte aus, und als diese das
gezückte Schwert sah, gab sie vor Schreck ihren Geist auf. Das Heer um¬
stellte nun die Gegend, in der jene Beiden versteckt waren. Da stürzte einem
der Krieger der Schild von Erz herab und siel auf den unterirdischen Gang,
und an dem hohlen Schalle entdeckte man den Bersteck der Flüchtlinge. Sie
begannen nun, die Höhle von oben aufzugraben, und Damas schrie vor Freude
laut auf. Da merkten es die drinnen und flohen den Gang entlang nach
dem verborgenen Ausgang. Unterdessen aber stürzten sich Schwärme von wil¬
den Bienen auf die Grabenden und stachen sie an Händen und Füßen, so
daß einige starben, denn die Bienen waren vergiftet und hatten ihren Honig
aus dem Futterkraute von Schlangen gesammelt. Dadurch gelang den Flücht¬
lingen, den Ausgang zu erreichen und aus der Höhle zu entkommen. Es war
aber bei dem Aufgraben des Ganges von dem vergifteten Honig etwas hinab¬
geflossen, und, vom Hunger überwältigt, hatten sie davon gekostet. In Folge
davon fielen sie wie todt neben der Straße hin.
Damils fand in der Höhle das Haar der Simonis. welches diese sich
dort abgeschnitten hatte, um ihre Flucht zu erleichtern, und schickte es sofort
an den Garmos, zum Zeichen, daß man immer näher daran sei, die Fliehenden
einzuholen.
Das verfolgende Heer kam nun an die Stelle der Straße, wo Nhodanes
und sein Weib wie todt da lagen, und hielt sie, zumal es auch finster war,
wirklich für Todte. Die Krieger warfen daher nach der Landessitte auf sie,
wie auf Todte, Gewänder und alles, was sie gerade bei der Hand hatten,
auch Brod. Fleisch und Nüsse. Und so zog das Heer vorüber. — Raben,
welche sich um das Brod und Fleisch stritten, weckten endlich den Nhodanes
und dieser die Simonis. Beide, noch immer vom Honig betäubt, richteten
sich mit Bande auf und schlugen einen Weg in entgegengesetzter Richtung von
dem Heere ein, damit es schiene, als seien sie nicht die Verfolgten. —
Sie fanden zwei Esel, bestiegen sie und bepackten sie mit dem, was das
Heer auf sie als scheinbar Todte geworfen hatte. Sie kehrten hierauf in
einem Wirthshaus ein. Hier ereignete sich etwas Schreckliches zwischen zwei
Brüdern: der ältere Bruder vergiftete den jüngern und klagte den Rhodanes
des Mordes an, aber Rhodanes ward für schuldlos befunden und benutzte
diese Gelegenheit, unbemerkt Gift mit fort zu nehmen. —
Hierauf geriethen sie in den Schlupfwinkel eines Räubers, welcher die
Vorüberwandernden ausplünderte und sich seiner Opfer sodann als Tische
bediente. Während sie bei diesem Räuber gefangen gehalten wurden, griffen
die Krieger des Damas denselben an. nahmen ihn fest und legten Feuer an
feine Behausung. Rhodanes und Simonis entgingen jetzt nur mit Mühe
dem Verderben: sie schlachteten ihre Esel, warfen deren Leiber in das Feuer
und schritten darüber hinweg. Es war Nacht und sie wurden von denen,
die das Feuer anlegten, gefragt, wer sie wären? Sie antworteten: „die Schat¬
ten der von dem Räuber Ermordeten". Weil ihre Gesichter bleich waren und
ihre Stimme zitterte, so glaubten es die Krieger und geriethen in Furcht. —
Sie flohen weiter und kamen gerade dazu, wie ein Mädchen zu Grabe
getragen wurde. Sie liefen hinzu, es mit anzusehen. Ein alter Chaldäer,
welcher dabei stand, verhinderte jedoch das Begrävniß, indem er sagte, das
Mädchen sei noch am Leben, und es zeigte sich, daß es so war. Derselbe
Chaldäer verkündigte dem Rhodanes, daß er einst König von Babylonien
werden würde. Das Grab des Mädchens blieb leer und es blieben daselbst
viel Gewänder, Speisen und Getränke, welche auf dem Grabe hatten ver¬
brannt werden sollen, zurück. Rhodanes und Simonis genossen reichlich von
diesen Speisen und Getränken, nahmen einen Theil der Gewänder an sich,
und schliefen dann in dem Grabe des Mädchens.
Unterdessen hatten die Krieger des Damas, welche die Behausung des
Räubers angezündet hatten, als es Tag wurde, die Fußtapfen der Entflohe¬
nen gesehen und dadurch gemerkt, daß sie getäuscht worden waren. Sie hiel¬
ten die Entflohenen für Helfershelfer des Räubers und verfolgten sie nach
der Spur der Fußtapfen bis zu dem Grabe des Mädchens. Hier sahen sie
jene schlafend im Grabe liegen. Sie glaubten abermals, Todte zu sehen,
wurden irre, ob die Fußtapfen wirklich hierher geführt hätten, und ließen sie
liegen. —
Rhodanes und Simonis begaben sich weiter und setzten über einen Fluß
von wohlschmeckendem und durchsichtigem Wasser, welches zum Trank für den
König von Babylonien aufbewahrt wurde. Simonis verkaufte hier die Klei¬
der, welche sie von dem Grabe des Mädchens mitgenommen hatten. Dabei
wurden sie ergriffen und wegen Gräberplünderung vor den Richter Sorächos
gebracht.
Sorächos führte den Beinamen: „der Gerechte". Er beschloß, Simonis
ihrer Schönheit wegen zum König Garmos zu führen. Da mischten Rho-
deines und Simonis das Gift, das sie mit sich führten. Es schien ihnen
besser zu sterben, als den Garmos zu sehen. Sorächos erfuhr durch eine
Dienerin ihre Absicht. Er goß deßhalb heimlich das tödtliche Gift aus, und
füllte den Becher mit einem Schlaftrünke. Als sie nun denselben getrunken
hatten und in tiefen Schlaf versunken waren, ließ er sie aus einen Wagen
setzen und fuhr mit ihnen gen Babylon. In der Nähe der Stadt wurde
Nhodanes durch ein Traumbild erschreckt, schrie auf und weckte die Simonis.
Als diese die Mauern von Babylon erblickte, stieß sie sich mit dem Schwert
gegen die Brust. Da fragte Sorächos nach ihrer ganzen Geschichte und jene
ließen ihn versprechen, sie nicht zu verrathen, und erzählten ihm Alles, und
er ließ sie frei und zeigte ihnen als Zufluchtsort das Heiligthum der Aphro¬
dite auf einer kleinen Insel, wo sich Simonis ihre Wunde heilen lassen sollte. —
Die Insel ward von dem Euphrat und Tigris an der Stelle, wo beide
zusammenfließen, gebildet und von diesen beiden großen Strömen rings um-
flossen. Der Priester des Tempels der Aphrodite, welcher sich auf dieser Insel
befand, hatte drei Kinder: Euphrates. Tigris und Mesopotamia. Mesopota-
mia war ursprünglich häßlich, von Aphrodite aber zu einer großen Schönheit
umgestaltet worden. Um sie stritten sich drei Liebhaber, welche endlich den
Bochoros, den besten Richter jener Zeit, zum Schiedsrichter auserkoren. Die
Streitenden erhielten folgenden Schiedsspruch: Dem Einen sollte Mesopotamia
den Becher geben, aus welchem sie gewöhnlich trank; dann sollte sie ihren
Blumenkranz vom Haupte nehmen und ihn dem Andern aufsetzen; den Dritten
sollte sie küssen. Obwohl nun der, dem sie den Kuß gegeben, den Sieg da¬
von getragen hatte, so setzten die drei Nebenbuhler doch den Streit so lange
fort, bis sie sich gegenseitig getödtet hatten.
Von den Söhnen dieser Priesterfamilie der Aphrodite starb Tigris davon,
daß er Rosen genascht hatte: es hatte nämlich unter den noch nicht entfalte¬
ten Rosenblättern eine Kantharide gesessen. Die Mutter des Knaben wendete
magische Kunst an und glaubte, dadurch ihren Sohn zu einem Halbgott ge¬
macht zu haben.
Die beiden Knaben Tigris und Euphrates sahen einander sehr ähnlich und
beiden sah wiederum Nhodanes ähnlich. Als daher Nhodanes und Simonis
auf der Insel ankamen, so schrie die Mutter des Tigris bei seinem Anblick
laut auf, ihr verstorbener Sohn sei wieder auferstanden. Nhodanes bejahte
das und machte sich die Einfalt der Jnselbewohner zu Nutze. —
Aber Damas erfuhr, was sich mit Nhodanes zugetragen und wie So¬
rächos an ihm gehandelt hatte. Denn der Arzt selbst, den Sorächos heimlich
zur Heilung der Wunde der Simonis abgeschickt, hatte Alles dem Garmos
verrathen. Sorächos ward verhaftet und gen Babylon geführt. Der ver-
rätherische Arzt selbst ward mit einem Schreiben an den Priester der Aphro-
dite nach der Insel gesendet, um dort Rhodanes und Simonis gefangen zu
nehmen.
Der Arzt setzte über die Ströme, welche die Insel umfließen, indem er,
wie es dort Sitte war, sich an das heilige Kameel hängte und das königliche
Schreiben an dem rechten Ohre des Thieres befestigte. Er ertrank, und das Thier
schwamm ohne ihn hinüber. Rhodanes nahm das Schreiben von dem Ohr des
Kameels, erfuhr hierdurch alles, und floh mit seinem Weibe von der Insel.
Sie begegneten dem Sorächos, der zum Könige geschleppt wurde. Sie
kehrten in einem und demselben Wirthshaus mit diesem ein und in der Nacht
bestach Rhodanes durch den Glanz des Goldes dessen Wächter, schaffte sie bei
Seite und erstattete so dem Sorächos die früher von ihm empfangene Wohl¬
that zurück. —
Mittlerweile ließ Damas den Priester der Aphrodite fest nehmen und
nach der Simonis verhören; der Greis ward verurtheilt, ein Scharfrichter statt
eines Priesters zu werden. „Er that den Anzug des Henkers an und nahm
so statt der ehrwürdigsten die elendiglichste Kleidung". (Fragment bei Suidas).
Auch Euphrates wurde festgenommen, weil sein Vater, der Priester, ihn
wegen der Aehnlichkeit mit dem Rhodanes, so gerufen hatte; seine Schwester
Mesopotamia, welche für Simonis gehalten wurde, entfloh. Euphrates wurde
vor den Sakas geführt und, weil für den Rhodanes gehalten, als solcher verhört
und nach der Simonis befragt. Sakas ließ deßhalb dem Garmos sagen, daß
Rhodanes gefangen sei und daß Simonis bald gefangen werden würde. —
Rhodanes und Simonis selbst flohen gemeinschaftlich mit dem Sorächos
weiter und kamen in das Haus eines Landmanns. Dieser hatte eine schöne
Tochter, die eben erst Wittwe geworden war und sich zum Andenken an ihren
Mann die Haare ringsherum abgeschnitten hatte. Sie wurde ausgeschickt, die
goldene Kette zu verkaufen, welche Simonis von ihren Fesseln mitgenommen
hatte. Die Tochter des Landmanns ging zu einem Goldschmidt. Der Gold¬
schmidt war aber derselbe, welcher jene goldenen Fesseln einst gefertigt hatte.
Er erkannte das Stück der Kette wieder und als er die schöne junge Frau
sah, welche sie brachte, so vermuthete er, es sei die Simonis, und schickte an
den Damas nach Wächtern. Er erhielt solche und ließ dieselben der Tochter des
Landmanns, als sie fortging, heimlich folgen. Diese schöpfte Argwohn und
floh in eine einsame Herberge. Hier sah sie, wie ein goldener Schmuck ver¬
graben wurde und wie ein Sclave seine Geliebte Trophine und dann sich
selbst erstach. Die Tochter des Landmanns wurde von dem Blute des Selbst¬
mörders bespritzt und entfloh. Auch die Wächter, die sie hier belauert hatten,
sahen dasselbe, erschraken über den Vorfall und flohen ebenfalls.
Die Tochter des Landmanns gelangte wieder in das Haus ihres Vaters
zurück und erzählte die Dinge, welche ihr zugestoßen waren. Da eilten Rho-
danes und sein Weib und Sorächos von dannen. —
Vorher schon hatte der Goldschmidt einen Brief an Gcirmos geschickt,
daß Simonis aufgefunden sei, und hatte zur Beglaubigung die goldene von
ihm gekaufte Kette mitgesendet. —
Rhodanes küßte, bevor er wieder zur Flucht aufbrach, die Tochter des
Landmanns, worüber Simonis sehr erzürnt ward. Anfangs vermuthete sie
zwar nur, daß Rhodanes jene geküßt haben mochte. Ihr Argwohn wurde
aber zur festen Ueberzeugung, als sie von den Lippen des Rhodanes das
Blut abwischte, womit er beim Küssen der (durch den Vorfall in der Her¬
berge mit Blut bespritzten) jungen Wittwe benetzt worden war. Simonis
wollte deßhalb jene todten. Sie kehrte allein um, einer Rasenden gleich. So¬
rächos eilte ihr nach und holte sie ein. —
In einem bei Suidas erhaltenen Fragment des Romans antwortet hier
Simonis dem Sorächos, der sie beschwichtigen will:
„Lege mir keine Hindernisse in den Weg! Du weißt ja, daß ich nicht
lüge, denn ich habe Dich als Zeugen meiner Entschlossenheit. Du weißt,
daß ich ein Schwert und eine Wunde bei mir habe. Rhodanes wurde nur
an's Kreuz gehängt, ich aber habe den Tod geschmeckt und dabei gelernt, daß
Sterbende keineswegs Schmerz empfinden und daß auch der Tod nicht un¬
lieblich ist, ja daß er sogar Liebenden gar süß schmeckt. Was hältst Du
mich auf, Sorächos? Bei den Göttern! Du suchst nur die Geliebte des
Rhodanes zu retten! Drohe mir nur nicht mit Gefahren und mit Strafen!
Jetzt fürchte ich nichts mehr, denn ich habe schon den Tod, auch den gewaltsamen,
verachtet! Der, welcher den Tod verachtet, steht unter Keines Gewalt!"
Sorächos und Simonis übernachteten im Hause eines reichen Mannes
von ausschweifenden Sitten, Namens Setapos. Dieser verliebte sich in die
Simonis und versuchte ihre Keuschheit. Sie versprach seine Liebe zu erwie¬
dern; aber als er berauscht war und sie umarmen wollte, tödtete sie ihn mit
einem Schwerte. Sie befahl hierauf, das Haus zu öffnen, ließ den Sorä¬
chos, welcher von der ganzen Sache nichts wußte, in Stich und eilte fort,
um jene Tochter des Landmanns aufzusuchen und zu ermorden. „Sie war
noch voll von der vorigen Eifersucht und hatte von der eben vollbrachten
That noch Muth hinzubekommen. Als sie nun den Weg angetreten hatte,
rief sie aus: „den ersten Kampf habe ich durchgekämpft! nun so will ich mich
auch an den zweiten machen; ich habe mich ja zur rechten Zeit geübt!" (Frag¬
ment bei Suidas).
Als Sorächos ihren Weggang erfuhr, folgte er ihr mit den Sclaven des
Setapos nach und holte sie ein, nahm sie mit in seinen Wagen — denn
auch dafür hatte er gesorgt — und fuhr mit ihr zurück. Da aber kamen
ihnen andere Sclaven des Setapos, die unterdeß ihren Herrn ermordet gefun¬
den hatten, voller Zorn entgegen, ergriffen die Simonis und führten sie als
Mörderin gefesselt zum Garmos. Sorächos überbrachte, Staub auf das Haupt
gestreut und mit zerrissenem Gewände die Nachricht von solchem Unglück dem
Nhodanes. Dieser wollte sich selbst todten, ward aber von Sorächos daran
gehindert. —
Als Garmos von Sakas die Nachricht, daß Rhodanes gefangen, und vom
Goldschmidt den Brief, daß man Simonis habe, erhalten hatte, freute er sich,
opferte, machte alles zur Hochzeit bereit, und ließ im ganzen Reiche ausrufen,
man solle allenthalben alle Gefangenen freilassen. Da der Ausruf an das
ganze Volk gerichtet war, wurde auch Simonis, die eben von den Sclaven
des Setapos gefesselt gen Babylon geführt wurde, ihrer Ketten entledigt und
freigelassen. —
Garmos maß nach den Nachrichten vom Sakas und vom Goldschmidt
diesen die Einholung des Nhodanes und der Simonis bei, er zürnte deßhalb
dem Damas, dem dies nicht gelungen war, und ließ ihn hinrichten. Der
Scharfrichter, dem Damas zur Hinrichtung übergeben wurde, war jener Prie¬
ster der Aphrodite, den Damas selbst einst vom Priester zum Scharfrichter
gemacht hatte. —
Jetzt erhielt Garmos von dem Goldschmidt die Nachricht, daß Simonis
entflohen sei, und ließ nun den Goldschmidt hinrichten, und die Wächter,
denen die vermeintliche Simonis entronnen war, sammt ihren Weibern und
Kindern lebendig begraben. —-
In jene abgelegene Herberge, in welcher ein Sclave seine Geliebte Tro-
phine ermordet hatte, kam mittlerweile der hyrkanische Hund des Nhodanes
und fand hier die Leichname des unglücklichen Mädchens und des Sclaven.
Er fraß den Leichnam des Sclaven vollständig und dann zum Theil den des
Mädchens. Da kam an diesen Ort der Vater der Simonis. Als er den Hund
des Nhodanes erkannte und den halbverzehrten Leichnam des Mädchens er¬
blickte, da hielt er diesen für den Leichnam seiner Tochter, schlachtete den Hund
zum Todtenopfer, begrub die Ueberreste des Mädchens, schrieb mit dem Blute
des Thieres auf dem Grabhügel:
„hier liegt die schöne Simonis begraben"
und hing sich an einem Stricke auf.
An dieselbe Stelle kamen Nhodanes und Sorächos. Als diese den auf
dem Grabe liegenden getödteten Hund und den Vater der Simonis erhängt
und die Aufschrift sahen, da brachte sich zuerst Rhodanes eine Wunde bei und
schrieb mit seinem eigenen Blute neben die Grabschrift der Simonis:
„und Nhodanes der schone".
Sodann erhängte sich Sorächos selbst an einem Stricke. Als Nhodcmcs im
Begriff war, sich den Todesstoß zu geben, kam die Tochter des Landmanns —
welche den hier vergrabenen goldenen Schmuck heben wollte — herbei und
schrie laut: „O Nhodanes! nicht Simonis ist es, die hier begraben liegt!"
Und sie lief herzu und schnitt den Strick des Sorächos ab, nahm dem Nho¬
danes das Schwert aus der Hand und überzeugte ihn mit Mühe von seinem
Irrthum, indem sie ihm die Geschichte von dem unglücklichen Mädchen und
dem vergrabenen Golde erzählte und, wie sie gekommen, dies zu heben. —
Simonis war nach ihrer Befreiung aus den Fesseln sofort in das Haus
des Landmanns geeilt, noch wuthentbrannt gegen dessen Tochter. Als sie
diese hier nicht fand, fragte sie nach ihr bei deren Vater, welcher ihr den
Weg zeigte. Sie folgte ihr nun mit bloßem Schwert. So kam sie an den
> Ort, wo Nhodanes dalag und jene allein (denn Sorächos war fortgegangen,
einen Arzt zu suchen) bei ihm saß und seine Brustwunde sanft streichelte. Da
wurde sie von Zorn und Eifersucht noch mehr entflammt und stürzte auf
ihre Feindin los. Doch Nhodanes überwand durch geistige Kraft feine durch
die Wunde erzeugte Schwäche, vertrat der Simonis den Weg und hinderte
sie, etwas zu thun, indem er das Schwert ihr entriß. Da eilte Simonis im
höchsten Zorne fort, rasenden Laufes, und rief dem Nhodanes nur noch die
Worte zu: „Ich lade Dich auf morgen ein zu meiner Hochzeit mit dem Gar-
mos!" Sorächos kam nun herzu und tröstete, nachdem er alles erfahren hatte,
den Nhodanes. Die Wunde desselben ward geheilt und sie geleiteten die
Tochter des Landmanns, nachdem diese das verborgene Gold gehoben hatte,
mit den Schätzen zu ihrem Vater zurück. —
Inzwischen war Mesopotamia, welche wie wir oben gesehen, bei der Fest¬
nehmung des Priesters ihres Vaters und ihres Bruders Euphrates, weil man
sie für Simonis hielt, geflohen war, von Sakas gefangen worden, und ward
als vermeintliche Simonis mit dem bereits festgenommenen Euphrates, den
man für Nhodanes hielt, zum Garmos geführt. —
Aber auch Sorächos und der wirkliche Nhodanes — denn sie waren end¬
lich gefangen worden — wurden zum Garmos geführt.
Wie Garmos sah, daß die Mesopotamia nicht die Simonis sei, so über¬
gab er sie — um für die Zukunft derartige Verwechselungen zu verhüten —
dem Zobaras mit dem Befehl, sie an dem Ufer des Euphrat enthaupten zu
lassen. Zobaras aber trank von der Liebesquelle und verliebte sich in die Me¬
sopotamia. Er rettete sie und geleitete sie zu Berenike, der Königin von
Aegypten, bei welcher sich Mesopotamia schon einmal auf ihrer Flucht ver¬
borgen hatte. Berenike feierte die Hochzeit der Mesopotamia und des Zobaras.
Deßhalb bedrohten sich Garmos und Berenike mit Krieg. —
Der ebenfalls gefangene Euphrates ward dem Scharfrichter — seinem
Vater, dem frühern Priester — zur Hinrichtung übergeben und von ihm er-
kennt und am Leben erhalten. Von nun an verwaltete der Sohn das Amt
seines Vaters, während letzterer sich nicht mehr mit Menschenblut besudelte,
und aus dem Scharfrichterhause glücklich entkam. —
Auch die Tochter des Landmanns war unterdessen festgenommen worden.
Sie ward verurtheilt, bei dem Scharfrichter zu schlafen. Sie ging in die
Ummauerung der Scharfrichtern und schlief bei dem Scharfrichter — dem
Euphrates. Sie ließ darauf diesen in ihrem Anzug aus dem Gehege ent¬
kommen und verrichtete statt seiner das Scharfrichteramt. — Während so
Mesopotamia und Euphrates dem Tode glücklich entrannen, wurden Rhoda-
nes und Sorächos zum Tode geführt.
Zu des letzteren Hinrichtung wurde der Platz auf der Wiese bestimmt,
wo Rhodanes und Simonis auf ihrer Flucht sich zum ersten Mal gelagert
hatten, in der Nähe der Löwensäule, wo Rhodanes damals das verborgene
Gold fand, von welchem er auch dem Sorächos erzählt hatte. Der Scharf¬
richter, welchem Sorächos zur Hinrichtung übergeben ward, war — die Toch¬
ter des Landmanns. Zufällig hielt sich in der Nähe des Platzes der Hinrich¬
tung ein alanisches Heer auf, welches vom Garmos keinen Sold erhalten
hatte und von ihm abgefallen war. Diese Alanen schlugen die Wächter des
Sorächos in die Flucht und befreiten ihn. Sorächos hob das Gold der
Löwensäule, erzählte den Alanen, daß er die Kunst, wodurch ihm dies mög¬
lich geworden und noch vieles andere von den Göttern erlernt habe, und zog
sie in kurzer Zeit durch tägliche Gewöhnung so an sich, daß sie ihn zu ihrem
Anführer erwählten. Darauf zog er gegen den Garmos zu Felde.
Während dem war Rhodanes vom Garmos selbst zum Kreuz geführt
worden. Er wurde an demselben Kreuze befestigt, an dem er schon früher
gehangen hatte. Garmos hatte sich bekränzt und tanzte trunken und ausge¬
lassen mit seinen Flötenspielerinnen um das Kreuz herum.
Da erhielt er plötzlich einen Brief vom Scckas, daß Simonis nach Syrien
geflohen sei und den jungen König von Syrien geheirathet habe. Rhodanes
äußerte vom Kreuz herab seine Freude. Garmos wollte sich selbst tödten; er
stand aber hiervon ab und ließ den Rhodanes wider dessen Willen vom Kreuze
herabnehmen und machte ihn — obwohl derselbe lieber sterben wollte — zum
Feldherrn, behandelte ihn mit großer Freundlichkeit und schickte ihn gegen
den König von Syrien in den Krieg: — einen Liebhaber gegen seinen Neben¬
buhler. Heimlich sandte er jedoch ein Schreiben an seine Unterseldherren, in
welchem er demselben befahl, den Rhodanes, wenn der Sieg erfochten und
Simonis wieder gewonnen sein würde, umzubringen. — Aber Rhodanes siegte,
erhielt die Simonis wieder und wurde -- da Garmos unterdeß von den Ala¬
nen und Sorächos besiegt worden war — König von Babylonien.
Dies hatte eine Schwalbe vorher verkündet; denn diese wurde in Gegen-
wart des Garmos und des Nhodanes von einem Adler und einem Weiher
verfolgt: dem Adler (Garmos) entging sie und vom Weiher (Nhodanes) wurde
sie geraubt. —
Hiermit endet der Auszug des Photius. Nach einem bei Suidas erhal¬
tenem Fragment soll das Werk mit den Worten geschlossen haben:
„Die Gottheit wacht über Alles und will durchaus nicht, daß man in der
Rache unerbittlich und unversöhnlich sein soll". —
Das Werk des Jamblichos war nach Photius in fließender Sprache ge¬
schrieben. Der Patriarch von Constantinopel rügt nur dessen Mangel an
decenter Schreibweise, worin es dem Werke des Bischofs von Triana nach¬
stehen soll, erkennt jedoch willig an, daß es in dieser Richtung immer noch
weit weniger Anstoß gebe, als des drittgrößten griechischen Nomandichters
des Achilles Tatius Werk: Leukippe und Kleitophon. Er schließt sein Urtheil
über Jamblichos mit den Worten: „Guter Styl, kunstmäßig gebildeter Aus¬
druck und Ordnung in der Erzählung machten Jamblichos würdig, die Kunst
und Kraft seiner Darstellung an ernsthafterer Gegenständen, als an leicht¬
fertigen Romanen zu üben." — Diesem Urtheil des Photius gegenüber rügt
der Franzose Huck (I)o l'Orig'. clos Rom. Mg'. 5>1) die angeblich unkünstlerische
Disposition des Werkes, welche er darin erblickt, daß Jamblichos, das in
MLlli-is res lÄpoi'k des Horaz verachtend, rein chronologisch erzähle.
Wir sind geneigt, hierin gerade einen Vorzug des Jamblichos vor seinen
Nachfolgern zu erblicken und können uns nichts Unnatürlicheres und Ge¬
schmackloseres denken, als wenn z. B. in „Den unglaublichen Dingen jenseits
Thule" von Antonius Diogenes der Leser das Unglaublichste nicht selbst mit
sieht und findet, sondern von der Derbyllis dem Dinias und von Mantinias
der Derkyllis erzählen hört, oder wenn bei Achilles Tatius Leukippe ihre
Abenteuer in einem eingelegten Monolog erzählt. Bei dem Geschmack der
Griechen kann man sich derartige häufig wiederkehrende Dispositionen der
Erzählung wohl nur durch die Autorität erklären, welche diese Art der Be¬
handlung des Stoffes wahrscheinlich durch die Anordnung, in welcher die
Odyssee auf uns gekommen ist, genoß.
Da wir das Werk des Jamblichos selbst nicht besitzen, so sind wir außer
Stand, das Urtheil des Photius über dessen Styl zu prüfen, müssen aber
den natürlichen Geschmack, welchen Jamblichos durch die Disposition seiner
Erzählung bethätigt hat, anerkennen. Der vorhandene Auszug nebst den Frag¬
menten setzt uns aber auch in die Lage, materiell einigermaßen über den Roman
urtheilen zu können, ein Urtheil, welches nicht ungünstig ausfällt, wenn wir
auf das zurückgehen, was im Eingang als das Hauptwesen des Romans
hingestellt ward: Charakterschilderung und Individualisirung. Nach diesem
Maßstab waren die Babyloniaka bis zu einem gewissen Grad ein Roman im
modernen Sinn. Simonis erscheint, insbesondere nach dem oben mitgetheil¬
ten, bei Suidas erhaltenen Fragment über ihren eifersüchtigen Haß gegen die
Tochter des Landmanns als ein realer, leidenschaftlicher Charakter von Fleisch
und Blut, der Entwicklung und der Wandlungen fähig, mithin auch fähig,
Spannung und wirkliches Interesse bei dem Leser zu erregen. Sie unter¬
scheidet sich dadurch höchst vortheilhaft vor den idealen Schablonen treulieben¬
der Frauen der andern Romane, z. B. der Chariclea des Heliodor und der
Leukippe des Achilles Tatius, bei denen nie der mindeste Zweifel darüber er¬
regt wird, daß sie schließlich in der üblichen musikalischen Grotte zur sittlichen
Befriedigung des Lesers ihre Tugendprobe glänzend bestehen werden. Bon
den übrigen Hauptpersonen des Romans heben wir noch die Zeichnung des
Garmos und des Sorächos hervor; der erstere ist der vollendete Typus eines
orientalischen Despoten, der letztere ein einfacher, echt humaner Charakter.
Der Hauptheld Rhooanes ist verhältnißmäßig am blässesten gezeichnet. —
Ein zweites günstiges Urtheil über die Babyloniaka betrifft ihren Stoff.
Der Stoff fast aller andern griechischen Romane ist in der Hauptsache
folgender. Zwei Liebende unternehmen zusammen eine Seereise, werden von
Seeräubern gefangen und getrennt, sodann durch verschiedene Wechselfälle
wieder vereinigt und wieder getrennt, endlich definitiv gerettet und vereint,
worauf die Heldin die bereits oben erwähnte Probe ihrer oft angefochtenen
Unschuld in einer musikalischen Grotte besteht. Dieses nämliche Thema va-
riiren mehr oder minder die Aethiopika des Heliodor in den Fahrten des
Theagenes und der Chariclea, die Abenteuer der Leukippe und des Kleitophon
von Achilles Tatius, Chaereas und Calirrhoe von Chariton, die Ephesiaka
des A'enophon, und mit geringen Nuancen auch die „unglaublichen Dinge jen¬
seits Thule" von Antonius Diogenes.
Dieser Stoff entspricht dem Ursprung des griechischen Romans, der Reise-
beschreibung (in ältester und erster Instanz der Odyssee); auch sollen alle Er¬
zeugnisse dieser Dichtungsgattung nach dem Muster eines von einem unbe¬
kannten Schriftsteller des ersten Jahrhunderts der vorchristlichen Zeit geschrie¬
benen, dem Titel nach unbekannten, Romans des geschilderten Inhalts
gefertigt sein.
Jamblichos Borzug (ein Vorzug, den er nur noch mit Longus und Apu-
lejus theilt) ist nun: von dieser Schablone des antiken Romans durch selbst¬
ständige Dichtung und Bearbeitung localer und nationaler Sagen wenigstens
in der Hauptsache abzuweichen. Er selbst bezeugt nach Photius im Eingang
seines Werks dessen traditionellen und nationalen Stoff, indem er sagt: „Zu
den babylonischen Ueberlieferungen, welche mir mein Pflegevater beigebracht
hat, gehört auch diejenige, welche ich jetzt erzählen will."
Nach Anquetil du Perron ist Garmos (dessen Name in der uns bekannten
Reihe der babylonischen Könige nicht vorkommt) der Zohcik der iranischen
Heldensage und des Firdusi. Rhodancs ist Feridun, der edle glänzende tadel¬
lose Held, welcher das Ungeheuer Zohak, aus dessen Schultern zwei schwarze
Schlangen wuchsen, die mit dem Gehirn frisch getödteter Menschen ernährt
werden mußten, nachdem er lange umhergeirrt und Verfolgungen des blut¬
dürstigen Tyrannen erduldet, nach heißem Kampfe von dem Thron Irans
dessen Bestandtheil Babylonien zur Zeit jener Sage ist) stößt, hierauf selbst
den Thron besteigt und das strahlende Vorbild aller Könige und Men¬
schen wird.
Diese Annahme findet äußerlich wesentliche Unterstützung darin, daß im
Armenischen der Name des Feridun: „Notare" lautet, und innerlich darin,
daß das Umherirren des Nhodanes im griechischen Roman vortrefflich zu den
Verfolgungen paßt, welche der Held der iranischen Sage zu bestehen hat, und
daß bei beiden — wenn schon die Motive der Verfolgung verschiedene sind —
die Verfolgung mit dem Sturze des Verfolgers und der Thronbesteigung des
Verfolgten endet. Jenes Umherirren des Feridun und seine bald darauf fol¬
gende Thronbesteigung ist aber einer der größten Glanzpunkte der iranischen
Sage, und Jamblichos verarbeitete also in „den babylonischen Geschichten"
einen nationalen Lieblingsstoff ersten Ranges. Durch seinen dreifachen Bil¬
dungsgang (syrisch, babylonisch, griechisch) trefflich hierzu geeignet, bietet er
uns somit in seinem Romane die Frucht des Hellenismus: orientalischen
Stoff in hellenischer Form rein, reif und charakteristisch wie kein anderer.
Wir Deutschen haben allzulange in dem Urtheil über unsere National¬
geschichte von der Auffassung der Fremden uns leiten und bestimmen lassen.
So hat die französische Revolution des vorigen Jahrhunderts den Blick vor¬
nehmlich auf sich hingezogen; und die gleichzeitige Umwälzung und Neugestal¬
tung der Verhältnisse in der deutschen Nation ist erst neuerdings von unse¬
rer deutschen Geschichtswissenschaft beleuchtet und erörtert worden. Alle Welt
weiß, wie durchgreifend die Revision grade für die Epoche der Revolution
ausgefallen ist, welche wir den Arbeiten v. Sybel's verdanken: aus ihnen
hat sich ergeben, wie sehr man bisher die französischen Ereignisse überschätzt
und die gewaltige Veränderung des politischen und socialen Lebens in Deutsch¬
land zurückgesetzt hat.
Die französische Geschichte jener Jahre 1789—1799 etwas kühler, etwas
objectiver und nüchterner als die französischen Civilisationsherolde selbst pro-
clamiren, aufzufassen, werden heute in Deutschland wohl nicht allein die Hi¬
storiker , fondern die literarisch und politisch zurechnungsfähigen Kreise über¬
haupt gelernt haben. Die unbefangene Kritik der Revolution durch Sybel
und seine gleichmäßig auch die außerfranzösischen Bewegungen heranziehende
Darstellung haben einer richtigen Auffassung der Dinge seit 1789 die Bahn
eröffnet. Anders steht es noch mit demjenigen Zeitabschnitt, welcher der Re¬
volution und den Revolutionskriegen vorangeht. An Geschichten der klassi¬
schen Periode unserer Literatur von allen möglichen und unmöglichen Stand¬
punkten aus ist zwar kein Mangel; und auch zu einer mehr culturhistorischen
Auffassung der literarischen Entwickelung ist schon ein vielversprechender An¬
fang gemacht. Was uns noch fehlt, ist die eingehende und umfassende Wür¬
digung der politischen Zustände in Deutschland und ihrer Entwickelung vor
der Revolutionszeit.
In den einzelnen Territorien des deutschen Reiches ist jene 30jährige
Periode zwischen dem Hubertsburger Frieden und den Revolutionskriegen er¬
füllt und belebt von der staatlichen Arbeit, zu welcher ebenfalls die sogenannte
Aufklärung den Antrieb gegeben. Dem glänzenden Beispiel des großen Preu¬
ßenköniges folgten seine fürstlichen Zeitgenossen. Hebung der Volkskräfte,
Bildung und Concentrirung derselben zu staatlicher Arbeit, vernunftgemäße
Ausbildung der vorhandenen Organe und Einrichtungen, Verbesserung des
Heerwesens, Verallgemeinerung der Schulbildung, Reform der Justizpflege: alle
diese Bestrebungen erfüllen die verschiedenen Landschaften des Reiches: überall
ist Leben und Bewegung, Fortschritt und Gedeihen. Nicht im Ganzen des
Reiches, wohl aber in den Einzeltheilen erfreut Reichthum, vielgestaltige Fülle
und Mannichfaltigkeit politischer Strebungen und socialpolitischer Weiter¬
bewegung das Auge des Betrachters. Es ist ein entschiedener Fehler, an
allem diesem vorbeizugehen und die guten Früchte, die im einzelnen und im
kleinen uns auf jenen Feldern erwachsen, zu verachten oder zu übersehen.
In der eigentlichen Reichsgeschichte, in der nationalen Frage dagegen
herrscht Stillstand. Anläufe, die man gewagt hat, führen zu nichts: hier ist
trotz frommer Wünsche und gutgemeinter Pläne alles beim alten geblieben.
Auf diese letztere Seite der deutschen Geschichte jener Zeit lenkt heute ein
neues historisches Werk unsere Aufmerksamkeit hin, das, aus der Feder des
eigentlichen Meisters und Hauptes unserer deutschen Historiker herstammend,
einigen kurzen Betrachtungen auch an dieser Stelle zum Gegenstand dienen
mag.
Vor nun 24 Jahren hatte Leopold von Ranke, der Historiker des
sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts in Spanien, Italien, Deutschland,
Frankreich und England auch schon einmal ein Stück der neueren politischen
Entwicklung von Deutschland geschildert, den eigentlichen Werdeproceß des
preußischen Staates. Seine „Neun Bücher preußischer Geschichte" hoben in
kurzer Uebersicht die Momente der Entwicklung Preußens hervor und ver¬
weilten dann in eingehenderer Erörterung bei denjenigen Thaten Friedrichs II.,
welche die Machtstellung Preußens begründet und befestigt hatten. Zwar
war diesem Buche nicht der ungetheilte Beifall geworden, der sonst Ranke's
Leistungen begleitet, jedoch konnte kein Sachverständiger den feinen Blick, die
umsichtige Erwägung, die glückliche Forschung, das gereifte Urtheil des Mei¬
sters verkennen: oft ist bedauert worden, daß beim Jahre 1756 Ranke ab¬
gebrochen hat. Wir unsererseits haben immer der Hoffnung gelebt, es werde
Ranke uns noch mit einer Fortsetzung seiner Studien auf diesem Gebiete er¬
freuen. Und welchen außerordentlichen Genuß die Behandlung aller der na¬
tionalen politischen, socialen, literarischen Gegensätze und Parteikämpfe, die
das Jahrhundert nach 1756 bewegt haben, von der Feder eines so unbefan¬
genen und objectiven Historikers verspricht: das, meinen wir, konnten die¬
jenigen ermessen, welche den akademischen Vorträgen Ranke's über diese
neueren Perioden beigewohnt haben. Auch wo unsere eigene Auffassung der
Dinge, unser eigenes, weit entschiedener Partei ergreifendes Urtheil von der
Anschauungsweise Ranke's abweicht, ja vielleicht geradezu ihr entgegentreten
müßte, auch da werden wir von Ranke lernen und aus seiner Darstellung
unendlichen Nutzen ziehen können.
Wir haben öfters die Aeußerung gehört, ja, es ist auch wohl öffentlich
schon ausgesprochen worden, daß man auf dem Gebiete der Revolutions¬
geschichte, der Freiheitskriege Ranke lieber nicht begegnen würde. Wir sind
durchaus entgegengesetzter Meinung. Wir hoffen, daß Ranke's Studien über
die preußische und deutsche Geschichte seit 1756 recht weit auch ins 19. Jahr¬
hundert hinein sich erstrecken. Wir begrüßen mit Freuden einzelne jetzt schon
vorliegende Andeutungen, daß dies eben erschienene Buch über die Jahre
1780—1790 ein Bruchstück, ein Ausschnitt aus weiteren Arbeiten ist. Es
heißt ja schon seit mehreren Jahren, Ranke beabsichtige eine umfassende Ge¬
schichte Hardenberg's; und ein gutes Stück europäischer Diplomatie bis 1822
würde dies umschließen. Wir sind auf's lebhafteste gespannt zu erfahren,
welches Urtheil Ranke über die Haltung der deutschen Mächte 1792—1797
nach eigenem Studium der Acten fällen, wie er den unter auswärtigen Krie¬
gen sich vollendenden Auflösungsproceß des alten deutschen Reiches ansehen
will. Auch neben und nach den genialen Arbeiten Sybel's sind wir bereit,
das kühlere Plaidoyer Ranke's anzuhören: grade die Monographischen
Eigenthümlichkeiten Ranke's erhöhen den Wunsch, auch über jene Periode
sein wohl erwogenes, auf selbständiger und vielseitiger Kenntniß der Acten
beruhendes Urtheil zu vernehmen.
In dem erschienenen ersten Bande seines neuen Buches („Die deutschen
Mächte und der Fürstenbund. Deutsche Geschichte von 1780 bis 1790.
I. Leipzig, Duncker und Humblot. 1871") knüpft Ranke zunächst an seine
frühere preußische Geschichte den Faden der Darstellung wieder an. „Friedrich
.hatte Schlesien dem Hause Oestreich abgerungen", beginnt er: „eine zweite
Absicht aber, die er hegte, das Kaisertum von diesem Hause loszureißen, und
die oberste Gewalt im Reiche auf einer breiteren Grundlage neu zu gestalten,
die hatte er nicht erreicht. Das Kaiserthum war und blieb ein Bestandtheil
der Macht von Oestreich." Der Gegensatz des östreichischen Reiches der
Maria Theresia („in Wahrheit war sie der Kaiser") und des emporstreben¬
den preußischen Staates Friedrichs des Großen, — dieser auf einem bleiben¬
den Antagonismus ihrer eigentlichen Lebensprinzipien beruhende Gegensatz,
hier und da seltsam durchkreuzt und gefärbt durch das Bedürfniß einer Ver¬
ständigung und den Wunsch einer solchen: das ist das Thema, das Ranke
durch eine Reihe von Jahren hindurch erörtert.
„Wie das Drama sich nicht durch lange Prologe vorbereitet, sondern
durch dramatische Scenen, so will ich den Eingang meiner Erzählung nicht
durch reflectirende Uebersicht einer früheren Epoche bilden, sondern durch Er¬
innerung an einige Ereignisse, in denen die vorwaltenden Persönlichkeiten und
Tendenzen in unmittelbarer Wirksamkeit erscheinen." Er beginnt mit den
Zusammenkünften des Königs Friedrich und des Kaisers Joseph, im August
17«9 zu Reiße, im September 1770 im Lager bei Mährisch-Neustadt. Und
die eigenthümliche Natur des östreichischen Fürsten weiß Ranke mit feiner
Berechnung und dramatischer Weschicklichkeit sofort in Scene zu setzen und
vor dem Auge des Lesers sich entwickeln zu lassen. Joseph, so führt Ranke
ihn ein, „war davon durchdrungen, daß Oestreich einer inneren Regeneration
bedürfe, um sich wieder einmal mit Friedrich zu messen. Er theilte die all¬
gemeine Bewunderung, welche der König in der Welt erweckte, aber zugleich
sah er einen allzeit gefährlichen Feind in ihm. Von seinem Beispiel dachte
er Mittel und Wege zum Kampfe gegen ihn zu entnehmen." In knappen,
stets das Einzelercigniß nur andeutenden Zügen vollzieht sich nun die Charak¬
teristik des jungen Mannes. Man muß es in dem Buche selbst nachlesen,
wie sich Joseph's Verhältniß zu seiner Mutter, zu dem großen Staatskanzler
dem Fürsten Kaunitz entwickelt, wie er Beziehungen nach Rußland hin anknüpft
und in den Angelegenheiten des deutschen Reiches immer unruhiger vorwärts
drängt. In diesen außcröstreichischen Angelegenheiten hatte Joseph schon
seine eigenen Ansichten gellend gemacht, in den inneren Verhältnissen gelang
ihm erst nach dem Tode der Mutter, seinen Charakter zu zeigen.
Die Persönlichkeit und die Negierung Joseph's II. hat in letzter Zeit
mehrfache Beleuchtung erfahren. Eine sehr eingehende Würdigung lieferte
die ausgezeichnete Skizze, welche der verstorbene Kenner Deutschlands im 18.
Jahrhundert, Professor Perthes in Bonn, hinterlassen hatte.*) Die beiden
Regierungen Maria Theresia's und ihres ältesten Sohnes, in ihren gemein¬
samen, aber auch in ihren entgegengesetzten Tendenzen waren klar, übersicht¬
lich, objectiv von Perthes dargelegt: was die östreichischen Forscher von Ein¬
zelheiten geleistet, war zu einem Gesammtbilde schon so umsichtig zusammen¬
gefügt worden, daß Ranke für seine Zwecke das Fundament gelegt und den
Boden geebnet finden konnte. Die Veröffentlichungen Brunner's, trotz
ihrer karrikirten Auffassung dem Inhalte nach äußerst dankenswerth, weit
mehr aber noch die nicht genug zu preisender Bücher, mit denen seit einigen
Jahren aus den Schätzen des seiner Obhut anvertrauten Wiener Archives
Alfred von Arneth uns beschenkt: diese neu eröffneten Quellen haben
manche Züge des Bildes noch besser gezeigt und klarer ins Licht gerückt. Und
trotz alle dem ist es Ranke noch geglückt, nicht unwichtige Beiträge neu aus-
zugraben, durch seine Archivstudien auf Einzelnes noch helleres Licht zu wer¬
fen ! Von dem größten Interesse sind die Enthüllungen aus dem politischen
Verkehr zwischen dem Souverän und dem leitenden Minister: Joseph und
Kaunitz in ihren gegenseitigen Beziehungen treten in ein bisher ganz unge¬
ahntes Verhältniß. Es ergiebt sich, daß in allen und jeden Fragen der bei
weitem energischere, principiellere, consequentere Politiker Kaunitz ist und nicht
der seines aufgeklärten Despotismus wegen so berufene Kaiser. Die Meister¬
schaft von Kaunitz, des selbstbewußten Gründers der östreichischen Stellung
in den europäischen Fragen, des verantwortlichen Advokaten einer bourbonisch-
habsburgischen Allianz hat auch dem Kaiser Joseph imponirt, ihn beeinflußt,
seine Action geleitet: Kaunitz war der Lehrer, mit dem Ansehen langer Ge¬
schäftserfahrung umgeben, Joseph war der strebsame, lernbegierige, aber auch
folgsame Schüler. Dieses Bild entrollen uns die von Ranke dargelegten und
erörterten Ereignisse.
Im allgemeinen Interesse werden aus der Negierung Joseph's eine her¬
vorragende Stelle immer die geistlichen Angelegenheiten einnehmen. Auch
Ranke hat ihnen scharfe Aufmerksamkeit geschenkt. Und grade in unserer
Zeit mag eine Erinnerung daran besonders willkommen heißen. Joseph zeigte
sich von dem antikirchlichen Züge jener Periode durchaus durchdrungen; und
von Schritten für eine Herstellung allgemeiner Toleranz ging er dabei aus.
Maria Theresia schon hatte keine eigentliche Verfolgung oder Bedrückung der
Protestanten mehr gewollt, Joseph wollte Toleranz. „Das scheint," urtheilt
Ranke, „ein geringer Unterschied zu sein, aber in dieser Differenz will doch
die Verschiedenheit der Principien zu Tage." Joseph's Absicht war über¬
haupt, den Staat von dem geistlichen Begriff abzulösen. Und sobald er die
Regierung angetreten, ging er mit einer Reihe von Maßregeln vor, in Be¬
freiung der Protestanten von den bisherigen Einschränkungen, in Ueberwachung
der katholischen Kirche durch die landesherrliche Oberaufsicht. Gegen die
Klöster, gegen die Uebergriffe der Geistlichen in das bürgerliche Leben ging
er scharf vor — in einen Conflict mit dem Papstthum ist er dadurch gerathen.
Es ist ein Glanzstück Ranke'scher Geschichtskunst, dieses Capitel „Ver¬
hältniß zum Papstthum." Wir enthalten uns eines jeden Auszuges aus
demselben: unsere Leser mögen das Buch selbst in die Hand nehmen! Jedes
Wort, jeder Strich ist auf's sorgfältigste berechnet: abkürzen hieße hier die
Seele des Kunstwerkes vernichten! Nur das berühren wir wenigstens mit
einem Worte: während des Aufenthaltes des Papstes in Wien 1782, in den
mündlichen Verhandlungen nimmt man fast bei jedem Punkte der Forderung
des Papstes gegenüber eine gewisse Annäherung des Kaisers, aber eine sehr
entschiedene Zurückweisung von Seiten des Fürsten Kaunitz wahr. Und daß
Kaunitz auch in der kirchlichen Frage der energischere, consequentere, princi¬
piellere Staatsmann, gewesen als der Kaiser selbst, das ist eins der über¬
raschendsten Resultate, das Ranke gewonnen und erwiesen hat.
Die auswärtige Politik Joseph's wird dann von Ranke in ihrer ganzen
Bedeutung gewürdigt. Seine Eingriffe in das Stillleben des deutschen Reiches,
seine Versuche, die Stellung des Kaiserthums über und zu den Landesfürsten
wieder zu steigern und zu heben, werden kurz und bündig vorgetragen; und
diejenige Richtung, die eigentlich charakteristisch für ihn geworden, die Allianz
mit Rußland, wird eingehend erörtert und motivirt. Merkwürdig genug,
wie oft sich in der Zeit von 1740 bis 1790 die Haltung der Großmächte zu
einander verändert. Anfangs hatte Oestreich vornehmlich auf England sich
gestützt, dann an Frankreich sich angeschlossen, an dasselbe Frankreich, das
während der östreichisch-englischen Allianz die Siege Preußens über Oestreich
unterstützt hatte. Nach dem siebenjährigen Kriege hatte Friedrich der Große
verstanden, durch freundliche Konnexionen mit Nußland seine Geschäfte zu
machen: für Oestreich war nun die 17S6 so begehrte Verbindung mit Frank¬
reich werthlos geworden, nun galt es wiederum Friedrich seinen Alliirten zu
rauben und, da sich Rußland für Friedrich 1763 — 1778 von Vortheil er¬
wiesen, ähnlich wie einst Frankreich in den Jahren 1740 — 1746, jetzt zu
sehen, ob auch Oestreich ähnliche Vortheile aus der russischen Allianz ziehen
könne, wie sie Friedrich eingeerntet hatte. Für Ranke hat sich ohne Zweifel
herausgestellt, daß Kaunitz noch in den letzten Monaten der Maria Theresia
diesen Curs eingeschlagen und die russische Allianz zu erlangen gestrebt: Jo¬
seph verfolgte mit Eifer diesen Weg. Die russisch-östreichische Verbindung,
zunächst zur Lösung der orientalischen Frage, mußte aber Zerwürfnisse mit
Preußen herbeiführen; und man kann nicht sagen, daß es Joseph darum zu
thun gewesen wäre, diese Consequenzen seines Systemes zu vermeiden.
Jedermann weiß, auf welchem Punkte Joseph hatte weiterkommen wollen,
durch welche Action er noch den Lebensabend Friedrichs beunruhigt. Ihm
galt es den Erwerb Bayerns für Oestreich durchzusetzen. Wir folgen Ranke
nicht in das Detail der diplomatischen Arbeiten in München; wir erzählen
ihm nicht nach, wie Friedrich in einer sehr umsichtigen und großartig berech¬
neten Operation seinen Widerstand gegen die bayerische Annexion erhoben und
geltend gemacht hat. Es ist der Anlaß zur letzten großen That Friedrichs
für Deutschland, zum Abschluß des Fürst end und es. — Ueber den Fürsten¬
bund ist nun in den letzten zwei Jahrzehnten viel geschrieben und geforscht
worden: die Motive Friedrichs, den Hergang im Einzelnen, den Antheil ver¬
schiedener Persönlichkeiten an diesem Projecte hatte man festzustellen; und
noch die weitere Frage hatte man ein großes Interesse anzuregen, die nach
den letzten Absichten Friedrichs, nach dem eigentlichen idealen Ziele seiner
Politik. Das ist selbstverständlich, daß Ranke alle diese Arbeiten und Er¬
örterungen gekannt und verwerthet hat; manches neue Actenstück hat er außer¬
dem noch zu benutzen das Glück gehabt und in seiner feinen, vorsichtigen, ob¬
jectiven Weise zieht er aus Allem, was vorliegt, seinen allseitig erwogenen
Schluß. Friedrichs Absicht war, die deutschen Reichsfürsten zum Schutze ihrer
Autonomie, zur Vertheidigung der bisherigen Reichsverfassung in einem Bunde
zu vereinigen: das bayerische Project war der letzte Anstoß, mit diesem Bunde
nicht länger zu zögern. Friedrich kam mit seinen aus der allgemeinen Lage
geschöpften Erwägungen dem Wunsche einzelner Reichsfürsten entgegen, welche
schon mit dem Prinzen von Preußen über dergleichen Vorhaben sich in
Beziehung gesetzt. „Womit sich König Friedrich von Anfang seiner Negie¬
rung an getragen, aber ohne es durchzuführen, die großen Interessen des
deutsehen Reiches mit dem Bestand und Wachsthum seines Staates zu ver¬
einigen, das wurde jetzt möglich und dringend für beide Theile." Mit Han¬
nover und Sachsen verständigte sich Friedrich; dann schlössen sich von den
kleineren Fürsten eine ganze Anzahl an. Und wenn auch der Gedanke damals
schon vorübergehend aufgetaucht ist: „der Gedanke, das deutsche Reich sowohl
von Oestreich als von Preußen zu sondern", zwischen der reichsständischen
Opposition gegen Oestreich und dem preußischen Staate eine Vereinigung nicht
zu Stande kommen zu lassen (Frankreich gebührt das Verdienst, darauf hin-
gewiesen zu haben); — so fand solche Idee eines mittleren Deutschland doch kei¬
nen Anklang und die deutsch-preußische Absicht des Fürstenbundes trat in's
Leben ein. „Am meisten innere Verwandtschaft hat, wenn ich nicht irre/'
— so resumirt Ranke seine Darlegung — „die Vereinbarung von 1785 mit
dem Verständniß, welches Kurfürst Moritz von Sachsen im Jahre 1552 durch
den Passauer Vertrag mit den katholischen und geistlichen Fürsten traf. Wie
in jener Zeit Karl V- unter Mitwirkung des deutschen Hauses Oestreich von
dem Reiche ausgeschlossen wurde, so vereinigten sich jetzt die Stände gegen
das deutsche Oestreich, wie es unter Joseph II. auftrat."
Ergreifend ist das Lebensende Friedrichs von Ranke hingemalt: seine
ganze Meisterschaft bietet er auf, einen tiefen Eindruck im Leser zu erzielen,
und in der That nicht leicht wird ohne Bewegung des Geistes Jemand diesen
Abschnitt zu lesen im Stande sein.
Gehen wir weiter zu den Anfängen der Regierung Friedrich Wilhelm II.,
so können wir uns zunächst eines gewissen Gefühles der Ueberraschung nicht
erwehren. Weit milder ist Ranke's Urtheil über diesen König ausgefallen,
als wir erwartet oder als die Geschichtsschreibung bisher glaubte verantwor¬
ten zu dürfen. „An Geist und Energie fehlte es dem neuen Fürsten nicht;
aber die Verbindung schwärmerischer Anwandlungen mit sinnlichen Gelüsten
kündigte nicht viel Gutes an." Von diesen vier Prädicaten, die dem Könige
ertheilt werden, möchten wir jedenfalls eins, „Energie", gestrichen haben;
Geist, schwärmerische Anwandlungen und sinnliche Gelüste wollen wir bei
ihm nicht in Abrede stellen. Eine gewisse Theilnahme an den Interessen des
preußischen Staates, eine gewisse Bereitwilligkeit auf die Forderungen der Zeit
einzugehen, eine gewisse geistige Empfänglichkeit bewies der neue König sofort
nach der Thronbesteigung; aber was ihm fehlte war der Ernst, die Ausdauer
in seiner Berufsarbeit: weder Energie, noch Conseguenz hielt bei ihm vor,
und — wir wollen auch nach dieser sanfteren Schilderung Ranke's den harten
Ausdruck nicht scheuen — das Traurigste war, daß die Cardinaltugend der
Hohenzollern, das königliche Pflichtgefühl ihm so gut wie vollständig ab¬
ging. Wir halten es weder für Sache historischer Gerechtigkeit, über die etwas
bessere erste Zeit dieser Regierung stillschweigend hinwegzusehen, noch auch sie
besonders stark zu betonen oder das Folgende gewissermaßen durch sie zu ver¬
schönern: nein, die ersten Monate einer neuen Negierung sehen sich oft leicht
und rosig an, ohne daß die eigentliche Natur des ganzen Verlaufes diesem
ersten Hoffnungsschimmer entspricht. Erst die Fortsetzung des Ranke'schen
Werkes wird zeigen, in welche Verbindung und Beziehung Ranke das Vorspiel
zu der Hauptsache gedacht haben will.
Die Jahre 1786 — 1788, in denen in Frankreich sich die Wolken der
Revolution zusammenballen, gewinnen auch für Deutschland bei Ranke ein
hohes Interesse. Das merkwürdige Verhalten Oestreichs und Preußens zu
einander steht hier im Mittelpunkt: dort Joseph und Kaunitz, hier Friedrich
Wilhelm und Hertzberg, welch interessante Parallele ist in diesen Namen ent¬
halten! Eine gewisse Ähnlichkeit in den Beziehungen zwischen Souverain
und Minister drängt sich uns auf hüben und drüben. Und die beiden
Staatsminister sind es, welche das Princip der Machtstellung ihres Staates
sicherer erfaßt haben, als die Fürsten selbst: von dem Gegensatz preußischer
und östreichischer Interessen ist ihre ganze Politik erfüllt, während doch die
Fürsten Gelegenheit zu persönlicher Annäherung suchen und sogar von einem
intimen Verständniß zu reden beginnen. Diesen Velleitäten Joseph's begeg¬
nete Kaunitz mit schneidender Kritik in einer vollkommen freimüthigen Aus¬
einandersetzung: er hielt geradezu für unmöglich, daß Oestreich und Preußen
jemals Vertrauen zu einander fassen sollten; ihre Interessen seien einander
diametral entgegengesetzt: das einzig Gemeinschaftliche zwischen ihnen liege
in dem Streben eines jeden, den anderen so weit herabzudrücken, daß ihm
derselbe nicht mehr gefährlich werde. Und auf preußischer Seite gab Hertzberg
ganz ähnlichen Erwägungen Ausdruck, indem er von einem Anschluß an
Oestreich abrieth und vielmehr ein gutes Einvernehmen mit Rußland befür¬
wortete. Und diese politischen Gesichtspunkte der erfahrenen Minister haben
denn auch, wenigstens noch eine Weile, das Verhalten ihrer Fürsten bestimmt.
Gelegenheit sich zu erproben hatte Preußen in den holländischen Ver¬
wicklungen 1787. Es ist ein ganz unbestreitbares Verdienst Ranke's, daß er
die Intervention Friedrich Wilhelm's in Holland zuerst unter die richtigen
Gesichtspunkte gebracht hat: die eigentliche Bedeutung der militärisch-diplo¬
matischen Action ist zuerst von ihm erkannt und der politische Zusammenhang
zuerst hier aufgezeigt worden.
Die deutsche Politik, welche mit der Stiftung des Fürstenbundes inaugu-
rirt war, entsprach durchaus den persönlichen Ansichten des neuen Königes.
Schon als Prinz hatte er sich dafür interessirt und Verbindungen in dieser
Richtung ohne Vorwissen Friedrichs, aber im Einverständniß mit Hertzberg
an verschiedenen Höfen angeknüpft. Als König hielt er daran fest. Und der
Herzog Karl August von Weimar, hierin des Königs Gesinnungsgenosse und
Vertrauter, regte nun damals weitere Plane an, die man vermittelst des
Fürstenbundes in's Werk setzen wollte. Man machte sich damals wirklich
daran zu versuchen, „in wie fern eine enger zusammenschließende Gestaltung
von Deutschland mit den bestehenden Formen der Reichsverfassung sich würde
vereinigen lassen oder nicht."
Es war nicht möglich, solche Absichten zu verwirklichen. „Aber, wie Ranke
sehr treffend bemerkt: Von dem, was vorgeht, ist nicht immer das Wichtigste,
was dabei zu Stande kommt. Die Entwürfe, mit denen man sich damals
trug, werden allezeit als ein historisches Moment von Bedeutung betrachtet
werden müssen." Ranke hebt wiederholt die guten Seiten dieser Reformten¬
denzen hervor; besonders Karl August erweckt ihm freudige Theilnahme und
eine Art von Hochachtung und Bewunderung. Jedoch dringt auch bei ihm
immer deutlicher aus dem Fortgang der Erzählung die Ueberzeugung hervor,
daß innerhalb der Verfassung Deutschlands eine wirkliche Reform des Reiches
ein Hirngespinnst oder Schattenbild und nichts anderes sein konnte. Zwar
spricht Ranke es nicht aus, aber darauf führt auch seine ganze Erörterung
hin. daß ohne eine Vernichtung des Reiches in seinen alten Formen eine
Neubelebung nicht zu denken war. Nicht die frommen Wünsche einzelner
Patrioten, erst das wuchtige Schwert des Stärkeren konnte Rettung schaffen.
Wir werden nicht versäumen, über den zweiten Band Ranke's, der die
Einwirkungen der Revolution vom Westen her auf das alte Reich schildern
m
Es ist kein deutsches Urtheil, welches wir im Folgenden mittheilen. Ein
französisches Blatt, das vielverbreitete „Fxäut ?utile^ in Lyon, veröffentlicht
schon seit einiger Zeit ,,I.<Mrv!Z d'un ViIIag'0ol8", deren 31., vom 27. Octo-
ber datirt und gleich den früheren von dem „ländlichen Wähler Jean Guil-
laume" unterzeichnet, eine gewisse Seite des Charakters der Pariser in nach¬
stehenden überaus treffenden Worten abconterfeir:
„Die Pariser haben eine Art, frivol zu sein, an sich, die mich aus dem
Häuschen bringt. Es ist ein Gethue, als ob sie über alles lachen müßten,
was anderen Leuten die Thränen in die Augen treibt. Alles wird ihnen
Gegenstand des Witzereißens, selbst das Unglück des Landes und Volkes, und
sie bilden sich ein. das Vaterland gerettet zu haben, wenn sie den Feind unter
dem Gewicht von ein paar Dutzend Calembours zerschmettert haben. Dazu
kommt noch eine gewisse Gleichgültigkeit und Geringschätzung in Betreff alles
dessen, was sich draußen vor ihren Thoren begiebt. Geht man aus ihrer
Stadt hinaus, so giebts da nur noch mangelhafte Dinge und lächerliche We¬
sen. Der Mittelmann der Provinz ist ein wunderliches Ding, vom Schöpfer
nur ersonnen, um ihre Mußestunden zu erheitern; der Bewohner des platten
Landes eine Art Thier mit etwas Verstand, ein bischen weniger ungeschlacht
und unbequem als das gewöhnliche Heerdenvieh und eigentlich nur geduldet,
weil er zum Säen und Ernten des Korns und zur Pflege des Weines noth¬
wendig ist. In den Augen der Pariser erstreckt sich das, was man „das Land"
nennt, von Batignolles bis nach Charenton, darüber hinaus fängt das Aus¬
land an.
Offenbar war es diese sonderbare Anschauung, welche in den Zeiten der
Commune beinahe alle Gemüther in Paris in die Irre führte. Viele Leute,
die ungeheure Majorität ohne Zweifel, hatte Grauen vor dieser gemeinen
Negierung, deren Personal doch gar zu viel Canaille unter sich zählte, aber
die Idee lächelte sie verwandtschaftlich an. Ich habe damals die rechtschaffen¬
sten und wohlhäbigsten Leute, welche über den sittlichen Werth der Minister
sehr gering dachten, mit lauter Stimme die Theorie preisen hören, nach welcher
Paris Meister in Frankreich zu sein und es nach seinen Launen zu leiten be¬
rufen sein sollte, wie man einen Unmündigen oder einen sür mundtodt Er¬
klärten leitet.
Die logische Conseauenz dieses Princips ist, daß für die Pariser der Ein¬
bruch der Deutschen nur an dem Tage eine Wahrheit gewesen ist, wo die
Ulanen über die Champs-Elysees ritten und auf dem Place de la Concorde
ihr Lager aufschlugen. Oh! dieser Tag war im Ernst ein Tag der Trauer!
Die Läden schlössen sich, Einsamkeit und Schweigen verbreiteten sich über die
Straßen. An diesem Tage hörten die Pariser auf zu lachen, das Vaterland
war jetzt wirklich und wahrhaftig entweiht.
Die Zeitungen, die man in Paris schreibt, und die zu uns in der Pro¬
vinz wie Moses und die Propheten kommen, haben uns vom Eintritt der
Barbaren in das Elsaß an ganz schöne Klagelieder gesungen über die Be¬
fleckung des geheiligten Bodens, dann über die Plünderung, die Verwüstung
des Platten Landes und alle Bettelhaftigkeiten der Deutschen, endlich über
die Zerstückelung, diese letzte fürchterliche Prüfung; aber der Bewohner der
Rue Saint Denis, welcher nie auch nur' die Spitze einer preußischen Pickel¬
haube gesehen hat, ist beinahe versucht, zu glauben, daß es nur ein Alpdrücken
gewesen. Hätte er nicht etliche Monate das Fleisch von schwindsüchtiger Pfer¬
den und Brod, aus dem Stroh alter Stühle gemacht, essen müssen, so würde
er dreist in Abrede stellen, daß ein Drittel von Frankreich mit Blut befleckt,
ausgeplündert und in Asche gelegt worden, da ja die Rue Saint Denis und
ihre Umgebungen unbeschädigt geblieben sind.
Ich kann mir diese falsche Ungläubigst nicht aneignen, welche, um ihre
eigne Sprache zu reden, nur eine künstliche Absagung der Hauptstadt von der zu
naiven Provinz ist. Ich könnte mich noch weniger an die unanständige Art und
Weise gewöhnen, in welcher diese Hauptstadt, unser Kopf, unser Gehirn, wie
sie selbst sich nennt, das Andenken an diesen Einbruch bewahrt, der so viel
Thränen und so viel Blut gekostet hat.
Uns Andere, uns in der Provinz, die wir ihn in der Nähe gesehen und
von denen viele wenigstens grausam unter ihm gelitten haben, wird die Er¬
innerung an den Einbruch wie eine offene Wunde bleiben, welche viele Jahre
nicht vernarben lassen werden. Diejenigen unter uns, die ihren häuslichen
Herd verletzt, ihre Felder verwüstet, ihre Söhne getödtet und ihre Uhren
nach Deutschland entführt sahen, werden das Andenken daran bewahren bis
zu dem Tage, wo Preußen uns Alles wiedererstattet hat, was es uns an
Geld und nationaler Ehre geraubt hat*). Selbst die, welche der Abschaum
nicht berührt hat, die, welche ihn nur mit solcher Beängstigung sich ihren
Hütten nähern gesehen haben, werden sich dieser trauervollen Tage erinnern,
wo — ich sage es mit der Nöthe der Scham auf der Stirn — der Schrecken
die Vaterlandsliebe erstickte. Lange Zeit werden die alten Leute davon er¬
zählen. Es wird die wehmüthige Sage aller Dörfer sein, es wird, wie ich
hoffe, in den Gemüthern lange genug fortleben, um unsere kleinen Kinder,
die in zehn Jahren Soldaten sein werden, in einer Weise, die sich nicht ver¬
gißt, die Aufgabe begreifen zu lassen, die wir ihnen hinterlassen.
Ach! Ja wir haben Furcht gehabt. Furcht, nicht um unsre Haut, die
uns die wenigste Sorge macht, sondern um unsre Häuser, um unsre Kühe,
um unsre Keller, unsre Weinberge, unsre Ernten. Wir haben, ohne zu zögern,
unsre Söhne in's Feuer geschickt, wir würden selbst hineingegangen sein auf
unsern alten Beinen und mit unsern Jagdflinten, wenn der Feind den Durch¬
marsch durch unsere Thäler versucht hätte. Aber wir zitterten um unser Erb¬
theil und ersehnten den Frieden, ohne zu berechnen, was er uns kosten würde
nachdem er uns den Krieg gekostet hatte. Die Ruhe ist wieder eingetreten,
eine schreckliche Ruhe, während welcher man seine Verluste zählt. Eine Menge
Wohnungen sind in Trauer und werden in Trauer bleiben, so lange die,
Welche nicht zurückgekommen sind, nicht ihren Rächer gefunden haben.
Sehen Sie, mein Herr, das sind Dinge, um die man sich in Paris
nicht einmal die Mühe gibt, sich zu kümmern.
Das deutlichst erkennbare Ergebniß, die klarste Wirkung des Einfalls
der Deutschen auf die Pariser Sitten ist der Einfluß, den er auf die Mode
gehabt hat und unglücklicher Weise nicht in der Weise gehabt hat, daß er sie
vernünftiger gemacht hätte.
Ich rede nicht gerade von der Mode der Kleider, wiewohl die Weiber
sich darin gefallen, daß sie in der Art von Hüten kleine Helme tragen, denen
nur die Spitze fehlt, um sie zu preußischen Pickelhauben zu machen. New,
ich meine jene Verrücktheit, nach welcher die Pariser die glücklichen oder be-
klagenswerthen Ereignisse, welche sich zutragen, nur als Gelegenheiten be¬
trachten, die kleinlichen Spielereien zu variiren, die zu ihrer Existenz noth¬
wendig sind.
So ist z. B. gegenwärtig die preußische Granate in Gunst. In Wirk¬
lichkeit wie figürlich ist sie das beliebteste Spielzeug des Tages. Man ver¬
wendet sie allenthalben, sie bekommt Junge, ich weiß nicht, in was für
Hundertlei Saucen man sie den Leuten servirt. Gewisse Gewerbsleute machen
ein Geschäft daraus, alle Geschosse, die während der beiden Belagerungen nach
Paris hineingefallen sind (man nimmt es mit ihrer Nationalität nicht so genau),
zu sammeln und sie zu allerhand Gegenständen zu verarbeiten, die irgendwie
zum eleganten Leben gehören. Die sprichwörtliche Erfindungsgabe der Pariser
Fabrikanten hat sich mit vergnügten Herzen daran gemacht, und Spielzeug¬
fabrikanten und Juweliere haben um die Wette gearbeitet. Aus den großen,
dicken Bomben, welche nicht zersprungen und noch mit ihrem zerrissenen Hemde
von Blei bekleidet sind, macht man Wanduhren. Man zerschneidet ihnen den
Bauch, um ein Uhrwerk mit Zifferblatt hineinzuschieben, das nun die Stelle
des Pulvers einnimmt. Ich würde mich freuen, diese Wanduhr auf jedem
Kaminsims zu sehen, aber unter der Bedingung, daß der Zeiger daran un¬
beweglich wäre und immer dieselbe Stunde wiese — die der großen Reveille.
Aber ich vermuthe, daß diese furchtbaren Hausgeräthstücke viel häufiger die
Schlafkammer niedlicher Frauenzimmer als die von Liebhabern der Rache
schmücken werden.
Wo aber das Genie der Künstler sich selbst übertroffen hat, das ist in
der Art und Weise, in welcher man die Sprengstücke der Geschosse nützlich
verwendet. Aus einer halben und der Länge nach durchgespaltenen Granate
machen sie eine Cigarrendose, aus ganz kleinen Bruchstücken entstehen unter
ihren Händen Büchsen für Zündhölzchen, Uhrhalter oder Tintenfäßchen, oder
sie gestalten sie zu Briefbeschwerern oder Stockknöpfen um. Durch eine sehr
sinnreiche Zusammenstellung von größeren Kugeln, Zündnadelgeschosfen und
Granatspiegeln gewinnen sie Lichthalter, Leuchter, Kandelaber und selbst
Kronleuchter. Das sieht häßlich, plump, unsauber aus, aber jedes dieser
Bruchstücke hat vielleicht einen Franzosen getödtet oder zum Krüppel gemacht,
folglich ist das Ding als Kunstwerk von unschätzbarem Werthe.
Die Juweliere treiben's in noch raffinirterer Weise. Nichts zeigt heut¬
zutage besseren Geschmack, als wenn man an seine Uhrkette eine allerliebste
Miniaturgranate hängt oder sich über den Finger einen Ring streift, welcher
aus dem Sprengstück einer deutschen Bombe gegossen und von Fromme Mau-
rice ciselirt worden ist. Die Modedamen tragen dergleichen als Halsband
oder auch als Ohrgehänge. Die jungen Leute von der elegantesten Sorte
knüpfen sich's als Manschettenknöpfe ein oder schieben sie als Ring um die
Enden ihrer Cravatten. Etwas besonders Exquisites ist es, wenn es in der
Gestalt von Lilienblumen auftritt.
Eine ganz besondere Goldquelle aber hat die preußische Granate den
Conditoreien geöffnet. Den nächsten Neujahrstag wird ein wohlerzogener
Mann sich nicht erlauben dürfen, einer Dame Bonbons zu überbringen,
die nicht aus kleinen Zuckergranaten bestehen, welche in einer großen Granate
aus Pappe stecken. Die Leute, deren Söhne oder Brüder durch die deutsche
Artillerie getödtet worden sind, werden natürlich nicht umhin können, von
dieser niedlichen Gabe entzückt zu sein.
Das ist nur eine Seite der Pariser Frivolität, welche man uns in der
Provinz immer als ein Muster geistreicher Anmuth und feinsten Geschmacks
empfohlen hat. Es gibt davon tausend andere, aber eine, die mich auf jedem
Schritt durch die Straßen abstößt, und an die ich mich durchaus nicht ge¬
wöhnen kann, ist die Neigung der Pariser zur Karrikatur.
Es geschieht häufig, daß ich bei meinen Gängen durch Paris über ein
solches Bild roth bis über die Ohren werde, während Leute, die ohne Zweifel
viel weniger bäuerische Empfindungen haben als ich und viel mehr Verstand
für feine Witze besitzen, darüber lachen, daß sie sich die Seiten halten müssen.
Und diese Allegorie, die so zartsinnig, so zeitgemäß und vor Allem so kühn
ist, vervielfältigt sich in's Unendliche und nimmt tausend und abertausend
verschiedene Gestalten an. Es gibt keinen Bilderhändler in Paris, bei dem
nicht Frankreich durch Hunderte solcher Darstellungen in'Lithographie oder
Photographie gerächt oder gerettet würde.
Und alles das in diesem selben Augenblick, wo uns das Blut bis zum
Bleichwerden abgezapft wird, um den Appetit dessen, der uns besiegt hat, zu
befriedigen, und wo wir gezwungen sind, ihm mit freundlichem Lächeln unsre
Milliarden auf silbernem Teller zu präsentiren. Vermuthlich geschieht es,
weil kaum vor acht Tagen unser Bevollmächtigter, um die Befreiung von
fünf oder sechs Departements eher als ausgemacht zu erlangen, mit dem Herrn
v. Bismarck speisen und mit ihm jene Eßtourniere hat durchmachen müssen,
bei welchen demjenigen die Palme gereicht wird, der am meisten essen kann.
Um den Herrn Fürsten von Bismarck in gute Laune zu versetzen, mußte
man sich") von ihm in diesem Freßkampfe (WSlmt Ac guvulv) besiegen lassen
und sich dennoch soweit auf den Beinen halten, um ihn noch als Sieger an-
zuerkennen. Unser Minister (Pouyer Quertier) besitzt, Dank sei ihm dafür
gesagt, einen vortrefflichen Magen — so behauptet man wenigstens — und
er hat sich desselben zum größten Nutzen der Verhandlungen bedient, aber,
so fragen wir, ist der Moment, wo wir auf solche Mittelchen angewiesen
sind, der geeignete, wo wir die Großmäuler und die Eisenfresser spielen dür¬
fen? Dürfen wir jetzt die Lächerlichkeit begehen, im Bilde einen Feind zu
verjagen, den wir nicht mit den Waffen in der Hand über die Grenzen trei¬
ben konnten?
Da haben Sie, mein Herr, ein Beispiel des Pariser Geistes. Man sieht
Aehnliches häufig an die Wände angeklebt, aber weder die städtische Polizei,
noch die öffentliche Schamhaftigkeit trägt Sorge, daß hier Ordnung gestiftet
wird. Ich spreche nicht von allen Parisern. Gott sei Dank! Aber von
jener stupiden und plumpen, unwissenden und anspruchsvollen Masse, die we¬
der Scham, noch Würde hat und hundert Mal alberner und dümmer ist als
die rüpelhaftesten unserer Bauern. Denn diese Gesellschaft hält sich für viel
gescheidter und geschmackvoller als wir in der Provinz. Sie ist der Ueber¬
zeugung, daß sie allein „das Volk" sei (was beiläufig auch Leute in Deutsch¬
land von sich meinen) und daß die ganze übrige Welt nichts zu bedeuten
habe. Ich rede von dieser Masse, welche den 18. März machte oder — was
schlimmer ist, — machen ließ.
Wenn ein Nationalunglück wie dasjenige, welches uns das Blut ab¬
zapft, ein Volk betroffen hat, und wenn dieses Volk, statt sich ernst und
würdig von seinem Fall zu erheben, keine andern Kundgebungen seines Schmer¬
zes und seines Ingrimms weiß, als solche erbärmliche Witze, so sage ich, daß
dieses Volk auf dem Wege ist, der zum Nichts führt. Wenn man sich nicht
beeilt, mit dem Elementarunterricht dieser drohenden Auflösung aller anstän¬
digen Empfindungen und aller Grundsätze entgegenzutreten, so bedarf es nur
noch eines Schrittes, um in die letzte und äußerste Erniedrigung in politischer
Beziehung zu verfallen, in die Einverleibung in das deutsche Reich.
Wie das gesammte Staatsleben Preußens den aufstrebenden Zug ener¬
gischer Kraftentwickelung zeigt, so findet sich auch in dem preußischen Post¬
Wesen diese Signatur in charakteristischer Schärfe ausgeprägt. Aus dem
nationalen Aufschwünge von 1815 zog auch das Postwesen seine treibende
Kraft und entfaltete unter der Leitung trefflicher Verwaltungschefs mehr und
mehr eine über die Grenzen der heimischen Schlagbäume hinausreichende Wirk¬
samkeit. Bon dieser Zeit beginnt auch das wunderbare Wachsthum der
preußischen Metropole. Berlin, bekanntlich um die Mitte des Is. Jahrhun¬
derts von dem Hohenzollernfürsten Friedrich II. dem Eisernen zur Hauptstadt
Brandenburgs gemacht, hatte zu Ende des 15. Jahrhunderts nicht mehr als
etwa 10,000 Einwohner. Bei dem Umsturze aller staatlichen und socialen
Verhältnisse im dreißigjährigen Kriege sank die Einwohnerzahl auf 6000 herab,
vermehrte sich aber gleich nach dem Eintritt friedlicher Zeiten sehr erheblich;
1680 betrug sie bereits 17,000, zu Anfange des 18. Jahrhunderts 50,000,
stieg 1735 auf 100,000, 1804 auf 182,157. sank in Folge des Krieges 1807 auf
145,941, verdoppelte sich aber von 1815 bis 1823, und vervierfachte sich in dem
weiteren halben Jahrhundert, so daß sie jetzt nahe an eine 1 Million beträgt,
wie die Zählung im nächsten December darthun wird.
Nachdem zu Ende der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts die Schnell¬
posten, welche die 380 Meilen von Petersburg nach Paris in 15 Tagen
zurück legten, die gerechte Bewunderung aller Pfahlbürger und Kleinstädter
erregt hatten, blieb dem Einflüsse des modernsten Verkehrsmittels: den Eisen¬
bahnen vorbehalten, der Entwickelung des Posttransportwesens ungeahnte
Impulse zu geben. In dieser Beziehung erwies sich die glückliche Lage Ber¬
lins, als eines commerciellen Centralpunkts, als einer Vermittlerin zwischen
dem Westen und Osten Europa's, für den internationalen Verkehr von grö߬
ter Bedeutung; schon früher durch die Verbindung der Flußsysteme von Elbe
und Oder ein wichtiger Transit- und Speditionspunkt, wurde Berlin durch
die Eisenbahnen das Hauptemporium des Binnenhandels in Mitteleuropa.
Die Intelligenz seiner Fürsten verlieh ihm außer den Segnungen gewerblicher
Blüthe durch Gründung von Academien und Hochschulen den Glanz Athens,
das Prestige wissenschaftlicher und künstlerischer Größen, alles Factoren, deren
Gesammtwirkung von hohem Einflüsse auf das Emporblühen der Stadt „in
der Sandbüchse des heiligen römischen Reichs deutscher Nation" war.
Mit diesem Aufschwünge der Hauptstadt ging die Reform der Postbetriebs¬
einrichtungen Hand in Hand. Der lebendig pulsirende innere Verkehr Ber¬
lins hatte längst nach Herstellung eines Mediums für die Vermittelung von
brieflichen Nachrichten innerhalb der Grenzen des städtischen Weichbildes ver¬
langt. Man war zu Anfange dieses Jahrhunderts hierin bereits zur Selbst¬
hülfe übergegangen, indem die Mitglieder der sehr ehrenwerthen „Kaufmanns¬
gilde von der Materialhandlung" die Läden ihrer in der Stadt zerstreut
wohnenden Gewerbsgenossen zu Bnefsammlungen eingerichtet hatten, und die
auf diese Weise colligirten Briefe durch Voden bestellen ließen, welche die
Straßen Berlins durchzogen, und sich durch Klingeln mit einer Glocke
bemerklich machten. Eine sehr primitive Einrichtung, aber doch eine Einrich-
tung! Das Institut fand bei der großen Zahl seiner Mängel (namentlich
Unsicherheit und Langsamkeit) wenig Anklang und ging ein, als 1806 die
französische Armee in Berlin einrückte. Im Jahre 1823 ergriff die Postver-
waltung die Initiative zur Befriedigung des localen Verkehrsbedürfnisses, und
nach Beendigung der Vorarbeiten trat am 1. December 1827 die „Stadt-
post" zu Berlin in Wirksamkeit. An 60 Punkten in der Stadt wurden
Briefsammlungen unter Controle der Staatspostanstalt eingerichtet; die Brief¬
sammlungen nahmen Briefe jeder Art an, und beförderten solche durch Boten
fünfmal des Tages nach dem Centralpostamte, von wo entweder die Abfin¬
dung nach auswärts mit den Posten oder die Bestellung der nach Berlin
selbst gerichteten Correspondenz durch die Briefträger in's Werk gesetzt wurde.
Damals war Berlin in die bescheidene Anzahl von 36 Briefträger-Revieren
getheilt. In den Vorstädten fungirten indeß besondere Briefträger, darunter
ein „reitender." Die neue Einrichtung war das El des Columbus; sie be¬
währte sich vortrefflich und brachte schon 1828 eine Einnahme von 6593
Thalern Stadtporto; gleich in den ersten Tagen der Stadtpost wurden 3000
Briefe eingeliefert. 1832 stieg der Ertrag auf 12736 Thlr,, 1840 auf 20,000
Thlr., 18S0 auf 30,000 Thlr. Im Jahre 1870 belief sie sich auf mehr als
200,000 Thlr. Die Verwaltung versäumte im Laufe der Zeit nicht, das
Stadtpostinstitut mit der fortschreitenden Steigerung des Verkehrs zu refor-
miren. 18S1 traten an die Stelle der nicht mehr ausreichenden Briefsamm¬
lungen vollständige Districts-Posterpeditionen, und zwar außer den fünf Post¬
ämtern an den Eisenbahnhöfen noch acht Posterpcditionen an den verschiede¬
nen Verkehrsbrennpunkten der Stadt. Die Briefeinlieferung wurde durch
Aufstellung von 127 Briefkasten erleichtert, welche regelmäßig von den Districts-
Postämtern aus abgeholt bzw. geleert wurden. Zwischen den letzteren Stellen
und dem Central-Postamte in der Königsstraße richtete man eine Schnellver¬
bindung durch regelmäßig coursirende einspännige Briefposten ein, welche zehn
Minuten vor jeder vollen Stunde das Central-Postamt verlassen, nach den
Districts-Postämtern diejenigen Briefe befördern, welche in den Briefträger-
Revieren des Districts zu bestellen, d. h. den Adressaten ins Haus zu senden
sind, und auf der Rückkehr nach dem Central-Postamte diejenigen Sendungen
mitnehmen, die in den Districtsstellen ausgeliefert wurden. Dieser Beförde¬
rungsdienst ist mit minutiöser Genauigkeit regulirt. Bis 1842 bestand nur
eine sechsmalige Briefbestellung während des Tages; feit 1831 wurde dieselbe
unter Verdoppelung der Zahl der Briefträger (jetzt 440) zu einer zwölfmaligen
erweitert. Zwölfmal des Tages wird auch jede Districtsstelle von dem Brief¬
postwagen des Centralamts berührt. Außer den Briefpostcn durcheilen noch
zahlreiche Packettransporte und Geldposttransporte (Güterposten) Berlin in
allen Richtungen. Täglich kommen auf den acht Eisenbahnhöfen der Metro-
Pole insgesammt etwa 40 Postzüge an, und ebensoviele gehen ab. Bon jedem
dieser Züge und zu jedem derselben treffen Anschlußposten der anderen Eisen¬
bahnrouten - ein, da jedes ambulante Eisenbahn-Postbureau directe Briefpackete
mit den Postbüreaus der correspondirenden Bahnzüge wechselt. Die Anzahl
dieser Bahnposttransporte in der Stadt wird durch die Nothwendigkeit der
Arbeitstheilung in einem so mächtigen Organismus noch insofern verdoppelt
und zum Theil verdreifacht, als von einem und demselben Zuge Briefbeutel,
Packereien und Geldsendungen abgesondert expedirt werden müssen, weil für
jede dieser Kategorien in Berlin eine eigene Arbeitsstelle vorhanden ist. Alle
diese Betriebszweige müssen trotzdem in lebensvoller Verbindung und Wechsel¬
wirkung bleiben, weil andernfalls sofort eine Betriebsstockung, und in ihrem
Gefolge eine Benachtheiligung der Interessen des Publicums, eintreten würde.
Deshalb ist der Gang aller dieser Brief-, Güter- und Bahnhofs-Posten nach
dem Einheits-Prineip genau geregelt; von der Centralstelle geleitet, fügen die
einzelnen Betriebsorgane sich willig und schnell dem Interesse des Ganzen.
Die älteste Poststelle Berlins ist das von dem großen Kurfürsten gegrün¬
dete „Hof-Postamt". Seine Geschichte, von kleinen Anfängen ausgehend, ist
das lebendige Abbild der verschiedenen Phasen, welche der Verkehr der Haupt¬
stadt durchlaufen hat. An die Stelle der alten Botengänge der Fürsten und
Universitäten traten nach und nach wohlgeordnete Staatsposten; ehe noch
Eisenbahnen und Telegraphen beflügelte Boten des modernen Verkehrslebens
wurden, waren die Schnell- und Estafetten-Posten treue Vermittler der tau¬
sendfachen menschlichen Beziehungen, deren Pflege der brieflichen Mittheilung
bedarf. Es war ein interessanter Moment, wenn die Brief-Ausgabe-Expedi¬
tion des Hof-Postamts in alter Zeit die Posten von Hamburg, London, Pa¬
ris und Wien ausgab. Hunderte von Menschen drängten sich in dem über¬
füllten Vestibül; es galt die neuesten Nachrichten, die letzten Course, die großen
Staatsactionen des Auslandes zu erfahren. Allerdings bringt jetzt der Te¬
legraph die neuesten Nachrichten, aber doch ist diese Halle fortwährend belebt;
denn dort empfangen die Centralbehörden des Reichs und des Preußischen
Staats, die großen Börsenmagnaten, die Geld-Institute und zahllose Firmen
der Berliner Handelswelt ihre Korrespondenz, nicht minder ist hier die Welt
der xosw reswutv Briefempfänger, eines specifischen Products der Neuzeit.
Immerhin ist das Hof-Postamt noch die wichtigste Postbetriebsstelle Berlins;
es zählt ein Personal von 324 Beamten u. s. w. und vermittelt einen Um¬
satz von 950,000 Thlr. in Einnahme und 1,251,000 Thlr. in Ausgabe (an
Porto, PostVorschüssen, Ein- und Aufzählungen. Im Kriege von 1870—71
lag dem Hof-Postamte die wichtige Aufgabe ob, die Feldpostsendungen aus
dem Osten zu sammeln (Sammelstelle) und die für die Feldpost bestimmten
Briefsäcke für jedes Armeecorps, jede Division nach dem Felde abzufertigen.
Ein Bild von dieser Thätigkeit wird die Andeutung geben, daß von Berlin
täglich colossale Massen von Feldpostcorrespondenz abgingen, z. B. am 14.
Januar 1871 eine Post, bestehend aus 267 Briefsäcken mit etwa 160,000
Briefen in fünf großen Güterwagen. Die Feldposttransporte übertrafen die
sonst für unerreicht gehaltenen Englisch-Ostindischen Posten oft um das Dop¬
pelte. Neben dem Hof-Postamte bestehen ein besonderes, ebenfalls sehr um¬
fangreiches Stadt-Postamt, in welchem sich der gesammte Stadtpostbetrieb
concentrirt und ein Packerei-Amt für die Packetbestellung. Von dem letzteren
werden täglich 3—4 mal die Colonnen der Factagewagen ervedirt, mittelst
deren man die von auswärts angekommenen Packereien den Adressaten ins
Haus schickt. Die Anzahl dieser Packete beträgt oft 15,000 täglich. Am
großartigsten ist hier der Betrieb zur Weihnachtszeit, wo ganze Chimborassos
von Kuchen-Packeten, „Weinachtspaudeln", Kisten, Wurst- und Butter-Päckchen,
alles Wahrzeichen der deutschen Weihnachtsfreuden, von auswärts einlaufen.
Wer hätte in Berlin nicht einmal an den Weihnachtsfeiertagen jene Kolosse
von Wagenburgen auffahren sehen, die diese Packereien aufnehmen und sie
selbst nach den äußersten bewohnten Stätten Berlins, den ultima Thules,
getreulich hinbefördern. Bis 100,000 steigt in den fünf Weihnachtstagen
vom 20—24. December die Zahl der ankommenden Packereien, so daß die
Bewältigung dieser Massen wahrhaft staunenswerth ist.
Eine wichtige Betriebsstelle bildet auch das Post-Zeitungsamt. Wer die
Fruchtbarkeit der deutschen Nation auf literarischem Gebiete kennt, wird zu
ermessen wissen, welchen Geschäftsumfang eine Stelle erreichen muß, welcher
obliegt, die gesammte Zeitungsproduction einer Weltstadt wie Berlin nach
auswärts zu vermitteln. Insbesondere concentrirt sich bei dem Post-Zeitungs¬
amte der Verlag der auf schnellen Versandt angewiesenen Zeitschriften, also
der täglich erscheinenden Zeitungen jeder Art, sowie der politischen Wochen-
und Monatsschriften, die dem Postdebit unterliegen. Die Gesammtzahl der
abgesetzten Zeitungseremplare betrug in vergangenen Jahre 353,000. Die
Einnahme an Zeitungsprovision beziffert sich auf etwa 170,000 Thlr. jähr¬
lich und ist in stetem Steigen begriffen. Am belebtesten ist die Scene in dem
Post-Zeitungsamte des Sonnabends, wenn die mächtigen Stöße des Kladde¬
radatsch und der illustrirten Journale auf der Bühne erscheinen, um nach
allen Richtungen der Windrose verschickt zu werden. Man stelle sich vor,
daß der Kladderadatsch fast aus der ganzen civilisirten Erde gelesen wird und
daß jeder Abonnent das Berliner Zeitungspacket mit dem beliebten Witzblntte
sehnlich erwartet. Nun gilt es, im Zeitungsamte die Exemplare für jede ein¬
zelne Debitsstelle sorgsam abzuzählen, Tausende von Packeten daraus zu for-
miren, diese zu bezeichnen, zu schließen, endlich die Erpedition mit den Posten
zu bewirken. Schon früh Morgens am Samstage gehen 53,000 Zeitungs-
packete, darunter die sehr voluminösen für Nußland ab; im Laufe des Vor¬
mittags folgen 25,000 weitere Sendungen; endlich am Abend wird die Haupt¬
masse, 93,000 erpedirt, im Ganzen also 171,000 Packete, eine wahre Herkules¬
arbeit! Punkt 0 Uhr muß das gesammte sortir- und Verpackungsgeschäft
vollendet fein, das nur von diesen fleißigen, zahlreicher traditioneller Hand¬
griffe kundigen Händen bewältigt werden kann. Denn die Geschichte des Post-
Zeitungsamts beginnt mit der Gründung der ersten Berliner Zeitung, der
„Vossischen Zeitung" (1722); die Anzahl der seitdem expedirten Packete ist
also Legion. An den übrigen Wochentagen werden 120—130,000 Sendungen
abgelassen, wöchentlich gehen etwa 900,000 Packete ab welche die Gesammt-
production der politischen Presse und eines großen Theils der nicht politischen
Presse der Residenz enthalten. In der neuesten Zeit ist der Verkehr des
Zeitungsamts noch im Steigen begriffen, da die Einrichtung der ertraordi-
nairen Zeitungsbeilagen mit ihrer der Verbreitung von Preßerzeugnissen so
ungemein günstigen Tendenz das Volumen der Zeitungspackete erheblich ver¬
größert. Das Post-Zeitungsamt ist, begünstigt durch Berlins Lage, zugleich
ein wichtiger Factor für die Vermittelung des internationalen geistigen Ver¬
kehrs ; seine Verbindungen erstrecken sich über das ganze Ausland, sodaß auch
die Abrechnungögeschäfte bei der Verschiedenartigkeit der Währungen, Tarife
in. von großem Belange sind. Außer den geschlossenen Zeitungspacketen gehen
noch zahlreiche Einzelsendungen unter Kreuzband ab. Wer vor den Schlu߬
zeilen die Brief-Annahme-Erpedition des Hof-Postamts besucht und die massen¬
haften Kreuzbandsendungen nach allen Welttheilen, namentlich nach America,
aber auch nach Asien, Africa, Australien, sich aufthürmen und unter der
Hand kundiger Erpedienten „ins Weite schweifen" sieht, wird die Verbrei¬
tung geistiger Erzeugnisse, die Macht des Gedankens, welcher Raum über¬
schreitend die Antipoden miteinander verbindet, in lebendiger Wirklichkeit
vollzogen sehen und die universelle Bedeutung des Postwesens würdigen, das
ein mächtiges Band um Welttheile schlingt.
Wir schließen diese Skizze des Berliner Postbetriebes, der vielleicht sehr
bald eine Erweiterung auf dem Gebiete atmosphärischer Posten, durch die
Luftballons, erfahren wird, mit der Zusammenstellung folgender statistischer
Daten, welche die Großartigkeit des Verkehrs der Hauptstadt in Zahlen dar¬
thun: Es sind im Jahre 1870 befördert: Stadtbriefe 7,414,624, in Berlin
eingetroffene Briefe distribuirt: 15,506,948, außerdem: 1,218,258 Drucksachen
und Kreuzbandsendungen; ca,. 3,400,000 Packete; 1,600,000 Werthsendungen.
Von Berlin wurden abgesandt Briefe ca. 18,000,000, Packete 2,189,232,
Werthsendungen 719,280. Der Betrag der Einzahlungen auf Postanweisun¬
gen belief sich auf 6,201.635 Thlr. die Summe der Aufzählungen auf
14.423.930 Thlr. Die Zahl der Postämter in den verschiedenen Stadttheilen
betrug 4l. Auf den Kopf der Bevölkerung Berlins treffen jährlich 31,S Briefe
(in ganz Preußen etwa 10.)
Die Zeiten der uns Humes-mMix scheinen für uns gekommen zu sein.
Es hat nach dem Frieden lange gedauert, ehe die Hauffe der Börse in der
Weise durchbrach, daß sie das große Publicum der kleinen Besitzer mit sich
fortriß, daß die iruri sacra. lumes sich Derer bemächtigte, welche bis dahin
Arbeit und Sparsamkeit als die Quellen des Reichthums anzusehen gewohnt
waren. Aber diese Leute sehen die Papiere steigen und immer höher steigen
— in wenigen Wochen sind zwanzig, dreißig Procent verdient und wenn
Jemand ein' paar glückliche Treffer hat, so kann er in derselben Zeit sein
vermögen verdoppelt haben. Scheint da Der nicht ein Narr zu fein, der die
goldene Fluth an sich vorüberrauschen läßt, ohne zu schöpfen?
So wenigstens urtheilt die Menge; Einen nach dem Andern ergreift das
Fieber, die Börse wird von Tag zu Tage voller, in den Läden der Banquiers sitzen
früh morgens die Kunden, geduldig'auf ihre Abfertigung wartend, und des
Abends spät sieht man noch Licht ur den Comtoirs, und Chefs und Comto-
risten arbeiten — auch, wenn es nicht Ultimo ist. Nichts wäre thörichter,
als gegen die Börse als Institution etwas sagen zu wollen. Sie wird, so
wenig wie das Welfenreich, obgleich sie streng genommen diesem an Ehr¬
würdigkeit des Alters überlegen war, bis an das Ende der Dinge dauern;
in der heutigen Weltordnung aber hat sie ihre Nothwendigkeit und für das gegen¬
wärtige wirthschaftliche System ist sie nicht bloß eine sehr wichtige Schraube,
fondern vielleicht selbst der Schlußstein des ganzen Gebäudes.
Und gerade deßhalb ist es ein eigenes Ding um die Warnungen vor
dem Börsenspiel. Sie finden noch hier und da einen braven Mann, der
einen guten Gehalt bezieht und eine hübsche Pension in Aussicht hat und der
sich ein solides Papier oder eine gute Hypothek in den Schrank legt, „um
ruhig schlafen zu können" und an dem alle Verlockungen der Börse scheitern.
Die abschreckenden Beispiele sind für ihn vorhanden. Aber ein unparteiischer
Beobachter wird über diese abschreckenden Beispiele noch anders denken. Es
ist wahr, von Zeit zu Zeit geht eine Katastrophe über diese Welt des Geldes
hin, dann stürzen die neuen Vermögen (und auch manches alte) zusammen
wie die Kartenhäuser, aber im Großen und Ganzen ist, in England seit der
großen Revolution, auf dem Continent wenigstens seit 1815, die Ansamm¬
lung des Capitals immer rascher und rascher, in immer größerem Maßstabe
vor sich gegangen, die Hauffe — im weitesten Sinne des Wortes — ist die
vorherrschende Richtung gewesen, unterbrochen nur durch verhältnißmäßig kurze
Krisen, welche gleich Gewittern die Spannung der Atmosphäre milderten, und
— unter den Spielern — ist die Zahl der Gewinnenden ungeheuer viel
größer gewesen, als die der Verlierenden.
Aber außerhalb der Börse steht heute noch eine andere Industrie in voll¬
ster Blüthe: die der Gründungen. Wo irgend ein Unternehmen so weit ge-
diesen ist, daß der Unternehmer nicht mehr allein die Bücher führen kann,
wo es einen einigermaßen ansehnlichen Umsatz hat, da finden sich sofort
einige Personen, welche sich der Mühe unterziehen, dasselbe in eine Acüen-
oder Kommanditgesellschaft zu verwandeln. Das Unternehmen, welches bisher
einen Fabrikanten trug, wird fortan einen oder ein paar Direktoren. Ver¬
waltungsräthe, einen Syndicus und ein halbes Dutzend Beamte tragen —
nachdem es vorher den Gründern einen unverhältnißmähigen Gewinn abge¬
worfen hat. Die Geschichten, welche man über diese Profite erzählt, sind
fabelhaft. Vier Herren — ich erzähle nur eine, die vielleicht lange nicht zu
den fabelhaftesten gehört, verhandeln mit einem Fabrikanten wegen Über¬
lassung seiner Fabrik. Der Vertrag ist abgeschlossen, aber der Fabrikant findet
darin eine Lücke und als andere Gründer kommen und ihm zweimalhundert-
tausend Thaler mehr bieten, so schließt er mit diesen ab. Die ersten Gründer
sind damit natürlich nicht zufrieden und drohen mit dem Proceß Um diesen
zu vermeiden, zahlen ihnen die zweiten Gründer pro Mann S0,0l)0 Thaler
Entschädigung und — die Actien stehen heut weit über Pari. Ich glaube,
daß dieses, wie manches andere junggegründete Unternehmen reussiren wird,
denn wir sind in eine Periode großen Aufschwungs getreten und der Maßstab
des Vermögens und der Gewinne ist rasch ein ganz anderer geworden, als
er war, und wird es noch mehr werden. Aber die Thatsache ist unleugbar,
daß diejenigen, welche etwas haben, und mit ihrem Pfunde wuchern, in
immer kolossalerem Maße reich werden.
In den stenographischen Berichten unserer Parlamentsverhandlungen mvde-
rirt ein ungeheures Material von Kenntnissen, Beredsamkeit und politischer
Weisheit. Selten gelingt es, etwas davon für allgemeinen Gebrauch und
allgemeines Leben zu retten, aber wenn man die heutigen Zustände betrachtet,
wird man die merkwürdige Wahrheit eines Wortes erkennen müssen, welches
Laster bei der Debatte über das Gesetz gegen die Prämienpapiere sprach.
Er schilderte die Börse und sagte: „Ich bin gewöhnt, aus Erscheinungen
meine Anregungen herzunehmen, nicht schon sie für Gründe zu halten und
ich frage weiter: Wodurch bildet sich ein Verein von begabten und mittel¬
mäßigen Männern zu einer im ungewohntesten Maße gewinnbringenden Er¬
werbsklasse aus? Hierüber nachdenkend habe ich mich überzeugt, daß im
Wesentlichen die Creditverhältnisse und die Vermittelung des Creditverkehrö so
schlecht bei uns geregelt, ich will, nicht sagen, durch welche Schuld, aber that¬
sächlich so schlecht geregelt sind, daß die Kunst, wie man zu den Mitteln
kommt, die Creditbeförderung in Entreprise zu nehmen, das Geheimniß einer
bestimmten, nicht völlig abgeschlossenen Kaste, aber jedenfalls das Geheimniß
einer beschränkten Anzahl ist, welche aus dem Besitz dieses Geheimnisses den
ungeheuersten Nutzen zieht.""
Dieses „Geheimniß des Credits ist es in der That, welches den tiefen
Unterschied macht zwischen dem leichten und dem schweren, dem unbillig
leichten und dem unbillig schweren Erwerb; denn das ist die richtige Diffe-
rentiirung des Verhältnisses der Arbeit, während die des Socialismus zwischen
Arbeitern und Nichtarbeitern eine ganz falsche ist. Wird die Frage richtig
g
Die Zeitungen haben vor einigen Wochen hinlänglich genau beschrieben,
wie die französische Negierung vom 4. September 1870 bei Durchsuchung der
geheimen Papiere des Kaisers Napoleon ein Packet von Schriftstücken fand,
in welchen ein junger Belgier, Namens Lessinnes, der als Journalist in sei¬
nem Vaterlande nicht hatte zu Ehren kommen können, dem Kaiser Nachwei-
sungen zu liefern sucht, wie man auf dem Wege der Corruption aller in
Belgien einflußreichen Personen das Land in die Hände Frankreichs spielen
könne. Unvergessen ist auch, wie der Kaiser, um die Harmlosigkeit seiner Be¬
ziehungen zu dem Individuum Lessinnes darzuthun, den englischen Blättern
kürzlich eine Geschichte zum Besten gab, worin Lessinnes als romantischer
Jäger nach einem Billet der großen Oper zu Paris, der Kaiser aber als die
wohlthätige Allmacht des Märchens erscheint, welche dem verzweifelten Lieb¬
haber zu dem Platz verhilft, von dem aus er seine Geliebte sehen kann.
Man mag an diese Geschichten kaum ein Achselzucken des Mitleids ver¬
schwenden, so armselig erscheint der ehemalige Kaiser. Gleich armselig als
Opfer eines unverschämten Knaben, dessen unerfahrene Dreistigkeit wider Er¬
warten durch die Leichtgläubigkeit des mächtigen Alleinherrschers gerechtfertigt
wird, der in der Verlegenheit seiner Begierde nach jedem Strohhalm greift.
Armselig aber auch als Lügner, der der Welt einreden will, er habe den
scherzhaft gnädigen Kalifen gespielt, um zu verbergen, daß er der Betrogene
eines Narren geworden ist.
Es läge kein Anlaß vor, dieser Geschichten nochmals zu gedenken, wenn
sie nicht das Nachspiel zu dem Buch des Herrn Benedetti bildeten. Unsere
Leser erinnern sich, welch kunstfertiges Gewebe Herr Benedetti angelegt hatte,
um zu beweisen, sein Herr, der Kaiser Napoleon, habe die preußische Lockung,
mit deutscher Hilfe sich Belgiens zu bemächtigen, auf ebenso standhafte als
feine Weise abgewiesen. Napoleon habe, so erzählt Herr Benedetti, als ihm
Bismarck einen Vertrag mit dem Versprechen preußischer Hilfe bei der Weg¬
nahme Belgiens zugeschickt, dem Erwerbungsobject durch Randbemerkungen
rheinpreußische Gebietstheile und Luxemburg substituier.
'
Die Funde in Se. Cloud und auf Rouhers Landsitz straften diese Fabel
schon arg genug Lügen, aber der Humor ist grausam, mit welchem das Schick¬
sal auch das Nachspiel zu dem gescheiterten Plan Napoleons, Belgien mit
preußischer Hilfe zu gewinnen, an den Tag bringt. Als der Schutz der
preußischen Kanonen sich versagt, sucht der erwerbssüchtige Caesar seinen Trost
in den frechen Fabeln eines jung verdorbenen Müßiggängers, der ihm sämmt¬
liche Funcrionäre des belgischen Staates als käuflich vorspiegelt. Wie groß
muß die Begierde gewesen sein, die ihren Sclaven so blind machte! Und die¬
sen Sclaven wollte uns Herr Benedetti als Cato hinstellen, der jeder Ver¬
suchung zu unrechtmäßigen Erwerb edelmüthig und stolz, fein und unnahbar
aus dem Wege gegangen! Wie unerbittlich wirkt doch der Contrast, diesen
Cato auf der Leimruthe eines Gelbschnabels herumhüpfen zu sehen!
Wird dieser Cato noch einmal in Frankreich den Caesar spielen? Bei
diesem Volk ist nichts unmöglich. Aber dieses Volk und dieser Caesar wer¬
den nicht wieder Europa an ihren Augenbrauen hängen sehen, wie es traurig
genug seit dem December 1851 über 10 Jahre lang der Fall war. Eines
Tage's erkühnte sich dieser Caesar zu sagen: „Ist Frankreich zufrieden, so ist
Europa ruhig". Heut dürfen wir sagen: die Laune Frankreichs, mag es mit
dem Communismus, mit dem alten oder einem jungen Caesar spielen, ist
Europa gleichgültig, seitdem es den Arm besitzt, der die Ausschreitungen die¬
ser Laune nöthigenfalls im Zaume hält.
Am 30. October fand die erste Berathung der Reichhaushaltsaufstellung
statt. Die erste Berathung eines so verwickelten und großen Gegenstandes
gab erklärlicher Weise nur zu allgemeinen Bemerkungen von verschiedenen
Seiten Anlaß. Der conservative Abgeordnete von Wedell lieh sicherlich mehr
als einer Parteimeinung Ausdruck, wenn er den Etat als einen so gro߬
artigen und glänzenden bezeichnete, wie er kaum fe einer Volksvertretung
vorgelegt worden. Mußte doch der ultramontane Abgeordnete Grell denselben
Eindruck anerkennen, natürlich um sich sofort zur Bekämpfung der „Militair-
last" zu wenden. Die Beweggründe des Ultramontanismus in diesem Kampf
gegen die deutsche Streitbarkeit sind nur allzu durchsichtig. So sahen wir
denn den Abgeordneten Laster, dessen Patriotismus niemals bezweifelt werden
kann, zum ersten Male als Vertheidiger eines beträchtlichen Heeraufwandes
hervortreten. Ein militärischer Tagesschriftstcller, der sich zur freiconservativen
Partei zählt, schrieb kürzlich, der Abg. Laster habe am 30. October nicht
seinen glücklichen Tag gehabt. Wir fanden, daß dieser Abgeordnete noch
niemals einen so guten Tag gehabt hat. Wir freuen uns. daß endlich ein¬
mal ein Vertreter des vorgeschrittenen Liberalismus den Muth und die Ein¬
sicht gehabt hat, die Ansicht für veraltet zu erklären, als sei eine starke Armee
ein Hinderniß der Freiheit. Gewiß hatte der Redner Recht, wenn er sagte,
es ist wichtig, auszusprechen und die Nation mit dem Gedanken vertraut zu
machen, daß ihre Freiheit und ihre Macht in Waffen nicht unverträgliche
Gegensätze sind. Wir hätten noch lieber gesehen, wenn der Abgeordnete den
Gegensatz etwas deutlicher gefaßt hätte. Es handelt sich darum, das gro߬
artige Institut des preußischen Heeres,', wie es seit 1815 bis auf die Gegen¬
wart sich entwickelt hat, nicht länger im Gegensatz zu denken mit der zukunft¬
reichen Entwickelung des deutschen Staates. Es ist freilich längst Mode ge¬
worden, die allgemeine Wehrpflicht zu preisen und was in Preußen bereits
Mode war. fängt jetzt an, in Europa Mode zu werden. Aber der unter¬
scheidende Charakter des preußischen Heeres, dessen Charakter ja auf das
deutsche Heer übergehen soll und zum Theil übergegangen ist, beruht nicht
allein in der allgemeinen Wehrpflicht, sondern ebenso in denjenigen In¬
stitutionen, welche bewirkt haben, daß die allgemeine Wehrpflicht nicht eine
ohnmächtige Miliz, sondern eine in Bezug auf Technik und kriegerischen Geist
vollendete Armee geliefert hat. Es ist hohe Zeit, sagen wir, daß der Libe¬
ralismus, soweit er patriotisch sein will, die Aufgabe einsieht und sich zu ihr
bekennt, das in seinem Wesen unangetastet zu erhaltende preußische Heer mit
den künftigen Institutionen des deutschen Heeres organisch zu verschmelzen.
Ohne das" Bewußtsein dieser Aufgabe bleiben Liberalismus und Heer die
feindlichen Pole des 'Staatswesens, die sich verhalten wie Staatszerrüttung
und Staatserhaltung ohne den Hauch erneuerter Lebenskraft, Darum wie¬
derholen wir, daß der Abg. Laster seinen glücklichsten Tag hatte, als er zum
ersten Male dieser Aufgabe seinerseits Ausdruck lieh, wenn wir auch den Aus¬
druck noch bewußter und erschöpfender gewünscht hätten. Im Uebrigen be¬
rührte der Abgeordnete die Frage, ob das für die Militär-Ausgaben des Jah-
resi872 geforderte Pauschquantum seine verhältnißmäßige Niedrigkeit nicht
der Gunst von Umständen verdanke, welche schon der nächsten Ausgabefest¬
stellung nicht mehr zu Gute kommen werden. Der Bundesbevollmächtigte Graf
Roon bestätigte diese Annahme mit den Worten: „ich wünsche keineswegs,
daß Jemand damit überrascht werde, daß die Militär-Verwaltung für die
Kriegsbereitschaft der Armee und die Wafferifähigkeit des Landes die Frei¬
gebigkeit der Nation in höherem Maße als bisher in Anspruch nehmen muß."
Der Abgeordnete Richter, als Redner der Fortschrittspartei, erblickte in der
Bewilligung eines Pauschquantums für einen Ausgabeplan, dessen einzelne
Posten der'Reichstag eines Tages vielleicht beanstandet, einen Wechsel auf die
Zukunft, den er nicht unterschreiben zu können erklärte. Um den Klimax zu
schließen, nahm auch der Abg. Bebel das Wort. Es ist nicht nöthig, auf
die Reden dieses Abgeordneten einzugehen, sofern sie nicht gefährliche Irr¬
thümer enthalten. In der Regel sind die Irrthümer, welche Herr Bebel
vorträgt, zwar kräftig, aber nicht gefährlich. Diesmal warf er den Liberalen
aller Schattirungen vor. daß sie nicht genug gegen die Erhaltung des Heeres
opponirren. „Es sei dies aber nur die Folge des Selbsterhaltungstriebes;
man suche den Schutz des Heeres gegen die sociale Bewegung. Bald würden
jedoch die socialistischen Arbeiterelemente in das Heer dringen." Der Reichs¬
tag beschloß, den Reichshaushalt nicht an die Budget-Commission zu ver¬
weisen, sondern die zweite Berathung s. Z, sofort im Plenum vorzunehmen.
Am Zt. October gelangte eine Vorlage zur ersten Berathung, betreffend
die Ueberweisung eiserner Vorschüsse für die Verwaltung des Kriegsheeres
aus der von Frankreich gezählten Kriegsentschädigung. Wir bemerken für
diejenigen Leser, die vielleicht den Gegenständen der Reichstags-Verhandlungen
nicht mit beständiger Genauigkeit zu folgen vermögen, daß es sich hier nicht
um den Kriegsschatz handelt, der nur zur Bestreitung der ersten Mobil¬
machungskosten bei entstandener Kriegsgefahr bestimmt ist. Bei der jetzt er¬
wähnten Vorlage handelt es sich um die Bildung von Betriebsfonds für die
laufenden Bedürfnisse des Heeres, deren die Neichskriegsverwaltung bisher
entbehrte. Dieser Mangel führte zu einer großen Belästigung der Einzel¬
staaten, welche der Neichskriegsverwaltung die nöthigen Vorschüsse aus ihren
Mitteln leisten mußten. Die Vorlage fand keinen Widerspruch. In Betreff
der zweiten Lesung wurde ein Antrag des Abg. Hänel angenommen, dieselbe
mit der zweiten Lesung des Neichshaushalts zu verbinden. In derselben
Sitzung ging noch der Gesetzentwurf über die Unterstützung der Gotthardt-
Bahn "durch die erste und zweite Lesung, ohne zu erheblichen Bemerkungen
Anlaß zu geben.
Am 2. November folgte die erste und zweite Berathung des von dem
Mecklenburgischen Abg. Büfing und Genossen eingebrachten Antrages: hinter
Artikel 3 der Reichsverfassung'einen neuen Artikel aufzunehmen folgenden In¬
haltes: In jedem Bundesstaat muß eine aus Wahlen der Bevölkerung her¬
vorgehende Vertretung bestehen, deren Zustimmung bei jedem Landesgesetz
und bei der Feststellung des Staatshaushalts erforderlich ist." Auch der un¬
kundigste Leser weiß, daß die Spitze dieses Antrages gegen die feudalen Zu¬
stände in Mecklenburg gerichtet ist. Das Interesse aber, von welchem die
Parteien in dem Verhalten zu diesem Antrag bestimmt wurden, liegt, wie
die Dinge heute stehen, bei den Gegnern nicht mehr sowohl in der Vorliebe
für die mecklenburg'schen Zustände, als in den Bedenken gegen die Ausdeh¬
nung der Reichscompetenz.'
Das Ereigniß der Sitzung war die Rede des Abgeordneten Treitschke.
Nie haben wir den Reichskanzler einer parlamentarischen Rede solche Auf¬
merksamkeit schenken sehen. Man könnte sich einen Standpunkt denken, der
bei aller Ueberzeugung von der UnHaltbarkeit, ja Ungeheuerlichkeit mecklen-
burg'scher Zustände doch geneigt wäre, dergleichen Anträge für ungelegen zu
halten. Man könnte fragen: wie lange kann das im schlimmsten Fall noch
dauern? Wozu die unmittelbare Dazwischenkamst des Reiches hervorrufen
und die heikle Frage der Kompetenz zur Unzeit beschwören? Diesem Stand¬
punkt trat der Redner gegenüber in der schlagendsten und überzeugendsten
Weise, die man nur denken kann. Ja er hat Recht, das neue Reich
darf nicht wie der alte Bundestag sich inkompetent erklären, wo es gilt, einem
schreienden Nothstande im deutschen Volke irgendwo abzuhelfen. Es ist wahr,
kein vernünftiger Mensch wird dem Reich nachsagen, was dem Bundestag
nachzusagen war, daß er überall bedrücke und nirgend fördere, nirgend helfe.
Aber zu den großen Segnungen des Reiches muß auch die Fähigkeit zur un¬
mittelbaren Hilfe für schreiende Nothstände kommen, wenn es sich im Glau¬
ben der Nation festsetzen und behaupten soll. Wir glauben, daß von dieser
Nothwendigkeit jeder Hörer und Leser der Treitschke'schen Rede sich so durch¬
drungen finden wird, daß auch das Bedenken nicht mehr aufkommt, ob die
Einführung einer Volksvertretung für Mecklenburg das rechte Mittel ist. Vor
allem gilt es zu zeigen, daß dem Reich Macht und Wille zu helfen inne-
wohnt, und den Anfang der Hilfe zu leisten. Das Weitere gehört der
Zukunft.
Am 4. November erfolgte die zweite Berathung über die Bildung eines
Neichstriegsschatzes. Man erinnert sich, daß das Gesetz.aus Miquel's Antrag
nach der ersten Berathung einer Commission überwiesen wurde. Das Haupt¬
interesse der zweiten Berathung bewegte sich um den § 2, welcher bei einge¬
tretener Verminderung des Normalbestandes dem Kriegsschatz die zufälligen
Einnahmen des Reiches zuführen wollte. Die Commission hat diesen Para¬
graphen abgelehnt. Ein Antrag des Abgeordneten Bodelschwingh verlangte
eine von der Regierungsvorlage abweichende Fassung. Die Regierungsvorlage
hatte unter zufälligen Einnahmen solche verstanden, welche aus anderen Be¬
zugsquellen fließen, als den im Artikel 7t) der Reichsverfassung dem Reich
zugewiesenen. Der Antrag Bodelschwingh verlangte, daß diejenigen Einnah¬
men in den Kriegsschatz fließen, welche nicht in den Reichöhaushalt aufge¬
nommen sind. Die Regierung schloß sich durch den Bevollmächtigten Camp¬
hausen dem Antrag Bodelschwingh an.
Die Institution des Kriegsschatzes hat keinen Sinn, wenn nicht Vorsorge
getroffen wird, und zwar in einer die Factoren der Reichsgesetzgebung binden-
den Weise, zur Wiederergänzung des Schatzes, wenn derselbe ganz oder theil¬
weise verwendet worden. Diejenigen Redner, welche die Wiederergänzung
dem Zufall, eventualiter Vereinbarungen unterstellen wollten, widerlegte der
Abgeordnete Gneist in seiner überlegenen Weise. Uns dünkt jedoch, das
Widerstreben, außeretatmäßige Einnahmen zuzulassen, habe ebenfalls seinen
Meer Grund. Der Antrag' Bodelschwingh wurde schließlich angenommen.
Wir würden vorgezogen haben, wenn der Antrag dahin gelautet hätte: der
^eichöknegöschatz muß, sobald er seinen Normalbestand nicht mehr erreicht,
ledesmal aus den Einnahmen des Reiches und nöthigenfalls durch Eröffnung
außerordentlicher Einnahmequellen bis zur vorgeschriebenen Höhe wieder er¬
gänzt werden.
Das Bestreun des Abgeordneten Hvverbeck, den Gebrauch des Kriegs¬
schatzes bei dringender Kriegsgefahr von der vorgängigen Berathung und
Beschlußfassung des Reichstags abhängig zu machen, bedarf keiner Charakte-
risirung, obwohl ihm die Ehre einer Widerlegung durch den Reichskanzler
Johann Heinrich Merck, seine Umgebung und Zeit, von Dr. Ge¬
org Zimmermann. Frankfurt a. M., I. D. Sauerländer's Verlag. 1871.
Eine vollständige und allen Anforderungen entsprechende Biographie
Merck's ist eine dank'enswerthe Arbeit; unstreitig wird durch sie eine fühlbare
Lücke in der deutschen Literaturgeschichte ausgefüllt.
Wir verkennen nicht, daß der Verfasser trotz des reichen biographischen
Materials manches Versteckte oder Unbekannte herangezogen und für die Bio¬
graphie Mercks verwerthet hat. Andererseits aber haben wir kein Ver¬
ständniß dafür, daß er auf halbem Wege stehen geblieben und den Weimari¬
schen Briefschatz zu heben nicht einmal versucht hat. Denn sicherlich berech¬
tigt doch nichts zu der Annahme, daß eine Wiederholung des vor mehr als
30 Jahren mißglückter Versuches heute von ganz demselben Erfolge begleitet
sein müsse. — Weimar ist zwar neuerdings durch die Haltung der Goethe'sehen
Erben etwas in Mißcredit gerathen, aber da wohl die Correspondenz Mercks
mit Carl August und Amalia nicht in dem Goethe'schen Archive ruht, so
hätte der Herr Verfasser wenigstens ein Fünkchen Muth haben sollen, um
dieser unstreitig höchst wichtigen Korrespondenzen habhaft zu werden.'
Was dieArbeit selbst anlangt, so beschränkt sich der Verfasser, wie der
Titel des Buches besagt, auf Merck's Person nicht allein, sondern er hat es
in völlig berechtigter Weise unternommen ein Bild der Zeit zu geben, in dem
er alle möglichen Verhältnisse und Persönlichkeiten beleuchtet, die mit Merck
einen Berührungspunkt gehabt haben. Daß die Arbeit schwierig ist, unter¬
liegt keinem Zweifel. Wir halten nicht dafür, daß sie dem Verfasser geglückt
ist.' Es fehlt dem Buche die klare Entwickelung des Merckschen Lebensganges
und seines Charakters, dem am Schluß des Buches ein großes Capitel ge¬
widmet ist, aber das doch nicht in Wünschenswerther Weise aus den Verhält¬
nissen heraus das Werden des Mannes schildert. Es macht einen ganz eigen¬
thümlichen Eindruck, wenn man am Schlüsse eines so mächtigen Buches
eine Reihe von Merckschen Portraits nach Goethe und Andern geschildert
findet, die gar nicht erkennen lassen, welcher Zeit jene Portraits angehören.
Ebenso wenig ist dem Verfasser geglückt, ein treues einheitliches Bild der Zeit
zu geben, denn mit einer Masse' von eingeflochtenen Biographien verschiedener
Persönlichkeiten, die doch nur bis zu einem gewissen Punkt für das Leben
Merck's von Bedeutung sind, ist nichts geleistet. Auch befriedigt die Dar¬
stellung nicht, der es an Knappheit und guter Verarbeitung des Materials
fehlt; das Buch ist breit, weil viel unnütze'Briefe in oxtevKO abgedruckt sind,
die man wohl in einem Briefwechsel, nicht aber in einer Darstellung wieder
lesen kann. Mit einem Worte- Das Buch liest sich nicht Als Hülff- und
Dr. 0. L-at.
Die Betheiligung der „rothen Partei" unter der polnischen Emigration
an den Plänen, welche die Internationale verfolgt und die pariser Commune
für eine kurze Zeit verwirklicht hat, reicht weit in die Vorgeschichte jenes re¬
volutionären Ardeiterbundes zurück. Die ersten Ansätze zu denselben traten
bei dem großen Meeting in die Oeffentlichkeit, welches am 22. Juli 1863 in
Se. James Hall zu London vorzüglich von englischen Arbeitern abgehalten
und von einer Deputation der pariser Werkstätten beschickt wurde, und dessen
Zweck war, vor Europa die Sympathien der Versammelten mit dem damali¬
gen Versuche der Polen auszusprechen, die Herrschaft Rußlands abzuschütteln.
Seit dieser Zeit hat die Befreiung Polens in den Programmen der kosmopo¬
litischen Revolutionäre, aus deren Vereinigung später die Internationale her¬
vorging, stets eine hervorragende Stelle eingenommen. Unmittelbar nach
jenem Meeting fanden in London Berathungen der von Georg Odger geleite¬
ten englischen Communisten mit jener pariser Deputation statt, welche die
Gründung eines allgemeinen Arbeiterbundes bezweckten, und deren nächstes
Ergebniß eine Ansprache Odgers an die Arbeiter Frankreichs war, in der wir
folgenden Hauptstellen begegnen:
„Französische Brüder! Euer willkommener Besuch bei der großen Ver¬
sammlung, die den Zweck hatte, unsere Entrüstung über die Uebelthäter aus¬
zudrücken, welche so viele Jahre jenem edlen, aber unglücklichen Volke, den
Polen, die grausamste Unbill zugefügt haben, hat uns mit der Hoffnung
erfüllt, für die verachteten und vernachlässigten Völker Europas eine hellere
Zukunft tagen zu sehen. Könige und Kaiser haben ihre festlichen Zusammen¬
künfte, und ihre pomphaften Ceremonien prunken vor der Welt, erfreuen die
Leichtfertigen und thun den Wohlhäbigen gut, erschweren aber die Bürde,
unter welcher der ehrliche fleißige Arme schwitzt. Erfolgreiche Verbrechen wer¬
den gerechtfertigt, und gewissenlose Minister (Palmerston ist gemeint, auf des¬
sen Entschlüsse in Betreff der polnischen Revolution die Versammlung vom
22. Juli hatte drücken sollen) erklären sie für gesetzlich und die Verbrechen
für lobenswerth. So lassen wir denn als ein Mittel, dem gegenwärtigen Mi߬
brauch der Gewalt Schranken zu setzen, unsern Aufruf zu einer Verbrüderung
der Völker wiederhallen. Möge eine Versammlung stattfinden von Vertretern
Frankreichs, Italiens, Deutschlands, Polens, Englands und aller Länder, wo
man für das Heil der Menschheit mitzuwirken gewillt ist. Halten wir Kon¬
gresse, discutiren wir die großen Fragen, von welchen der Völkerfriede
abhängt, bringen wir mit gebührender Würde unsern Verstand und unser
moralisches Recht zur Geltung gegenüber den Schlichen und Gewaltthaten
der sogenannten Herrscher, und unsere Ueberzeugung ist, daß die Macht der
Despoten geschwächt werden wird, und verschlagene Ränkeschmiede, (wieder ist
Palmerston gemeint) statt die höchsten Aemter zu schänden, indem sie ihren
geheiligten Auftrag zur Vereitelung der edelsten Anstrengungen des mensch¬
lichen Geistes mißbrauchen, gestürzt in Dunkelheit enden werden. Dieß würde
für ehrenwerthe Männer mit klarem Verstand den Weg ebnen, hervorzutreten
und Gesetze zu geben für die Rechte der Vielen und nicht für die Vorrechte
der Wenigen. Eine Verbrüderung der Völker ist höchst nothwendig für die
Sache der Arbeit, und wir finden, daß jedes Mal, wenn wir unsere sociale
Stellung durch Herabsetzung der Arbeitszeit oder Erhöhung des Lohnes für
unsere Arbeit zu bessern versuchen, die Arbeitgeber uns drohen, Franzosen,
Deutsche, Belgier und Andere herüberzubringen, um unsere Arbeit für gerin¬
geren Lohn zu thun."
Mit diesen Wendungen geht die Ansprache auf die Wege über, auf denen der
projectirte Verein das Loos der Arbeiter verbessern soll. Man sieht aber, daß
politische Zwecke damals an der Spitze des Programms standen, und daß die
Förderung der polnischen Sache im Sinne der Revolution unter diesen Zwecken
die erste Stelle einnahm.
Dieß war später nicht mehr der Fall, aber immer spielte die Wirksam¬
keit für die Befreiung Polens bei den Proclamationen und in den Berathun¬
gen der Herren Odger, Marx, Engels, Tolain, Major Wolff und wie die
Gründer der Internationale sonst heißen, eine Rolle, und stets standen die¬
selben in Verbindung mit dem demokratischen Flügel der polnischen Emigra¬
tion. Als 1864 der provisorische Centralrath der Internationale zusammen¬
trat, waren zwei Polen Mitglieder desselben, A. Zabicki, der Herausgeber
des in London erscheinenden „Glos Wolny" (Freie Stimme) und ein ge¬
wisser Bobczynski. Diese beiden Flüchtlinge delegirten zwei andere Polen,
A. Bobrownicki, einen früheren Kaufmann, der in Warschau Bankrott gemacht
hatte und sich nun als politischer Resugie geberdete, und Mroczkowski, der
jetzt Mitarbeiter an der kommunistischen „Egalite'" ist, um unter den pol¬
nischen Flüchtlingen Propaganda zu machen, und gründeten polnische Bureaus
der Internationale in Paris, Brüssel, Wien, Genf und Posen. Die potui-
schen Flüchtlinge traten dem Bunde in Masse bei und veröffentlichten in
ihren Journalen alle Manifeste desselben. Bei dem von der Internationale
veranstalteten zweiten großen Polenmeeting, welches am 28. September 1864
in der Se. Martins Hall zu London stattfand, faßte man unter andern Re¬
solutionen auch die folgende:
„In Anbetracht dessen, daß alle Regierungen Polen aufgegeben haben,
vertraut dieses sich durch die Stimme seiner im Ausland beglaubigten Ver¬
treter dem Schutze der Arbeiter der verschiedenen Länder an. Die polnische
Section hofft zuversichtlich, daß die Mitwirkung und die vollständige Befrei¬
ung der arbeitenden Klasse, die Wiederherstellung der polnischen Nationalität
zur Folge haben werden, die um so nothwendiger ist, als die Polen, an der
Spitze der slavischen Civilisation einherschreitend, allein die sociale Belehrung
der slavischen Völker bewirken, und das Proletariat in Rußland und in den
slavischen Ländern befreien können, welche in die Conföderation der Vereinig¬
ten Staaten von Europa eintreten werden."
Zabicki ließ von der polnischen Uebersetzung der bei diesem Meeting ge¬
haltenen Reden hunderttausend Exemplare abziehen und über die von Polen
bewohnten Landstriche vertheilen. Desgleichen besorgte man eine Uebertragung
derselben ins Russische, ins Tschechische und ins Ruthenische.
Einige Wochen nach dem Meeting vom 28. September verschickte das
polnische Centralcomite' (Ognisko) an seine Anhänger ein Manifest mit einem
rothen Stempel und dem Motto „I^doromus", in welchem es hieß:
„Indem wir uns der Internationale anschließen, geben wir unser Inter¬
esse an der uns so theuren Frage nicht auf. Wir haben erkannt, daß wir
zwei Aufstände, 1830 und 1831 und wiederum 1863 und 1864 unternommen
und daß dieselben nur deshalb keinen Erfolg gehabt haben, weil ihnen die
Stütze des Volkes fehlte. Wir müssen jetzt eine gründliche, nicht blos for¬
melle Revolution machen. Das wahre Gebiet, mit dem wir beginnen müssen,
ist die von der Internationale auf den Schild gehobene sociale Frage, die
uns so am Herzen liegt. Wir müssen zunächst die Geistlichkeit und den Adel
bekämpfen, welche die Hauptstützen der Tyrannei sind."
Die Mehrzahl der polnischen Mitglieder der Internationale wohnte dem
ersten Congreß derselben bei, welcher am 3. September 1866 zu Genf zu¬
sammentrat.*) Sie nahmen keinen Antheil an der Erörterung der rein socialen
Fragen, vertheidigten aber mit Entschiedenheit die von den französischen De-
legaten angefochtene Beibehaltung des achten Paragraphen des Programms
der Versammlung, der „von der Nothwendigkeit" handelte, „den Einfluß des
russischen Despotismus auf Europa durch Anwendung des Rechts der Völker,
über sich selbst zu bestimmen, und durch Wiederherstellung Polens auf social¬
demokratischen Grundlagen zu vernichten/' Der Pole Cwierciakiewicz forderte
den Congreß auf, nicht aus den Augen zu lassen, daß die russische Regierung
das mächtigste Hinderniß des Triumphes der socialen Revolution sei. Ein
anderer Pole, der General Bossak, protestirte im Namen seiner Landsleute
gegen den neunten Paragraphen, der von der Abschaffung der stehenden Heere
handelte, mit folgenden Worten: „Wie ihr, verdammen wir die stehenden
Heere, aber wir wollen die allgemeine Volksbewaffnung. Die Polen werden
stets bewaffnet bleiben, so lange Polen nicht frei ist. Ihr Feldgeschrei ist:
Für unsere Freiheit und sür die eure."
Als der Kaiser Alexander 1867 Paris besuchte, veröffentlichte der Graf
Victor de Röcheln in den dortigen radicalen Blättern eine von circa fünf¬
hundert zur Internationale gehörigen Arbeitern unterzeichnete Adresse, in
welcher es hieß:
„Vor vier Jahren forderten wir für Polen Hülfe, Unterstützung, Gerechtig¬
keit, Schutz. Andere Kundgebungen haben damals die Oberhand behalten.
Heute bitten wir, sämmtlich Wähler, französische Arbeiter in Paris, sämmt¬
lich gleich, Väter, Brüder, niedergeschlagen in der Erinnerung an unsere Ohn¬
macht und zu gleicher Zeit ergriffen von dem Unglück Polens, den gesetz¬
gebenden Körper, dem Beispiele glorreicher Vorgänger zu folgen und ge-
wogentlich in seiner AnsMche an den Kaiser Alexander den Zweiten bei
seinem bevorstehenden Besuch im Palast des allgemeinen Stimmrechts an
den früheren Beschluß zu erinnern: die polnische Nationalität bleibt allezeit
ungeschmälert bestehen."
Und so ging dieses herzliche EinVerständniß und dieses wechselseitige Auf¬
treten für einander zwischen den Polen und der kommunistischen Arbeiterpartei
in den Jahren bis zum deutsch-französischen Kriege fort.
Auf dem Congreß von Lausanne (2. September 1867) unterzeichneten
die Polen eine Adresse an den Genfer Friedenskongreß, in der sie sich „die
Soldaten der socialen Revolution" nannten. Am 23. September
desselben Jahres erschien eine von dem obenerwähnten Ognisko verfaßte
Adresse an den jungen Berezowski (der während der Anwesenheit Alexanders
des Zweiten einen Schuß auf denselben abgefeuert), in welcher die Demokratie
gebeten wurde, sich für das Schicksal „dieses Opfers der moskowitischen Ty¬
rannei zu interessiren und Verwahrung einzulegen gegen das ungerechte Ur¬
theil der verderbten Richter, welche diesen edlen Jüngling verurtheilt haben."
Im September 1868, während des Congresses der Internationale zu
Brüssel, lud die polnische Section die andern Abgeordneten des Bundes ein,
hinsichtlich der Frage: „Welche Stellung müssen die Arbeiter im Fall eines
Krieges zwischen den europäischen Mächten einnehmen?" zu Gunsten Polens
Vorbehalte zu machen. Der Pole Jaroslav Dombrowski, soeben dem Bunde
beigetreten, erklärte, daß seine politischen Ueberzeugungen ihn verhinderten,
gegen den Krieg zu Protestiren, so lange die Völker nicht das Recht hätten,
über sich selbst zu verfügen. Er las dann eine Adresse an den Congreß
^or, in welcher 228 in Paris lebende polnische Flüchtlinge ihr republikanisches
Glaubesbekenntniß ablegten und dem Centralrathe der Internationale ihre
unbedingte Hingebung erklärten. Ein anderer Pole, Zionkowski, schlug eine
Adresse an den Präsidenten Juarez vor, welche demselben Glück wünschte zu
dem Befehle, „den Tyrann Maximilian, den Bruder eines der Unterdrücker
Polens," erschießen zu lassen, ein Vorschlag, der von dem Congresse mit eini¬
gen Abänderungen angenommen wurde.
Einige Wochen später erschien ein Manifest der polnischen Section der
Internationale, in welchem jene mit Namensunterschrift ihrer Mitglieder er¬
klärte, „daß sie die Waffen so lange nicht niederlegen werde, so lange eine
Monarchie oder irgend eine nicht republikanische Regierung besteht, so lange
es eine Geistlichkeit und eine Aristokratie giebt, welche der republikanischen,
demokratischen und socialen Regierungsform entgegen sind, die allein den
Grundsätzen und dem Ziel entspricht, nach welchem jeder Patriot von Gesin-
nungstüchtigkeit hinstreben muß, Sie erklärt, daß sie sich als republikanische,
demokratische und socialistische Gesellschaft constituirt hat. Ihr Wirkungsge-
bier ist nicht blos in Polen, sondern in jedem Lande, wo die Freiheit noch
nicht festgestellt ist."
Bei den späteren Zusammenkünften der Internationale machten die Polen
sich stets durch ihre gewaltigen Reden bemerklich, und zu gleicher Zeit pre¬
digten ihre Journale die wildesten Grundsätze, Atheismus, Fürstenmord, Gü¬
tergemeinschaft, Abschaffung der Familie und dergl, Dinge, die sie auch in
den abendlichen Clubs der pariser Demokraten vortrugen und zwar mit einem
Fanatismus, der selbst den der Jacobiner und Hebertisten überbot, welche
1871 den Generalstab der Commune bildeten.
Voll Eifer für die von den verschiedenen Congressen der Internationale
Aufgestellten Ideen constituirten sich die polnischen Flüchtlinge dieser Klasse
^68 zu einer Centralcommune in Paris, die Provinzialcommunen in den
leisten Frankreichs und an verschiedenen andern Orden Europas errichtete,
Wo es Gruppen von Flüchtlingen gab.
In einem Manifest, unterzeichnet von Alexander Biernawski, Bossal,
Jaroslav Dombrowski, Jarmund, Boleslav Swietorzecki, Valerius Wrob-
lewski und dem Abbe Zulinski. hieß es:
„Das Comite, welches die polnische Emigration vertritt, beschließt zum
^weck einer festen Organisation der Emigration, wie folgt! 1. An jedem Orte
hat sich die Emigration als Commune zu constituiren und einen Kassierer
sowie einen Secretär zu erwählen, der sich mit dem Comite in Verbindung
setzt; 2. Die schon bestehenden Vereine sind als organisirte Communen an¬
erkannt; 3. Die Stadt Paris wird auf Grund ihrer Ausdehnung wenigstens
drei Communen bilden; 8. Außer den Beiträgen zu besonderen Zwecken ist
jeder Flüchtling verpflichtet, für die allgemeinen Angelegenheiten monatlich 2t.
Centimes zu steuern. Dieser Beitrag wird von dem Kassierer der Commune
in die Hände des Kassierers des Centralcomites gezahlt/' Und weiter hieß
es in dem Manifest: „Die Emigration kann sich nicht damit begnügen, im
Innern des Landes Propaganda zu machen. Sie muß sich in allen ihren
Beziehungen zu dem Auslande kundgeben. Sie hat nicht blos in der aus¬
ländischen Presse und im Angesicht freier Völker die Bedürfnisse und Hoff¬
nungen des Landes auszusprechen, sondern auch an jedem zur Befreiung eines
unterdrückten Volkes unternommenen Kampfe mit den Waffen theilzunehmen,
gleichviel, welches Volk es sei. Sie wird so ihr Verwachsensein mit der
republikanischen Idee zeigen."
Infolge dieses Ausrufs wurden 91 polnische Communen als Succursalen
der pariser Centralcommune errichtet. Man hielt periodische Versammlungen
ab, zu denen man die leitenden Geister der Clubs von Belleville, von Vaur
Hall, von Vieux Chine und Pre aur Clercs einlud. Raoul Nigault, Ducasse,
Briosne, Amouroux und andere Radicale waren fast unausbleibliche Theil-
nehmer an den polnischen Versammlungen in Billette und beim Pantheon-
Sie wurden dort durch die Polin Paula Minck eingeführt, die in einer ihrer
Reden, mit den Worten schloß: „Wir erkennen die Macht Gottes nicht an,
weil wir weder Gott, noch irgend eine Macht wollen," eine Rede, welch?
die Dame zu Nutz und Frommen „ihrer lieben Landsleute daheim" ins Pol'
mische übersetzt verbreiten ließ.
Die polnische Commune des Pantheon schickte zu dem Congreß der Inter¬
nate, der 1869 zu Lausanne stattfand, einen Abgeordneten, Bossak, welcher
dort einen Bericht über die gegenwärtige Lage Polens vorlas. Der Congreß
erklärte, man werde eine Commission von fünf Mitgliedern bestellen, welch?
alle die polnische Frage betreffenoen Documente sammeln solle.
Es besteht zu Paris eine polnische demokratische Gesellschaft, welche in
ganz Frankreich gegen 2000 Mitglieder zählt. Diese Gesellschaft hat zuo
Präsidenten den General Mieroslawski, welcher sich an der pariser demago-
gischen Bewegung von 1871 nicht mehr betheiligt hat, als an der warschauer
von 1863, aber nur weil bekanntlich dieser große Lama der polnischen Demo¬
kratie der Ansicht huldigt, daß Vorsicht die erste aller Tugenden ist. Eine
erhebliche Anzahl von Mitgliedern dieser Gesellschaft hat der Commune von
Paris ihren Arm geliehen und erwartet jetzt in Versailles ihr Urtheil.
Vorsitzender aber hat sich sorgfältig seine Haut gehütet, trotz seines 1845 und
später abgelegten Glaubensbekenntnisses, in welchem es hieß, „die ganze Zeit
der revolutionären Periode bis zum Triumphe des Volkes muß eine un¬
ablässige Verschwörung sein, die stets zum Kampfe bereit ist." Das Ideal
des Herrn Mieroslawski, wie wir es in dem Journal „Lo 1'euxl« I'olonii.js^
vom 1. Sept. 1869 formulirt finden, lautet: „Die ganze ernsthafte und auf¬
richtige Demokratie, in eine homogene Körperschaft vereinigt, handelt ohne
Unterlaß wie eine für jedes Ereigniß bereite Verschwörung, offen in den Län¬
dern, wo sie geduldet ist, verborgen in denen, wo sie sich bei Tageslicht nicht
»eigen darf. Diese Verschwörung der gewissenhaft demokratischen Elemente
pflanzt, indem sie sich l>. priori als einzige Vertreterin des Volkes betrachtet,
w der Person ihres Präsidenten ihr Banner vor aller Welt auf und vertraut
ihm als dem Haupce der Demokratie die Orclrl) «t0 Zatirilio und alle poli¬
tischen Angelegenheiten ohne Ausnahme an." Mieroslawski ließ trotz all
seinem Pathos seine Soldaten allein kämpfen, steckte seine Fahne in die Tasche
Und verschwand ohne Geräusch.
Dennoch glauben wir den Lesern einige Auszüge aus dem ,,?<axis ?o-
lomü^ vorlegen zu müssen, welche beweisen, daß die polnische demokratische
Gesellschaft und ihr vorsichtiger Präsident die Ansichten der Internationale
stets getheilt haben und durchaus würdig waren, ein Bataillon der Commune
von Paris zu bilden.
Den 1. September l860 sagte das genannte Organ Mieroslawskis in
Bezug auf den baseler Congreß:
„Wir haben wiederholt schon unsere Grundansicht ausgesprochen: wir
glauben an keine politische Befreiung ohne sociale Umgestaltung, wie wir an
keine sociale Umwälzung ohne politische Befreiung glauben.. . Da die So¬
cialdemokratie Europas mit uns ist, so werden unsere Brüder, wenn sie sich
befreien, unserer gemeinsamen Lehre folgen, und der alte Continent wird eine
neue Welt werden____ Der Congreß kann jedem das Recht bestätigen, das
Stück Land zu behalten, welches seine Vorfahren sich genommen oder welches
er von einem andern erkauft hat, der es unter gleichem Rechtstitel besessen.
Wäre das socialistisch? Brauchte man sich zu einem Congreß zu versammeln,
um das festzustellen? Es ist unbestreitbar, daß jeder andere Beschluß, die
Gütergemeinschaft, der Staat, die Nation, die Provinz, die Gemeinde zum
Eigenthümer erklärt und ebenso der Besitz für erwerbbar nur durch directe und
Persönliche Arbeit oder durch die Arbeit von Genossenschaften hingestellt, daß,
sagen wir, alle diese Lösungen, indem jede einzelne einem Todesurtheil gegen
alle gegenwärtigen Eigenthümer, d. h. alle, welche die Stütze der gegenwär¬
tigen Regierungen bilden, gleichkäme, nichts geringeres wären, als Herausfor¬
derungen an alle Mächte Europa's".....Der Congreß kann das Erbrecht
als existirend anerkennen und zu gleicher Zeit erklären, daß er nichts damit
zu thun habe. Aber wenn er es für die Grundursache der socialen, politi¬
schen und internationalen Sclaverei erklärt, so spricht er damit dem monar¬
chischen, dem aristokratischen, dem kirchlichen Erbrechte und dem der Eroberung
das Todesurtheil, d. h. er erklärt logisch jeder Unterdrückung den Krieg und
empfiehlt Frieden und Unterwerfung im Hinblick auf das individuelle Wohl¬
befinden. Jedermann weiß, daß der Credit sich auf die Menge der produc-
tiven Arbeit und nicht auf die Menge des Metalls gründet, welches das Ka¬
pital vertritt, d. h. für den Augenblick das Mittel vertritt, die productive
Arbeit zu seiner Verfügung zu haben. Folglich ersetzen die Arbeitergenossen¬
schaften ihren Mangel an Geld durch eine Collectivgarantie der Arbeiter. Sie
werden nicht nur den unmittelbaren Credit heben, sondern das Todesurtheil
über jede andere Art von Credit aussprechen, d. h. über alle Besitzenden und
folglich über alle Staaten, die sich auf die ihnen Steuerpflichtigen stützen."..
„Euer Werk ist groß. Freunde! Es trägt in sich das Heil der Welt. Ver¬
sucht, euch zur Höhe eurer Aufgabe zu erheben."
In Nummer 22 desselben Journals aber finden wir Folgendes: „ Wir
verlangen, daß der Grund und Boden und alle Arbeitswerkzeuge als Ge¬
meinde-Eigenthum anerkannt werden, ohne welches es keine politische Gleich¬
heit giebt. Wir verlangen die Zutheilung aus den Gemeinde-Erzeugnissen an
die Familienmutter, ohne welche es keine sociale Freiheit giebt. Wir ver¬
langen die Abschaffung jedes religiösen Monopols, ohne welche es keine Ge¬
wissensfreiheit giebt."
Der Verfasser des von uns hier benutzten Buches führt noch verschiedene
andere Beispiele für die Denkart und die Ziele der demokratischen polnische"
Gesellschaft unter Mieroslawski's Leitung an. Indem aus dem von un^
Mitgetheilten schon hervorgeht, daß diese Gesellschaft sich in ihren Grundsätze»
von der polnischen Commune kaum unterschied, wundern wir uns nicht, daß
so viele Polen für die rothe Fahne des 18. März 1871 gefochten haben. Mieros-
lawski allerdings versuchte nicht, Dictator von Frankreich zu werden, aber nur
deshalb nicht, weil er dabei mit seiner Person hätte eintreten müssen und dieß
ihm widerstrebte.-
Vom Jahre 1869 bis zum Juli 1870 überschwemmten die Polen Lan
dowski, Babinski, Jaroslav Dombrowski, Microslawski und I, B. Ostrowski
die radicale Presse von Paris mit Versicherungen ihrer Hingebung an die de¬
mokratische und sociale Sache. Ein anderer Pole. Bronislav Wolowski,
hatte, nachdem er Mitarbeiter am „ Phare de la Loire", dem „Progres de
Lyon", am ., Peuple de Marseille" gewesen, die Dreistigkeit, in Lyon eine
öffentliche Versammlung zu veranstalten, um vor derselben ein socialistisches
Programm zu entwickeln. Man empfing ihn mit Hohngelächter; denn man
wußte, daß er einmal für die Polen gesammelt und das Erträgniß in seinen
Nutzen verwendet hatte, und man ersuchte ihn, das französische Gebiet zu
räumen. Verdrießlich über diesen Mangel an Achtung, trat Herr Bronislav
unter die Brüder von der Internationale, bei denen er noch jetzt die Stelle
eines Secretairs der polnischen Section in Genf bekleidet.
Trotz ihrer Verbindung mit der kosmopolitischen Revolutionspartei und
trotz ihrer Theilnahme an allen demagogischen Ränken vom Baudin-Schwindel
ein bis zu den Kundgebungen gegen das Plebiscit, die sie beiläufig nicht das
Mindeste angingen, beeilten sich doch die polnischen Flüchtlinge, als 1870 der
Krieg mit Deutschland ausbrach, dem Kaiser Napoleon ihre Dienste anzu¬
bieten. Sie verlangten die Erlaubniß, eine besondere Legion zu bilden, welche
eine Landung bei Danzig bewerkstelligen sollte. Napoleon, der sich Rußland
nicht zu Feinde machen wollte, lehnte das Anerbieten ab, obwohl der bekannte
Julian Klaczko seinen Hofrathsposten unter Graf Beust verlassen hatte, um
in Paris den Plan zu unterstützen. Auf die ersten Nachrichten von den Nie¬
derlagen der kaiserlichen Heere klagten die Polen vor der französischen Demo¬
kratie, das käme davon, daß man ihre Dienste zurückgewiesen; hätte man sie
angenommen, so wären die Sachen ganz anders verlaufen. Schrecklich wur¬
den die französischen Generale von Strategen wie Matuszewicz, Wroblewski
und Dombrowski in den Journalen der Rothen abgekanzelt. Zuletzt trat der
große Mieroslawski (der natürlich wußte, daß man sich mit ihm nicht ein¬
lassen konnte) mit dem ihn so schön kleidenden Selbstgefühl in den Vorder¬
grund, um dem Grafen Palikao sein gewichtiges Schwert anzutragen. Selbst¬
verständlich dankte der ihm höflichst.
Bald darauf gab's in Frankreich wieder einmal Republik, und abermals
verlangten die Polen die Erlaubniß, eine Legion zu bilden. Von der Mehr¬
heit der Regierung abgewiesen, traten sie schließlich auf die Seite der Oppo¬
sition. Mieroslawski trug dem General Leflö seine Dienste an, der ihm für
seinen guten Willen dankte. Das war Alles, was der brave General wollte:
^ hat jetzt das Recht, zu sagen, man habe ihn nicht gemocht, weil er repub¬
likanischen Grundsätzen huldige, die Republik sei nicht lebensfähig, weil die
Regierung der nationalen Vertheidigung die republikanischen Generale zurück¬
stoße u. s. w., während der wirkliche Weigerungsgrund der Negierung gegen
Annahme des Anerbietens der Polen vorzüglich der war, daß kein einziger
polnischer Flüchtling als Soldat dienen wollte, alle vielmehr höhere Befehls¬
haberstellen beanspruchten. Ueberdieß aber wußte Jules Favre von 1848 her
^ehr wohl, daß die politischen Flüchtlinge ein Krankheitsstoff sind, welchen
Frankreich sich eingeimpft hat, und welcher sehr wesentlich zu seinem immer
wiederkehrenden revolutionären Wechselfieber beiträgt. Er erinnerte sich ohne
Zweifel des Wortes von Lamartine:
„Die Polen sind die Gährungshefe von Europa. Ebenso
tapfer auf dem Schlachtfelde, wie tu multuarisch auf den öffent¬
lich en Plätzen, sind sie die Revolutionsarmee des Continents.
Ueberall ist ihr Vaterland, vorausgesetzt, daß es da zu wüh¬
len giebt."
Die Polen reorganisirten bald ihr pariser Comite und eröffneten einen
Club im Casino Cadet, wo sie die Frage erörterten: „Wie kann der jetzige
Krieg den Gang unserer Propaganda beeinflussen?" Sie protestirten gegen
die Weigerung der Regierung, sich auf die Bildung einer polnischen Legion
einzulassen, und ließen sich von Felix Pyat eine Ansprache an die in der
preußischen Armee dienenden Polen anfertigen, welche dieselben zur Desertion
aufforderte.
Die „Gesellschaft der polnischen Militärs", welche sich bei der Agitation
für eine polnische Legion an die Spitze gestellt, ersuchte nun durch Rund¬
schreiben jedes Mitglied der Emigration, Frankreich zu dienen, so gut es gehen
wolle. Man entschied sich, in die Nationalgarde einzutreten, aber dazu mußte
man Franzose sein. Herr Arago half hier, indem er allen Polen, welche die
Absicht zum Eintritt in die Nationalgarde kundgaben, die französische Natio¬
nalität zusprach.
Bald sah man, daß die Polen, nicht zufrieden, die Revolution außerhalb
Frankreichs geschürt zu haben, sich in Paris den Gesellschaften anschlössen, an
deren Spitze Blanqui und Consorten standen. Man entzog den Gefährlichsten
welche sich in die von Jaroslav Dombrowski organisirte Garibaldianer-Le-
gion einschreiben ließen, die Staatsunterstützung, die sie bisher erhallen, was
Journalen wie dem „Reveil" und dem „Combat" eine schöne Gelegenheit ver
schaffte, gegen den Despotismus der Negierung zu donnern. Hörte man sie
so waren alle diese Flüchtlinge Leute, die kein Wässerchen trübten und an
nichts weniger dachten, als an revolutionäre Pläne.
Allerdings gab es in diesen Tagen auch einige Polen, welche für die
Sache der Ordnung eintraten und sich dabei durch die Entschlossenheit aus¬
zeichneten, mit welcher sie als Officiere oder simple Legionäre in der Natio¬
nalgarde dienten. Aber die Mehrzahl begnügte sich damit, den Clubs der
Demagogen beizuwohnen, wo jede Regierung und jeder nicht zu den Rothen
Gehörige verarbeitet wurde. Vorzüglich der Club Blanqui wurde von den
Polen viel besucht, vermuthlich, weil dort die tollsten Uebertreibungen und
die wildesten Zwecke florirten. Die Polen trieben die Frechheit so weit, daß
sie durch Artikel des „Combat" und der „Patrie en Danger" die For¬
derung an die Regierung stellten, man möge den Fürstenmörder Bere-
zowski in Freiheit setzen, und so groß war damals die allgemeine Währung,
daß nicht ein einziges Journal gegen die Keckheit der polnischen Refugies Ein-
Spruch zu thun wagte. Die Regierung ging zwar nicht darauf ein. Aber
die Polonophilen Arago und Floquet, die in ihr saßen, behandelten bei dieser
Gelegenheit ein Mitglied der russischen Gesandtschaft, welches vor ihnen der
Beunruhigung seiner Regierung Worte gab, in einem Styl, den ihnen nur
ihre Antipathie gegen Nußland eingeflößt haben konnte, und gleich nachher
gab Arago die beiden Brüder Wilkoszewski frei, welche drei Monate vorher
durch den Assisenhvf der Seine wegen Ausgabe falscher russischer Bankbillets zu
fünfjähriger Einsperrung verurtheilt worden waren. Der russische Resident pro-
testirte dagegen vergeblich. Aber inxli» midi, tibi. Im Juni 1871 las
man in den Pariser Blättern, daß man zu Averdon in der Schweiz eine
Fabrik falscher Bankscheine, darunter auch Billets der Bank von Frankreich,
entdeckt und aufgehoben habe. „Diese Fabrik" — so hieß es da — .war
ein Zweiggeschäft von Jaroslav Dombrowski, und die Fälscher sind Polen
und einige Franzosen, welche in Beziehungen zu der pariser Commune gestanden
haben. Die von diesen Elenden fabricirten und ausgegebenen falschen Werth-
Papiere sind zahlreich. Man hat Coupons der Bank von Frankreich zu 25
Francs, Billets der russischen Bank zu 30 Rubel und Coupons von 12 Ru¬
bel und 50 Kopeken, Scheine der österreichischen Bank zu 10 Gulden, Hun¬
dertthaler-Scheine der preußischen Bank und endlich Hundert-Dollar-Noten
der Vereinigten-Staaten-Bank fabricirt."
Die polnischen Banknotenfabrikanten, die auf Befehl des Justizministers
der Regierung der nationalen Vertheidigung aus der Haft entlassen wurden,
traten in die Pariser Nationalgarde ein, wurden also nach dem Obigen Fran¬
zosen. Sie verstärkten die Zahl der 25.000 Verbrecher, welche nach Trochu's
Rede vor der Nationalversammlung (14. Juni) in der Pariser Armee dienten.
Wer stützte sich auf diese entlassenen Sträflinge?
Am 18. März 1871 erließ das Centralcomite, in welchem eine Anzahl
Mitglieder der Internationale saßen, einen Aufruf an eine große Anzahl
fremder Flüchtlinge und verwandelte sich damit in ein Centrum der euro¬
päischen Umwälzungspartei. Die Classe der polnischen Flüchtlinge bildete die
Pflanzschule der Chefs der Anarchie. Unter ihren Befehlen standen Leute,
die von ultrademokratischen und communistischen Meinungen in die Irre ge¬
führt, andere, die von niedrigsten Leidenschaften angetrieben waren. Viele
von den Anhängern der Commune verdienten Mitleid. Man hatte sie in
die Bataillone derselben eingereiht, indem man ihnen dreißig Sous tägliche
Löhnung gewährte, und sie auf diese Weise von ihrer Arbeit wegzog, um
Faulenzer, Trunkenbolde und Besucher der Clubs der Demagogen aus ihnen
Zu machen. Die Andern waren von Natur und Geburt an Taugenichtse, sie
suchten in einer Revolution nur das Mittel zur Befriedigung ihrer Wünsche,
von Trägheit und Liederlichkeit eingegeben waren, wie ihre Anführer der
Mehrzahl nach dabei nur die Befriedigung ihrer Begier nach einem vergnüg¬
ten und luxuriösen Leben erstrebten.
Aber wir schreiben hier keine Geschichte der Commune mit ihren Com-
munisten, ihren fahnenflüchtigen Soldaten, ihren Berbrechercohorten, ihren
Mörder- und Mordbrennerbanden und dem Abschaum der europäischen Re¬
volution . der sich an ihre Fersen hing und seine schmutzigen Ziele mit dem
kleinen Kern berechtigter Zwecke mischte, den man in ihrem wüsten Treiben
immerhin erkennen konnte. Wir liefern nur einen Beitrag zu dieser Ge¬
schichte. Wir beschäftigen uns einzig und allein mit den Polen, welche an
der demagogischen Orgie vom 18. März bis zum 26. Mai 1871 einen so
großen Antheil hatten.
Beginnen wir mit dem letzten General der Commune, mit Jaroslav
D o in b r o w s k i.
Einige Journale haben aus diesem Chef der Jnsurrection von Paris einen
Mann von außergewöhnlichen Fähigkeiten gemacht und behauptet, er habe früher
eine hohe Stellung in der russischen Armee eingenommen. Ja er sollte sogar
der Person des Großfürsten Constantin attachirt gewesen sein.
Diese Behauptungen sind in keiner Weise begründet. Jaroslav Dom¬
browski hat in seinen früheren Jahren niemals eine besondere Begabung ver¬
rathen und niemals eine andere als eine untergeordnete Stellung gehabt, d. h.
er ist in der russischen Armee nie über den Subalternofsicier hinausgekommen,
und somit kann nicht davon die Rede sein, daß er irgendwie in nähere Be¬
ziehung zu einem Prinzen des kaiserlichen Hauses hätte treten können.
Der Gegenstand dieser kurzen Biographie ist todt, ist im Kampfe ge¬
fallen. Aber wir schreiben hier Geschichte, und vor der darf Wahrheit nicht
Gewalt leiden. Damit sei entschuldigt, wenn wir hier auch das Unreinliche
dieses Lebens unverschwiegen lassen, zumal mit ihm ein sehr großer Theil
seiner Genossen, dieser Barrikadenhelden von Profession, dieser politischen
Jndustrieritter, charakterisirt wird.
1862 finden wir Dombrowski in Gemeinschaft mit einigen jungen Leu¬
ten beschäftigt, in der russischen Armee eine Verschwörung in Gang zu brin¬
gen. Es galt der Gründung einer geheimen politischen Gesellschaft, die in
der That zu Stande kam und den Namen „Zemlia i Wolia" (Land und
Freiheit) führte. Dieselbe bestand aber nur kurze Zeit, dann entdeckte die
Behörde sie. Alle Mitglieder des Comite's wurden zur Haft gebracht, nur
Dombrowski. der Schuldigste, entkam der Untersuchung. Die Affiliirten des
Comites klagten ihn darauf an, die Sache der Polizei verrathen zu ha¬
ben, und drohten, ihn zu ermorden.
Als die Jnsurrection in Polen ausbrach, bot Jaroslav Dombrowski
dem Centralcomite seine Dienste an, und da dieses in dem Augenblicke eben
über nicht viele Officiere unter seinen Anhängern verfügte, wurde das An¬
erbieten mit großem Danke angenommen. Man übertrug Dombrowski die
Stelle eines Organisateurs des Uebertritts von Deserteuren aus dem russischen
Heere und stellte zu diesem Zwecke die Summe von 6000 Rubeln zu seiner
Verfügung. Es gelang ihm auf diesem Posten nicht, auch nur einen ein¬
zigen russischen Officier in die Reihen der Aufständischen zu verführen. Ueber
die Verwendung der 6000 Rubel aber legte er niemals Rechnung ab.
1863 wurde Dombrowski von den Russen verhaftet und in die Citadelle
von Motum gebracht. Die Einen behaupteten damals, daß das polnische
Centralcomite selbst zu seiner Verhaftung beigetragen, weil ihm die Verschleu¬
derung der Scherflein des Revolutionsfonds, die man ihm anvertraut, nicht ge¬
fallen habe. Die Andern wollten genauer unterrichtet sein, und wissen, Dom¬
browski habe sich fangen lassen und zwar in der Absicht, den Märtyrer spielen
und in dieser Eigenschaft den guten Glauben seiner patriotischen Landsleute
ausbeuten zu können. Diese letztere Meinung scheint mehr für sich zu haben.
Denn der Bürger Dombrowski bekam in der That während der vier Monate
seiner Gefangenschaft ganz erhebliche Summen von verschiedenen polnischen
Patrioten, die sich mehr eines großmüthigen Herzens als eines scharfen
Blickes erfreuten.
Zuletzt zur Verbannung nach Sibirien verurtheilt, entkam Dombrowski
auf dem Transport dahin, was, wie man sagt, jemandem, den die Behörden
den Führern der Sträflingszüge als eine Person von Bedeutung bezeichnet
haben, äußerst selten gelingt.
Im Jahre 1865 bewarb sich der Gegenstand dieser Skizze, nach Frank¬
reich gelangt, in Paris um den Posten eines Mitglieds des Ausschusses der
Polnischen Emigration, bekam ihn und mußte ihn nach kurzer Zeit wieder
aufgeben und zwar in Folge dessen, daß in der Casse des Comite's ein De¬
ficit entdeckt wurde.
1866 begab sich Dombrowski nach Florenz, setzte sich in Verbindung
wie Garibaldi und erhielt den Auftrag, eine polnische Legion zu gründen,
welche den Italienern in ihrem Kampfe mit Oestreich Beistand leisten sollte.
Er erließ in Folge dieses Auftrags einen Aufruf zu Geldzeichnungen, um
sich die zur Bewaffnung und Ausrüstung seiner Legion erforderlichen Mittel
ZU verschaffen. Drei Tage nach Sadowa hatte er eires, 45.000 Lire für die¬
sen Zweck eingenommen, aber die Zahl der Mannschaften, welche die Legion
bilden sollten, betrug nicht mehr als sieben Köpfe. Natürlich ließ er jetzt
das weitere Rekrutiren sein, aber weniger natürlich erschien, daß er nie¬
mals für nöthig hielt, über die Verwendung der 45.000 Lire öffentlich Rech¬
nung abzulegen.
1867 kam Dombrowski nach Frankreich zurück, nachdem er in der Schweiz
und in England gewesen. Kaum war er in Paris eingetroffen, als ein pol¬
nischer Flüchtling ihn öffentlich der Verfertigung und Verbreitung falscher
Noten der russischen Bank anklagte. Dombrowski forderte seinen Ankläger
zum Zweikampf heraus, hielt es aber für besser, sich nicht zu schlagen.
1869 wurde unser Held nebst mehreren andern polnischen Flüchtlingen
auf Grund einer Anzeige verhaftet, welche jene Anklage wegen Banknoten¬
verfälschung wiederholte. Er verstand indeß, sich von der Schuld zu reinigen
und wurde daraufhin entlassen, während die Leute, welche seine Geldfabrikate
in den Verkehr gebracht hatten, verurtheilt wurden.
Während der ersten Wochen der Belagerung von Paris durch die deut¬
schen Heere saß Dombrowski in dem Gefängniß von Mazas, indem eine ge¬
wisse Susanne Lagier eine Klage gegen ihn eingereicht hatte, in der er be¬
schuldigt wurde, mit der feindlichen Armee in Verbindung zu stehen. Es
war eine um so schwerere Beschuldigung, da Dombrowski im Augenblick sei¬
ner Verhaftung eben beschäftigt war, wieder einmal für eine Garibnldi'sche
Legion, die er organisiren wollte, Gelder zu sammeln. Wir haben aber die
Genugthuung, entgegen den Andeutungen unserer französischen Quelle, hin¬
zufügen zu können, daß diese Beschuldigung völlig unbegründet war. Dank
einer Depesche Gambetta's wurde Dombrowski vom General Trochu in Frei¬
heit gesetzt, und bald nachher flog er in einem Luftballon über die deutschen
Linien hinweg zu Garibaldi, der ihm ein Commando anvertraute. Nach
Eintritt des Waffenstillstandes, der den Friedenspräliminarien vorausging,
kam Dombrowski mit einem preußischen Passirschein nach Paris zurück. Wie
er dann als der Nachfolger Bergeret's der Oberbefehlshaber der Jusurgen-
tenarmee wurde, welche Großthaten er verrichtete, wie er zuletzt, mehrfach
verwundet, im Hospital Lariboisiere starb, find bekannte Dinge. Weniger
bekannt möchte das Folgende sein, das von Sempronius in seiner „IlistoiiL
as I-z, Kommune nie ?aris en 1871" als „ein Beispiel unter taufenden" für
das Verfahren der Communarden mitgetheilt wird.
„Dombrowski hatte in einem gewissen Augenblick zu Ende des April sein
Hauptquartier in Neuilly aufgeschlagen und seine rothe Fahne auf einem der
schönsten Häuser des Orts aufgepflanzt, welches einem Herrn D. gehörte.
Diese Gunst trug dem Hause die Ehre ein, Zielpunkt der Granaten der Ver-
sailler zu werden und völliger Zerstörung anheim zu fallen. Aber die Regie¬
rungstruppen zerstörten nur die Mauern. Das Hausgeräth wurde von den
Communarden weggebracht, und selbst die Fensterscheiben wurden von ihnen
als vorsichtigen Leuten ausgehoben und davongeschafft. Dieß war indeß nur
eine Kleinigkeit im Vergleich mit dem, was sich dann begab. Auf Befehl
des Chefs des Generalstabes wurde der Hausmann der Villa in den bereits
ausgeleerten Keller gesperrt und dessen junge Frau, die Mutter von zwei
kleinen Kindern, dem Ungeheuer zugeführt. Nachdem er an ihr mit Hülfe
seiner Genossen seine Brutalität verübt, überließ er sie keuchend, blutend, er¬
schöpft, wie sie war durch den greuelvollen Kampf, dieser Rotte. Die Elen¬
den behielten sie achtundvierzig Stunden unter sich und setzten das Thun ihres
Ehefs fort, worauf sie ihnen entfloh. Die Unglückliche eilte nach dem Flusse,
um der Sache zugleich mit ihrem Leben durch einen resoluter Sprung ein
Ende zu machen. Nachbarn retteten sie. Sie war wahnsinnig geworden und
ist es geblieben."
Bei der Ernennung Dombrowski's zum Oberfeldherrn der Commune
richtete ein Pole den folgenden Brief an die Pariser Journale:
„Herr Chefredacteur!
Ich finde in der „Verite" vom 10, April einen Artikel, in welchem gesagt
'se, daß der Bürger Dombrowski, welchen man zum Nachfolger des Bürgers
Vergeret erwählt hat, nicht der polnischen, sondern der russischen Nation an¬
gehöre . .. und daß die in Paris lebenden Polen ihn nicht als ihren Lands¬
mann betrachten.
Die Sache ist in soweit auf Wahrheit begründet, als die Herren Jaros-
lav und Theophil Dombrowski zwar wirklich polnischen Ursprungs sind, sich
aber seit bald vier Jahren von aller Gemeinschaft mit der polnischen Emi¬
gration losgetrennt haben und nicht mehr als unsere Landsleute angesehen
Werden.
Ich füge noch hinzu, daß alle polnischen Emigrationen von 183l bis
18<Z4 sich ein absolut bindendes Gesetz auferlegt haben, welches ihnen verbietet,
sich in die innern Angelegenheiten des Landes zu mischen, welches ihnen Gast¬
freundschaft gewährt hat. So ist denn die offene Verletzung dieses Gesetzes
dem vollständigen Verzicht auf den polnischen Ursprung gleich. Empfangen
Sie u. s. w. I. Odravonge. polnischer Flüchtling."
Sofort ließ die Commune die folgende Bekanntmachung an die Ecken
anschlagen:
Commune von Paris.
An die Nationalgarde.
Wir vernehmen, daß in der Nationalgarde gewisse Beunruhigungen in
Betreff des Bürgers Dombrowski bestehen, der zum Commandanten des
Platzes ernannt worden ist.
Man wirft ihm vor, ein Fremder zu sein und der Pariser Bevölkerung
unbekannt.
In Wahrheit ist der Bürger Dombrowski ein Pole.
Er ist Oberfeldherr der letzten polnischen Erhebung gewesen und hat der
russischen Armee mehrere Monate die Spitze geboten! Er ist General unter
den Befehlen Garibaldi's gewesen, der ihn ganz besonders hochschätzt. Von
dem Augenblick an, wo Garibaldi Befehlshaber der Vogesenarmee wurde, war
es seine erste Sorge, sich der Mitwirkung des Bürgers Dombrowski zu ver¬
sichern. Trochu weigerte sich, ihn aus Paris abreisen zu lassen und ließ ihn
sogar in's Gefängniß werfen.
Der Bürger Dombrowski hat auch im Kaukasus Krieg geführt, wo er,
wie hier, die Unabhängigkeit einer Nation vertheidigte, welche von einem
unversöhnlichen Feinde bedroht war. *)
Der Bürger Dombrowski ist also unbestritten ein Kriegsmann und ein
der allgemeinen Republik ergebener Soldat.
Diese Erklärung wurde durch den Polen Kuszinski bestätigt, welcher an
ein Pariser Blatt Folgendes schrieb:
Ich lese in Ihrem schätzbaren Journale eine Notiz, welche den Bürger
Dombrowski betrifft und seine polnische Nationalität in Zweifel zieht.
Der Bürger Dombrowski ist aber wirklich ein Pole. Gestatten Sie mir,
hinzuzusetzen, daß er während der Epoche der letzten Jnsurrection Polens von
den russischen Behörden sehr gefürchtet war. Nach Sibirien transportirt,
wußte er sich zu befreien. Er durchwanderte mit Gefahr seines Lebens ganz
Nußland und kam 1863 in Frankreich an. Genehmigen Sie u. f. w.
Wir haben diese Documente hier wiedergegeben, weil aus ihnen hervor¬
geht, daß die „weise Partei" der polnischen Emigration oder die aristokra¬
tische Clique derselben den Versuch gemacht hat, den Generalissimus der
Commune in einen russischen Unterthan zu verwandeln, während er in Wirk¬
lichkeit ein polnischer Refugic war.
Das „Journal Officiel" von Versailles hat die folgenden Mittheilungen
in Betreff Dombrowski's gebracht:
„Eine von den Häuptern des Aufstandes zu Neuilly veröffentlichte Notiz
versucht die Beunruhigungen zu zerstreuen, welche die Ernennung des Aus¬
länders Dombrowski zum Platzcommandanten hervorgerufen hat. Wir find
in der Lage, über diese Persönlichkeit Mittheilungen zu machen, welche die
Menschen, die im Hotel de Ville sitzen, in ihrem wahren Lichte zeigen werden-
Jaroslav Dombrowski ist in Krakau geboren. Er ist fünfundvierzig
Jahre alt. 1863, während der polnischen Jnsurrection. kämpfte er mit dem
Grade eines Obersten mit. Im Jahre 186S in einen Proceß wegen des Ver-
brechens der Anfertigung und Ausgabe falscher russischer Bankbillets ver¬
wickelt, wurde er kraft einer Freisprechung wegen Mangel mehreren Verdachts
entlassen. Er erschien ein zweites Mal unter derselben Anklage vor dem
Assisenhofe der Seine und wurde freigesprochen.
Jaroslav Dombrowski fabricirte falsche Pässe und falsche Bescheinigungen,
in welchen er bezeugte, daß gewisse von seinen Landsleuten, die er mit er¬
fundenen Graden bedachte, an der Jnsurrection activ Theil genommen hätten,
während sie derselben vollkommen fremd geblieben waren. Diese Bescheini¬
gungen hatten den Zweck, Flüchtlingen, welche um Staatsunterstützung ein¬
kamen, zur Erlangung derselben zu verhelfen. Im Laufe des letzten Februar
war Dombrowski bemüht, die Jnsurrection in Bordeaux zu schüren, und es
erging ein Verhaftsbefehl gegen ihn. Er entwischte, indem er sich in die
Schweiz begab, wo er bis in die letzten Tage des März verblieb. Während
der Belagerung von Paris wurde er, in Verdacht gerathen, mit den Preußen
im Einverständniß zu sein, mehrmals arretirt. Er soll selbst die feindlichen
Linien mit einem falschen Passirschein durchschritten haben. Kurz vor den
letzten Ereignissen wurde er in dem Augenblick verhaftet, wo er den Wunsch
verrieth, die französische Armee völlig vernichtet zu sehen. (?)
Das ist der Mensch, dem die aufständische Commune den Oberbefehl in
Paris anvertraut hat."
Der zweite polnische Flüchtling, der während des Bürgerkriegs in und
bei Paris von sich reden machte, war Valerius Wroblewski. Er war
General der Commune und gilt jetzt für verschollen. Doch wird von anderer
Seite behauptet, daß es ihm gelungen, nach London zu entkommen, und daß
er hier ein neues polnisches Comite gegründet. Sein Vorleben ist ebenfalls
unsauber, mindestens voll bedenklicher Stellen. Vor 1863 war er Musikmeister
in einem russischen Regiments. In dem genannten Jahre trat er zu den
Polnischen Insurgenten über, die ihn zum Organisateur und zum Chef einer
ihrer Banden machten. In dieser Eigenschaft zeichnete er sich durch wilde
Grausamkeit aus. Man sagt, die Zahl der Unglücklichen, die er habe henken
lassen, habe mehr als dreihundert betragen. Zuletzt gelang ihm die Flucht
über die russische Grenze, und er kam 1864 nach Paris, wo er Mitglied des
Comite's der polnischen Emigration wurde. Seine Landsleute klagen ihn
an, in Polen beträchtliche Summen den Zwecken, für die sie bestimmt ge¬
wesen, entfremdet zu haben, auch soll er die Mitschuld tragen, wenn gewisse
der Emigration gehörige Gelder vergeudet wurden.
Theophil Dombrowski, der Bruder Jaroslav's, ist verschollen. Er
war 1870 in eine Untersuchung wegen der Verbreitung falscher Fünfzig-Rubel-
Noten der russischen Bank verwickelt, und als er unter der Commune Oberst
geworden, rächte er sich an dem Jnstructionsrichter Bernier. welcher den
Proceß der Fälscher geleitet hatte, dadurch, daß er dessen Haus plün¬
dern ließ.
Ein andrer polnischer Oberst im Dienste der Commune war Bonoldi.
Er starb an den Folgen einer Verwundung im Hospital. In dem Jahre
1863 hatte er unter dem Namen Jablonowski als Führer von Jnsurgenten-
banden in Lithauen eine Rolle gespielt. Bevor er in Paris Oberst wurde,
trieb er erst das Gewerbe eines Bierfiedlers, dann das eines Photographen.
Dieser Communard ist den Parisern genügend bekannt durch die Rechtfer¬
tigungsschrift Mieroslawski's, welche ihn anklagte, im Jahre 1863 mehr als
300,000 Rubel der polnischen Revolutionspartei gehöriger Gelder vergeudet
zu haben. Da sein Name Bonoldi an seine geringe Herkunft erinnerte, legte
er sich in Frankreich den fürstlichen Namen Jablonowski bei, den man im
Gothaer Almanach findet, und den die Nachkommen des berühmten Hetmans
Jablonowski führen.
Von den vier polnischen Officieren Alexander Wernicki, Dalewski, Dow-
giello und Ladislas Stawinski, die im Mai im Garten des Lurembourg er¬
schossen wurden, war der erste bei verschiedenen Processen, die im Jahre 1869
zu Verurtheilungen wegen Ausgabe falscher Bankbillets führten, betheiligt.
Okolowicz, auch ein General der Commune, war früher Bedienter
und dann beim Casino Cadet angestellt. Verwundet von den Versailler
Truppen gefangen genommen, sollte er, nachdem er aus dem Hospital ent¬
lassen worden, eben vor das Kriegsgericht kommen, als einer seiner Brüder
ihm aus dem Gefängniß wegzuhelfen wußte. Zwei anders Brüder von ihm,
der Major und der Capitän Okolowicz, wurden zu Vincennes erschossen. Der
letztere der beiden, der sich Mitglied der Nationalakademie zu Warschau nannte
und das Comthurkreuz des Stanislausordens trug, war seines Zeichens ein
Fleckausmacher und der Erfinder eines Wassers für Zwecke dieses Gewerbes.
Unsre Schrift bringt 281 Polen zusammen, welche für die Commune die
Waffen getragen haben, mehr als die Hälfte derer, welche in die National¬
garde getreten waren, als die Belagerung durch die Deutschen begann, und
fast ein Viertel der Polen, welche in Paris leben, und dabei hat der Verfasser
noch nicht einmal alle Gefangnenlisten benutzen können.
Die ..Gazeta Narodowa" brachte eine Liste von Insurgenten polnischer
Nationalität, welche bei den Kämpfen mit den Bersaillern getödtet oder spä¬
ter von denselben erschossen wurden oder verschwanden. Im Kampfe getödtete
finden wir darunter nur drei. Verschwunden, und seitdem zum Theil wieder
aufgetaucht, sind nach der Liste folgende höhere Officiere: Rosalewski, Director
der Telegraphenlinie (in diesem Augenblick in London), Swidzinski, Major
(ebenfalls nach London entkommen), Karl Kwiatkowski, Legionscommandant,
Kopanski, Capitän im Generalstabe und Organisator der Cavallerie der Coa-
mure, Suchocki, Legionscommandant, Ch. Sokulski, Schuhmacher und Ge-
neralstabsofficier, Czekalski, Schuhmacher und Commandant, der Dr. Xymar-
czewski und der Capitän Kostrzewski, ein Mitglied der demokratischen polnischen
Gesellschaft. Mit Pulver und Blei hingerichtet wurden zufolge dieser Liste
18 polnische Officiere, darunter Waszkowski, der Adjutant von Okolowicz,
Potapenko, der Generalstabschef Dombrowski's, der Schneider und Cavallerie-
lieutenant Worytko und der Schuster und Bataillonschef Filipowski, sowie
der Capitän Renbowski. der als „ehemaliger preußischer Officier" bezeichnet
wird; an Gemeinen wurden 6 erschossen.
Dasselbe polnische Blatt gibt serner die Namen von 31 Polen, welche
in Versailles vor die Kriegsgerichte gestellt werden sollten, und unter denen
wir dem nach Brest auf die Pontons gebrachten General Waligorkt, dem
Adjutanten Dombrowskis, Landowski, und dem Mitglied der Internationale
Alexander Babinski begegnen.
Diese Listen der „Gazeta Narodowci" geben aber die polnischen Flücht¬
linge, welche für die Pariser Jnsurrection vom 18. März bis 26. Mai
gefochten haben, keineswegs alle an. In dem Buche von Enault „?aris
truie" begegnen wir noch einer ganzen Reihe von Polen, welche der Com¬
mune an hervorragender Stelle dienten. An der Spitze steht: Babick, Mitglied
der Commune, dann folgen Beata, Adjutant des 207. Bataillons, Jalowski,
Oberarzt bei den „Zuaven der Republik", Olinski, Chef der 17. Legion,
Ploubinski. Generalstabs officier, Pazdzierski, Commandant des Forts Vanves,
Rodzycki, Oberchirurg des 141. Bataillons, Rubinowicz, Generalstabsofficier,
P. Rubinowicz, Oberchirurg der Marinefüsiliere, Syneck, Oberchirurg des
151., und Skalski, Oberchirurg des 240. Bataillons der Nationalgarde.
Endlich trifft man in den zehn ersten Listen der von der Armee von Ver¬
sailles zu Gefangenen gemachten Pariser Insurgenten noch eine große Anzahl
polnischer Namen an, von denen unsre Schrift 35 anführt, alle mit Angabe
der Bataillone der Nationalgarde, in denen sie gedient haben.
Wir kommen zum Schluß. Die Polen haben von 1848 an zu allen
revolutionären Erhebungen, welche in Europa von Paris bis nach Posen
und Warschau, von Rom bis nach Konstantinopel stattgefunden haben, ihr
starkes Contingent gestellt. Man hat Polen auf den Barrikaden von Paris,
von Berlin, von Prag, von Dresden, von Frankfurt, von Wien und von
Jcissy gesehen. Mit Mieroslawski fochten sie in Posen und Baden, mit dem
General Bulgarin in Ungarn, mit Bem in Siebenbürgen, mit Bakunin in
Prag. Sie bildeten die dreistesten Parteigänger der Rothen in Rumänien,
sie waren die wildesten Fanatiker unter den Rednern, die sich auf den Con-
gressen der Internationale hören ließen, sie waren die eifrigsten Paladine der
Commune von Paris. Ueberall, wo die rothe Fahne, das Symbol der radi-
eater Umwälzung der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung,
die Oriflamme der communistischen Meuchelmörder und Mordbrenner, aufge¬
pflanzt wurde, sah man sie herbeifliegen wie die Geier zum Aase, wie die
Motten zur Flamme. Wie die Motten zur Flamme — das war ihr Loos
in Paris, möge es immer das Loos dieser ruchlosen Rotte von Handwerks¬
revolutionären sein!
Die kostbaren und prachtvollen Unternehmungen, welche londoner und
pariser Buchhändler wagen dürfen, da sie eines gewissen Absatzes stets sicher
sind, sind in Deutschland ganz unmöglich. Prachtausgaben, wie sie England
und Frankreich von seinen Klassikern besitzt, kennen wir erst in vereinzelten
Versuchen. Von wie vielen unserer Schriftsteller besitzen wir überhaupt kri¬
tische Ausgaben? Sieht es nun schon schlimm aus auf dem Gebiete des
Buchhandels, trauriger ist es noch auf dem des Musikaliengeschäftcs, Man
muß aus Erfahrung die Abneigung kennen, mit der sich Eltern und Schüler
zur Beschaffung eines Notenheftes entschließen. Bücher werden wenigstens
heute nicht mehr abgeschrieben, aber die Musikalien copirt man immer noch.
Glücklicher Weise ist endlich der Buch- und Musikalienhandel zu der Erkennt¬
niß gelangt, daß man dem Publicum entgegenkommen und ihm möglichst
billige Ausgaben bieten muß. In Folge dessen sind denn auch die Werke
unserer Klassiker zu fabelhaft wohlfeilen Preisen zu haben und heute bereits
in weiteren Kreisen verbreitet, als dies gehofft werden durfte. Nachdem man
sich nun mühelos in den Besitz des Besten, was auf geistigem Gebiete über¬
haupt geschaffen wurde, setzen kann, vermag sich das Urtheil zu bilden, der
Gesichtskreis zu erweitern, der Geschmack und die Einsicht zu befestigen. Das
musikalische Publicum scheidet sich aber trotzdem noch in zwei große Hälften.
Zur einen, kleineren, zählen die wirklich begeisterten, strebsamen ernsten Kunst¬
freunde, die in den Werken unserer großen klassischen Tonsetzer die höchsten
Offenbarungen der Kunst verehren und erkennen; zur anderen, größeren, die¬
jenigen Musiktreibenden, welche eine Sonate nur spielen, weil es die Mode
erheischt, in Concerte nur gehen, um sagen zu können, daß sie dortgewesen.
Ihnen ist Bach ein Gräuel. Händel ein Zopf, Haydn großenteils auch,
und Mozart ein überwundener Standpunkt. Sie schwärmen für die Heroen
der Zukunft und cultiviren mit Vorliebe Tageserscheinungen des Salons. Ein
Notenheft, das ein reichverziertes und geschmackvoll illustrirtes Titelblatt und
eine recht widersinnige Ueberschrift hat. erregt schon zum Voraus ihre Be¬
geisterung. Ihr musikalisches Empfinden bewegt sich in Zephyrsäuseln,
Quellenrauschen, Frühlingsdüften. Glockenklingen. Liebesflustern, Meeres¬
brausen. Alpenglühen u. f. w.
Jene erstere Hälfte scheidet sich mehr oder minder wieder in zwei Par¬
teien, deren eine mit den besten Erscheinungen der Zeit vorwärts geht, wäh¬
rend die andere den Blick mehr rückwärts in die Vergangenheit kehrt. Erstere
schließen ihre Studien mit Beethoven nicht ab; nach ihm kommen ja noch
Weber, Spohr, Schubert. Mendelssohn, Schumann, Brahms. Letztere, und
das ist auch hier wieder die kleinere Zahl, suchen ihre Lieblinge in den Meistern,
die vor Haydn liegen; ihnen gilt gewöhnlich I. S. Bach als die bedeutendste
und großartigste Erscheinung im Reiche der Töne. Es ist nicht gut, allzu ein¬
seitig nur gewisse Richtungen in der Kunst zu verfolgen und dem großen
Publicum wäre ein derartiges Verfahren am allerwenigsten zu empfehlen;
aber eine gewisse Berechtigung hat das schwärmerische, ost fanatische Vertiefen
Einzelner in bestimmte Kunstbranchen denn doch. Sorgfalt, Mühe und Fleiß,
die man solchen Liebhabereien opfert, kommen in ihren Resultaten doch der
Gesammtheit wieder zu Gute. Mag die profane Welt die Schatzgräber von
Profession immerhin verhöhnen, — Betrug und Aberglauben reichen sich hier ja
die Hand. — Die Schatzgräber auf den Gebieten der Literatur und Kunst
müssen uns immer ehrwürdig und achtungswerth erscheinen. Möglich, daß
ste sich einseitig in gewisse Anschauungen verrennen, daß sie sich im Werthe
des Gefundenen oft täuschen, das Entdeckte vielfach überschätzen, sehr häufig
haben sie doch wirkliche Schätze gehoben. Der Sinn für antiquarische
Forschungen liegt in der Regel in der Zeit und äußert sich zugleich in den
verschiedensten Zweigen des Wissens und der Kunst. Die Schätze unserer
alten Literatur,^bisher nur den Fachleuten zugänglich, erschließen sich jetzt auch
für das größere Publicum; wir erinnern hier nur an die Brockhaus'schen
Ausgaben der Classiker des Mittelalters und der Dichter des 16. Jahrhun¬
derts, an Goedecke's, Simrock's, Wackernagel's und Scherr's Publicationen.
Die musikalischen Bestrebungen suchen mit den literarischen gleichen Schritt zu
halten. Aus geringen Anfängen sind sie bereits recht erfreulich gediehen. Fast
gleichzeitig ist ihnen von zwei Seiten her, nachdem ernstliche kunstgeschichtliche
Forschungen vorausgegangen, äußerer Anstoß geworden. 1840 erschien K. F.
Wecker's treffliche Arbeit: Die Hausmusik in Deutschland im 16,,
17- und 18. Jahrh,, und 1841 R. G. Kiesew edler's; Schicksale und
Beschaffenheit des weltlichen Gesangs. Bald darauf veröffentlichte
ersterer aus den reichen Schätzen seiner Bibliothek: „Ausgewählte Ton¬
stücke für das Pianoforte von berühmten Meistern aus dem 17. u. 18.
Jahrh." (Scarlatti, Pescetti. Muffat. Couperin, Kühnan, Benda, Böhm) und
damit beginnt nun die Reihe der Ausgrabungen, die bis in die jüngste Zeit
eifrig fortgesetzt, besonders das Gebiet der Clavier- und Gesangmusik be¬
reicherten. Die gleichzeitigen Forschungen auf dem Felde der kirchlichen Hym-
nologie und des Choralgesangs, sowie mit diesen zusammenhängend, auf dem
des Volksliedes, haben jene im hohen Grade gefördert und belebt. Werke
einer Kunstepoche, die der Gegenwart fernab liegt, haben in ihrer äußeren
Erscheinung immer etwas Befremdliches. Man findet sich leicht in den Ideen-
gang und die Form eines modernen Tonstücks, wenn dasselbe seinem Inhalt
nach weniger originell als conventionell gedacht ist. Geht man aber in Zeiten
zurück, wo ein anderer Gehalt erstrebt wurde, die instrumentalen Mittel, die
Technik ganz andere als heute waren, so handelt es sich für den Ausführen¬
den nicht allein darum, der Noten und Schwierigkeiten Herr zu werden, son¬
dern ein Werk nach Geist und Wesen, so zu sagen von innen heraus, vom
Standpunkte des Tonsetzers und seiner Zeit aus, zu reproduciren. Derartiges
ist aber nicht leicht; das setzt eine ungewöhnliche historische und musikalische
Bildung, gründliche Kenntnisse, ernstes Studium voraus. Virtuosen von Fach,
darauf angewiesen, das Brillante und Bestechende zu cultiviren, Musiker von
Profession, auf den Kampf um die Existenz beschränkt, vermögen, selbst die
nöthigen Vorbedingungen vorausgesetzt, selten neue interessante literarische Er¬
scheinungen zu erfassen und zu würdigen. Kunstgelehrte und passionirte Di¬
lettanten sind in der Regel einseitige Starrköpfe. Da nun aber nach jeder
neuen Entdeckung, nach jedem interessanten Fund, großer Lärm geschlagen
wird, so können Virtuosen, die den Schein tieferer Einsicht bewahren wollten,
den sich auf den Markt drängenden Ausgrabungen sich doch nicht völlig ver¬
schließen und durch sie wurden denn auch viele alte, längstverschollene Ton¬
sätze endlich sogar hoffähig gemacht und in die Concertsäle verpflanzt. Aber
mit dem Vortrage derselben fanden sich diese Herren meist ziemlich übel ab.
Nicht im Geiste des Komponisten und der Zeit, sondern im modernen Ge¬
schmack, aufgeputzt mit allen koketten Künsten und sentimentalen Zierrathen
einer überfeinerten Technik, hört man in der Regel derartige Schöpfungen
spielen. Der Concertsaal ist wohl der Ort vielen Hörern gleichzeitig die Be¬
kanntschaft mit einem musikalischen Werke zu vermitteln, aber er ist kaum
die geeignete Stätte, kleinere Tonformen, einfache Sätze, Stücke, die öfter ge¬
hört werden müssen, zum Verständniß zu bringen. Ueberlassen wir dem Con¬
certsaale große Werke für Orchester und Chor und selbst die umfangreicheren
und stärker besetzten der Kammermusik. Kleinere und feinere Piecen, denen
ein, ihre Eigenthümlichkeiten vernichtendes Aufstützen zum Concertvortrag nur
nachtheilig ist, die einen ernsten Sinn, ein liebevolles Eingehen, je nach ihrem
Inhalte einen schmucklosen, kräftigen oder zierlichen Vortrag erfordern, gehören
in's Haus. Für das Haus, für die Familie, sind auch die zahlreichen Aus¬
grabungen bestimmt, die in den letzten Jahrzehnten an die Oeffentlichkeit traten.
Die gehobenen Schätze werden daher, wenn man sie nur beachten will, in
erster Linie gebildeten Dilettanten zum Segen werden.
Es gab eine Zeit, und sie liegt uns nicht sehr ferne, wo man die Kla¬
viermeister, die Beethoven unmittelbar vorausgegangen waren: Mozart, Cle-
wenti. Dussek, Kramer, Haydn, fast vergessen hatte. Es ist ein Verdienst der
neuen billigen Klassikerausgaben, die nun fast in Jedermanns Händen sind,
daß dies heute nicht mehr der Fall ist. Die eigentlichen Ausgrabungen aber
^girren erst mit dem Wirken des am 14. Sept. 1788 in Hamburg verstor¬
benen K. PH. E. Bach, des berühmten Sohnes des großen I. S. Bach. Es
'se gewiß auffallend, daß man bei einem Componisten, der zu den bedeutendsten
seiner Zeit zählte, schon nach 80 Jahren von Ausgrabung sprechen kann, und
doch ist dem so. Die Masse des täglich neu sich an die Oeffentlichkeit Drän¬
genden gleicht einer Sturmflut, Was in zehn Jahren allein erscheint, schwillt
schon berghoch an. Nach acht Jahrzehnten ist auch der beste Meister be¬
graben, wenn nicht im Laufe der Zeit immer neue Auflagen seiner Werke
nöthig werden. Im günstigsten Falle wird er sich in einzelnen seiner her¬
vorragendsten oder zugänglichsten Schöpfungen, oft nicht einmal in seinen besten
Und höchsten, lebendig zu erhalten vermögen. Wir haben die Gründe aus¬
einander zu setzen gesucht, zufolge deren in Deutschland die Ausgabe älterer
Tonwerke so sehr erschwert wird. Umfangreiche, weitgreifende Unternehmun¬
gen sind da kaum möglich. Man muß für die ängstlichen und schüchter¬
nen Versuche, die bei uns hier und da gemacht werden, uns einzelne ältere
Tonsetzer in sparsamen Proben und Musterbeispielen wieder vorzuführen, schon
dankbar und erkenntlich sein. Frankreich ist uns hierin bedeutend voraus.
^6 besitzt unter andern vorzüglichen Editionen in dem ?r6for an
^s te pa.r N. H.. Z?g,rr er, s eine Mustersammlung alter Claviermusik. Wie
schade, daß sie durch den Tod des Unternehmers unterbrochen wurde. Diese
Ausgabe hat vor allen ähnlichen deutschen Unternehmungen den großen Vor-
öug voraus, daß sie nur vollständige Werke enthält, während unsere Verlags¬
handlungen kaum Bruchstücke zu bringen wagen. Doch scheint sich auch hier
^mälig Manches zum Bessern zu wenden. Wir haben die Aussicht, Bachs
""d Händels sämmtliche Werke im Laufe der Zeit zu erhalten. Die von
^hrysander ins Leben gerufenen: Denkmäler der Tonkunst (8 Lieferungen:
^lestrina's Werke von H. Bellermann, Carissimi's Werke und le
^eum von I?. Vrio von Fr. Chrysander, Corel ki's Werke von I. Joa-
chien, Couperin's Werke von I. Brahms) machen einen hoffnungsvollen
Anfang mit der Edition completer Werke. Möchte dies Unternehmen nur
die wünschenswerthe Theilnahme finden, damit das begonnene vollendet, das
zu erwartende rascher gefördert werden könnte. Im Anschlusse daran sind
rühmend zu nennen die Ausgaben der I, S. Bach'schen Instrumental¬
werke in 6 Serien (I. Werke für Clavier allein. 13 Hefte; II. für ein und
mehrere Claviere mit Begleitung anderer Instrumente. 13 Hefte; III. Für
Violine und für Flöte. 8 Hefte; IV. für Cello. 2 Hefte; V. für Orgel.
8 Hefte; VI. für Orchester, 9 Hefte, zusammen 1110 Nummern, und An¬
hang zweifelhafter Compositionen zu Serie I. III. V. und VI., zus. 121 Num¬
mern) Leipzig bei C. F. Peters. Ferner C. PH. E. Bach's Claviersona-
ten, Rondo's und freie Fantasien für Kenner und Liebhaber (von Dr.
E. F. Baumgart herausgegeben, 6 Lief. L. b. F. E. C. Leuckart; G. Fr. Hän-
dels Suiten (1—17), Clavierstücke (1—6) und Chaconnen (1—2; her-
ausgeg. von G.A.Thomas); G. B. Martini's Sonaten und Clavierstücke
(6 Hefte, herausgeg. von C, Bauet); beide L. b. Fr. Kistner und D. Scar-
latti's Sonaten s6 Hefte, 60 Piecen enthaltend, herausgeg. von G. Notte-
bohm) L. b. Breitkopf und Härtel. Was nun noch an ähnlichen Veröffent¬
lichungen vorliegt, enthält nur ausgewählte Stücke, meist in Sammlungen
zusammengestellt. Hierher gehören: ^.ntkologis elassigue. Berlin b.
A. M. Schlesinger, Oolloetiou ä«z moi-esg-ux elf-ssiyneg et av-
a<Zi'N68. Berlin b. T. Trautwein. Anthologie historischer Ton¬
werke herausgeg. von L. A, Zellner, Wien b. C. A. Spina. Alte
Meister. Sammlung werthvoller Clavierstücke des 17. und 18. Jahrh.
(40 Hefte herausgeg. von E. Pauer) Leipz. b. Breitkopf und Härtel. Klas¬
sische Clavierco mpositionen aus älterer Zeit (7 Hefte gesammelt
von G. M. Schletterer.) Leipz. b. nieder-Biedermann. Clavierstücke aus
den Concert-Programmen von Frau W. Szarrady, geb. Klauß (3 Hefte mit
9 Piecen) und Alte Claviermusik in chronologischer Folge (6 Hefte mit
18 Piecen, herausgeg. von E. Panier) Leipz. b. B. Senff. Ein moderner Con¬
certspieler muß, das gehört zum guten Ton, irgend ein altes Klavierstück
aufgefunden, zum Concertvortrage ver- und zerarbeitet und veröffentlicht
haben. I. S. Bach und seine Söhne, Händel, Scarlatti und andere ehr¬
würdige Meister sind auf diese Weise vielfach grausam mißhandelt und in die
Zwangsjacke virtuoser Technik gepreßt worden. Wenn eine solche barbarische
BeHandlungsweise selbst den Meistern unseres Jahrhunderts, z. B. Weber,
nicht erspart blieb, so darf sie bei ältern Tonsetzern noch weniger verwundern.
Es giebt eben Herausgeber, die zuerst sich und dann erst die Werke, die sie
ediren wollen, gedruckt zu sehen wünschen. Aus jedem fremden Tonstücke
strahlt uns also ihr eignes anmuthiges Bild entgegen. Mit diesen Editoren
aber haben wir hier nichts zu thun. Es sei hier nur noch bemerkt, daß bei
Rieter-Biedermann einzeln erschienen sind: Clavierstücke von W. Fr, Bach,
Graun, Kirnberger und G. Muffat, bei G. P. Witting in Dresden
Sonaten von B. Marcello und G. B. Martini (herausgeg. von M.
Krebs) bei B. Senff: 8 Piecen von Fr. Couperin und daß fast jede größere
Handlung das eine oder andere derartige Stück gebracht hat.
Im Zusammenhang mit diesen Publicationen für Pianoforte allein, stehen
die Streich- und Blasinstrumente mit Begleitung des Claviers. Sonaten von
I. S. Bach und Händel für Violine, Cello, Flöte und Oboe sind in mehr¬
fachen Bearbeitungen erschienen. Ebenso liegen einzelne Stücke von C. PH. E.
Bach, Corelli, Fiorillo, Ruft, Tartini, Veracini vor. Die beiden hervor¬
ragendsten Unternehmungen auf diesem Gebiete aber sind: D. Alards: „1.6s
Andres ela-zsiqutzs ein Vision". 40 Hefte, Mainz b. Schott, und F. Da¬
vid's: „Die hohe Schule des Violinspiels/' 20 Hefte Leipz. b. Br. und H.
Außer Allart und David haben sich durch Herausgabe und die Bearbeitung
der Clavierpartie Verdienstein dieser Richtung erworben: Mendelssohn, Schu¬
mann, Stade, Goltermann, Wasielewki, Dessoff, Hellmersberger, Nvitisr as
I'vllwme, Grüdener, Zellner u. A.
Ziemlich gleichen Schritt mit den Ausgrabungen aus dem Gebiete der
Pianoforteliteratur hielten die auf dem des Gesanges. Jedoch gingen sie nicht
so weit zurück. Das einstimmige Lied mit Clavierbegleitung ist verhältni߬
mäßig ein Product der neueren Zeit, die alte Gesangmusik, Arie und Chanson
nicht ausgenommen, fast durchweg mehrstimmig. Erst im 17 Jahrh, erschie¬
nen Sammlungen einstimmiger Arien, vorzugsweise von deutschen Componisten
gepflegt (Kapsberger, Albert, Briegel, Krieger, Schop, Jacobi, Ahle, Coler,
Peter, Fischer, Kunstmann, Stierlein, Macer, Speer, Erlebach u, s. w.) wäh¬
lend die gleichzeitig sich entwickelnde Cantatenform a poco soin con La8so
^cmtinuo fast nur durch italienische Tonsetzer vertreten ist. Eine Sammlung
bon Liedern, welche die historische Entwickelung der Liedform in Musterbei¬
spielen vorführte, besitzen wir leider noch nicht. Unsere Verleger sind mit der
Herausgabe von Gescmgheftcn noch ängstlicher wie mit der von Clavierpiecen.
Einzelne Tonsätze enthalten die bereits angeführten Werke von Becker und
Kiesewetter. Letzterer giebt Melodien aus dem 12.—14. Jahrh, (von Lim-
leiluu as tüoue^, 7'IiiKa.ut von Navarra, ^aan as tsi, Halts, 6uiIIaum6 as
^edault) und uralte Volksweisen; ersterer deutsche Gesänge aus dem 17.
Jahrh, (von H. Albert, I. Schop, M. Coler. I. Rist). Beispiele älterer
Ntelodievildungen finden sich zahlreicher in A. Reißmann: Das deutsche
^ed in seiner historischen Entwicklung dargestellt. Cassel 1861, und Dr. N.
F- Schneider: Das musikalische Lied in geschichtlicher Entwickelung. 3 Bde.
Leipz. 1863-65. Eine interessante Melodiensammlung verdanken wir dem
fleißigen C. F. Becker: Lieder und Weisen vergangener Jahrh. Leipz. 1853.
Damit ist aber auch, will man die Publicationen auf dem Gebiete des geist¬
lichen und des Volksliedes hier unberührt lassen, fast alles genannt, und es
erübrigt nur noch weniges nachzutragen: zwei Liebeslieder von A. Scarlatti.
Leipz. b. B. Senff und ein deutscher Liederkranz aus der ersten Hälfte des
17. Jahrhunderts 1627—50. (Lieder von Albert, Voigtländer und Mauerach),
Leipz. b. Breitkopf und Härtel. Beide Hefte hat der verdienstvolle K. Bauet
in Dresden zum Drucke befördert. In der letztgenannten Verlagshandlung
sind ferner drei Duette von Lully, Händel und Haydn für zwei Sopranstim¬
men und in kleiner Zahl Lieder von Reinhardt und Haydn erschienen. Um¬
fangreichere Auswahl, besonders älterer Gesangsmusik, findet man in Nusiea
saeiÄ, Bd. IV. Sammlung klassischer Gesänge für eine Altstimme (Berlin b.
Bote und Bock); in V-Mtiea sacra, Bd. I. Sammlung geistlicher Gesänge für
Sopran, Bd. II. für Baß (Berlin b. Trautwein); im Orion (Leipz. b. Leu-
ckart); der Anthologie historischer Tonwerke von L. A. Zellncr (Wien b. Spina);
in der Sion, 3 Bde. für Alt (Berlin b. Schlesinger) u. s. w.
Viele Nummern der vorstehend aufgezählten Sammlungen enthalten
Gesangstücke, die über die Liedform weit hinausgehen; große und nicht selten
sehr schwierige Arien. Aber diese Tonsätze sind nicht allein fast ohne Aus¬
nahme von großem musikalischen Werthe und hohem künstlerischen Interesse,
sie sind zugleich vorzügliche Uebungsstücke für alle diejenigen, welche eine mehr
als gewöhnliche Gesangsbildung erstreben; und gerade in unserer Zeit scheint
die Aufmerksamkeit des größeren musikalischen Publicums einem gründlicheren
Gesangstudium sich mehr und mehr wieder zuzuwenden, wenigstens ist ein
rühmliches Streben bemerkbar, für die Ausbildung der Stimme, eine der edel¬
sten Gottesgaben, etwas zu thun. Das erklärt auch das Erscheinen von Wer¬
ken wie: V! vuetti latini, sopiÄ ?üLLioinz <1i (?vsu LKristo as, Me.
?ol-xora, herausgeg. von G. Nava (L. Br. und H.), welche sich nach jeder
Richtung würdig andern ältern Gesangswerken z. B. den XII vuetti da Liimvi^
Zg, I> DulÄiitL (ebenfalls b. Breitkopf und Härtel) anschließen.
Kunstgeübten Dilettanten dürsten sich aber als wahrhafte Bereicherungen
häuslicher Musikgenüsse ganz besonders einige Sammlungen von Arien und
Duetten von Händel empfehlen, die kürzlich, von R. Franz edirt, bei
Fr. Kistner in Leipzig erschienen sind (12 Sopran-, 12 Altarien und 12 Duette).
Diese Sammlungen zählen unstreitig zu den werthvollsten und willkommen¬
sten Publicationen der neuesten Zeit. Es wird hier aus einem Börne, der
über ein Jahrhundert verschlossen war, geschöpft, und wahrlich, wie ein Wun¬
derquell drängt sich diese Gesangsgabe jugendfrisch aus Tageslicht. Indem
wir sie freudigst begrüßen, soll nicht behauptet werden, daß diese Sologesänge
Handels nicht Spuren ihrer Zeit, in Form und Melodiegestaltungen nicht hier
und da veraltetes empfinden ließen oder gar, daß sie das Höchste enthielten,
was Händel geschaffen; aber kleine Mängel verschwinden vor der innern Bor-
züglichkeit, Frische und Kraft dieser Tonsätze. Ueberall erkennt man den
Meister, der unbeschränkt, sicher und mit bewundernswürdiger Leichtigkeit seine
Tongebilde gestaltete, dessen originelle Erfindung, meisterhafte Technik und
virtuose Macht uns stets aufs neue fesseln und der, wird er von einer tieferen
lyrischen Seelenstimmung erfaßt, nur Vorzügliches leistet und in solch glück¬
lichen Momenten ächteste Kunstwerke schafft, die über alle Wandlungen der
Zeiten erhaben sind. Hier stehen wir wieder vor edelster Hausmusik. Nir¬
gends wo selbige nun Stätte gefunden, sollte man diese Sologesänge Händels
unbeachtet lassen. Sie gehören nicht den bekannten Oratorien, sondern nur
this auf drei Kammerduette) unbekannten und verschollenen Opern an. Der
Herausgeber, R. Franz, hat mit feinem Verständniß, großer Geschicklichkeit
und Sachkenntniß ein Clavierarrangement zu sämmtlichen Singstücken gegeben,
das sich den Melodien glücklich anschmiegt und von einem innigen Hinein¬
leben des Bearbeiters in Händels Geist, Art und Weise Zeugniß giebt, ob¬
gleich man sich dem Eindruck nicht verschließen kann, daß das Accompagne-
ment in einzelnen Sätzen etwas überladen und allzumodern erscheint; die
geistige Verbindung der neuen Hülle mit dem älteren Original würde noch
wohlthuender und befriedigender wirken, hätte der verdienstvolle Bearbeiter
Winderen Aufwand von eigener Kunst dabei bethätigt. Doch auch diese Aus¬
stellung verschwindet vor der Vortrefflichkeit der ganzen Arbeit, die man alle
Ursache hat froh und dankbar aufzunehmen.
Am 6. November fand die dritte Lesung und Schlußabstimmung über
das Gesetz in Betreff des Reichskriegsschatzes statt, nachdem vorher der Gesetz-
entwurf über die Einführung des Bundesgesetzes in Würtemberg und Ba«
den, welches den Unterstützungswohnsitz regelt, in erster und zweiter Berathung
erledigt worden.
Die Bildung des Reichskriegsschatzes, deren Bestimmungen schließlich so
angenommen wurden, wie sie bereits in unserem letzten^Reichstagsbrief an-
gegeben sind, gab nochmals zu einer erregten Verhandlung Anlaß. Gesichts¬
punkte indeß, die zur allgemeinen Belehrung beitragen, kamen darin nicht zum
Borschein. Sollen wir uns des längeren mit Herrn Ewald beschäftigen, der un¬
ter anderem bemerkte, ein Kriegsschatz sei unzweckmäßig, weil er im Fall einer
Niederlage die Beute des Feindes vermehre? Die überaus kindliche Vorstel¬
lung, daß ein Kriegsschatz selbst im Kriege zum Ansehen da sei, wie etwa
ein Antikenkabinet, erregte natürlich stürmische Heiterkeit, sowie mehr oder
minder die ganze Rede. Es mag bei dieser Gelegenheit bemerkt sein, daß wir
die Anwesenheit des Herrn Ewald im Reichstag allerdings für nützlich hal¬
ten. Es ist gut, daß die Nation sich einprägt, wie der Preußenhaß nur in
den lächerlichsten Charakteren jemals naturwüchsig hat gedeihen können.
Solche antediluvianische Erscheinungen, zumal wenn eine glückliche Selbstge¬
fälligkeit die Umgebung der Nothwendigkeit des Mitleids enthebt, wirken
durchaus wohlthätig als abschreckendes Beispiel einer ebenso traurigen als
einst gefährlichen Vergangenheit.
Auf Herrn Ewald folgte Herr Sonnemann mit den ebenso oft widerlegten
als vorgebrachten national-ökonomischen Bedenken. Miquel übernahm dies
Mal die Widerlegung.
Das Bedenken, welches wir unsererseits gegen diejenige Bestimmung des
Gesetzes hegen, nach welcher sogenannte zufällige Einnahmen ohne besondere
Zustimmung des Reichstags in den Kriegsschatz fließen sollen, während an¬
dererseits die Verpflichtung des Reichstags, den Kriegsschatz nach theilweiser
oder ganzer Aufwendung sofort wieder zu füllen, bezüglich zur Aufbringung
der Füllungsgelder mitzuwirken, nicht kategorisch ausgesprochen ist, trifft nun¬
mehr den endgültigen Reichstagsbeschluß, der wohl die Zustimmung des Bun¬
desrathes finden wird.
Die Sitzung vom 7. November, in welcher das Gesetz über die Einfüh¬
rung der Gewerbeordnung in Württemberg und Baden in erster und zweiter
Berathung erledigt wurde, worauf die Uebersicht der Ausgaben und Einnah¬
men des Norddeutschen Bundes für das Jahr 1870 mit Ausschluß der Kriegs¬
posten zur Verhandlung kam, bot nichts Bemerkenswerthes dar.
Die Sitzung vom 8. November, auf deren Tagesordnung die dritte Be¬
rathung des Antrags Büsing, betreffend die Nothwendigkeit einer aus
Volkswahl hervorgehenden Vertretung in allen Bundesstaaten, sich be¬
fand, erhielt eine üble Auszeichnung durch das Auftreten des Herrn
Bebel, dem endlich der Präsident das Wort entziehen mußte. Man weiß
längst, daß Herr Bebel nur von Zeit zu Zeit in den Reichstag kommt,
um seinem Aerger über die deutsche Nation und das, was sie heute ist,
in beleidigenden Reden Luft zu machen. Das Mittel des Ordnungs¬
rufes und der Wortentziehung, die stärksten, welche der Reichstag besitzt,
reichen aber ganz und gar nicht aus gegen ein Individuum, das mit der Ver¬
sammlung, zu der zu reden es den Schein annimmt, nicht das Geringste ge¬
mein hat, das nur in derselben erscheint, um sie mit einer fremden Atmosphäre
zu verunreinigen und zu beleidigen, Unseres Erachtens würde die Mitglied¬
schaft des Herrn Bebel im Reichstag einen wesentlichen Vortheil haben, wenn
sie dem allgemeinen Bewußtsein die Nothwendigkeit klar machte, daß der
Reichstag das verfassungsmäßige Recht erhalten muß, unwürdige Mitglieder
auszuschließen, und dem betreffenden Wahlkreis, wenn er auf der Wiederwahl
solcher Mitglieder beharrt, periodisch die Vertretung zu entziehen. Man kann
immerhin solche Beschlüsse an eine ^/z Majorität binden, aber das Recht, sie
zu fassen, ist dem Reichstag unentbehrlich.
Die Sitzung vom 9. November brachte die erste Berathung des von den
Abgeordneten Laster und Genossen eingebrachten Gesetzentwurfes über die
Ausdehnung der Reichsgesetzgebung auf das bürgerliche Recht und die Ge-
richts-Organisation. Es wurden vortreffliche und beherzigenswerthe Worte
gesagt. So von Miquel, dessen Rede schloß: „Ohne gleiches Recht kein deut¬
sches Recht; ohne deutsches Recht keinen deutschen Staat!" Der ultramontane
Führer Herr August Reichensperger setzte sich natürlich dem Antrage entgegen,
aber in würdiger Form. Die Gegengründe freilich entlehnte er der alten er¬
staunlichen Fabel, daß die deutschen Particularstaaten den sogenannten deut¬
schen Stämmen entsprechen, und daß die Rechtsbuntheit in Deutschland auf
der Stammesverschiedenheit beruht. Abgeordneter Friedenthal entgegnete vor¬
trefflich, daß der Rechtszustand, welchen Herr Reichensperger erhalten wolle,
nicht zur Zeit einer Blüthe des nationalen Lebens entstanden ist, sondern durch
Muthwillige Gesetzmacherei in der Periode der willkürlichen Zerreißung unseres
Volkes. Fortschritt des Rechts, Entstehung neuer von den gesellschaftlichen
Bedürfnissen erforderter Bildungen, die Bildung eines wahren Juristenstan¬
des, alles hängt ab von dem Boden eines einheitlichen deutschen Rechtes. Der
bayrische Abgeordnete Herz wies nach, daß in Bayern allein 80 geltende
Landrechte bestehen, zu welchen die vollständigen Systeme des römischen, bay¬
rischen, preußischen und französischen Rechtes hinzutreten. Derselbe Abgeord¬
nete bemerkte sehr wahr, daß nicht die bayrische Regierung verantwortlich zu
Machen sei. '„Derartige Dinge können nur in einem großen Staat zur heil¬
samen Reform gebracht werden, dem alle Mittel und Kräfte zu Gebote stehen,
über die man verfügen muß, um in dieser Richtung umgestaltend vorzugehen
und Ersprießliches zu schaffen." Sehr erfreulich für den Reichstag wie für
die öffentliche Meinung in Deutschland war es, daß der sächsische Abgeord¬
nete Generalstaatsanwalt Schwarze sich für den Antrag erklärte und zwar
auf Grund der Erfahrungen, welche der Abgeordnete bei der Theilnahme
an den Arbeiten des Reichstages gemacht. Bei dem immer wiederkehrenden
praktischen Bedürfniß einer gemeinschaftlichen Gesetzgebung führt, wie Schwarze
bemerkte, der bisherige Ausschluß des bürgerlichen Rechts von der Reichs-
competenz lediglich dahinein jedem Ausnahmefall die Reichsverfassung zu
ändern. Es ist namentlich die Unmöglichkeit, das der Reichsgesetzgebung schon
zugewiesene Obligationenrecht von dem bürgerlichen Recht zu trennen, welches
den Antrag, abgesehen von den nationalen Gründen, aus technischen Noth¬
wendigkeiten fast unvermeidlich macht. Zuletzt sagte noch der bayerische Ab-
geordnete von Stauffenberg das durchschlagende Wort: „Kein Rechtsgebiet
war bisher groß und selbststän.dig genug, einen eigenen Juristenstand zu er¬
nähren; daher die große Unsicherheit in unserer gerichtlichen Praxis." Wollte
man die Rechtszersplitterung nur innerhalb der Einzelstaaten aufheben, so
würde man eine falsche, künstliche Centralisation an die Stelle der wahren und
natürlichen setzen.
Der Reichstag schritt sogleich zur zweiten Berathung und genehmigte den
Antrag mit starker Mehrheit.
Am 11. November stand das wichtige Münzgesetz zur ersten Berathung,
die an diesem Tage noch nicht geschlossen wurde. Wir ziehen daher vor,
über diese Berathung erst zu berichten, wenn die ganze Verhandlung mit
ih
Unter den ältern Zuschauern, welche gestern der Enthüllung des Schiller¬
denkmals beiwohnten, mögen sicher nur wenige gewesen sein, die nicht das
geistige Auge zurückschweisen ließen über das Jahrzwölft, welches verflossen ist,
seitdem der Grundstein dieses Denkmals gelegt wurde. So hoch waren die
Wogen des deutschen Enthusiasmus vorher niemals gestiegen, als an jenem
10. November des Jahres 1839, wo es galt den hundertjährigen Geburts¬
tag, wenn nicht des größten, so doch des volkstümlichsten Dichters Deutsch¬
lands zu feiern. Bis nach Nußland und nach Amerika hatte die Begeisterung
mächtige Wogen geschlagen, von allen Seiten kamen Zeugnisse der Sympathie
und einen Augenblick konnte es wirklich scheinen, als ob das deutsche Volk
über alle Barrieren hinweg, welche der Eigennutz und das Vorurtheil auf¬
gerichtet hatte, in brüderlicher Umarmung und in friedlichem Wetteifer das
Gebäude der deutschen Einheit aufrichten würde, welches selbst Schiller in
seinem prophetischen Geiste nur ganz dunkel geahnt haben mochte, zu welchem
er aber durch sein mächtiges Wort in Millionen Herzen Keime gelegt und die
vorhandenen geweckt hatte. Wenn Erfahrungen im Stande wären, Träumer
zu belehren, so hätten es die Nachklänge jener Feier thun können. Wie ein
Paar Monate vorher Alexander v. Humboldt's Begräbniß, so machte sich der
Pöbel Berlins auch die Grundsteinlegung Schiller's zu Nutze, um seine Orgien
zu feiern, und zu zeigen, wie wenig selbst bei uns die sittliche Macht in die
niedern Klassen gedrungen ist. Es war eine .beschämende Lection für alle Die¬
jenigen, welche glaubten, daß Dichterwort und die Begeisterung, welche das¬
selbe erzeugt, gewaltige politische Umwälzungen hervorbringen könne. Die
herben Lehren haben sich seit jenem Tage gezeigt. Auf die blonde Schwär¬
merei, welche der Nationalverein angefacht hatte, der im Sommer jenes Jahres
schon ziemlich den Gipfel seines Ansehens in raschem Laufe erklommen, folgte
ein eisernes Zeitalter: harter Kampf im Innern und bald Krieg aus Krieg,
in welchem mit Blut und Eisen das Gebäude von Deutschlands Einheit und
Größe gekittet wurde, dessen Aufführung sich die Phantasie so leicht vorgestellt
hatte.
Ohne gewaltigen Eindruck sind die Lehren dieser Zeit allerdings nicht
vorübergegangen und die Zahl Derjenigen, welche glauben oder zu glauben vor¬
geben, daß der politische Baumeister ganz unnöthige Anstrengungen gemacht
habe, ist sehr zusammengeschmolzen. Dafür fehlt es nicht an ängstlichen Ge-
müthern, welche Deutschland nun auf einen Gipfel der Macht angelangt sehen
und mit der klugen Voraussicht Eulenspiegel's den bevorstehenden Niedergang
bejammern. Wenn man diesen Leuten glauben soll, so wäre die deutsche
Nation in die bunteste Machtanbetung versunken, der Chauvinismus grassire
in viel schlimmerer Weise, als jemals in Frankreich, und der Idealismus
wäre gänzlich aus den Herzen ausgerottet. In Wirklichkeit verhält sich die
Sache wohl anders. Allerdings wird es nur noch Wenige geben, welche
glauben, daß der Idealismus in Deutschland mehr als bisher gepflegt wer¬
den müsst, denn er ist eine Pflanze, die in unserm Klima selbst ohne große
Aufmerksamkeit vortrefflich fortkommt, aber, wenn man nicht verkennt, wie es
vor Allem darauf ankommen mußte, die Nation aus praktische Ziele zu rich¬
ten, so will auch Niemand das aufgeben, was lange Zeit hindurch die Quelle
unserer Schwäche, aber auch unserer Stärke war und was vor Allem unsere
Eigenthümlichkeit allen andern Völkern gegenüber ausmacht, die Pflege des
Idealen. Daß dieser Gedanke noch lebendig ist, zeigte die gestrige Schiller¬
feier. Ihr fehlte freilich die Ueberschwänglichkeit, mit welcher man die
Grundsteinlegung begangen hatte, aber gerade darum hatte die Feier den ge¬
bührenden Charakter und wie aus allerlei Sturm und Drang das Marmor-
bild Schiller's aus Begas' Hand zur leuchtenden Tageshelle hervorgegangen
ist, um für lange Zeiten (freilich nicht für zu lange, denn unser Himmel ist
dem Marmor abhold) ein Schmuck dieser Stadt zu sein, so wird auch unter den
neuen und so vielfach veränderten Verhältnissen Schiller nach wie vor der
Liebling des Volkes und vor Allem der Jugend bleiben und in immer weitern
Kreisen, welche der Fortschritt der Zeit ihm eröffnet hat, den Samen der Be¬
geisterung für das Wahre, Gute und Schöne ausstreuen. —
Der Fall Beust's ist, soweit man hört, in den Negierungskreisen mit
ziemlichem Gleichmuth aufgenommen worden. Das versteht sich von selbst,
daß die deutsche Negierung nichts gethan hat, um diesen Sturz herbeizuführen
(was sie, auch wenn sie gewollt, sicherlich nicht gekonnt hätte) aber über einen
gewissen Grad kühler Freundlichkeit ist man wohl selbst in Salzburg nicht
hinausgekommen, und da der Graf Andrassy sicherlich ebenso wie Graf Beust
eine friedliche Politik verfolgt, auf die Oestreich durch jede Erwägung hinge¬
wiesen wird, so kann man hier dem erfolgten Wechsel ruhig zusehen. Das
Prestige des jungen deutschen Reiches kann ohnedies nur gewinnen, wenn man
sieht, wie das alte Oestreich immer aus einer Krisis in die andere fällt. Man
muß die — staunenswerthe Konsequenz des Herrn Professor Ewald haben, um
zu wünschen, daß Preußen 1866 nicht die Bande zerrissen hätte, die Deutsch¬
land an Oestreich knüpften — das ist aber gewiß, daß sehr Wenige Lust haben
Mehrere Blätter haben eine Mittheilung gebracht, wonach am l. No¬
vember eine Gesammtsitzung des preußischen Staatsministeriums stattgefunden,
um über die kirchlichen Borlagen zu beschließen, welche an den noch im Laufe
dieses Monats zusammentretender Landtag gebracht werden sollen. Nach
weiteren Mittheilungen verlautet, daß bis zur Eröffnung des Landtags wohl
noch mehrere Staatsministerial-Sitzungen stattfinden werden, um die Gestalt
der kirchlichen Borlagen endgültig festzustellen. Am 1. November scheint man
nur über die Grundsätze einig geworden zu sein.
Wenn sonach auch bis ins Einzelne feststehende Beschlüsse noch nicht vor¬
liegen, so kehrt doch von unterrichteter Seite die Versicherung wieder, daß
es nicht halbe Maßregeln sind, denen wir diesmal entgegenzusehen haben.
Solcher Maßregeln wird die öffentliche Meinung sich überdies niemals ver¬
sehen, wenn sie wahrnimmt, daß Fürst Bismarck der Vorbereitung eines Ge¬
setzentwurfs seinen thätigen Antheil zuwendet.
Welcherlei Maßregeln aber können es sein, die in Gestalt von Gesetzes¬
vorlagen jetzt an den Landtag kommen sollen? So fragt sich Jeder, der die
ungewöhnliche Bedeutung der kirchlichen Fragen gerade im gegenwärtigen
Moment ermißt.
In dem Vortrag, welchen im vorigen Monat der bayrische Staats¬
minister von Lutz dem dortigen Abgeordnetenhause gab, war in schlagender
Weise der staatsgefährliche Charakter des seit dem Concilsbeschlusse vom
18. Juli 1870 der katholischen Kirche aufgedrungenen Dogmas von der per¬
sönlichen Unfehlbarkeit des Papstes beleuchtet. Zugleich aber fügte der bay¬
rische Staatsmann hinzu, daß die geltende Gesetzgebung der Regierung gegen
diese Gefahr keine Waffen leihe. Eintretenden Falles müsse die Regierung
mit Hilfe der Landesvertretung sich die gesetzlichen Waffen erst bereiten. Da¬
gegen sei die Regierung in der Lage, allen katholischen Staatsangehörigen
geistlichen und weltlichen Standes, welche die Lehre von der Unfehlbarkeit des
Papstes nicht anerkennen, den vollen in den Gesetzen des Landes begründeten
Schutz gegen den Mißbrauch geistlicher Gewalt zu gewähren. Die Negierung
sei entschlossen, das religiöse Erziehungsrecht der Eltern gegenüber dem Dogma
von der Unfehlbarkeit des Papstes anzuerkennen. Wenn von Anhängern der
alten katholischen Lehre Gemeinden gebildet werden sollten, so gedenke die
Staatsregierung diese Gemeinden als katholische anzuerkennen, und ihnen wie
ihren Geistlichen alle jene Rechte einzuräumen, welche sie gehabt haben würden,
wenn die Gemeindebildung vor dem 18. Juli 1870 vor sich gegangen wäre.
Fest entschlossen, jeden Eingriff in die Rechte des Staates mit den verfassungs¬
mäßigen Mitteln abzuwehren, erkläre sich die bayrische Staatsregierung be¬
reit, die Hand zu Gesetzen zu bieten, durch welche die volle gegenseitige Un¬
abhängigkeit sowohl des Staates gegenüber der Kirche, als umgekehrt be¬
gründet werde.
Man wird schwerlich fehl gehen, wenn man in diesen Erklärungen auch
die Grundzüge für das nächste Vorgehen der preußischen Regierung findet.
Wir glauben, die kirchlichen Vorlagen, welche dem Landtag zugehen sollen,
werden vor Allem darauf Bedacht nehmen, den kirchlichen Rechten der Alt¬
katholiken den Schutz des Staates zu sichern, und zu verhüten, daß die Alt¬
katholiken durch die vatikanische Neuerung des vorigen Jahres, deren Annahme
ihr Gewissen verbietet, um die Rechte einer vom Staat anerkannten, ja des
Staatsschutzes in einer besonderen Weise theilhaftigen Kirchengemeinschaft ge¬
bracht werden.
Das ist aber das Wenigste,
Wir glauben, die preußische Staatsregierung wird den Weg betreten,
welcher zur Herstellung der Unabhängigkeit des Staates von der Kirche führt.
Dazu gehören Civilstandsregister für Geburt, Eheschließung und
Tod. Dazu gehören B egrab nißstätten, welche der Obhut bürgerlicher Be¬
hörden anvertraut sind. Dazu gehört vor Allem die Durchbildung des staat¬
lichen Charakters der Schule. Mit dem Gegensatz zwischen confessio-
neller und confessionsloser Schule ist eine Menge leeres Stroh gedroschen
worden. Die wahreThesis ist aber weder die confessionelle noch die confessions-
lose, sondern die königlich preußische Staatsschule. In der Staats-
fchule kann der Religionsunterricht confessionell ertheilt werden. Die Auf¬
sicht über die ganze Schule aber, einschließlich des Religionsunterrichts, gebührt den
Organen des Staates. Der Staat kann seine Schulinspectoren auch unter den
Geistlichen der verschiedenen Konfessionen wählen, aber unter der Bedingung
gewährter Bürgschaft, daß die Inspection nach den Pflichten und Gesichtspunkten
des Staats geführt wird. Es können Schulen errichtet werden, die nicht
vom Staat geleitet werden, aber sie müssen sich einer negativen Staatsauf¬
sicht unterwerfen, und die Bildung, welche zu bürgerlichen und staatlichen
Stellungen befähigt, muß der Bildung entsprechen, welche die Staatsschule
gewährt.
Dies sind ungefähr die Grundzüge, auf denen die erste Stufe der Selbst-
ständigkeit des Staates zu errichten ist. Wir glauben nicht viel weniger von
den Vorlagen erwarten zu dürfen,, welche die preußische Regierung jetzt be¬
schäftigen. Nach dem bisherigen Stand der Dinge ist dies eine gewaltige
That, nach der inneren Natur der Aufgabe dagegen ein erster und mäßiger
Schritt.
In demselben Maße, wie der Engländer meint, daß er, weil er die meiste
Seife verbrauche, die reinlichste Creatur der Welt sei, so ist er auch steif und
fest überzeugt, daß die englische Gesellschaft die frömmste und moralischste
hienieden sei. In diesem seinem Pharisäerglauben, in welchem er an seine
Brust schlägt und Gott dankt, daß er nicht so ist, „wie andere Leute," wandelt
er stolz einher, moralisirt, philosophirt, humanisirt, kritisirt seine Nachbarn,
hält ihnen Borlesungen über ihr Thun und stellt sich ihnen als ein Muster¬
bild von Tugend und Humanität vor. Welchem Deutschen sind nicht die
Moralpredigten John Bull's aus dem letzten Kriege gegenwärtig? Dieser
Vertrauensdusel über seine Moralität und die Gesundheit seiner gesellschaft¬
lichen Institutionen gleicht dem Novembernebel, der, wenn er sich über Lon¬
don lagert, alles in tiefe Finsterniß hüllt, zuweilen aber plötzlich von einem
Windstoß zerrissen wird und dem umnachteten Auge einen Blick in die Ferne
und die Tiefe gewährt. Nicht selten geschieht, daß so ein unerwarteter Wind¬
stoß den züchtigen Schleier und den Mantel der Liebe lüftet, mit dem die
heuchlerische, aristokratische Gesellschaft Englands ihre ekelhaften Gebrechen
und ihre Laster deckt und diese der Welt in einem so scheußlichen Lichte, einem
so verrotteten Zustande zeigt, daß John Bull vor Scham seine Augen schließt,
oder in einem Wuthausbruch das Individuum trifft und vernichtet, das ihn
aus seinem Traum aufrüttelt. Ein solcher Windstoß ist der vor Kurzem
beendigte Proceß gegen die jugendlichen Gentlemen in Frauenkleidern Bulton
und Park, ein solcher Windstoß, der die Gesellschaft bis in die innersten Tie¬
fen aufregte, war der Proceß gegen die Engelmacherin Waters. Die Ent¬
hüllungen, welche dieser Proceß herbeiführte, legten eine eiternde Wunde der
englischen Gesellschaft, nämlich das Baby-Farming und den Kindermord, in
allen ihren Schrecken bloß. Das Baby-Farming, oder vielmehr das gewerbs¬
mäßige Jn-Wohnung- und Pflegnehmen von mehreren Säuglingen, durch
eine Person, ist das Resultat, nicht gerade der modernen Civilisation, sondern
einer gewissen Art von modernem Barbarismus. Unkeuschheit, wenn von unehe¬
licher Geburt gefolgt, nimmt in England seit den letzten Jahrzehnten zwei
verschiedene Formen an. Auf dem Lande hat sich die pi-^olib^dio matrimonii
zu dem Rang einer anerkannten Institution aufgeschwungen. Zwei junge
Leute in einem Dorfe thun sich zusammen, wohnen mit einander so lange bis
die Bevölkerung Aussicht auf Vermehrung hat, und dann heirathen sie sich.
Der Fehltritt ist ausgeglichen und die fehlende Braut wird ein ehrsames Ehe¬
weib. Wenig oder gar keine Schande heftet sich — nach dem Urtheil der
Menge — an dies freie und leichte System. In den Städten aber, sieht es
anders aus. Fabrikmädchen. Dienstboten, die Töchter kleiner Handwerker
unterliegen diesen kleinen Zufällen, ohne daß ein Theil an Heirath denkt.
Es, liegt im Interesse von Bater und Mutter, das ganze Vorkommnis) zu
vertuschen. Daher die Institution des Baby-Farming. Diese Institution,
die sich auch drüben im großen Vaterlande, und vorzüglich in der neuen
Kaiserstadt eingewurzelt hat, präsentirt sich unter manchen scheinbar humanen
Außenseiten, Zuerst einmal das arme Opfer der Indiscretion, die junge
Mutter. Ist nicht besser, ihr zu einem neuen Anlauf im Leben zu verhelfen?
Wenn sie nicht der Schande ihres außer der Ehe geborenen Kindes entledigt
wird, könnte sie nicht auf üble Wege gerathen? Sie ist nun gewarnt worden,
und zwar auf eine sehr empfindliche Weise. Sie oder ihr Liebhaber ist na¬
türlich verpflichtet, das Kind zu unterhalten: das ist — in den Augen der
Meisten — Strafe genug. Hier ist der Punkt, wo Gerechtigkeit und Nach¬
sicht sich die Hände reichen und ein gesellschaftliches Arrangement willkommen
heißen, das eine Heirath und Mutterliebe in Stellvertretung durch jene warm¬
herzigen Matronen darbietet, die eine so innige, aufopfernde, christliche Liebe
für Säuglinge haben, deren höchster Genuß die Sorgen und Mühen der
Kinderstube sind, und die deßhalb in Zeitungen Annoncen erlassen um Kinder zur
Wartung, zur Pflege, zur Erziehung und zur endlichen Adoption, anzunehmen.
Und dann vom ökonomischen Standpunkt aus läßt sich gleichfalls manches für
das Baby-Farming vorbringen. Gewöhnlich sind diese engelmachenden Institu¬
tionen mit einer anderen Form von Philanthropie verbunden; der Eigenthümer
der Farm ist häufig zu gleicher Zeit Dirigent einer Privatentbindungsanstalt.
Hier wird nach dem Grundsatz verfahren, die Masse muß es bringen. Ein
Kind, das im Geheimen geboren werden soll, kostet in einem Privathaus¬
halt große Summen, Summen, deren Ausgabe vermieden werden kann. Ein
einzelner Kranker kostet mehr als ein solcher, der im Hospital behandelt wird.
Ein in der Ehe gebornes Kind ist sehr kostspielig und seine Auferziehung
muß nach einem sehr unökonomischen Maßstab ausgeführt werden. Eine Kuh
ist ruiniös, aber eine Heerde Kühe bringt Geld ein. So auch vollzieht sich
die Pflege eines Säuglings auf sehr kostspielige Weise, aber einige Dutzend
kann man recht billig durchbringen. Das sind die Gründe, die man hier zu
Lande von philanthropischer wie ökonomischer Seite für das Collectivverfahren
in der Auferziehung von Säuglingen vorbringt. Bei diesen Instituten, wo
jene armen Wesen untergebracht werden, die schlimmer daran sind, als jene,
die durch einen Zufall Vater und Mutter verloren, muß man niemals den
Umstand außer Acht lassen, daß eine runde Summe im Voraus bezahlt wer¬
den muß. Fünfzig bis hundert Pfund sert. werden eingezahlt für den lebens¬
länglichen Unterhalt des unehelichen Kindes. Diese ganze Transaction hat
das Aussehen einer hazardösen Spekulation in Lebensversicherungspolicen, oder
besser gesagt in Leibrenten. In alten Zeiten machte man sich das Ding be¬
quemer, da setzte man die Kinder, die dem Staat oder den Eltern eine un¬
nütze Last zu werden drohten, auf dem Taygetus aus. Und in gewissen Vor¬
schlägen, die so natürlich aussahen, daß sie von manchen für Ernst genommen
wurden, rieth Swift, zur Verminderung der irischen Bevölkerung Cannibalismus
und Züchtung der Kinder -für die Tafel an. Ein jedes dieser Auskunftsmit-
tel ist für die armen Opfer weniger grausam, als das. was heute in Eng¬
land angewandt wird, und das durch den Proceß gegen die Waters auf so
furchtbare Weise aufgedeckt wurde. Bei der Leichenschau der Opfer dieses
Scheusals bemerkte der Coroner von Surrey, in dessen Amtsbezirk das Ver¬
brechen verübt worden war, daß man innerhalb weniger Wochen, unab¬
hängig vom vorliegenden Falle, an 16 Kinderleichen in seiner Grafschaft auf¬
gefunden habe. Und in der That hat die Zerstörung von Kindern durch die
Hand der eignen Eltern in den letzten Jahren einen solchen Grad erreicht,
der neben einer souveränen Verachtung des Gesetzes eine tiefe, bodenlose Ver¬
derbtheit aller besseren Gefühle bekundet. Der epidemische Charakter, die Recru-
descenz dieses Verbrechens hat auf hervorragendste Weise die öffentliche Auf¬
merksamkeit auf sich gezogen, beschäftigt alle Geister. Die ganze englische
Presse stieß einen Alarmschrei aus. Und höchst auffallend: nicht nur die poli¬
tischen Zeitungen, auch die Organe der Architektur, der Marine, der Finanz
u. s. w, vereinigten ihre Stimmen, um das Uebel zu bezeichnen, seine Ur¬
sachen aufzusuchen und ein promptes energisches Hülfsmittel zu fordern. An
diesem außergewöhnlichen Zeichen, das nur bei außergewöhnlichen Gelegen¬
heiten sich zeigt, kann man erkennen, daß das Uebel in der That existirt und
daß es ein großes ist. Will man noch einen überzeugenderen Beweis? In
London existirt eine aus angesehenen Personen zusammengesetzte Gesellschaft,*)
die es sich zur Aufgabe gemacht hat, dem Kindermord zu steuern. Eine Ge¬
sellschaft ausdrücklich gegründet um Väter und Mütter zu verhindern, ihre
Kinder umzubringen!
Diese unzähligen Kindermorde kommen theilweise daher, daß in England
nicht Anstalten genug vorhanden sind, um die verlassenen Kinder aufzuneh¬
men, und daß die vorhandenen Anstalten eine höchst mangelhafte Organi¬
sation besitzen. In ganz England und Irland existirt nur ein einziges Hos¬
piz für die Aufnahme verlassener Kinder und zwar in London: sein Name
5ounÄIinL Hospital, zu deutsch „Findelhospital." In den übrigen Theilen
des Landes in Wales, wie in Irland — Schottland ausgenommen — müs¬
sen die 'Wol-KIwusöS, wörtlich Arbeitshäuser, in der That aber ungeheure
Armendepots, wohl oder übel die Rolle der Findelhäuser versehen. Das
^ouvälinF Hospital zu London ist nur für London und seine Vorstädte an¬
gelegt. Da nun aber die Bevölkerung Londons 3.251.804 Personen zählt,
so sieht man leicht, daß das ?ouinZIinss Hospital, obgleich es ungeheure Re-
venüen hat und gut verwaltet wird, den Bedürfnissen der Metropole nicht
genügen kann. Denn einmal nimmt es kein Kind auf. das wirklich verlassen
aufgefunden wird, ein Verfahren, das im directen Widerspruch mit seinem
Namen steht. Man läßt nur Kinder zu, deren Mütter sich selbst präsentiren
und auf „zufriedenstellende Weise," die an sie gestellten Fragen beantworten.
Diese Zurückweisung jedes Findlings und die peinlichen Maßregeln, welchen
Mütter unterworfen werden, bilden ein bedauerliches System, das vielmehr
zum^ Verbrechen antreibt, anstatt es zu verhindern. So weit für London.
Bleiben anderwärts nur die WorIcIwu3«!Z übrig, Zufluchtsstätten des höchsten
kaum denkbaren Elends. In diesen 'Wol-KKouses, wo Wärter und Wärte¬
rinnen Hausen, die es mit dem besten Sclavenaufseher aufnehmen, werden die
unehelichen Kinder, gegen eine von der Mutter oder dem Vater, oder von
beiden zu zahlende regelmäßige Pension aufgenommen, was für arme Leute
eine schwere Last ist, eine Last, die, weil vorher gekannt, gar häufig ein
schlechter Rathgeber ist, und zum Verbrechen treibt. Das ganz ohne Hülfs¬
quellen dastehende, verlassene, verrathene Mädchen kann an die Thür des
'WorKIwukZlZ klopfen; sie wird sich ihr öffnen, aber weder guter Rath, noch
Tröstung wartet der Aermsten. Das Exclusionssystem existirt in diesen Häusern,
wie es in London, in England existirt; nur in einer anderen, mehr barbarischen
Form:'in der schlechten Behandlung. Die Jnteressirten kennen das Los, das sie
erwartet, durch die Erfahrung derjenigen, die vor ihnen die bitteren Wohlthaten
dieser harten, ächt englischen Wohlthätigkeitsanstalt angenommen haben. Ihre
Kenntniß dessen, was sie dort erwartet, bezeichnet jener Ruf, den wir nicht blos
von verlassenen Unglücklichen, sondern von rechtschaffenen, brotlos gewordenen
Arbeiterfamilien so häufig vernahmen: „lieber am Galgen, als ins 'WorKIwuse."
Eine Menge Kindermorde enspringen indessen nicht aus der Furcht vor
Schande, nicht aus der doppelten Perspective der Ausgabe, die sich vor der
Mutter, und des Elendes, die sich vor dem Kinde aufthut; bei nur zu Vielen
ist die Triebfeder Habsucht. Gierde nach Gold. In diesem Falle begegnet
man bei der gezwungenen Explication des Verbrechens nicht mehr jenem furcht¬
baren Kampf zwischen mütterlicher Zärtlichkeit und den moralischen Strafen,
welche die Gesellschaft für das gefallene Mädchen in Reserve hat, jenem Kampf,
dem die Unglückliche in der Entbindungsstunde und in momentaner Geistes¬
abwesenheit unterliegt: man findet sich plötzlich am Rande eines Abgrundes
moralischer Verderbtheit, in den man kaum, ohne von Schwindel ergriffen
zu werden, hinabzuschauen vermag. Die Triebfeder des Verbrechens nichts
als Speculation! Ja, die Eltern speculiren auf den Tod ihrer Kinder, und
wenn der Tod sich nicht ihren Wünschen gemäß einstellt, so rufen sie ihn mit
Gewalt herbei und überliefern ihm, was zu nehmen er sich sträubt. Die
großen Fabrikstädte und die Dörfer sind der gewöhnliche Schauplatz dieser
entsetzlichen Thaten. Die dabei obwaltenden Umstände sind in der Regel fol¬
gende. Unter dem Namen Burial-Clubs, oder Begräbnißkassenvereine existi-
ren, wie ja auch in Deutschland, durch ganz England auf Gegenseitigkeit
gegründete Hülfsgesellschaften, die im Princip den Zweck haben, ihren Mit¬
gliedern ein anständiges Begräbniß zu sichern. Die Zahlung geschieht analog
der in Deutschland; ein geringer Beitrag bei jedem in der Gesellschaft ein¬
tretenden Sterbefall In England läßt man ohne Weiteres Kinder als Mit¬
glieder dieser Vereine zu. Die Verworfenen lassen denn auch ihre Kinder als
Mitglieder in die Register der Clubs einschreiben, zahlen eine kurze Zeit lang
ihre Cotisation und wenn sie sich gegen Verdacht sicher glauben, dann machen
sie sich an ihr teuflisches Werk. Das Kind stirbt. Sie empfangen eine ge¬
wisse Summe: ihr Zweck ist erreicht. „Jedes Jahr," so sagt der Rep. I. Clay
in seinem vor einigen Jahren veröffentlichten Buche: Intavtieiäe g,n<1 Lurial-
Llubs, „werden eine Menge unschuldiger Wesen in die Ewigkeit befördert
durch diejenigen, welche ihnen am engsten durch die Bande der Natur und
des Bluts, wenn nicht durch Elternliebe verbunden sind, und das um einiger
Pfund Sterl. wegen." Die Unzahl gerichtlicher Untersuchungen und Verur¬
teilungen, die Angaben und Artikel in den öffentlichen Blättern, vornehmlich
in der Times vom 20. Septbr. 1864, sind Beweise, daß wir nicht übertreiben.
So z.B. hat man constatirt, daß nicht selten kleine Tagelöhner, die unfähig
gewesen waren, ihre Miethe zu bezahlen, diese Unfähigkeit nach dem plötz¬
lichen Tode eines ihrer Kinder beseitigt sehen. Aus der vergleichenden Stati¬
stik, die man angestellt, geht hervor, daß die Mortalität unter den bei den
Burial-Clubs eingeschriebenen Kindern größer ist, als bei denen, die es nicht
sind: die Differenz ist 8 — 9 Procent, obgleich die Kinder erst in einem Alter
von zwei Monaten eingekauft werden können und eine IKwöchentliche Coti¬
sation nöthig ist, ehe auf eine Prämie Anspruch gemacht werden kann. Fer¬
ner hat sich herausgestellt, daß die Landfrauen, die als Ammen Kinder in
Pflege nehmen, solche bei den Burial-Clubs einschreiben lassen. Endlich wer¬
den die unehelichen Kinder, gleich den ehelichen, zur Mitgliedschaft zugelassen.
Welche Sorge, so muß man sich fragen, werden unwissende und verbrecherische
Eltern für jene Kinder tragen, die für sie eine Anklage sind, und deren Tod ihnen
60 — 100 Thlr. einbringt? Welches kann das Loos dieser Klasse von Kindern
sein, wenn man sieht, was mit so manchen ehelichen Kindern geschieht? Die
Burial-Clubs sind nicht die Ursache der Verderbtheit des moralischen Ge¬
fühls, aber sie tragen zu dieser Verderbtheit bei, sie muntern dazu auf, ent¬
weder die gesunden Kinder zu todten, oder krank gewordene Kinder aus
Mangel an Nahrung und nach Berechnung sterben zu lassen. Der Kinder-
Mord entspringt also in England aus zwei verschiedenen Ursachen, von denen
eine dem Lande eigenthümlich ist. Kann man sich deßhalb wundern, wenn
die Presse früher schon, und auf's Neue während des Processes gegen die
Waters im vergangenen Sommer, energisch^ darauf drang, dem Uebel
einen Damm entgegenzusetzen, und wenn mehrere Gesellschaften sich ge¬
bildet haben, eine von großer Notorietcit, um denselben Zweck anzustre¬
ben? Was hat man bis jetzt gethan, um dem Uebel zu steuern? Das ist
die Frage, die sich dem Beobachter von selbst aufdrängt, und die zu beant¬
worten die Zeit in England gekommen ist. Wir werden uns in unserm Näch¬
Die unermüdlich thätige Verlagsbuchhandlung von Kortkamvf in Berlin
hat zum Siegesfeste dieses Sommers die genannten beiden Festgaben gebracht.
Die Erste ist dankbarer Erinnerung an Friedrich den Großen gewidmet, der
doch zu den heutigen großen Dingen den Grundstein gelegt: der Herausgeber
bringt „zwei historische Aktenstücke" wie er in etwas seltsamem Ausdrucke
sagt. 1) Friedrichs Ode g>ux ?rusÄMS mit einer recht wohl gelungenen deut¬
schen Uebersetzung und 2) die Rede, die Johannes von Müller am 29. Ja¬
nuar 1807 zum Andenken Friedrichs gehalten in der Berliner Akademie.
Die Wahl grade dieses Stückes zum Wiederabdruck halten wir allerdings
nicht für eine glückliche: nur mit Zorn vermögen wir die erbärmlichen speichel¬
leckerischen Redensarten zu lesen, die der große Historiker seiner Zeit dem
siegreichen Franzosenkaiser an den Kops wirft! Weßhalb grade jetzt diese
Rede zur preußischen Siegesfeier abgedruckt werden mußte, das begreifen wir
nicht; Müllers Andenken ehren wir am besten, wenn wir diese Rede ganz zu ver¬
gessen suchen! Und zur Erhebung unseres patriotischen Gefühles hätte sich
doch ohne Schwierigkeit irgend ein anderes Gedächtnißmal auf Friedrich den
Großen geboten.
Hübsch ist die Idee, die der zweiten kleinen Schrift zu Grunde liegt. Es
soll gezeigt werden, wie die Ahnenreihe Kaiser Wilhelms und Kaiserin Au-
gusta's auf denselben Kaiser Sigismund zurückzuführen sind, welcher die hohen-
zollersche Kur in Brandenburg geschaffen und die sächsische Kur dem Wettiner-
hause verliehen. In kurzer Skizze ist die Geschichte dieser Dynastie gegeben
und zugleich auf einer ganz zweckmäßig angelegten genealogischen Tafel dieses
Verhältniß deutlich gemacht. Mit uns wird Mancher sich des kleinen Büch¬
leins erfreuen und für die Zusammenstellung dieser Notizen dankbar sein.
Vom großen Salzsee jenseit der Rocky Mountains kommt die Kunde,
daß die Regierung Arete Scans endlich begonnen hat, der scandalösen Ano¬
malie des neunzehnten Jahrhunderts, die sich die „Gemeine der Heiligen vom
jüngsten Tage" nennt, und die wir Profanen mit dem Namen des Mormo-
nenthums bezeichnen, endlich ein Ende zu machen. Fast ein Viertelsäculum
spielte diese greuelvolle Posse in der Einsamkeit hinter der Prairienwüste des
Fernen Westens, schwer erreichbar vom Arm des Gesetzes, für uns von Halb¬
dunkel umhüllt, und von freundlichen und feindlichen Fabeln umwoben. Jetzt
haben Eisenbahn und Telegraph ihr längst erwartetes Werk gethan, das
Halbdunkel wurde zu Licht, die Fabeln zerrannen, die Mormonen sind mit
der civilisirten Welt in Verbindung gebracht und werden sich nun ihren Re¬
geln und Anforderungen zu fügen haben, oder sich entschließen müssen, den
drei „Auszügen aus Aegyptenland," in denen sie vor den Geboten der Civili¬
sation entwichen, einen vierten folgen zu lassen und ihr Zion auf die Sand-
Wichs-Jnseln zu verlegen, wo ihre Apostel bereits seit Jahren ein Asyl für
die Brüder bereitet haben.
Geschichte, Glaube, Organisation und Sitte der Mormonen liegen in
verschiedenen mehr oder minder ausführlichen Darstellungen vor. Aber alle
send lückenhaft, die Meisten von zu viel Wohlwollen oder zu viel Abneigung
dictirt. Die gründlichste und gewissenhafteste Schrift über diesen großartigen
religiösen Humbug ist unstreitig die von Moritz Busch*), die aber gleichfalls
noch der Ergänzung bedarf. Im Folgenden geben wir eine Skizze dieser Er¬
scheinung, die manchem Leser wie ein häßliches Gespenst oder wie ein Stück
auf die Erde gefallenes Mondmenschenthum vorkommen wird, die uns aber
nicht zu sehr wundern darf, wenn wir daran die Thatsache halten, daß der
absurde Schwindel des Spiritualismus in Amerika zu einer Religion gewor¬
den ist, die nach den mäßigsten Angaben drei Millionen Bekenner zählt.
Ueber die Geschichte der Secte fassen wir uns so kurz als möglich, um
Raum für eine ausführliche Schilderung ihrer gegenwärtigen Verhältnisse,
Einrichtungen und Glaubensmeinungen zu behalten.
In den zwanziger Jahren lebte im Norden des Staates Newyork, zu¬
letzt im Städtchen Manchester, eine gottesfürchtige Familie Smith, die aus dem
Uankeestaat Vermont eingewandert war. Den zweiten Sohn derselben, Joseph
Smith, erwählte Gott in seiner Gnade und Weisheit, um den Plan einer
dringend nothwendig gewordenen religiösen Wiedergeburt der Menschheit zu
dem Gnadenstand der alten Zeit auszuführen. Zu diesem Zwecke ließ er ihn
1827 in einem Berge bei Palmyra die auf Goldplatten mit ägyptischen Cha¬
rakteren verzeichnete Chronik der Wunder finden, welche der Herr auf dem
westlichen Continent in der Zeit vor der Entdeckung Amerikas gewirkt hatte,
und setzte ihn, den ungelehrten Bauernsohn, durch eine bei den Platten liegende
Brille in den Stand, eine Uebersetzung derselben zu besorgen. Erscheinungen
von Teufeln, Kämpfe mit denselben, Offenbarungen von Propheten und
Aposteln, von Christus, von Gott selbst begleiteten diesen Fund, und Joseph
Smith erhielt den Auftrag, eine Kirche zu gründen, die er in stetem unmit¬
telbaren Verkehr mit dem Himmel regieren sollte, und der verheißen wurde,
sie solle am jüngsten Tage die herrschende werden.
Nicht doch. Das ist die Geschichte, wie sie die mormonischen Schrift¬
gelehrten erzählen. Die Wahrheit ist in Kurzem folgende:
Joseph Smith war ein Taugenichts, der, statt zu arbeiten, von Specu-
lationen auf den Aberglauben seiner Nachbarn lebte, sich mit Graben nach
Schätzen, Geisterbeschwörungen und Teufelsbannerei beschäftigte und allerlei
andere Possen trieb. Um das Jahr 1827 hielt er sich im benachbarten
Pennsylvanien auf. und hier machte er die Bekanntschaft des Campbelliten-
Predigers Sidney Rigdon, eines ehemaligen Buchdruckers, mit dem erden
Plan verabredete, das Manuseript eines Romans, welcher, von einem ge¬
wissen Salomo Spaulding verfaßt, die Herkunft der Indianer von den zehn
Verlornen Stämmen Israels nachweisen sollte, mit dem Rufe des Wunder¬
baren auf den Markt und somit vortheilhaft unter die Leute zu bringen.
Der Verfasser war gestorben, Rigdon hatte dessen Werk als Lecteur eines Buch¬
händlers in die Hände bekommen, und nun sollte es, von jenem in eine Art
Jndicmerbibel umgeschmiedet, von Smith, dem weithin bekannten Schatzgräber,
in einem Berge gefunden worden sein. Bei den Verhandlungen hierüber ver¬
wandelte und erweiterte sich dieser Plan. Rigdon und Smith fanden, daß
sich darauf eine neue Religion gründen ließ, und dieselbe wurde wirklich ge¬
gründet, indem Rigdon in Ohio, Smith im nördlichen Newyork damit auf-
trat. In letzterer Gegend wollte es mit der Sache nicht recht vorwärts, da
es hier schon zu licht in den Köpfen und Smiths Vergangenheit zu bekannt
war. Desto besser hatte inzwischen Rigdon, ein Mann von der wilden,
phantastischen Beredsamkeit der Hinterwaldsprediger, in Ohio gearbeitet, wo
damals „Erweckungen" an der Tagesordnung waren, und neue Secten wie
die Pilze aus dem noch jungfräulichen Boden wuchsen.
So beschloß Smith mit seinen Leuten nach Ohio zu ziehen und dort
sein Zion zu gründen. Der Ort war das Städtchen Kirtland, nicht weit
vom Erie-See, wohin er sich, angeblich in Folge einer Offenbarung, im Ja¬
nuar 1831 begab. Rasch hatte man sich dort eingerichtet, und wenn Nigdon
gemeint hatte, in der Gemeinde die erste Rolle zu spielen, so mußte er bald
gewahr werden, daß sein Genosse der Stärkere war. Smith allein empfing
echte Offenbarungen, die auch seinen leiblichen Bedürfnissen zu Gute kamen.
Rigdon besorgte das Enthusiasmiren und Fanatisiren mit Virtuosität. Smith,
verständiger und praktischer, zog das Regieren und Speculiren vor. Er war
der Organisator und der Geschäftsführer der Secte, die bald auf 2000 See¬
len angeschwollen war und durch ausgesendete Apostel in den verschiedensten
Gegenden des Westens von sich reden machte.
Ein anderer Geistlicher, der sich den Mormonen angeschlossen, Peter
Perley Pratt, schrieb Pamphlete zur Empfehlung und Vertheidigung des
Glaubens derselben, der damals noch nicht viel mehr enthielt, als daß Gott
in den „Heiligen vom jüngsten Tage" der Welt das verloren gegangene Prie-
sterthum wiedergeschenkt habe, daß das „Buch Mormons", welches Smith
gefunden, der Bibel gleich zu ackten sei, und daß der Secte in Zukunft die
Herrschaft über die Welt zufallen werde. Rigdons Predigten riefen in Kirt¬
land allerlei seltsame Erscheinungen hervor. In den öffentlichen Versamm¬
lungen fielen die Leute, Männlein und Weiblein, zuckend zu Boden und sahen
himmlische Gesichte. Wolken von Seligen. Aposteln und Märtyrer, den Herrn
Jesus und Gott Vater. Andere verkündeten predigend und singend von
Zäunen und Baumstümpfen den Anbruch des jüngsten Gerichts. Wieder
Andere „redeten in Zungen", d. h. sie stießen unarticulirte Töne aus, die sie
für die Sprache der Rothhäute ausgaben, zu deren Bekehrung sie aufbrechen
zu müssen glaubten. Noch Andern fielen vom Himmel Pergamentrollen auf
den Kopf, welche mit dem Siegel des Heilands gesiegelt waren, und deren
Inhalt sie nicht sobald abgeschrieben hatten, als sie unsichtbar wurden. Die¬
ser fromme Wahnsinn, bei dem vermuthlich auch ein wenig frommer Betrug
mit unterlief, galt als „Pfingstzeugniß" für die Wahrheit der neuen Lehre.
Zu gleicher Zeit wußten die Führer ihre Anhänger aber auch zur Arbeit an¬
zuhalten, und so gedieh die Secte, die nunmehr eine stramme Organisation
in Priester verschiedener Grade bekommen hatte und durch verhältnißmäßig
bedeutende Steuern der Einzelnen im „Speicher des Herrn" einen Schatz für
das Ganze sammelte, einige Jahre recht gut.
Indeß erregte dieses Gedeihen und der Stolz der Mormonen auf dasselbe
bald den Neid der Nachbarn und namentlich den Haß anderer Secten, Rings
um Kirtland, wo sich im Lauf der nächsten Jahre der erste Tempel der Lat-
terday-Saints erhob, empfand man die Mormonen als eine Unbequemlichkeit.
Drohungen erfolgten. Es kam zu Thätlichkeiten. Es geschah sogar, daß
Smith und Rigdon bei einer Bekehrungsreise von bösen Gesellen gefaßt und
der Procedur des Theerens und Feoerns unterworfen wurden.
So sah Smith, der jetzt allein regierte, ein, daß auch Ohio noch nicht
die rechte Stelle für sein Zion sei und daß er, um mit den Seinen ungestört
zu wachsen und zu blühen, weiter nach Westen gehen müsse. Er schickte in¬
folge dessen Kundschafter nach Missouri aus, die dort nach einiger Zeit bei
dem Städtchen Jndependence eine Zweigniederlassung gründeten, welcher
nunmehr die von den Wanderpredigern der Secte gemachten Proselyten zu¬
strömten, während der Prophet, einige Besuchsreisen desselben bei den Brü¬
dern im neuen Zion abgerechnet, in Kirtland zurückblieb, um noch ein paar
Jahre mit den Geldern und dem Credit seiner Leute Geschäfte zu machen.
Die Colonie in Missouri gedieh anfangs ebenfalls nach Wunsch. Mit der
Zeit aber wurden die Nachbarn auch hier den „Heiligen" aufsässig. Man ärgerte
sich über das Selbstgefühl, welches sie gegenüber den „Heiden" zur Schau
trugen. Man beneidete sie. Man sagte ihnen nach, daß sie in Güter- und
Weibergemeinschaft lebten und Gauner und Viehdiebe unter sich hegten. Es
hieß, daß sie die Aufhebung der Sclaverei predigten und sich mit den India¬
nern verschworen hätten, um den ganzen Westen zu erobern. Manches von
diesen Anklagen war begründet, anderes Mißverständniß, Uebertreibung und
Erfindung. Die Scenen in Ohio wiederholten sich in Missouri in verstärk¬
tem Maße. Von Neckereien kam es zu Schlägereien. Eine Volksversamm¬
lung beschloß, die unliebsamen Gäste zum Abzug aus dem County bis zu
bestimmter Frist aufzufordern, und als diese verstrichen war, ohne daß die
Mormonen die Aufforderung erfüllt hatten, erfolgten zu Ende October 1833
verschiedene Angriffe von Pöbelrotten auf sie. Die „Heiligen" erwehrten sich
der „Heiden" zwar mit den Waffen, als aber dann die Miliz des Staats
gegen sie aufgeboten wurde, fahen sie ein, daß ihnen keine andere Wahl blieb,
als Nachgeben, und den 7. November verließen sie in Masse die Gegend von
Jndependence, um nach den auf dem andern Ufer des Mifsouriflusses gelegenen
Grafschaften, vorzüglich nach Clay- und Caldwell-County auszuwandern.
Hier wurde das Städtchen Far West ihr Hauptquartier, und wieder verhalf
ihnen ihre Rührigkeit und ihre wohlausgedachte Organisation zu Wohlstand
und Gedeihen.
Nicht so glücklich wirthschafteten Smith und Rigdon in Kirtland, und
im Januar 1838 erlitt die von ihnen hier begründete Bank einen schmäh¬
lichen Bankerott, der dem Propheten gerathen erscheinen ließ, sich eiligst
aus dem Staube zu machen. Er ging nach Far West. Der größte Theil
der in Kirtland ansässigen Mormonen folgte ihm im nächsten Frühling in
großen Zügen, und von jetzt an war das westliche Missouri der Sammelplatz
der Secte, die in dieser Zeit hier gegen zwölftausend, in ganz Amerika aber
mindestens drei Mal so viele Mitglieder zählte.
Als Smith in Missouri eintraf, fand er diese „Kirche" in Verwirrung.
Allerlei zweideutige Persönlichkeiten hatten sich unter die „Heiligen" gemischt,
der Ehrgeiz der Führer hatte zu bitteren Zerwürfnissen geführt. Der Pro¬
phet war der Mann, Ordnung zu stiften, und so wurde sie gestiftet. Mehrere
der Schuldigen wurden von der Gemeinde ausgeschlossen. Für die Beseitigung
der falschen Jünger, die sich in dieselbe eingeschlichen, sorgte eine Art gehei¬
mer Polizei, welche „die Schaar der Daniten" oder, weil sie die Spreu vom
Weizen sondern sollte, „die große Wurfschaufel" hieß und starke Aehnlichkeit
mit den späteren polnischen Hängegendarmen gehabt zu haben scheint.
Weniger gut als die inneren Angelegenheiten wußte der Prophet die
auswärtigen zu ordnen. Auch in dieser Gegend Missouris hatten die Mor¬
monen das anfängliche Wohlwollen der Nachbarn allmählig verscherzt. Es
hieß, sie gedächten sich zunächst der Regierung in den Counties, die sie be¬
wohnten, und dann der Herrschaft im ganzen Staate zu bemächtigen, und sie
hätten erklärt, daß Smiths Offenbarungen über dem Gesetze des Landes stän¬
den. Rigdons Fanatismus riß ihn zu unüberlegten Predigten gegen ab¬
trünnige Mormonen hin, die, wie er sagte, gleich Judas Ischarioth behandelt
werden müßten, dessen Eingeweide die Apostel mit Füßen getreten hätten.
Bei der Feier der Unabhängigkeitserklärung Amerikas kündigte der wilde
Zelot in einem Vortrag, den man „die gesalzene Predigt" nannte, dem Staat
Missouri geradezu den Frieden auf, und rief Wehe über denselben im Namen
des Herrn. Die Folge dieser Reden und der mit denselben parallellaufenden
Hetzartikel in den Zeitungen der Secte war, daß die Nachbarn, die überdieß
über die „große Wurfschaufel," über gelegentliche Viehdiebstähle der Mormo¬
nen, über die ihnen nachgesagten geschlechtlichen Vergehen, Gaunereien u. d.,
namentlich aber wohl auch über das rasche Gedeihen der Secte ergrimmt waren,
ganz wie früher die Nachbarn auf dem andern Ufer des Missouri auf die
Austreibung derselben aus dem Staate dachten. Bei einer Wahl im Städt¬
chen Gallatin kam es zu einer blutigen Rauferei, in welcher die Mormonen
das Feld behaupteten. Sie durchzogen darauf die Umgebung des Ortes. Plün¬
derten die Häuser ihrer Gegner und brachten den Raub in den „Speicher des
Herrn" zu Far West. Die Antimormonen übten Vergeltung. Zuletzt ent-
wickelten sich förmliche Gefechte, und nun schritt der Staat ein, und der
Gouverneur Lilburn Bogh nahm entschieden Partei gegen die verhaßte Seete.
Die Miliz wurde in der Stärke von ungefähr 10,000 Mann aufgeboten, der
Widerstand der Mormonen niedergeschlagen, der Prophet mit einigen andern
Führern verhaftet, und die ganze übrige Mormonenschaft gezwungen, ohne
Verzug, obwohl der Winter nahe war, den Staat Missouri zu räumen. Eine
große Anzahl der Heiligen war bei diesen Vorgängen grausam umgebracht
worden. Andere erlagen den Mühseligkeiten und Entbehrungen des Zuges
durch die Wildniß, als sie sich nun nach dem Nachbarstaate Illinois wendeten.
Dieß war zu Ende des Jahres 1838 geschehen. In Illinois, wo die
Masse der Mormonen zunächst ein großes Lager bei Quinch am Mississippi
bezog, nahm man die Flüchtigen mit Wohlwollen auf, da man in dem noch
wenig bewohnten Staate fleißige Leute brauchen konnte, und darüber ihre
unbequemen Eigenschaften vergaß, und als Smith, im Frühling 1839 aus
dem Gefängniß in Missouri entwichen, bei den Seinen anlangte und bald
nachher das Städtchen Commerce zum Hauptquartier der Secte machte, ge¬
währte ihm die Legislatur Bedingungen, welche ihn und sein Volk fast un¬
abhängig von der Staatsbehörde hinstellten.
Waren die Mormonen eine Zeitlang in Missouri wohl gediehen, so ge¬
staltete sich ihre Lage in Illinois bald noch weit günstiger. Commerce, von
Smith in Nauvoo umgetauft, „was auf neuägyptisch die Schöne heißt," wurde
im Verlauf von vier Jahren aus einer schmutzigen Gruppe von Blockhütten
zu einer hübschen lebhaften Mittelstadt, und die benachbarte Prairie bedeckte
sich mit freundlichen Farmhäusern, gutbestellten Mais- und Weizenfeldern
und stattlichen Viehheerden, Massenhaft strömten Bekehrte nach dem neuen
Zion, jetzt auch aus England, wo die Apostel der Secte inzwischen besonders
in Wales und in den Fabrikdistricten von Lancashire bedeutenden Erfolg
gehabt hatten. Man schuf in der Stadtverfassung einen Staat im Staate,
und man gewann durch Errichtung einer wohlbewaffneten Legion ein kleines
Heer zur Stütze dieser Unabhängigkeit. Auf Befehl des Mormonengottes
begann man, einen prachtvollen Tempel zu bauen, der, als er fertig war, eine
halbe Million Dollars kostete. Ein anderer Befehl „des großen Jehova"
ordnete den Bau eines Gasthofs an und ernannte den Propheten, der bereits
Bürgermeister von Nauvoo und General der Legion war, zum Wirthe in
demselben, als welcher er und die Seinigen „auf ewige Zeiten" freie Wohnung
darin haben sollten. Noch nie war es den Mormonen so wohl geworden wie
in der Zeit nach den ersten drei oder vier Jahren ihres Aufenthalts in
Illinois.
Allmählig indeß erwies sich auch hier, daß eine Gemeinschaft von Men¬
schen wie die „Heiligen vom jüngsten Tage" sich auf die Dauer nicht mit
dem modernen Staate verträgt. Die treulose Schaukelpolitik Smiths, die es
erst mit den Whigs, dann mit den Demokraten hielt, und dann wieder zu
jenen hinüberschwankte, verdarb es zuletzt mit allen Parteien. Mit jedem
Tage trat er dreister und anmaßender auf, und im Sommer 1844 hatte er
allen Ernstes den Uebermuth, sich in einer langen pomphaften Ansprache an
das Volk der Vereinigten Staaten zum Präsidenten der Union zu empfehlen.
Dennoch würde Smith sich noch eine Weile gehalten haben, wenn nicht wie¬
der infolge innerer Streitigkeiten der Secte ein Schisma ausgebrochen wäre,
welches, indem der Prophet in ungesetzlicher Weise gegen seine Feinde ein¬
schritt, zu einer Einmischung des Staates führte.
Unter einem Theile der mormonischen Priesterschaft hatte sich, wie es
scheint schon in Missouri, insgeheim die Lehre verbreitet, daß es gestattet
sei, neben seiner Ehefrau noch eine „geistliche Frau" oder mehrere zu haben.
Der Urheber dieser Doctrin war Rigdon. Smith begann sich erst in Nau¬
voo mit ihr zu befreunden, indem er 1843 eine sie empfehlende Offenbarung
erhielt. Im nächsten Jahre scheint er durch Anknüpfung von Liebeshändeln
wie den Frauen anderer Mormonen der Empfehlung nachgelebt zu haben,
^is ihm dieß von seinen Gegnern in Nauvoo in deren Blatte, dem „Expo-
sitor" öffentlich vorgeworfen wurde, ließ er die Druckerei derselben zerstören.
Dieß rief in der Nachbarschaft von Nauvoo die größte Erbitterung hervor,
welche noch stieg, als Smith und seine Genossen sich weigerten, dem von den
Geschädigten beim Grafschaftsgericht im benachbarten Carthago gegen sie er¬
wirkten Verhaftsbefehl Folge zu leisten. In Massen sammelte sich das Volk
^r Nachbarschaft zum Angriff auf die Mormonenstadt, und als der Prophet
sich schließlich den Behörden doch noch stellte und in das Gefängniß von
Karthago gebracht wurde, stürmte eine bewaffnete Rotte das Haus und er-
wordet ihn und seinen Bruder Hiram.
Dieß geschah am 27. Juni 1844. Die Mormonen wollten zuerst den
Tod ihres Propheten mit Feuer und Schwert rächen, besannen sich aber auf
Zureden verständiger Leute eines Besseren und verhielten sich ruhig. Der
^te Rigdon versuchte nun, die Stelle des Propheten einzunehmen, wurde
""er damit zurückgewiesen und in feierlicher Versammlung von Brigham
Aoung ereommunicirt und „im Namen des Herrn den Püffen des Satans
überantwortet," worauf alles Volk Amen sagte. Er zog sich nach Pitts-
^urgh, s^ner Geburtsstadt, zurück, wo er einige Jahre später in Vergessenheit
starb. Ebensowenig Erfolg hatten andere Bewerber um die erledigte erste
Stelle unter den Heiligen vom jüngsten Tage, z. B. Glatten Bishop, wel¬
ker sich für die Wiederkunft Christi ausgab und ganze Bände voll Gespräche
^it himmlischen Geistern zur Unterstützung seiner Ansprüche aufzuweisen hatte,
^righam Young, der „Löwe Gottes," ein Zankes aus Vermont, der.
seines Zeichens ursprünglich Zimmermann, nach seinem 1838 erfolgten Ein¬
tritt in die Secte durch Verstand und Rednertalent sowie durch die Energie
seines Wesens rasch bedeutenden Einfluß gewonnen hatte, wurde als der
Nachfolger Smiths anerkannt und hat diese Stellung bis jetzt behauptet.
Der neue Prophet war ganz, was die Secte unter den schwierigen Um¬
ständen, in die sie gerathen war, bedürfte, wenn sie nicht untergehen sollte.
Ringsum waren die Leidenschaften gegen sie aufgeregt, und nur mit der
größten Schmiegsamkeit waren Angriffe der Nachbarn auf Nauvoo fernzuhal¬
ten. Auf die Dauer wollte dieß aber auch der Gewandtheit und Umsicht
Uoung's nicht gelingen. Wie früher in Missouri, so begann jetzt in Illinois
die Verfolgung der Mormonen mit Privatraufereien. Dann folgten Plün¬
derungen und Brandlegungen, die gegen die vor der Stadt und weiterhin im
Lande zerstreut wohnenden Mitglieder der Secte verübt und von Nauvoo aus
mit Repressalien beantwortet wurden.
Zuletzt sahen die Führer der Mormonen ein, daß eine abermalige Aus¬
treibung nur durch freiwilligen Abzug verhütet werden könne. Am 20. October
184S schlössen sie mit den Abgeordneten der gegen sie verbündeten Graf¬
schaften einen Vertrag ab, nach welchem die Mormonen sich verpflichteten
in ihrer Hauptmasse nächstes Frühjahr den Staat Illinois zu verlassen, wo¬
gegen der andere Theil sich anheischig machte, die Zurückbleibenden so lange
unbehelligt in Nauvoo zu lassen, bis die Vorausgehenden einen passenden Ort
zu einer Niederlassung gefunden und die Uebrigen Gelegenheit gehabt hätten,
ihr Grundeigenthum in Illinois seinem wahren Werthe nach zu veräußern.
Am 1. November wurden die Heiligen durch ein Rundschreiben ihrer zwölf
Apostel benachrichtigt, daß man zu dem Entschlüsse gelangt, „die Gotteskraft
und das Priesterthum zum großen Troste Israels von den Heiden wegzu¬
nehmen, auf daß die Wildniß blühe wie eine Rose und Babylon falle wie
ein ins Meer geworfener Mühlstein." Am 20. Januar 1846 erging dann
die Bekanntmachung des Hohen Rathes an die Latterday-Saints in aller
Welt, daß man sich jenseit der Felsengebirge, auf damals noch zu Mexiko
gehörigem Gebiet eine neue Heimath suchen wolle, und vierzehn Tage später
schon brach, da die Feinde in ihrer Ungeduld mit neuen Feindseligkeiten
drohten, der Vortrab des Auswandrerheeres zum Marsche durch Iowa nach
der großen Jndianerwüste am obern Missouri auf. Diesem Zuge, der circa
1600 Personen zählte, folgte in den ersten Tagen des Mai ein stärkerer, dem
sich auch Brigham Äsung und die zwölf Apostel angeschlossen hatten, und um
die Mitte des Monats setzte sich die Hauptmasse der Mormonen in Be¬
wegung, der dann im Juni, Juli und August wieder mehrere kleinere Trupps
folgten, sodaß sich gegen das Ende des Sommers bereits 16000 mormonische
Emigranten auf der Prairie zwischen dem Mississippi und Missouri und nicht
viel mehr als 1500 noch in Nauvoo befanden.
Die in Nauvoo Zurückgebliebenen hatten Mitte Mai den eben fertig ge-
wordenen Tempel mit einem großen Feste eingeweiht, und daraufhin behaup¬
teten die Gegner, sie wollten in der Stadt bleiben. Pöbelrotten sammelten
sich, rückten gegen Nciuvoo mit Kanonen, beschossen es und trieben die gesammte
Einwohnerschaft nach Iowa hinüber, von wo sie den vorausgegangenen
Brüdern nachzog. Die Stadt verfiel, und ist noch heute ein unbedeutender
Ort. Der Tempel wurde, nachdem die Jesuiten von Se. Louis in Verhand¬
lungen eingetreten waren, um ihn zu einem Seminar anzukaufen, im Novem¬
ber 1848 von einem Nichtswürdigen in Brand gesteckt und bis auf die
Außenwände vom Feuer verzehrt. Später erwarb der Communist Cabet die
Ruinen für die Jcarier, mit denen er hierher ausgewandert war, und eben
war man dabei, den Tempel in eine Phalanstere umzubauen, als im Mai
1850 ein furchtbarer Orkan die stehengebliebenen Mauern desselben zum
größern Theil niederwarf. Der metallne Engel mit der Posaune oben, welcher die
Thurmspitze des Gebäudes als Wetterfahne geschmückt hatte, wird jetzt in
Barnums Newyorker Raritäten-Museum gezeigt.
Die nach dem fernen Westen abgezogenen Mormonen blieben monate¬
lang so gut wie verschollen. Endlich erfuhr man, daß sie nach unsäglichen
Leiden und nach Ueberwindung von tausend Hindernissen, die ihnen die Winter¬
stürme, die furchtbare Sommersgluth und die tödtliche Fieberluft dieser un¬
wirthlichen Gegend, sowie die Raubsucht der dort hausenden Jndianerstämme
bereitet, ihr Ziel, das Becken des großen Salzsee's im Lande der Utahs
erreicht und sich dort angesiedelt hatten. Der Vortrab der Emigranten kam
in der vorletzten Juniwoche des Jahres 1847 hier an, und einer der nächsten
Tage sah nun den Propheten der Heiligen den Boden segnen, wo der Grund
Zu einem dritten „Neujerusalem im Westen" gelegt wurde. Im folgenden
Jahre trafen die Uebrigen, die in verschiedenen Lagern am obern Missouri
den Winter verbracht hatten, ebenfalls in Utah ein, und bald erhob sich nun
wieder in der Wildniß unter den Schneegipfeln des Gebirges eine Stadt, der
später in andern günstig gelegenen Thälern des Landes eine Anzahl anderer
kleinerer Ansiedlungen folgten. Man errichtete ein Fort zum Schutz gegen
die Rothhäute, legte eine Anzahl Mahl- und Sägemühlen an, machte den
Anfang mit Herstellung verschiedener Straßen, bäumte einen Fluß ein und
bestellte weite Strecken des Prairiebodens mit Getreide. Eine schwere Heim¬
suchung durch Heuschreckenschwärme wurde mit dem Beistand von Möven
überwunden, die, wie die Chronisten der Secte sagen, „von der Kraft des
Gebetes" herbeigeführt wurden, um die gefräßigen Jnsecten zu vertilgen. Eine
andere Prüfung kam über die Heiligen mit der Entdeckung des Goldes im
benachbarten Californien. Die Lockung war stark, die Führer der Kirche
hatten Mühe, ihr Volk durch Ermahnungen und Warnungen zusammenzu-
halten. Aber der Glaube, der die Schrecken der Wanderung durch die Wüste
überwunden, blieb auch in dieser Versuchung siegreich. Nur einige Hunderte
gingen, und diesen ertheilte man den freundlichen Rath, sich auf Nimmer¬
wiederkehr zu verabschieden.
Als für die ersten Bedürfnisse gesorgt war, wurde zur Regelung des
Verhältnisses der Mormonenkirche zu den Vereinigten Staaten geschritten.
Houng berief im März 1849 eine verfassunggebende Versammlung in die
Stadt am Salzsee, und dieselbe faßte den Beschluß, „eine freie und unab¬
hängige Regierung unter dem Namen des Staates Deseret*) zu errichten,
und entwarf eine Verfassung, welche diesem Staate ein Stück Californiens
zutheilte, das bis an die Küste des Stillen Oceans reichte. Sodann ordnete
dieser Verfassungsentwurf die Wahl eines Senats und eines Repräsentanten¬
hauses, eines Gouverneurs und anderer Staatsbeamten, wie sie die andern
Glieder der Union haben, an, sowie die Vereidigung derselben auf die Ver¬
fassung der Vereinigten Staaten. Endlich untersagte er das Halten von
Sclaven innerhalb der Grenzen von Deseret.
Diese Verfassung ließ man, obwohl sie noch der Genehmigung in Washing¬
ton bedürfte, sogleich in Kraft treten. Bourg wurde als erster Präsident
der Kirche zum Gouverneur, der Nächste in der mormonischen Hierarchie zum
Vicegouverneur, das dritte Mitglied der Präsidentschaft zum Staatssecretär
ernannt, und so war bis auf Weiteres die Theodemokratie fertig, welche zu
allen Zeiten das Ideal der Mormonenführer gewesen war. Die Central-
regierung und der Kongreß gingen indeß darauf nicht ein. Sie lehnten die
Anerkennung der Ansiedlergenossenschaft am Salzsee als eines Staates ab
und organisirten dafür nur ein Territorium, welches Utah, nicht Deseret
heißen sollte. Sie steckten endlich die Grenzen von Utah erheblich enger ab,
als die Mormonen gewünscht hatten, und entzogen ihnen namentlich die in
Anspruch genommene Küstenstrecke. Im October 1850 ernannte dann der
Präsident Fillmore die Beamten für die Regierung des neuen Territoriums,
sieben an der Zahl, von denen außer Uoung, den er zum Gouverneur be¬
stimmte, noch drei aus der Mitte der Mormonen selbst genommen waren.
Im Herbst 1851 trat die erste Versammlung zusammen, die ein Gesetz¬
buch annahm, welches sich nur dadurch wesentlich von denen der nördlichen
Staaten der Union unterschied, daß es keine Strafen für Bigamie kannte,
daß es nach den Grundsätzen, die der Prophet Smith bei seiner Candidatur
für den Präsidentenstuhl in Washington ausgesprochen, andere schwere Ver¬
brechen nicht mit Zuchthaus, sondern mit Zwangsarbeit an öffentlichen Bau¬
ten ahndete, und daß es sich sehr eingehend mit der Errichtung und Ein-
Übung der militärischen Corps beschäftigte, welche das Territorium vertheidigen
sollten. Bald war in Folge dessen die Legion wieder organisirt, und im
Stillen wirkte, wie behauptet wird, auch die „Große Wurfschaufel" wieder,
die jetzt den Namen der „Gideonsbrüder" führen soll.
Mit den Indianern, welche den Nordosten von Utah bewohnten, hatten
die Mormonen wiederholt zu kämpfen. Der Punkt, wo diese sich zuerst nieder¬
ließen, lag auf den „Kriegsgründen" der Wurzelgräber (liook-viggors) und
somit auf niemand gehörigem Boden, Als die Eingewanderten sich aber wei¬
ter nach Süden und Norden ausbreiteten, kamen sie auf Stellen, welche die
Indianer als ihr Eigenthum betrachteten. Die Shoshones drohten mit einem
Angriffe, überlegten sich's aber dann eines Bessern und hielten Frieden. Die
Utahs zeigten sich bösartiger, beraubten einzelne Farmhäuser, erschossen mehrere
Stücke Vieh und nöthigten endlich die Kolonisten der Gegend zur Flucht.
Nachdem man sie vom Hauptquartier der Seete aus vergeblich durch gütliche
Mittel davon abzubringen versucht, wurden sie mit den Waffen zur Raison
gebracht, wobei viele derselben umkamen. Im nächsten Winter bedurften die
Rothhäute eine neue Züchtigung, die ihnen denn so gründlich zu Theil wurde,
daß sie auf geraume Zeit Vernunft annahmen. Der Versuch aber, sie an ein
civilisirtes Leben zu gewöhnen, schlug gänzlich fehl, und das mußte den
Heiligen besonders schmerzlich sein, da die Indianer, nach dem Buche Mor-
mons und der Lehre Smiths, Nachkommen des auserwählten Volkes und ein
zwar von Gott abgefallenes, aber der Barmherzigkeit des Himmels noch nicht
entrücktes Geschlecht sind, welches vielmehr meist sich zur wahren Kirche be¬
kehren und dann in sein Erbtheil wieder eingesetzt werden wird. Sogar ihre
schmutzig rothe Hautfarbe wird sich dann ändern und einer schönen weißen
Platz machen, heißt es in der betreffenden Offenbarung.
Inzwischen wuchs die Stadt am Salzsee immer mehr und enthielt auch
mehrere öffentliche Gebäude, ein „Tabernakel", wo bis zue Vollendung eines
neuen großen Tempels der Gottesdienst abgehalten wurde, einen „Speicher
des Herrn" für die Zehnten der Gemeine, eine Gerichtshalle und ein State-
house, endlich sogar ein Ballhaus und ein Theater.
Als die Mormonen sich auf diese Weise in der neuen Heimath vorläufig
eingerichtet hatten, trat Zoung mit einer Neuerung hervor, welche für das
Schicksal der Seete verhängnißvoll werden sollte: er erklärte die Polygamie
auf Grund der oben erwähnten Offenbarung Joseph Smith's vom Jahre 1843
nicht nur für erlaubt, sondern für ein Mittel, höhere Seligkeit zu gewinnen.
Das war allerdings nur in so fern etwas Neues, als diese Lehre bis dahin
nur im Kreise der am tiefsten in die Geheimnisse der Seete Eingeweihten be¬
kannt gewesen und nur von einzelnen Aposteln und Aeltesten befolgt worden
war, während sie jetzt in die Oeffentlichkeit trat.
Mit allen Mitteln versuchte man, das Volk für die Sache zu gewinnen.
Reden und Gedichte priesen sie an. Jesus selbst sollte drei Frauen gehabt
haben. Martha und Maria, die Schwester des Lazarus, sowie Maria Mag-
dalena, die er alle drei auf der Hochzeit zu Cana geheirathet hätte. Weib¬
liche Prediger forderten die Gemeinde auf, „Buße zu thun und zu den Grund¬
sätzen des Lebens der Patriarchen zurückzukehren." Diese Manöver wirkten.
Eine große Versammlung von zweitausend Aeltesten nahm am 29. August
1852 die Anträge Aoung's an, die Vielweiberei wurde auf diese Weise ein
Theil des religiösen Glaubens der Seete, und allmälig ließen sich nach dem
Beispiele des Propheten selbst und seiner Vertrauten Heber Klubalk, Hyde und
Orson Pratt, die schon um das Jahr 18S0 dem „System der Pluralität".
wie man die Polygamie nannte, praktisch gehuldigt hatten, mehrere Hundert
Aelteste neben ihrer ersten Frau zwei, drei und mehr andere Gattinnen
„anflegeln."
Indeß gab es auch Mormonen, welche nichts von der Hühnerehe wissen
wollten. Mehrere angesehene Leute konnten sich nie mit ihr befreunden, und
einige hatten den Muth, offen dagegen aufzutreten. Zunächst machte ein ge¬
wisser Bishop mit Eifer dagegen Opposition. Dann erklärte sich die Familie
des Propheten Smith, dessen Wittwe mit ihren Söhnen, entschieden gegen
die Echtheit der Offenbarung von 1843 und gegen die ganze Lehre von den
„geistlichen Frauen", und als dieß nichts half, trennte sie sich von den
Heiligen in Utah und kehrte nach Illinois zurück. Endlich stellte sich Georg
A. Smith, ein Vetter Josephs, Mitglied des Apostelcollegiums und Geschicht¬
schreiber der Kirche, an die Spitze der Anhänger Bishops, der inzwischen ge¬
storben war, und predigte in so heftigem Tone gegen Bruder Brighams „pa¬
triarchalisches Leben", daß dieser ernstlich besorgt wurde, und mit Verhaf¬
tung gegen ihn einschritt. Später scheint Smith in seinem Eiser nachgelassen
zu haben, und zuletzt finden wir ihn selbst als Vorstand einer Haushaltung
mit mehreren Frauen. Dagegen gab es bis auf die neueste Zeit zahlreiche
Mormonen, welche, ohne gerade aus der Kirche zu treten, sich doch entschie¬
den von Uoung und den Polygamisten lossagten, und nach Dixons Bericht,
der indeß die Zahl der Mormonen überhaupt viel zu groß angibt, lebten
deren allein in Kalifornien an zwanzigtausend.
Mit der Bundesregierung in Washington haben die Mormonen sich bis
zu Anfang dieses Jahres leidlich vertragen. Man nahm die im Jahre 18S1
anlangenden Richter, die der Präsident geschickt, höflich auf, brachte seine
Processe aber nicht vor sie, sondern vor die Bischöfe der Kirche, und gab den
Herren aus dem Osten später ausdrücklich zu verstehen, daß sie als „Heiden"
nur geduldet und eigentlich überflüssig seien. Sie sahen dieß und reisten nach
Hause, worauf der Präsident andere Richter ernannte. Auch diese hielten es
in Utah nicht lange aus, und ebenso wenig wohl befanden sich ihre Collegen,
die von Washington zu den Mormonen gesandten Staatssecretäre.
Erst 1854, mit dem Erscheinen des Oberrichters Kinney, trat ein besseres
Verhältniß ein. Als aber in diesem Jahre Uoung's Amtszeit als Gouverneur
abgelaufen war, und Präsident Pierce denselben nicht wieder wählen wollte,
da er in Bigamie lebe, brachen neue MißHelligkeiten aus. Pierce wollte den
Obersten Stepton, der als Befehlshaber eines Bataillons regulärer Truppen
in der Salzseestadt stand, zum Gouverneur ernennen. Als darauf aber die
Mormonen in einer Monstrepetition um Belassung Uoung's im Amte baten
und Stepton sich derselben anschloß, ging Pierce auf diesen Wunsch ein. und
Bourg, das geistliche Oberhaupt der Secte, blieb weitere vier Jahre zugleich
der höchste weltliche Beamte in Utah. Er benutzte dies zu einem tyrannische¬
ren Auftreten gegen die Gegner der Polygamie. Einigen derselben wurde ihr
Eigenthum confiscire, andere brachten die „Gideonsbrüder", Aoung's Traban¬
ten, insgeheim um, allen wurde verwehrt, sich aus dem Bereich der Gewalt¬
haber in der Mormonenstadt zu entfernen. Die vom Präsidenten eingesetzten
nicht mormonischen Richter, bei denen die Bedrückten Hülfe suchten, wurden
nicht anerkannt. Beschwerden, die darüber in Washington geführt wurden,
veranlaßten neben andern Klagen den Präsidenten Buchanan im Jahre 1857
Zum Einschreiten mit Gewalt. Doch vermochten die Truppen die er unter
zum Gouverneur ernannten Obersten A. Cumming gegen die Mormonen
Ularschiren ließ, nicht viel auszurichten. Nach einem Treffen an den Pässen
bon Utah rückten sie zwar in die Salzseestadt ein. und es kam zu einem Ver¬
gleich, durch welchen den Bedrückungen und Verfolgungen der Feinde der
Vielweiberei ein Ende gemacht wurde und die Heiligen eine starke Truppen-
Nlacht der Vereinigten Staaten bei sich aufzunehmen verpflichtet wurden. Aber
Noung blieb Gouverneur, und in den nächstfolgenden Jahren hatte man in
Washington in Folge des Bürgerkrieges mit den Südstaaten zu viel mit sich
^Ibst zu thun, um sich um das ferne Utah kümmern zu können. Die Folge
u>ar, daß Aoung und seine Partei dort während dieser Zeit und noch mehrere
Jahre nach Wiederherstellung des Friedens im Osten factisch das Regiment
^ den Händen hatten. Dagegen ist es den Mormonen noch nicht gelungen,
^ Aufnahme Utah's in den Kreis der selbstständigen Staaten der Union
durchzusetzen, obwohl die dazu erforderliche Einwohnerzahl von sechzigtausend
Seelen im Territorium schon vor einigen Jahren vorhanden gewesen sein wird.
Diese Zahl in den Thälern um den Salzsee zu versammeln, ist in den
^dem zwanzig Jahren das Hauptstreben der Latterday-Saints neben ihren
^olonisationsarbeiten gewesen, und, wie diese mit Eifer und Geschick betrie-
^u, hat es wie diese auch zu verhältnißmäßig bedeutenden Erfolgen geführt,
^uenthalben erschienen die Sendboten der Kirche und predigten unverdrossen
und unabgeschreckt von Spott und Hohn ihr wunderliches Evangelium, und
alle Hebel wurden in Bewegung gesetzt, um die über die ganze Erde zerstreu¬
ten Gläubigen zur Einwanderung in das gelobte Land in den Felsengebirgen
zu bewegen. Den Wohlhabenden wurde es als ein Paradies geschildert, die
Aermeren wurden von der Präsidentschaft aus einem eigens zur Beförderung
der Zuwanderung gebildeten Fonds mit Vorschüssen unterstützt, um ihrer reli¬
giösen Pflicht genügen zu können.
Die meisten Proselyten machten die Apostel der Mormonen, die nach der
alten Welt auszogen, in Großbritannien. Hier, wo in den letzten dreißiger
Jahren Brigham Uoung selbst gewirkt und geworben, zählte die Kirche der
Heiligen vom jüngsten Tage im Jahre 1851 nicht weniger als 30,747 Mit¬
glieder, darunter 12 Oberpriester. 176l. Aelteste und 1590 Priester, und
binnen vierzehn Jahren hatten die Missionen derselben über 50,000 Englän¬
der und Waliser auf das neue Evangelium getauft und davon fast 17,000
nach Amerika befördert. Ein zweiter starker Stützpunkt des Mormonenthums
in der Diaspora sind die Sandwichs- und die Freundschaftsinseln, und zwar
sollen sich hier gegen fünftausend Eingeborne zu dem Glauben der Latterday-
Saints bekennen. Endlich haben Dänemark und Norwegen seit dem Jahre
1853 mehrmals große Züge ihrer Bewohner, meist Landleute, als Beitrag zur
Bevölkerung Deserets abgehen lassen, so daß sich hier gegenwärtig wohl drei-
bis viertausend dänisch redende Mormonen befinden mögen. In der Schweiz
scheinen ebenfalls einige Bekehrungen erfolgt zu^ sein, da Dixon in der
Salzseestadt eine Anzahl Schweizer traf. Ferner gibt es in Paris und
Havre schwache Gemeinden der Secte, die sich durch Vertreibung des voV
Apostel Taylor in's Französische übertragenen „Book of Mormon" und
dach die Zeitung „Etoile vu Deseret" zu vergrößern streben. Auch in Ru߬
land und in Italien erschienen im Laufe der letzten zehn Jahre Mormo-
nenprediger, dergleichen in den Ländern der Levante. Ja selbst in Indien
und China verkündeten nach der biblischen Anweisung „Schreie laut und schone
niemand" Sendlinge von Neuzion, daß das Himmelreich nahe herbeigekommen-
Doch verlautet nichts von Bekehrungen in diesen Ländern. Wenn die Führer
der Secte endlich in Deutschland Geschäfte zu machen hofften, so wurde ihnen
von löblicher Polizei das Handwerk gelegt. Busch berichtet darüber a. a. O,'
„1851 kam Taylor nach Hamburg, um dort eine Zeitung zu gründen, welche
den Titel „Zions Panier" führte, aber, nachdem vier Nummern erschienen
waren, aus Mangel an Theilnahme einging. Ihm folgte 1852 ein anderer
Sendling vom Salzsee, Daniel Caire, aber nur, um beim ersten Versuche zu
öffentlichem Auftreten aus der Stadt gewiesen zu werden. Kein besseres Re¬
sultat wurde von den im Süden und Westen sich zeigenden Mormonen er¬
reicht, und mit der im Jahre 1853 erschienenen deutschen Uebersetzung der
Jndianerbibel wird man schwerlich auf die Kosten gekommen sein. Endlich
ist hier noch ein Vorfall aus dem Jahre 1854 zu erwähnen, welcher zeigt,
bis zu welchen Regionen die Erwartungen der Führer sich verstiegen. Die
Präsidentschaft in England hatte erfahren, daß der König von Preußen sich
für die Latterday-Saints interessire und von seinem Gesandten in Washing¬
ton Aufklärung über sie verlangt habe. Sie deutete sich dieses Interesse als
Neigung, und so erschien im Herbst des gedachten Jahres eine förmliche Ge¬
sandtschaft aus der Mitte der Secte in Berlin, um dem König eine Adresse zu
überreichen. Die Herren waren aber nicht sobald im Bahnhof abgestiegen,
als die Polizei sich einstellte und sie zu sofortiger Umkehr nöthigte."
Unter solchen Umständen haben die Seelenfischer vom Salzsee in ihren
Netzen bei uns nur wenige Fische fangen können. Schiel fand 1853 in ganz
Utah nur drei Deutsche, die der Gemeinschaft der Heiligen vom jüngsten Tage
angehörten. Der Vornehmste darunter war ein verkommener Student, der
in Provo, der zweiten Stadt des Territoriums, den Ingenieur spielte, aber
Noch mit Ungeduld darauf wartete, daß der heilige Geist ihm die Mysterien
der Lehre von der Congruenz und der Aehnlichkeit der Dreiecke offenbare, da
ihm ohne deren Kenntniß sein Geschäft sehr sauer wurde. Der zweite Lands-
wann war ein Barbier, der nebenher ein wenig Doctorei betrieb, der Dritte
ein gewöhnlicher Mensch.
Die neueste Wendung der Dinge in Utah ist aus den Tagesblättern be¬
gänne. Im Jahre 1870 sah der Congreß in Washington ein, daß er den
Zielen Klagen über das Mißregiment'am Salzsee gerecht werden müsse, und
^ß die dort im weitesten Umfang geübte Vielweiberei ein Schandfleck der
^inion sei, den er wegzuschaffen habe. Nach langen Verhandlungen, die sich
Meist um den Einwand drehten, daß die Religionsfreiheit nicht angegriffen
werden dürfe, wurde ein Gesetz beschlossen, welches vor Allem eine ordnungs¬
mäßige Handhabung des Rechts in dem Territorium ermöglichte. Die Ent¬
deckung von Goldlagern in Utah hatte inzwischen auch sehr viele Nichtmor-
^oren dorthin geführt, die zwar im Allgemeinen sich nicht durch gesetzlichen
Sinn auszeichneten, aber in diesem Fall doch hinter den Bundesbeamten zu
stehen versprachen, falls Uvung und sein Volk sich den Forderungen derselben
"icht zu fügen Miene machen sollten. Richter Mac Kean, dem das Ein¬
schreiten gegen die Vielweiberei oblag, war ein Mann von unerschrockenem
Sinn. Er säuberte zunächst das große Schwurgericht der Salzseestadt von
beuten, welche an die Polygamie als eine göttliche Einrichtung glaubten, und
schritt dann kühn gegen Bourg und Klubalk ein, die er „wegen unzüchtigen
Zusammenlebens mit mehreren Weibern" in Haft nehmen ließ. Die Unter¬
suchung anderer Verbrechen, Veruntreuungen öffentlicher Gelder, Mordthaten
^ dergl., die dem Propheten Schuld gegeben werden, dürften bald folgen.
Die Mormonen haben nichts Ernstliches dagegen unternommen. Eine Volks¬
versammlung schrie Wehe über die Behörde, die sich an der heiligen Person
des Propheten vergriff. Ein paar Zeitungen führten drohende Reden. Mehrere
tausend Weiber richteten an den Congreß eine Petition, in der sie die Poly¬
gamie als ihre Gewissenspflicht unangetastet wissen wollten. Das ungefähr
ist bis jetzt Alles gewesen.
Das Mormonenthum wird als Religion vermuthlich noch eine geraume
Zeit das Leben fristen. Als politische Einrichtung, als Priesterstaat ist es
am Sterben. Das Gold, welches ihm schon einmal gefährlich wurde, die
Locomotive, die es aus der einsamen Wildniß unter Menschen zog, für welche
die Fabeln schlauer Betrüger wie Smith und V^ung keine göttlichen Offen¬
barungen sind, haben ihm den Garaus gemacht. Nur eine abermalige Aus¬
wanderung könnte ihm für eine kleine Zeit weiter die Existenz in der alten
Weise ermöglichen. Aber es fragt sich, ob das alte Geschlecht, welches die
Wanderung vom Mississippi durch die Wüste der Sioux und Pottowattomis
nach dem Salzsee unternahm, nicht zu alt und ob das neue noch fanatisch
genug ist, um sich an diese Aufgabe zu wagen.
Wahrlich, man würde Eulen nach Athen tragen, wenn man jetzt noch
lange „Berichte vom Kriegsschauplatze" publiciren wollte; was sich der Art
noch an die Oeffentlichkeit wagt, bedarf einer besonderen Legitimation.
Hier handelt es sich um die Erlebnisse einer englischen Dame in den
deutschen Hospitälern auf französischem Boden. Sie selbst erzählt uns die¬
selben unter dem vom ^erre „Vera" und der Ueberschrift: „Unter dem
rothen Kreuz", in einem der jüngsten Hefte von „Blackwood's Magazine",
einer Tory-Zeitschrift, die sich sonst gerade nicht durch eine allzugroße Sym¬
pathie für Deutschland auszeichnete. Auch viele deutsche Frauen haben als
„Krankenpflegerinnen" den Kriegsschauplatz besucht und dort Ersprießliches
geleistet; allein ich kann mich, obgleich ich der einschlagenden Kriegsliteratur
mit aller Aufmerksamkeit gefolgt bin, nicht erinnern, von irgend Einer der¬
selben eine ausführliche Darstellung ihrer Schicksale, Beobachtungen und
Leistungen gelesen zu haben.") Möglich, daß den barmherzigen Schwestern,
den Johanniterinnen und Diaconissinnen ihre Amts- oder Ordenspflichten
verbieten, zur Feder zu greifen oder das Gebiet der Oeffentlichkeit, und nament¬
lich der Presse, zu betreten. Ich weiß es nicht. Jedenfalls aber ist, nachdem
wir so viele und treffliche Berichte von Männern gelesen haben, von Inter¬
esse zu erfahren, wie sich diese Welt (der Kriegsschauplatz) in dem Kopfe
einer Frau spiegelt. Und daß es gerade eine englische Dame ist, welche
hier das Wort ergreift, vermindert auf keinen Fall dieses Interesse. Man
kann der Pseudonymen Miß Vera nicht absprechen, daß sie scharf beobachtet
und eben so genau, als lebhaft und unterhaltend schildert.
Als der Krieg ausbrach, reiste sie in Italien. Dort entschließt sie sich,
ihre Kräfte der Krankenpflege im Kriege zu widmen. Sie eilt nach München
und erlangt dort durch Vermittelung des preußischen Gesandten das „rothe
Kreuz" und die Legitimation Seitens des „Königlich Bayerischen Ver¬
eins zur Pflege und Unterstützung im Felde verwundeter oder
erkrankter Krieger", — eine Benennung, über deren Weitschweifigkeit die
an Kürze gewöhnte Engländerin sich einer spöttischen Bemerkung nicht ent¬
halten kann. Sie fährt dann mit einem bayerischen Spitalzug nach München,
und zwar in Gesellschaft einiger barmherzigen Schwestern, gegen welche sie
eine (gewiß nicht gerechtfertigte) Abneigung an den Tag legt, und einer baye¬
rischen Wittwe, welche schon im Jahre 1866 sich der Krankenpflege gewidmet
und jetzt wieder das Kreuz genommen hat. Mit dieser, der Frau Schmidt,
einer energischen und praktischen Dame, welche jedoch die Kinderkrankheit der
Borussophobie noch nicht ganz überwunden zu haben scheint, schließt Miß
Vera gute Kameradschaft. Sie theilen von da an ihre Schicksale mit
einander. Letztere beginnen schon während des Transports. Die Eisenbahnen
sind überall verstopft. Die Reise geht langsam. Die Damen leiden von der
Kälte, zuweilen auch von Hunger. Doch trösten sie sich damit, daß ihnen
Züge mit Verwundeten begegnen und sie so unterwegs schon Gelegenheit ha-
^en, Dienste zu leisten. So geht es über Straßburg, Nancy, Bar le Duc
uach Meaur und Lagny. In Lagny versagen ihr alle Empfehlungen. Selbst
der Johanniter-Delegirte auf dem Etappen - Commando Graf H. kann oder
^pill nicht helfen. Endlich findet sich eine französische Gesellschaft, ein Buch¬
händler Namens Picard und ein Tabackhändler Namens Louit, nebst ihren
Frauen. Dieselben waren vor dem Kriege geflohen. Als sie aber hörten, daß die
"Barbaren" ganz gute Europäer seien und Alles baar bezahlten, und sogar
viel theurer als andere Leute, entschlossen sie sich, wieder zurückzukehren. In
^agny wurde Herr Picard von den Deutschen arretirt. Er war in großer
Todesangst, wurde aber durch Miß Vera, welche seine Unschuld nachwies,
gerettet. Diese Franzosen?und die beiden Damen miethen sich nun in Lagny
einen gemeinschaftlichen Omnibus und gelangen endlich xost tot al«erimina,
rerum nach Corbeil. Unterwegs hatte noch ein bayerischer Hauptmann ver¬
sucht, sie ihres Fuhrwerks zu depossediren. Allein Frau Schmidt verstand
sich auf ihre Landsleute. Die bayerische Wittwe überbayerte den bayerischen
Hauptmann so mit bajuvarischer Grobheit, daß er ganz verdutzt stehen blieb.
Von Corbeil an mag nun Miß Vera selbst das Wort nehmen. Sie
erzählt also:
„Corbeil ist bedeutend größer als Lagny. Die Häuser und Läden stan¬
den auch nicht verlassen da. Die Einwohner hatten Verstand genug gehabt
um einzusehen, daß es ebenso sicher und dabei weit vortheilhafter ist, die
Soldaten einzuquartieren (wofür sie eine bestimmte Summe von der Gemeinde
bekommen) und hinter den Ladentischen zu stehen, als ihre Häuser verwüsten
zu lassen und heimathlos in anderen Departements herum zu ziehen. Als die
Preußen ankamen, fanden sie natürlich einige Bogen der Brücke zerstört.
Gleich befahlen sie den Franzosen auf ihre eigenen Kosten die Brücke wieder¬
herzustellen; falls sie nicht in der festgesetzten Zeit fertig wäre, legten sie ihnen
eine tägliche Geldbuße von Tausend Francs auf.
Beinahe auf einem Dache um das andere wehte die Fahne mit dem
rothen Kreuz. Jedes einigermaßen entbehrliche Gebäude, selbst das Theater,
war in ein „Lazareth" verwandelt. Auch aus dem angrenzenden Schlö߬
chen (Corbeil war seiner malerischen Lage wegen im Sommer ein Lieblings¬
aufenthalt der Pariser), welches von seinen Besitzern verlassen war, hatte man
„Spitäler für Schwerkranke und Reconvalescenten" eingerichtet.
Die Straßen waren voll von Soldaten, auch sah man einige Einheimische. Nach¬
dem wir die Adresse des Oberchirurgen von Grauvogel beim Etappcncommando
erfahren hatten, eilten wir hin, um uns anzumelden und unsere Dienste an¬
zubieten. Da rief plötzlich eine Stimme hinter uns: „meine Damen!" Wir
drehten uns um und sahen einen feinaussehenden Mann mit grauem Ueber¬
rock und grünem Kragen und dem Johanniterkreuze im Knopfloche. Sind
Sie schon lange in Corbeil, und gehören Sie da zu einem Spital", fragte er.
— „Nein," antworteten wir, „wir sind erst vergangene Nacht angekommen
und wollen jetzt bei dem Oberchirurgen Arbeit suchen." — „Nun," sagte er,
„ich bin Delegirter der freiwilligen Krankenpflege hier und wenn Sie einen
Augenblick nebenan in mein Bureau kommen wollen, möchte ich Ihnen etwas
vorschlagen. Wir gingen mit ihm, und nachdem er unsere Papiere geprüft hatte,
fragte er Frau Schmidt, ob sie die Oberaufsicht in der Küche übernehmen
wolle. Sie sagte ihm, daß sie das früher noch nie gethan hätte, da sie aber
hinlänglich Erfahrung darüber hatte, was den Kranken und Verwundeten gut
ist, und sich in irgend einer Weise nützlich machen wollte, versprach sie, es zu
versuchen. — „Und Sie" sagte darauf der Delegirte zu mir, „könnten die
..Haushaltung" zweier Lazarethe übernehmen, da Sie Französisch können
und ohne Zweifel auch im decimalen Münz- und Gewichtwesen bewandert
sind. Es steht nämlich da so: Wir haben die zwei nebeneinanderliegenden
Schlösser, etwa vier Meilen von der Stadt, zu zwei Spitälern für Kranke
d. h. für Fieber- und Ruhrkranke gemacht, welche die Schwerkrankenlazarethe
verlassen und sich hier herstellen, ehe sie in ihr Regiment zurückkehren. Es sind
außer dem „Verwalter" noch einige „Krankenpfleger" da; aber der
Chirurg beklagt sich immer darüber, wie schlecht die Nahrung für die Kran¬
ken zubereitet wird; und auch die Spitäler sehen traurig aus, da es an weib¬
licher Einwirkung fehlt, um System, Ordnung und Reinlichkeit hinein zu
bringen; wollen Sie das übernehmen?" „Gewiß, wenigstens will ich mein
Bestes versuchen," antwortete ich. „Sie kommen mir beide wie gerufen," sagte
er dann, „denn ich war in großer Verlegenheit, die richtigen Frauen zu fin¬
den, und diesen Morgen schrieb ich in meiner Verzweiflung nach Berlin. Doch
jetzt ist alles gut. Morgen kommt der „Verwalter" um Sie zu holen und
nach Bellegarde zu fahren, wo ich Sie morgen besuchen werde, um nachzusehen,
ob Sie auch gut und bequem einlogirt sind."
Unsere Wirthe, Monsieur und Madame Herbert, waren ein neuverhei-
rathetes Paar, „dessen Flitterwochen durch die Ankunft as ces briMiiäs 6e
?rü88ion8 gestört worden waren." Der Mann, Imitier as son peat, dachte
die Occupation würde nur von kurzer Dauer sein und blieb daher auf seinem
Posten; aber als er die gegentheiligen Gerüchte aus den Zeitungen vernahm,
schickte er seine junge Frau zu ihrer Mutter, die in einem so entlegenen Dorfe
wohnte, daß, wie er dachte, die Preußen es wohl nie erreichen würden. Je¬
doch selbst dieser entlegene District blieb von den Ulanen nicht verschont. „Ich
würde viel besser daran gethan haben, zu Hause zu bleiben" sagte Frau Her¬
bert; „denn mein Mann, der Officiere zur Einquartierung bekam, mußte sich
eine Frau miethen, die kochte und das Haus reinigte. Meine Mutter und
ich lebten währenddessen in steter Furcht und Angst, denn wir waren ganz
allein in ihrem kleinen Hause." „Und wie benahmen sich die „Brigands"
fragte ich? „In der Nacht als sie ankamen, nahmen 40 unsere Küche in Be¬
schlag; wir saßen zitternd in einem der oberen Zimmer. Plötzlich kam ein
Unterofficier herauf, klopfte an unsere Thüre, streckte seinen Kopf herein und
rief nur: „Nix avoir peur, marum«/ dann verschwand er. Aber sie machten
solchen schrecklichen Lärm unten, daß wir nicht wagten zu Bette zu gehen.
Am nächsten Morgen kam der Feldwebel wieder. Als er meine Photographie
auf dem Kamine sah, ging er durch das Zimmer, nahm sie zu sich und als
^ sie ganz ruhig in seine Tasche steckte, sagteer: „Loutsmr, madame, merci!"
Dann ging er fort und mit ihm auch alle andern. — „Und haben sie etwas
gestohlen?" — „Nein; aber sie haben, um ihr Essen zu kochen, die Stühle zum
Feuern benutzt und außerdem schrecklichen Lärm gemacht." — „0n, xour hg,",
setzte ihr Mann hinzu, „it kaut ötrejuste: IIs MKpilleut, salisseut et eg.8-
heilt tout, Müis an inoinL, 11 vous respoeteut les tsmiuss, et patent comp-
tant xour tout ce czsu'ils doivent et mangelte." — „Und wie benahmen sich
Ihre?" — „Nun, einige von ihnen waren roh und herrschsüchtig, schworen
und fluchten, wenn sie ihr Essen nicht pünktlich bekamen, doch im Ganzen
benahmen sie sich sehr anständig. Da verließ uns gestern ein Hauptmann,
der 10 Tage bei uns einquartirt war. Er war immer höflich und anständig,
kaufte sich sein eigenes und regelrechtes Essen, und bat uns, ihm dasselbe zu
geben, wenn es uns paßte. Die Preußen sind bei weitem die Besten von
Allen. — „Dann wünsche ich Ihnen nur, daß Sie nie einen gewissen uns be¬
kannten bayrischen Hauptmann zur Einquartierung bekommen," (wie leid thut
es mir doch, daß ich seinen Namen nicht weiß, sonst würde ich ihn hier mit
großen Buchstaben dem Publicum zu Gute vor die Augen führen!) Am
nächsten Tag fuhren wir in unsere Spitäler. Ein Militärkutscher fuhr uns,
und ein Bursche folgte uns. So traten wir unsere Aemter an.
Das Schloß war auf beiden Ufern der Seine sehr schon gelegen. Es
war ein großes modernes Gebäude ohne jede architektonische Schönheit. Trotz¬
dem es nur für eine bequeme Sommerresidenz gebaut worden war, ließ es
sich doch ganz gut durch zwei große „egloiMres" heizen. Die Wohnzimmer
zu ebener Erde und im ersten Stock, 7 an Zahl, waren jetzt Krankensäle; die
Zimmer des zweiten Stockes hatten Verwalter, Pfleger und Soldaten inne
und die Vorrathskammern und Küchen waren im Souterrain. Die Unord¬
nung, die Unreinlichkeit, die hier herrschte, war wirklich erschreckend.
Ich muß hier einen Augenblick innehalten um zu erläutern, wie bei dem
Ausbruche des Krieges viele junge Männer, die „Turnvereinen" oder
dergleichen angehörten, also z. B. — Künstler, Studenten, Apotheker, Bar¬
biere, Zuckerbäcker, Wirthshausbesitzer und Maschinenarbeiter — verschiedene
Corps gebildet und unter der Leitung eines „Führers" ihre Dienste
als Krankenpfleger angeboten hatten. Sie waren den verschiedenen Ambu¬
lanten und Lazarethen zugetheilt worden, die, als der Krieg vorschritt, entstanden
waren und durch die vielen Schlachten auch immer voll von Kranken und
Verwundeten waren. — Viele Theile dieser Corps waren nicht nur auf den
Schlachtfeldern unschätzbar, sondern auch in den Spitälern von großem Nutzen
und diese machten sich sehr verdient um ihr Vaterland; viele aber auch mach¬
ten weit mehr Mühe und Störung, als ihre gelegentlichen Dienste werth
waren —; sie betrachteten ihren Beruf als eine Vergnügungstour, deren
Ziel der triumphreiche Einzug in Paris war — und lebten auf Kosten des
Landes. — Zu diesen unnützen Theilen gehörten leider, mit wenigen Aus-
nahmen, auch unsere Freiwilligen. Sie hatten die Arbeit in dem Gebäude
je nach ihrem Geschmacke untereinander getheilt: der eine übernahm die Küche,
der andere die Ställe, ein dritter die Einkäufe, ein vierter die Vorrathskam¬
mer und die Keller; und von den anderen „vermuthete" man, daß sie
nach den Patienten sähen. — Der Chef, welcher zwei gedungene Französinnen
unter sich hatte, verbrachte seine Morgen mit Reiten auf den Pferden des
Verwalters. In die Küche kam er mit seinen Courierstiefeln und Sporen nur
dann, wenn er essen wollte. Die Hüter der Vorrathskammer und Keller
nahmen das Beste für sich; die anderen strolchten herum in ihren Costümen
(rothes Hemde und graue Hosen in lange Stiefeln gesteckt) und kamen nur
beim Essen zum Vorscheine. Die Kranken, welche bei ihnen erst in zweiter
Linie zu stehen schienen, waren der Fürsorge einzelner Ausnahmen, die ich eben
erwähnt habe, überlassen. Daß diese „faulen Köpfe" fort mußten, wenn
überhaupt wieder Ordnung in das Ganze kommen sollte, war natürlich. Doch
ich sah voraus, daß zu diesem Zwecke viel Diplomatie und Mkn^gemiZut
nöthig war; denn nichts hassen die Männer mehr, als wenn sie von dem
schwachen Geschlechte verdrängt werden aus einem Gebiete, was sie für „ihr
Recht" halten.
Unser „Verwalter", Herr Müller, sah aus wie ein richtiger Preuße
^- jung, groß, sehr dünn, mit den schwarzen Augen und dem schwarzen Haar
eines Spaniers, dabei sehr regelmäßige Gesichtszüge und farblosen Teint; er
hatte einen kräftigen, guten Körperbau, der genug von der harten Arbeit,
die er gewählt und von den gelegentlichen Waffenübungen erzählte. — Nach¬
dem er meiner Gefährtin die Pflichten und Verantwortlichkeiten in ihrem
neuen Amt klar gemacht und uns den Schlüssel zu den Vorrathszimmern
überreicht hatte, führte er mich mit folgenden Worten in meinen Beruf ein:
-~ „Das nöthige Fleisch und Brod für das Spital wird jeden Morgen aus
dem Dorfe gebracht; Sie müssen dann darauf sehen, daß es stets vom Besten
und gut gewogen ist; und ferner eine Quittung aus französisch geben, deren
Abschrift Sie in die Bücher deutsch eintragen. Dann werden Sie auch allen
Vorrath, wie Gewürze, Gemüse, eingesalzenes Fleisch, Mehl und den Wein,
der den Patienten gebracht wird, in Empfang nehmen und aufschreiben.
Letzteren werden Sie nach Vorschrift unseres Chirurgen unter die Kranken
vertheilen. Zweimal am Tage müssen Sie Portionen Fleisch zurecht schneiden
lassen, und nachsehen, ob das Essen auch ordentlich und reinlich in die ver¬
schiedenen Zimmer gebracht wird. Dann haben Sie die Aufsicht über alles
Weißzeug, die Sorge für Heizung und Beleuchtung des ganzen Gebäudes und
für die gehörige Nachtwache. Was die Krankensäle und überhaupt die Patien¬
ten betrifft, so ist dafür Ihre einzige Autorität der Oberchirurg. Sollte im
übrigen irgend Jemand Ihnen Störung machen, so können Sie immer auf
weine Hülse zählen."
Der „Stabsarzt", welcher zwei Zimmer parterre bewohnte, war ein
Mann von 60 Jahren, sehr groß und mager (die höherstehenden schienen al¬
so alle nicht von dem Fette des Landes zu leben!) klug, gutbelesen und sehr
sprachkundig, aber einsehr strenger Zuchtmeister, dessen erstes Wort immer „das
Gesetz" war. Doch trotzdem hatten sie ihn alle sehr gern, denn er war gütig
und mitfühlend.
Die ersten Tage meines neuen Lebens verstrichen bei sehr unbedeutender
Arbeit, denn da einer der Freiwilligen (der beste unter ihnen) am Typhus
erkrankt und gestorben war, wollten wir vor den Begräbnißfeierlichkeiten keine
Neuerung mehr beginnen. — Armer junger Mann! er war der einzige Sohn
einer Wittwe, und mußte sein Leben, welches er der Sorge für Andere
gewidmet hatte, in dieser Weise opfern. Es war sonst Regel, daß, sobald
neue Fälle von Typhus oder Pocken kamen, die Kranken in den ersten Stock
nicht weit von den Lazarethen der Schwerkranken gebracht wurden, aber
Heinzemann war nur kurz krank und starb sehr unerwartet.
Am Abend nach dem Begräbnisse kamen der „Stabsarzt" und der
„Verwalter" in unser Wohnzimmer und wir hielten nun „Kriegsrath"
über die Reorganisation. Ich schlug vor, daß die beiden französischen Frauen,
die den Tag 6 Francs bekamen, dabei aber, außer ihrer vollständigen Un¬
wissenheit im Kochen, noch Fehler, wie Faulheit, Unreinlichkeit und Unehr-
lichkeit besaßen, durch zwei genesende Soldaten unter der Obhut von Frau
Schmidt ersetzt werden sollten, und außerdem noch eine ehrliche to-meno ac pAHL
als Scheuerfrau mit täglich 2 Francs angestellt würde. Ferner müsse allen
überflüssigen Freiwilligen unter dem Vorwande, daß ihre Dienste anderswo
nöthig seien, von dem Delegirten der Befehl gegeben werden, abzumarschiren.
Das „Vertrauensvotum" wurde uns ertheilt, und am folgenden Tage fingen
wir mit den Veränderungen an, die sehr gut verliefen. Aber bald wurde
meine Arbeit sehr vergrößert, denn Herr Müller bekam plötzlich das Fieber
und mußte viele Wochen lang im Bette bleiben. Während dessen hatte ich
seine Arbeit zu thun, und außerdem noch ihn zu verpflegen. Durch diesen
Zwischenfall wurde ich verhindert, den Pflichten in unserem anderen Hospital,
dem Chateau Bruyeres, obzuliegen, und lieferte dorthin den Wein und den
Vorrath, welcher verlangt wurde.
Von unseren 60 Patienten waren die meisten gesund genug, um im
Hause herumzugehen und sich Mittags auf der Terrasse zu sonnen. Sie wa¬
ren je nach der Größe der Zimmer einlogirt. Jeder Saal war benutzt; und je
ein Saal stand unter der Aufsicht eines „Zimmercommandanten ", der
für Reinlichkeit, Ordnung und Gehorsam gegen die Vorschriften und auch
für solche Verbrechen, wie Aufbrechen von geschlossenen Schenktischen und Ver¬
derben der Möbel, verantwortlich war. Fünfmal am Tage bekamen die Pa-
dienten zu essen. Um 8 Uhr Morgens „()!i.k6 an tiur" und Brod, um 10 Uhr
Vormittags ein Stück Brod, entweder mit Butter oder mit einem Stück
Schinken, Wurst oder Häring und ein Glas Portwein. Am Nachmittag be¬
kamen sie ein Essen, welches aus einer dicken Suppe (entweder von Erbswurst,
Reis oder Gerste), einer gehörigen Portion Fleisch (Ochs, Hammel, Kalb
oder Lamm) und Gemüse bestand. Um 4 Uhr Nachmittags gab es wieder
Brod und kaltes Fleisch und etwas mehr Portwein; am Abend Suppe und
aufgewärmtes Fleisch mit dicken Saucen, die reichlich mit Essig und Zwiebeln
versehen waren.
Mit dem Oberchirurgen Doctor Meyer stand ich auf einem eigen¬
thümlichen Fuß, bald die vollkommenste Höflichkeit, bald strengste Disciplin.
So oft meine Geschäfte mich in sein Zimmer führten und ich mit einem aus
dem Hospital hinging, stand er nie auf, sondern drehte sich nur um und gab
entweder Befehle, oder beantwortete mir meine Fragen kurz und bündig.
Wenn ich aber allein kam, schien er zu vergessen, daß ich nur eine „Pflege¬
rin" sei, dann erhob er sich, schlug mit einer Verbeugung seine Hacken zu¬
sammen und fragte mich höflichst, mit was er mir dienen könne. — Eines
Morgens ward ich zu ihm gerufen. Er sagte mir: „Fräulein, obgleich Sie
nicht dazu verpflichtet sind, bei den Kranken zu wachen, weiß ich doch, daß
Sie schon aus Interesse für das Wohl meiner Patienten diese oft besuchen;
Und ich sowohl als sie, sind Ihnen für die günstigen Veränderungen, die Sie
eingeführt haben, sehr dankbar. Darum ist es auch meine Pflicht, Ihnen
jetzt mitzutheilen, daß heute Morgen ein Pockenfall im Saal Ur. ö auf¬
getreten ist."— „Sie brauchen darob sich meinethalben nicht zu ängstigen, Herr
Stabsarzt", sagte ich, „denn ich habe nicht die geringste Furcht vor Ansteckung,
und habe auch schon oft Pockenkranke gepflegt." — „So, so", sagte der strenge
Mann, und strich seinen Bart, „Sie fürchten sich also gar nicht?" — „Nein,
gar nicht." — „Nun denn, das ist gut. Ich habe Befehl gegeben, daß der
Mann in einer Stunde nach Vitry geschafft wird; sehen Sie darauf, daß er
seine Bettdecken mitnimmt, und daß seine zurückbleibende Strohmatratze gleich
Kerbrannt wird.
Während der ersten drei Wochen, die ich in Bellegarde war. hatte ich
von Morgens früh bis Abends, d. h. bis zur Vertheilung der Lichter für die
»Nachtwache", mit der mein Tagewerk beendet war, so viel zu thun, daß
^) oft stehend aß und nie Zeit hatte, vor die Thüre zu gehen und die an¬
deren Gebäude zu inspiciren. Und wirklich, wenn ich nicht zufällig, als ich eines
Abends aus dem Fenster blickte, gesehen hätte, daß es wieder Vollmond war,
hätte ich nicht gewußt, daß wir in einem neuen Monat wären. — Briefe
von zu Hause erreichten mich nicht, sondern halfen wahrscheinlich nur jene
Korrespondenz „des Todtenbriefamts" vermehren; etwas" Aehnliches schien
bei der Beförderung der Zeitungen vorgefallen zu sein. So blieb ich denn
in vollständiger Unwissenheit über Alles, was draußen vorging, obgleich das
fortwährende Schießen mir kund that, daß das Bombardement sein mörderi¬
sches Werk noch nicht vollendet hatte.
Trotz aller Versuche, in seinen Meinungen und Urtheilen unparteiisch zu
sein, glaube ich doch kaum, daß man von jener Schwäche, Lieblinge zu
besitzen, ganz frei ist. So ging es auch mir. Einige unserer Patienten ge¬
nossen meine ganz besondere Fürsorge und mein Interesse. Nicht die Dank¬
barkeit und das Vergnügen, das in ihren Augen leuchtete, so oft ich kam,
und ihnen Cigarren oder „Titbits" oder eine besondere Tasse Kaffee brachte,
belohnte meine Eitelkeit, sondern die Verständigkeit und Lauterkeit, die sie
bei freundlichem „Plaudern" an ihrem Bette in der Unterhaltung entfalteten,
und das veranlaßte mich, sie gern zu haben — doch die Ordnung verbot Ver¬
traulichkeit. Eins ihrer Hauptvergnügen war Kartenspielen; doch so sehr sie
auch in das Spiel vertieft waren, versäumten sie doch nie, wenn ich durch¬
ging, schnell ihre Pfeifen vom Mund zu nehmen und nicht eher ihre grüßende
Stellung aufzugeben, bis ich sie bat, sich zu setzen. Es war jedoch auch ein
Saal (Ur. 7) da, den ein roher Schlag Baiern inne hatte, an deren Spitze
ein sehr ungehobelter „Zimmercommandant" stand. Diesen Saal be¬
trat ich nie. Die Insassen hatten oftmals von dem Oberchirurgen scharfe
Verweise erhalten, da sie muthwillig Bäume und Sträucher ausrissen.
Als wir eines Abends spät aus der Stadt zurückkamen, fiel mir die un¬
gewohnte Bewegung an unserem Hause auf. Die Eisenbahnstrecke zwischen
Paris und Orleans theilte den Park in zwei Theile, welche dicht am Gebäude
sich Herzogen. Vor diesem hielt jetzt ein Zug; die Locomotive zischte laut
durch die Nacht; das hatte alle Einwohner des Hauses, selbst die Patienten,
aus den Zimmern hervorgelockt. Sie überschütteten den Locomotivführer mit
tausenderlei Fragen. Was war geschehen? Eine boshafte, unsichtbare Hand
hatte eine lange, schwere Stange Eisen (wahrscheinlich von der nahegelegenen
Eisengießerei) quer über die Schienen gelegt und zwar gerade vor den Zug
mit Verwundeten und mit französischen Gefangenen. Glücklicherweise hatte
der Locomotivführer, der diesen Hang der Franzosen, ihren „Patriotismus"
auf solche Weise zu offenbaren, kannte, da er langsam fuhr und stets scharf
ausschaute, den dunklen Gegenstand quer über den Weg liegen sehen und
gerade noch Zeit gehabt zu hemmen. So war der Zug nur einige Ellen
lang aus den Schienen gestoßen. Wer war der Verbrecher? Niemand war
gesehen worden und niemand konnte es sagen. Doch es war nichts zerstört,
sonst hätte die Gemeinde eine schwere Buße bezahlen müssen. Jeder bot jetzt
seine Hülfe an; und in ein paar Stunden war der Zug wieder in Bewegung
gesetzt (die Verwundeten und Gefangenen waren versorgt und gespeist wor-
den). Seitdem war die ganze Strecke bis zur nächsten Station Tag und
Nacht mit Wachen versehen.
Unser Militärarzt, der immer erst die Speisen kostete, ehe sie den
Kranken gebracht wurden, sprach mit dankbarer Anerkennung von den Ein¬
richtungen der Frau Schmidt, Und wirklich, auch mir schien, als ob Einige,
die gerade aus den Typhushospitälern blaß und schwach angekommen waren
und kaum gehen konnten, oder noch Spuren der Pocken an sich hatten, schnell
stark und gesund würden; und es kam jetzt auch viel häufiger vor, daß die
Leute ganz gesund wieder zu ihrem Regiment zurückkehrten.
Es war so eingerichtet, daß die bedeckten Wagen, die neue Convalesscen-
ten brachten, zugleich die, welche fortgingen, beförderten, und sie also nicht
der Kälte und dem ermüdenden Marsche ausgesetzt waren. Eines Tages kam
es nun vor, daß 22 Leute, die mit dem nächstankommenden, angekündigten
Zuge befördert werden sollten, Befehl bekamen, sich für die Reise zu rüsten.
Sie kamen zu mir, um sich alle Arten Unterkleider, wie Socken, Hosen, wollene
Hemden und Jacken zu holen, die wir vorräthig hatten. Auch wollten sie
ihre Brodsäcke versehen und ihre „Feldflaschen" mit Branntwein gefüllt
haben; und dann gaben wir ihnen noch (besonders unsern Lieblingen) Cigar¬
ren, Tabak, Lumpenzucker und geröstete Kaffeebohnen mit. Aber es verging
geraume Zeit und die Wagen kamen nicht; die Abreise wurde also mehrere
Tage verschoben. Als ich in dieser Nacht in den unteren Räumen nachsah,
ob auch alle Lichter aus wären, sah ich einen Soldaten in gespensterhaften
Gewände unschlüssig aus der Treppe stehen. Er sah todtenblaß aus und
schien nicht zu wissen, wo er war. Ich beachtete ihn weiter nicht und setzte
Meinen Weg fort. Als ich wieder herauf kam, stand mein Freund noch immer
auf derselben Stufe. — „Was wollen Sie, lieber Mann?" Keine Antwort.
„Sind Sie krank?" Dasselbe Schweigen. Ob er nachtwandelte? Es sah so
aus. Ich nahm ihn also an der Hand, führte ihn wieder (er folgte mir ohne
Widerstand) in die Nähe seines Krankensaales und sagte zu ihm: „So, nun
gehen Sie in Ihr Zimmer zurück!" aber der Mensch rührte sich nicht. —
»Bedürfen Sie des Doerors?" Wieder keine Antwort. — Die Nachtwachen
waren gerade wie die Polizei: sie sind nie bei der Hand, wenn sie am nöthig¬
sten sind. Ich klopfte deßwegen an der Thüre des Chirurgen, erzählte ihm,
was vorgefallen und ging dann hinaus zu Herrn Müller, der unruhig und
fiebernd war. Ich blieb die Hälfte der Nacht bei ihm auf und hörte nichts
Mehr von dem nächtlichen Wanderer. — Am nächsten Morgen wurde ick zum
Dr. Meyer befohlen. — „Sie gaben den zweiundzwanzig Leuten, die gestern
Abend abreisen sollten, Branntwein?" fragte er. — „Ja, Herr Stabsarzt,
Ähren Anordnungen gemäß." — „Richtig, ich konnte nicht die Folgen voraus¬
haben : es haben nämlich verschiedene unter ihnen den Inhalt ihrer Feldflaschen
gestern Abend geleert und sich betrunken. Der Mensch, dem Sie gestern
Nacht begegneten, wandelte nicht im Schlafe, sondern war in einem schweren
Zustande der Betrunkenheit; er hat sich so krank gemacht, daß er wenigstens
acht Tage das Bett hüten muß; aber die Anderen müssen bestraft werden." —
„Wie?" — „Drei Tage lang bekommen sie weder Wein, noch Cigarren;
und wenn sie fortgehen, füllen Sie ihnen zwar ihre Flaschen, aber — mit
Wasser." — Die Schuldigen gehörten zum Saal Ur. 7. Ihre Strafe wurde
vollzogen.
Die Jnspectionsbesuche des Delegirten hatten keine bestimmte Zeit.
Doch es war immer für unsere ^mour propre ein Gegenstand der Genug¬
thuung, wenn der Inspector sich recht befriedigt über das Ganze aussprach
und es sein „Musterspital" nannte. Frau Schmidt verdiente auch wirklich
dieses Lob, denn ihr Bezirk war wirklich ein Wunder von Reinlichkeit und
Ordnung. Die zwei Militärköche waren ausgezeichnete Bursche, obgleich sie
manchmal das Temperament ihrer „Chefesse" erhitzten. Die Scheuerfrau sagte
mir wirklich einmal: ,0'est uus excellente kenne, mais eile s'emporte
comme une soupe an I»it!"
Sonntag Nachmittags hielt ein Feldkaplcm (einer der beredetsten Men¬
schen, die ich je gehört habe) in dem größten Krankensaal Gottesdienst. Dieser
dauerte ungefähr eine halbe Stunde und bestand aus sehr gutem Kirchenge¬
sang ohne Begleitung, einem unvorbereiteter Gebet und einer Predigt. Die
Patienten aus dem Spital in Chü-teau Bruyeres kamen herüber und alle,
Katholiken wie Protestanten, nahmen an dem Gottesdienst Theil. Die, welche
nicht stark genug waren, blieben auf ihren Betten sitzen; die Andern standen
kreisförmig um den Tisch in der Mitte des Zimmers, worauf das einzige
Buch aus dem der Kaplan schöpfte, die Bibel, lag. Es war rührend
die gespannte Aufmerksamkeit dieser Menschen zu sehen, die mit gesenktem
Blicke dastanden. Unter den Soldaten war auch ein großer Ulan, der erst
kürzlich angekommen war und sehr blaß und schwach aussah; er hatte Typhus
und Ruhr gehabt. Als nun der Kaplan sie auf die Dankbarkeit hinwies,
die sie Gott gegenüber haben müßten, nicht nur weil er ihnen Erfolg ge¬
währt hätte, sondern auch weil sein besonderer Segen sie vor dem schrecklichen
Ende so vieler Kameraden bewahrt hätte, und die Hoffnung auf einen baldigen
Frieden aussprach, damit sie alle in ihr „Vaterland" und zu ihren Fami¬
lien zurückkehren könnten — da hörte man gar manches Schluchzen. Als ich
aufsah um mir diese einfache, aber doch so imposante Scene zu betrachten,
sah ich, wie der große Ulan immer weißer wurde, und die blauen Ringe um
seine Augen immer dunkler; im Augenblick drauf schwankte er nach vornen,
zwei Krankenwärter hielten ihn und brachten ihn in den nächsten Saal. Ich
holte Eis und Aufschläge und ging an sein Bett, worin er ganz bewußtlos
lag. Die Beredtsamkeit des Kaplans und die Erwähnung der „Heimath"
waren zu viel für ihn — und doch war es Einer von jenen Ulanen, von
welchen man in Frankreich sagte: „<lui it u'v avait neu als sacrH pour
eos KLN8 la!"
Die Zahl unserer Patienten, die sich auf fünfzig reducirt hatte, war jetzt
wieder plötzlich gestiegen, da das Lazarett) in Corbeil, ein Theater, niederge¬
brannt war. Das Parterre und die Bühne, welche mit Betten bestellt waren,
waren durch einen „ealoritvi-c;" geheizt und von einem Franzosen errichtet.
Eines Morgens als der Chirurg bemerkte, daß der „LllauMur" viel später
wie gewöhnlich kam und die Patienten sehr über Kälte klagten, verwies er
dem Schuldigen seine Unaufmerksamkeit; in weniger als einer halben Stunde
aber brach Feuer durch Ueberhitzung des oaloriköre aus. Die folgende
Scene stellte mir Frau Louit als sehr schrecklich dar: Die Kranken,
aus Furcht bei lebendigem Leibe zu verbrennen, stürzten wild auf die
Straße —, und die Angstrufe der Verwundeten, die nicht gehen konnten
— das Knistern der Flamme, das Krachen der Balken, alles das zusam¬
men hätte selbst die Herzen der Tapfersten mit Schrecken erfüllt. Doch
es ging alles so schnell und glücklich vorüber, daß nicht ein Leben verloren
war; grade als der letzte Verwundete hinaus getragen war, wich die Decke
und nach einigen Augenblicken war von dem hölzernen Gebäude nur noch
dampfende Asche zu sehen. Einige hatten sogar die Geistesgegenwart gehabt
an die Rettung der „caissv" zu denken; aber alle Betten, Wäsche, Instru¬
mente und Medicamente waren ein Raub der Flammen geworden. Manche
sagten, daß der „OKa-ulleui'" absichtlich den „ealoritörL" überheizt hätte, aus
Aerger, daß der Chirurg ihn grob behandelt hatte. Aber viele, zu denen auch
ich gehörte, hielten für wahrscheinlicher, daß es „par sureroit <l« Mlö" ge¬
schah, weil der Mann die verlorene Zeit nachholen wollte. Denn ich glaube,
daß nur ein wirklicher Feind zu solchen Mitteln greifen kann um sich zu
rächen. Diese Ansicht der Sache theilten auch die mit dem nächsten Zug an¬
kommenden Richter und so wurde der Franzose von allen bösen Absichten
freigesprochen. Nichts kann Einen vorsichtiger und klüger bei ähnlichen Vor¬
fällen machen, als eine solche Katastrophe. So mahnte auch mich dieser Brand,
augenblicklich die Schornsteine in unserem Lazareth fegen zu lassen, denn ich
^ußte, daß dies seit dem Anfange des Winters nicht mehr geschehen war. Der
"kumi'Lo,", aus einem einige Meilen weit entfernten Dorfe, wurde bestellt,
und dieser kam mit den unvermeidlichen kleinen Savoyarden (es müssen nur
wenige Savoyarden in ihrer Heimath bleiben, denn sie scheinen überall Schorn¬
steinfeger und Schleifer zu sein). Als die kleinen Kerls von ihren luftigen
Legionen herabgestiegen waren, sagten sie aus, daß es hohe Zeit gewesen
^>äre, die Schornsteine, besonders in den oberen Stockwerken zu fegen. Aber
arn nächsten Tag war es unmöglich die Küchenräume zu benutzen. Der
Schlot hatte offenbar mancherlei Biegungen, Winkel und Ecken, bevor er
zu Tage trat, und als er ausgefegt worden war, hatte sich der Nuß offen¬
bar dort angehäuft und eingenistet, so daß der Rauch, als er keinen Durch¬
gang fand, wieder zurückkam und die Küchen zum Ersticken füllte. Es wurde
wieder nach dem „tumisw" geschickt, aber er kam nicht. Am Morgen be¬
klagte sich der Chirurg, daß das Essen verräuchert war — kein Wunder! Ein
anderer Bote wurde zu dem Schornsteinfeger geschickt, der auch versprach gleich
zu kommen; doch er kam nicht. Zuletzt ging ich zum Chirurgen: — — „Der
Rauch unten ist nicht zum Aushalten," sagte ich; — „wir müssen die Fenster
offen lassen; der „tumiste" kommt nicht; Frau Schmid und ihr Gehülfe haben
geschlossen; und wenn nicht gleich etwas geschieht, können die Patienten keine
Suppe bekommen!" — "Gehen Sie", erwiederte der Chirurg, und sagen Sie
zweien dieser Soldaten, die unten Holz sägen, daß sie ihre Uniform anziehen,
ihre Gewehre nehmen und den Burschen gleich sofort gefänglich herfuhren".
In weniger als einer Stunde kam der Gefangene zwischen seinen zwei
Wachen, und sah sehr verdonnert aus; hinter ihm kamen die zwei kleinen
Feger, ganz blaß vor Schrecken, an. Als sie in der Küche waren, blieben die
Soldaten als Wache an der Thür, bis der Rauchfang auseinander ge¬
nommen, gereinigt und wieder an Ort und Stelle gebracht, ja bis das
Feuer angezündet war, und gut zog. Dann begleiteten sie die „Missethäter"
bis an das Thor und entließen sie. (Schluß folgt.)
Wenn Stahl heute noch lebte, so müßte er seine Freude an Dem haben,
was er bei uns sähe und hörte. Auf der ganzen Linie der öffentlichen Mei¬
nung tönt, wie der Nachklang von jenem berühmten Worte: die Wissenschaft
muß umkehren! Von der Wissenschaft zwar spricht man im Augenblick nicht,
aber die ganze wirthschaftliche Gesetzgebung der letzten Jahre, 'die noch vor
wenigen Monaten der Gegenstand allgemeinen Preises war, die als das Pro-
duct der tiefsten Weisheit'der Regierung und des Parlaments gerühmt war,
soll auf einmal nichts taugen, soll eine Uebereilung sein, welche möglichst
rasch wieder gut gemacht werden muß. Die Auflösung verbreitet sich durch
alle Klassen der Gesellschaft, das rothe Gespenst, vor welchem Nomien den
Franzosen so viel Angst einsagte, daß sie sich den Staatsstreich gefallen ließe»
und das in den Tagen der' Commune sich aller Welt in seiner Wirklichkeit
gezeigt hat, ist längst über die deutsche Grenze geschritten. Was Noth thut,
ist Umkehr. Gliederung. Ordnung der Gesellschaft und Niemand versteht das
Lied davon so kunstvoll zu singen, als die Kreuzzeitung; sie hat es ja oft
genug gesungen. Aber sie findet heute Zustimmung in'Kreisen, auf deren
Beifall sie früher niemals rechnen konnte. Die Parteien sind sich in den letz¬
ten Jahren ohnedies näher gerückt, die Unterschiede sind weniger scharf ge¬
worden, und da nach wie vor die Kreuzzeitungspartei die einzige ist. welche
durch ein Klassen - Interesse geeinigt wird, so bleibt sie — trotz aller äußerlichen
Veränderungen — im innersten Wesen unverändert, und wenn die Liberalen
Fehler machen, so können sie ganz sicher sein, daß dieselben von der anderen
Seite bestens benutzt werden.
Den ersten Anstoß zu dem Neaetionsfieber hat bekanntlich nicht unmittel¬
bar der Socialismus gegeben, sondern der lautschallende Ruf nach Sittlich¬
keit. Lange genug hatten die Berliner mit Kalisch spottend gesagt: Berlin
wird Weltstadt! und hatten sich damit über alle großen und kleinen Leiden
getröstet, welche das Wachsthum der Stadt über Jeden verhängt, der das
Glück hat. ihr anzugehören, von der Wohnungsnoth an. bis zur schlechten
Milch. Daß sich im Laufe der Jahre der Standard der öffentlichen Tugend
gehoben, kann man allerdings nicht behaupten, aber die Sache war gegangen,
wie es mit dem Kalbe des'Krotoniaten ging. Das Uebel wurde alle Tage
etwas größer, ohne daß man es recht merkte.' Endlich genügte ein ganz un¬
bedeutender Vorfall, wie er in dieser Zeit ähnlich unzählige Mal vorgekom-'
men war. das Gefäß zum Ueberlaufen zu bringen. Von allen Seiten er¬
schollen Anklagen gegen die Polizei, welche ihre Pflicht nicht erfüllt habe,
und der biedere Prövi'nziale mußte glauben, daß Berlin ein Pfuhl des Lasters
geworden sei. Die Agitation war in gewissen Grenzen ganz nützlich. Ein
Paar Pvlizeivatrouillen des Abends, ein paar Revisionen in gewissen Localen.
ein paar Concessionsentziehungen reichen hin. und haben zum Theil schon
hingereicht, äußerlich den Zuständen einen bessern Anstrich zu geben. Ob das
auf die Dauer helfen wird, namentlich ohne eine bedeutende Vermehrung der
Pvlizeiträfte, ob, wenn ein strengeres Polizeisystem eingeführt wird, 'nicht
alsbald die Klagen über Belästigungen und Eingriffe in die persönliche Frei¬
heit, an die Stelle der jetzigen Klagen über zu große Freiheit ertönen würden
mögen Die beantworten, welche sich einigermaßen der Verhältnisse in
den fünfziger Jahren erinnern.
Jedenfalls ist unleugbar, daß die Liberalen zuerst den großen Klage¬
schrei erhoben zur Freude von „Germania" und „Kreuzzeitung", welche beide
vollkommen darin einverstanden ist, daß umgekehrt werden muß; nur über
vie Mittel herrscht zwischen ihnen einige Meinungsverschiedenheit. Auf dem
wirthschaftlichen Gebiete schloß sich diesen Beiden auch die „norddeutsche All¬
gemeine Zeitung" an, in welcher der Socialismus eine Privatdomäne des
Herausgebers ist, der nicht müde wird, den „Liberalismus" zu bekämpfen.
Das hat er schon lange gethan und das Concert würde nichts zu bedeuten
haben, wenn es nicht an eine gefühlvolle <halte träfe. Aber so schön
vie Gewerbefreiheit und das Associationsrecht in der Theorie sind, so ist in
der Praxis die Concurrenz und der Strike für den es trifft, sehr unangenehm,
^esonders die Strikes. Für diese Striker ist nichts heilig: selbst die Geheime
^berhvfbuchdruckerei haben sie nicht respectirt und viele hundert Damen ge¬
dankt, denn wegen des Strike's konnte die lange Liste der Ordensverleihungen
Damen, welche der Staatsanzeiger brachte, nur in kleinen Portionen fort¬
gesetzt werden. Der Bourgeois hat auch schon in eminenter Weisheit heraus-
gefunden, daß die Strikes zu gar nichts führen, denn wenn alle Preise stei¬
gen, so hat der Arbeiter zuletzt nicht mehr als vorher.
Nichts ist leichter zuzugeben, als daß die Arbeiter recht oft über das Ziel
hinausschießen, daß die Stilles manchmal unbillig und sogar widersinnig
sind, daß besonders die Socialdemokraten, ob sie zur Fraction Tölcke oder
Bebel-Liebknecht gehören, unangenehme Leute sind, mit denen man nicht
gern umgeht, wenn man nicht gerade muß — aber trotz alledem muß man
die Dinge nehmen, wie sie sind. Der Gedanke, die wirthschaftliche Gesetz¬
gebung der letzten Jahre rückgängig machen zu wollen, ja selbst nur zu be¬
schränken, ist eine Absurdität und alle Armeen und Polizisten der Welt
würden nicht hinreichen, um eine „sociale Gliederung" wieder herbeizuführen.
Soll man deßhalb verzweifeln? Wird die Welt zu Grunde gehen, weil
es uns unbehaglich wird? Bisher hat sich die Menschheit in solchen Lagen
immer selbst geholfen. Aus wilden, chaotischen Zuständen haben sich wirklich
neue Organisationen gebildet. Auch wir befinden uns in einer solchen Gäh-
rungsepoche. Eine Organisation wird daraus unzweifelhaft hervorgehen,
aber sicher keine, für die man das Muster nur aus der Vergangenheit zu
nehmen braucht. Und es ist außerdem gesorgt, daß die Bäume nicht in den
Himmel wachsen. Wenn die Arbeiter heut übermüthig sind, so kommt es
daher, daß wir in einer Periode beispiellosen Aufschwungs uns befinden. Die
Nachfrage nach Arbeitskraft ist viel größer als das Angebot und der Arbeiter
'stellt danach seine Forderungen. Sollte, was Gott verhüten wolle, einmal
eine Zeit des Rückgangs kommen, so würden dieselben Arbeiter froh sein,
wenn sie nur die Levensnothdurft verdienten.
Aber es geht mit den großen Reformen den Völkern, wie es den Juden
erging. Bei den ersten Unannehmlichkeiten, welche die neue Freiheit bringt,
sehnen sie sich stets nach dem Fleischtöpfen Aegypten zurück. Womit nicht
gesagt sein soll, daß wir gerade dem gelobten Lande entgegensteuern.
'
Die Schiffe des Norddeutschen Lloyd in Bremen coursiren zur Zeit
wie folgt:-
In Panama ist Anschluß an die am 1. jedes Monats nach der Westküste
von Süd-Amerika abgehenden Dampfer vorhanden.
Der Fahrplan der Schiffe der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-
Gesellschaft in Hamburg ist folgender:
In Panama besteht Anschluß an die am 25. jedes Monats nach der West¬
küste von Süd-Amerika abgehenden Dampfer.
Nach Maßgabe dieser Fahrpläne hat die Bremer Linie ihren Hauptwerk!)
für die Corresponoenz-Beförderung nach und aus Central-Amerika und der
Westküste von >süd-Amerika, die Hamburger Linie für die Correspondenz-Be¬
förderung nach und von Venezuela. Seitdem die Schiffe beider Linien auf
der Hinfahrt in Se. Thomas anlegen, ist eine monatlich zweimalige directe
PostVerbindung zwischen Deutschland und Westindien gewonnen.'
Mit den gedachten Schiffen werden gewöhnlicheBriefe, Zeitungen und
sonstige Drucksachen, sowie Waarenprvben nach folgenden Ländern :c. ver¬
sandt: Bolivier, Chili, Ecuador, Peru, Costa-Rica, Nicaragua, Guatemala,
Honduras, Se. Salvador, Venezuela, den Vereinigten Staaten von Colum-
bien und Westindien. Necommandation ist nicht zulässig. Sämmtliche Kor¬
respondenzen unterliegen dem Frankirungszwange bis zu dem betreffenden
Ausschiffungöhafen.
Zur Vermittelung des Correspondenzverkehrs werden Seitens der Ober-
Postämter in Bremen und Hamburg folgende Briefpackete gefertigt.
Briefpackete nach Colon, Puerto Cabello, La Guayra und Se. Thomas
^le ad i. 2. 4. 5. 6. und 7. außerdem nach Curacao an das dortige Nie¬
derländische Postamt mit der Correspondenz für diese Insel. Die Hamburger
^artenschlüsse nach Puerto-Cabello und La Guayra nehmen die dortigen
Agenten der Hamburger-Amerikanischen Packetfahrt-Actien Gesellschaft in Ein¬
gang. Um diejenigen Correspondenz aus Westindien, Central- und Süd-
^uierika, welche mit den Hamburger Schiffen Beförderung erhält, in der Rich-
^ug nach Deutschland eine größere Beschleunigung zu sichern, werden die
briefpackete von den Schiffs-Capitainen w Plymouth an die Britische Post-
Verwaltung abgegeben und auf dem Landwege durch England und Belgien
befördert/wodurch die Korrespondenz um mehrere Tage früher nach Deutsch¬
land gelangt, als wenn sie erst in Hamburg gelandet würde.
Neuerdings werden mit den Bremer Lloyddampfern auch die Englisch-
Westindischen 'Posten befördert. Dieselben werden aus Southampton am 10.
jeden Monats abgefertigt.
Um die Agenten beider Gesellschaften in den Stand zu setzen, Briefe ze.
nach Deutschland, welche die Absender zu frankiren wünschen, annehmen zu
können, sind die Agenten des Norddeutschen Lloyd zu Colon, Savanilla,
Puerto-Cabello und^La Guayra sowie die Agenten der Hamburg-Amerika¬
nischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft zu Colon, Puerto-Cabello und La
Guayra mit Briefwaagen und einem Bestände Norddeutscher Freimarken ver¬
sehen worden, so daß jetzt die Möglichkeit geboten ist, von den genannten
Orten aus völlig frankirte Briefe nach Deutschland abzusenden.
Ursprünglich war es in Folge der hohen Forderungen, welche der nord¬
deutsche Lloyd für die Seebeförderung erhob, — dieselben, welche den Eng¬
lischen Gesellschaften gezahlt werden, — nicht angänglich, das Porto niedriger
zu normiren, als es noch jetzt für den Versendungsweg über England besteht.
Nachdem jedoch die Direction der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-
Gesellschaft in entgegenkommender Weise sich mit der Hälfte der an den Nord¬
deutschen Lloyd gezählten Vergütungssätze zufrieden gestellt erklärt und der
norddeutsche Lloyd demgemäß seine Forderungen herabgesetzt hatte, ist es der
Deutschen Reichs-Postverwaltung möglich geworden, das Porto wie folgt zu
ermäßigen:
für Briefe nach Venezuela, Columbien und Central-Amerika (erat. Greytownl
sowie nach Se. Thomas von 11^ Gr. im Frcmkirungsfalle und von 14'//. Gr.
im Nichtfrankirungsfalle auf 6 Groschen pro Loth,
für Briefe nach Westindien (erat. Se. Thomas, wohin das Porto nur 6 Gr.
beträgt), von 11^ Gr. bezw. 14'/i Gr. auf 9 Gr.,
für Briefe nach Bolivia, Chili, Ecuador und Peru von 16^ Gr. bezw-
19'/j Gr. auf 12 Gr. pro Loth.
Es macht hierbei keinen Unterschied, ob die Sendungen franlirt sind
oder nicht.
Weitere Portoermäßigungen stehen in naher Aussicht. —
Am 11. November gelangte die lange und vielbesprochene Münzvorlage
im Reichstag zur ersten Berathung. Man mußte vor Allem gespannt sein,
ob vom Tisch des Bundesrathes aus die gerechten Bedenken ihre Widerlegung
finden würden, welche die Vorlage in ihrer ursprünglichen Gestalt fast allent¬
halben erregt hatte. So wie die Vorlage aus dem'Reichskanzleramt an den
Bundesrath gekommen war, hatte sie nicht nur Bedenken, sondern vielfaches
Erstaunen hervorgerufen. In Nord und Süd waren Stimmen laut gewor-
den mit dem Rufe: Man sieht, sobald einer Maßregel ihres technischen Cha¬
rakters wegen die Einsicht des Reichskanzlers fehlt', kommt nichts zu Tage,
als zaghafte Halbheiten, ein gefährliches: wasche den Pelz und mach' ihn
nicht naß.
Im Bundesrath ist nun zwar die Münzvorlage des Neichskanzleramtes
in wesentlichen Beziehungen verbessert worden, aber es bleiben der Bedenken
noch immer genug übrig. Sehen wir zu, was die Verhandlung zur Be¬
ruhigung geleistet hat. Wir wollen uns jedoch in dieser Frage nicht, wie
sonst, dem Gange der Verhandlung schritt für Schritt anschließen. Wir
wollen vielmehr den Stoff nach den einzelnen in Frage kommenden Gesichts¬
punkten ordnen.
Die erste Frage, die sich bei der Gründung eines deutschen Münzsystems
erheben muß, lautet: «soll bei der Wahl des deutschen Münzsystemes ein künf¬
tig zu erreichendes Weltmünzsystem in's Auge gefaßt werden?
Man weiß, wie sich um diesen Punkt, bevor die jetzige Münzvorlage er¬
schien, verschiedene Parteien gebildet hatten. Der Präsident des Reichskanzler¬
amtes berührte die Frage in seinem Einleitungsvortrag. Er sagte ungefähr:
es habe sich in den 60er Jahren eine bemerkenswerthe'Neigung zu einer inter¬
nationalen Goldmünze gezeigt. Seit der am Schluß des Jahres 18K5 erfolg¬
ten lateinischen Münzconvention zwischen Frankreich, Belgien, Italien, der
Schweiz, welchen Ländern drei Jahre später Griechenland hinzutrat, gewann
diese Neigung einen festen Anhalt und im Jahre 1867 verhandelten die Ver¬
treter aller civilisirten Nationen zu Paris über eine internationale Goldmünze.
Aber bald, so fuhr der Präsident des Neichskanzleramtes fort, zeigte sich die
Macht der Verhältnisse stärker, als der ideale Zug nach Münzeinigung, und
die Verhandlungen zu Paris verliefen in der Hauptsache ohne Ergebniß! Seit
der Gründung des norddeutschen Bundes lag den Mitgliedern desselben die
Frage vor, ob sie bei Schaffung eines nationalen Münzsystems den künftigen
internationalen Charakter desselben in Aussicht nehmen sollten. Der Präsident
leuchte an dieser Stelle seines Vortrages aufmerksam auf den Unterschied zwi¬
schen Münzen einerseits und Maaßen nebst Gewichten andererseits. Die letz¬
teren sind in der That nichts als Größenbestimmungen, an denen Werthe
nach Umfang und Schwere gemessen werden. Münzen aber sind beides, Werth¬
zeichen und zugleich concrete Werthgestalten. Aus diesem Unterschied wollte
der Präsident folgern, daß ein internationales Maaß- und Gewichtssystem
empfehlenswert!) sein könne, während ein internationales Münzsystem noch zu
den unerreichbaren Wünschen gehöre.
In dieser allgemeinen Geltung kann auch Niemand den Satz bestreiten.
liber ist es wahr, das^ ein internationales Münzsystem heute noch zu
^n nicht zu erreichenden Dingen gehört? Der Präsident machte folgende
Schwierigkeiten gegen die Erreichbarkeit geltend. Die Regierungen, welche
Münzen' ausprägen, müssen zugleich verpflichtet sein, für eine vollwichtige
Circulation zu sorgen; mit anderen Worten: Die Negierung, welche die Mün-
Zen schlägt, muß die im Verkehr zu leicht gewordenen Stücke an ihren Kassen
liegen völlwerthige Stücke eintauschen, so lange dieselben — so muß man
Anzusetzen — nicht eine ein gesetzlich bestimmtes Gewicht überschreitende Schmä¬
hung erfahren haben. Denn ohne einen solchen Zusatz würde bald ein Ge-
k^)äst damit gemacht werden, Goldmünzen, bis auf ein Minimum beschnitten,
den den Staatskassen gegen vollwichtige einzutauschen. Herr Delbrück meinte
"un: schon die Pflicht, eine vollwichtige Circulation aufrecht zu erhalten, be¬
dinge die Nothwendigkeit, von einem'internationalen Münzsystem abzusehen,
und ein auf die nationalen Grenzen beschränktes ausschließlich im Auge zu
behalten.
Ist das aber ein richtiger Schluß? Sicherlich müßten alle Mitglieder
einer internationalen Münzconvention sich unter einander verpflichten, daß jedes
Mitglied die mit seinem Stempel ausgegebenen internationalen Münzen inner¬
halb' einer gewissen Grenze der Beschädigung und Gewichtsverminderung an
seinen Cassen'eintauscht. Wäre dies aber etwas Unmögliches? Es gäbe'auch
noch andere Wege einer nationalen Münzconvention. Die Einlösung der
verminderten Stücke könnte für gemeinschaftliche Rechnung geschehen. Die
internationalen Münzen könnten auch einen einheitlichen Stempel tragen und
die Quantität der von jedem Conventionsmitglied auszugebenden internationa¬
len Münze könnte einer gemeinschaftlichen Beaussichtigun'g unterworfen werden-
Man sagt nun wohl: das sind alles schöne Träume! Dasjenige Mit¬
glied einer solchen Convention, welches beispielsweise einen Krieg im Schilde
führt, wird in der Vorbereitungsfrist alle Schranken der Convention umgehen
und zugleich das Vertrauen, welches ihm die Convention sichert, zum Schaden
anderer benutzen.
Wir aber sagen: es ist Gespensterfurcht, an solche Wahrscheinlichkeiten
zu denken. Das Mitglied einer von mächtigen Genossen gebildeten inter¬
nationalen Convention kann nicht in einer solchen Weise das Vertrauen seiner
Verbündeten mißbrauchen, ohne sich die Execution des ganzen Bundes zuzu¬
ziehen. Eine internationale Münzconvention, an der, wenn auch nicht die
ganze Welt — dies ist freilich ein leerer Traum — sondern nur einige Gro߬
mächte Theil nähmen, wäre vielmehr von allen Mitteln das am meisten
praktische, einem Theil der Welt einen guten Frieden zu sichern.
Die wahre Schwierigkeit einer internationalen Münzeonvention in grö¬
ßerem Styl liegt nicht in der Gefahr, daß ihre Segnungen muthwillig mi߬
braucht und gefährdet werden können, sondern vielmehr in den Hindernissen,
die ihrem Zustandekommen entgegentreten. Da glauben wir aber allerdings,
daß, wenn'dem deutschen Reichskanzler die Frage eines internationalen Münz¬
systems, die er für eine technische und merkantilische halten mag, nach der
Seite ihrer politischen Segnungen aufgegangen wäre, er die unerschöpflichen
Handhaben seines fruchtbaren und energischen Geistes an ihre Lösung gesetzt
haben würde. So wie die Dinge liegen, müssen wir nun freilich auf das
internationale Münzsystem verzichten und dies vielleicht für eine Zeitdauer,
die sich unserem sterblichen Blick entzieht. Alle Welt beruhigt sich dabei, an¬
gesichts der Schwierigkeiten, die so recht gemacht sind, dem Älltagssinn einzu¬
leuchten. Man fühlt sich versucht, bei diesem Anblick auszurufen: die Ver¬
finsterungen und Erleuchtungen des Fürsten Bismarck sind die Marksteine
seiner Zeit. Wo er nicht hell sieht, da bleibt die Zeit kurzsichtig in der
Mittelmäßigkeit stecken. Ware dem Fürsten die Münztechnik hinlänglich ge¬
läufig gewesen, um sie mit seiner Politik zu combiniren, so wäre er vielleicht
der Begründer einer westeuropäischen Solidarität und einer westeuropäischen
Friedensära geworden — trotz Frankreichs nimmerruhendem Groll. An der
Solidarität des westeuropäischen Geldmarktes hätte sich dieser Groll gebrochen,
den in seiner nationalen Jsolirung keine Vernunft besänftigen kann, den in
derselben kein Wall von Bajonetten und Gußstahlblöcken von' einem Verzwei-
slungskrampf zurückhalten wird. Trösten wir uns damit, daß es keinem
Theil der sterblichen Menschheit jemals irgendwo zu gut werden darf.
Wenn man von dem Gedanken einer internationalen Münzconvention
absehen muß, dann ist es freilich leicht, die gleichwertige Ausprägung unserer
künftigen Hauptgoldmünze mit irgend einer bestehenden ausländischen Gold-
münze zu widerlegen. Denn natürlich würde eine solche Gleichwertigkeit
nur dann Sinn haben, wenn man die analoge ausländische Goldmünze,
beispielsweise das französische 25 Frankstück, im inländischen Verkehr regel¬
mäßig zuließe. Ohne Convention würde dies nun seine Gefahren haben, und
ohne erstere mag es besser sein, von jeder Uebereinstimmung unserer Haupt¬
goldmünze mit einer ausländischen abzusehen. Minister Delbrück brachte gegen
diese Uebereinstimmung noch die Schwierigkeit einer Anrechnung sämmtlicher
bei uns in Silber eingegangenen Verbindlichkeiten vor: eine'Schwierigkeit
welche sogar Verluste zur Folge haben müsse. Wir vermögen diese Schwierig¬
keit freilich nicht einzusehen. Wenn beispielsweise das künftige 10 Markstück
anstatt, wie beabsichtigt ist, im Werthe von 6 Thlr. 20 Sgr. vielmehr nach
dem Vorschlage des Abgeordneten Mohl im Werthe von 6 Thlr. 22'/-z Sgr.
ausgeprägt worden wäre, wodurch es dem 25 Frankstück gleich geworden, so
hätte man damit doch nicht die Anrechnung der Thalerbeträge in Zehnmarkstück¬
beträge mit unlösbaren Schwierigkeiten umgeben.
Die zweite Frage, welche durch die Gründung eines deutschen Münzsystems
hervorgerufen wird, betrifft die Modalitätendes Ueberganges zur Goldwährung.
Denn die Goldwährung selbst ist sür jeden Urtheilsfähigen keine Frage mehr.
Die Beibehaltung der einfachen Silberwährung wird kaum noch von einigen
Sonderlingen befürwortet. Es ist also nur die sogenannte Doppelwährung
noch, welche hier und da die Köpfe verwirrt. Namentlich seit der bekannten
Ausführung, welche der Professor Wolowsky in Paris Ende 1868 über diesen
Gegenstand erscheinen ließ. Es ist uns immer eine der befremdendsten
Erscheinungen gewesen, daß die Häupter unserer deutschen Manchester-Schule
von diesen Wolowsky'schen Trugschlüssen sieh sofort überwältigen ließen.
Heute scheint freilich nur der eigentliche Patriarch der Schule, Proce-Smith,
noch den Wolowski'schen Thesen anzuhängen. Glücklicherweise mußte er im
Reichstag seinem Bekenntniß für die Doppelwährung hinzufügen, daß dies nur
eine subj'eelive Ansicht sei, mit der er so gut wie allein stehe. Vom Reichs¬
tag war also für die Goldwährung nichts zu befürchten. Die Frage war
blos, wie die Reichsregierung den Uebergang zu bewerkstelligen gedenke.'
Man weiß, wie die ursprüngliche Borlage des Reichskanzleramtes die
Aufgabe mit gefährlicher Zaghaftigkeit und Halbheit anfaßte. Die deutschen
Goldmünzen sollten vorläufig nur einen Cassencours haben, o. h. sie sollten
in einem festen Verhältniß zur bestehenden Silberwährung bei den öffentlichen
Cassen angenommen werden. Aber im Privatverkehr sollte Niemand zur
Annahme von Goldmünzen verpflichtet sein. Der Bundesrat!) hat nun diese
Bestimmung bekanntlich dahin abgeändert, daß die neuen Goldmünzen im
Privatverkehr als Zahlungsmittel überall angenommen werden müssen. Wir
unsererseits hätten für richtig gehalten, zu bestimmen, daß von einem gewissen
Zeitpunkt an Jedermann das Recht hat, seine Zahlungen in Gold zu fordern.
Dies wäre die Einführung der alleinigen Goldwährung von einem bestimmten,
wenn auch nicht ganz nahen Termin ab gewesen. Eine solche Bestimmung
hätte dazu geführt, daß wir das Gold im Lande behalten. Das große Be¬
denken gegen die Regierungsvorlage, wie sie der Bundesrath verbessert und
der Reichstag in den beiden ersten Lesungen bestätigt hat, ist die Wahr¬
scheinlichkeit, daß alles Gold, das wir durch einen beispiellos siegreichen Krieg
in unseren Cassen haben, sobald wir es in Gestalt einheimischer Münzen in
den Verkehr bringen, unaufhaltsam wie durch das Sieb der Danaiden nach
dem Ausland abfließt. Diese Gefahr liegt in dem Umstand, daß der deutsche
^erkehr einen Ueberfluß von Circulationsmitteln in Silber und Papier be¬
sitzt. Dieser Umstand muß in hohem Grade die Operation begünstigen, das
Gold in Deutschland mit einem mäßigen Aufschlag anzukaufen und es im
Ausland zu höheren Preisen zu verkaufen, wo aus der zeitweiligen Gold¬
anhäufung in Deutschland ein entsprechender Goldmangel entstanden ist.
Der Umstand, daß wir das Gold jetzt in unseren Münzkellern liegen haben,
entbindet uns nicht von der Nothwendigkeit, unserem Verkehr die dauernde
Attractionskraft für das Gold zu geben.
Hören wir, wie dieses! unabweisbare Bedenken im Reichstag beseitigt
worden. Der Abg. Bamberger, der den Gegenstand zuerst berührte, faßte
die Sache mehr humoristisch an, so zwar, daß er, obwohl seinem Beruf nach Sach¬
verständiger, im Ganzen darüber im Dunkeln ließ, die Frage gar nicht beherrschte.
Er meinte, wir könnten nicht in Verlegenheit sein, was mit dem überflüssigen
Papiergeld anzufangen sei. Das wußten wir aber schon lange vor dieser
Rede. Desto nöthiger wäre gewesen, die Einziehung des Papiergeldes und
ihre Modalität sofort festzustellen. Es hätte können das Papiergeld der
sämmtlichen deutschen Staaten von Reichswegen eingezogen und einstweilen
durch Goldanweisungen ersetzt werden. Dabei hätten sich die Einzelstaaten
freilich dem Reich gegenüber zur Anschaffung desjenigen Goldes verpflichten
müssen, das ihrem Papiergeldbetrage entspricht, wenn auch in einer nicht all¬
zukurzen Frist, so daß das Reich den Einzelstaaten nur Borschuß geleistet
hätte, Diese Anwendung unserer durch die französische Kriegsentschädigung
erlangten Goldvorräthe wäre wohl die denkbar weiseste gewesen, aber sie wäre
dem Particularismus sauer angekommen. So unterbleibt sie freilich, aber, wir
wiederholen es, auf die Gefahr, daß die papiernen Zeichen, welche in Deutsch¬
land einen Werth von 400 Millionen Thaler tragen, uns das Gold aus dem
Lande fegen. Bamberger meinte noch, es seien keinem Menschen zwei Taschen ange¬
boren, die eine mit Gold, die andere mit Silber. Jeder zahle mit dem, was
er habe. Wenn aber in Gold gezahlt werden muß, so muß derjenige, der
nur Silber hat, sein Silber um jeden Preis verkaufen. Dadurch bleibt das
Gold im Lande, soviel der Verkehr davon bedarf. Kann aber nach Belieben
in Silber bezahlt werden, so kauft uns das goldbedürftige Ausland das Gold
auf. Davon mögen die Banquiers einen Gewinn haben, der inländische
Verkehr aber wird sich bald wieder auf Papier und Silber beschränkt sehen.
Wir wissen nicht, ob es blos an der scherzhaften Ausdrucksweise des Herrn
Bamberger liegt, daß diese Wahrheiten in seinem Vortrag verdunkelt erschienen.
Das Verdienst wenigstens dürfen wir ihm nicht bestreiten, daß er die Unge-
Hörigkeit fortgesetzter Silberausprägung nachdrücklich hervorhob.
Mit allgemeiner Spannung wurde der Vortrag des Ministers Camp¬
hausen vernommen, welcher die zum Theil unbegreiflich erscheinenden Unter¬
lassungen der Regierungsvorlage rechtfertigen sollte. Der Bevollmächtigte des
Bundesrathes begann damit, die Hauptschwierigkeit der Maßregel auf einen
ganz anderen Punkt zu verlegen. Es habe einen wahrhaft unheimlichen Ein¬
druck auf ihn gemacht, das eigentliche Problem kaum erörtert zu hören, näm¬
lich die Tarifirung des Verhältnisses zwischen Gold und Silber. Herr Camp¬
hausen setzte nun auseinander, wie beruhigend für ihn die wachsende
Gewißheit sei, mit der Bestimmung dieses Verhältnisses — 1 zu 15,3 das
Nichtige getroffen zu haben.
Mit aller Hochachtung vor einem so bedeutenden Techniker, wie dem
Minister Camphausen, erlauben wir uns zu bezweifeln, ob es wirklich dieser
Punkt ist, an dein die größte Schwierigkeit liegt. Gesetzt, wird hätten den
Silberpreis etwas zu niedrig tarifirt, so'würde das Reich bei Einziehung der
Silbermünzen auf Kosten seiner Angehörigen einen Gewinn machen, der einer
Steuer gleich käme; oder wir hätten ihn zu hoch tarifirt, so würde das Reich
seinen Angehörigen ein kleines Geschenk machen, das wahrscheinlich auf dem
Steuerweg zurückgenommen würde. Schließlich können wir unsere Silber¬
barren doch nicht nach irgend einem Tarif, sondern nur nach dem gerade
herrschenden Cours verkaufen, wobei die Neichsregierung als Verkäufer einen
mäßigen Verlust oder auch Gewinn haben wird.' Das im Lande bleibende
Silber aber ist als Scheidemünze zu betrachten, dessen Werth nicht von seinem
Weltmarktpreis, sondern von seiner inländischen Leistung als Scheidemünze
abhängt. Erfreulich war die Mittheilung, daß Deutschland schon jetzt eines
Quantums von Silber sich entledigt habe, und dazu durch seine günstige
Handelsbilanz in den Stand gesetzt' worden sei. Es scheint demnach, wir sind
einen Theil unseres Silbers los geworden, weil das Ausland geglaubt hat,
ein gutes Zahlungsmittel für seine Verbindlichkeiten an uns dadurch zu er¬
halten. Von dauerndem Nutzen kann diese Silberausfuhr doch nur sein, wenn
wir uns gegen die Wiedereinfuhr schützen, was nur durch den baldigen Ueber¬
gang zur reinen Goldwährung geschehen kann. Sehr erfreulich war ferner
die Mittheilung, daß die deutschen Schatzanweisungen bereits in großer Menge
zu einem billigen Marktpreis zurückgekauft sind, so daß ihre Einlösung uns
nicht den vollen Betrag kosten wird. Unklar blieb dagegen in dem Vortrag
des Herrn Camphausen die Widerlegung der Furcht vor einer Verdrängung
des Goldes durch das überflüssige, aber noch in gesetzlicher Geltung stehende
Papiergeld. Der Redner meinte, wo bisher ein Depositum von Bankgeld
angelegt worden, werde dasselbe nunmehr von Goldgelb geschehen. Das
scheint uns doch mehr als unsicher. Ferner meinte der Redner, die einzelnen
Bundesregierungen würden ohne besondere Reichsmaßregel von selbst auf die
Einschmelzung der Silbermünzen Bedacht nehmen. Das scheint uns noch
Weniger sicher. Groß ist also die Beruhigung nicht, die wir aus den Wor-
ten des Herrn Camphausen schöpfen können. Es bleibt der Trost, daß die
Versäumnisse des jetzigen Gesetzes vielleicht durch neue Bestimmungen nach¬
geholt werden können, bevor ihre nachtheiligen Wirkungen zu einschneidend
geworden. Die Resolution des Abgeordneten Tellkampf,' welche am Schluß
der zweiten Berathung einstimmig angenommen wurde und welche bean¬
tragt, daß dem Reichstag in der nächsten Session der Entwurf eines Bank¬
gesetzes vorgelegt werde, stellt wenigstens die Regelung des Papiergeldwesens
nahe genug in Aussicht, wenn, wie zu hoffen, die Regierung dem Wunsche
des Reichstags nachkommt. Eine andere wichtige Bestimmung' für den Ueber¬
gang zur reinen Goldwährung ist auf den Antrag des Abgeordneten Bau-
^erger in den §11 der Regierungsvorlage aufgenommen worden. Der Pa¬
ragraph handelte ursprünglich nur von der Einziehung der bisherigen Gold¬
münzen. Durch eine von Bamberger hinzugefügte und vom Reichstag ge¬
nehmigte Bestimmung wird der Reichskanzler ermächtigt, die Einziehung der
bisherigen groben Si'lbermünzen der deutschen Bundesstaaten anzuordnen und
die Mittel dazu aus den bereitesten Beständen der Reichskasse zu entnehmen.
Mellins ist dies nur eine Ermächtigung. Unsererseits müssen wir darauf zu¬
rückkommen, daß uns die Beseitigung des Papiergeldes als Circulationsmittel
ireuich. das Silber könne später entwerthet werden und dadurch dem deut-
Mn Nationalbesitz einen Verlust zufügen. Uns scheint diese Gefahr nicht
dringlich, wenn man den großen Bedarf an neuer Scheidemünze erwägt,
Ascher einen Theil der bisherigen schweren Silbermünzen absorbiren muß.
Wären wir zu einer mittel- und südwesteuropäischen Münzconvention gelangt,
^lebe zugleich die.Bürgschaft eines langen Friedens in sich getragen hätte.
>° fände unser Silber seinen natürlichen Abfluß in die durch ihre Papier-
geldwirthschaft der edelmetallenen Circulationsmittel fast beraubten Länder,
wie Oestreich und Italien. Wenn dieser Ausweg nun auch ein frommer
Wunsch bleibt, so dringt uns das Silber als Verdrängungsmittel des Gol¬
des doch weniger Gefahr, als das Papiergeld, weil Silber aNein das Gold
nicht entbehrlich macht. Wenn aber das Papiergeld die unheilvolle Function
der Goldverdrängung ausüben sollte, so fügt es unserm Nationalreichthum
einen Schaden zu, der größer ist als der Verlust, welchen die Werthminde¬
rung des Materials bei dem Silbergeld herbeiführen kann.'
Die dritte Frage, welche bei der Gründung eines deutschen Münzsystems
in Betracht kommt, ist die Eintheilung der Münzen. Darüber bestand kein
Zweifel, daß eine decimale Theilung eingeführt werden müsse. Es handelte
sich also um die Rechnungseinheit, d. h. um diejenige Münze, von der die
kleinsten Münzstücke als decimale Theile, von der die größten Münzstücke als
decimale Vielfache im Verkehr mit kBcquemlichkeit zu bezeichnen sind. Die
Frage stand zwischen dem Thäler, dem Gulden und der Mark, oder zwischen
dem Thaler, dem Zweidrittelthaler und dem Eindrittelthäler. Denn die Forde¬
rung war unumgänglich, daß die kleinste Theilung, der neuen Rechnungsein¬
heit', mochte sie als halber Kreuzer, als Pfennig oder sonst wie bezeichnet sein,
ohne Bruch aufgehen mußte in die bisherigen Theilungen des Thalers bis
zum Groschen und womöglich bis zum halben Groschen herab. Der Thaler
ist dem decimalen System nicht günstig, indem ^die decimalen Vielfachen
des Thalers zu große Münzstücke geben, die decimalen Theile aber keine
passenden Kleinen'ünzen bilden. Für den Gulden oder Zweidrittelthaler
sprach Vieles. Die Regierung adoptirte ihn gleichwohl nicht, wobei sie sich
hauptsächlich auf zwei Gründe stützte. Der eine Grund besagte, daß der
hundertste Theil des Guldens, der Kreuzer, eine Münze, die gleich ist
zwei sächsischen Pfennigen, als kleinste Münze noch zu groß sei. Man hätte
freilich neben den Kreuzern halbe Kreuzer schlagen können. Die Negierung
erklärte aber, daß damit das System der decimalen Theilung durch¬
brochen werde. Uns will scheinen, als würde es mit dieser Durchbre¬
chung nicht viel auf sich gehabt haben. Wichtiger war der andere Grund.
Der deutsche Gulden gleich dem Zweidrittelthaler würde eine solche Ähnlich¬
keit mit dem östreichischen Gulden gehabt haben, um im Verkehr mit dem
letzteren zu alterniren. Es hätte aber keine Veranlassung vorgelegen, den
deutschen Gulden, der nur eine Scheidemünze sein soll, schwerer auszuprägen,
als genau im Werthe eines Zweidrittelthalers. Damit wäre er leichter ge¬
worden, als der östreichische Gulden, der bei der östreichischen Münzreform
in den fünfziger Jahren etwas schwerer ausgeprägt wurde, weil er als Haupt¬
münzstück dem östreichischen Gelde einen guten Klang verschaffen sollte. Die
Reichsregierung hat nun erklärt, es entspreche nicht den Beziehungen guter
Nachbarschaft, ein ganz ähnliches Münzstück, wie das des Nachbars, von
leichterem Gewicht auszuprägen. Wir glauben freilich, die Oestreicher wären
froh, wenn sie viele solcher neudeutschen Gulden in ihre Circulation bekom¬
men hätten, da die östreichischen Gulden schon jetzt unaufhaltsam nach Deutsch¬
land abfließen. Man muß jedoch der Reichsregierung darin beistimmen, daß
eine äußerliche Annäherung des deutschen Münzsystems an das östreichische
ohne eine umfassende Münzeonvention ihre Unbequemlichkeiten und
selbst ihre Gefahren gehabt haben würde. So entschied sich denn die Reichs¬
regierung für die Mark, und wir dürfen zuversichtlich hoffen, daß die Wahl
sich bewähren wird. War mit der Mark die.Nechnungseinheit gesunden, so
handelt es sich um die Hauptmünze und um die Theilung. Was die Haupt¬
münze betrifft, so hatte die Negierung in der ursprünglichen Vorlage drei
Sorten derselben vorgeschlagen: ein sogenanntes 30-Markstück, in Wahrheit
ein goldnes 10-Thalerstück; ein 20-Markstück und ein sogenanntes 1ö-Mark-
stück.' Schon der Bundesrath hatte das letztere Stück glücklicherweise aus der
Gesetzesvorlage entfernt. Der Reichstag that das seinige und beseitigte das
30-Markstück. Man frägt sich vergebens, was die Negierung mit diesen bei¬
den Stücken gewollt hat. Wäre es in der That auf die Beibehaltung des
Thalers als Nechnungseinheit abgesehen gewesen? Aus den Reden der Bun-
descommissare war nichts Deutliches zu ersehen. Allerdings fand das goldene
10-Thalerstück nicht nur in den Herren Delbrück und Meineke, sondern in
dem Reichskanzler selbst einen Vertheidiger. Aber das beweist nur, wie
äußerlich dem Reichskanzler diese Frage ist, wie wenig er aus Mangel an
Zeit oder einer zufällig günstigen Beleuchtung bis jetzt' den Kern der Sache
gesehen hat.
Was die Theilung der Rechnungseinheit betrifft, so verstand sich die
Theilung der Mark in'100 Pfennige von selbst. Aber ihrem Charakter zag¬
hafter Halbheit getreu, hatte die Regierungsvorlage Mark und Pfennig durch
eine Zwischentheilung getrennt, den alten wohlbekannten Groschen. Als ob
es nicht ein Hauptmangel der Thalerrechnung gewesen wäre, daß man mit
dreierlei Münzgrößen rechnen mußte, daß man die Pfennige addiren, dann
durch 12 dividir'en, dann noch einmal durch 30 dividiren mußte und umgekehrt!
Als ob nicht Jeder von uns, der einmal in Oestreich gewesen ist, die Vor¬
theile der dortigen Theilung der Rechnungseinheit hätte mit Händen greifen
müssen! Als ob nicht jeder in Oestreich Reisende gesehen hätte, wie die
dortige Rechnung in allen Volksschichten, deren Schulbildung doch viel mangel¬
hafter ist, als in Deutschland, mit vollkommner Sicherheit gehandhabt wird!
Jede Bauerfrau weiß dort, daß sie die Kreuzer addirr und bei der Summe
zwei Stellen von rechts nach links durch ein Komma abtrennt. Dann hat
sie Gulden und Kreuzer. Aber die handgreifliche Zweckmäßigkeit dieser
Rechnungsart wurde von den Herren Camphausen und Patow, zwei Finanz¬
kennern,'deren Autorität wir nicht verkleinern wollen, allerdings im Namen
des Volkes, geleugnet. Indem der Reichstag auf Bambergers Anregung den
Groschen ausschloß, vollbrachte er den wohlthätigsten Mord, der je einer ge¬
setzgebenden Versammlung gelungen ist. Dafür ruft allerdings die heutigen
Nationalzeitung dem Groschen ein jammervolles Wehe nach und ein strafen¬
des Wehe auf den Reichstag herab. Das beweist aber nur, wie schwer die
einfachsten Dinge oft in den Verstand der Verständigen eingehen. Wir geben
dem Reichstag' mit sicherer Ueberzeugung den Ruhm, daß er sich um die
rationelle Eintheilung unseres neuen Münzsystems wohlverdient gemacht hat.
Dies ist auch dadurch geschehen, daß die Ausprägung eines goldenen 10 Mark¬
stückes in die Vorlage aufgenommen worden.
Die vierte Frage endlich, welche bei der Gründung eines deutschen Münz-
shstems in Betracht kommt, lautet: Neichsmünze oder Landesmünze? Wenn
der Inhalt dieser Frage nur der wäre, welches Bild auf den neuen Münzen
stehen soll, dann würde uns die Antwort sehr ruhig lassen. Aesthetisch würden
"u'r am passendsten finden, wenn die Münzen gar kein Bildniß trügen, wie
die Bildnisse erfreulicherweise von den Postmarken verschwunden sind. Wir
denken, es kann für die Allerhöchsten Herrschaften keine behagliche Empfindung
sein, ihre Gesichtszüge auf den Münzen mit Stoffen, die nicht dahin gehören,
bald an der bald'an dieser Stelle überzogen zu sehen. Sollen aber die
Münzen einmal Bildnisse tragen, so wollen wir uns die Mannigfaltigkeit
derselben ebenso gern gefallen lassen, wie der Abgeordnete Treitschke.
Aber die Frage: Reichs- oder Landesmünze, schließt noch ganz andere,
Viel erheblichere Dinge ein. Das Reich würde Eine Münzwerkstätt errichten,
der Particularismus der Münzprägung schafft uns eine Mehrzahl, Gegen
die Gefahren dieses Umstandes trifft nun zwar das Gesetz Vorsorge, insofern
es dem Reichskanzler die Bestimmung der auszumünzenden Goldquantitäten,
die Vertheilung der Quantitäten auf die Münzgattungen und die Münzstätten
und endlich die Erstattung der Prägungskosten an die Münzstätten überträgt.
Daß aber mit der Oberaufsicht des Reichskanzlers über die Münzprägung
eine ausreichende Bürgschaft gleichmäßiger Ausprägung nicht erlangt wird,
trat sehr auffällig in einer Aeußerung des Bundesbevollmächtigten Camphau¬
sen zu Tage. Es entsteht nämlich die weitere Frage, wer soll die im Verkehr
abgenutzten Münzen einlösen? Die Conseguenz der jetzigen Vorlage erheischt
die Einlösung durch die Einzelstaaten. So ist auch in der Vorlage bestimmt
worden und' der Reichstag hat auf Andringen der Negierung dies« Bestim¬
mung angenommen. Das ist aber eine Sache, die ihre eigenthümlichen Fol¬
gen hat. Man kann gewiß sein, daß von allen deutschen Goldmünzen die
des größten Staates, die preußischen, am meisten in Circulation kommen. Die
hamburgischen oder reußischen Goldstücke verlassen vielleicht zeitlebens auf ein
paar Tage die Keller irgend einer Bank, in denen sie sonst ungestört schlum¬
mern. Der Zufall wird hierbei ein Mehr oder Minder bedingen; aber das
ist klar, die preußischen Münzen werden das Hauptcirculativnömittel werden.
Wie kommt nun Preußen dazu, den Verlust, den die Circulation im ganzen
Reiche verursacht, allein zu tragen? Nichts scheint also rationeller, als daß
die Kosten der Einlösung vom' ganzen Reich getragen werden. Da sah sich
Herr Camphausen gedrungen, zu erklären: Die Einlösung abgenutzter Münzen
durch das Reich werde dazu führen, daß manche Einzelstaaten die Münzen
so ausprägen, daß ihr Feingehalt gerade nur das nothwendige Passirgewicht
erreicht! — Es kann keine deutlichere Illustration geben zu den Gefahren
particularistischer Münzhoheit oder auch nur Münzverwaltung. Gegenüber
der Camphausen'schen Erklärung nahm sich Laster's Phrase, es sei keiner
Münzverwaltung eine mala üäW zuzutrauen, der „unser Braun" beistimmte,
recht gutmüthig aus.
Die Nachtheile particularistischer Münzverwaltung treffen auch die an
sich so nothwendige Befugniß, daß Privatpersonen auf ihre Kosten Gold in
den Münzstätten des Reiches ausprägen lassen können. Das geht natürlich
nicht an, wenn die einzelne Münzverwaltung die Kosten tragen soll für die
vermehrte Einziehung, welche aus der vermehrten Circulation der in ihrer
Werkstatt geprägten' Münzstücke entspringt. Und doch ist jene Befugniß
durchaus unentbehrlich, wie der Abgeordnete Sonnemann sehr gut ausführte,
weil nämlich ohne das Recht der Privatausprägung der deutsche Geldmarkt
das Mittel entbehrt, die Veränderungen des Wechselcourses, so wie er es nöthig
hat, zu benutzen.
Indessen wollen wir uns bei dieser Frage mit dem Worte Camphausens
getrosten, daß Rom nicht an einem Tage gebaut worden und daß das jetzige
Gesetz nur ein proviforisches ist. In Anbetracht unserer Vergangenheit und
Gegenwart mit ihren verschlungenen Interessen dürfen wir uns dieses Münz¬
gesetz, das wohl die dritte Lesung nur bestätigen wird, als eines großen und
segensreichen Fortschrittes freuen. Die weitere richtige Entwickelung wird
nicht ausbleiben.
Was der Reichstag in den zwei Sitzungen dieser Woche, die nicht der
Münzvorlage gewidmet waren, verhandelt, mag dem heutigen Brief zu über¬
Von den alten Secten hat Gott sich abgewandt, und so ist ihr Glaube
steril geworden und seit Jahrhunderten schon derselbe geblieben. Wir da¬
gegen, mit denen Gott täglich verkehrt, erfahren täglich mehr von den himm¬
lischen Geheimnissen, und so ist unsre Lehre steter Veränderung und Erwei¬
terung unterworfen. In dieser Weise erklären die Kirchenlichter der Mor¬
monen die vielfachen Umgestaltungen, die das Glaubensbekenntniß der Secte
im Laufe der Jahre erlitt.
Die Latterday-Saints waren Anfangs im Wesentlichen eine Abart der
chiliastischen Campbelliten-Secte, die sich nur durch ihren Glauben an die
Jndianerbibel vom Berge Cumarah und an die göttliche Sendung Joseph
Smiths von den übrigen Gemeinden derselben unterschied. Allmählig erfand
Smith verschiedene neue Dogmen dazu, und zwar nicht aus religiöser Grü¬
belei, sondern zur Rechtfertigung und Empfehlung bestimmter weltlicher Ab¬
sichten oder gar zur Heiligung unsauberer Gelüste. In der ersten Zeit ver¬
brämte Rigdon diese Dogmen mit Blumen seiner Phantasie, später, unter
Uoung, der jenes Geschäft der Dogmenverfertigung fortsetzte, versuchte Orson
Pratt, der sich in der Geschichte der Philosophie und der Religionen umge¬
sehen, die Erzeugnisse Smiths und Uoungs in ein organisches System zu
bringen und mit allerlei Anklängen an die Gnostiker und Mystiker, an den
Parsismus und das Brahmanenthum, an die Materialisten und dann wunder¬
licher Weise wieder an die Schellingsche Philosophie und gewisse Lehren der Spi-
ritualisten zu verschönern, wovon aber Uoung als rein praktischer Mann nur
das zu seinen Plänen Passende anerkannte, und wofür die Masse der Mor¬
monen schwerlich ein Verständniß hatte. Der Glaube der Secte war in die¬
sen Händen ein Flickwerk aus aller Welt Lappenschublade geworden, ein
Mischmasch aus Heidenthum und Christenthum, in welchem ersteres stark
überwog, voller Widersprüche und ohne andern Grund als jene weltlichen
Zwecke, unter denen die Vielweiberei die erste Stelle einnahm und vorzüglich
die Mutter einer Vielgötterei wurde, die den Unsinn dieser Sorte von
Dogmenentwickelung auf den Gipfel brachte.
Die Bibel gilt für die Mormonen als erste Glaubensquelle, nur muß
sie richtig übertragen und verstanden werden. Ihr Inhalt ist allenthalben
buchstäblich zu nehmen, denn „Gott ist ehrlich, wenn er mit den Menschen
redet und fern von aller Wortspielerei und Doppelsinnigkeit." Allein das
Wort Gottes findet sich nicht blos in der Bibel, sondern auch in andern
heiligen Schriften, vornehmlich im „Book of Mormon und im „Book of Doetrine
and Covenants". welches einen großen Theil der sogenannten Offenbarungen
Gottes an den Propheten Smith enthält. Die Hauptperlen dieser „dreifachen
Schnur" sind folgende:
Gott ist kein Geist, sondern „eine Persönlichkeit aus Stoff und Geist,
die sowohl einen Leib als Theile hat. Er hat die Gestalt eines Menschen,
oder vielmehr, der Mensch hat die Gestalt Gottes." Die Bibel sagt uns,
Erod. 33, V. 22 und 23 und Erod. 24. V. 10, daß er Hände und Füße,
ein Antlitz und einen Rücken hat. Nach Exod. 33, V. 11 redet er, nach
Genes. 18, V. 5 ißt und trinkt er. Die Meinung, daß dieses göttliche Wesen
zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten sein könne, also allgegenwärtig sei,
ist grober Irrthum, wohl aber kann es mit Leichtigkeit von einem Planeten
zum andern gelangen. Und ebensowenig wie Gott allgegenwärtig ist, ist er
von Ewigkeit da. Vor dem Anfang aller Dinge, im Urgrund alles Seins
oder dem „ewigen Evangelium" gab es zwei durch sich selbst eristirende
Prinzipien: Geist und Materie, Intelligenz und Leiblichkeit. Das Zusammen¬
gehen, die Vermählung derselben war „das Gesetz", aus dem der Urgott ent¬
stand. Oder wie Pratt sagt: „In der fernen Ewigkeit verglichen zwei Atome
der Materie ihre Intelligenz miteinander und riefen dann ein drittes Atom
zur Berathung herbei, worauf sie zu Einem Willen zusammengingen, der die
erste Kraft war. Als solche vereinigten sie mehr und mehr Atome mit sich,
und daraus entstand eine Fülle von Kraft, die alle andern Atome in ihr
Gesetz zwang. Aus dieser Intelligenz wurde nach dem Gesetze ein Gott er¬
zeugt, nicht gemacht, aus dem dann andere Götter als Kinder hervorgingen.
Durch das Gesetz der allgemeinen Ordnung war die Geschlechtlichkeit als
gleich ewig mit allem sittlichen Dasein und Leben gegeben, und so entstanden
nicht nur Könige des Himmels, sondern auch Königinnen. Letztere wurden,
mit den ersteren vermählt, die Mütter anderer Götter, von denen jeder seine
bestimmte Sphäre im Universum hat" und inmitten derer der Ur- oder Ober¬
gott als Präsident waltet.
Es giebt also viele Götter, und jeder derselben ist vermählt und
Vater von Kindern, jeder restdirt in einer bestimmten Sphäre des Universums
oder auf einem bestimmten Weltkörper. Hat ein solcher Gott nun sein Reich
mit seinen Kindern in dem Maße bevölkert, daß seine himmlische Wohnung
zu klein für sie wird, so schafft er, um den Ueberfluß zu placiren, einen neuen
Stern, nach welchem die jungen Göttersöhne als Bewohner gesendet werden.
Diese verehren dann ihren Vater als Gott, gerade so wie dieser mit seinen
Brüdern im Universum seinen Vater als Gott anbetet, und so fort zurück
bis zum Ur- und Hauptgotte, der im Centrum der Welt auf seinem Sterne
Kolob thront. So ist der Gott, den wir zunächst anbeten, der Vater der
Menschen oder vielmehr der Menschengeister.
Die Kinder nämlich, welche dieser unser Gott und Vater im Himmel er¬
zeugt, sind ursprünglich weder Götter, noch Menschen, noch Engel, sondern
Geister, die zwar einen Leib und Theile haben, aber nicht eigentliches
Fleisch und Blut besitzen, sondern aus einer feinen, unsern Sinnen nicht wahr¬
nehmbaren Substanz bestehen. Sie sind gleichsam „embryonische Menschen",
Intelligenzen, die ihre Einführung in die materielle Welt erwarten, wo sie
Fleischesgestalt annehmen, um durch Geburt, Tod und Auferstehung voll¬
kommener zu werden. Die Menschen waren als solche Geister bei Gott, ehe
die Erde geschaffen wurde, und sie können sich durch Beobachtung des Ge¬
setzes hienieden der Art verklären, daß sie mit einem Körper, wie Christus ihn
bei seiner Himmelfahrt besaß, auferstehen und Götter werden, denen die¬
selben Kräfte, Eigenschaften und Fähigkeiten eigen sind wie ihrem Vater im
Himmel.
Alle Geister sind, wenn sie auf Erden anlangen, um einen Leibestempel
Zu beziehen, unschuldig. Wenn sie im vorhergehenden Leben Sünde begangen
haben, so haben sie dafür Buße gethan und Vergebung erlangt. Doch wirkt
ihr Verhalten im Jenseits in dieser Welt nach, indem sie dieselbe unter ver¬
schiedenen Umständen betreten. Die eine Klasse kommt in die Leiblichkeit,
während das Priesterthum und das Reich Gottes blüht, und hat deshalb
Gelegenheit, das Evangelium zu hören und anzunehmen. Andere gelangen
w Zeitaltern der Finsterniß in die Welt und werden in allerlei irrthümlichen
Meinungen erzogen. Einige Geister nehmen in Geschlechtern des auser¬
wählten Samens Leiber an, andere fahren in die Körper afrikanischer Neger,
die auf ewig vom Priesterthum ausgeschlossen sind.
Ganz ähnlich wird sich der Zustand der Menschen nach diesem Leben
darnach gestalten, wie sie sich während des letzteren verhalten haben. Der
Mensch, der hier in Sünde und Unglauben lebt, während er vom Evangelium
^veiß, wird nach dem Tode verdammt. Die aber, welche zwar dem Worte
Lottes geglaubt und im Allgemeinen gehorcht, jedoch „das Gesetz des Le¬
bens nicht erfüllt haben", können nach der Auferstehung nicht vollkommen
^lig, nicht Götter, sondern nur Engel werden. „Das Gesetz des Lebens
nicht erfüllen" heißt in der Sprache der Mormonendogmatiker, kein „patriar^-
chalisches Leben" führen, und das wieder bedeutet, nicht mehrere Frauen ge-
heirathet haben. Die Götter, in welche die auferstandenen ganz Frommen und
Gerechten sich verwandeln, haben die Macht, jeder für sich einen neuen
Planeten zu schaffen und denselben durch Zeugung zu bevölkern, was als
„die Gewalt endloser Lebensspendung" bezeichnet wird. Die Ungehorsamen
dagegen, die sich zu dieser Lebensspendung nicht vorbereitet, d, h. nicht in
Polygamie gelebt haben „wie alle die Männer, die in der Bibel die Freunde
Gottes genannt werden," können es im Himmel nur zu geringerer Herrlich¬
keit bringen. Sie werden eben nur Engel, Diener und Boten der Götter
werden und, wie Smith in seiner letzten Predigt sich drastisch ausdrückte,
„den himmlischen Königinnen die Schleppe tragen, Holzhacker, Schuhputzer.
Küchenjungen u. d. sein; denn die zukünftige Welt ist nur die verklärte Wie¬
derholung der jetzigen." „Je mehr Weiber, desto mehr Erlösung," äußerte
sich Bourg, „desto mehr Erhöhung im Himmel, desto mehr Herrschaft und
königliche Herrlichkeit." Nichtbeachtung der Pflicht, sich mit möglichst vielen
Frauen zu vermählen, eine möglichst starke Familie zu erzielen, ist aber nicht
allein Sünde gegen sich selbst, sondern auch Versündigung an Andern; denn
nur durch Vereinigung der Geschlechter auf Erden wird die Sehnsucht der
unzählbaren im Himmel auf ihre Geburt wartenden Geister nach Existenz im
Fleische erfüllt.
Der Schöpfung der Welt ging ein großer Aufstand im Himmel voraus.
„Im Anfang der Zeiten kamen die Götter unter dem Vorsitz ihres Vaters
im Himmel zusammen, um Rath zu halten. In demselben wurde die Er¬
schaffung der Welt zur Sprache gebracht, und da der Urgott den Sündenfall
der Menschen voraussah, so fragte er im Kreise seiner Söhne, unter denen
sich die beiden ältesten, Christus und Lucifer, befanden, wie jene zu retten und
zu erlösen sein würden. Lucifer antwortete: Siehe, sende mich hinab, ich
will als dein Sohn erscheinen und alle Menschen erlösen, sodaß keine Seele
verloren sein soll; darum gieb mir die Ehre. Christus aber, der Einge-
borne und von Anfang Erwählte, erwiederte nur: Vater, dein Wille geschehe,
und dein sei die Herrlichkeit in Ewigkeit. Gott der Vater beauftragte hier¬
auf Christum mit dem Erlösungswerke, und dieß verdroß Lucifer so sehr, daß
er in offne Empörung gegen den göttlichen Willen ausbrach. Dabei riß er ein
Drittel der Söhne und Töchter Gottes mit sich fort. Die andern zwei
Drittel kämpften unter der Anführung Michaels, des Erzengels, mit ihm und
seinen Schaaren, und das Ende dieses Krieges im Himmel war, daß Satan,
wie Lucifer nunmehr hieß, auf die inzwischen von den Göttern geschaffne
Erde hinabgeworfen wurde.
Der erste Geist, der in einem Menschenleibe wohnte, war jener siegreiche
Feldherr Michael, „der Alte der Tage mit Haaren wie Wolle." Er hieß als
Mensch Adam und wurde nach seinem Tode der Fürst aller Erdenbewohner
und ihr Gott. Die gewöhnliche Bibelübersetzung ist hinsichtlich der Schöpfungs¬
geschichte nicht genau. Denn erstens wurden die Pflanzen und Thiere in den
ersten sechs Tagen nicht erschaffen, sondern nur in ihren Urbildern hervor¬
gebracht oder wie die Mormonen sich ausdrücken, „geistig geschaffen," sodann
ruhte Gott am siebenten Tage nicht, sondern schuf den Menschen leiblich,
darauf Eva und die Thiere. Endlich sind unter dem Worte „Tage" nicht
unsere vierundzwanzigstündigen, sondern Gottestage zu verstehen, die nach
den Umdrehungen des großen Centralsternes Kolob gemessen werden und
tausend Jahre umfassen. Die Erde war so, wie sie aus der Hand des
Schöpfers hervorgegangen, ein Bild der Ordnung und Gesundheit, des Frie¬
dens und der Freude, eine einzige ungeheure Insel inmitten eines einzigen
ungeheuren Meeres, eine schöne Ebene mit sanft anschwellenden Hügeln und
lieblichen Thälern. Der Mensch kannte den Tod so wenig wie seine Mitge-
schöpfe, die Thiere. Durch seine Adern strömte, wie jetzt das Blut, ein Flui-
dum, durch welches sein Leib vor dem Vergehen bewahrt wurde.
Nun wuchs aber im Garten Eden ein Baum, dessen Früchte die Eigen¬
schaft hatten, dieses edle Fluidum zu verderben, es in sterbliches Blut zu ver¬
wandeln. Adam, der bei seinem Eingehen ins Fleisch all sein früheres Wissen
von Böse und Gut verloren hatte, ließ sich von Satan verführen, von dieser
giftigen Frucht zu essen, und so verlor er die irdische Unsterblichkeit, tauschte
durch seinen Fall aber auch Gutes ein, das Wissen nämlich von Gut und
Vöse, Schmerz, Leiden und Tod, welches zu seiner Vollkommenheit nothwen¬
dig war. Anderswo wird gelehrt, Adam sei nach einer Voraussehung Gottes
oder nach einer nothwendigen Bestimmung der Heilsökonomie gefallen, und
er habe den Apfel mit vollem Bewußtsein über die daraus sich ergebenden
Folgen gegessen. Das aber soll geschehen sein, damit künftig sterbliche Leiber
von Weibern geboren würden und Wohnungen für die Geister im Himmel
entstünden.
Entspricht ein solcher vom Himmel gestiegener Geist den von ihm gehegten
Erwartungen nicht, verscherzt er sein Erbe durch üble Aufführung, so wird
ihm nach seinem Ableben ein geringerer Leibestempel und eine niedrigere
Daseinsstufe angewiesen. Ist er auch auf dieser nicht gehorsam, so verbannt
ihn Gott auf eine noch tiefere, etwa in einen Neger, und reicht auch das
nicht hin, ihn zu bessern, so wird er in ein Thier verwiesen. „So mag es,"
sagt Pratt, „am Orte sein, wenn ein tückisches Pferd, ein bissiger Hund oder
^ne zornige Otter einem zu Leibe geht, sich zu fragen, ob in der Bestie nicht
am Ende eine ungehorsam gewesene Menschenseele ihre Prüfungszeit verbüßt."
Fügt eine solche sich endlich, und kehrt sie zur Unterwerfung unter das Ge¬
bot des Herrn zurück (was der Otter wohl nicht leicht fallen wird), so wird
ihr gestattet, Grad für Grad wieder empor zu wachsen in die Herrlichkeit der
Kinder Gottes. Man sieht, die Mormonen haben in diesem Stück etwas
aus der Dogmatik der Brahmanen und Buddhisten gelernt und ähneln mit
ihr den amerikanischen und französischen Spiritualisten.
Kehren wir in die Zeit der Anfänge zurück, so hatte der nothwendige
Apfelbiß Adams zunächst traurige Folgen. Wie Adam selbst, litt die ganze
Schöpfung darunter. Die Erde verlor ihre paradiesische Gestalt, die Thier¬
welt ihren friedlichen Charakter, unter den Pflanzen entstanden Giftkräuter,
die Jahreszeiten büßten ihre sanfte Regelmäßigkeit ein, und so zeugte die
Sünde fortwährend andere Sünde, bis der Herr als Reiniger auftrat
und allen Unrath mit Wasser von der Erde wegschwemmte. Als Merkzeichen
dieser Katastrophe blieb die Erde nach der noachischen Fluth in mehrere Theile
zerrissen, zwischen die sich der Ocean drängte — ein Verhältniß, welches nicht
so sein sollte und auch in Zukunft nicht so sein wird.
Durch die Sendung Christi wurde ein Versuch gemacht, die Menschen
und die Erde in ihren glücklichen Urzustand zurückzuleiten. Das „verloren¬
gegangene Priesterthum Adams" wurde wiederhergestellt, zuerst auf dem öst¬
lichen, dann auch auf dem westlichen Continente, und eine Fülle göttlicher
Kräfte ergoß sich über die gläubige Menschheit. Allein dieser glückliche Zu¬
stand erhielt sich weder hier noch dort, In Europa und Asien gingen all¬
mählich alle die wunderbaren Gaben, welche die urchristliche Welt besaß, ver¬
loren, und in Amerika kamen zu dem gleichen Verlust, wie das „Book of
Mormon" ausführlich berichtet, noch furchtbare Heimsuchung und Strafge¬
richte, Erdbeben, Vertilgungskriege, Seuchen und sogar eine allgemeine Ver¬
änderung der Hautfarbe in ein häßliches Kupferroth über die Abtrünnigen.
Da endlich erbarmte eS den Herrn. wie die Propheten Israels und wie
gleichermaßen die altamerikanischen Seher vorausgesagt, und im Jahre 182?
verlieh er dem von ihm erweckten Joseph Smith, nachdem er ihm seine
Sünden vergeben, das Priesterthum, der Ordnung Melchisedeks aufs Neue
und beauftragte ihn, die rechte Kirche wieder aufzurichten und die Welt da¬
durch vorzubereiten auf die Wiederkehr Jesu Christi und sein tausendjähriges
Reich, dessen Eintritt nahe bevorsteht.
Die wunderbaren Gaben, in deren Besitz die Mormonen zu sein sich
rühmen, und deren Borhandensein unter ihnen sie als Hauptzeugniß für die
Echtheit ihrer Kirche anführen, bestehen in der Voraussicht der Zukunft, die
indeß auf den allein in unmittelbarem Verkehr mit Gott stehenden Propheten,
das Haupt der Secte, beschränkt ist, ferner in Heilung aller Krankheiten,
selbst der Cholera, durch bloße Handauflegung, sodann in der Macht, böse
Geister aus Besessenen zu verbannen, endlich im Reden in Zungen und der
Deutung dieser modernen Glossolalie — eine Fähigkeit, die allen Heiligen
verliehen ist, während jene Macht über Krankheiten und Teufel durch
die Weihe zum Priester erworben werden muß. Die Glossolalie kommt auch
bei andern enthusiastischen Secten Amerika's, z. B. bei den Shakern, vor,
hat aber mit der biblischen wenig gemein. Es ist im besten Fall eine Art
Stammeln, Lallen und Gurgeln, hervorgegangen aus krankhafter Gemüths¬
aufregung, zuweilen ähnlich dem Phantasiren von Fieberkranken, mitunter
eine Folge innerlich nicht zusammenhängender englischer, dänischer oder indiani¬
scher Worte oder ein bloßes Ausstoßen willkürlich zusammengeworfener Vocale
und Consonanten. Man denke sich eine gottselig verzückte Versammlung, in
der sich plötzlich jemand erhebt und unter allerhand Grimassen Laute hervor¬
dringt, wie: Tschina, puhva. kath, linasche! Alles ist still. Da steht nach
einer Weile ein Anderer auf und erklärt, der heilige Geist habe ihm verkün¬
det, was es bedeute, es sei ein Jndianerdialekt und heiße — folgt dann die
Uebersetzung.
Gnadenmittel oder Sacramente haben die Mormonen drei: Taufe, Abend-
Mahl und Priesterweihe.
Die Taufe wird zur Vergebung der Sünden und deßhalb nur an Zu¬
rechnungsfähigen vollzogen, und man nimmt an, daß der Mensch mit dem
achten Lebensjahre diese Eigenschaft erlangt. Sie geschieht durch Untertauchen
und im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes.
An der Stelle der Kindertaufe haben die Mormonen nur eine mit Handauf-
legung verbundene Segnung der Neugeborenen durch die Aeltesten. Dagegen
kennen sie eine „Taufe für die Verstorbenen." Sie sind nämlich der Ansicht,
daß niemand ohne mormonische Taufe Vergebung der Sünden erlangen und
^ den Himmel kommen kann. Nun kann aber, so sagen sie weiter, ein Hei-
!>ger den Wunsch hegen, dereinst auch diejenigen seiner Freunde und Ver¬
wandten bei sich zu sehen, welche entweder durch Ungunst der Verhältnisse
°der weil sie das Sacrament mißachteten, ohne wahre Taufe aus der Welt
fangen sind. Dies aber wird dadurch erreicht, daß die Hinterbliebenen sich
stellvertretend für jene taufen lassen. Die Abgeschiedenen befinden sich in einem
^rüfungszustand ähnlich dem Fegefeuer der Katholiken, Sie haben bereut
^ut Buße gethan und sehnen sich jetzt nach dem unerläßlichen Ritus der
^ormonentaufe. Da sie die an ihrem Orte nicht haben können, so erwächst
'dren Angehörigen die Pflicht, sich dieser Ceremonie für sie zu unterziehen,
^le befriedigen damit einerseits den Wunsch der Verstorbenen, und anderer¬
seits erwerben sie sich das Verdienst, Mehrer des Reichs Gottes zu sein. So
^Nimt es vor, daß Mormonen ein Dutzend Mal getauft sind, einmal für
^ selbst, dann für Vater und Mutter, die Großältern, Oheim und Tante,
Geschwister, Freunde, Gatten u. d.
Das heilige Abendmahl wird „zur Erinnerung an den Leib und das
Blut des Sohnes" genossen, „auf daß die Heiligen allezeit seiner eingedenk
sind, seine Gebote halten und seinen Geist bei sich haben", und die Speisung
von Brod und Wein muß durch einen Priester geschehen.
Die Priesterweihe wird durch die höhere Geistlichkeit vermittelst Gebet
und Handauflegung ertheilt, doch soll ihr da, wo eine regelmäßig geordnete
Gemeinde besteht, eine Abstimmung derselben über die betreffende Person
vorausgehen.
Anfänglich war die Priesterschaft der Secte sehr einfach organisirt, d. h.
neben dem Propheten gab es eine Anzahl Aelteste und Priester. Mit der
Zeit aber entwickelte sich daraus ein complicirtes System von Würden und
Gnaden, welches wir uns, da es in der Kirche der Latterday - Saints eine
wichtige Rolle spielt, genau ansehen wollen.
Nach dem „Book of Doctrine and Covenants" giebt es zwei Klassen
oder Ordnungen von Priestern, die Melchisedeks- und Aarons-Priesterschaft,
welche letztere die levitische einschließt. Die Melchisedeks-Priesterschaft ist die
höhere Klasse. Sie „hat die Schlüssel zu allen geistigen Segnungen der Kirche,
das Vorrecht, die Geheimnisse des Himmelreiches zu erfahren, sich den Himmel
aufthun zu lassen, zu verkehren mit der allgemeinen Versammlung der Erst¬
gebornen und sich der Gemeinschaft und Gegenwart Gottes, des Baders, und
Jesu, des Mittlers, zu erfreuen" — so sagt dunkel und pomphaft das so
eben genannte Religionsbuch der Mormonen. Die aaronische Ordnung „ist
nur im Besitz der Schlüssel des Engelsamtes," d. h. ihr Zweck und Dienst
besteht nur in untergeordneten und äußerlichen Dingen, doch hat sie auch
Taufen zu vollziehen.
Die Melchisedeks-Priesterschaft zerfällt in Aelteste und Oberpriester, von
denen letztere die vornehmeren sind. Die Oberpriester sind die zunächst zur
Leitung des Gottesdienstes, zur Ordination der Priester und zur Spendung
der übrigen Sacramente berufenen. Ist in einer Gemeinde kein Oberpriester
vorhanden, so kann für ihn ein Aeltester eintreten. Aus den Oberpriestern
werden die zwölf Apostel genommen, deren Gesammtheit auch „der reisende
hohe Rath" genannt wird, da ihre Hauptaufgabe in der Beaufsichtigung und
Negierung der außerhalb Deserets befindlichen Gemeinden der Heiligen be¬
steht, die aber zugleich ein „hohes apostolisches Collegium" bilden, welches
man bei besonders wichtigen Gelegenheiten zusammen beruft. Unter den
Aposteln arbeiten auf dem Missionsfelde die Siebzig, welche Aelteste sein
müssen und befugt sind, sich, wenn Bedürfniß vorhanden, durch andere siebzig'
ja nach Befinden durch siebenmal siebzig Priester vom Orden Melchisedeks zu
verstärken.
Die oberste Stelle in dieser Hierarchie der Mormonengemeinde hat ein
Collegium von drei Oberpriestern, welches die Präsidentschaft der Kirche oder,
da alle Rangklassen der Priesterschaft derselben ihre besondern Präsidenten
haben, die erste Präsidentschaft heißt, und deren vornehmstes Mitglied der
Prophet ist. Dieses Collegium soll die höchste Behörde in allen. Glaubens¬
sachen für sämmtliche Mvrmonengemeinden sein, ist aber für die Heiligen in
Deseret zugleich die oberste Autorität in allen weltlichen Fragen. Zwar heißt
es, das Collegium der Apostel solle an Macht und Ansehen der Präsident¬
schaft der Kirche gleichstehen, und das Collegium der Siebzig wieder solle das¬
selbe Ansehen wie das der Apostel haben, auch ist ein aus zwölf Oberprie¬
stern zusammengesetzter „hoher Rath in Zion" der genannten Präsidentschaft
beigegeben. Aber die Apostel und die Siebzig sind selten oder nie alle bei¬
sammen, und der „hohe Rath in Zion" ist bisher immer aus Leuten zusam¬
mengesetzt gewesen, die zu allem, was der Prophet wollte, ja und Amen sagten.
Alle Bestimmungen also, durch welche das „Book of Doctrine and Covenants"
eine Art Gleichberechtigung der Körperschaft der Apostel und der Siebzig so
wie des hohen Rathes mit der Präsidentschaft der Kirche herstellt, sind nur
da, um der Theokratie einen demokratischen Anstrich zu geben, den Mor¬
monenpapst als in seiner Willkür einigermaßen beschränkt erscheinen zu lassen.
Derselbe ist, zumal er im schlimmsten Falle sich das, was ihm beliebt, vom
„großen Jehova" in einer Offenbarung befehlen lassen kann, in Wahrheit
ein ganz ebenso unfehlbarer und uneingeschränkter Autokrat wie sein römischer
College seit dem Siege der Jesuitcnpartei am 1.8, Juli 1870.
Die Aaronspriesterschaft theilt sich in Priester, Lehrer und Diakonen,
über denen früher nur ein Bischof stand, während es deren jetzt mehrere giebt.
Die Bischöfe sollen eigentliche Nachkommen Aarons, also Juden, sein; da sich
indeß keine Jsraeliten der Secte angeschlossen haben, so werden jene vom
Propheten ernannt, und zwar gewöhnlich aus der Melchisedeks-Priesterschaft.
Sie beaufsichtigen die Arbeit, in welcher die Unvermögenden in der Gemeinde
ihren Zehnten entrichten, sind die Nentnuistcr am „Speicher des Herrn," in
Welchen die Wohlhabenden ihn in Gestalt von Geld oder Naturallieferungen
bringen, die Magazinverwalter, die Armenpfleger und die Richter in Processen
untergeordneter Art; denn alle wichtigeren Fälle gehören vor das Forum
der Präsidentschaft der Kirche. Die Priester leiten den Gottesdienst, predigen,
taufen und spenden das heilige Abendmal, wo kein Oberpriester ist. Die
Lehrer und Diakonen sind Gehilfen der Priester, aber nicht zur Handauflegung
und Austheilung der Sacramente berechtigt.
Schließlich sei zu diesem Bericht über die Gliederung der Mormonen-
priesterschast noch bemerkt, daß es künftig auch Priesterinnen geben wird, und
dnß nach dem Glauben der Secte, sobald der Tempel vollendet ist, zahlreiche
Nachkommen Levis den Mormonen beitreten und daß dieselben dann außer
^n jetzt von der aaronischen Priesterschaft besorgten Geschäften auch den
Auftrag erhalten werden, für die Sünden des Volkes wie ehedem im Tempel
Salomos Thieropfer darzubringen.
Die Vielweiberei ist den Mormonen Gewissenssache. Sie kann nichts
Unnatürliches sein, sagen die mormonischen Bertheidiger derselben; denn vier
Fünftel der Bewohner unseres Planeten huldigen derselben, und sie ist
nicht gegen Gottes Willen; denn die Bibel verbietet sie nirgends, faßt
sie vielmehr an vielen Stellen als göttliche Einrichtung auf. Wenn das
„Book of Mormon" dieselbe untersagt, so erklärt sich dies daraus, daß in
der alten Zeit, wo dasselbe verfaßt wurde, mehr Männer als Frauen in
Amerika waren. Jetzt ist die Polygamie durch eine Offenbarung erlaubt,
aber immer nur für einzelne Fälle, die jeder durch eine Offenbarung Gottes
an den Propheten festgestellt sein müssen. Ihr Zweck ist Förderung des
Zwecks der Ehe überhaupt, der in der Erfüllung der Schöpfung mit Myria-
den vernünftiger und mit Willen begabter Wesen besteht, welche Gott ähnlich
und befähigt sind, zur Vollkommenheit fortzuschreiten und zu Göttern zu
werden. „Hierdurch werden die Reiche des Allmächtigen gemehrt," heißt es
bei Pratt, „indem neue Welten, bewohnt von Wesen seiner Art und Gestalt,
hinzukommen."
Will ein Mormon sich zu seiner ersten Frau eine zweite nehmen, so hat er
dazu die Einwilligung der ersten nöthig. Wird dieselbe versagt, so muß die
Frau vor dem Präsidenten vernünftige Gründe für ihre Weigerung angeben.
Erscheinen dieselben genügend, so erhält der Mann die Erlaubniß zur zweiten
Ehe nicht. Im anderen Falle kann er, „wenn es ihm auf dem Wege der
Offenbarung gestattet wird, andere Frauen auch ohne die Zustimmung der
ersten nehmen, und letztere wird sich die Verdammniß zuziehen, weil sie ihm
jene nicht geben wollte, wie Sarah dem Abraham die Hagar und wie Lea
und Rahel ihrem Manne Jakob die Bilha und Zilpah gaben."
Die Heirathen können bei den Mormonen blos für dieses Leben oder
für Zeit und Ewigkeit geschloffen werden, und es kommt häusig vor, daß
dieselbe Frau, welche einem Manne auf Zeit „angesiegelt" worden, einem
andern für die Ewigkeit vermählt wird. Dieselbe ist dann „die geistliche Frau"
des letzteren, der aber auf ihr leiblich Theil dieselben Rechte hat, wie der
andere Mann der Dame, so daß also neben der Polygamie in Deseret auch
eine Art Polyandrie besteht.
Eine andere seltsame Erscheinung, die aus der Lehre von den Heirathen
für die Zeit und die Ewigkeit hervorgegangen ist, besteht darin, daß man in
Neujerusalem lebende Personen mit todten traut. Die Ehe für die Zeit ist
eine irdische Sache, sagen die Mormonen, und muß zwischen einem lebenden
Manne und einer lebenden Frau vollzogen werden. Aber die Ehe für die
Ewigkeit ist eine himmlische Angelegenheit und kann zwischen Lebenden und
Todten stattfinden. Doch gehört dazu ebenso wie bei der gewöhnlichen Ehe,
daß die Verbindung von dem Propheten oder einem Stellvertreter gut ge¬
heißen und in aller Form geschlossen wird. Auch muß es eine vollständige Hei¬
rath sein, nicht ein platonischer Ritus, nicht eine Vereinigung der Seelen,
welche zwei Personen durch ein mystisches Band verknüpft. Wie aber kann
ein Weib sich in fleischlicher Weise mit einem Mann verbinden, der im
Grabe liegt? Durch Stellvertretung, antworten die Mormonen, die ja auch
ein stellvertretendes Getauftwerden für die Verstorbenen kennen. Aber wie?
Ist es denn in der Ehe möglich, daß ein Mann oder eine Frau in Betreff
der Pflichten derselben die Stelle eines Andern versieht? Brigham Uoung er¬
wiederte darauf nach Dixon mit einem Hinweis auf die Leviratsehe der
Hebräer. Dieselben hatten, sagte er. eine Ahnung von derartigen Dingen,
als sie den jüngern Bruder die Pflicht des älteren zu erfüllen nöthigten,
und sind nicht alle Heiligen eine Familie von Brüdern vor dem Angesichts
Gottes? Angenommen also den Fall, daß ein Fräulein mit verirrter Ein¬
bildungskraft sich in den Kopf gesetzt hat, eine von den himmlischen Ge¬
mahlinnen eines verstorbenen und nun zu einem König und Gott auf dem
Saturn oder Sirius verklärten Heiligen zu werden, so ist nichts leichter als
das, vorausgesetzt, daß ihre Schrulle mit der Neigung des Propheten oder
eines andern noch diesseits wandelnden Großen in Israel übereinstimmt.
Aoung ist ihr alleiniger Vermittler, sein Ja oder Nein ihr einziger Maßstab
für Recht und Unrecht. Durch einen religiösen Act kann er sie dem todten
Mann „ansiegeln," den sie sich zu ihrem Herrn und König im Himmel ge¬
wählt hat, und durch einen gleichen Act kann er dem Todten aus seinen
Aposteln oder nettesten einen Stellvertreter bei ihr geben. Sollte ihre Schön¬
heit sein Auge versuchen, so kann er auch selber bei ihr die Pflichten des ver¬
lebten Heiligen als substitue besorgen.
Im Tabernakel der Salzseestadt zeigte man Dixon zwei Damen, welche
dem Propheten Joseph in der Weise angesiegelt waren, daß der Prophet
Brigham denselben zu vertreten hatte. Uoung selbst sagte dem Reisenden,
daß es deren noch viele andere giebt, und von jenen zweien bezeugt Dixon,
daß ihre Beziehungen zu Joung dieselben waren wie die jeder andern sterb¬
lichen Frau zu ihrem Ehemann. Sie waren Mütter von Kindern, welche
Boungs Namen trugen. Ueber der Geschichte aller dieser Damm schwebt
ein Nebelschleier von Zweideutigkeit und Geheimniß. „Gewiß ist", so bemerkt
Dixon nach seinen Erfahrungen, „daß viele Mormonendamen sich nach dem
Schooße Josephs sehnen, und zwar keineswegs in dem poetischen Sinne, in
welchem ihre christlichen Schwestern davon sprechen, daß sie dereinst in Abrahams
Schooß sein werden, sondern liebesbrünstig, wie das zu Krischna sich be¬
kennende Hinduweib nach ihrem geliebten Gotte lechzt." Oder, setzen wir hin-
zu, wie gewisse hysterische Nonnen nach durchaus nicht blos geistiger Ver¬
schmelzung mit ihrem Bräutigam Christus sich sehnten, wofür sie sehr häßliche
Beispiele anführen ließen.
Der Mormonenpapst hat nicht nur die Macht, Lebende auf deren Wunsch
Todten, sondern auch die, Todten auf deren Wunsch Lebende zu vermählen.
„Der Aelteste Stenhouse", so lesen wir bei Dixon, „erzählte mir, daß er eine
todte Frau habe, welche ihm auf ihr dringendes Verlangen nach ihrem Ab¬
leben angesiegelt worden war. Er hatte die junge Dame im Leben gut ge¬
kannt, er beschreibt sie als schön und liebenswürdig, und wäre sie am Leben
geblieben, so würde er ihr, wie er sagte, mit der Zeit den Antrag gemacht
haben, seine Frau zu werden. Als er auf einer Missionsreise von der Salz¬
seestadt entfernt war, erkrankte sie und starb. Auf ihrem Todtenbette aber
drückte sie den lebhaften Wunsch aus, ihm für die Ewigkeit als Gattin bei¬
gesellt zu werden. Uoung hatte dagegen nichts einzuwenden, und als Stenhouse
nach dem Salzsee zurückkehrte, wurde die Trauungsceremonie im Beisein von
Bruder Brigham und Andern feierlich vollzogen. Stenhouses erste Frau
stand als Stellvertreterin für das todte Mädchen sowohl am Altare als —
späterhin ein.
Vieles, was im Vorhergehenden von den Glaubenssätzen und Bräuchen
der Mormonen mitgetheilt wurde, kann in einiger Zeit nicht mehr Glaube
und nicht mehr Brauch bei ihnen sein. Wie angedeutet, ist ihre Religion,
ihre Ethik, ihr ganzes Vorstellungsgebiet in stetem Fluß, steter Verwandlung
begriffen, eine stete Anbequemung an das Gelüsten der Führer und an die
Umstände. Der Herr offenbart fast mit jedem Jahre Neues, und bisweilen
ist nach der jüngsten Offenbarung das Gegentheil von dem wahr und gut,
was nach der zunächst vorhergehenden unwahr und ungerecht war. Was
heute nur erlaubt ist, kann morgen ein Gebot und übermorgen ein Verbot
sein, wenn die Verhältnisse dieß rathscnn erscheinen lassen. Selbst die Viel¬
weiberei, so sehr sie in Deseret um sich gegriffen hat, und so schwer sie infolge
dessen auf gütlichem Wege rasch zu beseitigen wäre, könnte in Anbetracht ver¬
änderter Zeiten von Jehova wieder ausgehoben werden, und die Dogmatiker
der Secte würden nicht in Verlegenheit sein, die Sache zu rechtfertigen. Zwei
Punkte indeß stehen bei ihnen fest: der Glaubenssatz, nach welchem sie sich
Latterday-Saints nennen, und ihre theokratische Verfassung, Sie sind eine
chiliastische Secte, und sie verschmelzen in ihrer Organisation das weltliche
Element durchweg mit dem geistlichen.
Wir betrachten hier nur den Chiliasmus der Mormonen. Sie wissen,
daß sie den Grundstock des heiligen Volkes bilden werden, über welches der
Herr „in diesen letzten Tagen" nach seiner Wiederkunft herrschen, mit dem er
das tausendjährige Reich gründen wird. Ist nun die Zeit erfüllet, d. h. ist
„das Evangelium Bruder Josephs allen Völkern und Zungen verkündigt",
so HM eine Zeit großer Wunder und Schrecken an. Dann erscheinen zu-
nächst bei den Mormonen, „die vier Zeugen der Wahrheit, die nie den Tod
geschmeckt haben": Sanct Johannes, der Evangelist, dem es erlaubt wurde,
zu bleiben bis zur Wiederkehr des Herrn, und drei Heilige der Kirche, die
Christus nach dem Buche Mormons in Amerika gestiftet hat, Dieselben
wandern jetzt (wie der ewige Jude und der arabische Chidr) in Gestalt von
Männern mittleren Alters über die Erde, nehmen die Tracht und Sprache
der Völker an, unter denen sie sich zufällig befinden, und sind auch schon
einzelnen von den Mormonen erschienen. In der Zeiten Erfüllung aber wer-
den sie ihre Verhüllung abthun und den Heiligen vom jüngsten Tage von
der Kanzel herab kund machen, was sie zu thun haben.
Ferner aber werden die Verlornen zehn Stämme Israels, die jetzt auf
einer noch unentdeckten Insel oder nach Andrer Behauptung in einem geheim¬
nißvollen Nordlande, das als eine Art Planet für sich jenseit des Polar¬
kreises mit der Erde um die Sonne kreist, ihre Wohnung haben, auf ihrer
Heimkehr nach Palästina den Heiligen in Amerika einen Besuch abstatten.
Ihr Erscheinen wird das Signal zu allgemeiner Bekehrung der Indianer oder,
um mit den Mormonen zu reden, „der Lamaniten, dieses Rehes vom Samen
Josephs", sein. „Der verachtete Sohn des Waldes", so lesen wir in einer
hierauf bezüglichen Proclamation der zwölf Apostel vom 6. April 1846, „der
seither in Kummer und Elend die Wildniß durchstreifte, wird dann seine
Maske fallen lassen und mit männlicher Würde den Heiden zurufen: Ich bin
Joseph, lebt mein Vater noch? Und er wird dann geweiht und gewaschen
und mit heiligem Oele gesalbt und in feine Linnen, nämlich in 'die schönen
Gewänder der Priesterschaft nach der Ordnung des Sohnes Gottes, gehüllt
werden."
Auf einer Höhe über dem Tempelplatz in Neuzion, dem sogenannten
Feldzeichen-Berge (lZusigu-Nomll) wird alsdann „die prächtigste Fahne ent¬
faltet werden, die je in den Lüften flatterte, gemacht aus den Nationalfarben
aller Völker, so daß sich die Weissagungen Jesaias 2, 2, 5, 11 und 18, 3
^füllen werden: „Es wird in den letzten Tagen der Berg, der des Herrn Haus
'se, gewiß sein höher denn alle Berge und über alle Hügel. Und er wird
co Panier aufwerfen unter den Heiden und dieselbigen locken vom Ende der
^rde. Alle, die ihr auf Erden wohnet, und die im Lande sitzen, werden sehen,
^le man das Panier auf den Bergen aufwerfen wird, und hören, wie man
^e Trompeten blasen wird."
Und nun werden die Kriege des Herrn anheben. Viele Heiden werden
steh bekehren, Viele aber auch im Unglauben beharren. Beide Massen werden
sich zum Kampfe rüsten, die einen unter dem Panier des Papstes zu Rom,
die andern unter der „Flagge aller Nationen" zu Neujerusalem. Die Heer-
schaar der Heiligen wird von ihrem Seher und Propheten geführt sein, der
den von Joseph Smith im Berge Cumorcch gefundenen Brustharnisch trägt
und das ebenfalls dabei (d. h. bei der vorgeblichen Auffindung des „Boot of
Mormon" in einer Steinkiste) entdeckte Schwert Labans schwingt *). Ungestüm
werden sie gegen die Armee der Ungläubigen anstürmen und sie in der großen
Schlacht darniederwerfen, die in der Schrift mystisch die Schlacht Gogh und
Magogs genannt wird. Der Herr wird seinem Volke dadurch beistehen, daß
er die Gegner mit Feuerregen, Pestilenz und Hungersnoth heimsucht. Sie
werden vollständig ausgerottet werden, und ihre Ländereien, sowie alles, was
sie sonst besitzen, werden den Siegern zufallen, die inzwischen in Jackson
County im Staate Missouri, da wo Joseph Smith im Jahre 1831 den Boden
gesegnet (bei Jndependence) das rechte und letzte Zion erbaut haben. Dieses
Zion, von dem der Prophet Joseph Ueberschwängliches geweissagt, wird fortan
die Hauptstadt des westlichen Festlandes, es wird mit seinem gewaltigen Tem¬
pel und seiner Priesterschaft „wie eine Standarte sein, deren Aufrichtung allen
Spaltungen religiöser wie politischer Art ein schleuniges Ende machen und
Republiken, Königreiche, Provinzen, Völker, Stämme und Sprachen Nord-
uud Südamerika's zu einem einzigen großen Bunde umgestalten wird."
Und während so das tausendjährige Reich Christi im Westen sich vor¬
bereitet, ist der östliche Continent Zeuge von nicht geringeren Umwälzungen
und Neubildungen. Gleichwie die zehn Stämme Israels, kehren auch die Zer¬
streuter Juda's nach dem gelobten Lande zurück, um dort mit jenen den
Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen. Dann wird die gesammte alte
Welt, soweit sie nicht zu den Gläubigen gehört, sich wider sie erheben, mit
Heeresmacht wider sie heranziehen und die heilige Stadt berennen. Der Herr
aber wird den Geist der Gnade und des Gebets über die Bewohner Jerusa¬
lems ausgießen, und Christus, den ihre Väter gekreuzigt, wird sich an ihre
Spitze stellen. Von ihm geführt, werden sie in einer gewaltigen Schlacht arn
Oelberge, der unter den Füßen des Messias in zwei Hälften zerreißt, alle
Heiden darniederlegen.
Diesem Triumph der Juden folgt ein allgemeiner Umsturz der Dinge
sowohl in Europa als in Asien. Christus wird König der Kinder Israel,
Jerusalem seine Hauptstadt und der Mittelpunkt der alten Welt. Die Höfe
von Paris, London, Petersburg, Rom und Wien (von Berlin scheint der
mormonische Prvphetengeist im Jahre 18öl. aus dem die hier vorzugsweise
mitgetheilte Weissagung von den letzten Dingen stammt, entweder gar nichts
gewußt oder es nicht für die Hauptstadt einer Großmacht gehalten zu haben,
K>as jetzt selbst in den fernen Felsengebirgen Amerika's nicht mehr passiren
kann) müssen sich dem Messias als Oberlehnsherrn unterwerfen. Weigern sie
und dessen, so werden ihre Throne umgestoßen und ihre Reiche vernichtet.
Entsprechend dieser Vereinigung der Erdenvvlker wird auch eine Vereini¬
gung der bisher getrennten Erdtheile stattfinden, wie dies in der Urzeit zwi¬
schen Schöpfung und Sündfluth der Fall war. Das Meer wird sich nach
andern Gegenden unseres Planeten zurückziehen, und alle Inseln und Conti-
nente werden „brulah", das heißt (natürlich nur nach der Versicherung der
Mormonen „verheirathet", will sagen in Eins mit einander verbunden wer¬
ben, so daß von dem östlichen Jerusalem nach dem westlichen, in welchem
Christus sein zweites großes Heiligthum und seinen zweiten Thron haben
wird, jene riesenhafte Heerstraße gebaut werden kann, welche der Löwe nicht
^treten und des Adlers Auge nicht gesehen hat. Endlich wird die „erste
Auferstehung" beginnen, indem unter Erdbeben unzählige Heilige des Alter¬
thums und alle später Verstorbenen, welche das Gebot der „Pluralität", d. h.
Vielweiberei befolgt haben, aus ihren Gräbern steigen werden, um an
der Glückseligkeit des Millenniums Theil zu nehmen.
Und am Ende des tausendjährigen Reiches „wird denjenigen, welche nicht
Aufrichtigen Herzens und dem Willen des Herrn nicht gehorsam gewesen sind,
gestattet werden, eine kurze Zeit ihren aufrührerischen Geist unter der An¬
führung ihres Feldhauptmanns Satan, des großen Drachen zu bethätigen.
Zuletzt aber werden sie in einer ungeheuren Schlacht besiegt und hinausge¬
worfen werden aus dem Reiche der Gerechten."
Hierauf aber erfolgt die zweite Auferstehung, die alle Todten umfaßt,
Und das jüngste Gericht. Die Erde aber wird, durch Feuer geläutert und zu
^'Nttnlischer Schönheit verklärt, eine Wohnung derer werden, welche demüthig
Und reinen Herzens sind. Auf die erneute und umgeschaffene Erde senkt sich
^ himmlische Jerusalem herab, und Friede und Freude herrschen nunmehr
"Ugestört und ewiglich.
Unsere politischen Anschauungen in Deutschland haben im sechsten Jahr¬
zehnt unseres Jahrhunderts einen durchgreifenden Umschwung erfahren: im
Gewühl der Tagesereignisse und der Tagespolitik geben wir nicht immer uns
Rechenschaft davon, eine wie große Kluft uns heute mit unserem politischen
Denken und Trachten schon von der Betrachtungsweise der vierziger Jahre
scheidet. Damals war der große und breite Strom der öffentlichen liberalen
Meinung hervorgegangen aus Theorien eines kosmopolitischen Constitutionalis-
mus, wie er sich besonders am Vorbilde der französischen Charte, an den
Schriften der französischen „Doctrinärs" ausgebildet hatte: ihren Ursprung
sucht diese politische Doctrin einerseits in den naturrechtlichen Ideen vom
Staatsverträge, andererseits in Montesquieu's panegyrischen, aber durchaus
unzutreffender Erörterungen der englischen Verfassungszustande seiner Zeit.
Was sich dieser allgemeinen liberalen Strömung damals widersetzte, das war
nicht mächtig genug, ihr Einhalt zu thun und war auch im Grunde nicht
genug von innerer Kraft des Gedankens erfüllt. Die theokratischen, die feu¬
dalen, die absolutistischen Theorien, wiesehr sie auch in den oberen Regionen
der politischen Welt heimisch sein mochten, waren doch nicht geeignet, in der
mittleren Schicht der gebildeten Kreise Wurzel zu fassen, und die Neste der
„historischen Schule", einstens des Stolzes und unvergänglichen Ruhmes un¬
serer deutschen Wissenschaft Zeuge, waren von ihrem Wege abgekommen und
in den Dienst der rückschrittlichen Tendenzen getreten; man hatte sich hier ge¬
wöhnt, „das Alte zu lieben, weil es alt und nicht weil es gut war", man
strebte in' dies Alte zurück, und dafür konnte man nicht Propaganda in der
vorwärts drängenden Generation machen. Kurz, der Liberalismus hatte in
der öffentlichen Meinung ganz entschieden das Uebergewicht. Gegen alle
Schäden der staatlichen Zustände galt die Einführung einer mit möglichst
weitgehenden Rechten in Gesetzgebung und Steuerbewilligung ausgestatteten
Volksvertretung als unfehlbares Heilmittel. Mit fast naiver Zuversicht meinte
man, im Sturmlauf, vielleicht durch Gewährungen von oben, vielleicht auch
durch einige Volksauflaufe und dergleichen dies Endziel erreichen zu können.
Das Jahr 1848 ist voll solcher Hoffnungen, voll solcher Versuche. Eine
') R. Gneist Selfgavcrnment, Communalvcrfassung und Verwaltungsgerichte in England.
Dritte, umgearbeitete Auflage (in einem Bande). Berlin. I. Springer !87I.
A. Todd die parlamentarische Regierung in England, ihre Entstehun.,, Entwickelung und
praktische Gestaltung. Aus dem Englischen übersehe van R. A s, in a u n. !. Bd, ^ 2. Bd-
1871. Berlin. I- Springer.
grimmige Enttäuschung folgte. Die glorreichen Errungenschaften des Jahres
1848 waren nicht im Stande sich zu behaupten. Einen gewaltigen Stoß er¬
litt durch die realen Verhältnisse die liberale Doctrin. Ein Theil unserer
Freunde verzweifelte an der politischen Zukunft unseres Volkes; ein Theil
gab sich extremen, den Boden des realen Lebens mehr und mehr verlassenden
Theorien hin; ein anderer Theil unterzog das bisher für unfehlbar gehaltene
institutionelle Programm einer Revision und glaubte durch historische Stu¬
dien den Weg zu politischer Einsicht wieder aufsuchen zu sollen. Und es ist
ein Mann vor allen anderen, der auf einsamem Pfad durch die schwierige
und fast ungangbare Wildniß antiquarischer, historischer, staatsrechtlicher Stu¬
dien sich hindurchgearbeitet hat und darauf Sorge trägt, daß auf bequemer
und breiter Straße durch den gelichteten Wald wir anderen alle zu derselben
Fernsicht ihm nachwandeln können. In Rudolf Gneist hat sich der Ge¬
nius der historischen Schule erneuert: ihm verdankt unser politisches Leben
eine neue Gestalt. Allen Mißverständnissen vorzubeugen, erklären wir aus¬
drücklich, daß wir nicht von dem Abgeordneten Gneist reden: uns scheint
vielmehr ein Phänomen der historischen Schule der früheren Generation sich
wiederholt zu haben; wenn die Meister der historischen Schule in ihrem prak¬
tischen Verhalten zur Politik ihrer Gegenwart von ihren eigenen Principien
ganz bedeutend nach rechts hin abgewichen sind, so scheint uns der Erneuerer
der historischen Schule, Rudolf Gneist, als Abgeordneter in den Jahren
1860—1866 wiederholt nach links hin fortgerissen und in Gegensatz zu sei¬
ner Lehre gebracht zu sein. Davon wollen wir hier nicht reden. In der
beschichte der politischen Theorien — (und zuletzt sind es doch die Theorien,
welche auch die politische Praxis bestimmen, leiten und schaffen) — bezeichnet
Jahr 18S8 eine Epoche. Die einfache Ausweisung des Thatbestandes der
Verfassung Englands genügte, um das falsche Bild des Parlamentarismus,
wie es in deutschen Köpfen spukte, zu vertilgen: indem Gneist zunächst in
England die Grundlagen des öffentlichen Lebens zergliederte, legte er die An¬
wendung dieser Erkenntnisse politischer Wissenschaft auf unsere scheinbare Nach¬
ahmung Englands jedem Leser nahe.
Und wie durchschlagend sind die Gesichtspunkte der Gneist'schen Studien
^er England! wie reich ist das Material juristischer und historischer Detail-
^untnisse, das Gneist erforscht hat und mit dem er nun operirt! Etwas
schwerfällig ist die Darstellung; in der überströmenden Fülle des Details
^r>ge oft der eigentliche Gedanke nicht recht durch: für einen nicht an wissen-
schciftliche Gedankenarbeit gewöhnten Leser ist es oft eine nicht ganz leichte
^ehe, dem Gange der Untersuchung zu folgen; aber wie lohnend ist die
Zugewandte Anstrengung, wie durch und durch original die von Gneist ge¬
wonnenen Resultate der Forschung! Gneist hat wiederholt in verschiedener
Gestaltung seine Arbeit umgeformt und immer von neuen Seiten aus sein
Werk beleuchtet und dargeboten; bald mehr das historische Werden des Heu-
tigen England darlegend, bald die heutigen Zustände erklärend, zergliedernd,
t'ritisireno. Auch zu Vergleichen mit den kontinentalen Verfassungsentwicke¬
lungen hat er schon wiederholt angesetzt und vom Boden der in England
gewonnenen politischen Anschauungen aus unsere deutschen Einrichtungen
kritischer Erörterung unterzogen. So eben erscheint in neuer, wieder ganz
neu durchgearbeiteter Darstellung die 3te Auflage des „Selfgovernment in
England", und ruft uns die großen und bleibenden Verdienste von Gneist in
das Gedächtniß zurück.
Den früheren landläufigen übertreibender Vorstellungen von der Kraft
der parlamentarischen Formen und Einrichtungen hält Gneist die Thatsache
entgegen, daß in England nur auf dem Grunde der Selbstverwaltung der
Kreise durch unbesoldete Ehrenämter der angesehensten Kreisbewohner die
parlamentarische Negierung möglich geworden ist: Selfgovernment und Parla¬
mentarismus bilden nothwendige Ergänzungen zu einander, ja das erste ist
die unbedingt nothwendige Voraussetzung des zweiten: wäre nicht das Self¬
government in Geschichte und Tradition Englands festbegründet, so würde
der seit dem 18. Jahrhundert England beherrschende Parlamentarismus zur
Auflösung des Staates, zur Zersetzung und Zerstörung der Volksblüthe ge¬
führt haben. Diesen Unterbau des parlamentarischen Staates hat Gneist
gewissermaßen neu entdeckt; wenn er selbst auch auf den Vorgang Vincke's
hinweist als desjenigen, der die eigenthümlichen Verhältnisse der Verwaltung
Großbritanniens zuerst richtiger erfaßt habe, so ist doch seine eigene Auffassung
derselben Einrichtungen viel tiefer, viel begründeter und hält den Zusammen¬
hang mit der Verfassungsfrage viel energischer im Auge. Der eigentlich fun¬
damentale Unterschied des englischen von den continentalen Staaten besteht
in dieser überall durch das Gesetz geregelten freiwilligen Thätigkeit der höhe¬
ren Gesellschaftsklassen für die locale Verwaltung des Landes; auf gesetzlicher,
festruhender Basis, unberührt durch den politischen Parteikampf wird Stadt
und Land regiert durch unbesoldete freiwillige Besorgung der Regierungs¬
beschlüsse von Seiten staatlich beauftragter Personen; aber der Charakter des
unbesoldeten Ehrenamtes zwingt dazu, nur die besitzenden Klassen in diesen
Dienst zu ziehen. Diese im Selfgovernment schon gebildeten und erprobten
Personen sind es, welche das Parlament zusammensetzen und sich dort der
Regierung des ganzen Landes widmen. Wer nun diesen durch und durch
aristokratischen Charakter Englands in seiner ganzen Schärfe aufgefaßt hat
und gerade durch ihn die politische Blüthe Englands im vorigen Jahrhundert
garantirr sieht, der wird der neueren und neuesten Phase der englischen Ent¬
wickelung ganz anders gegenüberstehen, als die bewundernde Masse unserer
deutschen Liberalen: Gneist verhält sich skeptisch und kritisch dagegen, ja wir
meinen, der mißbilligende Ton seiner Darstellung hat mit jeder neuen Aus¬
gabe seiner Anschauungen in den verschiedenen Werken und Auflagen an
Schärfe und Bitterkeit noch zugenommen. Wir verstehen dies Gefühl des
Forschers, der die historische Größe Englands nicht nur gelobt, sondern auch
studirt hat, vollkommen und können unsere eigenen Gneist zustimmenden
Sympathien nicht verbergen. —
Wie verhält sich nun, so zu fragen wird von großem Interesse sein, zu
diesen Resultaten deutscher Wissenschaft die Stimme der Engländer selbst?
Natürlich fragen wir hier nur nach der Stimme wissenschaftlicher Politiker
und Publicisten. Man muß mit einiger Verwunderung bekennen, daß die
Engländer den Ausführungen Gneist's bisher nur äußerst wenig Einfluß aus
ihre Auffassung zugestanden haben. Man verharrt dort mit seltenen Auf¬
nahmen in der schon früher gewonnenen, nach Montesquieu's Recepte fabri-
cirten Schablone und isolirt sich gegen Strömungen anderer Art noch immer
fast systematisch. Noch immer gelten Hallam und May als die Autoritäten
der Verfassungsgeschichte in England; noch immer beschränkt sich die litera¬
rische Behandlung des Selfgovernment auf Handbücher und Anleitungen zu
Praktischen Gebrauch: zu einer wirklich wissenschaftlichen Darstellung des ge-
sammten politischen Lebens hat bis jetzt nur Homersham Cox einen An¬
lauf genommen und doch hat er von dem grundlegenden Verhältniß des Self¬
government zur politischen Verfassung kaum etwas zu sagen. Gneist's Arbeiten
haben in England kaum Eingang gefunden. Und auch jenseit des Welt-
Meeres hat man aus Gneist noch nicht viel Belehrung geschöpft. Es ist sehr
auffallend, daß das oben genannte Werk von Todd über den Parlamenta¬
rismus von Gneist's Buch niemals etwas gehört zu haben scheint. Sonst
ist gerade dies Werk eines canadischen Beamten über die politischen Zustände
des Mutterlandes eine hervorragende Erscheinung; und es ist sehr erfreulich,
daß wir aus sachverständiger Feder eine deutsche Uebersetzung sofort erhalten
haben, die zur weitesten Verbreitung im Kreise aller Politiker Deutschlands
warm empfohlen werden darf. Von dem praktischen Zwecke, eine Anleitung
an schreiben für die parlamentarischen Gebräuche in Canada ausgehend, wurde
der Verfasser zu einer vollständig in alle Details eingehenden Zeichnung des
parlamentarischen Zustandes in England hingeführt; und nach jahrelangen
Studien in allen Präcedenzfällen und allem parlamentarischen Materiale
entwirft er nun ein bis in's kleinste Detail ausgeführtes Bild des englischen
Verfassungslebens der Gegenwart, soweit wie nöthig durch die Vergangenheit
die vorhandenen Zustände erläuternd. Den thatsächlichen Vorgang dieser
parlamentarischen Maschinerie, die ganze Leitung und Handhabung der Ver-
^ssung und Verwaltung durch das Parlament und seine Organe weiß der
Verfasser klar und übersichtlich zu schildern. Die königliche Prärogative, die
parlamantarischen Rechte, die Stellung des großen Geheimen Rathes: alles
das ist vortrefflich gruppirt und äußerst lichtvoll behandelt. Das Ministerium
oder das Cabinet als der zur Geschäftsführung bestellte Ausschuß der par¬
lamentarischen Majorität, den der König als solchen acceptirt und mit der
Führung der Staatsgeschäfte beauftragt, das ist der Mittelpunkt dieses ganzen
Treibens und auch der Concentrationspunkt, in dem die einzelnen Excurse
Todd's sich vereinigen und zum Systeme gestalten. Mit einer großen Fülle
von Details und Belegen ist das Ganze ausgestattet, verständlich aber knapp
überall das zur Beleuchtung der einzelnen Beispiele nothwendige Material
herangeschafft worden. Ein Handbuch des parlamentarischen Lebens, ein Nach¬
schlagebuch für jeden Politiker, für jeden Historiker und Publicisten ist uns
hier geboten, das wir nicht gerne entbehren möchten, nachdem wir einmal
seine Brauchbarkeit und seinen Nutzen erprobt.
Wir müssen sagen, für das richtige Verständniß desjenigen politischen
Zustandes, den die meisten Menschen auf dem Continente als den allgemein
wünschenswerten ansehen, ergänzen sich die beiden hier besprochenen Werke
in erfreulicher Weise. Das wollen wir nicht verschweigen, daß der Deutsche
doch noch etwas ganz Anderes geleistet, als der Amerikaner: wie lehrreich auch
immer diese Zeichnung des Thatbestandes in England sein mag, das wird
Niemand von Todd zu sagen sich gemüßigt finden, eine neue Epoche in den
politischen Ideen der Gegenwart sei durch ihn herbeigeführt worden. Nur
einen Zug merken wir doch auch bei ihm: nicht zu einer unbedingten Apo¬
logie, nicht zu einer lobpreisenden Empfehlung des heutigen Verfassungs¬
lebens in England gestaltet sich seine thatsächliche Skizze, nein auch Todd
vermag seine Bedenken gegen die modernsten Entwicklungen des Parla¬
mentarismus nicht zu unterdrücken; das Gefährliche, das Ungesunde so mancher
Neuerungen in England wird oft kurz und scharf aufgezeigt: die Störung
der überlieferten Verfassung, die eine ganz außergewöhnliche Zeit des Glückes
und der Blüthe ihrer Nation gebracht hatte, die Vernichtung des histo¬
rischen England, wie sie seit 1832 immer weitere und immer schnellere
Fortschritte macht, es sind für Todd nicht sympathische Erscheinungen.
Aber wenn so die beiden Beurtheiler der neuesten englischen Verfassungs¬
geschichte in gewisser Weise zu demselben oder zu ähnlichem Schlußurtheil ge¬
langen, wie unendlich tiefer ist Gneist's Kritik gegründet als die des Nord¬
amerikaners. Gneist's Abneigung gegen die neuere in England immer sieg¬
reicher und immer massiver auftretende Tendenz wurzelt in seiner Erkenntniß,
daß nun auch dort die staatsfeindlichen und unstaatlichen Forderungen
der Gesellschaft in den Staat selbst eindringen: gerade der Gegensatz, in
welchem er „Staat" und „Gesellschaft" sieht, ist der Angelpunkt aller
seiner Erörterungen und auf solche tiefer liegende Ursachen führt er die
Erscheinungen des politischen Lebens in England zurück, während Todd
sich begnügt die Symptome zu bezeichnen, ohne dem Grunde des Uebels nach¬
zuforschen. Zu Schlußfolgerungen für die politische Praxis regen beide
Autoren an, sowohl Todd, der ja für die Zustände seiner Heimath eine An¬
weisung hatte schreiben wollen, als Gneist, welcher nicht unterläßt scharf
und knapp auf Parallelen und Gegensätze französischer und deutscher Ver¬
fassungsgeschichte hinzuweisen und Nutzanwendungen dem Leser nahezulegen.
Möchten sich recht gründlich in der Behandlung unserer politischen
Gegenwart die Früchte der Gneist'schen Studien bewähren und die Theorie
unserer historischen Schule, die an Gneist einen ihrer Führer verehrt, unsere
Praxis vor Irrwegen, sei es nach links oder sei es nach rechts, behüten!
Daß in England die neuere Entwicklung schon eine gutes Stück von
dem alten parlamentarischen Bau zerstört und heruntergerissen und die
Grundlagen desselben, das Selfgovernment, nicht mehr unversehrt erhalten
hat, diesen Satz hat Gneist wiederholt schon ausgesprochen, und wie
wir so eben schon sagten, wir können nach unserer eigensten Ueber¬
zeugung diesem Urtheile nur beipflichten. Natürlich, der Lieblingsan¬
schauung großer Kreise unserer deutschen politischen Freunde widerspricht
w'e solche Meinung ebenso sehr, wie der Durchschnittsauffassung des Eng¬
länders. Dort wagen sich nur verschämt in der Quarterly Review einzelne
Stimmen so vernehmen zu lassen, der liberalen öffentlichen Meinung ist es
^ne Ketzerei. Und da es mehr und mehr dahin kommt, daß der eigentliche
Souverain Englands jene sogenannte öffentliche Meinung ist. die sich in
kwer unwissenden und prinziplosen Tagespresse ausspricht, so ist heute nicht
abzusehen, welches der Ausgang der gegenwärtig herrschenden Tendenzen sein
^ird. Wir lieben nicht, politische Prophezeiungen kundzugeben und möchten
^e Hoffnung auf eine kräftige Reaction gegen die heutige Strömung doch
nicht aussichtslos nennen: nur das dürfen wir heute aussprechen, daß die
Entwicklung der letzten 40 Jahre in England in der That den Boden des
Parlamentarischen Baues schon verlassen hat: wir, die wir aus der Ver-
^ssungsgeschichte Englands zu lernen bestrebt sind, wir schauen mit Span¬
nung dem pathologischen Proceß zu, der auf der britischen Insel heute seinen
Verlauf nimmt.
Eine Beziehung, eine Erscheinungsform aus diesem Vorgange hat sich in
°wer kleiner Schrift Dr. Adolf Koller zu behandeln vorgesetzt.") Bekannt-
lich hat unser Jahrhundert die lebhaftesten Kampfe in England um das
Wahlrecht zum Parlamente erlebt: mit der Reformbill von 1832 haben die
demokratischen Ideen der Neuzeit die erste Bresche in den parlamentarischen
Staatsbäu geschlagen; und das Gesetz von 1867, nach wiederholten Anläufen
endlich durch die in ihren Motiven heute wohl noch nicht ganz aufgeklärte
Schwenkung der Tories unter Disraeli's Führung zu Stande gebracht, ist ein
weiterer Schritt auf jener früher beschrittenen Bahn. Die Bedeutung dieser
Reformmaßregeln erörtert präcis und deutlich die genannte kleine Schrift von
Koller, in principieller Anlehnung an das Urtheil und die Darstellung von
Gneist. Zunächst geht er davon aus, daß die englische Verfassung vor 1832
nichts anderes gewesen ist als eine Regierung des Landes durch eine nicht
allzugroße Anzahl von Familien der grundbesitzenden Aristokratie, die das
Oberhaus und Unterhaus anfüllten und beherrschten. Die Maßregel von
1832 hat dies nicht vollständig oder systematisch anders gemacht, aber doch
schon etwas modificirt. Das politische Princip in England ist dies: politische
Rechte sind nur ein Aequivalent politischer Pflichten, und die Aristokratie,
welche die politischen Rechte zum größten Theile für sich absorbirt hat, ist
es auch, welche die größten Leistungen für den Staat aufbringt.
In den politischen Anschauungen des Continentes dagegen gilt es als
Axiom, daß alle Menschen gleiche Rechte haben müssen; von angeborenen
politischen Menschenrechten, die dem Einzelindividuum ganz unabhängig von
seinen Leistungen verliehen sind, geht das continentale Verlangen aus. 1832
ist dies in England noch durchaus nicht sanctionirt worden, aber 1867 hat
man in bedenklichster Weise sich ihm schon genähert: der Grundsatz des all¬
gemeinen Stimmrechtes scheint jetzt in der That gewonnen zu sein, wenn auch
einzelne, allerdings nicht besonders kräftige Schranken dagegen noch bestehen-
Wird sich mit einem aus solchen Wahlen hervorgegangenen Körper eine
parlamentarische Regierung führen lassen, in welcher eben das Parlament die
eigentliche Negierungsmacht, den wirklichen Souverain bildet? Die Bedenken
und Zweifel hat Koller bezeichnet und kurz erläutert.
Wir meinen, ein unbefangener Zuschauer kann heute noch weitere Symp¬
tome geltend machen. . Die Ausdehnung des Stimmrechtes auf,das weibliche
Geschlecht ist eine logische Consequenz, zu welcher der Gang dieser demokra¬
tischen Bewegung hindrängt und zweifellos hinführen wird. — wenn nicht
noch vorher Einhalt geschieht. Die Abschaffung des Oberhauses steht auf der
nächsten Tagesordnung: was dagegen einzuwenden ist, fällt auf dieser prin¬
cipiellen Basis gar nicht mehr ins Gewicht. Wie aber eine so völlig denw-
kratisirte Volksvertretung die Negierung wird führen können in der durch'
schlagenden Weise des bisherigen Parlamentes, das kann Niemand heute
sehen. Ob vor der Krone die Bewegung wird stillstehen wollen, das Mg
man bezweifeln, wenn man sich die von Zeit zu Zeit lautwerdenden Arbeiter¬
stimmen in Fräsers Magazine oder die politischen Expectorationen der Fort-
ni
(Fortsetzung.)
Der Abschluß des Waffenstillstandes und die Bekanntmachung des Ein¬
zuges der Preußen in die Forts rief bei den Bewohnern von Bellegarde große
Freude hervor. Die Landwehrleute dachten jetzt schon an die Rückkehr zu
ihren Frauen und Kindern; die im activen Dienste waren in den schweren
Kämpfen und durch Krankheiten hart geprüft, und begrüßten mit Freude
die Hoffnung auf die Rückkehr ins „Baterland;" und die Doctoren und
"Krankenpfleger" hatten 6 Monate schwerer Arbeit hinter sich, und waren
durchaus nicht unglücklich darüber, daß ihre Arbeit jetzt zu Ende ging. Man
erwartete ganz bestimmt, daß der Friede, ohne noch irgend ein weiteres Ge¬
fecht, zu Stande käme. Die Patienten, die sehr gerne politisirten, waren
immer sehr begierig die Meinung der ausländischen Presse und ihr Urtheil
über den „Schlaukopf Bismarck" zu hören. Als ich nun meine englischen
Leitungen wieder regelmäßig erhielt, umringten sie mich immer Alle um die
Übersetzung einiger guter und unparteiischer „Leaders" aus „Pakt Malt" zu
hören; auch der „Graphic" war ihnen ein großes Vergnügen; Mr. Sydney
Hall's kühne Skizzen von den Kriegsereignissen wurden sehr hochgeschätzt.
Unter diesen Zuhörern war auch ein kleiner schwarzhaariger Baier,
Samens Frick, welcher in einem blonden Preußen einen guten Kameraden
gefunden hatte. Nichts machte ihm Freude, wenn dieser nicht auch daran
Theil nahm. Als er mich mit dem „Graphic" ins Zimmer kommen sah, lief
^ an die Treppe und rief: „Kloana, komm geschwind runna, und betrocht d'
Schona Bilda." Als die Stunde kam, wo sie sich trennen mußten, war es
wirklich rührend. Sie sielen einander um den Hals und weinten wie Frauen;
"ut tagelang nachdem Frick fort war, konnten wir kaum seinen Freund be¬
legen, etwas zu essen.
Eines Morgens wurde ich zu dem Stabsarzt gerufen. Ich fand ihn
^ne große Specialkarte von einem kleinen Theil Frankreichs studirend. —
»Fräulein", begann er, „unsere Patienten schreiten so gut fort, daß ich glaube,
ich kann mir ein oder zwei Tage Urlaub nehmen, um nach Versailles und
nach Paris zu gehen. Währenddessen kann ja mein Assistenzarzt von Bruyeres
nach den Patienten sehen. Sie haben ja auch Briefe für das Hauptquartier,
wollen Sie mich nicht begleiten?" — „Gewiß, Herr Stabsarzt, würde ich es
sehr gern thun; doch kann ich auch zwei Tage Urlaub bekommen?" — „Nun,
Herrn Müller geht es schon viel besser, und ich glaube, daß Sie in einigen
Tagen wohl für zwei Tage weggehen können. Hier ist die Landkarte, wo¬
rauf unsere Neise genau bezeichnet ist: meine kleinen Pferde werden die Neise
in 2 Tagen fertig bringen, und ich würde mich sehr freuen wenn ich Ihnen
das Geleit geben könnte." Ich dankte dem gütigen alten Herrn, und ging
freudig an's Werk. Doch diese Woche und die nächste verging, aber Herr
Müller wurde nicht besser und der Reiseplan schien immer mehr in das Ge¬
biet der Unmöglichkeit zu rücken. Es schien, als ob, seitdem der Waffenstill¬
stand erklärt war, die Franzosen es darauf abgesehen hätten, alle Contracte
und Verabredungen zu brechen. Vorher waren sie immer unterwürfig, ja
kriechend gewesen und dabei hatte ihr Geldbeutel durchaus nicht gelitten;
aber jetzt brachte der Schlächter, der täglich ein hundert und sechs Pfund
Fleisch, per Pfund zu ein und einem halben Franc zu liefern hatte, entweder
ganz schlechtes Fleich oder wenigstens schlechter wie früher; und der Bäcker
brachte ein oder zwei Tage keine Backwaaren, ohne irgend einen anderen
Grund als vielleicht den, daß er diese jetzt überall verkaufen und auch nach
Paris schicken könne. Unser Stabsarzt jedoch litt diese Unordnung nicht
und drohte trotz des Waffenstillstandes mit militärischem Dazwischenfahren-
Da hielten die Franzosen doch für rathsamer, sich nicht auszusetzen. M. Le-
fort, der Schlächter, hielt sich, wie alle seines Gleichen, für „tres tort sur la
xolitiyuo" und verfehlte keine Gelegenheit, seine Ansichten über die „Situation"
anzubringen. Als ich einmal erwähnte, wie deutlich man das Bombardement
von Bellegarde aus hören könne, sagte er: „laut, esta, ce n'est rien, vo>es-
vous; nein, coule un in-g'vnd ton aux krussivus, et oelg, ne mit aucun mal
Z, in)8 t'orth. ^K! 'Il'vetu e'est 1'Komme <In xeuxle', et it ne Iss eeäera ja-
Mkus." Als der Waffenstillstand nun erklärt war und die Forts (die fast
in Stücke geklopft waren) den Deutschen übergeben wurden, war M. Lefort
gar nicht eingeschüchtert, sondern suchte es so zu erklären: „Vvuäus! tralüs!
O'sse cet Annal ac Iroelui <Mi a tont venäu ^ 6ulkig.une; doch die Forts
sind nichts; aber in die Stadt werden sich die Preußen wohl nicht wagen,
denn es würde wohl keiner von ihnen lebendig wieder herauskommen."
Unter den preußischen Soldaten, die Holz sägten und Wasser trugen,
war auch ein Pole. Namens Jetzoreck; ein ruhiger, schweigsamer junger
Landwehrmann, der als der Emsigste und Geschickteste für jede Arbeit galt.
Ich wunderte mich also um so mehr, als ich eines Abends ihn und Frau
Schmidt böse Worte wechseln hörte, und als ich hinging, um die Ursache zu
erfahren, den Polen (der grade einen halben Tag frei gehabt hatte) in einem
gradezu hoffnungslosen Zustand der Betrunkenheit fand. Da er nun wegen
seines guten Benehmens und allerlei kleiner Dienste, die er mir gethan
hatte, oft ein Glas Schnaps oder Cigarren von mir bekommen hatte,
schmeichelte ich mir, daß ein sanftes Wort ihn bewegen könne, fortzugehen.
Doch ich irrte mich: und da alles umsonst war, wurde er von zwei Kame¬
raden fortgebracht und ins Bett gelegt. Am anderen Morgen klopfte es
leise an die Thüre und herein trat Jetzoreck ganz blaß und zerstört. —
,,O Fräulein" sagte er, „ich habe drei Tage Arrest, doch ehe ich fortgehe,
wollte ich Sie noch bitten, mir meine Grobheit in letzter Nacht zu verzeihen."
— „Aber wie kommt es," fragte ich, „daß grade Sie sich betrinken?" —
„Nun," sagte er und drehte dabei seine Mütze in der Hand herum und sah
beschämt unter sich, „damit verhält es sich so: als ich gestern Morgen in die
Stadt ging, fand ich einen Brief von meiner Frau vor, die mir die Geburt
des fünften Kindes mittheilte. Dies trieb mich in die Kneipe, wo ich ein
Glas Schnaps trank." — „Es thut mir sehr leid, Jetzoreck, und ich hoffe
es wird nicht mehr vorkommen." Ich vergaß ganz, ihn zu fragen, ob die
Verzweiflung oder die Freude den jungen Familienvater zu der Flasche ge>
trieben hatte!
Nach einigen Tagen wurde ein anderer Missethäter ermittelt. Der
Gärtner beklagte sich nämlich bei mir darüber, daß einer der Patienten die
Werke an einem der Teiche zerbrochen hätte und dadurch alles Wasser aus
demselben wäre. — „Sahen Sie es Jemand thun?" fragte ich. — „Nein,
aber kurz nachdem ich es bemerkt hatte, sah ich zwei von ihnen an dem Teiche
stehen — das waren sie gewiß." — „Wer war es, können Sie es mir sagen?"
„Der große schöne Mann mit dem blauen Rocke und dem blassen Gesicht
und der Baier mit der Narbe unter dem Auge."
Zwei meiner Lieblinge! Einer von ihnen war mein Ulan! Ich folgte
^in Gärtner, um zu sehen, was angerichtet worden war und ging dann
schweren Herzens um die zwei Menschen aufzufinden. Als ich in den Kranken¬
saal kam, ließ ich mir den „Zimmercommandanten" rufen; doch dieser
nutzte noch nichts. Sollte ich die Leute selbst fragen? — ..Einer von Ihnen
^t einen Teich so ruinirt, daß das Wasser ausgelaufen ist." sagte ich; „das
'se ein muthwilliges Zerstören von fremdem Eigenthum, und Sie sollten sich
schämen noch in den letzten Tagen den Franzosen das Recht eingeräumt zu
baben, über Ihren Vandalismus zu klagen; wer von Ihnen that es?" Sie
sahen sich untereinander an, und der Ulan schien etwas blaß zu werden;
"^er keiner sprach. - „Waren Sie es", fragte ich den Baiern. - „Nein.
Fräulein", antwortete er sehr fest. Dann als ich den Ulanen fragte: —
„Warm Sie es?" antwortete auch er: — „Nein, Fräulein." — „Besinnen
Sie sich," setzte ich hinzu, „Sie wurden beide während des Vorfalls in der
Nähe des Teiches gesehen." — „Ja," erwiederte der Ulan. „Kraft und ich
waren beide heute Morgen da, doch da war das Unglück schon geschehen.
Ich gebe Ihnen als Soldat mein Ehrenwort, daß ich es nicht war." Dabei
richtete er sich auf und sah sich furchtlos mit seinen glänzenden blauen Augen
um. — „Nun gut," sagte ich, „und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß
wenn binnen vier und zwanzig Stunden keiner schuldig zu sein gesteht, keiner
unter Ihnen während drei Tagen Cigarren bekommt", dann ging ich fort.
Noch vor Abend hörte ich an meine Thüre klopfen: „Herein!" Der
Ulan stand vor mir, die rechte Hand salutirend an die Stirne gelegt —
„Entschuldigen Sie, Fräulein, wir haben ausfindig gemacht, wer die Röhre
zerbrochen hat; es war Henkel, einer der ostpreußischen Duckmäuser." —
„Gut," sagte ich; „der Stabsarzt wird das Ganze ordnen; ich bin froh, daß
Sie es nicht waren." — „Und ich auch" sagte er. salutirte, und ging fort.
Ich hörte nur noch das Geklirr seiner schweren Sporen.
Das nächste Mal, als uns der Delegirte einen Besuch abstattete, brachte
er den Oberchirurgen und den Inspector aller Hospitäler mit; glücklicherweise
war es an einem Sonnabend — wo alles gescheuert war; der Tag war sehr
schön, und auf dem Flur glänzten die gut gescheuerten Marmorplatten und
Estrichs und das polirte Metall. Der preußische Officier konnte nicht genug
des Lobes sagen, und sein bestes Englisch strömte, von seinen Lippen. Er
theilte uns auch mit, daß der Waffenstillstand um fünf Tage verlängert wor¬
den wäre; und daß, da jetzt wahrscheinlich der Frieden geschlossen, unsere
Spitäler keine Kranken mehr aufnehmen, sondern im Laufe von 14 Tagen
geschlossen und die Leute nach Hause geschickt werden würden. Am sel¬
ben Abend, als ich gerade Fleisch für die Patienten schnitt, kam der Stabs¬
arzt in die Küche und sagte Folgendes zu mir: „Da sich die Zahl unserer
Patienten sehr vermindert hat und Herr Müller jetzt schon wieder umhergehen
kann, so ist kein Grund vorhanden, weßhalb Sie nicht die paar Tage, wie Sie
redlich verdienen, frei bekommen sollten. Wir wollen deßwegen den kleinen Ausflug
nach Versailles, welchen ich schon seit drei Wochen vorhatte, zur Ausführung
bringen und morgen früh abreisen. Der Wagen wird um vier Uhr dreißig
Minuten morgen früh bereit sein; denn wir müssen bei Zeiten gehen, da wir
eine lange Reise vor uns haben; sorgen Sie gütigst für Essen für uns, den
Kutscher und den Burschen." Ich hatte nur wenig Zeit, besonders da ich
noch verschiedene Befehle zu geben, Papiere zu schreiben und meine»
„Sonntagsstaat" in einen kleinen Koffer zu packen hatte; aber ich war zu erregt,
um schlafen zu können. Um halb vier am nächsten Morgen, nachdem w>r
vorher eine Tasse Kaffee getrunken hatten, saßen wir im Wagen. Es war
natürlich noch ganz dunkel, doch als wir nach Sceaux kamen, schien die
Sonne glänzend. So oft der Kutscher zweifelhaft war, welchen Weg er
nehmen solle, nahmen wir die große Karte zu Hülfe, die ich damals im Zim¬
mer des Stabsarztes gesehen hatte. Es war eine jener vielgenannten de-
taillirten Karten (ein Stück der Generalstabskarte) des feindlichen Landes,
welche die Preußen besitzen, und welche so genau sind, daß sie selbst Seiten¬
wege, die die Einheimischen kaum kennen, angeben. In Sceaux stiegen wir
aus, ließen den Wagen hinter uns drein fahren und gingen durch Bagneux
nach „Fontenay nur Rohes." Da waren die Vorposten der bayrischen Ar¬
tillerie während der Belagerung; und man kann sich kaum verwüsteter« und
einsamere Dörfer denken. Die Batterien, die rings um die Höhen (wo jetzt
Alles still war) aufgepflanzt waren und die Kasematten und Gräben zeigten
noch die Spuren, wie die von den Forts Jssy und Vanvres herkommenden
Bomben die Erde aufwühlten. Das Straßenpflaster war ganz herausgerissen
und einige Häuser von oben bis unten zerstört. Selbst die Mairie, eines
der größten und ansehnlichsten Gebäude, welches jetzt zu einem Spital umge¬
wandelt war, auf dessen Dache eine Fahne mit dem rothen Kreuze wehte,
war nicht verschont geblieben; und die Verwundeten, die hier aufgenommen
worden waren, mußten in entferntere Orte getragen werden. In Chatillon
war die Verwüstung nicht so furchtbar; wahrscheinlich hatten die Franzosen,
»och ehe sie dem Bombardement ihrer eigenen Geschütze ausgesetzt waren und
fliehen mußten, an die Achtung gedacht, welche die Preußen allen Häusern,
die nicht von ihren Eigenthümern verlassen sind, zollen; denn an vielen Thüren
stand: „Compagnie I., t Officier. 9 Mann", „I. Jägerbataillon 18 Mann", oder
"Feldcommcmdo", an anderen Thüren war mit großen Lettern angeschrieben,
daß sie „UiU8vu Imditee" oder ohne Rücksicht auf Orthographie, daß sie
»U-Üizou ü bitten par 1v xropMtaire" wären. Hier nahmen wir uns einige
Bombensplitter mit, die in die Straßenecken gefegt waren. Von Chatillon
nach dem Fort Jssy brauchten wir den Weg, der auf unserer Landkarte be¬
zeichnet war und welcher quer über die Felder führte; wir zogen ihn deßhalb
^'M weiten Umwege um Vanvres herum vor. Wir kamen dicht an diesem
Fort vorbei, welches mit seinem neuen Erdwerk so von Kugeln und Bomben
durchwühlt war, daß es wie ein Ameisenhaufen aussah, in welchen man
Zahllose Steinchen geschleudert. Als wir nahe bei Jssy waren, stießen wir
plötzlich auf ein Hinderniß, welches uns in Gestalt eines großen, tiefen Gra¬
els, welcher mit leeren Schanzkörben gefüllt, und eines Dammes, der nur
durch f^sah aufgeworfene Erde gebildet war, entgegentrat. Wir hätten den
Graben leeren lassen und dann sammt unseren Pferden, wenn wir aufge¬
sessen hätten, auf den Damm klettern können; allein mit den Pferden, die
'dren schweren Brougham an den Fersen hängen hatten, war es doch eine
andere Sache. Als wir gerade im Sinne hatten wieder umzukehren, kam ein
Artillerie-Officier auf uns zu galoppirt; kaum hatte er unsere Wünsche ver¬
nommen, als er uns versprach, das Uebel gleich beseitigen zu lassen. In
vollem Galopp ritt er ab und erschien bald wieder mit acht Pionieren, welche
im Verlaufe von einigen Minuten mit ihren Spaten die Erde geebnet und
den Graben ausgefüllt hatten, so daß der Wagen jetzt hinüber fahren konnte.
Während dieser Arbeit hatten die beiden Herren, nach einer kurzen Einlei¬
tungsscene, ein lebhaftes Gespräch geführt. „Aber wie kamen Sie nur dar¬
auf", fragte der Officier, „diesen Weg einzuschlagen?" — „Weil", erwiderte
der Stabsarzt", ich ihn auf meiner Karte fand." „Entschuldigen Sie", fiel
der Officier ein, „Sie irren sich gewiß, denn auf unseren Karten ist dieser
Weg nicht angegeben." — „Erlauben Sie", sagte der Stabsarzt und holte
seine Karte hervor, „Sie sehen hier „Uvut» tttrat^Mue", welche zum Trans¬
port für Pulverwagen gebraucht wird." — „Ganz richtig", erwiderte der
Officier, „ich gratulire Ihnen zu der Zuverlässigkeit Ihrer Karte, welche selbst
besser als unsere zu sein scheint."
Am Fuße des Hügels, welcher nach Issh abfiel, stiegen wir aus und
gingen zu Fuß. Der Stabsarzt stellte sich und mich dem commandirenden
Major vor, welcher uns zwei Ingenieur-Officiere zur Besichtigung der Forts
mitgab. Welche Unzahl Ruinen sahen wir hier! und doch wollte man sagen,
daß das Bombardement die Forts nicht beschädigt hätte! Kein Wunder, daß
sie capitulirten! Die drei Gebäude waren ganz zerstört, nichts als die äuße¬
ren Wände bis zum zweiten Stockwerke waren übrig geblieben; eine der Sei¬
ten des Bollwerks war buchstäblich heruntergerissen, und dadurch ein unge¬
heures Loch, welches gewiß hundert Fuß im Durchmesser hatte und bis an
die Außenmauer des anderen Pulvermagazins reichte, entstanden, und auf
derselben Seite waren selbst einige der Kasematten in Stücke zerschmettert
worden. Die deutsche Fahne wehte auf den nördlichen Bollwerken; und in
den inneren Theilen waren Hunderte von Preußen damit beschäftigt, das
„Material" fortzubringen und die Berge von den Bomben und Zuckerhüten,
mit denen sie besäet waren, zu reinigen. Ich war sehr erstaunt über das un¬
geheuere Gewinde von Drahtschnur, was hier lag und wie ein Kabeltau aus¬
sah; da erklärte man mir denn, daß es die Seesoldaten gebraucht hätten,
um die Geschütze hinaufzubringen. Ob der prahlerische, sanguinische Herr
Louit wohl noch bei seiner Meinung, die Forts seien „verkauft", geblieben
wäre, wenn er Zeuge der Verwüstung und des Verfalles um uns herum gewesen?
Dann setzten wir uns wieder in den Wagen und fuhren durch Clamart
und Meudon nach Sevres, wo wir am Mittag ankamen. Hier gönnten wir
den kleinen deutschen Pferden zwei Stunden Ruhe, die sie reichlich verdienten-
Die Brücke über die Seine, von welcher ein Bogen gesprengt, aber wieder
ersetzt war, bildete damals die Grenze zwischen dem französischen und deutschen
Gebiete und am Eingange war eine hölzerne Barriere in Form eines X ause
gestellt. Hier standen französische und deutsche Beamte, um die Tausende von
vorbeiziehenden Menschen, welche mit Borrath ab- und zugingen, zu bewachen.
Es schien ein außerordentlich gutes Einverständnis; zwischen beiden Feinden
zu herrschen; denn sie gaben sich tausenderlei Scherzen und Späßen hin über
die Vorzeigung der Papiere und sonstige Formalitäten. — Nachher gingen
wir nach Se. Cloud, der schönen Königsresidenz, welche jetzt abgebrannt und
verstümmelt war durch das große Geschütz des Mont Valerien, welches den
Feind, der vor Paris Position genommen, vernichten sollte. — Als die Deut¬
schen zuerst Se. Cloud vccupirten, waren viele der Kunstschätze des Palastes
(und auch die schätzbare Porzellansammlung in Sevres) auf Befehl des Kron¬
prinzen den französischen Behörden zugestellt worden, aber noch mehr blieben
an ihrem Ort. Sobald nun die Kugeln so schrecklich anfingen zu sausen und
der Brand unvermeidlich schien, wurde Befehl ertheilt, die Schätze zu retten;
aber ,M<Mer V-^ri^L LIueKcmL" (die Küchlein der Mutter-Henne Valerie)
hatten kein Verständniß für Kunst, und da schon zwei Soldaten bei den
Rettungsversuchen ihr Leben verloren hatten, gab man endlich, wenn gleich
"ugern, den Palast den Flammen anheim, die von dem Ganzen nichts übrig
ueßen als geschwärzte Wände, zerfallenes Mauerwerk, geschmolzenes Metall
und Glas. Die Springbrunnen sprangen noch immer; sie versinnbildlichten den
Spruch des Baches! „Menschen mögen kommen und gehen, doch ich werde
'Mrner weiter ziehen;" dagegen war der berühmte Orangenwald durch die
Kälte und Nachlässigkeit ganz zerstört und bot einen traurigen Anblick dar. —
Von der Höhe des Hügels aus, wo jetzt die „I^ntsrue et«z viogöno" in einen
Steinhaufen umgewandelt war, hatten wir eine prachtvolle Aussicht auf Pa-
^6- Die goldene Kuppel des Jnvalidenhauses glänzte strahlend in der Sonne;
^ Himmel war so hell und die Atmosphäre so rein, daß man die Thürme
bon „Ksytre Dame", den „^.re <l<z l^-iompne" (welcher so bald ein Siegeszeichen
°er Deutschen werden sollte) und die Säule der Bastille deutlich sehen konnte.
Als wir so in den Anblick der großen, besiegten Stadt, mit ihrer genau
^'kennbaren Enceinte-Linie zu unseren Füßen, versunken waren, zog unten
^a Regiment vorbei, welches die „Wacht am Rhein" sang. Der sehr belebte
besang der Leute wiederholte immer wieder jenen Refrain l
„Fest steht und treu die Wacht am Rhein!"
Um 4 Uhr Morgens kamen wir in Versailles an. Wir erhielten beim
^appencommando ein gedrucktes Papier, welches auf der Mairie gegen ein
»Kittel, 6e logöment" für „un (Mein-, une äamö, cieux llmlwstiquW et äeux
^evaux« in einem Hotel in der „Kue Ac ig. I^rvisse" umgetauscht wurde,
welchen Contrast bildete Versailles mit seinen sorgsam gefegten Straßen und
den schönen Läden zu anderen französischen Städte», die der Feind inne hatte.
Die Straßen waren sehr belebt und jeder Art Militär konnte man da sich
herumtreiben sehen; selbst bei einer Revue hatte ich noch nie so viel verschie¬
dene Uniformen gesehen und es schienen mir weit mehr Offiziere als Soldaten
zu sein. Der Kaiser hatte bekanntlich nie in dem Schlosse der „Louis" Hof
gehalten und auch nie den Palast bewohnt, der „5 tonlos Jo« gloires as in.
?i's,ne^" errichtet war, sondern von Anfang an in der Präsectur Quartier
genommen, von wo wir seine militärische „Tafelmusik" erschallen hörten.
Der Kronprinz lebte auf einer Villa, die auf einer Anhöhe hinter der Eisen
bahnstation lag und „les Omw'ÄMs" hieß, und endlich der „Schlaukopf"
Bismarck spann seine politischen Gewebe in dem bescheiden aussehenden Hause
einer Nebenstraße.
Am folgenden Morgen frühstückten wir in einem Cafe und sahen uns
dann das Schloß an. Von hier waren am vorhergehenden Tage so viele
Kranke und Verwundete nach Deutschland befördert worden, daß jetzt nur noch
53' in den geräumigen Sälen, die mit großen Bildern von Napoleons Siegen
behängen waren, zurückgeblieben waren. Die Fälle der Kranken (alle Offiziere)
waren größtentheils sehr gefährlich und vielen sah man an, daß sie wohl in
dem französischen Schloß ihre irdische Laufbahn vollenden würden. Ich war
sehr begierig die „(lalvrit; äos Lrlaevs" zu sehen, wo am Tag vorher König
Wilhelm zum Kaiser proclamirt worden war und welche kürzlich der Schau¬
platz eines Drama's mit wirklichen Königen und Prinzen auf der Bühne ge¬
wesen war; jetzt aber spiegelten sich nur noch kranke und sterbende Menschen
und lautlos dahingleitende Pflegerinnen in den Spiegeln wieder. Die Ver¬
goldungen und Fresken an der schimmernden Decke, welche das große
historische Schauspiel gekrönt hatten, sahen jetzt auf ein wirkliches in der That
sehr trauriges Trauerspiel herunter. Ich ließ den Stabsarzt allein durch den
Parks zu den beiden Trianons gehen und verabredete mich mit ihm, uns in
unserem Quartier zu treffen, wo wir um 2 Uhr zu Mittag aßen. Während¬
dessen machte ich einige Besorgungen in der Stadt und ging dann quer über
die Eisenbahn, an vielen preußischen und bayrischen Wachen vorbei, die längs
des Gartens von „Je-s Oind^'W" aufgestellt waren, bis ich endlich an das
Haus selbst kam. Hier fragte ich nach dem Hofmarschall Seiner Königlichen
Hoheit des Kronprinzen, dem Grafen von Eulenburg. Ich hatte kurz vorher
in Corbeil noch einen Brief von diesem Herrn bekommen, in welchem er mich
bat, meinen Einführungsbrief zu Seiner Königlichen Hoheit mit der Post
schicken, und dieses hatte ich gethan. Ein sehr militärisch aussehender Leib'
diener trug meine Karte hinein und nach einigen Augenblicken führte er mich
in ein komfortables, einfach möblirtes Zimmer mit einem Alkoven. Dies war
das Zimmer des Grafen. Dieser bedauerte sehr, mich dem Prinzen nicht s"-
fort vorstellen zu können, da derselbe bei seinem kaiserlichen Vater auf der
Präfectur wäre. In der Unterredung fragte ich den Grafen, ob Versailles
so ein Luxus-Möbel wie einen englischen Banquier führe. Wenn ich mich dar¬
über genau unterrichten wolle, sagte er, so rathe er mir, mich an unseren
>,>'cM6s«zntÄNt," Ur. Oäo Rü88kI1 zu wenden, welcher in demselben Hause
wie der Korrespondent der „Times" wohne, Ur. 6 ?I».LL Iloelie. Ich
richtete meine Schritte zunächst also zu unserem „röpr^senkend" und
fand ihn glücklicherweise auch zu Hause. Ich weiß nicht ob es wahr ist,
daß Mr. Odo Russell wegen seiner außerordentlichen und vorzüglichen
Verdienste zu dieser Gesandtschaft gekommen ist — aber das ist gewiß
— über solche Dinge ist ja vielleicht auch einer Frau, die sonst ohne
jegliches „Recht" ist, vergönnt zu sprechen — daß er jene glatte, geläufige
Diction, die auf höhere geistige Macht deutet, und die tiefe, wohlanstehende
Höflichkeit besitzt, welche für einen Staatsmann, der unsere gnädige Herrscherin
an einem fremden Hofe repräsentirt, erforderlich ist. Er sagte mir, daß Herr
Thiers soeben eine Unterredung mit dem Kaiser über die Friedenspräliminarien
hätte, und nachher Seine Majestät wahrscheinlich die gewöhnliche Ausfahrt
Machen würde. Da ich sehr gerne einmal die königliche Persönlichkeit, die zu
einem solchen „Mut- 6« mir«" für Alle geworden war, sehen wollte, eilte ich
rasch nach unserem Hotel, um dem Stabsarzt das in Aussicht stehende Glück
mitzutheilen; und sobald wir gegessen hatten, gingen wir nach der Präfectur.
Hier sagte uns die Wache, daß der Wagen des Kaisers schon unten warte
und er gleich ausfahren werde. In einigen Minuten entstand auf dem Hofe
^ne kleine Bewegung, und wir traten dicht an das Thor; da plötzlich kam
Feldgendarm (der aus einer Versenkung emporgesprungen zu sein schien,
denn so plötzlich erschien er) und bat uns, einige Schritte zurückzutreten. Hielt
^ mich für einen weiblichen Königsmörder, oder dachte er, ich verberge in
den Falten meiner Schürze Revolver oder Orsini - Bomben? Diese Frage
konnte ich nicht langem Nachdenken unterwerfen, denn ich hörte schon die
Hufschläge der Pferde und gleich darauf kam der Kaiser, der in einen Pelz-
Mantel eingehüllt in seiner sehr einfachen „Victoria" saß, die durch vier nicht
besser aussehende schwarze Pferde gezogen wurde und zwei finsteraussehende
Postillione ritten auf diesen. Es lag mir natürlich ob, mit Ehrfurcht oder
doch mit Respect auf den mächtigen König zu sehen; doch plötzlich fielen mir
dabei die Worte aus ,Mei)'s ^ävMtm^L w ^Vomlvrlaiiä" ein — ,^on a,rv
^6,I'gMvr MIImm, ana ^our Imir is gi-s^"; — diese plötzliche Erinnerung
der einst bekannten Worte schien meine feierliche Stimmung ein wenig zu
stören, denn ich bemerkte plötzlich, daß der „Feldgendarme" mich sauer
"»sah, als er den Kaiser salutirte. — Die Unterhandlung mit Thiers war
ohne Zweifel unbefriedigend gewesen, denn das Gesicht, welches immer als
ein solches beschrieben worden war, das „uns empreintö as bonnvmmio
militiure" hätte, sah sehr finster unter dem Helm hervor, und der schneeweiße
Bart war „llLeläkinvot nei-issve."
Der Weg zurück durch Biedres, Palaiseau, Longjumeau und Morangis
war sehr lang; doch die starken kleinen Pferde legten ihn in vier Stunden
zurück. So kamen wir am Abend vor acht Uhr in Bellegarde an. Der
Waffenstillstand lief erst am Sonntag den sechs und zwanzigsten Februar
Abends ab; aber schon gingen Gerüchte, daß der Einzug der Deutschen in
Paris die Klippe gewesen, an der der Friede gescheitert sei. Man glaubte
fest, daß von Montag Morgen an die Feindseligkeiten wieder beginnen würden.
Unser Spital in Bruyeres war schon aufgehoben worden und unsere eigenen
Patienten hatten sich auf eine sehr kleine Zahl reducirt: und diese sollten
auch in einigen Tagen fortgeschickt werden. Unser Stabsarzt wollte auch
noch am selben Tage abreisen. Ich aber, solle mit Herrn Müller und unseren
drei „Freiwilligen" noch eine Woche hier bleiben, damit ich dafür sorge,
daß wenn das Schloß aufgegeben würde, es so ordentlich und rein zurückge¬
lassen würde wie möglich. — „Wenn der Friede nicht unterzeichnet wird",
setzte er hinzu, und die Feindseligkeiten wieder beginnen, werde ich natürlich
wieder die Direction eines anderen Spitals übernehmen. Sind Sie nun Ihrer
Arbeit müde? oder darf ich Sie dann wieder auffordern, dort dieselbe Stelle,
wie hier, bei mir einzunehmen?" — „Gewiß." antwortete ich. „Sie können
auf mich rechnen. Denn so lange ich nützlich sein kann, habe ich nicht im
geringsten den Wunsch, meine Arbeit aufzugeben."
Der erste Zug, welcher am Montag Morgen unser Haus passirte, war
mit Lorbeerzweigen bekränzt und die Soldaten streckten ihre Hände aus den
Wagen und riefen: „Friede! Friede!" Jetzt, wußten wir, hatte sich der Sturm
gelegt, wenn vielleicht auch durch das Opfer der „imwur propre" der Pariser.
Jetzt wurden auch Borbereitungen zu der Beförderung der letzten Kranken
gemacht, die Alle kamen mir Adieu- zu sagen. Aber den Ulanen, meinen
Freund, sah ich nicht unter ihnen. Dieser kann nachher allein, und nachdem
er sich für die Güte und Aufmerksamkeit, die ich ihm während seiner Krank-
heit hatte zu Theil werden lassen, bedankt hatte, fragte er: — „Fräulein,
Sie haben einen Bruder in der (englischen) Armee, nicht wahr?" — „Ja,"
erwiederte ich, „warum?" — „Weil ich Ihnen ein kleines Zeichen meiner
Dankbarkeit geben will; da es aber nicht für eine Dame ist, dachte ich. Sie
würden es vielleicht Ihrem Bruder als „Erinnerung aus dem Feldzuge"
geben;" dann zog er eine hölzerne Pfeife hervor, die er geschickt gemacht und
aus einer Wurzel geschnitzt hatte.
„Danke Ihnen." sprach ich. „Es paßt allerdings nicht für eine Dame; aber
ich werde es stolz als eine Erinnerung an einen meiner Lieblingspatienten aufheben."
(Schluß folgt.)
In dem letzten Reichstagsbrief, der ausschließlich die erste und zweite Be¬
rathung der Münzvorlage zusammenfaßte, ist ein Gedächtnißirrthum unterge¬
laufen, welchen der rasche Bericht über einen so verwickelten Gegenstand ent¬
schuldigen wird. Indem nämlich der letzte Brief hervorhob, die Consequenz
der Regierungsvorlage erheische die Einziehung der abgenutzten Goldmünzen
durch die Einzelstaaten, und so sei auch in der Vorlage bestimmt, wurde irr¬
thümlich hinzugefügt, daß der Reichstag diese Bestimmung angenommen habe.
Dies ist nicht der Fall gewesen. Der Reichstag hat vielmehr den § 9 der
Regierungsvorlage, in welchem die betreffende Bestimmung sich fand, trotz des
Einspruchs von Seiten des Bundesbevollmächtigten Camphausen nach dem
Antrag des Abg. Bamberger dahin abgeändert, daß Reichsgoldmünzen, welche
das Passirgewicht nicht mehr erreichen, für Rechnung des Reiches zum Ein¬
schmelzen eingezogen und an allen Kassen des Reiches und der Bundesstaaten
zum vollen Werth angenommen werden. Der Reichstag hat also von der
Befürchtung des Ministers Camphausen abgesehen, es könnten die Einzel-
staaten hier und da in Folge der Verpflichtung des Reiches, allein für die
vollwichtige Circulation zu haften, die Goldmünzen so ausprägen, daß ihr
Feingehalt gerade nur das nothwendige Passirgewicht erreicht.
Unserer Meinung nach rechtfertigt sich die an sich angemessene Haft des
Reiches für die vollwichtige Circulation bei einer gleichwohl particularistischen
Münzausprägung nur dadurch, daß ein Mißbrauch des Münzausprägungs-
rechtes dieses ganze Recht und den Einzelstaat, der sich dieses Mißbrauchs
schuldig machen wollte, erheblich gefährden würde. Das „nodlWZö odligv"
des Abg. Laster und das unbedingte Vertrauen desselben auf die Loyalität
der particularistischen Münzverwaltung würde uns dagegen den Reichstagsbe¬
schluß nicht rechtfertigen.
Am 23. November fand die letzte Berathung der Münzvorlage statt. Sie
begann mit der erfreulichen Mittheilung des Präsidenten Delbrück, daß der
Bundesrath die sämmtlichen Abänderungen des Reichstags annehme, mit
einem einzigen Vorbehalt und einer einzigen Ausnahme, Die genehmigten
Abänderungen bestehen in der Beseitigung des Groschens, in der Einziehung
der abgenutzten Münzen durch das Reich, anstatt durch die Einzelstaaten, in
dem Verbot der weiteren Ausprägung schwerer Silbermünzen und in der Ein¬
ziehung der jetzt im Umlauf befindlichen Goldmünzen durch das Reich, sowie
in der Ermächtigung für den Reichskanzler, die bereitesten Bestände der Reichs-
Casse zur Einziehung der bisherigen schweren Silbermünzen zu verwenden.
Der Vorbehalt bestand in der Interpretation der beiden letzterwähnten Be¬
stimmungen, wonach der Sinn derselben nur auf administrative, nicht auf ge¬
setzgeberische Maßregeln geht. Es soll demnach der Reichskanzler ermächtigt
sein, die bisherigen Gold- und Silbermünzen, soweit sie in den Reichscassen
sich befinden, bezüglich dahin gelangen, emschmelzen und durch neue Reichs¬
münze, soweit die Bestände der Reichscasse es erlauben, ersetzen zu lassen.
Nicht aber soll der Reichskanzler befugt sein, die im allgemeinen Verkehr cir-
culirenden Gold- und Silbermünzen alten Gepräges ohne besonderes Gesetz
außer Cours zu setzen. Die Ausnahme bezog sich auf die Beseitigung des
goldenen Zehnthalerstückes, dessen Beibehaltung der Präsident des Reichs¬
kanzleramtes nochmals befürwortete. Er wurde darin durch den Abg. v. Pa-
tow und durch den Minister Camphausen unterstützt. Der Reichstag aber
blieb bei der Beseitigung dieser Münze stehen, deren Ueberflüssigkeit wiederum
der Abg. Bamberger mit glücklicher Beweisführung darlegte. Den Vorwand
für die versuchte Einführung dieser Münze giebt die Erleichterung des Ueber-
gangs zu den neuen Münzen ab. Als ob man die Leute dadurch an eine
neue Münzeintheilung gewöhnen könnte, daß man ihnen das Mittel giebt,
sich an die alte Eintheilung zu klammern! Einmal muß der Schritt zu dem
Neuen doch ernstlich gethan werden, und wenn die Nothwendigkeit einmal
vorliegt, ist der Aufschub nur nachtheilig. Offenbar ist aber diese angebliche
Erleichterung nur ein Vorwand. Ueber den wahren Grund, welcher zu dem
glücklicherweise fehlgeschlagenen Versuch geführt hat, die Thalerrechnung inner¬
halb der Goldwährung unter nomineller Einführung einer anderen Rech-
nungseinheit festzuhalten, machte Bamberger eine Andeutung, die für die
Nichteingeweihten, zu denen wir uns zählen müssen, unverständlich blieb.
So wurde also das Gesetz nach den Beschlüssen der zweiten Lesung auch
in der Schlußberathung wiederum angenommen. Zu den Resolutionen, welche
bei der zweiten Lesung auf die Anträge Tellkampf's und Bamberger's ange¬
nommen worden, von welchen die erstere die Vorlage eines Bankgesetzes, die
zweite die Vorlage des definitiven Münzgesetzes schon in der nächsten Session
bezweckte, trat diesmal noch eine Resolution des Abg. Braun-Hersfeld, welche
den Reichskanzler auffordert, dem Reichstag baldthunlichst ein Gesetz vorzu¬
legen, welches die Ausgabe des Staatspapiergeldes regelt. Bei dieser Gelegen¬
heit wurde denn durch den Antragsteller und andere Redner, namentlich auch
durch den Abg. Löwe, auf die Gefahr hingewiesen, welche wir im letzten Brief
so nachdrücklich betonen mußten. Auf die Gefahr, daß der hohe Stand
unserer Papiergeld-Circulation in Verbindung mit der ebenfalls sehr reich¬
lichen Silber-Circulation uns das Gold, das wir durch den beispiellosesten
Glücksfall in dem Zeitpunkt bekommen haben, wo die Einführung der Gold-
Cireulation eine Nothwendigkeit für die Fortdauer unserer nationalen Wohl¬
fahrt geworden war, uns unaufhaltsam rasch wieder vertreibt, nachdem wir
kaum Zeit gehabt, es zu sehen. Beide Leiter unserer Münzreform, der Präsi¬
dent Delbrück wie der Minister Camphausen, erkannten die Richtigkeit der in
den betreffenden Resolutionen gestellten Forderungen an, sowohl in Bezug auf
das Bank- als das Staatspapiergeld. Nur hielten beide die Schwierigkeiten
der geforderten Maaßregeln für nahezu unüberwindlich. Damit erkannte also
Herr Camphausen an, daß die größte Schwierigkeit der deutschen Münzreform
nicht in der Tarifirung des Verhältnisses zwischen Gold und Silber liegt.
Denn diese Schwierigkeit hat er überwunden. Die entschlossene Beseitigung
des Papiergeldes auf gesetzlichem Wege erklärt er für einen Wunsch, den er
theilt, aber für unerfüllbar hält. Und doch hängt an dieser Beseitigung das
Gelingen unserer Münzreform, hängt daran der dauernde Segen eines Glücks¬
falles, den die Nachwelt unbegreiflich oder auch ein sichtbares Wunder der
Providenziellen Führung des deutschen Volkes nennen wird.
Wir sind indeß nicht im Stande, zu glauben, daß die beiden Männer,
denen wir die Münzvorlage schulden, ein Werk, das trotz seiner Mängel, die
es namentlich im Anfang trug, einen so großen Fortschritt bezeichnet — wir
können nicht glauben, daß die Urheber dieses Werkes, der Präsident Delbrück
und der Finanzminister Camphausen, Männer, deren sicheres und feines Ver¬
ständniß der verschlungenen Verkehrsbedingungen sich so oft bewährt hat, die
Gefahren, welche diesem Werke durch die lückenhafte Grundlegung drohen,
nicht sehen sollten. Wir sind also überzeugt, daß auf die Ergänzung dieser
Lücke durch andere Maßregeln schon Bedacht genommen ist. Um es kurz zu
sagen, wir glauben, daß die preußische Finanzverwaltung mit
der Beschränkung des preußischen Papiergeldumlaufes energisch
vorgehen wird. Beschränkt sich die Maßregel für's Erste auf Preußen, so
ist sie ja nicht Sache eines Neichsgesetzes. Die Einziehung eines großen Thei¬
ls des preußischen Papiergeldes, sowohl ver Staats- als der Banknoten,
^ird nur dieFolge haben, daß das Papiergeld der übrigen deut¬
schen Staaten kaum noch cireulationsfähig bleibt. Das Verbot
der fünfziger Jahre, welches das Papiergeld der Kleinstaaten von Preußen
ausschloß, war seit längerer Zeit nicht mehr streng gehandhabt worden.
Manche solche Stücke schlichen sich wieder in Preußen ein, und was die Haupt¬
sache ist, so lange unser Publicum einmal die Papiergeld-Circulation hin¬
nehmen mußte, konnte es in der Wahl der Sorten nicht allzu streng sein.
Die preußische Papiergeld-Circulation deckte bis zu einem gewissen Grade die-
jenige aller deutschen Staaten. Mit dem Verschwinden des preußischen Papier¬
geldes dürfte darin eine große und wohlthätige Aenderung eintreten. Den
Bundesrath über eine Einziehung alles deutschen Papiergeldes zu einigen,
wäre vermuthlich nur mit der größten Anstrengung möglich gewesen und hätte
dabei die heftigsten Klagen über Eingriffe in die innere Landeshoheit hervor¬
gerufen. Nach dem Verschwinden des preußischen Papiergeldes werden die
übrigen Mitglieder des Reiches für's erste Papiergeld auszugeben nach wie
vor berechtigt sein; wie weit sie aber noch Abnehmer dieses Geldes finden,
ist die Frage.
Mit dieser Aussicht müssen wir uns für jetzt beruhigen. Sie hebt noch
keineswegs jede Besorgniß. Aber die Aussicht auf Regelung des Bankwesens
tritt hinzu, und sollte das kleinstaatliche Papiergeld die Wege der Goldcircu-
lation für sich allein in erheblichem Maße zu stören und zu beeinträchtigen
im Stande sein, so bleiben nachträgliche Maßregeln nicht ausgeschlossen.
Jedenfalls kann die rasche Einziehung des preußischen Papiergeldes die Ein¬
bürgerung der deutschen Goldcircülation in hohem Grade schützen, wenn sie
auch allein das völlige Gelingen der Maßregel nicht zu verbürgen vermag.
So hat die Berathung vom 23, November ein Gesetz zum Abschluß ge¬
bracht, das eine der größten materiellen Folgen der Gründung des deutschen
Reiches bezeichnet, dessen Wirkungen sich auf das Wohl und Wehe einer
langen Folge von Generationen erstrecken mögen. Die Natur des Gegen¬
standes bringt mit sich, daß die allseitig eingreifende Wichtigkeit desselben
nur wenigen Personen vor Augen liegen kann- Vielleicht einigen sachkun¬
digen Theoretikern und einigen aus der Routine sich erhebenden Geschäfts¬
männern, vor allen aber den Staatsmännern, die wir als die Gründer des
Werkes anzusehen haben. Wer diese Wichtigkeit ermißt, der wird die Nation
beglückwünschen, daß sie, in ihrem größten Theil ohne es zu wissen, die halt¬
baren Grundlagen zur Vollbringung eines ebenso schwierigen als nachhaltigen
Werkes unter seltener Gunst, aber auch unter einsichtiger Benutzung der Um¬
stände gewonnen hat.
Von allen Seiten drängen sich die schweren Aufgaben an unsere Nation
heran. Eine solche Aufgabe ist so eben auf dem Verkehrsgebiet gelöst, sofort
kommt eine schwerere aus dem idealen Lebensgebiet. Das Verhältniß des
Staates zur Kirche, dessen ältere Grundlagen, seit lange zweifelhaft, in un¬
seren Tagen durch die Vorgänge in der katholischen Kirche endlich vollkommen
unhaltbar geworden sind, fordert gebieterisch den ersten Schritt auf einem
neuen, in seinem weiteren Lauf und endlichen Ziel noch unbekannten Wege>
Der Bundesrath hat in dieser Woche die Vorlage eingebracht, betreffend einen
neuen Paragraphen des Strafgesetzbuches gegen den Mißbrauch der Kanzel zur Ge¬
fährdung des staatlichen Friedens. Wir wollen jedoch den Bericht über diese
Berathung, die noch nicht zum Ende gelangt ist, sowie über andere par¬
lamentarische Vorgänge der beiden letzten Wochen unserem nächsten Brief
Die wundervolle Auswahl Schiller'scher Verse auf den Trophäen,
welche den Festplatz zierten und deren Autor sich immer noch in ein beschei¬
denes Dunkel hüllt (— es gehen über seine Persönlichkeit zwei Versionen um:
nach der einen hat der Magistrat dem Maler, welcher die Trophäen anzu¬
fertigen hatte, auch die Wahl der Verse überlassen und dieser College Stübbe's
hat sich seiner Aufgabe mit soviel Humor unterzogen; nach der zweiten Mission
ist ein Stadtrath mit der Auswahl betraut gewesen und hat im Drange der
Amtsgeschäfte diese Last auf die Schultern eines befreundeten jungen Theo¬
logen abgewälzt), hat ein Gedicht nicht berührt, welches gerade jetzt recht
zeitgemäß ist: die Theilung der Erde.
.Fehmet hin die Welt"
so ließen sich seit einigen Monaten die Weltkinder gesagt sein und sie gehen
so eifrig ans Werk, daß, wenn der Nachzügler kommen wird, es auch für ihn
heißen wird:
„Die Welt ist weggegeben,
Der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein."
Merkwürdiger Weise scheint man auf diese Folge der gegenwärtigen großen
financiellen Bewegung bisher kaum geachtet zu haben. Nationalökonomen
und Finanzmänner, ja selbst ein Philosoph (Herr v. Hartmann, der Ver¬
fasser der Philosophie des Unbewußten) haben ihre Stimme erhoben und
haben das Nothwendige und Gesunde in dieser Periode, welche dem oberfläch¬
lichen Blick bloß schwindelhaft zu sein scheint, nachgewiesen. Aber sie über¬
sahen eines. Die Börse handelt genau nach denselben Gesetzen, nach welchen
der Staat handelt, indem er die Gehälter der Beamten erhöht, nach dem¬
selben Gesetz, nach welchem der Socialist sinket, um den Arbeitslohn zu er¬
höhen. Das Geld ist im Werthe gesunken und wird noch mehr sinken.
Diesen Verlust gilt es auszugleichen und jedes Bestreben danach ist vollkom¬
men gerechtfertigt; die Operation, im Ganzen betrachtet, ist wohl zweckmäßig,
aber sie führt einen großen, vielleicht unvermeidlichen Uebelstand mit sich.
Auf der einen Seite stehen nämlich Diejenigen, welche aus dem Proceß mehr
oder weniger große, zum Theil ungeheure Gewinne ziehen, auf der andern
stehen Diejenigen, welche geringen oder gar keinen Gewinn zogen. Schon
jeder solide Besitzer eines preußischen oder sächsischen Staatspapieres, welches
nur um wenige Procente variirt, ist ärmer geworden, denn sein Capital hat
sich nicht oder wenig vermehrt, der Zinssatz ist schon herabgesetzt oder wird
sicher herabgesetzt werden. Derjenige dagegen, welcher schwere Eisenbahnen
oder gute Banken gehabt hat, hat durch die Steigerung den Verlust, welchen
ihm die Verminderung des Geldwertes zufügt, überreichlich gedeckt. Wenn
man aber nach links und rechts weiter geht, so stehen links die großen Ge¬
winner, rechts alle Diejenigen, welche außer Stande sind, irgend etwas für
die Verbesserung ihrer Lage zu thun und auf welche also der Umschwung als
eine furchtbare Last drückt. Es wiederholt sich das Gesetz, daß die Reichen
immer reicher, die Armen immer ärmer werden. Bei der letzten Einschätzung
ist in Berlin nur ein Mann gewesen, der mehr als 240,000 Thaler Einkünfte
hatte, jetzt man deren fünf gefunden. Das ist der Zuwachs eines Jahres.
Jede der neuen Banken und industriellen Gesellschaften wirft nicht nur Allen,
die bei der Gründung betheiligt find, enorme Gewinne ab, sondern sie schafft
ein halb Dutzend oder ein Dutzend lucrative Stellungen, allerdings Be¬
amtenstellungen, über welchen der sichtbare Verwaltungsrath und die unsicht¬
bare Actiengesellschaft, das heißt das Capital waltet. Je größer der Vor¬
sprung der Actiengesellschaft ist (und es ist aller Grund anzunehmen, daß die
Vortheile dieser Form wirklich so groß sind, daß sie allmälig die Privatunter¬
nehmungen fast ganz verdrängen wird), um so mehr wird sich das Capital
ihnen zuwenden, ohne daß jemals der Capitalist dem Unternehmen näher
treten kann, wenn er auch einmal aufhören sollte, gänzlich ein Spielball in
den Händen der Administratoren zu sein. Wie der Geist über dem Wasser,
schwebt das Capital über den Actiengesellschaften, aber der Besitzer des Capitals
ist so wenig an die Scholle gebunden, daß er damit auch seine Persönlichkeit
verloren hat. Er ist Speculant oder Rentier und nur, wenn einmal eine
Katastrophe kommt, rafft er sich wohl auf und sieht, daß diese Art der Frei¬
heit doch ihre Schattenseiten hat.
Und nun das Merkwürdigste! Wird ein industrielles Unternehmen in
eine Actiengesellschaft umgewandelt, so tritt an die Stelle der Privatspeculation
und der freien Arbeit des Unternehmers die besoldete Amtsarbeit.
Das soll ja der Vortheil dieser Art der Geschäftsführung sein', daß sie er¬
haben ist über die kleinen Leiden und Freuden des Privatmanns, der seine
Haut zu Markte trägt, daß Alles seinen ruhigen Gang geht, ohne die dumme
Unruhe eines pickenden und pochenden Menschenherzens. Auf diese Weise hat
-bis zu einem gewissen Punkte der Jud ustrial ismus, auf der Spitze seiner
Entwickelung angelangt, die Forderung des Socialismus erfüllt: er hat
den Beamten an die Stelle des Unternehmers gesetzt und die Conse-
quenz ist nicht zu unterschätzen.
Es ist unweise, das Auge von diesen Erscheinungen abwenden zu wollen-
Sie sind wichtiger als die augenblickliche politische Lage, welche ein paar kleine
Nuancen durchläuft und doch immer dieselbe Farbe behält. Nur ein Unvor¬
hergesehenes, wie man zu sagen pflegt, statt eines wohl Vorherzusehenden
kann diese Nuhe brechen, aber selbst wenn Thiers oder der Papst stürbe, so
würde jetzt und in der nächsten Zeit die Stellung Deutschlands, die nur durch
zwei Dinge — durch innere Zwietracht und durch eine Koalition mehrer
Großmächte — gefährdet werden kann, immer noch stark genug sein, eine
K
Wir sehr das Interesse an den Verhandlungen des Reichstags die Theil¬
nahme für alle Sonderlandtage zurückdrängen mag, selbst in den betreffenden
Staaten, geschweige denn im übrigen Reich: mit dem preußischen Landtag
bleibt es doch anders. Das zeigte wieder die Spannung, mit welcher die
Thronrede zur Eröffnung dieser Session erwartet wurde. Der Grund liegt
nicht an den größeren Verhältnissen des preußischen Staates allein. Er liegt
wohl besonders darin, daß die deutschen Staaten, bewußt oder unbewußt,
auch einer Gleichartigkeit der inneren Einrichtungen zustreben, welche der Com-
petenz des Reiches nicht unterliegen. Bei diesem naturgemäßen Drange muß
die innere Gesetzgebung desjenigen Staates die allgemeine Aufmerksamkeit auf
sich ziehen, der die größte Mannigfaltigkeit und Entwickelung der socialen
Elemente besitzt.
Die Erwartung wichtiger Vorlagen, welche sich an die diesjährige Herbst¬
session knüpfte, ist durch die Thronrede nicht getäuscht worden. Nachdem der
König seinem Volke, dessen Vertreter er seit dem Ausbruch des Krieges von
^870 zuerst wieder in Person begrüßte, nochmals seinen Dank für die er¬
hebende Haltung während des großen Kampfes ausgesprochen, wendet er sich
^n inneren Aufgaben zu. Die verfügbar gewordenen Summen des preußi¬
schen Staatsschatzes, den fortan ein Neichskriegsschatz ersetzt, und einige an¬
dere außerordentliche Einnahmen sollen zur Tilgung von Staatsschulden ver¬
wendet werden. Die solchergestalt erwachsende Entlastung des Staatshaus¬
haltes soll zunächst zur Erhöhung der Beamtenbesoldungen dienen. Aber
"Ach einzelne Steuererleichterungen werden in Aussicht gestellt. Neue Anlagen
auf dem Gebiet des Eisenbahnbau.es und der sonstigen Communicationsmittel
sollen hinzutreten. Auf dem Gebiet neuer Verwaltungseinrichtungen wird
das seit Jahren in Frage stehende Gesetz, welches die Befugnisse und den
kschGäftsgang der Oberrechnungskammer regeln soll, für diese Session ver-
heißen. Ebenso die erneuerte Vorlegung der Gesetze über den Erwerb des
Grundeigenthums und über das Hypothekenrecht. Es wird bei Erwähnung
dieser Gesetze die Hoffnung betont, daß dieselben durch die möglich gewordene
Ermäßigung der Kostensätze für die Geschäfte bei dem Grundbuch an Aussicht
auf Annahme gewonnen haben. Die Kreisordnung wird wieder vorgelegt
werden. Es wird betont, daß dieses Organisationsgesetz die Grundlage wei¬
terer Reformen enthält. Doch zeigt die vereinzelte Vorlage der Kreisordnung,
daß die Umformung der gesammten inneren Verwaltung nicht mit einem Male
in Angriff genommen werden soll. Es wird im Gegentheil die vorgeschrittene
Übertragung provinzieller Angelegenheiten an die Verwaltung durch die bis¬
herigen ständischen Organe lobend erwähnt.
Am Schluß wendet sich die Thronrede zu den großen Fragen der Be¬
ziehung zwischen Kirche und Staat und zu der Gestaltung des öffentlichen
Unterrichts. Es wird der Wille ausgesprochen, neben der Selbstständigkeit
der Kirchen und Religionsgesellschaften auch die Glaubens- und Gewissens¬
freiheit der Einzelnen zu schützen. Es sollen zu diesem Zweck Vorlagen er¬
folgen , welche die Einrichtung der Civilstandsregister anordnen und die Mög¬
lichkeit einer bürgerlichen Eingehung der Ehe in erweitertem Umfang, als bis
dahin, herstellen. Wir fügen zur Erläuterung hinzu, daß die bürgerliche
Eheschließung bis dahin nur Solchen gestattet war, die ihren Austritt aus
einer der anerkannten Kirchen gerichtlich erklärt hatten. Die Befugniß wird
jedenfalls erweitert werden. Dagegen erklärt die Thronrede noch nicht, ob die
bürgerliche Eheschließung obligatorisch eingeführt werden soll. Wir möchten
annehmen, daß, wenn die bürgerliche Eheschließung in der zu erwartenden
Regierungsvorlage noch nicht obligatorisch vorgeschrieben sein sollte, der Land¬
tag die Herbeiführung dieser Vorschrift in seiner Hand hat. Auch über die
rechtlichen Wirkungen des Austritts aus der Kirche werden neue gesetzliche
Bestimmungen angekündigt.
Der evangelischen Kirche soll ein Gesetzentwurf über die Aufbringung der
Synodalkosten zu Theil werden, als Vorbereitung für die Einrichtungen,
welche der Staat herzustellen der evangelischen Kirche schuldet, um derselben
die selbstständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten zu ermöglichen.
Mit der Verheißung der Vorlage eines allgemeinen Unterrichtsgesetzes
und der Ankündigung, den Zwecken des öffentlichen Unterrichts neue beträcht¬
liche Mittel zu Gebot zu stellen, schließt die Thronrede. Der an gesetzgeberi¬
schen Absichten von eingreifender Bedeutung reiche Inhalt derselben läßt
erwarten, daß wir einer nicht minder inhaltvollen und überdies durch Geistes¬
kämpfe bewegten und anziehenden Landtagssession entgegengehen, deren Dauer
Es ist bekanntlich ein allgemeiner Charakterzug unserer neueren Geschichts¬
schreibung, daß sie, wo immer möglich, sich an die urkundlichen und actenmäßigm
Quellen wendet; aus den Archiven liebt man sich seine Informationen zu
holen. Und wenn man früher mit Argwohn und Mißtrauen die Thüren
der Archive zugeschlossen gehalten und jeden Besucher unliebsam abgewehrt
hatte, so ist das jetzt ganz anders geworden. Man hat eingesehen, welche
Förderung der Ehre und dem Gerüchte historischer Personen durch genaue
und zuverlässige Kunde gebracht zu werden pflegt, und fast überall nimmt
Man nun denjenigen freundlich auf, der über vergangene Geschichten eines
Landes oder Hofes oder über das Leben einzelner hervorragender Menschen
Aufklärungen sucht. Verschieden ist der Grad der Freundlichkeit und Huma¬
nität, mit der Archivstudien an verschiedenen Stellen gefördert werden: aber
das System förmlicher Thorsperre wird doch heute kaum irgendwo noch ge¬
übt, etwa mit Ausnahme des Vaticans. Ganz besonders musterhaft, größer
irgendwo anders ist die Liberalität in Wien, seit Alfred von Arneth
die Direktion des Staatsarchivs übernommen. Nicht allein, daß von den
Ärchivbeamten selbst die nützlichsten Arbeiten unternommen sind, nicht allein
daß Arneth in ununterbrochener Folge zur östreichischen und zur europäischen
beschichte die allerschätzenswerthesten Beiträge geliefert hat, noch mehr in der
großartigsten Weise ist der Zutritt auch andern Forschern gestattet und wird
die Arbeit fremder Historiker hülfreich gefördert. Wir nennen nur die nord¬
deutschen Historiker Arnold Schäfer, Heinrich von Sybel, Karl von Noorden
und Leopold von Ranke, welche in letzter Zeit dort archivalische Studien ge¬
pflogen haben.
Wenn nun in dieser Weise Wien zu den hauptsächlichsten Fundgruben
Unserer Geschichtsbereicherung in letzter Zeit gehört, so ist ganz besonders
dankenswert!), daß einer der östreichischen Forscher, G. Wolf, eine „Ge¬
schichte der k. k. Archive in Wien" (Wien, Braumüller 1871) veröffent-
hat. Der Versasser berichtet über die ältesten Actensammlungen, die im
16- Jahrhundert schon angeordnet wurden, und stellt die vereinzelten Notizen
über das Archivwesen dieser früheren Zeit zusammen. Die eigentliche Stif¬
tung des geheimen Haus-, Hof- und Staatsarchivs fällt aber erst in die Zeit
der Maria Theresia; die äußere, und wenn man so sagen darf, auch die innere
Geschichte dieses Archivs hat Wolf von 1749 bis 1869 verfolgt, die wichtigsten
Erwerbungen von älteren Documenten verzeichnet. Daneben berichtet er
ebenso auch über die Sammlungen von Documenten im Finanzministerium,
im Ministerium des Innern, des Krieges, der Justiz und des Cultus; merk¬
würdige Schicksale haben einzelne Theile dieser Sammlungen erlebt. Wieder¬
holt hat man den Plan gehabt einer Vereinigung der einzelnen zu einem
großen Centralarchiv: große Vortheile würde dies haben, aber gerade die
eigenthümliche Gestaltung der Monarchie in neuester Zeit hat der Verwirk¬
lichung eines solchen Gedankens fast unübersteigliche Hindernisse in den Weg
gestellt. Aeußerst erwünscht ist, daß man hier wenigstens im Großen orien-
tirt werden kann, wo in Wien bestimmte Dinge gesucht werden müssen: auch
weitere Kreise werden mit Interesse in den Mechanismus solcher Institute
einen Einblick erhalten.
Die Erkenntniß, daß Archive nicht allein Sammelpunkte für die Acten
der Staatsregierung und Staatsverwaltung seien, daß sie vielmehr auch als
literarische Institute betrachtet und demzufolge als solche behandelt werden
müssen, diese Einsicht ist auch schon früher in Wien vorhanden gewesen;
nichtsdestoweniger hat man sich schwer entschlossen, in der Praxis darnach zu
handeln. Wenn früher, so schildert Wolf dies Verfahren, ein Privatgelehrter
das Ansuchen stellte, eine gewisse Partie im Archive benutzen zu dürfen, so
wurde das Gesuch der Archivdirection zur Begutachtung übergeben. Diese
suchte zunächst Herz und Nieren des Petenten zu erforschen und wenn sie nichts
Bedenkliches fand, so rieth sie, das Gesuch zu genehmigen. Es war dann
Aufgabe eines Archivbeamten, die betreffende Actenpartie zu durchforschen und
das etwa bedenklich Erscheinende zu entfernen und zwar in solcher Weise, daß
derjenige, der die Acten benutzte, nichts davon merkte. Der einzelne, sehr oft,
ja meistens in der ungenügendsten Weise vorgebildete Archivbeamte hatte die
Verantwortlichkeit; er hatte in letzter Instanz über die Details entschieden;
ein Versehen konnte nicht wieder gut gemacht werden: was Wunder, daß bei
solcher Praxis die einzelnen Unterbeamten wie Drachen über ihren Archiva¬
ren saßen? — Ist das heute wirklich überall besser geworden? In Wien
seit Arneth's Leitung allerdings, anderwärts ist nur an einigen Stellen eine
gründliche principielle Reform durchgedrungen. In Wien hat jetzt einer der
sachkundigsten, einsichtigsten und unbefangensten Forscher, eben Arneth, die
Entscheidung in eigener Instanz über die Gewährungen des Archives zu
Zwecken wissenschaftlicher Forschung. Man kann sagen, in diesem Punkte
haben wohl alle Archive Europas, fast ohne Ausnahme, an Wien sich ein
Muster zu nehmen, nicht am wenigsten das Berliner, das trotz mancher
Reformen doch immer noch an den bureaukratischen Traditionen allzu zäh
festhält.
Wir nehmen Gelegenheit, zu gleicher Zeit auf einige neuere Arbeiten
hinzuweisen, welche aus den Wiener Archiven geschöpft und von östreichischen
Forschern verfaßt sind. Denn auch das ist ein sehr erfreuliches Zeichen, viel¬
leicht eine Frucht der liberalen Archivverwaltung, daß gerade über die neuere
östreichische Geschichte so außerordentlich wichtige Veröffentlichungen geschehen.
Nicht alles ist gleich gut gearbeitet, aber die Borzüge guten Materials machen
sich doch überall fühlbar. Wir nennen nur die werthvolle Sammlung, welche
Professor sinket über die Theilnahme Oestreichs am Tndentiner Concile be¬
gonnen hat (Zur Geschichte des Concils von Trident. Actenstücke aus östrei¬
chischen Archiven. 1. Abthl. 1870.). Ein anderer Schriftsteller, Wilhelm
Edler von Janko, der über Wallenstein 1867 und über Laudon 1869
schon Bücher geschrieben, welche gerade nicht von historiographischer Begabung
chres Autors zeugten, von denen aber doch das letztere schätzenswerthe Acten¬
stücke kennen lehrte, derselbe veröffentlichte vor kurzem ein neues Werk: „La-
Zcirus Freiherr von Schwendi, oberster Feldhauptmann und Rath Kaiser
Maximilian's II. Nach Originalacten des k. k. Haus-, Hof- und Staats¬
archives, der Archive der k. k. Ministerien des Inneren, der Finanzen und
des Krieges. Wien, Braumüller, 1871." Die schriftstellerische Befähigung
Herrn von Janko hat darin wenig Fortschritte gemacht, auch die For¬
schung ist nirgendwo zum Abschluß gebracht: daneben aber ist doch auch Ein¬
zelnes aus den Wiener Archiven verwerthet und mitgetheilt. Wir haben einen
Dilettanten vor uns, der für historische Arbeiten Interesse und Fleiß zu be¬
sitzen scheint: ein Beispiel, wie ohne Ansehen der Person und ohne Prüfung
^r Befähigung des einzelnen Benutzers mit löblicher Liberalität heutzutage
die archivalischen Schätze in Wien für alle Welt nutzbar gemacht wer¬
den. Und das ist doch auch für eine Archivverwaltung der einzig rich¬
te Weg!
Wie solche Studien zu machen sind, lehrt Alfred von Arneth, der
Vorstand des Staatsarchives, durch eigenes Beispiel und eigenen Vorgang.
Die östreichische Geschichte des 18. Jahrhunderts wird durch ihn allmälig auf
ganz neues Fundament gestellt. In darstellenden Werken (Prinz Eugen
^°n Savoyen 1864 — Marie Theresia 1862 — 1864), in archivalischen Ver¬
öffentlichungen (Briefwechsel Maria Theresia's mit Maria Antoinette, mit
Joseph II., Joseph mit seinen Geschwistern, Joseph's und Katharina's II.)
3ehe er ununterbrochen und unermüdlich vorwärts, und gibt der Auffassung
iener größten unter den modernen östreichischen Fürsten eine ganz neue, gut
^gründete Gestalt.
Neben Arneth arbeitet Adam Wolf in ähnlicher Weise: seine Bücher
berühren und ergänzen vielfach sich mit Arneth gegenseitig. In diesem Jahre
verdanken wir ihm die schöne und lehrreiche Studie „über die Aufhebung
der Klöster in Jnneröstreich 1782 — 1790." Charakter und Umfang
dieser Secularisationen unter Joseph II. ist eingehend aus den Acten selbst
geschildert, und damit die ultramontane Entstellung des Vorganges aus den
ächtesten Quellen in der nüchternsten Weise von der Welt widerlegt.
Auch Professor Adolph Beer in Wien beschenkt uns neuerdings mit
den werthvollsten Beiträgen zur diplomatischen Geschichte der Maria Theresia
(Abhandlungen in dem Archiv für östreichische Geschichte: „Holland und der
östreichische Erbfolgekrieg", „Zur Geschichte des Friedens von Aachen 1748";
sodann Aufzeichnungen des Grafen Bentinck über Maria Theresia."). Beer
stimmt mit den von Arneth gewonnenen Resultaten über die Vorgeschichte
des 7jährigen Krieges nicht ganz überein; aber er verdankt der Arneth'schen
Verwaltung, daß er aus den Wiener Archiven das Material zu seinen Ein¬
würfen gegen Arneth erhält. Jedermann sieht, wie gerade durch solches
contradictvrisches Verfahren über einzelne Punkte, das sich auf urkundliche
Zeugnisse von beiden Seiten stützen kann, die historische Wissenschaft gefördert
werden muß.
Zuletzt erwähnen wir noch das nachgelassene Werk eines schon verstorbenen
Arbeiters auf diesem Gebiete. Der Freiherr von Hock hatte sich eine Dar¬
stellung der obersten Regierungsbehörde der östreichischen Länder, des Staats¬
rathes, zur Aufgabe gemacht, und schon 1868 einen Theil, die Zeit Maria
Theresia's umfassend, in Druck gegeben.
Aus seinem Nachlasse bringt jetzt Bidermann das Manuscript über den
„Staatsrath unter Joseph II.", von dem Herausgeber revidirt und ergänzt.
Es ist eine äußerst interessante Sache, die eigentliche Centralmaschine der Re¬
gierung in ihrer Arbeit zu betrachten. Die einzelnen Persönlichkeiten der
Staatsräthe treten hier in scharfen Umrissen gezeichnet vor uns auf; über
ihnen Kaiser Joseph in seinen Verwaltungsexperimenten, mit seinem tragischen,
erschütternden Ausgange. Gerade indem wir in den Geschäftsgang und die
Geschäftsbehandlung im Einzelnen hineinsehen, lernen wir das Ende ver¬
stehen und fühlen eine Vorahnung in uns aufwachen, wie dies heutige Oest¬
Das neue Jerusalem der Mormonen, von den Profanen Saltlake-City
oder die Salzsee-Stadt genannt, liegt nicht, wie man glauben könnte, unmit¬
telbar an dem großen Salzsee von Utah, sondern etwa 16 englische Meilen
von demselben entfernt, am westlichen Abhang des Wahsatch-Gebirgs und über
einem schönen klaren Strom, welcher der Abfluß des Utahsee's in den großen
Salzsee ist und von den Mormonen den Namen des westlichen Jordan er¬
halten hat.
Wer die Schilderungen gewisser englischer Touristen liest, muß glauben,
das Zion der Mormonen sei eine Prachtstadt, ein Weltwunder. In der
Wirklichkeit ist es ein ziemlich elender Ort, der an Schönheit, Wohlstand und
Gewerbfleiß von sehr vielen jüngeren Städten des fernen Westens übertroffen
Wird, und der, um nur einige Beispiele für seine geringe Entwicklung zu dem
anzuführen, was wir heutzutage unter einer Stadt verstehen, weder nächtliche
Beleuchtung, noch ein einigermaßen genügendes System von Abflüssen und
nur auf einer einzigen Straße Pflaster besitzt. Die prachtvolle Landschaft, in
welcher der Ort liegt, die herrlichen, zum Theil mit ewigem Schnee gekrönten
Berggipfel, welche in seiner Umgebung sich erheben, mögen die überdies aus
der Wüste kommenden und durch den Contrast in ihrem Urtheil gestörten
Reisenden verleitet haben, Würde und architektonischen Erfolg zu sehen, wo sie
in Wahrheit ein recht mittelmäßiges Landstädtchen vor sich hatten.
Der Flächenraum, den die Stadt bedeckt, beträgt genau vier Quadrat¬
meilen, englisches Maß, und die Zahl der Einwohner wird 18000 nicht über¬
steigen. Dieses Mißverhältniß zwischen Ausdehnung und Seelenzahl der
Stadt erklärt sich daraus, daß jedem Bürger bei der Anlage eine sehr große
Baustelle zugetheilt wurde, daß in Folge dessen die einzelnen Häuser durch
weite Zwischenräume getrennt sind, und daß die schnurgrader, sich in rechten
Winkeln schneidenden und 130 Fuß breiten Straßen sich in kurzen Entfer¬
nungen folgen. Die Häuser sind meist aus Luftziegeln von bläulichem Thon
gebaut, einstöckig und mit Schindeln gedeckt. Fast alle stehen in Gärten mit
Dbstbäumen, Weinstöcken, Rosen und Sonnenblumen, 13 bis 20 Schritt von
der Straßenfront des betreffenden Grundstücks entfernt. Am dichtesten stehen
sie in der östlich von dem Quadrat, wo der Tempel hinkommen soll, sich hin¬
ziehenden Hauptstraße, auf der sich die Wohnungen von Uoung, Klubalk und
Wells, den obersten Häuptern der Mormonen, das Rathhaus, der „Speicher
des Herrn," das Tabernakel und einige Kaufläden, Banken und Hotels be¬
finden. Das Haus, in welchem Uoung wohnt, ist zweistöckig und von rothem
Sandstein erbaut, aus welchem Material auch das Rathhaus und etwa noch
drei oder vier Gebäude dieses Stadttheils bestehen. Weiter vom Mittelpunkte
der Stadt werden die Straßen einsamer, die Häuser seltener, und ganze Stadt¬
vierecke bestehen nur aus großen Obst- und Gemüsegärten, in denen hier und
da eine kleine weiße mit Schlingpflanzen überwachsene Villa sichtbar ist.
In der ersten Straße südlich vom Tempelquadrat begegnen wir der
Stadthalle, wo sich das Untergericht und das Hauptquartier der Polizei be¬
finden, und dem Theater, welches außen dorische Säulen zeigt. Es hat weder
Vorhang noch Logen, noch irgend welche Zierrathen, außer einem Anstrich von
Weiß und Gold. In der Mitte des Parterres steht ein Schaukelstuhl für
den Propheten, um den sich die Sitze derer reihen, welche Anspruch darauf
machen, ihm an Ansehen die Nächsten zu sein. Die Ausstattung mit Cou¬
lissen und Maschinen ist dürftig, dagegen verwendet man ziemlich viel auf das
Costüm. Gewöhnlich giebt es nur kurze Stücke, wie im Tabernakel nur kurze
Predigten, auch zieht man Lustspiele vor. Doch werden auch Rührdramen
aufgeführt, z. B. „InAomg-r tus og.roi'zur>," d. h. auf deutsch: Halms „Sohn
der Wildniß." Nach dem Schlüsse des Stückes folgt in der Regel ein lustiges
Lied, in welches das Publicum einstimmt. Der Prophet hält es nicht für
unpassend, seine Töchter mit Komödie spielen zu lassen, ja er ist der Haupt¬
gönner des Theaters. Das Theaterorchester spielt sehr unvollkommen, aber
das hindert die in musikalischer Hinsicht nicht verwöhnten und bei Schilderung
ihrer Einrichtungen vor Fremden sich gern in Hyperbeln ergehenden Heiligen
nicht, seine Leistungen „die süßeste Musik auf Erden" zu nennen.
Im Ganzen hat Neujerusalem den Charakter eines großen Dorfes. Die
vielen Bäume auf den Straßen, das überall bergabrinnende Wasser, die Vieh-
heerden, die sich zu allen Tageszeiten durch die Stadt bewegen, die Kühe, die
auf den öffentlichen Plätzen gemolken werden, geben ihm das Aussehen einer
Ansiedlung von Hirten. Leichte Bergwagen stehen umher, Gespanne von
Ochsen und Maulthieren werden ausgeschirrt, und sonnenverbrannte Zuwan-
derer, die eben von den Prairien oder aus der Wüste zwischen hier und
Californien hereingekommen sind, sitzen, dankbar für den Schatten und das
Wasser, unter den Akazien zwischen Fahrstraße und Fußweg und plätschern
mit den Füßen in den kühlen Bächen. Gelegentlich zieht ein Trupp lang¬
haariger Snake-Jndianer vorüber. Bisweilen begegnen wir einem Stutzer aus
den benachbarten Diggings mit rother Atlasschärpe und ungeheuren Wasser¬
stiefeln. Jener Bursch mit dem breitrandigen Sombrero, der mit seinem
kleinen sehnigen Pferde den Staub der Straße aufwirbelt, ist vielleicht ein
Wegelagrer aus Neumerico, und dort die beiden blauen Uniformen sind Offi-
ciere aus Camp Douglas, dem Lager „der Heiden." Der Himmel über dem
Allen ist wundervoll klar und rein, und prachtvoll schauen aus der Ferne die
sonnenbestrahlten Gebirge mit ihren Schneehörnern und ihren dunkeln Schluch¬
ten herab.
Die Bevölkerung der Stadt lebt in der That vorwiegend von der Vieh¬
zucht, dann vom Ackerbau. Das Handwerk ist natürlich unter ihr auch ver¬
treten ; wenn die Mormonen selbst oder ihnen gewogene Touristen aber auch
von Fabriken reden, die hier blühen sollen, so ist das mit Vorsicht aufzuneh¬
men. Allerdings giebt es in der Salzsee-Stadt und in ein Paar anderen
Orten Utahs ein halb Dutzend Geschäfte, welche die Anfertigung von Woll¬
waaren und Nägeln einigermaßen fabrikmäßig betreiben. Das ist aber auch
Alles, und wenn man in den Mormonenblättern von den großen Werkstätten
liest, in welchen „die Kirche" jeden neueintreffenden Arbeiter so lange beschäf¬
tigt, bis er sich selbständig machen kann, so hat man sich etliche
Bretterschuppen vorzustellen, in denen sich einige Hobelbänke und
Schraubstocke befinden und im Ganzen höchstens einige zwanzig Leute zu
thun haben.
Ganz ebenso, oder noch kläglicher verhält es sich mit den höheren Bil¬
dungsanstalten, welche die Latterday-Saints in den Berichten über ihre heilige
Stadt besitzen wollen, und die. wenn man ihnen glauben dürfte, mindestens
ein vortrefflicher Anfang wären. Diese Berichte sind Flunkereien. Brigham
Noung kann für seine Kirche nur ungebildete Leute brauchen, keine Wissen¬
schaft oder nur mormonisirte Wissenschaft, und was das heißt, werden wir
sogleich sehen.
Wie es jetzt mit dem steht, was man als Universität von Deseret be¬
zeichnet hat. mag uns der Reisende Schiel erzählen: „In einem Dachzimmer
des Statehouse bewahren die Mormonen einige kostbare Instrumente, deren
Gebrauch sie mir für die Zeit unseres Aufenthaltes in Saltlake-City anboten,
da sie doch Niemand unter sich hätten, der mit denselben umzugehen ver¬
stände. Es war ein vortreffliches Roß'sches Mikroskop neuester Construction
darunter, und das Erstaunen einiger ihrer Schriftgelehrten über die Wunder,
die ihnen das kleine Instrument offenbarte, als ich ihnen einige Objecte unter
^e Augen brachte, war nicht gering. Sie besaßen nicht weniger als 6 Baro¬
meter für Höhenmessungen von dem bekannten englischen Mechaniker Trough-
ton, aber alle hatten Luft in die Leere bekommen oder waren durch unver¬
ständigen Transport sonst schadhaft geworden, nicht ein einziges war brauch¬
bar. Ein chemischer Apparat in Form eines großen Neagenskastens war
ebenfalls vorhanden, ebenso ein Teleskop und kleinere Meßinstrumente. Ein
Theil der Bibliothek, zu deren Anschaffung der Congreß dem Delegaten der
Mormonen v. Bernhisel fünf Tausend Dollars bewilligt hatte, und in welcher
"eben den großen englischen Encyclopädien die Rechtswissenschaft ziemlich gut
^epräsentirt war, ging 1852 in Feuer auf. und zwar, wie man behauptet,
unter Vorwissen der Behörden der Mormonen, denen namentlich die Rechts¬
wissenschaft unbequem war."
Seitdem hat sich nichts zum Besseren gewendet, man müßte denn noch
ein paar Bücher und Instrumente, welche die englischen Brüder seitdem ge¬
schickt haben, und ein halb Dutzend Professorentitel dahin rechnen, welche
Uoung an Dilettanten verliehen hat.
„Das Schulwesen ist in Utah noch nicht über die Elemcntarstufe hinaus¬
gekommen," sagt Busch, dem wir hier in Auszügen folgen"), was ganz be¬
greiflich und in der Ordnung ist. Dafür wird die Wissenschaft aber künftig,
wenn den großartigen Absichten, welche die Führer der Secte wiederholt kund¬
gaben, und den Wunderdingen, die sie prophezeiten, zu trauen ist, um so kräf¬
tiger gepflegt werden.
Sobald man dazu Zeit gewinnt, wird man für die Universität auf der
Terrasse im Norden der Stadt ein stattliches Gebäude, umgeben von Hainen
mit Springbrunnen und von botanischen Gärten, von Bädern, Reitbahnen
und Fechtschulen, erbauen. Sodann wird sich mit derselben ein Laboratorium,
eine Anstalt zur Ausbildung von Ingenieuren und Landvermessern und eine
Bergschule verbinden, und schließlich soll auch die Landwirthschaft an ihr nicht
leer ausgehen.
Man wird aber nicht allein vielerlei, sondern auch viel lernen an dieser
Hochschule Zions. Die Mormonenphilosophen werden eine Menge von Ge¬
heimnissen entschleiern und eine Unzahl von Räthseln lösen. Sie werden, wie
uns versichert wird, das Reich der Wissenschaft vollständig revolutioniren und
die größten Gelehrten, namentlich in der Mathematik und Physik, des Irr¬
thums überführen. Der Geolog und der Chemiker wird von ihnen die tief¬
sten und merkwürdigsten Aufschlüsse über die Wunder der Tiefe erhalten, der
Botaniker und Zoolog bei ihnen Belehrung über die Principien des Lebens
in Pflanze und Thier empfangen. Die Geschichte wird ebenfalls sehr wich'
tige Bereicherungen erfahren, und zwar, wie der Aelteste Phelps einmal in
einer sehr schwungvollen Rede verkündete, durch „Vorsteher der großen Uni¬
versität im Himmel," die Gott seinen Heiligen senden wird. „Was werden,"
so äußerte sich der Redner, „alle Herrlichkeiten der Zeit, die Erfindungen der
Menschen, die geschichtlichen Urkunden von Japhet in der Arche bis zu Ion«'
than im Congresse, was werden der gesammte Witz und Geist, die gesammten
Errungenschaften des Verstandes mit aller ihrer Methode den Heiligen ovo
jüngsten Tage werth sein, wenn unser Vater im Himmel seine Regenten herab¬
sendet, seine Engel aus der großen Bibliothek des himmlischen Zion, wenn er
sie herniederschickt mit einer Abschrift der Geschichte des ewigen Lebens, den
Urkunden der Welten, dem Stammbaum der Götter, der Philosophie der
Wahrheit, dem Verzeichnis) unserer Namen aus dem Buche des Lebens auf
dem Schooße des Lammes und den Gesängen der seligen Geister."
Die größte Umwälzung aber wird auf dem Gebiete der Astronomiesher-
vvrgerufen werden. Hier wird das ganze bisherige Weltsystem-durch Auf¬
schlüsse über die Zahl, die Ordnung, die Natur und das Verhältniß der Pla¬
neten, Fixsterne und Kometen zu einander durchaus modificirt werden. Was
für Belehrung wir in diesem Kreise zu erwarten haben, findet der Wahrheits¬
freund in dem „Buche Abrahams" angedeutet, welches einst neben einigen
ägyptischen Mumien nach Nauvoo gebracht wurde, wo der Prophet Joseph
einen Theil der Schrift, die von dem glaubensreichen Erzvater während seines
Aufenthaltes am Nil verfaßt worden, in's Englische übersetzte, Einen anderen
Vorschmack dessen, was der Wissenschaft von den Gelehrten Deseret's bevor¬
steht, haben wir in dem Aufsatze eines ihrer Mathematiker, in welchem der¬
selbe während seines Aufenthaltes in England allen Ernstes den Versuch
Machte, die Newton'schen Theorien von der Schwerkraft, der Attraction und
Repulsion umzustoßen und an ihre Stelle eine Intelligenz des Grundstoffes
oder eine „Einziehung und Gegenwart des heiligen Geistes in der Atomen¬
masse" zu setzen."
Der beste Zug im Charakter der Mormonen ist ihre Arbeitsamkeit. „Ein
Träger kann kein Christ sein und nicht selig werden," lautet wörtlich der
Schluß ihres Glaubensbekenntnisses. Wenn sie nach jeder Verfolgung sich
nisch erholten, wenn sie ohne bedeutendes Talent und ohne viel Wissen unter
'dren Führern sich in der Wüste der Felsengebirge festzusetzen, zu halten und
Eidlich zu gedeihen vermochten, so war der Hauptgrund die energische Arbeit,
der sich alle Glieder der Gemeinde vom geringsten bis zum höchsten hinauf
^vn Anfang an bis jetzt Hingaben. Auch den Frauen ist gelehrt, daß Arbeit
Gott das angenehmste Opfer ist, und selbst die Weiber des Propheten müssen
sich ihr Brot durch Spinnen, Weben, Sticken und Nähen erwerben. Andere
^anhin Handschuhe und Fächer, stricken Strümpfe, schneiden Muster, präpa-
riren Sämereien und trocknen Aepfel und Pfirsiche. Den Männern fallen die
schwereren Arbeiten zu, die Sorge für Vieh und Feld (die beiläufig in Ane-
^ka allenthalben und ausschließlich in Männerhänden ist), die Anlegung von
dämmen und Gräben, das Holzfällen im Gebirge, der Transport von Bau-
Material und anderen Bedürfnissen, die Gärtnerei und der Betrieb der ver¬
schiedenen Handwerke. Auch die Priester und nettesten bis zu den Aposteln
"ud dem Propheten hinauf arbeiten und betreiben städtische und ländliche
Geschäfte; Brigham Young ist Baumwollpflanzer und Bretmüller, und der
wehste hohe Würdenträger nach ihm, Heber Klubalk, fabricirt Leinöl und
handelt mit Vieh. Orson Pratt ist Lehrer der Mathematik, Georg A. Smith
Landwirt!) und Müller, Orson Hyde Farmer, Wilfred Woodruff Viehhändler,
Georg Ccmnon Buchdrucker. Wieder andere Lichter der Kirche, z. B. der sehr
wohlhabende Aelteste Clawson, der Bourg's Schwiegersohn ist, halten Läden
mit Modewaaren und anderen Artikeln, noch andere sind Fuhrherren und
Spediteure oder Gastwirthe. Daneben hat jeder nach seinen Gaben für das
allgemeine Wohl zu arbeiten. Zahlreich sind die unbezahlten Obliegenheiten
der Bischöfe, die nicht so sehr auf das geistliche Befinden ihrer Heerde. als
darauf zu achten haben, daß die Glieder derselben ihre Aecker gut im Stande
und ihre Häuser sauber halten, daß sie ihre Kinder in die Schule schicken
und ihr Vieh gehörig füttern.
Dabei sind die Mormonen nichts weniger als sauertöpfische Fromme. Die
Erde ist geschaffen, daß man auf ihr arbeite, aber auch, daß man sich auf ihr
der Früchte seiner Arbeit freue. Die Bienen von Deseret sind daher ebenso
vergnügte als fleißige Bienen, und zwar mit Gutheißung und auf eifrige
Anregung ihres Propheten. Wie er den Heiligen ein Theater verschafft hat,
so hat er ihnen auch einen großen Tanzsaal gebaut und das Beispiel zu
Bällen und Concerten in Privathäusern, zu Wasserpartien, Picknicks und
anderen Vergnügungen im Freien gegeben. Die Küche ist bei den Wohl¬
habenden vortrefflich bestellt, und wenn man keine öffentlichen Trinkhäuser
duldet, so scheinen nach Diron's Berichten die Privatkeller der vornehmeren größer
Heiligen recht gut, selbst mit Champagner, versehen zu sein. Nirgends wohl
wird unter gleichen Verhältnissen so viel musicirt, gesungen und getanzt, als
in der heiligen Stadt der Mormonen. Die „Evening Parties" derselben sind
äußerst heitere Versammlungen. Häufig werden sie von den obersten geist¬
lichen Würdenträgern mit ihrer Anwesenheit beehrt, die den unvermeidlichen
Walzer oder Hopser mit einem Gebet eröffnen und sich in der Regel dann
selbst am Tanze betheiligen, ein Verhalten, welches Niemand verwundern wird,
wenn wir hinzufügen, daß derartige Bälle dereinst, wenn der große Tempel
fertig sein wird, einen integrirenden Bestandtheil des mormonischen Gottes¬
dienstes bilden sollen.
Wie jeder Mormone ein flotter Arbeiter und ein vergnügter Gesell sein
soll, so hat jeder auch die Pflicht, sich zum tapferen Soldaten auszubilden.
Die fleißige und lustige Biene trägt auch einen Stachel. Das Exerciren kann
fast als ein Theil des Rituals der Latterday-Saints betrachtet werden, da sie
ebenso verpflichtet sind, bei der Parade zu erscheinen, wie im Tabernakel, I"
jedem Hause finden wir Gewehre und Revolver, im Zimmer des Propheten
wie im Schuppen der Einwanderer, im Wohnzimmer wie in der SchlafkaM-
mer. ,.,Jn fünfzehn Minuten können wir." so rühmten sich die Führer der
Secte gegen Dixon, „dreitausend Büchsen um unsere Stadthalle versammeln,
und als einst das Alarmzeichen gegeben wurde, war diese Zahl wirklich unter
den Waffen. Doch scheint Uoung, der sich hiermit offenbar gegen ein Ein¬
schreiten der Centralregierung gegen seine Willkürherrschaft sicher zu stellen ge¬
dacht hat, jetzt, wo dieses Einschreiten erfolgt ist. nicht den Muth gefunden
oder zu viel Verstand und Ueberlegung besessen zu haben, um von seiner
Garde Gebrauch zu machen und es auf einen Kampf ankommen zu lassen.
Im vorigen Capitel sahen wir, daß eine der wichtigsten Pflichten des
Mormonen die ist, sich zu verehlichen. „Ein unverheiratheter Mann ist ein
Widerspruch, ein Vogel ohne Flügel, ein Körper ohne Seele." Ein Mann
sein, heißt im Stande sein, Kinder zu erzeugen, die Sehnsucht der unzähl¬
baren, im Himmel auf ihre Geburt wartenden Geister nach Existenz in fleisch¬
lichen Tabernakeln an seinem Theil zu erfüllen. Ein Unverheiratheter kann
Weder Priester noch Aeltester werden. Und weiter, wenn ein solcher eigentlich
gar kein Mormone ist, so ist der, welcher sich mit einer einzigen Frau begnügt,
nur ein halber Mormone, und die Folge ist, daß er nicht in die Ordnungen
der Oberpriesterschaft aufgenommen werden kann. Darnach haben sich in den
ätzten zwanzig Jahren die Verhältnisse und Gewohnheiten in Neujerusalem
nach dieser Richtung folgendermaßen gestaltet.
Ungefähr fünfhundert Aelteste und Oberpriester der in Utah angesiedelten
Mormonen leben in Polygamie, und davon hat jeder durchschnittlich vier
Frauen und ungefähr fünfzehn Kinder. Der Prophet und die beiden andern
Mitglieder der ersten Präsidentschaft gehen weit über diesen Durchschnitt hin¬
aus. Doch ist zu bemerken, daß unter ihren Gemahlinnen viele alte Wittwen
sind, die sich ihnen bloß der Ehre wegen und um im Himmel ihre Herrlichkeit
als Königinnen zu theilen, ansiegeln ließen. Der wirklichen Frauen Uoung's
gab es im Jahre 1868 zwölf, und von diesen hatte er damals achtundvierzig
Binder. Die vornehmste von allen war in dieser Zeit die erste Frau des
Propheten, Mary Ann Angell, eine alte Dame, deren Kinder, drei Söhne
und zwei Töchter, schon erwachsen sind. Sie wohnt in der „Weißen Villa",
dem ersten Hause, welches je im Salzseethale erbaut wurde. An Ansehen die
nächste nach ihr ist Eliza Snow. die Hymnendichterin der Mormonen. Sie
'se eine angehende Fünfzigerin, hat bei schneeweißem Haar dunkle Augen und
ünponirt durch würdevolle, etwas kalte Haltung. Man titulirt sie Fräulein,
und es ist möglich, daß sie zu Young nur in einem platonischen Verhältniß
^'e jene Wittwen steht. Ihre Wohnung ist im zweiten Stock eines statt-
i'chen Hauses, welches nach den zwei steinernen Löwen, die seinen Eingang
^erer (in Anspielung an den Ehrenbeinamen des Propheten „tus lion ot tke
^ra«) das „Löwenhaus" heißt. Als die Favoritsultanin des Doung'schen
Harems gilt Schwester Emiline, die eine Schönheit gewesen sein muß und
^it acht Kindern gesegnet ist. Weniger hervorragende Frauen des Mor-
monenpapstes sind Schwester Lucy, von welcher er gleichfalls acht, Schwester
Eliza Nummer zwei, eine Engländerin, von der er fünf, Schwester Marga¬
ret, von der er 4 Kinder hat; ferner Schwester Amalia, eine frühere Dienerin
Joseph Smith's, die dein Nachfolger desselben ebenfalls vier, Schwester Zina,
die als Lehrerin und als Dichterin gefeiert wird, und die dem Propheten drei
Kinder geboren hat, endlich Schwester Clara, die ihm drei Sprößlinge schenkte.
Wie viel Familie die College«, Houng's in der Präsidentschaft haben, ist
nicht genau bekannt. Heber Klubalk, der eine Mitregent, wird dem Pro¬
pheten an Weiber- und Kinderbesitz mehr weit nachstehen. Dagegen sind wir
in Betreff der zwölf Apostel der Kirche wieder bestimmter unterrichtet. Orson
Hyde, der erste derselben, hatte 1868 vier, Orson Pratt, der Dogmatiker,
gleichfalls vier, John Taylor sieben, Wilfred Woodruff drei, Georg A. Smith
fünf, Anasa Lyman vier, Ezra Benson ebenfalls vier, Charles Nich sieben,
Lorenzo Snow vier. Erastus Snow drei. Franklin Richards vier, Georg
Cannon endlich wieder drei Frauen.
Die Vielweiberei hat die Zahl der Mormonen unzweifelhaft wesentlich
vermehrt. Doch ist dies nur so zu verstehen, daß sie für die Missionär« unter
den „Heiden" in England und Dänemark, woher die Mehrzahl der Bewohner
Utah's stammt, ein guter Köder gewesen ist. Es leidet keinen Zweifel, daß
die „Predigt vom Evangelium" wesentlich leichter begriffen wurde und an¬
nehmbarer erschien, wenn sie den Bauern und Bergleuten von Wales, den
Webern von Lancashire und den Schneidern und Schustern von London und
Liverpool das Paradies am Salzsee als ein solches schilderten, wo ein Mann
nicht nur so viele Häuser haben kann, als er zu bauen vermag, sondern sich
auch so viele Frauen zulegen darf, als er zu ernähren und zu regieren im
Stande ist. Durch Geburten haben die Mormonen in Folge der Ein¬
führung der Polygamie ihre Zahl eher weniger als mehr verstärkt, als sie
gewachsen sein würde, wenn sie in Monogamie fortgelebt hätten.
Allerdings berichtet Diron, daß die Häuser in Utah von Kindern wim¬
meln. „Wo wir eine Frau sehen, säugt sie ein Kleines, wohin wir kommen,
zeigt man uns zwei oder drei. Dieses Thal ist in der That das Land der
Säuglinge. Es ist ganz gewöhnlich für einen Mann, zwanzig Knaben und
Mädchen in seinem Hause zu haben, die alle seine Sprößlinge sind. Ein
Kaufmann, bei dem wir gestern zu Tisch waren, konnte uns die Zahl seiner
Kinder nicht eher genau angeben, als bis er in einem Buche nachgeschlagen
hatte. Eine seiner Frauen, eine hübsche Engländerin mit dem landesüblichen
Säugling an der Brust, lächelte hold im Tadel über seine Vergeßlichkeit,
aber es war wirklich so, nur durch Zusammenzählen und Befragen kam er
dahin, uns jene Zahl genau sagen zu können. Dieser Patriarch ist erst
dreiunddreißig Jahre alt."
Damit ist aber nur bewiesen, daß die „Pluralismen" Deserets viele Kin¬
der haben, nicht, daß die Bevölkerung des Territoriums dadurch acht ge¬
wachsen ist, als anderswo, ja man darf erstens bei der durchschnittlich sehr
großen Fruchtbarkeit auch der monogamischen Ehen im Westen Nordamerika's
und zweitens bei dem Umstände, daß in neuen Kolonien stets mehr Männer
als Frauen und daß deßhalb in der neuen Colonie Utah die Polygamie viele
junge Männer zu gar keiner Frau gelangen läßt, mit ziemlicher Bestimmtheit
schließen, daß das Gegentheil der Fall ist.
Der Widerspruch zwischen dem Gebot der Vielweiberei und der verhältni߬
mäßig geringen Anzahl von Frauen im Mormonenlande wird zu einer Er¬
scheinung unter den Heiligen geführt oder doch beigetragen haben, die unsern
Anschauungen und Gewohnheiten noch ferner steht, als die Polygamie, indem
sie darin besteht, daß die Mormonen sich über die Grenzen hinweggesetzt haben,
welche Natur und Herkommen der Neigung, sich zu verheirathen. bei nahen
Verwandten zieht. Sie finden weder in der Natur, noch in der Offenbarung
einen Grund, aus dem Blutsverwandte sich einander nicht ehelichen sollten.
Wie die Kinder Adams und Eva's und die Enkel dieses ersten Menschen-
Paares sich unter einander heiratheten, wie Abraham seine Schwester Sarah
zur Frau hatte , wie die Indianer ihre Gattinnen sich aus ihrem Stamm im
engsten Sinn wählen dürfen, so darf der Mormone zwei oder drei Töchter
einer Mutter und eines Vaters, eine Tante mit ihrer Nichte, eine Mutter
und ihr Kind heirathen, und Fälle, wo man sich dieser Erlaubniß bedient,
sind nicht selten. Selbst die höhern Arten der Blutschande werden nur durch
den Rest eines Gefühls aus der „heidnischen" Welt verhindert. „Ich fragte
den Präsidenten", so erzählt uns Dixon, „ob er bei seinen Anschauungen
etwas gegen eine Heirath zwischen Bruder und Schwester einzuwenden habe. —
Für mich selbst, nicht für die Kirche sprechend, sagte er, sehe ich durchaus
kein Hinderniß. — Kommt diese Heirath je vor? — Niemals. — Ist
es von der Kirche verboten? — Nein, nur durch ein Vorurtheil. —
Die öffentlich Meinung gibt es nicht zu? — Ich selbst würde es nicht
thun, noch jemand es thun lassen, wenn ich es hindern könnte. -...... Also
Sie verbieten es nicht und thun es nicht? — Meine Bvrurtheile hindern
Mich daran."
Wie aber wirkt die Theorie von der „Pluralität" auf die Frauen Utah's?
Hier sagen uns die Führer der Mormonen zunächst, daß die große Mehrzahl
des schönen Geschlechts sich dieser Lehre nicht nur fügt, sondern gern fügt,
ja' daß viele Frauen fanatisch für dieselbe begeistert sind. Sie verweisen uns
darauf, daß der Prediger, der im Tabernakel das Beispiel Sarah's und Ra¬
nk's zur Nachfolge empfiehlt, seine eifrigsten Zuhörer auf den Bänken findet,
K>o die Damenwelt sitzt, daß in der Salzsee-Stadt ein Damenelub besteht.
der sich's zur Aufgabe gestellt hat, die Polygamie mit allen Mitteln zu för¬
dern, daß Dichterinnen sie preisen, Mütter sie ihren Töchtern als gottgefällig
rühmen, daß ältere Frauen sich glücklich schätzen, wenn sie dem Harem ihres
Gemahls eine neue Hagar oder Bilha zuführen können. Die Nichtmormonen
müssen zugeben, daß Einiges hiervon richtig ist. und daß es namentlich über¬
spannte Frauen in Utah gibt, welche, wie Belinda Pratt, die in einem ge¬
druckten und viel verbreiteten Briefe die Vielweiberei mit feurigen Worten
empfahl, in Wort und Schrift für das System der „Pluralirät" aufgetreten
sind. Die Adresse der dritthalbtausend Frauen, welche jetzt von dem Congreß
Aufrechthaltung des Instituts erbat, mag ebenfalls als Beweis für die Zu¬
friedenheit der Mormoninnen mit dem letzteren gebucht werden, obwohl es
sich fragt, wie viele Unterschriften von der eheherrlicher Gewalt oder der
Furcht vor der Präsidentschaft oder von dem Gedanken an die unsichere Zu¬
kunft, in welche die Betreffenden als zweite, dritte oder vierte Weiber durch
Auslösung des bisherigen Verhältnisses hinausgestoßen werden würden, dictirt
und wie viele von Ueberzeugungswegen erfolgt sind. Im Allgemeinen aber
ist die Polygamie nach allen Berichterstattern, von Gumirson und Schiel an
bis auf Dixon bei den weiblichen Heiligen nicht beliebt, und viele Mädchen
heirathen lieber gar nicht, als daß sie einen alten Oberpriester oder Aeltesten,
der seinen Harem mit ihnen zu vervollständigen wünscht, oder einen jungen
Mann nähmen, der ihnen nicht versprechen will, sich auf sein erstes Ehe¬
gelübde zu beschränken.
Die Vertheidiger der Vielweiberei sagen ferner, dieselbe habe auf die
Frauen einen vortrefflichen Einfluß geübt. Dieselben seien „im Thale" weit
häuslicher, weiblicher und mütterlicher geworden, als sie draußen „unter den
Heiden" gewesen. Auch davon möchte Einiges begründet sein, nur wird es
durch die üblen Wirkungen der Hühnerehe, durch welche das Weib zur
nun eben zur Henne wird, bei Weitem überwogen. Die „Pluralirät" versetzt
sie aus dem Wohnzimmer in die Küche und die Kinderstube. Die verhei-
rathete Frau ist, von den älteren Damen abgesehen, in der Salzsee-Stadt
durch die Eifersucht und das Mißtrauen des Mannes fast ganz von der Ge¬
sellschaft ausgeschlossen. Es ist fast wie unter den Türken, wo es für un¬
schicklich gilt, einen Freund nach dem Befinden seiner Gemahlin zu fragen-
Die Männer sehen einander selten im Hause und dann fast nie in Gesellschaft
ihrer Frauen. So fehlt es für die letzteren an Anregung, und dadurch haben
viele die Fähigkeit eingebüßt, selbst an einem so leichten Gespräche, wie es
den Mittagstisch und das Empfangszimmer belebt, Theil zu nehmen.
„In vielen Häusern", so erzählt Diron, „liefen die Frauen unserer Wirthe
mit ihren Säuglingen in den Stuben umher, holten Champagner, entkorkten
die Flaschen, brachten Kuchen und Früchte, zündeten Fidibusse an, eisten das
Wasser, während die Männer sich in ihren Stühlen räkelten, die Füße zum
Fenster hinausstreckten und Humpen Weins Hinuntergossen, Die Damen sind
in der Regel einfach, um nicht zu sagen, ärmlich gekleidet. Sie tragen keine
hellen Farben, keine muntern Falbeln und Verzierungen. Sie sind ruhig und
unterwürfig, schlaff und leer, als ob man allen Witz, alle Heiterkeit, alles
Leben aus ihnen hinausgepredigt hätte. Selten lachen sie, und dann mit
einem matten, müden Blick, niemals so vergnügt wie unsere englischen Mäd¬
chen. Sie wissen sehr wenig und äußern an sehr wenigen Dingen ein Inter¬
esse. Vermuthlich besitzen alle großes Geschick im Kinderwärter, aber selten
findet man unter ihnen Tact und lebhaften Geist. Während man im Hause
ist, werden sie in das Gesellschaftszimmer geholt wie bei uns die Kinder.
Sie kommen dann einen Augenblick herein, verbeugen sich, geben ein Händ¬
chen und schleichen sich dann wieder hinaus, als ob sie selbst fühlten, daß sie
nicht in die Gesellschaft gehören.
Selbst in den Häusern der Reichen am Salzsee trifft man unter den
Frauen wenig Anmuth und Selbstgefühl an. Hier gibt keine Hausfrau durch
ihr Benehmen zu verstehen, daß sie Herrin neben dem Manne ist. Nur die
erste Frau hat im Haushalt des Mormonen, wenn die verschiedenen Weiber
desselben nicht verschiedene Gebäude bewohnen, die Stellung einer Hausfrau,
nur sie ordnet an und commandirt die folgenden Nummern. Während sie
den Namen ihres Mannes trägt, werden die übrigen nur mit ihrem Vor¬
namen, Schwester Jane, Schwester Betsy oder zweite, dritte u. s. w. Frau
von Bruder Brow oder Smith genannt. Nicht immer sitzen letztere, wenn
Besuch da ist, mit am Mittags- oder Abendtisch, und wenn sie da einen
Platz einnehmen, so ist es nicht am obern Ende, sondern auf einem der un¬
teren Stühle.
In der That, es gehört die dreiste Bornirtheit eines mormonischen Fa¬
natikers dazu, um in solchen Zuständen einen Segen zu erblicken. Noch
schlimmer aber ist, daß diese Herabdrückung der Frauen bei den Latterday-
Saints sich nicht auf die verheiratheten Frauen beschränkt, sondern, wie natür¬
lich und begreiflich, das ganze Geschlecht entwürdigt und gewissermaßen in
eine Menschenklasse zweiten Ranges verwandelt hat. Die Mormoninnen sind
das reine Gegentheil dessen, was die Partei der „Weiberrechte" im Osten
Amerika's erstrebt. Der Mann ist König im Hause, die Frau rechtlos erklärt
und sehr wenig geachtet. „Taylor's Töchter", so erzählt Dixon von einem
Besuche bei diesem Kirchenvater, „warteten uns bei Tische auf, zwei hübsche,
Zarte, an Engländerinnen erinnernde Mädchen. Wir würden vorgezogen
haben, hinter ihren Stühlen zu stehen und ihnen die leckersten Bissen von
Huka und Kuchen vorzulegen, aber der Mormone hält gleich dem Mühlen
eine schwere Hand über seine Weiber." „Ein Mädchen muß ihren Vater mit
„mein Herr" anreden und würde kaum wagen, sich in seinem Beisein ohne
seine Erlaubniß niederzusetzen/' „Die Weiber", sagte Young zu mir, „wer¬
den leichter selig werden als die Männer; sie haben nicht Verstand genug,
um sehr zu sündigen/' Andere sehr deutlich sprechende Beispiele für die Mi߬
achtung, welche der Mormone vor den weiblichen Mitgliedern seines Haus¬
halts und insbesondere vor seinen hinzugeheiratheten Weibern hegt, wolle
man bei Busch S. 346 bis 360 nachlesen.
Jedes unverheiratete Frauenzimmer hat bei den Mormonen das Recht,
sich bei dem Präsidium durch ihren Bischof Versorgung mit einem Ehemann
auszubitten, und ihr Gesuch darf nicht abgeschlagen werden. Der Prophet
pflegt dann nachzudenken, wer tauglich sein möchte, und hat er den Rechten
gefunden, so wird derselbe citirt, und er muß sehr triftige Gründe anführen
können, wenn er dem ihm angesonncnen Ehebunde mit der Einsamen ent¬
gehen will. Andrerseits kann der Vorsteher der Kirche mißrathenden Ehen
auch abhelfen, indem er die Verheirateten oder Versiegelten, nachdem er sie
zur Eintracht und Geduld ermahnt hat, sie aber in der ihnen dann gesetzten
Probezeit die Unmöglichkeit eingesehen haben, weiter mit einander zu existiren,
von ihren Gelübden losspricht. Aus dieser Gewalt in Ehesachen erwächst
ihm natürlich ein ungemeines Ansehen und eine genaue Kenntniß der ge-
sammten häuslichen Verhältnisse seiner Heiligen.
Ein anderes Mittel, durch welches Aoung und die übrigen Häupter der Kirche
ihr Ansehen und ihre Macht mehren, ist die Annahme mehrerer Personen an
Kindesstatt. Häufig geschieht es, daß Apostel und Hohepriester ganze Fami¬
lien auf diese Weise der ihrigen einverleiben, und der Prophet hat dies eben¬
falls wiederholt gethan. Sehr gern hätte er in den letzten Jahren die ihm
unbequemen Söhne seines Vorgängers Joseph Smith auf diesem Wege um
schädlich gemacht, aber sie wollten nicht. Andere dagegen finden eine Ehre
darin , „Söhne des Sehers" oder „Adoptivkinder des Präsidenten" zu heißen.
Sie wohnen dann entweder bei ihrem Adoptivvater oder doch in seiner Nähe,
arbeiten für ihn, empfangen Nahrung und sonstige Nothdurft von ihm, stehen
ihm bei Streitigkeiten mit Büchse und Bowieknife zur Seite und verhalten
sich überhaupt, obwohl sie überhaupt Männer reiferen Alters sind, vollstän¬
dig als Kinder gegen ihn. Der eigentliche Zweck dieser Einrichtung, die fast
wie Leibeigenschaft aussieht, ist offenbar der gewesen, daß die Führer sich
durch Heranbildung einer starken, durch Dankbarkeit an ihr Interesse gefessel¬
ten Gefolgschaft für alle Fälle ihre Macht zu sichern bestrebt waren. Sie
haben aber diese Absicht, die so wenig mit der Liebe zur Unabhängigkeit und
allen damit zusammenhängenden Reminiscenzen eines Amerikaners und Eng¬
länders harmonirt, geschickt verborgen und der Sache dadurch, daß sie be¬
haupten, das Verhältniß werde sich im Jenseits fortsetzen, eine religiöse Weihe
verliehen, über welcher der Fanatismus ihrer Anhänger wie so manches An¬
dere auch die Liebe zur Freiheit und Gleichheit vergißt.
Wir lassen dem Vorstehenden die neuesten Nachrichten
über den Erfolg des Einschreitens der Unionsbehörden gegen den mormoni¬
schen Unfug in Utah folgen. Sie reichen bis Ende October und sind in der
Wochennummer der „Newyork Tribune" vom 1. November enthalten:
Der Oberrichter Mac Kean sprach ge¬
stern über Thomas Hawkins, den der Polygamie Angeklagten, das Urtheil,
wie folgt:
„Thomas Hawkins, ich bedauere Sie sehr — Sie mögen das jetzt nicht
glauben, aber ich werde versuchen, Sie es durch die Barmherzigkeit glauben
zu machen, die ich Ihnen erzeigen werde. Sie kamen von England hierher
Mit der Gattin Ihrer jungen Jahre, lange Zeit waren Sie ein treuer Ehe¬
mann und ein liebreicher Vater. Endlich aber versuchte Sie der böse Geist
der Polygamie und nahm Besitz von Ihnen. Da wich das Glück aus Ihrem
Hause, und jetzt stehen Sie in Folge einer Klage Ihrer treuen Gattin und
kraft des Verdicts eines dem Gesetz gehorsamen Schwurgerichts vor dieser
Schranke als überwiesener Verbrecher. Ich muß darauf sehen, daß mein Ur¬
theil nicht so streng ausfällt, damit es nicht wie Rache erscheint, und nicht
so leicht, damit es nicht aussieht, als ließe sich mit der Gerechtigkeit scherzen.
Ich will hier sagen, daß wenn Ihre gute Aufführung und das öffentliche
Ä5ohl mir dazu das Recht geben, ich mit Freuden Ihre Begnadigung befür¬
worten will. Jetzt aber lautet der Spruch des Gerichtshofes, daß Sie eine
Geldstrafe von 600 Dollars zu entrichten haben und auf drei Jahre Gefäng¬
niß mit schwerer Arbeit."
Gegen alle Erwartung rief dieses Urtheil wenig Aufregung im Gerichts-
!^al hervor. Ferner wurden heute durch den Vereinigten-Staaten-Marschall
Patrick Daniel H. Wells, der Bürgermeister der Stadt, Hozea Stone, der
^'ühere General-Staatsanwalt des Territoriums, und William Beiden, der
Besitzer von Timballs Hotel, auf einen Beschluß der großen Jury wegen
Mordes in Haft genommen und nach Camp Douglas gebracht. Das Ver¬
gehen, dessen man sie beschuldigt, ist die vor etwa 12 Jahren erfolgte Er¬
mordung eines gewissen Richard Aales und eines Mannes Namens Buel
"Ares einen Mormonen, der sich Jose Meacham nennt, und der von ihnen
""gestiftet worden sein soll. Auf dieselbe Anklage hin erging ein Verhafts-
^fehl gegen Orson Hyde, einen der zwölf Apostel, aber er flüchtete in den
Glieder Theil des Territoriums, wohin man ihn verfolgt. Desgleichen wur-
den Verhaftsbefehle erlassen gegen Brighcnn Uoung und seinen Sohn Joseph,
ebenfalls wegen Anstiftung von Mordthaten. Diese Maßregeln sollen sämmt¬
lich auf die Aussagen eines gewissen Bill Hickman verfügt worden sein, der
früher zu den Daniten oder Würgengeln der Mormonenbehörden gehört hat.
Hunderte von Leuten, vorzüglich Mormonen, besuchten heute Camp Douglas,
um Wells und die andern Gefangenen zu sehen, und General Morrow ge¬
stattete ihnen unbehinderten Zutritt zu ihren Freunden. Die Gefangenen
sind in einem bequemen, gut möblirten Häuschen untergebracht und schei¬
nen in heiterer Stimmung zu sein. Vor der Thür geht eine Schildwache
aus und ab.
Der Aelteste Georg Cannon traf diesen Morgen von San Francisco ein
und predigte Nachmittags im großen Tabernakel vor einer Zuhörerschaft von
wenigstens 10,000 Köpfen. Er rieth seinen Leuten von jeder Gewaltthat ab
und hieß sie dem Gesetz gehorchen. Gott werde sie schon beschützen und von
ihren Verfolgern befreien. Der Kreuzzug gegen sie könne ihre Stärke und
ihren Ruhm nur erhöhen. Ihre Kirche müsse zuletzt doch den Sieg behalten.
Sie wäre nicht umzustürzen. Ihr Glaube wäre die Offenbarung des gött¬
lichen Geistes und würde ewig dauern. Der Aelteste Pratt war nicht so
zahm. Er hätte, wie er sagte, durchaus keine Lust, zu hören, daß so ein
winselnder Richter zu ihm wie zu Bruder Hawkins sage: „Ich bedauere Sie"
Er brauche kein Mitleid von diesen Bundesbeamten. Er wäre bereit, auf
zwanzig Jahre in's Gefängniß zu gehen, wolle aber keine Gnade aus solch
einer Quelle. Zuletzt weissagte er. daß Gott die gegenwärtigen Verfolger des
Mormonenvolkes stürzen und vernichten werde.
Brigham Uoung ist seit mehreren Tagen verschwunden. Sein Sohn
Joseph, der mit ihm unsichtbar geworden war, soll heute zurückgekehrt sein-
Man hat ihn aber noch nicht verhaftet."
Heute früh hat das Bezirksgericht der Vereinigten Staaten
dem Antrag statt gegeben, den Bürgermeister Wells gegen Bürgschaft auf
freien Fuß zu setzen. Motivirt wurde der Beschluß damit, daß Camp Dou¬
glas, wo die Gefangenen sich befinden, mehrere Minuten von der Stadt ent¬
fernt und Wells dadurch verhindert sei. seine Obliegenheiten als Mayor zu
erfüllen und für Ordnung und Ruhe in der Stadt Sorge zu tragen, für die
er doch als Vorstand der Polizei in derselben verantwortlich zu machen. Als
Bürgschaft wurden 50,000 Dollars verlangt, für welche von H. S. Eldridge
von der Bank von Deseret und von William Jennings von der Zionscoove-
rativ - Institution Sicherheit gegeben wurde. Morgen kommt die Klage der
Frau Clayton gegen ihren in Polygamie lebenden Ehemann zur Verhand¬
lung. Dieselbe geht auf Scheidung und Alimentation. Clayton ist der Audi¬
tor des Territoriums, die Klägerin seine neunte Frau.
Man hat jetzt Nachricht von Joungs Verbleiben, Er wurde am Sonn¬
abend an einer Stelle, zwanzig Meilen südlich von hier, auf der Straße nach
Se. George, einer schönen Niederlassung circa 130 Meilen vom Salzsee ge¬
sehen, in welcher er den letzten Winter verbrachte. Seine Freunde sagen, daß
er Se. George besucht, um seine leidende Gesundheit wieder herzustellen, aber
er will augenscheinlich der Verhaftung entgehen, die ihm schon seit geraumer
Zeit drohte. Sein Zug bestand aus fünf bedeckten Wagen, die von 20 Mann
der mit Büchsen und Revolvern bewaffneten Nauvoo-Cavalene escortirt wur¬
den. Der bekannte Pastor Rockwell befand sich in seiner Begleitung."
Das Drama in Utah nähert sich also mit raschen Schritten seinem
Ende. Der Prophet wird nur als Gefangener wiederkehren. Eine Auflehnung
seiner Anhänger scheint nicht bevorzustehen. Er wird, wenn auch vielleicht
nicht wegen des angeblich von ihm ertheilten Mordbefehls, doch wegen dessel¬
ben Verbrechens wie Hawkins bestraft werden, vorausgesetzt, daß eine seiner
Frauen Klage gegen ihn erhebt. Was freilich mit den fünfhundert andern
Es war gestern ein banger Augenblick, als über das dreijährige Pausch¬
quantum des Militäretats abgestimmt wurde. Zwar hatten die Kenner der
Parteiverhältnisse schon vorhergesagt, daß der Regierungsantrag mit einer
kleinen Majorität angenommen werden würde, aber diese Majorität war wirk¬
lich so klein, daß das Ergebniß während des Namensaufrufs lange Zeit
schwankend schien. Im Reichstage selbst hat das Votum keinen versöhnenden
Eindruck gemacht. Dazu waren die Parteien zu scharf an einander gerathen
und die orthodoxen Liberalen werden den „sogenannten" Liberalen sür lange
Zeit nicht verzeihen, daß sie einer zweiten Auflage des Conflicts beraubt wor¬
den sind, obgleich sie sich selbst sagen mußten, daß ein Conflict in dem jun¬
gen deutschen Reich ein so unermeßliches Unheil wäre und eine solche Confu-
sion anrichten müßte, daß selbst das größte staatsmännische Genie keine Hülfe
bringen könnte.
Der meist geschmähte Mann dieser Tage ist Herr v. Treitschke. Wäh¬
rend er sprach und er sprach allerdings so kühn und rückhaltlos wie immer
— leistete die Fortschrittspartei, da sie sich dem Redner nicht anders ver-
ständlich machen konnte, wenigstens in grinsender Pantomirnik das Menschen¬
möglichste. Darin geht ja die Fortschrittspartei im Hause immer bis zu jener
äußersten Grenze des Anstandes, welche sie in ihren Preßdenunciationen und
Verleumdungen Andersdenkender vor dem Lande stets zu überschreiten gewohnt
ist, weil der Geschmack ihrer Leser einmal von ihr so dressirt ist, und kein Prä¬
sident Simson sie hier über die Grenzen des Schicklichen belehren kann. Aber
auch viele von Treitschke's Freunden verwahrten sich mit sichtlicher Entrüstung
gegen seine ketzerische Rede. Sehr zu verwundern ist nur, daß man ihn nicht
geradezu einen Chauvinisten genannt hat, ein Wort, welches bei uns in
Deutschland viel mehr als in Frankreich der Inbegriff des bramarbasirenden
Soldatenthums geworden ist. Und als frivolen Säbelrassler schlechthin wagte
man ja Treitschke zu bezeichnen.
Gerade in dieser Beziehung gilt aber das Wort, daß wenn Zwei dasselbe
thun, es nicht dasselbe ist. Der Chauvinismus hat in Frankreich die letzte
Katastrophe zum Theil herbeigeführt, deßhalb ist es aber noch nicht noth¬
wendig, jede kriegerische Neigung fern zu halten. Man kann eine Suppe
versalzen, eine ungesalzene ist aber eben so ungenießbar.
Nun ist es sogar etwas übertrieben, wenn man behauptet, in Deutsch¬
land existire kein Chauvinismus. Er existirt wenigstens in Preußen sogar
recht stark, nur muß man ihn nicht im Parlament, nicht in den Zeitungen,
nicht in den öffentlichen Versammlungen suchen. Aber man findet ihn bet
einem großen Theile derjenigen, welche gedient haben, man findet ihn beson¬
ders auf dem Lande, wo sich die Traditionen von 1813 bis jetzt frisch er¬
halten haben, man findet ihn bei dem Adel, man findet ihn auch bei jener
Jugend, welche durch den einjährigen freiwilligen Dienst und sich daranschlie¬
ßenden Eintritt in das Officiercorps ein ungeheuer wichtiges Mittel ist, um
bürgerliches und militärisches Wesen, Beamte und Officiere, ja selbst Stadt
und Hof einander zu nähern und zur Ausgleichung zu bringen.
An England rühmt man, daß dem Bürgerthum der Eintritt in die Aristo¬
kratie eröffnet ist. In dem demokratischen Preußen, wo man freilich so manche
inhaltreiche und inhaltlose Vorrechte des Adels zu conserviren bemüht ist, geht
die Mischung der Stände unaufhaltsam vor sich. Dem erworbenen Reichthum
des Vaters gestattet man sogar, sich einem Berufe zu widmen, der wenig ge¬
winnbringend, aber glänzender und für den Ehrgeiz verlockender ist. Man
wendet außerordentlich wenig Aufmerksamkeit auf diese allerdings nicht aus¬
fallende Bewegung. Die Tausende von Reserve- und Landwehrofficieren, Juristen,
Lehrern, Banquiers, Kaufleuten u. f. w. wetteifern mit dem Berufsofficier an
Pflege des Ehrbegriffs, welcher im preußischen Heere von je so scharf ausge¬
prägt war und jetzt nach drei Kriegen haben sie sein Element in die Bevöl¬
kerung gebracht, welches derselben früher fehlte. Es giebt unter Denen, welche
zurückgekehrt sind, Viele, welche, so sehr sie ihre Pflicht gethan, doch von
Herzen wünschen, daß es ihnen niemals wieder beschieden sein möge, auf
Kriegspfaden zu wandeln; es giebt aber auch Viele, denen eine solche Aussicht
gar nicht unangenehm erscheint.
Diese kriegerische Ader pulsirt glücklicherweise nicht stark genug, als
daß sie die friedlichen Bestrebungen und Arbeiten des Volkes lahmen könnte.
Diese sind vielmehr nach der Beendigung des Krieges mit einem beispiellosen
Eifer wieder aufgenommen worden. Nie war, um nur von Berlin zu sprechen,
die Spree und der Canal so voll von Schiffen, nie waren die Straßen so un¬
sicher durch das Gewühl der Lastwagen, wie jetzt. Ueberall summt die Thätig¬
keit. Jeder Geschäftsmann hat seinen Antheil an diesem gewaltigen Auf¬
schwung. Aber das Volk weiß auch, daß es denselben der Tüchtigkeit der
Armee und der Regierung zu verdanken hat, welche diese Tüchtigkeit zu ent¬
wickeln und zu benutzen wußte. Deßhalb setzt sich die liberale Majorität in
Zwiespalt mit der Mehrheit des Volkes, sobald sie anfängt, mit der Regierung
über den Militäretat zu streiten und die Regierung leistet Widerstand gegen
jeden Versuch der Einmischung, weil sie fürchtet, daß dem ersten Schritt der
zweite folgt und weil sie bisher in keiner parlamentarischen Versammlung die
Traditionen vertreten sah, die sie selbst und die die Masse des Volks vertritt
die Traditionen einer großen militärischen Vergangenheit, welche immer die
neue Grundlage für die friedliche Weiterentwicklung gebildet hat.
Das Votum des Reichstages hat einen neuen Ausbruch dieses Zwiespaltes
glücklicherweise verhindert und die guten Folgen davon werden nicht ausbleiben.
Der Ausbau der Verfassung wird ungestört fortgesetzt werden und mit dem
Ausbau dieser Verfassung wird auch mehr und mehr der politische Geist,
^r bis zum Jahre 1866 in den deutschen Parlamenten gar nicht vorhanden
N)ar, in dieselben einziehen. In England wurde einst die stehende Armee
wie ähnlichen Gründen bekämpft, wie heut der hohe Präsenzstand und die
^nge Dienstzeit. Damals wie heut glaubte man die Freiheit gefährdet, aber
auch auf unsre Verhältnisse paßt ein Wort, welches Macaulay auf jene anwen¬
det (IV, II), daß, was in einem Stadium des Fortschritts der Gesellschaft
verderblich sein mag, in einem andern unumgänglich sein kann. In diesem
^dem Stadium befindet sich Deutschland heut in Bezug auf die zu seiner
Si
Nach längerer Unterbrechung unserer Correspondenz blicken wir dießmal
mit Befriedigung auf die unverkennbaren großen Fortschritte zurück, welche
die Entwickelung unseres ganzen Staatswesens im letzten halben Jahr aus
der seit 1870 betretenen Bahn gemacht hat. Die öffentliche Meinung hat sich
bereits in die neuen Verhältnisse eingelebt, und die Thatsache, daß der Mittel¬
punkt unseres öffentlichen Lebens in Berlin und nicht mehr im Stuttgarter
Halbmondsaal zu suchen ist, wird überall als so selbstverständlich betrachtet, daß
selbst die verbissensten Feinde des Reichs, die Ultramontanen und die Schäffle-
Fi:esesche Clique mit ihrem schwäbischen Anhang, sie als eine vollendete hinzu¬
nehmen genöthigt sind. Zwar scheinen sich oft noch der Durchführung der neuen
Ordnung der Dinge fast unüberwindliche Hindernisse entgegen zu stellen, allein
der Erfolg hat stets gezeigt, daß unmöglich ist, den durch die neugeschaffene
politische Situation vorgezeichneten Gang der Entwicklung auch nur kurze Zeit
durch die Rücksicht auf die Stimmungen und Interessen der Hofkreise aufzu¬
halten. Man trennt sich natürlich in letzteren nur schwer von manchen her¬
gebrachten Prärogativen, wie man auch andererseits den gewaltigen Schutz,
welchen das deutsche Reich nach außen, wie gegenüber den Feinden der so¬
cialen Ordnung verspricht, gerne acceptirt; die Verhältnisse sind in dieser Be¬
ziehung ganz andere in Stuttgart, als in Carlsruhe und München. Die
Stellung der Minister in diesem fortwährenden Conflict zwischen den Anfor¬
derungen des neuen Reichsrechts und den persönlichen Neigungen der maß'
gebenden Kreise in Stuttgart ist daher eine höchst difficile und nicht gerade
beneidenswerthe, Sie sind sich offenbar darüber klar, daß ein fester Rückhalt
in Berlin für sie mehr Werth hat, als gewisse persönliche Sympathien in
Stuttgart, und sie betrachten theilweise die in Berlin errungene Stellung als
eine Versicherung gegen die Launen der Hofgunst, welche früher die beliebige
Entlassung der Minister als das werthvollste Attribut des Herrscherthums be¬
trachtete. Daher das Streben, vor allem in Berlin Boden zu gewinnen, det
letzte Erinnerung an die zollparlamentliche Vergangenheit zu verwischen,
gleich aber in Stuttgart jede Eifersucht möglichst zu zerstreuen und dagegen
die Ueberzeugung zu erwecken, daß die Minister im Bundesrath und Reichs
tag einzig und allein darauf bedacht seien, die Sonderrechte der Krone und
des Landes zu wahren. Um Letzteres zu ermöglichen, ist nöthig, von Zeit
Zeit gewisse Trophäen — wie die landesherrlichen Köpfe auf den neuen Gold'
münzen — aus Berlin nach Hause zu bringen. Leider sind auch diese nur
mit Hilfe des Reichskanzlers zu erringen. Man hat daher, da man dieß fühlt,
in Stuttgart nachgerade allen Geschmack an der Politik dergestalt verloren,
daß man den Ministern in den wichtigsten staatsrechtlichen Fragen völlig freie
Hand läßt, unter der stillschweigenden Bedingung, dafür möglichst wenig mit
solchen Angelegenheiten behelligt zu werden.
Um so ängstlicher ist die Sorgfalt, mit welcher man das persönliche Band
zwischen Regierenden und Regierten zu erhalten und täglich fester zu knüpfen
bemüht ist, verbunden mit dem Anspruch auf eine naive patriarchalische Hin¬
gebung, welche dem heutigen Zeitalter völlig fremd ist. Man fürchtet hierbei
offenbar, der äußere Nimbus des Königthums könnte künftighin durch den
Glanz der kaiserlichen Majestät verdunkelt werden, und mag sich daher am
allerwenigsten in den Gedanken finden, die Huldigungen des Volks mit dem
Kaiser theilen zu müssen oder gar letzteren besonders ausgezeichnet zu sehen.
Man hatte deßhalb in den Septembertagen dieses Jahrs, als unser schwä¬
bisches Byzanz sich bemühte, ein Familienfest des Hofes zu einer ebenso er¬
zwungenen als geschmacklosen Demonstration der ungeschmälerten Unterthanen¬
treue zu benutzen, und, wenn auch mit wenig Erfolg — eine Orgie des Par-
ticularismus zu feiern, mit sichtbarer Beklemmung nach Gastein geblickt, und
war herzlich froh, als der Kaiser — der sich nicht aufzudrängen beabsichtigte
— vermied, den Mittelpunkt unseres Landes zu berühren, so daß bis jetzt den
Schwaben allein die Gelegenheit entzogen wurde, dem neuen Reichsoberhaupt
Persönlich zu huldigen.
Dennoch sind wir weit entfernt, diesem krampfhaften Festhalten an den
äußeren Zeichen des Herrscherthums eine tiefere Bedeutung beizulegen. Man
rechnet in Schwaben heutzutage so viel wie anderwärts mit den Thatsachen:
und die große nationalg^sinnte Mehrheit der Bevölkerung, welche dem König
für so manches große Opfer an seinen Souveränitätsrechten zu Dank ver¬
pflichtet ist, sucht sich diese Vorgänge, so gut es geht, zurecht zu legen, zu¬
mal in den wichtigsten Fragen der praktischen Politik nicht der geringste Grund
zur Unzufriedenheit vorhanden ist. Muß doch schon nach Ablauf eines Jahres
der Standpunkt der Versailler Verträge als ein gänzlich überwundener be¬
zeichnet werden! Um ganz abzusehen von der Erklärung, mit welcher der Mi¬
nister v. Mittnacht diesen Sommer den Juristen tag bezüglich des Standpunkts
der Regierung in der Frage von der Competenzerweiterung überraschte und
von dem neulichen Wettlauf desselben Ministers mit Hölder im Reichstag in
der Frage von dem Vorbehalt der ständischen Einwilligung, so genügt
darauf hinzuweisen, daß, wie wir schon früher angekündigt haben, der Ver¬
sailler Vorbehalt in der Militärfrage bereits thatsächlich beseitigt ist, und wohl
auch in nächster Zeit eine formelle Derogirung erfahren wird. Die Reorga-
nisirung unsres Heeres, welches künftighin das XIII. Corps der deutschen
Armee bilden wird, geht mit Hilfe der aus Preußen gesandten zahlreichen
Officiere und Verwaltungsbeamten ihrer Vollendung entgegen.
Der vom Kaiser geschickte Corpscommandant hat bereits den Oberbefehl
über unsere Truppen übernommen, so daß diese thatsächlich ganz zur Dispo¬
sition des Bundesfeldherrn stehen, der Austausch zwischen schwäbischen und
norddeutschen Officieren und Unterofficieren hat im größten Maßstab begonnen
und das Land hat nunmehr genügende Garantie dafür, daß das schwä¬
bische Armeecorps in kürzester Zeit nicht nur äußerlich, sondern auch nach
Geist und Bildung ein harmonisches Glied der großen deutschen Armee bilden
wird. Die Abschaffung des Kriegsministeriums, für welches neben dem auch
äußerlich entsprechend ausgestatteten Corpscommando in Stuttgart kein Raum
mehr ist, wird sich ja bald hieran anreihen, indem nach den neuesten Nachrichten
der Chef desselben bereits zum Festungscommandanten in Mainz designirt ist.
Was endlich die besondere Militärverwaltung und die in Aussicht genommenen
Ersparnisse von den 22ü Thlr. betrifft, so genügt, darauf hinzuweisen, daß
der soeben veröffentlichte Finanzetat sich darauf beschränkt, die „diesmalige
Aversional-Summa von 225 Thlr. für den Kopf der Friedenspräsenzstärke" in
Rechnung zu nehmen, und die entsprechende Summe für die nächsten Jahre
einfach unter den Leistungen an das Reich rubricirt. Von Ersparnissen „als
Ergebnisse der obwaltenden besonderen Verhältnisse Württembergs unter voller
Erfüllung der Bundespflichten" ist nirgends mehr die Rede, und es wird uns
als sehr fraglich bezeichnet, ob die Beibehaltung einer eigenen Regie für die
Folgezeit nicht mit einer sehr erheblichen Mehrbelastung des Landes verbunden
wäre. Man hat sich denn auch mit der Aufgabe dieser Sonderstellung längst
vertraut gemacht, und die schwäbischen Mitglieder der national-liberalen Partei
des Reichstags handeln durchaus im Sinne ihrer Wähler, wenn sie in der
Aussicht auf jene Eventualität der Verlängerung des Pauschguantums ihre
Zustimmung ertheilen.
Im Departement der auswärtigen Angelegenheiten sah sich die Regierung
genöthigt, wenigstens einen Theil der bisherigen Gesandtschaftsposten eingehen
zu lassen, nachdem Bayern in dieser Frage wieder so unerwartet vorangegan¬
gen war; nämlich nach dem neuesten Etat die Gesandtschaften in Paris, Bern
und Karlsruhe, während diejenigen in Petersburg, München und Wien auch
fernerhin beibehalten werden sollen und neben diesen auch das auswärtige
Ministerium selbst bestehen bleibt. Zu der Aufhebung der Pariser Legation ver¬
stand man sich leichter, nachdem man von dem Grafen von Se. Ballier, in
dessen ritterliche Gesinnung man bis zum Jahre 1870 ganz besonderes Ver¬
trauen gesetzt hatte, durch die nachträglichen Enthüllungen Gramont's so
schwarzen Undank erfahren hatte. Wir glauben übrigens kaum, daß die
Stände, ohne mit ihren oft proclamirten Grundsätzen in Widerspruch zu kom¬
men, sich mit diesem Angebot begnügen können. Von dem unnützen Aufwand
abgesehen, sind die Gefahren des activen wie des passiven Gesandtschaftsrechts
zu nahe liegend. Noch sind die Zeiten in frischer Erinnerung, wo der Czechen-
führer Graf Cholet als östreichischer Gesandter in Stuttgart den Mittelpunkt
aller «ntinationalen Intriguen bildete, in dessen Palais Ultramontane und
Großdeutsche ihre Parolen empfingen, wo Schaffte aus- und einging und die
ersten Fäden zu dem Netz gesponnen wurden, mit welchem dieser ehrgeizige
und unruhige Geist später im Bund mit den Franzosen das deutsche Reich
zu umgarnen gedachte. — Aus naheliegenden Gründen kann die Initiative
in dieser Richtung sogar nur von der Ständekammer erwartet werden, welche
Wohl auch bald die Frage von der ferneren Ausübung der Münzhoheit vor
ihr Forum ziehen wird.
Aehnliche Fortschritte werden wir in nächster Zeit auch auf dem Gebiet
des'Post- und Telegraphenwesens zu verzeichnen haben. Man hatte sich seiner
Zeit in Versailles keine klare Vorstellung darüber gemacht, wie neben der
Einführung der Reglements und Tarife, — und folgeweise des ganzen Rech¬
nungswesens des Reichs für den Verkehr außerhalb Landes, die Sonder¬
stellung für den inneren Verkehr forterhalten werden sollte. Die Folge hiervon
war, daß mit dem plötzlichen Import der umfangreichen und ganz abweichen¬
den Vorschriften der Neichspostverwaltung unter den Männern des Schalters,
welche bisher mehr durch praktische Routine als durch Studium von Para¬
graphen ihre Ausbildung erhalten hatten, eine solche Verwirrung einzureißen
begonnen hat, daß unsere gewiegtesten Verkehrsbeamten schon jetzt keinen an¬
dern Ausweg wissen, als durch die Berufung eine größeren Anzahl norddeut¬
scher Postbeamten die neuen Reglements und das neue Rechnungswesen in's
Leben einzuführen. Das Uebrige wird sich dann vollends von selbst ent¬
wickeln. — In demselben Maße, als vie bisherige Sonderstellung Schwabens
aufhört, dringt denn auch die lebendige Theilnahme an den allgemeinen An¬
gelegenheiten des Staats^ immer tiefer in die Massen ein. Wir können schon
heute behaupten, daß es außer den Ultramontanen keine dem Reich feindliche
organisirte Partei mehr in Schwaben gibt. Die sogenannte schwäbische Bolks-
Partei hat thatsächlich zu eristiren aufgehört. Ihre Reste sind gänzlich in das
klerikale Lager übergegangen, namentlich ihr bisheriges Organ, der Stuttgar¬
ter Beobachter. Letzterer, welcher schon früher durch die krasse Unkenntniß
seines ostpreußischen Redacteurs in allen schwäbischen Dingen sich den Spott
der Eingeborenen zugezogen hatte, hat neuerdings, seit er im Bunde mit dem
»Volksboden" und dem „Vaterland", deren Ton er sich vollkommen angeeignet
hat. abwechslungsweise das Reich und seine Organe und die freisinnigen Ka¬
tholiken, überhaupt alles, was nicht ultramontan oder französisch ist, um die
Wette verunglimpft, so ziemlich allen Credit der frühern Zeit verloren. Die
Moralische Vernichtung jener pseudodemokratischen Partei selbst wurde schließ-
t'es noch durch den Sturz des Ministeriums Hohenwart-Schäffle besiegelt,
letzterer, welcher aus eigener Erfahrung mit allen Geheimnissen der Journa-
listik vertraut war> hatte bis zu seiner Entlassung über die gesammte Presse
derselben frei disponirt, so daß letzterer sich längere Zeit ausschließlich auf den
Abdruck von Artikeln der Wiener Tagespresse und der östreichischen Journale
neben einigen inspirirter Wiener Correspondenzen beschränkte. Es konnte daher
nicht ausbleiben, daß der Sturm der öffentlichen Verachtung. der von Wien
ausging, auch hier zu Lande die Männer niederwarf, welche bis zuletzt sich
bemüht hatten, den Czechen in Oestreich zum Siege zu verhelfen, um mit
ihrer und der Welschen Hilfe künftig einmal am Reich dafür Rache nehmen
zu können, daß es sich nicht zur rechten Zeit um ihren Rath und Beistand
beworben hatte.
Doch kehren wir zum Reichstag zurück, so haben bisher vor allem die
Verhandlungen über die Münz- und die Kirchenfrage bei uns das Interesse
in Anspruch genommen. Was erstere betrifft, so wäre durchaus irrig, aus
ein paar vereinzelten Demonstrationen für das Frankensystem, welche von
einigen abgedankter Zollschwaben in Scene gesetzt wurden, eine besondere
Hinneigung des Südens zum französischen Münzfuß folgern zu wollen. Man
legte bei uns. da man sich jedenfalls in ein neues System hineinleben muß,
weit weniger Gewicht auf die Wahl der einen oder der anderen Einheit, als
auf eine möglichst rasche und energische Durchführung der einzuführenden
neuen Münzen unter völliger Einziehung des alten Geldes; denn es läßt sich
nicht verkennen, daß der Süden ganz besonders durch die Uebergangsperiode
belästigt sein wird. Man ist deßhalb nicht nur durch die erfolgte Amendirung
des Entwurfs von Seiten des Reichstags allgemein befriedigt, sondern er¬
wartet vom Reichskanzleramt in Bälde weitere Schritte, um in erster Linie
die süddeutsche Münze aus dem Verkehr zu ziehen.
Was die Kirchenfrage anbelangt, so hat das Vorgehen der bayrischen
Regierung, namentlich aber das energische Auftreten des Cultusministers von
Lutz im Reichstag bei uns in Schwaben einen wahrhaft erfrischenden Eindruck
gemacht. Die Thatsache, daß sämmtliche schwäbische Abgeordnete mit einziger
Ausnahme von Probst dem Gesetz über den Mißbrauch der Kanzel zugestimmt
haben, darunter auch Moritz Mohl, spricht wohl am deutlichsten für die hier
herrschende Stimmung. Im übrigen haben die Bayern auch in dieser Frage
gezeigt, daß sie, was Energie des Entschlusses und überzeugungstreues Fest¬
halten an dem als richtig Erkannten betrifft, den Schwaben weit voran sind.
Man betrachtet eben einmal bei uns die Vorsicht, das fortwährende Laviren
zwischen den verschiedenen Standpuncten als die höchste Regierungsweisheit.
Es war daher auch in der Parallele, welche Herr von Lutz zwischen Würt¬
temberg und Bayern zog, eine gewisse Ironie nicht zu verkennen. Während
Herrn von Lutz der Bannfluch droht, hat dagegen unser Herr von Mittnacht,
der nichts ohne Vorbereitung zu sprechen pflegt, vor nicht langer Zeit in
einer zahlreichen Katholikenversammlung in einem Toast auf Plus IX. den
Ausspruch gethan, „daß der Papst die Sympathien aller Katholiken für sich
habe." Diese Aeußerung — in Gegenwart des Landesbischofs und der Kory¬
phäen der Stuttgarter Katholiken — konnte unter den obwaltenden Verhält¬
nissen kaum anders, denn als Parteinahme für die Jnfallibilisten aufge¬
faßt werden, und man erkannte damals allgemein den grellen Gegensah, in
welchem diese Aeußerung zu der von der Regierung proclamirten zuwarten¬
den Haltung stand, um so mehr, als Mittnacht, der einzige Katholik im
Ministerium, in Stuttgart als der Ton angehende Minister betrachtet wird.
Dennoch möchten wir dieses Verhalten des Justizministers, den Niemand
ultramontaner Neigungen bezüchtigt, nur als einen Beweis dafür ansehen,
daß man in Stuttgart, zumal mit Rücksicht auf die in der Umgebung des
Hofes herrschenden Einflüsse, für vortheilhaft hält, sich das Wohlwollen der
Ultramontanen zu sichern. Wir werden hierauf ein anderes Mal zurückkom¬
men und begnügen uns für jetzt mit der Bemerkung, daß die württembergische
Regierung nichts lieber sehen kann, als wenn die bayrische Regierung und
das deutsche Reich ihr in der Kirchenfrage, wie man zu sagen pflegt, die
Kastanien aus dem Feuer holt! man kann dann nebenher noch die Lobeser¬
hebungen der Ultramontanen und Demokraten in die Tasche stecken.
Die erste Aufgabe unserer am 1. December zusammengetretenen Stände¬
kammer wird die Berathung des Etatsgesetzes sein. So glänzend, wie nach
der letzten Thronrede in Preußen, steht es freilich in Schwaben nicht; doch
schließt der vorgelegte Etat nur mit einem jährlichen Mehrbedarf von ca.
-!00,000 si., und einer Steuererhöhung bedarf es vorerst nicht. Dabei gesteht
der Finanzminister jetzt zum ersten Male offen ein, daß das Deficit der
Staatseisenbahnverwaltung einen jährlichen Zuschuß aus Steuermitteln von
Millionen (wir hatten in einer unserer letzten Correspondenzen es rund
auf drei Millionen berechnet!) erfordert, was bei einem künftigen Gesammt-
ertrag der Steuern von 8—9 Millionen nicht wenig in's Gewicht fällt. Es
wird sich nun fragen, ob, nachdem für die Regierung fernerhin jeder Grund
für die Ausnutzung der Kirchthurmsinterefsen zu Wahlzwecken weggefallen ist.
dieselbe endlich mit dem bisherigen System des Staatsbaues, das so schwer
auf den Steuerpflichtigen lastet, brechen wird. Die Entscheidung wird wesent¬
lich auch davon abhängen, ob in der Ständekammer die Interessen des Landes
oder — bei der großen Zahl der in Stuttgart domicilirten Abgeordneten
"~ die Interessen der Residenz und der Stuttgarter Bauplatz-Speculanten den
Ausschlag geben werden.
Neben dem Etat wird die Berathung des Eid en'sehen Antrags aus
Revision der Geschäftsordnung eine der brennendsten Debatten veranlassen.
Gegenüber den ebenso raschen als großartigen Leistungen des deutschen Reichs-
tags ist der schleppende Gang der Stuttgarter Geschäftsordnung für das Pu¬
blikum wie für die Regierung gleich unerträglich geworden, auch kann dieselbe
bei der jetzt so nahe liegenden Begleichung zwischen dem in Berlin und in
Stuttgart arbeitenden geistigen Capital fernerhin nur zur Discreditirung
unserer Ständerammer dienen. Widerstand wird der Antrag nur bei den ge¬
wohnheitsmäßigen Diätenjägern finden, welche die langen Commissionsbe¬
rathungen bisher so trefflich auszunutzen verstanden.
Auch ein Fastnachtsspiel wird der Ständekammer kaum erspart bleiben,
indem das ultramontane und großdeutsche Häuflein beabsichtigt, die Thätig¬
keit des Reichstags vor das Forum derselben zu ziehen.
Die Jnterpellation ist bereits übergeben, durch welche unser schwäbischer
Archimedes auf der Basis des Stuttgarter Ständehauses das Reich aus den
Angeln zu heben gedenkt.
Von den Regierungsvorlagen heben wir den Entwurf eines Einführungs¬
gesetzes zum Strafgesetzbuch und zur Gewerbeordnung und den seit vielen Jah¬
ren betriebenen Entwurf eines Baugesetzes hervor. Auch ist die Erhöhung
der Beamtengehalte in Aussicht gestellt, über welche die Regierung noch nicht
schlüssig ist; man will offenbar die Entwicklung dieser Frage im preußischen
Abgeordnetenhause abwarten, um unseren Landboten die Entscheidung über
die wenig populäre Vorlage zu erleichtern. Die Frage ist hier doppelt bren¬
nend, da die Besoldungen der Civildiener im Allgemeinen erheblich niedriger
sind als im Norden, und die neueste Zeit außer der allgemeinen Aenderung des
Geldwerthes gleichsam mit einem Schlag eine Ausgleichung der Preisverhält¬
nisse der Länder des Gulden- und Thalerfußes herbeigeführt hat. In der
Justiz insbesondere hat dieser Zustand in Verbindung mit der neulich erfolg¬
ten enormen Erhöhung der Advocatengebühren bereits die Wirkung gehabt,
daß die besseren Kräfte sich der Advocatur zuzuwenden beginnen, und in Folge
dieser und anderer Umstände das allgemeine Bildungsniveau des Richterstan¬
Dadurch, daß die beiden letzten Reichtagsbriefe sich ausschließlich mit dem
Münzgesetz beschäftigten, sind wir genöthigt, heute in der Chronologie der
Reichtagssitzungen etwas weit zurückzugreifen.
In der Sitzung vom !5, November erfolgte die dritte Berathung über
den Antrag des Abg. Laster und Gen., die Gesetzgebung über das gesammte
bürgerliche Recht in die Kompetenz des Reiches aufzunehmen und außerdem
nicht blos das gerichtliche Verfahren, wie die Verfassung jetzt schon bestimmt,
sondern auch die Gerichtsorganisation derselben Kompetenz zu unterstellen.
Der Antrag wurde auch in dritter Lesung mit einer erfreulich großen Majo¬
rität genehmigt. Der bemerkenswertheste Theil der Verhandlung war die Rede,
in welcher der Abg. Windthorst den ganzen Apparat seiner Sophistik aufbot.
Man kann die Waffe der Sophistik nicht überall verpönen, und kunstgerecht
gehandhabt wird sie dazu dienen, das geistige Interesse an den Gegenständen
zu schärfen. Hier freilich wurden Waffen auf die Mensur gebracht, deren
nichts weniger als kunstfertige Arbeit den Stempel der Unechtheit allzu deut¬
lich aufwies. Es war die gewöhnliche Drohung mit dem Einheitsstaat, welche
den Mittelpunkt dieser Rede bildete. Es war namentlich die Aussicht, daß
sämmtliche erste Kammern als Vertheidiger gewisser Privilegien privatrecht'
licher Natur zur Ruhe gesetzt werden würden, in deren Eröffnung der Redner
seine Wirkung suchte. Diese Aussicht aber, anstatt zu schrecken, schien vielmehr
die Anhänger des Antrags zu bestärken. Sehr ergötzlich wurde der Redner,
als er die Gefahren der Reichsgesetzgebung schilderte und darunter die Be¬
drohung des Eigenthums aufzählte. Und wodurch hatten sich dem scharfsich¬
tigen Abgeordneten die kommunistischen Neigungen des Reichstags signalisirt?
Durch den Beschluß des volkswirtschaftlichen Kongresses zu Lübeck, die Besitz¬
titel der todten Hand einer periodischen Revision für bedürftig zu erklären.
Andere Beurtheiler werden diesen Beschluß, für den übrigens unmöglich der
Reichstag verantwortlich gemacht werden kann, wahrscheinlich gerade anti-
communistisch finden. Das Beispiel möge uns genügen, die Rede zu charak-
terisiren.
Am 16. November stand der Etat des auswärtigen Amtes als Theil des
Reichshaushaltes zur zweiten Berathung. Dieselbe wurde durch eine Rede des
Reichskanzlers bemerkenswerth. Es handelte sich um die Gehaltserhöhung
einiger Generalconsuln und Gesandten. Der Abg. Löwe, bei anderen Gelegen¬
heiten unzweifelhaft ein entschiedener Skeptiker, konnte nicht umhin, die mehr
als unverbürgte Anekdote wiederum in's Feld zu führen, daß Friedrich der
'Äroße seinem Gesandten in London geschrieben habe, er möge nur zu Fuße
nach Hofe gehen, hinter ihm gingen hunderttausend Mann. Fürst Bismarck
bemerkte, die Anekdote habe ihn so lange erfreut, bis er selbst Minister des
Auswärtigen geworden. Wenn ein deutscher Gesandter ein Mittagsessen geben
solle, könne er unmöglich sagen: ich gebe kein Diner, es gehen hunderttausend
Mann hinter mir. In der That könnten selbst die Mitglieder der Fort¬
schrittspartei wissen, daß es glücklicherweise die seltenste Aufgabe der Gesandten
ist, kategorische Forderungen durchzusetzen. Die wesentliche Ausgabe derselben
ist vielmehr, im ebenbürtigen Verkehr mit der regierenden Klasse des Landes,
in dem sie beglaubigt sind, und mit ihren dort ebenfalls beglaubigten Collegen
die herrschenden Ansichten des betreffenden Landes zu studiren und auf diese
Ansichten, soweit sie das von dem Gesandten vertretene Land betreffen, be¬
richtigend, und für das eigene Land vortheilhaft einzuwirken. Das läßt sich
nicht thun mit dem Lebenszuschnitt eines unbegüterten Mannes und auch
nicht einmal mit einem nach einem gewissen Maßstab reichlichen Lebenszu¬
schnitt, der aber zurückbleibt hinter dem Maßstab der Klassen, mit welchen der
Gesandte verkehren soll. Gegen diese so natürliche und so einleuchtende That¬
sache berief sich indessen auch Herr von Hoverbeck auf den im Style alt¬
römischer Fabeln erfundenen Bescheid Friedrichs des Großen.
Wir kommen auf die Sitzung vom 20. November mit der Jnterpellation
des Abg. Erhardt, betreffend die Verletzung des deutschen Strafgesetzbuches
durch eine in Lippe-Detmold erlassene fürstliche Verordnung. Der Präsident
des Reichskanzleramtes konnte mittheilen, daß die Neichsregierung bereits mit
Erfolg eingeschritten sei. Wir freuen uns der Jnterpellation insofern, als
nicht der leiseste Anlaß zu dem Glauben genährt werden darf, als sei das
Reich außer Stande, die Mißachtung seiner Gesetze durch die Territorial¬
regierungen zu hindern und bezüglich zu ahnden. Die übrigen Berathungs¬
gegenstände derselben Sitzung waren technischer Art und gaben zu keinem
Gegensatz der Ansichten Anlaß, außer daß der Abg. Windthorst bei Gelegen¬
heit der Einführung des Neichsgesetzes über die Verpflichtung zum Kriegsdienst
in Baiern den Stachel seiner Sophistik wiederum zur Aufreizung des Parti-
culansmus in Bewegung setzte, ohne irgend einen Erfolg zu erreichen. Es
handelte sich um die Frage, ob durch die Ausdehnung des Reichsgesetzes über
die Verpflichtung zum Kriegsdienst auf Baiern der Separatstellung zu nahe
getreten werde, welche in Militärsachen die Reichsverfassung für Baiern aner¬
kannt hat. Nun kann diese Separatstellung, wie sich von selbst versteht,
jederzeit ganz oder theilweise aufgegeben werden, sobald Baiern will. Es
wurde die weitere Frage angeregt, wer berechtigt ist, für den Staat Baiern
die Erklärung abzugeben, daß dieser Staat auf sein Separatrecht entweder
verzichtet oder dasselbe für unberührt erachtet. Nichts kann klarer sein, als
daß zu einem solchen Ausspruch die Stimme der bairischen Bevollmächtigten
zum Bundesrath erforderlich und ausreichend ist. Der Abg. Windthorst ver>
langte, daß die Zustimmung der bairischen Stände eingeholt werde, und berief
sich im negativen Sinne auf das Beispiel des alten Bundestages, der so viele
Anfechtungen erfahren habe, weil seine Anordnungen für die Einzelstaaten sich
auf die Zustimmung der Regierungen, aber nicht auch der Landesvertretungen
stützten. Aber Niemand verlangt und setzt voraus, daß die Stimme der Be-
vollmächtigten zum Bundesrath blos den Willen der Regierungen ohne Rück¬
sicht auf ihre betreffenden Stände ausdrücke. Es ist die Sache der Einzel-
Regierungen, für ihre Erklärungen im Bundesrath die Zustimmung ihrer
Stände einzuholen, vorher oder nachher. Unmöglich kann dies Sache des Reiches
sein, welches vielmehr in jedem Bundesrathsbevollmächtigten bis auf Weiteres
den Vertreter eines ungetheilten Landeswillens sehen muß.
In der Sitzung vom 21, November stand aus dem Bundeshaushalt der
Marineetat zur zweiten Berathung. Die Reichstagscommission zur Begut¬
achtung dieses Etats beantragte die Vorlegung einer Denkschrift Seitens des
Reichskanzlers, worin zu erörtern sei, ob die für die deutsche Kriegsflotte nach
dem Plane von 1867 in Aussicht genommene Gründungsperiode sich nicht
abkürzen lasse, bezüglich mittelst Aufwendung eines Theiles der französischen
Kriegsentschädigungsgelder. Dagegen beantragten die Abg. Freeden und
Wehrenpfennig, daß in der vorzulegenden Denkschrift lediglich Rechenschaft
gegeben werde über die bisherige Ausführung des Gründungsplanes von
1867. Der Abg. Wehrenpfennig wies zu Gunsten der von ihm befürworteten
Enthaltsamkeit in Sachen der Flotte auf zweierlei hin. Erstlich auf die ge¬
ringe offensive Bedeutung, welche nach den Erfahrungen des letzten Krieges
selbst einer der größten Kriegsflotten, wie die französische unbestreitbar ist,
Zukomme. Zweitens auf die ebenso mannigfaltigen als umfangreichen An¬
forderungen, welche an die Finanzen des deutschen Reiches voraussichtlich in
nächster Zukunft gemacht werden müssen. Wir wüßten nicht, wie sich diese
Ausführungen sollten entkräften lassen. Die Flotte ist aber ein populärer
Gegenstand für den liberalen Durchschnitt. Es wird nicht bedacht, daß gar
kein unweiseres Verfahren denkbar wäre, als die Armee ungenügend auszu¬
statten, um das dem Landheer Entzogene der Flotte! zuzuwenden. Selbst
eine Flotte ersten Ranges, die zu schaffen wir niemals denken können, ersetzt
uns nicht den Schutz der Binnengrenzen, der in der offensiven Fähigkeit unseres
^andheeres liegt. Der Abg. Forkenbeck trat als landschaftlicher Particularist
auf, indem er die wiederholten Blocaden beklagte, denen namentlich die Ost-
seeküste ausgesetzt gewesen sei. Nun, es wäre sehr schön, wenn wir eine aus¬
pichende Flotte hätten, dergleichen Blocaden zu durchbrechen. Noch schöner
5pare, wenn wir die völkerrechtliche Beseitigung des Kapereiwesens erlangen
könnten. Was lassen sich nicht überhaupt für fromme Wünsche hegen! Vor
allem aber muß man dem Nothwendigen genügen und die erste Nothwendig¬
st ist, daß der Feind uns nicht ins Land kommt. Daß er zu Schiffe nicht
^hin kommt, dafür haben wir gesorgt. Fahren wir damit fort und vor
Allem damit, daß kein Feind unsere langgezogenen Bmnengrenzen so leicht
überschreiten kann. Das Weitere wird sich finden, wenn wir Geld übrig
haben. Es versteht sich, daß Niemand mit der Errichtung einer deutschen
Flotte unter den Gründungsplan von 1867 zurückgehen will. Daß wir eine
Flotte, wie sie dieser Plan in's Auge faßt, nöthig haben, führte aufs Neue
der Kriegsminister aus. Nur zur Erweiterung unserer Marineanstalten dürfen
wir uns nicht fortreißen lassen in einem Augenblick, wo so viele unabweisbare
Erweiterungen unserer Aufgaben vor uns stehen.
In der Sitzung vom 22. November berichtete die Geschäftsordnungs-
commission über eine in Folge der Sitzung vom 9. November ihr unterbreitete
Frage. Es war dies die Sitzung, in welcher der Präsident nach zweimaliger
Rectification des Herrn Bebel das Haus befragte, ob er dem Redner das
Wort entziehen solle, und vom Hause dazu ermächtigt wurde. Herr Bebel
behauptete sogleich, daß gegen ihn wider die Geschäftsordnung verfahren worden
sei. Denn die Wortentziehung sei erfolgt, ohne daß nach Vorschrift der Ge¬
schäftsordnung ein zweimaliger "Ordnungsruf vorausgegangen; er sei nur
zweimal unterbrochen, aber nicht zur Ordnung gerufen worden. Der Präsi¬
dent behauptete, daß die Geschäftsordnung hier nicht den Ordnungsruf im
buchstäblichen Sinne, sondern nur die Rectification verlange. Da Herr Bebel
auf seinem Widerspruch beharrte, so erklärte der Präsident, die Entscheidung
der Geschäftsordnungscommission einholen zu wollen. Demnach richtete er
ein Schreiben an diese Commission mit der Frage, ob der Präsident, bevor er
zur Entziehung des Wortes schreiten dürfe, zweimal die Worte gebraucht
haben müsse: ich rufe Sie zur Ordnung! Gleichzeitig theilte der Präsident
dieses Schreiben Herrn Bebel mit, unter Hinzufügung der Frage, ob er damit
einverstanden sei. Herrn Bebel's Erziehung erlaubte ihm, das Schreiben des
Präsidenten nicht zu beantworten, sondern in der öffentlichen Sitzung mit
nichtigen Ausstellungen zu bekritteln. Die Geschäftsordnungscommission
ihrerseits beantragte: Der Reichstag wolle beschließen: Um das Haus zu dem
in §. 43 der Geschäftsordnung bezeichneten Beschlusse (der Wortentziehung)
auffordern zu dürfen, ist nicht erforderlich, daß die im § 43. vorgeschriebene
zweimalige Hinweisung ausdrücklich in der Formel „„ich rufe den Redner zur
Ordnung"" erfolgt ist.
Unseres Erachtens kann nicht der Schatten eines Zweifels an der Correct-
heit dieses Antrags aufkommen. Die deutlichste Erleuchtung erhielt der Gegen¬
stand durch den Abg. Schwarze mit den Worten: „Nirgends steht geschrieben,
daß der Präsident mit der Formel: „„ich rufe den Redner zur Ordnung,""
ihn zur Ordnung zu rufen hat. Ebensowenig hat je ein Redner behauptet,
daß er nur mit der Formel, „„ich verweise den Redner auf den Gegenstand
der Verhandlung zurück"", auf denselben zurück verwiesen werden könne. Wenn
eine exclusive Formel für den einen Satz nicht gefordert wird, so kann sie
auch nicht für den anderen verlangt werden." Herr Windthorst beantragt»'
indeß, es solle die Frage, ob Herrn Bebel im Sinne der jetzigen Geschäftsord-
mung mit Recht das Wort entzogen worden, gar nicht entschieden, sondern
die Geschäftsordnungscommission beauftragt werden, die betreffenden HH. einer
Revision zu unterwerfen. Unglaublicherweise fand dieser Antrag die Majo¬
rität. Das Haus verließ den Präsidenten, und dieser legte sofort sein Amt
nieder. Daß er bei der Neuwahl wiederum durch eine große Majorität er¬
nannt, die Stellung von Neuem annahm, vermögen wir nicht zu billigen.
Die deutschen Parlamente müssen endlich lernen, daß ihre Vota Folgen
haben und zwar ernstliche, die nicht im Handumdrehen wieder zu beseitigen
sind. I)r. Simson brauchte nicht seine Stellung für erschüttert zu halten durch
den Beschluß, die Frage des Ordnungsrufes neu zu regeln. Nachdem er aber
seine Stellung für verletzt erklärt hatte, durfte er sich nicht mit einer so wohl¬
feilen Reparatur zufrieden geben, wie eine Wiederwahl ist. Unser parlamen¬
tarisches Keder wird nur vorwärts kommen, wenn die Inhaber solcher
Stellungen, die auf Vertrauen basirt sind, nicht mehr hinnehmen, sich in demselben
Athem bei einer concreten Frage desavouiren und für das Allgemeine mit
einer Erklärung erneuten Vertrauens abfinden zu lassen. Die leitenden Po¬
litiker müssen lernen, ihre Stellung auch an die bestimmten Fragen zu binden,
wenn die Parlamente lermen sollen, auf ihre augenblicklichen Eingebungen zu
verzichten. Wenn die Gewohnheit, diesen Eingebungen zu folgen, fortbesteht,
lo konnte daraus nur die befestigte Anschauung folgen, daß in Deutschland die
Ministerien für alle Zukunft unabhängig bleiben müssen von den Entschlüssen
der Parlamente.
Am 23. November gelangte, nachdem die letzte Berathung des Münzge¬
setzes stattgefunden, der neue Artikel des Strafgesetzbuches zur ersten Berathung,
dessen Einbringung durch den Bundesraty, die auf Anregung der bayrischen
Regierung erfolgt ist, eine Verwirrung der Parleistandpuncte erzeugt hat, wie
^ selten gesehen worden ist. Die Einen lassen sich leiten durch die mehr
oder minder unklare Vorstellung: der Artikel sei gegen die katholische Kirche
gerichtet, um ihn jubelnd aufzunehmen oder leidenschaftlich zu verwerfen. Die
anderen halten sich, indem sie höchst gewissenhaft zu verfahren glauben, gar
"icht an den Stoff, sondern lediglich an die Form des Artikels und bleiben
öden Sande der Doctrin hilflos sitzen. Es ist unglaublich, wie ein Thema
allseitig besprochen werden und die Gemüther erhitzen kann, während von
Rufend Personen kaum Eine sich den einfachen Sachverhalt nothdürftig klar
^Macht hat. Diese Klarstellung muß unsere erste Aufgabe sein.
Das deutsche Strafgesetzbuch enthält bereits einen Artikel, welcher die
öffentliche Anreizung zur Gewalt mit Strafe bedroht und einen anderen Ar-
^el, welcher dasselbe thut in Bezug auf die Erdichtung oder Entstellung von
Thatsachen zu dem Zweck, Staatseinrichtungen oder obrigkeitliche Anordnungen
Nächtlich zu machen. Mit diesen beiden Paragraphen des Strafgesetzbuches
hätte das deutsche Reich auskommen können gegenüber etwaigen Ausschreitungen
der Geistlichen: so behaupten die Gegner der Vorlage, namentlich die päpst-
lichen Gegner. Der eingefügte Artikel aber sei ein Ausnahmegesetz, gehässig
dem Zwecke nach, unjuristisch der Form nach.
Was besagt denn nun der neue Artikel? Er lautete in seiner ursprüng¬
lichen Fassung dahin, daß ein Geistlicher oder ein anderer Religionsdiener,
welcher in Ausübung seines Berufes öffentlich Angelegenheiten des Staates
zum Gegenstand einer Verkündigung oder Erörterung macht, welche den
öffentlichen Frieden zu stören geeignet erscheint, dadurch straffällig wird. Um
dies gleich zu sagen: im Wesentlichen ist der Artikel so genehmigt worden.
Die vom Reichstag beschlossene Veränderung besteht nur darin, daß die Worte:
„welche den öffentlichen Frieden zu stören geeignet erscheint;" ersetzt sind durch
die Worte: „welche den öffentlichen Frieden gefährdet;" worin man vielleicht
eine Verbesserung finden kann.
Welches ist denn nun die unterscheidende Bedeutung dieses neuen Para¬
graphen, der mit 130» bezeichnet ist, von seinem Vorgänger, der die Anreizung
zur Gewaltthätigkeit, und von seinem Nachfolger, der die Erdichtung und
Entstellung von Thatsachen zur Verächtlichmachung des Staates und der Re¬
gierung verpönt? Dieses ist der Unterschied. Die beiden Nachbarparagraphen
verpönen, der eine die unmittelbare Aufforderung zu einer Klasse von gesetz¬
widrigen Handlungen, der andere die Erzeugung einer Gesinnung, aus welcher
solche Handlungen folgen, durch ein offenbar wahrheitswidriges Mittel. Der
neue Paragraph verpönt die mittelbare Erzeugung gesetzwidriger Handlungen
von der Kanzel herab, ohne nähere Bezeichnung des Erzeugungsmittels, als
die der Erörterung und Verkündigung. Das eigentliche Mittel aber, dessen
sich die Kanzel zur Erzeugung solcher Handlungen bedient, besteht darin, daß
sie das Staatsgesetz als im unheilbaren Widerspruch darstellt mit der im
Glauben der Gemeinde lebenden Autorität des göttlichen Gesetzes. Darf der
Staat sich den Gehorsam gegen seine Gesetze untergraben lassen durch die Be¬
hauptung ihrer Unvereinbarkeit mit praktischen Einrichtungen, die angeblich
das unmittelbare Werk des göttlichen Willens sind? Hier liegt die Frage-
Die ängstliche Doctrin, die sich an ihre sogenannten Principien klammert,
weiß sich keinen Rath, als die Frage zu bejahen, obschon ihr unwohl dabei
zu Muthe wird. Aber, klagt sie, was wird sonst aus der Lehrfreiheit und
selbst aus der Denkfreiheit? Die Herren Doctrinäre sind wieder einmal
schwach im Unterscheiden. Bevor wir den Unterschied angeben, um den es
sich Handelt, sei uns gestattet, zu sagen, daß wir auf das Innigste durch'
drungen sind von dem allrichtenden Beruf der Theorie. Wenn wir vom Dok¬
trinarismus im tadelnden Sinne sprechen, so verstehen wir darunter die scla¬
vische Abhängigkeit schwacher Geister von ^entwickelungsfähigen Lehrmeinun-
gen. Nun die Unterscheidung. Es handelt sich nicht um das Recht der Wissen¬
schaft, jede Staatseinrichtung theoretisch zu prüfen. Es handelt sich um die
tendenziöse Irreführung des unwissenschaftlichen Glaubens durch die kirchliche
Autorität. Es kann nur eine oberste praktische Autorität geben, heiße sie
Staat oder Kirche, Der Staat muß entweder abdanken, oder er muß fordern,
daß die Kirche seine oberste Autorität in praktischen Dingen anerkennt. Ein
drittes gibt es nicht. Der Staat kann die wissenschaftliche Kritikseiner
Einrichtungen ertragen, weil diese Kritik sich an die Einsicht wendet, weil
diese Kritik sich stets selbst der Prüfung aussetzt und dieselbe verlangt. Der
Glaube wendet sich an den Willen und er verlangt, daß die Glaubensgenossen
nicht prüfen, fondern folgen.
Man hat von einem Ausnahmegesetz gesprochen. Als ob man den Mi߬
brauch der Autorität über Gläubige' im Allgemeinen verbieten könnte, und
nicht vielmehr blos denen, die eine solche Autorität in einer sonst vom Staat
anerkannten Weise ausüben. Soll man etwa einen Paragraphen machen, der
die Geistlichen mit Wahrsagern und vergleichen Volk auf eine Stufe setzt?
Dies würde man thun müssen, wenn man den Mißbrauch des Glaubens¬
bedürfnisses der Menschheit zu politischen oder eigensüchtigen Zwecken ganz im
Allgemeinen verbieten wollte.
Auch die wohlmeinende sächsische Regierung unterlag dem Irrthum, als
müsse jedes Verbot des Strafgesetzbuches sich an alle Staatsbürger ohne Unter¬
schied wenden, um nicht ein „Ausnahmegesetz" zu sein. Sie beantragte im
Bundesrath einen Paragraphen, der die Beschimpfung der Staatseinrich¬
tungen ahnden sollte. Aber man kann eine Einrichtung für dem göttlichen
Willen zuwiderlaufend ausgeben, ohne sie zu beschimpfen. Man kann eine
solche Einrichtung als die Folge des edelsten Irrthums darstellen, ohne daß
^er Staat gebessert ist, wenn sein Gebot durch das angebliche Gebot Gottes
M nichte gemacht wird.
Wir haben bisher nur die allgemeine Berechtigung des Staates betont,
eine Strafbestimmung, wie die in Frage stehende, zu erlassen. Ueber die be¬
sondere Dringlichkeit, die berechtigte Waffe des Gesetzes jetzt wirksam zu machen,
brauchen wir kein Wort zu verlieren. Von dem Mißbrauch der Glaubens¬
autorität, um nicht nur diese oder jene Regierung, sondern um die deutsche
Nation zu verderben, liegen die schreiendsten Beispiele vor.
Gewiß, es ist ein Unglück, wenn die großen Autoritäten des praktischen
Lebens, wenn Staat und Kirche sich bekämpfen. Es ist besser, wenn die amt¬
liche Disciplin, als wenn der Strafrichter den Geistlichen zur Rechenschaft
zieht, soweit es sich nicht um gemeine Verbrechen handelt. Dazu gehört aber,
daß die Leitung des Staates und die der Kirche entweder in einer Hand ver¬
einigt sind, oder doch in gegenseitiger Harmonie zusammenwirken. Dieser
Zustand hat. was das Verhältniß der päpstlichen Kirche zum Staat betrifft,
"ur in den seltenen Seiten ungenügend erreicht werden können, wo das Papst¬
thum auf die praktische Weltherrschaft zu einem Theil vorübergehend verzich¬
tete. Jetzt ist wieder eine Zeit des Kampfes gekommen: aus Gründen der
inneren" Entwickelung des Katholicismus; eines Kampfes, dessen bevorzugter
Schauplatz Deutschland aus keinem anderen Grunde ist, als weil der Jesuicis-
Mus diesen Boden von altersher als den unsichersten fürchtet, und auf ihm
>«me stärksten Mittel wirken läßt.
In dem Vortrage, welchen der bayrische Staatsminister von Lutz zur
Begründung der Ergänzung des Strafgesetzes gab, traten die entscheidenden
Gesichtspunkte zum Theil sehr deutlich hervor. So, indem der Redner sagte:
»Der Staat schützt die Autorität der Kirche, zwingt seine Angehörigen, diese
Autorität zu achten. und dem gegenüber erhebt die Kirche den Anspruch auf
Oberhoheit in allen Dingen unter Anwendung des Ausspruches, daß Gottes
Gebote vor Menschengeboten gehen, Denn die Kirche sagt, daß die Staats¬
gesetzgebung mit Gottes Gesetzen in Widerspruch stehe, daß aber die Kirche
allein zu bestimmen habe, was Gott gebietet." Der Staat soll, nach dem
Redner, in die inneren Angelegenheiten der Kirche nicht eingreifen, wohl aber
sein eignes Gebiet durch Bollwerke schützen, wie das vorliegende Gesetz eines
ist. Noch wies der Redner den Vorwurf zurück, daß dieses Gesetz ein Aus¬
nahmegesetz sei, indem er darauf hindeutete, daß die Kirche eine in sich ge¬
gründete Macht, ein Staat im Staate sei. Einer solchen Macht muß man
anders begegnen als dem einzelnen Staatsbürger. Uebrigens finden sich ähn¬
liche Bestimmungen, wie das deutsche Reich sie jetzt in seine Strafgesetzgebung
aufnehmen soll, in dem l.'o<l0 plus,I Frankreichs und Belgiens, in verschie¬
denen deutschen Strafgesetzbüchern, in dem Strafgesetzbuch Sardiniens und
dem Entwurf eines Strafgesetzbuches für das Königreich Italien. Recht eigent¬
lich den Kern der Sache traf die Ausführung, daß die Geistlichen als Aus¬
leger der Gebote Gottes, sofern nicht etwa ein Beschluß der gesammten
Kirche vorlag, bisher als Lehrer auftraten, die dem Irrthum unter¬
worfen sind. Dies ändert sich, wenn sie den Ausspruch des unfehlbaren
Papstes verkünden.
Der Abgeordnete von Treitschke hob mit Recht die Unmöglichkeit hervor,
die Gebiete des Staates und der Kirche in Wahrheit und im Ernst zu tren¬
nen. Er wollte das Ansehen der Kirche nicht geschädigt wissen, weil sie die
Pflegerin des Idealismus sei. Und doch stimmte er für die Vorlage, weil
sie in bescheidenen Grenzen die Mündigkeit des Staates wahre, welche durch
die unklare Bestimmung der preußischen Verfassung über die Selbstständigkeit
der Kirche gefährdet worden. Denn diese Bestimmung wird von der Kirche
benutzt, sich im Namen Gottes als Richter über den Staat aufzuwerfen.
Die Gedanken Treitschke's führen eigentlich auf eine Staatskirche. Doch ver¬
mögen wir nicht zu behaupten, daß der Abgeordnete diese Folge aus seinen
Sätzen zieht oder annimmt. Wenn aber, wie Treitschke ganz richtig aus¬
sprach, der Versuch, die Kirche ganz von der Politik zu trennen, unnatürlich
und vergeblich ist, so wird das wahre Verhältniß des Staats zur Kirche
durch Repressivbestimmungen allein nicht hergestellt werden.
Sehr interessant war die Abwehr der Ultramontanen gegen die Vorlage.
Der Abgeordnete Reichensperger-Olpe sprach ein unanfechtbares Wort, wenn
er sagte: der Satz: man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen, sei
kein willkürliches Axiom, sondern ein göttliches Wort, gültig für alle Chri¬
sten, die ohne Befolgung dieses Wortes nicht mehr Christen bleiben, sondern
Heiden werden würden. Wir würden sagen, daß jener Satz aus der inner¬
sten Natur des Geistes fließt. Aber nun kommt der Unterschied, der uner¬
meßlich ist. Jeder Einzelne hat vor seinem innersten Gewissen zu prüfen, ob
er die Staatsgebote befolgen kann; wenn nicht, hat er den Staat zu ver¬
lassen, oder zunächst die Reform der Gesetze anzustreben. Der neue Fall des
Strafgesetzbuches ist aber gegen eine Macht gerichtet, die das Gewissen der
Menschen mit unfehlbarer Autorität vermalten zu können behauptet, die also
recht eigentlich eine irdische Institution unter dem Vorwand der Göttlichkeit
über Gott stellt, der nur durch das Gewissen spricht. Von dieser Macht kann
man unmöglich sagen, daß man Gott gehorcht, indem man ihrer Autorität
gegen den Staat folgt. Der Abgeordnete Fischer-Augsburg bezeichnete diese
Verwirrung sehr kräftig mit dem Ausspruch: „gewiß soll'man Gott mehr
gehorchen als den Menschen, aber man soll das Wort nicht so anwenden.
daß man einem Menschen auf Erden göttliche Attribute beilegt und den alten
Gott zum Statthalter im Himmel degradirt,"
Die bedeutendste Rede der ganzen Verhandlung war diejenige des Abge¬
ordneten Gneist bei der dritten Lesung. Gegen den Vorwurf des Ausnahme¬
gesetzes erwiderte er. wie denn der Staat Obrigkeiten, denn das sind die
Diener der Kirche, an dem Mißbrauch ihrer Amtsgewalt anders hindern solle,
«is durch ein besonderes Strafgesetz, wenn er über sie keine Disciplinargewalt
hat, und wenn sie als Obrigkeiten gleichwohl nicht in derselben Weise dem
Gesetz unterliegen, wie Privatpersonen. Er sagte, der Begriff des Gesetzes
sei nicht der, die gemeinen Verbrechen zu hindern, der wahre Begriff desselben
sei vielmehr, jede gegebene Freiheit mit den Schranken zu umgeben, welche
den äußeren Frieden und das bürgerliche Zusammenleben regeln. Dies sei
unverzeihlicher Weise versäumt worden, als man 18-18 die katholische Kirche,
die größte und mächtigste Körperschaft der Welt, von jeder staatlichen Aufsicht
entband. Das Wunderbare an dem gegenwärtigen Gesetz ist nicht sein Er¬
scheinen, sondern daß es erst nach dreiundzwanzig Jahren erscheint. Im alten
deutschen Reich wurden solche Normen immer gehandhabt. Jahrhunderte lang
ertrugen die geistlichen Fürsten den Gedanken, daß sie dem'weltlichen Richter
verantwortlich für Friedensbruch. Wir setzen hinzu, daß damals freilich der
Papst sich die Gewalt anmaßte, von dem Gehorsam gegen den Träger der
Staatsgewalt zu entbinden. Und doch war dies noch nicht die Anmaßung,
die Kirche, selbst in Bezug auf den äußeren Frieden, außerhalb des Staats¬
gesetzes zu stellen. Diese Anmaßung ist vielmehr ein Erzeugnis? der neueren
Zeit. Der Redner zählt auf, wie der Klerus Presse und Vereinsfreiheit, sowie
die Unzufriedenheit der arbeitenden Klassen für seine Zwecke ausgebeutet habe.
»Immerhin, alle klugen Parteien benutzten ihre Mittel, aber Sie combiniren
diesen Apparat mit der Autorität Ihrer Kirche und decken ihn mit ihr. Da¬
für beanspruchen Sie die Garantie der Coneordate. Aber solche Dinge als
kirchliche Mittel zu betrachten ist unchristlich, irreligiös. Die wahre Religion
gebietet uns die Verdammung solcher Mittel. Der Staat muß Gewalt über
die Confessionen haben, wenn er den Frieden der gemischten Bevöl¬
kerungen vertheidigen soll. Diesem Gesetz müssen daher andere
folgen."
Wir kommen zu dem letzten wichtigen Berathungsgegenstand dieser Ses¬
sion, zur Verlängerung des Pauschquantums der Heeresausgaben bis zum
Ende des Jahres 1874. Die Reichsregierung hatte die Verlängerung des mit
dem Ende dieses Jahres ablaufenden Pauschquantums nur auf das Jahr
1872 beantragt. Als aber aus der Mitte des Reichstages das Anerbieten
kam, in eine Verlängerung auf 3 Jahre zu willigen, nahm die Regierung
dasselbe an. Hier muß nun Ihr Berichterstatter bekennen, Kab er sich nicht
als Propheten bewährt hat. Am 16. October schrieb ich unter dem Eindruck
der Thronrede: Es sei vor dem Erscheinen der Thronrede auf manchen Seiten
der Wunsch rege gewesen, die Reichsregierung möge die Verlängerung des
pauschquantums auf 3 Jahre beantragen. Statt dessen kündige die Thron¬
rede diese Verlängerung nur auf das Jahr 1872 an. Ich fügte hinzu, der
Aufschub einer definitiven Feststellung der Militärausgaven bis zum Jahre
^874 würde den Bestand der Armee" recht eigentlich zur Wahlfrage machen.
Der Wunsch, dieses bequeme Agitationsmittel'für die Wahlen/ die'spätestens
Frühjahr 1874 stattfinden müssen, zu gewinnen, habe den Gedanken des
?."f 3 Jahre zu verlängernden Pauschquantums eingegeben, wozu noch die Ab¬
sicht komme, die definitive Bewilligung der Heeresausgaben möglichst von den
glorreichen Siegen der Jahre 1870 und 1871 hinwegzurücken. '
Dennoch hat die Regierung den ihr gemachten Vorschlag angenommen
und schließlich für denselben auch die Zustimmung des Reichstags erlangt.
Die Regierung konnte zwei Gesichtspuncte nehmen. Entweder den von
mir hervorgehobenen, daß es sich empfehle, die Frage der Heeresausgaben so
bald als möglich definitiv zu ordnen. Das war der Gesichtspunct der inneren
Politik. Die Negierung konnte aber auch den Gesichtspunct der äußeren Po¬
litik nehmen. Sie konnte sich sagen: Es kommt alles darauf an, daß bis
zum vollen Eingang der französischen Kriegsentschädigung, also bis zum Früh¬
jahr 1874. Deutschland in ungeschwächter Rüstung und in ungeschwächter
Einigkeit dasteht. Dieser Gesichtspunct ist in der That der entscheidende ge¬
worden. Derselbe war es auch, den als erster Redner der ersten Berathung
der Abg. Treitschke mit dem lauteren Feuer des Patriotismus erleuchtete.
Als der Redner darauf hinwies, daß der deutsche Militärauswand der geringste
sei. mit dem die Verwaltung irgend eines wirklichen Heeres auskommt, und
als er hinzufügte, das zweite Kniserreich habe hundert Millionen Franken
mehr für seine Armee ausgegeben, als wir für unsere heutige, und sei uns
dennoch unterlegen, brach die Linke in unbändiges Gelächter aus. Die Logik
dieser Herren besteht, wie es scheint, darin, daß, weil wir eine Armee besiegt,
die kostspieliger als die unsere, unsere Siegesaussichten in demselben Maße
wachsen, als wir weniger für die Armee ausgeben. Wenn wir keinen
Groschen mehr für Waffen und Soldaten ausgeben, werden wir demnach die
Welt in die Tasche stecken. Herr von Hoverbeck als Redner der Fortschritts¬
partei betonte natürlich nur, daß der Reichstag abbaute, wenn er 2 Jahr
länger auf die specialisirte Bewilligung des Heercsbudgets verzichte. Im Ueb-
rigen hatte auch diese Vorlage eine große Verwirrung der Parteistandpuncte
hervorgerufen. Laster bekämpfte dieselbe, weil er fürchtete, die Heeresausgaben
zur Wahlfrage zu machen, und weil er weiter fürchtete, daß in 3 Jahren der
Zeitpunct für eine definitive Grundlegung der Heeresausgaben minder günstig
sein werde. Das war also echt conservativ gesprochen, aber allerdings nur
vom Standpunct der inneren Politik. Forkenbeck befürwortete die Vorlage,
weil er hoffte, nach 3 Jahren von den Heeresausgaben weit mehr abstreichen
zu können, als im nächsten Jahre. Das war echt fortschrittlich gesprochen,
und mit Recht wunderte sich der Redner, daß Laster und Hoverbeck ihm nicht
folgen wollten. Die Vorlage ging durch in der ersten Berathung mit einer
Mehrheit von 16 Stimmen, in der dritten Berathung mit einer Mehrheit
von 24 Stimmen. Die Abstimmungsliste bestätigte in vollem Maße die Ver¬
wirrung der Parteien. Unter den Gegnern befand sich neben Windchorst und
Ewald'der Präsident Simson.
Der Schluß der Session erfolgte am 1. December nach der dritten Be¬
rathung über die Heeresvorlage und den Reichshaushalt. Es war dabei von
jedem (Zeremoniell abgesehen worden, aus Rücksicht auf die dem Reichstage
angehörenden Mitglieder solcher Landtage, die kürzlich zusammengetreten sind.
Wir begreifen nicht den Tadel, der darum laut geworden ist. An parlamen¬
tarischem (Zeremoniell können unsere Abgeordneten übergenug haben. Wir
würden sehr passend finoen, wenn die Ceremonie zum Schluß berathender Ver¬
sammlungen überall wegfiele. Höchstens darin mag dem Präsidenten Del-
brück, der wegen Krankheit des Reichskanzlers den' Schluß zu verkündigen
hatte, ein Versehen begegnet fein, daß er nicht bei Beginn oder im Laufe der
Sitzung auf den unmittelbar bevorstehenden Schluß aufmerksam machte.¬
So trennte sich der Reichstag nach einer inhaltreichen Session, deren Be
schlüsse weit in die Zukunft, hoffentlich zum Heile des deutschen Volkes und
Wir beginnen die diesjährige Umschau auf dem Weihnachtsbüchermarkt
Wohl gebührendermaßen mit den überaus schönen und geschmackvollen neuen
Erzeugnissen des Verlags von Al Phons Dürr in Leipzig. Unter diesen
gebührt die freudigste Erwähnung der Prachtausgabe der Odyssee mit
den berühmten Zeichnungen von Friedr. Preller, in Holzschnitt aus¬
geführt von R. Brendamour und K. Oertel. Und zwar enthält das der
ewigen Dichtung Homers in jeder Hinficht angemessene und würdige Werk
sowohl die sechszehn großen Bilder des Meisters*), welche in Cartons die
Leipziger und in Farbe die Weimarer Gemäldegallerie zieren, als auch sämmt¬
liche der kleineren Compositionen Preller's, welche in der Weimarer Gallerte
den epischen Faden der Dichtung der Erinnerung des Beschauers vermitteln,
und in dem vorliegenden Werke sinnig an der Spitze jedes der 24 Gesänge
den Hauptinhalt jeden Gesanges in einer Scene vorführen. In Feinheit,
Anmuth und Studium der Zeichnung möchten wir keine dieser kleinen fries¬
artigen Compositionen jenen sechszehn großen Blättern nachstellen, welche die
Meisterschaft Preller's in der heroischen Landschaft wie in der Figurenzeiehnung so
hervorragend bekunden. Auch die in streng antikem Geschmack von Preller
speciell für diese Ausgabe geschaffene Titelcomposition und die von Zahn ent¬
worfenen Vignetten am Schlüsse jeden Gesanges verdienen besondere Erwäh¬
nung. Der Text ist die erste Vossische Uebersetzung. Wenn sonst wohl der
Verleger bei solcher Unternehmung die Freude über die künstlerische Ausführung
idealer Bestrebungen durch die mangelnde Theilnahme des Publicums getrübt
steht, so möchten wir dieser Unternehmung die dauernde Gunst und Schätzung
des deutschen Publicums gesichert halten. Für den Anschauungsunterricht der
höheren Schulen, für die Zierbibliothek jedes gebildeten Mannes, für den
Salontisch der Frau oder Tochter vom Hause kann kaum ein reinerer edlerer
Schmuck gedacht werden, als dieses Werk. —- Wir an unserm Theile behalten
uns ausdrücklich vor. auf dasselbe in einem längeren Artikel aus kunstverstän¬
diger Feder zurückzukommen, der durch längere Berufsreisen des Referenten
leider bisher verzögert wurde. — Dasselbe gilt von dem im Verlag von Alphons
Dürr erschienenen werthvollen Schriftchen „Moritz v. Schwind, eine Lebens¬
skizze von Lucas von Führich", welches mit einem Titelbild Schwind'scher
Composition aus dem Cyclus „Die Falkenjagd" (in Hohenschwangau) geziert,
wir seltenem Verständniß die eigenthümliche reine Kraft und Größe des früh¬
verewigten Meisters vorführt.'
Endlich liegt uns aus Dürrs Verlag eines jener liebenswürdigen Kinder¬
bilderbücher vor. an dessen Zeichnungen von O. Pietsch wir großen Kinder
die größte Freude haben, wieder mit dem wohlbekannten grauen Carton¬
umschlag und dem rothen Rücken. Springinsfeld heißt diese dießjcihrige
freundliche Weihnachtsgabe, zu welcher Friedrich Otterberg die munteren Verse
geschrieben hat; und in der That sind die kleinen Helden dieser 21 Blätter
Unruhige Geister, die man ebenso ausgelassen in der Kinderstube wie in Feld
Und Garten Handthieren sieht.
Unter den reich illustrirten und mit dem höchsten Glänze moderner Buch¬
binderkunst ausgestatteten WeihnachtSwerken für die reifere Jugend und na¬
mentlich die junge Damenwelt verdient C. B eher's Ar ja, die schönsten
Sagen aus Indien und Iran, Leipzig, C. Amelang's Verlag, hervor¬
gehoben zu werden. Wäre das Wort nicht zu verbraucht, und namentlich
im deutschen Äuchhandel für jede Novität unvermeidlich, so würden wir hinzu¬
setzen, daß das Werk Beyer's, der sich durch vielfache Schriften über Stuckert
bekannt gemacht hat, einem wirklichen Bedürfnisse genüge. Denn die reiche
Sagenwelt jener Wiegen der Menschheit ist unserer Jugend, ja unserem Volke
überhaupt noch lange nicht in dem Maße erschlossen, als sie verdient. Es ist
daher ein unzweifelhaftes Verdienst von Beyer, daß er — sich meist eng an
die Quellen haltend — ein Buch zu schaffen wußte, welches jedem Leser ver¬
ständlich, für jeden anziehend und auch dem harmlosesten Gemüth ungefährlich
ist, und in einem „Wissenschaftlicher Anhang" auch demjenigen, der ganz
unvorbereitet in die indisch-iranische Sagenwelt eintritt, die nöthigen Erläu¬
terungen über das Leben, den Götterglauben, die Sprache u. f. w. der Jndier
und Iraner und den behandelten Sagenkreis insbesondere bietet. Nur ist
der Verfasser in seinem Streben nach populärer Darstellung nicht selten so
weit gegangen, daß er die Gemeinplätze heutiger Redeweise zugleich mit seinen
indisch-iranischen Dufcgestalten vorführt, oder diesen gar in den Mund legt.
Auch in Betreff der Illustrationen wäre zu wünschen, daß das römische Co
stum weniger häufig sich in diese indisch-iranische Welt verirrie.
"
Darin könnte der Künstler der „Arja selbst bei jenen einfachen, aber
äußerst sorgfältig gezeichneten Costümbildern lernen, welche unter den jähr¬
lichen Novitäten von „ M unebner Bilderbogen" im Verlage von Braun
und Schneider in München erscheinen, und auch dieses Jahr erschienen sind.
Welche Zauberkraft in dem humoristischen Theil dieser neuen Münchner Bilder¬
bogen auf Jung und Alt liegt, kann man aus dem dichten Zuschauerkreis
erkennen, den jetzt die Buchbinderläden und kleineren Buchhandlungen vor
ihren mit diesen Bogen gezierten Fenstern versammeln. Namentlich ist der
gute Name O dert ä über' auf mehreren dieser humoristischen Novitäten zu
erkennen, während Hans Speckter in Weimar eine treffliche Illustration
zu dem Märchen von den „drei Spinnerinnen" geliefert hat. — Manche
dieser Bilder erinnern auch in Ernst und Scherz an den großen Krieg mit
Frankreich, während General „Rockschössels Erinnerungen", den friedlichen
„Humor am Stadtthor auf der Wache" aus jenen idyllischen Tagen schildern,
wo noch nicht der eiserne Hauch der preußischen Disciplin in die bayerischen
und schwäbischen Krieger gefahren war. «Fortsetzung folgt.)
Mit Ur. A beginnt diese Zeitschrift ein Neues Quartal, welches
durch alle Buchhandlungen und Dostämter zu beziehen ist.
Leipzig, im December let7l.Die Berlagshandlung.
beginnen mit dem Jahre 1872 ihren ein und dr e i ß i gst e n Jahrgang.
Preis pro Halbjahr 5 Thlr.
Kaum eine zweite deutsche Zeitschrift hat dieses Alter aufzuweisen.
Keiner sicherlich sind in solchem Grade die Hoffnungen ihrer dreißigjährigen
Politischen Bestrebungen in Erfüllung gegangen. Denn für Kaiser
und Reich, eine gesammtdeutsche Verfassung und Volksvertretung, unter
dein Schirm und der Führung des preußischen Staates, traten diese
Blätter schon ein vor dem unseligen Tage von Olmütz. Sie haben seither
gemahnt und gewirkt nach ihren Kräften, die große nationale Partei zu¬
sammenzuführen, welche seit dein Jahre !866 von rechts und links sich ehr¬
lich die Hand reichte zu guter deutscher Arbeit. Die Tüchtigkeit der Werke,
"welche in den vier Jahren der politischen und gesetzgeberischen Thätigkeit des
Norddeutschen Bundes gewonnen wurden, hat im Kriege der Feind erfahren,
um Frieden das deutsche Reich ererbt.
Wie die „Grenzboten" die neue Zeit, welche die Begründung des deutschen
Reichs und der Friede mit Frankreich heraufführte — nicht nur uns Deutschen,
sondern ganz Europa — unter neuer Leitung erfaßt und geschildert haben, dasür
^ge der abgeschlossene Jahrgang Zeugniß ab. Das Ende des Krieges noch
fällt in dieses Jahr, dessen letzte Phasen in zahlreichen unterrichteten Artikeln ge¬
schildert wurden. Richt minder haben diese Blätter mit Aufmerksamkeit verfolgt ^
die Verhandlungen der südstaatlichen Kammern über den Beitritt zum deutschen
Zeiche, zwei erfolgreiche Sessionen des ersten deutschen Reichstags, die Arbeiten
des preußischen Lantags, die Kaiserkrönung und die Friedensverhandlungen,
unsre Beziehungen zu den auswärtigen Mächten in und seit dem großen Kriege,
^e inneren Verhältnisse der französischen Parteien und der französischen Gesell¬
schaft, die mächtigen Schwingungen, welche die große Zeit auf jeden einzel¬
nen Theil des Reichs und auf die „Neutralen", die Engländer, Italiener,
Amerikaner, Russen, Holländer, Schweizer u. s. w. hervorbrachte. Die Auf-
gaben der deutschen Verwaltung in dem neuerworbenen Elsaß-Lothringen
bildeten den Gegenstand gründlicher Abhandlungen. Erschöpfend wurde die
unerwartet zeitige und vollständige Ausbeute, welche die verschiedenen „Ent¬
hüllungen", für die geheime Geschichte der Vorjahre boten, dem Leser darge¬
legt. Eingehend beschäftigten sich die „Grenzboten" mit der Fülle politischer,
wirthschaftlicher und socialer Arbeit, welche im Innern unsres deutschen Staates
die alte Zeit der neuen noch hinterlassen hat; mancher in diesen Blättern zuerst
angeregte legislatorische Gedanke darf über kurz und lang seiner Verwirklichung
durch die Reichsgesetzgebung entgegensehen: so die Wünsche unsres Blattes in
Betreff eines einheitlichen Rechtes, und eines im besten Sinne modernen
Preßgesetzes für das deutsche Reich.
Ohne Furcht und Scheu vor irgend wem, unabhänig von dem
Machtwort irgend einerj Partei ebensowohl, als von den Vorurtheilen
der öffentlichen Meinung, ohne Phrase und ohne Rückhalt, haben die
„Grenzboten" auch in diesem Jahre gesagt und verkündet, was sie für
recht, für wahr, und der hohen Aufgabe der nationalen Presse Deutsch¬
lands geziemend und würdig hielten. Sie haben hierbei den vollen Zorn
und Haß geerntet jenes unnatürlichen Bündnisses der rothen und der
schwarzen Internationalen, welche mit ihrem ohnmächtigen Grimm dem moder¬
nen nationalen Kulturstaat unseres Volkes sich in den Weg werfen.
Mehr als einmal — jedoch völlig vergeblich, ist versucht worden, die „Grenz¬
boten" durch gerichtliche Verfolgungen einzuschüchtern.
Die Pflege und Würdigung der Literatur und Kunst hat diese Zeitschrift
hinter der Reichhaltigkeit ihres politischen Inhalts keineswegs zurücktreten
lassen. Vielmehr hat sie den Erzeugnissen und Ergebnissen deutscher und
ausländischer Wissenschaft und Kunst auf allen Gebieten eifrige Sorgfalt
und Aufmerksamkeit geschenkt, und mehr als eine dieser Abhandlungen darf
wohl, nach der Gunst, welche sie beim deutschen Publikum gefunden haben,
auf bleibende Erinnerung rechnen.
Eine, nur die hervorragendsten Artikel des verflossenen Jahrganges be¬
rührende Aufzählung, wird auch den Nichtlesern die Reichhaltigkeit und Viel¬
seitigkeit der Grenzbotenhefte vor Augen führen.
Der Jahrgang 1871 der Grenzboten enthielt u. A.i
Politik und Völkerlcvcn:
deutschen Einheitskriege. Zur Frage der Münz-
reform. Deutsche Aufgaben in Elsaß - Lothrin-
gen. Die Hamburger Armenstiftungsfrage.
Der Tabak als Finanzartikcl in Deutschland-
Briefe eines Deutschen an einen Schweizer-
Nothwendige Reformen im Seetriegörecht. Karl
Vogt als Politiker. Der Luftballon im Völ¬
kerrecht. Das deutsche Kaiserthum. Die jesui-
tisch-klerikale Partei und das deutsche Reich-
Die Reichsgesetzgebung und die Lage der Rechts-
^ehre. Zum Katholitencongreß in München.
Deutschland und Oestreich. Die deutschen Uni¬
versitäten und die neue Universität in Stra߬
burg. Herr August Reichensperger. Das höhere
Schulwesen in Sachsen. Unser Heerwesen.
Der deutsche Reichskanzler und Herr Benedetti.
Pariser Indiskretionen. Italien im letzten
Halbjahr. Aus den Tagen der Commune.
Der öffentliche Schnlnntcricht unter der Päpst¬
lichen Regierung. Preußen und die Vereinig¬
en Staaten. Der internationale Nrbeiter-
bund. Französisches Parteiwesen (4 Artikel).
Das Jubiläum des Papstes in Rom. Die
Kommune und die Internationale. Bismarcks
Geheimniß. Die englischen Gewerkvereine.
Die jüngste Parlamentsession in England.
Aus dem Tammany-Ring (New-York.) Herr
Nilhelm Rüstow. Die Polen und die com-
wuinstische Revolution. Parlamentarismus und
Selfgovernment. Nu, miLsion o» ?russ<z, p»r lo
<i»als Ilknoctetti. Frankreich und die allge¬
meine Wehrpflicht.
Bilder und Schilderunge».
^°else und das Elsaß. Wodan als Jahrgott.
Die Poesie des Krieges bei den Griechen.
Wunde Stellen im Französischen Heer. Die
Feldpost. Deutsche Feldzüge gegen Frankreich.
Zur Geschichte der Annexion Nizzas an Frank¬
reich. Die Handelsstraßen »ach Ostindien.
Aus Weimars Kulturgeschichte. Srraßbnrgs
Bedeutung sür den Humanismus. Von Flo¬
renz nach Rom (Knnstbriefe über Arezzo. Eor-
tona, Perugia, Assisi, Temi). Die Schlacht bei
Dorking. Die Londoner Weltausstellung I87i.
Bogumil Goltz. Zur Geschichte der politischen
Literatur Deutschlands l8N<! — 1808. Die
Entwickelung der Tagespreise in den Vereinig¬
ten Staaten. Aus deu Tagen der Eroberung
Englands durch Willielm von Oranien. Ein
Abenteurer n»o alter Zeit (Cnejus Pom-
pejus). Julius Fröbel. Herders Einwirkung
auf die deutsche Lyrik. Ihre fürstliche Gnaden
auf deutschen Universitäten. Ferdinand der
Katholische. 'Aus dem englischen Leben (die
englische Ratte. Bab» Farming. Das Found-
ling Hospital). Ein antiker Roman (ti
Babyloniala des Jamblichos). Berliner Post-
anstalten. Die Mormonen am großen Salz¬
see. Miß Vera im Krieg. Ulrich von Hütten.
Literatur und Kunst:
Die mosaicirte Maricnstatue zu Marien¬
burg. Hausmusik. Zu Webers Oberon. Ueber
Erhaltung und Zerstörung historischer Bau¬
denkmale. Wilhelm Jordans Nibelunge. Das
Tiefurtcr Journal. Ranke's deutsche Geschichte
1780—1790. Ueber zweihundert größere und
kürzere Besprechungen von Erscheinungen der
Literatur und Kunst.
In den schlimmsten Zeiten, welche Deutschland gesehen hat, sind die
"Grenzboten" für ihr Streben dnrch die Gunst des deutschen Publikums belohnt
worden. Auch das vergangene Jahr hat diese in der Gleichheit der An¬
schauungen und Bestrebungen wurzelnde freundliche Unterstützung, trotz mehr¬
facher verwandter Concurrenzunternehmen, in keiner Weise zu erschüttern
vermocht. Möge auch im neuen Jahr das gebildete deutsche Lesepublikum
^ne Theilnahmeden „Grenzboten" ebenso freundlich erhalten, als Redaction
Und Verlagshandlung bestrebt sein werden, dieselbe zu verdienen.
Bestellungen auf den Jahrgang 1872 — welche jede Buchhandlung
""d Postanstalt annimmt. — erbittet im Interesse rechtzeitiger Zusendung
^ehe frühzeitig.
Friedr. Ludwig Herbig.
(F- W. Grunow.)
Verlagshandlung.
Die Hinrichtung Rossel's ist von einem großen Theil der Presse, der
französischen, der englischen, auch der deutschen, als ein Act der Grausamkeit
bezeichnet worden. Andere Blätter, darunter selbst der conservative „Standard",
verurtheilen sie zugleich als einen politischen Fehler, der die Sache der Com¬
mune fördern müsse. Republikanische Journale Südfrankreichs gehen sogar
so weit, daß sie für den „Märtyrer" ein Denkmal verlangen.
Wir sind anderer Meinung. Wir erkennen bereitwillig an, daß der frü¬
here militärische Chef der Communistenregierung von Paris ein Talent war,
dessen Tod in so jungen Jahren Mitleid verdient, und wir ehren die anstän¬
dige Weise, mit der er in Satory gestorben ist. Aber sterben mußte er. Es
war keine rohe Rache und keine ungerechte Härte, wenn die Inhaber des Be¬
gnadigungsrechtes sich außer Stande glaubten, von demselben in seinem Falle
Gebrauch zu machen. Unter den in Frankreich obwaltenden Verhältnissen,
bei der dort herrschenden Begriffsverwirrung in Betreff von Recht und Un¬
echt, die unter andern gemeine Mörder wie Bertin und Tonnelet freisprach,
^eil sie „aus Patriotismus" gemordet haben sollten, hätte man die öffentliche
Meinung nur weiter in die Irre geführt, wenn man einen eidbrüchigen
^fficier auf Grund der Behauptung geschont hätte, daß er sich aus Haß
Hegen den auswärtigen Feind der Empörung angeschlossen habe, eine Be¬
hauptung, die überdieß nicht einmal ganz zutrifft, da Rössel erwiesenermaßen
seinem verhängnißvollen Schritte zugleich von brennendem Ehrgeiz ge¬
rieben wurde.
Wir sind daher der Begnadigungs-Commission vielmehr Anerkennung
schuldig für die männliche Entschlossenheit, mit der sie die sentimentalen Ein¬
brüche gegen das Urtheil, die massenhaft auf sie eindrangen, von sich gewiesen
und das erfüllt hat, was ihre Pflicht, wenn auch eine schmerzliche und furcht¬
bare Pflicht war. Hierzubewegen uns aber noch einige andere Gründe neben
oben angeführten; Gründe, vor denen alle Romantik, mit welcher gewisse
^riser Sensationsmaler Rössel umgeben haben, wie Nebel vor der Sonne
Zerstiebt.
Versetzen wir uns unter die Herrschaft der Commune zurück, und suchen
wir die Gestalt des Mannes auf, für den man das Mitleid anzurufen und
den man nach seinem Tode mit einem Schwall von rührenden und empfind¬
samen Zügen aus seinen letzten Tagen zu verklären versucht hat.
Das erste Mal, wo er in die Oeffentlichkeit tritt, ist der 19. April. Es
soll ein Kriegsgericht über den Bataillonschef Giraud aburtheilen, welcher an¬
geklagt ist, einem Befehl nicht gehorcht zu haben, der ihn anwies, mit seinen
Leuten in's Feuer zu gehen. Er entschuldigt sich mit der Unmöglichkeit, in
der er sich befunden, seine von Hunger und Strapatzen erschöpften Mann¬
schaften vorwärts zu bringen, und versucht zugleich, den Nutzen der Bewegung
zu bestreiten, welche der Befehl vorgeschrieben. Rössel, welcher die Verhand¬
lungen leitet, unterbricht ihn dabei mehrmals mit einer schneidenden Kälte,
welche diejenigen, die als Beisitzer beim Gericht fungirten, geradezu empören
mußte, und die um so häßlicher aussieht, wenn man mit der in ihr liegenden
Gleichgültigkeit gegen ein fremdes Leben die immerhin etwas süßlichen Aeu¬
ßerungen des Capitäns zusammenhält, die aus den Stunden im Gefängniß
auf der Rue Se. Pierre zu Versailles berichtet werden, in denen es sich um
sein eignes Leben handelte. Immer hatte er die Phrase zur Wiederbelebung
der halb entkräfteter Anklage auf den Lippen-. „Kurz also, Sie haben den
Befehl nicht ausgeführt!" Vergebens machte Giraud auf die Vortrefflichkeit
seiner republikanischen Antecedentien und auf die stets von ihm bewiesene
treue Anhänglichkeit an die Sache des Volkes aufmerksam. Der Prozeß en¬
digte mit einem Todesurtheile, welches Rössel in folgenden sehr bezeichnenden
Worten aussprach:
„Während eines Bürgerkrieges ist die Anwendung des Martialgesetzes
eine unbedingte Nothwendigkeit. Es ist durchaus nicht erlaubt, die
politische Vergangenheit und das private Vorleben des Sol¬
daten anzurufen, um diese Anwendung zu hintertreiben. Der Bataillons¬
chef Giraud war auf dem Vendomeplatze, wo die Reserven für die Vertheidigung
von Paris und der Commune aufgestellt sind. Er bekennt, einen regelrechten
Befehl erhalten zu haben, der ihn anwies, nach der Porte Maillot zu in«r-
schiren, dem Orte, wo der Feind steht. Er hat sich an seinem Theil ge¬
weigert, gegen diesen Feind und die Rebellen, welche Paris angreifen, zu mar-
schiren. Aus diese Gründe hin verurtheilt das Kriegsgericht Giraud zur Todes¬
strafe."
Wir glauben, unter Unbefangenen keinem Widerspruch zu begegnen, wen«
wir der „France", der dies entnommen ist. vollkommen beipflichten, die daran
die Frage knüpft: „Diese Sentenz, in welcher die persönliche Unerbittlichkeit
des Richters sich mit der Unbeugsamkeit des Kriegsgesetzes verbindet, fällt sie
nicht mit ihrem ganzen Gewicht auf den eidbrüchigen Offizier, der sie formu-
lire hat?" Wir meinen, Rössel selbst hat dies empfunden, sich an jenes dra¬
konische Urtheil erinnert, als er am Tage seiner Hinrichtung gegen den ihn
zum Tode vorbereitenden Geistlichen das Bibelwort citirte: „Richtet nicht, so
werdet auch ihr nicht gerichtet."
Aber weiter. Einige Tage nach jener Verurtheilung Giraud's ersetzte
Rössel Cluseret in der Delegation des Krieges. In seiner neuen Stellung
als oberster Leiter der Operationen debutirt er mit dem berüchtigten Briefe
an den „Bürger Laperche, Major der Laufgräben vor dem Fort Jssy", in
welchem er seinem „lieben Kameraden" die Mittheilung macht, daß der erste
Parlamentär, den er zu schicken sich unterstehen würde, Erschießung zu gewär¬
tigen hat." Dann folgt nachstehender Befehl:
„Es ist untersagt, das Feuer während des Kampfes auszusetzen, auch
wenn der Feind den Kolben emporhalten (Zeichen der Ergebung bei der fran¬
zösischen Armee) oder eine Parlamentärflagge aufstecken sollte.
Es ist bei Todesstrafe verboten, das Feuer fortzusetzen, nachdem der Be¬
fehl zum Aufhören ertheilt worden ist, oder weiter vorzugehen, wenn der
Rückzug vorgeschrieben ist.
Die, welche fliehen oder als einzelne Nachzügler zurückbleiben, werden von
der Cavallerie niedergesäbelt, wenn sie zahlreich sind, mit Kanonen zusammen¬
geschossen werden.
Die militärischen Chefs haben während des Kampfes volle Gewalt, mit
den unter ihre Befehle gestellten Offizieren und Soldaten zu thun, was die¬
selben zum Marschiren und zum Gehorsam anzuhalten geeignet ist.
Diese Erinnerungen werden genügen, um den Mann, mit dem wir es
Zu thun haben, zu zeichnen. Sie werden hinreichen, um erkennen zu lassen,
")as er war, als er den Oberbefehl über die Pariser Insurgenten übernahm;
ste werden eine Idee von dem geben, was, er gewesen sein würde, wenn er den
Sieg behalten hätte.
Wo sollen wir anderwärts ein Argument suchen, das zu seinen Gunsten
spräche? Etwa in der Art, auf die> er sich bemüht hat, seinen Uebergang zur
Kommune damit zu entschuldigen, daß er geglaubt habe, in deren Reihen
Aussicht auf Rache an den „Preußen" zu finden?
Wir zweifeln daran. Zunächst war es erst am 30. April, wo er die
Militärische Leitung des Aufstandes der Rothen übernahm, und schon am 22.
März hatte die Commune den deutschen Generalen durch das officielle Organ
^aschal Groussets, ihres Ministers für die auswärtigen Angelegenheiten,
Notificiren lassen, daß „die in Paris vollzogene Revolution in keiner Weise
Aggressiv gegen die deutschen Heere vorzugehen gedenke." Sodann, konnte denn
Rössel hoffen, diese friedliche Stimmung der Häupter der Commune durch
seinen Einfluß zu ändern? Gewiß nicht. Er mußte wissen, daß die Ziele
und Wege derselben ganz andere waren. Gerade weil er ein intelligenter und
bis zu einem gewissen Grade weitblickender Geist war, mußte ihm weit weniger
als der Mehrzahl derer, zu deren Genossen er sich gemacht, verborgen sein,
wohin das Unternehmen vom 18. März führen mußte: er konnte am Ziele
desselben einen allgemeinen Bürgerkrieg, einen allgemeinen Aufstand des Pö¬
bels gegen die Besitzenden sehen, nimmermehr aber eine vom Standpunkte des
Franzosen ehrenvolle oder gar eine erfolgreiche Wiederaufnahme des Kampfes
mit dem ausländischen Sieger.
Daß der Ingrimm über die Niederlage Frankreichs in gewissem Maße
Einfluß auf sein Verhalten gehabt, daß diese stolze Natur die Kümmernisse
und Schmerzen des besiegten Vaterlandes und den Verdruß über die Ent¬
täuschungen seines eigenen ehrgeizigen Strebens in ein Gefühl verschmolzen,
ist möglich. Aber durfte man auch diesen Zustand sittlicher Verwirrung als
Erklärung eines einmaligen falschen Schrittes, einer ersten unbesonnenen Zu¬
stimmung zu der That des 18. März zulassen, so kann man keinenfalls den¬
selben als Entschuldigung dafür anführen, daß Rössel sechs ganze Wochen
hindurch seine eifrige Mitwirkung einem wahnwitzigen und ruchlosen Treiben
geliehen hat, welches keinen anderen Zweck als Mord und Zerstörung hatte,
und keinen anderen Ausgang als eine nationale Katastrophe der entsetzlichsten
Art haben konnte, wenn es zum Gelingen der Pläne der Insurgenten kam.
Wenn wir an Rössel ein mit Wehmuth gemischtes Interesse empfinden,
so ist dies nicht durch die Versuche seiner Vertheidiger in der französischen
Presse hervorgerufen, seine Schuld abzuschwächen. Unzweifelhaft weniger
schuldig, weil weniger intelligent und weniger gebildet, war der Sergeant
Bourgeois, der demselben Gesetze verfiel und in derselben Stunde büßte, wie
er. Kein Mensch in Frankreich hat über die Hinrichtung des Sergeanten ge¬
klagt, ihn weißzuwaschen versucht, ihm publicistische Immortellenkränze auf
das Grab gelegt. Warum nicht? Die „France" antwortet in dem von uns
citirten Artikel ganz richtig hierauf:
„Weil bei uns in Frankreich der Umstand, daß ein Verbrechen recht stark
von sich reden macht, für das Publicum zum hauptsächlichen Milderungs¬
grund werden will," mit anderen Worten, weil diesem Publicum der Eclat,
der romantische Nimbus, mit dem ein Verbrecher sich umgibt, so imponirt,
daß die Schuld desselben darüber, wo nicht vergessen wird, so doch leichter er¬
scheint. „Die Einbildungskraft der Leute", so sagt das Blatt weiter, „be¬
findet sich in einem kränkelnden Zustande, der ihr die Dinge nur von den
Seiten sehen läßt, welche sie verblenden. Sie interessirt sich leidenschaftlich
für Aeußerlichkeiten bis zu dem Grade, daß sie darüber Blick und Urtheil für
das Gute oder Böse verliert, welches sich hinter denselben verbirgt. Man
möchte sagen, daß sie in Ermangelung wirklicher Helden, die sie bewundern
kann, das Bedürfniß empfindet, sich um jeden Preis Helden zu machen,
müßte sie auch dabei soweit gehen, daß sie sie unter den ärgsten Feinden der
bürgerlichen Gesellschaft und von den Bänken der Angeklagten im Criminal-
gericht zu nehmen hätte."
„Es ist Zeit", so schließt das Blatt seine Betrachtung, „diesem sittlichen
Niedergang entgegenzuwirken, er würde sonst binnen Kurzem den Namen
eines heruntergekommenen Volkes rechtfertigen, den man uns zu geben an¬
fängt. Es ist Zeit, daß wir uns erinnern, daß je glücklicher ein Mensch ver¬
anlagt ist, desto größer seine Verpflichtungen gegen die Gesellschaft sind, und
diese desto mehr Recht hat, an dem Tage, wo er jene Pflicht außer Augen
gehest hat, strenge Rechenschaft von ihm zu fordern. Statt dessen thun wir
das Gegentheil, ohne gewahr zu werden, daß jede derartige Schwäche für
brillante Mittelmäßigkeiten, für ungeduldige Strebsamkeit, für dreist auftre¬
tende Gelüste eine Ermuthigung ist, sich Alles für gestattet zu halten, voraus¬
gesetzt, daß sie verstehen, die Nachsicht des Publicums dadurch zu gewinnen,
daß sie sich mit einem falschen Nimbus umgeben. Hüten wir uns! Denn
so wird man, wie das spanische Amerika, ein Land für Pronuncin-
Miento's."
Wir haben dem nichts hinzuzufügen, als unsere ungetheilte Beistimmung.
Und mit dieser Einleitung können wir die folgenden Mittheilungen eines eng¬
lischen Correspondenten der „Dans News" ohne viel weitere Bemerkungen
wiedergeben. Man wird darin einiges, was über Capirän Rössel schon ge¬
sagt wurde, indireet bestätigt finden, anderes zu berichtigen wissen. Unser
Engländer, der, wie man sehen wird, stark für Rössel eingenommen ist, er¬
zählt uns:
„Bald nach Ausbruch der Jnsurrection vom 18. März begab ich mich
w das Kriegsministerium, um mir einen Passirschein zu verschaffen, ohne den
Ulan kaum seiner Freiheit, um nicht zu sagen seines Lebens sicher war, vor¬
züglich, wenn man, wie ich, sich in dem Fall befand, seinem Berufe als
Journalist nachgehen, unablässig auf der Suche nach Neuigkeiten sein, und
jeden Menschen, der nützlichen Bescheid geben konnte, nach allen Richtungen
hin ausfragen zu müssen.
Als ich an dem prachtvollen Palast im Faubourg Se. Germain ankam,
welcher unserm ärmlichen londoner Kriegsministerium entspricht, wurde ich se>-
sort in das Zimmer gewiesen, in welchem Oberst Rössel beschäftigt war, einer
^hr gemischten Masse von Leuten Audienz zu ertheilen. Das Zimmer war
doll von Officieren der Nationalgarde, die in Uniformen der glänzendsten
Art steckten und von oben bis unten mit Tressen und Troddeln bedeckt waren,
und der einzige Mann von Ansehen, welcher einen einfachen Civilanzug trug,
war Rössel selbst, welcher damals als Generalstabschef für Cluseret fungirte.
Alle diese Officiere schienen vor ihm, dem jugendlichen Genieobersten, trotz
seiner bürgerlichen Kleidung Furcht zu haben, und vielleicht nicht ohne Ur¬
sache; denn sie wußten, daß er mit allen Einzelheiten seines Berufes ebenso
bekannt war, wie sie über die ersten Rudimente desselben unklar waren.
Als ich mein Gesuch wegen eines Passirscheins vorbrachte, lehnte er sehr
höflich, aber zugleich sehr fest ab, mir einen zu geben, indem er bemerkte, daß
mein Paß genügen müsse, und daß, wenn er mir einen Paß als Journalist
bewilligte, dieß das Anrecht der Korrespondenten auf eine Art halbamtliche
Stellung anerkennen hieße. Dazu sei er nicht ermächtigt. Ich zog darauf
ab, ziemlich unglücklich, daß ich meinen „Paß" nicht erlangt hatte, aber voll
Bewunderung über den durchdringenden Blick und die entschiedene, selbstbe¬
wußte Haltung des jungen Stabsofficiers. Es war durchaus kein französisches
Großthun an ihm, und ich erinnere mich, daß ich zu einem Freunde, der
viel mit mir unter den Deutschen gewesen war, die Bemerkung machte, „Rössel
gleicht mehr einem.von Moltkes Stabsosficieren als einem Franzosen."
Das nächste Mal, wo ich Oberst Rössel sah, war bei einer Sitzung des
Kriegsgerichts, dessen Präsident er war. Eine der Anklagen, die gegen den
Kriegsdelegirten der Commune vorgebracht worden sind, bestand darin, daß
er diesem Kriegsgericht mit außergewöhnlicher Strenge präsidire habe. Ich
kann nur sagen, daß er mir in den Fällen, wo er Untersuchungen zu führen
hatte, mit großer Milde zu verfahren schien, und nur solche Leute zu Gefäng¬
nißstrafen verurtheilen ließ, welche in den Reihen der Truppen der Commune
Ehrenstellen und Sold gesucht und sich dann geweigert hatten, zur Bekämpfung
der Versailler Soldaten auszurücken. Ich glaube, Rössel verurtheilte einen
Mann zum Tode wegen Feigheit im Feuer, aber das Urtheil wurde am
nächsten Tage durch Decret der Commune abgeändert, was Rössel wahrschein¬
lich recht gut vorauswußte, als er die Sentenz fällte. („Wahrscheinlich"
eine recht lahme Vertheidigung den obigen Thatsachen gegenüber.)
So viel über die „blutige Laufbahn", die ihm neulich ein amerikanisches
Blatt zuschrieb. Nach Cluserets Fall und Rössels Ernennung zu seinem
Nachfolger als Kriegsdelegat sah ich ihn wieder im Kriegsministerium, und
jetzt gab er mir sogleich einen Passirschein, indem er bemerkte, daß es ihm viel
Vergnügen mache, mir nützlich sein zu können, da ich ein halber Landsmann
von ihm sei. „Sie wissen," sagte er, „meine Mutter war eine Campbell, und
einer meiner Oheime dient in Ihrer indischen Armee." Dieß ermuthigte mich
zu der Bitte, ob er nicht meinen Paß auf die Polizeipräfeetur zur Unterzeich'
mung durch Raoul Rigault senden wolle, da ich mich fürchte, selbst dorthin
zu gehen. Rigault nämlich hatte die Schrulle, herumziehende Leute, die in
seine Klauen geriethen, als Geiseln zu behalten. Rössel verstand mich sofort,
schickte meinen Paß durch eine Ordonnanz hinunter nach der Rue de Jerusa¬
lem, und in einer halben Stunde hatte ich ihn gehörig unterzeichnet zurück
und zugleich eine schriftliche Erlaubniß, ein paar werthvolle Pferde aus Paris
wegzuschaffen.
Während wir auf die Rückkehr der Ordonnanz warteten, führte Rossel
mich in ein Nebenbureau. „Lassen Sie uns doch mal sehen, ob es irgend¬
welche Nachrichten von den Vorposten giebt," sagte er, indem er ein Buch mit
telegraphischen Depeschen öffnete. Ich schlug die Blätter auf und sah sofort,
was ich längst vermuthet hatte, daß nämlich die Nachrichten im „Journal
Officiel" — na, daß diese Nachrichten so wenig die Wahrheit wiedergaben als
französische officielle Nachrichten in der Regel. Ich konnte mich nicht ent¬
halten, meinen Abscheu vor diesem Lügensystem gegen Rössel zu äußern. „Mir
ist es ganz ebenso zuwider wie Ihnen," erwiederte er. „Aber was soll ich
thun. Die Andern bestehen darauf, daß Depeschen zusammengedoctert werden,
und in der That, wenn wir denen in der Stadt wissen lassen wollten, wie es
in Wahrheit steht" — damit hielt er inne.
Da kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich zog den Kriegsdelegirten bei
^>eile in eine Fensternische, und nachdem ich mich entschuldigt, daß ich als ein
Unglücksprophet rede, gab ich ihm meine eigene Karte und Adresse sowie die
eines Freundes, der wie ich eine große Neigung zu Rössel gefaßt und mich
ermächtigt hatte, ihm Schutz und Zuflucht anzubieten, und bat ihn, sich zu
^nem von uns zu flüchten, falls er die Gewalt verlieren und gezwungen sein
^ille, sich vor seinen stets argwöhnischen (sie waren stets an unrechter Stelle
argwöhnisch) Collegen von der Commune zu verbergen. Rössel versprach mir,
von unserm Anerbieten Gebrauch zu machen, falls es nöthig werden sollte,
und von dieser Zeit an behandelte er mich als einen Freund, auf den er sich
verlassen konnte.
Bald nachher hatte ich Gelegenheit, einen Ritt aus Paris hinaus zu un¬
ternehmen, und diese benutzte ich, um einem preußischen Freunde in der Nähe
von Enghien einen Besuch zu machen. Als ich Rössel am nächsten Tage sah,
^wähnte ich gegen ihn, nicht ohne damit stark auf den Busch zu klopfen, da ich
seinen Haß gegen die Deutschen kannte, wo ich gewesen. „Darüber muß ich
wie Ihnen reden," sagte er sehr lebhaft, „und zwar an einem Orte, wo wir
Kilein mit einander sprechen können. (Wir waren in einem Zimmer voll lär¬
mende Nationalgarten-Officiere, unter denen Rössel nur mit einiger Mühe
^en Frieden aufrecht erhielt.) Kommen Sie und frühstücken Sie mit mir um
Swölf Uhr. Es wird Niemand weiter da sein, als DombrowM und vielleicht
ein anderer Freund, dem ich trauen kann. Ich entsprach der Einladung und
fand Dombrowski wartend in dem prachtvollen Speisezimmer des Kriegsmi-
nisteriums. Wir sprachen etwa fünf Minuten mit einander, dann kam
Rössel herein.
„Nun erzählen Sie mir Alles von den Preußen/' sagte er, nachdem er
sich zu Tisch gesetzt. „Sie scheinen keine Vorbereitungen zu einem Angriff
auf uns zu treffen; haben sie Vertheidigungswerke zwischen Paris und
Enghien? Es scheint nicht, daß sie einen Angriff von unserer Seite er¬
warten."
Natürlich konnte ich nur sagen, daß die Preußen im Allgemeinen für
alle Eventualitäten bereit wären, daß sie aber weder ein Zeichen offener Feind¬
seligkeit noch irgendwelcher Furcht in Betreff der Anhänger der Commune
merken ließen."
Darauf blickte Rössel Dombrowski an, wie wenn er sagen wollte:
„Sie sehen, wir könnten sie angreifen." Aber Dombrowski, kein Franzose,
und deßhalb kaltblütiger und weniger in Vorurtheilen befangen, antwortete:
„Nein, mein Freund, mit Soldaten wie die unsrigen muß man sich nicht an
die Preußen wagen."
Rössel antwortete nicht, brütete aber offenbar weiter über seinem Lieb'
lingsgedanken eines Angriffs auf die Feinde Frankreichs mit der National¬
garde, indem er hoffte, die Vaterlandsliebe würde die Versailler Truppen hin¬
reißen, sich dem Ansturm gegen den gemeinsamen Gegner anzuschließen. Er
beurtheilte die patriotischen Empfindungen der Versailler Regierung nicht
richtig, welche wenige Wochen später, weit entfernt, die deutschen Truppen
anzugreifen, sich nicht schämte, deren Beistand anzunehmen, um die in der Falle
befindlichen und dem Verderben geweihten Insurgenten mit einem eisernen
Ringe einzuschließen.*)
Einmal auf die Preußen gekommen, sprach Rössel von der Leber weg
über dieselben, und obwohl er seinen Haß gegen sie durchaus nicht verbarg,
so war er in seinen Aeußerungen doch von jeder Herabsetzung derselben und
jeder höhnischen Hoffahrt vor der Nation fern, welche die feine so grausam
niedergeschmettert hatte. Er erinnerte sich der Thatsache, welche jetzt so viele
französische Officiere zu vergessen scheinen, daß die Pflicht eines Soldaten nicht
darin besteht, die Feinde seines Vaterlandes mit seiner Zunge zu verunglimpfen,
sondern darin, sie mit Blut und Eisen zu schlagen. Eine seiner Bemerkungen
über die unter seinem Befehl stehenden Leute fiel mir sehr auf. „Unsere
Leute sind so ungehorsam geboren," sagte er, wie die Deutschen gehorsam
geboren sind." Niemals verbarg er sich den schrecklichen Mangel an Manns-
Zucht, der in den Reihen der Nationalgarde herrschte. „Wie kann man mit
solchen Soldaten und Officieren etwas ausrichten!" sagte er eines Tages, als
ein recht in die Augen springender Fall von Einfalt und Ungeschick ihm zu Ge¬
sicht gekommen war. „Ach. wenn ich doch das eher gewußt hätte," setzte er
mit einem Seufzer hinzu. (Und doch wollte er mit dieser undisciplinirten
Truppe die Preußen angreifen? Wir glauben, daß der Herr Correspondent
sich von seiner Freundschaft für Rössel entweder über dessen Militärische Fähig-
keit oder dessen Ehrlichkeit und Offenheit täuschen ließ. Jedenfalls giebt's
hier einen starken Widerspruch gegen die angebliche Absicht Rössels auf die
deutsche Stellung in Enghien. Und klingt das, „Wenn ich das doch eher ge¬
wußt hätte!" nicht wie ein Seitenstück zu dem Motiv der Beurtheilung des
Kriegs gegen Deutschland, welches nach den ersten Niederlagen im Munde
fast aller Franzosen war, und noch heute der Verurtheilungsgrund desselben
ist. das Motiv, „wir waren nicht gut genug vorbereitet.") Aber trotz seiner
Verzweiflung fuhr er fort, eifrig im Kriegsministerium zu arbeiten. In der
That, er konnte nichts vor sich bringen; denn man intriguirte allenthalben
gegen ihn, und nur mittelst der äußersten Thatkraft und Pünktlichkeit hielt
er die Dinge überhaupt einigermaßen im Gange. Zuletzt kam es zum Bruch,
Und er floh vor den Tollhäuslern der Commune, die (einige von ihnen)
keinen Anstand nahmen, einen so loyalen Mann wie Rössel anzuklagen, mit
dem Feinde im EinVerständniß gewesen zu sein. Was dieses Einverständnis?
war, hat uns das blutige Schauspiel, das am 28. Nov. früh zu Satory spielte,
Zur Genüge gezeigt. Er verbarg sich in einem Gasthause des Quartier
Ladin und setzte selbst hier noch seine Lieblingsstudien über Kriegsgeschichte
und Strategie fort. Eine anonyme Anzeige bewirkte seine Verhaftung, und
^ fiel in die Krallen der Mouchards des Herrn Thiers.
Ich sah meinen armen Freund erst wieder, als er in Versailles vor Ge-
rM gestellt wurde (es war nicht leicht ihn im Gefängniß zu sprechen) und
^unde da nur wenige Minuten während einer Pause der Sitzungen des
Kriegsgerichtes mit ihm reden. „Warum kamen Sie", so fragte ich ihn,
zu mir, oder in das Haus Freund Uf., als die Communisten Sie auf¬
suchten; wir würden Sie sicher zwischen uns nach England gebracht haben."
»^es", erwiederte er, „ich hatte die Karten mit Ihren Adressen verloren, und
konnte mich nicht entsinnen, wohin ich zu gehen hatte." Ich bin halb und
halb der Meinung, daß der arme Bursch in seiner übertriebenen ritterlichen
Denkart Anstand genommen hat, möglicherweise Freunde zu compromittiren,
und daß er vorzog, allein und ohne Beistand zu sehen, was das Schicksal
ihm beschicken.
Ich fragte ihn, ob es ihm recht wäre, wenn ich Zeugniß ablegte in Be-
^ff seiner Pläne gegen die Preußen — so weit ich sie kannte —> aber er
dachte, die Sache sei rein militärischer Natur, und es werde wenig nützen,
wenn er den Patriotismus betone, der ihn zu dem tollen Schritt bewogen,
Revers zu verlassen und sich der Jnsurrection anzuschließen. „Ich erwarte,
zum Tode verurtheilt zu werden", sagte er, „und Alles in Allem betrachtet,
ziehe ich das vor. Vielleicht indeß werden sie mich nicht erschießen", setzte er
hinzu, als er meine trübe Miene bei diesen Worten sah. Dann sprach er
ziemlich aufgeräumt von einigen seiner Verwandten in Brighton und von
seinem Buche: „Die Kriegskunst", welches damals im Druck war. „Nicht
wahr, Sie werden mir alle englischen Recensionen darüber senden? Schicke»
Sie die Blätter an Herrn Joly (sein beredter und geschickter Vertheidiger»,
er wird sie mir geben. Ich liebe Alles, was von England kommt." Er war
ein so eifriger Bücherleser, wie nur ein Deutscher sein kann, und selbst als er
Kriegsdelegat war, und Tag und Nacht keine Ruhe hatte, fuhr er fort, sich
selbst von seinen Mahlzeiten Momente abzusparen, um mit seinen geliebten
Büchern zu verkehren.
Ich glaube nicht, daß er sich sehr um Politik kümmerte, oder auch nur
viel davon verstand, obwohl ich mich erinnere, gesehen zu haben, daß er mit
Interesse während seines kurzen Regiments im Kriegsministerium Frederic
Harrison's Artikel über die Commune im „Fortnightly Review" las. Auch
Oberst Owen's Werk über die Artillerie lieh ihm ein englischer Freund wäh¬
rend derselben Zeit, und ich entsinne mich, daß er mir in Betreff dieses letzte¬
ren Buches erzählte, wie er Woolwich besucht, und das dortige Arsenal in
Gesellschaft englischer Artillerieoffiziere in allen Einzelheiten in Augenschein ge¬
nommen."
„Rössel war ein Mann von Mittelgröße, schwächlich, aber sonst gut ge¬
wachsen, für einen Soldaten etwas zu sehr nach vorn übergebeugt, was ohne
Zweifel davon herrührte, daß er zuviel studirt. Er hatte ein wundervoll in¬
telligentes graues Auge und ein Gesicht, welches in jedem Zuge gedrungene
Thatkraft und Fähigkeit zu harter Arbeit ausdrückte.
Es ist hart, wenn ich meine Feder niederlegen muß mit dem Gedanken,
nicht blos an die blutübergossene Leiche meines armen Freundes, sondern
auch an seine zum Tode betrübte Mutter, an seine Schwestern und seinen
unglücklichen Vater, der jüngst erst zu einem Freunde sagte: „Ach, meo
Herr, mein Herr, Bazaine ist noch nicht vor Gericht gestellt, und sie wollen
meinen armen Jungen erschießen!" Bazaine in Freiheit und der Patriot
Rössel erschossen; er, der vielleicht in seiner Vaterlandsliebe auf falsche Wege
gerieth. aber treu und ehrlich war wie die Sonne am Himmel — wahrlich-
es gibt nicht wenige von uns hier, denen es schwer fällt, zu glauben, daß ^
noch etwas der Art wie Gerechtigkeit in Frankreich gibt!"
So der englische Correspondent. Sein Bericht ist interessant. Was wir
von seinem Raisonnement halten, weiß der Leser. In seinen Schlußseufzer
stimmen wir ein, nur fiel es uns in den letzten Wochen aus anderen Grün¬
den schwer, zu glauben, daß es noch Gerechtigkeit in Frankreich gibt, und
Rossel's Verurtheilung war eher geeignet, diesen schwachen Glauben zu stärken,
als ihn noch mehr zu erschüttern.
Welchem Zeitungsleser wären nicht wiederholt in den Annoncentheilen
der verschiedensten Blätter obenstehende Worte aufgefallen und welcher Zei>
tungsabonnent wäre nicht wenigstens einmal mit einer grünen oder blauen
Beilage überrascht worden, die obige Ueberschrift trug und, enggedruckt, ein
reichhaltiges Musikalienverzeichniß erkennen ließ?
Es war im Jahre 1800 als in Leipzig zwei namhafte Musiker Fr, A.
Hoffmeister und A. Kühnel unter der Firma „Luroau as Rühl^us" ein
Musikgeschäft gründeten, das sich bald zu einem achtbaren Nebenbuhler des
altberühmten Hauses „Breitkopf und Härtel" aufschwang. Die gediegenen
Musikalischen Kenntnisse und eine seltene Urtheilsfähigkeit der Gründer und
der fest ausgesprochene und durchgeführte Wille derselben, nur Gutes und
Werthvolles zu bringen, hielten das rasch aufblühende Geschäft stets in einer
gewissen künstlerischen und noblen Atmosphäre. Die Tonwerke, die im „Ku-
l'esu <le Nusioue" erschienen, waren fast durchweg von gediegenem, ja be¬
deutendem musikalischen Gehalte, etwas breit und schwerfällig in ihrer auße
ren Erscheinung, aber sehr solid, fleißig und sorgfältig hergestellt und äußerst
rorrect. Diese vortrefflichen Ausgaben, der heiße Wunsch und der Stolz aller
Sammler, die Zierde aller musikalischen Bibliotheken, hatten aber außer den
^stehend rühmlich anerkannten Besonderheiten noch eine andere weniger an¬
genehme Eigenschaft. Entsprechend dem Werthe des in ihnen Gebotenen und
Solidität und Güte ihrer Ausstattung, waren sie ziemlich kostspielig und
zahlreiche Werke aus diesem Verlage besitzen wollte, mußte viel Geld auf¬
wenden können und bedeutende Summen für seine Musikalienliebhaverei dis¬
ponibel haben. Es war für einen Componisten höchst ehrenvoll, die Mehr-
zahl seiner Werke vom „Nur^n as Unsinne" edirt zu sehen; für die Hand¬
lung selbst vielleicht nicht in allen, doch in sehr vielen Fällen auch lucrativ,
sich nur mit den besten Tonsetzern der Zeit in ununterbrochener Geschäftsver¬
verbindung zu wissen. So wurden denn die Kompositionen Spohr's, Fr.
Schneider's. Romberg's, Maurer's, Kalliwoda's, Rode's, Viotti's und viele
Werke von Beethoven, Ries, Weber, Cherubini, Hummel, Kuhlau, Hauptmann,
Klengel, Dancla, Jansen, Molique, Reißiger, Schumann u. s. f., sowie die
kostbaren Studienwerke von Bertini, Clementi, Cramer, A, F. Müller, Fio-
rillo, Kreutzer u. s. w, hier verlegt. Was aber dem Geschäfte zu ganz be¬
sonderer Ehre gereichte, das waren die großartigen Editionen der sämmtlichen
Jnstrumentalcomvositionen I. S. Bach's, der Quartette Haydn's, der Quin¬
tette, Quartette und Sonaten Mozart's, der Suiten Händel's und vieler Par¬
tituren bedeutender und umfangreicher Werke älterer und neuerer Zeit.
Das „Lüi-san 6v Nusique^, Hoffmeister und Kühnel, ging 1805 an
letzteren allein über, ward 1814 an C. F. Peters verkauft, gelangte nach
dessen Tode, 1828, in den Besitz von E. G. S. Böhme, ward von diesem
1866 der von ihm in Leipzig gegründeten Wohlthätigkeitsstiftung übergeben,
und von dieser 1860 von I. Friedländer in Berlin, der 1866 Dr.
M. Abraham als Theilnehmer aufnahm, erworben. Aus den vielen Wand¬
lungen, welche die Handlung im Hintergebäude des „Fürstenhauses" (Grim-
maische Straße 16, I.) in Leipzig in 70 Jahren erlebte, ist ihr schließlich die-
Verlagsbezeichnung Peters geblieben und unter derselben ist denn auch die
Edition Peters erschienen, die in jüngster Zeit so viel von sich reden machte.
Diese gegenwärtige Edition Peters ist nicht zu verwechseln mit den Editionen
des früheren „Lurean ac Unsinne." Sie ist vollständig eine Schöpfung der
etzigen sehr speculativen und thätigen Besitzer des Geschäftes. Die älteren
Verlagsartikel, so solid, gediegen und umfangreich, aber auch mit sehr ehren¬
werthen Preisen, werden gesondert behandelt und wohl kaum in neuerer Zeit
besonders vermehrt; wenigstens erhält jeder Tonsetzer der Gegenwart, sobald
er die Schwelle des Geschäftsheiligthums überschreitet, sofort die bündige Ver¬
sicherung, daß man vom Verlage moderner Werke längst vollständig abge¬
sehen habe. Die Hauptthätigkeit des Geschäftes wendet sich jetzt fast nur
solchen Tonsetzern zu, die vor mindestens 30 Jahren gestorben sind, und der
Herausgabe denkbar billigster Musikalien.
In einer Zeit, in der alle unabweisbaren Lebensbedürfnisse eine früher
ungeahnte Höhe erreicht haben, sind billige Bücher- und Notenausgaben
eine Nothwendigkeit geworden. Es hat lange gedauert, bis der Buchhandel
und gar erst der Musikalienhandel zu der Einsicht gelangten, daß wohlfeile
Bücher und Musikalien ein Bedürfniß sind, wie andere billige und wohlfeile
Dinge, und besonders in Leipzig hat man dies erst ziemlich spät erkannt.
Sobald man aber nun zu der Ueberzeugung gekommen war, daß man mit
den alten Preisbestimmungen nicht fortbestehen konnte, haben sich auch hier
wie anderwärts die Concurrenzunternehmungen in staunenswerther Ueberbie-
tung gehäuft und selbst die stolzesten Handlungen mußten sich endlich beque¬
men , im allgemeinen großen Strome mit zu schwimmen. In auffallendem
Ringen traten besonders drei Handlungen in den letzten 10 Jahren vor die
Deffentlichkeit: Holle in Wolfenbüttel, Litolff in Braunschweig und Pe-
ters in Leipzig. Was von ihnen 75 — 80 Procent billiger als in anderen
Ausgaben geboten wurde, bestand nicht etwa in Werken untergeordneten
Werthes, oder in flüchtigen, uncorrecten und unvollständigen Ausgaben; es
enthielt vielmehr das Beste und Hervorragendste, was auf musikalischen Ge¬
biete überhaupt geschaffen ward, in meist completen, wohlgeordneten, im Ar¬
rangement sorgfältig und tüchtig hergestellten Folgen. Die Werke von I. S.
Bach, Beethoven, Clementi, Diabelli, Dussek, Field. Händel, Haydn, Hummel,
Kuhlau, Mozart, Schubert und Weber, eine Sammlung vorzüglicher Opern
und Oratorien in Partitur und Clavierauszügen, andere Sammlungen unter¬
geordneteren Werthes gar nicht in Betracht gezogen, wurden zu Nutz und
Frommen der musikalischen Welt hier in rascher Aufeinanderfolge veröffent¬
licht. Selbstverständlich konnten bei fabelhafter Wohlfeilheit Druck, Papier und
Ausstattung nicht gleichen Schritt halten mit der Güte und sonstigen Treff¬
lichkeit des Gebotenen. Jedermann kennt die Ausgaben der drei genannten
Handlungen, wir haben also nicht nöthig, auf die Eigenthümlichkeiten der
verschiedenen Ausstattungen, auf das was jede darin zu wünschen übrig läßt,
hier näher einzugehen. Da uns zunächst die Edition Peters beschäftigt, so ist
zu constatiren, daß sie ihren Concurrenten zuletzt den Rang abgelaufen hat.
Diese Ausgabe zählt nach einem kürzlich in Circulation gesetzten Verzeichnisse
1043 Nummern, während die Litolff'sche nur 604 ausweist; die sehr reichhal¬
tige Holle'sche können wir der Zahl nach nicht bestimmen. Jedenfalls ist die
Edition Peters die reichhaltigste; die Preise, durchweg sehr niedrig gestellt,
differiren in den verschiedenen Ausgaben um wenige Groschen. Zu wünschen
^äre für die Edition Peters hauptsächlich ein etwas größeres und ansehn¬
licheres Format.
Wie wichtig die von den hier in Vergleich gebrachten Musikalienhand¬
lungen erstrebte Billigkeit der musikalischen Classiker selbst bedeutenden Musikern
^'r Jetztzeit erscheint, geht aus dem Umstände hervor, daß sich an den ver¬
schiedenen Unternehmungen viele derselben mit Vorliebe betheiligten. So in-
^ressirten sich für die Ausgaben von Holle: Chrysander, Dietrich, Ente, Geiß-
ler. Knarr, Liszt, Markull, Stolze und Witting; für die Litolff'sche Biblio¬
thek neben Blumenstengel. Leibrock, Markull, Meves, Rebbeling und Miete-
^ann, als unermüdliche Arrangeurs alles Arrangirbaren: Winkler und Koh-
ter; und für die Edition Peters: Brißler, Bülow. Czerny, David. Dehn,
Dörffel, Erk, Griepenkerl, Grützmacher, Helmesberger, Hermann, Horn, Ja-
dassohn, Kirchner, Köhler, Kroll, Liszt, Roitzsch, Stern, Ulrich und Wittmann.
Uebersieht man nun die Qualität des Gebotenen, so behält auch hierin
Peters ein Uebergewicht, zunächst schon durch die sehr reichhaltige Bach-Aus¬
gabe, die allein nahezu 100 Nummern (Bände) umfaßt, die ziemlich Alles ent¬
halten, was von den Kompositionen für Piano, Orgel, Orchester und einzelne
Instrumente dieses großen und fruchtbaren Tonsetzers noch aufzufinden war,
nebst Partituren und Clavierauszügen der bedeutendsten seiner Chorwerke. Die
Branche der Clavierwerke verschiedener Komponisten ä, 2 et ü, 4 w. bringt
vollständig die Originalcomposttionen von Beethoven, Clementi, Händel, Mo¬
zart, Schubert und Weber; in Auswahl Tonsätze von C. PH. E- Bach, W-
Fr. Bach, Chopin, Diabelli, Dussek, Mett, Hummel, Kuhlau, Scarlatti und
Schumann; in 2- und 4-bändigen Arrangement Werke (besonders Sinfonien
und Ouvertüren) von Beethoven, Haydn, Mozart, Schubert und Schumann-
Es ist rühmlich hervorzuheben, daß auf die Redaction dieser Ausgaben be¬
sondere Sorgfalt verwendet, und für die Feststellung eines guten Fingersatzes
und der nöthigen Vvrtragszeichen — so wichtig für Lehrer, Schüler und Aus¬
führende — das Möglichste gethan wurde. Die Werke für Piano und Mo¬
line (und Cello), die Trio's, Quartetten und Quintetten enthalten die betref¬
fenden Original-Compositionen von Beethoven, Hauptmann, Haydn, Hummel,
Mozart, Schubert und Weber, meist in vollständiger Reihenfolge, nebst diver¬
sen Arrangements; Clavierauszüge mit und ohne Text (letztere zu 2 und 4
Händen) bieten nicht minder Auswahl unter den vorzüglichsten Meisterwerken
der dramatischen und kirchlichen Tonkunst; besonders reichhaltig sind hier die
Namen Bach, Beethoven. Cherubini, Gluck, Händel, Haydn, Mozart, Schu¬
mann, Weber vertreten; wir heben außerdem den schönen Clavierauszug der
„Jessonda" von Spohr noch extra hervor. Diesen Clavierauszügen stellen sich
werthvolle Ouverturensammlungen (-r 2 se 4 in. und für Piano und Violine)
und eine wichtige Reihenfolge berühmter Studienwerke für verschiedene Instrumente
zur Seite. Was die Edition Peters aber noch vor anderen ähnlichen Unter¬
nehmungen fernerhin vortheilhaft auszeichnet, sind die verschiedenen Gesangs-
Albums, welche nicht nur Lieder und Liedercyklen von Beethoven, Mozart,
Schubert, Schumann und Weber sür verschiedene Stimmlagen enthalten, son¬
dern auch reichhaltige Sammlungen von Arien, Duetten und Terzetten und
unter den Titeln „Germania" (23 Kriegslieder) und „Liederschatz" (200 Volks¬
lieder) eine schöne und reiche Auswahl aus dem Bolksliederschatze unseres
Vaterlandes. In den Transeriptionen der Herren Felix, d'Avenel und Olli-
vier finden auch Freunde banaleren Klingklangs, wie er vorzugsweise unter
der Bezeichnung „Salonmusik" beliebt und gesucht wird, ebenso reichhaltige
als mannigfaltige Ausbeute. In Summa läßt sich behaupten, daß die Edi¬
tion Peters den Wünschen und Bedürfnissen des musikalischen Publicums —
des ernststredenden wie des oberflächlichen, des lernenden wie des geübten —,
nach allen Richtungen hin entgegen kommt, daß sie also auch vorzugsweise
Beachtung und Würdigung verdient. Wie heute jeder Gebildete ohne große
Opfer in den Besitz der Werke unserer großen Dichter gelangen kann, so kann
auch jeder, der Lust und Freude an der Musik, sowie die Fähigkeiten hat, sie
auszuüben, sich die Meisterschöpfungen der Tonkunst leicht und opferlos er¬
werben. Wer 30 Jahre zurückdenken kann, und sich erinnert, wie schwer
damals hielt, sich auch nur in den Besitz einer kleinen Bibliothek zu setzen,
der wird den Unternehmungsgeist unserer Tage segnen, durch den möglich
wurde, daß die großen Schöpfungen und Geistesthaten unserer erhabensten
und gottbegnadetsten Männer ein Gemeingut der ganzen Nation werden
konnten. Die herannahende Weihnachtszeit lenkt zudem die allgemeine Auf¬
merksamkeit noch mehr als sonst auf die Edition Peters und ähnliche Unter¬
nehmungen.
(Schluß.)
Das Schloß sah traurig und unheimlich aus, als die Säle alle leer
waren, und wir wie „Ach s-mes vn ptzinss" in den langen Gängen und
Salons herumzuwandern schienen. Aber es war noch sehr viel zu thun.
Was an Vorrath, Gewürzen und Lichtern noch übrig war, vertheilten wir
unter die armen Franzosen, auch einige Betttücher gaben wir ihnen; aber der
große Vorrath von Leinen wurde in Packete gepackt und mit dem Bettzeug
nach dem Centraldepot in Corbeil geschickt und von hier aus nach den
Spitälern in Deutschland befördert. Die Zahlungsbücher wurden geordnet,
das Haus durch und durch gereinigt, die Möbel wieder auf ihre alten Plätze
und das Porcellan in die Schränke gestellt.
Der Zugang nach Paris war jetzt wieder eröffnet. Mein Bruder hatte
mir geschrieben, daß er aus England angekommen sei, und mich nächstens
holen werde; anstatt ihm zu schreiben (denn Briefe nach der sechs engl. Meilen
entfernten Hauptstadt liefen vier Tage) beschloß ich, lieber selbst dorthin zu
reisen, und ihn zu bereden noch einige Tage länger da zu verweilen, wenn
sein Urlaub gestatte. Einer unserer Freiwilligen, welcher die Sorge für das
Stapeldepartement hatte, und welcher sich sehr darüber freute, daß er vor
seiner Rückkehr noch Paris zu sehen bekäme, bot mir an, mich hin und zurück
in einem offnen Wagen zu fahren. Ich machte ihm klar, wie gewagt eine
solche Reise wäre, wenn seine Nationalität erkannt würde, und er dann durch
die Wuthausbrüche des Pöbels gegen alle Deutschen in eine sehr gefährliche
Lage gerathen würde; aber er bat so sehr, mitzugehen, daß ich endlich ein¬
willigte, wenn auch nicht ohne eine schlimme Vorahnung.
Am nächsten Morgen machten wir uns, mit einer Karte von Paris,
meinem englischen Paß und einem französischen und deutschen „laisssr
xg,88er" von dem Präfecten in Corbeil versehen, nach Paris auf. Nach¬
dem wir Mllejuif hinter uns hatten, kamen wir an der preußischen Barriere
vorbei, und dann über die Anhöhe, die an dem Fort Bicetre bis zu der
Porte d'Jtalie herläuft, in das eigentliche Paris. Eine „Octroi"-
Wache fragte mich ob ich etwas Zollpflichtiges hätte; doch weder sie noch der
Pöbel an der „B arriere" schienen meinen preußischen Kutscher zu bemerken-
Nachdem wir in raschem Trab den Boulevard entlang nach dem Quai ge¬
fahren waren, fuhren wir das Ufer entlang, dann über den Pont Neuf und
den Place de l'Hotel de Mlle, und so lange in der Rue de Rivoli weiter,
bis wir nach dem bekannten „Cour" des Hotel Meurice kamen. Es war
grade Sonntag; alle Straßen waren voll; alle schienen in Uniform zu sein,
und Jeder war darauf bedacht, sich zu amüsiren; diesem Umstände hatte ich
auch gewiß nur zu verdanken, daß ich unangefochten herumgehen konnte.
Doch trotzdem fühlte ich mich nicht sehr behaglich; denn es^ waren nirgends
Wagen zu bekommen und ich merkte, daß wir nicht so unbemerkt herum¬
gingen, und obgleich ich vorgab eine Anzahl „Moth d' Ordre" zu kennen,
hätte ich jetzt um mein Leben nicht ein Wort herausbringen können.
Erst als ich unter dem Schutze von „Meurice" war, athmete ich wieder
frei auf. Ich fragte, ob mein Bruder da wäre. — „Er ist vor einer Stunde
nach Calais abgereist", antwortete der Kellner. „Da er vergebens tagelang
auf eine Antwort von Ihnen gewartet hatte, dachte er, Sie wären nicht mehr
im Spital; und mittlerweile war sein Urlaub abgelaufen, und er mußte
zurückkehren." Dies machte mich sehr traurig, doch es half nichts. Wo sollte
ich mein Pferd einige Stunden hinstellen, denn ich hatte noch eine Fahrt von
sechszehn Meilen vor mir? — „Wir haben keine Ställe im Hotel", war die
Antwort. „Sie finden zwar zwei Häuser weiter einen Stall; aber ich rathe
Ihnen nicht, Ihren Wagen mit dem deutschen Kutscher hinzuschicken, — denn
Sie würden ihn nie wieder sehen." Wir zogen deshalb das Fuhrwerk in
eine Ecke der „seconde cour", bedeckten die Pferde mit Tüchern und gaben
ihnen einen Sack Hafer. Um vier Uhr rieth mir der Kellner — dessen Ge¬
fühle sich zwischen der Sympathie für mich als Mitglied des Vereins des
rothen Kreuzes (denn das Hotel war während der Belagerung in ein Laza¬
rett) verwandelt worden) und der Sorge für seine eigene Sicherheit, welche
durch die Aufnahme von Preußen gefährdet wurde, theilten — die Stadt
noch bei Tageslicht zu verlassen, da der Ausgang aus der Stadt weit ge¬
fährlicher sei, als der Eintritt. — „Wenn sich Ihnen irgend eine Schwierig¬
keit darbietet", das war sein letzter Rath, „so zeigen Sie nur ihren englischen
Paß vor — das wird Ihnen helfen; aber wenn die „Canaille" Ihren
Kutscher erfaßt, dann kann ihn nichts mehr vor ihrer Wuth retten; sagen
Sie ihm deswegen, er solle keinesfalls sprechen, sonst wäre es um ihn
geschehen."
Wir passirten zurück dieselben Straßen; doch grade als wir schon durch
die Barriere d' Italie fuhren, und ich mir im Stillen bereits zu unserem
Glück gratulirte, stellte sich ein frech aussehender Franzose vor meinen Kutscher,
drohte ihm mit der geballten Faust, kam dicht an den Wagen und rief:
„^lors! von-r cvlui cM ost Msse iimtin— lltUait ML is Ilusskr sortir;
e'oft un l'russien, co n'sse pas un eodiei', tu-ut 1'g.rraeUsr 611 flöge!"
Vor vielen Jahren kam einmal in einer engen Dorfgasse ein toller Hund
auf mich zu und obgleich ich Geistesgegenwart genug hatte, über eine Hecke
zu springen und so seinem Biß zu entrinnen, so klapperten doch meine Zähne
und meine Kniee zitterten vor Schreck; aber dieser kritische Moment an
der „Barriere" von Paris war noch viel entsetzlicher, und die schrecklichen
Bilder, die ich mir von dem Schicksale des guten Deutschen in den Händen
dieser blutschnaubenden Räuber und Mörder machte, mußten meinem Gesicht
den Ausdruck vollkommener Erstarrung geben; ich konnte keine Silbe stammeln;
wirklich, ich fühlte wie meine Zunge Hülflos an den zusammengepreßten
Zähnen hing. Vox l'-iueilmL ImLÄt. Der Deutsche, der jedes Wort gehört
und wohl verstanden hatte, rettete uns durch sein „sang froid" und seinen
Muth. Er gab seinen Pferden die Peitsche und beachtete gar nicht das halbe
Dutzend Blousen, welche sich nach und nach um den Wagen angesammelt
hatten. Die Schurken folgten dem Wagen eine Strecke, dann dachten sie, sie
hätten sich geirrt und gingen zurück. Welcher Trost war es, als wir wieder
auf „preußisches" Gebiet gelangten und uns wieder unter freundlichen Gesichtern
fanden; doch ich muß sagen, daß ich jene denkwürdige Fahrt nach Paris und
die dabei ausgestandene Angst nie vergessen werde.
Am Morgen des achten März wurden die letzten „Freiwilligen" entlassen.
Frau Schmidt und die drei „Krankenpfleger" gingen nach Deutschland zurück,
Herr Müller traf sich mit seinem Bruder in Rheims, und ich fuhr nach
Juvissy. So war unser Werk zu Ende. Meine fast drei Monate lange
Arbeit war sehr schwer, das ist wahr, aber immer interessant und be¬
friedigend. Von Frau Schmidt nahm ich herzlichen Abschied; und ich werde
immer mit Interesse an ihre bewundernswerthe Festigkeit und an das stramme
persönliche Auftreten denken, durch welches sie die ohnedies so streng discipli-
nirten Offiziere und Soldaten Deutschlands sogar noch einen höheren Ge¬
horsam kennen lehrte.
Als ich mit der Eisenbahn von Orleans in Paris mit meinem Gepäck
ankam, bekam ich nur mit großer Mühe ein Coupe, welches mich nach dem
Hotel Meurice brachte. Der einzige Zug, welcher Personen und Gepäck be¬
förderte, ging um neun Uhr Vormittags ab; da ich nun einige Einkäufe zu
machen hatte, und auch wußte, daß keine Droschken zu haben waren, ging
ich zu Fuß, ohne jedoch mein Kreuz abgelegt zu haben, durch die Rue de
Nivoli, Rue Castiglione, Place Vendiime, und Rue de la Paix bis zum
Opernhause und dann wieder zurück. Die Straßen waren voll von Menschen
in Uniformen („Soldaten" kann ich sie jedoch nicht nennen), die ohne be¬
stimmten Zweck herumzulaufen schienen, von Damen, die alle in Schwarz
gingen, und endlich von den unvermeidlichen „Maus" — von letzteren mußte
ich zuweilen die grammatisch unrichtige Bemerkung hören „Voila uns amdu-
Iu,UM!" — eine weitere Notiz nahm Niemand von mir, denn ich war auch
schwarz gekleidet. In jedem Laden, in den ich ging, war dieselbe Geschichte
— seit der Belagerung war nichts mehr gearbeitet worden und auch jetzt
schien keine Hoffnung auf Veränderung vorhanden, da keine Fremden kamen.
Als ich an der wohlbekannten „xortv-Loel^rö" in der Rue de la Pair
vorbeikam, auf welcher auf einer metallenen Platte eingravirt war: „'Aoitli an
xromior", wunderte ich mich, wie viel der „große Mann" durch die Be¬
lagerung gelitten hatte, und ich war sehr erstaunt, daß Guerlain nicht ,,1'mu'-
uiLLvur no L. N. 1'IwxüratriLs" von seinem Schilde hatte wegnehmen lassen.
Am meisten wunderte ich mich jedoch über die vollständige Sicherheit und
Leichtigkeit, mit der man inmitten jener einst so belebten Straßen, wo jetzt
weder ein Omnibus noch irgend ein Fuhrwerk zu sehen war, gehen konnte.
In einem „NMsw" - Laden bemerkte die „ävmoisLlle", die mich bediente: —
— von« ödes bien boiMv, umäame, ä'irvoir 80igv6 Jos dlössös!" Ich
lächelte und zuckte die Schultern. — „LtiLö-veins dtauf I^i'is, xonä^me is
fügte sie hinzu. — ,>5!vn," antwortete ich, „Kors Ac ?tu'is;" und da
mir Vorsicht hier das Beste schien, nahm ich Tüll und Federn und ging dann
aus dem Laden. Es hätte mir nicht zur Befriedigung gereicht, wenn die
„Nväistk" entdeckt hätte, daß ich nicht eine französische, sondern eine
preußische Krankenpflegerin sei; sie hätte mich vielleicht in einer Anwandlung
von Patriotismus den Händen eines „Nöthen" übergeben. Ueberall herrschte
hier so ein Gefühl der vollständigen Unsicherheit in der Atmosphäre und ich
fühlte ein solches nervöses Zucken und Zittern in allen meinen Gliedern als
ich herumging, wie wenn ich auf dem Rande eines Kraters stände, der jeden
Augenblick ausbrechen könnte und mich verschlingen, so daß ich gar nicht
traurig war, als ich mich endlich (obgleich in einem sehr langsamen Zug)
sicher auf meinem Weg nach Calais befand. Die Reise dauerte statt fünf,
achtzehn Stunden und auch der Kanal war stürmischer als sonst; doch als
ich auf dem klassischen Boden des Friedens, der Policemen und der Extra¬
züge stand, konnte ich mich wirklich nicht jenes landläufigen Aufrufes ent¬
halten — „DnFlkwcl. >viel M dei^ Knies I love tluze still." Trotz Waller
Fehler, England, lieb' ich Dich.
Mit Stolz darf Bayern auf die jüngste Vergangenheit zurückblicken. Die
Heit, die wir dabei im Auge haben und die seit unsrem letzten Bericht ver¬
strichen ist, zählt freilich nur nach Wochen, allein das Ergebniß, welches sie ge¬
bracht, schließt das Streben und die Thatkraft von Jahren ein. Es hat für¬
wahr den Anschein, als ob die deutsche Entwicklung alles das, was sie seit
1848 schuldig blieb, mit einemmal nachzuholen strebte, so unaufhaltsam schreitet
das Werk der nationalen Eintracht weiter. Mehr als irgendwo im Reiche
empfindet man dieß in Bayern, denn nirgends war der Maßstab der Ent¬
wicklung bedächtiger als dort, nirgends liegt der Gegensatz von damals und
heute weiter auseinander.
Der größte Theil jener Fortschritte, die wir damit constatiren, ward
freilich nicht im eigenen Hause und nicht von eigenen Händen allein verwirk¬
licht. Das geben wir gern zu, allein auch die receptive Seite solcher Borgänge
bleibt noch immer interessant genug. Aus das ist ein Act von politischer Be¬
deutung wie Baiern diesen neuen wichtigen Jdemzuwachs in sein bisheriges
Staatsleben aufnahm: ob die Rolle, die es dabei spielte, eine active war,
oder ob es in machtloser Passivität die Dinge lediglich geschehen ließ..
Wahrhaftig nein! Keiner der großen Fragen, die im Reichstag zur Ent¬
scheidung kamen, stand die Staatsregierung thatenlos gegenüber, keine von ihnen
hat verfehlt, die öffentliche Meinung des Landes zu voller und lebendiger
Theilnahme hinzureißen. Und dieß allein schon, nicht blos das Ergebniß der
Abstimmung ist ein politisches Resultat.
Werfen wir nun in Kürze einen Blick auf die wichtigsten Vorlagen, an
welchen diese Bemerkung lebendig zur Geltung kam. Es liegt uns
dabei ferne, eine sachliche Kritik dieser Vorlagen zu wiederholen, die längst nach
allen Seiten hin beleuchtet und aus dem Bereich der Debatte ins Reich der
Thatsachen getreten sind; es soll sich lediglich um die Bedeutung handeln,
welche diese Beschlüsse speciell für Bayern haben, und um die öffentliche Stimmung
die ihnen entgegenkam.
Mitten hinein in das Sonderleben Bayerns, das von vielen Seiten so
emsig gepflegt wird, griff der Antrag, die Competenz des Reichstags auch
auf Civil- und Strafrecht nebst Gerichtsverfassung auszudehnen.
Für keinen von allen deutschen Staaten ist dieser Antrag so bedeutungs¬
voll als gerade sür Bayern. Denn durch die Summe kleiner ehemals reichs¬
ständischer Territorien, aus denen das Königreich im Anfang dieses Jcchrhun-
hunderts zusammengesetzt war, hat sich eine Summe von Particularstatuten
eingesiedelt, welche die Rechtspflege ganz kunterbunt erscheinen lassen. Dieser Zu¬
stand ward noch vermehrt durch die Menge geistlicher Herrschaften, die in dem
klosterreichen Süden Bayerns bestanden und deren autonome Thätigkeit keine
geringe war. So ergab sich denn, daß auf einem Gebiete von 1348 Quadrat¬
meilen wohl ein halbes Hundert Particularrechte in gleichzeitiger Geltung
stehen, was dem Rechtsbewußtsein des Volkes nicht eben förderlich werden
kann. Unter diesen Umständen ist eine einheitliche Feststellung des Civilrechts
nicht blos wünschenswert!), sondern unvermeidlich geworden; allein die Oppo¬
sition, die sich sofort dieser Reform entgegenwarf, sah die Sache von einem
anderen Standpunkte an. Den Particularisten wurden mit einem mal die
Particularrechte so theuer, als ob mit jedem einzelnen ein Hoheitsrecht der
Krone genommen würde; die politische Seite der Frage, nicht die juristische
Bedeutung derselben ward in den Vordergrund gestellt. Alle ultramontanen
Organe sahen schon mit lauter Klage die bayrische Selbständigkeit zu Grabe
gehen, die Justizhoheit des Königs schien ihnen ganz und gar bedroht.
Gegen dieses Argument ließ sich natürlich mehr als ein Einwand erheben.
Denn die Ernennung der Richter erfolgt deshalb nicht minder durch den
König von Bayern und die Urtheile werden ebenso im Namen des letzteren
erlassen, ob nun das Recht, welches der Richter seiner Entscheidung zu Grunde
legt, ein gemeinsames, im Reich geschaffenes, oder ein particuläres, vor 100 Jahren
vom Würzburger Bischof erlassenes Statut ist. An der Herstellung der Ge-
setze aber ist ein Monarch von heutzutage fast nur durch die Sanction be¬
theiligt; der positive Inhalt wird nicht aus der Idee des Fürsten, sondern
aus den Bedürfnissen der Zeit und auf dem Wege parlamentarischer Fest¬
stellung gewonnen. Was der constitutionelle Regent dabei zu verlieren hat,
ist eine höchst formale Befugniß, die weniger gehaltvoll ist als sie zu sein
scheint; das Volk und die Sache aber wird nur gewinnen, wenn an die
Stelle der localen Kräfte die ganze parlamentarische Kraft der Nation ge¬
setzt wird.
So dachte man in den deutschgesinnten Kreisen Bayerns und wahrhaftig,
es war den Klerikalen selber nicht so ernst mit ihren Sorgen um die Justiz¬
hoheit. Sind es ja doch dieselben Männer, die mit Eifer die Gesetze des Syl-
labus nach Bayern tragen, und das gesammte Kirchenrecht unter römische
Oberhoheit stellen, während sie im gleichen Augenblick ein Zetergeschrei er¬
heben, daß etwa die Lehre von den servitutem dem deutschen Reich übertragen
werde. Der Pferdefuß blickt deutlich genug aus diesem frommen Jammer.
Wenn die Justizhoheit des Königs von Bayern zu Gunsten der Curie ge¬
schmälert würde, dann würden die Klerikalen jubeln über diesen Verlust an
Selbständigkeit; das Odium im bestehenden Falle liegt nur darin, daß die
Gesetze im Norden gemacht werden sollen, statt jenseit der Berge. Bekannt¬
lich liegt die Angelegenheit im Augenblicke so, daß der betr. Laskersche Antrag
zwar vom Reichstag angenommen, aber noch nicht im Bundesrath zur Ent¬
scheidung gelangt ist/) Da indeß die bayrische Negierung selber dieser Com-
Petenzerweiterung geneigt und mithin Preußen von jedem Scheine einer Pression
befreit ist, so dürsten über kurz oder lang die Ideen des Antrages jedenfalls
verwirklicht werden.
Die zweite wichtige Frage, die vor dem Reichstag zur Verhandlung kam
und neben ihrer sachlichen Bedeutung eine große politische Tragweite hat, fand
w Bayern ein minder geneigtes Entgegenkommen. Wir meinen die Münzre¬
form. Was die Bevölkerung der Guldenländer dagegen einnahm, ist ein sehr
realistisches Motiv, denn mit dem Nennwerth der Münze ändert sich auch ihr
Tauschwerth, der Uebergang zur Mark schließt eine Preiserhöhung von 8—10
Procent in sich. Obwohl dieser wirthschaftliche Grund, der im besten Sinne
des Wortes particularistisch ist, in den Debatten wenig hervortrat, so ward er
doch im Volke selbst lebendiger empfunden als man wähnt. Um gerecht zu
sein, müssen wir indeß hinzusetzen, daß trotz dieser unerfreulichen Aussicht das
nationale Gefühl dennoch so mächtig war, um eine entschiedene Opposition
zu verhindern. Es bedürfte einer gewissen Selbstverleugnung, das wird Niemand
in Abrede stellen, aber man übte diese Selbstverleugnung auch und opferte
das eigene Interesse ohne Murren dem Interesse des Ganzen.
Ebenso wie die Bevölkerung hatte auch die Regierung Bayerns ihr Be¬
denken in dieser Frage. Nicht vom Standpunkte der Volkswirthschaft, sondern
von dem der Souveränetät amendirte sie den Gesetzentwurf und wußte das
Münzregal der Einzelstaaten im Bildniß der Landesherrn zu wahren.
Das Publicum nahm an dieser letzteren Frage nur geringen Antheil,
allein es zollte doch der klugen Nachgiebigkeit des Fürsten Bismarck vollen
Beifall und ward sich dessen wohl bewußt, daß die Regierung damit für spä¬
tere Fälle in der Schuld des Reiches blieb.
Brennender noch als die beiden erstgenannten Gegenstände ward für
Bayern der berühmte Strafartikel gegen die geistliche Agitation. Denn nicht
allein die Anregung hierzu ging von Bayern aus, sondern auch die Wirkung
desselben soll sich vor allem dort bewähren. Wir können und wollen hier
nicht die verschiedenen Gesichtspunkte betonen, die während der Debatte zu
Tage traten, sondern nur im Allgemeinen constatiren, daß die ungeheure
Majorität in Bayern den Antrag mit offener Sympathie begrüßte. Wenn
sich auch die Meisten sagten, daß richtiger wäre, nach französischem Vor¬
bild jede Politik von der Kanzel zu verbannen, so ist doch eine Pression gegen
den Mißbrauch wenigstens als Nothbehelf von Werth. Und nur in diesem
Sinne, als erster Stein in einem großen organisirten Defensivsystem, wird
hier der Paragraph betrachtet: man freut sich mehr des Princips, das damit
firirt wurde, als der concreten Maßregel halber.
Indessen schlägt man den Erfolg der letzteren in Bayern doch höher an,
als es in manchen Kreisen Norddeutschlands geschah, wo man den bayrischen
Klerus wohl für idealer hält, als er ist. Bequemlichkeit gilt diesen Herren
mehr als das berufene Märtyrerthum, und nach einer alten Lehre beugt sich
der Uebermuth am schnellsten, wenn er gewaltigen Ernst sieht. Nicht aus
dem Bewußtsein seiner eigenen Kraft, sondern aus der Schwäche der Regie¬
rungen ist derselbe herausgewachsen.
Wenn man das Gesetz als Ausnahmebestimmung bezeichnen und daraus
ein gewisses Odium gegen dasselbe ableiten will, so ist es weit richtiger, die
Privilegien, welche die römische Kirche besitzt und mißbraucht, als solche zu
bezeichnen, und wenn die klerikalen Herren über diese Parallele entrüstet sind,
so beweisen sie damit nur, daß ihnen das Bewußtsein ihrer Rechte weit näher
steht, als das ihrer Pflichten.
Was indeß zunächst das Wichtigste für Bayern ist. das ist die ungewöhn¬
lich scharfe und principielle Stellung, welche Herr von Lutz, der mächtigste
Minister des Landes, zu dem fraglichen Gesetzentwurfe einnahm. Diese Folge
(um nicht zu sagen, diese Ursache) des vielbesprochenen Paragraphen ist ent¬
scheidend für die, Zukunft der bayrischen Politik; denn sie schließt jeden Rück¬
weg aus, sie verbindet nicht allein moralisch, sondern sachlich. Der Bruch mit
den Ultramontanen, der seit der Antwort auf die Herz'sche Jnterpellation
zum Schlagwort geworden ist, hat nun seine feierliche und definitive Be¬
stätigung erfahren und wird zur Basis aller Verhandlungen des bayrischen
Landtages gemacht werden.
Den mindesten Beifall unter allen Beschlüssen des Reichstages fand in
Bayern die Annahme des Militäretats, wie ihn das Bundeskanzleramt bean¬
tragt hatte. Denn die Meinungsverschiedenheit, die selbst unter den Mitglie¬
dern jeder einzelnen Partei hervortrat, berührte nicht angenehm, und die Ver¬
zögerung der Vorlage bis zum letzten Momente brachte manche Verstimmung.
Außer den Gründen, die an Ort und Stelle dagegen vorgebracht wurden,
gab es noch mancherlei geheime Gedanken und diese waren es, die in Bayern
mehrfach zum Ausdruck kamen. Durch blinden Zufall trafen fast in derselben
Zeit verschiedene Umstände zusammen, die sich leicht im Sinne einer kriegerischen
Zukunft erklären ließen, so daß sich eine gewisse Besorgniß vorübergehend auch
der öffentlichen Stimmung bemächtigte.
Greifen wir noch einmal zurück auf die Verhandlungen in Berlin, so ist
das Gesammtergebniß derselben für Bayern trotz alledem ein sehr erfreuliches.
Denn einerseits erhöhte es die Ueberzeugung, daß auch die innersten und
eigensten Angelegenheiten Baierns nicht dem großen Ganzen gegenüberstehen,
sondern ihre wahre und richtigste Lösung nur auf dem Boden des Reiches
finden; andererseits hoben sich auf diesem breiteren Hintergrunde die Partei¬
verhältnisse und die Persönlichkeiten unendlich viel schlagender ab, als in dem
engeren Rahmen des bayrischen Landtages. Die Niederlagen der Ultramon¬
tanen in Berlin verhalten sich zu denen von München wie die beiden Städte
selber; erst dort konnte der Schlag gegen die klerikale Treulosigkeit sich zu
einem großen geschichtlichen Acte gestalten.
Alle politischen Factoren in Bayern, die für die nationale Entwickelung
eintreten, haben im Verlaufe der Session an Autorität gewonnen. Die Ge¬
sinnung des hochherzigen Monarchen, der für die deutsche Sache schon so viel
geleistet, hat einen neuen Triumph gefeiert, indem er Hrn. v. Lutz ausdrücklich
ermächtigte, die berühmte Strafbestimmung zu beantragen; die Anerkennung
und Achtung, die dem bayrischen Ministerium dadurch zufiel, daß es für eine
Nationale Politik das Schwert erhob, wer jedenfalls größer als wenn es par-
ticuläre Interessen vertreten hätte.
Die liberalen Deputirten aber, welche Bayern in den Reichstag gesendet
^t, wußten eine so ungeheure Überlegenheit über ihre klerikalen Collegen
darzulegen, daß die geistige Niederlage der letzteren fast ebenso groß war, als
die moralische.
Die Richtung, in welcher diese Ereignisse liegen, ward auch in Bayern
selbst und außerhalb des deutschen Parlamentes lebendig bethätigt. Wir er¬
innern nur vorübergehend an die Thatsache, daß eine Reihe von Gesandt¬
schaftsposten, aus welche Bayern noch bei den Versailler Verträgen großes
Gewicht legte, freiwillig aufgegeben wurden, ohne daß von irgendwelcher
Seite nur der leiseste Anstoß hierzu gegeben worden wäre. Aus voller eigener
Initiative hatte der König diesen Entschluß gefaßt, der der Sache selbst nur
dienlich ist und seiner Person die höchste Ehre bringt. Freilich klagten die
Ultramontanen laut, die souveräner sein wollen als der Souverän, und hatten
kein anderes Wort des Dankes als Schmähungen, daß die bayrische Selb¬
ständigkeit mit jedem Tage mehr zerstückelt werde. Die Übertragung deut¬
scher Gesetze in das bayrische Rechtsleben ward mit Eifer betrieben und bei
der Feststellung eigener Entwürfe ward stets das Augenmerk darauf gerichtet,
die möglichste Uebereinstimmung mit den norddeutschen Principien zu erreichen.
Daß Bayern das dort geltende Wehrgesetz völlig acceptirte, ist ebenfalls ein
Zugeständnis welches über das Maß der strengen Verpflichtung hinausging
und das um so höhere Anerkennung verdient, je mehr die Negierung bisher
bestrebt war, in militärischen Dingen ihrer eigenen Disposition zu folgen.
Man mag aus alledem zur Genüge erkennen, welche Strömung in Bayern
herrscht, und unter der Oberherrschaft dieser Strömung werden auch die Ver¬
handlungen des bayrischen Landtags stehen, welcher am 12. d. M. zusammen¬
trat, — trotz der formalen Majorität, die die Klerikalen noch besitzen. Die
Chancen, mit denen sie auf den Kampfplatz treten, sind ungünstiger als je-
Von allen Seiten häuft sich das Mißgeschick; die Spaltung und Zerfahren¬
heit der einzelnen Elemente, der fanatische Hader zwischen den demagogischen
und den feudalen Frömmlern lodert auf jedem Gebiet empor. Vor allem
aber ist es die klerikale Presse in Bayern, die nach und nach von allen ihren
Anhängern verleugnet wird. Schon der Katholikentag in Mainz hat sich,
wie später zugegeben wurde, mit Anträgen dieser Art befaßt, und das Centrum
des Reichstags acceptirte diese Anschauung, für die Herr von Ketteler un¬
umwunden eintrat. Seinem Beispiel folgte der Bischof von Augsburg und
andere geistliche Würdenträger. Auch in München selbst fand bekanntlich
die Meinungsverschiedenheit, die in der klerikalen Partei besteht, einen drastischen
Ausdruck und zwar bei Gelegenheit einer Volksversammlung deren Tendenz
von den radicalen Katholiken nicht gebilligt ward. Man blieb beim Debat¬
tiren nicht stehen, sondern veröffentlichte Erklärungen, die an gegenseitigem
Widerwillen nichts zu wünschen übrig lassen. Wichtig ist dieser Conflict in¬
sofern, als hinter jedem der beiden Führer eine beträchtliche Vertretung steht.
Graf Arco-Zinneberg spielt in den Generalversammlungen der deutschen Ka¬
tholikenvereine und im internationalen Verkehr derselben eine bedeutende Rolle
und sein Bruch mit den bayrischen Ultra's entzieht den letzteren jeden Succurs
der größeren Genossenschaft. Auf der andern Seite aber hat Herr Sigl mit
seinen maßlosen Forderungen und mit dem cynischen Ton, in dem dieselben
gestellt sind, die entschiedene Majorität der unteren Stände. Nicht nur ein
großer Theil des niederen Klerus ist mit demselben einverstanden, sondern auch
die eigentlichen Wortführer in der patriotischen Partei der Kammer neigen
vielfach auf diese Seite und haben sich sogar für die Colportage des betreffen¬
den Organs verwendet, statt dasselbe öffentlich zu verleugnen. Somit ist denn
auch der Streit, welcher anfangs nur einen localen Charakter hatte, in weitere
Dimensionen hineingerathen und wird ohne Zweifel in den Verhandlungen
der Kammer bemerklich werden. Als jenes Moment indessen, welches die
Gegensätze am meisten entfesselt, dürfte wohl die Debatte über das Cultus¬
budget betrachtet werden, zumal da dasselbe auf der einen Seite durch Herrn
Greil und auf der anderen durch Herrn von Lutz vertreten wird, wenn nicht
vielleicht schon früher das Mißtrauensvotum der klerikalen Majorität in
Scene tritt. Bekanntlich war dasselbe bereits am Schlüsse der vorigen Session
in's Auge gefaßt worden, und sollte als Replik auf die ministerielle Antwort
gelten.
Damals fehlte es an der nöthigen Stimmenzahl und an der nöthigen
Zeit, jetzt aber ist die Erbitterung über die Berliner Erlebnisse noch so mächtig,
daß immerhin eine Verständigung zwischen den beiden Zweigen der patrio¬
tischen Fraction gelingen könnte. Wir ersparen dem Leser alle Hypothesen
über diesen Fall, da wohl die Thatsachen eine baldige Ausklärung bringen
werden; nur soviel sei hier versichert, daß dann auch die Regierung weiß,
was ihres Amtes ist.
Ein Punkt, auf welchen wir noch mit wenigen Worten zurückkommen
müssen, ist der Fortschritt der altkatho tisch en Bewegung, denn auch diese wird
ohne Zweifel in den Kämpfen der bestehenden Session eine Rolle spielen. Mit
Genugthuung nimmt man wahr, daß das Ansehen derselben mit jedem Tage
wächst und daß ihre numerische Verbreitung gleichen Schritt hält mit ihrer
Moralischen Bedeutung, In allen Provinzen bilden sich Vereinigungen zu
diesem Zweck und in den größeren Versammlungen, die ununterbrochen statt¬
finden, wird der Zusammenhang der localen Führer mit dem Centralcomite
in München gewahrt. Auch die rechtliche Seite, die diesen Fragen zukommt,
'se neuerlich angeregt worden, und zwar durch die Vorgänge in Kiefersfelden
und Tuntenhausen, wo die antiinfalliblen Pfarrer vom Erzbischof persönlich
Mommunicirt und nunmehr auch ihrer Pfründe entsetzt wurden. Das Ver¬
sprechen, in solchen Fällen staatlichen Schutz zu gewähren, wird damit neuer-
dings praktisch, und da die Fälle dringender Natur sind, so kann die Regierung
eine Feuerprobe ihrer Gesinnung nicht länger verschieben. Auch das Ver¬
langen, daß den Altkatholiken eine Kirche eingeräumt werden solle, ist keines¬
wegs in Vergessenheit gerathen und wird von verschiedener Seite lebendig be¬
trieben. So fehlt es denn der Thatkraft nicht an Zielen und dem Conflict
nicht an Nahrung; möge die Staatsgewalt zum Siege, der ihr nicht fehlen
Vossische Uebersetzung. Mit 40 Original - Kompositionen von Friedrich
Preller, in Holzschnitt ausgeführt von R. Br end'am our und K. Oertel.
Leipzig, Alphons Dürr.
Friedrich Prell er hat das Glück gehabt, eine große und schöne Auf¬
gabe, welcher er zu dreien Malen in seinem Leben Jahre hingehendsten und
begeisterten Schaffens gewidmet hat, in der Fülle künstlerischer Kraft endlich
in vollendeter Gestalt lösen zu können. Die Landschaften zur Odyssee, welche
zuerst an den Wänden des „römischen Hauses" zu Leipzig, dann in erweiter¬
tem Cyclus als wirksame, wenn auch nur mäßig große Kohlenzeichnungen
entworfen wurden, schmücken als eine herrliche Reihe farbenschöner großer
Wandgemälde das Museum der Stadt Weimar, welche dem 'Meister zur blei¬
benden Heimath geworden ist. Dort, wie in der Rotunde des städtischen
Museums zu Leipzig, wo die großen Originalcartons der Weimarer Wand¬
bilder aufgestellt sind, hat jeder empfängliche Beschauer den Wunsch empfun¬
den: ein Werk wie dieses, an dem, bei aller schönheitsvollen Mitwirkung der
Farbe, doch die Zeichnung der wesentliche Träger des künstlerischen Gedankens
ist, in Verbindung mit dem Text des Gedichtes als Zierde einer schönen H»"
mer-Ausgabe vervielfältigt zu sehen. Die Art und Weise, wie in der neuen
Weihnachtsgabe des kunstsinnigen Verlegers dieser Wunsch erfüllt worden ist,
wird allen Verehrern des Meisters einen wahrhaften Genuß bereiten.
Der Verleger, welcher bereits eine Reihe der besten Schöpfungen neuer
deutscher Kunst in Bildwerken von gediegener Ausstattung publicirt hat,
wählte den Holzschnitt zur Wiedergabe des Cyklus landschaftlicher und
figürlicher Compositionen, von denen die letzteren (in Weimar als Predellen-
Fries in der Weise von Vasenmalereien ausgeführt) für den Zweck der JllU'
stration der vierundzwanzig Gesänge vom Künstler umgestaltet, und zum
Theil neu erfunden wurden. Nur so konnte der Typendruck des Textes mit
den bildlichen Darstellungen ein völlig harmonisches Ganze bilden, wobei denn
bescheidene ornamentale Ausstattung in den Rahmen der landschaftlichen
Bilder, der als Titelbilder jedes Gesangs angeordneten Friesstücke und in
symbolisch-decorativer Schlußvignetten die Verbindung bildet. — Wie der
Beschauer sogleich erkennt, sind die Holzschnitte eine treue Wiedergabe der
eigenen „Handschrift" Prellers; in der bekannten kräftigen und originalen
Weise seiner in klaren Conturen und Strichlagen ausgeführten Bleistiftzetch-
nungen, in „Carton-Manier", d. h. nur Schatten und Licht, nicht die ver-
schiedene Dunkelheit der Fnrbentöne ausdrückend. In der That sind nach
den besonders für den Holzschnitt ausgeführten Bleistiftzeichnungen photogra-
Phische Verkleinerungen direct auf den Holzstock übertragen und — fast durch-
gehends mit großer Meisterschaft — ganz in der Weise der Handzeichnung
von R. Brend'amour (die Landschaften) und von K. Oertel (die Figuren)
geschnitten worden. Möchte auch manches Auge statt der freien und kräftigen
Strichführung die hier unmittelbar, wie sie der Stift des Malers zeichnete, im
Druck wiedergegeben ist, eine elegantere, auch den Ton der Bilder andeutende
„Uebersetzung" vorziehen, an deren technische Feinheiten uns die Mehrzahl
der modernen Holzschnittwerke gewöhnt hat, so kann man doch den großen
Borzug der vollen Originalität, der alsdann immer gefährdet würde, nicht
hoch genug anschlagen. Manche Unebenheit, manche etwas derb und eckig
gewordene Gestalt wird nicht länger stören, wenn das Auge bei wiederholter
Betrachtung, vor Allem der Landschaftsbilder, gerade an der Ursprünglichkeit
der großen Züge, in denen die Composttionen entworfen sind, den rechten
Genuß zu finden gelernt hat.
Es bleibt ein ewig anziehendes Geheimniß: wie in den landschaftlichen
Formen eines Stückes Erde, von den Sabinerbergen bis zur sicilischen Küste
gerade die Rhythmen und Verhältnisse der Linien und Massen, die Grazie
der Vegetation, die Harmonie der Färbung sich vereinigen, in denen das
künstlerische Auge der Maler aller abendländischen Nationen Borbilder einer idealen
Umgebung von Gestalten des „goldnen Zeitalters" — sei es antiker, christ¬
licher oder moderner Mythe und Poesie — gefunden hat und finden wird. Gab
Poussin vor Allem die großen Gebirgsbildungen mit schönen, aber mehr all¬
gemein als individuell gehaltenen Vegetationsgruppen, so bildet Preller, in
weiterer Entwickelung der Auffassung seines Vorgängers Joseph Koch, das
schöne Einzelne jener Landschaften mit klassischem Schönheitssinne zum Rahmen
homerischen Gestalten und ihrer poetischen Erlebnisse. Wir erkennen
Spalten und Gefüge der Felsen von Capri, die Windungen der zähen ur-
alten Olivenstämme, die Eigenartigkeit jedes Laubes, selbst den Condur des
schöngezackten Feigenblattes und der zierlichen Weingehänge, nirgends der
conventionelle Vor- und Mittelgrund der alten historischen Landschaft, sondern
Oertlichkeiten des eigenthümlichsten Gepräges, den Motiven der Dichtung
wunderbar entsprechend, mit der ächtesten künstlerischen Nachempfindung der
vom Sänger unbewußt angeschlagenen landschaftlichen Stimmung erfunden.
Beschreiben ist hier unnütz: der Beschauer muß selbst die Freude empfinden,
von den bekannten Worten der unsterblichen Dichtung geführt sich in die
weiten Meeresufer, die Zaubergärten und Orkusklüfte des wandernden Helden
zu versetzen, und beim Umschlagen des Blattes in der schlichten Zeichnung
des deutschen Meisters die schönste Verwirklichung der heiteren wie der furcht¬
bar-großartigen Phantasiegebilde zu finden. Vertraut geworden mit der
überaus edeln Formensprache des Künstlers, wird er dann auch die ächt antike
Einfalt und Anmuth verstehen, die in der Erfindung (wenn auch nicht der
Zeichnung und Ausführung) der Friesbilder zu Tage tritt; wie Sonne und
Farbe vor dem geistigen Auge die schwarzen Umrisse der Landschaften er¬
füllen, werden auch aus den Holzschnitt-Zügen dieser kleinen Darstellungen
Götter, Helden und herrliche Frauen herauswachsen.
Wir haben uns darüber nicht täuschen dürfen: daß seit etwa zwanzig
Jahren die Verbindung von Kunst und Technik in den englischen und fran¬
zösischen Erscheinungen des Kunst-Büchermarkts vom Schnitt der Type bis
zum Korn des Papiers und der Zeichnung des Einhards der deutschen (mate¬
riell so ungünstig sttuirten) Produktion im Durchschnitt voraus ist; ein so
ächt künstlerisches Prachtwerk aber, wie der Preller-Homer, darf mit freudigem
Stolze als ein unvergleichliches Ehrendenkmal deutscher Kunst begrüßt
werden.
Die zweite Woche seit dem Zusammentritt des preußischen Landtags neigt
sich ihrem Ende zu, und die Plenarsitzungen beginnen erst heute. Die Pause
hat Niemand übel genommen: nicht die doppellebigen Abgeordneten, die zu¬
gleich dem Reichstag und dem preußischen Landtag angehören, nicht das Pu-
blteum, welches für eine Zeit gern auf den Genuß der täglichen, viele viele
Zeitungsspalten langen Parlamentsberichte verzichtet. Die Zeit wird auch
gut benutzt worden sein, und wo der Etat eine lose Masche zeigt, werden die
Eugen Richter, die Blanken bürg u. A. den Ministern einen schweren Stand
bereiten.
Denn es zeigt sich doch deutlich, daß für jetzt noch viele principielle Fra¬
gen (und solche werden ja überall an die Etatsberathung angeknüpft) in dem
preußischen Landtage gelöst werden müssen, schon deßhalb, weil die Verhält¬
nisse innerhalb Preußens doch immer noch gleichförmiger sind, als diejenigen
Gesammtdeutschlands, wo doch manchmal vorkommt, daß sich Süd und
Nord nicht versteht. Auch ist das Gebäude der Reichsverfassung, so treff¬
lich geeignet es für seine Zwecke ist. noch zu lückenhaft, als daß schon jetzt
die Einzellandtage und namentlich der preußische sich auf eine rein geschäftliche
Behandlung der ihnen obliegenden Aufgaben beschränken könnten. Politische
Parteifragen werden immer noch überwiegend in den Lambda gen verhandelt
werden, wenigstens die Fragen der alten Parteien, während im Reich, allem
Andern voran und alles Andere beherrschend, der große Gegensatz zwischen
Centralisten und Decentralistcn und den Antinationalen den Gegenstand der
eigentlichen Parteikämpfe gibt.
Unterdessen hat die große Politik nicht gefeiert, obgleich der Reichskanzler
die ganze Zeit über leidend war. Ein gründlicher Geschichtsforscher wird
einige Mühe haben, das Dunkel der letzten Woche aufzuklären. Gerade am
letzten Sonntag ward hier bekannt, daß in den occupirten französischen De¬
partements der Belagerungszustand ausgesprochen worden sei. Nur eines ist
wunderlich, daß man diese Nachricht von hier hört und nicht von Nancy.
Ist der Telegraph stumm geworden? Und bis zum heutigen Tage ist noch
kein officielles Actenstück über die Verhängung des Belagerungszustandes in
die Oeffentlichkeit gelangt. Indessen ist dies nebensächlich. Es kann ja kei¬
nem Zweifel unterliegen, daß der Befehl zu dieser Maßregel von hier er¬
gangen ist, so daß man sie also hier eher kennen mußte als in Nancy, und
wichtiger noch als dies ist, daß sie gewirkt hat. Einige französische Zeitungen
schlagen freilich gewaltigen Lärm, aber die Regierung hat die Lection
ruhig hingenommen und wenn unter den Franzosen noch etwas Besonnenheit
vorhanden ist, so müssen sie sich doch sagen, daß solche patriotische Unter¬
haltungen, wie die Freisprechung von Mördern, gefährlich werden können, so
lange ein siegreicher Feind im Lande steht. Von deutscher Seite ist der fran¬
zösische Uebermuth allerdings durch Langmuth verschuldet worden, denn
w jedem Deutschen lebt trotz aller Siege noch immer der alte Respect
vor den vornehmen Franzosen und wenn diese es nicht glücklicherweise
gar zu toll machten, so würde der Respect und das Mitleid gar keine
Grenzen mehr kennen. Gehen Sie einmal die Linden entlang, so wer.
den Sie in jedem Kunstladen ausgehängt finden: die Marseillaise von Dore.
Das Aufhängen ist zwar kein Beweis für starken Absatz, aber es läßt ihn
vermuthen. Die Göttin der Freiheit zieht an der Spitze echt gallischen Ge-
sindels ins Feld. Das Bild ist so widerwärtig wie jenes andere, welches den
Kaiser Napoleon nach der Schlacht bei Sedan darstellt, über die Leichen und
Verwundeten fahrend. Es ist eine erbärmliche Lüge gegen den gefallenen
Tyrannen, ein Parteimanöver, und hier bewundert man naiv das Kunstwerk,
obgleich in den Wolken der erste Napoleon mit einer Aureole steht, er, der
wirklich sehr gleichgültig über Leichen und Verwundete hinwegfuhr und der
heute die Sehnsucht aller Franzosen ist, denn was sie dem Dritten vorwerfen,
ist nur. daß er nicht wie der Erste zu siegen verstand.
Die Botschaft des Herrn Thiers fließt von friedlichen Versicherungen
über, mit denen die Thatsache, daß das Budget der Marine unverändert
bleibt und das der Armee, so wie der Bestand der letzteren erhöht werden,
sich schlecht vereinigen läßt. Es ist schade, daß die Botschaft nicht vierzehn
Tage früher verlesen worden ist, denn die Debatte um das dreijährige Pausch-
Quantum des Militäretats würde sich dadurch bedeutend vereinfacht haben,
Vielleicht hat sie jetzt noch das Gute, die entstandenen Differenzen zu mildern.
Bekanntlich war von deutscher Seite nach dem Abschlüsse des Frankfurter
Friedens die Initiative dazu ergriffen, d en Postverkehr zwischen Deutsch¬
land und Frankreich, welcher noch den Festsetzungen älterer Verträge
unterworfen ist, auf neuen, den veränderten politischen Verhältnissen, wie den
Anforderungen der gewaltigen Wirthschaftsbewegung unserer Tage entsprechen¬
den Grundlagen zu regeln. Die desfallsigen Verhandlungen haben bei der
retrograden und von fiskalischer Engherzigkeit getragenen Politik des gegen¬
wärtigen französischen Gouvernements keinen günstigen Fortgang genommen;
vielmehr droht diese Politik, welche mit dem Entwickelungsaufschwunge der
Zeit in einem so unheilvollen Gegensatze steht, nunmehr ernstlich jene wich¬
tigen Interessen zu gefährden, welche sich an die Erleichterung und
Verbesserung der internationalen Postbeziehungen zwischen Deutschland und
Frankreich knüpfen, Interessen, deren Verletzung als ein Attentat gegen die
Wohlfahrt der Völker, ja gegen den allgemeinen Culturfortschritt zu erachten
ist. Wie wir hören, hat die oberste Reichs-Postbehörde in B erim
den unberechtigten französischen Forderungen gegenüber Deutschlands Würde
mit enrschiedener Festigkeit gewahrt; sie hat Frankreichs Ansinnen: von dem
zu 40 Centimes projectirten Gesammtporto für die deutsch-französische Corre-
spondenz den Löwenantheil, nämlich 25 Centimes, an die französische Post,
aber nur 15 Centimes an Deutschland zu überweisen, als einen mit
dem völkerrechtlichen Grundsatze der Reciprocität unvereinbarer unbedingt
abgelehnt; und es fragt sich setzt, ob in dem acuten Stadium, in das die
Angelegenheit gelangt ist, ein den Anforderungen des Verkehrs entsprechender
moäus vivvnili sich noch wird vereinbaren lassen. Unzweifelhaft konnte die Reichs¬
post nicht zugeben, daß Frankreich sich aus den Taschen deutscher Korrespon¬
denten bereichere; die ultima, iativ, welche das General-Postamt in Berlin den
französischen Machthabern bereits entgegengehalten hat, würde schließlich nur
die sein: daß die für Frankreich bestimmte Post bis zur französischen Grenze
geschafft und, unter Abbruch der directen postalischen Beziehungen zwischen
Deutschland und Frankreich, letzterem überlassen würde, die Post weiterzube-
fördern; eine Situation, welche freilich an die dunkelsten Zeiten antediluvia-
nischer Verkehrspolitik erinnern würde, und welche offenbar Frankreichs unwür¬
dig ist. Iliaeos iutr» muros pvee^tur se «zxtr»,! Bei den jetzt in Paris durch
den Reichs-General-Postdirector Stephan fortgesetzten Verhandlungen soll
dem Vernehmen nach eine Einigung auf der Grundlage versucht werden, daß
man die Feststellung eines gemeinsamen internationalen Portosatzes und dessen
Theilung unter die Vertragsmächte aufgiebt und statt dessen jedem Staate
überläßt, seinen Postantheil selbst einzuziehen. Principiell hat die deutsche
PostVerwaltung hiergegen einen Einwand nicht erhoben; wie aber die fran¬
zösischen Correspondenten dabei fahren werden, ist unschwer zu errathen.
Hoffen wir, daß die Erkenntniß der Wichtigkeit der modernen Verkehrs¬
bewegung und ihres Einflusses auf den nationalen Wohlstand gegenüber den
auf finanzielle Ausbeutung, d h. auf Verschlechterung eines so unentbehrlichen
Culturmittels, wie die Post, gerichteten Rückschrittsneigungen der französischen
Staatsmänner schließlich doch den Sieg davontrage. Den letzteren aber mag
das Wort ihres berühmten Landsmanns Renan zugerufen werden, der in
dem offenen Briefe an Strauß die beiden Nationen mahnt: leprenons
KouL öllLLmblö 1«s gi'Atlas 6t vrais vroolömös, los prodlömes
soeiaux, gut rösumvnt a-iusi: trouver uns Organisation i'ä.-
Uonölle et ÄUösi ^usto sue possible as 1'liumg,uit6!
Angesichts dieser Transactionen und zur Charakterisirung des Unter¬
schiedes, welcher die deutschen und die französischen Bestrebungen kennzeichnet,
möchte aber an der Zeit sein, jener wichtigen Reformen zu erwähnen, durch
welche die deutsche PostVerwaltung in den letzten Jahren die interna¬
tionalen Postbeziehungen zwischen Deutschland und den anderen europäischen
Ländern, sowie den Vereinigten Staaten von Amerika einer früher nicht ge¬
ahnten Entwickelung entgegengeführt hat. Noch sind kaum 30 Jahre ver¬
flossen seit der Blüthe jene/ wahrhaft unglaublichen Portotarprincipien und
Verkehrserschwerungen, welche fast unübersteigliche Schranken zwischen den
Culturvölkern aufrichteten. Die große Anzahl der Territorial-Postinstitute,
der Mangel zweckmäßiger Straßen und Communicationsmittel jeder Art, die
Verschiedenartigkeit der Berwaltungsnormen. welche alle Grade der amtlichen
Schwerfälligkeit und bureaukratischen Einseitigkeit in üppigem Gedeihen
zeigten, die Schwierigkeit, bestimmte Reciproeitäts-Grundsätze für den interna¬
tionalen Postverkehr zu der Bedeutung allgemein giltiger Thesen zu erheben,
endlich das Vorhandensein zahlloser Hemmnisse technischer Natur (in den
Münzsystemen, Gewichtsnormen u. s. w.) machten die Materie der Regulirung
der Postverkehrsbeziehungen zwischen den einzelnen Ländern zu der Verwickel¬
testen, am meisten labyrinthischen, welche die Cultur- und Staatengeschichte
kennt. Ein Brief von London nach Berlin kostete anfangs der vierziger
Jahre unseres Jahrhunderts (1842) noch 27^ Sgr., wovon allein 18 Sgr.
auf den britischen Portoantheil fielen; 1847 betrug das Porto für Briefe
zum Gewicht von Loth zwischen Berlin und Marseille noch 9'/z Sgr.,
vor 1847 — 132/2 Sgr., — Dank der großen Zahl verschiedener Postgebiete,
deren Taxansprüche zu befriedigen waren! Daß bei solchen Portosätzen von
einer freieren Bewegung in den Verkehrsverhältnissen, von einem lebenskräf¬
tigen Aufschwünge des internationalen Briefaustausches nicht die Rede sein
konnte, bedarf keiner Ausführung.
In dem aus seiner Zerrissenheit nunmehr glücklich erstandenen Deutsch¬
land mußte einst jeder von Norden nach Süden gesandte Brief mir einer
ganzen Musterkarte von Transitportosätzen geschmückt werden, aus denen sich
das „Gesammtporto" für den unglücklichen Portozahler bildete; mehr als hun¬
dert PostVerträge waren abgeschlossen worden, um dieses Chaos zu fester, greif¬
barer Gestalt zu verdichten. Der schreiende Nothstand solcher Verhältnisse
führte endlich zum Abschlüsse des deutsch-östreichischen Postvertrages vom 6-
April 1850, in welchem zuerst das Princip zur Geltung gebracht wurde, einen
einheitlichen Satz für das Po re 0 (zunächst für Deutschland und Oestreich)
festzustellen und das Publicum von der Zahlung derTransit-
vergütung gänzlich zu befreien. Nach diesem Vorgange begann eine
freiere Anschauung bei Regulirung der internationalen Vertragsbeziehungen
auch in anderen Ländern sich Bahn zu brechen; die vielstufigen Briestaxen,
die Transitschranken, die Schwerfälligkeit der Formen des Expeditions-
Wesens machten rationelleren, dem Interesse des Weltverkehrs ent¬
sprechenderen Festsetzungen Platz; man erkannte endlich, daß nur auf
diesem Wege die Erfüllung der universellen Mission zu erreichen war,
welche dem Postwesen im Culturleben vorbehalten ist. Die einzelnen Staaten
und Verwaltungen traten einander näher, indem sie gewisse Principien und
Grundregeln vereinbarten, auf deren Basis eine gesunde Berkehrsentwickelung
der Völker unter einander durch den erleichterten Austausch der Briefe herge¬
stellt werden sollte. Das Verdienst, zuerst in kosmopolitischen Sinne diesen
Bestrebungen bestimmtere Form gegeben zu haben, gebührt der auf Antrieb
des General-Postmeisters der Vereinigten Staaten von Amerika Mr. Blair,
im Jahre 1863 zu Paris zusammengetretenen internationalen Post-Conferenz.
Bei den desfallsigen Verhandlungen wurden für gewisse praktische Fragen,
deren Erörterung für die Regelung des internationalen Postverkehrs von be¬
stimmenden Einfluß ist, Normen aufgestellt, welche von allen civilisirten
Völkern befolgt werden, also zur Herstellung einer gewissen Gleichmäßigkeit
in dem Gefüge des internationalen Verkehrslebens dienen sollten. Nament¬
lich wurde ein EinVerständniß über allgemeine Grundsätze der Postgesetzgebung
(Feststellung der Kategorien von Transportobjecten), über gemeinsame Ein¬
richtungen des technischen Dienstes, über die Garantie-Verhältnisse, über
den internationalen Posttransit, sowie über Normirung von Gewichtsstufen,
Tarskalen u, f. w. erzielt. So werthvoll diese Ergebnisse auch waren, immerhin
behielten sie doch nur den Charakter theoretischer Erörterungen, deren
Uebertragung auf das praktische Gebiet, in das volle Leven selbst, erst die
schwerere, aber um so wichtigere Aufgabe blieb. Namentlich war die Con-
ferenz weit entfernt von der Aufstellung eines gemeinsamen Einheitsportos
für den Bereich der vornehmsten Culturvölker, also von der Vereinbarung
eines großen, die civilisirte Welt umspannenden PostVertrages, eines Welt-
Po hev er eins mit einem für alle Glieder desselben giltigen, möglichst niedrig
zu bemessenden Weltporto. »
Inzwischen zeigten die von der Post-Conserenz festgestellten Normen sich
von so befruchtendem Einflüsse, daß die internationalen Postbeziehungen sehr
bald eine völlig veränderte Gestalt annahmen. Insbesondere entfaltete die
preußische, von 1868 ab zugleich norddeutsche Postverwaltung auf diesem Ge¬
biete eine überaus segensreiche Thätigkeit, und schloß eine Reihe internatio¬
naler PostVerträge ab, welche die Principien der Post-Conferenz nicht blos in
vollem Maße praktisch verwerthet, sondern auch bereits den Grundstein zu
Mem größeren Organismus einer Weltpost gelegt haben, der vielleicht dereinst
die Nationen zu innigerer Gemeinschaft als je zuvor einen wird.
Es kann nicht Zweck dieser Betrachtungen sein, die Bestimmungen eines
jeden dieser Verträge hier zu detailliren. Wir wollen nur hervorheben, daß
in den Verträgen :
durch Festsetzung niedriger internationaler Taxen, durch Vermehrung der Aus¬
wechselungspunkte, Geltendmachung des der Nationen allein würdigen Grund¬
satzes völliger Reciprocität, und konsequente Durchführung, der für die
Interessen des Publikums günstigsten technischen Fundamentalregeln in der
großen Verkehrsgemeinschaft der Völker eine neue Aera inaugurirt ist, welche
das Terrain für die einheitliche Gestaltung des Welt-Postvertehrs
geebnet findet. Die Erreichung dieses letzten Zieles war von dem Reichs-
General-Postmeister zu Berlin bereits in's Auge gefaßt und der praktischen
Ausführung durch Formulirung der für den künftigen Welt-Postverein ma߬
gebenden Grundsätze in einer Denkschrift, betreffend den allgemei¬
nen P v se-C o n gr eß, näher gerückt worden, als der Ausbruch des Krieges
die weitere Verfolgung dieser für die Culturentwickelung so bedeutsamen Auf¬
Aus dem Verlage von Braun und Schneider in München liegen uns
sodann auch zwei poetische Gaben von Karl Stiel er vor, dem jungen be¬
gabten bayrischen Dichter, dessen ernste und scherzhafte Verse in oberbayrischer
Mundart den Lesern der „Fliegenden Blätter" noch in ebenso frischer Erin¬
nerung stehen werden, als uns Allen seine ergreifenden Schilderungen aus dem El¬
saß und dem bayrischen Gebirge während des Krieges im „Daheim." Die Ge¬
dichte K. Stieler's in oberbayrischer Mundart finden wir hier in einem mit
der ganzen Virtuosität der Verlagshandlung der „Fliegenden Blätter" illustrir-
ren Bändchen unter dem treffenden Titel „Bergbleamln" gesammelt. Ebenso
ergreifend spricht sich darin die tiefe Innigkeit des Volksgemüthes aus. wie
z. B. in dem Lied: „Wie's Decadi g'storben is '
„Stad nimm ihr' d' Hand — 's Hat'S Niemand g'wißt,
Warum mir ward so bang. —
I hab' halt g'avant. i g«ob ihr d' Hand
Amak — zum Hochzeitgang/'
wie die eigenthümliche rauflustige Keckheit der „Schnadahüpfeln", z. B.
„Und machst von mein Deandl
Allwelt so« G'schroa,
Na kriegst amal oane.
Das; d' moanst, Du kriegst zwoa!"
oder die heimlichen Gedanken der Spinnstuben: „Wie die Deandln reden."
Die va (eine):
„Der hat an Heuwag'n voller Geld
Und dös Mordssach, dös der noch kriegt!"
„Was nutzt a Heuwag'n mir voll Geld?
Wenn der an Ochs is. der'n zichgt!"
Die ander:
Freunden anspruchsloser Volksweisen ist diese reizende Sammlung so
warm zu empfehlen, als die Reisebilder von Karl Stieler, welche den
begleitenden Text bilden zu den „Posthornklängen für das chromatische Horn,
gesammelt von Herzog Maximilian in Bayern," München, Braun und Schnei¬
der. Denn selten ist die Poesie der Postkutsche der guten alten Zeit in Wort,
Bild und Melodie so liebevoll und fesselnd geschildert worden, als in diesem
Bändchen. Und wenn hier auch in ungebundener Rede die begleitenden
Worte Stieler's die verklungenen Melodieen des fränkischen, schwäbischen,
Preußischen Posthorns begleiten, so verräth doch jeder Satz die emportragende
Kraft der echten Dichterfeder.
Daneben haben die verdienstvollen Sammlungen des Freiherrn Fra nz
Will), von Ditfurth, „Die historischen Volkslieder des bal¬
tischen Heeres", Nördlingen, Verlag von C. G. Beck, und „Die histori¬
schen Volkslieder des siebenjährigen Krieges, der Freiheitskriege, und der
Jahre 1870—1871", 3 Bändchen, Berlin, Franz Lipperheide, 1871. den soldati¬
schen Ernst und Scherz bei rühmlichen Waffenthaten mit Fleiß und Sorgfalt
zusammengetragen. Daß die Sammlung von höchstem historischen Interesse
ist, bedarf nicht der Versicherung. Namentlich lehrt eine Bergleichung der
specifisch bairischen Heerliedersammlung mit der gesamtdeutschen in erfreu¬
licher Weise, wie der rohe Landsknechtssinn, der die Kämpfer für die heilige Liga
vordem erfüllte, seit den Tagen Friedrichs des Großen immer mehr zu jener
beiligen opfermuthigen Vaterlandsliebe des deutschen Kriegers sich emporhebt,
von welcher die braven Baiern im letzten Feldzuge so unvergängliche Beweise
gegeben haben. — An frischem, häufig derbem, aber immer urkräftigem und
durch die reinste Vaterlandsliebe verklärtem Soldatengeist stehen diesen Volks¬
liedern am nächsten die Gedichte von Hans Küster, des bekannten dramati-
schen Schriftstellers und Reichstagsabgeordneten für Cottbus, welche unter
dem Titel „Kaiser und Reich" bei Wilhelm Hertz erschienen sind. Den¬
jenigen , welche in den Tagen des großen Krieges Leser der Nationalzeitung
waren, werden in dieser Sammlung manche jener begeisterten Verse wieder
entgegentreten, die ihnen als glücklicher Ausdruck großer Stunden mit den
electrischen Botschaften von unsern glorreichen Waffenthaten gleichzeitig vor
Augen traten. Aber neben dem lauten Päan des Volkslnmpfes und den
Wallungen des empörten deutschen Tittlichkeitsgefühls über den Lug- und
Truggeist der Feinde, enthält diese schöne Sammlung auch manchen jener
Klänge innigsten Gefühls- und Gemüthslebens, welche „Das Lied vom
Neuen Deutschen Reich von Oscar von Redwitz", (Berlin, Wilhelm
Hertz.) als eines der bedeutendsten poetischen Producte dieses fruchtbaren Dich¬
ters, zu einem Lieblingsbuche des deutschen Volkes gemacht, mit kaiserlichen und
königlichen Ehren überhäuft, und dem Verfasser die schmeichelhaftesten An¬
erkennungsschreiben Seiten unseres Reichskanzlers, von dem „großen Schwei¬
ger" Moltke u. s. w. eingetragen haben.
Neben dieser poetischen Literatur, welche der Krieg hervorgerufen, hat
sich auch die kriegerische Prosa in solchem Maße vermehrt, daß, wenn wir
recht unterrichtet sind, Seiten der höchsten Militärverwaltung, aus eigener
Initiative des Bundesoberfeldherrn Schritte für nöthig erachtet worden sind,
wenigstens active Militärpersonen von der Betheiligung an der literarischen
Massenproduction über den Krieg zurückzuhalten. Wir begreifen derartige
Maßregeln im Interesse des Dienstes sowohl als des zukünftigen großen
Werkes des Generalstabs vollkommen. Aber mit dem Vorbehalte, daß mit
dem letztgenannten, vermuthlich erst in einigen Jahren vollendet vorliegenden
Werke sich erst die militärischen Quellen vollständig übersehen, die letzten Ur¬
theile über die militärischen Operationen bei Freund und Feind fällen lassen,
verträgt sich sehr wohl eine anerkennende Würdigung derjenigen Werke über
den Krieg, welche vom Standpunkte aller heut bekannten Quellen aus die Un¬
geduld des deutschen Publikums nach guten Darstellungen unsrer größten
Geschichtsepoche befriedigen. Wir haben schon vor einiger Zeit unter der Fluth
dieser Literatur die Arbeiten von A. Niemann „Der französ. Feldzug
1870—1871 (Militärische Beschreibung). Hildburghausen, Bibl. Institut,"
und „Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich 1870—1871
von Max v. Eelking, Leipzig. F. W. Grunow." als ganz besonders
hervorragend bezeichnet. Wir können dieses Urtheil nunmehr, da von beiden
Werken die zweiten (Schluß-) Bände vorliegen, nur bestätigen. In beiden
wird der Krieg von Sedan bis zu Ende geführt. Beide Werke zeichnen sich
durch die ihnen schon früher nachgerühmten Eigenschaften bis zu Ende aus,
Eelking durch die ganz besondere Fülle seines Materials und dessen sachver
ständige militärische Verarbeitung (der 2, Band allein enthält 4!> Druckbogen),
Niemann durch die vollendete Gruppirung seines Stoffs, die Sicherheit seiner
militärischen Darstellung und Reichhaltigkeit der kartographischen Beigaben.
— Eine noch weit größere Zahl von literar. Erzeugnissen als die eigent¬
lichen Kriegsgeschichten, bilden die Sammlungen von Kriegstagebüchern 'und
feuilletonistischen Kriegsartikeln der „Schlachtenbummler" von Beruf. Hier
ist die Zahl Legion und der Inhalt selten rühmenswerth. Aber ein Schrift¬
chen dieser Gattung, das anonym erschienen ist, jedoch wie wir wol ver¬
rathen dürfen, den Privatdocenten Dr. Otto Liebmann in Tübingen
zum Verfasser hat, und den bescheidenen Titel trägt „Vier Monate vor
Paris 1870—1871, Belagerungstagebuch eines Campagne-Freiwilligen im
K. Pr. Garde-Füsilier-Regent.". Stuttgart, Gustav Weise. 1871, verdient
wohl dem raschtreibenden Strome allgemeiner Vergessenheit entrissen zu werden,
ebensosehr der Tiefe und Reichhaltigkeit seines Inhaltes, als seiner geschmack¬
vollen Darstellung wegen. Kaum eine der gleichartigen Arbeiten legt ein so schönes
Zeugniß ab für den Werth deutsch-akademischer Bildung, und der geheimen
Kraft, mit welcher sie dem Besitzer über die schwersten Prüfungen des Lebens
hinweghilft. Schon dadurch, daß der Verfasser völlig freiwillig das Kriegs¬
kleid anzog und im dichten Kugelregen vor Paris aushielt, unterscheidet er
sich sehr vortheilhaft von den unbewaffneten schriftstellernden „Augenzeugen"
der großen Belagerung,
Mit ganz besonderer Freude erwähnen wir am Schlüsse dieser Besprechung
der neuesten Kriegsliteratur das gedeihliche Fortschreiten des schönsten
Kunstwerkes, das der große Krieg in aller Welt hervorgerufen hat: Eu¬
gen Kr ü gers Lar d Schafes al b um vom Kriegsschauplatz, Hamburg.
71. H. Brucker. Es liegt in der Natur der Sache, d.h. in der Pflichttreue und
dem idealen Streben aller Betheiligten, des Künstlers, des Druckers, des Ver¬
legers, daß bisher nur die Hälfte der versprochenen fünfzig Blätter, also 2 6
Blätter in sechs Heften erschienen sind. Mehr war in der gegebenen
Zeit nicht zu leisten, wenn man den ganzen Ernst des Strebens, welchen die
ersten, früher besprochenen fünf Blätter verriethen, nicht herabstimmen wollte.
Aber für Denjenigen, der nicht nach Zoll und Umfang, sondern nach Maß
und Werth künstlerische Leistungen schätzt, bieten diese zwanzig neuen Blätter
Eugen Krügers weitaus die freudigste Erscheinung der Kunstvroduction über
den' letzten Krieg. Und es ist nur zu loben, wenn die Verlagshandlung die vor¬
liegende Hälfte ihres Werkes wol hauptsächlich der Weihnachtsnachfrage halber
als solche, in eleg. Mappe, zu verkaufen sich entschlossen hat. während sonst nur
das Ganze käuflich ist. Für den Durchschnittswohlstand unseres Volkes ist
freilich auch diese Hälfte kostspielig zu nennen, namentlich da leider die Reichen
bei uns, wie allerwärts — etwa mit Ausnahme der englischen Gentry. — am
Wenigsten Theilnahme für solche patriotische Leistungen der Kunst zu zeigen
gewohnt sind. Aber warum sucht man bei uns zur Gewinnung eines solchen
Werkes so wenig das Princip der genossenschaftlichen Vereinigung anzuwen¬
den, das in allen materiellen Unternehmungen unbestritten das Kleinkapital
als ebenbürtigen Rivalen des reichen Mannes erwiesen hat? Warum abon-
niren nicht Vereinsbibliotheken, Lesegesellschaften und Vereine, oder größere zu
diesem einen Zwecke gebildete Kreise von Privatleuten auf dieses für immer
denkwürdige Werk, um es als hohes Gut der gemeinsamen Bibliothek zu er¬
werben, oder unter sich im Ganzen, oder nach einzelnen Blättern zu verkoofen.
Gegen die Blindheit des Looses könnte ja der berechnete Austausch unter den
Gewinnern immer Rath schaffen. Denn gleich hohen künstlerischen Werth
haben diese Blätter alle, und das pretium gF«l!t,ioinK der Stätte, wo die Liebsten
in fränkischer Erde ruhen, ist glücklicherweise nur Wenigen gemeinsam! Und
höchst vielseitig ist der Inhalt der vorhandenen Lieferungen. Daß das erste
Heft enthielt: den Bahnhof von Straßburg. Feldwache bei Pfalzburg, Don-
chery, Rezonville, Comp, führten wir schon früher an. Die neuen vorliegenden
Hefte umfassen beinahe das ganze Occupationsterrain in allen Phasen des Feldzugs,
wie aus folgender kurzen Aufzählung erhellt Die 2. Lieferung führt uns nämlich
vor: die Porte de France von Toul,' die Gräber bei Spicheren (das reichbekränzte
„Ehrenthal") Vionville und Mars la Tour, die Spicherer Höhen. Die Dop¬
pelmappe drei und vier enthält: Schloß Bellevue bei Sedan, wo König Wil¬
helm die denkwürdige Zusammenkunft mit dem gefangenen Frankenkaiser hielt,
schloß Ladonchamps bei Metz, deutsche Wachtfeuer bei Mondschein um For-
bach. Bivouc an der Mosel, das Arbeiterhaus vor Dvnchery, wo Napoleon
und Fürst Bismarck am 2. September 1870 sich sprachen, das Dorf und
Schlachtfeld von Gravelotte, Feldwache im Park von Se. Cloud, verwilderte
Hunde vor Metz. Endlich hat das fünfte und sechste Doppelheft folgenden
Inhalt: Gorze. Zeltlager bei Rozerieulles vor Metz, das Schloß von Se.
Cloud in Flammen, das Städtchen Wörth, die drei Pappeln auf dem Gais-
berg bei Weißenburg, Le Bourget. Observatorium von La Miotte vor Belfort,
endlich Schloß Montbeliard sMömpelgard) bei tiefem Winterschnee. Wir
haben der für sich selbst sprechenden Reichhaltigkeit der landschaftlichen Aus¬
wahl nur das hinzuzufügen, daß jedes dieser Bilder die charakteristische Schön¬
heit der Natur in dem'vom Künstler dargestellten Moment in vollendetster
Auffassung wiedergibt. Aber doch noctem 'wir. ihres außerordentlichen land¬
schaftlichen Reizes halber vor den übrigen nennen: den deutschen Beobachtungs¬
posten auf Fort La Miotte über Belfort, wo der zerschossene Wartthucm zur
Rechten glänzend sich abhebt von der kalten klaren schneeloser Winterluft,
und der 'duftig-blaue Jura im Hintergrunde aus der Tiefe steigt. Dann:
die drei Pappeln aus dem Gaisberg, die mit den Gräbern zu ihren
Füßen schon in die schwermüthigen Schatten des Spätabends getaucht sind,
während über den helleren Abendhimmel verspätete Vögel dem Nachtlager zu¬
fliegen. Endlich: Schloß Bellevue, das uns so stolz und lächelnd von den
Hügeln der Maas entgegentritt, wie jene Kunde, die am Morgen des zweiten
September 1870 Hunderttausende deutscher Krieger durcheilte: „Armee und
Kaiser gefangen!"
Wenn wir an diesen Bildern erkennen mögen, welche lange Reihe von
vergangenen Geschlechtern zusammengewirkt hat. um Kunstgeschmack und Tech¬
nik, Lithographie und Farbendruck bis zu diesem Gelingen zu fördern, so
werden wir mit Freude ein Buch in die Hand nehmen, welches seit Jahren
schon beim deutschen Publicum mit Recht als der sicherste und gemeinver¬
ständlichste Führer gilt durch die Jahrtausende menschlicher Kunstgeschichte.
Wir meinen den Grundriß der Kunstgeschichte von Dr. Wilhelm
Lübke. dessen fünfte, durchgesehene Auflage vor kurzem in dem Verlag
von Ebner u. seubert in Stuttgart erschienen ist. Der Verfasser hat
Recht, wenn er das Erscheinen fünf starker Auflagen von einem solchen Werke
in Deutschland in dem Zeitraum von zehn Jahren als einen ganz ungewöhn¬
lichen Erfolg bezeichnet." Und er hat als echter deutscher Forscher seinen Dank
dadurch in dieser neuesten Auflage zu erkennen gegeben, daß er auch die jung/
sten Forschungen auf allen Gebieten der Kunstgeschichte seinem Buche hat zu
Gute kommen lassen. Hieraus sind sehr wichtige Zusätze entstanden, nament¬
lich über Ninivitische Kunst, schärfere und detaillirtere Ausführungen über
den Entwickelungsgang der griechischen und altchristlichen Kunst, besonders
über die Kleinkünste bei den Germanen. Die Geschichte und Entwickelung
der Malerei und Plastik des Is. und 16. Jahrhunderts, in Italien wie im
nördlicheren Europa hat erhebliche Bereicherung und Ausführlichkeit erfahren.
Als besonders für Laien schätzbare Neuerung dieser Auflage verdient aber
hervorgehoben zu werden das Verzeichnis der sämmtlichen vorkommenden
Kunstausdrücke, welches die schon durch die gründlich gearbeiteten Register
erleichterte Orientirung in dem Haushalt und künstlerischen Handwerkszeug
des Buches wesentlich fördert. Die vortrefflich gelungenen Holzschnitte sind
jetzt auf 442 angewachsen; gewiß ein Anschauungsmaterial von seltener Voll¬
ständigkeit und Reichhaltigkeit! So möge denn die Gunst des deutschen Pu-
blicums auch die erneute Arbeit und Forschung des unermüdlichen Verfassers
reichlich lohnen!
Wer wollte bezweifeln, daß die jüngsten Jahrzehnte in gleicher Weise
wie für die Auffassung der Kunstgeschichte, auch für die Darstellung der
Liter« turgeschichte aller Culturvölker wichtig und epochemachend gewesen
sind. Vor allem aber gebührt das Lob unzweifelhaft den literarhistorischen
Studien unserer Tage, daß sie weit hinaustreten über jene engen nationalen
Gesichtspunkte früherer Zeiten, wo man die Literargeschichte des eigenen Vol¬
kes durch die Vorführung des Lebens, des Schaffens und Wirt'eus der be¬
rühmtesten Nationalschriftsteller, und allenfalls noch ihres Verhältnisses zur
antiken oder ausländischen Literatur zu erschöpfen meinte. Die moderne Zeit
arbeitet in der Erkenntniß, daß das geschriebene Wort und der gedruckte Ge¬
danke sofort Eigenthum der ganzen Welt wird, und sich nimmer fesseln
läßt an die Grenzen des politischen Staates, dem der Autor angehörte. Die
Wechselwirkung und gegenseitige geistige Befruchtung der Nationen, wie sie
Jahrhunderte lang zwischen dem Süden und Norden,' dem Westen und Osten
unseres Continentes stattgefunden hat. nachgewiesen zu haben, ist der größte
Triumph moderner Literaturgeschichte — denn sie wird dadurch zur Cultur¬
geschichte im besten Sinne deö Wortes. Das ist der hohe Gesichtspunkt, auf
welchem — wie diese Blätter früher schon eingehend nachgewiesen haben —
vor Allem Hermann Hettner's Literaturgeschichte' des achtzehn¬
ten Jahrhunderts steht, von der jetzt eben bei Friedrich Vieweg u. Sohn
in Braunschweig eine neue Auflage erschienen ist (die dritte Auflage vom
1. und 2. Theil, die zweite vom 3. Theil). Die großen Aufklärungskämpfe,
welche in England beginnen, von hier den Zündstoff zu unermeßlicher Ge¬
dankenumwälzung nach'Frankreich und von hier in erneuter Umbildung nach
Deutschland tragen, schildert Hettner's Werk. Von den Tagen Newton's an
bis zu Goethe's Sterben liegt in einer ununterbrochenen Kette vor uns die
Geistesarbeit der hervorragendsten drei europäischen Völker der letzten drei
Jahrhunderte, der Briten, der Franzosen, der Deutschen. Kein Wunder,
daß die verwandtesten Geisteskämpfe in allen drei Nationen in Wahrheit die
Moderne ^eit und den modernen Staat heraufführen.
So mag auch derjenige, der die Ungunst unsrer rein politischen Tage
gegen die Interessen und Forschungen der schönen Literatur für ein gesundes
Eymptom unsres neuerwachten Staatsbewußtseins erachtet. Hettners Buch
Mit reichem Nutzen zur Hand nehmen, denn es beschränkt sich nicht allein darauf,
nur der schönen Literatur während der letzten 200 Jahre bei den drei Völkern
nachzugehen, sondern es umfaßt das ganze Gebiet des schriftstellerischen
Schaffens in England. Frankreich und Deutschland, die Briefe des Junius
ebensowohl, als die Encyklopädisten und die Brandschriften der französischen
Revolution, die patriotischen Phantasien Mösers, und endlich die reinen
Jugendarbeiten von Görres und Gentz. Das Hettner'sche Werk ist also recht
eigentlich eine aus modernem Geiste geborene Gabe des metaphysisch-specula-
tiven 18. Jahrhunderts an unser praktisch-politisches, und häufig nur zu
materielles lsäculum. *)'
Wenn wir an Hettners Buch besonders rühmen konnten, daß es ein
gutes Stück internationaler Culturgeschichte enthalte, so ist in dem soeben bei
F. W. Grunow in Leipzig erschienenen ersten Bande des Werkes „Roß
und Reiter" von Max Jähns dagegen ein ungemein sorgfältig, gründlich
und vielseitig gearbeiteter Beitrag zur vaterländischen Kulturgeschichte
enthalten. Weit über den bescheidenen Titel hinaus reicht das umfassende
Auge des Autors. Ein guter Theil deutscher Sprachentwickelung, Sitte und
Volksweisheit, deutscher Göttergestalten und Sagenkreise, endlich deutschen Ge¬
müthslebens entrollt sich an dieser von dem Leben der Volksseele besonders
bevorzugten und bewahrten Doppelgestalt „Roß und Reiter." Für Germa¬
nisten ebenso wie für alle diejenigen Kreise, die aus Liebhaberei oder aus Be¬
ruf mit dem edelsten Freunde des Menschen aus der Thierwelt verkehren,
wird dieses Buch — dessen zweiter Band bald nachfolgen wird — eine reiche,
bleibende Quelle köstlicher Anregung und Belehrung bilden. Ihren ethisch-
culturhistorischen Werth eingehender zu schildern, behalten wir einer hierzu
ganz besonders berufenen Feder vor. Für heute mag genügen, noch darauf
hinzuweisen, daß der deutsche Kanzler die Widmung des Werkes angenommen
hat. —
Für Freunde reiner, fesselnder Unterhaltungslectüre an den Feiertagen
und langen Winterabenden empfiehlt sich endlich die im Verlage von Vel-
hagen und Klasing in Bielefeld und Leipzig erschienene Sammlung der
hervorragendsten Erzählungen, welche das „Daheim" in den jüngsten Jahr¬
gängen brachte, so namentlich die beliebten Novellen von Hans Tharan
(Amada, Kloster Roßdyk, Palette und Krone), die feinempfundene, die socialen
Conflicte unsrer Zeit edel und warm schildernde Erzählung „die Helden der
Arbeit" von Max V.Schlägel, endlich einen der besten historischen Romane
G. Hiltl's „der Sturz des Meisters. I, Der Münzthurm."
Mit Nx. A beginnt diese Zeitschrift ein Neues Quartal, welches
durch alle Buchhandlungen und Postämter zu beziehen ist.
Leipzig, im December 1871.Die Verlagshandlung
Ende des Jahres 1867 erschien ein Werk von David Strauß, das
wie einst sein Leben Jesu allgemeine Aufmerksamkeit erregte, und allgemeiner
Beachtung sich würdig erwies: das Leben Huttens in zwei Bänden rief damals
das Bild des streitbaren Ritters uns in lebendigster Weise in die Erinnerung
zurück. Es war ein stattliches Zeugniß wissenschaftlicher Forschung, gründlicher
Gelehrsamkeit und erfolgreicher Kritik, zugleich aber auch ein literarisches Denk¬
mal, in seinen gefälligen Formen und seiner kunstvollen Darstellung weiteren
Leserkreisen angepaßt und angemessen. Man kann sagen, mit herzlicher Freude
durfte man das Werk des bekannten Autors genießen.
Auch in den engeren Zirkeln der Fachgenossen erwarb Strauß mit dieser
Leistung sich Anerkennung und Ansehen. Es war kein kleines Verdienst, das
literarische Material zu solcher Arbeit gesammelt, zusammengetragen und ge¬
sichtet zu haben; fast auf jeder Seite der beiden gar nicht kleinen Bände
(373 und 377 Seiten) begegneten uns die Spuren solider Arbeit und ein¬
dringenden Forscherfleißes: wer immer mit der Geschichte des Humanismus
und der Reformationszeit sich beschäftigen wollte, fand sich durch Strauß' offen
dargelegte Arbeiten gefördert und unterstützt: in dem gelehrten Apparate des
Buches steckte ein großer Theil des Nutzens, den diese Forschung uns zu
bringen im Stande war. Dazu kam nun noch ein zweiter Umstand, der die
Leistung von Strauß in gutem Lichte uns zeigte. Fast zu gleicher Zeit mit
dem Leben Huttens trat Kampschulte mit dem 1. Bande seiner „Geschichte
der Universität Erfurt" hervor, einem Werke, das in der wissenschaftlichen Be¬
handlung der Reformationsgeschichte einen selbständigen Weg geht und zu den
schönsten Resultaten uns hinführt. Und siehe da, in einer der schwierigsten
Und verwickeltsten Fragen stimmen die beiden Autoren zu demselben Ender¬
gebnisse ihrer Untersuchung zusammen. Vollständig unabhängig von einander
Klangen sie über die soviel erörterte Autorschaft der c^pistollre od^urorum
Vü'orna im ganzen zu einem ähnlichen Urtheile: wenigstens im wesentlichen
erstreckte sich der Beifall, den man allgemein Kampschülte's Ausführungen
zollen mußte, auch auf Strauß' verwandte Resultate. Und die freudige An¬
erkennung, die man fast von allen Seiten der kräftigen, ächt deutschen und
ächt patriotischen Darstellung zollte, hob dieses Buch vor allen seinen Rivalen
in der Kenntniß des allgemeinen Publikums noch höher empor. In der That,
wir meinen der Biograph hat hier mit seinem Helden einige seelische Ver¬
wandtschaft; er ist beanlagt mit Hütten mitzufühlen und anzudeuten: er ist
der Mann, Huttens Charakter zu erfassen. Den kecken, zuversichtlichen dreisten
Ton Huttens, sein energisches Gefühl für Recht und Wahrheit, feinen haßdurch¬
glühten Zorn über die ultramontanen Papisten, seinen Enthusiasmus für die
deutsche Sache und die deutsche Freiheit, auch seine ablehnende Haltung gegen
den kirchlicheren Protestantismus, — alle diese Züge im Bilde Huttens prägt
Strauß deutlich aus: man fühlt, daß hier des Darstellers Herz von seinem
Gegenstande erwärmt und erfüllt ist. Und wenn Huttens ganzes Streben
mehr negative wie positive Seiten gehabt, wenn seine tumultuarischen Angriffe
auf die bestehenden Zustände als Zerstörer ihn gewaltig groß gezeigt haben,
wenn dagegen alles was vielleicht von positiven Zielen in Staat und Kirche
von ihm ausgesagt werden könnte, weit, sehr weit hinter seinen negativen
Verdiensten zurückbleibt, — wir fürchten nicht Strauß ein Unrecht zuzufügen,
wenn wir urtheilen, gerade dies Negative in Hütten mache ihm den Mann
so werth, auf das Positive entspreche es seiner eigenen Ansicht, gar nicht so
großen Nachdruck zu legen. Und wenn seine Kritik Huttens in diesem Punkte
lückenhaft geblieben, wenn oft der Biograph allzusehr sich mit dem Helden
selbst deckte, für viele seiner Leser war das eine Empfehlung des Buches! Wie
dem ober auch sein mag, unzweifelhaft ist die Harmonie der Auffassung, der
einheitliche Guß der Ausführung, die vollendete Kunst der Formung; und un¬
zweifelhaft ist auch der große und verdiente Erfolg dieser Darstellung gewesen.
Einwendungen gegen Einzelnes, Ausstellungen gegen die doch etwas allzu
einseitig biographische Behandlung des Stoffes wären allerdings zu begründen
gewesen: jedoch mußte die Freude an dieser Leistung mit Recht größer sein
als etwaiger Tadel: der in's Panegyrische oft sich erhebende Ton fand Nachhall
und Echo in dem Gefühle weiterer Kreise. —
Heute nach vierzehn Jahren erscheint dies uns schon bekannte und auch
schon liebgewordene Buch in neuem Gewände, in „zweiter verbesserter Auflage"-
Ist auch Geist und Charakter des Buches derselbe geblieben, so finden wir im
Aeußerlichen doch manches geändert. Der ganze gelehrte Apparat, ohne dest
die erste Auflage die Reise zu uns gar nicht hätte unternehmen dürfen, ist
jetzt weggefallen: „Diesmal durch kein Gepäck beschwert, tritt der Ritter seinen
zweiten Ausritt an." Inder zweiten Auflage ist das Ganze in einen Band
von 582 Seiten zusammengedrückt, also um etwa 170 Seiten verkürzt worden-
Möglich war diese Entlastung nur deshalb, weil inzwischen in den Jahren
1859 bis 1870 die große kritische Ausgabe der Werke Huttens, die wir Eduard
Böcking verdanken, vollendet worden ist. Das in der That ist ein Hülfs¬
mittel, eine Unterlage, wie sie wohl selten einem Historiker bei seiner Arbeit
zu Theil wird: das gesammte Material, kritisch untersucht und kritisch zu¬
gerichtet, ist dort aufgeschichtet; man braucht nur zuzulangen, um der schönsten
greifbarsten Früchte sich zu bemächtigen. Diese zweite Auflage ruht ganz
auf den Schultern Böckings; und gerade durch dies Verhältniß erschließt sich
uns das rechte Verständniß für die Dankbarkeit, zu welcher Strauß schon bei
der ersten Auflage gegen Böcking sich verpflichtet bekannt hatte. „Seinen
ganzen reichen Huttensapparat, bestehend neben manchem bisher ungedruckten
oder verschollenen Stücke in Exemplaren oder Facsimile's sämmtlicher ersten
und einer beinahe lückenlosen Reihe der späteren Ausgaben von Hutten's
Schriften, einer Sammlung der Werke derjenigen seiner Zeitgenossen, die in
irgend einem Bezüge zu ihm standen, wie aller erheblichen Schriften oder
Aufsätze über Hütten, — dies, und was nicht weniger ist, den Schatz seines
Wissens, die Ergebnisse seiner Forschungen über Hütten und seine Zeit, hat
mir Böcking mit einer Neidlosigkeir. einer Liberalität zur Verfügung geht.lit,
für welche ich meinen Dank selbst als ungenügend empfinde." Es ist der
richtige Ausdruck dieses Verhältnisses, daß jetzt Strauß an die Stelle seiner
früheren Anmerkungen einfache Hinweise auf Böcking's Ausgabe gesetzt hat.
Ja, er ist darin ein Stück weitergegangen, als gerade nöthig gewesen wäre;
auch alle Citate aus der früheren Literatur sind jetzt gestrichen, und die Citate
aus anderen Sammlungen, z. B. ans der Briefsammlung Luthers oder aus
dem Oorpus Ilelvrnmtorum, sind hier in solche uns Böcking ungeschrieben
worden. Das ist ja das Eigenthümliche jener Böcking'schen Arbeit: alles in
der zeitgenössischen Literatur und Correspondenz, was in irgend einer Beziehung
zu Hütten steht, ist von ihm zusammengestellt und abgedruckt worden : so war
es Strauß möglich, überall auf diesen seinen Wegweiser sich zu beziehen. Wie
gesagt, äußerlich ist jetzt erst das Verhältniß von Strauß und Böcking zu
dem richtigen und bezeichnenden Ausdruck gebracht.
Die erste Auflage war durch eine Vorrede eingeleitet worden, die zu den
charakteristischsten Producten aus Strauß' Feder gehört: sie hatte ganz beson¬
ders damals 18S7 eingeschlagen und, wir reden aus eigener persönlicher Er¬
innerung, uns mit ihren kräftigen und starken Tönen im Innersten ergriffen.
Diese Vorrede hat Strauß jetzt weggelassen, und, dem Wechsel der Zeiten
folgend, dafür eine andere Anrede an seine Leser gebracht, die freilich in kei¬
ner Weise auch nur entfernt sich mit der früheren zusammenhalten läßt. Auch
das ist nur natürlich. In unserer Gegenwart gilt es vor allen anderen
Dingen aufzubauen, Positives zu schassen: in unserer Gegenwart kann Hütten
uns kaum ein Vorbild oder ein Mahner sein. Ein Mann, dessen Stärke und
dessen Verdienste so gut wie ganz in der Negative sich erschöpfen, ist nicht
der geeignete Pathe bei unserem heute erwachten nationalen Leben. Luna
euicsu»! Huttens Andenken wollen wir anrufen, wo es zu zerstören gilt: nicht
für alles und jedes ist er uns als Vorbild vorzuhalten! Natürlich, unsere Be¬
merkungen zielen nicht darauf hin, als ob die Erneuerung der Huttenbiogra-
phie uns nicht am Platze zu sein schiene; nein, wir glauben damit nur die
Erklärung zu geben für diese neue wenig zeitgemäße und allzu gekünstelte
Einführung, wie sie Strauß der neuen Auflage mitgeben zu sollen für passend
erachtet hat.
Daß Strauß von den Fortschritten der wissenschaftlichen Arbeit auf
jenem Gebiete mehr als nur oberflächliche Notiz genommen hat, das tritt
an sehr vielen Stellen des Buches zu Tage. Eine gründliche Revision hat
er durchgeführt. Sowohl die kritischen Arbeiten Böckin g's als die scharf¬
sinnigen und in verschiedenen Richtungen durchgreifenden Untersuchungen
Kamp schulte's boten Anlaß und Stoff zu Ergänzungen und Berichtigun¬
gen in manchem Detail. Nachdem wir einer genauen Vergleichung die beiden
Auflagen unterzogen haben, können wir versichern, daß mit Sorgfalt und
Gewissenhaftigkeit Strauß die bezeichneten Arbeiten zu seiner zweiten ver¬
bessertem Auflage benutzt, daß er mit Bereitwilligkeit manchen Irrthum der
ersten Ausgabe beseitigt und gerne und rückhaltlos in mancher streitigen
Frage Belehrung von Anderen angenommen hat. Hier ist nicht der Ort,
kleine Details noch weiter zu berichtigen: merken wir nur das Eine an, was
in beiden Auflagen uns falsch zu sein scheint: (früher I. 226, jetzt S. 173)
der Adressat des hier benutzten Briefes Hutten's ist nicht Adrian von Uetrecht,
der spätere Papst Adrian VI., sondern Cardinal Adrian von Corneto, ein
bekannter Gönner und Beschützer Reuchlin's und der deutschen Humanisten.
Einzelnes aus der neueren Literatur scheint auch Strauß entgangen zu
sein: so vermissen wir die Benutzung einiger in den letzten Jahren erschienenen
Dissertationen, z. B. über Hoghstraaten, über Hermann vom Busch u. dergl.
Dagegen hat er von dem lehrreichen Buche von Geiger über Reuchlin noch
Gebrauch machen können. Kurz, der Forschung Anderer ist Strauß im Gan¬
zen aufmerksam gefolgt und hat seinen Entwurf mit guter Benutzung dessen,
was Andere geleistet, im Einzelnen verbessert.
In allen für die Auffassung Hutten's entscheidenden Puncten konnte
Strauß bei seinem früheren Urtheil verbleiben. Da ihm durch Böcking's
Liberalität auch früher schon das hauptsächlichste Material zugänglich gemacht
war, vermochte er damals schon die Grundlinien seiner Charakteristik richtig
zu zeichnen: zu einer irgendwie bedeutenderen Aenderung war für ihn also
kein Grund vorhanden. Eine sehr competente Stimme hatte sich früher dahin
geäußert, daß in der Controverse über die Dunkelmännerbriefe der größere Um¬
fang, in welchem Kampschulte seine Studien betrieben, in den von Strauß
abweichenden Puncten jenem das Uebergewicht verschafft habe. Es erfreut zu
sehen, daß Strauß selbst, nachdem er Kampschulte's Forschungen seinerseits
zu verwerthen im Stande war, die Streitpuncte meistens dadurch aus dem
Wege räumt, daß er sich jetzt an Kampschulte anschließt. Außerdem war von
derselben Seite, und mit vollem Rechte wie wir glauben, bemerkt, daß Strauß
den Antheil Hutten's an Luther's Auftreten im Jahre 1520 vernachlässigt
habe, obwohl das unleugbar der bei weitem folgenreichste Theil seiner ganzen
Wirksamkeit gewesen sei. Die Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen des
seltsamen Triumvirates — Hütten, Crotus, Luther — die agitatorische
Wirksamkeit dieser so ungleichen Naturen, die damals auf denselben Ton ge¬
stimmt waren, dies merkwürdige Bild, von dem freilich die üblichen Darstel¬
lungen der Reformation in theologischen Händen kaum eine Ahnung zusahen
scheinen, dies war durch Kampschulte 1860 gewissermaßen neu entdeckt, jeden¬
falls von ihm zuerst erfolgreich bewiesen worden. Auch Strauß hat sich
diesem neuen Lichte zugänglich gezeigt: die früher getadelte Lücke seines Buches
füllt er jetzt theilweise aus; und im Anschluß an Kampschulte, wenn auch
ausdrücklich Strauß dies hervorzuheben unterläßt, stellt er jetzt Luther und
Hütten in ein präciser formulirtes Verhältniß zu einander. Eine Anzahl von
Einschiebseln und Zusätzen zu dem früheren Texte, z. B. S. 306, 308, 327.
336 u. s. w., verdanken diesem Umstände ihren Ursprung.
Jene Jahre, in welchen Hütten und Luther auf dasselbe Ziel hinzuarbei¬
ten schienen, die Jahre 1520 und 1321, sie bilden den Höhepunct des Hutten-
schen Lebens: alles, was er wollte und dachte und vermochte, vereinigt sich in
dem Brennpuncte jener Tage; und der Wormser Reichstag im Frühjahr 1521
enthält die eigentliche Krisis seines Lebens: bis dahin geht es fröhlich bergan
mit seinem Streben und seinem Thun; von da ab fällt er mehr und mehr in
Bedeutungslosigkeit und Unfruchtbarkeit herab. Strauß hat den aufsteigenden
Theil dieses Lebens mit einer solchen Kunst und einer solchen Ueberzeugungs¬
kraft geschildert, daß jede nachfolgende Darstellung an ihn sich anzuschließen gut
thun wird. Fraglicher dagegen erscheint uns, ob den jähen Wechsel, der
"ach der Katastrophe von 1521 eingetreten ist, Strauß genügend betont und
den matten und traurigen Auslauf des so stolz und hoffnungsvoll begonne¬
nen Lebens wirklich erschöpfend erklärt habe. Jener Wormser Reichstag ent¬
halt mehr als die Entscheidung über Hutten's Lebensgeschick, er enthält auch
mehr als jene welthistorischen Scenen, die Luther's Namen unsterblich ge¬
macht haben: er enthält die Lösung der nationalen Zukunft von Deutschland
tur die nächsten Jahrhunderte. Hutten's Schicksal ist freilich ein kleines neben
^eher ungeheueren Entscheidung; aber das kleine Ereigniß wird erst dann
recht begriffen, wenn es in dem Zusammenhang des Großen angeschaut wird.
Gerade bei diesem Abschnitt muß man bedauern, daß Strauß seine Er¬
zählung allzusehr auf die Huttenbiographie einschränkt.
Ja, ein böser Zufall hat verschuldet, daß etwa ein halbes Jahr zu
früh die zweite Auflage vollendet ist. Die Berichte des päpstlichen Nuntius
Ale an der, deren Publication kürzlich erfolgt ist,") würden dem Biographen
Hutten's noch werthvolles Material zugeführt haben; und gerade in der eben
bemerkten Richtung würde vielleicht Strauß selbst zu einer Vervollständigung
oder zu der nöthigen Vollendung seiner Arbeit durch sie veranlaßt worden
ein. Erörtern wir ganz kurz die Tragweite dieser neuen Quelle für die uns
interessirende Frage.
Welche Entwickelung Hütten bis dahin durchgemacht, ist bekannt. In
der Schule der damals frisch erblühenden humanistischen Bildung war Hütten
erzogen und herangewachsen: in diese Welt antiker Studien hatte er sich aus
dem Kloster geflüchtet, in Deutschland und in Italien lernend und dichtend
sich umhergetummelt, ein halb ritterlicher, halb literarischer Streiter, der nach
verschiedenen Seiten hin gerade in literarischer Polemik seine Befriedigung ge¬
funden. Eine eigentlich praktische Lebensaufgabe hatte er sich nicht gestellt:
obwohl arm an Mitteln und reich an Bedürfnissen des Lebensgenusses, war
ihm doch möglich, seine Freiheit sich zu bewahren und nur den allgemeinen
Tendenzen der Aufklärung und Bildung in einer äußerlich wenig gebundenen
Stellung zu dienen. In allen seinen Schriften hatte sich ein feuriger, leiden¬
schaftlicher Geist offenbart, ein hoher und starker Patriotismus, ein erregtes
und begeistertes Pathos: einerlei, was im einzelnen Falle gerade das Object
seiner Schriftstellern sein mochte, ein allgemeiner Zug nach Freiheit ist überall
das charakteristische Merkmal. Als die deutschen Humanisten alle ihre Waffen
und ihre Künste aufboten, dem von den Dunkelmännern befehdeten Reuchlin
beizuspringen und eine öffentliche Meinung zu seinen Gunsten gegen Domini¬
kaner und Ketzerrichter zu schaffen, da stand Ulrich von Hütten in der ersten
Reihe der Kämpfer; mit Spott und mit Ernst trat er für Reuchlin ein: die
massivsten Keulenschläge auf die Finsterlinge kamen von ihm. Schon in
diesen Händeln hatte sein Geist die definitive Richtung gegen die in der da¬
maligen Kirche herrschenden Gewalten erhalten. Und mit dieser Gegnerschaft
verband sich auf das Natürlichste in ihm sein patriotisch deutsches Gefühl:
von der beschämenden und das geistige Leben erdrückenden Knechtschaft der
Deutschen unter der italischen Geistlichkeit, von dem Joche Roms seine
Nation frei zu machen, das wurde sein Schlachtruf. In den Ereignissen und
in den Schriften der Jahre 1516, 1617, 1518 hatte sich dies Programm
Hutten's ausgebildet und entwickelt: es zu verwirklichen, versuchte er auf
mächtige Persönlichkeiten der officiellen Welt sich Einfluß zu verschaffen. Nicht
selbst zur Leitung einer politischen und nationalen Action hielt Hütten in
erster Linie sich für geeignet: seine Aufgabe schien vielmehr, einmal die öf¬
fentliche Meinung zu bearbeiten oder erst zu schaffen, und dann geeignete
Persönlichkeiten zur nationalen That aufzufinden, anzuspornen, vielleicht auch
zu leiten: auf den Erzbischof-Kurfürst Albrecht von Mainz, und nachher auf
den Ritter Franz von Sickingen hatte er es dabei abgesehen: ja durch sie
hoffte er endlich zu dem Träger der Kaiserkrone sich einen Zugang zu eröff¬
nen. Konnte er in dieser indirecten Weise die höchste Vertretung der deut¬
schen Nation mit seinem nationalen Gedanken inspiriren, — dann in der
That wäre sein kühnstes Hoffen erfüllt, und seines Lebens Inhalt einer der
ehrenvollsten Ausschnitte unserer Nationalgeschichte geworden!
Hütten ist in den Schriften dieser Periode für uns der glücklichste und
der vollste Ausdruck derjenigen Tendenzen, welche in den weitesten Kreisen des
damaligen Deutschland verbreitet waren. Seine Schriften können uns dje
nationalen und humanistischen Wünsche jener Zeit, die Anschauungen einer
großen Partei darstellen.
Strauß hat Inhalt und Tragweite dieser Schriften gut entwickelt und
uns deutlich gezeigt, wie Hutten's Auffassung und Formung derselben gewesen.
In wie weit Hutten's literarische Thätigkeit den Tendenzen weiter ausgedehn¬
ter Kreise gedient, das allerdings kommt bei Strauß nicht zu genügendem
Ausdruck. Wir erfahren lange nicht genug von dem Zusammenhange Hut¬
ten's mit den Anderen: seine Persönlichkeit und seine Produkte sind doch noch
viel zu sehr als isolirte Erscheinungen behandelt. Daß Hütten mitten in
einer politischen und socialen, kirchlichen und geistigen Revolutionsbewegung
gestanden, wird dem Leser nicht nachdrücklich genug in's Bewußtsein ge¬
rufen.
Ueberhaupt, aus keiner der vielen Darstellungen jener Jahre 1519 bis
1525, die unsere Literatur schon besitzt und wenigstens theilweise auch zu ihren
Zierden rechnen darf, läßt sich ein vollständiges Bild von der ungeheuerm
Erregung gewinnen, die damals alle Lebensverhältnisse ergriffen hatte. Der
ganze Boden, auf dem das Leben der damaligen Menschen ruhte, erzitterte in
seinen Tiefen von neuem Geiste erfaßt. Die ganze Atmosphäre der damaligen
Welt war mit neuen Strebungen und neuen Ideen geladen: hin und her
kochte und wogte und gährte es im damaligen Deutschland. Immer lauter
erhob man den Ruf nach Reform von Kirche und Staat, einer Reform an
Haupt und Gliedern: und immer besorglicher mußte den Vertretern des
gegenwärtigen Zustandes die Zukunft erscheinen: immer näher prophezeiheten
aufmerksame Beobachter den Ausbruch der deutschen Erhebung: immer hef¬
tiger und immer lebendiger drängten Einzelne auf die große Revolution hin:
Hütten stand in der ersten Reihe dieser neuerungslustigen, umsturzgierigen
Köpfe. Endlich im Juli 1519 siel der zündende Funken in diese Massen:
die Leipziger Disputation zwischen theologischen Gegnern entschied den Aus¬
bruch. Und nicht der Humanist, sondern der Mönch wurde der Bahnbrecher
der neuen Zeit. Aber beide, der streiteifrige Ritter und Literat und der reli¬
giös erregte Mönch und Professor, sie haben sich bald verstanden; sie haben
bald zur Durchführung der neuen Ideen, das heißt zur Revolution, sich die
Hände gereicht.
Es ist ein merkwürdiger Moment auch im Leben Hutten's. Aus seiner
früheren Zeit wird Niemand jemals unternehmen können oder wollen, ir¬
gend ein näheres Verhältniß dieses geistreichen Mannes zur Religion, irgend
welche religiösen Bedürfnisse oder Motive bei ihm aufzuweisen. Gegen die
Vertreter der Kirche in Deutschland hatte er geschrieben, weil sie die neue
Bildung zu hindern Lust gezeigt hatten: gegen die italische Geistlichkeit, gegen
das römische Papstthum hatte ^ er seine ironischen und satycischen Pfeile ge¬
schleudert, weil jene dem deutscheu Freiheitsgefühle, dem deutschen National¬
bewußtsein Hohn sprachen: nirgendwo aber war ein eigentlich religiöses Ge¬
fühl durch ihn berührt oder die religiöse Seite dieser Fragen von seinen Er¬
örterungen getroffen worden. Nun aber war Hütten sofort zur Allianz mit
einem der religiösesten Menschen, die jemals gelebt haben, entschlossen; nun
traten religiöse Motive in seinen Gesichtskreis hinein und nahmen in seinen
Schriften einen großen Raum für sich in Anspruch; nun wurde Hütten, der
religionslose Agitator, einer der Vorkämpfer der Kirchenreformation in
Deutschland!
Auch Luther hatte seit der Leipziger Disputation den engen kirchlichen
Gesichtskreis, in dem er bis dahin gelebt, überschritten. Wer hätte 1518 noch
außerhalb der gelehrten oder kirchlichen Kreise sich für seinen literarischen
Handel mit anders denkenden Theologen interessirt? Sein Protest gegen die
Praxis der Kirche, sein literarischer Streit über dogmatische Theorien konnte
bis dahin die deutsche Nation noch nicht erregen. Seit Leipzig wurde das
anders. Da hatte er dem römischen Kirchenthum abgesagt, da hatte er die
principiellen Fundamente der mittelalterlichen Kirche verwegen und tollkühn
zu untergraben gewagt; da hatte er den Punkt getroffen, der die nationalge¬
sinnten Aufklärer ansprach; und da wurde aus dem „Mönchsgezänke", aus
der theologischen Fehde die Angelegenheit der deutschen Nation: da schwang
Luther kühn das Banner, unter dem die Männer des neuen geistigen Prin¬
cipes sich sammeln konnten. Sie traten, Einer nach dem Andern, auf seine
Seite: wiederum war Hütten einer der ersten und entschlossensten der Huma¬
nisten, die sich neben Luther stellten. Vom Herbste 1319 bis ins Frühjahr
1521 entfaltete jetzt Hütten eine fast unglaubliche Rührigkeit und Thätigkeit.
Schlagfertig und geschickt verwerthete er die alten und die neuen Waffen im
Streite wider Rom: Niemand war besser und schneller im Stande, das neue
Evangelium in praktische Sätze zu kleiden, es den Massen mundgereckt zu
machen und die religiöse Bewegung für die Sache der allgemeinen Revolution
zu benutzen. Die weltlichen oder nationalen Momente der Opposition gegen
das Bestehende fügte er recht erfolgreich hinzu zu dem religiösen Gefühlsim¬
pulse, dem Luther in einer niemals übertroffenen Weise Ausdruck gegeben, Und
auch Luther lernte von Hütten. Daß der radicale Ton in Luthers Schriften
aus dem Jahre 1520 vielfach auf Huttens Borbild und Hultens Einwirkung
zurückgeführt werden muß, das kann heute keinem Zweifel mehr unterliegen.
Und auch das dürfte nicht in Frage gestellt werden, daß gerade damit Luther
auf das deutsche Volk seine große Wirkung erzielt, daß er gerade durch die
Verbindung des oppositionellen und nationalen Zuges mit dem religiösen
Elemente, wie sie in den Schriften dieses Jahres 1520 zu Tage kommt, seine
Popularität sich errungen und seinen Anhang allenthalben durch die deutschen
Lande vermehrt hat.
So war man 1520 am Vorabende einer großen nationalen Entscheidung
angelangt. Ein Mann wie Hütten konnte im Vollgefühle so großer Dinge
schwelgen, er durfte jubeln: „es ist eine-Freude zu leben!" Mächtig war die
Bewegung, der er diente, angewachsen; stets neue Zuflüsse schwellten ihren
Strom, — und an Hoffnungen mangelte es nicht, daß der deutsche Kaiser
selbst sich und sein Schifflein diesen Fluthen anvertrauen werde. Welch ein
Moment! Auf den neuen Herrscher, Karl V., setzte man noch die Erwartung,
daß er die Sache der allgemeinen Reform der deutschen Angelegenheiten in die
Hand nehmen wolle. Zu seiner Erhebung auf den Thron von Deutschland,
in! Juni 1519, hatte ja gerade der populäre Trieb nicht unwesentlich mitge¬
wirkt; wer und welche Richtung sein junges Leben führen werde, war damals
"och nicht ausgemacht; und gerade weil seiner auswärtigen Politik große und
schwierige Aufgaben gestellt zu sein schienen, gerade deshalb konnte man den-
^'n, er würde den nationalen Parteiwünschen sich fügen. Auf dem ersten
NmlMag, der in den ersten Monaten des Jahres 1521 in Worms zusam¬
menkam, mußte die Situation sich klären.
Allerdings lagen schon einzelne Anzeichen dafür vor, daß Karl in der
Religiösen Angelegenheit nicht Luther's Programm von 1520 realisiren wolle,
^le officielle Kirche und das Papstthum hatten Luther natürlich schon ver¬
worfen: von dieser Seite drohte Luther sowohl als seinen Anhängern und
Grossen das Schlimmste. Aber nach dieser Seite neigte sich auch, soviel man
damals schon sehen oder voraussetzen konnte, Persönlichkeit und Politik des
jungen Kaisers.
Nichtsdestoweniger hofften die Humanisten noch immer auf eine mögliche
Wendung zu ihnen: sie drängten mit Vorschlägen, mit Gutachten und Schriften
sich an ihn heran. Ja es sah so aus, als ob auch gegen Karls Willen die
Bewegungspartei, so sehr sie für das Kaiserthum schwärmte, ihre Gedanken
zu verwirklichen beabsichtige: eine revolutionäre Erhebung der Nation, falls
der Kaiser sich den nationalen Wünschen entgegensetzen wollte, stand in Aussicht.
Und Hütten war der Mann, der alles zum Ausbruch, zur Entscheidung zu
bringen wiederholt versprochen hatte.
Bon der ungeheueren Erregung des deutschen Volkes in jenen Tagen
legen heute die oben erwähnten Depeschen des römischen Nuntius ein neues
Zeugniß ab. Aleander sah, daß jetzt in Deutschland sich die Anhänger
Reuchlin's und Erasmus' mit den Freunden Luthers verschworen hatten ; gleich¬
zeitig aber unterschied er sehr deutlich und bestimmt die nationale, antirömische
Erregung von der eigentlich religiösen Frage; immer und immer wieder drängt
er darauf, daß man den berechtigten Factor des deutschen Nationalgefühles
anerkennen, alle Mißgriffe vermeiden, alle Mißbräuche der kirchlichen Praxis
abstellen müsse: nur indem man in dieser Weise die lutherische Ketzerei isolire,
würde man sie überwältigen und ausrotten können. Gegen Hütten richtete
sich dabei sein heftigster Zorn, Huttens Drohworte hatten ja auch die persön¬
liche Sicherheit Aleanders auf seiner deutschen Reise angegriffen: von allerlei
Anschlägen, von allerlei Aufruhrgedanken Huttens erfuhr Aleander. Während
des Reichstages saß Hütten bei Sickingen auf der Ebernburg, unweit von
Worms, wie auf einer Warte, um den Vorgängen auf dem Reichstag zu
folgen, den geeigneten Augenblick zum Losschlagen zu erspähen und das Signal
zu geben zur gewaltsamen Erhebung.
Von Woche zu Woche steigerte sich während des Reichstages die Auf¬
regung. Man sah ein, nicht mehr um Luther allein, sondern um einen Um¬
sturz, eine radicale Aenderung aller Verhältnisse in Staat und Kirche handelte
es sich, ja Aleander in seiner kühlen Erwägung und Berechnung der wirk¬
lichen Lage der Dinge glaubte zu wissen: neun Zehntel des damaligen Volkes
ständen auf Seiten Luthers, und das zehnte Zehntel sei auch antirömisch ge¬
sinnt. Als Führer der Neuerung galten ihm Luther und Hütten: den Vor¬
kämpfern christlicher Freiheit, ein-istnun« lidertAtis ?ropuFimt.0i'idu8, beiden
gemeinsam waren bildliche Darstellungen gewidmet: Luther mit einem Buche,
Hütten mit einem Schwerte, so sah der Nuntius sie ihren Verehrern vorge¬
stellt. Von Hütten wurde ihm die Aeußerung erzählt, wenn Luther tausend¬
mal getödtet sei, so würden dafür hundert neue Luther aufstehen: man arg¬
wöhnte. Huttens Ehrgeiz wünsche die erste Rolle sich selbst zuzutheilen, wenn
nur das Volk ihm so wie Luther anhängen wollte. Auf Sickingen zählte
die revolutionäre Partei als auf ihren Führer zur That; heimlich hoffte man
aber noch manche der großen Fürsten auf seiner Seite zu haben. Genug, zur
Revolution schien Alles reif zu sein. Oft geschildert ist der Jubel, mit dem
das Volk allenthalben Luther auf seiner Reise zum Reichstag begrüßte: schon
daß man ihn dorthin gerufen, faßte man als gute Vorbedeutung auf. An
Zuspruch, an Ermunterung fehlte es Luther nicht: ihm wuchs der Muth,
seinen Freunden die Zuversicht, daß man einer guten Entscheidung sich
nahe.
Die kaiserliche Staatskunst war nicht ohne Besorgniß solchen Ereignissen
gegenüber. Man sah sich in Worms einem Handstreiche der Umsturzpartei
ausgesetzt; man war nicht mächtig genug, mit Gewalt diese Verhältnisse zu
beherrschen und die Gegner nieder zu halten: man mußte „temporisiren."
Einen Augenblick dachten gerade die ernsten kirchlichen Spanier daran, zur Re¬
form der allgemeinen Kirche die deutschen Wirren zu benutzen: eine Anknüpfung
sogar mit den Häuptern der Bewegung hat der kaiserliche Beichtvater gewagt.
Das erwies sich bald als eine Illusion. Und mochte nun auch des jungen
Kaisers Sinn auf rasche und energische Beendigung der kirchlichen Controverse
sich richten, es war unmöglich, dort in Worms den geraden Weg zu diesem
Ziele zu gehen. Man begnügte sich einstweilen mit dem bekannten Wormser
Edicte; man ließ zunächst die deutschen Dinge laufen, und hoffte von der
Zeit die Lösung des in Worms ungelösten Problemes. Es ist hier Nicht der
Ort, den Erwägungen und Manövern, den Aufgaben und den Resultaten
der kaiserlichen Politik Karls V. weiter nachzugehen.
Hier erhebt sich für uns aber noch eine andere Frage. Jenes Drängen
der Revolution, jener Anschlag Huttens: was ist aus allen diesen Plänen ge¬
worden ? Ungern hatten die Kaiserlichen Luther von Worms wieder heimkehren
lassen, sie hatten aus Scheu vor der populären Leidenschaft, aus Rücksicht auf
Sickingens und der Seinen drohende Haltung, vielleicht auch unter dem Ein¬
druck von Huttens unheilschwangeren Brandschriften nicht den Hanostreich ge¬
sagt, der den Knoten zerschnitten. So viel wenigstens war erreicht. Aber
Waren außerdem alle die Gerüchte der bevorstehenden allgemeinen Revolution
übertrieben? waren es nichts als leere Worte, die Hütten in die Welt ge¬
schleudert? Einen dunklen Punkt in diesen Geschichten, in Huttens Leben be¬
rühren wir mit dieser Frage. Genug, es kam damals zu nichts. Hütten
schmähete und donnerte und drohte, — ohne daß die pomphaft angekündigte
That folgte. Seine Gegner haben gewiß nur allzusehr Recht mit ihrem Ur¬
theile, — der Historiker wird es unterschreiben müssen — Hütten gehört zu
^'n „Hunden, welche bellen, aber nicht beißen."
Das Gewitter, das über Deutschland geschwebt, hatte sich nicht entladen.
Die Wolken zertheilten sich, und erst später an verschiedenen Stellen und in
verschiedenen Schlägen erfolgte das, was man im Frühjahr 1521 zu erwarten
sich berechtigt gehalten. Aber gering sind die Resultate geblieben, welche den
vereinzelten späteren Unternehmungen zu Theil wurden. Es war eben der
richtige Moment zur allgemeinen That verpaßt.
Es würde sich wohl lohnen, einmal ernsthaft die Frage ins Auge zu
fassen, weshalb die revolutionäre Action, deren Herannahen man die letzten
Jahre hindurch deutlich fühlen konnte, schließlich doch ausgeblieben ist. Wir
meinen, nicht ungerechtfertigt ist der Tadel, den seine Freunde über Hütten
ausgesprochen haben: die Erwartungen, die man in ihn gesetzt, die er selbst
anzuregen und zu pflegen nicht unterlassen hat, diese Erwartungen eines
handelnden Patrioten hat Hütten auf die schlimmste Weise getäuscht.
Schwer hatte sein Ansehen und sein Ruf gelitten; viele seiner Freunde
wandten sich von ihm ab: seine verdrießlichen Händel mit Erasmus verbesserten
seine Lage nicht. Und so war ihm schließlich nichts übrig geblieben, als in
die Fremde zu fliehen, und — ein gebrochener Mensch, — dort seinen Tod
zu erwarten: schon im Herbst 1523 ist er seinem alten Uebel, der Lustseuche,
erlegen.
(Repertorium des deutschen Reichstages. Unter Leitung des Dr. Ludwig
B am berger, Mitglied des Reichstags, bearbeitet von A. Teich¬
mann. Erster Band: Thronrede, Adreßdebatten —> Wahlprüfungen —
Verfassung des deutschen Reiches und Gesetzentwürfe. Berlin. Verlag v. I-
Guttentag. 1871.)
Es ist bekannt, daß aus Anlaß eines von dem Abgeordneten Bamberger
in einer der letzten Neichstagssessionen gestellten Antrages lebhafte Beschwerden
über die Zeitungsberichte laut wurden. Mit Ausnahme eines Abgeordneten,
welcher das Lob der „Kölnischen Zeitung" sang, welche ihm eine besondere
Aufmerksamkeit erweise, war alle Welt darüber einverstanden, daß diese Be¬
richte kein getreues Bild von den Verhandlungen geben.
So einstimmig man aber auch hierüber war, so sehr war man abweichender
Meinung in Betreff der Ursachen dieses Mißstandes und der Mittel, ihm ab¬
zuhelfen.
Ameyer sagte: „Die Reporter sind schuld daran, es fehlt ihnen allzusehr
an positiven Kenntnissen, deshalb geben sie nur die Schlagworte wieder, aber
nicht die sachlichen Discussionen und Deductionen, woraus demnächst die
Gesetze zu interpretiren sind und woraus allein überhaupt was zu ler¬
nen ist."
„Nein", sagt Bemeyer, „es fehlt den Reportern durchaus nicht an den
nöthigen Kenntnissen. Aber man verlangt von ihnen Dinge, welche mensch¬
liche Kräfte weit übersteigen. Sie sitzen an einem Orte, wo man nichts hört
und wo es, namentlich bei Abendsitzungen, kaum auszuhalten ist vor Luft¬
verpestung und Hitze. Dann ist da keine Arbeitstheilung. Jeder soll Alles
verstehen. Der Bericht soll Alles enthalten und doch möglichst kurz sein. So
verlangen es die Zeitungen. Und dabei bezahlen sie obendrein so schlecht.
Nein, die Reporter leisten das Menschenmögliche. Jedenfalls ist ihre Leistung
besser, als die Gegenleistung, d. h. die Bezahlung. Die Eigenthümer und
Redacteure der Zeitungen sind schuld daran; sie behandeln die Sitzungen des
Reichstages en daMtollö. Jede unbedeutende Correspondenz, jeden langath-
migen Leitartikel, den kein Mensch liest, stellen sie höher. Auch sind sie
Parteiisch."
„Ja, lieber Freund", sagt Cemeyer, Du kannst alle fünf Welttheile durch¬
wandern, bevor Du eine wirklich unparteiische Zeitung findest. Wenn sie sich
für unparteiisch ausgibt, dann ist das Verstellung. Dann dient sie auf der
Reihe herum verschiedenen Interessen, die nicht immer mit einander Harmo¬
niren. Das verwirrt aber die Leser weit mehr, als active, klare Parteinahme.
Denn bei dieser weiß man, woran man halt. Wäre eine Zeitung wirklich
völlig parteilos, dann würde sie, schon ihrer Langweiligkeit halber, kein Sterb¬
licher lesen. Wer einen vollständigen Bericht haben will, der muß zwei Zei¬
tungen neben einander halten, etwa die „Kölnische", welche die liberalen, und
die „Kreuzzeitung", welche die konservativen Reden ausführlich wiedergibt.
Dann kämen höchstens etwa die Klerikalen zu kurz."
„O, die am allerwenigsten", ruft wieder Ameyer, „für die haben die Re¬
porter ein ganz besonderes Faible. Die Reden von Windthorst werden am
allerausführlichsten wiedergegeben, obgleich sie sehr häufig sehr lang und sehr
inhaltlos sind und sich ewig wiederholen. Die von Bebel desgleichen.
Warum? Weil es blos Schlagworte, Schnurrpfeifereien und schlechte Witze
find. Das ist leicht aufgefaßt und leicht wiedergegeben. Ich sage Ihnen des¬
halb, die Schuld tragen doch die Reporter."
„Dummes Zeug", brummt Bemeyer, glauben Sie mir, die Reporter
sind vollständig unterrichtet. Es fehlt nur noch, daß man ihnen einen besse¬
ren Platz anweist, und daß man ihnen die stenographischen Berichte schneller
und besser zugänglich macht. Im Uebrigen ist nicht zu leugnen, daß sie
manchmal jenen Nebendingen mehr Platz einräumen, als den Haupt¬
sachen. Aber so will es das Publicum, so will es der Reichstag. Lacht
dieser nicht bei Windthorst's sogenannten „Witzen?" Lauscht er nicht andächtig
den Plattitüden Bebel's? In England würden beide vor lauter Privat-
Conversationen kaum zu Worte kommen."
„Das mag sein", antwortet Ameher, „aber gerade deshalb muß man
einschreiten. Der Reichstag muß selbst für einen unparteiischen und voll¬
ständigen Bericht sorgen."
„Den haben wir ja", erwidert Bemeyer, „das ist das officielle stenogra¬
phische Protocoll; aber das liest kein Mensch, weil es zu langweilig ist und
zu spät kommt."
„So meine ich es auch nicht", replicirt Ameyer, „ich meine einen Bericht
der noch am Tage der Sitzung fertig gestellt wird und den dann alle Zei¬
tungen zugleich bringen. So ist es in Frankreich."
„Ich weiß es", sagt Bemeyer, „aber ein solcher Bericht würde an die
auswärtigen Blätter zu spät kommen. Berlin aber spielt auf dem Gebiete
der Journalistik eine weit bescheidenere Rolle in Deutschland, als Paris in
Frankreich. Und ich freue mich, daß dem so ist. Ich sage: Gott sei Dank,
daß wir keine büreaukratische^Centralisation haben, daß wir auch auf diesem
Gebiete der Selbstverwaltung und Selbsthülfe huldigen. Da mögen jetzt wol
noch Mängel sein. Warum denn nicht? Unser parlamentarisches Leben ist
noch jung. Laßt den Baum und den Wald nur organisch wachsen, statt ihn
umzuhauen und ihn mechanisch durch eine gemalte Landschaft ihl Vvwmlcin
zu ersetzen."
So schwirrten damals die Stimmungen und die Meinungen durcheinan¬
der. Es kam zu keinem positiven Ergebniß. Man lehnte den Antrag Bam-
berger's ab, welcher auf eine der französischen ähnliche Einrichtung hinaus¬
lief. Man gab die Krankheit zu, aber man fürchtete, die Arznei sei gefähr¬
licher, als die Krankheit; man zog es vor, bei der letzteren zu belassen, weil
man kein besseres Mittel wußte.
Allein, wie überhaupt kein guter Gedanke ganz in's Leere verpufft, son¬
dern irgendwo seine Wirkungen äußert, so auch hier. Die Mängel der jetzigen
blos journalistischen Reichstagsberichte waren von dem Abg. Bamberger zu
wahr und zu drastisch geschildert worden, als daß das Ganze ohne allen Ein¬
druck hätte bleiben können. Verschiedene Verleger und Schriftsteller wandten
sich an Bamberger, um mit ihm die Frage zu berathen, ob nicht auf anderem
Wege zu helfen sei, ob man nicht etwa in Buchform dem deutschen Volke
ein wahres Bild der Verhandlungen geben könne, während es gegenwärtig
nur ein verzerrtes besitze, von welchem die Worte des Dichters gelten:
„Von der Parteien Haß und Gunst verwirrt ze."
Das Ergebniß dieser Berathungen und Verhandlungen ist das Buch,
dessen Titel wir unserem Aufsatze vorgesetzt haben.
Hören wir, wie sich Herr Bamberger selbst über die Aufgabe äußert, die
er sich gesetzt hat.
„In England und Frankreich," sagt er, „geben die großen Zeitungen die
Verhandlungen richtig und vollständig wieder. Man braucht sich daher nur
die Blätter zu sammeln. Dann hat man einen richtigen Text. Nichtsdesto¬
weniger hat sich auch dort das Bedürfniß geltend gemacht, den Wortlaut
der Erörterungen in geordneter und handlicher Buchform zu
erhalten, und die Sammlungen dieser Art fehlen in keiner den Staatsange¬
legenheiten gewidmeten Privatbibliothek. — Um so mehr darf angenommen
werden, daß in Deutschland, wo das einfache Ansammeln der wenigsten Tages¬
blätter solchen Dienst zu leisten im Stande ist, ein Unternehmen dieser Art
seinen Platz finden werde. Diese Voraussetzung ist um so eher gestattet, als
authentische Zeugnisse für die Entstehungsgeschichte des geltenden Rechts auf
anderem Boden als auf dem parlamentarischen auch nicht gewonnen werden
können. Die Verhandlungen des Bundesraths, welcher als erster Conzipient
der Gesetzgebung arbeitet, sind geheim und reflectiren sich nur zu einem ge¬
ringen Theil und sehr summarischer Weise in den mit den Entwürfen ver¬
öffentlichten Motiven. Dadurch fällt auch jene Ursprungsgeschichte weg,
welche beispielsweise in den Archiven des französischen Staatsraths aus der
Zeit seiner größten legislatorischen Thätigkeit erwachsen ist, und welche sowol
für die praktische Auslegung als für die historische Beobachtung des Rechts
kostbares Material zurückgelassen hat. Je mehr der Einwand berechtigt ge¬
wesen sein mag, daß unsere eigenthümliche Zeitungswelt weder Geduld, noch
Muße, noch Mittel für eine sorgfältige Aufzeichnung der parlamentarischen
Verhandlungen übrig habe, desto deutlicher scheint es angezeigt, in einer an¬
deren, ruhigeren und bequemeren Form die Verbindung herzustellen,
ohne welche eine volle und fruchtbare W ces selwirk u n g zwischen
Volk und Volksvertretung nicht gedacht werden kann.
Geleitet von diesen Betrachtungen vermochte ich nicht dem oben erwähn¬
ten Antrage zu widerstehen, welcher durch die zahlreichen der Ausführung
sichtbar drohenden Schwierigkeiten sich nicht abschrecken lassen wollte.
Zahlreich sind in der That die Schwierigkeiten. Die einfachste Lösung
der Aufgabe hätte darin bestanden, daß die Verhandlungen des Reichstags
den amtlichen stenographischen Aufzeichnungen entnommen, nach Materien syste¬
matisch zusammengestellt, in gewöhnlichem Oktavformat herausgegeben und
durch den nach allen Seiten hin so reichlich ausgebreiteten Vertrieb des deut¬
schen Buchhandels der großen Lesewelt zugeleitet worden wären. Solches ist
auch in der Hauptsache die Absicht des gegenwärtigen Unternehmens. Aber
so einfach ließ sich die Sache doch nicht ausführen. Umfang und Kosten
mußten in bescheidene Grenzen eingeschränkt werden, sollte nicht der gemein¬
nützige Zweck, und damit die Lebensbedingung des Unternehmens selbst von
vornherein verfehlt sein. Damit war die Nothwendigkeit gegeben, das Material
zu sichten. Die stenographischen Berichte der ersten Sitzungsperiode des deut¬
schen Reichstags umfassen über 1200 große und enggedruckte Quartseiten, nicht
eingerechnet die besonders abgedruckten Texte der Entwürfe, Motivirungen
und Berichte, welche noch beinahe ebensoviel aufbringen, und welche zur Ge¬
winnung eines richtigen Einblicks in die Embryologie der Gesetze nicht zu
entbehren sind. Zwang zur Ausscheidung war also unabweisbar vorhanden.
Um so schwieriger war das Wie? Den Hauptinhalt des Sammelwerkes sollten
die Aeußerungen der Reichsbehörden und Rei ass t ags mi egli eder
selbst bilden. Ohne den eigentlichen Zweck umzukehren, durfte also hier nicht
allzu wild ins Fleisch hineingeschnitten werden. Es stellte sich in erster Linie
die Frage ein: ob grundsätzlich die Auslassungen der Redner in ihrer ursprüng¬
lichen Form oder in der indirekten und der nur dabei statthaften abgekürzten
Weise sollten wiedergegeben werden. Die letztere Methode gab natürlich von
der einen Seite das Mittel an die Hand, Raum uno damit mechanische Her¬
stellungskosten zu ersparen; allein von der anderen Seite erheischte die Auf¬
gabe dadurch einen um so größeren Aufwand an Mühe und Zeit bei der
Umarbeitung des Textes, Dinge die natürlich auch sich in Herstellungskosten,
somit in Ladenpreis umsetzen müssen. Angesichts dieser Alternative gab eine
Erwägung den Ausschlag. Nicht blos der Inhalt, sondern auch die Form
der parlamentarischen Verhandlungen soll der Lesewelt zugetragen,
künftigen Studien aufbewahrt bleiben, und bei der indirekten und abgekürzten
Redeweise ging die Form natürlich sofort in die Brüche. Das Richtigste
wäre vielleicht eine wohlbcmessene Abwechslung zwischen beiden Arten. Denk¬
würdiger oratorischen Leistungen könnte die Wiedergabe in der ursprünglichen
Fassung vorbehalten bleiben und Vorträgen, die nur wegen ihres Inhalts
bemerkenswerth erscheinen, mit dem Extract Genüge geleistet werden. In
solcher Weise verfährt ja auch die größere Tagespresse. Gelingt dem gegen¬
wärtigen Unternehmen Fuß zu fassen, so möchte wahrscheinlich allmälig dieses
Verfahren eingeschlagen werden müssen. Für diesmal ist es als zu complicirt
noch unversucht geblieben. Um Raum zu gewinnen, wurde nur meist mecha¬
nisch eingegriffen. Zunächst ward alles weggeschnitten, was nebensächliche
Formen der Verhandlung reproducirt, namentlich was nur die äußere Leitung
der Debatten zu sichern bestimmt ist. Der Text springt überall mitten in den
Stoff hinein. Ebenso wurden persönliche Erörterungen, die nur dem Moment
angehören, unterdrückt. Trotz alledem war doch nicht durchzukommen, ohne
den Tert der Reden selbst zu vermindern. Im Ganzen schien dabei richtiger,
nicht Theile einzelner Reden, sondern ganze Vorträge auszumerzen. Einem
Redner, wenn man ihn nicht excerpirt, Stücke aus seinem lebendigen Lethe
herausschneiden und die Fragmente ohne Zusammenhang auftischen, hieß sich
der Gefahr gerechter Beschwerden aussetzen. Es schien billiger gegen den Ein¬
zelnen gehandelt, wenn man ihn entweder ganz oder gar nicht auf die Bühne
brachte. Nach Annahme dieses Systems mußte also an die Aussonderung
einzelner Reden gegangen werden. Eine kitzliche Sache! Vor Allem galt es
hier, sich der Unparteilichkeit zu befleißen. Ist es nicht gelungen, so möge es
nicht dem Mangel an gutem Willen zugeschrieben werden. So weit sich die
Sache übersehen ließ, ist die Gleichberechtigung der verschiedenen
Parteianschauungen mit äußerster Sorgfalt gewahrt worden."
Es ist sehr viel, was hier versprochen wird. Allein nach einer sorgfältigen
Prüfung des Buches kann ich nicht anders sagen, als es hat die Aufgabe
glücklich gelöst und die Versprechungen erfüllt.
Gleichweit entfernt von der Leichtfertigkeit der Zeitungsberichte und der
Schwerfälligkeit der stenographischen Protokolle, giebt es auf engem Raum
ein rasch zu überblickendes, vollständiges, frisches und farbenreiches Bild der
Verhandlungen in einer äußerst zweckmäßigen Anordnung. Letztere fehlt der
officiellen Ausgabe gänzlich. Sie zerfällt in so und so viele schwere Quartanten
Text und in so und so viel desgleichen Quartbände Anlagen. Die letzteren
enthalten die Gesetzentwürfe, deren Motive, die Commissions-Berichte, die
Motiven und Amendements u. s. w. Hier ist Beides in einander eingefügt
und so bearbeitet, daß es ein lesbares Ganzes bildet. Die chronologische und
die systematische Behandlungsart des Stoffes ist in glücklicher Weise combinirt.
Der Schlußlieferung soll ein genaues und vollständiges Wort-, Sach- und
Redner-Register beigegeben werden, welches das Buch auch für historische, par¬
lamentarische, juristische, gesetzgeberische und volkswirtschaftliche Specialstudien
brauchbar macht.
Dabei verdient das durchaus unparteiische und unbefangene Verfahren die
höchste Anerkennung. Der Preis ist billig, die Ausstattung schön, der Druck
correct. Sogar diejenigen Druckfehler sind corrigirt, welche in der officiellen
Ausgabe stehen geblieben. Das verdient bemerkt zu werden. Denn in
Deutschland sind (im Gegensatz zu England, Italien und Frankreich) die
Druckfehler eine Art Rinderpest geworden, welche sich nach und nach auf Alles
^streckt, sogar auf die officiellen Publikationen.
Wenn ich wagen dürfte, den Herren Abgeordneten einen guten Rath
zu geben, so wäre es der, daß sich Jeder ein Dutzend Exemplare des Buches
kauft, und in jeder größeren Gemeinde seines Wahlbezirkes eines offen legt.
Die Kosten hat ein Neichstagsmitglied ja nicht zu scheuen, denn da er keine
Diäten bekommt, so geht ja doch Alles in einem Schaden hin. Auf der an¬
dern Seite springt der Nutzen klar in die Augen. Ja, ich möchte sagen: die Noth¬
wendigkeit. In Deutschland wuchern nämlich noch aus der Zeit unserer Zerrissen¬
heit und unserer elendiglichen kleinlichen Wirthschaft verschiedene Sorten von Un^
kraut. Das Schlimmste darunter ist der Klatsch, d. h. die Sucht, den
Leuten fälschlich Böses nachzusagen, und die Neigung selbst sonst wohlmeinen¬
der und gewissenhafter Menschen, diesen Klatsch ohne weitere Untersuchung
und Prüfung weiter zu tragen. Am meisten fühlbar wird dies in der Politik,
weil wir Deutsche eher alles Mögliche lesen, als gute politische Schriften.
Die meisten begnügen sich mit dem kleinsten und billigsten Bällchen aus dem
nächsten Städtchen, das selbst beim besten Willen genaue und vollständige
Berichte nicht bringen kann. Dazu kommen die Feinde. Jeder Abgeordnete
hat deren. Es sind die unterlegenen Gegencandidaten und -deren Anhang.
Wenn die Herren Abgeordneten wüßten, was da zusammengeträtscht, geklatscht,
gelästert und gelogen wird, so würden gewiß Viele das Mittel zur Verbreitung
der Wahrheit nicht verschmähen, das ich ihnen hierdurch empfehle. Es wäre
zugleich auch das beste Mittel zur Verbreitung einer solideren politischen
Bildung.
Thun es aber die Abgeordneten nicht, dann sollten die Wähler selbst sich
in einzelnen Gruppen zusammenthun, um das billige Werk gemeinsam zu
kaufen und sich hierdurch des Mittels zu versichern, die Wahrheit aus der
Quelle zu schöpfen, anstatt sich solcher Canäle zu bedienen, welche die Flüssig¬
keit entweder gar nicht, oder wenigstens nicht rein zu halten vermögen. Denn
die Wählerschaft und das ganze Volk hat doch offenbar das höchste Interesse
dabei, daß ihm in den öffentlichen Angelegenheiten, — das heißt in seinen
eigenen Angelegenheiten — reiner Wein geschenkt werde.
Die in den Nummern 31 und 32 dieser Zeitschrift enthaltenen verdienst¬
lichen Aufsätze: „Die Reichsgesetzgebung und die Lage der Rechtslehre" sind
wohl geeignet, jeden, dessen Beruf eben die Rechtslehre ist, zu weiterem Nach-
denken über die hier besprochenen Fragen anzuregen. Wir glauben den Ver¬
fasser jener Aufsätze richtig verstanden zu haben, wenn wir als deren letzten
Kern den Satz finden: Das materielle Recht in den deutschen Staaten ist
hinter der nationalen Entwickelung des deutschen Volkes weit zurückgeblieben,
es leidet an particulärer Zersplitterung und dem Mangel nationalen Charak¬
ters , die Rechtslehre aber ist noch weit mehr hinter den Anforderungen der
Zeit zurückgeblieben. Beide Vorwürfe sind wohl begründet, nur ist der erste
verzeihlicher als der gegen die Rechtslehre, mit deren letzterem Zustande wir
uns auch besonders beschäftigen wollen.
Daß die Gestaltung des materiellen Rechts in einem Staate oder Staaten¬
gebiete (der frühere deutsche Bund) nicht ihre eigenen Wege gehen kann, son¬
dern auf das maßgebendste durch die jeweilige politische Gestaltung des be¬
treffenden Territoriums beeinflußt ist. dürfte außer aller Bestreitung liegen,
da die Quelle alles Rechts eben die Lebensverhältnisse und Anschauungen
eines Volkes sind. Solange also der Particularismus in Deutschland blühte,
welcher seine Lebensquelle aus der Rivalität zwischen Oestreich und Preußen
schöpfte, war eine Entwickelung des materiellen Rechts in particulären Geiste
wohl kaum anders möglich. Nur auf einem politisch geeinigten, einheitlichen,
nationalen Boden kann ein nationales Recht erwachsen. Wenn wir bedenken,
was Alles seit dem Bestehen des norddeutschen Bundes und dem kurzen des
deutschen Reiches bereits für die Entwickelung eines nationalen Rechts in
Deutschland geleistet worden, so ist dieß wahrhaft staunenswerth, während die
betreffenden Leistungen der früheren Sljcihrigen Bundestagszeit geradezu Spott-
lied wenig sind. Konnte es aber auch anders sein in einem Staatenbunde,
der nicht einmal eine Bundesgesetzgebung hatte? Der deutschen Bundesver¬
sammlung stand ja keinerlei gesetzgebende Gewalt über die (souveränen) Bun¬
desstaaten zu, daher auch die Bundesbeschlüsse auf die Unterthanen der letzteren
keinerlei rechtliche Wirkung ausübten; nach Art. S6 der Wiener Schlußacte
standen außerdem die einzelnen landständischen Verfassungen der landesherrlichen
Publication etwaiger Bundesbeschlüsse unter Umständen als feste Mauer gegen¬
über. Kein Wunder war daher, wenn allmählig jedes Land und Ländchen
sein eigenes Privatrecht erhielt, eigentlich lauter modificirte Römische Rechte,
denn um dasselbe weiterzubilden oder zu beseitigen, wo dasselbe deutschrechtlichen
Anschauungen widerstrebte, machte sich oft der Mangel der Grundbedingung
hierzu geltend: Des kräftigen, einheitlichen Nationalbewußtseins. Kann denn
überhaupt der Particularismus jemals etwas Großes leisten? Sehen wir nun
nicht deutlich genug, an der bei den Praktikern bereits auf das übelste ver¬
rufenen bayrischen Prozeß-Ordnung vom 1. Juli 1870, daß selbst ein Gebiet,
wie das von Bayern, noch zu klein ist, um auf dem weiten Felde der Gesetz¬
gebung wahrhaft Ersprießliches zu leisten? Es scheint, daß es der Gesammt-
kraft einer ganzen Nation bedarf, um Bleibendes und Großes im Rechte her¬
vorzubringen. Wahrlich die Juristen vor Allem sollten das Jahr 1866 preisen
und hochhalten, denn von da an datirt sich, außer der Wiedergeburt des deut¬
schen Volks und Reichs, auch die Möglichkeit der Entstehung eines allgemeinen
deutschen nationalen Rechts! —>
Wenden wir uns nun aber zu unserem Hauptgegenstande, der Betrachtung
des Zustandes der Rechts lehre ans den deutschen Universitäten. Derselbe
kann mit einem Worte dahin bezeichnet werden: Das Privatrecht, und zwar
das Römische, überwuchert alle anderen Rechtsdisciplinen, welche neben diesem
eine nur geduldete Existenz haben. Daher kommt auch, daß der die Uni¬
versität verlassende Rechtscandidat die ganze Welt, ja die heterogensten Lebens¬
verhältnisse vom römisch-privatrechtlichen Standpunkte aus betrachtet, daß er
ohne Bedenken jeden internationalen Vertrag nach den Regeln der Privat¬
verträge beurtheilt, ewig bar jedes Verständnisses des öffentlichen Rechts wie
dessen Entwickelung bleibt,*) und daß. kommt er etwa in einer Kammer, im
Reichstage :c. zu öffentlicher Wirksamkeit, er die außerprivatrechtlichen Fragen
verschroben angreift, den privatrechtlichen aber reagirend entgegentritt, wenn
es sich um eine deutsch-rechtliche Weiterbildung der römischen Grundlage
handelt.
Wir erheben aber noch einen weiteren Vorwurf gegen die heutige Rechts¬
lehre, indem wir behaupten, daß auf unseren Universitäten das römische Recht
selbst fehlerhaft gelehrt wird; so wird die römisch-rechtliche Hauptvorlesung,
die Pandecten. durchgängig nach irgend einem Lehrbuche oder eigenem Systeme,
Paragraph für Paragraph von Anfang bis zum Ende (wenn man dieß er¬
reicht) abgesponnen, während der wahren Quelle des römischen Rechts, den
justinianischen Digesten, viel zu wenig Sorgfalt zugewendet wird. Wir sind
mit obigem Herrn Verfasser auch der Ansicht, daß ohne ein gründliches Stu¬
dium des römischen Rechts nie und nimmer ein Jurist gebildet werden kann,
aber ein solches halten wir ohne eine sorgfältige — wenn auch zeitraubende
— Beschäftigung mit der Exegese für unmöglich. Gerade hierin aber, in
Erlernung der Kunst der Interpretation, geschieht auf den Universitäten
zu wenig, während es doch keine untrüglichere Probe der juristischen Bildung
giebt, als wenn ein „Jurist" im Stande ist, erschöpfend, umsichtig, alle Even¬
tualitäten berührend, anzugeben, was in einem ihm vorgelegten Vertrage oder
Gesetzes-Paragraphen steht und nicht darin steht? Dies aber lernt sich
weder aus dem Anhören von Pandecten-Vorträgen, noch dem Durchstudiren
von Pandecten-Lehrbüchern, welche beide ja nichts sind, als subjective
Auffassungen des römischen Rechts, indirecte Ueberlieferungen aus zweiter
Hand.
Unter den römisch-rechtlichen Borlesungen steht auch die über römische
Rechtsgeschichte. Durchgängig ist dieselbe zu eng; sie schließt meist mit
der klassischen Zeit, höchstens kommt noch ein Anhang über den unerquicklichen
Zustand des römischen Rechts in der späteren Kaiserzeit nebst Angabe der
auffälligsten Neuerungen Justinians. Von der Weiterbildung des römischen
Rechts seit dessen Neception in Deutschland hört der Rechtscandidat nichts,
nichts auch von den wichtigen Reaktionen der neueren Zeit gegen so manches
römische Rechtsinstitut, und von den Gründen dieser Reactionen. Freilich
hängen letztere häufig mit national-ökonomischen Anschauungen der heutigen
Zeit zusammen, von welchen aber die Romanisten keine Notiz nehmen,
da sie sich in der Regel um die National-Oekonomie nicht viel gekümmert
haben. —
Anschließend an das materielle Recht wenden wir uns nun zu seinem
Komplemente, dem Civilprozeß, beziehungsweise zu den Lehren desselben.
Die erste Bekanntschaft mit diesem Institute macht der deutsche Nechts-
flissenen schon in den „Institutionen", wo meistens der römische Civilproceß
als Einschiebsel im sog. „allgemeinen Theile" abgehandelt wird; mag er aber
auch als selbständige Borlesung (4—8 Stunden) behandelt werden, — immer,
behaupten wir. wird der römische Prozeß dem Anfänger, welcher kaum die
Begriffe „Person," „Sache," „Rechtsgeschäft" kennen gelernt hat, als eine
Art „spanisches Dorf" vorkommen. Gewiß bedarf es schon einer nicht geringen
Kenntniß des Prozesses überhaupt, um in das Wesen der abgestorbenen Le-
gisactionen einzudringen, so weit dieß der Zustand der oft mangelhaften
Quellen erlaubt, oder den späteren Formularprozeß, das sog. litiMrv xer
kormnll^. klar zu beherrschen. Solches von einem Anfänger zu verlangen,
welcher meist auch gar kein Interesse mitbringt, ist rein unmöglich, selbst beim
besten Vortrage. Die Studenten fühlen dies auch, denn warum werden
die Bänke leerer während der Behandlung des römischen Prozesses und füllen
steh erst wieder, wenn wieder im materiellen Rechte fortgefahren wird, — eine
Erscheinung, welcher jeder Lehrer der Institutionen regelmäßig begegnet. Wir
befürworten nun nicht, die Vorlesung über römischen Civilprozeß wegfallen
zu lassen, da dieselbe für das Verständniß der Entwickelung des römischen
Privatrechts gerade in ihrer glänzendsten Periode unumgänglich nothwendig
ist, aber wir vertreten die Ansicht, daß der römische Civilprozeß am Geeig¬
netsten dann gehört wird, wenn die Vorlesung über die allgemeinen Civil¬
prozeß-Lehren vorausgegangen ist. Doch bedarf auch diese Vorlesung dringend
der Reform. Der Verfasser obiger Aufsätze fragt mit Recht, wo denn der
„gemeine deutsche Civilprozeß" eigentlich zu Hause ist? Jawohl ist er glück¬
licherweise von der fortschreitenden Zeit fast überall beseitigt, dennoch aber
wird er in unseren Hörsälen noch mit aller Breite und Behaglichkeit vorgetragen,
so als ob sich auf diesem Felde seit hundert Jahren nicht das Mindeste ge¬
ändert hätte. Es ist wahrlich stark, wenn da alljährlich den Rechtscandidaten
vordocirt wird, wie zu den „Grundsätzen" des Civilprozesses die „Schriftlich-
keit"^), die „Heimlichkeit", die „drei Instanzen" gehören, wie da mit aller
Salbung, als könnte es gar nicht anders sein, die allen gesunden Menschen¬
verstand beleidigende formelle Beweistheorie mit ihren „ganzen," „halben."
„weniger als halben" Beweisen entwickelt wird, — eine Theorie, welche den
Richter zur Rechenmaschine herabwürdigt, und welcher nichts unzulässiger er¬
scheint, als das freie menschliche Urtheilen des Richters. Für gewisse Prozehlehrer
scheinen freilich Meisterwerke, wie das von Zink, die Ermittelung des Sach¬
verhalts ze. (München 1860) nicht geschrieben zu sein. Wohl mag man die
Vorlesung über „gemeinen deutschen Civilprozeß" beibehalten, in dem betreffen¬
den Vortrage die allgemeinen Prozeßlehren behandeln, sonst aber ebenso der
Kritik wie der Vergleichung mit anderen Prozeßordnungen, deutschen und
außerdeutschen, allen Raum geben, —
Zu den seitherigen Ausstellungen gegen unseren Rechtsunterricht müssen
wir noch die fügen: er ist zu ausschließlich theoretisch und zu wenig praktisch.
Freilich ist von vornherein die Lage eines juristischen Professors viel ungün¬
stiger wie die eines medicinischen. Der letztere genießt den ungeheuren Vor¬
theil, die von ihm zu vertretende Theorie sofort auch der schwächsten Fassungs¬
kraft greifbar demonstriren zu können, Muskeln, Bänder, Nerven ze. liegen
auf das Schönste präparirt vor dem Katheder; der juristische Professor da¬
gegen sieht sich darauf beschränkt, seinen Zuhörern nichts als Regeln, Be¬
griffe, und Consequenzen aus diesen vorzutragen; was aber mit dem Allem im
einzelnen Falle anzufangen, wie da das Verschiedenste, im „System" Auseinander¬
liegende zu combiniren ist, dies lernt der Studiosus aus dem fortlaufenden,
stets neue Massen Materials ausführenden Vortrage nicht, im Gegentheil
vermehrt sich seine Unbehülflichkeit, je mehr Stoff anbringt. Dieser Uebel¬
stand liegt nun allerdings in der Eigenthümlichkeit des Gegenstandes der ju¬
ristischen Borlesungen, allein er kann ausgeglichen werden durch sogenannte
Praktische Vorlesungen, aller Erfahrung nach die ersprießlichsten, wenn auch
für den Lehrer mühsamsten Collegien, welchen aber auf unseren Universitäten
noch viel zu wenig Würdigung widerfährt. Wahrlich kann man, und zwar
gerade von den fleißigsten unserer die Universität verlassenden Rechtscandida-
ten dasselbe sagen, was einst Lichtenberg von einem sehr gelehrten „Pro¬
fessor" gesagt hat, nämlich! „Der Mann hatte soviel gelernt, daß er zu gar
nichts mehr zu brauchen war!" Hiergegen findet sich nun die alleinige, aber
auch ausreichende Abhülfe durch ein tüchtig gehandhabtes collegium praeti-
vum; hier müssen zuerst leichtere Nechtsfälle vorgelegt und dem Candidaten
gezeigt werden, wie man denn überhaupt einen praktischen Fall angreift; ist
dies in freier Rede und Gegenrede geschehen, so ist zu schwereren Fällen zu
schreiten, welche schriftlich zu bearbeiten sind, natürlich möglichst erschöpfend,
vielseitig und gründlich. Wer jemals Praktica in diesem Sinne geleitet hat,
wird dem Schreiber dieses beistimmen, wenn er behauptet, daß viele Rechts¬
studenten erst durch die Fertigkeit in solcher Anwendung der juristischen
Regeln Liebe zur Jurisprudenz bekommen. Unschätzbar ist hierbei ver neben¬
her laufende Vortheil des Einflusses der Persönlichkeit des Lehrers, um so
unschätzbarer je bedeutender dieselbe ist.
Es gibt aber vornehmlich ein Stiefkind unter den juristischen Disciplinen der
deutschen Universitäten; das heißt: Die Staatswissenschaften. Wenn wir,
im Hinblick auf dieselben, zunächst die praktische Frage stellen: was hat denn ein
die Universität verlassender und in die Praxis übertretender Rechtscandidat
in der Regel gelernt? — so wird das Ergebniß einer Prüfung seines Wissens
durchschnittlich dahin ausfallen! ernstlich hat er nur das römische Recht
studirt, kennt auch den „gemeinen deutschen Civilproceß", jenes, nach obigem
Herrn Verfasser (mit Recht) ganz unfindbare Wesen, und endlich hat er sich,
aber erst seit neuester Zeit, auch mit Handels- und Wechselrecht beschäftigt;
von Staats- und Völkerrecht aber, von Nationalökonomie und Finanzwissen-
schaft findet sich nur spärliches Wissen vor.
Die Ursachen dieser Erscheinung liegen nicht aus der Oberfläche; sie
liegen in der ganzen Geschichte der Universitäten, den politischen Verhält¬
nissen Deutschlands bis vor noch wenigen Jahren, und endlich in dem Umstände,
daß die Staatswissenschaften verhältnißmäßig noch junge Disciplinen sind,
deren Aufschwung und Bedeutung für Deutschland sich eigentlich erst seit
gegenwärtigem Jahrhundert datirt.
Es wird nämlich zunächst nicht geleugnet werden können, daß unsere
Universitäten im Großen und Ganzen vielfach den Charakter der Zeit ihrer
Gründung beibehalten haben, wo (seit Mitte des Is. Jahrhunderts) auf den
deutschen Universitäten unter kaiserlichen Privilegien Lehrer der kaiserlichen
Rechte, d. h. vorzüglich des römischen Rechtes, angestellt wurden, und das
Institut der Doctoren beider Rechte, des kanonischen und des kaiserlichen, ent¬
stand. Die juristische Unproductivität des germanischen Geistes, sowie die
eminenten Vorzüge des römischen Rechtes, dessen Studium sich gerade die
besten Köpfe zuwendeten, mußten natürlich dem letzteren einen Alles über-
wiegenden Einfluß erringen. Hierzu kam dann der Mangel eines einheitlichen
politischen Gcsammtlebens Deutschlands und ein bis in Napoleon I. Zeit
herein immer schwächer werdendes Nationalgefühl, welche Umstände die Kraft,
sich über das fremde Recht zu erheben, gar nicht aufkommen ließen. Als
dann der deutsche Bund entstanden war, wurde von der „Präsidialmacht"
schon dafür gesorgt, besonders in Ausführung der Carlsbader Beschlüsse
(1819), daß die Studenten nicht zu viel Allotria trieben, besonders
Staatsrecht, und bezüglich der Anstellung von Staatsrechtslehrern eine
scharfe Ueberwachung ausgeübt. Es ist bezeichnend für diesen von Wien
her kommenden lahmlegenden Einfluß, daß noch heute das Staats-
recht an den östreichischen Universitäten nickt unter die „obligaten" Collegien
aufgenommen ist. und aus bester Quelle ist dem Schreiber dieses bekannt, daß,
als Anfang der 60er Jahre eine östreichische Juristenfacultät bei dem „liberalen"
Ministerium Schmerling um Creirung eines Lehrstuyles für „Staatsrecht"
bat, die Erwiderung kam, es wäre alles recht schön, aber hierzu sei kein Geld
da! Statt dessen sind die östreichischen Studenten verpflichtet, zwei Semester
hindurch zu je 4—S Stunden (meistens 5) das „obligate" kanonische Recht
zu hören!!
Wir denken, daß man heute bei dem Hinblicke auf die Jahre 1866 und
1870 zur Ueberzeugung gelangt sein könnte, daß die höchste Gefahr für einen
Staat nicht in der Unterrichtetheit seiner Angehörigen besteht, fondern in der
Unwissenheit. Andererseits aber dürfen wir der begründeten Erwartung leben,
daß derjenige Staat, welcher zu Folge vieljährigen ernsten Studiums und
harter Gedankenarbeit an die Spitze Deutschlands gehoben worden, es durch¬
führen wird, die deutschen Universitäten in derjenigen Weise zu reorganisiren,
welche der ganz neuen Zeit, welche angebrochen ist, sowie den erhöhten und
vielseitigen Anforderungen an den Juristenstand entsprechend ist.
Mit dieser Woche haben die Sitzungen des Landtages, zunächst diejenigen
des Abgeordnetenhauses, das Interesse gewonnen, welches ihnen die Wichtig¬
keit der Berathungsgegenstände dieser Session zuführen muß. Von den bedeut¬
sameren Vorlagen, welche die Thronrede in Aussicht gestellt hatte, ist zuerst
der Gesetzentwurf über die Aufhebung des Staatsschatzes, dann der über die
Einrichtung und Befugnisse der Oberrechnungskammer eingebracht worden, ab¬
gesehen von dem Staatshaushaltgesetz für das Jahr 1872. Den Stoff, wel¬
chen der Gesetzentwurf über die Oberrechnungskammer der Betrachtung ge¬
währt, sparen wir auf bis dahin, wo wir über die bezüglichen Berathungen
des Landtages zu berichten haben werden.
Am 9. December brachte der Finanzminister neben einigen minder wich¬
tigen Vorlagen einen Gesetzentwurf ein, welcher eigentlich zwei verschiedene
Maßregeln vereinigt. Die eine bezweckt die Aufhebung der Mahl- und
Schlachtsteuer als Staatseinnahme für den ganzen Umfang der Monarchie.
Die zweite Maßregel bezweckt die Ausdehnung der Classensteuer als Staats¬
steuer auf die ganze Monarchie, jedoch mit der Maßregel, daß gleichzeitig die
bisherige unterste Stufe der classensteuerpflichtigen Bevölkerung von jeder
directen Staatssteuer befreit werden soll.
Um denjenigen Lesern, welchen die preußische Steuerverfassung nicht ge¬
läufig sein sollte, den Sinn dieser Maßregeln deutlich zu machen, mögen fol¬
gende Bemerkungen dienen.
Die preußische Classensteuer wurde zuerst durch das allgemeine Gesetz über
die Einrichtung des Abgabenwesens vom 30. Mai 1820 aufgelegt, jedoch so,
daß in einer Anzahl Städte, welche das Gesetz verzeichnete, an Stelle der
Classensteuer die Mahl- und Schlachtsteuer bestehen blieb, bezüglich neu einge¬
führt wurde. Dabei sollte denjenigen der verzeichneten Städte, welche die
Classensteuer vorziehen würden, die Wahl dieser letzteren gestattet sein: eine
Befugniß, von der in sehr wenig Fällen Gebrauch gemacht worden ist.
Außerdem wurde den Gemeinden ein Dritttheil des Rohertrages der Mahl¬
steuer für communale Zwecke überwiesen und ihnen überdies gestattet, zur
weiteren Aufbringung ihrer Bedürfnisse Zuschlage zu der in der Gemeinde
bestehenden Staatssteuer, sei es die Classensteuer, oder die Mahl- und Schlacht¬
steuer, zu erheben. Dabei gestaltete sich die Ausführung der Erhebung jedoch
bei den beiden alternirenden Steuern in entgegengesetzter Weise. Wo die
Mahl- und Schlachtsteuer eingeführt, war und blieb der Staat alleiniger
Steuererheber. Den Zuschlag, welchen die Gemeinde auf die Steuer legte,
erhob der Staat für die Gemeinde, indem er ihr einen Theil der Erhebungs-
kosten in Abzug brachte. Dagegen war Sache der Gemeinden, die Ein¬
schätzung zur Classensteuer auszuführen, gleichviel ob die Steuer blos für den
Staat oder gleichzeitig für die Gemeinde erhoben wurde. Ebenso war die
Aufstellung der Jahresrollen, die Führung der Ab- und Zugangslisten Ge¬
meindesache, während die Bezirksregierung die Steuerbeträge feststellte, und der
Landrath das Geschäft der Gemeinde beaufsichtigte, sowohl in Bezug auf die
Einschätzung als auf die Erhebung. Dieses Geschäft ist nach seinen beiden
Theilen von den Gemeinden immer für eine große Last angesehen worden,
und so erklärt sich das zähe Festhalten vieler Städte an der Mahl- und
Schlachtsteuer, trotz der großen Schädlichkeit dieser Steuer in wirthschaftlicher
und moralischer Beziehung, und trotz der unverhältnißmcißigen Abzüge, wel¬
chen das Erirägniß durch die hohen Erhebungskosten unterliegt.
Durch das Gesetz vom 1. Mai 1851 wurde das frühere Classensteuerge-
setz aufgehoben und durch ein neues ersetzt, das nach oben nur das jährliche
Einkommen bis zu 1000 Thlr. umfaßte. Das jährliche Einkommen von über
1000 Thlr. wurde einer neuen Steuer, welche den Namen classificirte Ein¬
kommensteuer erhielt, unterworfen. Diese beiden Steuern sind nicht etwa blos
zwei Namen für einen gleichartigen Steuermodus, wobei die Höhe des be¬
steuerten Einkommens, ob unter oder über 1000 Thlr., den einzigen Unter¬
schied ausmacht. Es handelt sich vielmehr um zwei ganz verschiedene Arten
der Steuerauflegung. Bei der Classensteuer wird die gesammte Steuerpflichtige
Bevölkerung in drei Classen eingetheilt, von denen jede Classe wiederum in
verschiedene Stufen zerfällt. Jeder Stufe entspricht ein bestimmter Steuersatz-
Der Einreihung in die verschiedenen Classen und Stufen wird nicht die Er¬
mittelung des individuellen Einkommens zu Grunde gelegt, sondern dieselbe
erfolgt nach gewissen Merkmalen der socialen Stellung: ob der Steuerpflich¬
tige im Wesentlichen durch Lohnarbeit besteht, ob die Lohnarbeit Tagelohn
und Gesindelohn, oder durch Leistungen höherstehender Art eine andere Ver¬
gütung bedingt; am unsichersten ist das Merkmal der dritten Classe, welche
die Einkommenclasse zunächst dem Einkommen über 1000 Thlr. enthält. Bei
der classisicirten Einkommensteuer dagegen erfolgt eine Einschätzung des indi¬
viduellen Einkommens, welches mit drei Procent zu versteuern ist, jedoch so
daß in 30 Steuerstufen die Steuerbeträge nur in runden Summen zu ent¬
richten sind. Die Bruchtheile zwischen den Steuerstufen bleiben daher den
Steuerpflichtigen erlassen, sodaß der entrichtete Betrag in der Regel nicht volle
drei Procent des eingeschätzten Einkommens ausmacht. Die classificirte Ein¬
kommensteuer wurde auch in denjenigen Städten erhoben, welche die Classen¬
steuer noch nicht eingeführt hatten, jedoch so, daß den zur Einkommensteuer
eingeschätzten Steuerpflichtigen ein zu 20 Thlr. bemessener Antheil an der
Mahl- und Schlachtsteuer bei Entrichtung ihrer Einkommensteuer zu Gute ge-
rechnet wurde,
Die jetzt in Vorschlag gebrachte Reform bezweckt nun die völlige Be-
seitigung der Mahl- und Schlachtsteuer als Staatseinnahme und die Nöthig¬
ung der Gemeinden, sich endlich überall zur Erhebung der Classensteuer zu be¬
quemen. Erleichtert werden soll ihnen diese so lange zurückgewiesene Aufgabe
durch die gänzliche Steuerbefreiung der untersten Stufe der Classensteuerpflich¬
tigen, des bei Weitem zahlreichsten Theiles der gesammten classensteuerpflich-
tigen Bevölkerung, Für Communalzwecke dagegen soll den Städten, welche
bisher die Schlacht- und Mahlsteuer hatten, gestattet werden, eine Schlacht¬
steuer zu erheben. Die Städte von über 100,000 Einwohnern dürfen
die Communalschlachtsteuer jedoch nur einführen, sofern sie sich dazu verstehen,
diese Steuer so einzurichten, daß sämmtliche Stufen der ersten Classe der
Classensteuerpflichtigen, für welche dem Staat ein Aversum zu zahlen sein
würde, von der directen Staatssteuer frei werden.
Der Wegfall der untersten Classensteuerstufe soll mit den 1. Juli 1872 begin¬
nen, der Wegfall der Mahl- und Schlachtsteuer dagegen mit dem 1. Januar
1873. Es hat dies den Zweck, denjenigen Städten, welche bisher die Mahl-
und Schlachtsteuer zahlten, eine ausreichende Vorbereitungsfrist zu gewähren,
theils für die ihnen obliegende Erhebung der Classensteuer, namentlich aber
auch für den Ersatz der Einnahme, welche ihnen das vom Staat überlassene
Drittheil des Rohertrages der Mahlsteuer allenthalben gewährte. Außerdem
ist noch die Bestimmung des Gesetzentwurfes bemerkenswerth, durch welche
der Staat sich verpflichtet, für diejenigen Communen, welche vom Jahre 1873
ab eine Schlachtsteuer zur Aufbringung von Communalbedürfnissen einzuführen
beabsichtigen, die Erhebung dieser Steuer durch seine Verwaltung der indirecten
Steuern für Rechnung der Stadt bewirken zu lassen. In der Uebernahme
dieser Verpflichtung wird für manche Stadtverwaltung ein Anreiz mehr liegen,
zur Schlachtsteuer zu greifen.
Dies sind die wesentlichen Bestimmungen des Gesetzentwurfes, die wir
jetzt schon erläutert haben, obwohl der Entwurf einer Commission zur Be¬
richterstattung überwiesen ist, weil bei der allgemeinen Budgetdebatte, welche
in dieser Woche stattgefunden hat, jener Anfang einer Steuerreform allseitig
in Betracht gezogen wurde. Der erste Redner dieser Verhandlung war der
Abg. Laster. Er erklärte sich mit der vorgeschlagenen Steuerreform einver¬
standen, unbeschadet zahlreicher Wünsche, die er außerdem auf dem Herzen
hatte. Schon Laster machte die Bemerkung, die nach ihm von manchem
anderen Redner wiederholt wurde, daß mit der Abschaffung der untersten
Classensteuerstufe dieser ganzen Steuer der Boden entzogen sei. Wenn man
bedenkt, daß für das Jahr 1870 die Classensteuer mit etwas über 13 Millionen
Thalern veranschlagt war und daß nach dem Vortrag des Finanzministers
bei der Einbringung des Budgets der schwere Krieg dieses Jahres nur einen
Ausfall herbeigeführt hat. der noch nicht einmal 200,000 Thlr. beträgt, so
sollte man billig erwarten, daß eine so wesentliche Steuerquelle nicht leicht
in Frage gestellt würde. Die Classensteuer ist mit der Grundsteuer, von deren
Ertrag sie in dem erwähnten Jahre nur um einige 20,000 Thlr. übertroffen
wurde die ergiebigste aller preußischen Steuern, der directen wie der indirecten,
eine Steuer, welche ungefähr 8°/<> der gesammten Staatseinnahme einbrachte.
Die Classensteuer hat außerdem den Vorzug, daß sie die gesammte nicht zur
Einkommensteuer eingeschätzte Bevölkerung durch eine directe Geldleistung an
den Staat bindet. Eine oberflächliche Betrachtung mag darüber spotten —
die directe Besteuerung, wenn sie zweckmäßig eingerichtet ist, wird zu einem
politischen Erziehungsmittel ersten Ranges. Daß nun dennoch jetzt von den
4 Stufen der ersten (untersten) Hauptclasse der elassensteuerpflichtigen Bevöl¬
kerung die unterste Stufe in Wegfall kommt, kann nur als eine wohlthätige
Maßregel begrüßt werden. Der Satz dieser Stufe beträgt jährlich 15 Sgr.,
die in monatlichen Raten von 13 Pfennigen zu entrichten sind. Von der
Gesammtzahl der classensteuerpflichtigen Bevölkerung, die über 7^ Millionen
Köpfe zählt, betragen die Steuerzahler dieser untersten Stufe über 5 Millio¬
nen. Es ist derjenige Theil der Bevölkerung, welcher, überwiegend in Privat¬
dienstverhältnissen beschäftigt, die Eigenschaft der Selbständigkeit im politischen
Sinne nicht beansprucht. Der Einnahmeausfall, welchen der Wegfall dieser
untersten Stufe herbeiführt, ward vom Finanzminister auf 2^2 Millionen
Thaler geschätzt. Schätzen wir ihn sogar auf 3 Millionen rund, so bringt
die Classensteuer dem Staat immer noch 10 Millionen Thaler von dem selbst¬
ständigen Theil der Bevölkerung, dessen Einkommen weniger als 1000 Thlr.
beträgt. Alles verheißt außerdem der Classensteuer in den beibehaltenen
Stufen einen steigenden Ertrag. Wir können also durchaus nicht dem Abg.
Laster beistimmen, wenn er die Classensteuer mit der classisicirten Einkommen¬
steuer verschmelzen will. Die Einkommensteuer bringt vorläufig nur etwa
über 5 Millionen Thaler, die Hälfte der um die unterste Stufe verminderten
Classensteuer. Bei dem Wegfall dieser Stufe betragen die Classensteuerpflich¬
tigen immer noch über 2 Millionen Köpfe, während die Gesammtzahl der
zur Einkommensteuer eingeschätzten Personen für das Jahr 1870 noch nicht
400,000 betrug. Wir vermögen in der Verschmelzung dieser verschiedenen
Elemente der steuerpflichtigen Bevölkerung in keiner Weise ein Heil zu er¬
blicken. Wollte man aber diese Verschmelzung um jeden Preis haben, so
wäre als einheitlicher Steuermodus derjenige der Classensteuer vorzuziehen.
Denn die Einschätzung des individuellen Einkommens hat bei den geringeren
und zahlreichsten Classen des Einkommens die allergrößten Mißstände. Laster
wollte freilich den Ertrag der jetzigen Einkommensteuer durch ein schärferes
Einschätzungsverfahren erhöht haben. Ein Weg, dessen Beschreidung doch
20mal überlegt sein will, der mit den größten wirthschaftlichen und moralischen
Gefahren verbunden ist, zumal, wenn man nach der Selbstangabe des Ein¬
kommens greift, diesem Fallstrick, in welchem sich alle Dilettanten der Finanz¬
kunst fangen. Wir wünschen die Beibehaltung der Classensteuer unter Weg¬
fall der untersten Stufe. Was aber die Einkommensteuer betrifft, so dürfte
sich als die beste Reform ihre Verschmelzung mit der Gewerbesteuer empfehlen,
mit dem Modus einer periodischen Festsetzung des Gesammtertrages, für
welchen ein zweckmäßiges Repartitionsverfahren — ohne inquisitorische Er¬
mittelung des individuellen Einkommens mittelst der absolut verwerflichen
Selbstangabe — wohl zu finden ist.
Der Abg. Richter als Redner der Fortschrittspartei schien nur den Satz
bewähren zu wollen, daß eine Opposition um jeden Preis nicht nur die besten
und richtigsten Regierungsmaßregeln, sondern auch die bis dahin allseitig er¬
heischten anzugreifen die Stirn hat, sobald solche Maßregeln zur That ge¬
worden. Nachdem die Schlacht- und Mahlsteuer seit einem halben Jahrhun¬
dert die heftigsten Klagen hervorgerufen, soll sie auf einmal durchaus nicht
übler sein, als viele andere Steuern. Ihr Wegfall soll die Lebensmittel nicht
billiger machen, in diesen trivialen Vorwurf stimmte auch Herr Virchow ein.
Darauf ist ganz einfach zu sagen, daß. wenn auch die Lebensmittelpreise durch
den Wegfall der Mahl- und Schlachtsteuer vielleicht nicht in sichtbarer Weise
abnehmen, doch unter allen Umständen die fernere ungesunde Entwickelung
dieser Preise nicht mehr befördert wird. Dieser unfehlbare Erfolg reicht hin,
die Maßregel im vollsten Maße zu rechtfertigen.
Was den Werth der theilweisen Classensteuerbefreiung betrifft, so wäre
derselbe schon festgestellt, wenn damit auch weiter nichts erreicht würde, als
die Möglichkeit, durch die nunmehrige Classensteuer die Mahl- und Schlacht¬
steuer überall zu ersetzen. Mit Inbegriff der bisherigen untersten Stufe war
dies in den großen Städten jetzt unmöglich wegen der fluctuirenden Lebensweise
der betreffenden Bevölkerungselemente. Aber auch unmittelbar für diese Ele¬
mente fällt die Erleichterung ins Gewicht; mehr noch, als durch den erlassenen
Geldbetrag, durch den Wegfall des beständigen Verkehrs mit den Steuerbe¬
hörden. Wenn man nun sagt, die Steuer der untersten Stufe sei meistens
von den Lohngebern für ihre Lohnempfänger entrichtet worden, so mag dies
in gewissem Maße wahr sein. Es ist aber lächerlich, den Werth der Erleich¬
terung damit in Abrede stellen zu wollen. In den meisten Fällen werden
die Lohnempfänger ihren Clasfensteuerbetrag als Lohnzulage empfangen, weil
er bisher sast überall ein Lohnabzug war. Es giebt gewiß noch manche
Steuer, deren baldiger Wegfall wünschenswerth ist, aber keine redlich einhieb-
tige Prüfung wird dem Finanzminister das Zeugniß verweigern, daß er dies¬
mal das Nöthigste zuerst gethan hat.
Die bedenklichste Bestimmung des Gesetzentwurfes ist diejenige, welche den
Städten, in denen bisher die Mahl- und Schlachtsteuer eingeführt war. die
Einführung einer Schlachtsteuer zu Communalzwecken gestatten will. Alle
Redner, welche den Gesetzentwurf vorläufig in Betracht zogen, haben diese
Bestimmung getadelt. Auch wir schließen uns der Verwerfung derselben an,
und hoffen, daß das Abgeordnetenhaus die Bestimmung aus dem Gesetz
bringen wird. Dann entsteht aber die Frage, wie die Gemeinden das für
ihre Bedürfnisse entgehende Drittheil des Rohertrages der Mahlsteuer er¬
setzen sollen.
Wir glauben, daß die Frage der Communalbesteuerung nur principiell
und im großen Styl zu lösen ist. Der Staat muß sich entschließen, die
Grund- und Gcbäudesteuer den Gemeinden in ihrer dreifachen Abstufung,
nämlich den Orts-, Kreis- und Provinzialgemeinden, gänzlich zu überlassen,
gleichzeitig aber den Gemeinden jede andere Art der Besteuerung zu unter¬
sagen. Wir müssen dahin kommen, daß die drei großen Kreise unseres poli¬
tischen Gesammtorganismus jeder sein eigenes Steuergebiet erlangen. Die
rechte Steuer für die Gemeinde, mit anderen Worten, die rechte Localsteuer
ist die Grundsteuer; die rechte Steuer für den Einzelstaat und für seine noch
inneren Bedürfnisse ist die rationell eingerichtete Einkommensteuer; die rechte
Steuer für das Reich sind die indirecten Steuern. Auf die Begründung
dieser Theilung, die jetzt zu geben kein Anlaß vorliegt, werden wir einzugehen
noch manche Gelegenheit finden. Was die Eroberung der Grundsteuer für
die Gemeinden anlangt, so rechnen wir auf die freiconservative und natio¬
nalliberale Partei des preußischen Abgeordnetenhauses, daß sie diesen wahrhaft
staatserhaltenden und politisch fruchtbaren Gedanken sich zu eigen machen und
für ihn mit Erfolg eintreten wird.
In der Sitzung vom 13. December regte bei dem Capitel des Staats¬
haushaltes von der unverzinslichen Schuld der Abgeordnete Richter die Ein¬
ziehung des Papiergeldes an. Zu nicht geringer Ueberraschung erklärte der
Finanzminister, daß diese Frage nur für das ganze Reich gelöst werden könne.
Wie viel diese Ansicht für sich haben mag, so hatte doch der Finanzminister
im Reichstag erklärt, die Schwierigkeiten der Einziehung des Papiergeldes
von Reichs wegen seien nahezu unüberwindlich. Man mußte deshalb auf die
Vermuthung kommen, der ich auch in den Neichstagsbriefen Ausdruck gegeben,
Preußen werde mit der Einziehung seines Papiergeldes allein vorgehen, und
dadurch der Circulation von Staatspapiergeld in Deutschland den Boden ent¬
ziehen. Nach der diesmaligen Aeußerung des Finanzministers scheint man
in den maßgebenden Regionen über den besten Weg noch zu schwanken, Hoffen
wir, daß der Reichstag bei seinem Wiederzusammentritt die Papiergeldfrage
sofort wieder aufnimmt, Ihre Vernachlässigung würde den Erfolg unserer
ganzen Münzrefvrm auf das Ernstlichste gefährden.
Fast unverständlich war die Aeußerung des Finanzministers, Preußen be¬
finde sich seinen Mitverbündeten gegenüber in einer ungünstigeren Lage, weil
sein Papiergeldumlauf verhältnißmäßig geringer sei, Herr Camphausen schien
damit andeuten zu wollen, daß Preußen umsoweniger veranlaßt sei, mit der
Einschränkung seines Papiergeldumlaufes zu beginnen.
Die Ausgabe von Papiergeld kann als die Ausbeutung des Marktes
durch einen mächtigen Gläubiger betrachtet werden, der mit fingirten Werthen
zahlt, der sich also seines Antheils an der Aufgabe des Marktes entschlage,
sür das gehörige Maß der reellen Umlaufswerthe zu sorgen, der sogar bei¬
trägt, diese Werthe zu verdrängen. Insofern dies für den betreffenden
Gläubiger ein Nutzen ist, kann man nun freilich sagen: es sei ein Nachtheil,
wenig Papiergeld ausgegeben zu haben. Wenn es sich aber darum handelt,
das Papiergeld überhaupt wesentlich zu beschränken, so ist doch offenbar
ein Vortheil, wenn man die schwierige Aufgabe, reelle Umlaufsmittel nach¬
träglich zu beschaffen, sich durch mäßigen Gebrauch der Schaffang sictiver
Werthe erleichtert hat. Wir müssen abwarten, ob der Finanzminister ein an¬
dermal Gelegenheit nimmt, seine befremdliche Aeußerung über diesen Punkt
zu erläutern.
Aus der Sitzung vom 14. December ist zu erwähnen, daß der Cultus¬
minister das ebenso wichtige als summarische Gesetz einbrachte, dessen zwei ein¬
zige Paragraphen die Aufsicht über alle öffentlichen und Privatnnterrichts-
und Erziehungsanstalten dem Staate zuweisen und demgemäß die kirchliche
Aufsicht über solche Anstalten der Staatsdisciplin, der Staatsauswahl der
Personen und der Widerruflichkeit des ertheilten Auftrages durch den Staat
unterwirst. Die Thronrede hatte diesen Gesetzentwurf schon angekündigt, dessen
Inhalt als selbständiges Gesetz außerhalb des Unterrichtsgesetzes eingebracht
worden, um die große principielle Frage, daß die Schule ausschließlich und
unmittelbar Staatsangelegenheit ist, abgesehen von dem zweifelhaften Schick¬
sal des Unterrichtsgesetzes, sofort und jedenfalls zu erledigen.
Die neuesten Nachrichten melden, daß Herr Wilhelm Rüstow in Ver¬
sailles von Herrn Thiers sehr freundlich aufgenommen worden sei. und seine
militärische Weisheit nun über der Reorganisation des französischen Kriegs-
und Herwesens leuchten lasse. Viele deutsche Blätter zeigen sich verwundert und
indignirt darüber, daß ein geborener Deutscher und ehemaliger preuß. Officier
auf diese Weise nach seinen schwachen Kräften dazu beiträgt, gegen seine
eigene Heimath den Tag der Rache, den man jenseit der Vogesen so leidenschaft¬
lich herbeisehnt, in den bekannten fünf oder zehn Jahren möglich zu machen.
Wir theilen diese Verwunderang keineswegs. Auch über Rüstow's „Krieg
um die Rheingrenze" sind wir niemals verwundert gewesen — wir haben
weit mehr Erstaunen darüber empfunden, daß es Deutsche gab, die dieses seit
langer Zeit Schimpflichste literarische Erzeugniß sich anschafften, welches die
deutsche Muttersprache mißbraucht, um Deutschland zu besiegeln. Wir un¬
sererseits konnten durch keine Leistung des Herrn Rüstow mehr überrascht
werden, seitdem wir uns im Besitze des Pariser Journals ,,1'niLtoire" vom 22.
August 1870 befanden, in welchem die dritte der officiellen Nachrichten
also lautet:
„1.6 eolouel Rusto^v, ?ruijLien ä'origine, mens nüturg-Il^e Luisse,
et Mi avait ete tort utile an in^reeuiil Niet pour sou tlÄViüI
ne travstornuMon ac 1'u,rupe krg-n^iiise, «se ac retour Z, I'iiriL."
Wir finden in dieser Stelle am bezeichnendsten die Worte: „est as retour
n,?aris," da durch dieselben die längstgeahnte Thatsache, daß Herr Rüstow
der ihm zur Gewohnheit gewordenen Vaterlandslosigkeit durch Verlegung
seines Schwerpunktes nach Paris ein Ziel setzen werde, schon am 22. August
1870 officielle Bestätigung findet.
Die Vermuthung, daß Herr Rüstow von Herrn Thiers vielleicht in den
Gerichtshof über die ehrenwvrtbrüchigen französischen Officiere als Sachverstän¬
diger werde berufen werden, vermögen wir nicht zu bestätigen. Dagegen ist
sicher, daß sein Buch „der Krieg um die Rheingrenze" in's Französische, Hol¬
ländische, Englische, Italienische übersetzt ist; nur — in's Deutsche ist es un¬
Es ist wieder still geworden, fast so still als im hohen Sommer, wo die
Politik die preußische Hauptstadt ganz verlassen zu haben schien. Der Reichskanzler
hütet das Haus und der preußische Landtag hütet sich vor Ueverstürzungen,
indem er sich vor zu häufigen Sitzungen hütet. Wie sich doch die Ansichten
ändern! Vor drei Wochen, bei der Eröffnung des Landtages, hätte Jeder für
einen Ketzer gegolten, welcher daran gezweifelt hätte, daß der Haushaltsetat
bis zum Schlüsse des Jahres festgestellt sein würde. Dann, als es mit den
Plenarsitzungen stockte, hieß es, Alles solle nachgeholt werden, früh und
Abends sollten bis zu den Weihnachtstagen Sitzungen sein, aber es kam nicht
einmal zu einem Entwurf, sondern man resignirte sich mit dem süßen Be¬
wußtsein, nicht in den Fehler des Reichstages zu fallen und zu schnell zu
arbeiten. Wer etwas nicht thun will, dem fehlt es nie an Gründen.
Das Avr i'vssumus wird mit Unrecht dem römischen Stuhl allein vindicirt,
während es in jeder Lage des Lebens unzähligem«! vorkommt. Die Berathung
des Etats würde ungründlich sein, wenn sie vor Weihnachten zu Ende ge¬
bracht werden sollte und so wird man ein Nothgesetz machen und bis in's
neue Jahr warten. Was dann aus den übrigen Gesetzen werden soll, mag
der Himmel wissen. Herr v. Forkenoeck hielt ein Jahr für nöthig, um alle
Borlagen zu berathen, aber nach dem bisherigen Tempo dürfte dazu etwa die
Zeit des trojanischen Krieges gehören.
Wird nicht schließlich doch ein unparlamentarischer Kritiker meinen, daß
die Zahlung von Diäten doch wohl nicht ganz ohne Einfluß auf die Methode
der Arbeit sei? In so fern sicher mit Unrecht, als sich dessen Niemand bewußt
ist und auch positiv mit Unrecht, weil noch allerlei tiefere Ursachen vorhanden
sind, um die Unthätigkeit zu erklären. Die Thronrede vom 26. November
mit ihrer Abundanz von Vorlagen konnte einen Augenblick darüber täuschen,
daß der preußische Landtag nur noch eine untergeordnete Rolle spielt; daß es
so ist und daß er sich in derselben unbehaglich fühlt, das kann man an
beiden Enden der Leipziger Straße zur Genüge beobachten. Die Herren
tragen im Grunde genommen ihr Geschick noch mit mehr Verständniß und
Grazie. Sie haben schon seit dem Einbruch der neuen Zeit einen gewissen
melancholischen Zug und ganz leise tönt es wie die Klagelieder super lluminÄ
l^bxloms. Es muß irgend etwas geschehen, etwas Großes, Undenkbares,
Unsagbares, wenn das Herrenhaus wieder einmal eine Rolle spielen soll und
deshalb wird es sich vorläufig darauf beschränken, den Fortschrittsdrang der
Negierung und des Abgeordnetenhauses zu mäßigen. So viel ist sicher, daß
die neueren Minister, wie Leonhardt und Camphausen, die Lieblinge des
Herrenhauses nicht sind und daß Alles, was aus ihrer Hand kommt, im
Herrenhause eine schlimme Stunde haben wird. Es giebt dort Leute, welche
schlankweg behaupten, daß Herr Leonhardt gar kein Jurist sei und für die
Steuerreformen des Herrn Camphausen hat man dort erst vollends wenig Ver¬
ständniß. Freilich stehen die Chancen derselben auch sonst ziemlich schlecht.
Im ersten Augenblick war alles geblendet, die Steuerbefreiung der Armen
erschien als ein gewaltiger Fortschritt und die Aufhebung der Schlacht- und
Mahlstcuer ist von den Liberalen mit einer nicht nachlassenden Zähigkeit stets
gefordert worden. Jetzt erheben sich allerlei Bedenken, die Conservativen sehen
den Mittelstand ruinirt, die Demokraten fürchten eine Verkürzung des Wahl¬
rechts. Die Spenersche Zeitung und die Volkszeitung machen gleichzeitig
Opposition. Das sagt Alles.
In der That ist zum Beispiel für Berlin, das doch sehr ins Gewicht
sällt. die Finanzreform sehr bedenklich. Die Aufhebung der Mahl- und Schlacht¬
steuer und die Steuerbefreiung der ärmsten Klasse ist eine Prämie auf den
Zuzug gerade der Armen, während noch ganz vor Kurzem die Behörden sich
sehr mit Recht weigerten eine solche Prämie dadurch auszusetzen, daß sie selbst
für Abhilfe der Wohnungsnoth sorgten.
Das Abgeordnetenhaus wird freilich nicht zurückweisen, dazu ist es zu
sehr engagirt. Es wird sogar den großen Städten noch die ihnen durch das
Gesetz erlassene Facultät auf Forterhebung der Schlachtsteuer streichen. Dann
wird das Herrenhaus ein Einsehen haben und sich den stillen Dank so manches
Mannes verdienen, der sonst zu seinen Gegnern gehört und der dann denken
wird, wie es im Lustspiel heißt: Einmal hat er's doch gut gemacht.
Der Trinkspruch, welchen der Kaiser Alexander am 8. December zu Se.
Petersburg beim Se. Gevrgsfest auf den Kaiser von Deutschland und auf
die anderen Ritter des Se. Gcorgsordens von der deutschen Armee ausgebracht,
hat in ganz Europa die Ueberzeugung hervorgerufen, daß nur bei dem wirk¬
lichen Bestehen inniger Freundschaftsbande der Herrscher eines großen Staates
so von einem anderen Herrscher und seiner Armee sprechen kann. Kein Zweifel
hat sich in ganz Europa geregt, daß hier nicht Worte und Artigkeiten, sondern
der volle Ernst einer wichtigen Thatsache vorliege. Hin und wieder hat einer
der unermüdlichen Feinde Deutschlands auch bei dieser Gelegenheit die An¬
nahme hervorgesucht, die russisch-deutsche Freundschaft beruhe nur auf der
persönlichen Sympathie der beiden jetzigen Kaiser. Daran knüpft sich
dann die bekannte Erzählung von dem Deutschenhaß des russischen Thron¬
folgers.
Wir sind in der Lage, nach zuverlässigster Mittheilung zu berichten, daß,
als der Kaiser Alexander mit tief bewegter Stimme seinen Trinkspruch aus¬
gebracht hatte, der Thronfolger zu seiner Umgebung in französischer Sprache
die vernehmlichen Worte sagte: „Gebe Gott, daß sich dies erfülle."
Bei unbefangener Prüfung ist es leicht, sich zu überzeugen, daß auch die
Worte des Thronfolgers mehr sind, als eine Wendung der Höflichkeit. Ru߬
land hat von Deutschland nicht das Allermindeste zu befürchten, es wäre die
allerungesundeste Politik, die darauf ausginge, uns gewaltsam mit Rußland
zu überwerfen. Warum soll also Rußland bei Deutschlands Macht und
Glück scheel sehen? Dagegen hat Rußland von Deutschlands Freundschaft
stets viel gewonnen und hat beinah noch mehr zu gewinnen. Es ist von
Werth, eine starke Vormauer zu haben, die einen Staat nicht verhindert, in
die Geschicke des Welttheils einzugreifen, weil sie an wichtigen Stellen der
directen Berührung freien Spielraum läßt, die aber den betreffenden Staat
an seiner verwundbarsten Stelle unnahbar macht. Das ist ein Dienst, den
Deutschland Nußland leistet. Es ist noch nicht Alles.
Nußland hat noch eine reiche, nach menschlichem Ermessen auch an Gegen¬
sätzen, Stürmen und Leidenschaften reiche sociale Entwickelung vor sich. Für
ein solches Reich ist die wohlthätigste Nachbarschaft die eines sittlich wohlge¬
ordneten Staates. Die schlechteste Nachbarschaft wäre ein convulsivisch zer¬
rissenes, tief krankes und im Niedergang begriffenes Staatswesen, welches, seine
aus Ueberlebtheit entspringenden Gährungsstvffe in den unreifen Gährungs-
proceß, den das russische Volk noch durchzumachen hat, hineinzuwerfen, die
unmittelbare Berührungssphäre fände. Der Kaiser Alexander hat wohl ge¬
wußt, was er sagte, als er sprach: er sehe in der Waffenbrüderschaft der
Armeen und in der Freundschaft der Herrscher Rußlands und Deutschlands
die beste Bürgschaft für Aufrechthaltung des Friedens und der gesetzlichen
Ordnung in Europa. Auch der Thronfolger wird gewußt haben, als er zu
den väterlichen Worten sein Amen gab, was das Beispiel einer sittlich festen
monarchischen Ordnung im Herzen Europas für Rußland bedeutet. Fan¬
tastisch und beinahe läppisch erscheinen gegen diese einfachen und doch unab¬
weisbaren Erwägungen die Gesichte von einer russisch-französischen Verbrü¬
derung. Was hätte Rußland von Frankreich zu gewinnen? Was wäre
Nußland, wenn es das Unmögliche erreicht hätte, sich mit Frankreich, wie
tolle französische Zukunftspolitiker auszumalen lieben, in Deutschland getheilt
zu haben? Rußland wäre ein ebenso zerrütteter Staat, wie Frankreich, von
dem Tage seines in gewissen Zukunftsträumen ihm beigelegten Sieges an
geworden. In Wahrheit aber würde es sich tödtlich erschöpfen, ehe es diesen
Sieg gewänne. Es würde den Welttheil auf unberechenbare Zeit durch Lösung
aller natürlichen Bündnisse in Unruhe und Verwirrung stürzen. Es würde
seine großartigen Erfolge in Centralasien ungenutzt lassen und seine innere
Entwickelung versäumen, die der Pflege so sehr bedarf.
Man darf mit Festigkeit die Ueberzeugung aussprechen, daß keine wirklich
staatsmännische Persönlichkeit, keine Persönlichkeit, die aus die Politik von
wahrhaftem Einfluß ist, in Nußland solche tolle Gedanken hegt. Es sind,
wie überall, die Dilettanten der Politik, in deren Gehirn solche Blasen auf¬
steigen, namentlich diejenigen Dilettanten, welche sich von den Wellen des seit
dem letzten polnischen Aufstand noch immer leidenschaftlich aufgeregten Natio¬
nalgefühls tragen lassen. Daß bei einem Volk, wie das russische, das Natio¬
nalgefühl leicht auf Irrwege geräth, darf nicht Wunder nehmen. Aber es ist
eine beruhigende Thatsache, daß die leitenden Regionen Rußlands durch solche
Phantome weder verführt noch fortgerissen werden.
Wir haben die Wichtigkeit der deutschen Freundschaft für Nußland ange¬
deutet und dadurch die Ueberzeugung in uns befestigt, daß diese Freundschaft
von den entscheidenden Kreisen Rußlands mit allem Ernst geschätzt und ge¬
pflegt wird. Die Wahrheit gebietet aber hinzuzufügen, daß nicht minder die
Freundschaft Rußlands für Deutschland vom höchsten Werth ist.
Das ist lange Jahre bei uns verkannt worden, hauptsächlich in Folge
der Stellung, welche der Kaiser Nikolaus zu dem westeuropäischen Liberalis¬
mus eingenommen hatte. Aber schließlich bleibt die handgreifliche Lehre
der Geschichte, daß Napoleons I. sarkastischer Ehrgeiz, der über ungeheure
Machtmittel verfügte, sich nur an der russisch-preußischen Waffenbrüderschaft
gebrochen hat. Und was Deutschland und mit ihm Europa in der letzten ge¬
waltigen Kriegsperiode dem Kaiser Alexander II. zu danken hat, das bezeugte
Kaiser Wilhelm mit dem Worte: „Eurer Majestät verdanken wir, daß der
Kampf nicht die äußersten Dimensionen angenommen hat. Gott segne Eure
Majestät dafür."
Schon der bloße Umstand, daß Rußlands Freundschaft für Deutschland
ausgesprochen ist, wird möglicherweise die tollen Sprünge französischer Raserei
vermindern und der Welt den einen oder den anderen Anblick mehr von
Grauen und Blutvergießen ersparen.
Es gibt freilich Leute, die sofort die Ostseeprovinzen im Munde sühren,
wenn von russischer Freundschaft die Rede ist. Wir aber können nur wün¬
schen, daß das deutsche Volk seinem leitenden Staatsmann eine Eigenschaft
ablerne, die ihm kürzlich Jules Favre nachgerühmt hat. Dieser sagte: Fürst
Bismarck weise jede Gedankenreihe ab, die nicht zu einem nützlichen Ende
führe. Zu welchem Ende kann denn wohl die sentimentale Schönthuerei mit
den Ostseeprovinzen führen? Sollen wir der russischen Regierung vorschreiben,
wie sie dort regieren muß? So thöricht ist wohl Niemand, im Ernste zu
verlangen, daß die russische innere Politik von Deutschland geleitet werde.
Nun wohl, dann müssen wir uns entschließen, die Ostseeprovinzen zu erobern.
Nun bilden diese einen Küstensaum ohne Hinterland, den wohl eine seewärtige
Kolonisation besiedeln konnte, der aber nimmermehr für sich einen gesicherten
politischen Besitz darstellen kann. Wir müßten also ein gutes Stück des in¬
neren Nußland dazu erobern, das heißt, wir müßten die namenlose Thorheit
begehen, die wir eben mit voller Ueberzeugung den ernsthaften russischen Ge¬
sichtspuncten für fernliegend erklärten, uns ein großes Stück fremder Natio¬
nalität einzuverleiben.
Wir können für die deutschen Bewohner der Ostseeprovinzen, die dort
eine allerdings nur durch ihre Bildung und sociale Stellung bevorzugte Mino¬
rität sind, so wenig einschreiten, als wir jemals etwas für die Deutschen in
den Vereinigten Staaten thun könnten, wenn dieselben sich mit ihren dortigen
Mitbürgern überwerfen sollten. Wer das nicht einsieht, wer den Kaiser von
Deutschland zum Protector aller deutschen Ausgewanderten in der ganzen
Welt machen will, der verlangt, daß die Deutschen allein die Erde beherrschen;
der verliert sich, vielleicht ohne es zu wissen, in einen Ehrgeiz, den unsere
schlimmsten Feinde bemüht sind, uns anzudichten, glücklicherweise ohne bei
vernünftigen Völkern Glauben zu finden.
Was die Ostseeprovinzen betrifft, so müssen wir uns darauf beschränken,
der russischen Negierung alle Weisheit für ihre dortige Politik zu wünschen.
Das Einvernehmen mit dem russischen Reiche darf und kann durch die Ostsee-
Provinzen nicht gestört werden,
Wenn Deutschland wie Rußland alle Ursache haben, ihre gegenseitige
Freundschaft zu pflegen und mit den Früchten derselben zufrieden zu sein, so
wollen wir noch vernehmen, was zwei andere Betheiligte zu dieser Freundschaft
zu sagen haben: Europa und der Liberalismus. Wenn die öffentliche Meinung
Europas von seiner Presse ausgedrückt wird, so haben wir bereits den gün¬
stigsten Ausspruch zu verzeichnen. Mit Ausnahme der französischen Presse
haben alle großen Zeitungen Europas den Trinkspruch des Kaisers Alexan¬
der mit Beifall aufgenommen als ein Symbol, das Europa eine friedliche
Periode verheißt, auf die es endlich wieder ein Recht hat. Ein Aufsteigen
Frankreichs bedeutet für Europa allemal eine Periode voll Unsicherheit und
Kriegführung. Es gehört Frankreichs Erschöpfung dazu, damit Europa eine
Zeitlang Ruhe habe, nicht wie Napoleon III. eitlerweise sagte: „Frankreichs
Zufriedenheit." Denn diese Zufriedenheit besteht nur in dem täglich erneuten
Rausche triumphirender Eitelkeit.
Selbst die englische Presse sieht nicht scheel zu Rußlands Freundschaft
mit Deutschland. Sie weiß, daß Deutschland niemals der Verführer und
Gehülfe bei ehrgeizigen Anschlägen ist. Auch die östreichische Presse hat ihren
Beifall nicht vorenthalten, sie weiß, daß die Freundschaft mit Deutschland auch
ein rücksichtsloses Vorgehen gegen Oestreich zur Unmöglichkeit macht.
Der Liberalismus könnte die Wiederkehr der heiligen. Allianz fürchten.
Es war Metternich, der dieser Allianz zuerst die verderbliche Tendenz gab.
Es giebt heute keinen Metternich in Oestreich, als einen, der unschädlich ist.
Später galt Kaiser Nikolaus für die Seele der heiligen Allianz. Heute denkt
weder die russische noch die deutsche Regierung daran, die natürliche Ent¬
wickelung der Völker und vor Allem die des eigenen Volkes zu hemmen.
Die alten Gegner: Liberalismus und traditionelle Regierungskunst haben be¬
reits viel von einander gelernt, und was die Hauptsache ist, sie haben nun¬
mehr dieselben Feinde: den Ultramontanismus und die Internationale. Der
Liberalismus wird sein Werk, dessen Mittel die gesetzliche Reform und die
friedliche Ueberzeugung ist, durch die russisch-deutsche Freundschaft heute an
keinem Punkte gestört sehen.
Frau Rath. Briefwechsel von Katharina Elisabeth Goethe. Nach den
Originalen mitgetheilt von Robert Keil. Leipzig, F. A. Brockhaus. 1871.
Briefe von Goethe's Mutter und an dieselbe find an mancherlei Stellen
gedruckt; man hat bei diesen fragmentarischen Publicationen ihres Brief¬
wechsels stets das Bedürfniß gehabt, von der trefflichen Frau Rath mehr zu
erfahren. Der Herausgeber ist, soweit in seinen Kräften stand, diesem
Wunsche gerecht geworden. Irren wir nicht, so ist derselbe durch zufällige
glückliche Umstände in den Besitz einer Anzahl Original-Correspondenzen neben
dem, was in dieser Richtung abschriftlich aus Riemer's Nachlaß herstammt,
gekommen, und wir freuen uns, daß das, was wir in den Händen Goethe¬
scher Erben glaubten, aus diesem Wege seinen Weg in die Oeffentlichkeit ge¬
funden hat, weil wir mit vielen unserer literarischen Freunde die Ueber¬
zeugung theilen, daß Goethe's Erben auch diese Briefe vor der Veröffent¬
lichung sorgfältig bewahrt hätten.
In dem Keil'schen Buche werden 34 neue Briefe von und neue an
die Frau Nath gegeben, die in anziehender Weise das uns vorschwebende
Bild der Goethe'schen Mutter vervollständigen und manches Interessante zur
Charakteristik ihrer Umgebung und der Zeit darbieten. Mit vollem Recht hat
der Herausgeber den Originaltext der Briefe genau wiedergegeben, die Ein¬
leitung und die Bemerkungen auch für weitere Kreise berechnet. Ueberdies
hat er sein Buch durch Wiedergabe der bereits gedruckten Briefe vervollstän¬
digt, so daß wir hier ziemlich Alles beisammen haben, was wir aus dem
schriftlichen Verkehr der Frau Rath besitzen. Einzelnes ist dem Herausgeber
entgangen, dessen Erwähnung kein Vorwurf gegen die Vollständigkeit der Ar¬
beit sein soll. Wer vermag in unserer Zeit alle Zeitschriften zu beherrschen!
Für eine künftige Edition dürsten noch die Burkhardt'schen Publicationen in
den Grenzboten von 1870 und 1871 zu verwerthen sein, und vielleicht ist dann
auch der große Schatz der Briefe von Goethe's Mutter an Amalia im Groß-
herzogl. Haus-Archiv zugänglich, an welches der Herausgeber in der Einleitung
erinnert. Nur möchte sich letzterer eines unrichtigen Ausdruckes bedient haben,
wenn er von dem „Auffinden" dieser Briefe spricht, derer, so viel wir wissen,
man in Weimar sich stets bewußt gewesen ist.
Keil's Arbeit ist sorgfältig. Vielleicht hätte er auch den hie und da sehr
ungenauen Abdruck der sich anderwärts findenden Briefe verglichen, wenn er
die Originale vor sich gehabt hätte. Denn daß seine Vorgänger bezüglich
der Schreibweise und der Textesrichtigkeit überhaupt viel gesündigt haben,
lehrt schon ein Blick auf die vorangehenden Veröffentlichungen. Denn mit
weichem Rechte z. B. Dorow (Keil, Seite 134) den Namen der Tochter
„Louise" ausläßt und einen Zusatz am Ende der Briefe, „das Unthier heißt
Mohr" u. f. w. macht, der im Original gar nicht steht, will uns nicht be¬
greiflich erscheinen. — Aehnliche Mängel bietet auch die Veröffentlichung in
Weimars Album.
Indessen das sind beiläufige Bemerkungen, die der Keil'schen Arbeit keinen
Eintrag thun, die man gern lesen und nicht ohne Befriedigung aus der Hand
legen wird. Wir können nur wünschen, daß der Herausgeber, der, wie wir
hören, noch manches Werthvolle aus der classischen Zeit besitzt, in seinen
Publicationen fortfährt, damit doch wenigstens etwas von Weimar aus ge¬
schieht, nachdem der gute Glaube, daß die Goethe'schen Erben vorgehen, längst
in gründlicher Weise erschüttert worden ist. —
Zur Erinnerung an Heinrich Steffens. Aus Briefen an seinen
Verleger. Herausgegeben von Max Tietzen. Mit dem Portrait Steffens
nach Thorwaldsen. Leipzig, G. E- Schulze.
Das Schriftchen enthält außer einem kurzen biographischen Abriß 44
Briefe Steffens an seinen Verleger Joseph Max in Breslau, welche in der
Hauptsache Geschäftliches darbieten, aber an vereinzelten Stellen manches Licht
über die Zeit und die Kreise verbreiten, in denen Steffens sich bewegte. Aus
ihnen leuchtet ein prächtiger Charakter Steffens' hervor, und sie sind einer
Lectüre werth; namentlich werden sie für die Biographie Steffens nicht un¬
beachtet bleiben können. Der Einleitung nach zu urtheilen, in der die pro¬
phetische Intuition des Dichters und Naturphilosophen sehr stark betont
wird, glaubten wir allerdings mehr interessante Aeußerungen über jene in den
Briefen zu finden; von Politik und dem deutschen Berufe Preußens, an dem
Steffens mit felsenfesten Glauben hing, ist wenig die Rede, Die Briefe ent¬
halten im Ganzen nicht viel mehr als die Behandlung der nächstliegenden
literarischen Interessen, welche Autor und Verlagsbuchhändler pflegen, —
Die Ausstattung des Schriftchens ist gut, und willkommen die beigegebene
Bkdt. Photographie. .
Die kurze Erwähnung der folgenden Werke ist wegen Raummangels be¬
dauerlicher Weise unter der Weihnachtsbücherschau d. Bl. weggeblieben:
Schlosser's Weltgeschichte, das berühmteste Werk eines der frei¬
müthigster und ehrlichsten deutschen Forscher, welche jemals in Deutsehland
Geschichte lehrten, und fortgesetzt bis auf unsere Tage im Geiste des vor einem
Jahrzehnt verstorbenen Meisters, liegt in einer neuen stattlichen Volksausgabe
(90 Lieferungen zu 5 Sgr.) bis zur 26. Lieferung vor uns (Oberhausen a. d. Ruhr
und Leipzig, Ad. Spaarmann's Verlagsbuchhandlung) und kann jedem Deut¬
schen, der an sicherer Hand die weiten Gebiete der Geschichte des Menschen¬
geschlechtes durchschreiten will, warm empfohlen werden.
Nicht minder freudig aber erwähnen wir die Klassiker-Ausgaben
von Karl Prochaska in Teschen, vornehmlich die Werke Schillers und
Goethes. Namentlich die theureren Ausgaben Prochaska's -— die aber im
Vergleich zu den Preisen aus den Tagen des Cotta'schen Privilegiums immer
noch spottbillig sind — verdienen unter der Massenproduction an Klassiker¬
ausgaben seit dem Falle jenes Privilegiums, sowohl wegen der typischen Sorg¬
falt, als wegen der Correctheit des Inhaltes und der Lesarten — in Betreff
deren uns Cotta bekanntlich keineswegs verwöhnt hatte, besondere Beachtung.
Und die neue Antiqua-A usgabe Prochaska's von Schiller und G velde,
in welcher von Goethe's Werken erst Faust und Hermann und Dorothea,
Schillers Werke aber vollständig vorliegen, ist ein der beiden deutschen Geistes¬
heroen durchaus würdiges Prachtwerk. —
^
Mit Ur- Ä beginnt diese Zeitschrift ein Neues Onartal, weiches
durch alle Buchhandlungen und Dostämter des In- und Aus¬
landes zu beziehen ist.
Leipzig, im December 1871.Die Nerlogshandlung