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]]>Zeitschrift für PotitiK und Literatur.
29. Jahrgang.
I. Semester. U. Band.
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Leipzig,
Verlag von Friedrich Ludwig Herbig.
(Fr. WNH. Grunow.)
187V.
chulstrike in Tirol. S. 190.
ge in den russischen Ostseeprovinzen.
193.
age in Frankreich (Juni.) S. 467.
en Niederlanden (Mai.) S. 269.
Humanität, Klage aus Holland.
39S.
erungsfragen. S. S8.
tliche Gesundheitspflege. S. 197.
Frauenbewegung und ihre männlichen
örderer. S. 298.
eligiöse Bewegung in der Schweiz.
302.
erein gegen den Moorrauch. S. 326.
englische Werkhaus S. 494.
und Schilderungen.
tz, der Gegner Ludwigs d. XIV. S. 1.
Regie eines großen Osterspieles im
1583. S. 99.
oberste Gerichtshof vor 400 Jahren.
130.
Stadtgründung unter Katharina d. II.
139.
und die Schlesien. S. 202.
h d. II. und Katharina d. II. S. 241.
Ausgrabungen in Ostia. S. 334.
Vergangenheit Siciliens. S. 361.
Norden u. Süden Deutschlands. S. 417.
Dr. Edmund Pflei derer. Gottfried Wilhelm Leibniz als Patriot, Staats¬
mann und Bildungsträger. Leipzig, Fues' Verlag 1870.— or. Edmund Pfleiderer,
Leibniz als Verfasser von 12 anonymen Flugschriften. Leipzig, Fues' Verlag 1870.
Mit Staunen und Rührung werden spätere Geschlechter auf den unver¬
wüstlichen Idealismus zurückblicken, der unserem Volk in den schlimmsten
Perioden seiner Geschichte treu geblieben ist, und der, selbst den Antrieb zum
Besseren in sich tragend, dasselbe stets in bessere Zeiten hinübergerettet hat.
Oftmals ist geschildert worden, wie in der Zeit, da unser Reich im Sterben
lag, der Deutsche in das Land des Schönen flüchtete, und die höchste Blüthe
unserer Literatur zusammenfiel mit dem tiefsten Stand unserer nationalen
Existenz. Oftmals ist Goethe angeklagt worden, daß er, während die Schlachten
um unser politisches Sein und Nichtsein geschlagen wurden, heiteren Sinnes
die Urpflanze suchte und in die Probleme der Farbenlehre sich vergrub. Und
doch ist es vielleicht noch wunderbarer, daß ein deutscher Denker, der zwei
Jahre vor dem westfälischen Frieden geboren wurde und zwei Jahre nach dem
Ende des spanischen Erbfolgekriegs starb, dessen Leben in die dunkelste Zeit
der deutschen Geschichte fiel, daß G. W. Leibniz in beneidenswerther Heiter«
leit des Gemüths ein philosophisches System ausdachte, dessen triumphiren-
der Gedanke die Harmonie aller Dinge ist. Und was das Erstaunlichste ist,
der Denker, der mit sicherer Beweisführung diese Welt für die beste aller
Welten erklärte, dieser Zeitgenosse Ludwigs XIV. und seiner Raubkriege,
war ein Deutscher durch und durch, mit jeder Faser seines Geistes.
Immer wieder erinnert das Wesen Leibnizens an den großen Weima-
raner. Dieselbe zum Frieden und zum Ausgleich neigende Natur, derselbe
' unerschütterliche Gleichmuth in allen Wechselfällen des Lebens, derselbe Uni¬
versalismus in den Studien und deren Begründung auf die Naturwissen¬
schaften, derselbe Wissensdrang und' derselbe Zug zu einer allumfassenden
Weltbildung. In Einem doch ist Leibniz noch vielseitiger gewesen. Er war
nicht blos ein Patriot, sondern er war auch zum Politiker angelegt, zum
Staatsmann. Ihm war es Bedürfniß unmittelbar zu wirken und die Bildung
selbst galt ihm nichts, wenn sie nicht fruchtbringend für das Leben verwendet
würde. Mit seiner Gewohnheit der Contemplation, die alles harmonisch zu¬
sammenschaute, contrastirt merkwürdig der rastlose Eifer, zu dem ihn die Theil¬
nahme für die großen politischen Ereignisse seiner Zeit hinriß. Sehr unvoll¬
kommen war bisher diese Seite seines Wesens bekannt. Jetzt ist sie Jeder¬
mann zugänglich durch das treffliche Buch von Edmund Pfleiderer, das die
Ausgaben von Ouro Klopp und Foucher de Careil zum erstenmal für einen
größeren Leserkreis verwerthet, und zwar so, daß das strengwissenschaftliche
ausgeschieden wird und nur die nationale Seite in Leibnizens Wirksamkeit
zur Darstellung kommt.
Allerdings sind jene — leider nach unvollendeten — Sammelwerke auch
sonst schon benutzt worden. Zwar Hettner, der sich hier auf Biedermann
stützt, folgt noch zu sehr den aus der bisherigen Unkenntnis; entsprunge¬
nen Vorurtheilen. Die Darstellung Kuno Fischer's, klar und geistreich
gruppirt, ist doch nur ein Abriß, der die Reproduction der Leibnizischen
Philosophie einleitet. Eine ausführliche populäre Biographie hat neuerdings
ein hannoverischer Pastor Grote herausgegeben, „Leibniz und seine Zeit",
der aber dabei einen specifisch welfischen Leserkreis im Auge gehabt zu haben
scheint, denn er läßt Leibniz als Welfenapostel gegen das heutige Preußen-
Deutschland aufmarschiren. Eine Darstellung der Leibnizischen Theologie
hat A. Pichler unternommen, der schismatische Katholik, der für seine Ge¬
schichte der kirchlichen Trennung zwischen dem Orient und Occident erst den
geforderten Widerruf leistete, dann den Widerruf widerrief und für sein
neuestes Werk jedenfalls keine günstigere Meinung bei den Männern des
Index für sich erwecken wird, denn sein Ideal ist der Leibnizische Gedanke
einer vereinigten deutschen Nationalkirche. Ein eifriger Lutheraner hat sogar
die Befürwortung der christlichen Missionen durch Leibniz zum Gegenstand
eines eigenen Schriftchens gemacht. — Was aber Leibniz für das deutsche
Volk gewesen ist. hat für das Volk zum erstenmal E. Pfleiderer dar¬
gestellt.
Auf gründlichen Studien beruhend ist doch die Schrift mit frischem ju-
gendlichem Sinn geschrieben und mit der begeisterten Freude, der Nation
Einen ihrer Besten zurückzuerobern. Sie ist zum Theil apologetisch gehalten,
aber das erforderte die bisher vorherrschende Behandlung Leibnizens. Den
künstlerischen Eindruck stört wohl zuweilen der stoffliche Charakter des Buchs;
allein dieser Mangel ist zugleich ein Vorzug. Es war unumgänglich, mög¬
lichst Vieles aus den Schriften Leibnizens selbst mitzutheilen, und man kann
für diese reichlichen Auszüge und Uebersetzungen nur dankbar sein, sofern die
mehrsprachigen Originalwerke doch nicht Jedermann zugänglich und noch immer
vielfach zerstreut sind. Auch diese neueste Darstellung kann noch nicht eine
abschließende sein. Noch sind die Schätze des Leibnizischen Geistes nicht völlig
gehoben. Er pflegte alle politischen Schriften anonym herauszugeben und
so mag außer den Handschriften im hannoverschen Archiv manches Flug¬
blatt aus seiner Feder vorhanden sein, das der richtigen Bezeichnung noch
harrt. Pfleiderer hat selbst einen beachtenswerthen Fund von Leibniziana ge¬
macht. In einem Fascikel von Flugschriften aus dem Ende des 17. Jahr¬
hundert, den er auf der Tübinger Universitätsbibliothek fand, glaubt er neben
zwei bekanntermaßen Leibnizischen Schriften zwölf andere entdeckt zu haben,
die er mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit auf Leibniz zurückführt.
Einem so genauen Leibnizkenner darf man wohl einigen Takt in diesen Dingen
zutrauen. Er hat seine Hypothese übrigens ausführlich in einer eigenen Schrift
begründet und man wird bei der Mehrzahl der Schriften die Gründe als über¬
zeugend anerkennen müssen. Eben diese Schriften füllen dann in sehr willkommener
Weise eine doppelte Lücke in der politisch-literarischen Thätigkeit Leibnizens aus,
die eine wahrend seines Aufenthalts in Paris in den Jahren 1672—1676, die
andere während der Verhandlungen des Ryßwicker Friedens im Jahr 1697.
Schon jetzt hat man eine fast ununterbrochene Perlenschnur Leibnizischer Schrif¬
ten, welche mit weitblickenden Ideen, wie mit praktischem Rath die politischen Er¬
eignisse des Vaterlands begleiten, bald an das Volk sich wenden, bald an
die Fürsten, aus denen bald der rechnende Staatsmann redet, bald der warme
Patriot und Agitator.
Die eminente Vereinigung dieser beiden Eigenschaften ist es, was Leib¬
niz ganz besonders charakcerisirt. Nichts unbilliger, als in ihm den Hof¬
mann zu sehen oder gar den Vertreter jener franzöfirenden Staatskunst, die
nach dem westfälischen Frieden in den deutschen Territorien einriß. Warum
er an die Höfe strebte, darüber hat er sich selbst sehr bezeichnend aus¬
gesprochen: „Diejenigen, welche die etwas sparsame Natur, um die
Welt bunt zu schattiren, mit einem geringern Grad des Verstands
und Macht begabt, thun ihrem Gewissen genug, wenn sie sich als Instru¬
mente der Ehre Gottes brauchen lassen. Welche mit Verstand ohne Macht
von Gott versehen, denen gebührt zu rathen, gleichwie denen die Macht ge¬
geben, gütig Gehör zu schenken, gute Vorschläge nicht in den Wind zu schla¬
gen, sondern zu gedenken, daß gute, aber verachtete Rathgeber vor dem all¬
wissenden Richter dermaleinst, auch schweigend, ihnen als Vorwurf ihrer
Trägheit und Schlechtigkeit zum Schrecken stehen werden. Welchen aber
Gott zugleich Macht und Verstand gegeben, das sind die Principalesten In¬
strumente, das sind die Helden von Gott geschaffen, deren unschätzbares Ta¬
lent aber, so es vergraben, ihnen schwer fallen wird." Leibniz war sich be¬
wußt, nützen zu können als Rathgeber der Großen; er hatte den unwider-
fechtenden Trieb zu wirken, und darum zog es ihn nach den Sitzen der Macht.
So se?ar er erst am einflußreichen Mainzer Hof, dann an demjenigen Hanno¬
vers, an dem er am längsten verweilte, und von dem er in Verwandt¬
schaft der Herrscherhäuser den Uebergang nach Berlin fand, wo seine Wirk¬
samkeit bekanntlich durch die Gründung der Academie bezeichnet ist. Und
während der Kriege gegen Ludwig XIV. zog es ihn wiederholt nach Wien,
als dem damaligen Mittelpunkt der auswärtigen deutschen Politik gegen
Frankreich. So schreibt er im Jahr 1695 von Hannover aus an seinen
früheren Schüler, den kaiserl. Rath Boineburg in Wien: „dies Land liefert
mir wenig Stoff. Ihr seid an der Quelle, von der die Beschlüsse ausgehen,
welche ganz Europa in Bewegung setzen; ihr seid im Amphitheater der
Oper, wir nur in den Nebenlogen oder im Parterre." Im Jahr 1680 war
ihm Hoffnung auf eine Anstellung in Wien als Bibiothekar und Reichs-
geschichtschretber gemacht worden. Leibniz antwortete, er hätte sich schon
längst glücklich erachtet, dem Kaiser dienen zu können. „Ich habe ja viele
Gedanken und Vorschläge für den Kaiser und das Reich, mit denen ich einen
ganzen Band füllen könnte, nur möchte ich sie nicht am unrechten Ort und
zur falschen Zeit verpuffen. Doch — bemerkt er in der Nachschrift — wäre
es mir nicht unlieb, wenn Du auf Umwegen diesen Brief dem Kaiser nahe
bringen könntest. Nur möchte ich nicht blos die Wiener Btbliothekarstelle;
das hieße aus dem Tageslicht der Geschäfte in das Dunkel zurücktreten.
Nur eine solche (zugleich praktische) Anstellung (etwa als kaiserlicher Rath)
würde mir genügen, wo ich Gelegenheit hätte, meinen Eifer zu entwickeln,
und dann erst würde ich mich glücklich und befriedigt fühlen. Auch noch
später erneuert er die Versuche, „weil er, obwohl nicht ins Innere der Ge-
schäfte eingeweiht, doch über die neuesten Staatsereignisse wohl einiges
Brauchbare sagen könnte." Allein alle diese Versuche mußten daran schei¬
tern, daß ihm, dem Protestanten, die in Wien herrschende Jesuitenpartei
entgegen war.
So konnte er auch seinem staatsmännischen Trieb nur als gelegentlicher
Rathgeber, nur als Schriftsteller genug thun, in Mmoires, die für den Ge¬
brauch der Höfe bestimmt waren. Aber dies war nur die eine Seite seiner
politisch-literarischen Thätigkeit. Gleichzeitig sucht er auf die Oeffentlichkeit.
auf das Volk selbst zu wirken und in diesen populären, meist deutsch geschrie¬
benen Schriften kommt dann, durch keine diplomatischen Rücksichten gehemmt,
die patriotische Gesinnung des rastlosen Gelehrten zu ihrem vollen, oft gro߬
artig beredten Ausdruck. Wenn jene Stqatsschriften mit ihrer Zurückhaltung
und ihrer Vertiefung in das Detail nicht selten mißverstanden werden konn¬
ten, so lassen die populären Schriften, in denen er sich zu dem Gemeinsinn
seines Volks wandte, keinen Zweifel an der Wärme und Tüchtigkeit seiner
Gesinnung aufkommen. Er, der von Haus kosmopolitisch angelegte euro¬
päische Gelehrte, vermag es nicht, sein tief darniederliegendes Volk zu ver¬
leugnen; wenn sein Herz für das Wohl der ganzen Welt schlägt, so ist
für ihn die Hebung des eigenen Volkes nicht blos der Ausgangspunkt, son¬
dern er sieht in ihm das „Mittel Europas", den tüchtigen Kern der Mensch¬
heit, der nicht besser geholfen werden kann, als wenn den Deutschen ge¬
holfen wird.
Es ist von großem Interesse, in der langen Reihe von Schriften, mit
welchen Leibniz durch vierzig Jahre dem Gang der europäischen Ereignisse
folgte, das einemal den Staatsmann, das anderemal den Patrioten heraus¬
zuhören. Er ist immer beides zugleich, aber je nach dem Zweck der Schrift
überwiegt das eine oder das andere. Seine Anlage ist offenbar die des
Diplomaten. Mit merkwürdiger Sicherheit tritt er dreiundzwanzigjähriger
gleich in seiner ersten politischen Schrift auf, welche der polnischen Königs¬
wahl im Jahr 1669 gilt. Er faßt die europäischen Verhältnisse im Großen
und leitet aus ihnen die Aufgaben der Gegenwart mit der unwiderstehlichen
Logik des Mathematikers ab. Eine der Gefahren, die Deutschland drohen,
ist das russische Barbarenreich. Polen bildet eine Schutzmauer gegen dasselbe;
mit Deutschland zusammen soll es ein Damm sein gegen alle Weltreich¬
gelüste, „mögen sich solche regen, wo sie wollen." Daher das deutsche In¬
teresse an der Königswahl, welche Leibniz — vergebens natürlich — auf den
Pfalzgrafen von Neuburg gelenkt wissen will. In den Rathschlägen, welche
der Verfasser den Polen sür ihre innere Politik ertheilt, ist zugleich die Be-
ziehung auf das eigene Vaterland unverkennbar. Was er von der Schwie¬
rigkeit sagt, zwischen den Klippen einer zuchtlosen Auflösung und einer geist-
tödtenden Centralisirung hindurchzusteuern, was er insbesondere über das Be¬
dürfniß nach vernünftiger, namentlich mehr einheitlicher Gliederung sagt, hat
gleichzeitig Deutschland im Auge.
Die nächste Gefahr aber drohte Deutschland vom Westen. Im folgenden
Jahr begann Ludwig XIV. seine Feldzüge gegen Holland und das Reich; dies
blieb' fortan die europäische Constellation und gab auch der literarischen Thä¬
tigkeit Leibnizens dauernd die Richtung. Er bleibt der unermüdliche, trotz aller
Mißerfolge immer schlagfertige Gegner des französischen Königs, nur daß er,
immer an das Concrete, Nächstliegende anknüpfend, Waffen und Mittel wech¬
selt, und das einemal die Sache mehr als kühler Staatsmann angreift, das
anderemal agitatorisch sich an die öffentliche Meinung wendet. Die Schrift,
welche er 1670 und 1671 zum Theil vor, zum Theil nach dem Ausbruch des
holländischen Kriegs und nach der Wegnahme Lothringens schrieb: „Be¬
denken, welchergestalt die Sicherheit des deutschen Reichs auf festen Fuß zu'
stellen", ist eine Staatsschrift im eminenten Sinn. Leibniz vertritt darin
den Standpunkt der damaligen Kurmainzischen Politik, die bemüht war, den
Status des westfälischen Friedens.festzuhalten und im Interesse des Friedens
und des Gleichgewichts zwischen Frankreich und Oestreich zu vermitteln; für
die Dauer ein gänzlich unhaltbarer Zustand, aber von Leibniz vor Allem im
Sinn der Rüstung und Sammlung der Kräfte vertheidigt. Er rieth den
Holländern, gegen welche allein Ludwig zu einem Schlag aushole, diesem zu¬
vorzukommen und in Frankreich einzubrechen. Den Eintritt des Reichs in die
Tripelallianz von Holland, England und Schweden widerrieth er aber, theils
weil auf diese Allianz, die selbst schon im Schwanken, kein Verlaß sei, theils
aber aus dem triftigsten aller Gründe: Deutschland ist gar nicht in der Ver¬
fassung, einen Krieg gegen Frankreich zu führen. „Abgesehen davon, daß
wir in unserer dermaligen Zerfahrenheit von Niemand sehr als Bundes¬
genosse begehrt und geehrt sind; wir sind zu Haus nicht in der Postur. daß
wir andere außerhalb des Reichs zu garantiren uns verbinden und offeriren
sollten. Offen sage ich es: denn ja die Wahrheit zu bekennen, kein Mensch
außer dem Reich von uns defendiret zu werden hoffet oder begehret. Bei
gegenwärtigem unserm Zustand hat Niemand, der sich in Bündniß mit uns
einläßt, sich etwas anderes zu getrösten, als daß er uns werde beschützen
müssen und hingegen von uns wenig zu gewarten habe. Lasset uns daher
erst und zuvor uns in eine beständige und considerable Postur setzen, so
werden sie wohl eine andere Reflexion auf uns machen müssen. Das deutsche
Reich konnte glücklich sein, wenn es nur wollte, denn die Leute sind herzhaft
und verständig, das Land groß und fruchtbar genug. Gleichwol aber gibts
nichts desto minder die tägliche Erfahrung, daß Deutschland bei weitem nicht
in solchem Flor und Stand sei, als es zu sein in seinen Kräften ist. Denn
der Schäden zu geschweige», so es in diesem letzten (30jährigen) Krieg ge¬
litten, die nichts als die Zeit verbessern kann, so sind doch auch gleichwol
der Mängel viel, die wir Niemand als uns selbst zu danken . . Und welches
ist nun die Hauptgefährlichkeit, das pressirende Hauptsymptom? Nicht etwa
die Schäden in Handel, Münze, Recht, Religion, welche Stücke zusammen¬
genommen uns zwar langsam schwächen und endlich unfehlbar ruiniren, nicht
aber verhoffentlich alsobald über den Haufen werfen können. Was unsere
Republik aber auf einmal stürzen kann, ist ein in- oder äußerlicher Haupt¬
krieg, dagegen wir ganz blind, schläfrig, blos, offen, zertheilt, unbewahrt und
nothwendig entweder des Feinds oder, weil wir bei jeziger Anstalt solchem
nicht gewachsen, des Beschützers Raub sein. So wie es jetzt steht, hängt das
Reich nur an leren seidenen oder strohernen Faden noch zusammen. Alles'
was für die Sicherheit nothwendig ist, fehlt. Was die Geldsachen betrifft,
die Contingente, die oberste Leitung, so ist Alles kläglich bestellt und viele
Reichsstände sehen gar des Reiches Verwirrung und Elend nicht ungern und
hoffen davon Vortheil für sich, während die Großen wie die Kleinen nichts
mehr fürchten als Ordnung. Einheit und Oberleitung . . . Und ein so kläg¬
liches Reich sollte Frankreich gegenübertreten, dem Nachbar, der in Allem
sein gerades Gegentheil ist? einem blühenden, kraftvollen, geordneten Reich,
von einer fleißigen, monarchischen Bevölkerung bewohnt? Die Absicht Frank¬
reichs geht dahin, in Deutschland Meister zu sein, um die schiedsrichterliche
Stellung in Europa zu erlangen. Das geht nicht mit Gewalt, aber mit
Intriguen. Oeffentlich Haupt des Reichs zu sein, wie Franz I. gesucht, thut
sich nicht, also bleibt nur gewisser im Reich gemachter Allianzen und Fac¬
tionen heimlich Haupt zu sein. Solche Allianzen zu schmieden giebts viel
Prätexte und Occasionen, kein Prätext aber ist scheinbarer und universaler,
als der von der Garantie des Friedensinstruments genommene, mittelst dessen
Frankreich sich in alle des Reichs Sachen mischen kann. Ueberall ist es be¬
reit, beizuspringen als Garant, Custos und Erhalter des Friedens. Schon
jetzt ist an etlichen Orten eine französische Deputation mehr respectirt als der
Reichshofrath oder eine kaiserliche Commission. Die Weiber und das Geld
sind es, die allenthalben dem französischen Einfluß den Weg öffnen."
Was nun thun, wenn der Eintritt in die Tripelallianz nicht räthlich
ist, was thun, damit die Zeit benützt werde, um das Reich in eine conside-
rable Position zu versetzen? Leibniz führt hier einen Gedanken aus, der
dem Merundzwanzigjährigen alle Ehre macht. Mit den abgelebten Organen
des Reichs ist nichts anzufangen, so lautet seine Meinung, nur Particular-
bündnisse sind im Stande, eine wirklich deutsche Macht aufzurichten. Das
Einzige, was übrig bleibt, ist, daß wir uns selbst helfen, daß wir für uns
einen Grund legen, daß wir eine Particularunion gewisser considerabler, der
Gefahr nahesten oder des Reichs Angelegenheiten sich für andere annehmen¬
den Stände, das ist eine kleine Allianz machen. Wollten wir für die Besse¬
rung auf die Comitien (Reichstage) warten, so dürfte es lang werden. Denn
die Stände und Legaten können ja bekanntlich über die geringste Sache nicht
Eins werden, und überhaupt ist auf den Reichstagen mit ihrem Pomp und
Parade nichts auszurichten, wo über leeren Förmlichkeiten die Sache zu kurz
kommt. Zu geschweigen, daß nichts, das in Comitien beschlossen werden
soll, geheim gehalten werden kann. Daher gestalten Sachen nach eine öffent¬
liche Reformation der Republik und Konstitution, ein Reichsschatz, ein Reichs¬
heer. Reichsoberleitung für beständige Zeit, nicht zu hoffen steht. Es darf
aber dieser Hindernisse wegen der so wichtige Punkt der Sicherheit des
Reichs, daran seine Wohlfahrt hängt, nicht unerörtert bleiben. Wir würden
bei der Posterität diese schändliche Nachlässigkeit nicht verantworten können.
Ist derowegen auf andere Mittel zu denken nöthig, durch welche ohne Com-
movirung der Comitien, ohne Aenderung der äußerlichen Form der Nepu-
but, ohne Lärm und Pomp, der die besten Pläne vereitelt, gleichsam mit
halbem Wind, mit schiefem Segel dahin zu gelangen, wozu man geraden
Laufs, mit vollen Segeln, auf offenem Reichstag nicht gelangen kann.
Was die Vorschläge im Einzelnen betrifft, so dringt Leibniz vor Allem
darauf, durch die neue Allianz dürfe keine Trennung im Reich verursacht
werden. Man darf den Bund im Bunde nicht so einrichten, daß ein Gegen-
bündniß entsteht. Es gilt vorsichtig und völlig unparteiisch zu Werk zu
gehen, sonst würde man denen, so sich auf des Reiches Sturz freuen, die ge¬
wünschte Gelegenheit und einen Schein des Rechts an die Hand geben, eine
Gegenallianz zu machen, Süddeutschland von Norddeutschland ((FörmamÄln
suxeriorem ad irckeriori) zu trennen und also der Republik unseres Reichs
die letzte Oelung zu geben. Vielmehr muß das Bündniß so eingerichtet sein,
daß jeder Stand des Reichs ohne Unterschied (nicht aber die Fremden) Macht
haben muß, in dasselbe zu treten, ohne Unterschied der Religion, Fürsten und
Städte, sie seien triplisch oder arti-triplisch gesinnt; die Deutsch-Gesinnten
und die Französisch-Gesinnten und endlich Oestreich selbst, wenngleich nur mit
seinen Erbländer, sie alle können allmälig beigezogen werden. Die Politik
dieses Bundes muß zunächst, im Interesse seiner Erstarkung, eine durchaus
friedliche und neutrale bleiben, es darf durch sie Frankreich keinerlei Anlaß
zu Feindseligkeiten gegeben werden. Man darf es Anfangs nicht sagen und
nicht verreven, was der wahre Zweck der Allianz sei, obgleich es sich von
selbst verstehet und zu seiner Zeit herausbrechen muß, daß die Allianz dem
lothringischen und burgundischen Kreis Garantie zu leisten Fug und Recht
habe. Ist aber die Allianz einmal so in aller Stille fertig, so wird es in Frank¬
reich wohl gar an Kräften mangeln, solche übern Haufen zu stoßen und
etwas, so dem Reich zuständig, als Niederland, Rheinstrom, Lothringen fer-
ner anzugreifen; oder aber wird es auf den Fall der Noth genugsam Wider-
stand finden. Sind wir denn endlich, ohne daß die Welt es merkte, zu einer
richtigen Form kommen, haben wir, wie das Reich als xersong. oivili3 es
braucht, ein beständiges Reichsheer (Gliedmaßen), einen beständigen Reichs¬
schatz (Blut), ein beständiges Reichsdtrectorium (Seele), alsdann werden un¬
sere Sachen überhaupt ein ander Aussehen haben. Die Herren Tripler. die
uns jetzt so vornehm behandeln, werden uns alsdann suchen; alle Potentaten,
auch so bisher unsere angebotene Nsäiationks und IvterxoLitiollkg verlacht,
werden wohl eine andere Reflexion auf uns machen müssen. Dann erst wird
man die Früchte des Friedens genießen können, wenn man im Frieden zum
Kriege geschickt ist. Alsdann wird Deutschland seine Macht erst kennen, wenn
es sich beisammen sieht, und Manchem andere Gedanken machen, der jetzo
nicht weiß, wie er verächtliche Worte genugsam zu dessen Beschimpfung zu-
fammenklauben kann . . . Deutschland ist der Erisapfel, wie anfangs Grie-
chenland und hernach Italien. Deutschland ist der Ball, den einander zu¬
geworfen, die um die Monarchie gespielt, Deutschland ist der Kampfplatz,
darauf um die Meisterschaft von Europa gefochten. Kürzlich, Deutschland
wird nicht aufhören, seines und fremden Blutvergießens Materie zu sein, bis
es aufgewacht, sich recolligirt, sich vereinigt und allen Freiern die Hoffnung
es zu gewinnen, abgeschnitten. — Leibniz schließt die Schrift mit einem gro߬
artigen Ausblick auf die Aera des Friedens, die sich mit der Sammlung und
Kräftigung Deutschlands eröffnen werde, auf die Zeit, da jedes Volk seinen
Wirkungskreis findet, Frankreich die Plane seines ruhelosen Ehrgeizes und
seine überschüssigen Kräfte nach dem Orient trägt, der Kaiser aber im Verein
mit dem geistlichen Haupt der Christenheit sein Amt als Advocat der ganzen
umfassenden Kirche wirklich exerciren, das allgemeine Beste der gesammten
Christenheit suchen und ohne Schwertstreich die Schwerter in der Scheide
halten wird.
Es ist eine merkwürdige Kraft und Sicherheit des politischen Denkens
in dieser Staatsschrift, die damals nicht gedruckt wurde, aber bestimmt war,
von den verschiedenen Gesandten und Fürsten gelesen zu werden. In der
Motivirung des Einzelnen ist Vieles veraltet und einen unmittelbaren Erfolg
hat die Schrift bekanntlich nicht gehabt; schmählich scheiterten die schwachen
Versuche eine ähnliche Allianz wirklich durchzuführen. Aber die Grund¬
gedanken haben sich doch bewährt, obwol Leibniz zu jener Zeit seinen Stand¬
ort noch in der Mainzer Politik hatte, und Kurmainz, das damals das
Reichsdirectorium führte, als Kern der neuen Retchsbildung mittelst eines
Partieularbündnisses betrachtete.
Zwei Dinge standen bei Leibniz fest und bildeten den Ausgangspunkt seiner
Entwürfe: die überschüssige Kraft Frankreichs verlangt eine Ablenkung nach
außen, und Deutschland ist in seiner gegenwärtigen Verfassung dem Anprall
Frankreichs nicht gewachsen. Daraus entstand der vielberufene egyptische
Vorschlag, der in der Zeit reifte, als der holländische Krieg schon im Gang,
das deutsche Reich aber in denselben noch nicht eingetreten war. Im Keim
war der Vorschlag schon im „Bedenken von der öffentlichen Sicherheit" ent¬
halten, seine Ausführung beschäftigt Leibniz in den folgenden Jahren. Er
selbst begibt sich, um ihn persönlich zu betreiben, im Jahre 1672 nach Paris,
wo er, einen Aufenthalt in London abgerechnet, bis zum Jahr 1676 ver¬
weilt. Seitdem die authentischen Actenstücke über diesen Plan durch Ouro
Klopp veröffentlicht sind, ist man einig darüber, daß derselbe keineswegs so
chimärisch war, als früher geglaubt wurde. Am wenigsten aber kann das
patriotische Motiv verkannt werden, das Leibniz trieb, einen solchen Plan
nicht blos auszuarbeiten, sondern auch persönlich in Paris zu betreiben und
noch später gelegentlich daraus zurückzukommen. Es ist eine Fülle von ge-
schichtlichem und geographischen Kenntnissen, eine Fülle von scharfsinnigen po¬
litischen Argumenten, die Leibniz aufbietet, um Frankreich den Orient als
das angemessene Feld seines Ehrgeizes zu empfehlen. Unerschöpflich sind die
Gründe, mit welchen dieses Unternehmen als legitim, als christlich, als leicht
und sicher, als gerechte Befriedigung der französischen Eroberungspolitik, end¬
lich als eine wissenschaftliche That gepriesen wird. Es sollte ein letzter Versuch
sein, furchtbares Unheil von Deutschland abzuwenden, und vielleicht war Leibniz
trotz feines Optimismus und trotz seiner beredten Befürwortung nicht verwundert,
daß Ludwig diese fernen Plane ablehnte und nach der Maxime handelte:
Sieh, das Gute liegt so nah. Denn keiner kannte die verlockende Beschaffenheit
des deutschen Reichs besser als Leibniz selbst. Unter den Gründen, die er für
den modernen Kreuzzug anführt, war auch der, daß die holländische Macht in
Indien am sichersten durch eine Expedition nach Egypten getroffen werden könne.
Der Zug Napoleons nach dem Nillande hatte bekanntlich den gleichen Zweck:
die Erbin Hollands, die englische Macht zu treffen. Wie man weiß, hat aber
Napoleon von dem Plane Leibnizens erst nach seinem Pyramidenfeldzug
Kenntniß erhalten. Von Interesse ist es auch, heute Sätze wie den zu lesen:
„Wer Egypten hat, kann dem Erdkreis unermeßlich schaden oder nützen;
schaden, wenn er nach Art der Türken den Handel hemmt und abschneidet,
nützen aber, wenn er durch einen Kanal das rothe Meer mit dem Nil oder
dem Mittelmeere verbindet.
Während Leibniz in Paris war und hier theils seinen egyptischen Plan
befürwortete, theils Geschäfte im Auftrag des Mainzer Hoff besorgte, theils
endlich seinen wissenschastltchen Studien oblag und Verbindungen mit fran-
zösischen und englischen Gelehrten anknüpfte, war das deutsche Reich in den
holländischen Krieg hineingezogen worden. England und Schweden hatten
sich, wie Leibniz vorausgesehen, von der holländischen Allianz zurückgezogen.
Dagegen war dem Handelsstaat in dem großen Kurfürsten ein kräftiger Bun¬
desgenosse erstanden, und um den Kurfürsten in seinen Unternehmungen zu
hemmen, hatte jetzt auch der Kaiser ein Bündniß mit ihm zur Unterstützung
der Holländer abgeschlossen. Früher war es Leibnizens Meinung. Deutsch-
land müsse den Krieg vermeiden; jetzt, da der Krieg beschlossen war. änderte
er die Taktik, jetzt sollte derselbe mit allen Mitteln durchgeführt werden.
Ernste Mahnworte richtete er an die drei von Frankreich zunächst bedrohten
Länder, an England, an Holland, an Deutschland. Es sind drei zusammen¬
gehörige Schriften aus den Jahren 1673 und 1674, die zu jenen von
Pfleiderer aufgefundenen und mit größter Wahrscheinlichkeit Leibniz zuge¬
schriebenen Flugschriften gehören. England wird das Thörichte und Ver¬
derbliche seines französischen Bündnisses vorgehalten. Holland vor der inneren
Zwietracht der Parteien und der um sich greifenden dumpfen Verzweiflung
gewarnt und zum Ausharren ermuthigt. Die dritte Schrift aber. „Deutsch¬
lands Klag-, Straf- und Ermahnungsrede an seine ungetreuen und verräthe-
rischen Kinder" richtet sich in kräftigster Weise gegen die Gesinnungslosigkeit
und Schlaffheit im Reich, die dem Verfasser während seines Aufenthalts in
Frankreich doppelt erbärmlich erscheinen mußten. Deutschland ist redend als
Mutter eingeführt, und mit gewaltiger Beredtsamkeit spricht sie den unge-
rathenen Kindern ins Gewissen, „welche Gott und dem Kaiser eidbrüchig zu
sein, ihr liebes Vaterland zu verrathen und den Eltern sammt der ganzen
Freundschaft einen ewigen Schandfleck dadurch anzuhängen, ja sich und ihre
unschuldige Nation um ein schnödes Geld in eine ausländische harte Knecht¬
schaft einzuführen ihnen kein Gewissen machen. Mit welchem Gewissen wollt
ihr euch denn an fremde Potentaten hängen, welche des Kaisers und des
Reichs Untergang suchen, und ihnen zu ihrem bösen Vorhaben Rath und
Vorschub geben können? Judas der Verräther, war ein gräulicher Bösewicht,
ihr aber seid fast noch schlimmer. Insbesondere werden die katholischen Bi¬
schöfe und Fürsten hart mitgenommen, die dem ausländischen Potentaten,
weil er die katholische Religion fortzupflanzen vorgehe, an die Hand stehen.
Seid ihr etwa zum Theil Atheisten, so unterwerfet euch gleichwohl dem Ge¬
setz der Natur, vermöge dessen die alten Heiden dafür hielten, daß ein Jeder
sein Vaterland, allen anderen Sachen vorzuziehen schuldig sei. schämet ihr
euch nicht, die ihr Christen sein wollt, ärger zu sein als die Heiden? Weiter
hält die strafende Germania ihren verirrten Kindern vor. wie bei der frem¬
den Nation (nicht bei Allen, aber bei den Mehrsten) der Ehebruch eine Ga¬
lanterie und die Hoffarth, Insolenz und Verachtung aller Völker eine ange-
borne Gewohnheit sei, wie die Franzosen seit zwei Jahren tyrannisch auf
deutschem Boden gehaust, das Schloß in Aschaffenburg angezündet, die Städte
Kolmar und Trier demolirt, die Reichsbürger zu unbarmherziger Frohn an¬
gespannt, die schöne Brücke zu Straßburg in Brand gesteckt. Kirchen und
Klöster beraubt, die Leut zu Reichung unerträglicher Contributionen und
Brandschatzungen angestrengt haben — und an diesem Allem seid ihr schul¬
dig. Verräther des Vaterlandes, habt ihr noch einen Funken eines redlichen
deutschen Gemüths, so lasset euch doch dieses alles tief zu Herzen gehn. Exa-
minirt euer Gewissen, ob ihr soviel Unheil, welches ihr angestiftet, an jenem
großen Tag vor dem Richterstuhl Gottes zu verantworten euch gedräuet. Die
Gerechtigkeit Gottes schreiet euch zu: Gebt wieder die Legionen, gebt die Regio¬
nen, gebt zurück dem Vaterland die Freiheit, gebt den Geschändeten die Jung¬
frauschaft, den unschuldig Gemordeten das Leben wieder! Aber wie ist euch dies
möglich! Ihr müsset fürwahr ein weites Gewissen haben, wenn ihr nicht in
Desperationsgedanken gerathen solltet. Vielleicht aber gehet es euch, wie denen
vertieften Schuldnern, welche, wenn sie einmal die Scham verloren und ander-
sten Credit finden, sich immer mehr und mehr in Schulden einzuwickeln
keinen Abscheu tragen. — Eine herzliche und mütterliche Ermahnung an die
treugebliebenen Kinder schließt diese gewaltige Flugschrift: „Schaffet die fran¬
zösischen Agenten und Residenten aus dem Land. Ermuntert eure deutsche
Tapferkeit und zeiget denen Franzosen, daß man mehr mit Drausschlagen
als mit Prahlen gewinne. Verlasset euch auf eure gerechte Sache und glaubet
gewiß, daß euch Gott Muth, Stärke und Sieg geben werde. Lasset
euch die Ungelegenheiten des Kriegs nicht abschrecken, denn ohne dieselben kein
Krieg geführt werden kann. Lasset euch die großen Unkosten des Kriegs
nicht dauern; denn ihr erhaltet dadurch ein unschätzbares Kleinod, die Frei¬
heit des Vaterlandes von fremdem Joch ist nicht mit Geld zu bezahlen.
nunmehro ist ohne Krieg kein Friede und Ruhe in Deutschland zu hoffen;
bellum gsritur ut pax sonirawr; der Deutschen von denen Franzosen an¬
gegriffene Freiheit muß durchs Schwert erhalten sein. Darum auf, alle red¬
lichen deutschen Patrioten, auf, auf! Eure Freiheit stehet auf dem Spiel,
lasset euch solche zu erhalten keine Gefahr abschrecken. Gedenket, daß „Süß
ist und rühmlich der Tod fürs Vaterland".
Was solche Ermahnungen fruchteten, das zeigte der schmähliche Friede
von Nimwegen 1678—1679. Und doch sollte dieser Friede erst der Anfang
der Demüthigungen sein, welche über das Reich verhängt waren. Im Jahr
1680 begann das System der Reunionen und 1681 folgte der Raub Straß-
burgs. Aus dieser Zeit stammt eine Anzahl von Leibnizischen Gedichten und
Anagrammen, deren spielende Künsteleien nicht verhindern, daß des Deutschen
Trauer und Zorn über das Schicksal der deutschen Stadt zu lebhaftem Aus¬
druck kommt. Zwei Jahre später schreibt er die meisterhafte Satire Ng.rs
OnristiÄuissimus, um die öffentliche Meinung Europas gegen den großen
König aufzubringen, unter bitteren Ausfällen gegen die Gallogrecs, die Ver¬
räther in Deutschland. Bekanntlich schreibt der Verfasser selbst unter der
Maske eines dieser Gallogrecs, der seiner Bewunderung für Frankreich und
dessen großen Monarchen freien Lauf läßt. Die Satire erreicht ihren Höhe¬
punkt in jener Stelle, wo der Verfasser ein Gespräch beschreibt mit anderen,
patriotisch gesinnten Deutschen, die er zu seiner verrätherischen Meinung be¬
kehrt. „Ich machte sogar, daß sie begriffen, wie wir vor der Kirche Bestes
arbeiteten, und daß der Name des Vaterlandes nur ein Schrecksal der Idioten
sei, da hingegen ein herzhafter Mensch allenthalben sein Vaterland finde,
oder vielmehr der Himmel das allgemeine Vaterland der Christen sei, haupt¬
sächlich aber der Sondernutz der deutschen Völkerschaft dem allgemeinen
Besten der Christenheit, wie auch des Himmels Verordnung weichen müsse."
Allein während Leibniz diese agitatorische Schrift, eine seiner besten, ver-
faßte, — er schrieb sie lateinisch und französisch und ließ sie auch in deutscher
Sprache erscheinen —- war er mehr denn je überzeugt, daß, wie tief auch die
Schmach von Straßburg brenne, das Reich in seiner trostlosen Verfassung
den Krieg mit Frankreich nicht aufzunehmen im Stande sei. Der erregte
Patriot wird jetzt wieder vom kalt rechnenden Staatsmann abgelöst. Klaren
Blicks hatte er die Schäden im ersten Krieg erkannt: auf der einen Seite
der große umsichtige König, rasch entschlossen, die geheimgehaltenen Pläne
auszuführen, auf der anderen Gegner, die ohne gerüstet zu sein, in den Tag
hinein in den Krieg gehen, ohne Schatz, ohne Lebensmittel, ohne Plan, ohne
geübte Soldaten, schläfrig, lahm in der Ausführung; eigensinnig die einen,
unbeständig die anderen, alle aber zwieträchtig — kurz wie wenn ein unge¬
schlachter Riese kämpft mit einem geübten Fechter von Fach. Diese Erfah¬
rungen, dann der Hader der Bekenntnisse, die durch Oestreichs Glaubens¬
verfolgung zum Aufstand getriebenen Ungarn, die durch sie und Frankreichs
Unterstützung herbeigerufenen Türken, die 1683 bis vor die Thore Wiens
dringen, endlich die Verstimmung des Kurfürsten von Brandenburg, der sich
als von Kaiser und Reich schnöde verlassen grollend zurückzog, — alles dies
machte, daß Leibniz im Widerspruch mit seinen letzten Schriften sich genöthigt
sah, zum Aecommodement mit Frankreich zu rathen, um bessere Zeiten ab¬
zuwarten. Leibniz sieht jetzt geradezu die Gefahr eines völligen Untergangs
des Reichs und das ist ihm der oberste Gesichtspunkt. „Um in dieser Frage
richtig zu denken, um sich keine Gewissensvorwürfe hinterher machen zu müssen,
um der Pflicht gegen das Vaterland, die Ehre, die Freundschaft zu genügen,
darf man sich weder schmeicheln, noch der Entmuthigung Raum geben, die
wahren Gründe von Furcht und Hoffnung durch eine voreingenommene Ein¬
bildungskraft weder übertreiben noch unterschätzen; mit einem Wort, man
braucht einen Augenblick völliger Geistes- und Gemüthsruhe, um nur und
allein auf die Stimme der Vernunft zu hören." In dieser Stimmung nun
— weder aufgeregt noch niedergeschlagen — schreibt er die Lionsultatioll
touekemt ig, Zusrre on l'aceomoäkment g>vo<z ig. ^z-eines. eine höchst merk¬
würdige Schrift, weil sie eben mit klarsten Bewußtsein den undankbaren
Standpunkt des kalten Diplomaten gegen die berechtigte Erregung des Pa¬
triotismus vertritt. Denn der Krieg ist gerecht, die Ehre wie das Interesse
der Selbsterhaltung verlangen ihn gleichmäßig. Aber die Frage ist in dieser
höchsten Gefahr die. ob es besser sei, sofort mit Frankreich zu brechen oder
steh auseinanderzusetzen und die Abrechnung für günstigere Zeiten aufzusparen.
"So schwer es einem edlen Gemüth fallen muß. sich unter die Ungunst der
Verhältnisse zu beugen und unwürdige Beleidigungen. Hohn und Uebermuth
hinzunehmen, so schwer der Widerstreit zwischen Edelsinn und Vernunft sein
wäg, so muß man eben doch schließlich auf die Stimme des Gewissens und
Gottes hören. Es ist nicht zu entschuldigen, sich und den Staat ins Ver-
derben zu stürzen und das Vaterland zu ruiniren — blos der Ehre wegen.
Denn daß es so kommen könnte, ist nur zu wahrscheinlich, wie jetzt die Sachen
stehen. Auf besondere Wunder und außerordentliche Glücksfälle zu hoffen,
heißt Gott versuchen. Er hat uns kein Wunder versprochen und nicht immer
siegt hienieden die gute Sache." Und nun wird die politische Lage eingehend
erörtert. Das Resultat ist, daß für den Augenblick nichts zu machen sei.
So wehe es thut, man muß sich der Nothwendigkeit fügen und günstigere
Umstände abwarten, wo sich die Scharte auswetzen läßt. Und dieselben
werden kommen. Bereits beginnt der Kaiser bessere Erfolge in Ungarn zu
haben; und was den Kurfürsten von Brandenburg betrifft, so hat er doch
schließlich trotz seiner dermaligen Verstimmung ein Herz, das fühlt mit den
Leiden seines Vaterlandes, einen deutschen Sinn. Und auf Gelegenheit, mit besse¬
ren Kräften Frankreich gegenüberzutreten, wird man nicht lange warten
müssen. Sicher bricht es den Waffenstillstand bald und macht das Maß voll,
daß es überläuft. Daher ducke man sich eben jetzt ein wenig und lasse den
Sturm über sich wegbrausen, indem wir uns für eine bessere Zeit aufsparen.
Können wir durch diesen Waffenstillstand nur ein paar Jahre Ruhe ge-
winnen. so halte ich Europa für gerettet. Freilich müssen wir die Zeit ge¬
hörig nützen, um unsere Angelegenheiten in Ordnung zu bringen und dürfen
nicht im Schatten eines trügerischen Friedens schläfrig werden. Wir müssen
Frankreich täuschen, als entwaffneten wir, während wir unsere Truppen hei
einander behalten, denn eine stehende Bewaffnung thut unter diesen Umstän¬
den dringend noth u. f. w.
Die Gründe dieser Denkschrift waren einleuchtend. Wirklich wurde,
weil „im Augenblicke nichts zu machen war", zu Regensburg der „20 jährige"
Waffenstillstand verabredet. Auch das von Leibniz empfohlene Bündniß oder
wenigstens etwas ähnliches kam 1686 zu Stande durch den Augsburger
Bund gegen Frankreich, zu dem sich auf Betrieb Wilhelms von Oranien der
Kaiser, Holland, Brandenburg und andere Reichsstände, dazu Spanien und
Schweden verbanden. Gleichzeitig nimmt der Türkenkrieg eine günstige
Wendung, und Leibniz kommt nun aus seinen egyptischen Vorschlag zurück,
in einer merkwürdigen Schrift vom Jahre 1687, die zwischen dem Nars
OdristiamgLimus und dem consilium eZ^ptiacum gewissermaßen mitten inne
steht, sofern sie zwar die Ironie gegen den allerchristlichsten König er¬
neuert, gleichzeitig ihm aber doch die Verfolgung seines „Hauptdessins" als
sein wahres Interesse vorstellt, so daß vor aller Welt Ludwig durch diese
„freimüthige Muthmaßung über seine innersten Gedanken" gleichsam gebunden
werden soll und worin zugleich die Idee ausgeführt ist, daß durch eine Thei¬
lung der Türkei zwischen Oestreich und Frankreich die Interessen der beiden
Rivalen versöhnt werden sollen.
Auch diesmal aber lag dem König der Rhein näher als der Nil. Im
September 1688. vier Jahre nach dem Regensburger Uebereinkommen, brach
Ludwig den 20 jährigen Waffenstillstand, indem er gleichzeitig mit seiner
Kriegserklärung den Rhein überfiel und mit seinen Banden den fränkischen
und schwäbischen Kreis überschwemmte. Das zerstörte Schloß von Heidel¬
berg, die Niederbrennung von Worms. die Plünderung von Speier mit den
geschändeten Kaisergräbern sind die unverlöschlichem Erinnerungen an diesen
Ueberfall. Jetzt galt Leibnizens Feder selbstverständlich wieder der Sache
des Kriegs. Gegen die übermüthige französische Kriegserklärung schrieb er
das kaiserliche Antwortsmanifest. Bekanntlich hat schon Guhrauer als dessen
Verfasser Leibniz in Anspruch genommen; Klopp findet die Gründe nicht be¬
weisend, während Pfleiderer wieder die Einwendungen Klopps als un¬
zutreffend zurückweist. Gleichzeitig verfaßt Leibniz die für die Höfe bestimm¬
ten R6üöxiovs Lur 1a äsdaiÄtiou as 1a suerrs, die unzweifelhaft von Leib¬
niz herrühren und ein ausführlicher Commentar zum Manifest, ein um¬
fassender Anklageact gegen Ludwigs Eroberungspolitik sind. Wir heben nur
die eine Stelle heraus: „das französische Manifest sagt, diese Abtretungen
(von Straßburg und Luxemburg) werden alle Ursache des Mißverständnisses
zwischen Deutschland und Frankreich aus dem Wege räumen. Allein da fehlt
es doch weit. Ist dieser Uebermuth, der alle Geduldfäden reißen macht,
nicht vielmehr das, was die gemäßigtsten Geister, welche noch einen Funken
von Ehre im Leibe haben, nur erbittern muß, statt die Mißverständnisse zu
heben? Das ist am Tag. es gibt in Ewigkeit keine Ruhe zwischen Deutsch¬
land und Frankreich, wenn dieses nicht seine unerträglichen Räubereien wieder
gut macht. Ist es doch wahrlich keine Kleinigkeit, deren beständige Ab¬
tretung Frankreich uns zumuthet. Ueberhaupt kann man das Lachen nicht
halten, wenn man die Franzosen den sehnlicher Wunsch nach einem bestän¬
digen Frieden aussprechen und sich beklagen hört, daß wir so wenig Neigung
zu einem so großem Gute haben. Wenn diese Herren den Frieden predigen,
so ist das fast wie die Predigt, welche Reineke Fuchs unterwegs auf seiner
Pilgerfahrt einem Hühnerhofe hielt. Dahin muß man sie schicken, wo's aller¬
dings einen ewigen Frieden gibt — auf den Kirchhof! . . . Das deutsche
Volk ist mit einer noch nie erhörten Unverschämtheit behandelt worden; die
Schmach desselben wird ewig bleiben, wenn sie nicht abgewaschen wird —
im Blut der Feinde. Finden wir kein Mittel, die Quartiere jenseits des
Rheins aufzuschlagen, und den Schrecken ins Feindesland selbst zu tragen,
s° braucht man kein Prophet oder Prophetenschüler zu sein, um einen für
uns schimpflichen Frieden vorauszusagen. Wenn aber Frankreich sich dies¬
mal in seinem Raub erhält, dann gute Nacht Unabhängigkeit von Europa!"
Die Schrift führt dann noch aus, daß jetzt Alles günstig liege, und schließt
auf folgende kräftige Weise: „Man verzagt in Deutschland nicht: den Türken,
den Brecher der alten Verträge, hat man gebändigt und zu Boden geworfen;
man wird auch noch den Franzosen, den Brecher der frischen Verträge, nieder¬
werfen können!"
Leibniz ist also jetzt für energische Führung des Kriegs. Noch in dem¬
selben Jahr, als inzwischen schon die Dinge übel gingen, schrieb er die kleine
für Deutschland insbesondere berechnete Schrift: „Die geschwinde Kriegsver¬
fassung", worin er eine „Verordnung, so weiland König Ludwig XIII. in
Frankreich in einer dringenden Noth ergehen lassen, um Völker in Eil auf¬
zubringen", reproducirt und mit einem geharnischten Vorwort begleitet, das
die Schläfer Angesichts der drohenden Fremdherrschaft aufwecken soll. „Da
doch der gemeine Mann bedenken sollte, daß das französische Joch unerträg¬
lich, und die Teutschen von ihnen nichts besser als Sclaven geachtet, wie süß
sie ihnen auch anjetzo pfeifen. Gewiß, man weiß, wie die Franzosen schon
längst verächtlich von den Deutschen und Holländern reden, als warens
grobe, ungeschickte Leute, gut zur Arbeit und weiter nichts. Da kann man
sich die Rechnung machen, was einsmals von der französischen Herrschaft zu
erwarten. Es ist noch Zeit aufzuwachen; aber es ist ein Donnerschlag nöthig
die Teutschen munter zu machen. Das kann die letzte Niederlage in Schwaben
wirken. In Dingen, die wenig wichtig, zeigen wir Muth und Verstand;
wo es aber auf die allgemeine Wohlfahrt ankommt, da sind wir gleichsam
ohne Geist und Seele. Kommt mir vor, als ob ein großer König nichts
als Tanzen gelernt hätte. Hat mancher mit seinem Nachbar eine Kleinig¬
keit wegen eines Grenzsteins oder Jagdgerechtigkeit, da weiß man Alles rege
zu machen. Aber wo der ganze Staat auf dem Spiel steht, will man sich
ruhig drein geben und mit dem Kto entschuldigen, was man sich selbst ge¬
schmiedet. Der Himmel hat noch kein Edikt für Frankreich ausgehen lassen.
Gott ist vor die, so sich der von ihm gegebenen Vernunft und Mittel be¬
dienen, vor die besten Regimenter und vor die guten Rathschläge."
Schon in dieser Schrift, deren Grundgedanke ist, daß man auch vom
Feind lernen möge, wurde die Ueberlegenheit des französischen Heerwesens
über das deutsche in den wesentlichsten Zügen klar und überzeugend ent¬
wickelt. Zur eingehenderen Beantwortung der Frage, woher das unabänder
liebe Mißgeschick der deutschen Waffen komme, schrieb Leibniz Ende 1691 die
neue Schrift: Lousultatwu sur leg »Faires A6u6i-g.l68 a 1a, den as la eampasne
as 1691. Eine bessere Regelung der militärischen Verhältnisse erscheint ihm
als die Hauptsache. Zu dem Ende wird wiederum mit größtem Nachdruck
vor Allem die Einigung innerhalb Deutschlands gefordert und eine Art von
Partieularbündniß der Staaten, denen es Ernst ist, vorgeschlagen, diesmal
zu dem besonderen Zweck, die gegenseitigen Beeinträchtigungen durch die ver-
schiedenen einer strengen Gesammtleitung entbehrenden Truppentheile abzu¬
stellen. Dieser Punkt macht die Schrift historisch besonders interessant, denn
sie gewährt einen deutlichen Einblick in das durch den dreißigjährigen Krieg
verwilderte und verrohte Soldatenwesen. Auch fehlt es nicht an eindring¬
lichen Ermahnungen an den Wiener Hof, die Sache des Reichs nicht mehr
nur so gelegentlich (pg,r mamöre ä'aeiuit) neben den ungarischen Dingen zu
behandeln. Der rastlos erfinderische Geist Leibnizens macht Streifzüge selbst
in die eigentliche Strategie, indem er im Jahr 1692 den Plan einer Landung
in Biscaya erörtert: „kroßst ac äeseeute en Lisch^k", um den Seesieg der
Engländer bei la Hogue gründlich auszunützen.
Was Leibniz für den Fall fortdauernder Halbheit und Schläfrigkeit vor¬
ausgesagt hatte, konnte nicht ausbleiben. Das Grundübel sah er in der
Vielstaaterei. Im Januar 1693 schrieb er an seinen Freund Ludolf in Wien:
„Es ist, wie Du sagst, daß man im Reich nicht verfährt, wie sichs gehört.
Aber ich sehe auch kaum ab, wie dies bei der großen Menge von Fürsten
und Herrn anders sein kann. Die Maschine ist zu verwickelt, so daß sie gar
leicht versagt. Möchten doch wenigstens die Mächtigeren sich des Allgemeinen
annehmen, statt nach einigen elenden Vortheilchen für sich oder vielmehr für
ihre Leute zu haschen. Möchten sie das Wohl ihrer Bundesgenossen für so
wichtig erachten, wie das ,eigene; nur so ist das Vaterland zu retten. Denn
wo es sich um Sein oder Nichtsein, um Selbständigkeit und Freiheit handelt,
ist es ja wahnwitzig, erbärmlichen Kleinigkeiten nachzujagen." — Das Ende
war der Rvßwicker Friede im Jahr 1698, der Straßburg und die elsäßischen
Reunionen für immer dem Gegner überlieferte. Aus der Zeit der Ryßwicker
Unterhandlungen waren bis jetzt keine Schriften von Leibniz bekannt. Die
Ausgabe von Ouro Klopp geht, so weit sie vorliegt, nur bis ins Jahr
1688—1689. Pfleiderer aber weiß diese empfindliche Lücke wieder durch ein
Paar Schriften auszufüllen, welche zeigen, daß Leibniz auch in dieser Zeit auf
seinem Freiwilligenposten stand und das Mögliche that, um die Schmach
abzuwenden. Diese Schriften gehen unmittelbar gegen den beabsichtigten
Friedensschluß und weisen die schwere Schädigung nach, welche Deutschland
und mittelbar Europa durch seine Bedingungen erleiden würde. Es ist ins¬
besondere die Herausgabe von Straßburg und Luxemburg, dem „Hauptschlüssel"
Deutschlands gegen Frankreich, die Leibniz nachdrücklich verlangt. Wie ihm
persönlich vor und nach diesem demüthigenden Frieden zu Muthe war, ersieht
man weniger aus diesen wesentlich staatsmännischen Schriften, als aus den
Privatbriefen, die er in dieser Zeit an seinen Freund Ludolf schrieb. So in
einem Brief aus dem Jahr 1697: „Ich kann gar nicht sagen, wie mich die
Nachricht ergrissen hat, daß wir Straßburg für immer verlieren sollen. Aber das
verdienen wir Deutsche, die in der schwersten Gefahr Zeit haben für Lumpen¬
sragen, weiß nicht worüber, die niemals etwas zur rechten Zeit thun können.
Wir hätten selbst mit viel mehr Schneide und Wucht angreifen, hätten die
Holländer und Engländer in ihrer Bedrängniß kräftiger unterstützen sollen,
wollten wir bei« Friedensschluß nicht zu kurz kommen. Die Deutschen
hätten mehr leisten können, sie hätten auf den Verfasser des vor einigen Jah¬
ren erschienenen Büchleins „Auch vom Feinde darf man lernen" (eben jene
Leibnizische Schrift von der Geschwinden Kriegsverfassung) hören sollen.
Allerdings sind die zwei tröstlichen Ereignisse nicht zu verachten, die Nieder¬
lage der Türken und die Erfolge des neuen Polenkönigs. Aber wir Deutschen
sind nur zu geneigt, uns solchen Tröstungen hinzugeben und die alten Schä¬
den zu vergessen; das möchte recht gut sein, wenn wir nicht wieder in die
frühere Erstarrung zurücksänken. Ich fürchte in der That, daß diese glück¬
lichen Ereignisse die Todeswunde nicht heilen, welche nuk dieser über alle
Maßen unbillige Frieden geschlagen. Ist der Oberrhein verloren, so ist klar,
daß ein großer Theil Deutschlands dem Fremden doch nicht entrinnen kann;
es steht zu fürchten, daß das Uebel weiter frißt." Und im December 1698
nach dem Frieden: „So oft ich den gefährlichen Stand der Dinge und da¬
gegen unsere dermalige Schläfrigkeit und Kopflosigkeit erwäge, so oft schäme
ich mich für uns vor der Nachwelt. Ums Große unbekümmert, streiten wir
uns um des Kaisers Bart. Dies macht, daß «s mich beinahe anekelt, an
unsere dermalige Geschichte auch nur zu denken. So sehr bestätigen wir
Deutsche durch?unser Handeln die schlimmen Urtheile, welche das Ausland
über uns fällt."
Unter den Eindrücken dieses Friedens wandte sich Leibniz in den nächsten
Jahren vorzugsweise inneren deutschen Fragen und friedlichen Interessen zu.
In diese Zeit fallen feine Bestrebungen, das hannoversche Erstgeburtsrecht
festzustellen, und durch Erlangung des Kurhuts für Hannover einen Ersatz
für die geschwächten und ganz unter französischem Einfluß stehenden west-
nnd südwestlichen Kurfürstenthümer zu gewinnen. Um eben diese Zeit strebte
er mehr und mehr nach dem Berliner Hof hin, um dort einen festen Kern¬
punkt inmitten der allgemeinen Zerfahrenheit zu finden, um hier besonders
seine gewaltigen Bestrebungen in Sachen der Kircheneinigung, der Bildung
und Aufklärung zu verwirklichen. Die schönste Frucht dieser Bemühungen
ist die Gründung der Berliner Academie, mit ihren weittragenden, hoch Wer
bloße Stubengelehrsamkeit hinausragenden Plänen und Zielen.
Auch von Frankreich hoffte jetzt Leibniz, nachdem es die Höhe seines
Ruhmes, erreicht, eine Friedensaera, wenigstens wünschte er sie. ES sollte
jetzt, übersättigt vom Kriegsruhm. einmal dem Friedensruhm sich zuwenden.
Anknüpfend den das wirklich Große, was damals die französische Literatur
leistete, und an Ludwigs Eitelkeit sich wendend , der in Allem ein Halbgott
sein wollte, geht Leibnizens nächstes Bestreben darauf, ihn gerade in diesen
Friedenswerken zu bestärken, und diese Bahn als diejenige zu bezeichnen, auf
der ihm noch reiche neue Lorbeeren winken, nachdem er aus dem Schlachtfeld
die Palme längst davongetragen. Dies gibt den Schlüssel für verschiedene
Gedichte und Aufsätze dieser Zeit, in welchen Leibniz sich an Frankreich und
Ludwig wendet, und die. wenn man seine schriftstellerische Thätigkeit im
Ganzen überblickt, in der That unmöglich mißverstanden werden können.
Sie sind eingegeben von der ernstlichen Sorge für Deutschland, dessen
Schwächen er genugsam erprobt hatte, und von dem redlichen Bestreben,
daß Ludwig seine unbestreitbare Machtstellung Krs allgemeine Wohl und
sein eigenes besser anwenden möge, als er that. Selbst vor dem gewagten
Gedanken. Ludwig sich als Haupt der europäischen Geistesarbeit vorzustellen,
schreckte er in dieser Zeit nicht zurück. Er machte hier Vorschläge, die er
kurze Zeit darauf wesentlich an die Idee einer deutschen Academie knüpfte.
Doch nur. solang der Friede währte, führte der unverwüstliche kosmo¬
politische Sinn in ihm die Herrschaft. Bald genug steht er wieder in den
Reihen der Gegner Ludwigs. Der spanische Erbfolgekrieg ruft ihn aufs Neue
nicht blos zur Feder, sondern auch zu lebendiger persönlicher Theilnahme.
Zu Anfang und zu Ende dieses Kriegs befindet er sich in voller Thätigkeit
zu Wien. Die Schriften, welche dieser Zeit angehören, füllen — allerdings
ganz ungeordnet — bei Foucher de Careil nicht weniger als 1'/- Bände.
Gemeinsam ist ihnen allen das Bemühen, die europäischen Mächte zu un¬
zertrennlicher Gesammttheilnahme an dem Kampf zu ermuntern, da ja auch
die Gefahr schließlich einem Jeden mittelbar oder unmittelbar drohe. Eins
seiner Gedichte aus dem Jahr 1702, an dem freilich weniger die Poesie als
die Gesinnung zu loben ist. schließt mit den Worten -
.
Nun ist es hohe Zeit und auf das Höchste kommen,
Soll anders uns der Trost nicht gänzlich sein benommen.
Es kommt auf Freiheit nun und aufs Gewissen an,
Da wagt das Leben selbst ein rechter Biedermann.
Es ist nach Gottes Rath; will der sich bei uns stellen.
So kann ein Strahl von ihm die große Rüstung fällen.
Und soll's verloren sein, so bleibt das höchste Gut
Dem, der vor's Vaterland und Gott vergießt das Blut!
Schon im Jahre 1701 richtete Leibniz eine „Denkschrift über politische
Sachen" an den Kaiser, um ihm ans Herz zu legen, daß Frankreich keine
weiteren Bündnisse im Reich schließe, wie dies bereits mit Bayern und Köln
geschehen. Gleichzeitig wendet er sich w eigenen Schriften an Venedig, an
England und Holland, an' Spanien. Die Hauptschrift aus dieser Zeit ist
aber das „Manifest, enthaltend die Rechte Karls III., Königs von Spanien,
die Gründe seiner Expedition" u. s. w. vom Jahre 1704, die im Auftrag
des Wiener Hoff verfaßt ist und im ersten Theil die Rechtsfrage erörtert,
im zweiten — der anonyme Verfasser schreibt als Spanier — seinen Lands¬
leuten die Candidatur des Habsburgers empfiehlt.
Dem günstigen Verlauf, den der Krieg in der ersten Zeit unter der
glänzenden Führung Eugens und Marlborough's nahm, folgte Leibniz mit
freudiger Theilnahme. Als aber im Jahr 1711 Karl III. durch den Tod
seines Bruders Josef I. die Reichskrone erhielt und damit die Wendung
eintrat, welche England und Holland dem Bündniß entfremdeten, strengte
Leibniz alle Kräfte an. um einen abermaligen schmachvollen Frieden abzu¬
wenden und die Früchte der Siege zu sichern. In dieser Zeit entwickelte er
eine fieberhafte Thätigkeit. Er ist gleichsam der officielle Reichspublieist.
Er schreibt in einer Vorrede zur/zweiten Ausgabe des Manisests Karls III.,
jetzt Karls VI. Er mahnt die Holländer (Reflexionen eines Holländers :e.
1713) zur Ausdauer. Und in einer Reihe von Schriften wendet er sich gleich¬
zeitig an den Kaiser, um ihn zur Fortsetzung des Kriegs zu mahnen und
mit Rath zu unterstützen. Vor dem Frieden, im Jahre 1713, sind die beiden
Schriften geschrieben : „Denkschrift über die politische Weltlage" und „Kurzes
Bedenken über den gegenwärtigen Laus des gemeinen Wesens." Sie sind '
namentlich bemerkenswerth durch das militärische Detail, in welches Leibniz
hier sich einläßt. Luxussteuern, Papiergeld nach dem Muster von England,
Beschaffung von Getreide,, das Santtätswesen, die Schonung der Pferde,
die Bewaffnung. Alles interessirt ihn. „Von Waffen wäre viel zu sagen;
solche sind anjetzo in einem ganz anderen Stand, als vor Jahren, und dürf¬
ten bald noch fernerhin einen anderen Stand gerathen. Wer hier einen
Vorsprung hat, dem gehört der Sieg. Neue Erfindungen von erfahrenen
und ingeniösen Personen wären von trefflicher Nutzbarkeit, den Feind zu ver¬
wirren, daher ganz geheim zu treiben. Und weil mir Leute bekannt, die
solche Vortheile erfunden, von denen ein Großes zu hoffen, wird solches ein
eigenes Bedenken erfordern. Denn billig von Kriegsverständigen auf diesen
hochwichtigen Punkt zu denken."
Als England und Holland ihren Frieden zu Utrecht schlössen, verfaßt
Leibniz seine bedeutendste Schrift aus dieser Zeit: „la Mix ä'vtreelit inex-
eusMsum den Seemächten das Unverantwortliche ihres Abfalls vorzu¬
halten und dagegen das Beharren des Kaisers bei der einst gemeinsamen
europäischen Sache als berechtigt und einzig vernünftig nachzuweisen. Die
dem Kaiser und Reich gestellten Bedingungen, insbesondere der Satz: „Der
Rhein wird als Schranke zwischen Frankreich und Deutschland dienen" wird
von Leibniz mit Entrüstung als unverschämt und unannehmbar zurückge¬
wiesen und erklärt, daß ohne Rückkehr auf den Stand des westfälischen
Friedens, d. h. ohne volle Rückgabe von Straßburg. Elsaß und Lothringen
weder Ruhe noch Sicherheit zu hoffen sei.
Immer brennender wird die Frage, ob der Kaiser den Krieg fortsetzen
oder dem Frieden sich bequemen solle. Mit großer Umsicht wird sie von
Leibniz in einer neuen Schrift erörtert: „eollsiäsratious relatives Z, Ja>
on s, 1a Zuerre". Die Sachen — muß er bekennen — stehen verzweifelt,
und die Hauptsache ist, sich für bessere Zeiten zu erhalten. So könnte also
der Kaiser wohl abschließen, aber ohne irgendwie auf seine Ansprüche zu ver-
zichten. Der Friede wäre dann eine Art Waffenruhe, und neue Wechsel-
fälle könnten bei dem Uebermuth Frankreichs nicht ausbleiben. Allein vor
Abschluß eines so bedenklichen Friedens sei ernstlich zu erwägen, ob man
nicht doch stark genug sei. den Krieg fortzusetzen. Abgesehen vom Länder¬
verlust sei das schmählichste, daß Frankreich in Sachen der Kurfürsten von
Köln und Bayern (deren Wiedereinsetzung es verlangte) sich erlaube in innere
Reichsangelegenheiten sich zu mischen. Solches zu dulden wäre eine Schmach
für das ganze deutsche Volk, welches Jedermann verächtlich werden muß.
wenn es sich das gefallen läßt. Dieser Punkt gerade könne in Schriften und
Reden gar nicht oft genug gepredigt werden, um die stumpfsinnigen und
' trägen Geister aufzurütteln. Allein um sich dem widersetzen zu können, sei
nöthig, daß das Reich seine volle Kraft aufbiete, zuverlässige Bundesgenossen
gewinne u. s. w.
Es sollte noch schlimmer kommen. In den Friedensverhandlungen, die
zu Rastadt begannen, stellte das zum vollen alten Uebermuth zurückgekehrte
Frankreich noch viel ungünstigere Bedingungen, als zu Utrecht. Und noch
einmal stemmt sich Leibniz gegen den Abschluß in einer Schrift voll bitterer
Kraft und Leidenschaft: „(ZousMratioiis sur la xaix qui se traite a Rastaüt".
Und als der Kaiser (ohne das Reich) im März 1714 seinen Frieden gemacht,
ruhte Leibniz nicht, um wenigstens noch den Frieden des Reichs zu Baden
zu hintertreiben. Er dachte dabei besonders an die in allernächster Aussicht
stehende Erhebung des Hauses Hannover auf den englischen Thron und den
zu hoffenden Umschlag der englischen Politik. Allein noch im September
desselben Jahres kam der Friede von Baden zu Stande, der das Reich für
immer auf die Grenze des Ryßwicker Friedens zurückwarf.
Damit schloß die eigentlich politische Thätigkeit Leibnizens ab. Rastlos
hätte er für Deutschland gestritten, als Agitator für das Volk, als Rath¬
geber für die Fürsten, beseelt von einem reinen Gefühl für die nationale
Ehre, und doch immer umsichtig das Mögliche erwägend, in seinem unver¬
drossenen Eifer fast allein stehend, mit klarem Blick in die Schäden des Reichs.
das er vergebens durch den Appell an die moralische Energie aufzurütteln
versuchte. Seine Pflicht gebot ihm für das Reich zu streiten, und seine Ein¬
sicht sagte ihm doch, daß dem Reich nicht mehr zu helfen sei. So war seine
Thätigkeit eine halbhundertjährige Sisyphusarbeit, und auf ihn selbst paßte
trefflich, was er über seinen Freund Boineburg gedichtet hatte:
Ob sich die Noth im Osten erhebt, im Westen der Kriegslärm,
Nimmer mit trefflichem Wort fehlte der Edle im Rath.
Doch der Cassandra gleich fand keinen Glauben sein Warnen,
Bis die Verblendung zu spät lehrte der rauhe Erfolg.
In dem zweiten Theil seines Buchs behandelt Pfleiderer nicht minder
ausführlich die innerdeutschen Bestrebungen Leibnizens, zunächst in Bezug aus
die Verfassungsfragen, wobei insbesondere der Oaesarmus ^urstöverius ein¬
gehend gewürdigt und gegen Mißverständnisse geschützt wird, dann in Bezug
auf den Inhalt des Staatslebens, auf die verschiedenen Bedürfnisse der mensch¬
lichen Gesellschaft, Rechtswesen. Kirche. Schule, Volkswirthschaft u. dergl.
Dieser Abschnitt entbehrt der Natur der Sache nach der scharfen Würze des
politischen Theils, gewährt aber doch nicht geringeres Interesse. Denn ab¬
gesehen davon, daß uns in der Behandlung so vielfacher Materien erst eine
Vorstellung von der Allseitigkeit dieses Geistes aufgeht, liefert auch das Ge¬
mälde von den inneren Zuständen des Reichs, wie es hier mit den eigenen
Worten Leibnizens entrollt wird, erst den Schlüssel für die sonst unbegreif¬
lichen Jämmerlichkeiten der äußeren Politik. Und dann erfreut hier die Wahr¬
nehmung, wie reich und fruchtbar trotz alledem die Wirksamkeit Leibnizens
gewesen ist. Denn wenn er dort nur als Prediger in der Wüste erscheint
zeigt er sich hier als der Vater der Aufklärung, als Urheber von tausend
fortwirkenden Anregungen, als eine der gewaltigen Säulen unserer Geistes¬
bildung, welche die beste Gewähr für die Wiedergeburt des Vaterlandes
enthielt.
Als am Pormittag des 24. März die Kunde von der Vertagung d^r
Kammer und den eingetretenen Ministerveränderungen durch die Straßen der
Hauptstadt lief, war der Eindruck geradezu ein verblüffender. Wie sollte man
sich diese Wendung zurechtlegen? Man wußte, daß eine Ministerveränderung
unvermeidlich geworden war, man war auch auf verschiedene Möglichkeiten
gefaßt, entweder Nachgiebigkeit gegen die Kammermehrheit, oder entschlossenes
Festhalten an der Wehrverfassung; der Kriegsminister oder seine College«,
so schien die Frage gestellt. Daß es aber gelingen werde, eine Combination
zu finden, welche — wenn auch vielleicht nur auf kurze Zeit — den wider¬
streitenden Interessen gleichzeitig Rechnung trägt und den Kampf neutrali-
sirt, bevor er noch ausgebrochen, darauf war Niemand gefaßt. Denn um es
kurz zu sagen, die Bedeutung des Ministerwechsels ist die: Nachgiebigkeit
gegen die militärisch-finanziellen Forderungen der „patriotischen" Kammer¬
mehrheit, aber zugleich energische Betonung eines bundesfreundlichen Ver¬
hältnisses zu Preußen. Rücktritt des Kriegsministers Frhrn. v. Wagner, aber
zugleich entschiedene Front gegen die Demokratie.
Ein Entgegenkommen in der Militärsrage war allerdings nicht zu ver¬
meiden, wenn man nicht zur sofortigen Auflösung der Kammer schreiten
wollte, und diese verbot sich im jetzigen Augenblick aus triftigen Gründen.
Die demokratische Agitation, von welcher man in den letzten Monaten das
Land unterwühlen ließ, machte den Gedanken einer Appellation an das all-
gemeine Stimmrecht unmöglich. Ebendies aber mußte endlich auch zu der
Erwägung führen, welche Verheerung diese Agitation in der öffentlichen Mei¬
nung des Landes angerichtet hat. Es galt, einen Damm gegen die hoch-
gestiegenen Fluthen der Demokratie aufzuwerfen. Indem man der nahenden
See ein Opfer hinwarf, war man zugleich eine Garantie schuldig für den
konservativen Theil der Bevölkerung, dem allmälig fatale Erinnerungen an
den Sommer 1849 aufstiegen, und welcher die Sorglosigkeit des Ministeriums
keineswegs theilte. Dies war die Rücksicht nach innen. Und nach außen
durfte die Entscheidung nicht ein preußenfeindliches Gesicht tragen. Daran
hielt der König, wie mannigfache Einflüsse ihn auch umgaben, jederzeit fest.
Für ihn war dies geradezu das oberste Interesse in der ganzen Krisis. und
er hat dabei eine Willenskraft an den Tag gelegt, die man an ihm nicht
gewohnt ist. Auch der Schein, als wolle man sich den Verpflichtungen des
Allianzvertrages entziehen. sollte vermieden werden. Entschloß man sich zu
Modificationen in den Heereseinrichtungen, so dursten sie nur von einem
Mann in die Hand genommen werden, dessen Name jeden Gedanken einer
feindseligen Wendung gegen den norddeutschen Bund ausschloß. Aus dieser
doppelten Rücksicht nach innen und nach außen sind die eingetretenen Per¬
sonalveränderungen zu beurtheilen.
Herbeigeführt wurde die Krisis durch einen Antrag von 45 theils der
Partei der Großdeutschen (Patrioten), theils der Volkspartei angehörigen
Abgeordneten, der. ohne die utopistischen Forderungen des eigentlichen Pro-
gramms der Volkspartet zu adoptiren. nur im Allgemeinen Ersparnisse im
Militärbudget, insbesondere durch Herabsetzung der Präsenzzeit verlangte und
die Regierung ersuchte, sofort die entsprechenden Veränderungen einzuleiten.
Der Antrag war am 11. März eingebracht worden. Am 17. März wurde
er durch Probst, den Führer der Patrioten, begründet und zwar dahin er¬
läutert, daß eine einjährige Präsenz für Infanterie und Artillerie, eine zwei¬
jährige für die Reiterei, und im ganzen ein Ersparnis; von S—600,000 si.
begehrt wurde, — bescheidene Forderungen im Vergleich zu der Sprache,
die gleichzeitig auf Hunderten von Volksversammlungen im Lande geführt
wurde; auch waren sie absichtlich nicht mit politischen, sondern möglichst un¬
schuldig, lediglich mit wirthschaftlichen und finanziellen Gründen belegt. Der
Antrag, dessen Unterzeichner bereits die Mehrheit der Kammermitglieder aus¬
machten, wurde der am gleichen Tag gewählten Finanzcommission übergeben,
und diese beauftragte den unvermeidlichen Referenten Moritz Mohl mit der
schleunigen Berichterstattung. Diesmal leistete auch Mohl in der That das
Unglaubliche. Die Schnelligkeit seiner Feder, die trotzdem eine untadelhafte
Batterie von Zahlen ausführte, ließ nichts zu wünschen! übrig. Nur um
so tragischer war das ^ Geschick, dem gleichwohl dieser Mohl'sche Bericht
nicht entgehen konnte. Auch er sollte aus der Druckerei erst hervorgehen,
nachdem ihn der Laus der Weltgeschichte grausam überholt hatte. Zur Stunde
da er an die Kammermitglieder vertheilt werden sollte, genossen diese bereits
am häuslichen Heerde die Freuden der Vertagung. Sobald nämlich bekannt
geworden war, daß der Mohl'sche Entwurf, der im Wesentlichen jenen An¬
trag befürwortete, die Mehrheit der Commissionsmitglieder erhalten hatte,
brach im Schoß des Ministeriums die Krisis aus. Um der Opposition die
Spitze abzubrechen, oder — wie seit geraumer Zeit verlautet hatte, — ins¬
geheim mit den Führern der Patrioten einverstanden, drängten Varnbüler
und Mittnacht in den Kriegsminister, daß er entsprechend dem Verlangen der
Commission seinen Etat um ^ Mill. si. verkürze. Frhr. v. Wagner, der
seinen Etat auss Sparsamste eingerichtet hatte — er allein von allen Ministern
trat im Budgetentwurf mit einer namhaften Reduction gegen den vorigen
Etat vor die Kammer — erklärte weitere Reductionen für schlechterdings
unmöglich. So war der Conflict blosgelegt, das Gesammtministerium reichte
dem König seine Entlassung ein, drei Tage später erfolgte die Entscheidung,
die am Morgen des 24. wie eine Bombe in den Halbmondsaal schlug.
Die Vertagung der Kammer war damit motivirt, daß der Hauptfinanz¬
etat für 1870—1873 „behufs möglichster Ersparnisse, besonders im Kriegs¬
departement" einer erneuten Prüfung unterzogen werden solle. In dieser
Zusicherung lag das Entgegenkommen gegen die Kammermehrheit. Gleich¬
bedeutend damit war die Entlassung des Generals v. Wagner, der mit seinem
Budget stand und fiel, und der sich längst nach der Niederlegung seines
dornenvollen Postens gesehnt hatte. Dieses Erfolgs also kann sich die pa¬
triotische Partei rühmen. Doch die Freude sollte ihr erheblich verkümmert
werden durch die Ernennung des Mannes, der die Erbschaft des Herrn
v. Wagner zu übernehmen bestimmt war.
Der König hatte sich zuerst an den ritterschaftlichen Abgeordneten Frei-
Herrn v. Wiederholt gewandt, der bis zum Mai 1866 Kriegsminister war
und damals zurücktrat, weil er die Verantwortung für die frivole Kriegs-
Politik nicht übernehmen wollte. Freimüthig hat er jederzeit seine nationale
Gesinnung bekannt, auch jetzt wollte er den Auftrag nur annehmen, wenn
ein durchgreifender und eclatanter Systemwechsel damit verbunden wäre. Er
stellte zur Bedingung seines Eintritts die Entlassung der Herren Varnbüler,
Miltnacht und Gotther, und den Erlaß einer königl. Proklamation an das
würtenbergische Volk im Sinn des entschiedenen Anschlusses an den nord¬
deutschen Bund. Ohne Zweifel wäre dies die erwünschteste Lösung gewesen.
Vielleicht hätte gerade die Größe dieses Entschlusses rasch eine Umstimmung
des Landes herbeigeführt. Aber vor einem so heroischen Mittel schreckte man
an höchster Stelle doch zurück, dazu schien in der jetzigen Lage, wofern man
dem Wunsch der Kammermehrheit entgegenkommen konnte, noch keine Nöthi«
Kürg zu liegen. Aber man suchte den neuen Kriegsminister in demselben
Lager, und man traf eine Wahl, die in mancher Beziehung noch bezeichnen¬
der war.
Der Nachfolger des Frhrn. v. Wagner ist der Generalmajor v. Succow,
ein verhältnißmäßig noch junger Officier, ein ganzer Soldat, herrisch, mehr
gefürchtet als beliebt, aber ausgezeichnet durch den Schwung seiner Ideen
und Adel der Gesinnung, wie durch unbeugsame Willenskraft, schon seit dem
Jahr 1866 um seiner rücksichtslos bekannten Neigung zu Preußen willen ein
Dorn im Auge der Demokratie, deren Presse den Mann mit der derben
Faust und dem eisernen Nacken als eine Art von Ungeheuer, als lebendige
Jncarnation des Militärteufels den schaudernden Parteigenossrn auf dem
Lande zu beschreiben pflegte. Ein freimüthiger Bericht, den er über den
Mainfeldzug dem König vorlegte, gab den ersten Anstoß zu der Umwand¬
lung unseres Heerwesens nach dem preußischen System. Seitdem war er
als Adjutant, dann als Chef des Generalstabs der vertraute Rathgeber des
Generals v. Wagner, dessen rechter Arm bei der Durchführung der neuen
Heereseinrichtungen. Aus seiner Verachtung der süddeutschen Demokratie
hat er nie ein Hehl gemacht, und im Frühjahr 1868, als der „Beobachter"
das Land mit dem Areolay-Schwindel in Allarm zu setzen versuchte, schrieb
Succow die bekannte Flugschrift: „Wo Süddeutschland Schutz für sein Da¬
sein findet?", eine Schrift, die überzeugend und mir begeisterter Rede aus-
führte, wie die süddeutschen Staaten durch das Interesse ihrer Selbsterhal¬
tung nicht minder, als durch das nationale Ehrgefühl auf die engste, loyalste
Verbindung mit dem norddeutschen Bund angewiesen seien. Dies ist der
neue würtenbergische Kriegsminister, von dem man annehmen darf, daß er in
dem Cabinet nicht eine Nebenrolle zu spielen gedenkt.
Und fast noch bezeichnender als diese Ernennung ist die Entlassung des
Cultusministers Golther, welche, wie es heißt, von Succow geradezu zur
Bedingung seines Eintritts in das Ministerium gemacht wurde. Denn
Golther war, wie heute die volksparteilichen und ultramontanen Organe in
die Wette jammern, das einzige aufrichtig großdeutsche Mitglied des Mini¬
steriums, d. h. er war — entgegen der bloßen Opportunitätspolitik des
Herrn v. Varnbüler — von einem principiellen Hasse gegen Preußen beseelt,
ein Anhänger Oestreichs, bekannt durch die Maßregelungen nationalgesinn¬
ter Beamter in seinem Ressort; unvergessen ist insbesondere die kleinliche
Rache, die er im Herbst 1866 an Prof. Pauli übte. In seinem Departe¬
ment war er nicht ohne Verdienste, obwohl er — ein Beust im Kleinen —
diese schmälerte durch eine übertriebene Geschäftigkeit und maßlose Selbst¬
gefälligkeit. Jetzt ist er — nicht etwa zum Professor in Schönthal, aber zum
Präsidenten des evangelischen Konsistoriums ernannt, eine Stelle, die eben
erledigt war.
Endlich aber benutzte man die Ministerkrisis, um Geßler, den bisherigen
Minister des Innern zu beseitigen. Dabei waren in erster Linie wohl nicht
politische Motive im Spiel. Seine Unthätigkeit und Indolenz in größeren
Fragen, seine derben Manieren in kleineren Dingen machten im Interesse
der öffentlichen Verwaltung längst einen Wechsel erwünscht. Seine Unthätig¬
keit gipfelte allerdings zuletzt in dem olympischen Gleichmuth, den er der
demokratischen Agitation entgegensetzte, auch als dieselbe bereits anfing, we¬
nigstens die ländlichen Behörden in ihren Dienst zu ziehen, wie sie denn
überhaupt durch das zweideutige Schweigen der Regierung ermuthigt, zum
offenbaren Hohn gegen die Autorität der Gesetze ausartete. Wirklich soll
ihm als Grund seiner Entlassung ausdrücklich diese seine Haltung gegenüber
der „Landesagitation" genannt worden sein, obwohl diejenigen seiner Col-
legen, welche geblieben sind, diese Schuld jedenfalls theilten und selbst in der
Kammersitzung vom 12. März die Unthätigkeit der Regierung, wenn auch
unglücklich genug, zu rechtfertigen suchten.
Als sein Nachfolger war zuerst Sick, der Oberbürgermeister der Resi¬
denzstadt ausersehen, der längst für einen Zukunftsministereandidaten gilt,
ein Mann von lebhaftem Temperament, gewinnenden Manieren und tüchti¬
ger Arbeitskraft, doch in politischer Beziehung leicht beweglich und unsicher,
der aber dem Ministerium Varnbüler wiederholt nützliche Dienste geleistet
hat. zumal im Dezember 1868 während der verunglückten Adreßdebatte, wo
Sick das bekannte Amendement für ausdrückliche Anerkennung der Verträge
hineinwarf und dadurch die Phalanx der Gegner derangirte. Er scheint jedoch
diesmal einer Combination nicht getraut zu haben, die allerdings an Wider¬
sprüchen leidet und sich lieber für größere Dauer versprechende Eventualitäten
aufzusparen. Auch ist es ein öffentliches Geheimniß, daß er das Ausscheiden
Varnbüler's zur Bedingung seines Eintritts gemacht hätte, wie denn für
diesen Minister die ganze Krisis ein verständliches memellto war. Jetzt ist
für das Departement des Innern der Staatsrath v. Scheurlen ernannt, eine
robuste, cyklopische Natur, von scharfem Verstand und lebhaftem Ehrgeiz;
schon seit geraumer Zeit schien er an unterdrücktem Thatendrang zu leiden,
denn man sah ihn das einemal als Begleiter des Herrn v. Succow zu den
Militärconferenzen in München pilgern, das anderemal den Posten eines
Oberintendanten des officiellen Staatsanzeigers übernehmen. Er ist ein
strenger Conservativer, antinational, aber vor Allem antidemokratisch, der
schon vor zwanzig Jahren sich in einer UnPopularität gefiel, die er aufsuchte.
Seine Ernennung gilt ohne Zweifel zunächst der Agitation der Volkspartei.
Ueberhaupt bedeutet das Ministerium eine conservative Wendung, es ist ein
„Ministerium der Energie", vor Allem soll die Autorität der Regierung
wiederhergestellt werden, dies ist es wenigstens, was man von dem aus
wenig sympathischen Persönlichkeiten zusammengesetzten Ministerium erwartet.
Ist dann eine Zeit lang eine wirkliche Regierungsgewalt wieder in Function
gewesen, gelingt es. die überschattende Nebenregierung der Volkspartei gründ¬
lich zu beseitigen, dann wird man auch eventuell an eine Auflösung der
Kammer denken können, falls diese mit den gemachten Zugeständnissen noch
nicht zufrieden sein sollte.
Und dies ist die Antwort auf die 130.000 Unterschriften, welche die
Volkspartei im Schweiß ihres Angesichts für ihre Antimilitäradresse zu¬
sammengebracht hatte. Wie ein kurzer märchenhafter Traum, dem ein rasches
unerwünschtes Erwachen folgt, muß ihr der 17tägige Landtag erscheinen.
So nah dem Ziele, und diese gründliche Enttäuschung! Die Bestürzung,
welche sich auf den Gesichtern im Halbmondssaal an dem verhängnißvollen
24. März, dem Datum unserer Zollparlamentswahlen, malte, stammelte in
den demokratischen und ultramontanen Blättern des Abends Worte schmerz¬
lichster Ueberraschung. „Das Land wird aufschauern", stöhnte der Beobachter,
..über solche Wirkung seiner Bewegung, die das Gegentheil bringt von dem.
was es damit wollte." Als eine „preußische Antwort", als ein „Schlag
ins Gesicht" der Patrioten wurde die Lösung bezeichnet. Gleichwohl ist
vorauszusehen. daß man im Lande die eingetretene Wendung ungleich ge¬
lassener aufnehmen wird, als man nach der mehrmonatlichen Agitation mit
dem Schlußeffekt, der am 20. März in der Stuttgarter Liederhalle veranstaltet
wurde, erwarten sollte. Die Proklamation an das würtenbergische Volk,
welche heute das Landescomite' der Volkspartei erläßt, — es ist eigentlich die
Abschiedsproclamation einer gestürzten Regierung — wird daran nichts
ändern. Daß die Bewegung in der That eine „künstlich" gemachte war,
wie die Ansprache der deutschen Partei vom 8. Februar sagte, hat sich doch
von Tag zu Tag mehr herausgestellt. Haben auch die Agitatoren überall
auf den Dörfern begreiflichen Anklang gefunden mit ihren Vorspiegelungen,
daß es hinfort keine Soldaten und keine Steuern mehr geben solle, so war
doch in den Städten, nicht blos in der Hauptstadt, die Theilnahme eine kühle
geblieben, und der Rückschlag aus den Kreisen des conservativen Bürger,
thums hätte sich ohne Zweifel noch stärker geltend gemacht, wenn man nicht
an der Regierung völlig irre geworden wäre, obwohl es jetzt nachträglich
kaum wird bedauert werden können, daß man der Bewegung bis zu ihrer
Schlußcomödie völlig ungehemmten Lauf verstattete.
Die Lage der Patrioten ist um so verdrießlicher, als der vor den Land¬
tag gebrachten Beschwerde der 46 von Seiten der Regierung entsprochen
wurde, noch bevor der Antrag zum Beschluß erhoben war. In den Volks¬
versammlungen war freilich von Umsturz des Kriegsdienstgesetzes, Abschaffung
der stehenden Heere, Einführung des Milizsystems, Zerreißung der Ver¬
träge u. s. w. die Rede gewesen, aber auf parlamentarischem Boden schrumpf¬
ten diese kühnen Forderungen zu der weinerlichen Bitte um möglichste Spar¬
samkeit zusammen. Hier hatten die „Großdeutschen" es verstanden, sich der
von der Volkspartet eingeleiteten Bewegung zu bemächtigen, die in der Hand
von begehrlichen Ministercandidaten rasch ein sanfteres Gepräge annahm, und
auch die Volkspartei ließ sich zur Avschwächung ihrer Forderungen herbei, damit
in der Kammer eine Mehrheit und durch diese ein „rein großdeutsches" Ministe¬
rium zu Stande käme. Jetzt sind die Früchte jener lärmenden Agitation, wie
dieser feineren Taktik verloren. Klüger als die Volkspartei waren die Ultra«
mondänen gewesen, aber klüger als diese das Ministerium, welches sie rasch
beim Wort nahm.
Welche Maßregeln nun Herr v. Succow treffen wird, um Ersparnisse
im Betrag von einer halben Million vorzunehmen und doch gleichzeitig das
Heer im bisherigen Stand der Tüchtigkeit zu erhalten, bleibt abzuwarten.
Ohne eine wettere Herabsetzung der Präsenzzeit und ohne Verminderung der
Mannschaft wird es allerdings nicht abgehen, und dies bleibt auf alle Fälle
ein Rückschritt. Manche verdenken es dem neuen Kriegsminister, daß er
sich zu diesen Zugeständnissen bequemt hat und überhaupt in Ein Cabinet
mit Varnbüler und Mittnacht getreten ist. Ohne Zweifel übernahm er den
schwierigen Posten gerade deshalb, weil er sich als Schöpfer der heutigen
würtembergischen Armee fühlt und seine gefährdete Schöpfung nicht in die
HSnde von Pfuschern gelangen lassen wollte. Er wird wenigstens retten,
was unter den heutigen Verhältnissen überhaupt zu retten ist.
Ein wahres Verdienst um die Presse ist es aber, daß die Regierung
ihren Entschluß gefaßt hat. bevor es zur wirklichen Verhandlung über den
Antrag der 45 in der Kammer kam. Eine achttägige Debatte über den Fluch
des Militarismus, die doch nur der Wiederhall aller zum Ueberdruß gehörten
Phrasen der Volksversammlungen gewesen wäre, ist damit glücklicherweise
abgewendet. Zu dieser Beschleunigung mag vollends die mehr offenherzige
als taktvolle Behandlung der Allianzfrage durch den Abgeordneten Schott
(den Verfasser der „Menschlichen Schwächen") beigetragen haben. Die Jnter-
pellation wegen des essus koeäeris war zwar zunächst gegen die früheren
Flunkereien des Herrn v. Varnbüler gerichtet und sollte diesen persönlich in
Verlegenheit setzen, aber sie hatte zugleich eine Spitze gegen das Allianzver-
hältniß überhaupt. Die polternde Rede Schott's am 22. März rührte geradezu
an die Giltigkeit des Allianzvertrags. Seitdem die Patrioten demselben
nicht mehr von vorne beikommen können, versuchen sie es mit schwäbischer
Pfiffigkeit ihm wenigstens eine solche Auslegung zu geben, daß er je nach
den Umständen auch den gemüthlichen Vertragsbruch zulasse. Diese Theorie
blieb sehr ungefährlich in den Spalten der patriotischen Blätter, -aber man
durfte sie nicht in die Kammer tragen. Es war eine Ueberspannung des
Bogens, die Herrn v. Varnbüler zu statten kam. Wenn seine persönliche Ver-
theidigungsrede nichts weniger als glänzend war. so gab ihm die Jnterpella¬
tion doch willkommenen Anlaß aufs stärkste zu betonen, daß er. so lange er
Minister sei. nicht dulden werde, daß an dem Vertrag gerüttelt werde. Diese
Erklärung, abgegeben während der schwebenden Ministerkrisis, war ein An-
zeichen, daß Varnbüler bereits über die Krisis sich hinübergerettet hatte, und
ließ zugleich voraussehen, daß der Ausgang am wenigsten zu einer Demon¬
stration gegen den Nordbund sich gestalten werde.
So ist denn der neueste Angriff der Patrioten auf die vertragsmäßige
Stellung des Landes, nach Preisgebung eines kleinen Außenwerks, glück¬
lich zurückgeschlagen. Die Aehnlichkeit mit dem mißlungenen Angriff im
December 1868 springt in die Augen. Damals beantragte die Volkspartei
eine Adresse, welche den Südbund verlangte. Die Großdeutschen wanden
ihr den Antrag aus der Hand und verwässerten ihn so, daß er sich zum Zu¬
kunftsprogramm eines großdeutschen Ministeriums gebrauchen ließ. Die
Schlacht schien bereits gewonnen, als unversehens ein geschicktes Manöver
der Regierungspartet die Gegner verwirrte, und schließlich blieb die aus¬
drückliche Anerkennung der Verträge das einzige Resultat, während im Uebri-
gen das ganze Adreßprojeet ins Wasser fiel. Auch bei dem neuesten Angriff
ging die Volkspartei mit ihrer Agitation und ihren extremen Forderungen
voraus, die Großdeutschen gedachten die Früchte einzuheimsen, und schließlich
führte ihr Antrag eben diejenige Wendung herbei, welche sie heute als einen
Schlag ins Gesicht empfinden. Daß diese Angriffe immer wiederkehren ist
sicher zu bedauern. Wenn sie aber regelmäßig mit einer empfindlichen Nieder¬
lage endigen, so ist dies doch ein erfreuliches Zeugniß dafür, daß die Logik
der deutschen Geschichte stärker ist als der krankhafte Haß der Patrioten.
Noch ist, während dies geschrieben wird, das Schicksal nicht entschieden,
welches dem Entwurf zum neuen Strafgesetz vor dem Reichstag werden wird.
Denn nicht die Frage der Todesstrafe allein macht die Vereinbarung über das
große Gesetz unsicher. Unterdeß sei es erlaubt, die Auffassung dieses Blattes
über den wichtigsten Streitpunkt des Gesetzes darzulegen, da dieser ja keines¬
wegs aus der Welt geschafft wird, selbst wenn ein Compromiß der gesetz¬
gebenden Gewalten die letzte Entscheidung in die Zukunft hinausschieben sollte.
Seit zwei Jahrhunderten ist in Deutschland das gesammte Civil- und
Criminalgesetz mehr als einmal radical umgeformt worden. Wir Deutsche
sind deshalb an den Gedanken gewöhnt, daß das Recht ebenso in unablässi¬
ger Fortbildung ist wie Sitte, Sprache, Wissenschaft, Kunst, jede ideale und
praktische Richtung des Volkslebens; und daß diese Umbildung so lange
dauern muß, als die schöpferische Lebenskraft der Nation sich regt. Wir sehen
täglich, daß neue Erfindungen auch neue Bedürfnisse, und daß neue Bedürf¬
nisse auch neue Beziehungen der Menschen zu einander schaffen, und daß
jeder sociale Fortschritt seine Befestigung und Weihe durch gesetzliche Be¬
stimmung begehren muß. Auch ist unsere Nation sich sehr lebendig be¬
wußt, daß nicht nur zwingende reale Bedürfnisse, sondern ebensosehr die Fort¬
schritte der sittlichen, religiösen und ethischen Empfindung eine unablässige Fort¬
bildung in der Gesetzgebung nöthig machen; denn die Toleranz gegen Anders¬
gläubige, die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Gleichheit der Bürger vor dem
Gesetz, Schutz der Thiere gegen Mißhandlungen sind zuerst durch die Weisen
und Guten, durch Reformatoren oder Philosophen der Aufklärungszeit ge¬
fordert worden, und aus den Lehren der Ethik und aus dem sittlichen Bedürfniß
der Gebildeten in das Rechtsleben der Nation übergegangen. Auch darüber
wird in Deutschland wenig Zweifel sein, daß es nicht Aufgabe des Gesetz.
gebers ist, den Gedanken des Volkes und den Bedürfnissen des Tageslebens
vorgreifend, Neues zu erfinden und auf leerem Boden ein frisches System, ein
fremdes heilbringendes Leben zu gründen; sondern daß der Gesetzgeber viel¬
mehr prüfend zu untersuchen hat. ob Bedürfniß und Forderung, welche neu
erstehen, nicht nur an sich wohl berechtigt, sondern auch im Bewußtsein der
Zeitgenossen so kräftig durchgebildet sind, daß das bestehende Alte ihnen
gegenüber als ein Abgelebtes zum allgemeinen Nutzen beseitigt werden muß.
Wir messen die Weisheit eines Staatsmannes zum großen Theil darnach, ob
sein Verständniß für das Vernünftige und Zweckmäßige neuer Gesetzgebung,
und ob sein Urtheil über den richtigen Zeitpunkt dafür dem unseren entspricht.
Ob gegenwärtig die Aufhebung der Todesstrafe eine volksthümliche For¬
derung sei, darüber wird gestritten. Ja sogar darüber, ob die ethische Em¬
pfindung in dem verhältnißmäßig kleinen Kreise der sogenannten Gebildeten
zur Zeit dringend die Beseitigung einer gesetzlichen Tödtung des Menschen
fordere. Denn die Frage ist verhältnißmäßig neu. nicht Jeder hat der alten
Tradition gegenüber sich eine selbständige Ansicht gebildet. Die Abschaffung
ist in einigen Landschaften Deutschlands länger erörtert und mehr in die Ge¬
danken der Menschen eingedrungen, als in anderen.
Es ist serner richtig, daß auch die Frage noch nicht endgiltig durch die
Erfahrung entschieden ist, ob die Verhängung der Todesstrafe durch ordent¬
liches Gericht eine nützliche, wenn auch sehr bedauernswerthe Nothwehr des
Staates sei. Deshalb befriedigen die Zweckmäßigkeitsgründe, welche dafür
und dagegen vorgebracht werden, zur Zeit noch wenig.
Nur das ist unzweifelhaft, daß die Gegner der Todesstrafe von einer
höheren Auffassung des irdischen Lebens ausgehen, als die Vertheidiger; und
wenn der Bundeskanzler den Gegnern Sentimentalität vorwarf, dürfen sie
ihm mit Grund entgegnen, daß seine eigene niedrigere Schätzung des mensch¬
lichen Lebens auf Erden an einer Inconsequenz leidet. Denn gerade wenn
er dies Leben nur für eine unvollkommene Vorstufe des besseren Jenseits
hält, wie er bekannte, und als einen vorläufigen Aufenthalt, an welchem so
unermeßlich viel nicht gelegen sei, müßte ihn die christliche Auffassung von Reue
und Buße auch dazu sühren, dem Verbrecher hier auf Erden die mögliche
Gelegenheit zu einer Umwandlung seines Innern nicht zu verkürzen, weil ja
von dieser Bekehrung die sociale Lage desselben im Jenseits abhängen würde.
Aber die Rücksicht auf die Unglücklichen und Elenden, welche gewaltthätig
S^en das Gesetz ein Menschenleben vernichtet haben, dünkt uns gar nicht
^nzige humane Rücksicht zu sein, welche der Gesetzgeber hier zu nehmen
hat. Nicht weniger menschlich und politisch wichtiger erscheint, die deutschen
Souveräne von dem furchtbaren Vorrecht der Gnade und Verdammung zu
befreien. Es war bisher das rohe Auskunftsmittel der bedrängten Huma-
nität, die letzte Entscheidung über Tod und Leben des Verbrechers auf die
Seele des Regenten zu legen. In Wahrheit hat seither nicht der Ausspruch
des Gesetzes, sondern erst die Verweigerung der Gnade durch den Landes¬
herrn den Tod des Verbrechers zur Folge gehabt. Und wenn die Berend'
mung richtig ist, nach welcher unsere Souveräne ihr Gnadenrecht so
reichlich üben, daß sie von je drei zum Tode Verurtheilten nur den dritten
hinrichten lassen, dann wird das Ungeheuerliche der Ausnahmestellung, in
welche sie durch ein sogenanntes Gnadenrecht versetzt sind, nur noch auffallender.
Ob sie tödten lassen, liegt ganz in ihrem Ermessen, in zufälliger Auffassung,
in Gemüthsstimmung und Charakter, in den persönlichen Einwirkungen, welche
auf sie ausgeübt werden. Zu wenig denkt das Volk daran, wie schwer die
Last ist, welche durch dies unmenschliche Vorrecht auf das Gewissen der
Fürsten gelegt wird. Jedem Regenten ist bei Antritt seiner Regierung
diese Function seiner Herrschermacht unheimlich und schrecklich. Lange sträubt
ein gewissenhafter Herr sich gegen die Unterschrift eines Todesurtheils. Er
greift wiederholt nach den Untersuchungs-Acten, sucht sich selbst eine Ansicht über
den Grad der Schuld, die Unwürdigkeit des Verbrechers, über die Berechtigung
seines Mitleids zu verschaffen; nicht leicht gelingt ihm das, er ist nicht gewohnt
in der Seele eines Verbrechers zu lesen. Tief fühlt seine warme Empfindung
sich verletzt, die gehobene Stimmung der ersten Regierungszeit wird schnell
niedergedrückt. Er verschiebt von einem Tage zum andern die verhängnißvolle
Entscheidung, zuweilen vergehen Jahre, bevor er sich entschließt. Und wie kommt
er endlich zu dem Entschluß, das erste Mal die tödtende Feder zu ergreifen?
Harte Kriminalisten und ordnungsliebende Beamte, welche alte Reste nicht
leiden mögen, drängen ehrerbietig. Ihnen kommt zu Hilfe der Hof-Theolog,
der elendeste aller Schmeichler, dieser sucht das bedrängte Gemüth des Fürsten
durch die teuflische Lehre aufzurichten, daß der Fürst in der höchsten Erden¬
stellung von Gottes Gnade anders als andere Sterbliche erleuchtet und befähigt
werde, das Rechte zu treffen, und daß Gott ein frommes Fürstengemüth mit
seinem Willen erfülle, auch wo er Strafen verhänge. Das endlich wirkt. Nur
in dem Gedanken vor Andern erkoren und zur Ausführung des göttlichen
Willens begnadigt zu sein, vermag der erlauchte Herr dieses finstre Vor¬
recht seines Amtes gleichmüthig zu üben, es ist eine Pflicht, die ihm der
Herr auflegt, und ihm hilft eine Erleuchtung und Willensrichtung, welche
ihm dafür von Gott selbst gegeben wird. Wer darf den Fürsten schelten , wenn
er gegenüber einer unmenschlichen Zumuthung für sich einen Halt sucht, der
nicht mehr menschlich ist? Und wer darf sich wundern, wenn derselbe Glaube
an die mystische Weihe seines Amtes und die besondere göttliche Gnade schnell
für Leben und Thun des Fürsten eine Bedeutung gewinnt, die sein Volk und
seine Zeitgenossen nicht mehr verstehen. — In diesem Gnadenrecht liegt der
erste Keim zu dem Gefühl der Selbstherrlichkeit, zum Cäsarenthum und bei
ungünstig organisirten Naturen zur Cäsarenkrankheit.
Aber haben nicht alle Fürsten, die bis zur Gegenwart über einem Staats-
Wesen gewaltet, dies Recht der Gnade ohne Anfechtung besessen? Tausende von
Regenten, die besten wie die schlechtesten, haben mit ihren Gedanken darüber
fertig werden müssen und nie ist die Klage laut geworden, daß das Recht der
Krone, welches man wohl gar das höchste irdische nennt, einen schädlichen
Einfluß auf Gemüth. Urtheil und Weltauffassung der Herren ausgeübt habe.
Natürlich war die Gefahr für sie um so geringer, je niedriger der Werth
des menschlichen Lebens überhaupt war. Am Ende des Mittelalters, wo fast
jede größere Stadt und viele Gutsherren alljährlich Verbrecher an den Galgen
hingen oder verbrannten, war es nicht die Expedition des Verurtheilten,
welche die höchsten Häupter der Christenheit kümmerte, dies Hinrichten war
in harter Zeit die selbstverständliche Rache der geschädigten Mehrzahl an der
Minderzahl und wurde mit wenig Erbarmen 'geübt. Damals verbreitete das
Recht der Gnade vielmehr einen milden, verklärenden Glanz über den Landes¬
herrn, denn ihm selbst und seinen Zeitgenossen erschien es als ein lebenspen¬
dendes Vorrecht hoher Erdenstellung, welche gern den Traurigen fröhlich,
den Friedlosen friedlich, den Ehrlosen ehrlich machte. Wer damals begnadigt
wurde, der ward darum in der Regel auch jeder schweren Strafe enthoben.
Aber je höher der Werth des Menschenlebens stieg und je völliger in den des¬
potischen Beamtenstaaten Gesetz, Rechtspruch und Execution vom Landesherrn
selbst ausging, desto härter und schwerer wurde für diesen der letzte Federzug
über Tod und Leben. Denn dies Fürstenrecht gehört zu denen, die man
ohne Gefahr nur naiv üben darf, wie die Könige im Märchen thun. Wer
erst anfängt, sich Gedanken darüber zu machen, der findet schwer das Ende,
außer, wo der Pfaffe hilft. Und doch, so lange die Klugen und die Wackerer
im Volke selbst keine Zweifel über die Todesstrafe hatten, so lange vermoch¬
ten auch gewissenhafte Fürsten sich mit dem harten Muß ihres Amtes ab-
zufinden. Jetzt aber ist die Frage aufgeregt, sie wird tausendstimmig beant¬
wortet, so oder so, jetzt weiß der Fürst, daß Viele und nicht die Schlechtesten
seines Volkes eine Hinrichtung für eine barbarische That halten, wer darf
erstaunen, wenn er in solcher Zeit schwer von der Sorge geängstigt wird, ob
" w Wahrheit das Recht habe, über Tod und Leben zu entscheiden.
Freilich mag der Zweifel an diesem Fürstenrecht auch keinem so wider¬
wärtig se^, als dem Regenten, der nach längerem Sträuben, bezwungen
durch die Nothwendigkeit, durch mahnende Juristen oder räuchernde Höflinge
sich daran gewöhnt hat, in seiner Bestimmung über Leben und Tod der
Missethäter ein Vorrecht höchster Herscherwürde zu sehen. Jetzt auf einmal
soll nicht civilisirt, und soll inhuman sein, was er lange geübt hat; ein
jüngeres Geschlecht will die Berechtigung, die ihm selbst geheime Sorge ge-
macht hat, bezweifeln, nachdem er in bitterem Pflichtgefühl sich drein ergeben!
Dennoch muß laut gesagt werden, daß dies Recht der Gnade in unserer
Zeit eine unheimliche und ungesunde Pflicht der Souveräne geworden ist,
zunächst weil es den Fürsten Unmenschliches zumuthet, dann aber, weil es die
Fürsten in Gefahr setzt, von der Anschauungsweise ihrer Zeitgenossen durch
eine falsche Ausfassung ihrer eigenen Majestät getrennt zu werden, welche
das gegenseitige Verständniß und das politische Zusammenwirken immermehr
erschwert, endlich zu einer Lebensgefahr für die Monarchie überhaupt zu
machen droht.
Auch darum ist dies Blatt für Aufhebung der Todesstrafe.
Historische Volkslieder des preußischen Heeres von 1675 bis 1866. Aus fliegenden
Blättern, handschriftlichen Quellen und dem Volksmunde gesammelt von Franz
Wilhelm Freiherrn von Ditfurth. Berlin 1869. Mittler u. Sohn.
Unserm Volk ist die Erinnerung an jene Zeit längst geschwunden, in
welcher ein neues Lied über Tagesereignisse von Mund zu Munde flog über
das ganze deutsche Land, wo der Chronist verzeichnete, wenn ein frisches Lied
auskam, wo dieselben Worte und Weisen am Kaiserhofe, in den Stuben der
Handwerker und in den Hütten der Bauern gesungen und gepfiffen wurden,
und wo jede Fehde, jeder städtische Zwist und jedes ungewöhnliche Ereigniß
in den Seelen der Lebenden einen melodischen und poetischen Nachklang
zurückließ. Die altheimische Weise der Deutschen, Neuigkeiten im Gesänge zu
melden und den Hörern gemüthlich zuzurichten, verlor ihre Bedeutung mit
der Erfindung der Druckerkunst, mit dem Herauskommen einer Gelehrten¬
bildung und einer Kunstpoesie, welche an Stelle des geflügelten Wortes und
mündlichen Vortrags die schwarzen Lettern als ihre Boten gebraucht. Aber
Wie sehr die nationale Bedeutung des historischen Volksliedes seitdem ver«
mindert ist, aufgehört hat dies Lied zu keiner Zeit und noch in der Gegen¬
wart treibt der alte geschädigte Baum neue Wurzelsprossen. Wo die Kinder
des Volkes warm theilnehmen an öffentlichen Ereignissen, äußert sich sofort
eine gewisse schöpferische Kraft und das germanische Bestreben, starke
Eindrücke durch Vers und Gesang behaglich umzubilden. Es ist natürlich,
daß diese Thätigkeit des Volkes sich in neuer Zeit fast nur im Kriegsliede
äußert, wenn ein kräftiger Corpsgeist die Massen beseelt und die mächtigsten
Gefühle gemeinsam durchlebt werden. Der Werth, welchen solche Poesien
für uns haben, ist ein anderer geworden. Noch erfreut zuweilen eine wahr¬
haft poetische Auffassung, kräftiger Ausdruck, ein schönes Bild; aber mehr
als ein zufälliger poetischer Reiz fesselt uns die Eigenthümlichkeit des Aus¬
drucks, welche wir die volksmäßige nennen, und wir betrachten kritisch, was
daran jüngst vergangener Zeitbildung der Sprache und des Gemüths ange¬
hört und was eine uralte, immer wiederkehrende Eigenheit der deutschen Em¬
pfindung ist. Immer müssen wir daran denken, daß diese volksmäßigen Reime
in dem vornehmen Buche getrockneten Blüthen gleichen und daß Redewen¬
dungen, die uns allzuderb oder unbehilflich erscheinen, eine sehr eigenthüm¬
liche Wirkung dann ausüben, wenn sie in Stunden kriegerischer Aufregung
von tausendstimmigem Chor erschallen. Die ungeheure Wirkung, welche
heißer Haß und patriotischer Sinn der Lieder in solchen Momenten auf die
Stimmung eines Heeres ausüben, vermag man in der Bücherstube nur schwer
zu schätzen. Der Soldat wird vor der Schlacht und nach dem Siege, in der
Ermattung des Marsches und bei den Entbehrungen des Bivouacs durch die
einfachen Worte und Weisen seiner Lieder so begeistert, daß sich zur Zeit
wenige Wirkungen der edelsten Kunstpoesie mit der Gewalt seiner kleinen
Situationslieder vergleichen können.
Unter den Herausgebern historischer Volkslieder waren es zuerst v. Soltau
und Hildebrand, welche auf die modernen Soldatenlieder aufmerksam machten;
die oben angekündigte Sammlung ist der neuste werthvolle Beitrag dafür.
Der Herausgeber, welcher einen Theil seines Lebens auf das Sammeln ähn¬
licher Volksüberlieferungen gewandt hat. ist in weiteren Kreisen rühmlich
bekannt durch sein Werk „Fränkische Volkslieder mit ihren zweistimmigen
Weisen" (1833. 2 Theile). Schon jene frühere Sammlung hatte das Ver¬
dienst, daß sie aus dem stillen Quell des Volksgemüths tiefer und reichlicher
geschöpft war, als viele ähnliche Sammlungen; sie brachte zumal in den
geistlichen Volksliedern der katholischen Maingegend eine Fülle von eigen¬
artigem, ganz unbekanntem Liederinhalt zu Tage. — Das neue Werk, von
der Verlagshandlung sehr hübsch ausgestattet, umsaßt die preußische Lager-
^°°sie seit der Schlacht von Fehrbellin: was in den Heeren Friedrich des
in d ^ gesungen wurde, in den Rhein-Campagnen Friedrich Wilhelm II.,
" der Campagne von 1806, in den Freiheitskriegen, in Schleswig Holstein,
^ böhmischen Quartier des Jahres 1866.
. ^ diese gute Sammlung eingehend mustert, wird dem Herausgeber
>ur ferne mühevolle Arbeit recht aufrichtig dankbar sein. Was er sorgfältig
zusammengestellt hat von den Erinnerungen alter Veteranen, aus vergilbten
''
und zerrissenen Niederschriften, aus den Casernen, von verwehten Druckblättern,
das sind immer nur einzelne Beispiele aus dem Lagergesange vergangener
und lebender Geschlechter, aber sie versetzen uns auf die Schlachtfelder und
an die Lagerfeuer von zwei Jahrhunderten preußischer Geschichte, und sie
erzählen von Liebe und Haß in den harten Bataillonen des Dessauers, von
den kleinen Freuden und Leiden des Soldatenlebens unter dem großen König,
von der Begeisterung des Jahres 1813 und von der Soldatenehre der jetzt
bestehenden Regimenter des norddeutschen Bundes. Sieht man näher zu, so
erkennt man schnell, daß Ton und Sprache auch der Lieder, welche aus gleicher
Zeit stammen, sehr verschieden sind. Die einen geben in ältester Weise epischen
Bericht über den Verlauf einer Schlacht, wie sie sich im Gesichtskreis des
einzelnen Mannes darstellt, andere sind polemischer Natur, Spottlieder auf die
Feinde, aus Oestreicher, Franzosen, Napoleon; andere Loblieder der Feldherrn,
des Heeres, einer Action, eines Regiments. Viele sind nach alten Soldaten¬
weisen gemacht, andere sind für den Druck fliegender Blätter berechnet, oder
die stärkere Kraft des unbekannten Dichters fand ihnen eine eigene Melodie,
welche früher verklang als der Text des Liedes. Auch Sprache und Bildung
der Erfinder sind sehr verschieden, bei der Mehrzahl sieht man, wie die
Kunstpoesie der Zeit einzelne feine Redervendungen, ja auch die Dichtungsform
und den Rhythmus geliehen hat. Den Soldaten des großen Kurfürsten und
Friedrich II. z. B. war eine vornehme Redewendung den Krieg des „Martis
Spiel" zu nennen und ihnen erschien der Fall des alexandrinischen Verses
als besonders prächtig. Das Lied „Uebergabe von Stettin 1677" wurde
nach der Melodie gesungen „Amarillis sage mir, warum willst du dich nicht
geben". Es wurde gedichtet als Wechselgespräch zwischen dem Kurfürsten
und der jungfräulichen Festung Stettin, dies in Erinnerung an ein Magde-
durgisches Lied des 16. Jahrhunderts, wo die Wappenjungfrau Magdeburgs
ihr Kränzlein gegen das Heer des Kurfürsten Moritz von Sachsen länger
als ein Jahr vertheidigte. Aber die dialogisirende Form, in welcher die
Parteien einander streitend gegenüber gestellt werden, kehrt in der Sammlung
häufig wieder. Friedrich der Große und Maria Theresia singen ihre Verse
gegeneinander, ebenso Napoleon und König von Preußen nach der Melodie
„Guter Mond, du gehst so stille", und Napoleon und Blücher nach der Melodie
„Himmel, was soll das bedeuten", wobei Napoleon gegen Blücher mit
den Worten beginnt: „Jetzt, du Tausenschockschwerenöther", und Blücher, der
vortrefflich charakterisirt ist. das Lied mit den Worten schließt: „Jungens,
druff! Mit Gott soll's gehen, jetzt für König. Vaterland! Du. Napoleon
wirst sehen, da hält nicht dein Glücke Stand!"
Es ist vor diesem Soldatenliede des Jahres 1816 ein fröhlicher Ge-
danke, daß dieselbe Form des Kampfgespräches wohl die älteste uns überlieferte
Liederform ist. Schon zur Zeit Arnims kündeten die Sänger den Wortstreit der
Helden und zorniges Wechselgespräch, welches dem Kampfe vorherging; Tacitus
hat uns ein solches Gespräch des Armin mit seinem Bruder Flavus über¬
liefert, und offenbar hat ein noch zu seiner Zeit bei den römischen Hilfs-
truppen lebendes Lied ihm die Situation und das Motiv zu den Wechsel-
reden gegeben. Unter den Heldenliedern der isländischen Edda sind die
Kampfgespräche am reichlichsten und besten erhalten, unter den alten Volks¬
liedern der Deutschen, welche bis in die neuere Zeit fortlebten, stammt das
Kampfgespräch Tragemund's und das zwischen Buchsbaum und Weiterbauen
ebenfalls aus der ältesten Zeit deutscher Poesie. — Bei anderen Liedern wieder
ist das Eindringen moderner Bildung auffallend, in einzelnen klingt die Fülle
und Rhythmik der Schiller'schen Sprache, sogar der Nibelungenvers ist ver¬
treten und eine ältere Melodie, nach der das eine Lied gesungen wurde, hat
sich ihm zu Liebe strecken müssen. Die Ausrufungszeichen, welche die gebil¬
deten Jünglinge in ihren Freiheitsliedern vom Jahre 1813 gern anwandten,
ihre kurzen Sätze und das neue Hurrah*) gehen auch auf die Poesie der Ka¬
meraden aus dem Volke über, und die gebildete Reflexion wird in den Lie¬
dern der neuesten Zeit ein wenig breiter. Im ganzen aber ist merkwürdig,
wie gering der Einfluß der Kunstpoesie auf die Maaße und die Ausdrucks-
weise der modernen Soldatenlieder bis zum Jahre 1866 blieb. Die echten
Volkslieder dieser Art sind noch heut den politischen Liedern des 16. und 16.
Jahrhunderts weit ähnlicher, als der Sprechweise der Kunstdichter. — Die vor¬
liegende Sammlung enthält fünf bis sechs Nummern, welche wenig Volks-
thümliches haben und in Wahrheit nichts als schwache Kunstpoesie sind, das
Zeitgemäße ihres Inhalts verschaffte ihnen Ruf und Verbreitung und so
wird man sich dieselben im Gegensatz zu andern wohl gefallen lassen. Dahin
gehört z.B. Ur. 82 „Der Preußengruß an die Pariser" und Ur. 94 „Erobe¬
rung der Düppeler Schanzen." In den Liedern des letzten Kriegs ist freilich
die achtungswerthe Bildung unserer Freiwilligen erkennbar. Doch wir meinen,
der kurze Feldzug von 66 muß auch Lieder von anderem Charakter hervor-
gebracht haben. Es wäre eine kleine lustige Arbeit, dieselben treu zu sam¬
meln, bevor ste verklingen.
Hinter den einzelnen Soldatenliedern möchten wir gern das Antlitz
ihrer Verfasser erkennen. Die Mehrzahl der Lieder ist offenbar von Sol¬
daten im Felde oder kurz darauf verfertigt. In den gewordenen Regimen¬
tern des fürstlichen Staates war unter dem seltsamen Material ein beson¬
ders zweideutiges, die verlorenen Studenten. Viele Söhne aus dem höhe¬
ren Bürgerstande oder vom Adel fielen nach wüstem Umhertretben auf Uni¬
versitäten den Werbern in die Hände. Sie trugen in die Heere viel von
dem abenteuerlichen Sinn und den geistigen Ansprüchen der fahrenden Schüler.
Als Soldaten unter dem Stock des Corporals von der bürgerlichen Gesell¬
schaft geschieden, behaupteten sie im Verkehr mit ihren rohen Genossen und
mit entwürdigten Weibern doch etwas von der Ueberlegenheit, welche ihnen
ihr früheres Leben in einer anderen Culturschicht gegeben hatte; manches
Lied, in welchem sich die Ausdrucksweise der Gebildeten wunderlich mit dem
Volkstone mischt, mag von solchen Gesellen herrühren. Aber nicht alle
Lieder sind nothwendig von Soldaten gemacht, auch der Bänkelsänger, der
kleine Bürger, der Schulmeister dürfen ihren Antheil beanspruchen. Bei
einem und dem anderen wäre vielleicht noch möglich, den Verfasser nach¬
zuweisen. — Der Schreiber dieser Zeilen hatte z. B. Gelegenheit, dem Munde
einer alten Tagelöhnerfrau in einem thüringischen Dorfe ein Lied auf die
Schlacht bei Langensalza nachzuschreiben, das sie selbst in den Tagen der
Aufregung gedichtet hatte und mit Stolz Jedem im Dorf vorsang, der es
hören wollte, ein echtes Volkslied, in dem, was ihm eigenthümlich und was
aus vorhandener Liederhabe entlehnt ist.
Solche Lieder des Volkes legen sich natürlich gern an vorhandene Me¬
lodien, ja auch an den Wortlaut und Sinn älterer Lieder. Der erste
Sänger entnimmt sorglos aus dem Vorhandenen, was ihm dient, spätere
ändern und setzen zu, wo es ihnen nöthig erscheint, bewahren aber im All¬
gemeinen den überlieferten Text mit wörtlicher Treue. So lebt das Lied
vielleicht lange und geht von einer Generation auf die andere über; die
Mehrzahl freilich verklingt schnell, ohne daß sich ein Schriftgelehrter darum
kümmert. Der Zufall nur bringt sie in eines der kleinen Flugblätter, welche
als „Neue Lieder, gedruckt in diesem Jahr" auf Jahrmärkten verkauft werden,
oder ein Soldat schreibt sie für sich auf, in treuer Erinnerung an den Genuß,
den sie ihm bereitet, und ein wandernder Handswerksgesell copirt sie in sein
Büchlein, so kommen sie vielleicht nach vielen Jahren einmal in den Gesichts¬
kreis eines Sammlers.
Es ist kein Zweifel, daß die moderne Schule und die Volksliteratur all-
mälig auch den alten Stil dieser Lieder beseitigen werden. Ein großer Sieg
ist aber für unsere Kunstpoesie noch zu gewinnen, ein Liederschatz, der zu¬
gleich gebildeter Empfindung wohlthut und im besten Sinne des Wortes
vvlksmäßig ist. -Was Uhland und wenige Andere mit glücklichem Wurfe
so gedichtet, das entspricht fast nur der elegischen Empfindung unseres Volkes,
nicht den freudigen und gehobenen Stimmungen.
Indem das Blatt diese Sammlung preußischer Soldatenlieder der pa¬
triotischen und gelehrten Beachtung warm empfiehlt, versagt es sich nicht,
eines der Lieder mitzutheilen, nicht weil es das beste der Sammlung ist,
sondern weil es zu denen gehört, welche trotz der modernen Sprache ganz in
alter Weise epischen Bericht über den Verlauf einer Schlacht enthalten. Es
ist Ur. 88 „Schlacht bei Jena".
3. Wir aber waren an Zahl zu schwach,
Wir mußten uns ziehen zurücke,
Bis General Grawert käme nach,
Da gab's ein anderes Stücke.
Um Vierzehn-Heiligen spielten wir auf
Den heiligen Herren Franzosen;
Sie kamen vom Tanzen gar wol im Lauf,
Wir klopften ihnen tapfer die Hosen.4. Doch kein Succurse kam uns daher,
Wir standen ganz verlassen;
So kehrten sie wieder und noch viele mehr,
Uns besser anzufassen.
Bon allen Seiten kam's da mit Macht
Auf uns hereingedrungen;
Hatten wir sie eben ausgelacht,
Haben sie uns nun übel gesungen.
5. Du gab's ein Donnern, als ging'die Welt
Nur gleich in Scherben zusammen;
Ein Bruder bei dem andern fällt,
Steht Alles in Rauch und Flammen.
Doch hielten wir aus und standen fest,
Gaben ihnen tapfer zu schaffen;
Waren uns'rer zu wenig, ein kleiner Rest,
In den Händen uns brennen die Waffen.6. So thaten wir uns zurücke ziehn
Bis auf Klein-Romstädt eben;
Alldort zerschossen sie unsre Batterien,
Die mußten sich da ergeben.
Und als verloren so die Stück,
Da kamen wir in die Enge;
Es wichen ganze Haufen zurück,
Und ward ein großes Gedränge.7. Doch noch geschlossen man uns fand,
Konnt uns kein Teufel nicht trennen,
Grenadier-Bataillon Winkel, bei dem ich stand,
Muß man vor allen wol nennen.
Ich hab meine Fahne tapfer geschwenkt,
Hurrah, ihr deutschen Brüder!
Eh' daß ich sie vor den Franzosen gesenkt,
Hätt' auch den Tod ich viel lieber.8. Was sonsten in der Schlacht geschehn,
Das. kann ich nicht wol berichten;
Es wollt' nichts recht zusammengehn,
Darüber ward Alles zunichte.
Von Früh bis Abends hat es gewährt,
Da ging die Schlacht zu Ende,
Ade, ihr Brüder unter der Erd,
Befehl euch in Gottes Hände!
Mit Ur. beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im März 1870.Die Verlagshandlung.
Wer hätte noch vor wenigen Jahren denken sollen, daß eins der beiden
Kleinode der Dresdener Gemäldegallerie, die vor allen beigetragen haben,
diese Gallerie selbst zum Kleinode des Landes zu machen, unsere allbekannte
und allbeliebte Holbein'sche Madonna eines Vertheidigers ihrer Aechtheit und
ihrer Schönheit bedürfen sollte, und doch ist es so. Die Schönheit zwar
möchte sich genügend selbst vertheidigen, mit der Aechtheit ist es anders;
beide Fragen aber spielen in den Verhandlungen darüber so sehr in ein¬
ander, daß sie fast nur wie eine Frage erscheinen. Doch soll es sich hier
vorzugsweise um die Aechtheit handeln. Unter Aechtheit unseres Bildes
verstehe ich hier, wie in Folgendem immer, die früher nie bezweifelte Autor¬
schaft desjenigen Künstlers, dessen Name sich von jeher an das Bild geknüpft
hat, des Hauptes der alten schwäbischen Malerschule, des jüngeren Holbein,
gegenüber der neuerdings aufgetretenen und mit Gründen, die nicht einfach
zu ignoriren sind, vertretenen Behauptung, das Bild sei nur die späte Copie
von fremder Hand nach einem anderen, wirklich ächt Holbein'schen Werke, dem
nach seinem jetzigen Aufstellungsorte sogenannten Darmstädter Exemplar der
Holbein'schen Madonna, einem erst seit etwa 40 Jahren bekannt gewordenen
Bilde, das bei wichtigen Abweichungen in der Ausführung im Hauptinhalt
mit dem Dresdener übereinstimmt und nicht selten mit ihm gemeinsam unter
dem Namen der „Meier'schen Madonna" zusammengefaßt wird, da die in
beiden vor der Madonna knieend dargestellte Familie die des Baseler Bürger¬
meister Meier ist, welche um den Anfang des 16. Jahrhunderts lebte.
Vor Auftreten dieses Darmstädter Exemplares war von einer Aechtheits-
frage bezüglich des Dresdener überhaupt noch gar nicht die Rede; seine Aecht¬
heit stand außer Frage. War es doch von Algarotti in Venedig als Holbein-
sches Bild für Dresden angekauft worden. Alte Nachrichten, von Fesch und
Sandrart, wiesen auf ein aus der Stifterfamilie Meier stammendes Bild vom
Inhalt des unseren hin. ohne auf ein anderes als unser Bild zu passen;
unser Bild war nach seinem Ankaufsorte Venedig aus Amsterdam gekom¬
men, und jene alten Nachrichten ließen das Holbein'sche Madonnenbild, was
sie besprachen, von seinem Ursprungsorte Basel nach Amsterdam kommen;
endlich erschien die Vortrefflichkeit und der Charakter der Ausführung unseres
Bildes den sonst anerkannten Werken Holbein's ebenbürtig. Woher also hätte
ein Verdacht kommen sollen? Nie schien die Aechtheit eines alten Bildes nach
äußeren und inneren Merkmalen so sicher constatirt, und unstreitig hätte
Spott denjenigen getroffen, der sich mit einem Zweifel an co Bild gewagt,
was so zu sagen als der Chorführer aller Holbein'schen Gemälde galt, wäh¬
rend wir es noch erleben können, daß künftig von manchen Selten Spott
den trifft, der noch von seiner Aechtheit redet.
Die Sache wandte sich nämlich als mit dem Jahr 1830 das Darm¬
städter Bild durch die erste Notiz, die Hirt davon gab, zum Dresdener Bilde
in die Scene und alsbald mit ihm in die Schranken trat, indem es sofort
seinerseits Ansprüche auf Aechtheit erhob, gegen die sich die Unantastbarkeit
des Dresdener nicht länger halten konnte. Anfangs zwar war es (das Darm¬
städter Exemplar) zufrieden, sich schwesterlich in den Namen Holbein mit dem
Dresdener theilen zu dürfen und einen gegen seine eigene Aechtheit gemach¬
ten Angriff leichthin abgeschlagen zu haben; bald aber fing es an oder — um
lieber gleich eigentlich zu sprechen — fing man an. seine Aechtheitsansprüche
auf Kosten des Dresdener geltend zu machen, sprach in diesem mit wachsen¬
der Bestimmtheit erst Nebenfiguren und Nebendinge, der Vollendung derselben
Theile im Darmstädter Bilde gegenüber, Holbein ab, fand dann selbst die
Hauptfigur, die Madonna, kurz das ganze Bild zu schlecht für Holbein, und
nachdem kürzlich noch ein äußeres historisches Zeichen, oder was man doch
dafür hielt, für die Aechtheit des Darmstädter Exemplars zugleich als Ver¬
dachtsgrund gegen das Dresdener aufgetreten war, verurtheilte man dies nun
Völlig auf Grund dieses Verdachtes und seine früher wundervoll gefundene
Schönheit half ihm nichts mehr. Geschah das allgemein? Nein. Sind die
Gründe dafür entscheidend? Nein. Aber sie wollen beachtet und erwogen
sein, und nach allen Erwägungen wird ein Streit darüber wahrscheinlich
bleiben und nur subjective Entscheidungen wie bisher fortfahren, sich als ob-
jectiv geltend zu machen.
Unsere Frage berührt nicht blos ein kunsthistorisches Interesse, was
auf der Hand liegt, sondern sie greift auch auf das ästhetische Interesse
über. Denn wie der zur Kunst erzogene Mensch nun einmal ist, ge¬
winnt das Urtheil über die Aechtheit eines Werkes unwillkürlich auch
einen Einfluß auf sein Urtheil über dessen Schönheit, und verliert ein
Werk leicht seine Schönheit, wenn es seinen Meister verliert. Ja, was
unser Bild in dieser Hinsicht zu besorgen hat, läßt sich aus dem schließen,
was es schon erfahren mußte. Bei Woltmann. dem neuesten deutschen Holbein-
Monographen. der jetzt in Holbeins Sachen die Hauptstimme.sührt, ist der
Enthusiasmus sür die Schönheiten unseres Dresdener Bildes auf einmal tief
herabgestimmt, nachdem er erst durch äußere Gründe dahin geführt worden
war. es sür unächt zu halten, so sehr, daß er sogar Vorzüge desselben, die er früher
selbst als solche anerkannte, da er es noch sür ächt hielt, jetzt als Mängel gegen
die Aechtheit geltend macht. Dies eclatante Beispiel wird Nachfolge finden.
Denn Woltmanns Stimme ist überhaupt nicht blos als einzelne zu schätzen.
Er ist Professor im Kunstfache zu Karlsruhe und seinem Werke über Holbein
sind Huldigungen wie wenig anderen kunsthistorischen Werken zu Theil ge-
worden. Zu diesem Einflüsse auf das Urtheil Deutschlands tritt Wornum,
der englische Holbein-Monograph. Inspektor der Nationalgallerie zu London,
mit einem gleichwiegenden Einflüsse auf das Urtheil Englands hinzu, das
früher in Bewunderung unserer Madonna mit Deutschland wetteiferte. Noch
vor Woltmann nämlich hat Wornum sich zugleich als Gegner der Aechtheit
und der Schönheit unseres Bildes ausgesprochen, nur daß er umgekehrt als
Woltmann zu feiner ungünstigen Aechtheitsansicht hauptsächlich durch seine
ungünstige Schönheitsansicht geführt worden ist. Immer geht doch Eins mit
dem Anderen; nur daß bald das Eine, bald das Andere den Vortritt hat.
Diesen entschiedenen Gegnern der Aechtheit unseres Bildes reihen sich
noch weiter mindestens als starke Zweifler, die den Gegnern beinahe gleich
zu achten sind, an: Kinkel und ein nur mit C. unterzeichneter Beurtheiler
in den Grenzboten*), in welchem man jedoch leicht einen sehr geschätzten Kunst-
forscher erkennt. Und auch letzerem gilt das minder ächte Werk als das min-
der schöne. —
Gewinne das Urtheil dieser oberen Kunstinstanzen Verbreitung und Be¬
stand, so steht unsere Madonna fortan nur noch auf den Ruinen ihres alten
Ruchmes und das Kind in ihren Armen hat Recht, so trübselig dreinzuschauen.
Dresden ist dann um eine seiner größten Kostbarkeiten ärmer; denn wer be¬
zahlt für die Copie eines alten guten Bildes auch nur ein Zehntel so viel
als für das Original, und nach der äußeren Schätzung richtet sich nur zu
sehr die innere.
Also gleichgiltig ist die Aechtheitsfrage bezüglich unseres Bildes nicht;
vielmehr sie ist zu einer brennenden Kunstfrage geworden, vor der sogar die
Deutungsfrage, die sich noch vor Kurzem lebhaft genug rührte, jetzt ganz in
den Hintergrund tritt. Es ist wie der Streit um ein KunstpaÄadium.
Nun besteht aber die Frage von vorn herein nicht blos bezüglich des Dreh-
derer Exemplars, sondern ist eben so sehr bezüglich des Darmstädter zu er¬
heben, und nach beiden Seiten trägt zum Interesse der Frage der Aufwand
von Scharfsinn bei, der schon zur Erledigung derselben gemacht ist. Indem
ich mir die Aufgabe stelle, die hauptsächlichsten der dasür aufgebotenen
Gründe hier vorzuführen, muß ich freilich zugleich bedauern, nicht auch ein
einheitlich abschließendes Resultat derselben vorlegen zu können; denn der
Streit ist mindestens betreffs des Dresdener Exemplars noch in vollem
Gange. Soll ich aber vorweg von dem Resultate sprechen, das ich selbst
aus der Gesammtheit der Acten, soweit sie bisher vorliegen, ziehen möchte,
so würde es das sein, daß die Aechtheit keines der beiden Exem¬
plare als absolut erwiesen gelten kann, nur daß jedenfalls eins
von beiden ächt sein muß, daß sie aber für beide mindestens nach ihrem
Hauptbestande weit überwiegend wahrscheinlich ist. Doch ich überlasse es jedem,
das Gewicht der dafür aufzubringenden Gründe selbst zu beurtheilen. Von
der Frage aber, ob nicht bei einem ächten Hauptbestande beider Bilder doch
diese oder jene Theile des einen oder anderen der Hand eines Gehilfen zu¬
zuweisen seien, muß ich hier überhaupt absehen, um nicht zu sehr ins Detail
geführt zu werden. Nur kurz: daß in dieser Hinsicht nichts Entscheidendes
zum Vorschein gekommen ist. *
Da die Kenntniß des Darmstädter Exemplars bis jetzt noch viel weni¬
ger ins große Publicum gedrungen ist. als die des Dresdener, die Aecht-
heitsfrage beider aber zusammenhängt, so glaube ich zur Orientirung über
diesen minder bekannten Gegenstand der Frage einige Notizen vorausschicken
zu müssen.
Das Darmstädter Bild wurde wahrscheinlich ums Jahr 1822 von einem
Pariser Kunsthändler Delahante nach Berlin zum Verkauf gebracht, ohne
daß in Erfahrung zu bringen gewesen, wie es in dessen Hände gekommen ist.
Einige Nachforschungen, die ich selbst deshalb in Paris anstellen ließ, haben
keinen Erfolg gehabt. In Berlin wurde es vom Prinzen Wilhelm von
Preußen zum Geburtstagsgeschenk für seine Gemahlin um 2S00 oder 2800
Thaler erkauft und blieb auch anfangs in Berlin aufgestellt, hieß daher früher
das „Berliner' Exemplar, bis es 1852 als Erbstück nach Darmstadt übersiedelte.
Hier befindet es sich im Besitze der Tochter des hohen Käufers, der Frau
Prinzessin Carl von Hessen und bet Rhein, und ist durch die liberale Ver¬
günstigung derselben jedem Kunstfreunde leicht zugänglich. Im Sommer und
Herbst vorigen Jahres (1869) war es in der Münchener Ausstellung alter
Bilder mit ausgestellt und beschäftigte durch die dargebotene Gelegenheit
seines Vergleichs mit den daneben hängenden besten Nachbildungen des Dres¬
dener Bildes die Aufmerksamkeit der Kunstfreunde und Kenner mehr als
jedes andere Bild. Inzwischen bleibt jeder Vergleich zweier Bilder aus der
Ferne durch Uebertragung mittelst Nachbildungen stets etwas sehr Unvoll¬
kommenes, und so ist der Wunsch immer dringender geworden, daß doch ein¬
mal eine unmittelbare Zusammenstellung beider zu Stande kommen möchte.
Jetzt ist Hoffnung vorhanden, daß eine solche nächsten Herbst stattfinden
wird. Unstreitig werden sich da manche Vergleichspunkte, über die bisher
nicht recht ins Reine zu kommen war. fester stellen; fraglich nur. ob der
Streit über das Schönheits- und AechtheitsverlMniß beider Bilder damit
abnehmen oder wachsen wird. Jedenfalls kann er dadurch ein sicheres Fun¬
dament erhalten.
Insoweit sich überhaupt ein Vergleich nach Nachbildungen ziehen läßt,
stehen für das Dresdener Exemplar der bekannte Steinla'sche Kupferstich
und die Brockmann'sche Photographie nach der Zeichnung von Schurig.
für das Darmstädter die Photographie nach der Zeichnung von Feising zu
Gebote; auch gewährt für die allgemeinsten Compositionsverhältnisse beider
Bilder die Zusammenstellung ihrer Umrißzeichnungen in einem aus dem Archiv
für die zeichnenden Künste besonders abgedruckten Schriftchen A. von Zahn's
(das Darmstädter Exemplar der Holbein'schen Madonna. Lpzg. 1865) einen
brauchbaren Anhalt, welches Schriftchen überhaupt das Ausführlichste und
Gründlichste enthält.' was bisher über den Vergleich beider Bilder vorliegt. —
Wenn wir den handgreiflichsten Unterschieden zwischen beiden Bildern nach¬
gehen, an die sich der Streit über ihr Aechtheits- und Schönheiesverhältniß
hauptsächlich geknüpft hat. so dürften es etwa folgende sein:
Das Darmstädter Bild erscheint für den ersten Anblick wie ein altes, etwas
verlebtes, das Dresdener fast wie ein neues Bild, was aber nur davon abhängt,
daß das Darmstädter noch mit einem, durchs Alter gelb gewordenen Firniß über¬
zogen ist. der beim Dresdener durch eine im Jahre 1840 vorgenommene Re-
stauration entfernt wurde. Der Nachtheil, in welchem hierdurch das Darmstädter
Exemplar gegen das Dresdener steht, wird aber wenigstens bis zu gewissen Gren¬
zen sür die Anschauung, wenn auch nicht für das kunsthistorische Interesse, da¬
durch ausgeglichen, daß das Colortt des Darmstädter Exemplars durch jenen
Ueberzug eine wohlthuende einheitliche Haltung den etwas grellen Contrasten des
Dresdener gegenüber erhält, welche übrigens wahrscheinlich nur durch ein star¬
kes nachdunkeln der Gewandmasfen den Heller gebliebenen Gesichtern gegenüber
verschuldet sein mögen*). — Das Darmstädter Bild ist nach allen Dirnen-
") Lassen wir die Darmstädter Madonna sprechen-
„Wenn ich könnte, wie ich wollte,
Wenn ich könnte, wie ich sollte,
streift' ich ab den alten Graus;
Kühner dann, in frischem Glänze
Strebt' ich nach dem Siegeskranze;
Ach! wie führ' ich's endlich aus?
sionen etwas kleiner, dabei verhältnißmäßig niedriger als das Dresdener
und sein Inhalt enger zusammengeschoben, wodurch die Proportionen des
Bildinhaltes zu seinem Nachtheile gedrückter erscheinen. Die Figur der
Dresdener Madonna ist etwas schlanker und ihr Kleid dunkelgrün, während
das der Darmstädter ursprünglich blau, jetzt durch den Einfluß des Firnisses
bläulich-grün ist. Dem Streite über den Vorzug der Schönheit bei der
künstigen Zusammenstellung scheint das Auge der Dresdener Madonna mit
holdseliger Ruhe, das der Darmstädter mit Ernst entgegenzusehen. Jeden¬
falls sind beide verschieden genug zum Streite und abgesehen von einigen
specifischen Kennern dürfte der Dresdener Madonna wohl immer und überall
der Vorzug bleiben. Hingegen ist der Ausdruck mehrerer Nebenfiguren
(Bürgermeister, mittlere und jüngste weibliche Figur) im Darmstädter Bilde
charakteristischer und lebendiger als im Dresdener, und Teppich und Kopf¬
putz des weißen Mädchens, obschon auch im Dresdener Exemplare sehr aus¬
geführt, im Darmstädter von noch vollendeterer Ausführung. Merkwürdig:
das Kind der Darmstädter Madonna lächelt, ist ein ganz freundliches Christ¬
kind, während das der Dresdener das bekannte trübselige Aussehen eines
kranken Kindes hat. Die beiden Exemplare haben sich offenbar in die beiden
Ansichten, die über das Kind bestehen, getheilt, und geben meines Erachtens
selbst erst beide zusammen die volle, wahre Ausicht, worauf später mit einigen
Worten zurückzukommen ist.
Auf Hirt folgend haben sich an den Discussionen über das Aechtheits-
und Schönheitsverhältniß beider Exemplare nach der Reihe betheiligt: Kugler,
Waagen, I. Hübner, Schäfer, von Zahn, Woltmann, Wornum, Fechner. Kinkel,
E. Förster, W. Schmidt, C. (Grzbten.). K. Förster; wozu mir noch private Ur¬
theile von Liphardt, H. Grimm und Th. Große vorliegen. Die Zahl dieser Be¬
urtheiler beweist das große Interesse, was die Frage gefunden hat, und gern
würde ich eine Uebersicht des Ganges geben, den die Verhandlungen dabei ge¬
nommen haben; aber die Raumbeschränkung nöthigt, sich hier nur an die
Gründe zu halten, die dabei eine Hauptrolle spielen. Indem ich dazu über¬
gehe, habe ich eine allgemeine Bemerkung vorauszuschicken.
Natürlich, daß man von vornherein einen hauptsächlichen Anhalt bei
unserer Frage darin sucht, wiefern die Malweise des einen und des anderen
Exemplares zur Malweise ächt Holbein'scher Bilder stimmt. Mit der Mal¬
weise eines Bildes ist es fast so wie mit der Handschrift eines Autors: man
kann aus der Handschrist auf den Autor schließen. Aber wenn man schon
bei der Handschrift in dieser Hinsicht auch irren kann, so unterliegt die Beur¬
theilung der Malweise in derselben Hinsicht wegen eines Zusammentreffens
mehrerer Umstände unseres Falles noch viel größerer Schwierigkeit. Zuvörderst
erstreckt sich die Aechtheitsfrage von unserem Bilde, man kann wohl sagen
auf die Mehrzahl der sogenannten Holbein'schen Bilder überhaupt, sodaß schon
aus diesem Grunde zweideutig wird, was überall als ächt Holbein'sche Mal-
weise anzusehen sei. Zweitens ist Holbein. der überhaupt ein sehr versatiler
Künstler war. sich im Fortschritte der Zeit in seiner Malweise nicht gleich
geblieben, sodaß man aus der Nichtübereinstimmung eines Bildes in dieser
Hinsicht mit diesem oder jenem ächten Bilde Holbeins nicht ohne Weiteres
auf seine Unächtheit schließen kann; es gälte auf die Zeitepoche der Entstehung
Rücksicht zu nehmen; aber von weitaus den meisten Holbein'schen Bildern, die
unseren mit eingeschlossen, ist die Zeit der Entstehung nicht genau zu bestim¬
men, und die Untersuchung, wie und in welchen Grenzen die Holbein'sche
Malweise überhaupt variirt hat. bisher weder erschöpft noch präeisirt. Endlich
fügt der alte gelbe Firnißüberzug, mit dem das Darmstädter Bild noch
behaftet ist. und den es unstreitig mit vielen anderen Holbein'schen Bildern
theilt, während wieder andere davon befreit sind, zu diesen Schwierigkeiten
der Beurtheilung eine neue nicht unerhebliche hinzu, denn der Eindruck des
Colorits wird wesentlich dadurch verändert. Es haben daher zwar alle Kenner,
die sich ernsthaft mit unserer Frage beschäftigt haben. auch Schlüsse auf die
Malweise der beiden Bilder zu gründen gesucht, ja die meisten sich vorzugs¬
weise darauf gestützt; aber, man muß es leider sagen, es finden so haar¬
sträubende Widersprüche zwischen ihren Urtheilen in dieser Hinsicht, und zwar
selbst bei Kennern gleichen Ranges statt. daß ich kein anderes sicheres Resultat
als das der großen Unsicherheit dieses Kriteriums überhaupt daraus zu ziehen
vermöchte. Eine gründlich durchgeführte vergleichende Betrachtung der Mal¬
weise beider Bilder mit anderen Holbein'schen Werken, welche den vorigen
Schwierigkeiten und Gründen der Unsicherheit Rechnung trüge, liegt überhaupt
noch gar nicht vor. sondern nur rhapsodische Vergleiche und mehr oder weniger
unbestimmte, wenn schon bestimmt genug ausgesprochene Apercus, die mit
einander streiten. Hoffentlich wird die künftige Confrontation beider Bilder,
da sie mit einer Zusammenstellung möglichst vieler anderer Holbein'scher
Arbeiten verbunden werden soll, auch in dieser Hinsicht zu etwas sichrer«
Ergebnissen führen; hier aber muß ich darauf verzichten, auf das Kriterium der
Malweise näher einzugehen, um nicht durch eine unfruchtbare Discussion wider¬
spruchsvoller Ansichten resultatlos ins Weite geführt zu werden. Es giebt
aber noch andere Kriterien, die wir in Betracht ziehen können, und fassen
wir zunächst die ins Auge, welche für die von vornherein gar nicht selbst¬
verständliche Aechtheit des Darmstädter Exemplares sprechen, wobei ich nur
kurz bemerken will, daß allerdings die Mehrzahl der Kennerstimmen sich dahin
vereinigt hat. die Holbein'sche Malweise im Darmstädter Bilde wiederzu¬
finden - ja manche sehen sogar darin ein vorzugsweise charakteristisches
Exempel der Holbein'schen Malweise; — d«ß aber auch dies Urtheil nicht
ohne erheblichen Einspruch geblieben ist, so daß. wenn auch eine überwiegende
Wahrscheinlichkeit aus die überwiegende Zahl und das Uebergewicht jener
Stimmen, doch keine objective Gewißheit zu gründen ist.
Entscheidender scheint Folgendes: man hat Gründe, das Darmstädter für
das erstgemalte zu halten. Ist es aber das erstgemalte, so kann es nicht eine
Copie des Dresdener sein, sondern, da überhaupt nur die Frage ist, welches
von beiden Exemplaren das ächte sei, und ob nicht beide ächt sind, so kann,
salls die Priorität des Darmstädter Bildes constatirt ist. dasselbe nur für
das ursprünglich ächte Exemplar gelten, was zwar nicht ausschließt, daß das
Dresdener Exemplar von der Hand desselben Künstlers, also auch ächt sei, '
aber doch für das Dresdener noch eine Frage übrig läßt, die danach für das
Darmstädter nicht mehr besteht. Die Gründe aber, das Darmstädter Exemplar
für das früher gemalte zu halten, liegen in der Beschaffenheit der Verände¬
rungen, die zwischen beiden Bildern bestehen. — Heben wir hier nur das Auf¬
fälligste in dieser Hinsicht hervor. Vom Darmstädter zum Dresdener Bilde
übergehend, sieht man die Madonna, so zu sagen, aus einem Zimmer, dessen
Decke fast auf ihrer Krone lastet, in ein anderes mit frei und hoch sich dar¬
über wölbender Decke treten; und das letzte Verhältniß erscheint so viel vor¬
theilhafter, daß man sich nicht wohl denken kann, der Künstler habe die
Madonna die Bewegung in umgekehrter Richtung machen lassen, wie es der
Fall wäre, wenn das Dresdener Exemplar das erstgemalte, das Darmstädter
das zweitgemalte ist. Etwas Entsprechendes, als der Madonna, begegnet
aber auch den Nebenfiguren, die vor den Seitenpfeilern der Nische knieen. Im
Darmstädter Bilde lasten die Tragsteine dieser Pfeiler fast auf den Köpfen
der darunter Knieenden, sodaß diese sich nicht erheben können, ohne unmittel¬
bar anzustoßen; im Dresdener Bilde sind die Tragsteine höher hinaufgerückt,
sodaß eine freiere Erhebung möglich ist. Im Darmstädter Bilde ist die Nische
so eng. daß die Madonna nicht mit beiden Armen darin Platz hat, sondern
mit dem einen Arme darüber hinausreicht und an den Tragstein des Pfeilers
dieser Seite anstößt, im Dresdener Bilde ist die Nische weit genug, um die
Madonna mit ihren beiden Armen ganz zu fassen. Kurz, die ganzen Verhält-
nisse des Bildinhaltes sind im Darmstädter Exemplare, wie ich sagte, gedrück¬
ter, und der Vortheil des Dresdener Exemplares ist in dieser Hinsicht so
entschieden — ich appellire in dieser Hinsicht, einem ganz isolirt stehenden
Urtheile Woltmanns gegenüber, auf das allgemeine Urtheil — daß man
nicht wohl anders kann, als annehmen, der Künstler habe sich im Dresde¬
ner Bilde als dem zweitgemalten verbessernd über die unvorthetlhaften Ver¬
hältnisse des Darmstädter Exemplares erhoben. — Nur folgender Gedanke
würde sich noch etwa damit vertragen, daß doch das Darmstädter Exem¬
plar das zweitgemalte sei: Wie, wenn das Darmstädter Exemplar als
spätergemaltes für einen engeren Raum bestimmt gewesen wäre als das
Dresdener und nicht nur deshalb seine Dimensionen im Ganzen verkleinert
worden, sondern auch der Inhalt enger zusammengeschoben, aber ohne wesent¬
liche Veränderung der Größe der Figuren, womit sie freilich in ein gedrücktes
Verhältniß kommen mußten? Vielleicht ist die Möglichkeit dieses Gedankens
nicht schlechthin abzuwerfen, doch bleibt es immer sehr unwahrscheinlich, daß
der Künstler, sei er nun der erste Urheber oder ein Copist gewesen, einer
solchen äußeren Rücksicht so viel von der Schönheit geopfert haben sollte; und
warum hätte er nicht lieber mit der Verkleinerung des ganzen Bildes die
Figuren in entsprechendem Verhältnisse verkleinert, womit der Nachtheil ihres
gedrückten Verhältnisses weggefallen wäre? Also bleibt die Priorität des
Darmstädter Bildes aus dem angegebenen Gesichtspunkte immer überwiegend
wahrscheinlich; aus der Priorität aber folgt die Aechtheit. Es giebt noch
mehrere andere Punkte, die man im Sinne der Priorität des Darmstädter
Bildes deuten kann, als: die vollendetere Darstellung der Madonna im
Dresdener Bilde, die frischere Auffassung mehrerer Nebenfiguren im Darm¬
städter, einige sogenannte Pentimenti (Correcturen des Künstlers) im Darm-
städter und ein sechster Finger (?) an der einen Hand des unterstehenden nackten
Knäbleins; da jedoch diese Punkte theils minder schlagend sind, theils noch
einer verschiedenen Auffassung, theils selbst noch Zweifeln unterliegen, welche
die genaue Untersuchung bei der künstigen Zusammenstellung erst heben muß,
so spreche ich hier nicht davon.
Zu den Gründen, welche sich aus der Priorität des Darmstädter
Bildes für seine Aechtheit ziehen lassen, treten aber noch historische Gründe,
denen ich doch nicht gleiches Gewicht beilegen möchte, als die Gegner der
Aechtheit des Dresdener Bildes thun. Diese halten, auf Grund einiger
neueren Entdeckungen Woltmanns, der alten Baseler Nachrichten von Fesch,
dessen Großvater ein Exemplar unseres Bildes selbst besessen, und der aus
Amsterdam stammenden Angaben von Sandrart, die Zurückführung des Darm¬
städter Bildes auf Basel, ja auf den Besitz durch die Stiftersamilie selbst sür
gesichert, und es stellt sich hiernach die Geschichte des Darmstädter Exemplares
vom Anfange herein im Wesentlichen so: Das Bild vererbte sich durch eine
Enkelin des im Bilde selbst dargestellten Bürgermeisters Meier an ihren Gatten,
den Großvater des Berichterstatters Fesch, wurde von demselben an einen
Baseler Rathsherrn Jselin verkauft, ging aus dessen Nachlasse (um 1630)
nach Amsterdam an den Künstler und Kunstmäkler Leblon über, von diesem
«n einen gewissen Buchhalter Lössert, und erscheint endlich (1709) in einem
Amsterdamer Auctionskatalog der Herren Cromhout und Loskart wieder,
welcher letztere Name nach der früher sehr unsicheren Rechtschreibung der
Eigennamen mit „Lössert" identificirt werden kann, und wonach dieser Loskart
für einen Nachkommen jenes Lössert zu halten wäre. Das Cromhout'sche
Wappen aber findet sich noch jetzt mit einem anderen ähnlichen (Lösfert'schen?)
verkoppelt am Rahmen des Darmstädter Bildes, und hat den Anknüpfungs¬
punkt geboten, die Geschichte desselben auf diese Weise zurückzuverfolgen.. Mit
dieser Zurückführung des Bildes auf die Stifterfamilie aber wäre die Aecht-
heit des Darmstädter Bildes am direktesten erwiesen und bedürfte es gar
keiner anderen Kriterien derselben. Inzwischen muß bemerkt werden, daß die
Kette der historischen Data, auf welchen diese Zurückführung fußt, an einer
gewissen Stelle einer unklaren Verwickelung unterliegt, von der wir noch zu
sprechen haben. Es begegnen uns dabei Zweideutigkeiten und Widersprüche,
welche jener Zurückführung auf die Stifterfamilie die Sicherheit entziehn, ja
sogar möglich lassen, den Beweisgang vom Darmstädter Exemplar auf das
Dresdener zu übertragen.
Und nach all' dem: wenn jemand noch an der Aechtheit des Darmstädter
Exemplares zweifeln will, so ist ein solcher Zweifel nicht schlechthin unmög¬
lich; aber sollte man auch die historische Zurückführung noch anzweifeln,
so treffen doch damit so überwiegende Wahrscheinlichkeitsgründe bezüglich der
Malweise und Priorität zusammen, um dem Zweifel wenig Berechtigung zu
gönnen; auch ist die Aechtheit des Darmstädter Bildes jetzt wohl allgemein
acceptirt, und wenn ausnahmsweise Karl Förster die Ausführung und Ernst
Förster einige Theile des Bildes Holbein absprechen möchten, so lassen doch
auch sie die Anlage oder den Hauptbestand des Bildes als Holbeinisch gelten.
Der Hauptstreit dreht sich jedenfalls nur noch um das Dresdener Bild, zu
dem wir uns jetzt wenden, und zwar zunächst zu den Verdachtsgründen, die
gegen dessen Aechtheit aufgestellt worden sind.
Im Grunde sind es nur zwei, die eine ernsthaftere Betrachtung verdienen,
und denen auch Woltmann. der sie zuerst aufgestellt hat, das meiste Ge¬
wicht beilegt. Er fügt allerdings noch einige andere Gründe hinzu, diese
glaube ich jedoch um so leichter im Interesse der hier gebotenen Kürze über¬
gehen zu können, je leichter ihnen bei einer eingehenderen Betrachtung zu be¬
gegnen sein wird. In der Hauptsache kommen sie darauf zurück, daß Wolt¬
mann, nachdem er sich durch jene wichtigeren Momente von der Unächtheit
des Dresdener Bildes überzeugt zu haben glaubt, nun fast Alles, was er
im Dresdener Bilde nur anders als im Darmstädter findet, für schiech.
ter und hiermit Holbein's weniger würdig oder für abhängig von einem
Mißverständniß 'des Copisten erklärt, nicht ohne dabei in Widerspruch mit
seinen eigenen früheren Ansichten und dem unbefangenen Urtheile Aller zu
gerathen.
Von jenen ernsthafterer Verdachtsgründen knüpft sich der erste an die
historischen Verhältnisse, welche oben bei der Geschichte des Darmstädter
Bildes kurz zur Spracht kamen. Zuvörderst kann es schon im Allgemeinen
verdächtig erscheinen, daß das nach Borigem als ächt anzusehende Darmstädter
Exemplar früherhin in Amsterdam war, ebendaher aber auch das Dresdener
Exemplar gekommen ist. da es ja, wie bemerkt, aus Amsterdam nach seinem
Ankaufsorte für Dresden, d. i. Venedig, überging. Denn wenn es schon
möglich wäre, daß einmal zwei ächte Exemplare durch Zufall in Amsterdam
zusammengetroffen, liegt es doch näher zu denken, daß von dem ächten Darm-
städter Exemplare eine Copie in Amsterdam gemacht worden und mit dem
Ruf eines ächten Bildes nach Venedig gelangt sei. Und dieser Verdacht ge¬
winnt zugleich eine Verstärkung und bestimmtere Gestaltung dadurch, daß,
während nach Sandrart Leblon das Darmstädter Bild an den Buchhalter
Lössert verkaufte, wie oben angegeben, nach Fesch's Angabe derselbe Leblon
ein Exemplar unseres Bildes, was dann nur das Dresdener sein kann, an
die französische Königin Wittwe Marie von Medicis, während sie in den
Niederlanden war. verkaufte. Dahin nämlich war die Königin aus Frankreich,
wo sie wegen Zerwürfnissen mit ihrem Sohne Ludwig XIII. und dessen Minister
Cardinal Richelieu gefangen gehalten wurde, im Jahre 1631 geflohen und hielt
sich bis 1638 in Brüssel auf. Umstände, die sich für das Folgende von Einfluß
zeigen werden. Offenbar also, sagt man, hat sich das ächte Bild, was Leblon
aus Basel erhalten, das Darmstädter, unter seinen Händen verdoppelt. Er hat
davon eine Copie machen lassen, und während er das ächte Bild an Lössert ver>
kaufte, die Copie (das Dresdener Bild) der Königin Marie verkauft. Und
als fernere Verstärkung des Verdachtes tritt noch hinzu, dqß nach einer
anderweiten Notiz der Charakter Leblon's als Kunstmäkler keinesweges un¬
verdächtig war, denn er wird an einer gewissen Stelle*) geradezu als ein
gewinnsüchtiger Schwindler bezeichnet.
Man kann nicht leugnen, daß alles dies zusammengenommen wirklich
einen ernsthaften, nicht zu leicht zu nehmenden Verdacht begründet. Aber es
ist eben auch Alles dabei zusammengenommen, was ihn begründen und ver¬
stärken kann, und, wie seither allgemein von den Gegnern des Dresdener
Bildes geschehen. Alles bet Seite gelassen, was ihn abschwächen und heben
kann. Rechnet man aber dies ebenfalls zusammen, so erleichtert sich der
anfangs so schwer scheinende Verdacht fast bis zur Gewichtslosigkeit. um
nicht zu sagen, er überträgt sich auf die andere Seite der Waage. Der
Hauptverbande gegen unser Bild knüpft sich daran, daß derselbe Leblon beide
Bilder verkauft haben soll, das eine ächte an Lössert, das andere an die
Königin Marie, während es doch ganz unwahrscheinlich wäre, daß er in
den Besitz zweier ächter Exemplare gelangt sei; also müsse das Dresdener
eine von ihm veranstaltete Copie sein. Aber hierbei sind die nicht mitein¬
ander stimmenden Angaben zweier Autoren als stimmend zusammengenommen,
und Fesch's ausdrückliche Bemerkung, daß das aus der Stifterfamilie stam¬
mende Bild, was er bespricht, was sein Großvater. Gatte einer Enkelin des
Bürgermeister Meier, selbst besessen, an Königin Marie (nicht an Lössert) ge¬
kommen, dahin verkehrt, daß es an Lössert gekommen, mithin vielmehr das
von Lössert erkaufte Darmstädter als das Dresdener sei; wofür man nur geltend
machen kann, einmal, daß Fesch's Bericht auch sonst an Ungenauigkeiten lei-
det, zweitens, daß, wenn wirklich Leblon eine Copie von dem ächten Bilde
hat machen lassen — was doch gerade erst das zu Beweisende ist — bei der
vorausgesetzten Aechtheit des Darmstädter Exemplars nicht dieses, sondern
nur das Dresdener die Copie sein kann. Aber abgesehen von den Zweifeln,
die man etwa noch gegen die Aechtheit des Darmstädter Exemplars erheben
kann, und denen ich selbst kein Gewicht beilege, ist die Ungenauigkeit von
Fesch's Angaben, wenn man sie doch einmal zugestehen muß. unstreitig an
einem ganz anderen Punkt zu suchen, und wird es, wenn man seine Angabe
nicht für gänzlich aus der Luft gegriffen ansehen will, nach Zusammenhalten
aller Umstände wahrscheinlich, daß zwar wirklich das Dresdener Exemplar
an die Königin gelangt sei, aber nicht durch Leblon und nicht in der Zeit,
als Marie flüchtig in den Niederlanden war (wo sie gar nicht in der Lage
gewesen und nicht in der Stimmung gedacht werden kann, das Bild zu
kaufen), sondern daß sie es unmittelbar aus Basel selbst, während
sie noch in Frankreich weilte, erhalten hat, Fesch aber, der offenbar nur
von der Existenz des Einen Exemplars wußte, was sein Großvater besessen,
aber von beiden etwas gehört haben mochte, von einem, daß es an Leblon.
vom anderen, daß es an die Königin Marie gelangt sei, wars nun beides
dahin zusammmen, daß er das Bild durch Leblon an die Königin, von deren
Ausenthalt in den Niederlanden er wußte, gelangen ließ. Hierfür spricht
namentlich auch, daß Fesch für denVerkauf desvonihmbesproche-
nen Bildes an die Königin denselben Verkaufspreis angibt,
wie Sandrart für den Verkauf des Darmstädter an Lössert.
nämlich 3000 Gulden. — Also statt einer Verdoppelung des Bildes durch
Leblon vielmehr eine Verschmelzung zweier Bilder durch Fesch. — Ich sagte:
die Königin war als Flüchtling in den Niederlanden weder in der Lage noch
in der Stimmung, das Bild, namentlich ein so theures Bild, zu kaufen.
Sie befand sich während der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes in den Nieder-
landen in prekären Verhältnissen, bot vergeblich Alles auf, um Mittel zu
einem Kriege gegen Frankreich zusammenzubringen, ihr Leibgedinge war ein¬
gezogen; sie verpfändete ihre Juwelen, mußte sogar später aus Mangel ihre
Domestiken entlassen, es wird von einem täglich zunehmenden „MMe state"
derselben gesprochen; wie sollte sie da Geld und Interesse gefunden haben,
ein Bild um einen für damalige Zeit so hohen Preis von 3000 Gulden zu
kaufen? Hingegen konnte sie beides wohl gefunden haben, als sie noch Kö¬
nigin in Frankreich war; denn sie war eine sehr kunstliebende Herrscherin
und hat in Frankreich große Summen für Kunstwerke verausgabt. Über¬
dies findet sich bei Fesch eine bisher viel zu wenig oder nicht triftig berück¬
sichtigte Randnotiz, mit der eigenen Angabe des Baseler Käufers Jselin.
wonach im Widerspruch mit dem Haupttext Fesch's, der das Baseler
Bild um 1630 aus dem Nachlasse Jselins an Leblon übergehen läßt, das¬
selbe wirklich schon um 1606 von Jselin für den französischen
Gesandten erworben wurde"). Jselin aber mußte besser wissen als
Fesch, an wen er das Bild verkauft hat. Hätte aber doch die Königin das
Bild in den Niederlanden von Leblon erworben, so hätte es ja von Brüssel,
wo sie sich aufhielt, nicht aber von Amsterdam nach Venedig übergehen
müssen, was schon allein so ziemlich hinreicht, dem Verdacht den Boden zu
entziehen; denn wenn schon man die Hypothese aufstellen kann, es sei von
Brüssel nach Amsterdam zurückgelangt, so verliert doch eine Hypothese um so
mehr an Halt, je mehr sie sich auf andere Hypothesen zu stützen nöthig findet.
Jedenfalls scheint es mehr als gewagt, aus so widerspruchsvollen, zwei¬
deutigen Daten ein sicheres Argument gegen die Aechtheit des Dresdener
Bildes ziehen zu wollen, da man viel eher ein Bestätigungsmoment daraus
ziehen kann; ein sicheres Resultat ist aber weder nach der einen noch anderen
Seite daraus zu entnehmen. An sich kann es freilich nicht für unwahrschein¬
lich gelten, daß ein gewinnsüchtiger Kunsthändler einmal irgendwo und
irgendwann das ächte Bild verdoppelt habe, denn Holbein's Bilder waren
schon frühe sehr gesucht; aber eben so wahrscheinlich, als man dies finden
mag oder noch wahrscheinlicher kann man es finden, daß es ursprünglich
zwei ächte Exemplare, ein als Votivbild für die Kirche und ein als Familien¬
bild für das Haus bestimmtes gab. Denn das Bild ist wirklich beides zu-
gleich. Möglich auch, daß beide Exemplare für zwei verschiedene Zweige der
Familie bestimmt waren. Daß zwei ächte Bilder einmal in Amsterdam zu-
sammengetroffen sind, kann freilich nur als ein Zufall, aber doch als ein
nicht zu unwahrscheinlicher Zufall gelten, da von jeher ein lebhafter Kunst¬
verkehr in Amsterdam stattgefunden zu haben scheint. Andererseits steht dem
Verdachte, daß das Dresdener Exemplar eine betrügerische Copie des Darm¬
städter sei, die Thatsache der beträchtlichen Veränderungen entgegen, die sich
zwischen beiden finden; denn es fehlt zwar nicht an Beispielen, daß alte
Meister, Maler wie Kupferstecher, wenn sie sich auf die Copie von fremden
Bildern einließen, beträchtliche Veränderungen daran vorgenommen haben,
(wie denn unter Anderen Rubens in dieser Hinsicht genannt wird) ; aber
dann handelte es sich nicht darum, mit der Copie zu täuschen; und Nie¬
mand, der ein falsches Cassenbillet ausgeben will, macht es absichtlich anders
als das Original. Zudem spricht der Charakter der Veränderungen viel mehr
für das selbständige Interesse und die Liebe eines Künstlers, der sich in der
Wiederaufnahme derselben Aufgabe selbst zu übertreffen sucht, als für die ge¬
winnsüchtige Absicht eines Kunsthändlers oder das Adoptiv-Jnteresse eines
fremden Künstlers. Wo gibt es nur eine Analogie solcher Veränderungen
bei einem Copisten? Woltmann selbst hat dies früher ganz in unserem
Sinne gefaßt, jetzt freilich anders.
Genug von dem historischen Verdachtsgrunde gegen die Aechtheit der
Dresdener Madonna; jetzt zu dem andern, der aus der vergleichenden Be¬
trachtung beider Exemplare geschöpft ist.
Das Kleid der Darmstädter Madonna ist, wie früher bemerkt, ursprüng¬
lich blau, jetzt durch den Einfluß des gelben Firnisses bläulich-grün; das
Kleid der Dresdener Madonna von vornherein grün. Nun sagt man: der
Madonna ein grünes Kleid zu geben, ist gegen alle Convention; wenn sie
doch im Dresdener Exemplare ein solches trägt, kann dies nur daher rühren,
daß der Copist des Darmstädter Bildes ein grünes Kleid im Originale vor
sich sah und nachgemacht hat. Auch dieser Verdachtsgrund ist der Beachtung
werth; aber Folgendes ist zu entgegnen. Erstens ist das Kleid der Darm¬
städter Madonna verhältnißmäßig licht bläulichgrün, das der Dresdener rein
dunkelgrün; also hätte der Copist das Kleid der Darmstädter Madonna
nicht nachgemacht, wie er es gesehen, und zerfällt gewissermaßen hiermit der
Einwand in sich selbst. Man könnte nur etwa entgegnen: der Copist nahm
doch von dem bläulichgrünen Kleide der Darmstädter Madonna Anlaß,
das Kleid in der Copie überhaupt grün zu machen, machte es aber nun
gleich ganz grün, da er sich überhaupt nicht streng an das Original hielt.
Aber warum, wenn er sich doch überhaupt nicht streng an das Original hielt,
machte er es nicht lieber gleich ganz blau, da einem so geschulten Künstler
die conventionelle Farbe des Madonnenkleides, falls eine solche feststand,
nicht unbekannt sein konnte. Da ist es doch viel wahrscheinlicher, daß der
ursprüngliche Künstler selbst ein Motiv hatte, das Kleid einmal blau, das
anderem«! grün zu malen; und an ein solches wird sich denken lassen. Nun
bestand aber nicht einmal zu Holbein's Zeit eine bestimmte Convention be¬
treffs der Farbe des Madonnenkleides. Denn weit entfernt, daß es immer
blau gewesen, sieht man es in den Bildern aus jener Zeit auch roth, auch
weiß, auch goldbrokaten, und daß Grün von den Farben des Madonnen¬
kleides ausgeschlossen gewesen, stünde durchaus noch zu beweisen. Nach dem
unmittelbaren Anblick kann man sogar genug grüne Madonnenkleider aus
jener Zeit finden; besuche man nur in dieser Hinsicht, was uns hier am
nächsten liegt, die altdeutschen Zimmer im Leipziger und Dresdener Museum;
ja, in einem Bilde unseres Holbein selbst, dem Freiburger Doppelbilde, tragen
sogar beide Madonnen ein grünes Kleid, nur daß freilich der Verdacht frei
steht, daß das Grün in allen diesen Fällen auch erst aus Blau
durch einen gelb gewordenen Firniß oder eine freiwillige Veränderung
der Farbe entstanden sei, wofür sich namentlich anführen läßt, daß das
Grün, wenigstens in den meisten (nicht in allen) Fällen noch einen
Stich ins Blaue zeigt, aber eine gründliche Untersuchung darüber
(wobei insbesondere aus die Farbe des Himmels mit Rücksicht genommen wer¬
den müßte), findeich weder von Weltmann noch sonst wo geführt; und nur
auf eine solche könnte sich der Einwand stützen. Sei es aber auch, daß Grün
sonst nicht leicht zum Kleide der Madonna gewählt wurde, so konnte doch
Holbein folgenden Grund haben, es in einem beider Exemplare zu wählen.
nachweislich hat Holbein öfters in den Madonnen und heiligen Frauen
seiner Bilder die Frauen oder Töchter der Besteller oder Stifter dieser por¬
traitirr und ihnen nicht nur die Züge derselben geliehen, sondern ich kann
auch wenigstens einen Fall anführen, wo er mit den Zügen das ganze welt¬
liche Kleid einer solchen auf eine heilige Elisabeth übertragen hat. Nicht un¬
wahrscheinlich, daß etwas Aehnliches auch bei unserm Falle statt fand. Blickt
doch das Portraitartige noch durch die Züge unserer Madonna durch, und
die schon mehrfach hervorgehobene Aehnlichkeit derselben mit dem unten knien¬
den halbwüchsigen Jüngling oder Knaben spricht auch dafür, daß nur ein
weibliches Glied der Familie in ihr idealisirt dargestellt worden sei. Hier¬
nach aber ist es sehr denkbar, daß Holbein in dem einen, dem für die Kirche
bestimmten Bilde der Madonna, das jedenfalls gewöhnlichere blaue Kleid, im
anderen, dem Hausbilde, das grüne Staatskleid gab, was die betreffende
Person tragen mochte. War doch wirklich das parallelfalttge Kleid, was die
Madonna trägt, ein Costüm der Zeit, indeß Holbein der Madonna sonst
immer nur ein Kleid mit gebrochenen Falten gegeben hat; auch stimmt das
lose um den Leib geschlungene rothe Band mit fallenden Zipfeln noch besser
zu einem häuslichen als einem heiligen Kleide. Ja, liegt nicht die einfachste
Erklärung vielleicht darin, daß Holbein, nachdem er erst die malerische Wir¬
kung dieses rothen Bandes auf einem blauen Kleide erprobt, beim zweiten
Bilde meinte, es würde noch besser zu Grün stehen, dessen nachdunkeln frei¬
lich den ursprünglichen Erfolg nicht mehr recht beurtheilen läßt. Holbein
scheint sich überhaupt nicht gern in beiden Bildern ganz wiederholt zu haben,
und hatte natürlich in dieser Hinsicht gerade das entgegengesetzte Interesse,
als ein Copist.
Ich gebe zu, daß, da nach der Umkehrung eines bekannten Sprichwortes
viele Hasen nicht des Hundes Tod sind, es erwünschter wäre, wenn statt der
vielen unbestimmten Möglichkeiten, den Einwand abzulehnen, ein einziger
Grund zu Gebote stünde, der ihn niederschlüge; aber der Einwand scheint
mir doch auch zu wenig scharfe Zähne zu haben, um es nicht für genug zu
halten, seiner drohenden Geberde mit entsprechender Geberde zu begegnen.
Und nun, nachdem ich gezeigt zu haben glaube, daß keinem von beiden
Haupleinwänden, die sich gegen die Aechtheit unseres Bildes aufstellen ließen,
eine durchschlagende Kraft zukommt, halten wir denselben auch die positiven
Gründe gegenüber, die für die Aechtheit sprechen und jenen Einwänden mehr
als die Waage zu halten vermögen.
Erstens ist es die alte Tradition der Aechtheit, die zwar für sich allein
keine Sicherheit gewährt, aber doch gegen nicht minder unsichere Gegengründe
mit ins Gewicht fällt, und die historischen Data mindestens ebenso gut
als das Darmstädter Exemplar zu ihrer Stütze in Anspruch nehmen kann.
Zweitens ist schon erwähnt worden, daß man Gründe hat, die ursprüng¬
liche Entstehung zweier ächten Exemplare für wahrscheinlich zu halten, indeß
die großen Veränderungen, welche zwischen beiden Exemplaren bestehen, der
gegentheiligen Wahrscheinlichkeit, daß das Dresdener Exemplar eine betrüge¬
rische Copie des Darmstädter sei, widersprechen. Endlich drittens, — und hierin
liegt ein Hauptgewicht — wenn Holbein nicht der Künstler unseres Bildes
war, dasselbe eine Copie von fremder Hand ist, so weiß man diese fremde
Hand nicht zu finden, und sind die Gegner der Aechtheit unseres Bildes in
dieser Hinsicht in voller Verlegenheit geblieben; ja nach einem verunglückten
Versuche, den Wornum gemacht hat. hat man sich diese Verlegenheit selbst
eingestehen müssen. Nun ist es aber doch sehr mißlich, durchaus eine Copie
in unserem Bilde sehen zu wollen, und durchaus keinen Copisten dazu Aus¬
treiben zu können. Das heißt doch die Behauptung der Copie schwebt in
der Luft.
Und hierzu füge ich nun noch eine scheinbar unbedeutende Kleinigkeit,
in der ich doch, wie überhaupt in Kleinigkeiten öfters die stärksten Kriterien
liegen, die größte bindende Kraft für die Aechtheit unseres Bildes sehe. Es
ist erwähnt, daß das Kind der Darmstädter Madonna lächelt, während das der
Dresdener das trübselige Aussehen eines kranken Kindes hat. Was in aller
Welt hätte einen Copisten bestimmen können, aus dem lächelnden Christkinde
des Originales ein krank aussehendes Kind zu machen? Wornum will in
dem veränderten Ausdrucke nur ein Ungeschick des Copisten sehen; diese Aus¬
flucht aber ist selbst ungeschickt. Der verschiedene Ausdruck hängt in der
Hauptsache daran, daß beim Darmstädter Kinde die Mundwinkel leicht herauf¬
gezogen, beim Dresdener herabgezogen sind; die Richtung der Mundwinkel
aber kann kein Schüler verfehlen und verwechseln, geschweige ein Meister, als
welcher sich der Künstler des Dresdener Bildes sonst beweist. Es muß eine
bestimmte Absicht der Veränderung des Ausdruckes vorgelegen haben, eine
solche ist für einen Copisten schlechterdings nicht, hingegen leicht für den ur¬
sprünglichen Meister selbst zu finden, unter Voraussetzung einer auch sonst
wahrscheinlichen Deutungsansicht, die aber in unserem Falle nicht blos pre¬
kärer Weise angenommen zu werden braucht, sondern durch den veränderten
Ausdruck des Kindes zugleich mit bewiesen wird, sofern sich gar keine andere
Erklärung davon geben läßt, als unter solidarischer Voraussetzung der
Aechtheit und dieser Deutungsansicht zugleich. Wenn das Bild ein Votiv-
bild sür die Heilung eines kranken Kindes durch die Madonna ist, und in
dem Kinde in ihren Armen dieses kranke Kind entweder schlechthin oder auch,
nach Holbeins sonst erwiesener Neigung zu Doppelrollen, das Christkind mit
Zügen des kranken Kindes dargestellt ist, wozwischen ich die Wahl lasse, so
konnte Holbein sehr wohl einmal den Ausdruck der beglückenden heilenden
Pflege der Madonna in dem Lächeln des übrigens noch gedrückt genug aus¬
sehenden Kindes, ein zweites Mal den Ausdruck der Kränklichkeit des Kindes
gegenüber dem lachenden Ausdruck des unten als geheilt entlassenen Kindes
bevorzugen. Beides hängt in derselben Idee zusammen, und da der Künstler
nicht beides zugleich in demselben Bilde darstellen konnte, ließ er beide Bilder
sich dazu ergänzen; wogegen, wenn man, sei es die Aechtheit des Dresdener
Bildes oder jene Deutungsansicht antasten will, keine Rechenschaft von der Ver¬
änderung des lächelnden Christkindes in ein krankes Kind überhaupt zu geben ist.
Wie nun stellen sich die Gegner der Aechtheit des Dresdener Bildes
gegen dieses Argument dafür? Da sie es nicht zu widerlegen wissen, so
ignoriren sie es, und machen nur das Lächeln des Darmstädter Kindes
für sich gegen die Deutung auf ein krankes Kind geltend, indeß dieses
Lächeln zusammen mit dem krankhaften Ausdrucke des Dresdener Kindes
den schönsten Beweis dafür liefert. Und man sollte doch einen Beweis,
der sicher «us zwei Füßen steht, nicht damit widerlegen wollen, daß man
den einen beider Füße unterschlägt. Uebrigens gibt es noch genug andere
Gründe für jene Deutung, wovon die bindendsten in dem Verhältniß des
unteren nackten Knäblein zum oberen und in dem Dasein einer Holbein-
scheu Handzeichnung von entsprechender Deutung (Ur. 65 des Baseler
Museums) liegen, vor welcher die Gegner dieser Deutung auch am liebsten
die Augen schließen möchten; nur kann ich hier nicht näher darauf eingehen,
um nicht von Erörterung der Aechtheitssrage in die der Deutungsfrage ab¬
geführt zu werden.'
Ziehe ich nun endlich das Resume. so komme ich, um nicht letzterer
Kleinigkeit ein übertriebenes Gewicht beizulegen, darauf zurück, daß die
Aechtheit keines beider Exemplare als absolut erwiesen, doch von beiden als
überwiegend wahrscheinlich gelten kann. Gegen das Dresdener Exemplar
lassen sich allerdings mehr Verdachtsgründe erheben, als gegen das Darm¬
städter, aber es sprechen auch noch positivere Gründe dafür. Ein durch-
schlagender Grund, die alte Tradition der Aechtheit des Dresdener Bildes
zu verlassen, ist jedenfalls bis jetzt nicht gefunden, und was man dafür aus¬
gegeben hat, ist es nicht. Bei dieser Sachlage aber kann meines Erachtens
sich der Freund des Dresdener Bildes wohl beruhigen und weiter wüßte ich
die Vertheidigung desselben nicht zu treiben. Denn von einer vollen Sicher¬
heit ist in der ganzen Frage überhaupt nicht zu sprechen; dazu ist sie viel zu
sehr durch Unklarheiten und Widersprüche in den historischen Daten und den
Urtheilen der Kenner verwickelt. Und was thut's zuletzt, wenn noch ein Rest
von Zweifel nach beiden Seiten übrig bleibt? Er wird nur beitragen können,
das Interesse an der vergleichenden Betrachtung beider Bilder fortgehend
wach zu erhalten und durch Anregung immer neuer Discussionen und For¬
schungen das Kunstleben selbst zu fördern.
Die Frage, ob eine rasche und starke Zunahme der Bevölkerung im All¬
gemeinen wünschenswerth sei, ist zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden be¬
antwortet worden. Im vorigen Jahrhundert herrschte die Bejahung vor,
in diesem eher die Verneinung. Allerdings waren die Schriftsteller, welche
jene hauptsächlich vertraten, Deutsche: Süßmilch in Berlin, dessen Buch von
der „göttlichen Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts"
zwei Jahre nach der Thronbesteigung Friedrichs des Großen (1742) erschien;
und Sonnenfels in Wien, der zwei Jahre nach der Beendigung des sieben¬
jährigen Krieges (1765) seine „Grundsätze der Polizei, Handlung und Finanz-
Wissenschaft" veröffentlichte, in denen die Lehre von dem Segen starker Volks-
zahl zum Mittelpunkt eines förmlichen Systems gemacht wurde. Derjenige
Gelehrte hingegen, von welchem zuerst eine durchschlagende Reaction wider
diese Anschauungsweise ausging, war ein Engländer, Malthus. Dies ist
wichtig zu beachten wegen des inneren Zusammenhangs, in welchem solche
neue Lehren mit thatsächlichen Vorgängen und Erscheinungen zu stehen
Pflegen. Deutschland hatte sich gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts
noch lange nicht vollständig von der Entvölkerung erholt, welche es durch
den dreißigjährigen Krieg erlitten hatte; die Eroberungszüge Ludwigs
des Vierzehnten und andere Veranlassungen hatten dafür gesorgt, daß die
halbgeschlossene Wunde immer wieder aufgerissen wurde. Dazu kam. daß die
Auswanderung in die Neue Welt gerade anfing, das Werk der Kriege in
Bezug auf Abnahme der inländischen Menschenzahl zu vervollständigen. Jene
fühllose Gleichgiltigkeit aber, mit welcher die Inhaber der Gewalt in früheren,
roheren Zeiten auf die Leiden der dienenden Stände geblickt hatten, machte
bei Fürsten und Ministern nachgerade höheren Gesinnungen Platz, besserer
Berechnung ihres Vortheils und Aneignung der Ideen von Gemeinwohl,
von Menschenwürde, von einem Staat, der nicht identisch mit der wechseln¬
den Gestalt auf seiner obersten Spitze war. Diese Idee in ihrem Zusammen¬
stoß mit der fortdauernden Wirkung volkverdünnender mörderischer Ursachen
erzeugten die Vorstellung, daß ein Land nicht leicht zu bevölkert sein könne,
eine Hauptaufgabe der Regierung daher — die man sich zu jener Zeit noch
ziemlich alleinthätig und allmächtig dachte — in der Beförderung des Zu¬
wachses an Seelen zu finden sei. Demgemäß wurden vermöge der mannig¬
faltigsten Vorkehrungen Prämien auf frühe Heirath und zahlreiche Nach¬
kommenschaft — wie unter Ludwig dem Vierzehnten in Frankreich, und Strafen
auf das Beharren im Hagestolzenstande — wie schon im Alterthum und
Mittelalter, gesetzt, von denen beiden sich einzelne bis auf unsere Tage herab
erhalten haben, wiewohl jene Süßmilch - Sonnenfels'sche Lehre, die Quelle
solcher Erlasse, längst aufgehört hat, die Geister zu beherrschen.
Ganz andere thatsächliche Zustände schwebten vor Malthus' Blick, als
er im Jahre 1798 seine berühmte Bevölkerungslehre zum ersten Male in
ebenso summarischer als drastischer Form veröffentlichte. Seit zweihundert
Jahren hatte kein der Rede werther Krieg, seit hundert Jahren keine Revo¬
lution Englands inneren Frieden unterbrochen: die Bevölkerung hatte sich
ohne große gewaltsame Decimirungen vermehren können. Vollends auf der
Nachbarinsel Irland wirkte die Einführung des Kartoffelbaues mit der natür¬
lichen Leichtlebigkeit ihrer celtisch-katholischen Bewohner zusammen, um eine
unerhörte Zunahme der Volkszahl herbeizuführen, und noch eröffnete keine
Massenwanderung über den Ocean hier einen heilsamen Abzug. Es war zu-
gleich die Zeit der ersten erstaunlichen Entfaltung der modernen Industrie.
folglich der Geburt des modernen Proletariats, das sich um Fabriken, Hütten
und Gruben häuft. Ihm war die bestehende Armengesetzgebung aus der Zeit
der Königin Elisabeth nicht entfernt gewachsen; im Gegentheil, wie die ört¬
liche Armenpflege sich auf der Grundlage der Armensteuer entwickelt hatte,
zog sie das Elend nur groß, anstatt es zu mindern. Das alles nahm
Malthus wahr und fand es, wo nicht verkehrt, doch einseitig, wenn die junge
Schule feines eigenen großen Lehrers Adam Smith ihre feurigen Anklage¬
reden lediglich gegen die Fesseln richtete, welche Staat und Herkommen der
freien Arbeit angelegt hatten. Eine nothwendige Ergänzung dünkte es ihm
auch den Leichtsinn der Menschen in der Vermehrung ihres eigenen Ge¬
schlechts zu brandmarken. Die wüste Entfesselung aller Begierden, deren Zeuge
er eben in dem revolutionären Frankreich gewesen war, mochte dazu beitragen,
seine Anschauung übermäßig schwarz zu färben.
So entstand die Malthus'sche Lehre von der Bevölkerung, die häufiger
mißverstanden als verstanden worden ist, selbst von hervorragenden Fachge¬
lehrten, im ganzen mehr Gegner als Anhänger gefunden hat. und ihrem
Kerne nach heute doch als unanfechtbares Eigenthum der Wissenschaft gelten
kann. Sie stellte als Voraussetzung hin. daß die Natur besser für die Er¬
haltung der Arten, als für die der Jndividium gesorgt habe; indem eine fast
unbegrenzte Fähigkeit zur Fortpflanzung in jedes Wesen gelegt sei. und je
einfacher dessen Organisation, je geringer dessen Begabung, je schwächer folglich
seine Kraft feindlichen Einflüssen zu widerstehen sei, desto mehr Keime gingen
von ihm aus. um die Gattung nicht untergehen zu lassen. Diese Voraus-
setzung wird von der heutigen Lehre der Veränderlichkeit der Arten und ihrem
allmäligen Uebergang in einander, falls sie sich behauptet, die entsprechende
Berichtigung erfahren müssen. Es ist dabei jedoch von Interesse zu be¬
merken, daß der Urheber dieser Lehre, Darwin, aus Malthus Werk eine
Hauptanregung zur Aufstellung derselben empfangen zu haben bezeugt. Wie
es um die auf Erhaltung der Arten gerichtete angebliche Absicht der Natur
übrigens auch stehen möge, die Thatsache jener physiologischen Tendenz an sich
ist nicht zu bestreiten. Der Fortpflanzungstrieb ist in allen lebenden Wesen
stark, und wenn ihm nicht einengende Hindernisse entgegentraten, würde die
Oberfläche der Erde rasch von den begünstigten Arten überfüllt sein. Dies
gilt auch vom Menschen. Angenommen, es träte nichts der Entwickelung
seiner natürlichen Fruchtbarkeit in den Weg, so würde die Kopfzahl unzwei¬
felhaft in geometrischer Progression wachsen. Dies ist die erste Hälfte dessen,
was Malthus behauptete. Er überschlug dann die mögliche, muthmaßliche
Zunahme der Nahrungsmittel, und glaubte zu finden, daß diese nur in arith¬
metischer Progression zu wachsen versprechen. Also wenn die Zahl der
Menschen wachse von 1 auf 2, 4, 8, 16, 32 u. f. f.. so nehme die Masse der
Nahrungsmittel nur in den Stufen 1, 2, 3, 4, 5, 6 u. s. f. zu. Mit andern
Worten: Die Vermehrung der Bevölkerung strebe beständig die Vermehrung
der Nahrungsmittel zu überholen. Daß jene diese thatsächlich überhole, hat
Malthus natürlich nicht behauptet, denn das wäre handgreiflicher Unsinn ge¬
wesen. Mehr Menschen, als leben konnten, haben noch nie gelebt. Gleich¬
wohl geht im äußersten Zirkel derer, welche sich mit dem Problem der Be¬
völkerung befassen, noch immer die Meinung im Schwange, dies sei die eigent¬
liche Malthus'sche Lehre. Malthus umschrieb mit seinem Satze bloß in Be¬
zug auf den Menschen die allgemeine physiologische Tendenz, und sah dieselbe
darin bestätigt, daß in allen Ländern zu allen Zeiten Zunahme des Nah¬
rungsmittelvorraths, also z. B. reichliche Ernten, auf der Stelle auch Zu¬
nahme der Bevölkerung durch mehr Ehen und Geburten nach sich ziehn.
Diesem nachdrängen der Volkszcchl, das ohne hinlängliche Voraussicht etwa
eintretender Rückschläge geschehe, sah er in der Hauptsache keinen andern Damm
gesetzt, als vergrößerte Sterblichkeit durch Mangel, Elend, Verwahrlosung,
Laster, Verbrechen, Krieg u. s. f. Allerdings unterschied auch er schon den
Menschen insofern vom Thier und namentlich von der Pflanze, als er neben
dieser Wiederzerstörung der überzählig in die Welt gesetzten Keime hier noch
eine andere Abhilfe gegen Uebervölkerung thätig sah: die Selbstbeherr¬
schung, welche aus der Berechnung fließt, daß für die hervorzubringenden Kin¬
der nicht mit Sicherheit der gehörige Unterhalt zu schaffen sei. Allein er
glaubte der Wirsamkeit dieser Schranke keinen großen Umfang beilegen zu
dürfen. Als er seine Gedanken zuerst niederschrieb, sah er den gedankenlosen
Vermehrungstrieb in England eben, unterstützt durch eine grade dazu auf¬
munternde Zwangsarmenpflege, in voller Blüthe; er war gewissermaßen der
Erste, dem sich die Ansammlung industrieller Arbeitermassen von dieser beun¬
ruhigenden Seite zeigte, und dazu war die Entfesselung aller volkstümlichen
Leidenschaften jenseits des Canals noch frisch in seinem Gedächtniß. Er
scheute daher vor einer crasser Ausprägung seiner Besorgnisse nicht zurück,
um nur überhaupt Eindruck zu machen. Der vielangeführte grausam klingende
Ausspruch, daß nicht für jeden neuen Ankömmling an der Tafel der Natur auch
ein Platz belegt sei, und daß, wer sich dennoch einstelle, gewärtigen müsse sie
ihr Hausrecht gebrauchen zu sehen — diese bloße Constatirung einer physisch¬
socialen Thatsache, wenn man in den wirklichen Sinn eingeht, wurde in der
später umfassenden Begründung der anfangs nur flugschriftenhaft entwickelten
Lehre gestrichen, weil sie so viel unvorhergesehenen Anstoß erregt hatte. Aber
hinsichtlich des wesentlichen Inhalts seiner Lehre erklärte Malthus noch in
der Einleitung zu seinen 1820 erschienenen Grundsätzen der Wirthschaftslehre,
nie sei ihm der geringste Zweifel über denselben beigekommen.
Völlig neu, wie man sich denken kann, war seine Auffassung keineswegs.
Justus Möser z. B. kommt in verschiedenen seiner patriotischen Phantasien
bald ernsthaft, bald scherzweise in ähnlichem Sinne aus die Frage zu sprechen,
die er freilich mehr local nahm, indem seiner Vorliebe für den Bauernstand
auf geschlossenen Höfen nach westfälischer, altsächsischer Art die unabsehbare
Vermehrung des herum wohnenden losen Volks in die Quere kam. Er läßt
z. B. eine ältere Frau an eine junge gegen die damals aufkommende Schutz¬
blatternimpfung schreiben: „Vor dem dankte eine gute Mutter dem lieben
Gott, wenn er redlich mit ihr theilte, und auch wohl noch ein Schäfchen
mehr nahm; man erkannte es als ein sicheres Naturgesetz, daß die Hälfte
der Kinder unter dem zehnten Jahre dahinsterben müßte, und richtete sich
danach mit den Wochenbetten..... Die weise Vorsehung hat die Blattern
gewiß nicht umsonst in die Welt geschickt. Sie haben sich, nebst der mit
ihnen verwandten Seuche, gerade zu der Zeit eingefunden, da die Völker¬
wanderungen, weil alles besetzt war, aufhören mußten; sie sollen also wahr¬
scheinlich dazu dienen, einer Ueberladung der sublunarischen Welt vorzubeugen;
und diesem großen Winke sollte man folgen, und den Aerzten ein Handwerk
verbieten, was am Ende zu nichts dienen wird, als Mann und Frau von
Tisch und Bett zu scheiden." Röscher weist ähnliche Spuren bei Macchiavelli,
Sir Walter Raleigh und anderen älteren Schriftstellern nach. Allein da
waren es doch eben nur versprengte Aeußerungen. Malthus' Verdienst ist
und bleibt es, die Frage in ihrer vollen Bedeutung erfaßt, alles ihm zugäng¬
liche Licht des Gedankens und der Beobachtung darauf gesammelt, seine
Ansicht kräftig-unverblümt ausgesprochen, standhaft und geschickt vertheidigt
zu haben-
Der dadurch erregte anfängliche Schrecken war übrigens groß. Einzelne
der ersten Widersprecher gingen so weit, den Gegensiaud von der wissenschaft¬
lichen Untersuchung ganz ausschließen zu wollen; ähnlich wie jetzt mitunter
Angehörige der sogenannten arbeitenden Classen es schon übel zu nehmen
pflegen, wenn man sie von fern daran erinnert, daß eine Familie zu gründen eine
verantwortliche und deswegen der Herrschaft der Vernunft nicht zu entziehende
Sache sei. Von denen, die sich auf die Erörterung wenigstens unbefangen
einließen, suchten Einige die Bevölkerungszunahme als zu hoch, Andere die
Vorrathszunahme als zu niedrig angeschlagen darzuthun. Der Ausbildung
der Malthus'schen Lehre nahmen sich vorzugsweise französische Gelehrte an.
I. B. Say ersetzte den zu engen Begriff der „Nahrungsmittel", mit deren
Maß die Bevölkerung sich beständig in Gleichgewicht zu setzen trachte, durch
„Existenzmittel", wodurch, wie man leicht sieht, der Spielraum erweitert wird,
den der Fortschritt der Gesammtheit der Lebenden zu einem menschenwür-
digen Dasein sich von neuen Erdenbürgern nicht abstreiten läßt. Bastiat,
der Malthus sonst gegen seine unwissenden socialistischen Lästerer lebhaft
in Schutz nahm, tadelte doch, daß er Mißverständnissen die Thür geöffnet,
indem er seine rein der physiologischen Tendenz entsprechende ideelle Ver¬
doppelungsperiode von 25 Jahren dem realen Beispiel der Vereinigten Staaten
entlehnt habe, wo sich die Bevölkerung damals wirklich in diesem Zeitraum
ungefähr verdoppelte, versteht sich, ohne die Einwanderung zu rechnen, (wo¬
gegen Wiß jedoch in seinem „Gesetz der Bevölkerung und die Eisenbahnen"
von 1867 die Verdoppelungsperiode von 28 Jahren etablirt); und dann dehnte
er das Bereich der einer Uebervölkerung entgegenarbeitenden socialen Tendenzen,
das Malthus in der Hauptsache auf sittliche Selbstbeherrschung beschränkt
hatte, weiter aus. Die betreffende beredte Stelle der wirthschaftlichen Har¬
monien verdient wohl hierhergesetzt zu werden:
„Die Hindernisse, welche die vernunftbegabte menschliche Gesellschaft der
möglichen Vervielfältigung des Geschlechts entgegensetzt, nehmen noch viele
andere Gestalten an, als blos die des Verzichts auf geschlechtliche Freuden,
wenn man eine Familie nicht ernähren kann. Was bedeutet denn, beispiels¬
weise, die heilige Unwissenheit der Kinder über das Geschlechtsverhältniß, die
einzige Unwissenheit ohne Zweifel, die zu heben ein Verbrechen wäre, die Jeder
respectirt, und über der die Mutter ängstlich wie über einem Schatze wacht?
Was bedeutet die Schamhaftigkeit, welche der Unkunde folgt, jene geheimni߬
volle Waffe der Jungfrau, die den Liebenden zugleich bezaubert und in
Schranken hält, und die Zeit des unschuldigen Liebesgenusses so hold ver¬
längert? Ist es nicht ein wunderbares Ding, wäre es nicht abgeschmackt auf
jedem anderen Gebiet, dieser Schleier der anfänglich die Unwissenheit von der
Wahrheit trennt, und dann die energischen Hindernisse, welche sich zwischen
die Kenntniß und das volle Glück schieben? Was bedeutet die Macht der
öffentlichen Meinung, die den Verkehr von Personen verschiedenen Geschlechts
untereinander so strengen Regeln unterwirft, die leichteste Uebertretung der¬
selben brandmarkt, und den Fall sowohl an der, welche unterlegen ist.
als an seinen unglücklichen Früchten lebenslänglich rächt? Was bedeutet jene
zarte Ehre, jene strenge Zurückhaltung des weiblichen Geschlechts, welche ge¬
meiniglich selbst die bewundern, denen sie nicht als Schranken ihrer Begierde
gelten, alle jene Einrichtungen, conventionellen Schwierigkeiten und mannig¬
fachen Vorsichtsmaßregeln — was bedeuten sie anders als die Beschränkung
des Fortpflanzungstriebes durch vernunftmäßige, sittliche, vorbeugende, dem
Menschen allein gegebene Mittel?"
Zu den Beschränkungsmitteln dieser Art wird man im heutigen Europa
dasjenige freilich nicht rechnen, welches in dem übervölkerten chinesischen Reiche
auch neben der Auswanderung immer noch an der Tagesordnung ist, die
Aussetzung von Kindern. Obgleich die Angaben der Reisenden und Resi¬
denten verschieden lauten, scheint es doch gewiß, sagt Röscher, daß siege-
setzlich erlaubt ist und viele ärmere Paare in der Aussicht auf sie heirathen
— etwa so, wie in England und anderen Paradiesen der Zwangsarmen¬
pflege in der Aussicht auf öffentliche Almosen. Aber auch in dem civilisir-
testen Staate der antiken Welt, in Athen war die Aussetzung Neugeborener
ein gesetzliches Recht des Vaters. Plato nahm diese Praxis unter die Grund¬
säulen seines idealen Staats auf, und Aristoteles, der große politische Den¬
ker des Alterthums, sah nicht ein, was vom sittlichen Standpunkt gegen
die verwandte Praxis der Entfernung Ungeborener einzuwenden sein sollte.
Uebervölkerungs-Besorgnisse spukten eben auch damals schon, wie heute, in
ängstlichen und voraussichtigen Köpfen. Man könnte sagen, berechtigter
damals als heute, weil ein verhältnißmäßig so kleiner Theil der Erde erst
bekannt, und dieser in seiner Bewohnbarkeit für Griechen obendrein durch die
nationale Abschließung gegen alle Fremden eingeengt war.
Dergleichen widerstreitet peinlich den modernen Begriffen von menschen¬
würdiger Freiheit und Selbstbestimmung.
Dasselbe muß von den gesetzlichen Erschwerungen des Heirathens gelten,
welche bis vor kurzem noch in einer größeren Zahl deutscher Staaten bestan¬
den, und deren liebevolle eingehende Betrachtung noch eine der Schwächen
einer jetzt aussterbenden Generation deutscher staatswissenschaftlicher Gelehrten
wie z. B. Robert Mohl's ausmachte. Zustimmung der Gemeinde oder der
Staatsbehörde, Vorbedingung eines gewissen Alters, Erforderniß eines Gut¬
habens in der Sparcasse oder des Eintritts in eine Krankheits-, Alters- und
Lebens-Versicherungsanstalt — alle diese Clauseln haben theils wirklich be¬
standen, theils sind sie von Theoretikern dringend vorgeschlagen und um¬
ständlich begründet worden, bis für Norddeutschland wenigstens die neue
Bundesgesetzgebung dieser Verkümmerung des Grundrechts der Verehelichung
ein sür allemal ein Ende gemacht hat.
Mittelbar wirken natürlich manche Staatseinrichtungen sehr merklich auf
Beschränkung oder Hinausschiebung der Ehen hin. Vor allem die allgemeine
Wehrpflicht, insofern sie die Zeit des selbständigen Besitzes und der völli-
gen wirthschaftlichen Unabhängigkeit hinausrückt. Doch braucht gerade aus
diesem Gesichtspunkt der Einfluß, der ihre gegenwärtige starke Anspannung
auf die Masse des Volkes übt. am wenigsten beklagt zu werden. Verfrühte
Ehen legen leicht den Grund zu sorgloser, nachlässiger Wirthschaft, welche
der Zahl der Kinder nicht einmal die der vorhandenen elterlichen Erwerbs¬
kraft ensprechende Versorgung gegenüberstellt.
In älteren, gewaltsameren historischen Epochen haben Massenauszüge
einer vorhandenen oder drohenden örtlichen Uebervölkerung oft den erwünsch¬
ten Abfluß verschafft. Auch in unserer Zeit wirkt die Auswanderung noch
auf diese Weise; besonders deutlich z. B. in Irland, dessen Zustände sie
vorzüglich fühlbar gebessert hat. Aber an der Auswanderung erkennt man
recht, wie die wahrhaft wirksamen Mittel, um einer Uebervölkerung abzu¬
helfen oder vorzubeugen, sich nachgerade der Sphäre der Staatsthätigkeit
entzogen haben. Auswanderung unter Staatsleitung, d: h. also das, was
man gewöhnlich als Colonisation bezeichnet, stellt sich immer mehr als un¬
ausführbar heraus; die, welche ihrer Heimath Lebewohl zu sagen sich ent¬
schlossen haben, weil die Wege zum Glück hier soviel rauher und länger sind
als anderswo, sind in der Regel eigensinnig genug, sich der gewohnten
obrigkeitlichen Leitung und Fürsorge nun auch ein für allemal entziehen zu
wollen. Die Staatsgewalt muß sich deshalb nicht blos bescheiden, weder
zur Auswanderung aufmuntern, noch freiwillig entstehende Auswanderung
hindern zu können — sie sieht sich auch der geschehenden Auswanderung
gegenüber in die bescheidenste Rolle zurückgewiesen. Woraus sich denn er¬
geben möchte, daß auch das große theoretische Auswanderung^- und Coloni-
sationsunternehmen John Stuart Mills, in welchem manche Volkswirthe
einen letzten wirksamen Canal gegen Uebervölkerung zu erblicken geneigt sind,
blos eine wohlklingende Chimäre ist. Die Auswanderung ist nur insofern
ein überhaupt anzuschlagender wohlthätiger Aderlaß, als der Patient, die an
Blutüberfüllung leidende Nation, ihn sich selber applicirt.
Innerhalb dieser Sphäre des freien Einzelwillens aber wirkt auch sonst
noch vielerlei kräftig, darauf hin, daß die Volkszahl in den wünschenswerthen
Schranken langsam-sicheren Fortschritts bleibe. Jede neue Eroberung des
Reichs der Freiheit hat diese Folge, weil sie die sittlichen und wirthschaft¬
lichen Kräfte entfesselt, welche in dem bisher niedergehaltenen Individuum
schlummern. Dasselbe ist es mit der Ausbreitung und Zunahme ächter Bil-
dung. welche Voraussicht auf die nothwendigen Wirkungen des eigenen Thuns
und Lassens lehrt, und welche das Familiengefühl belebt, das dem gesunden
und geistig entwickelten Menschen natürlich ist. Auch die Steigerung der
Bedürfnisse, der Uebergang neuer Bedürfnisse in feste, schwer zu entbehrende
Lebensgewohnheiten wirkt so, wenn sie Hand in Hand gehen mit Erhöhung
des erwerbenden und haushaltenden Vermögens. Daß die Vervollkommnung
des Menschen, um Alles in Ein Wort zu fassen, diese zuletzt auf Beschränk
kung der Kinderzahl hinauslaufende, bedeutsame Wirkung hat, zeigt uns die
Vergleichung der verschiedenen Stände, wie die Vergleichung von Völkern.
AIs Malthus zur weiteren Begründung seiner Lehrsätze statistische That¬
sachen in der ganzen civtlisirten Welt sammeln ging, fand er die geringsten
Verhältnißziffern von Geburten und Sterbefällen in Norwegen und der
Schweiz. Das ewig wechselnde Spiel der Bevölkerung zwischen Geburt und
Tod war dort auf die engsten Grenzen zusammengedrängt, — nicht durch-
irgend welche Staatsmaßregeln, sondern durch, die freie Selbstbeschränkung
und tapfere sittliche Haltung des Volkes. Man heirathete durchschnittlich
spät, ohne deshalb viel außerehelichen Geschlechtsumgang zu pflegen; so blieb
die Fruchtbarkeit der Frauen beschränkt, aber Alles, was geboren wurde,
konnte auch ordentlich genährt und ausgezogen werden, so daß die Sichel
des Todes vergleichsweise wenig zu thun sand, um das Feld hinlänglich
licht zu erhalten. Fragte man aber nach der politischen Verfassung, dem
Bildungszustände und der Wohlhabenheit der beiden Länder, so nahmen sie
in jeder dieser Hinsichten schon damals einen hohen Rang ein. Ihre Gebirgs-
natur mochte zu den eigenthümlichen Gesellschaftsverhältnissen mitgewirkt
haben, welche den Civilstandsbeamten so wenig zu thun gaben; aber gleich¬
viel woher entnommen, war das liberale und demokratische Gepräge der¬
selben gewiß nicht ohne Zusammenhang mit der herrschenden weisen Selbst-
beschränkung des Fortpflanzungstriebes, welche die Seelenzahl nicht zu rasch
anschwellen ließ.
Etwas ganz Aehnliches nehmen wir wahr, wenn wir innerhalb einer
und derselben Nation diejenigen Gesellschaftsschichten, welche am frühesten zu
Wohlstand, Bildung und Freiheit gelangt sind, mit den am weitesten zurück¬
gebliebenen vergleichen. In jenen mäßige, in diesen große und oft übertrie¬
bene Fruchtbarkeit. Der junge Mann aus den gebildeten und begüterten
Ständen verfällt zwar leichter als der Tagelöhnerssohn den Versuchungen des
Müßiggangs, zu denen vor Allem auch geschlechtliche gehören; aber bevor er
eine Familie gründet, sieht er sich sorgsamer um, ob er Frau und Kinder
auch zu erhalten vermag. Der Tagelöhner oder Fabrikarbeiter lebt in ehe¬
losen Stande auch keineswegs immer sittenrein; das würden ihm schon die
Eindrücken und Gewohnheiten sehr erschweren, unter denen er in der Enge der
elterlichen Wohnung, mit zahlreichen Geschwistern verschiedenen Geschlechts
und Alters gemeinsam aufgewachsen ist. Aber der Entschluß zu heirathen
entsteht in ihm weit leichter, theils weil seine völlige Abhängigkeit vom Ver¬
dienst des Tages der wirthschaftlichen Voraussicht überhaupt kaum Stoff zu
lassen scheint, theils weil die öffentliche Armenpflege da ist. das Deficit seiner
Casse zu decken. Gewöhnt an Zwangsbehandlung, wie er meistens noch ist,
läßt er sich durch die mit dem Empfang von Almosen verknüpften Beschrän¬
kungen seiner Freiheit und Erniedrigungen seiner Würde nicht sonderlich
schrecken. Umgekehrt Alles, was das männliche Selbstgefühl in ihm stärkt,
muß auch den Ernst erhöhen, mit welchem er den folgenreichsten und ver¬
antwortlichsten Entschluß des Lebens, den Entschluß zu heirathen, faßt.
Wenn er schlechterdings entschlossen ist, der öffentlichen Armenpflege nicht zu
verfallen, wird er sich zweimal besinnen, bevor er Frau und Kinder in sei¬
nen noch zu wenig darauf eingerichteten Haushalt aufnimmt. Wenn er
selbst sich gewöhnt hat, zu den unentbehrlichen Bedürfnissen des Lebens die
Lectüre von Büchern und Zeitschriften, den Besuch eines Clubs, gelegentliche
Ausflüge ins Freie u. dergl. zu rechnen, so ist etwas da. was ihn für zeit¬
weiligen Verzicht auf Familienfreuden schadlos zu halten vermag. Er be¬
trachtet dann nicht mehr einen unbeschränkten Geschlechtsgenuß als das Ein¬
zige, was der reiche Mann vor ihm nicht voraussähe, und was er daher
auch schrankenlos genießen müsse, um sein Menschenrecht durch die That zu
behaupten, gleichviel was daraus entstehen möge.
Die verhältnißmäßige Fülle der Bevölkerung in den meisten europäischen
Ländern, welche hier und da regelmäßiges Massenauswandern eher zu be¬
fördern als zu mindern scheint, und das riesenhafte Wachsthum der Volks¬
zahl Nordamerikas seit der Gründung der großen Republik haben mit dem
Umstände, daß Dampf und Electricität uns die Enden der bewohnten Erde
neuerdings so unvergleichlich viel näher gerückt haben, augenscheinlich zusam¬
mengewirkt, um die Sorge vor Uebervölkerung seit Malthus' Tagen als die
überall und entschieden vorherrschende zu erhalten. Daher sucht der öffent¬
liche Geist des Jahrhunderts fast ausschließlich nach Beruhigungen gegen sie,
nach Mitteln, ihrer Verwirklichung entgegenzuarbeiten, anstatt umgekehrt
nach Abhilfe für Entvölkerung. Es fehlt jedoch auch nicht ganz an Symp¬
tomen, daß die Fluth demnächst einmal wieder in dieser Richtung fließen
könnte. In den Zweikinder-Ehen von Paris und anderen französischen
Städten, der gewerbsmäßigen Engelmacherei verschiedener Hauptstädte sehen
wir die den höheren Ständen eigene geringere Production durch Selbst¬
beschränkung in ein unsittliches, ja verbrecherisches Extrem ausschlagen. Gleich¬
artiges ist neuerlich in den eigentlichen Uankee-Staaten Nordamerikas beobach¬
tet und sogar bis zu einem gewissen Umfang statistisch festgestellt worden:
eine zunehmende Abneigung der Frauen gegen das Kindesgebären. die bei der
gebietenden gesellschaftlichen Stellung der „Dame" dort mehr zu bedeuten
hat, als wenn etwa die Ehefrauen in einer deutschen Landstadt sich darauf
das Wort gäben. Während über den großen Ocean die Chinesen immer
massenhafter nach dem Westen der Union herüberströmen, droht im Osten die
kräftige Race auszusterben, welche ihre politischen und socialen Grundlagen
gelegt hat.
Durch solche Auswüchse darf man sich übrigens die Bewegung zur Ver¬
besserung der gesellschaftlichen Lage des Weibes nicht verdächtigen lassen,
welche allerdings mehr oder weniger von Amerika zu uns herübergekommen
ist. Nach den Zielen, welche sie sich in Deutschland gesteckt hat, freierem
Erwerb und praktischer Bildung, hilft sie mittelbar auch der Uebervölkerungs-
gefahr vorbeugen. Sie muß in dem Maße, wie sie diese ihre Ziele erreicht,
zwei in dieser Richtung liegende Uebel verringern, uneheliche Empfängnisse
und verkehrte Ehen. Der ganze Verkehr der Geschlechter sowohl wie die
Erziehung der jungen Mädchen verspricht unter ihrem Einfluß einen gesünderen,
vor dem Spiel geschlechtlicher Reize freieren Ton anzunehmen.
Was die Staatsgewalt als solche heutzutage noch mit Rücksicht auf
einen guten Gang der Bevölkerungsbewegung thun kann, beschränkt
sich auf die Reform solcher Einrichtungen, welche etwa auf unüberlegte,
leichtsinnige Vermehrung hinwirken. Dazu gehört namentlich die Zwangs¬
armenpflege. Es ist nicht zufällig, daß Malthus, der Begründer der heute
geltenden Bevölkerungslehre, auch der erste auf den Grund gehende Kritiker
der englischen Armengesetzgebung, und in derselben Schrift war, — ein Kritiker,
dessen reformirende Tendenz weit über die Palliativcur hinausging, welcher
man im Jahre 1834 die englische Armensteuer und die darauf beruhende
praktische Armenpflege entworfen hat. Was er aber an der englischen Zwangs¬
armenpflege verdammte, würde er gleicherweise oder annäherungsweise ebenso
auch an unserer Armenpflege noch zu tadeln finden: die Uebernahme der
Verantwortlichkeit für die Folgen freier, individueller Handlungen auf die
Gemeinde und den Staat.
Das Bevölkerungsgesetz in die Form eines kategorischen Imperativs
gebracht, würde etwa so lauten: jede Geburt ist willkommen, für deren Auf¬
erziehung zum sich selbst erhaltenden Wesen eine wirthschaftlich befähigte Person
bereit steht; nachtheilig hingegen, eine Gefahr für das Gemeinwohl sind
Geburten, welche ohne diese Bürgschaft erfolgen. Damit ist die wirthschaft¬
liche Unerfreulichkeit der unehelichen Geburten, an denen überdies noch sittlicher
Makel und der Fluch geringerer Lebenskraft klebt, von selbst gegeben.
Die Frage, wie stark thatsächlich die Bevölkerung eines Landes zunehme,
hat die Wissenschaft bisher besonders in der Form der anzunehmenden Ver¬
doppelungsperiode interessiirt. Mit dieser beschäftigte sich schon der große
Mathematiker Leonhard Euler, ohne noch hinlänglichen Stoff zur Hand zu
haben. Süßmilch nahm rund hundert Jahre, Malthus auf Grund der Er¬
fahrung der Vereinigten Staaten davon nur den vierten Theil an, allerdings
aber mehr wie eine ideale, physiologisch mögliche, nicht als die wirkliche Periode.
Der berühmte belgische Statistiker Quetelet tritt ihm insofern bei. als er die
Tendenz der Volksvermehrung ebenfalls als auf geometrische Progression ge¬
richtet annimmt; aber er fügt, wiewohl ohne 'Beweis, den wesentlich ein¬
schränkenden mathematischen Satz hinzu, daß die Summe der ihr entgegen¬
stehenden Hindernisse zunehme wie das Quadrat ihrer eigenen Geschwindigkeits¬
zunahme. Guillard, der 1855 die „Demographie" als eine von ihm erfundene
neue Wissenschaft proclamirte, will gefunden haben, daß mit wechselnder
Dichtigkeit der Bevölkerung — worunter er ihr Verhältniß zu bewohnter
Fläche versteht, nicht wie E. Horn (Bevölkerungswissenschaftliche Studien aus
Belgien) zur Zahl der Wohnorte — die Vermehrung in gleichem Maße
abnehme, führt seinen Beweis aber sehr oberflächlich und wird u. A. durch
Engel's sächsische Bevölkerungsstatistik von 1834—49 praktisch widerlegt.
WappSus entwirft in seiner allgemeinen Bevölkerungsstatistik (1839—61)
folgende Tafel der zu erwartenden Verdoppelung der Volkszahl auf Grund
constatirtsn factischen Wachsthums:
Sehr nahe ist das Gespenst der Übervölkerung hiernach auch den be-
völkertsten Ländern des westlichen Europa noch auf keinen Fall. Die muth-
maßliche Verdoppelung der Volkszahl verspricht aber in Preußen z. B. schon
nach einem dreimal so kurzen Zeitverlauf einzutreten, als in Oestreich und
Frankreich.
Die Volksdichtigkeit der einzelnen Staaten gibt der genannte deutsche
Gelehrte nach den neuesten ihm damals vorliegenden Ermittelungen so an,
daß auf eine deutsche geographische Quadratmeile kommen:
Als physiologisch möglich läßt sich etwa annehmen, daß auf je zehn
Lebende jährlich eine Geburt komme. Thatsächlich stellt das Verhältniß aber
nach Rechnungen, welche fast die ganze Hälfte Europas und je zehn zwischen
1828 und 1856 liegende Jahre umfassen, sich nur so. daß durchschnittlich
auf dreißig Lebende eine Geburt kommt. Die wirkliche Fruchtbarkeit bleibt
oft um das Doppelte hinter der möglichen zurück. Dabei liegen auch die
Extreme gar nicht so weit auseinander, nämlich Sachsen mit 1 : 23 (1849)
und Frankreich mit 1 : 38 (1847).
Von den sämmtlichen Geburten pflegen die Mehrgeburten (Zwillinge,
Drillinge u. s. f.) 1 bis 1'/- Procent zu betragen.
Die Sterblichkeit schwankt stärker als das Geburtsverhältniß. Sie betrug
in der oben erwähnten Hälfte unseres Welttheils zur nämlichen Zeit je
einen Todesfall auf 38'/- Lebende; die Extreme waren aber so weit ausein¬
ander, wie 1: 2Z2/z (Oesterreich 1847) und 1 : S^/z (Norwegen 1864). Am
stärksten ist sie im kindlichen Alter: der Mensch kommt als ein schwaches, leicht
wieder ausgeblasenes Lebensflämmchen auf die Welt. Von der Gesammtzahl
der Gestorbenen fallen, kann man annehmen, reichlich 45 Procent oder nahe
an die Hälfte auf todtgeborne und vor Vollendung des fünften Lebensjahres
schon wieder hinweggeraffte Kinder. 19—33 Procent aller Gebornen starben
während der mehrerwähnten Beobachtungszeit in West-Europa vor dem
Ablauf des ersten Lebensjahres, Innerhalb des kindlichen Alters haben daher
auch die Mittel, welche eine aufgeklärte und thatkräftige Bevölkerung an¬
wenden kann, um das Reich des Todes einzuschränken. den verhältnißmäßig
weitesten Spielraum. Von höherem wirthschaftlichen Werthe als das Leben
eines Kindes, das nur erst Dienste empfängt, ohne seinerseits wieder Dienste
zu leisten, ist freilich das Leben eines Erwachsenen, der einen regelmäßigen
und vielleicht beträchtlichen Ueberschuß über seinen eigenen Verbrauch hervor'
bringt. Allein wer kann berechnen, um wieviel der Verlust eines geliebten
Kindes die nachhaltige Erwerbsanstrengung des Vaters oder der Mutter lähmt?
welche Hoffnungen der Gesellschaft in einem dieser ohne Noth zu Grunde
gerichteten Keime menschlicher Leistungsfähigkeit verloren gehen? Die Sterb¬
lichkeit in allen Lebensaltern zu vermindern ist eine Hauptaufgabe der prak¬
tischen Gesundheitspflege, welche sich gegenwärtig in allen Richtungen kraftvoll
Bahn bricht, und muß bis zu einem gewissen Punkt als ein sehr wohl erreich¬
bares Ziel gelten, wie die englische Medictnalstatistik an der Wirkung städtischer
Canalisationen und Wasserleitungen bereits überzeugend dargethan hat.
Ungewollt und mittelbar wirkt eben dahin indessen auch alles, was Wohl¬
stand und Sittlichkeit zu befördern dient. Laster erhöhen die Sterblichkett,
zumal auch in Epidemien, die ihre üppigste Ernte stets unter den schon unter¬
grabenen Physischen Existenzen halten. Die Classen, welche am auskömm¬
lichsten und maßvollsten zugleich leben, leben durchschnittlich auch am längsten.
Als mittlere Lebensdauer, berechnet aus der Verbindung von Geburts¬
verhältniß und Sterblichkeit, gibt Wappäus an für
gland .... 36,gz Jahre,
Niederlande
chsen . .
eußen . .
streich . .
Die wirkliche durchschnittliche Lebenshoffnung einer gegebenen Bevölkerung
ergibt sich hieraus übrigens nicht. Dafür muß die Lebensdauer der Geborenen
durch einen längeren Zeitraum hindurch verfolgt werden, wozu nur sehr
wenige Länder erst den Stoff darbieten. Diese ganze Seite der Bevölkerungs¬
statistik hat hohen praktischen Werth für Leibrenten und Lebensversicherungen,
weshalb denn auch schon seit idem .Ende des achtzehnten Jahrhunderts die
wissenschaftliche Forschung ihr zugewendet erscheint. Der erste in dieser Reihe
von Gelehrten war der bekannte englische Astronom Halley, dessen Berech¬
nungen sich aber auf die Sterberegister einer deutschen Stadt, nämlich Bres-
lau von 1687—91 gründete. Andre in der Geschichte des Versicherungswe¬
sens berühmt gewordene Sterblichkeitstafeln sind: die holländische von Kersse-
boom (1742), die französische von Dcharcieux (1746), die schwedische von
Wargentin (1765) u. s. f.
Von besonderem wirthschaftlichen Belang ist das Verhältniß der produk¬
tiven Altersclassen zu den unproductiven. Rechnet man von den letzteren im Durch¬
schnitt bis zum vollendeten fünfzehnten und jenseits des siebzigsten Lebens-
jahrs, so kommt auf sie ein reichliches Drittel der Gesammtheit. Die große
Masse aber machen die Kinder aus, denn wo zwölf Menschen unter fünfzehn
Jahren sind, ist erst Einer über siebzig. I. G. Hoffmann drückt dieses Ver¬
hältniß so aus, „daß der Nation die Erfüllung der Dankbarkeit gegen ihre
abgelebten Greise sehr viel weniger schwer fällt, als die Pflege der Hoffnung
für die Zukunft, welche der Kindheit und dem heranwachsenden Geschlecht
gewidmet werden muß."
Theurung und Seuchen auf der einen, Krieg auf der andern Seite
bringen eine Bevölkerung selbstverständlich zurück, aber nicht ganz in der¬
selben Weise. Während jene vorzugsweise die abgelebteren, schwächeren Be¬
standtheile des Volkes hinwegraffen, tödtet der Krieg zuerst und hauptsächlich
die Blüthe der productiven männlichen Kraft. Es war daher ein falscher
Trost, als Conde', auf dem Schlachtfelde von Seres sich über den Anblick der
Gefallenen damit hinwegzuhelfen suchte, daß er sagte, eine einzige Nacht in Paris
ersetzte den Verlust. Annäherungsweise ähnlich ist es mit der Einbuße, welche
die Auswanderung einem Volke zufügt. — ganz ebenso mit dem Menschen¬
verlust bei Schiffbrüchen, daher die Anstalten zur Rettung Schiffbrüchiger
nicht allein vom humanen, sondern auch vom ökonomischen Standpunkt jede
Ermuthigung verdienen.
her viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es steht ziemlich fest, daß in
allen Ländern mehr Knaben als Mädchen geboren werden, auch vom Orient,
wo man das Gegentheil angenommen hat, liegt kein wirklicher Beweis des¬
selben vor, so daß man noch nicht behaupten kann, die Polygamie erhalte
sich dort selbst. Der Ueberschuß pflegt auf je 100 Mädchen 4—7 Knaben
mehr zu betragen. Woher dies komme, und wie und wann sich das Geschlecht
einer Geburt überhaupt entscheide, darüber liegen die Statistiker mit den
Physiologen noch im Streit. Die einen sehen es meist als feststehend an.
daß die Entscheidung im ersten Anfang erfolge, und sind geneigt, dem höhe¬
ren Alter des einen oder andern Theils das Hauptgewicht beizulegen; die
anderen dagegen halten eine Entscheidung der Geschlechtsbestimmtheit während
der Entwickelung vor der Geburt noch für sehr wohl denkbar, und führen sie
zum Theil auf die bessere und mangelhaftere Ernährung zurück. Ausgeglichen
wird der Ueberschuß der Knaben in der Hauptsache schon ziemlich bald nach
der Geburt durch ihre stärkere Sterblichkett im Kindesalter. Nur in zweiter
Linie wirkt dazu die höhere Schädlichkeit und Gefährlichkeit so manches
männlichen Berufszweiges mit. Das Ergebniß aber ist, daß während der
mittleren, productiven Lebensjahre eine Art Gleichgewicht besteht und im
Greisenalter das' weibliche Geschlecht überwiegt.
Die ungefähre Gleichzahl beider Geschlechter, während den mittleren
physisch und wirthschaftlich productiven Lebensjahre scheint von selbst schon
auf die Institution der Ehe hinzuweisen. Im Gegensatz zum ledigen Stande
spricht auch die Aussicht auf Gesundheit und Lebensdauer für sie, und das
ist insofern gut, als wachsende Cultur sonst mannigfaltige Erschwerungen des
Entschlusses zur Ehe mit sich bringt. Im westlichen Europa sind nach
Wappäus durchschnittlich gegen 35 Procent oder etwas über ein Drittel der
Bevölkerung verheirathet, von den Erwachsenen etwas mehr als die Hälfte
oder 66 Procent. Die Zahl der Witwen ist reichlich doppelt so groß, wie
die Zahl der Witwer. Eine Trauung kommt im Jahre durchschnittlich auf
124 Einwohner, mit Schwankungen zwischen 116 (Preußen 1844—63) und
162 (Bayern 1842—51.) Nach einer Ermittelung, welche 5^ Millionen
Trauungen in neun europäischen Staaten umfaßt, werden durchschnittlich von
je tausend Ehen geschlossen:
In allen Ländern heirathen vor dem 25. Lebensjahr mehr Frauen als
Männer, nach dem 25. Lebensjahr mehr Männer als Frauen. Das mittlere
Geschlechts überall um 1—2 Jahrs. Die mittlere Dauer der Ehen beträgt in
Die mittlere Fruchtbarkeit der Ehen beträgt in den
Allzu früh eingegangene Ehen befördern die Unfruchtbarkeit; ihre Sprö߬
linge bringen geringere Lebenskraft mit auf die Welt. Auf den Grad der
Fruchtbarkeit hat, von den ganz unfruchtbaren Ehen abgesehen, das Heiraths¬
alter keinen Einfluß, so lange es beim Manne das 33. und bei der Frau
das 26. Jahr nicht übersteigt. Diese Folgerungen, welche Quetelet aus Un¬
tersuchungen des Engländers Satler abgeleitet hat, stimmen in der Haupt¬
sache völlig mit dem überein, welche durch Goehlert in Wien aus der Genea¬
logie von 25 Jahrgängen des Gothaischen Kalenders gezogen worden sind.
Für das Verhältniß der unehelichen Geburten zu sämmtlichen Geburten
gibt Wappäus folgende Ziffern an: ,
So unbedingt, wie es gewöhnlich geschieht, darf man aus diesen Ver¬
hältnißzahlen auf den Grad der herrschenden Unstttlichkeit nicht schließen. In
Bayern z. B. muß man von der hohen Ziffer in Abzug bringen, was eine
außerordentliche gesetzliche Erschwerung von Ehen und Niederlassungen bisher
Verführendes in sich trug; für Frankreich andererseits würde die niedrige
Ziffer stärker zeugen, stände nicht die gleichfalls sehr geringe durchschnittliche
Fruchtbarkeit der dortigen Ehen daneben, und gäbe es nicht notorisch
geschlechtliche Verbindungen, welche sich entweder überhaupt nicht durch
Geburten verrathen, oder doch nicht durch uneheliche Geburten. Immer be¬
hält diese Verhältnißzahl als Anzeige für die Moralstatistik ihren Werth,
ähnlich wie die Zahl der Verbrechen, für deren genaue Würdigung ebenfalls
vorab der Stand der Strafgesetzgebung berücksichtigt werden muß.
Den Stoff der Bevölkerungsstatistik liefern auf der einen Seite regel¬
mäßige, von Tag zu Tag fortgeführte Civilstandsregister, auf der anderen
gelegentliche, von Zeit zu Zeit wiederkehrende allgemeine Volkszählungen.
Jene sind etwa gleichzeitig unter Franz dem Ersten in Frankreich und unter
Heinrich dem Achten in England angeordnet worden; in Deutschland haben
wir sie in einzelnen Städten schon früher, z. B. in Augsburg seit 1500, für
ein größeres Gebiet zuerst durch Kurfürst Johann Georg von Brandenburg
im Jahre 1573. Veröffentlicht wurden sie zuerst in London unter Königin
Elisabeth, 1592, und regelmäßig seit 1603. Besonders genau wurden sie
seit 1686 in Schweden geführt, sodaß sie den Grund zu der dortigen, schon
seit langer Zeit musterhaften Behandlung der Bevölkerungsstatistik legen
konnten. Mit regelmäßig sich wiederholenden Volkszählungen sind die Ver¬
einigten Staaten von Nordamerika der Alten Welt vorangegangen. Die
Censusperiode beträgt dort zehn Jahre; anderswo fünf, im deutschen Zoll¬
verein bisher nur drei, in Zukunft aber voraussichtlich ebenfalls fünf Jahre.
Während der letzten Jahrzehnte haben die Regierungen durchweg der perio¬
dischen Aufnahme der Bevölkerung viel Aufmerksamkeit zugewandt, und
statistische Congresse sind ihnen seit 1853, was die Verbesserung der Methode
betrifft, dabei zu Hilfe gekommen. Das Zählungsgeschäft, das in einem grö¬
ßeren Lande begreiflicher Weise sehr mühsam und kostspielig ist, wird neuer¬
dings durch die Anwendung der Selbstzählung. d. h. der Selbsteintragung
der Gezahlten in die ihnen zugestellten officiellen Formulare, und der Zähl-
blättchen bei der methodischen Zusammenstellung erleichtert. Dagegen ist es
zu internationalen Verständigungen über gleiche Perioden, gleiche Zahlungs-
termine, gleiches Verfahren bei der Erhebung und bei der Zusammenstellung
noch nicht gekommen, wiewohl dies alles in der Consequenz der gemeinschaft¬
lichen Erörterung der Methode auf einem periodischen statistischen Welt¬
kongreß zu liegen scheint.
Die erste Ueberraschung über die Ministerveränderung in Würtemberg
hat sich gelegt. Schon nach wenigen Tagen hatte die Sprache der enttäuschten
Patrioten Mühe, sich auf der Höhe ihrer anfänglichen Entrüstung zu halten,
verstummt sind die extravaganten Muthmaßungen, was die neuen Persön¬
lichkeiten bedeuten mögen, das Land wartet die Handlungen ab, aus welchen
es ein sicheres Urtheil sich zu bilden vermag.
Eine Andeutung gibt das Ministerprogramm, das der Staatsanzeiger
am Abend des 28. März veröffentlichte. Zwar, was darin über die deutsche
Politik des Ministeriums im Allgemeinen gesagt ist, entbehrt vollständig des
Reizes der Neuheit. Es ist nachdrücklich von der Selbständigkeit Würtem-
bergs wie nicht minder von dem aufrichtigen und loyalen Halten der Ver¬
träge die Rede, in derselben Weise wie dies seit geraumer Zeit die stereotype
Formel der süddeutschen Regierungen ist. die der Graf Bray heute ebenso
wiederholt, wie der Fürst Hohenlohe sie mehr als einmal wiederholt hat,
und die auch im Munde der Herren v. Varnbüler und v. Mittnacht nicht
eben neu ist. Mit großer Kunst ist in der genannten Kundgebung der
würtembergischen Regierung alles vermieden, was irgendwie die eine Hälfte
des doppelseitigen Programms auf Kosten der anderen als stärker betont
erscheinen lassen könnte. Beides ist mit gleichem Nachdruck ausgesprochen,
beides steht auf derselben Rangordnung: die Selbständigkeit des Staats
und die Heiligkeit der Verträge. Vielleicht kann man das redliche Bemühen
herauslesen, die Haltung der Regierung genau wieder in die goldene Mitte
zu rücken, welche zwar officiell schon immer ihr Programm gewesen ist, aber so,
daß unglücklicherweise stets eine unverkennbare Declination von diesem mathe¬
matischen Mittelpunkt beobachtet wurde. Denn immer waren ihre öffent¬
lichen Kundgebungen darauf berechnet, sich die Volkspartei wie die deutsche
Partei in gleich respectvoller Entfernung vom Leibe zu halten, sie stellte sich
in die unnahbare Mitte zwischen diesen beiden gleich verderblichen Extremen ;
sobald aber die blos theoretische Stellung nicht ausreichte und es sich traf,
daß die Regierung zu einem praktischen Verhalten sich genöthigt oder ver¬
anlaßt sah, pflegte sich der Schwerpunkt mit astronomischer Gesetzmäßigkeit
zu verrücken; der Abstand von der deutschen Partei erweiterte sich in demselben
Maße als der Abstand von der Volkspartei sich verminderte, zuweilen schien
er zu verschwinden, für das unbewaffnete Auge war er zu Zeiten gar nicht
mehr zu erkennen. Ob dies in Zukunft sich anders gestalten wird steht dahin.
Daß die Neigung des Doppelgestirns Varnbüler-Mittnacht sich erheblich
geändert haben könne, wird vielfach bezweifelt und grämliche Propheten ver¬
kündigen bereits, daß im nächsten Frühjahr, das die Zollparlamentswahlen
bringt, so ziemlich die gleiche Constellation am schwäbischen Firmament wieder
sichtbar sein werde, wie sie im Frühjahr 1868 die Aufmerksamkeit der Erd¬
bewohner auf sich zog.
Aber nicht die platonischen Sätze über Selbständigkeit und Verträge
waren der Kern jenes Manifestes der Regierung. Vor allem war man
begierig zu erfahren, wie die neue Regierung zu den aus der Mitte der Volks¬
vertretung aufgetauchten Forderungen in der Militärfrage sich verhalten,
wie es den drohenden MilitärconM beschwören werde. Und das Manifest
bleibt die Antwort nicht schuldig. Es bestätigt sich, daß der neue Kriegs,
minister bei feinem Eintritt ins Cabinet sich zu Reductionen in seinem
Departement entschließen mußte, welche den Forderungen der Kammermehr-
heit wesentlich entsprechen. Freilich acht den Forderungen der Volksredner
auf den zahlreichen Versammlungen, welche die letzten Monate schwäbischer
Geschichte ausfüllten. Allein von diesen über die Jahrhunderte hinüberlau¬
fenden Forderungen und Doctrinen war ja in den bescheidenen Anträgen, die
vor den Ständesaal gebracht wurden, kaum mehr die Spur zu erkennen.
Vielmehr waren diese Anträge nur eine Copie derselben Wünsche und Beschwer¬
den, wie sie schon in den 30er und 40er Jahren nichts Ungewöhnliches in den
süddeutschen Ständeversammlungen waren, also in Zeiten, die so glücklich waren,
noch nichts von Cäsarismus und Militarismus, von drohender Verpreußung
oder von der Genfer Friedensliga und der Jacoby'sehen Theorie der Menschen¬
gesichter zu wissen. Auf solche neumodische Theorien war die Regierung nicht
veranlaßt', eine Antwort zu ertheilen, weil sie in officieller Form noch gar nicht
aufgetreten sind. Was aber der Antrag der 45 begehrte, namentlich wie ihn der
Abg. Probst erläuterte und wie ihn der Abg. Mohl in seinem Commissionsbericht
ausführlich motivirte, nämlich Ersparnisse im finanziellen und volkswirthschaft-
lichen Interesse, das ist die neue Regierung in der That bereit zuzugestehen.
Herr v. Succow nimmt es auf sich, an der neuen Wehrverfassung, die
wesentlich sein Werk ist, festzuhalten und gleichwohl Reductionen vorzunehmen,
welche die Wünsche der Mehrheit erfüllen sollen. Daß seine Ernennung an
Stelle des Herrn v. Wagner nicht eine einfache Umkehr bedeutet, dafür bürgt
schon seine ganze Vergangenheit, und dafür bürgt auch die Ansprache an das
k. Truppencorps, mit welcher er seine Amtsführung eingeleitet hat. Denn
danach hat er die Führung des Kriegsdepartements ausdrücklich übernommen,
„um der Armee unter schwierigen Verhältnissen die Bedingungen ihres Da¬
seins zu bewahren, die Thätigkeit und den Fortschritt in der Armee zu er¬
halten und vorwärts zu führen", und er fügt noch besonders hinzu, daß er
in seiner Amtsführung der von seinem Vorgänger eingeschlagenen Richtung
„in allen Stücken unverrückt" treu bleiben werde. Wenn er nun gleichwohl
zu Zugeständnissen sich herbeigelassen hat. die der Freiherr v. Wagner ver¬
weigern zu müssen glaubte, so that er dies ohne Zweisel im Vertrauen auf
sein organisatorisches Talent und in der Ueberzeugung, daß er Wesentliches
retten kann, indem er minder Wesentliches preisgibt, das im Augenblick über¬
haupt nicht festgehalten werden kann. Ein Plan, der möglichste Ersparnisse
erzielen soll, ist, wie der Staatsanzeiger angibt, bereits in der Ausarbeitung
begriffen, und als Bestandtheile desselben sind angegeben: Beschränkung des
Formationsstands der Linie, wodurch zugleich der Bedarf an Rekruten ver¬
mindert wird, sowie Festsetzung der Präsenz auf das niedrigste zulässige Maß.
Ferner sollen wesentliche Erleichterungen in den Controlvorfchriften für Re¬
serve und Landwehr eingeführt werden. Endlich ist eine beschränkte Wieder¬
einführung der Stellvertretung zum Zweck der Gewinnung eines tüchtigen
Unterofsiciersstands in Erwägung gezogen.
Dies sind ohne Zweifel sehr gewichtige Zugeständnisse, die nur aus dem
ernsten Wunsch hervorgegangen sind, mit der jetzigen Kammermehrheit sich
zu vertragen. Sie sind um so gewichtiger, als schon bisher in allen diesen
Punkten die Leistungen Würtembergs nicht die Höhe der norddeutschen
Leistungen erreichten. Weder war die Formation des Heeres ganz dieselbe,
und noch weniger die Stärke des Contingents, die Dauer der Präsenz und
folglich die Höhe des Aufwands; auch die Controlvorschriften waren schon
bisher laxer, und was die bereits bei der gegenwärtigen Präsenz eingetretene
Noth betrifft, tüchtige Unterofficiere zu bekommen, so begreift man es, wenn
der Kriegsminister in seiner Noth zu verzweifelten Mitteln greift, aber die
Wiedereinführung der Stellvertretung bleibt, wenn sie auch nur in beschränk¬
tem Umfange stattfindet, eine Durchlöcherung des Princips der allgemeinen
Wehrpflicht.
Und diese Zugeständnisse sind um so bedauerlicher, als die neue Wehr¬
verfassung im Ganzen leicht, ohne eine Spur von Widerstand, eingeführt worden
ist. Es war vorauszusehen, daß man sich in wenigen Jahren an die größeren
Opfer, die sie erfordert, gewöhnt hätte. Daß das Gesetz eine unerträgliche
Bedrückung ist, erfuhr das Volk doch erst aus den Agitationen der Demo¬
kraten und Ultramontanen. Bis zuletzt konnte diese ganze Bewegung den
Charakter des Künstlicher, Gemachtem nicht verläugnen. Die Redner redeten
nicht aus einer tiefen Entrüstung und Noth des Volks heraus, sondern sie
suchten die Entrüstung in das Volk hineinzureden, was ihnen doch nur auf
den Dörfern gelang. Es war nicht eine große Leidenschaft, wie sie sich
von selbst von Thal zu Thal fortpflanzt und ein ganzes Volk ergreift, sondern
es war ein mühsam studirter Operationsplan, nach welchem die verschiedenen
Landesgegenden bearbeitet wurden. Nicht die Noth führte das große Wort,
sondern der Uebermuth, und wenn in jenen Volksversammlungen so viel die
Rede war von dem wirthschaftlichen Ruin des Landes, von der unausbleiblichen
Verarmung, von dem Fluchgesetz, das alljährlich Tausende über den Ocean
treibe: so muß man daneben jene anderen Reden derselben Männer halten,
wenn sie höhnisch von der Hungerleiderei und dem ärmlichen Leben der Be¬
wohner der Tiefebene erzählen, wie es der stolze freie Schwabe inmitten seiner
rauchenden Schlote, wogenden Felder und blühenden Rebenhügel nicht kenne
und nicht ertragen würde. Man erinnert sich jener vom „Beobachter" appro-
birten Definition, wonach die Freiheit im Grunde darin besteht, daß ein
Jeder „genug zu essen und genug zu trinken" hat. Diese Art von Freiheit
ist bisher in Würtemberg hinreichend vorhanden gewesen.
Die Frage ist nun die, ob jene Zugeständnisse wirklich die Kammer¬
mehrheit befriedigen und einen Conflict abwenden werden. Die erste Auf¬
nahme, welche der Nachgiebigkeit der Regierung durch die Patrioten berettet
wurde, war ungeberdig genug. Nichts kam ihnen verdrießlicher, als daß die
Regierung sie so rasch beim Wort nahm. Davon waren sie fast noch mehr
betroffen, als von der Ernennung Succow's und dem Rücktritt Golthers.
Die Großdeutschen empfinden es mit Aerger, daß die Wendung zur Nach¬
giebigkeit nicht ihre Führer ans Ruder gebracht und daß die bleibenden Mi¬
nister sich nach einer ganz anderen Seite hin ergänzt haben. Die Volks¬
partei aber ist gänzlich aus dem Concept gebracht. Durch die „vorschnelle
Nachgiebigkeit" der Regierung sieht sie sich ein wirksames Agitationsmittel
aus der Hand gewunden. Sie kann nicht länger mit verdeckten Karten
spielen. Auch sie hatte sich, um eine Mehrheit zum Sturz des Ministeriums
zu Stande zu bringen, jenem bescheideneren Antrag auf „wirthschaftliche und
finanzielle Erleichterungen" angeschlossen. Jetzt, da man unerwarteter Weise
diese Forderung bewilligt, ist sie genöthigt, ihre politischen Motive offen
hervorzukehren und auf ihre Doctrin der radicalen Umgestaltung des Heer¬
wesens zurückzugreifen. Und mit beidem, sowohl mit dem Angriff auf die
Verträge, als mit der Forderung des Milizsystems weiß sie sich in der
Minderheit.
Darauf eben rechnet die Regierung. Nachdem sie die officiell gestellten
Wünsche befriedigt hat. zählt sie auf Spaltung des gegnerischen Lagers über
die weitergehenden Forderungen, welche nicht ausbleiben werden. Und daß
es so kommen werde, darauf bereitet allerdings schon der von Moritz Mohl
ausgearbeitete Commissionsbericht vor, der in seinem Eingang eine entschie¬
dene, an die Adresse des „Beobachters" gerichtete Polemik gegen das Miliz¬
wesen enthält, der weiterhin die Wiedereinführung der Stellvertretung
empfiehlt und der überhaupt am liebsten auf die Leistungen vor 1866 zurück¬
gegangen wissen möchte. So viel ist jetzt schon klar, wenn die große Debatte
über die Militärfrage kommt, wird es sich nicht um eine radicale Aenderung
des Systems, nicht um Beseitigung des neuen Kriegsdienstgesetzes, sondern
um ein Markten an den einzelnen Positionen innerhalb des Gesetzes von 1868
handeln.
Theuer erkauft bleibt aber die Abweisung des Angriffs der Patrioten
auf alle Fälle. Der Fortschritt unserer militärischen Reorganisation wird
zwar nicht rückgängig gemacht, aber gehemmt, die Kluft zwischen den Leistungen
des Südens und denen des Nordens wieder erweitert, die Höhe des Armee¬
bestandes, wo nicht die Tüchtigkeit, vermindert und damit die Gewöhnung
an die allgemeine Waffenpflicht verzögert. Kurz, die Leistungen des Staats
werden geringer, und ob dies das richtige Mittel ist. seine Selbständigkeit
zu sichern, wird ja wohl die Zukunft lehren.
In den letzten Jahrzehnten kam zu Oristano auf der Insel Sardinien eine
größere Anzahl Handschriften und Brieffragmente auf Pergament und Papier zum
Vorschein, deren Inhalt die größte Bedeutung für Geschichte und Alterthümer der
Insel beanspruchte. Die Documente waren ihrem Inhalte nach aus fast jedem
Jahrhundert unserer Zeitrechnung, vom 8. bis 16., darunter auch ein Palimpsest;
sie enthielten eine Fülle von Thatsachen über die Geschichte und die Zustände der
Insel Sardinien durch das ganze Mittelalter, die ältesten Proben italienischer Sprache
in Bers und Prosa, Lebensgeschichten berühmter Sarden u. s. w.; sie erschienen
als Bestandtheile einer Sammlung, welche beim Erwachen der Humanitätsstudien
ein literarisch gebildeter Sarde angelegt hatte. Im Jahre 1846 wurde das erste
dieser Documente, 1863 die ganze Sammlung unter dem Titel: ?erZamo, ooäici
K toZU oarwesi 6i ^rdorsg, von Pietro Martini in stattlichem Werke heraus¬
gegeben. Die Sache machte großes Aufsehen zumeist in Italien, die Bereicherung
unseres Wissens war so plötzlich und auffallend, die ganze Culturgeschichte des
italienischen Mittelalters erhielt ein verändertes Aussehn. Aber auch an der Aecht-
heit des ganzen Fundes wurde gezweifelt und die Gelehrten Italiens nahmen eifrig
für und wider Partei. Als im März des vorigen Jahres Prof. Theodor Momm-
sen in Turin weilte, wurde ihm von Herrn Baudi ti Besme, Mitglied der Turi¬
ner Academie der Wissenschaften, welcher für die Aechtheit der Sammlung gekämpft
hatte, der Wunsch ausgesprochen, daß die königliche Academie der Wissenschaften zu
Berlin diese Frage einer sorgfältigen Prüfung unterziehen möge, er erbot sich
für diesen Fall zu veranlassen, daß eine Anzahl der Handschriften, welche jetzt in
der öffentlichen Bibliothek von Cagliari aufbewahrt werden, nach Berlin gesandt
werde. Die Berliner Academie ging auf diesen Antrag soweit ein, daß sie einige
sachkundige Gelehrte zu einer Prüfung veranlaßte. Philipp Jaffe beurtheilte die
alte Schrift. Adolph Tobler die alte italienische Sprache, Alfred Dove die histori¬
schen Momente, Theodor Mommsen die Inschriften, welche in der Sammlung nach
den Notizbüchern eines im Jahre 1510 verstorbenen sardinischen Sammlers mit¬
getheilt waren. Die vier Gutachten wurden im Januarbericht der Academie durch
Moriz Haupt veröffentlicht, sie lauteten einstimmig dahin, daß die sämmtlichen unter
dem Namen der Documente von Arborea mitgetheilten Handschriften und Schrift¬
stücke eine große, unverschämte, planvolle Fälschung sind.
Von vornherein war aufgefallen, daß dieser ganze Schatz eine gewisse einheit¬
liche Tendenz nicht verleugne, daß sämmtliche Manuscripte aus den verschiedenen
Jahrhunderten ihrem Inhalte nach den Ruhm der Insel Sardinien, seine alte Cul¬
tur, die Tapferkeit seiner Einwohner überliefern und daß sie alle zusammen wirken,
die Geschichte Sardiniens durch Thatsachen, Helden und Dichter zu schmücken, und
seine Literatur mit Inschriften, Geschichtswerken und Gesängen zu bereichern. Herr
Jaffe erkannte sofort, daß die in den Manuskripten des Mittelalters üblichen Ab¬
kürzungen in einer durchaus willkürlichen, in jedem Jahrhundert unerhörten Weise
gebraucht waren, und zwar sür die verschiedensten Jahrhunderte im Ganzen dieselbe
Methode der Abkürzungen; dann daß die Pergament- und Papier-Blätter, wenigstens
die Ränder, in mannigfache Flüssigkeiten getaucht und mit ungeschickter Industrie
durch künstliche Schmutzflecken verziert worden sind, um die Arbeit alt erscheinen zu
lassen. — Ergötzlich ist, was Prof. Tobler über die Erfindungen des Fälschers mittheilt.
Dem Fälscher lag z. B. am Herzen eine Probe von Sardinischer Prosa aus dem 8. Jahr¬
hundert unserer Zeitrechnung zu beschaffen zum Ruhm seiner Insel. Er erfand also einen
Hirtenbrief eines sardinischen Bischofs vom Jahre 740, in dem dieser, wie gelegentlich, ein
Treffen zwischen Sarazenen und tapferen Sarden erwähnt. Weil aber die Herstellung
einer Handschrift aus dem Jahre 740 doch mißlich erschien, so erdachte der Fälscher eine
zwei bis dreimalige Abschrift dieses uralten Briefes, von denen die erste kurz nach
dem Jahre 1079 für eine Actensammlung erfolgt sein soll, und zwar in der Weise,
daß schon damals ein Notar der Abschrift ein Zeugniß beigelegt habe, das Original
sei in einem Zustand arger Zernagung gewesen, und es hätte sich nicht alles lesen lassen,
daher eine Anzahl Lücken. Mit noch größerer philologischer Genauigkeit beschreibt
der zweite erfundene Curiofitätensammler aus dem 14. Jahrhundert diese Acten-Samm-
lung ganz in der Weise eines Forschers, der für eine gelehrte Zeitung arbeitet.
Und wohl gemerkt, die trümmerhafte^Handschrift, deren Inhalt auf solche Weise durch
die Jahrhunderte geschleppt sein soll, hatte für mittelalterliche Menschen keinerlei
Interesse, welches diese Sorgfalt erklären könnte. — Noch wunderlicher ist eine andere
Anekdote des Fälschers. Um die von ihm verfertigten Proben altitalienischer Sprache
in Cours zu setzen, erfindet er sich folgenden kleinen Roman: „Im Jahre 1271
wurde ein Sardinischer Kaufmann von einem Römer seiner Sprache wegen ange¬
griffen; da er sich dem Gegner nicht gewachsen fühlte, wandte er sich an einen ge¬
lehrten Landsmann, Coaita de Orru, und dieser setzte für ihn (— im Jahr 1271! —)
eine linguistische Denkschrift auf, deren Inhalt sich der Gekränkte nur einzuprägen
brauchte, um durch zahlreiche Argumente den Römer zur Achtung vor der sardini¬
schen Sprache zu zwingen. Der erfundene Sprachweise Coaita brauchte aber, wie
man erfährt, sich das Material für seine Schrift nicht erst zu sammeln; ihm lag
ein — leider seither verschwundenes — Werk vor, das alles Nöthige in bester Ord¬
nung und Vollständigkeit bot, eine „Geschichte der sardinischen Sprache" von Giorgio
von Lacon (geb. 1177. geht. 1267.) Unter diesem Titel (lnswrig. as ssg. lingua
sg-räesoa) hatte nämlich ein gelehrter Zeitgenosse von Innocenz III. und IV. ein
Werk geschrieben, in welchem er, gestützt auf zahlreiche selbstgesammelte, sprachgeschicht¬
liche Documente, Inschriften, Briefe, Gedichte u. s. w. und auf Beobachtungen, die
er, zu diesem Zwecke kostspielige Reisen nicht scheuend, in Italien.
Frankreich und Spanien gemacht, jeden wünschenswerthen Ausschluß gab, — wo¬
rüber? — über die Identität der sardinischen Sprache mit der
rustiken Sprach e der Römer und über ihr Verhältniß zur italieni¬
schen, spanischen, französischen und provenzalisch en."
Aus dieser wundervollen Fundgrube bezog nach der Darstellung des Fälschers
der gelehrte Sarde Coaita mit größter Bequemlichkeit alles Nöthige. Durch diesen
Auszug aber soll der mitgetheilte alt-sardinische Sprachschatz in einer Abschrift des 15.
Jahrhunderts erhalten sein. Prof. Tobler weist ferner aus der Beschaffenheit dieser soge¬
nannten altitalienischen Sprache unwiderleglich nach, daß auch nach dieser Seite eine
Fälschung vorliege. — Ebenso wird aus dem Gutachten von Alfred Dove ersichtlich, daß
der Fälscher in seinen geschichtlichen Berichten nach unwahren Angaben späterer ita¬
lienischer Historiker gearbeitet hat, daß er z. B. den Sarazenenhäuptling Mogehid,
der von den nahen Balearen im 11. Jahrhundert Sardinien überzog und plün¬
derte und von italienischen Chronisten als König Musetus erwähnt wird, zu einem
König in Afrika gemacht hat, und daß er ihn mehrere Jahre, nachdem er gestorben
war, in Sardinien einfallen läßt und zwar in einem Berichte, der zur letzten Quelle
einen Zeitgenossen des König Musetus haben soll. — Endlich bewies Th. Mommsen, daß
die Fälschung mit Benutzung neuer literarischer Hilfsmittel, auch neu entdeckter echter
Inschriften verfertigt und noch nach dem Jahr 1856 mit Zusätzen versehen worden
ist. — Der jetzt verstorbene Herausgeber Pietro Martini hat in gutem Glauben
gehandelt, undeutlicher scheint der Antheil des ersten Entzifferers und Abschreibers
der Handschriften, eines Herrn Ignatius Pillito.
Dies Blatt versagt sich nicht, auf den Bericht der Berliner Academie der
Wissenschaften aufmerksam zu machen, weil der Fall an sich interessant und die Be¬
handlung desselben durch unsere Freunde eine sehr erfreuliche und musterhafte ist.
Die werthen Gelehrten von der Berliner Academie gleichen in dem Bericht ganz
dem Bergleuen des Homer, welcher einem schlechten Köter im Vorbeigehen ruhig
einen vernichtenden Tatzenschlag versetzt, und dann edleren Wild nachjagt.
Durch Mittheilung der hier folgenden musikalischen Briefe hofft dies
Blatt seinen Lesern einen Dienst zu erweisen. Der berühmte Verstorbene,
in dem wir nicht nur einen bedeutenden Componisten, auch den großen Theo¬
retiker seiner Kunst, in vielem die erste musikalische Autorität der jüngsten Ver¬
gangenheit verehren, hat in seiner Correspondenz mit Freunden eine Fülle
von seinen Beobachtungen und bedeutenden Urtheilen niedergelegt. Die
Wittwe, Frau Doctor Hauptmann, hatte die Güte, aus dem in ihren Hän¬
den befindlichen Bnefschatz uns einige charakteristische Stücke für den Ab¬
druck zu übergeben. Möge der Mittheilung an dieser Stelle die Herausgabe
der ganzen Sammlung recht bald folgen. — Wir beginnen mit den Briefen,
welche Hauptmann an einen anderen werthen Verstorbenen geschrieben hat,
der selbst ein langjähriger Freund und Mitarbeiter der Grenzboten war:
Leipzig, den 16. Decbr. 18S5.
Ihr erster Mozartband naht sich nun seinem Abschluß, es geht scharf
damit, täglich kommt ein neuer Bogen. Meinen herzlichen Glückwunsch zur
Vollendung dieses ersten Theiles. Es steckt viel Arbeit mit vieler Liebe
darin: es macht Ihnen das Niemand nach. Wie viel leichter ist's wohl, mit
enthusiastischen Phrasen zu verfahren wie Oulibischeff, oder mit selbstgemachten
Historien wie Rochlitz. Dann weiß ich nicht, warum eine musikalische No¬
velle von der Elise Polko nicht ebenso gut Biographie sein soll. Solche
Sachen kann ich aber nicht lesen. Bei Ihnen ist man immer auf festem
Grund und Boden, man hat von Haus aus Respect vor dem Fleiß und
der Treue und nimmt schon darum ein Interesse an der Besprechung auch
solcher Sachen, die man selbst nicht kennt und vielleicht nie weiter wird
kennen lernen, wie es ja fast alle in diesem Bande besprochenen sind.
In dem Buche wird nicht alles für Alle sein; mancher Leser wird man¬
ches überschlagen wollen. Das thut aber gar nichts, für Viele bleibt's ein
Schatz, das darinne finden zu können, was es enthält, diesen stetigen Ver¬
folg einer Bildungsgeschichte zum allerhöchsten hinaus, wie man sie sonst nicht
wiederfindet, nicht in der Wirklichkeit und nicht in der Darstellung. Unsere
jungen Künstler wollen immer Außerordentliches und darum kommt nichts
Ordentliches zu Stande. Die Aelteren gingen vom Ordentlichen aus und
brachten es damit viel besser zum Außerordentlichen. Vom Anfänge herein
ist, was auch die Größten der früheren Zeit gemacht haben, eben nicht an¬
ders und will auch nicht anders sein, als überhaupt in der Zeit gemacht
wurde von den Anderen, die sie respectirten, anerkannten und verehrten; man
sah an ihnen hinauf, heut steigen sie ihnen gleich auf die Schultern. Dort
bildete sich aber zuerst eine Technik aus, die auch bei den geringeren Talen¬
ten sicherer wurde, als sie es jetzt bei den vorzüglichsten ist. Die Künstler
lernten vorerst ihr Handwerk, worin unsere bis ans Ende etwas Dilettanti¬
sches behalten — keinen ausgenommen —, wer könnte jetzt wohl etwas
machen, wie die kleine Mozart'sche L-Sur-Messe mit 2 Oboen, Trompeten
und Pauken ist? nicht Mendelssohn, nicht Spohr, nicht mal ein Johannes
Brahms. Und das nicht, weil sie von Mozart ist, nur weil sie von einem
Fertigen aus jener Zeit ist, denn ich meine nicht ihre poetische Qualität,
nur ihre natürliche ungesuchte sichere Factur, an der auch nicht das Geringste
zu verändern wäre, ohne etwas offenbar Ungeschicktes dabei zu thun. Von
unseren Componisten haben die tüchtigsten sich wohl auch ein gewisses sicheres
savoir ks-irs angeeignet, das man gut finden kann, es ist aber dann mehr
ihr eigenes Eigenthümliches, woran man sie sodann auch gleich erkennen
kann, was auch keiner so machen darf, ohne Plagiator zu werden. Davon
kann bei jenem, was ich an der L-aur-Messe meine, gar nicht die Rede sein;
das sind keine Redensarten, das ist die Sprache an sich. Es ist kaum ein
Glück sür einen jungen Componisten. in einer Zeit sich zu bilden wie die
unsere, in einer Atmosphäre, oder Dunstkreis, wie^das Wort im Deutschen
übersetzt wird, wie die uns jetzt umgibt, — es lernt keiner rein schreiben;
wie sollen auch unreine und ungesunde Gedanken einen reinen Ausdruck
suchen und finden können; ist es aber nicht unwahr im höchsten Grad, wenn
ein dummer kleiner Junge Chopin'sche Salonschmerzgefühle, musikalischen
Patchouli von sich geben will, der mit 0- und K-aur-Accord alles müßte
aussprechen können, was er zu fühlen die Natur hat. Die vielen v-äur-
Symphonien Mozarts aus den 60 er und ersten 70 er Jahren haben gewiß
nicht viel voraus vor so vielen anderen der Zeit, von Componisten, die man
nicht dem Namen nach mehr kennt, aber vor den Arbeiten unserer Anfänger
haben sie unendlich viel voraus; daß sie klar und wahr sind, das haben sie
auch vor denen unserer Componisten voraus, die nicht mehr Anfänger sind.
Goethe sagt einmal: „es ist leicht sprechen, wenn man nichts zu sagen hat"
— das mag wahr sein, deshalb ist's gut, daß wir sprechen lernen, ehe wir
schwer auszusprechendes zu sagen haben, aber nicht mit Redensarten, sondern
mit natürlich einfachen Worten, ohne „demungeachtet", „zwar" und „nichts¬
destoweniger" wie sie die kindliche Rede nicht braucht, so wenig als allen
harmonischen, enharmonischen und unharmonisch-melodielosen Dunst unseres
unkindlichen musikalischen Jungthums. Mit dem harmonisch unklaren Wesen
geht das metrisch unklare gleichen Weg, ja es ist wohl innerlichst Eins mit
ihm. Für gesundes, selbständiges Metrum ist der Sinn so wenig da als für
gesunde Harmonie, man hört rhythmische Gruppen und Phrasen, aber keine
verständlichen Perioden. Wie es bei Wagner in den Accorden herumfaselt,
ebenso auch im Metrischen; könnte man nur solche Absurditäten, wie sie so
häufig vorkommen, auf irgend eine andere sichtbare oder handgreifliche Weise
darstellen, das Kunstnichts müßte auch dem Bornirtesten offenbar werden in
diesem „Gebühren". — Um dieses Zustandes willen ist es nun auch gar sehr
erfreulich, daß Ihr Buch über Mozart eben jetzt kommt. Es gibt eine Art
verzerrte Figuren, die sich in krummen Spiegeln gerad zeigen, so die neue
Musik in der neuen Kritik, das Gerade macht diese krumm, das Krumme
gerad; für sie wird auch ein Mozartleben nichts Belehrendes haben können,
sie läßt ja diesen nur gelten als groß für seine kleine Zeit, bevor das neue
Licht aufging, alles Dagewesene vor ihm zu verdunkeln. Wenn nun mit
diesem neuen Licht Beethoven gemeint wäre, so möchte man es als einen
einseitigen bornirten Enthusiasmus, der in seinem großen Gegenstande eine
Rechtfertigung findet, gelten lassen, denn es gehört mehr echter Kunstsinn
dazu, die Größe Mozart's als Beethoven's zu erkennen. Es gibt eine Durch¬
gangsperiode, wo der Fidelio den Don Juan zurückstellen kann, wo man
sich gern auf's Aeußerste mag aufregen und anspannen lassen, darin das
Höchste setzt und das durchgebildetere, geebnetere Kunstwerk für weniger
poetisch hält. Diesen Beethoven aber meinen jene, wie wir wissen, nicht,
sondern Spätere, die das ausgeführt haben, was Beethoven wollte, aber
noch nicht konnte, was er nur in seinen letzten Tagen angestrebt hat. Neulich
ist die erste Symphonie im Gewandhausconcert gespielt worden und hat das
größte Vergnügen gemacht; die neue Zeitschrift ist aber indignirt, daß man
so Veraltetes, Philisterhaftes zu Beethovens Schande habe hervorsuchen
können. Ich freue mich nun auf die Fortsetzung des Mozart, die uns ihn
in bekannteren Regionen weiter führen wird; möchten Sie Zeit haben, recht
rasch damit vorzugehen, und dann, wenn dieser vollendet ist, an den Beethoven;
endlich auch an den Haydn — es wäre gar zu schön, diese drei von Ihnen
zu haben.
Leipzig, 30. December 1855.
Seit meinem letzten Briefe, und zwar bald nach dessen Absendung, ist
mir Ihr erster Band Mozart mit Ihrer Zuschrift zugesendet worden; ob
letztere zugleich eine Antwort auf die meinige war, weiß ich nicht, es kommt
auch Nichts darauf an, sie hat mich sehr erfreut. Ebenso ein Sätzchen am
Schluß Ihrer Vorrede, das ich bei der Revision nicht gefunden habe, das mich
darum bei Empfang des Buches umso unmittelbarer mit freudiger Rührung an¬
sprechen mußte. Ich habe nun schon in dem Buche viel hin und wieder
gelesen; damit kann Ihnen nicht gedient sein. Aber die Weihnachtszeit läßt,
es wegen Sorge für Kirche und Haus eben nicht zu einem anständigen
Sitzenbleiben kommen, es muß dazu eine ruhigere, bis nach Neujahr abge¬
wartet werden. Ich höre aber schon von Anderen, daß sie ihre Freude
daran haben. Es ist eben ein Buch, bei dem Nichts darauf ankommt, was
dieser oder jener davon sagt. Es ist in seinem Werthe da und wird ihn
bewähren.
Ich habe, glaub ich, schon in meinem Letzten die Meinung gesagt, daß
es leichter sei, Beethoven als Mozart genial zu finden Eben habe ich einen
Brief von N., der mir das wieder bestätigt. Zwar ist da nicht von Mozart
gegen Beethoven die Rede, sondern gegen Haydn. hat eben ein Trio
von Haydn gehört, und das geht ihm nun in seiner Naivetät über alles,
was sonst nur da ist. Natürlich auch über alles von Mozart, das heißt
eben über Mozart'sche Kunstweise. Haydn ist mannigfaltiger, ungebundener
in der Form, als der auf italienischem Grund gebildete Mozart. Dieser ist
auch von frühester Zeit künstlerisch beaufsichtigt und erzogen worden, wo
Haydn wohl mehr aus sich selbst sich hat herausbilden müssen, Muster wohl
gehabt hat, aber keinen Schulmeister, der ihm seine Exercitia corrigirt und
eingeschnürt hat. Es ist dem hohen Genie Beider zu danken, daß der Eine
in der Schablone die Freiheit, der Andere in der Ungebundenheit die Form
gewonnen hat. Beide groß, konnte doch der Eine nicht was der Andere
konnte, Mozart keine Schöpfung und Jahreszeiten, Haydn keinen Don Juan
und Figaro: das leichte, pflanzenhaft auseinander hervorgehende Gebild ist
Mozarts Natur fremd. Wenn wir nun irgend eine Arie aus einem der
beiden Haydn'schen Oratorien betrachten, so gehen sie eben wie die vegeta¬
bilische Bildung in steter folgerechter Entwickelung vom Anfang nach dem
Ende, vom Keime bis zur Frucht, vollständig befriedigend, denn sie sprechen
eine gesunde Natur aus, die eine große Mannigfaltigkeit, scheinbar Willkür
gestattet, die aber in Wirklichkeit nicht da ist, denn auf dem Apfelbaum
wachsen keine Nüsse oder Pflaumen, die auch Haydn nicht hat darauf wachsen
lassen — (heutzutage freilich hat mens in der Pomologie weiter gebracht).
Diese sprossende Mannigfaltigkeit ist bei Mozart unmöglich: wenn es auch
bei jenen Arien die Texte sein sollten, die zu der fortgehenden Formation
geführt hätten, so würde Mozart, wenn er sie überhaupt componirt hätte,
sie in eine musikalische Gestalt gebracht haben, die nicht blos Stamm und
Zweige, Blätter und Blüthen, sondern die Hand und Fuß hatte; denn einen
Unterschied wie den zwischen vegetabilisch und animalisch organisirter Bildung
könnte man hier wohl aussprechen: jene, die nur fortgeht, diese, die in sich
zurückgeht und für sich da ist. In gewissem Sinne möchte das auch der
Unterschied der Fuge und Sonate sein: in anderer Erscheinung des germa¬
nischen und griechischen Baustyls — ein gothischer Thurm möchte immer noch
höher hinauf, mit der Säule und ihrem Gebälk ist die Höhe abgeschlossen,
eben wie mit dem Kopf die Menschengestalt, es kann Nichts weiter darauf
kommen. Hier ist aber überhaupt in allen Verhältnissen eine gesetzliche Be¬
stimmung gegeben, das Einzelne kann sich nur im Ganzen, als Theil des
Ganzen bilden und gestalten. So ist auch Mozart, so die Italiener im besten
Sinne; der reizenden freien, an das Willkürliche streifenden Mannigfaltigkeit
sind damit Schranken gesetzt, dafür ist die einheitsvolle Schönheit eingetreten,
etwas Ideales, das im Ganzen gefaßt sein will, zu dessen Schätzung aber
auch ein selbst einheitlicher, ein harmonisch gebildeter Sinn da sein muß, der
nicht „ein Stück in Stücken", der einen Leib in seinen Gliedern will. Daß
Mozart hier nicht als reizlos, Haydn nicht als einheitslos bezeichnet sein
soll, versteht sich von selbst. Ueberhaupt kommt es nur von N.'s enthusiasti¬
schem Ausfall her, daß gerade zwischen Mozart und Haydn unterschieden
werden sollte. Wenn man aber im Neuesten meint aus der Form in die
Unform einen Fortschritt gethan zu haben, so ist das ein trauriges Zeichen
für unseren Kunstzustand überhaupt.
Recht sehr freue ich mich auf Ihren Beethoven, wo manches da ein¬
schlagende zur Sprache wird kommen müssen, namentlich wo von seinen letzten
Kompositionen die Rede sein wird. Nachdem Sie im Mozart von der
künstlerischen Rundung und Formvollendung so hoch anerkennend und ein¬
dringlich belehrend gesprochen haben, wird bei Beethoven, da wo er eben
ganz Beethoven ist, wo er sich absondert, wie das in den letzten Sachen nicht
abzuleugnen ist, wohl von einem Uebermaß poetischen Inhaltes, dem es noch
nicht überall ganz gelingen will, sich künstlerisch formal zu gestalten, die Rede
sein können. Hier wird Einem auch der „Gährungsprozeß" nicht immer ganz
erlassen, wie Sie es an Mozart rühmen. Wo nach einer in Verknöcherung
abgelebten Zeit von einem Genius neuer poetischer Stoff in die Kunst ge¬
bracht wird, kann er nicht sogleich auch in kunstrechtfertiger Form erscheinen,
die alte ist nicht zerbrochen, sie ist aber zu eng, will ausgeweidet sein, gibt
sich hie und da auch wohl auseinander, wo der Inhalt überquillt und sich
wie Lavastrom Platz im Welten, Unbegrenzten macht, bis er wieder bezwungen
werden kann. Es ist recht leicht sagen, daß in der Kunst jeder Inhalt seine
Form selbst bedinge und sich mache, es ist aber ebenso dilettantisch zu glauben,
damit etwas gesagt zu haben, und zu meinen, es sei dem Künstler bet der
ersten Idee eines Kunstwerkes alles gleich so fix und fertig, wie es in seiner
Vollendung dem Hörer producirt wird, jedes Arbeiten und Aendern daran
sei nur Mangel an Genie, dieses könne in der Begeisterung nur gleich das
Rechte finden. Wenn es nach aller Arbeit so geworden, daß von keiner
Arbeit etwas zu merken, so ist das mehr die Spitze der Vollendung, die aber
ohne Arbeit Keiner erreicht, sie will nur eben wieder aufgearbeitet sein,
nicht nur zur technischen, auch zur idealen Durchbildung des Werkes: denn
auch die Leidenschaft will verarbeitet sein in die künstlerische Gestaltung, daß
sie nicht mit materieller Schwere auf uns laste: daß der Schmerz uns Freude
machen könne; nicht in Theilnahmlosigkeit. aber in Anschauung einer Harmonie,
in der die Dissonanz sich löst, im kleinen Kunstganzen, wie er in der Wirk¬
lichkeit sich löst im großen Weltganzen. Wo wir gedrückt, gemartert und
zermalmt weggehen von einem Kunstwerk, da ist sein Schöpfer immer kein
rechter Künstler gewesen, wie viel er sich auch dünken mag, uns um soviel
mehr aufzuregen, als es die classischen Meister thun. Was geht mich am
Ende der trostlose Jammer eines Componisten an. ich wende mich lieber weg
davon, wie jener Gutsherr, der einen lahmen zerlumpten Bettler in seinen Hof
kommen sah. dem Bedienten sagte: „Johann, nehm er einmal die Peitsche und
jage mir den Kerl vom Hofe, das arme Thier jammert mich zu sehr!" —
Leipzig, den 17. April 1856.
Wie die unbeschäftigten Leute den Beschäftigten oft mit Besuchen zur
Last fallen, so kann's wohl mit Briefen geschehen, und wenn ich schon wieder
mit einem solchen komme, könnte Ihnen wohl ein leises: „Besen, Besen.
seid's gewesen!" entfahren.---Das 9te Lied öder Compositionen zu
Klaus Groth's „Quickborn ganz auszuscheiden, würde ich mich doch be¬
denken, es könnte Anderen leicht ein vorzüglich wünschenswertes sein, jetzt
werde ich's wenigstens darauf, sobald ich das Heft wieder bekomme, mit aller
Unparteilichkeit gegen den ersten Eindruck wieder ansehen. Bei dem ersten
Lied, das mir besonders lieb ist, das mit dem Refrain „Johann, ich muß fort"
wollte mir immer der musikalische Ausdruck eben dieser Phrase nicht ganz
das rechte treffend scheinen, ich mochte es aber in eignem Interesse versuchen
wie ich wollte, es kam kein passenderer, und — es ist aber auch gar nicht
möglich, diese Worte in dem Sinne wie sie gesprochen sind, zu singen, es
sind Verlegenheitsworte, die in der Liebesangst, für den Augenblick loszu¬
kommen, ohne irgend eine Gesühlstheilnahme an diesen Worten Ausgesprochen
werden> vom Munde allein, nicht vom Herzen. Was das Mädchen vom
Herzen möchte gesagt haben: „Wa gern, min Johann," — wie leicht ist da
der vollste musikalische Ausdruck zu finden. Wo kein Herz ist, ist keine Musik,
das wird sich immer unabweislich herausstellen, wo man solche Worte, die
nicht von Innen kommen, die nicht direcrer Gefühlsausdruck sind, in Musik
setzen soll: bei lyrischen Sachen, denn bei epischen, in der Bänkelsängerei
(nicht im schlimmen Sinne) ists was Andres; es kann recht gut auch eine
ganze Geschichtserzählung gesungen werden, wo die Musik dann so wenig
dem Ausdruck des Einzelnen widersprechen wird, als es die Gleichförmigkeit
des Versmaaßes oder der Strophe bei den allerverschiedensten Vorgängen
in der Erzählung thut. Hier ist Stimmung und Ton des Ganzen das, was
die musikalische Grundlage gibt, das Flüssige, Unterschiedslose zum Festen,
die Brühe aus dem Fleisch — um es speishaft auszudrücken und mit Ge¬
schmack. — So sind doch mehr oder weniger alle Strophenlieder, man wird bei
der Composition wohl gern die Strophen alle bedenken bet der Melodie und
Harmonie der ersten, aber irgend einer Strophe zu Gunsten den musikalischen
Ausdruck als selbständigen zu verkümmern, wird ein guter Liedercomponist
nicht leicht thun. Manche haben es unternommen, dem Einzelnen aller
Strophen gerecht werden zu wollen: A. Andre' z. B. hat solche ausgetüftelte
Lieder geschrieben und in mehreren Heften herausgegeben, und hat sich nicht
wenig aus diese Vollkommenheit eingebildet, sie sind aber nie gesungen worden.
Ich habe einmal in einer Liederrecension gesagt, daß es zwei Arten gibt,
Text in Musik zu setzen: die eine, wie der Uhrmacher eine Uhr „in Oel setzt,"
wo jedes Zäpfchen, jede Spindel des Werkes mit einem Tröpfchen Oel be¬
tupft wird, — so die deklamatorische Musik; die andere, wie man den Fisch
ins Wasser setzt, — so die musikalische Musik. Ich will hier nicht noch ein-
mal sagen, was ich als meine Meinung über musikalischen Wortausdruck an
einer Stelle in meinem Buch über Harmonik (364—66) gesagt habe; wenn
man aber alles zusammen nimmt, wie es die Größten und Besten aller Zeiten
gemacht haben, so kann das doch wohl als Norm und Rechtfertigung mit
gelten. Wie man auf dem andern Wege in das Allerverrückteste gerathen
kann, theoretisch noch mehr als praktisch, — denn hier wird doch immer ein
Rest gesunden Gefühls dem ganz Absurden steuern, — das können wir in
einem Büchlein „die Melodie der Sprache" von L. Köhler erfahren, das in
dieser Hinsicht der Mühe werth ist, nachgesehen zu werden. — Das hat nun
Alles eigentlich keinen Bezug mehr auf das zuerst bei „Johann, ich muß fort"
Gesagte, es hat sich nur so daran gesponnen. Auch dort will ich ja nicht
gemeint haben, daß das Lied, da dieser Sinn nicht auszudrücken ist, nicht solle
componirt werden, und wie? — da ists wie in der seligen Frau Spohr
Geschichte, wie ihr Jemand gesagt, daß sie mit dem größten Hunger sich zu
Tisch gesetzt und da nichts als hartes Fleisch bekommen hätten, was man
nicht kauen konnte. — „Und was machten Sie denn da?" — „Ja, wir kauten's
doch." Daß ichs nicht besser zu machen wußte, als Sie es gemacht, habe
ich auch schon gesagt.
Manchmal sind es auch Wortstellungen, Inversionen im Text, die keine
musikalische Wiedergabe zulassen, weil die musikalische Phrase ihre Glieder,
die nur auseinanderwachsend hervorgehen können, diese nicht versetzen läßt.
In einem Operntexte, den ich componirte, kamen im Recitativ die Worte vor
„Auch du? — das find' ich seltsam, Schwester!" — Ich bitte, wenn Ihnen
die Unmöglichkeit, diese „Schwester" musikalisch unterzubringen, nicht sogleich
evident ist. einen Recitativsatz damit zu versuchen und mir ihn zukommen zu
lassen, versteht sich ohne auf das Wort irgend einen emphatischen Ausdruck
als abgesonderten Ausruf oder dergl. zu bringen; den soll es nicht haben,
es steht so , daß es eben auch heißen könnte, „das, Schwester, find ich selt¬
sam;" es würde aber an jeder Stelle für die Musik im Wege sein. Auch
zusammengesetzte Substantive, die im Deutschen die Accente der einzelnen bei¬
behalten, nicht wie im Romanischen den Accent auf eine Stelle des zum
Ganzen verwachsenen Wortes werfen, können musikalisch sehr geniren, wo
ein Hauptaccent immer sehr hervorstechen wird, so „Einsiedler," wo man mit
dem Accent aus „Ein" sogleich aus „Zweisiedler" als Gegensatz geführt
wird, der nicht angeregt werden soll; Ein—Siedler aber auch wieder
sein Bedenkliches hat u. s. w. —
Leipzig, den 8. Mai 1856.
Zuerst muß ich noch einmal von den Liedern sprechen, nämlich sagen,
daß ich ganz dafür bin, das neunte mit aufzunehmen, nicht blos weil es
Andere wünschen, auch auf eigenen Wunsch. Eine ganz kleine Abänderung
in den Mittelstimmen der Begleitung am Schluß (zwei Noten) habe ich mir
erlaubt, ich glaube, Sie werden einverstanden sein, es ist ganz bestimmte
Sache der Correctheit. Die Lieder sind jedenfalls schon in Arbeit, vielleicht
schon gestochen, ich schickte sie sogleich, da sie von Ihnen kamen zu Härtel.
Das wars was ich von den Liedern zu sagen hatte, nun will ich von Mo¬
zart sprechen (Herodot'sche Uebergangsformel!) Ich habe eben den töten
Bogen fortgeschickt. Das historisch-kritische über die französische Oper finde
ich ganz vortrefflich, in vollkommenem Besitz der Sache dargelegt; die Wür¬
digung Glucks ganz nobel, mit aller Anerkennung seiner großen Eigenschaf¬
ten und ohne blinde Anbetung, in die sich so viele auch sehr gute Musiker
hineingerannt haben, während andere wieder nur seine harmonischen Mängel
aufzufinden wissen. Ich erinnere mich aus Forkels M. Bibl. der Besprechung
der Iphigenie von Gluck und einer Oper Walter, ich glaube von Schwerer,
wo letztere in den Himmel gehoben, die erstere ganz gering gemacht wird. —
Wer weiß jetzt noch vom Walter, wer weiß von dem Kriticus, während die
Iphigenie noch immer glänzt. Das Beurtheilte gibt eben auch eine Beur¬
theilung über den Beurtheilenden und es heißt wie das Buch bei Logan
sagt: „Leser wie gefall ich Dir? Leser wie gefällst Du mir?" Wenn aber
ein Componist sagt, er suche bei der Composition vor allem ganz zu ver¬
gessen, daß er Musiker sei — so wird das immer nicht das ganz Rechte sein
können: auch die Aeußerung im allereingehendsten Sinne genommen. Wenn
er durch und durch Musiker ist, so wird er es so wenig vergessen können,
als er überhaupt daran denken kann, er wird eben was er zu sagen hat und
was zu sagen ist, nur als Musiker sagen können, es kann und darf außer¬
halb der musikalischen Kunstsphäre mit all ihren organischen Bedingungen
und Gesetzen für ihn kein musikalischer Ausdruck denkbar sein. Will er einen
andern, so vergißt er nicht blos, daß er Musiker ist, er vergißt, daß er Künst¬
ler überhaupt sein soll.
Wie vieles kommt hier vor, was unsere liebe Zukunft berührt, ja sie in
ihrem innersten Wesen oder Unwesen trifft, aber Glucks Weise doch stolz
über diesen stehen läßt. Ueber den unzulässigen Vergleich von Poesie und
Musik mit Zeichnung und Colont kann man nichts besseres sagen, als Sie
es in dem Buche gethan haben. Gott sei es gedankt, daß von jeher die
guten Componisten noch etwas anderes gethan haben als die Wortcontoure
illuminiren, daß sie, wie die ungeschickten Kinder, mit dem Pinsel fleißig
übergefahren sind und es so gemacht haben, daß wir uns an ihrer Musik,
mit der sie dem Texte Leben gaben, noch heut erfreuen können, wo die Poesie
ohne diese Musik längst als Maculatur verbraucht sein würde. Und ist denn
die Musik hier etwa bloße „Sonderkunst"? wenn mir ein Stück aus einer
Mozart'schen Oper in den Sinn kommt, aus Don Juan oder Figaro, so ist's
ja doch nicht blos die Musik; es ist zugleich die ganze dramatische Situation
mit all ihren Personen und mit all den Leiden und Freuden dieser; nur
freilich nicht immer gerade den einzelnen Worten nach, in denen diese ausge¬
sprochen sind, sondern eben dem musikalischen Ausdrucke nach, zu dem die
nicht immer sehr bedeutenden Worte gesprochen werden. Daher läßt sich
wohl ohne großen Schaden der Text einer Musik in andere Sprache über¬
setzen, es gibt keine andere Oper; andere Musik zu demselben Text aber gibt
eine andere Oper und da paßt die Parallele mit Colorit eben auch nicht,
denn dieselbe Zeichnung mit anderem Colorit gibt auch noch nicht ein ande¬
res Bild. — Von Bildern zu sprechen, so ist vor einigen Monaten die
6te Lieferung von L. Richter's Goethealbum herausgekommen und zwar mit
dem Beisatz „Schluß", also aufgehört, denn es sollte weit mehr werden. Rei¬
zend sind immer auch diese Sachen, wie alles was R. macht; sie haben aber
von allen Richter'schen Arbeiten mich am wenigsten angesprochen, vom An¬
fang bis zum Ende, es ist mir nicht so wohl dabei geworden wie bei so
vielen andern. Faust's Gretchen, Egmont's Clärchen sind wohl nur „Bürger¬
mädchen" — aber wo ist eine Schauspielerin, die sie uns ganz zu Dank darstellt,
das Gretchen nun gleich gar nicht, es wird albern oder geziert; und andere
natürliche Wesen spielen sie doch oft ganz gut. Es ist aber bei Goethe's
Natürlichkeit noch immer Etwas dahinter, die Idee, das symbolische, und
das auf irgend eine Weise, in der persönlichen Darstellung wie im Bild, zur
Erscheinung zu bringen, ist so schwer, ja vielleicht unmöglich. Beim Lesen und
Denken habe ich den Dichter und das Gedicht vor mir, bei weiterer Dar¬
stellung das Gedicht und den Darsteller. Goethe ist, möcht ich sagen, nicht
mehr persönlich dabei, es bleibt nur von ihm, was er seine Person sagen
läßt. Jemehr er dieser Person sich selbst in den Mund legen kann, desto
eher wird sie Goethisch zu reproduciren sein, Iphigenie gewiß viel leichter
als Gretchen, da er so vieles von dem Seinen muß verschweigen lassen, was
er doch in der Schöpfung dieses lieben Geschöpfes dabei hatte. —
Den Richter'schen naiven Goethefiguren fehlt es, scheint mir, an Bedeu¬
tung, denen der ersteren reflectirten Dichtung an Würde. Hermann und
Dorothea, die Personen kann man sich nun einmal nicht anders als Goethisch
denken, bei Richter sind es gleichgiltige Figuren, wie sie überall am Platz
wären. Es ist überhaupt schlimm sür einen Illustrator, sür den zeichnenden
Nachdichter, daß wir gar so bestimmte Bilder der Goethischen Personen in
uns tragen, und doch Jeder wohl wieder andere, und Keiner dem Andern
mit den seinigen Genüge leisten wird. Ich meine freilich mehr die wirklich
lebendigen Personen. Aus dem zweiten Theil des Faust und der classischen
Walpurgisnacht könnte mir schon Einer etwas vorbilden, ohne dabei mit
einem bestimmten mir eigenen Bild hart anzustoßen — ja, aus der Eugenie mit
den personificirten Standesabstracten, allenfalls auch — der zweite Theil des
Faust wäre etwas für den Genelli, der sich gern in kalter, abstracter Plastik ergeht.
Es ist Ihnen jedenfalls schon die Ankündigung einer projectirten
Händelgesellschaft zugekommen, von' Gervinus angeregt und mit großem
Eiser und vieler Zuversicht des Gelingens unternommen. Er war selbst
hier, ging auch nach Berlin/ um dort mit Dehn und Dr. Chrysander zu
conferir'en. Chrysander hat schon früher, bevor er sich mit Gervinus be¬
gegnete, viel für eine vollständige Händelausgabe gearbeitet, war deshalb
auch längere Zeit in London, hat schon die ganze Disposition auf 60 Bände
arrangirt, Kirche, Oper und Kammer, das würde dies Unternehmen in der
Redaction vor dem Bach'schen zum Vortheil haben, da wir jedes Jahr uns
von Neuem zu überlegen haben, was der zu liefernde Band enthalten solle
und das Ende von Allem sehr im Nebel liegt. Dagegen bringen wir viel,
von dem die Welt nichts wußte und was zum Theil zu dem Schönsten ge¬
hört. Habe ich Ihnen schon gesagt, daß wir jetzt die II-moll-Messe ganz ge¬
hört haben? Ein hiesiger Gesangverein hat sich kürzlich an die H-woII-
Messe gemacht und hat sie mit lobenswerther Ausdauer untergekriegt, daß
es ganz gut anzuhören war. Die Aufführung war mit Orchester im
F.'schen Hause, nicht eben stark, aber genügend in allen Theilen besetzt.
Die Aufführung ist dann in der vorigen Woche noch einmal in der Pau-
liner Kirche wiederholt worden, der ich leider wegen Krankheit nicht beiwoh¬
nen konnte, sie soll aber recht gut ausgefallen sein und hat einem zwar nicht
großen, aber doch größeren Publicum Gelegenheit gegeben, das Werk jetzt viel¬
leicht zum ersten Male ganz aufgeführt kennen zu lernen. Ich kann nur von
der ersten Aufführung sprechen, diese hat mich natürlich von der ersten bis
zur letzten Note sehr interessiren müssen. Die Messe dauert fast 3 Stunden,
enthält die allersublimsten, großartigsten und schönsten Sätze, die man nur
von Bach'scher Musik hören kann, dazwischen wieder lange Strecken von der
gewissen, auch nur von Sebastian Bach zu leistenden Factur, namentlich in
lang ausgesponnenen Solosätzen, ist überhaupt doch sehr ungleich, man darf
nicht sagen im Werth, denn eben durch die Factur ist auch jedes Einzelne
künstlerisch bedeutend, aber in der Höhe der poetischen Auffassung — denn
es ist gar Vieles darin, das man gerade nicht oft hören möchte, anderes,
auf das man nichts hören möchte, wo die Schönheit nicht in der Mache, wo
sie in der Wirkung liegt und Jeden ergreisen muß, wenn er auch gar nichts
versteht. Wie diese große ganze Messe entstanden, bleibt doch immer etwas
unerklärt. Fürs katholische Amt konnte sie nicht bestimmt sein, denn Seb.
Bach wird wohl auch gewußt haben, daß an keinem Orte der Welt
das Musikalische der Messe, überdies noch ohne 0it<zrwi-iuin und OraäuÄl«,
drei Stunden dauern darf. Er müßte sie also, wie Beethoven seine O-äur-
Messe, die auch zu lang ist, zu eigener innerer Befriedigung gemacht haben;
dazu macht man aber nicht ein ?astieoio, wie es diese Bach'sche Messe ist,
in der alle Finger lang ein Stück Cantate eingemauert ist. Kyrie und
Gloria hat er nach Dresden geschickt, um einen Titel vom Churfürsten zu
erhalten (1733; die Ernennung zum Hofcompositeur kam 1736). In Dresden
ist natürlich nie eine Note davon aufgeführt worden, zum Amt war auch
diese, obwohl sehr lange Nissg. brsvis in der katholischen Kirche 'nicht zu
brauchen. In der Thomaskirche aber, wo die Hauptmusik erst nach der Kissa,
kommt, auch nicht, also zu welchem Zweck? Es sind eine Menge Zweifel
dabei, die zur Redaction sehr verdrießlich sind. Auch was die Noten betrifft,
so war Manches in den Dresdener Stimmen zu verwerfen gegen die Ber¬
liner Handschriften. Mir ist immer, als müsse Einer von uns, noch bevor die
Messe ausgegeben wird, nach Zürich gehen und das Nägli'sche Exemplar zu
sehen suchen. Es wird Nichts sein, aber um der Sicherheit willen, daß es
Nichts ist. Nägeli hat mir vor einiger Zeit einige Blätter Handschrift vom
Vater H. G. geschickt „in die Autographensammlung des Herrn M. D.
Hauptmann." Dabei eine Anfrage über ein Bach'sches Gloria, es schien,
als wenn er zeigen wollte, daß er uns, wenigstens mir persönlich nicht eben
Feind sei. Das Autograph habe ich sofort bei Rietz deponirt, ich habe keine
Sammlung, aber daß eine Straße gangbar ist nach Zürich, war mir doch
nicht unlieb wahrzunehmen. Sie gehen nach Düsseldorf, werden vielleicht
schon dort gewesen sein, wenn das Gegenwärtige zu Ihnen gelangt. Grüße
an Sie habe ich Rietz aufgetragen, mitkommen hätte ich, auch von der Kirche
abgesehen, leider doch nicht können, es geht mir mit meinem Bein wohl
besser, aber noch immer schlecht genug, große Sprünge sind noch nicht zu
unternehmen. Leben Sie wohl, lieber Freund, meine Frau und Kinder
grüßen Sie alle bestens. Haben Sie etwas Zeit, so erfreuen Sie mich recht
bald mit einem lieben Briefe.
Leipzig, den Is. September 1856.
... Es ist bei vollkommener Würdigung der Größe Glucks so gut
noch ein höchstes Kunstprincip gewahrt, etwas das zu Gunsten Mozarts
spricht, auch wenn uns Manches aus seiner früheren Zeit veraltet vorkommen
sollte, als es. ältere Sachen von Gluck sind, der die Form überhaupt und
damit auch die Formen seiner Zeit lieber wegwarf, da er nicht Künstler ge¬
nug war, sich frei darin zu bewegen. Für Mozart war sie keine Fessel, ihm
war sie elastisch, nicht eine Schablone, vielmehr eine organische Kunstnoth¬
wendigkeit. Revolutionär — reformatorisch war er auch nicht, behielt Vieles
aus seiner Zeit, wie er es vorfand; unter seiner Hand ward es von selbst
schon ein Anderes, von seinem Geiste Durchdrungenes, äußerlich aber gehört
es oft der bestimmten Zeit an. Die Leute merken es eher, wenn etwas eine
alte Form hat, als sie es merken, wenn es gar keine hat. Wenn aber nur
ein Idomeneo, den sie in Manchem Einzelnen altmodig finden würden, ganz
und gut gegeben wird, so müssen sie schon daran glauben, daß das schön
und genial sei, und frei bei aller bestimmten Begränzung: in seiner Form
sich selbst tragend, darum nicht so pesant wie jener gefühlsunmittelbare poeti¬
sche Aufguß, der ohne das Medium der Kunstgestaltung mit einer materiellen
Schwere auf uns lastet. — Ich habe wenig Gluck'sche Opern gehört, die Ar¬
mide, die Iphigenie in Antis, die Alceste, jede nur einmal und zu sehr ver¬
schiedener Zeit. Eine rechte volle Befriedigung habe ich nie dabei empfunden,
mir war's so oft wie Absicht des Componisten. wahr zu sein, aber nicht musik¬
wahr, nur wortwahr, und dadurch wird's nicht selten musikunwahr; das
Wort schließt kurz ab. die Musik will ausklingen. Die Musik bleibt doch
immer der Vocal, zu dem das Wort nur der Consonant ist, und den Accent
wird hier wie sonst immer nur der Vocal haben können, das lautende, nicht
das anlautende. Man hört doch immer die Musik, wenn sie noch so wort¬
getreu ist, auch für sich, so muß sie auch für sich zu hören sein. — — —
Leipzig, den 8. October 1857.
° . . Ich habe vor einiger Zeit aus München einen Bierkrug geschickt
bekommen, auf dessenDeckel das Mozart'sche bekannte Familienbild in Emaille
recht hübsch, wie man's überm Bier verlangen kann, gemalt ist; aber eben
zum Bier paßt doch der Mozart nicht so recht, viel besser würde es einer
unserer beliebten vierstimmigen Männergesangcomponisten. Das Geschenk ist
von einer Münchener Dame, Musiklehrerin, die mir schon einmal Bockbier
geschickt hat, und ohne alle Malice, denn sie meint es dankbar, sie will eben
ihr Bestes geben. — Unsere Concerte haben wieder angefangen, ich habe das
erste aber nicht gehört. Es war bis auf eine ungarische Rhapsodie von Liszt,
die ganz abscheulich gewesen sein soll, mit lauter guten Sachen ausgefüllt.
Wenn man sich nur, wie Philipp im Don Carlos einen Pulsschlag Allwissen¬
heit begehrt, vor einem solchen Concert einige Stunden Vergessenheit ver¬
schaffen könnte, was müßte es ein Vergnügen sein, in jetziger Zeit die Eroica,
(die mir aufrichtig gesagt, noch lange nicht die liebste von den Beethoven'schen
Symphonien ist), zum erstenmal oder als etwas Neues zu hören. — So aber,
auf demselben Fleck sitzend seit 13 Jahren, dieselben Leute um mich herum,
jedes Tönchen voraus wissend, ist auch gar zu viel ausgefahrenes Gleis da¬
bei. Manchmal zündet und erwärmt es wohl, oft aber auch kommt mir das
immer wieder hören unnöthig vor. Die fatale Concertschablone macht's auch
langweilig, und geht's nicht anders, so möcht' ich manchmal was Altes, ja
selbst was Neues hören, nur was Anderes. Daß man dieselbe gute Musik
oft hören kann, ist schon ganz hübsch, wenn man aber in einen kleinen Kreis
gebannt alle Winter nur dasselbe hören muß, so hat das seine Zeit, wie
lange man es mit Interesse thut; auch beim Besten; — und eben um dieses
ists schade, wenn man es zu sehr auswendig weiß und dann auch zu sehr
auswendig anhört.
Haben Sie ein kleines Büchlein „die Grenzen der Musik und Poesie"
von A. W. Ambros (Prag 66) gelesen? Es gefällt mir sehr wohl. Es ist
nicht gerade gegen Hanslik gerichtet, oder unternommen, das in diesem ein¬
seitig übertriebene zu widerlegen, aber scheint mir doch dadurch veranlaßt.
An Berlioz und Wagner läßt er die Fähigkeit sich in ihrer Weise aus¬
zusprechen, das von ihnen gewollt« zur Anschauung zu bringen gelten, Wagner
scheint er mir darin etwas zu hoch zu stellen, zu viel relativ Schönes in ihm
zu finden; — von Liszt ist glücklicher- oder richtigerweise nicht die Rede —
aber gegen die ganze Richtung sagt er wieder, „jene beiden Künstler hat ihr
Genius an einen Punkt getragen, wo eigentlich alle Musik schon aufhört" —
das find' ich ganz gut, daß man erst das Talent an ihnen anerkennt, das zu
machen, was sie machen wollen, namentlich bei Berlioz, dann kann man sagen,
das ist nicht das Rechte. Im Lohengrin ist im ersten Finale eine Strecke
Musik von der allerschönsten Art und Wirkung, das bringt keiner hervor,
der nicht wie Papageno auch zuweilen seine zärtlichen Stunden hat. Das
ist aber freilich eine Stelle, die ganz aus dem Wagner'schen Princip her¬
ausfällt; der Lohengrin muß sehr langsam von seinem Schwan herunter
an's Land steigen und sich im Hintergrund aufhalten, damit der Chor Zeit hat,
sein hundertmal wiederholtes „wie schön der Ritter sei" zu singen. Ueber¬
haupt kommen die musikalischen Stellen nur da vor. wo die Musik nicht im
Wagner'schen Sinne ist. Dem Berlioz passirt es weniger, aus der Rolle zu
fallen, und wenn Wagner erst ganz Wagner sein wird, vielleicht in den Nibe¬
lungen — dann wird's mit der Musik auch aus sein bei ihm. Er hat aber,
wie die Zeitungen sagen, diese Oper bei Seite gelegt und schreibt jetzt eine
andere eintägige. Es ist auch Zeit, daß etwas Neues kommt. Wenn einer
die ganze Besogne leisten soll, alles andere nichts mehr ist. und man doch
von zwei Opern nicht leben kann, so hat er zu thun. Denn Opern wenig¬
stens schreibt Liszt nicht, wenn er auch sonst, wie es scheint, sich Wagner auf
die Schultern stellen und ihn unnöthig machen will. In einem jetzt herauf¬
kommenden Musikalischen Lexikon, von Bernstorf redigirt, bei welchem Liszt,
Spohr, Marschner :c. als Mitwirkende auf dem Titel genannt sind, hat der
Redacteur zu dem Artikel „Berlioz" eine Besprechung seiner Musik aus der
Allgem. Mus. Zeitung (1843) mit aufgenommen, nach welchem Liszt dem Re-
dacteur erklärt hat, sein Name könne fortan nicht mehr auf dem Titel unter
den Mitarbeitenden stehen. Bernstorf weiß nicht, und Liszt braucht es nicht
zu erfahren, daß die Berliozbeurtheilung von mir war. Die Zusätze des Re¬
dacteurs sind aber ohne alle Anerkennung, was mein Artikel nicht ist, der
auch nichts wegwerfendes hat, und es mögen wohl mehr diese Zusätze sein,
die Liszt aufgebracht haben. Man nennt in solchen Sachen so oft Haydn
und Mozart und meint damit nicht gerade ihre Personen, Beethoven ist schon
viel persönlicher; jene sind vom Anfang bis zum Ende dieselben, dasselbe nach
und nach mehr entwickelte mit eigenem Inhalt genährte Kunstprincip. Beetho¬
ven ist am Ende ein Anderer als am Anfange. Mozart und Haydn sind
Collectivpunkte, Brennpunkte einer Kunstanschauung und Weise. Mit Ber-
lioz und Wagner nennt man aber nur zwei Persönlichkeiten, sie stehn am
Anfange, sind also kein Resume', wie es jene sind, und können eigentlich noch
gar nicht zum Vergleich kommen, wie man das Individuum nicht mit einer
Gattung, den Vögeln sowenig den Haifisch als den Gründling entgegensetzen
kann; die Nachahmer Berlioz's und Wagner's sind nicht einmal Gründlinge,
die immer lebensberechtigte Fische sind, das muß immer selbst erst eine Ge¬
schichte erhalten, ehe es in die Geschichte einreihen kann. Die Cravaller des
Jahres 1848 werden in den großen Contobüchern gar nicht eingetragen, sie
kommen nur in die Strazze. Also gilt es abwarten, was daraus werden
will und kann.
Leipzig, den 17. Decbr. 1657.
.... Manche fürchten, Sie würden nach Vollendung dieser großen
Arbeit keine Lust mehr haben, an die Beethoven-Biographie zu gehen.
Die muß aber werden, und schön wär's dann freilich, wenn der Haydn
noch dazu käme. Haydn und Beethoven als Anfang und Ende, Mozart in
der Mitte; nicht blos der Zeit nach; auch seine Musik vermittelt alles Ex¬
treme, als eine classische Romantik. Mozart wird eher einmal altmodig klingen
im Einzelnen als Haydn, das macht die italienisch-musikalische Erziehung, die
voraus bestimmte Regel für die Form nach Gesetz aber auch nach Herkom-
kommen, im letzteren Fall Schablone; Haydn wie Beethoven und Bach waren
nicht in Italien, nicht auf der Academie, sie sind wild aufgewachsen wie die
Bäume im Wald, nicht in der Baumschule: altmodig können sie schwer wer¬
den, weil sie überhaupt nicht nötig waren. Händel wird's oft genug in den
Arien. Da ward gestern im Euterpeconeert Bach's „Gottes Zeit" aufgeführt;
was ist das für eine wundervolle Innerlichkeit, kein Tact Conventtonelles,
Alles durchgefühlt. Von den mir bekannten Cantaten weiß ich keine, in der
für die musikalische Bedeutung und ihren Ausdruck Alles und Jedes so be-
stimmt und treffend wäre. Wollte man und könnte man sein Gefühl aber
für diese Seite der Schönheit einmal verschließen und das Ganze als ein
musikalisch-architektonisches Werk betrachten, dann ist es ein curiöses Monstrum
von übereinandergeschobenen, ineinander gewachsenen Sätzen, wie sie die
ebenso zusammengewürfelten Textphrasen sich haben zusammenfügen lassen,
ohne alle Gruppirung und Höhenpunkt. Bei den meisten Cantaten Bach's
ist dieser im Anfang, der in der Regel sehr breit ausgeführte Einleitungschor,
der wie eine Locomotive eine Reihe von Recitativ- und Arien-Waggons nach¬
zieht, bis zuletzt der Choral-Staatspostwagen schließt. In „Gottes Zeit"
ist auch der erste Chor nicht besonders selbständig, es geht immer über in
Anderes. Der Schluß jubelt gegen das Vorhergegangene sehr. — Fürs
Kunstgebild in Allem so viel Zufälliges, wie es einem jener Academiker,
einem der italienischen Schule, der ein gestaltetes Ganze im Sinne haben
wird, nicht kommen kann. Dabei doch wieder unendlich Schönes und es ist
immer gut, daß man sich an Diesem und Jenem erfreuen kann, an Rafael
und Albrecht Dürer, wie auch an Manchem, was zwischen Beiden liegt —
Mazeppa von Liszt liegt außerhalb. Etwas wenig Erfreuliches war mir neu¬
lich auch die große Quartettfuge von Beethoven, kauend libre, tavtöt reedsred^iz,
ursprünglich als Schlußsatz des L-aur-Quartetts ox>. 136 (?) geschrieben, die
aber Haslinger nicht hat annehmen wollen und Beethoven veranlaßt hat,
ein anderes Finale zu schreiben. Dann ist sie einzeln gedruckt. Die Com¬
bination ist immer: rein' Dich oder ich freß Dich, und klingt oft grußlich.
Da macht mir's Spaß, wenn ganz musikunverständige Leute entzückt sich
stellen; geradezu gesagt — ich find's abscheulich, was ich nicht sagen würde,
wenn sie gestehen wollten, daß es ihnen abscheulich vorkommt. Da heißt's
wie öfter: Es ist etwas schreckliches um einen großen Mann, auf den die
Dummen sich etwas zu Gute thun.
Leipzig, den 6. Juni 1860.
Es ist fast fünf Monate, daß ich Ihren lieben letzten Brief, den nach
Vollendung des Mozart, erhalten habe, nein es ist 6 Monate, denn er ist
vom S. December vorigen Jahres, wie ich eben sehe. Sprechen kann man
allenfalls so, wenn man schreibt sollte man erst nachsehen, bevor man anfängt,
oder wenn man sich geirrt, einen anderen Briefbogen nehmen. In meiner
englischen Stunde, vor langer, langer Zeit, kam einmal die Redensart, da
Einer von einem Andern erzählen wollte und sich auf seinen Namen nicht
besinnen konnte, vor, „wie heißt er doch gleich" — „Köw av Lou o^II Kien";
es waren Gesprächein einem Unterrichtsbuch von Haardorf, einem Deutschen;
mein Lehrer, ein ächter Engländer, war ganz empört darüber, daß man von
Jemand sprechen wolle und seinen Namen nicht wisse und fand das im
höchsten Grade unschicklich. Das war ein Mstr, H.. später hatte ich bei
einem Carl of Seymoor Unterricht, dieselbe Stelle kam wieder vor, dieselbe
Entrüstung auch bei diesem über die Unschicklichkeit. Was würden diese
Engländer über den obigen Briefanfang erst indignirt sein müssen. Es ist
aber doch etwas daran an diesem national durchgehenden Verlangen nach
Besonnenheit und Haltung — (der letzte war wohl ein jüngster Grafensohn,
der erste aber keineswegs vornehmer Art) — dem deutschen Schlafrock- und
Pantoffelwesen gegenüber, das sich so gerne gehen läßt nach seiner Bequem¬
lichkeit und nach zufälligen Einzelheiten. Es kann auf beiden Seiten Gutes
herauskommen; es ist nur vom Unterschied die Rede. Auch dieser hebt sich
auf in der Durchbildung, die den Deutschen gehalten, den Engländer ge¬
müthlich werden läßt. So auch Einer an sich selbst den Uebergang aus
extremer Gemüthlichkeit in extreme Besonnenheit zeigen kann, wie Goethe in
seinen Jugendbriefen und den dictirten der letzten Zeit, da man die ersteren
nur geschrieben, die letzteren nur gedruckt sehen möchte. Ich wollte Sie aber
eigentlich nicht mit ethnographischer Weisheit regaliren, müßte überhaupt
wieder von vorn anfangen aus dem »erfahrnen Gleis zu kommen, käme
aber dann vielleicht in ein anderes falsches.—Ihr 4. Band ist durchaus sehr
schön, auch das Capitel vom Requiem kann man nicht gründlicher und ver¬
ständiger wünschen. Daß Sanctus und Benedictus nicht von Mozart sind
glaube ich gern, so reizend beide Sätze sind. Es kommt Einzelnes darin vor
was Mozart nicht macht, von der Jnstrumentation noch abgesehen. So ist
die L-ani'-Messe, die ich eben jetzt für den nächsten Sonntag probirt habe
unächt in Einzelheiten, daß, wenn sie auch nicht die Clartnetten hätte, man
doch sehen könnte, daß sie nicht von Mozart ist. Dabei wieder in Vielem
dem ganzen Ton nach so mozartisch, daß man sich verwundern könnte, wie ein
Anderer sich so hineingefühlt hat, da man doch nicht so viel Mozart'sches
auch aus seiner Zeit bei Anderen findet. Denn daß man jetzt oder etwas
früher viel Mendelssohn'sches, Spohr'sches, Schumann'sches hört, ist immer
noch etwas Anderes, die haben alle so viel Manier, an der man sie selbst in jedem
Tacte wieder erkennt, daß sie leicht nachzuahmen sind. Es ist ganz spaßhaft,
wie unsere jungen Conservatoristen ganze Stücke componiren, die so durch¬
aus Mendelssohn sind, und es ihnen gar nicht in den Sinn kommt, daß das
Zeug ihnen gar nicht angehört. Es ist auch gar nicht, daß man hier und
dort sagen könnte, das ist da und daher, es ist aber Alles aus dem Mendels-
sohn's-Brunnen geschöpft. Sie sind wie die Raupen auf der Reseda, grade
so grün wie das Kraut, was sie fressen. Mozart's Wesen ist die Reinheit
und Gesundheit. Die Krankheit kann man von einem Andern bekommen;
die Gesundheit muß Einer in sich selbst haben. Wo in Mozart Manier sich
zeigt, ist es Manier der Zeit, und der wird Keiner entgehen können, sowenig
Mozart wie Bach und wie Palestrina. Und da nicht Alles, was Einer pro-
ducirt, auf gleicher Höhe stehen kann, so wird, wo die strahlende Kraft we¬
niger mächtig ist, den Dunst der Zeitatmosphäre zu durchbrechen, diese aus
die Production drücken, sie durchdringen und Anderem ähnlich machen, was
aus derselben Zeit hervorgegangen ist, daß es uns veraltet erscheint. So
klingt Titus älter als Don Juan und Figaro, die letzten drei Quartette
älter als die ersten sechs. — Ihr Mozart wird schon recht ausgebeutet, er lie¬
fert oft Material in die Tagesblätter, musikalische und nicht musikalische,
und man kann sichs gefallen lassen. . .
Von Spohr's Biographie haben Sie die ersten zwei Lieferungen ge«
alß schon gesehen, der dritte Theil des Ganzen. Ich bin von vorn¬
herein nicht zu Rathe gezogen worden. Es ist hauptsächlich wohl Oetker,
der die Redaction besorgt, der mit so etwas auch ganz gut umzugehen weiß,
besser wie ich, der ich sehr oft in Verlegenheit gekommen wäre, was aufzu¬
nehmen, was gestrichen werden soll und nicht hätte zum Entschluß kommen
können. Den Wiener Aufenthalt und die italienische Reise habe ich im Manu-
script hier gehabt und mußte zuletzt meine Zustimmung geben, Alles zu
drucken, wie es steht, weil das, was in der Historie unbedeutend ist, doch für
das Wesen der Biographie Interesse hat, zuweilen mehr für die kleine als
eine große Ansicht der Zustände und Dinge. Spaßhaft ist, wie er vom
Wiener Ausenthalt so Manches vorbringt, was nicht wahr ist, er muß ihn
später, nicht nach Tagebüchern, erst aufgeschrieben haben. So läßt er mich
dort angestellt sein, was nie der Fall war. Ich war vom April bis
August 1813 dort, begegnete Spohr in Prag, da er nach Gotha reiste, die
Kinder und den Bruder nach Wien zu holen, wo die Frau in der Zeit
allein blieb. Da ich nach seiner Rückkunft in Wien nach einiger Zeit nach
Dresden zurückgehen wollte, war sein Wunsch, daß ich in Wien bliebe, und
er wollte mir im Orchester des Theaters an der Wien, wo er Vorgeiger
war (der Capellmeister war nur Titel) eine Anstellung verschaffen, ich hatte
auch schon Probe gespielt und war. damals gut im Zuge. Da erfuhr ich,
daß ein anderer recht guter Geiger (Scholz hieß er) meiner Anstellung wegen
verabschiedet werden sollte, und erklärte bei aller Schätzung der Zuneigung
Spohr's, daß ich die Stelle unter der Bedingung nicht wolle. Ich habe
dort nie im Theaterorchester gesessen, aber meine große Freude über den da¬
maligen Zustand dieses Theaters gehabt. Mit Maria Weber war ich von
Prag nach Wien gekommen und wohnte auch die Zeit, die er sich dort aus-
hielt, mit ihm im „fliegenden Klöppel" nahe am Kärnthner Thor. Weber
war als ständischer Kapellmeister (an Wenzel Müller's Stelle) von Prag nach
Wien gekommen, um Orchestermitglieder für sein Theater zu engagiren und
blieb nur fünf Wochen in Wien. Spohr läßt ihn aus Wien an die Stelle
berufen. Damals wußte er so gut als ich, daß es anders war. So ist's
mit noch manchen anderen Dingen, die in seiner Erinnerung unklar geworden
sind. Und mag mit Vielen sein, wo mir die Gegenwart fehlt. Sehr lustig
ist aber, wie Malibran in seiner Biographie von Spohr ins Blaue hinein
dichtet. Wie der z. B. den Faust auf allen Theatern Italiens mit dem
größten Enthusiasmus aufführen läßt, daß Spohr's Reise durch das Land
ein ununterbrochener Triumphzug geworden sei. Weber führte den Faust
zuerst in Prag auf und Spohr hörte die erste Note davon in Frankfurt vier
Jahre später. Es soll von Spohr noch eine Partie Briefe gedruckt werden.
Es ist dieselbe schlichte, coulante Weise, in der er die Briefe schreibt, wie in
der Biographie, fast immer nur eng was zur Sache, zur Veranlassung des
Briefes gehört, ohne eine besondere schrieb er selten. —
Uns sind aus dem 16. Jahrhundert über die Aufführung eines Oster«
Spiels in Luzern besonders reichliche Urkunden erhalten, sämmtlich von der
Hand des Mannes geschrieben, der das Spiel als Regens, d. h. als Dichter
und Regisseur geleitet hat. Es war dies der vielseitig gebildete Schweizer
Diplomat, Renwart Cysat, zur Zeit Stadtschreiber in Luzern, und das
von ihm aufgeführte Stück war das Osterspiel vom Jahre 1383. Im
Archiv für schweizerische Geschichte, Zürich 1862. Band 13. hat Dr.
C. Hidler ein eingehendes Lebensbild dieses Mannes gegeben, der tief in
die Verhältnisse der Schweiz eingriff. Nach jahrelangem Bemühen hatte er
die Jesuiten im Jahre 1574 nach Luzern zurück geführt, durch sie wurden die
in Luzern seit Mitte des 15. Jahrhunderts üblichen Fastnachtsspiele abge¬
schafft, seitdem trat ein Umschwung in der früheren lebenslustigen Stimmung
der Luzerner ein.
Wir bemühen uns, im Nachfolgenden eine treue, auf die handschriftlichen
Urkunden in der Luzerner Bürgerbibliothek gestützte Darstellung der Vorberei¬
tungen zum Spiel und die Einleitung des Spiels selbst zu geben.
Zugleich sei erwähnt, daß sich unter den Papieren Cysats, von seiner
Hand gezeichnet, zwei Tafeln in Folio befinden,*) deren Copien uns vor¬
liegen, welche den Platz des Spiels, die Gruppirung jeder Scene, den Stand¬
ort jedes einzelnen Mitspielers sowie jedes Spielgeräthes enthalten, so daß
es an der Hand dieses Hilfsmittels und der schriftlichen Aufzeichnungen
möglich sein wird, ein Bild solchen Spiels zu gewinnen, das dadurch eine er-
höhte Wichtigkeit gewinnt, weil es ein klares Licht auf die Aufführungen geiht.
licher Schauspiele an anderen Orten und in dem vorhergehenden Jahrhundert
wirft. Denn wie sich aus mehreren erhaltenen Denkmälern beweisen läßt,
waltete auch in dieser Einrichtung jene strenge Gleichmäßigkeit und Gebun¬
denheit der Form vor, welche die mittelalterliche Kirche zu allen Orten und
zu allen Zeiten anstrebte.
Die erste Anregung zu unserem Spiel ging von der jesuitischen „Brü¬
derschaft zur Bekrönung" zu Luzern aus und wurde dasselbe von ihr aus
Mittwoch vor Palmarum anno 1583 festgesetzt. Dieser Beschluß wurde
dem Rathe der Stadt mitgetheilt, erhielt dessen Genehmigung, und man
that den ersten einleitenden Schritt zur Ausführung der nöthigen Vorarbei¬
ten durch Einsetzung eines Spielausschusses.
Dieser Spielausschuß wurde vom Schultheißen und vom Rath von
Luzern erwählt und versammelte sich zum ersten Male auf Sonntag Se.
Martinstag 1682 im Gerichtshause. Er bestand aus geistlichen und Welt-
lichen Mitgliedern, welche fortan die Aufgabe hatten, das Spiel in's Werk
zu setzen und als Verordnete des Raths bezeichnet wurden. Cysat, der von
ihnen zum eigentlichen Rector oder Regens gewählt wurde, übernahm mit
diesem Amte im Wesentlichen folgende Verpflichtungen:
nicht weniger war als Dichter, Dramaturg, Regisseur, Garderobier, Maschi¬
nist, Baumeister, Inspector, Soufleur und noch verschiedenes Andere.
Da kann man es dem armen Mann denn nicht übel nehmen, wenn er
am Schlüsse schreibt: „Man ist unfleißig im Lernen, wenige können ihre Sprüche
(Rollen) auswendig: ja etliche nicht lesen, es ist so wenig Fleiß im
Aufmerken und Gewöhnung der Geberden, man läßt es alles auf dem
Regens, das wurde ihm zu viel, und hernach auf dem Platze
große Unordnung."
In allen bezeichneten Aemtern handelte der Regens unter der Autorität
des Spielausschusses, doch hatte er diesem alle irgend bedeutenden Fragen
zur Entscheidung vorzulegen. Daher sind in den meisten seiner Denkrodeln
(Aufzeichnungen zu eigenem Gebrauch) die Gegenstände in fragende Form
gesetzt. Z. B. „Man beratheschlage, ob die Brügins (s. u.) zugemacht seien."
Auch der Text des Spiels stand unter der Censur des Ausschusses. Daher
nimmt Cysat sich vor, nachdem er beim Spiele von 1683 die Erfahrung ge¬
macht hat, daß dem Volke die Lehrer- und Prophetensprüche langweilig, ver-
drüßig und unangenehm sind, dem Ausschuß deren Kürzung vorzuschlagen
und dafür die Einfügung von lustigen Historien aus beiden Testamenten, z. B.
die Hochzeit zu Kanaa u. a. n. zu empfehlen.
Obgleich die Brüderschaft der Bekrönung nur einen kleinen Theil der
Kosten trug (sie bezahlte nur die Abschrift der Rollen) so gingen doch von
ihr sämmtliche Anordnungen aus, welche den Empfang der Fremden, ihre
Unterbringung, Unterhaltung, Bewirthung und Plaeirung am Spieltage,
sowie die gesammte öffentliche Ordnung betreffen. In Ausführung dieser
Bestimmungen, verfügte die geistliche Brüderschaft nicht blos über die Po¬
lizeiknechte der Stadt, sondern sogar über ihre Räthe, ihren Großweibel
und Schultheißen. Dies beweist, wie streng der Charakter des Spiels als
einer geistlichen Feier festgehalten wurde, die sich demgemäß der geistlichen
Oberaufsicht zu unterwerfen hatte.
Die von der Brüderschaft zu diesem Zwecke angeordneten Maßregeln
verzeichnet Cysat in folgenden Punkten:
1) Am Palmsonntag soll man in beiden Kirchen an der Kanzel rufen
und gebieten, daß sich Niemand an die Höfe (f. u.) auf den Platz setze, denn
wer dahin gehört, bei Strafe der Gefängniß.
2) Die Spielpersonen, so keine eigenen Höfe haben, sollen in keine Höfe
gehen, sie haben denn da zu schaffen, bei Strafe, die ihnen die Brüderschaft
bescheiden auferlegen mag; wer aber inzwischen nicht zu schaffen oder ihm
sonst verdrüßig wäre, ohne Geschäft am Platze zu verharren, der mag sich
sonst anders wohin nach seiner Gelegenheit verfügen.
Z) Man soll auch in Höfen nicht zechen, denn allein so viel und was
die Geschichten des Spiels selbst verordnen, und der Historie halb sein soll und
muß, und daß dasselbe allewege kurz, ehrbar und bescheidenlich geschehe, auch
die Speise schnell wieder wegthun.
4) Es sollen die Werkmeister zu jedem Gatter oder Eingang der Schranken
zwei starke Knechte ob dem Werk verordnen, das Gedränge abzuhalten, auch
aus- und einzulassen die, so zum Spiel gehören.
5) Von den Werkknechten der Stadt, so auf den Platz verordnet,
sollen zween ihre Ringstänglin haben, das Gedränge des Volks hinter sich zu
halten.
6) Es soll ein Jeder, so im Spiel ist und einen Hof oder sonst einen
Stand und Befehl hat. dazu er Rüstung bedarf, solches dermaßen bestellen
und verordnen, daß er es bei guter Zeit auf dem Platze an seinem Orte
habe, und nicht also ein Gelaufe und Unmuße auf dem Platze im Spiel gebe.
7) Es soll auch ein jeder Spielgeselle dasselbige also anstellen, daß es
durch Mannspersonen verrichtet werde, und nicht also ein ungastlich Wesen
gebe mit dem Hin- und Widerfahren der Weiber und Dienstmägde über den
Platz in allem Spiel wie etwan geschehn.
8) Alles Gelismers (Flüstern), Schwätzen, Gelächter ist verboten. Mit
Essen und Trinken zu schonen.
In Bezug auf die zum Spiel eintreffenden Fremden verordnet die Brü-
derschaft Folgendes:
„daß die Fremden und die Vornehmen aus den Orten der Eidgenossen¬
schaft und anderswoher, zuvörderst aber die Geistlichen, wohl
accommodirt werden, damit sie kommlich und wohl zusehen mögen.
Das sollen die Verordneten vom Rath versorgen."
Es wurde ferner von der geistlichen Brüderschaft festgesetzt, daß der
Schultheiß und die ledigen, d. h. die nicht beim Spiel betheiligten Raths¬
mitglieder die Gäste empfangen, ihnen auf dem Platz und in ihren Stuben
Gesellschaft leisten und sie Abends in ihre Herbergen geleiten sollen. Zu diesem
Zwecke mußte dem Schultheiß jedes Mal von der Ankunft neuer Fremdlinge
durch den Großweibel Nachricht gegeben werden. Die vornehmsten Fremden,
besonders Prälaten, wurden vom ganzen Rath in die Herberge geleitet.
Zwei Räthe wurden damit beauftragt für diejenigen Fremden, welche
nicht schon bestellte Fenster am Markte besaßen, auf dem Zunfthause „zun
Metzgern" und dem „Gerichtshause", beide am Markt gelegen. Platz zu
schaffen, und zwar .bekamen die Vornehmsten Fensterplätze, die übrigen wurden
aus die Tribünen vor den Fenstern untergebracht.
Die Zeche der Fremden und ihrer Gesellschafter zahlte die Stadt. Da
jedoch bei den Spielen von 1845 und 1571 in allen Höfen und Gasthäusern
auf Kosten der Stadt wacker gezecht worden war, so wurde 1583 zur Ver-
meidung der Unkosten bestimmt, daß den Fremden nur noch im Gerichtshause
freie Zeche gewährt wurde. An die Herren vom großen und kleinen Rath
wurden Wahrzeichen von Messing vertheilt, ebenso an andere vornehme Bürger
und „wer kein Wahrzeichen hat, für den soll man nicht zahlen."
Uebrigens ergibt die Rechnung, daß die Zehrung der geistlichen und
weltlichen Fremden, ihrer Gesellschafter, der „Synagoge" und der „Hölle" noch
immer die Hälfte aller Spielkosten überhaupt betrug. Wie wenig übrigens
die Gäste trotz so zuvorkommender Gastfreundschaft zuweilen befriedigt waren,
zeigt die Bemerkung, welche Abt Ulrich von Einsiedeln 1684 in sein
Rechenbuch aufgenommen hat: „6 Kronen gen Luzern an das Spiel. Hat
wol mögen erspart sein." —
Eine sehr wichtige und bedeutende Arbeit war die Besetzung der Rollen.
Sie geschah nach 1) Erblichkeit, 2) früherer Besetzung, 3) Tüchtigkeit. 4) Geld.
Das Verfahren im Einzelnen war dabei Folgendes: Cysat entwarf zunächst
eine alphabethische Ordnung aller zur Vertheilung gelangenden Rollen; jede
derselben ward mit einer Nummer versehen, um über die Zahl der Spieler
den Ueberblick zu behalten. Hinter jeder der so aufgeführten Rollen wurde
die Zahl ihrer Verse bemerkt. Hierauf entwarf er ein Verzeichniß derjenigen
Rollen, welche durch den Tod ihrer bisherigen Inhaber frei geworden waren;
hieran schloß sich ein Verzeichniß derjenigen Personen, welche „ihre Stände
wiederum versorgen können."
Es gelangten demnach nur neue Rollen, ferner durch den Tod oder
durch Nichtbeanspruchung frei gewordene, zur Vertheilung.
Die Bewerbungen um diese Rollen trug Cysat in ein noch vorhandenes
besonderes Buch ein. Darin heißt es z. B. „Hans Rudolf Sonnberg begehrt
den Salvatorstand, in Falle ihn Herr Leutpriester nicht wieder versehn sollte.
— Caspar Blenzen Knabe begehrt den Engelstand zu Weihnachten. Bernhard
von Wyll begehrt auch einen Engelstand." Manche versprechen „sich brauchen
zu lassen für einen guten Stand." Die bescheidenen Leute bitten mit dem
Zusätze „was gut für sie wäre." Sehr gesucht ist die Judenschule. — Die
Hauptrollen befanden sich durchgängig in den Händen der Geistlichen und
einiger vornehmen Bürger; die Weiberrollen wurden nach damaliger Sitte
durch Männer dargestellt.
Hatte auf diese Weise der Regens genug Anmeldungen entgegengenom¬
men, so ward über ihre „Verwendung und Beschickung" in der Versammlung
entschieden. Wie häufig jedoch diese Entscheidungen wieder abgeändert wurden,
beweist die große Zahl ausgestrichener Namen hinter dem sauber geschriebenen
Rollenverzeichniß.
Außerdem hielt Renwart Cysat, offenbar in der Absicht mit dem Spiel
eine gewisse Familientradition zu verknüpfen, den Grundsatz fest, daß die
Erben eines Spielgenossen, der seinen Stand „wohl und unklagNch" versehen
habe, in dessen Rechte eintreten sollen.
Daß wohlerworbene Rechte auf erste Stände (Hauptrollen) von den Be¬
sitzern abgetreten wurden, beweist ein am Se. Martinstage 1582 gefaßter
Protocollbeschluß des Spielausschusses: »Erstlich den fümehmsten Stand,
nämlich den Salvatorstand anlangend: so soll Herr Seckelmeister Holdermeyer
nochmalen angesprochen werden, ob er nicht verwilligen will, denselben Herrn
Leutpriester abzutreten."
Nachdem die Vertheilung der Stände am Se. Martinstage begonnen,
ward dieselbe im Hause „Zur Schneidern" fortgesetzt am Se. Othmarstage,
am Sonntag nach Se. Othmari, am Se. Conradstage und endlich am Sonn¬
tag vor Weihnachten zu Ende geführt. ,
Hierauf wurde dem Regens befohlen, die „Sprüche" (Textworte) ab¬
schreiben zu lassen, und zwar die größten und längsten zuerst. Diese Rollen,
welche auf schmalen Papierstreifen höchst sauber geschrieben waren, wurden
nach der Benutzung wieder eingefordert und finden sich zum Theil noch bei
den Acten des Spieles.
Bevor diese Sprüche ihren Inhaber ausgehändigt wurden, mußten diese
eine „Anlage" thun „zur Erhaltung der allgemeinen Unkosten". Und zwar
zahlten die Schauspieler:
Dies Geld zog der Seckelmeister ein. Jedoch sollte dabei „den Armen
halb Bctrachtniß und Mitleiden gehalten werden."
Wer seine Rolle verlor, hatte dafür 10 Schilling zu zahlen; wer sie
nach 14 Tagen ohne Grund zurückgab, ebenfalls 10 Schilling. Vor Ablauf
dieser Frist stand jedoch Rückgabe frei. Die Abschrift der Sprüche erfolgte
auf Kosten der Brüderschaft der Bekrönung.
Nach der Aushändigung der Sprüche begannen die Proben. Ihre An¬
ordnung und Leitung war Sache des Regens, dem zur Besorgung der Lauf-
geschäfte zwei „Pedelle" überwiesen wurden. Der Spielausschuß setzte für
unser Spiel fest, daß die Proben im Hause der Gesellschaft zu den Schützen
abgehalten werden, jedoch nicht früher als eine Woche vor den Fasten an¬
fangen sollten. Wenigstens ein Mal sollte eine Probe „in der Kleidung"
(Kostümprobe) stattfinden.
Zur Aufrechthaltung der Ordnung wurden in ganz moderner Weise
Strafgelder festgesetzt. Wer z. B. ohne Noth eine Probe versäumt, zahlt
6 Schilling, im Wiederholungsfalle 12 Schilling, bleibt er zum dritten Male
aus, so kann ihm die Rolle abgenommen werden.
Widerspenstigkeit wird mit 10 Schill. gebüßt.
Da die Ausdehnung des zweitägigen Spieles es unmöglich machte, jedes¬
mal das Ganze durchzuproben, so entwarf Cysat eine „Abtheilung, wie die
Gesellschaften nach den Actibus selbst mit einander exerciren könnten."
Dies sacrarium gewährt eine lehrreiche Uebersicht über den Verlauf der
gesammten Handlung. Wir theilen es deshalb hier mit.
Historie Moses mit den Jsraliten der 6. Act, Verse 648.
Historie Judith der 8. Act. Verse 1189.
Historie Esther der 9. Act, Verse 1018.
Damit endet das alte Testament und hat sammt dem Umgang Verse 4149.
Von der Verkündigung Johannis Baptist« bis daß Johannes sich führen
läßt, halten diese Actus 10, 11, 12, 13. 14, 13 Verse 1166.
Hier fängt erst der Salvator an.
Vom Anfang des Prediger Johannis B. bis auf den Toten zu Raym
halten diese Actus 16—23 Verse 1122.
Von Nahm bis zum Einritt in Jerusalem halten diese Actus 24—33 Verse 1128.
Vom Einritt bis zum Naus autsm taetv halten diese Actus Verse 1186.
Vom mans bis zur Ausführung halten diese Actus 40—43 Verse 1014.
Von der Ausführung bis zum Huem «ZMeritis? halten diese Actus 44—46
Verse 488.
11. Theil, 2 Stunden.
Vom Husln quasritis? bis zu Ende halten diese Actus 47—65 Verse 1322.
Am Rande bemerkt: Versus 7946.
Das alte Testament, neben welchem am ersten Tage noch ein Theil des
neuen zur Aufführung gelangte, weist also 9 Acte mit 4149 Versen auf und
verlangte nach Cysat's Berechnung 7 Stunden; das neue dagegen umfaßt
46 Acte und bedarf, obgleich es nur 7946 Verse enthält, 14 Stunden zur
Darstellung. Eine Ungleichheit, die sich nur aus der im neuen Testamente
vorkommenden größeren Menge von Gesangstücken, sowie der Fälle äußerer
zeitraubender Handlungen erklären läßt.
Die Gesangstücke waren theils „Engelgesänge (lateinische Hymnen und
Antiphonien) theils Vorträge der „Cantorei" und der „Judenschule".
Die Einübung der Sänger geschah durch den Synagogenmeister und
Vorsänger der Cantorei, welchen letzteren dafür laut Rechnung vier silberne
Pfennige verehrt wurden. Die dabei benutzten Notenblätter auf Pergament,
welche in hölzerne Rahmen eingespannt sind, befinden sich noch auf der Bür¬
gerbibliothek zu Luzern. Besonderes Gewicht legte Cysat auf das Teufels¬
spiel. Er merkt sich darüber an: „Daß die Teufel ihren g.ewa mit Juda
sonderbar Probiren (Verbrennung der Strohpuppe in der Hölle), also auch
andere actus mehr."
Cysat hat sein Urtheil über den Verlauf der Proben selbst in dem oben
angeführten Erguß niedergelegt: „Man ist unfleißig im Lernen, wenige
können ihre Sprüche auswendig, ja etliche nicht lesen, so ist wenig Fleiß
im Aufmerken und Gewöhnen der Gebärden".
Wenden wir uns nun zu demjenigen Theile der scenischen Darstellung
unseres Spiels, der durch den Fleiß des alten Regisseurs Cysat uns am
klarsten und vollständigsten erhalten ist und an der Stelle mangelhafte
Vorstellungen von dieser Sache deutliche Begriffe und klare Anschauungen
setzt. Diese Theile sind, nach unserer Art zu reden, die Bühne und der Zu-
schauerraum.
Der jetzige Weinmarkt zu Luzern, früher Fisch - und Weinmarkt, be¬
findet sich noch nahezu in demselben Zustande wie damals, ja die meisten
der umstehenden Häuser sind noch dieselben, die unser Spiel mit ansahen.
Die Benutzung nachfolgender kleiner Skizze, auf welcher die von Cysat
angewendeten Bezeichnungen gebraucht sind, dürfte den Leser leicht in das
Verständniß der Räumlichkeiten einführen:
Die Ostseite des Platzes war durch ein einziges großes Gebäude, das
Haus zur Sonnen, abgeschlossen. Wenn der Leser so gefällig wäre, seine
Aufstellung etwa beim Brunnen (L) zu nehmen, so würde ihm das mit hohen
Eckthürmen und hervorspringenden Erkern versehene Gebäude wie ein natür¬
licher Abschluß der Scene, als eine Art Hinterwand erscheinen.
Wer sich das Verständniß der mittelalterlichen Bühne aneignen will,
muß die uns geläufige Vorstellung gänzlich aufgeben, wonach die ganze
Darstellung auf einem vom Zuschauerraum streng abgeschlossenen Bühnen¬
raum vor sich geht, der seitwärts durch Coulissen, rückwärts durch die
Hinterwand und von den Zuschauern etwa durch das Proscenium, Orchester
und Vorhang abgegrenzt ist. Vielmehr rufe man sich eine antike Arena oder
einen modernen Circus ins Gedächtniß, die Handlung auf ebener Erde und
die Zuschauer auf drei Seiten herum.
Denkt man sich vor dem Hause zur Sonnen einen viereckigen Raum
abgesteckt, der sich bis zum Brunnen (L) erstreckt, so erhält man damit im
Allgemeinen den Raum, auf dem die Darstellung sich bewegte und den wir
kurzweg den Spielplatz (8x) nennen wollen. Dieser Raum beträgt etwa
Vz des ganzen Flächeninhalts des Marktes, den wir auf ungefähr 11,284
veranschlagen, die übrig bleibenden zwei Drittheile des Platzes nun, die sich
längs der Nordseite*<A), der Südseite (8) und der Westseite <M erstrecken
sind mit hölzernen Gerüsten, von Cysat Brügger oder Brügginnen ge¬
nannt, bedeckt, welche vom ersten Stockwerk der umstehenden Häuser an sich
gegen die Mitte des Platzes abwärts neigen. Sie nehmen also ungefähr
eine Fläche von 7524 in ' ein und auf ihnen waren die Sitze der Zuschauer
errichtet; weist man jedem derselben im Durchschnitte 4sH' zu, so
hatten darauf 1881 Personen Platz. Die größte der Brügger, die für das
Volk bestimmt war. stand zwischen dem Brunnen (L) und der Westseite (^V).
wir bezeichnen sie mit dz. Der Zugang zw derselben fand durch die Gasse
gegen Meggen (su) statt. Der Eingang der kleineren Brügge ti war durch
die Gasse gegen den Neuen Platz (vo); der dritten Brügge dz durch die
Gasse gegen den Kornmarkt (so). Diese drei Zugänge wurden nach Beginn
des Spiels durch Gitterthore verschlossen. An der Straße gegen den Mühlen¬
platz war kein Zugang zu den Brügger, da hier das sogenannte „Höllen-
maul" aufgebaut war, von dem weiter unten die Rede sein wird. Außer
diesen drei größeren Brügger gab es noch drei kleinere' welche in den ein¬
mündenden Gassen, mit Ausnahme der vom Kornmärkte kommenden (so),
errichtet waren. Diese wurden deshalb zum Unterschiede von den auf demMarkte
selbst stehenden „Straßenbrüggen" genannt. Die Gasse vom Kornmarkt (so)
blieb frei, weil durch sie der Ein- und Abzug der gesammten Spielgenossen
erfolgte. Die drei Straßenbrüggen (bei no, too und so) waren so einge¬
richtet, daß man unter ihnen hindurch zu den Eingängen der Brügger b,,
K-z und Hz gelangen konnte.
Es könnte auf den ersten Blick seltsam erscheinen, daß die auf dem
Markte selbst errichteten Brügger bis zu den Fenstern des ersten Stockwerkes
gereicht haben sollen, weil dadurch sämmtliche Fenster der zu ebener Erde
liegenden Wohnungen verdeckt worden sein müssen. Indessen ist die That¬
sache dennoch unumstößlich und verliert ihren auffallenden Charakter, wenn
man das alte Stadtbild Martin Martini's vom Jahr 1517 betrachtet. Auf
diesem nämlich zeigen sämmtliche Gebäude des Weinmarkts zu ebener Erde
nur Gewölbe und Kaufhallen und keine mit Fenstern versehene Wohnräume.
Eine wichtige, hierher gehörige Frage sür Cysat war „der fremden Leute
halb SitzenZ am Platz". Die Entscheidung des Spielausschusses fiel dahin
aus, daß ein Theil derselben in der „unter dem Himmel" befindlichen Can-
torei untergebracht werden solle, „so viel der Platz erleiden mag." Ebenso
bei dem „Stand" der Lehrer und Propheten. Aus einer Aufzeichnung Ey.
half ist ersichtlich, daß man diese Orte, über die wir unten Näheres mitthei¬
len werden, besonders für die fremden Geistlichen bestimmte. Für den übri¬
gen Theil der Gäste, so weit sie nicht ihre bestellten Fenster hatten, wurde
festgesetzt, daß man ihnen aufbehalten soll: Ort und Platz a«s den Metzgerstuben
(auf der Südseite) und dem Gerichtshause (Nordseite), nämlich den Fürnehm-
sten die Stuben- oder andere Gemachfenster, den übrigen aber die Brügginnen
vor selbigen Fenstern öffnen."
An der Seite des Spielplatzes, die wir mit x 7 bezeichnet haben, stand
ein Tisch sür- „die gnädigen Herrn" vom Rath und den Schultheiß, auch
hierhin sollten Fremde „accommodiret" werden.
Mit diesen Thatsachen ist also die aufgeworfene Frage; wo befand sich
das Publicum? endgiltig entschieden und der von dem sonst so verdienten
Mone aufgebrachte Irrthum, „daß die Zuschauer sich jedesmal zu der Ab-
theilung stellten, wo gespielt wurde und daß sie also mit dem Schauspiel
weiter rückten, wie es in eine andere Abtheilung ging" (Mone, Schauspiele
des Mittelalters II. S. 157) hinlänglich widerlegt.
Nach dieser Erläuterung wenden wir uns zu einer genaueren Betrachtung
des Spielplatzes selbst.
Hier sind zunächst die Begriffe „Ort oder Stand" und „Hof" zu
erklären, die unablässig wiederkehren und wie wichtig sie auch für das Ver¬
ständniß der scnenischen Darstellungen dieser Zeit sind, bis jetzt nicht genügend
erkannt worden sind.
Unter „Hof" versteht nämlich Cysat und mit ihm das geistliche Schau¬
spiel auch der früheren Jahrhunderte diejenige geschlossene Abtheilung,
in welcher sich die zu einer bestimmten Scene (auch „Figur" ge¬
nannt) gehörigen Personen vor ihrem Auftreten versammelt
halten.
Diese Höfe lagen rings um den Spielplatz herum, unmittelbar am Fuße
der Brügger, meist zu ebener Erde. Die Feststellung der Zahl der Höfe
und ihre Einrichtung nach der Menge der aufzunehmenden Personen, war,
wie aus Cysats schriftlichen Aufzeichnungen ersichtlich, eine der schwierigsten
und wichtigsten Arbeiten, da von ihrer glücklichen Erledigung der geordnete
Verlauf der Darstellung wesentlich abhing. Denn auf diese Weise allein
konnte der Regens vor Beginn einer jeden Scene das dazu nöthige Spiel¬
personal controliren, ohne den Gang der Darstellung zu unterbrechen. Zu
diesem Zwecke hatte er sich ein besonderes Verzeichnis) der Höfe am Platze
entworfen, nach diesem zeigt die Abtheilung des ersten Tags 62, die des
zweiten 24 Höfe.
Die Höfe sind also auf keine Weise als ein Theil der decorativer Aus¬
stattung des Spielplatzes aufzufassen, und da in ihnen selbst eine Handlung
nicht vorging, so ist die von Mone aufgeworfene Frage nach ihrer Durch¬
sichtigkeit völlig müßig. Sie haben mit unseren Coulissen nichts anders
gemein, als daß der Spieler aus ihnen vortritt und nach vollendeter Scene
sich in sie zurückzieht.
Häufige Verbote schärfen den Spielgenossen den ruhig abwartenden
Aufenthalt in diesen Höfen ein und untersagen ihnen namentlich das nicht
zum Spiel gehörige Zechen, womit sich wohl mancher biedere Mann mochte
das Lampenfieber vertreiben wollen. —
Verläßt der Spieler seinen ..Hof", so tritt er hinaus auf den Spielplatz.
Aber auch hier ist alles Festsetzung und Beschränkung. Nicht wo er will,
darf er seine Scene beginnen, sondern diese ist an eine ganz bestimmte, dafür
eingerichtete Stelle verwiesen, die der „Ort" oder „Stand" heißt.
Der „Ort" ist also diejenige Stelle des Spielplatzes, wo
die für eine jede Scene nothwendigen Vorkehrungen getroffen
und die etwa erforderlichen Maschinen und Requisiten auf¬
gestellt sind.
Diese Einrichtung war durch die ganze Natur des geistlichen Schauspiels
geboten. Denn ein solches trägt seine Einheit allein in der religiösen Idee,
während seine Handlung sich um zahlreiche Helden und mit mehr als shake-
spearischer Unregelmäßigkeit in den verschiedensten Oertlichkeiten bewegt.
Daher böte eine dramatische Darstellung von solchem Charakter und solcher
Ausdehnung für unsere heutige Bühne, welche nur eine räumliche und
zeitliche Hintereinanderfolge der Scenen kennt, in technischer
Hinsicht unüberwindliche Schwierigkeiten. Indem die mittelalterliche Bühne
nun für jede Scene einen besonderen „Ort" erbaute, gewann sie ein
räumliches Nebeneinander der Scenen und überhüpfte auf diese
Weise leichten Fußes die Hindernisse, die selbst heute einem unendlich über-
legenen Maschinenwesen unüberstetglich wären.
Bietet also das antike und moderne Theater der dramatischen Handlung
nur einen geschlossenen Bühnenraum, so gewährt ihr die mittelalterliche
Darstellungsart deren zahlreiche offene und neben einander vereinigte.
Schauen wir uns nun nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen aus dem
Spielplatze des ersten Tages selbst um.
Da bemerken wir vor der Brügge an „Orten" zunächst „den Tisch
zum Gastmahl Simonis und Zachaei;" den „Baum Zachaei," und
die „Apotheke" und „den Sod zum Joseph und Samariterin"; in
der Ecke bei x nach zu „die Hölle" (daher hier kein Eingang) an der
Seite x? den „Teich Sylor"; das „Weihnachtshüttlein"; die „ge¬
meine Begräbniß" und den „Wasserfels"; vor der Brügge dz die
„Judenschule", „Matthaei Sitz" und den „Tempel"; in der Mitte
des Platzes steht ein Häuschen für den „Englischen Gruß"; ein erhöhtes
Gestell für das „Opfer Abrahams" und das „Thal Hebron"; von der
Ecke no ist ein fließendes Wasser quer über den Platz geleitet, den es bei L
wieder verläßt, dies stellt den .Jordan" dar, an ihm stehen die Säulen für
das „goldene Kalb" und die „eherne Schlange"; die „Grube für
das Kalb", der „Opfertisch" und das „Opfer Kains und Adels."
Die durch Zahl und Ausstattung bedeutendsten Oerter lagen indessen vor
und an dem „Hause zur Sonnen" (0.)
In den obersten Dachfenstern dieses Gebäudes nämlich saß „der Stern-
und Heiliggeist-Leiter", der von hier an einer, zwischen seinem Fenster und
dem Brunnen angeknüpften Schnur den Stern bei der Geburt und die Taube
bei der Taufe Christi hinabsteigen ließ. Ein Fenster tiefer saßen zwei Haken¬
schützen, um den Donner, der auf einem Fasse hergestellt wurde, wirksam zu
unterstützen. Unter ihnen zwischen den beiden Erkerthürmen des Gebäudes
lag der Himmel, unter diesem die Cantorei. Links stieg man auf einer langen
Leiter vom Himmel zum „Stand" der Lehrer und Propheten, rechts auf einer
kleineren zum „Sinai" hernieder.
Außerdem sehen wir vor dem „Hause zur Sonnen" zu ebener Erde nach¬
folgende Oerter aufgebaut und eingezäunt: 1) Sichern, 2) Davids Hüte¬
platz, 3) das Paradies, 4) Esau's Jagd, 8) Magdalene's Garten.
Einfacher ist der Spielplatz den zweiten Tag. Der Jordan mit den
daran liegenden Oertern ist verschwunden, ebenso der Garten Magdalene's
und das Paradies mit dem Apfelbaume. Ungefähr an seiner Stelle steht
jetzt die „Säule" und davor die 3 Kreuze für Jesus und die Schächer. Der
Sinai ist „Oelberg" geworden und davor liegt jetzt „der Garten darin
Salvator gefangen ward."
Es spielten auch an diesem Tag die Hauptscenen vor dem Hause zur
Sonnen, genau an der Stelle, wo ein heutiger Baumeister, wenn der Platz
amphitheatralisch eingerichtet wäre, die Bühne aufschlagen würde.
Ein Theil der der Kreuzigung voraufgehenden und folgenden Scene,
spielte auf der gegenüberliegenden Seite vor der großen Brügge Kz. Hier
waren als „Oerter" die „Säule zur Geißelung," das „Grab Salva-
toris,^ das „Grab Lazari" und der „Stock zum Gefängniß," davor
der „Aposteltisch nach der Auferstehung."
Alle diese Oerter standen auf einer hölzernen Brügge, abweichend von
den übrigen, damit sich der ins Grab gelegte Solvatar, wie Cysat ausdrück¬
lich bemerkt, unter der Brügge behufs der Erscheinung bei den Jüngern hin¬
wegschleichen kann.
An der Brügge bi sind an diesem Tage zu bemerken: „Lazari-Bett." ser¬
ner „d erStuhl.daranmandenJüngerndieFüßewäscht"; der Tisch
Zachaet ist heute der „Tisch zum Gastmahl Lazari" und „zu Christi
Nachtmahl," sowie der Baum Zachaei zu „Judas-Baum geworden.
Auf der Seite dz steht wie gestern der Tempel, hinter dem die lange
Reihe der „Tempelherrn" sitzt. —
Wir übergehen an dieser Stelle, die von Cysat ausführlich gegebene
Kostümbeschreibung der einzelnen Personen, sowie der dabei benutzten Ma¬
schinen und ihrer Einrichtung, indem wir die sich dafür Jnteressirenden auf
die obenangeführte Schrift verweisen. Wir geben statt dessen im folgenden
die Beschreibung des Einzugs des gesammten Spielpersonals, der als eine
der Hauptsachen in der gesammten Scenirung des Spieles erscheint.
Man vergegenwärtige sich den Anblick des Luzerner Weinmarktes am
Mittwoch vor Palmarum des Jahres 1683. Die Brügger auf dem Platze
und in den Seitenstraßen mit Menschen dicht erfüllt, alle Fenster der um¬
liegenden Häuser besetzt und die Dächer zum Theil abgedeckt. Die Mitte des
Platzes (Lx) ist noch leer. In der Ferne ertönt endlich Musik; sie kömmt
näher und das Gitterthor bei der Kornmarktgasse (so) wird geöffnet. Herein
ziehen die Spielleute, vom Volke mit lautem Jubel begrüßt. Jhnenfolgen
die Trompeter von Solothurn, in Luzerns Farben, blau und weiß
gekleidet. Sobald sie auf den Platz treten, nehmen sie das Spiel auf.
Einen Augenblick lauscht ihnen Alles, da plötzlich hallt von Brügger
und Dächern ein lautes Gelächter. Aus dem folgenden Zug reißen sich die
acht Teufel los, schwarze Gestalten mit Schwänzen, rothen Gesichtern und
Hörnern, jagen sich wild über den Platz, schlagen Purzelbäume, schneiden den
Zuschauern Fratzen und fahren dann in das Höllenmaul (bei x) das mit
seinen flammenden Augen, seinem Rüssel, seiner großen rothen Zunge und
den furchtbaren Zähnen einen entsetzlichen Anblick gewährt und sich hinter
ihnen wieder schließt.
Inzwischen ist der Zug etwas vorangeschritten und seine charakteristischen
Gestalten lassen sich deutlicher erkennen, da sie in ziemlicher Ordnung, meist
zwei und zwei nebeneinander hergehn.
Zunächst den Trompetern folgen der Schildknabe und der Fähndrich
des Proclamators oder Einschreiers. Die weiße Fahne des letztern zeigt
Jesus betend am Oelberg.
Hinter der Fahne folgen zwei Hornbläser, darauf die vier Erzengel
mit Flügeln und Sceptern und hierauf Gott Vater der „?ater asternus" selbst.
Er trägt eine Aide und darüber eine köstliche Chorkappe, langes graues Haar
und einen würdigen Bart, sein Haupt schmückt ein Diadem, in beiden
Händen trägt er vorsichtig einen Reichsapfel, alles in allem eine Erscheinung,
die halb Papst, halb deutscher Kaiser ist, unter dessen Schutz Luzern damals
bekanntlich noch stand. Vier Engel mit langem blondem Haar, mit nackten
Füßen und weißen Hemdchen, die von goldenem Gürtel zusammengehalten
werden, geben ihm das Geleit.
Abermals zwei Hornbläser, welche vor den vier Kirchenvätern,
die hier gewöhnlich als Lehrer bezeichnet werden, einherschreiten. Gregorius
erscheint als Papst, Hieronymus als Cardinal, Ambrosius als Erz-
bischof und Ambrosius als Bischof. Vier liebliche Knaben folgen als
Diener den Lehrern auf dem Fuße.
Darauf erscheint der Zug der Propheten. Kain und Abel gehen
in friedlicher Gemeinschaft hinter ihnen her; ebenso paarweise Abraham
und Jsaak; Jacob und Esau; Israel und Joseph. An diese schließen
sich die zwölf Stämme, jede durch einen Mann vertreten, darauf dieKaus -
lente, endlich Moses und Aaron.
Plötzlich wieder lautes Geschrei und Gelächter. Der Gegenstand dieser
besonderen Theilnahme des Volks ist die anrückende Synagoge, 24 Schüler
nach der Größe geordnet und vom Synagogenmeister geführt. Mehrere
Knaben tragen ihm mächtige schwarze Holzrahmen vor, in denen mit großen Noten
bezeichnete Pergament-Blätter stecken, nach denen er Takt schlägt. Sein bunt¬
geblümtes langes Gewand, sein mächtiger rother Turban, seine lächerlichen
Geberden und endlich der ohrenzerreißende Gesang der Judenschule, welche
ein Kauderwelsch singt, das für Hebräisch gelten soll — alles dies erregt die
ausgelassenste Heiterkeit der Menge.
Noch verstärkt wird dieser komische Eindruck durch die hinter der Syna¬
goge folgenden Tempelherrn. Diese schreiten in langen schwarzen Ge¬
wändern, auf welche weiße hebräische Buchstaben geklebt sind, sowie mit
hohen blauen Hüten, auf denen sich gleichfalls hebräische Schriftzeichen aus
glänzendem Staniol befinden, in feierlicher Würde daher.
Seinen Gipfel erreicht aber der Jubel, als jetzt der Riese Goliath er¬
scheint, sehr geschickt durch einen auf Stelzen gehenden großen Mann darge¬
stellt, Trabanten tragen ihm Schild und Spieß, ein Fähndrich seine
Fahne voraus.
Ihm folgen zwei Könige, Saul und David, jeder wiederum von einer
Schaar von Schildknappen und Reisigen umgeben. David hält statt eines
Scepters die Harfe in der Hand.
An diese schließen sich die Personen des neuen Testamentes:
Zacharias und Elisabeth schreiten vor der heiligen Familie her. Diese
selbst. Maria, Jesus der zwölfjährige und Joseph führen sich an
der Hand. Maria als züchtige Jungfrau in demüthigster Geberde; sie trägt
ein weißes Unterkleid und einen blauen Ueberwurf von Seide, über den
schönes ausgespreitetes Haar herabfällt, das von einem goldnen Scheine um¬
kränzt wird, Joseph geht als Zimmermann mit Schurzfell, Säge und Axt.
In einem kleinen Zwischenraume folgen ihnen die heiligen dreiKönige:
Kaspar, Melchior und Balthasar. Ihren Vortrab bilden Ritter
im Harnisch und Trompeter; jeder der Könige trägt seine Opfergabe in
der Hand: Kaspar Gold. Melchior Myrrhen, Balthasar Weihrauch. Ihre
Kleidung ist die allerseltsamste und phantasievollste; am meisten Beifall fin¬
det Balthasar, der schwarz von Gesicht und Händen in schneeweißer Tracht
erscheint. Hinten folgen ihre Thiere, ein Kameel, Dromedar und Elephant,
aus jedem derselben sitzt ein führender Knabe.
Hinter dieser Gruppe werden jetzt die ehrwürdigen Gestalten des
Joseph von Arimathia und des alten Simon sichtbar. Es thut ihrer
Würde keinen Eintrag, daß sie sich als wohlhabende Schweizer Patricier ge-
kleidet, ein pelzverbrämtes Wamms mit Schwert angelegt und ein Federba¬
rett aufs Haupt gesetzt haben.
Wieder ein König! Ein blutrother Bannerträger geht vor ihm her,
geleitet von gleichfalls blutrothen Fahnenwächtern. Es ist Herodes mit
seiner üppigen Tochter. Die Dame ist für die Jahreszeit etwas leicht ge¬
kleidet, man sieht, sie hat auf das Tanzen gerechnet.
Rascher fliegt der Blick an den nun folgenden Personen vorüber:
Marschalk und Longinus; ein Zug Juden; 3 Täuflinge; 2 Bahr-
träger mit dem Aufschließer des Gefängnisses Johannis, der Salvator
an der Spitze von acht paarweise geordneten Jüngern; Lazarus und
Martha mit Mägden; Methusalem auf einen Knecht gestützt; der
Apotheker und Matthäus; Zachäus und ein Schriftgelehrter;
Aussätzige und Blinde; Rahel und die Samariterin: endlich nach
diesen Demüthigen noch ein Geschwader von Fürsten in eine Wolke von
Reisigen gehüllt: Pilatus. Nero, Cyrus, Hercules, Clymax und
Agrippa.
Den Schluß der Spielgenossen machen 6 Teufel und die Schlange,
die, wie vor dem Fluche am ersten Tage aufwärts gerichtet, mit ihnen marschirt.
Den Schluß des ganzen Zuges bilden die paarweise geordneten Sänger,
ferner die Trabanten des Proclamators, zwischen ihnen des Rectors
Cysat dienender Knabe, darauf der Rector selbst im höchsten Glänze
seiner Amtstracht mit einem Scepter in der Hand, zuletzt der Proclamator
mit seinem Gefolge.
Als der Zug einmal den Platz umzogen hatte und die Vordersten wieder
beim Hause zur Sonnen angekommen waren, trat Cysat aus der Reihe der
Uebrigen heraus und winkte mit seinem Scepter. Der Zug stand, die Musik
schwieg und vier Harsthörner aus der Cantorei ließen sich allein vernehmen.
Aus dieses Zeichen löste sich der ganze geschlossene Zug aus und jede
Spielgruppe begab sich in ihren Hof, wo sie fortan so lange still zu warten
hatte, bis ihre Scene heran kam.
?g.ter aöwi'nus ging unter dem Gesänge der Engel die Leiter hinauf,
stieg in den Himmel und zog den blauen mit Sternen besetzten Vorhang
hinter sich zu.
Zum andern Male winkte Cysat. Zum andern Male erschollen die
Harsthörner, und der Proclamator, hoch auf weißem Roß, in ganzer Rüstung,
darüber ein weißes zerhauenes Wappenröcklein, auf dem Haupte ein weißes
Barett mit wallender Feder, umritt langsam den Platz. Vor ihm her schritten
sein Schildknabe und Fähndrich, hinter ihm vier Trabanten, für diesen Tag
alle ganz in Weiß gekleidet.
Und zum dritten Male winkte Cysat. Zum dritten Male erschollen die
Harsthörner und alle Trompeter fielen ein. Sowie sie geendet hatten, rief
der Schtldknabe des Proclamators mit lauter Stimme:
„Schwygent und kosend allesammt,
„Damit man komm' zum Anesang!
Darauf ergriff der Fähndrich das Wort und verlangte Aufmerksamkeit
für seinen Herrn den Proclamator.
Dieser nahm darauf den Helm ab, ritt ein wenig am Platze umher,
kehrte sich gen Himmel und sprach endlich mit entblößtem Haupte ein Gebet.
Damit war die Einleitung, der sog. Umgang, geschlossen und das
Spiel nahm nun seinen Verlauf, der aus dem oben mitgetheilten sacrarium
ersichtlich ist.
Noch gestatten wir uns zum Schluß die Bemerkung, daß weder der
Text des Spieles, der freilich nur zur Hälfte erhalten ist. noch die darüber
vorhandenen neun Folianten Acten die geringste Spur der heute in Luzern
so mächtig herrschenden französischen Sprache zeigen.
D'-e neuliche osficiöse Erklärung der „Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung", daß Preußen sich mit Dänemark über die Rückabtretung eines
Theils von Nordschleswig in Gemäßheit des Artikels V des Prager
Friedens nicht zu verständigen vermöge, wird als der Abschluß des diplo¬
matischen Feldzugs anzusehen sein, den Generel Fleury's Eröffnungen in
Se. Petersburg zu Gunsten Dänemarks begonnen. Die Frage zählt sonst
zu denjenigen, in welcher ein Diplomat des Schweigens Gold dem Silber
der Rede vorzuziehen pflegt. Indeß soll die osficiöse Erklärung wahr¬
scheinlich bedeuten: das neue französische Cadin et will sich über Nordschleswig
jetzt ebensowenig aussprechen, wie seine Vorgänger, und der zum Unterhänd¬
ler avancirte kaiserliche Stallmeister ist in der That von seinem Chef corri-
girt worden.
Das ministerielle Berliner Blatt nahm allerdings eine andere Veran¬
lassung zum Vorwande. Es berief sich auf gewisse vertrauliche Aufschlüsse,
mit denen der dänische Kriegs- und Marineminister General Raaslöff die
Neichstagsmitglieder bestimmt hat, eine veränderte Art der Landesvertheidi¬
gung gutzuheißen. Bei der Kürze der Andeutung wird manchem deutschen
Leser muthmaßlich dunkel geblieben sein, was der dänische Roon — so darf
man General Raaslöff wohl nennen — eigentlich gesagt und durchgesetzt hat.
eine kleine Nachlese aus den Ausplaudereien dänischer Blätter möchte daher
am Orte sein. Der Minister, der sich großen und allgemeinen Zutrauens
sowohl in seine fachmäßige Tüchtigkeit als in seinen Patriotismus und poli-
dischen Verstand erfreut, versammelte vor einigen Wochen eines Tags sämmt¬
liche Volksvertreter privatim, um ihnen die Motive auseinanderzusetzen, welche
ihm ein völlig verändertes Wehrsystem als ein unaufschiebbares Gebot der
Zeit erscheinen ließen. Nicht alles natürlich, das in so beschaffener Zusam¬
menkunft angeführt werden konnte, hat nachgehend seinen Weg in eine zwar
immer zur Kritik sehr aufgelegte, aber doch auch entschieden patriotische Presse
gefunden. Zumal was General Raaslöff etwa nach diplomatischen Berichten
entweder über Frankreichs oder Rußlands, als der eventuellen zukünftigen
Bundesgenossen, gute Rathschläge oder über Preußens böse Absichten angedeu¬
tet haben mag, ist unenthüllt geblieben. Aber er hat jedenfalls auch hingewiesen
auf den stattlichen Zuwachs der norddeutschen Marine an Panzerschiffen.
Daß in dieser Hinsicht Dänemark den Wettlauf schon finanziell nicht aus¬
zuhalten im Stande sei, wird ihm leicht geworden sein, den des Landes
Steuerkraft vertretenden Hörern begreiflich zu machen. Die praktischen Con-
sequenzen freilich, die er daraus zog, gingen weit. Er schloß ungefähr so:
folglich muß Dänemark die alte Maxime fahren lassen, seinen Stand gegen
Deutschland durch Ueberlegenheit zur See behaupten zu wollen. Es muß
sie fahren lassen wegen der Unmöglichkeit, mit dem norddeutschen Bunde
fortan noch gleichen Schritt zu halten, und es kann sie fahren lassen, weil
der nächste Krieg uns voraussichtlich an der Seite einer Macht wird kämpfen
sehen, deren Flotte der preußischen mehr als gewachsen ist. Dagegen könne
das an der Flotte gesparte Geld sehr passend aus Verstärkung des Landheers
verwendet werden, dessen Operiren in Preußens nördlicher Flanke für den
eigentlichen Kriegsschauplatz die werthvollste Diversion sein würde.
Als Kriegs- und Marine-Minister konnte General Raaslöff dieses
neue Programm mit ungewöhnlicher Wirkung entwickeln. Trotzdem ist der¬
selbe keineswegs ohne bedeutsamen Einspruch geblieben; insbesondere hat
Admiral Steen Bille zur Befriedigung der tonangebenden hauptstädtischen
Blätter dargethan, daß soviel maritime Streitkraft nothwendig zu erhalten
sei, wie zur zeitweisen Vertheidigung des Großen Betts, d. h. Seelands und
der Stadt Kopenhagen gegen Uebergangsversuche vom Ostlande her gehörten.
Inwieweit demnach jenes Program consequent verfolgt werden wird, kann
erst die Folgezeit lehren, — Die feierliche Auslassung der Norddeutschen All¬
gemeinen Zeitung ist schwerlich durch dasselbe hervorgerufen worden. Denn es
enthüllt schlechterdings keine bisher verschleierte Gesinnung, sondern gibt nur
eine Verändung der Ansichten über die besten Mittel kund, sich ferner gegen
Deutschlands Feindschaft zu behaupten.
Allein die Feindschaft — gibt die norddeutsche Allgemeine Zeitung zu
verstehen, — ist nur in Kopenhagen zu Hause. In Berlin denkt man nicht
daran, die Dänen mit Krieg zu überziehen; es sei denn daß eine allgemeine
europäische Verwickelung einträte, in welcher sie sich auf die Seite unserer
Feinde stellten, oder wenigstens den dringenden Verdacht erweckten, dies unter
gewissen Umständen thun zu wollen. Die Kopenhagener Presse erklärt mit
dem Accent der Aufrichtigkeit, an solche Mäßigung nicht zu glauben. Preußens
Machtstreben und Deutschlands Culturmission — fragt sie mir bitterm Hohne, —
haben sie nicht hundertmal aufs deutlichste zu erkennen gegeben, daß sie an der
Königsau nicht stehn bleiben können ? Es.ist schwer von deutscher Seite dieser Be¬
hauptung zu widersprechen, wenn im Anschluß an den nämlichen diplomatischen
Artikel der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, der alle Gelüste auf den Rest
der dänischen Lande, das eigentliche Dänemark bestritt, der bekannte Waage-
Correspondent der Weserzeitung sich zu der Versicherung hinreißen läßt, die Dänen
würden nicht eher ruhen, als bis man sie sammt und sonders in den großen Sack
der preußischen Eroberungen geschoben habe. Allerdings nicht ungereizt hat
dieser sonst ziemlich leidenschaftlose, contemplativ gestimmte, witzige Journalist
sein Ceterum censeo gegen das moderne Karthago am Sunde geschleudert.
Ihn verdroß das boshafte Amendement des dänischgesinnten Nordschleswigers
Kryger zu einem Paragraphen des norddeutschen Strafgesetzbuches, wonach
die Anrufung der göttlichen Dreieinigkeit in internationalen Verträgen ohne
loyale Absicht der Erfüllung unter Strafe gestellt werden sollte; und in der
That, zu einem dünneren Streiche hat blinder Fanatismus nicht leicht einen
Mann verleitet, vorausgesetzt, daß der ehrsame Mühlenbesitzer von Beftoft
hier nicht selbst die Beute eines ruchlosen Spaßvogels geworden ist, wie man
aus gewissen Correspondenzen, welche Vaterfreude zu verrathen schienen, bei¬
nahe schließen möchte. Sei dem aber, wie ihm wolle: wer wird sich durch
die Ungezogenheit eines Einzelnen herausfordern lassen, einer ganzen Nation
die selbständige Existenz abzusprechen?
Wir müssen dagegen protestiren, daß hiermit die in Deutschland herr¬
schende Gesinnung zu Tage getreten sei, und soviel an uns ist, in vollster
Aufrichtigkeit der Versicherung des ministeriellen preußischen Blattes beipflich¬
ten, daß es die Deutschen durchaus nicht nach Land und Freiheit der Dänen
gelüstet. Die Tage der willkürlichen Eroberungspolitik sind vorüber.
Wir bedanken uns dafür, noch mehr widerstrebende anderszüngige Bestand-
theile in unseren Reichsverband aufzunehmen; wir haben an den jetzigen gerade
genug. Wenn wir je sorgenvolle Blicke über die gegenwärtige nationale
Grenze hinausschweifen lassen, so ist es zu Gunsten von Stammes- und Sprach¬
genossen, welche ein barbarischer Despotismus im Bunde mit feindlichen Natio¬
nalitäten unterdrückt hält. Den Dänen gegenüber haben wir uns im Völle¬
gefühle der gesicherten Machtstellung Deutschland's nach gerade von den
bittern Gefühlen befreit, welche uns früher mehr noch unsere politische Schwäche
als ihr Uebermuth, das natürliche Product derselben, einflößte; und wir
gönnen ihnen nicht allein alles, was ihnen gehört, sondern würden uns gern
über die zwischen uns noch schwebende delicate Frage mit ihnen verständigen.
Dazu treibt uns schon der wohlbegründete Wunsch, nach Nordosten hin eine
klare und befestigte Position zu gewinnen, welche uns in den Stand setzt,
den etwa drohenden Verwicklungen der Zukunft mit voller Ruhe und Zu¬
versicht entgegenzusehen. Es bedarf allerdings noch der Erfüllung einiger
nicht füglich zu erzwingender Voraussetzungen, bevor die nordschleswigsche
Frage gütlich gelöst werden kann. Einen ernstlichen Lösungsversuch zu machen
ohne die begründete Aussicht, damit aus Dänemark und dem scandinavische-n
Norden einen zufriedenen, freundlichen Nachbar zu machen — darin müssen
wir dem Organe des Grafen Bismarck beipflichten — wäre bei der berech¬
neten Weite der Vorschriften des Prager Friedens eine Gedankenlosigkeit,
wie sie dem Geschäftsführer eines großen Volks nicht erlaubt sein kann.
Der Streit, welcher in diesen Wochen zwischen der Presse des Bundes¬
kanzlers und Blättern der nationalen Partei geführt wurde, hat, wie zu
hoffen, den Deutschen keine ernste Sorge gemacht. Die Methode, nach welcher
die Federn des Grafen Bismarck in den Zeitungen und der Bundeskanzler
selbst im Reichstage die nationale Partei zu behandeln pflegen, ist nicht mehr
neu, weder die Sprache hochachtungsvoller Unwillens, welche die schmeichel¬
hafte Perspective nicht ausschließt, daß die Herren von der nationalen Partei
wohl dereinst die Ministerstühle einnehmen werden; noch die geringschätzige
Versicherung, daß die Regierung auf das Zusammenwirken mit so unzuver¬
lässigen Bundesgenossen verzichten wolle. In Wahrheit scheinen uns die
Angelegenheiten des Bundes jetzt so zu stehen, daß der Bundeskanzler für
die nächste Zukunft das kräftige Zusammenwirken mit den nationalen, wie
unbequem ihm dasselbe sein mag, weniger wird entbehren können, als seither.
Die Schwierigkeiten für Fortentwickelung des Bundes sind unläugbar größer
geworden, die Maschinerie des Reichstages hat unter den übergroßen Zu-
muthungen gelitten, und es ist eben so sehr ein Fehler in der Geschäfts¬
behandlung durch die hohe Versammlung, welche das Gefühl überarbeitet
zu sein, hervorgerufen hat, als die starken Zumuthungen, welche durch die
Regierung an die politischen Vertreter der Nation gestellt worden sind. Unter-
deß ist der Wechsel in den Ministerien von Baiern und Würtemberg für
die Bundesregierung eine ernste Mahnung, daß ihre Politik gegen den Süden
doch wohl nicht die möglichst beste gewesen sei. Denn was seit zwei Jahren
zu befürchten war, ist eingetreten, die preußische Diplomatie hat dort an Ein¬
fluß verloren und vergebens wird in Berlin den Intriguen des Grafen Beust
zugeschrieben, was nur die Folge der Jsolirung und souveränen Selbstherr¬
lichkeit war, in welcher man die Königreiche des Südens gelassen. Und dabei
kam dem norddeutschen Bunde noch zu Gute, daß die innern Verhältnisse
Oestreichs auf die Südstaaten mehr abschreckend als anziehend wirken mußten,
die östreichischen Verfassungsexperimente des Grafen Beust haben immer
noch mehr für Conservirung unserer Interessen in Baiern und Würtemberg
gearbeitet, als wir selbst. Und wenn wir uns aus achtungsvoller Ferne ein
Urtheil über die Gedanken des Grafen Bismarck gestatten dürfen, so ist der¬
selbe gerade jetzt in der Lage, auf ein neues Mittel zu sinnen, durch welches
er in seiner Weise allen Gewalten, mit denen er zu rechnen pflegt, eine ge¬
wisse Steigerung der Spannkraft zutheilen könnte. Doch was er auch erfindet,
es würde sich ebenso wie frühere Hoffnungen aus das Zollparlament und aus
die Nctionskraft der nationalen Interessen im Süden als^ eine Täuschung
erweisen, wenn es nicht die herzliche Beistimmung der liberalen Anhänger
des Bundes in Deutschland erhielte.
Aber dies Blatt, ein treuer Vertreter der nationalen Wünsche, vermag
auf der anderen Seite auch die Ueberzeugung nicht zu unterdrücken, daß
unsere Freunde, soweit sie im Reichstag und preußischen Landtag als Partei
austreten, noch weit davon entfernt sind, ein völliger, wohlorganisirter Aus¬
druck der nationalen Forderungen in der Nation zu sein. Die große Anzahl
von Talenten, welche zum Theil aus kleineren Kreisen des Volkslebens her¬
vorgegangen sind und vorzugsweise juristische Bildung haben, sichert unseren
Freunden einen hervorragenden Antheil bei allen Acten der Gesetzgebung;
diese eifrige Thätigkeit aber hilft zur Zeit noch wenig. eine große Auf¬
fassung allgemeiner politischer Verhältnisse in den Parteigenossen allgemein
zu machen, ja sie erschwert in einer unbequemen Weise die innere Disciplin.
Es ist wohl nur bei Deutschen möglich, daß so viele treue Männer unter
starken persönlichen Opfern, mit Hintansetzung jedes eigenen Vortheils einen
großen Theil ihrer Zeit den Arbeiten der Gesetzgebung widmen. Und der
rastlose Fleiß, der redliche Eifer sind hoher Achtung werth. Aber die Praxis
des Gesetzmachens, welche in den Landtagen und unter der neuen Geschäfts^
ordnung wieder in dem Reichstag eingebürgert ist. wirkt bei unseren Freun¬
den geradezu lähmend auf die politische Seite ihrer Thätigkeit, sie bedroht
den Bund mit einer Gesetzgebung, deren Flüchtigkeit, Zufälligkeit und Hand-
greifliche Mängel eine Reaeüon gegen die ganze Bundesgesetzgebung hervor¬
rufen; die angestrengte Arbeit jedes Tages, das unablässige Amendiren
von Gesetzparagraphen in Parteiversammlungen und im Plenum zieht den
Ehrgeiz der Talente nach ganz falschen Richtungen und umhüllt die Häupter
der Fleißigen mit einer eigenthümlichen verdunkelnden Atmosphäre, die man
bei aller Hochachtung Reichstagsdunst nennen darf. Weder die Commissionen
noch die Plenarverhandlungen sind nach richtiger Methode organisirt. Die Com¬
missionen für umfangreiche Gesetze, wenn sie ja einmal beliebt werden, haben
viel zu wenig Zeit für allseitige gründliche Erwägungen und ihre Festsetzungen be¬
haupten viel zu wenig Autorität gegenüber den Einfällen der Einzelnen im Plenum.
Besserung ist nur zu hoffen, wenn das ganze juristische Detail der Berathun¬
gen und Amendements umfangreicher Gesetze der Regel nach Commissionen
übergeben wird, die vom Reichstag erwählt das Recht haben, sich durch
jede Art von Fachautoritäten, die nicht Reichstagsmitglieder sind, zu er¬
gänzen, welche ihre Sitzungen über eine Session des Parlaments durch die
ganze Wahlperiode auszudehnen berechtigt werden, und deren Reichstagsmit¬
glieder für die Commissionsthätigkeit angemessene Entschädigung erhalten.
Die juristischen, national-öconomischen, administrativen Erwägungen müssen
reichlich und allseitig stattgefunden haben, bevor über einen Gesetzentwurf
im Plenum entschieden wird. Die Partei und der Reichstag haben in der
Regel nur die politischen und Opportunitätsgründe zu verhandeln. Die Mit¬
glieder des Reichstags sollen nicht als Juristen und Verwaltungsbeamte
berathen, sondern als politische Männer.
Dafür ist freilich auch eine weit andere Disciplin der Partei nöthig.
Nun wird man hierin nicht das Unmögliche verlangen. Die Talente unserer
Partei sind fast sämmtlich in neuer Zeit unter denselben Kämpfen als wackere
Genossen heraufgekommen. Ihre Führer haben sich — mit sehr wenigen
Ausnahmen — niemals als Leiter großer Staatsgeschäfte Ansehen und Volks-
thümlichkeit erworben, welche ihnen die Herrschaft über aufstrebende Partei¬
genossen sicherte. Eine Partei erhält ihre politische Reife erst dann, wenn
ihre Führer in den Geschäften stehen oder waren, das ist selbstverständlich.
Demungeachtet könnte die innere Verfassung unserer Partei im Reichstage
und Lanotage eine weit bessere sein. Schon im Beginne dieses Jahres ist
an dieser Stelle gebeten worden, die Partei möge sich einen Führer und
Repräsentanten in Berlin wählen, welcher in die Lage gesetzt wird, auch
außerhalb der Sitzungszeit des Reichstages das Parteiinteresse zu leiten und
die gesellschaftlichen Pflichten und Verbindungen zu unterhalten, die für
Politiker größeren Styls unentbehrlich sind. Was bis jetzt geschehen ist, etwa
um Beitrage der Parteigenossen und einen Einfluß aus die Wahlen vorzube¬
reiten, hilft noch wenig, die Partei tüchtig und fest zu machen. So lange
die Vertreter unserer Interessen im Reichstage nicht die Selbstverläugnung
finden, sich einem erwählten Haupte unterzuordnen, so lange wird die Partei
trotz der Tüchtigkeit und Bedeutung der Einzelnen, den Eindruck der Zer¬
fahrenheit und Schwäche machen. Und derselbe Mangel an Zusammenhalt
und Parteigefügigkeit, den die Partei im Reichstage darstellt, wird auch
unter ihren Wählern fühlbar werden und bei jeder Neuwahl die Freunde in
größere Gefahr setzen. Grade unsere politische Richtung, deren Kraft in dem
gebildeten Bürgerthum liegt, bedarf einen festen und imponirenden Zusam¬
menschluß, um bei dem allgemeinen Wahlrecht nicht zwischen der Masse der
Eonseroatioen, Socialisten, Ultramontanen zerrieben zu werden. Denn die
eine Gefahr der Massenwahl wird immer größer, daß sie die Wähler nach zwei
extremen Richtungen auseinanderzieht, unbedingte Opposition oder herrschlustiges
Standesinteresse. Schon für die nächsten Wahlen hört man die Ansicht
aussprechen, daß für unsere Parteigenossen nur die entscheidende Frage sein
werde: für oder gegen den Bundeskanzler. Mögen alle guten Geister unsrer
Nation verhüten, daß solch ein trennender Kriegsruf sich unter den Freunden
erhebe. Unsere ganze Stärke liegt darin, daß wir — wie unvollkommen
immer — nach dem Maß unserer Kraft der freien Zeitbildung und dem
lauteren Gewissen der Nation Ausdruck geben, denn wir sind fast die einzige
Partei, welche nicht durch irgend eine maßgebende Theorie, oder ein beherr¬
schendes Standes- und Glaudensinteresse zusammengehalten wird. Unsere
Ausgabe ist weder Werkzeug zu sein, noch aus feindlicher Theorie mür¬
risch zu eritisiren, sondern bei dem Guten und Großen, was die Männer
der Regierung uns zu bieten vermögen, mit warmer Hingabe zu helfen,
Irrthümer, Schwächen und falsche Maßnahmen der Regierung durch entschie¬
denen Widerstand abzuwehren. Oheim Einzelner, der gerade die Hauptlast der
Geschäfte trägt, uns bald für Helfer, bald für Gegner erklärt, was liegt daran?
So weit wir richtig verstehen, was der Nation Noth thut, arbeitet er für
Nach zweiundzwanzig Jahren fruchtloser Experimente ist der Staat in
ein Verfassungschaos versunken, hoffnungsärmer als im Jahre 48. Das Be¬
streben der Theile sich gegenüber dem großen Staatskörper in eigenem Leben
^ sourcil, ist dreister und gefährlicher geworden. Die italienischen Provinzen
völlig abgelöst, Ungarn ein eigener Staat fast nur durch Personalunion ge¬
bunden, die Deutschen in Siebenbürgen, die Croaten und Stavoren der
ungarischen Nation untergestellt. In dem vorderen Galizien haben die
deutschen Beamten den Polen weichen müssen, in dem östlichen Galizien
arbeitet mit naiver Offenheit eine ruthenische Partei für den Uebergang zu
Rußland, in den Gebirgslandschaften des deutschen Südens proclamirt eine
rührige italienische Partei ihre Sympathien für das Königreich Italien, auch
die stillen Slovenen haben dem Deutschthum den Krieg erklärt und
verfertigen sich rüstig eine Literatur und eine eigene Nationalität. Die
Czechen rufen frech nach Rußland und fordern Selbständigkeit und Au¬
tonomie wie die Magyaren, sogar das deutsche Tirol hat seine Treue ver¬
gessen, der Ultramontanismus und Provinzialsinn sind dort mächtiger ge¬
worden als die langgerühmte Anhänglichkeit an das Kaiserhaus. Die her¬
kömmliche Suprematie in Deutschland ist gänzlich verloren. Der Einheits¬
staat, der zweitheilige Staat haben sich als unmögliche Staatsformen der
großen Ländermasse erwiesen, den schwächlichen Versuchen eine Föderativver¬
fassung zu bilden, kann ein ähnliches Ende prophezeit werden. Das scheinen
traurige Aspecten für den Kaiserstaat, und es fehlt auch in Oestreich nicht
an Stimmen, welche den unerhörten Zustand für den Anfang eines Endes
der Habsburgischen Monarchie halten.
Aber Leben und Dauer der Staaten vollendet sich nicht wie der Bestand
eines Geschäftes oder das irdische Dasein eines Menschen, und man soll sich
hüten, aus Gefahren, welche unter gewissen Umständen tödtlich werden können,
die unaufhaltsame Nothwendigkeit einer Auflösung zu folgern. Zunächst
wäre verkehrt, zu behaupten, daß die 22 Jahre seit dem Sturz des Metter-
nich'schen Systems für das politische Leben Oestreichs ohne große Erfolge
vergangen seien. Im Jahre 1848 war Wien nur die stattliche Residenz des
Kaiserhauses, jetzt ist es eine der größesten Handels- und Fabrikstädte des
Continents geworden, mit einer sehr eigenthümlichen ^Entwickelung der In¬
dustrie schon jetzt für den geschäftlichen und geistigen Verkehr weiter Land¬
strecken die Gebieterin, welche durch ihre Presse, ihre Börse, ihre Wissenschaft
und ihre Kunstindustrie unvergleichlich größere Einwirkung von Trieft bis zu
den Donaumündungen ausübt, als in dem Jahre, in welchem die Serezaner
des Fürsten Windischgrätz durch das rothe Thurmthor drangen. Und serner,
kein Staat der Welt hat größere Ausgaben gemacht als Oesterreich für seine
wichtigsten Culturzwecke, seine Eisenbahnen schaffen jetzt die Waaren Italiens
über die Alpen, die Bodenerzeugnisse des entfernten Ostens an französische
und englische Käufer, seine Dampferlinien vermitteln den größten Theil des
Verkehrs im hintern Mittelmeer. Die Schlagbäume zwischen den einzelnen
Reichstheilen sind gefallen. Durch einheitliches Zollsystem an den Staats¬
grenzen, durch eine früher unbekannte Freizügigkeit wird eine Leichtigkeit der
Bewegung und eine Leichtigkeit lohnenden Verdienstes hervorgebracht, welche
Hunderttausenden die schlummernde Thatkraft geweckt hat. Unläugbar lassen
Handel und Industrie Oestreichs noch oft die Solidität und geschäftliche
Redlichkeit vermissen, welche wir zu fordern gewöhnt sind, aber eben so
unläugbar ist, daß der Aufschwung des Staates nach dieser Richtung in zwei
Jahrzehnten fast wunderbar groß und energisch war.
Noch sind die Finanzen übel geordnet, aber die Staatseinnahmen haben
sich doch mächtig gehoben, der harte Steuerdruck wird weniger empfunden
als vor 10 Jahren, und es scheint nicht unwahrscheinlich, daß der Staat
in einigen Jahren sich zu einem regelmäßigen Gleichgewicht zwischen Ein¬
nahme und Ausgabe erheben wird. Ueber den gegenwärtigen Zustand des
kaiserlichen Heeres wagen wir kein Urtheil, wir neigen uns zu der Annahme,
daß die Erfahrungen des letzten Krieges nicht mit der nöthigen Energie benutzt
worden sind, aber die große Mehrzahl der Truppen hat sich im Jahr 1866
gegen den überlegenen deutschen Gegner tapfer geschlagen und es ist kein
Grund zu zweifeln, daß das Heer, richtig geführt, auch bei einem neuen
Kriege völlig seine Pflicht thun wird und daß es, geschickt benutzt, auch im
Innern gegen Aufstandsversuche getreu der Staatsidee dienen wird. Endlich
wird Keiner unserer Freunde leugnen, daß auch die Volkserziehung und die
politische Bildung in Oestreich seither sehr achtungswerthe Fortschritte ge¬
macht haben; die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, Beschränkung
der Pfaffenherrschaft, neue Organisation höherer Lehranstalten, Reform
des deutschen Gerichtswesens, Theilnahme und Verständniß des Volkes für
die größten Staatsfragen sind im Ganzen ein zweifelloser starker Gewinn,
wenn auch nicht im gleichen Maße für alle Provinzen und wenn auch die
Ungleichheit dieses Fortschritts so groß ist, daß sein Segen für das Ganze
durch Rückschritte einzelner Landestheile beschränkt wird. Für die Steige-
rung der Interessen und der Bildung gibt sogar der Hader der Nationali¬
täten, verglichen mit den Zuständen des Jahres 1848 einige Bürgschaft. Da¬
mals waren die Menschen in Oestreich ganz in mittelalterlicher Weise schnell
bereit, für ihre undeutlichen Ideale zu den Waffen zu greifen. Sie lebten
isolirter und hatten weniger zu verlieren und ein viel geringeres Verständ¬
niß von der Bedeutung ihres Staates. Jetzt ist solche Behendigkeit nur
noch in den wildesten Grenzgegenden zu finden. Die gesammte politische
Agitation, wie abgeneigt immer der Centralregierung, sucht vorsichtig und
mit einer gewissen Scheu vor dem Gesetz die vorhandenen erlaubten Agita¬
tionsmittel zu verwerthen. Sie ist deshalb vielleicht nicht weniger gefährlich,
aber es sind doch geistige Factoren, mit denen sie rechnet, und der Kampf
wird mit der Feder und in Debatten geführt, da ist doch einige Hoffnung,
daß zuletzt auch die Wucht der realen Interessen sich geltend machen wird.
So schwebt der Kaiserstaat zwischen den merkwürdigsten, sonst unverein¬
barer Gegensätzen. Auf der einen Seite Verfall, Auflösung, ein Aus¬
einanderstreben der Theile, bei der großen Mehrzahl der Bevölkerung völliger
Mangel an Wärme, ja unverhüllte Abneigung gegen die alte Staatsidee,
auf der anderen Seite dagegen eine großartige Entfaltung der productiven
Staatskrast, Steigerung des Wohlstandes, der Industrie, ja auch der socialen
Bildung in den Individuen. Die Steuern werden gezahlt, die Soldaten aus-
exercirt, das Einströmen deutscher Intelligenz dauert unablässig fort. Wollen
wir demnach diesen Zustand Oestreichs in einer Formel ausdrücken, welche
nicht die ganze Sachlage, aber den Hauptpunkt definirt, so erscheint Fol¬
gendes als Resultat der letzten Vergangenheit: die alte Idee, weichte den Staat
zusammenhielt, das Hausinteresse der kaiserlichen Familie Habsburg-Lothringen
hat mit reißender Schnelligkeit die Bedeutung verloren, aber an Stelle des
alten Bandes tritt eine andere verbindende Gewalt, die Gemeinsamkeit der
wichtigsten realen Interessen, deren Centrum die Hauptstadt Wien geworden
ist. Nicht mehr die Hofburg ist der festeste Mittelpunkt des östreichischen Staa-
tes, sondern die Stadt Wien selbst ist es, mit den neuen Straßen auf dem
bebauten Glacis, mit ihren Capitalien, ihrer starken Production, der An¬
ziehungskraft und geistigen Einwirkung, welche sie über das ganze Donau¬
thal ausübt. Aber die alte Einheit ist im Untergang und die neue ist erst
im Werden und sie ist noch lange nicht stark genug, um überall ihre An¬
sprüche gegenüber den Nationalitätswünschen siegreich zu machen.
Das ist in Wahrheit die Gefahr Oestreichs; ob sie durch neue Ein-
bußen an Landgebiet, ob sie überhaupt unter den Auspreisn des kaiserlichen
Hauses bewältigt werden kann, das hängt zum Theil von unübersehbaren
Conflicten der europäischen Politik ab; zum größten Theil aber von den
Maßregeln der kaiserlichen Regierung. Die Zweitheiligkeit des Reiches ist
*
nicht mehr rückgängig zu machen; aber der Hauptverlust der letzten 22 Jahre
ist für die kaiserliche Regierung, daß auf unserer Seite der Leitha das deutsche
Element seine Kraft zu colonisiren und die fremden Stämme mit sich zu
verbinden, vorläufig ganz verloren hat. Wie die alte Staatsidee ist auch
die deutsche Nationalität überall im Rückschritt, im Littorale, in Welschtirol,
in Kärnthen, in Krain, in Böhmen und Mähren, von Krakau und Gallizien
ganz zu geschweigen. Hier kann gegenwärtig nur ein aufgeklärter Despotis¬
mus helfen. Alles parlamentarische Leben des Gesammtstaats wird zur
Carricatur, so lange die Grundlage dafür fehlt, eine Bevölkerung, welche den
Segen des Staates warm empfindet. Deshalb ist für Oestreich nicht der
Verfafsungsapparat die Hauptsache, sondern eine straffe und intelligente Ver¬
waltung, welche in den einzelnen Landschaften mit Nachdruck die Interessen
des Staates vertritt, jedem Volksthum seine Volksschule läßt, für alle höheren
Anstalten den deutschen Unterricht obligatorisch macht, welche dem Gesetz un¬
erbittlichen Gehorsam erzwingt und mit eiserner Festigkeit jede Auflehnung
und jede Conspiration verdorbener Agitatoren niederschlägt; welche aber zu
gleicher Zeit nicht in der talentlosen und beschränkten Aristokratie ihre Stützen
sucht, sondern in einer festen liberalen Haltung gegenüber den Pfaffen und
den Intriguanten des Hofes. Oestreichs ältestes Unglück ist die Schlaffheit
und Unsicherheit seiner Beamten und Graf Beust ist der letzte Mann, um
dieses Grundübel zu bessern. Wenn man an Stelle dieses Fremden einen
populären Soldaten, etwa den Admiral Tegethoff zum Ministerpräsidenten
'macht und wenn man sich nicht scheut vor vorübergehenden Ausnahmezu¬
ständen und vor gewaltsamen Niederschlagen des Hochverraths, welcher be¬
reits mit erschreckender Dreistigkeit sein Haupt erhebt, dann wird die Regie¬
rung, wenn das erste Mißtrauen der Deutschen überwunden ist, sehr bald in
der Bevölkerung der alten Stammlande wieder die Zuversicht und das Zu¬
trauen zum Staat, den letzten Quell jeder Kraftentwickelung, entstehen sehen.
Es ist keine leichte und bequeme Aufgabe, das Versäumte vieler Jahr¬
zehnte wieder gut zu machen. Aber für Oestreich und für uns Deutsche liegt
die Sache so; wenn nicht eine neue Energie in Verwaltung der Provin¬
zen den Separationsgelüsten steuert, so ist in 10 Jahren das unglückliche
Czechien mit Mähren verloren, nicht nur für deutsche Cultur, sondern für
das Kaiserhaus, und uns Deutschen vom Norden wird die Aufgabe an der
Moldau und in Böhmer-Wald die russische Suprematie und die Bundes¬
brüderschaft der Moskaner zu dämpfen. Und doch haben wir das wärmste
Intresse, als treue Bundesgenossen den Kaiserstaat zu schützen, solange er die
Grundlagen seiner irdischen Berechtigung und Macht, den Zusammenschluß
der Donauländer durch deutsche Cultur, nicht selbst vernichtet.
Die Kammer der Abgeordneten hat in ihre Berathungen noch immer
kein schnelleres Tempo zu bringen gewußt, sodaß nur wenige Vorlagen bis¬
her ihre Erledigung gefunden haben. Von principieller Natur ist hierunter
nur der Gesetzentwurf über einen Credit für außerordentliche Militärbedürf¬
nisse, welcher trotz eines von der Fortschrittspartei gestellten gegentheiligen
Antrags vor der Berathung des ordentlichen Militärbudgets in das Haus
gebracht wurde. Insofern zur Feststellung der außerordentlichen Ausgaben
in jedem Haushalte doch nur die ordentlichen als vernünftige Grundlage
dienen können, muß dies eine seltsame Umkehr aller natürlichen Verhältnisse
genannt werden, die eine Menge von Unzukömmlichkeiten zum unausbleib¬
lichen Gefolge hatte. So hat man beispielsweise einen außerordentlichen
Ansatz für Handfeuerwaffen der berittenen Truppen zu einem Drittel ge¬
strichen, weil die bayrische Cavallerie, was doch erst durch das ordentliche
Budget festzusetzen war, um mindestens vier Regimenter vermindert werden
müsse, und so ist es gekommen, daß wir, bei der Unmöglichkeit, dieses Neben¬
postulat ohne Aufstellung allgemeiner Grundsätze zu erledigen, bereits einen
sehr deutlichen Vorschmack von dem Schicksal der Hauptvorlage des Kriegs¬
ministers erhalten haben. Daß die Patrioten das Referat über die außer¬
ordentlichen Militärbedürfnisse dem Abgeordneten Kolb, dem einzigen Ver¬
treter der Volkspartei im Hause, dem principiellen Gegner unserer neuen
Heerorganisation übertrugen, bewies von vornherein eine rücksichtslose Ent¬
schlossenheit, deren Motive hauptsächlich darin zu suchen sind, daß sie die
Armee in ihrem jetzigen Bestand, als die Brücke des preußischen Einflusses
aufzufassen gewohnt sind. Andererseits mag allerdings auch das Bestreben,
den Wählern gegenüber das Versprechen der Steuerverminderung einzulösen,
hier mit mitgewirkt haben. Kolb hat seine Aufgabe zunächst zu einer über¬
schwenglichen Glorificirung des Milizsystems benutzt, sodann aber, und fast
unabhängig hiervon, eine Reihe von tiefgehenden Vorschlägen gemacht, durch
welche sowohl die Organisation als die Verwaltung der Armee gleich stark
getroffen werden. Da die Grundsätze mit einer einzigen Ausnahme von
seinen Committenten anerkannt wurden, und durch die hierauf gegründeten
Abstriche in extraorSinario für die Kammer bereits die Natur von Prä-
judieien angenommen haben, so steht deren Realisirung in nächster Aussicht.
Soweit das Kolb'sche Referat sich mit unserer Militärverwaltung beschäftigt,
und hier Ersparungen durchzusetzen gedenkt, kann man ihm nur freudig bei¬
stimmen. Vor allen andern hat es das Kriegsministerium verstanden, sich.
unterstützt von dem Umstände, daß den Kammern die nöthigen technischen
Kenntnisse abgingen, dem konstitutionellen Einfluß zu entziehen. Niemals
hat man dort in dem hellen Tageslicht gearbeitet, das die übrigen Theile
der Staatsmaschtne in Bayern beleuchtete und auch dem Laien zugänglich
machte. So Urtheils- und kritiklos stand das Land dem ganzen Getriebe
gegenüber, daß es 1859 und 1866 dem Kriege vertrauensvoll entgegensah.
Unter der Gunst dieser Verhältnisse nahm die Militärverwaltung um so
schneller einen schwerfälligen und energielosen Charakter an, als wir seit De-
cennien keinen Kriegsminister mehr aufzuweisen haben, der d«s Mittelmaß
auch nur in einem Punkt überschritten hätte. Von Seiten der Kammer be¬
schränkte man sich darauf, so wenig als möglich Geld zu bewilligen; was
dann mit diesem Geld geleistet wurde, blieb Sache des Kriegsministers.
Das Resultat hiervon war auf der einen Seite eine kleine Armee, auf der
anderen eine unverhältnißmäßige Anzahl höherer Chargen, Behörden und
Commissionen. Nun haben wir allerdings seit dem Jahre 1866 eine größere
und bessere Armee erhalten, in der zweiten Beziehung aber wurde in dem
alten Geleise weiter gefahren.
Wenn man, ohne irgend das unerreichbare Ideal des Milizsystems vor
Augen zu haben, unser Heerwesen von der finanziellen Seite aus betrachtet,
so sind es vorzüglich zwei Punkte, die den Unwillen des Landes stets heraus¬
gefordert haben: einmal die ungeschickte, mit Personal verschwenderisch dotirte
Oeconomieverwaltung, und ferner die große Anzahl von Generälen in der
Armee. Erstere liegt ganz in den Händen der sogenannten Quartiermeister,
einer Charge, die von den Offizieren und übrigen Militärbeamten in socialer
Beziehung nicht als gleichberechtigt angesehen wird, und in die einzutreten,
sich nur sehr wenige gebildete Leute entschließen konnten. Sie rekrutiren
sich aus den Unteroffizieren, ohne daß bisher irgend eine andere Vorbildung
gefordert worden wäre, als die, welche sie in den Schreibstuben erwerben
konnten. Daß diese Routiniers nicht das Material zu einer intelligenten
und umsichtigen Militäröconomieverwaltung sein können, und daß insbeson¬
dere von ihnen eine Reorganisation dieser Branche nicht erwartet werden
darf, wurde längst gefühlt; trotzdem erfolgte von Jahr zu Jahr eine Ver¬
mehrung derselben in solchen Dimensionen, daß wir gegenwärtig nach dem
Militär-Handbuch für 1869 342 Quartiermeister aller Chargen zählen, was
dem formationsmäßigen Offizierstand von fünf Jnfanteriereg inertem
entspricht. Ueberdies erfreuen sich dieselben eines schnelleren Avancements
als die Linie, und gelangen bei nur einiger Brauchbarkeit rasch in höhere
Posten, so daß mancher ältere Lieutenant oder Oberlieutenant in dem Regi-
ments-Quartiermeister mit Hauptmannsrang seinen früheren Bedienten zu
verehren hat.
Eine noch gedankenlosere Geldverschwendung findet in der Generalität
statt. Bei einem Friedensstand von 48.000 Mann hat die Bayrische Armee
84 active und 47 pensionirte Generale auf ihrem Etat. Von den 6 wirk¬
lichen Generälen der Infanterie und Cavallerie haben nur 2, von 17 General¬
lieutenants nur 6, von 31 Generalmajoren nur 17 ein wirkliches Commando,
während die übrigen entweder reine Sinecuren genießen, oder an der Spitze
von Militärbehörden und Commissionen stehen, welche in den meisten Fällen
eines Offiziers gar nicht bedürfen. Für alle Militärbildungs-Anstalten, für
die Gewehrfabrik, für die Montur- und Rüstungsdepots, für das Gendarme-
rieeorps, für das Generalauditoriat. für die Militärrechnungskammer!c. et.
sind nach der, bisherigen Auffassung des Kriegsministeriums Generale noth¬
wendig. Selbst der Operationscursus für Militärärzte kann ohne einen
solchen nicht auskommen. Hierzu kommt noch die ungebührliche Verwendung
höherer Offiziere im reinen Hofdienst. Ein Heer von General- und Flügel¬
adjutanten, Prinzenmarschällen, Prinzenbegleitern, Prinzencavalieren, Prinzen¬
erziehern steht auf der Rechnung des Staats, ohne demselben irgend welche
Dienste zu leisten. In welchem Maße hier der Staatssäckel in Anspruch
genommen wird, zeigt am Besten ein kleines Beispiel. Wir wissen nicht, ob
es außer Landes gebührend bekannt ist, daß auch wir in Bayern unsere
Centgards, Hartschiere genannt, haben. Stille Leute, welche als Bierkieser
ein wohl verdientes Ronommi in München genießen und beliebt sind. Diesem
Hofinstitut auf Staatskosten, wurde bisher von den Kammern durch die
Finger gesehen, weil man es für eine Versorgungsanstalt für verdiente ältere
Unteroffiziere ansah, und gegen diese Auffassung läßt sich wohl nichts ein¬
wenden. Entschieden aber hätte es die Kammer nicht dulden dürfen, daß
diese 100 alten Leute von einem wirklichen General der Cavallerie als Capitän,
von einem Generallieutenant als Premierlieutenant und von einem General¬
major als Secondelieutenant commandirt werden, und doch verweigerten,
die Leiche König Ludwigs aus Italien abzuholen, wenn ihnen kein Bier auf
die Reise mitgegeben würde.
Ein kostspieliger Mißstand besteht ferner darin, daß jedem Armeecorps-
und Divisionscommandanten ein weiterer General „g,ä latus" beigegeben ist,
dessen wirkliche Beschäftigung Kolb in seinem Referate „unauffindbar" nennt.
Daß jeder dieser Hof- und schreibenden Generäle einen oder zwei Adjutanten
zur Seite hat, und Fourage für Reit- und Wagenpferde bezieht, macht die
Sache nur noch ärgerlicher.
Insofern nun die Patrioten im Anschluß an das Referat Kolb's die
entschiedene Verminderung der Zahl der höheren Offiziere und die Verbesserung
der Oeconomie, wenn sie außerdem Neuregulirung des Avancements- und
Pensionswesens, Beschränkung der Neubauten fordern und mit der unzugäng-
lichen Rücksichtslosigkeit, welche das Kennzeichen ihrer Partei bildet, durchzu¬
setzen gedenken, so wäre das eine Leistung, welche der weicheren liberalen
Majorität der früheren Kammern nie gelungen ist. Dabei ist man leider
nicht stehen geblieben; es finden sich in dem Programm der Patrioten zwei
weitere Punkte, die ganz geeignet sind, die Organisation der Combattanten
zu zerreißen, und die Armee aus eine Stufe hin abzudrücken, die sie hier
noch niemals eingenommen hat. Zunächst ist eine starke Reducirung der
Cavallerie in Aussicht genommen, der in Zukunft nur die vorhandenen
6 Chevauxlegersregimenter zu verbleiben hätten, während 2 Uhlanen- und
2 Cuirassierregimenrer cussirt werden sollen, eine Anforderung, die mit der
cynischen Bemerkung empfohlen wurde, daß Preußen seine Cavallerie in der
jüngsten Zeit bedeutend vermehrt, und Bayern hierdurch die Gelegenheit
gewonnen habe, von seinen Bundesgenossen einmal etwas zu profitiren.
Der letzte und einschneidendste Vorschlag endlich betrifft die Präsenzzeit. Nach
den vom Militärausschuß eingezogenen offiziellen Aufschlüssen war dieselbe
gesetzt. Kolb und mit ihm der Ausschuß will nun die Präsenz
eingeschränkt wissen. Damit wäre nach dem Urtheil aller Offiziere die Armee
glücklich ruinirt, ihr jeder Anstrich der Gleichförmigkeit mit den übrigen
deutschen Armeen genommen, und sehr entschieden hat es der Kriegsminister
bereits abgelehnt, die Verantwortung für einen solchen Zustand zu übernehmen.
Kann man schon darüber sehr verschiedener Meinung sein, ob in der hier
vorgestreckten Frist auch nur die bloße Ablichtung der Rekruten erzielt werden
könne, ob man beispielsweise in einem Zeitraum von 12 Monaten einen
erträglichen Reiter auszubilden vermöge, so haben gerade wir in Bayern den
Unterschied zwischen abgerüsteten Rekruten und wirklichen Soldaten am aller-
schmerzlichsten kennen gelernt. Nach dem letzten Kriege hallte bei aller Aner¬
kennung der persönlichen Bravour unserer Soldaten das Land wieder von
Klagen über den Mangel an Disciplin und Gehorsam, ein großer Theil
der Schuld an dem unglücklichen Ausgang wurde mit Recht diesem Mangel
aufgebürdet. und nun soll eine kürzere Präsenz eingeführt werden, als selbst
vor dem Jahre 66 bestand! Da man auf den Versuch, den altbayrischen
Rekruten die Disciplin auf dem Wege der scientiven Ueberzeugung beizu¬
bringen, wird verzichten müssen, welches Mittel bleibt dann übrig, als das
der Gewöhnung? Gerade bei der ungebändigten und widersetzlichen Natur
des altbayrischen Volksstammes ist eine längere Präsenz doppelt nothwendig.
Gegenüber solchen Attentaten aus den Bestand der Armee ist das Schicksal
der außerordentlichen Creditforderungen von untergeordneter Natur. Statt
der postulirten 6,436,000 Fi. wurden nur 2,950,000 von der Kammer der
Abgeordneten genehmigt, worunter die Summe von 2,473,000 Fi. zur An¬
schaffung der neuen Werdergewehre für die Infanterie bestimmt ist.
Mitten in die Militär-Debatte hinein fiel als Episode die Programm¬
rede des neuen Ministers Grasen Bray, und so ziemlich Alles, was hierüber
gesagt und geschrieben worden ist, darf in das Gebiet der Conjecturalpolitik
verwiesen werden. Die höflichen Verneigungen des Grasen nach allen Seiten
machen einen sichern Schluß auf die nun kommende Politik zur Unmöglich¬
keit. Daß man es hier nicht mit einem scharfumrissenen Programm zu thun
habe, beweist wohl der Umstand sehr deutlich, daß beide Parteien ihre An¬
sichten in demselben wieder finden. Die liberalen Blätter wollen in Bray
den Hohenlohe redivivus erkennen, während sich die Patrioten an der „Un¬
angreifbarkeit" Bayerns erlaben, und schon deshalb eine gewisse Zufrieden¬
heit an den Tag legen müssen, weil sich sonst von einem Erfolge ihres
Feldzuges nicht sprechen ließe. In der That wird aber keine der Parteien
von diesem Minister irgend etwas Entscheidendes erwarten. Bray rst der
Mann der Beruhigung, der mit einem Fuß in Wien stehen geblieben ist,
und nicht lange zu bleiben gedenkt. Er hat gewiß weder die Aufgabe noch
den Willen, die Bayrische Politik in eine neue Bahn überzuleiten, und sicher
war mit seiner Berufung nichts anderes bezweckt, als dem Ministerium
eine Persönlichkeit zu gewinnen, geeignet, das wallende Blut der Patrioten
in etwas zu beruhigen. Sollten in der nächsten Zeit politische Fragen auf¬
tauchen, in denen principielle Entschlüsse über die auswärtigen Beziehungen
Bayerns gefaßt werden müssen, so glauben wir fest, wird diese bereits sein
Nachfolger zu lösen haben. Auf die vorrübergehende Natur seines Ministe¬
riums weist das Offenlassen des Gesandtschastspostens in Wien sehr deut¬
lich hin.
Trügen nicht alle Zeichen, so stehen wir am Vorabende der Gründung eines
neuen obersten Gerichtshofes sür das ganze Deutschland des norddeutschen
Bundes. Wir hoffen, daß das neue Reich und Recht ein anderes wird, als
das heilige römische Reich deutscher Nation und seine obersten Gerichtshöfe.
Es frommt auch hier zurückzublicken in die gute alte Zeit. Oft ist geschil¬
dert worden, wie die Zustände des „römischer königlicher Majestät Kammer¬
gerichts" doch über Alles hinausgingen, was wir heute zu ertragen ver¬
möchten. Daß Jahrzehnte die Processe sich hinschleppten, bis die Parteien
darüber starben und verdarben, ist allgemein bekannt, auch hat mancher Leser
vielleicht von Großvaters Zeit her die Sage vernommen, in Wetzlar (dem
letzten Sitze des Reichskammergerichts) seien die Massen der unerledigten
Acten unter der Decke der Repositur aufgehangen gewesen und man habe
gewartet, welcher Fascikel zuerst von der morschen Schnur herabfalle,
um diesen zuerst zur Erledigung zu bringen. Mag dies ein Märchen sein,
jedenfalls liegt viel Charakteristisches darin. Thatsache ist aber, daß ganze
Stöße der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und später ein¬
gegangenen Acten bei Vertheilung des Reichskammergerichts an die einzelnen
deutschen Staaten in den Jahren 1848 bis 1862 — noch wohl verpackt
und versiegelt, wie sie von den unteren Gerichten an das Reichsgericht
eingesandt wurden, — überliefert sind und daß sie alle wohl sür immer in
diesem Zustande ruhen werden, außer den Fascikeln, die Schreiber dieses
zur Befriedigung seiner Neugierde geöffnet hat.
Einen klaren Einblick, wie die Reichsjustiz geübt wurde, gewinnen wir
erst, wenn wir uns einen der vor dem Reichskammergericht verhandelten
Processe im Einzelnen vorführen. Wir wählen dazu einen möglichst einfachen
und allgemein verständlichen Fall, der unter schlichten Bauerleuten vor sich
ging und der gerade der erste und älteste der gesammten Reichskammer-
gertchtsrepositur ist, ja bis vor die eigentliche Gründung des Reichskammer¬
gerichts noch zurückragt. Er spielt von 1491 bis 1497 und bildet die
Nummer 1 des Buchstabens ^. der Repositur.
Man datirt die Existenz des Reichskammergerichts gewöhnlich von der
„Ordnung der römischen königlichen Majestät Chammergericht zu Worms
den 7. August 1495" — gleichzeitig mit dem ewigen Landfrieden — „auf¬
gerichtet." Aber schon vorher bestand „der ron. Maj. Chammergericht."
Seit der Kaiser als Inhaber der höchsten Reichsgewalt und damit auch der
höchsten Reichsjustiz nicht selbst in eigener Person mehr Recht sprach, sondern
Leute seines Hofes oder seines Cabinets (seiner Kammer) an seiner Stelle
damit beauftragte, gab es einen königlichen Hofrichter oder Kammerrichter,
dem zur Entscheidung des einzelnen Falles vom Kaiser gewählte Beisitzer zur
Seite traten. Wo jeweilig der Kaiser sich aufhielt, da ließ er Recht sprechen;
alle Verfügungen seiner Richter gingen ihrer äußeren Form nach von ihm,
dem Kaiser, selbst aus. Hieran änderte die Kammergerichtsordnung von 1495
nur soviel, daß 16 ständige Beisitzer, halb aus dem Adel, halb aus den ge¬
lehrten Juristen, neben dem gefürsteten Kammerrichter ernannt werden soll¬
ten; auch bestimmte der Landfrieden von 1493, daß das Kammergericht „an
einer bleibenden Stadt im heiligen Reiche zu halten." Die Handhabung des
Landfriedens, „der ohne redlich, ehrbar und förderlich Recht schwerlich in
Wesen bestehen mag", gebot diese neue Ordnung der Dinge; aber sie wurde
sehr mangelhaft befolgt; denn nicht nur wanderte bereits nach drei Mo¬
naten der Kaiser sammt dem Kammergericht, wie in früheren Zeiten, von
Worms nach Frankfurt, sondern im Jahr 1800 war das ganze Gericht
„etliche Zeit aus zugefallenen Mängeln stillgestanden und nicht ganghaftig
gewesen; durch den Reichstag zu Augsburg wurde es „wieder in Wesen
gestellt."
Unser Proceß fällt demnach in die Jahre, in denen das Reichskammer¬
gericht sich neu zu beleben begann.
Die handelnden Hauptpersonen sind zwei „eigene Leute" zu Hochstadt bei
Frankfurt, d. h. Leibeigne des Grafen Philipp von Hanau. Der Kläger trägt
den für unsere Ohren monströsen Namen Kusencontz oder Kausencontz, was
in heutiger, verfeinerter Sprache einfach Conrad Kauf heißen würde; der Ver¬
klagte nennt sich Appelnhenn oder — von der dunkeln Farbe seiner Haut —
Mohrhenn, d. h. zu hochdeutsch: Johann Appel, genannt der schwarze Johann.
Kauf hatte eine Wittwe. Elfe Werner aus Hochstadt, beim „Frohnhofgericht"
zu Frankfurt (dem Gerichte des Propstes von Se. Bartholomäus daselbst
für seine Leibeigenen in der Grafschaft Hanau und Königstein) wegen einer
Schuld verklagt und die Wittwe war verurtheilt. Nach Behauptung des
Kauf hatte sich Appel für die Wittwe wegen der mit 23 si. entstandenen
Proceßkosten verbürgt. Kauf greift darum den vermeintlichen Bürgen beim
Landgericht zu Hanau, welchem das Dorf Hochstadt zugehört, auf die 23 si.
an; Appel leugnet die Bürgschaft; der Kläger bringt zum Beweise Zeugen
(„Kundschaft") herbei und da sie die Bürgschaft bestätigen, erkennen Schult¬
heiß und Schöffen des Landgerichts Hanau, daß Kauf „seiner Kundschaft
genießen" und Appel „die Bürgschaft entgelten soll", d. h. daß der Beweis
des Klägers erbracht sei. Dies der ganze Sachverhalt. Er spielte sich vor
dem Hanauer Schöffengericht in drei Terminen ab; in dem einen versandet-
ten die Parteien, im andern brachte der Kläger seine Zeugen zur Stelle und
ließ sie abhören, im dritten sprach das Gericht das Urtheil, nachdem beide
Theile ihre Ansichten über den Werth oder Unwerth der Zeugenaussagen
ausgetauscht hatten. Alles das ging mündlich vor sich und wurde kurz vom
Gerichtsschreiber im Gerichtsbuch eingetragen. Der Kläger vertrat sich selbst;
der Verklagte, wohl im Bewußtsein der Schwäche seiner Vertheidigung, hatte
sich einen „Fürsprach" angenommen, der statt seiner „redete"; was aber dieser
vorzubringen wußte, beschränkte sich darauf, daß ein Theil der Zeugen sich
vor der Vernehmung mit dem Kläger über die Sache besprochen hätte und
daß ein anderer Theil dem Kläger verwandt sei. Da Ersteres eine leere
Ausflucht und Letzteres ein Umstand war, der nur einzelne Zeugen traf, so
mußte das Gericht selbstverständlich des Klägers Beweis für erbracht an¬
nehmen.
Aber Appel glaubte sich bei dem Urtheil nicht beruhigen zu sollen; er
ließ sich deshalb von dem Fürsprach ein Schriftstück verfassen, worin er er¬
klärt, sich von dem Urtheil des „vermessenen Schultheiß und Landschöffen" —
„doch ihre Ehre und ihren Glimpf vorbehalten" — an Herrn Friedrich,
römischen Kaiser und an sein königlich Hof- und Kammergericht zu berufen,
„wie von geistlichen und weltlichen Rechten erlaubt ist zu Steuer Derer, die
an ihren Rechten geletzt und beschwert." Um diesem Schriftstück öffentliche
Glaubwürdigkeit zu geben, muß Appel sich an einen Notar wenden. Der
Notar ist damals der stete Vermittler zwischen dem Publicum und dem
häufig entfernt gelegenen Gerichte. Da aber die Schreib - und Geschäftskunde
in jener Zeit immer noch vorzugsweise an dem geistlichen Stand haftete, so sind
die Notare, welche beim Volke Cleriker heißen, in Wahrheit noch oft Geistliche,
an den kleineren Orten der dort befindliche einzige Cleriker, der Pfarrer; ihr
Geschäftsbureau schlagen sie im Chor der Kirche oder im Umgang derselben
oder draußen vor der Kirche auf dem Kirchhof auf. Die zwei Zeugen, die
sie nöthig haben, entnehmen sie, wenn sie ihr Client nicht mitbringt, aus
den Mitclerikern ihrer Kirche. Wir sehen daher unseren Appel mit dem
papiernen Zettel, den ihm sein Fürsprach aufgeschrieben hat, am 18. Juni 1791
auf dem Se. Leonhard's Kirchhof in Frankfurt erscheinen und den dort ge¬
rade anwesenden Notar, Philippus, Pfarrer zu Rumpenheim, in Gegenwart
zweier Geistlichen als Zeugen um einen „offenen Urkundsbrief" über die statt¬
gehabte Appellationsanzeige bitten. Der Notar, der nur „offene" Briefe
verfaßt und deshalb zu deutsch „ein Offenschreiber" sich nennt, bezeugt, daß
Appel mit dem papiernen Zettel vor ihm erschienen, und rückt dessen Jnhnlt
wörtlich in das Pergament ein, auf das er den vor ihm geschehenen
Rechtsaet niederschreibe. Dann begibt sich der Notar mit dem Pergament
einige Wochen später in Begleitung zweier Hanauer Bürger zum Vor-
stand des Hanauer Landgerichts?, zum Schultheiß desselben, überreicht ihm
Abschrift der aufgenommenen Urkunde und bezeugt, daß dabei Appel um
eine Bescheinigng über die stattgehabten Berufungsanzeige gebeten habe; der
Schultheis verspricht dem Gerichte davon Mittheilung zu machen. Hiernach
zieht der Notar mit zwei Zeugen nach Hochstadt in des Klägers Haus und
eröffnet dem Kläger im Beisein Appels, daß letzterer appellirt habe. Das
Nöthige hierüber schreibt er auf die Rückseite des Originalpergaments und
übergibt es dem Appellanten, dem es nun obliegt, mit dem Kaiser und dem
Kammergericht sich in Beziehung zu setzen. Zu diesem Zwecke hat er zunächst
einen Anwalt zu wählen» Die Vollmachtsurkunde stellt ihm wieder der
Pastor von Rumpenheim. diesmal bei der Pfarrkirche zu Hochstadt in Gegen¬
wart eines Priesters und eines Laien von Hochstadt, aus (unterm 30. Juni
1491). Da damals der Kaiser in Oestreich war und folgeweise auch dort
sein Kammergericht hielt, muß auch ein Anwalt in Oestreich gewählt werden.
Alle Anwälte der römischen Kammer waren römischgebildete Juristen, alle
sogar Liceneiaten oder Doctoren beider Rechte. Unbekannt mit dem deutschen
und nur groß gezogen in dem römischen Rechte, das ihnen als das allge¬
meine und damit auch als das deutsche Recht überliefert wurde, war es
ihre — wenn auch unbewußte — Aufgabe, den von den deutschen Unter¬
gerichten gebrachten deutschen Rechtsstoff umzumodeln und zuzustutzen nach
römischer Manier. Die Parteien verstanden nicht und wußten nicht, was
mit ihrem Processe geschah; gebunden überlieferten sie sich den römischen
Doctoren. Was diese zurecht dräueten, darüber hatte das Kammergericht zu
entscheiden, nicht über das, worüber in Wahrheit die Parteien streitig waren.
Gerade die erste Zeit des Reichskammergerichts war diejenige, in welcher das
römische Recht unser deutsches Recht in den weltlichen Gerichten am ärgsten be¬
drängte. Der Gegensatz beider Rechte tritt besonders scharf in unserm Processe
vor, der vor dem Hanauer Untergericht noch ganz in schlichtem deutschem
Gewand, vor dem Reichskammergericht aber bereits auf hohem römischem
Kothurne sich bewegt.
Seinem Anwälte Dr. Peter Gamp hatte Appel bereits im Jahre 1491
die Vollmacht nebst 20 Fi. Kostenvorschuß, (also fast ebensoviel wie das
Streitobjekt) nach Oestreich überschickt. Gamp beantragte auch bei Kaiser
Friedrich, den Kläger Kauf vor sich zu entbieten und der Kaiser befahl
unterm 29. Februar 1492 von Linz aus, daß Kauf vor ihm oder vor dem,
welchem er das an seiner Statt befehlen werde, wo er dann zumal im Reiche
sein werde, auf den 45. Tag*) nach Empfang der Ladung, oder wenn der
Tag kein Gerichtstag sei, auf dem nächsten Gerichtstag darnach zu erscheinen.
Diese Ladung, ausgehändigt an Gamp, sandte dieser nach Hochstadt, wo sie
auf Appels Ersuchen wiederum der Notar Philippus im Beisein zweier
Zeugen dem Conrad Kauf in dessen Wohnung verkündigte und überlieferte,
auch daß dies geschehen unterm 14. Sept. 1492 in einer neuen Urkunde
bezeugte. Aber es war kein Leichtes für Kauf, vor dem Kaiser, „wo er
dann zumal im Reiche sein werde", zu erscheinen; das Jahr 1492 und 1493
beschäftigte Friedrich in den Niederlanden; als er 1493 starb, hinterließ er das
Reich in großer Unordnung; deshalb und da auch der Anwalt des Gegners
Dr. Gamp nichts thun konnte oder wollte, ruUe unser Proceß volle drei
Jahre. Kauf versuchte die Sache beim Landgericht Hanau fortzusetzen, jedoch
erfolglos; denn das Landgericht war durch die Appellationsanzeige in seiner
Thätigkeit gehemmt und hatte keine Kunde, was aus der Appellation ge¬
worden sei. Inmittelst verstarb auch der Kläger. Als aber seine Wittwe
im Frühjahr 1495 erfuhr, daß Kaiser Maximilian in Worms tagte, wandte
sie sich an ihn und ließ ihren Gegner Appel vorladen, zu sehen und zu hören, wie
das Urtheil des Landgerichts Hanau bestätigt und seine Appellation für verjährt
erklärt werde. 'Am letzten Mai 1496 erfolgte die beantragte Ladung Appels
auf den 9. Tag oder den nächsten Gerichtstag darnach vor dem Kaiser, wo
derselbe dann zumal im Reiche sein werde. Die Ladung brachte ein Hanauer
Notar im Auftrage der Wittwe Kauf schon am 2. Juni im Beisein dreier
Zeugen an Appel. Da machte sich Appel selbst auf gen Worms. Dort
nahm er zunächst einen neuen Anwalt in der Person des Licenciaten Georg
Ortolff. ließ darüber in der Probstei zu Se. Paul vom Cleriker und Probstei-
schreiber Jacob Fuß ein Notariatsinstrument aufstellen und begab sich am
nämlichen Tage (3. Juli 1495) mit der Vollmacht, der kaiserlichen Ladung
und seinem Anwalt vor das kaiserliche Gericht.
Mit diesem Erscheinen Appels beginnen die Reichskammergerichtsacten
— also etwa 5 Wochen früher als die Reichskammergerichtsordnung und
der Landfrieden erlassen wurde. Aus den Protocollen, die über die nunmehr
in diesem Processe abgehaltenen Termine aufgenommen sind und nebenbei
gesagt unseren geübtesten Archivaren Schwierigkeit beim Entziffern machen
würden, ist weder der Gerichtsschreiber noch das Gerichtspersonal dem Namen
nach zu entnehmen; da mehrfach „der vominus juäsx", „der Richter", erwähnt
wird, so ergibt sich, daß die Verhandlungen vor einem der Beisitzer des
Kammergerichts stattfanden; die Entscheidung hatten zwölf Richter, halb
adlige, halb gelehrte, zu ertheilen; sie wurde in ein besonderes Urtheilsbuch
mit Angabe der Richter, von welchen sie ausging, eingetragen und fehlt
deshalb auch in den uns vorliegenden Acten. Der Vorsitzende des Reichs-
kammergerichts war — wenigstens 1497, gegen Ende unseres Processes —
Markgraf Jacob von Baden.
Im Termin, den 3. Juli 1495, bat Ortolff, das Landgericht Hanau
anzuhalten zur Einsendung der dort verhandelten Acten, damit Appel seine
Berufung fortsetzen könne. Für die Wittwe Kauf tritt der gerade bei Gericht
anwesende Kammerprocurator Dr. Engelländer auf und erbittet sich Frist,
um eine Vollmacht der Wittwe und deren Einwendungen gegen Ortolffs
Antrag einzubringen. Als ihm ein neuer Termin bewilligt ist, erklärt er die
Berufung Appels, da 3 Jahre abgelaufen, für defect (verjährt). Orrolff ant- /-».
wortet, die Vollmacht Engländers habe radirte Stellen, auch sei das Siegel
derselben nicht deutlich. Damit beginnen die Vorgefechte, in denen sich die
Anwälte abmühen, ihrer Partei zum Siege zu verhelfen. Nachdem das Gericht
die Vollmacht Engelländers der äußern Form nach für ordnungsgemäß ge¬
sunden hat, bestreitet Orrolff, daß die Wittwe Kauf überhaupt der Streit
etwas angehe, nicht sie, sondern ihre volljährigen Kinder seien die Erben von
Conrad Kauf. Engelländer beruft sich gegen diesen nach römischem Rechte
vollkommen richtigen Satz daraus, daß die Kinder minderjährig seien und
bittet, damit er seiner Partei nichts vergebe, um Frist sür eine wettere Erklä¬
rung. In dieser Frist läßt er sich denn belehren, daß nach deutschem Recht
oder wie er es auffaßt, nach einer in des Grafen von Hanau seit Menschen¬
gedenken üblichen Gewohnheit — die Wittwe Erbin der fahrenden Habe und
damit auch der Forderungen ihres Mannes sei, daß deshalb also die Wittwe
Kauf die einzige Berechtigte sei, den Proceß fortzuführen. Ortolff weiß
natürlich zunächst gleichfalls nichts von der Gewohnheit und verlangt, daß
sie Engelländer beweise; das Kammergericht kennt auch die Gewohnheit nicht
und legt darüber Beweis auf. Nun erkundigt sich auch Ortolff, ob die
Wittwe in Hanau wirklich, wie der Gegner behaupte, den Ehemann beerbt;
seine Partei bestätigt ihm das, er beeilt sich deshalb bei dem inmittelst nach
Frankfurt gewanderter Reichskammergericht, der Wittwe Kauf den Beweis
der bestrittenen Gewohnheit zu erlassen und wiederholt seine Bitte, die Acten
vom Landgericht Hanau einzufordern. Nach Abhaltung von 5 Terminen
steht die Sache demnach am 13. November genau auf demselben Punkt, aus
welchem sie im 1. Termin am 3. Juli stand. Engelländer verlangt nochmals
Verwerfung der Appellation als verspätet, das Gericht erkennt aber auf Ein-
sorderung der Hanauer Acten. Darauf läßt der Schultheiß zu Hanau alles,
was im dortigen Gerichtsbuch über den Proceß steht, ausziehen, bescheinigt
die Richtigkeit und schickt das Actenstück — es enthält nicht mehr als zwei
Blätter — versiegelt an Ortolff, der es beim Kammergericht öffnen und vor¬
lesen läßt, dann bringt er einige Wochen später seine Beschwerdeschrift ein.
Darin werden zunächst die Gründe wiederholt, aus denen Appels Fürsprach
das ergangene Urtheil in der Appellationsanzeige angreist, weiter aber wird
sich aus den Satz des römischen Rechtes gestützt, daß man einen Bürgen nicht
verklagen könne, so lange der Hauptschuldner am Leben und vermögend sei;
die Parteien und das Landgericht hatten von diesem Satze nichts gewußt;
er war darum auch früher nicht zur Sprache gekommen. Engelländer, eben¬
falls römischer Jurist, vermag die Geltung des Satzes nicht zu bestreiten,
behauptet aber, er vertrage der Klage des Kauf gegenüber keine Anwendung,
weil diese Klage nicht daraus gerichtet gewesen sei, daß Appel die 23 si.
bezahle, sondern nur darauf, festzustellen, ob Appel Bürge sei. In drei
weiteren Schriften lassen sich beide Anwälte über diesen Punkt des Breitern
aus. Das Gericht geht auf Ortolffs Ausführung ein und verlangt von
seiner Partei den Beweis, daß Elise Werner, für welche Bürgschaft geschehen
sein sollte, im Stande ist, die 23 si. selbst zu bezahlen. Appel benannte drei
Zeugen aus Hochstadt und erwählt zu Commissarien, die sie vernehmen sollen,
den Dr. Ludwig zum Paradies, jüngst von Kaiser Max als erster ge¬
lehrter Schultheiß zu Frankfurt ernannt, und die zwei Frankfurter Stadt¬
schreiber, Meister Heinrich Orteberg und Melchior Schwartzenberg. Aber
die Commissäre halten die ihnen gesteckte Monatsfrist nicht ein und Appel
bittet deshalb um neue Frist und um andre Commissäre, die ihm nun der
Kammerrichter, Markgraf Jacob von Baden, in der Person zweier Kammer¬
gerichtsmitglieder, des Herrn Richard Gratman von Vockedich, Official (also
geistlicher Beamter) zu Coblenz und des Herrn Dietrich von Pleningen be¬
stellt. Durch kaiserliche Ladung vom 14. April 1497, ausgefertigt vom
Canzler Dr. leZum Georg von Helle Namens des Erzcanzlers, Erzbischofs
von Mainz, und vom Reichskammergerichtsprotonotar Joh. Storch, werden
die Zeugen auf den 18. April „an die gewöhnliche Kammergerichtsstatt all-
hier zu Frankfurt" geladen. Die Vernehmung erfolgt am genannten Tage
durch den Protonotar Storch vor den beiden Commissaren und ergibt, daß
Elfe Werner allerdings hinreichendes Vermögen besitzt, um 23 si. zu bezahlen.
Das Zeugenverhörsprotocoll wird versiegelt dem Kammergertcht überreicht;
die Eröffnung und Versetzung erfolgt auf Antrag des Ortolff in einem wet-
teren Termine; die Anwälte wechseln dann noch vier Schriften darüber, ob
die Aussage der Zeugen genüge, Engelländer versteigt sich dabei in echt roma-
nisirender Tendenz soweit, daß er die Zeugen zu römischen Sclaven (servi)
macht, welche kein Zeugniß ablegen könnten; worauf Ortolff nicht etwa her¬
vorhebt, daß die deutschen Hörigen himmelweit verschieden seien von den
römischen Sclaven*), sondern nur sagt, sie seien nicht für solche Eigen-Leute zu
halten, welche von Ehren gesetzt wären.
Hiernach „couelusit äominuL juäsx terminis", d. h. der Herr Richter
erklärt die Verhandlungen für geschlossen. Wenn auch das Endurtheil in
den Acten fehlt, so ist es zweifellos auf Abweisung des Klägers mit seiner
Klage gegangen; denn indem das Gericht den Beweis verlangte, ob Elfe
Werner Vermögen habe, gab es deutlich kund, daß es die Klage nur zulassen
wollte, wenn sich herausstellte, daß Elfe Werner unvermögend war. Davon
hatten die Zeugen das Gegentheil gesagt. In der Sprache des Kammer¬
gerichts mag deshalb das schließliche Erkenntniß gelautet haben, „daß das
Landgericht zu Hanau übel geurtheilt und Appel wohl appellirt habe, und
daß derselbe von der Klage zu entledigen, auch die Wittwe Kauf zur
Ablegung der Gerichtskosten, deren Ermäßigung vorbehalten, zu condem-
niren sei."
Nach Verlauf von sechs Jahren, nach Abhaltung von 23 Terminen,
nach Einreichung von 10 Proceßschriften, nach Erlaß einer ganzen Reihe kai¬
serlicher Ladungen aus Linz. Worms und Frankfurt, nach Aufnahme ebenso
vieler Notariatsinstrumentc hatten demnach die Parteien eigentlich nichts er¬
fahren, als daß Elfe Werner 23 si. im Vermögen besaß und daß der römische
Rechtssatz in Deutschland gelte, wonach ein Bürge nicht vor dem Haupt¬
schuldner belangt werden könne. Ueber Beides hatten die Parteien in Wahr¬
heit nicht gestritten; Appel hatte der Klage des Kauf nichts als ein frivoles
Leugnen der Bürgschaft entgegengesetzt, beim Landgericht Hanau mit Recht
erfolglos, beim Reichskammergericht aber, Dank der Unterstützung seines ge¬
lehrten Procurators, der die ganze Sachlage verrückte, sehr erfolgreich. Die
„gen Oestreich" gesandten 20 si. Kostenvorschuß waren zwar für Appel,
wahrscheinlich für immer dahin, aber er brauchte doch die 23 si., um welche
Kauf ihn verklagt hatte, nicht zu zahlen und — was die Hauptsache war —
Kauf' Wittwe hatte die sämmtlichen, vor dem Wormser und Frankfurter
Kammergericht entstandenen Kosten zu tragen; in einer der Prozeßschriften
werden sie noch vor dem Schlüsse des Processes auf über 100 si. angegeben,
also etwa auf das Fünffache des Streitobjekts. Für die Wittwe Kauf eine
theure Belehrung in der Kenntniß des römischen Rechtes!
So unbedeutend sachlich der hier besprochenene Proceß ist*), so sehr kann
er doch dazu dienen, mit der schweren Maschinerie des Neichskammergerichts
vollständig vertraut zu machen; dem gewaltigen Räderwerk, bei welchem ge¬
wissermaßen die Person des Kaisers selbst Hand anlegt, fehlt überall das
geschmeidige Oel und das raschtreibende Schwungrad. Mit der Zeit besserte
sich nicht etwa dieser Zustand, sondern er verschlimmerte sich. Wie die An¬
wälte in unserm Processe — und sie waren hochgelehrte Rechtsgelehrte; denn
Engelländer, der Entdecker des römischen Sclaventhums in Deutschland, fungirt
1506—1609 als Canzler Landgraf Wilhelm's in Marburg und 1510 als
Kanzler des Erzbischofs zu Mainz — so sahen auch alle spätern Reichskammer-
gerichtsprocuratoren zunächst ihre Aufgabe darin, mit Formalien den Gegner
zu ermüden oder zu erdrücken, und es erst, wenn sie damit scheiterten, zur
Entscheidung des materiellen Streitpunkts kommen lassen. Die vom Unter¬
gericht eingeschickten Proceßacten, welche 1491 kaum zwei Blätter füllen,
wachsen allmälig zu Foliobänden an, die Proceßschriften, welche 1497 noch
auf eine oder auf zwei Seiten sich beschränken, dehnen sich aus zu fingers¬
dicken Heften und hüllen den wahren Kern des Streites in todte Gelehrsam¬
keit ein, als dürfe ihn Niemand finden und bloslegen. Ein Capital an Zeit,
Geld und Menschenkräften wird in einem Maße vergeudet, wovon wir heute
kaum einen Begriff haben. Jahrhunderte waren nöthig, bis sich unser Rechts¬
leben durch diesen Wust hindurchrang, aber es hat sich hindurchgerungen
und geht hoffentlich weiteren, stetem Fortschritte entgegen. Wie die Acten¬
stöße allmälig heranwuchsen, so sind sie allmälig wieder zusammenge¬
schrumpft, ja fast sind sie gänzlich verschwunden und haben der mündlichen
Rede, dem lebendigen Worte ihren Platz überlassen; die römische Jurispru¬
denz hat — nachdem sie in unverkennbar segenbringender Weise unser Recht
geläutert — ihren Herrschaftssitz geräumt und bescheidet sich, eine gelehrte
Stütze wissenschaftlicher Forschung zu sein, indem sie das praktische
Feld andern Kräften überläßt. Das Volt selbst nimmt wieder Theil am
Rechtsprecher; die Geschworengerichte, die Handelsgerichte, die Schöffengerichte
in Polizeistrafsachen beginnen uns wieder einzuführen in die Zeiten des
lebendigen Rechts, des mündlichen und öffentlichen Gerichtsverkehrs.
Einstweilen wollen wir am früheren obersten Reichsgerichtshof lernen,
wie der künftige Reichsgerichtshof — nicht sein wird.
Man hat es der großen Kaiserin von Rußland zum Lobe angerechnet,
daß sie einen dritten Stand geschaffen habe, und daß unter ihrer Regierung so
viele Städte entstanden seien; zweihundert Städte werden namhaft gemacht,
welche, wie es in einem russischen Geschichtswerke heißt, „alsbald zu großer
Blüthe gelangten." In Wahrheit mag dies von sehr wenigen Städten gelten,
und zu diesen gehört Odessa. Die meisten Stadtgründungen ihrer Zeit sind
keineswegs erfolgreich gewesen, weil nicht eine rasch steigende Dichtigkeit der
Bevölkerung, Handels- und Judustrieverkehr schuf, sondern eine Polizei,
welche selten nach rationellen Grundsätzen verfuhr.
Die russischen Minister haben sich es oft zu leicht gedacht den Orient zu
reformiren. Da gab es ein großes Feld für neue Schöpfungen, einen gewal¬
tigen Spielraum und man verfügte über relativ bedeutende Mittel. Die ab¬
solute Gewalt wirkte in einem Volksthum, welches lange Zeit an ein ab¬
solutes Gehorchen gewöhnt war; es gab keine öffentliche Meinung, keine
organischen Institutionen, welche der reformirenden Gewalt hätten erhebliche
Schranken setzen wollen. So meinte man viel Neues hervorzaubern zu kön¬
nen. Es ist einiges Bedeutende geschehen. Man hat viel versucht, noch viel
mehr sich zugetraut. Zum Phantastischen geneigte Naturen, wie der Fürst
Potemkin, haben Unmögliches für möglich gehalten. Die Ausführung ist
dann kläglich hinter dem Entwürfe zurückgeblieben. Der Fürst wollte die
Steppen Südrußlands wie mit einem Zauberschlage in einen Garten, die
öde Wildniß in eine Menge reichbevölkerter Städte verwandeln, das ist nicht
gelungen.
Merkwürdig ist es, wie nach der Besetzung Südrußlands und der Krim
Potemkin eine Thätigkeit entfaltet, welche auf alle nur erdenklichen Zweige
der Verwaltung gerichtet ist. Eine große Menge von Ackerstücken, zum
Theil eigenhändige Schreiben des Fürsten sind erhalten, woraus zu ersehen
ist. mit welchem Eifer, mit welcher Hast und Ueberstürzung die Neugestal-
tung Südrußlands und der Taurischen Halbinsel angebahnt wurde. Die
Landwirthschaft sollte zuerst einen Aufschwung nehmen; allerlei Vergünstigun-
gen wurden den Ansiedlern gewährt, welche man von allen Seiten her ein¬
lud, man gedachte Wälder in großem Maßstabe aus der Straße anzu¬
pflanzen, allerlei Gemüsesämereien wurden verschrieben, besonders in Taurien
wurden Weinberge angelegt; man hoffte auf große Ergebnisse bei dem Seiden¬
bau, pflanzte Maulbeerbäume und verschrieb Seidenraupen. Auch die In¬
dustrie sollte durch die Anlegung zahlreicher Fabriken ausblühen. —
Ebenso bestrebte man sich die geistigen Interessen zu fördern. Die Ta¬
taren suchte man dadurch zu gewinnen, daß man eine neue und correcte
Ausgabe des Korans veranstaltete. Landwirthschaftliche Schulen, Druckereien,
Mädchenpensionen wollte man anlegen. Ausländer kamen als Lehrmeister
der Russen im Seefache, in allerlei Handwerken. Der Schiffsbau wurde mit
Eifer betrieben; Kasernen wurden angelegt, Festungen, Krtegshäfen wurden
gebaut. Weder Geld noch Menschenkräfte scheute man, um nur möglichst
schnell die Satrapie Potemkin's in eine Art Paradies zu verwandeln.
Ein unverdächtiger Zeuge, dem man am allerwenigsten eine tendenziöse
Anschauungsweise vorwerfen kann, der Academiker Pallas, theilt in seinem
vortrefflichen Reisewerke über die Krim, welche er wenige Jahre nach Po¬
temkin's Tode bereiste. Einiges über die mangelhaften Resultate eines solchen
fieberhaft sich überstürzenden administrativen Treibens mit. Er berichtet von
einer im größten Stil im Sudagh'schen Thal? angelegten Branntweinsabrik,
welche nun verfalle. Ein 140 Fuß langer und über 60 Fuß breiter Wein¬
keller, der wenigstens 600 Stückfässer und viele tausend Eimer fasse, stehe
ganz leer und unbenutzt; an manchen Orten der Krim sehe er Kasernen und
Ställe für viele Cavallerieregimenter — in Trümmern; für die Seidenzucht
sei ein Ausländer als Director einer zu gründenden großen Anstalt berufen
worden, man habe ihm bedeutende Strecken Landes zur Ansiedelung von Sei¬
denzüchtern angewiesen, Jahrelang habe er einen bedeutenden Gehalt bezogen;
eine Baumschule von mehreren tausend Maulbeerbäumen habe indessen jähr¬
lich nur 6, höchstens 20 Pfund Seide geliefert, worauf denn die Anstalt
gänzlich eingegangen sei; ein in der Krim mit großen Kosten eingerichteter
Münzhof habe, nachdem dort nur 100,000 Rubel Münze geprägt worden,
seine Arbeiten eingestellt. — Auch Joseph II., der 1787 sich durch den
Augenschein vom Stande der Verwaltung in der Krim überzeugen konnte,
berichtet in seinen (vor kurzem durch Herrn von Arneth herausgegebenen)
Briefen über seine Reise in Südrußland an den Feldmarschall Lascy: die
Anpflanzungen von Krapp, von Tokaier Reben, die Anfänge des Seiten¬
bauch — Alles mißlinge. Mit dem französischen Gesandten Se'gur. welcher,
wie Joseph II., die Kaiserin auf ihrer Reise in die Krim begleitete, tauschte
Joseph seine Gedanken über die Vergeblichkeit aller Bemühungen aus, den
Süden von Rußland so rasch zu bevölkern, reich und blühend zu machen.
als Potemkin und die Kaiserin hofften. Mit Recht werfen Beide dem erste¬
ren vor, daß es ihm an Beharrlichkeit fehle, daß er alles eifrig angreife,
um eben so schnell zu andern Unternehmungen überzugehen, daß man in ge¬
wissenloser Weise Geld- und Menschencapital vergeude, um nur augenblick¬
liche Scheinerfolge zu erzielen. Die Kaiserin allerdings, welche diese Gegen¬
den bereiste, äußerte sich mit der größten Zufriedenheit über Alles. Ihr san¬
guinisches Temperament so wie die für diesen Zweck mit großer Kunst von
Potemkin getroffenen Anstalten, ließen Alles in dem günstigsten Lichte er¬
scheinen. Man täuschte sich über die Schwierigkeiten, mit denen man zu
kämpfen hatte; man war entzückt der Mitwelt zeigen zu können, über welch
reiche Hilfsmittel Rußland verfügte.
Selten ist der Gegensatz von Absicht und Ausführung, von großen Ent¬
würfen und geringen Erfolgen, von Ideal und Wirklichkeit bei solchen Ver¬
waltungsmaßregeln so auffallend gewesen als bet der Gründung von Jeka-
terinoslaw. Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Ereignisse.
Schon im Jahre 1784 werden Maßregeln getroffen, um eine geeignete
Stelle zur Gründung einer Stadt Jekaterinoslaw ausfindig zu machen.*)
Einige Monate später wird bereits der Befehl erlassen, in der neuzugründen¬
den Stadt eine Universität zu errichten, wo nicht bloß Russen, sondern auch
Glaubensgenossen aus den benachbarten Ländern studiren sollten. Bald da¬
rauf erschienen in großer Zahl Arbeiter an der Stelle, wo am rechten Ufer
des Dnepr in der Nähe des Dorfes Kaidaki die neue Stadt sich „zum Ruhm-
Katharinas" erheben sollte. Es kamen Steinhauer, Maurer. Schmiede, Zim¬
merleute zu vielen Hunderten. Der Oberst Sinelnikow sollte die Bauten be¬
aufsichtigen. Vorläufig wurden ihm 200.000 Rubel zur Verfügung gestellt.**)
Vielfache Actenstücke zeugen noch heute von der vielseitigen Thätigkeit dieses
Beamten, welcher 1788 bei der Belagerung von Otschakow seinen Tod fand.
Die Stadt sollte gewaltige Dimensionen erhalten. Die Straßen sollten
eine Breite von 200 Fuß haben, 26 Werst (fast 4 Meilen) längs dem Flusse
sollte sich die Stadt hinziehen, für welche man ein Weichbild von 300 Qua¬
dratwerst bestimmte. Da die Stadt auf einer Anhöhe liegen sollte, beabsich¬
tigte man außer sechs Brunnen noch ein großes Wcisserbassin in der Stadt
zu errichten: man hoffte es mit Pumpwerken aus dem Flusse speisen zu können.
Sehr ausgedehnte Weideplätze für das Vieh der Stadtbewohner wollte man
abstecken, eine Fischerei einen botanischen Garten, Plätze für die Belustigung
der Städter wollte man anlegen. Man errichtete in großer Zahl Werkstätten
für die Handwerker; ungeheure Mengen von Ziegelsteinen, Gips, Kalk, Granit,
Sandstein wurden angefahren, man erbaute Ziegelbrennereien, verschiedene
Baucommissionen entstanden. Alsbald stand der Palast des Fürsten Potem-
kin fertig da, ein ausgedehnter Luxusbau. mit köstlichem Hausgeräth geschmückt;
die Prunkgemächer strotzten von Reichthümern. In dem Garten, dessen Bäume
durch hohes Alter ausgezeichnet waren, gab es zwei Treibhäuser, eines für
Ananas, andere für Lorbeer-, Pomeranzen-, Apfelsinen-, Granatenbäume,
Dattelpalmen u. tgi. Rings um den Palast baute man kleine Häuser für
die Beamten der verschiedenen Kanzleien, welche alsbald entstanden, für die
Handwerker und Industriellen, die bei den Bauten beschäftigt waren und
die bei den großen zu gründenden Fabriken Beschäftigung finden sollten, end¬
lich auch für die Ansiedler, welche man durch allerlei Vergünstigungen. Ab¬
gabenfreiheit, Geldvorschüsse, geschenkte Bauplätze herbeilocken zu können hoffte.
Zwölf Fabriken wollte man gründen, darunter eine Seidenstrumpfwirkerei,
für deren Anlage 340 000 Rubel assignirt. und aus dieser Summe 240,000
Rubel wirklich vorausgabt wurden und welche nach wenig Jahren wieder
einging. Eine Tuchfabrik bestand längere Zeit.*) — In den Entwürfen,
welche der Fürst Potemkin der Kaiserin einsandte, ist von einem Gerichtsge¬
bäude die Rede, welches im Styl der alten Basiliken, und von einer Kauf¬
halle, welche nach dem Muster der Propyläen in Athen gebaut werden sollte,
von einer Börse, einem Theater, einem musikalischen Conservatorium, Aus¬
drücklich bemerkt Potemkin, daß sämmtliches Baumaterial für alle diese Werke
bereits vorräthig sei. Indem er von der Universität spricht, macht er darauf
aufmerksam, von welch großem Werthe eine solche große Lehranstalt für die
benachbarten Polen, Griechen, Moldauer, Wallachen, Jllyner und andere Völ¬
ker sein müsse. **)
Damals beabsichtigte die russische Regierung noch andere Universitäten
zu gründen. In den Acten finden wir Pskow. Tschcrnigow und Persa als
glückliche Orte genannt, an denen Universitäten errichtet werden sollten.""")
Die Universität in Jekatannoslaw sollte eine Lehranstalt im größten Styl sein.
Schon im Jahre 1786 war man so weit, daß eine Universitätskanzlei bestand.
Für die Gründung wurden allerlei Einkünfte aus verschiedenen Gegenden
Südrußlands im Betrage von 300,000 Rubel angewiesen. Man berief
sogar Professoren. Als Director der Universität sollte der damals sich großer
Berühmtheit erfreuende Musiker Sarti fungiren, als Historiograph ein fran¬
zösischer Militär Guyenne, zwei Maler wurden berufen, auch für die Lehr¬
stühle der Oekonomie und Landwirthschaft werden in den Acten Personen
mannhaft gemacht. Das musikalische Conservatorium und eine Akademie der
Künste sollten mit der Universität verbunden werden. Ein Observatorium
sollte errichtet, ein besonderer Staollheil für die Wohnungen der Professoren
und Studenten — eine Art yug-rtitzr latin — angewiesen werden.*)
Die Kathedrale, welche Jekatarinoslaw zieren sollte, gedachte man in
den allergrößten Dimensionen zu bauen, und zwar nach dem Muster der
Peterskirche zu Rom. Sie sollte eine Länge von 500, eine Breite von 150
Fuß. somit einen Flächeninhalt von 75000 Quadratfuß haben. Potemkin hielt
darauf, daß die Kirche noch um etwa eine Elle länger sein müsse, als die
Peterskirche in Rom. Noch heute werden in der jetzigen unverhältnißmäßig
kleineren Kirche, welche ein halbes Jahrhundert später an jener Stelle gebaut
wurde, die Pläne aufbewahrt, welche damals entworfen wurden. Zwei An¬
sichten des Innern der zu gründenden Kathedrale, noch heute in dem Museum
der Odessaer Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer Südrußlands zu
sehen, zeugen von der Großartigkeit dieser Entwürfe. Von dieser Kathedrale
ist nur ein Theil des Fundaments fertig geworden und derselbe hat 71,102
Rubel 45^/z Kopeken gekostet. Die Summen für den Weiterbau versiegten
sehr bald.
Die Grundsteinlegung dieses projectirten Riesenbaues fand am °/-zö Mai 1787
statt. An diesem Tage kam die Kaiserin Katharina II. in Begleitung des
Kaisers Joseph II. und von einem stattlichen Gefolge umgeben, auf ihrer
^else nach Cherson und der Krim an der Stelle vorüber, wo die künftige
Stadt Jekatarinoslaw mit der herrlichen Kathedrale sich erheben sollte. Die
Reisegesellschaft, etwa 3000 Personen stark, darunter die Gesandten Englands,
Frankreichs und des Kaisers, der Fürst von Ligne, Prinz Nassau-Siegen,
Potemkin, Suworow, Besborodko u. A. landete mit ihrer prachtvoll ausge¬
statteten, aus etwa 50 schwimmenden Palästen bestehenden Galeerenflotte in
der Nähe des Ortes, wo die Grundsteinlegung erfolgen sollte. Die Kaiserin
verfügte sich mit Joseph II. im Wagen zu der aus einem Zelt gebildeten
Feldkirche, wo der Gottesdienst stKttsand. Die meisten der bei der Grund¬
legung anwesenden Personen mochten in Betreff der zukünftigen Stadt sehr
sanguinische Hoffnungen hegen. Ein Zeitgenosse sagt, man habe gemeint,
Jekatarinoslaw werde ein zweites Rom, ein zweites Athen werden, dafür
bürge ja das Genie Potemkins."*) Joseph theilte solche Hoffnungen nicht.
Man berichtet von einer sarkastischen Aeußerung des Kaisers, er habe an
diesem Tage ein großes Werk vollbracht, die Kaiserin habe den ersten Stein
zu einer Stadt gelegt, er — den letzters) Im Gespräch mit dem Kaiser
äußerte Segur wohl später: es werde wohl nie und nimmer in dieser Kirche
zu Jekatarinoslaw die Messe gelesen werden.
Es war dies eine der Episoden jener Reise, welche viel zu reden machte
und bis heute als ein colossales Beispiel des Humbugs gilt. Nachdem
mau den Grundstein in Jekatarinoslaw gelegt hatte, ward bei dem Ge¬
neralmajor Sinelnikow, der jene Provinz verwaltete, ein Mahl einge¬
nommen. Man ergötzte sich sodann an dem Anblick der Stromschnellen,
kundige Schiffer führten die Galeeren durch die Strudel hinab. — Hierauf
reiste man weiter nach Cherson. Das erste Schiff, welches hier vom Stapel
lies, hieß auch der „Ruhm Katharinens" ein anderes „Joseph II." Ebenso¬
wenig wie das nachmalige Jekatarinoslaw ein zweites Rom oder Athen ge¬
worden ist, wurde Cherson ein gewaltiger Kriegshafen.
Es waren Träume, deren Verwirklichung ausblieb. Noch in demselben
Jahre brach der Krieg mit der Pforte aus. Er störte die Entwickelung der
Stadt Jekatarinoslaw. Im Süden wurden noch während des Krieges andere
Orte gegründet, namentlich Nikolajew. Sehr bald nach dem Friedensschlüsse
erhob sich dort, wo das kleine türkische Fort Hadschi-Bei stand, die Stadt
Odessa. Der Generalmajor Sinelnikow, der sich bei der Gründung von
Jekatarinoslaw verdient gemacht hatte, fiel bei der Belagerung von Otschakow.
Etwas später starb Potemkin. Der Entwurf ihm in einer zu gründenden
Stadt „Gregoriopol" ein seiner administrativen Thätigkeit würdiges Denk¬
mal zu setzen, ist fast nur Entwurf geblieben. Der kleine, damals gegrün¬
dete Flecken ist höchst unbedeutend und zählt etwa 6000 Einwohner. Die
deutschen Colonien rings umher, welche einige Jahre später entstanden, und
deren Namen „Worms," „Cassel," „Straßburg" u. tgi. an den Westen mahnen,
sind zu einiger Blüthe gelangt.
Der Ausbau von Jekatarinoslaw ist auch später 1794 wieder in An¬
griff genommen worden. Aber noch im Jahre 1795 bestand die Stadt
nur noch in ihrer Anlage und hatte außer den Gebäuden für die Gerichts¬
höfe nur einige Einwohnerhäuser und den-, ansehnlichen Garten des Fürsten
Potemkin, übrigens aber in dem abgesteckten Stadtgebiet nichts als offene
Steppe. Erst in den dreißiger Jahren entstand die kleinere Kirche an der
Stelle der größeren, deren Fundament noch heute kenntlich ist und eine Art
Kirchhofsmauer bildet. Ungefähr gleichzeitig ward der Kaiserin Katharina
vor der Kirche ein Denkmal errichtet. Die Bronze-Statue zeigt nach Süden.
Nicht Jekatarinoslaw ist die Stadt der Zukunsr geworden, sondern Odessa.
Leipzig, Is. Februar 1850.
Es geschehen noch immer bedeutende Wallfahrten nach Dresden zu
Meyerbeers Propheten, der dort mit ganz ausnehmender Pracht gegeben
werden soll. Ein Fremder, der diese Oper in Paris gesehn, wollte sogar
behaupten, sie führen in Dresden noch besser Schlittschuhe wie dort! Hier
wird die Oper zur Ostermesse vorbereitet, auch Me außerordentlichen Vor¬
anstalten, sodaß der hohe Rath selbst übernommen, die Decorationen malen
zu lassen. Man wird fast gezwungen zuzugeben, daß in dieser Musikart, die
so viele Menschen anzieht, etwas Positives und Wahres sein müsse, und ich
kann es nicht mitempfinden. — mir kommt alles darin so naturlos, so un¬
erquicklich und verbrannt vor, daß es zu einem musikalischen Eindrucke bei
mir dabei gar nicht kommt. Ueberwürztes kommt Einem wohl mehr vor,
aber hier scheint mir's immer wie ein Gericht aus bloßem Gewürz ganz allein^
Wenn man süß-italienische Musik Zucker mit einer Honigbrühe genannt hat,
so ist die Meyerbeer'sche gepfefferter Ingwer oder Zimmt. Indessen wenn
man nach H. Heine's botanischen System, der die Pflanzen eintheilt in solche,
die man essen kann, und solche, die man nicht essen kann, die Opern eintheilt
in solche, die gegeben werden und solche, die nicht gegeben werden, so müssen
ja wohl die Meyerbeer'schen entschieden zu den genießbaren gehören und es
liegt eben nur an unserem musikalisch schwachen durch Sebastian Bach,
Mozart und Beethoven an zu schwache Kost gewöhnten Magen, wenn uns
dieser Kant Mut nicht behagen will. Wie aber das Eine und das Andere
gefallen kann, verstehe ich nicht. Das ist aber auch in dem Vergleich jenes
ältern mit dem neuern musikalisch-romantischen — denn Romantiker ist
Meyerbeer entschieden nicht — schwer zu begreifen, denn entweder das Eine
ist Musik oder das Andere: d. h. entweder das Organische oder das Unor¬
ganische, nach meiner Meinung heißt das: das Freie oder das Unfreie. Ich
glaube das erstere ist Musik und Kunst; die Romantiker halten aber eben
das für frei, was außer dem organischen Zusammenhange d. h. außer ver¬
nünftiger Nothwendigkeit, mit einem Wort was unvernünftig ist.
Leipzig, den 27. April 1864.
Goethe hat zu seiner Farbenlehre einen polemischen Theil gegeben und
das ist immer recht gut und besser, als wenn die andersmeinenden blos ig-
norirt werden. Es ist gut für solche, die meinen, jede Meinung habe eine
Berechtigung, für solche, die immer der Meinung des letzten Buches find,
das sie gelesen haben, weil sie zu der einen Vernünftigkeit einer Sache nicht
gelangen können, die verschiedene und entgegengesetzte Meinung nicht mehr
zuläßt. Es ist in der Architektur mit solchen Verirrungen noch schlimmer,
als in der Musik. Die Partitur einer Musik, die nach unwahrem Princip
componirt ist, wird früher oder später helfen gelegt — was nicht wahr ist,
wird keine Dauer haben, ein Publikum läßt sich blenden, die Menschheit im
Ganzen nicht. Ein schlechtes Gebäude aber bleibt stehen, es wird nicht abge¬
tragen, weil es ästhetisch schlecht ist. Man wird es später nicht recht finden,
aber das Auge gewöhnt sich daran und das ist schlimm; man hat viel mehr
Schlechtes als Gutes vor Augen, wie kann sich da der Sinn für's Gute
bilden und erhalten. Man findet auch für keine Kunst weniger natürlich ge¬
sundes Urtheil, als für die Architektur. Ein Haus mit Säulen heißt ein
schönes Haus. In Petersburg gibt es eine Hauptstraße, die Alexander-
Newsky- Perspective, wo es Baureglement ist, daß kein Haus ohne Por¬
phyrsäulen gebaut werden darf, — damit es lauter „schöne Häuser" gebe.
Und doch ist's grade doppelt schwer ein Haus, auch ein vornehmes, mit
Säulen schön zu bauen, wenn die Facade vernünftiges Aeußere eines Innern
sein soll. Daß das Baumaterial am Idealen des Baues Antheil und Be¬
deutung habe, fällt dilettantischen Aesthetikern gar nicht ein und sie würden
es auch nicht zugeben, wollte man es ihnen beizubringen suchen; sie haben
ihren Geschmack, darnach Alles sein soll; nach den Bedingungen, wie etwas
natürlich sein kann, ist keine Frage. Die Angemessenheit des Ausdruckes
zu den Mitteln ist das, was ich recht eigentlich Styl nennen mag, ' —
in der technisch-ästhetischen Sphäre — in der weiteren zum Gegenstande.
Darum wird es in der Musik einen Symphoniestyl, einen Quartettstyl, einen
Styl für Chorgesang und so für jede Musikgattung geben, aber nicht einen
Mozart- — Bach- — Beethoven'schen Styl; was einen Meister kenntlich macht
vor anderen, ist immer Manier, ist etwas Individuelles, dem kein Individu¬
um sich entziehen kann. Auch Goethe wird Manier haben, er hat aber auch
Styl, nicht goethischen Styl, sondern der Dinge, die er dargestellt. Das
kommt, daß er aus dem Realen in's Ideale dichtet, wie Merk schon in
früher Jugend zu ihm sagt: „Dein Bestreben, deine unablenkbare Richtung
ist dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben, die Andern
suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen, und das
gibt nichts wie dummes Zeug!" Dahin gehört auch Goethes eigenes Wort:
— „Jeder sei Grieche auf seine Art, aber er sei es!" — Man wird aber
mit solchen Worten viel mißverstanden; sagt man Griechen, so glauben die
Leute, man meine Säulen und Hexameter, und man meint doch nur Wahr-
keit der Darstellung; spreche ich von Form, so denken sie an eine Schablone,
und ich meine doch nur eine gesetzliche Bildung, die immer eine unendliche
Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit sein kann. So ist Haydn mannigfal¬
tiger in den Formen wie Mozart; zuweilen mehr blüthenreiches Rankenge¬
wächs, da im Mozart immer Stamm und Zweige sich unterscheiden, aber
gestaltlos wird auch Haydn niemals. Das Unwahre kann oft einen Reiz
haben, der dem Wahren abgeht, das sich mit der schlichten Schönheit be¬
gnügen muß; diese, selbst ein harmonischer Zusammenklang, klingt auch nur
in harmonisch gebildetem Sinne an. Der Reiz, der im Unvermittelten besteht,
findet leichter Anklang, er spricht zu den Sinnen. In der Musik sind es die
sogenannten „schönen Stellen;" — Don Juan hat keine solchen. Aber doch
auch wieder können schöne Stellen eine Musik aus die Dauer nicht halten.
Als Einzelnes sind sie für's Einzelne und haben im Ganzen keine Bedeutung.
— Was Semper mit seinen Gedanken meint, den er architektonisch verkörpern
will, verstehe ich nicht. Ich erinnere mich eines architektonischen Werkes
von I.s poux, das Ihnen jedenfalls bekannt ist — la vitis Ah OKaux. —
Da kommen solche Gedankenverkörperungen vor. Die Wohnung des Fa߬
binders war wie ein Faß geformt, mit Reifen. Gott sei Dank, daß solche
Verkörperungen auf dem Papier bleiben, nicht gebaut werden. Was von
Ik poux ausgeführt war, ich glaube Barriören-Häuser, war dagegen sehr ge¬
wöhnlich und prosaisch. — Möchte doch einmal eine Architekten-Versammlung
in Leipzig stattfinden; weniger wäre es mir hier um den Ideenaustausch
als daß wir Sie einmal nicht aus Stunden, sondern auf Tage herbekämen.
Leipzig, 1857.
.. Für mich hat die neue Kunst etwas sehr unfreies, beängstigendes, wenig¬
stens beengendes, wie die Poesie der Romantiker; der des ersten Viertels
unseres Jahrhunderts nämlich, denn die Romantik des Mittelalters ist so
frei und gesund wie die Antike. Die Krankheit hinter den scheinbar blühen¬
den Wangen der Poesie jener Zeit hat sich vollauf bestätigt. Goethe war
da in voller Kraft und Schönheit, als die blaue Blume Novalis, schwind¬
süchtig reizenden Ansehens aufging und alle Blicke auf sich von dem Ge¬
sunden ablenkte, wie eine neu entdeckte, aus ächtem Reich der Poesie herze-
kommene Victoria re^la. Wie bald aber ist die abgeblüht, ohne Frucht
angesetzt zu haben, wie sie nicht aus gesundem Keim gewachsen war: und
jener Baum steht noch lebenskräftig, unverkümmert da und treibt fort und
fort neue Zweige. Auch die Krankheit Werther's ist gesunde Poesie, während
dort die Gesundheit selbst poetisch krank gefaßt und dargestellt wird. In der
poetischen Literatur ist man darüber wohl gänzlich hinaus, in der Musik,
scheint mir, stecken wir gegenwärtig recht mitten darin. Wie man auf hohem
Berge eine Wolke kommen sieht, und wenn sie abgezogen, sie wieder als
Wolke erkennt, wenn sie uns umgibt aber nur einen feuchten Nebel fühlt, so
könnt' es vielleicht jetzt mit der Musik sein. Für den heutigen jungen Mu¬
siker gehört wohl eine enorme Energie dazu, dem Strome nicht zu folgen,
den solche Potenzen wie Berlioz und Wagner erregen; denn eine poetische
Kraft wird man diesen doch immer zugestehen müssen, wenn auch das Agens
für die Kunst mehr auflösender als fixirender Natur ist. Von den beiden
obengenannten wollen nun zwar viele unserer Kunstjünger selbst nichts wissen,
jene sollen nicht genannt werden, wenn man von den Bestrebungen dieser
spricht. Die Namen Berlioz und Wagner, der eine hauptsächlich für die
Instrumentalmusik, der andere für die Vocalmusik, drücken aber in einer con-
centrirten unverdünnten Essenz doch recht gut aus. was die Tendenz der
neueren Kunst ist. Diese ist aber eine gar zu sehr subjective und ist es um
so stärker, je mehr sie das Gegentheil zu sein sich einbildet. Es ist viel die
Rede von einer Ironie der Kunst; bei den Romantikern namentlich war das
Wort im Schwange. Bei Goethe und Schiller fehlt das Wort, aber die
Sache ist da, wenn man das Wort im rechten Sinn nimmt, in dem, wie
er der Kunst eine gesunde Eigenschaft ist. Die Ironie muß ein Negirendes
sein für das Negative, eine hebende Kraft für die niederdrückende Last der
Leidenschaft. Die Ironie ist das Gesetzliche für das Willkürliche, die Ein¬
heit für das Mannigfaltige, das Bestehende für das Vergehende, die metrische
Fassung für die rhythmische Vielgestaltigkeit, die vernünftige Nothwendigkeit
im scheinbar Zufälligen. Im Weltganzen, im physischen wie im moralischen
ist wohl alles Zufällige in einem Nothwendigen enthalten, aber eben nur im
Ganzen: Das Einzelne für sich kann immer als Zufälliges erscheinen, als
vergänglich und nichtig. Jedes Kunstwerk muß aber für sich ein Ganzes in
sich geschlossenes sein, das keine Zufälligkeiten zulassen kann, die würden auf
Etwas außer ihm denkendes soll aber aus sich selbst sich entwickeln, oder
doch so geworden erscheinen. Von Willkür oder Eigensinn des Künstlers
darf uns nichts entgegentreten, auch nicht ein originell oder apart sein
wollen. — Aber es ist auch nicht hinreichend, daß Eins mit dem Andern
zusammenhänge in den Theilen des Ganzen, das Erste mit dem Zweiten,
das Zweite mit dem Dritten; auch das Erste und Zweite mit dem Zweiten
und Dritten, mithin auch das Erste mit dem Dritten will Zusammenhang
und Einheit haben. Das ist für das Innere, für das Aeußere aber noch
nicht genug. Wenn Einer sagt: „Gott steht das Herz" — so sagt Schiller
darauf „Eben weil Gott nur das Herz sieht, so sorge dafür, daß auch wir
etwas Erträgliches sehen". — Jenen organischen Zusammenhang hat unser
körperliches Innere auch, die Natur hat sich aber nicht begnügt, diesem Innern
eine angepaßte Hülle zu geben zum Abschluß gegen die Außenwelt und das
für eine Gestalt gelten lassen zu wollen; sie hat dem unsymmetrischen Innern
ein symmetrisches Aeußeres gegeben. Der Architekt läßt nicht durch das innere
öconomische Bedürfniß allein seine Faxade bestimmen, macht hier oder dort
ein Fenster, hier einen Vorsprung, dort eine Vertiefung, wie es, durch das
Aeußere unmotivirt, sich durch das Innere vielleicht zweckmäßig ergeben
würde. (Wiewohl man an mittelalterlichen Bauten, wo sie vorkommen,
eben solche Irregularitäten wohl als romantisch reizvoll gerade rühmen hört,
was sie auch sein können, wenn man das nicht mit Schönheit verwechselt,
die überhaupt den Reiz sehr unterordnet —). Er gibt «uns ein selbständiges
Aeußeres, das den Charakter des Innern im Ganzen trägt und ausspricht,
eine metrische Fassung für die rhythmischen Vorgänge des Innern. Wie
es die Natur thut bei den animalischen Gestalten, die etwas Höheres sind
als die gewiß sehr reizvollen vegetabilischen, die nur Rhythmus, aber kein
Metrum haben, in denen nur Fortgang, aber kein Zurückgang in sich selbst,
keine Abgeschlossenheit ist, deren Gefühl nicht zu Verstände kommt, daß
Selbstanschauung, Vernunft daraus werden könnte.
Leipzig, den 31. October 1865.
. . Daß Sie sich mit Rossini (in Paris) so gut befunden haben, freut
mich sehr und ich kann mirs denken. Der ist immer so rund und es ist bei
ihm immer geworden, was er machen wollte; da muß man sehr weit zurück¬
gehen, wenn man irgend etwas noch Unfertiges finden will. Sehr bald ist
dann alles wie gewachsen. Nach Geschriebenen klingt es nun gleich gar
nicht, oder es geht doch auf dem Wege durch den Schreibarm von der Un¬
mittelbarkeit des Gedankens nicht das Mindeste verloren. Was ists. auch
bei besseren deutschen Componisten. oft für eine Mühseligkeit, zu überwinden,
was sie hineingearbeitet haben. Man möchte, wenn sie so viele Wochen an
einer Composition zugebracht, ihnen so viel Monate noch zurathen, die Arbeit
wieder herauszuarbeiten, daß es wenigstens schiene, als wärs ihnen nicht
sauer geworden. Wo kommt bei Rossini wohl etwas vor, wo Factur zu
überwinden wär; und doch ist sie oft sehr bedeutend da — es ist aber dann
nicht Contrapunkt zu einem vautus örmus, nicht Hinzu- oder Entgegengesetztes,
sondern der Gegensatz selbst ist es, der als Eins hervorgegangen ist und in
der Einheit wirkt. In Webers Biographie kommt es recht viel vor, wie er
den Rossini gering geachtet, ja wie er ihm durch und durch unausstehlich
war. Das ist nun eben Webers schwache Seite und wie ein Paar Reim¬
zeilen beim Dichter Logan sagen: „Leser, wie gefall ich Dir? — Leser, wie gefällst
Du mir? —" so kann das Letztere auch Rossini zum Weber fragen. Wo
Rossinis Stärke, ist gerade Webers Schwäche: in der Ganzheit, in der Zu¬
sammengehörigkeit der Theile, daß Hofmann schon sagte, Weber wisse so oft
zu seinen melodischen Vordersätzen den Nachsatz nicht zu finden. Ich glaube,
daß Rossini vielmehr das Positive, das Gute von Weber zu erkennen und
zu schätzen gewußt hat, als Weber das Positive im Rossini zu erkennen
wußte. Man wird Webers Geniales nicht verkennen; er hat manches frische
Element in die neue Musik gebracht. Es ist hier nicht von Motiven und
vom musikalischen Charakter die Rede, sondern von musikalischer Architektonik.
Da stehen manche über ihm, die er unter sich glaubt. Und wie das, dem
Gesammtbegriffe nach, dem Harmonischen adäquat ist, so ist bei ihm auch
eben dieses nicht das Durchgebildete an seiner Musik und kommt dabei wohl
auch Dilettantisches vor. Meherbeer. ein Mitschüler M. Webers, hat das
harmonisch Ungründliche seines Lehrers Vogler viel gründlicher beseitigt als
Weber. Die gewissen H Harmonien ist man bei Weber nicht ganz los.
Meyerbeer ist mit seiner Oper noch durch die italienische Schule gegangen.
Leipzig, den 27. December 1864.
.........Dem Museum gegenüber steigt jetzt auch der
neue Theaterbau herauf, der in 2—3 Jahren vollendet sein soll. Nun sollen
sie nur Sänger und Schauspieler dazu machen und ein genügsames Publicum,
das nicht unvernünftig Unbedingtes verlangt. Es ist des Stümpers Sache,
sagt Kottwitz im Prinzen von Homburg, das Vollkommene leisten und ver¬
langen zu wollen, und ein gutes Publicum zeigt sich nicht im Schmähen und
Schlechtsinden, sondern im Gutfinden, im Finden des Guten unter dem Ge¬
ringen. Zum Nichtgutfinden des Mangelhaften gehört sehr wenig und man
setzt seine Kritik sehr tief, wenn man dabei stehen bleibt und sich darin ge¬
fällt; sich wohl noch auf den hohen Standpunkt etwas einbildet. So ist
mir auch der neuere musikalische Recensententon sehr zuwider, der uns in
Allem und Jedem belehren will, und bringt doch nirgends die Beglaubigung,
daß er's um so viel besser weiß; das sollen wir ihm auf's Wort glauben.
Wenn Einer lobt, wird jeder, den's betrifft, einen Zweifel nicht haben, daß
der Kritiker es versteht. Das muß der Betreffende aber auch beim Tadel
zugeben können. Es sind wenige, die wie Lichtender«, bei einer schmähenden
Kritik sagen: Ich bin so oft über Verdienst gelobt worden, daß ich mir wohl
auch einmal einen unverdienten Tadel kann gefallen lassen. Das ist gar sehr
liebenswürdig..............5
Leipzig, den 3. Juli 1862.
Eine liebe Nachricht wars uns, die wir vom Onkel Robben aus Rom
erhielten, daß Sie dort angekommen waren und sich hübsch dort aufhalten
konnten und noch dazu in der musikalisch interessanten Osterzeit. Wie der
Sixtinengesang gegenwärtig ist, weiß ich nicht — er war auch vor 30 Jahren,
da ich ihn hörte, aber nicht zur Oster- nur zur Weihnachts- und tutti SÄvti-,
tutte le anime- und well xreti-Zeit (im November) — er war auch damals
nicht so wie man ihn in den Beschreibungen findet, vielmehr ganz anders:
von engelhaften oder aeolsharfenarrigen Klängen keine Spur, vielmehr ein
recht derber, manchmal etwas massiver Bortrag, nicht Zimmer vom schönsten
Klang; aber von sicheren Sängern vorgetragen. Ich hatte meine Freude
daran und konnte in die Geringschätzung meiner Begleiter, A. A. Klengels
und Iwan Müllers (der sich auf seinen Composittonen: „Verfasser der ver¬
besserten Clarinette" nannte) durchaus nicht einstimmen, die ebenso über die
Musik wie über den Vortrag sich enttäuscht fanden. Ich fands auch anders
als ichs damals erwartet hatte, aber fand doch auch etwas, was man schätzen
und sich gefallen lassen konnte. Die Helena will dem Hoftheater-Publicum
im zweiten Theil des Faust auch nicht behagen, die wirkliche echte griechische
Helena, die der Faust heraufbeschworen hat: sie ist ihnen zu derb, nicht zier¬
lich, nicht graziös genug, sie ist ihnen nicht schön, weil sie anders ist, als
sie sich gedacht haben; dafür kann aber die Helena nichts, und die Sixtina
nichts, daß die Herren etwas anderes erwartet haben. Was sich und seinen
Ruf durch Jahrhunderte gut zu erhalten vermocht, hat wenigstes ebenso viel
Recht da zu sein, als ich mit meinen Ohren. Goethe meint, man solle das
Alte studiren; daß sichs erhalten, sei Zeuge seines Gehaltes. N. Schumann
meint freilich wieder anders, der sagt, man solle nicht bei dem Alten anfangen,
sondern das Neueste zum Vorbild nehmen, weil da alles Vorangegangene
ja nothwendig schon darin enthalten sein müsse.
Es fehlt für uns den vor- Bach- und Händel'schen Sachen etwas, im All¬
gemeinen und Ganzen genommen, das sie uns nicht ganz und voll befriedigt
genießen läßt; es ist die architektonische Form und die wesentliche Dissonanz,
der Septimenaccord. Auf den Grund gegangen würde das Beides sich corre-
lativ zeigen — die Dissonanz der alten Musik ist allein der Vorhalt, bei
welchem die Consonanz wesentlich fortbesteht; er löst sich auf, ohne die Grund-
Harmonie zu ändern. Im Septimenaccord ist die Consonanz aufgehoben und
muß in der Auflösung erst wieder erstehen; es ist das Werden der Con¬
sonanz hier das Bedeutende und vom Alter unterscheidende Moment: die
vermittelte Consonanz; dort bleibt sie die unmittelbare. Es hat jedes Ding
in seiner Vollendung sein Christenthum in sich, wo es heißen muß „durch
Kreuz zum Licht". Und es muß überall eine Scheidung eintreten, wenn die
höhere Einheit, die Einheit der Verbindung, der Einigkeit soll resulttren
können. So eben auch in der sogenannten Form des Musikstückes, in der
sich auch bei der alten Musik noch keine Trennung findet; sie geht in un¬
mittelbarer Einheit fort; die neue verbindet getrenntes und hat vermittelte
Einheit. Es ist nicht der Mangel an Dissonanz, aber der Mangel am Be -
wußtwerden der Consonanz in der Harmonie und im architectonischen
Bau der alten Musik, was wir auf die Länge ungenügend an ihr empfinden.
Es ist nur das Licht da, das Kreuz fehlt. Aber mein Brief wird wie ein
Schulprogramm zu einem Festactus, wo auch in der Rede immer von etwas
ganz anderm die Rede ist, als vom Feste des Tages; denn das Vorstehende
hängt doch nur locker zusammen mit Ihrer Reise und nur mit einem Punkte
derselben.....
An L. Köhlerin Königsberg.
Leipzig, 27. April 1853.
. . . Das fortgesetzte Interesse, was Sie meinem Buche zuwenden,
kann mich nur sehr freuen . . . Wie Sie die Dinge gesund betrachten, würde
auch Ihr Weg zum Ziele führen und der Gefährte an Ihnen leicht einen
leichtverständlicheren Führer haben. Die Wahrheit ist zu einfach, um leicht¬
verständlich ausgesprochen zu werden. Der einfachste Ausspruch wird zwei¬
deutig, es muß ihm wieder abgenommen, wieder hinzugesetzt werden, ins Un-
endliche fort, wenn er der Wahrheit nahe kommen soll. — Sie fragen, ob
ich die Schüler nach meinem System unterrichte. Ich kann Ja und Nein
sagen — exxlieiw geschieht es nicht, wohl aber implicite, wie ich auch nicht
anders könnte. In einzelnen Fällen zeigt sich wohl auch bei dem Schüler
das Verlangen, Gründlicheres zu wissen, mit diesem gehe ich dann etwas
näher auf das Princip ein, aber nicht über sein Bedürfniß: es nimmt Einer
gerade nur so viel auf als er selbst dazu bringt; was man darüber gibt,
geht nur ins Ohr, nicht in die Seele, es findet keinen Boden, fortzuwachsen.
Wenn ich aber von einzelnen Intervallen sprechen müßte, von Zweiklängen,
consonanten und dissonanten, und von der Auflösung der letzteren, bevor
noch ein Begriff des ganzen Tonartsystems aufgestellt wäre, so wüßte ich
keine Erklärungen zu geben und die Vorschriften könnten nur ganz recept¬
artig sein: daß die Septime in der obern Stimme, die Secund in der untern
sich abwärts auflöse; das Entgegengesetzte, daß in dem Septime die untere
Stimme, in der Secund die obere sich aufwärts bewege, kommt dann aller¬
dings in besonderen Fällen auch vor, aber als „Regel" könnte nur das
erstere aufgestellt werden, letzteres muß als „Ausnahme" gelten. Das
Gesetz ist die Regel und die Ausnahme; das liegt aber nicht auf der
Oberfläche, es läßt sich in dem Aeußerlichen allein nicht nachweisen und aus¬
sprechen. — — Die Dissonanz ist in der musikalischen Grammatik was
der Conjunctiv in der Sprachgrammatik, sie sagt: „ich würde sein" für
„ich bin". — Einmal nachgewiesen, ist die Sache ein Correctes, Com-
pactes, das nicht jedesmal weiter zu analysiren ist, das als ein Geregeltes
in der Anwendung gerechtfertigt besteht. Denn man kann mit der Gram¬
matik nicht sprechen, und wenn man die Grammatik erklären will, so kann
es doch nur mit der Sprache geschehen, die durch die Grammatik erst erklärt
Leipzig, den 21. Mai 1861.
... In jede Intention und Gefühlsregung des Componisten genau
eingehen — das thun die Chorhandwerker nicht, und der Director wird sehr
zufrieden sein können, wenn er gute Handwerker hat. M. von Weber pflegte
zu sagen: „ich suche so zuschreiben, daß es klingt, wie ichs haben will, wenn
Jeder im Orchester und Chor nur seine verfluchte Schuldigkeit thut"; und er
hat ganz recht, denn mehr ist für die Dauer nicht zu erlangen. Dem Compo¬
nisten und der Composition zu Liebe thun sie nichts. Es läßt'sich sür die
einzelne Aufführung manchmal etwas Mehreres präpariren und künstlich auf¬
bauen, das fällt aber, wenn ein Stück Repertoirstück wird, bald wieder zu¬
sammen. Das gar subjective der Composition, was die Ausführung durch
ein größeres Personal erschwert, ist mir nun auch für das Stück in seiner
Eigenschaft als geistliche Musik ein Hinderniß, es in der Kirche aufgeführt
zu wünschen.---So glaube ich überhaupt nicht, daß die neueste Stim¬
mungsmusik in ihrem Gefühlsegoismus der Kirche eine recht zuträgliche werden
könne. Alle musikalische Bedeutsamkeit einer „Graner Messe" (von Lißt)
anerkannt und auf der Composition und dem Componisten beruhen lassend,
so macht sich in solcher Compositionsart doch immer der Componist unserem
Herrgott gegenüber gar zu breit und wichtig: es fehlt die Demuth, oder wo
sie ausgedrückt ist, geschieht es in einer so anspruchsvollen Weise, daß sie sich
selbst wieder aufhebt. — Indem ich dieses schreibe, muß ich fortwährend in
unseren Probesaal der Thomasschule, der über meiner Wohnung liegt, eine
Pretsmotette von Dolch. dem Nachfolger S. Bach's zu hören, die für den
nächsten Sonnabend geübt wird. S. Bach hat in seinen Motetten auch oft
georgelt, aber der Grundton bleibt doch immer ein kirchlich realer und allge¬
mein anzufühlender; soviel auch Zeit dazwischen liegt, sprechen sie doch das
Volk noch immer mächtig an als echt kirchliche Musik, wenn auch einer
andern Zeit. Wo eine Jugend inwohnt, da ist sie. wie ein Wassertropfen
im Bernstein, für alle Zeiten flüssig bewahrt. Wo aber ein Anderer es nur
so machen will wie sein Vorgänger es gemacht hat, nur dieselbe Ausdrucks¬
weise behält, da kanns leicht leblos werden bei aller Stimmenrührigkeit und
Lebendigkeit, und das Zeitliche tritt hervor. Die Nachfolger Bach's sind viel
veralteter als ihr Vorbild. Sie wandeln „im behaglichen Troß auf gebessertem
Wege hinter des Fürsten Einzug". An einem geistlichen Bilde von Rubens
können wir Composition. Zeichnung und Colorit bewundern, aber von Albrecht
Dürer, der Manches davon in geringerem Grade besitzt, ist das echte Innere,
das was alles Aeußere übersehen läßt, nicht mehr darin. Ich will damit
gar nicht S. Bach mit Albrecht Dürer und die Dolch, Homilius. Rolle bis
aus Schicht ebensowenig mit dem immer so mächtigen Rubens vergleichen,
es würde hier so wenig wie dort passen. Es ist aber in der Musik wie in
der Maleret doch immer nur der kirchliche Sinn einer Composition, der sie
zur Kirchenmusik machen kann. Es gab in einer Zeit besondere Vorschriften,
was in der Kirche vorkommen dürfe, was nicht, etwa wie der übermäßige
Septaccord ausgeschlossen sein solle und dergl. — Wenn der kirchliche Sinn
einem Componisten den übermäßigen Septaccord nicht dictirt, so soll er weg¬
bleiben, aber dessen Auslassung macht so wenig Kirchenstyl als der Styl
dadurch aufgehoben wird, wenn der Accord sich dem kirchlich gesinnten oder
gestimmten Componisten zum Ausdruck bietet. Es ist wie der Bruder Martin
im Götz von Berlichingen sagt: „'s ist nicht gegen mein Gelübde Wein zu
trinken, wenn aber der Wein gegen mein Gelübde ist, trinke ich keinen". Im
Ganzen genommen möchte ich für den Kirchenstyl der einzelnen Textphrase
nicht so besondere Bedeutung einräumen, daß sie formbestimmend und eben
damit auch formauflösend werden könne — wenn sie in der Farbe, im
Colorit ihren Ausdruck finden kann, so wird dadurch der musikalische Fort¬
gang nicht gestört zu werden brauchen, nicht jede neue Phrase ein neues
Musikstück, ein Stück im Stück von Stücken werden. Ich möchte eine Gesang¬
musik unter allen Umständen gern so, daß sie auch als Musik an sich anhör¬
bar, ich meine musikalisch verständlich sei: so daß jedes Lied mit Worten
auch ein „Lied ohne Worte" sei. Daß ich mit solchem Verlangen sehr antiquirt
komme, weiß ich sehr wohl, denn heute will man nicht Musik als Musik, sondern
nur musikalische Wortbetonung, die mir wieder gar nicht so hoch anzuschlagen
scheint, daß ich, was ich dabei an wirklicher, musikalisch sich selbst tragender Musik
verliere, gering achten sollte. „Wid si des Wibes höchsten Nam" heißt es bet
Walther. und wie ihm alle vorzüglichen Eigenschaften doch immer die Weib¬
lichkeit des „Wibes" über sich haben, so möchte ich auch, daß die Musik vor
Allem und über Alles immer musikalisch sei, was gar nicht verhindert, daß
sie mannigfaltigst charakteristisch sein könne. Gibt doch des Menschen Antlitz
auch von jeder Gefühlsregung, die das Innere bewegt, den vollen Ausdruck
ohne seine organisch bestimmten festen Theile verändern oder versetzen zu kön¬
nen; der Mensch, der Künstler wolle es nicht anders, nicht besser machen
wollen als göttlich-natürlich!
Leipzig, 13. Oetober 1867.
Wenn auch nur kurz, so muß ich Ihnen doch ein Wort des Dankes
sagen für Ihre liebe Erinnerung meines Dienstjubiläumstages am 12. Sept.
dieses Jahres. Es jedem einzeln zu sagen, wie ich wohl möchte, ist mir nicht
möglich; Karten schicken ist mir zu mechanisch. Es bleibt allenfalls zu
decimiren, wie wenn bei einer gewonnenen Schlacht jeder zehnte Mann
decorirt wird, oder bei einer verlorenen jeder zehnte erschossen; das ist mir
zu unpersönlich, da ist's doch humaner, man sucht sich die Betreffenden hervor,
was, wenn sie so in erster Linie stehen, nicht so schwer ist, und holt sie
scharfschützenhaft heraus. Es waren der Ehrenbezeigungen weit über Verdienst
viel. Nicht weniger der gütigen Freundeszeichen. Gott lohn's Allen! Ich
nehme etwas herüber für den heutigen Geburtstag, der der 7Sste ist. Manche
sind frischer zu diesem Tage, Manche haben ihn nicht erlebt, so gleicht sichs
im Ganzen aus. Als Generation wird gar nur dreißig gerechnet. Nun,
wenn einer in den Dreißig den Don Juan gemacht oder die Sistina. so kann
er auch damit zufrieden sein; es kommt auf die großen Zahlen nicht an!
Und zur Befriedigung genug gethan zu haben, kommt er doch nicht und
wenn er wie Methusalem würde. Es bleibt doch immer nur ein Anfang.
Die Besprechung der östreichischen Verfassungswirren in den „Grenz¬
boten" scheint hier und da Befremden erregt, den Schreiber dieser Artikel in
denMeruch eines vom Deutschthum Abgefallenen gebracht zu haben. Das
bestätigt freilich nur aufs neue, daß es außerordentlich schwierig ist, hiesige
Verhältnisse Jemand klar zu machen, der diesen Verhältnissen nicht in irgend
einer Weise etwas näher gerückt ist. Wissen doch viele Landeskinder sich in
diesem Gewirre staatsrechtlicher und nationaler Beziehungen nicht zurecht¬
zufinden und entbehren noch mehrere die Fähigkeit, die Dinge unter einem
anderen als dem beschränktesten Gesichtspunkt der Partei zu betrachten. Recht ge¬
bildete Oestreicher stellen sich z. B. unter der Sächsischen Nationsuniversität,
d. i. der Vertretung der Deutschen in Siebenbürgen, eine Hochschule vor und
haben keinen deutlicheren Begriff von dem Wesen der Hauscommunionen in
der Milttärgrenze; ein östreichischer Minister, Fürst Felix Schwarzenberg
äußerte unmuthige Ueberraschung, als man ihm sagte, daß „die Evangelischen"
in Ungarn sich noch in zwei Confessionen sondern; — dergleichen Züge
ließen sich noch manche anführen, die den Ausländer trösten können, wenn
es ihm zu schwer fällt, einen klaren Einblick in die inneren Angelegenheiten
Oestreichs zu gewinnen. Und wenn vollends hier viele Leser der „Neuen
freien Presse" und ähnlicher Blätter auf die Darstellungen in denselben
schwören, während sie doch nur die Augen und Ohren aufzumachen brauchten
um die Wahrheit zu erkennen: wie darf man auf unbefangene Anschauungen
außerhalb rechnen! Der Hang, die Dinge nicht so zu sehen, wie sie sind,
sondern wie man sie wünscht, ist ja unter allen deutschen Stämmen noch
sehr verbreitet. Und daß sie an diesem Hange mit äußerster Zähigkeit fest¬
halten, das ist der Hauptfehler der Führer der sogenannten deutschen, rich¬
tiger centralistischen Partei in Oestreich, dem verdanken sie die gegenwärtige
Niederlage, durch ihn schädigen sie aufs gefährlichste die Sache, welcher sie zu
dienen meinen.
Daß eine ziemlich weitgehende Centralisation in Oestreich möglich ge¬
wesen wäre und — bei der ungeheuren Verschiedenheit des Bildungsgrades
in den verschiedenen Ländern — hätte segensreich werden können, habe ich
bei einer früheren Gelegenheit ausdrücklich betont. Und noch heute wäre ein
wirklich aufgeklärter Despotismus wahrlich nicht das schlimmste, möchten auch
einige interessante Nationalitäten darunter verkümmern, diese oder jene „Er¬
rungenschaft" in Ruhestand versetzt werden. Aber der östreichische Despotis¬
mus hat es nie verstanden, dasjenige, was dem Boden frei entsprossen war
oder doch im Laufe der Jahrhunderte in demselben Wurzel geschlagen hatte,
zu schonen und allmälig umzubilden, wie das Interesse des Ganzen es er¬
heischte; nicht unter Joseph II., geschweige unter seinen Nachfolgern. Aus¬
roden, gewaltsam ersticken oder doch alles unter die allgemeine große Scheere
bringen, das war die Staatsweisheit, welche die Mer Rechte und Vorrechte,
Echtes und Lebensfähiges wie Unsinniges und Abgestorbenes, zu Heiligthümern
in den Augen der Völker machte, und sie gegen die von Wien ausgehenden
Centralisationsideen aufsetzte. Bis 1867 konnten die deutschen Liberalen die
Schuld noch von sich ab und allein auf die Schultern des bureaukrattschen
Regiments wälzen; seitdem haben sie gezeigt, daß sie, wenn auch nicht Bureau-
kraten, doch aus derselben Schule hervorgegangen sind. Mit starrem Eigen¬
sinn hielten sie an dem Dogma fest, aber als richtige Doctrinäre wollten sie
unter freisinnigen Institutionen erzwingen, was der Absolutismus Mit
der Scheinconstitutionalismus nicht hatten durchsetzen können. „Ihr sollt
euch frei aussprechen, aber es versteht sich von selbst, daß ihr nur das sagt,
was wir hören wollen." Systematisch hat man seit zwölf Jahren die Schwie¬
rigkeiten groß gezogen. Als die Wünsche noch bescheiden waren, schlug man
sie consequent ab. und regelmäßig wundert man sich und klagt, daß die end¬
lich von der Noth erzwungenen Zugeständnisse nicht mehr befriedigen. So
ist man von der ungarischen Adelsadresse und den Eötvös'schen „Garantien" zu
dem Minimum „gemeinsamer Angelegenheiten" gelangt, so hat man die
czechische Opposition von dem parlamentarischen Boden verdrängt und es
ihr zu einer nationalen Ehrensache gemacht, völlige Restitution zu begehren,
so zögerte man mit der Erfüllung der Versprechungen, welche ohne Zweifel
1867 den Polen gemacht worden sind, so lange bis das gemäßigte Element
unter denselben zum Schweigen gebracht war, so hat man endlich allen nicht¬
deutschen Bestandtheilen des Parlaments den Vorwand zum Austritt ent-
gegengebracht. Und jede Niederlage des Systems wurde wie ein Sieg ge¬
feiert, jede erhöhte den Uebermuth der leider sogenannten deutschen Partei.
Nie hat sie einseyen wollen, daß jede Nationalität starke Elemente in sich
birgt, mit welchen zu verhandeln und zu vertragen wäre. Als die böhmi-
schen Czechen mit Eclat den Reichsrath verließen, blieb ihnen nicht allein die
gehoffte Nachfolge der Galizianer und die Bundesgenossenschaft der Magyaren
aus, die Czechen aus Mähren, ja eine kleine Fraction der Böhmen harrte
noch längere Zeit aus, aber der deutschen Majorität fiel es nicht ein, diese
an ihre Sache zu fesseln, nämlich als Partei; einzelne Abgeordnete „gewann"
man allerdings, um sie sofort alles Einflusses in ihren Ländern zu berauben.
Und wie damals, so zeigten auch in den letzten Wochen die Wortführer im
Abgeordnetenhause die vergnügtesten Gesichter und die beste Lust, weiter
Parlament zu spielen. Beinahe möchte man bedauern, daß der Kaiser auf
die Zumuthung nicht eingegangen ist. sämmtliche Landtage, deren Vertreter
den Reichsrath verlassen haben, auflösen und Neuwahlen ausschreiben zu
lassen. Aus diesen würden, darauf ist Hundert gegen Eins zu wetten, lauter
Landtage hervorgegangen sein, welche entweder gar keine Wahlen für den
Reichsrath vorgenommen oder den Gewählten die Nichtannahme des Mau¬
bads zur Pflicht gemacht hätten. Für diesen Fall hatte das Ministerium
sein „Nothwahlgesetz" vorbereitet und wir würden mit Staunen gesehen
haben, welches Monstrum damit in die Welt gesetzt werden sollte. Man
müßte bei den Lesern eine genaue Bekanntschaft mit den örtlichen Verhält¬
nissen voraussetzen oder sehr weitläufig werden, um zu zeigen, daß jenes
Gesetz völlig unausführbar ist, aber jeder Bezirkscommissär würde das Mi¬
nisterium darüber aufgeklärt haben. Dann wenigstens ließe sich der voll¬
kommene Bankerot der Partei auch nicht einmal von so unverdrossenen
Janitscharen leugnen, wie sie in den Organen von Herbst und Giskra ihr
Wesen treiben.
Da es nicht zum Aeußersten gekommen ist, so geben sich die Herren
immer noch die Miene, das Opfer einer Intrigue geworden zu sein, und
natürlich muß wieder Graf Beust der Intriguant gewesen sein. Es ist wohl
nicht anzunehmen, daß der Reichskanzler große Anstrengungen- gemacht habe,
um den Herren Hafner, Giskra und Herbst über die neuen Schwierigkeiten
hinwegzuhelfen, nachdem er einmal die Ueberzeugung von der UnHaltbarkeit
ihrer Politik gewonnen und aus ihrem persönlichen Verhalten gegen ihn
deutlich entnommen hatte, daß sie mit Vergnügen ihn beseitigen helfen wür¬
den. Doch brauchte er gar ^nicht activ aufzutreten, die Herren rannten
geradeswegs in das Grab. Und sie und ihr Anhang sehen noch immer nicht
ein, daß das Uebergewicht einer Nationalität über alle übrigen in Oestreich
nur vermittelst eines offenen oder verhüllten Absolutismus möglich ist, daß
ein parlamentarisches Regiment mit voller Preß- und Versammlungsfreiheit
und einem vom Schetnconstitutionalismus ersonnenen, künstliche Majoritäten
erzeugenden Wahlsystem unverträglich ist. Als die Minister ihre Entlassung
und Graf Potocki — seit seinem Rücktritt von allen Politikern als der Mann
der nächsten Situation angesehen — den Auftrag zur Cabinetsbildung er¬
halten hatte, und in ganz richtiger Auffassung seiner Mission mit der außer.
sten Linken in Unterhandlung trat, als derjenigen Partei, welche sich für die
Erweiterung der Autonomie, aber auch für die volle Wahrung der Rechte
des Deutschthums ausgesprochen hatte: da wurde in der Kammer und
außerhalb derselben die lebhafteste Agitation in Scene gesetzt, um das Zu¬
standekommen dieser Combination zu verhindern. Da der Präsident des Ab¬
geordnetenhauses, Herr v. Kaiserfcld, der Mann der in academischer Form
vorgetragenen confusen Ideen, sich so weit vergaß, in seinen Klagegesang
directe Ausfälle gegen Rechbauer zu mengen — seine Eitelkeit scheint den
Gedanken nicht vertragen zu haben, daß sein anspruchsloserer Grazer College
zu Macht und Ansehen gelangen, er selbst hingegen als abgewirtschaftete
Größe nach Hause gehen sollte — so darf man sich nicht wundern, daß die
Journale Acht und Bann verkündeten für Jeden, der wagen würde, den
Grafen Potocki zu unterstützen. Das war nicht allein jener kindische Aerger,
der lieber den ganzen Suppentopf umgestoßen als ihn von einem Anderen
geleert sehen will: die Partei schmeichelte sich in allem Ernst, man werde ihre
Matadore demüthigst bitten müssen, das Ruder doch wieder in die Hand zu
nehmen, sobald Potocki mit seinen Bemühungen gescheitert wäre. Da paßt
dann aufs Haar: Den Teufel sieht das Völkchen nie und wenn er sie beim
Kragen hätte. Wie gern haben sie stets die Drohung, daß nach ihnen nur
die Reaction kommen könne, benutzt, wenn es etwas zu ertrotzen oder Mi߬
vergnügte zu beschwichtigen galt; aber nun mit Händen zu greifen war. daß
nach Potocki der feudale und streng kirchlich gesinnte Adel an die Reihe kom¬
men müsse, der seit langen Jahren aus diese Eventualität vollkommen vor¬
bereitet ist, nun wiegten sie sich in die luftigsten Träume ein. Dem Grafen
Potocki danken sie es, daß die Herren Clam-Martiniz, Egbert Belcredi (der
ältere Bruder des Sistirungsministers) u. s. w. nicht in diesem Augenblick
schon regieren, die wenigstens versuchen würden, das Recept des Grafen
Bismarck gegen den östreichischen Parlamentarismus anzuwenden. Ob ein
solcher Versuch aus mehr als vorübergehenden Erfolg Aussicht hätte, darüber
läßt sich streiten; aber leicht sollte der Liberalismus diese Gefahr nicht neh-
men. An rücksichtsloser Energie würden es die genannten Männer nicht
fehlen lassen, und wenn sie dabei nur einige Klugheit bewahrten, so hätten
sie zu Bundesgenossen alle jene nationalen und religiösen Elemente, welche
die jetzt unterlegene Partei durch Gedankenlosigkeit und Uebermuth gegen sich
aufgebracht hat.
Vorderhand ist diese Wendung der Dinge verhütet. Potocki hat wenig¬
stens ein Mitglied der äußersten Linken, den als Dichter nicht unbekannten
Abgeordneten v. Tschabuschnigg zum Eintritt in das Ministerium bestimmt
und will im übrigen mit Departementschefs wirthschaften, bis eine neue
Volksvertretung entweder diesen Männern ihr Vertrauen ausspricht oder an¬
dere Persönlichkeiten zur Verfügung stellt. Als eine wirkliche Kraft gilt der
neue Leiter des Handelsministeriums, Baron De Pretis aus Südtirol, wel¬
cher schon während der letzten Jahre die eigentliche Seele dieser eine große
Thätigkeit entwickelnden (Zentralstelle war. Rechbauer hat sich entweder
wirklich einschüchtern lassen oder er traut sich selbst die Befähigung nicht zu,
unter den obwaltenden Verhältnissen die inneren Angelegenheiten zu ordnen.
Und im letzten Falle hätte er dem Anschein nach Selbstkenntniß bewiesen.
Der Grazer Advokat hat sich während der zehn Jahre selner politschen Lauf¬
bahn als ein Mann von entschiedenem Freisinn und untadelhaftem Charakter
bewährt, aber nicht nur keine Proben staatsmännischen Talents gegeben,
sondern eher zu dem Glauben berechtigt, daß eine größere politische Aufgabe
als die eines Abgeordneten leicht seine Kräfte übersteigen möchte. Sein Name
wäre allerdings dem Cabinet von nicht geringem Werthe gewesen, welches
sein Augenmerk vor Allem darauf richten muß und auch zu richten scheint,
allen Bewohnern Oestreichs das Vertrauen wiederzugeben, daß ihre Gleich¬
berechtigung nicht blos aus dem Papiere des Reichsgesetzblatts existiren solle.
Gelingt das. so ist das Spiel gewonnen, denn noch bestehen überall im Reiche
die Elemente einer östreichischen Partei, welche jetzt durch nationale Eifer¬
süchteleien und Argwohn auseinander gehalten werden. Aber mit jedem
Tage wächst die Schwierigkeit, die getrennten Glieder zu vereinigen, das
Mißtrauen hat sich auf allen Seiten schon zu tief eingefressen, und die Fa¬
brikanten der öffentlichen Meinung halten es für ihre heilige Pflicht, dieses
Mißtrauen unaufhörlich zu nähren und zu schüren. Den Slaven wird ge¬
predigt, es sei doch wieder nur darauf abgesehen, sie zu bevortheilen, den
Deutschen redet man ein, sie sollen czechisch gemacht werden, und die Leute,
welche nicht blöde genug sind, sich dergleichen einreden zu lassen, fürchten
doch, sich durch irgend ein Wort zu engagiren. für gutmüthige Dummköpfe
oder „Erkaufte" gehalten zu werden. Es hört sich nun freilich ganz gut an.
wenn dre Freunde des neuen Ministeriums sagen: „Alle die Regie¬
rungsmänner, welche mit ungeheurem Jubel als Gründer einer „neuen
Aera" begrüßt wurden, sind sehr still abgetreten und ihre Werke folg-
ten ihnen nach; freuen wir uns der Gleichgiltigkeit und des Mi߬
trauens, welche die neuen Minister empfangen und durch Thaten über¬
wunden sein wollen. Giskra so gut wie Schmerling ließ sich sehr schnell
in den Glauben einwiegen, durch Uebernahme des Portefeuilles habe er schon
den Staat gerettet, vor seinem bloßen Namen müßten alle Schwierigkeiten
weichen, er sei unfehlbar, unersetzlich; wohl seinen Nachfolgern, daß sie nicht
durch ähnliche Schmeicheleien bethört, vielmehr zu großen Kraftanstrengungen
angespornt werden." Diese Logik klingt in der That nicht übel, sie setzt aber
völlige Klarheit über nächste und fernere Ziele, völlige Selbstlosigkeit, festen
. Glauben an sich und ihre Sache, einen ungewöhnlichen Grad von Kraft und
Ausdauer und endlich — viel Glück bei den neuen Ministern voraus. Hin¬
dernisse, welche Schmerling und Giskra, von dem Vertrauen und Enthusias¬
mus einer sehr bedeutenden Partei getragen, halb spielend hätten überwin¬
den können, dürften die Kräfte ihrer Nachfolger leicht aufreiben! hundert
günstige Chancen, welche Jene unbenutzt ließen, sind für Diese gar nicht mehr
vorhanden. Als man vor drei Jahren an die Verfassungsrevision ging, leug¬
nete Niemand deren Nothwendigkeit, auch diejenigen, welche das Februarpro-
tocoll seinem Inhalte nach für unverbesserlich hielten, mußten doch zugestehen,
daß die Abmachungen mit Ungarn wenigstens formelle Aenderungen unver¬
meidlich gemacht hätten. Jetzt betrachten die Einen eine neuerliche Revision
wie ein Attentat auf die Verfassung, als den Versuch, uns auf scheinbar ge¬
setzlichem Wege um bürgerliche und religiöse Freiheit zu betrügen, und von
den Andern, welche diese Verfassung negiren, weiß noch Niemand, ob sie sich
an dem Werke der Umgestaltung derselben betheiligen werden oder nicht.
Damals war der einzig richtige Weg deutlich vorgezeichnet und genug Stim¬
men wiesen auf ihn hin: jener Verfassungsentwurf, welchen der östreichische
Reichstag in Kremsier ausgearbeitet hatte, mußte den Berathungen zu Grunde
gelegt werden, damit wäre die Rechtscontinuität wieder gewonnen worden,
denn die Vertreter aller nichtungarischen .Länder hatten, von der Krone zur
Verfassungsgebung berufen, jenem Entwürfe ihre Zustimmung gegeben, erst
durch die nachfolgenden Octroyirungen war der Zwiespalt erzeugt worden.
Damals verschmähte man diesen Weg, wird er heute noch zu betreten sein?
Die Regierung hat vorläufig abgelehnt, ein Programm zu veröffentlichen,
sie beabsichtigt, wie man hört, zuvörderst mit den Führern der verschiedenen
nationalen Parteien in außerparlamentarische Unterhandlung zu treten, wie
es seinerzeit mit den Ungarn geschah. Allein es fragt sich, ob die Führer
ebenso wie Deal, Eötvös u. s. w. in der Lage sein werden, zu verbürgen,
daß die Nation gut heißen werde, was sie vereinbaren — immer vorausge¬
setzt, daß eine Vereinbarung mit ihnen überhaupt gelingt. Nach den Ante-
cedentien der Grasen Potocki und Taaffe, denen ihr früherer College Berger
wenigstens als rathender Freund zur Seite stehen soll, darf man annehmen,
daß sie dem Verlangen der Länder nachgeben, die Befugnisse der Landrage er¬
weitern und das Gegengewicht in dem reformirten Institute des Reichsraths
finden wollen. Jetzt ist das Abgeordnetenhaus die Quintessenz der Landtage,
das Herrenhaus, eine von dem Belieben der jeweiligen Regierungen bunt
zusammengewürfelte Versammlung von Aristokraten, alten Beamten und Mili¬
tärs, einigen Dichtern, Gelehrten, reichen Kaufleuten. Künftig würde die
zweite Kammer aus directen Wahlen hervorgehen, die erste hingegen eine
Länderkammer werden. Daß eine Versammlung solcher Art eine starke cen-
tripetale Gewalt entwickeln würde, dafür sprechen die Erfahrungen der meisten
Staaten. Aber der Durchführung des Projects stehen die Besorgnisse ein¬
zelner Nationalitäten entgegen. Die Polen werden sich stets gegen directe
Wahlen wehren, weil durch dieselben eine starke ruthenische Fraction in die
Reichsversammlung kommen würde, während sie gegenwärtig ihre Majorität
im Landtage dazu benutzen, die ländliche Bevölkerung Galiziens beinah mund¬
todt zu machen. Die Deutschen lassen sich durch die Aussicht schrecken, von
einer slavischen Majorität erdrückt zu werden — so gering ist in Wahrheit
ihr Glaube an die Ueberlegenheit ihrer Cultur, die doch die Herren Schindler
und Consorten so gern im Munde führen. Dieses leere Phrasenwesen muß
freilich einmal aufhören, es hat zu nichts genützt, als die anderen Völker¬
schaften zu erbittern oder mit Rücksicht auf die Persönlichkeiten der Haupt¬
culturträger den Hohn der Slaven herauszufordern. Beweisen müssen die
Deutschen endlich, daß sie wirklich auf einer höheren Stufe stehen, wir sind
des guten Glaubens, daß dieses Element in der That die Majoristrung nicht
zu fürchten habe: sollte es aber so schwach sein, daß es nur durch ungerechte
Wahlgesetze und Bevorzugung bei Vergebung der Aemter u. s. w. — nun,
woraus in aller Welt wollte es dann seine Separatansprüche stützen?
Schickt man den Ländern nicht mehr Beamte, welche die Verachtung alles
nationalen Wesens zur Schau tragen, zeigt der Deutsche nicht bloß Stolz
auf dasjenige, was seine Stammesbrüder geleistet haben, sondern bewährt er
die gleiche Tüchtigkeit in feiner Sphäre, so wird auch das Widerstreben gegen
die deutsche Cultur wieder schwinden. Die Slaven sind ja nicht so dumm
zu verkennen, daß sie deutsche Sprache und Wissenschaft und Kunst gar nicht
entbehren können. In Prag hat man den Czechen ein eigenes technisches
Institut eingerichtet, aber nur eine winzige Minorität besucht dasselbe, die
Mehrzahl ist der deutschen Anstalt treu geblieben, selbst die besten Lehrer
ezechischer Nationalität! Solche Thatsachen reden.
Der verehrte Mann, welcher nach vieljähriger erfolgreicher Thätigkeit
die Leitung der Karlsruher Hofbühne aufgegeben hat, ist dem Vernehmen
nach damit beschäftigt, seine Theater-Erinnerungen aus den letzten Decennien
niederzuschreiben, wir wissen nicht, ob als Fortsetzung seiner Geschichte des
deutschen Theaters, ob in Memoirenform als persönliche Erlebnisse. Einen
Wunsch möchten wir dazu auf seinen Arbeitstisch senden: daß es ihm gefallen
möge, nicht nur die Grundsätze, nach denen er sein Theater geleitet hat,
sondern auch die technische Einrichtung, welche sich unter seiner Leitung bewährt
hat, recht reichlich und ausführlich darzustellen; vor allem, was seiner Bühne
bei Annahme der Stücke, bei Aptirung, Proben, scenischem Arrangement eigen¬
thümlich war. Wir meinen, daß in unserer Zeit gerade die administrative
und technische Behandlung dieser großen Culturanstalten ein Gegenstand allge¬
meinen Interesses sein müßte, wir glauben, daß man bei Schilderung der
Methode nicht leicht zu weitläufig werden kann, und daß solcher Bericht sich
sogar über die einzelnen großen Repertoirstücke Shakespeares, Schillers, Goethes
bis auf Striche, Arrangement der Hauptseenen und Besetzung der Hauptrollen
erstrecken sollte. Nur in dieser Weise vermag Devrient seine Thätigkeit, das
ehrliche, gewissenhafte, deutsche Streben und die gute Culturwirkung seiner
Bühne zu einem Gewinn für andere Theater und für das Kunstverständniß
unserer Zeit zu machen.
Unterdeß sei hier eine kurze Schilderung seiner Directorial-Leistungen
versucht. Seit dem Jahre 1862 ist auch von dieser Stelle aus seine mühevolle
Arbeit mit warmem Antheil verfolgt worden. Bei jedem Besuch in Karlsruhe
hat Schreiber dieser Zeilen das Theater mit Vergnügen und Nutzen besucht.
Es war besondere Freude, einen ganzen Mann zu sehen, der mit unermüd¬
licher Pflichttreue seine idealen 'Forderungen gegenüber schlechter Tagespro.
duetion, gegen die Kritik und die Gewöhnungen seines Publicums aufrecht
erhielt. War auch einmal eine Aufführung, wie das überall zu gehen pflegt,
nicht auf der Höhe, die vor Allen er selbst sich wünschte; an Einzelheiten in
Anordnung und im Einstudiren fand man immer Behagen, und die Tendenz
seiner Leitung wirkte immer erfreulich, der gewissenhafte Ernst, in welchem
er die Bühne und ihre schöne Kunst als ein großes Culturmittel zur Ver-
edlung des Geschmacks und zur Bildung des Gemüths auffaßt.
Es ist nicht unbekannt, in welch verstörtem Zustande sich das Karls¬
ruher Hoftheater befand, als Ed. Devrient im Jahre 1862 die Reorganisation
desselben übernahm. Der gräuliche Brand im Jahre 1847 hatte das Gebäude
vernichtet, seit fünf Jahren war die Bühne in einem ehemaligen Orangerie¬
gebäude aufgeschlagen. Durch Krieg und manches Unglück im Fürstenhause
waren die Interessen des Hofes und der Gesellschaft dem Theater entfremdet.
Das Kunstpersonal war bei den Gehaltreductionen im Kriege vermindert
und der besten Kräfte beraubt worden. Das aus dem Brande gerettete
Inventarium war in jeder Weise ungenügend für das neue Haus, das im
Bau begriffen der Vollendung nahe war. Die ungeeignete Leitung und
Autorität hatte den ganzen künstlerischen Betrieb aufs Aeußerste verwildert
und die moralische Haltung verwahrlost. Das Repertoir war gemäß dem
allgemeinen Zustande, die italienischen Opern und Gesangspossen dem Publi-
cum zur Lieblingskost geworden.
Gluck war der Karlsruher Oper ein Fremdling. Shakespeare war dem
Publieum nur als seltene Erscheinung durch die gewöhnlichen Gastspielstücke
bekannt. Bei Annahme moderner Gedichte folgte man dem Vorgange anderer
Bühnen. Die Mühe der Prüfung aller erscheinenden Novitäten ersparte
man sich, deshalb auch den Vortritt mit irgend einer Aufführung.
Der Cotterie und Geltendmachung des Sonderwesens war Thür und
Thor geöffnet.
Der damalige Prinz und Regent Friedrich von Baden berief Devrient,
der ihm wohl nur durch seine Schriften bekannt war, um dieser Anarchie
und Demoralisation seines Theaters vor dem noch unentweihten neuen
Hause ein Ende zu machen und in seiner Bühne seiner Hauptstadt eine wahre
Kunstanstalt, ein neues Culturmittel zu schaffen. Er wollte den Versuch
wagen, das Ideal der Devrient'schen Lehre zu verwirklichen und dem Her¬
kommen zum Trotz einen Bürgerlichen und Fachmann unmittelbar von der
Bühne hinweg an die Spitze zu stellen.
Im October 1862 begann Eduard D. noch mit dem alten Bestände
des Personals und in dem alten Noththeater die Arbeit seiner Reorgani¬
sation. Die innere Einrichtung des neuen Hauses, das leider im Wesent¬
lichen fertig war, konnte er nur in Kleinigkeiten noch corrigiren. Ein fast
gänzlich neues Inventarium an Decorationen und Costümen mußte beschafft
und bei den geringen Geldmitteln die zweckmäßige Verwendbarkeit jedes
Stückes sür mannigfachsten Gebrauch berücksichtigt werden.
Er hielt fest an dem Princip, daß die Ausstattung nirgend in den Bor¬
grund der Aufführung treten dürfe und ihm kam hier die praktische Noth¬
wendigkeit zu Hilfe. Er suchte eine gewisse Allgemeinheit des historischen Zu¬
schnitts, die Repräsentation mehr einer Zeit, als einer Einzelheit, und er begriff
völlig die Gefahr, welche die sogenannten reichen Ausstattungen der dramatischen
Kunst bereiten. Er wußte, daß Dekorationen, Costüme und äußerer Apparat
die ästhetische Wirkung des Spiels nur dann unterstützen, wenn sie nicht als
ein Ungewöhnliches, Neues und breit Ausgeführtes den Darsteller beengen
und das Publicum zerstreuen. Dieser äußere Apparat muß in unserer Zeit
der Landschaftsmalerei und einer vorzugsweise historischen Bildung allerdings
reichlicher sein, als er vor 60 oder gar vor 100 Jahren war. Er ist auch für den
Darsteller unentbehrlich geworden. Denn die moderne, unschöne, die Körper¬
formen ungeschickt deckende Kleidung der Männer, und unsere Sitte, welche
eine Selbstbeobachtung der Körperhaltung und Handbewegungen, wie des Ge¬
sichtsausdrucks nicht begünstigt, macht dem Schauspieler für Haltung und
Gesten das seiner Rolle entsprechende Costüm zu einer werthvollen Hilfe.
Aber ebenso wie der Darsteller als Römer, Hohenstaufe, in Mantel- und
Degenrollen und in französischen Kniehosen durchaus nicht die Aufgabe hat,
mit archaistischer Genauigkeit die Besonderheit alter abweichender Lebens¬
formen darzustellen, sondern nur solche charakteristische Züge der abliegenden
Zeiten und Nationalitäten, welche gerade der künstlerischen Wirkung seiner
Rolle dienen und welche der guten mittleren Bildung seiner Zeit als dazu
gehörig wohl bekannt sind, ebenso soll sich eine Theaterleitung hüten, mit
Sorgfalt historische Besonderheiten des Costüms oder der scenischen Aus¬
stattung hervorzusuchen. Wenn ein Director erst ängstlich darauf achtet, daß
in Wilhelm Tell die genau copirten Landschaften des MerwaldMtersees mit
den Effekten eines Dioramas erscheinen, und daß die Schweizer Bauern und
rittermäßigen Leute gerade solche Bruchhosen und Eisenkappen tragen, wie
zur Zeit Johann Parieidas gebräuchlich waren, so wird das antiquarisch er¬
freute Publikum demnächst dahin geführt, die reale Wirklichkeit auch gegen
den Inhalt des Dramas geltend zu machen, und die letzte Consequenz würde
sein, daß Tell nicht mehr in modernem Jambus, sondern im alten schweizer
Dialect zu sprechen aufgefordert wird. Und ebenso dürfte von einem alten
Römer gefordert werden, daß er nicht hochdeutsch, sondern sein Latein rede.
Da dies in der That unmöglich ist, so hört der Darsteller bei fortgesetzter
realistischer Ausbildung des Apparats überhaupt auf zu sprechen; er singt
noch eine Weile, bis auch das unpassend erscheint; an Stelle des historischen
Schauspiels tritt zuletzt die Pantomime. Dieser Uebergang ist schon ein¬
mal in antiker Zeit durchgemacht worden. Manche Bühnen sind von solchem
Unsinn nicht mehr so weit entfernt, daß man ihn für unmöglich halten sollte.
Glücklicherweise ist unser Publieum in seinem historischen Gewissen bei einiger
Klugheit des Bühnendirigenten immer noch leicht zu befriedigen, freilich auch
leicht zu verwöhnen. Devrient verstand sehr gut bei außerordentlicher
Gelegenheit durch eine neue Decoration, ein paar Sammetmäntel und
ein Dutzend geschlitzte Jacken den wünschenswerthen Schein der Reichlichkeit
hervorzubringen und hütete sich, auch nur einmal durch zu viel äußern Auf¬
wand an falsche Effekte zu gewöhnen. Dagegen war er erfindungsreich in
kleinen decorativer Arrangements, welche ihm die Wirkungen des Schau¬
spielers ehrlich steigerten. Nicht nur die Conversationsscenen im modernen
Salon wußte er besonders zierlich und bequem zu arrangiren, er war auch
bei historischen Stücken sorglich bemüht, die Einförmigkeit des viereckigen tiefen
Guckkastens, den unsere Bühne darstellt, durch hübsche Einfälle hinweg¬
zubringen und er hat vor Allem in den Shakespear'schen Stücken, die bekannt«
lich für eine ganz andere Bühne geschrieben sind, dadurch eine große Anzahl
Samischer Momente zu ganz neuer Geltung gebracht.
In ähnlicher sparsamer Weise geschah die Vervollständigung des Per¬
sonals. Da zu den hervorragendsten Eigenschaften der Devrient'schen Be¬
gabung das Lehrtalent gezählt werden durfte, so glückte es ihm, manche wich¬
tige Fächer mit jungen Kräften zu besetzen, welche als Schüler der Anstalt
mit geringen Geldmitteln sich begnügten. Es gelang ihm gleichfalls, mit
einem der Zahl nach außerordentlich geringem Personale, mit nur einfacher
Besetzung aller nothwendigen Fächer die rollenreichsten Stücke aufzuführen,
weil seine künstlerische Nachhilfe den Einzelnen bei schwierigen Aufgaben
allenthalben beistand und so auch mittlere Talente oft mit großen Ausgaben
bedacht werden konnten.
Aber nicht allein auf die Schüler und Geringeren des Personals erstreckten
sich die belehrenden Hilfen des neuen Directors, auch die Darstellungen der
ersten Rollen wurden von seiner theoretischen wie praktischen Unterstützung auf
das geführt, was Devrient's Leitung vor Allem auszeichnete: zu der völli¬
gen Hingabe an das Werk des Dichters ohne Hervordrängen des Einzelnen
und ohne die Befriedigung der persönlichen Eitelkeit auf Kosten der Total¬
wirkung und der Naturwahrheit.
Man hat deshalb seiner Bühne zuweilen den Vorwurf gemacht, daß
seine Methode zwar eine gewisse Dressur und Application des Individuums
erreiche, daß sie aber starke, künstlerische Erfindung, geistvolle und originelle
Auffassung nicht begünstige. Dieser Vorwurf ist völlig unwahr, er ist beson¬
ders ungerecht in einer Zeit, in der fast jede stärkere Begabung, bevor sie tech¬
nisch gereift ist, in anspruchsvoller Virtuosität unterzugehen verdammt scheint.
Kein Theater, und seien seine Geldmittel noch so groß, vermag in unserer
Zeit die Mehrzahl der Fächer mit Individuen von besonders starker Kunst-
tüchtigkeit zu besetzen, dazu sind der Bühnen zu viele und freudiges Selbst¬
schaffen unter den Schauspielern viel zu selten. Bei den immerhin bescheide¬
nen Mitteln der Karlsruher Bühne mußte Devrient froh sein, wenn er auch
nur mäßige Begabung in manchem wichtigen Rollenfach sich durch einige
Jahre bewahren konnte. Den reicheren Talenten, welche er zu erhalten das
Glück hatte, ließ er jeden Spielraum. Die Befriedigung, welche seine Bühne
gewährte, war deshalb die beste, welche gegenwärtig in einer mittleren Stadt
zu erreichen ist. Es war zuerst die Abwesenheit grober Fehler und eine
consequente Bändigung der dramatischen Rohheiten, durch welche der Schau¬
spieler für sich Beifall sucht, indem er Uebertreibungen der Posse in das
Lustspiel mischt, seine Wirkungen auf Kosten der Mitspielenden aufbläst ze.
Man war immer sicher in guter Gesellschaft zu sein, auch bei gewagten und
possenhaften Momenten vermißte man nie das Zartgefühl guter Sitte. Dazu
kam als besonderer Reiz die Einheit der dramatischen Stils in sämmtlichen
Rollen, die Zuvorkommenheit, mit welcher die Wirkungen durch einen Dar¬
steller dem andern vermittelt wurden, vor Allem die warme und liberale Pietät
des Dirigenten und seiner Künstler gegen die Textworte und die beabsichtigte
Wirkung des Dichters. Das Theater von Karlsruhe bietet manches Hemmniß.
Der Zuschauerraum geht bereits über das Maaß hinaus, welches für feine Wir¬
kungen des Schauspiels wünschenswert!) ist und hat den besonderen akustischen
Uebelstand, daß er ein schnelles Redetempo fast nur an einer Stelle der Bühne
gestattet. Das wird namentlich beim Conversationsstück ein fast unübersteig-
liches Hemmniß. Wenn darin nicht immer ein frisches und lebhaftes Tempo
erreicht wird und nicht durchweg die schönen Wirkungen, welche in der
Steigerung und Abdämpfung des Dialogs, also in dem rhythmischen Grup¬
piren der Scenentheile liegen, so ist der Uebelstand in dem Bau des Hauses
zu suchen, welches den Schauspieler zu einer beständigen Beherrschung seines
Feuers nöthigt.
Das allmälig heranbildende Studium, welches Devrient seinem Personale
an immer schwierigeren Aufgaben zu Gute kommen ließ, theilte unvermerkt
das Publicum. Es genügte der Zeitraum von zehn Jahren, um das Re¬
pertoire auf die ehernen Grundpfeiler von sämmtlichen dem Publicum zu.
gänglichen classischen Werken Shakespeare's und der deutschen Meister zu
stellen (20 Shakespeare'sche, 20 von Lessing. Goethe, Schiller, 3 von Kleist).
Daneben stehen die Namen aller bedeutenderen Dichter der Neuzeit, wenig
modern französische; in der Oper auf S Gluck'sche, 6 Mozart'sche (mit den
Originalrecitativen) solgen Beethovens, Webers, Spohrs, Marschners, Meyer«
beers, R. Wagner's Werke und mancher Name moderner Tondichter, von
französischen Componisten. was sich dramatisch auszeichnete von MeHul bis
zu Ander — der Name Offenbach blieb unbekannt—, von Italienern dagegen
erschien nur wenig. Das Repertoir behauptete vorwiegend deutschen Charakter.
Hiermit war der Geschmack des Publikums festgestellt und erwies sich in der
mehrmals aus äußeren Anlässen gewagten Probe, gegen alle frivolen und
geistesarmen Erzeugnisse der Bühnenschriftstellerei ablehnend. In gleicher
Weise hatte auch das Personal an diesen Hauptaufgaben der Kunst die
Probe der Reife bestanden.
Aber große Schwierigkeiten waren hier zu überwinden, und rastlose
Arbeitsamkeit war hier nöthig gewesen.
Konnte doch dem immer wiederkehrenden Publicum eine gewonnene
Vorstellung nur in sehr geringer Zahl von Wiederholungen und in so großen
Zwischenräumen vorgeführt werden, daß jedesmal erneute Proben den der
Aufführung vorangegangenen folgen mußten. Diese Proben von der ersten
Leseprobe, der er nicht selten bei schwierigen Aufgaben eine Vorlesung des
ganzen Stückes vorausschickte, durch die möglichst früh abzuhaltenden Arrangir-
proben hindurch, die das Rollenstudium wesentlich unterstützten, bis zu den
3—4 Hauptproben, denen er, wie der Feldherr vor seiner Schlachtlinie
stehend, mit eingreifenden Winken und Bemerkungen folgte, leitete Devrient
fast immer selbst mit Beihilfe des Regisseurs. Um die Prüfung der Abend¬
wirkung zu machen, setzte sich der Director zur letzten Probe in eine Loge
des Zuschauerraums und notirte hier auf ein Blatt, das der Coulissenwitz
mit dem Titel „Sündenregister oder Lasterbogen" bezeichnete, die noch auf¬
fälligen Mängel der Aufführung, die er dann jedesmal nach dem Acte den
Betreffenden einzeln mittheilte, wie er denn überhaupt es vermied, den künst¬
lerischen Stolz durch lauten Tadel vor Anderen zu kränken und auch die
widersprechende Ansicht über Auffassungen, wenn er sie nicht zur seinigen über¬
führen konnte, nicht zu zwingen versuchte.
Bei allzugroßen Vorstellungen war es sein Brauch, die anstrengenden
Proben zu theilen, um durch die Abspannung der Kräfte nicht die Wirkung
zu beeinträchtigen.
Während, wie oben erwähnt, zum Nachtheil des Repertoirs das Publi¬
cum zu wenig wechselte, so wechselte umgekehrt das Personal zu häufig.
Denn der Vortheil, der sich dem Institut aus der Zahl wohlfeiler junger
Kräfte ergab, schaffte ihm auch verdoppelte Arbeit, den Wiederersatz durch
neue, wenn sie aus der Devrtent'schen Schule gereift an andere Bühnen
in glänzendere Verhältnisse schieden (wie Schmorr. Krastel u. A.) Nicht
vereinzelt sind jedoch die Beispiele, daß Mitglieder des Karlsruher Personales
dem frischen, künstlerischen Treiben, der treuen gemeinschaftlichen von oben
bis herab mit künstlerischem Eifer betriebenen, Arbeit und dem fast familien-
hast zu nennenden Ton der Karlsruher Kunstanstalt, einen lockenden Antrag
an geldreichere Bühnen zum Opfer brachten.
Dies erziehende und heranbildende System, welches das Devrientsche
Institut hob und hielt, hatte auch auf die jungen Talente der Bühnendichter
günstigen Einfluß. Ein Leseeomite, — die Vorstände und zwei aus dem
Personal alljährlich neu gewählte Mitglieder, — hatte die Aufgabe alle und
jede dem Theater zukommenden Bühnendichtungen zu lesen und durch schrift¬
liche Urtheile und Jnhaltsberichte der Direction zur Annahme zu empfehlen
oder deren Unmöglichkeit nachzuweisen. Konnte sich so kein Bühnen¬
dichter über gänzliche Vernachlässigung beklagen, so gelang es Devrient nicht
selten, von einem aufstrebenden Talente durch praktische Winke das Werk
bühnengemäß umarbeiten zu lassen. Wie denn Devrient allezeit bestrebt
war, den Talenten der Gegenwart an seiner Bühne die erste Gelegenheit zur
Verwirklichung ihrer Werke zu schaffen. Namen wie Lindner, Eschenbach, aus
früherer Zeit O. Ludwig u. a. in. danken Ed. Devrient ihren ersten Klang.
Nicht wenige Stücke machten von Karlsruhe aus den Weg auf deutschen
Bühnen.
Daß eine nach allen Richtungen hin ebenso sparsame als aus künstleri¬
sche Vollendung der Ausführung zielende Leitung auch der finanziellen
Seite der Anstalt zu Nutzen wirken mußte, ist erklärlich. Und in gleichem
Maaße wie der Antheil des anfangs trotzig widerstrebenden Publicums
von Jahr zu Jahr wuchs, verzeichneten auch die Jahrabschlüsse einen wach¬
senden Erntesegen der Einnahmen und Ed. Devrient durste seinem Nach¬
folger nicht nur ein in allen Gattungen und Züchten geordnetes Institut,
sondern auch eine für die kleinen Verhältnisse hochgesteigerte Einnahme
hinterlassen, die er noch kurz vor seinem Scheiden, den augenblicklichen Groll
der Betheiligten nicht achtend, durch Erhöhung der vornehmeren Eintritts¬
preise vermehren konnte, ohne dadurch den Zulauf zu den Vorstellungen zu
mindern.
Fragt man nun nach den Factoren, welche eine solche gänzliche Umge¬
staltung zum Besten ermöglichten, so ist zunächst Ed. Devrient's wohlthuende
Persönlichkeit zu nennen, Erfahrung auf allen dramatischen Gebieten aus
eigener Anschauung, seine Methode der Belehrung, seine Schriften, die daran
geknüpfte Autorität, sein streng moralisches Leben und die eingreifende
Wirkung desselben auf die sittliche Disciplin des Personals. — Er gab z. B. dem
Personale neue auf die alten Systeme der vorzüglichsten Directoren: Eckhof,
Schröder, Jffland, Goethe, Immermann u. s. w. gesüßte Dienstregeln. —
Nicht weniger half das ganz ungewöhnliche Vertrauen eines freisinnigen und
edlen Fürsten, der sein Theater der Leitung eines praktischen Bühnenleiters
überließ mit dem Versprechen, jede Einmischung abzuwehren und der diese
Verheißung in der That bis ins achtzehnte Jahr erfüllte.
Großherzog Friedrich von Baden hat sein Einverständniß mit dem Grund-
sah: daß das Theater sich den höheren Culturanstalten des Landes an¬
schließen müsse, unstörbar festgehalten und Devrients Ausführung dieses
Planes durch alle seine Kämpfe hindurch gegen banale Vergnügungslust, wie
gegen die Anfeindungen einer Cotterie, die den ererbten Einfluß aus die
Hofbühne einbüßte, unverrückt gestützt.
Und so überzeugend war der Erfolg, so gut der Beweis von der
Nothwendigkeit einer sachverständigen Leitung, die inmitten der zerfahrenen
und an künstlerischem Geist verfallenen Theaterzustände ein Theater künst¬
lerisch wie finanziell Prosveriren macht, an dem die Sitte herrscht und der
gute Geschmack und ein festes System, und die somit den Erweis liefert, daß
der Mann von Fach der beste und wohlfeilste Bühnenleiter sei: daß der
Großherzog von dieser Nothwendigkeit so überzeugt wurde, um zu Devrients
Nachfolger einen gleichfalls dem Bühnenleben erzogenen Mann zu wählen.
Herr Director Kaiser — in Theaterkreisen aus seiner langjährigen Regie
und Schauspielerthätigkeit in Hannover und Berlin wohlbekannt — hat der
deutschen Bühnenwelt gegenüber eine ernste Verpflichtung übernommen, die
Organisation und das System, welche das Karlsruher Theater ausgezeichnet
haben, aufrecht zu erhalten und der Künstlerdirection die Anerkennung zu
wahren.
Möge Ed. Devrient in der ehrenvollen Muße, welche ihm jetzt gewor¬
den ist, vor Allem die größte Freude erleben, daß das Princip seiner Leitung:
Das Theater zu dem schönsten Culturmittel unserer Volksbildung zu erheben,
allgemeine Anerkennung finde.
Die Kenntniß der französischen Malerei hat seit einigen Jahren in
Deutschland bedeutende Fortschritte gemacht; zu diesem erfreulichen Ergeb¬
nisse, das beiden Nachbarvölkern nur zu Vortheil und Ehre gereichen kann,
haben mehrere Umstände gemeinsam beigetragen. Während früher nämlich
nur in verhältnißmäßig seltenen Fällen ein Bild aus Paris über den Rhein
gelangte und das kunstliebende Publikum sich also mit den allerdings zahl¬
reichen und vielverbreiteten, die Gemälde reproducirenden Stichen begnügen
mußte, haben in jüngster Vergangenheit die französischen Künstler angefangen,
ihre Werke auch auf deutsche Ausstellungen zu schicken; aus der Münchener
sogar behaupteten sie einen hohen, wenn nicht den ersten Rang, obgleich
nicht einmal die Hauptmeister sich hatten vertreten lassen. Von vielleicht
noch größerem Einflüsse war das Erscheinen von Julius Meyer's bekanntem
Buche. Dieses Werk, das dem Vernehmen nach eben ins Französische über¬
setzt wird — eine Anerkennung, die auf diesem Gebiete selten einem deutschen
Gelehrten widerfährt — hat das Verdienst gehabt, zuerst in einer sowohl
auf den sorgfältigsten Einzeluntersuchungen beruhenden, als nach den weite¬
sten und fruchtbarsten Gesich tspunkten angelegten historischen Darstellung
die Entwickelung der französischen Malerei zu erläutern; die einheimischen
Forscher hatten es nicht über eine Künstlergeschichte hinaus gebracht. Auch
für den in Frankreich selbst wohnenden ist dies Buch unentbehrlich, denn die
meisten Bilder der modernen Schulen befinden sich im Privatbesitz, so daß
die vertrauteste Kenntniß der öffentlichen Sammlungen in Paris und der
Provinz nicht ausreicht; in Meyer's Werke aber ist die gesammte Thätigkeit
der Maler in Betracht gezogen worden. Endlich wollen wir die deutsche
Invasion nicht außer Acht lassen, die Paris im Sommer der Ausstellung
überschwemmte; es waren zwar nur flüchtige Eindrücke, welche die meisten
mit nach Hause nahmen, aber diese erste Bekanntschaft hat doch Vielen den
Impuls gegeben und zu näherer Beschäftigung mit französischer Kunst ver¬
anlaßt.
Den Deutschen liegt die Frage nahe, welche Stellung inmitten des regen
Kunstlebens von Frankreich die Staatsverwaltung eingenommen hat, ob und
wie weit sie durch ihr Eingreifen ihren Einfluß fühlen läßt. Wir glauben
diesem Wunsche einiger Leser am besten zu entsprechen, wenn wir eine nach
Kräften vollständige Uebersicht sämmtlicher vom Staate gegründeten und be¬
zahlten Kunstanstalten geben. Die Kostenangaben entnehmen wir der offi-
ciellen Budgetvorlage für 1870, können also für deren Genauigkeit einstehen.
Eine solche Aufzählung bleibt ihrer Natur nach immer etwas trocken, und
wir bitten daher wegen des unvermeidlich geschäftsmäßigen Tons folgender
Darstellung um Nachsicht. Das der Sache innewohnende hohe Interesse muß
hier allein alles Andere ersetzen.
Die oberste Centralbehörde für die Verwaltung der schönen Künste ist
das erst seit dem 2. Januar dieses Jahres selbständig constituirte Mmstörk
ass LöÄUx-^res. Bis zum Jahre 1863 waren fast alle in dieses Fach ein¬
schlagende Angelegenheiten vom Staatsministerium besorgt worden, nur einige
wenige von dem des Innern. Durch ein kaiserliches Decret vom 23.Juni 1863
wurde aber jener Administration ein großer Theil ihrer Competenzen ent¬
zogen; einige, wie z. B. alle das Institut betreffende Geschäfte gingen auf
das Unterrichtsministerium über, die meisten jedoch wurden zum Gebiete des
Staatssecretariats geschlagen, das bisher mit dem kaiserlichen Hause betraut
war und nun den Namen Umistöre ac la Utüsvn as I'Lmpersur se des
Leaux-^res annahm. Verschmolzen wurden indeß die beiden Verwaltungen
nicht; es war, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, eine Art von Personal¬
union unter demselben Vorsteher, dem alten Marschall Vaillant. Das Ca-
binet Ollivier-Daru vollzog die gänzliche Trennung; es ließ die Vorstands¬
schaft der Civilliste ihrem bisherigen Inhaber und gab das nun abgesonderte
Ministerium der schönen Künste Herrn Maurice Richard, einem noch jungen,
thätigen Manne, der in der kurzen Zeit seines Amtes schon sehr anerkennens-
werthe Reformen bewerkstelligt hat und jetzt auch interimistisch mit dem
öffentlichen Unterrichte betraut ist. In Folge der letzthin eingetretenen Krisis
ist vielfach die Rede davon, das Ministerium der schönen Künste gänzlich
abzuschaffen; in diesem Falle würde es wohl als ein besonderes Departement
dem des Innern einverleibt werden. Soviel über Entstehung und Schick¬
sale der obersten Behörde. — Von ihr geht aus jede Maßregel, die der
Staat in künstlerischen Dingen trifft, in Paris sowohl als in der Provinz;
die Bureaux der Centralverwaltung, in welche alle diese Angelegenheiten zu¬
sammenfließen, verursachen an Kostenaufwand 317,000 Fr., wobei der Mi¬
nister, wie alle seine Collegen, mit 100.000 Fr. bedacht ist — es ist die
Region der hohen Gehälter!
Eins der wichtigsten Geschäfte ist die Sorge für Aufführung und Er¬
haltung der öffentlichen Gebäude und Monumente, unter zwei getrennte Ru¬
briken vertheilt: Ouvrages ä'art et ä6eora.ti<in Ach eäiüees xudlies mit
930,000 Fr. und Loustructivn et entretien ach batimeuts eivils mit
2,330.000 Fr. (Außerordentliches Budget für 1870: 2,260.000 Fr.) Hierher
gehört namentlich die Ausschmückung der Kirchen, Straßen und Plätze, worin
die Franzosen bekanntlich einen unübergetroffenen Geschmack und Geschicklich-
keit besitzen. Eins der schönsten in den letzten Jahren vollendeten Gebäude
ist das neue von Herrn Due erbaute Calais ac -sustiee, in einem seiner Be¬
stimmung entsprechenden ernsten, ja fast herben Stil, das von den charakter¬
losen modernen architektonischen Werken in einsamer Größe absticht. Es
brachte seinem Schöpfer die goldene Medaille von 100.000 Fr. ein. — Die
Aufgabe der Vollendung der Tuilerien und des Louvre ist ebenfalls vom
Staatsministerium auf das der schönen Künste übergegangen. Der Flügel,
der die beiden Königsburgen auf der Wasserseite vereinigt, ist jetzt im Aeuße-
ren unter der Leitung des Herrn Lefuel völlig ausgebaut, in möglichster An¬
lehnung an das Muster der schon bestehenden Theile; auf manchen pracht¬
vollen Schmuck mußte freilich verzichtet werden, so z. B. auf die Fortsetzung
der reizenden Statuenreihe, die sich, in der Höhe des ersten Stockwerkes,
zwischen den Fenstern hinzieht; die Kosten wären zu einer unersteigbaren
Höhe angewachsen; sie belaufen sich ohnedies jährlich auf 2—3 Millionen.
Wer in Paris gewesen ist, hat sicher bewundert, mit welcher geschmack¬
vollen Schonung des noch Bestehenden und mit welcher geschickten Benutzung
des Gegebenen die alten wirklich schönen Gebäude restaurirt oder zugäng¬
lich gemacht, ich möchte sagen in Scene gesetzt worden sind; die Sainte-
Chapelle, die Kirche von Se. Denis, das Schloß von Se. Germain en Laye
zeugen von dem künstlerischen und archäologischen Wissen Viollet-le-Due's;
sie sind wahre Muster von Restaurationen. Nicht weniger schön ist die Um¬
gebung des Thurms Se. Jacques hergestellt, der in einem labyrinthischen
Gewirr von kleinen Gäßchen förmlich wieder entdeckt werden mußte; nun
steht er da, in einem luftigen grünen Sauare, und zeigt frei seine vier Seiten,
von denen keine der anderen auch nur ähnlich ist. eins der individuellsten
und originellsten Denkmale französischer Gothik. Das neben den noch er¬
haltenen römischen Thermen erbaute Hotel de Cluny. einst das Absteige¬
quartier der Aebte des berühmten Klosters, selbst eines-der interessantesten
Ueberreste des alten Paris, ist nun zu einem Museum hergerichtet, das an
Reichthum und Werth für die Culturgeschichte des Mittelalters seines Gleichen
sucht. Auf dieselbe Weise sind in der Provinz viele Kirchen und Klöster, an
denen Frankreich bekanntlich ungemein reich ist — die Verheerung des
dreißigjährigen Kriegs ist ja nicht über seine Gaue gezogen — entweder
ausgebaut oder vor dem Verfalle geschützt und den Verehrern mittelalter¬
licher Baukunst erhalten worden. Die Abtheilung für die Erhaltung der
historischen Monumente ist mit 1,100.000 Fr. bedacht.
Wir kommen nun zu den eigentlichen Kunstanstalten und Schulen.
Bekanntlich wird jetzt alljährlich (bis 1863 war es nur alle 2 Jahre) im
Palais des Champs Elyse'es eine Ausstellung von Arbeiten noch lebender
Maler, Bildhauer, Kupferstecher und Architekten veranstaltet, die unter dem
Namen des Salon auch über Frankreichs Grenzen hinaus eine gewisse Be¬
rühmtheit genießt. Diese Ausstellung, die seit 1673, dem Jahre ihrer Grün¬
dung, bereits 87mal stattgefunden, wird vom Ministerium der schönen Künste
geleitet, dem zu diesem Zwecke eine Summe von 313,000 Fr. zur Verfügung
steht. Sie spielt eine große Rolle im französischen Kunstleben, da sie in
regelmäßigen Zwischenräumen den zurückgelegten Weg zu überschauen die
beste Gelegenheit gibt; Künstler und Publikum legen auf sie denselben Werth,
es ist ihnen augenscheinlich eine fast zum Bedürfnisse gewordene angenehme
Gewohnheit, jedes Frühjahr einander wieder zu begegnen, einander zu beobach¬
ten. Daher auch der Eifer, mit dem Gelehrte und Kritiker sich bemühen,
die feste Stellung eines regelmäßigen Recensenten des „Salon" in einer Zeit¬
schrift oder einem der angeseheneren Tagesblätter zu erhalten, und so gleichsam
die Vermittelung zu übernehmen zwischen den Künstlern und der großen
Menge, die mehr Lust und Liebe zur Sache als wirkliche Einsicht besitzt.
Und doch ließe sich sehr Vieles gegen diese zu oft wiederkehrenden Aus¬
stellungen einwenden; wie leicht kommt es dahin, daß sie zu massenhafter
oder nur auf Effect berechneter Production führen. „Wie rasch sind zehn
Monate vergangen! Das Publikum erinnert sich der Bilder des vorigen
Jahres noch allzugenau, und es begehrt doch etwas Neues zu sehen! Pflicht
des Künstler ist es, ihren Gönnern etwas Reizendes, noch nicht Dagewesenes
zu bieten!" Aehnliche Gedanken mögen leicht den Ehrgeizigen dahin bringen,
daß er um der augenblicklichen Gunst willen den Weg der hohen Kunst ver¬
läßt, und dem nur Gefälligen, Formgewandten aber Gedankenlosen nachgibt!
Immerhin ist es erstaunlich, wie zahlreich neben dem Verrückten und Aben¬
teuerlichen die wirklich guten und ansprechenden Bilder aus dem jährlichen
Salon sind, und namentlich welche Fülle von technischer Fertigkeit, von kühnen
Combinationen in den Farben, von Keckheit in der Wahl der Gegenstände
uns da vor Augen tritt. Wenn wir aber tiefer eindringen und wahr¬
nehmen, daß wir dabei doch kaum gemüthlich bewegt worden sind, sondern
daß nur unsere Augen oder unser Witz und Verstand gereizt und erregt
waren, so begreifen wir leicht, wie Mancher dazu verleitet wird, diese Art
von Ausstellungen überhaupt aus unserem Kunstleben verbannen zu wollen.
Da die Verzeichnisse*) der ausgestellten Werke genaue Nachrichten über
die Verfasser zu geben pflegen, so bilden sie eine wichtige Quelle für die
Geschichte der modernen Malerei und Sculptur; denn auch die Ausländer
finden wir hier vertreten, wenn auch natürlich in weit geringerer Anzahl.
So ist denn die ganze Reihe der Cataloge wieder gedruckt worden, da die
alten Exemplare selten aufzutreiben waren. — In Zusammensetzung der zur
Prüfung der eingelieferten Arbeiten bestellten Commission hat Herr Maurice
Richard bereits eine Reform getroffen, die längst von den ausstellen¬
den Künstlern gefordert, nun allgemein willkommen geheißen worden ist.
Bisher (seit 1864) bestand folgende Einrichtung. Wahlberechtigt waren alle
Künstler, die bereits ein oder mehrere Male**) ausgestellt, welche eine Medaille,
den römischen Preis oder das Kreuz der Ehrenlegion als Belohnung ihrer
Verdienste erhalten haben. Sie hatten zwei Drittel der Jury zu wählen;
das letzte Drittel ernannte die Verwaltung direct, meist mit Hinzuziehung
-) Interessant ist folgende Zusammenstellung; die Zahl der ausgestellten Werke betrug:
Hiervon kommen auf die Malerei 30,857,- Sculptur 4982; Architektur 1055; Kupferstiche
2282; Lithographie 804,
Die? Jahr sind 6684 Kunstwerke angenommen worden. —
der Kritiker. Diese Einschränkung ist es, die eben beseitigt worden ist. die
Künstlerschaft wählt allein die gesammte Prüfungscommisston — ein Recht,
das ihr gewiß Niemand streitig machen wird. Dadurch wird den unaufhör¬
lichen immer wiederkehrenden Klagen der „Refuse's" wohl ein Ende gesetzt
sein. In die beständigen Beschwerden der Abgewiesenen über Parteilichkeit
und Engherzigkeit der Jury hatte auch das Publikum eingestimmt; da be¬
schlossen, ich weiß nicht mehr in welchem Jahre — die weisen Richter nach¬
zugeben, und alle Arbeiten zuzulassen, nur sollten die ursprünglich verworfenen
Kunstproducte in einem besonderen Saale vereinigt ausgestellt werden: was
die Pariser da zu sehen bekamen war so namenlos, daß sie alle Lust verloren,
noch von Härte und Einseitigkeit der Commission zu reden. Es begehrte
kein Mensch mehr das Schreckliche zu schauen!
Die immer ziemlich bedeutende Summe, welche der Eintrittspreis (1 Fr.)
einbringt, wird alljährlich dazu verwandt, prämiirte Kunstwerke für öffentliche
Gallerten anzukaufen.
Die bedeutendste Kunstschule Frankreichs, die Levis ass Lea-ux-^res
und die damit zusammenhängende Levis as Koins hat unter der jetzigen
Regierung eine gänzliche Umgestaltung erfahren. Ausgegangen ist sie von
den sogenannten Lorxs enssiZnallts der Akademie sür Malerei und Sculptur
(gegründet 1648) und für Architektur (gegründet 1671). Nach der Revolution,
die auch hier Vieles von dem Hergebrachten änderte und beseitigte, aber die
Schule doch bestehen ließ und sogar mit augenscheinlicher Liebe pflegte, wurde
die Schule durch Consulardecret vom 3. Pluvotse an XI. (22. Januar 1803)
wieder neu constituirt, bis sie durch eine königliche Verordnung vom 4. August
1819 die Gestalt und die Rechte erhielt, die sie 44 Jahre lang fortführte.
Diese Verfassung der Schule war als Versuch zum Selfgovernment mitten
in der Restaurationszeit merkwürdig genug; sie verdient es, daß wir einen
Augenblick bei ihr verweilen.
Die Loole ass Leaux-^res war aufs Engste mit der Akademie der
schönen Künste verknüpft, die, wie heute noch das ganze Institut, ihre Reihen
nur durch Cooptation ergänzt. Die Professoren der Schule waren sämmtlich
Mitglieder der Akademie, und, da die Wahl ihrer College« ihnen allein zu¬
stand, so kam der Fall niemals vor, daß ein Nichtakademiker zum Lehrer
berufen worden wäre. Diese Ernennungen bedurften zwar der ministeriellen
Bestätigung, allein diese blieb niemals aus. Die Professoren ernannten auf
ein Jahr einen der Ihrigen zum Vorsteher, einen zum Vicevorsteher; diese
beiden nebst dem eben aus dem Amte tretenden Vorsteher, dem beständigen
Secretär und einen hinzugezogenen Professor der Architektur bildeten den
Verwaltungsausschuß, der die Schule dem Staate gegenüber vertrat; mit
dem Ministerium hatte man übrigens nur wenig zu verkehren; einige Rech-
nungsablagen, Anzeigen von getroffenen Maßregeln: das war Alles. Die
Doole ass Leaux-^res war ganz in der Hand der Akademie, Dasselbe, in
vielleicht noch höherem Grade, war mit der römischen Schule der Fall.
Die ZZeols as Roms, von Colbert gegründet, ist ein alter Ruhm Frank¬
reichs; sie steht nur denjenigen offen, die in einer eigens zu diesem Zwecke
ausgeschriebenen Preisbewerbung in Paris gekrönt worden sind. Ihre Leitung
und Zusammensetzung hing ganz von der Akademie ab, denn diese veranstaltete
die Preisbewerbungen und urtheilte allein über die eingeschickten Kunstwerke.
Diese Verhältnisse wurden durch das kaiserliche Decret vom 13. Novem¬
ber 1863 durchaus verändert. Jeder Zusammenhang zwischen der Akademie
und der Ueols ac Lea-ux-^res wurde nun aufgelöst, den Professoren ihr Coop-
tationsrecht entzogen und sie wurden vom Minister ernannt; an Stelle des
Verwaltungsausschusfes trat ein ebenfalls von der Regierung aus 8 Jahre
bestellter Director, (Gehalt 8000 Fr.) dem die Leitung aller Verwaltungsan¬
gelegenheiten anvertraut ward. Ihm zur Seite steht der Loosen sux6rieiir
ä'evseiMemöllt, bestehend aus: Dem LuriteuäÄnt ass Leaux-^re als Vor¬
sitzer, dem ministeriellen Departementchef der schönen Künste als Vicevorsitzer;
zwei Malern, zwei Bildhauern, zwei Architekten, einem Kupferstecher und
fünf anderen Mitgliedern, alle vom Minister ernannt. Jährlich kann der
dritte Theil seiner Mitglieder wechseln. Diesem Rathe liegt es ob. eine Liste
von Geschwornen auszusetzen, unter denen, nach erfolgter ministerieller Be¬
stätigung, die Jury ausgelost wird, welche über die römischen Preise urtheilen
soll. Außerdem enthielt das Decret eine Reihe von Bestimmungen, z. B.
die Schöpfung von Ateliers für sämmtliche Künste innerhalb der Schule selbst,
die Gründung von Lehrstühlen für viele Hilfswissenschaften. Ferner wurde
die Altersgrenze für die Gäste der Villa Medicis von 30 auf 25 Jahre, die
Dauer ihres Stipendiums von 3 auf 4 Jahre herabgesetzt. Wir müssen es
uns hier versagen auf weitere Einzelheiten einzugehen, welche nur technisches
oder speciell französisches Interesse haben; auch auf eine kritische Prüfung
der getroffenen Aenderungen müssen wir hier verzichten, ebenso auf eine ge-
nauere Beschreibung der inneren Einrichtung der Loolk ac Leaux-^re. Die
meisten unserer Leser haben gewiß dort Paul Delaroche's berühmtes Hemicycle
bewundert; sie werden wohl den Eindruck mitgenommen haben, daß schon
das Gebäude allein eins der anziehendsten von Paris ist, ein wah»es Heilig-
thum der Kunst, das wie wenige unsere volle Sympathie in Anspruch nimmt.
Es war eine förmliche Sündfluth von Protestationen und erbitterten
Ausfällen, welche nach der! Veröffentlichung dieses Decrets hereinbrach.*)
Herr Beule, beständiger Secretair der Akademie, erließ eine donnernde Phi-
lippina; die gesammte Akademie selbst protestirre, der alte Ingres erhob noch
seine Trimme — alles umsonst, alle neuen Maßregeln wurden aufrecht er¬
halten, und bis heute ist es also geblieben, nur die frühere Bestimmung,
welche die römischen Candidaten bis zu ihrem dreißigsten Jahre zuließ, ist
ganz neuerdings wieder hergestellt worden. Eine Aussicht, die damals da¬
mals eröffnet wurde, ist leider nicht in Erfüllung gegangen, es wurden nämlich
durch jenes Decret Privatdocenten zugelassen, gemeldet hat sich aber noch keiner!
Jetziger Director der Leole ac LsKux-^res (Budget 190.000 Fr.) ist der
Bildhauer Guillaume, der dem 1868 abgegangenen Maler Robert Fleury
gefolgt ist. An der Spitze der römischen Schule (Budget 147,000) steht
Hebert, der Maler so vieler reizenden Genrebilder aus Italien, von dem aus¬
druckvollsten Farbenton, und so reich an Stimmung, dessen „Malaria" (im
Luxembourg) durch Stiche auch in Deutschland wohl bekannt ist.
Eine werthvolle, durch ihre Anwendung auf die Industrie fruchtbare
Anstalt ist die unter Ludwig XV. 1766 gegründete Zeichnenschule für Knaben
(Budget 48,000 Fr.), an deren Seite sich unter der jetzigen Regierung auch
eine für Mädchen (14000 Fr.) gestellt hat.
Die Levis des Leaux-^re in Dijon und Lyon (Budget 37.000 Fr.) ver¬
mögen es nicht, der Pariser Schule Concurrenz zu machen. Doch herrscht in
letzterer Stadt ein verhältnißmäßig reges, durch bemittelte Gesellschaften und
häufige Ausstellungen befördertes Kunstleben.
Weniger blühend ist die Pflege der Musik. Gänzlich gesunken ist das
altberühmte Conservatorium für Musik und Declamation; seine Leistungen
entsprechen so wenig dem was es gewesen und was es sein sollte, daß der
Minister sich bewogen gefühlt, eine außerordentliche Commission zu berufen,
um zu berathen, wie dem Uebel abzuhelfen sei. Ihre Arbeiten haben erst
vorige Woche angefangen, aber schon hat E. About einfach aus Abschaffung
des Conservatoriums angetragen, das ein unnöthiges und sogar schädliches
Institut sei. About verurtheilt jede Theilnahme des Staats am künstlerischen
Unterrichte, er bedauert den Einfluß desselben aus die bildenden Künste. Dem
mag sein wie ihm will, die Commission zählt zwar in ihren Reihen die an¬
gesehensten Namen der heutigen französischen Componisten und der Mnsik-
schriftsteller, trotzdem können wir uns von ihrer Wirksamkett nicht viel Gutes
versprechen: Musik wird in Frankreich auf eine Weife und mit einem Sinne
getrieben, welche die Kunst nur auf Abwege und zu gänzlichem Verfalle
führen können.
Filialconservatorien bestehen in Metz, Lille, Toulouse, Marseille, Nantes.
Sie sind im Ganzen mit 222,000 Fr. dotirt. wovon auf Paris allein 212,700
kommen.
Wichtiger und von unmittelbarem Einflüsse auf Geschmack und Richtung
des Publicums ist der Antheil, den der Staat an der Leitung der Theater
nimmt. Kein Stück darf aufgeführt werden, ohne eine Censur passirt zu haben,
die gegen sittliche Haeresien sich in der Regel sehr tolerant, im Bereiche der
kirchlichen und politischen Ansichten aber sehr unduldsam erwies. Man er¬
innere sich, wie lange die Stücke Victor Hugo's von der Bühne verbannt
blieben, mit welchen Schwierigkeiten Sardon's „Seraphine," die das immer
häufiger vorkommende Laster der religiösen Heuchelei brandmarkte, zu kämpfen
gehabt. Die bedeutendsten Theater von Paris erhalten eine starke Subven¬
tion vom Staate, müssen es sich also gefallen lassen, wenn dieser ihre Direktion
theilweise oder ganz übernimmt. Die Summen, die darauf jährlich verwandt
werden, sind beherzigenswert!):
Nebst einigen Nebenausgaben macht das eine Summe von 1,618,000 Fr.!
— Der Bau der neuen Oper hat bereits. 60 Millionen verschlungen
und soll, dem Vernehmen nach, noch einmal so viel verschlingen; für eine
so kolossale Summe hätte man wahrlich etwas Schöneres und Großartigeres
zu Stande bringen können, als das heillose, wenn auch immerhin effectvolle,
unharmonische Gebäude, das nun im Aeußeren fast vollendet dasteht.
Einige Posten müssen wir vereinzelt namhaft machen, da sie sich
nicht gut in irgend einen Zusammenhang bringen lassen.
Eine Summe von 254,000 Frs. wird jährlich als Unterstützung an
arme Künstler oder deren Wittwen vertheilt. Mit 136,000 Frs. betheiligt
sich das Ministerium an der Veröffentlichung von kunstgeschichtlichen Werken,
theils durch Subscription auf mehrere Exemplare, theils durch Uebernahme
sämmtlicher Kosten.
Ferner steht dem Minister der schönen Künste die Verwaltung des
Staatsarchivs (184,500 Fr.) zu, die doch wohl passender dem öffentlichen
Unterrichte anvertraut würde; die Leitung des ^file as Laverne (15,000 Fr.)
für arme Wittwen und Töchter verdienter Staatsbeamten; die Herstellung
des Festes am 15. August, wobei alljährlich w waiorem NaxoleomL gloviain
200,000 Fr. aus dem öffentlichen Seckel in die Luft verpufft werden.
Zu seinem Ressort gehört endlich die Ehrenlegion, deren Vermögen zwar
die anständige Rente von 6 Millionen abwirft, die aber trotzdem einen jähr¬
lichen Zuschuß von 10—11 Millionen aus dem Budget des Inneren erhält!
Wo bleiben aber die Museen? fragen gewiß unsere Leser, ungeduldig
geworden über die endlose Aufzählung: die Museen sind dem Ministerium
ach Leaux-^res entzogen, dem zur Entschädigung dafür — die Gestüte an¬
vertraut sind! Unser gewöhnlicher Menschenverstand hat uns noch nicht
verständlich machen können, warum die Pferdezucht, mit ihrem Budget von
3,872,600 Frs., gerade zu den schönen Künsten in so enge Beziehungen ge¬
setzt worden ist! Seit einigen Wochen hat man sie dem Handelsministerium
zugedacht, auch dem öffentlichen Unterrichte! Aus den Ackerbau ist noch Nie¬
mand gekommen! —
In einem bald folgenden Artikel werden wir von den Museen zu sprechen
haben: sie gehören zum Ministerium des kaiserlichen Hauses. —
Leipzig, den 2. Oetober 1842.
Wenn ich blos dem Herzen hätte folgen wollen, würden Sie schon nach
den ersten Tagen unseres Hierseins einen Brief von mir erhalten haben.
Als ich Abschied von Ihnen nahm, war's wie zu einer kurzen Reise; ich
wußte es in Worten nicht anders zu machen, wenn ich's auch innerlich anders
empfand. Ich darf nicht wünschen, daß Sie zu der Ferienzeit oft Reisen
nach Carlsbad zu machen haben und wie sollte Sie außerdem Ihr Weg
sobald nach Leipzig führen — ebenso scheint für mich die Freiheit zu einer
längeren Reise nach den hiesigen Dienstverhältnissen nicht groß zu sein, was
in der Sache, nicht im Mangel an gutem Willen meiner Vorgesetzten liegt,
die mich bis jetzt auf eine so ausgezeichnet gütige Weise behandeln, daß es
nur mein Wunsch sein muß, mir diese Zuneigung durch Diensteifer erhalten
zu suchen. Indessen kann ich die Hoffnung nicht ausgeben, Sie aus eine oder
andere Art bald einmal wiederzusehen und mag nur in dieser Hoffnung mich
der gegenwärtigen auf manche Weise mir günstigen Zustände erfreuen. Ich
bin nach manchen sehr ceremoniösen Magistrats- und Schul-Aufnahms-Acten
seit fast 14 Tagen in den Dienst eingetreten. Er besteht, was die eigentliche
Cantorsfunction betrifft, in einer Stunde täglichem Chorgesangunterricht, jetzt
von 11—12, später von 3—6, und in der Direktion der Sonntagskirchen¬
musik; letztere des Morgens um 8 Uhr. Diese, habe ich heute erst angetreten-
und zwar komme ich soeben daher. Ich haÄe auf den Wunsch mehrerer
Freunde meine Messe mit Orchester eingeübt, und um mit dieser zu beginnen,
am vorigen Sonntag den bisherigen Jnterimsdirector Potenz noch einmal
zu dirigiren ersucht. Am heutigen Sonntag, als Anfang der Meßwoche, ist
es gebräuchlich, das Kyrie oder Gloria der Messe zu geben; nach der ersten
Orchesterprobe, die ich von meiner Messe gemacht hatte, wünschten die Mu¬
siker, daß sie das erste Mal und zu meinem Amtsantritte ganz gegeben
würde, welches mir auf meine Anfrage der Superintendent auch gern zu¬
gestand; so gab ich erst 3 Sätze und nach der Epistel die übrigen. Es ist
im Chor und Orchester eine sehr erfreuliche Willigkeit, ein Interesse für die
Sache, welches dem Dirigenten so erleichternd entgegenkommt, daß auch ein
so ungeübter und wenig geschickter als ich es wohl bin, keine schwere Aufgabe
hat, etwas so schwieriges, als diese Messe ist, zur geebneten und von merk¬
lichen Fehlern freien Aufführung zu bringen. Man ist mit der heutigen
ganz zufrieden gewesen.
Den 7. Oel ob er. Mendelssohn kam am vorigen Freitage hier durch
auf seiner Rückreise von der Schweiz. Da er am 1. October in Berlin sein
sollte, hielt er sich nicht auf. er ward aber so dringend angegangen, das
erste Gewandhausconcert, welches Sonntag, den 2., stattfand, zu dirigiren,
daß er zu diesem schon wieder hier war. Das Orchester ist hier unter seiner
Leitung in Symphonien ganz vortrefflich, es ist eine Schärfe und Elasticität
im Ganzen, wie man sie nicht leicht wiederfindet Mendelssohn hat selbst
seine große Freude daran, will aber das Verdienst sich nicht zugeschrieben
wissen, indem, wie er sagt, in Berlin, wo so viele gute Kräfte im Einzelnen
vorhanden sind, bei alle seinem Eifer und unendlicher Mühe nichts ähn¬
liches herzustellen gewesen sei. Man hofft in Leipzig noch sehr, daß Men¬
delssohn zurückkehren werde, sicheres weiß Niemand, da er selbst noch keines¬
wegs bestimmt ist. Bei David habe ich 3 Quartetten von Schumann
gehört, die ersten, die er geschrieben, die mir sehr gefallen, ja mich in Ver¬
wunderung über sein Talent gesetzt haben, das ich mir bei Weitem nicht so
bedeutend vorgestellt hatte, nach den kleineren Claviersachen, die ich früher
von ihm kennen lernte, die gar so aphoristisch und brockenhaft waren und sich
in bloßer Sonderbarkeit gefielen. An Ungewöhnlichem in Form und Inhalt
fehlt es auch hier nicht, aber es ist mit Geist gefaßt und zusammengehalten
und recht Vieles ist sehr schön. Im Theater habe ich die Königin von
Cypern von Halevy gehört; das Buch ist unvergleichlich besser als das deutsche,
es ist nicht zu begreifen, wie Lachner es sich von dem Uebersetzer so konnte
verhunzen lassen. Der König ist hier eine handelnde, nicht blos leidende
Person, wie dort, und zwar von sehr nobler und Theilnahme erregender
Art. Es ist unsäglich dumm, wie der deutsche Bearbeiter des Königs Thun
in bloße Erzählung verwandeln konnte. Die Erzählung ist auf dem Theater
überhaupt nicht viel werth, in der Oper aber, wo die Worte so leicht ver¬
loren gehen, gar nichts. Hier heißt es, wie Caspar sagt: was das Auge
sieht glaubt das Herz. Aber nicht der Text allein, auch die Musik von
Halevy ist mir als Opernmusik viel lieber als die Lachner'sche. Sie ist gar
nicht sehr lärmend, im ganzen ersten Act fast keine Posaunen, vielmehr ist
eher zuviel nach Halevy'scher Weise fein witzig und spitzig Ausgearbeitetes
darin, oft etwas trocken mit künstlichen Spielereien, dann aber auch wieder
strömend und samisch von großer Wirkung, jedenfalls eine bessere Theateroper
als die Lachner'sche, die mich wie so viel deutsche zweiter und dritter Ord¬
nung immer zu viel an das Schreibepult und an saure Arbeit erinnert.
Heine sagt einmal, er habe in seiner Jugend» sich nie in das complicirte
Linne'sche System finden können, und sich sein eigenes gebildet: er theile die
Pflanzen ein in solche, die man essen könne, und solche, die man nicht essen
könne. So könnte man, von anderen guten und schlechten Oualitäten ab¬
sehend, auch die Opern eintheilen in solche, die gegeben werden und solche,
die nicht gegeben werden. Ich glaube, daß zur ersten Art die Halevy'sche,
zur zweiten die Lachner'sche gehören wird.
Es kann aber im Grunde doch nur auf einer positiven Qualität beruhen,
wenn etwas einer so großen Menschenmasse, als das gesammte Opernpubli-
cum zusammen genommen bildet, Vergnügen macht, und daß eine Oper nicht
gering zu sein braucht, um der Menge anhaltend zu gefallen, sehen wir an
den besten, die wir haben, sie sind auch der Menge die liebsten. Wenn aber
auch so manche gefallen, an denen der Musikverständige technisch und ästhethisch
viel auszusetzen hat, so bleibt diesen eine immerlohnende gute Eigenschaft um
so mehr gesichert, als der Tadel gegründet sein wird, da ein Ding wegen
seiner Schlechtigkeit Niemand Vergnügen machen kann. Und das ist bei Ita¬
lienern und Franzosen wohl hauptsächlich das, daß man sühlt, sie sind hier in
ihrem Element, und die daraus resultirende Leichtigkeit der Production, —
wie denn auch andere als Operncompositionen gegen diese bei ihnen gar
nicht in Betracht kommen, während bei den Deutschen eine geglückte Oper
von gelungenen Compositionen jeder andern Gattung, namentlich der In¬
strumentalmusik, hundertfach aufgewogen wird.
Am Sonntag vor 8 Tagen haben wir bei Härtel den Pianisten Henselt
gehört, welcher mit der Eisenbahn von Dresden kam. sich dort an das Cla-
vier setzte und erst nach 3 Stunden wieder aufstand, er hatte schon l'/z ge¬
spielt als wir kamen. Ich habe noch nichts Vollendeteres in dieser Spiel¬
art gehört, oder vielmehr ich kann mit nichts Vollendeteres denken, weil es
durchaus allen Ansprüchen, die man machen kann. Genüge leistet: unfehlbare
Sicherheit. Kraft und Zartheit und eine schöne künstlerische Haltung und
Ruhe im Vortrag. Als Curiositäten der Ungriffigkeit spielte er zwei Weber'sche
Ouvertüren, die ich ihm erlassen hätte, sonst hübsche neue Sachen in Etüden«
form, meist wohl von sich; wiewohl ich keine der bekannten darunter fand.
Der Härtel'sche Flügel hielt sich den ganzen Abend vortrefflich, es ist eine
tüchtige Art von Instrument. Außerdem werden sehr gute Pianos hier gebaut,
und ich bin neugierig zu sehen, wie der Ritmüller'sche sich dagegen halten
wird. Nächsten Sonntag gebe ich nach stehendem Gebrauch in der andern Kirche
noch einmal meine Messe, den folgenden zwei Sätze einer sehr hübschen Messe
in L von Mozart, wieder in der Thomaskirche; hier habe ich 3 Bässe und
wenigstens 12 Geigen, dort wegen Mangel an Raum nur 2 Bässe, aber
es klingt in beiden gut. Mit herzlicher Liebe und Verehrung
Leipzig, den 1. December 1842.
......Mendelssohn, mit dem ich soeben bei einer Conferenz
wegen einer kirchlich-musikalischen Angelegenheit war, freut sich gar sehr, daß
Sie Ihre neue Ouvertüre dem Concert im Manuscript mittheilen wollen.
Ich habe neulich die „Weihe der Töne" in großer Vollendung im Gewand.
Haus gehört. Sie würden selbst Freude an der Aufführung gehabt haben.
Es ist eine Lieblings-Symphonie des Leipziger Concert-Publicums. Es ist
doch aber auch ein ganz ander Ding, solche Musik in einem gut geformten
und schön decorirten und erleuchteten Saale zu hören, als in einem Schauspiel¬
hause, wo es nichts zu schauen gibt und das dem Hören so ungünstig ist
als das Casseler. Die besten Aufführungen sind immer wie Bilder ohne
Firniß und ohne Rahmen. Meine Frau, die nie andere als Theater-Concerte
gehört hatte, ist ebenso erfreut als erstaunt über die schöne Wirkung eines
guten Orchesters in einem Saale, wie der hiesige des Gewandhauses. Wenn
man die einzelnen Blasinstrumente in ihren Solls hört, lassen manche zu
wünschen übrig, wenn auch einige vortrefflich sind, aber die Zusammenwirkung
ist sehr' befriedigend und besonders in rhythmischen Nuancirungen so schön
belebt, wie man sie sonst nur bei einem guten Quartett zu finden gewohnt ist-
Von Döhlers Compositionen (von der besseren heutigen Virtuosenmusik)
gefallen mir die kürzesten am besten, den längeren fehlt es an eigentlicher
Entwickelung, an einem zweiten Theil, an einem Mittelstück; wie wenn man
einen Hering gespeist hat und das übrig gebliebene Kopf- und Schwanzstück
auf dem Teller zu zusammenlegt; das hat zwar Anfang und Ende, es ist
aber doch kein Fisch — oder wie unsere Symphonien im Schauspiel, wenn wir
vom Thema im zweiten Theil anfingen. Mir wars immer lieber, den ersten
Theil zu geben und in der Dominante zu schließen. Es soll etwas nicht
blos bei sich bleiben, es soll herausgehen, um zu sich selbst zu kommen! Das
Erste ist nur der Keim, das Andere ist die Frucht. Neulich spielte Mendels¬
sohn sein D-moII-Concert. Das ist doch eine ganz andere Art Musik, nie
wird sie blos Virtuosenzweck haben. Auch bei den glänzendsten Sätzen ist
es immer der musikalische Gehalt, die Idee, die ihm am Herzen liegt, wie
es bei Ihren Molinconcerten auch ist, weshalb allein sie schon über allen
Vergleich mit anderen Sachen der Art stehen. Es ist wahr, daß diese moder-
nen Claviervirtuosen Sachen spielen, die man, ohne selbst Clavierspieler zu
sein, kaum begreift, auch wenn man sie spielen sieht; aber es wiederholen sich
doch dieselben Effecte schon jetzt so viel, daß man kaum noch Interesse daran
nehmen kann, und was die Millionen von Noten betrifft, so mögen das die
Rothschilde zu schätzen und abzuschätzen wissen, für uns wirds wieder eine
compacte Einheit und Einförmigkeit. — In dem Concert der Schröder-Devrient
kamen mehre interessante Sachen vor, die Ouvertüre zu Rui-Blas von Men¬
delssohn und Scenen aus der Oper Rienzi von Richard Wagner, welcher
selbst dirigirte. Die Ouvertüre ist schnell gemacht, hört sich wenigstens so
an, sie gefiel mir recht gut, ich habe aber von Componisten der Art, wie Men¬
delssohn, sowie von Beethoven auch, die satt und reif getragenen Kompo¬
sitionen lieber. In einem früheren Concerte wurde nach einer der schön¬
sten Symphonien von Haydn eine Ouvertüre von Beethoven (op. 124),
ein Gelegenheitsstück gegeben, die mir nach jenem so schön künstlerisch
empfundenen Werke in ihrem besonderen Gefühls - Egoismus ganz roh
und widerlich erschien. Hier heißt es: „Erlaubt ist was gefällt" dort:
„Erlaubt ist, was sich ziemt". Der Unterschied der Sittlichkeit und der
bloßen Sinnlichkeit. Die Sittlichkeit schließt die Sinnlichkeit nicht aus,
aber sie schließt sie eben ein, sodaß sie nicht alles überschwemmend überlaufe.
Beethoven's Compositionen haben dann, wann er sich so gehen läßt, den
Charakter geistreicher Improvisationen, die man als solche hochstellen kann,
ohne daß sie damit als Kunstwerke auf gleiche Höhe zu stehen kommen. Dort
gilt schon der bloßs Fortgang und der Gedankenzufluß; im Kunstwe.k will
man ein überschauendes Selbstbewußtsein durchfühlen, eine Ruhe in der Un¬
ruhe, wie denn überall, wo etwas wirkliches d. h. etwas gutes entstehen
soll, entgegengesetzte Bedingungen sich vereinigen müssen. — In Wagner's
Musik habe ich weit mehr Anspannung und Ausspannung, als erfüllenden
Inhalt gefunden. Von der Wirkung einer ganzen Oper kann man wohl
nach so wenigen einzelnen Stücken nicht urtheilen, aber die Art der Musik
stellt sich doch schon darin dar, und die gefällt mir wieder nicht, es ist wieder
die unmusikalische, die am Ausdruck des Einzelnen haftet, die wo von Freud
und Leid die Rede ist, beides auseinanderhält und jedes für sich musikalisch
ausdrücken will.--Die Worte sollen aber in Musik gesetzt werden, wie
man einen Fisch ins Wasser setzt, aus dem trockenen, absondernden Verstan-
des-Element in das vermittelnde flüssige Gefühls-Element. So machen es
die Italiener und was ihnen kunstverwandt ist, wie Mozart, Spohr. die
mir nicht übel nehmen mögen, daß ich sie zu diesen zähle. Man hat bei den
Italienern nicht nur an Donizetti und Bellini zu denken, sondern an Raphael.
an Leonardo und Titian. an die schönste Kunstblüthe, die es gegeben hat.
Wagner hat seine Oper in Paris geschrieben und hatte sie für das dortige
große Theater bestimmt, sie trägt auch, soviel sich aus dem Wenigen abneh¬
men läßt, was wir gehört haben, ganz die Uniform der neuen großen fran¬
zösischen Oper, in dem Wenigen war aber doch viel Langweiliges und Leeres.
Wir sitzen in der Oper recht zwischen zwei Stühlen; es ist einem in Lach¬
ners Königin von Cypern so unbehaglich wie in Halevy's.....
Leipzig, den 3. November 1842.
Von Herrn Hofrath Rochlitz erhielt ich vor einiger Zeit ein Oratorium
„Saul und David" zugeschickt, es war ihm ein Brief von Ihnen beigelegt,
worin Sie viel zu vortheilhaft von meinen Fähigkeiten sprechen. Ich bin
aber aus großen Arbeiten so herausgekommen, aus langen meine ich, daß
ich größere als je jetzt zu unternehmen keinen Muth habe und mich erst in
kürzeren dieser Art versuchen muß. Ueberdies finde ich Ihre Ausstellungen
an diesem Oratorium eben so richtig als erheblich; ganz allgemein genom¬
men mag ich überhaupt die Männerchöre nicht. Es ist eine musikalische Un¬
natur, Männer vierstimmig singen zu hören, es bleibt immer eine monotone
Quälerei. Der vierstimmige Gesang ist für Männer und Frauen, und daß
die Herren an ihren Liedertafeln sich allein amüsiren wollen, daß man dieses
Abschließen der Musik anhört, ist eben das Unschönste daran. Am Oratorium
mißfällt mir aber hauptsächlich die gar zu theatralische Disposition; es ist
ohne sacrarium gar nicht verständlich. Da an einem Oratorium nichts zu
sehen ist, sollte auch keine Scene dazu gedichtet werden, dramatisch könnte es
deshalb doch gedacht sein. So sind die von Metastasio mit handelnden Per¬
sonen, ohne daß man jedoch an eine bestimmte Räumlichkeit erinnert wird.
Am liebsten ist mir die Art wie der „Messias", „die letzten Dinge", „Pan-
lus": die episch-lyrische, ich halte sie auch für den Componisten insofern am
günstigsten, als er hier weniger versucht ist, in das Theatralische zu gerathen,
worin man freilich jetzt strengere Forderungen des Styls geltend machen
will, als früher, wo zwischen einer Oratorien-Arie und einer ernsten Opern-
Arie kaum ein Unterschied wahrzunehmen ist. Das Oratorium liegt noch
bei mir, ich gebe es aber in diesen Tagen zurück. Hofrath Rochlitz ist unser
ganz naher Nachbar und war uns von den ersten Tagen an sehr freundlich.
Nächsten Sonnabend singen wir als Motette einen zweichörigen lateinischen
Hymnus von Gallus (dem deutschen Hähnel) 1515 componirt, und mein
„Salve Regina". Die Motettenmusik wird abwechselnd von einem der vier
Präfecten dirigirt, und ich mag es nicht abändern, nicht weil es altes Her¬
kommen ist, aber es erhält einen Wetteifer unter ihnen, jeder Wochenpräfect
sucht es an Auswahl und Ausführungen den andern zuvor zu thun. Es ist,
seit ich hier bin, außer einer Motette von Reichardt noch nichts Schlechtes
vorgekommen, obwohl des ganz Erfreulichen dieser Gattung nicht eben viel
vorhanden ist. Ich hoffe, daß wir künftig Ihre Psalmen singen können,
fürs Erste möcht' ich's noch nicht. Der Chor ist eisenfest in diatonischen
Sachen, mit allen möglichen Figuren und Coloraturen, aber bei chromatischen
singt er so falsch wie andere auch. Zum chromatisch rein Singen gehört
musikalische Bildung, mit dem Notentreffen allein ist es nicht zu erlangen,
der Sänger muß sich der inneren harmonischen Vorgänge bewußt sein. Ich
erfahre es zu meinem Aerger jedesmal bei einer Stelle des Salve Regina;
wenn es klänge, wär's mir lieber, als daß ich weiß, warum es nicht klingt.
Daß aber zu einer Vocalmusik, um sie ausführbar zu machen, allezeit ein
Cluvier gespielt werden muß, ist doch auch keine zu rechtfertigende Bedingung,
und die Aelteren hatten so unrecht nicht, sich für diese Gattung an sehr be¬
stimmte Gesetze zu halten. Ich schäme mich einer solchen Stelle mehr, als
wenn offenbare Octaven und Quinten dastünden. Dabei könnte man doch
reine Töne hören. Im Aerger wasch' ich den Jungen den Kopf, aber ich
weiß recht wohl, daß er mir müßte gewaschen werden.
Den 5. Novbr. Ich habe die Symphonie (von Schumann) vorgestern
im fünften Concert gehört, und es freut mich, daß Sie Ihnen auch bekannt
werden soll — langweilig ist's keinen Augenblick, vielmehr überall blühend
und lebendig, zuweilen etwas curios, aber immer Musik: eine Bettina, die
man nicht gerade zur Hausfrau möchte, die aber märchenhaft poetisch, sehr
anregend und unterhaltend ist. — Verholst ist von Leipzig abgereist und geht
nach Holland zurück. Er ist ein eigener, lebhafter Mensch, sehr enthusiastischer
Natur. Musikalisch habe ich von ihm Nichts kennen lernen, er kam vor
nicht langer Zeit erst von einer Reise zurück und ich habe ihn wenig gesehen.
Wenn ich mehr Lust zum Schulmeistern hätte, als ich sie habe, könnte ich
hier wieder viel solche Beschäftigung finden. Es ist eigen, wie eine so falsche
Meinung, daß ich ein guter Lehrer sei, sich so dauernd erhalten kann; ich
habe keine Ader dazu. Denn das ist noch lange kein Beruf, wenn einer
oder der andere nicht ganz ohne Nutzen Unterricht gehabt hat, der vielleicht
auch ohne Unterricht eben so weit gekommen wäre. Wie viele nichts Ordent.
liebes bei mir gelernt, weiß ich am Besten. Daß die gekrönten Schüler, die
Zranä xrix des Pariser Conservatoriums, in der Composition auch oft noch
sehr im Unklaren sind, wie ich's an drei Individuen sehr genau habe kennen
lernen — kann mir für die Anwendung von meiner und der Schüler Zeit keine
Satisfaction geben, — Vor meinem Fenster wird jetzt S. Bach ein Monu¬
ment gesetzt. Wolf würde aber wenig davon erbaut sein. Die Büste Bach's,
welche in einer Nische steht, ist das Beste daran.
Leipzig, den 6. Februar 1843.
. . . . Gestern war Berlioz's Concert und wir sind davon noch alle
etwas gliederlahm — einen ganzen Abend solche Musik zu hören ist etwas zu
viel, wenn auch einige Stücke in ihrer phantastischen Eigenthümlichkeit recht
interessant und unterhaltend sind. Eine solche gar zu sehr sich absondernde Ori¬
ginalität verlangt am allermeisten einen äußeren Gegensatz; jedes Stück irgend
eines anderen Componisten, auch eines geringen, wäre gestern eine Erholung
gewesen. Es ist eigen, daß man bei Berlioz immer meinen muß, er könnte
auch ganz schöne Musik machen, wenn er wollte, oder wenn Etwas aus dem
Wege geräumt würde, was ihn daran hindert; das ist wie eine Art Be¬
sessenheit, die es nicht zuläßt, wenn sich etwas zu ruhiger Schönheit aus¬
breiten möchte. Es wurde die Ouvertüre zum König Lear gegeben, die Fehm-
richter und die phantastische Symphonie-Episode aus dem Leben eines Künstlers,
dann zwei Romanzen von einer sehr schönen Sängerin, die er mit sich führt,
sehr französisch ordinär gesungen, und ein Violinstück von David gespielt,
aber auch von Berlioz. Das Orchester war zu 24 Geigen, 5 Bässen, 7 Cellos
und 6 Violen verstärkt — 4 Pauken und 4 Pauker dazu, indem zuweilen
4stimmige Pauckensätze vorkommen, Ophicleiden, 4 Hörner u. s. w. verstehen
sich von selbst, Harfe und Piano fehlten auch nicht. Bei den Urtheilen über
Berlioz wird man immer zum Widerspruch angeregt, wenigstens geht mir's
so; die Einen finden das Höchste in ihm, Andere wollen gar nichts an ihm
anerkennen und meinen, so etwas könne jeder machen, der die kKrollteri«
dazu habe. Das kann ich nun ebenso wenig zugeben als jenes. Ich finde
nur ein falsches tadelhastes Wollen darin und meine, ein sehr respectables
Können sei für Einen, der so etwas zu beurtheilen weiß, gar nicht zu ver¬
kennen. Er spielt sein großes Instrument mit großer Virtuosität und weiß
die beabsichtigten Effecte sehr wohl hervorzubringen; das sind nun freilich oft
sehr ungefällige und absurde. Am behaglichsten und anmuthigsten finde ich
ihn, wo der Teufel ganz und gar los ist, weit weniger im Anmuthiger, wie
Einem bei Seydelmanns und Devrients Bösewichtern viel wohler zu Muthe
war, als wenn sie Liebhaber vorstellen wollten. Gegen den Hexensabbath
in der gestrigen Symphonie ist Webers Wolfsschlucht ein Wiegenlied; es
wäre gar nicht übel, jenes Stück einmal in den Freischützen einzulegen.
Einige Tage vorher war Mendelssohns „Erste Walpurgisnacht," Musik zu
Goethe's Gedicht im Abonnementsconcert gegeben worden, ein Musikstück
voller Frische und Schönheit; es ist eine frühere Arbeit, die er jetzt unge¬
schrieben, nur in der Jnstrumentation, so viel ich weiß, verändert hat. Da
kommt auch der Blocksberg mit allem Zubehör darin vor und es fehlt nicht
an einschneidend Dissonantem, aber erstens ist es nicht so toll und dann ist
auch das andere Element dabei, was bei Berlioz gänzlich fehlt. Berlioz
bleibt bei der Dissonanz stehen. Mendelssohn löst sie aus. Mendelssohns
neue Symphonie wird Ihnen, glaube ich, sehr gut gefallen. Ich hätte sie
gern früher gehört, es war an jenem Abend gar zu viel vorausgegangen und
ich kann nicht viel Concertmusik vertragen, aber mir schien sie sehr schön;
großartiger jedoch habe ich noch immer seine Gesangsachen gefunden.
Im nächsten wird die 9te von Beethoven gegeben. Der Chor aus Tho-
manern und Dilettanten bestehend ist bei solchen Aufführungen sehr gut und
stark besetzt, nur leidet dabei die Wirkung der Instrumente etwas, indem
der Chor auf demselben Boden vor dem Orchester steht. Ihre neue Ouver¬
türe ist neulich zweimal durchprobirt worden und ging das zweitemal so
gut, daß sie sogleich hätte gegeben werden können, nur wenige Erinnerungen
Mendelssohns waren nöthig beim erstenmal. Sie nahm sich sehr schön aus
und gefiel uns, vorläufig gesagt, sehr gut. Mir war's auch lieb, wieder
einmal ein neues Musikstück zu hören, was nichts als sich selbst bedeuten
sollte; die dürften doch nicht ganz aus der Mode kommen — indessen ist
dagegen nichts zu thun; soll die Instrumentalmusik im Ganzen diese
charakteristische Richtung nehmen, so wird sie sie nehmen, ob es Einem Recht
ist oder nicht. — Mir scheint das nun wie Genremalerei gegen historische
und daß das Höchste jener seiner Natur nach auf einer tieferen Stufe steht
und sich nicht zu dieser erheben kann, von der relativen Vollkommenheit der
Production abgesehen. — Zu unserer Musikschule haben sich schon viele Theil«
nehmer gemeldet, sie soll im April ihren Anfang nehmen, aber nicht den
Ersten — das fand Mendelssohn ominös. Vor der Hand sind noch immer
Conferenzen, die Einrichtungen und nähere Bestimmungen betreffend, es wird
aber nicht immer viel bestimmt und wird erst einmal ein Anfang gemacht
Leipzig, 28. Februar 1843.
......Ich komme eben aus einem Concert des Parish Alvars
des Harfenvirtuosen, vielleicht des größten, den es gibt, aber wir sind doch
nach dem ersten Stück des zweiten Theils, der Ouvertüre „Ossiansklänge"
von Gabe, herausgegangen; über das Instrument kann er doch nicht hinaus
und an dem haften, um Alles darauf machen zu wollen, zu viele Mängel.
Je besser der Triller auf der Harfe gemacht wird, desto deutlicher wird es,
daß man keinen machen soll. Ausklingende Piano-Accorde in Arpeggien
möchte allenfalls etwas sein, was die Harfe eigenthümlich schöner als das
Pianoforte hat, (die Harfencompofitionen müßten gegen die Claviercomposi-
tionen einfacherer Natur sein, mehr im Charakter der Palme als des Eich-
baums), in allem andern steht sie im Nachtheil, und der reiche complicirte
Mechanismus, nicht um etwas schön spielen zu können, nur um die Mög¬
lichkeit zu erlangen, etwas zu spielen, ist gerad recht ihre Armuth und es,
ist kein Wunder, wenn sich so wenige damit befassen wollen. Dabei ist es
wieder das einzige von allen unsern modernen Instrumenten, was an sich
eine gute Gestalt hat, dem Spieler eine gute Gestalt gibt und anmuthige
Bewegung gestattet, das einzige, was keine kleinliche oder keine Unform hat
und zu dem ein idealeres Costüm noch besser stehen würde als unser ver¬
zwicktes. Man könnte sich einen Sarastro, die Pedale abgerechnet, recht gut
mit der Harfe, viel weniger mit der Geige oder Oboe denken. — Im näch¬
sten Concert wird die Symphonie von Gabe gegeben, die Ouvertüre ist recht
hübsch, aber noch lange kein Meisterstück, sie hört sich noch etwas stückweis
an und hat in ihrem Verlauf keinen rechten dominanten Höhepunkt, etwas
näher schwer zu bezeichnendes, das guten Sachen nicht fehlt, ohne sich hier
sehr bemerkbar zumachen, aber den Mangel fühlt man deutlich. So scheinen
die Bach'schen Fugen und Motettensätze in einem ganz gleichartigen Stimm¬
geflechte fortzugehen vom Anfang bis zum Ende, so sieht es auf dem Papier
aus, aber wenn man sie hört und Anderes dagegen hört, dann ist das eine
ein herrlicher Baum, das andere ist Gesträuch und Gestrüpp, was nicht von
der Erde weg will, nur in die Breite, nie in die Höhe geht und es nirgends
zu einem Gipfel bringt. So war neulich der 5stimmige Psalm „Du bist's ze."
von A. Ramberg (der auch im Cäcilien-Verein gesungen wird) in der Tho¬
maskirche als Motette, gegen jene grundkräftigen Sachen von ganz lümmer-
leader Wirkung, so hübsch er auch von vornherein klingt; aber es wird eben nichts
daraus, und vom zweiten Theil, von der Fuge möchte ich wiederholen, was
ich eben vom Harfentriller gesagt habe, es ist eine mühevolle Stückelei, die
nie in den Zug kommt und sich eben so mühsam anhört, als sie gemacht ist.
Dagegen war ein Stück von Giov. Gabrieli, was ich am Sonnabend singen
ließ, sechsstimmig, von der schönsten Wirkung, die Thomaner hatten selbst
ihre große Freude daran. — Neulich war Berlioz wieder hier von Dresden
und führte das Offertorium eines Requiems auf, eine Art Jnstrumentalfuge
oder fugirter Satz in langsamem Tempo in ä-moll, wozu der Chor unisono
nichts als a und d zu singen hat. Das kommt an die hundertmal, immer
mit Zwischenpausen, länger oder kürzer, ohne selbständige Bestimmung, nur
wie es gerade die Harmonie zuläßt, nach einander vor, zuletzt löst sich's in
einen harmonischen vur-Schluß auf, bei dem nach der langen Pein den Leuten
so wohl wurde, daß viele nach dem Ende glaubten, etwas Schönes gehört zu
haben; es ist aber ein ganz gesuchtes und innerlich unmusikalisches Ding und
macht höchstens den Eindruck, als wenn es eine Kirchenmusik vorstellen sollte,
etwa einen Mönchszug auf dem Theater oder so etwas. Dazu wärs wieder
besser als wenn einer eine wirkliche aus's Theater bringen wollte, die sich
wie alles blos wahre, da ausnimmt wie die lebendige Eule im Freischützen
oder des Kurprinzen Zapfenstreich im Wasserträger. Mit der wirklichen
Kirchenmusik, so weit man das Feld auch stecken mag, hat es aber bei den
Franzosen keine Gefahr, sie haben nie eine gehabt, was daran ächtes in
Cherubini ist, hat er als Italiener zugebracht. Kirchenmusik haben nur die
alten Niederländer, die Italiener und Deutschen . .
Leipzig, den 1. April 1843.
. . .s. . Nun muß ich über die beifolgende Rolle referiren und würde
wie Polonius anfangen, in der Verlegenheit schlechten Spaß zu machen,
sagen: es ist wahr, daß es schade ist, und es ist schade, daß es wahr ist und
dergl.; aber die Sache ist ernstlich zu spaßhaft, daß eine Sonate von Spohr,
die in Leipzig gedruckt sein wollte, ungedruckt wieder abreist. Es ist eine
solche Scheu vor der Gattung unter den Verlegern, daß sie vor der „Sonate"
fast erschrecken, so gern sie den Namen des Autors haben möchten. In diesem
Falle wäre freilich ein directes Wort des letzteren von guter Wirkung, von
besserer gewesen, als die Vermittelung eines Dritten. Schwerlich würde ein
Verleger, als einer, dem Sie sie nicht geben wollten, die Sonate ge¬
nommen haben. Mendelssohn hat sie xrimg. visrg. ganz prächtig gespielt, fand
jedoch vieles recht schwer darin — nicht schwer herauszubringen, aber schwer
mit Leichtigkeit zu spielen, daß es frei klingt. Die Sonate hat uns aber sehr
viel Vergnügen gemacht, besonders gefiel uns der erste Satz und das Scherzo.
Im letzten Satz scheint mir der breitere Rhythmus in ^ Tact gegen den ^
Tact sich zu sehr abzusetzen, nicht recht musikalisch zur Einheit mit diesem
einzugehen. Man muß so etwas mehreremal hören, dann befreundet man
sich damit. Im Allgemeinen genommen, scheint mir das Rhythmische in der
Musik das aller Ernsthafteste und Strengste, was sich am wenigsten willig
der Laune des Componisten hingibt und gar nicht mit sich spaßen lassen
will. Ich meine das Rhythmische im gewöhnlichen Sinne des Worts, man
sollte sagen das Metrische, denn dieses ist doch das zeitliche Gerüst, für sich be-
stehend, das von den rhythmischen Figuren überdeckt ist, dessen Fugen von diesen
verbunden werden, sodaß ein rhythmischer Schluß allezeit auf einen metrischen
Anfang fällt, wodurch er eben Schluß ist, daß er metrisch getrenntes zusammen¬
schließt. Im vorletzten Concert hörten wir auch Ihre neue Ouvertüre, die
ganz vortrefflich ging und ein recht tüchtiges Meisterstück ist. Mendelssohn
sagt mir. daß Sie noch in Zweifel seien, ihr einen Namen zu geben, ich
würde es bei dem jetzigen lassen, vielleicht noch gar den „ernsten Styl" (vor der
Correctur stand auf einem Zettel im „ersten" Styl) weglassen, da Sie so
Vieles in diesem edlen ernsten Styl geschrieben, wo es nicht beisteht.
Leipzig, den 23. October 1843.
.......Für Ihren lieben Brief über die englische Reise muß
ich Ihnen nochmals danken, er hat uns viel Vergnügen gemacht, des Inhaltes
und der Schilderung wegen. — Den letzten Satz der Beethoven'schen 6-moII
Symphonie kann ich auch nicht leiden, das Chorgekreisch und auch die unge¬
schickt und so gesangwidrig geschriebenen Solostellen sind mir ganz zuwider, sie
wurden das letzte Mal, daß ich sie hier hörte, recht gut herausgebracht, das
ist aber auch alles, was den besten Sängern und dem besten Chöre dabei
gelingen kann, denn an eigentliches Singen ist hier nicht zu denken. Der
erste Satz dieser Symphonie ist mir der liebste. Herr Schindler, der vor
einiger Zeit in Leipzig war, hatte mehrere Beethoven'sche Skizzenbücher mit,
das eine davon soll fast angefüllt sein mit Entwürfen zu dem Anfang dieser
Symphonie; wie ich auch ein Blatt hatte, worauf Beethoven Clärchen's
Lied „die Trommel gerührt" zu Egmont entworfen, das heißt vielerlei An¬
fänge und einzelne Stellen zu dem Liede mit fast unleserlicher Noten und
Schwänzen darauf zusammengebracht hatte. Bei dem Anfange, wie wir ihn
jetzt kennen, hatte er mit fingerlangen Buchstaben dazu geschrieben: „yuesto
6 ü migliore —" Es kommt nun freilich nichts darauf an, wie Einer etwas
zu Stande bringt, wenn er es gut zu Stande bringt; so finde ich eben jenes
Liedchen sehr hübsch und charakteristisch, nur freilich nicht für Wichen im
Stück zu singen, so wenig als „freudvoll und leidvoll". Dies letztere höre
ich überhaupt von der Oboe im Zwischenact viel lieber als von der Sängerin.
Ich kann es nicht mißbilligen, daß Tieck es vorzog, die Schauspielerin irgend
eine andere Melodie, von Reichardt oder einem Andern anstatt der Beethoven-
schen Composition singen zu lassen. So gern ich sonst seine Musik zum
Egmont habe, so finde ich eben diese Lieder nicht in dem Styl, den die
Sache erfordert, vor allen viel zu abhängig vom Orchester, das hier so viel
als möglich unbemerkbar sein müßte, das „freudvoll und leidvoll" überdies
noch ziemlich unsingbar; konnte es doch kaum die Kister leidlich herausbringen
in seiner ungeschickt hohen Lage. Von Herrn sah. kann ich nicht viel mehr
sagen, als daß er uns durch große Redeseligkeit und Selbstgefälligkeit im
Reden viel seckirt hat. Er ließ sich bei mir in der Schule eine Bach'sche
Motette singen und hat dem Chor darauf zugesprochen und ihm guten Rath
ertheilt, als wenn seine Worte Gott weiß wie golden wären.
Mendelssohn bleibt nur bis zum 20. November hier, um dann ganz
nach Berlin zu ziehen. Er geht ungern, und es ist ihm vom König von
Sachsen, der ihn persönlich sehr gern hat. ein gleicher Gehalt wie sein Ber¬
liner, 3000 Thlr. angeboten worden, wenn er in Sachsen bleiben wollte. —
Die Umstände müssen es nicht zugelassen haben, es anzunehmen. Ich habe
aus der Auction von Potenz, die einen Catalog von 3000 Nummern hat,
viel für meine Kirchenmusik erstanden, unter anderen zwei Messen von
Cherubini, welche, namentlich die 4te in L-ciur, von großer Schönheit sind.
Ich freue mich darauf, sie aufzuführen. Der hiesige Gottesdienst läßt nicht
allein Meßcompofitionen zu, der Ritus verlangt selbst an Festtagen, gegen
12mal jährlich, die Messe in ihrer Bedeutung, zwar nur Kyrie und Gloria
ich bringe aber dann die übrigen Sätze als Hymnen nach. Im Durchschnitt
genommen muß sich auch unsere Kirche an die katholische Musik halten, die
Protestantischen Cantorenproductionen sind zu prosaischer Natur. Das kann
man zwar von denen Bachs, der auch ein protestantischer Cantor war, nicht
sagen, aber hier stößt es sich wieder an die der unsrigen gar zu entfernte
Orchesterbehandlung, und es ist schwer, unter vielem an sich recht Schönen
etwas Praktikables aufzufinden.
R. Schumann, der sehr fleißig componirt. hat jetzt eine Cantate in drei
Theilen nach Laka Roock „die Perl und das Paradies", weist mit den Wor»
ten des Gedichts geschrieben und wird sie im November aufführen. Ich habe
eine Probe mit kleinem Chor und Quartett gehört, es scheint alles recht
blühend und frisch. Wie das Ganze sich ausnehmen wird, weiß ich noch
nicht, es hängt alles ohne Unterbrechung zusammen, nicht mit Recitativ und
metrischen Musikstücken, sondern fast ohne Sonderung von bestimmten Theilen.
Wie ich denn überhaupt diese moderne, romantische Musik oder wie man sie
nennen will, mehr pflanzenartiger Natur finde und den Eindruck, den so
etwas macht, mehr einem landschaftlich unbestimmt Bestimmter vergleichen
möchte, gegen den der Mozart'schen und was in diesen Kreis (den italieni¬
schen) gehört, die durch charakteristisch sehr verschiedene, in ihren Formen aber
organisch bestimmte Gestalten höherer Ordnung und festen Gesetzes zu uns
spricht. Man könnte beide Arten auch gothischer und griechischer Architektur
vergleichen; die erstere läßt auch wie der Baum Auswüchse zu, die bei der
letzteren, wie beim menschlichen Körper, nur als Ueberbeine erscheinen würden,
dort aber gar nicht störend sind.*) —
Da tadle noch Jemand die Politik unseres sanften, in den letzten Tagen
dahin geschiedenen Ministeriums Hafner. Was andere mit Gewalt, Militär
und Ausnahmszuständen kaum zu erzwingen vermögen, gelang ihm durch
ein ganz einfaches, unschädliches, im Grunde selbstverständliches Mittel, durch
klugen Rückzug zu rechter Zeit. Es handelte sich bei uns um Durchführung
der Schulaufsicht mittelst der vom Staate ernannten Jnspectoren. Bekannt¬
lich verstand unser tiroler Landtag das Reichsgesetz vom 2S. Mai 1868
über das Verhältniß der Schule zur Kirche dahin, daß die oberste Leitung
und Aufsicht des gesammten Unterrichtswesens nach wie vor durch Geistliche
geübt werden sollte. Ihnen sollte im Ortsschulrathe der Vorsitz, durch
bischöfliche Jnspectoren die Ueberwachung aller Volksschulen, ein maßgebender
Einfluß im Bezirksschulrath, im Landesschulrath aber den drei Bischöfen
des Landes selbst durch ihre persönliche Betheiligung die Entscheidung über
organische Verfügungen und Personalfragen in die Hand gelegt, und ein
absolutes Veto gegen alle die Religion oder Sittlichkeit gefährdenden Anträge
gewahrt werden. Als nun die provisorische Verordnung vom 10. Februar
1869 erschien, welche die Schulaufsicht ausschließlich der weltlichen Behörde,
den Landes- und Bezirksinspectoren, übertrug, war unser Clerus vor Aerger
aus Rand und Band gerathen. Der Bischof von Brixen und seine Schlepp¬
träger in Trient verboten der seelsorgenden Geistlichkeit an den Prüfungen
theilzunehmen, die Prüfungen in der Religion wurden also mit großer Osten¬
tation von dem Examen abgesondert und früher als die gesetzlichen von den
bischöflichen Commissarien gehalten. Die Regierung vermied gleichwohl jede
Reibung, da die Besorgung des Religionsunterrichtes jeder Kirche freistehe;
und die im Lande herumreisenden neuen Jnspectoren ließen, da sich die
Katecheten von den gesetzlichen öffentlichen Prüfungen fern hielten, in der
Religion durch weltliche Lehrer abfragen. So war die Gefahr nahe gelegt,
daß der Clerus seinen Zweck nicht erreichen dürste. Er sann daher auf nach¬
drücklichere Mittel und ohne es zu wollen, gab ihm das Unterrichtsministerium
selbst dazu Anlaß. Nach dem Grundsatze, daß der Unterricht in allen Lehr«
gegenständen außer der Religion vom Einflüsse jeder Kirche unabhängig sein
müsse, ging man in Wien an eine verbesserte zweite Ausgabe des Lesebuches
für Volksschulen, welches im Anfange der fünfziger Jahre von Concordats-
freunden verfaßt war; man ließ daraus alle Absätze und Stellen weg. die
nach Jesuitenart unter die Uebungsstücke erbauliche Anekdoten und päpstliche
Lehrmeinungen mengten. Der ehemalige Reichsrathsabgeordnete Monfignore
Greuter hatte davon kaum Kunde erlangt, als er die Kunde unge¬
säumt den hochwürdigen Herren in seinem Geburtsorte Tarrenz bei Imst
im Oberinnthale mittheilte, worauf der dortige Gemeindevorstand am
9. December v. I. einen Protest gegen diese neuen Lesebücher, die er noch
gar nicht kannte, erhob. Dazu wurde von den Geistlichen der Glaubens¬
satz aufgestellt, alle Schulbücher müßten vor ihrer Einführung vom Bischöfe
approbirt werden, und der Bürgermeister von Kältern im Etschthale hielt
daran so fest, daß er sogar 11 landwirthschaftliche Wandtafeln, deren der
Kaiser 900 aus seiner Privatcasse für die Volksschulen in Tirol angeschafft,
der k. k. Statthalterei mit einer Ablehnung dieses Geschenks zurücksandte. Als
der Bezirkshauptmann von Imst seinen Amtsdiener am 7. Januar d. I.
mit den neuen Lesebüchern nach Tarrenz sandte, ward er von zwei Geist¬
lichen aus der Schule hinausgedrängt, dann von Weibern und Kindern durch
das ganze Dorf mit Schimpfworten verfolgt und für den Fall der Wiederkehr
mit Thätlichkeiten bedroht. Es sollte aber bald noch besser kommen. Am
8. Februar d. I. besuchte der Inspector Urthaler die Schule von Se. Peter
in Asm, einem abgelegenen Dörflein des Tauferer Thals, unweit Bruneck.
Da standen gegenüber den Schulbänken die Mütter mit Knitteln unter ihren
Schürzen, und als sich der „Lutherische", wie sie ihn schalten, vor ihrem
Geschrei und Andringen gegen die Stiege zurückzog, warf ihm eine derselben
noch ihr Holzstück auf den Nacken, so daß er eine blutende Wunde davontrug.
Die darüber eingeleitete Untersuchung entzog sich bisher jeder weiteren Beur¬
theilung, und es scheint, daß man die wahren Urheber noch nicht ausfindig
machen konnte. An mehreren Orten des Etschthales ließen die Geistlichen
schlechtweg Vacanz ansagen, wenn sich der Inspektor zeigte, oder durch
Eilboten verkündet wurde; der Pfarrer in schöuna nächst Meran wies
ihm geradezu die Thüre. In Haid, einem Dorfe zuoberst im Vintschgau,
waren es wieder die Weiber, welche den Inspector Nigg am 17. v. M.
nicht zur Prüfung kommen ließen, indem sie die Kinder vor seinen Augen
aus der Schule holten; eine Wittwe führte ihn vor das Krucifix, und
erklärte ihm dort das neunte Gebot. Hart an der Schweizer Grenze, im
Dorfe Nauders wurden nach dem Eintreffen des Inspectors am 23. v. M.
während der Frühmesse Zettel angeschlagen, welche das Volk zur Vertheidi¬
gung gegen diesen neuen „Martin Luther" aufforderten; als nun gleichwohl
die Prüfung in Gegenwart des Bezirkshauptmanns und unter dem Schutze
von Gensdarmen stattfand, rottete sich das Volk in den Gassen zusammen,
und hetzte zum Sturmläuten und „Herunterhauen" der Prüfungscommission;
nur mit Mühe gelang es einigen verständigen Männern dieses zu hindern.
Ein humoristisches Seitenstück lieferten am 29. v. M. der Gemeindeausschuß
und die Weiber von Silz unweit Imst im Oberinnthale. Nachdem nämlich
der Gemeindeausschuß dem Inspector Durig und dem herbeigeeilten Bezirks-
commissar das Wort gegeben, sich bei der Prüfung einzufinden, bat er am
Tage der Prüfung um Entbindung von diesem Versprechen, indem er sonst
„die Rache der Weiber fürchten müsse." Wirklich erschien auch ein Heller
Haufe Weiber in der Schule mit einer Sprecherin an der Spitze, welche sofort
den beiden Herren erklärte, daß der Kaiser von Ungläubigen und Protestan¬
ten umgeben sei und die neue Schuleinrichtung erst von dem in Rom lager¬
ten Concil genehmigt werden müsse. Nach einigem Hader unter den Weibern
selbst entfernten sie sich mit den Kindern aus dem Schulzimmer.
Die schwarze Wolke hing am dicksten über Landeck zu, wie denn über¬
haupt im Oberinnthal der eigentliche Herd dieser Bewegung ist. Ein ganzes
Dutzend Gemeinden hatte dem dortigen Bezirkshauptmann einen von dem
in Wien erscheinenden „Vaterland" in seiner ganzen Ausdehnung abgedruckten
Protest gegen die „neuärarischen Schulvisitationen" übergeben, da die neue
Schulordnung gegen die Landtagöbeschlüsse und „gegen die Rechte und Inter¬
essen der katholischen Kirche verstoße." Bald darauf wurde der Protest von nicht
weniger als 35 Gemeinden jenes Bezirks wiederholt. Als nun am 21. März
einer der hauptsächlichen Ruhestörer, der Küster Fidel Schmid. daselbst verhaftet
wurde, füllte sich schon drei Stunden nachher die Amtsstube des Bezirks¬
richters Zerzer mit Männern aus drei verschiedenen Nachbargemeinden, denen
sich später auch der Vorsteher des katholischen Vereins in Zams und der
Curat von Angedair beigesellten. Sie alle forderten mit ungestümem Toben
die Freilassung des Küsters und drohten mit der Anwendung von Gewalt,
wobei der hochwürdige Herr wüthend auf den Tisch schlug. Bis zum
Aeußersten sollte es jedoch nicht kommen. Niemand wagte einen Angriff auf
das Haftlocal, worin der Küster von Gensd'armen bewacht wurde. Endlich
nach einer Zögerung von mehr als einer Woche hielt man es doch für an¬
gezeigt, den Gensd'armerieposten in Landeck mit 20 Mann zu verstärken.
Im Gegensatz zu dieser staunenswerthen Aufraffung von Muth erließ die
k. k. Statthalterei, zweifelsohne nicht ohne diesfällige höhere Weisung, einen
Auftrag an alle Schulinspectoren des Landes, den Besuch der Schulen an
jenen Orten zu unterlassen, wo sie voraussichtlich auf Anstünde stoßen könnten.
Diese schwächliche Verfügung befriedigte nach allen Seiten. Den geist¬
lichen Herren auf dem Lande war dadurch aller Anlaß benommen, die eifri¬
gen Weiber aufzuhetzen, den Vätern und Gemeindeausschüssen in den nächt¬
lichen „Plauderstuben" gute Lehren zu geben, oder auch nur durch Ursagen
von Vacanz den Jnspectoren ein Schnippchen zu schlagen, und diese selbst
brauchten sich nicht mehr als „schlaue Füchse" zu rühmen, wenn sie den ge¬
fährlichen ultramontanen Burgen auswichen. Freilich im Wippthal, wo ein
unerschrockener Bezirksrichter waltet, war durch die schnelle Verhaftung eines
dieser geistlichen Hetzer ferneren Comödien der „Plauderstuben" in anderer
Weise vorgebeugt, in der Umgebung von Innsbruck vermochte selbst der
Feuereifer zweier Fanatiker die Schulvisitationen nicht einzustellen, in man¬
chen freisinnigen Gemeinden des Unterinnthals wurden die Jnspectoren sogar
mit Freude empfangen. Auch in ganz Wälschtirol fanden sie nicht den geringsten
Anstand. Um so kläglicher nimmt sich daher immerhin der erwähnte Statt¬
haltereierlaß aus. Doch wer weiß, was uns noch bevorsteht. Vielleicht seh¬
nen wir uns noch oft und heiß zurück nach den Tagen der Freiheit, in denen
es doch allen Parteien gestattet war, nach eigenem Ermessen zu schalten,
wiewohl eben die liberale dabei etwas stiefmütterlich wegkam. Welches
Loos ihr vom Ministerium Potockt beschieden ist, müssen wir abwarten; es
sollte uns aber keineswegs überraschen, wenn die neueste Aera Oestreichs
eines schönen Tages die Greuter und Moriggl für die Ertheilung geheimer
Rathswürden in Vorschlag bringt.
Daß auch der in diesem Jahre gemachte Versuch, die russische Regierung
zur Anerkennung des beschworenen Landesrechts von Livland zu vermögen,
vergeblich gewesen, die Adresse der livländischen Ritterschaft abgewiesen
worden ist, wird der Mehrzahl unserer Leser bekannt sein. Wie es heißt
ist ziemlich gleichzeitig mit der livländischen eine estländische Adresse nach
Petersburg abgegangen und nur die kurländische Ritterschaft hat sich durch
die Barschheit der kaiserlichen Antwort von einem neuen Versuch, ihr gutes
Recht geltend zu machen, abschrecken lassen. Die Rusfificationsarbeit der
Moskaner Demokratie hat somit alle Aussicht, ihre Minirerthätigkeit noch
ungestörter als bisher fortzusetzen. Was hie und da von kaiserlichen Wün¬
schen für Mäßigung des nationalen Eifers und Schonung der betheiligten
Personen, von Klagen über die schädlichen Einflüsse der Moskaner Zeitung
und anderer „vorgeschrittener Organe" verlautet, hat nur den Sinn, unnützes
Aussehen zu vermeiden und die Dehors „liberaler Absichten" zu wahren.
An diesen „Dihors" ist der Petersburger Regierung um so mehr ge¬
legen, als sie mit Hilfe derselben hoffen darf, die öffentliche Meinung Deutsch¬
lands über den Sachverhalt zu täuschen und die rusfifieatorischen Absichten,
die in den Ostseeprovinzen verfolgt werden, durch liberale Phrasen zu mas-
kiren. Daß diese Rechnung keine ganz falsche ist, erscheint nach dem bis-
herigen Verhalten eines Theils der deutschen Presse leider zweifellos. Binnen
kurzer Frist haben wir erleben müssen, daß zwei einflußreiche Berliner Blätter,
die Kreuzzeitung und die Natianalzeitung bereitwillig in die Petersburger Falle
gingen und ihre Spalten Leuten öffneten, welche allen Ernstes behaupteten,
die „liberale" russische Regierung sei in ihrem guten Recht, wenn sie den
Liv-, Est- und Kurländern ihr Recht, ihre Sprache und Verfassung nehme
und in in^orsm Russiae Aloriam büreaukratische Ordnungen octroyire.
Die in einer der letzten Nummern der Nationalzeitung veröffentlichte Cor-
respondenz eines „liberalen" Deutschen, der seit zwanzig Jahren in Peters¬
burg lebt und die Nationalzeitung liest, zeichnet sich durch ganz besondere
Plattheit und Unwissenheit aus; was in moskowitischen Zeitungen seit Jah¬
ren täglich und sehr viel besser und energischer gesagt worden, wird hier
gedankenlos wiedergekäut.
Wem das Rotteck-Welckersche Staatslexicon der Inbegriff politischer
Weisheit ist, dem mag zweifellos sein, daß z. B. die Überwachung des Volks¬
schulwesens in den Ostseeprovinzen dem Staat und nicht der Kirche zusteht,
oder daß die russische Provinzialverfassung liberaler ist, als die livländische.
Aber schon die oberflächlichste Bekanntschaft mit den thatsächlichen Verhält¬
nissen sagt uns, daß staatliche Leitung des baltischen Volksschulwesens und
Russification der Kirche und Schule ebenso gleichbedeutend sind, wie russische
Provinzialverfasfung und schrankenlose Herrschaft einer Bureaukratie, die ihre
Hauptaufgabe darin sieht, im Bunde mit den ungebildeten Massen die Frei-
heits- und Bildungsforderungen der gebildeten Classen niederzuhalten. Angesichts
der zur Zeit obwaltenden Unmöglichkeit, von Seiten des neuen deutschen
Staats den schwerbedrängten Stammesgenossen auch nur eine nachdrückliche
moralische Unterstützung zu Theil werden zu lassen. erscheint die Leichtfertig¬
keit, mit welcher hervorragende Organe der deutschen Presse sich zu Liebes¬
diensten sür die russische Bureaukratie hergeben, besonders unverantwortlich.
In den Ostseeprovinzen selbst ist man fest entschlossen, bis aufs Aeußerste
Widerstand zu leisten und sich nicht entmuthigen zu lassen. Das nachstehende,
uns von kundiger und einflußreicher Seite zugegangene Schreiben ist in dieser
Beziehung instruktiv:
Das Ereigniß der letzten Wochen war die Adresse der livländischen
Ritterschaft an Se. Majestät den Kaiser und die kaiserliche Antwort auf die
Adresse. — Die Ritterschaft hatte um Wiederherstellung der Verfassung Liv-
lands gebeten und auf die unleugbare Thatsache hingewiesen, daß durch Auf¬
hebung der Glaubensfreiheit, durch zwangsweise Einführung der russischen
Sprache in einen Theil der Landesbehörden und neuerdings in die Schul¬
verwaltungen, sowie durch verfassungswidrige Ausdehnung der Reichsgesetze
auf die Provinz das Landesrecht in den wesentlichsten Punkten verletzt worden
sei. Die von der Ritterschaft erwählten Delegirten, welche die Adresse zu
erläutern beauftragt waren, wurden nicht einberufen; dagegen ertheilte Seine
Majestät die Antwort: „da sowohl die allgemeinen als auch die provinziellen
Gesetze ihre Kraft nur von der selbstherrschenden Gewalt entnehmen, so ist
die lip. Ritterschaft mit den in ihrem Gesuch enthaltenen Bitten entschieden
zurückzuweisen, um so mehr, als diese Bitten auch mit der Einleitung zum
Provinzial-Coder nicht stimmen."
Bisher hat, so viel uns bekannt geworden, nur Eine russische Zeitung
die kaiserliche Antwort commentirt, während die meisten großen Blätter die
Adresse mit entsprechenden Leitartikeln begleiteten. Von Verständniß für die
Lage der Provinzen legt dabei nur Ein Blatt Zeugniß ab, die Westj.
Dennoch wünscht auch sie zum Schluß, daß der Ritterschaft für die Adresse
eine Rüge ertheilt werde. Die Most. Zeitung und der Golos scheinen
aber außerordentlich geringes Wohlgefallen an der Adresse gefunden zu haben.
Sie war ihnen nicht empörerisch und landesverrätherlich genug. So spien
sie ihr ins Angesicht, ballten die Fäuste, gaben Rufe des Entsetzens von sich
und sagten im Grunde nichts.
Endlich erschien die kaiserliche Antwort. Und nun wußte der Golos vor
Freude kaum Worte zu finden. Denn seiner Auffassung nach hat das kaiser¬
liche Wort das Recht der Provinzen principiell durch Betonung der souve¬
ränen Gewalt aufgehoben. Der Golos begrüßt offenbar in der Erklärung
des Kaisers einen Freibrief zu Gewaltthaten gegen die Provinzen im Namen
„des Gesetzes" und „im Wege der Verwaltung". Im Namen des russischen
Volks jubelt er, daß die baltischen Deutschen mit Allem, was ihnen theuer
ist, vogelfrei erklärt seien. Nun wird, so hofft er in innigem Einverständniß
mit Herrn Leontjev, kein Unterschied mehr sein zwischen Livland und Polen.
Und was Moskau so lange predigte, daß schon das Wort „Privilegium" ein
Attentat gegen die souveräne Gewalt sei, das glauben die Fanatiker der
Nationalität auch den Worten des Monarchen unterschieben zu dürfen. In
ihren Augen ist nun auch das letzte Bollwerk, auf welches die Livländer so
zuversichtlich vertrauten, gewichen; nun kann sich der russische Geist ungehemmt
über das Gestade der Ostsee ergießen und das verhaßte deutsche Wesen
und Leben fortspülen. So wird er seine höchste Mission erfüllen.
Und die Deutschen in den Ostseeprovinzen? Sollen sie die Interpreta¬
tion acceptiren, welche der Golos von der kaiserlichen Antwort gibt, und
während die Demagogie aus den Straßen und in den Ministerien über die
Proclamation der Rechtlosigkeit Livlands jauchzt, über ihren politischen Tod
wehklagen? Sollen sie sich überreden lassen, der Kaiser habe durch sein Wort
die Meinung der russischen Radicalen, wie sie in der bekannten „Antwort
auf die livländische Antwort" zu Tage.tritt, gerechtfertigt und ihnen zugestimmt,
wenn sie sagen, „die selbstherrschende Monarchie ist gegründet auf Nicht¬
anerkennung der menschlichen Rechte; das ist für sie eonäitiv sine <ZM von"
(S. 4.)? Sollen die Deutschen aus dem Kaiserwort wirklich herauslesen,
daß in Rußland kein Recht mehr heilig und unantastbar ist. weil ein Kaiser
regiert?
Mag der äußere Wortlaut der Antwort solche Deutungen von Seiten
der Bosheit und des Hasses möglich erscheinen lassen; mag zeitweilig und
für lange noch den Provinzen mit Berufung auf die souveräne Geroalt der
Rechtsschutz versagt und das Theuerste, was sie besitzen, der Vergewaltigung
durch Minister und Beamte Preis gegeben werden: der Deutsche ist außer
Stande, den Gedanken einer absolut rechtlosen politischen Existenz zu ertragen
und seinem Kaiser zuzutrauen, er wolle seiner souveränes eine solche Aus¬
dehnung geben, daß sie auch durch Verträge, die sie geschlossen, und durch
eigene Zusagen und Versprechungen nicht mehr gebunden sein sollte.
Wenn die Souveränität des Kaisers in Rußland Quelle des Rechts
ist, so kann sie, nach deutschem Verständniß, nicht zugleich die Ursache allge¬
meiner Rechtlosigkeit sein. Mögen die Gesetze ihre Kraft der selbstherrschenden
Gewalt entnehmen: das Recht hat seinen Ursprung in keinem menschlichen
Willen, sondern in der göttlichen Weltordnung. Es widerspricht nicht dem
monarchischen Prinzip, daß der Kaiser Vieles von dem, was mit seiner
Sanction geschehen ist, bei erneuter Prüfung für eine Verletzung unantastbarer
Rechte erklärt. Es muß gestattet bleiben über den Kaiser beim Kaiser zu
klagen, sonst wäre die absolute Monarchie in Despotie umgewandelt. Und
das ist nie und nimmer die Tendenz dieses Monarchen. Er wird sicher nicht
für unstatthaft erklären, was selbst der Papst, der auf Unfehlbarkeit Anspruch
macht, für zulässig hält: die Appellation a xaxa male intormato aä xapam
melius intormanäum.
So ist das kaiserliche Wort zwar eine schroffe und zornige Abweisung
der Beschwerden der Livländer, aber es ändert trotz der verhängnißvollen
Form, die so viele Deutungen zuläßt, an dem staatsrechtlichen Verhältniß
der Provinzen zum Kaiser und zum Reich nichts. Die Rechtsansprüche der
Provinz bleiben nach wie vor dieselben; ja die Klage über Rechtsbruch und
. Verfassungsverletzung ist in gewissem Sinne durch die kaiserliche Antwort als
materiell begründet anerkannt; denn nur die formelle Berechtigung zur Klage
ist durch die Antwort in Abrede gestellt. Hätte man nachweisen können, daß
die Klagen unbegründet seien, man hätte es gethan. Auch der stolzeste
Souverän greift nur im äußersten Falle zur Berufung auf die Schranken-
lostgkeit seiner Gewalt.
So werden denn die Provinzen nach wie vor im Bewußtsein ihres
guten, durch nichts verscherzten Rechts die Trübsal, welche über sie herein¬
gebrochen ist, zu ertragen suchen und auch im Leiden ihre Treue bewähren.
Im Glauben daran, daß sie für eine gute und große Sache zu leiden haben,
lassen sie die Hoffnung nicht sinken, daß der Tag kommen wird, an welchem
der Kaiser das Treiben derer durchschaut, die ihr Verwüstungswerk mit seinem
Namen schützen.
Das letzte Jahr hat den Bestrebungen zur Entwickelung der öffentlichen
Gesundheitspflege in Deutschland tüchtig vorwärts geholfen. Das erkennen
wir nicht allein an den Thatsachen, welche Prof. Reclam in der von ihm
redigirten Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege — auch einem
Kinde des vorigen Jahres — aus allen Abtheilungen des weiten Gebiets
aus 1869 zusammengestellt hat; wir constatiren es am eclatantesten nachdem
Verhalten der parlamentarischen Körperschaften zu diesem ganz neuen Anspruch
an ihre vielbeschäftigte Aufmerksamkeit und Fürsorge. Schon gegen Ende
des Jahres 1868 hatte der Niederrheinische Verein für öffentliche Gesundheits¬
pflege, aus dem Cholera-Ausschuß der Kölner Aerzte hervorgegangen und
mustergiltig für andere Provinzialverbände organisirt, den norddeutschen
Reichstag um seine Intervention angegangen. Aber die Petition fiel einem
Referenten in die Hände, der sich auf das Verstehen schlecht verstand. Er
las aus derselben die Aufforderung heraus, der Reichstag solle zwischen
Canalisation und Abfuhr die soviel bestrittene Entscheidung geben, während
sie ungefähr das Gegentheil besagte, nämlich daß diese Frage getrost den
einzelnen Stadtgemeinden anheimgestellt bleiben könne. Aber da diese Zu-
muthung doch einmal herausgelesen worden war, weckte sie selbstverständ¬
lich ein gelindes Grauen bei den ohnehin bereits überarbeiteten Volksvertretern,
und so fiel die ganze Anregung damals ins Wasser. Das preußische Ab¬
geordnetenhaus ging in diesem Frühjahre auf ein Referat des Abg. Lent,
Bruder des Lent in Köln, der Haupttriebfeder kölnischer und nieder¬
rheinischer hygienischer Bemühungen, schon besser mit den Wünschen der ver¬
dienstvollen Agitatoren um. Vollkommen gerecht aber wurde ihnen diesmal
der Reichstag, der am 6. April eine große Debatte über das Thema auf
Grund einer von der hygienischen Section des Congresses deutscher Natur¬
forscher und Aerzte ausgegangenen Massenbittschrift veranstaltete.
In dieser Discussion übernahmen einerseits rheinische Abgeordnete, auf
welche die Bewegung in ihrer Heimath zunächst anstachelnd gewirkt haben
mochte, andererseits Kenner Englands, das uns auf diesem Felde seit bald
einem Vierteljahrhundert erfolgreich vorangeschritten ist, die Führung. Allen
voran erging sich in warmer, eindringlicher Beredsamkeit der Abgeordnete
v. Bunsen, der ja Beides gleichzeitig ist, Rheinländerund Pflegesohn Englands;
an seiner Seite fochten hier der Graf Münster, dort A. v. Sybel, Dr. Löwe,
verständig wie immer und diesmal obendrein sachverständig, erwarb sich für
seine wesentlich unterstützenden Bemerkungen den Beifall so heterogener Par¬
teileute wie des Herrn v. Blankenberg und des hannoverschen Exministers Windt-
horst. So kam fast ohne weiteren Mißklang, als daß der letztgenannte
Welfenfreund natürlich die Competenz des Bundes anfocht, das sogut als
einstimmige Ersuchen an den Bundeskanzler zu Stande, zur gesetzlichen Or¬
ganisation der öffentlichen Gesundheitspflege in ganz Norddeutschland die
Initiative zu ergreifen; welchem aus Dr. Götz' Antrag dann noch die Pro¬
vokation einer statistischen Enquete über die Folgen des Impfzwangs hinzu¬
gefügt wurde.
Der Reichstag hat also vorläufig seine Schuldigkeit gethan. Wie wird
es der Bundeskanzler anfangen, die seinige zuthun? Wird er hier abermals,
wie bei der Verhandlung über die Todesstrafe, im Gegensatz zu der zunft¬
stolzen Strenge gegen diplomatische Dilettanten, welche ihm eigen ist, die
Fachleute für schlechte Autoritäten erklären, und die Sache mit seinen Ge¬
heimräthen allein besorgen? Oder, wenn ihm das doch unrathsam erscheinen
sollte, wie wird er sich mit der fehlenden specifischen Einsicht versehen? Er
müßte eigentlich den obersten Reichsbeamten für die öffentliche Gesundheits¬
pflege, der demnächst die Spitze der Organisation einnehmen wird, den deut¬
schen John Simon schon haben, um dem Reichstage ein wirklich schöpferisches,
die Aufgabe mit sicherer Ueberlegenheit gestaltendes Gesetz vorlegen zu können.
Aber da das nicht denkbar, wie wäre es, wenn er unter den Urhebern dieser
ganzen unschätzbaren Propaganda Einen herausgriffe und an seine Seite
zöge? Der Eine oder Ändere von ihnen wird so gestellt und aufgelegt sein,
sich diesem hohen Dienste ohne verbriefte und untersiegelte Aussicht auf
dauernde Anstellung hinzugeben; vielleicht findet Graf Bismarck den rechten
Mann sogar in einem alten persönlichen Bekannten aus seiner Frankfurter
Zeit.
Dann würde es in Deutschland voraussichtlich ungefähr ebenso gehen
wie in England seit 1848, wo das Reichs-Gesundheitsamt gestiftet wurde.
Wir würden alle Jahre auf Grund einer Uebersicht der Ereignisse und Be¬
obachtungen aus den letztverflossenen zwölf Monaten von der sachverständigsten
Hand frische Anregungen zu gesetzgeberischer Thätigkeit empfangen; und
bei dem Stande der deutschen Wissenschaft ist nicht zu bezweifeln, daß die
Engländer sich bald nicht minder von uns zu lernen gewöhnen würden, wie
wir jetzt von ihnen.
Das deutsche oder norddeutsche Gesundheitsamt in Berlin würde
übrigens die Organe öffentlicher Verhandlung, deren Agitation jetzt besonders
auf seine Einsetzung hinarbeitet, nicht überflüssig machen. Keine bessere
Schranke und Berichtigung für die subjectiven Abweichungen eines einzelnen,
mit gesetzlicher Machtvollkommenheit ausgestatteten Mannes von der Linie
des Wahren und Guten läßt sich denken, als die regelmäßigen öffentlichen
Erörterungen der Tagesfragen, wie sie auf den verschiedenen Stufen dieser
Organisation stattfinden können. Man säumt allerdings noch immer, die
nothwendige Emancipation der praktischen öffentlichen Gesundheitspflege von
der Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu vollziehen und aus
der bereits so fruchtbar gewordenen Section dieses Congresses, der die Varren-
trapp und Spieß, die Reclam, Hobrecht und Wasserfuhr angehören, einen
eigenen wandernden Congreß für öffentliche Gesundheitspflege hervorgehen
zu lassen. Und doch muß dieser Schritt gleichmäßig um beider willen ge¬
schehen, der Mutter wie der Tochter. Inzwischen aber entwickelt sich ganz
spontan eine ständige locale und provinzielle Organisation. Die größeren,
belebteren Reformideen zugänglichen Städte Deutschlands erhalten beson¬
dere Vereine für öffentliche Gesundheitspflege; und wo ein paar socher Ver¬
eine benachbart wirken, da entsteht leicht der Wunsch, Erfahrungen und
Pläne periodisch unter einander auszutauschen, wo denn der erweckende Ein¬
fluß auf alle kleineren Nachbarstädte, auf das gesammte Revier sich von selbst
ergibt. In den Volk- und städtereichen Strichen des Niederrheins hat sich die
locale Stufe sogar ganz überspringen und gleich jener so überaus rührige
Provinzialverband herstellen lassen. Im nordwestlichen Deutschland wird
man wahrscheinlich auf diese höhere Stufe hinübertreten, nachdem zu dem
schon älteren örtlichen Verein Hannover, in Osnabrück und Hildesheim wenig¬
stens Anfänge der Art aufgetaucht sind.
Die officielle Behandlung der Sache wird des provinzialen oder einzel¬
staatlichen Mittelgliedes eher entbehren können. Gesundheitsämter brauchen
wir eins für den norddeutschen Bund oder ganz Deutschland, je eins für
jede bedeutendere Stadt. Ihnen fällt dann auch die Medicinalstatisttk. vor
allem die Aufzeichnung der Sterblichkeitsliste zu, für welche neuerdings
unter intelligenten Aerzten ein lebhaftes Interesse erwacht ist. Neben Genf
war Frankfurt am Main schon länger in dieser Richtung löblich vorange¬
schritten, or. Zülzer's Bemühungen haben ihnen jetzt Berlin an die
Seite gestellt; während Dr, Lie'vin in Danzig die Methode der statistischen
Zählblättchen auf die Angabe der Todesursachen zu übertragen empfiehlt,
und der Niederheinische Verein nach kölnischem Vorbild gewisse sociale und
ökonomische Thatumstände in die Aufnahme hineinzieht.
Ein anderes, vorzugsweise bearbeitetes Feld ist gegenwärtig die Schul¬
gesundheitspflege. Was wäre auch natürlicher in einem Lande, das sich an
der Spitze des Schulwesens aller Welt zu stehen rühmt, von dessen Kindern
keins an der Schule vorbeilaufen soll! Die vielerörterte schwierige Tisch-
und Sitzfrage scheint nachgerade ihrer Lösung nahe durch die zusehends allge¬
meinere Adoption der Kunze'schen Bank mit verschiebbarer Tischplatte. In
die Fensterfrage hat Prof. Reclam ganz kürzlich den neuen Gesichtspunkt ge¬
bracht, daß man sie in Schulzimmern nicht behandeln dürfe wie in Wohn¬
zimmern, sondern nur wie in Maler-Ateliers, und daher mehrere Fenster
ohne breiteren Zwischenraum als derjenigen eiserner Tragesäulen nevenein-
ander stellen müsse. Das Vorbild des Ateliers hat ihn denn auch auf eine
andere Wahl der Himmelsrichtung geführt, nach welcher die Schulzimmer
zu legen seien; er hat die Nordseite persönlich erprobt, und findet sie probat,
falls nur ununterbrochen geheizt und gelüstet (durch Glas-Jalousien) werde.
Damit ist freilich eine so erhebliche Mehrausgabe verknüpft, daß man an
einer baldigen Einführung in die Praxis jetzt, wo wir noch überall an über¬
füllten Classen und mangelhaft bezahlten Lehrern laboriren, zweifeln muß.
Auch in dieser Beziehung würde der Fortschritt sicherer, rascher, stätiger sein,
wenn in der Errichtung von Schulen etwas mehr Concurrenz, in ihrer Lei¬
tung und Verwaltung mehr Freiheit herrschte als unter der Herrschaft absolu¬
ter, ministerieller Schablonen.
Klimatische Win tercurorte mit besonderer Rücksicht auf die Winterstationen
der Schweiz, Tirols, Oberitaliens und des südlichen Frankreichs. Ein Leitfaden
für Aerzte und Laien von Dr. Hermann Reimer. Berlin, 1869.
Ein hübsches und sehr nützliches Büchlein, das der Verfasser, Arzt von Ruf
und bewährter Tüchtigkeit, nach eigenen Reisen, Beobachtungen und Prüfungen der
Oertlichkeit geschrieben hat. Seine Absicht war, eine unparteiische vergleichende
Charakteristik derjenigen Curorte eines milderen Klimas zu entwerfen, welche dem
deutschen Bedürfniß am meisten entsprechen. Das Buch handelt in der Einleitung
über den Einfluß des Klimas auf den menschlichen Organismus und über die Be¬
dingungen, unter denen ein Besuch der klimatischen Curorte heilsam werden kann;
daran sind praktische Rathschläge für den Kranken geknüpft. Dann werden die
einzelnen Stationen geschildert: die Ortschaften am Genfer See, welche unter den
Namen Montreux zusammengefaßt werden, Meran mit Steinach, Mais und
Gratsch, dann Gries bei Botzen, Venedig, Pisa, Pan mit ^nous Iss Lg,of.
Darauf die Küste der Provence und der Riviera ti Ponente, Hyeres, Cannes.
Ferner Nizza, Mentone, Sanremo zuletzt Ajaccio auf Korsika. Bei jedem
Ort ist die Landschaft geschildert, die Wärmeverhältnisse sind beschrieben, herrschende
Winde, die Feuchtigkeit der Lust und Niederschläge, die Einwirkung des Klimas auf
den Deutschen von zarter Gesundheit, auch die socialen Verhältnisse des Ortes und
Alles, was den deutschen Kranken im Verkehr freundlich anmuthet und stören kann;
zuletzt die vorhandenen Aerzte, Gasthöfe, Pensionen und Reisegelegenheiten bei¬
gefügt. Besondere Aufmerksamkeit, die nicht ohne Mühe war, ist auf die Statistik
der Temperatur und der Luftbeschaffenheit gewandt. Die Schilderung der Land¬
schaft ist bei knapper Form doch gut charakterisirend, die Darstellung so anmuthig,
daß auch der Gesunde die kleine Schrift mit Vergnügen und Belehrung liest. Und
was für den Zweck die Hauptsache sein wird, die Persönlichkeit des Verfassers, wie
sie aus Wort und Meinung entgegentritt, flößt sicheres Vertrauen ein durch unbe¬
fangenes und sachkundiges Urtheil und durch das liebevolle und kluge Eingehen auf
die Bedürfnisse und die Bedenken der Kranken. Wir nähern uns jetzt dem Ende
der Jahreszeit, in welcher unsere Landsleute in wärmerer Luft Heilung suchen, aber
die vorliegende Schrift hat die beste Berechtigung, länger zu leben als eine Saison,
und wir hoffen, sie wird als Leitfaden für Aerzte und Kranke ihre wohlthätige Wir¬
kung lange bewähren.
Niemand ist von den Deutschen so verschieden beurtheilt worden, als der
böhmische Reformator Johann Hus. Lange Zeit allerdings schied sich das
Urtheil über ihn einfach nach den Confessionen. Von jedem Protestanten
schien es selbstverständlich, daß er Hus' Freund war, in ihm den Vorläufer
der Reformation verehrte. Luther selbst hat ja wiederholt mit rückhaltsloser
Anerkennung von Hus gesprochen. Freilich stand er anders zu Hus, als
dieser wieder zu Wilkes; hatte Wilkes den böhmischen Prediger unmittelbar
beeinflußt und zu seiner Opposition angeregt, so lernte Luther Hus erst
kennen, als er selbst bereits in voller Thätigkeit war, und freute sich dann,
daß schon ein Jahrhundert vor ihm ein Mann viele der Ueberzeugungen
ausgesprochen, die er selbst in schwerer Gedankenarbeit sich zur Klarheit ge¬
bracht hatte. Doch er ging auch weiter; in seinem Commentar zum Jesaias
sagt er ganz direkt: „Das Evangelium, das wir haben, erachte ich, haben
Hus und Hieronymus uns mit ihrem Blute erkauft" und erkennt so die
böhmischen Reformatoren als Vorarbeiter für sein Werk unzweideutig an.
In der Reformationszeit wurden deshalb auch die Werke von Hus und
Hieronymus gesammelt und gedruckt, und die allgemeine Sympathie gab
jenen beiden Sagen den Ursprung, deren eine Hieronymus seine Richter in
100 Jahren vor Gottes Richterstuhl berufen läßt, während die andere an-
knüpfend an die Bedeutung des Namens Hus im Czechischen diesen noch auf
dem Scheiterhaufen sagen läßt: „heut bratet ihr eine Gans, aber in 100 Jahren
wird kommen ein Schwan, den werdet ihr ungebraten lassen." *) Beides
nur Sagen, jeder geschichtlichen Grundlage entbehrend, doch Zeugnisse sür
den Wunsch, Hus' Wirksamkeit in eine gewisse providentielle Verbindung mit
der Luthers gesetzt zu sehen, so daß die hussitische Bewegung als Vorstufe
der deutschen Reformation, Luther als der erschien, welcher das Werk von
Hus vollendete. So blieb die Anschauung Jahrhunderte lang, nur daß im
18. Jahrhundert, in der Zeit der Aufklärung das allgemeine Urtheil über Hus
immer günstiger wurde und selbst katholische Historiker in milderer Denkart
das Autodafe' von Kosemitz mißbilligten, und durch wohlwollende Beurtheilung
des Märtyrers eine Pflicht geschichtlicher Unparteilichkeit zu erfüllen suchten.
Eine Wandlung trat erst in unsrem Jahrhunderte ein, ziemlich zu der
Zeit, wo eine kirchliche Reaction im Protestantismus mit Vorliebe auch die
kirchenhistorischen Anschauungen der Ausklcirungscpoche entsprechend zu modifi-
ciren strebte. Mit entschiedener Ungunst ward Hus auf Seite der Protestanten
meines - Wissens zuerst von Heinrich Leo beurtheilt, namentlich in seiner
Universalgeschichte, der denn auch die Feindseligkeiten gegen die Deutschen
scharf ans Licht zieht. Noch ungleich schonungsloser ist daraus der Prager
Professor Dr. Höfler vorgegangen, bei welchem die Abneigung des strengen
Katholiken gegen den Ketzer durch die nationale Stellung der Deutschböhmen
zu den Czechen sehr verschärft wird. Wohl ist seiner Auffassung der böhmische
Geschichtsschreiber Palacky entschieden entgegengetreten; doch Hus' Bild in
der Weise wieder herzustellen, wie es die alte Zeit kannte, hat auch ihm fern
gelegen. Mit der alten Unbefangenheit ist es eben vorbei, in das überlieferte
Bild des böhmischen Magisters schiebt sich dem Historiker ganz unvermeidlich
ein fremder, slavischer Zug störend und verwirrend ein, unverkennbar befleißigt
sich die deutsche Geschichtsschreibung neuerer Zeit im Urtheile über Hus einer
gewissen vorsichtigen Zurückhaltung, und noch in neuester Zeit hat der
Marburger Professor Henke einen Vortrag veröffentlicht/) dessen ausge¬
sprochene Absicht es ist, die Richter des Hus in einem günstigeren Lichte
erscheinen zu lassen.
Im Volke freilich lebt die Erinnerung an Hus' Märtyrertod zu Kosemitz.
Die Verfolgungen durch die Geistlichkeit, deren Opfer er wird, und der Muth,
mit welchem er für eine freiere kirchliche Ueberzeugung in den Tod geht,
sichern ihm die Sympathien der deutschen Liberalen. Auf dieser Anschauung
basirt zu nicht kleinem Theile der durchschlagende Erfolg der Lessing'schen
Husbilder. Auch hat erst vor Kurzem (1868) gerade im Gegensatze zu der
herrschend gewordenen kühleren Beurtheilung der badische Pastor Krummel
mit wahrem Enthusiasmus für Hus seine Geschichte der böhmischen Reformation
geschrieben. Er findet in dem Hussitenthum „keimartig die Grundzüge des
Protestantismus" und in Hus selbst „die Gegensätze, welche die Kirche der
Reformation später in zwei große Hälften getrennt haben, in einer großen
und wunderbaren Union, in der Union der glaubenskräftigen und opfer¬
willigen, demüthigen Liebe vereinigt." Unzweifelhaft ist das Buch bei aller
seiner Verdienstlichkeit in hohem Maße einseitig, die politischen und nationalen
Momente, die bei der hussitischen Bewegung so bedeutungsvoll mitwirkten,
kommen sehr wenig zu ihrem Rechte, und „von der böhmischen Reformation"
wird man sich aus dem Buche ein klares Bild um so weniger zu machen
vermögen, da es mit dem Jahre 1417 schließt, während doch erst nach Hus'
Tode die praktische Durchführung seiner Lehren versucht wird. Unzweifelhaft
aber hat Krummel Recht, die innere Verwandtschaft von Hus mit den Re¬
formatoren des 16. Jahrhunderts entschieden und lebhaft zu betonen.
Um dies anzuerkennen, braucht man nur einen der Lehrsätze von Hus
herauszugreifen und z. B. an die Anschauung zu erinnern, welche er von der
Bibel hatte. Man wird nicht umhin können, dieselbe als reformatorisch, ja
im eigentlichsten Sinne evangelisch zu bezeichnen. Als Hauptzweck seiner
Predigten sieht er an, dem Volke den Zugang zu dem Himmelreich d. h.
die Bibel und ihr Verständniß zu öffnen, eine Revision der Uebersetzung der
ganzen Bibel nimmt er in Angriff. Eifrig schilt er auf die Priester und
Schriftgelehrten, die nicht wollen, daß man dem gemeinen Volke die Bibel in
die Hand gebe. „Und sagt irgend Jemand (so lautet ein Ausspruch von
ihm), daß sie doch die heilige Schrift vorweisen möchten zur Begründung
ihrer Satzungen, so schreien sie gleich: seht doch den Wyklifiten, der die heil.
Kirche nicht hören will, sie halten nämlich sich selbst und ihre schrisrwidrigen
Satzungen für die heil. Kirche." Das Gesetz und Gottes heil. Schrift ist
ihm ganz wahr und hinreichend zur Seligkeit des Menschengeschlechts, ist das
Maß, nach dem jeder geistliche Richter zu richten und zu messen habe, für sie
habe man selbst sein armes Leben hinzugeben. Nicht anders wie Luther in
Worms tritt Hus in Kosemitz seinen Richtern mit der Forderung entgegen,
aus der heiligen Schrift der Irrthümer überführt zu werden, deren man
ihn zeihe.
Wer wollte die Bedeutung dieser Anschauungen verkennen. Dieses
Zurückgreifen auf den Grundquell göttlicher Offenbarung, das Verlangen,
aus ihm die kirchlichen Lehrmeinungen und Institutionen erwiesen zu sehen,
schloß das nicht in sich den Zweifel an der Rechtmäßigkeit der gesammten
kirchlichen Ordnung, wie sie die Jahrhunderte herausgebildet hatten, legte es
nicht die Axt an das ganze Gebäude der damaligen Hierarchie?
Und man hat kaum ein Recht zu behaupten, dieses große reformatorische
Princip sei später von den Hussiten, deren Ziele weit mehr auf nationalem
Gebiete gelegen hätten, verleugnet worden. Aus allen Religionsgesprächen
der Böhmen mit ihren Gegnern: zu Eger, Krakau und noch auf dem Baseler
Concil erscheint die Berufung auf die heilige Schrift als die Hauptwaffe
der Hussiten, grade dieser große principielle Gegensatz droht ja längere Zeit
jede Verständigung mit der alten Kirche unmöglich zu machen.
Nicht daß sie alle Consequenzen dieses Princips gezogen und daran
unverbrüchlich fest gehalten hätten, werden wir behaupten können, wohl aber,
daß Hus und seine Anhänger gerade einen der wichtigsten Fundamentalsätze,
auf welchen später Luthers Reformation fußte, begriffen und anerkannnt haben,
und daß ihre Lehrmeinungen dem Protestantismus im innersten Wesen nach
durchaus verwandt sind.
Doch nicht die hussitische Bewegung selbst haben wir zu verfolgen, son¬
dern nur ihren Reflex auf ein Nachbarland, aus Schlesien, und zwar nur
nach der religiösen Seite hin. Eingedenk der gewaltigen Expansionskraft
einer neuen und großen Idee fragen wir suchend, ob denn Schlesien von
jenen reformatorischen Principien, welche in der hussitischen Bewegung zu
Tage kamen, gar nicht berührt worden ist. War es möglich, daß dasselbe
Land, in welchem beim Beginn des 16. Jahrhunderts Luthers Ideen so
schnell und leicht Eingang fanden. 100 Jahre vorher, als in dem Nach¬
barlande Tendenzen der Lutherischen Zeit zur vieljährigen Herrschaft kamen,
sich diesen ganz und vollkommen verschloß? Keines der Nachbarländer
Böhmens hat die Hussiten und ihre Art so gründlich kennen zu lernen
Gelegenheit gehabt als unser Schlesien. Sieben Jahre hindurch haben ihre
Heere fast immer siegreich dasselbe nach allen Richtungen durchzogen, kaum ist
ein noch so entfernter Winkel geblieben, den die unwillkommenen Gäste nicht
besucht hätten, und eine Anzahl fester Burgen in Schlesien haben die Böh¬
men Jahr aus Jahr ein besetzt gehalten, Häuser, mit deren Besatzungen die
Umwohner doch unvermeidlich einen raoäus vivendi, eine Art des Verkehrs
finden mußten. Nun pflegt ja doch schon der Erfolg an sich der siegreichen
Sache ein gewisses Ansehen zu verleihen, wenn nun noch auf den Fahnen, unter
welchen die Böhmen kämpften und siegten, das Losungswort kirchlicher oder
religiöser Freiheit stand, sollte das hier ganz ohne jeden Eindruck geblieben sein?
Behielten dieselben Worte, welche jenseits der Sudeten das Volk zu dem
höchsten Grade religiöser Begeisterung entflammten, diesseits derselben gar
Nichts von jenem Zauber? Haben die Stürme, die damals über Schlesien
hinbrausten, Nichts als Zerstörung und Verwüstung gebracht, führten sie
nicht auch Saamenkörner mit sich, die hier und da auf guten Boden gefallen,
allmälig ausgingen und dann zur Blüthe und Frucht kamen, als der große
Frühling der deutschen Reformation auf gewaltigen Schwingen durch die
Welt zog? Kurz — hat nicht das Hussitenthum hier den Boden ber»net
der Kirchenverbesserung des 16. Jahrhunderts?
Eine bejahende Antwort auf diese Frage scheint der Rückblick auf die
schlesische Geschichte und die kirchliche Haltung der Schlesier doppelt wahrschein¬
lich zu machen. Seitdem die deutschen Colonisten hier in Schlesien festen
Fuß gefaßt hatten, waren sie auch in eine oppositionelle Stellung zur Geist¬
lichkeit, oder genauer ausgedrückt zum Papstthum gedrängt worden; sie,
die ihr deutsches Recht mitgebracht hatten und ausdrücklich bei ihrer An¬
siedelung von den Lasten des polnischen Rechtes befreit worden waren,
weigerten sich hartnäckig den im deutschen Reiche unbekannnten Peterspfennig
zu entrichten-., welchen die Kurie hier als auf polnischem Gebiete verlangte,
da die Breslauer Diöcese zu der Gnesener Kirchenprovinz gerechnet ward.
Die natürliche Folge davon war, daß die geistlichen Gewalten die Polen
aus Kosten der Deutschen begünstigten, was dann wieder umgekehrt seine
Wirkung üben mußte. In besonderer Schärfe trat dieser Gegensatz im
14. Jahrhundert hervor, als die Päpste in Folge der Kirchenspaltung doppelt
geldbedürstig ihre Forderungen höher spannten als früher. Auf das Leb¬
hafteste klagt ein päpstlicher Legat damals, überall wo die Deutschen herrschten,
kämen die Rechte des Papstes ganz und gar in Verfall, und schon würden
auch die bisher noch gutgesinnten Polen von jenen angesteckt. Vor Allem
durfte die Stadt Breslau während des ganzen 14. Jahrhunderts als der
eigentliche Heerd eifriger Opposition gegen alle klerikalen Ansprüche gelten,
einer Opposition, die um so schwerer zu bekämpfen war. als die Luxemburger
Herrscher sich meistens auf Seite der Stadt gegen den Klerus stellten. Schon
im Anfange jenes Jahrhunderts klagte das Breslauer Domkapitel während
einer Sedisvakanz, es dürfe nicht wagen, über die Stadt das Interdikt zu
verhängen, sonst sei kein Geistlicher jenseits der Dombrücke seines Lebens
sicher. Als Bischof Ramler es wagte, den König Johann von Böhmen hier
in Breslau zu exkommuneiren, und dieser sich darauf von dem „Pfaffen, der
gern Märtyrer werden wolle" spottend abwandte, aber doch die Geistlichkeit
durch Sperrung ihrer Einkünfte seinen Zorn fühlen ließ, da stand ganz Bres¬
lau auf seiner Seite, man achtete des Interdiktes nicht, vertrieb die Pfarrer,
die dasselbe respektiren wollten und ließ durch Bettelmönche den Gottesdienst
abhalten. Nun war allerdings damals die kirchliche Opposition durch ein
nationales Element geschärft, jener Bischof Ramler war ein durch päpstlichen
Einfluß oktroirter Pole, der mit seinem eignen deutschgesinnten Kapitel in
fortwährendem Streite lebte, aber auch unter Ramlers Nachfolger Preczlaw,
wo die nationale Spannung nachließ, dauerte die oppositionelle Haltung der
Stadt gegen die Geistlichkeit fort. Nicht ohne Schroffheit tritt der sonst so
gemäßigte Breslauer Rath den Consequenzen entgegen, welche das Kapitel
aus seiner Exemption für die Unterthanen seiner Güter zu ziehen versucht,
eine allgemeine Erbitterung' herrscht damals gegen die Geistlichkeit. Es ist
im Jahre 1367 hier vorgekommen, daß man einem Kleriker, «den man wegen
Wirthshaushändeln gefangen setzt, auf der Polizei-Wachtstube den Kopf
ganz kahl schert, damit er eine richtige Tonsur habe, und ihn dazu noch
ängstigt, er werde bald Oberwasser zu trinken bekommen. Der ganze Streit
endigt mit einer totalen Niederlage der Geistlichkeit, welche Kaiser Karl IV.
zwingt, ihn als Schiedsrichter anzuerkennen, worauf er ganz zu ihren Un-
gunsten entscheidet. Noch schlimmer geht es etwa ein Decennium später
bei dem sogenannten Pfaffenkriege 1380, wo wiederum die Breslauer mit
einer feindlich zu nennenden Rücksichtslosigkeit gegen das Domkapitel auf¬
treten, und die Gewalt geistlicher Strafen sich ihnen gegenüber vollkommen
wirkungslos erweist. Mit ungebrochenen Bürgertrotze und nicht günstigerer
Gesinnung für die Geistlichkeit gehn sie aus dem Kampfe hervor, während
ihre Gegner die schwersten Verluste zu beklagen haben. Noch kurz vor den
Hussitenkämpfen ziehen sie sich schwere Händel zu, dadurch daß sie den Bischof
von Wladislaw, einen allerdings nicht sehr respektablen Kirchenfürsten, in
Breslau verhaften.
Wir werden uns hüten müssen, allzuweit gehende Consequenzen aus dem
Allen zu ziehen. Aehnliches ist in vielen andern deutschen Städten geschehen,
es soll auch nichts anders constatirt werden, als daß hier im 14. Jahrhundert
ein Geist geherrscht hat, der nicht ohne eine große Gereiztheit mit eifersüch¬
tiger Wachsamkeit Allem, was als klerikaler Uebergriff scheinen konnte, scharf
entgegentrat, ein Geist, der von blinder Ergebenheit an die Einflüsse der
Geistlichkeit unendlich weit entfernt war, und es soll nur ausgesprochen
werden, daß die Breslauer Bürgerschaft, die größte und intelligenteste
Gemeinde Schlesiens und zugleich die Stadt, in der bei fast unumschränkter
Selbstregierung die Gesinnung der Bewohner am unverfälschtesten zum Aus¬
druck kam, mehr als ein Jahrhundert hindurch bis zum Ausbruche der
hussitischen Bewegung fast ununterbrochen in lebhafter Opposition gegen die
Geistlichkeit gestanden hat. Daß diese Opposition nie das eigentlich religiöse
Gebiet berührt, sondern sich immer auf die Fälle beschränkt hat, wo die
geistlichen Machtbefugnisse auf weltlichem Gebiete ausgeübt werden sollten,
ist nicht geleugnet worden; und ebensowenig wollen wir von den ungemein
zahlreichen küchlichen Stiftungen schweigen, welche gerade im 14. Jahrhundert
in Breslau wie in den übrigen schlesischen Städten gemacht wurden, und
welche man uns als lebendige Zeugnisse sür die Frömmigkeit des damaligen
Schlesiens entgegenhalten könnte. Freilich war diese Frömmigkeit nicht minder
egoistisch als jene Opposition, auch sie berührte kaum das Wesen.der Religion,
mit einem äußerlichen Genügen an guten Werken sich abfindend. Nach Aeuße¬
rungen eines tieferen religiösen Lebens sucht man selbst in dem, was wir von
der theologischen Literatur Schlesiens aus jener Zeit übrig haben, vergebens,
geschweige denn, daß man sie in der großen Menge der Bevölkerung nach¬
weisen könnte.
Und hier berühren wir noch einen andern wichtigen Punkt. Dem ganzen
deutschen Bürgerthume jener Zeit ist eine Concentration des gesammten
idealen Lebens auf den Kreis seiner Stadt eigenthümlich. Der Begriff eines
Vaterlandes, des engeren wie des weiteren, ist hier kaum bekannt, hinter den
Markzeichen des Weichbildes beginnt die Fremde. Diese locale Concentra¬
tion beherrscht sichtlich auch die Sphäre des kirchlichen Lebens. Wohl ist der
deutsche Bürger stolz darauf, die Kirchen seiner Vaterstadt zu beschenken und
zu schmücken, doch der Zusammengehörigkeit dieser Kirchen mit der ganzen
Christenheit ist er sich wenig bewußt. Eifersüchtig wacht er über der Selbst-
ständigkeit dieser Kirchen, und jedes Eingreifen selbst der höheren geistlichen
Behörden erregt Widerspruch und Unzufriedenheit. In den Städten hatte auf
die Besetzung der Pfründen die Bürgerschaft mittelbar größeren Einfluß, als
man gewöhnlich annimmt. Denn wenn gleich die Verleihung der Pfarr-
und Caplanstellen meist durch die kirchlichen Obern erfolgte, so bestand
dagegen für die sehr große Anzahl der Altaristen (an den beiden Hauptpfarr¬
kirchen Breslaus waren zur Zeit der Reformation 105 Altäre mit 236
Altaristen) fast durchgängig Laienpatronat und diese Stellen wurden natur.
lich vorzugsweise mit Bürgersöhnen besetzt. Da sich nun aber ganz natur¬
gemäß aus dieser großen Zahl eingeborner Kleriker das städtische Pfarr¬
amt rekrutirte und ersetzte, und auch die geistlichen Oberen auf diese Candi-
daten um so mehr angewiesen waren, als die Einkünfte der Altarlehen häusig
zur Aufbesserung der Pfarr- und Caplangehalte erforderlich schienen, so war
schon damit dem Laieneinflusse der Weg gebahnt; die große Kette der Vetter¬
schaft, welche ja damals die städtischen Gemeindewesen zu regieren pflegte,
umschlang auch die kirchlichen Kreise, band die Geistlichen an den Ort und
erschütterte eins der wichtigsten Principien der Hierarchie, nämlich das Bestre¬
ben, die Geistlichkeit von allen sonstigen Banden und Einflüssen loszulösen.
Wenn wir jetzt dem Ultramontanismus das Princip der Nationalkirchen
entgegenzusetzen pflegen, so werden wir zugeben müssen, daß das Princip des
Lokalkirchenthums, welches das deutsche Bürgerthum im Mittelalter heraus¬
bildete, jenem kaum minder fern, ja thatsächlich feindlich entgegenstand. Für
die Breslauer beispielsweise war schon die Dominsel, sammt Allem was dar¬
aus war, Domcapitel und Bischof, etwas Fremderes, dem Kreise ihrer opfer¬
freudigen Frömmigkeit Entrücktes.
Von jener strengen Disciplin, welche der Katholicismus unserer Tage
auch dem Laien gegen höhere Würdenträger der Kirche einzuprägen vermag,
kannte jene Zeit sehr wenig. Von einer Verehrung für die Päpste, welche
allerdings gerade im 14. Jahrhundert durch die Habsucht ihrer Legaten und
die notorische Bestechlichkeit, die am Hofe zu Avignon herrschte, gründlich dis-
creditirt wurden, war in diesen Kreisen keine Rede. Wenn Jemand im 14.
Jahrhundert bei der deutschen Bürgerschaft hätte freiwillige Gaben für den
Papst sammeln wollen, er hätte sehr wenig zusammengebracht, ja selbst ein
vom Papste ausgegangener Ablaß hätte in den höheren Schichten der städti¬
schen Bevölkerung nur sehr beschränkten Credit gehabt.
Wir haben hier allerdings ein Entwicklungsmoment vor uns, welches der
späteren Reformation in den deutschen Städten wirksam den Weg gebahnt
und den größten Schritt, den Luther zu thun hatte, das Heraustreten aus
dem altehrwürdigen Gebäude der allgemeinen Kirche wesentlich erleichtert hat.
Wer so die Signatur des 14. Jahrhunderts erkannt hat, der kann
sich leicht versucht fühlen, den folgenden Zeitraum bis zur Reformation etwa
so zu charakterisiren, daß er behauptet: das Bedürfniß einer kirchlichen Reform
ward eigentlich allgemein in ganz Europa empfunden, wie anderwärts so
entfremdeten sich auch in Schlesien mehr und mehr gerade die besseren Schichten
der Bevölkerung von der Hierarchie und standen deren Bestrebungen häufig
directer Opposition gegenüber; die fromme Anhänglichkeit galt nur dem
nächsten kirchlichen Kreise. Es fehlte blos noch, daß diese Opposition auch
das eigentlich religiöse Gebiet ergriff, und dazu hat hier in Schlesien die
hussitische Bewegung mitgewirkt; durch die langjährige enge Berührung mit
den Hussiten sind vielfach Saamenkörner freien Denkens ausgestreut worden,
die da und dort aufgingen und eine veränderte religiöse Anschauungsweise
vorbereiteten, auf welcher dann die große Reformation des 16. Jahrhunderts
fußen konnte. — Es liegt nahe, so zu schließen.
In dieser Weise hatte sich nun auch die ältere schlesische Geschichts¬
schreibung die Sachen zurecht gelegt, und während man von katholischer
Seite in der Darstellung der Hussitenkriege sich meist auf eine möglichst grelle
Ausmalung der Gräuel beschränkte, versehlten protestantische Historiker selten,
den Klagen um jene Verwüstungen ein Wort über die reformatonsch-propä-
deutische Wirkung des Hussitenthums anzufügen.
Indeß eine derartige Auffassung findet in den Thatsachen keineswegs
ihre Bestätigung.
Sowie König Sigismund zur Regierung gekommen ist, nimmt er in
der böhmischen Frage eine Stellung, wie sie schroffer nicht gedacht werden
kann. Er wirft sich ganz und gar in die Arme der Kirche und verlangt
vom Papst die Organisirung eines Glaubenskrieges gegen seine empörten
böhmischen Unterthanen. Dies geschieht, und Breslau wird von Anfang an
der Heerd der Gegenrevolution. Hier wird der Reichstag versammelt, der
den großen Krieg beschließen soll, hier wird am Lätaresonntage 1420 aus
offnem Markte gegen die Ketzer gepredigt, den am Kriege Theilnehmenden
Ablaß vom Papste verheißen, ja zur würdigen Einweihung der neuen Aera
wird sogar ein Autodafe' veranstaltet, ein Prager Kaufmann, Namens Krasa,
der hier in Geschäften sich aufhält, wird, weil er das Kosemitzer Concil ge¬
lästert, in Breslau lebendig verbrannt.
Glaubenskrieg, Kreuzpredigten, Ablaßkram, Autodafes — man sieht mit
ihrem ganzen Apparate zieht die geistliche Herrschaft siegreich ein in die ihr
bisher so feindlichen Mauern, und doch entdeckt auch das aufmerksamste Auge
nicht das kleinste Zeichen dafür, daß diese ungewohnten Dinge hier Ent¬
rüstung oder auch nur unwillige Verwunderung erregt hätten, der Wider¬
wille gegen den gemeinsam zu bekämpfenden Feind ist größer als die Scheu
vor dem Bundesgenossen. Eine wirkliche Intimität, wie sie keine frühere
Zeit gekannt, herrscht fortan, so lange der Krieg dauert, zwischen dem Bres-
lauer Rath und dem Bischof. Und nun geht es weiter. Man rüstet eifrig
zum Kriege, es erfolgt 1421 ein Einfall in Böhmen, und Greuel der blutig¬
sten Verwüstung bezeichnen den Weg des schlesischen Heeres. Man könnte
vielleicht die Berichte des böhmischen Chronisten, der die Grausamkeiten der
Schlesier mit den schwärzesten Farben malt, als parteiische Uebertreibung zu¬
rückweisen, aber wir können nicht die Briefe aus dem eignen Lager der Deut¬
schen verleugnen, in denen, als wäre das ganz selbstverständlich, erzählt wird,
wie man die ersten Gefangenen, unglückliche böhmische Bauern, die auf den
Glatzer Bergen als Vorposten standen, ohne Weiteres qualvollen Feuertode
überlieferte. Und die das thaten, waren nicht fanatisirte Rotten; so weit
hatte die Kreuzpredigt nicht gewirkt, daß etwa eine Massenerhebung von
begeisterten Priestern geleitet erfolgt wäre. Der Krieg war vorbereitet wor¬
den wie jeder andere, die Städte hatten je nach ihrer Bedeutung ihr Con¬
tingent von Söldnern ausgerüstet, und diese waren in den Krieg gezogen.
— In der gemäßigsten Weise mahnt der böhmische Landtag von Czaslau
aus zum Frieden, man hört nicht darauf, wohl schwindet allmälig der Eifer
für den Krieg gegenüber der kläglichen Politik des Kaisers, der Schwäche des
Reiches, aber der Haß bleibt.
Dann kommen schwere Zeiten über Schlesien, sieben Jahre hindurch
wälzen sich immer neue Schwärme der Hussiten über die Berge, Alles mit
Verwüstung erfüllend, das Land steht ihnen offen, nach wenig rühmlichen
Kämpfen beschränken sich die einheimischen Truppen auf die nothdürftige
Vertheidigung einiger größeren Städte. Bald setzen sich die Böhmen auch
in einzelnen schlesischen Burgen fest, von da das Land ununterbrochen
brandschatzend und beraubend, Schlesien verödet mehr und mehr. Aber mitten
in diesem Elend, im Stich gelassen von Kaiser und Reich rüsten die Schlesier.
die Breslauer. Schweidnitzer, Liegnitzer, Reißer geduldig immer von Neuem. <
Aus ihren Briefen könnte Niemand eine Mißbilligung der kaiserlichen Politik,
einen Wunsch, den Hussiten Zugeständnisse gemacht zu sehn, herauslesen, viel¬
mehr haben wir immerfort den Eindruck, man beklage wohl den üblen Gang
des Kampfes, aber man zweifle keinen Augenblick an der guten Sache, die
man verfechte, an der Nothwendigkeit einer Bekämpfung des entgegenstehen-
den Princips.
Es ist dieser Sachlage gegenüber wohl kühn, noch von einer Sympathie
der Schlesier für die hussitische Sache zu sprechen, ich wenigstens habe nichts
der Art gefunden. Wohl kenne ich einige Fälle, wo schlesische Adelige auf
von den Böhmen besetzten schlesischen Burgen Kriegsdienste gethan haben,
aber ich zweifle keinen Augenblick, daß diese nicht der Glaube der Hussiten,
sondern die sichere Aussicht auf Abenteuer, Sold und Beute gelockthat; diese
Ritter an der Heerstraße haben keinen Anspruch darauf, die Gesinnung des
Volkes zu vertreten. Und in dieselbe Kategorie nur dem Stande, nicht der
Art nach höherstehend, gehört jener Herzog Bolko von Oppeln, der allein
von den schlesischen Fürsten für die Sache der Hussiten sich gewinnen ließ.
Auch er wandelte, wie es schon sein Vater und seine Ohne gethan, die Wege
der Raubritter, und wenn er dann die Bundesgenossenschaft mit den Hussiten
dazu benutzte, den Kanonikern von Ober-Glogau ihre Güter wegzunehmen,
so hat sicherlich die Raubsucht ungleich mehr Antheil daran gehabt, als
irgend welche religiöse Ueberzeugung. Ebensowenig will es etwas besagen,
wenn den siegreich daherziehenden böhmischen Heeren sich Leute der unteren
Volksclassen, sei es durch Zwang, sei es auch durch Gewinnsucht getrieben
zu Dienstleistungen mancherlei Art bereit finden lassen. Das Alles ändert
Nichts an der Thatsache, daß für das Volk im Großen und Ganzen bis in
die höchsten Schichten hinauf die Hussiten unverändert die „verdammten
Ketzer" sind und bleiben, daß in dem Stadtbuch von jener Zeit Signaturen
uns ausstoßen, wo ein obrigkeitliches Zeugniß angerufen wird, um Einzelne
vor dem Vorwurfe hussitischer Sympathien, wie vor dem größten Schimpfe
zu sichern, und daß irgendwelche Edikte der geistlichen Gewalt, wie sie in
Polen und Ungarn,' ja selbst an einzelnen Orten des westlichen Deutschlands
zur Unterdrückung hussitischer Ketzereien erlassen wurden, in Schlesien ganz
überflüssig waren.
Freilich darf dem gegenüber nicht verschwiegen werden, daß auch die
Hussiten keine Propaganda gemacht haben. Es verdient dies wohl hervor¬
gehoben zu werden, denn es ist ein seltener Fall, daß Heere, welche siegreich
für religiöse Zwecke kämpfen und großentheils von Priestern angeführt wer¬
den, sich enthalten, dem Glauben, für den sie streiten, auch in der Fremde
Anerkennung zu sichern. Aber kein Zeugniß spricht dafür, daß sie hier in
den Städten, welche sie erobert, Bekehrungspredigten gehalten, daß sie ihrer
Glaubensform und speciell dem Abendmahl unter beiderlei Gestalt Eingang
zu verschaffen gestrebt haben. Wie es scheint, wollten sie ihren Glauben gar
nicht weiter ausbreiten, als die czechische Zunge klang.
Nur destruirend haben sie die religiösen Principien, welche sie verfochten,
zum Ausdruck gebracht in dem wilden grausamen Hasse gegen die Geistlich¬
keit, in der Verwüstung der Klöster, der Entweihung der Kirchen, der Ver¬
nichtung der Heiligenbilder. Die Folge davon war der schreckliche Ruf, in
den sie hier in Schlesien gekommen sind. Einen guten Theil der Greuel,
welche ihnen zugeschrieben wurden, läßt die historische Kritik als Legende
oder als Uebertreibung frommer Eiferer erkennen, Vieles bleibt aber doch be¬
stehen, wenn man auch zugeben muß, daß es ihre Gegner waren, die zuerst
dem Kriege seinen grausamen Charakter aufgedrückt haben. — Dennoch war
nicht die Rohheit und Grausamkeit der Böhmen der Hauptgrund, der die
Schlesier gehindert hat, mit den hussitischen Lehren zu sympathisiren.
Mit größerem Rechte darf man den nationalen Gegensatz als den Grund,
der schlesischen Antipathie betrachten. Die auf altslavischem Boden angesiedel¬
ten Deutschen konnten ein Gefühl der Furcht vor einer großen slavischen
Reaction schwer loswerden und sahen argwöhnisch auf jede stärkere Regung
slavischen Nationalgefühls. Zu dieser Scheu gesellte sich in ihnen eine ge¬
wisse Geringschätzung der an Intelligenz und Cultur tiefer stehenden Race.
Aus diesen Händen eine gereinigte Form ihrer Religion entgegenzunehmen,
würden sie in keinem Falle über sich vermocht haben. Und dazu waren die
Czechen die Bedränger der deutschen Landsleute in Böhmen, mit denen die
Schlesier nicht nur durch nationale Verwandtschaft, auch durch mannigfache
Verkehrsbeziehungen verbunden waren; am Anfange der hussitischen Be¬
wegung haben mehrfach die Deutsch-Böhmen beweglich die Hilfe der Schlesier
angerufen und als der Krieg begann, erschien er den Schlesiern zumeist als
ein Kampf zwischen Deutschen und Slaven.
Aber als letzter Erklärungsgrund für die Abneigung der Schlesier
gegen die Hussiten darf auch der nationale Gegensatz nicht gelten; dem deut¬
schen Bürgerthum in den größeren Städten Schlesiens war diese Empfindung
vielleicht die herrschende, für das Land im Ganzen nicht. Auch die nationalen
Strömungen haben ihre Zeit, sie fließen einmal stärker, dann wieder schwächer
dahin, und man kann nicht behaupten, daß sie gerade im 13. Jahrhundert
bei den Schlesiern eine besonders starke Gewalt gehabt haben. Zeugnisse eines
gesteigerten deutschen Bewußtseins in Schlesien vermöchte ich nicht anzufüh¬
ren; es ist doch z. B. charakteristisch, daß die Herzoge der Oelser Linie, die
Brüder des damaligen Bischofs von Breslau, die eifrigsten Theilnehmer am
Hussitenkriege, auch am dringendsten und devotesten um die Gunst des Polen¬
königs buhlen, sich sogar unter sein Hofgesinde aufnehmen lassen. Sie thun
dies nicht etwa im Drange der Noth, sie halten sich schon vor dem Hussiten-
*
kriege so, und was die Hauptsache ist. Niemand scheint daran Anstoß zu
nehmen. Ebenso ist es doch auch bezeichnend, daß in den Briefen jener Zeit
die Hussiten nie als Slaven bezeichnet werden, man nennt sie Hussen oder
Tabrer (Taboriten). mit besonderer Vorliebe aber „die verdammten Ketzer"
und wir können uns dem Eindrucke nicht verschließen, als habe für die Brief¬
steller in dem Vorwurfe der Ketzerei das gelegen, was am meisten abstieß.
Es erscheint wie ein Widerspruch, daß die Schlesier und speciell die Bres-
lauer. welche wir — nach moderner Sprechweise — als durchaus liberale Ka¬
tholiken kennen gelernt haben, sich plötzlich in einen so heftigen und hartnäckigen
Ketzerhaß hineintreiben ließen. Aber es ist mißlich, moderne Schlagwörter aus
alte Zeiten anzuwenden. Man vergesse nicht, daß es die fortgeschrittenen Liberalen
auf kirchlichem Gebiete, Männer wie Gerson und Peter d'Ailly waren, welche
in Kosemitz am heftigsten die Verbrennung von Hus forderten. Man darf
keinen Augenblick zweifeln, daß die in Breslau herrschende Anschauung, die
auch in den Gesprächen der Bürger untereinander lebhaften Ausdruck fand,
einem päpstlichen Legaten äußerst ketzerisch erschienen wäre; man hat hier sehr
freie Worte über die Geistlichkeit und gegen den Papst geäußert, ohne daß
Jemand daran Anstoß genommen hätte, und trotzdem ist der Haß gegen die
Hussitenketzer gerade hier so heiß geworden.
Bei diesem Haß kam das Glaubensbekenntniß unzweifelhaft sehr wenig
in Betracht. Man hatte in der That kaum Veranlassung darnach zu fragen.
Schon das Gebühren, durch welches die hussitische Bewegung sich kund gab.
genügte, um ihr die Herzen zu entfremden. Gegen die wilden Horden, welche
gleich im Jahre 1420 eine große Anzahl von Kirchen und Klöstern verwüsteten,
empörte sich auch das religiöse Gefühl, welches ebenso frevelte. Schon die tumul-
tuarische Entfesselung der Massen hätte hingereicht, das deutsche Bürgerthum,
in welchem das höchste Maß von Gesetzlichkeit, welches das Mittelalter über¬
haupt kannte, seinen Ausdruck fand, zurückzuschrecken, man würde sie gescheut
haben, wie die Bürger neuerer Zeit die Jakobiner oder Communisten gefürchtet
haben. Aber die Zerstörungswuth jener Massen richtete sich speciell gegen
die Stätten, welche der Glaube geheiligt, in deren Verehrung Alle üverein-
stimmten. Seit man die Feinde Ketzer nannte, galten sie als Feinde der
Christenheit. Der Name stellte sie auf gleiche Stufe mit den Türken und
Heiden. In der That, die Schlesier stehen den Hussiten ganz ähnlich
gegenüber wie die Deutschen im Reich Jahrhunderte lang den Türken
gegenüber sich verhalten haben. Hier wie dort ist nicht ein hervorragendes
Maß von kriegerischem Eifer zu rühmen, vielmehr ist gerade die Lässigkeit
und Unzulänglichkeit der eigenen Kriegsleistungen der beste Bundesgenosse für
den gefürchteten Gegner. Aber über das Princip, daß man in dem Gegner den
Feind der christlichen Cultur zu bekämpfen habe, und daß mit ihm kein dauer-
hafter Friede möglich sei, darüber herrscht keine Meinungsverschiedenheit. —
Wir meinen, dieselbe Stimmung blieb auch im Jahrhundert der Reformation.
Auch damals, so oft die sociale Erregung unter Bauern und Widertäufern
das blutige Banner erhob, vereinigte sich sofort Alles, Anhänger der neuen
Lehre wie ihre Gegner, um zunächst jene drohende Bewegung niederzuschlagen.
Wer will ermessen, welchen Gang die Reformation Luther's gehabt hätte,
wenn sie gleich im ersten Anfange die Massen so wild aufgewühlt hätte, wie
dies der Hussitismus that?
Allerdings allmälig stellte sich unter den Hussiten eine nicht verächtliche
Ordnung her. und es ist kein Zweifel, daß die Schlesier in dem jahrelangen
obzwar meist feindseligen Verkehr mit den Hussiten, deren Schaaren sich
dauernd bei ihnen festsetzten, Gelegenheit genug hatten, auch den eigentlichen
dogmatischen Inhalt des Hussitismus näher kennen zu lernen und für die
Aeußerungen eines freieren Geistes, für das Reformatorische, Sympathien zu
finden.
Aber in keiner Weise thun sie das, und was sie abhält, ist neben der
Nachwirkung des ersten abschreckenden Eindrucks und neben der nationalen
Antipathie noch etwas Anderes. Denn um Alles zu sagen: das schlesische
Volk, selbst in den höheren Ständen, war damals noch nicht reif zur Ketzerei,
wenn wir mit diesem Worte die Selbstthätigkeit des Individuums bei Prü¬
fung des überlieferten Lehrbegriffs bezeichnen, im Gegensatze zum Autoritäts¬
glauben. Wollen wir die Reformation Luthers zum Vergleich heranziehen,
dürfen wir vor Allem nicht vergessen, welchen gewaltigen Schritt vorwärts
inzwischen die geistige Entwickelung unserer Nation gethan durch die Hu¬
manitätsstudien und die Erfindung der Buchdruckerkunst.
Nahe liegt hier der Einwurf: waren denn die Czechen, welche so ein-
müthig der Lehre ihres Reformators sich zuwandten, reifer, gebildeter? Ein
ganzes Volk verläßt so entschlossen den Glauben der Väter, um ungeschreckt
von dem furchtbaren Vorwurfe der Ketzerei einen neuen Weg des Heils zu
suchen! — Es ist lehrreich, einen Augenblick dabei zu verweilen. Was dort
die Bewegung so gewaltig'gemacht hat. war freilich nicht eine größere Bil¬
dung, vielmehr der Umstand, daß die religiösen Impulse eine übermächtige Ver¬
stärkung erhielten durch nationale und sociale Momente.
Vor Allem durch nationale. Nach einer eifrig von den Herrschern be¬
günstigten germanisirenden Arbeit mehrerer Jahrhunderte war in Böhmen
die czechische Sprache allmälig zur Sprache des gemeinen Mannes herabgedrückt
worden; wie zahlreich auch die Vertreter dieser Nationalität namentlich auf
dem platten Lande sein mochten, und obwohl auch eine Anzahl von Adligen
über die Bevorzugung der deutschen Eindringlinge grollend an ihr festhielten,
das Deutsche herrschte doch am Hofe, in den Städten und in den höheren
Schichten der Gesellschaft; jene denkwürdige Bethlehemskirche, die Stätte von
Hus' Wirksamkeit, war 1391 gegründet worden, weil „die Prediger, welche
sich der böhmischen Landessprache bedienten, genöthigt waren, sich in Häusern
und abgelegenen Winkeln umherzutreiben."
Wenn nun eben in dieser Kirche, wo den Worten der Stiftungsurkunde
gemäß vorzugsweise das „gemeine Volk mit dem Brode der heiligen Predigt
erquickt werden sollte", ein Mann von der Gelehrsamkeit, der Beredsamkeit
und dem rücksichtslosen Fretmuthe des Joh. Hus als Prediger thätig war,
so mußten die Resultate dieser Wirksamkeit sofort der czechischen Nationalität
zu Gute kommen, die czechische Sprache kam zu neuen Ehren dadurch, daß
der gefeierteste Prediger sich ihrer bediente. Die von Hus veranlaßte, wenn
auch vielleicht nicht beabsichtigte Auswanderung der deutschen Studenten und
Lehrer im Jahre 1409 machte ihn vollends zum nationalen Parteihaupte.
Je mehr ihn seitdem die Deutschen, wie er selbst so oft klagt, anfeindeten
und verfolgten, desto dankbarer hingen ihm die Czechen an. Schon hier
kamen sociale Momente mit ins Spiel. In dem Nationalitätenkampfe wirkte
unvermeidlich eine gewisse Mißgunst des niederen czechischen Volkes gegen
die hier, wie überall in den slavischen Ländern, zu einem höheren Wohlstand
gekommenen Deutschen, und in demselben Sinn wirkte der heftige Tadel in
des Hus Predigten gegen die Verderbtheit des Klerus, gegen ihre Ueppigkeit
und Geldgier im Gegensatze zu der Einfachheit der Apostel. Wiederholt
klagten die Geistlichen, wenn auch vielleicht übertreibend, Huß denuncire sei¬
nen Hörern die Zahlung der geistlichen Zehnten als ungerechtfertigt. Nicht
so sehr, was Hus sagte, als die Consequenzen. die seine Hörer zogen, machten
seine Predigten zu nationalen und socialen Agitationen, die eines mächtigen
Eindruckes nicht verfehlen konnten. Und diese Keime waren längst auf¬
gegangen, als Hus' Auftreten gegen den Ablaß sein vollständiges Zerwürfniß
mit den kirchlichen Gewalten und in letzter Folge seine Citation vor das
Concil zu Kosemitz bewirkte. Die Flamme seines Scheiterhaufens setzte ganz
Böhmen in Brand. Als nach dem Tode Wenzels das Land dem Kaiser
Sigismund huldigen sollte, in welchem es den wortbrüchigen Henker des
Märtyrers verabscheute, brach die Bewegung los, und als sich die Mafien
erhoben, schwenkten sie ihre Waffen nicht für ein größeres Maß von religiöser
Freiheit, sie verlangten in erster Linie die Befreiung vom Joche der Deutschen,
denen sie die Verfolgung des verehrten Lehrers und Führers schuld gaben.
Die Bekämpfung der Deutschen an den Orten, wo sie dicht genug saßen, um
Widerstand zu leisten, wie z. B. in Kuttenberg, war der erste Schritt. Gleich¬
zeitig griff man überall nach den geistlichen Gütern, plünderte die Klöster,
und sowie die Bewegung Zehnten und Abgaben an den Klerus hinweg¬
spülte, so auch zum größten Theile die Zinsen und Steuern, welche der Adel
erhob; von den Diensten, die derselbe bisher verlangt hatte, war in den
stürmischen Zeiten nicht mehr die Rede. Es war zugleich eine sociale Re¬
volution im eigentlichen Sinne des Wortes, selbst die religiöse Forderung
des Kelches bei dem Abendmahle erschien der Masse unter dem Gesichts¬
punkte der Rückforderung eines Rechtes, das von dem eigennützigen und
tyrannischen Klerus bisher dem Volke vorenthalten war.
Und nun weiter. Bewaffnete Leidenschaften bilden die Heere der Be¬
wegung, hervorragende Feldherren, wie der große Ziska, erfinden für die
Massen die geeignete Taktik, welche sie unwiderstehlich macht. Fester schließen
sich die Heere an die siegreichen Führer. Religiös entflammt, für die
Nationalität begeistert, entwickeln sie zugleich einen energischen militäri¬
schen Corpsgeist, Ruhm und reiche Beute ist ihr Lohn. In diesen Heeren,
welche weit und breit in fremden Ländern Schrecken verbreiten, lebt und
wirkt der hussitische Geist.
Ganz anders das Volk daheim. Hier verfliegt sehr schnell der Rausch
und die ernüchterte Menge vermißt schmerzlich den sicheren Halt einer fest
geordneten kirchlichen Gemeinschaft. Von Jahr zu Jahr wächst im Volke
die Sehnsucht nach dem schützenden Schirmdache der alten Kirche, die Tro¬
phäen der erfochtenen Siege vermögen keinen Ersatz zu gewähren, der Fluch
der Ketzerei lastet schwer auf den Gemüthern, die bisher zum Schweigen ge¬
brachten Anhänger der alten Lehre fassen Muth und helfen mahnend nach.
Wie stark auch die Herrschaft der siegesstolzen Heere ist, sie empfinden doch,
was im Volke vorgeht. Von dem erwünschtesten Ziele einer Ausbeutung
der Bewegung in nationalem pcmslavistischem Sinne zurückgehalten durch die
starre Orthodoxie der Polen, bieten auch sie die Hand zu Besprechungen,
und der Jubel, mit welchem das Prager Volk die Abgesandten des Baseler
Concils empfängt, zeigt unverkennbar die Stimmung der Mehrzahl. Lauter
werden Wünsche und Kundgebungen für die Wiedervereinigung mit der
alten Kirche, schon erhebt der Adel, dem es im Bündniß mit den radicalen
Taboriten nie recht wohl gewesen, gestützt auf die Stimmung des Volkes
wieder sein Haupt, und endlich sind die im Felde unbezwungenen Hussiten
genöthigt, den Frieden zu machen gegen das winzige und noch arg ver-
clausulirte Zugeständniß des Abendmahls unter beiderlei Gestalt; ankämpfend
dagegen erliegen die Fanatiker in der Schlacht bei Böhmisch-Brot.
So eng eingedämmt ward der Strom, der sich am Anfang so wild und
reißend wie kein anderer ergossen. Wer wollte es leugnen, daß es eine
Niederlage ist, in welcher die hussitische Bewegung endet? Siegreich bewährt
aber hatte sich der gewaltige Zauber der alten Kirche, der zu widerstehen
die damalige Generation nicht die Kraft besaß.
Blicken wir auf Schlesien zurück. Man kann sagen, es sei wenig wunder-
bar, daß während der Hussitenkriege selbst sich Sympathien für die feindlichen
Nachbarn nicht gezeigt hätten. Vielleicht haben die reformatorischen Ideen
sich nach und nach doch entwickelt?—Zieht man den Vorhang noch einmal
auf und betrachtet einige spätere Jahrzehnte, was erblickt man? Auf der
einen Seite Böhmen zur Ruhe gekommen unter einem nationalen König,
Georg Podiebrad, der sehr gemäßigt an hussttische Traditionen sich anschließt,
und diesem gegenüber die Schlesier, erfüllt von einem bis ins Fieberhafte
gesteigerten Ketzerhasse, in dem sie jeder Vorstellung taub fort und fort be¬
harren. Was den Kreuzpredigten im Jahr 1420 nicht gelungen war, jetzt
gelingt es, die Stadt Breslau erlebt das nie gesehene Schauspiel, daß ein
Minont Johann Kapistran das Volk zum wildesten Fanatismus fortreißt.
Das ist die ausgegangene Saat der Hussitenkämpfe. Weit entfernt die
Regungen eines freieren Geistes zu bringen, haben sie die kirchliche Reaction
gebracht. Und wie im Ganzen die Schrecken der Hussitenkriege dazu geführt
haben, der durch eigene Sünden, durch Schisma und Entscheid der Con¬
cilien arg geschwächten Hierarchie erhöhte Bedeutung in den Augen der
Menge zu verleihen, so hat dieselbe Ursache in Schlesien die Gemüther bis
zu kirchlichem Fanatismus zurückgescheucht in die Arme der Kirche. Das der
großen Reformation langsam entgegenreifende Gemüth des Volkes, durch
die hussttische Bewegung ist es in Sehnsucht und Bedürfniß nicht gesteigert,
sondern gehemmt, ja weit herabgedrückt worden, mühsam hat es sich von
Neuem auf sich selbst besinnen und wieder mit neuen Ansätzen sich ver¬
suchen müssen. Ist es doch noch später geradezu verhängnißvoll gewesen für
die Entwickelung der Reformation im deutschen Osten, daß hier zwischen den
beiden Nachbarlanden Böhmen und Schlesien das 15. Jahrhundert eine tiefe,
unübersteigliche Kluft gerissen hatte? Als König Ferdinand 1646 von Breslau
aus nach Regensburg zu dem Reichstage zog, der dem ersten deutschen Re¬
ligionskriege unmittelbar vorausging, da konnte er seinem Bruder, dem Kaiser,
die willkommene Nachricht bringen, er habe Böhmen und Schlesier im er¬
bittertsten Zwiespalt über ihre beiderseitigen Privilegien zurückgelassen, es sei
absolut keine Aussicht, daß die zahlreichen Anhänger der neuen Lehre dies¬
seits und jenseits der Sudeten sich angesichts der gemeinsamen Gefahr für
ihren Glauben die Hände reichten. Ganz richtig hat er vorausgesehen, daß
die Consequenzen der Hussitenzeit die deutschen Schlesier und die czechischen
Böhmen auseinanderhalten würden,
Wir kommen zum Schlüsse. Wohl haben die Czechen ein Recht, das
Andenken des Hussitismus hoch zu halten. Ohne jene Bewegung würde
ihre Nationalität nach menschlichem Ermessen jetzt in nicht eben anderer
Lage sein, als die der Wenden in der Lausitz. Auf den Standpunkt der
Czechen uns zu stellen wiro uns Niemand zumuthen, wie bereitwillig wir
auch vom Standpunkte geschichtlicher Betrachtung die Consequenzen der
hussitischen Bewegung als Thatsachen anerkennen. Sicherlich erscheint es
ungerecht, die bewundernde Hochachtung, welche uns die Persönlichkeit des
Johann Hus, die Reinheit seines Lebens, der bis zum Tode getreue Muth
der Ueberzeugung abnöthigen, dadurch erniedern zu lassen, daß thatsächlich sein
Wirken ein dem Deutschthum feindliches war. Wir gönnen ihm auch den
Platz am Wormser Lutherdenkmal. Stellt doch dieses Monument Luther
nicht blos als nationalen Helden der Deutschen hin, sondern als die Ver¬
körperung eines großen welthistorischen Principes, und es scheint wohl gerecht¬
fertigt, daß auch fremde Männer, die minder siegreich als der deutsche Refor¬
mator für dieselbe Idee zu kämpfen und zu leiden verstanden haben, ihren
Platz fanden. Dorthin an die Seite von Savonarola, Petrus Waldus,
Wilkes gehört auch Hus. Nur weiter zu gehen ist nicht erlaubt. So wenig
die Lehre von Hus einen Einfluß geübt auf Luthers Thätigkeit, so wenig,
ja noch weniger hat die hussitische Bewegung der reformatorischen Bewegung
des 16. Jahrhunderts vorgearbeitet oder den Weg gebahnt.
Es wäre eine interessante noch zu lösende Aufgabe, auf kleinerem Gebiete
wie eben z. B. in Schlesien im Einzelnen den Prozeß zu untersuchen, der
die Geister der großen Luther'schen Reformation entgegenreifen ließ. Eines
wurde oben angedeutet, was von alter Zeit her sich entwickelnd der
Reformation Vorschub leisten konnte, es war jener particularistische Zug.
den das deutsche Bürgerthum herausgetrieben hatte, und der einmal doch in
Gegensatz treten mußte zu dem großen Einheitsgedanken der katholischen
Kirche. Seine Familie, sein Haus, seinen Staat fand der Bürger in dem
engen Umkreise der Stadtmauer, in ihm, so wollte er, sollte auch seine Kirchen-
gemeinschaft sich möglichst abschließen.
Es war dies die erste unbestimmte Regung eines wichtigen Postulates,
des wichtigsten, welches die Reformation zu erfüllen gehabt hat, daß sie
statt des großen Himmelsschlüssels, den der Statthalter Petri verwaltete,
jedem Menschenkind einen eignen in die Hand drückte, mit der glaubhaften
Versicherung, daß alle diese kleinen das künftige Lebenshaus des Bürgers
wohl erschließen würden. Als der stauenswerthe Fortschritt, den die allgemeine
Bildung am Ende des 15. Jahrh, machte, Denken und Empfinden, alles
Leben der Nation mächtig vertieft hatte, als Guttenbergs Erfindung die alten
Zeugnisse des Glaubens wie die neuen Gedanken erleuchteter Männer zum
Gemeingute Aller gemacht hatte, da war die Zeit gekommen; das zündende
Wort des Wittenberger Professors fand, sobald es gesprochen war, in Schlesien
wie überall tausendstimmiger Wiederhall. Nicht tumultuarisch wie einst in den
Hussitenzeiten, sondern still und geordnet vollzog sich der große Umschwung, getra-
gen weniger durch äußere politische, sociale, nationale Forderungen als durch
innerliches gemüthliches Bedürfniß. Und hier haben die Schlesier ihre deutsche
Art dauerhaft bewährt. Unter allen Ländern des Habsburgischen Hauses war
Schlesien das einzige, welches durch zwei Jahrhunderte Habsburgischer Herr¬
schaft dem Zwange und den Versuchungen der Söldner, Jesuiten, kaiserlichen
Hofbeamten mannhaft widerstand, und unter einem fortwährenden uner¬
hörten Druck den geistigen Gewinn der Reformation nicht opferte, bis das
bedrängte Land durch die Hohenzollern befreit wurde.
Unter dem nicht ganz glücklichen Namen „Bundesamt für das Hei-
mathswesen" soll mit dem Gesetz über den Unterstützungswohnsitz ein neues
Organ dem Bundesorganismus eingefügt werden, das bestimmt ist als
oberstes Verwaltungsgericht des Bundes in Heimathssachen thätig zu sein
und innerhalb dieser Zuständigkeit den Beschwerden abzuhelfen, die zur Zeit
die Gestaltung der Bundesexecution veranlaßt. Dieser Bundesheimaths-
gerichtshof wird für das Gebiet der Verwaltung bedeuten, was das Bundes-
oberhandelsgericht für das Gebiet der Rechtspflege bedeutet, er wird der feste
Punkt sein, an dem sich der Verwaltungsgerichtshos des Bundes entwickelt.
Die Wichtigkeit des Vorgangs ist unverkennbar und je mehr wir uns davon
durchdrungen wissen, desto mehr fühlen wir die Verpflichtung kleinliche Be¬
denken, liebhaberische Ausstellungen fern zu halten, die zudem den Gegnern
der Neuschöpfung mehr zu statten kommen wie ihren Freunden. Aus der
anderen Seite ergibt sich aber auch die Verpflichtung, ernstlichen Bedenken,
wohlbegründeten Ausstellungen Ausdruck zu geben, um dem richterlichen
Organ der obersten Verwaltung von Anbeginn die richtige Ausbildung zu
sichern, und indem wir uns anschicken, einige kritische Bemerkungen zu machen,
glauben wir dieser Art Verpflichtung zu genügen.
Die Bedeutung der Verwaltungsrechtspflege ist heutzutage, nachdem, wie
Robert von Mohl sagt, „glücklicherweise der unüberlegte Artikel 94 der
deutschen Grundrechte, welcher alle und jede Verwaltungsrechtspflege unter¬
sagte, nicht zur Geltung gekommen, kaum mehr Gegenstand der Anzweiflung.
Im Gegentheil gewinnt die Ueberzeugung rasch und stetig Boden, daß die
Verwaltungsrechtspflege eines der Radicalheilmittel ist, welche die Schäden
der Verwaltung zu heilen vermögen. So viel damit aber vom principiellen
Standpunkte erreicht ist, so wenig wird in praktischer Hinsicht geboten. Die
Frage, wie die Verwaltungsrechtspflege eingerichtet werden soll, ist noch voll¬
ständig offen, wenn auch die Frage, ob sie eingerichtet werden soll, unbedingte
Bejahung findet."
Zum Glück für uns theoretisirende Deutsche bringt der Bund diese Frage
in bestimmt begrenzter Weise zur Erörterung. Norddeutschland kann nicht
ähnliche Erfahrungen machen, wie Baiern, wo Regierung und Landtag über
die Einsetzung eines Verwaltungsgerichtshofs vollkommen einig waren, sich
aber bis zur Stunde nicht über seine Zuständigkeit einigen konnten. Die Sphäre
des neuen Gerichtshofes ist klein und beschränkt sich auf Entscheidung
der Streitigkeiten aus einem einzigen Rechtsverhältniß. Mag indessen der
Heimathsgerichtshof die Natur eines Speeialgerichtshofs haben, er besitzt
unter allen Umständen die Natur eines wirklichen Gerichtshofes und es ist
von um so größerer Wichtigkeit, ihn in diesem Sinne zu gestalten, als er
sich ja zum Verwaltungsgerichtshof fortentwickeln soll.
Genügt das Bundesamt für das Heimathswesen den hier zu stellenden
Anforderungen? Scheint die im Gesetzentwurf der Reichstagseommission
richtigerweise leicht skizzirte Organisation des Bundesamts der Auffassung zu
entsprechen, die sich heutzutage nicht blos mit einem Gerichtshof überhaupt,
sondern auch mit einem Gerichtshof des öffentlichen Rechts verbindet?
In zwiefacher Beziehung ist dies nach unserer Meinung nicht der Fall.
Das Bundesamt für das Heimathswesen soll eine ständige und collegiale
Behörde mit dem Sitze in Berlin sein und aus einem Vorsitzenden und
mindestens vier Mitglieder bestehen, von denen ausschließlich des Vor¬
sitzenden die Hälfte die Qualification zum Richteramte im Staate ihrer An¬
gehörigkeit besitzen muß. Ueber die Stellung der Mitglieder sagt der Ent¬
wurf nichts und da die richterliche Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit nicht
zu präsumiren sind, ist zu folgern, daß die Richter des Heimathsgerichtshofs
diese Eigenschaften nicht besitzen sollen.
Die Sicherung der Rechtsprechung in der Person der Richter ist von
hohem Werth und, wie sie bei den Mitgliedern des Bundesamts gewährt
werden kann, ein dankbar zu begrüßendes Zugeständniß ^an die herrschende
Zeitrichtung. Indeß ist nicht außer Betracht zu setzen, daß das klassische Land
der Verwaltungsrechtspflege, Frankreich, sie nicht kennt und in der neuen
Verfassung vom 20. April dieses Jahres wohl die Unabsetzbarkeit der Richter
ausspricht, dagegen die Staatsräthe auch ferner vom Kaiser ernennen und
absetzen läßt. Es hängt ohne Zweifel mit der, wir möchten sagen, administrativen
Auffassung des eoutentiou aäministratik zusammen und widerspricht der
deutschen Anschauung von der Verwaltungsrechtspflege. Lehrreich ist es aber
immer, weil es zeigt, daß die Werthschätzung, die sich die Verwaltungsrechts-
pflege in Frankreich in den 80 Jahren ihres Bestehens im heutigen Sinn
erworben, trotz jenes Mangels hat erworben werden können. In Baden,
dem ersten deutschen Staat, der mit der Verwaltungsrechtspflege vollen Ernst
gemacht, unterstehen die Mitglieder des Verwaltungsgerichtshofs dem
Ministerium des Innern und genießen zur Zeit nicht die Vortheile des
Richtergesetzes. Die Regierung hat nur im Laufe der Kammerverhandlungen
erklärt, daß die Verwaltungsgerichtsräthe richterliche Unabhängigkeit besitzen
sollen. Die große Achtung, welche der neue Gerichtshof in den wenigen
Jahren seiner Wirksamkeit (1864) erlangt hat, ist bisher nicht dadurch beein¬
trächtigt worden, daß die Mitglieder den erhöhten Schutz der Richter noch
entbehren. Der bairische und, wenn wir nicht irren, der würtenbergische
Entwurf sehen die Gleichstellung der Verwaltungsrichter mit den bürgerlichen
Richtern ausdrücklich vor.
Wir verweilen nicht bei dieser Frage, die, wie wir hoffen, keinen eigent¬
lichen Differenzpunkt bilden wird. Sie tritt in unsern Augen an Bedeutung
zurück hinter der Frage nach der Zusammensetzung des Heimathsgerichtshofs.
Das Bundesamt für das Heimathswesen soll aus zwei Arten von Mit¬
gliedern, Richtern und Verwaltungsbeamten, sich zusammensetzen. Die Ver¬
waltungsbeamten sollen in der Vorhand sein und zur Abfassung einer
gültigen Entscheidung die Anwesenheit von drei Mitgliedern, unter denen
ein Richter, genügen. Das richterliche Element soll nur einen wesentlichen,
nicht den bestimmenden Bestandtheil des Gerichtshofs bilden. Warum soll es
aber überhaupt in so beengender Weise eingeführt werden? Warum sollen dem
Bundesrath bei Ernennung der Mitglieder des Bundesamts die Hände ge¬
bunden werden? Denn die natürliche Folge ist, daß die übrigen Mitglieder
nicht aus der Zahl der Richter gewählt werden, mag auch die Befugniß,
sie aus ihnen zu wählen, gegeben sein.
Es liegt die Wahrscheinlichkeit vor, daß eine Bestimmung der königlich
sächsischen Gesetzgebung zum Vorbild gedient hat. Der sächsiche Gesetzgeber
(1838) schuf bei Neuordnung der obern Gerichts- und Verwaltungsstellen eine
oberstverwaltungsrichterliche Instanz, die aus dem Minister des Innern, aus
zwei Räthen seines Ministeriums und aus zwei fortdauernd deputirten Räthen
der obern Gerichtsstellen sich zusammensetzt und die letzte Instanz in „Ad-
ministrativjustizsachen" ist. Die Landtagsverhandlungen, welche der Schaffung
des Organs vorhergingen, ergeben aber, daß diese Collegialbildung keines-
Wegs aus der Ueberzeugung von ihrer theoretischen Wichtigkeit und praktischen
Zweckdienlichkeit, sondern einzig und allein aus — finanziellen Gründen ent¬
stand. Dem sächsischen Gesetzgeber schwebte — wir lassen unentschieden, ob
zuerst in Deutschland — der Gedanke eines Verwaltungsgerichtshofs vor und
er versagte sich seine Verwirklichung nur, weil er sie sich, der knappen Wirth-
schaftsweise der damaligen Staatskunst entsprechend, glaubte versagen zu
müssen. Die Collegialbehörde, die er an die Stelle setzte, war nichts als
ein Behelf und wenn auch die eigentlichen Schäden der sächsischen Ver¬
waltungsrechtspflege anderswo liegen, mangelt offenbar der Grund, eine Ein¬
richtung zum Vorbild zu nehmen, von der Niemand sagen kann, daß sie an
sich vorzüglich gewirkt habe. Es ist ein Widerspruch in sich selbst, auf der
der einen Seite einen besonderen Gerichtshof zu bestellen, um für Aburtheilung
von Sachen eine geeignete Instanz zu gewinnen und auf der andern Seite
in diesen Gerichtshof gerade Mitglieder der Instanz abzuordnen, die für Ab¬
urtheilung der Sachen selbst ungeeignet erscheint.
Die Berücksichtigung des Elements der bürgerlichen Richter als solcher
ist der Rückfall in die civilistischen Anschauungen, von denen man sich eben
frei machen will. Sie ist das Eingeständniß, daß dem Rechtsgefühl der im
Verwaltungsdienst heranwachsenden Männer nicht in vollem Maße Vertrauen
geschenkt wird. Allein, wenn dies Vertrauen fehlt, gebietet die Consequenz,
es nicht nur theilweise, sondern vollständig zu versagen. Was soll überhaupt
dieser Bruchtheil bürgerlicher Richter inmitten der Mehrheit von Verwaltungs»
richtern? Die Mitglieder des Bundesamts sind öffentliche Richter: wer das
Richteramt mit Sinn und Augen des bürgerlichen Richters üben wollte,
würde ebenso falsch handeln, wie wenn er die allgemeinen Gesichtspunkte
des Richters in die Thätigkeit des Verwaltungsbeamten zu übertragen dächte,
Erkennt man das Bestehen einer Verwaltungsrechtspflege an, so ist es auch
nothwendig, ihre Eigenart anzuerkennen und diese liegt in der besonderen
Weise der Rechtsprechung. Die Verwaltungsrechtsprechung unterscheidet sich
von der bürgerlichen Rechtsprechung, wie sich diese wieder von der pein¬
lichen Rechtsprechung unterscheidet. Daß aus dem Obertribunal Richter, die
mit dem Verspruch öffentlichrechtlicher Sachen betraut sind, in den Heimaths-
gerichtshos treten, ist dabei natürlich in keiner Weise ausgeschlossen. Es kann
sich nur wiederholen, was erst vor kurzem bei Besetzung des Bundesober¬
handelsgerichts eintrat. Wie hier die Specialisten des Handelsrechts heraus¬
gehoben wurden, müssen für den Heimathsgerichtshof Kapacitäten des öffent¬
lichen Rechts ausgewählt werden. Diese sind unzweifelhaft unter den bürger¬
lichen Richtern zu finden und wir geben zu, daß es, namentlich für den
Anfang, wünschenswert!) ist, Richter mit civilistischer Durchbildung im Bun¬
desamt für das Heimathswesen zu sehen. Wozu dies aber in bindender
Weise vorschreiben? Wozu nicht die Zeit Erfahrungen sammeln lassen und erst
dann, wenn diese Erfahrungen für eine Einschränkung sprechen, die Ein¬
schränkung einführen? Ueberall und namentlich im Bunde strebt man dar¬
nach, überflüssige Formen zu vermeiden: warum will man bei einem Organ
anders verfahren, dessen Wirken sich keineswegs mit Sicherheit vorausbe¬
rechnen läßt?
Der eine Punkt, den wir an dem Gesetzentwurf der Reichstagseommission
auszustellen haben, ist die beabsichtigte Zusammensetzung des Heimathsgerichts-
hofes. Der zweite Punkt betrifft den Mangel einer Staatsanwaltschaft.
Der Werth der Staatsanwaltschaft wird allerdings in Zweifel gezogen.
Aber die Klagen, die laut werden, richten sich gegen diese und jene mißbräuch¬
liche Ausartung, gegen diese und jene unrichtige Gestaltung des Amts, sie steigern
sich nur selten zu dem Verlangen, das Amt wieder zu beseitigen. Die Staats¬
anwaltschaft gehört im Ganzen zu den neuen Einrichtungen, die rasch Wurzel
gesaßt haben und in das Volksbewußtsein übergegangen sind. Ihre Unent-
behrlichkeit für die Verwaltungsrechtspflege ist in Frankreich wie in Baden
— dem der bairische Entwurf nachahmen will — anerkannt worden. Um
so zweifelhafter ist die Gestaltung der Staatsanwaltschaft bei den öffentlichen
Gerichtshöfen. In Frankreich ist die Besorgung der Geschäfte Requeten-
meistern übertragen. Die Einsetzung einer selbständigen Generalproeuratur
des Staatsraths gehört seit langen Jahren in das Bereich der Wünsche, ohne
daß der Grund, warum sie vermißt wird, ersichtlich ist. Ob blos finanzielle
oder noch andere Rücksichten im Spiele, steht dahin. In Baden ist ein
anderer Weg eingeschlagen worden. Jedes Ministerium ordnet in den
Sachen seines Ressorts einen „Vertreter des öffentlichen Interesses" ab, der
das Amt des Staatsanwalts für den einzelnen Fall beim Verwaltungs¬
gerichtshof übt und den Instruktionen seines Ressortchefs folgt. Das Amt
ermangelt dadurch leicht der Selbständigkeit, die gerade für die Staatsan¬
waltschaft angestrebt wird. Indeß scheinen die praktischen Ersahrungen nicht
gegen die Einrichtung zu sprechen, eher ließe sich aus ihnen auf die Ent¬
behrlichkeit der Staatsanwaltschaft ein Schluß ziehen. Die seitherige Gesetz¬
gebung wies dem Verwaltungsgerichtshof als Hauptbestandtheil seiner Thätig¬
keit die Entscheidung über Bürgeraufnahmesachen zu, Fragen, wo es mit
dem besten Erfolge eingewirkt hat, weil es zwischen einer nicht mehr zeitge¬
mäßen Gesetzgebung und den drängenden Anforderungen des Lebens gedeihlich
vermitteln konnte und zu vermitteln wußte. Die Praxis stellte sich jedoch
in diesen Sachen rasch fest und die Vertreter des öffentlichen Interesses
pflegen in neuerer Zeit nur noch zu erscheinen, wo es die Natur des Falls
nöthig macht. Wesentlich ist ihre persönliche Theilnahme an den stets öffent¬
lichen Sitzungen des Verwaltungsgerichtshofes nicht.
Für den Bund ist ein Moment von maßgebender Bedeutung. Die
Thätigkeit der Staatsanwaltschaft fällt unter die dem Präsidium übertragene
Ueberwachung der Bundesgesetze und es scheint nothwendig, daß das Amt
wenigstens in oberster Instanz nicht vom Bundesrat!), der nach dem Ent-
Wurf auch die Mitglieder des Heimathsgerichtshofs vorschlagen soll, besetzt wird.
Wie es besetzt wird, ist für den Anfang wohl dem freien Ermessen der
Bundesregierung zu überlassen. Am nächsten liegt, ein Mitglied des Bundes¬
kanzleramts mit der Aufgabe zu betrauen. Doch wäre im Interesse der
Fortbildung des norddeutschen Verwaltungsrechts wünschenswerth, andere
Möglichkeiten nicht auszuschließen. Warum soll z. B. nicht der Versuch ge¬
macht werden, für die Vertretung präjudicieller Fälle einen so eminenten
Kenner wie Gneist zu gewinnen? Jedenfalls können wir in Deutschland, da
Frankreich nach so langen Jahren noch nicht zur Ausstellung eines beson¬
deren Amts gediehen, für das erste auch aus dasselbe verzichten.
Die Prästdialeigenschaft der Staatsanwaltschaft führt noch auf die Ein¬
räumung selbständiger Parteirollen an die Bundesregierungen. Die Bundes¬
regierungen treten in den Heimathsstreitigkeiten nur, wenn ihre Staaten Land¬
armenverbände bilden, als Partei auf. Offenbar ist es aber für sie von
hohem Interesse, auf die Entscheidung von Streitfragen in oberster Instanz
einwirken, ihre von den Anschauungen des Präsidiums möglicherweise ab¬
weichende Auffassung unabhängig zur Geltung bringen zu können. Unge¬
bührliche Weitläufigkeiten brauchen dadurch nicht zu entstehen. Die Eigen¬
schaft als Regierungsvertreter wird überflüssige Erörterungen von selbst
ausschließen. Fraglich kann scheinen, ob die Vertretung blos den Bundes¬
regierungen, deren Armenverbände in Streit begriffen sind, oder allen Bun¬
desregierungen zuzugestehen sei. Indeß hat die letztere Modalität wohl überall
wenig praktische Bedeutung, wenn man annimmt, daß die Anschauungen des
Präsidiums und der preußischen Regierung sich voraussichtlich stets decken
werden.
Ein dritter Punkt, den wir hervorheben wollen, berührt nicht die
Organisation, sondern das Verfahren vor dem Heimathsgerichtshof. Die
Bestimmungen des Gesetzentwurfs der Reichstagscommission skizziren das
Verfahren für die Heimathsstreitigkeiten in oberster Instanz, halten jedoch
streng an der Schriftlichkeit und Heimlichkeit fest. Das Unzeitgemäße
dieser Regelung, die im Widerspruch mit den Bestrebungen auf dem Ge¬
biet der Rechtspflege steht und sich namentlich im Gegensatz zu dem in der
Gewerbeordnung eingeführten öffentlich-mündlichen Verfahren für gewisse
Gewerbesachen befindet, liegt auf der Hand. Legen wir mit Recht so viel
Werth auf die öffentliche Handhabung der Strafrechtspflege, wie sollen wir
die Öffentlichkeit entbehren wollen, wo die Natur der Streitgegenstände sie
noch mehr oder wenigstens in gleichem Grade zu fordern scheint? Nur die
Ungewohnheit einer gerichtlichen Behandlung dieser Sachen, die Neuheit
der Verwaltungsrechtspflege kann die im Entwurf getroffenen Bestimmungen
veranlaßt haben.
Die Thätigkeit des Bundesamts für d as Heimathswesen scheint die her¬
kömmliche der Collegialbehörde sein zu sollen. Empfiehlt es sich an diesem
Herkommen festzuhalten? oder wäre es nicht räthlicher, das für die Schwur¬
gerichte eingeführte System periodischer Sitzungen, seien es Monats- oder
Zweimonatssitzungen, in Anwendung zu bringen? Der Geschäftsumfang des
Heimathsgerichtshofs entzieht sich jeder Vorausberechnung, und die Noth¬
wendigkeit fortlaufender Sitzungen läßt sich vorläufig nicht absehen. So
dringlich dürsten die Streitigkeiten zumeist nicht sein, um nicht einen Aufschub
von wenig Wochen zu vertragen. Die Periodicität der Sitzungen würde
einen wesentlichen Einfluß auf die Besetzung des Gerichtshofs äußern können.
Der Vorsitzende und die drei Mitglieder, die zur Abfassung einer giltigen
Entscheidung — gleichviel ob sie interlocutorischer Natur — nöthig sein
sollen, müssen dauernd angestellt werden und dauernd am Sitze des Hoff
(Berlin) gegenwärtig sein. Die übrigen Mitglieder — nehmen wir an, die
Beschlußfähigkeit würde auf die Zahl von 7 Richtern erhöht — können
beim periodischen Zusammentritt des Hoff, etwa jährlich, ernannt und damit
dem stabilen Element der ständigen Richter ein mobiles Element beigesellt
werden, das auf die Frische und Lebenstreue der Entscheidungen nützliche
Wirkung zu üben vermag. Die Beständigkeit der Spruchpraxis braucht
darunter nicht zu leiden.
Die Gestaltung der Bundesverfassung bringt es mit sich, daß das Bun¬
desamt für das Heimathswesen die letzte Instanz bildet, gegen deren Ent¬
scheidungen kein Rechtsmittel zusteht. Welches Organ außer dem Bundesrath
sollte über das Rechtsmittel befinden? und dieser wird ja gerade als ungeeignet
für verwaltungsgerichtliche Entscheidungen bezeichnet. Die Bestimmung ergibt
sich wie von selbst. Dennoch ist sie wichtig genug, um ihrer ausdrücklich zu
gedenken, und sie zeigt, wie der Bund auch in dieser Frage die volle Consequenz
zu ziehen weiß, während der badische Gesetzgeber noch eine Nichtigkeitsbe¬
schwerde gegen Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofs an das Staats¬
ministerium (als Competenzgerichtshof) zuläßt. Das Rechtsmittel, von dem
nur in sehr wenigen Fällen Gebrauch gemacht worden ist, hat das Ansetzn
des Karlsruher Verwaltungsgerichtshofs nicht geschädigt, es kann aber immer¬
hin eine Gefährdung der Unabhängigkeit der Verwaltungsrechtspflege in sich
schließen.
Der Fortschritt deutscher Strafgesetzgebung scheint sich nach dem Ent-
würfe des Bundes-Strafgesetzbuchs, wie er aus der zweiten Lesung des Reichs¬
tages hervorgegangen ist, hauptsächlich in drei Richtungen vollziehen zu sollen:
durch die Abschaffung der Todesstrafe, durch gesetzliche Regelung der Voll-
streckung von Freiheitsstrafen, — worauf sich die vom Reichstage zum § 19 der
Vorlage angenommene Resolution bezieht — und durch mildere Bestrafung
einzelner Verbrechen und Vergehen. Es gibt aber noch andere Bestimmun¬
gen der deutschen Strafgesetze, welche der Reform bedürfen, die ihnen, wie es
scheint, dieses Mal noch nicht zu Theil werden soll. Während der Streit
über die Todesstrafe die Kämpfenden erregt, schlüpfen gewisse geringere Straf¬
arten weniger beachtet aus dem alten Gesetze in das neue hinüber. Zwar
über die Geldstrafe ist im Reichstage mit Einsicht gesprochen worden.
Sie mag das geeignete Mittel zur Ahndung einer im Verbrechen hervorge¬
tretenen gewinnsüchtigen Absicht sein. Aber sie findet in unseren Strafge¬
setzen eine weit allgemeinere Anwendung, namentlich bei den Übertretungen,
obwohl es gewiß ist, daß sie den Thäter, je nach seinem Vermögen, mit
höchst ungleicher Wirkung trifft. Selbst wenn es möglich wäre, die Strafe
in jedem Falle nach dem Verhältniß des Vermögens abzumessen, — was
natürlich nicht möglich ist, — so würde dadurch die Ungleichheit keineswegs
gehoben sein. Denn der Arme bezahlt die Geldbuße von seinem nothdürf¬
tigen, der Reiche von seinem Ueberflusse. Es ist unrichtig, daß die Geldbuße
schlechthin die gelindeste Strafe sei. Der Arme wandert lieber in das Ge¬
fängniß, als daß er darbt. Da nun auch, wenn er die Mittel zur Erlegung
der Geldstrafe nicht besitzt, die Freiheitsstrafe an deren Stelle tritt, so
wird für ihn die letztere die allgemeine, während doch die Freiheit für ihn
denselben Werth hat, wie für den Vermögenden.
Eine andere Strafart von zweifelhafter Berechtigung ist der Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte. Sie tritt im EntWurfe nicht als selbständige
Strafe, sondern als sogenannte Nebenstrafe auf. Die Verhängung derselben
soll in jedem einzelnen Falle dem Ermessen des Richters überlassen bleiben.
Sie kann verhängt werden neben der Todesstrafe (nach der Bundespräsidial-
vorlage), der Zuchthausstrafe und einer auf mindestens drei Monate er¬
kannten Gefängnißstrafe, neben der letztgedachten jedoch nur in den vom
Gesetze vorgesehenen Fällen, oder wenn die Gefängnißstrafe in Folge der An-
nähme mildernder Umstände an die Stelle der Zuchthausstrafe tritt. Ihre Dauer
beträgt neben der Zuchthausstrafe mindestens zwei und höchstens zehn Jahre,
neben der Gefängnißstrafe zwischen einem und fünf Jahren. Die Wirkung
tritt mit der Rechtskraft des Urtheils ein, die Zeitdauer aber wird von da
ab berechnet, wo die Freiheitsstrafe verbüßt, verjährt oder erlassen ist. Die
Wirkungen bestehen in dem dauernden Verlust der aus öffentlichen Wahlen
hervorgegangenen Rechte, der öffentlichen Aemter, Würden, Titel, Orden und
Ehren, (der Verlust der Ruhe- und Gnadengehalte entlassener Beamten ist
vom Reichstage gestrichen), ferner in der Unfähigkeit, während der Zeitdauer,
auf welche diese Strafe erkannt ist, die Landeskokarde zu tragen, in das Bun¬
desheer oder die Bundesmarine einzutreten, öffentliche Aemter, Würden, Titel,
Orden und Ehrenzeichen zu erlangen, in öffentlichen Angelegenheiten zu stim¬
men, zu wählen, gewählt zu werden oder andere politische Rechte auszuüben,
endlich Vormund, Nebenvormund, Kurator, gerichtlicher Beistand oder Mit¬
glied eines Familienraths zu sein, es sei denn, daß es sich um Verwandte
absteigender Linie handle und die obervormundschaftliche Behörde oder der
Familienrath die Genehmigung ertheile. — Man sieht, daß es wichtige Rechte
sind, deren der Verurtheilte verlustig geht, wichtig nicht allein durch den
Werth, welchen ihnen die Ehrliebe und der Patriotismus der Bürger bei¬
legt, sondern auch durch die Beschränkung der materiellen Erwerbsfähigkeit,
mit welcher der Verlust derselben verknüpft ist. Es verlohnt sich daher, den
inneren Grund und die Stellung dieser Strafart im Systeme unserer Straf¬
gesetze näher zu beleuchten.
Daß die Ehre, welche in der Werthschätzung der Mitbürger beruht, kein
Gut sei, das vom Richter abgesprochen werden könne, darüber dürfte allge¬
meines Einverständniß herrschen. Der Richter kann den Grad der Achtung
nicht bestimmen, welchen Jemand fortan in der öffentlichen Meinung ge¬
nießen soll, sondern er kann sich höchstens zum Organ der öffentlichen Mei¬
nung machen und das Verdikt wiederholen, welches diese über die Ehre des
Verbrechers bereits gefällt hat. Allein wenn er dies thäte, so würde sein
Ausspruch im besten Falle, wenn er nämlich das Urtheil der öffentlichen Mei¬
nung richtig wiedergäbe, überflüssig sein, da dieses Urtheil, um wirksam zu
sein, nicht erst der richterlichen Bestätigung bedarf; im andern Falle, wo der
Richter die öffentliche Stimme nicht trifft, würde sein Spruch wirkungslos
verhallen. Indessen, um die Ehre schlechthin handelt es sich auch nicht in
dem richterlichen Erkenntnisse, durch welches dem Angeklagten die bürgerlichen
Ehrenrechte abgesprochen werden. Zwar muß der Richter hierbei die Ge¬
sinnung des Angeklagten, wie sie sich in dem begangenen Verbrechen kund
gibt, seiner Beurtheilung unterziehen, aber die bewiesene Ehrlosigkeit der Ge-
sinnung ist nicht selbst der Gegenstand, sondern nur der Grund seines Aus-
spruchs. welcher auf den Verlust gewisser Rechte gerichtet ist, deren Ausübung
durch eine ehrenhafte Gesinnung bedingt gedacht wird. Die Möglichkeit einer
von der öffentlichen Stimme abweichenden Beurtheilung durch den Richter
ist auch hier vorhanden. Aber wirkungslos ist das Erkenntniß keinesfalls,
und es könnte gesagt werden, daß es unerläßlich sei, selbst wenn der Richter-
spruch in vereinzelten Fällen sich von der, im Punkte der Ehre untrüg¬
licheren vnx xoxnli entferne, dennoch Menschen von ehrloser Gesinnung vom
Genusse solcher Rechte auszuschließen, welche ihnen ohne Schädigung des Ge¬
meinwohls nicht anvertraut werden können.
Der Verlust der Ehrenrechte ist keine Strafe im eigentlichen Sinne. Denn
man mag über den Strafzweck denken, wie man will, man mag in der
Strafe die Vergeltung des Unrechts, oder die Sühne desselben, oder ein Ab¬
schreckungsmittel sehen, in jedem Falle bleibt sie ein vom Gesetze für die Be¬
gehung gewisser Handlungen angedrohtes Uebel. Der Verlust der Ehren¬
rechte knüpft sich aber nicht an die Handlung des Verbrechers, sondern an
seine Gesinnung, und hat zu seiner Voraussetzung die Annahme einer Fort¬
dauer der durch die Handlung bekundeten ehrlosen Gesinnung in der Zu¬
kunft. Es ist ein Unding, eine Strafe auszusprechen für die zukünftige Ge¬
sinnung des Verbrechers. Nicht minder widerspricht es dem Charakter der
Strafe, daß der Verlust der Ehrenrechte als eine mit der bewiesenen Un-
Würdigkeit in ursächlichen Zusammenhange stehende Folgerung aus derselben
auftritt., Die Strafe wird verhängt auf Grund des Gesetzes und nur kraft
desselben. Erst dadurch, daß eine That vom Gesetze mit Strafe bedroht
wird, wird sie eine strafbare Handlung. Die Geldbuße, die der Thäter er¬
legt, die Freiheitsstrafe, die er erduldet, steht in keinerlei logischer Beziehung
zu seiner That, der Zusammenhang zwischen dieser als Ursache und jener als
Wirkung wird erst durch das Gesetz künstlich geschaffen. Anders ist es mit
dem Verluste der Ehrenrechte. Zwar muß, um darauf erkennen zu können,
gleichfalls ein Gesetz vorhanden sein. Aber der Unterschied besteht darin, daß
hier der Gesetzgeber den ursächlichen Zusammenhang nicht erst schafft, sondern
nur ausspricht. Die Unfähigkeit des Verbrechers zur Ausübung der Politik
schen Rechte liegt vor, mit und ohne das Gesetz. Es mangeln ihm die noth¬
wendigen Bedingungen desselben. Dies ist der Sinn und Grund des Ge¬
setzes, und von einer Strafe kann hierbei ebensowenig die Rede sein, wie
etwa die Zurückweisung der Bewerbung um ein Amt wegen Mangels der
nöthigen Kenntnisse oder anderer Erfordernisse sich als eine Strafe dieses
Mangels auffassen läßt.
Es ist nicht zu bestreiten, daß das Gemeinwohl dabei gewinnen würde,
wenn die ehrlose Gesinnung von den öffentlichen Aemtern, von der Ge¬
schworenenbank und von dem Vertrauensamt eines Vormundes ausgeschlossen
blieb. Aber es würde ein Irrthum sein, zu glauben, daß dieser Zweck durch
die Bestimmungen des Strafgesetzes auch nur annähernd erreicht werden
könne. Wir sprechen hier nicht von den vielen unentdeckten Verbrechen, um
uns nicht dem Vorwurfe auszusetzen, daß wir die UnVollkommenheit aller
menschlichen Einrichtungen außer Acht ließen. Allein die Erreichung jenes
Zweckes wird vor Allem durch das Bestehen des Strafgesetzes selbst verhin¬
dert. Denn worauf beruht dieses und wie wirkt es? Es soll durch die
Furcht vor der Strafe, die es verbreitet, ein Mittel zur Sicherung der ge¬
sellschaftlichen Ordnung sein. Die hochtönenden Theorien, welche den Straf¬
zweck in der Wiederherstellung des verletzten Rechts durch die sühnende Macht
der Strafe sehen, haben in den praktischen Köpfen unserer Gesetzgeber
sich durchaus noch nicht einzubürgern vermocht und werden es schwer¬
lich jemals vermögen, weil sie! als Grundlage zur Herstellung eines
Strafgesetzes völlig unbrauchbar sind; wie es denn auch anerkannt werden
muß, daß der Reichstag in seinen Berathungen über den Entwurf des Straf¬
gesetzes sich von ihnen fern gehalten hat. Zweck des Strafgesetzes ist, durch
die Furcht vor der Strafe in den Bürgern ein wirksames Gegengewicht
gegen diejenigen Motive zu schaffen, welche zur Begehung von Handlungen
drängen, die mit der gesellschaftlichen Ordnung unverträglich sind. Auch
sind wir keineswegs der oft gehörten Ansicht, daß dieses Gegenmotiv
deshalb unwirksam sei, weil diejenigen, welche eines Verbrechens fähig und
dazu geneigt seien, sich der Hoffnung hingäben, daß die That unentdeckt
bleiben werde, oder weil sie auch wohl in ihrer blinden Leidenschaft an die
Strafe gar nicht dächten. Voraussetzung der Wirksamkeit des Strafgesetzes
ist freilich, daß dessen Organe nicht machtlos seien, und daß sie das Ver¬
brechen mit Klugheit und Energie verfolgen. In Zeiten, wo sie sich ohn¬
mächtig oder unfähig zeigen, den Thäter zur Rechenschaft zu ziehen, wächst
das Verbrechen rasch empor; aber in geordneten Zuständen ist das Gesetz ein
wohlthätiger Zwang, unter welchem die Menschen sich gewöhnen, ihre Hand¬
lungen in Einklang zu bringen mit den Anforderungen staatlicher Ordnung. —
Wenn dem so ist, so leuchtet es auch ein, daß unter denjenigen, welche ihrer
Gesinnung nach verbrecherischer Handlungen wohl fähig sind, die wirklichen
Verbrecher den kleinsten Theil bilden. Neben denen, welche sich durch den
Zwang des Gesetzes vom Verbrechen nicht abhalten lassen, gibt es weit mehr
Menschen, welche in gleicher Gesinnung und weder von Motiven der
Moral noch der Ehre geleitet, dennoch aus Furcht vor der Strafe das Ver¬
brechen meiden. Ihre Handlungsweise geht bis hart an die Schranken des
Strafgesetzes und enthält oft Dinge, welche von der öffentlichen Meinung ge¬
brandmarkt werden, aber sie verstößt nicht gegen das Strafgesetz, welches, da
es kein Codex der Moral oder der Ehre ist, der Bethätigung einer für un¬
ehrenhaft gehaltenen Gesinnung noch genug freien Spielraum läßt.
Hiernach wird man es begreifen, wenn wir die Frage aufwerfen, ob
denn diese Materie überhaupt in das Strafgesetz hineingehöre? In diesem
wird sie vom Gesetzgeber nur mittelst einer Abschweifung vom eigentlichen
Strafgebiete und nur, so zu sagen gelegentlich, insoweit behandelt, als ihn
sein Weg hart daran vorüberführt. Der Wald von Unkraut, der sich rechts
und links ausbreitet, bleibt unberührt. Die Ausschließung Ehrloser vom
Genusse der Ehrenrechte ließe sich höchstens durch ein Gesetz über die Aus¬
übung der staatsbürgerlichen Rechte erreichen, in welchem, unabhängig vom
Strafgesetze, die Criterien der Zulassung zu diesen Rechten, das Verfahren
und der Gerichtshof, der darüber zu entscheiden hat. bestimmt würden.
Indessen sind wir es nicht, die einem solchen Gesetze das Wort reden.
Denn es dünkt uns verwerflich, über die Gesinnung eines Menschen zu Ge¬
richte zu sitzen. Das Innere des Menschen entzieht sich dem Blicke des
Richters, und nicht zuverlässige Beweise, sondern Vermuthungen sind es. die
er seinem Urtheile zu Grunde legt. Man spricht von einer durch die Hand,
lung selbst bekundeten UnWürdigkeit der Gesinnung. Aber die Handlung
läßt nur die Richtung des Willens, also die Absicht der Handelnden, deutlich
und mit Zuverlässigkeit erkennen; über die dahinter liegenden Motive, durch
welche die Richtung des Willens bestimmt worden ist, gibt sie unmittelbar
keinen Aufschluß, da dieselbe Handlung aus den verschiedenartigsten Motiven
hervorgegangen sein kann, diese letzteren auch häufig so vielfach verschlungen
sind, daß ^sie dem Handelnden selbst nicht einmal zum vollen Bewußtsein
kommen. Zwar der Criminalrichter pflegt mit dem Urtheile über das Motiv
des Verbrechens schnell fertig zu werden; er spricht gemeinhin nur von einem
einzelnen Motiv und findet dasselbe bald in Rache, bald in Habgier u. s. w,
Aber dieses Urtheil im Munde des Criminalrichters hat nur den Zweck,
eine Erklärung für die That zu geben, es steht im Zusammenhange mit
der Ermittelung des objectiven und subjectiven Thatbestandes, indem
der Beweis der That sowohl, als der Thäterschaft oft eine wesentliche
Lücke hat. so lange nicht erklärt ist, was den der That Verdächtigen zu
derselben bewogen haben kann. Auch ist jenes Nächstliegende Motiv meistens
leicht zu finden. Aber in der Aufdeckung desselben soll und kann ein Urtheil
über den sittlichen Werth der Handlung nicht liegen. Regungen des Hass-s,
der Habgier oder welcher schlechten Leidenschaft immer verdienen an sich kein
Verdammungsurtheil, weil sie von der menschlichen Natur untrennbar sind.
Wenn sie zum Verbrechen geführt haben, so hat freilich das Schlechte im
Menschen den Sieg über seine edlere Natur davongetragen, und es ist dar¬
über nicht zu streiten, daß der Verbrecher sich im Conflict mit dem Sitten-
gesetze befindet. Aber nicht das abstrakte Sittengesetz, dem Niemand gerecht
wird, sondern nur der durchschnittliche sittliche Werth der Menschen, wie sie
sind, kann dem Richter zum Maßstabe dienen; und wenn er schon zur Be¬
stimmung dieses Maßstabes lediglich auf sein eigenes unklares Gefühl und
eine ungenügende Erfahrung angewiesen ist, so sind die thatsächlichen Grund¬
lagen seines Spruchs noch mangelhafter. Er kann weder alle die vorange¬
gangenen und begleitenden Umstände genau kennen, welche den Thäter zu
dem gemacht haben, als was er sich nun zeigt, und in seinem Seelenkämpfe
den endlichen Entschluß bewirkten, noch kann er die Einwirkung vollkommen
würdigen, welche die äußeren Umstände, wie sie lagen, auf den Thäter ver¬
möge seiner besonderen intellectuellen Eigenschaften haben mußten. Denn
es ist gewiß, daß zwei Menschen von verschiedener Einsicht, aber völlig gleichem
Charakter, — wenn eine solche Gleichheit denkbar wäre, — unter denselben
Umständen ganz verschieden handeln würden, unbeschadet des völlig gleichen
moralischen Werths ihrer Handlungsweise, welcher sich nicht durch die Intelli¬
genz, sondern durch den Charakter bestimmt. Wenn also die Frage, welche der
Richter sich vorzulegen hat, nothwendig die ist: wie ein Mensch von durch¬
schnittlicher, so zu sagen normaler Sittlichkeit in gleicher Lage gehandelt
haben würde, so ist diese Frage mit Sicherheit nicht zu beantworten. Demgemäß
ist das Urtheil über den in einer Handlung sich aussprechenden moralischen
Charakter ein durchaus schwankendes und nicht frei von subjectiven Einge¬
bungen. Sehen wir doch, daß Menschen, die sich aus langem Umgänge
kennen, dennoch oft genug Veranlassung finden, ihr Urtheil über einander zu
ändern und zu berichtigen/
Eine bessere Kenntniß von dem Charakter eines Andern belehrt uns oft,
daß unser erstes Urtheil über eine Handlung desselben übereilt war, und selbst
Menschen, die unseren Abscheu erregen, erscheinen uns wohl, wenn wir ihren
ganzen Lebensgang und alles Vorangegangene kennen lernen, weniger schlecht,
als unglücklich. Wie kann da dem Richter zugemuthet werden, aus einer
einzelnen, ihm keineswegs mit allen auf den Thäter einwirkenden Umständen
vorliegenden Handlung den Gesammtcharakter eines Menschen zu beurtheilen?
Wird er gleichwohl durch das Gesetz gezwungen, sein Verdict hierüber abzu¬
geben, so ist derjenige Richter schlimm daran, welcher an der Ueberzeugung
festhält, daß Niemand in das Innere eines Andern blicken könne. Durch den
Entwurf des Strafgesetzbuchs wird ihm indessen noch mehr zugemuthet. Er
soll sich sogar, was uns ganz unmöglich dünkt, darüber schlüssig machen, wie
lange der Verbrecher in seiner ehrlosen Gesinnung verharren werde, denn
hiernach muß er die Dauer des Verlustes der Ehrenrechte abmessen. Sollte
aber nicht mit der im EntWurfe durchgeführten Beschränkung des Verlustes
der Ehrenrechte aus eine bestimmte Zeitdauer und mit der Abschaffung des
lebenslänglichen Ehrverlustes schon ein Anfang der Reform gemacht sein,
deren Ziel und Ende in der gänzlichen Aufhebung der Bestimmungen über
den Verlust der politischen Rechte wegen bewiesener UnWürdigkeit bestehen
dürfte?
Wenn man uns entgegenhalten wollte, daß wir es selbst für wünschens-
werth erklärt haben, die Theilnahme an den politischen Rechten von der
Würdigkeit der Gesinnung abhängig zu machen, so erwiedern wir, daß der
Zwang des Gesetzes nicht zur Erreichung jedes an sich wünschenswerthen
Zweckes das geeignete und taugliche Mittel ist; und wenn man ferner unter
den politischen Rechten einige, wie den Dienst im Heere und die Bekleidung
öffentlicher Aemter hervorheben will, deren Genuß denjenigen schlechterdings
versagt bleiben müsse, welche in allgemeiner Mißachtung stehen, schon des¬
halb, weil das Gefühl der Berufsgenossen geschont werden müsse, so geben
wir dies völlig zu, sind aber der Meinung, daß es, um dies zu erreichen,
keines Richterspruchs über den Werth oder Unwerth des sittlichen Charakters,
sondern nur eines von einem Standesgericht zu fällenden Verdicts auf Grund
der alleinigen Thatsache der verlorenen Achtung der Standesgenossen bedürfe.
Mit besonderer Freude nehmen wir aus der zuerst angezeigten neuen
Schrift Veranlassung, der Thätigkeit des verdienstvollen Gelehrten zu gedenken,
welcher als werther Mitarbeiter d. Bl. auch einem größeren Publicum
die Resultate der neuen Forschungen im Gebiete der biblischen Literatur
dargestellt hat.
Zunächst berichten wir über die neue Inschrift, denn diese Inschrift ist
für die Alterthumswissenschaft von einer Wichtigkeit welche weit über ihren
lehrreichen Inhalt hinausgeht.
Für die bedeutendsten Reste semitischer Inschriften galten bis jetzt die
im Jahre 1848 in der Altstadt von Marseille aufgefundene Phönikische
Opfertafel und die gleichfalls Phönikische Inschrift des 1835 in der Nähe
von Sidon entdeckten Sarkophags Königs Aschmunezer's, erstere jedenfalls
aus der Zeit vor Ausbruch der römisch-karthagischen Kriege, letztere in das
vierte vorchristliche Jahrhundert gesetzt. — Ungleich größeres Interesse aber
hat schon durch ihr hohes Alter die kürzlich zu Dhiban, dem alten Dibon
im Moabiterlande jenseit des Todten Meeres gefundene Inschrift auf der
Stele des Moabiterkönigs Mesa, an deren Echtheit durchaus nicht zu
zweifeln ist. Ein Deutscher, Herr G. Grove. hat den Stein zuerst ge¬
sehen, aber er hat einem Franzosen, Herrn Charles Clermont - Ganneau,
Dragoman-Kanzler des französischen Consulats zu Jerusalem, die Ehre und
das Verdienst gelassen, mit großen Schwierigkeiten den Text dieser Inschrift
für die Wissenschaft gerettet und zuerst gedeutet zu haben. Leider wurde
der erste Abklatsch, den Herr Ganneau durch einen Araber von dem Steine
nehmen ließ, in Folge eines Streites mit dem Beduinenstamm der Beni-
Hamiden, der Eigenthümer des Steines, nur in Fetzen gerettet; und als man
darauf Anstrengungen machte, die Stele selbst zu erwerben, zersprengten jene
Beduinen, entweder aus Widerwillen gegen die Einmischung der türkischen
Negierung, oder in dem gewöhnlichen Aberglauben der Orientalen, daß die
geheimnißvolle Inschrift dem Kundigen Zauberwissen und Schätze offenbare,
den Stein durch Feuer und kaltes Wasser in mehrere Stücke. Doch gelang
es den Beauftragten Ganneau's von den zwei größten Bruchstücken einen
Bürstenabzug zu nehmen und in den Besitz mehrerer kleiner Bruchstücke
und später sogar des ganzen obern Fragments selbst zu gelangen, so daß
die Lücken der Inschrift nicht allzu bedeutend sind. Auch soll Hoffnung sein,
das größte Trümmerstück des untern Theils zu retten. — Die Stele war
ein bläulich-schwarzer Basalt von ungefähr 1 Meter Höhe und 60 Centimeter
Breite und Dicke, die Inschrift in 34 Zeilen, meist sehr deutlich, die Wörter
durch Punkte, die Sätze durch Striche getrennt. Das erste Facsimile wurde
von Graf de Vogue' veröffentlicht: I.g> stsls as Hlesa, roi as Noad 896
avant is. L. — I^velle ü, N. Is (üomts as Voguö par Vn. <A6rmvnt-6a.ni!eg,u,
?g.ris 1870, ein viel vollständigeres von Ganneau in dem Märzheft der
„Revue Arche'ologique" von 1870. Ueber die Inschrift wurde gehandelt von
Emanuel Deutsch in der Times und von Renan. Bei uns erschienen eine
Abhandlung des schon um die Entzifferung der Inschrift Aschmunezer's ver¬
dienten Professor Schlottmann in dem Osterprogramm der Universität Halle-
Wittenberg: Die Siegessäule Mesa's, Königs derMoabiter, Halle 1870 —dann
eine Besprechung von Neubauer in Fränkel's Monatschrift, jetzt die Abhand¬
lung Rottele's. Letztere Schrift gibt die Geschichte der Auffindung, eine
Transscription und Uebersetzung der Inschrift nebst Commentar und eine
Darstellung ihrer geschichtlichen wie philologischen Bedeutung. Wir lassen
hier die Uebersetzung folgen, die Rottele von den 33 ersten Zeilen gibt —
die letzte vierunddreißigste ist unlesbar — wobei die Lücken mit Punkten
bezeichnet, die kleineren zuverlässigenMgänzungen in den Text aufgenom-
men sind:
„Jch bin Mesa, Sohn des Kamos . . . König von Moab aus Dibon.
Mein Vater hat geherrscht über Moab 30 Jahre und ich habe geherrscht
nach meinem Vater und diesen Altar dem Kamos angelegt auf der Fläche..
weil er mir half aus allen Nöthen (?) und weil er mich sehn ließ das Un¬
glück aller meiner Feinde.Es erhob sich Omri, König von Israel, und drückte Moab lange Tage,
da Kamos zürnte auf sein Land.Und ihm folgte sein Sohn und sprach gleichfalls: „ich will Moab
drücken."In meinen Tagen sprach er. . . , und ich sah sein und seines Hauses
Unglück, und Israel geht auf ewig zu Grunde.Und Omri nahm ein das Land Medaba und er lag darin .... sein
Sohn 40 Jahre lang, und zurück gab es Kamos in meinen Tagen.Und ich baute Baal Meon und legte darin an ... .
Und ich lzog gegen?Z Kirjathaim, aber die Männer von Gad wohnten
im Lande iKirjathaim?1 von Urzeit her. Und es befestigte sich der König
von Israel Mrjathaim?) und ich stritt wider die Ringmauer und nahm sie
ein und brachte um Alle, die da lagen in der Ringmauer zur Augenweide
für Kamos und Moab.Und ich führte von dort zurück ... sie vor Kamos in Kerioth. Und
ich legte in sie die Männer von Saron (?) und die Männer von . . .Und Kamos sprach zu mir: „gehe und gewinne Nebo von Israel."
Und ich . . . ging in der Nacht und stritt dagegen vom Anbruch des
Morgengraus bis Mittag und ich ... . und ich . . . brachte um sie ganz,
siebentausend, .... denn dem Uslar-Kamos ward es zur Vernichtung
geweiht . . .Und ich nahm von dort die Geräthe Jahve's (Jehova's) und brachte sie
dar dem Kamos.Und der König von Israel baute Jahaz und legte sich hinein bei
seinem Streit Wider mich und Kamos vertrieb ihn vor mir.Und ich nahm aus Moab 200 Mann, all seine Häupter, und führte sie
nach Jahaz hinauf und nahm es . . . nach Dibon.Ich habe gebaut die Fläche, die Mauer der Waldboden und die
Mauer....Und ich habe gebaut seine Thore, und ich habe gebaut seine Thürme,
und ich habe gebaut den Königspalast und ich habe angelegt die Vorraths¬
häuser (?).... innerhalb der Ringmauer auf der Fläche; da sprach ich zu
allem Volk: „legt euch Jedermann eine Cisterne in seinem Hause an."
Und ich habe den Graben (?) für die Fläche gegraben beim . . Israels.
Ich habe gebaut Aroer und ich habe angelegt die Straße über den Amor.
Ich habe gebaut Beth Bamoth, denn es war zerstört, und ich habe ge¬
baut Bezer, denn (es war zerstört und habe hingeführt?) von den Män¬
nern Dibon's fünfzig, denn ganz Dibon war unterthänig.Und ich habe die Rinder .... die ich gesammelt hatte auf der Erde.
Und ich habe gebaut .... und Beth Diblathaim und Beth Baal
Meon und führte hinaus dorthin ... des Landes und Horonaim; darin
lag. . -Und es sprach zu mir Kamos: „komm, Streite wider Horonaim" und
ich (gewann?) es Kamos in meinen Tagen und . . ."
Der Errichter der Stele, König Mesa, ist derselbe, dessen Kampf mit
Joram von Israel aus der Dynastie Omri's, mit Josophat von Juda und dem
Könige von Eton das Alte Testament, Buch der Könige Cap. 3 berichtet.
Die verbündeten Könige schlagen die Moabiter, verwüsten das Land und
schließen Mesa in Kirchareseth ein. Da sucht der Moabiterkönig in seiner
Bedrängniß den Zorn seines Gottes zu sühnen, indem er seinen erstgebornen
Sohn auf der Stadtmauer zum Opfer darbringt, wie einst Abram in ähn¬
licher Lebensnoth gewollt, und Jephtha mit seiner Tochter nach einem Ge¬
lübde gethan. Und in der That gibt Israel die Belagerung auf und zieht
ab unter dem Zorne Jahve's, der Grauen über Israel sandte dafür, daß es
seinen Feind zu einem so entsetzlichen Schritte genöthigt. — Die Regierungs-
zeit Mesa's und die Kämpfe, welche dieser Katastrophe vorausgingen, findet
Rottele in der Inschrift geschildert und setzt die Abfassung derselben in die
Jahre des Grenzkrieges vor der Belagerung, da diese auf der Stele nicht er¬
wähnt wird. Anders Ganneau, dem Schlottmann beistimme. Da aus der
Stele Josophats und des Edomiterkönigs keine Erwähnung geschieht, die
Moabiter aber nach 2. Kön. 1, 1 schon unter Joram's Vorgänger Ahasja
von Israel abgefallen waren, so nimmt Ganneau an, daß schon Ahasja mit
Mesa Krieg geführt habe, und daß er in der Inschrift als dessen Gegner
gemeint sei, und verlegt die Abfassung unserer Inschrift in das zweite Jahr
des. Ahasja d. i. das Jahr 896 v. Ch. nach der gewöhnlichen Chronologie.
Rottele dagegen erinnert an die Unsicherheit der biblischen Zeitrechnung für
die Königszeit und begnügt sich damit, den Anfang des 9. Jahrhunderts als
Abfassungszeit zu bestimmen. In beiden Fällen enthält dieser Moabitische
Bericht keinen Widerspruch mit dem biblischen, ja. soweit zwei feindliche
Quellen jener Zeit überhaupt zusammenkommen können, eine merkwürdige
Bestätigung des israelitischen Berichts.
Was die Moabitische Sprache der Inschrift betrifft, so schließt sie sich
weit enger an das Biblisch-Hebräische an, als die Sprache irgend einer Phö«
nikischen Inschrift. Wir treffen auf eine Menge specifisch hebräischer Wörter
und finden in dem grammatischen Bau durchaus hebräisches Gepräge. Die
Schriftzüge haben größere Aehnlichkeit mit denen auf althebräischen und
älteren aramäischen Steinen, als mit denen der bekannten Phönikischen In¬
schriften. Und Rottele sagt, „darf man auch nicht behaupten, daß dies
Alphabet grade in jeder Einzelheit das alterthümlichste sei, so stellt es uns
in seiner Gesammtheit doch jedenfalls eine sehr alte Entwickelungsstufe dar,
und Niemand kann fortan die Geschichte der Semitischen Schrift behandeln,
ohne von ihm auszugehen." Die größte Bedeutung des neuen Fundes liegt
in dem Alter der Inschrift. Die Zeit, in welcher sie in den Stein gehauen
wurde, ist ganz unzweifelhaft die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts v. Chr.,
sie ist nicht nur die einzige Originalurkunde der jüdischen Geschichte vor den
Makkabäern, sie ist auch um Jahrhunderte älter, als andere vorhandene
Denkmäler in Buchstabenschrift und sie wirst ein ganz neues Licht auf die
Verbreitung dieser größten Erfindung des Alterthums, denn sie belehrt uns,
daß die Buchstabenschrift um das Jahr 900 bereits eine technische Ausbil.
dung und Sicherheit gewonnen hat, welche das Verständniß wunderbar leicht
machen, und eine officielle Anwendung, welche uns höchlich überrascht. Wir
dürfen sagen, wenn bei einem kleinen semitischen Stamm in der Nähe des
todten Meeres in jener Zeit so sorgfältig und correct geschrieben wurde, so
muß die Buchstabenschrift in den höher cultivirten Semitischen Städten der
Seeküste und in den Phönikischen Colonien des Mittelmeers schon lange
Zeit im Gebrauch gewesen sein und ihre Culturentwickelung auf den Verkehr
der Völker ausgeübt haben. Und ferner, wenn fast 900 Jahre v. Chr. ein
Stadtkönig in der kleinen Landschaft Moab zur Verherrlichung seines Namens
eine solche Inschrift aufstellen läßt, so muß er doch auch sicher gewesen sein,
daß sie von den Leuten seines Volkes gelesen werden konnte. Es kann also
damals der Unterricht im Lesen und Schreiben nicht mehr für etwas ganz
seltsames und unerhörtes gegolten haben und es muß diese Methode, Thaten
und Ereignisse späteren Geschlechtern zu überliefern, unter den semitischen
Stämmen im Gebiet des Jordan nicht unbekannt gewesen sein. Das gibt
ganz neue Perspectiven für die älteste officielle Benutzung der Schrift, auch
für die Grundlagen des Textes in den ältesten historischen Büchern der Bibel
eine ganz unerwartete Bestätigung.
Nicht weniger merkwürdig ist, wie Professor Rottele gut hervorhebt,
der Inhalt der Inschrift, insofern derselbe mit Ton und Sprache der bibli¬
schen Aufzeichnungen aus der älteren Königszeit völlig übereinstimmt. Trotz
dem Trümmerhaften der erhaltenen Ueberlieferung, erkennen wir aus der In¬
schrift in dem kleinen Volke Moab ganz ähnliche Zustände, wie unter den
Juden: befestigte Städte, um deren Eroberung der Kampf der Stämme
*
geht, einen König und einen Stammgott, welche mit den Königen und
Göttern der Nachbarn im Krieg liegen. Das Königshaus des Mesa von
Moab im Streit gegen die königliche Familie Omri von Israel, Gott Kamos
gegen Gott Jave (Jehova) bald Sieger, bald besiegt, als Siegverleiher ge¬
winnt der Stammgott Gehorsam und ihm zum-Wohlgefallen werden die ge¬
fangenen Feinde getödtet.
Auch die Buchstabenformen der deutlichen und bequem lesbaren Schrift
versprechen als eine neue Grundlage für weitere Forschungen zu dienen.
Ihre Übertragung in die griechische Sprache und ihr Eindringen zu den
Nordvölkern, zu Germanen und Celten, werden fortan das Thema neuer
Hypothesen und Untersuchungen werden. Die Gleichheit einzelner Buch¬
staben des Königs Mesa mit Runen der Nordvölker wird auf die Dauer
schwerlich für zufällig gelten und der Ursprung der Runenzeichen bei den
Nordseevölkern nicht als späte Formung der germanischen und celtischen Zeichen
aus lateinischen Buchstaben gedeutet werden können.
Die hier benutzte Schrift von Theodor Rottele gibt willkommene Ver¬
anlassung an eine frühere Arbeit des verdienstvollen Gelehrten zu erinnern,
von welcher einzelne Abschnitte zuerst in diesem Blatt den Beifall der Leser
fanden, und seit ihrer Verarbeitung zu einem selbständigen Buche, wie uns
scheint, zwar Anerkennung, aber nicht ganz die weite Verbreitung gefunden
haben, die ihnen so sehr zu wünschen ist. Das Buch: „Die alttestamentarische
Literatur" entspricht ganz ausgezeichnet einem Bedürfniß der Gegenwart.
Dasselbe bespricht in eingehender, und im besten Sinne des Wortes populärer
Weise den Ursprung und die Geschichte der einzelnen Schriftwerke, welche als
Bücher des alten Testamentes in unserer Bibel vereinigt sind, oder von dem
Canon ausgeschieden wurden. Das Dargestellte sind die Resultate wissenschaftlicher
Untersuchungen der Gegenwart, zum Theil Gewinn der eigenen Forschungen
des Verfassers, nicht getrübt und verdorben durch orthodoxe Unfreiheit. Die
geschichtlichen Bücher, von den beiden Schöpfungsberichten bis zu den Makka-
bäern, die poetischen Erzählungen: Ruth. Jona, Esther, Judith, Tobie und
Artsteas, die Lyrik, die Lehrdichtung, die Prophetie, die Apokalypse«, Zusam-
fügung des biblischen Canons und älteste Uebersetzungen werden nach ihrer
geschichtlichen Entstehung, ihrem historischen und poetischen Werth und der
kritischen Beschaffenheit ihres Textes übersichtlich dargestellt. Auf verhältni߬
mäßig wenig Bogen ist hier von einer gewissenhaften und Vorurtheilsfreien
Autorität eine Fülle von Belehrung gegeben. Wir meinen, daß Jedermann,
Christ und Jude, den Wunsch haben sollte, sich über die Bücher, deren Inhalt
ihm von der Kindheit her ehrwürdig und vertraut ist, auch das Wissen zu
erwerben, welches der Scharfblick und der unbestechliche Wahrheitssinn unserer
bedeutendsten Gelehrten gewonnen hat.
Zum viertenmale, seit der deutsche Nordbund eine Verfassung erhielt,
sendet der deutsche Frühling Blüthenschnee und laue Luft über das Land,
zum erstenmal trifft er die Privatunternehmungen der Bundesgenossen in
gedeihlichem Aufschwung, Verkehr und Geschäft behaglich ausgebreitet. Eine
befriedigende Ernte und wachsendes Vertrauen auf dle Sicherheit der neuen
Zustände haben den Druck von uns genommen, welcher durch drei Jahre auf
der erwerbenden Thätigkeit des Volkes lag. Wenn der Geschäftsmann jetzt
seine Zeitung zur Hand nimmt, so sucht er vor allem, ob seinem neu be¬
schwingten Muth auch die große Politik der Staaten Bürgschaft für gute
Dauer gebe. Von allen Seiten Friedensversicherungen, überall das Be¬
streben der Diplomatie politisches Gewölk durch kräftige Beschwörung aus-
einanderzublasen. Wohl noch bessere Bürgschaft für den Frieden Europas
bietet der Umstand, daß Niemand Zeit zum Unfrieden hat. In Wahrheit
hat es selten eine Zeit gegeben, in welcher sämmtliche große Staaten, ja auch die
kleinen Schmerzenskinder Europas so angelegentlich durch die wichtigsten inneren
Lebensfragen in Anspruch genommen waren. Unser Bund endigt in diesem Jahr
die erste Periode der Gesetzgebung und seiner Neubildungen, die Wahlen zum
neuen Reichstage beeinflussen bereits die Abstimmungen der Parteigenossen und
die Artigkeiten des Hofes, von ihrem Ausfall wird abhängen, ob die sicherste
Grundlage des neuen Bundes, die Militärorganisation mit oder ohne Stürme
in ihrer Continuität erhalten bleibt. Aber noch andere Lebensinteressen Deutsch¬
lands reifen der Entscheidung zu, die obere Leitung des Bundes erfordert
die Einrichtung neuer ergänzender Organe für Rechtsspruch und Verwaltung,
die Lage kleiner Bundesstaaten ist bereits so schwierig geworden, daß eine
Aenderung ihrer Stellung zum Bunde sich über das Jahr 1871 hinaus
schwerlich aufschieben läßt, der Rückfall der größeren Südstaaten in ihr altes
Behagen und der wachsende Einfluß der großdeutschen und ultramontanen
Partei bedrohen das Verhältniß des Südens zum Bunde mit neuen Gefah¬
ren; in Preußen selbst nimmt die Empfindung zu. daß die Herrschaft der
konservativen Partei in der inneren Verwaltung, in Cultus und Unterricht,
der Zukunft des Staates schwere Einbußen bereite. Aber wie sehr auch das
Ungenügende des gegenwärtigen Zustandes den Einzelnen ärgert, die Un¬
zufriedenheit ist bei uns doch nur die Mahnung zu kräftigerem Fortschritt
auf der betretenen Bahn, weit obenauf ist die stolze Empfindung, daß es
trotz allem in zeitgemäßer Entwickelung vorwärts geht und daß am Himmels»
Haus des deutschen Bundes die guten Sterne in fröhlichem Aussteigen sind,
So oft wir unser Dasein im neuen Großstaat mit dem anderer Nationen
vergleichen, empfinden wir fröhlich, daß wir keine von allen zu beneiden
Ursache haben. Selbst das reiche England nicht.
Dort imponirte uns in den letzten Wochen wieder ein Staats¬
haushalt, der wie spielend die großen Lasten für Heer und Flotte trägt,
eine Größe des Wohlstandes, die wir noch ein Jahrhundert entbehren
müssen, ein Haus der Abgeordneten, welches an große Geschäfte so gewöhnt
ist, daß es eine unentbehrliche Regierung nicht wegen 100.000 Pf. Se. Zoll¬
einnahmen in die GefaHr einer Niederlage setzt. Dagegen sind wir frei von
den Schwierigkeiten, welche die irischen Angelegenheiten dem englischen
Ministerium bereiten. Wir würden in den Grenzkreisen Posens und Jüt-
lands gegenwärtig Zustände für unerträglich halten, wie sie in dem größeren
Theil von Irland bestehen: ein durch Glauben und historische Ueberlieferung
der Idee des Staates abgeneigtes Volksthum, in welchem socialer Haß jede
Woche einen neuen politischen Mord verursacht, in welchem der Richter und
Geschworene terroristrt, der Meuchler durch die Theilnahme und Mitschuld
eines großen Theils der Bevölkerung ermuthigt wird. Jetzt endlich fühlt man
in England, daß die sociale Reform des Grundbesitzes, welche durch die Re¬
gierung betrieben wird, nicht nur eine Frage der Ehre, auch der politischen
Genesung geworden ist, und daß doch mehr als eine Generation sich aus¬
leben wird, bevor der feindliche Gegensatz der Völker, die Erbschaft von vier
Jahrhunderten innerer Kämpfe und Mißregierungen, getilgt werden kann.
Leidenschaftlicher und auf einen Tag gestellt, ist die innere Spannung
in Frankreich. Der alternde Kaiser hat noch einmal sein demokratisches
Rüstzeug herausgesucht, um sich und seiner Dynastie die nächste Zukunft zu
sichern. Nach 19 Jahren einer Regierung, welche reich an großen Reformen
und an glänzenden Erfolgen war, fordert er seine Franzosen, Mann für
Mann auf, darüber abzustimmen, ob sie mit seinem System, mit ihm und
seinem Hause zufrieden sind. Wir haben in den letzten beiden Decennien
Vieles in der Politik erlebt, was noch unsere Väter für ganz unmöglich
gehalten hätten, aber das Außerordentlichste von Allem ist doch wohl die
allgemeine Abstimmung über Leben und Werth einer Dynastie. Es ist sehr
wohlfeil, diese Abstimmung einen leeren theatralischen Coup zu nennen. Im
Gegentheil, es liegt ein furchtbarer Ernst darin. Dort in Frankreich kämpfen
weit andere Gewalten gegeneinander und gegen die Regierung, als bei uns.
Die öffentliche Meinung, wie sie sich in einer unruhigen, geistreichen, über¬
mächtigen Hauptstadt macht, und wie sie durch die Presse von abhängigen, ehr-
geizigen und parteisüchtigen Individuen verbreitet wird, ist dort die turbulente
Herrscherin des Tages. Dem leitenden Minister von Frankreich sind die Audienzen
mit den Journalisten von Paris und den Correspondenten fremder Zeitungen
fast wichtiger als die Stunden, in denen er die Vertreter fremder Gro߬
mächte empfängt, und er wandelt auf dem Trottoir Arm in Arm mit dem
Vertreter eines einflußreichen Blattes, um für seine Maßregeln geneigtes
Urtheil zu finden. Und wieder gegenüber dieser bedrohlichen, unzuverlässigen,
reizbaren Macht der Tagesmeinung in der Hauptstadt sucht der Herr des
Ministers, der Kaiser selbst, sich einen anderen Richter. Er appellirt an die
Meinung der großen Masse, welche von dem Wellengeräusch der Presse, die
über ihren Köpfen wogt, noch wenig aufgeregt wird. Aber die Gewalten
der Tiefe, welche der Kaiser beschwört, werden zum großen Theil durch eine
andere geheime Macht regiert, durch die Priester der katholischen Kirche.
Gegen die treibende Unruhe und die Frivolität der Stadtbildung beschwört
der Kaiser als höhere Gewalt den Sinn der Millionen herauf, welche in der
Stille geleitet werden, oft ohne zu wissen, durch wen. Wir zweifeln nicht,
daß dem Kaiserreich wieder eine große Mehrzahl der Franzosen Recht geben
wird, wenn nicht mehr acht Millionen vielleicht doch sieben Millionen. Und
in einigen Jahren vielleicht sechs Millionen oder weniger. Eine solche ab¬
steigende Scala der Volksstimmen ist für die höchste Gewalt eines Staates,
welche doch zu einer Dynastie werden will, auf die Länge unmöglich, sie er¬
scheint uns Deutschen wie der Uebergang zur Republik, das heißt für Frank¬
reich zu einer Gewaltherrschaft der Stadt Paris über bevormundete Pro¬
vinzen in neuen Formen.
Sieht es doch aus, als sollten die Völker romanischer Sprache, denen
ihr leidenschaftliches Naturell und die Herrschaft der römischen Kirche die
Continuität einer starken Regierung nöthiger machen, als den Germanen, der
Reihe nach die Grundlagen eines monarchischen Staatslebens verlieren.
Spanien vermag keinen König zu finden, und das Haus Savoyen sühlt im
Frühjahr 1870 sich in seiner Herrschaft über Neapel und Sicilien unsicherer
als im Jahre 1866.
Ein lehrreiches Gegenbild zu den französischen Zuständen bieten die Ver¬
fassungskämpfe des östreichischen Kaiserstaats. Dort bindet ein altes Fürsten¬
geschlecht, uralte Zusammengehörigkeit und die reale Gewalt aller Verkehrs¬
interessen die Landestheile zu einer politischen Einheit zusammen. Dennoch ist
dort gegen den Widerstand der einzelnen Theile das allgemeine Stimmrecht
nicht einmal für die Wahl von Abgeordneten zum Reichstage durchzusetzen.
Wie die Ungarn fordern Polen und Czechen die despotische Herrschaft ihrer
Sprache und ihres Volksthums über die abgeneigten Bevölkerungstheile ihrer
Landschaft, und die Verhandlungen, welche das Ministerium Potocki in diesen
Tagen mit den trotzigen Parteiführern gepflogen hat, lassen sehr unsicher, ob
es dem Ministerium der Vermittelung gelingen wird, von Oestreich eine
Herrschaft der alt-conservativen Partei und ein zeitweiliges Zurückstauen auf
die alte Landtagswirthschaft fern zu halten. Gibt es einen Staat, welchem
Frieden noth thut, so ist es Oestreich. Und doch hängt dieses Glück bereits
von dem guten Willen eines feindlichen Nachbars ab, und dieser ist Rußland.
Was sich dort vollzieht, fordert Kritik und Sorge des ganzen eivilisirren
Europas heraus. Dort wird nicht nur den Polen, auch den Deutschen, dem¬
nächst ven Finnen das moskowitische Wesen durch Gewaltmittel aufgedrängt,
welche in einem Culturstaat unerhört sind und den Großmächten Europas
mit jedem Monat näher legen, daß es ihr solidarisches Interesse ist, gegen
solche Tyrannis übertünchter Barbarei Abwehr zu finden. Die Macht,
welche der Staat Peter des Großen unter Alexander II. erreicht hat, ist be¬
reits eine Gefahr für die abendländische Cultur geworden, der Trotz, mit wel¬
chem die Partei des jungen Rußland ihre Intriguen bis in das Herz von
Böhmen und an die Küsten Dalmatiens spinnt, und der harte Hochmuth, mit
dem sie ihre Grenznachbarn behandelt, drohen in kurzem eine große Zurück¬
weisung unvermeidlich zu machen. Oestreich und der Nordbund haben hier
gleiches Interesse und es ist dringend zu wünschen, daß die alte Gereiztheit
beider Großmächte einem aufrichtigen Einvernehmen weiche. Nicht ohne Mühe
wird durch die persönlichen Eigenschaften des Kaisers Alexander von Ruß-
land das gute Einvernehmen zwischen Petersburg und Berlin erhalten. Den
Großfürsten Thronfolger betrachtet man in Deutschland als einen eifrigen
Förderer der feindseligen moskowitischen Politik.
Während in den beiden katholischen Großstaaten die Regierungen allge¬
meine Abstimmungen und einen Appell an die Millionen der Wähler erstreben,
sehlt zu Rom bei den Abstimmungen der höchsten Kirchenfürsten allzusehr die
Freiheit, welche die moderne Civilisation von jedem Urwähler fordert. Die Po¬
lizei ist zu Rom argwöhnisch gegen Bischöfe geworden. Denn Herr v. Ketteler
schreibt gegen die Curie. Cardinal Rauscher und Cardinal Schwarzenberg sprechen
gegen die Curie, die Broschüre des Bischofs Hefele wird von der römischen
Post confiscire. Wer ein Jahr einsam im Eise des Nordmeers Wallrosse beobach¬
tet hätte und jetzt heimkehrte, er würde solche unerhörte Wandlung dem zuver¬
lässigsten Mann nicht glauben. Freilich, wenn daheim ein Curat des opponiren-
den Bischofs laut dasselbe behauptet, wofür der Bischof zu Rom stimmt, so wird
ihm vom bischöflichen Rath das Amt verboten! — Unbehilflich vollzieht die
alte Kirche ihre Umwandlung aus einer Aristokratie in einen geistlichen Cä-
sarenstaat, und die Herren Rauscher und Ketteler haben nicht geringe Aehnlich-
keit mit Brutus und Cassius. nur daß sie nicht den Dolch in der Tasche
bergen, sondern Concepte untergebutterter, niedergeschriener, ausgetrommelter
Reden. Wenn erst Cäsar Pius ihren Widerstand niedergerunzelt hat und
durch das Most von 500 Pfaffen für unfehlbar erklärt ist. dann erst wird
sich zeigen, wie viel Stolz, Ehrgefühl, christliches Gewissen in den Fürsten
der deutschen Kirche zu finden ist.
Joseph H. und Katharina von Rußland. Ihr Briefwechsel, herausgegeben von
Alfred Ritter von Arneth. Wien, 1869. Wilhelm Braumüller. XXXIV u. 393 S.
In dem Werke, welches hier angezeigt wird, hat Herr von Arneth aufs
Neue unzugängliches Material für die Geschichte der Höfe und ihrer Politik
im achtzehnten Jahrhundert mitgetheilt, ebenso werthvoll als seine Biographie
des Prinzen Eugen von Savoyen, die Ausgabe der Briefe Maria Theresia's,
Maria Antoinette's, Joseph's II. und Leopold's II., ja in Vielem noch bedeu¬
tender und sehr unterhaltend. Nur wenige der hier mitgetheilten Briefe
Joseph's II. und Katharina's waren bisher bekannt. Die Briefe der Kaiserin
sind von dem Herausgeber der Privatbibliothek des Kaisers von Oestreich
entlehnt morden. Die russische Regierung hat bereitwillig beglaubigte Ab¬
schriften aller Briefe Joseph's zugestellt, welche in den Archiven von Peters¬
burg und Moskau aufbewahrt werden, in Wien aber fehlen.
Etwa zwanzig Briefe Joseph's, von deren Dasein man weiß, sind weder
in Wien noch in Rußland aufgefunden worden. Ebenso fehlen vier oder
fünf Briefe Katharina's an Joseph. Wir bitten die Leser um Vergebung,
wenn wir diesem Bericht über den merkwürdigen Inhalt der Briefe einige
Notizen über die verlorenen voraussenden.
Der Inhalt eines der Briefe der Kaiserin, welcher in der Sammlung des
Herrn von Arneth fehlt, findet sich im Tagebuch des Secretärs der Kaiserin,
Chrapowitzki, zum 17. October 1789 (herausgegeben im Jahre 1862 von der
Moskaner Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer) „Antwort an den
Kaiser auf die Nachricht von der Einnahme Belgrads mit der Meldung von
Akkerman, und daß, wenn der Feldzug mit Ehren schließe, die Kaiserin im
Lause des Winters Frieden zu machen hoffe." Daß die Kaiserin gerade um
diese Zeit so geschrieben hat, entspricht der Sachlage vollkommen, während
es Hei Herrn v. Arneth in dem ganzen Zeitraume vom 1. Juni bis zum
23. December 1789 gar keine Briefe der Kaiserin gibt. In diese Zeit aber
fällt die Einnahme Belgrads durch die Oestreicher, der Sieg Suwarow's bei
Rymnik, die Einnahme Bender's und Akkerman's durch die Russen. Den
Brief der Kaiserin erwähnt Joseph in seinem Schreiben an Katharina vom
7. December 1789 (S. 342 bei Arneth). In dem erwähnten Tagebuche des
Geheimschreibers finden sich an mehreren Stellen Angaben über die Corre-
spondenz mit Joseph II., Ausdrücke, Redewendungen, nicht selten ganze Zeilen
aus solchen Briefen, so z. B. aus Katharina's Briefe an Joseph vom
7. October 1788 (S. 320 bei Arneth) vom 21. December 1788 (S. 324
bei Arneth); aus Joseph's Briefe an Katharina vom 7. August (S. 317
bei Arneth) u. tgi. in. — Ferner hat Solowjow in seiner Geschichte
des Falles von Polen u. A. zwei Briefe (Joseph's vom 12. Juli 1782
und Katharina's vom 1. August 1782). die sich aus die Angelegen¬
heiten in der Krim beziehen, ihrem Inhalte nach mitgetheilt. Ein
ganz kurzer Brief Joseph's an Katharina II., angeblich beim Ausbruche des
Türkenkriegs im Jahre 1787 geschrieben und ohne Datum mitgetheilt in
einer russischen Lebensschreibung der Kaiserin aus dem Jahre 1811 (Thaten
Katherina's. von Kolotow, Bd. III. S. 240) kann wohl nicht echt sein. Der
Brief lautet wörtlich: „Da ich die Nachricht erhalten habe, daß einer Ihrer
Diener in Konstantinopel in die Sieben Thürme eingesperrt worden, so sende
ich, da ich auch einer Ihrer Diener bin, meine Truppen ins Feld." — Der
Einsperrung des russischen Gesandten Bulgakow erwähnt Joseph in dem von
Arneth S. 299 mitgetheilten Briefe. Erst mehrere Monate später waren
die östreichischen Truppen marschbereit.*)
Die Briefe der beiden großen Herrscher sind mit sehr wenigen Aus¬
nahmen eigenhändig geschrieben. Ihr Inhalt unterscheidet sie aber wesent¬
lich von den artigen und herzlichen Briefen, welche unsere Souveräne mit
eigener Hand einander zu senden pflegen. Noch jetzt wird bei großen Ver¬
anlassungen die Form vertrauter Briefe gewählt, um directe Verständigung
über politische Fragen zu erreichen, oder Schwierigkeiten wegzuräumen, welche
der Diplomatie unüberwindlich sind. Und wir nehmen an, daß auch die
größte und verfassungstreuste Monarchin der Welt diesem letzten Mittel, um
für ihren Staat Nützliches durchzusetzen, nicht entsagen würde. Aber solches
hohe Eingreifen in die Politik ist jetzt im Ganzen Ausnahme. In der
Courtoisie des persönlichen Briefverkehrs wird wenigstens das Detail potiti-
scher Fragen eher vermieden als gesucht. Weit anders bei Joseph II. und
Katharina. Die Selbstwilligkeit ihres Regiments, jener aufgeklärte Despo¬
tismus, der Alles nach eigenem Ermessen zu entscheiden strebte, und in allen
Fragen die Initiative haben wollte, tritt uns hier auf jeder Seite entgegen.
Beide glaubten der Vermittelung von Gesandten, Ministern und Schreibern
in vielen Dingen entbehren zu können. Die größten politischen Fragen
werden wie rein persönliche Angelegenheiten behandelt. Das lag freilich
zunächst in Geiste der Zeit. Ein unmittelbarer Verkehr von Herrscher zu
Herrscher erschien um so unerläßlicher, als der Erfolg der diplomatischen Ver¬
handlungen, das Gedeihen der Staaten, das Glück der Völker nach damali¬
ger Auffassung fast ausschließlich von den Tugenden des Fürsten, von der
Zuneigung und Freundschaft der Fürsten zu einander abhing. In einer
Zeit, wo die Herzensgüte der Monarchen für die beste Verfassung galt, schien
der persönliche Verkehr derselben untereinander als die beste Bürgschaft für
die Segnungen des Friedens sowohl als' auch sür den Erfolg im Kriege.
Während Katharina sehr wichtige Nachrichten über politische Ereignisse bis¬
weilen selbst vor ihren Ministern geheim hielt und etwa der Vicekanzler Oster¬
mann die ausländischen Diplomaten durch seine Unkenntniß der Sachlage in
Erstaunen setzte, ist es ganz in Ordnung, wenn der Abschluß von Bündnissen,
Kriegsrüstungen, Eröffnung von Feindseligkeiten, Annexionsentwürfe in der¬
selben Weise behandelt werden, wie Familienangelegenheiten. Die Kuhpocken¬
impfung, der sich damals die jungen russischen Großfürsten unterwerfen
mußten, wird in ähnlichem Tone besprochen wie der Entwurf, die Türken
aus Europa zu verjagen; die von Kaiser Joseph dem Großfürsten Paul auf
einer Vergnügungsreise erwiesene Freundlichkeit erscheint eben so wichtig als
etwa das bairische Tauschproject; eine Augenkrankheit des Kaisers wird mit
denselben Formen bedauert wie die Revolution in den Niederlanden. Bei
solcher Behandlung der Geschäfte konnten die Kanzleien nur untergeordnete
Bedeutung haben. Nur einzelnen Vertrauten wird von dem Inhalte der
abzusendenden und empfangenen Briefe Mittheilung gemacht. Katharina
liest ihrem Secretär einzelne Stellen vor; Kaunitz gibt hier und da seinen
Rqth, wie der Kaiser auf diese oder jene Auslassung der Kaiserin zu ant¬
worten habe. Auch Laune und Stimmung des Augenblicks spiegelt sich in
den Briefen, die, meist in sehr herzlichem, freundschaftlichem Tone gehalten,
dem größten Theile ihres Inhalts nach von Heiterkeit, hier und da wohl
auch von Frivolität zeugen. Erheben sich diese zum Theil sehr sorgfältig
ausgearbeiteten schriftstellerischen Produktionen zweier gekrönter Vertreter des
Esprit und eleganter Conversation durchaus nicht immer zu der geistvollen
Sprache des Montesquieu, Voltaire, Diderot, der artigen Geschwätzigkeit
Grimms oder der eleganten Medisance des Prinzen von Ligne, so ist dieser
Briefwechsel doch reich an glänzenden Apercu's und zierlicher Grazie. Man
sieht es wohl, daß es beiden Correspondenten um die gegenseitige Hochachtung
und Anerkennung zu thun ist; beide wollen nicht nur zeigen, daß sie den
Geschäften gewachsen sind, sondern auch, daß sie auf den Höhen aufgeklärter
Bildung stehen. Nonchalance in der Behandlung sehr ernster politischer
Fragen, spielende Ironie, boshafter Witz gelten für eine Sache des guten
Tons. Wie Joseph und Katharina sich im Jahre 1787 unmittelbar nach
dem Rausch einer Vergnügungstour im größten Stil, nach ihrer Krimreise,
in die Gefahren des Türkenkrieges stürzten, wie noch im Jahre 1814 und Is
in spielender Weise, bei unaufhörlichem Geräusch von Theater, Bällen und
Auffahrten in Wien über das Schicksal aller Staaten und Völker gehandelt
wurde, so erinnern die Briefe Joseph's und der Kaiserin durchaus an den
Salon, an die Conversation, deren Reiz noch Talleyrand als das höchste
Glück preist, das der Mensch erleben könne. Man witzelt über Papst und
Sultan, man spottet über Friedrich den Großen und die englischen Minister;
man amüsirt sich über die Vielgeschäftigkeit und Berstellungskunst Gustavs III.;
man lacht über die Holländer, über Baiern und den Herzog von Zweibrücken,
und, was das wichtigste zu sein scheint: man macht einander Complimente.
Joseph und Katharina hielten einander für grenzenlos eitel. Durch
starke Schmeicheleien suchte Jeder auf den andern zu wirken. Sie mochten
einander recht hoch stellen, aber in diesem Punkte erschien Jeder dem andern
unsäglich schwach. Wenn Joseph II. im Jahre 1781 den Entwurf eines
Briefes an die Kaiserin dem Fürsten Kaunitz zur Begutachtung zusendet, be¬
merkt er: „Man darf nicht vergessen, daß man es mit einer Frau zu thun
hat, die um Rußlands Wohl sich ebensowenig kümmert als ich; man muß sie
also krauen (ainsi it kaut la ora,toui11er) . . Ihre Eitelkeit ist ihr Götze; ihr
rasendes Glück so wie der Wetteifer ganz Europas in übertriebenen Huldi¬
gungen für sie haben sie verdorben. Man muß schon mit den Wölfen
heulen, wenn nur das Gute geschieht, liegt wenig an der Form, in welcher
man es erreicht."") Das „Gute", welches Joseph II. durch solche Mittel
zu erreichen hoffte, war aber der Abschluß eines Vertrages zum Zweck
einer Theilung der Türkei. Nicht ohne Cynismus wurden solche Geschäfte
betrieben.
Die Zettel, welche Joseph II, häufig an den Fürsten Kaunitz zu richten
pflegte und welche Herr von Arneth bisweilen in Anmerkungen mittheilt,
sind von großem Werthe. Sie lassen uns einen Blick thun in die Stim¬
mungen des Kaisers, der durchaus nicht immer so entzückt war von der
Kaiserin, als die glatte Form und die schönen Phrasen seiner Briefe ver-
muthen lassen könnten. In solchen vertraulichen Handbillets machte er bis¬
weilen dem Unmuthe Luft, wenn die Kaiserin ihn nicht rücksichtsvoll genug
behandelte oder ihm seinen Antheil an der bei einer Theilung der Türke?
zu erwartenden Beute zu schmälern Miene machte. Einzelne Briefe an die
Kaiserin sind der Art, daß wir an Joseph's Bewunderung sür Katharina
nicht zu zweifeln vermögen, nur die Plaudereien mit Kaunitz zeigen, daß
diese Bewunderung ihre Grenzen hatte. Indessen müssen solche Momente
tiefer Verstimmung doch nur vorübergehend gewesen sein; im Wesentlichen
ward bei ihm die Ueberzeugung, daß ein enges Bündniß mit Rußland für
Oestreich heilsam sei, gestützt von wirklich freundschaftlichen Empfindungen
für Katharina. Die Wonne, mit welcher Joseph die persönlichen Verhältnisse
der Kaiserin bespricht, geht offenbar über die Formen gewöhnlicher Courtoisie
hinaus; die lebhafte Erregung, in welcher der sterbende Joseph der Kaiserin
zum letzten Male für ihre Freundschaft dankt, ist mehr als bloße Phrase.
Sie hatte ihn in seinem Schmerz wegen des Aufstandes in den Niederlanden,
wegen der Gefahr von Preußen her, wegen seiner tödtlichen Krankheit zu
trösten versucht. Er antwortete, der Eindruck des Briefes der Kaiserin in
dem Augenblicke, da er von Stunde zu Stunde den Tod erwarte, sei nicht zu
beschreiben. „Man muß so beschaffen sein wie Sie, um alles dies zu fühlen,
zu wollen und zu können, was Sie mir sagen; Ihre Worte sind geheiligt",
ruft er der Kaiserin zu, indem er sie bittet, die für ihn gehegte Freundschaft
auch auf Leopold zu übertragen; es sei ihm dieses ein Trost in seiner schreck¬
lichen Lage. „Nie mehr", schließt Joseph seinen letzten Brief an Katharina,
„werde ich die Schriftzüge Eurer Majestät sehen, welche mich so sehr beglückten,
und ich fühle den ganzen Schmerz, der darin liegt, daß ich zum letzten Male
Sie meiner zärtlichen Freundschaft und hohen Achtung versichern kann."*)
Auch Katharina wußte Joseph's II. ausgezeichnete Eigenschaften zu schätzen,
aber sie warf ihm bisweilen Ueberstürzung. Unüberlegtheit, politischen Dilet¬
tantismus vor. Friedrich der Große hatte wohl die Bemerkung gemacht,
Joseph II. thue oft den zweiten Schritt, ehe er den ersten gethan habe.
Etwas Aehnliches äußerte Katharina über den Kaiser während der Reise im
Jahre 1787. Joseph machte sich viel zu schaffen, war stets früh Morgens
schon auf den Beinen, unternahm allerlei Ausflüge in die Umgegend der
Städte, welche die Reisegesellschaft besuchte und suchte Alles so genau wie
möglich in Augenschein zu nehmen. Der Kaiserin erschien dieses wunderlich.
Sie sagte: „Ich sehe und höre Alles, obgleich ich nicht überall umherlaufe
wie der Kaiser. Er hat viel gelesen und viele Kenntnisse; aber weil er so
streng ist gegen sich selbst, so verlangt er auch von Anderen dieselbe Uner¬
müdlichkeit und eine unmögliche Vollkommenheit.. Katharina erwähnt hier
die Unruhen in Ungarn und in den Niederlanden. Ebenso tadelte sie den
Kaiser in einem Briefe an Potemkin vom Anfange des Jahres 1790, worin
sie meldet, der Kaiser klage über den Aufstand in den Niederlanden. Hierin,
sagt sie. könne sie ihn nicht rechtfertigen; wie viele Veränderungen habe es
da unaufhörlich gegeben; bald habe er Freiheiten verliehen, bald sie wieder
entzogen; bei so viel Geist und Kenntnissen habe er doch nicht einen Ver¬
trauten gehabt, der ihm hätte den Rath ertheilen können, die Unterthanen
nicht mit allerlei Spielereien zu reizen: jetzt sterbe er von Allen gehaßt; die
Ungarn hätten doch im Jahre 1740 seine Mutter gerettet; er hätte sie dafür
auf Händen tragen sollen.*)
Wie Joseph, so war auch Katharina von der Ueberzeugung durchdrungen,
daß das Bündniß zwischen Rußland und Oestreich für beide Staaten der
größte Vortheil sei. Solche politische Rücksichten verbanden sich mit der per¬
sönlichen Zuneigung und Freundschaft, welche Katharina für Joseph hegte.
Auch ihre Theilnahme bei seinem Unglück in den Niederlanden, bei seiner
Krankheit, ihr Schmerz bei seinem Tode waren nicht erheuchelt. Aber die
Art. wie sie von ihrer Verehrung für Joseph spricht, wie sie in ihren
Briefen die ärgsten Schmeicheleien häuft, wie sie sich am liebsten in lauter
Superlativen ergeht, ist bisweilen gradezu lächerlich. Joseph sucht sie in
diesen extravaganten Ausdrücken zu überbieten. So hoffen Beide am
leichtesten miteinander zum Ziele zu kommen. Nach jeder Zusammenkunft
und Trennung klagen Beide, wie sie einander vermissen; vor der Reise von
1787 und dem Wiedersehen im Süden von Rußland haschen Beide nach
allerlei Ausdrücken, um ihre Ungeduld und Freude zu bezeichnen; immer
wieder lobt Katharina die Weisheit Joseph's, seine Ausklärung, seine religiöse
Duldung, seine Arbeitskraft, seine väterliche Fürsorge für die Unterthanen;
immer wieder preist Joseph den Ruhm der Kaiserin, ihr Ansehen bei den
Fürsten Europa's, ihre Verdienste um die östreichische Politik; Beide werden
nicht müde zu wiederholen, daß sie einander unaussprechlich, viel verdanken,
daß die Interessen ihrer beiderseitigen Staaten zusammengehen müßten, und
daß ein starkes Bündniß zwischen Oestreich und Rußland zu den glänzendsten
Ergebnissen führen würde.
Man weiß wie Europa, wie namentlich Preußen über dieses Bündniß
dachte, daß man von dieser Seite nichts unversucht ließ, dasselbe zu lockern,
und eifrig darnach strebte, preußischerseits auf den Großfürsten Paul zu
wirken. Es mußte die Aufgabe Joseph's und Katharina's sein, ihrem
Bündniß eine bleibende Dauer auch über ihren Tod hinaus zu geben.
Daher entstand in Katharina und Joseph II. der Wunsch, den Neffen des
letzteren, Franz mit der Schwester der Gemahlin des Großfürsten zu ver-
mahlen. Familieninteressen, das Zusammenwirken der beiden Schwestern
sollten nach dem Tode Joseph's oder Katharina's oder Beider das Bündniß
zusammenhalten. So meinte man den Großfürsten Paul dem Einflüsse
Preußens zu entziehen. Diese Heirathsangelegenheit wird deshalb in vielen
Briefen als politische Frage erörtert. Beide sind entzückt, daß nun engere
Bande die beiden Häuser vereinigen werden. Die Prinzessin wird als ein
„kostbares Pfand" der gegenseitigen Zuneigung bezeichnet. Durch dynastische
Interessen und Hauspolitik hoffte man die Zukunft Oestreichs und Rußlands
am Besten sicherstellen zu können. Es war ein Irrthum; sogleich nach Joseph's
Tode änderte sich Alles, und der Vertrag von Reichenbach belehrte die Kaiserin,
daß Leopold nicht gesonnen war, so consequent antipreußische Politik zu
machen wie Joseph II. seit dem I. 1780.
Dieselbe Tendenz, den Großfürsten Paul dem preußischen Einflüsse zu
entziehen und ihn unter Joseph's Einfluß zu stellen, macht sich bei der im
Jahre 1781 vom Großfürsten unternommenen Reise ins Ausland geltend.
Nicht ohne einige Intrigue veranlaßte Katharina diese Reise, entwarf den
Reiseplan, entschied, daß in demselben Berlin nicht vorkommen durfte,
und bat wiederholt den Kaiser ihrem Sohne und dessen Gemahlin Gast¬
freundschaft zu erweisen.*) Sie ist entzückt darüber, daß ihr Sohn eine Zeit¬
lang am Hofe Joseph's weilen werde. Joseph seinerseits reist dem Gro߬
fürsten nach Troppau entgegen, begleitet ihn nach Wien, unterhält sich mit
ihm lebhaft ohne indessen Gegenstände von größerer Wichtigkeit zu berühren.
Ein Zeitgenosse berichtet, der Großfürst Paul sei gegen den Kaiser kalt und
zurückhaltend gewesen; noch größere Abneigung gegen den Kaiser habe die
Großfürstin gezeigt.**) Katharina dagegen weiß in ihren Briefen an Joseph
sehr viel davon zu erzählen, wie ihr Sohn und ihre Schwiegertochter erfüllt
wären von Dankbarkeit und Verehrung für den Kaiser, wie glücklich sie sich
in Wien fühlten und wie sie den Aufenthalt dort möglichst zu verlängern
wünschten. Katharina spricht die Hoffnung aus, daß die Rathschläge Jo¬
seph's eine heilsame Wirkung auf den Großfürsten ausüben werden, daß
dadurch das Band, welches beide Staaten vereinige, fester sich knüpfen,
daß Paul über solche Unterredungen mit dem Kaiser die gehörige Dis¬
kretion beobachten werde.***) Leider ist ein Schreiben des Kaisers vom
23. December 1781 nicht aufgefunden worden. In demselben hatte sich Jo¬
seph in sehr günstiger Weise über den Großfürsten und dessen Gemahlin aus¬
gesprochen. Die Kaiserin, deren gespanntes Verhältniß zu dem Großfürsten
bekannt ist. spricht in ihrer Antwort an den Kaiser Zweifel darüber aus,
daß Paul mit sehr veränderter Gesinnung nach Se. Petersburg zurückkehren
werde. Es gebe, sagt sie, manche Dinge, welche nur durch die Zeit gelehrt
würden; jedes Alter habe seine eigene Denkweise, daher wünschten jüngere
Leute nicht immer den Rath älterer Personen zu hören und diese letzteren
seien noch weniger geneigt von den Kindern zu lernen. Eine gereizte Stim¬
mung spricht sich in diesen Worten aus.*) Einige Monate später als der
Großfürst und dessen Gemahlin auf der Rückreise wiederum in Wien ver¬
weilten, versichert Joseph, er sei überzeugt daß alles Mißtrauen und alle
Geneigtheit zu allerlei kleinen Ränken aus den Herzen seiner Gäste ver¬
schwunden sein werde, setzt aber hinzu „soweit die Gewohnheit und ihre Um¬
gebung, welche allein dafür verantwortlich zu machen sei, dies gestatteten."
Er räth der Kaiserin besonders auf diese den Großfürsten umgebenden Per¬
sonen Acht zu geben, die ungünstig Gestimmten zu entfernen, mit großer Sorgfalt
neue zu wählen. Dadurch werde die Ruhe des Hauses sichergestellt werden.**)
Offenbar ist hier das Streben Joseph's aus die Entfernung solcher Per¬
sonen hinzuarbeiten, welche, wie Graf Parm, preußenfreundlich gesinnt waren.
Es zeugt von großer Intimität der Beziehungen Joseph's zur Kaiserin, daß
er diese Fragen berührte. Er entschuldigt sich auch wegen seiner Kühnheit,
und fürchtet, die Kaiserin werde ihn für verrückt halten, daß er ihr der-
gleichen Dinge zu schreiben wage. Aber auch in einem etwas späteren Briefe,
in welchem er die Freude des Wiedersehens der Kaiserin mit ihren Kindern
sich ausmalt, bemerkt er, wie sehr die innigen Beziehungen dieser drei Per¬
sonen zu einander auch sein Glück ausmachten. Wir wissen, daß die Span¬
nung zwischen der Kaiserin und dem Thronfolger sich nie besserte, daß aber
die Kaiserin den Trotz des Sohnes durch ein wahrhaft furchtbares Mittel
zu brechen wußte. Sie schrieb für ihn die Memoiren ihrer Ehe, damit er
lese, wer sein Vater war.***)
Von großem Interesse sind die heiteren Auslassungen Joseph's und
Katharina's über den Papst Pius VI., welcher im Jahre 1782 einige Zeit
in Wien verweilte. Hatten Joseph's Reformen, sein Toleranzedict, die Ein-
ziehung von Klostergütern, in Rom und bei der katholischen Geistlichkeit An¬
stoß erregt, so war Katharina im Gegentheil voll Freude und Entzücken bei
Empfang der Nachrichten von dem entschiedenen Austreten des Kaisers gegen-
über der mittelalterlichen Kirche. — Schon im Interesse der griechisch-katho¬
lischen Unterthanen Joseph's II. muntert ihn die Kaiserin zu immer größe¬
rer Duldsamkeit auf. Sie erinnert ihn an seinen Ausspruch, er sei der Vater
seiner Unterthanen, unter welchen wohl Stiefkinder nicht darum sein werden,
weil sie einen andern Weg nach der Ewigkeit nehmen. Sie lacht darüber,
daß sie ercommunicirt sei, dabei aber doch mit dem Papst sehr höfliche Briefe
wechsele, und daß sie in ihren Briefen an Pius demselben Toleranz predige.
Im Februar 1782 theilt Joseph der Kaiserin mit, der Papst wolle nach
Wien kommen, „vermuthlich, um in der Geschichte eine Berühmtheit zu er¬
langen, die auf anderem Wege ihm nicht zu Theil werden könne/' Katha¬
rina antwortet, der Papst werde in Wien wohl nicht so sehr die Interessen
der Christenheit als die Vortheile seiner Pfründe vertreten. Sie hofft, er
werde nicht lange in Wien bleiben, und bemerkt, sie beneide Joseph keines-
weges um die Ehre dem Papste so nahe zu sein; nur mit einiger Unruhe
denke sie an den Aufenthalt des Papstes in Wien; für Nichtkatholiken sei
ein italienischer Priester stets ein Gegenstand der Besorgniß oder des Vor¬
urtheils; sie meint, wenn sie in Wien wäre, würde sie mit ihren Toleranz¬
predigten Seiner Heiligkeit so beschwerlich fallen, daß er bald nach Hause reisen
sollte; die Verantwortung dafür werde sie gerne übernehmen, da sie sich
trotz aller Cxcommunication des Papstes sehr wohl befinde. Etwas später
schreibt sie, sie wünsche den Kaiser von dieser Last bald befreit zu sehen, ein
solcher Priester sei „ein unbequemes Möbel." Merkwürdig ist ferner ihre
Aeußerung, sie hätte nichts dagegen den Kaiser an den Thoren des Kapitols
d. h. im Besitze Roms zu sehen.*)
Joseph erzählt in seinem Schreiben vom 1. Juni 1782 recht ausführlich,
wie er den Papst persönlich rücksichtsvoll behandelt habe ohne ihm Zugeständ¬
nisse zu machen. Im Uebrigen sei es recht langweilig gewesen mit Pius
täglich stundenlang über Theologie zu reden ohne zu gegenseitigem Verständ¬
niß zu gelangen.
In dieselbe Zeit fällt die letzte Periode des englisch-französWen Krieges.
Joseph und Katharina spotten vielfach über die Langsamkeit der beiderseitigen
militärischen Operationen, folgen mit einiger Spannung den Ereignissen bei
der Belagerung Gibraltars und wünschen dringend als Friedensvermittler
zwischen den streitenden Mächten aufzutreten. Bei dieser Gelegenheit über¬
häuft Joseph die Kaiserin mit Lobsprüchen wegen der bewaffneten Neutra¬
lität, durch welche eine neue Phase des Seerechts eingeleitet sei. Hätte die
Kaiserin, meint Joseph, diesen Krieg zu führen, so würde er schon lange be-
endet sein. Der plötzliche Abschluß des Friedens, die Verzichtleistung Eng-
lands auf die amerikanischen Colonien erregten den lebhaftesten Unwillen der
Kaiserin um so mehr, als es trotz aller Anstrengungen nicht gelungen war,
die guten Dienste der beiden kaiserlichen Höfe zur Geltung zu bringen. Joseph
und Katharina waren überzeugt, daß England durch eine solche Vermitte¬
lung einen günstigeren Frieden erlangt haben würde. Wir wissen aus den
Memoiren Se'gur's und aus dem Tagebuche Chrapowitzki's, daß Katharina
diesen Frieden als eine arge Demüthigung Englands ansah. Sie hat wohl
geäußert, daß sie an der Stelle des Königs sich eher eine Kugel durch den
Kopf gejagt als einen solchen Verlust verschmerzt hätte. Sie konnte nicht
begreisen, wie der englische Gesandte Fitz-Herbert, 1787 im Gespräche mit
Se'gur die Behauptung aufstellen konnte, daß der Verlust der amerikanischen
Provinzen für England geradezu vortheilhaft gewesen sei.*) Sie war erstaunt
als im Jahre 1786 ihr Leibarzt, der Engländer Nogerson, bemerkte, in Eng¬
land habe man schon lange vergessen, daß man die Colonien verloren habe.
So etwas, sagte sie, könne man nie vergessen.**)
Das bairische Tauschproject ist ebenfalls ein Gegenstand eingehender
Erörterung in dem Briefwechsel Joseph's mit Katharina. Der Teschener
Frieden von 1779 war eine Schlappe für die östreichische Politik gewesen.
Nur wenige Jahre nach demselben tauchten die Annexionsgelüste wieder aus.
Nachdem Joseph der Kaiserin von dem Tauschproject Mittheilung gemacht
hatte, ging Katharina mit Eifer auf diesen Plan ein und versprach ihre
Unterstützung. Ausdrücklich sagte sie, daß eine solche Arrondirung der Grenzen
Oestreichs auch für Rußland Vortheile biete. Indessen stieß man auf Schwierig¬
keiten und erging sich durch mehrere Briefe in spitzen Reden über Friedrich
den Großen, den Kurfürsten von Baiern und den Herzog von Pfalz-Zwei¬
brücken. Des russischen Gesandten Rumjanzow Auftreten zu Gunsten Joseph's,
seine im Januar 178S an den Herzog gerichtete Drohnote erregten den
Unwillen Preußens und haben wohl ihren Theil zum Mißlingen des Tausch-
projects beigetragen.
Die gereizte Stimmung zu Wien und zu Petersburg, in Betreff der
Haltung Friedrichs des Großen, gelangte in den Briefen Joseph's und Katha¬
rina's sehr oft zum Ausdruck. Der König von Preußen, schreibt Joseph
u. a. am 24. Februar 1781, habe den größten Vortheil von der Theilung
Polens gehabt; seine Ränke seien überall zu spüren, in Polen so gut wie in
der Türkei. Als nun gar der Fürstenbund entstand, schrieb Joseph mit
großer Bitterkeit über die ewigen Hindernisse, welche der König von Preußen
ihm bereite; er habe seine geheimen Canäle, durch welche er von allen Ent.
würfen erfahre; es sei geradezu so. als bedürfe man für alle Unternehmungen
der Zustimmung Friedrichs. „Wenn es in der Macht des letzteren stünde",
schreibt Joseph im Januar 1786, „die Hölle gegen mich und meine Freunde
herbeizurufen, so thäte er es gewiß, ohne an alle die Folgen eines solchen
Beginnens zu denken." Friedrich wolle, sagt Joseph weiter, den sogenannten
Fürstenbund bis nach Constantinopel hin ausdehnen. — Katharina sucht den
Kaiser wegen des Mißlingens der Annexion Baierns zu trösten: man müsse
solche Dinge mit Gleichmuth tragen und solchen Gegnern gegenüber ruhig
scheinen.
In ähnlicher Weise führte auch der Scheldestreit zu keinem Ziele. Indem
Joseph die freie Schifffahrt auf der Scheide für die belgischen Schiffe ver¬
langte, stützte er sich auf die neuen von Katharina vertretenen Grundsätze
des Seerechts. In seinem Schreiben vom 7. October 1784 theilte Joseph
der Kaiserin mit, er sei bereit, es auf einen Conflict ankommen zu lassen;
Antwerpen sei eine Seestadt, da die Fluth bis zur Stadt reiche; werde man
auf seine Schiffe schießen, so werde auch er schießen, übrigens würde es dann
doch eine mehr heitere als ernste Episode abgeben. Mit der größten Bereit¬
willigkeit entsprach Katharina dem Wunsche des Kaisers durch ihren Gesandten
in Haag die Forderungen Joseph's zu unterstützen. Auch hier glaubte man
auf die Ränke Friedrich II. zu stoßen. Ueber den ganzen Conflict, die Ver¬
mittelung Frankreichs, die Verhandlungen, welche zu dem Vertrage von Fon-
tainebleau führten, finden sich manche Einzelnheiten in dem Briefwechsel.
Schließlich zeigte sich Joseph recht zufrieden mit den Geldoortheilen, welche
er bei dieser Gelegenheit erlangte, dankte wiederholt der Kaiserin für die
Thätigkeit des russischen Gesandten und pries die Macht und den Einfluß
der Kaiserin in allen europäischen Angelegenheiten.
Mit inniger Theilnahme folgte Katharina den Ereignissen des Aufstandes
in den Niederlanden. Die Nachricht von dem Ausbruche der Unruhen
empfing der Kaiser in der Krim und beeilte seine Heimreise. Von großer
Aufregung zeugen die von Herrn von Arneth S. 294 und 295 mitgetheilten
Briefe des Kaisers an den Fürsten Kaunitz. Aus seinen Briefen an Katha¬
rina geht hervor, daß letztere ihm während der Reise Mäßigung in dem
Verhalten gegen die Niederländer gerathen hatte.*) Auf die Nachricht, daß
der Aufstand beigelegt sei, antwortete Katharina, welche die Verhältnisse
richtiger beurtheilte als der Kaiser, sie könne, ohne zu wissen warum, nicht
an eine völlige Beilegung dieser Unruhen glauben. Sie hatte Recht. Gerade
die letzten Tage des Kaisers wurden getrübt durch das neue Ausbrechen
des Aufstandes. In verzweiflungsvoller Stimmung schrieb der Kaiser kurz
vor seinem Ende an Katharina über diese Ereignisse. In ernstem Tone ist auch
der letzte Brief Katharina's gehalten, in welchem sie den Kaiser aufzurich¬
ten sucht.
In ganz anderer Stimmung behandelten Joseph und Katharina eine
Frage, welche für Rußland von ebenso großer Wichtigkeit war als das
bairische Tauschproject, der Scheldestreit und die niederländischen Unruhen
für Oestreich — die Haltung des schwedischen Königs Gustav III. Sehr
launig schilderte Katharina die Eitelkett Gustav's, der bei seiner Zusammen¬
kunft mit ihr in Frederikshamn seine Officiere nicht anders als in einem
phantastischen spanischen Costüm auftreten ließ und selbst sehr gerne sich im
Spiegel betrachtete. Sie habe, schreibt sie, dem Könige von Schweden ein-
geschärft, auf seiner Reise durch Europa beim Kaiser vorzusprechen; sie sei
überzeugt, daß der Eindruck von Joseph's Persönlichkeit wohlthätig auf
Gustav wirken werde. Die guten Beziehungen Gustav's zum französischen
Hofe gaben Veranlassung zu mancher spitzen Bemerkung. So bemerkt Katha¬
rina u. A., der König habe sich durch seinen Ausflug nach Frederikshamn
einen Verweis aus Paris zugezogen. Joseph theilt der Kaiserin beunruhi¬
gende Gerüchte von Aeußerungen mit, welche Gustav zum Nachtheil der
Kaiserin während seiner Reise gethan haben sollte; auch schreibt er von den
Plänen Gustav's, Norwegen mit Schweden zu vereinigen. Katharina lacht
darüber und bemerkt, das Lügen sei eine Gewohnheit Gustav's von Kindes¬
beinen an und dieses Uebel sei nicht einmal durch das Rittercostüm gebessert
worden, welches er zu tragen liebe. Sie spottet über die von hohen Ent¬
würfen vollen Köpfe und die an Geld leeren Taschen in Schweden, über
die Ausflüge Gustav's nach Berlin und Copenhagen vor dem Ausbruche des
russisch-schwedischen Krieges im Jahre 1788,*) über die Heldenthaten, welche
Gustav, mit Ritterhelm, Panzer und Beinschienen angethan, in Finnland zu
vollbringen gedenke, über seine Absicht, in Petechof einen Ball zu geben,
über seine Prahlerei und seinen Trotz in Deklarationen und Manifesten. —
Etwas später kommt es der Kaiserin sehr komisch vor, daß Gustav sich an
alle Höfe Europas wendet, um durch deren Vermittelung Frieden mit Ru߬
land zu erlangen, während ihm doch viel mehr daran zu liegen scheine, ganz
Europa in Brand zu stecken.
Diese Fragen boten ein einseitiges, entweder östreichisches oder russisches
Interesse dar; auch waren sie nur kurze Zeit auf der Tagesordnung. Von
unvergleichlich größerem und dauerndem Interesse aber war die orientalische
Frage, welche während der zehn Jahre des Briefwechsels zwischen Joseph
und Katharina auf der Tagesordnung blieb und die meiste Aufmerksamkeit
und Thätigkeit in Anspruch nahm. In dieser Zeit tauchte der Plan auf, der
Existenz der Türkei in Europa ein Ende zu machen; ein Königreich Dacier,
ein griechisches Kaiserthum zu gründen. In dieselbe Zeit fällt die Besetzung
der Krim, die Belagerung und Einnahme von Otschakow durch die Russen
und von Belgrad durch die Oestreicher, in dieselbe Zeit das enge Bündniß
zwischen Rußland und Oestreich, um nach einem neuen Türkenkriege, dessen
Ende Joseph nicht mehr erleben sollte, das osmanische Reich zu theilen.
Dieses Alles wog schwerer als das bairische Tauschproject, der Scheldestreit
oder der schwedisch-russische Krieg. Es war mehr System und Consequenz
in der Behandlung der orientalischen Angelegenheiten durch Joseph und
Katharina, als in vielen anderen Fragen, welche in jener Zeit die Cabinette
beschäftigten.
Schon sehr bald, nachdem die Zusammenkunft Josephs mit Katharina
in Mohilew (1780) stattgefunden hatte und ein freundschaftlicher Briefwechsel
eröffnet worden war, schlug Joseph der Kaiserin einen Garantievertrag vor
(1. Jan. 1782 S. 31). Gleichzeitig beginnen die Klagen der Kaiserin über
die Verletzung des Vertrags von Kutschuk-Kainardji durch die Türken. Sie
ersucht den Kaiser um seine guten Dienste bei der Pforte, worauf er mit
großer Bereitwilligkeit eingeht, dabei aber in schmeichelhafter Weise bemerkt,
daß die Kaiserin, welcher die Potemkin, Rumjanzow, Orlow, Repnin u. A.
zu Gebote stehen, eigentlich keiner weiteren Hilfe bedürfe (S. 43). Der förm¬
liche Abschluß eines Allianzvertrages zwischen Joseph und Katharina kam
wegen einer Formsache nicht zu Stande, welcher man damals große Wichtig¬
keit beimaß. Katharina verlangte das Allemal, welches bekanntlich darin
besteht, daß in einem der auszufertigenden Exemplare des Vertrages der eine,
in dem zweiten aber der andere der vertragschließenden Theile sich in der
ersten Stelle unterschreibt. Joseph glaubte als Oberhaupt des deutschen
Reiches, besonders in Rücksicht auf die Kurfürsten nicht darauf eingehen zu
dürfen. Er spottet fast über „das Phantom des Ehrenpostens", den er be¬
kleide, aber er lehnt den formellen Abschluß eines Vertrags ab. Statt dessen
schlug er vor. in gegenseitigen, sast völlig gleichlautenden Briefen Verpflich¬
tungen zu übernehmen, welche die bindende Kraft von rechtsgiltig abge¬
schlossenen Verträgen haben sollten. Der Vortheil einer solchen Erledigung
dieser Angelegenheit, meint Joseph, liege darin, daß man mit vollem Fug
und Recht allen andern Staaten gegenüber das Bestehen eines Vertrages
zwischen Katharina und Joseph ableugnen könne, während der Thatsache nach
ein solcher doch bestände. Besonders wichtig schien es, die Sache Preußen
gegenüber geheimzuhalten, und in der That scheint Preußen, wie Herrmann
meint, von den Vereinbarungen zwischen Joseph und der Kaiserin weniger
gewußt zu haben als England. Die officiellen Schreiben finden sich in dem
Buche des Herrn v. Arneth S. 72 bis 90. Joseph verspricht die in Europa
gelegenen Länder der Kaiserin gegen jeden etwaigen Angriff zu vertheidigen,
ihr im Nothfall mit einer Hilfsarmee oder einer entsprechenden Subfidien-
zahlung beizustehen und ohne Rußland keinen Frieden oder Waffenstillstand
zu schließen. Ein zweites Schreiben, das gewissermaßen die Stelle eines ge-
Heimen Separatartikels vertritt, betrifft die Haltung beider Mächte gegenüber
der Pforte, gegen welche, wenn dieselbe sich nicht nachgiebig zeigen sollte,
Joseph und Katharina gemeinsam Krieg zu führen bereit sind. In den ent¬
sprechenden Schreiben Katharina's finden sich ganz analoge Versprechungen,
Gewährleistungen früherer Verträge und des Territorialbestandes und die
Aussicht auf ein gemeinsames aggressives Vorgehen gegen die Türkei. Daß
Letzteres die Hauptsache, der eigentliche Kern des Vertrages war, ist aus
den Verabredungen zu ersehen, welche während der Zusammenkunft Joseph's
und Katharina's in Mohilew stattgefunden haben sollen, und aus der ganzen
Haltung, welche die beiden Mächte in der unmittelbar auf den Vertrag fol¬
genden Zeit gegen die Pforte beobachteten. Die östreichischen und russischen
Diplomaten wurden angewiesen, in allen Stücken gemeinsam zu handeln und
zu erklären, daß kein Vertrag zwischen Oestreich und Rußland bestehe. Man
darf sich nicht wundern, daß Friedrich der Große unruhig wurde. Erkundi¬
gungen einzog, sich direct an die Kaiserin mit einer Anfrage wandte, der sie
auszuweichen verstand. Dem Kaiser schrieb Katharina, sie halte Joseph's
Briefe, welche die Bedeutung von Vertragsinstrumenten hätten, unter Schloß
und Riegel wohlverwahrt in ihrer Arbeitsstube und zeige sie Niemandem.
Die Kaiserin hatte scherzweise erwähnt, sie hoffe, der Papst Pius werde
dem Kaiser die Schlüssel Roms überbringen und ihm den Vorschlag machen>
die Türken aus Europa zu verjagen. Joseph antwortet, er erwarte eine
solche Aufforderung nicht von dem Haupte der lateinischen Kirche, wohl aber
von der Kaiserin, die an der Spitze der griechischen Kirche stehe und deren
Fahnen zu folgen er stets bereit sein werde. Der Berliner Hof, fügt Joseph
hinzu, sei ohnehin bemüht, derartige Gerüchte von so weittragenden Ent¬
würfen zu verbreiten, in Constantinopel und in Paris vor Oestreich und
Rußland zu warnen. (S. 123.)
Es war das Zeitalter der Theilungen. Man kann die Annexion der
Krim, die Erwerbung der Otschakow'schen Steppe vom Bug bis zum Dnjestr
ebenso gut als ein äömsrnwemsnt der Türkei bezeichnen, wie man bet dem
Jahre 1772 von einer Theilung Polens zu sprechen pflegt. Es handelte sich
nur darum, daß die theilenden Mächte über den Beuteantheil eines Jeden
einig würden. Eine solche Einigung zu erzielen, waren Joseph und Ka¬
tharina in den Jahren 1782 und 1783 bemüht. Auf Katharina's Klagen
über die fortwährenden Unruhen in der Krim, antwortet Joseph, er sei
bereit, sich mit der Kaiserin über die Eventualitäen dieser Unruhen zu eini¬
gen, nur solle Katharina ihre Wünsche deutlicher formuliren (S. 136). Hierauf
folgt dann ein ausführliches Memoire der Kaiserin vom 10. Septbr. 1782*),
in welchem von einem bevorstehenden Kriege mit der Türkei als von einer
so gut wie abgemachten Sache die Rede ist, das muthmaßliche Verhalten
der anderen Mächte genau erörtert und schließlich eine Reihe von Annexio¬
nen ausgeführt wird, welche Rußland auszuführen beabsichtige. Es handelt
sich um die Gründung eines aus der Moldau, Wallachei und Bessarabien
zu bildenden Königreichs Dacier mit einem Herrscher griechisch-katholischer
Confession, um die Erwerbung Otschakow's und des ganzen Landstrichs
zwischen Bug und Dnjestr und einer oder zweier Inseln im Archipelagus
und endlich je nach den Kriegserfolgen um die Herstellung des griechischen
Kaiserreichs mit dem Großfürsten Konstantin als künftigem Herrscher. Dem
Kaiser werden Erwerbungen solcher Punkte am Mittelmeer in Aussicht ge¬
stellt, welche für den östreichischen Handel von Wichtigkeit seien.
Es ist auffallend, daß von der Erwerbung der Krim nicht ein Wort
gesagt wird. In dieser Zeit wurde Alles vorbereitet, wenige Monate später
war die Annexion der Krim eine vollzogene Thatsache. Besborodko, Po-
temkin hatten in ausführlichen Gutachten von der Erwerbung der Krim als
von einer nothwendigen und thunlichen Sache gesprochen. Rußland hatte
in den Ereignissen auf der Taurischen Halbinsel fortwährend seine Hand im
Spiel. Es war bereit, diese Frucht zu pflücken. Für Katharina war
im September 1782 die Erwerbung der Krim beschlossene Sache, während
Joseph, als dieselbe erfolgt war, etwas spät davon in Kenntniß gesetzt wurde.
Es ist nicht anzunehmen, daß Katharina diesen Punkt als selbstverständlich
mit Stillschweigen übergehen konnte. In späteren Briefen wird von dem
Kampfe der Parteien in der as jure damals noch völlig unabhängigen Halb¬
insel als von einer durchaus schwebenden Frage gesprochen.
Einige Wochen verstrichen, ehe Joseph seine Antwort aus das große
Memoire der Kaiserin absandte.**) Die Kopfrose, an welcher er in dieser
Zeit litt, hatte einen Aufschub veranlaßt. Joseph warnte vor Preußen und
Frankreich, welche der Ausführung der Pläne Hindernisse in den Weg legen
würden, versichert, daß seinerseits der Erwerbung Otschakows und einiger
Inseln im Archipelagus durch Rußland natürlich keinerlei Schwierigkeiten
begegnen würde, daß aber die Gründung Daciens und eines griechischen
Kaiserreichs von dem Erfolge eines Krieges abhänge. Hierauf.zählt Joseph
seine Wünsche auf. Er will Chotin, einen Theil der Wallachei, einige feste
Plätze an der Donau, den Landstrich von Belgrad bis zum adriatischen
Meere westlich und — einen bedeutenden Theil der venetianischen Länder
auf dem Festlande, in Jstrien und Dalmatien. Die Venetianer aber sollen
durch die Erwerbung von Morea, Candia, Cypern und anderen Inseln ent¬
schädigt werden.
Es waren weittragende Entwürfe. Man theilte und tauschte Länder
und Unterthanen, wie dieses im bairischen Tauschproject beabsichtigt, zuletzt
noch auf dem Wiener Congresse thatsächlich ausgeführt wurde.
Auch Katharina nahm einige Zeit in Anspruch, um Joseph's Wünsche zu
beantworten. Während mehrere Briefe gewechselt wurden, bereitete sie ihre
Antwort vor. In derselben, welche vom 4. Januar 1783 datirt ist, erscheint
die Kaiserin weit entfernt davon den Wünschen Joseph's entsprechen zu wollen.
Entschieden spricht sie sich gegen eine Annexion venetianischen Gebiets durch
die östreichische Monarchie aus: es liege viel an der Zustimmung der Republik
zu den Plänen der beiden Kaiserhofe; auch dürfe das zu gründende griechi¬
sche Kaiserthum nicht durch Abtretung von Morea und einigen Inseln im
Archipelagus geschmälert werden. Im Uebrigen sei sie, die Kaiserin, bereit
jeden nur irgend thunlichen Vortheil dem Kaiser zuzuwenden.
Joseph wallte auf. Es sei klar, schreibt er an Kaunitz, daß die Kaiserin
ihn hinters Licht führen wolle, nun sollte sie sich bald davon überzeugen,
daß er nicht so leicht in die Falle gehen werde. Die Antwort, welche der
Kaiser entwarf, war in so gereiztem Tone gehalten, daß Fürst Kaunitz ent¬
schieden die Absendung derselben widerrathen zu müssen meinte: durch ein
solches Schreiben könne das ganze Verhältniß zur Kaiserin einen Stoß für
alle Zeiten erhalten. So wird denn die Antwort des Kaisers in veränderter
Redaction abgeschickt. Der Schwerpunkt dieser Antwort liegt darin, daß
Joseph die Theilungspläne für den Augenblick aufgibt: die Türkei, sagt er,
gebe in manchen streitigen Punkten nach, der Steg sei unnöthig.
Jetzt war wiederum Katharina sehr unzufrieden. Ihre Kriegslust hatte
keineswegs abgenommen. Ein momentanes Nachgeben der Pforte, meint sie,
habe nichts zu bedeuten: die Erfahrung lehre, daß man auf dergleichen Ver¬
sprechen nicht bauen dürfe; sie sei sehr erstaunt über diese plötzliche Aenderung
in den Ansichten Joseph's; sie habe nicht daran gezweifelt, daß Joseph den
in Vorschlag gebrachten Plan, welcher eines Cäsars würdig, groß und vor¬
theilhaft sei, sofort ausführen werde. — Joseph merkte es wohl, wie viel
Gereiztheit in dem Briefe der Kaiserin war. Er machte Kaunitz darauf auf-
merksam. Aber für den Theilungsplan war er nicht so bald wieder zu er¬
wärmen. Katharina mußte zunächst einseitig gegen die Pforte vorgehen.
Einige Wochen hindurch, während deren die Einverleibung der Krim
vorbereitet wurde, scheint der Briefwechsel gestockt zu haben. Denn am
7. April 1783 schreibt Katharina, die Intriguen der Pforte veranlaßten sie
zu einem entschiedeneren Vorgehen: sie lasse es auf einen Krieg ankommen,
sei aber nicht gesonnen, der östreichischen Monarchie im Falle eines solchen
Krieges zuzumuthen, daß dieselbe zur Aufrechterhaltung russischer Ansprüche
Opfer bringe. Rußland's Mittel würden dieses Mal ausreichen, die Pforte
zur Vernunft zu bringen. In einer für den Kaiser schmeichelhaften Wen¬
dung spricht Katharina indessen zum Schlüsse die Hoffnung aus, daß Joseph ,
dem Kampf nicht völlig fremd bleiben werde (S. 198). Gleich darauf erhielt
Joseph die officielle Mittheilung über die Besetzung der Krim und die Be¬
stätigung dieser Nachricht durch einen Privatbrief der Kaiserin.
Joseph hatte gegen dieses Ereigniß nichts einzuwenden. Jede Schmä-
lelung der Macht und des Einflusses der Türkei war ihm lieb. Würden
die Türken im Schwarzen Meere durch die russische Flotte in Schach ge¬
halten, so war um so weniger von ihnen für die östreichische Monarchie zu
fürchten. Hatte ferner Rußland gegenüber der Pforte einen solchen Vortheil
erhascht, so war es um so wahrscheinlicher, daß später oder früher auch die
östreichische Monarchie in ähnlicher Weise eine Vergrößerung erleben würde.
Das alte Band, welches die beiden Kaiserhofe vereinigt hatte, ward immer
stärker geschlungen durch die Aussicht auf solche Erwerbungen. In mehreren
Briefen dankt Katharina dem Kaiser für seine Haltung bei der Erwerbung
der Krim und immer wieder verspricht sie ihm zur Erlangung, ähnlicher Vor¬
theile für die östreichische Monarchie behilflich zu sein; sie warte nur auf eine
günstige Gelegenheit, sich dem Kaiser erkenntlich zu zeigen. Joseph unterläßt
nicht, jedesmal für eine solche Bereitwilligkeit seinen lebhaftesten Dank und
die Hoffnung auszusprechen, daß er später oder früher die Kaiserin werde
beim Worte nehmen können. Aus einem Handbillet an Kaunitz ist zu er¬
sehen, daß Joseph glaubte, die Kaiserin wolle ihm zu dem Besitz der Moldau
und Wallachei verhelfen. Die große Anstrengung, welche Katharina gleich
darauf machte, dem Kaiser beim Tauschproject und beim Scheldestreit zu
helfen, zeugt davon, daß Katharina in der That sich dem Kaiser verpflich-
tet fühlte.
Aus mehreren Briefen der Kaiserin geht hervor, daß sie den Ausbruch
eines Krieges mit der Pforte bei Gelegenheit der Erwerbung der Krim für
sehr wahrscheinlich hielt. Es kam indessen nicht sofort zum Kriege und Joseph
äußerte sich sehr zufrieden über die Erhaltung der Ruhe im Osten. Seine
westeurpäischen Entwürfe nehmen ihn in Anspruch. Doch war der Krieg
nur vertagt. Bald hörte man von Rüstungen in der Türkei. Französische
Officiere und Ingenieure, welche nach der Türkei reisten, um die Festungen
und das Heer in Stand zu setzen, erregten die Aufmerksamkeit Joseph's und
Katharina's.
Im Jahre 1786 scheint wiederum Alles zu einem Bruche mit der Pforte
reif zu sein. In langen Briefen klagt Katharina über allerlei von den
Türken verübte Feindseligkeiten. Gleichzeitig fordert sie den Kaiser auf, mit
ihr in Südrußland zusammenzutreffen. Joseph war über eine so beiläufig
in einer Nachschrift leichthin erwähnte Einladung nicht wenig unzufrieden.
Er werde, schreibt er an Kaunitz, diese „katharinisirte Prinzessin von Zerbst"
empfinden lassen, daß man nicht so mit ihm umspringen dürfe. Er gedachte
die Aufforderung zur Reise entschieden abzulehnen. Nur auf Zureden des
Fürsten Kaunitz entschloß er sich zur Reise. Die Briefe, welche nun folgen,
werden kürzer und bieten keinen so reichen Inhalt wie die vorhergehenden.
Mehrere Wochen hindurch waren Katharina und Joseph zusammen und die
dadurch entstehende Lücke in dem Briefwechsel wird nur zum Theil durch
die von Herrn von Arneth im Anfange mitgetheilten Reiseberichte des Kaisers
an Lascy ausgefüllt. In diesen Briefen verweilt Joseph vorzugsweise bei
dem Stande der russischen Armee und Flotte, spricht eingehend von der
Bewaffnungsart und militärischen Verwaltung der Russen, über die Mängel
aller Anstalten, den Leichtsinn, mit welchem man ungeheure Mittel verschwende,
über die schlechte Verpflegung der Soldaten, über das Mißverhältniß zwi¬
schen den in officiellen Verzeichnissen und in Wirklichkeit existirenden Truppen.
Die Bemerkungen über die merkwürdige Lage von Baktschisera, Sewastopol
und anderen Städten sind von großem Interesse. Ueber die orientalische
Sache, über den etwa bevorstehenden Krieg mit der Pforte, über die Ver¬
handlungen und Gespräche mit Katharina und den sie begleitenden Gesandten
der Westmächte, äußert sich Joseph sehr kurz und oberflächlich. Die Frage,
inwieweit man diese Reise Joseph's und Katharina's als eine Veranlassung
zum Kriege mit der Pforte, welcher unmittelbar darnach ausbrach, ansehen
könne, wird durch diese Materialien nicht beantwortet. Auch das. was
wir aus den Briefen des Fürsten von Ligne oder den Memoiren Sigur's
über diese Reise wissen, zeigt, daß es zwischen Joseph und Katharina zu
keinen festen Vereinbarungen in Betreff der orientalischen Entwürfe kam.
Katharina, so viel ist gewiß, war kriegslustig; Joseph war geneigt, den
Frieden zu erhalten.
Der Krieg brach wenige Wochen nach dem Aufenthalt Katharina's und
Joseph's in Südrußland aus. Sehr aufgebracht schreibt Joseph über die
Einsparung Bulgakow's in die Sieben Thürme und bedauert, daß die
Kaiserin und er nicht in Sewastopol seien, um von da aus sogleich mit
Kanonen dem Großherrn einen guten Morgen zuzurufen (S. 299). Die
Verpflichtung. Rußland im Falle eines Angriffs beizuspringen, erfüllte Joseph
gewissenhaft. Auch er erklärte der Pforte den Krieg, obgleich er seine Besorg-
niß vor einem etwaigen Einschreiten Preußens zu Gunsten der Pforte nicht
verhehlte.
Die Feldzüge der Jahre 1788 und 1789 waren weder russischer- noch
östreichischerseits reich an Erfolgen. Mit einem großen Aufwands von Zeit
und Mitteln gelang es den Russen, Otschakow, den Oestreichern Belgrad zu
nehmeÄ. Die Alliirten klagten einander fortwährend der Unthätigkeit an
und reclamirten gegenseitige Hilfeleistung. In dem Briefwechsel zwischen
Joseph und Katharina ist indessen in dieser letzten Zeit nicht die Gereiztheit
wahrzunehmen, welche sich in einigen Aeußerungen Potemkin's, Rumjanzow's
und de Ltgne's kund thut. Katharina und der Kaiser beglückwünschen ein¬
ander zu Kriegserfolgen, so spärlich dieselben auch errungen wurden, theilen
einander Einzelnheiten und Entwürfe über die Feldzüge mit und berühren
gelegentlich andere Fragen der allgemeinen europäischen Politik.
Joseph's Stimmung verdüsterte sich mehr und mehr. In einem Hand¬
billet an Kaunitz (S. 329) tadelt er in starken Ausdrücken die Kriegspläne
der Russen; in den Briefen an Katharina klagt er über den Aufstand in
den Niederlanden, über die Gefahr von Seiten Preußens, über seine Krank¬
heit, deren Zerstörungswerk Katharina mit ängstlicher Spannung beobachtete.
Noch war der Krieg nicht beendet, während dessen das auf acht Jahre
zwischen Joseph und Katharina im Jahre 1781 abgeschlossene Bündniß auf
weitere acht Jahre erneuert wurde; noch war man weit vom Frieden, den
Joseph, wie aus mehreren Briefen hervorgeht, sehnlichst herbeiwünschte, ja in
welchem er die einzige Rettung für die östreichische Monarchie sah, als
Joseph's Tod den innigen Beziehungen zwischen Rußland und Oestreich ein
Ende machte. Leopold's Haltung und Politik waren völlig andere. Katha¬
rina hatte in Joseph einen Freund und einen Bundesgenossen verloren, dessen
Bedeutung für Rußland man erst durch Herrn von Arneth's Buch hinreichend
zu würdigen in Stand gesetzt ist.
In Eckermann's Gesprächen wird die Aeußerung Goethe's berichtet, daß
in den Wahlverwandtschaften mehr stecke, als irgend Jemand bei einmaligem
Lesen aufzunehmen im Stande sei (II. 42) und daß man zur Zeit, da
der Roman erschien, wie später, dem Dichter nicht eben viel angenehmes
über sein Werk erzeigt habe (I. 216). Die letztere Aeußerung wird durch
eine ganze Reihe bekannter zeitgenössischer Urtheile (auch von Wieland) be¬
legt, die erstere dürfte durch die folgende Stelle aus einem Briefe Wieland's
am besten bestätigt werden. Am 10. Februar 1810 schrieb Wieland an seine
Tochter Charlotte, die Gemahlin Heinrich Geßners, nach Zürich:
„Verzeihe, liebes Kind, daß ich Dein Verlangen, mein Urtheil von den
Wahlverwandtschaften, (an welchen dieser Titel, dünkt mich, das einzige
alberne ist), zu wissen, diesmal nicht stillen kann. Das Werk wird von den
Einen zu übermäßig gelobt, von den Andern vielleicht zu scharf getadelt, auch
gehört es von einer Seite unter die besten, von der andern unter die tadelns-
würdigsten Producte seines genialischer, aber das Publicum gar zu sehr
verachtenden Urhebers. Das Buch muß (wie Goethe selbst sagt) dreimal
gelesen werden und ich zweifle nicht, wenn Du es zum drittenmal, folglich
mit ganz ruhiger Besonnenheit gelesen hast, so wird Dein eignes Urtheil
mit dem meinigen ziemlich zusammenstimmen. Adieu" :c.
Heinrich Geßner, der Herausgeber der in Zürich 1816—1816 erschienenen
Sammlung Wieland'scher Briefe, hat, wie man leicht sieht, den diese Stelle
enthaltenden Brief nicht blos deshalb unberücksichtigt gelassen, weil größten-
theils Familienangelegenheiten dessen Inhalt bilden. Im Nachlaß H. Geß-
ner's, dessen Durchsicht mir Herr Dr. A. Geßner in Zürich gütigst gestattete,
finden sich aber auch noch einige andere Briefe Wieland's, von denen ich hier
einen sehr charakteristischen und merkwürdigen an seinen Sohn Ludwig mit¬
theile. Das Verständniß der Familienverhältnisse möge ein vorgesetzter Brief
des Sohnes mit Nachschrift des Vaters geben:
Ludwig Wieland an Heinrich Geßner in Bern. Osmannstädt,
den 26. Sept. (?) 1800. Wahrscheinlich haben Sie, lieber Bruder, mich schon
längst aus der Liste Ihrer Angehörigen und Lieben ausgestrichen und mit
Recht, denn womit kann ich das gänzliche Stillschweigen so mancher Jahre
gegen eine Schwester, die ich zärtlich lieoe, und einen Bruder, den ich so sehr
achte, entschuldigen? Und doch ist die Ursache davon nicht Vergessenheit noch
flatterhafter Leichtsinn, der aus dem Sinn verliehrt, was ihm nicht mehr ins
Auge fällt; mich dünkt, es ist eine Eigenheit und Albernheit des Menschen
von Gefühl, daß sie es wo nicht gar verbergen, doch selten an das Tages¬
licht bringen; sie glauben zu fest an eine innere gleichsam angebohrne Sym¬
pathie, 'die ohne äußere Nahrung gleich lebendig fortglüht. Um mich in Ihr
Gedächtniß zurückzurufen, ist wohl nur ein Mittel übrig, nehmlich mich Ihnen
in Lebensgröße zu zeigen und Dank sey es der Güte meines Vaters, daß
es mit dieser Drohung wahrscheinlich Ernst werden wird.
Nur zwey Schwierigkeiten stehen diesem schönen Project in den Weg:
Ihre Genehmigung, bei Ihnen eine Zeitlang verweilen zu dürfen, und der
wieder auszubrechen drohende Krieg. Die zweyte ist die minder wichtige, da
ein so harmloses Geschöpf, wie ich. sich schmeicheln darf, unangefochten zu
bleiben und der Schlupfe und Nebenwege ja überall so viele sind, auch kann
der Krieg die Ausführung meines Planes nur eine kurze Zeit verzögern,
denn die eiserne Nothwendigkeit wird bald den ersehnten Frieden herbey-
bringen, den despotische Willkühr vergebens aufzuhalten sucht.
Von meinen Ideen und Wünschen mit Ihnen auch in mertantilischer
Hinsicht verbunden zu seyn, läßt sich besser mündlich reden, nur so viel möchte
ich bald erfahren, ob Sie etwa gesonnen sind, den Buchhandel ganz auf¬
zugeben? Zürich oder Bern ist, dünkt mich, der gelegenste Ort. von dem
aus eine Buchhandlung ihre Flügel über Deutschland. Frankreich. Italien
und England ausbreiten könnte. Das Gedeihen so vieler stupiden und un¬
wissenden Buchhändler läßt mich hoffen, daß man bey diesem Gewerb mit
etwas mehr Urtheilskraft und Bekanntschaft mit dem Geiste des Zeitalters
ein beträchtliches Glück machen könne. Ein Mann allein und wenn er auch
der thätigste und geschickteste wäre, kann von Zürich aus. wegen der Ent¬
fernung des Ortes seine Geschäfte nicht über das nördliche Deutschland aus¬
breiten, wo doch gegenwärtig am meisten gelesen und geschrieben wird, daher
wird ein Compagnon erfordert, der etwa in Leipzig ein Etablissement hätte
und dazu könnte ich mich bald tüchtig machen, wenn wir erst über den Plan
des Ganzen einig wären.
Aber wenn auch diese unreife jugendliche Idee nicht Ihren Beyfall er¬
halten sollte, so kann doch der Aufenthalt in Bern für mich sehr nützlich seyn,
weil er die beste Gelegenheit darbietet, sich die französische Sprache eigen zu
machen. Auf jeden Fall machen Sie und Ihre liebe Frau sich gefaßt, mich
bald an und auf dem Hals zu haben. Ich schließe diese Epistel, um mit
meiner geliebten Schwester noch ein Wenig vom Wiedersehen plaudern zu
können. Leben Sie recht wohl und schenken Sie mir bald einige Zeilen.
(Daran von Chr. M. Wieland's Hand:)
„Ich kann nicht umhin, mein lieber Sohn Geßner, diesem Brief un¬
seres Louis etliche Zeilen von meiner Hand beyzufügen, um Euch sein An¬
liegen bestens zu empfehlen und Euch zu sagen, daß Ihr mir einen höchst
angenehmen Dienst erweisen würdet, wenn Ihr ihn (versteht sich ohne Euern
mindesten Nachtheil) für einige Zeit, zu Euerm Kostgänger annehmen, ihm
gute, nützliche Bekanntschaften in Bern verschaffen und ihn wo mög.
lich auf die Art, die er selbst wünscht, oder auf einige andere seiner Fähigkeit
angemessene Weise beschäftigen wolltet. Ich hoffe, er wird Euer Zutrauen
bald gewinnen. Er hat sehr viel Kopf, Anlagen und Karakter; und, seiner
anscheinenden Kälte ungeachtet, kann ich für die Güte und Redlichkeit seines
Herzens stehen." .... (Es folgen einige geschäftliche Notizen über das
attische Museum, dessen Eingehenlassen W. schon mit dem 3. Hefte des
3. Bandes beabsichtigte.) „Nun Adio mein lieber Sohn H. Ich umarme
Euch von ganzem Herzen. E. G. V.
Chr. M. Wieland an Ludwig Wieland. —O. (Osmannstädt), den
10. Juni 1802. — Mein lieber Sohn ! Ich kann mich nicht darüber beschweren,
daß mir Dein Brief vom 9. May von eurer neuesten Revolution nichts mehreres
offenbart, als was ich schon aä satiewtom usyus in den Zeitungen gelesen
hatte. Freilich wünschte ich über die Beschaffenheit und den Zusammenhang
der Ursachen und Wirkungen aller zeitherigen Politischen Krämpfe und Wehen
der neuen helvetischen Republik, (die für mich lettres oloses sind), endlich
ein mal ins Klare zu kommen, ich sehe aber wohl, daß, wenn Dir auch alle
geheimen Triebräder und das ganze äössous ass cardo8 bekannt wäre, (was
doch wohl schwerlich der Fall sein mag), es doch keineswegs räthlich wäre,
die Aufschlüsse, die Du mir darüber geben könntest, einem Briefe zu ver¬
trauen. Das wovon ich gänzlich überzeugt bin ist, daß dem kleinen Helvezien
sowie dem großen Frankreich, nur durch Einen Mann geholfen werden könnte,
der für Euch wäre, was Napoleon Bonaparte für die Franzosen ist. Gäbe
es innerhalb der Rhone, der Aar und des Rheins einen solchen Mann, so
müßte er sich schon lange gezeigt haben. In meiner Jugend kannte ich einen,
aber er kam 40 Jahre zu früh in die Welt. Es war der ehemalige Bürger¬
meister Heidegger in Zürich. Leider ist nicht zu hoffen, daß seines Gleichen
sobald wieder erscheine. Mit bloßen guten verständigen ehrlichen Bieder¬
männern vom gewöhnlichen Schweizer-Schrot und Korn ist euch so wenig
gedient, als mit Spitzköpfen, Schwärmern, demokratischen Knollfinken oder
vernagelten Berner und Friburger Aristokraten. Ich sehe nur ein Mittel,
wie die Schweitz Wiedergebohren werden kann, und dies ist, daß Napoleon
ihr die Barmherzigkeit erweise, die er an der Cisalpinischen Republik erwiesen
hat, und daß er selbst komme, alle Schweitzer, denen der Kopf nicht
wackelt und denen aliyuiä fällt in laevs, xarts marmllas, zu sich berufe und
einen Vicepräsidenten aus ihnen erwähle, der euch, unter seinen Befehlen,
regiere und mit dem Beistand einer hinlänglichen bewaffneten Macht, aller
Fehde, allen Factionen, Intriguen, Kabalen, Narrheiten und Teufeleien ein
Ende mache. An politische Selbständigkeit der Schweitz ist gar nicht mehr
zu gedenken; sich ihre rseuxeration nur träumen zu lassen, wäre das gröste
riäieule. ein wahrer Lalleburger Einfall: Helvezien, sowie die lombardische
und Batavische Republik sind nun einmal nichts als Vorstädte der großen
gallischen vivitas, können nichts andres mehr sein, und werden, so lange
diese dauert, nichts anderes werden. Dies ist mir so klar und evident als
daß kein Ich ohne ein Nicht-Ich seyn kann. Möge der Himmel den guten
schwerem soviel Erleuchtung geben, daß sie dies einsehen und sich ein für
allemahl mit guter Art in ihr Schicksal finden und fügen; denn das physisch
unmögliche kann nur ein Kindskopf oder ein Wahnsinniger bewirken wollen.
Was ich Dir schon mehr als Einmahl geschrieben habe, lieber L., muß ich
auch itzt wiederhohlen: ich wünsche herzlich, daß Du in der Schweitz möchtest
bleiben und einwurzeln können. Ich müßte mich sehr irren, oder Du längst
nirgends besser hin. Geht es aber nicht an, so komm immerhin aus den
Herbst wieder zu mir zurück, wiewohl ich in Deutschland keinen Ausweg für
Dich sehe. Für einige Zeit wirst Du Dich wenigstens um so eher bey mir
behelfen können, da ich hoffe und beynahe gewiß bin, daß'ein ganz anderes
Verhältniß zwischen uns Statt finden würde, als ehemals und daß Du mir
von großer ressouroe seyn würdest.
Der Tod Deiner Mutter hat einen unheilbaren Riß in meine Existenz
gemacht. Oßmannstädt ist nicht mehr für mich, was es war; mitten unter
den Meinigen fühle ich mich so allein, als in einer unbewohnten Insel und
bin es auch, ungeachtet alles guten Willens derer, die mich umgeben. Was ich
mit Deiner Mutter verloren habe, ist unsäglich und den meisten Leuten unbe¬
greiflich; ich müßte in Medeas Kessel regenerirt werden und von neuem zu
leben anfangen, wenn es mir sollte ersetzt werden können — und wahrlich
auch dann müßte sie zugleich wieder aufleben und den Platz wieder bey mir
einnehmen, den keine andre ausfüllen kann. Von Grund aus ist mir also
freylich nicht zu helfen, aber gegen den traurigen Mangel eines Wesens um
mich her, dem ich mich mittheilen kann, würde der Umgang mit Dir, lieber L.,
ein für mich wohlthätiges Mittel seyn. Wahrscheinlich würde ich dann den
Plan, mit dem ich seit einiger Zeit umgehe, und dessen Realisirung alle meine
weimarischen Freunde mit großem Eifer betreiben, wenigstens auf ein Jahr
weiter hinaussetzen. Dieser Plan ist, das Gut zu O. dem E.....pachtweise
zu übergeben..... Auf alle Fälle beschließe ich hierüber nichts definitiv, bis
ich weiß, ob Du kommst oder nicht.
Dein neuer Freund v. Kleist interesstrt mich so sehr, daß Du mich durch
nähere Nachrichten von ihm sehr verbinden würdest. Natürlich bin ich
auch begierig, mit dem ersten Product, womit Du (wiewohl incognito) im
Publico aufgetreten bist, bekannt zu werden. Melde mir also den Titel und
den Verleger, damit ich baldmöglichst mich in den Besitz eines Exemplars
setzen könne.*)
Dem T. Merkur wird vermuthlich am letzten dieses Jahres zu Grabe
geläutet werden. Der Absatz nimmt mit jedem Jahrgang ab und was der
dermahlige Verleger pr. Honorar geben will, ist weniger als der elendeste
Romanschreiber verdient. Ueberhaupt hat es noch nie so schlecht um den
Buchhandel gestanden als dermahlen. Von Geßnern habe ich seit Jahr und
Tag keine Zeile erhalten. Ich wünsche sehr zu wissen, wie seine Sachen
stehen, und was für Aussichten er in der neuen Ordnung der Dinge hat.
Wenn den Zeitungen zu glauben wäre, so ließe sich alles ganz gut bey Euch
an; in Frankreich hingegen zeigen sich seitdem sich Napoleon zu dem bekann¬
ten, (wie ich besorge) falschen Schritt hat verleiten lassen, Aspecten von
schlimmer Vorbedeutung. Schreibe mir so oft als möglich, lieber Sohn, und
sey versichert, daß niemand meinem Herzen näher ist als Du. Tausend herz¬
liche Grüße an Deine gute Schwester und ihren Mann. Wollte Gott, ich
könnte den Rest meines Lebens bey Euch in der Schweitz beschließen! Lebt
Vielleicht veranlaßt diese Veröffentlichung etwa noch vorhandene Briefe
des Sohnes Ludwig Wieland ans Tageslicht zu bringen, in denen er dem
Vater über Heinrich von Kleist Nachricht gab. —
Mit der Ernennung Geßler's, des Kanzlers der Universität Tübingen,
zum Minister des Cultus und Unterrichts ist das Ministerium wieder ver¬
vollständigt. Erst nach dieser Ergänzung werden nun vollends die Abstriche
im Budget, mit welchen die Stände bei ihrem Wiederzusammentritt erfreut
werden sollen, definitiv festgestellt werden, denn dieselben müssen nicht blos
den Kriegsetat sondern nach Billigkeit auch die andern Departements, und
besonders den etwas luxuriös ausgestatteten Etat des Herrn Golther be¬
treffen. Da der nunmehrige Nachfolger des letzteren bisher die Stelle des
Präsidenten der Abgeordnetenkammer bekleidete, wird die Wiedereröffnung
der Session zunächst durch einen Kampf um den Präsidentenstuhl bezeichnet
sein. Doch ist wie heute die Parteiverhältnisse liegen, an dem Sieg der
verbündeten ultramontanen und demokratischen Partei nicht zu zweifeln, so
daß die Krone in der Lage sein wird, unter drei aus dieser Kategorie ihr
präsentirten Ecmdidcrten die unerfreuliche Wahl zu treffen.
Dem Ministerium vom 24. März bringt diese Ernennung eine tüchtige
Kraft zu, an der Befähigung Geßlers zu seinem neuen Amt zweifelt Nie¬
mand. Vor Allem wird nun ein ruhigeres Temperament in die Geschäfte
dieses Departements kommen. Unstreitig hatte Golther mit der ihm eigenen
ehrgeizigen Thätigkeit seine Verdienste, besonders für die Förderung der ver¬
schiedenen Zweige des realistischen Unterrichts. Aber es war etwas Unruhi¬
ges, Uebereifriges, Foreirtes in seinen unablässigen Reformen. Würtemberg
sollte ein Treibhaus für verfeinerte europäische Cultur werden. Man be¬
gnügte sich nicht, da wo es nothwendig war zu bessern, die Hauptsache schien,
daß Alles gehörig in Scene gesetzt wurde. Man arbeitete nicht auf den
Schein, doch auf den Effect. Nicht geringen Theil an den Neuerungen im
Unterrichtswesen, die von einer diensteifrigen Presse als epochemachend aus¬
posaunt wurden, hatte die Eitelkeit, und nicht zum wenigsten die Eitelkeit
des Stammes, dem täglich die süße Rede ins Ohr geträufelt wurde, zwar
sei Würtemberg ein Reich von bescheidenem Umfang, dennoch dürfe es mit
Fug und Recht den Großstaaten mit ihrer eingebildeten militärischen Größe
sich an die Seite stellen, ja es sei ihnen in der Pflege geistiger Interessen
weit vorausgeeilt, es sei die Bewunderung Europas, das Mekka für die, Be¬
lehrung schöpfenden, Schulmänner aus allen fünf Welttheilen, und alles
dies Dank der unermüdlichen Fürsorge Sr. Excellenz des Herrn Cultus¬
ministers von Golther. So wurde die Ueberreizung auf diesem Gebiet ge¬
radezu ein berechnetes Moment der würtembergischen Politik. Sie trug nicht
wenig dazu bei jenen Stammesdünkel zu nähren, der doch der letzte Grund
aller abstoßenden Erscheinungen am oberen Neckar ist. Aus dieser be¬
sonderen Culturmisston schöpfte man, wie man sich einredete, die Berechti¬
gung zum Widerstand gegen den rohen Militarismus des norddeutschen
Staatswesens. Die Stände selbst, sonst so karg, fühlten sich geschmeichelt,
durch reiche Bewilligungen zu diesem Ruhm des Landes beitragen zu dürfen.
Während sonst an allen Orten und Enden jedes angebliche Bedürfniß scru-
pulös angezweifelt und geprüft wurde, konnte Golther sich erlauben, über die
Mittel des Staats wie der Gemeinden fast unbeschränkt zu verfügen. Man
kann eine aufrichtige Hochachtung vor der Volksbildung empfinden, und es
doch z. B. für ein Experiment von zweifelhaftem Werth halten, wenn für
jede Dorfschule die Anschaffung einer Electrifirmaschine angeordnet wird. Und
die Resultate blieben trotz alledem fraglich. Es wäre schwer zu behaup¬
ten, daß unser Volk z. B. bei den letzten politischen Wahlen einen außer¬
ordentlichen Grad von Einsicht und feiner Bildung an den Tag gelegt hätte.
Eine ausgesprochene politische Gesinnung, wie sie seinem Vorgänger
eigen war. bringt der neue Cultusminister, so viel man weiß, nicht mit. Das
neue Cabinet erhält durch ihn keine schärfere Nuance weder nach der einen
noch nach der anderen Seite. Im Jahr 1830, als die Anhänger der Gothaer
Partei aus Anlaß einer Versammlung zu Plochingen auch in Würtemberg
sich zählten, befand sich unter den Unterzeichnern jenes Programms auch der
damalige Assessor oder Oberjustizrath Geßler, aber der Zufall will es, daß
neben seinem Namen damals kein anderer zu lesen war als der seines Vor¬
gängers im Cultusministerium, des Herrn v. Golther, ein hinreichender Be¬
weis, daß dies alte vergessene Geschichten sind. Dagegen ist es noch in guter
Erinnerung, daß im December 1868, als es sich um die Wahl des Präsi¬
denten der Abgeordnetenkammer handelte, Geßler der Candidat der verbün¬
deten conservattven und nationalen Partei war, die ihn nur mit Mühe gegen
Probst, den Candidaten der Ultramontanen und Demokraten durchsetzen
konnte. Der letztere ging erst an zweiter Stelle aus der Wahl der Kammer
hervor und mußte sich dann mit dem Posten des ersten Vicepräsidenten be¬
gnügen. Mit seiner verständigen leidenschaftlosen Natur mag übrigens
Geßler auch in politischer Beziehung ein Gewinn für das Ministerium sein,
wenn schon sein Debüt, sein Schreiben an den ständischen Ausschuß, worin
er die Niederlegung der Präsidentenwürde anzeigte, unglücklich genug auffiel.
In den politischen Bemerkungen, die doch Niemand vom Cultusminister er¬
wartete, spiegelte sich recht die Unklarheit in dem politischen Programm der
heutigen Regierung wieder.
Es ist inzwischen eine Reihe von officiellen und officiösen Auslassungen
der Minister, zunächst für die Beamten bestimmt, erfolgt, aus welchen man
auf ihre nächsten Absichten schließen kann. Auch die vertraulicheren Wei¬
sungen sind rasch ans Tageslicht gekommen. Dank den Jndiseretionen ein¬
zelner Adressaten, welche sich beeilten, dieselben dem „Beobachter" einzusenden,
und durch diese Verbindung mit dem Organ der radikalen Opposition jeden¬
falls den triftigsten Beweis lieferten, daß es hohe Zeit ist, der einreißenven
Anarchie nach Kräften zu steuern. Konnte doch bereits auf Volksversamm¬
lungen der tolle Beschluß gefaßt werden, daß ein Manifest der Demo-
kratie an die Beamten erlassen werden solle, um sie zum Ungehorsam gegen
die Weisungen des Ministeriums aufzufordern! Unter diesen ministeriellen
Kundgebungen hat am meisten Aufsehen gemacht ein vertrauliches Rund¬
schreiben des Justizministers an seine Bezirksbeamten. Man fand es unerhört,
daß auch die Justiz in das politische Interesse hereingezogen und mit Wei¬
sungen in dieser Beziehung versehen werden solle. Zur Entschuldigung des
Herrn v. Mittnacht ist nur dies zu sagen, daß er keineswegs etwas uner¬
hörtes that, daß es vielmehr in ähnlichen Fällen immer Stil in Würtem-
berg war, mit einer sanften Mahnung auch an die Gerichtsbehörden sich zu
wenden. Nur seiner angehängten Aufforderung, gelegentlich Stimmungs¬
berichte einzusenden, konnte man einen leichten polizeilichen Beigeschmack nicht
wohl absprechen. Und auffallend war auch dies, daß derselbe Minister jetzt
ein Entgegentreten gegen die Agitation empfahl, der noch wenige Tage vor
der Katastrophe des 24. März gegenüber der von der deutschen Partei aus¬
gedrückten Verwunderung die bisherige Unthätigkeit der Regierung scherzend
vertheidigt und blos den Ständesaal als geeigneten Ort für ihre Meinungs¬
kundgebungen bezeichnet hatte. Unverkennbar war es, daß zwischen so ver¬
schiedenen Aeußerungen sehr bestimmte Entschlüsse liegen mußten.
Und nun zieht sich allerdings ein rother Faden durch die Erlasse und
Rundschreiben der Minister: ihre Absicht ist, die Zügel straffer anzuziehen
und wieder etwas wie eine Regierung im Lande herzustellen. Die Beamten
der verschiedenen Departements sind entschieden an ihre Pflichten erinnert
Worden und der neue Minister des Innern hat nicht gesäumt, neben seinem
Rundschreiben vom 27. März sich auch persönlich mit den Bezirksbeamten
ins Einvernehmen zu setzen. Diese Schritte waren zu erwarten und aller¬
dings ist es das nächste Bedürfniß, daß der Einfluß der radikalen Wühlerei
im Lande gebrochen, und die versetzten Gemüther wieder in eine regelrechte
Verfassung gebracht werden. Man erkennt zugleich die Absicht, wenigstens
die Möglichkeit einer Kammerauflösung vorzubreiten, die unmittelbar nach
der Agitation der Volkspartei nutzlos gewesen wäre. Allein die Frage ist,
ob die Regierung diese Umstimmung bewirken kann, ohne dem Volke mehr
in Aussicht zu stellen als die Erhaltung des Status puo. Mehr haben aber
ihre Kundgebungen bisher nicht geboten, und es wäre wohl auch unbillig,
mehr zu verlangen von einem Ministerium, in welchem Varnbüler und Mitt¬
nacht geblieben sind.
Das Rundschreiben des Ministers des Innern hebt zwar kräftig hervor,
daß die Regierung an dem Alltanzvertrag „unverbrüchlich festhält und die
dadurch von ihr unternommenen Pflichten ehrlich und in patriotischem Sinn
erfüllen wird, daß sie demzufolge ein aufrichtig freundliches Verhältniß zum
norddeutschen Bund zu erhalten bestrebt ist", und man hat bemerkt, daß
diese Stellen noch entschiedener lauten als in dem Ministerprogramm, das
der „Staatsanzeiger" am 23. März brachte. Aber zugleich versichert Herr
Scheurlen, daß zu Befürchtungen, als sei „eine Aenderung in den politischen
Verhältnissen Würtembergs" beabsichtigt, entfernt kein Anlaß und Grund vor¬
liegt." Noch bestimmter wies Herr v. Varnbüler die Deutungen zurück, welche
der Eintritt des Generals von Succow in das Cabinet anfangs gesunden hatte.
In einem Artikel der Allg. Ztg., den man auf jene Inspiration zurückführte,
wurde der Meinung, als sei der partielle Ministerwechsel „im sogenannten
preußischen Sinne", entschieden entgegengetreten und dagegen versichert, die
im Ministerium zurückgebliebenen Minister geben eine Garantie dafür, „daß
die Politik der würtembergischen Regierung fortan die Erhaltung des Status
ciuo in Deutschland und ein stetes und herzliches Zusammengehen mit Baiern"
sein werde. Das Letztere war nun eine ganz neue Nuance der würtem¬
bergischen Politik, offenbar ermöglicht erst durch den Rücktritt des Fürsten
Hohenlohe. Denn vom Programm des Grafen Bray, das die Lage Baierns
als nicht blos vollkommen haltbar, sondern sogar unangreifbar prädicirte,
so daß also irgend welche Anlehnung, auch an Preußen, nicht nothwendig sei,
sprach der eben genannte Artikel mit einer Art von Enthusiasmus. Und in
der That sind verschiedene Anzeichen dafür vorhanden, daß man in Würtem-
berg, wo die Lage nicht mit gleicher Zuversicht als haltbar und unangreif¬
bar empfunden wird und das Bedürfniß einer Anlehnung nicht abgewiesen
zu werden scheint, diese Anlehnung — in Baiern suchen will, eine Anlehnung,
zu dem ausgesprochenen Zweck, mit aller Entschiedenheit den Status quo in
Deutschland festzuhalten!
Es ist schwer, diese bairisch-würtenbergische Allianz ernsthaft zu behandeln,
die in der Reise der Minister Bray und Lutz nach Stuttgart ihre demon¬
strative Einweihung erhalten hat. Man wird einen unvermeidlichen Schritt'
wie den Abschluß des Jurisdictionsvertrags mit dem norddeutschen Bund
in ostensibler Weise gemeinsam unternehmen, oder andere Schritte in dieser
Richtung gemeinsam ablehnen können. Aber so lange sich beide Regierungen
noch nicht einmal über ihre Eisenbahnanschlüsse einigen können, so lange sie
über der gemeinsamen Festung Ulm in eifersüchtigen Zank liegen, werden
einige Zweifel an der Intimität und Dauerhaftigkeit des Verhältnisses erlaubt
sein. Als Kern aller Phrasen bleibt blos der Entschluß, jeder politischen
Verbindung mit dem norddeutschen Bund sich zu erwehren, und dies recht¬
fertigt nachträglich die Zurückhaltung, welche die deutsche Partei von Anfang
an dem Ministerwechsel gegenüber eingenommen hat, unbeirrt durch die Fluth
von Superlativen Declamationen, mit welchen die Volkspartei ihrerseits auf
den „Schlag ins Gesicht" antworten zu müssen glaubte.
Die Beschlüsse und die Reden der Landesversammlung, welche die deutsche
Partei am 18. April zu Stuttgart hielt, haben die Nothwendigkeit eines
Politischen Anschlusses an den norddeutschen Bund gerade aus den speciellen
Landesinteressen heraus überzeugend nachgewiesen. Es ist auch nirgends eine
Widerlegung versucht worden, weder von Seite der Patrioten, obwol deren
Presse wochenlang von der Polemik gegen jenes Ereigniß lebte, noch von
Seite der Regierung, deren Presse ein Eingehen auf dasselbe weislich vermied.
Daß die Demonstration der nationalen Partei nach oben ohne Eindruck
geblieben sein sollte, ist gleichwol schwer zu glauben. Es kann namentlich
nicht unbemerkt geblieben sein, wie durch den unerfreulichen Gang der Dinge
seit vier Jahren die konservativen, loyalen Elemente der Bevölkerung mehr
und mehr auf die nationale Seite sich herübergedrängt sehen. Der Anschluß
eines Theils des ritterschaftlichen Adels war in dieser Beziehung ein lehr¬
reiches Symptom. Die Regierung täuscht sich, wenn sie glaubt, die Elemente
zu einer gouvernementalen Partei zu finden, mit der sie gleichzeitig die Pa¬
trioten wie die nationalen bekämpfen könnte. Dazu ist es heute zu spät.
Wer die Stetigkeit unserer inneren Entwickelung will, muß dem Land einen
starken Rückhalt suchen, und nur ein tastender Dilettantismus, um ein Wort
des Herrn v. Varnbüler zu gebrauchen, kann diesen Rückhalt in Baiern finden.
Man kann die vorhandenen Schwierigkeiten nicht durch eine Politik des status
Mo überwinden, denn durch die Politik des Status puo sind sie geschaffen.
Unsere Beziehungen zum Ausland bleiben glücklicher Weise dieselben,
d. h. wir haben in Politik möglichst wenig mit anderen Staaten zu schaffen
gehabt. Händel mit Fremden durften uns keinen Vortheil bringen, da wir
als die Schwächeren etwaige Ansprüche nicht kräftig vertreten können. Unterdeß
bleibt man hier mißtrauisch, besonders Deutschland gegenüber und sucht aus
jeder Beurtheilung hiesiger Zustände in Ihrer Presse eine feindselige Richtung
zu entdecken. Man ist sogar kindisch genug. sich über Erzählungen und No¬
vellen beleidigt zu fühlen, die hin und wieder dort erscheinen und die leider
häufig die hiesigen socialen Zustände in einem unrichtigen Lichte schildern.
Was könnte man bei Ihnen sagen, wenn man all den Unsinn beachtete,
der unserem Publicum über deutsches Leben fast täglich in Correspondenzen
aufgetischt wird, welche politischer Zinngießerei aus irgend einer Bierhalle
gleichen?
Von größerer Bedeutung sind in den letzten Wochen die Verhandlungen
unserer Kammern gewesen. Nachdem seit Anfang der fünfziger Jahre viel
berathschlagt und viel Unschlüssigkeit und Zerfahrenheit kundgethan wurde,
ist endlich ein Gesetz zu Stande gekommen, das als erster Schritt zur Aenderung
unserer Colonialwirthschaft anzusehen ist. Nach diesem für Ostindien bestimm¬
ten „agrarischen Gesetz" ist es den Javanen künftig möglich, individuellen
Grundbesitz zu erlangen, also in die bestehende Einrichtung des Communal-
besitzes, dieses Hemmniß der wirthschaftlichen Entwickelung, Bresche zu schießen.
Zwar wird die angebahnte Veränderung nur ganz allmälig vor sich gehen
— denken wir daran, daß bis vor wenigen Jahren solch mittelalterlicher
Gemeinbesitz noch in unserem eigenen Lande hin und wieder vorkam, viel¬
leicht noch besteht. — Aber die Hauptsache ist der Sieg, den die Partei in
unseren Kammern davon getragen hat, welche gesunde öconomische Grund¬
sätze man auch in Indien zur Anwendung bringen will. Leider dürfen wir
nach diesem ersten Erfolg sobald keinen zweiten erwarten, da Zusammensetzung
und Gewohnheiten unserer Kammern, sowie die Theilnahmlosigkeit unserer
Nation bei den meisten öffentlichen Angelegenheiten kaum in nächster Zukunft
Anstrengungen zu neuen Entschlüssen hoffen lassen. Der Gesetzentwurf zur
Regulirung der Zuckercultnr, der nächstens zur Berathschlagung kommen
soll, ist noch größtenteils im Geiste des alten Systems; er privilegirt den
Zwang für viele Jahre und macht die Wirkung des agrarischen Gesetzes
theilweise illusorisch.
Wir sind daran gewöhnt, daß Alles bei uns und nicht zuletzt bei un¬
serer Volksvertretung langsam geht. Zwar kann man den Kammern nicht
den Vorwurf machen, daß sie zu wenig Zeit auf ihre Arbeiten verwenden.
Die zweite Kammer hält gewöhnlich durch acht Monate ihre Sitzungen, ein
Umstand, der aus alter Tradition überkommen, aber sehr nachtheilig ist. Das
Amt eines Abgeordneten ist bei uns ein Ehrenamt, mit dem sich jede andere
Berufsthätigkeit schlecht verbindet, und das noch einigermaßen durch den
alten Glanz jener Generalstaaten verklärt wird, die ausländische Fürsten zu
ihren Söldlingen machten. Unsere Deputirten müssen deshalb vermögende
Leute sein. Die meisten derselben schlagen ihren Wohnsitz in Haag auf, und
sind sie einmal in die Hofsphäre gelangt, dann wenden sie Alles an, um bei
einer Erneuerungswahl ihren Sitz in der Kammer zu behalten. Dies wird
leicht, weil die Zahl befähigter Candidaten nicht groß ist. Das Festhalten
der Sitze durch die Vermögenden schließt zu sehr Talente aus unseren Kam¬
mern aus, bewahrt viele mittelmäßige Capacitäten, welche einer Coterie an¬
gehören, so daß die Familienregierung aus den Zeiten der Republik mit einiger
Verschlechterung auf unsere Zustände übertragen ist. Nur von Zeit zu Zeit
erscheint eine neue Persönlichkeit auf dem Forum und damit ein frisches Ele-
neue. Dazu kommt, daß fünf Achtel der Abgeordneten aus Juristen und
die übrigen meist aus sogenannten Specialitäten für indische und Militär-
Angelegenheiten bestehen.
Diese große Zahl Gesetzeskundiger verhindert aber nicht, daß unsere
Justiz sehr viel zu wünschen übrig läßt. Nicht gerade, daß unsere Gesetze
schlecht sind — wir haben den Code Napoleon mit einigen Abänderun¬
gen — aber unsere Justizpflege ist schlecht. Schon vor beinahe zehn
Jahren wurde ein Gesetz zu einer neuen Gerichtsorganisation votirt, aber bis
heute noch nicht zur Ausführung gebracht. Die Schrtftgelehrten unserer
Kammern würden es jedem Justizminister sehr übel nehmen, wollte er das von
ihnen beschlossene Gesetz in Wirksamkeit setzen. Manche nöthige Veränderung
unseres Gesetzbuches kommt ebenfalls nicht zu Stande, da man sich über den
Modus, wie sie zu bewirken sei, nicht einigen kann. Wir leben also ähnlich
wie der Patient, der dahinschwand, während die Doctoren über die Zweck¬
mäßigkeit der Mittel stritten. Wenn steh die Irrungen der Gerichtshöfe in
kurzer Zeit und in wichtigen Fällen so oft wiederholen, wie es bei
uns in den letzten Jahren der Fall gewesen, und wenn die Schlachtopfer der
Justiz durch die königliche Gnade gegen die Gerichte beschützt werden müssen,
dann verliert der Bürger das kostbare Gefühl der Sicherheit.
Drei eclatante Fälle solcher richterlicher Irrungen haben sehr viel Auf¬
sehen erregt. Vor ungefähr zwei Jahren wurde ein Mann wegen Mißhand¬
lung angeklagt, die er in der Uebereilung begangen hatte und zu 5 Jahren
entehrender Zuchthausstrafe verurtheilt. Eine halbe Stunde nach dem Spruch
überzeugte sich der Gerichtshof selbst, daß er nur zu einer correctionellen
Gefängnißstrafe hätte verurtheilen dürfen; aber eine Revision oder Vernich¬
tung des Urtheils war nicht möglich, und eine Veränderung der Strafe auf
dem Gnadenwege konnte das Entehrende des Spruchs nicht wegnehmen.
Ein zweiter Fall war im verflossenen Sommer, wo ein fünfzehnjähriges
Mädchen wegen Brandstiftung zum Tode verurtheilt wurde. Diese ver¬
kommene Person hatte aus Unwissenheit ihr Alter auf 22 Jahre angegeben,
und der Gerichtshof fällte unter Annahme voller Zurechnungsfähigkeit sein
Urtheil. Zufällig kam mehrere Monate später heraus, daß die Ver-
urtheilte noch ein Kind war und schon wegen ihrer Jugend nicht zum
Tode verurtheilt'werden durfte; außerdem hatten die Richter die Unter¬
suchung wegen der Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten sehr oberflächlich
behandelt. Zwar war die Verurtheilte schon vor dieser Entdeckung von der
Krone zu gelinderer Strafe begnadigt, aber der Fall erregte die allgemeinste
Aufmerksamkeit und die zweite Kammer erwirkte eine vollständige Begnadi¬
gung. Es gilt dieser Fall bet uns als eine neuere Mahnung zur Abschaf¬
fung der Todesstrafe. Zwar werden thatsächlich schon lange keine Todes-
urtheile mehr vollzogen, aber das geschriebene Gesetz besteht noch im Wider¬
spruch zu dem humanen Empfinden unseres Volkes. Der dritte Fall war
die Verurtheilung eines fünf- und eines neunjährigen Kindes zu sieben
und ein halbjähriger Gefängnißstrafe. Der Spruch ist über das fünfjährige
Kind in dessen Abwesenheit gefällt und nicht allein ganz unstatthaft, sondern
geradezu unmenschlich. Bei diesen letzten Fällen hat es Monate gedauert,
ehe Irrthum und Leichtsinn des Verfahrens und die Unwissenheit der Richter
ans Licht gebracht und öffentlich besprochen wurden. Mit Recht durfte man
fragen: Kommen nicht häufig dergleichen Irrthümer vor und wie geht es
bei den niedern Gerichten zu, wenn die höheren solche Zeugnisse der Un¬
fähigkeit ablegen? Die Antwort ist kaum zweifelhaft. Wenn man die
Urtheilssprüche näher untersucht, kommt man zu dem traurigen Ergebniß,
daß ein großer Theil unseres Richterstandes seiner Aufgabe durchaus nicht
gewachsen ist.
Die Ursache liegt zunächst in der Ernennung der Richter. Der Gerichts¬
hof, bei dem eine Vacanz eintritt, ernennt drei Kandidaten, woraus der
Justizminister einen erwählt. Alles hängt von Connexionen u. dergl. ab,
Fähigkeit wird Nebensache. Dann aber ist das Juristenexamen bei unseren
Universitäten, welches zum Eintritt in den Richterstand befähigt, derart, daß
es nicht die geringste Bürgschaft für das Wissen und Können des Erami-
nirten leistet. Im Allgemeinen läßt auch unser academischer Unterricht sehr
viel zu wünschen übrig.
Angesichts solcher eclatanten Fälle mangelhafter Justizpflege durch studirte
Richter sträubt man sich dennoch sehr gegen die Einführung der Geschwornen-
gerichre. Man traut unserm Bürgerstande nicht genug Rechtsgefühl zu, ohne
den Beweis liefern zu können, daß wir in dieser Beziehung hinter andern
Nationen zurückstehen. Der Prozeß des Prinzen Napoleon hat den Gegnern
der Jury eine willkommene Waffe in die Hand gegeben. Als anderer Grund
wird angeführt, daß man unsern Bürgern gar keinen Dienst damit erweise,
wenn man sie zu solchen Leistungen des Selfgovernments heranzöge. Es
kostet schon Mühe genug, sie zur Ausübung ihrer constitutionellen Rechte
heranzutreiben, da das große Publicum sich am liebsten nicht mit öffentlichen
Angelegenheiten beschäftigt. Wie oben gesagt, recrutirt sich unsere zweite
Kammer (die erste wird durch die Provinzialstände ernannt, die wiederum
von den Höchstbesteuerten erwählt werden) fast ausschließlich aus den Kreisen
der Vermögenden, welchen dieses Vorrecht nicht bestritten wird. Auch unsere
gesellschaftlichen Zustände halten dabei nicht wenig zurück. Trotz der politi¬
schen und bürgerlichen Freiheit, die unsere Verfassung gewährt und deren wir
uns so gerne rühmen, besteht eine Abhängigkeit der Bürger voneinander,
die drückender und lähmender wirkt als Bureaukratenherrschast. Die Aristo-
kratie des Geldes erstreckt ihre Herrschaft hier bis in die untersten Kreise der
Gesellschaft, und nur der ist nach hiesigem Begriff unabhängig, der durch
seine Vermögensverhältnisse im Stande ist müßig zu leben. Arbeit steht in
keinem Ansehen. Da nun selbstverständlich nur unabhängige Leute zu Volks¬
vertretern im Gemeinderath oder der Kammer gewählt werden können, so
bleibt der Geschäftsmann ausgeschlossen. Unsere Kaufleute, von denen man
verlangt, daß sie sich selbst in ihrer politischen Haltung nach ihren Kunden
richten, ziehen denn auch ihren Handel dem politischen Leben vor und küm¬
mern sich nur wenig um letzteres. So ist denn die Politik aus den engen
Kreis der Rentiers, Advocaten und höhern Beamten beschränkt.
In jedem Wahlbezirk besteht nur ein oder — je nach der Zahl der
politischen Parteien — mehrere Wahlvereine, die gewöhnlich nicht mehr als
dreißig Mitglieder zählen und bet Gelegenheit einer Wahl den Kandidaten
bestimmen. Die Wähler werden durch Plakate, fliegende Blätter und Zei¬
tungsartikel in ehrlicher und unehrlicher Weise bearbeitet, wobei Kirchthurms-
politik die Hauptrolle spielt. Ob der Kandidat den Wählern bekannt ist
oder ihr Vertrauen genießt, thut wenig zur Sache, wenn er nur durch einen
„liberalen", „conservativen" oder „kirchlichen" Wahlverein empfohlen ist. Auf
diese Weise wird die Wahl durch Wenige die Mitglieder der Wahlvereine
— betrieben, Volksvertreter und Wähler bleiben sich meistens völlig fremd.
Zwar kann man den Abgeordneten aus seinen Reden und Handlungen in
der Kammer kennen lernen, aber nur äußerst Wenige geben sich die Mühe,
die Verhandlungen der Generalstaaten zu lesen, und der Deputirte, der im
Haag nur mit Seinesgleichen umgeht, bleibt den Verhältnissen und Bedürf¬
nissen seiner Wähler fremd genug.
Ist einmal die Wahl des Vertreters erfolgt, dann ruht das „Wähler¬
volk" bis zur nächsten Gelegenheit aus und bekümmert sich so wenig wie
möglich um den Lauf der öffentlichen Angelegenheiten, um dieselben später
im vorkommenden Fall nach der Darstellung der Wahlvereine zu beurtheilen.
Leider ist unsere Bürgerclasse durch mangelhafte Bildung auch wenig im
Stande, sich ein selbständiges Urtheil über die Handlungen unserer Vertretung
zu bilden, und so kommt es, daß unsere politischen Einrichtungen, um die uns
manche andere Nation mit Recht beneidet, einem Volk zu Gute kommen,
welche dieselben durchaus nicht in rechter Weise zu würdigen weiß. Eine
organische Fortbildung unserer Zustände durch Intelligenz und treibende
Kraft im Volke selbst ist daher nicht möglich, und unsere Einrichtungen
erhalten dadurch einen stereotypen, versteinerten Character. Der Buchstabe
unserer geschriebenen Verfassung wird als ein unantastbares Heiligthum betrachtet.
Das Bedürfniß volksthümlicher Entwickelung besteht nicht, es macht sich
selten bei Einzelnen fühlbar, im Allgemeinen ist man blind für die notorischen
Mängel unserer Constitution. Geht England auf dem Wege fortwährender
Ausbildung seiner Verfassung vorwärts, trachtet man in Frankreich danach,
die Ideen des Jahres 1789 zur Wirklichkeit zu machen, und ist man in
Deutschland mit der Neubildung des gesammten Staatsbaues bemüht, hier
glaubt man auf der Höhe angekommen zu sein. Derselbe Sinn, der den
Verfall unserer Republik der Vereinigten Niederlande verschuldete, ist noch
überall zu spüren.
Daß unsere politischen Einrichtungen trotzdem sind, was sie wirklich sind,
freisinnig und ein großer Schutz für bürgerliche Freiheit und geschäftlichen
Verkehr, das haben wir der Energie einzelner ausgezeichneter Männer, nicht
weniger der klugen Haltung des Hauses Oranien zu danken.
Eine stärkere Wechselwirkung zwischen Verfassung und Volk ist nur durch
bessere Erziehung, wissenschaftlichere Bildung des Volkes zu erzielen. Die
Mittel dazu — bessere Schulen — sind erst seit einigen Jahren genügend
beschafft, und wir müssen uns noch einige Zeit gedulden, ehe wir die Ein¬
wirkung derselben erkennen. Der Mann, der bisher den heilbringenden Fort¬
schritt repräsentirte, der Schöpfer unserer Constitution und vieler zeitgemäßer
Einrichtungen, Herr Thorbecke steht im hohen Greisenalter; bisher ist noch
Niemand im Stande gewesen, seine Aufgabe als Leiter der liberalen Partei
zu übernehmen. Einzelne sind ihm zwar mit junger Kraft vorbeigestrebt, sie
besitzen schwerlich den großartigen und freien Blick des alten Führers. In¬
zwischen warten äußerst nöthige Umbildungen, z. B. unseres elenden Steuer¬
systems, des academischen Unterrichts u. s. w. auf die Initiative einer bedeu¬
tenden Persönlichkeit. Unser jetziges Ministerium, welches zwar das Vertrauen
der Kammer im Ganzen reichlich genießt, ist sehr geeignet zur practischen
Leitung der Geschäfte, aber noch darf man zweifeln, ob ihm Muth und
Wille für große und selbständige organisatorische Aufgaben dauern wird,
denn das eben angenommene agrarische Gesetz der Colonien, die Vorlagen
zu Reform der Universitäten und des Vertheidigungssystems sind nicht vor¬
zugsweise ein eigenes Verdienst unseres Ministeriums. Das Erste war das
Product vieljähriger Berathschlagung; das Zweite zum größten Theil Erbtheil
des vorigen Ministeriums, und das Dritte ist ohne einen leitenden Gedanken,
und wird die alte Zerfahrenheit in unsern Militärsachen nur aufs neue
gesetzlich festzustellen.
Die vergangene Woche hat die Spannung gelöst, mit welcher die Ab¬
stimmungen des deutschen Zollparlaments über den Tarif, die der französischen
Wähler über die kaiserliche Politik erwartet wurden. Uns Deutschen ist die
Freude geworden, daß die Tagsatzung der Nord- und Südstaaten mit einem
befriedigenden Compromiß endete, alle Mitglieder seien dankbar gerühmt,
welche mit Selbstüberwindung zu diesem guten Resultat beigetragen haben,
vor andern die süddeutsche Fraction der nationalen, deren versöhnende Ein¬
wirkung auf die Freihändler im Bunde sich geltend machte. Die Gefahr war
groß, daß auch dieses letzte Zollparlament vor Neuwahlen ohne befriedigen¬
des Resultat verlaufen würde. Die pessimistische Auffassung, welche solchen
Ausfall wünschte, war nicht nur bei den Feinden des Bundes vorhanden, auch
bei bundestreuen Norddeutschen. Bei liberalen Norddeutschen, weil sie entweder
entschlossene Freihändler sind, oder weil sie das Ungenügende der jetzigen Bun¬
desmaschinerie durch Resultatlosigkeit der Arbeiten bloszulegen wünschen.
Beide Auffassungen verdienten eine große Zurückweisung. Unter den Poli¬
tikern von der Partei des Freihandels ehren wir einige unserer tüchtigsten
Männer, aber die Mehrzahl der Coterie steht in Gefahr durch Flachheit und
doktrinären Eigensinn eine unbequeme Kritik gegen sich herauszufordern. Und
ebenso ist eine Besserung unserer Bundesorganisation gegenwärtig zuerst von
gesteigerten Zumuthungen an die bereits wirksame Bundesgewalt zu hoffen,
und deshalb ist es ein unpatriotisches und schlechtes Mittel die Nichtigkeit
aller Bundeseinrichtungen bewirken zu wollen.
Durch sieben Millionen französischer Stimmen ist gegen IV2 Million
die Herrschaft des Kaisers Napoleon aufs Neue bestätigt. Der „Ja" sind
mehr, als die Anhänger Napoleons selbst gehofft haben, aber daß nicht nur
Paris, auch andere große Städte in ihrer Majorität mit „Nein" stimmten,
und daß im Heere sich mehr als 40,000 Stimmen gegen den Kaiser aus-
sprachen, das sind doch Umstände, welche den Bonapartisten eine reine Freude
nicht aufkommen lassen. Uns hat das Jahr 1866 so zu Frankreich gestellt,
daß der Kaiser noch jetzt außer Stande ist, ein engeres Zusammengehen mit
der Politik des Berliner Cabinets zu wünschen. Er ist wohl im Innern über,
zeugt, daß der Einschluß der Südstaaten in den Bund auf die Länge nicht
durch Frankreich verhindert werden kann, er wird in Sorge um sein An¬
sehen bei Heer und Volk ein friedliches Zusammenwachsen der deutschen In¬
teressen ertragen, aber er wird einem großen Ausbruch der Eifersucht in
Frankreich nicht zum zweiten Mal vorsichtige Zurückhaltung entgegenstellen
dürfen, sondern in solchem Fall die Führung französischer Empfindlichkeit
übernehmen und dem verletzten Stolz Frankreichs Genugthuung suchen. Das
ist in Deutschland allgemeine Annahme, wir wissen ziemlich genau, wie wir
mit ihm daran sind. Er kann uns kein Freund sein, aber er ist ein wohl¬
bekannter Nachbar, mit dessen Haushalt, stillen Gedanken und Interessen wir
einigermaßen vertraut sind, und es ist im Ganzen ein sicheres Verhältniß.
Darum wünschen wir aufrichtig, daß die große Abstimmung ihm in Wahr¬
heit zum Heile sei. Um so mehr, da die nächste Zukunft ein großes gemein¬
sames Interesse zu schaffen droht, das Interesse der civilisirten Staatsordnung
gegen den unfehlbaren Papst.
Die Antwort des Cardinal Antonelli auf die stillen Bedenken, welche
Graf Daru über die politischen Consequenzen der päpstlichen Unfehlbarkeit
ausgesprochen hatte, ist ein weitläufiges Actenstück und erweist die alte
Kunst des Vaticans, Thatsachen umzubiegen. Hauptsachen zu verschweigen
und mit tugendhafter Energie zu beweisen, was Niemand angezweifelt hat.
Jedoch in gewöhnliche Sprache übersetzt, gleicht sie genau der wohlbekannten
Antwort, welche der Vorstand einer altgläubigen Judenschule dem Minister
gab, als dieser das Unstatthafte des jüdischen Fluchgebets gegen Anders¬
gläubige vorstellte, „wir haben doch geflucht Z800 Jahre und es hat Ihnen
nichts geschadet." — Den altgläubigen Juden ist das Anathemasingen polizei¬
lich verboten worden, obgleich sie den Vorzug hatten, diese Technik 1000 Jahre
länger zu üben als die alte Kirche der Christen.
Unsere lieben Landsleute, welche mit Pietät an den Ueberlieferungen der
katholischen Kirche hängen, denken wohl zu wenig daran, wie groß die Zu-
muthungen sind, welche das Verfahren der ultramontanen Partei in Rom
unserer Geduld, Nachsicht und Menschenliebe stellt. Aufs Neue ist mit
größter Feierlichkeit von der alten Kirche der Fluch über unsere Seelen, über
unser Staatswesen, unsere Geistesbildung, über Vieles, was uns Allen natio¬
nale Ehre. Stolz. Tugend ist, ausgesprochen worden. Es ist kein beruhi¬
gendes Zugeständniß, und es ist eine baare Unwahrheit, wenn uns unter
der Hand versichert wird, daß es mit dem Anathema so schlimm nicht ge¬
meint sei und daß nur eine theoretische Feststellung der Glaubenslehren,
keinerlei Angriff auf die Andersgläubigen beabsichtigt werde. Denn es scheint
uns kein Unterschied, ob die ewige Verdammniß und die Strafen der Hölle über
uns beschworen werden, indem man uns mit Namen nennt, oder indem man
sagt, wer die Lehre Immanuel Kant's und die Untersuchungen von David
Strauß für wohlbegründet hält, sei verflucht. Wir merken doch, daß wir.
und gerade wir gemeint sind.
Wir müssen zunächst dem sittlichen Gefühl der deutschen Katholiken über-
lassen, diesem Unsinn entgegenzutreten; wir vertrauen, daß in einer großen
Zahl unserer Landsleute die Theilnahme an unserem Culturleben und die
Achtung vor den protestantischen Brüdern stärker sein wird, als jene Fluch¬
theorie Roms, und wir hoffen deshalb, daß die Verdammung, die ihr oberster
Priester gegen uns schleudert, unser einträchtliches Zusammenleben mit der Mehr¬
zahl von ihnen nicht stören wird. Aber wir verbergen ihnen nicht, daß wir trotz¬
dem unsicher und besorgt auf die Wirkungen sehen, welche dieser neue dogmati¬
sche Aufbau auf viele Einzelne unserer Mitbürger ausüben wird, welche nicht
stark genug sind, sich dem Einfluß fanatischer Priester zu entziehen. Und
wenn diese schädlichen Einflüsse auf gemischte Ehen und das friedliche Zu¬
sammenleben der Confessionen uns veranlassen, auch unsere Vertheidigungs¬
mittel in der Presse und in der Gesetzgebung in Anspruch zu nehmen, um
unser Volk vor dem Eindringen mittelalterlicher Zustände zu schützen, so
bitten wir alle Deutsche, brüderlich zu bedenken, daß nicht wir Protestanten
es waren, welche diesen widerwärtigen Gegensatz aufgeregt haben.
Unterdeß betrachten wir vom politischen Standpunkt die Aussichten,
welche die Opposition der deutschen und ungarischen Bischöfe den Staaten des
alten Bundes eröffnet. Als Graf Beust der geschäftige, zuerst unter den
Staatsmännern der Großmächte bescheidene Vorstellungen gegen die Tendenzen
des Romanismus an den Papst gelangen ließ, leitete ihn vielleicht sein Be¬
streben, sich Popularität zu gewinnen, aber der Schritt war doch im hohen
Grade durch das Lebensinteresse des Kaiserstaates dictirt. Die katholische
Laienwelt in Oestreich ist, die Thäler Tirols ausgenommen, im Ganzen durch¬
aus liberal, sie steht gegenwärtig in so starker Opposition gegen die ultra¬
montane Partei der Kirche, als das behagliche Wesen der Deutschen und die
nationalen Interessen der anderen Stämme nur irgend gestatten. In Oestreich
fehlt der ultramontanen Partei völlig die Unterstützung, welche ihr in Ländern
von gemischter Bevölkerung, zumal in protestantischen Staat durch eine
unablässige Reibung der confessionellen Gegensätze zu Hilfe kommt. Die großen
Kirchenfürsten Oestreichs kämpfen deshalb für das Episcopat, also für ihre
eigene Herrschaft gegen die Jesuiten, mit weit größerer Freiheit, als die Erz-
bischöfe von Mainz und Cöln, denn sie werden weniger durch die Besorgniß
eingeengt, daß sie in ihrem Widerstand gegen die Forderungen der Curie
zugleich protestantischen Irrglauben und einer protestantischen Staatsregie¬
rung Waffen gegen ihre eigene Macht schmieden. Und um so günstiger ist die
Lage der bischöflichen Opposition in Oestreich, da dieselbe bei jeder der un¬
einigen Nationalitäten, etwa Tiroler und Polen ausgenommen, auf wärmste
Beistimmung, im Nothfall auf jede Unterstützung rechnen kann. Nun sind die
vornehmsten unter den opponirenden Bischöfen, Fürst Schwarzenberg und
Rauscher, soweit aus der Ferne ein Urtheil erlaubt ist, keineswegs krtegs-
lustige Naturen und noch vor wenig Jahren wäre ihnen selbst ihre gegen¬
wärtige Lage als durchaus abenteuerlich und unmöglich erschienen. Aber sie
sind jetzt hineingedrängt, der Rückweg ist versperrt und sie erkennen recht
gut, daß sie bei muthigem Ausharren dem Staate, mit dessen Interessen sie
sich eng verbunden fühlen, einen Dienst erweisen können, dessen Tragweite
noch ganz wo anders liegt, als auf religiösem Gebiet. Wenn nämlich jetzt
der bischöfliche Klerus des Kaiserstaates in festem Einvernehmen mit der Regie¬
rung seinen Widerstand soweit fortführt, daß er am Ende eine episcopale
Organisation der katholischen Kirche Oestreichs unter eigenen Kirchenfürsten mit
Landessynode und größerer Unabhängigkeit von Rom durchsetzt, so wird da¬
durch nicht nur ein neues Band gefunden, welches die Völker Oestreichs enge
aneinander schließt, es wird auch zu den süddeutschen Staaten und zum Nordbund
in einer Hauptfrage des Staatslebens eine ganz neue, unerwartet günstige
Position geschaffen. Die Regierungen und Parteien von Baiern, Würtemberg,
Baden, jetzt sämmtlich durch die ultramontane Partei bedrängt, würden zu
dem Kaiserstaat Oestreich, welcher eine den deutschen Staatsbedürfnissen mehr
entsprechende, von Rom unabhängigere katholische Kirche darstellte, in ein
Verhältniß der Anlehnung kommen müssen, welches sich sofort aus anderen Ge¬
bieten als den konfessionellen geltend machen würde. Ebenso würde Oestreich,
als Hort dessen, was man jetzt die liberale Richtung im Katholicismus nennen
muß, bei einem großen Theil der Katholiken im Nordbund eine große Bedeu¬
tung gewinnen.
Von Neuem und in modernem Sinn würde Oestreich Vorkämpfer des
deutschen Katholicismus. Jetzt gegen Rom und im Einvernehmen mit dem
deutschen Gewissen. Es liegt auf der Hand, welche Anziehungskraft eine
solche Hegemonie des Kaiserstaats auf die Herzen der katholischen Deutschen
ausüben wüßte.
Es wäre auf diesem Gebiete für Preußen sehr schwer, durch ähnliches
inniges Einvernehmen mit seinen katholischen Bischöfen der Autorität der
östreichischen Kirche den Einfluß zu nehmen. Und wieder seine eigenthüm¬
lichen Vertheidigungswaffen hat der Protestantismus zu gebrauchen fast ver¬
lernt. Die Ministerien Raumer und Muster haben in Preußen so vortreff¬
lich gearbeitet die Culturbedeutung der protestantischen Kirche zu schwächen
und die ultramontanen Störenfriede zu heben, daß der Norden für lange Zeit
in Kirchenfragen unfrei gemacht ist.
In der That ist es für Preußen ein verhängnißvoller Umstand, daß der
ausbrechende Streit in der römischen Kirche den Staat mit einem Cultus¬
ministerium versehen findet, dessen Leiter kaum eine höhere leitende Idee haben,
als die eine: daß Ideen sehr leicht gefährlich werden können. Die ruhmlosen
Kennzeichen dieses Ministeriums sind formgewandte Dürftigkeit und ortho-
doxer Eifer, beide sind wenig geeignet, den römischen Ansprüchen irgend
Welchen Widerstand entgegenzustellen. Und es wäre erheiternd, wenn es
nicht für preußischen Stolz gar zu demüthigend wäre, sich den armen Herrn
von Muster nebst seinen Räthen im Streit mit jesuitischen Prälaten und in
unehrerbietigem Gebahren gegen den Bischof von Rom zu denken. Es ist
sehr möglich, daß der Kampf zwischen Preußen und Oestreich noch einmal
auf diesem, bisher nicht beachteten Gebiete durchgekämpft werden muß. Für
gute Erfolge Preußens sind andere Männer nöthig, als die jetzt um Papst
und Kirche zu sorgen haben.
Zufällig trafen in der vergangenen Woche widerwärtige Botschaften von
Brigantenfreveln zusammen. In Griechenland haben die Räuber die gefangenen
Touristen getödtet, wir wissen nicht, ob auf Rath ihrer politischen Freunde
und Rechtsconsulenten in Athen, oder nur aus Grimm darüber, daß das
griechische Ministerium ihnen die 30,000 Pf. Se. Lösegeld wieder abzujagen
und den Mund auf landesübliche Weise zu schließen Miene machte. In
Italien aber haben zusammengeballte Brigantenhaufen wieder einmal die
Cocarde der Sanfedisten aufgesteckt, sie sind im Vertrauen auf den Frieden,
welchen ihre Gönnerin, die Kirche, ihnen auf päpstlichen Gebiet sichert, über
die italienische Grenze gebrochen, vorläufig durch Freiwillige, unter denen der Sohn
Garivaldi's war, in das'Patrimonium Petri zurückgejagt worden. Und in Si-
eilien erwartet man jeden Tag den Ausbruch einer neuen Briganteninsurrection.
Es ist doch eine wunderliche Geschichte, daß die scheußliche Räuberwirthschast
gerade in den Halbinseln des Mittelmeers, den Ländern glorreicher alter
Cultur, den ruhmvollen Stätten, wo der Liebesglaube des Gekreuzigten zuerst
durch kirchliches System und priesterliches Fürstenthum eine politische Macht
wurde, so unzerstörbar wuchert. Papst Pius hat gegen seine Forderung in
Glaubenssachen für unfehlbar zu gelten, in seiner nächsten Nähe einen Gegner
großgezogen, der vor aller Welt weit erfolgreicher gegen ihn argumen-
tire, als alle gekränkten Bischöfe. Und dieser Gegner ist die eigenthümliche
Moral des päpstlichen Regiments. Räuber und Mörder zu hegen, weil sie
als politische Helfer dienen können, gilt jetzt in Europa, Rom und Griechen¬
land ausgenommen, für ein wirklich recht veraltetes Mittel, sich seiner Feinde
ZU erwehren; und wenn der verstorbene König von Sardinien, Karl Albert,
ßch bitter beklagte, er stehe zwischen den Dolchen der Carbonari und der
Chocolade der Jesuiten, so war auch die Kochkunst, welche in seiner Zeit den
Vätern von der Gesellschaft Jesu zugeschrieben wurde, keine Waffe,
Welche die Hochachtung vor dem Stuhl Petri in Italien fester gegründet
hat. Die römische Prälatur vermag nicht» die Entschuldigungen der Griechen
für sich anzuführen. Die Griechen freilich sagen, wenn unsere Politiker noch
ein wenig mit den Schwächen der Räuberei, des Meuchelmordes und der
Partirerei behaftet sind, so tragen die bösen Türken die Schuld, welche unseren
angestammten Adel durch mehrere^ Jahrhunderte unterdrückt hatten. Aber
die Türken haben, soviel wir wissen, ihren Halbmond doch niemals über dem
Stuhl Petri aufgepflanzt. — Wir im Norden sind unbehilflichen Geistes und
vermögen nicht leicht zu verstehen, wie eine Autorität in Angelegenheiten
des Glaubens unfehlbar sein kann, die zugleich in christlicher Moral so wenig
veredelnden Einfluß auf ihre nächste Umgebung auszuüben vermag. Wir
wünschen sehr, daß das Concilium uns diesen Zweifel löse.
Sicilianische Märchen. Aus dem Volksmund gesammelt von Laura Gonzen-
bach. Mit Anmerkungen Reinhold Köhlers herausgegeben von Otto Hartwig.
2 Thle. Leipzig. W. Engelmann. 1870.
Eine ganz vortreffliche Arbeit, in deren Herstellung sich die drei Genannten ge¬
theilt haben. Eine hochgebildete Frau von feinem Verständniß für das Charakte¬
ristische des sicilischen Volkes, in dem sie lebte, hat aus dem Munde Weiser Frauen
das Material aufgezeichnet, ein Freund, selbst mit Land und Bevölkerung der Insel
wohl bekannt, hat diese Berichte geordnet, gesichtet, für den Druck bereitet, Herr
Reinh. Köhler hat die literarhistorische Verwerthung übernommen, hat bei jedem
einzelnen Märchen die Verwandten in der Ueberlieferung anderer Völker verzeichnet
und einen reichen Apparat von Bemerkungen zugefügt, welcher die wissenschaftliche
Benutzung leicht und erfreulich macht. — Vieles in der Sammlung ist sehr merk¬
würdig. Zunächst die Fülle des Stoffs, in Sicilien ist das Märchen noch ein
wesentlicher Theil lebendiger Volkspoesie, dann die — übrigens nicht befremdende
enge Verwandtschaft der meisten Märchen mit germanischen, slavischen, griechischen.
Es enthält das Märchen im Ganzen betrachtet einen Schatz der Poesie, welcher
allen Völkern Europas gemeinsam ist, zu dem jede Zeit, jedes Volksthum bei¬
gesteuert hat: orientalisches, antikes, germanisches; auch slavischer, alt-neidischer und
mancher Besitz untergangener Völker sind darin bewahrt. Ferner aber haben die
hier zusammengestellten Märchen auch viel Nationales. Nicht nur in der Methode
der Erzählung und Redewendungen; auch die Volksmoral ist die sicilische, die Sehn¬
sucht und die Gelüste des Volkes, die übergroße Freude an seltsamen und gehäuften
Abenteuern, eine Phantasie, welche in manchem dem Orient näher steht, als den
Germanen, und ein Sinn, in dem wir zuweilen das Gemüthvolle, die geschlossene
Composition und eine gewisse ernste abwägende Billigkeit in Lohn und Strafe ver¬
missen. Die Märchen sind offenbar sehr treu aufgezeichnet, nur bei Darstellung der
geschlechtlichen Beziehungen scheint das Zartgefühl der Sammlerin häufig ins Nordische
gemildert zu haben. — Für unsere reiche Märchenliteratur ist dies Werk eine so
werthvolle Bereicherung, wie seiner Zeit u. a. die isländischen Sagen von K. Maurer.
Die Ansicht, daß die Wandgemälde der vom Vesuv verschütteten Städte,
soweit sie Scenen aus der griechischen Mythologie und Scenen aus dem
täglichen Leben nach den Bildungsgesetzen der griechischen Kunst darstellen,
im Großen und Ganzen auf Vorbilder zurückgehen, die der griechischen Kunst
von Alexander dem Großen abwärts, also der hellenistischen Kunst ihren
Ursprung verdanken, gewinnt von Tag zu Tag mehr Anhänger. Verfasser
dieser Zeilen hat bereits bei vielen Compositionen und Compositionsmotiven,
die auf campanischen Wandgemälden vorkommen, den hellenistischen Ur¬
sprung nachgewiesen. Karl Dilthey, gegenwärtig einer der bedeutendsten
Kenner der hellenistischen Cultur, hat mehrfache Untersuchungen in diesem
Sinne veröffentlicht. Die ganze Frage wird demnächst von mir in aus¬
führlicher Behandlung erörtert werden. Natürlich konnte es nicht aus¬
bleiben, daß Compositionen, die von Generation zu Generation überliefert
wurden, im Laufe der Zeit mannigfache Modifikationen erfuhren. Es mußten
die verschiedenen Individualitäten der Maler, welche sie reproducirten, der
Charakter ihrer Technik, das Local, für welches ihre Bilder bestimmt
waren, und noch mannigfache andere Gesichtspunkte bedingend auf ihre Ge¬
staltungsweise einwirken. Unter solchen Umständen tritt die Frage an uns
heran, inwieweit wir die campanischen Wandgemälde, deren Ausführung
durch einen beträchtlichen Zeitraum von der Erfindung der Originale ge¬
schieden ist, zur Beurtheilung der antiken Malerei als Kunst im höheren
Sinne des Wortes und im Besonderen zur Reconstruction der Geschichte der
hellenistischen Malerei heranziehen dürfen. Es sei mir vergönnt, den Lesern
dieser Blätter hierüber einige Fingerzeige zu geben, deren Erinnerung ihnen,
wenn sie das Glück haben sollten, die campanischen Wandgemälde im Mu¬
seum zu Neapel oder in Pompei betrachten zu können, vielleicht nicht ohne
Nutzen sein wird. Der gebildete Nordländer, welcher Italien bereist, pflegt
mit Spannung den Moment zu erwarten, wenn er jene Bilder, die ihm schon
zum Theil in seiner Heimat durch Ternitesche oder Zahnsche Blätter bekannt
waren, in den Originalen betrachten darf und — fühlt sich gewöhnlich in
seinen Erwartungen getäuscht. Verwöhne durch die mehr oder minder raffi-
nirten Reproductionen der modernen Technik, kann er sich, mag er auch die
Schönheit der Motive nach wie vor anerkennen, mit der andeutenden Be¬
Handlungsweise, wie sie der campanischen Wandmalerei eigenthümlich ist, nicht
befreunden, und kommt wohl gar zu der vielfach verbreiteten irrigen Ansicht,
die antike Kunst sei überhaupt gar nicht zu der Durchbildung einer eigentlich
malerischen Darstellungsweise gediehen, vielmehr sei auch in der Malerei mehr
oder minder das plastische Princip herrschend geblieben. Die richtige Ein¬
sicht in die Bedingungen, auf welchen diese Kunstübung beruhte, wird,
denke ich. zu einer objectiven Würdigung derselben führen und klar machen,
daß die Wandgemälde im Allgemeinen allen den Forderungen genügten,
welche das Publicum, für welches sie gearbeitet waren, an sie stellen durfte.
Von besonderer Tragweite ist zunächst die Art der Technik, in welcher
die campcinischen Wandmalereien hergestellt wurden. Es steht gegenwärtig
durch die Untersuchungen Otto Donners hinreichend fest, daß bei Weitem
der größte Theil der Wandmalereien al trsseo ausgeführt ist, daß dagegen
die Leimfarben- und Temperamalerei eine sehr untergeordnete Stelle ein¬
nimmt und, man kann wohl sagen, nur aushilfsweise zur Anwendung kommt.
Wenn, wofür alle Wahrscheinlichkeit spricht, die durch einen gemalten Rah¬
men abgegrenzten Bilder, die in den campanischen Städten den Mittelpunkt
der Wandselder zu bilden pflegen, in der Regel aus hellenistische Staffelei-
bilder zurückgehen, dann mußte die verschiedene Art der Technik, in welcher
die Originale reproducirt wurden, selbst wenn es sich der reproducirende
Wandmnler angelegen sein ließ, ein bestimmtes Vorbild genau wieder¬
zugeben, nothwendiger Weise zu einer verschiedenen Darstellungsweise führen.
Das Staffeleivild konnte bequem und mit Muße ausgeführt werden; wenn
die Künstler, wie es bei dieser Gattung in der Regel der Fall war. mit
Temperafarben auf Holztafeln malten, so konnten sie ihre Gemälde sorgfältig
bis in alle Einzelheiten durchbilden und ohne Schwierigkeit, wo es nöthig
war, Aenderungen oder Verbesserungen vornehmen. Anders bet der Fresco-
technik. Wenn der Grund die hinreichende Feuchtigkeit verloren hat, um
die Farbe haften zu machen, so ist ein Weitermalen unmöglich. Der Freseo-
maler schaltet somit nicht frei über seine Zeit, ist vielmehr an eine beschränkt
zugemessene Zeit gebunden. Ebenso verursacht das Verbessern des einmal Ge¬
mälden große Schwierigkeiten, sei es daß man die mangelhaften Theile
herausschneidet, frischen Frescogrund einputzt und auf diesem die Verbesse¬
rung ausführt, sei es, daß man nach vollständiger Trocknung des Stuck-
bewürfs die betreffenden Stellen mit Temperafarben übermalt oder retouchirt.
Diese Eigenthümlichkeiten der Frescotechnik, die in den campanischen Städten
um so schwerer in das Gewicht fielen, als das Malen auf kleinen für die
Frescomalerei hergerichteten Stücken nicht üblich war, erklären hinreichend
die mehr oder minder flüchtige Durchführung der Bilder. Mochten auf den
Staffeleibildern die Einzelheiten der menschlichen Gestalten wie der Gründe
bis zu einer der Wirklichkeit entsprechenden Weise durchgeführt sein, so mußte
der sie reproducirende Frescomaler auf eine solche Darstellungsweise ver¬
zichten und sich darauf beschränken, nur das Wesentliche wiederzugeben. Die
Weise, wie dies geschehen ist, die scharfe Unterscheidung von Bedeutsamen
und Unbedeutsamem, die Energie, mit welcher jenes hervorgehoben ist, be¬
zeugt, wenigstens in den besseren Producten der campanischen Malerei, die
Lebenskraft der tüchtigen Tradition, welche die Malerei in Betreff der Aus¬
führung bewahrt hatte, mochte auch die originelle Erfindung beinahe voll¬
ständig abhanden gekommen sein.
Selbstverständlich lassen sich, wie es nicht anders sein kann bei der
Menge von Individualitäten, welche an diesen Bildern thätig waren, in
Betreff der Durchführung der Maleret verschiedene Grade unterscheiden.
Am Meisten treten aus der sonst üblichen andeutenden BeHandlungsweise
vier berühmte herculanische Bilder heraus: die Schmückung eines Mäd¬
chens, ein Schauspielersieg, eine Concertscene und eine Darstellung, welche
gewöhnlich auf Achilleus und Patroklos gedeutet wird. Wie die techni¬
schen Vorrichtungen, die Zubereitung des Stückes, der auf das Feinste ge¬
glättet, die der Farben, welche aus das Feinste gerieben sind, von der
Sorgfalt zeugen, welche man auf diese Bilder verwendete, wie schon die
Art des Randes, der nicht aus einer einfachen braunen Leiste besteht, son¬
dern aus mehreren bunten Streifen zusammengesetzt ist, darauf hinweist, daß
man bedacht war, diese Bilder in besonderer Weise aus der umgebenden
Wanddecoration loszuheben und als Kunstwerke selbständiger Bedeutung zu
charakterisiren, so hat auch der Maler in der Durchführung seiner Gestalten
in der That Alles geleistet, was ihm seine Technik gestattete. Vollständig
die Mittel derselben beherrschend, hat er, begabt mit einer unglaublichen
Leichtigkeit und Sicherheit der Hand, seine Darstellungen in einer Weise
durchzubilden verstanden, welche die meisten sonstigen Leistungen der cam-
panischen Wandmalerei weit übertrifft und den vier Bildern innerhalb der
Denkmäler dieses Kunstzweiges einen besonderen Platz sichert. Mag auch,
wie dies nicht anders geschehen konnte, bei der Uebertragung in die andere
Technik Manches von dem Charakter der Originale, in denen wir Tafel¬
bilder vorauszusetzen haben, abgeschwächt und modificirt sein, so geben uns
diese Bilder nichtsdestoweniger.den anschaulichsten Begriff von dem Charakter
der hellenistischen Tafelbilder. Die Schattirung ist in mannigfachen Ab¬
stufungen auf die Localtöne aufgesetzt, die Lichter in der feinsten Welse
nüaneirt, selbst die Vertiefung der Gründe angestrebt, wiewohl hier die
Technik den Maler nicht zu der Durchbildung gelangen ließ, die den Origi¬
nalen abzusprechen durchaus kein Grund vorliegt. So bilden diese vier
Bilder gewissermaßen ein Zwischenglied zwischen dem gewöhnlichen decorativ
behandelten Wandbilde und dem sorgfaltig durchgeführten Staffeleibtlde und
sind sie stets in erster Linie in Betracht zu ziehen, wenn es gilt, sich einen
Begriff zu machen von der zu vollständiger Freiheit gediehenen antiken Ma¬
lerei als Kunst im höheren Sinne des Wortes. Wie hoch man bereits im
Alterthume diese Bilder schätzte, bezeugt auf das schlagendste der Umstand,
daß sie aus der Wand, auf welcher sie ursprünglich gemalt waren, heraus¬
geschnitten wurden, um in eine andere Wand eingelassen zu werden. Man
fand sie in Herculaneum in einem mit feinem weißem Stuck bedeckten Zimmer
gegen die Wand angelehnt. Offenbar sollten sie in die Wände dieses Zim¬
mers eingelassen werden, als die unerwartete Katastrophe des Ausbruchs des
Vesuvs erfolgte.
An dieser Stelle kann ich nicht umhin auch auf den Zusammenhang hin¬
zuweisen, in welchem die durch gemalte Rahmen abgegrenzten Bilder zu der
gesammten Wanddecoration stehen. Diese nicht in den campanischen Städten
übliche Wanddecoration kam, wie ich anderswo nachgewiesen habe, in helle¬
nistischer Epoche zu systematischer Ausbildung. Ursprünglich waren es wirk¬
liche Tafelbilder, welche als Mittelpunkte der in Felder getheilten Wand an¬
gebracht wurden. Später griff die Frescomalerei dieses Motiv aus, ersetzte
die wirklichen Tafelbilder durch auf den Frescogrund nachgeahmte und stellte
die früher aus verschiedenen Elementen zusammengesetzte Wanddecoration durch
ihre Technik allein her. Dieses zweite Stadium der Entwikelung der helle¬
nistischen Decorationsweise ist es, welches uns in den campanischen Städten
entgegentritt. Nachdem sich vermöge der Herstellung durch die Frescotechnik
diese Decorationsweise zu einem einheitlichen Ganzen ausgebildet hatte,
lag es ganz in dem Geiste der classischen Kunst, daß man darnach strebte,
die einzelnen Theile in organischer Weise dem Ganzen unterzuordnen und so
eine einheitliche Wirkung zu erzielen. Daß dies unter Umständen geschah,
davon zeugen Beobachtungen, die sich bei Vergleichung des Colorits der die
Mittelpunkte der Wandfelder bildenden Gemälde und der Farbe der betreffen¬
den Wand ergeben haben. Ist z. B. die Wand roth gemalt, dann hat das
Mittelbild in der Regel ein leuchtendes Colorit und herrscht vielfach, nament¬
lich in den Schatten, ein röthlicher Ton vor. Bei einer dunklen, etwa schwarzen
Farbe der Wand pflegt auch das Mittelbild in einer stumpfen Farbenscala
gehalten zu sein. Leider sind diese Beobachtungen bei den vielfachen Schwierig¬
keiten, denen sie unterliegen, bis jetzt nur sehr vereinzelt angestellt worden.
Da die atmosphärische Luft vielfach auf die Farben der Wände wirkt, und da
der Firniß, mit welchem die Wände bald nach ihrer Bloßlegung überzogen
zu werden pflegen, immerhin gewisse Abwandlungen der ursprünglichen Far-
benscala hervorruft, so muß die Untersuchung unmittelbar nach Ausgrabung
der betreffenden Räume stattfinden. Hoffen wir, daß die durch Fiorelli's
Fürsorge in Pompei gegründete archäologische Schule sich die Lösung dieser
ihr ganz naturgemäß anfallenden Aufgabe angelegen sein lasse. Sollte sich
hierbei auch kein consequent beobachtetes Gesetz herausstellen, sollte sich viel¬
mehr ergeben, daß die einzelnen Wandmaler nach eigenem Ermessen mehr
oder minder bestrebt waren, die verschiedenen Bestandtheile der Decoration
in Einklang zu bringen, so wäre auch dieses letztere Resultat für die Frage,
welche uns gegenwärtig beschäftigt, wichtig genug. Immerhin stellt sich ein neues
Moment heraus, welches unter Umständen die genaue Wiedergabe der
Compositionen beeinträchtigte, die bei der Herstellung der Mittelbilder zu
Grunde lagen.
Ferner ist bei dieser Frage eine in der Regel nicht gehörig berücksichtigte
Eigenthümlichkeit der Einrichtung des antiken Hauses in Betracht zu ziehen. Nur
sehr wenige Zimmer desselben hatten ein volles Licht; selbst im Atrium und im
Peristyl war es mehr oder minder durch den Verschluß der zwischen den ein¬
zelnen Säulen angebrachten Teppiche gedämpft. In den neuerdings ausgegrabe¬
nen Häusern Pompeis, wo die betreffenden Stellen noch nicht durch die oft sehr
schonungslose Hand des Restaurators mit Stuck zugeputzt sind, erkennt man
deutlich die Vorrichtungen, welche zur Befestigung der Vorhänge getroffen
waren. Allenthalben sind an den nach dem Jmpluvium gerichteten Seiten
der Säulen Nägel oder Haken angebracht, denen öfters an den gegenüberlie¬
genden Wänden des Porticus Klammern entsprechen. Man sieht deutlich,
daß die Vorhänge unter Umständen von den Säulen nach den Wänden her¬
übergezogen werden konnten, wodurch gewisse Theile des Porticus isolirt und
zugleich eine eigenthümlich malerische Wirkung erzielt wurde. Aus dieser
Beobachtung ergibt sich, daß eine auf die Einzelheiten eingehende Durchbil¬
dung der die Wände schmückenden Bilder in der Regel eine höchst überflüssige
Mühwaltung gewesen wäre. Mannigfache Eigenthümlichlichkeiten in der Be¬
handlung der Bilder, die gegenwärtig, wenn man sie bei vollem Lichte be¬
trachtet, dürstig oder gar hart erscheinen, werden durch diesen Gesichtspunkt
hinreichend gerechtfertigt. In den mangelhaft beleuchteten Magazinen des
Neapler Museums machten selbst sehr decorativ behandelte Bilder einen höchst
befriedigenden Eindruck. Die Beschaffenheit des Locals, für welches die Bilder
bestimmt waren, ist bei ihrer Beurtheilung ebenso zu berücksichtigen wie bei
der Beurtheilung der Sarkophagreliefs, die sich vollständig anders darstellen,
wenn wir sie statt unter klarem Sonnenlichte in einem Halbdunkel betrachten,
wie das der Grabkammer vorauszusetzen ist, für die sie bestimmt.waren. Mag
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es auch in einzelnen Fällen vorgekommen sein, daß sorgfältig durchgeführte
Tafelbilder in den Wohnzimmern der Häuser aufbewahrt wurden, so diente
in den Häusern der Reichen, wo wir allein eine größere Menge solcher Bil¬
der zu gewärtigen haben, zu ihrer Aufbewahrung ein besonderer Raum, die
xinaovtksea. Dieser Raum wurde, wie die von Vitruv über seine Anlage
gegebenen Vorschriften bezeugen, mit dem den Alten eigenthümlichen feinen
Verständniß und praktischen Blick so eingerichtet, daß alle Vorzüge der Bil¬
der in der deutlichsten Weise zur Geltung kamen.
Während aus der bisherigen Auseinandersetzung hervorging, daß die
campanischen Wandmaler den Charakter der Tafelbilder nicht genau wieder¬
geben konnten, zeigen andere Gesichtspunkte, daß sie es sich gar nicht ange¬
legen sein ließen, ein bestimmtes Vorbild in allen einzelnen Motiven zu
reproduciren. Es steht ein für alle Male fest, daß wir in den campanischen
Wandgemälden keine genauen Copien zu erwarten haben. Von Durchzeich¬
nen oder Schabloniren war keine Rede. Nur in ganz vereinzelten Fällen
gingen die Wandmaler von der Zeichnung eines Umrisses aus; gewöhnlich
wurden zum Zwecke der Raumeintheilung wenige Linien aus den Stuck¬
grund eingeritzt, welche skelettartig die Haltung der Figuren und die Stellung
ihrer Glieder andeuteten, und über diese Linien sofort mit dem vollen Pinsel
gearbeitet. Nehmen wir selbst an, daß der Wandmaler ein Vorlegeblatt
benutzte, so mußten sich bei dieser Art des Machwerks nothwendiger Weise
Abweichungen ergeben und haben wir im günstigsten Falle zu gewärtigen,
daß die Motive der Originalcomposition ganz im Allgemeinen wiedergegeben
wurden. Jedenfalls war es sehr schwierig, die Nuancen der psychologischen
Entwickelung der Gesichter in einer genau dem Original entsprechenden
Weise zum Ausdruck zu bringen. Auch in dieser Hinsicht konnten die Wand¬
maler im günstigsten Falle nur das Allerwesentlichste wiedergeben. Besaß ferner
der ausführende Wandmaler eine gewisse Frische der Auffassung und Keckheit
der Hand, dann konnte es nicht ausbleiben, daß er zu improvistren anfing
und somit das zu Grunde liegende Motiv weitere Abwandlungen erfuhr.
Es ist interessant, auf diesen Gesichtspunkt hin die in mehreren Repliken ver¬
tretenen Bilder zu vergleichen, wie die Gemälde, welche Narkissos an
der Quelle sitzend, Ariadne verlassen auf Naxos, Adonis in Liebesvereinigung
mit Aphrodite oder verwundet darstellen. Kein Bild stimmt mit einem andern
derselben Serie angehörigen vollständig überein; allerdings klingt allenthalben
das Grundmotiv durch; dagegen gewahren wir in Einzelheiten, namentlich
in der Stellung der Extremitäten, mehr oder minder bedeutende Abwand¬
lungen. Wir empfangen angesichts dieser Bilderserien den Eindruck der
Variationen eines Themas. Die gleichzeitige Dichtkunst bietet uns verwandte
Erscheinungen. Vor allen läßt sich das griechische Epigramm vergleichen.
welches vielfach denselben Gedanken behandelt, ihn jedoch mannigfach nuancirt
und in verschiedener Weise zuspitzt. Auch für die Erscheinung, daß künstlerische
Motive von der hellenistischen Epoche abwärts in ununterbrochener Tradition
reproducirt wurden, finden wir in der Dichtkunst die entsprechenden Belege.
Mannigfache Züge, die sich bereits bei hellenistischen Dichtern finden, lassen sich
mehr oder minder abgewandelt bis in die späte Kaiserzeit verfolgen. So ist
die Schilderung der von dem Stier durch das Meer getragenen Europa, wie
sie sich bei Moschvs findet, dauernd mustergiltig geblieben. Gewisse Züge
derselben kehren bei den angeführten Dichtern, namentlich bei Ovid, wieder
und finden sich, vielfach ausgeschmückt, schließlich bei Nonnos. Uebrigens
ist die improvisirende Thätigkeit der campanischen Wandmaler gewiß nicht zu
gering anzuschlagen; ohne dieselbe wäre die Frische und Ursprünglichkeit, welche
uns in der Regel in diesen Bildern entgegentreten, vollständig unerklärlich.
Da die Wandmaler so wenig an eine genaue Wiedergabe ihrer Originale
gebunden waren, so ist es begreiflich, daß sich vielfach der Geist ihrer Zeit
und der Einfluß ihrer Umgebung geltend machten und den Charakter ihrer
Gestalten bedingten. Auch die letzte productive Entwickelung der griechischen
Malerei, die der hellenistischen Epoche, an welche die eampanische Wandmalerei
anknüpft, verfolgte eine mehr oder minder entschiedene ideale Richtung. Mochten
die Typen der Götter und Heroen im Vergleich mit der früheren Kunst an
Großartigkeit eingebüßt haben, so erhoben sie sich immerhin durch anmuthige
Schönheit über das Niveau der Wirklichkeit. Selbst auf dem Gebiete des
Genres hielt sich das Interesse für die Einzelerscheinung auf einer gewissen
Höhe; dies geht in gleicher Weise aus den schriftstellerischen Nachrichten her¬
vor, wie aus den erhaltenen Bildern, die ich als hellenistisches Genre einer
besonderen Classe zugewiesen habe. Wir begegnen hier beinahe durchweg
anmuthigen und schönen Erscheinungen, deren Bildungsgesetze denen ver¬
wandter mythologischer Gestalten entsprechen. Höchstens machte sich, wie
in gewissen Schulen der hellenistischen Sculptur, eine Richtung auf das
Charakteristische geltend, die in der campanischen Wandmalerei durch einige
Bilder vertreten ist, welche Scenen aus dem Leben von Theater- und Ton¬
künstlern schildern. Hier galt es, aus den Eigenthümlichkeiten, welche einzelnen
Individuen einer bestimmten Classe in der Wirklichkeit zukamen, Typen zu
gestalten, die in allgemein giltiger Weise die ganze Classe vertraten — eine
Art künstlerischen Schaffens, welche immerhin von einem die Wirklichkeit
schlechthin copirenden Realismus beträchtlich verschieden ist. Im Gegensatze
zu dem Idealismus griechischer Kunst hatte der Geist der italischen Stämme
von Haus aus eine realistische Richtung. Während die griechische Kunst
Anfangs in schwächerer, später in nachhaltigerer Weise ihren Einfluß auf
italischen Boden erstreckte, wurde die Kraft des italischen Elementes zwar
geschwächt, aber keineswegs ganz vernichtet. Die Geschichte der itali¬
schen Kunst hat es vorwiegend mit der Untersuchung zu thun, wie sich
in den einzelnen Perioden das Verhältniß des griechischen Einflusses zu den
nationalen Kunstelementen gestaltet. Von der Lebenskraft der nationalen
Richtung in der Kaiserzeit zeugen die auf Kriegsthaten und Staatsactionen
bezüglichen Sculpturen, mit denen Triumphbögen und andere öffentliche
Monumente geschmückt wurden. Läßt sich auch hier in der Anordnung und
in der Behandlung mannigfacher Motive der Einfluß der hellenistischen Kunst
nicht verkennen, so ist die Charakteristik jedenfalls von dem Leben der Epoche,
in welchem jene Monumente entstanden, durchdrungen und national im
höchsten Sinne des Worts. Es wäre wunderbar gewesen, wenn die campa¬
nischen Wandmaler, weß Stammes sie auch sein mochten, nicht unter Um¬
ständen von dieser realistischen Richtung berührt worden wären; vielmehr
konnte es nicht ausbleiben, daß hier und da der Idealismus der Original-
compositionen durch Einführung realistischer Motive getrübt wurde. Diese
Erscheinung tritt namentlich in der Bildung der Köpfe hervor, die öfter ein
eigenthümlich individuelles Gepräge haben, welches offenbar dem Einflüsse der
den Wandmaler umgebenden Wirklichkeit zuzuschreiben ist.
So sind auf einem pompeianischen Rundbilde die Köpfe des Hippolytos
und der Phaidra so individuell gebildet, daß man sie beinah für Portraits
halten könnte. Dasselbe gilt von dem Kopfe des Perseus auf mehreren Bil¬
dern, welche den Helden darstellen, wie er die Andromeda eine Spiegelung
des Medusenhauptes in einem Gewässer betrachten läßt. In dieses Bereich
wird auch die merkwürdige Darstellung des Daidalos gehören, welcher auf
einem Bilde, wo er der Pasiphae die von ihm gefertigte Kuh zeigt, bartlos,
mit vollständig kahlem Haupte und eigenthümlich scharf geschnittenen Zügen
auftritt, die an die Portraits des älteren Scipio erinnern; möglich, daß der
Wandmaler die Züge etwa eines kunsterfahrenen Pompeianers in dem mytho¬
logischen Prototyp aller Kunstfertigkeit verewigte; jedenfalls dürfen wir
schwerlich hoffen, jemals im Stande zu sein, für jene Darstellungsweise, die
auf vollständig individuellen Motiven beruht, eine sichere Erklärung zu finden.
Die Composition, welche Danae mit dem Perseusknaben auf Seriphos dar¬
stellt, kehrt in drei Repliken wieder und läßt sich mit hinreichender Sicherheit
auf Artemon, einen Meister der Diadochenperiode, zurückführen. Auf zwei
Bildern dieses Gegenstandes ist Perseus in idealer Nacktheit dargestellt,
wie wir den Knaben aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Original zu
gewärtigen haben. Wenn er auf einer Replik als Wickelkind gebildet ist
ganz in der ungestalten Weise wie die Italiener noch heut zu Tage ihre
Bandini einzuschnüren pflegen, so wird auch diese Darstellungsweise als ein
Einfluß der den Künstler umgebenden Wirklichkeit zu betrachten sein, welche
die Idealität der Originalcomposition trübte.
Zu derselben Erkenntniß gelangen wir durch Vergleichung der campani-
schen Wandgemälde mit denen, welche an anderen Stellen des orbis g-uti-
«Mus an das Tageslicht gebracht worden sind. Leider ist unsere Kenntniß
auf diesem Gebiete sehr beschränkt und bietet uns vor der Hand nur Rom
hinreichenden Stoff zur Vergleichung. Immerhin jedoch ergibt sich aus der
Vergleichung entsprechender römischer Wandbilder deutlich genug, wie stark
die localen Einflüsse die Charakteristik der Bilder bedingten. Bei den franzö¬
sischen Ausgrabungen auf dem Palatin haben sich in einem südlich von dem
Palaste des Tiberius gelegenen Privathause Wandgemälde gefunden, welche
in vielen Motiven der Composition vollständig mit denen der campanischen
Städte übereinstimmen. Nichtsdestoweniger ist die Charakteristik namentlich
der Frauengestalten an beiden Orten eine beträchtlich verschiedene. Die
Frauengestalten aus den römischen Fresken, z. B. die Jo und die Galateia
auf dem Palatin, sind schlanker, zarter und von durchsichtigerem Colorit, als
auf den entsprechenden campanischen Bildern, wo sie in der Regel mit größe¬
rer Fülle und kräftigerer Sinnlichkeit austreten. Dort mag die feinere Atmo¬
sphäre, die unmittelbarere Nähe von Originalwerken aus hellenistischer Epoche,
vielleicht auch die Erscheinungsweise der distinguirten römischen Weltdame
auf die Darstellung des Malers gewirkt haben, hier der naiv und unver¬
hüllt zu Tage tretende üppig sinnliche Charakter, wie er den Schönen an
den Ufern des neapolitanischen Golfs im Alterthum eigen gewesen sein wird
wie heut zu Tage. Jedenfalls zeigt uns auch diese Vergleichung, daß die
campanischen Wandgemälde in der Charakteristik ihrer Gestalten vielfach durch
locale Einflüsse bestimmt waren und somit von der Darstellungsweise ihrer
hellenistischen Originale abwichen.
Eine weitere Frage betrifft die umfangreicheren und aus mehreren Fi¬
guren zusammengesetzten Compositionen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß
auf den campanischen Wandgemälden vielfach Figuren aus ihrem ursprüng¬
lichen Zusammenhange gelöst und in andere Compositionen übertragen sind.
Dies läßt sich mit hinreichender Sicherheit nachweisen bei einem in mehreren
Repliken wiederkehrenden Bilde, welches Orestes und Pylades gefesselt vor
König Thoas darstellt, während im Hintergrunde Jvhigeneia die Tempel¬
treppe herabschreitet. Bei der Feinheit der psychologischen Charakteristik der
einzelnen Figuren, wie sie namentlich in der größten und am Besten durch¬
geführten Replik, der aus Casa del Citarista, hervortritt, hat man alles
Recht, einen bedeutenden Künstler als Erfinder dieses Werkes vorauszusetzen,
und unwillkürlich denkt man dabei an Timomachos, den letzten epoche¬
machenden Meister in der Entwickelung der griechischen Malerei. Er be-
handelte den auf unseren Bildern dargestellten Stoff, Orestes und Jphigeneia
bei den Tauriern, und, da eine andere berühmte Composition dieses Malers,
die sich zum Morde der Kinder anschickende Medeia, in der campanischen
Wandmalerei reproducirt ist, liegt es in der That nahe, auch die in Rede
stehende Composition mit Timomachos in Verbindung zu bringen. Jedoch
erweist sich diese Vermuthung bet näherer Betrachtung als nicht vollständig
stichhaltig. Zunächst stimmt die Wahl des dargestellten Moments nicht mit
dem Kunstcharakter des Timomachos. Er liebte es tief ergreifende Momente
zu schildern, bei denen das Pathos der handelnden Personen bis zum hoch'
sten Grade entwickelt und die daraus hervorgehende Katastrophe dem Geiste
des Betrachters nahe gerückt war. Ferner widerspricht ein griechisches
Epigramm, welches mit hinreichender Sicherheit auf das Bild des Timo¬
machos bezogen werden darf. Leider ist dasselbe verstümmelt. Doch zeigen
die erhaltenen Verse deutlich, daß Jphigeneia erschien, hin und her getrieben
von widersprechenden Gefühlen, von Groll, da sie Griechen erblickt, die ihr
Unglück, ihre Verbannung in das Barbarenland, verursacht haben, und von
Mitleid, da Angesichts der Jünglinge die Erinnerung an ihr Vaterland, das
heimische Argos, wach wird, ein psychologischer Vorgang, der nur eintreten
konnte unmittelbar bevor Jphigeneia ihren Bruder wiedererkennt, was selbst¬
verständlich in Abwesenheit des Thoas stattfinden mußte, und der vielfache Ver¬
wandtschaft verräth mit der von demselben Meister der Medeia gegebenen Cha¬
rakteristik, die im Conflict zwischen Mutterliebe und Rachsucht umhertreibt.
Während der Begriff, welchen wir auf diese Weise von der Composition des
Timomachos gewonnen haben, keineswegs mit den campanischen Wand¬
gemälden übereinstimmt, finden wir in der Mittelgruppe eines früher in
Venedig, gegenwärtig in Weimar befindlichen Sarkophags, alle Züge, welche
der Darstellung des Meisters eigenthümlich gewesen sein müssen. Hier steht
Jphigeneia vor den Gefangenen, die Hände über dem Schoße gefaltet, offen¬
bar heftig bewegt. Mag die Gestalt in dem Relief nur andeutend behan¬
delt sein, so erkennen wir nichtsdestoweniger die großartige Weise, in welcher
sie componirt ist und ihre Haltung stimmt mit dem Conflicte verschiedener
Empfindungen, der ihr in der Composition des Timomachos eigenthüm¬
lich war. Somit sind wir berechtigt, die Darstellung des weimarischen
Sarkophags auf Timomachos zurückzuführen und darin eine Reproduction
wenigstens der Motive seiner Composition anzunehmen. Vergleichen wir
nunmehr die Sarkophagdarstellung mit den pompeianischen Bildern, so werden
wir eine eigenthümliche Erscheinung gewahr. Beide Compositionen nämlich,
die im Großen und Ganzen von einander vollständig unabhängig sind, zeigen
die Gruppe der gefangenen Jünglinge, abgesehen von geringfügigen Modifi¬
kationen, ganz in derselben Weise componirt, dergestalt, daß hier die Abhängig-
keit von einem gemeinsamen Original unzweifelhaft ist. Somit ergibt sich,
daß die in den pompeianischen Bildern vorliegende Composition in der That
ein Element aus der Schöpfung des Timomachos entlehnt hat. Die Gruppe
der gefangenen Jünglinge ist aus derselben herausgelöst und in einen an¬
deren Zusammenhang übertragen: die Gefangenen befinden sich nicht vor
Jphigeneia, wie es auf dem Bilde des Timomachos der Fall gewesen war,
sondern vor Thoas, während Jphigeneia im Hintergrunde die Tempeltreppe
herabschreitet, ohne noch einen hervortretenden Antheil an der Handlung zu
nehmen. Die Vereinigung der von Timomachos entlehnten Gruppe mit den
Elementen, in welche dieselbe übertragen wurde, ist so geschickt und glücklich
zu Stande gebracht, daß die aus verschiedenen Bestandtheilen zusammengesetzte
Composition in jeder Hinsicht als wohl zusammenhängendes und organisch
abgeschlossenes Ganze erscheint. Fragen wir darnach, wann und wo diese
Zusammenarbeitung verschiedener künstlerischer Motive zu einer Neubildung
stattfand, so können wir in diesem Falle soviel mit Sicherheit beantwor¬
ten, daß es nicht die campanischen Wandmaler waren, die diesen in seiner
Art vollendeten Synkretismus gestalteten. Die Composition der pompeiani-
schen Wandbilder kehrt nämlich mit geringen Modifikationen, die sich außer¬
dem alle aus den verschiedenen Bedingungen der Reliefdarstellung ableiten
lassen, auf einem in Ostia gefundenen und gegenwärtig im Berliner Museum
befindlichen Sarkophage wieder. Da es ein sonderbarer Zufall gewesen wäre,
wenn der Sarkophagarbeiter gerade eine in einer campanischen Landstadt
locale Composition zum Muster genommen hätte, so werden wir zu der An¬
sicht geführt, daß den Wandgemälden wie der Sarkophagdarstellung ein ge¬
meinsames Original zu Grunde liegt, welches an irgendwelchem bedeutenden
künstlerischen Centrum entstand und von dort aus seinen Einfluß gel¬
tend machte.
Doch ich fürchte, daß ich durch diese Auseinandersetzung die Geduld der
Leser ermüdet und die diesem Aufsatze zugemessenen Grenzen überschritten
habe. Nichtsdestoweniger habe ich sie nicht unterdrückt, da in diesem Falle
hinreichendes Material zur Kenntniß des Sachverhalts vorlag. Aehnliche
Erscheinungen bieten uns mannigfache andere campanische Btlderserien. Ich
erinnere an die Gemälde, welche Hippolytos und Phaidra darstellen. Die
Figur des Hippolytos kehrt auf mehreren Bildern, welche die übrigen han¬
delnden Personen in ganz verschiedener Weise darstellen, so entsprechend com-
ponirt wieder, daß es keinem Zweifel unterliegen kann, daß ihr allenthalben
dasselbe Original zu Grunde liegt. Also ist auch hier eine Figur aus der
Composition, für welche sie ursprünglich erfunden war, herausgelöst und in
einen anderen Zusammenhang übertragen. Aehnliches ergibt sich aus der
Untersuchung der Bilder, welche das Opfer der Jphigeneia darstellen, wo in
den Darstellungen des Agamemnon Reminiscenzen aus einer berühmten
Composition des Timanthes erhalten zu sein scheinen, und aus Vergleichung
der Bilder: die schlafende Ariadne auf Naxos, und des Gemäldes, welches
die schlafende Chloris darstellt, zu der Zephyros herabschwebt, wobei dort
Ariadne und hier Chloris ganz in derselben Weise componirt sind.
Die Epoche zu bestimmen, in welcher dieses Zusammenarbeiten verschie¬
dener Motive zu malerischen Neubildungen stattfand, zu entscheiden, ob sie
von der hellenistischen Malerei gestaltet, ob sie Producte der Malerei der
ersten Kaiserzeit sind — dafür fehlen uns alle Anhaltspunkte. Die Ana¬
logien, welche die Dichtkunst jener Perioden bietet, lassen beide Möglichkeiten
gelten. Bereits die jüngeren alexandrinischen Dichter verwerthen Motive
ihrer unmittelbaren Vorgänger, wie dies z. B. Apollonios Rhodios mit Mo¬
tiven aus Kallimachos that. Bekannt ist andererseits, wie die lateinischen
Dichter des goldenen Zettalters die alexandrinischen Dichter ausnützten. Die
Plastik der beiden Epochen darf bei den schwankenden Ansichten über dieselbe
kaum zum Vergleich herangezogen werden. Die Kunst der hellenistischen Epoche
fängt erst ganz neuerdings an, in umfassenderer Weise Gegenstand der wissen¬
schaftlichen Untersuchung zu werden. Ueber die Plastik der ersten Kaiserzeit sind
die widersprechendsten Ansichten verbreitet: die einen sprechen ihr jegliche Pro-
ductionsfähigkeit wenigstens auf idealem Gebiete ab, die anderen erkennen
ihr ein immerhin bedeutendes Maß zu, wie neuerdings Friederichs sogar den
Laokoon unter den Werken griechisch-römischer Kunst ausgeführt hat. Da ich
nicht verlangen kann. daß der Leser das Resultat meiner Untersuchungen aus
Treu und Glauben hinnehme, so halte ich es für angemessen, mich über diese
Fragen, die einer ausführlichen Erörterung bedürfen, vor der Hand jedes Ur¬
theils zu enthalten, um anderswo daraus zurückzukommen.
In anderen Fällen läßt es sich nachweisen, daß Compositionen. die ur¬
sprünglich umfangreicher waren, durch Auslassungen verkürzt sind, ein Ver¬
fahren, welches die Wandmaler vielfach einschlagen mußten, um bei Bildern,
welche als Gegenstücke in demselben Raume gemalt werden sollten, die Ueber¬
einstimmung der Dimensionen herzustellen. Dies wird der Fall gewesen sein
bet der bereits oben erwähnten Composition, welche Danae auf Seriphos
darstellt. Aus zwei Repliken derselben stehen der Danae zwei Fischer gegen¬
über, welche verwundert Fragen an das Mädchen richten und keinesfalls auf
dem Originale des Artemon fehlten, auf welches diese Bilder zurückgehen.
Eine dritte Replik dagegen gibt nur Danae mit dem Perseusknaben wieder
und läßt die Fischer weg. Interessant ist es, unter diesem Gesichtspunkte
die/pompeianischen Wandgemälde, welche Jo von Argos bewacht darstellen,
und das Bild mit derselben Scene zu vergleichen, welches auf dem Palatin
zu Tage gekommen ist. Letztere Replik zeigt die Anlage der Jo und des
Argos ganz der der pompeianischen Figuren entsprechend, fügt jedoch links
Hermes bei. welcher, auf Befreiung des Mädchens bedacht und die Situation
Prüfend, herantritt. Durch die Gegenwart des Gottes gewinnt die Com¬
position innerlich wie äußerlich. Der Betrachter wird durch dieselbe über
die dargestellte Situation hinaus auf das Fortschreiten der Handlung hin¬
gewiesen. Andererseits bildet die Figur des Hermes in der äußeren Anord¬
nung der Glieder der Composition ein beinahe unbedingt erforderliches
Gegenstück zu der Figur des Argos. Man wird daher voraussetzen müssen,
daß in der Originalcomposition Hermes beigefügt war, daß diese Figur da¬
gegen von den campanischen Wandmalern zum Nachtheil der Composition
ausgelassen wurde.
Besonders bequeme Füllfiguren waren die Personifikationen von Natur¬
gegenständen, namentlich der Bergwarten, welche ihrem Charakter gemäß bei
jeder nicht allzubewegten Handlung, die in freier Natur vorging, am Platze
waren. Ihre Anwendung läßt sich der der loci ovmmuueL in der Rhetorik
vergleichen. Eine ganze Ruhe von Compositionen, Ganymedes schlafend,
Adonis in Liebesvereinigung mit Aphrodite und andere, finden sich bald
mit, bald ohne diese Figuren dargestellt. Stets jedoch haben die campanischen
Wandmaler ein richtiges Verständniß für den Charakter dieser Personifikationen
bewahrt. Entsprechend der Ruhe der ewigen Natur, aus deren Bereiche sie
entlehnt sind, werden sie stets in gehaltener Weise dargestellt, und wohnen sie
nur solchen Scenen bei, wo die handelnden Personen mehr oder minder im
Einklange mit sich selbst und mit der Außenwelt auftreten, dergestalt, daß die
Naturpersonification nicht im Widerspruche, sondern in vollendeter Ueber¬
einstimmung zu der Scene steht, der sie beigefügt ist.
Es bleibt uns schließlich noch übrig, einen Blick zu werfen auf die
Auswahl, welche die Wandmaler innerhalb der Schöpfungen der hellenisti¬
schen Kunst zum Zwecke der Reproduction in ihrer Kunstübung trafen,
— eine Auswahl, die natürlich nicht unmittelbar von den campanischen
Wandmalern ausging, sondern ohne Zweifel an größeren künstlerischen Mittel-
Punkten, vermuthlich besonders in Rom, typische Gestaltung gefunden haben
Wird. Die Gesichtspunkte, welche hierbei maßgebend wirkten, waren einer¬
seits technischer Art und stehen im engsten Zusammenhange mit dem von
mir im Anfange dieses Aussatzes Auseinandergesetzten. Die Art der Technik
stand der Reproduction von Werken im Wege, bei denen die virtuose Durch¬
führung schwer in das Gewicht fiel. Die Anmuth der Bilder des Apelles
mit ihren eoloristischen Feinheiten konnte in der Frescomalerei auch nicht
annähernd zum Ausdruck gebracht werden. Wir finden daher keine seiner
Compositionen in der Wandmalerei wiederholt, es sei denn, daß eine hercu-
laner Architecturmalerei eine Reminiscenz von seiner Aphrodite Anadyomene
bewahrt hat. Ebenso sind mit wenigen Ausnahmen Darstellungen von
Scenen vermieden, bei denen Lichteffekte bedeutsam in den Vordergrund
traten. Der seueranblasende Knabe des Antiphilos. ein durch die Behand¬
lung der Lichtreflexe berühmtes Bild, findet sich nicht in dem gegenwärtig
bekannten Vorrath campanischer Wandgemälde. Auch vermissen wir ein in
der ersten Kaiserzeit sehr beliebtes Gemälde, welches den Sturz des Phaethon
vor Augen führte und bei der Darstellung dieser Scene auf römischen Sarko-
phagreliess benutzt wurde. Sein Reiz beruhte offenbar namentlich auf den
verschiedenen Lichtwirkungen, indem in der Mitte der stürzende Phaethon mit
der gleißenden Sonnenkrone, unten die flammende Erde, oben die Gestirne,
welche durch die hereinbrechende Nacht hervorzuleuchten beginnen, eine Reihe
eigenthümlicher Gegensätze bildeten. Wie der Charakter des Vorgangs an
und für sich, wie wir später sehen werden, keineswegs mit den Grundsätzen
stimmte, welche die Wandmaler in der bildlichen Ausschmückung der Wohn¬
häuser zu befolgen pflegten, so überschritt die Darstellung der betreffenden
Lichteffekte selbstverständlich die Grenzen der Frescotechnik. Durchmustern
wir den uns zugänglichen Vorrath campanischer Wandgemälde, dann sehen
wir, daß, wo die Darstellung Ltchteffekte erforderte, dieselben entweder gar
nicht, oder nur in sehr andeutender Weise ausgedrückt sind. Auf dem
Bilde, welches die Schmiede des Hephaistos darstellt, ist der Lichteffekt,
welcher von dem flammenden Herde ausgehen müßte, gar nicht angedeutet.
Auf einem Gemälde, das darstellt, wie Pero ihrem zum Hungertode ver-
urtheilten Vater im Gefängnisse die Brust reicht, fällt ein Sonnenstrahl in
den Kerker, doch ist dieses Motiv nicht in einer die Natur nachahmenden
Weise, sondern nur andeutend behandelt. Andere Erscheinungen verwandter
Art, welche man auf einem Ledabilde und dem berühmten auf die Hochzeit
des Zephyros und der Chloris gedeuteten Gemälde wahrnehmen wollte,
lassen sich gegenwärtig, da die Gründe dieser Bilder sehr verblaßt sind, nicht
mit hinreichender Sicherheit erkennen. Immerhin jedoch kann man, auch bei
dem gegenwärtigen Zustande dieser Bilder, behaupten, daß die Charakteristik
der betreffenden Motive keineswegs bedeutsam hervortrat. Aus denselben
Gründen finden wir in der Wandmalerei kein vollständig durchgeführtes
Nachtstück. Allerdings kann das herculaner Bild, welches den Einzug des
hölzernen Pferdes in Troia darstellt, als Nachtstück gelten. Doch ist hier
die Nacht nur durch ein etwas gedämpftes Colorit angedeutet — eine Dar¬
stellungsweise mehr symbolischer Art, die weit entfernt ist von einer der
Wirklichkeit entsprechenden Charakteristik.
Außer diesem auf die Technik begründeten Gesichtspunkte war der Charak¬
ter der dargestellten Scenen selbst maßgebend für die Alten, ob eine Compo-
sition in der Wandmalerei reproducirt werden sollte oder nicht. Selbstver-
ständlich machte es einen bedeutenden Unterschied, ob die Wandmalereien für
ein öffentliches Gebäude oder für ein Privathaus bestimmt waren. Wir
haben es vor der Hand nur mit der letzteren Classe zu thun. Schreckliche
Vorgänge pathetischer Charaktere waren im Allgemeinen gewiß nicht dazu
geeignet, sich als dauernder Schmuck der Wände vor den Augen der Insassen
darzustellen. Daß die Alten so empfanden, ergibt sich deutlich aus der
Wahl der in der Wandmalerei zur Schilderung gebrachten Stoffe. Allerdings
hat man hierbei auch innerhalb des Privathauses verschiedene Gattungen
von Bildern zu unterscheiden. Die Bilder der Friese, der Predellen, der
in die Architekturmalerei eingefügten Vignetten konnten eher schreckliche Vor¬
gänge zur Darstellung bringen, da die Kleinheit ihrer Figuren nur eine
andeutende BeHandlungsweise gestattete. Anders dagegen die mit gemalten
Rahmen abgegrenzten Bilder, welche die Mittelpunkte der Wandfelder zu
bilden pflegen und durch den Platz, den sie einnehmen, und die Größe ihrer
Dimensionen sofort den Blick auf sich ziehen. Innerhalb dieser Gattung sind
die Darstellungen, in welchen ein heftiges Pathos vorherrscht, sehr selten.
Die sich zum Kindermord anschickende Medeia des Timomachos fand sich
einmal in einem Privathause, dreimal die Strafe der Dirke. Da jedoch die
letztere Scene zweimal als Staffage einer Landschaft, einmal auf einem Ge¬
mälde vorkommt, welches die Mitte hält zwischen historischem und Landschafts¬
bilde, so kam die schreckliche Handlung nicht zu selbständiger Geltung. Ebenso
findet sich Aktaion, wie er von seinen Hunden zerrissen wird, in der Regel auf
Landschaftsbildern oder auf solchen, wo ein ausgeführter landschaftlicher
Hintergrund das Interesse des Betrachters theilt. Außerdem ist die Dar¬
stellung des Aktaion gewöhnlich in den Hintergrund gerückt und war es den
Malern offenbar darum zu thun, die nackte Gestalt der badenden Göttin
besonders hervorzuheben. Ein neuerdings gefundenes Gemälde, welches den¬
selben Mythos darstellt, zeigt eine eigenthümlich strenge, man möchte fast
sagen archaisirende Zeichnung und Durchführung, welche das Pathos der
Handlung nicht zu vollständiger Klarheit kommen lassen. Dasselbe gilt von
dem großen Gemälde aus dem Hause des tragischen Dichters, welches das
Opfer der Jphigeneia darstellt und in Anlage und Ausführung deutlich eine
archaisirende Kunstrichtung erkennen läßt. Fügen wir noch das Gemälde
bei, welches den Tod der Sophoniba darstellt, so ist innerhalb der in Privat¬
häusern gefundenen Malereien die Zahl der Compositionen, welche eine tief
ergreifende Scene von entschieden pathetischen Inhalt darstellen, erschöpft.
Niemand wird, denke ich, die Bilder des verwundeten Adonis hier in Betracht
ziehen wollen, da ihre Auffassung eine durchaus sentimentale ist und die
Nebenfiguren, die dem Jünglinge beistehenden Eroten, einen entschieden tän¬
delnden Charakter verrathen. Dieser im Allgemeinen maßgebende Gesichts-
punkt, daß sich Compositionen pathetischen Inhalts nicht zur Ausschmückung
von Wohnzimmern eignen, erklärt hinreichend, warum gerade die gro߬
artigsten Schöpfungen der hellenistischen Malerei, deren Andenken uns die
Schriftsteller bewahrt haben, in der Wandmalerei der Privathäuser keine Ver¬
wendung fanden. Schwerlich werden die pompeianischen Ausgrabungen
jemals Reproductionen der ergreifenden Compositionen des Theon zu Tage
fördern. Schwerlich haben wir dies zu hoffen von Compositionen, wie der
des Antiphilos, welche den Untergang der Hippolytos darstellte, und ähnlichen
großartigen Schöpfungen pathetischen Inhalts, wie sie die erste Entwickelung
des Hellenismus in beträchtlicher Anzahl hervorbrachte. Ebenso Zwenig werden
wir annehmen dürfen, daß die bedeutenden und zahlreichen Compositionen,
durch welche die hellenistische Kunst Alexander den Großen und die Diadochen
verherrlichte, in ausgedehnter Weise in der griechisch-römischen Wandmalerei
Eingang fanden, wiewohl es möglich ist, daß einige pomveianische Bilder,
welche Nike und siegreiche Krieger darstellen, auf Motive aus derartigen
Bildern zurückgehen. Unter allen Umständen war bei der Kleinheit
der zur Ausmalung vorliegenden Räume die Darstellung umfang¬
reicherer Scenen mit Gestalten in größerem Maßstabe und monumenta¬
len Charakters entschieden mißlich. Das große Gemälde in der (üasg,
ü' ^üomÄs tsrito, welches den verwundeten Adonis darstellt, kommt hierbei
nicht in Betracht, da für dasselbe der Raum einer ganzen Wand ausgespart
und es als Wandbild im eigentlichsten Sinne des Worts, nicht als Tafel¬
bild behandelt ist. Dagegen mußten die großartigen als Tafelbilder behan¬
delten Darstellungen, welche sich im Atrium vom Hause des tragischen Dichters
fanden (Hochzeit des Zeus und der Hera, Geleitung des Chryseis/Mntlassung
der Briseis), in den engen Räumen des Porticus nothwendig gedrückt er¬
scheinen. Kleinere Compositionen von weniger großartigem Charakter fügen
sich ungleich harmonischer den Bedingungen der gegebenen Räume. Die helle¬
nistische Kunst hatte eine reiche Fülle auch solcher Compositionen hervorge¬
bracht. Während die erste Epoche der Entwickelung nach Alexander dem
Großen mit ihren gewaltigen Erschütterungen auf politischem und socialem
Gebiete eine großartig pathetische Richtung der Kunst begünstigt hatte, trat
in der weiteren Entwickelung, als sich die hellenistischen Reiche consolidirt, eine
Periode der Abspannung ein. Der lang vermißte Friede war, abgesehen von
unbedeutenden Unterbrechungen, im Allgemeinen wiederum dauernd geworden
und hatte eine eifrige Pflege der materiellen Interessen und beträchtlichen
Wohlstand in den hellenistischen Städten verbreitet; die neue Regierungs¬
form, die absolute Monarchie, hatte zwar die politische Freiheit vernichtet,
gab aber der ohnehin der Ruhe bedürftigen Gesellschaft um so reichlichere
Muße, ihren vielseitigen Privatneigungen nachzugehen. So entwickelte sich
ganz in dem Geiste einer an großen Idealen armen, aber an feiner Bildung
und Genußfähigkeit reichen Zeit jene Kunstrichtung, welche, ohne einen be-
deutenden Inhalt zu verwirklichen, allgemein menschliche Stimmungen und
Gefühle in anmuthigster Form zur Anschauung brachte, welche mit Vorliebe
das Genre pflegte und eine genreartige Auffassung auch auf mythologische
Scenen übertrug, sodaß es vielfach schwer fällt, ihre mythologischen und
Genredarstellungen auseinanderzuhalten. Sie brachte Bilder hervor wie die
angelnde Aphrodite, die Liebesidylle der Göttin mit Adonis, überhaupt eben
die Compositionen, welche am häusigsten in der campanischen Wandmalerei
wiederholt sind. Bei der vielfachen Verwandtschaft, welche die griechisch¬
römische Gesellschaft von den letzten Decennien der Republik abwärts mit
der damaligen hellenistischen darbot, ist es nicht zu verwundern, daß es grade
solche Compositionen waren, welche mit Vorliebe von den Malern der
Kaiserzeit aufgegriffen und zur Ausschmückung der Wohnhäuser verwendet
wurden.
Fassen wir die Resultate dieser Betrachtungen zusammen, so sehen wir,
daß die campanischen Wandgemälde uns allerdings nur einen sehr annähern¬
den Begriff von der hellenistischen Malerei geben. Wir haben es mit einer
Auswahl von Compositionen zu thun, die durch technische Rücksichten be¬
dingt wurde, und durch Gesichtspunkte, welche die Bestimmung der Bilder,
die Wände von Wohnhäusern zu schmücken, an die Hand gab. Innerhalb
dieser Auswahl haben wir wiederum keine genauen Copien zu gewärtigen.
Im günstigsten Falle können wir annehmen, daß die Motive der hellenisti¬
schen Vorbilder ganz im Allgemeinen wiedergegeben sind. Doch sind sie
jedenfalls in eine mehr oder minder decorative BeHandlungsweise übertragen,
außerdem vielfach durch die Einflüsse der Epoche, in welcher sie reproducirt
wurden, und der localen Verhältnisse, unter welchen ihre Reproduction Statt
hatte, endlich durch die Individualität der ausführenden Wandmaler getrübt
und wohl auch durch Improvisationen der letzteren abgewandelt. Vielfach
sind nicht einmal die Originalcompositionen in ihrem ursprünglichen Bestände
festgehalten. Wir haben Excerpte aus denselben vor Augen, membra, disiocts,,
welche aus dem ursprünglichen Zusammenhange in einen anderen übertragen,
durch Auslassungen verkürzt, durch Zuthaten erweitert sind.
Betrachten wir dagegen die campanischen Wandbilder an und für sich,
ohne sie durch den Vergleich mit der überlegenen Kunstentwickelung, von der sie
abhängig sind, in den Schatten zu stellen, und fassen wir die Anforderungen in
das Auge, denen sie zu genügen hatten, dann erscheinen sie als in hohem Grade
zweckentsprechende Leistungen. Als Gegenstände der Darstellung dienen Stoffe,
welche, von der hellenistischen Dichtung vorgearbeitet, durch die an dieselbe an¬
knüpfende lateinische Dichtung dem ganzen gebildeen Publieum des griechisch-
römischen orbis auticluus geläufig waren. Nur ausnahmsweise bringen sie einen
tieferen Gehalt zur Darstellung oder ergreifen sie mächtig. Niemals nehmen
sie durch eine sehr in das Einzelne eingehende Ausführung ein besonderes
Interesse in Anspruch. Im Allgemeinen bringen sie in leicht faßlicher Weise
und anmuthiger Form Situationen zur Darstellung, die von Gefühlen und
Stimmungen getragen sind, welche nicht über das Niveau des Allgemein-
menschlichen hinausragen und somit dem Empfindungskreise des Betrachters
um so näher liegen. Weit entfernt von den Ansprüchen, Kunstwerke im
höheren Sinne des Wortes sein zu wollen, genügen sie allen Anforderungen,
welche man an Decorationsbilder von Wohnzimmern stellen darf, die, be¬
ständig vor dem Angesichts des Insassen, das Auge angenehm anregen und
ihm einen momentanen Ruhepunkt geben sollen, ohne es dauernd zu fesseln.
In dem Spiegel fremder Zustände erkennt man sich selbst mitunter besser
als von innren heraus. Die nachstehende Charakteristik der Spaltung, welche
neuerdings in der amerikanischen Frauen-Bewegung eingetreten ist, geht zwar
von der einen Partei aus; aber ihre Unbefangenheit wird bis zu einem ge¬
wissen Grade verbürgt durch die Unterschrift des ehrwürdigen alten Aboli-
tionisten und Freihändlers William Lloyd Garrison, welche sie neben den¬
jenigen der Damen Julia Ward Howe und Mary A. Livermore und des
Herrn Henry B. Blackwell trägt. Die Spaltung aber des zuvor anscheinend
einig dahinfluthenden Stromes ist nicht allein an sich interessant, sondern
bietet auch eine so schlagende Parallele zu dem was wir in Deutschland er¬
lebt haben, daß man den wesentlichen Inhalt des Briefes vom 2. April,
den die genannten vier Führer an einen in Europa unbekannten- amerikani¬
schen Zeitungsredactor richteten, unterhaltend und beziehungsreich genug
finden wird.
„Auf der Jahresversammlung der American Equal Rights Association (Ame¬
rikanischen Gleichberechtigungs-Gesellschaft), welche im Mai 1869 zu Newyork ge¬
halten wurde, waren Personen aus verschiedenen Theilen des Landes zugegen. Nach
dem Schlüsse der Versammlung, und nachdem Viele der Anwesenden Newyork be¬
reits wieder verlassen hatten, kam eine Anzahl Auswärtiger — man behauptet aus
vierzehn verschiedenen Staaten — mit mehrere Male soviel Newyorkern in den
Räumen des „Frauen-Bureau" zusammen, und gründeten was sie die „Nationale
Gesellschaft für Frauen-Stimmrecht" nannten. Kein Staat und kein Verein hatte
sie zu solchem Zwecke delegirt. Die Absicht war nicht vorher öffentlich angekündigt
worden, so daß Delegirte von überallher sich dazu hätten einfinden können. Viele
der hervorragendsten Frauen, welche sich an der Stimmrechts-Bewegung betheiligen,
wußten kein Wort davon. Ja die Urheberinnen der neuen Organisation, Frau Eli¬
sabeth Cady Stanton und Frl. Susanne B. Anthony hatten einigen dieser anderen
Frauen ausdrücklich versichert, man beabsichtige augenblicklich nichts der Art, und
diese hatten im Glauben an solche Versicherung die Stadt verlassen. Von den
Amts- und Ehrenstellen der neuen Gesellschaft wurden alle Männer ausgeschlossen.
Die leitende Gewalt erhielt ein Vorstand, der ganz aus Newyorkerinnen bestand.
Die Zahl der Ausschußmitglieder wurde durch Privatcorrespondenz mit Einzelnen
vom Frauen-Bureau aus vermehrt. Das Ergebniß des Ganzen war eine enge,
abgeschlossene Körperschaft, national nur i>em Namen nach, in Wirklichkeit local,
und nicht im weiteren Sinne des Worts repräsentativ und das Organ einiger weni¬
gen Persönlichkeiten, von örtlichen und individuellen Interessen beherrscht.
„Mit diesem unregelmäßigen Ursprung stimmte das weitere Vorgehen der neuen
Gesellschaft überein. Man hielt wöchentliche Zusammenkünfte ab. um eine Menge
von Fragen zu erörtern, die mit der Stimmrechts-Frage oft nicht das Mindeste ge¬
mein hatten, wie die Ursachen der Verringerung der Kinderzahl, Ehen, Scheidungen,
die sociale Frage u. s. f. Die Verhandlungen erschienen gedruckt theils in der
Newyorker Tagespresse, theils in der „Revolution", dem Organ der National
Woman Suffrage Association, als deren Verhandlungen. Anfragen und Remon-
strativnen von Freunden der Sache blieben unberücksichtigt.
„In einer dieser wöchentlichen Zusammenkünfte wurde auf Frau Stanton's
Antrag das fünfzehnte Amendement zur Verfassung der Vereinigten Staaten, das
die Einführung des Neger-Stimmrechts enthält, verworfen. So compromittirte man
auf das Urtheil weniger einzelner Individuen hin die Bewegung in einem höchst
wichtigen Punkte.
„Eine andere getheilte Stimmung rief das voraufgehende Bündniß von Frau
Stanton und Frl. Anthony mit dem bekannten George Francis Train hervor, über
dessen phantastische Projecte und harlekinhafte Aufzüge kein Wort weiter nöthig ist.
Aus dieser herabwürdigenden Genossenschaft ging die „Revolution" hervor, welche
neben dem allgemeinen Unterricht und Stimmrecht die Ausschließung aller fremden
Manufacturwaaren, Absperrung Amerikas gegen Europa, uneinlösbares Papiergeld
und ähnliche schöne Theorien predigte. Dieses Blatt, einem Einzigen gehörend und
nicht unter Vereinscontrole, maßte sich trotzdem an „das Mundstück der Frauen-
Sache" zu sein. Seine beständigen Angriffe auf die Stimmberechtigung der Neger
und der parteiische Charakter seiner Auslassungen über verwandte Fragen, in Bezug
auf welche die Freunde der Frauen-Sache weit auseinandergehen, haben manche
ernste Wahrheitsforscher zurückgestoßen, manche Freunde der Sache entfremdet, mäch¬
tige Parteigefühle und Interessen gegen dieselbe ins Feld gerufen. Und die Re-
dactrice dieses Blattes, Frau Stanton, ist zugleich die Vorsitzende der National
Woman Suffrage Association!
„Aus diesen und vielen andern ebenso zwingenden Gründen empfanden zahl-
reiche Träger der Bewegung in allen Theilen des Landes die Pflicht und Noth¬
wendigkeit, eine allgemeine amerikanische Gesellschaft unter solchen Auspicien und in
so repräsentativer Gestalt ins Leben zu rufen, daß sie mit Recht das öffentliche
Vertrauen in Anspruch nehmen könne. Demgemäß wurde im August 1869 von
Seiten des Vorstandes New England Woman Suffrage Association ein Circular
erlassen, welches eine neue constituirende Versammlung einzuberufen empfahl, „ohne
dem Werthe schon bestehender Vereine Eintrag zu thun." Leitende Freunde der Sache
in zweiundzwanzig Staaten der Union unterzeichneten den Aufruf und Hunderte von
Zeitungen in allen Theilen des Landes druckten ihn ab. Der Zweck war darin
ganz bestimmt bezeichnet: Bildung eines Vertretungskörpers, an der Delegirte aller
Stimmrechts-Vereine in den verschiedenen Staaten theilnehmen sollten.
„Die Versammlung fand zu Cleveland in Ohio statt und rief die American
Woman Suffrage Association ins Leben. Sie tagte nicht in einem Wohnzimmer,
sondern in einer öffentlichen Halle vor einem gedrängt vollen Publicum. Die Ver¬
handlungen gingen auf telegraphischem Wege in die Presse über. Nicht ein Wort
siel von den Lippen der Redner, das andere Vereine oder mit der Bewegung ver¬
knüpfte Persönlichkeiten hätte kränken können; die größte Harmonie gab sich kund.
Männer und Frauen mit gleichem Maße messend, lud die junge Gesellschaft alle
Gleichgesinnten herzlich ein, die Lasten und Ehren des Kampfes zu theilen, und
stellte den Geistlichen Henry Ward Beecher (den gefeiertsten Prediger Newyorks
und der ganzen Union) als Präsidenten an ihre Spitze."
Unter Henry Ward Beecher's Vorsitz wird denn nun am 11. und
12. Mai auch die erste große Versammlung dieser neuen Association in
Newyork stattgefunden haben, nicht um die andere Partei in ihrem eigenen
Lager anzugreifen, sondern um die auch dort zahlreich vorhandenen Anhänger
der jüngeren, aber minder exclusiver und radicalen Fahne zu sammeln und
sichtbar darzuthun, daß dieselbe auch in der größten Stadt des Landes es
wohl wagen darf, öffentlich aufzutreten. Der eigentliche Sitz dieses Armes
der Bewegung ist sonst theils in Boston, theils in Chicago; sein Organ,
das vo'trefflich redigirte Wochenblatt „The Woman's Journal", erscheint in
diesen beiden Hauptstädten Neu-Englands und des Westens zugleich. Aber,
der Verein macht Anspruch darauf, der nationalere, allgemein giltigere zu
sein, und muß daher nothwendig auch Newyork für sich in Beschlag nehmen.
Die Aoschließung eines Theils der agnirenden Frauen gegen uneigen¬
nützigen männlichen Beistand ist bekanntlich auch in Deutschland vorgekom¬
men. Sie erklärt sich unschwer aus verschiedenen Motiven: hier aus einer
vielleicht unbewußten psychologischen Reaction gegen die Zurücksetzung der
Frauen, ihre Ausschließung von so manchen Zirkeln, Berufszweigen und Be¬
strebungen, ihre falsche Beurtheilung und ungerechte Behandlung durch die
Masse der Männer; dort aus einem hochgetriebener Selbstbewußtsein, das
allen Aufgaben der Agitation allein gewachsen zu sein glaubt; zuweilen end-
lich wohl auch aus der nicht entschieden genug abzuweisenden Zudringlichkeit
eompromittirender Subjecte männliches Geschlechts. Allein eine Abwehr,
welche um zufälliger übelwirkender Ausnahmen willen alle Männer grünt,
säklich fernhält, schießt über das Ziel hinaus. Aus demselben Grunde müßten
auch die Frauen ausgeschlossen und folglich gar kein Verein gebildet werden.
Die alte Erfahrung, daß ideale Agitationen neben den reinen und starken
allemal auch anbrüchige Charaktere anzuziehen pflegen, die in der Hingebung
an sie eine Art stillen Besserungs- und Crhebungsversuchs anstellen, kann
auch der Frauenbewegung nicht erspart bleiben; aber in der Natur der Sache
liegt es, daß es hier mehr weibliche als männliche Adepten von solcher zwei¬
deutigen Verheißung sind, wodurch der Tact von Vereinsvorständen auf die
Probe gesetzt zu werden pflegt. Es scheint demnach auch, als ob ein Theil
der Leiterinnen des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins nachträglich ein¬
gesehen hätte, daß man nach der allerdings sehr Übeln Erfahrung mit einem
Herrn — der jetzt in Stuttgart neben den Mayer und Frese sein Wesen
treibt—zu weit gegangen ist, als man die „Selbsthilfe der Frauen" procla-
wirte, die bei jeder Petition an irgend eine Volksvertretung oder Behörde
sofort ihre Grenze findet und schädlich zurückschlägt.
Die Agitation durch Frauen allein scheint in England gar nicht unter¬
nommen worden zu sein, und hat in den Vereinigten Staaten nach obigem
recht gemäßigt und sachlich auftretendem Briefe nicht solche Früchte getragen,
daß sie sich zur Nachahmung empföhle. Es mag wahr sein, daß einzelne
Frauen vollkommen die Gewandtheit. Umsicht, Russe und Stetigkeit besitzen,
um eine öffentliche Agitation erfolgreich zu leiten, ohne jemals eines Mannes
Rath einzuziehen. Aber im Großen und Ganzen können die Frauen diese
Art von specifischer Reife für die Aufgaben des öffentlichen Lebens noch nicht
besitzen, weil ihnen die Erfahrung und Uebung fehlt. Sie haben als Ge¬
schlecht nicht die Vortheile der Männer gehabt, um sich darauf einzustudiren.
Leichtigkeit des Ausdrucks in öffentlicher Rede und Schrift, Kenntniß der
Formen des Staats- und Rechtslebens, Praxis in den parlamentarischen und
journalistischen Gebräuchen gehen ihnen ab. Es ist nicht auffallend, wenn
Ehrgeiz sie treibt, sich diese nothwendigen Erfordernisse des Erfolges
im öffentlichen Leben gleichfalls anzueignen; aber verwerfliche persönliche
Eitelkeit wäre es, wollten sie auf einen so viel früheren und umfassenderen
Erfolg ihrer Sache verzichten, weil die dazu nothwendige Mitwirkung be¬
gabter und erfahrener Männer ihrem Selbstgefühl mitunter etwa geheime
Wunden schlägt.
Wir vermögen in der angedeuteten Exclusivität im Allgemeinen nichts
anderes zu erblicken, als eine krankhafte Reaction gegen krankmachende Be¬
handlung. Den Blick lediglich auf eine vereinzelte Aufgabe gerichtet, über?
sehen die Frauen, wie dringend ihre Angelegenheit als Ganzes der vor-
urtheilsfreien und wohlwollenden Beurtheilung, ja des thätigen Beistandes
der verhältnißmäßig wenigen Männer bedarf, welche die Begründung und
den Werth derselben zu würdigen wissen. Sie lassen außer Acht, daß ihre
Agitation, so weit sie Berechtigung hat, keine Sache des einen Geschlechts,
sondern der ganzen Menschheit ist. an der denkende und fühlende Männer mit
Recht ihren Antheil reclamiren können, schon weil sie Söhne, Brüder, Gatten
und Väter weiblicher Wesen sind, deren Schicksal ihnen ebenso sehr am Herzen
liegt, wie irgendwelchen Frauen. Der Mann, welcher zuerst in einem bestimm¬
ten Ort oder Kreise für die Frauenhände in die Schranken getreten ist, wird
fast immer geduldig durch ein gewisses Kreuzfeuer von Scherzen und Hinder¬
nissen haben gehen müssen: warum soll sein Lohn nun die Zurückweisung
seiner Hilfe durch dieselben Frauen sein, welche vorgeblich am lebhaftesten
fühlen, wie nothwendig die Lage ihres Geschlechts der Hebung durch alle
überhaupt anwendbaren Mittel bedarf?
Die Verschmähung ehrenwerther männlicher Hilfe wird bald in Amerika
wie in Europa zu den Kinderkrankheiten dieser Bewegung gerechnet werden,
welchen allerdings nicht leicht Jemand in seinen jungen Jahren ganz ent¬
geht, über die des Erwachsenen härtere Haut aber desto sicherer hinaus ist.
Politische Kinderkrankheiten kann man auch sonst im Innern dieser Agitation
manche wahrnehmen, vor Allem ein übertriebenes Wohlgefallen an Parteiung
und scharfer Verketzerung der nicht vollkommen gleichqesinnten Strebens-
genossen. Hoffen wir, daß dies Stadium bald vorüber sein möge, und dann
für immer.
Es wird nun bald ein Jahr, daß ich am Schluß eines Berichtes über
die Züricher Bewegung Ihnen geschrieben habe, es stehe dort eine Ver-
längerung des leidenschaftlichen Gegensatzes der beiden Parteien in sicherer
Aussicht, weil die Demokraten trotz ihrer geringen Mehrheit das in der
Schweiz so beliebte Princip des Mehrheitsdespotismus geltend zu machen
fortfahren. Es ist seither auch nicht anders geworden mit diesem Despotis-
Mus, er hat sich eher noch vermehrt, obgleich oder vielmehr weil die Mehr¬
heit eine noch geringere geworden. Mit den Volkskundgebungen zu Gunsten
der Demokraten bei den öfteren Referendum-Abstimmungen ging es seither
immer äseroseenän und die letzte Stimmgabe vom 24. April d. I. hat
wieder ein bedeutendes Minus gegen die frühern zu Tage gefördert, ja das
Fabrikgesetz, auf welches man als aus einen Köder für die Arbeiterclasse zur
Zeit des Revisionssturmes ein ganz besonderes Gewicht gelegt hatte, wurde
verworfen, da eben diese Classe sich in ihrer Mehrheit gegen dasselbe aus-
sprach, und das Steuergesetz ging nur mit knapper Majorität durch.
Bemerkenswerth ist aber auch die große Zahl derer, die sich beim letzten
Referendum der Abstimmung enthielten. Denn bei dem Eifer, mit welchem
von den Führern der Demokratie ihr Anhang zur Wahlurne getrieben
zu werden pflegt, darf man es keineswegs für zufällig oder für ein Zeichen
der Erschlaffung ansehen, daß die Zahl der Stimmender so gering ge¬
wesen. Hätte die zahlreiche Bevölkerung der Stadt und des linken See¬
ufers sich nicht von der muthlosen Reflexion zu sehr beherrschen lassen, ihre
Stimmgebung gegen die Demokraten sei doch eine vergebliche, so wäre ohne
Zweifel auch das wichtige Steuergesetz verworfen worden und die Führer der
letzteren Partei wären in die größte Verlegenheit gekommen. Es kann in
dieser Beziehung der liberalen Partei der Vorwurf nicht erspart werden, daß
sie hier einen großen Fehler begangen, die Ihrigen nicht mit aller Energie
zur allgemeinen Theilnahme an dem Votum anzufeuern.
Die Demokraten hatten ihre Agitation mit großen Versprechungen be¬
gonnen, ja selbst mit poesiereichen Idealen, welche letztere jedoch schon wäh¬
rend der ersten Anfänge der Bewegung von dem trüben Wellenschlag der
zum Theil künstlich erregten Volksletdenschaften verschlungen oder in häßliche
Zerrbilder verwandelt wurden. Von den Versprechungen waren gerade die
schönsten von vornherein praktisch unausführbar, andere bringen jetzt, nach¬
dem sie gehalten sind, mehr Lasten als Vortheile. Dies ist der Grund,
warum so Viele, welche sich bisher der Bewegung angeschlossen, jetzt, da sie
doch auch sich scheuen, ins andere Lager überzugehen und gegen die neuen,
einst aus Parteiprincipien geforderten Gesetze zu stimmen, sich des Votums
enthalten. Während die Demokraten früher bei jeder Gelegenheit mit ihren
60,000 Stimmen prahlten, dürfen sie jetzt jeder Abstimmung nur mit einem
gewissen Bangen entgegenblicken. Während jene zunehmende Enthaltung
als ein Beweis der bet der Menge allmälig eintretenden ruhigeren Ueber-
legung und Prüfung und als ein Schwinden der Parteileidenschaft an¬
gesehen werden muß, wirkt diese Wahrnehmung bei den Führern der Demo¬
kraten in umgekehrtem Sinne: ihre Gereiztheit nimmt zu und ihre Leiden-
schaft zeigt sich nach hiesigem Brauch in einer rücksichtslosen Versorgung der
Ihrigen mit Anstellungen und Aemtern.
Was speciell das Fabrikgesetz betrifft, in welchem man den Arbeiter¬
stand dadurch gewinnen wollte, daß man die Arbeitszeit auf ein bestimmtes
Mciximum beschränkte, so scheinen die Arbeiter selbst von dieser Maßnahme
befürchtet zu haben, daß man mit ungeschickter Hand die Axt an den Baum
legte, von dessen Früchten sie sich erhalten. Deshalb ward es verworfen. Die
Arbeiter selbst haben es gerichtet; eine Verbesserung ihrer socialen Lage, die
ihnen so hoch und heilig versprochen worden, um sie politisch zum Abfall
von ihren sie ernährenden „Systemlern" zu bewegen, vermochten sie in dem
Gesetze nicht zu erblicken. Eine andere Hauptversprechung war ferner die Er¬
leichterung der Steuerlast. Daß eine solche unter den obwaltenden Um¬
ständen nicht eintreten könne, wo der Staat eine Anzahl von Lasten, die bis¬
her die Privaten, wie z. B. die Ausrüstung der Milizen, oder die Gemein¬
den, wie z. B. einen Theil des Unterhalts der Schulen getragen, auf seine
Schultern genommen, das hatte man den Demokraten zum tausendsten Male
vorgerechnet. Vergeblich! Jetzt beweist der Voranschlag des demokratischen
Finanzdireetors. daß man doch Recht gehabt, daß die neue Staatsmaschine
keineswegs billiger arbeitet, als die frühere des „Systems" es gethan, ja
daß eine Erhöhung des Steuerfußes in sicherer Aussicht steht. Auch die Can-
tonal- oder Staatsbank, mit welcher man dem kleinen Manne wenn auch
nicht goldene Berge, doch viel wohlfeileres Geld verheißen, erfüllt nicht die
Hoffnungen, die man erregt hatte: noch Niemand hat unseres Wissens Geld zu
4 Procent vonderselben empfangen. — Wer die Schweiz nur aus der Ferne
kennt, findet sich überrascht, wenn er sich die Dinge in der Nähe etwas ge¬
nauer ansieht. Die Ideale und Phrasen der Demokraten, welche auf dem
Papier der Zeitungen Anhänger gewinnen, verlieren sehr an Bedeutung, wenn
man das Treiben der Träger dieser Ideen kennen lernt. Sie erscheinen dem
Nichtschweizer meist als Herren mit abstoßenden Gewohnheiten. Der Fremde
erstaunt über die allgemeine an Einstimmigkeit grenzende Veruitheilung, welche
in den Kreisen der Wissenschaft und Bildung über das „neue System" ge¬
fällt wird, und kehrt wahrscheinlich mit wesentlich anderen Ansichten in die
Heimath zurück.
Es wurde in diesen Blättern vor einiger Zeit über die kirchlichen Be¬
wegungen in der Schweiz mit Hervorhebung dessen, was sich im Volke selbst
regt, berichtet. Gestatten Sie mir, diesen Bericht zu ergänzen. Schon 1845
hatte die schweizerische Predigergesellschaft die Geltung des apostolischen
Glaubensbekenntnisses aufs Freimüthigste besprochen und selbst der recht¬
gläubige Referent über diesen Gegenstand hatte zugeben müssen, daß von
einer stritten Verpflichtung auf dasselbe nicht mehr die Rede sein könne und
es dabei den andersgläubigen Kirchgenossen überlassen, in welcher Weise sie
sich innerlich zum Taufbekenntnisse stellen mögen; ja ein später zur Ortho¬
doxie übergegangener, damals noch liberaler Geistlicher hatte ausdrücklich
eine buchstäbliche Annahme des Bekenntnisses abgelehnt und demselben nur
eine lockere, fast auf Null reducirte Verbindlichkeit zugesprochen. Die Re¬
formbestrebungen der Geistlichkeit — voran war wie gewöhnlich Zürich —
fußten hauptsächlich auf den Angriffen gegen das apostolische Symbolum und
gegen die bestehende alte Liturgie. Auch der Zürcherische Cantonsrath
hatte schon vor der demokratischen Volksbewegung auf politischem Ge¬
biete in dieser Angelegenheit die Initiative ergriffen und eine Revision des
Kirchenbuches angeordnet. Die Sache war der Kirchensynode überwiesen
worden und hatte dort zu langen und tiefgehenden Verhandlungen geführt,
in welchen die religiösen Gegensätze zu entschiedenem und würdigem Aus¬
drucke gelangten. Die Einwürfe gegen die alte Liturgie hatten sich haupt¬
sächlich gegen den starr orthodoxen Geist in den Kirchengebeten mit ihren
Anrufungen Christi als einer Gottheit gerichtet, welche die freisinnigeren
Mitglieder als unverträglich mit ihrer Ueberzeugung aus jenen Gebeten ver¬
bannen wollten. Ebenso gegen das sogenannte apostolische Glaubensbekennt-
niß, dessen Verlesung und stillschweigende Annahme bei den Taus- und Abend-
mahlhandluNgen die Liturgie vorschrieb. Es wurde darauf hingewiesen, daß
dieses Symbolum erst zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert seine jetzige Ge¬
stalt erhalten habe, daß es somit nicht nur kein giltiger Ausdruck des urchrist¬
licher Geistes, wie man aus seinem usurpirter Namen schließen möchte, son¬
dern auch nicht, und noch viel weniger der Ausdruck moderner christlicher
Denkweise sei. Die Dogmen von der Geburt Christi aus Maria der Jung¬
frau, von seiner Höllen- und Himmelfahrt, seiner Wiederkunft auf den Wolken
des Himmels, von der Auferstehung des Fleisches seien durch die moderne
Anschauungsweise offenkundig aufgegeben und die dieser freiern Richtung
huldigenden Christen müssen die Heuchelei entschieden ablehnen, dieses Be¬
kenntnisses noch ferner sich zu bedienen. Angesichts dieser Kundgebungen
beschloß die Zürcherische Synode im October 1868 mit 68 gegen 5S Stim¬
men, daß die Landeskirche nicht mehr an jenes Bekenntniß zu binden und
die neu zu entwerfende Liturgie mit zweierlei Formularen einzurichten sei.
Unter der liberalen Majorität befanden sich die Mitglieder des Kirchenrathes
und unter diesen die Spitzen der Zürcherische» Vermittelungstheologie, ein
Antistes Fiedler und Prof. Alexander Schweizer. Die Liturgie wurde revi-
dirt und hatte nur noch die Genehmigung des Cantonsrathes zu gewärti¬
gen. Diese wurde jedoch in Folge der unterdeß beschlossenen Verfassungs¬
revision und der deshalb nahe bevorstehenden Gesammtneuwahl des Canton-
rathes verschoben, um sie der neugewählten Behörde zu endgültiger Entschei¬
dung zu überlassen. Letztere ist bis zur Stunde noch nicht erfolgt.
Ungefähr gleichzeitig mit Zürich war auch im Canton Graubünden
nach mehrjähriger Vorberathung dieselbe Frage in der Synode aufge¬
taucht (1866) und die freier denkenden Geistlichen hatten gegenüber dem
zahm Widerstande der Rechtgläubigen wenigstens ihre eigene Freiheit und
Ehrlichkeit in Betreff des apostol, Symbolums zu wahren gewußt. Auch im
Canton Bern griff die nämliche Bewegung Platz, und die aus Geistlichen
und Laien gemischte Synode des Cantons Aargau behandelte im Septem¬
ber vorigen Jahres denselben Gegenstand unter lebhaftester Theilnahme einer
zahlreichen Zuhörerschaft. Es handelte sich um den Antrag, daß im Interesse
der Wahrhaftigkeit das sogenannte apostolische Glaubensberenntniß aus der
Taufhandlung zu entfernen sei. Der Beschluß lautete allgemeiner dahin, die
Liturgie sei in freierem Geiste einer Revision zu unterwerfen. In Genf
petitionirten erst jüngst eine Anzahl Bürger für Abschaffung des apostolischen
Symbolums.
Neben diesen dogmatischen Bestrebungen laufen bekanntlich die auf eine
freiere Kirchenverfassung, auf die Wahl der Geistlichen durch das Volk der
Gemeinden, auf stärkere Vertretung des Laienstandes in den kirchlichen Be¬
hörden, ja auf gänzliche Trennung von Staat und Kirche u. s. w. Ein
Theil dieser Wünsche ist in der neuen Verfassung des Cantons Zürich, wenn
auch weniger entschieden, als die Demokraten ursprünglich hatten hoffen
lassen, in Erfüllung gegangen. Dieselbe gewährleistet die Glaubens-, Cultus-
und Lehrfreiheit und macht die bürgerlichen Rechte und Pflichten unabhängig
vom Glaubensbekenntniß; sie läßt die evangelische Landeskirche so wie die
übrigen kirchlichen Genossenschaften „ihre Cultusverhältnisse selbständig, jedoch
unter der Oberaufsicht des Staates ordnen" und behält diesem die Organi¬
sation der ersteren, jedoch mit Ausschluß jedes Gewissenszwanges, „durch
das Gesetz" vor, wofür der Staat im Allgemeinen die bisherigen Leistungen
für die kirchlichen Bedürfnisse auch fürderhin übernimmt. Die Kirchgemein¬
den wählen ihre Geistlichen aus der Zahl der Wahlfähigen selbst, die Ge¬
wählten unterliegen alle sechs Jahre einer Bestätigungswahl und der Staat
besoldet dieselben. Alle diese Bestimmungen gelten sowohl für die evangeli¬
schen als für die katholischen Gemeinden.
Der Canton Thurgau ahmte das benachbarte und stammverwandte
Zürich in seiner Verfassungsrevision in manchen Punkten nach, ging aber in
kirchlicher Beziehung noch weiter. Die neue Verfassung verordnet zwei Sy¬
noden, eine evangelische und eine katholische, beide gemischt aus Geistlichen
und Laien, von denen jeder die Aufgabe zugetheilt wurde, für ihre Kirche
eine neue Verfassung zu entwerfen. Diese Entwürfe sind bereits so weit ge-
diesen, daß sie dem am 23. Mai zusammentretender Großen Rathe zur wei-
teren „Bereisung" unterbreitet werden können. Außerdem gewährleistet die
Cantonsverfassung ein kirchliches Referendum, indem sie die Bestimmung ent¬
hält: „Kirchliche Erlasse und Verordnungen gesetzgeberischer Natur unter¬
liegen der eonfesstonellen Volksabstimmung." In der Waadt wurde gegen
Ende des vorigen Jahres der Antrag auf Revision des Kirchengesetzes vom
Großen Rathe als zeitgemäß erklärt. Es handelt sich hier hauptsächlich um
Einführung der direkten Wahl der Geistlichen durch die Gemeinden, um Auf¬
hebung des Institutes der Kreisräthe und um die Wahl der Synodaldepu-
tirten durch die Kirchgemeinderäthe.
Eine eigenthümliche Stellung zu den kirchlichen Reformbestrebungen
nimmt Basel ein. Während sonst fast überall in der Schweiz diese Fragen
im Lichte der Oeffentlichkeit und unter Betheiligung ebensowohl der politi¬
schen als der kirchlichen Behörden, sowohl der Laienwelt als der Geistlich¬
keit verhandelt und entschieden werden, wurde um letzte Weihnacht von
der baslerischen Kirchenbehörde eine neue Liturgie eingeführt, ohne daß
dieser Gegenstand der Regierung oder sonst einer staatlichen Behörde zur
Kenntnißnahme und Genehmigung vorgelegt worden war oder das Publicum
von diesem Vorhaben Kenntniß erlangt hatte, ja, das neue Kirchenbuch war
schon ein halbes Jahr im Gebrauche, bevor nur — die Zeitungsschreiber
scheinen ganz und gar nicht in die Kirche zu gehen — ein einziges öffent¬
liches Wort darüber gesprochen wurde. Die Sache war unter Geistlichen
abgehandelt, sodann vom Kirchenrathe in aller Stille gut geheißen und aus¬
geführt worden. Der in Basel von Alters her ausgeprägte streng kirchliche
Geist hat seine Herrschaft in solchem Grade zu behaupten und zu vermehren
gewußt, daß die Reformbestrebungen wie gar nicht vorhanden von ihm
behandelt weiden konnten. Die rechtgläubige Publicistik hob es rühmend
hervor, daß diese Agendenfrage in der Stadt des Erasmus und Oekolampad
keinerlei Kämpfe veranlaßt habe, wie anderswo, und daß dabei ein ganz ein¬
trächtiger Geist gewaltet habe. In den vorgeschriebenen Gebeten finden sich die
Anrufungen Christi als einer göttlichen Person, und das apostolische Glau¬
bensbekenntniß ist wieder in die Taufhandlung aufgenommen worden und
zwar mit der bindenden Eingangsformel: „bekennet nun mit mir den christ¬
lichen Glauben, auf welchen dieses Kind getauft werden soll." Es wurde
auf diese Weise eine kirchliche Ordnung erneuert, die alle diejenigen, welche
als Väter oder als Zeugen einer Taufe beizuwohnen haben, also alle evan-
gelischen Bürger und Einwohner Basels zwingt, in feierlichem Acte und vor
versammelter Gemeinde einen Glauben zu bekennen, den offenkundig ein
Theil derselben nicht als den seinigen anerkennt. Dieser „moralische" Zwang
erschien auch zu Basel den Freisinnigen als Angriff aus ihre Wahrhaftigkeit
und Gewissenhaftigkeit, als eine Frage der öffentlichen Sittlichkeit. Sie ver¬
langen daher jetzt zunächst in der Presse, daß gegen die neue Liturgie einge¬
schritten werde und meinen es würde der Regierung, deren Partei zur Zeit
als Träger der öffentlichen Meinung gelten kann und die bei den jüngsten
Großrathswahlen ausdrücklich erklärt hatte, daß sie die „mannigfaltigen Unter¬
schiede sowohl politischer als kirchlicher Anschauungen und Stiftungen" be¬
rücksichtigt wissen wolle, wohl anstehen in dieser Angelegenheit die Initiative
zu ergreifen.
Jene Einführung der neuen Agende durch den Kirchenrath ohne Be¬
grüßung weder der weltlichen Behörde noch der Gemeindemitglieder war nur
möglich durch die ganz eigenthümliche Kirchenverfassung, deren sich Basel bis
in die neueste Zeit zu erfreuen hatte. Bis 1863 konnte der Kirchenrath
seine Existenz auf kein bekanntes Gesetz stützen, sondern soll sich auf dem Wege
der Tradition aus der Reformationszeit vererbt haben. Die Behörde bestand
aus den vier Pfarrern, den vier ordentlichen Professoren der Theologie und
vier vom Kleinen Rathe gewählten Laien, somit aus vier wählbaren und
acht lebenslänglichen Mitgliedern. 186Z wurde aus politischen Gründen be¬
schlossen, auch den Kirchenrath unter die sogenannten Verwaltungsbehörden
einzuordnen und ihm dadurch eine gesetzliche Grundlage und zugleich eine
etwas weniger mittelalterliche Organisation zugeben. Nach dieser letzteren
wird derselbe nun vom Kleinen Rathe, d. i. von der Executive gewählt und
besteht aus dem Antistes als Präsidenten, drei anderen Pfarrern, zwei Pro¬
fessoren der Theologie und fünf Laien, worunter zwei Mitglieder des Kleinen
Rathes. Es beruht sonach Basel's Kirchenverfassung in den zwei Sätzen:
der Kleine Rath wählt den Kirchenrath und der Kirchenrath leitet die inne¬
ren Angelegenheiten der Kirche. Der Kirchenrath ist aber den übrigen
Rathscollegien nicht völlig gleichgestellt. Es fehlt in dem neuen Gesetze jede
Bestimmung, nach welcher er gleich den anderen Collegien dem Kleinen
Rathe untergeordnet wäre; auch hat er allein einen selbständigen Präsidenten
im Antistes. während sämmtliche andere Collegien ein Mitglied des Kleinen
Rathes zum Vorsitzenden haben müssen. Während also anderwärts, wo man
nicht absolute Trennung von Staat und Kirche, sondern Fortentwickelung
der mit dem Sraate in Verbindung bleibenden Landeskirche will, das Streben
überall dahin geht, die Unterordnung der Kirchengewalt unter den Staat zu
gewährleisten und keinen Staat im Staate zu dulden, wurde in Basel der
Kirchenbehörde eine Ausnahmsstellung und wie die Liberalen klagen, eine
Art von Souveränetät zugestanden, welche um so bedeutsamer erscheint, als
es hier keine Synode, weder eine geistliche noch eine gemischte gibt. Der
Kirchenrath kann souverän über Glaubenssachen entscheiden, ohne weder die
Gemeinde noch die staatlichen Behörden darüber zu fragen. Der Kirchen-
rath war also zur Einführung der neuen Agende allerdings gesetzlich berech¬
tigt. Anders gestaltet sich die Sache, wenn man nach der Grundlage dieses
Rechtes und nach der Opportunität frägt, auf welche wenigstens die Ver-
mittelungsthcologen so großes Gewicht legen. Zwar, wenn man aus die große
Kirchlichkeit der alten Stammbevölkerung Basels blickt, könnte man geneigt
sein, anzunehmen, der Kirchenrath habe mit seiner neuen Agende der Be-
völkerung ganz aus dem Herzen gesprochen. Aber die freiere Entwickelung des
öffentlichen politischen, wissenschaftlichen, socialen, industriellen Lebens, dem
Basel seit einer Reihe von Jahren seine Thore so weit und schön geöffnet,
hat namentlich unter der neueren Einwohnerschaft auch freie religiöse An¬
schauungen verbreitet. Die Mitglieder des Kirchenrathes haben zwar un¬
zweifelhaft das Recht, ja die Pflicht, für ihren Glauben einzustehen und nach
bestem Wissen zu wirken, auf der anderen Seite erwächst den Vertretern der
freiern Richtung ebenso das Recht und die Pflicht, für diese einzustehen und
die Aenderung einer Organisation zu verlangen, durch welche die christliche
Gemeinde Basels in zwei feindliche Lager getrennt wird, von denen nur das
eine einer officiellen Berechtigung sich erfreut. Der Kampf ist in Folge
dessen unvermeidlich geworden und der in Basel erscheinende „Volksfreund",
dem wir einen Theil unseres Berichtes entnehmen, hat ihn in energischer
Weise eröffnet. Das Blatt schließt eine Reihe von Artikeln mit den Worten:
»wir richten darum an alle Freisinnigen Basels die ernste Frage: Könnt
ihr, als Väter oder als Taufzeugen vor unsere Altäre gerufen, es fernerhin
mit eurem Gewissen vereinen, daselbst in feierlicher Handlung einen Glauben
zu bekennen, welcher in Wahrheit nicht der eure ist? Vermöge ihr dies, so
thut es immerhin, aber thut doch auch dazu, daß möglichst bald das Straf¬
gesetz bei uns abgeschafft werde, welches den Meineid bestraft." —
Diese kurze Uebersicht mag zeigen, daß auch in der reformirten Kirche
der Schweiz auf engem Raum die Gegensätze in scharfer Spannung einander
gegenüberstehen. Auch sie wird schwerlich dem Schicksal entgehen, welches die
größere Selbständigkeit und Verschiedenheit in den gemüthlichen Bedürfnissen
Und der geistigen Bildung der Individuen jeder Landeskirche bereitet. Aber
in einem wesentlichen Punkte unterscheidet sich die kirchliche Bewegung der
Schweiz von den entsprechenden Kämpfen in Deutschland. Die Betheiligung
der Laienwelt ist im Ganzen eine größere, die Selbstbestimmung des Volkes,
des Cantons, der Gemeinde wird fast überall als die entscheidende Macht in
Kirchenfragen respectirt. Confessionelle Fragen werden wie politische behan¬
delt und durch Abstimmung erledigt. Es ist klar, daß diese Behandlung
auf die Länge nicht dazu beitragen kann. Zusammenhang und Ein¬
heit in der Kirche zu erhalten, aber sie ist doch ein Fortschritt, denn sie
weist den Weg. auf welchem das Staatsinteresse erfolgreich gegen die An,-
sprüche der Kirche wahrgenommen werden kann, sie führt überall nothwendig
zu einer Lösung der Schule von der Kirche und vermag allein den Staat
vor der Verbildung zu bewahren, welche unzeitgemäße confessionelle Doktri¬
nen und verkümmerte Sittlichkeit eines Kirchensystems den Landeskindern
bereiten könnte. Den Kirchen gegenüber. — und dies gilt nicht nur von der
katholischen, — sind die Regierungen allein nicht im Stande, kräftige Hüter
der staatlichen Ordnung und der für die höchsten Staatszwecke nothwendigen
idealen Bildung des Volkes zu sein. Auch die politischen Vertreter einer
Nation werden nur ausnahmsweise ihrer Regierung die gehobenen Arme
stützen; dazu muß das Volk selbst helfen. Vorbedingung dafür aber ist,
daß unter allgemeiner Theilnahme die Grenzen der Staatsmacht und die
Rechte der Konfessionen zeitgemäß neu abgegrenzt werden. Und in dieser Hin¬
sicht sind die Schweizer den Deutschen um mehrere Schritte voraus. Es ist kein
Zufall, daß unter allen Staaten mit deutscher und romanischer Bevölkerung
die Schweiz den Ansprüchen der römischen Curie am entschlossensten ent¬
gegenzutreten vermag. Gegen die Beschlüsse einer Regierung vermag der
Priester das Volk in Bewegung zu setzen, gegen Volksabstimmungen ist die
Kirche machtlos.
Die Literatur der deutschen Localgeschichte ist so umfangreich geworden, daß
dem Einzelnen die Bewältigung des massenhaft gesammelten Stoffes fast un¬
möglich wird. Im Ganzen ist auch hier, wo dilettirende Geschäftigkeit schwer
fernzuhalten ist. derselbe Fortschritt zu rühmen, welchen die moderne deutsche
Geschichtswissenschaft in ihren größeren Leistungen gethan hat: eine neue kri¬
tische Revision der gesammten Ueberlieferungen und emsige Herausgabe der
Quellenwerke. Dazu gehören nicht allein schriftliche Auszeichnungen alter Zeit,
auch zahlreiche Ueberlieferungen in Sprache, Sitte, praktischer Thätigkeit der
Lebenden. Und es sieht nicht so aus, als würden diese Quellen jemals erschöpft
werden denn jede Zeit beurtheilt alte Zustände nach den ethischen und poli¬
tischen Gesichtspunkten, welche ihr selbst eigen sind, und jede sucht in der
Vergangenheit zuerst Ursprung und Wachsthum solcher Culturverhältnisse,
welche als neu erstanden, vorzugsweise die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen
erzwungen haben. Deshalb wird in jeder Zukunft die Nation an ihre Ver¬
gangenheit neue Fragen stellen und aus den Ueberlieferungen solche Seiten
des früheren Lebens zu erspähen suchen, in denen der Lebende am liebsten
sich und seine Tüchtigkeit erkennt.
Zuerst sah der Deutsche in der Vergangenheit nur die Schlachten und
die Schwertschläge seiner Helden, allmälig suchte er den verständigen Zusam¬
menhang der auffälligen Ereignisse; seit er dem fürstlichen Status diente,
wurde ihm die Geschichte zu einer großen Staatsaction der Politiker in Har¬
nisch und Alongenperücke; seit ihn die Schönseligkeit erreicht hatte, das „Natür¬
liche" im englischen Landschaftsgarten und die Freude am Origineller, begann
er sich etwas um die Literaturgeschichte seines Volkes zu kümmern, las ver¬
wundert aus den Nibelungen, und fand die Sprüche, Beispiele und Fabeln
des Mittelalters merkwürdig. Dann kam die größte innere Wandlung der
Deutschen, zur Zeit Jenen. Kant's, der französischen Revolution und der Be¬
kanntschaft mit Shakespeare das fast plötzliche, einem Wunder gleiche Er¬
wachen eines neuen historischen Sinnes: Verständniß für das Charakte¬
ristische fremden Volksthums, eine erhebende und beglückende Ahnung von
der innern Gesetzlichkeit im Verlauf jedes nationalen Lebens. Seitdem suchte
Man die Lieder und Poesien aller Völker. Sagen, Rcchtsbräuche, Sprachge¬
setze und Schrift. Eine von der frühern radical verschiedene Methode, Ge¬
schichte zu schreiben, begann. Wolf streicht den alten blinden Vater Homer
aus dem Titel der Ilias und Odyssee und Niebuhr verfaßt eine römische Ge¬
schichte, worin er Romulus und Remus mit ihrer Wölfin, die länger als
2000 Jahre jedem Schulknaben eingebläut worden waren, mit einem souve¬
ränen Federstrich gänzlich aus der Weltgeschichte entfernt. Und wäh¬
rend die gesteigerte Kenntniß fremden Volkslebens einen unermeßlichen Strom
von neuen Anschauungen und Genüssen, von Combinationen und hohen
Ideen in unsere Seelen leitete, arbeiteten die Naturwissenschaften, die uner¬
müdlichen Regulatoren unseres Denkens, um uns die Sinne zu schärfen,
die Methode der Beobachtungen zu verbessern. Wir lernten anders sehen,
das Bedürfniß nach historischer Wahrheit wurde ein weit feineres. Eine
neue großartige Kritik und Sammlung aller alten Schriftdenkmäler begann,
^- wir sind noch mitten darin. Und seitdem hat jedes Jahrzehnt unserer
Geschichtswissenschaft zu den vorhandenen neue Aufgaben gebracht. Unermeßlich
Vieles aus alter Vergangenheit und fremden Welttheilen wurde neu entdeckt
und rastlos Deutung des Unverständlichen gewagt. Und wieder die schnelle
Entfaltung des modernen Verkehrslebens brachte zugleich mit den neuen
Problemen für unsere Politiker auch sür unsere Historikers neues Verständniß.
Seit der französischen Revolution wurde die Staatsverfassung von Rom und
Griechenland wichtig, seit den Eisenbahnen und den Dampfschiffen Untersuch»»,
gen über Handel, Verkehr und Production alter Zeit, seit dem Aufblühen unserer
Städte und der Kräftigung des Bürgerthums umfangreiche Forschungen
über Städteleben, Recht und Ordnung, seit dem^ Eindringen der socialen
Fragen ein neues Auge für Hörigkeit, Sclaverei, für Geld« und Werthver¬
hältnisse des Alterthums. Jedes neu eröffnete Gebiet gibt durch seinen Ge¬
winn selbstverständlich auch neue Gesichtspunkte für andere Gebiete. Und
alles Neugefundene auf dem fast unermeßlich weiten Raum bestimmt auch
dem Forscher die Richtung, der auf altem Grunde seine Furchen zieht. So
ist es jetzt eine weit andere und weit schwerere Aufgabe, in guter Weise Vocal-
geschichte zu schreiben, als zur Zeit unserer Ahnen.
Das Blatt gedenkt seines Namens, wenn es die Aufmerksamkeit der
Leser gern nach den Grenzlandschaften richtet, wo das deutsche Leben sich seit
der Sachsen- und Stauferzeit mit junger Colonistenkraft erobernd ausge¬
breitet hat.
Wir nennen zuerst eine musterhafte Arbeit: Landes-und Volkskunde
des Fürstenthums Reuß j. L. im Auftrage des regierenden Fürsten,
verfaßt von G. Brückn er, 2 Theile, Gera 1870. Der Verfasser, Archivrath
in Meiningen, hatte durch seine Landeskunde des Herzogthums Meiningen
bewiesen, wie man ein topographisches Werk dieser Art nutzbar für Geschichte
und Alterthümer machen kann. Er ist unter den Lebenden wohl der gründ¬
lichste Kenner der Localgeschichte und Alterthümer Thüringens und des
östlichen Frankens; wir danken ihm außer dem Henneberg'schen Urkundenbuch,
dessen zweiten und dritten Theil er herausgab, eine ganze Reihe schätzenswer-
ther Beiträge zur Geschichte Mitteldeutschlands, darunter in letzter Zeit eine
Abhandlung über den Rennstieg, in welcher er die alte Stammgrenze zwischen
Thüringen und Franken eingehend behandelt. Es war eine gute Wahl, daß
ihm Geschichtebeschreibung und Topographie eines thüringschen Grenzlandes
überwiesen wurde, welches als uralter Besitz eines großen deutschen Stammes
und im Mittelalter als Grenzland zwischen Deutschen und Slaven nach
vieler Hinsicht besonderes Interesse beanspruchen darf. Dies Gebiet an der
obern Saale war die cevtrale Landschaft des alten Vogtlandes unter Reichs¬
vögten, lange Zeit ein befestigter Stützpunkt der deutschen Colonisation.
Dort halten vor Einwanderung der Slaven bis zur Elbe die Turiheimer
gesessen als ein Zweig der Groß-Dürer. Seit die deutsche Volkskraft in
der Völkerwanderung dünn wurde, waren slavische Sorben eingewandert,
wahrscheinlich vom Nordosten her, aber die deutsche Art scheint auch in dieser
Gegend niemals ganz untergegangen zu sein, wenigstens haben sich einzelne
deutsche Ortsnamen von sehr alterthümlichen Gepräge erhalten, welche nicht
jünger sein können, als die Karolingerzeit. Seit dem 9. Jahrhundert dringen
wieder deutsche Krieger und Colonisten ein, die sorbische Mark wird ein
Theil des deutschen Reiches, von Franken und Thüringen besetzt, das jetzt
regierende Haus beginnt im 12. Jahrhundert seinen Besitz zusammen zu ziehen.
ihm ist in den nächsten Jahrhunderten charakteristisch, daß es den Grenzkampf
gegen die Slaven durch mehrere seiner Söhne in Preußen fortführt, der Name
Reuß gewinnt im deutschen Orden besondere Bedeutung. — Noch jetzt bietet
das Volk der kleinen Fürstenthümer für Sprache und Alterthumskunde man¬
ches Eigenthümliche, nur die Nordgrenze liegt an großer Völkerstraße und die
Stadt Gera ist für die moderne Cultur des Landes Mittelpunkt geworden.
In den Thälern und Hügeln aber, welche zum Frankenwald hinaufführen
und von dem bairischen Franken trennen, hat sich in Volkssitte und Brauch,
in Hausbau und Sprache recht viel Alterthümliches bewahrt. Es ist eine
Freude wie übersichtlich und reichlich dies massenhafte Material in dem Werke
verarbeitet ist. Das Buch gibt zuerst ein Bild von der Natur des Landes,
Plastisch-geogn ostische Uebersicht, Bewässerung, Klima, Vegetation. Thierleben.
Dann schildert es das Volk durch reichliche statistische Nachweise, nationale
Bauart der Dörfer, Häuser. Kirchen, das Leben des Hauses, die Mundart, Kleid
und Kost. Gestalt und Charakter. Volkskrankheiten und Heilkünste. Sitte und
Brauch, Sage und Glaube. Darauf die Betriebsamkeit und moderne Cultur
der Bewohner: Landwirthschaft, Forsten. Bergbau. Industrie. Handel. Dann
Staat und Kirche in ihrer Verfassung, das Recht, sociale Einrichtungen.
Darauf folgt die ausführliche Geschichte des Landes und seines Fürstenhauses,
eine besonders sorgfältige und dankenswerthe Arbeit, die vieles Neue bringt
und historische Fabel tilgt. Endlich kommt als umfangreichster Theil die
Ortskunde, eine anschauliche Beschreibung jedes Ortes, seine Geschichte, seine
Culturverhältnisse, seine Flur-- und Bergnamen, locale Ueberlieferungen, bet
jedem die älteren Namenssormen nach den Urkunden des Mittelalters.
Es ist kein großes Terrain, welches durch dieses Werk geschildert wird,
aber das Buch ist in seiner Art doch eine Arbeit von erstem Range, die
historischen und statistischen Notizen sind aus einigen tausend Urkunden,
Regesten und Actennummern zusammengetragen, die Beschreibung des Lan¬
des und Volkes durch mehrjährige Correspondenz, viele Reisen und nur da¬
durch möglich geworden, daß der Landesherr und der Verfasser Alt und Jung
zur Mitthätigkeit heranzogen. Die Geschichte des Fürstenthums ist jetzt von
ihren Anfängen neu aufgebaut, eine lange Reihe von verlorenen Ortsnamen
und Wustungen sind neu entdeckt und bestimmt, und in jedem Theil des
Buches eine Fülle von belehrendem und schildernden Detail eingearbeitet.
Wir rühmen gern den Fürsten, welcher das Werk emsig förderte und den
Versasser. der es schrieb; denn Localschilderungen dieser Art sind nicht nur
für genaue Kenntniß des deutschen Lebens in der Gegenwart unentbehrlich
sie sind auch die nothwendige Grundlage für jede eindringende historische
Forschung in Geschichte, Literatur, Alterthumskunde und wenn uns ein
günstiges Schicksal von jeder Landschaft Deutschlands topographische Werke
gönnte, welche so gut und zuverlässig orientiren, würde dem Gelehrten auf
jedem Schritt zeitraubendes und schwieriges Nachsuchen erspart werden,
welches noch dazu häufig unsichere Erträge gibt. Wir haben bei dem Werk
Nur eins zu bedauern, daß das kleine Terrain, welches unter der Herrschaft
der ältern Linie des Hauses steht, wenigstens in die Topographie nicht ein¬
geschlossen werden konnte.
Auch in Schlesien ist die Rührigkeit der localen Geschichtsforschung er¬
freulich. Die große Landschaft hat keine alte Landesgeschichte, gleich der von
Ostpreußen, reich an Großthaten starker Herren und reich an politischen Er¬
eignissen, welche für das übrige Deutschland von maßgebender Bedeutung
wurden. Aber die Vergangenheit Schlesiens ist nach einer Richtung ein be¬
sonders dankbares Gebiet, weil sich hier die Methode der mittelalterlichen
Colonisation und die Zustände der deutschen Ansiedler besonders deutlich bis
in viele Einzelheiten des Privatlebens erkennen lassen. Die Provinz hat das
Glück gehabt, in unmittelbarer Folge drei Vorsteher ihres Provinzialarchivs
zu besitzen, welche vorzüglich geeignet waren, diese Verhältnisse zu würdigen
und durch rastlose Thätigkeit bei Herausgabe der Quellenwerke zugängig zu
machen. Auf Adolph Stenzel folgte W. Wattenbach, diesem der gegenwärtige
Archivar Prof, Colmar Grünhagen. Heut sei der jüngsten Arbeiten dieses
letzten gedacht, es sind zwei Bände des Ooäex äiplomatieus Lilssias 7 und 9,
der erste enthält die Regesten der schlesischen Geschichte bis zum Jahr 1260,
der zweite die Urkunden der Stadt Brieg. Die Bedeutung des ersteren
Werkes liegt nicht nur darin, daß es die urkundlichen Quellen der ältrsten
schlesischen Geschichte verzeichnet und den Inhalt derselben darstellt, es ist
zu gleicher Zeit eine mühevolle und sorgfältige kritische Sammlung und
Revision aller alten Ueberlieferungen in Urkunden und Chroniken. Die
älteste Geschichte der Landschaft bis zum Jahre 1230 hat auch hier ein ganz
verändertes Aussehen erhalten. Wie hart und schwierig der Kampf gegen
unächte Ueberlieferungen und die Fictionen der Geschichtsschreiber ist, erweist
die Arbeit Grünhagens an vielen Stellen. Die Naivetät und Gewissenlosig¬
keit des Mittelalters im Falschen von Urkunden war vielleicht nirgend
größer als in dem schlesischen Grenzland. So ist der größte Theil von den
ältesten Urkunden der reichen Cisterzienster-Abtei Leubus, einer der ersten und
wichtigsten kirchlichen Stiftungen Schlesiens, einer Hauptstütze für deutsche Co¬
lonisation, durch die Mönche gefälscht, entweder um dem Kloster in Wahrheit
erworbene Rechte und Besitzungen zu sichern, welche urkundlich nicht zu er¬
weisen waren, oder auch, weil sie neue Ansprüche durch erlogene alte Schen¬
kungen stützen wollten. Dieses Falschen von Documenten hatte seine sichere,
feststehende Praxis, auch die Siegel wurden nachgeahmt, zuweilen Plump, in
einigen Fällen mit unzweifelhafter Routine. Eine andere gefährliche Classe
von Erfindern sind die Ortschronisten, welche seit dem 16. Jahrhundert die
Geschichte ihrer Stadt schreiben. Ihnen hat die Bekanntschaft mit Livius
und der Humanistenbildung den Sinn für geschichtliche Wahrheit durchaus
nicht geschärft, häufig ist ihre Erzählung für uns nur eine unbehilfliche No-
velle, in welcher sie mit behaglichem Patriotismus an jede Spur einer Ueber¬
lieferung ein langes lockeres Gewebe eigener Erfindung spinnen. Zumal bei
der Gründungsgeschichte schlesischer Städte fand Grünhagen fast überall zu¬
sammengekehrte alte Häuflein von Einbildungen und Lügen, welche weg¬
zuschaffen waren. Diese peinliche Arbeit hatte er in ganz ungewöhnlicher
Weise bei den Ueberlieferungen der Stadt Brieg zu üben.
Es thut einem Schlesier leid, daran zu erinnern, daß die Gewandtheit
im Erfinden noch in unserer Zeit sich in ruchloser Weise geltend gemacht hat.
Die älteren Zeitgenossen erinnern sich wohl noch an das große Aufsehn,
Welches vor 30 Jahren die Schilderungen aus dem Leben der Herzogin
Dorothea Sibylle von Brieg und ihre Briefe erregten.
Der Archivar und Syndicus Koch zu Brieg hatte zuerst in Hoffmanns
Monatsschrift für Seht. Stücke von dem Tagebuche eines Valentin Gierth aus
dem Anfange des 17. Jahrhunderts herausgegeben, in welchen treuherzig
und behaglich, nicht ohne Anmuth Leben und Hofhalt einer wackern schlesi-
schen Fürstin geschildert wurde. Das Detail der Erzählung erregte allge¬
meine Freude. Da wurde es das Verdienst von Heinrich Wuttke, mit großem
Scharfsinn die Unächtheit dieses Machwerks und die Verfertigung desselben
durch den gewissenlosen Herausgeber Koch nachgewiesen zu haben. Die Kritik
Wuttke's aber schuf zu ihrer Zeit in Schlesien vielen Zorn, hatte doch
sogar Stenzel sich durch die Erfindung täuschen lassen, und den Schlesiern
that weh, die liebgewordene Gestalt einer alten Landesmutter aus der Phan¬
tasie bannen zu müssen. Jetzt nun hat Herr Grünhagen in einem besonde¬
ren hübschen Aufsatz (Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum
Schlesiens, Band 9) nachgewiesen, daß derselbe Koch mit nicht gewöhnlicher
Gaunerei noch eine ganze Reihe anderer Erfindungen in die Geschichte der Oder¬
stadt Brieg hineingeschmuggelt hat, indem er auch eine handschriftliche Chronik
eines Stadtschreibers Blasius Gebel aus dem 16. Jahrhundert erlog und
aus derselben ebenso originelle Bruchstücke mittheilte, wie aus jenem anderen
Tagebuch von 1829. Syndicus Koch hat die Muse der schlesischen Geschichte
bis an sein Lebensende gröblich gemißhandelt. Dafür ist er jetzt aufs Neue
als verzweifelter und bösartiger Falsarius überführt und verurtheilt.
Der Geschichte von Brieg müssen die farbigen Schilderungen entgehen,
welche der Fälscher in ihre Vorzeit getragen hat, die Schicksale einer muthi¬
gen und aufstrebenden deutschen Colonistenstadt im Mittelalter sind, wie sie
jetzt aus dem Urkundenbuche erkennbar werden, dennoch der Beachtung werth
und wir wünschen der guten Stadt, deren Bürger ost einen stolzen Unabhängig¬
keitsinn bestätigt haben, daß sie bald einen Geschichtschreiber finde, welcher
die Resultate aus dem reichen gesichteten Material zu ziehen versteht. Für
uns Andere ist die mühevolle Arbeit Grünhagens eine willkommene Hilfe,
die Gründung und Kräftigung einer deutschen Stadtgemeinde unter den
Slaven zu verstehen. — Es ist überhaupt eine Freude zu sehen, wie thätig
der genannte historische Verein Schlesiens über Kritik und Sammlung der
heimischen Quellen waltet Neben Grünhagen sein treuer Gehilfe Korn,
Palm. Knoblich u. A. Und wir meinen, daß dem Gelehrten, welcher seine wohl¬
gemessene Kraft dergleichen Forschungen auf abgegrenzten Terrain widmet,
Würdigung seiner Thätigkeit von Außen her ganz besonders wohl verdient
ist, denn seine stille Arbeit in Archiv und Chroniken ist nicht ohne Entsagung,
er pflanzt und zieht das Bäumchen, damit Fremde mühelos die Früchte pflücken.
— Eine der nächsten Arbeiten des schief. Vereins für Gesch. und Alt. soll
die Herausgabe der schlesischen Städte-Siegel sein. Es wäre sür die schlesi-
sche Geschichte wohl zweckmäßig damit die erweislichen Wappenzeichen der
einzelnen Bürger und der Nittermäßigen, Hausmarken und Hauszeichen von
Beginn der Colonisation bis etwa zum Jahre 1460 zu verbinden. Die Fa¬
milien der alten schlesischen Lehnsleute werden freilich in der Mehrzahl nicht
im Stande sein, Wappen und Familienzusammenhang über die zweite Hälfte
des Is. Jahrhunderts zurück urkundlich nachzuweisen. Manche von ihnen,
und gerade die ältesten, haben die ritterlichen Spielereien spät und mit Will¬
kür aufgenommen, andere haben in dem wilden und gesetzlosen Räuberleben
des Is. Jahrhunderts vielleicht frühere Erinnerungen verloren, manche auch
mögen in dem Grenzlande Schildzeichen und Verwandtschaft mit deutschen
Familien am Rhein und Main ohne Berechtigung aufgenommen haben.*)
In Deutschland sind noch viele falsche Ansichten über Alter und Werth
der Wappenzeichen für die Familiengeschichte verbreitet, ja das gesammte
Ritterwesen des Mittelalters wird noch gröblich mißverstanden. Im 13. Jahr-
hundert stehen die Wappenzeichen sogar bei den meisten Dynastengeschlechten
durchaus nicht fest, die adligen Schildträger ändern nach Laune und um
sich persönlich zu unterscheiden an den Farben, den Zeichen und noch länger
am Helmschmuck. Vollends bei ihren Lehnsleuten und Dienstmannen, aus
denen sich im 14. und Is. Jahrhundert der größte Theil des niederen Adels
entwickelt, sind die Wappen bis etwa um 1350 fast zufällig. Die Dienst-
mannen behielten noch im 14. Jahrhundert nicht nur häufig den Namen, auch
Schildzeichen ihrer adligen Herren für sich als dauernde Familienzeichen,
und ihre Nachkommen hielten vielleicht daran fest, auch wenn sie von den
Burgen des Landes unter die Bürger der Stadt gezogen waren. Dauerte
ihnen in dem neuen Verhältniß die Freude am Reiterhandwerk, die Ver¬
bindung mit dem Adel oder mit rittermäßigen Familien der Umgegend, so
blieb ihren Nachkommen häufig auch das Begehren nach dem Ritterschild
und die Ansprüche auf rittermäßige Geburt. So vorzugsweise in den Reichs¬
städten des westlichen und mittleren Deutschlands. In Schlesien scheint der
Bürger von 1240—1440 nur sehr selten den Ritterschild der Vorfahren bewahrt
und begehrt zu haben. Das ritterliche Wesen gedieh in dem Grenzlande
wenig, nur etwa die Hofleute der kleinen Herzöge und die Landfamilien,
welche zum Roßdienst verpflichtet waren, bewahrten nothdürftig ihren Zu¬
sammenhang mit den rittermäßigen Bräuchen der westlichen Landschaften.
Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbreitete sich der Stolz auf
Wappen und Ahnen vom Westen her. manche Familien, welche mit ritter¬
mäßigen Rechten in den Häusern des Landes saßen, suchten Aufnahme in
den fränkischen, schwäbischen, rheinischen Rittergesellschaften und erst von
dieser Zeit werden in den Familien der altheimischen Lehnsbesitzer festgestellte
Wappen und Ahnen mit Sicherheit zu erweisen sein.
Es liegt nahe bei Schlesiens Geschichte an die neue Entdeckung zu er¬
innern, welche in den letzten Wochen zu Liegnitz gemacht wurde. Wie es
scheint, sind gute Fundjahre für die Alterthumskunde gekommen; die
Nachricht, daß zu Liegnitz eine Handschrift des Livius aufgefunden wor¬
den sei, welche die vierte Decade (Buch 31—40) fast vollständig enthält,
verursacht unter den Philologen eine kleine anmuthige Aufregung. Wenn
die Mittheilung über den Inhalt genau ist, so umfaßt der Fund einen
Theil des ^.Textes, welcher uns auch in anderen Handschriften erhalten
ist. Wir besitzen von den 142 Büchern der römischen Geschichte des Livius
bekanntlich nur B. 1—10. dann 21—48. die letzten fünf sehr lückenhaft,
außerdem zwei größere Fragmente. Da ist der Wunsch verzeihlich, daß der
neue Fund uns eine der verlorenen Abtheilungen des großen römischen Ge¬
schichtswerkes gebracht hätte! — Die größeren Bibliotheken Deutschlands sind
bis auf sehr wenige so gründlich durchsucht, daß in ihnen vielleicht einmal
einzelne Blätter zwischen Deckeln, nicht leicht ein größerer Gewinn zu hoffen ist.
Anders steht es mit dem Büchervorrath. welcher noch hie und da in Seiten¬
räumen alter Kirchen unbeachtet liegt, zumal der katholischen. Zwar ist in
früheren Jahrhunderten von diesen Stätten in der Regel verschleppt worden,
was irgend Werth hatte, aber wer unermüdlich einzudringen und zu suchen
weiß, mag in solchen unbeachteten Orten noch manchen Schatz heben, und
wir möchten unsere Leser, welche dafür Jnterrsse haben, nur darauf aufmerk¬
sam machen, daß bei dergleichen Forschungen Spinnweben und getäuschte
Erwartung nicht entmuthigen dürfen. Denn freilich gilt immer noch von
den Quellmfunden der Wissenschaft dasselbe, was unsere Vorfahren beim
Schatzgräber mit trübem Muth erfahren haben, Schätze findet man selten,
wenn man sie sucht, und noch seltener da, wo man sie erwartet, sie fallen
dem Glücklichen in die Hand, wenn er am wenigsten daran denkt.
Bei dieser Gelegenheit wird noch einmal, um einer eingegangenen Verpflich¬
tung Genüge zu thun, an den Hildesheimer Silberfund erinnert. Wie in frühe¬
rem Artikel mitgetheilt wurde, war Oberst von Cohausen von der Regierung
beauftragt worden, die Fundstätte genau und systematisch zu untersuchen und
die Einzelheiten des ersten Fundes festzustellen. Der genannte Herr hat
mit militärischer Sorgfalt und Geschicklichkeit seinen Auftrag ausgeführt.
Aus seinem Bericht ist ersichtlich, daß der Schatz bereits von den ersten Fin¬
dern vollständig gehoben wurde, die neuen Nachgrabungen haben nur einige
Ueberreste heidnischer Grabalterthümer und unwichtige Trümmerstücke aus
dem Mittelalter zu Tage gefördert. Da bei mehreren der gefundenen
Silbergeräthe die Umwandlung des dünnen Silberblechs in Chlorsilber
besonders stark gewesen und das Blech in eine graue, brüchige Masse
verwandelt war, nimmt Herr v. Cohausen an, daß bei der Deposition
des Fundes Kochsalz zugelegt worden sei. Das ist sehr möglich, denn Salz
galt den Germanen als das werthvollste Geschenk guter Götter und als kräf¬
tiges Abwehrmittel gegen bösen Zauber. — Die gelehrten Erörterungen des
Berichterstatters über den Ursprung und die älteste Lage von Hildesheim for¬
dern hier und da die Kritik heraus; der Galgenberg, an welchem der Schatz
gefunden wurde, verdankt seinen Namen unläugbar dem gewöhnlichen Polizei-
Instrument des Mittelalters. Es ist der häufigste aller Hügelraum in
Deutschland und würde aus allen Fluren, an denen er noch haftet, zusammen¬
gezählt, wohl mehrere tausend Mal nachzuweisen sein. Es wurde in d. Bl.
früher darauf hingewiesen, wie es nicht zufällig ist, daß die unheimlichen
Begräbnißstätten des Heidenthums im christlichen Mittelalter zu Gerichtsstätten
wurden. — Wir find aufrichtig dankbar, daß durch die Untersuchung von Co-
Hausen die Geschichte des wichtigen Fundes definitiv festgestellt und einer
kleinen Pflicht Genüge gethan ist. welche die Regierung gegen die Wissenschaft
zu erfüllen hatte. Zum Schluß sei noch einer Aufklärung erwähnt. Die
Leser werden sich erinnern, daß bei dem Hildesheimer Fund ein Stück Per¬
gament, das im Innern eines Gefäßes lag, zu geheimnißvoller Bedeutung ge¬
kommen war. Es war ein kleines Stück Pergament, ungewöhnlich scharfe
Untersuchung und Prüfung vermochte auf demselben schattenhafte Schriftzüge
zu erkennen, welche den Charakter einer rohen Gothik zu besitzen schienen
und dem spähenden Auge des Forschers das bedeutsame Wort „Herzog"
in die Seele riefen. Menschlicher Scharfsinn war deshalb eine kurze Weile
geneigt anzunehmen, daß die Deposition des Schatzes erst im Mittelalter stattge¬
funden haben könne. Es schwebte aber etwas Mystisches über dem Pergament
und es erregte damals Kopsschütteln. Nun hat sich erwiesen, daß dieses Perga¬
mentstück allerdings vorhanden war, daß auch die Deutung der unkenntlichen
Schriftspuren auf den Namen „Herzog" nicht gänzlich zu verwerfen ist. Zwar
ist nicht zu eruiren gewesen, welcher Herzog auf dem Pergamente gemeint ist,
aber es ist ebenfalls festgestellt, daß dieser Herzog Musketier war, daß ferner
jener Pergameatstreif an der Hinteren Seite einer Commishose angenäht
gewesen war, welche der Musketier nach militärischem Brauch dadurch als in
seinen Besitz bezeichnet hatte, und endlich, daß erwähntes Pergament von
einem alten, durchgeschlagenen Trommelfell abgeschnitten war. Die Mann¬
schaft der Garnison constatirte einstimmig diesen Ursprung, indem sie ähn¬
liche Fundstücke, die auf ihren eigenen Rückseiten befestigt waren, vorzeigte.
Die feuchten und nicht gereinigten Silbergeräthe waren am Abend in einer
alten Küche der Kaserne vom Schubkarren auf den Boden gesetzt und darauf
zur Herstellung militärischer Ordnung hübsch säuberlich geschichtet worden.
So war das Document, das unbeachtet auf dem Küchenboden gelegen hatte,
wahrscheinlich am Boden eines feuchten Fundstückes hängen geblieben und von
diesem in das Innere eines anderen Gefäßes gefallen. Es hat also kein Herzog
den Schatz deponirt und der Combination unserer eifrigen Alterthumsfreunde
bleibt kein anderer Traum übrig, als die Herleitung des Schatzes von Varus und
der Teutoburger Schlacht. Leider weist die zopfige und keineswegs feine Ver¬
zierung einiger Tischgeräthe, die unzweifelhafte und rohe Flickarbeit an anderen
Stücken, sogar eines der gekritzelten Goldschmiedzeichen darauf hin, daß ein
Theil des Fundes wohl erst in der spätern Kaiserzeit verfertigt wurde, daß
die Stücke gar nicht ein zusammengehöriges Tafelservice bildeten und daß sie
irgendwie zusammengebracht, längere Zeit in den Grenzlanden in Gebrauch
gewesen sind. Unterdeß hat auch das große Publicum seine Freude an dem
Funde gehabt, die besseren Stücke sind durch mehrfache Nachbildung Gegen¬
stand einer lohnenden Industrie geworden, und die Formen, welche einst die
Römer bildeten und vielleicht deutsche Häuptlinge auf ihrer Methbank mit
Behagen betrachteten, sind jetzt nach mehr als 1500 Jahren zierliche Schmuck¬
stücke des deutschen Haushalts geworden.
Schon jetzt, während nach dem Schluß des Zollparlaments die Arbeiten des
Reichstages rüstig fortgeführt werden, fühlen wir uns berechtigt, den Freunden,
welche für eine gute Redaction des Gesetzes zum Schutze des Urheberrechts thätig
gewesen sind, warmen Dank abzustatten. Wie sich im ersten Stadium der Bera¬
thungen unter Anderen der Abgeordnete unserer Stadt Leipzig, Dr. Stephan!, um
die Vertretung der literarischen Interessen verdient gemacht hat, so hat zuletzt der
Abgeordnete or. Wehrenpfennig in dem Commissionsbericht — einer umfangreichen
und vorzüglichen Arbeit — mit bester Sachkenntniß die Gesichtspunkte geltend ge¬
macht, nach denen das Rechtsverhältniß zwischen Autoren, Verleger und Publicum
segensreich zu ordnen ist. Bei der zweiten Lesung hat das Haus sich im Ganzen,
einige Nebenpunkte ausgenommen, welche nicht sämmtlich Verbesserungen sind, den
Vorschlägen der Commission angeschlossen, nur die Paragraphen über den Schutz der
Nachbildungen aus dem Bereich bildender Kunst von diesem Gesetz ausgeschieden
und einer besonderen neuen Vorlage überwiesen. Wir haben jetzt die begründete
Hoffnung, daß eins der wichtigsten und schwierigsten Gesetze, auf welchem der geistige
Verkehr und die moderne Bildung ruhen, noch in dieser Session zu Ende geführt
wird. Wir rühmen, daß der Reichstag vermieden hat, störend in den Geschäfts¬
brauch einzugreifen, welcher bisher durch Landesgesetze und Herkommen befestigt war,
und unsere größte Freude ist, daß unserer Nation durch diese schonende Behandlung
eine peinliche und demüthigende Empfindung erspart wurde. Denn wenn die erste par¬
lamentarische Körperschaft der Nation kein genügendes Verständniß und Interesse
sür den Vertrieb der nationalen Geistesarbeit erwiesen hätte, es wäre ein Schade
geworden sür die Autorität unserer Parlamente und ein Lärm im Inland und
Ausland, von dessen Berechtigung und Wirkung die Eifriger schwerlich eine Ahnung
haben, welche den Schutz des literarischen Eigenthums wie einen industriellen Zoll¬
schutz zu behandeln gedachten.
Die Summen welche in dem großen Deutschland für Bücher und Zeitschriften
jährlich umgesetzt werden, sind leider weit geringer als sie sein sollten. Aber
durch die Bücher und den Absatz derselben wird immer noch der bei weitem größte
Theil der lebenspendenden Ideen in die Seelen der Deutschen geleitet. Die Schrift¬
steller werden mit freudiger Ehrfurcht erleben, wenn der hohe Reichstag durch
Geist und Bedeutung der Worte, welche von seiner Tribüne in das Land klingen,
ihnen siegreiche Concurrenz macht.
Zu derselben Stunde, in welcher König Wilhelm in seiner treuen Haupt¬
stadt dem scheidenden Kaiser von Rußland das Geleit nach dem Bahn-
Hofe gab, bewegte sich durch die Straßen der Stadt ein Leichenzug, wie ihn
Berlin seit vielen Jahren nicht gesehen. Der Greis, welcher mit den höchsten
Bürgerehren bestattet wurde, war durch 20 Jahre der verehrteste Führer der
Demokratie gewesen, zwei Könige von Preußen hatten ihn wie einen persön¬
lichen Gegner mit Abneigung betrachtet, und er hatte doch ihrem Staat
seine Arbeit, seine Sorge, Leben und Liebe in ungewöhnlicher Weise gewidmet.
Wahrlich seine Gestalt und seine politische Thätigkeit sind vorzugsweise
charakteristisch sür die ersten Jahrzehnte des preußischen Verfassungslebens.
Wenige haben so tief die Erbärmlichkeiten einer hilflosen Regierung und die
Bitterkeit des ausbrechenden Kampfes in einer schwächlichen Zeit durchge¬
kostet, und Wenigen, die das Jahr 48 im gereiften Mannesalter erlebten,
ist eine so lange, angestrengte und consequente Thätigkeit im öffentlichen
Leben zu Theil geworden, als ihm. Gleich im Anfange seiner politischen
Thätigkeit wurde er durch den höchst persönlichen Haß der Hofpartei, welcher
nicht selten mit kleiner Tücke hervorbrach, zum Märtyrer gemacht, die
natürliche Wirkung ungerechter Verfolgungen war die, daß er zu dem
populärsten Manne der Opposition wurde, und daß das gekränkte
Rechtsgefühl des Volkes in ihm den großen Vorkämpfer gegen die Un¬
gesetzlichkeit, die Schwäche und die tyrannischen Gelüste einer unpopu¬
lären Regierung sah. Er selbst war seiner Bildung noch mehr Richter als
Politiker, er war kein besonders fernsichtiger Mann und bedürfte Lehrsatz
und Doctrin, um sich unter den werdenden Dingen sicher zu fühlen, er besaß
viel von der festen Zähigkeit seiner westphälischen Landsleute und dies Be¬
harren gab sich bei dem alternden Herrn zuweilen als Hartnäckigkeit und
Eigensinn auch gegen Parteigenossen kund. Aber er war ein ehrlicher, fester,
unsträflicher Mann, ein fester Mann in schlimmer Zeit, wo die Charaktere rings
um ihn wie Rohrhalme zerbrachen. Er hatte viel durch die Ungerechtigkeit
seiner politischen Gegner gelitten, die heiße Empfindung, welche dem Ge¬
prüften bis an sein Lebensende blieb, färbte ihm wohl zuweilen seine
Bilder von der politischen Lage zu dunkel. Auch er erfuhr die innere Ein¬
buße an Unbefangenheit und Sicherheit des Urtheils, welche durch einen un¬
ablässigen hoffnungsarmen, protestirenden Widerspruch gegen die Machthaber
erlitten wird. Aber er war. obwohl gereizt und verdüstert, doch als Deut¬
scher ein Preuße und Patriot, welcher mehr als einmal in großen Fragen
das Interesse des Staates mit Selbstverleugnung weit höher faßte als seine
liebsten Parteigenossen. Und wenn einer der Zeitgenossen, so verdiente er
die ehrfurchtsvolle Anhänglichkeit seiner Wähler, denn er bewährte seinen
Charakter vor Allem gegen sie, und wie er überhaupt Compromissen abge¬
neigt war, auf denen doch fast jede fruchtbare Thätigkeit des Politikers ruht,
so hat er vollends seinen Wählern nicht aus Beifallsliebe Concessionen ge¬
macht und weder das Getöse der Wahlversammlungen, noch das Bestreben
an der Spitze des Fortschrittes zu stehen, haben ihn bei den Fragen, die er
sich in seiner Weise zurechtgelegt hatte, zu einer Modification seiner Ueber¬
zeugung gebracht. In diesem Sinne wurde er nicht getrieben, sondern er
war Führer und solche Festigkeit lohnten seine Wähler durch unerschütter¬
liche Treue, Aber seine Popularität hatte noch einen anderen festeren Grund,
der den deutschen Wählern unter den gehäuften Versuchungen der Gegenwart
immer maßgebender das Urtheil über die Männer seines Vertrauens richten wird,
er war von stolzer Ehrenhaftigkeit und fleckenloser Integrität. Er erlebte noch,
daß die parlamentarische Thätigkeit an Bedeutung gewann und daß die Volksver¬
treter nicht nur von der Regierung, auch von den Spekulanten der Börse umwor¬
ben wurden, er sah die Zeit heraufkommen, wo die Charaktere in neuer Weise
geprüft werden und er sah zornig, wie unserem Volk in sein argloses Gemüth
Mißtrauen genöthigt wurde gegen die Integrität hoher Beamten und die
Uneigennützigst Solcher, denen es anhing. Auch darin war Waldeck ganz
ein Mann der alten Schule, von einer guten alten Schule, welcher der Satz:
Reichthum ist Macht, als das Credo von Thoren und Schelmen erschien.
D. Bl. hat, so lange er lebte, nicht zu seinen politischen Freunden gehört
und gegen vieles, was er forderte, gekämpft, aber auch wir, die Gegner des
Lebenden, wissen, daß er, was er that, für unsern Staat gethan hat, beharr¬
lich, uneigennützig, nach seiner besten Kraft bis aufs äußerste. In einer Zeit,
wo es in Preußen nur zu sehr an Zuversicht fehlte, hat er in vielen Tausenden
hingebende Wärme und Vertrauen auf Mannesmuth erhalten; und dies
Vertrauen hat er gewonnen in unablässigem Kampf für gesetzliche Freiheit.
Und wir hoffen von Herzen, daß auch ihm, wenn er in den letzten Wochen
seines Lebens auf viele Jahre aufreibender Kämpfe zurückblickte, sein Streit
nicht fruchtlos und der Gewinn, der seiner Nation von seinen Anstrengungen
zurückblieb, groß und dauerhaft erschienen sei.
Unterdeß lebt die Nation, während dies geschrieben wird, in der letzten
Verhängntßvollen Woche des Reichstages, in der Zeit, wo das Schicksal der
wichtigsten Gesetzvorlagen entschieden wird, wo die Partei-Gegensätze sich bis
zum Aeußersten spannen, wo beim Namensaufruf jedes Ja oder Nein der
Abstimmenden mit starker Aufregung erwartet, mit Geräusch begrüßt wird.
Dies aber ist auch die Woche, wo über dem Getöse der Parteimeinungen
dem gesunden Menschenverstand und Gewissen der Volksvertreter die größten
Zumuthungen gestellt werden.
Noch nie seit der Reichstag des Norddeutschen Bundes besteht, war
die Erregung so groß, als Montag den 23. beim Beginn der entscheidenden
Lesung des Strafgesetzbuches. Alle Parteien hatten ihre abwesenden Mitglie-
der einberufen. Sonnengebräunte Gutsbesitzer der Rechten waren der bevor¬
stehenden Schafschur entrissen worden, ein Berne Polen war auf den Hilfe¬
ruf der Linken zugeschwärmt, sogar die Socialisten saßen zu trotzigen Protesten
gerüstet in ihrer Ecke und Graf Bismarck war aus seinem Krankenzimmer
nach Berlin ausgebrochen, um bei der entscheidenden Schlacht wieder einmal
das Gewicht seiner Persönlichkeit in die Waagschale zu legen.
Diese Spannung vor der Entscheidung war nicht unnatürlich, das neue
Strafgesetzbuch wird, wenn die Vereinbarung gelingt, auf einem besonders
wichtigen Rechtsgebiet eine Einheit für 30 Millionen schaffen, es wird der
größte innere Fortschritt der Bundesautorität seit der Constituirung sein,
es soll die Obmacht des Bundes gegenüber einigen Staaten erweisen,
welche von Preußen bis dahin mit besonderer Rücksicht behandelt wor¬
den sind.
Auch für den Reichstag handelte es sich darum, ob die angestrengte
Arbeit der Session resultatlos sein und ob vor den neuen Wahlen die Ver¬
sammlung ihren Wählern den Eindruck innerer Zwiste und unzureichender
Einwirkung auf die Regierung machen sollte. Alle geheimen Gegner des
Bundes waren vereint, das Gesetz zu Falle zu bringen, viele Bundestreue
standen in schwerer Sorge, weil sie in einigen Punkten der Regierung die
Zugeständnisse nicht machen konnten, welche nöthig waren, um das Gesetz
zu sichern.
Es war vor allen Paragraph 1 des Gesetzes, die große Frage ob Todes¬
strafe oder nicht, warum es sich handelte. Noch einmal wurde gut und
würdig verhandelt. Die Reden der Minister Graf Bismarck und v. Leonhardt
für die Vorlage, des Grafen Schwerin und Miquel's für den Compromiß
und Laster's gegen den Compromiß sind sämmtlich von erstem Range,
sie sind treffliche Zusammenstellungen der wichtigen Gründe, welche sich
für und wider die Annahme des Gesetzes sagen lassen. Die Abstimmung
ergab ein geringes Mehr für Todesstrafe bei überlegten Mord. Nach
diesem Ausfall der ersten Abstimmung ist nicht unwahrscheinlich gewor¬
den, daß das Gesetz noch in dieser Sitzung zu Stande kommen wird,
wenn es nämlich dem Präsidenten und Bureau gelingt, die Beschlußfähig¬
keit der Versammlung aufrecht zuerhalten.
Der düstere Ernst der Sache, um welche es sich handelt, verbietet, die
schwierige Situation, in welcher sich werthe Parteigenossen bei dieser Abstim¬
mung befanden, in leichter Stimmung zu schildern. Aber die ganze Verhandlung
über die Todesstrafe scheint uns besonders lehrreich, um gewisse geheime
Schwierigkeiten der parlamentarischen Thätigkeit zu erweisen.
Von den Mitgliedern des Reichstags kamen nach unserer festen Ueber¬
zeugung mehr als drei Viertheile nach Berlin ohne eine eigene, durchdachte
Ueberzeugung über die Todesstrafe mitzubringen. Nicht allein wackere Mit¬
glieder der Parteien, auch Führer; nur bei den Oldenburgern und Sachsen
war die Frage auf den Landtagen — ohne starke Aufregung— verhandelt;
der großen Mehrzahl der Preußen und Uebrigen war die Frage fast neu und
kaum Einer hatte sichere Stellung dazu genommen. — Bei den Liberalen
ist im Allgemeinen eine gemüthliche Stimmung dagegen, bei den Conserva-
tiven dafür. In den Privatbesprechungen, den Parteiversammlungen folgen
die Einzelnen noch den fast zufälligen Meinungen, welche sie mitbringen.
Durch die Gründe, welche die Debattirenden heranziehen, durch das Aus¬
sprechen einer Ansicht befestigen sie sich auf ihrem Standpunkt, eine Partei¬
meinung tritt bestimmend hervor, der sich nur einzelne Mitglieder der Partei
entziehen. Die Verhandlungen im Plenum beginnen. Die Gründe, welche
die Vertreter der Regierung geltend machen, sind Einwänden ausgesetzt und
veranlassen Gegenerklärungen, bedeutendere Redner — für und wider —
schärfen den Gegensatz, der Parteieifer erwacht, die Abstimmung wird bereits
ein Kampf der Parteien, durch dieselbe fühlt sich der Einzelne und die Partei
an ihr Votum gebunden.
Dadurch tritt ein neues Moment maßgebend herzu. Nach der Abstim¬
mung wird von dem Abgeordneten und von seiner Partei Consequenz ge¬
fordert. Und diese Consequenz ist im parlamentarischen Leben keine kleine
Sache, es werden Ruf und Ansehen der Partei im Volke zum großen Theil
dadurch bestimmt, nicht weniger die Bedeutung der Partei gegenüber den Re¬
gierenden. Denn Volk und Regierung empfinden weniger lebhaft das Ge¬
wicht der Gründe, welche in einer Streitfrage von der Opposition geltend
gemacht werden, als den Nachdruck, die Energie und den männlichen Sinn,
mit welchem eine parlamentarische Fraktion ihre Ansichten vertritt. Bon
dieser Consequenz hängt also die Macht der Partei ab, d. h. der
Einfluß, welchen sie auf die öffentliche Meinung und auf ihre parlamenta¬
rische Körperschaft ausübt. Deshalb wird jede wichtigere Frage nach der
ersten Abstimmung für jede größere Partei mit gutem Grunde zugleich eine
Macht- und Ehrenfrage, bei welcher es sich nicht mehr allein um die Sache
selbst, sondern zugleich um die ganze Reihe der anderen schwebenden Fragen
handelt. Das weiß auch die Regierung, sie beginnt zu überlegen, welche
Zugeständnisse sie einer einflußreichen Partei machen kann, um dieselbe einiger¬
maßen zu befriedigen.
Bei der zweiten Lesung platzen die Gegensätze stark auf einander, alle
Gründe werden beredsam in das Feld gestellt, die streitigen Punkte scharf
hervorgehoben. Von da tritt die gewissermaßen diplomatische Thätigkeit der
Parteiführer in den Vordergrund. Regierung und Opposition haben sich be¬
müht, den Gegnern zu imponiren, jetzt arbeitet die schwierigere Sorge, wie
weit darf man Zugeständnisse machen. Und auch bei dieser Erwägung wird
von den opponirenden Fractionen nur ausnahmsweise blos vom Standpunkt
der Streitfrage beschlossen, überall mischen sich bewußt und unbewußt die
Rücksichten auf die Zweckmäßigkeit des Beharrens und auf die eigene Autorität
ein. Ist dies eine Beschränkung der Unbefangenheit, der ruhigen und sach¬
gemäßen Würdigung des vorliegenden Gesetzentwurfs? Sie ist doch unver¬
meidlich, sie hat. so lange gesetzgebende Versammlungen bestehen, sich überall
geltend gemacht, ja sie ist eine Bedingung für das Gedeihen des Verfassungs¬
lebens. Und die schwerste, zuweilen kaum lösbare Aufgabe der kämpfenden
Gegensätze ist immer, bei diesem Streit der wichtigsten egoistischen Interessen
zugleich das Gewissen zu wahren, d. h. die objective Betrachtung der ein¬
zelnen Streitfrage nicht zusehr aus den Augen zu verlieren.
In dem Kampf um die Todesstrafe wurde das Beharren der Regierung
in Wahrheit durch ihre Auffassung der eigenen Autorität und Macht be¬
stimmt, und durch Motive, welche ganz wo anders lagen, als in der Ueber¬
zeugung von der Nothwendigkeit des Fallbeils. Ebenso konnten die Preußen,
welche zuletzt gegen die Todesstrafe stimmten, sich nicht verhehlen, daß ihre
Opposition gegen den Gesetzentwurf, nachdem die Hartnäckigkeit der Regierung
als unüberwindlich erkannt war, nicht der Abschaffung sondern der Anwen¬
dung des Fallbeils zu Gute kommen würde. Die Sachsen und Oldenburger
freilich behielten, wenn das Gesetz nicht zu Stande kam, ihr heimisches Straf-
recht, welches die Todesstrafe ausschließt, die Preußen aber conservirten dann
ebenfalls ihr Landesgesetz, welches der Todesstrafe eine weit größere Aus¬
dehnung gibt. Sie fielen also zurück in einen Zustand, der nach ihrer
eigenen Auffassung weit weniger vortheilhaft war, als der, welchen das
Bundesgesetz in Aussicht stellt. Sie wußten auch recht gut, daß ge-
ringe Aussicht war, in den nächsten Sessionen eine Aenderung dieser Be¬
stimmung in neuer Gesetzvorlage zu erwirken, endlich, daß ihre Parteistellung
zu dieser Frage ihnen in dem größten Theile Preußens nicht einmal die
Hoffnung gab, durch gesteigerte Sympathien der Wähler beim nächsten
Reichstag eine entscheidende Majorität für die Abschaffung zu erlangen.
Wenn sie also doch in der großen Mehrzahl, unter ihnen sehr besonnene
Männer, fast sämmtliche Führer der nationalen Partei, bei der entscheidenden
Abstimmung gegen die Regierung und die Todesstrafe, also nach der Sach¬
lage zu Gunsten einer vorläufig reichlicheren Anwendung des Fallbeils,
stimmten, so wurden auch sie nicht einzig durch die schwebende Frage,
sondern durch ganz andere Rücksichten bestimmt, die ihnen wichtiger erscheinen
mußten, als der Compromiß mit der Regierung.
Ob ihnen aber die Partei-Diplomatie oder das Gewissen vorzugsweise be¬
stimmend waren, d. Bl. wird sich wohl hüten, an dem Votum unserer Partei¬
majorität zu mäkeln, denn wir sind überzeugt, daß die Stimmen nach sorg¬
lichster Ueberlegung aus wichtigen Gründen der Klugheit und aus Pflicht¬
gefühl mit schwerem Herzen abgegeben wurden.
Wir dürfen nur bescheiden sagen, was wir, — und zwar nur im In¬
teresse der schwebenden Frage — für nützlich gehalten hätten. D. Bl. gehört
zu den entschiedenen Gegnern der Todesstrafe; und zwar, wie früher ausge¬
sprochen wurde, nicht gerade darum, weil dasselbe von der Nothwendigkeit
überzeugt ist, den schweren Verbrecher im Civil vor dem schweren Verbrecher
im Waffenrock zu bevorzugen, sondern weil wir das Fürstenrecht der Gnade
für einen unhaltbaren Ueberrest aus wilder Zeit und für die eigentliche
Burg der Gottesgnadentheorie halten. Von diesem Standpunkte war ge¬
boten, bei der ersten und zweiten Lesung gegen die Regierung zu stimmen,
bei der dritten aber, wenn die Unmöglichkeit sich erwies, das Ganze zu retten,
für den Compromiß, welcher die Todesstrafe wenigstens auf einzelne schwere
Fälle beschränkt. Aber wohlgemerkt, der Grund zu solchem Handeln ist nur
aus dem Interesse an der Frage selbst, nicht aus dem Interesse der Partei
genommen.
Wir fühlen uns zu der Annahme berechtigt, daß das Resultat der Ab¬
stimmung, der Sieg der Regierung, diesmal auch viele unserer Freunde,
welche dagegen stimmten, von einem schwerlastenden Gefühl der Verantwort¬
lichkeit befreit hat.
In Bremen hat sich ein Verein gebildet, der den Moorrauch abschaffen
will. Kein geringes Unternehmen! Es verräth uns zuvörderst, daß die alten
Zweifel, Ms der sogenannte Höhenrauch eigentlich sei, wissenschaftlich
für erledigt gelten. Er ist nicht atmosphärischen, sondern irdischen Ursprungs,
von Menschenhand erzeugt; und die alte Fabel vom „zersetzten Gewitter"
enthält nur insofern einen Kern Wahrheit, als diese aufsteigenden Massen
warmer Luft und darin schwebender Kohlentheilchen allerdings sehr wirksam
sowohl Feuchtigkeit aufsaugen als electrische Spannung ableiten. Produeirt
wird der Moorrauch alljährlich von Mitte Mai bis in den Juni hinein
durch die Buchwaizenbauer des nordwestlichen Deutschlands, welche ihr Feld
in der primitivsten Weise düngen, nämlich durch Abbrennen der haidebewach-
senen Oberfläche. Consumirt wird er wider Willen von Allen, denen der
bei uns vorherrschende West- oder Nordwestwind ihn zuführen mag; und
es ist ein so weiter Kreis, der sehr intensiv darunter leidet, daß man den
Moorrauch nicht mit Unrecht als eine Landplage Norddeutschlands bezeichnet,
eine widerwärtige Störung des Genusses der schönsten Jahreszeit und der
Natur in ihrer vollsten Laub- und Blüthenfrische.
Man konnte es daher Georg v. Vincke kaum verdenken, daß er, sobald
Hannover preußisch geworden war, im Landtage darauf drang, daß der Un¬
fug abgestellt werde. Aber mehr Recht noch freilich hatte der Landwirth¬
schaftsminister, als er erwiderte, daß sich mit Gewaltmaßregeln da nicht so
ohne weiteres durchgreifen lasse. Herr v. Vincke huldigte der landläufigen
Ansicht, welche von den Urhebern des Moorrauchs nichts weiß und sich daher
berechtigt hält, diesen einfach die Schuld beizumessen, deren geringste Sühne
dann natürlich der sofortige und unbedingte Verzicht auf Erneuerung des
Frevels sein würde. Herr v. Selchow hatte sich muthmaßlich durch einen
hannoverschen Ministerialrath vorher informiren lassen, und wußte daher, wie
ungerecht und falsch die landläufige Verdammung der Moorbrenner sei.
Diese Leute stehen zum Theil auf der untersten Stufe der Civilisation, welche
in Deutschland überhaupt von irgend einer Menschenclasse eingenommen wird.
Wenn man von ihrem Elend im Allgemeinen wenig weiß, so rührt es daher,
daß sie höchst zerstreut, von anderen Menschen beinahe abgeschnitten und in
einem Zustande halb thierischer Stumpfheit leben. Aber als in dem schlim¬
men Winter 1867/68 der Nothstand, welcher die Provinz Preußen heim¬
suchte, auch sie befiel, und in Folge dessen eine Steigerung der gewöhnlichen
Noth beistandsbereite Beobachter aus den nächsten Städten herbeizog, konn¬
ten diese nicht genug staunen über ein Maß von chronischer Entblößung und
Verkommenheit, das selbst sie sich nicht hatten träumen lassen. Sie ver¬
glichen das, was sie sahen und hörten, mit den ostpreußischen Nothstands¬
berichten, und kamen zu dem Urtheil, daß dieser westdeutsche Nothstand der
ärgere von Beiden sei.
Nicht jede Moorcolonie allerdings leidet Noth und verpestet uns mit
Qualm den Frühling. Es gibt sogar sehr blühende, die man zur Unter-
Scheidung Vehn-Colonien zu nennen pflegt, und unter denen Papenburg, der
Hauptsitz der hannoverschen Rhederei und Schiffsbauerei, voransteht. Das
sind diejenigen, welche durch schiffbare Wasserzüge, natürliche oder künstliche,
mit der übrigen Welt in bequemer, wohlfeiler und beständiger Verbindung
stehen. Diese Colonien vermögen mittelst ihrer Canäle das Hauptproduct
des Moores, die brennbare Erde, ihren Torf, zu lohnenden Preisen ab¬
zusetzen, und als Rückfracht ebenfalls billig den Stall- oder Straßendünger
heranzuschaffen, dessen der abgetorfte oder des Abtorsens nicht verlohnende
Moorboden, um Frucht zu tragen, bedarf. In einer völlig verschiedenen
Lage befinden sich die canallosen Colonien, wie sie das leichtsinnig nur auf
Bevölkerungszunahme hinarbeitende achtzehnte Jahrhundert zwischen Osna¬
brück und Emden nur zu zahlreich angelegt hat, zum Theil aus den Stras-
compagnien preußischer Regimenter nach dem Frieden von Hubertsburg.
Die Bewohner dieser traurigen Ansiedelungen sind schlechterdings auf Buch-
waizenbau angewiesen, und haben dafür keinen anderen Dünger als die Asche
der abgebrannten Pflanzendecke. Ohne Zweifel ist dies ein schmählicher Raub¬
bau. Nach sechs- bis höchstens achtjährigen Ertrage muß der gebrannte Boden
dreißig bis vierzig Jahre ruhen, bevor er wieder ertragsfähig wird. Auf ein
Jahrhundert kommen daher nur ungefähr fünfzehn Ernte- und fünfundachtzig
Brachjahre. Aber was würde es nützen, hierüber den unglücklichen Moorcolo-
nisten moralische Predigten Z. 1a Liebig zu halten? Sie würden antworten, falls
sie den Sinn der Belehrung überhaupt zu fassen vermöchten, daß man ihnen
nur gütigst irgend eine andere Art ihren Hunger zu stillen nachweisen möge,
so werde Niemand dankbarer sein als sie. wenn das Brennen ganz aufhöre.
Was wir Uebrigen gelegentlich, und je nach dem Grade der Entfernung
verdünnt vom Moorrauch leiden, das leiden die Interessenten dieser Brand-
'auteur regelmäßig und aufs stärkste concentrirt. Selbst Nachts können sie
oft in der dichtverschlossenen Hütte nicht davor schlafen, obwohl das Ver¬
fahren nur bei Tage vorgenommen wird. Der ewige Qualm allein hat
schon manchen Moorbewohner aus Verzweiflung zum Trunkenbolde gemacht.
Das radicale Mittel, den Moorbrand entbehrlich zu machen, würde
Canalbau sein. Dann könnten sich die Anbauer wirksameren Dünger ver¬
schaffen, und Torf, falls sie hinlänglich heizkräftigen haben, vortheilhaft ab¬
setzen. Wo keine Stadt oder Marsch in der Nähe ist, um ihnen Stall- und
Straßendünger zur Verfügung zu stellen, würden sie z. B. die Kalipräparate be¬
ziehen, welche Staßfurt neuerdings so reichlich und verhältnißmäßig billig liefert.
Einstweilen verspricht auch eine ausgedehntere Benutzung dieser Präparate
schon das Brennen zu beschränken. Ihre Anwendbarkeit und Wirksamkeit
steht zwar noch nicht über jeden Zweifel hinaus fest, doch sind die bisher an¬
gestellten Versuche hinlänglich g-glückt, um zu wetteren zu reizen.
Der einzelne Moorcolonist aber hat die Mittel nicht zu irgend welchen
Auslagen. Grade deshalb brennt er ja die Haide ab, weil diese Art sich
Dünger zu verschaffen kaum mehr kostet als. seine ohnehin nicht anders zu
verwerthende Arbeitskraft. Es geschieht zwar aus Kosten späterer Ernten,
aber unter dem ehernen Zwange der Nothwendigkeit!, ähnlich wie wenn ein
erschöpfter, aber zur Arbeit gezwungener Körper zum Branntwein greift, um
das Capital der Kraft anzugreifen, deren Zinsen nicht ausreichen wollen.
Einzelne von Gemeinsinn und Menschenliebe erfüllte Männer, wie Dr. Uhlen-
berg in Werlte und der katholische Pastor Sanders in Neu-Arenberg haben
daher Genossenschaften gebildet, in denen durch Spareinlagen u. s. f. das
Capital angesammelt werden und den Theilnehmern dargeboten werden soll,
welches zum Düngerkauf gehört. Die große Autorität auf diesem Rechts¬
gebiet, Schulze-Delitzsch, dem man die Statuten zur Prüfung einsandte, hat
dieselben allerdings nicht recht probehaltig gesunden. Allein es wird deshalb
ja nicht unmöglich sein, auch für diesen genossenschaftlichen Zweck die ent¬
sprechende Rechtsform zu finden. Ferner ließen sich auch Capitalien - Gesell¬
schaften denken, wie in den Niederlanden angeblich schon bestehen, welche es
mit gutem finanziellen Erfolge übernahmen, den Andauern die erforderlichen
Vorschüsse in Geld oder Waaren zu machen, eventuell auch gegen eine Jahr¬
abgabe die Canäle zu bauen, welche bei der Anlage dieser Colonien vergessen
worden sind. Die Provinz oder den Staat zu dieser unmittelbaren Ver¬
besserung des Betriebes heranzuziehen, wird man grundsätzlich gern solange
wie möglich vermeiden.
Aber die Staatsorgane haben darum doch auch in dieser Sache eine be¬
deutungsvolle Aufgabe; und es soll uns wundern, ob die officielle Com¬
mission, welche der Oberpräsident der Provinz Hannover Graf Otto Stol¬
berg im vorigen Winter nach Aurich berief, in ihrem noch nicht veröffent«
lichten Bericht dieselbe richtig treffen wird. Es kommt, meinen wir, daraus
an. das Moorbrennen überall da von Staats wegen zu unterdrücken, wo es
nicht geradezu zur Lebensnothdurft der Urheber gehört. Schritte man damit
vor in dem Maße, wie directere praktische Veranstaltungen eine Moorcolonie
nach der andern befähigen, dem Brennen zu entsagen, so müßte des hä߬
lichen Qualms alljährlich immer weniger werden, und wohl noch mancher der
heute lebenden Zeitgenossen würde das Ende des Moorrauchs erleben.
Die preußische Regierung in ihrer fortdauernden hochconservativen Zu¬
sammensetzung und daraus folgender Scheu vor der Oeffentlichkeit hat keine
Untersuchung im englischen oder französischen Sinne vornehmen wollen, wie¬
wohl man sie seit 1866, namentlich in Bremer Blättern, dahin zu drängen
suchte. Sie hat sich begnügt, die bereits gesammelte Weisheit ihrer Beamten
in einen noch geheim gehaltenen Bericht zu concentriren. Diese Lücke wird
nun vermuthlich der in Bremen gestiftete Verein ausfüllen. Er wird sowohl
über die nöthigen Geldmittel wie über hinlängliche geistige Kräfte verfügen,
um die Frage in ihren Hauptrichtungen an Ort Und Stelle gleichsam öffent¬
lich studiren zu lassen, so daß spätestens über Jahr und Tag eine zuverlässige
Auskunft darüber vorliegt, ob und wie dem Uebel fortschreitend abzuhelfen.
Dazu wird jeder norddeutsche, dem der Höhenrauch einmal einen schönen
Tag verdorben hat, gern seinen Segen und unter Umständen seinen Beitrag
spenden wollen!
„Ein wichtiger Punkt ist noch zu bedenken. Die Sprache nämlich. Ich
frage jeden, der für würdigen, angemessenen Ausdruck Sinn hat, und der die
Sprache nicht als eine gemeine Geräthschaft, sondern als Kunstmittel be¬
trachtet, ob wir eine Sprache haben, in welcher ein Gesetzbuch geschrieben
werden könnte. Ich bin weit entfernt, die Kraft der edlen deutschen Sprache
selbst in Zweifel zu ziehen; aber eben daß sie jetzt nicht dazu taugt, ist nur
ein Zeichen mehr, daß wir in diesem Kreise des Denkens zurück sind. Kommt
nur erst unsre Wissenschaft weiter, so wird man sehen, wie unsere Sprache
durch frische, ursprüngliche Lebenskraft förderlich sein wird."
Mit diesen Worten schließt Savigny in seiner vielangeführten, vielleicht
minder viel gelesenen Schrift von dem Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung
und Rechtswissenschaft die „Unser Beruf zur Gesetzgebung" überschriebene
Betrachtung. Die Schrift erschien bekanntlich 1814, fünf Jahre vor dem
ersten Erscheinen von Jacob Grimm's deutscher Grammatik, und wenn sie
noch heute im Munde der Politiker und Publicisten lebt, ist dies ein seltenes
Staunen verdienendes Zeugniß von der Bedeutung einer an äußerm Umfang
bescheidenen Arbeit, die sich zur Aufgabe setzt, für ihre Zeit und aus ihrer
Zeit heraus sprechen zu wollen. Wer kann sagen, was Savigny, wenn er
lebte, von dem Berufe „unserer" Zeit für Gesetzgebung dächte? Liest man
indeß die von edler Vaterlandsliebe, von gesundem deutschem Sinn, von
kräftigem Staatsgefühl getragene Schrift, so kann ma« sich der hoffenden
Ueberzeugung nicht erwehren, da>ß der große Meister der geschichtlichen Rechts¬
wissenschaft die zwingende Pflicht unserer Zeit zur Gesetzgebung anerkennen,
und daß er ihr den Beruf zur Gesetzgebung, weniger als jener Zeit, wo
das Recht noch nicht von seinem Geist erfüllt war, absprechen würde.
Unsere Zeit hat die Pflicht der Gesetzgebung. Was die Germanisten,
als sie in den vierziger Jahren die Umgestaltung der Rechtsgesetzgebung
öffentlich anregten, kaum ahnen konnten, ist Gewißheit: wohl ehe das Jahr¬
hundert zur Neige geht, wird Deutschland die Rückbildung seines römisch¬
versetzten Rechts in deutsches Recht vollendet haben. Die Massenhaftigkeit
des Rechtsstoffs, der bearbeitet sein will, ist fast erdrückend, die Anstren¬
gungen . die den Mitlebenden auferlegt werden, nur schwer erträglich; allein
das große Ziel eines und eines deutschen Rechts rückt sichtlich näher, und
welcher Mann, welcher Mann des deutschen Rechts wollte da nicht gern die
Anstrengungen des Augenblicks über sich nehmen?
Mit der Verdeutschung des Rechts geht die Verdeutschung der Rechts¬
sprache Hand in Hand. Die römischen Ausdrücke und Wendungen, welche
überwucherten, verlieren sich in merklicher Weise, an ihre Stelle treten deutsche
Wörter, denen oft ein neuer Sinn gegeben wird. So ist das Wort Genossen¬
schaft allgemein als Rechtsausdruck für die Vorschußvereine aufgenommen. Das
Wort Rechtshilfe wird geläufig. Strafrecht und Strafgesetzbuch verdrängen
Criminalrecht und Criminalgesetzbuch. Wie immer ist der Anfang, die Um¬
kehr zur einheimischen Rechtssprache, am schwersten gewesen. Nachdem sich
das Ohr wieder an die ersten deutschen Ausdrücke gewöhnt, schärft sich auch
die Empfindung für die Fremdheit der fremden, regt sich das Verlangen
nach weiteren deutschen Ausdrücken. Und der Stand der Sprachwissenschaft
kommt dem Volkssinn zu nutze. Sie liefert Aufschlüsse über den langen an
Wechseln reichen Bildungsgang unserer Sprache, sie kann wie alle Wissen¬
schaft die Wege weisen, aus denen wir weiter gehen sollen, wenn sie auch
die neubildende und schaffende Thätigkeit selbst anderen Händen zu über¬
lassen hat.
Sieht sich aber die deutsche Sprachwissenschaft in der Lage die ihr
zufallende Aufgabe zu erfüllen? Ist ihr der Antheil an der Gesetzgebung,
der ihr zustehen soll und darf, gesichert? Der flüchtigste Blick sagt, daß es
nicht der Fall, daß aus diesem Gebiet die Verbindung zwischen Wissenschaft
und Leben noch nicht hergestellt ist. Das Bedürfniß des Tages herrscht bei der
Neubelebung der deutschen Rechtssprache und ist in der That nicht ohne glück¬
liche Erfolge gewesen. Wörter wie Genossenschaft und Rechtshilfe sind auf
empirischem Wege gewonnen, der Umschwung in nationaler Richtung ist
durch den Drang der Noth hervorgerufen worden. Allein der Empirismus hat
es an sich, daß durch ihn das Gute wohl gefunden, aber nicht sicher und
klaren Bewußtseins gefunden wird, neben Erfolgen hat er auch Mißerfolge
aufzuweisen. Er wird wie von selbst daraus geführt das ihm vorschwebende
Ziel einer rein deutschen Rechtssprache durch Uebersetzung der Fremdwörter
erreichen zu wollen, während es in Wirklichkeit dadurch nur bisweilen
erreicht wird. Das Bundesgesetz über Gewährung der Rechtshilfe (1869)
behält das Wort Requisition noch bei, setzt aber an Stelle der Ausdrücke
requirirendes und requirirtes Gericht die ^Uebersetzung ersuchendes und er-
suchtes Gericht. Würde das Sprachgefühl und sein zuverlässigstes Organ,
die Zunge, durch suchendes und gesuchtes Gericht nicht besser angemuthet
werden? Ersteres ist ohne Zweifel zusagender, aber auch letzteres scheint an¬
sprechender zu sein. Dieser Fall als Beispiel, ohne ihn selbst förmlich ent¬
scheiden zu wollen. Das Beispiel zeigt wohl zur Genüge, daß die Wissen¬
schaft eine wirkliche sowie eine dankenswerthe und auch dankbare Aufgabe
vorfindet.
Es ist eine verbreitete Klage, daß das Dasein zu gelehrt werde, daß die
Wissenschaft überall regeln und bestimmen solle und das Leben an Frische
und Ursprünglichkeit allzu sehr verliere. Der Klage liegt eine natürliche und
berechtigte Empfindung unter, allein — kann sie die Gesammtentwickelung
ändern? Die Verwissenschaftung unsers Lebens ist eine Thatsache, die sich
weder zurückweisen, noch hindern, noch beseitigen läßt. Freilich wuchs einst
die Frucht auf unseren Feldern ohne wissenschaftliche Bodenbestimmung,
ohne gelehrte Düngmethode, ohne die Arbeit der künstlichen Pflüge und
anderer noch kunstreicher gefügten Maschinen! Freilich wuchsen unsere Vor¬
eltern ohne die Erziehungs- und Bildungssysteme von heute heran! Die
Zeiten sind aber, und wohl auf immer, vergangen und es ist richtiger den
Anforderungen der Gegenwart voll zu genügen als ihnen unwillig nachzu¬
geben.
Handelt es sich aber in unserem Fall um etwas besonders gelehrtes,
schwieriges, künstliches? Davon vermag ernstlich nicht die Rede zu sein.
Und damit fällt auch die Einwendung, daß die Bundesgesetzgebung einen
neuen unliebsamen Aufschub erfahren, von ihrer Schwungkraft einbüßen
könne. Die Aufgabe bestände einfach darin, daß wenigstens die wichtigeren
Gesetzentwürfe in einem geeigneten — nach der Natur des Falls vielleicht
verschiedenen — Stadium von geeigneten sprachgelehrten sprachlich, nicht
stylistisch durchgearbeitet und namentlich die neuen technischen Ausdrücke fach¬
männisch geprüft werden.
Nicht jeder sprachgelehrte wird Neigung und Beruf zur Lösung der
entgegentretenden Aufgabe haben. Der starre Purist kann sie ebenso
wenig erfüllen wie der Forscher, der zwar die Wissenschaft in sich auf
genommen, aber nicht zu einem lebendigen Besitz verwandelt hat. Sel¬
tene Eigenschaften müssen sich vereinigen, Sprachtakt und Sinn für das
Bedürfniß des Tages, für den Geschmack der Zeit. Denn auch dieser will
befriedigt sein. Außer aus andern Gründen ist es Sache des Geschmacks,
daß wir einerseits das Fremdwort Nation, andererseits die Zusammensetzun¬
gen mit Recht, wie Rechtshilfe, Rechtsgesetzgebung. Rechtsschutz, Rechts-
sprechung gegenwärtig mit Vorliebe gebrauchen. Das Wort hat auch in der
Sprache Macht und Machtbefugniß. Wer will aber am Vorhandensein
geeigneter Persönlichkeiten unter den sprachgelehrten, und an ihrem Willen,
ihre Kenntnisse im öffentlichen Dienste nutzbar zu machen, zweifeln? Ueberall
regt sich das Verlangen über den engen Bereich des eigenen Berufs hinaus
wirksam zu sein, nicht nur als Fachmensch, sondern auch als Mann und
Bürger thätig zu werden. Wie ließe sich nicht das gleiche von den Män¬
nern einer Wissenschaft erwarten, die zu den lebendigen und fortschreitenden
gehört, deren Altmeister Jakob Grimm das Abbild eines mitten unter seinen
Arbeiten die Dinge des Tages rege beobachtenden Gelehrten war?
Savigny sagt, indem er in die Zukunft, wo die Rechtswissenschaft in
seinem Sinn Gemeingut der Juristen geworden, blickt: „Der historische Stoff
des Rechts, der uns jetzt überall hemmt, wird dann von uns durchdrungen
sein und uns bereichern. Wir werden dann ein eigenes, nationales Recht
haben, und eine mächtig wirksame Sprache wird ihm nicht fehlen. Das rö¬
mische Recht können wir dann der Geschichte übergeben, und wir werden
nicht blos eine schwache Nachahmung römischer Bildung, sondern eine ganz
eigene und neue Bildung haben. Wir werden etwas Höheres erreicht haben,
als blos sichere und schnelle Rechtspflege: der Zustand klarer, anschaulicher
Besonnenheit, welcher dem Recht jugendlicher Völker eigen zu sein pflegt, wird
sich mit der Höhe wissenschaftlicher Ausbildung vereinigen. Dann kann auch
für zukünftige schwächere Zeiten gesorgt werden, und ob dieses durch Gesetz¬
bücher oder in anderer Form besser geschehe, wird dann Zeit sein zu berathen.
Daß dieser Zustand jemals eintreten werde, sage ich nicht: dieses hängt von
der Vereinigung der seltensten und glücklichsten Umstände ab." — Ob dieser
Zustand eingetreten, ob die Entwickelung, die Savigny vorgezeichnet, nun.
Wo die äußere Lage der Nation zum Angriff des Werks hinführt, vollständig
zurückgelegt ist. wer unter den Mitlebenden wagte das, der Geschichte vor¬
greifend, sicher zu behaupten? Seltene und glückliche Umstände vereinigen sich
indeß, um den Angriff des Werks zu begünstigen und zu erleichtern, hoffnungs¬
volle Auspicien begleiten die ersten Arbeiten, auch in den Ruhigeren lebt das
Bewußtsein, daß wir oder die nach uns das Werk vollenden werden. Sorgen
wir denn auch, soviel an uns ist. daß „dem eigenen nationalen Recht die
mächtig wirksame Sprache nicht fehlt", und sorgen wir, wenn sie einmal kom¬
men sollte, „für zukünftige schwächere Zeiten", wo der gegenwärtig alles er-
füllende nationale Gedanke minder kräftig fortwirkt. Nehmen wir Bedacht,
mit dem deutschen Bundesrecht die richtige deutsche Rechtssprache zu schaffen!
Ostia verdankt seine Bedeutung wie seinen Namen der Mündung des
Tiber. An der gleichen linken Flußseite, wie Rom gelegen, kaum drei Meilen
entfernt war es Roms natürlicher Hafenplatz und galt als seine früheste
Colonie. Seitdem die Stadt sich eine Flotte geschaffen hatte und ihre Macht
über die Länder des Mittelmeeres auszudehnen begann, wuchs auch die
politische Bedeutung des römischen Hafens. Er theilte alle Schicksale der
Hauptstadt und es gibt kein sprechenderes Zeugniß für die Vernachlässi¬
gung des Gemeinwesens in der Periode der Bürgerkriege, die das Ende der
Republik herbeiführte, als die Thatsache, daß es damals Piraten gelang,
die römische, von einem der höchsten Magistrate befehligte Flotte bei Ostia
gefangen zu nehmen und zu versenken. Gesichertere Zustände gab die Kaiser¬
zeit, doch stellte sich immer mehr und mehr heraus, daß der Hafen, der in
einfacher Weise durch das Bett des Flusses selber gebildet wurde, an sich
mangelhaft und zugleich in hohem Grade der Versandung ausgesetzt war.
Der „von vielem Sande gelbe" Tiber und die vorherrschende Richtung der
Winterstürme bewirken, daß das Meer weiter und weiter zurücktritt. Gegen¬
wärtig ist die Küste fast eine halbe Meile von Ostia entfernt, aber schon
beim Beginne unserer Zeitrechnung konnten nur Schiffe von mittlerer Größe
die Barre des Flusses in Ladung passiren, die schwerbelasteten Getreide¬
schiffe waren gezwungen, auf der hohen See einen Theil ihrer Fracht in
kleinere Fahrzeuge umzuladen. Die hiermit verbundenen Schwierigkeiten
waren aber bei dem unwirthlichen Charakter der Küste desto bedenklicher, als
die Ernährung einer so colossalen Stadt, wie das kaiserliche Rom es war,
wesentlich von dem richtigen Eintreffen der Zufuhr aus Afrika abhing, eine
Theuerung und drohender Mangel an Getreide die Regierung dem zahlreichen
Proletariat gegenüber in gefährlicher Weise bloßstellte. Nach mehreren resultat¬
losen Versuchen seiner Vorgänger ward endlich der Kaiser Claudius durch
eine Hungersnoth veranlaßt, eine energische Abhilfe zu schaffen. An einem
Punkte der Küste, welcher weiter westlich, dem Strombette aber vor dessen
letzter Biegung nahe liegt, gründete er einen neuen, künstlichen Hafen und
dieser, von Trajan in großartigem Maßstabe erweitert ward aliena'lig der
Haupthafen, der Portus von Rom. Indessen ließ der ungeheure, stets noch
zunehmende Handelsverkehr in der Hauptstadt der Welt diese Rivalität für
die ältere Colonie zunächst noch wenig fühlbar werden; Ostia war vielleicht
sogar nie blühender, als im zweiten Jahrhundert, dessen Kaiser, vor Allen
Hadrian und Antoninus Pius, die Stadt mit manchen reichen Bauten schmückten.
Activer, selbständiger Handel wird freilich auch damals weit geringer gewesen
sein, als Spedition; und Zimmerleute, Getreidemesser, Lastträger, See- und
Flußschiffer, alle in wohl organisirten Corporationen bildeten den Hauptbe-
standtheil der Bevölkerung. Der Verfall begann erst, als Constantinopel an
Stelle von Rom Sitz der kaiserlichen Regierung wurde, und letzteres die
Verarmung theilte, welcher der größere Theil Italiens schon früher verfallen
war. Nach wiederholten Verwüstungen durch die Saracenen befestigte im
neunten Jahrhundert Papst Gregor der Vierte zum Schutze der wenigen
Einwohner, die geblieben, einen Theil der Stadt, auch jener Sieg von Leo
dem Vierten, der durch das nach Rafael's Entwurf ausgeführte Bild in den
Stanzen des Vatikans unsterblich geworden ist, gehört demselben Jahrhundert
an. Aber noch häufig litt die Stadt in den Kriegen des Mittelalters; und
auch die Zeit der Renaissance vermochte trotz der verdienstvollen Bemühungen
der Roveres nicht, sie wieder zu heben. Jetzt findet der Fremde in dem
kleinen Orte, der eine Viertelstunde von der alten Stadt landeinwärts gelegen
ihren Namen führt, nur wenige, ärmliche Häuser um die stattliche, vom
älteren Sangallo erbaute Burg. In den inneren einst von Baldassare
Peruzzi verzierten Räumen derselben Hausen in den Wintermonaten die Sträf¬
linge, die an den Ausgrabungen arbeiten, meist eingefangene Deserteure,
unter ihnen nicht wenige Deutsche. Im Sommer werden auch diese nach
Rom zurückgeführt, kaum fünfzig Menschen trotzen dann der Fieberluft an -
der öden Stätte.
Schon am Ende des vorigen Jahrhunderts ließen einige Privatpersonen,
Römer sowohl wie Fremde, an verschiedenen Stellen Ausgrabungen unter¬
nehmen, die stets durch Kunstwerke und Inschriften reich belohnt wurden,
nicht unbedeutenden Ertrag gewährten selbst noch Kalköfen, bei denen Mamor-
Werke aufgehäuft, aber erst theilweise verbrannt waren. Im Jahre 1803
faßte dann Papst Pius der Siebente den Entschluß, die durch die gewalt¬
same Ueberführung so mancher Sculpturen nach Paris entstandenen Lücken
des vatikanischen Museums aus Ostia's Schätzen wieder ergänzen zu lassen.
Nur drei Jahre war es der Zeitumstände wegen möglich, die darauf gerich¬
teten Arbeiten fortzuführen, doch schmücken seitdem nicht wenige Kunstwerke,
so die Büste des jugendlichen Augustus, das Lieblingsstück der meisten Rom¬
fahrer, die nach jenem Papste benannten Theile des Museums. Später nahm
der bekannte Cardinal Pacca die dankbare Arbeit auf und konnte manchen
Fund in seine Vigna schaffen, während er Anderes, nicht eben das Bedeu¬
tendste, in den Räumen des bischöflichen Palastes in Ostia ließ. Endlich
ordnete Pius der Neunte im Jahre 1856 wiederum größere Ausgrabungen
an und auch bei diesem Unternehmen hat er Ursache, fein stets steigendes
Glück zu preisen.
Die alte Stadt nimmt ungefähr einen Flächenraum ein von der Länge
einer Viertelmeile und der Breite einer Achtelmeile, im Norden vom Tiber,
im Osten von der früheren Meeresküste begrenzt; an den übrigen Seiten ist die
Ausdehnung noch nicht genau festgestellt, doch zeigen hie und da aufgedeckte
Grabstätten, die jedenfalls außerhalb der Mauern lagen, daß die früher oft
ausgesprochene Annahme von achtzigtausend Einwohnern wohl zu hoch ge¬
griffen ist. Schutt und Erde, Dornengestrüpp, Weiden und Getreidefelder
bedecken noch den weitaus größeren Theil der alten Colonie; von den bedeu¬
tenderen Bauten ragen die Ruinen hervor, kleine Terraineinschnitte deuten
den Lauf der Straßen an. Die Ausgrabungen sind an verschiedenen Punkten
unternommen, so daß sie kein in sich zusammenhängendes Bild einer antiken
Stadt geben, wie dies Pompeji so anziehend macht; auch haben die früheren
einer wissenschaftlichen Erkenntniß mehr geschadet als genützt, insofern sie
nur auf Erlangung von Kunstwerken gerichtet waren. Hatte man diese
ihrer Ruhestätte entrissen, so warf man meist, ohne sich um die Reste der
zugleich aufgedeckten Baulichkeiten zu kümmern und die inschriftlichen Denk¬
mäler mit ihnen in Beziehung zu setzen, die ausgegrabene Erde wieder an
ihre Stelle und hinterließ so den Nachkommen eine sehr undankbare Erbschaft.
Gegenwärtig verfährt man etwas rationeller. Andererseits besitzt Ostia auch
einen Vorzug vor Pompeji, indem es in Folge der weit späteren Zerstörung
Aufschlüsse über einen beträchtlich längeren Zeitraum bieten kann. Allerdings
ist es nicht leicht, die verschiedenen Epochen, denen die einzelnen Monumente
angehören, genau zu unterscheiden, indessen wird das Streben danach jetzt
durch eine vermehrte Achtsamkeit aus das Detail von Seiten der Chefs der
Ausgrabungen, der Herren Visconti, Nachkommen des berühmten Archäologen,
unterstützt.
Die Bauten, welche den Haupterwerbszweigen der Stadt, Handel und
Schifffahrt dienten, die Schiffswerften und Magazine, Quais und Landesteilen
sind bisher wenig erforscht worden. Das Emporium scheint eine große, halb¬
kreisförmige Anlage gewesen zu sein, geschmückt mit vielen Statuen, die nun
aber schon überallhin zerstreut sind. An dasselbe schlössen sich dem Flusse
entlang in weiter Ausdehnung die Magazine für die Haupthandelsartikel:
Getreide. Wein und Oel. Die Art der Aufbewahrung der letztgenannten
Flüssigkeiten erkennt man noch in dem Erdgeschosse eines Gebäudes, wo in
fünf Reihen je sechs runde thönerne Gesäße, Dolien, jedes von der Mäch¬
tigkeit einer Tonne mittlerer Größe, fast bis an den Rand in die Erde ein¬
gegraben sind und dadurch ihren Inhalt frisch und kühl bewahrt haben
werden. Als Theile der Schiffswerften und Docks pflegt man Ueberbleibsel
von Schleusen, sowie einige Pfeiler und Bögen aus Tuff zu bezeichnen,
letztere sind um so wichtiger, als sie der geringen Zahl^von Monumenten
aus der republikanischen Zeit angehören, indessen hat der Umstand, daß sie,
obwohl vom Tiber entfernt, doch an ihrem unteren Theilen durch Wasser be¬
deckt sind, von einer gründlichen Untersuchung abgehalten.
An Gebäuden, welche der Belustigung und der Gesundheitspflege des
Publicums gewidmet waren, ist Ostia offenbar nicht arm gewesen. Man er-
kennt ein geräumiges Theater und hat mehrere Bäder aufgedeckt, welche,
wenn sie sich auch an Größe nicht mit denjenigen der Hauptstadt messen
können, doch erkennen lassen, daß die öffentliche Hygiene mit einigem Luxus
verbunden war. Man hat Grund, die ausgedehnteste dieser Anlagen dem
Kaiser Hadrian zuzuschreiben. Einer Inschrift zufolge verwendete derselbe eine
ganz bedeutende Summe aus den Bau von Thermen; als sich die Summe aber
trotzdem als unzureichend herausstellte, gab sein Sohn Antoninus Pius noch
anderes Geld und außerdem Marmor zur Vollendung der Ausschmückung.
Umbauten und Reparaturen zeigen, daß die Thermen lange benutzt wur¬
den und die Bedürfnisse auch in dieser Hinsicht einem häufigen Wechsel
unterworfen waren. Ein anderes Badgebäude verdient eine genauere Be¬
trachtung nicht nur wegen der Reste seiner kostbaren Marmorbekleidung und
der gut erhaltenen Mosaikfußböden mit Darstellungen von gymnastischen
Spielen, von Eroten, Nereiden und Tritonen. Aus einem Entröezimmer ge¬
langt man in gerader Richtung vermittelst einer bequemen Treppe zu einem
geräumigen Saale, in welchem ein großes Bassin für warme Bäder ange¬
legt ist, seitwärts zu drei anderen Zimmern, die mit jenem parallel laufen.
Dieselben sind ebenso wie das Bassin in» sehr zweckmäßiger Weise für Luft¬
heizung eingerichtet, indem ihr Fußboden überall auf einzelnen, ungefähr
einen Fuß hohen und ebenso weit von einander stehenden Pseilerchen mit
Ziegeln ruht und vor jede Wand eine Reihe von hohlen Backsteinen auf¬
geschichtet ist. Eine solche Einrichtung, die die Gemächer gewissermaßen zu
schwebenden macht, beansprucht freilich viel Raum, aber bewirkt, daß die durch
einen in der Tiefe angelegten Heizapparat erwärmte Luft rings um die Zim¬
mer circulirt. ohne direct In sie einzutreten, und verleiht selbst noch entfern¬
teren Räumen eine behagliche Temperatur. Man muß bedauern, daß die
Modernen Italiener nicht etwas Aehnliches anwenden, um die der Sonnen¬
hitze wegen nöthigen steinernen Fußböden im Winter weniger lästig zu
machen. — Auch im Uebrigen scheint der Wasserreichthum in Ostia kaum ge¬
ringer als in Rom gewesen zu sein, überall begegnet man den Leitungsröhren,
und Straßen wie Privathäuser sind mit Nymphäen und Baumanlagen frei-
lich einfacher Art versehen.
In den Privathäusern konnte man nicht erwarten, viel mehr als Im-
mobilien anzutreffen, indessen macht ein im vergangenen März aufgedecktes
Haus eine glückliche Ausnahme. Außer manchen Gerätschaften fanden sich
allmälig nicht weniger als zweiundzwanzig größere oder kleinere Bronze¬
statuetten und endlich auch zwei goldene Ringe, ein jeder von dem beträcht¬
lichen Gewichte von mehr als fünfunddreißig Grammen, der eine in Form
einer mehrfach gewundenen Schlange, der andere einfacher, aber mit einer
seltenen Goldmünze des Kaisers Trajanus Decius verziert. Wir waren
Zeugen von der frohen Stimmung der Aufseher, als das erste Stück des
edlen Metalls eben hervorgezogen war; bei einem wiederholten Besuche war
man in Folge einer zweitägigen unfruchtbaren Arbeit ziemlich mißmuthig.
Jene Statuetten, unter denen einige künstlerischen Werth besitzen, standen in
der Hauscapelle, dem Lararium, und waren zum Theil durch Feuer arg be¬
schädigt; auch nimmt man an, das Haus sei bei einem Brande im vierten
Jahrhundert zerstört und seitdem unter seinen Trümmern liegen geblieben.
Bedeutenderes Interesse flößt ein Tempel ein, der in der Mitte der
Stadt innerhalb eines zum Theil durch Säulenhallen begrenzten Bezirkes auf
hohen Substructionen emporragt. Nach Süden orientirt hatte er eine säulen¬
getragene Vorhalle und eine Celle, in deren Hintergrund das Cultusbild aus
aus hohem und breitem Postamente stand. Von den schönen Marmortafeln,
welche den äußerst sorgfältig gefügten Backsteinbau im Innern und Aeußern
überall bedeckten, ist nur wenig noch an Ort und Stelle, zumal da seit Jah¬
ren fast Jeder der zahlreichen Besucher Stücke davon entführt hat, aber
einige große, schön gearbeitete Gebälkstücke und die imposante noch an ihrer
Stelle liegende Schwelle, ein Block bunten afrikanischen Marmors von mehr
als achtzehn Fuß Länge, werden auch wohl noch unseren Nachkommen eine
Vorstellung von der Pracht der Ausstattung gewähren. Sicherlich ist es
einer der Haupttempel der Stadt gewesen, doch läßt es sich nicht bestimmen,
wem er geweiht war.
Als eine in Ostia hochverehrte Gottheit ist Vulkan bekannt, der väter¬
liche, wie man ihn hieß. Für die mit seinem Dienste verbundenen Feste zu
sorgen, war ein wichtiges Municipalamt und sein Oberpriester, ein Mann
vom höchsten Range, hatte die Aussicht auch über die übrigen Heiligthümer
der Stadt und ihrer Umgebung. Welche Eigenschaft in dem Wesen Vulkan's
diesen Cultus ursprünglich veranlaßt haben mag, ist schwer zu ergründen, in
der Kaiserzeit aber wird der Gott hier wie in Rom hauptsächlich in der be¬
stimmten Absicht verehrt worden sein, um Schutz gegen sein verheerendes
Element zu erflehen. Durch gewissenhaften, eifrigen Cultus der Gottheit
suchte man Feuersbrünsten, die in der an Magazinen reichen Stadt sehr ge¬
fährlich werden konnten, vorzubeugen, ohne darum praktische Vorsichts¬
maßregeln zu vernachlässigen. Denn kurze Zeit, nachdem in Rom das Corps
der Feuerwächter organisirt war, erhielt auch Ostia eine Cohorte desselben.
Die Seestadt verehrte natürlich auch die Götter des Meeres, neben Neptun
besonders die Castoren, das allen Schiffern heilige Brüderpaar Castor und
Pollux, welche die stürmische See beruhigten und gute Fahrt gaben; ihr
am 27. Januar unter Leitung des höchsten Civilbeamten Roms gefeiertes
Fest war noch in später Zeit seiner Spiele wegen sehr beliebt.
Einige Denkmäler geben weitere Nachrichten über die religiösen Zustände
Ostia's zu verschiedenen Zeiten. Zunächst eine Inschrift aus der Gründung
des Kaiserreichs, welche die Stiftungen des P. Lucilius Gamala, eines
municipalen Würdenträgers aufzählt. Außer verschiedenen Leistungen von
mehr bürgerlicher Art. wie Pflasterung einer Straße, unentgeltliche Ab¬
haltung von Spielen, Stiftung von Normalgewichten, Ausstattung des
Tribunals mit Marmorschmuck, Schenkung einer Geldsumme an die Stadt
in Kriegszeiten, mehrfacher Speisungen der Stadtbewohner wird erwähnt,
er habe den Tempel des Vulkan restaurirt und den Göttinnen Venus, Fortuna,
Ceres und spes Heiligthümer neu gebaut. Mögen diese Heiligthümer auch
entsprechend der verhältnißmäßig alten Zeit, in welcher Gamala lebte, von
einfachen Verhältnissen gewesen sein, ein wie großer religiöser Eifer spricht
sich hierin aus und wie viel hat hier ein einzelner Mann gethan! Anders
ist es dann anderthalb Jahrhunderte später, wo auf einer stattlichen Ehren«
laset die Namen und Titel von mehr als hundert Männern aufgezeichnet sind,
welche das Geld zur Erweiterung eines einzigen Tempels zusammengeschossen
haben. Aber auch die Reihe jener Göttinnen ist bemerkenswerth und zwar
nicht nur weil der Cultus des Glückes und der Hoffnung, der Ceres und
der Venus für einen Kaufmann bezeichnend ist, sondern auch deshalb, weil
diese Gottheiten rein römische und italische sind. Gamala ist kein römisches
Wort, vielmehr der Name einer syrischen Stadt und die Familie des frommen
Mannes wird von dort herstammen; um so größere Beachtung verdient es,
daß er statt den orientalischen Culten anzuhängen völlig die römischen reli¬
giösen Anschauungen getheilt hat. Man hat die Ansicht ausgesprochen, daß
die fremden Culte schon frühe in der Hafenstadt Verehrung gefunden haben,
allein vor der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christi Geburt wird
dies nur in geringem Maße der Fall gewesen sein. Der Handel mit der
Levante nahm seinen Weg über Pozzuoli und konnte keinen wesentlichen
Einfluß auf Ostia ausüben; auch erkennt man an den Gräbern, daß die
ältere Bestattungsweise, das Verbrennen der Todten und die Beisetzung ihrer
Asche nur langsam und spät der neueren gewichen ist, die unter der Ein¬
wirkung von fremden, orientalischen Vorstellungen und Auferstehungslehren
die Bestattung unversehrter Leichen gebot und in einzelnen Fällen selbst Um¬
bauten der Gräber herbeigeführt hat. Zu diesen Zeugen für den erst spät
eingetretenen Umschwung gehört auch eine Reihe von Inschriften aus dem
zweiten Jahrhundert, welche in den Ruinen verschiedener den Dendrophoren
gehörender Gebäude aufgefunden worden sind. Die Dendrophoren oder
Baumträger bildeten eine Corporation, die in Ostia wie anderswo in einer
noch nicht völlig aufgeklärten Verbindung mit der Zunft der Zimmerleute
gestanden hat. Es war Sitte, daß der Corperation wegen gewisser Immu¬
nitäten von ihren Vorstehern, auch von Anderen Götterbilder dedicirt wurden;
als solche sind aber auch nur Bilder einheimischer Götter bekannt geworden,
so der Mutter Erde, dann Mars und Virtus, das ist die kriegerische Tüchtig¬
keit, und endlich Siloam, der alte Wald- und Grenzgott, der auch sonst in
Ostia viel Verehrung gefunden hat und wie er einen großen Ast in der
Rechten führt, so selber zum Dcndrophor wurde. Von diesen Stiftungen
sind uns freilich nur die Weiheinschriften erhalten, aber einen Ersatz für das
Fehlende bietet eine gut conservirte bronzene Venusstatuette von etwa ein
Drittel Lebensgröße, die in der Nähe gefunden ist. Obwohl in der Weise
der späteren Kunst von etwas schweren und vollen Formen, war sie doch
geeignet, sich die Anerkennung der Kunstfreunde zu erwerben und ist zu
bedauern, daß ihre Nacktheit die Aufstellung in einem der öffentlichen Museen
der prüde gewordenen hiesigen Regierung bisher gehindert hat.
Neben diesen Denkmälern der älteren religiösen Anschauungsweise
ziehen auch jene anderen, welche den endlich mächtig gewordenen Einfluß der
fremden Culte bezeugen, die Aufmerksamkeit in hohem Grade auf sich, in
Ostia jedenfalls in höherem Grade, als die Uebervleibsel des Kaisercultus.
Denn wenn auch die politisch-religiöse Verherrlichung der Monarchie von
Seiten besonders der Beamtenkreise hier so wenig gefehlt hat, wie irgendwo
im weiten Reiche, so scheint sie es doch nicht zu einer großen Blüthe gebracht
zu haben. Die Verhältnisse der Colonie waren zu bescheiden, um so Impo¬
santes zu leisten, wie Rom und die anderen Großstädte. Auch die fremden
Culte treten in Ostia nicht eben mit Staunen erregendem Glänze aus, das
Interesse, welches sie erwecken, ist nicht so äußerlicher Art.
Im Alterthume war man in Rom tolerant. Der Staat suchte im Allge¬
meinen nur staatsgefährliche Lehren und unsittliche Gebräuche abzuwehren,
das Volk aber mußte allmälig geneigt werden, fremde Religionen aufzunehmen,
weil ihm, wenn auch lange, doch nicht für immer verborgen bleiben konnte,
daß die seinem alten Cultus zu Grunde liegenden Ideen nicht wenig nüchtern
waren. Offenbar ist es eine tiefere, religiöse Erregung gewesen, welche die
einheimischen Götter verdrängte, eine Thatsache, die selbst die schlimmen Ver-
irrungen des Gefühls, an denen die spätere römische Religionsgeschichte reich
ist, erträglich macht. Die Entwickelungen, welche Kunst und Philosophie
der Griechen den alten Vorstellungen gegeben hatten, ihre Erläuterungen
und Verfeinerungen, waren für das große Publicum kaum brauchbar; zumal
eine Handwerkerstadt, wie Ostia ist, nie ein Sitz Apollo's und der Musen
gewesen. Der Orient aber bot mehr und seine Kost war derber. Er besaß
eine Fülle von Culten und Geheimlehren, die einen Inhalt zu haben schienen,
deren Gebräuche die Sinne fesselten und das Gemüth erschütterten; und je
strengere Sühnungen und Bußen die Priester forderten, um so sicherer hoffte
man der Gnade jener mächtigen, fernen, unbestimmten Götter theilhaftig zu
werden. Aus der Nüchternheit rettete man sich in den Taumel und fand seine Be¬
friedigung oft an Dingen, welche das moderne Gefühl höchst peinlich berühren.
Die erste asiatische Gottheit, welche in Rom Aufnahme fand, war die
große phrygische Göttin vom waldigen Jdagebirge, von den Griechen Rhea
Kybele, von den Römern vorzugsweise die große Mutter der Götter genannt.
Aus Aeneas Heimath ward ihr Idol schon im zweiten punischen Kriege von
einer feierlichen Gesandtschaft auf Rath der sibyllinischen Bücher abgeholt
und fortan in Rom auf dem Palatin verehrt, wenn auch lange Zeit die
Cerimonien ihres orgiastischen Dienstes nur von phrygischen Priestern besorgt
wurden. Ihre höchste Bedeutung erlangte diese Religion aber erst in der
Kaiserzeit, nachdem die Verehrung des Attis. des Lieblings der Göttin in
Aufnahme gekommen war und den alten Bräuchen einen neuen Aufschwung
verliehen hatte. So ist auch das Heiligthum der Göttin, welches man in
Ostia ausgegraben hat, nicht älter als das zweite Jahrhundert. Es besteht
aus einem kleinen, in seinen oberen Theilen gründlich zerstörten Tempel und
einer langen, schmalen Kapelle, zwischen denen keine unmittelbare Communi-
cation besteht. Auf einem freien Platze, der sich vor beiden ausdehnt, fand
man außer einem Altar einige Inschriften, welche der hier vollzogenen Tauro-
bolien oder Stieropfer gedenken. Das Stieropfer war im Dienste der
Mutter der Götter zu einer grauenhaften Cerimonie ausgeartet. Der reini¬
genden Kraft, welche das zur Sühnung vergossene Blut besaß, sollte der
Opfernde in seltsam körperlicher Weise theilhaftig werden, er wurde in Blut
gebadet, indem er in eine Grube steigen mußte, über welcher auf durchlöcher¬
ten Brettern der Stier geopfert ward. Aus der Grube, die zugleich ein
Symbol des Todes war, kam er dann als ein „Neugeborener" wieder her¬
vor. Bekanntlich hat dieser entsetzliche Brauch mehrere Jahrhunderte lang
unter den höchstgestellten Männern des Kaiserreichs Gläubige gefunden und
kein Ort ist häufiger durch ihn geschändet worden, als der vaticanische Hügel,
wo die Opferstätte für die Hauptstadt "war und wo die Peterskirche nach
ihrer Gründung durch Constantin sich diese Nachbarschaft noch manche Jahre
hat gefallen lassen müssen. In Ostia hat man das Opfer unter Anderem
auch für das Wohl des Kaisers Marc Aurel gebracht, denn nicht nur für
sich selber konnte man die Sühnung vollziehen; und die hohe philosophische
Bildung, die diesen Kaiser auszeichnet, blieb ohne Wirkung auf seine Unter¬
thanen in Ostia.
Das Cultusbild der Göttin ist zerstört, ein besseres Schicksal fand eine
Statue ihres Lieblings Attis. die der Inschrift zufolge ausdrücklich auf Ge-
heiß der großen Göttin gewidmet worden ist. In künstlerischer wie sacraler
Beziehung bietet sie das bedeutendste Bild des Gottes. Seine mannweib¬
liche Natur, verursacht durch die Verstümmelung, die er selber an sich vollzog,
prägt sich in der liegenden Haltung der unentschiedenen Formen gut aus
und wird auch durch das Arrangement seines Gewandes hervorgehoben.
Der Kopfschmuck, Mondsichel und Strahlen, ein doppelter Fruchtkranz und
Aehren. Alles dieses in nicht allzu bizarrer Weise auf seine phrygische Mütze
aufgehäuft, zeigt in Verbindung mit anderen Früchten, die seine Rechte hält,
daß er als eine zugleich Licht und Frucht spendende Gottheit gefeiert wer¬
den soll, und bietet somit einen neuen Beweis dafür, wie umfassend die
synkretistische Neigung der späteren Zeiten das Wesen und die Macht der
einzelnen Gottheiten zu gestalten suchte. Mehr und mehr wurde man auf
die Idee des Monotheismus hingeführt.
Unter den Bewohnern Ostia's scheint vornehmlich die Corporation der
Cannophoren dieser Religion ergeben gewesen zu sein. Es waren dies wahr¬
scheinlich auch Handwerker, Träger von Canna, wie diese ungemein nützliche
Rohrpflanze in Italien mehr als ein Gewerbe beschäftigt. Von ihnen gibt
es wiederum eine Reihe von Inschriften, welche sich auf Stiftungen beziehen,
die von ihnen ausgingen oder ihnen gemacht wurden, in ersterem Falle Sta¬
tuetten von Kaisern, im letzteren Büsten der Göttin und des Attis. Meist
sind diese von Silber gewesen, ein Luxus, welcher der späteren Zeit dieser
Dedicationen entspricht. Auch die vorhin erwähnten Dendrophoren haben
sich später an dem Cultus der Mutter der Göttin betheiligt, bei der großen
Procession, die am ersten Tage ihres Hauptfestes stattfand, wurde eine Fichte
als heiliges Symbol zur Erinnerung an die That des Attis umhergetragen
und die Baumträger werden dabei thätig mitgewirkt haben. Daß es eben¬
sowenig den Cannophoren an einer passenden Betheiligung an dem Aufzuge
gefehlt hat, beweist ein im Bereiche des Tempelbezirks gefundenes Relief,
welches Attis und die Löwen der Göttin vom Schilfrohr umgeben darstellt.
Das erwähnte Relief befindet sich an einem auf den ersten Blick sehr
sonderbaren und so auch von den Herren Visconti nicht völlig verstandenen
Monumente, nämlich an einem mit Aehren gefüllten Scheffel, auf dem ein
fetter Capaun steht. Die Inschrift löst das Räthsel, sie nennt den M. Modius
Maximus Archigallus von Ostia. Archigallus ist einerseits der der Phrygi-
schen Sprache entnommene sacrale Titel des Oberpriesters der großen Göttin,
und dieser mußte ein Verschnittener sein, andererseits aber bedeutet der Aus-
druck, wenn man ihn aus der römischen Sprache erklärt, einen Haupthahn
und daneben ist Modius das römische Wort für Scheffel. Es ist hier also
der große Scheffel, Erzcapaun von Ostia, in einer Weise versinnbildlicht, die,
geschmacklos sie auch ist, doch nicht geradezu für eine Parodie von absicht¬
lich rein komischer Wirkung zu halten sein dürfte. Auch auf antiken Grab-
steinen finden sich ähnliche Wortspiele, wo der Witz den Ernst nicht beein¬
trächtigt zu haben scheint. — Außer den Gallen hatte die Göttin auch Prie¬
sterinnen. Eine derselben, die vielleicht nicht wenig dazu beigetragen hat,
den Cultus in Aufnahme zu bringen, war die Frau eines Zunftmeisters der
Zimmerleute, ihr Mann nennt sie aus seinem Sarkophage seine sehr fromme
Gattin und eine gewisse Frömmigkeit mag selbst in dieser wüsten Religion
Möglich gewesen sein.
Ein anderer Cultus, der aus der Fremde nach Ostia gekommen, war
derjenige der ägyptischen Isis, der schon darum in der Hafenstadt viel An¬
dächtige gefunden haben muß, weil Isis als eine mächtige Herrscherin über
alle Fluthen galt und der Schifffahrt günstig war. Es sind ihr reiche
Gaben dargebracht und eine lange Reihe von ihren Priestern, Priesterinnen
und Anhängern ist bereits bekannt, aber da man ihren Tempel bisher
noch nicht gefunden, verzichten wir darauf, in die Einzelheiten des so uner¬
freulichen ägyptischen Aberglaubens näher einzugehen. Ebensowenig braucht
der Dienst des persischen Mithras, der wichtigste und verbreitetste, vielleicht
auch der gedankenreichste unter den verschiedenen Sonnenculten, die dem
Orient entstammen und den Occident weithin durchzogen haben, hier erörtert
Zu werden. Freilich hat man in Ostia bis jetzt schon nicht weniger als drei
diesem Gott gewidmete Capellen aufgedeckt, aber ihre Monumente können
steh an Bedeutung mit denjenigen nicht messen, welche das südliche Deutsch¬
land und Oestreich, die Hauptländer für die Geschichte dieser Religion aus
der Stufe ihrer höchsten Entwickelung, so reichlich geliefert haben.
Mit diesen Rivalen hattte das Christenthum zu kämpfen und man muß
staunen, wie hartnäckig sie ihm den Weg streitig zu machen vermochten.
Auch in Ostia scheint die Lehre nur sehr allmälig Boden gewonnen zu haben.
Allerdings nennt die kirchliche Tradition diese Stadt sogar als den ältesten
Bischofssitz in der Umgegend Roms uyd schreibt vor, daß der Cardinal
Bischof von Ostia den neu erwählten Papst als Bischof von Rom consacrirt,
aber die Chronologie der christlichen Gräber reicht nur ausnahmsweise über
das vierte Jahrhundert zurück und die Kunst ist gegen die Anfänge des
Christenthums hier sogar noch karger und stiefmütterlicher gewesen als an
anderen Orten.
Die folgende Mittheilung über authentische Lesarten des Neuesten
von Plundersweilern und über die erste Vorstellung dieses guten
Schwanks denke ich nicht unschicklich in die Hände der Grenzboten zu legen,
die uns von Zeit zu Zeit mit erheblichen Nachträgen zur Goethe-Literatur
aus Handschriften zu erfreuen pflegen.
Das Bild, nach Goethe's Angaben gezeichnet und in Aquarell gemalt
von Krauß, welches das Neueste von Plundersweilern zu sehen gab, wie
es die Marktschreier-Verse des Gedichts hören lassen, blieb (versteht sich, im
Nachlaß der Herzogin Amalie, der es verehrt war) wohlerhalten, wie
35 Jahre nach seiner Entstehung Goethe am Schluß des einleitenden Vor¬
berichts bezeugte, mit welchem er das Gedicht zum erstenmal in der ^bändi¬
gen Ausgabe der W. (im neunten Bande 1817) im Druck erscheinen ließ
Unter Großherzog Karl Friedrich war es im Schlößchen zu Tiefurt in
einem Zimmer, das noch andere verwandte Bilder aus dem Kunstnachlaß.
Amaliens enthielt, aufgehängt und wurde von Vielen oft hier gesehen, wo
es noch gegenwärtig in unveränderter Umgebung zu sehen ist. Damals
wurde Diezmann darauf aufmerksam gemacht und erhielt Erlaubniß, das
Bild copiren zu lassen. So hat er es, verkleinert, in der Modezeitung heraus-
gegeben, was er aber vom Text des Gedichtes beifügte, der Druckausgabe
von Goethe's Werken entnommen.
Allein in jenem Zimmer zu Tiefurt lag und liegt unter dem' von Diez-
mann vervielfältigten Original des Bildes auch noch eine Handschrift des
Gedichtes, die'füglich ein Original-Man uscript heißen kann. Die Verse
Zwar und das kurze Vorwort (kürzer als jenes 1816 der Druckausgabe vor¬
ausgeschickte) sind nicht eigenhändig vom Dichter geschrieben, sondern von
seinem Schreiber, aber die Unterschrift unter dem'Vorwort: I. W. v. Goethe
ist eigenhändig und bezeugt mit dem Datum daneben: Weimar, den 6. De¬
cember 1827, daß Goethe selbst, noch in Karl August's Tagen (im
letzten Lebensjahr seines fürstlichen Freundes), die Handschrift als eine Fest¬
gabe an den Hof gesandt hat, etwa dem Erbprinzen Karl Friedrich zu
einer Erlustigung am Nicolaustage', der ja aus den 6. December fällt und
stets von Karl Friedrich mit seiner hohen Gemahlin durch eine heitere Feier
bezeichnet wurde. Als eine Festgabe, geschmückt von des greisen Dichters
eigner Hand, gibt sich das Manuscript auch äußerlich zu erkennen. Es ist
nämlich in Carton-Futteral ein Quartheft, in Pappe gebunden, und der Deckel
hat auf beiden Außenseiten eine gezeichnete, leicht mit Farben ausgeführte
Arabeske zur Verzierung. Zwei ovale Guirlandenringe liegen übers Kreuz
in Diagonale, so daß ihre Enden auf die Ecken des Deckels zu gehen; da,
Wo sie einander durchschneiden, in der Mitte ein vierseitig begrenztes Feld
entsteht, und um dasselbe in den vier Enden der beiden Guirlanden bogen¬
förmige Felderchen. In den letzteren schweben Schmetterlinge, in dem mitt¬
leren Feld aber lacht ein Satyrkopf; und die Deckel-Ecken füllen vier Masken
aus, durch deren Augenlöcher die Guirlanden hindurchgezogen sind. Was
nun in dieser Handschrist das Authentische des Gedichttextes betrifft, so hat
Goethe diesen nicht etwa vom Schreiber nach dem seit zehn Jahren vorhande¬
nen gedruckten copiren lassen, sondern ihm denselben aus seinem Original dictirt.
Das ergibt sich mit Sicherheit aus den Varianten Und den Ergänzungen,
Wie sie dieser geschriebene Text, gegen den gedruckten gehalten, darbeut. Die
Handschrift ergibt hiernach für die philologische Textkritik die ältesten, der
Quelle nächsten Lesarten.
Diese Nähe am Original verräth sich in unserer Handschrift zum Theil schon
an der sprachlichen Form. So heißt es an der Stelle, wo von der Frau Kritik die
Rede ist, die in ihrem gemächerretchen Serail allerart Leute aufnimmt, Zeile 86
»Doch läßt aus Furcht für Neidesflammen Sie ihre Freunde nie zusammen";
eine Anwendung der Präposition für, die im vorigen Jahrhundert zUr Zeit der
Entstehung des Gedichts noch guter deutscher Sprachgebrauch war, während in
unserem Jahrhundert in solchen Bezügen immer ausschließlicher vor an ihre
Stelle trat und so auch beim Druck unseres Gedichtes gleich von der ersten
Ausgabe 1817 an. Einen andern bezüglichen Archaismus haben die älteren
der Druckausgaben noch mit unserer Handschrift gemein. Am Schluß der
Schilderung von dem Siegesjubel der Knaben in der Freundschaftslaube
lesen wir, wie unter der Löwenhaut, auf der sie sitzen, ein Murmelkasten
vorgucke: „Daraus denn bald ein Jedermann (Z. 156) Ihre hohe Ankunft
errathen kann." Erst die Ausgabe von 1840, wie dann auch die neueste
Cottasche (Ausgew. W. Bd. 16, Stuttgart 1867) hat Abkunft. Daß dieses
ganz sinngemäß sei, unterliegt keinem Zweifel. Da aber Luther und über¬
haupt die Sprache des 16. Jahrhunderts, die sich der jugendliche Goethe so
mannigfach angeeignet hat, Ankunft in dem Sinne gebrauchte, in welchem
wir jetzt nur Herkunft oder Abkunft sagen, und da in unserem Gedicht an
dieser Stelle alle bei Goethe's Leben erschienenen Druckausgaben und die
von ihm dictirte Tiefurter Handschrift Ankunft haben, so ist zuverlässig,
daß er hier dieses Wort gesetzt und nicht Abkunft. Auch in Goethe's Iphi-
genie findet sich (beiläufig bemerkt) eben diese Variante, worüber unlängst
Sauppe (Göttinger Sommerprogramm 1870 S. 7 f.) gesprochen hat. An
einer Stelle, wo zwei von den ältesten Bearbeitungen, wie auch die Fest¬
ausgabe von 1825 und von der des Jahres 1828 an alle folgenden Aus¬
gaben die Lesart: „das Geheimniß deiner Ankunft" geben, hat man aus an¬
deren Recensionen Abkunft als allein passend vorziehen wollen. Dies be¬
seitigt Sauppe durch den Nachweis, daß Jphigeniens Verschweigen ihrer
Herkunft und Vergangenheit untrennbar sei von dem Schweigen über Art
und Weg ihrer Ankunft im taurischen Heiligthum, welche sie und Thoas
einfach als unmittelbare Handlung der Göttin und Einsetzung zu ihrer Prie¬
sterin anzunehmen haben. Zugleich bemerkt Sauppe, der Dichter brauche
wiederholt in diesem Drama den Ausdruck Herkunft, niemals Abkunft.
Hierzu kann der Zusatz gemacht werden, daß auf Grund des älteren Sprach¬
gebrauchs (den Grimm's Wörterbuch auch noch bei Opitz und noch bei
Schriftstellern des 18. Jahrhunderts nachweist) und kraft der Stelle unseres
Gedichts, wo der Ausdruck Ankunft jene Deutung, die in der Iphigenie
ihm gegeben werden kann, nicht zuläßt, unleugbar Goethe zur Zeit der Ab¬
fassung seiner Iphigenie Ankunft gleichbedeutend mit Herkunft gebraucht
hat. Dieses sei für die Quellnähe der Tiefurter Handschrift angeführt, nicht
um es zu tadeln, wenn man für neuere Leser „Abkunft" drucken läßt. Der¬
gleichen Aenderungen in das zur Zeit Currentere hat Goethe bei Leben Cor-
rectoren und Revisoren zugestanden; auch wohl einmal selbst vorgenommen.
Es ist etwas Aehnliches, daß er die ursprünglich gebrauchte mundartliche
Wortform für den Druck in die schriftdeutsche hat ändern lassen Z. 218 un¬
seres Gedichtes, wo in der Tiefurter Handschrift die Epigrammendichter mit
„Lettichkugeln" schießen, schon im ersten Druck aber hochdeutsch mit
»Lettenkugeln". Diese ursprüngliche Lesart führe ich noch weniger deshalb
an, um den Goethephilologen ihre Herstellung im jetzigen Text zur Pflicht
zu machen, wiewohl ich gestehe, daß für mein Ohr die mundartliche Form
euphonischer ist. Streng diplomatische Kritik ist für die Textreinheit uner¬
läßliche Grundlage, nicht letzte Instanz. Daher könnt' ich es nur billigen.
Wenn die neueste kritische Ausgabe des Neuesten v. Pi. in dem Passus von
der Bühnenkatastrophe Z. 276 anstatt „Und bringt den Alten fast den
Tod" „dem Alten" gesetzt hätte, obgleich gegen alle Druckausgaben und
gegen die Tiefurter Handschrift. Die einzig richtige Sinnbezeichnung geht
doch nur auf den einen Alten zurück, der unmittelbar vorher in Vorstellung
gebracht ist (Z. 271 „Ein Mann, der droben im Reifrock steht, deutet aus
hohe Gravität") und das textlich ursprüngliche den ist provinziellsächsischer
Dativ der Einzahl, nicht der schriftdeutsche der Mehrzahl, für welchen ihn der
Leser nimmt. In den Text ist er wahrscheinlich nur durch den Schreiber
gekommen. Dies gilt auch von dem Fehler in der letzten Zeile: „Und dieser
Lärm dient auf einmal Auf unserm Schauspiel zum Final." Die noth-
wendige Verbesserung „Auch unsrem Schauspiel" hat gegen alle vorausge¬
gangenen Ausgaben erst die von 1840 gemacht. Diese wird nun aber auch
diplomatisch bestätigt durch unsre Tiefurter Handschrift.
Wenden wir uns nun zu den Varianten derselben, die für künftige
Druckausgaben zur Textherstellung gereichen. Z. 261 haben bisher die letz¬
teren alle: „Im Vordergrund sind zwei feine Knaben", die Tiefurter
Handschrift: „Im Vorgrund", was dem Verse besser ansteht. Ebenso gibt
höher oben Z. 136 die vulgata „Wie denn nun fast jede Stadt (Ihren
eignen Mondschein nöthig hat") einen lahmeren, dem munter trollenden
Marktschreier-Vortrag minder gemäßen Vers als in der Tiefurter Handschrift:
»Wie denn nun fast eine jede Stadt".
Erheblicher und nicht ohne Räthselreiz für die Erklärung ist eine Ditto-
graphie am Schluß der ausgezeichneten Versinnbildlichung Wielands. Man
wuß von ihrem Anfang ausholen, um in dem Schwung der Vorstellung die
parodische Schwebe zu empfinden.
V. 189
Ihr kennt den himmlischen Merkur,
Ein Gott ist er zwar von Natur;
Doch sind ihm Stelzen zum irdischen Leben
Als wie ein Pfahl ins Fleisch gegeben;
Darauf macht er durch des Volkes Mitte
Des Jahrs zwölf weite Götterschritte.
Die Stelzen also, die ihn so hoch heben und so weit ausgreifen lassen,
sind doch als eine schlimme Mitgabe seines Götterberufs bezeichnet. Sie
sind auch im Bilde von ungemeiner Höhe; es fällt ihre unverhältntßmäßige
Länge zu der persönlichen des zierlich schlanken Götterboten ins Auge, der,
indem er sich ihrer bedient, seine Glieder an sie klemmen muß und zu vor¬
sichtig gebückter Haltung gezwungen ist. An dieser Entfernung, aus welcher
der an Haupt und Knöcheln beflügelte Gott durch die hölzerne Maschine sich
so angelegentlich mit dem Platten Boden in Berührung setzt und auf ihm
behauptet, fühlt sich um so komischer der Widerspruch, daß Der, dessen Flug
nach den Attributen seiner eigenen Figur Hochhin und freiweg über die Erde
gehen könnte und sollte, seinen Hochstand und Fortschritt von diesem be¬
schwerlichen mechanischen Contact mit dem gemeinen Erdboden abhängig
macht. Nun folgt das, worin er unter dieser Complication seine Genug¬
thuung finden mag:
Auf seinen Scepter und seine Ruthe
Thut er sich öfters was zu Gute.
Vergebens ziehen und zerren die Knaben
Und möchten ihn gerne herunter haben;
Vergebens sagst du, thöricht Kind!
Die Stelzen, wie er, unsterblich sind.
Die Jnsignien der Strafmacht gibt das Gemälde gar wohl zu schauen,
weniger, wie sie so weit hinabreichen mögen, und wie die nothwendig an die
Stelze geklammerte Hand, um mit ihnen zu wirken, sich soll frei machen
können. Natürlicher läßt der Augenschein von der Bethätigung aggressiver
Jugend an dem hölzernen Pedal schlimmen Erfolg erwarten, fo daß die Ver¬
sicherung seiner Unsterblichkeit nicht überflüssig ist. Für den Inhalt dieser
6 Verse kann der Commentator ein belegendes Beispiel finden im dritten
Anhang bei O. Jahr Goethe's Briefe an Eh. G. v. Voigt, Leipzig 1868,
S. 433 ff. Es war in den ersten Monaten des Jahres, in dessen letztem
das parodische Bild aufgestellt wurde, daß Wieland, auf eine im Merkur
hingeworfene Herausforderung in kampfrichterlichem Tone, mit anonymer
Einsendung sie ausnehmender poetischer Proben von Voigt und Herder mysti-
ficirt ward. Er hielt sie für Versuche grüner Knaben, ließ den ersten im
Merkur erscheinen mit magisterlicher Censur und fertigte dann darin den
zweiten, unaufgenommen, noch magisterlicher ab. „Dem noch sehr jungen
und bescheidenen Musensohn habe er vor der Hand nichts zu sagen, als daß
es ganz gut ist, allerlei exereitm still zu versuchen, aber daß man solche
Uebungen nicht drucken läßt. Uebrigens ist bei ihm jetzt die Zeit, wo Ho-
razens Rath eintritt: Vog exsmMrig, Krasea,--ingleichen das bekannte
nuits. tulit ksoityuö xnzps ——- kMmuitML maZistrum. Die jungen
Herren stellen sich die Sache zu leicht vor; aber darum reussiren sie auch so
gut! — Also: Seribits, ?ueri, seribite!" Diese Ermahnung, das Dichten
doch mit mehr Mühsamkeit und Angst zu betreiben, machte den Schluß einer
Klage, daß die Gewogenheit, in der seit Anfang des Jahres verschiedene,
meist ungenannte Korrespondenten den Merkur mit Beiträgen beschenken,
ihn in Verlegenheit setze. Aehnlich die nächsten Verse der Bildererklärung:
Es schaut zu ihm ein großer Haus
Von mancherlei Bewunderern auf;
Doch diesen Pack, so schwer und groß,
Wird er wohl schwerlich jemals los.
Und nun die Vision:
Wie ist mir? wie erscheint ein Engel!
In Wolken mit dem Lilienstengel!
Er bringt einen Lorberkranz hernieder,
Er sieht sich um und sucht sich Brüder.
V. 208
Hier weiß auch der Zuhörer und Zuschauer nicht recht, wie ihm ist. Er
fühlt sich im Horizont von Plundersweilern, empor an dem hochschreitenden
Merkur, hinaufgeklommen in die oberste Region und feinste Luft, Es liegt
ihm am nächsten, daß hier das Erscheinen des anmuthigen Kindgenius (zumal
er auch auf dem Bilde gerade im Zenith des gebückten Flügelbotenkopfes
hervortritt) dem himmlisch irdischen Merkurius gelte. Dieser, dem vor einem
Jahr für seinen Oberon Goethe einen Lorberkranz gesandt, — dieser ist es doch
wohl, für den der holde Knabe seinen Lorberkranz herniederbringt. Aber was
thut er? Er hängt ja doch den Kranz nicht an der Stelzenspitze auf, sondern:
er sieht sich um und sucht sich Brüder. Wäre etwa sein Lilienstengel
nicht der des Engelgrußes, sondern gäbe ihn als den schönen Zwerg Oberon
zu erkennen, kommend mit dem Lorberkranz, den er vor einem Jahr davon
getragen, und sich umsehend nach einem heurigen seines Gleichen? Allein
als Oberon hätten billig ihn Bild und Vers — wie es leicht war — kennt¬
licher gezeichnet. Gesagt wird nur, daß der lieblich grüßende, ruhmverheißende
Engel sucht, nicht, daß er gefunden. Der unmittelbare Uebergang zu den
ferneren Dichterkranzbewerbern scheint vielmehr den im Suchen verlassenen
Genius einfach auf die Bedeutung eines reineren und höheren Himmelsboten
und Kampfrichters als der bestelzte mit Zepter und Ruthe ist, zu beschränken,
der mit seiner schönen Neigung in der Schwebe bleibt. Nun steht aber in
der Ttefurter Handschrift statt dieses: „Er sieht sich um und sucht sich Brüder" :
Er bringt einen Lorbeerkranz hernieder
Und kehrt betrübt zum Himmel wieder.
In dieser Form — auf welchen Theil der angeregten Vorstellungen man
auch die Absicht des Engels beziehe — auf den Bewunderer-Pack, den Wie--
land nicht los wird — auf die Knaben, die ihn vergeblich aus seiner Richter¬
höhe werfen wollen — auf seinen eigenen verdienten Preis, oder endlich
ganz allgemein auf die bisher gezeigten und die serner vorzuführenden Pra.-
deutenden des Parnasses von Plundersweilern: immer bleibt es verfänglich
parodisch, daß unmittelbar nach der Feier von Wieland's göttlicher und
pfalzgräflich kritischer Bedeutung der himmelentschwebende Ruhmesgenius mit
seinem Lorberkranz nur ankommt, um sofort betrübt wieder umzukehren.
Daß Wteland, der unter den Weihnachtskindern der Herzogin Amalie
anwesend zu denken ist, schon an der Aufdeckung der Mayenlaube seiner
Halberstädter Freunde sich schlecht erbaut und nun nach der barocken Vor¬
stellung seiner eigenen Mission in dem leisen elegischen Zug der himmlischen
Ceremonie ein böses Lüftchen gespürt, das ihm Husten zuzog, darf man muth-
maßlich unter der Zeile des goetheschen Vorberichts lesen, wo er sagt: „Dieser
Scherz gelang zur Ergetzung der höchsten Gönnerin, nicht ohne kleinen Ver¬
druß einiger Gegenwärtigen, die sich getroffen fühlen mochten." Da die hohe
Gönnerin das Vergnügen an diesem Bild und seiner gereimten Auslegung
nicht auf den Kreis dieses Abends beschränkt wissen, sondern wiederholt und
noch mit andern Vertrauten genießen wollte, kann sich der Dichter sehr bald
veranlaßt gesehen haben, den Vers 208 zu mildern. An die Stelle der be¬
trübten Umkehr zum Himmel hat er vielleicht schon damals das nicht so ent¬
schieden hoffnungslose Verweilen des Genius im Umsehen und Suchen nach
Brüdern gesetzt, wie es der betreffende Vers in der Druckausgabe des Ge¬
dichtes ausspricht. Aber die nach aller Wahrscheinlichkeit erste Fassung des
Verses, die er in die Tiefurter Handschrift übergehen ließ, ist doch der Auf¬
merksamkeit und des Nachdenkens werth genug, um künftig in jeder sorg¬
fältig hergestellten Ausgabe dem Leser als Originalvariante unter dem Text
mitgetheilt zu werden.
In den Text aber ist die Lesart des Tiefurter Manuskripts, mit der
ich nun die Erhebungen aus ihm beschließe, aufzunehmen ganz nothwendig.
Denn an ihrer Stelle hat schon die erste Druckausgabe keine Variante, son¬
dern blos eine Lücke, die auszufüllen der Dichter auch in allen späteren dem
Scharfsinn der Leser überlassen und ihnen dazu kein weiteres Mittel geboten
hat, als daß es nur Ortsnamen sein können, die zu errathen einerseits die
im Nächstfolgenden angegebene Local-Jndustrie dienen muß, andererseits der
geforderte Reim der Ortsnamen-Endung auf das seyn der vorhergehenden
Zeile. Ebenso nothwendig setzt man dabei voraus, daß der berührten Local-
Jndustrie etwas Ehrenrühriges anhängen müsse; weil sonst die Unterdrückung
der speciellen Ortsbezeichnung ganz unmotivirt bleibt. Es ist vielmehr für die
Einführung dieser Lücke V. 8 schon in den Erstdruck dieselbe vorausgegangene
Rücksicht, Verfängliches zu verschleiern, wie für die der Variante in V. 208
als Ursache anzunehmen. Zunächst scheint es sich freilich nur um eine Gegend
zu handeln, wo viele Vogelbauer für den Verkauf von Vögeln producirt
werden. Faßt man blos dies ins Auge, so ist die Schwierigkett nicht, daß
sich solcher Orte keine, sondern daß sich zu viele nennen ließen. In dieser
Hinsicht war der einzige mir bekannt gewordene Versuch — ich weiß nicht
mehr, welches Commentators — die Lücke mit zwei deutschen Strömen aus¬
zufüllen, umfassend genug. Er meinte, es sei zu lesen: „zwischen Donau
Und dem Rhein." Kein Zweifel, daß in diesem weitgegriffenen Bereich
Vogelbauerverfertiger und Vogelverkäufer mehrfach anzutreffen waren und
sind. Freilich nicht minder in sehr vielen andern Länderstrichen. Vor allem
aber, wenn der Dichter so geschrieben, was konnte ihn bewegen, eine so un¬
bestimmt weite, harmlose Grenzenbezeichnung in der Ausgabe für den Druck
ZU streichen? — Anzüglich kann nur das speciell Bezeichnete sein. In der
That find die Ortsnamen, welche die Tiefurter Handschrift gibt, ganz specielle:
Und zwar mag es nicht etwa seyn,
Wie zwischen Cassel und Weißenstein
N. 8
und sobald ich sie vor Augen bekam (es war vor vielen Jahren) warfen sie
mir ein scharfes Licht über den treffenden Sinn der an sie geknüpften Vor¬
stellung. Er leuchtete mir ein unabhängig von der Bestätigung, die ich
erst vor kurzem von einem Eingeborenen Cassels erhielt, daß zwischen Cassel
und Weißenstein (wie bekanntlich der Hügel heißt, an welchem die Wilhelms¬
höhe liegt) das Strafarbeitshaus gelegen sei, in welchem bis in die neuere
Zeit die Sträflinge mit Verfertigung von Vogelbauern sich nützlich machen
müssen. Dies congruente Accidens macht die Anführung des Dichters ver¬
antwortlicher und neckischer zugleich. Es erschöpft aber keineswegs die An¬
wendung und erklärt auch nicht das Zurückziehen der Ortsbenennung aus
dem zur Verbreitung bestimmten Text. Denn wenn weiter nichts gemeint
War, als eine so glimpfliche Anstrengung und mäßige Verwerthung der Ar¬
beitskräfte von Sträflingen, so durfte laut gesagt werden, wo diese löbliche
Einrichtung bestehe. Aber es ist ein ungleich Schlimmeres, was aus dem
Zusammenhang hervorblitzt. Der Zusammenhang ist dieser. Gleich im Ein¬
gang wird auf die Erweiterung von Plunderswetlern durch neue Gebäude
aufmerksam gemacht. Und dabei gehe es nicht etwa so, wie zwischen Cassel
und Weißenstein, wo man rastlos Vogelbauer aus den Kauf mache und die
Vögel in die weite Welt verkaufe, sondern in die neuen Häuser von Plun¬
dersweilern drängen sich die Leute, um für ihr Geld sich einzumiethen zum
^sen, zum Hinausschauen auf die öffentlichen Vorläufe und um, wie es
nachher weiter ausgeführt wird, als Autoren ihre Werke unter Dach zu
bringen, als Recensenten im Serail der Kritikzu Hausen u. s. w. Die Vogelbauer
find also das contrastirende Gegenbild der Literatur-Institute, die Vögel
Gegenbild der literaturdurstigen und von der Literatur Fach machenden Leute.
Die Letzteren werden nach eigener Begierde und Bestrebung in den Salons,
Gemächern und Hallen von Plundersweilern aufgenommen und ergeht, unter-
gebracht und beschäftigt, etablirt und cultivirt, die Vögel in Cassel wider
Willen in die Käfige gebracht, nicht um hier Gemach und Ergehen zu finden,
sondern um gefangen gehalten und weitweg verkauft zu werden. Indem
Plundersweilern mit der Zunahme seiner Wohnhäuser und Gassen und der
in ihnen sich häufenden Bevölkerung den gehäuften Vogelbauern der kleinen
am stärksten mit Militärgebäuden versehenen Residenz und ihrer Entleerung
von den zur Veräußerung bestimmten Käfigbewohnern entgegengesetzt wird,
ist gleich zu merken, daß hier Logis-Gäste anderer Art als die kleinen Flügel¬
thiere gemeint und sie Vögel nur darum, weil sie gleich mitleidslos allerwege
eingefangen werden, ihre Quartiere gehäufte Vogelbauer nur darum genannt
sind, weil die vielen dichten, engen Behälter sie, der Freiheit beraubt, für
den gezwungenen Export in der Ferne zusammenhalten. Dem harmlosen
Unfug, mit dem die Plundersweiler Ideal-Gebäude und Apparate ihre immer
wachsende Bevölkerung anziehen, verführen, unterhalten, gefangen nehmen,
rasiren, bürsten, ausklopfen, der Stempelgebuhr unterziehen Und ihren Schwär¬
mereien, Magisteransprüchen und Narrenspielen die mannigfaltigsten Tummel¬
plätze öffnen, wird als totalverjchieden der ernsthafte Unfug der landgräf¬
lichen Residenz vorausgeschickt.
Als wo man emsig und zu Haus
Macht Vogelbauer auf den Kauf
Und sendet gegen fremdes Geld
Die Vöglein in die weite Welt.
Daß Goethe von seinem lieben Puppenspielflecken das Neueste aufs Tapet
brachte, war fünf Jahre nach dem Subsioientractat des Landgrafen von
Hessen mit Großbritannien, in Folge dessen der Soldatenfürst die mit Werber¬
netzen und Zwangstricken eingefangenen freien Wandervögel und casernirten
Unterthanen für das liebe englische Geld (ihren Transport mit höchsteigener
gegen Desertion geladener Flinte überwachend) in die röeite neue Welt zu
dem Krieg entsendet hatte, der noch fortdauerte. In dieser Zeit war der
Seitenblick aus den blühenden Vogelmarkt verständlich genug und war^im
Beginn des Vortrags ein Pritschenschlag auf denselben Zwangscommandozopf,
dessen gravitätischer Repräsentant auf der Theaterbühne am Schluß dieses
Vortrags dem Triumph der muthigen über Souffleur und Consident hinweg¬
stürmenden Jungen unterliegt. Dieses rauschende Finale der neuesten Plun¬
dersweiler Ausgelassenheit schlug in einen der Controverspunkte ein, die durch
Friedrichs des" Großen Schrift as la littörg-eure allsmavÄö auf die Tages¬
ordnung gebracht, ebendamals die schönen Geister Deutschlands in Bewegung
setzten, im Anfang des Jahrs auch die Dialektik unsres Dichters zu einem
„Gespräch über die deutsche Literatur" erweckt hatten und noch vor einem
Monat bei dem Schattenspiel des „Midas-Urtheils" von seiner reagirenden
Laune mit einem improvisirten Ausfall gestreift worden waren.
Ich rede hier immer von dem Jahre 1781. Dies ist allerdings im
Widerspruch mit Goethe's eigener über ein Menschenalter später gemachten
Angabe im Vorbericht sowohl zur Druckausgabe als in dem zur Tiefurter
Handschrift, der die Weihnachtsaufstellung ein Jahr früher setzt. Allein schon
Riemer hat richtig bemerkt, daß auf dieses Maler- und Dichterwerk die
Aeußerung der Göchhausen im Brief an Merck vom 11. Februar 1782
zu beziehen ist: „Noch etwas ist diesen Winter zu Stande gekommen,
Wovon ich aber nichts schreibe, weil ich's vielleicht bald selbst schicken kann
und wahre Essenz für dero Magen sein wird-" Ebenso richtig hat Düntzer
den Brief der Herzogin Amalie an Knebel vom Is. Januar 1782 an¬
gezogen, wo es heißt: „Sie werden aus dem Brief der Göchhausen und aus
der Beilage gesehen haben, wie wir unser Leben hinbringen, das
Tableau muß man mit Augen sehen, um sich eine lebendige Vorstellung
davon zu machen. Ich bin ganz stolz, so einen Schatz zu besitzen. Es ist
also unwidersprechlich, wenn Düntzer die Entstehung des Gedichtes erst im
Winter 1781, wie in diesen Briefsteller, so in Goethe's Billet an Frau v. Stein
vom 20.Decbr. 1781 bezeugt findet: „Meine Verse zu der Zeichnung
sind bald fertig. Gestern Abend ging's ganz frisch." Allerdings berechtigt
die Ankündigung der Göchhausen an Merck, und dann wieder der lebensvolle
Brief von Goethe's Mutter, den der Sohn im Februar oder März der Frau
von Stein (II. S. 156) miitheilte, auch zu dem Schluß, daß das Neueste
von Pi. im ersten Vierteljahr 1782 der Frau Rath und den Vertrauten in
ihrer Nähe zur Kenntnißnahme übersendet worden. Mir ist urkundlich be¬
bekannt, daß Bild und Verse gegen Ende Februar der Frau Rath zugingen
und daß damit von ihr zu Anfang März Bölling, Riese und Merck
bewirthet wurden — Merck, der Nichts von der Recitation nachschreiben
und Nichts vom Bild abzeichnen durfte, aber mit lebhafter Ueberraschung
in dem Manne, der auf dem Söller der Kritik die Kleider ausklopft, sich
selbst erkannte.
Dies wäre denn für Goethe's Zeitangabe die Berichtigung, die ich voraus¬
schicken mußte, indem ich aus dem Tiefurter Manuskript nun auch den Vor¬
bericht als eine Original-Variante von jenem der Druckausgabe beigefügten
hier mittheilen will. Wenn der gedruckte die neckischen Anzüglichkeiten der
Weihnachtsaufstellung im Gemach der Herzogin Mutter mit der Einrichtung
dieses Bescheerungsabends bei der Fürstin selbst insofern motivirt, als er
sagt, auf den mannigfach bebauten Tischen und Gestellen habe von den Per¬
sonen des nächsten Kreises der Fürstin „jeder Einzelne solche Gaben gefür.
den, die ihn theils für seine Verdienste um die Gesellschaft belohnen und er-
freuen, theils auch wegen einiger Unarten, Angewohnheiten und Mißgriffe
bestrafen und vermahnen sollten": so ist die Motivirung des Tiefurter Ar¬
guments einfacher. Auch ist in dem letzteren nicht von „Mehreren dieses
Vereins" die Rede, „die sich der Fürstin eine Gabe darzubringen verbunden",
sondern nur von den eigentlichen Producenten, dem Maler und dem Dichter.
Das Ganze lautet:
Nachdem in den letzten siebziger Jahren das „Jahrmarktsfest zu Plun¬
dersweilern" mehrmals mit vorzüglichem Beifall in Ettersburg aufgeführt
worden, so gab das in der Folge Gelegenheit zu scherzhafter Frage, ob von
diesem vielbesprochenen Orte nicht irgend etwas Neues zu vernehmen sei.
Unterzeichneter beredete sich deshalb mit dem immer bereitwilligen Künstler
Rath Krause (sehr. Krauß) und man verfaßte gemeinschaftlich ein allegorisch
satirisches Bild, welches zu Weihnachten 1780 (sehr. 1781) Jhro Durchlaucht
der Frau Herzogin Amalie in wundersamen Goldrahmen von zwei bekannten
Masken, dem Marktschreier und Hannswurst, wie man sie auf dem Theater
gesehen, vorgestellt und von Ersterem das nachstehende Gedicht emphatisch
recitirt wurde.
Weimar, den 6. December 1827.
Der Hannswurst (im gedruckten Vorbericht: die lustige Person) wurde
in den Ettersburger Aufführungen des „Jahrmarktsfestes" und bet der Vor¬
stellung des Bildes im Palais zu Weimar von dem Hoftanzmeister Aulhorn
gespielt. Dieser war es auch, den die Herzogin beauftragte, den Eröffnungs¬
vorgang der Bildvorstellung zu beschreiben, als sie im Januar nach derselben
dem in seiner fränkischen Heimat abwesenden Knebel durch Fräulein von
Göchhausen von dem Scherzgedicht Mittheilung machen ließ: Diese „Bei-
lage" von Aulhorn zum Schreiben der Göchhausen, auf welche sich die Her¬
zogin in der oben angeführten Briefstelle bezieht, ist auch noch vorhanden.
Aus Knebels Nachlaß ist sie an die Großherzogliche Bibliothek zu Weimar
gekommen. Da dieser Bericht der lustigen Person ein gleichzeitiger, somit
viel älterer als der des Dichters ist, und da er den letzteren mit den Zügen
der unmittelbaren Darstellung ergänzt, so sei mir vergönnt, mein kritisches
Referat mit der genauen Wiedergabe auch dieser Urkunde zu krönen:
„Der Rath Krauße hatte auf Angeben des Geheimenraths Göte ein Ge¬
mählde gemacht, welches das neuste zu Plundersweilen vorstellte. Es war
ein großer Mischmasch von menschlichen Thorheiten, welche sich an den ge¬
nanten Ort zutrugen und schien zugleich eine Anspielung auf die Literatur
unserer Zeiten zu seyn. Der Gh. G. hatte Verse verfertigt, welche die Be¬
schäftigung und Würde einer leben Gestalt dieses Gemähldes an's Licht
stellten. Das Gemählde, welches in einen über Manneshohen, Ellivsenför-
niger, mit Satyrsköpfen und verguldeten Schnitzwerke verzierten Rahm ge¬
faßt war, stand in dem schmalen Sälgen, gegen die Thür gewendet, worinne
Man in den Aufenthalt der Medizäischen Venus hineingehet. Es war mit
14 Lichtern erleuchtet und darhinter war ein grünes Tuch angeschlagen,
welches die nehmlichen Dienste that als bei einem Gemählde der Grund.
Die Musik war im Saal. Die Kleidung des Gh. Gödens war rothe
Strümpfe, welche über die Knie giengen, eine große Bürgermeistersweste,
dergleichen Manschetten, Schapeau und Halskrauße, Rock mit großen Auf¬
schlägen, und eine schwartze Perruque. Als der Hertzogin zu wißen gethan
worden war, daß alles bereit sei, gieng der Gh. G. mit mir, der ich die
nehmliche Kleidung anhatte als auf dem Jahrmarkt zu Plundersweilen und
eine Masque vor dem Gesicht, der Hertzogin entgegen; er sagte ihr, er hofte.
Jhro Durchl. würden denen Vornehmen zu Plund. die hohe Ehre nicht
abschlagen, sie ein wenig im Vorbeigehen zu besuchen, da ihnen diese hohe
Gnade an den vorigen Jahrmarkt schon einmahl widerfahren sei; doch ließe
sich der dasige Senat entschuldigen, daß er nicht selbst gekommen sey, Jhro
Durchl. zu bewillkommen, weil seine Glieder alle verheirathet und Kinder
hätten und sich also des Vergnügens ohnmöglich berauben könnten, ihren
kleinen Zöglingen heute Abend Heiligen Christ zu bescheeren; derowegen
hätten sie ihn armen Hagestoltz abgeschickt Jhro Durchl. einzuladen. Damit
war die Anrede aus, ich gab das Zeichen, daß die Musik angieng und die
Hertzogin trat in den Aufenthalt der Medizäischen Venus hinein; sie besah
wie Fr. v. Jöchhauß das Gemählde. Wie die Musik aus war, setzte sie sich,
wobei ich ihr den Stuhl schieben mußte; der Gh. G. nahm die Verse und
einen Stab in die Hand, deklamirte sie und wieß mit dem Stab auf die
Sachen im Gemählde, welche die Verse erklärten. Da dieses vorbei war
wünschte ich, daß das Gemählde noch einmal so groß wäre, auf daß mein
Verstand noch länger auf so eine angenehme Weise ergözt würde: doch iedes
Ding hat sein Ende und meine Beschreibung hat das ihrige auch erreicht.
Graf Reuse trat unter der kurzsichtigen Reaction Belcredi's ins östreichi¬
sche Ministerium; sobald dieser Liebling des Hofes beseitigt war und der
Sachse dessen Sitz eingenommen, sah er sich genöthigt, der damals mächtigen
Strömung des deutschen Liberalismus nachzugeben; die Wiederherstellung ver¬
fassungsmäßiger Zustände erfolgte zwar durch ihn, doch wie sich später zeigte,
um sich selbst festzusetzen, nicht die Verfassung. Wenn er auch in Folge
des vollzogenen Ausgleichs mit Ungarn aus dem cisleithanischen Ministerium
auftrat, dachte er, an die Spitze der Reichsgeschäfte gestellt, doch keineswegs
die Zügel der obersten Leitung aus den Händen zu geben; seinem Ehrgeiz war
volles Genüge geschehen, sein Haushalt bestellt, für'die Umkehr ins reactio-
näre Geleise, die seinen früheren Wendungen entsprach, meinte er später zu sorgen.
Das nach der Revision der Verfassung eingetretene Bürgerministerium lieh ihm
durch die beiden aus Rücksicht für den Hof und für Polen darin aufgenom¬
menen feudalen Elemente Taaffe und Potocki und ihren Advokaten Berger,
eine willkommene Handhabe. Dazu kam die doctrinäre Schwäche des Mi¬
nisteriums. Durch die Gesetze, die theils mit dem verbesserten Reichsstatut,
theils in dessen Ausführung deererirt wurden, glaubte es alles geleistet zu
haben, was man von einer liberalen Regierung fordern konnte, ihre Durch¬
führung und Befestigung sollte sich durch ihren inneren Werth und ihre auf¬
klärende Wirkung mit der Zeit von selbst ergeben; die Bürgerminister hielten
es sogar für ihre Ausgabe, durch allseitige Nachgiebigkeit und eine bis zum
Aeußersten gestattete Entwickelung der feudalen und nationalen Opposition
sich den Preis der vollsten Unparteilichkeit und liberalen Achtung jeder, auch
der feindlichsten Partei zu wahren. Für die Reaction in Czechien, Polen,
Slovenien und Tirol war der Reichsrath der hauptsächliche Stein des An¬
stoßes. Eine Reichsvertretung, worin das deutsche Culturelement die Ober¬
hand behielt, und Gesetze und Einrichtungen beschlossen wurden, die auch
halbrohe oder am Gängelbande des Vorurtheils und Aberglaubens geführte
Nationalitäten der Bildung und Aufklärung gewinnen und zur Abschütte-
lung des alten Joches erziehen sollten, drückte sie wie ein Alp. Das Volk,
die unverständige und willenlose Masse war der Reaction nur so lange
sicher, als diese die Entwickelung seiner geistigen Kräfte hemmen durfte, dies
hieß ihr die Landesautonomie. Nach oben wußte sie ihren Ansichten dadurch
Eingang zu verschaffen, daß sie vorstellte, die verschiedenen Nationalitäten
sträubten sich gegen die Herrschaft der Deutschen, ja gegen jeden Fortschritt
überhaupt, die Emancipation des Bürgers und Bauern vom feudalen und
cleriealen Drucke bedeute den Umsturz der Dynastie. Um nun recht deutlich
zu zeigen, daß auch das sogenannte Volk sich gegen den Reichsrath auflehne,
ließ man es an Umtrieben aller Art nicht fehlen, wobei das eifrigste Bestreben
darauf hinaus lief, dem Reichsrath seine Mitglieder abtrünnig und sein Fort¬
bestehen unmöglich zu machen. Den besten Hebel liehen die Polen, die sofort
gegen ihn eine eigene Stellung und eigene Rechte beanspruchten; ihnen zur
Seite standen die Ritter der alten Wenzelskrone, die störrigen Slovenen, die
ultramontanen Tiroler und andere Duodezstämme. Dr. Giskra erkannte das
einzige Heilmittel in der Wahlreform, oder richtiger gesagt, diese Erkenntniß
drängte sich ihm auf, als durch die Resolution der Polen und die Declaration
der Czechen die Gefahr immer klarer zu Tage trat, daß der Reichsrath
durch Ausscheidung der widerstrebenden Elemente entweder beschlußunfähig
werden, oder zu einem Rumpfparlamente zusammenschrumpfen könnte. Das
einzige Gegenmittel, das dem Minister erlaubt schien, war die Verstärkung des
Reichsraths, die dessen Zerbröckelung unmöglich machen sollte. Anfangs schien
auch der Kaiser damit einverstanden, später erhoben sich dagegen Bedenken selbst
im Ministerrathe, als hiebei die directen Wahlen zur Sprache kamen. Man
konnte darüber nicht schlüssig werden, ob nach dem revidirten Grundgesetze
über die Reichsvertretung den Landtagen bloß die Pflicht oder auch das
Recht der Wahl in den Reichsrath zustehe. Endlich einigte man sich um die
Mitte September v. I. nach zweimaliger Berathung über ein vom Minister
des Innern entworfenes und an einzelnen Stellen abgeändertes Umlauf-
schreiben an alle Länderchefs, wonach die Frage der Wahlreform nicht ohne
Intervention der Landtage gelöst werden sollte. Es drückte die Erwartung
aus, daß sich diese der Reform bemächtigen, alle Detailfragen in ihrer vollen
Tragweite erwägen und darüber bindende Beschlüsse fassen würden. Wenn
man damit den Weg der Verständigung zu betreten dachte, so war unschwer
vorherzusehen, daß der Versuch ein vergeblicher sei, denn wie sollten siebzehn
Landtage, selbst wenn sie nicht aus so verschiedenen Elementen beständen,
auch nur der Hauptsache nach in derselben Anschauung zusammentreffen? In
der That gab es deren einige, welche die directen Wahlen in den Reichsrath
schlechtweg ablehnten, andere, die sich dafür erklärten, aber eine verschiedene
Durchführung vorschlugen; der galizische endlich ließ sie gar nicht zur Sprache
bringen, so daß man dort für Polens Sonderinteressen die frühere Resolu¬
tion von Neuem betrieb. Inzwischen versäumte Graf Beust nicht, die Oppo¬
sition, die mit jedem Tage kecker ihr Haupt erhob, durch seine Preßorgane
gegen den Reichsrath zu schüren. Dabei kam ihm die feudale Fraction
im Ministerrathe selbst zu statten. Die Mitglieder derselben. Taaffe. Potocki
und Berger, traten auf seine Seite, der hierdurch allmälig vorbereitete Zwie¬
spalt kam endlich offen zu Tage. Auch höchsten Orts hatte er gewußt, ernste
Besorgnisse rege zu machen. Bei der am 10. December v. I. gehaltenen
Ministerconferenz stellte der Kaiser an das Gesammtministerium die Aufforde¬
rung, „sich alsbald mit der Frage zu beschäftigen, welche Schritte zu ge-
schehen hätten, um eine Verständigung mit den bisher außerhalb der Ver¬
fassung stehenden Parteien zu ermöglichen, damit die Verfassung durch allge¬
meine Annahme und Betheiligung zur Wahrheit werde." Dieser Wunsch
klang auch in der von Hafner verfaßten Thronrede durch, deren Abänderung
schließlich auch sämmtliche Bürgerminister beitraten. Die schimmernde Phrase,
die den Riß verdeckte, konnte natürlich nicht lange vorhalten, die Minister
mußten die an sie gestellte Frage beantworten; zuerst waren es die fünf:
Giskra. Herbst. Hafner. Pierer und Brestel. die sich in einer Denkschrift dar-
über aussprachen, dann die andern drei, denen die Denkschrift zugefertigt wurde.
Die ersteren betonten zunächst einstimmig die unvermeidliche Nothwendigkeit
einer Verstärkung des Reichsraths, wobei sie jedoch die Art ihrer Ausfüh¬
rung nicht näher bezeichneten, zumal darüber unter ihnen selbst nicht volle
Einhelligkeit bestand, und namentlich Herbst sich dagegen aussprach, „das
Recht der Landtage zu beugen." An Galizien wollten sie administrative Con¬
cessionen machen, alle weiteren führten ihnen zum Föderalismus, den sie mit
Recht in jeder, wenn auch nur provisorischen Form verwarfen. Dagegen
schlugen die anderen Drei die Auflösung aller Landtage und des Reichsraths
mit der Einberufung eines neuen vor, der die Wahlreform sowie die nöthi¬
gen Aenderungen der Verfassung beschließen und hiedurch eine gleichzeitige
Betheiligung der Abgeordneten aller Länder und Stände an seinen Verhand¬
lungen erzielen sollte. Daß diese Ansicht höheren Orts, wo man sich immer
mehr einer erweiterten Länderautonomie und somit dem Föderalismus zu¬
neigte, gnädige Billigung erhielt, war selbstverständlich, allein das Herren¬
haus und bald nachher auch die zweite Kammer entschieden zu Gunsten der
Fünf, was dann das Ausscheiden der Drei aus dem Ministerium zur Folge
hatte. Graf Beust gab deshalb seinen Feldzugsplan nicht auf, er verfolgte
ihn vielmehr, anscheinend als Zuschauer, in der That aber als leidenschaft¬
licher Gegner der Fünf mit verdoppeltem Eifer. Worauf nun Alles ankam,
war die Art und Weise der Wahlreform und hierin bot ihm Dr. Giskra
eine willkommene Blöße. Wie schon vorher bemerkt, hatten die Fünf vor¬
züglich die Verstärkung des Reichsraths im Auge; die Frage über die
Durchführung der directen Wahlen war unter ihnen noch eine offene.
Dr. Giskra hatte darüber eine, wie die Zeitungen sagten, fast sieben Bogen
füllende Schrift ausgearbeitet. Er beschränkte sich auf directe Wahlen aus
den Gruppen für die Landtagswahlen, nur die Zahl der Abgeordneten sollte
verdoppelt, das alte System der halbfeudalen Interessenvertretung aber bei¬
behalten werden. /
Dies hatte zur Folge, daß der Großgrundbesitz mehr als den vierten Theil
der Abgeordneten in den neuen Reichsrath entsenden, die nur ländliche In¬
teressen vertretenden Märkte vereint mit den Städten stimmen und die Wahl¬
bezirke der Landbevölkerung unverändert bleiben sollten.
Das Motiv bei diesem Plane war Furcht. Eine Aenderung der Wahl¬
reform konnte für Böhmen. das in das Abgeordnetenhaus von 203 Mit¬
gliedern gegenwärtig 54, und vielleicht auch für Mähren, das 22 entsendet,
das jetzige Verhältniß der Stimmen in einer für die Deutschen verderblichen
Weise umgestalten, möglicherweise sogar mehr als zwei Drittheile in die sla¬
vischen Hände spielen und zur Abschaffung des Reicksraths und Anbahnung
des Föderalismus führen. Wenn aber das deutsche Element in Oestreich nicht
anders zu halten ist. als durch künstliche Wahlordnungen und halbfeudale
Gruppenbildung, so zeigt sich überhaupt wenig Hoffnung für den Fortbestand
ein^s Reiches, das mehr dem glücklichen Zufall, als der innern Nothwendig¬
keit seine Entstehung verdankt. Sein Bindemittel kann fortan nur ein geisti¬
ges, aber nicht die Erhaltung veralteter Privilegien und Zustände sein, nur
im gemeinsamen Fortschritt zu höherer Entwickelung und Bildung liegt die
Bedingung der Einigung so verschiedenartiger Racen und Volksstämme. Na¬
tionalitäten, deren Idiom noch an die Anfänge der Sprachbildung erinnert,
und der Mittel entbehrt, mit den civilisirten Völkern Europas auf eine
gleiche Culturstufe zu setzen, können kein Recht beanspruchen, kleine Staaten
im Staate zu bilden und seine Machtstellung zu beeinträchtigen; sie müssen
sich schließlich dem Interesse des Ganzen fügen, das im Grunde auch ihr
eigenes ist. Die organischen Einrichtungen in Angelegenheiten der Schule
und Kirche, der Verwaltung und Justiz, der Gewerbe und des Handels wer¬
den auch ihnen zu gute kommen, Freiheit und Wohlstand gewähren. Wenn
das größte Glück dieser nichtdeutschen Racen darin besteht, daß ein Theil von
Böhmen und Mähren czechisch, Galizien polnisch, Slovenien slavisch und an»
dere Duodeznationen in anderen Zungen sprechen, kann man ihnen diese
Nationale Marotte wohl lassen, sie werden doch einmal zur Erkenntniß kom¬
men, wie wenig das hilft. Im Großen und Ganzen müssen sie sich aber dem
Fortschritt der Civilisation fügen, selbst auf die Gefahr hin, manche slavische
Eigenthümlichkeit zu verlieren. Warum griff man denn nicht zurück auf den
Berfassungsentwurf des kremsierer Reichstages, wodurch sich alle Parteien,
die Deutschen nicht ausgeschlossen, befriedigt hielten? Er theilte die westliche
Hälfte des Reiches in Kreise mit besonderer Berücksichtigung der verschiede¬
nen Nationalitäten, und bildete eine Volkskammer aus directen Wahlen der
größeren Orte und der übrigen Bevölkerung. Wenn die Bürgerminister doch
einmal directe Wahlen in ihr Programm aufnahmen, und zur Erhaltung der
Neichsvertretung für nöthig hielten, lag dafür der Gedanke des kremsierer
Entwurfs näher als eine zweite Auflage der Februarverfassung. Eine den
individuellen Verhältnissen Galiziens entsprechende administrative Ordnung
War dadurch nicht ausgeschlossen.
Dr. Giskra hielt aber an den Formen der Februar- und Decemberver-
sassung mit alleiniger Ausnahme der directen Wahlen aus den Gruppen fest,
wogegen Graf Beust auf das angebliche Recht der Landtage zu Vornahme
der Wahl verwies. Da auch der Kaiser ohne die Landtage über diesen
streitigen Punkt nicht entscheiden wollte, erbat Giskra seine Entlassung,
welchem Beispiele nach dem Austritte der Polen und einiger anderer Oppo¬
nenten und dem Scheitern eines Nothwahlgesetzes die übrigen vier Bürger¬
minister folgten.
Damit war nun der großen Ausgletchsaction des Grafen Beust, der
hiefür seine Adjutanten Potocki und Taaffe ins cisleithanische Ministerium
vorschob, ein freies Feld geöffnet. Tagtäglich verbreiteten sich neue Nach¬
richten aus dem Bundeszelt, tagtäglich änderte sich der Feldzugsplan, je nach¬
dem sich ein Project nach dem andern als undurchführbar herausstellte. Zu¬
erst versuchte man es wohl nur zum Scheine mit dem Autonomisten Rech¬
bauer; als dieser abgelehnt, trat das Gerücht einer Nolablenversammlung
auf, die dann einer Besprechung mit den Führern aller Dissidenten und schlie߬
lich der Czechen und Polen Platz machte. Die Einleitung dazu sollte eine
dienstbare Feder der Reichskanzlei in Ur. 118 der Augsburger Allgemeinen
machen, die unter der Aufschrift „die Verfassungsrevision in Oestreich" schlecht¬
weg andeutete, man müsse das geborstene Gebäude der octroyirten Verfassung
abtragen, ein neues an seine Stelle setzen und die bevorstehende Action haupt¬
sächlich in die Landtage verlegen, in denen Oestreich konstitutionelle (?), in der
historischen Vergangenheit wurzelnde Institutionen besitze. Das schien an
das bekannte Rundschreiben zu erinnern, womit seinerzeit Belcredi die Sisti-
rung der Reichsverfassung inaugurirte. Bei dem Werke der Vereinbarung
heißt es aber dann weiter, hat die Krone nur für die Einheit und Macht¬
stellung der Monarchie zu wachen, „sonst kann es ihr gleichgiltig sein, wie
sich die Nationalitäten vergleichen," Daß ein solcher Ausgleich, wenn er aus
Resolutionen der Landtage fußen soll, unmöglich ist, sahen wir schon bei
der Wahlreform, auch können wir den Grafen Beust nicht für so kurzsichtig
halten, daß ihm dies nicht klar vor Augen läge. Der Ausgleich mit Allen
ist also nur ein Vorwand, um zunächst mit den Czechen ins Reine zu kom¬
men. In der That trat diese Absicht durch die abgesondert mit ihren Füh¬
rern eingeleiteten Verhandlungen unleugbar in den Vordergrund.
Ihr Ziel ist das schon in der Declaration vorgezeichnete: die Auflösung
und Neuwahl des böhmischen Landtages, wodurch die Partei Clam-Martinitz
die Majorität im Großgrundbesitz erlangen soll. Daran knüpfen sie eine
Umänderung der Wahlordnung, wodurch nach dem ersten Programm dem
alten Adel und den ezechischen Bezirken fünf, den Deutschen hingegen nur
ein Sechstel der Abgeordneten zufallen soll. Bei den Conferenzen ließen sie
sich nur herbei das Princip der Kopfzahl, die ihnen jedenfalls das Ueber¬
gewicht sichert, und das bisherige Wahlrecht des Großgrundbesitzes anzu¬
nehmen."
Im Weiteren begehrten sie Anerkennung des „böhmischen Staatsrechtes
und Revision des ungarischen Ausgleichs, wonach es dann ein dreitheiliges
Oestreich, bestehend aus Ungarn, Böhmen und dem übrigen Cisleithanien,
und für diese blos eine Delegation zur Behandlung der indirecten Steuern,
Zölle und Rekrutirung gäbe, der Rest der Gesetzgebung mit Einschluß der
directen Steuern fiele den Landtagen zu, der Reichsrath wäre abgeschafft.
Daß es Graf Beust auf die Beseitigung der gegenwärtigen Verfassung
abgesehen, ist jetzt, wenn es auch sein offiziöser Correspondent in der Augs¬
burger Allgemeinen nicht verrathen hätte, nachgerade den Blödester klar.
Ob die Frage in seinem Sinne gelöst oder zuletzt doch sein Ausscheiden aus
der Leitung der östreichischen Angelegenheiten die Folge sein wird, wer
wollte darüber eine sichere Erwartung aussprechen? Nur so viel steht schon
jetzt fest, was über ihn ein warmer Patriot und edler Vorkämpfer der Frei¬
heit bei der Debatte über die letzte Resolution des Herrenhauses offen vor
aller Welt aussprach, — daß ihm ein östreichisches Herz fehlt.
Geschichte Siciliens im Alterthum von Ad. Holm. Erster Band. Leipzig 1870.
Als der nationale Drang unseres Jahrhunderts vor zehn Jahren das
Königreich Italien ins Leben rief, da gehörten selbstverständlich die beiden
größten Inseln des Mittelmeeres mit zu der neuen Schöpfung. Denn sie
waren durch Sprache und Sitte volle und nicht die schlechtesten Glieder der
Nation und waren ja mit den Staaten des italischen Festlandes auch
schon politisch verbunden gewesen. Das Recht aber, mit andern Volks-Bruch-
theilen zusammen sich an der Herstellung eines einheitlichen Nationalstaates
zu betheiligen, wird nicht allein durch die Gemeinsamkeit der Sprache ge¬
währt, es existirt erst und wird — praktisch wenigstens — erst als ein gewon¬
nenes oder als ein zu erstrebendes Glück aufgefaßt, wenn es zugleich aus
der Geschichte beruht, wenn aus der Vergangenheit sich die Zusammengehörig-
kett erweisen läßt. Von dieser Seite die Sache betrachtet, könnte man bei
der wichtigeren und größeren dieser beiden Inseln. Stcilien. bezweifeln, und
Vor allen bezweifeln es ihre Einwohner selbst, ob sie die Verpflichtung
haben, eine Provinz ihres angeblichen größeren Vaterlandes zu bilden, denn
des Rechtes Italiener zu sein, entäußert sich die Majorität der Insulaner
mit Freuden. Schon hinsichtlich der Sprache und Dialectbildung besteht
Zwischen dem Norden und Süden eine durchgreifende Verschiedenheit, stärker
als die zwischen Pommern und Baiern, die einmal im preußischen Landtage
so bedenkliche Aeußerungen hervorrief, so stark, daß es einem ehrlichen Nord¬
deutschen schon passiren kann, den Dolmetscher zwischen piemontesischen Finanz¬
räthen und sicilianischen Dampfschiffscommandanten abzugeben. Noch stärker
ist der Unterschied in Bildung, Lebensanschauung und Sitte zwischen dem
Norden Italiens, der durchaus europäisch ist. und dem Süden und Sicilien,
Welche vielmehr der orientalischen und afrikanischen Cultur angehören, so daß
Man dreist behaupten kann, in den angegebenen Verhältnissen stehe Piemont,
Lombardei, Toscana Deutschland viel näher, als der südlichen Insel. Vollends
nun aber, wenn wir die Perioden der Weltgeschichte vor unserm Blicke vor-
überziehen lassen. Historisch politisch hat Sicilien, alle Zeiten miteinander
verglichen, nur ausnahmsweise zu Italien gehört. Natürlich wäre es Thor¬
heit, die unzähligen Bezüge zu bestreiten, die stets zwischen dem Süden des
Festlandes und der Insel obgewaltet haben, denn Meere und Meerengen
sind keine Grenzen oder sollten es wenigstens nicht sein. Durch die Meer¬
enge von Messina ziehen sich dieselben Kalkapenninen nach Sicilien hinüber,
dieselben Thiere und Pflanzen leben auf ihnen, das Klima und die Producte
entsprechen denen des neapolitanischen Südens. In der Urzeit wanderten
aus der calabrischen Halbinsel die Siculer in das Eiland hinüber, und wie
wichtig gerade sie sür dasselbe wurden, zeigt, daß von den vielen Namen der
Insel der von ihnen herrührende bis heut geblieben ist. Ebenso wohnten die
griechischen Colonien, welche mit ihrer Civilisation das ganze Alterthum und
nicht am mindesten diese Gestade beherrschten, auf beiden Seiten der Meer¬
enge und waren durch gleiche Cultur, durch tausendfältige Verbindungen ver¬
knüpft und fühlten sich wie Glieder Eines Volkes. Später herrschten die
byzantinischen Imperatoren zugleich über beide Ländergebiete, und von Apulien
und Calabrien setzte das reisige Heldengeschlecht der normännischen Ritter¬
herzöge nach der Insel erobernd über. — Gleichwohl sind die Strudel der
Charybdis und die Strömungen des Färö meist nicht eine Völkerbrücke, son¬
dern eine Völkerscheide gewesen und zu allen Zeiten war der insulare Cha¬
rakter der meerumbrandeten Trinacria das vorherrschende Element. Den
Römern hörte Italien bei Rhegium auf und Sicilien ward ihre erste Pro¬
vinz; die Heerhaufen der Langobarden standen am Fretum Sieulum still; die
Araber, welche in Sicilien herrschten, griffen nur auf kurze Zeit und in ge'
ringen Maße auf das Festland über, in der über 400 Jahre währenden
Zeit zuerst aragonesischer, dann spanischer Herrschaft war Sicilien und wäh¬
rend der zweiten Hälfte Neapel durch wenig mehr als durch Personalunion
mit Spanien verbunden und wurde durch Vicekönige regiert, und noch in
bourvonischer Zeit bildete das Felseneiland ein eigenes Königreich. Eine
wirkliche engere Vereinigung mit Italien oder Theilen desselben hat nur drei
Mal stattgefunden, einmal während der kurzen gothischen Periode, dann unter
der normannischen und hohenstaufischen Dynastie, in welcher Zeit sich auch
zuerst die einheitliche Sprache ausbildete, und endlich, wenn man will, zuletzt
unter den Bourbonen. Das Resultat der geschichtlichen Entwickelung, wie
es sich in dem Volksbewußtsein darstellt, ist immer, daß das patriotische Ge¬
fühl sich auf das reZnv beschränkt, worunter jeder Insulaner nur Sicilien
versteht, daß der Italiarw nicht minder wie der Inglese und ?raneess in die
Kategorie der ?orestisri gehört, und die das jetzige Italien durchziehende
Bewegung über die Frage der Autonomie, das Streben, die einzelnen Pro¬
vinzen mit beinahe souveräner Selbstregierung auszustatten und etwa wie
die Mitglieder des seligen deutschen Bundestages lose aneinander zu ketten,
hat ihren vorzüglichen Sitz in dem nach dem Glänze der Hauptstädte lüster¬
nen Palermo. Sicilien hat seine eigene Geschichte, unabhängig von derjeni¬
gen Italiens, vielbewegt, mannigfaltig und inhaltsreich, und man ist daher
vollkommen berechtigt, dieselbe zum Gegenstande besonderer Behandlung zu
wachen, wie es in dem uns vorliegenden Werke geschehen ist.
Es ist eine glückliche Wahl und man kann den loben, der sich das
Studium dieser Insel zu seiner Lebensaufgabe macht. Schon der landschaft¬
liche Charakter muß den wissenschaftlichen Mann dazu anreizen. Denn die
Erfahrung macht jeder der tausend Reisenden, welche von innerem unwider-
stehlichem Drange nach dem schönen Süden gezogen, jährlich die Alpen über¬
steigen, um das Wunderland der Apenninen zu schauen, daß, je weiter sie nach
Süden kommen, um so schöner, romantischer, malerischer, charaktervoller das Land
Wird. Diese gewaltige Zacken- und Linienbildung der Berge und Küsten,
diese tiefe Azurbläue der Luft und des Meeres, diese Farbenpracht der Sonnen-
Untergänge und des Alpenglühens, diese üppige Ergiebigkeit des mit Indien
und Mexico vergleichbaren Bodens gibt es doch nicht in Rom und Florenz.
Sieht man auf großartige Linienform, so gebührt dem Monte Pellegrino,
sieht man auf Majestät, so kommt dem Aetna die Siegespalme zu vor allen
Bergen Italiens. Constantinopel, Stockholm und Neapel gelten als die drei
am prachtvollsten gelegenen Städte, aber in der Bildung der Berge und der
Ebene kommt Palermo über Neapel, es fehlt ihm nur die inselreiche See.
So führt uns denn auch der Verfasser, wohlerkennend, daß einerseits die
Schilderung der Oertlichkeit seinem Buche mehr Interesse verleihen mußte,
daß andererseits auch die tiefen Wechselbeziehungen zwischen Bodengestaltung
und Geschichte der Einwohner überall vollste Beachtung verdienen, zu An-
fang seines Werkes in die geographische Erkenntniß der Insel ein. Von der
Meerenge an. die sich bildete, als die Sturmfluthen in unvordenklichen Zeiten
den Isthmus überwältigten und die Halbinsel zur Insel machten, von dem
Punkte an, wo Scylla und Charybdis ihr menschenverderbendes Werk trie¬
ben, umwandern wir die Küsten, die zackigen Vorgebirge und die purpur¬
blauem Buchten, besteigen dann die Berge im Innern, namentlich die von
den Alten sehr gerühmten Nebroden, den eichenbestandenen Mons Maroncus,
die isolirten Bergkegel Monte Pellegrino. Eknomos und Eryx, verweilen aber
Mit besonderem Wohlbehagen bei dem wunderbaren Feuerberge Aetna, der
uns ja durch die überaus präcisen Forschungen und Messungen des Pro¬
fessors von Waltershausen genauer bekannt geworden ist, als beinahe alle
anderen Punkte unseres Planeten. Wir hören da von den einzelnen Aus¬
brüchen des Vulkans, von den Anschauungen der Alten, von den Eindrücken,
welche die Feuerströme, die Dampfwirbel und die Donner auf die Dichter
Gelehrten und Umwohner gemacht haben. Von den Flüssen, zu denen dann
übergegangen wird, weckt unser Interesse das in musterhafter Regelmäßigkeit
angelegte System des Symäthus. und der Himera. der aus einem Quellensee
in der Mitte der Insel entspringend zwei Arme bildet, einen der nach Süden
ins afrikanische, den andern, der nach Norden ins tyrrhenische Meer abfließt
und so die ganze Insel in eine östliche und westliche Hälfte theilt. Beschrei¬
bungen der reichen Producte, so wie der die große Insel im Kreis um¬
schließenden zahlreichen kleinen vulkanischen Jnselgebiete schließen diesen
Theil ab.
Das geschichtliche Leben dieses merkwürdigen Landes pulsirt auf das
reichste und wie könnte das auch anders sein! Auf der Grenzscheide gelegen
zwischen dem östlichen und westlichen Becken des Mittelmeers und die Ver¬
bindungsstraße zwischen beiden beherrschend hat es die Aufgabe gehabt und
erfüllt, die Berührung der orientalischen Welt mit der abendländischen zu
vermitteln. Nichts ist charakteristischer als die Thatsache, daß, mit Ausnahme
der Aegypter, alle das Mittelmeer umwohnenden Culturvölker diese Insel
besetzt, beherrscht, bewohnt haben; fortwährend war sie der Zankapfel der
Nationen, und es hat Jemand ausgerechnet, daß im Ganzen 33 Stämme
Niederlassungen dorthin geführt haben. Luden doch auch vier herrliche Häfen,
einer (Lilybaeum-Marsala) auf der Westseite, einer auf der Nordseite (Pa¬
lermo), zwei auf der Ostseite (Messina, Syrakus) den fremden Machthaber
so gastfrei ein. Ein einiges und freies Reich war die Insel freilich nur im
Mittelalter, von der Zeit an, da die Araber eine eigene nationale Dynastie
in Palermo gründeten durch die kurze Periode der Normannenherrschaft und
der Hohenstaufen hindurch, sonst war sie entweder in verschiedene Theile und
Völkerschaften zerrissen, wie im Alterthum, oder in ihrer Gesammtheit aus¬
wärtigen Mächten Unterthan, wie in späterer Zeit. Ihre centrale Lage, ihre
Fruchtbarkeit und Schönheit war eben zugleich die Quelle vieler Leiden, aber
sür die Geschichtsschreiber ist es sehr interessant, sich die Schicksale dieses
vielumworbenen und vielbesessenen Fleckens Erde zu vergegenwärtigen. Im
ersten Bande sührt Herr Holm die Geschichte bis zum Beginn des Krieges
zwischen Athen und Syrakus, behandelt also einen Abschnitt, aus welchem
den Gebildeten etwa nur der ltterarische Glanz des Dichterhofes König
Hierons und aus der Urzeit höchstens noch Odysseus Besuch in der Kyklo-
penhöhle bekannt ist. Da füllt sich denn der Raum mit lebensvollen Ge¬
stalten. Schon in der Zeit, als die.Götter noch auf Erden wandelten, ist
Sicilien nicht nur von den Unsterblichen geehrt, die seine Bergspitzen be¬
wohnen, seine Fluren beschützen und sich Jeder seinen Lieblingsaufenthalt
auswählten, sondern die Helden der Vorzeit, wie Herakles. Jolaus und Dac-
dalus der erste Baumeister, Aristqeus, der Sohn des Apollo, Odysseus, der
fromme Aeneas. der von den Furien gejagte Orestes kommen dahin, muntere
Nymphen tummeln sich an den Seen auf den bunten Auen, die schalkhafte
Galatea sucht mit ihrem Geliebten Acis den Nachstellungen des ungestümen
Polyphem zu entkommen, und in den Bergen läßt Daphnis seine Hirten¬
lieder erschallen. Die ältesten Einwohner des Landes sind wilde Kannibalen,
in den Höhlen des Aetna Hausen die Kyklopen und in den Felsgrotten der
leontinischen und katanäischen Felder die Lästrygonen. deren Ankunft aus
der Fremde man nicht kannte. Aber schon in der Urzeit wandern von allen
Küsten, aus allen Himmelsgegenden alte, theils noch halbbarbarische, theils
schon viel weiter geförderte Völker ein. aus Iberien von den Ufern des Si-
coris angeblich die Sicaner, aus Süditalien die Siculer, die auf Flößen über
die gefährlichen Strudel setzen, aus dem meerbeherrschenden Kreta die Mannen
des Königs Minos; von größtem Einfluß war es, als die Barken der er¬
findungsreichen phönikischen Kaufleute landeten und überall Factoreien und
Waarendepots gründeten; mit ihnen kamen Trojaner, Kleinasiaten, vielleicht
auch Palästiner. Die Sikaner saßen im Osten, die Siculer im Westen, die
Phönikier umsäumten die ganze Küste, wo immer ein Ankerplatz, ein Vor¬
gebirge oder ein vorliegendes Jnselchen zu finden war, und drangen auch an
einigen Stellen ins Binnenland vor, die Kreter ließen sich nieder in Minoa
an der Südküste, die Trojaner oder Elymer auf der hohen luftigen Warte
des Eryxberges und in Egesta, und es begann schon damals jene Mischung
von Völkerindividuen, wie sie auf der Erde kaum wieder ihres Gleiches ge¬
habt hat. Ueber dieser tiefsten Schicht lagerte sich dann die zweite, die der
Geschichte der Insel ihre Richtung gegeben hat: zuerst nur durch Stürme,
heißt es, in die Ostsee verschlagen, lernten die Hellenen das wunderbare Land
kennen und gründeten an den Küsten, besonders im Osten und Süden, jenen
Ring von herrlichen Städten, die bald ihre Metropolen, ja fast auch die
glücklichen ionischen Niederlassungen an Umfang und Macht, an Reichthum
und Bildung überflügelten. Nicht ohne Kampf gelang die Besitzergreifung
durch Zurückdrängen der frühern Völker in das Hochgebirge des Innern
oder durch Unterwerfung und Knechtung. Aber aus den westlichen Klippen
ließen sich die Phönikier. die an Karthago einen festen Rückhalt gewannen,
nicht vertreiben; sie hielten an Palermo und Lilybäum mit unüberwindlicher
semitischer Hartnäckigkeit fest, doch war die Insel fortan griechisches Gebiet.
In zweihundertjährigem Stillleben wachsen diese Pflanzungen heran, bis wir
am Anfang des 6. Jahrhunderts zwölf bedeutende und noch einige kleinere
Hellenenstädte wohlgerüstet und innerlich stark auf die Bühne treten sehen.
Freilich sind die nun beginnenden Kämpfe meist unerfreulicher Art, nicht
gegen äußere Feinde patriotische Kriege zu führen gilt es, sondern man kehrt
die Waffen gegen einander, sich in brudermörderischem Kampfe zu zerfleischen.
edle Städte sterben dahin, und zu gleicher Zeit wuchert fast überall das
charakteristische Uebel Siciliens, das Gifttrank der Tyrannis, auf Unter¬
drückung und Grausamkeit gegründet. Aus dieser Zeit der Währung und
des Wirrwarrs entwickeln sich aber herrliche Blüthen der Machtstellung und
einzelne prachtvolle Momente patriotischer Begeisterung; der karthagische
Reichsfeind, zwar von verrätherischen einheimischen Fürsten gerufen, wird
durch das fast ganz geeinigte griechische Sicilien eben so glänzend zurück^
geworfen, wie der prahlerische Perser an demselben Tage aus dem helleni¬
schen Mutterlande, und die Könige von Syrakus und Akragas, obgleich sie
ihre Herrschaft auf den Trümmern der Volksfreiheit errichteten, versuchten
doch Größeres an deren Stelle zu setzen und gaben ein seltenes Beispiel
freundschaftlichen gemeinsamen Wirkens. Ein nationales Westreich sollte ge¬
gründet werden, daher wurde ein Heer und eine Flotte geschaffen, ein
Staatsschatz gegründet; die stolze Seemacht bewährte sich in der Unter¬
drückung der tyrrhenischen Piratensegler; die Fühlung mit den großen
östlichen Centren des Griechenthums, mit Delphi und Olympia, wurde
gepflegt, die königlichen Rosse siegten in den größten Nationalspielen am
Ufer des Alpheios, die Städte wurden zu mächtigen Capitälen vergrößert
und neue gegründet, und damit all dieser Machtentfaltung und Schau¬
stellung die Weihe der Musen nicht fehle, zog man die größten Dichter und
Weisen der Nation aus der Nähe und Ferne heran, die Musenhöfe Hierons
von Syrakus und Therons von Akragas sind' das Großartigste, was das
unabhängige Griechenland in dieser Art gesehen hat. Doch der freie Bürger-
sinn ertrug auch die glänzendste Herrschaft nicht, die Tyrannen wurden ver¬
jagt und es folgt eine Zeit der Sammlung, durch größere Ereignisse nicht
ausgezeichnet; daß aber die Kräfte nicht brach lagen, zeigt der Heldensinn,
der in dem großen Trauerspiel der athenischen Expedition den schwierigen
Feind bezwang. Diese Katastrophe wird den Anfang des zweiten Theiles
bilden, mit dem der Verfasser nicht allzulange zögern möge.
Vielleicht den interessantesten Theil der Geschichte Altsiciliens bildet der
culturhistorische Inhalt derselben, den Herr Holm gleichfalls mit großer Sorg¬
falt bearbeitet hat. Das Material, welches sich zusammensetzt aus den Nach¬
richten der Alten und aus den bis heut erhaltenen Denkmälern und Resten
in Stein, Schrift, Metall und Thon liegt hier ganz besonders reichlich und
nach einigen wichtigen Richtungen sind die Sikelioten Erfinder oder größte
Vollender, Eigenschaften, die allein schon genügen, ihnen einen bedeutenden
Rang in der Geschichte der Menschheit anzuweisen. In sechs inhaltsreichen
Capiteln wird uns für drei Perioden, für die älteste, die erste griechische
und die jüngere Blüthezeit, das farbenreiche Bild der geistigen Strebungen
vorgeführt, zu denen die Keime aus allen Ländern des Mittelmeeres herzu-
getragen waren, um dann zu einem Gebilde von localer Eigenthümlich¬
keit zusammen zu wachsen. In der Vorzeit begegnen wir bereits einem aus.
gedehnten Kreise von Naturgöttern, den Göttern des Meeres, der frucht¬
baren Saaten, der vulkanischen Kräfte, welche die Schicksale der Jnselbewoh¬
ner regierten, vor allen der segenspendenden Göttin Demeter, deren Cult von
dem Verfasser mit Recht schon für jene Zeiten angenommen wird. Andere
Gottheiten brachten die Phönikier mit. zugleich die ihnen eigenthümliche
Culturzweige, wie Handel und Schifffahrt, sie deuteten die Producte ener-
gischer aus, führten neue ein; sie machten die Manufacturen der Weberei,
Färberei und der Glasbereitung einheimisch. Nicht unbedeutende Anfänge
der Baukunst und der Feldbearbeitung stammen aus jener Zeit, zum Theil
an den Namen des Dacdalus anknüpfend; mächtige kyklopische Mauern und
Polygone heilige Bauten sind noch heute dn vielen Punkten sichtbar; die über
das ganze Eiland zerstreuten kunstvollen Felsgrotten, von denen die des
Thales von Jspica die bedeutendsten sind, zeugen von der Sicherheit in der
Anlage der Wohnungen und von der Ehrfurcht, welche Siciliens Urbewohner
ihren Todten bewiesen. Ueber diese vorbereitenden Ursprünge ergoß sich sodann
der Strom des reichbewegter geistigen Lebens der Hellenen, unter dem glück¬
lichen Himmel reisten die mannichfaltigsten Culturblüthen. Der klare Aether
füllte sich mit den Gestalten der olympischen Götterwelt, an ihrer Spitze
stehen die drei schon im Homer mit einander verbundenen geistigsten Götter
Zeus, Apollon und Athene, welche mit Demeter und Persophone zusammen
den Reigen der Mischen Götter führten. Speciell der Insel eigenthümlich
ist die häufige Verehrung der Fluß- und Quellgottheiten. Die ernste
Schwester der Religion, die Philosophie, wurde von den kleinasiatischen Gegen¬
den nach Sicilien verpflanzt, und zwar durch Xenophanes, der in den Stävten
der Ostküste, zuletzt am Hofe Hierorts, seine kritischen Gedichte vortrug, und
durch ihn sowie durch Pythagoras ward eine Anregung gegeben, deren emi-
nente Fruchtbarkeit sich unter Andern in dem Akragantiner Empedocles,
einem der größten und merkwürdigsten Forscher des Alterthums, zeigte. Da¬
gegen ist die Kunst der Rede von dem sür Beredsamkeit außerordentlich be-
gabten Volk der Sikelioten eigentlich erfunden worden. Tisias und Korax
aus Syrakus wurden neben Empedocles die Begründer der künstlerischen
Rhetorik und in unglaublich kurzer Zeit war diese durch den Leontiner Gor-
gias hoch ausgebildet und erfreute sich in Athen der glücklichsten Erfolge.
An Dichtern, lyrischen wie dramatischen, die theils in Sicilien geboren waren,
theils sich dort zeitweilig aushielten und in den Palästen der Tyrannen die
ehrenvollste Stellung genossen, ist wahrlich kein Mangel. Von Sternen erster
Größe sind zu nennen der große melische Chordichter Stesichoros von
Himera, durch die Pracht seiner Worte als Sicilier erkennbar, dann Evi-
charmos, der wenigstens im zartesten Alter nach Megara kam und dort, später
in Syrakus lebte, und der, mögen auch die dunkelsten Anfänge der Komödie
in dem Mutterlande Megara zu suchen sein, doch hier im sicilischen Megara
der älteste Lustspieldichter der Griechen wurde, nachdem ihm schon Aristoxenos
aus Selinunt, Megara's Pflanzstadt, vorgearbeitet hatte. Ihm schließen sich
für dieselbe Gattung an Phormis und Deinolochos, ferner der Mtmendichter
Sophron, alle aus Syrakus. Unter den Poeten des Mutterlandes, die wenig¬
stens für kürzere Zeit schon früher Sicilien besuchten, werden angeführt
Arion, Sappho, Theognis; der fürstlichen Einladung Hierons folgten die
Dichterheroen Simonides, Bacchylides, besonders aber Pindar, der mit dem
erhabenen Schwung seiner Muse das Glück, den Reichthum und die Gast¬
freundschaft der gesegneten Insel preist, während zugleich Aeschylos seine
Perser in dem neu erbauten Theater zu Syrakus aufführte. Dieses reiche
Wehen griechischen Geistes offenbart sich auch in den Werken der bildenden
Künste, und während die literarischen Kunstdenkmäler meist vom Sturme der
Zeiten dahin gerafft sind, hat das feste Gefüge des Kalksteines, den die ein¬
heimischen Baumeister zu prächtigen Hochbauten verbanden, der zerstörenden
Witterung besser widerstanden. Den Reisenden sind wohl bekannt die herr¬
liche Reihe finnischer Tempel in Egesta, Selinunt, Girgenti, Syrakus, an
30 meist wohlerhaltene Gebäude, alle von dorischem Stil und edlem Ge¬
schmack, fast mehr als in allen übrigen Ländern zusammen jetzt noch existiren,
zum Theil mit sculptischen Bildwerken geschmückt, serner die Theater in Egesta,
Syrakus, Catania und Taormina; dazu kommen die bürgerlichen Bauten,
wie die großartigen unterirdischen Wasserleitungen z. B. in Syrakus, Akra-
gas, erst durch neuere Forschung ans Licht gezogen, und die Grabmonu¬
mente mannichfaltigen Charakters. Unter den kleineren Denkmälern sind es
besonders die Münzen, in deren Bearbeitung die übrigen Griechen von den
Sikelioten übertroffen wurden. Sie zeichnen sich nicht nur durch die Rein¬
heit des Metalls und durch ihr Vollgewicht, sondern auch durch die Mannich-
faltigkeit und Sinnigkeit der Typen und durch die künstlerische Vollendung
des Stempels aus und bilden jetzt überall die glanzvollsten Abtheilungen der
numismatischen Sammlungen. Auch für bemalte Vasen ist Sicilien ein
äußerst ergiebiger Fundort geworden, doch bleibt es zweifelhaft, ob diese als
einheimisches Fabrikat aufzufassen sind oder nicht vielmehr als Import¬
artikel aus Korinth und Athen. In dieser Kunstthätigkeit erschöpfte sich,
wie es scheint, die Industrie der Sikelioten, die sonst über die Beschaffung
der täglichen Bedürfnisse wohl nicht hinausgegangen ist; der blühende Wohl¬
stand entstammte immer der Pflege des Ackerbaus und der Viehzucht, auch
der Seehandel beschränkte sich aus die Ausnutzung der gewonnenen Acker-
flüchte; die Schiffe, welche den bedürftigen Ländern das Getreide zuführten,
iraportirten dann wohl orientalische Luxuswaaren und edle Metalle.
So führt uns denn das Buch des Herrn Holm in ein Land voll land,
schaftlicher Schönheit und geographischer Eigenthümlichkeit; es entrollt uns
ein Bild wechselvoller Schicksale einer aus den verschiedensten Stämmen ge-
mischten Bevölkerung und deckt uns ein in allen Gebieten der Literatur und
Kunst bewegtes geistiges Leben auf, das sogar in mehreren Richtungen die
anderen griechischen Volkstamme übertrifft. Es ist nicht zu verwundern, daß
der Verfasser mit sichtlicher Liebe seinen Gegenstand behandelt. Von seiner
wissenschaftlichen Gründlichkeit zeugen die Belege und Erläuterungen, die sich
in dem Anhang vorfinden; das ist eine wahre Fundgrube von Gelehrsam¬
keit, aus der auch der Vorgeschrittenste stets Belehrung schöpfen kann. Und
doch ist es als eine richtige Methode hervorzuheben, daß zuerst die zusammen-
hängende Darstellung ohne gelehrte Beimischung gegeben ist. an der sich das
gebildete Laienpublicum erfreuen kann; das wissenschaftliche Material mag
dann den Fachmann nach Belieben beschäftigen. Die Aufgabe war auch
insofern dankbar, als seit langer Zeit die wissenschaftliche Forschung mit
Sicilien im Ganzen sich nicht viel abgegeben hat. Seit dem Erscheinen des
großen Werkes des Herzogs Serradifalco vor fast 30 Jahren, das auch nur
die architektonischen Reste behandelt, waren außer Amari's Geschichte der
Muselmänner in Sicilien größere Arbeiten nicht erschienen, und so dynkens-
Werth «und einzelne Abhandlungen, wie die Siefertschen, oder die künstlerischen
Schilderungen, wie die von Hoffweiler und Metzner sind, so citiren doch die
Gelehrten immer noch aus Clüver. Daher konnte der Verfasser eine Menge
reifer Früchte brechen und die Freude genießen, viele veraltete Irrthümer
mühelos zu beseitigen. Aber er ist zugleich auch dem Standpunkte der heu¬
tigen Wissenschaft durchaus gerecht geworden, und es scheint überhaupt für
die Erforschung Siciliens eine neue Aera angefangen zu haben, seitdem Sa-
lima's umfassende Vorstudien zu einer gesammten Numismatik begannen,
Schubring sich der Topographie der Insel zugewendet hat und Hartwig mit
der mittelalterlichen Geschichte sich beschäftigt, zugleich haben die Ausgra-
bungen der archäologischen Commission von Palermo einen neuen Aufschwung
genommen und jüngst gefundene Inschriften und Vasen interessiren die
Archäologen des römischen Capitals. Auch ist durch die gesammte trigono-
metrische Aufnahme der Insel seitens des italienischen Generalstabes eine un¬
schätzbare Grundlage für die Erkenntniß der Oertlichkeit gewonnen und der
Verfasser hat diese Arbeiten für fünf Specialkarten, so wie für eine detail-
Urte Angabe der Höhen benutzt. Ueberhaupt scheint er Reisen und sonstige
Aufwande zum Zwecke der Selbstbelehrung nicht gescheut zu haben, wie die
Vorrede zeigt. Und so hat er seine Absicht, das vielfach zerstreute Matertal
für alles, was Sicilien betrifft, zusammenzufassen und dadurch eine Grund¬
lage für weitere Studien zu schaffen, wohl erreicht, ja so zu sagen einen
tdssaurus oirmium auticiuitatum Lieiliae gesammelt. Hieran anknüpfend er¬
lauben wir uns die Bemerkung, daß vielleicht die Anordnung lichtvoller
hätte sein können, damit die Darstellung der Entwickelung, auf welche der
Titel: Geschichte Siciliens, uns anweist, auch äußerlich mehr zur Geltung ge¬
kommen wäre. Es hätte sich empfohlen, besonders durch die griechische Zeit
hindurch, die speciell geschichtliche Reihe der Ereignisse hintereinander zu neh¬
men, anstatt diesen Fluß dreimal durch die Besprechung von Kunst und
Literatur, Religion und Philosophie zu unterbrechen, so sehr auch gerade bei
den Griechen Alles zusammenhängt und von einem Geiste getragen wird.
Auch war es z. B. nicht nöthig, daß in dem fünften Capitel Religions-
Philosophie zuerst so weitläufig von Pythagoras gesprochen wurde, über
dessen Einfluß auf Sicilien nichts feststeht, und daß dann noch in diese
Episode eine andere über die großgriechische Geographie eingeschoben wurde.
Doch soll dieses Uebermaß von Fleiß, das schon durch eine Aenderung des
Titels entschuldigt würde, wahrlich nicht den Werth des Buches beeinträch¬
tigen, wir wünschen vielmehr mit dem Verfasser, daß das größere PublicuM
ein sehr berechtigtes Interesse daran nehme und daß, wer die schöne Insel
zu besuchen denkt, das Buch zum Reisebegleiter erwähle.
Das öffentliche Interesse ist in den letzten Monaten vielfach, sogar von
der Tribüne des Reichstages auf die geschäftlichen Beziehungen zwischen
Schriftsteller und Verleger gelenkt worden. Dies Bl. nimmt daraus Ver¬
anlassung, bisher ungedruckte Briefe Schiller's an seinen Verleger Göschen
mitzutheilen und dabei an den Verkehr unserer großen Dichter mit ihren
Buchhändlern zu erinnern. Die folgenden Briefe enthalten meist geschäft¬
liche Notizen, aber sie geben darin ein deutliches Bild von der Enge des
damaligen Bücherverkehrs und den Bedrängnissen eines deutschen Schrift¬
stellers. Es ist nicht die glänzende Seite eines Dichterlebens, welche dadurch
ans Licht gestellt wird, doch gehört auch sie zum Bilde. — Seit den letzten
Regierungsjahren Friedrich des Großen regte sich in der Nation erhöhte
Unternehmungslust, eine Menge Geschäfte wurden neu gegründet, in den
Städten waren überall Anfänge größeren Wohlstandes und Erwachen einer
jungen energischen Industrie sichtbar, auch dem kleinen Orte fehlte nicht ein
Kaufmann oder Fabrikant, der in neuem Steinhause wohnte und für den
reichen Mann der Gegend galt. Allmählig kam auch dem Bücherverkehr dies
frische Gedeihen zu Gute, eine große Anzahl neuer Buchhandlungen entstand,
namhafte Schriftsteller wurden von den Verlegern umworben und erhielten
höhere Honorare. Es galt für ein großes Eceigniß, daß Göschen an Wie-
land für eine Prachtausgabe der Werke 7000 Thlr. zu zahlen vermochte.
Freilich gerade Goethe und Schiller sollten erst verhältnißmäßig spät von
dieser Vermehrung des Bücherkaufs Vortheil ziehen; Schiller war 17891 wo
unsere Briefe beginnen, erst im Herauskommen und die großen Erfolge Goethe's
sicherten ihm bis zu seiner Verbindung mit Cotta keineswegs hohe Honorare.
Im Jahre 1790 weigerte sich Göschen sogar, die kleine Schrift „Metamor,
phose der Pflanzen" zu drucken, weil er keinen Absatz erwartete, und Goethe,
der mit Recht dadurch verletzt war. mußte sich einen andern Verleger suchen.
Zum Verständniß des folgenden Briefwechsels mögen einige kurze Be-
Merkungen dienen, Georg Joachim Göschen, — ein Vorfahr des englischen
Ministers Göschen*). — Sohn eines Kaufmanns aus Bremen, hatte den Buch-
Handel gelernt und im Jahr 1785, 33 Jahr alt, eine eigene Buchhandlung
in Leipzig gegründet. Er war ohne Vermögen und erhielt einen wesentlichen
Theil seines Betriebscapitals von Christian Gottfried Körner in Dresden,
dem treuen Freund Schillers. Dieser schoß ihm, wie aus einem noch vor«
handelten Schuldschein ersichtlich ist, vom 1. Mai 1785 bis 1/ Mai 87 in
vier Raten ein Capital von 5500 Thlr. Sächsischer Conventionsmünze, nach
heutigem Münzfuß etwas über 6000 Thlr. in die Handlung ein, das Geld
sollte mit 5 pCt. verzinst und erst vom Jahr 1791 mit 500 Thlr. an jeder
Ostermesse zurückgezahlt werden. Aus Briefen Körners an Göschen**) darf
Man schließen, daß den wackeren Körner bei dieser Betheiligung an einer
Buchhandlung vor Allem der Gedanke geleitet hat, seinem Freund Schiller
durch die neue Handlung möglichst hohe Honorare und eine gute Verbindung
mit dem Publicum zu schaffen. Denn Körner schreibt am 6. März 65 an
löschen: „Es äußert sich eine Gelegenheit, Schillern einen Freundschaftsdienst
»zu erweisen und ihn zugleich für unseren Verlag zu gewinnen. Huber hat
»Ihnen schon davon ausführlich geschrieben. Mein Entschluß ist ihm die
»300 Thlr. vorzuschießen, doch muß es das Ansehen haben, als ob es von
-Ihnen geschähe, um den Verlag der Rheinischen Thalia zu bekommen. Ich
„werde Schillern schreiben, daß ich in Ihrer Handlung ein Capital hätte. —
„So ficht et, daß man ihm nicht etwa einen nachtheiligen Handel abnöthi-
„gen will. Sie brauchen ihm nicht eher zu schreiben, bis ich von ihm wieder
„Antwort habe und Ihnen das Geld zustelle."
Schiller erfuhr bald, daß Körner seinem Verleger das Capital vor¬
geschossen, und dieser Gedanke machte ihm die alten kleinen Diplomatenkünste
schriftstellerischer Bedrängniß weniger demüthigend: sanguinische Berechnung
der Ablieferungstermine und seiner künftigen Leistungen, Entschuldigungen
und neue unsichere Versprechungen, ausgestellte Anweisungen, deren Accept
ihm keineswegs sicher erschien, u. s. w. Er hat lange treu zu Göschen ge¬
halten. Dennoch wurde das Verhältniß gelockert. Schiller wurde durch die
größeren Mittel und besseren Offerten dem Cotta'schen Verlag gewonnen,
durch seine Reise nach Schwaben zuerst genähert. Die letzte der folgen¬
den Mittheilungen läßt diesen Uebergang erkennen. Die Briefe beginnen
wie folgt:
Weimar, den 8. Jenner 1789. — Die 16 Dukaten habe ich erhalten
und danke Ihnen werthester Freund. Es ist mir eingefallen, daß das über¬
schickte sechste Heft der Thalia, wenn beyliegende Anmerkungen zur Iphigenie
noch dazu kommen, gegen die Proportion zu groß ausfallen würde, darum
wäre mein Vorschlag, sie ließen in dieses sechste Heft nicht mehr als die
3 ersten Acte setzen und zögen die zwey übrigen, nebst den Anmerkungen in
das siebente Heft herüber, das Sie sogleich können im Druck anfangen lassen.
Damit das sechste aber vollständig wird, sende ich Ihnen hier noch einige
Scenen aus dem heimlichen Gericht, die Nro. 3. nach dem Aufsatz: über die
Freyheit des Dichters u. f. w. eingeschaltet werden. Auch sende ich Ihnen
kommenden Montag noch einiges zum Geisterseher, was noch in das sechste
Heft kommt, ohngefähr 10—12 Blätter. Was den Geisterseher überhaupt
anbetrifft, so sollen Sie gewiß mit der Einrichtung, die ich treffe, zufrieden
seyn. Ich habe nie im Sinn gehabt, ihn ganz in die Thalia zu setzen, aber
der große Vortheil für Sie und für das Werk selbst ist, wenn ich gerade
da abbreche, wo das Interesse und also auch die Erwartung am größten ist.
Dieses ist ungefähr am Ende des dritten Viertels. Das lezte Viertel kommt
nicht in die Thalia, auch werden in dem bisher gedruckten noch hie und da
Veränderungen gemacht. Lassen Sie mich wissen, ob Sie mit Anfang des
Februars mit dem Druck der vollständigen Edition des Geistersehers wollen
anfangen lassen. Sie können sich, was das Papier anbetrifft, auf 24 Bogen
richten, und für die Ostermesse sicher auf das Werk zählen.
Noch vor Ende dieses Monats erhalten Sie das ganze siebente und den
Anfang des 8. Heftes der Thalia zuverlässig. Die Recension der Iphigenie,
die ich diesen Sommer hingeworfen, schreibe ich eben in's reine, und in 10
oder 12 Tagen werden Sie solche erhalten.
Da es mir in dem nächsten halben oder auch ganzen Jahre schlechter,
ding« unmöglich wäre, mich an eine Verbesserung des Karlos zu machen, so
lassen Sie ihn. wenn Sie eine neue Auflage binnen eines Jahres brauchen,
wörtlich nach dem vorigen abdrucken. Vor 6 oder 7 Jahren denke ich an
keine vollständige Ausgabe meiner Schriften, und in dieser Zeit sollen Sie
hoffe ich diese 2te Auflage verschlossen haben.
Haben Sie noch die Güte liebster Freund und senden mir das 4te und
5te Heft der Thalia, weil ich ein Exemplar vom Geisterseher, der Verände-
rungen wegen durchschießen lassen muß. Leben Sie recht wohl und bleiben
Sie mein Freund, wie ich der Ihrige
Weimar, d. 26. Jen. 1789. — Hier Lieber, folgt der Rest des Geister-
sehers für das Sechste Heft. Was an diesem Hefte zuviel ist. kann an einem
anderen fehlen. Ich hätte gern heute noch mehr expedirt, aber die Zeit leidet
es nicht mehr.
Ich wünschte gar sehr, daß Sie hier oder in Rudolstadt könnten drucken
lassen, ihre Censur in Leipzig schränkt mich in mehrern Punkten gewaltig
ein. Wär es nicht möglich Lieber, daß Sie diese Einrichtung träfen?
Ich möchte alsdann zweytens Sie bitten, aber nur wenn Sie nicht
genirt werden, mir vorzuschießen aus Abschlag unsrer Rechnung, wie Sie
Manuscript erhalten, weil ich gar gern einen Posten nach und nach abtragen
möchte, den ich unmenschlich hoch verinteressiren muß. Er beträgt einige
100 Thlr. und wenn ich immer auch nur etwas abtrage, so geht doch von
der Summe herunter. Thun Sie mir also immer die Gefälligkeit und senden
mir, so wie Sie etwas zum Druck erhalten, nur soviel, nicht mehr, als es ge¬
druckt betragen wird.
Die Augen fallen mir fast zu, vor Schlaf. Es ist Nachts um 3 Uhr.
Weimar, den 10. Febr. 89. — Viele Glückwünsche zu dem neuen Ver¬
lagsartikel liebster Freund, wobey ich nur bedaure. daß sie nur ein einziges
Exemplar abgezogen haben, zwey hätten Sie billig der Welt gönnen sollen;
doch hoffe ich daß es nur der erste Theil von einem größern Werke ist, das
hoffentlich aus 10 oder 12 Bänden bestehen, und wovon nächste Michaelis-
Messe der zweyte herauskommen wird. Uebrigens müssen Sie doppelten Ge¬
winn haben, da Sie Autor, Verleger und Drucker zugleich sind, und eine
so gute Presse im Hause haben. Lassen Sie ihn nun in einem hübschen
Deutschen Band einbinden, die Franzbände liebe ich nicht, und fürs
erste lassen Sie ihn nur broschiren. Den Band können Sie alsdann schon
wählen.
Uebrigens — um unverblümt zu reden — freue ich mich in Ihrer Seele
Ihres häußlichen Zuwachses, und nehme den herzlichsten Antheil an Ihrer
Väterlichen Freude. Wie viel Vergnügen verspreche ich mir, Sie in Ihrem
häußlichen Kreise einmal zu überraschen und mich mit meinen Augen von
Ihrem Glücke zu überzeugen!
Meinen letzten Transport von Manuscript werden Sie hoffentlich
erhalten haben, der 6 oder 7 Bogen gedruckt betragen dürfte. Auch das
Ueberschickte habe ich erhalten und danke Ihnen. Ich weiß Sie werden thun,
was Sie können, um mir eine unangenehme Last erleichtern zu helfen.
Gerne gäbe ich 6 pro Cent Interesse, wenn ich die ganze Summe von
200 Thlr. nur auf 3—4 Monate vorgeschossen bekommen könnte.
Ein wichtiger Aussatz, den ich Wieland für den März des Merkur eben
jetzt fertig machen muß, ist Schuld, daß ich Ihnen heute nicht neues Manu¬
script schicken kann. Dieser Aussatz ist aber in wenig Tagen ganz expedirt.
Weimar, den 4. März 1789. — Das Manuscript kam mir neulich
durcheinander, und ich schickte Ihnen einige Bogen aus dem Brouillon an¬
statt der corrigirten und umgeänderten Copie. Schicken Sie beyfolgende
2 Bogen ja sogleich dem Setzer und lassen sich 2 andere von der nehmlichen
Pagina von ihm zurückgeben, die ich mir wieder ausbilde. Hat er schon
davon gesetzt, so kann ich ihm nicht helfen, er muß es cassiren; aber ich will
es auf meine Rechnung nehmen. Denn jener Brouillon ist falsch und nicht
zu gebrauchen.
Sie wollen Hudern ein Exemplar der Thalia schicken liebster Freund.
seyen Sie so gütig und schicken auch eins an Körner und mit nächster Post.
Eilig.
Weimar, d. 16. »8 ?^ März 1789. — Eben komme ich von Jena zurück,
wo ich mich um Dach und Fach umgesehen habe, und dieses hat die Erschei¬
nung des hier folgenden Manuskriptes verzögert. Nun aber giebt es keinen
Auffenthalt mehr. Es fiel mir ein, ob es dem Titel nicht hübsch kleidete,
wenn ein Sphinx als das Emblem des Geheimnisses darauf gestochen würde,
So brauchte es weiter keines Titelkupfers und auch keines großen Künstlers.
Ueberlegen Sie das.
Die Post geht den Augenblick. Nächstens mehr, aäiöu liebster Freund.
Haben Sie die Güte den Einschluß zu besorgen
Weimar, d. 29. März 89. — Sie erweisen mir eine große Gefälligkeit
liebster Freund, wenn Sie die Assignation auf Sechs und Neunzig Stück
Laubthaler, die der Ueberbringer Ihnen vorzeigen wird, acceptiren wollen. Ich
wollte Sie nicht so oft mit Vorschüssen behelligen, und brauche doch zu mei-
ner Einrichtung in Jena gerade jetzt soviel baares Geld, darum habe ich
mich dieses Mittels bedient, das. wie ich hoffe. Sie am wenigsten geniren
wird. Mit der heutigen Post erhalten Sie auch einen Pack mit Büchern und
Manuseript, nebst einem Brief, worin das Mehrere. Leben Sie recht wohl.
Weimar, den 2. April 89. — Einige Minuten nachdem die Post mit
meinem Brief und Paquet an Sie fort war kam der Ihrige mit dem Gelde
Für Ihre Gefälligkett liebster Freund danke ich Ihnen auf das aller-
verbindlichste. Ihre Freundschaft gegen mich ist unbegränzt und ich bin
ordentlich beschämt, sie nicht durch ähnliche Dienste erwiedern zu können!
Nun bin ich in Ungewißheit, wie Sie es mit dem Assigno gehalten
haben, das Ihnen unterdessen präsentirt worden ist. Ich wünschte, daß Sie
es acceptirt haben möchten und mich die schon übersandten 100 Thlr. ent-
weder Ihnen selbst oder an jemand von hier auszahlen ließen. Sie liegen
SU Ihren Diensten bereit. Wenn ich alles zusammen rechne, was Sie an Ma¬
nuseript von mir bisher erhalten haben und bis zur Ostermesse noch von
mir erhalten werden, und alles davon abziehe, was Sie mir bisher aus¬
gezahlt haben, so beträgt das. was Sie zur Messe noch an mich auszuzahlen
hätten, nicht soviel als das Assigno ausmacht. Wenn es Ihnen aber nicht
entgegen ist, so will ich es so einrichten, daß Ihnen Crustus das heraus¬
bezahlt, was ich zu Ende der Messe von Ihnen zuviel erhalten habe, wenn
Sie nehmlich das Assigno acceptirt haben. Folgt dieses mit Protest zurück,
so ist mein bischen Credit hier in Gefahr und macht mir noch Protest un-
kosten. Hätten Sie also nicht acceptirt, so wäre es vielleicht noch Zeit, wenn
Sie gleich nach Empfang dieses Briefes in das Reichenbachische Haus schickten
und sagen ließen, Sie acceptirten den Wechsel.
Machen können wir es alsdann immer.
Dieß in der Eile und nächstens mehr.
Jena, den 30. Juli 1789. — Glauben Sie mir, liebster Freund, daß
ich mir selbst darum Feind bin. daß ich Ihnen nicht habe Wort halten
können, aber die Schwierigkeiten waren über meinen Muth und über meine
Kräfte. Ich denke schon lange auf eine Reparation des Schadens, den mein
Zögern Ihnen verursacht haben kann, und eher werde ich mit mir selbst nicht
ausgesöhnt seyn, biß ich alles wieder gut gemacht habe.
Ein kleines Fragment aus dem Geisterseher bringe ich mit mir nach
Leipzig, damit das Vlllte Heft der Thalia doch fertig wird.
Ich freue mich von Herzen liebster Freund, Sie einmal wieder zu sehen
und Ihre liebe Frau endlich kennen zu lernen. Aber Ihr freundschaftliches
Anerbieten bey Ihnen zu logiren, kann ich wahrlich jetzt, wo ich mich so sehr
vor Ihnen zu schämen habe, nicht annehmen. Sie würden durch Ihre Güte
nur feurige Kohlen auf mein schuldiges Haupt sammeln, und Ihre Tische
und Stühle, Schränke und Pantoffel und das Bett, worin ich schliefe, würden
mir die Pflichten eines Autors gegen seinen Verleger mit schrecklicher Stimme
predigen — mir, dem Missethäter, der sie so freventlich verletzt hat.
Ich lade mich also nur auf eine Tasse Kaffe oder eine Suppe bey Ihnen
zu Gaste — mit der ausdrücklichen Bitte, daß Sie mir ja nicht gegenüber
sitzen, und Ihre Augen, wie Shakespear sagt, ihre stummen Mäuler gegen
mich aufthun, mich an meine Sünden zu erinnern.
seyen Sie mir herzlichst gegrüßt Liebster Fr. und bestellen Sie mir ein
freundliches Angesicht bei Ihrer Henriette. Ewig der Ihrige
Wollen Sie so gütig seyn und diesen
Einschluß baldmöglichst an Körnern besorgen?
Rudolstadt. den 29. September 89. — Nur zwey Worte liebster Freund,
Ihnen zu versichern, daß das Manuscript zur Thalia und zum Geisterseher
innerhalb 8 Tagen gewiß nachfolgen wird. Es beträgt so wenig, daß der
Druck in S biß 6 Tagen zu Stande seyn wird, daß Sie also gar nicht auf¬
gehalten werden. Leben Sie recht wohl und recht viel schöne Grüße an
Ihre liebe Frau.
Rudolstadt, den 13. >?>br. 1789. — Hier liebster Freund das Fragment
aus dem zweyten Band des Geistersehers um das VIII te Heft der Thalia
damit zu schließen. Ist es mir möglich so schicke ich bald etwas zu dem 9ten
nach, welches Huber übernimmt.
Jena, den 12. Jenner 91. —Mine Reise, dieM) während der Weih¬
nachtsferien nach Erfurt gemacht habe und ein Catarrhfieber, das mich dort
befiel und einige Tage bettlägerig gemacht hat, ist Schuld liebster Freund,
daß Sie meinen und meiner Lotte Dank für Ihr schönes schönes Geschenk
erst so spät erhalten. Eine unbeschreibliche Freude haben Sie meiner Frau
und mir damit gemacht; meine Lotte ist voll Ungeduld, es Ihnen mündlich
Zu sagen. Der Termin ist jetzt um. liebster Freund, und Sie können alle
Tage kommen. Mich verlangt sehnlich Sie zu sehen. Vielleicht geht's bey
diesem gelinden Wetter an, daß ihre Jelde ankommt. Eine Zerstreuung
find Sie sich schuldig. Schieben Sie es nicht länger hinaus.
Ich schreibe nichts von Geschäften, weil ich darauf zähle, Ihnen mit
nächstem alles mündlich sagen zu können. Nur noch das einzige: wenn Sie
für diese Ostern ein Heft der Thalia wollen, so geben Sie mir und Mäuler
Nachricht. Ich kann Manuskript in Druck geben.
Jena, den 28. Jenner 91. — Sie waren vorige Ostern so gütig liebster
Freund mir auf den historischen Calender Vorschuß zu thun. — Werden Sie
dieses Jahr die nehmliche Gefälligkeit für mich haben? Im Vertrauen auf
Ihre Güte habe ich einen Wechsel von 60 Seel. Louisdors auf Sie gezogen,
den man Ihnen dieser Tage präsentiren wird. Er ist aus die Ostermesse 1791
Zahlbar, seyen Sie so gütig ihn zu acceptiren und nehmen mir meine Frei¬
heit nicht übel. Die Zahlung geschieht wie bisher an Gabriel Ulmann aus
Weimar.
Für heute sonst nichts liebster Freund. Das sind nach 17 Tagen die
ersten Zeilen von meiner Hand, denn erst langsam fange ich an, mich von
einer hitzigen Brustkrankheit zu erhöhten, die mich dem Tode nahegeführt hat.
Im nächsten Posttag hoffe ich Ihnen das Weitere schreiben zu können. Leben
Sie recht wohl.
Rudolstadt, den 19. Juni 1791. — Schiller wünscht, daß ich Ihnen
werther Freund, diesen Brief mittheilen soll. Schon mehrere seiner Freunde
äußerten den Wunsch den auch Wieland hat. Und nun da es sich mit sei¬
ner Krankheit nicht so schnell ändern will als er hofft, und als wir alle so
herzlich es wünschen; da sie so hartnäckig zu sein scheint, und wenn er zu¬
weilen ganz frey davon ist die Zufälle so schnell wiederkommen, so glaubt
er nicht, daß es wahrscheinlich ist. daß er so viel von der Geschichte des
dreißigjährigen Krieges wird vollenden können, als er sich vorgenommen hatte.
Er Wollte ihnen daher nur diesen Vorschlag thun und Ihnen diese Idee
Wielands mittheilen. Er glaubt gewiß, daß Wieland sich gern dazu ver¬
stehen würde, einen Aufsatz dazu zu geben und auch eine Vorrede zu machen,
die das Publicum zufrieden stellen sollte, zudem könnten Avertißements vor¬
hergehen, so daß es vielleicht noch vorthetlhafter wäre, daß auch Wieland's
Nahme mit genannt würde; und Sie wären auf alle Fälle gesichert. Er
bittet Sie mit der ersten Post wieder um Antwort, weil er alsdann Wieland
darum ersuchen will, der es gewiß thut. Diese Woche war Anfangs so er¬
träglich, einige Anfälle ausgenommen. Theurer Freund ich kann Ihnen nicht
beschreiben, wie weh es mir ums Herz ist, wenn ich meinen geliebten Schiller
so leiden sehe. Es wird hoffentlich bald vorübergehen, und er uns gesund
wiedergeschenkt werden, aber mir wird es so lang, wenn ich mich in meinen
Erwartungen getäuscht sehe, denn manche Tage.sind ganz ruhig und frey
und kaum denke ich es wäre vielleicht vorbey, so kömmt ein neuer Anfall-
So heftig sind sie Gottlob nicht mehr als die ersten, aber sie sind doch so
daß ich viel dabey leide, denn ich möchte meinem Geliebten die kleinsten wie
die größten Beschwerlichketten so gern abnehmen. Sie wissen ja was es ist
Menschen die man liebt leiden zu sehen. Nun leben Sie wohl werther
Freund empfangen Sie von Schiller die besten herzlichsten Grüße. Versichern
Sie der Frau Gemahlin unsere warme Ergebenheit. Meine Mutter und
Schwester tragen mir auch viel Empfehlungen an Sie auf. Empfangen Sie
auch von mir die Versicherung meiner Ergebenheit, und die Bitte um Ihr
gütiges' Andenken.
Rudolstadt, den 30. Juni 1791. — Ich soll Ihnen theurer Freund den
Empfang Ihres heutigen Briefs mit vielen herzlichen Grüßen von Schiller
melden. Er bittet Sie sich noch bis nächsten Posttag oder noch einen zu
gedulden, ehe Sie etwas wegen dem Kalender entscheiden. Ich habe Montag
an Wieland schreiben müssen, und ihn in Schillers Nahmen gebeten einen
Aufsatz zu geben. Da will also Schiller gern Wieland's Antwort erst ab¬
warten, und Sie sollen alsdenn sogleich Nachricht haben. Vielleicht hat sich
Wieland eines anderen besonnen. Ich soll Sie recht sehr bitten, sich nicht in
Unterhandlungen wegen der Aufsätze einzulassen, zum wenigsten nichts fest
zu bestimmen, bis Schillers nächster Brief ankömmt. Uebrigens sollten Sie
ja ruhig seyn lieber Freund, es würde gewiß so gehen, daß Sie keinen
Schaden haben sollten. Vorige Woche war Hofrath Starke hier, der giebt
uns angenehme Aussichten für die Zukunft und hat Schiller vorgeschlagen
ins Karlsbad zu gehen, et hofft viel davon, da es sich immer deutlicher zeigt,
daß das ganze Uebel nur aus dem Unterleib entspringt, daß dies auch auf
den Nerven wirkt und daher die Krämpfe, auch kommen. In 12 bis 14 Tagen
-hoffen wir nach Karlsbad zu kommen und freuen uns herzlich Sie da zu
finden. Hoffentlich ist die liebe Fr. Gemahlin auch mit Ihnen und es wird
Mir die Freude ihre Bekanntschaft zu machen. Tausend herzliche Grüße von
Schiller, und von mir die Versicherung meiner wahren Achtung und Et.
geberdete.
Rudolstadt, d. 3. Juli 1791. MM- der Frau^I — Ich habe nunmehr reiflich
bey mir überlegt, wie es mit dem Kalender für dieses Jahr anzufangen seyn
Möchte, meine Gesundheit ist noch immer so ungewiß, daß ich für zwei ganze
Monate mir nichts bestimmtes von Arbeit vorschreiben und versprechen kann.
Gegenwärtig bin ich nicht einmal so weit, ein Buch oder nur einen Brief
zu lesen, vtelweniger zu schreiben. Vielleicht stellt mich das Karlsbad, wohin
ich in 6 Tagen reise früher wieder hier, als ich jetzt hoffen kann; aber auch
dann machen es mir meine Aerzte zur Pflicht, mich noch eine Zeitlang der
Athen völlig zu enthalten. Aber von September an bis in die Mitte des
November werde ich Ihnen unfehlbar 10 oder 12 Bogen« von der Fort¬
setzung des dreißigjährigen Kriegs liefern können. Von tiefet Zeit an
bis zum Neujahr sollte ich denken müßten sobald Sie Mehrere' Setzer,
Drucker und Buchbinder nehmen viele Exemplare expedirt werden, die
übrigen nachgeschickt werden können, wobey Sie nicht so viel zu ris-
quiren haben, da das Buch Fortsetzung ist. Die Pünktlichkeit auf Neu¬
jahr fertig zu seyn, die Ihnen im vorigen Jahde durch die Umstände vor-
geschrieben war, ist nunmehr weniger nöthig und da meine Krankheit den
Wenigsten Lesern unbekannt seyn kann, so darf man auf einige Nachsicht des
Publicums sicher zählen. Was Ihnen durch diese Verspätung des Manu-
scripts und die daraus entstehende Vermehrung der Arbeiter an Unkosten
Zuwachse, bin ich erbötig zu gleichen Theilen mit JlMn zu tragen. Ich rathe
Ihnen als Freund, sich ja in nichts anderes einzulassen, was nicht Fort¬
setzung des dreißigjährigen Krieges und weder durch Wieland noch' Mich ge¬
arbeitet ist, es läßt sich schlechterdings von solchen Spekulationen nichts er-
warten, sollten einige Autoren Ihre Vorschläge angenommen haben, so sehen
Sie wie Sie sich zurückziehen können, weit weniger wagen Sie, wenn der
Kalender dieses ganze Jahr suspendirt werden müßte, gesetzt, daß ich Mich
vor Michaelis nicht erhöhte hätte. Sie verlohren dann einige Hunderte In-
teressen, im ersteren Fall würden Sie offenbar tausende verliehren. Dieß
lieber Freund ist vorsetzt meine einzige und bestimmte Erklärung und ich
glaube, daß Sie am besten dabey fahren werden, wenn Sie ihr. folgen. Für
die Erklärungen der Portraits sorge ich, und werde sie einigen Schriftstellern
von meiner Bekanntschaft übergeben, mit deren Arbeit Sie zufrieden seyn,
sollen. Diese sowohl als die Erklärung der Vignetten dürften 4 bis 5 Bogen
betragen, und also den Mangel der Geschichte des dreißigjährigen Kriegs
in etwas ersetzen helfen. Diese sollen Sie einen Monat früher haben, als
ich Ihnen Manuskript schicken kann. Ihren Vorschlag wegen der Thalia
nehme ich mit Freuden an. und verspreche mir das beste von ihrem künfti¬
gen Abgang. Darüber so wie über das andere mündlich mehr, wenn wir
uns in Karlsbad sprechen. Wir alle empfehlen uns Ihnen u. Ihrer lieben
Frau aufs beste, wünschen Ihnen beyden herzlich den besten Erfolg vom Bade,
und meine Schwägerin sagt Ihnen den verbindlichsten Dank für das schöne
Geschenk der Wielandischen Schriften. Ihr ewig treuer Freund
. Erfurt, den 27. August 91. — Herzlichen Dank, liebster Fr., für die
Nachricht, die Sie uns von Ihrer glücklichen Ankunft geben. Möchten nun
die vielen Opfer, die Sie Ihrer Gesundheit gebracht haben, von erwünschter
Wirkung seyn. Ich trage Ihr Wohlbefinden aus dem Herzen wie meines
Bruders, und ich weiß, daß auch das meinige Ihnen nahe geht. Mit meiner
Gesundheit bin ich im Ganzen wohl zufrieden. Die Beklemmungen, ob sie
gleich keinen Tag ganz ausbleiben, sind minder heftig und halten weniger
lang an. Der Unterleib hält sich auch gut und der Geist ist heiter. Aber
mit der Arbeit will es jetzt noch nicht recht fort, denn kein Gedanke will
mir festhalten. Allgemach suche ich mich indessen wieder mit der Materie
zum dreißigjährigen Krieg vertraut zu machen und hoffe, daß Sie nicht
über 10 Tage auf die ersten Blätter warten sollen. Mit der Thalia lassen
Sie mir nur so lang Frist, bis die Bogen zum Calender expedirt sind. An
Aufsätzen hätte ich zwar sür 12 Bogen Vorrath, aber ich möchte gern für
das Erste Stück eine vorzügliche Auswahl treffen; dazu gehört aber, daß ich
einige derselben retouedirs.
An Wieland hat meine Frau bereits geschrieben und ich selbst werde es
auch in 5 oder 6 Tagen thun, wenn ich ihn nicht mündlich spreche. Treiben
Sie einstweilen nur Hudern und Körnern, daß diese sich fördern.
Zum Geisterseher will ich noch einen oder zwei Briefe Fortsetzung geben,
.wenn Sie ihn neu auflegen. Schicken Sie mir doch ein Exemplar, das ich
durchschießen lassen kann, so wie auch von Carlos, aber schlechte Ausgaben,
sonst wärs Schade.
Schreiben Sie mir lieber Freund, ob es Ihnen möglich ist, nix flach
Michaelis 800 Thlr. zu schicken oder zu asstgniren. Soviel habe ich nach ge¬
haltener Berechnung nöthig, mich leidlich zu arrangiren. Ich weiß wohl, daß
mir von dem diesjährigen Calenderhonorar kaum die Hälfte gebührt und
daß ich durch diese vielen Vorschüsse sehr tief bei Ihnen in die Kreide komme, aber
Sie erlaubten mir, mich ohne Umstände an Sie zu wenden und Sie werden
mir's eben so aufrichtig sagen, wenn diese Summe Ihnen zu groß ist.
Vielleicht helfen mir der neue Carlos, der Geisterseher und die neuen Thalias.
doch vor Ostern mit Ihnen quitt zu werden.
Die herzlichsten Grüße von meiner Frau, die sich mit Freuden an die
Zeit unseres Beysammenseyns erinnert. Ob wir sobald Leipzig und Dresden
sehen werden, weiß ich jetzt noch nicht, sowie überhaupt die nächste Zukunft
wir noch ganz ein Geheimniß ist. Noch ists unentschieden, wo ich diesen
Winter zubringen werde, aber es kann sein, daß mich die Umstände begün-
Agen. mein Schicksal nächstens auf einen bestimmten und dauerhaftern Fuß
zu setzen. Viele Grüße von uns beiden an Ihre liebe Jelde.
Erfurt, den 22. September 91. — Ich habe Sie lange warten lassen
liebster Freund, aber ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schwer mir eine
zusammenhängende Arbeit geworden ist. Gegen diese 10 oder 12 Blatt und
die 10 die ich Ihnen noch liefere ist der vorige Calender ein Kinderspiel ge¬
wesen. Auf den Sonntag schicke ich wieder 6 Blatt ab. und alsdann mit
der nächsten Post den Rest. In allem werden Sie nicht über 20 oder
22 Blatt von mir erhalten können. Schreiben Sie mir doch wie's mit
Wieland, Körnern und Huber ist. und ob diese die Setzer in Arbeit ge-
setzt haben.
Künftige Woche gehe ich nach Jena zurück und werde Ihnen von da
aus weiter schreiben. Meine Lotte empfiehlt sich Ihnen und Ihrer lieben
Frau aufs beßte. Der Ihrige von ganzem Herzen
lOhne OrtZ d. 29. September 91. — Liebster Freund. — Hier wieder einige
Hefte, daß der Setzer nicht ohne Athen ist. Sechs Blatt erhalten Sie Montag
früh. Schreiben Sie mir nur in ein paar Worten, ob ich noch einige Post-
tage so fortmachen darf, oder ob Ihnen daran ligt, daß ich schließe? Leidet
es meine Gesundheit, so setze ich diese Arbeit noch 8 Tage lang fort, und
Sie erhalten 2—3 gedruckte Bogen mehr; die Materialien liegen mir längst
da und ich brauche blos sie in Ordnung zu bringen. Sie hätten dann
8 Bogen, und ich könnte die Geschichte bey einem interessanten Vorfall, beym
Uebergang Gust. Adolphs über den Lech. beschließen. Adieu liebster Freund.
Wann soll ich Ihnen die Vorrede schicken? Ewig der Ihrige
Ihr nächster Brief findet mich schon in Jena.
Erfurt, den 1. October 91. — Liebster Freund! Diesen Augenblick reise
ich nach Jena ab. und werde Ihnen von da aus Uebermorgen 4 neue Matt
schicken, die nicht schnell genug fertig geworden sind. Biß Mittwoch denke
ich das mir gesteckte Ziel erreicht, und unsern Gustav an den Lech gebracht
zu haben. Alles wird, den heutigen Transport ausgenommen, nicht über
9 Blatt betragen, also in allem etwa 47—48 geschriebene, woraus Sie schwer¬
lich mehr als 6 gedruckte Bogen machen können. Schicken Sie mir doch, die
ersten Bogen, ich bin neugierig wie Sie es eingerichtet haben.
Leben Sie wohl lieber Göschen. Ich reise gesünder von hier als ich her¬
gekommen bin und hoffe das Beste von der Zukunft. Ewig der Ihrige
Jena, den 3. Nov. 91. — Soeben liebster Freund erhalte ich von un¬
serm Erhard Ihren Brief nebst Büchern und den 300 Thlr. wofür ich
Ihnen aufs verbindlichste danke. Aber mit diesem Geld ist entweder von
Ihrer oder meiner Seite ein Versehen vorgegangen, welches Sie aus meinem
von Erfurt aus geschriebenen Brief, falls Sie ihn noch haben, ersehen werden.
Ich bat Sie nehmlich mir S00 Rthlr. zu schicken, weil ich nach gemachtem
Calcul gerade so viel nöthig hatte, um mich einigermaßen zu rangiren.
Sollte ich wirklich, welches mir doch kaum wahrscheinlich ist, mir nur 300
in allem von Ihnen ausgebeten haben, so hätte ich mich gar üöel berechnet,
und ich müßte Sie sehr bitten, mir die übrigen 200 Thlr. ja, wenn auch erst
auf Weyhnachten nachzusenden, da ich darauf so sicher als auf mein Eigen¬
thum gerechnet habe. Schrieb ich Ihnen aber vielleicht schon damals, daß ich
nur 300 Thlr. für jetzt und 200 aus Neujahr ausbilde, so ist alles in Ordnung
und ich kann bis dahin warten. Ich habe gerade jetzt nicht Zeit genug,
Ihren eigenen Brief von dem Septbr. nachzusehen, worin Sie die Summe
wiederholen , um die ich bat und die Sie schicken wollten. Finde ich ihn
aber so wird es sich entscheiden. Jetzt ersuche ich Sie nur, mir bald mög¬
lichst wegen dieses Geldes ein paar Zeilen zu schreiben, denn dieser Artikel
beunruhigt mich.
Evst. seit einer Stunde habe ich Ihren Brief erhalten, und sogleich geht
die Post., Ich kann Ihnen also heute das übrige Ihres Briefes nicht be¬
antworten, aber Montags wirds geschehn. seyen Sie doch so gut und
schicken mir- mit erster Post den Achten Heft der Thalia und 3 Exemplare
von dem Zwölften. Letzteres braucht besonders Erhard sehr nöthig. Leben
Si e wohl.
Jena, den 28. November 91. — Mir däucht, liebster Freund, daß wir
aus den ersten Zeiten des 30jährigen Kriegs noch 5 oder 6 Situationen für
Kupferstiche nachhohlen können, da eine so reiche Nachlese übrig geblieben ist.
Manßfeld gibt noch Stoff zu einem hübschen Stück, so auch Christian von
Braunschweig. Jener in der Action bei Fleurus gegen die Spanier oder an
der ungarischen Grenze, wo er seine Truppen entläßt. Siehe Calender 242.
Christian wie er bei Höchst den Mayn passirt Siehe 217. Wallensteins Ver¬
schwörung verdient noch ein Kupfer, besonders da ich sie erst noch bei der
dritten Lieferung zu schildern habe. Der Künstler soll den Moment wählen.
Wo die Officiere aufgefordert werden, das rebellische Papier zu unterschreiben.
Wallensteins Ermordung, wenn sie edel vorgestellt wird, und einen Moment
Vorher, eh man ihm wirklich die Hellebarde in den Leib rennt, verdient ein
eigenes Kupfer. In der Kupfererklärung bezieht man sich dann aus das
Lurxorts Stück in Eger, das wir gesehen haben.
Bethlen Gabor aus Siebenbürgen sollte billig auch sein Kupfer haben.
Die Sachsen vor Prag geben gleichfalls ein hübsches Blatt. Ein vortref.
liebes Blatt giebt Ferdinand II. noch als Erzherzog wie er in Wien be-
lagert wird, wie die Kugeln in sein Zimmer fliegen und ihn ein Rebell
beim Wamms faßt „wirst Du unterschreiben?" Mg, 152. Gustav's Ueber¬
gang über den Lech, den ich mit Interesse beschreiben werde, muß auch ein
Kupfer haben. Sein Aufenthalt in München gäbe gleichfalls eine gute Si-
tuation. Vorzüglich aber empfehle ich Ihnen diejenige Situation, wo Fer¬
dinand III. in der Egerischen Gegend im Lager von zwei Schwedischen Reu-
tern beinahe gefangen wird. Diese 2 Reuter drangen in aller Frühe biß
an sein Zelt, stiegen ab, tödteten den Leibtrabanten und wollten eben jetzt
in des Kaisers Schlafgemach dringen. Er war noch im Schlafrock und kaum
aufgestanden. In dem entscheidenden Augenblick aber wird einer von den
Schweden erstochen, der andere gefangen. Dann denke ich sollten wir auch
einmal den Versammlungssaal der Gesandten zu Münster oder Oßnabrügg
vorstellen, und zwar in einem interessanten Moment, etwa bei Abschließung
des Friedens und nähmen es dann zum letzten Blatt. Zu Porträts, will
ich nächstens noch einige ausfindig machen, auch eine Idee zum Titelkupfer
ausdenken.
seyen Sie ganz unbesorgt lieber Freund. Mit Anfang des Jenners
nehme ich den 30 jährigen Krieg vor und trenne mich nicht mehr davon biß
er fertig ist. Unterdessen habe ich für die Thalia vorausgearbeitet und schon
gegen sieben'.Bogen an neuen Aufsätzen liegen.'Z Mit EndeZMaysZ bin ich,
wenn meine Gesundheit nur so erträglich bleibt, ^wie jetzt, gewiß init dem
Calender fertig und dann ists ja noch eben recht, sich über die Reformation
zu entscheiden.
Von der neuen Thalia habe ich noch keinen Probebogen erblickt und
warte begierig daraus. Ein wahrer Trost ist mir's, daß ich sie von der
Censur srey weiß, und die Correctur zu Gesicht bekomme. Daß Sie sich darzu
verstehen wollen Niethammer die 8 Louisd'or halbjährig zu geben, dafür
danke ich Ihnen sehr. Sie werden den Nutzen gewiß finden, wenn ein Mann
von Ordnung und Fleiß sich der Thalia annimmt. Für den Karlos wüßte
ich kein besser Kupfer als entweder die Verhaftnehmung des Karlos
durch den Marquis, oder die ganze Gruppe des Königs, der Granden und
des Prinzen am Leichnam des Marquis.
Vom Geisterseher hat der Erbprinz von Schwarzburg neuerdings ein
großes Blatt gezeichnet, welches nach allgemeinem Urtheil verdient, gestochen
zu werden. Er erlaubt es und wenn sich wollen, so schicke ichs Ihnen zu.
Es erspart Ihnen eine Zeichnung.
Meine Frau bittet Sie, den Einschluß an Marianen zu besorgen. Die
Sacontala wird uns eine sehr angenehme Lectüre sein, wenn Sie sie schicken
wollen. Dann bitte ich Sie mir mit ehester Gelegenheit den Jdrts von
Wieland, Home's Critik von Schatz neu übersetzt und Kant's practische Ver¬
nunft zu übersenden.
Nun adieu lieber Freund. Lassen Sie mich bald einen Calender sehen.
Jena, den 16. December 91. — Die 200 Thlr. habe richtig erhalten
lieber Freund, wofür ich Ihnen bestens danke. Auch die Bücher sind an¬
gekommen. Nun muß ich Sie noch bitten, mir den Chemnitz vom 30 jährigen
Krieg, die Uemoirss von Archenholz und den Loläat Lueävis, deutsch, fran¬
zösisch oder latein in Leipzig aufsuchen zu lassen. Kann ich diese Bücher
geliehen erhalten, desto besser, sonst will ich sie aus Rechnung behalten. Gleich
in 8 Tagen gehe ich mit Leib und Seele an die Fortsetzung und höre nimmer
aus, biß ich schreiben kann: Ende. Mit dem Titelkupfer eilen Sie nicht.
Göthe erfindet vielleicht eins, wie er es zu dem ersten Band meiner Ns-
moires gethan hat. In 10 oder 14 Tagen schreibe ich Ihnen mehr darüber.
Ueberhaupt finden sich wohl noch einige interessante LuMs zu Kupfern, und
da die Künstler doch nicht alle 12 auf einmal erfinden können, so haben wir
ja doch noch einige Wochen Frist.
Die Thalia habe ich jetzt gesehen, Papier sowohl als Schriftform sind
sehr schön, nur mit dem Setzer bin ich nicht zufrieden. Die Zeilen fallen
abscheulich krumm ins Auge, und ob ich gleich jede Strophe, die nur etwas
krumm ist. unterstreiche, und bei jeder Correctur Vorstellungen mache, so wird
in diesem Stück nichts geändert. Mischen Sie sich also selbst darein, wenn
Sie der Sache abgeholfen wünschen. Auch geht es erschrecklich langsam.
Zwischen zwey Correcturen verlaufen immer vier auch fünf Tage, und doch
ist so wenig Text auf einer Seite. Sie werden sagen, daß ich ungeduldig
bin. und daß man mirs nicht recht machen könne. Aber es ist mir dießmal
um das Buch selbst und um das Geld das es Ihnen kostet.
Adieu für heute lieber Freund. Von Herzen wünsche ich Ihnen ver-
gnügte Feyertage und ein wenig Lust von Ihren vielen Geschäften.
Ludwtgsburg. den 4. Febr. 94. - Ich säume nicht, Ihnen mein liebster
Freund, die Weikardischen Schauspiele zu übersenden, aber ohne irgend
eine Veränderung. Es ist eine kitzltche Sache mit anderer Leute Schriften.
Sobald ich darin korrigire, so drücke ich dadurch demjenigen, was ich un.
corrigirt lasse, meinen Stempel aus und erkläre es stillschweigend für gut.
Das ist aber nicht immer thunltch, und deßwegen lasse ich mich lieber gar
nicht darauf ein. Es würde eine Anmaßung von mir seyn, wenn ich eine
Vorrede zu einem Buche schriebe, an dem ich gar keinen Antheil gehabt, und
ich würde für die Güte des Products einstehen müssen, welches nicht angeht.
Alles was ich, Ihnen zu gefallen, thun kann, ist. zuzugeben, daß Sie in einer
Vorrede zu diesen Stücken sich in Ihrem Namen auf ein Privaturtheil von
Mir. das ich in einem Briefe an Sie geäußert habe, beziehen, und gleichsam
auf Ihre eigene Verantwortung eine Stelle aus meinem Briefe, die ich hier
beylegen will, abdrucken. Auf diese Art verschwindet der Schein von An-
maßung. als wollte ich dem deutschen Publicum meinen Geschmack zur Richt,
schnür vorschreiben.
Daß mein Brief an Sie verloren gegangen, ist mir sehr ärgerlich; denn
Hom seit zwei Monaten erwartete ich die bestellten Schriften. Ueber Thomas
Jones und Goethes Schriften schicken Sie mir eine Note, weil diese nicht
für mich sind. Alle aber werden auf meine Rechnung gesetzt. Sobald nur
irgend eine gute Laune zur Revision sich einstellt, vollende ich Anmuth und
Würde. Bisher fehlte es mir ganz an der Stimmung, die zu einem solchen
Geschäft nöthig ist. Unter den xiaelluraeranten zum Wteland notiren Sie
mich auch für die Ausgabe im großen Octav. Als Freund vom Hause will
ich mir bloß gute Kupferabdrücke dazu ausgebeten haben. Ihren historischen
Calender von diesem Jahr wünschte ich doch auch zu sehen.
Gegen die Mitte Aprils denke ich mich wieder auf die Rückreise zu
machen. Alles befindet sich bei mir wohl, und ich bin seit etlichen Wochen
auch um vieles erträglicher. Ihre Frau grüßen wir herzlich.
^Dazu Beilage^ „ . . Hier folgen endlich auch die Stücke zurück, über welche
Sie mein Urtheil wissen wollten. Ich kann mich bloß des Eindrucks überhaupt
erinnern, den sie bey einer etwas flüchtigen Durchlesung auf mich machten.
Sie sind nicht ohne Interesse geschrieben und verrathen keine ungeübte Hand.
Sowohl durch Erfindung als Dialog zeichnen sie sich sehr zu ihrem Vor¬
theil vor dem andern größten Theil der dramatischen Producte aus, womit
wir jede Messe heimgesucht werden. Der Dialog besonders hat viel Leichtig¬
keit und Lebhaftigkeit und er wird sie noch mehr haben, wenn die geschickte
Verfasserin sich zu einigen Aufopferungen verstehen will. Der gute Ge¬
schmack zeigt sich oft mehr durch das was verschwiegen, als durch das, was
gesagt wird. Manche Scenen dürfen blos verlieren und nichts empfangen,
um interessant zu sein, und das ist soviel ich weiß mehr, als man von den
mehresten Producten der dramatischen Muse in jetziger Zeit rühmen kann. Es
beweist, daß es der Verfasserin nur noch an einigen Eigenschaften sehlte, die
sich durch Studium erwerben lassen, nicht aber an solchen, die kein Fleiß und
keine Kunst demjenigen ersetzen kann, dem die Natur sie verweigert. Und so,
glaube ich, wird es blos aus etwas Strenge gegen sich selbst und auf Be¬
richtigung ihres Geschmacks an guten Mustern bey der Verfasserin ankom¬
men, um uns künftig mit sehr glücklichen Producten in diesem Fache zu be¬
schenken . . u. s. f."
Stuttgart, den 4. Mai 94. — Meinen letzten Brief, lieber Freund,
worin ich Sie bat. eine Assignation an Sie von 200 Rthlr. auf die Mitte
des Junius zahlbar, die Herr Cotta aus Tübingen Ihnen Präsentiren wird,
zu ane.puren, werden Sie hoffentlich erhalten haben. Wahrscheinlich läuft
während dieser Zeit noch das Geld aus Coppenhagen ein, daß Sie diese-
200 Rthlr. davon abziehen können. Ich brauchte Geld und wußte es nicht
anders anzugreifen, wenn ich nicht meinen Calltas an Herrn Cotta über¬
lassen wollte.
Uebermorgen werde ich meine Rückreise antreten und Ihnen also um
fast 40 Meilen wieder näher seyn. Ich bin voller Erwartung wie es mit
Wielands Schriften ergangen ist, denn das müssen Sie doch wohl jetzt
schon wissen.
Herr Cotta wird Ihnen sagen, daß ich ihm zu einem dramatischen
Stücke Hofnung gemacht habe, aber ich habe mir und Ihnen dabey das
— Ich habe gegenwärtig Lust und Zeit, mit
Anmuth und Würde wichtige Abänderungen vorzunehmen, und einige Aeuße-
rungen Kants darüber, in der 2 ten Ausgabe seiner Religionslehre geben mir
eine schöne Veranlassung dazu. Lassen Sie mich wissen, ob Sie jetzt eine
zweyte Ausgabe davon veranstalten wollen; und ob bei Göpferdt oder in
Ihrer eigenen Druckerey.
Wie viel Stücke Thalia sollen noch erscheinen? Ich bin dafür, daß wir,
außer dem welches in Arbeit ist (dem Vierten aus d. vorig. Jahrgang) aller-
höchstens noch 2 nachliefern, und dann die Thalia begraben. Der Abgang
ist nicht so, daß Sie mehr dafür thun können, und mir trägt sie zu wenig
Vortheile; besonders wenn ich eingesandte Stücke bezahlen und die meisten
selbst machen muß.
Hier übersende ich Ihnen auch das Werk meines Vaters über die Baum.
Zucht, welches zuverlässig in dem Fache, worin es handelt, etwas vorzüg¬
liches ist. Können Sie es. 1 Carolin für den Bogen, brauchen, so steht es
, Ihnen zu Diensten. Lassen Sie mich bald Ihren Entschluß wissen. Immer-
dar der Ihrige"
Jena, den Z0. November 94. — seyen Sie doch so gut. lieber Freund,
und lassen nachsehen, ob nicht eine Handzeichnung, den Abriß einer Baum-
schule betreffend, bey Ihnen liegt. Ich schickte Ihnen solche voriges Früh¬
jahr mit dem Manuscript meines Vaters und bekam sie nicht wieder zurück.
Weil das Manuscript seit der Zeit nicht gebraucht wurde, so wurde daran
nicht mehr gedacht; und jetzt, da es gedruckt werden soll, bin ich derselben
benöthigt.
Ich höre alles Gute von Ihrer Unternehmung, obgleich ich nichts davon
sehe. Seien Sie versichert, daß der gute Erfolg Ihrer Angelegenheiten mich
von Herzen erfreut.
Wenn Sie nächste Ostern eine medicinische Schrift über sMomiseus
Fieber (von der ich Ihnen vielleicht schon geschrieben habe) und die einen
vortrefflichen Arzt zum Verfasser hat. in Verlag wollen, so sagen Sie mir
Zwey Worte darüber in Ihrer Antwort. Ich kann über dieses Buch dis-
pontren und ich weiß, daß es ein guter Artikel ist. Es wird ein Alphabet
im Druck betragen und der Verfasser, ein Reichsländer, verlangt für das
Ganze nur 23 Carolin Honorar,
Schillers Erklärung den Don Carlos betreffend ^ohne Ort u. D.^I:
Ich habe überlegt, daß ich Göschen, ehe ich noch Cotta's Meinung weiß,
nichts positives proponiren kann, und beantworte also bloß die allernächste
Anfrage des Carlos und Geistersehers wegen.
, Ueber den letztern ist G. vollkommen Herr und Meister, denn ich weiß
gegenwärtig an dem Inhalte nichts zu ändern, und will ihn bloß, der Sprache
wegen, noch einmal durchlaufen. Vielleicht daß ich das kleine Fragment,
den Abschied, noch hinein flechte.
Eine neue Auflage des alten Carlos ist mir jetzt freilich nicht lieb, weil
ich erstlich anno 98 eine Umarbeitung davon herausgeben will und dann
dieses Stück gern mit der Sammlung meiner übrigen Schauspiele in Zu¬
sammenhang setzen möchte. Da ich diese nun an Cotta versprochen habe,
Göschen aber auf den Carlos das erste Recht hat, so kommt es darauf an,
in wieweit beide zu diesem gemeinschaftlichen Zweck miteinander einverstanden
seyn wollen. Dieses wünsche ich von Herzen und habe auch, wie ich Ihnen
gestern gesagt. Cotta in dieser Absicht an Göschen einmal gesendet, zu mei¬
nem großen Verdruß aber erfahren, daß das, was sie vereinigen sollte, sie nur
entzweyt hat.
Vielleicht sind beyde jetzt geneigter einander Gerechtigkeit wiederfahren zu
lassen und verstehen sich zu einer mehr gemeinschaftlichen Unternehmung, gern
will ich meine Hände dazu bieten. Auf jeden Fall aber bleibt Göschen sein
Recht aus d. Carlos, den ich lieber von meinen anderen Stücken trennen, als
wider seinen Willen einem andern geben will.
DaS preußische Staatsrecht auf Grundlage desdeutschen Staats¬
rechts. Dargestellt v. Dr. Hermann Schulze, Kronsyndicus u. Mitglied des
Herrenhauses, ort. Professor der Rechte zu Breslau. Leipzig. 1870.
Die fachwissenschaftliche Behandlung des Staatsrechtes liegt für gewöhn¬
lich außerhalb des Gesichtskreises dieser Blätter. Doch statuiren sie Aus¬
nahmefälle und ein solcher gibt heute die Feder in die Hand. — Denn wer
die Bewegungen der deutschen wissenschaftlichen Arbeit. vomMandpunkte na¬
tionaler Bildung beobachtet, wird jede Leistung in einem Spectalfache, die
eine neue Bahn eröffnet, sorgfältig zu registriren haben, und das Buch, welches
Wir besprechen wollen, erhebt und erfüllt diese Bedingung.
Es ist die erste systematische und eingehende Darstellung eines Gegen¬
standes, der bisher fast nur Versuchs- und andeutungsweise behandelt wurde.
Wer die früheren Arbeiten gleicher Aufgabe nicht aus eigener Erfahrung
kennt, mag sich aus der unserem Werke vorangeschickten literargeschichtltchen
Einleitung überzeugen, daß es bis zu dieser Stunde noch an einem solchen
Werke gefehlt hat. Rönne's bekanntes Buch gleichen Titels, jetzt schon in
dritter Auflage, ist etwas weit anderes, nämlich eine übersichtlich geordnete
Materialiensammlung, von größtem Werth für bestimmte practische Zwecke,
für den Politiker und Rechtsgelehrten von Profession, ebenso auch eine un¬
schätzbare Vorarbeit für die systematische Doctrin, und insofern steht auch
diese neue bahnbrechende Arbeit auf den Schultern jenes verdienstvollen Vor¬
gängers. Aber Theorie und Praxis begnügen sich nicht mit einer bloßen
Sammlung und Sichtung des Materials: es gilt für beide überall einen
festen principiellen Standpunkt zu den einzelnen Materien, die zugleich ebenso
^ele „Fragen" sind, einzunehmen. Selbstverständlich wird durch einen solchen
einheitlichen Standpunkt sofort auch eine bestimmte Doctrin ausgeprägt, und
^sofern tritt dieses Buch, wie jedes andere, das auf einem wissenschaftlichen
Principe beruht und mit wissenschaftlicher Methode operirt aus der neutralen
Dbjectivität eines bloßen Sammelwerkes zu seinem Nachtheile heraus. Rönne
^^d und muß von Männern aller Parteien und Doctrinen dankbar be¬
nutzt werden, dieses neue preußische Staatsrecht wird, wir hoffen es. von
sehr vielen wegen der unleugbaren Vorzüge selner formellen Durcharbeitung
und Darstellung mit Beifall aufgenommen werden, aber wenn sie mit der
Grundauffassung seines Verfassers von dem Wesen des Staates im allge¬
meinen und des preußischen insbesondere nicht einverstanden sind, muß seine
Eigentliche Wirkung eine beschränktere sein. Nichtsdestoweniger, setzen wir
sogleich hinzu, doch eine bedeutende. Denn es gehört zu seinen Vorzügen,
es mit streng wissenschaftlicher Begründung und Tendenz eine sehr durch¬
sichtige, allgemein verständliche Formengebung verbindet. Jeder gebildete
^eher kann sich mit ihm befreunden und weil ein unleugbares Bedürfniß auch
'Ur eine stets wachsende Menge von Nichtjuristen vorhanden ist. über staats¬
rechtliche Fragen im Zusammenhang und gründlich belehrt zu werden, darf
^ auch nach dieser Seite hin, wo Belehrung zu verbreiten nach unserer Med-
"ung ebenso verdienstlich und jedenfalls von unmittelbareren Nutzen für das
G°nze -ist als in dem Kreise der Fachgenossen, eine bahnbrechende Leistung
genannt werden.
Es könnte seltsam erscheinen, daß unsere allzeit schreibfertige Gegenwart
bis heute es noch zu keinem Buche über preußisches Staatsrecht gebracht hat,
und es liegt nahe, über die Ursache davon nachzudenken. Man würde sehr
irren, suchte man sie in gewissen zufälligen Thatsachen, z. B. darin, daß un¬
sere preußischen Juristen, wie die Erfahrung zeigt, überhaupt eine relativ ge-
ringere literarische Thätigkeit entfalten, als ihre Zahl und das Interesse ihres
Berufsfaches erwarten läßt. Ueberdies gilt dies auch nur von den eigentlichen
Practikern; die juristischen Docenten an den preußischen Universitäten pro-
duciren durchschnittlich ebenso viel wie ihre anderen deutschen College». Der
Grund liegt tiefer, in der unfertigen Natur des preußischen Staatswesens
überhaupt, wie es sich in seiner geschichtlichen Action bis zu dem Jahre 1866
darstellt. Deutsch in allen seinen Grundstoffen und im deutschen Geiste
herangewachsen, konnte der Staat doch den Stempel einer Eigenart nicht
verleugnen, eben jenes specifische Etwas, das ihn zu einem preußischen machte.
Aber wie weit dieses Etwas die ursprünglichen Elemente umgewandelt habe
oder umzuformen berechtigt sei, darüber war sich der Staatsgeist selbst, so
weit er sich in seinen berufenen leitenden Organen, aber auch nicht weniger
in dem eigentlichen Material des Staates, im Volke, darstellte, völlig unklar.
In einer schüchternen Passivität, die von allen Uebelwollenden und vielen
Ungeduldigen, als eine an Feigheit streifende Indolenz verstanden wurde,
vegetirte er, kaum durch die Katastrophe von 1849 etwas aufgerüttelt, keines¬
wegs aber zur Selbstbesinnung gebracht bis zu seiner neuesten glorreichen
That, der Zertrümmerung des zusammengeflickten Bundes, der sich den Namen
„deutsch" anmaßte, und der Schöpfung eines in Form und Gehalt neuen
Staatsgebildes, das eben deshalb der im Ganzen correcte. wenn auch im
Einzelnen noch unfertige Ausdruck seiner Eigenart ist. Wer hätte es unter¬
nehmen wollen, jene staatliche Zwittergestaltung des Preußens vor 1866 auf
feste Begriffe zurückzuführen oder aus ihr eine systematische Doctrin für die
Zukunft abzuleiten? Es mußte auch hier wie überall die That, aus dem
Bedürfniß des Staats geboren, der Reflexion die Augen öffnen, damit sie
sehen und urtheilen lernte. Heute vielleicht kann man ein preußisches Staats¬
recht construiren, weil der preußische Staat sich als solcher festgestellt hat,
vorher wäre es eine Danaidenarbeit gewesen.
Der Verfasser gibt uns in seiner wissenschaftlichen Thätigkeit selbst eine»
anschaulichen Beweis für das eben gesagte. 1866, also vor der Entschei'
dungsstunde, veröffentlichte er sein umfänglich angelegtes System des deut¬
schen Staatsrechtes. Damals erschien nur die erste Abtheilung, die geschicht¬
liche Einleitung enthaltend. Die anderen sind nicht gefolgt, wohl aber im
Jahre 1867 eine Umarbeitung dieser Einleitung, in welche schon der volle Ge¬
halt der weltgeschichtlichen Ereignisse von 1866 aufgenommen ist. Wir haben
Wer dieses Buch zu seiner Zeit in diesen Blättern gesprochen und besonders
darauf hingewiesen, daß es als eine genetische Darstellung des eigentlichen
Wesens des preußischen Staates der Gegenwart im Verhältniß zu den Be-
strebungen des Nationalgeistes einen ihm zusagenden Staat hervorzubringen,
aufzufassen sei. Heute ist der Standpunkt des Verfassers ganz und unum-
Wunden der specifisch-preußische und das allgemeine deutsche Staatsrecht dient
ihm nur als die historische und doctrinelle Basis für seinen Neubau gerade
so wie die früheren politischen Experimente in Deutschland nur als die Fun-
damente des preußischen Staatsgebäudes zu betrachten sind.
Einstweilen können wir freilich nur aus einem relativ beschränkten Theile
auf die Ausführung des Ganzen schließen. Denn der Verf. gibt uns in
einer ersten Abtheilung — immerhin ein Octavband von 220 Seiten —
Zunächst 1) eine allgemeine Einleitung in den üblichen Rubriken (Definition
der Aufgabe. Quellen und literarische Hilfsmittel für den Gegenstand, wber-
ficht des einzuschlagenden Weges), 2) einen sog. allgemeinen Theil „Vom
preußischen Staate überhaupt" wieder in zwei Unterabtheilungen. die erste
»staatsrechtliche Genesis", die zweite „der Staat der Gegenwart", 3) ein
Bruchstück des speciellen Theiles und zwar, was sich aus der Natur der
Sache von selbst an die Spitze stellt, die Lehre vom Königthume und der
königlichen Gewalt in Preußen.
Wir können uns selbstverständlich nicht auf eine systematische Analyse
dieses in seiner Beschränkung doch sehr inhaltreichen Stoffes einlassen, aber
wir versagen es uns nicht, wenigstens Einzelnes hervorzuheben, was uns zur
Charakteristik des Buches besonders dienlich scheint. Hierbei fällt der Blick
Zuerst auf die „staatsrechtliche Genesis" überschriebene Abtheilung. Sie ent-
hält auf etwa hundert Seiten eine Geschichte der Entstehung und Ausbildung
des preußischen Staates der Gegenwart, die für sich allein schon dem ganzen
Werke einen bleibenden Werth verleiht. Denn so wenig es an preußischen
Geschichten fehlt, und so sehr sich auch die Bearbeitung derselben dadurch vor
den Geschichten anderer deutscher Staaten auszeichnet, daß sie, ganz abgesehen
von der Vergangenheit — Pufendorf „Friedrich Wilhelm d. G." — noch in
der Gegenwart von mehr als einem politisch gründlich geschulten und scharf¬
blickender Manne unternommen worden ist — wo fände sich unter den
neuesten Darstellern deutscher Staatsgeschichte einer, der mit Stenzel oder
Droysen, oder auch mit dem neuesten preußischen Geschichtsschreiber Eberty
nur entfernt zu vergleichen wäre? — so ist es doch eine andere Auf¬
gabe, die Geschichte eines Staates vom Standpunkte des Politikers zu schrei-
ben, als die ursprünglichen Keime seiner originalen Art. ihr Wachsthum
und ihre Umbildung zu der heutigen Gestalt, mit strengster Beschränkung
auf diesen einen Gesichtspunkt zur Anschauung zu bringen. Dies hat bisher
noch Niemand versucht und es mag mit daher rühren, daß selbst bei gebil¬
deten Kennern der deutschen und speciell der preußischen Geschichte nicht
immer klare Einsicht in den Bildungszuwachs ihres Staates angetroffen
wird. Wie es in dieser Hinsicht in dem weiteren gebildeten Publicum stand,
bedarf keiner Ausführung.
Wir hoffen aber, daß jeder aus dieser exacten, lichtvollen und re¬
lativ so knappen Darstellung die Lücken seines Wissens möglichst ergänzen
möge. Der Verfasser hat es verstanden, die beiden Hauptmomente, welche
gründliche Forschung und klares Denken als die eigentlichen Lebensmo¬
mente in der Bildungsgeschichte des preußischen Staates mit Nothwendig¬
keit herausfinden muß, seine leibliche und geistige Zugehörigkeit zu dem all¬
gemein deutschen Wesen und seine von Anfang an daneben und darin noch
feststehende Eigenart in ihrer gegenseitigen Beschränkung und Bedingung, in
ihrer fortwährenden Wechselbeziehung scharf und sicher herauszuarbeiten, und
er hat damit nicht blos für seinen speciellen Zweck, sondern für das Ver¬
ständniß der deutschen geschichtlichen Entwickelung überhaupt sich ein unbe¬
streitbares Verdienst erworben. Dabei können wir den Wunsch nicht unter¬
drücken, daß es ihm oder einem anderen Berufenen gefallen möge, uns an
der Stelle dieser Skizze eine mit farbenreichen Pinsel ausgeführte preußische
Staats- und Rechtsgeschichte zu geben. Deutsche Staats- und Rechtsge¬
schichten besitzen wir in fast erschrecklicher Masse, gute und minder gute zu¬
sammengerechnet. Doch auch an wirklich guten ist kein Mangel und ein
halbes Dutzend solcher kann Jeder an den Fingern herzählen. Gewiß ließe
sich auch hier trotz des Guten noch etwas Besseres schaffen und ebenso gewiß
ist es, daß bet alledem manche Seiten der deutschen rechtsgeschtchtlichen Ent¬
wickelung noch immer nur kärglich, manche so gut wie gar nicht dargestellt
sind, z. B. die Geschichte der deutschen privatrechtlichen Institute in ihrem
Verhältnisse zu der Culturgeschichte des deutschen Volkes.
Trotzdem aber dürften wir noch auf eine Reihe von Jahren mit dem
bisher geleisteten uns genügen lassen, wenn wir dafür die Kraft unserer
Rechtshistoriker auf die Bestellung des relativ so viel wichtigeren und jeden¬
falls fruchtbareren Feldes, das wir bezeichnet haben, hingewendet sähen. Daß
es bis jetzt nicht geschehen ist, mag aus demselben Grunde erklärt werden,
aus dem sich der gänzliche Mangel systematischer Arbeiten auf dem theoreti¬
schen Gebiete des preußischen Staatsrechtes erklärt. Heute aber ist dieser
Grund hinfällig geworden, Jeder, der nicht vorsätzlich die Augen schließt,
muß sehen, zu welchem realen Ziel diese preußische Staatskraft seit den
Zeiten des großen Kurfürsten hinstrebte. Denn es würde in der Hauptsache
genügen, wenn man eine solche historische Darstellung der preußischen Staats¬
entwickelung mit diesem Vater des preußischen Staats der Neuzeit begönne.
Was vor ihm liegt, hat, wie in seiner Art Droysen geistvoll und energisch
zeigt — allerdings nicht blos archäologisches, sondern theilweise ein ganz
reales Interesse für die Gegenwart, während es seit dem ersten Tage des
großen Kurfürsten keine Phase in der preußischen Geschichte gibt, deren
lebendige Nachwirkungen wir nicht noch heute, sei es zu unserem Glücke, sei
es zu unserem Schaden empfänden.
Die verständige Einsicht in das geschichtliche Werden gibt überall und
so auch hier das eigentliche Verständniß des Gewordenen und den Schlüssel
seiner Zukunft. Vergleichen wir den systematischen Theil unseres preußischen
Staatsrechtes, so weit er bis jetzt vorliegt, also die Lehre von der königlichen
Gewalt in Preußen mit dem, was uns die preußische Geschichte über die
Thätigkeit der concreten Lenker des Staates sagt, so ist es nicht schwer zu
begreifen, daß das preußische Königthum etwas ganz anderes sein muß, als
etwa das englische, oder, um auf deutschem Boden zu bleiben, das von
Napoleons Gnaden gekrönte Particularfürstenthum. Kein besonnener Denker
kann sich dieser Einsicht verschließen, aber sie fut).r,t noch lange nicht dazu,
den monarchischen Absolutismus in dieser oder 'jener Form als den nor-
malen Zustand des preußischen Staatswesens aufzustellen. Im Gegentheil
ist es gerade die gewissenhafte und verständige Betrachtung der Geschichte,
aus welcher sich die allmälig vollzogene und noch lange nicht abgeschlossene
Umwandlung und Beschränkung des monarchischen Absolutismus durch den
Hinzutritt und die Theilnahme anderer, aus dem Volke stammender Elemente
an der Leitung des Staates, allein erklärt und rechtfertigt, ebenso wie nur
daraus die Umbildung aus dem anfänglich allein berechtigten und mög¬
lichen aristokratischen oder oligarchischen Bestandtheile des Beamtenthums in
die mehr demokratischen oder volksthümlichen Formen des modernen Consti-
tutionalismus begreiflich wird. Reactionäre aller Sorten und unsere nicht
weniger unbrauchbaren Doctrinäre des vulgären Liberalismus und der radi¬
kalen Presse werden daher an einer geschichtlichen Begründung der facti-
schen Zustände des preußischen Staatswesens, wie sie uns gegeben ist.
sich nicht sehr erbauen, und ihr Urheber muß es sich natürlich gefallen
lassen, worauf er. wie wir vermuthen, schon vorbereitet ist, sich von der
einen Seite als gefährlicher Reactionär verschreien zu hören. Dafür mag er
sich mit der Zustimmung aller derer trösten, denen die Vernunft und das
Gewissen höher steht als die Parteiparole, und für solche hat er eigentlich
auch nur sein Buch geschrieben. Die anderen sind doch unfähig zu lernen,
wie ja die Erfahrung eines jeden Tages zeigt. —
Denn das preußische Königthum nach seiner gesunden, auf die Logik der
Geschichte unwiderleglich gegründeten Auffassung entspricht weder dem
Ideal der Reactionäre» noch dem radicaler Doktrinäre. Die Geschichte
zeigt und diese Lehre tritt in dem Buche über preußisches Staatsrecht
mit kräftigen und scharfen Zügen aufs lehrreichste heraus, daß keine
andere monarchische Staatsgewalt innerhalb des Rahmens des deutschen
Reiches so frühe und so bewußt mit den Traditionen des patriarchalischen
Staates gebrochen hat, wie die der Hohenzollern in den Marken. Während
anderswo in Deutschland das Verhältniß der Fürsten zum Lande — bis in
unsere Zeit der gewaltsamen oder reflectirten Verfassungsumgestaltungen
durch die Einführung des constitutionellen Schematismus — wesentlich ein
patrimoniales blieb, der Fürst das Land oder gewisse Theile desselben
und Rechte in ihm und an den Unterthanen besaß, arbeitete sich in dem
Bereiche der Hohenzollernschen Macht entschieden schon seit und durch
den großen Kurfürsten der davon grundverschiedene Begriff eines Staats¬
oberhauptes und eines Staates heraus. Beide konnten schon damals nicht
mehr getrennt von einander gedacht werden, während das Wesen des patri-
monialen Fürstenthums factisch und begrifflich recht wohl noch existiren kann,
wenn es auch von seinem Zusammenhange mit dem äußerlich damit verbun-
denen Complex von Ländern und Einkünften ganz oder theilweise losgelöst
wird. Der Fürst oder das fürstliche Haus behält dann doch noch immer den
eigentlichen Kern seines Rechtes und Besitzes in den Domänen und Rega-
lien, die ihm privatrechtlich und nicht in seiner Stellung als Staats¬
oberhaupt gehören. Den correctesten Ausdruck erhielt jene neue Ausfassung
des fürstlichen Berufes in dem preußischen Staat schon 1713 durch König
Friedrich Wilhelm I., indem er sämmtliche Domänen und Schatullgüter zu
einer Masse vereinigte und ihre Unveräußerlichkeit festsetzte, also der Person
des zufälligen Inhabers der Staatsgewalt die Disposition darüber, soweit
sie aus der damals allgemein festgehaltenen Vorstellung eines Eigenthums-
rechts flieht, entzog. Das Gesetz vom 17. Januar 1820, welches das soge¬
nannte Kronfideicommiß genauer umschrieb, hatte nichts weiter zu thun,
als die einmal vorhandene Grundlage anzuerkennen und practisch nach den
Bedürfnissen und staatswirthschaftlichen Maximen der Gegenwart auszubilden-
Damit war schon länger als vor einem Jahrhundert eine der Grundfragen
des modernen Staates gelöst, die trotz aller abrupt in ganz widersprechende
Zustände hineingetragenen Theorie von der sogenannten Civilliste in vielen
anderen deutschen Ländern bis heute noch der Beantwortung harrt. Die
Eigenart des preußischen Staatswesens, speciell der Krone zeigt sich nir¬
gends prägnanter als hier in diesem wichtigsten Punkte. Das preußi¬
sche Königthum steht da finanziell gegründet auf eine Institution, die
ebenso weit von denen des patrimonialen Fürstenthums mit seinem Eigen-
thumsrecht an den Domänen, wie von denen des konstitutionellen Forma¬
ltsmus mit seiner nur auf die Lebenszeit der zufällig regierenden Person
giltigen Civilliste entfernt ist. Es ist aber darum auch in dieser Hinsicht
viel fester in den Staatsbegriff eingefügt und insofern eine viel modernere
Fassung seines eigenen Begriffes als das auf Domänen oder das auf Civil-
liste fundirte.
Jedermann weiß, daß unseren Reaetionären gerade dieser durch und
durch moderne Grundzug, des preußischen Königthums ein Dorn im Auge
ist. Zwar gegen das Kronfideicommiß haben sie noch nicht direct zu agi-
tiren gewagt, entweder aus begreiflichen Rücksichten der Opportunität oder
weil sie sich selbst über die wahre Tragweite und Bedeutung dieser Institu¬
tion nicht klar sind. Aber principiell dürften sie eigentlich eher noch mit
einer Civilliste einverstanden sein, welche die Staatsgewalt mehr oder minder
doch den Schwankungen des Zufalls in einem so entscheidenden Punkte unter-
wirft, wenn ihnen nicht der Name ein Gräuel wäre. Ihr Ideal der fürst-
lichen Gewalt geht doch nur einfach darauf hinaus, daß dieselbe alle ihre
Befugnisse nur mit demselben patrimonialen Rechtstitel besitzt, wie sie ihn
selbst für ihre eigenen angeblichen Rechte oder Privilegien beanspruchen. Die
Allodification der Lehen, eine andere, durchaus dem modernen oder specifisch
preußischen Charakter des Staats entsprechende Maßregel, die ungefähr gleich,
zeitig mit jener Verwandelung der Domänen in Staatsgut ausgeführt wurde,
haben sie sich in ihren nützlichen Früchten gefallen lassen, ohne zu bedenken,
daß sie damit ein Princip anerkannten, das dem patrimonialen Staatsbegriff
nicht minder direct widersprach. Indem sie so alle Prämissen zugeben, müssen
sie sich auch die daraus gezogenen Consequenzen gefallen lassen, denn die
Logik der Thatsachen ist doch stärker als die Velleitäten einiger unklarer und
kurzsichtiger Geister. —
Die zweite Kammer hat sich mit 48 gegen 30 Stimmen für Abschaffung
der Todesstrafe ausgesprochen, und zu Amsterdam haben Festlichkeiten statt¬
gefunden zum Empfang des Krtegsdampfers „De Amstel", der eine Expedi¬
tion nach Guinea begleitet hatte. Diese beiden Thatsachen gehören zusam¬
men, sie lehren, daß Humanität bei uns ein nur für Menschen der weißen
Race besteht. Und nicht allein einzelne Privatpersonen, unsere Colonisten
sondern die Colonialregierungen machen sich finsterer Thaten schuldig, die in
Europa wegen des Abscheus, den sie hervorrufen würden, geradezu unmög¬
lich sind. Und dennoch geschieht dergleichen nicht im Geheimen, sondern
ganz öffentlich, und die Zeitungen erzählen davon, als ob es gewöhnliche
Dinge wären.
Vielleicht nicht am grausamsten aber am kaltblütigsten gehen die Hollän¬
der in ihren überseeischen Besitzungen zu Werke. Die Relationen der Mord-
und Verntchtungszüge — die man Kriegsverrichtungen zu nennen beliebt —
werden von der Regierung mit Behagen öffentlich bekannt gemacht. Auf
den verschiedenen Inseln des ostindischen Archipels finden fast jährlich Expe¬
ditionen gegen die Eingebornen statt, deren gewöhnliches Ergebniß sich in
wenigen Worten zusammenfassen läßt. Die Eingebornen fliehen aus ihren
Dörfern in die Wälder, Dschungel und Gebirge, die Kriegsmacht der civili-
sirten Nation metzelt die Fliehenden, wenn sie dieselben noch erreichen kann,
nieder, verwüstet die Felder und verbrennt die Häuser und Hütten der Be¬
wohner, unbekümmert ob noch ein lebendes Wesen darin verborgen ist, und
führt die wenigen zurückgebliebenen Habseligkeiten als Beute mit. Wird zu¬
weilen von den Angegriffenen ein kurzer, vergeblicher Widerstand geleistet,
dann kehren die Sieger als Helden mit Ruhm beladen zurück.
Und warum werden solche Expeditionen unternommen? Meist weil irgend
ein Volksstamm die ihm aufgedrungene europäische Oberhoheit nicht aner¬
kennen will, eine Herrschaft, die sich nur durch solche barbarischen Mittel zu
behaupten weiß; oder die drohende Haltung eines Volkstammes jenseit unserer
Grenzen, seine Diebereien, Gewaltthaten, die Plünderung eines gestrandeten
Schiffs sollen bestraft werden, — gerade der letztere Frevel bleibt — nebenbei
bemerkt — an der europäischen Küste Hollands häufig unbestraft. Ein solcher
Fall aus den Colonien, der in den holländischen Zeitungen vielfach besprochen
wurde, möge zum Beispiel dienen.
Vor einigen Jahren schloß England mit den Niederlanden einen Ver¬
trag wegen eines Gebietsaustausches an der Küste von Guinea um die beider¬
seitigen Besitzungen: Se. George d'Elmina und Cape Coast Castle abzurun¬
den. Dadurch trat England an Holland den Landstrich Commendah gegen
ein anderes Areal ab. Die Commendesen waren inzwischen mit diesem
Wechsel nicht zufrieden und wünschten unter englischer Herrschaft zu bleiben.
Die Holländer aber pflanzten ihre Flagge zum Zeichen der Besitzergreifung
auf ein kleines verlassenes Fort in Commendah, das als einziger Ueberrest die
frühere Anwesenheit der Europäer bezeugte. Die Neger rissen die Flagge
herunter, nachdem die Holländer sich entfernt hatten. Diese That der Em¬
pörung gegen die ihnen aufgedrungene Herrschaft wurde von den Holländern
damit beantwortet, daß sie eine Expedition ins Land Commendah unter-
nahmen und Negerwohnungen verbrannten. Die inzwischen wieder aufge¬
pflanzte Flagge wurde dennoch wieder heruntergerissen. Darauf fuhr am
26. Mai vorigen Jahres ein Kriegsdampfer auf Recognoscirung an der
Küste von Commendah vorbei. Weil er sich dem Ufer nicht genug nähern
konnte, sandte er eine Schaluppe mit neun Mann aus. unter der Ordre nicht
ans Land zu steigen, weil dies zu gefährlich sei. Aber das Fahrzeug schlug
in der hohen Brandung um, vier Personen der Mannschaft ertranken, die
übrigen fünf erreichten das Ufer und wurden dort von den Negern, die aus
ihrem Versteck in den Gebüschen hervor kamen, gefangen genommen. Ein
Matrose, der sich vertheidigte, wurde getödtet. daraus ward ihm die Kopf¬
haut abgezogen und eine Hand abgehauen. Die anderen vier wurden in
die Gefangenschaft geführt, wo sie anfangs beschimpft und gar geschlagen,
später aber gut behandelt wurden. Der holländische Gouverneur hatte sich
nämlich an seinen englischen Collegen in Cape Coast gewendet, der durch
seinen Einfluß den Gefangenen ein erträgliches Loos und schließlich die Frei¬
heit verschaffte.
Als die Nachricht in den Niederlanden ankam, richtete sofort der Ab-
geordnete Sypestein eine Jnterpellation in der zweiten Kammer an den Co-
lonialminister über den Gegenstand und die Schmach, welche die holländische
Nation an der afrikanischen Küste erlitten habe. Der Minister versprach
alles Mögliche zu thun, um die Beleidigung zu rächen, und stellte eine Ex-
pedition in Aussicht. Keine von den achtzig Stimmen der zweiten Kammer,
kein. Laut außerhalb derselben wurde gehört, um das Unmenschliche solcher
Expeditionen darzuthun. Der Kriegszug wurde denn auch in gewohnter
Weise ausgeführt: die holländischen Truppen machten auf ihrem Zug nach
Commendah Alles nieder, was ihnen begegnete, und verwüsteten und ver.
brannten Alles, was sie erreichen konnten. Das Ansehen der niederländischen
Negierung wurde dadurch wieder hergestellt und die Nation sieht mit Ver¬
gnügen auf ihre militärischen Erfolge. Die zurückkehrenden Krieger werden
reichlich mit Orden und Ehren belohnt, gerade in den Tagen, wo am Rechte
des Staates gezweifelt wird, ein Menschenleben zu opfern. Oeffentlich be-
huptet man auf der einen Seite, durch die Todesstrafe schrecke man nicht
"om Verbrechen ab. während man auf der anderen Seite durch Blutbad
und Verheerung Völker zum Gehorsam bringen will. Ich meine, auch ber
rohen Völkern wird durch solche Expeditionen nur Erbitterung hervorgerufen
und das Verlangen nach Abschüttelung eines unmenschlichen Joches verstärkt.
Ob den Commendesen Schrecken genug eingeflößt ist und ob sie jetzt dem
holländischen Gouvernement unterworfen bleiben, ist eine Frage der Zeit. Aber
eine andere Frage ist: wie lange sollen solche Abscheulichkeiten noch dauern?
Und dahinter erhebt sich die Frage, mit welchem Recht herrschen die Euro-
päer mit Blutvergießen und Gewalt über unterworfene Völker, die niemals
nur gefragt sind, ob sie gehorchen wollen?
Das Land Commendah bringt den Holländern nichts ein, sondern kostet
Geld und Menschenleben, dort ist's nur um der Ehre und Civilisation willen,
daß geschlachtet wird. In Asien freilich auch der Börse wegen; denn ähn¬
liche Expeditionen finden in kleinen Zwischenräumen auf Borneo, Ceram,
Timor und anderen ostindischen Inseln statt; leider hat sich bis jetzt noch keine
Stimme dagegen erhoben.
Allerdings ist es richtig, daß die Colonialregierungen meist keine ande¬
ren Mittel besitzen, um ihr Ansehen oder, besser gesagt, die Furcht bei den
Eingeborenen zu erhalten, da ihr moralischer Einfluß durchgängig sehr gering
oder Null ist. Die Mehrzahl der Colonien sind darauf eingerichtet, die Ein¬
geborenen zu erploitiren und zu unterdrücken, und diese begreifen darum
natürlich nicht, was sie von einer Cultur, deren Träger so viel Unglück um
sich her verbreiten, gewinnen sollen. Dabei wird das Mögliche gethan, um
den Lastern dieser rohen Völker Vorschub zu leisten, weil man Vortheil
daraus zieht. Aber für Aufklärung und Erziehung derselben wird fast gar
nichts gethan.
Freilich handelt hin und wieder eine Colonialregierung in anderem
Geiste. Bet uns gilt die Regel, daß eine Colonie dem. Mutterlande so viel
als möglich einbringen und daß auf ihre Erhaltung nur so viel verwendet
werden muß, als nöthig ist, um sie vor gänzlicher Aussaugung zu behüten.
Wenn eine Besitzung, wie die Küste von Guinea, dem Lande mehr kostet,
als sie einbringt, dann wird natürlich gar nichts zu ihrer Hebung gethan.
Aber dann ist es auch doppelt unverantwortlich, sich dieselbe durch Schreck¬
mittel zu erhalten."
Wenn bei Ihnen in Deutschland einmal eine Stimme nach „Colonien
ruft für Handel, Schifffahrt. Volkskraft, so senden Sie diesen Thoren zu uns
nach Holland. Bei uns kann er sehen, wie die Tugend, der Unternehmung^
Sinn, Redlichkeit und Energie durch Colonien gefördert werden. Wenn Ih^
Nation dem Schicksal für einen Vorzug vor uns Andern recht innig und
unablässig dankbar sein sollte, so ist es gerade der Vorzug, daß Sie kein Felsen"
enand im fremden Meer und keinen Thaler besitzen, den Sie nicht durch
eigene redliche Arbeit in freier Concurrenz erworben haben.
Die politische Lage.
Noch dauert im norddeutschen Bunde die gehobene Stimmung, welche
die große Woche des Reichstages zurückließ. Die letzte Session der hundert
Tage vor neuen Wahlen war die schwierigste von allen; zu den wichtigsten
Gesetzesfragen kam die Uebermüdung als unvermeidliche Folge dreijähriger
gehäufter Arbeit, und in Wahrheit hatte die hohe Versammlung durch einige
Wochen ein recht abgespanntes und unsicheres Aussehen. Aber die Tüchtig-
k-it unserer Abgeordneten und die treibende Kraft des neuen Bundes halsen
ZU einem guten Ende. Endlich trägt die Elbe ihre Schiffe befreit von un¬
erträglichen Zöllen, die Subvention der Gotthardbahn bereitet eine neue
directe Verbindung mit Italien durch neutrales Gebiet, das Gesetz über
den Unterstützungswohnsitz sichert den arbeitenden Classen im Bunde das
Recht der Freizügigkeit, das Gesetz über das literarische Eigenthum regelt
sicher den geschäftlichen Verkehr der wichtigsten Hilfsmittel für Wissenschaft,
Bildung und geistigen Genuß, das Strafgesetzbuch begründet gemeinsames
Recht für den gesammten Bund. Möchten auch diejenigen unserer Freunde,
welche bedauern, daß nicht alle ihre Forderungen in den neuen Gesetzen er-
füllt wurden, mit derselben Befriedigung auf die Arbeiten der Session zurück-
sehen, welche in der Nation vorherrschende Stimmung ist. Es gehört zu
den Leiden jeder erhabenen Erdenstellung, auch zu den Uebelständen einer
gesetzgebenden Versammlung, welche in angestrengter Thätigkeit und durch
Parteieifer ihre segensreiche Wirkung ausübt, daß sich um die Häupter ihrer
Angehörigen eine feine Nebelschicht lagert, der Nimbus sen^torins, die Reichs¬
tagswolke. Er schließt ab von der Außenwelt, mindert das unbefangene Urtheil
über die Wirklichkeit und behängt in einem imponirenden Kreise von Vorstel-
lungen und Ideen, von Eifer, Liebe und Haß; kleine Erfolge und Gefahren
der Nähe werden dadurch leicht vergrößert, das Entfernte, und seich noch so
bedeutsam, verschwindet dem Blicke. Mögen die Abgeordneten sich jetzt der
wohlverdienten Muße mit freiem Urtheil erfreuen. — Auch die Aufmerksamkeit
der Nation wendet sich von der Sorge für den Staat auf die eigene Flur
und den Zug der Wolken darüber. Die alte Arbeit des Ackers und der
Werkstatt tritt in den Vordergrund des Interesses, der Landmann späht
nach Regen für seine Saaten, der Kaufmann und Fabrikant sorgen um die
Ernte, die ihrer Sommerarbeit zu gutem Absatz helfen soll, und der Poli¬
tiker wünscht nicht weniger eifrig die Gunst der Elemente für die Arbeit
der Menschen, damit der nächste Winter ein arveitssrohes und zufriedenes
Volk finde.
Für die große Politik haben die Ferien bereits begonnen, Regenten
und Minister machen Reisepläne; auch die wohlhabende Bevölkerung der
Städte rüstet sich auf das Land zu ziehen, mit jedem Jahre wächst die Stärke
dieser periodischen Wanderung, welche in den nächsten Jahrzehnten dem ge-
sammten Geschäststreiben der großen Städte in Deutschland ein ganz neues
Aussehen zu geben verheißt.
Freilich ist die Befriedigung, mit welcher der Deutsche aus die letzten
Wochen der Bundesarbeit zurücksieht, nicht ohne heimliche Sorge. Es ist
noch einmal unter starken Anstrengungen gelungen, den bisherigen Organis¬
mus des Zollparlaments und Reichstags zu einem großen Fortschritt zu be-
nutzen, aber selbst dieser Fortschritt trägt dazu bei, die Aufgaben der nächsten
Zukunft schwieriger zu machen; die Probe, wie weit die Verfassung des Bun¬
des den Dynastien unvermeidlich, den Völkern ein Segen geworden, soll bet
den nächsten Wahlen abgelegt werden; und ob bei der oberen Leitung des
Bundes in dieser Krisis ein sicherer, planvoller, stetiger Wille vorhanden ist,
suchen wir unsicher.
In Wahrheit haben wir durchaus keinen Zweifel an der Dauerhaftig¬
keit der neuen Bundeswirthschaft, ja wir halten dieselbe grade darum für
sehr fest und hoffnungsvoll, weil keiner mehr recht zu sagen vermag, was
daraus werden wird. Denn diese Unsicherheit der Zeitgenossen ist ein Be¬
weis, daß die Erfindung eines einzelnen Mannes bereits ein Übermensch'
liebes Leben gewonnen hat und ein lebendiges Stück unseres Volksthums ge¬
worden ist, dessen Gedeihen und Fortbildung nicht mehr von einem Indi¬
viduum überherrscht werden kann, sondern seine Lebensgesetze sich selbst ge¬
bieterisch fordert. Durch drei Jahre war Graf Bismarck der Meister, und er
hat uns alle gezwungen, als seine Gesellen an selner Idee zu arbeiten. Jetzt
regt sich in dem Werke ein eigenes Leben, jedes Organ, welches ihm nach
dem Plan zugefügt wurde, fordert sich gebieterisch neue Organe und Spiel"
rann zur Thätigkeit. Der Bundesstaat fängt an sich durch seine eigenen Corse
quenzen weiter zu bilden. Weder die ihn zuerst gewollt, noch irgendwelche
seiner Anhänger und Gegner vermögen dieses junge Leben in der Hauptsache
zu hindern. Und die Frage ist jetzt nur, ob unser Volk die Gesundheit,
Tüchtigkeit und die bescheidene Hingabe besitzt, ferner daran zu helfen. Darauf
gibt es eine frohe Antwort. Und wir citiren zum Schluß dafür die guten
Worte eines heimgekehrten Abgeordneten in Leipzig: „Wir wissen, daß wir
Alle in Gefahr sind, Opfer zu werden der gehäuften Arbeit, aber was liegt
an dem Einzelnen bei der Arbeit für das große nationale Werk!"
Die folgende nirgend gedruckte Niederschrift Goethe's, welche uns durch
die Güte eines Freundes zugeht, verdient sehr in seine Werke aufgenommen
zu werden. Die Rathschläge, welche darin ertheilt werden, haben noch in
der Gegenwart ihre Geltung. Da aus dem Schriftstück nicht zu ersehen ist.
Wer der Dichter war, welcher von Goethe berathen wurde, so wäre eine kleine
lockende Aufgabe für Literaturfreunde, die Person festzustellen, oder doch
wahrscheinlich zu machen. — Die Niederschrift lautet folgendermaßen:
Die Gedichte, welche mir zugesendet worden, gehören, weil man sie doch
vor allen Dingen einordnen muß, zu den gemüthlich didactisch-lyrischen. Man
kann von solchen verlangen, daß sie rein empfunden, gut gedacht und bequem
ausgesprochen seyen. Alle diese Vorzüge besitzen die vorliegenden. Dagegen
haben sie kein eigentlich poetisch Verdienst. Unaufhaltsame Natur, unüber¬
windliche Neigung, drängende Leidenschaft, Haupterfordernisse der wahren
Poesie, welche sich im Großen wie im Kleinen, im naiven wie im Patheti¬
schen manifestiren können, zeigen sich nirgends. Demungeachtet kann der
Verfasser bei seinem Talent sich den Beyfall seiner Landsleute versprechen.
Die Deutschen lieben das moralisch-lyrische, diese subjectiven reflectirten
besänge, die einen andern Jemand wieder leicht ansprechen und an allge¬
meine Zustände des Gemüths, an Wünsche Sehnsuchten fehlgeschlagene Hof-
nungen erinnern.
Ich würde daher dem Verfasser rathen, seine Lieder durch diejenigen
Blätter bekannt zu machen, welche sogleich ins große Publicum gelangen;
wie ich mir denn ein Paar davon für Herrn Cotta's Morgenblatt ausbitten
würde. Dabei könnte er sich irgend einen wohlklingenden Namen wählen,
durch den seine Gedichte vor andern ähnlichen sich auszeichneten.
Behagen sie einem Musiker, begleitet er sie mit gefälligen Melodien, fo
werden sie gesungen und bekannt, und der Verfasser wird zuletzt veranlaßt,
eine Sammlung derselben herauszugeben. Dieses ist's, was ich nach meiner
besten Einsicht und mit aller Aufrichtigkeit dem mir bezeigten Vertrauen er¬
wiedern konnte.
Vorstehendes war geschrieben, als sich der Verfasser selbst an mich wandte.
Ich wüßte nur die Bemerkung hinzuzufügen, daß für unsere Literatur nichts
Wünschenswerther sey, als daß jeder, der eine Zeitlang gearbeitet hat, zum
deutlichen Bewußtseyn dessen kommen möge was er vermag, damit er sich
nicht vergebens abmühe und von sich nicht mehr, oder doch nichts anderes
fordere, als was er leicht kann. Dadurch entspringt eine billige und unge¬
trübte Freude an dem was man hervorbringt und ein reiner Genuß an dem
Beifall, den man erhält.
Weimar, den 26. September 1807.
Friedrich Christoph Dahlmann von Anton Springer. Erster Theil. Leipzig, S. Hirzel.
Diese Lebensgeschichte eines deutschen Mannes, geschrieben von seinem
Amtsgenossen und Freunde, ist eine gute Frühlingsgabe für unser Volk,
würdig des Gelehrten, den sie schildert, und dem Verfasser eine rühmliche
Arbeit. Viele werden sich daran erfreuen und stärken, alle die Dahlmann
hochgehalten, und die den jüngeren Freund mit Antheil auf den Gebieten
seiner umfangreichen wissenschaftlichen Thätigkeit begleiten. Denn auch dieser
ist uns ein werthvoller Vorkämpfer für die beste Bildung unserer Zeit ge¬
worden. Anton Springer weist uns in seinem wohlthuenden Wesen den
characteristischen Zug, welchen das deutsche Leben dieser Generation in vielen
ihrer Schriftführer ausgeprägt hat. Ein Gelehrter, der das ideale Kunst¬
streben der Vergangenheit so feinempfindend zu beobachten weiß, wie Wenige,
und zugleich ein patriotischer Mann, Geschtchtsschreiber eines modernen
Staates, der gründlichste Kenner östreichischer Zustände und mit all seinem
Fühlen und Hoffen fest in die politischen Kämpfe des werdenden deut¬
schen Staats verwachsen. Mit den großen Gebilden vergangener Schön¬
heit und mit den großen Aufgaben moderner Wirklichkeit gleich vertraut,
ist der Bonner Professor für Kunstgeschichte des Mittelalters, Verfasser
der „Bilder aus der neueren Kunstgeschichte" 'zugleich der gepriesene und
gefurchtere Autor der „Geschichte Oestreichs seit dem Wiener Frieden"
geworden. Und war das bei Dahlmann nicht ganz ähnlich? Er legte die
Proben seiner ästhetischen Erziehung ab in Uebersetzungen aus Aeschylus und
Aristophanes, forschte um Saxo Grammaticus und in altdänischer Geschichte,
und verfocht dabei als Professor zuerst die alten Rechte einer deutschen Land¬
schaft gegen Dänemark, dann die Rechte der deutschen Nation auf eine Ver¬
fassung gegen den alten Polizeistaat und Willkür der Könige; auch er,
der nach seiner Jugendbildung angelegt schien zum stillen, gedankenvollen
Betrachter ferner Vergangenheit, wurde durch den Zug seiner Zeit zu
einem Vorkämpfer für verfassungsmäßiges Recht und zu einem Lehrer in
der Politik.
Und ging es manchen andern nicht ebenso? Unter den berühmtesten
Lehrern unserer Wissenschaft sind verhältnißmäßig sehr viele, denen die Po¬
litik wenigstens einmal anspruchsvoll ihre Berufsthätigkeit gestört hat, die
genöthigt wurden, als Geschenke die Stätte ihrer Wirksamkeit zu verlassen,
oder die gar in Landtagen und politischen Vereinen über Zeitfragen debattir-
ten; die Mehrzahl derer, welche in hohem Fluge als Dichter begannen,
Wurden allmälig zu Schriftstellern über Tagesinteressen; sogar die bil¬
denden Künstler sahen sich durch den herrschenden Zug in ihrem Schaffen
geirrt. Sie suchten patriotische oder sociale Ideen zu Idealen umzubilden,
und sie gewöhnten sich, mehr darum zu sorgen, daß das Werk ihrer Kunst
bedeutsam, als daß es schön werde. — Offenbar ist dies übergewaltige Ein¬
dringen der Staatssorgen in die Seelen der Gelehrten und Künstler nicht
jedem ein Gewinn für die Güte und Schönheit seiner Werke geworden,
Vielen hat es die Möglichkeit des Schaffens gestört, im Ganzen dürfen wir
doch mit Stolz sagen, daß diese Politik auch für Wissenschaft und Kunst der
größte Fortschritt, Erzieherin eines schärfer spähenden Gelehrtengeschlechts.
Vorbereitung für neue 'Kunstrichtungen geworden ist, denn sie half den
Deutschen in der Hauptsache, sie formte die Charaktere männlicher.
Und kein größerer Gegensatz ist denkbar als zwischen dem Idealismus
von Schiller und Goethe, welche den Künstler und Gelehrten, der politische
Thätigkeit nicht vermied, für einen öden Zeitverschwender zu halten geneigt
waren, und zwischen der jüngeren Generation, in .welcher die Jünglinge
Schlachtenlieder anstimmten und römische Tyrannen von deutschen Bären
fressen ließen.
Es war die Morgenröthe dieser Reuen Zeit, in welcher Dahlmann herauf¬
kam, und um sein ernstes Haupt schwebt für uns Jüngere das verklärende
Frühlicht. Er zählte als Politiker und als Gelehrter unter den ersten seiner
*
Jahre. Den höchsten Staatsämtern hielt man ihn für gewachsen und be¬
drängte Könige sorgten unruhig darum, ob sein Urtheil über ihre Fehlgriffe
ein mildes sei. Zu seinen Füßen lauschte, wenn er lehrte, andächtig die
Blüthe der deutschen Jugend und seine Geschichte Dänemarks galt gerade
den Fachgenossen für einen besonders großartigen und tiefgeschöpften Gewinn-
Dennoch wird dem jüngeren Geschlecht leicht, ihn als Politiker und als Ge¬
lehrten zu übersehen. Poetische Empfindung mischte sich ihm noch anders in
Willen und Gedanken, als uns erlaubt ist. Es war ein politischer Fehler,
daß er die Verwerfung des schlechten Waffenstillstandes von Malmö zu Frank¬
furt durchsetzte und dann planlos vor der Unmöglichkeit stillstand, ein Mi¬
nisterium seiner Wahl zu bilden; auch seine besten historischen Werke erweisen
ein sehr eigenthümlich herrisches Schalten mit dem überlieferten Stoff, wobei
kräftige dichterische Anschauung ihm Farbe und Combination allzusehr be¬
stimmen. Die Kenntniß des historischen Details ist seit ihm unermeßlich
größer, die Methode historischer Construction unvergleichlich strenger gewor¬
den. Das ist bei einer Nation von aufsteigender Lebenskraft natürlich. Die
Alten irren, damit die Jüngeren von ihnen lernen, andere Thorheiten zu
begehen. Aber solche Schätzung nach dem Maßstab unsrer Zeit nimmt diesem
Mann keinen Bruchtheil seines Werthes für unser Geschlecht und für alle
Zukunft.
Denn was ist es doch, was einen Mann den Herzen seiner Zeitgenossen
theuer macht, den spätern Geschlechtern werth erhält? Zunächst freilich, daß
er nach dem Maße seiner Zeit gut gearbeitet hat für solche Zwecke, welche
der Nation dauernden Werth haben. Davon hängt seine geschichtliche Be¬
rechtigung ab. Aber was er auch schafft, seine Arbeit an sich ist's in der Regel
nicht, deren Dauer sein Gedächtniß dauerhaft macht. Die Ordnungen des
weisesten Staatsmannes überleben selten die nächste Generation. Was
besteht noch von dem Regierungssystem Friedrich II., das wir erhalten wünsch¬
ten? sogar die größten lebenspendenden Ideen, die er seiner Zeit zuerst praktisch
machte, sind uns entweder selbstverständlicher Besitz, bei dem wir wenig seiner
gedenken, oder sie mögen von uns oder unsern Nachfahren gar widerlegt wer¬
den. Es ist sehr zweifelhaft geworden, ob der Staat seinen Bürgern noch er¬
lauben kann, ganz nach ihrer Fa?on selig zu werden, sobald irgendwo ein Alter
vom Berge sich zum unfehlbaren Beherrscher ihrer Gedanken und Fäuste macht.
Und ebenso wird dem Gelehrten das scharfsinnigste Geisteswerk durch weitere
Arbeit von Tausenden umgeformt, eingeengt, widerlegt. Nur wenige große
Erfinder und Künstler haben den Vorzug, daß ihre Werke abgelöst von ihnen
unverändert fortleben in den Seelen späterer Geschlechter und selbstthätig in
ihrer Eigenart noch dann der Menschheit dienen, wenn die Person des Ur¬
hebers gänzlich verschwunden ist bis auf wenige unsichere Erinnerungen.
Aber auch in diesem Fall sucht die Folgezeit unablässig hinter der Dichtung
den Dichter, hinter der Arbeit den Erfinder. Denn nicht das Geschaffene an
sich, sondern Geist. Gemüth. Charakter des Schaffenden, die wir daraus er¬
kennen, machen uns die Werke vergangener Menschen vertraulich. In diesem
Sinne schreiben wir rastlos Geschichten der Philosophie, der bildenden Kunst,
der Literatur, weil wir das Bedürfniß haben, zu verstehen, wie Lehre und
Kunstwerk geworden sind zuerst in den Menschen und dann in den Charak¬
teren höherer Ordnung, den Völkern. Die beste bildende und lebenspendende
Wirkung des erhaltenen Werkes beruht immer in dem persönlichen Verkehr,
der uns dadurch mit dem Werkmeister wird. Seine imponirende Eigenart,
seine Gedanken, die Farbe, welche aus seinem Gemüth in das Werk über¬
geht, sind uns das reizvollste.
Dem deutschen Gelehrten wird leicht, einzelne Unrichtigkeiten und be¬
schränktes Gesichtsfeld in den Werken Macaulay's nachzuweisen, unsere Me-
thode historischer Kritik ist unzweifelhaft die bessere. Und doch wird der Eng¬
länder für alle Zeit als einer der größten Geschichtsschreiber gelten, und eine
unermeßlich größere Wirkung auf die Bildung der späteren ausüben, als
andere nicht weniger glänzende und in vieler Forschung genauere Dar-
stellungen derselben Geschichte. Warum? Weil in der Größe, der männ-
Uchen Festigkeit seines Wesens, der wundervollen Dialektik seines politisch ge¬
schulten Geistes ein unwiderstehlicher Zauber liegt, er zieht den Leser zu sich
w die heitere, reine, wohlthuende Lust eines hochsinnigen Mannes. So sehr
suchen wir den Menschen in der Geschichte, daß wir den Charakter noch dann
«eben, wenn seine Werke uns ganz geschwunden sind. Was blieb von dem jün-
geren Cato zurück? nicht die Partei, der er treu war, nicht seine Reden, die
uns fast gänzlich verloren sind, machen die Schattengestalt uns so rührend,
sein Ethos ist es allein, sein merkwürdiger Charakter in einer argen Zeit.
Und wenn es jemals einen Mann gegeben hat. der vorzugsweise durch
seinen Charakter auf die Zeitgenossen wirkte, und den Abdruck seines Wesens
veredelnd in die Seelen des jüngeren Geschlechtes legte, so war dies der
stille ernste Gelehrte, dessen Lebensgeschichte wir hier empfehlen. So wird er
auch fortleben in der deutschen Geschichte, als das Idealbild, und als ein
typisches Bild aus der ersten Periode unserer politischen Bildung, in der die
deutschen Privatmenschen sich für Theilnahme am Staat eifrig rüsteten. Ein
schwerflüssiger, fester, reiner Mann, der bestehendes Recht und die sittlichen
Forderungen der Nation an den Staat mit maßvollen und strengem Urtheil
und doch in heißer Empfindung mit einander zu gesellen verstand. Einer
der besten Deutschen durch lauteren Sinn und inniges Gemüth, stolz und
edel in seinen Gedanken, unsträflich in seinem Thun, der den Zeitgenossen
wie ein unbestechlicher Richter über ihre Gedanken und Thaten erschien.
Ja, er war ein deutscher Professor auch als Politiker. Er war nicht
geschult in parlamentarischen Kämpfen, er hatte den Staat sich in Gedanken
construirt aus dem Wesen der Deutschen, wie er es mit feiner Empfindung
aus dem Leben und der Geschichte faßte, und aus fremden Zuständen,
welche ihm die Beobachtung nahe legte. Er war nicht gewöhnt als thätiger
Politiker zu handeln, obwohl grade er um politische Interessen zweier Land¬
schaften geschäftlich mehr zu sorgen hatte, als andere Gelehrte seiner Zeit.
Er war so unschuldig und bei allem Scharfsinn doch unbehilflich in stürmi¬
schem Drang der Ereignisse. Aber er war auch darin ein schönes Bild
unserer politischen Jugend, daß er jeden Conflict der Pflicht, alle großen
Fragen, welche in sein friedliches Leben drangen, tief innerlich als schwere Ge¬
wissenssache durchkämpfte, und daß sein Urtheil und Wille nur gerichtet
wurde durch das lautere Rechtsgefühl und das hohe Ethos seines Wesens.
So war er zuletzt immer ganz er selbst, fest nach außen, von sicher beherrsch¬
ter Bewegung, einig mit sich und dabei von unzerstörbarem Vertrauen zu
der Güte menschlicher Natur und zu dem hohen Beruf seines Volkes.
Seitdem ist andere Zeit gekommen. Wir sind vielleicht nicht fester, aber
härter und entschlossener im Handeln, wir haben uns gewöhnt, entweder eigensin¬
nig zu beharren oder verständig uns zu fügen. Wir steuern gewandter und in
Vielem sicherer durch politische Sturmfluth. Auch das Verständniß unserer
Staatsbedürfnisse, die Einsicht in das Detail der Reformen sind weit größer
geworden, als sie vor vierzig, zwanzig Jahren waren. Aber mit der größe¬
ren Erfahrung und der höheren Geltung unserer Thätigkeit für den Staat
sind uns auch neue Versuchungen gekommen. Die Macht des Geldes, der
Einfluß der Parteien setzen unsere Politiker der Gefahr aus, Urtheil und Ge¬
wissen unmännlich gefangen zu geben. — —
Möge darum das Bild Dahlmann's in den Herzen der Lebenden recht
fest haften. So waren die Guten zur Zeit der Väter. Sorgen wir dafür,
daß wir die stolze Redlichkeit, die Verachtung des anspruchsvollen Scheins,
und die opferbereite Hingabe an den Staat, das deutsche Erbe, welches sie
uns hinterließen, auch unsern Nachkommen wohlbewahrt überliefern.
Die Reform der preußischen Verfassung. Leipzig, Duncker und Humblot. 1370.
Verfassungsreform! Klingt uns das Wort heute nicht schon wie eine
wehmüthige Rückerinnerung an längst vergangene Zeiten, an halbvergessene
Tage eines friedlichen constitutionellen Stilllebens, beschaulichen politischen
Denkens, einfacher Gegensätze und bescheidener Wünsche? Was ist uns in
dem neuen Deutschland noch die preußische Charte vom 31. Januar 1850
mit ihren Verheißungen, ihren ungelösten oder unlösbaren Problemen? Der
alte Waldeck ist todt, und mit ihm ist wohl der beste Mann jenes Geschlechts
dahingegangen, das mit seinem Herzblut sich hineingelebt hatte in den preu¬
ßischen Constitutionalismus des Jahres 1848.
Diejenigen Parteien Preußens, die gegenwärtig sich noch in eine Art von
Begeisterung für die preußische Charte in die Höhe zu schrauben lieben, seien
°s die Fortschrittsleute von der demokratischen Farbe der Herren v. Bockum-
Dollfs oder Duncker, oder seien es die Herrenhäusler vom Schlage des Grafen
zur Lippe, werden schwerlich den zerbröckelten Formen neue Lebenskraft ein¬
hauchen; ist diese ganze constitutionelle Liebhaberei bei ihnen doch nur eine
Ziemlich desperate Donquixoterie, die sich an das verzerrte Bild der Charte
klammert, um der bedenklichen preußisch-deutschen Reichsordnung etwas Po¬
sitives entgegenzusetzen. Inzwischen wandelt diese Reichsordnung ihre
eigenen labyrinthtschen Bahnen stetig fort und gibt allem preußischen Ver¬
fassungswesen eine so fragwürdige Gestalt, daß ein ernsthaft denkender Kopf
schier daran verzweifeln muß, zur Zeit sich auch nur annähernd eine Vor¬
stellung zu machen, von welcher Form und inneren Bildung schließlich der
preußisch-deutsche Staatsorganismus dann sein wird, wann seine Geschicke sich
erfüllt haben. Die Complicationen zwischen der norddeutschen Bundesgewalt
und preußischen Staatsgewalt sind so ins Unglaubliche verwickelt, die Ber-
liner Gesetzgebungsmaschine arbeitet im Reichstag wie im Landtag mit einem
s° sinnverwirrenden Getöse, und es steht so viel der treibenden Kraft hier wie
d°re auf zwei sterblichen Augen, daß man recht, recht weit in die Zeiten
bwausschauen muß. um den Glauben an das erhabene Ziel einer großen ge-
schichtlichen Entwickelung deutscher Nation festzuhalten.
Der Verfasser der oben citirten Schrift theilt die Ansicht von der pre-
cären Natur der preußischen Verfassung nicht. Er meint im Borwort, „daß
Gesetzgebung des Bundes nach der Verfassung desselben ihre Competenz
doch nicht über einen definitiven Kreis hinaus ausdehnen könne, die wehend-
"chsten inneren Aufgaben vielmehr nach wie vor den Cinzelstaaten überlassen
bleiben, und „demgemäß vor Allem der preußische Staat die Aufgabe nicht
abweisen könne, sich in seinen Institutionen den Anforderungen der Gegen¬
wart gemäß zu verjüngen." Hiernach behandelt unsere Schrift die Frage
der Reformbedürstigkeit Preußens an Haupt, wie Gliedern vollkommen ohne
jede Hereinfließung und Berührung der durch die Bundesverfassung bedingten
Rechtszustände, als wäre sie vor dem Sommer 1866 gedacht oder geschrie¬
ben. — Wäre jene Ansicht in Wirklichkeit so sehr der Ausgangspunkt un¬
seres Reformers, daß sein Werk mit ihrer Richtigkeit stand und fiel, so
würden wir um die Dauer und Wirkung des Werks einigermaßen besorgt
sein. Denn es wäre ersichtlich ein Irrthum, auf Grund der formalen Com-
petenz der Bundesgesetzgebung eine Ausscheidung des particulär preußischen
Verfassungsreichs für möglich zu halten. Gleichviel welches das nächste Schick¬
sal der Schöpfungen des Grasen Bismarck sein wird, ob nun die Geleise
seiner Politik in der That so tief eingeschnitten sind, wie er es selbst ver¬
meint, oder ob Ausweichungen zu erwarten stehen — unter allen Umständen
liegt für eine geraume Zukunft der Schwerpunkt von Preußens Constttution
nicht in dem preußischen, sondern dem deutschen Verfassungsrecht.
Unter allen Umständen wird die Richtung unserer deutschen Politik in
erster Reihe auch die ganze Richtung des preußischen Verfassungslebens, die
großen Fragen mechanischer oder organischer Reform, bureaukrattscher Cen¬
tralisation oder autonomer Decentralisation, demokratischer oder gemeinde¬
freiheitlicher Entwickelung bestimmen. Sie wird dies thuen, behalte sie den
ausgeprägten unitarischen Grundzug des heutigen Tages bei, oder verfalle
sie in den Gegensatz irgend welcher föderativer Velleitäten. Wie will man
innerhalb des isolirten Rahmens der preußischen Verfassung noch an eine
Kritik der staatsbürgerlichen Rechte der Individuen und der municipal-com-
munalen Gerechtsame herantreten, wo die Reichsgesetzgebung in den Materien
der Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, der Heimaths- und Armenrechte, die socia¬
len Fundamente individuellen, wie communalen Selbstrechts so voll ergrissen
hat? Wie läßt sich eine reine Lösung der Probleme einer besten Bildung und
bestabgewogener Befugnisse des preußischen Landtages anstreben ohne Rück¬
sicht auf das Wahlrecht zum Reichstage und die constitutionellen Be¬
fugnisse des Bundesparlaments? Was helfen uns schließlich die vortrefflichsten
Gedanken über eine Reorganisation des Staatsministeriums, des Staats¬
raths, über Ministerverantwortlichkeit und Staatsgerichtshof, nachdem das
Bundeskanzleramt sich mit seiner Organisation, seinen Prärogativen, feinern
ganzen politischen Habitus so eigenthümlich weit hinausgehoben hat über
Alles, was die Charte Waldeck und die constitutionelle Doctrin sich je von
derartigen Institutionen hat träumen lassen? — Aber der Werth dieser Schrift
über preußische Verfafsungsreform bleibt bestehen, auch wenn ihr Ausgangs-
Punkt nicht dauerhaft ist und ihre theoretische Formulirung der Fragen
Preußen allein in das Auge faßt. Denn der Verfasser weiß sich frei von
der Versuchung deutscher Publicisten, in dem reinen Aether der Abstraktionen
und gedanklichen Constructionen zu lustwandeln, oder von der lustigen Höhe
philosophischer Erkenntniß die souveräne Kritik leuchten zu lassen über die
Menschen und die Dinge des Tages. Was er uns bietet, ist Erfahrungs¬
wissenschaft, nicht Raisonnement. Es ist ein kundiger Geschäftsmann. der zu
uns spricht, uns die Ergebnisse langjähriger Beobachtung und eingehenden
Studiums der staatsrechtlichen Verhältnisse Englands. Frankreichs. Preußens
mittheilt. Und da er ersichtlich zugleich ein Mann ist von höchster Un¬
befangenheit des politischen Standpunktes, von einem vorurtheilslosen Rea¬
lismus der Anschauungsart. maßvollen, aber eindringendem Urtheil und un¬
zweifelhaftem patriotischem Freisinn, so kann den Zeitgenossen solche Arbeit
nur willkommen sein. Ob auch die retrospective Kritik und politische
Praxis des Verfassers nicht in allen Beziehungen unmittelbar practische
Anwendbarkeit besitzt: sie besitzt den eminenten Werth aller empirisch ge¬
wonnenen Wahrheit, das Wissen bereichernd, das Urtheil berichtigend, lehr¬
reich für die Kenntniß der Vergangenheit und die Aufgaben der Zukunft.
Bedarf es der Hervorhebung, wie sehr es der politischen Literatur in Deutsch¬
land Noth thut, ausgefüllt und befruchtet zu werden durch die positiven
Elemente der Empirik und die instructive Mitarbeit praktischer Staatsleute?
Unberufene Professoren und berufslose Journalisten haben nur zu lange darin
ausschließlich die Meinungen beherrscht.
Die Verfassungsreform, welche unserem Autor vorschwebt, geht daher
nicht im Entferntesten darauf aus, in einer verbesserten Redaction des preu¬
ßischen Staatsgrundgesetzes die glückliche Befriedigung unserer politischen
Bedürfnisse anzustreben. Die Illusion, als könne man den vielgliedngen
Organismus eines großen Culturstaates über Nacht durch Vereinbarung
eines wohlparagraphirten Statuts auf eine völlig neue Basis stellen, kann
Weder bestehen vor der Natur des Staatswesens, noch vor der Geschichte,
noch vor den eigenen Erfahrungen der lebenden Generation. Die Reform-
Arbeit muß in langsamem Aufbau von unten anfangend organisch vor¬
schreiten. Wie die Negenerationsgesetzgebung am Beginn des Jahrhunderts
nach Abwerfung der aus der städtischen und ländlichen Bevölkerung lastenden
wirthschaftlichen Fesseln, nach Durchführung der Städteordnung und länd¬
lichen Gemeindeverfassung darauf die Kreis- und Provinzialstände und darauf
erst die Reichsstände zu stabiliren gedachte, wie in England das Verfassungs¬
recht vielverzweigtin Gewohnheiten, großen consolidirten Gesetzesacten und zahl¬
losen Statuten wie von selbst zusammengewachsen ist, so müßten auch wir durch
eine Reihe von Verfassungsgesetzen planmäßig unsere Institutionen ausbauen.
„Es wären zuerst die persönlichen Rechte der Staatsbürger festzustellen (Frei'
heit der Person und ihrer Complemente, freie Verfügung über Eigenthum
und Besitz, Beruf und Gewerbe, Rede und Schrift, Versammlung und Ver¬
einigung; Schutz dieser Rechte), sodann die Grundzüge der Gemeindever-
fassung, die Organisation der Kreise und Provinzen, schließlich die Bildung
der Volksvertretung und Behörden des ganzen Staats. Jedes der betreffen¬
den Gesetze würde die Materie, welche es behandelt, vollständig regeln und
ließe sich dann ohne alle Schwierigkeit je nach den Bedürfnissen der Zeit
abändern oder umgestalten, ohne daß die anderen mehr, als nöthig, be¬
rührt würden." — Das sind gewiß sehr beherzigenswerthe und für die po¬
litische Praxis heilsame Wahrheiten. Nur einen Gesichtspunkt wüßte ich
hinzuzufügen, der mir zur Rechtfertigung moderner konstitutioneller Grund¬
gesetze wesentlich erscheint. Den liberalen Bewegungskräften auf dem Con-
tinent war es nun einmal nicht vergönnt, in naturgemäß fortschreitender
Entwickelung und Erziehung der verschiedenen Bestandtheile des Volks zur
Theilnahme an den Staatsgeschäften ein volksthümliches Verfassungsrecht
herauszubilden. Auf lange Perioden eines naturwidriger Stillstandes im
politischen Leben folgten gewaltsame Conflicte revolutionären Charakters,
plötzliche Eruptionen der niedergehaltenen Kräfte und in der Vereinbarung
einer Charte ein rascher Friedenspakt zwischen den feindlichen Elementen der
Herrschaft und Freiheit. Es konnte nicht anders sein, als daß in derartigen
Grundstatuten möglichst im Fluge Alles summarisch zusammengefaßt wurde,
was an alten Versäumnissen, an lange Zeit unbefriedigten Reformbedürfnissen,
an neuen Ordnungen nachzuholen, auszugleichen und Grund zu legen war. Es
konnte nicht ausbleiben, daß solches Verfassungswerk in allgemeinen Ver¬
heißungen das Meiste zu sichern suchte, und die Gewähr für die demnächst!^
Erfüllung der Volkswünsche nicht in der gründlichen Fundamentirung der
Volksrechte, sondern in einigen mechanisch schnell realisirbaren Handhaben
parlamentarischer Volksvertretung fand. Revolutionäre Krisen sind keine
Zeit für organische Reformarbeit, und wie wir zu unserem Schaden erfahren
mußten, sind sie auch nicht geeignet, durch Staatsgrundgesetze solche Reform
anzubahnen. Der Irrthum in dieser Voraussetzung wurzelt aber in dem
historischen Verhängniß einer einmal durchbrochenen Continuität der politischen
Rechtsentwickelung. Ob es genügt, den Irrthum erkannt zu haben, um auch
die gesunden Anknüpfungen für die Reformgesetzgebung zurückzugewinnen, ist
schwer zu sagen. Oft genug hat schon der Anlauf hierzu ausgereicht, um
die Streitfrage zurückzuwerfen auf den ursprünglichen Confltkt um die Existenz
des Staatsgrundgesetzes.
Ist nun auch unter den jetzigen Zeitläufen, welche entschieden einer ein¬
heitsstaatlichen Centralisation zu gravttiren. nur geringe Aussicht vorhanden,
von den staatsbürgerlichen Grundrechten anfangend, und zur Selbstverwal.
wng in Gemeinde und Kreis fortschreitend das Reformwerk so gründlich
und methodisch durchzuführen, wie es unser Autor fordert, so wird man die
hierüber sich verbreitenden ersten Capitel der Schrift doch nicht ohne Nutzen
und Belehrung lesen. Wir begegnen einer Fülle kluger und treffender Be¬
merkungen, praktischer Fingerzeige und concreter Vorschläge, die sich zwar
meist den wohl begründetsten liberalen Bestrebungen anschließen, aber ohne
ängstliche Rücksicht nach rechts, wie links dem eigensten wohlerwogenen Urtheil
folgen. — Der Verfasser ist selbstverständlich kein Freund jenes Lapidarstils
moderner Verfassungsurkunden, in welchem dieselben individuelle „Grund-
rechte" zu gewährleisten pflegen: die schönen Sätze in ihren höchst allgemeinen
und feierlich nichtssagenden Wendungen bleiben absolut ungenügend für alle
praktische Verwerthung. Diese ist nur durch eine Reihe von Specialgesetzen
zu erhoffen, welche wirklich die ganze Mannichfaltigkeit der einschlagenden
Beziehungen umfassen, und hiernach beschäftigt sich der Abschnitt von den
..Grundrechten" sehr eingehend mit der wünschenswerthen positiven Ordnung
dieser Dinge. Indessen, so praktisch dieser Gesichtspunkt auch ist. darf doch
ein Moment bei alledem nicht übersehen werden. Derartige positive Ord¬
nungen zum Schutz der persönlichen Freiheit, des Hausrechts, der freien Nieder¬
lassung, des Gewerbebetriebs, der Presse, der öffentlichen Versammlungen und
Vereine, des Rechtsweges und geordneten Gerichtsstandes u. s. f. sind ge-
Miß vollkommen unentbehrlich. Aber für noch viel unentbehrlicher zum Schutz
der individuellen Freiheit halte ich gewisse negative Fundamentalbestimmun¬
gen des Verfassungsrechts, welche dem Staat und der staatlichen Gesetzgebung
^ für alle Mal unübersteigbare Schranken gegenüber der individuellen
Rechtssphäre ziehen. Solche individuelle Grundrechte in determinirtester
Formulirung sollten allerdings grundgesetzlich garantirt und jeglichen Ein-
fällen und Eingriffen der Legislative entrückt sein. Wir verdanken es der
Erfindung der allgemeinen Menschenrechte und der deutschen Philosophie,
daß wir auch in Deutschland verlernt haben, uns das Individuum in seinem
bürgerlichen Verhältniß zur staatlichen Gemeinschaft anders vorzustellen, als
Mit hochfliegenden positiven Prätensionen reichlich ausgestattet. Die nüch¬
terne Vorschrift des allgemeinen Landrechts „die Begriffe der Einwohner des
Staats von Gott und göttlichen Dingen, der Glaube und der innere Gottes-
dienst können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen sein"
(Th. II. Tit. 11. § 1) enthält das Muster eines greifbaren Grundrechts,
w>e sie uns heute Noth thuen. Man braucht statt dessen nur eine positive
Fassung zu wählen, die den modernen Vorstellungen in friderieianischer Rede¬
weise entsprechen würde, etwa „ein jeder Preuße hat das unverjährbare
Recht, nach selner Facon seelig zu werden", und der Unterschied für das
lebendige Verfassungsrecht springt grell in die Augen. Nicht minder würde
eine gesunde Realpolitik darauf nicht Verzicht leisten können, dem Grundgesetz
des Staates die endgiltige Festsetzung derjenigen Linien^zu überweisen, welche
die Staatsgewalt in ihrer legislativen, wie in ihrer erecutiven Wirksamkeit
den kommunalen Körpern gegenüber niemals überschreiten darf. Auch die
Gemeinde bedarf ihrer Habeascorpusacte, die sie ein für allemal innerhalb
gewisser Begrenzung in ihrem Haushalt, ihrer autonomen Organisation und
ihren Localstatuten dem Staate gegenüber für unverletzbar erklärt. Wenn
das Grundstatut des Staates selbst diesem nicht solche unverrückbare
Schranken seiner Hoheitsrechte zieht, behalten alle positiven Städte- und
Gemeinde-Ordnungen, mögen sie noch so wohlwollend speeialtsirt sein, den
Charakter precärer Verleihung. Was der Staat in freigebiger Stimmung
heute der individuellen und communalen Freiheit geschenkt, kann seine Ge¬
setzgebung morgen zurücknehmen. Aufmerksame Beobachter des Verfalls im
englischen Selfgovernment haben eins der wesentlichsten Symptome dieser
Auflösung darin gefunden, daß 1726 zuerst, dann seit 1835 allgemein die
Verfassungen der städtischen Corporationen im Widerspruch mit dem gemei¬
nen Rechte discretionär in das Bereich parlamentarischer Gesetzgebung ge¬
zogen wurden. „Diese Bill", erklärten 1725 die dissentirenden Lords, „wird
den alten Titel, aus dem die City ihre Rechte besitzt, gänzlich zerstören, und
eine neue Konstitution einführen, die nicht mehr auf dem alten Titel, son¬
dern auf Parlamentsacte beruht, was nach unserer Ueberzeugung für
die Zukunft die City, so oft.sie ihre Rechte zu vertheidigen hat, in unüber¬
sehbare Schwierigkeiten bringen muß."
Doch gehört diese grundgesetzliche Zwischenbemerkung vielleicht schon in
die Kategorie jener speculativen Betrachtungsweise, welche unser Verfasser
perhorrescirt. Jedenfalls soll sie den positiven Grundsätzen einer „Selbstver¬
waltung in Gemeinde und Kreis", welche in einem der vortrefflichsten Capitel
des Buchs entwickelt werden, Nichts an ihrem Werthe nehmen. Erkennt es
doch der Verfasser am Schlüsse des Capitels selbst an, daß alle Dtscussionen
über Selbstverwaltung nur dann zu vernünftigen Ergebnissen führen können,
wenn der Staat seine Verwaltung einschränkt und dem entsprechend seine
Verwaltungsbehörden reorganistrt und vereinfacht. Die Regierungsbezirke
und Bezirksregierungen sollen aufgehoben, nur die Provinzen in ihrer ge¬
schichtlich gewordenen und landschaftlich berechtigten Sonderexistenz als höhere
Verwaltungseinheiten erhalten, die Provinzialadministration aber „Ober-
Präsidien" mit collegialer Verfassung anvertraut werden. Selbstredend liegt
in dieser Reorganisationsfrage der springende Punkt in dem Maß derjenigen
materiellen Verwaltungsbefugnisse, welche den staatlichen Administrativbehörden
als solchen grundsätzlich genommen und an Kreis oder Gemeinde zu eigenem
Rechte definitiv übertragen werden. Sonst bleibt es eine Reform von sehr
mechanischer Bedeutung, aus zwei oder drei Bezirksregierungen eine
Provwzialregierung zusammen zu schmelzen, und diese „Ober-Präsidium" zu
nennen. Die Beseitigung administrativer Zwischeninstanzen, aus welche der
Verfasser einen für die organische Reform durchaus zu starken Nachdruck legt,
könnte verwirklicht werden ohne jede andere Wirkung, als die einer gesteigerten
Centralisation und Vermehrung des bureaukratischen Schreibwerks. Die
Preußischen Bezirksregierungen, wie sie durch die Verordnungen vom 26. De¬
zember 1808. 20. April 1815 und 23. October 1817 aus den Kriegs- und
Domänenkammern gebildet worden sind, haben zum guten Theil eine eigent¬
lich natürlichere, mehr geschichtliche und particularstaatliche Basis, wie die
mit ihnen zugleich organisirten zehn, später acht Provinzen. Die provinzielle
Einheit der Mark, Preußens. Sachsens. Westfalens, der Rheinlande ist
eine willkürlich erst in diesem Jahrhundert gewordene. Daß die Ober-
Präsidenten sich zwischen die Regierungen und die (Zentralbehörden hinein¬
geschoben haben, datirt entschieden erst seit der Kabinets-Ordre und Instruk¬
tion vom 31. December 1825, und ist durch die konstitutionelle Zeit in ganz
erschreckender Weise gesteigert worden. Im Geiste der Regenerationsgesetz¬
gebung lag es unbedingt nicht. Nach Sinn und Wortlaut jener Verord¬
nungen vom Jahre 1808. 1815. 1817 sollten die Ober-Präsidenten in sehr
Weise abgewogener Competenz mehr eine repräsentative, den provinziellen
Zusammenhang schützende Stellung einnehmen, als irgendwie einen die selbst¬
ständige Thätigkeit der Regierungscollegien beherrschenden Einfluß ausüben.
I» es drängt sich einem beim aufmerksamen Studium der Reformgedanken
jener großen Zeit nicht selten die Vermuthung auf, die Regeneratoren unseres
Staatswesens hätten ihre Ober-Präsidenten nicht eigentlich als eine dauernde
staatliche Institution, vielmehr als vorübergehende Stützen zur Kräftigung
der jungen Neubildungen gewollt. Daß heute selbst ein so unbefangener,
freisinnigrr. der Selbstverwaltung zugeneigter Reformer, wie unser Verfasser,
ihrer nicht mehr entbehren zu können glaubt, sondern in ihrer centralisirteren
Zusammenwerfung mit den Regierungscollegien das Heil findet, ist charakte¬
ristisch für die Richtungen unserer Lage. Anknüpfen kann man an die
preußischen Ober-Präsidenten freilich viel und vielerlei: sie ließen sich eben¬
so gut zu Präfekten mit ihren Präfekturräthen umbilden, wie zu Sheriffs
oder Lord-Lteutenants. Alles hängt davon ab, wie wir uns in einem Grund¬
statut der Zukunft die Grenzen nicht dieser oder jener staatlichen Admini¬
strativbehörde, sondern aller und jeder staatlichen Verwaltung und Beauf¬
sichtigung gesteckt denken.
Und hiervon wird auch wesentlich der Grundcharaktea des deutschen
Parlamentarismus der Zukunft abhängig werden, über welchen sich unsere
Schrift in zwei weiteren Abschnitten, über die Bildung und die Befugnisse
der Volksvertretung" in sehr beachtenswerther Weise verbreitet. Es würde
zu weit über die Grenzen unserer Besprechung hinausführen, wollte ich auch
nur eine oberflächliche Analyse der vortrefflich motivirten Reformvorschläge
des Verfassers versuchen. Nur Einiges davon sei angemerkt. Das Herren¬
haus — der Verfasser zweifelt nicht an der Nothwendigkeit des Zweikammer¬
systems — soll in der Richtung umgestaltet werden, daß der Kleinadel sein bis¬
heriges Uebergewicht einbüßt, dafür die reformirten Provinzialstände etwa
die Hälfte der Mitglieder dieses Hauses wählen, und die andere Hälfte sich
aus einer geringen Zahl lebenslänglicher Pairs und Vertreter der Univer¬
sitäten, überwiegend aber aus den erblichen Häuptern der Familien des hohen
mit wirklich großem Grundbesitz begüterten Adels zusammensetzt. Wir be¬
gegnen hier den denkwürdigen Ideen Torquevilles über die Bedeutung der
Aristokratie für die Volksfreiheit, wenn der Verfasser ausruft: „Die große
Gefahr unserer Tage ist der überhandnehmende Zug zum Imperialismus,
welcher den Schein und die Form der Freiheit gibt, aber das Wesen der¬
selben zu Gunsten des persönlichen Regiments absorbirt! Die Demokratie
hat sich ohnmächtig gezeigt, diesem Zuge zu widerstehen, ja sie hat ihm viel¬
fach gehuldigt, um nur das Trugbild der Gleichheit zu retten. Es ist die
Aufgabe der aristokratischen Elemente, d. h. derjenigen Factoren der Nation,
deren Bedeutung nicht auf der Zahl, sondern der Individualität beruht,
jener verderblichen Richtung entgegenzutreten." Eine Aristokratie läßt sich
gewiß nicht improvisiren, noch, wo sie einmal zerstört ist, wiederherstellen;
wo aber, wie in Deutschland, die Grundlagen dafür noch vorhanden sind,
müssen sie erhalten und verwerthet werden, wollen wir nicht dem Regiments
der Bureaukratie, des Säbels und des Geldes verfallen. — Für die
Bildung des Volkshauses verwirft der Verfasser sowohl das allgemeine
directe Wahlrecht, wie die indirekten Wahlen nach bisherigem preußi¬
schen System, und wie den activen Census und die Interessen- oder Be¬
rufsclassen-Vertretung. Das örtliche Gemeindewahlrecht soll die
ausschließliche Grundlage für die active Wahlqualification zum Parla¬
mente abgeben. Für die Wählbarkeit genügt die Diätenlosigkeit und die Aus¬
schließung der eigentlichen Staatsbeamten und activen Militärs. Wie gern
wünschte ich hier den Verfasser als praktischen Reformer zu wissen, der nur
practtsch Erreichbares anstrebt! Das eben ist ja das große Problem
deutscher Repräsentativverfassung, daß sie bisher grundsätzlich nicht, wie die
englische in ihrer historischen Entwickelung sich langsam aufgebaut hat auf
der Gemeindevertretung, sondern in raschem, gewaltsamen Anlauf die demo¬
kratischen Ideen der Souveränetät des Volks, des einheitlichen, gleicharti¬
gen Volkskörpers und solcher Volksvertretung zu verwirklichen gewillt
ist. Es liegt eine gewaltige dämonische Kraft in dem demokratischen Geist
unserer Tage, feindlich dem aristokratischen Individualismus und dem Son
derrecht des Selfgovernments, aber desto unaufhaltsamer wirkend für die Zer
Setzung aller Particularitäten und für die Volkseinheit. Als Graf Bis-
marck in dem constituirenden Reichstage das allgemeine directe Wahlrecht
vertheidigte, schien ihn lediglich die einfache Folgerichtigkeit zu leiten, welche
gegenüber den Künsteleien und doctrinären Willkürlichkeiten des älteren Con-
stitutionalismus die demokratische Raison auszeichnet. In Wirklichkeit konnte
er seine Schöpfung auf keine sichere Basis stellen, und ihr kein festeres Binde¬
mittel mitgeben, als es durch die rückhaltslose Heranziehung des allgemeinen
Stimmrechts geschehen ist. Das unterwühlt stetiger und furchtbarer die dem
Einheitsstaate hinderlichen Organismen in dem Kern ihres Wesens, als es
äußerlich die von demselben Geiste beherrschte Reichsgesetzgebung thut. Was
Uhland uns einst vorausverkündet hat, daß der deutsche Kaiser des vollen
Tropfens demokratischen Oels für seine Krönung nicht wird entbehren kön¬
nen, die Prophezeiung trifft ebenso ersichtlich die deutsche Nation und die
Krönung ihres Einheitswerkes. Wie wollen wir in dem verödeten Kreise
des preußischen Verfassungsrechtes jemals hoffen, durch noch so gewissenhafte
organische Reformarbett die Gewalten zu neutralisiren, die erbarmungslos
Alles darniederwerfen, was sich deutscher Macht und deutscher Herrlichkeit
entgegenzustellen wagt, droht diese Macht und diese Herrlichkeit sich schließlich
auch in der unheimlichen Gestalt cäsarischer Volksgröße zu enthüllen.
Deßhalb ist auch nur geringe Aussicht vorhanden, das preußische Par-
lament zu einem so practisch arbeitenden Körper umzugestalten, wie es
dem Verfasser, von seiner guten Kenntniß des englischen Parlamentarismus
beeinflußt, nach seinem Plane vorschwebt. Zwar will er nicht die Herr¬
schaft der Majoritäten und die eigentliche parlamentarische Regierung; dazu
erkennt er zu genau die Regierungsunsähigkeit unserer jetzigen Parteien und
°le geschichtliche Bedeutung preußischen Königthums. Aber indem er den
vollsten Accent aus die Finanzrechte der Volksvertretung legt, trotzdem aber
sowohl die Nothwendigkeit einer absoluten Steuerverweigerungsrechtes als
widersinnig, wie die Nützlichkeit der Trennung des Budgets in ein ordent¬
liches und außerordentliches als unbefriedigend verwirft, glaubt er durch Be¬
seitigung des Budgetrechts des Herrenhauses. Erweiterung der Oberrechnungs-
kammer zu einem jede Ausgabe vorgängig controlirenden Departement
ok Lxedequer und Einführung der englischen sogenannten Appropriations-
clausel (Aufhebung der virements), sodann durch Zuweisung der die Neu-
Wahlen ausschreibenden Befugnisse an den Präsidenten des Abgeordneten¬
hauses und Kräftigung der parlamentarischen Jnformationsausschüsse, auch
für das Gebiet der auswärtigen Politik, die Befugnisse der Volksvertretung
in gesunder Weise reformiren zu können. Dem Practiker wird es nicht ein¬
leuchten wollen, wie hierdurch die in England durch den eousoliäatet luna
so weise gemiedenen Schwierigkeiten eines unbeschränkten Ausgabeverweige¬
rungsrechts gelöst sein könnten, und der kritische Politiker wird vollends den
Kopf schütteln. Das ist entweder zu viel oder zu wenig Parlamentarismus.
Zuviel, wenn der Verfasser in seinen früheren Voraussetzungen Recht hat,
wenn die preußische Krone auf der Höhe ideellen Berufs bleibt, und eine
lebensvolle Gemeindefreiheit die staatliche Legislative und Executive, die bis¬
herige Unumschränktheit des Staatshaushalts und der constitutionellen Bud¬
getrechte in ihre natürlichen Grenzen zurückdrängt. Zu wenig, wenn die
vom Verfasser nicht genügend gewürdigten Elementen im Rechte bleiben,
wenn ein rücksichtsloser monarchischer Ehrgeiz auf der einen Seite, eine ebenso
rücksichtslose demokratische Allgewalt legislativer Volksrechte aus der anderen
Seite nicht reorganisirend an den inneren Ausbau des preußischen Staats¬
rechtes, sondern centralisirend an der äußeren Vollendung der deutschen
Volkseinheit fortwirken.
Nachdem unsere Schrift in ihrer methodischen Weise noch einen beson¬
deren Abschnitt dem practisch allerdings sehr wichtigen Capitel der parla¬
mentarischen „Geschäftsordnung" gewidmet hat, den deutschen Liebhabereien
für Fractions- und Commissionswirthschaft und für die große Redeaction der
Tribüne, wendet sie sich in ihrem letzten, kürzesten Theil zu den Spitzen des
Versassungsstaats: Staatsministerium, Staatsrath, Staatsgerichtshof und
Krone. Wir begegnen auch hier wieder vielen recht beachtenswerthen Finger¬
zeigen einer nicht doctrinären, sondern sachlichen Reform, manchen sehr eigen¬
artigen und in ihrer Ausführbarkeit bedenklichen Vorschlägen, wie den für
die fast souveräne Competenz des Staatsgerichtshofs aufgestellten Postulaten
und den Restaurationsversuchen des Staatsraths, endlich einigen Parteien,
die den Eindruck zurücklassen, der Verfasser habe nicht sagen wollen, was
bereits von anderer Seite reichlich behandelt war. Dahin möchte ich die
in der That der vielmißhandelten Materie von der Ministerverantwortlich¬
keit kaum einen neuen oder fruchtbaren Gesichtspunkt zufügenden Erörte¬
rungen des VIII. Capitels, und die Schlußbemerkungen über die Krone
zählen.
Trotzdem es hiernach scheinen könnte, als sei der Gesichtskreis des klugen und
gedankenreichen Practikers nicht überall weit genug für die Lösung der schwierig¬
sten politischen Aufgaben, welche jemals einem Volke gestellt worden sind, so
wünschen wir dem Buche doch viele und aufmerksame Leser. Sollte es Gefahr
lausen, diese Beachtung nicht zu finden, die es in vollstem Maße verdient, so wird
die Schuld nicht an den Eigenschaften des Schriftstellers liegen, die ihm selbst im
Vorworte Besorgnis) erregen, seiner Unabhängigkeit von der conservativen
wie liberalen Doctrin, dem provocirten Mißvergnügen zur Rechten wie zur
Linken, der staatsmännischen Kühle des Temperaments — nnilst 1'oriöL
eaUeä Kien MKiZ ana ^Vo'gs a ^or^ — sondern in dem alten über den
Büchern waltenden Factum. Das Erscheinen fällt in Tage, welche weder
dem Gegenstande, noch der BeHandlungsweise des Verfassers günstig sind.
Mehr als je ist das ganze Interesse der Nation der Reichsgesetzgebung zuge¬
wandt, soeben ist ein großer Wurf von unberechenbarer Tragweite derselben
gelungen, und vor dem immer Heller aufgehenden Gestirn des deutschen Ein¬
heitsstaates verblassen die Reformgedanken der preußischen Constitutionellen.
Dennoch thut es dringend Noth, daß ernste und erfahrene Männer nicht
davon ablassen, die Grundlagen aller bürgerlichen Freiheit, die tiefsten und
dauerndsten Lebensbedingungen deutschen Volksthums, die unvergeßlichen
Ueberlieferungen bester altpreußischer Staatsordnung wandellos festzuhalten
als den unentbehrlichen Inhalt des politischen Studiums und der practischen
Politik. Man kann noch so leidenschaftlich der geschlossenen nationalen Größe
Deutschlands zugethan sein mit allen Fasern des Herzens, und noch so
energisch davon überzeugt sein, daß das deutsche Volk, zwischen inne gestellt
zwischen die Centralisation der lateinischen Race und die unheimliche Con-
glomeration des Panslavismus den Einheitsstaat erringen muß, will es auch
nur seine Existenz wahren; so sollen wir deshalb doch nicht Verzicht leisten
auf jedes natürliche und heilsame Gegengewicht gegen die Gefahren einer
ertödtenden Staatsallmacht. Solches Gegengewicht ist nur zu denken durch
feste Gründungen aus dem Gebiet der individuellen Freiheit und der commu-
nalen Selbstverwaltung. Und solche Gründungen mit der entsprechenden
Reorganisation der staatlichen Behörden sind mustergiltig nur zu schaffen
innerhalb des particular-preußischen Verfassungsrechts. Deshalb ist es nicht
unnütz, von preußischer Verfassungsresorm zu reden und zu schreiben.
Als uns im vorigen Jahre der vielverheißende Titel, der hier oben ab¬
gedruckt ist, zu Gesichte kam, dachten wir, er verkünde uns ein Buch, wie
wir es selbst oft genug geschrieben wünschten, eine gründliche und anschau-
liche Darstellung im Geiste und der Methode Karl Ritters, wozu nothwendig
auch seine Ausführlichkeit und, wenn man will, seine Breite gehört. Unser
Erstaunen war nicht gering, als uns statt dessen eine Broschüre von wenigen
Bogen in die Hand gegeben wurde, dünn genug, um unter dem Heere ihrer
Schwestern in keiner Weise durch äußern Umfang sich unbescheiden hervor¬
zuthun. Und doch enthielt sie nicht blos das, was sie verkündigte, sondern
noch unendlich mehr. Eine ganze Menge von sitten - und eulturgeschichtlichen
Rubriken, die Niemand in einer geographischen Skizze sucht, sprachgeschicht¬
liches aller Art, volksthümliches in Spruch und Lied, 'selbst der eigentliche
Volkschwank oder was diesem nahe steht, war nicht ausgeschlossen. Wahr¬
scheinlich wird noch mancher andere Leser denselben Eindruck erhalten haben,
wie wir: eine Art Kaleidoskop, dessen hundert Bildchen in einer gewissen
Verwandtschaft zueinander stehen, aber in einer so losen, daß man. wenn man
ein einzelnes sieht, doch recht viel Abstractionskrast nöthig hat, um über dem
minutiösen Detail nicht die Zusammengehörigkeit des Ganzen zu vergessen.
Man könnte es wohl auch als eine Sammlung von ethnographisch-linguistisch-
culturgeschichtlichen Bemerkungen oder Anekdoten bezeichnen, und wie es bei
jeder solchen Anekdotensammlung zu gehen pflegt, wenn man aus den un¬
passenden Einfall geräth, sie wie ein anderes Buch Zeile für Zeile zu lesen,
war der zurückbleibende Eindruck oder das, was man Gewinn des Lesens nennt,
schließlich gleich null.
Deshalb wird man es uns nicht verdenken, wenn wir auch diese Bro¬
schüre wie hundert andere ebenso rasch wieder vergessen wie wir sie gelesen hatten
Aber heute, wo sie in verhältnißmäßig kurzer Zeit eine zweite Auslage er¬
lebt hat, fordert sie doch von neuem unsere Beachtung heraus. Nicht als
wenn sie selbst etwas anderes worden wäre, als was sie vorm Jahre war.
Einige Blätter mehr oder weniger, einige Striche mehr oder weniger ändern
an dem Charakter noch nichts, aber die Thatsache, daß unser lesendes Pu-
blicum ihr eine so bestimmte Theilnahme geschenkt hat, veranlaßt uns jetzt
zu einer Betrachtung, welche an das genannte Buch anknüpft, wir verlangen
nicht, daß die neue Bearbeitung einen ganz anderen Weg eingeschlagen hätte,
wie die erste, denn dies würde ebensoviel heißen, als daß das Büchlein gar
nicht hätte geschrieben werden sollen, aber wohl, daß die Gruppirung der
einzelnen Miniaturoilderchen etwas systematischer und dadurch wirkungsvoller
gemacht und daß eine nicht geringe Anzahl von factischen Verstößen, Unrich¬
tigkeiten, die nicht einer subjectiven Auffassung, sondern allein dem Wissen
des Verfassers zugerechnet werden müssen, ausgemerzt wären.
Vielerlei steht auf 120 Seiten und noch dazu in einer Unordnung, die
das Viele fast eben so unfaßbar für das geistige Auge macht, wie es das
Gewimmel eines aufgestörten Ameisenhaufens für das leibliche ist. Zwar stoßen
wir aus die verheißungsvolle Rubrik; „mundartliche Logik", aber das ist auch
die einzige Spur, welche diese nützliche Wissenschaft hier hinterlassen hat, und
die „wissenschaftlich gebildeten" Leser, für welche.das Buch nach den ersten
Worten der Vorrede bestimmt ist, werden wohl daran thun, Alles, was sie
noch aus ihren eigenen Studien in der philosophischen Propädeutik oder
aus dem vollögium loxicum des Fuchsenjcchres der Universität in Besitz
haben, zu Hilft zu nehmen, um sich selbst damit durchzuhelfen. Und
doch sind es wieder nicht blos harmlose Plaudereien, bei denen man vom
Hundertsten ins Tausendste gerathen darf. Dazu ist das Schriftchen zu bon.
trinär, zu lehrhaft anspruchsvoll und fehlt dem Verfasser auch zu sehr, wie
es scheint, die Gabe, einen an sich ansprechenden Stoff durch allerlei Klein¬
künste des Stils und des Vortrags genrehaft auszuputzen. Offenbar möchte
er gern eine „eigentlich" wissenschaftliche That thun und darum scheut er sich
auch nicht, dem Leser manches zuzumuthen, dem nicht blos ein für die Unter¬
haltung schreibender Belletrist, sondern auch ein Socialpolitiker wie Riehl,
oder ein psychologischer Anatom wie Bogumil Goltz sorgsam aus dem We-ge
gegangen wäre. Dahin gehört der ganze gelehrte Apparat aus der Sprach¬
vergleichung und der historischen Grammatik. Ganz wundersam nimmt es
sich aus, wenn plötzlich in der Mitte steirischer, bayrischer, kärntnerischer
Schnadahüpfeln und volksthümlicher Schnurren die Register strengster Ge¬
lehrsamkeit gezogen werden, und wir von den Arjas und der Bedeutung ihres
Namens, von der ersten und zweiten Lautverschiebung, von dem Verhältniß
des gothischen zu hochdeutsch einerseits, niederdeutsch andererseits eine wahre
Schullection erhalten. Gründlich kann sie freilich nicht sein, das verbietet
schon der Raum, aber was noch schlimmer ist, sie ist nicht einmal so ganz
auf ächte Sachkenntniß basirt, wie es der Verfasser selbst bona, uns anzuneh¬
men scheint. Wissenschaftliche Leser, die er sich wünscht, wozu doch in diesem
Falle zuerst die zählen, welche in der allgemeinen und speciellen Linguistik
berufsmäßig zu Hause sind, werden zum mindesten öfters über die Sicherheit
in Erstaunen gerathen, mit der hier höchst problematische Dinge als voll¬
ständig bewiesen vorgetragen werden, öfters aber auch aus unleugbaren
Schnitzern abnehmen, daß guter Wille und einige Belesenheit allein noch
keine Sachkenntniß verleihen. —
Wirksamer würde jedenfalls das Buch geworden sein, wenn sein Ver¬
fasser nicht mehr hätte geben wollen, als er geben konnte. Was das ist,
laßt sich rühmend bezeichnen, nämlich scharf gesehene und mit Liebe ge¬
gezeichnete Bilder aus dem deutschen Volksleben, besonders so weit dies in
und an der Sprache, also wesentlich in der Mundart zum Ausdruck kommt.
Der Verfasser muß eine ungewöhnliche Lokalkenntniß verschiedener Theile von
Deutschland besitzen und ein fast ebenso seltenes feines Ohr und treues Ge¬
dächtniß für sprachliche Dinge. Aus den?vorhandenen Hilfsmitteln, etwa
aus unseren Dichtern und Schriftstellern im Dialect. von Hebel und Voß
bis zu Panier und Groth herab, oder aus Firmenichs Völkerstimmen und
ähnlichen Sammlungen von „Dialectproben" läßt sich eine solche Fülle
von drastischen, durch und durch lebendigem Material nicht zusammentragen,
noch weniger aus unseren Idiotiken und Dialectgrammatiken. In dieser
Hinsicht darf man diese wenigen Blätter wohl eine in ihrer Art einzige Er¬
scheinung nennen und selbst die strenge Wissenschaft der Sprachkunde kann
auf jeder Seite, natürlich nur mit der ihr angeschulten kritischen Reserve, sehr
viel lernen. Doch ist es nicht ganz Deutschland, das dem Verfasser so zu
sagen wie ein aufgeschlagenes Lexicon zu Gebote steht. Referent weiß nichts
von seiner Person, nicht, wo er daheim ist und welchem Berufe er ange¬
hört und man darf auch aus der Form seines Namens, die stark nach dem
Südosten hinweist, wo das y noch in der Orthographie dominirt, keinen Schluß
ziehen, aber es ist ganz deutlich, daß er «in frischesten sich da fühlt, wo er
vom Oestreich, Kärnten, Steiermark etwas mitzutheilen hat. Das scheint die
eigentliche Luft, die er athmet, oder die er am liebsten athmen möchte. Aber
auch am Mittel- und Niederrhein und in Westfalen ist er wie ein Landes¬
kind heimisch, den Südwesten dagegen, so sehr er ihn gelegentlich preist,
scheint er selten betreten zu haben, daher er sich hier mit den bekannten ba¬
nalen Phrasen über die tiefe Urwüchsigkeit und großartige Begabung der
Schwaben an Gemüth, Geist und Verstand eben behilft, ohne sie durch Eigen¬
erlebtes uns begreiflicher zu machen, falls wir etwa zu den Ungläubigen ge¬
hören sollten, die seit 1866 bis heute die Augen offen gehabt und gelegent¬
lich auch einmal eine Zeitung oder eine Broschüre aus jenem stolzen Kern¬
lande gelesen haben. Noch weniger fühlt er sich in den mittleren Regionen
östlich von der Lahn bis an die polnische Grenze zu Hause. Die Gegend der
unteren Unstrut, Leipzig, vielleicht auch Dresden mag er einmal durchflogen
haben, aber was er hiebei erhascht hat. steht doch kaum höher, als was
jeder gewöhnliche Tourist, dem eine gewisse satirische oder humoristische
Ader nicht fehlt, auch mit nach Hause bringen könnte. Eine völlige terrg,
iuooMlts. ist ihm der eigentliche Nordosten, obgleich wir nicht behaupten
wollen, daß er nicht in Berlin gewesen sein könnte. Aber von Berlin selbst
scheint er nicht vielmehr als die schlechten Berliner Witze und die Ecken¬
steher gesehen zu haben, obgleich es eigentlich schwer fallen dürfte, diese letzte¬
ren zu sehen, weil sie blos in dem seligen Glasbrenner und in der erhitzten
Phantasie der „Kerndeutschen" noch existiren. Von der Mark kennt er nur
die Kiefernwälder, nicht die prächtigen, blauen Seen, die spiegelnden Wasser¬
läufe, die fetttriefenden Auen, noch weniger die Märker selbst. Auch er, und
das ist wieder ein Beweis, daß er nicht völlig zu selbständiger wissen¬
schaftlicher Erkenntniß gerüstet ist, glaubt noch an das alte Märchen, das
die neuere historische Forschung doch so gänzlich widerlegt hat, er sieht noch
immer in dem „deutschesten der deutschen Stämme", wie man ihn im höchsten
Sinne nennen muß, einen Mischling von Slaven und Deutschen, gerade so
wie Herr Frese. Herr Mayer, Herr Klopp und wie die anderen heißen, deren
Gebahren schon eine Demüthigung für Deutschland ist. Gewiß würde kein
vernünftiger Mensch etwas dagegen einwenden, wenn der Märker auch vom
Slaven stammte, denn es kommt darauf an, was eine Sache ist, aber nicht
aus welchen Atomen sie sich zusammengesetzt hat, aber da die Tendenzpolitik
mit diesem Irrthum so frech zu operiren pflegt, so ist es wünschenswerth,
daß er von jedem, der seiner nicht zu diesem Zwecke bedarf, bei Seite ge-
than werde.
Unwillkürlich arbeitet dadurch der wohlgesinnte Verfasser seinem eigenen
Zwecke entgegen. Er versichert uns und wir haben Grund seiner Versiche-
rung zu glauben, daß es ihm darum zu thun, die Lichtseiten des Nordens,
wie des Südens aufzusuchen und mit gleicher Freudigkeit anzuerkennen, da¬
neben die Schattenseiten nicht gänzlich zu übersehen und mittels einer natur¬
getreuen Zeichnung von Land und Leuten sein bescheiden Theil dazu bei¬
zutragen, die hüben und drüben noch bestehenden Vorurtheile zu entfernen.
Denn „der Süden kennt den Norden, der Norden den Süden noch viel zü
wenig. Das, was beide Theile von einander kennen, sind oft nur ihre beider-
seitigen Mängel." Oder: „Im.wesentlichen stehen sich alle deutschen Stämme,
stehen sich der deutsche Norden und Süden näher, als es auf den ersten An¬
blick scheint — viel näher als unsere Stämme im Norden und Süden selbst
^ meinen und vermuthen."
„Trotz dieser inneren Annäherung, dieser entschiedenen Wahlverwandt¬
schaft unseres Nordens und Südens hegen diese beiden Hälften unseres
Vaterlandes doch noch immer — zu ihrem eigenen Schaden!- die abenteuer¬
lichsten Vorurtheile, die ungegründetsten Antipathien gegen einander; Zu¬
stände und Thatsachen, die, so beklagenswerth sie im Interesse unserer natio¬
nalen Einheit und Macht sind, zugleich eine so entschieden komische Seite
haben, daß man im Norden wie im Süden unwillkürlich an jene famose Ge-
schichte „von den zwei Gespenstern" erinnert wird."
„Um die Geisterstunde, bei Nacht und Nebel, begegnen sich an einem
Kreuzwege zwei Gespenster. Sie bleiben gegenseitig erschreckt stehen und
starren regungslos einander an. bis es Tag wird, wo die beiden Gespenster
sich dann als Bauerweiber und Schwestern gegenseitig erkennen und beschämt
davon eilen."
..Aehnlich ergeht es noch heute vielen Norddeutschen, wenn sie zum ersten
Male in ihrem Leben einen Süddeutschen oder gar einen geborenen Oestreicher
^ und umgekehrt geht es so vielen Süddeutschen, wenn sie zum ersten Male
einen Norddeutschen oder gar einen Berliner erblicken."
Das alles mag nun recht wohl gemeint sein, doch wird das Bedauern nicht
viel helfen, wenn der eigentliche Grund dieser Mißverständnisse — wenigstens
nach des Verfassers Meinung ist er es — die gegenseitige Unbekannt-
schaft mit Land und Leuten, fortdauert. Uebrigens giebt Herr Schatzmayer
an einer anderen Stelle der Wahrheit die Ehre, indem er zugesteht, daß der
Norden den Süden viel besser kenne, als dieser jenen, womit freilich noch
nicht gesagt ist, daß das besser auch ein wirklich positives Gute voraussetze.
So lange aber selbst wohlmeinende Leute im Norden nur „künstliche Kiefer¬
wälder auf öden Sandflächen", „Lehmhütten oder dünne Wände von soge'
nannten Fachwerk" u. tgi. mehr zu sehen im Stande sind, werden sie auch
ihren süddeutschen Freunden schwerlich große Lust zu einer Entdeckungsreise
in diese grausigen Gefilde einflößen. Ohnehin reist der Süddeutsche weniger
als der norddeutsche, nicht bloß deshalb, weil er es zu Hause hübsch genug
hat. wie man sich im Süden häufig weiß macht, sondern weil ihm das
Reisen, namentlich das moderne Reisen zu unbequem ist, und weil der ganze
Zuschnitt des Lebens auch in den gebildeteren Ständen hier noch in vielen
Stücken um dreißig, vierzig Jahre — in anderen noch viel weiter — zurück
ist. Damals reiste man ja auch im Norden viel weniger. Setzt sich aber
der Süddeutsche einmal in Bewegung, dann liegt ihm die Schweiz, Tirol,
der Rhein, Italien, Paris so zu sagen vor der Thüre. Warum sollte er
nach Norden gehen? „Nur nicht nach Norden" ist die Parole, schon weil es
dem süddeutschen Selbstgefühl höchst unbehaglich wäre, wenn man wider
Willen eines besseren belehrt würde, daß es z. B. auch nördlich vom
Thüringer Wald noch ganz Trinkbares — theilweise trinkbareres als in
dem classischen Bierlande Bayern selbst — gibt, daß man auch dort nicht
gerade verhungert.
Diejenigen Süddeutschen, die durch irgend eine äußere Nöthigung oder
Zufall doch den Bann ihrer eingesogenen Vorurtheile gegen den Norden
überwinden gelernt und sich etwa dauernd in ihm angesiedelt haben, sind
gewöhnlich seine eifrigsten Verehrer geworden. Aber gegen die breite Masse
des schwatzenden und schreienden Chorus ihrer Landsleute vermögen ihre
Stimmen nichts. „Der ist halt auch verpreußt" ist schon genug, um mit
ihnen fertig zu werden. Wohlgemerkt haben wir dabei nur die sog. Gebit'
deten im Auge, die überhaupt das Reisen um seiner selbst willen oder als
Erholungs- und Belehrungsmittel betreiben. Sie wissen ja auch allein etwas
von der Existenz einer Mark Brandenburg, Pommerns, Schlesiens :c. Der
gemeine Mann in Süddeutschland, im Durchschnitt unglaublich schlecht unter¬
richtet und, mag man über seine natürliche Begabung denken wie man will,
meist mit keinem größeren Vorrath von positiven Kenntnissen ausgerüstet,
wie der gemeine Franzose und Italiener, weiß oder wußte überhaupt nichts
von dem Vorhandensein eines Landes, das nicht gerade sein Württemberg,
Bayern :c. ist. Höchstens wenn er an der Grenze wohnt und so mit eigenen
Augen fremde Postillone, Gensd'armen :c. ^täglich zu sehen bekommt, geht
ihm die Anschauung auf, daß es außer den roth-schwarz angestrichenen Seht.ig-
bäumen auch noch blau-weiße gibt. Er besitzt oder besaß also weder Vor¬
urtheile noch überhaupt ein Urtheil über den Norden, In den letzten Jahren
ist das freilich anders worden. Die Jacobiner- und Kapuzinermütze im har¬
monischen Bunde, die Ultramontanen und sogenannten demokratischen
Agitatoren haben dafür gesorgt, daß der Name „Breiße" in jeder Hütte
und jeder Kneipe populär geworden ist, aber trotz aller ebenso lächerlichen
wie scheußlichen Hetzereien, die man sich von jener Seite mit dem völlig
wahren Bvlksgeiste ungestraft erlaubt, ist es doch nicht möglich geworden,
ein süddeutsches Gesammtbewußtsein zu erzeugen, und wird es auch nie¬
mals möglich werden. Jedes Städchen und Völkchen bleibt in seiner alt-
hergebrachten oder neu eingepaukten Vereinzelung und das neue Ingredienz
des deutschen Bewußtseins, die fanatische Preußenfresserei, dient nur dazu,
die Jsolirung noch größer, die gegenseitige Abneigung, die wieder unter
allen diesen Haufen besteht, noch giftiger zu machen. Denn sobald jetzt der
Nachbar irgend etwas beginnt, was dem andern mißfällt, so erhebt sich gleich
das Geschrei von „Vervreußung",. woran man vor etwa 10—12 Jahren
noch nicht dachte.
Selbstverständlich ist einer so völlig naiven Masse gar nicht auf literari¬
schem Wege beizukommen. Sie liest zwar jetzt oder hört wenigstens ein oder
zweimal wöchentlich die „Zeitung" vorlesen, aber weiter reicht weder ihr Lese¬
bedürfniß noch ihr Glaube an das gedruckte Wort. „Er lügt wie gedruckt"
ist nicht blos ein gedankenlos hingeworfenes Sprichwort, sondern dieselben
Leute, welche auf ihre blos aus Lügen zusammengeflickte „Zeitung" schwören,
betrachten alle andern Erzeugnisse der Presse mit einem Gemische von iro¬
nischer Verachtung und furchtsamer Scheu — wegen der Gefahren für das
Seelenheil bei den rechtgläubig gestempelten Köpfen, für die Gesinnungs¬
tüchtigkeit für den „Liberalischen" oder wie sie sich selbst jetzt lieber nennen,
»Republikanern". Also wird auch Hrn. Schatzmayers Buch niemals in das
süddeutsche eigentliche Volk dringen, sondern blos unter dem gebildeten
Publieum bleiben, wo es, wie schon bemerkt, auch in der That ein sehr
fruchtbares Feld finden könnte. Denn obgleich es, wie hier bemerkt wird,
nicht blos Unkenntniß des Nordens ist, dem die albernen Vorurtheile
des Südens ihre Entstehung verdanken, sondern ganz andere, weniger harm¬
lose Gründe, so gibt es doch immer unter der Masse derer, die nichts lernen
können, weil sie nichts lernen wollen, einzelne der Belehrung zugängliche
ehrliche Seelen, und es wäre schon viel gethan, würden diese nur aus ihrer
lächerlichen Verblendung, oder wie man es sonst nennen soll, erlöst. Wer
nicht selbst ein geborener Süddeutscher ist und zugleich Süddeutschland durch
gründliches Selbstsehen und Selbsterleben — nicht durch bloße Bäder und
Vergnügungsfahrten — fast in allen seinen Winkeln kennt, wie es der
Schreiber dieser Zeilen von sich behaupten darf, hat gar keine Vorstellung
von dem kindischen Klatsch, den Altweibermärchen und Gespenstergeschichten,
die in den gebildetsten süddeutschen Köpfen und Gesellschaftskreisen in Bezug
auf den Norden umgehn.
Wer einmal einen Blick in die schmutzige Broschürenliteratur der
Jahre 1806—1812 geworfen hat, welche damals gegen die norddeutschen
Gelehrten und Beamten in München und an der Universität Landshut her«
vorquoll, wird erstaunt sein zu sehen, daß sie nicht gemeiner und alberner
sind, als was heute in gleichem Genre an der gleichen Stelle geleistet wird.
Nur daß jetzt zu den Broschüren auch noch die Zeitungen hinzugekommen
sind, die damals unter der strengen Fuchtel eines Montgelas sich wohl hüten
mußten, dessen eigentliche Werkzeuge und Stützen bei der Danaidenarbeit
Bayern zu civilisiren, direct zu beleidigen oder gar für altbayrische Messer¬
stiche und Knüttel zu denunciren. Auch heute besteht die Mehrzahl der Leser
jener Blätter Und besonders der Broschüren aus „Gebildeten" so wie damals
ausschließlich, weil damals überhaupt nur der Gebildete zu lesen verstand.
Die Herren Mur, Arelim, Pallhausen ?c., ihre meist anonymen, aber
gemein wohlbekannten Vorfechter, waren hochgestellte, was man so nennt
vornehme Leute, und kannten den Geist ihrer Kreise ganz genau. Es spiegelt
sich also in ihren Erzeugnissen die öffentliche Meinung des Südens über den
Norden ebenso richtig wie in ihren heutigen Nachfolgern und Stellvertretern
und sie ist heute um nichts besser belehrt als damals. Denn man lasse sich
nicht täuschen; es gibt heute eine große Zahl von gebildeten Süddeutschen,
die aus politischen Gründen zu einem mehr oder minder engen Anschluß «n
den Norden bereit sind. Aber wie viele unter dieser „deutschen Partei" haben
sich von den Vorurtheilen ganz losgemacht, kraft deren man im Süden den
Süden als die Gott mehr begünstigte, mit Schönheit und Fülle des Landes,
der Leiber und Geister der Menschen besser begnadigte Hälfte von Deutsch'
land, kurz gesagt als das eigentliche und „reine" Deutschland ansieht? Die¬
selben Herren rücken den Norddeutschen oder wie sie jetzt drastischer heißen,
den Preußen unter allen möglichen angeborenen Lastern und Häßlichkeiten
mit besonderer Emphase ihr Selbstbewußtsein und ihren Eigendünkel vor,
aber wenn irgendwo das Wort von dem Splitter und dem Balken im eige-
nen Auge und dem des nächsten seine Geltung hat, so ist es hier. Ein
Römer, der das süddeutsche Gerede von süddeutscher Freiheit unbarmherzig
zermalmt, und einzelne andere Kampfgenossen der nationalen Partei sind
bis zu dieser Stunde Propheten die in ihrem Vaterlande am wenigsten
gelten und nicht etwa blos bei denen, deren Evangelium der Stute-
garder Beobachter, der demokratische Correspondent, oder das Frankfurter
Journal ist, sondern bei den eigenen politischen Parteigenossen. Man zuckt
die Achsel über ihre „Borussomanie" und bleibt steif und fest dabei, daß
es doch eigentlich eine Art von Degradation ist, wenn sich der Süden dem
Norden als gleichberechtigt zuordnen, geschweige denn unterordnen soll.
Der Norden kennt den Süden besser als dieser jenen, aber er kennt ihn
doch auch noch nicht gut, sagten wir vorhin. Woher dies komme, wollen
wir hier nicht erörtern, aber constatiren, daß trotz der massenhaften Tou¬
ristenzüge aus allen Städten des Nordens nach dem bayrischen Gebirge,
nach Tirol, Salzkammergut, Berchtesgaden :c., die nunmehr doch schon
seit 16—20 Jahren, wenn auch neuerdings unverhältnißmäßig gegen früher
angeschwollen, stattfinden, die Gebildeten des Nordens — und von denen
kann hier wieder nur allein die Rede sein — sehr wenig an wirklicher Kennt¬
niß des Südens gewachsen sind. Und zwar ist hier das Borurtheil oder die
Verirrung des Urtheils nur gerade nach der entgegengesetzten Seite ebenso
massenhaft und wie es scheint unüberwindlich, wie bei den Menschen aus
dem Süden. Im Norden überschätzt man noch immer den Süden auf eine
wunderliche Weise. Als in den vierziger Jahren Berthold Auerbachs
schwäbische Dorfgeschichten die deutsche Lesewelt entzückten und natürlich un¬
verhältnißmäßig am meisten im Norden Sensation machten, weil man dort
eben unverhältnißmäßig mehr liest als im Süden, mochte es einem gebildeten
Berliner oder Hamburger Kind erlaubt sein, sich den ganzen Schwarzwald
und ganz Schwaben und mit einer naheliegenden Ausschweifung der geo¬
graphischen Phantasie das ganze Süddeutschland als ein duftiges Wunder¬
land voll gemüthreicher Kraftgestalten und natursrischer Originalgenies zu
träumen. Damals wurde alles was Schwaben und schwäbisch hieß im Nor¬
den förmlich Mode und wir erinnern uns selbst noch recht wohl, wie wir
nut unserer angeborenen süddeutschen Reserve und damals noch unvertilgtem
Herabsehen auf alles norddeutsche, diese Schwärmerei als einen Beweis der
Berliner Thorheit verhöhnten. Das war freilich kein großes Verdienst, da
nur eben keine Augen und Ohren hätten besitzen müssen, um die wirklichen
Schwaben und vollends die Süddeutschen insgemein nicht sehr genau von
jenen liebenswürdigen Gebilden eines frei schaffenden Dichtergeistes zu unter¬
scheiden. Einige Jahre später wurden die bayrischen Alpen und was daran
liegt, im Norden modisch und der Strom der Begeisterung für den Süden
ergoß auch dorthin eine ganz überschwängliche Fülle der wohlwollendsten
Gefühle. Damals war die gute Zeit der Münchner Fliegenden Blätter,
deren Witz bekanntlich schon nach dem Jahre 1848 nicht mehr recht hat
gedeihen wollen, obgleich derselbe noch heut für Verleger und Heraus¬
geber triebkräftig genug zu sein scheint. Mit welcher Virtuosität und mit
welch noch viel größerem Erfolge sie sich der verschiedenen Typen der schwär¬
menden Norddeutschen oder „Berliner" — denn soweit war man damals
in München seit 1806 von dem abstract verschwommenen „Norddeutschen"
zu concreteren Anschauungen vorgerückt — bemächtigt haben, ist Jedermann
bekannt. Von da aus transptrirte der in Civjl reisende Gardelieutenant,
das Pensionspflänzchen mit Schmachtlocken und die empfindsame alte Tante
in eine ganze Fluth obscurer Winkelliteratur und in die volksmäßige Posse
des Vorstadttheaters, wo sie bis heutigen Tages, nur gewürzt durch allerlei
weniger den Parfüms als dem Gegentheil davon angehörigen Droguen je¬
suitischer und demokratischer Plantagen unsterblich und jeder Zeit der voll¬
kommensten Wirkung auf ihr Publicum sicher sind. Unzweifelhaft ist es
auch höchst komisch, wenn sich der gute Herr von Prudelwitz unter der
Sennerliesi ein Wesen von der Art der Claurenschen Mimili zusammen-
phantasirt, die übrigens ja auch aus einem Berliner Hirn geboren war. Ein
ächter Münchener wußte sehr wohl, daß es nichts schmutzigeres und hä߬
licheres gebe, als eine Sennerin auf der Alp, aber er würde es doch sehr
übel vermerkt haben, wenn ein Berliner es gewagt hätte, das offen heraus
zu sagen oder gar drucken zu lassen. Auch ist dies in der That nicht ge¬
schehen, sondern Berlin oder vielmehr ganz Norddeutschland oder wie es
jetzt g. xvtiori heißt, die Preußen, schwärmen trotz aller tausendfältig bitteren
Erfahrung, die ihr Geldbeutel oder gar Haut und Haare im Oberlande ge¬
macht haben, heute noch wie damals nicht blos für seine schöne Natur w
abstracto, sondern auch für die trutzige Herrlichkeit seiner lustigen Buben
und Dierndel. Wer eine Statistik der Prügel anlegen wollte oder könnte,
die schwärmende Reisende ohne alles Verschulden — die verschuldeten gönnen
wir ihnen von Herzen — nur als handgreifliche Beweise jener wunderbaren
Lebensfreudigkeit des bayrischen Stammes mit nach Hause tragen und in
stillem Gemüthe verdauen, würde es mit stattlichen Zahlen zu thun haben.
Aber von solchen „wüsten" Dingen redet man nicht gerne und so mag denn
auch die Nachwelt an gleichem Orte die gleichen Genüsse sich anheimsen. —
Unser Verf. von Nord- und Süddeutschland hat, wie schon erwähnt,
entschiedene Sympathien für alle süddeutsche Volkstümlichkeit, wozu das
Raufen an erster Stelle gehört und daher wundern wir uns nicht, wenn er
das Treiben der bäurischen Heroen mit den glänzendsten Farben schildert,
über welche sein Pinsel gebietet: „Wenn der Bursche in den Alpen „lnsel"
oder „fidäl" oder gar „kreuzfidäl" ist — und das ist er immer, wenn er gesund
ist und Geld in der Tasche hat — dann tanzt, singt und lärmt er, stampft
vor Lust mit den schweren, dickbesohlten und benagelten Bergschuhen, daß sich
der Tanzboden biegt und das Haus dröhnt, er klatscht mit seinen derben,
schwieligen Händen auf seine „festen" Waden und Sohlen, wirst draußen in
der freien, herrlichen Natur seinen grünen mit Almrausch, Edelweiß, Spetl,
Raute, Gembsrösle oder mit Gemsbart, Schildhahn- oder Spielhahn. ze.
Federn geschmückten Kegelhut mit einem von Berg zu Berg wiederhallenden
„Tuhuhu hui" baumhoch in die Luft."
„Sonntags sitzt er mit seinen „Gespanen" (Kameraden) und „Zech¬
brüdern" freudestrahlend im Wirthshaus bei seiner „halben" Bier oder „Most"
oder bei seinem Seidel Steirischen („Schilches") oder „Wälischen" Mein)
— „Plauscht" „spaßlt" „jutzt" laut, haut vor lauter Lust mit der eisernen
Faust auf den Tisch, daß Fenster und Wände zittern und Gläser und Teller
in die Luft springen. „Heine ists sakrisch lnsel — seine muß noch Einer hin
Werden" ruft der von Kraft und Kampfeslust strotzende und von Bier oder
Wein erhitzte Bauerbursche auf dem „Kirchtig" (Kirmes) aus." Und ge-
wohnlich wird nicht blos „Einer" sondern zwei oder drei wirklich „hin"; auch
nicht blos aus den „Kirchtigen". sondern bei jeder simpeln Sonntagskneiperet
namentlich wenn das fast regelmäßige Tanzvergnügen damit verbunden ist.
Für eine zwar süddeutsch geborene, aber norddeutsch gezogene Phi-
listerseele wie die unserige hat, wir gestehen es, diese auf das bloße „Hin
machen" d. h. Todtschläger an und für sich gerichtete Rauflust jener
Natursöhne einen betrübenden Beischmack von Cannibalismus. Auch ver¬
gessen wir nicht, daß es genau dieselben „Burschen" sind, die sich dem
Se. Lienhard und allen möglichen anderen Heiligen und Heiliginnen devotest
»verloben", aber wenn das Ziel des „Verlöbnisses" nicht erreicht wird, die¬
selben genau so behandeln, wie die Neger ihre widerspenstigen Fetische. Die
gleichfalls höchst philiströse Criminalstatistik betrachtet diese poetischen Ge¬
stalten, wie bekannt, auch mit sehr bedenklichen Augen. Ihr und allen Denen,
die einen gewissen Werth auf sie legen, ist es doch eine seltsame Erscheinung,
daß nirgends auf deutschem Boden so viel schwere Verbrechen an Leben und
Eigenthum vorkommen als hier, und wahrscheinlich auch in den verrufensten
Gegenden Unteritaliens und Siciliens nicht viel mehr. Auch weist sie mit
ihren unerbittlichen Zahlen nach, daß daneben hier noch mindestens ebenso
viel Spielraum wie anderswo, wo eine viel geringere „Lebensfreudigkeit"
herrscht, für die Verbrechen des Meineides, des Betruges, der heimlichen Be¬
schädigung des Lebens und Eigenthums anderer bleibt. Aber alles das
Wissen unsere norddeutschen Schwärmer nicht oder wenn sie es ja einmal
lesen, sind sie gutmüthig und naiv genug, das auch noch für eine roman¬
tische Staffage ihrer „prachtvollen Alpler" zu halten. Unsere Touristen¬
literatur, bekanntlich massenhaft gerade auf einer so befahrenen Straße sich
bewegend, hütet sich wohl von dieser beliebten 'Heerstraße der Sympathien
abzustreifen und sich in die unschönen Regionen der gemeinen Wirklichkeit zu
verlieren. Alle die zum Theil, was man so nennt, recht gut geschriebenen
Bücher von dem alten Reisevater Kohl herab, bis zu der jüngsten Auflage
von Staub's Oberbayern sind sehr wenig geeignet die Mimili-oder Senner-
liesi-Phantasien norddeutscher Köpfe zu zerstreuen. Ueberhaupt kann eine
solche Art von mehr oder minder dilettantischer Schriftstellerei in keiner Weise
dazu beitragen die Begriffe hüben und drüben, nördlich und südlich vom
Main zu klären und die Gemüther einander zu nähern. Für den Süden
glauben wir, nach unserer eigenen angeborenen und erworbenen Bekannt«
schaft mit seiner geistigen Construction, dürfte überhaupt jeder Versuch
einer Verständigung auf ltterarischem Wege aussichtslos sein. Alles
was hier geschehen kann und auch geschehen wird, ist, daß der Zwang
großer Verhältnisse, ein Krieg auf Leben und Tod mit Frankreich, der
ja doch über kurz oder lang nicht unwahrscheinlich über uns kommen
muß, den politischen Anschluß oder die politische Unterordnung des Südens
wieder unter den deutschen Staat bewerkstelligt. Ist nur dies wichtigste
sicher gestellt, so mögen die Süddeutschen immer noch auf eine oder zwei
Generationen hinaus ihre alten Nücken festhalten: die Macht des intimen
Verkehrs mit der norddeutschen so sehr weiter vorgeschrittenen Bildung wird
endlich doch einen völligen Ausgleich, eine wirkliche Versöhnung der Ge¬
müther zu Wege bringen und Süddeutschland wird sich in seiner natürlichen
Stellung als der innerste und am meisten von der eigentlichen Fronte
Deutschlands zurückgeschobene Landestheil ganz behaglich fühlen, wenn es nur
seine ebenso thörichten wie unpraetischen Ansprüche auf eine dominirende
Bedeutung aufgibt. Denn mag es auch im Mittelalter eine solche gehabt
haben, so hat sich doch seitdem Alles, was zu den natürlichen Vorbedingungen
eines Volksdaseins gehört, vollständig geändert.
Dagegen wünschten wir zunächst im Interesse der Gebildeten in Nord¬
deutschland, die, weil sie zu lesen gewohnt sind, doch bis zu einem gewissen
Grade der Belehrung durch Bücher zugänglich zu sein pflegen, daß recht bald
ein solches Buch geschrieben würde, wie wir es unter Herrn Schatzmayer's
Broschüre, durch ihren Titel verlockt, uns dachten. Seltsam genug hat un¬
sere überschwengliche literarische Production doch überall die größten Lücken
und namentlich gerade da, wo es sich um die höchsten practischen Interessen
der Nation handelt. Unter diesen verstehen wir Alles, was sich auf die
„deutsche Frage" bezieht; da sie von Norddeutschland aus gelöst werden muß.
so wäre es sehr nützlich, wenn die natürlichen Vorbedingungen, auf die dabei
zwar nicht alles, aber doch fehr viel ankommt, möglichst dem allgemeinen
Verständniß der Gebildeten deutlich gemacht würden, wozu bis jetzt nicht
viel geschehen ist. Dazu gehört als elementarste Grundlage eine dem heuti¬
gen Stande des Wissens und der Anschauung entsprechende Darstellung der
geographischen Gestaltung Deutschlands. Aus jedem Meßkatalog kann man
entnehmen, daß es an Büchern, die sich diese Aufgabe stellen, nicht
! wer sich aber die Mühe nimmt, sie genauer zu besehen, wird uns m-
ien, wenn wir behaupten, daß darin meist leeres, mindestens altes Stroh
schen wird. Ein Buch im Geiste des deutschen Begründers der wissen¬
lichen Erdkunde über Deutschland selbst existirt nicht. Denn so ver¬
voll auch Kutzens Deutschland ist, was man uns vielleicht entgegen-
so wenig ist es doch das, was wir brauchen und hier meinen.
Wir brauchen eine exacte Darstellung der natürlichen Bodengestaltung
>er in derselben gegebenen natürlichen Hilfsmittel des deutschen Landes
alle Beziehung auf seine landschaftliche Wirkung oder Schönheit, auch
alle Beziehung auf das Volksleben, was sich auf diesem Boden entfaltet
Wer solche Gesichtspunkte hereinzieht, wirkt vielleicht recht angenehm
>le Phantasie der Leser, aber sie lernen sehr wenig dabei. Ein Buch
en, was nichts weiter sein sollte, als ein lebendiger Commentar einer
drunder Karte von Deutschland, wir wollen einmal sagen, der Sticker-
in 12 Blättern, oder noch besser der ISO Blätter der Flemming'schen, fehlt
;anz. Es wäre auch mehr als eine bloße sog. „topische Geographie"
r die Bodengestaltung und zwar wesentlich nur nach der einer Dimension
)he und Tiefe darzustellen unternimmt. Und selbst eine solche für unsern
tspunkt vorbereitende Aufgabe ist nur für einige Theile Deutschlands
end gelöst, bei Weitem noch nicht für alle, und noch weniger gibt es
»esammtdarstellung, die selbst dann, wenn das Detail vollständig durch-
ttet wäre, doch etwas ganz anderes als eine bloße Zusammenstellung
in Auszug aus den Detailwerken sein müßte.
Ker sich theoretisch oder practisch mit der deutschen Frage beschäftigt,
der Gebildete, der sollte doch, meinen wir, über die Grundverhältnisse
odens, dem er seine Thätigkeit widmet, genügend unterrichtet sein, er
rvissen, was die Natur selbst durch die climatischen Verhältnisse, durch
ondere Art der Gebirgszüge und Flußsysteme, durch die Vertheilung
ind und Wasser, oder der verschiedenen Bodenarten für den Handel,
dustrie, den Ackerbau oder für die Vertheidigung nach außen vorge-
l hat. Unsere lobpreisenden Schilderer der Herrlichkeit und Schönheit
-ltschen Landes variiren alle mehr oder minder die Melodie, welche
uden im ersten Bande seiner „teutschen" Geschichte erfunden: „Dieses
gehöret zu den schönsten Ländern, welche die Sonne begrüßet in ihrem
Laufe." — „Unter einem gemäßigten Himmel — köstlich für den
, erheiternd und erhebend für das Gemüth, bringet Deutschland Alles
was der Mensch bedarf zur Erhaltung und Förderung des Geistes ze.
oden ist fähig zu jeglichem Anbau u. s. w." Das galt damals für
sah und scheint auch heute noch dafür zu gelten.
Auch ist nichts dagegen einzuwenden, sondern es versteht sich vielmehr
für jeden wohlgearteten Menschen von selbst, wenn das Gemüth sich mit
vollster Kraft an das Heimatland anklammert, aber der Verstand soll sich
mit solchen Phrasen nicht abspeisen lassen. Doch gehört dazu, daß er das
nöthige Material habe, um sich ein Urtheil zu bilden. Gewährt ihm dies
eine gründliche geographische Belehrung über Deutschland, so würde er sich
sagen müssen, daß ungefähr das Gegentheil von allen diesen Sätzen der
Wahrheit entspricht, daß Deutschland in seinen physikalisch-geographischen Be¬
dingungen unter allen europäischen Culturländern nicht blos, sondern über¬
haupt unter allen Gliedern Europas fast am ungünstigsten ausgestattet ist. Eine
überaus wichtige Thatsache sowohl zum Verständniß der bisherigen deutschen
Geschichts- und Volksentwickelung, wie noch mehr um darnach die Ziele und
Maße für die Gestaltung des deutschen Volkslebens in Staat. Handel, In¬
dustrie, Production zu bezeichnen, welche die Natur selbst als möglich und
erreichbar aufgestellt hat. Eine solche Selbstkenntniß scheint uns für das
Allgemeine oder die Beziehung des Einzelnen zu dem Allgemeinen, die wir
Theilnahme am öffentlichen Leben nennen und ohne die kein Gebildeter wirk¬
lich als solcher sich geltend zu machen vermag, gerade dieselbe Bedeutung zu
besitzen, wie eine klare Uebersicht über den eigenen Vermögensstand Ein¬
nahme und Ausgabe sür den Privatmann. Illusionen sind hier wie dort
gleich verhängnißvoll, das Bewußtsein, daß man arm oder mit geringen
äußeren Hilfsmitteln ausgestattet ist, enthält weder etwas Schmachvolles, noch
auch etwas niederdrückendes, sondern das Gegentheil von beiden, sobald sich
damit der Wille und die Kraft verbindet, diese Mängel der Natur durch
solide Arbeit auszugleichen. Gerade deshalb ist die bisherige Geschichte des
deutschen Volkes so eminent ehrenvoll für dasselbe, weil sie darthut, wie die
Entfaltung sittlicher und intellectueller Tüchtigkeit zu Resultaten führen kann,
die anderswo bei unendlich günstigerer Ausstattung nicht einmal.annähernd
erreicht worden. Und es liegt zugleich der mächtigste Sporn für jeden Ein¬
zelnen darin, insofern er sich als lebendiges Atom im deutschen Volkskörper
fühlt, hinter den Leistungen der Vergangenheit nicht zurückzubleiben, son¬
dern nach wie vor das, was die Natur versagt hat, durch eine höhere
Natur, die sittliche und intellectuelle Cultur zu ersetzen. — Daß wir
hier uns auf die Ausführung der oben ausgesprochenen Sätze einlassen, wird
uns Niemand zumuthen; nur um an allbekannten oder vor Jedermanns
Blicken offen daliegenden, aber gewöhnlich gedankenlos hingenommenen
Thatsachen wenigstens einige Andeutungen zu geben, sei daran erinnert, wie
ungünstig die maritime Stellung unseres Vaterlandes ist, wie in jeder Be¬
ziehung dürftig seine Küstenentwickelung im Vergleich zu seiner continentalen
Masse; wie wenig geeignet für den inneren Verkehr sowohl seine orographisclM
Wie noch mehr seine hydrographischen Verhältnisse sind, denen selbst durch
das complicirteste Canalisationssystem einige ihrer Grundfehler nicht ausgetilgt
werden könnten, oder, daß in Hinsicht auf die landwirthschaftliche Ausnutzung
des Bodens Deutschland im Vergleich mit jedem andern europäischen Lande,
die skandinavische Halbinsel ausgenommen, entschieden im Nachtheil ist. Man
gehe nur rings um unsere Grenzen herum und man wird sich über¬
zeugen, fast aller in dieser Hinsicht preiswürdige oder besonders umfangreiche
Boden gehört nicht uns, sondern unsern Nachbarn. Die Lombardei im Ver¬
hältniß zu Tirol, Ungarn im Vergleich mit den südöstlichen Küstenländern
der deutschen Alpen, ja ganz entschieden sogar Galizien und Polen neben
Schlesien und vollends neben Altpreußen, oder im Westen ganz Frank¬
reich in seiner Osthälfte selbst neben dem doch in vieler Hinsicht am meisten
begünstigten Westabschnitt unseres Vaterlandes bieten handgreifliche Belege
dafür. Und dabei kommt noch in Betracht, daß unsere relativ am reichsten
von der Natur ausgestatteten Landschaften fast ausnahmslos eben gerade jene
Grenzlandschaften sind. Würde man die inneren mit der Fremde vergleichen,
so würde das Ergebniß noch ungünstiger sein. Denn was will, um sofort
das Beste zu nennen, die natürliche Ausstattung des thüringischen oder
fränkischen Bodens im Vergleich mit dem ungarischen, lombardischen oder
auch galizischen besagen? Seltsam genug spielt auch noch ein historisches
Verhängnis) zu unseren Ungunsten mit hinein. Wir meinen nicht den an
sich so mißlichen Umstand, daß unsere relativ werthvollsten Besitzungen an
der Grenze und an welch schutzloser von Natur liegen, so daß sie, wie der
Elsaß bezeugt, sehr leicht ein Raub der Nachbarn oder mindestens ihr stets
offenes Plünderungsobject werden können, sondern daß die beiden geographisch
so fest in Deutschland eingefügten Landschaften, welche unter allen am meisten
sich der günstigeren Bodenausstattung unserer Nachbarländer nähern, Böhmen
und Mähren durch schwere politische Versäumnisse und Thorheiten mindestens
«in sehr bestrittenes Eigenthum des deutschen Volkes sind.
Eine weitere Classe von Büchern, denn hier reicht ein einziges nicht aus,
deren NichtVorhandensein wir als eine sehr übele Lücke in unserer Literatur
empfinden, wären systematische und dem jetzigen Standpunkt der Wissenschaft
entsprechende statistische Werke über ganz Deutschland. Wir wissen recht
Wohl, daß in dieser und jener Form eine Menge von Vorarbeiten sich finden,
aber es hat noch Niemand unternommen, daraus etwas Ganzes zu machen.
Und selbst diese Vorarbeiten sind nicht bloß, wie es die politische Zer¬
splitterung unserer Zustände mit sich brachte und bringt, sehr ungleichförmig
und selbst wieder gleichsam nur einzelne Maschen, die ohne Plan und Ruck,
ficht auf das ganze Gewebe, willkürlich und eigensinnig, wie alles derartige,
zu Stande gekommen sind, sondern sie haben auch einige der wesentlichsten
Kategorien beinahe vollständig unbeachtet gelassen und stellen wenigstens in
dieser einen Hinsicht eine negative Gemeinsamkeit ihres Wesens dar. Die
Bewegung der deutschen Seeschiffahrt und des Binnenverkehrs könnte man
aus dem vorliegenden statistischen Material ungefähr darstellen, desgleichen
die meisten Zweige der Industrie und der Fabrikation, aber schon nicht mehr
obgleich dies bei einer zu ^/z ackerbaubetreibenden Bevölkerung seltsam genug
ist, die Agriculturverhältnisse, kaum die jährlichen Ernteerträgnisse, an denen
doch allein noch sehr wenig zu lernen ist, fast gar nicht alles, was sich aus
die Methode des Wirthschaftsbetriebes!, auf die Zustände der dabei thätigen
Menschen bezieht. Ueberhaupt ist gerade dieser wichtigste Zweig der Statistik,
wobei man freilich nicht mit bloßen Zahlentabellen operiren kann, am meisten
vernachlässigt. Wer hat z. B. eine ganz genaue Kenntniß oder vielmehr,
wer kann sich eine solche erwerben, von der Höhe des ländlichen Tagelohns
in den verschiedenen Theilen Deutschlands, von der körperlichen Leistungskraft
dieser Leute, von der Beschaffenheit ihrer Wohnungen, ihrer Kost, kurz ihrer
ganzen Zustände, aus denen wieder allein die Ansprüche, die man an ihre
Arbeit stellt, abgeleitet und begründet werden können. Es ist wirklich schwer
zu begreifen, wie man sich in unserm lieben Deutschland bisher ohne alle
solche unentbehrlichen Artikel, auf der Tribüne und in der Tagespresse immer
mit Hunderten von Fragen beschäftigen mag, für welche es mit dem bloßen
gesunden Menschenverstande, oder mit irgend einem allgemeinen national-
ökonomischen Satze gar keine Lösung gibt, die man nur discutiren kann,
wenn man ein Heer von Thatsachen und Zahlen weiß oder bereit vor sich
liegen hat.
Von solchen Darstellungen gleiten wir der Natur der Sache nach ganz
unmerklich über zu dem schon mehr der inneren Culturstatistik angehörigen
Gebiete, wofür es an einer passenden allumfassenden Bezeichnung fehlt. Wenn
man von der Eigenart des Volkes spricht, wie man neuerdings häufig thut,
so meint man ungefähr das, was wir im Auge haben. Das Volk wird hier
nicht mehr bloß als ein Apparat von Arbeitskräften aufgefaßt — selbstver¬
ständlich bedeutet der Begriff Arbeitskraft nicht bloß die physische Ausstattung,
den Procentsatz an Muskeln, Fleisch und Knochen, sondern auch den ganzw
Besitz an intellektuellen und Bildungsmitteln, mit denen gearbeitet wird ^
sondern es kommt sein eigentliches Gemüths- und Seelenleben zu vorwiegen¬
der Geltung. Dies kann von sehr verschiedenem Standpunkt aus geschehen-
Bei uns ist der ästhetisirend-dilettantische, der in den Dorfgeschichten seine
äußerste Spitze trieb, der beliebteste gewesen und ist es eigentlich auch jetzt
noch, weil er am wenigsten Mühe für den Producenten und Consumenten
macht. Im Grunde gehört auch die ganze sog. Socialpolitik, die sich einst
mit großer Emphase als die eigentliche Zukunstswissenschaft gerirte. Hieher
und selbst ein so großes Talent wie Riehl ist nicht sauber ein anmuthiges
und geistvolles Dilettiren hinaus geschritten. Ein anderer Standpunkt ist
der des auteur- und sittengeschichtlichen Forschers, mit mehr oder minder Bei-
schmack archäologisirender Romantik. Auch dieser ist, wie man weiß, durch
eine beinahe schon unübersehbare Thätigkeit im Sammeln der volkstümlichen
Ueberlieferungen aller Art genügend vertreten.
Dagegen gebricht es an systematischen, zunächst nur auf den Bestand der
Gegenwart gerichteten Schilderungen der Hieher einschlagenden Lebenser-
scheinungen auf deutschem Boden. Auch sie würden für das größte practische
Bedürfniß der Gegenwart, für die Arbeit in dem deutschen Staate, von sehr
großem Werthe sein. Sie würden zur Erkenntniß dessen führen, was man
mit einem heute völlig eingebürgerten Ausdrucke, der noch vor wenigen
Jahren spöttisch verlacht werden konnte, die Volksseele zu nennen pflegt.
Daß man aber sie kennen muß oder müßte, wenn man mit ihr und auf sie
wirken will, gibt Jedermann zu, ohne daran zu denken, daß er selbst in
jedem Augenblick gegen diese seine Einsicht handelt. —
In diesem Bereiche würde denn auch das sprachliche Moment, die Volks¬
mundart, ihre Stätte finden, und ungefähr in der Weise, nur systematischer
und vollständiger, als es Herr Schatzmayer versucht hat, als Spiegelbild des
Volksgeistes verwandt werden müssen. Mit ihr vieles andere, was bis jetzt
nur ein ästhetisches oder archäologisches Interesse erregt hat. der Volksglaube.
Volkssage, Volkspoesie :c. freilich von ganz anderen Gesichtspunkten aus ge¬
faßt, und zu ganz anderen Zwecken, als es bis jetzt geschehen ist. Es käme
darauf ein, nicht sowohl die verklingenden Reste der Vorzeit, die selbst kein
wahres Leben mehr führen, sorgfältig zu conserviren — für wissenschaftliche
Zwecke sind gerade diese das eigentlich werthvolle — als das herauszugreifen,
was noch wirklich lebensfähig ist und eben darum die Signatur der wirk¬
lichen Volksseele bildet, mit welcher der practische Mann, der Politiker, der
Staatswirth, der Industrielle, der Pädagog zu operiren hat.
Es gibt ein in deutscher Sprache geschriebenes Werk, welches in seiner
Anlage und Schematisirung ungefähr dem entspricht, was wir als nicht vor¬
handen stark vermissen. Wir meinen die bekannte „Bavaria". bayrische
Landeskunde unter den Auspicien des Königs Max II., wesentlich aber unter
Richts Einfluß von einem Kreise „bayrischer Gelehrten" bearbeitet. Die
Ausführung dieses, wie man weiß, sehr bändereichen Werkes entspricht aber
seinen Intentionen in keiner Weise, darüber haben wir uns unmittelbar nach
seiner Beendigung in diesen Blättern ausgesprochen. Doch könnte man sei¬
nen Schematismus für jede derartige Arbeit, sie sei nun für einen einzelnen
Theil Deutschlands oder, woran uns alles gelegen scheint, für ganz Deutsch-
land berechnet, beibehalten und ihn nur geschickter und solider ausfüllen.
Damit wäre ein bedeutsamer Schritt zu einem großen Ziele hin gethan,
nämlich Deutschland für die Deutschen selbst zu entdecken, denn bisher ist es
ihnen nach diesen Richtungen fast ebenso sehr eine törrs, iueoZmts wie das
Innere des australischen Continents. —
Es war nicht zum ersten Male, daß im Reichstag die besondere Loya¬
lität und bundestreue Gesinnung Mecklenburgs gerühmt wurde, als in der
Debatte über Aufhebung der Elbzölle der Abgeordnete v. Blankenburg äußerte:
„es handle sich um das Maß der Entschädigung für einen Staat, dessen loya¬
lem Verhalten der Reichstag es verdanke, daß er überhaupt in Berlin tage."
Aber es ist — hoffentlich — zum letzten Mal gewesen, daß so volltönenden
Lob so schlecht durch die That entsprochen wird. Ein Staat, der sich nicht
scheut, in so eclatanter Weise den Intentionen der Bundesgesetzgebung Trotz
zu bieten, wie es neuerdings Mecklenburg-Schwerin in seiner Verordnung
vom 30. v. M: Ausgabe einer Million Thaler unverzinslichen Rentereicassen-
scheine — gethan hat, verdient in der That alles andere eher, als im
Reichstage mit zarter Rücksicht behandelt zu werden. Noch lebt in Aller
Erinnerung der Scandal, den das Verfahren der Regierung des Fürsten-
thums Reuß ä. L. hervorrief, als sie kurz vor Thoresschluß Sie Bank zu
Greiz zur Emission einer Million Thaler in Banknoten concessionirte, und
schon hat Mecklenburg sich beeilt, die reußische Regierung in naiver Mi߬
achtung des Bundes zu überbieten. Bei dem Greizer Coral äußerte der
Bundeskanzler in öffentlicher Neichstagssitzung: „Der Fall, der jetzt vorliegt,
ist nicht nur in der Vergangenheit der einzige, sondern ich bin fest überzeugt,
daß er auch in Zukunft isolirt bleiben wird." Diese Ueberzeugung war
allzu sanguinisch. Was kümmert sich unsere Junkerregierung um die Ueber¬
zeugungen des Bundeskanzlers? Fast ebenso wenig, als um den Willen des
Reichstags oder den Beifall der deutschen Nation. Nachdem der Bund dem
Großherzogthum eine Million für die Elbzölle gesichert, hat der Bund seine
Schuldigkeit gethan und der Bund kann gehen, Mecklenburg aber wirthschaftet.
Wie es ihm selbst gefällt, gemächlich weiter.
Bekanntlich wurde im Reichstag als Anschluß an den Gesetzentwurf
über die Ausgabe von Banknoten von Miquöl beantragt, auch der fernern
Emission von Staatspapiergeld eine ebenso heilsame als nothwendige Schranke
zu ziehen, und am 6. April genehmigte der Reichstag diesen Antrag in fol¬
gender von Grundrecht vorgeschlagener Fassung:
„Z. 1. Bis zur gesetzlichen Feststellung der Grundsätze über die Emission
von Papiergeld — Art. 4 Ur. 3 der B.-V. — darf von den Staaten des
Norddeutschen Bundes nur auf Grund eines auf den Antrag der betheilig,
ten Landesregierung erlassenen Bundesgesetzes unverzinsliches Papiergeld aus-
gegeben, oder dessen Ausgabe gestattet werden. — §. 2. Das zur Zeit um-
laufende Papiergeld nach stattgefundener Einziehung durch neue Werthzeichen
zu ersetzen, beziehungsweise dagegen umzutauschen, ist gestattet. — Hierbet
darf jedoch Papiergeld von geringem Nennwerthe an die Stelle von Papier¬
geld höheren Nennwerthes nicht gesetzt werden."
Dieser Gesetzentwurf ist der einzige, über den bis jetzt eine definitive Be-
schlußfassung des Bundesrathes nicht erfolgt ist. Nach den im Laufe der
Debatte vom Minister Delbrück gethanen Aeußerungen war nicht daran zu
Zweifeln, daß derselbe seitens der Präsidialmacht gebilligt wird, der es doch
nicht mißlingen dürfte, dem Entwurf auch im Bundesrath die Majorität zu
verschaffen. Aber sei dem. wie ihm wolle: nachdem der Antrag vom Reichstag
einmal angenommen war. durfte keine Einzelregierung vor etwaniger Abich.
mung desselben durch den Bundesrath im Widerspruch mit demselben vor¬
gehen, ohne sich denselben, wenn nicht schärfern Vorwürfen auszusetzen, als
sie der Reußifchen Regierung in dem oben erwähnten Falle gemacht wurden.
Mecklenburg-Schwerin handelte anders. Es benutzte die Zwischenzeit bis zur
Entscheidung des Bundesraths zur Ausführung eines Finanzmanövers, für
dessen Kennzeichnung wir kaum einen passenderen Vergleich wüßten, als das
Verfahren eines materiell insolventen Schuldners, der vor Ausbruch des for-
wellen Concurses noch zu retten sucht, was sich retten läßt.
Die Leser der Grenzboten werden sich erinnern, wie viel über die ver¬
zinslichen Rentereianweisungen gesprochen und geschrieben ist, welche Mecklen-
burg-Schwerin nach dem Vorgang von Strelitz mittels einer im November
v-J. publicirten. aber auffälliger Weise schon anderthalb Jahre früher
datirten Verordnung zu creiren versuchte. Auf Andrängen der Stände
Wurde diese Emission später auf eine halbe Million beschränkt.
Jetzt hat plötzlich die großherzogliche Regierung die Wiedereinziehung
dieser mit 2<H verzinslichen Rentereianweisungen angeordnet, zu welchem
Zwecke eine Million unverzinslicher Renterei-Cassenscheine ausgegeben werden
soll! Die Ausgabe verzinslicher Anweisungen bedroht auch die Zukunft mit
keinem Hinderniß, aber der fatale Miquel'sche Gesetzentwurf droht die Papier-
geldpresse für unverzinsliche Noten baldigst lahm zu legen und deshalb mußte
Mecklenburg rasch noch mit diesen, ihm bisher in eigenem Fabrikat unbe¬
kannten Werthzeichen beglückt werden.
Die Detailbestimmungen der großherzoglichen Verordnung vom 30. v. M.
dürfen wir auf sich beruhen lassen. Uns interesstrt hier nur die Thatsache,
daß eine als „loyal" gerühmte Landesregierung es gewagt hat, sich in
direktesten Widerspruch mit dem erklärten Willen des Reichstags zu setzen.
Der Reichstag hat einmal die Beschränkung der Papiergeldfabrikation durch
die Bundesgesetzgebung verlangt und ehe noch eine Rückäußerung der verbun¬
denen Regierungen erfolgte, weiß Mecklenburg nichts besseres zu thun, als
sich auf diesen bisher nicht cultivirten Industriezweig zu legen. Und daß
man sich recht wohl des Charakters einer solchen Handlungsweise bewußt
gewesen, dafür spricht deutlich das Datum der betreffenden Verordnung. Wann
dieselbe im Schooße des Mecklenburgischen Ministerii gezeitigt wurde, darüber
schweigt die Geschichte; aber am 30. Mai wurde die famose Verordnung voll¬
zogen, nachdem der Reichstag am 26. Husä. geschlossen war! Offenbar
fürchtete man Interpellationen und tgi., wenn der Inhalt der Verordnung
vor Schluß des Reichstags bekannt geworden wäre. Hätte Graf Bismarck
auf desfallsige Jnterpellation wohl etwas anderes antworten können, als
das wiederholen, was er bei der Greizer Bankaffaire äußerte: „was ich per¬
sönlich glauben würde, dagegen thun zu können, wäre, der großherzoglich
mecklenburg-schwerinschen Regierung zu schreiben, daß die Berathung Seiner
Königl. Hoheit des Großherzogs für die Zukunft so eingerichtet werden
möchte, daß die übrigen verbündeten Regierungen das durch-dieses Verfahren
gestörte Vertrauen zur großherzoglichen Regierung wieder gewinnen können!"
Jetzt, da der Reichstag geschlossen, bleibt nur eine, freilich wirksamere Hilfe
übrig: wie die Ausgabe der Greizer Banknoten durch entsprechende Fassung
und beschleunigte Publication des Banknotengesetzes vereitelt wurde, darf
der Bundesrath, um seine Autorität und sein Ansehen den Kleinen gegen¬
über aufrecht zu erhalten, keinen Augenblick länger zögern, dem Miquvl'schen
Gesetzentwurf seine Genehmigung zu ertheilen. Ob er sich dazu entschließt,
dem verwöhnten Mecklenburg einen solchen Beweis seiner Unzufriedenheit
zu geben, steht allerdings noch dahin: zu fürchten bleibt immer noch, daß
Mecklenburg selbst im Falle der Bestätigung des Gesetzes durch den Bundes¬
rath die 14tägtge Frist, die verfassungsmäßig nach Publication desselben bis
zu dessen Wirksamkeit verlaufen muß, benutzen würde, die angekündigte
Emission zu bewerkstelligen. Denn nach dem, was geschehen, darf man sich
selbst eines solchen äußersten Widerstandes versehen.
Zur Vereitelung solcher Absichten gibt es kein anderes Mittel, als den
einmüthigen Entschluß aller derer, denen an der Achtung der Gesetze und
Institutionen des Bundes gelegen, die schwerinischen unverzinslichen Rente-
reicassenscheine bis zur Emanation des bezüglichen Prohibitivgesetzes zurückzu¬
weisen. Vorsicht dürfte sich bei der Annahme derselben auch schon aus an-
dern Gründen dringend empfehlen. Die neuen Cassenscheine sind gleich den
frühern verzinslichen Anweisungen ohne ständische Zustimmung unter Ver¬
pfändung der Domanialeinkünfte creirt. Die Stände bestreiten aber der Re.
gierung das Recht, die Domänen in solcher Weise zu belasten, ^ W die
rechtliche Grundlage der Verordnung vom 30. Mai mindestens zweifelbasr.
so ist es nicht minder die materielle Garantie für die Einlösung der Kassen¬
scheine. Ueber den Stand der Großherzoglichen Cassen herrscht ein undurch.
dringliches Dunkel. Man weiß nur so viel, daß die Domänen schon wieder¬
holt für frühere Anleihen verpfändet wurden und daß in neuerer Zeit nichts
mehr heruntergegangen ist als der Werth des ländlichen Grundbesitzes, der
den Hauptbestandtheil der Domänen bildet. Wer wird also Verlangen tragen,
ein Papiergeld anzunehmen, über dessen Werth und Gesetzmäßigkeit die schwer-
sten Bedenken zu erheben sind? Man lasse der Regierung von Schwerin ihre
Cassenscheine und dazu das Bewußtsein, durch diesen neuesten Finanzcoup
den letzten Stoß von Vertrauen eingebüßt zu haben, das man zu ihrer
Bundestreue haben mochte. -> .
in^Eine hübsche Folie bekommt die Gesinnnung. die aus der Verordnung
Vom 30. v. M. -hervorleuchtet, durch die inzwischen bekannt gewordene Hal-
tung der mecklenburgischen Regierung gegenüber andern wichtigen Gesetzent¬
würfen. Kein Staat hat sich gegenüber den Beschlüssen des Reichstages
über Aufhebung der Todesstrafe u. f. w. schwieriger gezeigt, als Mecklenburg.
Mecklenburg verlangte die Beibehaltung derselben in dem ursprunglich vom
Entwurf des Strafgesetzbuches gewollten Umfange selbst dann noch, als Preu¬
ßen sich schon zu bedeutenden Zugeständnissen herbeigelassen hatte Doch das
nur beiläufig. Für ihre Abstimmungen im Bundesrath mögen die Mnzel.
regierungen immerhin volle Freiheit in Anspruch nehmen. Aber für ihre
Handlungen sind sie der Nation verantwortlich und diese hat ein Recht zu
fordern, daß dieselben nicht in offenbarem Widerspruch mit dem von ihren
Vertretern ausgesprochenen Willen stehen. .^
<>
Was aus der neuen mecklenburgischen Million wird, muß die Zeit
lehren. So viel aber ist gewiß, daß die Klein- und Mittelstaaten rein un¬
fehlbareres Mittel wählen könnten, sich völlig zu ruiniren und ihre Existenz
wehr und mehr in Frage zu stellen, als wenn sie handeln, wie Reutz a. ^.
und wie Mecklenburg-Schwerin. Fehlt es dem Bunde auch an disciplinari-
schen Strasmitteln. deren Anwendung unter Umständen am Platze sein durfte,
um den Eigensinn der Kleinen zu brechen, so fehlt es dem deutschen Volke
doch noch nicht so sehr an Gefühl für Recht, daß es sich über die Bundes¬
treue eines Staates täuschen könnte. Wird aber immer wieder die öffent-
liche Kritik über Regierungshandlungen wie die in Frage stehende heraus¬
gefordert, so liegt die Gefahr nahe. ' daß diese und mit ihnen die Regierung
w Mißcredit komme. . .
Obgleich Mecklenburg Dank seiner ständischen Institutionen Ah ,iurs
absolutistischer regiert wird. als irgend ein anderer Staat, so ist doch anzu¬
nehmen, daß Se.' Kgl. Hoheit der Großherzog 6s taeto keinen Theil hat an
der neuesten Finanzoperation seiner Regierung. Dieselbe wurde vielmehr
~- freilich an maväAtum Serenissimi speeials.' wie die stereotype Formel
lautet — vom Staatsministerium, wie man sagt, auf besonderes Betreiben
des Finanzministers von Müller, gutgeheißen, während Se. Kgl. Hoheit se«
eben bei dem Papst in Rom verabschiedete. Die Rückkehr des Großherzogs
w seine Residenz steht in den nächsten Tagen bevor. Wollte er seine, nimt
Mit Unrecht gerühmte persönliche Loyalität und Bundestreue glänzend recht-
fertigen, so wäre recht wünschenswerth. daß derselbe die Desavomrung seiner
Minister eine seiner ersten Regierungshandlungen sein ließe. Warum sollte
Höchstderselbe erst eine Zuschrift des Bundeskanzlers abwarten, welche ihm
den im Reichstag bereits bei Reuß angekündigten Rath giebt, „seine Be¬
rathung so einzurichten, daß die übrigen verbündeten Regierungen — und
mehr noch das im Nordbund geeinte Deutschland — das durch das Ver¬
fahren des mecklenburgischen Staatsministeriums gestörte Vertrauen zur
Großherzoglichen Regierung wiedergewinnen können?"
Uebrigens spricht man schon jetzt von bevorstehenden, freilich aus an¬
deren Gründen veranlaßten Ministerveränderungen. Der als Abgeordnete
des 4. Wahlkreises bekannte Graf v. Bassewitz wurde an die Spitze des Mi¬
nisteriums gestellt, um die Steuerreform bei den Ständen durchzusetzen; jetzt,
da der Abschluß dieser Reform in naher Aussicht steht — heißt es, wolle
Graf v. Bassewitz ins Privatleben zurücktreten, um wieder die Führerschaft
auf den Landtagen nach den neuen Vereinbarungen zu übernehmen.
Der Feldzug von 1866 wirkt noch heute mit mächtigem Nachdruck auf die
Phantasie unserer Jugend und auf unseren Büchermarkt, Der Zudrang zu dem
Waffenrock der Officiere ist seitdem ein sehr großer geworden, so daß wir in Ge¬
fahr stehen, einen unverhältnißmäßigen Theil unserer jungen Volkskraft, die Blüthe
der besitzenden Classen, zu militärischen Turnlehrern verbraucht zu sehen. Die
kriegswissenschaftliche Literatur hat eine so breite Ausdehnung gewonnen, daß es
auch dem Manne von Fach schwer wird, alles Bedeutende nach Gebühr zu würdigen.
Dies Blatt beschränkt sich darauf, einige Werke hervorzuheben, die sich dem größern
Publicum als besonders anziehende Lectüre empfohlen.¬
Es wird dabei ziemen, den Gegner zu erwähnen. Das Werk des k. k. Ge
neralstabs „Oestreichs Kämpfeim Jahre 1866, V. Bd. enthält als Schluß des
Ganzen außer Vertheidigung Tirols und Kriegs-Ereignisse in Westdeutschland einen
vortrefflich geschriebenen Abschnitt, den Kampf auf dem adriatischen Meere, darin
die Beschreibung der Seeschlacht von Lissa, ein Meisterstück von fesselnder Dar¬
stellung, auch als militärischer Bericht vom ersten Range. Diese Seeschlacht wird
als der erste rangirte Zusammenstoß größerer Panzerflotten der östreichischen Marine
in der Kriegsgeschichte für immer einen besonderen Ruhm bewahren.
Unter den preußischen Schilderungen sei zunächst an ein anmuthiges Büchlein
erinnert, das freilich schon im Jahr 1867 erschien „Unter der Fahne des
Zweiten Bataillon Franz" von Albrecht Kunth. Es war Wohl nur in
Preußen möglich, daß die Beschreibung der Kriegsthaten eines alten stolzen
Garderegiments für jedes der drei Bataillone von einem Freiwilligen ausging!
Vatke, Kunth und Jacobi. Die Erzählung Kunth's führt mit besonders liebens-
werther Laune in das Kleinleben des Soldaten ein, sie schildert Ermattung und
gehobene Stimmung, die Eindrücke und Abenteuer des Tages, den Antheil des ein¬
zelnen Soldaten an der Schlacht, die Beschwerden des Marsches und der Ver¬
pflegung, zuletzt die Todesgefahren im Lazareth sehr behaglich, treuherzig, wahr¬
haft und anspruchslos. Die Kriegsthat des Bataillons in diesem Feldzuge war,
wie bekannt, das tapfere Vorgehen in dem Gefecht bei Alt-Rognitz am 28. Juni,
wobei das Bataillon sehr starke Verluste an Offneren und Mannschaft hatte. D»
ist lehrreich, wie sich dem einzelnen Beobachter die Theilnahme seines kleinen
kantischen Körpers am Gefecht darstellt, ein entschlossenes Borgehen, ein kurzes
Feuergefecht, und die Kriegskraft einer Compagnie, eines Bataillons ist wahrschein¬
lich verbraucht; auch das beste Auge und sicherste Urtheil des Kämpfenden vermag
nur verhältnißmäßig wenige Bilder aus seiner unmittelbaren Umgebung, oder aus
dem Terrain auszunehmen; von der Bedeutung, welche das Vorgehen, die Ausdauer
und schnelle Abnutzung des Truppentheils für das Ganze hat, erhält der Mann nur
in seltenen Fällen auf dem Kampfplatz volles Verständniß. Auch die tapfern
Franzer vom 2ten Bataillon saßen am Abend ihres Treffens sorgenvoll und nieder¬
geschlagen in schlechtem Bivuak und hielten sich durchaus nicht für Sieger. Es ist
Zu wünschen, das die kleine Schrift als ein besonders hübsches Beispiel der Frei¬
willigen-Literatur unseres Heeres nicht in Vergessenheit komme.
Auch von den zahlreichen Regimentsgeschichten, welche bereits erschienen sind,
oder in Aussicht stehen, sei hier eine der bedeutendsten gerühmt: „Geschichte der
letztvergangenen vier Jahre des 2. Magdeburgischen Infanterie-
Regiments Ur. 27 von Arnold Helmuth." Die Berichte einzelner Truppen¬
körper, welche mit allen Hilfsmitteln der Adjutantur: Rapporten, Acten, Plänen ver¬
fertigt werden, haben in der Kriegsgeschichte eine besondere Bedeutung, sie geben
das genaueste Bild der Kriegsthat, an welcher Bataillon, Regiment, Brigade Theil
hat, sie ergänzen und berichtigen die kurzen Striche der Darstellung, welche vom
großen Generalstabe ausgeht; sie sind, geschickt gearbeitet, auch dem Nichtmilitär
besonders anziehend, weil sie zugleich einen großen Reichthum an charakteristischen
Zügen, an Erlebnissen und Thaten der Officiere und Mannschaften dem Gedächtniß
künftiger Geschlechter erhalten. Wenn hier zur Empfehlung für die Leser d. Bl.
gerade das 27. Regiment gewählt wird, so wissen wir alle warum.
Es gehörte zu der Division Fransecky, es war eines der tapferen Regimenter,
welche am 3. Juli im Walde von Maslowed während mehrstündigem Vernichtungs¬
kampf die Kraft von mehr als zwei östreichischen Armeecorps aufrieben, und wohl
die schwerste Heldenarbeit der furchtbaren Schlacht durchmachten. Ohne den großen
Zerstörungsproceß im Swip-Walde wäre der zweiten Armee die siegreiche Ent¬
scheidung der Schlacht ganz unberechenbar schwerer geworden, der Erfolg erst spät
eingetreten und weit unvollständiger geblieben.
Aber nicht allein in der Schlacht von Königgrätz hatte das Regiment eine be¬
deutsame Arbeit, der vorliegende Bericht ist noch für andere Momente des Feldzugs
bon Wichtigkeit. Es waren die Siebenundzwanziger, welche bei Münchengrätz den
^Nusky-Berg erklommen und dort auf der Höhe in isolirten Kampf den Feind aus
seinen Positionen warfen. Wie sie in glühender Tageshitze die Schlucht hinauf¬
kletterten, in enge Steile eingekeilt, fast einer nach dem andern, wie sie dann auf
°er Höhe ihr erstes Gefecht mit einem recht regelrechten Angriff begannen, als ob
ste auf einem Exercierplatz ausschwärmten, mit Patronen hübsch sparsam und den
Schuß nach Vorschrift meldend, wie sie auf Kommando mit dem Bajonnet vor¬
sprangen, den Feind mit unwiderstehlicher Wucht aus der Position warfen und
ebenso regelrecht aus der zweiten und aus der dritten, fast verwundert, daß dies
eine Schlacht sei, und wie ihrem Obersten und dem General das Herz im Leibe
lachte über die gute Mannschaft — das muß man nachlesen. Und es war wieder
?>es Regiment, welches zwei Tage vor der Entscheidungsschlacht eines seiner
-«ataillone über die Biestritz bis nach Cerekwitz scharf in die rechte Flanke
der feindlichen Aufstellung hineinschob. Dort vom alten Schloß erspähte Oberst
Zychlinsky zuerst auf dem dämmrigen Höhenzuge längs der Biestritz die Batterien
und Bataillone der Oestreicher, und die Nachrichten, welche durch ihn an das
Kommando der I. Armee und von da in das große Hauptquartier gelangten,
haben wesentlich dazu beigetragen, den Preußen die befestigte Stellung Benedecks
kundzuthun. Dieser Wachdienst auf vorgeschobenem Posten, mit seinen Sorgen und
kleinen Abenteuern ist wieder ein eigenthümliches Kriegsbild, fesselnd wie eine
Novelle. Wer aber die Schrecken eines Wald-Gefechts, die allmälige Zertrümmerung
eines kantischen Körpers in stundenlangen Kampfe, den Wechsel von Erfolg und
Niederlage, die Schicksale der einzelnen Trümmer und vieler tapferen Männer, eine
Fülle von Spannung, furchtbarer Bedrängnis; und tapferem Aushurren in erschüttern¬
der Folge erkennen will, dem sei das Schicksal des Regiments am 3. Juli em¬
pfohlen. Es hatte den ersten Angriff auf den Wald, und den ersten Stoß des
Armeecorps Thun zu ertragen, seine Compagnien wurden zuerst verbraucht, ihre
Trümmer flogen und lagen im Walde umher, fünf Stunden im Eisenhagel, in den
gehäuften Schrecken eines Waldgefechts, die Reste hielten doch noch von Feinden
umringt die letzten Gehöfte von Cistowes, und marschirten vorwärts bis Langenhof.
Die Füsilire forderte sich der Kronprinz am Abend als Ehrenwache. Der Bericht
des Verfassers erweist ein ungewöhnliches Talent für deutliche und fesselnde Er¬
zählung. In den einleitenden Capiteln ist die militärische Loyalität — die wir
übrigens von Herzen würdigen — für unsern Geschmack etwas zu reichlich mit
den conventionellen hellen Wasserfarben geschildert, da aber, wo der Ernst der Kriegs¬
arbeit beginnt, erhebt sich die Darstellung des Verfassers so schön zu männlicher
Einfachheit und energischem Ausdruck, daß sich das Ganze liest, wie das beste Ge¬
schichtswerk, es läßt den Leser nicht mehr los, und in seiner Seele klingen alle die
wechselnden Stimmungen nach, welche Führer und Mannschaft in den Tagen der
Entscheidung durchlebten. Es ist ein gutes und wirkungsvolles Buch und wir wün¬
schen dem Verfasser, daß ihm selbst und der Armee die Stellung, welche er dadurch
in unserer Militärliteratur gewonnen hat, auch fernerhin zum Heile sei.
Gern möchte dies Bl. dem neuen illustrirten Prachtwerk mit vielen Holzschnitten:
Der Deutsche Krieg von 1866. Von Th. Fontane. I. Bd. Berlin. R. v.
Decker, das gleiche warme Lob zutheilen. Aber das Unternehmen leidet an zwee
Uebelständen. Es kommt zu spät für die breite Anlage; das neugierige Interesse,
welches noch vor zwei Jahren sehr groß war, ist jetzt bei dem behaglichen Käufer
durch andere populäre Werke befriedigt. Dann entspricht die Erzählung nicht völlig
der Tendenz eines illustrirten Werkes. Zu den leichten Bildchen eines solchen Plans
gehört auch ein Text, der sorgfältig und reich schildert, fesselndes Detail, Anecdoten,
spannende Momente einzelner und kleiner tactischer Körper, Stimmung in Landschaft
und Situationen, das kleine und große Treiben im Heere, Abenteuer, Soldaten¬
charaktere, Alles recht liebevoll und schmuckvoll darstellt. In solcher Weise ge¬
schrieben, als eine reiche Sammlung von Kriegsbildern, könnte das Unternehmen
einen dauernden Werth erhalten und die Bedeutung eines ächten Volksbuchs. Aber
der Verfasser hat der Versuchung nicht widerstanden, große Kriegsgeschichte zu schreiben
mit Armeebefehlen, Ordres de Bataille, sogar einer Kritik und Rechtfertigung der
leitenden Dispositionen. Das war nach dem Erscheinen der Generalstaatswerke und
vieler Fachschristen doch nicht nöthig. Ost ist allerdings der militärische Bericht durch
Mittheilung von Brieffragmenten und lebhaftere Beschreibungen der Oertlichkeit
unterbrochen, aber das Ganze wird dadurch eine Mischung von zwei verschiedenen
Darstellungsweisen, die keine von beiden zu voller Geltung kommen läßt, und es
ist viel schönes Papier dazu verwandt. Von den Holzschnitten — die größeren und
erfindungsreicheren nach K. Burgers Zeichnungen — werden dem Leser die besonders
willkommen sein, welche Oertlichkeiten, und die, welche Köpfe gebliebener Officiere
darstellen.
Unter dem Namen Mark, Haus- und Hofmarke, Hauszeichen,
nordisch Bomärke, kennt das germanische Europa seit wenigstens sechs Jahr-
Hunderten gewisse Wahrzeichen der Personen und ihrer Habe, welche in der
Gestalt den noch in die Heidenwelt zurückreichenden Runen gleichen, in dem
Gebrauche aber unsere Wappen und Personennamen vertreten.
Näher finden sie sich in Norwegen, Island, Schwedens, von wo sie
auch nach Lappland. Finnland und den Inseln an der Esthnischen Küste-)
gedrungen, in Dänemark, Großbritannien ^) mit der zu engen Bezeichnung
«merekant marKs", in den Niederlanden ^), sodann in dem ganzen Bereiche
der deutschen Zunge, von Reval und Riga bis in die Schweiz, ja in Ptemont,
von Helgoland bis zur Leitha. von Rügen bis zu den Tiroler Alpen. In
einzelnen Anwendungen überschreiten sie das germanische Gebiet; Kauf-
mannsmarken (deutscher Häuser) begegnet man in Genua und Warschau;
die Steinmetzen setzen ihre Zeichen auch auf französische Bauwerkes; der
polnische Adel führt nicht selten eine „Marke" gleich dem deutschen«); die
romanische Schweiz kennt eine „noäa casa".
Die Gestalt schließt sich zunächst mit Stab und Kennstrich den Runen
ö' B- an. auch den zusammengesetzten oder Binderunen^ L> A; so
fügt sie sich leicht dem bloßen Einritzen, Einschneiden, EinHauen. Allmälig
Weicht sie von jenen Typen ab; sie gibt den Stab auf, behält aber noch zu
jenem Behuf das Strtchförmige bei; dann bereichert sie sich durch die ge¬
schwungene Linie (s, unten die Beispiele von Praust); seit dem 16. Jahr¬
hundert hängt sie dem tulcrum Buchstaben an ja geht sie in bloße Ver¬
zierung eines Buchstaben über H> Endlich kann sie auch einer Annäherung
an das Bild sich nicht erwehren, indem sie theils den Hauptlinien eines Ge-
räthes folgt ^ theils eine bildliche Deutung der früheren Typen, z. B.
der beiden obigen Runenformen als Flegel und Krähenfuß, oder des
Zeichens ^ als Wolfsangel, des X als Stundenglas, hervorgerufen hat. Bei
allen diesen Abweichungen bleibt unsrer Marke noch eigen, daß sie von kunst¬
loser Hand, ohne Hilfe von Farbe oder Bildnerei gezogen werden mag.
Die Anwendung ist gleich der unserer heutigen Wappen von der ausge¬
dehntesten Art.
Zunächst den Personen nach. Die Zeichen werden von Mann und
Weib, sie werden nicht weniger von der ländlichen, namentlich der mit Bauer¬
höfen angesessenen, als von der städtischen Bevölkerung geführt^^hier.Wieder
von den Patriciern, den AaMherren,,, «M den gewöhnlichen.^ Bürgers «Und
Gewerbe, von Kaufleuten. Künstlern, Fabrikanten. Schiffern. Handwerkers
Auch Geistliche^ und/Geleh^ Matrikel der Leipziger
Universität fügt im Is.ten und,16 ten Jahrh, den Namen der Rectoren und
Decane stets ihre Marken bei. ^ Selbst dieHittersD^
Schild und Helm das Bild vorzog^ völlig dem
alten Nunentypus. Der RugianisK „v-,aux>. üoäv" zeichnet im
M6 ^. das Geschlechts von Gagern führt noch jetzt jene Wolfs¬
angel., Mu phhfischen folgen die juristischen Personen, so ,die MM, die
Gemeinden (Lübeck hat /X.- Halberstadt die Wolfsangel, schwedische Dörfer
führen , ein Bymär.ke);. .auch die Kirchen : In Danzig zeichnet S. Marien M
Johannes S. Catharina ^ u^ 5 w. Selbst das Gelichter der Mord¬
brenner des 16. .JaHrKuyYerts^ svWirtseine Losung und Brandzeichen,^n
ähnliche Gestalten. . .^.^ . /„^,. , ......
, , In, andere^ ^Beziehung gehört d^as Aelchen entweder
viduum, aber jhm doch als ein beständiges,. ass seine .^eigne,/gewöhnliche,
gebräuchliche Mark" an ; oder dem ganzen , Geschlecht in seiner Muer.und'
Verzweigung als ^angeborne Mark";..oder einem Hause.in M
deutung, einer Geschäftssirma, auch lzeim Wechsel der Inhaber ,^und.'Vor¬
steher. .,Ob.er endlich hat sich das Zeichen an die. Stätte, nMentlicl^ an^ die
bäuerlich^ Gelle als H o s in ar k e dergestalt befestigt, daß es^ wie/i^Hest-
Men der Hofname. auch, auf eine,neue .Besitze^samM.ühMPt^'..
Gleich mannigfach ist Gegenstand und Ort der Bezeichnung, i. Das
Hauptgebäude, über der Hausthür, .dem Hofthor,, in. den Giebeln und
Windfahnen, an den Lauben und Beischlägen. 2. Die Fahrn iß und. zwar
a. allerlei Geräthe des Hauses, der Wirthschaft, des Gewerbes,' wie Eimer,
Böte, Säcke, Angeln und Netze. Spaten. Pflug und Haken, Jagd- und Hand¬
werkszeuge. Maaß und Gewicht; WKausmannswaaren, deren Marken beson¬
ders in Strandungssällen wichtig' werden; e. das Vieh: 'Pferde/ Rinder.
Schweine, Schafe, Enten, Gänse, Schwäne; S. sonstige bewegliche Habe wie
Bücher, Flößholz. 3. Kunstproducte und Fabrikate verschiedenster Gattung,
der Maler, Baumeister, Steinmetzen. Goldschmiede, Böttcher, Bäcker:c.
4. Der Grund und Boden, z. B. bestellter Acker, zugelooste Wiesenstücke,
Deich- und Dammstrecken. 3. Grenz-Steine. Bäume, Stöcke, Zäune.
6. Grabsteine und sonstige Todtendenkmale in Kirchen und auf Kirchhöfen.
7. Kirchenstühle. 8. Stöckchen (Kaveln, in Schonen KiMwAar) und
Brettchen, deren man sich zum Loosen und als Kerbhölzer bedient. 9. Allerlei
Weih-Geschenke, Kirchenfenster, Glocken, Taufbecken. 10. Urkunden, Stamm¬
bücher, Bürger- und Gildenrollen, wo neben dem Namen des Ausstellers;e.
oder statt desselben die Marke als Unterschrift. Handzeichen steht. 11. Allerlei
Kunstwerke, wie Becher, Schilder, welche einer Genossenschaft als Album
dienen. 12. Werkzeuge zum Aufprägen der Marke wie Stempel, Brenn¬
eisen, Maläxte, Forsthammer, vor allem die Siegel, sei es mit oder ohne
Waffenschmuck.
Aus diesen Gegenständen tritt zugleich die vielfache Veranlassung und
die rechtliche Bedeutung der Zeichengebung hervor. Der Eigenthümer will
sein Recht an der Sache kenntlich machen und sichern; der neue Inhaber er¬
greift damit Besitz; der Verfertiger will oder soll seine Autorschaft bekunden;
der Contrahent bekräftigt damit seinen Willen; das Zeichen bringt eine ge¬
wisse Persönlichkeit sei es als den Donator, als sonst Handelnden, als Zeu¬
gen, als Verstorbenen, als Glied einer Genossenschaft, als Verpflichteten oder
als überhaupt Gegenwärtigen symbolisch vor Augen.
Marken der obigen Beschaffenheit gehen mit urkundlicher Bestimmtheit
bis in das 13te Jahrhundert zurück. Das schwedische vplauäsig-gli aus
dieser Zeit scheidet von dem persönlichen schon das Hofzeichen, Bolsmärke.
Von 1290 sind Marken Lübscher Bürger, z. B. bewahrt. Die Blüthezeit
des Instituts reicht noch etwa dreihundert Jahre weiter. Die Rechts- und
Geschichtsquellen, besonders die Denkmäler selber zeigen noch im 16. Jahr¬
hundert einen vollen, lebendigen, ausgedehnten Gebrauch. Kein Stralsunder
Klosterbauer, der nicht seine Willensacte durch eine eigene Marke besiegelte,
kein Steinmetz, der nicht als Geselle sein Zeichen von der Bauhütte erhielt;
kaum ein Grabstein gewöhnlicher Bürger bleibt zeichenlos; im Bürgerbuch
von Nymwegen, im Krämerbuch zu Lübeck steht bei jedem Namen die Marke.
Im 17. und 18. Jahrhundert büßt die Anwendung allgemach ein. Die
Marke tritt hinter dem in gewissen Kreisen schon von Alters her beliebteren
Bilde noch mehr zurück, doch dergestalt, daß Bild und Zeichen noch lange
neben einander geführt werden, theils in zwei verschiedenen Siegeln der
Person, theils in zwei Feldern ihres Wappens. Sie weicht ferner den bloßen
Initialen des Namens; sie wird selbst bei den Analphabeten durch die
unterschiedslosen drei Kreuze verdrängt. Endlich wird, u. a. bei Häusern
und Bauerhöfen, die den Beamten bequemere Zahl an die Stelle der „Hiero¬
glyphen" gesetzt. Seit Menschengedenken nimmt man noch deutlicher die
Weise des Schwindens wahr. Die schreibenskundige jüngere Generation ver¬
schmäht das alte Handzeichen; die Theilung der Gemeinweiden und -Wiesen
überhebt des besondern Martens des Viehes, macht die Loosstäbchen zum
jährlichen Verkaveln entbehrlich. Beim Umbau stellt man das mystische
Zeichen am Hausbällen nicht wieder her; das Wegbrechen der Frontgiebel,
der Wangelsteine vor den Thüren, die Entfernung der Grabsteine aus den
Kirchen verwischt das Andenken auch der früheren Sitte.
Dennoch zeigen selbst heutigen Tages und zwar auch in deutschen
Landen nicht wenige Orte die Spuren vormaligen Gebrauches. Die Bau¬
werke des Mittelalters, die Dome zu Freiburg, Halberstadt, Hildesheim,
Magdeburg, Merseburg, Regensburg, Strasburg; Palatia wie die Kaiser¬
pfalz bei Gelnhausen, die Moritzburg bei Halle; Brücken gleich der über die
Moldau in Prag, über die Mosel bei Coblenz bieten uns noch Baumeister¬
oder Steinmetzzeichen bis zu Hunderten dar. Die Gänge der Kirchen z. B.
von Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, Danzig sind noch
mit Hausmarken auf den Leichensteinen bedeckt; alte Häuser in Hildesheim,
Zürich, Göttingen, Erfurt, Goslar, Münster, Osnabrück tragen sie gleich¬
falls.
Ja der zähere Sinn unsers Landvolks hat die Sitte der Vorfahren,
wenn auch dem flüchtigern Beobachter verborgen, noch in bewußter frischer
Uebung erhalten. So lebt sie in vielen Thälern der Schweiz bis in den
Berner Jura hinein, selbst in dem deutschen Alagna südlich vom Monte-
rosa, in Tirol, Steiermark, dem bayerischen Hochgebirge; andrerseits auf
den nördlichen Eilanden von Rums bei Riga bis zur Küste Schleswigs.
Den Bauerhöfen in der Umgebung von Danzig und Elbing dient die Hof¬
marke noch zur Bezeichnung des todten und lebendigen Inventars, ferner
des Kirchenstuhls und der Erbbegräbnisse; in der Gegend von Mewe wird
das Hofzeichen zu den Hypothekenakten vermerkt. Die 16 Bauerhöfe zu
Praust bei Danzig haben folgende Marken mit Formen ältern und neuern
Stils ö^^8S5^5^- - Zwischen
Danzig und Marienburg sowie auf den Dohna'schen Gütern (Kreis Holland)
regulirt eine Tafel der sämmtlichen Hofmarken beim Schulzen die Gemeinde¬
leistungen (Zechen), ähnlich zu Schweinschied bei Meisenheim und zu Münster
in Overwallis die Gemeindenuyungen. Auf der Rügianischen Halbinsel
Mönchgut sieht man das Hauszeichen nicht nur an dem Fischergercith, son¬
dern auch auf Urkunden neuester Zeit. Die Bauermarken tragen hier meist
noch die Form von Binderunen, z. B. ^ 1^ ^ ^ ^ 5- — In Mentler-
bürg, namentlich zu Rövershagen bei Rostock, Pommern, Rügen, im Oderbruch
loofen noch die Gemeindeglieder mit den Hausmarken auf Stäbchen, welche
die „LzMbolas Letdinanno HolwöZio oblatas ä. XII. Lext. Nvvvc!I.XVIII
p. 68 sq." neuerdings veranschaulichten. Auf Hiddensee bei Rügen
wandelt das Stammzeichen eines Geschlechts sich unter dessen Zweigen
z. B. in folgender Weise ab: X X )( X X X X Das Blockland bei
Bremen kennt die Entenmarken in den Schwimmhäuten. — Der Wirth des
„Alpenelubs" im Maderaner Thal trägt die empfangene Milch in den Kerb¬
stock unter der Hausmarke seiner Lieferanten ein. — In der Gegend von
Quedlinburg und Halberstadt im Mansfelder Gebirgskreise wird den
bestellten Ackerparcellen das Zeichen eingepflügt. — Im Trier'schen Hoch¬
walde verlooft man die Gemeindeäcker alle 15 Jahre mittels der, auch den
alten Zinsregistern beigefügten Hausmarken der Genossen. — Zu Pfäfers
in Se. Gallen führen die Glieder der Sippschaft Egga noch die verwandten
Zeichen: x X Z A X I X- — Zu Jgis in Graubündten bittet wohl ein
Einkömmling den Schullehrer um Ertheilung einer Marke. Aber auch über
das Gebiet unseres heimathlichen Bauernwesens gehen noch manche Erschei¬
nungen selbst der Gegenwart hinaus. Aus Helgoland bezeichnen die Schiffer-
compagnten ihre Schaluppen nicht nur mit Bild und Namen, sondern auch,
und außerdem das lose Zubehör allein, mit einer Marke. — Die uralten
sogenannten Schiffergesellschaften imMurgthale bewahren eine ausgebildete
Ordnung für die Zeichen der aus den Waldungen nach den Sägemühlen hin
zu stoßenden Hölzer. — Den Steinmetzgesellen wird noch hie und da ihr
Zeichen ertheilt. — In England gilt die alte Sitte, den Schwänen die
Eigenthumsmarke in den Schnabel zu schneiden, bis aus den heutigen Tag,
auch für die der Königin Victoria gehörigen. — In Island endlich, wo man
die Schafe großer Bezirke vermengt in die Gebirge treibt, werden die in die
Ohren eingeschnittenen, in ein förmliches System gebrachten Marken in ge¬
druckten Verzeichnissen veröffentlicht.
Schon nach diesen Umrissen erscheint der geschilderte Gebrauch für das
Rechts- und für das Volksleben überhaupt als mannigfach anziehend und
bedeutsam. Es tritt durch ihn die innige Verbindung zwischen Besitzthum
und Person in der sinnlichsten Weise vor Augen. Die Geschichte des
Wappenwesens gewinnt einen neuen Hintergrund. Es eröffnet sich ein Zu¬
sammenhang mit den siMis der germanischen Volksrechte des S ten bis 8ten
Jahrhunderts, z. B. den Worten der lex Laliog, t. 33 §. 2 „si quis eervum
ävmestieum siZnum dg-deuten turkVörit", oder des eäieti Rotdaris t. 240
„si quis Li^na nova i. e. teelaturs, (Einschnitt von teolai-ö, d. i. taliter)
g.ut snaiäa in silva alwrius kseerit", oder der !sx VisiZotnoi-um I,. VIII.
t. 6 „si quis axss in silva sua invenerit, kaeme tres ÄLeurias" (d. i. X),
oder endlich der lex ?risionum tit. 14 „unus^uisgus kaoiat suam forthin
i. e. können (^Am, plattd. tsll) Ah virZa et siAnst siZno Kuo".
In den Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften 1832 S. 83 ff.
habe ich die auffallende zwiefache Bedeutung des „Handgemal" als Hand¬
zeichen und als Stammgut aus der Hausmarke zu erklären gesucht, und
im I. 1833 (Monatsberichte der Ak. S. 847) die „tenos euiu suo siMo"
der Isx ?risionuin t. 14 auf die heutigen Loosstäbchen hingeführt. Ferner
hat ein fliegendes Blatt vom Januar 1833, zuletzt vom März 1868, um
Mittheilungen und Veröffentlichungen über die Haus-und Hofmarken gebeten.
Solche sind dann hundertfältig ergangen*). Möge dieselbe Bitte auch bet
dieser letzten Aussendung viele Freunde unserer Volkssitte geneigt finden,
den Haus- und Hofmarken, sei es in den Spuren früherer Anwendung, sei
es in dem noch lebendigen Gebrauche mit Sorgfalt nachzugehen, und das
Erforschte entweder zu veröffentlichen, oder mir zu dankbarer Entgegennahme
mitzutheilen.
Die abgelaufene musikalische Saison mahnt daran, die auswärtigen
Kunstfreunde (wie in den letzten Jahrgängen dieser Blätter) mit dem Re¬
sultat des öffentlichen Musiklebens in Wien vertraut zu machen. — Das große
Ereigniß war die Eröffnung des neuen Opernhauses und der gleichfalls neuen
Musikvereinsgebäude sammt Konservatorium. Ueber den Bau des neuen
Tonkunst-Tempels haben die Blätter des In- und Auslandes seiner Zeit
ausführlich geschrieben. Manches wurde gelobt, mehr noch wurde getadelt.
Die allgemeine MinUng- hat nun Zeit gehabt, ihr Für und Wider ruhiger
abzuwägen. Daß der Bau trotz der enormen Kosten (man schätzt dieselben
zwischen 6 und 7 Millionen) den Erwartungen nicht entsprochen hat. darüber
ist Wohl nur Eine Stimme. Mißverhältnisse der einzelnen.Theile, die sich in
kleinliche Details >zersplittern und es zu- keinem großartigen Gesammteindruck
brin^en^ e-iNe Akustik, die den Sänger zur Uebertreibung nöthigt; drohender
Verlust einer ganzen Reihe por Opern, welchen der riesige Bühnenraum
feindlich entgegentritt, sind nicht mehr abzustellende Fehler. Volles Lob da¬
gegen findet- die reiche Ausschmückung' des Zuschauerraumes. die geschmack¬
vollen Foyers, die prachtvolle Hauptstiege» die treffliche Ventilation und Be¬
leuchtung. > Die' große Oper- und das Ballet werden..allerdings in den neuen
Räumen Hre -Rechnung- finden;- Der aberl hat allabendlich allein nur Sinn
für- pompöse' ArifzüM prachtvolle Dejcorationen und blendende /Alast.essende.?
Die--Mthwendigkeit M die
Spieloper' dräNgett, fN'r-Ne'-,Ma-n- bisher-ndch Zimmer das alte Haus im Auge
Hatten.' Gerüchte^ sprechen,'Mneue'W'.'Zeit»vorn dessen-- baldigem Berkqus—
es'Wäre-dies-ein iavger-Einschnitt inüdie hiesigen lOpernvechältnisse.
S-eit''ErAffn-u-ng--d'es neuen Opernhauses mit Don Juan, am 23. Mai I8ß9>
^wurden--bis' zNm- gleichen Datum >.18?0-''an-'-210 Abenden,29-.verschichefle
Opern '-von-"16! Componillen gegeben-.' Bis- jetzt wanderten 10 Opern und
6-Ballete - ins neue Haus' von--Letzteven-- wurde.>'SaManapajl,, .^^^
und' Flock -1-7-mal gegeben. beide-von -Paul- Taglioni in Scene gessgt. ,zi-W
wär-wohl-"das schsMste Repertoire--seit-ZMenK!'/ti^
Zahl teri WiedeHo'lllÄgen, der ManW -an--,AbwM
dielU'ebersied'elunN zu-entschuldigend-?- MS^H«atW-
Alte^dK)iW»reH,^M Mögende
Opern vertheA-t: ZaUb'erflöte 21«a-b;iTell- Maal-;/Haust,- MmeMHugWottM
'Freischütz jet-^rnÄ? Dbn---Zuan-^und -Tröllba-dont..-jei-N-mal^.zPrM^^l^
Armida und!.'Fidetio--je 9-;-StWN>me-.- Wei-steivsinWv.- NarAift.^flos^ MsMa,?;
ÄfManerin, Lucia' je.6; Fxa Diavylo- 4;.--Postillon.-RobiM Mignon.. FiMf
rv^s Hvchzei^je'S;Germani> M'askenbaUl1e-.2matt-i-
Lutre^Uj^Favoritin,--lustige-Weiber- Pou--Windsor, . Rigoletto- Wh,. S-onnaMf
HÄ«.' -^u>M« Gäste -tM.en,Mf: -die.SÄN-ge-rinnen P»UMgartner^.,Mschne^
Hahn. -Lauterb-ach-.lHassa,-May Murska, Singer.
Vilma' v.- Ba>laZ-BvWä>r..--'in- -jüngster-Zeit Hauck und B-enza. ^-Fer.ner die
SÄNger' Poets/ Pirk - Labatt>und Krauß.-. Von den genannten Damen wurden
eNgagitt: Ac Hahn.- Bohle und-Hass«;-von--den Sängern Alle.-bjH. auf IöM.
Von den Einheim-löcher, den Tänzerinnen Wild, EHnn,r.DustmftW.nM-
ternaRabatinsky, -Gin'd-ele,- Tellheim/ - und den- Sängern. Walter, Ad-aus,
Müller, Bignto, Mayerhofer, Beck, Draxler, Rokitansky und Schmid hat
der vorjährige Bericht das Nöthige gesagt, über den ansehnlichen neuen Per-
sonalzuwachs wird sich das Urtheil erst mit der Zeit befestigen. — Mit be¬
greiflichen Interesse sah man der Aufführung der „Meistersinger", der ein¬
zigen Novität seit Jahresfrist, entgegen. Wagner's Oper erzeugte, wie
vorauszusehen war, auf beiden Seiten heftige Polemik, in der beide Theile
nur schrittweise nachgaben. Seit der ersten Aufführung am 27. Februar d. I.
wurde die Oper in immer längeren Intervallen noch siebenmal wiederholt.
,Freunde und Feinde des Wagner'schen Princips haben sich auch durch diese
Oper um keinen Schritt genähert; die Urtheile sind immer dieselben ab¬
sprechender und verhimmelnden. Die Einen bedauern die Sänger, die An¬
deren wissen nicht genug die „vielen schönen Einzelheiten im Orchester" zu
betonen. Die Oper wurde mit Geschmack in Scene gesetzt und von Herbeck
mit großem Fleiße einstudirt; daß Vieles gestrichen wurde (etwa 17 Seiten
im Textbuch) konnte der Aufnahme für die hiesigen Verhältnisse nur zum
Vortheil gereichen. Die Aufführung von Gluck's „Armida" (in Wien im
Jahre 1808 ein einziges Mal gegeben und am 20. Nov. 1869 neu in Scene
gesetzt) war ein Fest für die Freunde classischer Musik, und auch das größere
Publicum, das dem breiten großen Stile dieser Gattung so ganz entfremdet
war, zeigte für sie empfänglichen Sinn. Gluck hat bekanntlich Vieles aus
seinen früheren Opern in die Armida aufgenommen, aus ?ariäö ca
Lima, 1s> Olkmensg, ni lito und namentlich aus lelemacoo. Für
die hiesige Aufführung hatte Esser die Jnstrumentation bearbeitet und sich
darin als feinfühliger Musiker bewie.sen, indem er dieselbe nicht unnöthig
überlud oder mit modernen Effecten ausstaffirte. Noch wenige Jahre
und diese Oper feiert ihr Jubiläumsfest (am 23. September 1877).
Die Ausstattung spielte in diesem ersten Theaterjahr im neuen Gebäude
die Hauptrolle. Die Sänger sanken mitunter zur bloßen Staffage herab.
Sensation machte die durch den Maler I. Hoffmann bis ins kleinste Detail in
Decoration und Costümen wissenschaftlich durchgeführte Darstellung der Zauber¬
flöte, der man damit einen durchaus nicht bedingten egyptischen Hintergrund
aufzwang. Diese Vorstellung von Mozarts Oper sucht ihres Gleichen, aber
sie wurde auch dadurch ein bloßes Ausstattungsstück, bet der die Musik nur
so nebenher lief. Tell, die Stumme, die Hugenotten und ähnliche Opern
überboten sich an blendenden Dekorationen, bunter Costümpracht und reicher
Rise-co-seönö. Die Sucht nach grellen, vielfarbigen Beleuchtungs-Effecten,
Massen.Evolutionen u. tgi. ist namentlich im Ballet so sehr auf die Spitze ge¬
trieben, daß schon jetzt eine Abstumpfung eintritt. Man betrachte nur das
Publicum — steif und blasirt sitzt es da; für feinere wirklich künstlerische
Wiedergabe hat es kaum mehr ein Zeichen jenes zustimmenden Beifalls, der
dem wahren Künstler etwas werth ist; nur beim Loslegen und endlosen
Aushalten einzelner Töne läßt der gröbere Haufen sich noch zu lautem Bei¬
fall herbei. — Indem man einzelnen Vorstellungen besondere Sorgfalt zu¬
wendet, kommen Abende vor, wie sie Theater zweiten und dritten Rangs
kaum zu bieten wagen würden; ich denke z. B. an Freischütz (im alten Haus
mit Pirk und Hrabaneck), Nachtwandlerin (mit Frau Bognar), Fra Diavolo.
Auch der Prophet, seit zehn Jahren eine Schattenpartie dieser Bühne, gehört
hierher. Trotz dem großen Personale, mit dem viele Rollen zwei- und drei¬
mal besetzt werden können, hat man es seit Jahren nicht dazu gebracht,
einen Barbier von Sevilla, oder einen Rienzi ausführen zu können. Manche
Componisten wie Marschner, Spohr, Boieldieu, Cherubini scheinen ganz
vergessen; auch hat Weber noch andere Opern als den Freischütz geschrieben.
Die Entführung aus dem Serail, Hans Helling, Wasserträger, fliegender
Holländer (letzten drei mit Beck) wurden zwar in Aussicht gestellt, kamen
aber nicht. Medea. auf welche von mehreren Seiten wiederholt aufmerksam
gemacht wurde, wird in London nun seit Jahren mit großem Beifall auf¬
geführt; sie würde der ganzen jetzt lebenden Generation wie eine neue
Oper entgegentreten und könnte vortrefflich besetzt werden. Ein Institut,
das sich ein kaiserliches nennt, sollte auch von Zeit zu Zeit dem guten Ge¬
schmack ein Opfer bringen durch Opern, die, wenn sie auch nicht die Casse
füllen, doch indirect ihr Gutes wirken, denn auch auf die Sänger muß das
ewige Einerlei des Programms nachtheilig wirken. Sie alle würden eine
größere Abwechslung einer verblaßten Norma oder Martha vorziehen. Novi¬
täten gehören nachgerade zu den Seltenheiten. Seit Beginn 1867 wurden
in langen Zwischenräumen nur Romeo, Mignon, das Landhaus und die
Meistersinger aufgeführt. Nun betrachte man dagegen z. B. Leipzig, das in
Einem Jahre Idomeneo, Hamlet, Mignon, Rienzi, Medea. König Manfred.
Haideschacht brachte. Auch die Wiener Oper hatte ihre guten Zeiten. So
wurden in dem einzigen Jahre 1849 unter Holbeins Direction neu ge¬
geben: Templer und Juden. Krondiamanten, Hernani (nat. 1844), Linda
(nat. 1842), die Barcarole, Maria von Rohan (nat. 1843), der schwarze
Domino, der Blitz, die Zigeunerin, Hayde'e, Jolanthe, Macbeth, nebst drei
neuen Balletten, und wurde auch noch Titus neu in Scene gesetzt — eine
Ausbeute, die nach heutigem Muster mindestens auf fünf Jahre ausreichen
müßte. (Staudigl und Draxler waren damals die einzigen Bassisten, Ander
und Erl die ersten Tenoristen). — Seit Jahren kränkelt die große Spieloper,
einzelne Anläufe brachten sie nicht weiter. Mignon, Fra Diavolo, der Po¬
stillon, Martha, die lustigen Weiber waren die ganze Ausbeute der letzten
Jahre. Das Personale wäre bald ergänzt. Einstweilen böten Rabatinskv,
Boschetti, Tellheim, Gindel<, und vielleicht in Bälde Minnie Hauck. Müller,
Pirk, Campe, Mayerhofer und Hablawetz ein ganz tüchtiges Ensemble. Aber
da tritt die im Eingang berührte Frage auf und verweist abermals auf ein
zweites ausschließlich der Spieloper einzuräumendes mittelgroßes Haus.
Im Orchester und Chor haben bedeutende Veränderungen stattgefunden.
Ein großer Theil der älteren Mitglieder wurde pensionirt und durch zahl¬
reiche neue Kräfte ersetzt. Die wichtigste Veränderung geschah im Orchester.
Hofcapellmeister Herd cet wurde im August 1869 „zur Theilnahme an der
Leitung der musikalischen Angelegenheiten des Hofoperntheaters" berufen und
dirigirte am 16. October vorigen Jahres in seiner neuen Eigenschaft zum
erstenmale. Eine sich von selbst ergebende Folge war, daß der verdienstvolle
bisherige erste Dirigent und musikalische Betrath, Heinrich Esser, aus Ge»
sundheitsrücksichten sich von der Leitung zurückzog und in Pension trat. Er
hat sich nun in Salzburg niedergelassen. Herbeck aber wurde, noch ehe sein
Probejahr abgelaufen war, am 18. April d. I. definitiv „zum musikalischen
Beirath und Director der Musikcapelle am k. k. Hofoperntheater" ernannt.
Die nächste Zeit wird zeigen, wie weit die Verhältnisse es gestatten, das Her¬
beck und Dingelstedt Hand in Hand gehen und wie weit die Macht des
Ersteren reicht. Herbeck hat große Verpflichtungen übernommen, denn er muß
Bedeutendes leisten, damit das Publicum einen Ersatz findet für den Verlust,
den es durch seinen Rücktritt aus dem Concertsaal erlitten hat. Möchte er
aber auch einen wohlgemeinten Warnungsruf bei Zeiten beherzigend seinen
Kräften nicht allzuviel zumuthen, denn er hat bisher, sei es nun die ein¬
fache Mignon oder die schwerwuchtenden Meistersinger, mit einer Leiden¬
schaft dirigirt, bei der auch der eisernste Körper sich vor der Zeit aus¬
reiben muß.
Ueber die Vorstadttheater, so weit sie sich mit der Oper oder Operette
befassen, ist wenig zu sagen. Es verdienen hier nur die zwei größten, das
Theater an der Wien und das Carltheater in der Leopoldstadt der Erwäh¬
nung. Beide halten zu Offenbach und ersteres zehrt fast ausschließlich von
ihm. Daselbst finden Perichole, die Großherzogin, Blaubart, die schöne
Helena, Orpheus, die Banditen noch immer ihr Publicum, und eine glänzende
Ausstattung thut das Ihrige, der großen Menge über den eigentlichen Werth
der Musik nicht viel Zeit zum Nachdenken zu lassen. Die Großherzogin
und schöne Helena haben längst schon die hundertste Vorstellung hinter sich;
jede zwanzigste Vorstellung kommt dem Componisten zu Gute. Es muß ihm
somit schon dies einzige Theater einen schönen Ertrag abwerfen. Wie be¬
scheiden klingt dagegen die Großmuth einer Direction, welche im Jahre 1812
dem herabgekommenen Emmanuel Schikaneder von der Einnahme jeder
Aufführung der Zauberflöte vier Procente aus Lebenslang bewilligte. Dies
geschah im Juli; zwei Monate später, am 21. September starb Schikaneder
im Irrsinn. — Andere Operetten: die Theeblüthe (v. Lecocq), Meister Puff
(von Zaytz), Flotte Bursche (von Suppe"), die Schrecken des Kriegs spor
Cosel), der Däumling (von Rille). Wittwe Gropin, Zilda (von Flotow),
Dr. Faust M. (von Heros'e) brachten es mehr oder minder nicht über einen
Anstandserfolg. In Marie Geistinger. Albertine Ständer, Finau und Fischer,
Swoboda, Szika, Friese, Rott besitzt diese Bühne allerdings ein Personal,
das die Würze der Offenbachiaden hervorzuheben versteht. Die Direktion
dieses Theaters haben seit Juli 1869 Marie Geistinger, die bekannte Schau¬
spielerin, und Max Steiner übernommen, nachdem deren Vorgänger, Strampfer,
sich als wohlhabender Mann zurückgezogen hatte.
Das Carltheater unter der thätigen Direction Ascher's gönnt der Opperette
weniger Spielraum. Seit Januar 1869 wurden hier aufgeführt: Todo,
Monsieur und Madame Denis, Tulipatan, Hanni weint und Hansi lacht,
Pariser Leben, Lieschen und Fritzchen, Seufzerbrücke, Kakadu. (Verd-Verd),
die Damen der Halle, sämmtlich von Offenbach. Der Erfolg auf dieser
Bühne beruht hauptsächlich auf tüchtigem Zusammenspiel. Fräulein Minna
Wagner, Frau Grobecker, der Tenor Eppich sind hier die besten Kräfte.
Eine kurze Episode bildeten die Opernvorstellungen im August vorigen Jahres,
wobei Sont heim aus Stuttgart und Fräulein Hänisch aus Dresden als
Gäste mitwirkten. Martha, Postillon und gemischte Vorstellungen (Othello,
Jüdin) waren an zwölf Abenden bedeutend genug, um 10,200 si. als Sont-
heim's Einnahmeantheil herauszuschlagen.
Wir wenden uns nun den Concerten zu, mit den Vereinen beginnend.
Die Gesellschaft der Musikfreunde war mit ihrem an den Ufern der
Wien, in gleicher Linie mit dem Künstlerhaus und der Handelsacademie ge¬
legenen neuen Hause so weit vorgeschritten, daß sie am 4. Oct. 1869 die
Lehrzimmer des Conservatoriums eröffnen konnte. Die Schlußsteinlegung
des neuen Gebäudes wurde in üblich feierlicher Weise am L. Jan. 1870
durch den Kaiser vollzogen; Tags darauf fand das erste Concert im großen
Saale statt. Am 19. Januar wurde auch der kleinere Saal mit dem letzten
Concert der Frau Schumann eröffnet. Wenige Stunden darauf, um Mitter¬
nacht, brach in der unteren Garderobe Feuer aus, das einen Theil der
Gänge und die größere Hälfte des großen Saales hart mitnahm. Die
Wiederherstellung erforderte Wochen und es mußten die meisten Concerte und
projectirten Ballfeste einstweilen aufgegeben werden. Ueber die Pracht des
Hauses und namentlich der beiden in Gold und Farben sich förmlich baden¬
den Säle ist vieles geschrieben worden. Manche ziehen das einfachere, aber
solider sich repräsentirende Nachbarhaus der Künstler vor und denken be¬
sorgt an die kostspielige Erhaltung der verschwenderischen Ausschmückungen.
Zu bedauern ist, daß man gezwungen war, Mietsparteien und sogar einem
Wirth im Hause Quartier zu geben; so mancher sonstigen Uebelstände nicht
zu gedenken, für die man hoffentlich in der nächsten Ferienzeit Abhilfe finden
wird. Der beabsichtigte Zweck, durch eine recht in die Augen fallende Pracht
die Masse des Publicums anzuziehen, ist für die Dauer sehr problematisch
und erinnert an ähnliche prunkvolle Unternehmungen, denen der Wiener von
jeher, durch neue Erscheinungen geblendet, ebenso rasch den Rücken kehrte.
Man denke nur an den seiner Zeit so berühmten Apollosaal. Gerade wie
heute nach der ausgiebigen Lection bei Königgrätz und dem gegenwärtigen
politisch und finanziell zerrütteten Zustand der Monarchie großartige Unter¬
nehmungen ins Leben treten und die auf allen noch freien Plätzen zahllos
auftauchenden Bauten Wiens Zeugniß von der Unverwüstlichkeit des Reiches
ablegen, öffneten sich im Jahre 1805 nach dem Friedensabschluß von Preßburg
alle Schleusen der Wiener Vergnügungssucht. Unter andern unternahm
ein reicher Bürger, der Mechaniker Wolfssohn, in der Vorstadt Schottenfeld
den Bau eines Tanzlocales, wie Wien bis dahin noch keins gesehen.
Schottenfeld wurde damals „der Brillantengrund" genannt und die Fabriks¬
herren jener Vorstadt wußten diese Benennung zur Wahrheit zu machen. Mit
Stolz sahen sie in ihrer Mitte ein Gebäude entstehen, das mit Sardanapali-
scher Pracht hinanstrebte. Tausende von Kerzen beleuchteten den riesigen
Haupt- und den kleineren Tanzsaal, den Speisecircus, den griechischen Banket-
saal und eine Reihe einzelner Gemächer. In der Mitte lag ein blühender,
mit Glas überwölbter Garten mit drei großen Glashäusern, eine Allee von
duftigen Rosen und ein krystallner Corridor führten von da zum Riesensaal, ^
der mit orientalischem Luxus ausgestattet war. Möbel von Mahagony- und
Ebenholz, Canapees mit Sammt und schweren Seidenstoffen, die Tische mit
feinstem Leinendamast gedeckt, auf denen kolossale Aufsätze von feinstem Silber
prangten, welche allein ein Gewicht von zwanzig Centner betrugen; ein Ge-
woge von vielen Tausenden von Menschen, die selbst der Eintrittspreis von
30 si. nicht abschreckte, die Pracht mit eigenen Augen anzusehen und ihre
Brillanten, schwere Goldketten und sonstigen Schmuck zur Schau zu tragen
— dieses Bild bot der ehemalige Apollos aal. Am Eröffnungstage,
10. Januar 1808, bedürfte es einer Eskadron Husaren, um die Passage frei
zu halten; Wagen an Wagen reihte sich an, immer wieder neue Gäste zu¬
führend. Im Banketsaal saßen Minister, Fürsten, Fabrikantenfamilien in
bunter Reihe und die Letzteren zeigten sich beim Verschwenden als die Ersten.
Der Wein wurde aus den feinsten Gläsern getrunken, der Champagner in
silbernen Gefäßen eingekühlt und in den Nebenlvcalitäten, wo geraucht wurde,
kam es wohl vor, daß einer der Fabriksherrnsöhne im Uebermuth dem An¬
dern die Pfeife mit einem Hundertgulden-Bankozettel anzündete. Selbst
Fürst Esterhazy „der Prächtige" mußte sich gestehen, daß seine Prachtliebe
hier überboten wurde. Er war aber in bester Laune, denn die deutschen
Tänze, die jetzt zum erstenmale aufgeführt und mit Begeisterung unzählige
Male zur Wiederholung verlangt wurden, waren von seinem Concertmeister
Johann Nepomuk Hummel. Er und nach ihm Pamer und Gruber wurden
die Vorläufer von Lanner und Strauß. Der Unternehmer aber zeigte sich
den Folgen des Finanzpatents vom Jahre 1811 und des Punzirungspatents
vom Jahre 1812, an dem allein er viele Hunderttausende verlor, nicht ge¬
wachsen und er und der Apollosaal verschwanden im Strome der Zeit. —
Wir wollen aus dieser historischen Anmerkung dem neuen Musik-Prunk-
Tempel kein Prognosticon ziehen; er ist nun einmal fertig und muß erhalten
werden. Aber jene Organe, welche vorzugsweise dazu berufen sind, Kunst
und Wissenschaft zu unterstützen, hätten der Uebertreibung rechtzeitig vor¬
beugen können. Unverantwortlich bleibt es vom Erbauer des Hauses oder
von jenen Directionsmitgliedern, die, im Uebrigen durchaus unmusikalisch,
nur zu dem Zwecke gewählt wurden, den Bau zu überwachen, und die sich
doch, was ihr eigenes Interesse betrifft, aufs Häuserbauen virtuosenmäßig
verstehen, einer Gesellschaft, die ohndies nur mit äußerster Kraftanstregung
aus überlebten Uebelständen sich loszuschälen bemühte, durch übertriebene
Anforderungen die Daumschrauben anzulegen. Der Bau war auf 500,000 si.
veranschlagt und hat nun eine Summe von achtmalhunderttaufend Gulden
verschlungen! Gewiß, jeder der Direktoren wäre vor der Perspektive zurück¬
geschreckt. Gewaltmittel mußten gebraucht werden, um das Werk nicht ins
Stocken zu bringen; zu wiederholten Anlehen mußte man Zuflucht nehmen;
Stifter und Gründer mußten unter Verpflichtungen gewonnen werden, die einer
späteren Direction noch manche Verlegenheit bereiten dürften. Es ist ein bitte-
res Wort, das der Präses der Gesellschaft in der Festrede gezwungen war
auszusprechen: „die Schule muß sich selbst zunächst aus ihren Schulgeldern
erhalten." Der'„kleingeschäftliche Organismus" des alten Hauses, so gering¬
schätzend man auf denselben nun herabblicken mag. hatte doch immer Mittel
gefunden, die Schule zu erhalten, denn Hauptzweck der Gesellschaft war und
blieb von allem Anbeginn die Gründung und Erhaltung ihres Konserva¬
toriums. Möge der Staat, ehe es zu spät ist, seine Stütze einem Institut
nicht versagen, das sich seit seiner Gründung mühsam durch so manche Ca-
lamität durchwinden mußte — einem Institut, dem Tausende von Wienern
so manche genußreiche Stunde zu danken haben und das der Kirche, dem
Concert, dem Theater und Lehrfach seit Jahrzehnten eine Schaar tüchtiger
Kräfte zuführte. Aber was soll man von einem Staate hoffen, der Kasernen
über Kasernen aufführt und dabei den Wiener Universitätsbau von Jahr zu
Jahr (seit 1830) verschleppt und in dem ein Fürst Colloredo-Mansfeld an
der Spitze von drei Beamten naturwissenschaftlicher Sammlungen, die bei der
allgemeinen Reducirung im Jahre 1867 hart betroffen wurden (von 14.000
auf 4000 si.!) in einer Audienz beim Kaiser betteln muß, daß diese barbari¬
sche Verfügung zurückgenommen werde.
Noch in seinen Flittermonaten erlitt der Verein einen schweren Verlust:
Hofkapellmeister Herd cet, der treffliche Leiter der Concerte, dem dieselben zu¬
gleich ihren schönsten Schmuck, „den Singverein" verdanken, legte am Ende
der Saison den Dirigentenstab nieder, um seine Kräfte fortan nur der Oper
und der Kirche zu widmen. — Ueber die diesjährigen Gesellschafts-Concerte
gestattet der Raum nur wenig zu sagen. Zur Aufführung kamen Symphonien
von Beethoven (O-woll), Haydn (S-moIl), Mendelssohn (üetormat.), Schubert
(lZ-moll); Clavierphantasie von Rubinstein und dessen geistliche Oper „der
Thurm zu Babel"; Fantasie für Clavier und Chor von Beethoven (von
Epstein vortrefflich gespielt), einige Vocalchöre, Mendelssohns 43. Psalm,
„Paradies und Perl" von Schumann und „Elias" von Mendelssohn. Ru¬
binstein spielte selbst meisterhaft sein effectvolles Concert und dirigirte sein,
durch manche Schönheiten sich auszeichnendes Werk. Der große und kleine
Saal, beide in ihren Raumverhältnissen den jetzigen Anforderungen ent¬
sprechend, bewährten bei allen Concertaufführungen eine vorzügliche Akustik,
die jedenfalls ihren schönsten Schmuck bildet; die Ventilation ist dagegen bei
beiden nicht die beste.
Das Conservatorium, Jahrzehnte eingepfercht in unpassende Loca-
litäten, sieht sich nun seiner Fesseln entledigt und hat begonnen, sich reicher
zu entfalten. Es wirken an demselben im Augenblick 29 Professoren; durch
die zuletzt Eingetretenen ist nun auch die Harfe. Orgel, Geschichte der Musik
sowie Declamation und Mimik vertreten. Die Ergänzung einer tüchtigen
Kraft im Gesangsfache wäre dem Institute sehr zu wünschen, dagegen eine
theilweise Beschränkung in den unteren Clavier-Classen. Auffallend ist der
fortwährende Mangel an Leistungen in Gesangscompositionen. Die Zahl
der Schüler beträgt gegenwärtig über 800, unter ihnen manches vielverspre¬
chende Talent. Die Zöglinge gaben unlängst unter Leitung ihres Directors
Josef Hellmesberger in zwei Concerten (die eigentlichen Prüfungen finden erst
später statt) Zeugniß ihrer Fähigkeiten und bewiesen namentlich im Orchester-
Zusammenspiel auch dieses Jahr eine achtungswerthe Tüchtigkeit. Im Solo¬
spiel war nur das Clavier durch einen Schüler vertreten. Der Chorgesang
wird wohl in der Folge nicht fehlen. Der erste Versuch mit Vorstellungen
von Opern-Fragmenten mit Scenerie und im Costüm fiel sehr befriedigend
aus. In Scenen aus Freischütz lernten die Zuhörer einige begabte Schüle¬
rinnen kennen. Engagement-Anträge für Bühnen werden hier nicht lange auf
sich warten lasse«. Ueber die gegenwärtige Einrichtung des Instituts gibt
der neueste „Lehrplan" und das „Grundverfassungs-Statut sammt Vollzugs¬
vorschrift" die nähere Aufklärung.
Reicher Besuch und Beifall lohnte auch in dieser Saison die trefflichen
Leitungen der Philharmoniker, die wie alljährlich acht Concerte unter
Otto Dessosf's tüchtiger Leitung veranstalteten. Unter den Ouvertüren er¬
weckten Benvenuto Cellini, Leonore Ur. 1 und Iwan IV. besonderes Interesse.
Erstere ist in Berlioz' bekannter raffinirter Weise aufgebaut; Beethovens erste
Leonoren-Ouverture ruhte hier seit der ersten Aufführung im I. 1803, bis
sie die lüonoerts spiritusls im I. 1845 wieder hervorsuchten. Iwan IV., ein
musikalisches Charakterbild von Rubinstein, ist mit Aufgebot aller neueren
Orchestermittel etwas gedehnt aber effectvoll gearbeitet. Wohl die meisten
Zuhörer mögen neugierig im Leben dieses russischen Tyrannen dem Commen-
tar zu dieser starkgewürzten Composition nachgespürt' haben. Das Feld
der Symphonien behaupteten Haydn (L-aur). Mozart (6-mvlI), Beethoven
(5. u. 7.) Mendelssohn (^-nur), Schumann (2. 4. u. die Lsätzige), Rubinstein
und Bruch. Haydn's „1a reine as ?rares^ ist eine der sechs für die Pariser
Ooneerts as 1a loZs olMMuk componirter Symphonien. Rubinsteins
„Ocean-Symphonie", zum zweitenmal hier aufgeführt, sprach nur theilweise
an. Neu war das Werk von Bruch, dem aber diesmal kein günstiger Stern
leuchtete. Lachners Suite Ur. S kommt ihren Vorgängern nicht gleich^ eine
Serenade in v-aur von Brahms (der selbst dirigirte) fand sehr warme Auf¬
nahme. Man kann ihr ein starkes Anlehnen an Beethovens Pastorat-Sym-
phonie und ein mitunter grübelndes Sichgehenlassen vorwerfen, im Ganzen
aber bietet sie eine reiche Ausbeute an feinen geistreichen Zügen. Zwei Con¬
certe für Streichorchester von Händel und Bach, Werke voll urwüchsiger Kraft,
packten gewaltig. Bach's Passacaglia, von Esser instrumentirt. und Webers
„Aufforderung zum Tanz" wurden glänzend ausgeführt. (Daß man bei
Letzteren dem heftigen Daeaporuf nicht Folge leistete, zeigte von richtigem
Tact.) Der edle Vortrag des Violineoncerts von Beethoven brachte dem
wackern, jetzt meist in England lebenden Virtuosen L.Strauß, einem Wiener
und Schüler Böhm's reichlichen Beifall. Nicht minder gefiel der Wiener
Pianist A. Door, jetzt Professor am Conservatorium, durch seinen frischen
brillanten Vortrag des Hiller'schen ^is-moll Concerts. Dagegen vermocht
Besektrski, ein Virtuos aus der französischen Schule, mit Bruch's Violincon¬
cert nicht durchzugreisen.
Eine unerwartete Concurrenz drohte den Philharmonikern in dieser Saison
im eigenen Hause, zu der sie sich noch selber ausspielen mußten. Die Direk¬
tion des Operntheaters hatte zur Förderung des Privatpensionsfonds vier
Abonnement-Concerte unter Herbecks Leitung angeordnet und obendrein
im neuen Gebäude. Ein mehrseitig erwarteter Abfall des Publicums von
den philharmonischen Concerten hat nicht stattgefunden; im Gegentheil be¬
grüßte dasselbe im ersten philharmonischen Concert den Dirigenten Dessoff mit
demonstrativen Beifall. Wohl aber dürften diese Abonnement-Concerte mit
der Zeit störend auf das Programm der philharmonischen und auch der Ge-
sellschafts'Concerte wirken. Das rasche Wiederholen derselben Werke durch ver¬
schiedene Corporationen zwingt überdieß zu unerquicklichen Vergleichen, die
zu nichts frommen und den Genuß der Empfänglichkeit stören. Alle ersten
Gesangskräfte des Hofoperntheaters und das vollständige Chor- und Orchester-
Personal standen dem Dirigenten zu Gebot, unter dessen schwungvoller Lei¬
tung in den beiden ersten Concerten besonders die Ouvertüren Leonore Ur.
2 und Athalia und die 3. und 5. Symphonie von Beethoven mit großem
Beifall aufgenommen wurden. Der Schlußsatz des zweiten Finale aus Don
Juan konnte nur abermals dessen Weglassung auf der Bühne rechtfertigen.
Die Einführung von Liedern mit Clavierbegleitung erwies sich, wie voraus¬
zusehen war, für diese Riesenräume als unstatthaft. Rossini's Mssg, solsrnuis
sand nur kühle Aufnahme und wird zu keiner Wiederholung reizen. Der
Besuch der drei ersten Abende war zahlreich. Der vierte und letzte Abend
war unzweckmäßig genug in die zweite Maihälfte verlegt. „Manfred" von
Schumann und Schubert's Operette „der häusliche Krieg" füllten wohl den
Abend aus, nicht aber das Theater selbst. Die Operette,, hier bereits von
der Bühne her bekannt, wurde im schwarzen Frack abgesungen, was gerade
nicht einladend wirkte. Man sagt, daß Chor und Orchester und auch die
Solisten nur ungern an die viermalige Aufgabe gingen, da sie durch den
Theaterdtenst ohnedies genug in Anspruch genommen waren.
Mit besonderer Befriedigung sind auch in dieser Saison die schönen Er¬
folge der Singakademie unter der sorgfältigen Leitung Weinwurm's
zu verzeichnen. Außer einer Anzahl Vocalchöre aus älterer und neuerer Zeit
stehen obenan die Aufführungen von Händels „Acis und Galatea" mit Mo¬
zart's vermehrter Orchesterbegleilung (im vorigen Jahre nach 60jähriger Ruhe
mit Clavierbegleitung gegeben), Händels kraftvolles „Jubilate" (1812 com-
ponirt und im Jahre 1870 für Wien als „neu" geltend!), und im dritten
Concert die Oper „Orpheus" von Gluck (seit 1782 in Wien nicht aufgeführt!).
Mußte der Musikfreund beschämt die arge Vernachlässigung solcher Werke
zugestehen, so hatte er wenigstens die Genugthuung, daß jedes derselben mit
allgemeinem Beifall aufgenommen wurde. Wenn auch die Singakademie im
Vergleich zum Singverein in mancher Beziehung zurücksteht, muß doch der
Eifer anerkannt werden, mit dem sie sich durch alle Hindernisse durchgekämpft
hat. So manche Vortheile, deren sich der Singverein erfreut, entbehrt ihre
Rivalin. Mit ihren Concerten und Proben wandert sie noch heute von
Local zu Local und erinnert hierin an die ersten Zeiten ihrer Schwester in
Preußens Hauptstadt, wenn es ihr auch nicht so schlimm ergeht, wie dieser
damals").
Es fehlt vielleicht nur an der richtigen Anregung, um mit der Zeit aus
dieser Academie einen „Oratorien-Verein" heranzubilden — einen Verein, der
sich allenfalls die jährliche Aufführung von etwa drei Oratorien zur Aufgabe
stellte. In Betracht der überaus zahlreichen Gesangskräfte, über die Wien
zu verfügen hat, ist die Zahl der namentlich in letzter Zeit aufgeführten Ora¬
torien verschwindend klein. Von Händel sind es kaum drei bis vier Werke,
die der jetzigen Generation bekannt werden; er allein böte ein weites Feld,
das zur Verwerthung jeden Augenblick bereit liegt. Dem Haydn-Verein
diese Aufgabe zuzumuthen, hieße den Zweck dieses „Witwen- und Waisen-Ver¬
sorgungsvereins der Wiener Tonkünstler" verkennen. Man hat demselben
wiederholt die allzuhäufige Aufführung der beiden Haydn'schen Oratorien zum
Vorwurf gemacht; versuchte der Verein aber eine Abwechslung, dann fand er
meistens wenig Beachtung. Da macht sich's der um 33 Jahre ältere, die
gleichen Zwecke anstrebende Verein in London, die „KoM Loeikt? ok Nu-
sieians" viel bequemer. Alljährlich feiert derselbe sein Gründungsfest durch
ein Festessen, bei dem eine freiwillige Sammlung mehr einbringt als beide
jährliche Doppel-Aufführungen unseres „Haydn-Verein" zusammen genommen.
Außerdem führt der englische Verein jahraus jahrein in den ersten Maitagen
Händels „Messias" auf, ein in London so häufig gegebenes Werk, daß es
jede Probe überflüssig macht. In dieser Saison griff der Haydn-Verein in
der Weihnachts-Woche freilich wieder zu den „Jahreszeiten", die aber im Ver¬
gleich zu früherer Aufführung durch bessere Chor- und Orchester-Besetzung
bedeutend gewonnen hatten. Für die Doppelaufführung in der Charwoche
wußte der hier weilende Componist Rudolf Schachner den Verein zur Auf¬
führung seines Oratoriums „Israel's Heimkehr von Babylon" zu gewinnen.
Schachner, ein geborner Münchener, hatte seine Studien bei Sechter in Wien
gemacht und hielt sich dann viele Jahre in London auf, wo er dasselbe Ora¬
torium, die einzige von ihm bekannte größere Arbeit, einigemal zur Auffüh¬
rung brachte. Der Reiz der Neuheit, vielleicht auch die freiwillige Mitwir¬
kung einer Gräfin (Gatterburg), die den Solopart mit Vorliebe schon in
Salzburg gesungen, lockte am ersten Abend ein zahlreiches Publicum, welches
das fleißig gearbeitete, aber durch eigene Erfindung sich wenig auszeichnende
Werk nicht ungünstig aufnahm. Dem letzten Jahresbericht zufolge stehen dem
Verein sehr ansehnliche Mittel zu Gebot, seinem schönen Beruf nachzukommen.
Dies Resultat verdankter hauptsächlich Haydns „Schöpfung" und den „Jahres¬
zeiten", einer wahrhaft goldenen Doppelquelle, wie denn überhaupt ganz be^
sonders an der Hand der „Schöpfung" in einer Reihe größerer Städte sich
gleichartige Bereine zur Unterstützung der nothdürftigen bildeten. Vorstand
des „Haydn", der nächstes Jahr das hundertjährige Fest seiner Gründung
feiert, ist seit kurzem Carl Heißler, Mitglied der Hofkapelle und Professor am
Conservatorium. Sein Vorgänger war Heinrich Esser, der diese Ehrenstelle
bei seiner Uebersiedelung nach Salzburg niederlegte.
Die Gesellschaftsabende des Orchestervereins boten unter der treuen
Pflege ihres Dirigenten, des eben genannten C. Heißler, auch diesen
Winter drei besonders anregende Programme. So brachte der letzte Abend
nur Werke aus den 70 er und 80 er Jahren des vorigen Jahrhunderts:
Symphonie für zwei Orchester von I. C. Bach, Arie von Hasse, Ouvertüre
von Mozart, 1779 (Köchel's Mozartcatalog Ur. 318), Clavierconcert von
PH. Em. Bach und Symphonie Y-Äur von Haydn*), sämmtlich Werke, die
für die meisten Zuhörer als ebenso viele Novitäten gelten konnten. — Wenn
wir wenigstens vorübergehend noch der, einer großen Zuhörerschaft stets
sicheren Concerte des Wiener Männergesang-Vereins gedenken, der
u. A. David's „Wüste" und ein ausschließlich mit Schubert'schen Werken
ausgestattetes Programm ausführte; dann des academischen Gesang¬
vereins (mit Engelberg's „nat. Liedevspiel") und allenfalls noch des Lehrer-
Sängerchores „Schubertbund" (mit Schubert's „Gesang der Geister über den
Wassern"), so wären damit — abgesehen von manchen gemischten Wohlthätig-
keitsacademien — die in größeren Massen auftretenden Concerte erschöpft.
Bevor wir zu den eigentlichen Virtuosen-Concerten übergehen, sei noch
der Kammermusiker gedacht, die namentlich in den Monaten November und
December sich Quartett auf Quartett drängend einander gegenseitig im Wege
standen. Das Florentiner Quartett erweiterte in sieben Soire'en sein be¬
kanntes Programm durch ein weniger ansprechendes Quartett von Volkmann,
ein Clavier-Quintett von I. P. Gotthard, nicht tief gehend, aber geschickt in
der Mache, und ein Quartett von Herbeck (ox. 9 Ur, 2), das manche geist¬
reiche Züge bietet. Interessante Gegensätze boten Beethoven's Serenade
v-aur ox. 8 und ^-moll-Quartett ox. 132. Die Aufführung von drei Quar¬
tetten von Schubert an Einem Abend konnte nur ermüdend wirken. Die
auf dieselben Abende fallenden Vorlesungen von Vogt thaten diesmal
den sonst überfüllten Quartetten merklichen Abbruch. Hellmesberger hatte
diesen Winter seine gewöhnlichen acht Quartettabende auf fünf reducirt, in
denen Beethoven 6 mal, alle übrigen Componisten je einmal vertreten waren.
Neues brachten diese, seit dem Jahre 1830 bestehenden Abende diesmal nicht.
Grün, zweiter Concertmeister am Operntheater, zeigte sich mit seinen vier
Quartett-Soireen der doppelten Concurrenz nicht gewachsen und mußte die
zwei letzten um einige Monate verschieben. Sein gut gewähltes Programm
schloß mit Beethoven's vis-moll-Quartett ox. 131. Johann Brahms, der
wohl unter uns lebt, aber diesen Winter nur selten hervortrat, spielte am
letzten Abend mit Beifall sein Clavierquartett 6-moI1 ox. 23.
Das Heer der Virtuosen-Concerte, die jeden disponibeln Abend in Be¬
schlag nahmen, schien dieses Jahr kein Ende nehmen zu wollen. Wenn auch
bei den Meisten der Name vorübergehend genannt wurde — einen pecuniären
Gewinn werden die Wenigsten davongetragen haben. Manchen war es auch
nur darum zu thun, durch ihr Auftreten einen Geleitbrief zur Reise in die
Provinzen oder in fernere Länder zu erlangen; dies gilt namentlich von den
Pianistinnen. Ganz anders bei Frau Clara Schumann, die ihrem über¬
füllten dritten und letzten Concert noch ein Abschiedsconcert zugeben mußte,
dasselbe, womit sie den neuen kleineren Musikvereinssaal einweihte. Ihr stets
edel gehaltenes Spiel ist bekannt; diesmal hatte sie die Liebeslieder von
Brahms (zu 4 Singst, mit 4hdg. Clavierbegl.) zugegeben, welche entschieden
gefielen. Schade, daß Wien nicht Gelegenheit hatte, die vortreffliche Künst¬
lerin ein großes Werk mit Orchester vortragen zu hören, was sich leider die
Philharmoniker entgehen ließen. Frau Auguste Auspitz-Kolar hat sich
hier bereits einen Kreis von Kunstfreunden gesichert und konnte auf ein gut
besuchtes Concert rechnen, in dem sie u. A. Schumann's Kreisleriana sehr
verdienstlich spielte. Sie ist im Augenblick in London, wo sie mit Beifall
in den ersten Vereinen auftritt. Ein Fräulein Jeanette Stern aus Odessa
zeigte sich in zwei Concerten als tüchtige Pianistin, die Beethoven, Schumann
und auch Bach und Händel zu spielen versteht. Die 14jährige Pianistin
Laura Kahrer gab, kaum dem hiesigen Conservatorium entwachsen, ihr erstes
Concert, um sogleich eine Tour durch Deutschland anzutreten. Dieses Kind
hat die Poesie mit dem Weihekuß begnadigt; es wäre höchst beklagenswert!),
wenn dasselbe voreilig dem eiteln Concertjammer geopfert würde, noch ehe
die Knospe Zeit gehabt, sich völlig zu entfalten. — Die Pianistinnen Her¬
mine Stadler, Pauline Fichtner, Gabriele Jost, bereits bekannte
Namen, und Olga Florian verdienen schon deshalb genannt zu werden,
weil sie das Opfer einer Orchesterbegleitung nicht scheuten. — Unter den
Pianisten ragte Anton Rubinstein um eines Hauptes Länge hervor.
Gleich sein erstes Concert füllte den großen neuen Concertsaal, was nur
wenigen Künstlern gelingen dürfte. Der Beifall war ein außerordentlicher.
Einem zweiten und letzten Concert im kleinen Saal mußte auf Verlangen
noch ein Abschiedsconcert folgen, das abermals den großen Saal überfüllte.
Alle drei Concerte spielte der Künstler ohne weitere Beihilfe; seine Einnahme
wird sicher jene aller übrigen Concerttsten zusammengenommen überstiegen
haben. Von den übrigen Pianisten, u. a. Leitertund Jos effy(aus Liszt's und
Tausig's Schule) und Smietansky aus Krakau, die ebenfalls jeder ihr
Programm der eigenen Faust anvertrauten, vermochte nur der einheimische
hier sehr geschätzte Professor am Conservatorium Julius Epstein sein Con¬
cert zu füllen; namentlich durch den Vortrag der Schubert'schen L-aur-Sonate
erwarb er sich durch sein feingesühltes, kunstdurchdrungenes Spiel einstimmi¬
gen Beifall. — Carl v. Bruyck, als Componist und musikalischer Schrift-
steller geschätzt, versammelte einen kleinen Kreis von Kunstfreunden zu sechs
Claviermusik-Soire'en, in denen er eine treffliche Auswahl von Tonstücken
früherer Zeit bis zu Beethoven zu Gehör brachte.
Violine und Violoncell waren spärlicher vertreten. Joachim, der Alt¬
meister der jetzt lebenden Geiger, fehlte, ebenso der geniale Laub. Von den
eoncertirenden Violinisten war der bedeutendste der früher genannte L. Strauß,
der in Spiel und Wahl der Stücke die deutsche Schule bekundete. Der Cel¬
list Popper ist bekannt; I. Dieu aus München (der ehemalige Hirte)
zeigte, was Fleiß und Talent in kurzer Zeit vermögen. — Von Sängerinnen
wäre nur die, auch auswärts bekannte Frl. Helene Magnus zu nennen.
Das Geschwisterpaar Thoma und Meta Börs aus Hamburg (Schülerinnen
von Stockhausen) sangen nicht ohne Beifall in mehreren Concerten Duetten
von Schumann, Rubinstein u. A.
Das jährliche Concert für den Pensionsfond der Professoren
am Conservatorium bewies auch diesmal, daß die vielverdienten Herren besser
thäten, sich in einem größeren klassischen Werk zu vereinigen, statt die Kräfte
in Einzelproductionen zu zersplittern. — Ein einziges Mal versuchte sich im
neuen kleineren Musikvereins-Saal auch die „Wiener Symphonie-Capelle.
Dieses Orchester hat sich die Ausgabe gestellt, auch dem einfachen Bürger den
Genuß von Symphonien und sonstigen klassischen Tonwerken zugänglich zu
machen. Die Capelle spielt seitOctober abwechselnd in verschiedenen Sälen, packte
aber gleichfalls die Sache zu derb an, denn anstatt ihr Publicum nur schritt¬
weise heranzubilden, überfiel sie es mit Beethoven, Weber, Haydn u. A. an
Einem Abend und stellte auch den Eintrittspreis zu hoch. Später suchte sie
den Fehler durch mannigfachere Auswahl zu repariren, doch ist der weitere
Bestand dieser „populären Concerte", deren sich z. B. Berlin seit Jahren er¬
freut, noch sehr in Frage gestellt. — Zur Vervollständigung der Concert¬
überschau sei noch das von einem sehr distinguirten Publicum besuchte Concert
des L. A. Zellner (mit hist. Progr.) und die Novitäten-Soiröe von I. P.
Gotthard erwähnt. Letzterer ist der jüngste der hier etablirten Musikalten¬
händler, ein strebsamer Mann, von dem zu erwarten steht, daß er auf das
arg verfahrene Fach des hiesigen Musikverlags wohlthätigen Einfluß üben
werde. Wien hat sich nach und nach den Selbstverlag sämmtlicher Tonheroen
entreißen lassen; Tänze, Märsche u. tgi. sind mit wenigen Ausnahmen das
Haupterzeugniß. Was sich aus Schubert machen ließ, haben in neuester Zeit
die geschmackvollen Auflagen seiner Werke im „Ausland" glänzend bewiesen.
In wenig Jahren wurde da mehr geleistet, als hier seit Anbeginn. Tobias
Haslinger hatte seinerzeit tüchtige Anläufe genommen; Mozart. Beethoven,
Scarlatti, Bach u. A. gingen aus seinem Verlag hervor. Noch früher, in
den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts, machte sich Artaria durch Her¬
ausgabe zahlreicher Werke von Haydn, Mozart und Beethoven verdient.
Dies hat Alles aufgehört. Quartette, Trio's, Symphonien, in Partituren und
Stimmen, Gesammtausgaben klassischer Werke sind eben Alle auswärts zu
suchen. Welche Masse Geld dadurch hinausgeht, wissen die Verleger am
Besten, des festgerannten Agio's nicht zu gedenken. Daß noch jetzt sich neue
Auflagen der längst bekannten Meisterwerke rentiren, beweisen die in den
letzten 20 Jahren fast gleichzeitig entstandenen schön ausgestatteten und dabei
billigen Ausgaben in Leipzig, Dresden, Berlin, Braunschweig, Offenbach,
Mainz und vielen andern Städten.
Diese Blätter haben in ihrem Musikbericht aus Wien im Jahre 1867
auch der Kirche erwähnt. Die damals erhobenen Klagen über die Indolenz
der Geistlichkeit der Kirchenmusik gegenüber, müssen bis auf den heutigen
Tag aufrecht erhalten bleiben. Ueber den Verfall der Orgeln, deren Wien ohne¬
dies wenige gute besitzt, ist nur Eine Stimme. Einer Aufmunterung an bewährte
Componisten, für die Kirche zu schreiben, begegnet man nirgends. So be¬
nutzen denn unfertige Kunstjünger und schwache Dilettanten die Gelegenheit,
die Kirche zum Tummelplatz ihrer Eitelkeit zu machen. Es ist kaum zu
glauben, was da an Schalen wässerigen Zeug verbraucht wird. Eine Bei¬
steuer zur Erhaltung des Kirchenchores leisten die wenigsten Kirchen. Die
Chorregenten erhalten in den Vorstädten einen Jahresgehalt bis herab zu 200 si.
Dafür müssen sie alle Auslagen bestreiten zur Aufführung der Kirchenmusik an
Sonn- und Feiertagen! Sie beziehen keine Quartiergelder, keine Theuerungs¬
beiträge, haben keine Pension, höchstens eine Armenpfründe zu erwarten
und können jeden Augenblick entlassen werden. Die üblichen Stiftungs- und
Stolgebühren kommen nur Einigen zu Gute; daher erklärt es sich, daß die
Geringsten unter ihnen zugleich als Meßner und Conduklansager fungiren.
Eine Ausnahme machen nur die an landesfürstlichen Pfarrkirchen von der k. k.
Statthalteret mit Dekret angestellten Regenschort der innern Stadt, welche.
Jahresgehalte von 6 und 800 si. beziehen, aber natürlich auch die Musik
zum großen Theile herstellen müssen; und solcher Stellen gibt es nur wenige.
Wo ein Kirchenchor besteht, wird es vorzugsweise von den Beiträgen der
Bezirks-Mitglieder erhalten. Die am besten sundirten veröffentlichen gedruckte
Jahresberichte und sogar vierteljährige Programme der aufzuführenden Ton¬
stücke. Der im I. 1824 gegründete Kirchenmusik-Verein an der k. k. Gelüb¬
de- und Pfarrkirche Se. Carl Barromaeus auf der Mieder bezog im ver¬
flossenen Jahre an Beiträgen eine Einnahme von 1493 si. (wobei auch Bei--
träge vom Kaiser!. Hof, der Groß-Commune Wiens); die Ausgaben betrugen
dagegen 1402 si.. wovon auf Production allein 1101 si. kamen, der Gehalt
des Organisten beträgt volle 42 si. Der Josefstädter Kirchenmusikverein, ge¬
gründet 1844, hatte im I. 1868 eine Einnahme von 1030 si. (hier trug auch die
Pfarre, das Collegium des ?. ?. Piaristen und die Gemeinde-Vorstehung des
Bezirks bei); die Ausgaben betrugen 967 si. In der Altlerchenfelder Pfarr¬
kirche, eine der schönsten und neuesten Kirchen Wiens, betrug in demselben Jahr
die Einnahme des Kirchenmusik Vereins 1084 si., die Auslagen 1069 si.
Kirchenmusik-Vereine bestehen ferner noch in der Alservorstadt, den Vorstädten
Leopoldstadt, Mariahilf und Landstraße. In der inneren Stadt besitzen na¬
mentlich die Kirchen Se. Peter, Minoriten, Se. Augustin, am Hof, Domini¬
kaner, bei den Schotten, Se. Michael einen gut besetzten Chor. Bei Se.
Michael sind etwa 18 Mitglieder angestellt, für welche sammt Director und
Organist jährlich gegen 2000 si. verausgabt werden. Bei den Schotten sind
24 Musiker fix angestellt; die Auslagen, jährlich circa 3S00 si. werden vom
Stift bestritten; das Knabenseminar für Musikzöglinge wurde vom Stift im
I. 1868 ganz ausgelassen. Der im I. 1827 gegründete Kirchenmusik-Verein
bei Se. Anna wurde im I. 1841 als eine von jener Kirche unabhänige Lehr¬
anstalt mit einer besonderen Orgelschule reorganisirt. Die Auslagen für die
gesammte Kais. Hofkapell-Musik beträgt jährlich circa 2L000 si. Ihre Dota¬
tion für Copiatur und Anschaffung neuer Werke ist fabelhaft gering und
muß die Capelle häufig zum Ausleihen von andern Kirchen ihre Zuflucht
nehmen. Bei der Metropolitan-Kirche von Se. Stefan kostet die Erhaltung
des Kirchenchores jährlich über 13000 si. Die beiden letztgenannten sind
jetzt die Einzigen, weiche Sängerknaben für ihre Kirche heranbilden. Die
evangelische, russische und griechisch nicht-unirte Kirche für die östreichischen
und jene für die türkischen Unterthanen unterhalten je einen Gesangschor.
Ebenso die beiden Synagogen in der Stadt und in der Leopoldstadt, diese
bestretten verhältnißmäßig den höchsten Kostenaufwand: jährlich circa 15000 si.
Obercantor daselbst ist der weltberühmte Salomon Sulzer, den die Ge¬
meinde, als er am Scheidewege stand, zur Oper überzugehn, lebenslänglich
mit ansehnlichem Gehalte anstellte. -
Wien geht in diesem Jahre einem großen musikalischen Feste entgegen.
Die in allen deutschen Gauen bereits vorbereitete Beethoven-Feier soll
hier im Herbst an drei aufeinderfolgenden Tagen (23—27. Oct.) in glänzen¬
der Weise abgehalten werden. Die Initiative dazu hat selbstverständlich die
Gesellschaft ergriffen. Der vorjährige Musikbericht aus Wien hat in den grünen
Blättern, Allen voran, das Herannahen dieser hochbedeutenden Feier betont
und den Wunsch ausgesprochen, daß die Aufführung von Beethoven's Rissa
svleilmis in der akustisch vorzüglich günstigen und geräumigen Winter-Reit¬
bahn (denn der bereits vorgeschlagene neue Musikvereins-Saal, so groß er ist,
wird sich zu diesem Zwecke bald als ungenügend erweisen) zugleich Veranlassung
zur Wiederaufnahme der seit dem I. 1847 unterbrochenen jährlichen Musik¬
feste werde. Händels Oratorien müßten hier bei dem jetzigen schon erwähn¬
ten Reichthum an wohlgeschulten Gesangskräften einen wahrhaft gigantischen
Eindruck hervorbringen, der Beethoven's Ausruf über den „unerreichbaren
Meister" aufs neue bekräftigen würde: „Geht hin und lernt mit wenig
Mitteln so große Wirkungen hervorbringen."
Kleinere Schriften von Jacob Grimm. 4. Band: Recensionen und vermischte Auf¬
sätze. Berlin. Harrwitz und Goßmann. 1869.
Der reiche wohl ausgewählte Inhalt dieses Bandes, welcher meist ältere
kleine Aufsätze enthält, macht die Sammlung besonders erfreulich. Der Gelehrte
findet hier was in den ersten Drucken bereits schwer erreichbar ist, der ge¬
bildete Leser eine Fülle von Anregungen. Das tiefsinnige Wesen Jacob
Grimm's, großes Urtheil und edle Poesie, wirken schon in diesen Schriften
seiner jüngeren Jahre zuweilen geradezu hinreißend. Es ist aber nicht der
Gelehrte, an den wir hier erinnern wollen, sondern der Lehrer seines Volkes.
In sittlichen Forderungen, die er an sich und seine Zeit stellte, war er streng,
ehrbar, bürgerlich, in seinem Gemüth war bei stark auflodernden Eifer eine
einzige Vereinigung von inniger Zartheit und herber Kraft. Es schien zu¬
weilen, als ob alles Schöne und Herzliche, was dieser Kenner des Alter¬
thums in alten Dichtern gelesen, in sein eigenes Empfinden übergegangen sei,
als ein lebendiger Theil seiner selbst. Er war auch als Gelehrter am größten
da, wo die äußersten Grenzen des Wissens lagen, zwar nicht da, wo er mit
dem Verstand rücksichtslos das Undeutliche zusammenzufügen eilte, wohl aber,
wo er aus der Tiefe warmer Empfindung heraus verschüttetes Leben deutete.
Aus einem kleinen unscheinbaren Trümmerstück alter Ueberlieferung erstand
ihm ein reiches farbiges Bild, und oft haben die erstaunten Zeitgenossen
wahrgenommen, wie spätere Funde überraschend bestätigten, was er halb
als Seher, halb als Forscher mit dem Herzen geschaut hatte.
Heut wird ein strenges Urtheil mitgetheilt, das er im Jahr 1823 über
deutsche Schriftstellerinnen fällte. Er wurde nachher der Freund Bettina's,
aber wir meinen nicht, daß er in seinen späteren Jahren viel daran geändert
haben würde. Ausnahmen hätte er freilich zugegeben, und nicht nur zu Gunsten
von Annette Droste.
Dies Blatt hält für eine der würdigsten Aufgaben, die Bestrebungen
für gründlichere Bildung unserer Mädchen und für größere Erwerbsfähigkeit
der Frauen zu unterstützen. Aber ohne Freude und ohne jede Hochachtung
bemerken wir dicht neben den werthvollsten Anstrengungen, die Frauen für
das praktische Leben tüchtiger zu machen, auch ein hohles anspruchsvolles
Geschwätz verbildeter Weiber über neue Rechte, die sie in Gesellschaft und
Staat von den Männern zu beanspruchen haben. Wenn Mädchen Medicin
heuterer, so ist dafür ein gewisser zureichender Grund vorhanden, und man
darf sagen, daß sie Mei von ihrem weiblichen Zartgefühl opfern, um Vielen
ihres Geschlechts dasselbe in Nothfällen zu erhalten. Ob ihre Erziehung zu
Aerzten auf die Länge in Gemeinschaft mit jungen Männern thunlich sein
wird, mag die Zeit lehren. Gleichwohl können wir nicht leugnen, daß uns
ein Mädchen, welches Fötusse in Spiritus einmacht, von Herzen Leid thut.
Wenn aber andere entschlossene Charaktere in Haarbeutel und Robe bereits
von juristischen Erfolgen träumen und Stimmrecht und eine gewisse Activität
im Staat für ihr Geschlecht beanspruchen, so möchten wir dagegen so lange
bescheiden Protestiren, bis der gute Herrgott in reichlicher Anwendung der
Darwinschen Theorie den Männern das erste und edelste Vorrecht der Frauen
zugetheilt haben wird, das Recht, Mutter zu werden.
Unterdeß scheint uns recht zeitgemäß, einen weisen Meister, welcher,
selbst nie vermählt war, aber den Beruf der Frau sehr hoch gefaßt hat
sein gewichtiges Wort sprechen zu lassen. Jacob Grimm sagt, das Buch von
E. A. v. Schindel: die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts,
beurtheilend, — wie folgt:
„Theologie, Jurisprudenz, Medicin und die anderen Wissenschaften be¬
fahren nichts von unseren Schriftstellerinnen weder des neunzehnten Jahr¬
hunderts noch der früheren (Caroline Herschel gehörte sammt einigen andern
nicht in die Reihe); Gedichte. Romane, einige Reisebeschreibungen haben sie
geliefert. Ist in jenen Wissenschaften etwas Unweibltches gewesen, über-
schreitet eine Frau als Gesetzgeber, als Richter, als Priester die allen Völkern
heilige Schranke der Natur, warum schiene die Poesie etwas anderes als ein
Amt und Geschäft der Männer? Die ganze Geschichte lehrt es uns so.
Durch öffentliches Vortreten und Lautwerden versehrt das Weib seine an-
geborne Sitte und Würde. Wahre Dichtkunst läßt sich nicht abfinden. sie
fordert nicht das Geringe, vielmehr das Hohe und Reine, sie fordert, daß
der Dichter frei aus ungehemmter Brust singe. Wie kann eine Frau das
Ereigniß einer Liebe, eines Kusses vor aller Welt erzählen? Frauen ist die
Gabe eigen, mit unglaublicher Gewandtheit die Verhältnisse eines Hauses,
einer Gesellschaft zu erschauen, die Gabe, mit zartester Feder die Beobachtungen
innig vertrauten Personen mitzutheilen; fast jede Literatur besitzt einige sol¬
cher Sammlungen voll unnachahmlicher Natürlichkeit, die nach dem Tode ihrer
Verfasserinnen zuweilen bekannt gemacht worden sind. Alles Glückliche, was
Frauen schreiben, sollte wie Briefe behandelt und nur unter denselben Be¬
dingungen, mit denselben Vorsichten öffentlich werden; selbst gedruckte Briefe
der Männer würden ihres Reizes entbehren, wären sie mit dem Gedanken
an jemalige Herausgabe aufgesetzt worden. Wir haben nicht überschlagen,
wie viel deutsche Schriftstellerinnen das vorige Jahrhundert hervorgebracht
hat, von 1700 bis 1770 mögen ihrer zehnmal weniger sein, als von da
bis 1800, in diesen dreißig Jahren wieder kaum die Hälfte soviel, als von
1800 bis 1820 auftraten; eine niederschlagende Progression. So hat die
Sucht zu reimen, zu declamiren eine die andere genährt. Hrn. v. Schindel's
Sammlung wird ungefähr dreihundert Dichterinnen aufstellen (Emilie Gleim
darunter ist, seiner Nachweisung zufolge, ein Mann). Wenn sich nun in dem
Haufen von Büchern und Gedichten, aus diesen weiblichen Händen hervor¬
gegangen, kein einziges wirklich originales, kein mit dem Genius lebendiger
Poesie gestempeltes vorfindet, wenn, gesetzt daß alle ungedruckt geblieben
wären, unsere Literatur das nämliche Ansehen, welches sie hat. haben, der
Gang unserer Dichtkunst um kein Haarbreit verrückt worden sein würde, was
soll man daraus schließen? Dem Geiste einer Frau von Stael, die in der
französischen Literatur mit Macht einschreitet, ist keine deutsche Autorin bei
weitem gewachsen, das sei unserem Volke nicht Tadel, sondern Ruhm. Un¬
sere Schriftsteller haben sich nicht so viel sagen zu lassen, als Frau v. Stael
den Franzosen vorhält. Die Geschichte der Poesie des zwölften und drei¬
zehnten Jahrhunderts, welche von unseren heutigen Gelehrten so verdienstlich
angebaut wird, — zeigt sie uns doch auch, zwar französische, provencalische
Damen, Nachahmerinnen der Troubadours, nur keine einzige deutsche Frau,
die sich in die Reihe der deutschen Sänger jener Zeit gewagt hätte. Einem
Volke vor andern ist das Gefühl fräulicher Sitte zu Theil geworden; müssen
wir annehmen, es habe sich unter uns geschwächt? Die Formen wechseln, der
Grund, auf dem sie ruhen, dauert fort. Die Form hat gewechselt, aber noch
heute, wie vor fünfzig Jahren, ergreift uns die Wahrheit der Aufsätze des
trefflichen Mösers, überschrieben: die gute seelige Frau und die allerliebste
Braut, welche im ersten Bande seiner patriotischen Phantasien zu lesen stehen.
Ren. hat sich erschreckt vor der bedeutenden Zahl unglücklicher, gestörter und
geschiedener Ehen, welche die vorliegenden Lebensgeschichten deutscher Dich¬
terinnen ergeben: hier spielt kein Zufall; die Frau, welche einmal aus dem
Kreise natürlicher Bestimmung weicht, geräth mit sich selbst in Zwiespalt, sie
kann nicht mehr leisten und ertragen, was ihr gebührt. Ein Zeichen tüch¬
tiger Dichter ist unter andern, daß sich ihre Weiber von dem Mit- und
Nachdichter neben ihnen frei halten. Ob Herausgeber von Büchern, wie das
gegenwärtige, nicht auch gewissenhaft erwägen sollten, daß sie die Dichterei
anfachen, und indem sie den Schleier der Anonymität lüften, manches gute
Mädchen, dessen Verse unvorsichtige Verwandten oder Freunde zum Druck
befördert haben, zu neuen eitelen Versuchen reizen? Ueberdies tragen sie Neues
und Unnützes zu dem Schwall und Wust von literarischen, biographischen
Angaben, welche seit Meusel und seinen, beleibten oder schmächtigen, Nach¬
folgern die deutsche Literaturgeschichte so langweilig, fast ungenießbar machen.
Vielleicht liegt die Zeit nicht mehr fern, wo ein gesunderer Sinn der Kritik
und historischen Forschung endlich solchen Aufhäufungen steuert. Für dunkle,
frühe Perioden ist die Jagd nach Namen, Jahreszahlen, Titeln und allen
kleinlichen Umständen am rechten Ort und hat einen Sinn; sie dienen, das
Bild der Vergangenheit zu heften und zu fassen. Heutigestages, wo die
Leichtigkeit, jedes beschriebene Blatt im Druck zu verbreiten, Heere mittel¬
mäßiger und schlechter Bücher zeugt, die auf das Wesen unserer Literatur
nicht den mindesten Einfluß haben, die je eher je besser vergessen werden
dürfen, sollen wir blos das wahrhaft Große ins Auge nehmen. Die Nach¬
welt kann auch nichts anderes aus unserer Zeit gebrauchen. Und dieses
Große sondert sich jetzt von dem Gemeinen gleichsam von selbst, die Literatur
wird immer individueller, während in früheren Jahrhunderten Gutes und
Schlechtes ungetrennter gewesen zu sein scheinen und auch darum ihre Be¬
trachtung schärfer ins Einzelne gehen muß."
Diese Blätter dürfen das Verdienst in Anspruch nehmen, die Illusionen
keinen Augenblick getheilt zu haben, denen der doetrinäre Liberalismus sich
über die neue Aera in Frankreich hingab. Gerade während der Flitterwochen
des Januar-Ministeriums haben wir wiederholt nachdrücklich darauf hin¬
gewiesen, wie groß, ja unüberwindlich die Schwierigkeiten seien, welche sich
einem konstitutionellen Regiment im heutigen Frankreich entgegenstellten. Wir
hoben hervor, daß das Ministerium nicht homogen sei, sondern aus drei ver¬
schiedenartigen Bestandtheilen zusammengesetzt, den vom früheren Cabinet
überkommenen Fachministern des Krieges und der Marine, den Mitgliedern
des linken Centrums Daru. Büffet und TalhouiZt. die es mit dem Consti-
tutionalismus ernst meinten, und dem zwischen beiden schwankenden Ollivier mit
seinen persönlichen Anhängern. Wir betonten, wie ungünstig die beiden großen
Factoren, welche bis jetzt jede Revolution seit 1789 überdauert haben. —
das büreaukratische Verwaltungssystem und die Armee — dem Versuche sein
mußten, das liberale Kaiserthum an die Stelle des persönlichen Regiments
zu setzen. Wir legten endlich vor allem Nachdruck darauf, daß nur politische
Naivetät eine wirkliche Bekehrung Napoleons zum parlamentarischen Regiment
annehmen könne, zumal die konstitutionellen Veränderungen seine materielle
Macht in allen wesentlichen Punkten unangetastet gelassen (vgl. Ur. 4 d. I.
P- 125 ff.).
Diese Voraussetzungen haben sich vollkommen bestätigt. Die Differenzen
der verschiedenen Fractionen des Cabinets, welche schon früh in der Handels-
Politik und der Concilsfrage hervortraten, führten bei dem ersten bedeutenden
Anlaß zum Bruche, die Mitglieder des linken Centrums traten aus. Die
außerparlamentarische Decentralisations-Commission, welche der alte Odilon
Barrot mit der schwungvollen Anrede eröffnete, daß es ihre Aufgabe sei, die
öffentlichen Sitten umzuwandeln, hat nichts zu Stande gebracht und hat sich
vor einigen Wochen in der Stille aufgelöst. Der liberale Minister des Innern
Chevandier de Valdrome belehrte dagegen bei der Abstimmung über das Ple¬
biscit seine Beamten, daß es ihre Aufgabe sei, eine verzehrende Thätigkeit
zu entwickeln. Vor allem aber hat der Kampf um das Plebiscit und sein
Ausgang gezeigt, daß der Kaiser auch unter dem neuen Regiment der be¬
stimmende Factor des ganzen Staatswesens geblieben war, daß er nicht ge¬
sonnen war, die Rolle eines constitutionellen Souveräns ernsthaft zu accep-
tiren, vielmehr die erste Gelegenheit benutzte, sein persönliches Regiment her¬
zustellen und zu befestigen.
Die Folgen dieser Peripetie aber sind sehr weitragende. Zunächst steht
fest, daß Napoleon HI. nicht nur thatsächlich wieder Meister der Geschicke
Frankreichs geworden, sondern daß seine persönliche Macht in den wesent¬
lichsten Punkten durch die neue Verfassung keine Einbuße erlitten, vielmehr
sich befestigt hat.
Der Schrecken, den die Wahlen von 1869 einflößten und welcher zum
Sturz von Rouher und Forcade führte, war wesentlich dem Umstände zu¬
zuschreiben, daß die gesammte liberale Partei mit den Republikanern gemein¬
same Sache gegen die officiellen Candidaten gemacht hatte. Napoleon fügte
sich und pochte nicht auf die nominelle Majorität in der Kammer, wie Karl X.
und. Guizot gethan, weil er fühlte, daß schroffer Widerstand die Opposition
nur steigern würde, aber er, der sein ganzes Leben gegen das parlamentarische
Regiment geschrieben und gesprochen, war keineswegs gesonnen, die Zügel
aus den Händen zu geben. Seine ganze Politik ging darauf aus, die Op¬
position wieder in zwei sich innerlich feindliche Theile aufzulösen und die noth¬
wendigen Concessionen innerhalb der Grenzen des persönlichen Regiments zu
halten. Beides gelang ihm durch den activen Beistand Olliviers und den
passiven der Liberalen, welche durch die Zügellosigkeit der Radicalen, denen
die Regierung bis Ende d. I. geflissentlich freien Spielraum gab, so erschreckt
wurden, daß sie glaubten, es um keinen Preis mit dem Kaiser zum Bruche
treiben zu dürfen. Als vermittelndes Organ mit dieser Partei leistete Ollivier
Napoleon unschätzbare Dienste, letzterer hatte sich schon von langer Hand den
eiteln Idealisten gesichert, um ihn bet schlechtem Wetter als konstitutionellen
Regenschirm zu brauchen. Der Prophet des liberalen Kaiserreichs mußte jetzt
für die Aufrichtigkeit der Bekehrung, die an höchster Stelle eingetreten war,
als Bürge dienen.
Wie gering aber die Bürgschaft war, welche Ollivier hierfür gewähren
konnte, zeigte sich sehr bald nachdem er Minister geworden. Das „Kie RKo-
äus, die falls," für eine wirklich repräsentative Regierung war die Wahlreform.
Die gegenwärtige Kammer war noch unter dem System der officiellen Can-
ditaturen gewählt, welche die Minister, Ollivier an der Spitze, als das Grund-
übel des persönlichen Regiments bekämpft hatten. Wollte das Ministerium
Ernst machen gegen den Kaiser, so mußte dies Grundübel beseitigt werden,
die Kammer durfte nur fortbestehen bis das Budget votirt und ein neues
Wahlgesetz geschaffen war. Dazu kam, daß keine der Parteien des gesetzgebenden
Körpers sich recht an ihrer Stelle fühlte. Allerdings verfügte das Ministe-
rium über eine starke Mehrheit, aber diese setzte sich zusammen aus der Rech¬
ten, welche den Maßregeln des Cabinets mit unverkennbarem Mißtrauen
folgte, und den beiden Centren, von welchen das linke seine Verstimmung sehr
bald deutlich durchblicken ließ. Sei es nun aber, daß die Minister diese pre-
lare Lage nicht erkannt, sei es, daß sie die Wahlreform und Auflösung nicht
beim Kaiser durchsetzen konnten, sie suchten erst zu temporisiren, dann erklärte
Ollivers von Picard und Favre gedrängt, die Vertretung des Landes liege
in der Majorität dieser Versammlung, welche von der öffentlichen Meinung
aufgeklärt und unterstützt werde. Die Auflösung werde von denen befürwortet,
deren Politik darin bestehe, die Wiederaufnahme der Geschäfte zu verhindern
und das Vertrauen im Lande nicht aufkommen zu lassen; wenn man unauf¬
hörlich die Entscheidungen des allgemeinen Stimmrechts anfechte, so ziehe man
der Gesellschaft den Boden unter den Füßen weg.
Mit dieser Erklärung hatte das Ministerium das wesentlichste Compelle
gegen den Kaiser und die auf dessen Wink stimmende Rechte aus der Hand
gegeben. Die durch officielle Candidaturen Gewählten waren von der Furcht
befreit, ihre Sitze zu verlieren und konnten sich der Aufgabe widmen, das
Ministerium nach Rechts hinüberzudrängen; das linke Centrum ward mi߬
trauisch gegen seine früheren Mitglieder und die Linke ging von ihrem ur¬
sprünglichen Mißtrauen zu offener Feindschaft über. So war Napoleons
Zweck erreicht, die alte Opposition zu theilen, das Ministerium hatte keine
compacte Partei, auf die es sich stützen konnte, es hing vom Kaiser ab, wie
derselbe es bald fühlen ließ.
Die Veränderungen der Verfassung von 1852 sollten nach der beliebten
französischen Theorie notificirt werden durch eine Generalrevision jener Con-
stitution, obwohl die Veränderungen, welche dieselbe durch die kaiserlichen Zu¬
geständnisse erlitten, keineswegs unübersehbar groß waren und, wie schon
erwähnt, die kaiserliche Macht im Wesentlichen unangetastet gelassen hatten.
Geblieben war vor allem der Grund- und Hauptsatz, durch welchen das na-
poleonische Staatsrecht sich von allen anderen modernen Verfassungen ebenso
unterscheidet wie vom patriarchalischen Absolutismus: die ausgesprochene Verant¬
wortlichkeit des Staatsoberhauptes vor dem Volke. In richtiger Consequenz
hatte die Verfassung von 1882 die UnVerantwortlichkeit der Minister procla-
mirt, im vorigen Herbste nun führte das senatus-Consult vom 8 Sept. die
Verantwortlichkeit eines Ministeriums ein. aber ließ daneben die des Staats¬
oberhauptes bestehen. Persigny hatte hierfür schon früher die ingeniöse Formel
gefunden: der Kaiser sei im Großen, die Minister im Einzelnen verantwort¬
lich ; wo aber die Verantwortlichkett zwischen zwei Factoren getheilt ist, deren
einer vom andern abhängt, da hört sie rechtlich überhaupt auf. umsomehr
als die Verantwortlichkeit des Souveräns vor dem Volke bekanntlich erst
praktisch Wird, wenn dieser nicht mehr im Besitz der Macht ist.
Nun stand dieser Verantwortlichkeitserklärung des Staatsoberhauptes
im Art 6 der Verfassung von 1852 der Satz zur Seite, daß der Souverän
stets Berufung an das Volk einlegen könne. Der Kaiser bestand darauf.
nicht blos kraft dieser rechtlich geltenden Bestimmung dem Volke die ein¬
geführten Veränderungen zur Abstimmung vorzulegen, sondern auch jenes
Appellationsrecht selbst in der neuen Verfassung ausdrücklich aufrecht zu er¬
halten. Hierüber brach der Zwiespalt im Ministerium aus, welcher mit dem
Rücktritt von Daru und Büffet endete. auf denen der konstitutionelle Nimbus
des Cabinets allein geruht hatte. Ollivier, der in seinem Buche „I^v 18
^Älivisr" das Plebiscit eine Farce genannt hatte, blieb und schrieb einen
Brief nach dem andern über die Wichtigkeit dieses großen Aktes an seine
Wähler. Eine Farce nun verdient das Plebiscit insofern zwar keineswegs
genannt zu werden, als es den größten Einfluß auf die ganze Situation
geübt hat, aber ebenso sicher ist andererseits, daß damit die Illusionen über
die liberale Wiedergeburt des Kaiserreichs gründlich beseitigt sind. Die In-
stitution des Plebiscits, welche sich durch die neueste Verfassungsveränderung
im französischen Staatsrecht befestigt hat, ist in der unabhängigen deutschen
und englischen Presse hinreichend gewürdigt. So viel darf als feststehend
angenommen werden, daß das plebiscitarische Regime nicht blos mit parla¬
mentarischem im strengem Sinne, sondern mit dem repräsentativen überhaupt
unvereinbar ist, und darauf beruht auch das unverhohlene Wohlgefallen, mit
dem der Kreuzzeitung und norddeutsche Allgemeine das neueste napoleonische
Experiment und die Niederlage der französischen Liberalen begleitet haben.
Wer beim Plebiscit die Frage stellt, beantwortet sie bereits
thatsächlich, das Volk hat keine Initiative, sondern kann nur eine Sanction
geben. Dies hat sich in Frankreich auf das schlagendste gezeigt. Die Formel
des Plebiscits war: „Das Volk billigt die liberalen Reformen, die in die
Verfassung seit 1860 durch den Kaiser unter Mitwirkung der großen Staats¬
körper aufgenommen sind und bestätigt das senatus-Consult vom 20. April
1870." Wir wollen von der factischen Unrichtigkeit dieser Formel absehen,
die darin liegt, daß bei jenen Veränderungen grade dem hauptsächlichsten der
großen Staatskörper, der gewählten Kammer, keine gesetzliche Mitwirkung
gegeben war, daß sie vielmehr lediglich vom Kaiser ausgegangen und
von dem willenlosen Senat bestätigt waren. Das bezeichnende des Plebis-
cits war, daß thatsächlich gar nicht über die Frage abgestimmt ward, die es
stellte. Das ministerielle Wahlcircular sprach nur von den liberalen Refor¬
men, welche die Abstimmung bestätigen sollte, der Kaiser aber in seiner
Proklamation stellte die persönliche Vertrauens- und Thronfrage, knüpfte an
die früheren Plebiscite an, welche ihm die Gewalt übertragen, erinnerte an
seine Verdienste um das Land und forderte Erneuerung seiner Vollmachten,
die nicht bestritten waren. Demgemäß erklärte auch das Rouher'sche Public:
„Die Ratification des senatus-Consules (welches jede Verfassungsverände-
rung dem Plebiscit vorbehält) wird die Antwort des Landes sein auf die
Controversen über die Artikel 13 und 43 d. h. über das Recht des Kaisers,
an das Volk zu appelliren. Das Volk wird demnach die Aufrechthaltung
des dem Kaiserthum ursprünglichen Rechtes ratificiren, und indem es den
vom Kaiser realtsirten Reformen beistimme, Protest einlegen gegen die Ver¬
suche, den eigentlichen Charakter des Werkes von 1832 umzugestalten."
Vom Gesichtspunkt des Kaisers läßt sich dieser Zwiespalt zwischen seiner
Proclamation und dem ministeriellen Circular wohl erklären. Je nach dem
Erfolg des Plebiscits konnte die kaiserliche oder ministerielle Auffassung her¬
vorgekehrt werden. War der Erfolg glänzend, so wurde das Plebiscit als
persönliches Vertrauensvotum ausgelegt, war es ungenügend, so ward dies
davon hergeleitet, daß das Volk auf die Reformen keinen Werth lege und
dem alten absoluten Kaiserthum von 1852 den Vorzug gebe. Aber wie soll
man von den Ministern denken, die sich eine derartige widerspruchsvolle Zwei¬
deutigkeit gefallen ließen?
Bei der Abstimmung trat es denn klar zu Tage, daß es sich nicht mehr
um die homöopathischen Reformen der neuen Verfassung, sondern um das
Kaiserthum selbst handelte und die Agitation der Radicalen, welche dies deut¬
lich fühlten, diente zur Bestätigung. Daher kann auch der schärfste Gegner
Napoleons nicht bezweifeln, daß das Resultat der Abstimmung die Ansichten
der Majorität des Volkes repräsentirt, welches die Ruhe des Absolutismus
der Agitation des Liberalismus vorzieht, eben weil das souveräne Volk sou¬
verän unwissend ist. Und dieser Situation entspricht vollständig die Antwort
des Kaisers auf die flache Schmeichelrede, mit welcher Präsident Schneider
das Resultat des Plebiscits überbrachte. Wir finden vollkommen den alten
Stil Napoleons wieder, die Versassungsreformen, welche einziger Gegenstand
des Plebiscits nach der Formel desselben sein sollten, werden mit einer vor¬
übergehenden Erwähnung bei Seite geschoben, das Kaiserthum ist nicht um¬
gestaltet, sondern in seinen Grundlagen befestigt. Der beharrliche Wille des
Volkes, das Kaiserreich aufrecht zur erhalten, bestätigt die Machtvollkommen¬
heit, welche durch das Votum von 1831 dem Staatsoberhaupt gegeben ward,
die Gegner opponiren nicht etwa gegen die Reformen, wie man nach dem
Wortlattt des Plebiscits glauben sollte, sondern sind persönliche Feinde des
Kaiserthums und der socialen Ordnung. Daher die Bedeutung der imposan¬
ten Majorität des Plebiscits. Wenn die Wähler ihre Stimme direct abgeben,
erheben sie sich triumphirend über die kleinlichen Streitereien ihrer nomineller
Vertreter, welche das Avertissement erhalten, daß der Kaiser sie beschützen
werde, so lange sie sich in ihrer Sphäre halten, aber ihnen gegenüber dem
Nationalwillen Nachdruck zu verschaffen wissen werde, wenn sie sich auf feind¬
liche Manöver einlassen. Vom Ministerium ist absolut nicht mehr die Rede,
der Kaiser allein spricht, er versichert, daß seine Regierung nicht von dem
liberalen Wege abweichen werde, den sie sich vorgezeichnet, aber nicht, weil es
das Corps le'gislatif verlangt oder weil Ollivier es zur Bedingung seines
Bleibens macht, sondern weil der Kaiser es so sür gut hält. Ob die Minister
nicht gefühlt haben, welche kleinliche Rolle sie bei dieser Gelegenheit spielten
und daß alle wirkliche Macht ihren Händen bereits entwunden war? —
Mit dem Plebiscit ist die neue Verfassung, wenn wir nicht irren, die
zwölfte, welche Frankreich sich seit 1791 gegeben, in Kraft getreten. Wir
sagten oben, daß sie die Macht des Kaisers nicht einschränkt, sondern befestigt.
Der illusorischen Ministerverantwortlichkeit ist schon gedacht, außer derselben
gab das senatus-Consult vom 8. Sept. den beiden Kammern das Recht der
Initiative, dem gesetzgebenden Körper die Wahl seines Präsidenten und seiner
Bureaux und die Oeffentlichkeit sür die Verhandlungen des Senates; dankens-
werthe Milderungen der frühern Machtlosigkeit der Vertretung, ohne indeß
das Wesen der Sache zu berühren. Das senatus-Consult vom 20. April
hat sodann die constituirende Gewalt, d. h. die Befugniß, Gesetze zu erlassen,
welche eine Abänderung der Verfassung enthalten, dem Senat genommen und
dem Plebiscit vorbehalten. Der Senat verliert damit die wesentlich passive
Rolle als Zaräiell an packe tonäÄweutal, welche ihm die Verfassung von 1852
zuwies und wird ein Theil der gesetzgebenden Gewalt, er tritt als eine erste
Kammer dem gesetzgebenden Körper ebenbürtig zur Seite. Aber er gewinnt
keinerlei Unabhängigkeit, er wird weder das Ansehen einer gewählten Ver¬
sammlung, noch die Macht einer erblichen Pairie haben, nach wie vor be¬
steht er aus den vom Kaiser nach Willkür Ernannten, die Kategorien, auf
welche der Kaiser selbst sich sür seine Wahl nach dem Vorgang der Pairie
des Julikönigthums beschränken wollte, sind vom Senat verworfen. Was
ihm an Qualität abgeht soll durch die Quantität ersetzt werden, indem er
zukünftig die Zahl von ^/z der Mitglieder des gesetzgebenden Körpers er¬
reichen darf, von denen abgesehen, die kraft besondern Amtes darin sitzen,
wie Marschälle, Admiräle und Cardinäle. Die nothwendige Mitwirkung einer
vom Kaiser frei ernannten, vom Staat bezahlten Versammlung verurtheilt
von vornherein jeden vom Corps le^gislatif ausgehenden, der Regierung.un¬
liebsamen Vorschlag zur Nichtigkeit. Und wenn alle Stränge reißen sollten,
wenn auch der gehorsame Senat unbequem werden wollte, dann bleibt noch
die Berufung an das Volk, welche der Kaiser stets einlegen kann. Napoleon
bleibt also nicht nur im gewöhnlichen Gang der Dinge absoluter Herrscher,
er hat sich auch durch das verfassungsmäßig vorbehaltene Plebiscit die Mög¬
lichkeit gesichert, jederzeit gesetzlich einen Staatsstreich zu machen.
Aber einer derartigen rechtlichen Machtvollkommenheit stehen große Ge¬
fahren gegenüber. Die radicale Partei ist durch die Niederlage des parla¬
mentarischen Regiments moralisch gekräftigt, sie behauptete von Anfang an,
daß ein Bund zwischen Kaiserthum^und Freiheit unmöglich sei, daß man
Napoleon nicht trauen dürfe. Sie hielt sich im Anfang des Ministeriums
Ollivier ziemlich ruhig, der Ausgang aber hat gezeigt, daß ihr Jnsttnct richtig
war und daß sie schärfer gesehen hat, als die Liberalen, welche an das frei¬
sinnig gewordene Kaiserthum glaubten. Die Linke hat wieder einen gemein¬
samen Boden gewonnen in der bewiesenen Unvereinbarkeit des Bonapartis¬
mus mit der Freiheit in irgend welcher Form. Aber die Linke wird in ihrem
Kampfe auch auf eine Verstärkung durch eine bedeutende Section der libe¬
ralen Partei rechnen können. Die letztere, welche vor allen durch das Ple¬
biscit betroffen wurde, ist eben durch diese Niederlage von der hemmenden
Allianz mit dem Kaiserreich befreit. Sie wandte sich von den Orleans ab,
als sie glaubte, mit Napoleon ein Abkommen schließen zu können, ihre alten
Größen traten aus der bisherigen Zurückgezogenheit hervor und boten dem
Ministerium die Hand, welches Daru und Büffet als Bürgen seiner liberalen
Absichten zählte. Das Band der unabhängigen Liberalen mit dem Kaiser¬
thum ist jetzt zerschnitten, die energischeren unter ihnen mögen zu der Ansicht
neigen, daß die Republik doch unter den bewandten Umständen die beste
Form sei, um Frankreich die Entscheidung über sein Schicksal wiederzugeben,
die anderen werden ihre alten Verbindungen mit den Orleans wieder an¬
knüpfen. Die ganze Partei aber wird schwerlich ein Zusammenwirken mit
der Linken in dem Punkte abweisen, welcher die entscheidende Frage geworden
ist, nämlich in Bekämpfung des wiederhergestellten persönlichen Regiments.
Diese Allianz mag nicht sehr weit gehen, aber sie hat augenblicklich offenbar
große Bedeutung und auf dies Gefühl der gemeinsamen Operation gegen
die Regierung sind auch offenbar die Versuche neuer Parteibildungen, wie
Ptcard's constituttonelle Linke, zurückzuführen. Andererseits sehen auch die
Radikalen ein, welche Waffe der Appell an die Massen für den Kaiser ist,
und Gambetta hat bezeichnender Weise in seiner letzten Rede an seine Wähler
gerathen, sich versöhnlich zu den Mittelclassen zu stellen. Diese Gemeinsam¬
keit der Opposition wird dazu noch sehr unterstützt durch die vollendete Un¬
geschicklichkeit, mit der Ollivier operirte. Der oberflächliche liberale Firniß
seiner Politik ist ziemlich abgestreift, er spricht noch von seinen Versprechungen,
wenn es ihm paßt, aber erklärt, er habe fünf Jahre für sich, um sein Pro-
gramm auszuführen; von Wahlreform und Auflösung ist also nicht mehr
die Rede. Bald hochfahrend gereizt, bald kleinmüthig verzagt, spielt er gegen
jede Opposition den Trumpf, die Cabinetsfrage, so widersinnig aus, daß er von
dem Führer der Rechten, Baron David, eine Belehrung über die parlamen¬
tarische Zulässigkeit der Cabinetsfrage unter dem Beifall der ganzen Versamm¬
lung hinnehmen mußte. Die Rechte, welche fühlt, daß das Ministerium den
Booen unter den Füßen verloren und rasch die schiefe Ebene hinabgleitet,
wird bald genug dem halbschlächtigen Liberalen ihr „der Mohr hat seine
Pflicht gethan, der Mohr kann gehen" zurufen und das linke Centrum wird
den Minister, von dem es sich betrogen fühlt, ohne Bedauern fallen sehen,
ja selbst die Linke wird lieber ein unzweideutig absolutistisches Ministerium
acceptiren, mit dem sie weiß, woran sie ist.
Der ganze Unterschied, der noch zwischen dem Rouher'schen und dem Ollt-
vter'schen Cabinet, besteht, ist, daß letzteres bei weitem nicht die administrative
Fachcapacität hat, über die das erstere gebot. Rouher, Forcade und Magne waren
Commis des Kaisers, aber jedenfalls Commes erster Classe, was Niemand
von Hr. Chevandier de Valdrome oder Se'gris sagen kann. Die Folge ist,
daß Ollivier nur noch durch den Willen des Kaisers gehalten wird. Dem¬
selben mag ein Ministerwechsel vor der Session nicht conveniren, er mag
finden, daß die Situation für ein Cabinet Magne>Forcade noch nicht reif ist,
aber Ollivier, der es durch sein Ungeschick bereits dahin gebracht hat, mit
ungeheuerer Majorität (194 gegen 18 Stimmen) bei einem Amendement
von Hr. Duvernois geschlagen zu werden, hält sich einfach dadurch, daß er
sich an den Kaiser anklammert: ein Wink desselben und das parlamentarische
Ministerium ist gewesen. Der Kriegsminister Leboeuf, der Marineminister
Admiral Rigault und der neuernannte Minister des Aeußern, Herzog von
Grammont, dessen Bedeutung weder preußenfreundlich noch feindlich, sondern
die ist, daß der Kaiser die auswärtige Politik wieder selbst machen will, würden
bleiben und sich, da Rouher's Restauration doch wohl etwas zu stark sein
dürfte, durch Forcade-Magne und ähnliche Fachmänner ergänzen.
Aber auch für den Kaiser, der noch einmal aus dem Kampf, welcher seine
Macht zu erschüttern drohte, als Sieger hervorgegangen, hat die gegenwär¬
tige Lage schwere Bedenken. Wäre eine Verständigung Napoleons mit den
unabhängigen Liberalen gelungen, so wären dieselben nicht nur gegen ihn,
sondern auch gegen seinen Sohn gebunden gewesen. Es wäre ein stillschwei¬
gendes Einverständniß vorhanden gewesen, daß Napoleon III. sich dazu ver>>
standen hätte, ein konstitutioneller Souverän zu werden, um die Anerkennung
Napoleons IV. zu gleicher Eigenschaft zu sichern, während die nothwendige
Abhängigkeit eines jungen Kaisers von den Räthen seines Vaters dem consti-
tutionellen Ausbau günstig gewesen wäre. Diese Chance für den kaiserlichen
Prinzen ist auf immer vorbei, kein unabhäniger Liberaler hält sich ihm gegen¬
über gebunden. Der Kaiser hat die sichersten Aussichten seines Sohnes zer¬
stört, um seine eigne persönliche Macht festzuhalten, was bei einem Manne
von dynastischem Ehrgeiz nur so zu erklären ist, daß er zu wenig an constitu-
tionelle Souveränetät glaubt, um derselben selbst für die ungestörte Nachfolge
seines Sohnes ein ernstliches Opfer zu bringen. Fortan darf man es als
feststehend betrachten, daß der Tod Napoleons III. das Signal neuer er-
schüttelnder Kämpfe sein wird, auf welche sich die verschiedenen Parteien
schon jetzt vorbereiten werden. Unter diesen Parteien wird die republikanische
die stärkste und gefährlichste sein, man darf annehmen, daß fast die Gesammt-
zahl derer, die beim Plebiscit mit nein gestimmt haben, ihr angehört.
Von 10^ Millionen Stimmberechtigten haben 8,858.401 ihre Stimme
abgegeben, 7.308,535 bejahend, 1,549,866 verneinend, die reine Majorität für
Napoleon beträgt also 5,758,669. Das ist weniger als die Majorität von
1852, aber die Differenz wird dadurch ausgeglichen, daß die Wahl diesmal
viel freier war; dagegen muß man in Betracht ziehen, daß 1.391,599 Be¬
rechtigte sich der Stimmabgabe enthalten haben, und da gerade die De¬
mokratie stark auf jene Enthaltung Hingearbeit hat, so ist nach mäßiger
Berechnung anzunehmen, daß ^/z der Nichtstimmenden feindlich für die Regie¬
rung gesonnen ist, wonach die Gegner des Kaiserreichs auf ^/s der Gesammt-
berechligten kommen würden. Das ist eine nicht gering zu schätzende That¬
sache, um so mehr als jene Gegner eine active aggressive Macht bilden und
die Majorität aller großen Städte ausmachen, während die conservative
Mehrheit der Landesbevölkerung eine passive ist. welche zwar jeder Revolution
widerstrebt, aber schwerlich aufstehn würde, um bei einem Regierungswechsel
den Thron Napoleons zu vertheidigen.
Dazu kommt die Bedeutung des Votums der Armee; von 300,000
Soldaten haben 60,000 gegen den Kaiser gestimmt, eine Thatsache, die
Freunde wie Feinde gleichmäßig überrascht hat. Wie tief der Kaiser hiervon
erschüttert war, geht aus seinem hastigen Briefe an den Kriegsminister (den er
in der Uebereilung „mon cdsr statt „mon oder NarseKal" anredet)
genugsam hervor. Die Radicalen aber triumphirten laut, das Werkzeug des
Despotismus drohte in seiner Hand zu brechen. Unserer Ansicht nach wäre
es nun allerdings ein Irrthum zu glauben, daß ein großer Theil der ge¬
meinen Soldaten dem Kaiserreich feindlich sei; es mag unter ihnen Mi߬
vergnügen über die bisherige Nichterfüllung des Versprechens kürzerer Dienst¬
zeit herrschen, aber die Mehrzahl des Heeres besteht aus Bauernsöhnen, welche
vor allem Ruhe wollen und deshalb für den Kaiser gestimmt haben werden;
ein Votum wie das der Garnison von Angers wird daher als eine Aus¬
nahme zu betrachten sein. Aber wenn diese Auffassung richtig ist, so folgt
daraus, daß der größte Theil der feindlichen Stimmen der Armee von den
Unteroffizieren und Offizieren abgegeben sein muß, welche selbständige politi¬
sche Ansichten haben, sich nicht leicht von ihren Vorgesetzten bestimmen lassen
und namentlich über die Vorrechte der kaiserlichen Garde mißvergnügt sind.
Ein englisches Wochenblatt, der spectator, erzählt, kurz vor dem Plebiscit
sei eine Anzahl einflußreicher höherer Offiziere zusammengekommen, um ihre
Haltung zu besprechen und ihre Ansichten über die Dispositionen ihrer Unter-
geberen auszutauschen. In letzterer Hinsicht sei die allgemeine Meinung
dahin gegangen, daß die Armee zum Kaiser stehen würde, wenn er seine libe¬
ralen Versprechungen halte, daß man aber bei dem Versuch eines zweiten
Staatsstreichs für nichts stehen könne. Wir müssen dem englischen Blatt die
Verantwortlichkeit für diese Nachricht überlassen, auch liegt nichts vor, was
den Kaiser zu einem zweiten militärischen Staatsstreich drängen könnte. Aber
um so mehr wird jene bedenkliche Disposition des denkenden Theiles der
Armee beim Tode des Kaisers ins Gewicht fallen. Wennschon keine persön¬
liche Anhänglichkeit für den jetzigen Souverän existirt, der kein General ist,
wie viel weniger wird sie für einen jungen Menschen sich enthusiasmiren,
der im Augenblicke, wo er den Thron besteigen soll, noch nichts gethan
haben kann?
Das Reinergebniß des ganzen zehnmonatlichen konstitutionellen Kampfes
ist. daß die neue Verfassung ebenso jeder festen gesetzlichen Beschränkung der
Executive entbehrt wie die von. 1852, die Macht des Kaisers also unver¬
mindert geblieben ist. Er wird sie als ein Mann, der aus den Erfahrungen
der Vergangenheit zu lernen weiß, anders brauchen als früher, er wird weder
ein Espinasse'sches Regiment im Innern aufrichten, noch auswärtige Aben¬
teuer im Stile der mexikanischen Expeditton unternehmen, aber das ändert
an der Thatsache seiner Unveschränktheit nichts. Und ihr gegenüber steht die
tiefste Erbitterung aller unabhängigen Männer, welche sich durch die neuesten
Vorgänge getäuscht und geschlagen fühlen. Wahrlich man darf sagen, daß
der Triumph des Kaisers ein Pyrrhussieg gewesen ist. daß die Zukunft seiner
Dynastie nie gefährdeter, die Zukunft Frankreichs nie unsicherer und dunkler
war, als eben jetzt.
Die eingehenden Mittheilungen, welche die Grenzboten ihren Lesern
bereits über unsere jungen Versassungsverhältnisse gebracht haben, lassen zu,
daß wir uns bei Schilderung weiterer der Entwickelungphasen sofort mitten
in den Sturm im Glase Wasser hineinversetzen.
Nach dem Wortlaut der Verfassung vom 6. Novbr. v. I. sollte die Ver¬
tretung des Fürstenthums im Februar d. I. in Schönberg versammelt werden.
Erwartete auch Niemand von der Thätigkeit derselben unter den verfassungs¬
mäßig gegebenen Beschränkungen ein irgend nennenswerthes Resultat, so er¬
regte es doch gerechtes Aufsehen, daß im Februar zwar die Wahlen zum
Landtage, wie wir im Anschluß an den sonst üblichen Sprachgebrauch statt
Vertretung sagen, ausgeschrieben und vollzogen wurden, daß aber von einer
rechtzeitigen Einberufung der neuen Stände nicht nur keine Rede war, son¬
dern die Aussetzung derselben nicht einmal mit einem Worte angekündigt oder
gar motivirt wurde. Wahrscheinlich ist der Grund der verzögerten Ein¬
berufung des Landtags darin zu suchen, daß die Bevölkerung des Fürsten-
thums fortfuhr, den Bundesrath über die Verfassungsverhältnisse des Landes
zu sollicitiren. um eine Revision der octroyirten s. g. Verfassung vom 6. Nov.
v. I. zu bewirken. Es ist aus den Tagesblättern bekannt, daß der Bundes¬
rath sich nicht veranlaßt gefunden hat, die vom Advocaten Kindler-Schön¬
berg formulirten Beschwerden der Ratzeburger anzuerkennen und abzustellen.
Er beruhigte sich vielmehr bei einigen loyalen Erklärungen der Strelitzer Re¬
gierung: „es werde nicht beabsichtigt — heißt es u. a. — von dem auf die
Gesetzgebung für das ganze Großherzogthum sich beziehenden Vorbehalt an¬
dern Gebrauch zu machen als dies dem andern, mit Verfassung versehenen
Theile des Landes gegenüber geschehe; daß also, soweit irgend thunlich, vor
Emanirung von Gesetzen, welche das ganze Großherzogthum befassen sollen,
zuvor das „rathsame Erachten" der Vertreter des Fürstenthums erfor-
dert werden würde" — eine Erklärung, die mehr noch den „Besten, Lieben.
Getreuen und Besonderen" (wie die Stände in stargardischen Kreisen officiell
titultrt worden) nachzudenken Anlaß haben mögen, als die Ratzeburger Ver-
treter. Denn letztere wollen in ihrer Majorität bis heute überhaupt nichts
von der Verfassung, deren Vorbehalten. Clauseln und darauf bezüglichen Er¬
klärungen wissen. Das haben sie in unzweideutigster Weise zu erkennen ge¬
geben, nachdem endlich die Einberufung des Landtags auf den Z.0. Juni er¬
folgt war. Namens der großherzoglichen (rsetius fürstlichen) Landvogtei
hatte der Graf von Epheu sich erlaubt, dem Einberufungsschreiben die ver¬
fassungsmäßig nicht gerechtfertigte Clausel hinzuzufügen, „Stände hätten
im Falle ihres Ausbleibens dasselbe anzuzeigen." Diese Anzeige ist in einer
Weise erfolgt, welche der Regierung die Augen darüber öffnen muß. was
die Ratzeburger von ihrem Verfassungsexperiment halten. Wenige Tage
vor dem Eröffnungstermin unterzeichneten sämmtliche Vertreter der vier
großen Vogteien. d. h. von 21 überhaupt berufenen Ständemitgliedern acht
Bauern und außerdem die beiden bürgerschaftlichen Repräsentanten der Stadt
Schönberg das folgende Schreiben an den Vorsitzenden, den Oberlanddrosten
Grafen von Epheu: „Hochverehrtester Herr Graf! Unser Ausbleiben bei der
auf den 10, d. M. angesetzten Versammlung erlauben wir uns hierdurch
anzuzeigen und hoffen es durch das folgende rechtfertigen zu können: 1) Durch
die Allerhöchste Verordnung vom 6. November 1869 scheint uns keine Lan¬
de s Vertretung eingeführt zu sein, die doch schon dem hohen Bundesrathe
in seiner Sitzung vom 29. April 1868 durch den Bevollmächtigten der gro߬
herzoglich Mecklenburg-Strelitzschen Regierung hinsichtlich des Fürstenthums
zugesichert worden ist. Mindestens können wir solche Landesvertretung darin
nicht erkennen, daß von den Herren Domanialzeitpächtern drei und von den
Herren Pastoren ebenso viele Theilnehmer an der ständischen Vertretung ge¬
wählt werden sollen. Ebenso können wir die Beschränkung des Wahlrechts
der Hauswirthe nur auf Hauswirthe ihrer Vogtei und der hausangesessenen
Bürger und auf Schönberger hausangesessene Bürger, und hauptsächlich die
Ausschließung über dreiviertel der ganzen Bevölkerung von der Wahlberech¬
tigung nicht für gerechtfertigt anerkennen. — 2) Einer wirklichen Landesver-
tretung würde auch die Wahl ihrer Vorsitzenden und mindestens ihre Mit¬
wirkung bei dem Erlasse ihrer Geschäftsordnung nicht vorzuenthalten sein.—
3) Eine Landesverfassung, wie sie solcher Landesvertretung entspricht, ver¬
mögen wir uns nicht anders zu denken, als wenn sie gleich allen sonstigen
Landesverfassungen in deutschen Ländern nebst den übrigen Erfordernissen
das Zustimmungsrecht enthält: g.) zur Erlassung neuer und zur Abänderung
bestehender, das Fürstenthum betreffender Gesetze und Verordnungen; b) das
Recht. Rechnungslegung zu fordern über öffentliche Einnahmen und Aus¬
gaben, mithin auch das Zustimmungsrecht zur Ausschreibung neuer und Ab¬
änderung bestehender Steuern und Abgaben aller Art, sowie das Recht, dar¬
über zu beschließen, ob gesetzlich nicht mehr begründete Steuern und Ab¬
gaben aufzuheben, hauptsächlich aber wie die Einnahmen und deren Ueber¬
schüsse zu verwenden seien, und endlich mitzuwirken zur Verwaltung und
Verwendung der ihrem Bestände nach zu erhaltenden milden und geistlichen
Stiftungen jeglicher Art; o) das Recht, Beschwerden über alle Theile der
Verwaltung zu erheben und deren Abhilfe zu erwarten. Selbstverständlich
bedürften alle vom norddeutschen Bunde zu erlassenden Gesetze solchen Zu¬
stimmungsrechtes nicht. So lange nun nach unserer und unserer Wähler
Ueberzeugung diese wesentlichen Erfordernisse einer Landesvertretung und Lan¬
desverfassung keine Berücksichtigung gefunden haben, glauben wir uns keiner¬
lei Mitwirkung zu dieser durch die Allerhöchste Verordnung vom 6. Novbr.
1869 verfügten Versammlung gestatten zu dürfen. Da es uns bekannt ist, daß
mit höchst geringfügigen Ausnahmen die Allerhöchste Verordnung vom 6. Novbr.
v. I. den Wünschen der gesammten Bevölkerung des Fürstenthums nicht ent¬
spricht, so gestatten wir uns, ganz gehorsamst zu bitten: unserem Allerdurchlauch-
tigsten Landesherren und Großherzoge und dessen hoher Landesregierung diese
unsere und unserer Wähler Ueberzeugungen und Wünsche zur Allergnädigsten
Berücksichtigung devotest zu empfehlen, und verharren :c." Unterzeichnet,
war dieser Absagebrief von dem Färber Breuel-Schönberg, Uhrmacher Meyer-
Schönberg und den Hauswirthen Bohnhoff- Gr. Stemz, Eckmann-Bluffen,
Kröger-Lockwisch, Carstens-Rugensdorf, Freitag. Gr. Rünz. Schulze Joach.
Holst-Carlow, Retelsdorf°Gr. Mist und Damm-Sülsdorf. Aber auch von
den übrigen Vertretern hatte die Majorität der landvogteilichen Einladung
keine Folge gegeben. Ausgeblieben waren die Besitzer der drei Allodialgüter,
der Amtmann (Domanial-Pächter) Kaiser-stove, der Hauswirth Joh. Stamer-
Mannhagen und der Propst Rußwurm-Ratzeburg. Die drei Gutsbesitzer
wohnen außer Landes in Mecklenburg-Schwerin und resp, auf ihren als En¬
claven im Lauenburgischen gelegenen Gütern und die letzten drei namentlich
ausgeführten Landtagsmitglieder scheinen es vorgezogen zu haben, durch im«
provisirte Reisen sich der Alternative zu entziehen, entweder der an sie ergange-
nen Einladung Folge zu leisten, oder obigen Protest zu unterschreiben. Mit
was für Augen der Herr Ober-Landdrost die gehorsamlich erschienenen Herren
Pastoren, nämlich den Archivrath Maseh-Deinem, Pastor pria. Kämpffer-
Schönberg, die Amtleute Drews-Bauhof Schönberg und Wicke-Deinem und
den Senator Spehr als Vertreter des Schönberger Magistrats begrüßt haben
mag, davon schweigt die Geschichte. Da nach §. 6. der Verfassung minde¬
stens 11 Mitglieder anwesend sein mußten, blieb die Versammlung beschlu߬
unfähig.
Welche Mittel die großherzogliche Regierung versuchen wird, eine be¬
schlußfähige Landtagsversammlung zu Stande zu bringen, ob Neuwahlen,
Strafmandate oder was sonst, das steht einstweilen dahin. Doch glauben
wir ohne große Sehergabe voraussagen zu dürfen, daß man am liebsten die
Sache auf sich beruhen lassen wird. Wollen die Ratzeburger keine Stände¬
versammlung, wie die nach der Verfassung vom 6. November 1869 gewahrte,
gut, so mögen sie sich ohne solche zufrieden geben und Alles bleibt beim Al¬
ten. Daß die Unterzeichner des Protestes von der angehängten Bitte selbst
keinen Erfolg erwarten konnten, muß jedem zweifellos sein, der da weiß, daß
derartige oder ähnliche Bitten bei der Strelitzer Regierung überhaupt auf
kein Gehör zu rechnen haben. Würde aber die Regierung sich zur Ausschrei¬
bung von Neuwahlen entschließen, so würde sie bald inne werden, daß sie
aus solchem Wege nicht zum Ziele gelangt. Der norddeutsche Bauer ist zähe
und es fehlt ihm auch nicht so sehr, wie oft behauptet wird, an politischem
Interesse sür Fragen, die ihn speciell angehen. Daß es der Regierung ge¬
lingen werde, die trefflich disciplinirte Opposition zu brechen, bezweifeln wir
ernstlich.
In Ländern, die an konstitutionelle Einrichtungen gewöhnt sind, wird
man es kaum für möglich halten, daß man eine Verordnung als Verfassung
zu octroyiren wagt, die zu solchen Ausstellungen Anlaß gibt, wie sie im Pro¬
test der acht Bauern und der beiden Schönberger Bürger enthalten sind.
Wir haben den Text derselben vollständig mitgetheilt, um den Lesern der
Grenzboten Gelegenheit zu geben, durch Vergleicheng mit den früher in diesen
Blättern gegebenen Andeutungen über unsere Verfassungsverhältnisse sich von
dem Grund solcher Beschwerden zu überzeugen, die kaum präciser zu formu-
liren wären.
Ein großes Unglück für das Land entsteht freilich nicht, wenn seine „Ver¬
tretung" vorläufig nicht in der Lage ist, ihre Tagesordnung zu erledigen.
Dafür hat die Regierung, wie ein Blick auf die Borlagen lehrt, landes¬
väterlich vorgesorgt; denn außer einigen Wahlen sollten nur administrative An¬
gelegenheiten erledigt werden, die aufzuschieben immerhin besser ist, als daß
dafür durch Aufgeben der Opposition und Betheiligung der Majorität an
den Landtagsarbeiten von ihr die Rechtsbeständigkeit der Verfassung aner¬
kannt würde.
Während die Regierung von Strelitz mit ihrem Verfassungsexperiment
in Schönberg ein so klägliches Fiasko gemacht hat, tagt in dem lauenburgi-
schen Theil der Stadt Ratzeburg der gleichfalls auf den 10. Juni einberufene
Landtag des Herzogthums Lauenburg, der im Begriff steht, die vollständige
Annexion dieses Zwitterstaates zu poliren. — Mit Interesse verdient auch
im angrenzenden eigentlichen Mecklenburg die Entwickelung der Dinge in
Schönberg verfolgt zu werden. Bekanntlich ist das Aeußerste einer Ver¬
fassungsreform, zu dem man sich in Mecklenburg ohne zwingenden Anstoß
jemals entschließen möchte, eine veränderte Zusammensetzung des Landtags,
der etwa nach Art des todtgeborenen Ratzeburgischen Parlaments zu reorgani-
siren wäre. Ist nicht die Annahme berechtigt, daß das in Schönberg gegebene
Beispiel in Sternberg und Malchin Nachahmung finden könnte? In selner jetzi¬
gen Zusammensetzung ist der Mecklenburgische Landtag ohne Rücksicht auf
die Zahl der Mitglieder jederzeit beschlußfähig. Aus den Ersahrungen, die
man in Schönberg gemacht, wird man die Lehre ziehen, daß es am Ge-
rathensten sei, in Mecklenburg lieber Alles beim Alten zu lassen.
Die Ratzeburger Stände dem Mecklenburgischen Landtag einzuverleiben,
war ohne dessen Zustimmung nicht, und felbst mit dieser kaum möglich.
Denn die Verhältnisse des letztern sind in ihrer landesgrundgesetzlich geregelten
Form dermaßen versteinert, daß sich nichts einfügen läßt, ohne das Ganze
zu zerbrechen. Man machte daher den Versuch, einen eigenen Ratzeburger
Landtag zu schaffen. Das papiergeborene Geschöpf war fertig, aber man
vergaß, ihm lebendigen Odem einzublasen. Deßhalb brachte man nichts
weiter zu Stande, als ein Rumpfparlament en minis-durs wie es wohl noch
kaum erlebt ist. Die Herren aber, welche es bildeten, werden die ganze Würde
ihres Standes nöthig gehabt haben, um sich über das Tragikomische der
Mit Ser. D? beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Zum 1870.Die Verlagshandlung.
In der Westminsterabtei ist die Hülle des Dichters beigesetzt, der so
reichlich und tief aus seine Zeitgenossen gewirkt hat, wie wenige; und die
Todtenklage in der Presse Englands rühmt mit Recht, daß der Gestorbene
Millionen das Herz gerührt, das Leben schöner gemacht habe. Er war
uns Deutschen kaum weniger vertraut, als seinen Landsleuten, er war auch
uns ein guter Freund, zuweilen ein liebevoller Erzieher.
Ja er hat in mancher Hinsicht uns mehr gegeben, als den Engländern.
Denn dort ist die Literatur, welche Charaktere und geheimstes Empfinden
der Menschen darzustellen weiß, ungleich älter und reicher an volkstümlichen
Talenten. Wir entbehren aus den Jahrhunderten von Shakespeare bis
Addison völlig die entsprechenden Dichterkräfte, und selbst die edle Kunst
Goethe's und Schiller's gab der deutschen Schriftsprache nicht sofort den
Reichthum an Farben und dem schildernden Stil nicht die behagliche Fülle,
welche für die künstlerische Behandlung modernen Lebens unentbehrlich sind.
Es war in Deutschland um 1837, wo Boz zuerst unter uns bekannt wurde,
eine Zeit frostigen Mißbehagens. Das Volk saß noch in der alten Getheilt-
heit, in engem Hause, und arbeitete sich langsam zu größerem Wohlstand her¬
auf; es merkte ein wenig die größere Freiheit des Binnenverkehrs, die neue
Dampfkraft an Landstraßen und Fabriken, aber es bildete über den Grund¬
lagen seiner Kraft und Größe noch ohne jedes Selbstvertrauen. Die Ge¬
fühle des Hauses waren stark, die Charakterbildung durch den Staat sehr
schwächlich. Das junge Geschlecht hatte nichts, was ihm Begeisterung und
Hingabe leicht machte, und gebehrdete sich deshalb widerwärtig, krittlich, revo¬
lutionär. Die heimische ästhetische Literatur, diese zarteste Blüthe des Volks-
lebens. siechte an demselben Mangel von Wärme. Das letzte Geschlecht
deutscher Lyriker zwischen verblaßter Romantik und unreifen politischen Wün¬
schen fand reizvoll in sein inniges Lied neue Mißtöne zu mischen; wer von den
Jüngern die Zeit schilderte, stand in sclavischer Abhängigkeit von französischem
Wesen, das er ungeschickt nachahmte; statt zu plaudern schrieb er Klatsch und
geärgert durch das Hausbackene höherer Weiblichkeit in seiner Heimath quälte
er sich, Pariser Cocotten und Gräfinnen mit ganz unbegreiflichen und sehr
verzwickten Gefühlen zu erdenken.
Da kamen die Pickwickier in das Land. Man muß jene Zeit in gebil¬
deten bürgerlichen Familien durchlebt haben, um die schöne Wirkung zu be¬
greifen, welche das Buch auf Männer und Frauen ausübte. Die fröhliche
Auffassung des Lebens, das unendliche Behagen, der wackere Sinn, welcher
hinter der drolligen Art hervorleuchtete, waren dem Deutschen damals so
rührend, wie dem Wandrer in der Fremde eine Melodie aus dem Vaterhause,
die unerwartet in sein Ohr tönt. Und Alles war modernes Leben, im Grunde
alltägliche Wirklichkeit und die eigene Weise zu empfinden, nur verklärt durch
das liebevolle Gemüth eines ächten Dichters. Hunderttausenden gab das
Buch frohe Stunden, gehobene Stimmung, überall setzte es in die Einför¬
migkeit der Werkeltage bunte Lichter. Jeder bekannte ältliche Herr mit einem
Bäuchlein wurde von den Frauen des Hauses als Herr Pickwick aufgefaßt,
sogar dem ausgewetterten Droschkenkutscher kam bei Rückgabe kleiner Münze
zu Gute, daß man sich ihn als Vater eines Sam Weller dachte, knorrig doch
treuherzig. Und wie oft wurde die Freude über das Buch im Wechselge¬
spräch ausgetauscht. Ernste Geschäftsmänner, welche sich sonst um Romane
wenig kümmerten, vergaßen über der Dichtung die Nachtruhe und fochten mit
Feuer für die Schönheiten des Werkes, junge Damen und Herren fanden
in der Freude über die Charaktere des Romans einander sehr liebenswerth,
und wenn Boz alle Kuppelpelzlein hätte auftragen müssen, die er sich damals
in Deutschland verdient, er wäre bis an sein Lebensende einhergewandelt
rauh und vermummt wie ein Eskimo.
Diese Wirkung des ersten Werkes, das den Deutschen übertragen wurde,
hielt an, und sie wurde fast durch jeden der späteren Romane bis zu „David
Copperfield" gesteigert. In jedem fand der Leser einen oder mehrere Charak¬
tere, die ihm Menschennatur liebenswerth und ehrwürdig machten, und in
jedem einige gewaltige Schilderungen von Schuld und Strafe, von mensch¬
lichen Thorheiten und Lastern, von dem innern Verderb, den diese in den
Seelen hervorbringen und von der gerechten Vergeltung, welche durch die
Missethat selbst in die Verbrecher geführt wird. Ueberall kündeten seine Bücher,
daß eine ewige Vernunft und Weisheit in den Schicksalen der Menschen sichtbar
wird, und daß der Einzelne nicht nur unter den eigenen Fehlern, auch unter
der Verbildung seines Volkes krankt. Und das war nicht trockene Lehre, son¬
dern nur stiller Hintergrund einer Erfindung, die an lustigen Situationen,
drolligen Käuzen und spannenden Momenten fast überreich ist. Fast aus
jedem Roman blieben rührende oder lebensfrische Gestalten fest in der Seele
des Lesers, welche ihm unmerklich selbst die innige Auffassung alles Lebenden,
das ihn umgab, und die gute Laune im eigenen Kampf mit dem Leben
steigerten.
Denn wer da meint, daß die Traumgebilde eines Dichters nur wie
flüchtige Schatten durch die Seelen der Leser gleiten, der verkennt die beste
Wirkung der Poesie. Wie Alles, was wir erleben, so läßt auch alles Wirk-
same, das wir gern lasen, seinen Abdruck in unserer Seele zurück. Aus der
Sprache des Dichters geht in unsere über, seine Gedanken werden unser Eigen,
thun, auch der Humor lebt in uns fort, er färbt immer wieder unsere
Betrachtung der Menschen und erhöht uns zu heiterer Freiheit, so oft die
empfangene Stimmung in uns lebendig wird. Sehr ernst ist unser Leben
zwischen deutschen Wintern und Sommern, Vielen wird es ein schwerer Kampf,
leicht wird unsere Hingabe in einem engen Kreis von Standesinteressen
beschränkt. Da ist uns die Mahnung an eine ewige Vernunft der Dinge,
die Vorführung anderer Lebenskreise, vor Allem ein fröhliches Herz, das aus
der Ueberfülle seiner warmen Empfindung Freude mittheilt, fast unentbehrlich.
Solche bildende Gewalt über die Zeitgenossen erhält freilich nur der wahre
Dichter, der aus dem Vollen gibt und wie mühelos seine Schätze spendet.
Und er bildet am kräftigsten in der Jugend und in denen, die Verhältniß-
mäßig wenig lesen.
Daß diese kräftige Einwirkung des englischen Dichters uns Deutschen
gerade in den Jahren half, wo die eigene produktive Kraft schwach, das
nationale Leben krank, das Einströmen der französischen Oppositionsliteratur,
socialistischer Ideen und frecher Hetärengeschichten übermächtig zu werden
drohte, das ist sehr Vielen der jetzt thätigen Generation ein Segen geworden,
für den wir dem Todten recht innigen Dank schulden.
Er hat darum auch einen politischen Einfluß geübt, den wir wohl zu
würdigen wissen und dem die Engländer Anerkennung zollen mögen. Vor¬
nehmlich durch ihn wurde uns englisches Wesen heimisch und vertraulich in
Jahren, wo uns die englischen Politiker keineswegs freundlichen Antheil be-
wiesen. Freilich leitete nicht er allein diese geheime Mission zu Gunsten
einer politischen Annäherung. Viele bedeutende Dichter Englands sind auch
die unsern geworden: Shakespeare, W. Scott, Byron, noch kurz vor ihm und
neben ihm war Bulwer in derselben Richtung sehr thätig. Aber seit seinem
Auftreten darf er doch den größten Antheil an solchem Liebeswerk beanspruchen.
Sein London hat er uns so nahe gelegt, daß wir zuweilen besser darin
Bescheid wissen, auch wenn wir nie dort waren, als der Süddeutsche in
Berlin, der Rheinländer in Wien. Diese schlauen Taschendiebe und das Stäb¬
chen der hilfreichen Constabler, Verkehr und Schrecken der Themse, die unüber-
treffliche Schlauheit der Entdeckungsbeamten! Durch ihn kennen wir freilich
auch genau gewisse sociale Leiden der Vettern von drüben: die Heuchelei, die
Vornehmthuerei, die unbehilfliche Rechtspflege. Aber das Licht ist in den besten
seiner Romane so hell und kräftig über die Schatten gesetzt, daß die Summa
der Eindrücke, die er uns gibt, doch starke gemüthliche Annäherung an sein
Volk und Land hervorbringt. Jedem Engländer, der als Gast in unsere
Familien trat, wurde ein Willkommen wie einem guten Bekannten, er war
uns ein Neffe des Herrn Pickwick, der liebe arme Pirch, einer von den Ge¬
brüdern Wohlgemuth, oder gar bei struppigen Haar der treue Traddles,
und wenn der Deutsche noch heute geneigt ist, jeden vorgestellten Engländer als
einen guten und tüchtigen Kerl zu achten, vielleicht steif, aber von sehr tiefem
Gemüth, wahrhaft, zuverlässig, treu, so ist diese poetische Auffassung zum großen
Theil daher zu erklären, daß der Fremde ein Landsmann von Charles
Dickens ist.
Aber solche Anschauungen aus den Büchern eines Dichters gezogen, welchen
Anspruch auf Wahrheit und Werth vermögen sie gegenüber realer Wirklich¬
keit zu erheben? Wer zweifelnd so frägt, dem sei zur Antwort eine
andere Frage gestellt: aus welchem Schrein entnehmen wir denn ein besseres
Urtheil über fremde Menschen und Verhältnisse? Ist das Urtheil über neue
Bekannte, das wir aus der Form ihrer Nase, dem Ton ihrer Stimme, aus
Aeußerungen einer Stunde abziehen, correcter und zuverlässiger? Ist die An¬
sicht, die sich der Mann der Geschäfte nach Hörensagen, zum Theil aus schlech¬
tem Geschwätz über Andere bilden muß, in der Regel sichrer? Ja sind selbst
detaillirte Beschreibungen eines Lebens, einer Gegend, die Daguerrotypen der
Wirklichkeit, in der Hauptsache belehrender, als die poetische Wahrheit des
Dichters, der das Vorrecht seines Handwerks zu gebrauchen versteht: auf wenig
Seiten mehr von den innersten Geheimnissen der Menschennatur auszuplaudern,
als der Philolog, Historiker und Naturforscher in vielen Bänden darzustellen
im Stande sind. Was er uns gibt, das mag in allen Einzelheiten ganz
anders erscheinen, als es in Wirklichkeit aussieht. In der Hauptsache hat
doch er. und nur er die höchste Wahrheit gefunden, welche dem Menschen
darzustellen verstattet ist. Er hat die ungeheuere, furchtbare, unverständliche
Welt ins Menschliche umgedeutet nach den Bedürfnissen eines edlen und
sehnsuchtsvollen Gemüthes.
Jetzt sind wir betroffen, weil der Dichter, der so reich und machtvoll
über den Geheimnissen des Erdenlebens waltete, selbst das eigene Leben dem
alten Zwang des Todes hingeben mußte. Aber der Tod, der ihn entzog,
vermochte dennoch nichts von dem Leben zu nehmen, welches Charles Dickens
unvergänglich in Millionen fortlebt. Und das ist der erhebende Humor beim
Tode dieses guten Dichters. —
Der Dispaeeio, der kleinste Dampfer der Linie Florio, brachte uns in
fünfzehn Stunden von Neapel nach Palermo. Die Fahrt, bei ruhiger See
kurz und ohne Beschwerde, wäre noch behaglicher gewesen, hätten wir nicht
so viel Ochsen und Italiener an Bord gehabt. Die auf Sicilien seit meh¬
reren Jahren herrschende Rinderpest zwingt zur stetigen Einfuhr des Schlacht¬
viehes und läßt die schöngehörnten Ochsen Campaniens als gewöhnliche Passa¬
giere der Dampfschiffe erscheinen. Im Interesse unserer künftigen Verpflegung
durften wir sie freundlich begrüßen, aber den Aufenthalt auf dem Verdecke
verleideten sie uns gründlich, und flüchtete man in die Cajüte, so litt man
wieder unter der ausschließlich italienischen Reisegesellschaft, die bekanntlich in
Angelegenheiten der Toilette eine unbegrenzte Freiheit in Anspruch nimmt
und an die Sinne der Cajütengenossen weitgehende Anforderungen stellt. Bei
längerer Fahrt und unruhiger See hätten sich bedenkliche Scenen entwickelt;
zum Glück kam das Land in Sicht, gerade als unser Befremden über das
ungenirte Wesen der italienischen Passagiere (wie sich später herausstellte,
waren es außer Handelsreisender Beamtenfamilien, die von einem schlechten
Posten in Neapel auf einen anderen schlechten Posten in Sicilien befördert
worden waren) in offenen Aerger überzugehen drohte. Und was für ein
Land! So unvergleichlich der Blick auf das Meer in Neapel, ebenso zauber¬
haft und einzig ist die Einfahrt in den Golf von Palermo. Rechts der formen¬
reiche Monte Pellegrino, der vom Meere und der Ebene gleichmäßig hoch
emporsteigt, gleichsam eine Berginsel bildet, auf seinem Rücken dann in
reichem Wechsel Spitzen und Flächen zeigt, durch gefällige Linien miteinander
verbunden, wo Licht und Schatten in stets neuem Spiele sich tummeln;
dem Pellegrino gegenüber, lang hingestreckt der Grifone und durch die immer
sonnenhelle heitere Ebene von Baggaria von diesem getrennt der Catalfano,
in der Mitte sodann im Hintergrunde der Monreale und der scharfkantige
hohe Cucio, in der Ebene endlich weit ausgestreckt die Stadt, zwar nicht
amphitheatralisch aufgebaut, dadurch aber, daß Olivenwälder und Orangen¬
haine bis dicht an die Häuser heranreichen, ja mit diesen sich mischen, das
Bild einer lachenden Landschaft rein und ungetrübt dem Auge entrollend: so
stellt sich Palermo dem Landenden dar.
Die Stadt selbst zeigt eine überraschende Regelmäßigkeit der Anlage.
Von Norden nach Süden durchschneidet sie die Schloßstraße, der Cassaro,
der seinen Namen unter spanischer Herrschaft in Toledo, unter dem gegen-
wärtigen Regiments in Corso ti Vittore Emmanuele umwandeln mußte, im
Volksmunde aber noch immer der Cassaro heißt. Im rechten Winkel fällt
auf den Cassaro die Straße Macqueda, sodaß die Stadt naturgemäß in vier
Viertel eingetheilt wird, die auch bei den älteren Topographen ihre beson¬
deren Namen führen: Loggia und Capo rechts vom Cassaro, Kalfa und
Albergaria links von demselben. Stellt man sich auf den Durchschneidungspunkt
der beiden Hauptstraßen, die kleine, auch amphitheatralisch reich geschmückte
piasW al yuattro eautoui, so sieht man rechts und links durch die lang¬
gestreckte Macquedastraße weit in die offene Landschaft bis zu den Bergen
hinaus und gewahrt vor sich das Hauptthor der Stadt und die Berge von
Monreale; wendet man sich aber, so erblickt man das Meer. Keine Stadt
von gleichem Umfange kann sich ähnlich freier Durchsichten rühmen. Die
Regelmäßigkeit wird aber noch größer werden, wenn die begonnene Ni-
vellirung der Hauptstraße wird vollendet und die mit dem Cassaro parallel
laufende Via Lincoln und Cavour werden ausgebaut sein. Auch mit dem
Winkelwerke, das zwischen den Hauptlinien des Verkehrs bisher geduldet
wurde, beginnt man eifrig aufzuräumen. Straßen werden durchbrochen, Plätze
erweitert oder neu angelegt, überall für frische Luft und freien Zutritt der
Sonne gesorgt.
Wie in den meisten anderen Städten Italiens hat sich auch in Palermo
die Cholera als die wirksamste Sanitätspoltzei bewährt. Ihre Verheerungen
waren in den luft- und lichtarmer Gassen so furchtbar, daß selbst die stumpf¬
sinnigsten und Trägsten aufgerüttelt und zur Wegräumung der auffallendsten
Giftquellen aufgemuntert wurden. Die Regierung, in Erinnerung des hart¬
näckigen Aufstandes im September 1866, hatte gleichfalls ein Interesse daran,
die Stadt den stürmenden Truppen und den Kanonen zugänglicher zu machen,
und da ihr durch die Aufhebung der Kirchen und Klöster sehr viele Bau¬
stellen in die Hände fielen, so fanden die Freunde der Stadtregulirung bei
ihr eifrige Förderung. Die Einheimischen gewinnen durch die neuen Polizei¬
maßregeln Großes, die Stadt wird gesünder und wohnlicher, für den Aufent¬
halt und Verkehr geeigneter; der Fremde freilich wird manche malerische
Winkel, manche classische Schmutzflecken vermissen, manche charakteristische
Sitte vergebens suchen. Schon jetzt muß er Nebenstraßen betreten, will er
im Schatten sicilianischer Wäsche wandeln, die früher knapp in Manneshöhe
von Haus zu Haus quer gespannt oder an langen Bambusrohren weit
hinausgehängt, alle Gassen überdeckte und bei webenden Winde nasse Küh¬
lung verbreitete.
Daraus folgt noch nicht, daß die Hauptstraße, der Toledo, einen monu¬
mentalen Charakter besitzt. Im Verhältniß zu ihrer Länge ist sie zu schmal,
daher schlauchartig, sie hat weniger Paläste als viele andere Straßen wie
z. B. die Allora und Macqueda, und ihr mangelt auch, was Ersatz dafür
bieten könnte, die reiche Ausstattung der Verkaufsgewölbe. Jede nordische
Provinzialstadt übertrifft darin die Sicilianische Capitale. Man findet weder
im Innern große mit Waarenmassen erfüllte Räume, nach außen zierlich ge¬
ordnete lockende Schaufenster, selbst das Spiegelglas, das einem nordischen
Kaufmann fast unentbehrlich erscheint, ist unbekannt. Nur der gewaltige
Menschenstrom, der vom Morgen bis zum Abend den Toledo durchzieht, das
unaufhörliche Wagengerassel, das Toben und Lärmen der Kleinhändler läßt
erkennen, daß der Verkehr hier seine Pulsader hat. Nicht zu vergessen, daß
der Toledo auch das Hauptquartier der Bettler bildet. Man kann nicht
zehn Schritte machen, ohne von einer Jammergestalt um ein Almosen an-
gesprochen, kein Boutique betreten, ohne von einem Bettler am Arm gestoßen
und an die Pflicht der Wohlthätigkett erinnert zu werden. Am schlimmsten
ergeht es dem, welchen Naschlust zu Gnu, dem ersten Zuckerbäcker Palermo's
führt. Hier herrscht stets das größte Gedränge. Die Palermitaner scheinen
Süßigkeiten noch mehr als die Königsberger zu lieben und wenn sie es auch
nicht thäten, so verpflichtet sie schon die Frömmigkeit zu häufigen Besuchen
Gnus. Denn jedem christlichen Feste, jedem katholischen Hauptheiligen ist eine
besondere Sorte von Backwerk gewidmet und die Andacht wäre nicht vollkom¬
men, begleitete man sie nicht mit dem Genuß einer hinreichenden Quantität
solcher Weihekuchen, die leider ihre symbolische Form verloren haben, sonst
müßte man noch stets den bestimmten Griechengott mitschmecken. Die Gnu
bereitet, schmecken nicht heidnisch, aber süß, daher der große Zuspruch. Bis
auf die Straße hinaus stehen dichtgedrängt die Käufer und wo sie eine Lücke
gelassen haben, schleicht ein Bettler hinein und ächzt und stöhnt um ein
Almosen. Nur in Palermo kann man noch die ächte alte Bettlerrace stu-
diren. Das übrige Italien ist im Vergleich zu früher wie reinlich so auch
bettlerfrei geworden. Man findet sie dort fast nur noch an Kirchenthüren,
von welchem Rechtsboden sie keine profane Polizei verweisen kann; in Pa¬
lermo gehört ihnen noch die ganze Straße. Auch Tracht und Aussehen be¬
wahren das alte Gepräge. Wem der Vorzug gebührt, ob den männlichen
Bettlern, deren brauner Kapuzenmantel wirklich nur aneinander gemähte Löcher
zeigt, oder den Bettlerinnen, an deren Rockfetzen Schmutz die Nath vertritt,
wird wohl niemals entschieden werden. Beiden gemeinsam ist die Verach¬
tung des Schuhwerkes, der Besitz eines dicken Knüppelstocks, der sie bei ihrer
angeblichen Schwäche unterstützen soll — an seinerstatt werden auch Kinder,
auf deren Schultern sich die Bettler stützen, benutzt — gemeinsam die Kunst des
Zitterns, Blindscheinens und anderer Almosenpressen. Schade, daß daS
Bettler Wesen so sehr wuchert.
Ohne dieses öffentliche Aergerniß wäre der Eindruck, den die Palermi-
kalter auf^den Fremden machen, jener unbedingter Liebenswürdigkeit. Sie ver¬
leugnen den südlichen Charakter nicht. Jedes Wort begleiten sie mit dem
lebendigsten Minenspiel und ersetzen durch die Geste in vielen Fällen wirk¬
sam das Wort. Während aber z. B. bei den Neapolitanern die Geberden
leicht übertrieben werden, an die Carrikatur streifen, bewahren die Palermi-
taner stets eine gemessene Würde. Ihre Handbewegungen sind rund und
leicht, lassen den Arm beinahe ganz ruhig und sind doch der verschieden
artigsten Modulationen fähig. Von dieser anschaulichen Handsprache haben
wir Nordländer keinen Begriff, von dieser Beredsamkeit der Geberde, ohne
daß die Grazie vergessen wird, kaum unsere besten Schauspieler eine Ahnung.
Zwischen steifer Haltung und gewaltsamen Recken kennen wir gewöhnlich kein
Mittelglied. Die natürliche Anmuth und fröhliche Lebendigkeit verleihen dem
Verkehr mit den Eingebornen einen großen Reiz. Ein verlegenes Benehmen,
eine sich wegwerfende Unterthänigkeit bemerkt man auch bei untergeordneten
Volksclassen nicht. Eher wird der Fremde ein Opfer ihres selbstgefälligen
Stolzes, aber diese Ueberhebung ist von so angenehmen Formen begleitet,
daß man nicht leicht beleidigt wird. Bezeichnend ist das Auftreten der Krä¬
mer, wenn man eine Waare von ihnen verlangt, die sie nicht führen, was,
nebenbei gesagt, sehr häufig vorkommt. Sie entschuldigen sich nicht etwa,
oder vertrösten den Käufer auf eine spätere Zeit, sie zucken leicht die Achseln,
heben die Hand abwehrend in die Höhe und schnalzen leise mit der Zunge.
Mit vollkommener Deutlichkeit dollmetscht man ihre Geberde: Wie kann ein
Mensch so albern sein und solche unerhörte Dinge verlangen. Daß diese
Sprache eigentlich grob sei, sagt man sich erst draußen vor der Thüre; so
lange man dem Verkäufer gegenüber steht, bleibt man durch die ruhige
Würde des Mannes gebannt.
So angenehm der Verkehr mit den Palermitanern, so zugänglich die-
selben und freundlich beflissen, den Fremden zu dienen, so wird man doch sehr
schwer in einen nähern Umgang mit ihnen treten. Der Salon, das Club¬
haus und die Promenade sind die einzigen Orte, wo der Verkehr blüht;
nur in voller Toilette ist der feine Parlermitaner dem Fremden sichtbar.
Unser Medium des freundschaftlichen Umganges, das Zusammen-Essen und
-Trinken, und wenn es auch nur eine Tasse Thee wäre, kennt er nicht. Ob
ein Sicilianer, dessen Bekanntschaft wir unterhalten, verheirathet sei oder
nicht, erfahren wir selten oder gar nicht. Er besucht uns, promenirt mit uns,
führt uns in sein Casino ein, von seiner Frau ist niemals die Rede. Nur
Damen, die ein offenes Haus halten, kommen an den Gesellschaftsabenden mit
Fremden in Berührung. Böse Zungen meinen, diese Zurückhaltung diene dazu,
die Armuth und Verkommenheit der meisten Familien zu verhüllen. Neben
dem Prachtsalon, dessen riesige Verhältnisse man bewundert, dessen etwas faden-
scheinig gewordene Einrichtung man bei dem Kerzenschein nicht gleich bemerkt,
gebe es, so sagt man, nur noch eine Familienstube voll des häßlichsten
Schmutzes; das reiche Sammtkleid, das wir an der Dame bewundern, was.
rend sie auf der Marina spazieren fährt, sei zugleich das einzige un-
geflickte, das sie besitze, überhaupt unter der glänzenden Hülle der meisten
Palermitaner ein fauler Kern verborgen. Auf die Repräsentation verwenden
sie ihr ganzes Vermögen und Wagen und Pferde, unentbehrlich für den Corso.
halten auch solche, welche nur mit Mühe die Kosten der täglichen Maccaroni
erschwingen. Von den moralischen Zuständen wollen langjährige Beobachter
gleichfalls nicht viel rühmliches wissen. In den meisten Fällen wandle der
Mann gleichgiltig neben der Frau einher, lebe jeder Theil unbekümmert um
den andern und wenn die Treue gebrochen werde, tröste sich der Leidende mit
der großen Zahl seiner Genossen.
Die Wahrheit solcher Schilderungen läßt sich nicht prüfen, gewiß ist
nur, daß die Damen der höheren Gesellschaft nichts Eiligeres zu thun haben,
als dem Fremden von den Liebhabern anderer Damen zu erzählen und daß
Männerglück und Frauenschwäche den häufigsten Gesprächsstoff im Salon
bilden. Wunderbar ist nicht das Eine, wäre nicht das Andere, da Lange¬
weile die Frauen beherrscht, Unthätigkeit die Hauptbeschäftigung der Männer
ausmacht. Erst in den Mittagsstunden beginnt der Tag des xieeiotto, des
Stutzers, sein erster Besuch gilt dem Handschuhmacher in Toledo, um sich
hier das unentbehrliche Requisit feiner Bildung, tadellos frische Handschuhe
zu holen. Die Zeit, die nach dem Aussuchen und Versuchen derselben bis
zur Promenadcstunde übrig bleibt, wird im Casino oder in einer der zahl¬
losen Plauderstuben zugebracht, die im Toledo bestehen und von geschlossenen
Gesellschaften gemiethet werden. Bei dem geringen Beitrage der Mitglieder
— mit Ausnahme der Miethe für das im Erdgeschosse befindliche Local haben
diese Plauderstuben, ausgeräumten Kramladen zum Verwechseln ähnlich, fast
keine Kosten — ist die Theilnahme in weiten Kreisen verbreitet. Den Abend
nimmt das Theater und nach dem Schlüsse desselben das Cafthaus, wo man
noch um Mitternacht häufig Maccaroni serviren sehen kann, in Anspruch. Die
elegante Dame wird vollends erst am Nachmittage sichtbar. Ihre erste sociale
Pflicht erfüllt sie indem sie im englischen Garten und dann auf der Marine
spazieren fährt, ihre zweite Pflicht ruft sie in reicher Balltoilette in das
Theater und von hier noch in einen Salon, in welchem man selbst in später
Nacht gesprächige Besucher findet. Bei solchem Leben kann der Mangel an
Ernst, das allmälige Versinken in das Kleine, ins nichtsnutzige nicht befrem¬
den. Im Advent, wo die Theater geschossen sind, ist das Hazardspiel in den
Casinos erlaubt. Wie sollten unsere Männer sich den langen Abend über
unterhalten? lautet die Gegenfrage, wenn man den Eingebornen nach dem
Grunde dieses häßlichen Compromisses mit dem Spielteufel frägt.
Die vielen Bettler und vom Laster Gezeichneten, die jungen Männer,
alle nach dem Modejournal zugeschnitten, von dürftiger Körperkraft und mit
dem Ausdruck geistiger Oede, die Frauen in ihrer Kleidung von verzweifel¬
tem Farbenmuthe, das Alles macht den Eindruck des Verfalles. Dennoch
wäre es unbillig, die Spuren des Fortschrittes auf den meisten Gebieten des
Lebens abzuleugnen, und namentlich zu übersehen, daß die Zukunft des Lan¬
des und Volkes nicht mehr biete, wie zur Zeit der Bourbonenherrschaft, son¬
dern wieder hoffnungsreich und heiter erscheint. Von der Gegenwart bereits
große Anordnungen in Gedanken und Sitten kann nur fordern, welcher ver¬
gißt, daß die Insel eigentlich erst seit zwei Jahren endgiltig zum Königreich
Italien gehört, daß erst nach dem Siege über den Septemberaufruhr 1866
die neue Aenderung der Dinge wirksam auftritt. An den Folgen des bour-
bonischen Regimentes werden noch viele Geschlechter zu tragen haben, wie
auch Garibaldi's naive Regierungsweise nur langsam vergessen wird. Das
Wichtigste ist die Einkehr politischer Ruhe, welche jeder Vorwand zur Träg¬
heit, zum Leben auf Kosten Anderer, zum Brigantaggio nimmt. Sicilien zählt
jetzt zu den ruhigsten und friedlichsten Provinzen und noch vor zwei Jahren
konnten die Feinde Italiens aus Sicilien die größten Hoffnungen setzen.
Die volle Wahrheit über den Septemberaufstand 1866, der eine volle
Woche währte, wird man nicht so bald erfahren, da der Sieger nicht gern,
wie schwach er gewesen, wie nahe am Untergange seine Herrschaft, bekennt,
der Besiegte den eigentlichen Kern der Rebellion zu enthüllen sich weislich
hütet. Unter der rothen Fahne wurde gekämpft, im Namen der Republik ge¬
stohlen, doch liefen die ursprünglichen Fäden des Aufstandes in clerical-
bourbonischen Händen zusammen. Die Niederlage des italienischen Heeres und
noch mehr jene der preußischen Truppen erschien als gewiß; nichts einfacher,
als daß die siegreichen Oestreicher sodann zur Wiederherstellung des vourbo-
nischen Thrones mitwirkten. Das Gerücht von der nahenden östreichischen
Flotte war im Herbst 1866 unter dem Landvolke weit verbreitet. Die
Schlacht bei Königgrätz vereitelte bekanntlich alle Reactionspläne und zwang
auch in Sicilien die Leiter und Führer der Bewegung zum Rückzug. Das
Netz war zerrissen, doch konnte, nachdem einmal die Vorbereitungen getroffen,
die Aufregung bis zu einem gewissen Grade gesteigert war, der Aufstand
selbst nicht mehr abgesagt werden. Er brach los trotz der Abwesenheit der
höchsten Führer, genährt von der selbständigen Leidenschaft des Pöbels. Die
Aufhebung der Klöster hatte in Sicilien mehr als in dem übrigen Italien
die große Masse des Volkes gegen sich. Nicht als ob die Sicilianer aber¬
gläubiger und priesterfreundlicher wären, als die Italiener des Continents.
Es., galt hier eben nicht blos eine Sache des Cultus, sondern auch eine öco-
nomische Angelegenheit. Von der Aufhebung der Klöster und der Einziehung
der'Kirchengüter wurde nicht allein das Herz, sondern auch der Magen der
Sicilianer berührt. Die nachgeborenen Söhne und unverheiratheten Töchter
des Adels fanden in den reichen Benedictinerklöstern eine stattliche Unter¬
kunft; Theatiner. Dominikaner u. s. w. boten den Mittelclassen ein gleiches
Asyl, und wer in den unteren Volkskreisen viele Geschwister zählte oder durch
einen regeren Geist sich auszeichnete, erhob den Blick zu den Brüdern des
heiligen Franciscus und hoffte auf Aufnahme in ihren Häusern. Die Mönche
und Nonnen blieben auf Sieilien in enger Verbindung mit ihren Familien,
bewahrten in Vorstellungen und Sitten das heimische Wesen. Die Unab¬
hängigkeit Siciliens fand unter ihnen mehr und eifrigere Anhänger als die
Macht des Papstes. Eben deshalb erschien die Klosteraufhebung hier nicht
in dem liberalen Lichte wie etwa in Mittelitalien. Es schwand nicht allein
die Aussicht auf eine bequeme Versorgung nachgeborener Kinder, Viele, die
man schon versorgt und gut aufgehoben glaubte, kamen aus den Klöstern
wieder heraus und verlangten am Familientische wieder mitzusitzen. Bei der
geringen Zahl von Erwerbsquellen und der noch geringeren Arbeitslust wirkte
die Klosteraufhebung wie in industriellen Ländern eine Handelskrisis. Die
24 Nonnenklöster in Palermo nährten nach einer zuverlässigen Angabe bei¬
nahe 1000 Familien (919 rechnete der Präfect in seiner Rede in der Pro-
vinzialversammlung am 3. September 1866) und brachten jährlich 327,000
Livre in Umlauf. Man begreift, daß diese plötzlich der Nahrung beraubten
Leute der Regierung nicht hold wurden und ein Revolutionscomite', wenn
ein solches in Rom bestand, in den verjagten Mönchen einen Generalstab der
Revolution fertig vorfand. Bekanntlich haben die Behörden den Mönchen
von Monreale einen großen Antheil an dem Septemberaufstand zugeschrieben.
Es fehlte jedenfalls nicht an Leitern der Bewegung von höherem und nie¬
derem Grade, es mangelte aber auch nicht an gemeinen Soldaten der Re¬
volution. Sie recrutirten sich aus echten und falschen Garibaldianern, aus
Deserteuren, aus einer großen Zahl von Landleuten, welche sich aus Plün¬
derungslust den Kämpfen anschlössen und endlich aus den Furchtsamen, welche
nicht den Muth besaßen, den revolutionären Schreiern zu widerstreben, in
Folge der zahlreichen früheren Aufstände, der mannigfachen politischen Wechsel
das sittliche Urtheil verloren hatten.
Ueber die moralischen Zustände, auf Sicilien unterrichtet am besten der
Proceß, welcher im Frühlinge 1868 der Bande des Angelo Pugliese, auch
Don Peppino oder it Lombards genannt, gemacht wurde. Die Verhand¬
lungen wurden stenographirt und dann im Drucke veröffentlicht. Der Pugliese,
übrigens kein eingeborener Sicilianer, war als junger Bursche bereits 1857
wegen Theilnahme an einem Raubmorde zu vieljährigem Kerker verurtheilt
worden. Im Kerker hatte er Settembrini, Spaventa und andere Liberale, die
wegen politischer Vergehen saßen, zu Genossen. Sie erbarmten sich des jungen
Räubers, lehrten ihn lesen und schreiben und brachten ihm die Umgangs«
formen gebildeter Classen bei. Pugliese wurde nach einiger Zeit in den Kerker
von Palermo versetzt. Aus diesem entfloh er im December 1866, gab sich
für. einen alten Garibaldicmer aus, leistete in der Umgebung von Palermo
Dienste als Schulmeister und übernahm später die Aufsicht über ein Land¬
gut. Aus diesem Dienste verjagt, weil er an dem Weibe eines Arbeiters
Nothzucht begangen, schloß er sich an diese Deserteure und Vagabunden, welche
den Gerichten entflohen waren, an, gewann über die allmälig vergrößerte
Bande die Herrschaft und wurde zwei Jahre lang (1863 bis 1865) der
Schrecken des Bezirks von Lercara. Zahllose Dtebstähle und Raubanfälle
vollführte die Bande, begüterte Männer wurden in das Gebirge geschleppt
und nur gegen hohes Lösegeld freigegeben. Auch Mord und Todtschlag blie¬
ben Pugliese nicht fern, der Flecken S. Giovanni de Cammerata wurde von
der dreißig Mann starken Bande förmlich nach Regeln der Kriegskunst be¬
lagert und eingenommen, dann, nachdem alle Einwohner sich versteckt und
verkrochen, die wohlhabendsten Familien des Orts ausgeraubt und kannabalisch
abgeschlachtet. Bei diesem Zuge begleitete ein Priester und ein reicher Guts-
. besitzer Namens Valenza den Räuberhauptmann, der in dem Bezirke, wo er
raubte und stahl. Freunde und Verehrer besaß, beinahe zu den Notablen
zählte. Der Staatsanwalt machte in seiner Rede von Don Peppino folgende
Schilderung: „Don Peppino war am Tische der Barone willkommen und
auf der Jagd ein gern gesehener Genosse von Cavalieren. Er dutzte diese
und sie fanden sich geehrt, daß Peppino ihre Vergnügungen, ihre Liebeleien
theile. Den Stgnor Marchese nannten sie ihn, mit dem Schmeichelnamen
caxitano Äslla mollta-su«,, eavaliere asi eavalieri belegten sie ihn. Er erhielt
Händedrücke und genoß Gunstbezeugungen, um welche viele ehrenwerthe
Männer vergeblich sich bemühen." Nicht falscher romantischer Geschmack,
nur persönliche Furcht war es, welche Valenza und andere Galantuomint
zu Freunden des Räubers machte. Wenn sie Peppino ihre Verachtung zeig,
ten, wie leicht konnte dieser sich nicht an ihren Feldern und Heerden rächen,
standen sie dagegen mit ihm auf gutem Fuße, so waren sie gegen Diebstahl
und Mißhandlung gesichert. Zog doch aus diesem Grunde der Marchese
Gabrieli, selbst nachdem die Bande aufgehoben. Peppino vor Gericht gestellt
war, es vor, die ihm widerfahrene Behandlung, Sequestrirung seiner Person,
Bezahlung eines Lösegeldes abzuleugnen, obgleich die That von den Räubern
eingestanden war! — Könnte man aus dem Charakter der Süditaliener die
Furcht, die allmächtige paura treiben, die Wiedergeburt des Volkes würde
mit überraschender Schnelligkeit erfolgen. Sie verhindert jede ehrliche politi¬
sche Ueberzeugung, sie hält den Fortschritt zurück und verpestet das ganze
öffentliche Leben.
Die Banden, welche im September 1866 Palermo überzogen, waren,
obgleich die Kopflosigkeit der Bewegung schon am zweiten Tage sich ent-
hüllte, dennoch im Stande, die Hauptstadt eine Woche lang zu terrorisiren,
die Nationalgarde, die viele Tausend Mann zählte, in Bann zu halten, so
daß sich kein Bürger aus dem Hause wagte, und aus den vornehmsten Krei¬
sen eine provisorische Regierung zusammenzusetzen, von welcher jedes einzelne
Mitglied die Revolution verurtheilte, jedes Mitglied, vom Principe die
Lingnaglossa angefangen bis zum Monsignor Bellavia, die Uebernahme des
Amtes mit der bloßen Furcht entschuldigte. „In gusl momsuto terridile
odbeäl allg, pistola ca al pugnalö". Mit diesem Bekenntnisse wäre bei uns
die Wirksamkeit einer politischen Persönlichkeit vernichtet, in Sicilien findet
man die Folgsamkeit, wenn die Pistole oder der Dolch winkt, ganz in der
Ordnung.
Gegenwärtig (1869) ist Sicilien für die Politiker wie für den Polizei¬
mann die langweiligste Provinz. Diese Ruhe verdankt man zuerst
der Energie des Generals Medici, dann der natürlichen Erschlaffung der
Geister nach einer sechsjährigen, selten unterbrochenen Aufregung. Die Bour-
bonisten, auf der Insel stets in der Minderzahl, haben vollends alle Wurzeln
verloren; die Partei der Independenten, welche noch 18S9 an einen selbstän¬
digen König von Sicilien, allerdings aus dem Savoyischen Hause dachte, ist
in die zahme Gruppe der Regionisten verwandelt worden, die sich schon mit
einem geringeren Maße von administrativer Centralisation zufrieden geben.
Ein Theil der Mönche hat sich bereits in sein Schicksal gefunden, nennt die
Aufhebung der Klöster seine Befreiung. Freilich wird es noch lange währen,
ehe die 24,000 Cleriker, welche Sicilien zählt, vollkommen für die neue Ord-
nung gewonnen sind, doch erwartet Niemand mehr die Rückkehr der alten
Zustände oder glaubt an die Wiederherstellung der geistlichen Macht. Und
was am meisten bezweifelt wurde: das Landvolk gewöhnt sich an das Sol-
datenthum.
Noch vor wenigen Jahren folgte jeder Recrutirung eine allgemeine Flucht
der jungen Leute in die Berge. Die meisten Briganten griffen zur Flinte,
weil sie es nicht über das Herz bringen konnten, die Muskete zu tragen.
In letztem Jahre war das Procent der Rccrutirungspflichtigen ganz unbe¬
deutend. Zum ersten Male kamen nämlich in diesem Jahre die ausgedienter
sicilianischen Soldaten zurück. Sie hatten die Welt und die Reinlichkeit
kennen gelernt, im Kriege Heldenthaten verübt und doch sich die heile Haut
gewahrt. Wenn auch noch nicht die Mütter, so überzeugten sich doch die
jungen Männer, daß nicht jeder Soldat nothwendig sterben müsse. Besser
wäre es freilich, nicht die Caserne, sondern die Schule führte den Italienern
den reichsten Stoff moderner Cultur zu. So lange aber nicht der Schul¬
zwang gesetzlich bestimmt ist, wird die große Zahl neueröffneter Schulen nicht
die erwarteten Früchte tragen. Bet der natürlichen Gewandtheit und An¬
stelligkeit der Sicilianer merkt man es übrigens kaum, daß von 100 Indivi¬
duen blos zehn lesen und schreiben können, dagegen wird die Dürftigkeit des
mittleren Unterrichts, der Mangel gut eingerichteter Bürgerschulen bei dem
Verkehr mit den Mittelclassen sofort klar.
Jedenfalls bleibt ein Trost: Palermo hat seit 1861 fünfzehn verschiedene
Statthalter, Commissäre, Präfecten gehabt, also fünfzehn verschiedene politische
Curmethoden an sich erfahren und ist nicht zu Grunde gegangen. Ein Land,
dessen Hauptstadt so viel vertragen kann, besitzt einen guten Kern. Es ist
ein gutes Zeichen, daß die fremden Kaufleute klagen, zur Zeit der alten Re¬
gierung hätten sie leichter große Reichthümer erwerben können, weil die Ein¬
heimischen von jeder Mitbewerbung zurückstanden, während sich jetzt die Thä¬
tigkeit der sicilianischen Firmen stark fühlbar mache und den Fremden eine
wirksame Concurrenz bereite. Bedenklich hinwieder ist, daß die Einfuhr so
sehr gegen die Ausfuhr zurückbleibt und z. B. die Fracht aus Nordamerika
sich auf Bauholz einschränkt. Die geringe Bedeutung der heimischen In¬
dustrie nimmt nicht Wunder, dagegen wirft es einen trüben Schatten auf die
öconomischen Zustände, daß auch die Agrieulturbevölkerung weit unter dem
Durchschnitt des übrigen Italiens bleibt (in Italien kommen 35 Ackerbauer
auf 100 Individuen. aus Sicilien blos 23) und die Insel überhaupt nur 30,000
Grundeigenthümer zählt. Theilung der großen Grundcomplexe, Steigerung
des Credites und Hebung der Communicationsmittel sind die Lebensbeding¬
ungen für die materielle Wohlfahrt der Insel. Darin, kann Sicilien noch
die Vergangenheit übertreffen, schwerlich werden sich aber die Zeiten künstle¬
rischer Blüthe wiederholen, welche vor Jahrhunderten das Land zu einem
Hauptträger geistiger Bildung in Europa machte.
Die Entstehung der sächsischen Bezirksarmenarbettshäuser bietet zahlreiche
Parallelen mit derjenigen der englischen Werkhäuser dar, namentlich auch
darin, daß selbst gründliche Beobachter mitunter geneigt sind, dem äugen-
fälligen äußeren Mittel zuzuschreiben, was in Wahrheit die Wirkung zweck¬
mäßig organistrter Centralisation ist. Hat doch sogar Bitzer seine bekannte
Schrift auf dem Titel nicht den sächsischen Armen-Verbänden im Gegen¬
satz zu sich selbst überlassenen hilflosen Einzelgemeinden, sondern den Arbeits¬
häusern gewidmet, um welche diese Krystallisation äußerlich allerdings vor
sich ging. Etwas ganz ähnliches'findet in England statt: Übertragung von
Wohlthaten, die man den Unions, den Commissioners of the Poor Law
und schließlich dem Poor Law Board verdankt, auf das vermeintlich souve¬
räne Mittel des Workhouse. Eine kurze geschichtliche Betrachtung des eng¬
lischen Werkhauses möchte daher bei der Krisis, in welcher die deutsche Ar¬
menpflege vermöge der nicht aufzuhaltenden gesetzgeberischen Initiative des
norddeutschen Bundes getreten ist, nachgerade an der Zeit sein.
Das Werkhaus ist einer der wesentlichen Bestandtheile der Armenrechts-
Reform von 1834 geworden, aber sein Keim liegt schon in einem Gesetz von
1722. Dieses ermächtigte die Armenaufseher mit Genehmigung der Kirch-
spielsversammluug Häuser zu kaufen oder zu miethen, um die Armen darin
unterzubringen und arbeiten zu lassen. Es sollten sich auch mehrere Kirch¬
spiele zu diesem Zwecke vereinigen dürfen. Weigerten unterstützte Arme den
Eintritt, so sollte ihr Name aus dem Register der Almosen-Empfänger ge¬
strichen und ihr Recht auf öffentliche Unterstützung hinfällig werden. In
Folge dieses Gesetzes wurden mehr als hundert Werkhäuser in verschiedenen
Theilen des Landes errichtet. Aber obgleich ihre erste Wirkung — so sagt Sir
George Nicholls, der Haupturheber des in unserem Jahrhundert zur An¬
wendung gekommenen Werkhaus-Zwangs als Probe der Hilssbedürftigkeit,
in seiner werthvollen „Geschichte des englischen Armenrechts" — eine be¬
trächtliche Verringerung der Ausgaben war, hielt dieser Erfolg doch nicht
lange Stand, indem die Last bald wieder anschwoll, und zwar dergestalt,
daß sie den ursprünglichen Betrag noch überstieg. Sir George Nicholls
findet den Grund dieser schlimmen bleibenden Wirkung darin, daß die Werk-
Häuser mit der Absicht errichtet und geleitet wurden, aus der Arbeit ihrer
Insassen Profit zu ziehen, anstatt wie gegenwärtig nur die Gebührlichkeit ihres
Unterstützungsgesuchs erhärten zu sollen. „Das Werkhaus war damals in
der That eine Art Fabrik, betrieben auf Kosten und Gefahr der Armencasse,
welche die schlechtesten Leute beschäftigte zur Entmuthigung und Herunter¬
drückung der besten. Die letzte Tendenz solcher Anstalten konnte keine andere
ein als die öffentliche Last zu steigern, die gesammte arbeitende Bevölkerung
von der Armensteuer abhängig zu machen und dieselbe sowohl in den Indi¬
viduen wie als Ganzes auf die niedrigste Stufe herunterzubringen."
Im achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, Humanität
und Philanthropie, wo die Predigt der Philosophen ihre Früchte trug in
practischen Bestrebungen zur Reinigung des Strafrechts von der Folter und
allerhand barbarischen Executionen, zur abgesonderten Auferziehung und zweck¬
mäßigen Behandlung taubstummer, blinder oder idiotischer Kinder, zur Auf¬
hebung der Hörigkeit. Leibeigenschaft und Sclaverei u. f. w. — um diese
Zeit erscheint es natürlich genug, daß sich auch eine philanthropische Reaction
erhob gegen die kaltherzige Roheit, mit welcher manche englische Armenauf¬
seher, zumal aus dem Lande, ihre Pfleglinge tractiren mochten, in denen
sie nur überlästige Schmarotzer an dem Beutel der Steuerzahler sahen.
Dr. Buru donnerte daher in seiner „Geschichte des Armenrechts" hauptsäch¬
lich gegen die hier vorgefundene Hartherzigkeit, und das Unterhausmitglied
Gilbert, einer der eifrigsten Beförderer besserer thatsächlicher Armenzustände,
versuchte ihr durch Gesetze beizukommen. Eine- gewöhnlich nach ihm benannte
Parlaments-Acte von 1782, ergänzt durch eine andere von 1790, stellte die
vorhandenen Werkhäuser unter die Controle der Friedensrichter und der von
ihnen dazu beauftragten officiellen Visitatoren wie Aerzte, Geistliche u. s. f.,
entzog auch ihre Verwaltung den gewöhnlichen Armenaussehern des Kirch¬
spiels und übergab sie besonderen Vorstehern. Das Gilbert'sche Gesetz machte
zugleich einen Anfang mit vergrößerten Armenverbänden, deren Existenz
dann aber in den dreißiger und vierziger Jahren zu einem schweren Hinder¬
niß sür die Durchführung der 1834 installirten neuen Organisation wurde.
Bei dieser späteren Reform ging die Woge der öffentlichen Stimmung wieder
gegen die höhere Instanz der Friedensrichter mit ihrer unmittelbaren Ein¬
mischung in die örtliche Armenpflege (grade wie in Sachsen neuerdings gegen
Einmischung der Gerichtsämter), statt daß sie 1780—1790 gegen die Kirch-
spiels-Armenaufseher gegangen war, und gegen verschwenderische Weichmüthig-
keit, statt wie früher gegen hartherzige Kargheit.
Den herrschenden Zustand der Armenhäuser gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts schildert Sir George Nicholls folgendermaßen: „Daß die Ein¬
richtung und Handhabung der Kirchspiels-Armenhäuser, fälschlich Werkhäuser
genannt, mangelhaft war, Inspection und Controle heischte, kann kaum
Staunen erwecken, wenn man sieht, daß sie in einer verhältnißmäßig nahen
Vergangenheit thatsächlich wenig besseres waren als Aufnahmestätten für
Müßiggänger, Liederliche und Verworfene, mit Andern, welche körperlich
hilflos oder geistesschwach, und einigen Wenigen, welche ohne eigene Ver¬
schuldung in Bedürftigkeit gerathen waren, Alle ungesondert durcheinander¬
lebend — Junge und Alte, Männer und Frauen, ohne Ordnung, Zucht und
Gliederung. Fügt man hinzu, daß diese Gebäude selten sür ihren Zweck
errichtet waren, sondern dazu nur gelegentlich gekauft oder gemiethet, oft
von ungenügender Größe, immer von unpassender innerer Anordnung, und
daß ihre Verwaltung großer Nachlässigkett, Parteilichkeit und Betrügerei
unterlag, so wäre es fast ein Wunder gewesen, hätten sie nicht Sitze und
Quellen socialer, moralischer und physischer Ansteckung abgegeben, eine Art
von Pesthäusern, in denen Krankheiten aller Art nicht sowohl geheilt, als
vielmehr gepflegt und erhalten wurden, um sich über die umgebenden Land¬
striche immer aufs neue zu verbreiten."
Der Anblick solcher Armenhäuser hat Nicholls, wie er sagt, nicht abge¬
schreckt, sondern eher ermuthigt und entzündet, gerade in einer hier ihren
Hebel ansetzenden Reform die bessere Zukunft der britischen Armenpflege zu
suchen. Er sagt es nicht, aber er hatte wohl ähnliche Gedanken wie die mo¬
dernen Verbesserer der Hospitäler, denen ja auch gerade die Schwere der
vorgefundenen Uebelstände und Gefahren den Werth vernünftig construirter
Gebäude zur Aufnahme von Patienten enthüllt hat, und deren neue Kranken¬
häuser nun der Wiederherstellung der Gesundheit ebenso wirksam dienen wie
die alten der Erhaltung und Verschlimmerung der Krankheit. Man könnte
zur Vergleichung auch die unterirdischen Canäle der Städte heranziehen, von
deren richtiger Construction die Vergiftung oder Reinhaltung des Bodens
unter einer Stadt abhängt; sodaß ein großer Theil der in Deutschland
noch bestehenden Opposition wider die unterirdische Fortschwemmung städti¬
schen Unraths lediglich dem Mißverständniß beigemessen wird, welches schlechte
alte deutsche Canäle mit den neueren, in England zuerst eingebürgerten, dann
z. B. nach Hamburg und Frankfurt am Main verpflanzten Schwemmeanälen
verwechselt.
Die englische Werkhaus-Gesetzgebung erfuhr 1814 noch die zeitgemäße
Milderung, daß die körperliche Züchtigung Erwachsener, so wie mehr als
vierundzwanzigstündige Haft in ihnen abgeschafft wurde, und blieb dann un-
geändert bestehen bis zu der großen Reform von 1834. Diese aber wurde
ihrerseits in Bezug aus das Werkhaus vorbereitet durch ein unmittelbares
practisches Experiment, das seit Anfang der zwanziger Jahre durch Mr. Ni¬
cholls, den späteren Sir George Nicholls und englisch-irischen Armencommissär,
in dem kleinen Orte Southwell bei Nottingham, und ziemlich ebenso in dem
benachbarten Bingham durch den Geistlichen Löwe angestellt worden war.
Die Umwandlung des gemeinen alten Armenhauses zu Southwell in ein
mustergilttges modernes Werkhaus, wie sie uns der Urheber selbst in seinem
Buche erzählt, ist demnach ein classisches Ereigniß in der Geschichte des
Armenwesens, dem sich auf deutschem Boden nichts vergleichen kann außer
der Reorganisation der städtischen Armenpflege von Elberfeld, welche im Be-
ginn der fünfziger Jahre vorgenommen wurde. Wir geben im Folgenden
Sir George Nicholls Erzählung abgekürzt wieder. Das alte sogenannte
Werkhaus bestand in Southwell seit 1808 und kostete viel Geld ohne wesent-
lich zu nützen, wenn es nicht umgekehrt vielmehr ein positives Uebel war. Ein
besoldeter Aufseher war zur Unterstützung der übrigen Armenaufseher da, aber
in Wirklichkeit hing die Armenpflege von dem wöchentlich zusammenkommen¬
den Ortsgericht (dsnok ok Magistrates) ab. Ein Unterstützungsgesuch war
bei diesem der Genehmigung allemal so gut wie sicher. So gingen die
Sachen fort, bis der Kreis des Pauperismus so ziemlich die gesammte Ar-
beiterclasse des Kirchspiels in sich schloß. Selbstvertrauen und Voraussicht
waren in diesem Stande vermöge der Einmischung der öffentlichen Armen¬
pflege erstickt. Hatte ein junger Bursche ein noch jüngeres und ebenso un¬
wissendes Mädchen geehelicht, so war das Erste, daß sie sich an die Armen-
ausseher wegen einer Wohnung wandten, so wie um einen Zuschuß zu Bett
und Möbeln. Wenn dann ein Kind erschien, so hatte der Armenaufseher
wieder die Hebamme zu stellen und einen Beitrag zu den Kosten des Wochen¬
betts. Starb das Kind, so fiel zuverlässig das Begräbniß, blieb es am
Leben, Auferziehung und Unterricht dem Kirchspiel zur Last. So ging es
das ganze Leben hindurch: in jungen und alten, gesunden und kranken,
theuren und wohlfeilen Tagen war immer die öffentliche Armencasse ihre
letzte Zuflucht, auf welche der Arme ein Recht zu haben glaubte, so oft eins
seiner Bedürfnisse nicht aus eigenen Mitteln zu befriedigen war, mochte dies
auch lediglich in Folge von Faulheit, Laster oder Leichtsinn der Fall sein.
Das die Erbschaft, welche Nicholls übernahm, als er im Jahre 1821
zugleich mit drei wackeren Kleinbürgern von Southwell das Armenaufseher¬
amt antrat. Es gelang ihnen, eine Jahresausgabe von 2006 Pfd. Sterling
nacheinander in den nächstfolgenden Jahren auf 1426, 889 und 318 Pf. Se.
zu reduciren, also auf nicht mehr als ein Drittel, bei welchem Betrage es
dann mehr oder minder blieb. Der Grad der Reduction ist, beiläufig be¬
merkt, genau derselbe, welchen man in Elberfeld zwischen 1815 und 1866
durch Steigerung der persönlichen Fürsorge und überhaupt durch radical
reformirte Organisation bei den zerstreut lebenden Armen erreicht hat. In
Southwell wurde das Resultat, wie Sir George Nicholls wörtlich sagt,
dadurch gewonnen, daß „man Sorge trug, den Armen Alles zu gewähren,
was das Gesetz vorschrieb, d. h. was wirklich nothwendig war" (eine für
den Engländer charakteristische Reihenfolge der Begriffe!) „aber auch nichts
mehr, und nichts, was sie verleiten konnte, sich auf das Kirchspiel zu ver¬
lassen, anstatt auf ihre eigenen Anstrengungen." Aber während die Armen¬
aufseher in dieser Richtung arbeiteten, mußten sie bald wahrnehmen, daß die
Richter eine entgegengesetzte Tendenz verfolgten, und daß sie, da diese in
jedem einzelnen Falle Unterstützung vorschreiben konnten, an Händen und
Füßen gebunden waren. „Dies war es", gesteht der begeisterte Anwalt der
Werkhäuser ein, „was sie zuerst an das Werkhaus denken ließ als ein Mittel,
sich selbst größere Freiheit der Bewegung zu sichern, da das Anerbieten der
Aufnahme ins Werkhaus der Gesetzesvorschrift Genüge that und in den
meisten Fällen weiterer richterlicher Einmischung vorbeugte." Wie das Werk¬
haus in Southwell damals jedoch beschaffen war, konnte es keinem guten
Zwecke dienen. Es wurde daher mit Mauern umgeben, um den Ein- und
Ausgang controlirbar zu machen, geeigneten Verwaltern überwiesen, unter
eine strenge Hausordnung gestellt, welche die Geschlechter schied und auch sonst
die Insassen soviel wie möglich classificirte. Obgleich die Kost besser war als
durchschnittlich in einer Tagelöhnerfamilie, schreckten die auferlegten Beschrän¬
kungen der persönlichen Freiheit doch von dem Eintritt ohne Noth zurück;
„und so wurde das Anerbieten der Aufnahme ins Werkhaus für die Armen-
aufseher ein Prüfstein der wirklichen Hilssbedürftigkeit und ein Schutz für
das Kirchspiel." Im Jahre 1820/21 hatten noch 292^ Pfd. Se. ausgegeben
werden müssen, um arbeitsfähigen Armen Beschäftigung zu verschaffen; die
Summe fiel 1821/22 auf 91 Pfd. Se., 1822/23 aus 2^ Pfd. Se., und im
folgenden Jahre auf Null. Statt dessen wurde die Aufnahme ins Werkhaus
angeboten, aber höchstens in drei bis vier Fällen angenommen, und auch in
diesen nur auf kurze Zeit. Die Tagelöhner verließen darum das Kirchspiel
nicht, sondern gaben sich mehr Mühe, auf ihre eigene Hand Beschäftigung
zu finden, und die Landwirthe kamen ihnen darin insofern entgegen, als sie
darauf Bedacht nahmen, ihnen auch in flaueren Zeiten beständig Arbeit zu
geben. Allein nicht blos die Praxis des Beschäftigungverschaffens wurde auf diese
Weise abgestellt, sondern auch die noch schlimmere Praxis, Lohnzulagen aus der
Armencasse zu gewähren, oder auf andere Art aus dieser die Unzulänglichkeit
der Lohnsätze auszugleichen. Aehnlich, wenn auch nicht ganz so durchgreifend
reducirte man die Bezahlung der Miethen aus Armensteuermitteln. Der
ganze bewegliche Theil der Armenlast, d. h. der den noch ganz oder theil¬
weise arbeitsfähigen Personen zufallende, verringerte sich höchst bedeutend.
Auf der anderen Seite zog man zu der Tragung der öffentlichen Armenlast
Alles heran, nicht blos wie bisher die Wohlhabenderen. Es verschwand so,
wie unser Gewährsmann meint, die Vorstellung, daß die Armensteuer eine
Ausgleichung den Verschiedenheiten in der Vertheilung der Lebensgüter sei,
von der jeder Arme möglichst viel sich anzueignen suchen müsse, und es ent¬
wickelte sich unter den Aermeren ein edler Stolz, die Last mittragen zu helfen.
Sollte aber nicht andererseits gerade der erzwungene Beitrag zur Armenlast
in Solchen, die der Gefahr zu verarmen selber täglich ausgesetzt sind, leicht
das Gefühl eines rechtmäßigen eventuellen Anspruchs auf einen Theil der so
zusammengebrachten Almosen hervorrufen?
„Das Beispiel von Southwell und Bingham", bemerkt Sir George
Nicholls am Schlüsse seiner Darstellung mit gerechtem Selbstbewußtsein,
„war für den Parlamentsausschuß zur Untersuchung des reformbedürftigen
englischen Armenrechts (1833 — 1834) von unendlichem Werthe, da es ein
einfaches Princip an die Hand gab, das sich anderswo ebenso wirksam zu
erweisen verhieß, wie in diesen beiden Kirchspielen. Es besteht darin, die
Kirchspiels-Almosen so zu regeln, daß sie nur genommen werden im Falle
wirklicher Noth, während wirkliche Noth zugleich immer gewiß ist, die ent¬
sprechende Abhilfe zu finden. Ein wohleingerichtetes Werkhaus entspricht
diesen Bedingungen. Kein Mensch von wirklicher Bedürftigkeit wird die
darin angebotene Hilfe verschmähen, während ein Mensch, der sich noch selbst
oder anderweitig zu helfen vermag, sich den Beschränkungen nicht unter¬
werfen wird, von welchen der Aufenthalt im Werkhaus abhängt. Werkhaus-
Unterstützung ist abschreckender als Arbeit für Leute, die noch arbeiten können,
während sie eine Zuflucht für solche ist, die gleichzeitig unvermögend und
arbeitsunfähig sind."
Die Reform von 1834 adoptirte also das Werkhaus nach dem Vor¬
bilde von Southwell und Bingham. Aufnahme ins Werkhaus sollte für
alle arbeitsfähigen Armen die Probe ihrer wirklichen Hilfsbedürftigkeit sein,
und nach der ursprünglichen Intention jede Unterstützung Arbeitsfähiger
außerhalb des Werkhauses schon mit dem 1. Juli aufhören. Aber so heiß
wurde die Suppe denn doch nicht gegessen, ja schon nicht einmal auf den
Tisch gebracht: das Gesetz überließ die frühere oder spätere, mehr oder we¬
niger allgemeine Durchführung der Werkhaus-Probe den in ihm eingesetzten
Reichs-Armen-Commissären, und diese mußten am Ende des zweiten Jahres
ihrer Wirksamkeit constatiren, daß sie erst in 64 Armenverbänden durchgesetzt
sei und auch da nur für Männer.
Hatte es doch zunächst schon seine Schwierigkeiten, Werkhäuser der re«
formirter Art nur überall erst herzustellen! Kaufen oder miethen ging nicht
allenthalben an, wo noch kein taugliches Gebäude vorhanden war, und
bauen kostete Zeit. Das eigentliche moderne Werkhaus sollte sich von dem
alten Armenhaus hauptsächlich unterscheiden durch strenge Abgeschlossenheit
gegen die Außenwelt, Trennung der Geschlechter, Sonderung der verschiede¬
nen Classen von Armen wie Greise, Kinder, Stumpfsinnige, Taubstumme,
Irre, Arbeitsfähige u. f. f. Wer eintrat, unterwarf sich einer gelinden Ge¬
fangenschaft, die sich von wirklicher Straf- oder Untersuchungshaft vorzugs¬
weise nur dadurch unterschied, daß man sie jeden Augenblick ungehindert ver¬
lassen konnte. Sonst war das beliebige Ein- und Ausgehen, die Annahme
von Besuchern, Abweichungen von einer ins Einzelnste gehenden Hausord¬
nung ebenso gut verboten wie in irgend einem Gefängniß; ja in der freien
Verfügung über seine Zeit war der Werkhäusler noch mehr beschränkt als
der einfache Strafgefangene, der nicht zu Zwangsarbeit als Strafschärfung
mitverurtheilt ist.
Dies war es denn auch, was eine ziemlich heftige und ausgebreitete
populäre Opposition gegen den Werkhauszwang erweckte. Man nannte die
Aufnahme ins Werkhaus Einkerkerung und die Werkhäuser Bastillen. Die
neuen Armencommissäre, welche ihre Einführung in die Armenpflege des
Reichs zu betreiben und zu überwachen hatten, kämpften Jahrzehnte lang mit
einer hartnäckigen öffentlichen Mißliebigkeit. In den rein^ländlichen Strichen
ging es noch eher. Aber schlimm war es. wenn in Fabrikdistricten irgend
eine Geschäftsstörung Hunderte von sich selbst erhaltenden, männlich fühlen¬
den Arbeitern aufs Pflaster warf. Sollte und konnte man auch Leute dieses
Schlags, die nicht die Spur von Abneigung gegen Arbeit und Selbstverant¬
wortlichkeit hatten, der Werkhausprobe unterwerfen — sie nöthigen; die
Gaben, welche sie nothgedrungen für sich und die Ihrigen vorübergehend
annehmen mußten, in der herabwürdigenden Form des Eintritts in ein
Zwangsarbeitshaus zu empfangen?
Sir George Nicholls weist zur Entkräftung dieses schweren Einwandes
gegen die Universalität seiner socialen Medicin auf Nottingham und Stoke-
upon-Trent hin, wo bald nach dem Erlaß des neuen Armengesetzes ein
außerordentlicher Nothstand erfolgreich bekämpft worden sei. Aber was diese
Vorgänge gerade unbewiesen lassen, ist, daß die Werkhaus-Probe in derarti¬
gen Fällen überhaupt noch ernstlich anwendbar sei. Die Räume des Werk¬
hauses werden dann nämlich allemal sofort unzureichend. Neue zu improvi-
siren steht in der Regel ganz außer Frage. Man greift folglich zu Aus¬
kunftsmitteln, wie Arbeiten im Freien oder in nicht gleicherweise abgeschlossenen
Räumlichkeiten, die man so einzurichten Sorge trägt, daß sie ähnlich wieder
Werkhauszwang etwas Abschreckendes behalten und in die Concurrenz der
reien Gerverbsthätigkeit nicht störend eingreifen. So wird gewissermaßen
ein zweiter Prüfstein der Bedürftigkeit zur Aushilfe für den ersten hinzu¬
gefügt. Allein was ergibt sich hieraus anderes, als daß es nicht auf die
Aeußerlichkeit des Werkhauses ankommt, sondern auf die Strenge und Zu¬
verlässigkeit der Prüfung in jedem einzelnen Falle von Unterstützungsanspruch?
Und ergibt sich nicht daraus gleichzeitig noch etwas mehr, nämlich daß der
Werkhauszwang gerade in denjenigen ordentlichen Verarmungsfällen, welche
die praktisch wichtigeren sind, nämlich in denen, die innerhalb dichtgedrängter
städtischer oder industrieller Bevölkerungen vorkommen, und außerdem in
außerordenilichen Nothzufländen, wie sie auch dem wohlhabendsten Lande
nicht erspart bleiben, im Stiche läßt?
Unter den Arbeiten, welche zur gelegentlichen Ergänzung der Werkhaus
probe in Anwendung gekommen sind, figurirt — wie wir hier episodisch ein-
schieben wollen — auch die Pulverung von Knochen zu Düngungszwecken,
die Hervorbringung des sogenannten Knochenmehls mit der Hand. Dies
hatte man schon seit 1821 in Southwell gethan und während der Nothjahre
1848—47 that man es zu Andover. Aber es fand sich, daß einer oder zwei
von den Insassen des dortigen Werkhauses in einer merkwürdigen Art von
Atavismus den Geschmack unserer wilden Voreltern für das Mark thierischer
Knochen besaßen. Sie verschlangen gierig das längst faule Mark in den
ihnen zur Zerkleinerung übergebenen Gebeinen und riefen damit einen rasch
sich fortpflanzenden Schein des Unwillens in ganz England hervor. So
sehr Sir George Nicholls persönlich sich auch sträubte, die Commissäre mußten
ein allgemeines Verbot erlassen, Knochenpulverung als Armenbeschäftigung
in Anwendung zu bringen.
Nur für ungewöhnliche Nothstände freilich will ja auch er solche Be¬
schäftigungen außer dem Werkhause zulassen. Sonst besteht er unbedingt auf
der Werkaus-Probe. Er meint (II. 372), Unterstützung Arbeitsfähiger in
ihrer eigenen Wohnung enthalte niemals den Sporn in sich, auf den Alles
ankomme: sich so lange als möglich (und sobald als möglich wieder)Mbst
zu erhalten. Aber er gibt andererseits (II., 330) selbst zu, daß der Arme im
Werkhause besser gespeist, gekleidet, beherbergt, in Krankheitsfällen gepflegt,
in der Arbeit minder angestrengt wird, als muthmaßlich und durchschnittlich
der Fall bei Selbsterhaltung sein würde. Hier ist also doch auch ein Reiz
vorhanden, der in die Abhängigkeit von fremder Hilfe hineinlockt. Ihm das
Gegengewicht zu halten, muß die Freiheitsbeschränkung im Werkhause un¬
gewöhnlich hart und abschreckend sein. Sie wird dadurch für eine Anzahl
Fälle unzweifelhaft zu hart. Für diejenigen Fälle aber, in denen noch Er¬
hebung aus dem Elend denkbar — kann solche Abschneidung aller Freiheit
und Selbständigkeit für sie wohl der richtige Weg sein zur Rückkehr in eine
Existenz unabhängiger wirthschaftlicher Selbsterhaltung? Das wäre schwer
zu glauben. Der englische Werkhauszwang ist eine Ausgeburt verzweifelnder
Nothwehr gegen die natürlichen, unvermeidlichen Wirkungen jahrhundert¬
langen rechtlichen Unterstützungszwangs, mit einer gewissen Ursprünglichkeit
immerhin entstanden in einer aristokratisch gegliederten Gesellschaft wie der
britischen, aber kein System erfolgreicher Armenerziehung, wie dasjenige sein
muß, was den Pauperismus beschränken und allmälig abstellen will. Es kann
daher keine Rede davon sein, ihn auf Deutschland zu übertragen. Höchstens
kann eine verständige, modificirte Nachbildung hier und da in einer länd¬
lichen Gegend den Uebergang zu durchgreifender helfenden Umgestaltungen
abgeben. Für unsere Städte und mit der Zeit für unsere ganze Armen¬
pflege haben wir das wahre Muster, was die Organisation und die Grund¬
sätze der Behandlung der Armen betrifft, in dem bekannten Elberfelder System,
das die bis jetzt gelungenste und bewährteste Form ist für die Aufbietung
eines hinlänglichen Maßes persönlicher Fürsorge an der Stelle
von Geld und mechanischer äußerer Almosenausstreuung.
Des Frühsommers brennende Sonne hat bis jetzt die Thätigkeit der
Politischen Parteien noch nicht ganz ertödten können. Die Märzenkrisis ent¬
hielt für jede derselben die Aufforderung, ihre Kräfte zu prüfen und wach
zu halten. Einerseits mußte die Volkspartei bemüht sein, den günstigen,
beruhigenden Eindruck, der von der Nachgiebigkeit des Ministeriums in der
Militärfrage zu erwarten war, nicht aufkommen zu lassen. So begannen
denn die Volksversammlungen aufs Neue ihr grausames Spiel, die Redner
redeten unverdrossen ihre Reden zum andernmale, und die Resolutionen,
welche dem fortdauernden Mißvergnügen des Volks Ausdruck gaben, er¬
schienen in neuer und vermehrter Auflage. Die Anforderungen wurden,
nachdem sie in milderer Fassung bewilligt waren, jetzt wieder gesteigert, man
verlangte „wahrhaft allgemeine aber kürzeste Präsenz" und drohte mit den
äußersten verfassungsmäßigen Mitteln, mit der Steuerverweigerung. Die
Häupter der Volkspartei schienen sondiren zu wollen, bis zu welchem Punkte
sie sich auf die Bevölkerung verlassen könnten, und der Hauptredner versäumte
nicht, in einer jener Volksversammlungen die Erinnerung an die dunkelsten
Vorgänge der würtembergischen Landesgeschichte wieder aufzufrischen. Er
erzählte, auf welche Weise das würtenbergische Volk in früheren Conflicts¬
zeiten sich geholfen habe, wie es einmal einen mißliebigen Minister geköpft,
einen anderen gehenkt, ja sogar einmal den Herzog habe einschlafen aber
nicht wieder aufwachen lassen. Es scheint indeß nicht, daß diese „Beispiele des
Guten" von großer Wirkung waren. Offenbar versagten die Reizmittel, welche
der etwas abgestandenen „Agitation" wieder aufhelfen sollten. Die Stimmung
auf jenen späteren Volksversammlungen entsprach durchaus nicht den großen
Worten, die hier gelassen ausgesprochen wurden, die Müdigkeit war un¬
verkennbar und den Beschluß machte dann jene gänzlich verunglückte
Volksversammlung in Stuttgart vom 21. Mai, welche bestimmt war, der
Landesagitation zu guter letzt das Siegel der Hauptstadt aufzudrücken,
welche als Antwort auf die Landesversammlung der deutschen Partei aus¬
drücklich eine imposante Gegenkundgebung werden sollte, und zu der das „kleine
und mittlere Bürgerthum" der Residenz in schmeichlerischen Worten geworben
wurde. Wie der Erfolg zeigte, gänzlich vergebens; denn der Saal der Bürger¬
gesellschaft war an jenem Abend so spöttisch leer, daß auch die geübtesten
Federn darauf verzichteten, das gründliche Fiasko zu bemänteln. Das
„kleine und mittlere Bürgerthum" glänzte durch seine Abwesenheit. Welcher
Erfolge die Reiseprediger vom „Beobachter" auch auf dem Lande sich rühmen
mochten, die Hauptstadt ignorirte sie und bestätigte damit eine Lehre, die
sie freilich schon zu wiederholten Malen sehr unmißverständlich, aber ohne
Nutzen ertheilt hatte. Auch die groß- deutsche Linke hatte es an jenem Tag
vorgezogen, der Einladung der Volkspartei nicht zu entsprechen. In der
gleichen Zeit schafften die bayrischen Patrioten sich ihre törridilissimi, ihre
Lucas und Bucher vom Halse, und man konnte in dem Stuttgarter Vor¬
gang eine parallele Bewegung erblicken, hervorgegangen aus der allmälig
den Klügeren aufsteigenden Ueberzeugung, daß die Manieren der Volkspartei
schließlich nur der Sache der verhaßten „Bettelpreußen" zu Gute kommen
konnten, eine Ueberzeugung, welcher jetzt namentlich das Organ der Ultramon¬
tanen Ausdruck verlieh.
Ohnedies befand sich die deutsche Partei seit der Modification des Mini¬
steriums in einer günstigeren Stellung. Zwar von einer Förderung ihrer
Sache durch die neuen oder die gebliebenen Minister konnte nicht die Rede
sein. Aber sie hatte von da an neben der Gegnerschaft der Ultramontanen
und der Volkspartei nicht auch noch die Gegnerschaft der Regierung zu be¬
kämpfen. Wenn bisher die antinationalen Tendenzen wesentlich deshalb eine
so stegreiche Wirksamkeit hatten entfalten können, weil ihnen die mehr oder minder
directe Unterstützung der Minister, Oberamtleute, Lehrer, Schulzen und Büttel
zur Seite gestanden war, so sahen sie sich von nun an dieser schlagfertigen und
wohl disciplinirten Hilfsarmee beraubt, sie waren aus ihre natürlichen Kräfte
angewiesen, ja sie mußten es erleben, daß sie von ihren bisherigen guten
Freunden nicht minder bekämpft wurden als von der deutschen Partei.
Diese empfing so — versteht sich immer nur bis zu einem gewissen Punkt —
an der Regierung einen thätigen Bundesgenossen. In der kleinen officiösen
Presse, welche bisher die Schandthaten der Nationalliberalen und Bettel¬
preußen mit Eifer und Entrüstung zu verzeichnen pflegte, begann jetzt
ein lebhaftes und wohlgeleitetes Kleinfeuer gegen die Volkspartei, das
für diese bald empfindlich wurde, zum deutlichen Beweis, daß es der Re¬
gierung niemals an Mitteln gefehlt hätte, in mäßigendem Sinn auf die
öffentliche Meinung einzuwirken. Dabei wurde zwar immer der eonservativere
Theil der Großdeutschen sorgfältig geschont, man trennte sie geflissentlich von
der Partei des Beobachters, und gegen die letztere allein wurden die officiösen
Pfeile versandt. Doch war schon dies ein Gewinn, daß die Polemik gegen
die deutsche Partei, die sonst den osftciösen Federn so geläufig war, gänzlich
eingestellt wurde. War es auch immer nur die ängstlich abgesteckte Linie
der Verträge, vor welcher die kampflustigen Journalisten der Regierung sich
aufpflanzten, so erhielt doch durch diesen Feldzug die deutsche Partei Luft;
man durfte hoffen, daß normale Zustände sich wieder bilden würden, welche
der nationalen Partei eine erfolgreichere Theilnahme am öffentlichen Leben
ermöglichten.
Die Wirkungen davon sind jetzt schon zu spüren. Im Grunde ist doch
der Preußenhaß nicht der normale Zustand des schwäbischen Bürgers und
Landmanns. Mag er auch von Natur leicht zu dieser Krankheit disponirt
sein, so hat sie doch nur durch künstliche Bearbeitung und Pflege zur ver¬
heerenden Epidemie sich ausbilden können. Es ließen sich Beispiele anführen,
wie auch inmitten so systematischer durch Stadt und Land organisirter Ver¬
hetzung zuweilen der bessere Kern der Bevölkerung in erfreulichen Aeußerungen
zu Tage kam. So mag z. B. erwähnt werden, daß während der letzten
Fastenzeit, also gerade in jenen Tagen, da die sogenannte Landesagitation
der Radicalen am lärmendsten war, in einem Dorf der schwäbischen Alb von
Bauern ein heiterer Schwank „Die Preußen kommen" zur Aufführung ge¬
langte, dessen ohne Zweifel mäßiger poetischer Werth in diesem Fall durch
die löbliche Tendenz reichlich aufgewogen wurde. Die Scene ist in Tauber¬
bischofsheim. Ein Schulmeister und sein Gevatter, ein Beamter, repräsenttren
die landesübliche Sorte der wüthenden Preußensresserei, hohle Renommage
mit lächerlicher Feigheit. Ein schmucker preußischer Landwehrmann, im
Costüm, erscheint als Cinquartirter, und mit ihm, dem Anfangs gefürchteten
und gehaßten, ziehen edlere Gefühle unter den Kleinstädtern ein, ja es kommt
zur Verlobung des norddeutschen Bräutigams mit der süddeutschen Braut,
als Sinnbild für die zu wünschende Vereinigung von Norden und Süden,
auf welche schließlich bei bengalischer Beleuchtung der glücklichen Gruppe ein
Hoch ausgebracht wird. Schwäbische Bauern waren die Acteurs und das
Stück wurde mit lebhaftem Beifall vor einem Publicum von gerührten schwä¬
bischen Bauern aufgeführt. Bei solchen theatralischen Vergnügungen — zu
denen es allerdings nicht an Gegenstücken fehlt — mag man doch billig
zweifeln, ob das schwäbische Gemüth gerade von Natur zum Preußenhaß an¬
gelegt ist. Und in einem so streng centralisirten Lande, wie Würtemberg
es ist, und bei einer Bevölkerung, die wesentlich so conservativ, der väter¬
lichen Leitung der Regierungsorgane so zugänglich ist, sollte es in der That
bei einigem guten Willen gelingen, mit der Zeit den Druck wieder ab-
zustreifen, der allzulange von Seiten des radicalen Wortheldenthums aus¬
geübt und von der Regierung begünstigt worden ist, und damit den Boden
zu säubern, aus welchem die deutsche Partei ihre Arbeit mit besseren Aus¬
sichten als bisher beginnen kann.
Ohne eines allzugroßen Optimismus verdächtig zu werden, darf man
sagen, daß die deutsche Partei in Würtemberg ihre schwerste Zeit hinter sich
hat. Langsam aber sicher ist sie inmitten einer voreingenommenen Bevölke¬
rung und gegen mächtige verbündete Gegnerschaften emporgekommen. Im
ganzen Lande hat sie Wurzeln geschlagen, die nicht wieder auszureißen sind.
Sie ist zum festen Kern für einen ansehnlichen Bruchtheil des Volks gewor¬
den, der unter allen Umständen deutsch bleiben oder vielmehr deutsch werden
will. Und inmitten jenes aufreibenden Kampfes hat sich zugleich ihr politi¬
sches Programm immer bestimmter und schärfer herausgearbeitet. An ihrem
Schlachtruf: Eintritt in den norddeutschen Bund, hat sie freilich vom ersten
Tag an festgehalten, und man hat sich in Würtemberg niemals mit müßi¬
gen Bedenken über die nothwendigen Bedingungen gequält, von welchen
dieser Beitritt für die süddeutschen Staaten begleitet sein müßte. Aber wich¬
tig ist es, daß sie auf der Landesversammlung am Ostermontag unbekümmert
um Popularitätsrücksichten in der heute brennendsten Frage, in der Militär-
frage, tapfer ihre Stellung genommen hat. Die Forderung, die sie aufzu¬
stellen hatte, schmeckte für eine Bevölkerung nicht angenehm, in der so eben
die Volkspartei den lockenden Appell an den Geldbeutel durch Stadt und
Dorf trug. Dennoch hat die deutsche Partei es nicht zu bedauern, daß sie
sich in diesem Punkt streng an die Wahrheit hielt. Nicht der geringste
Widerspruch wurde laut, als jene Versammlung nach Römer's beredter Mo-
tivirung es aussprach, daß die Ebenbürtigkeit der eigenen Leistungen mit denen
Norddeutschlands der oberste Gesichtspunkt sein müsse, und daß von Erspar¬
nissen nur innerhalb dieser Grenze die Rede sein könne. Darin lag unzweifel¬
haft ein Fortschritt. Frühere Kundgebungen auch der nationalen Partei
hatten in der Regel eine verschämte Clausel enthalten, daß die Lasten aller¬
dings übermäßig hoch seien, hoffentlich nur vorübergehend sein werden, eine
allgemeine Abrüstung höchst wünschenswert!) wäre, lauter Restrictionen und
wohlfeile Vertröstungen, die man mit Recht diesmal gänzlich bei Seite ließ.
Noch vor einem Jahr drohte ein gewisses Schwanken in der Militärfrage
auch unter den Nationalgesinnten der drei süddeutschen Länder einzureihen.
Man sagte damals ungefähr Folgendes: „Allerdings haben wir für das Zu¬
standekommen der neuen Kriegsverfassung gewirkt und dem Lande die grö¬
ßeren Lasten aufbürden helfen; aber wir thaten dies in der Voraussetzung,
daß unter dem Schutz eines starken gesammtdeutschen Heeres die deutsche Eini¬
gung in Bälde sich vollenden werde. Anders jedoch, wenn die Einigung
gleichwohl in eine unabsehbare Zukunft gerückt wird. Bleiben die süddeutschen
Staaten in ihrer bisherigen Souveränetätsstellung, so können wir auch dem
Volk jene Mehrbelastung nicht zumuthen, so sind für uns einzig die inneren
finanziellen Bedürfnisse des Landes maßgebend." Jetzt war von solchen Be-
denken unter den nationalen Würtembergs nicht mehr die Rede, obwohl in
diesem Augenblick die Regierung selbst es für klug hielt, vor der drohenden
Kammermehrheit einen Schritt zurückzuweichen. Ohne Rücksicht auf eine
frühere oder spätere Vollendung des Einigungswerks stellten sie die nationale
Pflicht obenan, und der Erfolg der Landesversammlung hat gezeigt, daß dies
ihre Stellung anstatt gefährdet, vielmehr nur befestigt hat. Die deutsche
Partei gewann an Boden, nicht indem sie ihr Programm abschwächte, son¬
dern indem sie ihm eine immer schärfere Fassung gab.
Dieser Erfolg der Landesversammlung hat im ganzen Land der Partei-
thätigkcit einen neuen Aufschwung gegeben. Der „Beobachter" selbst hat
der deutschen Partei dieses Zeugniß ausgestellt, indem er sie anklagte, daß
sie seitdem eine ganz unerhörte Thätigkeit entwickelt habe. Wahr daran ist
soviel, daß die Organisation der Partei sich seitdem erheblich erweiterte; eine
Reihe neuer Vereine hat sich an Orten gebildet, wo sie bisher nur verein-
zelte Anhänger zählte. Die früher von den meisten Orten gemeldete schüch¬
terne Ausrede, es seien wohl Gesinnungsgenossen vorhanden, aber sie könnten
sich bei ihrer Abneigung gegen politischen Kampf und bei dem terroristischen
Druck der Gegenmeinung nicht entschließen, offen Farbe zu bekennen, wird
doch immer seltener gehört. Die nationale Presse hat einen erfreulichen Zu-
wachs erhalten durch die „Sonntagsblätter der deutschen Partei", eine popu¬
läre, für die ländlichen Massen bestimmte Publication. Und selbst die Un¬
gunst der vorrückenden Jahreszeit wurde von eifrigen Agitatoren besiegt, die
es sich angelegen sein ließen, die herkömmlichen Sonntagsausflüge, welche
die charakteristische Staffage der schwäbischen Landschaften in der Frühjahrs¬
zeit bilden, in den Dienst der politischen Propaganda zu ziehen und so das
Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. Es verging kein Sonntag, an
welchem nicht gleichzeitig an verschiedenen Orten kleinere Versammlungen ge¬
halten wurden und wackere Reiseprediger vor mehr oder weniger willigen
Hörern das Evangelium vom werdenden deutschen Reich auslegten und mit
nützlichen Gleichnissen verzierten. Und eben in diesen Tagen wird geschäftig
eine Expedition organtsirt, die anfänglich ganz nur als harmloses Sonntags¬
vergnügen der Stuttgarter Gesinnungsgenossen beabsichtigt, zu einer politi¬
schen Wallfahrt im großen Stil, zu einem Rendezvous der Partei des ganzen
Landes, ja fast zu einer Lseessio in montem sacrum zu werden verspricht:
es ist nämlich der Zollernburg ein Besuch der deutschen Partei aus Würtem-
berg zugedacht, und diese mag sich wohl im Voraus eines freundlicheren und
fröhlicheren Empfangs vertrösten, als er jener mit so beredtem Schweigen
ausgenommenen Invasion zu Theil wurde, welche im Sommer 1866 die
würtenbergische Truppe nach dem Stammschloß des preußischen Königshauses
unternahm. Es war noch der alte Bundestag, der damals der würtenbergi¬
sche» Regierung den Auftrag zu dieser heute fast verschollenen Erpedition
gab. Aber Herr v. Varnbüler selbst, der mit seinem pas viotis dem lehr¬
reichen Citatenschatz des Herrn Büchmann nicht hat entgehen können und so
durch das kühne Wort eines dauernden Ehrenplatzes an der Seite von Goethe
und Schiller, von Friedrich dem Großen und Otto v. Bismarck theilhaftig
geworden ist, Herr v. Varnbüler selbst — wer weiß mit welchen Zukunfts¬
gedanken — hatte durch eine Erinnerung am Bundestag dafür gesorgt, daß
bei dem fröhlichen Treibjagen gegen Preußen die entlegene kleine Provinz,
welche so unmotivirt zwischen das würtenbergische Gebiet sich hineinverirrt
hat. nicht vergessen würde. Die Existenz dieser preußisch-schwäbischen Enclave
ist auch wirklich, wie gar nicht zu leugnen, eine höchst unbequeme und ärger¬
liche Thatsache, nicht blos für weitblickende Staatsmänner. Sie wirft im
Grund die ganze Theorie der Stammeseigenthümlichkeiten, das ganze Gerede
von der absonderlichen Natur der Schwaben, die zum preußischen Wesen
nicht passe, über den Haufen. Nicht einmal das Schwarzrothgold vermochte
damals Eindruck zu machen, das der Bundestagscommissär Hugo Graf
Leutrum von Ertingen in Gestalt von Schärpen, Fahnen u. s. w. massen¬
haft in das erstaunte Ländchen importirte. Warum ist doch damals kein
Jubel für das dreifarbige Banner des Bundestags laut geworden? Warum
hat doch Niemand von den hohenzollernschen Schwaben Lust verrathen, das
unerträgliche Joch des preußischen Militarismus abzuschütteln und sich in
das von Moritz Mohl besungene Eldorado der würtembergischen Freiheit zu
retten? Warum die allgemeine Freude des Ländchens, als die Würtenberger
sich veranlaßt fühlten, nach dreiwöchentlichem peinlichen Aufenthalt in Eil-
Märschen die schwarzrothen Grenzpfähle wieder zu gewinnen? Der „Beobachter"
ist bis heute die Antwort auf diese Fragen schuldig geblieben.
Als vor zwei Jahren die Eisenbahn aus Würtemberg nach dem Hohen¬
zollernschen eröffnet wurde, gab Herr v. Varnbüler als Minister der Verkehrs¬
anstalten seinen Eisenbahnbeamten die Jnstructton, sie möchten im Verkehr
mit den preußischen Beamten sich höflicher, aber kurzer, rein geschäftlicher
Formen bedienen. Er fürchtete die Wirkungen einer freundschaftlichen Be¬
rührung der Beamten zweier Länder, zwischen denen nun einmal eine chine¬
sische Mauer leider nicht wohl aufzurichten war. Heute stellt die würten¬
bergische Eisenbahnverwaltung in liebenswürdigster Weise einen Extrazug nach
der Stadt Hechingen zur Verfügung, wo schwarzweise und schwarzrothe
Schwaben herzlich fraternisiren und in fröhlichen Trinksprüchen sich ergehen
werden auf die Zukunft der schwarzweißrothen Farben!
'
Die Circular-Depesche des Fürsten Hohenlohe über das Concil, welche
schließlich doch noch zu Ehren gekommen ist, hat zuerst die Augen des Aus¬
landes auf den Kampf gerichtet, der seit etwa 10 Jahren in Bayern gegen
die Ansprüche der Curie und gegen die romanistischen Tendenzen innerhalb
der katholischen Kirche überhaupt geführt wird. Die Depesche selbst ist nur
ein besonders hervorragender Punkt innerhalb desselben und kann ihrer Ent¬
stehung und Tendenz nach nur im Zusammenhang mit der Geschichte dieses
Kampfes recht begriffen werden. Was dem letzteren für lange Zeit eine
bleibende Bedeutung sichert, ist vor Allem der Umstand, daß hier neben der
Regierung und den liberalen Elementen des Landes auch ein Theil der katho¬
lischen Geistlichkeit gegen die Curie in Waffen steht. Erst durch das glück¬
liche Zusammentreffen dieser drei Factoren konnte der Streit Dimensionen an¬
nehmen, von denen, wenn in Rom nicht va daiuzue gespielt werden sollte,
ein Eindruck füglich zu erwarten stand. Vereinzelt wäre wohl keiner der
Consorten sehr weit gekommen; die Regierung allein wird in ihrem Kampf
gegen die Curie stets das Odium gegen sich haben, der katholischen Kirche
überhaupt zu Leibe gehen zu wollen, den opponirenden Geistlichen dagegen
würde die Curie sehr schnell Mittel gefunden haben, den Mund zu stopfen.
Die Verhältnisse, welche eine zur Eröffnung des Kampfes so aussichtsvolle
Konstellation herbeiführten, machen es nothwendig, zunächst auf die früheren
Beziehungen der bayrischen Regierung zum päpstlichen Stuhl und zu den
Bischöfen einzugehen.
Mit anderen Staatsverfassungen verglichen lautet die bayrische Constitu-
tionsurkunde. was die Regelung der kirchlichen Verhältnisse betrifft, sehr
energisch. Das Oberaussichtsrecht des Staates ist ausgiebig gewahrt und
die Ausscheidung des kirchlichen und staatlichen Gebiets mit Ausnahme der
Normen über die Ehegerichtsbarkeit so sauber und consequent durchgeführt,
daß selbst jetzt, nach mehr als 50 Jahren, kaum Aenderungen zu wünschen
wären. Leider wurde zugleich mit der Verfassung und als Bestandtheil der¬
selben auch das mit Rom vorher abgeschlossene Concordat publicirt, dessen
Bestimmungen in vielen und erheblichen Punkten mit dem Religionsedict in
Widerspruch standen. Gleich der 1. Artikel desselben lautet: „Die römisch-katho¬
lische Religion wird in Bayern mit allen Rechten und Prärogativen erhalten
werden, welche sie nach göttlicher Anordnung und den canonischen Satzungen
zu genießen hat." Wie konnte aber ein Zusammenleben der verschiedenen
christlichen Confessionen ermöglicht werden, wie sollte der moderne Staat
bestehen können, wenn alle Prätensionen des canonischen Rechts erfüllt wer¬
den sollten! Es war ferner in dem Concordat die Errichtung und Leitung
der geistlichen Unterrichts- und Erziehungs-Anstalten ausschließlich den Bischöfen
überlassen, dagegen die finanzielle Dotirung derselben dem Staate angesonnen.
Die Erzbischöfe und Bischöfe nebst ihren Domcapiteln wurden mit Einkünf¬
ten überreich bedacht (so bezieht der Erzbischof von München-Freysing in
Folge des Concordats für seine Person jährlich 20,000 si. aus der Staats¬
kasse)^ wobei auch noch die Fundirung auf Liegenschaften ausbedungen wurde.
Ein Theil der aufgehobenen Klöster sollte wieder hergestellt und angemessen
dotirt werden, dagegen ließ man die nach Rom zu zahlenden Annalen und
Canzleitaxen fortbestehen. Kein Meet, kein Oberaufsichts-Recht des Staates
mehr! Alle dem Concordat entgegenstehenden Gesetze sollten einer ausdrück¬
lichen Bestimmung gemäß für ausgehoben angesehen und dieses als Staats¬
grundgesetz erklärt werden. Der bayrische Unterhändler, der diesen Vertrag
am 5. Juni 1867 mit der Curie abschloß, war Freiherr von Häffelin, Bischof
von Gerpones. Ihn hatte die Regierung zur endlichen Ordnung der durch
die Säcularisation und die Verwaltung Montgelas außer Rand und Band
gebrachten kirchlichen Verhältnisse mit den ausgedehntesten Vollmachten nach
Rom geschickt, er verrieth seine Auftraggeber und sein Vaterland und ließ
sich dafür von der Curie mit dem Cardinals-Purpur belohnen. (Vgl. v.Spruner,
die Wandbilder des bayrischen National-Museums.)
Die Regierung, im Begriff die neue Verfassung zu erlassen, war in der
peinlichsten Verlegenheit. Ein - zweiter Unterhändler vermochte die Sache nicht
mehr auf besseren Weg zu bringen. Endlich fügte man, allerdings mit einer
flagranten Umgehung völkerrechtlicher Verbindlichkeiten, das Concordat der
Art in die Verfassungsurkunde ein. daß die Interpretation ein Verhältniß
der Unterordnung desselben unter das Religionsedict herausbringen mußte.
Und so wird das Concordat heutzutage allgemein in Bayern angesehen und
gehandhabt. Seine Bestimmungen gelten nur in soweit als sie denen des
Religionsedictes nicht widersprechen. Durch die unnatürliche Verkopplung
dieser beiden Urkunden hätte nothwendig der Grund zu einer endlosen Reihe
von Frictionen zwischen Kirche und Staat gelegt werden müssen, wenn der
tapferen Theorie der Verfassung die Praxis nur halbwegs entsprochen hätte.
Leider war dieß von jeher nicht der Fall. Von der ganz pfäffischen Periode
Ludwig des I. zu schweigen, war auch unter Maximilian II., der für seine
Person keineswegs in hierarchischen Vorstellungen befangen war, die Regierung,
den Schreck vor der Revolution in den Gliedern, gegenüber den Anforderungen
der Curie und der Bischöfe ungemein nachgiebig. Den Zorn des päpst¬
lichen Stuhles über die illegale Ausführung des Concordates suchte man
durch eine laxe Handhabung des Religionsedictes zu besänftigen.
In sehr bedenklicher Ausdehnung wußten sich nun Geistlichkeit und
Orden des Jugendunterrichtes zu bemächtigen. An den Gymnasien lehrten
die Benedictiner, an den Mädchen-Instituten die englischen Fräulein, an
den Elementarschulen die Schulbrüder und Schulschwestern. Der Geschichts-
unterricht an den Gymnasien wurde ausschließlich durch den betreffenden
Religionslehrer ertheilt. Die für den geistlichen Stand bestimmten Knaben
wurden von frühester Jugend an in den bischöflichen Seminarien unterge¬
bracht, ihrer Familie und dem Umgang mit anderen Kindern möglichst ent-
zogen. Auch die Studenten der Theologie hatten sich einem strengen Internat
zu unterwerfen; die freie Wahl der Collegien war ihnen versagt. Die
Krankenhäuser kamen in die Hände der barmherzigen Schwestern, die bei
aller Anerkennung ihrer Aufopferungsfähigkeit doch der Vorwurf trifft, durch
ihre Bekehrungssucht oftmals den religiösen Frieden in Bayern gestört zu
haben. Auswärtige Ordensgeistliche, namentlich Jesuiten, durchzogen aus-
spionirend das Land. Während man so der katholischen Kirche gestattete,
den ganzen Apparat auszubreiten, dessen sie sich zu bedienen pflegt, um die
Geister einzufangen und zum unbedingten Gehorsam gegen den Clerus zu
gewöhnen, verfuhr man auf der anderen Seite gegen gewisse, der Kirche un¬
bequeme Seelen mit einer barbarischen Strenge. So wurde den freien Ge¬
meinden und Deutschkatholiken, welche im Jahre 1848 durch ausdrückliches
königliches Decret die Aufnahme als anerkannte Religionsgenossenschaft er¬
langt hatten, plötzlich diese staatliche Anerkennung entzogen und ihre religiösen
Zusammenkünfte als politische Vereine erklärt. Hierdurch war nicht nur jedes
religiöse Zusammenleben für sie zu einer Unmöglichkeit geworden, indem die
Form des politischen Vereines, unter der ihnen fortzuexistiren gestattet blieb,
die Theilnahme aller Minderjährigen und Frauen an den Versammlungen
ausschloß, sondern sie verloren auch, was kaum glaublich scheint, das Recht,
eine giltige Ehe einzuhen. Der Staat betrachtete von nun an die von den
Dissidenten-Predigern vorgenommenen Trauungen als nichtig, die Ehen als
Concubinate, ohne jedoch seinerseits durch Einführung der Nothcivilehe den
Abschluß rechtsgiltiger Heirathen zu ermöglichen.
Dieser rechtlose Zustand, der den größten Theil der Dissidenten in die
Landeskirche zurücktrieb, dauerte 18 Jahre lang und ist auch gegenwärtig
noch nicht völlig beseitigt. Als Mitte der 50er Jahre mehrere Geistliche im
Kreise Schwaben und Neuburg mit einem großen Anhang aus der katholi¬
schen Kirche traten, um sich den Jrvingianern zuzuwenden, suchte die Regie¬
rung die Bildung der apostolischen Gemeinden durch polizeiliche Ausweisung
einzelner Mitglieder zu verhindern und verfuhr hierbet so brutal, daß sie
auf erhobene Beschwerde den höchsten Unwillen der Kammer erregte und den
Referenten zu der Aeußerung veranlaßte, die Staatsgewalt habe ihre poli-
zeilichen Zwangsmittel in entwürdigender Weise der religiösen Verfolgungs-
sucht zur Verfügung gestellt.
Die Bischöfe zeigten, obwohl ihre Ernennung — die einzige Errungen¬
schaft des Staates aus dem Concordat — vom König erfolgte, nur Sinn
für die Machterweiterung des römischen Stuhls und ihre Hand ruhte schwer
auf dem niedern Clerus, ohne daß dieser je eine Abhilfe hiergegen von
Seiten des Staats erwarten durfte. Insbesondere blieb er der willkürlichen
Besteuerung durch seine Oberhirten nach wie vor hilflos unterworfen. Bis
zu welcher Ausdehnung dieses verfassungswidrige angebliche Besteuerungs¬
recht vom Staate zugelassen wurde, geht daraus hervor, daß der Bischof noch
heute von jeder Verlassenschaft eines Geistlichen S Procent für seine Casse
einzieht, ja selbst für die Erlaubniß, ein Testament machen zu dürfen, eine
bedeutende Abgabe erhält.
Dem unablässigen Drängen des Episcopates auf Vollzug des Connor>
bath weichend ließ das Ministerium in einer Verordnung vom 8. April 1852
weitere durch das Religionsedict noch gewahrte Kron- und Regierungsrechte
von großer Wichtigkeit fallen, indem es auf die Ausübung derselben ein für
alle Male verzichtete, und von nun an gab es keine im canonischen Recht den
Bischöfen beigelegte Befugniß mehr, die sie nicht mit Hilfe der Regierung
wieder auszuüben versucht hätten. Ein Beispiel, welches vielleicht den Gipfel¬
punkt einerseits der hierarchischen Prätensionen, andererseits der Nachgiebig¬
keit des Staates bezeichnet, möge hier seinen Platz finden. Es ist nicht viel
über ein Decennium her, daß die Regierung keinen Anstand nahm, auf die
Requisition eines Bischofs, der sich hierbei auf sein geistliches Corrections-
recht berief, bei einem Katholiken durch die Polizei Haussuchung nach einer
deutschen Bibel vornehmen und dieselbe der requirirenden geistlichen Behörde
einliefern ließ. Rechnet man zu solchen Vorkommnissen noch, daß die Nuntia-
tur in München sich fortwährend als päpstliche Behörde gerirte, die beispiels¬
weise bei allen Disciplinaruntersuchungen über Geistliche die dritte Instanz
entweder selbst bildete oder die Richter hierzu delegirte, so muß man ge¬
stehen: der erste Artikel des Concordats war zur Wahrheit geworden, die
katholische Kirche genoß in der That alle Rechte und Prärogativen, „die sie
nach den canonischen Satzungen zu genießen hat."
So blieb das Verhältniß des Staates zur Kirche bis zu dem Augenblick,
wo das Ministerium v. d. Pfordten dem Druck der liberalen Opposition zu
weichen gezwungen war und damit die Reaction ein Ende hatte. Zwar wußte
der bisherige Cultusminister Herr v. Zwehl seinen Platz auch im Ministerium
Neumayer zu behaupten, aber zu weiteren Concessionen kam es von nun an
nicht mehr. Anfangs des Jahres 1864 zog sein Nachfolger Herr v. Koch,
bisher Regierungspräsident von Oberfranken, im Cultusministerium ein und
und mit ihm endlich der feste Wille, das verlorene Terrain wiederzuerobern.
Sein Wirken war kein radicales, antikirchliches und brauchte dies auch
nicht zu sein. Vielmehr ließ ihn sein Glück innerhalb der katholischen Kirche
selbst eine Richtung vorfinden, der er sich zum großen Theil nur anzuschließen
brauchte, um die Rechte des Staats genügend zur Geltung zu bringen. Frei¬
lich war diese Richtung zunächst nur eine wissenschaftliche, besonders in den
Universitäten vertretene. Hier an den Hochschulen hatten die romanistischen
Tendenzen am wenigsten Platz greifen können, wenn es auch an forthwähren-
den Angriffen auf dieselben nicht gefehlt hat. Bereits in der Freysinger Denk¬
schrift vom Jahre 18S0 — einer Zusammenstellung aller Schmerzen des
Episcopates — hatten die Bischöfe über die Berufung protestantischer Aus¬
länder und den Verfall des katholischen Charakters der Würzburger und
Münchener Universität schwere Klage geführt, und wenn sie auf diesem
Punkte ausnahmsweise ruche durchdrangen, so verdankt Bayern dies weniger
dem Umstand, daß das Ministerium Zwehl an der Grenze seiner Nachgiebig¬
keit angekommen war. als dem humanen gebildeten Geist Maximilians
der. selbst den Wissenschaften mit Wärme ergeben, einen Eingriff in die Frei-
heit derselben niemals hingenommen hätte.
In Folge dessen blieb auch für die katholische Geistlichkeit der Lehrstuhl
die einzige Möglichkeit einer freieren wissenschaftlichen Bewegung, Dem
Organismus des Clerus nicht eingefügt und durch die Besoldung des Staates
materiell unabhängig gemacht, waren die Professoren den bischöflichen Cen¬
suren mehr oder weniger entzogen. Unter diesen günstigen Verhältnissen
hatte sich an der theologischen Facultät München eine freiere Richtung, die
sog. „deutsche historische" oder „neue Münchener Schule" herauszubilden ver¬
mocht, an deren Spitze Stiftsprobst Dölltnger stand. Was sie zunächst er¬
strebte war, der theologischen Wissenschaft als dem Organ des kirchlichen
Gesammtbewußtseins einen größeren Einfluß auf die Kirche zu verschaffen.
Man ging hiermit nicht nur über das gegenwärtig herrschende Papalsystem,
sondern auch über das Episcopalsystem hinaus, indem neben Papst und
Bischöfen die kirchliche Gesammtheit als endgiltig maßgebender Factor betont
wurde. Papst und Bischöfe haben nur zu fixiren, was die Gesammtheit der
Gläubigen, vertreten durch die Wissenschaft, über eine religiöse Frage denkt
und glaubt. Die Aehnlichkeit dieser Richtung in der Theologie mit Savig-
ny's historischer Schule ist frappirend. Hier wie dort wird das Werden und
Entstehen eines Gesetzes oder Dogmas im Bewußtsein des Volkes resp, der
Gläubigen gegenüber einer willkührlichen Gesetzmacherei oder Dogmenfabrika-
tion von oben herab hervorgehoben. Es ist klar, daß mit einer solchen Be¬
tonung der Wissenschaft innerhalb der Kirche sich weder der päpstliche Index
noch die Beschränkung der Lehrfreiheit durch die Bischöfe vertrug und die
Männer dieser Richtung eine Annäherung an den Staat suchen mußten.
Inzwischen ließen die Conflicte zwischen der Staatsgewalt und dem EM.
copate nicht lange auf sich warten. Wenn nicht eine Generation staatsseind-
licher Priester um die andere aufwachsen sollte, so war es die nächste Auf¬
gabe des Ministeriums, für sich einen größeren Einfluß auf die Bildung der
Theologen zu gewinnen. Zu diesem Zwecke mußten die theologischen Bie.
dungs-Anstalten der Bischöfe möglichst hintangehalten, und der Grundsatz
zur Geltung gebracht werden, daß alle Geistlichen ihre Studien an den Lan¬
desuniversitäten — also an Staatsanstalten — zu machen hätten. Die
Bischöfe opponirten heftig. Nachdem sie lange über die außerkirchliche Stellung
der theologischen Facultäten Klage geführt und sich durch die Besetzung der
vacanten Lehrstühle überzeugt hatten, daß die deutsche Richtung, die bisher
in Würzburg! keine Vertreter gehabt hatte, auch" dort einzuziehen drohte,
suchten sie nun ihre Candidaten vom Besuch der Universitäten ganz abzu¬
halten. Der Bischof von Speyer verlangte zu diesem Zwecke auf Grund
des Concordats die Errichtung und Dotirung einer theologischen Lehranstalt
an seinem Bischofssitze und gründete, als ihm dieses verweigert wurde, aus
eigenen Mitteln, wie er sagte, oder richtiger aus den durch die Besteuerung
seines Clerus zusammengebrachten Geldern selbst eine solche. Herr v. Koch
schloß dieses Institut, zu dessen Errichtung nach dem Religionsedicte die
staatliche Genehmigung erforderlich gewesen wäre, um so unbedenklicher, als
auch seine geistlichen Rathgeber sich gegen solche romanistische „Winkelanstalt"
ausgesprochen hatten. Die Candidaten wurden aus Speyer ausgewiesen.
Aus demselben Grunde erneuerte das Ministerium eine ältere Verord¬
nung, der zufolge in Zukunft nur je zwei Candidaten der Theologie aus
jeder Dtöcese das collegium gerwamcuw zu Rom frequentiren durften.
Daß die deutsch-theologische Schule bei Besetzung kirchlicher Stellen, auf
welche der Staat Einfluß hatte, eine besondere Berücksichtigung erfuhr, war
eben so sehr ein Erforderniß der politischen Raison, als die gebotene Aner¬
kennung ihrer hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen. Leider war das
Ministerium Koch von sehr kurzer Dauer. Der Minister starb nach kaum
zweijähriger Amtsführung schon Anfang des Jahres 1866, und das Portefeuille
kam nach längerem Interim in die Hände des Herrn v. Gresser. Sein Werk
ist der bekannte Schulgesetz-Entwurf, ein verzweifelter Hieb nach dem ultra¬
montanen Clerus, leider auf Kosten der Schule. Denn daß diese bei dem
jetzigen Bildungszustand, der Lehrer, durch den projectirten Wegfall der
Loealaufsicht der Geistlichen, wenigstens für die nächste Zukunft schlechter statt
besser geworden, kann man kaum bestreiten. Wäre der Clerus nicht fast
durchaus von staatsfeindlichen Gesinnungen erfüllt gewesen, vom technischen
Standpunkte aus hätte man nie zu diesem traurigen Nothbehelf kommen
können. So war der Entwurf politisch geboten, und bezüglich des momen¬
tanen Sinkens der Schulen möchte man sich mit der allmälig steigenden
Bildung der Lehrer trösten.
Während dessen waren Ereignisse eingetreten, die den Streit zwischen
Kirche und Staat nach jeder Richtung nur verschärfen konnten. Die Zoll-
Parlamentswahlen und die Wahlen zum Landtage im Jahre 1869 hatten
gezeigt, daß der Clerus auf dem besten Wege ist. den ganzen Staat an sich
zu reißen. Denn die ländliche und katholische Bevölkerung in Bayern und
mithin die Majorität in der Kammer hat keine andere politische Meinung
als die, zu der der Clerus die Parole ausgibt. Er hat die jüngsten Wahlen
gemacht, in seine Hände ist der Geldbeutel des Landes und damit die
Macht gekommen. Das hätte wohl auch Niemand an der Wiege unserer
Constitution gesungen, daß wir gerade durch sie dem Clerus mit gebun¬
denen Händen ausgeliefert werden sollten, und daß eine Zeit in Bayern
kommen würde, in der man Gott für jedes Kron- und Regierungs-Recht
danken muß. das noch übrig ist. Angesichts dieser Thatsache, daß die Geistlich,
keit die konstitutionellen Rechte des Landes zu absorbiren droht, ist es fast
unbegreiflich , wie noch immer Liberale sich für die Losung: „freie Kirche im
freien Staate" zu begeistern vermögen. Nur 10 Jahre die Freiheit der
katholischen Kirche in Bayern, wie sie Preußen bei seiner überwiegend protestan¬
tischen, den Staat sichernden Bevölkerung unbedenklich gewähren konnte, und
das ganze Land würde dermaßen mit ultramontanen Anschauungen impräg-
nirt sein, daß jedes Rechr, welches die Verfassung gewährt oder noch ge¬
währen wird, sich in einen Machtzuwachs für den Clerus verwandeln würde.
So standen die Sachen bereits oder drohten es jeden Augenblick zu
wenden, als auch noch die Berufung des allgemeinen Concils zur Unfehlbar¬
keitserklärung des Papstes von Rom aus erging. Waren für den Staat
bisher schon die höchsten Interessen an die Bekämpfung der romanistischen
Tendenzen geknüpft, so durfte er am wenigsten die Krönung des Papal-
systems ruhig mit ansehen. Bei dem Glaubenshunger und der Autoritäts¬
sucht der altbayrischen Bevölkerung mußte ein die Gewissen aller Gläubigen
bindendes Dogma von der Jnfallibilität dem Papste und dem ihm unbedingt
ergebenen Clerus eine neue unberechenbare Macht über die Gemüther ver¬
schaffen, und in welcher Richtung diese gebraucht werden würde, zeigte der
Syllabus und die Encyclica. Wieder trafen die Interessen des Staates mit
denen der deutsch-historischen Schule zusammen. Sie, die Gesammtheit der
Gläubigen gegenüber der kirchenlichen Centralisation, die Wissenschaft gegen
die Jndex-Congregation vertheidigend, konnte ebensowenig einen unfehlbaren
Papst brauchen, der das gesammte Leben der Kirche absorbirte. Es erfolgte
eine weitere Annäherung, die sich auch äußerlich durch Ernennung Döllingers
zum Reichsrath documentirte, und die Verabredung eines gemeinsamen
Operationsplanes. So erschienen im Frühjahr 1869 die berühmten Artikel
der Allgemeinen Zeitung über das Concil, als deren Verfasser sich später der
Professor der Philosophie Dr. Huber bekannte, wenn auch die öffentliche
Meinung, und wohl mit Recht, sich es nicht hat nehmen lassen will, daß
der beste Theil daran Döllinger selbst zugehöre. Seine Ansichten über das
Papstthum sind sicherlich darin enthalten. Seit den Tagen des Flacius
Illyriens, dessen kritischem Genie es zuerst gelang, in seinen Magdeburger
Centurien jene Reihe von Fälschungen an das Tageslicht zu ziehen, welche
die Curie zur Begründung ihrer Prätensionen hatte vornehmen lassen, hat
kaum ein Buch das historische Papstthum mit mehr Muth und Erfolg an¬
gegriffen als der „Janus". Nicht nur die Jnfallibilität wird verworfen,
das ganze Papstthum, wie es seit dem Jahre 845 geworden, erscheint ihm
als ein „entstellender, krankhafter und athembeklemmender Auswuchs am
Organismus der Kirche", der am allerwenigsten die Krönung durch die
Unfehlbarkeits-Erklärung verdient. Später erschien die bekannte mit Namen
unterzeichnete Erklärung Döllingers in der Allgem. Zeitung, aus der seine
Uebereinstimmung mit den Ansichten des Janus hervorging.
Die That der Münchner historischen Schule wirkte nach allen Seiten
belebend. Die Discussion in der Presse wurde angeregt und erhielt einen
festen wissenschaftlichen Beistands, und auch das Eis innerhalb des Clerus
ward gebrochen. Nur der Vorgang eines Mannes von der wissenschaftlichen
Bedeutung Döllingers konnte dissentirende Geistliche zur Kundgabe ihrer
Meinung ermuthigen und ihren Oberhirten gegenüber einigermaßen decken.
Es erfolgten zahlreiche Zustimmungen aus den Reihen des Clerus; der Ja¬
nus wurde in einer Fluth von Zeitungsartikeln und Brochüren angegriffen
und vertheidigt, und als Endergebniß des Streites stellte sich heraus, daß
ein beträchtlicher Theil des Clerus vorerst als Gegner der Unfehlbarkeit zu
betrachten sei. Mir doppelter Berechtigung konnte nun auch der Staat seine
Präventivmaßregeln ergreifen. Durch die allarmirende Circular-Depesche
des Fürsten Hohenlohe wurden die Resultate des Janus politisch verwerthet
und in die Regierungs- und diplomatischen Kreise eingeführt. Der bisherige
Gesandte Bayerns, ein unbedeutender der Curie ergebener Mann, erhielt seine
Abberufung und wurde durch Graf Taufkirchen, den talentvollsten Diplomaten,
über den die Regierung im Augenblick zu verfügen hatte, ersetzt. Sein Wir¬
ken in Rom wurde ein sehr einflußreiches, und wenn der durch die Vorgänge
im Concil gelieferte Stoff stets einer raschen und gründlichen Besprechung
in der Presse und Literatur entgegengeführt werden konnte, so ist dies nicht
zum geringsten Theil ein Verdienst der bayrischen Gesandtschaft.
Dieses ersprießliche Zusammenwirken von Politik und Wissenschaft hat
denn in der That Bayern zu einem Brennpunkt aller Elemente gemacht, ti?
noch gegen die weitere Ausdehnung des Papstthums reagiren. Wie sich
trotzdem die Sachen dann gestalten, wenn das Concil die Unfehlbarkeit des
Papstes definitiv ausgesprochen haben wird, ohne daß große politische
Veränderungen in liberaler Richtung innerhalb der katholischen Kirche zu
Hilfe gekommen sind, ob man den begonnenen Kampf bis zum Bruch fort-
setzen wird, das ist daraus noch keineswegs zu prognosticiren. Im Gegen¬
theil, manche Andeutungen über die künftige Praxis des Cultusministeriums
den Schulen gegenüber lassen arge Befürchtungen aufkommen. — Allerdings
sollte man glauben, daß für Männer welche so sicher das Papstthum als
den Krebsschaden der Kirche erkannt haben, deren ausgesprochene Ideen
auf Herabdrückung desselben zum bloßen Primat und auf eine umfassende
kirchliche Decentralisation gerichtet sind, kein Platz mehr in der Kirche des
unfehlbaren Papstes vorhanden sei. Allein wird Döllinger die sich ihm dann
nothwendig aufdrängende Rolle eines Reformators übernehmen wollen und
können? Folgt er der Unterwerfung, so ist es natürlich vorbei mit der deutsch¬
theologischen Schule und mit allen Hoffnungen, die sich an ihren allmäch¬
tigen Einfluß auf den Clerus geknüpft hatten. Dann aber ist schwer zu
glauben, daß je etwas Anderes uns über die unverträgliche Priesterherrschaft
in Bayern hinweghelfen wird, als der nationale Staat.
Der glückliche Abschluß des Strafgesetzbuchs bildet ein Ereigniß von
vielfältiger Bedeutung. Nicht am geringsten zu veranschlagen ist die un-
widerleglich dargethane Befähigung des Bundes, große Gesetze, Gesetze ersten
Ranges zu Stande, sie rasch zu Stande zu bringen. Wie immer der wider¬
willige Sinn auf die neue Carolina blicken mag. der billige Beurtheiler wird
zugestehen, daß selten oder nie in so knapper Zeit so reichliches geleistet, daß
selten oder nie von einer solchen Fülle von Kräften das Gelingen eines
solchen Werks gefördert wurde. Dem Idealen sind wir fern geblieben, aber
das Reale, das wir gewonnen, wird ein kostbarer nationaler Besitz sein und
darf als Unterpfand für Vermehrung dieses nationalen Besitzes gelten.
Die Civtlproceyordnung ist der Voraussicht nach das zweite große Ge¬
setz, das den neuen Reichstag in seiner ersten Sitzung beschäftigen wird.
Lange vor dem Strafgesetzbuch, aber nach dem alten, nun wohl ausgegebenen
Princip commissioneller Aufstellung in Angriff genommen, vielleicht unter
nicht ganz glücklichen Auspicien begonnen, nicht immer von der guten Vor-
Meinung der Fachkreise wie anderer Kreise begleitet, ist das wichtige dem
Strafgesetzbuch an Bedeutung nicht nachstehende, es viel eher überragende
Gesetz einer Art Ungunst verfallen, die Grund zu Besorgnissen geben kann.
Hätten wir nicht beim Abschluß des Strafgesetzbuchs einen unwidersvrechlichen
Beweis von der im Bunde wirkenden Energie erhalten, hätten wir nichl
erlebt, wie die Nothwendigkeit gleichsam handgreiflich zur Durchsetzung des
Werks drängte, dann ließe sich besorgen, daß die noch immer thätigen Geister
des alten Bundes die Oberhand gewinnen und die Errichtung des „großen
Ziels deutscher Rechtseinheit" in einer wichtigen Beziehung vereiteln möchten.
Diese Besorgniß dürfe nun als unbegründet angesehen werden. Allein ihr
Vorhandensein weist darauf hin, öde Aufmerksamkeit in erhöhtem Maße der
Borbereitung der Civilproceßordnung zuzuwenden, nach Gewähren zu suchen,
um das Zustandekommen des weitschichtigen umfangreichen Gesetzes schon
im Stadium der Vorbereitung zu sichern.
Der Justizminister hat gelegentlich angedeutet, daß eine zweite Lesung
des Entwurfs in Aussicht genommen sei. Von Anfang an ist dieser Lesung
eine größere und schwierigere Aufgabe zugewiesen als beim Strafgesetzbuch.
Bet diesem wurden umfassendere wissenschaftliche Begutachtungen des Ent¬
wurfs, wie sie auch ein Mitarbeiter d. Bl. wünschte, durch die Kürze der
Zeit ausgeschlossen. Bei der Civilproeeßordnung ist volle Muße zur kritischen
Prüfung gegeben. Die wissenschaftlichen Besprechungen mehren sich sichtlich,
zu ihnen kommen die amtlichen Auslassungen der Gerichte, die Aeußerungen
anderer Fachkörperschaften. Der große Umfang des Stoffs trägt dazu bet,
das Material der Kritik größeren Umfang gewinnen zu lassen. Es ist vor¬
auszusehen, daß die zweite Lesung des Proceßentwurfs mehr einer neuen
Vorarbeitung des Stoffs wie einer zweiten Bearbeitung, einer Ueberarbeitung
der Vorlage gleichen wird.
Ohne neue Kräfte ist diese für das Gesetz vermuthlich entscheidende Thä¬
tigkeit nicht möglich. Wesentlich kritischer, sichtender Natur, kann sie nicht
allein von den Männern, denen die produktive zusammenfassende Thätigkeit
der Entwurfsausstellung obgelegen, vollbracht werden. Dies wird auch ge¬
fühlt und nach glaubhaften Mittheilungen sollen zur zweiten Lesung An¬
wälte zugezogen werden, um zugleich dem richterlichen Element ein stärkeres
Gegengewicht entgegenzustellen. Die Frage ist indeß, ob sich nicht überhaupt
empfiehlt, der zweiten Lesung einen wesentlich anderen Charakter zu geben,
der auch die parlamentarische Erledigung der Vorlage zu vereinfachen und
abzukürzen vermöchte. Denn an ihre Du divo-Annahme scheint weder zu
denken zu sein, noch wäre sie, wenn möglich, als räthlich zu bezeichnen. Bei
allen größeren Gesetzen hat der Reichstag seine Stimme zur Geltung ge¬
bracht und damit viel Nutzen gestiftet. Nicht nur seiner selbst, sondern auch
der Sache wegen ist zu wünschen, daß dies ferner geschieht und der Bundes¬
gesetzgebung der parlamentarische Charakter, den sie in unerwartet hohem
Grade gewonnen, bewahrt wird.
Wie soll die zweite Lesung des Civilproceßentwurfs eingerichtet werden?
Es scheint die Möglichkeit gegeben, die zweite Lesung so einzurichten,
daß in ihr der Schwerpunkt der vorberathenden Thätigkeit überhaupt ruht,
daß der Entwurf in der Form, wie er aus dieser Lesung hervorgegangen,
unmittelbar an das Plenum des Reichstags — unter Ersparung der parla¬
mentarischen Zwischeninstanz einer vorberathenden Reichstagscommission —
gelangt. Dem Beschließungsrecht des Reichstags würde dabei in keiner
Weise Abbruch gethan werden, da er sich nicht nur die formelle Cognition
über den gesammten Entwurf, sondern auch die materielle Entscheidung über
die allgemeinen politischen Fragen, die die Vorlage in sich faßt, vorbehalten
sähe. Daß die paragraphenweise Prüfung eines Gesetzes von Hunderten von
Paragraphen unthunlich, hat die Berathung des Strafgesetzbuchs gelehrt; die
Einsicht griff um sich, daß das Wesen parlamentarischer Gesetzgebung nicht
in minutiöser Ausübung des Amendirungsrechts besteht. Der Drang der
Zeit verbietet, bei gesetzgeberischen Einzelheiten zu verweilen: hie und da mag
einmal der Punkt über dem i vergessen werden. Inmitten unserer Reform¬
arbeit muß es genügen, wenn das vorgesteckte Ziel erreicht wird. Wie es
erreicht wird, ist erst die zweite untergeordnete Frage. Der Justizminister
Leonhard wies in demselben Sinne darauf hin, daß zunächst die Schaffung
eines Bundesstrafrechts überhaupt geboten sei, möchte sich auch nach wenig
Jahren eine Revision des Gesetzbuchs als nothwendig herausstellen. Die
leichtere Arbeitsweise der Gesetzgebungsmaschine des Bundes hat unter an-
deren Vortheilen auch den, daß eher an Aenderung und Verbesserung der
vorhandenen Gesetze gedacht werden kann, daß die Gesetzgebung die Beweg¬
lichkeit gewinnt, die sie in unsern rasch vorschreitendem Verhältnissen besitzen
muß, aber in den einzelnen Staaten zumeist, und nicht ohne mannigfachen
Schaden sür ihre innere Entwickelung, nicht besitzt.
Die zweite Lesung scheint die ihr zugeschriebene Bestimmung erfüllen zu
können, wenn nicht blos die Theilnehmer der ersten Lesung und Vertreter
des Anwaltstandes, sondern, wie dies thatsächlich bei der zweiten Lesung des
Strafgesetzbuchs stattgefunden. Mitglieder des Reichstags und zwar die Mit¬
glieder zugezogen werden, die vermöge ihrer Begabung, ihrer Neigung, ihrer
parlamentarischen Stellung sich dazu besonders berufen zeigen. Von Neutra-
lisirung ihrer Thätigkeit im Reichstag kann nicht wohl die Rede sein, da es
sich nicht um entscheidende Beschlüsse über die Hauptfragen, um persönlich
bindende Erklärungen handelt. Alle Bedenken, die gegen die Betheiligung
von Kammermitgliedern bei gesetzgeberischen Arbeiten zu erheben, fallen damit
von selbst weg. Dagegen ist der Gewinn nicht hoch genug zu veranschlagen,
den die völlige Vertrautheit der an der zweiten Lesung Theil nehmenden
Reichstagsmitglieder mit dem Entwurf für die Verhandlungen des Reichs¬
tags hat. Von selbst zu Berichterstattern berufen, vermögen sie im Schoße
des Reichstags die leitenden Anschauungen nachdrücklicher, als den Mitglie¬
dern und Vertretern des Bundesraths der Natur der Sache nach möglich,
zur Geltung zu bringen. Ohne sich gebunden zu fühlen, werden sie von
selbst darauf hinwirken, die Vollendung eines Werkes, dem sie in seiner Ent¬
stehung schon ihre Mitwirkung liehen, zu sichern. Ihre Doppelstellung in
der zweiten Lesung und im Reichstag wird ihre persönliche Haltung steigern,
ihre persönliche Leistungsfähigkeit erhöhen.
Ob die zweite Lesung diesen Erfolg haben wird, wenn der bestimmende
Gesichtspunkt, die Kreise aller Betheiligten möglichst früh in das Werden des Ge-
setzes einzuweihen, die neuen Ideen der neuen Gesetzgebung möglichst zeitig
in das Volk eindringen zu lassen, nicht noch mehr unterstützt wird als durch
Herausgabe der Protokolle zu erreichen ist, und ob der Versuch einer wenig¬
stens beschränkten Oeffentlichkeit sich empfiehlt, möge der Erwägung anheim
gegeben sein. Die Drucklegung des fertigen Entwurfs scheint dafür nicht
zu genügen, denn sie vermittelt nur die Kenntniß der Absichten der Com¬
mission, des Ergebnisses der ersten Lesung, sie gibt keinen Aufschluß über
das Für und Wider wie ihn Verhandlungen von Mund zu Mund liefern.
Die kurze gesetzgeberische Thätigkeit des Bundes hat bereits manche
wichtige Neuerung in der Gesetzgebungsweise hervorgerufen, Enqueten, die
früher unbekannt waren, fangen an zu den regelmäßigen Vorbereitungs¬
mitteln der Gesetzgebung zu gehören, die frequente über das Urheberrechrs-
gesetz bildet einen Vorgang, auf den noch besonders hingewiesen werden
mag. Die außerordentliche Lage nöthigt, alle Mittel zu versuchen, um
den außerordentlichen Anforderungen, welche die staatliche Erneuerung Nord-
deutschlands stellt, gerecht werden zu können. Jede Förderung der Bundes¬
gesetzgebung ist eine Förderung des Bundes und seines letzten Zweckes den
deutschen Staat zu gründen.
Dürr's vollöotiou ok swnäg.rak ^merioan ana Lritisn autdors (Vol. 78, 79 „MreU"
^odn Laulläers.)
Das Bewußtsein, wie sehr Nordamerika seiner Lage, Bevölkerung und politi¬
schen Tendenz nach zu unserem natürlichen Verbündeten bestimmt ist, kann in uns
nicht lebendig genug erhalten werden, und wie von unseren auswandernden Lands¬
leuten deutsches Wesen und Schriftthum weit über den Ocean hinübergenommen
wird, wie sie ihrerseits zu jeder neuen, frischen Regung des alten Vaterlandes ihre
warmen Grüße herübersenden, so ziemt es auch uns, mit den nanonalen und lite¬
rarischen Interessen des großen Volksthums, an das sie sich angeschlossen, Fühlung
und Freundschaft zu halten. In diesem Sinne ist die Dürr'sche Sammlung, die
uns charakteristische Dichtungen und historische Werke amerikanischer Autoren in
trefflicher Auswahl darbietet, um so dankbarer zu begrüßen, je bedeutendere Schwie¬
rigkeiten und Hindernisse sie zu überwinden haben mußte.
Ob nun der Herausgeber wohlgethan, sie zu einer amerikanisch-britischen zu er¬
weitern (wie umgekehrt Tauchnitz seiner britischen Sammlung einzelne amerikanische
Werke einverleibt hat), darüber läßt sich streiten, wir wenigstens möchten es ernst¬
lich empfehlen, die amerikanische Sammlung als ein einheitliches Ganzes zu conser-
viren und planmäßig zu erweitern. Mit James war freilich bereits ein Uebergang
gegeben, da die vom Dürr'schen Verlag reproducirten Werke dieses gebornen Lon¬
doners sämmtlich in Amerika geschrieben und sogar in Europa nur wenig bekannt
sind. Wenn wir aber zu einer Abtrennung der übrigen Schriften britischer Auroren
in eine besondere Sammlung rathen, so wollen wir dem inneren Werthe der hier
gegebenen Auswahl damit in keiner Weise zu nahe treten,- wem sollte z. B. nicht
der Neudruck der in ihrer frommen Einfachheit typisch gewordenen Kennedy'schen
Erzählungen willkommen sein?
Vielmehr macht es uns Freude, vus der Reihe der jüngsten Publicationen auf
eine Novelle „llirell von Launäsrs" (voll. 78 u. 79) mit einigen Worten
hinzuweisen. Wir erhalten hier die Arbeit eines britischen Novellisten, der sich so
wenig er noch jetzt bei uns bekannt ist, in Kurzem, wie uns dünkt, ein ebenso zahl¬
reiches als gediegenes Publicum gewinnen wird. - Der Schauplatz seines Romanes
ist Wales. Man muß dieses Land selbst bereist haben, um sich von der photogra¬
phischen Treue in der Darstellung dieser eigenthümlichen, uns bisher so wenig ge¬
schilderten Gegenden und ihrer schwerfälligen, aber treuherzigen Sitten ganz zu
überzeugen. Wir werden in ein methodistisches Heerlager geführt, und selten ist uns
ein solches in so kraftvoller Lauterkeit und ungeschminkter Liebenswürdigkeit darge¬
stellt worden. Neben der Fabel zieren das Buch eine Reihe lebendiger Episoden, in
denen das einsame Harfenspiel des Kindes aus dem Volke nicht minder beweglich als
der mächtige Wogenschall des großen öffentlichen Lebens zu Herzen dringt; eine kleine
eingeschobene Abhandlung über die celtische Abkunft der Engländer hält selbst den
Ansprüchen strenger historischer Forschung Stand.
Mit Ur. 27 beginnt diese Zeitschrift ein neues -Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Juni 1870.Die Verlagshandlung.